Sowjetisierung oder Neutralität?: Optionen sowjetischer Besatzungspolitik in Deutschland und Österreich 1945-1955 9783666369063, 3525369069, 9783525369067

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Sowjetisierung oder Neutralität?: Optionen sowjetischer Besatzungspolitik in Deutschland und Österreich 1945-1955
 9783666369063, 3525369069, 9783525369067

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Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung Herausgegeben von Gerhard Besier Band 32

Vandenhoeck & Ruprecht

Sowjetisierung oder Neutralität? Optionen sowjetischer Besatzungspolitik in Deutschland und Österreich 1945–1955

Herausgegeben von Andreas Hilger, Mike Schmeitzner und Clemens Vollnhals

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 10: 3-525-36906-9 ISBN 13: 978-3-525-36906-7 Umschlagabbildung: Potsdam. Neuer Garten. Cecilienhof. Potsdamer Konferenz. Stalin, Attlee und Truman im Konferenzsaal. Aufnahme: DEFA Dokumentarfilm © Stiftung Preussische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg

© 2006, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Satz: Hannah-Arendt-Institut, Dresden Gesamtherstellung: Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt Einleitung

I. Sowjetische Politik im Zweiten Weltkrieg

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23

Sowjetische Deutschlandplanungen im Krieg 1941–1945 Aleksej Filitov

25

Antifaschistische Volksfront und „demokratische Republik“. Die Exilkonzeptionen der Kommunistischen Partei Österreichs vor dem Hintergrund der sowjetischen Österreichpolitik Manfred Mugrauer

41

Kader aus dem Exil. Vorbereitungen der KPD auf eine antifaschistische Nachkriegszeit Jörg Morré

77

II. Besatzungsmacht UdSSR Organisation der sowjetischen Besatzung in Deutschland und Auswirkungen von kompetenzieller Diffusion auf die Rekonstruktion der Besatzungspolitik Jan Foitzik

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97

Die Struktur des sowjetischen Besatzungsapparates in Österreich 1945–1955 Wolfgang Mueller

117

Von Banden und Klassenfeinden: Stalins Tschekisten in Deutschland 1945–1955 Andreas Hilger

143

„Wir mussten hinter eine sehr lange Liste von Namen einfach das Wort ‚verschwunden‘ schreiben.“ Sowjetische Strafjustiz in Österreich 1945–1955 Harald Knoll / Barbara Stelzl-Marx

169

6

Inhalt

III. Besatzungspolitik

221

Internierung, Entnazifizierung und Strafverfolgung von NS-Verbrechen in der sowjetischen Besatzungszone Clemens Vollnhals

223

Zur Entnazifizierung in der sowjetischen Besatzungszone in Österreich (am Beispiel Niederösterreichs) Klaus-Dieter Mulley

249

„Die Kommunistische Partei will nicht Oppositionspartei sein, sondern sie will Staatspartei sein.“ Die KPD/SED und das politische System der SBZ / DDR (1944–1950) Mike Schmeitzner

271

Die politischen Parteien in der sowjetischen Besatzungspolitik in Österreich 1945–1955 Wolfgang Mueller

313

Die SMAD, die deutsche Selbstverwaltung und die Sowjetisierung Ostdeutschlands 1945–1949 Nikita Petrov

341

Regierungs- und Verwaltungsaufbau in Österreich 1945 im Spannungsfeld sowjetischer Besatzung Gerhard Jagschitz

367

Von der wirtschaftlichen Entwaffnung zur zentralen Wirtschaftsplanung. Zur Wirtschaftspolitik in der SBZ zwischen 1945 und 1949 Burghard Ciesla

417

Die sowjetische Wirtschaftspolitik in Österreich 1945–1955 Otto Klambauer

435

IV. Ergebnisse sowjetischer Besatzungspolitik Von fehlender Öffentlichkeit. Alltagserfahrungen mit der sowjetischen Besatzungsmacht in Deutschland Rainer Behring

451

453

Inhalt

7

„Russenkinder“ und „Sowjetbräute“. Besatzungserfahrungen in Österreich 1945–1955 Barbara Stelzl-Marx

479

Die UdSSR und der alliierte Kontrollmechanismus für Deutschland 1943–1948 Jochen Laufer

509

Sowjetische Österreichpolitik 1945–1955: Der Weg zum Staatsvertrag Rolf Steininger

537

V. Anhang Karten Abkürzungsverzeichnis Personenregister Autorenverzeichnis

555 556 559 565 573

Einleitung I. „An enigma wrapped in a riddle“ – rätselhaft und undurchschaubar, so charakterisierte bereits Englands Kriegspremier Winston Churchill die Politik seines östlichen Verbündeten Josef Stalin während des gemeinsamen Kampfes gegen Hitler-Deutschland. Nach 1945 war es dann die Besatzungspolitik der UdSSR, die für Deutsche und Österreicher, aber auch für die westlichen Verbündeten ähnlich undurchschaubar blieb.1 Die Kernfrage nach dem Wechselverhältnis lokaler Kräfte und der Moskauer Prägung ist im Grunde bis auf den heutigen Tag ungeklärt. Hinsichtlich der sowjetischen Deutschlandpolitik nach 1945 zeigen die Diskussionen etwa um die Position Wilfried Loths oder um die Stringenz der Moskauer Planungen der Exil-KPD und deren Umsetzung innerhalb der SBZ immer noch vorhandene Unterschiede in der Betrachtung. Das hat natürlich auch mit der Quellenlage zu tun, die sich mit der partiellen Öffnung der Moskauer Archive zwar deutlich verbesserte, aber doch nicht zu einem durchgreifenden Umbruch führte oder führen konnte; diese Ernüchterung ist zum Teil auf die Nutzungsbedingungen in der ehemaligen Sowjetunion zurückzuführen. Trotz aller Widrigkeiten kam es nach 1989/90 zu einer regelrechten Explosion des Interesses für die Erforschung der Geschichte der SBZ/DDR.2 Mit Blick auf Österreich setzten entsprechende Forschungen erst später ein, haben indes in den letzten Jahren deutlich aufgeholt. Die stärkere Zurückhaltung resultierte sicherlich auch daraus, dass die Österreichpolitik der UdSSR nach 1955 zwangsläufig an weltpolitischer Brisanz verloren hatte.3 1

2

3

Vgl. zu österreichischen Befürchtungen über eine Teilung des Landes: Bruno Kreisky, Zwischen den Stühlen. Der Memoiren erster Teil. Hg. von Oliver Rathkolb, Johannes Kunz und Margit Schmidt, überarbeitete Neuausgabe Wien 2000, S. 457 f.; Günter Bischof, Making of the Austrian treaty and the road to Geneva. In: Günter Bischof und Saki Dockrill (Hg.), Cold war respite. The Geneva summit of 1955, Baton Rouge 2000, S. 117–160, hier 141. Vgl. hier zusammenfassend mit weiteren Hinweisen: Bilanz und Perspektiven der DDRForschung. Hg. von Rainer Eppelmann, Bernd Faulenbach, Ulrich Mählert, Paderborn 2003; Beate Ihme-Tuchel, Die DDR, Darmstadt 2002; Catherine Epstein, East Germany and its history since 1989. In: JMH, 75 (2003), S. 634–661. Vgl. Wolfgang Mueller, Die sowjetische Besatzungsmacht in Österreich 1945–1955. Forschungsstand, Quellenlage und Fragestellungen. In: Zeitgeschichte, (2001), Nr. 2, S. 114–129; Oliver Rathkolb, Sonderfall Österreich? Ein peripherer Kleinstaat in der sow-

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Andreas Hilger/Mike Schmeitzner/Clemens Vollnhals

National ausgerichtete Historiographien laufen generell Gefahr, eigene Entwicklungen als unausweichlich und alternativlos zu verabsolutieren. Trotzdem steckt eine komparative Erforschung sowjetischer Besatzungspolitik nach 1945 – die sich schließlich um die Komponente der Sowjetisierung des Baltikums oder auch hinsichtlich des sowjetischen Vorgehens in Asien erweitern ließe – noch in den Anfängen, und die relevanten Bezugspunkte sind noch nicht wirklich ausgelotet.4 Überraschenderweise hat die Forschung in großen Teilen selbst auf den an sich nahe liegenden Vergleich der deutschen und österreichischen Besatzungsgebiete verzichtet, obwohl zeitgenössische Politiker und Beobachter aus Ost und West tatsächliche oder auch nur potentielle Zusammenhänge deutlich zur Sprache gebracht hatten.5 Schon die parallelen Jubiläen, die in Österreich und Deutschland 2005 begangen wurden – 60 Jahre Kriegsende, 50 Jahre Staatsvertrag bzw. Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen – verweisen auf geteilte Grundvoraussetzungen und Erfahrungen beider Länder: Zu nennen ist hier der verlorene Krieg, der indes diametral entgegengesetzten Bewertungen unterlag, und die vierfache Besatzung selbst. In ihrer Besatzungspolitik griff die UdSSR schließlich in Österreich wie in Deutschland trotz unterschiedlicher Machtkonstellationen mitunter auf ähnliche Instrumente und Maßnahmen zu-

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5

jetischen Nachkriegsstrategie 1945–1947. In: Stefan Creuzberger/Manfred Görtemaker (Hg.), Gleichschaltung unter Stalin. Entwicklung der Parteien im östlichen Europa 1944–1949, Paderborn 2002, S. 353–373; James Jay Carafano, Waltzing into the Cold War, 2002; Wolfgang Mueller, Die sowjetische Besatzung in Österreich 1945–1955 und ihre politische Mission, Wien 2005. Zum Selbstverständnis Österreichs u. a. Hella Pick, Guilty victim: Austria from the Holocaust to Haider, London 2000. Vgl. Norman M. Naimark, Stalin and Europe in the postwar period, 1945–53: issues and problems. In: Journal of Modern European History, 2 (2004), Nr. 1, S. 28–57; Leonid Gibianskij, Osteuropa: Sicherheitszone der UdSSR, sowjetisiertes Protektorat des Kreml oder Sozialismus „ohne Diktatur des Proletariats“. Zu den Diskussionen über Stalins Osteuropa-Politik am Ende des Zweiten Weltkrieges und am Anfang des Kalten Krieges: Frage der Quellen und ihrer adäquaten Interpretation. In: Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte, 8 (2004), Nr. 2, S. 113–137; Norman Naimark/Leonid Gibianski (Hg.), The Establishment of Communist regimes in Eastern Europe 1944– 1949, Oxford 1997; Tat’jana V. Volokitina, Galina P. Muraško, Al’bina F. Noskova und Tat’jana A. Pokivajlova, Moskva i vostočnaja Evropa. Stanovlenie političeskich režimov sovetskogo tipa (1949–1953). Očerki istorii, Moskau 2002; Donal O’Sullivan, Stalins „Cordon Sanitaire“. Die sowjetische Osteuropapolitik und die Reaktionen des Westens 1939–1949, Paderborn 2003; Peter Ruggenthaler, Warum Österreich nicht sowjetisiert werden sollte. In: Stefan Karner und Barbara Stelzl-Marx (Hg.), Die Rote Armee in Österreich. Sowjetische Besatzung 1945–1955. Beiträge, Graz 2005, S. 61–87, sowie ders., Warum Österreich nicht sowjetisiert wurde. Sowjetische Österreich-Politik 1945– 1953/55. Ebd., S. 649–726; Stefan Karner/Peter Ruggenthaler, Stalin und Österreich. Sowjetische Österreich-Politik 1938 bis 1953. In: Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung Jg. 2005, Berlin 2005, S. 102–140; Wolfgang Mueller, Die gescheiterte Volksdemokratie. Zur Österreich-Politik von KPÖ und Sowjetunion 1945 bis 1955. In: ebd., S. 141–170. Vgl. hier jetzt Matthias Pape, Ungleiche Brüder. Österreich und Deutschland 1945– 1965, Köln 2000.

Einleitung

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rück: Hier ist etwa die Errichtung sowjetischer Aktiengesellschaften oder die Tätigkeit sowjetischer Repressionsapparate zu erwähnen. Schließlich wurde die Anwesenheit gerade der sowjetischen Besatzer in beiden Ländern von der überwiegenden Mehrheit der einheimischen Bevölkerung als drückende Last empfunden.6 Bekanntermaßen konnte Österreich seine staatliche Souveränität bewahren und erreichte 1955 den Abzug aller Besatzungstruppen, während Moskau im selben Jahr seine These von der Existenz zweier deutscher Staaten endgültig zementierte. Damit stellt sich erneut vorrangig die Frage nach fundamentalen Unterschieden in der Besatzungssituation, ohne dass Wechselwirkungen zwischen den beiden Entwicklungen aus dem Auge verloren werden dürfen. Von Bedeutung waren hier natürlich die völlig unterschiedlichen Rahmenbedingungen sowjetischer Besatzung. Sieht man von der strategischen Randlage Österreichs ab, so bestand die wichtigste Differenz in der staatsrechtlichen Frage und den damit verbundenen alliierten Vorgaben. Die Tatsache, dass Österreich bis 1938 ein souveräner Staat gewesen war, wirkte sich auch auf die alliierten Kriegszielplanungen aus. Die Alliierten einigten sich schon vor Kriegsende (1943) darauf, Österreich als Staat unmittelbar nach der bedingungslosen Kapitulation des „Großdeutschen Reiches“ wiederherzustellen. Damit wurde zum einen der These, wonach Österreich erstes Opfer Hitlers gewesen sei, Rechnung getragen, vor allem aber wurde die Wiedergeburt Österreichs gerade von der Sowjetunion als wichtiger Beitrag zur effektiven Schwächung Deutschlands verstanden. Auch vor diesem außenpolitischen Hintergrund mochte die sowjetische Besatzungsmacht einer österreichischen Nationalregierung unter dem Alt-Sozialdemokraten Karl Renner bereits im Frühjahr 1945 keine Steine in den Weg legen; die Westalliierten konnten sich erst im Herbst 1945 zu einer Anerkennung durchringen. Sie sahen offenbar zunächst die innenpolitische Gefahr, dass der Sozialdemokrat Renner einer von Moskau aus angeleiteten und umfassend geförderten KPÖ keinen entscheidenden Widerstand würde leisten können.7 Damit hatte der Westen Stalins Gedankengänge wohl durchschaut. Doch in den Nationalratswahlen von November 1945 offenbarte sich das ganze Ausmaß sowjetischer Fehlkalkulationen. Das Wahlergebnis schob einer politischen Beeinflussung durch Moskau einen weiteren Riegel vor und marginalisierte die 6 7

Vgl. dazu z. B. das Bildmaterial in: Bruno Kreisky, Zwischen den Zeiten. Erinnerungen aus fünf Jahrzehnten, Berlin 1986, S. 482, und Ilko-Sascha Kowalczuk/Stefan Wolle, Roter Stern über Deutschland. Sowjetische Truppen in der DDR, Berlin 2001, S. 222 f. Renner hatte sich bereits als Staatskanzler 1918/1920 für einen Anschluss an Deutschland ausgesprochen und 1938 dann den nationalsozialistischen Anschluss öffentlich und als einziger führender Politiker der Sozialdemokratie begrüßt. Diese Entscheidung fußte zwar nicht auf einer Adaption nationalsozialistischer Ideologie, aber auf eine konsequente Verfolgung eigener national-deutscher Vorstellungen, die er allerdings nach 1945 zugunsten eines österreichischen Sonderweges korrigierte. Vgl. Anton Pelinka, Karl Renner zur Einführung, Hamburg 1989, S. 17–27 und 61–71.

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KPÖ geradezu.8 Ihr gelang es auch in der Folgezeit nicht, in der neuen großen Koalition und Politik Österreichs Einfluss zu erringen. Da die SPÖ neunmal soviel Stimmen und Mandate erhielt als die KPÖ (ca. 45 zu 5 Prozent), hatte sich auch die sowjetisch-kommunistische Taktik einer gemeinsamen Einheitsfront oder Einheitspartei erledigt. Weder die Führung der SPÖ noch eine Mehrheit der Mitglieder wollten angesichts dieser klaren Mehrheitsverhältnisse mit den Kommunisten noch enger kooperieren. Die gewahrte überregionale Einheit des Landes und seiner Parteien schlossen zudem eine Zwangsvereinigung einzelner Parteigliederungen aus. So bildeten SPÖ und ÖVP nach den November-Wahlen eine große Koalition, in der zuerst noch ein Kommunist vertreten war. Bei den nachfolgenden Wahlen schlugen alle Bestrebungen der sowjetischen Besatzungsmacht, die KPÖ als eine ernst zu nehmende Kraft aufzubauen und sie durch eine Vereinigung mit einer SPÖ-Linksabspaltung zu stärken, fehl. Eine tatsächliche Spaltung der SPÖ erwies sich als undurchführbar. Deshalb konnten die KPÖ resp. die sowjetische Besatzungsmacht nicht darauf hoffen, dass die österreichischen Kommunisten auf demokratischem oder schein-demokratischem Wege noch an die Macht gelangen würden, zumal kommunistisch inspirierte „Massenorganisationen“ wie eine Einheitsjugend und Einheitsgewerkschaft in Österreich keinen Fuß fassen konnten. Eine umfassende Unterstützung eines bewaffneten Kampfs der KPÖ um die Macht konnte und wollte Stalin sich nicht leisten, und auch die Spaltung des Landes war – entgegen einzelnen Vorstellungen in der KPÖ – keine ernsthaft betriebene Option Moskaus; die sowjetische Führung ließ sich, auch das wird an dieser Position deutlich, in Österreich genauso wenig wie in Deutschland die Politik von den nationalen Parteien oktroyieren. Die Moskauer Reaktionen auf die österreichischen (und ungarischen) Wahlen von 1945 beschränkten sich natürlich nicht nur auf die Donauländer. Gerade angesichts des spektakulären Wahlausgangs in Österreich schlugen SMAD und KPD Ende 1945 in der SBZ eine andere politische Marschrichtung ein: Statt ebenso frühe Wahlen wie in den Westzonen (z. B. Januar 1946 in der amerikanischen Zone) anzusetzen und damit ein ähnliches Resultat wie in Öster8

Die Bedeutung dieser Wahlen hob der österreichische Alt-Bundeskanzler Bruno Kreisky noch in seinen Memoiren ausführlich hervor, wobei er auf die entscheidende Frage nach der Zustimmung der sowjetischen Besatzungsmacht zu dem frühen Wahltermin auch keine eindeutige Antwort zu geben vermochte: „Die oft gestellte Frage, warum denn die Russen eine so frühe Wahl zuließen, ist schwer zu beantworten. Sie beherrschten damals de facto ganz Ostösterreich, wo mehr als die Hälfte der Bevölkerung lebt. Offenbar glaubten die Kommunisten, dass es ihnen gelingen würde, ein Viertel der Wählerstimmen auf sich zu vereinigen, das heißt, die Stimmen für die Linke zu spalten, wobei ihnen der Löwenanteil zufallen sollte. Dann wäre für die Sozialdemokraten der Zwang zur ‚Einheitsfront‘ so groß gewesen, dass man Österreich dasselbe Schicksal hätte bereiten können, wie das später in Ostdeutschland und in den osteuropäischen Staaten der Fall war, wo sich die Sozialdemokraten bis auf wenige Ausnahmen zu sogenannten Einheitsparteien zusammengeschlossen haben.“ Bruno Kreisky, Im Strom der Politik. Erfahrungen eines Europäers, Berlin 1991, S. 51.

Einleitung

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reich (oder eben in Hessen im Januar 1946) zu riskieren, änderten sie das politische System der SBZ grundlegend. Nach einer groß angelegten Kampagne wurde die SPD in die kommunistische Partei – wenn auch unter anderem Namen (Sozialistische Einheitspartei Deutschlands / SED) – eingeschmolzen. Erst jetzt, nach Beseitigung der schärfsten Konkurrenz für die kommunistischen Vertreter, war die SMAD bereit, in ihrer Zone Wahlen abzuhalten (Oktober 1946). Und erst dadurch gelang es ihr, aus der SED die neue Staatspartei der SBZ zu schmieden. Die hier nur skizzierte Entwicklung zählt nach der alliierten Festlegung auf eine Rekonstituierung eines unabhängigen Österreichs mit zu den wichtigsten politischen Interdependenzen sowjetischer Österreich- und Deutschlandpolitik. Der österreichische „Lerneffekt“ führte mit zur Veränderung des politischen Systems in der SBZ und markierte die erste deutsche Teilungszäsur. Derartige Verflechtungen blieben über 1950 hinaus bestehen, wie die Instrumentalisierung der ausstehenden Regelung über Österreich für die Deutschlanddebatten in den 1950er Jahren belegt.

II. Solche Überlegungen und ein vorher unternommener erster Abgleich der Aktivitäten „Sowjetischer Militärtribunale“ (SMT) in Deutschland (SBZ) und in Ostösterreich in den Jahren 1945 bis 19559 stellten die Basis einer deutschösterreichisch-russischen Tagung dar, die vom 20. bis 22. November 2003 unter dem Titel „Sowjetisierung oder Neutralität? – Optionen sowjetischer Besatzungspolitik in Deutschland und Österreich 1945–1955“ vom Hannah-ArendtInstitut für Totalitarismusforschung mit Vertretern des Instituts für Zeitgeschichte (IfZ, Außenstelle Berlin), des Potsdamer Zentrums für Zeitgeschichtliche Forschungen (ZZF), der Universität Wien, des Instituts für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck, des Ludwig Boltzmann-Institutes für KriegsfolgenForschung (Graz), des Moskauer Memorial sowie der Moskauer Akademie der Wissenschaften veranstaltet wurde. Grundsätzliche Anstöße und wichtige thematische Anregungen hatten im Vorfeld der Tagung und über den Herausgeberkreis hinaus die Historiker Rainer Behring (Köln) und Wolfgang Mueller (Wien) gegeben.10 9 Vgl. Andreas Hilger/Mike Schmeitzner/Ute Schmidt (Hg.), Sowjetische Militärtribunale. Band 2: Die Verurteilung deutscher Zivilisten 1945–1955, Köln 2003; darin der Beitrag von Harald Knoll/Barbara Stelzl-Marx, Österreichische Zivilverurteilte in der Sowjetunion. Ein Überblick, S. 571–605, unter dem Gliederungspunkt „Regional- und Vergleichsstudien“. 10 Behring und Schmeitzner hatten bereits im Vorfeld der Konferenz Überlegungen zu einem deutsch-österreichischen Vergleich angestellt. Vgl. Rainer Behring/Mike Schmeitzner (Hg.), Einleitung. In: Diktaturdurchsetzung in Sachsen. Studien zur Genese der kommunistischen Herrschaft 1945–1952, Köln 2003, S. 7–24, hier 14.

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Ziel der Tagung11 war es, nach einer einleitenden Darstellung der internationalen Rahmenbedingungen Kernbereiche der jeweiligen sowjetzonalen Entwicklung einander paritätisch gegenüberzustellen, um so einen vergleichenden Zugriff auf die entsprechende Mikroebene zu ermöglichen. Als Kernbereiche wurden die Besatzungsvorbereitung (d. h. die Nachkriegsplanungen der UdSSR sowie Vorbereitung und Ausbildung kommunistischer Kader), die Besatzungsorganisation in Gestalt der Militärverwaltungen und Repressionsapparate, grundlegende besatzungspolitische Maßnahmen (Regierungs- und Verwaltungsaufbau, politisches System und Parteienlandschaft, Entnazifizierung, Wirtschaftspolitik einschließlich der Frage der Reparationen) sowie deren Resultate benannt; zu letzterem Komplex gehören auch die für die bilateralen Beziehungen unweigerlich relevanten Besatzungserfahrungen der einheimischen Bevölkerung und ihre Erinnerung. Damit waren für den komparatistischen Zugang wesentliche Aspekte mit ausreichenden Forschungserfahrungen thematisiert, ohne hinsichtlich der sowjetischen Besatzungspolitik in Deutschland oder Österreich insgesamt Vollständigkeit zu intendieren: So blieben beispielsweise die Integration von Flüchtlingen und Vertriebenen oder territoriale Fragen, die Aufrüstung in Ost und Westösterreich/-deutschland oder die national unterschiedlichen Formen der Vergangenheitsbewältigung unberücksichtigt. Der Abgleich einzelner Themenfelder veranschaulicht unterschiedlich ausgeprägte Ähnlichkeiten, weist auf die Offenheit historischer Entwicklung hin und rückt die Relevanz unterschiedlicher Rahmenbedingungen in den Blick: Angesichts der österreichischen Situation erscheint es daher durchaus angebracht, das Verhältnis „automatischer“ Bolschewisierungsprozesse und bewusster politischer Weichenstellungen auch für die SBZ/DDR genauer auszutarieren.12 Im Vergleich nationaler Entwicklungen stellt sich so erneut die Frage nach möglichen unterschiedlichen Politikzielen Moskaus sowie nach der Bedeutung lokaler und alliierter (Gegen-)Kräfte und Machtverhältnisse (z. B. Vermeidung eines offenen Konflikts mit den USA) sowie nach der Bedeutung ideologischer Gewissheiten (unaufhaltsamer Vormarsch des Sozialismus als Prozess) und geostrategischer Positionen. Aus dem über die Jahre wechselhaften Zusammenspiel all dieser Faktoren ergaben sich länger- und kurzfristige Pläne und Taktiken, länderbezogene Prioritäten oder tastende Festlegungen in Moskau, das im Resultat durch vergleichsweise bewegliche Lösungswege seine Sicherheit vor Deutschland erreichte – ob diese Sicherheit rein defensiv gedacht war oder im sowjetischen Umkehrschluss die System-Expansion beinhaltete, bleibt eine offene Frage. So lassen sich Moskauer Überlegungen zu einer Teilung, Sowjetisierung oder Neutralisierung Deutschlands und Österreichs nur aus dieser komplexen Gemengelage heraus deuten. Dabei wird die Forschung auch 11

Vgl. den Tagungsbericht von Matthias Piefel/Thomas Widera, Sowjetisierung oder Neutralität? Optionen sowjetischer Besatzungspolitik in Deutschland und Österreich 1945– 1955. Dresden, 20.–22. November 2003. In: H-Soz-u-Kult und Jahresbericht 2003 des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung an der TU Dresden, S. 22–25. 12 In Auseinandersetzung mit Naimark, Die Russen, und Foitzik, SMAD.

Einleitung

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vor die Aufgabe gestellt, nicht mehr nur das sowjetische Verständnis von „Demokratie“, sondern auch das von „Neutralität“ genauer zu klären. Vor diesem Hintergrund beleuchten die folgenden Beiträge nicht nur verschiedene Themenfelder sowjetischer Besatzungspolitik. Sie zeigen zudem, dass nur die Beachtung der Offenheit sowie der genauen Schrittfolge einzelner sowjetischer Maßnahmen deren Flexibilität und Vielschichtigkeit erfassen kann sowie der Interdependenz genuin sowjetischer mit lokalen und extrazonalen Einflüssen und Entscheidungen gerecht wird. Aufgrund der diffusen Quellenlage wird es dabei auch in Zukunft alternative Interpretationsvorschläge zu Kernfragen sowjetischer Politik geben; auch dies ist im vorliegenden Band dokumentiert.

III. Im ersten Panel analysieren Aleksej Filitov, Manfred Mugrauer und Jörg Morré die „Sowjetische Politik im 2. Weltkrieg“. Filitov thematisiert die sowjetischen Deutschlandplanungen ab 1941, wobei er zwischen den in den sowjetischen Fachkreisen erarbeiteten Vorschlägen und den Vorstellungen der sowjetischen Führung, insbesondere Stalins, differenziert. Letztlich – so seine These – oblag es Stalin persönlich, wichtige Entscheidungen zu treffen und auch die Planungen von deutsch-kommunistischer Seite seinem Kalkül unterzuordnen. Teilung oder Sowjetisierung stellten in Bezug auf Deutschland (SBZ) laut Filitov nur zwei mögliche Alternativen dar, eine andere hätte in der Neutralisierung ganz Deutschlands bestanden. Mugrauer vermag hingegen zu verdeutlichen, dass die sowjetischen Planungen in Bezug auf Österreich einer Zielsetzung untergeordnet waren: der Wiederherstellung der österreichischen Souveränität. Die unterschiedlichen sowjetischen Ziele mit Blick auf Deutschland und Österreich können Mugrauer und Morré mit einer Analyse der kommunistischen Planungen im Moskauer Exil unterfüttern: Während die exilierte Spitze der KPD ab 1944 konkrete Überlegungen für den gesellschaftlichen Neubeginn anstellte und eine aktive Kaderschulung in die Wege leitete, um später deutsche Schlüsselstellungen übernehmen zu können, blieben KPÖ-Vertreter Einzelkämpfer und weitestgehend auf sich allein gestellt. Immerhin vermochten sie eigene Volksfrontkonzeptionen zu entwerfen, die – wie für die deutsche Seite – das Instrument eines Antifa-Block (hier: „Österreichische Freiheitsfront“) und zudem die Beteiligung an einer provisorischen Nationalregierung vorsah. Auch wenn Morré eine direkte Kontinuität zwischen den Moskauer Planungen der KPD und ihren ersten konkreten deutschen Einsätzen in Frage stellt (er spricht lediglich von „kommunalen Aufgaben“), so betrachtet er ihre Überlegungen doch als Teil der sowjetischen Deutschlandpolitik, die keine adäquate österreichische Entsprechung fand. Im zweiten Panel erörtern Jan Foitzik, Wolfgang Mueller, Andreas Hilger sowie Harald Knoll und Barbara Stelzl-Marx mit Militärverwaltungen und Re-

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pressionsorganen Institutionen der „Besatzungsmacht UdSSR“. Foitzik geht in seinem Beitrag auf die Organisation der sowjetischen Besatzungsmacht in der SBZ ein, wobei er neben der Führungsebene (SMAD) mit ihren verschiedenen Gremien und Persönlichkeiten auch die Fachabteilungen und nachgeordneten Einrichtungen skizziert. Besonderen Wert legt er jedoch auf die horizontale und vertikale Funktionsstruktur der Besatzungsverwaltung. Sie biete – so Foitzik – ein „hochgradig fragmentiertes Bild“, das von Elementen intendierter „Kryptopolitik“ und innerorganisatorisch erzeugter „kompetenzieller Diffusion“ geprägt gewesen sei. Nach seiner Auffassung deuten vor allem die organisationsstrukturellen Elemente darauf hin, dass die SBZ von Anfang an nach „sowjetischen Arbeitsmethoden“ verwaltet werden sollte, die nach 1947 zugunsten einer stärkeren Beteiligung der SED als „Geschäftsträger und Juniorpartner“ „zurückgebaut“ wurden. Ein durchaus anderes Bild skizziert Wolfgang Mueller mit der Darstellung des sowjetischen Besatzungsapparates in Ostösterreich, der SČSK, die der SMAD nur in ihrer Grobstruktur glich. Anders als die SMAD war die SČSK keine „Militäradministration“ mit mehreren zehntausend Mitarbeitern, sondern der „sowjetische Teil der Alliierten Kommission für Österreich“, der nur ca. 1 000 Mitarbeiter umfasste. Damit stand der SČSKA trotz ähnlicher Struktur der Fachabteilungen weitaus weniger Personal zur Verfügung. Ähnliche Beobachtungen lassen sich auch für die verschiedenen Repressionsapparate anstellen. So waren sowjetische Militärtribunale (SMT) in beiden sowjetischen Besatzungszonen präsent und aktiv. Dennoch erscheinen die Unterschiede bei den Opferzahlen und Opferkategorien signifikant: Während Andreas Hilger für die deutsche Seite den allumfassenden sowjetischen Verfolgungscharakter mit ca. 35 000 Zivilverurteilten konstatiert – zusätzlich zu Zehntausenden von Internierten und Deportierten –, setzen Harald Knoll und Barbara Stelzl-Marx für die österreichische Seite die Zahl der von sowjetischen Organen Verhafteten insgesamt mit ca. 2 200 deutlich niedriger an; hier wurden rund 1 000 Personen von SMT verurteilt. In den Opferzahlen schlug sich somit die klare Politisierung der Justiz direkt nieder. Sie führte in Ostdeutschland zu einer umfangreichen Verfolgung von Oppositionellen und Widerständlern, während in Österreich die juristische Abfederung politischer Prozesse einen geringeren Stellenwert einnahm. In beiden Zonen kamen schließlich auch legitime Interessen der Besatzungsmacht – die Ahndung von NS-Verbrechen und der Schutz der Besatzungstruppen – zum Tragen, die indes im Einzelfall auch wieder zu Zwecken der Politik instrumentalisiert werden konnten. Im umfangreichen dritten Panel werden markante Felder der sowjetischen „Besatzungspolitik“ beleuchtet. In puncto Entnazifizierung konstatieren Clemens Vollnhals und Klaus-Dieter Mulley wiederum Ähnlichkeiten und Unterschiede im Umgang mit der beiderseitigen NS-Vergangenheit. Vollnhals beschreibt dieses Kapitel für die SBZ als eine Geschichte der Internierung, Entnazifizierung und Strafverfolgung, bei der sich auf Seiten der Besatzungsmacht keine klare Linie erkennen lasse. Im Falle der Internierung seien oft wahllose

Einleitung

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Verhaftungen und Arretierungen in so genannten Speziallagern erfolgt, die lediglich dem Zwecke der Isolierung, nicht aber dem der individuellen Schuldklärung dienten. Nur ein Bruchteil der über 120 000 Lagerinsassen wurde tatsächlich verurteilt. Jedoch starben mehr als 40 000 von ihnen aufgrund der katastrophalen Lebensbedingungen, die für ein stalinistisches Lager fast schon typisch waren. Die Entnazifizierung in den staatlichen Verwaltungen betrieben Besatzungsmacht und Kommunisten wiederum mit größerer Energie als in den Westzonen Deutschlands: In der SBZ verloren Hunderttausende ehemaliger NSDAP-Mitglieder ihre Stellungen. Diese Säuberungen nutzten allerdings von Anfang an SMAD und KPD zur Protegierung der kommunistischen Kader, um den Staatsapparat in die Hand zu bekommen. Darüber hinaus erstreckte die Besatzungsmacht die Entnazifizierung auch auf Teile der Wirtschaft, um Betriebe von „Kriegsverbrechern“ zu enteignen und so eine Basis für den künftigen Staatswirtschaftskomplex zu schaffen. Die Strafverfolgung sowjetischer (SMT) und ostdeutscher Sondergerichte (201er Spruchkammern) traf zwar Tausende NS-Verbrecher, blieb aber aufgrund der hier geübten Praxis meist unter rechtsstaatlichem Niveau. Ein solch politisch-ideologisches Kalkül lässt sich im Falle Österreichs nicht ohne Weiteres feststellen. Wie Mulley zeigt, verzichtete hier die sowjetische Besatzungsmacht auf das Instrument der massenhaften Internierung und selbst die Säuberung der Verwaltungen wurde nur punktuell im kommunistischen Sinne exekutiert. Die Sowjets nahmen zwar – wie in der SBZ – Verhaftungen vor, doch überließen sie den Entnazifizierungsprozess der österreichischen Gesellschaft. Die Regierung Renner wie ihre gewählten Nachfolgerkabinette verabschiedeten noch 1945 das Verbots- und das Kriegsverbrechergesetz sowie auf Druck der Alliierten 1947 das Nationalsozialistengesetz, die sich freilich allesamt als äußerst bürokratisch erwiesen. Eine Registrierung aller Nationalsozialisten verbunden mit einer „Sühnefolge als Regel und individuelle Nachsicht als Ausnahme“ scheiterte u. a. an der Fülle von Gnadengesuchen. Von über 136 000 Anklagen wegen Kriegsverbrechen gelangten nur knapp 14 000 zur Verurteilung. Wie in der SBZ wurde auch in Ostösterreich seit 1948 eine umfassende Amnestie in die Wege geleitet. Mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten sind auch auf dem ebenfalls zentralen Feld der politischen Parteien sowie des Regierungs- und Verwaltungsaufbaues zu erkennen. Wie bereits anhand der Exilplanungen und Kaderschulungen der KPD ersichtlich, spielte sie bei der Etablierung eines neuen politischen Systems die entscheidende Rolle. Mike Schmeitzner zeigt in seinem Beitrag, wie die KPD von Beginn an institutionell (Antifa-Block der Parteien) und administrativ (staatliche Verwaltungen) als verlängerter Arm der Besatzungsmacht fungierte und das Parteiensystem als Ganzes dominierte. Diese Art der „simulierten Demokratie“ erhielt mit der Einverleibung der SPD im Frühjahr 1946 und der Durchsetzung manipulierter Listenwahlen nur wenige Monate später erste offene diktatorische Facetten. Dass eine solche Verschärfung auch und gerade auf die frühen österreichischen Nationalratswahlen mit dem für die KPÖ ver-

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nichtenden Ergebnis zurückzuführen ist, darin sind sich sowohl Schmeitzner als auch Mueller einig. Neben diesen sichtbaren Interdependenzen verweisen beide Historiker aber auch auf den unterschiedlichen Grad der sowjetischen Einflussnahmen, der ebenfalls von Beginn an zu Tage trat: In beiden Sowjetzonen versuchte die kommunistische Partei, die Sozialdemokratie und die bürgerlichen Parteien in semi-demokratische Institutionen einzubinden und damit zu domestizieren, doch nur in der SBZ konnte sich dabei die KPD vollständig auf die Unterstützung der Besatzungsmacht verlassen. Rückschlüsse auf die Politikziele Moskaus erlaubt auch der Umstand, dass die KPD/SED nach den für sie enttäuschenden Wahlen von 1946 den Weg einer offenen Diktatur beschritt, der bereits 1950 mit der Durchsetzung von Einheitslistenwahlen und der Gleichschaltung aller anderen Parteien endete. In Österreich hatte es hingegen die Besatzungsmacht zu keinem Zeitpunkt unternommen, mit offen terroristischen Methoden den Wahlausgang von 1945 rückgängig zu machen oder SPÖ und ÖVP gleichzuschalten. Entlang dieser machtpolitischen Linien erfolgte auch der Regierungs- und Verwaltungsaufbau in beiden Sowjetzonen, den Nikita Petrov für die deutsche und Gerhard Jagschitz für die österreichische Seite beleuchten. Petrovs Befund, dass SMAD und KPD seit Sommer 1945 zielstrebig sämtliche staatliche Schlüsselpositionen in die Hände deutscher Kommunisten legten, findet für Österreich nur punktuell Entsprechung. Die wesentlich schwächere KPÖ war hier nicht in der Lage, ausreichend Kader zu entwickeln und zur Verfügung zu stellen, sie wurde in ihrem Bestreben aber auch nicht annähernd so massiv unterstützt wie die KPD in der SBZ. Umgekehrt nutzten SPÖ und ÖVP in Österreich ihren größeren Handlungsspielraum und die frühe Existenz der gemeinsam getragenen Nationalregierung, um den Einfluss der KPÖ gering zu halten. Vor diesem Hintergrund betont Jagschitz, dass beide großen österreichischen Parteien frühzeitig ein Proporzsystem in den staatlichen Verwaltungen geschaffen und somit spontane demokratische Basisansätze abgebrochen hätten. Entgegen dieser Entwicklung erscheint die Gründung der DDR im Herbst 1949 nur als der Schlusspunkt einer erfolgreichen und sowjetgestützten (Kader-)Politik der KPD/SED. Auf dem Feld der Wirtschaftspolitik lässt der unterschiedlich stark ausgeprägte Grad der sowjetischen Einflussnahme ebenso eine differente Intensität der Umwälzungen erkennen, wie Burghard Ciesla für die SBZ und Otto Klambauer für die österreichische Sowjetzone belegen können. Eine erste Stufe staatswirtschaftlicher Zentralisierung, nämlich die direkte und indirekte Ausbeutung und Nutzung wirtschaftlicher Ressourcen zugunsten Moskaus, war dabei in beiden Zonen zu beobachten: Die sowjetischen Aktiengesellschaften (SAG / USIA), obzwar aus unterschiedlichen Eigentumsvoraussetzungen entstanden, hatten neben den „üblichen“ Demontagen und Entnahmen aus der in einheimischen Händen verbliebenen Produktion in beiden Zonen die sowjetischen Reparationskosten abzudecken. Während in Ostösterreich dieses USIAErbe im Zuge des Staatsvertrages vielfach als Staatswirtschaftssegment fortge-

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führt wurde, hatte sich in der SBZ neben den SAG längst ein stetig wachsender Staatswirtschaftskomplex entwickelt, der die Privatwirtschaft immer mehr verdrängte. Schon im Frühjahr 1948 führten SMAD und SED auf dieser Grundlage das System der Planwirtschaft ein, dessen Ordnungs- und Lenkungsgedanken zwar damals weit verbreitet waren und auch in SPD und CDU Anhänger besaß, sich in der SBZ aber allein auf das sowjetische Vorbild bezog. Im abschließenden vierten Panel beschäftigten sich Rainer Behring und Barbara Stelz-Marx sowie Jochen Laufer und Rolf Steininger mit den „Ergebnissen sowjetischer Besatzungspolitik“. In einem ersten Teil beschreiben Behring und Stelz-Marx die „Besatzungserfahrungen“, die die deutsche und österreichische Bevölkerung in ihren Sowjetzonen nach 1945 machte. Beide Historiker heben dabei hervor, dass es für eine wirklich repräsentative Analyse zu wenige authentische Quellen gebe, was zumindest für die SBZ ein Ergebnis der dort stattgefundenen „Beschweigungspflicht“ gewesen sei. Aus diesem Grund müsse man sich auf eher zufällige Zeugnisse (Behring) oder nachträgliche Aussagen von Zeitzeugen (Stelz-Marx) stützen. Raub und Plünderungen – so beide Autoren – gehörten ebenso wie willkürliche physische Gewalt sowie Vergewaltigungsexzesse zu den Erfahrungen, die Deutsche wie Österreicher machen mussten. Dabei werden in den Erinnerungen auch – vereinzeltere – positive Erfahrungen, die sich häufig am Topos des kinderlieben oder hilfsbereiten Russen festmachen, nicht unterschlagen. Für die SBZ kam allerdings von Anfang an noch eine weitere Erfahrung hinzu, die bis 1989 den Alltag durchzog: die Unterbindung jeder öffentlichen Debatte über negative Besatzungserfahrungen oder über die Durchsetzung einer neuen, diesmal kommunistischen Diktatur. Am Beispiel der ostdeutschen Industriestadt Chemnitz vermag Behring die frühe Spaltung in eine öffentlich und eine privat geäußerte Meinung eindrucksvoll zu belegen. Laufer und Steininger erörtern abschließend die sowjetische Friedensvertragspolitik gegenüber Deutschland und Österreich. Laufer entwickelt in diesem Zusammenhang und auf der Basis eigener Forschungen im Moskauer Archiv für auswärtige Politik die These, dass Stalin seit 1942 die Teilung Deutschlands als oberste Prämisse verfolgte. Durch die Zoneneinteilung habe sich der sowjetische Diktator die vollständige Verfügungsgewalt über das „eigene“ Territorium verschafft und sich darüber hinaus ein Mitspracherecht in gesamtdeutschen Angelegenheiten gesichert. Eine sowjetische Politik, die sich auf eine gesamtdeutsche Lösung kapriziert hätte, habe es nie gegeben, nur unterschiedlich intensive Propagandaschritte. Bei der Analyse des Weges zur Unterzeichnung des Staatsvertrages 1955 kommt Steininger zu partiell abweichenden Ergebnissen: Seiner Auffassung nach sei die „Österreich-Frage“ in den zehn Jahren zuvor sehr eng mit der „Deutschland-Frage“ verknüpft gewesen. Moskau habe das Alpenland als eine Trumpfkarte behandelt, die es erst im Zuge einer Lösung der deutschen Frage ausspielen wollte. So war es nur folgerichtig, dass die sowjetische Führung erst dann den Weg zur Aufgabe ihrer österreichischen Besatzungszone einschlug, als sie die deutsche Spaltung als zementiert

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betrachtete und mit dem Angebot einer Neutralisierung Österreichs dessen Blockunabhängigkeit durchsetzen konnte. Auf das mit dem Staatsvertrag unterbreitete Angebot einer Regelung der deutschen Frage auf neutraler Grundlage habe Adenauer wegen der von ihm favorisierten Westbindung der Bundesrepublik nicht eingehen wollen, obwohl es selbst in der CDU/CSU unterschiedliche Stimmen dazu gab. Auf diese Weise gelingt den Autoren im Verbund eine Bestandsaufnahme sowjetischer Besatzungspolitik nach dem Zweiten Weltkrieg, die die Verflechtungen der multiplen Wirkungskräfte wie der unterschiedlichen Ereignisorte greifbar macht. Damit ist das Rätsel um letzte Ziele und Motive Stalins nicht gelöst13 – der komparative Zugang zur sowjetischen Politik in Europa erweist sich aber als Ansatz, der die relevanten Einflussfaktoren in ihrer Gesamtheit sowie ihrer gegenseitigen Abhängigkeit erfassen und gewichten kann.

IV. Abschließend einige Bemerkungen technischer und organisatorischer Art: Die Schreibweise russischer Namen und Benennungen folgt – wie schon zuvor in den SMT-Bänden – der wissenschaftlichen Transliteration. Für einige Begriffe verwenden die Autoren der Beiträge – wie auch in der Literatur üblich – leicht differierende Abkürzungen oder Schreibweisen (OSO bzw. OSSO, Ukaz bzw. Ukas). Ursprünglich war die Veröffentlichung des Bandes für die Jahreswende 2004/05 vorgesehen, um angesichts der 2005 anstehenden Jubiläen in Deutschland und Österreich die wissenschaftliche und öffentliche Diskussion befruchten zu können. Dass der Sammelband erst jetzt, fast drei Jahre nach der Konferenz erscheint, hat mehrere Gründe: Zuerst ist auf das säumige Verhalten einzelner Kollegen hinzuweisen, deren Beiträge für das paritätische Prinzip des Bandes als unverzichtbar erschienen. Zum anderen ließ die langwierige schwere Krankheit eines Autors die Arbeiten vorübergehend ruhen. Letztendlich freuen wir uns, uns für vielfältige Unterstützung bedanken zu können: An erster Stelle bei der Berliner Stiftung zur Aufarbeitung der SEDDiktatur für die finanzielle Förderung der zugrunde liegenden Tagung, und hier insbesondere Herrn Dr. Ullrich Mählert; Herrn Dr. Wolfgang Mueller von der 13 Der Streit um die Interpretation sowjetischer Quellen in Bezug auf die Behandlung Österreichs nach 1945 hält unvermindert an. Während Grazer Historiker um Stefan Karner Hinweise auf Sowjetisierungsabsichten Moskaus als „Ausdruck einer Wunschvorstellung“ abtun und keine relevanten Sowjetisierungsschritte feststellen können, kommt der Wiener Historiker Wolfgang Mueller zu einem anderen Ergebnis: Moskau habe durchaus beabsichtigt, Österreich zu sowjetisieren und gemeinsam mit der KPÖ entsprechende Schritte zu unternehmen; diese seien jedoch u. a. an der Abwehrhaltung der SPÖ und dem kommunistischen Debakel bei den frühen Nationalratswahlen gescheitert. Vgl. neben den bereits in Anm. genannten Bänden Karner/Ruggenthaler, Stalin und Österreich, S. 104, 118 f. und 135; Mueller, Die gescheiterte Volksdemokratie, S. 149, 155 ff., 169 f.

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Wiener Akademie der Wissenschaften für die exzellente Unterstützung des Gesamtvorhabens; Herrn Dr. Otto Klambauer, dem Redakteur Zeitgeschichte des Wiener „Kurier“, für seine Bereitschaft, nach einer kurzfristigen Absage das Thema Wirtschaftspolitik in Ostösterreich kompetent in einem eigenen Beitrag zu behandeln. Gleiches gilt auch für Herrn Magister Manfred Mugrauer, der einen zusätzlichen Beitrag beisteuerte und so einen Ausfall im thematischen Bereich der KPÖ-Exilkonzeptionen und der sowjetischen Österreichpolitik vor 1945 kompensierte. Schließlich sind wir weiteren Kolleginnen und Kollegen des Hannah-Arendt-Instituts, die uns unterstützt haben, zu Dank verpflichtet: Frau Antje Borrmann und Frau Nicole Kühn für die Mithilfe bei der redaktionellen Bearbeitung der Manuskripte; den Mitarbeiterinnen der Bibliothek für ihre engagierte Literaturbeschaffung und dem Publikationsteam unter der Leitung von Herrn Dipl.-Ing. Walter Heidenreich für die Mühen, den Band zur Druckreife zu bringen. Unser ganz persönlicher Dank gilt jedoch (wie fast immer) Frau Hannelore Georgi, mit deren tatkräftigem Einsatz die Produktion des Bandes befördert worden ist. Gewidmet ist der Band unserem jungen Kollegen Matthias Piefel M.A., der an der Organisation der Tagung großen Anteil hatte. Er ist wenige Monate nach der Konferenz völlig unerwartet im Alter von nur 25 Jahren verstorben. Wir haben mit ihm einen guten Freund und Kollegen verloren. Hamburg/Dresden, im September 2006

Die Herausgeber

I. Sowjetische Politik im Zweiten Weltkrieg

Sowjetische Deutschlandplanungen im Krieg 1941–1945 Aleksej Filitov Unser heutiges Bild – vielleicht sollte man auch von Bildern sprechen – der sowjetischen Planungen für die Nachkriegszeit, auch in Bezug auf Deutschland, wurde ganz entscheidend durch die Erschließung der bis Anfang der 1990er Jahre geheimgehaltenen und dann freigegebenen Akten aus dem Archiv der Außenpolitik der Russischen Föderation (AVPRF) und dem ehemaligen Parteiarchiv (heute: RGASPI) geprägt. Hierbei handelt es sich vor allem um die Materialien der drei Kommissionen, die im Herbst 1943 beim Volkskommissariat für die auswärtigen Angelegenheiten (NKID) gebildet wurden, und – in geringerem Maße – um die Gesprächsnotizen und Direktiven, die die Sichtweise der führenden Köpfe der sowjetischen Führung (in erster Linie Stalin und Molotov) widerspiegeln. In einem Aufsatz, der vor kurzem in einem Sammelband meines Instituts erschienen ist, äußert sich Leonid Gibianskij, ein namhafter Kenner der ost- und südeuropäischen Geschichte der Nachkriegszeit, sehr kritisch zum Aussagewert dieser Dokumente und bezweifelt damit auch, ob das daraus entstandene Bild zutreffend sei. Man müsse, so Gibianskij, zwischen zwei Arten der mündlichen und schriftlichen Überlieferungen differenzieren, die Stalin und seine Komplizen hinterließen: Die Erklärungen, die an Vertreter des „gegnerischen“ Lagers adressiert waren, seien als reiner Betrug einzustufen, die wahren Absichten und Ideen finde man vielmehr in jenen Äußerungen, die im Verkehr unter „Freunden“ gefallen sind. Mehr noch: Auch die Tätigkeit der NKID-Gremien sei für die wirkliche sowjetische Planung ohne Belang gewesen. Seiner Meinung nach handele es sich hier um Analysen und „Vorschläge der Diplomaten“, die keineswegs mit den Plänen der Führung identifiziert werden könnten.1 Das sind ernste Bedenken, die einer gründlichen Analyse bedürfen. Zum ersten Problemkreis: Sicherlich gehörten Misstrauen und die Praxis der Irreführung zu den Merkmalen, die für Stalin und seine Umgebung typisch und charakteristisch waren. Aber in dieser Hinsicht ist es sehr schwer, einen qualitativen Unterschied im Verhalten gegenüber dem „Gegner“ bzw. „Freunden“ zu finden. Man kann z. B. darüber streiten, ob die verbale Unterstützung der 1

Leonid Gibianskij, Problemy Vostočnoj Evropy i načala formirovanija sovetskogo bloka. In: Cholodnaja vojna 1945–1963gg. Istoričeskaja retrospektiva. Verantw. Red.: N. I. Egorova und A. O. Čubar’jan, Moskau 2003, S. 105–136, hier 122–124.

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Zerstückelungs- und Teilungspläne Deutschlands die wahren Absichten der Sowjetführer widerspiegelte, ob sie einem unzeitgemäßen Konflikt in der Anti-Hitler-Koalition vorbeugen oder der Desinformation der Westmächte dienen sollte. Tatsache ist, dass man von sowjetischer Seite diese Erwägungen erstmals nicht nur an den britischen Außenminister Eden, sondern auch an die britischen Kommunisten (sogar mit einem zeitlichen Vorsprung) adressierte. Ich beziehe mich hier auf den merkwürdigen Telegrammaustausch zwischen dem sowjetischen Botschafter in London, Ivan Majskij und Molotov, dem Leiter des NKID, von November 1941. Am 14. November informierte Majskij Molotov über die Bitte der Führung der britischen kommunistischen Partei, eine Bemerkung Stalins zu kommentieren, in der der Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich dem Sinne nach als „Wiedervereinigung“ interpretiert worden war. Am 21. November übermittelte Molotov mit Berufung auf Stalin selbst folgenden „Kommentar“ an Majskij: „Der Anschluss Österreichs, das hauptsächlich von Deutschen besiedelt ist, an Deutschland passt in das Bild des deutschen Nationalismus, was jedoch keineswegs bedeutet, dass Gen. Stalin für diesen Anschluss ist, denn Gen. Stalin hält den deutschen Nationalismus weder für richtig noch für annehmbar. Stalin wollte hier ausdrücken, dass selbst vom Standpunkt des deutschen Nationalismus die gegenwärtige Eroberungspolitik der Hitlerschergen als verhängnisvoll für Deutschland betrachtet werden muss, dass die Partei der Nationalsozialisten eine grobschlächtig imperialistische und nicht nationalistische ist. Damit wollte Stalin Verwirrung in den Reihen der Hitleranhänger stiften und Unstimmigkeiten zwischen der Hitlerregierung und den nationalistisch eingestellten Schichten des deutschen Volks bewirken. Was den Standpunkt des Gen. Stalin zu Österreich, dem Rheinland u. ä. anbelangt, so denkt Stalin, dass Österreich als unabhängiger Staat von Deutschland abgetrennt werden müsse und Deutschland selbst, darunter auch Preußen, in eine Reihe mehr oder minder selbständiger Staaten zerschlagen werden müsse, um eine künftige Garantie für Frieden und Ruhe der europäischen Staaten zu schaffen.“2

Die britischen „Freunde“ erhielten diese Erläuterung nicht in vollem Umfang. Majskij befürchtete nämlich, dass die britischen Kommunisten sie in öffentlichen Verlautbarungen benutzen könnten, was dann von der Nazi-Propaganda ausgeschlachtet werden würde. Die britischen „Klassenfeinde“ hingegen wurden offensichtlich für vertrauenswürdiger gehalten. Im Dezember 1941 trugen Stalin und Molotov Außenminister Eden diese Idee in einer sehr ausführlichen und prägnanten Form vor. Bekanntlich wurde aus diesem Programm nur ein Punkt realisiert: Österreich wurde wieder ein unabhängiger Staat, Preußen jedoch nicht aufgeteilt, sondern aufgelöst. Deutschland sollte als einheitliches Ganzes erhalten bleiben, aber als Folge des beginnenden Kalten Krieges entstanden dann zwei deutsche Staaten. Vieles spricht dafür, dass diese Perspektive während des Krieges nie ins Auge gefasst wurde. Dasselbe gilt auch für die Zerstückelungsidee. 2

Jochen Laufer/Georgij Kynin (Hg.), Die UdSSR und die deutsche Frage 1941–1948. Dokumente aus dem Archiv für Außenpolitik der Russischen Föderation, Band 1, Berlin 2004, S. 12 f.

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Was oft unerwähnt bleibt, ist die Tatsache, dass sowohl Stalin als auch Molotov davon zumindest einmal, im Februar 1943, ganz klar Abstand nahmen.3 Warum man wieder darauf zukam – etwas verklausuliert in Teheran, mehr prononciert in Jalta –, um dann eine abrupte Wende in April 1945 zu machen, bleibt ein Rätsel. Aber gerade diese Zickzack-Manöver legen den Schluss nahe, dass die Befürwortung der Zerstückelung rein taktischer Natur war. Dass es sich dabei um eine sehr ungeschickte und kontraproduktive Taktik handelte, steht dahin. Was die strategischen Erwägungen der Sowjetführung anbetrifft, polemisiert Gibianskij mit der These des amerikanischen Historikers Melvyn Leffler, der die Widersprüchlichkeit der Aussagen Stalins festgestellt und daraus die Schlussfolgerung gezogen hat, dass Stalin im Krieg, auch in dessen letzten Phase, „kein bestimmtes Ziel hinsichtlich der zukünftigen Sozialordnung in Osteuropa“ besessen habe. Seine wahren Absichten habe Stalin nicht im Gespräch mit Stanislav Mikolajčik zum Ausdruck gebracht (das kommunistische System passe nicht für Polen; es gibt übrigens die andere, stärker bildliche und für unser Thema relevantere Version von Stalins Aussage: „Der Kommunismus passt für die Deutschen wie ein Sattel für die Kuh“), sondern seinem damaligen „engsten kommunistischen Verbündeten“ Tito enthüllt, „dem gegenüber der Herr des Kremls offenherziger hinsichtlich der Bestrebungen zur Sowjetisierung Osteuropas sein durfte“. Gemeint sind wohl die vielzitierten Sätze aus den Memoiren von Milovan Djilas: „Dieser Krieg ist nicht wie in der Vergangenheit; wer immer ein Gebiet besetzt, erlegt ihm auch sein eigenes System auf. Jeder führt sein eigenes System ein, so weit seine Armee vordringen kann. Es kann gar nicht anders sein.“4 Interessanterweise räumt Gibianskij die Notwendigkeit, die Aussagen Djilas’ „kritisch“ wahrzunehmen, ein, und auch das Modalverb „durfte“ mildert etwas die These über die „Offenherzigkeit“, die Stalin Tito entgegengebracht habe. Andererseits findet er ihren Quellenwert durch Dimitrovs Tagebuchnotizen bestätigt, in denen Stalins Prognose vom 23. Januar 1945 überliefert ist, wonach in 10 bis 20 Jahren eine kriegerische Auseinandersetzung des „slawischen Blocks“ mit Deutschland, das „in dieser Zeit eine Wiedergeburt als mächtiger Staat“ erlebt habe, und dem „Kapitalismus im Allgemeinen“ zu erwarten sei. Die „Bestätigung“ ist aber keineswegs vollständig. Denn sinngemäß scheidet Deutschland aus dem Geltungsbereich der Djilas-Formel aus: Es wird nicht als ein Objekt der „Sowjetisierung“, sondern als ein Feind, der die „Sowjetisierung“ der osteuropäischen Länder rechtfertigen soll, eingestuft. Es kann sein, dass Dimitrov die Worte Stalins präziser wiedergibt (wie es mein Kollege meint), aber hat er damit auch seine wahren Intentionen klar und eindeutig aus3 4

Leider sind die Abschriften der entsprechenden Gespräche des britischen Botschafters Clark Kerr mit Molotov und Stalin am 20. und 24. 2.1943 in der Edition von Laufer und Kynin nicht enthalten. Milovan Djilas, Gespräche mit Stalin, Frankfurt a. M. 1962, S. 146.

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gedrückt? Das „dürfte so sein“, meint Gibianskij, der wieder zu einer Modalform greift und keine weiteren Belege anführt.5 Wenn man sich andererseits den Memoiren Chruščëvs zuwendet, so liegt der Schluss nahe, dass Stalin sich in seinen Deutschlandplänen keineswegs auf das Gebiet beschränkte, in das „seine Armee vordringen“ konnte: Er wollte ganz Deutschland kommunistisch machen. Das wird von Chruščëv kategorisch ohne Wenn und Aber behauptet, aber ohne jegliche konkreten Angaben. Vieles spricht dafür, dass diese Passage uns mehr von der Mentalität und der Geisteswelt Chruščëvs, noch dazu im hohen Alter, verrät als von jener Stalins in der Kriegszeit.6 Um das „Signal“ von dem „Lärm“ der öffentlichen und vertraulichen Verlautbarungen Stalins (das gilt übrigens gleichermaßen für Staatsmänner und Politiker aller Länder und Systeme) zu separieren, muss man auch die anderen Quellen heranziehen und sie in ihrer Gesamtheit, was Gibianskij ganz korrekt bemerkt, erfassen. Hier kommen wir zu dem Problem des deutschen „Inputs“ für die sowjetischen Planungsarbeiten. Vor allem geht es um die Tätigkeit der kommunistischen Emigration in der Sowjetunion, die sich bis 1943 im Rahmen der Komintern und dann unter der Ägide der „Abteilung Internationale Information“ (OMI) des ZK der VKP(b) entfaltete. Es gibt verschiedene Auffassungen über die Absichten und Ziele der deutschen Kommunisten sowie über die Beziehungsmuster, die das Verhältnis zur sowjetischen Führung geprägt haben. Da dieses Thema an anderer Stelle ausführlich erörtert wird,7 möchte ich mich hier auf einige Dokumente beschränken, die im Komintern-Fond des RGASPI überliefert sind. Das erste Dokument ist ein Brief Wilhelm Piecks an einen „AntifaAktivisten“ namens Keller vom 13. Januar 1943. Dort schreibt Pieck u. a.: „Es gibt zwei Wege, dem Krieg ein Ende zu machen: die militärische Niederlage und die Volkserhebung zum Sturze Hitlers. Wir ziehen selbstverständlich den letzten Weg vor, weil damit das deutsche Volk nicht nur den Krieg abkürzt, sondern sich auch wieder Achtung und Ansehen bei den anderen Völkern erwirkt und einen gerechten Frieden sich verschaffen wird. Das ist eine Hauptfrage. Die andere Frage ist: Was soll nach Hitler kommen? Dafür gibt das Friedensmanifest ausreichende Auskunft. Wir wollen also ein demokratisches Deutschland anstelle des Hitlerregimes. Wir erheben die Forderung deswegen, weil nicht nur auf dieser Basis die breite Kampffront geschaffen werden kann, sondern weil wir einen solchen Zustand brauchen, um den Massen die Möglichkeit zu verschaffen, auf dem Boden der Demokratie ihren Einfluss geltend zu machen und sich politisch zu orientieren. Erst dann werden die Massen entscheiden können, welchen weiteren Weg sie in der Entwicklung des Staates und der Wirtschaft 5 6

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Gibianskij, Problemy Vostočnoj Evropy, S. 126. „Angesichts Deutschlands hatten wir keine Zweifel. Wir waren absolut sicher, dass es zum sozialistischen Staat wird. [...] Deshalb ist es natürlich, dass Stalin, nach dem Zusammenbruch Deutschlands, um die Sympathien der Deutschen für sowjetische Politik zu sichern, für das einheitliche Deutschlands aussagte. Er stellte sich vor, dass das einheitliche Deutschland sozialistisch und zum Verbündeten der UdSSR werde.“ Siehe Voprosy istorii (Fragen der Geschichte), 1993, H. 9, S. 91 f. Vgl. den Beitrag von Jörg Morré in diesem Band.

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gehen wollen. Wir erheben also keine weitergehenden Forderungen, als sie von den Massen gestellt und verstanden werden. Wir dürfen uns darin nicht beirren lassen, dass solche Stimmen laut werden: jetzt muss der Kommunismus an die Herrschaft kommen, wobei meist noch der Gedanke verbunden wird, dass das mit Hilfe der Roten Armee geschehen muss. Wir müssen sehr real die Lage in Deutschland nach den 10 Jahren Hitlerdiktatur einschätzen und jedenfalls mit unseren Forderungen mit den Füßen auf der Erde bleiben. Wir müssen vor allem Politik machen, d. h. die Massen für bestimmte Forderungen mobilisieren und in den Kampf führen. Ohnedem werden wir nur Agitation machen, ohne unseren Forderungen zum Siege zu verhelfen. Selbstverständlich geben wir damit nicht unsere marxistisch-leninistische Auffassungen preis. Aber das gehört vorläufig in den Bereich der Propaganda, die wir selbstverständlich nicht vernachlässigen dürfen. Auch die Überlegungen über die Möglichkeit der weiteren Entwicklung in dem Verhältnis zwischen der Sowjetunion, England und der USA müssen immer auf die Realität zurückgeführt werden, von der aus dieses Verhältnis angebahnt ist. So lange Hitler nicht vernichtet und damit dem Krieg ein Ende gemacht ist, wird sich in diesem Verhältnis nichts ändern. Wie es sich dann weiter gestalten wird, das wird sehr davon abhängig sein, welche Auswirkungen der Krieg gerade auf die Stimmung der breiten Volksmassen haben wird. Wir sollen solche müßigen Diskussionen, wer wen betrügen wird, möglichst zu unterbinden versuchen. [...] Was die Frage der Schaffung eines Freikorps von Kriegsgefangenen angeht, so denke ich, dass man von der Erörterung dieses Gedankens Abstand nehmen soll. Ich glaube nicht, dass die Frage jemals akut werden wird. Die ‚kämpferischen Antifaschisten‘ unter den Kriegsgefangenen sollen sich in der Hauptsache darauf konzentrieren, selbst etwas zu lernen und andererseits Dich bei der Bearbeitung der anderen Kriegsgefangenen zu unterstützen. Trotzdem werde ich Deine Meinung, dass vielleicht die Zeit gekommen sei, dass die kämpferische Antifa unter den Kriegsgefangenen sich mit einem Brief an Stalin wenden, noch mit dem einen oder anderen Genossen besprechen.“8

Der Brief ist in vielerlei Hinsicht aufschlussreich: So in der Schilderung der Stimmung an der kommunistischen Basis, wo die weit verbreitete Überzeugung „nach Hitler kommen wir“ schon im Voraus, noch auf sowjetischem Territorium, auf die Schaffung entsprechender Machtstrukturen abzielte und gleichzeitig den Bruch der Anti-Hitler-Koalition prognostizierte. Festzuhalten bleibt aber die Tatsache, dass zu dieser Zeit solche Vorstellungen von der KPD-Führung entschieden verworfen wurden. Die letzte Zeile des zitierten Schreibens könnte m. E. als ein Indiz für den beginnenden Prozess, der später zur Bildung des „Nationalkomitees Freies Deutschland“ führte, interpretiert werden. Tatsächlich erfolgte die entsprechende Initiative nicht in der Form eines „Briefes an Stalin“, sondern offensichtlich durch die weniger spektakuläre und bislang noch nicht genau ermittelte Tuchfühlung zwischen dem „Antifa-Aktiv“ und sowjetischen Organen; wichtig ist jedoch, dass es die ersten Ansätze dazu schon Anfang 1943 gab. Das zweite Dokument, das es hier zu besprechen gilt, ist ein Bericht, den Pieck am 20. Juni 1944 an Dimitrov, den Leiter der Abteilung OMI (und früheren Leiter der Komintern) weiterleitete. Es handelt sich um den „Bericht von Politinstrukteur Willi Herr aus dem Frontdurchgangslager der Kfg N 38 in Odessa“. Er enthält das Eingeständnis, dass die Kampfbereitschaft der Wehr8

RGASPI, 495/18/1339a, Bl. 16 f.

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machtsoldaten nicht wesentlich nachgelassen habe, wofür der Politinstrukteur folgende Gründe anführt: „die Angst vor der russischen Gefangenschaft“, „die komplette Unkenntnis der Ziele der Verbündeten“ und „das tiefverwurzelte Misstrauen gegenüber England und den USA“. Anschließend jedoch folgen optimistischere Einschätzungen: „Das Klassenbewusstsein ist gar nicht so vollkommen ausgerottet, wie das noch vor kurzem den Anschein hatte. [...] Die Soldaten und Unteroffiziere verlangen immer wieder den bewaffneten Einsatz so wie Tschechen und Polen. Sie sind der Meinung, dass das Erscheinen einer solchen Freiwilligen-Armee das Kriegsende bedeutet. Es gibt unter 250 deutschen und österreichischen Kriegsgefangenen bei uns im Lager mindestens 90–100 Mann, die unser Vertrauen verdienen.“9 Ob die vom Politinstrukteur ermittelten Daten wirklich „einen guten Einblick in die gegenwärtige Stimmung an der Front“ gaben, wie es Pieck in seiner begleitenden Notiz schrieb, mag bezweifelt werden. Diesmal nahm Pieck keine Stellung zur Idee einer „Freiwilligen-Armee“; das vermittelte Bild eines Reservoirs von „klassenbewussten“ oder mindestens aktiv antifaschistisch positionierten Kriegsgefangenen wurde von ihm anscheinend weitgehend rezipiert. Das mag auch die Entstehung eines recht ambitiösen Planes zur Bildung von „Volksausschüssen“ erklären, die „eine große Hilfe der Besatzungsbehörde im Kampf um die Säuberung des Staatsapparats und für die Umerziehung des deutschen Volkes“ sein würden, wie er in seinem Brief an Dimitrov vom 15. Juli 1944 formulierte. Der Plan war ganz konkret: „Für alle Bezirke der östlichen Hälfte Deutschlands sind zunächst je 20 antifaschistische Kriegsgefangene vorzubereiten, die in kleinen Gruppen die Arbeit in der Hauptstadt des Bezirks bzw. in den wichtigsten Industriezentren des Bezirks organisieren“10. Die Antwortschreiben Dimitrovs auf die Vorstöße Piecks, wenn es sie denn gab, sind nicht bekannt. Jedenfalls dürften sie kaum positiv gewesen sein. Dabei ging es weniger um die Monopolstellung der „Genossen vom NKVD“ bei „Kaderfragen der Kriegsgefangenenschulen“ (worüber sich Pieck in seinem Brief vom 15. Juli beklagte), vielmehr fehlten die „Kader“, die für solchen massiven und massenhaften Einsatz erforderlich gewesen wären. Was die Pläne der „NKVD-Genossen“ betrifft, so scheinen sie ihre Hoffnungen eher mit dem konservativen Teil des deutschen Kriegsgefangenen-Milieus, das sich im „Bund Deutscher Offiziere“ (BDO) konzentrierte, verbunden zu haben. Die Forderungen dieser Gruppe (Gründung einer Exilregierung auf sowjetischen Boden und Beibehaltung der Vorkriegsgrenzen Deutschlands) waren von der Realität noch weiter entfernt als die Entwürfe der KPD-Führung. Es gab aber einen wichtigen Unterschied zwischen beiden Gruppen: Die Kommunisten waren immer loyal und bereit, ihre Sprachregelung nach den Vorgaben der „sowjetischen Freunde“ zu ändern; ganz anders verhielten sich die Generäle. 9 RGASPI, 495/18/159, Bl. 134–137. 10 RGASPI, 495/74/161, Bl. 6 f.

Sowjetische Deutschlandplanungen im Krieg 1941–1945

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Vor kurzem veröffentlichten zwei russische Forscher Auszüge aus einem Bericht des Chefs der Hauptverwaltung für Kriegsgefangene und Internierte (GUPVI), Generalleutnant Michail S. Krivenko, und seines Stellvertreters, Amajak Z. Kobulov, der die abgehörten Gespräche der BDO-Spitzen nach Jalta auswertete. Die Schlussfolgerungen der Berichterstatter sind eindeutig: „Das Verhältnis der führenden Generäle aus dem ‚Bund Deutscher Offiziere‘ zu den Beschlüssen der Konferenz ist äußerst feindlich; in Bezug auf die Position der Sowjetunion wird Kritik geübt“. Als Beleg werden u. a. die folgenden Aussagen angeführt: „Ich verstehe die Politik der Sowjetunion nicht mehr. Wo sind die unantastbaren Prinzipien und das Selbstbestimmungsrecht der Völker? Die Russen sind nicht berechtigt, an die Polen den ‚Lebensraum‘ zu geben, wenn sie das von uns abnehmen. Für Sicherheit würde die Besatzung schon genügen. Das ist eine Gewaltpolitik. In Deutschland werden wir noch viel vom leninistisch-stalinistischen Humanismus kennen lernen“ (General Seydlitz). „Ich erwartete nichts anderes. Diese großen territorialen Ansprüche sind nichts anderes als eine Art von ‚rotem Imperialismus‘. Die Sowjetunion verfolgt ihre eigenen Ziele und ist dabei bereit, ihre eigenen Prinzipien zu missachten, wie das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Wenn man uns nach den landwirtschaftlichen Regionen auch die Industriegebiete abnimmt, wird das Volk schlechthin aushungern“ (General Lattmann). „Ich möchte nur gern wissen, wo eigentlich die Grenze zwischen der Versklavung und der Entschädigung ist. Für Hitler wird es nicht schwer, zum Kampf bis zum letzten Ende aufzurufen, weil in dem Kommunique von Jalta nichts Positives für das deutsche Volk gesagt wird“ (General van Hooven). „Die Geschichte mit dem Nationalkomitee war ein großer Betrug. Es wurde von den Russen gebildet, um ihre Verluste an der Front zu mindern. Wir, die Generäle, wurden auch für diese Zwecke ausgenutzt“ (General von Bogen).

Es gab auch Stimmen, die mehr Nüchternheit und Augenmaß verrieten. General L. Müller beispielsweise verknüpfte die (durchaus gängige) Prognose der baldigen Entfremdung zwischen der UdSSR und Großbritannien (von den USA war keine Rede!) mit recht unkonventionellen und in vieler Hinsicht klugen Bemerkungen, die für GUPVI-Leute natürlich ketzerisch waren: „Die Sowjetunion hat zwei Optionen, um Deutschland zu verwalten: entweder durch Gewalt oder durch Überzeugung und gutes Verhältnis. Der Boden für die Sowjetpropaganda ist bei uns unfruchtbar; die britische Propaganda nimmt das deutsche Volk besser auf. Wenn der Krieg zu Ende geht, wird die Frage der Orientierung des deutschen Volkes durch die materiellen Vorteile entschieden. [...] Für uns wäre es besser, wenn ganz Deutschland von der Roten Arme besetzt würde, dann würde Deutschland ein einheitlicher Wirtschaftsorganismus bleiben. So kommt es aber nicht. Auf dem von der Roten Armee besetzten Territorium werden maximal 10 Prozent der Bevölkerung leben.“ Nur zwei Generäle äußerten das, was aus sowjetischer Sicht „richtig“ war: „Unsere Generäle haben keine Lehren aus den in der Welt vor sich gegangenen Geschehnissen gezogen; sie haben nichts gelernt. Man muss der Sowjetunion vertrauen“ (V. Müller). „Man muss der Sowjetunion glauben und erkennen,

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dass es die Sowjetregierung nicht erlauben wird, dass dem deutschen Volk seine elementaren Existenzbedingungen vorenthalten werden“ (von Lenski).11 Auch im kommunistischen Milieu gab es manche Stimmen, die mit Besorgnis von den sowjetischen „Prüfern“ registriert wurden. Eine vom OMI-Mitarbeiter Ja. Mirov im Juli 1944 erstellte Übersicht des in Schweden herausgegebenen Bulletins „Politische Informationen“ enthielt z. B. eine ganze Liste von „Mängeln“, die in den einzelnen Heften und Artikeln aufgetreten seien: „Einwendungen gegen die Besatzung und Umerziehung“, „Unklarheiten in der Grenz- und Reparationsfrage“, „zu starke Konzentration auf den Kampf gegen den Vansittartismus“, „Überschätzung der politischen Bedeutung des Nationalkomitees ‚Freies Deutschland‘“ usw.12 Im Grunde genommen unterschieden sich die kritisierten Ansichten kaum von denen, die in den Gesprächen der BDO-Generäle nach Jalta zum Ausdruck kamen. Die KPD-Führung nahm jedoch die OMI-Kritik sofort auf und korrigierte ihre „Linie“ entsprechend. So wird in einem Referatsentwurf Ulbrichts von November 1944 mit den Nachdruck die „Liquidierung des preußischen Geistes“ (was indirekt die territorialen Verluste im Osten rechtfertigen sollte) gefordert und der „Anspruch auf die Gleichberechtigung“ als „falsches Schlagwort“ apostrophiert.13 Damit orientierte Ulbricht seine Zuhörer auf die Perspektive des „harten Friedens“ und des Besatzungsregimes, die keine Revolution und Führungsrolle der Kommunisten zuließen. Das besagt natürlich nicht, dass den deutschen Kommunisten keine aktive Rolle im Nachkriegsdeutschland zugedacht war. Hierzu möchte ich aus einem interessanten Dokument zitieren, das auf „die Fragen, die an der Sitzung bei Gen. Dimitrov am 28. XI.1944 besprochen wurden“ Bezug nahm. Es trägt den Titel „Vorschläge zur Vorbereitung leitender Kader“ und ist in vier Abschnitte gegliedert: Partei, Massenorganisationen, Funktionen in staatlichen Stellen, Aktionsräume. Für einige Bereiche werden auch konkrete Namen genannt: Lothar Bolz („Kommunisten in demokratischen Zeitungen“), Zaisser („Arbeitsbeschaffung und Demobilmachung“), Oelßner („Wirtschaft, Finanzen, Steuern“) und Stephan Doernberg („Eisenbahn, Verkehr“). Bei dem Letztgenannten dürfte es sich wohl um den späteren DDR-Historiker handeln, damals ein ganz junger Mann ohne Fachausbildung, was das enorme Kader-Defizit, das jeden Führungsanspruch der KPD im Staat unrealistisch machte, zur Genüge illustriert. Sehr aufschlussreich ist der letzte Abschnitt, der die Aktionsräume behandelt: „Nord-West-Deutschland“, „Süd-West-Deutschland“, „Mittel-Deutschland“, „Wasserkante“ und „Östlicher Teil Deutschlands (Schlesien)“.14 Das legt erstens den Schluss nahe, dass sich die Tätigkeit der KPD nicht auf die „östliche 11

Zit. nach Dmitrij Omel’čuk/Sergej Jurčenko, Krymskaja konferencija: neizvestnye stranicy. In: Svobodnaja Mysl’, 2 (2001) H. 3, S. 119–125, hier 124 f. (Rückübersetzung). 12 RGASPI, 495/74/158, Bl. 117–124. 13 RGASPI, 495/74/161, Bl. 140 f. 14 RGASPI, 495/74/161, Bl. 146–148.

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Hälfte“ des Landes (siehe Piecks Vorschlag vom 15. Juli 1944) beschränken sollte, und zweitens, dass weder die KPD-Führung noch die Spitzen der OMI-Abteilung über die geplante (und faktisch schon beschlossene) deutsch-polnische Grenzziehung informiert worden waren. Wenn wir zum Problem des Aussagewertes der Verlautbarungen sowjetischer Provenienz zurückkehren, so kann zumindest eine Bemerkung Stalins in dem Gespräch mit Eden am 21. Oktober 1943 als aufrichtig und wahrheitsgetreu gewertet werden. Sie betrifft die Frage Edens, was die Russen mit dem Nationalkomitee vorhätten, worauf Stalin erwiderte: „ Das deutsche Komitee ist ein Propagandainstrument [...]. Natürlich gibt es in diesem Komitee Leute, die davon träumen, dass sie die Geschicke Deutschlands entscheiden werden. Es sei jedoch daran erinnert, dass keine Regierung, die etwas auf sich hält, Umgang mit Kriegsgefangenen pflegen wird.“15 Diese Bemerkung war kein Betrug. Wie soll ein ausgewogenes Urteil über die Materialien der drei NKID-Kommissionen als historischer Quelle und ihrer Bedeutung für die sowjetische Deutschlandplanung der Kriegszeit ausfallen? Vor allem kann es nicht pauschal sein. Es ist gerade die Pauschalisierung, die ernste Bedenken gegen solche Thesen hervorruft, wie sie in der Aktenedition von Laufer und Kynin oder in einer Monographie Wettigs anzutreffen sind. Im ersten Fall heißt es: „Die Orientierung auf eine staatliche Teilung Deutschlands, die sich für Stalin bereits für November 1941 nachweisen lässt, bildete eine Grundkonstante der Nachkriegsplanung des Narkomindel.“16 Und bei Wettig liest man über die Arbeit der NKIDKommissionen, es handele sich um „die von einflusslosen, ohne nähere Anleitung operierenden Funktionären des Außenministeriums ausgearbeiteten Entwürfe, von denen anscheinend keiner dem obersten sowjetischen Führer jemals vorgelegt worden ist“.17 Beide Thesen mögen eine relative Geltung für die Arbeiten der von Litvinov und von Majskij geleiteten NKID-Kommissionen besitzen. Sie treffen aber nicht für die dritte, für die Vorošilov-Kommission, zu. Dort war nie von „der staatlichen Teilung Deutschlands“ im Sinne der Idee Stalins von November 1941 die Rede. Gerade sie aber besaß, wie auch Laufer und Kynin feststellen, „die größte Bedeutung“: „Dies resultierte u. a. daraus, dass ihr die Vorbereitung der sowjetischen Position in der ‚European Advisory Commission‘ (EAC) oblag. Lediglich die von dieser Kommission erarbeiteten wichtigsten Dokumente wurden von Stalin persönlich bestätigt.“18 Durch diese m. E. absolut richtige Feststellung wird jedoch die von Laufer und Kynin behauptete „Grundkonstante“ ebenso widerlegt wie die von Wettig vertretene These der Irrelevanz. Diesen Widerspruch versuchte Laufer in einem früher veröffentlichten Aufsatz damit zu beheben, dass er der Vorošilov-Kommission eine Teilungs15 Laufer/Kynin (Hg.), UdSSR und deutsche Frage, Band 1, S. 616, Anm. 184. 16 Ebd., S. 33. Narkomindel: Langform der russischen Abkürzung „NKID“ (Volkskommissariat für Auswärtige Angelegenheiten). 17 Gerhard Wettig, Bereitschaft zu Einheit in Freiheit? Die sowjetische Deutschland-Politik 1945–1955, München 1999, S. 39. 18 Laufer/Kynin (Hg.), UdSSR und deutsche Frage, Band 1, S. 45.

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absicht zusprach, zwar nicht im Sinne der Mehrstaatlichkeit, sondern als die Präjudizierung der Abspaltung des östlichen Teils Deutschlands, wie es dann letztlich in der Gründung der DDR im Jahre 1949 seinen Ausdruck fand.19 Auch hier geht es um die verabsolutierende Deutung von zwei an sich unbestreitbaren Tatbeständen: Erstens widmete die Vorošilov-Kommission dem Problem der Zonengrenzziehung anfänglich relativ viel Zeit, und zwar unter dem Blickwinkel einer möglichen Erweiterung der Sowjetzone und zweitens, gab es eine starke Opposition gegen das Prinzip der „gemischten Besatzung“ sowie gegen die Beschränkung der Macht der Zonenbefehlshaber zugunsten des Vier-Mächte Mechanismus, was vom Westen befürwortet wurde. Die Ansichten der Kommissionsmitglieder lassen sich aber durch andere Motive als das der maximalen – territorialen wie machtpolitischen – Kontrolle zum Nachteil der Verbündeten erklären. Die Zonengrenzen wollte man so ziehen, um die „Parität“ der Sieger sichtbar zu machen (nicht umsonst sprach Pieck von der „östlichen Hälfte“ Deutschlands); noch dazu ließ man diese Intention durch die Annahme des ursprünglichen britischen Vorschlags ziemlich bald fallen. Gegen eine „gemischte“ Besatzung sprach die Angst vor den möglichen Auswirkungen unkontrollierbarer Kontakte von Rotarmisten mit Angehörigen der „kapitalistischen Armeen“ (Solche Befürchtungen waren auch der westlichen Seite nicht fremd, was z. T. erklären dürfte, weshalb sie diese Idee nicht weiter verfolgten. Verwunderlich ist eher die Tatsache, dass man – auch sowjetischerseits – die „gemischte Besatzung“ von ganz Österreich, später dann allein von Wien, befürwortete.). Was die Verteilung der Befugnisse zwischen den zonalen Besatzungsbehörden und zonenübergreifenden Organen anbetraf, dürfte nicht nur das Misstrauen gegenüber den Alliierten ausschlaggebend gewesen sein, sondern auch die nüchterne und realistische Erwägung, dass die Übertragung der schwierigen Aufgabe der Ausrottung des Nazismus an eine ganz neue und bislang nie erprobte Supranationalstruktur ein unverantwortliches Abenteuer darstelle. Von Bedeutung ist auch die Tatsache, dass die Konzentration „der vollen Macht in der Kontrolle über die deutsche Regierung und die deutschen Behörden“ in den Händen der Zonenbefehlshaber nur für die „Anfangsperiode der Besatzung“ vorgesehen war. Diese Position, die der Kommissionsvorsitzende formulierte, wurde bezeichnenderweise von Admiral Ivan Stepanovič Isakov bestritten, der seine Meinung so zum Ausdruck brachte: „Selbst im ersten Zeitabschnitt der Besatzung Deutschlands [wird es] nicht gelingen, ohne ein einheitliches alliiertes Organ in Form einer Kontrollkommission auszukommen, die die ständige Kontrolle dahingehend ausüben wird, dass Deutschland die Kapitulationsbedingungen in sämtlichen Bereichen der Volkswirtschaft (Finanzen, Justiz usw.) einhält. [...] Dem widersprechend verweist Gen. Vorošilov darauf, dass wir die Einrichtung eines Konsultations- und Abstimmungsgremiums beabsichtigen, 19 Jochen Laufer, Die UdSSR und die Zoneneinteilung Deutschlands (1943/44). In: ZfG, 43 (1995), S. 309–331.

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das all diese Fragen in der Tat koordinieren wird; unabhängig davon werde jeder Oberbefehlshaber einen Apparat von Personen zur Verfügung haben, um die ständige Kontrolle über die Einhaltung der Kapitulationsbedingungen durch Deutschland auszuüben. Das Konsultations- und Abstimmungsgremium der Alliierten kann dann sukzessive in eine Kontrollkommission hinüberwachsen.“20 Dieser Meinungsaustausch ist in der Edition von Laufer und Kynin (Dokument 99: „Das Tagebuch der Kommissionssitzung vom 5. Mai 1944“) abgedruckt. Was dem Leser vorenthalten bleibt, ist die Fortsetzung der Diskussion in der nächsten Sitzung am 10. Mai, wo die Position Isakovs nun durch Vorošilovs Stellvertreter, Marschall Šapošnikov, unterstützt wurde. Das ist nicht unwichtig. Denn es zeigt den Trend, dass sich der Kreis, der eine Kooperation in den interalliierten Beziehungen befürwortete, erweiterte. Um den Kontext diesbezüglicher Besprechung zu rekonstruieren, möchte ich einen längeren Auszug aus den Notizen des Kommissionssekretärs zur Sitzung vom 10. Mai 1944 zitieren: „Anwesend: Gen. K. E. Vorošilov, B. M. Šapošnikov, I. S. Isakov, I. M. Majskij, A. A. Ignat’ev, S. B. Krylov, M. R. Galaktionov, S. T. Bazarov. In der Sitzung wurden der Entwurf unseres Memorandums hinsichtlich der Organe der Alliierten in Deutschland und der Entwurf des Briefes an Gen. V. M. Molotov zu derselben Frage erörtert. Gen. Šapošnikov berichtet, dass wir [der Aufzeichnende schließt sich selbst ein] bei der Zusammenstellung des Memorandumsentwurfs den von Winant vorgestellten Entwurf zum Kontrollmechanismus in Deutschland genutzt haben. Unser Entwurf erwähnt die Organen der Alliierten nur für die Anfangszeit, die die Zeit der Kriegshandlungen und unmittelbar danach umfasst. Die Hauptarbeit zur Ausübung der Kontrolle über die Erfüllung der Kapitulationsbedingungen durch Deutschland wird nach unserem Entwurf dem Apparat des Oberbefehlshabers in den jeweiligen Besatzungszonen zugeteilt. Gen. Vorošilov bemerkt, dass in unserem Entwurf unzureichend aufgezeigt wird, dass die Befehlshaber in den jeweiligen Zonen die einzige reale Machtquelle in Deutschland sein sollen. Außerdem ist es im stärkeren Maße als in unserem Entwurf notwendig, neben dem Apparat eines Befehlshabers zur Kontrolle über die Erfüllung der Kapitulationsdingungen durch Deutschland die Anzahl der beim ‚Inter-Alliierten Koordinationskomitee‘ zu schaffenden Abteilungen zu erweitern. Diese Abteilungen sollen als die Hilfsorgane der Verbündeten für die Beziehungen mit den jeweiligen Regierungsbehörden Deutschlands fungieren. Indem die Alliierten ein so geartetes Koordinationskomitee schaffen und die Anzahl seiner Abteilungen entsprechend den in Deutschland bestehenden Staats- und Lokalorganen erweitern werden, bezeugen sie nochmals, dass sie die deutsche Regierung nicht endgültig abschaffen, sondern umgekehrt versuchen werden, die Letztere für die Leitung [rukovodstvo] und Verwaltung Deutschlands zu benutzen. Gen. Majskij weist darauf hin, dass auch die Liquidierung des Nazi-Regimes als ein Motiv für die Übergabe der Kontrolle über die Erfüllungen der deutschen Kapitulationenbedingungen an die Befehlshaber genannt werden soll, weil diese Aufgabe vor allem den Befehlshaber schon in der ersten Tage nach der Besetzung auferlegt wird. Was die Anzahl der Abteilungen betrifft, die beim Koordinationskomitee zu bilden sind, so sollen sie im Allgemeinen der Struktur der Ministerien und anderen Zentralorganen der Deutschen Regierung entsprechen. Gen. Šapošnikov weist darauf hin, dass man dazu die Struktur der Ministerien, die in der Weimarer Verfassung enthalten ist, heranziehen soll. 20 Laufer/Kynin (Hg.), UdSSR und deutsche Frage, Band 1, S. 388.

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Gen. Vorošilov weist darauf hin, dass es notwendig ist, beim Aufbau der Verwaltung des besetzten Deutschlands davon auszugehen, dass die Alliierten, bei aller Härte gegenüber Deutschland [kak by Sojusniki bespoščadny ne byli po otnošeniju k Germanii], die Verwaltung dieses Landes so organisieren, dass die Deutschen begreifen, dass sie, nach Wiedergutmachung des Übels, das sie den Völkern Europas zugefügt haben, doch Menschen bleiben, mit denen man als einer Nation zu rechnen hat. Als Beispiel, wo dieser Gesichtspunkt von den Alliierten ungenügend berücksichtigt wurde, mag Süditalien dienen, was zur politischen Instabilität und mangelnden Einheit der italienischen Bevölkerung geführt hat. Des weiteren weist Gen. Vorošilov darauf hin, dass die Aufteilung Deutschlands in drei selbständige Zonen eine erzwungene Notwendigkeit für die Alliierten ist und dass diese Aufteilung in der ersten Zeit sehr lästig sein wird [budet kraine obremenitel’nym], weil sie den ganzen Wirtschaftsmechanismus dieses Landes stören wird. Unabhängig davon, muss die Verwaltung Deutschlands so organisiert werden, dass die Deutschen und das ganze Deutschland arbeiten kann, um sich selbst zu versorgen und Reparationen an die Alliierten zu zahlen, denen diese zustehen. Man muss eine Situation verhindern, in der die Alliierten gezwungen sind, Mais aus Amerika zu liefern, um die Deutschen zu ernähren. Die Aufteilung Deutschlands in drei Zonen kann in der Praxis dazu führen, dass die Masse der Arbeiter in unserer Zone, jedoch die Arbeitsplätze in den anderen Zonen sind; die Schifffahrtswege können in einer Zone, und die Schiffe in einer anderen sein. All diese Fragen müssen in einem ‚Inter-Alliierten Koordinationskomitee‘ gelöst werden. Gen. Majskij weist darauf hin, dass wenn wir uns nun einmal aus politischen Gründen entschieden haben, Deutschland in drei Zonen aufzuteilen, uns jetzt nichts anderes übrig bleibt, als die Organe der Alliierten zu benennen, die für die Verwaltung Deutschlands unter der Maßgabe eingerichtet werden, dass das Land in drei selbständige Zonen geteilt wird. Gen. Šapošnikov führt als Beispiel an, dass wenn für die Ernährung des Ruhrgebietes Kartoffeln aus Ostpreußen benötigt werden, die deutsche Regierung eine Bestellung [zajavka] an den Befehlshaber der sowjetischen Zone richten müsse, der sich dann um eine solche Lieferung kümmern werde. Gen. Vorošilov weist darauf hin, dass solche Bestellungen, bevor sie im ‚Koordinationskomitee‘ begutachtet wurden, nicht bedingungslos erfüllt werden können. Dieses Komitee muss über alle Lebensmittelsvorräte – nicht nur in der sowjetischen, sondern auch in den anderen zwei Zonen – informiert sein. Gen. Šapošnikov weist darauf hin, dass man in diesem Fall eine Hohe Kommission, wie es Strang vorschlägt, bilden müsse, wohingegen sich die Rechte der Befehlshaber ausschließlich auf die Fragen der Sicherheit beschränken würden. Gen. Vorošilov stellt klar, dass – ungeachtet der Aufteilung Deutschlands in drei Zonen – diese Teilung keinesfalls das gesamte Wirtschaftssystem des Landes zerstören oder radikal ändern dürfe.“21

Was folgt aus diesem Meinungsaustausch? Der Kommissionsvorsitzende, von Majskij unterstützt, verteidigt nach wie vor das Prinzip der „Oberhoheit der Zonenbefehlshaber“, sein Stellvertreter bekundet Widerspruch, was aber – anders als in der Sitzung vom 4. Mai – keine Erwiderung hervorruft. Der Gesamttenor der Diskussion sieht etwa so aus: Es soll einen effektiven Koordinierungsmechanismus der Alliierten, keine Diskrepanz zwischen sowjetischen, alliierten und deutschen Interessen, keine „Revolutionierung“ Deutschlands und nicht zuletzt „einen gewissen Spielraum für die deutsche Regierungsbehörden“ (iz-

21 AVP RF, 06/6/150/15, Bl. 124–126.

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vestnoje mesto dlja germanskich vlastej), worüber nichts im Entwurf von Winant steht“ (wie Vorošilov zum Schluss der Sitzung ausführte22), geben. Ein überkritischer Quellenforscher mag hier seine Zweifel bekunden: Die Aussagen der Kommissionsteilnehmer seien zu unscharf, vieldeutig, ja schwer interpretierbar, um definitive Schlussfolgerungen zu ziehen. Wahr ist, dass die Klarheit der Sprache in den „Tagebüchern“ viel zu wünschen lässt, und es bleibt auch die Frage, ob der Kommissionssekretär (Bazarov) den Inhalt der Diskussion ganz korrekt rezipiert und fixiert hat. Das aber sind Bedenken, die für viele Dokumente zutreffen dürften, und der einzige Weg zur Objektivität liegt wohl in der möglichst breiten Analyse der überlieferten Quellen. Was die Materialien der Vorošilov-Kommission anbetrifft, ist dies leider nicht der Fall. Vom März 1944 bis Juni 1944 fanden 22 Sitzungen dieses Gremiums, meist zur deutschen Frage, statt; in der Edition von Laufer und Kynin wurden aber lediglich drei Sitzungsprotokolle veröffentlicht. Einen wesentlich größeren Raum (um genau zu sein: das Fünffache) widmen die Herausgeber den Vorarbeiten aus früherer Zeit, die ihre Relevanz teilweise schnell verloren hatten. An dieser Stelle muss ich selbstkritisch einräumen, dass ich in meinen ersten Beiträgen zur sowjetischen Deutschlandplanung ebenfalls die Tätigkeit der Vorošilov-Kommission vernachlässigt habe.23 Bis heute gibt es keine systematische Darstellung zu diesem Themenbereich.24 Um den Rahmen des Beitrages nicht zu sprengen, beschränke ich mich auf einige kurze, stichwortartige Kommentare zu den Haupttendenzen der Planungsarbeiten. Das politische Ordnungsmodell, das in der Vorošilov-Kommission für das Nachkriegsdeutschland entworfen wurde, lässt sich wie folgt skizzieren: ein einheitlicher Staat, gesäubert von nationalsozialistischen Funktionären, Praktiken und Gesetzen, mit einer Gesetzgebung nach dem Muster der Weimarer Verfassung, privatwirtschaftlich organisiert, ins Welthandelssystem eingebunden, verwaltet von einer deutschen Zentralregierung – natürlich unter Aufsicht der Besatzungsmächte. Sicher soll man jede Idealisierung und Schönfärberei vermeiden; Schwachstellen gab es auch hier zur Genüge. Die Beibehaltung einer effektiven Zentralregierung war eine der Grundprämissen, die nicht nur für die Planung der Vorošilov-Kommission, sondern auch für die Dritte Europäische Abteilung (DEA), 22 Ebd., Bl. 127. 23 Siehe u. a. Aleksej M. Filitov, Die sowjetische Deutschlandplanung zwischen Parteiräson, Staatsinteresse und taktischem Kalkül. In: Hans-Erich Volkmann (Hg.), Ende des dritten Reiches – Ende des Zweiten Weltkriegs. Eine perspektivische Rückschau, München 1995, S. 117–140; ders., Problems of Post-War Construction in Soviet Foreign Policy Conceptions during World War II. In: Francesca Gori/Silvio Pons (Hg.), The Soviet Union and Europe in the Cold War, 1943–1953, London 1996, S. 3–22. 24 Als erster Ansatz zur Bearbeitung dieses Themas darf mein Beitrag in einem Konferenzband aus dem Jahr 1995 gelten. Aleksej M. Filitov, Evropa v sovetskich planach poslevoennogo porjadka. In: Alla Namazova/Barbara Emerson (Hg.), Istorija evropejskoj integracii (1945–1994), Moskau 1995, S. 17–29.

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die ab Mitte 1944 deren Funktionen weitgehend übernahm, charakteristisch war – aber welche Regierung? Eine neuzubildende oder die alte, die im Dritten Reich funktionierte? Manches spricht dafür, dass man stillschweigend die letzte Option für die realistischere hielt. Selbst das Weiterbestehen des „Machtapparats“ des Reiches wurde als eine beinahe selbstverständliche Perspektive betrachtet. So heißt es in einem Gutachten, das der DEA-Chef, Andrej Smirnov, am 24. Juli 1944 dem stellvertretenden Volkskommissar Vladimir Dekanozov vorlegte, hinsichtlich der Aufgaben der sowjetischen Konrollinstanzen im besetzten Deutschland: „Kontrolle über die Reorganisation der deutschen staatlichen Verwaltung. Säuberung des deutschen Staatsapparates. Beseitigung von Nazi-Partei, SS, SA, Gestapo, Polizei, Hitlerjugend. Kontrolle der Abschaffung der Nürnberger Rassengesetze und der unter Hitler erlassenen Rechtsvorschriften. Kontrolle des deutschen Innenministeriums, des Justizministeriums, der Gerichte und Staatsanwaltschaften, der Reichskanzlei und der örtlichen Verwaltung.“25 In einem späteren Entwurf, den Smirnov und Vladimir Semënov, der zukünftige Politische Berater der SMAD, am 25. Mai 1945 an Volkskommissar Molotov sandten, hieß es in dem Abschnitt, der die Funktionen der geplanten 13 Abteilungen des „Sowjetischen Teils der Zentralen Kontrollkommission in Deutschland“ (so sollte die SMAD ursprünglich heißen – ein wesentlicher Unterschied!) behandelte: „Ausübung von Leitung und Kontrolle in Bezug auf die jeweiligen deutschen Ministerien und deutschen Zentralbehörden.“26 Diese Formulierung wurde nicht in den Text der Verfügung über die Bildung der SMAD aufgenommen. Mit gutem Grund: Denn es gab zu dieser Zeit in Deutschland weder Ministerien noch Zentralbehörden. Dieser Vakuumzustand war ein Phänomen, das man bei der Planung nicht berücksichtigt, ja nicht einmal als die Eventualität in Betracht gezogen hatte. Das war natürlich eine schwerwiegende Fehlleistung, die wohl aus der Unterschätzung der Durchdringung und Aushöhlung der staatlichen Strukturen durch den Nationalsozialismus resultierte. Wie dem auch sei, hier liegt m. E. der entscheidende Unterschied zwischen der deutschen und der österreichischen Nachkriegsentwicklung. Wäre es in Deutschland möglich gewesen, eine völlig neue antifaschistische Regierung nach dem Muster Österreichs zu bilden? Ein so prominenter Historiker wie Michail Gorbatschow bejaht das ausdrücklich und kritisiert die Potsdamer Beschlüsse wegen des Fehlens einer entsprechenden Regelung.27 Der Vorwurf ist m. E. unbegründet. Denn in Österreich war das totalitäre Regime von kürzerer Dauer, es gab zudem, zumindest ansatzweise, die Zusammenarbeit der verschiedenen politischen Kräfte (einschließlich der Kommunisten) in der Widerstandsbewegung, was in Deutschland weitgehend fehlte. 25 Laufer/Kynin (Hg.), UdSSR und deutsche Frage, Band 1, S. 424. Hervorhebung durch den Verfasser. 26 Ebd., Band 2, S. 19. 27 Michail S. Gorbačëv, Kak çto bylo. Ob-edinenie Germanii, Moskau 1999, S. 20 f.

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Im Vergleich zu der ungelösten und kaum zu lösenden Frage der deutschen Zentralregierung waren die ideologisch-weltanschaulichen Unterschiede unter den sowjetischen Experten für die praktische Planungsarbeit von eher geringer Bedeutung. So mag es paradox klingen, dass antiwestliche Feindbilder in der Gedankenwelt Litvinovs und Majskijs, die man als „Westler“ (d. h. als Befürworter einer Kooperation mit den „kapitalistischen Ländern“) zu bezeichnen pflegt, eine größere Rolle spielten. Der Unterschied zwischen diesen beiden Personen bestand anscheinend darin, dass ersterer praktisch undifferenziert die USA und Großbritannien als „Feinde“ betrachtete, während der letztgenannte zunächst im britischen „konservativen Imperialismus“ ein nützliches Gegengewicht gegenüber dem „dynamischen Imperialismus“ der USA sah, und er deshalb eine britisch-sowjetische Zusammenarbeit in der Nachkriegszeit befürwortete, um dann eine diametral entgegengesetzte Einstellung einzunehmen. Alle diese Erwägungen und/oder Kehrtwendungen (im Falle Majskijs; Litvinov war in seiner Grundposition konsequenter) waren von der Realität weit entfernt, was auch ihre schwache Resonanz, die sie bei der Sowjetführung fanden, teilweise erklären könnte. Auch in der Vorošilov-Kommission haben ideologische Vorurteile ihre Wirkung nicht verfehlt. So rief der Vorschlag des britischen Vertreters in der European Advisory Commission, William Strang, die Tätigkeit der internationalen Verkehrsorganisationen im Nachkriegsdeutschland wieder zuzulassen, eine heftige Auseinandersetzung hervor: Während sich der Berichterstatter, Aleksej Ignat’ev, für die Annahme des Vorschlags aussprach, waren der Vorsitzende und andere Mitglieder dagegen: Es handle sich um die Interessen „privater britischer Firmen“ und widerspreche ipso facto den sowjetischen Interessen.28 Sowohl das Ausgangsargument als auch die Logik der Beweisführung waren gewiss unsachlich, aber effektiv in der Zurückweisung des Standpunktes, den Ignat’ev vertreten hatte. Diese relativ unbedeutende Frage wurde in drei Sitzungen der Kommission (am 24. Mai, 9. und 15. Juni) besprochen.29 Auf einem ähnlich ideologisch begründeten Verdacht beruhte wohl auch das Verbot jeglicher Handelsbeziehungen „zwischen den Industriellen Deutschlands und denen anderer Nationen“, das Vorošilov auf der Sitzung vom 6. Mai formuliert hatte30. Diese harte Position schwächte er in der Sitzung vom 15. Juni etwas ab, als es um die Frage der Entschädigung ausländischer Firmenbesitzer ging. Vorošilov unterschied hier zwischen ausländischen Eigentümern, die „Geheimbeziehungen mit den deutschen Firmen“ pflegten, und jenen, die in solche Affären nicht verwickelt gewesen seien. Nur die Rechtsansprüche der Letzteren sollten anerkannt werden. Wer jedoch während des Krieges mit dem Feind gehandelt und Profite gemacht habe, verdiene keine Entschädigung; „solche Besitzer (z. B. DuPont) fänden auch bei der eigenen Regierung keine Unterstüt28 AVP RF, 06/6/150/15, Bl. 141–143. 29 Ebd., Bl. 141–143, 148–149, 154. 30 Ebd., Bl. 121.

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zung“31 (hierin erwies sich der Marschall als ein zu großer Optimist!). Immerhin stipulierte der Entwurf der Kommission vom 30. November die Zulässigkeit „der finanziellen, kommerziellen und anderen Transaktionen“ zwischen der „deutschen Regierung sowie deutschen natürlichen und juristischen Personen“ und „neutralen Länder“ (natürlich „unter Aufsicht der Regierungen der UdSSR, Großbritanniens und der USA“).32 Das frühere Autarkie- und Isolierungsgebot war damit aufgehoben. Die „Milderungstendenz“ kam auch in der Frage der Bestrafung der NSDAPFunktionäre zum Tragen. Nach dem Entwurf der Kommission vom 3. Februar 1944 war die „unverzügliche Internierung“ aller „Kreisleiter, Ortsgruppenleiter, Zellenleiter und Blockleiter“ sowie aller SA-Mitglieder vorgesehen.33 Bei der Besprechung in der Kommissionssitzung vom 4. Mai (sie ist in der Edition von Laufer und in Kynin leider nicht dokumentiert) nahm man davon Abstand. Hier soll ein Auszug aus dem Sitzungstagebuch angeführt werden: „Gen. Majskij weist darauf hin, dass die drei Mächte sich, seiner Meinung nach, nur auf allgemeine Prinzipien einigen sollen, welche der Führungsgruppen der Nazi-Partei zu internieren sind, die konkrete Personenliste jedoch von jeder [Besatzungs]-Macht selbst aufgestellt werden soll. Gen. Ignat’ev sagt, dass die Verbündeten sich über die ungefähre Anzahl der Führer der Nazi-Partei einigen sollen, die zu internieren sind. Gen. Vorošilov wendet sich dagegen und weist darauf hin, dass diese Frage nur in Hinblick auf mehrere Dutzend Personen konkretisiert werden kann; es ist aber unmöglich, über dutzende und hunderte Tausende zu sprechen, ohne zu wissen, wen wir meinen. Gen. Majskij weist darauf hin, dass alle Reichsleiter und Gauleiter jedenfalls verhaftet werden sollen. Nach der Besprechung dieser Frage beschloss die Kommission, in dem Protokoll zu vermerken, dass die Internierung neben den Reichs- und Gauleitern auch für die Kreis-, Ortsgruppen-, Zellen- und Blockleiter gilt, die in der von den Vertretern des Hauptkommandos der Verbündeten erstellten und an die deutsche Regierung überreichten Spezialliste genannt werden.“34

Auch hier kamen wieder die beiden Grundprämissen – deutsche Zentralregierung und die Kooperation der „Großen Drei“ – zur Erscheinung. Zusammenfassend: Das passendste Wort, um die sowjetischen Planungen während der Kriegszeit hinsichtlich der Zukunft Deutschlands zu charakterisieren, ist wohl Pluralität. Damit ist nicht nur die Vielfalt der Planungsgremien und -milieus gemeint, sondern auch die Differenzen in Gedankengängen und Optionen zwischen diesen Strukturen, aber auch innerhalb der Gremien und der Stellungnahmen, die zu verschiedenen Zeitperioden für das eine oder andere charakteristisch waren. Die Gesamtentwicklung ging in eine positive Richtung bis zur Zäsur von Ende Mai/Anfang Juni 1945, als der Schatten der Atombombe und der Atomdiplomatie auch auf das Panorama der Deutschlandplanung fiel. 31 32 33 34

Ebd., Bl. 157. Ebd., Bl. 361. Laufer/Kynin (Hg.), UdSSR und deutsche Frage, Band 1, S. 309. AVP RF, 06/6/150/15, Bl. 111 f.

Antifaschistische Volksfront und „demokratische Republik“. Die Exilkonzeptionen der Kommunistischen Partei Österreichs vor dem Hintergrund der sowjetischen Österreichpolitik Manfred Mugrauer

1.

Die sowjetischen Vorstellungen über die Wiederherstellung Österreichs1

Der „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich im März 1938 wurde von der Sowjetunion am 17. März 1938 in einer Erklärung des Volkskommissars für auswärtige Angelegenheiten Maksim M. Litivinov als „Gewaltakt, der das österreichische Volk seiner politischen, ökonomischen und kulturellen Unabhängigkeit beraubt“ habe, verurteilt.2 Am darauffolgenden Tag forderte die sowjetische Regierung an die Großmächte vergeblich zu kollektiven Maßnahmen 1

2

Das Standardwerk zur sowjetischen Österreichpolitik von Wilfried Aichinger musste ohne sowjetische Originalquellen auskommen (Wilfried Aichinger, Sowjetische Österreichpolitik 1943–1945, Wien 1977). Erstmals auf Basis interner Dokumente: Oliver Rathkolb, Historische Fragmente und die „unendliche Geschichte“ von den sowjetischen Absichten in Österreich 1945. In: Alfred Ableitinger/Siegfried Beer/Eduard G. Staudinger (Hg.), Österreich unter alliierter Besatzung 1945–1955, Wien 1998, S. 137– 158, sowie in überarbeiteter Form: Oliver Rathkolb, Sonderfall Österreich? Ein peripherer Kleinstaat in der sowjetischen Nachkriegsstrategie 1945–1947. In: Stefan Creuzberger/Manfred Görtemaker (Hg.), Gleichschaltung unter Stalin? Die Entwicklung der Parteien im östlichen Europa 1944–1949, Paderborn 2002, S. 353–373. Nach Öffnung der sowjetischen Archive sind 2005 einige Beiträge erschienen, die die Österreichplanungen der Sowjetunion erstmals auf breiter Quellenbasis darstellen: Aleksej Filitov, Sowjetische Planungen zur Wiedererrichtung Österreichs 1941–1945. In: Stefan Karner/Barbara Stelzl-Marx (Hg.), Die Rote Armee in Österreich. Sowjetische Besatzung 1945–1955. Beiträge, Graz 2005, S. 27–37; Peter Ruggenthaler, Warum Österreich nicht sowjetisiert werden sollte. In: ebd., S. 61–87, bes. 73–78; Wolfgang Mueller, Die sowjetische Besatzung in Österreich 1945–1955 und ihre politische Mission, Wien 2005, S. 17–46. Diesbezügliche Dokumente sind abgedruckt in Stefan Karner/Barbara Stelzl-Marx/Alexander Tschubarjan (Hg.), Die Rote Armee in Österreich. Sowjetische Besatzung 1945–1955. Dokumente, Graz 2005, S. 25–55. Die nachfolgende Darstellung der sowjetischen Österreichpolitik und -planungen folgt im Wesentlichen diesen Publikationen. Auszugsweise in Stephan Verosta, Die internationale Stellung Österreichs 1938 bis 1947. Eine Sammlung von Erklärungen und Verträgen aus den Jahren 1938 bis 1947, Wien 1947, S. 28 f.

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gegen Deutschland auf.3 Der Hinweis auf den mit dem „Anschluss“ verbundenen Machtzuwachs Deutschlands macht einen Grundzug der sowjetischen Österreichpolitik deutlich, der auch in den Folgejahren bestimmend bleiben sollte: ihre Unterordnung unter die Beziehungen zu Deutschland. Diese führte auch dazu, dass nach der Unterzeichnung des deutsch-sowjetischen Freundschaftsvertrags am 23. August 1939 „sämtliche sowjetischen Initiativen zugunsten Österreichs der Aufteilung Europas zwischen Hitler und Stalin zum Opfer fielen und Österreich [...] nicht mehr Gegenstand offizieller sowjetischer Stellungnahmen war“.4 Mit diesem Kurswechsel einher ging die weitgehende Aussetzung der antideutschen Propaganda: Die sowjetischen Planungen, im Rahmen der deutschsprachigen Sendung von Radio Moskau eine eigene ÖsterreichSendung aufzubauen, wurden eingestellt.5 Insgesamt vermied es die sowjetische Propaganda in den beiden Jahren des Paktes „peinlichst, den hitlerschen Partner auch nur im geringsten zu ,provozieren‘“.6 Nach dem Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion verfolgte diese kontinuierlich den Standpunkt, Österreich als unabhängigen Staat wiederherzustellen. Eine dahingehende Klarstellung erfolgte zunächst am 21. November 1941 intern in einem Telegramm von Vjačeslav M. Molotov, Volkskommissar für auswärtige Angelegenheiten, an den sowjetischen Botschafter Ivan A. Majskij in London.7 Stalin hatte zuvor in einer Rede vor dem Moskauer Sowjet am 6. November 1941 erklärt, dass man die „Hitlerleute“, solange sie sich mit der Zusammenfassung der deutschen Länder, dem Rheinland und dem Anschluss Österreichs usw. beschäftigten, „mit einer gewissen Berechtigung“ als Nationalisten bezeichnet habe,8 woraus man herauslesen hätte können, dass Stalin dem „Anschluss“ eine gewisse Legitimität bescheinigte. Auf eine – am 14. November von Majskij weitergeleitete9 – Anfrage englischer Kommunisten, wie diese Passage zu verstehen sei, übermittelte Molotov seine „Klarstellung“, dass Österreich als unabhängiger Staat von Deutschland getrennt und letzteres „in eine Reihe mehr oder weniger selbstständiger Staaten zerschlagen“ werden müsse. 3 4 5

6 7

8 9

Vgl. Aichinger, Sowjetische Österreichpolitik, S. 15. Mueller, Die sowjetische Besatzung, S. 17. Vgl. Karl Vogelmann, Die Propaganda der österreichischen Emigranten in der Sowjetunion für einen selbständigen österreichischen Nationalstaat (1938 bis 1945). Phil. Diss., Wien 1973, S. 6 f.; Walter Fischer, Kurze Geschichten aus einem langen Leben, Mannheim 1986, S. 148. Felix Kreissler, Der Österreicher und seine Nation. Ein Lernprozess mit Hindernissen, Wien 1984, S. 271. Archiv vnešnej politiki Rossijskoj Federacii [Archiv für Außenpolitik der Russischen Föderation] (i. d. F. AVP RF) 059/1/354/2412/21–24, Molotov an Majskij, 21.11.1941, Text in: Die UdSSR und die deutsche Frage 1941–1948. Dokumente aus dem Archiv für Außenpolitik der Russischen Föderation. Hg. von Jochen P. Laufer und Georgij P. Kynin. Band 1: 22. Juni 1941 bis 8. Mai 1945, Berlin 2004, S. 11–12. J. Stalin, Über den Großen Vaterländischen Krieg der Sowjetunion, 5. Auflage Berlin (Ost) 1952, S. 16–31, hier 27. Vgl. Aleksej Filitov, Sowjetische Planungen zur Wiedererrichtung Österreichs 1941– 1945, S. 27.

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Stalin habe mit seiner Aussage „Verwirrung in die Reihen der Hitleranhänger stiften und Unstimmigkeiten zwischen der Hitlerregierung und den nationalistisch eingestellten Schichten des deutschen Volkes“ bewirken wollen, so Molotov an Majskij. Eine diesbezügliche Einflussnahme der Exil-KPÖ lässt sich zwar quellenmäßig nicht nachweisen, wird jedoch von KPÖ-nahen Autoren nahegelegt: Die KPÖ-offizielle Parteigeschichte erwähnt – wohl anknüpfend an die Erinnerung Friedl Fürnbergs – die Besprechung einer KPÖ-Delegation mit Vertretern der KPdSU im November 1941 über die sowjetische Unterstützung des Kampfes für ein freies, unabhängiges Österreich, um auf den Beitrag der Exilkommunisten in Moskau zur sowjetischen Positionsfindung hinzuweisen.10 KPÖ-Generalsekretär Fürnberg selbst erwähnt dezidiert die für die österreichischen Kommunisten verwirrende Aussage Stalins vom 6. November 1941, worauf zwischen der KPÖ und der KPdSU die Klärung der Frage der österreichischen Nation dringlich geworden sei.11 Der DDR-Historiker Arnold Reisberg führt – ebenso ohne genaue Quellenangabe – an, dass der KPÖ-Vorsitzende Johann Koplenig gemeinsam mit Georgij Dimitrov, Klement Gottwald und Palmiro Togliatti die Frage der Wiederherstellung Österreichs als sowjetisches Kriegsziel „erfolgreich“ vor dem ZK der KPdSU vorgebracht habe.12 Insgesamt ist jedoch davon auszugehen, dass der Exil-KPÖ keine weitere Einflussnahme auf die Formulierung der sowjetischen Österreichpolitik möglich war.13 Ein direkter Kontakt der KPÖ-Führung zu Stalin oder anderen Spitzenpolitikern ist nicht nachweisbar, ständiger Ansprechpartner für die KPÖ-Funktionäre war Georgij Dimitrov, zunächst als Generalsekretär der Kommunistischen Internationale,sowie nach deren Auflösung als (stellvertretender) Leiter der Abteilung für Internationale Information (OMI) beim ZK der VKP(b). Mit ihm wurde – wie weiter unten zu zeigen sein wird – in jeder Phase des Exils die Programmatik und Politik der KPÖ abgestimmt. Gegenüber den Alliierten wurde die im November 1941 formulierte sowjetische Position in der Österreichfrage wenige Wochen darauf geltend gemacht: Ein am 16. Dezember 1941 im Rahmen einer Besprechung mit dem britischen Außenminister Anthony Eden von Stalin überreichtes Memorandum enthielt die eindeutige Forderung nach Wiedererrichtung Österreichs als unabhängiger Staat.14 Damit hatte sich die Sowjetunion auf die Wiederherstellung der Unab10 KPÖ. Die Kommunistische Partei Österreichs. Beiträge zu ihrer Geschichte und Politik, 2. Auflage Wien 1989, S. 308 f. Auch der österreichisch-französische Historiker Felix Kreissler geht davon aus, dass es „sicher zum Großteil dieser Überzeugungsarbeit zu verdanken, dass Stalin im Dezember 1941 dem britischen Minister Eden gegenüber von der Notwendigkeit gesprochen hat, nach dem Krieg wieder ein unabhängiges Österreich herzustellen“. (Felix Kreissler, Der Österreicher und seine Nation, S. 271). 11 Friedl Fürnberg, Österreichische Freiheitsbataillone. Österreichische Nation, Wien 1975, S. 46 f. 12 Arnold Reisberg, Ich diene der Arbeiterklasse. Johann Koplenig. In: Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung, 21 (1979) Heft 4, S. 593–602, hier 599. 13 Aichinger, Sowjetische Österreichpolitik, S. 48. 14 AVP RF 048/48/431/10/34–50, Unterredung zwischen Stalin und Eden, 16.12.1941. Text in Laufer/Kynin, Die UdSSR und die deutsche Frage, Band 1, S. 19–30, hier 21.

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hängigkeit Österreichs als Kriegsziel zu einem Zeitpunkt festgelegt, als in österreichischen EmigrantInnenkreisen noch unterschiedlichste Vorstellungen, bis hin zu großdeutschen Überlegungen, vorherrschend waren und den Überlegungen der westlichen Allierten der Antihitlerkoalition über die Österreichfrage noch kein klares Konzept zugrunde lag. Vor allem von britischer Seite wurden – sowohl im Vorfeld der Moskauer Außenministerkonferenz im Herbst 1943 als auch noch danach – Pläne vorgetragen, die ein Aufgehen Österreichs in irgendeiner Föderation vorsahen. Nachdem Litvinov in einem Memorandum in Vorbereitung der Tagung Molotov über die Föderationspläne Edens unterrichtet hatte (konkret ging es um eine Föderation Österreichs mit Ungarns),15 erklärte der Außenkommissar am 26. Oktober auf der Konferenz mit Bezug auf Österreich, dass es die Sowjetregierung als „für eine der wichtigsten Aufgaben der Nachkriegsregelung in Europas“ betrachte, die kleinen Länder zu befreien und ihre Unabhängigkeit und Souveränität wiederherzustellen.16 Föderationsprojekte wurden entschieden abgelehnt. In der Abschlussdeklaration der Konferenz vom 30. Oktober 1943 wurde die Wiedererrichtung Österreichs als gemeinsames Kriegsziel der Antihitlerkoalition festgehalten.17 Der sowjetische Vertreter im Redaktionskomitee wiederum, der stellvertretende Außenvolkskommissar Andrej Ja. Vyšinskij, erreichte eine Verschärfung der Klausel über die Verantwortung Österreichs für seine Teilnahme am Krieg (so genannte „Schuldklausel“), was nach der Befreiung hinsichtlich der sowjetischen „Wiedergutmachungs“ansprüche, die vor allem auf das „deutsche Eigentum“ und die deutschen Rüstungsbetriebe abzielten, von Bedeutung sein sollte.18 Insgesamt nahm die ökonomische Exploitationspolitik 1944 in den sowjetischen Überlegungen stärkere Konturen an: „Ganz offensichtlich waren sich die sowjetischen Planer bewusst geworden, dass eine Reparationspolitik gegenüber Österreich nur im Falle einer ,Mitschuld‘ gerechtfertigt und auf den internationalen Konferenzen durchgesetzt werden konnte.“19 Trotz der frühzeitigen Festlegung der Sowjetunion auf die Wiederherstellung der Unabhängigkeit Österreichs wird die sowjetische Haltung in der Forschungsliteratur als „ambivalent“ und „inkonsistent“ beschrieben, was nicht nur mit der insgesamt untergeordneten Bedeutung Österreichs in den sowjetischen 15 AVP RF 012/9/132/4/178–209, Litvinov an Molotov vom 9.10.1943, Die Behandlung Deutschlands und anderer Feindstaaten in Europa. Zu Punkt 6 des englischen und Punkt 2 des amerikanischen Tagesordnungsvorschlags. Text in Laufer / Kynin, Die UdSSR und die deutsche Frage, Band 1, S. 194–214, über Österreich: S. 210–212. 16 Geschichte der sowjetischen Außenpolitik, 1. Teil: 1917 bis 1945, Berlin (Ost) 1969, S. 506; vgl. Aichinger, Sowjetische Österreichpolitik, S. 41. 17 Erklärung über Österreich, Beilage 6 zum Geheimprotokoll der Moskauer Konferenz 19.–30. Oktober 1943. In: Die Moskauer Konferenz der Außenminister der UdSSR, der USA und Großbritanniens (19.–30. Oktober 1943). Dokumentensammlung, Moskau 1988, S. 308. 18 Vgl. Gerald Stourzh, Um Einheit und Freiheit. Staatsvertrag, Neutralität und das Ende der Ost-Westbesetzung Österreichs 1945–1955, Wien 1998, S. 20–22. 19 Rathkolb, Historische Fragmente, S. 148.

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Planungen zu tun hatte.20 Als Ausdruck dieser Ambivalenz werden auch die zurückhaltenden sowjetischen Reaktionen auf die seit dem zweiten Quartal des Jahres 1942 einsetzenden Bemühungen der KPÖ-Exilführung gewertet, in ihrer antifaschistischen Arbeit unter deutschen Kriegsgefangenen die Österreicher eigenständig zu erfassen und nach dem Vorbild des Nationalkomitees „Freies Deutschland“ ein österreichisches Komitee zu etablieren. In einem „in überaus scharfen Ton verfassten“ Brief an Dimitrov beschuldigte Koplenig den Sekretär der Komintern Dmitrij Z. Manuil’skij gar, durch den Boykott der KPÖInitiativen eine großdeutsche Tendenz an den Tag zu legen.21 Zwar konnte Franz Honner bereits im Frühjahr 1942 über seine erfolgreichen Bemühungen berichten, im Gefangenenlager 99 die 116 Österreicher in einer „eigenen österreichischen Kompagnie“ erfasst zu haben,22 eine österreichische Vertretungskörperschaft wie das NKFD scheiterte jedoch trotz dahingehender Initiativen der KPÖ bei Georgij Dimitrov an der sowjetischen Ablehnung. 1943 wurde an der „Antifa-Schule“ in Krasnogorsk ein eigenständiger österreichischer Sektor etabliert,23 das im November 1944 etablierte „Antifaschistische Büro österreichischer Kriegsgefangener“ hatte einen ausschließlich „internen“ Charakter und sollte – wohl aus Rücksichtnahme auf die westlichen Alliierten – öffentlich bis Kriegsende nicht in Erscheinung treten.24 Jörg Morré geht gar soweit, aus diesen internen Auseinandersetzung mit der Exilleitung der KPÖ herauszulesen, dass die sowjetische Führung bis zum Herbst 1944 an der Option festgehalten haben soll, „den Fortbestand des Großdeutschen Reiches hinzunehmen, wenn es denn zu einem Waffenstillstand käme“.25

20 So versäumte es Stalin mehrmals in Befehlen und öffentlichen Erklärungen, Österreich im Rahmen der Aufzählung der Opfer der deutschen Aggressionspolitik zu nennen (vgl. Mueller, Die sowjetische Besatzung, S. 20). 21 Rossijskij gosudarstvenuyj archiv social’no-poličeskoj istorii [Russisches Staatsarchiv für Sozial- und Politikgeschichte, Moskau] (i. d. F. RGASPI) 495/74/20/6–7, zit. nach Natal’ja Lebedeva, Österreichische Kommunisten im Moskauer Exil. Die Komintern, die Abteilung für internationale Information des ZK der VKP(b) und Österreich 1943– 1945. In: Karner/Stelzl-Marx (Hg.), Die Rote Armee in Österreich, S. 39–60, hier 49 und Jörg Morré, Hinter den Kulissen des Nationalkomitees. Das Institut 99 in Moskau und die Deutschlandpolitik der UdSSR 1943–1945, München 2001, S. 77 f. 22 RGASPI 495/12/29/1–7, Franz Honner, Bericht über meine Arbeit unter den österreichischen Kriegsgefangenen des Gefangenenlagers 99, 25. 5.1942, hier Bl. 2; Kopie in Alfred Klahr Gesellschaft (i. d. F. AKG), Zentrales Parteiarchiv der KPÖ (i. d. F. ZPA). 23 Vgl. Vogelmann, Die Propaganda der österreichischen Emigranten, S. 273. 24 Lebedeva, Österreichische Kommunisten, S. 55. 25 Morré, Hinter den Kulissen des Nationalkomitees, S. 76 f.

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2.

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Ablehnung der Föderationspläne – Kleinstaatengürtel – Einflusszonen

Übereinstimmend wird in der Forschungsliteratur hervorgehoben, dass das sowjetische Ziel der Wiederherstellung der österreichischen Unabhängigkeit primär eine nachhaltige Schwächung Deutschlands intendierte und weniger als „eigenständiges“ Kriegsziel anzusehen ist: Es war gleichsam ein „Nebenprodukt“ der beabsichtigten Aufteilung Deutschlands.26 Insgesamt sollte mit der sowjetischen Absage an jegliche Art von Föderationsplänen in Zentral- und Osteuropa der Wiederbelebung einer antisowjetischen „Cordon sanitaire“-Politik, und darauf zielten die britischen und US-amerikanischen Absichten letztlich ab, gegengesteuert werden. Nach dem Bekanntwerden dahingehender Überlegungen informierte Molotov am 7. Juni 1943 das britische „Foreign Office“, dass es die Sowjetunion für „falsch“ halte, eine Föderation aus Polen, der Tschechoslowakei, Jugoslawien und Griechenland und eine etwaige Eingliederung Österreichs und Ungarns in diesen Block anzustreben.27 Diese Linie blieb für die Sowjetunion bis Kriegsende bestimmend: Im Rahmen der Konferenz von Teheran Ende November 1943 unterstrich Stalin auch gegenüber dem US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt und dem britischen Premier Winston Churchill seine Ablehnung der Föderationspläne.28 Noch im Oktober 1944 starteten Churchill und Eden bei einer Unterredung mit Stalin erneut einen Vorstoß in Richtung eines unabhängigen süddeutschen Staatenblocks unter Einbeziehung Österreichs, indem sie einen Österreichisch-bayerischen Staat unter Einschluss der „süddeutschen Provinzen“ vorschlugen.29 Die sowjetischen Diplomaten hatten bis Anfang 1945 dahingehende britische und amerikanische Varianten der Nachkriegsplanung zu prüfen: Im Januar stellte der stellvertretende Außenvolkskommissar Solomon A. Lozovskij in einem Memorandum über den Aufbau eines Nachkriegsösterreich klar, dass „aufs Entschiedenste“ gegen alle Versuche „der Schaffung einer Donauföderation, eines Donaustaates, eines Wirtschaftsblockes“ aufgetreten werden müsse, da ein solcher „katholischer Donaublock eine Waffe einer antisowjetischen Politik“ darstellen würde.30 Vielmehr sollte Österreich als selbstständiger Kleinstaat wieder errichtet werden. 26 Fritz Fellner, Die außenpolitische und völkerrechtliche Situation Österreichs 1938. Österreichs Wiederherstellung als Kriegsziel der Alliierten. In: Erika Weinzierl/Kurt Skalnik (Hg.), Österreich. Die Zweite Republik, Band 1, Graz 1972, S. 53–90, hier 64. 27 Sowjetisch-englische Beziehungen während des Großen Vaterlandskrieges, Band 1, Moskau 1983, S. 388–390, zit. nach Mueller, Die sowjetische Besatzung, S. 19. 28 Aichinger, Sowjetische Österreichpolitik, S. 59. 29 AVP RF 06/7–a/58/19/2–7, Aufzeichnung der Unterredung I. V. Stalins mit Churchill und Eden, 17.10.1944. Text in Laufer / Kynin, Die UdSSR und die deutsche Frage, Band 1, S. 484–488, hier 487. 30 AVP RF 06/7/32/326/12–13, Aus dem Bericht des stv. Volkskommissars für Auswärtige Angelegenheiten der UdSSR, S. A. Lozovskij, über die Pläne zur Nachkriegsordnung Österreichs und die sowjetischen Positionierungen auf der Konferenz der drei Alliierten (Jalta, 4.–11. Februar 1945), 23.1.1945. Text in Karner/Stelzl-Marx/Tschubarjan (Hg.), Die Rote Armee in Österreich, S. 54 und 55, hier 55.

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In den Aufzeichnungen Wilhelm Piecks über eine Beratung bei Stalin, Molotov und Ždanov nach Kriegsende am 4. Juni 1945 findet sich der Hinweis, dass Stalin eine „Zerstückelung Deutschlands“ in „Nord- und Süddeutschland / Rheinland – Bayern mit Österreich“ verhindert habe.31 Umgekehrt ging es der Sowjetunion darum, mit der Wiederherstellung kleinerer und mittlerer Staaten ihrerseits einen „Cordon sanitaire“ gegen das kapitalistische Westeuropa zu bilden.32 Der allgemeine geopolitische Hintergrund dieser Orientierung auf einen „umgekehrten“ „Cordon sanitaire“ bestand in der von der Sowjetunion angestrebten Bildung von Einflusssphären im Nachkriegseuropa: Die Frage der Bildung von Einflusssphären war spätestens seit dem deutsch-sowjetischen Freundschaftsvertrag ein prägendes Moment der sowjetischen Außenpolitik und wurde von Stalin auch in seiner Unterredung mit Eden im Dezember 1941 aufgeworfen. Der Sowjetunion ging es darum, die osteuropäischen Länder als Einflusszone zu gewinnen – und zwar mit Billigung der Westalliierten, denen ein ähnlicher Status in Westeuropa zugestanden werden sollte. Österreich war – wie Deutschland und die kleineren mitteleuropäischen Staaten – als „Puffer“ zwischen diesen Sicherheitssphären vorgesehen und sollte aufgrund dieser geopolitischen Lage „neutralisiert“ werden. Eine Integration des wiederherzustellenden Kleinstaates in den sowjetischen Einflussbereich war zu keinem Zeitpunkt geplant.33 Dass Österreich eine „neutralen Zone“ zugeordnet wurde, belegen zuletzt auch die Ausarbeitungen der in der zweiten Hälfte 1943 gebildeten drei sowjetischen Nachkriegsplanungskommissionen des NKID unter Leitung von Litvinov, Vorošilov und Majskij: Im Memorandum der Litvinov-Kommission von Oktober 1943 wurde im Vorfeld der Moskauer Konferenz festgehalten, dass Österreich im Gegensatz zur Tschechoslowakei und zu Jugoslawien „nicht als unsere Einflusssphäre betrachtet“ werden könne.34 Die Frage der Einflusssphären stand erneut anlässlich von Churchills Besuch in Moskau im Herbst 1944 auf der Tagesordnung: Österreich wurde zwar im am 9. Oktober abgeschlossenen „Prozentabkommen“ zur Verteilung des sowjetischen und britischen Einflusses in den osteuropäischen und Balkanstaaten nicht erwähnt,35 dennoch spricht nichts dafür, dass Österreich zu einem späteren Zeitpunkt möglicherweise doch in den sowjetischen Machtbereich hätte integriert werden sollen.36 31 32 33 34 35

36

Rolf Badstübner/Wilfried Loth (Hg.), Wilhelm Pieck – Aufzeichnungen zur Deutschlandpolitik 1945–1953, Berlin 1994, S. 50. Vgl. Harald Neubert (Hg.), Stalin wollte ein anderes Europa. Moskaus Außenpolitik 1940 bis 1968 und die Folgen. Eine Dokumentation von Wladimir K. Wolkow, Berlin 2003, S. 152. Mueller, Die sowjetische Besatzung, S. 24. AVP RF 0512/4/12/12/1–7, Zur Schaffung des künftigen Staatsaufbaues Österreichs, 11.10.1943, hier Bl. 7 f., zit. nach Mueller, Die sowjetische Besatzung, S. 23. Vgl. Günter Bischof, Die Planung und Politik der Alliierten 1940–1954. In: Rolf Steininger/Michael Gehler (Hg.), Österreich im 20. Jahrhundert. Ein Studienbuch in zwei Bänden. Band 2: Vom Zweiten Weltkrieg bis zur Gegenwart, Wien 1997, S. 107–136, hier 112. Vgl. dazu Ruggenthaler, Warum Österreich nicht sowjetisiert werden sollte, S. 70.

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In zwei Memoranden des stellvertretenden Außenvolkskommissars Litvinov, vorgelegt am 15. November 1944 bzw. 11. Januar 1945, umriss dieser die maximale sowjetische Interessensphäre und die „Länder der britischen Sphäre“ in zuletzt leicht veränderter Form. Österreich wurde jedoch in beiden Dokumenten einer neutralen „Pufferzone“ zugeordnet, wo beide Seiten unter permanenter gegenseitiger Konsultation gleichberechtigt kooperieren sollten. Von den USA wurde ein baldiger Rückzug aus Europa erwartet.37 Dieser Orientierung und Konzessionsbereitschaft entsprach auch das sowjetische Agieren im Rahmen der Verhandlung der „European Advisory Commission“ (EAC) über die Zonengrenzen und den Kontrollmechanismus in Österreich.38 Ein am 12. Februar 1944 von Molotov zur Unterzeichnung an Stalin übermittelter Entwurf sprach sich für eine gemeinsame alliierte Besetzung Österreichs durch Truppen der Sowjetunion, Großbritanniens und den USA aus, bis dahin war eine sowjetische militärische Präsenz nicht vorgesehen gewesen.39 Wenige Tage darauf wurde dieser Vorschlag einer Dreimächtebesatzung vom sowjetischen Repräsentanten Fëdor T. Gusev in der EAC eingebracht,40 worüber Mitte des Jahres 1944 eine grundsätzliche Einigkeit erzielt werden konnte: Im von Gusev unter Berücksichtigung der zwei Tage zuvor präsentierten westlichen Vorschläge am 14. Juni erstellten sowjetischen Protokollentwurf über die Besetzung Österreichs innerhalb der am 31. Dezember 1937 bestehenden Grenzen wurde die Präsenz der Streitkräfte der Sowjetunion, Großbritanniens und der USA festgehalten.41 Die in der für die Vorbereitung des Waffenstillstandes zuständige Vorosilov-Kommission angestellten internen Überlegungen über die Zonengrenze waren vor allem von den wirtschaftlichen Interessen der Sowjetunion geleitet: Im April 1944 hob die Kommission die hohe Bedeutung der Verkehrsanbindung der sowjetischen Zone in Österreich an die Donau, ihre unmittelbare Nähe zu Jugoslawien und zur Tschechoslowakei und die Verteilung der Industriestandorte hervor.42 Auch im endgültigen Ergeb37 Wilfried Loth, Die Teilung der Welt. Geschichte des Kalten Krieges 1941–1955, München 2000, S. 357; AVP RF 06/7/17/173/59–60, Aufzeichnung von Litvinov, 11.1.1945: Zur Frage der Blöcke und Einflusssphären. Text in Laufer / Kynin, Die UdSSR und die deutsche Frage, Band 1, S. 521–523, hier 522. 38 Die Verhandlungen sind im Detail gut dokumentiert in: Mueller, Die sowjetische Besatzung, S. 27–37, sowie Aichinger, Sowjetische Österreichpolitik, S. 63–71, 79–85 und 99–107; Manfried Rauchensteiner, Der Sonderfall. Die Besatzungszeit in Österreich 1945 bis 1955, Graz 1979, S. 15–45. 39 AVP RF 06/6/62/836/13–19, Molotov an Stalin, 12. 2.1944, Kapitulationsbedingungen für Deutschland. Text in Laufer/Kynin, Die UdSSR und die deutsche Frage, Band 1, S. 322–327, hier 326. 40 Vgl. Aichinger, Sowjetische Österreichpolitik, S. 65. 41 Vgl. AVP RF 07/10/13/159/77–84, Bericht der 2. Europäischen Abteilung des Volkskommissariates für Auswärtige Angelegenheiten der UdSSR über den Verlauf der Erörterung von Fragen zur Besetzung Österreichs in der Europäischen Beratenden Kommission (EAC), von K. Novikov, 17. 9.1944. Text in Karner/Stelzl-Marx/Tschubarjan (Hg.), Die Rote Armee in Österreich, S. 38–53, hier 42 f. 42 AVP RF 06/6/15/150/75–78, Sitzung der Vorošilov-Kommission, 18. 4.1944. Text in Laufer/Kynin, Die UdSSR und die deutsche Frage, Band 1, S. 378–380, hier 380.

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nis der Planungsarbeit der Kommission von Juni 1944 wurden vor allem die Tatsache, dass sich ein großer Teil der Industriebetriebe in der sowjetischen Zone befand, sowie die direkte Eisenbahnverbindung mit Jugoslawien, der Tschechoslowakei und mit Ungarn herausgestrichen.43 Der am 23. November unterbreitete sowjetische Vorschlag eines Zonenabkommens sah eine vergrößerte sowjetische Zone in Niederösterreich und eine Verschiebung der Demarkationslinien nach Westen vor.44 Erst im Dezember 1944 stimmten die USA der Übernahme einer amerikanischen Zone in Österreich definitiv zu.45 Im Rahmen der Konferenz von Jalta akzeptierte die Sowjetunion widerwillig den im Januar 1945 vorgelegten britischen Vorschlag, dass auch Frankreich eine Besatzungszone zugeteilt werden sollte.46 Zunächst konnte bis Kriegsende nur eine prinzipielle Einigung über die Schaffung eines Kontrollmechanismus erzielt werden; eine endgültige interalliierte Einigung über die Zonengrenzen und die Aufteilung Wiens kam erst am 9. Juli 1945 – zwei Monate nach der militärischen Kapitulation des Deutschen Reiches – zustande,47 wobei die „langsame sowjetische Verhandlungsführung [...] den Verdacht einer vorsätzlichen Verschleppung der Abkommen mit dem Ziel einer möglichst langen Phase der ,freien Hand‘ in Österreich aufkommen“ ließ.48 Der Sowjetunion wurden neben den Wiener Bezirken 2, 4, 10, 20 und 21 Niederösterreich in den Grenzen von 1937, das Mühlviertel und das wieder zu errichtende Burgenland zugesprochen.

3.

Volksfrontkonzeption und „friedlicher Weg zum Sozialismus“

In den ersten – vom Kalten Krieg geprägten – Nachkriegsjahrzehnten war die „Sowjetisierungsthese“ der maßgebliche Interpretationsrahmen für die Analyse der sowjetischen Österreichpolitik. Die KPÖ erschien in dieser Sicht als Hebel für die angeblichen Sowjetisierungsabsichten der Roten Armee.49 Erste ausgewogenere wissenschaftliche Studien in den 1970er Jahren gingen davon aus, dass die Sowjetunion in Wahrheit genau gegenläufige, defensive Ziele verfolgt und deshalb auf revolutionäre Zielsetzungen verzichtet habe. In Anpas43 AVP RF 06/6/15/150/442, Vorošilov an Stalin, 12. 6.1944. Text in Laufer/Kynin, Die UdSSR und die deutsche Frage, Band 1, S. 406–407, hier 407. 44 AVP RF 0425/1/7/41/6 f., Protokoll über die Besatzungszonen in Österreich und die Verwaltung der Stadt Wien (Entwurf der sowjetischen Delegation) an Strang, Winant und Donaldson gesandt am 22.11.1944, zit. nach Mueller, Die sowjetische Besatzung, S. 32. 45 Vgl. Fellner, Die außenpolitische und völkerrechtliche Situation Österreichs 1938, S. 79 f. 46 Vgl. Aichinger, Sowjetische Österreichpolitik, S. 85. 47 Vgl. Stourzh, Um Einheit und Freiheit, S. 29. 48 Mueller, Die sowjetische Besatzung, S. 35 f. 49 Exemplarisch William Lloyd Stearman, Die Sowjetunion und Österreich 1945–1955. Ein Beispiel für die Sowjetpolitik gegenüber dem Westen, Bonn 1962; William B. Bader, Austria Between East and West 1945–1955, Stanford 1966.

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sung an die sicherheitspolitischen Interessen der Sowjetunion wurden auch Politik und Programmatik der KPÖ als Verzicht auf sozialistische Zielstellungen und im Grunde konservative Konzeption gedeutet.50 Die nunmehr zugänglichen Dokumente zeigen, dass die Bereitschaft der Sowjetunion zur Kooperation mit den Westmächten deutlich ausgeprägt war, daraus jedoch kein ideologischer „Neutralismus“ resultierte, sondern vielmehr aus der interalliierten Zusammenarbeit auch in den befreiten Ländern Mittel- und Westeuropas Potenziale für eine „volksdemokratische“ Entwicklung erschlossen werden sollten. In einem Memorandum vom 11. Januar 1944 formulierte Ivan A. Majskij als Vorsitzender nach sowjetischen Nachkriegsplanungskommission für Reparationsforderungen, dass die innere Ordnung der Staaten Nachkriegseuropas auf den Prinzipien einer „umfassenden Demokratie im Geiste der Volksfront“ basieren solle.51 Vor dem Hintergrund der interalliierten Kooperation sollten die kommunistischen Parteien nicht auf die sofortige Entfesselung sozialistischer Revolutionen hinarbeiten, sondern im Rahmen der Volksfronten mit allen antifaschistischen und demokratischen Kräften zusammenarbeiten, gleichsam als nationale Widerspiegelung der Anti-Hitler-Koalition im Weltmaßstab. Ein solches Bündnis sollte den nationalen Wiederaufbau auf breiter Basis in Angriff nehmen und „antifaschistisch-demokratische“ Reformen einleiten, die auf einen langfristigen, über Zwischenetappen vermittelten, „friedlichen Übergang zum Sozialismus“ abzielten. Der für Außenpolitik zuständige ZK-Sekretär Andrej A. Ždanov sprach im Sommer 1944 konkret von eben dieser politischen Zielvorstellung der sowjetischen Politik für Deutschland, Österreich und Ungarn.52 Der zur Erhaltung von „Sicherheit und Frieden“ notwendige Übergangsprozess Kontinentaleuropas zum Sozialismus würde in den Augen Majskijs zwischen 30 und 50 Jahre in Anspruch nehmen.53 In außenpolitischer Hinsicht sollte eine sowjetfreundliche Haltung garantiert sein. Weitreichende Forderungen in Richtung Sozialismus wurden von der KPÖ nicht zuletzt auch von dem Hintergrund der Interessenkonstellation der alliierten Mächte ausgeklammert. Vor diesem Hintergrund erscheint die Volksfrontkonzeption der Sowjetunion und der kommunistischen Parteien als „mehrstufige“, auf einen langfristigen, „friedlichen Übergang zum Sozialismus“ abzielende Strategie mit dem Etappenziel einer „antifaschistisch-demokratischen“ Ordnung. Der Sozialismus blieb zwar das programmatische Ziel, aber angesichts der fehlenden nationalen und internationalen Voraussetzungen nicht die unmittelbare strategische Aufgabe. 50 Aichinger, Sowjetische Österreichpolitik; Heinz Gärtner, Zwischen Moskau und Österreich. Die KPÖ – Analyse einer sowjetabhängigen Partei, Wien 1979. 51 AVP RF 06/6/14/145/1–41, Majskij an Molotov, 11.1.1944. Text in Laufer/Kynin, Die UdSSR und die deutsche Frage, Band 1, S. 244–271, hier 259 (Hervorhebung im Original). 52 RGASPI 77/3/174/3, zit. nach Mueller, Die sowjetische Besatzung, S. 40. 53 Majskij an Molotov, 11.1.1944, S. 245.

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Eine bedeutende Rolle kam in diesen Überlegungen den kommunistischen Parteien zu, die in ihrer Politikentwicklung und Programmbildung außenpolitische Interessen der Sowjetunion mitzureflektieren hatten und ihre Linie in enger Abstimmung mit den sowjetischen Stellen und der Kommunistischen Internationale festlegten. So folgte auch die Exil-KPÖ in Moskau dieser grundlegenden Orientierung: Anhand ihrer Planungen für den Wiederaufbau Österreichs lassen sich die einzelnen Komponenten der Volksfrontkonzeption im Detail verdeutlichen, sie stellen eine Konkretisierung des allgemeinen Rahmes auf die konkreten nationalen österreichischen Bedingungen dar.54 3.1

Die Losung der „Demokratischen Republik“

Von Beginn an war der Kampf der österreichischen KommunistInnen gegen die faschistische Diktatur mit der Frage nach dem „Danach“, nach den gesellschaftlichen Verhältnissen in Österreich nach Überwindung des Hitlerfaschismus verbunden. Bereits zur Zeit des austrofaschistischen Regimes hatte die KPÖ – in Anlehnung an die Beschlüsse des VII. Weltkongresses der Kommunistischen Internationale aus dem Jahr 1935 – alternative Vorstellungen auszuarbeiten begonnen. Die Konzeption der antifaschistischen Volksfront blieb sowohl in den Jahren des antifaschistischen Widerstands und Exils als auch in der unmittelbaren Nachkriegszeit die strategisch-taktische Grundlage der Politik der österreichischen KommunistInnen. Im Gefolge der Februarkämpfe 1934 und maßgeblich inspiriert durch die Beschlüsse des VII. Weltkongresses der Komintern trat die anfängliche Hoffnung auf einen baldigen Sturz des Faschismus durch eine proletarische Revolution und die damit verbundenen Losungen der „Diktatur des Proletariats“ und eines „Sowjetösterreichs“55 immer mehr in den Hintergrund. In den Mittelpunkt der Agitation rückte der Kampf um die proletarische Einheits- und antifaschistische Volksfront, der mit einem Umdenken über den Zusammenhang des Kampfes um Demokratie und Sozialismus verbunden war. Diese strategische Umorientierung kam schließlich im Kampf um den Frieden, die Erhaltung „der staatlichen Unabhängigkeit, der nationalen Selbständigkeit“56 und der „demokratischen Republik“ als Alternative zum Faschismus zum Ausdruck. Noch auf dem ZK-Plenum von Januar 1936 wurde die Losung der „Diktatur

54 Zu den Exilvorstellungen und Neuordnungsplänen der KPÖ vgl. im Detail Manfred Mugrauer, Die Politik der Kommunistischen Partei Österreichs in der Provisorischen Regierung Renner. Diplomarbeit, Wien 2004, S. 13–52. 55 Waren-Verzeichnis der Wiener Spielwaren-Manufaktur Franz Frankl [d. i. Referat des Genossen Koplenig auf dem XII. Parteitag der K.P. Ö.], 1934, S. 9 f. 56 Die Plenartagung des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Österreichs. In: Rundschau über Politik, Wirtschaft und Arbeiterbewegung (Basel), 4 (1935) Nr. 34, S. 1675–1678, hier 1676.

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des Proletariats“ vertreten,57 was zeigt, dass es sich bei der Relativierung und Überwindung der als „kurze Perspektive“ bezeichneten Orientierung um einen langwierigen Prozess handelte. Die entscheidende Wendung hin zur Losung der „demokratischen Republik“ ist mit der Sitzung des Sekretariats des Exekutivkomitees der Komintern (EKKI) am 11. Mai 1936 verbunden und lässt den Einfluss Georgij Dimitrovs auf diese Positionsentwicklung erkennen.58 Nach dem Juliabkommen 1936 rückten die Erhaltung der vom deutschen Faschismus bedrohten österreichischen Unabhängigkeit und die Zielvorstellung der „demokratischen Republik“ gänzlich in den Mittelpunkt der KPÖ-Politik. Ein Plenum des erweiterten Politischen Büros der KPÖ verabschiedete im Juli 1936 eine Deklaration,59 in deren Gefolge der Kampf um die demokratischen Freiheitsrechte, um eine „demokratische Volksregierung“ und die „demokratische Republik“60 als Hauptaufgaben formuliert wurde. Nach dem Juliabkommen 1936, das den „deutschen Kurs“ Schuschniggs festlegte und gleichzeitig die Aggressionsabsichten Hitlerdeutschlands gegen Österreich deutlicher werden ließ, beauftragte das Politische Büro der KPÖ Alfred Klahr mit einer marxistischen Überprüfung des Verhältnisses der ÖsterreicherInnen zur deutschen Nation. Im März bzw. April 1937 publizierte Klahr einen zweiteiligen Aufsatz in der in Prag herausgegebenen Theoriezeitschrift der KPÖ „Weg und Ziel“, der die Frage sowohl theoretisch und historisch untersuchte, als auch entsprechende Schlussfolgerungen in Bezug auf die aktuelle Politik der KPÖ herausarbeitete.61 Klahr betonte in seiner Artikelserie die eigenständige nationale Entwicklung der ÖsterreicherInnen und entwickelte gleichzeitig ein Konzept des antifaschistischen Kampfes in Österreich, das die Einbeziehung breiter Schichten der Bevölkerung zur Schaffung einer nationalen Unabhängigkeitsfront ermöglichen sollte. Einen vorläufigen Abschluss fand diese Diskussion auf der illegalen Reichsparteikonferenz Ende August 1937 in einem Dorfgasthaus bei Prag, deren Hauptresolution die enge Verbindung des Kampfes um ein unabhängiges Österreich und die nationale Selbstständigkeit mit dem Kampf der Volksfront aller antifaschistischen, demokratischen und fortschrittlichen Kräfte für die demokratische Republik in den Mittelpunkt rückte.62 Der 57 Unser Ziel: die Diktatur des Proletariats! Genosse Koplenig über taktische Fragen unseres Kampfes. In: Die Rote Fahne, Nr. 2/1936, S. 3. 58 Vgl. Kirill K. Širinja, Georgi Dimitroff und der Kampf um die neue Orientierung der Komintern in den Jahren 1935 bis 1939. In: Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung, 14 (1972) Heft 5, S. 707–724, hier 715. 59 Deklaration der Partei. Für die Demokratische Republik!. In: Die Rote Fahne, Nr. 10 [o. D., Mitte Juli 1936], S. 1–3. 60 Peter Wi[e]den, [d. i. Ernst Fischer], Der Kampf um die demokratische Republik. In: Weg und Ziel, Nr. 1/1936, S. 4–13, hier 9. 61 Die Arbeiten Klahrs sind seit 1994 auch in einem Sammelband zugänglich (Alfred Klahr, Zur österreichischen Nation. Hg. von der KPÖ, Wien 1994). 62 Die Kommunisten im Freiheitskampf des österreichischen Volkes. Resolution der Reichskonferenz der Kommunistischen Partei Österreichs zur politischen Lage und den Aufgaben der Partei. In: Die Rote Fahne, Nr. 8/1937, S. 1–3.

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patriotische Aufruf der KPÖ, der in der Nacht vom 11. auf den 12. März 1938 angesichts des deutschen Einmarsches verfasst wurde und die Parole „RotWeiß-Rot bis in den Tod“ ausgab,63 stellt den „vorläufigen Schlusspunkt eines komplizierten und oft widersprüchlichen Entwicklungsprozesses“64 der KPÖ in der nationalen Frage dar. Nach dem „Anschluss“ formulierte die vom erweiterten ZK-Plenum im August 1938 zum Beschluss erhobene Resolution den Kampf gegen die Fremdherrschaft und für die Selbstbestimmung des österreichischen Volkes, den Kampf für die demokratischen Rechte des Volkes und die „Schaffung einer breiten österreichischen Freiheitsfront gegen den Hitlerfaschismus“ und dessen Kriegspolitik als Hauptaufgaben.65 Das erweiterte Plenum des ZK Anfang Juni 1939 in Paris (so genanntes „Amsterdamer Plenum“ des ZK der KPÖ) orientierte in seiner Resolution auf die „Schaffung und Festigung des Kampfbündnisses der Arbeiterklasse mit den werktätigen Schichten des Volkes, der Bauernschaft, dem Kleinbürgertum und den werktätigen Intellektuellen, für die Wiederherstellung der selbständigen demokratischen österreichischen Republik“.66 Vor der Arbeiterklasse stehe die Aufgabe, „darüber hinaus eine österreichische Freiheitsfront aller Kräfte zu schaffen, die bereit sind, für die Befreiung der Heimat vom Joch der Fremdherrschaft und für die freie Selbstbestimmung Österreichs zu kämpfen“.67 Diese Konkretisierung des Volksfrontgedankens durch die KPÖ in Richtung einer Politik des nationalen Unabhängigkeitskampfes blieb sowohl für den antifaschistischen Widerstand im Lande, in den Gefängnissen und Konzentrationslagern und die Tätigkeit der KommunistInnen in der Emigration als auch für die KPÖ-Programmatik und -Politik in der unmittelbaren Nachkriegszeit bestimmend. Die Überlegungen zu einer „neuen Demokratie“ wurden in der Zeit des deutsch-sowjetischen Nichtangriffvertrages infolge der Akzentverschiebung der sowjetischen und Komintern-Politik ab August 1939 nicht weitergeführt. Die seit der Volksfrontpolitik getroffene Differenzierung zwischen verschiedenen Formen bürgerlicher Herrschaft, zwischen „bürgerlich-demokratischen“ und faschistischen Staaten, trat in den Hintergrund. Gemäß ihrer anfänglichen Einschätzung des Zweiten Weltkriegs als einer rein imperialistischen Auseinander63 Volk von Österreich! An alle Völker Europas und der Welt!. In: Rundschau über Politik, Wirtschaft und Arbeiterbewegung, 7 (1938) Nr. 16, S. 482–483. 64 Herbert Steiner, Die Kommunistische Partei Österreichs und die nationale Frage. In: „Anschluss“ 1938. Eine Dokumentation. Hg. vom Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, Wien 1988, S. 77–84, hier 77. 65 Fritz Alt, Schmücke dein Heim! o. O. o . J. [1938] [d.i. Resolution „Der Kampf um die Befreiung Österreichs von der Fremdherrschaft“], S. 11. 66 Grundzüge des Gesetzes zur Ordnung der nationalen Arbeit. Hg. vom Schriftamt der Deutschen Arbeitsfront, Gau Wien o. J. [Die Probleme und Aufgaben des österreichischen Freiheitskampfes. Resolution der Plenartagung des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Österreichs zum Bericht des Genossen Koplenig, Juni 1939], S. 13. 67 An der Spitze des Volkes für die Befreiung der Heimat. Eine bedeutsame Tagung der Kommunistischen Partei Österreichs. In: Die Rote Fahne, Nr. 4/[Juli] 1939, S. 1–3, hier 2.

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setzung richteten die KommunistInnen nun auch vehemente Angriffe gegen die imperialistischen Westmächte, die mit einer Polemik gegen die sozialdemokratischen Führer als „Agenten des englischen und französischen Generalstabes“ verbunden war. Damit wurden die weiterhin propagierten kommunistischen Einheits- und Volksfrontbestrebungen (Einheits- und Volksfront „von unten“68) weitgehend irreal, die KommunistInnen gerieten in die Isolation. In der KPÖPropaganda standen nunmehr nicht mehr Übergangslosungen und Etappenziele im Vordergrund, vielmehr war diese „Neuorientierung des Freiheitskampfes des österreichischen Volkes“69 mit unmittelbar antikapitalistischen Losungen und einer forcierten Sozialismuspropaganda verbunden: Der Kampf um den Sozialismus nach dem Beispiel der Sowjetunion eröffne „auch dem werktätigen Volke Österreichs den einzigen Ausweg aus Krieg, imperialistischer und kapitalistischer Ausbeutung“, hieß es 1940 in der – in Moskau ausgearbeiteten70 – „Roten Fahne“.71 Das Proletariat müsse für den Sturz seiner eigenen kapitalistischen Regierungen und für die Umwandlung des imperialistischen Krieges in den Bürgerkrieg, in die Revolution kämpfen. Wünschenswert sei nicht der Sieg der englischen Imperialisten über den deutschen Imperialismus, sondern die Niederlage der Imperialisten dieser Länder und der Sieg der revolutionären Klassen.72 Ein Aufruf aus dem Jahr 1941 gab die Parolen „Gegen Krieg und Faschismus, für Frieden und Freiheit, zum Sturze der kapitalistischen Gesellschaftsordnung [...] und für den Sozialismus“ aus.73 3.2

Die Orientierung auf die „Österreichische Freiheitsfront“

Erst als sich ab Juni 1941 infolge des Überfalls auf die Sowjetunion und veränderter außenpolitischer Interessen der Sowjetunion in der Kommunistischen Internationale die Einschätzung des Krieges als antifaschistischer Befreiungskrieg der europäischen Völker gegen den deutschen Faschismus und seine Verbündeten durchzusetzen begann, erhielten die kommunistischen Volksfrontbestrebungen neuen Aufwind. Auch die Kooperation der nichtfaschistischen Mächte im internationalen Maßstab in Gestalt der Antihitlerkoalition zwischen 68 RGASPI 495/74/14/18–29, Brief des Z.K. der Partei, o. D. [Januar 1940], hier Bl. 27 und 28; Kopie in AKG, ZPA. 69 Der Freiheitskampf des österreichischen Volkes in der neuen Weltlage. In: Die Rote Fahne. Zentralorgan der Kommunistischen Partei Österreichs (Sektion der III. Internationale), o. D. [1940], S. 1–16, hier 4 (AKG, ZPA). 70 Vgl. RGASPI 495/12/26/30–39, Vorläufiger Bericht der K.P.Ö. über die Zeit von Kriegsbeginn bis Mai 1940 von Honner und Koplenig, hier Bl. 34; Kopie in AKG, ZPA. 71 Der Freiheitskampf des österreichischen Volkes in der neuen Weltlage, S. 5. 72 Weg und Ziel, Nr. 4/1940, S. 1 f. (AKG, ZPA). In einer undatierten, vom ZK der KPÖ gezeichneten Ausarbeitung aus dem Moskauer Exil hieß es zugespitzt: „Es gibt heute keinen Unterschied mehr vom Standpunkt der Arbeiterklasse zwischen Faschisten und demokratischen Mächten.“ (RGASPI 495/80/559/3, Die Außenpolitik der Sowjetunion und wir, o. D.; Kopie in AKG, ZPA). 73 Aufruf der K.P.Ö. In: Rote Fahne, Mai 1941, S. 1–2, hier 2 (AKG, ZPA).

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USA, Großbritannien und der Sowjetunion schuf in den Augen der KPÖ günstigere Bedingungen für die Formierung einer nationalen Volksfront des antifaschistischen Kampfes in Österreich: Auf Basis dieser weltpolitischen Situation bestehe nunmehr die Möglichkeit, „im Kampf gegen die Hitlersche Pest auch solche Kräfte in die Kampffront einzubeziehen, die in der Vergangenheit unsere Gegner waren“, hieß es in einem Memorandum aus dem englischen Exil von Ende 1941.74 Mit der neuerlichen Hinwendung zur antifaschistischen Einheits- und Volksfrontpolitik und zur Aufgabe, dem antifaschistischen Widerstandskampf den Charakter eines nationalen Unabhängigkeitskampfes des österreichischen Volkes zu geben, rückte ab 1941/42 die Etablierung einer nationalen Freiheitsfront in den Mittelpunkt der kommunistischen Propaganda. In der September-Ausgabe der „Roten Fahne“ des Jahres 1941 war von der „Formierung einer [...] ‚österreichischen Freiheitsfront‘ in den Betrieben, Kasernen und Dörfern“ als Aufgabe jeder Parteiorganisation und jedes einzelnen Kommunisten die Rede.75 Im englischen Exil wurde ebenso ab 1941 das künftige Eintreten für eine „österreichische Freiheitsfront“ bekräftigt.76 Dahingehende Forderungen stellten auch den Schwerpunkt der zeitgleich mit der sowjetischen Festlegung auf die Wiederherstellung der Unabhängigkeit Österreichs einsetzenden Rundfunkpropaganda dar: Ab November 1941 sendete der Sender „Freies Österreich“ als „Sprachrohr der österreichischen Volksopposition gegen den Hitlerkrieg“ von Moskau aus,77 gab aber vor, im Land selbst zu stehen und aus dem Geschehen heraus zu berichten.78 Am 22. Oktober 1942 wurde schließlich von diesem Sender der Aufruf zur Bildung der Freiheitsfront ausgestrahlt, der die Wiedererrichtung eines unabhängigen Österreichs propagierte und zum bewaffneten Widerstand gegen die preußische Fremdherrschaft aufrief.79 Ein Tagebucheintrag Dimitrovs vom 28. September 1942 bestätigt auch in diesem Punkt die enge Abstimmung mit der Kommunistischen Internationale.80 74

75 76 77 78 79

80

Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (i. d. F. DÖW), Exilbibliothek Nr. 3016/2, Hans Winterberg: Einheit der Österreicher, London, Dezember 1941, S. 3. Im Land selbst wurde die alte Orientierung, die der These vom imperialistischen Krieg folgte, noch Monate beibehalten (vgl. Brief des ZK der KPÖ, Sonderausgabe von Weg und Ziel, 12. 2.1942; AKG, ZPA). Auf diese Passage wird in einer Sonderausgabe von „Weg und Ziel“ hingewiesen (vgl. Brief des Zentralkomitees an alle Partei- und Jugendgenossen. In: Weg und Ziel (Sonderausgabe). Hg. vom ZK der KPÖ, November 1941, S. 3; AKG, ZPA). Winterberg, Einheit der Österreicher, S. 2. DÖW Nr. 4600, Sender Freies Österreich, Sendung vom 19.11.1941, S. 2. Vgl. Vogelmann, Die Propaganda der österreichischen Emigranten, S. 87. DÖW Nr. 4600, Sendung vom 22.10.1942 „Aufruf der österreichischen Freiheitsfront“. Der Aufruf findet sich auch in: Für ein freies unabhängiges Österreich, Moskau [März] 1943, S. 13–19, und wurde nachgedruckt in: Die Kommunisten im Kampf für die Unabhängigkeit Österreichs, Wien 1955, S. 146–151, sowie Die KPÖ im Kampf für Unabhängigkeit, Demokratie und sozialistische Perspektive, Wien 1978, S. 133–138. Georgi Dimitrov, Tagebücher 1933–1943. Hg. von Bernhard H. Bayerlein, Berlin 2000, S. 600.

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Um die propagandistische Wirksamkeit zu erhöhen, wurde von der Gründungskonferenz der „Österreichischen Freiheitsfront“ (ÖFF) im Sinne einer illegalen Zusammenkunft von 40 Vertretern verschiedener politischer Richtungen und Weltanschauungen, sozialer Schichten und aus allen Bundesländern, etwa eines steirischen Bauern, eines Tiroler Pfarrers, eines Wiener Metallarbeiters, eines Lehrers aus Salzburg oder eines Professors aus Wien, berichtet. Auszüge aus diesen (angeblichen) Diskussionsreden auf der ÖFF-Konferenz wurden in einer im März 1943 in Moskau herausgegebenen Broschüre veröffentlicht, die einen „Überblick über den Stand der nationalen Freiheits- und Unabhängigkeitsbewegung in Österreich“ gab.81 Alle Anwesenden hätten sich „für die Einheit des österreichischen Volkes“ und den gemeinsamen Kampf von Christlichsozialen und Sozialdemokraten, Katholiken und Sozialisten ausgesprochen.82 Im Aufruf hieß es, die ÖFF werde „von allen Österreichern gebildet, die sich zu Gruppen, Kampfausschüssen und Organisationen zusammenschließen, um den aktiven Widerstand des Volkes gegen den Hitlerkrieg und die Fremdherrschaft in allen möglichen Formen zu organisieren“.83 Sie sei „keine politische Partei“ und habe auch „nicht die Absicht, sie zu ersetzen. Die Österreichische Freiheitsfront vereint alle österreichischen Patrioten, alle Kämpfer für ein freies, unabhängiges Österreich. Sie besteht aus zahllosen patriotischen Kampfgruppen in der Industrie und auf dem Lande, in der Armee, auf den Hochschulen, in den Jugendarbeitslagern. [...] Unter ihren Losungen vereinigen sich alle politischen Kräfte unseres Landes – Katholiken, Kommunisten, Mitglieder des Bauernbunds, der Gewerkschaften, Sozialdemokraten – in ihrem Wunsch nach der Freiheit und Unabhängigkeit Österreichs.“84 Die kommunistischen EmigrantInnen im Westen verstanden sich auf Grundlage des politischen Programms der ÖFF stehend und versuchten, im Ausland eine nationale Front der ÖsterreicherInnen zur Unterstützung der ÖFF zu organisieren. So leitete das im Dezember 1941 gegründete, maßgeblich von den kommunistischen ExilantInnen beeinflusste „Free Austrian Movement“ in Großbritannien seine Legitimation „als Auslandsvertretung Österreichs“ von der Berufung auf das ÖFF-Programm und aus „der programmatischen Übereinstimmung mit der organisierten Freiheitsfront mit der Heimat“ ab.85 In Belgien und Frankreich konstituierte sich die von den KommunistInnen initiierte Widerstandsorganisation unter der Bezeichnung ÖFF als im Ausland wirkender Teil der Freiheitsfront.86 Am 11. März 1944, dem sechsten Jahrestag „der Vergewal81 82 83 84

Für ein freies unabhängiges Österreich, S. 20–28. Ebd., S. 22. Ebd., S. 17 f. Eine Botschaft der Österreichischen Freiheitsfront. In: Zeitspiegel, Nr. 44 vom 27.11.1943, S. 3–4, hier 3. 85 Scholz, W. [Willy]: Die Funktion der österreichischen Emigration. In: Zeitspiegel, Nr. 30 vom 21. 8.1943, S. 8. 86 Vgl. Tilly Spiegel, Österreicher in der belgischen und französischen Resistance, Wien 1969, S. 55; Ernst Schwager, Die österreichische Emigration in Frankreich 1938–1945, Wien 1984.

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tigung Österreichs durch deutsche Okkupanten“, wurde auf Initiative des Londoner „Free Austrian Movement“ (FAM) das „Free Austrian World Movement“ (FAWM) unter Einschluss prominenter NichtkommunistInnen gegründet, das sich als „Treuhänder der Interessen der Österreichischen Freiheitsfront“ verstand.87 3.3

Das Manifest „Die Wiedergeburt Österreichs“ 1944

Während der ÖFF-Aufruf und auch die im März 1943 herausgegebene Broschüre hinsichtlich konkreter Vorstellungen über die Nachkriegsentwicklung weitgehend enthaltsam blieben und der propagandistische und mobilisierende Wert im Vordergrund stand, gewannen in der letzten Kriegsphase Fragen der künftigen Gestaltung eines demokratischen Österreichs an Bedeutung. Je klarer sich nach der Kriegswende zugunsten der Antihitlerkoalition im Winter 1942/43, der Schlacht von Kursk im Sommer 1943 und der Frühjahrsoffensive der Roten Armee im Frühjahr 1944 die baldige militärische Niederlage des Hitlerregimes abzuzeichnen begann, desto stärker wandte sich die KPÖ-Exilführung in Moskau konkreteren politischen Planungen für die Nachkriegszeit zu. In Interpretation einer Rundfunksendung des Senders „Freies Österreich“ aus dem Jahr 1944 wurde dieser Aspekt im Zeitspiegel dezidiert hervorgehoben: „Wir stehen am Vorabend der Befreiung Österreichs. [...] Es ist an der Zeit, sich neben der Mobilisierung zum bewaffneten Kampf mit der Klärung der entscheidenden Aufgaben, die nach dem Sturze Hitlers vor uns stehen werden, zu befassen“,88 hieß es im Leitartikel der Londoner Exilzeitschrift in Interpretation des Manifests der KPÖ mit dem Titel „Die Wiedergeburt Österreichs“, das im Juni 1944 in Moskau beschlossen wurde. In einer redaktionellen Vorbemerkung zu diesem 1944 veröffentlichten Manifest ist erneut – wie bereits im Falle des ÖFF-Aufrufs von 1942 – von einer „geheimen Beratung führender österreichischer Kommunisten [...] in einer österreichischen Gebirgsgegend“ die Rede, die am 10. und 11. Juni 1944 stattgefunden haben soll.89 In Wahrheit wurde das Manifest im Mai 1944 im Moskauer Exil ausgearbeitet,90 auch ein entsprechender Tagebucheintrag Dimitrovs belegt die erneut enge Abstimmung mit den Nachfolgestrukturen des Komintern-Apparats: So stellt der 10. Juni 1944, der 87 Österreichische Weltbewegung gegründet. In: Zeitspiegel, Nr. 11 vom 18. 3.1944, S. 1. 88 Sender Österreich berichtet über Nachkriegsziele der Freiheitsfront. In: Zeitspiegel, Nr. 37 vom 16. 9.1944, S. 1–2, hier 1. 89 Die Wiedergeburt Österreichs. Die Stellung der Kommunisten im nationalen Freiheitskampf des österreichischen Volkes. o. O. [Moskau] o. J. [1944], S. 1. Der Umschlagtitel dieser Broschüre lautete „Auf zum Kampf für die Freiheit und Wiedergeburt Österreichs“. Das Manifest ist auszugsweise abgedruckt in: Die Kommunisten im Kampf für die Unabhängigkeit Österreichs, S. 152–163, Die KPÖ im Kampf für Unabhängigkeit, Demokratie und sozialistische Perspektive, S. 139–150. 90 RGASPI 495/74/23/1–18, vgl. Lebedeva, Österreichische Kommunisten im Moskauer Exil, S. 52. Entwürfe für einzelne Passagen finden sich im Nachlass Ernst Fischers (ÖIfZ, NL 38, Ernst Fischer, Do 126, Mappe 2).

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als Datum der angeblichen Konferenz angegeben wurde, exakt jenes Datum dar, an dem eine Aussprache zwischen Dimitrov und den KPÖ-Spitzen Koplenig, Honner, Fischer und Fürnberg über das Manifest stattfand.91 Über den Prozess der Erarbeitung des Juni-Manifests durch die KPÖ-Exilführung ist im Einzelnen nichts bekannt. Die in der Forschungsliteratur mehrfach behandelte programmatische Tätigkeit der Arbeitskommission der KPD, die im Februar 1944 eingesetzt wurde, von März bis August in einer ersten Arbeitsphase tagte und im Oktober ein „Aktionsprogramm des Blocks der kämpferischen Demokratie“ vorlegte,92 gibt zwar einen Hinweis darauf, wie gründlich und systematisch sich die Exilkommunisten auf die künftige Nachkriegsordnung vorbereiteten. Insgesamt ist jedoch nicht davon auszugehen, dass die programmbildende Tätigkeit der KPÖ sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht annähernd den Umfang der KPD-Arbeitskommission erreichte, was sowohl mit der insgesamt eher geringen Anzahl der KPÖ-Parteikader im Moskauer Exil als auch mit dem allgemeinen Stellenwert der Österreichpolitik bzw. der KPÖ im Rahmen österreichpolitischer Konzepte der Sowjetunion im Besonderen zu tun hat. Im Manifest der KPÖ finden sich erstmals konkrete Vorstellungen über die „Wiedergeburt Österreichs“ und die künftige Verfasstheit demokratischer Verhältnisse in Österreich. Bereits im ersten Satz des Manifests wird „die Wiedergeburt Österreichs, die Errichtung und Sicherung einer freien, unabhängigen, demokratischen österreichischen Volksrepublik“ als „eine geschichtliche Notwendigkeit“ festgehalten. Nach erfolgter Befreiung wird die Errichtung einer „provisorischen Regierung der freien unabhängigen demokratischen Volksrepublik [...] auf breitester demokratischer Grundlage“ gefordert, wobei das „Zusammenwirken der österreichischen Freiheitskämpfer mit den Befreiungsarmeen, die den militärischen Machtapparat Hitler-Deutschlands zertrümmern“, als Entstehungsbedingung des neuen Österreich hervorgehoben wird. Aufgabe dieser provisorischen Regierung sei es, Wahlen für eine konstituierende Nationalversammlung vorzubereiten.93 Auch in einer nicht eindeutig zu datierenden programmatischen Ausarbeitung aus der englischen Emigration findet sich die

91 Vgl. den Eintrag vom 10. 6.1944. Die deutsche Übersetzung der 1997 in Sofia erschienenen Tagebücher Dimitrovs endet mit der Auflösung der Komintern 1943. Ich bin Wladislaw Hedeler zu Dank verpflichtet, der mir einige Passagen aus der bereits in bulgarischer Sprache erschienenen Fortsetzung übermittelte. In der 2003 in englischer Sprache herausgegebenen gekürzten Ausgabe (The Diary of Georgi Dimitrov 1933– 1949. Introduced and edited by Ivo Banac, New Haven 2003) fehlen die Österreich-spezifischen Beiträge der Jahre 1943 und 1944. 92 Horst Laschitza, Kämpferische Demokratie gegen Faschismus. Die programmatische Vorbereitung auf die antifaschistisch-demokratische Umwälzung in Deutschland durch die Parteiführung der KPD, Berlin (Ost) 1969; Peter Erler/Horst Laude/Manfred Wilke (Hg.), „Nach Hitler kommen wir“. Dokumente zur Programmatik der Moskauer KPD-Führung 1944/45 für Nachkriegsdeutschland, Berlin 1994. 93 Die Wiedergeburt Österreichs, S. 1, 13 und 15.

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Forderung nach einer „demokratischen Volksrepublik“,94 die Ernst Fischer „parteioffiziell“ erstmals am 28. April 1944 in einem Rundfunkkommentar für die Österreichsendung von „Radio Moskau“ formuliert haben dürfte.95 Zwar wird im Manifest der KPÖ von der Wiederherstellung bzw. Neubildung demokratischer Parteien gesprochen, für die künftigen politischen Verhältnisse der „demokratischen Volksrepublik“ sollte jedoch der im Zuge des antifaschistischen Widerstandskampfes zu vollziehende „Zusammenschluss aller patriotischen und demokratischen Kräfte in einer österreichischen Freiheitsfront“ und die „Einheit des Volkes“96 entscheidend sein. Diese „Festigung und Sicherung der Einheit des Volkes“ sei das „Fundament der Volksrepublik“ und „die Grundlage der friedlichen unabhängigen und demokratischen Entwicklung in Österreich“, hieß es in offensichtlicher Anknüpfung an die Einheitsvorstellungen, die zur Zeit des VII. Weltkongresses der Komintern entwickelt und nunmehr konkretisiert wurden: Als entscheidende Voraussetzung für die „dauerhafte Einheit des Volkes“ wurde die „Einheit der Arbeiterklasse“97 sowie an anderer Stelle die Freundschaft der Arbeiter und Bauern bezeichnet.98 Insofern gingen die kommunistischen Exilvorstellungen wohl auch nicht von der Bildung einer reinen Parteienregierung aus, sondern nahmen in Aussicht, „den demokratischen Parteien und Massenorganisationen die Bildung eines Volksblocks vor[zu]schlagen, die Aufstellung eines gemeinsamen Aktionsprogramms für den Wiederaufbau Österreichs, um auch auf diese Weise die Einheit des Volkes zu festigen“.99 Die Orientierung auf einen demokratischen Volksblock erfolgte nicht zuletzt in Anknüpfung an die Erfahrungen der „Österreichischen Freiheitsfront“, wobei die KPÖ – wohl auch infolge mangelnder Kenntnis der tatsächlichen Lage in Österreich bzw. aufgrund der Tatsache, dass man sich dennoch der Schwäche des antifaschistischen Freiheitskampfes bewusst war – von einer weitgehend offenen Konzeption ausging: „Wie dieser Block sich herausbildet oder sich in Zukunft gestalten wird, ob im Rahmen der Freiheitsfront oder über sie hinausgehend, das ist von untergeordneter Bedeutung“, hieß es in der erwähnten Rundfunksendung.100 Insofern wurde die Frage, ob sich die kommunistische Volksfrontstrategie als politische Massenbewegung der Freiheitsfront und bzw. oder als Koalition der antifaschistischen Parteien konkretisieren werde, offen gelassen bzw. wurden im Jahr 1944 beide Auffassungen nebeneinander als mögliche Optionen vertreten. 94 DÖW Nr. 2604, Von der deutschen Fremdherrschaft zur österreichischen Volksrepublik, o. O. o. D. [Ende 1943/Anfang 1944], S. 11. 95 ÖIfZ, NL 38, Do 126, Mappe 2, Rundfunkkommentar vom 28. 4.1944, S. 2. 96 Die Wiedergeburt Österreichs, S. 2. Der III. Abschnitt des Manifests ist übertitelt mit „Die Wiedergeburt Österreichs und die Einheit des Volkes“ (S. 12–20, hier 12). 97 Ebd., S. 15, 16 und 21. 98 Ernst Fischer, Arbeiter und Bauer. In: Zeitspiegel, Nr. 27 vom 8. 7.1944, S. 3. 99 Die Wiedergeburt Österreichs, S. 15. 100 DÖW Nr. 4600, Sendung vom 31.1.1944 „Massenstimmung und Aktionen“, S. 3.

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Erneut wurde im Juni-Manifest deutlich, dass der unmittelbare Aufbau sozialistischer Verhältnisse für die KPÖ keine tagesaktuelle Aufgabe darstellte. Auf den engen Zusammenhang der bündnispolitischen Orientierung auf einen breiten demokratischen Block zur nationalen Befreiung Österreichs und der damit verbundenen Hintanstellung direkter sozialistischer Zielvorstellungen machte eine Rundfunksendung vom Mai 1944 explizit aufmerksam: In ihr wurde festgehalten, dass es im Kampf „um die nationale Befreiung“ und „die Errichtung eines unabhängigen demokratischen Österreich“ nicht um die „Verwirklichung des Sozialismus“ gehe: „Um unsere nationale und staatliche Existenz auf festen und sicheren Boden zu stellen, brauchen wir das patriotische Kampfbündnis zwischen Arbeitern, Bauern und Mittelstand. Wer künstlich im gegenwärtigen Zeitpunkt den Kampf um den Sozialismus auf die Tagesordnung stellt, erreicht damit nichts anderes als eine Schwächung und sogar Sprengung der nationalen Kampffront des Volkes.“101 Die Exilführung der KPÖ, einer in der Ersten Republik kleinen Partei, die erst unter den Bedingungen der Illegalität größeren Zulauf erhielt, formulierte ihre Zukunftsvorstellungen klar aus der Perspektive eines künftig bedeutenden politischen Faktors, einer am demokratischen Wiederaufbau mitgestaltenden Kraft: „Die Kommunistische Partei erhebt in der österreichischen Freiheitsbewegung nicht den Anspruch auf eine Sonderstellung“, hieß es im Manifest vom Juni 1944, sie sei jedoch entschlossen, „in jeder Form die volle Mitverantwortung für die Geschicke des Volkes und des Staates zu übernehmen“.102 Mit der Zielvorstellung eines „demokratischen Blocks“ als institutionalisierter Form der Freiheitsbewegung präsentierte sich die KPÖ als eine politische Kraft, die nicht nur ihre eigene Politik, sondern ihre Vorstellungen vor allem hinsichtlich des gesamten antifaschistischen Bündnisses zur Überwindung des Faschismus und des Wiederaufbaus eines neuen demokratischen Österreich definieren wollte. Als Aufgabe der künftigen provisorischen Regierung formulierte das Manifest ein 16 Punkte-Programm, das als erste Forderung beinhaltete, „den so genannten ‚Anschluss‘ [...] für null und nichtig zu erklären“. Weiters gehe es darum, den faschistischen Machtapparat zu liquidieren und die demokratischen Freiheitsrechte des Volkes ebenso wie die demokratische Selbstverwaltung der Gemeinden wiederherzustellen. Die „bauernfeindliche Zwangswirtschaft“ sei aufzuheben.103 Fragen der Gestaltung der Eigentumsverhältnisse und der Entnazifizierung stellen die weiteren beiden Bereiche des von der KPÖ formulierten Aktionsprogramms der provisorischen Regierung dar: Anspielend auf die politisch-moralischen Verwüstungen durch die Naziherrschaft in Österreich, wurde die Forderung nach einem „systematischen Feldzug“ erhoben, „um den ganzen politischen, moralischen und ideologischen Nazidreck aus Österreich hinauszufegen“. Deutsche Kriegsverbrecher und österreichische Landesverräter seien 101 Ebd., Sendung vom 10. 4.1944 „Arbeiterschaft und Freiheitsfront“, S. 2 f. 102 Die Wiedergeburt Österreichs, S. 22. 103 Ebd., S. 13–15.

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zu inhaftieren und zu bestrafen, ihr gesamtes Vermögen zu konfiszieren, „die von den deutschen Räubern und ihren österreichischen Spießgesellen geraubten Güter, Häuser, Wohnungen, Geschäftsläden, Unternehmungen usw. den rechtmäßigen Besitzern zurückzugeben“. Als „nationale Notwendigkeit“ seien die deutschen Monopole, Großbanken und Großbetriebe sowie jene der österreichischen Landesverräter zu verstaatlichen. In dieser Maßnahme sah die KPÖ das Zusammenfallen des „nationalen Kampfes gegen die deutsche Fremdherrschaft“ mit dem sozialen Klassenkampf gegen die „schmarotzerischen deutschen Truste und Monopole. Im Kampf zur Liquidierung der deutschen Trusts und Monopole verschmilzt der Klassenkampf der Arbeiter mit den wirtschaftlichen Lebensinteressen des österreichischen Volkes.“104 Die österreichischen KommunistInnen im englischen Exil formulierten in puncto Verstaatlichung zunächst weitreichendere Vorstellungen als die Exilführung in Moskau: So wurde in ihrer programmatischen Ausarbeitung „Von der deutschen Fremdherrschaft zur österreichischen Volksrepublik“ die generelle „Beseitigung des Monopolkapitals“, d .h. „die Verstaatlichung der Großbetriebe der Schlüsselindustrie [...] und der Großbanken“, gefordert, und nicht nur die Nationalisierung der deutschen Monopole und jener der Kriegsverbrecher.105 Insgesamt wurde im Manifest vom Juni 1944 nicht auf eine allgemeine Verstaatlichung und die völlige Aufhebung kapitalistischer Produktionsverhältnisse abgezielt, was manche Historiker dazu veranlasste, von einem „im Grunde genommen konservativen Konzept der Exilkommunisten“ zu sprechen.106 Vielmehr sei – so das Manifest – das „rechtmäßig erworbene Privateigentum der Bauern, Gewerbetreibenden, Kaufleute, Unternehmer usw. zu schützen und ihre wirtschaftliche Privatinitiative zu ermuntern“.107 Ein Gesichtspunkt, der auch in der Rundfunkpropaganda der folgenden Monate eine große Rolle spielte,108 was wohl auch den Schluss zulässt, dass auf diesem Weg Bedenken der westlichen Alliierten über die außen- und österreichpolitische Orientierung der Sowjetunion entkräftet werden sollten. Dieser Auffassung schloss sich letztlich auch die FAM-Kommission für den Wiederaufbau der österreichischen Wirtschaft im englischen Exil an: Sie forderte die Beschlagnahme des Eigentums der Deutschen und der österreichischen Volksverräter, der private Sektor der Industrie solle jedoch „in den Händen derjenigen Unternehmer“ bleiben, „die sich während der deutschen Besetzung nicht zum Volksverrat missbrauchen ließen“.109 Auch in der Exilpresse wurde auf die Bedeutung der „privaten 104 105 106 107 108

Ebd., S. 14 und 17. DÖW Nr. 2604, S. 7 und 9. Exemplarisch: Aichinger, Sowjetische Österreichpolitik, S. 175. Die Wiedergeburt Österreichs, S. 14. Z. B. Die Stellung der Unternehmer im Neuen Österreich. In: Zeitspiegel, Nr. 36 vom 9. 9.1944, S. 3. 109 DÖW Nr. 2631/I, F.A.M., Entwurf der Kommission für den Wiederaufbau der österreichischen Wirtschaft über die „Administration der Industrie“, o. D. [1944], S. 2 und 4; vgl. dazu auch: Das Wirtschaftsdokument des Free Austrian Movement. In: Zeitspiegel, Nr. 32 vom 12. 8.1944, S. 3–4. Auf Initiative des FAM waren 1943 mehrere Kom-

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Initiative eines anständigen Unternehmertums“ hingewiesen: letztlich gehe es um eine „Kombination von öffentlicher und privater Wirtschaft“.110 In außenpolitischer Hinsicht forderte die KPÖ gleichberechtigte und freundschaftliche Beziehungen zu allen, in wirtschaftlicher Hinsicht insbesondere zu den slawischen Nachbarvölkern.111 Gleichzeitig sollten die bisher engen Bindungen an Deutschland neutralisiert werden, wobei Österreich mit den slawischen Nachbarn das gemeinsame Interesse habe, „den deutschen Imperialismus an einem neuerlichen Marsch nach dem Osten zu hindern“.112 In diesem Punkt spiegelt sich besonders deutlich das Interesse der KPÖ-Führung an einer für die Sowjetunion günstigen außenpolitischen Situation. Vieles spricht dafür, dass das Manifest erst im August des Jahres 1944 veröffentlicht wurde. Die frühe Fertigstellung des Manifests im Juni und anschließende Veröffentlichung im August – während beispielsweise die konzeptionellen Vorarbeiten der KPD erst im Oktober zur Ausformulierung eines Aktionsprogramms führten –, lässt sich durch die Tatsache erklären, dass Franz Honner im Sommer 1944 im Auftrag der KPÖ ins slowenische Partisanengebiet flog, um hier im Rahmen der jugoslawischen Volksbefreiungsarmee die Aufstellung einer österreichischen Kampfgruppe in Angriff zu nehmen. Da es bei dieser Mission Honners auch darum ging, Kontakte zur österreichischen Widerstandsbewegung und zu illegalen Parteiorganisationen im Land zu gewinnen und Initiativen zur politischen Formierung der antifaschistischen Österreicher in der „Österreichischen Freiheitsfront“ zu setzen, war das Manifest der KPÖ zugleich als Agitationsmaterial gedacht. Dass auch in dieser späten Phase Fragen der Entfaltung antifaschistischer Aktionen im Vordergrund standen, wird durch die Tatsache unterstrichen, dass Dimitrov in der erwähnten Aussprache von den österreichischen KPÖ-Spitzen eine dahingehende Schwerpunktverlagerung des „Manifests“ verlangte, was von den KPÖ-Vertretern „bereitwillig“ akzeptiert worden sei.113 Die erste Rundfunkmeldung über das Manifest erfolgte erst am 17. August 1944,114 bereits Anfang August hatte sich Honner mit einem von ihm als „füh-

110 111 112 113 114

missionen ins Leben gerufen worden, die sich unter Einschluss zahlreicher Nichtkommunisten vor allem der Vorbereitung der unmittelbaren Nachkriegshilfe, aber auch weitergehenden Nachkriegsproblemen widmeten (Nachkriegsfragen im FAM. In: Zeitspiegel, Nr. 14 vom 17. 4.1943, S. 2; DÖW Nr. 4456, Dr. Paul Loew-Beer, Die Arbeiten des Free Austrian Movement über Nachkriegsfragen, o. D. [1944]; vgl. dazu auch: Helene Maimann, Politik im Wartesaal. Österreichische Exilpolitik in Großbritannien 1938– 1945, Wien 1975, S. 198–211). Staat und Wirtschaft. In: Zeitspiegel, Nr. 49 vom 9.12.1944, S. 7. Die Wiedergeburt Österreichs, S. 19. W. Scholz [Wilhelm], Die zukünftige Außenpolitik Österreichs. In: Zeitspiegel, Nr. 36 vom 9. 9.1944, S. 4. Vgl. Eintrag vom 10. 6.1944. Für die Übermittlung der entsprechenden Passage bin ich Wladislaw Hedeler zu Dank verpflichtet. Sender Österreich meldet: Kommunisten für Bildung einer vereinten Arbeiterpartei. In: Zeitspiegel, Nr. 34 vom 26. 8.1944, S. 5.

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renden österreichischen Kommunisten“ unterzeichneten Aufruf „zur beschleunigten Entfaltung des Volkskrieges“ an die österreichische Bevölkerung gewandt,115 zwei weitere Aufrufe ergingen am 22. August und 14. September 1944 von Honner an die KPÖ-Organisationen in Kärnten und Steiermark im Namen des „Auslandsbüros der KPÖ“.116 Vorstellungen über die Gestaltung eines demokratischen Nachkriegsösterreichs wurden hier nicht entfaltet, vielmehr widmete Honner seine ganze Argumentation der Organisierung des Partisanenkampfes und der Formierung von bewaffneten Kampfgruppen. Insgesamt ist die gesamte KP-Aktivität dieser Phase auf eine Intensivierung der Aufstandspropaganda gerichtet, um doch noch – in letzter Sekunde – den von der Moskauer Deklaration geforderten „eigenen Beitrag“ zur Befreiung Österreichs zu erfüllen. Die Initiative Franz Honners hatte auch die weitreichendsten Versuche zur Realisierung der KPÖ-Strategie zur Folge: Zum einen die Aufstellung des „Österreichischen Freiheitsbataillons“ im Verband der jugoslawischen Volksbefreiungsarmee im November 1944,117 zum anderen – nach entsprechenden Kontaktnahmen im Herbst 1944 – die Konstituierung eines „Landeskomitees der Österreichischen Freiheitsfront für Kärnten und Steiermark“ im Dezember 1944, für die lokale sozialdemokratische und konservative Persönlichkeiten gewonnen werden konnten.118 3.4

Die „Politische Plattform“ und das Aktionsprogramm für eine provisorische Regierung 1945

Anfang 1945 war aufgrund der Lage an den Fronten weitgehend klar, dass das eben begonnene Jahr das letzte Kriegsjahr und für die KPÖ auch das letzte Jahr der Illegalität sein würde. Insofern stand vor der Moskauer Exilführung der KPÖ die Aufgabe, ihre programmatische Vorbereitung zu intensivieren und das Manifest 1944 im Sinne eines Sofort- bzw. Aktionsprogramms zu konkretisieren. Dieser Prozess der Intensivierung der theoretischen, programmatischen, kadermäßigen und parteiorganisatorischen Vorbereitung der KPÖ auf den Tag der Befreiung ist zwar nicht annähernd derart umfangreich dokumentiert wie

115 DÖW Nr. 4600, Sendung vom 3. 8.1944 „Aufruf der KPÖ“. 116 AKG, ZPA, Rundschreiben des Auslandsbüros der KPÖ „An alle Organisationen, Leitungen, Funktionäre und Mitglieder der K.P.Ö. in den Ländern Kärnten und Steiermark“ vom 22. 8.1944 und 14. 9.1944. 117 Willibald Ingo Holzer, Die österreichischen Bataillone im Verbande der NOV i POJ. Die Kampfgruppe Avantgarde/Steiermark. Die Partisanengruppe Leoben-Donawitz. Phil. Diss., Wien 1971. 118 Der Sender Freies Österreich meldete die Bildung des Komitees am 1. Januar 1945 (Freiheitsfront bildet Landeskomitee für Kärnten – Steiermark. In: Zeitspiegel, Nr. 1 vom 6.1.1945, S. 1–2); vgl. dazu auch: Für ein freies und demokratisches Österreich. Erklärung und Aufruf des Landeskomites [sic!] der österreichischen Freiheitsfront für Steiermark und Kärnten, o. O. 1945 (AKG, ZPA).

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im Falle der KPD,119 jedoch geben einige wenige Tiposkripte aus den Nachlässen von Johann Koplenig und Ernst Fischer Aufschluss über die Aktionspläne der KPÖ in der Phase unmittelbar vor der Befreiung Österreichs. Zum einen handelt es sich dabei um drei knappe Ausarbeitungen aus der Feder Fischers, zum anderen um eine im April in Moskau vorgelegte (nicht als solche bezeichnete) fünfseitige „Politische Plattform“ aus den wenigen vorhandenen Moskauer Unterlagen Koplenigs,120 deren Inhalte von Wolfgang Mueller auf Basis der russischen Übersetzung zusammengefasst dargestellt worden sind.121 Hier finden sich jene Vorstellungen, auf deren Grundlage die österreichischen Kommunisten in den Verhandlungen über die Bildung einer provisorischen Staatsregierung auftraten. Was die Ausarbeitungen Fischers betrifft, so ist in den Erinnerungen von Genia Quittner, zu dieser Zeit Dozentin an der Antifaschule in Krasnojarsk, überliefert, dass Fischer bereits vor seiner Abreise aus Moskau an ihnen gearbeitet habe.122 Fischer dürfte sie insofern mit großer Wahrscheinlichkeit noch in Moskau niedergeschrieben haben. Das Aktionsprogramm aus dem Nachlass Koplenigs wurde am 18. April 1945 in einer am 14. April angefertigten Übersetzung Dimitrov als Leiter der Abteilung für Internationale Information des ZK der VKP(b) übermittelt.123 Bereits am 2., 3. und 4. April – also wenige Tage vor dem Rückflug Koplenigs und Fischers nach Wien – hatten diesbezügliche Beratungen bei Dimitrov stattgefunden.124 Der Entwurf der KPÖ-Plattform gliedert sich in drei Hauptteile: Der erste Teil umfasst die Forderungen nach der Konstituierung einer Provisorischen Nationalversammlung und einer Provisorischen Regierung. Wurde im Manifest des Jahres 1944 noch ganz allgemein von einer aus dem Freiheitskampf hervorgehenden Regierung ausgegangen, erfolgte nunmehr eine dahingehende Konkretisierung, dass diese von einer Nationalversammlung gewählt werden solle, wobei die Nationalversammlung aufgrund der Okkupation seit 1938 nicht aus 119 Vgl. Laschitza, Kämpferische Demokratie gegen Faschismus, S. 131–183, sowie die Dokumente in: Erler/Laude/Wilke (Hg.), „Nach Hitler kommen wir“, S. 311–386. 120 AKG, ZPA, NL Johann Koplenig, Tiposkript [Politische Plattform der KPÖ], o. O. [Moskau] o. D. [März/April 1945], sowie RGASPI 17/128/781/22–27. Text in Wolfgang Mueller u. a. (Hg.), Sowjetische Politik in Österreich 1945–1955. Dokumente aus russischen Archiven, Wien 2005, S. 116–123. 121 Wolfgang Mueller, Sowjetbesatzung, nationale Front und der „friedliche Übergang zum Sozialismus“: Fragmente sowjetischer Österreich-Planung 1945–1955. In: Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs, Band 50: 200 Jahre Russisches Außenministerium, Innsbruck 2003, S. 133–156, hier 141 f. 122 Genia Quittner, Weiter Weg nach Krasnogorsk. Schicksalsbericht einer Frau, Wien 1971, S. 289. 123 RGASPI 17/128/781/20, vgl. Wolfgang Mueller u. a. (Hg.), Sowjetische Politik in Österreich 1945–1955, S. 117, Anm. 1. 124 Vgl. The Diary of Georgi Dimitrov 1933–1949, S. 365 f. Am 4. April notierte Georgij Dimitrov in sein Tagebuch: „– Koplenig, Wieden (Fischer) und Chvostov. [...] Fragen zur Wiederherstellung Österreichs erörtert (Nationalversammlung, Regierung usw.).“ (Hervorhebung im Original). Für die Übermittlung dieser Passage bin ich Wladislaw Hedeler zu Dank verpflichtet.

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einer vorhandenen Körperschaft hervorgehen und ebenso wenig an Körperschaften der Jahre vor 1938 anknüpfen könne, da das Parlament bereits 1933 und die politischen Parteien 1934125 aufgelöst worden seien. Genauso wenig könne das alte Parlament wiederhergestellt werden, da diesem pronazistische und faschistische Parteien wie die Großdeutschen, die Heimwehren und Landbündler angehörten, sowie die Christlichsoziale Partei, die sich selbst aufgelöst hatte. Insofern müsse die Provisorische Nationalversammlung „auf vollkommen neuer Grundlage gebildet werden“. Konkret wurde dabei an die „nach einem vereinbarten Schlüssel“ zu erfolgende Entsendung von Deputierten der Gemeindeverwaltungen gedacht, „wobei nicht auszuschließen ist, dass auch die demokratischen Parteien und Massenorganisationen sowie Kampforganisationen der patriotischen Widerstandsbewegung durch besondere Abgeordnete vertreten [sein] werden“.126 In einem Papier aus dem Nachlass Ernst Fischers, das eventuell eine Vorarbeit für das Aktionsprogramm darstellt, findet sich ebenfalls die Forderung nach einer „provisorischen Nationalversammlung auf neuer Grundlage“, jedoch „als beratende Körperschaft, die sich aus Vertretern der Parteien sowie aus öffentlich bekannten Persönlichkeiten zusammensetzt“.127 Um auf diesem Weg zu einer Provisorischen Nationalversammlung zu gelangen, wurde die „Wiederherstellung der demokratischen Parteien und Massenorganisationen“ sowie die „Wiederherstellung der demokratischen Selbstverwaltung der Gemeinden“ als „erste Voraussetzung“ angesehen. Konkret wurden in diesem Zusammenhang die Kommunistische Partei, die Sozialdemokratische Partei, die „Christlichsoziale oder eine andere katholische Partei“ sowie die Gewerkschaften und der „Bauernbund“, auf dessen Charakter nicht näher eingegangen wurde, genannt. Die Provisorische Nationalversammlung wiederum solle eine Provisorische Regierung wählen, in der neben allen demokratischen Parteien auch die Massenorganisationen vertreten sein müssten. Angeführt werden in dieser Hinsicht „Kommunisten, Sozialdemokraten, Katholiken, bürgerliche Demokraten, Gewerkschaften, Bauernbund“.128 Im erwähnten Papier Fischers findet sich hingegen der Gedanke, dass die Provisorische Regierung nicht von der Nationalversammlung, sondern vom letzten österreichischen Bundespräsidenten Wilhelm Miklas „im Einvernehmen mit Vertretern der demokratischen Volkskräfte (Katholiken, Sozialdemokraten, Kommunisten)“ ernannt werden solle: „Durch diesen Modus würden die staatsrechtlichen Formen gewahrt, wobei faktisch etwas durchaus Neues entsteht.“ Jedoch solle Miklas „nach Erfüllung dieser Mission“ sofort zurücktreten, „da er sich nach der Okkupation politisch kompromittiert hat“.129 125 Korrekterweise wurde die KPÖ bereits 1933 verboten. 126 AKG, ZPA, Tiposkript, S. 1. 127 ÖIfZ, NL 38, Do 126, Mappe 3, Zur Bildung einer provisorischen Regierung schlagen wir vor, o. O. o .D. [Frühjahr 1945]. 128 AKG, ZPA, Tiposkript, S. 1. 129 ÖIfZ, NL 38, Zur Bildung einer provisorischen Regierung schlagen wir vor.

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Anknüpfend an die Konzeption der antifaschistischen Volksfront, stand im Mittelpunkt der KPÖ-Überlegungen der Gedanke des „Zusammenschlusses aller Volkskräfte“, der „Einheit aller antifaschistischen, demokratischen und patriotischen Kräfte“, die zur Überwindung der Schwierigkeiten, zur wirtschaftlichen, politischen und moralischen Wiedergeburt notwendig sei. Österreich brauche demgemäß „eine Volksvertretung und eine Regierung [...], die nicht demagogisch agitieren, intrigieren, parlamentieren und demissionieren, sondern die verantwortungsbewusst im allgemeinen Volksinteresse Tag und Nacht arbeiten“ solle, hieß es im dritten – Fragen des Charakters der KPÖ betreffenden – Abschnitt der Plattform.130 Was den Regierungschef betreffe, so sei es „am zweckmäßigsten, als Vorsitzenden der Regierung einen angesehenen Parteilosen zu wählen, dem ein Präsidium zur Seite steht, in dem jede Partei durch einen Minister ohne Portefeuille vertreten ist“.131 In einem weiteren Entwurf Fischers findet sich diese Forderung in ähnlicher Formulierung leicht konkretisiert: „Vorsitzender der Regierung soll womöglich ein bekannter Parteiloser sein (Hochschulprofessor oder ähnliches). Neben ihm ein Dreimänner-Präsidium: ein Kommunist, ein Sozialdemokrat, ein Katholik (allenfalls auch ein bürgerlicher Demokrat).“ Was die kommunistische Beteiligung an der Regierung betraf, so gingen die Vorstellungen Fischers zu diesem Zeitpunkt noch über jene Forderungen hinaus, die später im Rahmen der Parteienverhandlungen in Wien erhoben wurden: „Die Kommunisten beanspruchen auf jeden Fall das Innenministerium (besonders die politische Polizei muss von Kommunisten organisiert und geleitet sein), das Volkserziehungsministerium und das Wirtschaftsministerium.“ Zu diesem Zeitpunkt war es für die KPÖ-Exilführung in Moskau völlig unklar, welche Persönlichkeiten aus dem sozialdemokratischen und bürgerlichen Lager für eine Regierungsbildung zur Verfügung stehen würden. Jedenfalls kämen für Regierungsfunktionen nur Persönlichkeiten in Frage, „die nicht kompromittiert sind und sich entschieden zu einem freien, unabhängigen, demokratischen Österreich bekennen“. Neben Karl Seitz, Leopold Kunschak und Theodor Körner wurden in weiterer Folge auch die EmigrantInnen Josef Dobretsberger, die ehemalige sozialdemokratische Abgeordnete Marie Köstler, die in der englischen Emigration eng mit den österreichischen KommunistInnen zusammenarbeitete, die Sozialdemokraten Hugo Breitner und Julius Deutsch sowie der Schriftsteller Ferdinand Bruckner als jene Persönlichkeiten genannt, die für die Bildung einer provisorischen Regierung in Frage kommen könnten.132 In einem Interview mit Peter Smolka, einem Mitarbeiter der Zeitschrift „Britanskij Sojuznik“, aus dem Jahr 1944 hatte Ernst Fischer davon gesprochen, dass in der ersten Regierung Karl Seitz, Karl Renner, Julius Deutsch und katholische Poli130 AKG, ZPA, Tiposkript, S. 5. 131 Ebd., S. 1. 132 ÖIfZ, NL 38, Do 126, Mappe 1, Die Vorarbeiten zur Herausbildung einer Provisorischen Nationalversammlung und einer Provisorischen Regierung, o. O. o. D. [März/April 1945], S. 1 f.

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tiker vom Schlage Leopold Kunschaks wieder eine wichtige Rolle in der ersten Regierung spielen sollten. Fischer beklagte das Fehlen prominenter unabhängiger Politiker in der Emigration und nannte in diesem Zusammenhang Josef Dobretsberger und Hans Kelsen als mögliche Regierungsmitglieder.133 Eine am 5. April 1945 von Dimitrov an Stalin übermittelte Niederschrift Koplenigs und Fischers gibt einen Hinweis darauf, dass auch der kriegsgefangene General Fritz Franek, Kommandeur der Wiener „Reichsgrenadierdivision Hoch- und Deutschmeister“, in den Überlegungen der KPÖ eine Rolle gespielt haben könnte.134 Dass die KPÖ zunächst nicht von der sofortigen Bildung einer provisorischen Regierung ausgegangen sei, wird vom damaligen SP-Zentralsekretär und späteren Mitglied des KPÖ-Polbüros Erwin Scharf – unter Berufung auf Informationen aus dem Politischen Büro der KPÖ – geltend gemacht. Die „führenden Funktionäre“ seien nicht der Ansicht gewesen, „dass man nach der militärischen Befreiung sofort eine provisorische Regierung bilden sollte. Denn vorher müsste man die demokratischen Organisationen aufbauen, eine feste Einheit aller Demokraten und Patrioten schaffen, den opportunistischen Spreu vom antifaschistischen Weizen scheiden, und dann erst könnte man, gestützt auf die neuen politischen Gruppierungen, eine Regierung bilden.“135 Diese Orientierung der KPÖ auf eine nicht unmittelbar zu erfolgende Einberufung der Nationalversammlung mit darauffolgender Bildung der provisorischen Regierung geht auch aus einer zweiseitigen Ausarbeitung mit dem Titel „Die Vorarbeiten zur Herausbildung einer Provisorischen Nationalversammlung und einer Provisorischen Regierung“ aus dem Nachlass Fischers hervor, die wohl einen Entwurf für den ersten Abschnitt der „Politischen Plattform“ darstellt. Fischer folgte hier der in den Vorjahren entwickelten Orientierung auf die „Österreichische Freiheitsfront“ und ging in diesem Sinne von einem längeren Vorlauf der Regierungsbildung aus. Er sah folgende Voraussetzungen für die Bildung einer Nationalversammlung und provisorischen Regierung: die „Organisierung einheitlicher Betriebsorganisationen in wichtigen Betrieben; aus diesen Betrieben hervorgehend ein Initiativkomitee zur Errichtung einheitlicher Gewerkschaften; Wahl einer provisorischen Gewerkschaftsleitung“, die „Organisierung einheitlicher Bauerngenossenschaften in den Landgemeinden; Schaffung eines Initiativkomitees zur Errichtung einheitlicher Genossenschaften; Herausbildung eines provisorischen Genossenschaftszentrums“, sowie die „Organisierung der Freiheitsfront in allen Orten und Bezirken, Bildung von Freiheitsfrontleitungen sowie einer zentralen Leitung der Freiheitsfront, der 133 Public Record Office, Foreign Office 371/38829 C 8924/30/3, Record of a conversation between Mr. Smollett [d.i. Peter Smolka] and Ernst Fischer, an Austrian Communist, 24. 6.1944, S. 2. Für die Überlassung einer Kopie dieses Dokuments bin ich Siegfried Beer zu Dank verpflichtet. 134 RGASPI 17/128/716/33. Text in Wolfgang Mueller u. a. (Hg.), Sowjetische Politik in Österreich 1945–1955, S. 112–115, hier 113 und 115. 135 Erwin Scharf, Ich hab’s gewagt mit Sinnen ... Entscheidungen im antifaschistischen Widerstand. Erlebnisse in der politischen Konfrontation, Wien 1988, S. 111 f.

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Kommunisten, Sozialdemokraten, Katholiken, bürgerliche Demokraten und Parteilose angehören“. Neben Einzelbeitritten sollten „Betriebe, Gewerkschaften, Genossenschaften, Partisanenabteilungen“ kollektiv der Freiheitsfront beitreten, die zum Ausgangspunkt der weiteren Etablierung von Verwaltungsstrukturen werden sollte: „Die Freiheitsfront ergreift die Initiative bei der Bildung von Lokalverwaltungen, Gemeinderäten usw. Sie ergreift die Initiative zu Wahlen [...] für eine Provisorische Nationalversammlung. Sie schlägt die Kandidaten vor, Kommunisten, Sozialdemokraten, Katholiken, bürgerliche Demokraten und parteilose Angehörige der Freiheitsfront; tritt als Organ der Einheit des Volkes auf, bei voller Anerkennung, dass es Vertreter verschiedener Parteien und Weltanschauungen gibt. Fühlungnahme mit verschiedenen politischen und sonst bekannten Persönlichkeiten [...] zur Herausbildung einer Provisorischen Regierung, die von der Provisorischen Nationalversammlung bestätigt wird und sich auf sie stützt.“ In der Regierung müsste – neben den auch in der Plattform genannten Kommunisten, Sozialdemokraten, Katholiken, bürgerlichen Demokraten, Gewerkschaften und Bauerngenossenschaften – „eventuell auch die Freiheitsfront als solche“ vertreten sein.136 Nachdem es sich bei dieser Ausarbeitung Fischers um eine Vorarbeit für die „Politische Plattform“ handeln dürfte, ist vor allem der Zeitpunkt der Zurücknahme der Freiheitsfront im letztlich den sowjetischen Stellen vorgelegten Entwurf von Interesse. Bis zu diesem Zeitpunkt kam der „Österreichischen Freiheitsfront“ in der Konzeption der KPÖ eine – wenn nicht die – entscheidende Rolle im Prozess der Überwindung des Faschismus und des demokratischen Wiederaufbaus zu. In einem nach der Konferenz von Teheran verfassten programmatischem Dokument der österreichischen KommunistInnen in Großbritannien findet sich in aller Deutlichkeit die Kursnahme auf „die Bildung einer Regierung der Österreichischen Freiheitsfront“, wobei es „von der Stärke der Ö.F.F.“ abhängen werde, „wie bald sie imstande sein wird, eine provisorische Regierung der nationalen Front zu bilden“. Die Staatsmacht müsse „von der Freiheitsfront und ihren Organen übernommen werden, die bis zum Zusammentritt durch die in freier Wahl gewählte Nationalversammlung alle gesetzgebende und vollziehende Gewalt in sich vereinen“.137 In ähnlichen Worten formulierten Rundfunksendungen des Senders „Freies Österreich“ die Orientierung der KPÖ, dass der Freiheitsfront beim Wiederaufbau staatlicher Verwaltungsstrukturen und auch bei der Regierungsbildung die letztlich entscheidende Bedeutung zukommen solle.138 Umgekehrt betonte die ÖFF-Propaganda auch – wie oben bereits erwähnt –, dass hinsichtlich ihrer Rolle im antifaschistischen Widerstand eine of136 ÖIfZ, NL 38, Die Vorarbeiten zur Herausbildung einer Provisorischen Nationalversammlung und einer Provisorischen Regierung, S. 1. 137 DÖW Nr. 2604, S. 6 und 7. 138 Vgl. Zwei Jahre Österreichische Freiheitsfront. In: Zeitspiegel, Nr. 47 vom 25.11.1944, S. 1–2, hier 1 f.

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fene Konzeption vertreten werde, was wohl auch eine ähnliche Offenheit hinsichtlich ihrer Rolle im Prozess der Überwindung des Faschismus und des Übergangs zu demokratischen Verhältnissen andeutete: Die Freiheitsfront sei „keine starre Organisation“ und fordere „keinerlei formelle Anerkennung“. Sie „beansprucht keinerlei politisches Monopol. Sie kann und will nicht an die Stelle politischer Parteien treten oder die politischen Parteien aufsaugen“, hieß es in einer Rundfunksendung von Anfang 1944.139 Vor allem gingen die KommunistInnen jedoch davon aus, mit Hilfe regionaler Komitees der ÖFF die lokale Verwaltung reorganisieren und „durch die im Kampf entstandenen Organe der Freiheitsbewegung“ den Grundstein für den neuen Staatsapparat legen zu können.140 Das Ende 1944 formierte Landeskomitee der ÖFF für Kärnten und Steiermark wurde als erster großer Erfolg dieser Orientierung auf regionale Kampfleitungen und Komitees angesehen: Hiermit sei eine „Landesautorität geschaffen worden, die als erstes Organ der im Kampf entstandenen neuen österreichischen Selbstverwaltung die Führung dieser Gebiete übernehmen kann und damit einen wichtigen Schritt auf dem Wege der praktischen Loslösung Österreichs von Deutschland und seines Übergangs auf die Seite der Alliierten macht“, schrieb der „Zeitspiegel“ in Kommentierung einer Rundfunkmeldung.141 Johann Koplenig wertete in einem Ende März 1945 – möglicherweise vor Kriegsgefangenen – gehaltenen Vortrag die „Bildung eines Landeskomitees der österreichischen Freiheitsfront für Kärnten und Steiermark aus den Vertretern der wichtigsten antifaschistischen und patriotischen Widerstandsgruppen und demokratischen Organisationen“ als charakteristisch für das „Erwachen und rasche Erstarken der sich zu Österreich bekennenden politischen Kräfte“ und erkannte „deren wachsenden Zusammenschluss in der österreichischen Freiheitsfront, als der Verkörperung der Einheit des österreichischen Volkes“.142 Ende März vermeldete der Sender „Freies Österreich“, dass in der Steiermark „Bezirks- und viele Ortskomitees“ der ÖFF gebildet worden seien und die „Bildung von Kampfleitungen und Komitees der Österreichischen Freiheitsfront“ auch in anderen Gebieten vorangehe.143 Ähnlich ist die Erinnerung Fischers an sein letztes Gespräch mit Dimitrov in Moskau vor seiner Abreise nach Wien zu interpretieren: Fischer soll hier ein Konzept eines Systems von Räten entwickelt haben, „nicht von Arbeiterräten allein, in den Betrieben, sondern von Volksräten oder Volksausschüssen oder wie man das nennen will“. Diese lokalen Volksräte sollten dann ihre Vertreter in einen

139 DÖW Nr. 4600, Sendung vom 31.1.1944 „Massenstimmung und Aktionen“, S. 2 (Hervorhebung im Original). 140 Die Wiedergeburt Österreichs, S. 13.; DÖW Nr. 2604, S. 6. 141 Die Kampfleitung für Kärnten und Steiermark. In: Zeitspiegel, Nr. 2 vom 13.1.1945, S. 1. 142 AKG, ZPA, NL Johann Koplenig, Auf dem Wege zur Befreiung Österreichs, o. O. [Moskau] o. D. [März 1945], S. 9. 143 Vgl. Der Kampf um Wien. In: Zeitspiegel, Nr. 15 vom 14. 4.1945, S. 2–3, hier 3.

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Zentralrat entsenden. Ein Konzept, das Dimitrov als „vernünftig und realisierbar“ bezeichnet haben soll.144 Diese Stellungnahmen zur Rolle der ÖFF und ihrer Kampfleitungen und Komitees bei der Reorganisierung der Verwaltungsstrukturen dürfen jedoch nicht zum Schluss verleiten, die Freiheitsfront sei für die KPÖ primär als Instrument für die Nachkriegsentwicklung von Bedeutung gewesen. Im Vordergrund stand zu jeder Zeit die Weckung von Aktivität im nationalen Befreiungskampf zur Initiierung einer breiten Volkserhebung zum Sturze des Hitlerfaschismus: Aufrufe zum Partisanenkampf und zur Bildung von Kampfgruppen,145 zur Sabotage in den Kriegsbetrieben, Aufrufe zur Desertion aus der Hitlerarmee146 und zum nationalen „Volkskrieg gegen Hitler, für die Rettung Österreichs“147 dominierten die gesamte KPÖ-Propaganda. Insgesamt ist die in Anwendung der Volksfrontpolitik verfolgte KPÖ-Orientierung auf die „Österreichische Freiheitsfront“ und die Etablierung von Volksausschüssen als künftige Faktoren der Nachkriegsentwicklung untrennbar mit der Hoffnung der KommunistInnen verbunden, dass der Sturz des Hitlerregimes durch einen bewaffneten Volksaufstand herbeigeführt werden könnte bzw. zumindest in der Endphase des Krieges große Teile der Bevölkerung in den Widerstand gegen das Hitlerregime involviert werden könnten. Die KPÖ sah die Ergebnisse des antifaschistischen Befreiungskampfes als den wichtigsten Faktor zur Neugestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse an; wiederholt wurde darauf hingewiesen, „wie sehr die Lösung der Zukunftsprobleme vom heutigen Kampf unseres Volkes abhängt“,148 womit wohl auch auf die noch nicht abgeschlossenen Verhandlungen über die künftige Besetzung Österreichs angespielt wurde. Zwar ist im Einzelnen nichts über die KPÖ-Einschätzung der drohenden militärischen Besatzung bekannt, doch dürften die führenden Kommunisten Ende 1944 – auch vor dem Hintergrund der EAC-Verhandlungen – kaum davon ausgegangen sein, dass eine Volkserhebung dem neuen Österreich die Besatzung noch ersparen werde können. Insofern folgte die Ungeduld, die aus einem Beitrag Jenö Kostmanns anlässlich der ein Jahr zuvor erfolgten Verabschiedung der Moskauer Deklaration sprach, wohl eher einem propagandisti144 Ernst Fischer, Erinnerungen und Reflexionen, Reinbek 1969, S. 467 f. In diesem Zusammenhang ist jedoch anzumerken, dass der Begriff „Räte“ in den Exilkonzepten und auch der zeitgenössischen KPÖ-Propaganda keine Rolle spielte. Fischer scheint ihn hier rückschauend nur sinngemäß für die KPÖ-Orientierung auf die Etablierung von Volksausschüssen und der Verwirklichung der Einheit des Volkes im Rahmen der Österreichischen Freiheitsfront zu verwenden. 145 Die Propaganda für den Partisanenkampf setzte 1942 mit Meldungen über den Partisanenkrieg in Österreich, vor allem in Südkärnten, ein und verstärkte sich ab April/ Mai 1944. In diese Bemühungen ist auch die Formierung der fünf „Österreichischen Freiheitsbataillone“ in Slowenien einzuordnen. 146 Z. B. DÖW Nr. 4600, Sendung vom 8. 6.1944 „Appell der österreichischen Freiheitsfront zum Beginn der großen Entscheidungsschlacht“, S. 1 f. 147 Z. B. ebd., Sendung vom 12.1.1943. 148 Sender Österreich berichtet über Nachkriegsziele der Freiheitsfront. In: Zeitspiegel, Nr. 37 vom 16. 9.1944, S. 1–2, hier 2.

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schen Kalkül als einer realen Einschätzung der Situation in Österreich. Es sei den österreichischen Patrioten, so Kostmann, „nicht mehr viel Zeit vergönnt. Österreich wird mit Riesenschritten, mit einem Elan, der dem österreichischen Volk nicht fremd ist, aufzuholen haben, worin es noch immer hinter den anderen okkupierten Ländern zurück ist, um einen Beitrag zu seiner Befreiung zu leisten, der bei der endgültigen Regelung tatsächlich wird in Rechnung gestellt werden können“.149 Ob und in welchem Maße die österreichischen KommunistInnen auch zu einem späteren Zeitpunkt noch eine Selbstbefreiung bzw. eine Volkserhebung für das Kriegsende in Österreich erwarteten,150 ist nicht eindeutig zu klären. Zwar orientierte die KPÖ in ihrer Propaganda auch Anfang 1945 unvermindert auf den bewaffneten Volksaufstand zum Sturz des faschistischen Regimes, jedoch wurde mit fortschreitender Entwicklung immer deutlicher, dass die Befreiung vom Hitlerfaschismus primär von außen, durch den Vormarsch der Roten Armee und der westlichen Alliierten erfolgen würde. Zu diesem Zeitpunkt waren eine antifaschistische Volkserhebung und eine damit einhergehende Stärkung der antifaschistischen Volksfront nicht mehr zu erwarten. Die in den Tagen der Befreiung getroffene Einschätzung in der „Pravda“, wonach Fortschritte im Kampf gegen die deutsche Fremdherrschaft nach der Moskauer Deklaration u. a. in der „immer engeren Zusammenarbeit der politischen Elemente, die ein freies Österreich unterstützen und ihrer Konsolidierung in den Reihen einer Österreichischen Freiheitsfront“ bestanden,151 müssen also eher als Zweckoptimismus bzw. propagandistisch motiviert interpretiert werden. In Wahrheit erlaubten es neben der außenpolitischen Orientierung der Sowjetunion vor allem auch die Bedingungen in Österreich selbst nicht, von einer Entwicklung im Sinne einer „volksdemokratischen Revolution“ wie in einzelnen süd- und südosteuropäischen Ländern auszugehen. Die Freiheitsfrontbestrebungen der KPÖ kamen kaum über „lokale Ansätze“ in Kärnten, Steiermark, dem Salzkammergut und Wien hinaus, „die erhoffte Mobilisierung der Massen unter dem neuen Schlagwort gelang nicht“.152 Weder der Partisanenkampf, noch der allgemeine Widerstand gegen den Hitlerfaschismus erreichten das Ausmaß wie in anderen von Deutschland annektierten Ländern. Nichtsdestotrotz blieb die Realisierung eines eigenen Beitrags zum Sieg der Antihitlerkoalition für die KPÖ sowohl ein propagandistischer Schwerpunkt als auch ein wichtiger Aspekt der kommunistischen Erwartungen. So schrieb Johann Koplenig noch am 12. März 1945 an Franz Honner und Friedl Fürnberg, die zu dieser Zeit in Slowenien tätig waren, über die Pläne der Deutschen, das österreichische Territorium mit allen Mitteln zu verteidigen: „Aber trotzdem 149 J. [Jenö] Kostmann, Ein Jahr nach der Moskauer Erklärung. In: Zeitspiegel, Nr. 44 vom 4.11.1944, S. 3. 150 Davon geht z. B. Willibald I. Holzer aus (Holzer, Die österreichischen Bataillone, S. 414). 151 Zit. nach Ein Artikel der „Prawda“: Zur Lage Österreichs. In: Zeitspiegel, Nr. 15 vom 14. 4.1945, S. 7 f. 152 Holzer, Die österreichischen Bataillone, S. 138.

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sind wir voller Zuversicht, dass durch den Vormarsch der Roten Armee auch dem österreichischen Volke die Möglichkeit und die Gelegenheit gegeben werden wird, den Beitrag zu leisten, den man mit Recht von ihm fordert.“ Unter demselben Gesichtspunkt wurde die Haltung des von Honner und Fürnberg organisierten „Österreichischen Freiheitsbataillons“ im Verband der jugoslawischen Volksbefreiungsarmeen gesehen, über die sich Koplenig sehr befriedigt zeigte.153 Erst die genauere Kenntnis über die tatsächliche Stärke der ÖFF und des Widerstands sowie das Fehlen von aus dem antifaschistischen Kampf hervorgegangenen Volksvertretungen muss die KPÖ-Spitzen veranlasst haben, ihre Orientierung Ende März/Anfang April erneut anzupassen und die Parteien selbst als die maßgeblichen Faktoren der weiteren Entwicklung anzusehen. Zur selben Zeit ließ die KPÖ-Führung über den „Österreichischen Freiheitssender“ auch Meldungen des Londoner Rundfunks dementieren, wonach sich in einer „Widerstandsbewegung unter dem Namen O5 [...] Christlichsoziale, Sozialdemokraten, Demokraten und Kommunisten“ zusammengefunden hätten. Es handle sich um eine „Mystifikation“, der KPÖ sei weder die Existenz der O5 noch eine kommunistische Teilnahme an ihr bekannt,154 was – wie aus einem Funkspruch Franz Honners nach Moskau vom 6. April 1945 hervorgeht – auch der Wahrheit entsprach.155 Aus der Tatsache, dass die österreichischen ExilkommunistInnen die „Österreichische Freiheitsfront“ in ihrer Konzeption bis knapp vor Kriegsende als „politische Möglichkeit“156 einschätzten, resultierte in den Tagen der Befreiung im Übergang der KPÖ-Organisationen von der Illegalität zur Legalität ein gewisses Spannungsfeld zur nunmehr anlaufenden Reorganisierung der KPÖ. Einzelne kommunistische Gruppen führten ihre Arbeit in den Bezirken in dieser Phase unter der Bezeichnung „Österreichische Freiheitsfront“ weiter und hielten an der Orientierung, die kommunistische Volksfrontkonzeption im Rahmen der

153 AKG, ZPA, Brief von Johann Koplenig an Franz Honner und Friedl Fürnberg, Moskau, 12. 3.1945. 154 Die ÖFF-Erklärung vom 5. April 1945, die sich wiederum auf eine Mitteilung der „Leitung der Kommunistischen Partei“ berief, wurde im Londoner „Zeitspiegel“ und in weiterer Folge auch in anderen Exilzeitungen veröffentlicht (Ein Bluff. In: Zeitspiegel, Nr. 15 vom 14. 4.1945, S. 6). 155 AKG, ZPA, Funkspruch von Franz Honner, 6. 4.1945. Dies muss vor allem vor dem Hintergrund überraschen, dass den zuständigen Stellen in Moskau die Verbindung des POEN (Provisorisches Österreichisches Nationalkomitee) und ihres militärischen Armes O5 zu den westlichen Alliierten und auch deren Kontaktnahme mit der sowjetischen Mission in Paris im März 1945 bekannt gewesen ist (vgl. RGASPI 17/128/176/ 37–38, Notiz des Leiters der Abteilung für internationale Information des ZK der VKP(B), G. Dimitrov, an I. V. Stalin über ein Gespräch des Leiters der Militärmission der UdSSR in Frankreich, I. A. Susloparov, mit dem Vertreter des Provisorischen Österreichischen Nationalkomitees, E. Lemberger, 6. 4.1945. Text in Mueller (Hg.), Sowjetische Politik in Österreich 1945–1955, S. 114 und 115). 156 Ernst Fischer, Das Ende einer Illusion. Erinnerungen 1945–1955, Wien 1973, S. 142.

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ÖFF zu verwirklichen, fest.157 Auch die erste legale kommunistische Vertrauensmänner-Konferenz im befreiten Wien am 14. April 1945 im Buchdruckerhaus in der Seidengasse, bei der Johann Koplenig und Ernst Fischer bereits anwesend waren, fand als „Konferenz der österreichischen Freiheitsbewegung“ statt. Hier teilte Koplenig den ca. 80 anwesenden GenossInnen neben der Kursnahme auf den „Aufbau der Parteiorganisation“ auch die dahingehende Modifizierung der Volksfrontstrategie mit, die Einheit des Volkes nunmehr in Form eines Blocks der Parteien und Massenorganisation zu verwirklichen: „Wir müssen eine Politik der Zusammenfassung aller bestehenden politischen Parteien und Massenorganisationen sein. Die Freiheitsfront darf nicht überorganisatorisch wirken. Ausschüsse sind in der Parteifront zu bilden, in der KP und SP und die Christlichsozialen zusammenarbeiten, in einer einheitlichen Front.“158 Die Freiheitsfront sei „zum Unterschied von anderen Ländern [...] ein viel zu lockeres, ungefestigtes Gebilde“ gewesen, deshalb gab es keine andere Möglichkeit als Vereinbarungen der drei Parteien, da diese „die realsten, unbestreitbarsten Faktoren der wiedererstehenden Demokratie in Österreich“ waren, resümierte Ernst Fischer zu Beginn des Jahres 1946.159 Dass diese im April 1945 vorgenommene Konkretisierung der KP-Orientierung einer genaueren Einschätzung der Lage in Österreich folgte, wird auch durch die Einschätzung Fischers bestätigt, der hinsichtlich der politischen Akteure im Augenblick der Befreiung das Nichtvorhandensein einer „organisierten aktionsfähigen Arbeiterklasse“ und „wirklicher Organe einer national-revolutionären, antifaschistischen Volksbewegung“, von „Volksausschüssen, Nationalkomitees, Partisanenstäben oder wie immer solche Organe einer revolutionären Neuordnung aussehen mochten“, konstatierte.160 Die Abkehr von der im Entwurf Fischers vertretenen Orientierung auf die Freiheitsfront als Nukleus der künftigen lokalen Verwaltungen und der zentralen Regierungsgewalt spiegelt sich auch in jenem Aktionsprogramm wider, das die KPÖ der provisorischen Regierung vorschlug und im zweiten Abschnitt der „Politischen Plattform“ formuliert wurde. Die KPÖ ging hierin davon aus, dass es eine Aufgabe der neu zu bildenden Regierung sei, die Rote Armee zu unterstützen und „alle Kräfte des Volkes in den Dienst der raschen Beendigung des Krieges gegen Hitlerdeutschland und der vollkommenen Vernichtung des Nazisystems“ zu stellen.161 Indem die KPÖ-Exilführung offenbar in dieser Phase ihrer Planungen von einer raschen Regierungsbildung noch zu Kriegszeiten ausging, bleiben kaum Spielräume für eine dahingehende Interpretation, dass sie 157 Vgl. exemplarisch Wiener Stadt- und Landesarchiv, Historische Kommission 1945, Nr. 176 (Otto Langbein), Aufruf der ÖFF vom 15. 4.1945 „An die Bevölkerung des 10. Bezirkes!“. 158 DÖW Nr. 8064, Protokoll über die erste Konferenz der österreichischen Freiheitsbewegung am 14. 4.1945, S. 5. 159 Ernst Fischer, Der Weg der Provisorischen Regierung. In: Weg und Ziel, Nr. 1/1946, S. 1–12, hier 5. 160 Ebd., S. 3. 161 AKG, ZPA, Tiposkript, S. 2.

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auch im April 1945 noch an einen längerfristigen Vorlauf für die Regierungsbildung im Sinne einer Konsolidierung der demokratischen Kräfte im Rahmen der „Österreichischen Freiheitsfront“ und der lokalen Verwaltungen festhielt. Dies dürfte neben dem offensichtlichen Ausbleiben einer Volkserhebung auch mit dem – zu dieser Zeit bereits deutlichen – Bestreben der sowjetischen Besatzungsmacht zu tun gehabt haben, so rasch als möglich den Prozess der Regierungsbildung abzuschließen. So war die Entscheidung für Renner zum Zeitpunkt der Vorlage der „Politischen Plattform“ bei den sowjetischen Stellen in Moskau bereits gefallen. Die KPÖ hatte sich den neuen Realitäten anzupassen.162 Das – den zweiten Abschnitt der „Politischen Plattform“ umfassende – Aktionsprogramm der KPÖ für die provisorische Regierung steht in inhaltlicher Kontinuität zu den Forderungen des Manifests von Juni 1944 und nimmt die Hauptpunkte des „Sofortprogramms“ der KPÖ von August 1945163 vorweg. In ähnlicher Formulierung finden sich die hier formulierten Forderungen der KPÖ auch in einer zweiseitigen Ausarbeitung Fischers mit dem Titel „Zur Plattform und ersten Tätigkeit der Regierung“.164 Wie bereits im Gründungsaufruf der Freiheitsfront vom Oktober 1942 und im Juni-Manifest 1944 stand an der Spitze des KPÖ-Vorschlags für ein Aktionsprogramm der provisorischen Regierung die Forderung, den „Anschluss“ des Jahres 1938 für null und nichtig zu erklären und die „demokratische Republik Österreich“ zu proklamieren. Gleich darauf folgte die Wiederherstellung der demokratischen Freiheitsrechte des Volkes, die „Freiheit der Organisation, der Presse, der Versammlung, der Religion und Weltanschauung“, und die Aufhebung der „schmachvollen Rassengesetze“. In außenpolitischer Hinsicht wurden „vertrauensvolle Beziehungen zwischen Österreich und allen verbündeten Nationen“, vor allem die „freundschaftliche Verbundenheit mit der Sowjetunion und den slawischen Nachbarvölkern“ gefordert, nicht zuletzt vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Entwicklung Österreichs sowie „der Sicherung gegen alle künftigen Bestrebungen des deutschen Imperialismus“. Einen bedeutenden Stellenwert nimmt in diesem knapp formulierten Aktionsprogramm die Entnazifizierung ein: Gefordert wurde die Auflösung der NSDAP und sämtlicher faschistischer Organisationen, die „schonungslose Bestrafung der faschistischen Verbrecher, Peiniger und Verräter des österreichischen Volkes“. Im Entwurf Fischers klang der Wille der KPÖ nach einem harten Vorgehen gegen die faschistischen Kriegsverbrecher noch deutlicher an, ist hier doch von der „Auslieferung der namentlich genannten Kriegsverbrecher 162 Vgl. zur Rolle der KPÖ im Prozess der Regierungsbildung Manfred Mugrauer, Die KPÖ und die Konstituierung der Provisorischen Regierung Renner. In: Mitteilungen der Alfred Klahr Gesellschaft, 12 (2005) Heft 1, S. 1–9. 163 Sofortprogramm zur Wiederaufrichtung Österreichs. Hg. von der Kommunistischen Partei Österreichs, o. O. [Wien] o. J. [1945]. 164 ÖIfZ, NL 38, Do 126, Mappe 1, Zur Plattform und ersten Tätigkeit der Regierung, o. O., o. D. [Frühjahr 1945].

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an die verbündeten Nationen“ und der „physischen Vernichtung der übrigen (Volksgerichte, die schnell, schonungslos und ohne viel Lärm arbeiten)“ die Rede. Im Zusammenhang damit wurde der Säuberung des Staats- und Verwaltungsapparats „von allen faschistischen Elementen und allen aktiven Helfershelfern der deutschen Okkupanten“ im Aktionsprogramm große Beachtung geschenkt, wobei der Staatsapparat durch die Einsetzung von „erprobten Antifaschisten, Demokraten und Patrioten“ zu erneuern sei. In der Ausarbeitung Fischers wurde in dieser Hinsicht explizit die „neue Staatspolizei“ hervorgehoben.165 Hinsichtlich der künftigen Eigentumsverhältnisse wurde die möglichst schnelle Rückgabe all jener beschlagnahmten Betriebe an die rechtmäßigen Eigentümer gefordert, bei denen „klare Rechtsverhältnisse“ bestünden. Die anderen „den Händen der Okkupanten und Verräter entrissenen Betriebe, Banken, Ländereien usw. werden bis zur endgültigen Regelung in staatliche Verwaltung übernommen“. Die Bodenreform sei „auf Kosten faschistischer oder mit den Okkupanten zusammenarbeitender Gutsbesitzer“ durchzuführen, „wobei vor allem Bauern berücksichtigt werden sollen, die am österreichischen Freiheitskampf teilgenommen haben oder wegen ihrer Gesinnung von den Nazis verfolgt und geschädigt wurden“. Darüber hinaus gehe es darum, „im Einvernehmen mit den Arbeitern und Unternehmern, durch systematische Förderung der Einzel- und Masseninitiative alles daran(zu)setzen, die industrielle Produktion und das Verkehrswesen wieder in Gang zu bringen, alle Kräfte des Volkes für den Wiederaufbau (zu) mobilisieren“.166 Noch deutlicher hob Ernst Fischer den „Schutz des rechtmäßig erworbenen Privateigentums“ und die „Förderung der Privatinitiative von kleinen und mittleren Unternehmern, Gewerbetreibenden, Handwerkern und Kaufleuten“ hervor.167 Weitere Punkte betrafen Sofortmaßnahmen im Kampf gegen den Hunger (zum Beispiel die Errichtung von Ernährungskommissionen in den großen Städten und Industriegebieten und Volksküchen) und zur Steigerung der Arbeitsproduktivität, sowie Schritte auf dem Gebiet der Volkserziehung (Säuberung der Schulen von faschistischen Lehrkräften und Schulbüchern). Hier müsse der gesamte Unterricht „mit dem Geiste der Demokratie und des österreichischen Patriotismus“ erfüllt werden. Abschließend findet sich die Forderung nach „Vorbereitungen zur Durchführung von Gemeinde- und Parlamentswahlen auf Grund des allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlrechts“. Der dritte Hauptteil des KPÖ-Aktionsprogramms umfasst Überlegungen zum Charakter der Partei und ihrer Orientierung auf die Einheit der Arbeiterklasse und die Einheit des Volkes, wobei vor allem die Frage einheitlicher Massenorganisationen und des Blockes der demokratischen Parteien im Mittelpunkt steht.168 165 AKG, ZPA, Tiposkript, S. 2; ÖIfZ, NL 38, Zur Plattform und ersten Tätigkeit der Regierung, S. 1. 166 AKG, ZPA, Tiposkript, S. 2 f. 167 ÖIfZ, NL 38, Zur Plattform und ersten Tätigkeit der Regierung, S. 2. 168 AKG, ZPA, Tiposkript, S. 3 und 4 f.

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Die führenden österreichischen Kommunisten kamen im April 1945 mit einer ausformulierten Wiederaufbaukonzeption, ihrer antifaschistisch-demokratischen Generallinie, jedoch „ohne spezielle Direktiven für die praktische Arbeit“169 und auch ohne Informationen über die Designierung Karl Renners zum künftigen Regierungschef aus Moskau nach Österreich zurück.170 Zwar wurden – gemäß der Einschätzung Oliver Rathkolbs – diese „von den kommunistischen Exilanten in Moskau erarbeiteten Programme und Konzepte“ durch die am 19. April 1945 in einer Besprechung mit Karl Renner und Johann Koplenig von Marschall Fëdor I. Tolbuchin unterbreiteten sowjetischen Vorstellungen „zu Makulatur“.171 Nach mehrtägigen Parteienverhandlungen gelang es den Kommunisten jedoch immerhin, ihre Vorstellungen bezüglich einer Regierungsbeteiligung der KPÖ durchzusetzen: Man einigte sich auf Franz Honner und Ernst Fischer als Staatssekretäre für Inneres bzw. für „Volksaufklärung, Unterricht und Erziehung und Kultusangelegenheiten“. Johann Koplenig gehörte als Staatssekretär ohne Portefeuille dem Politischen Kabinettsrat – dem zentralen Gremium für Parteienbesprechungen, in dem der politische Konsens über alle politischen Gesetze hergestellt wurde – an.

169 Hella Altmann, In der provisorischen Regierung. In: Franz Danimann/Hugo Pepper (Hg.), Österreich im April ’45. Die ersten Schritte der Zweiten Republik, Wien 1985, S. 197–202, hier 199. 170 Wie aus dem Notizbuch Ernst Fischers hervorgeht, erfuhren Koplenig und Fischer erst während ihrer Rückkehr nach Österreich von Stalins Weisung, Renner mit der Bildung der Provisorischen Regierung zu beauftragen (ÖIfZ, NL 38, Do 126, Mappe 3). 171 Rathkolb, Sonderfall Österreich?, S. 367.

Kader aus dem Exil. Vorbereitungen der KPD auf eine antifaschistische Nachkriegszeit Jörg Morré Im April 1945 kehrte Walter Ulbricht, kommunistischer Abgeordneter des letzten gewählten deutschen Reichstages, aus dem Exil zurück und setzte in Berlin neue Kommunalverwaltungen ein. Dieses selbstbewusste Auftreten hatte die Rückendeckung der sowjetischen Besatzungsmacht und ging in die deutsche Nachkriegsgeschichte ein unter dem Begriff „Gruppe Ulbricht“. Sie steht als Synonym für die politische Vereinnahmung des sowjetisch besetzten Teils Deutschlands durch kommunistische Remigranten. Die Kaderrekrutierung der KPD im sowjetischen Exil ruhte auf zwei Säulen: der Sammlung der eigenen Parteimitglieder und die Einbindung kooperationswilliger Kriegsgefangener. Kaderrekrutierung meint hier die Auswahl und Schulung von Gefolgsleuten, um sie anschließend als Parteifunktionäre oder Vertrauenspersonen in gesellschaftlich relevanten Positionen einzusetzen. Seit dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion war die Exil-KPD aktiv in die sowjetische Rundfunk- und Frontpropaganda eingebunden, trug wesentlich zum Aufbau so genannter antifaschistischer Schulen (Antifa-Schulen) für Kriegsgefangene bei und bildete im Sommer 1943 das organisatorische Rückgrat des Nationalkomitees Freies Deutschland (NKFD). Schließlich startete sie im September 1944 eine Parteischulung zur gezielten Ausbildung antifaschistischer Kader für den Einsatz in Deutschland. Schulung war der Filter, den alle durchlaufen mussten, um als Kader in Deutschland eingesetzt zu werden.

Schulung von Kriegsgefangenen Die so genannte politische Arbeit unter den Kriegsgefangenen begann, als die ersten Wehrmachtsoldaten in sowjetische Gefangenschaft gerieten. Wenige Wochen nach dem deutschen Überfall gingen Exilkommunisten gemeinsam mit Politoffizieren der Roten Armee in die Kriegsgefangenenlager, um Kooperationswillige für die sowjetischen Propagandaaktivitäten zu finden. Unter dem Dach der Kommunistischen Internationale (Komintern) entfalteten deutsche Emigranten, wie auch die anderer Nationalitäten, eine umfangreiche Rundfunk- und Flugblattpropaganda. Insbesondere Funktionäre der Exil-KPD waren maßgeb-

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lich am Aufbau einer „antifaschistischen Bewegung“ (Antifa) in den Kriegsgefangenenlagern beteiligt. Die Komintern führte zwischen August und Dezember 1941 insgesamt drei Delegationsreisen in ausgewählte Lager durch, die die Basis der Antifa legten.1 Bereits im August 1941 stellte Walter Ulbricht der Komintern einen Richtlinienentwurf zur politischen Schulung deutscher Kriegsgefangener vor: „Die wichtigste Aufgabe in den Gefangenenlagern besteht darin, die deutschen Kriegsgefangenen von der Naziideologie zu befreien und sie zu Antifaschisten und Freunden der Sowjetunion zu erziehen. Der Aufenthalt im Lager muss zu einer Schule für die deutschen Soldaten werden, damit möglichst viele als antifaschistische Kämpfer später nach Deutschland zurückkehren.“2 Im Januar 1942 setzte die Komintern eine „Kommission für politische Arbeit unter den Kriegsgefangenen“ ein, die unter der Leitung Ulbrichts stand. Eine ihrer wesentlichsten Aufgaben war die Organisation einer antifaschistischen Lagerschule für Kriegsgefangene.3 Diese startete im Mai 1942 in Oranki als so genannte Antifa-Schule. An ihr unterrichteten Exilkommunisten ihre kriegsgefangenen Landsleute. Ein Jahr darauf, im Juni 1943, entstand eine zweite Antifa-Schule in Juža (nahe Nižnij Novgorod), und die erste Schule zog um nach Krasnogorsk in das Moskauer Umland, um näher am Entscheidungszentrum zu sein. An beiden Schulen wurden, aufgeteilt in so genannte Sektoren, Kriegsgefangene unterschiedlicher Nationalitäten unterrichtet. Es gab einen deutschen – davon später abgeteilt einen österreichischen – einen ungarischen, rumänischen und italienischen Sektor. Bis Kriegsende durchliefen rund 5 800 Kriegsgefangene die beiden Schulen, davon 2 500 deutsche.4 Die Auswahl der Antifa-Schüler und ihre spätere Verwendung war ein immer kontrovers diskutiertes Thema. Nicht zuletzt forderte die Verwaltung der Kriegsgefangenenlager bzw. die Politische Hauptverwaltung der Roten Armee einen unmittelbaren Nutzen von den Kriegsgefangenen, in deren Schulung sie investiert hatten. Da aber Exilkommunisten in den Lagern als so genannte Politinstrukteure, als Mitglieder der Kommission für politische Arbeit unter den Kriegsgefangenen und schließlich als Lehrer an den Antifa-Schulen unmittelba1

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K. L. Selesnjow, Zur Hilfe Georgi Dimitroffs für die Propaganda der Politorgane der Roten Armee in der faschistischen Wehrmacht. In: BzG, 14 (1972), S. 790 ff.; ders., Mit Walter Ulbricht im sowjetischen Kriegsgefangenenlager (Oktober 1941). In: BzG, 11 (1969), S. 809 ff.; ders., Reise mit deutschen Antifaschisten in ein Kriegsgefangenenlager bei Karaganda (Dezember 1941). In: BzG, 12 (1970), S. 278 ff. „Über die politische Arbeit unter den deutschen Kriegsgefangenen“. In: Christa Uhlig, Rückkehr aus der Sowjetunion. Politische Erfahrungen und pädagogische Wirkungen. Emigranten und ehemalige Kriegsgefangene in der SBZ und frühen DDR, Weinheim 1998, S. 160 f. Leonid Babicenko, Zur Neubewertung der Zusammenarbeit des Zentralkomitees der KPdSU und anderer sowjetischer Stellen mit dem NKFD und dem BDO. In: Gerd R. Ueberschär (Hg.), Das Nationalkomitee Freies Deutschland und der Bund Deutscher Offiziere, Frankfurt a. M. 1995, S. 79 ff. Jörg Morré, Hinter den Kulissen des Nationalkomitees. Das Institut 99 in Moskau und die Deutschlandpolitik der UdSSR 1943–1946, München 2001, S. 132 f.

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ren Einfluss auf die Auswahl und Schulung hatten, versuchten sie das auch auszunutzen. Für sie waren „antifaschistische Kriegsgefangene“ idealerweise Angehörige der Arbeiterklasse, waren politisch in der kommunistischen Arbeiterbewegung organisiert und hatten sich aus diesem Grund nie der NSDAP oder einer ihrer Organisationen angeschlossen. In der Wehrmacht bekleideten sie Mannschaftsdienstgrade und hatten die Gelegenheit gesucht, zu desertieren oder sich gefangen nehmen zu lassen. Solche Fälle gab es tatsächlich. Insbesondere unter den Kriegsgefangenen der Jahre 1941/42 befanden sich immer wieder Einzelne, die aus persönlicher Überzeugung auf die Seite der Roten Armee übergelaufen waren, um Anschluss an die Exil-KPD zu bekommen. So wurden auf Betreiben der KPD für die erste Antifa-Schule vornehmlich Überläufer (23 %) und/oder KPD- bzw. SPD-Mitglieder (23 bzw. 6 %) ausgewählt. Die Schüler waren fast ausschließlich Mannschaftsdienstgrade (96 %) und stammten überwiegend aus der Arbeiterklasse (68 %). Offiziere, NSDAP- oder HJMitglieder durften nicht auf die Antifa-Schule. Aus Sicht der KPD war es nur folgerichtig, dass nach Abschluss des ersten Antifa-Kurses von den 71 Absolventen elf (15 Prozent) zum Parteilehrgang auf der Komintern-Schule vorgeschlagen wurden. Das jedoch lehnte die Kominternführung ab. Antifa- und Parteischule blieben getrennt.5 Antifa-Schulen waren in ihrem Selbstverständnis keine kommunistischen Parteischulen. Das Unterrichtsprogramm hatte – zumindest bis Kriegsende – keine unmittelbaren Bezüge zum Marxismus-Leninismus, auch wenn es auf dem Boden dieser Weltsicht stand.6 Es galt als „antifaschistisch“ in dem Sinne, dass die Kriegesgefangenen zur Abkehr von nationalsozialistischem bzw. faschistischem Gedankengut gebracht werden sollten. Das sollte einhergehen mit einer prosowjetischen Haltung, die häufig umschrieben wurde mit „Erziehung zu Freunden der Sowjetunion“. Der Schwerpunkt des Unterrichtsprogramms lag auf der Geschichte der Sowjetunion. Daneben gab es eine kritische Auseinandersetzung mit dem Faschismus und dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion. In so genannten Abschlusslektionen ging es dann um die „Aufgaben des antifaschistischen Kampfes“, die aber wenig auf ein konkretes Ziel ausgerichtet waren. Nikolaj Janzen, Politoffizier der Roten Armee und langjähriger Leiter der ersten Antifa-Schule, beschrieb im August 1942 nach Abschluss des ersten Antifa-Kurses das Ausbildungsziel seiner Schule mit den Worten: „Ausbildung politisch kundiger, ehrlicher und überzeugter Antifaschisten aus den Reihen der Kriegsgefangenen, die im Anschluss an die Ausbildung in der Lage sind, aktiv am antifaschistischen Kampf teilzunehmen, ihn richtig einschätzen

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Ebd., S. 124 ff. Gert Robel, Die deutschen Kriegsgefangenen in der Sowjetunion. Antifa, München 1974, S. 98. Vgl. auch Otto Engelbert, Die Antifa-Schule Talizy. Schule des „Zwiedenkens“. In: Wolfgang Benz/Angelika Schardt (Hg.), Kriegsgefangenschaft, München 1991, S. 65 ff.

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und durchführen zu können.“7 Das ließ alle konkreten Aufgaben für die Absolventen offen. In der Praxis der folgenden Jahre bedeutete das, dass Antifa-Schüler fast ausnahmslos für die eigenen Belange der sowjetischen Lagerverwaltung bzw. der Roten Armee verwendet wurden. Bis Kriegsende blieben rund zwei Drittel der Absolventen als Aktivisten in den Lagern. Die übrigen wurden an der Front eingesetzt, zum Teil als Propagandisten des Nationalkomitees „Freies Deutschland“ und zum anderen Teil für militärische Aktionen bei den Partisanen oder Freiwilligenverbänden. Das betraf vorwiegend ungarische und rumänische, aber – bis auf wenige Ausnahmen – nicht die deutschen AntifaSchüler. Ein paar Schüler wurden weitergeschult und als Unterrichtshelfer an der Schule behalten.8 Die sowjetische Lagerleitung sah die Antifa sehr viel pragmatischer als die Exilkommunisten. Für sie war im Grunde jeder kooperationswillige Gefangener ein Antifaschist. Vor dem Hintergrund der weitverbreiteten antisowjetischen Haltung der Wehrmachtsoldaten, die zusätzlich durch die nationalsozialistische Propaganda verstärkt wurde, war es schon ein hochgestecktes Ziel, bei den Gefangenen nicht auf totale Ablehnung zu stoßen. Die Anfänge der Antifa waren mühselig und stützten sich, einerseits bewusst, andererseits notgedrungen, auf die kommunistischen Aktivisten in den Lagern.9 Aber bereits mit dem zweiten Kurs an der Antifa-Schule im Herbst 1942 änderte sich das Profil. Es wurden Offiziere aufgenommen, und damit lag es nahe, dass auch eine NSDAPMitgliedschaft kein Ausschlusskriterium mehr war. Mit der Gründung des NKFD im Sommer 1943 schließlich nahm die Antifa eine gänzlich andere als von der Exil-KPD intendierte Richtung. Kommunistische und prosowjetische Ziele wurden zugunsten der Abkehr vom Nationalsozialismus weit zurückgestellt. Anders wäre es nie gelungen, kriegsgefangene Offiziere und bürgerlich eingestellte Soldaten zur Mitarbeit zu bewegen.10 An der Antifa-Schule Krasnogorsk waren seitdem immer auch Offiziere. Die Schule in Juža dagegen blieb bei der Auswahl der Schüler mehr dem proletarischen Ideal verhaftet. Dort wurden so gut wie keine bürgerlichen, häufig ehemals nationalsozialistisch eingestellte Offiziere geschult.11 Für die Exil-KPD blieb es ein dauerndes Problem, Einfluss auf die AntifaSchulung zu nehmen. Von der Auswahl der Schüler war sie bereits nach dem ersten Kurs wieder ausgeschlossen, und auch die Verwendung der Absolventen konnte sie nicht steuern. Bereits im September 1942 beklagte sich Ulbricht, dass die von ihm geleitete Kommission der Komintern keinen Zugriff auf die 7 Russisches Staatsarchiv für Sozial- und Politikgeschichte (RGASPI), fond 495, opis’ 77, delo 20, Bl. 127. 8 Morré, Hinter den Kulissen, S. 134 f. 9 Vgl. Robel, Die deutschen Kriegsgefangenen, S. 17 ff. und 31. 10 Dazu siehe Bodo Scheurig, Verräter oder Patrioten. Das Nationalkomitee „Freies Deutschland“ und der Bund Deutscher Offiziere in der Sowjetunion 1943–1945, München 1993, S. 35 ff.; Morré, Hinter den Kulissen, S. 61 ff. 11 Morré, Hinter den Kulissen, S. 126 f.

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Absolventen habe. Das besserte sich im Sommer 1943 durch die Schaffung des „Instituts 99“, eine aus dem Apparat der aufgelösten Komintern hervorgegangene Einrichtung, über die die Antifa-Schulung sowie das Nationalkomitee „Freies Deutschland“ gesteuert wurden.12 Aber die KPD blieb in der Rolle des Bittstellers. Im Juli 1944 klagte Pieck: „Seit Bestehens des Nationalkomitees werden alle Kaderfragen der Kriegsgefangenenschulen ausschließlich von Genossen der NKVD [Verwaltung der Kriegsgefangenenlager] erledigt. Wir haben bisher weder Kenntnis über die Charakteristiken, noch konnten wir an der Arbeit teilnehmen, und auch die Schulprogramme der letzten zwei Schulen [Kurse an den Antifa-Schulen] wurden ohne unsere Kenntnis ausgearbeitet.“13 Die Exil-KPD unterbreitete immer wieder Vorschläge, die Antifa-Schulung für den Kadereinsatz in Deutschland nutzbar zu machen. Im Juli 1944, die Rote Armee näherte sich den Grenzen des Deutschen Reiches, schlug sie einem Sonderlehrgang vor. Auf der Antifa-Schule sollten Kriegsgefangene darauf vorbereitet werden, in deutschen Kreisstädten, die kurz vor der Einnahme durch die Rote Armee standen, eine Untergrundorganisation aufzubauen, um dann beim Einmarsch sowjetischer Truppen als „Volksausschüsse“ offen aufzutreten. Andere Kriegsgefangene sollten als Helfer beim Aufbau einer sowjetischen Besatzungsverwaltung ausgebildet werden. Bedarf bestehe – so der Entwurf – vor allem an Propagandisten, d. h. Zeitungs- und Radioredakteuren und Versammlungsrednern. Aber auch um die Besetzung der kommunalen Verwaltung sorgte sich die KPD: „Auswahl aus den Schulen, aus den antifaschistischen Aktivs und den Lagern, die sich für den staatlichen und Stadtverwaltungsapparat sowie als leitende Funktionäre für Massenorganisationen eignen (Gewerkschaften, Bauernbund, freie Jugendorganisationen). Es sind solche antifaschistische Kriegsgefangene auszuwählen, die mit dem betreffenden Bezirk verbunden sind, die Spezialkenntnisse haben. Wir schlagen vor, dass zu diesem Zweck je nach der Größe des Bezirks im Durchschnitt 200 Mann je Bezirk ausgewählt werden.“14 Diese Vorschläge gingen auf eine Idee zurück, die im Mai 1944 auf einer Konferenz der Politverwaltung der Roten Armee aufgekommen war. Sergej Tjul’panov, seinerzeit Politoffizier an der 4. Ukrainischen Front, später einflussreicher Offizier der SMAD, hatte den möglichen Nutzen geschulter Kriegsgefangener für die Besatzungsverwaltung der Roten Armee ins Gespräch gebracht: „Zum Beispiel ist es außerordentlich wichtig, eine Gruppe zuverlässiger Antifaschisten zu seiner Verfügung zu haben, die aus den Gebieten stammen, in die in nicht all zu ferner Zukunft die Truppen dieser oder jener Front einmarschieren werden. Weil es aber unter Umständen schwierig sein wird, die benötigten Leute an den Frontschulen auszuwählen, scheint es mir unerlässlich 12 Ebd., S. 131 f. 13 Pieck an Dimitrov am 13. 7.1944. In: Gerhard Keiderling (Hg.), „Gruppe Ulbricht“ in Berlin April bis Juni 1945. Von den Vorbereitungen im Sommer 1944 bis zur Wiedergründung der KPD im Juni 1945. Eine Dokumentation, Berlin 1993, S. 110. 14 „Kader ins Land“, KPD-Vorlage vom 13. 7.1944. In: Keiderling (Hg.), „Gruppe Ulbricht“, S. 110 f.

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zu sein, schon jetzt in den Lagern im Hinterland oder in zentralisierter Form damit zu beginnen, solche Gruppen vorzubereiten.“15 Der Gedanke, über die Fronten der Roten Armee geschulte Kader zum Aufbau neuer Kommunalverwaltungen unter sowjetischer Besatzungshoheit einzusetzen, entwickelte sich vermutlich aus den Erfahrungen mit so genannten antifaschistischen Frontschulen. Seit dem Propagandaeinsatz am Kessel von Stalingrad Anfang 1943, an dem erstmals auch Kriegsgefangene teilnahmen, hatte die Rote Armee mit eigenen Schulungen im Frontbereich experimentiert. Kooperationswillige Gefangene wurden gar nicht erst in die Lager im Hinterland geschickt, sondern beim Stab der jeweiligen Front auf Propaganda- und Diversionseinsätze vorbereitet. Daraus entstanden Frontschulen, deren systematischer Ausbau im Mai 1944 auf einer Konferenz der Politischen Hauptverwaltung der Roten Armee beschlossen wurde. Die Schulen lehrten im Prinzip das gleiche Programm wie die Antifa-Schulen im Hinterland, waren aber viel stärker auf die Erfüllung konkreter Propagandaaufgaben ausgerichtet. Seit Stalingrad wuchs im Frontbereich ein Kreis von Aktivisten heran, der anfangs von den Antifa-Schulen im Hinterland kam, sich dann aber zunehmend selbst rekrutierte. So waren die ab Sommer 1943 eingesetzten Frontbevollmächtigten des NKFD in der Regel „bewährte Antifaschisten“, die die Politverwaltung der Roten Armee von früheren Propagandaeinsätzen her kannte.16 Im Weiteren expandierte die Frontorganisation des NKFD mehr über die Frontschulungen als über die Delegierung von Absolventen der Antifa-Schule. Großzügige Schätzungen gehen davon aus, dass bis Kriegsende 1800 bis 2 000 deutsche Kriegsgefangene für die Politische Hauptverwaltung der Roten Armee tätig gewesen seien.17 Zumindest gab es ab 1944 an fast jeder Front eine antifaschistische Schule, die von einem Exilkommunisten mit tatkräftiger Unterstützung des Frontbevollmächtigten des NKFD geführt wurde.18

15 Vortrag Tjul’panovs vom 4. 5.1944 (RGASPI, 495/77/42, Bl. 72). 16 Morré, Hinter den Kulissen, S. 106 ff. 17 Willy Wolff, An der Seite der Roten Armee. Zum Wirken des Nationalkomitees „Freies Deutschland“ an der sowjetisch-deutschen Front 1943 bis 1945, Berlin (Ost) 1973, S. 94, 150 und 213 f. 18 Helene Berner an der 2. Baltischen bzw. 1. Belorussischen, Bernhard Dohm an der 1. Ukrainischen und Wilhelm Eildermann an der 3. Ukrainischen Front; Helene Berner, Mit der Sowjetarmee nach Berlin. In: Im Zeichen des Roten Sterns. Erinnerungen an die Tradition der deutsch-sowjetischen Freundschaft. Hg. vom Institut für MarxismusLeninismus beim ZK der SED, Berlin (Ost) 1974, S. 319 ff.; Bernhard Dohm, Zur Arbeit der Frontschule bei der 1. Ukrainischen Front. In: Sie kämpften für Deutschland. Zur Geschichte des Kampfes der Bewegung „Freies Deutschland“ bei der 1. Ukrainischen Front der Sowjetarmee. Hg. vom Ministerium für Nationale Verteidigung, Berlin (Ost) 1959, S. 55 ff.; ders., Schule der guten Deutschen. In: Bernt und Else von Kügelgen (Hg.), Die Front war überall. Erlebnisse und Berichte vom Kampf des Nationalkomitees „Freies Deutschland“, 2. Auflage Berlin (Ost) 1978, S. 390 ff.; Wilhelm Eildermann, Die Antifa-Schule. Erinnerungen an eine Frontschule der Roten Armee, Berlin (Ost) 1985.

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Die KPD konnte mit ihrem Vorschlag eines Sonderlehrgangs der AntifaSchule zur Vorbereitung antifaschistischer Kader nichts erreichen. Antifa-Schulen im Hinterland bildeten Propagandisten für die Kriegsgefangenenlager aus, und die Frontschulen behielten ihre Absolventen für sich. Auf beide Bereiche hatte die KPD keinen Zugriff. Noch im Dezember 1944, als die KPD auf der Suche nach Kandidaten für die eigene Parteischule war, konstatierte Pieck gegenüber Dimitrov: „Der Vorschlag, an der Front überprüfte Antifaschisten für unseren Einsatz zu verwenden, scheint uns kaum durchführbar, da die Rote Armee diese Kader selbst einsetzt und wir ein Interesse daran haben, dass von der Front aus möglichst viele zum Einsatz kommen. Unsere Aufgabe muss darin bestehen, dass in den Kriegsgefangenenlagern (Arbeitslagern) bewährte Kommunisten und Antifaschisten ausgewählt und zur Prüfung an der Front oder für die Schule vorgeschlagen werden.“19 Und als es im Frühjahr 1945 um die Frage des Kadereinsatzes in Deutschland ging, stellte Pieck gegenüber der KPD-Führung die Zuständigkeiten nochmals klar: „Mitarbeit von Kriegsgefangenen beim Einsatz: 1) Auswahl durch Pur [Politische Hauptverwaltung] aus den in der Frontarbeit der Pur bewährten Antifaschisten, 2) Auswahl durch Kaderabteilung Institut 99“.20 Mit dieser Beschränkung blieb das Reservoir an Kadern klein. Bei der Planung der „Gruppe Ulbricht“ konnte die Exil-KPD nur auf den Kreis der über die Parteischulung rekrutierten Kader zurückgreifen.

Parteischulungen Die Wurzeln der Parteischulung ausländischer Kommunisten in der Sowjetunion reichen bis in die zwanziger Jahre zurück. Zur Ausbildung des Funktionärskorps kommunistischer Parteien gründete die Komintern 1926 in Moskau die Internationale Lenin-Schule. Dabei bedeute Parteischulung neben der ideologischen Schulung auch immer die Vermittlung allgemeiner Schulbildung, die viele Angehörige der Arbeiterklasse nur unzureichend erhalten hatten. Die Absolventen sollten als Führungskader in ihre nationalen Parteileitungen zurückkehren. Angesichts der veränderten politischen Verhältnisse in Westeuropa bezog die Parteischulung ab 1933 auch den Kampf aus dem Untergrund, den so genannten illegalen Kampf, in ihr Unterrichtsprogramm ein. Auf der Schule legten die Schüler ihre Identität ab, bekamen Decknamen und übten die „Regeln der Konspiration“ ein. Dadurch sollte verhindert werden, dass im Falle einer späteren Verhaftung ungewollt oder erzwungen Informationen über den Parteiapparat verraten werden konnten. Zusätzlich erhielten alle Absolventen eine militärische Grundausbildung.21 Die Grundelemente Theorie, Militärausbildung und „Regeln der Konspiration“ wurden bis Kriegsende beibehalten. 19 Pieck an Dimitrov am 9.12.1944. In: Keiderling (Hg.), „Gruppe Ulbricht“, S. 137. 20 Notizen Piecks „Besprechung der Leitung am 17. 2.1945“, ebd., S. 203. 21 Beatrix Herlemann, Der deutschsprachige Bereich an den Kaderschulen der Kommunistischen Internationale. In: IWK, 18 (1982), S. 205 ff.; Leonid Babitschenko, Die Ka-

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Die Lenin-Schule schloss Ende 1936, weil sie in den Strudel der „Säuberungen“ kam. Auch das Parteileben der Exilkommunisten brach vollkommen zusammenkam. Erst 1940 durfte sich die KPD in Moskau wieder zu Politabenden treffen. Parteischulung bekam nun neben ideologischer Schulung und dem Fernziel der Rückkehr nach Deutschland einen neuen Aspekt. Sie diente der Sammlung und dem Zusammenhalt der Parteimitglieder im sowjetischen Exil.22 Im Frühjahr 1942 nahm die Komintern die Parteischulung wieder auf. Seit dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion waren die ausländischen Kommunisten in der Komintern zu gefragten Partnern der sowjetischen Propagandamaschinerie geworden. Zum Schutz vor den auf Moskau vorrückenden Truppen der Wehrmacht wurde der gesamte Kominternapparat im Herbst 1941 an den Fuß des Ural evakuiert. In Kušnarenkovo (nahe Ufa) begann wieder die Ausbildung ausländischer Kommunisten. In Form und Inhalt war das die Fortsetzung der Lenin-Schule. Die obligatorischen Theoriefächer historischer und dialektischer Materialismus, Politökonomie und Geschichte der Arbeiterbewegung wurden nun ergänzt durch „politische Gegenwartsfragen“, d. h. die Unterstützung der sowjetischen Propagandapolitik. Wieder unterlagen die Teilnehmer den „Regeln der Konspiration“. Abermals folgte der theoretischen eine militärische Ausbildung in Waffenkunde und Geländeübungen, die aber nach den Aussagen des ehemaligen Schülers Wolfgang Leonhard oberflächlich blieben.23 Eine ernstzunehmende Militärausbildung gab es in Puškino, einem Ausbildungscamp im Moskauer Umland, das die Tradition der „Militärpolitischen Schule“ der Komintern fortsetzte. Hier wurden zum Beispiel ehemalige Spanienkämpfer gesammelt und nach abermaliger Ausbildung an die Front geschickt.24 Das schnelle Ende der gerade angelaufenen Parteischulung kam mit der Auflösung der Komintern im Mai 1943. Die Schule in Kušnarenkovo wurde geschlossen. Nur die Militärschulung lief weiter, nun unter der Tarnbezeichnung „Institut 100“. Dort wurden so genannte Fallschirmagenten ausgebildet, die zur Untergrundarbeit in ihre Heimatländer zurückgeschickt wurden. Für drei der derschulung der Komintern. In: Jahrbuch für historische Kommunismusforschung 1993, S. 39 ff. 22 Carola Tischler, Flucht in die Verfolgung. Deutsche Emigranten im sowjetischen Exil 1933 bis 1945, Münster 1996, S. 161 ff. Vgl. auch Leonid Babičenko, „Esli aresty budut prodolžat’sja, to ... ne ostanetsja ni odnogo nemca – člena partii“. Stalinskie „čistki“ nemeckoj politçmigracii v 1937–1938 godach [„Wenn die Verhaftungen fortgesetzt werden, so bleibt nicht ein Deutscher Mitglied der Partei“. Die Stalinschen „Säuberungen“ der deutschen Politemigration in den Jahren 1937–1938]. In: Istoričeskij archiv, (1992) H. 1, S. 120; In den Fängen des NKWD. Deutsche Opfer des stalinistischen Terrors in der UdSSR. Hg. vom Institut für Geschichte der Arbeiterbewegung, Berlin 1991; Hermann Weber, „Weiße Flecken“ in der Geschichte. Die KPD-Opfer der Stalinschen Säuberungen und ihre Rehabilitierung, 2. überarb. Auflage Frankfurt a. M. 1990. 23 Wolfgang Leonhard: Die Revolution entlässt ihre Kinder, Köln 1955, S. 199 ff. 24 Jörg Morré, Die Parteischulung der KPD in der Sowjetunion. In: Heiner Timmermann (Hg.), Die DDR – Analysen eines aufgegebenen Staates, Berlin 2001, S. 730 f.

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deutschen Schüler aus Kušnarenkovo ist der „illegale Einsatz“ belegt.25 Andere dagegen gingen zu den Partisanen.26 Ein weiteres Betätigungsfeld für Exilkommunisten waren die Nachfolgeinstitutionen der aufgelösten Komintern in Moskau, in denen der Propagandaapparat weiterarbeitete. Das „Institut 205“ beherbergte die Rundfunkredaktionen zahlreicher Tarnsender, und das „Institut 99“ wurde zur Schaltzentrale des Nationalkomitees „Freies Deutschland“.27 Der personelle Zusammenhalt der Exil-KPD ging verloren. Ohne den institutionellen Rahmen der Komintern war es für die Exil-KPD schwierig, ihren organisatorischen Zusammenhalt aufrechtzuerhalten. Und vor allem war die Perspektive auf die Nachkriegszeit verloren gegangen.28 Paul Försterling, zuständig für die Kaderplanung der Exilleitung, fertigte Anfang 1944 eine Liste über die verfügbaren Parteimitglieder im sowjetischen Exil an. Seine Aufstellung umfasste gerade einmal 264 Personen, die zudem über das ganze Land verstreut waren. Im althergebrachten Kaderverständnis der Partei wurden die Mitglieder klassifiziert nach möglichen Funktionen im Parteiapparat, den es aber nicht gab und dessen Wiedererrichtung auch noch nicht absehbar war. Die „Heerschau“ (Erler) diente in erster Linie der Selbstvergewisserung der eigenen Existenz. Sie war kein planerischer Aufbruch in die Nachkriegszeit. Försterling stellte seiner Arbeit vorsichtige Worte voran: „Bei der Aufstellung der beiliegenden Liste wurde nicht etwa der Zweck verfolgt, losgelöst von der konkreten Situation die künftige Verwendung unserer hiesigen Genossen vorauszubestimmen. [...] Die Liste gibt lediglich einen ersten Überblick über unsere hier verfügbaren Kräfte, gegliedert nach eventuellen Parteifunktionen, Bezirken, Spezialkenntnissen.“29 Die Nachkriegsplanung der KPD kam erst durch den Impuls Georgij Dimitrovs in Gang. Nach der Auflösung der Komintern blieb ihr ehemaliger Generalsekretär der entscheidende Verbindungsmann zwischen den kommunistischen Exilparteien und der sowjetischen Führung. Er beauftragte Mitte Januar 1944 die KPD, eine Planungsgruppe zur Deutschlandpolitik einzusetzen. Zwischen Februar und August diskutierten dann 20 Funktionäre das Programm, das später als „Aktionsprogramm des Blocks der kämpferischen Demokratie“ verabschiedet wurde, allerdings ohne je veröffentlicht zu werden. Es blieb ein internes Planungspapier, in dem die Grundzüge einer „nationalen Wiederaufbau- und Erneuerungsbewegung“ beschrieben wurden, die im Bündnis mit an25 Tischler, Flucht in die Verfolgung, S. 208. 26 Peter Florin, Meine Partisanenzeit – Schule des Lebens. In: In den Wäldern Belorusslands. Erinnerungen sowjetischer Partisanen und deutscher Antifaschisten. Hg. vom Institut für Parteigeschichte beim ZK der KP Belorusslands und dem Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Berlin (Ost) 1984, S. 14 ff. 27 Grant Adibekov, Das Kominform und Stalins Neuordnung Europas, Frankfurt a. M. 2002, S. 38 ff.; Morré, Hinter den Kulissen, S. 43 ff. 28 Peter Erler, Heerschau und Kaderplanung. Ein Dokument zur Kaderpolitik der KPD aus dem Jahre 1944. In: Klaus Schröder (Hg.), Geschichte und Transformation des SED-Staates. Beiträge und Analysen, Berlin 1994, S. 60. 29 Ebd., S. 62.

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tifaschistischen Kräften aber unter der Führung der kommunistischen Partei umgesetzt werden sollte.30 Es war das Konzept der „Volksausschüsse“, die alle Schichten der Bevölkerung umfassen und von ein paar führenden Kadern angeleitet werden sollten. Mit Abschluss der Arbeitsgruppe tauchte daher auch wieder die Frage nach den Kadern auf. Im August 1944 beauftragte Dimitrov die Exil-KPD mit der Wiederaufnahme der Parteischulung. Pieck gebrauchte in seinen Notizen den Begriff „Schule für das Land“, wodurch das Ausbildungsziel klar umrissen war: Ausbildung von Kadern für den Einsatz in Deutschland nach Kriegsende. Unter der Bezeichnung „Schule Nr. 12“ begann im September 1944 in Schodna im Moskauer Umland die Parteischulung der Exil-KPD.31 Die „Schule Nr. 12“ war sehr viel konkreter als die bisherigen Parteischulungen auf den Einsatz in Deutschland ausgerichtet, blieb aber in der Tradition der Komintern. Dem Theorieteil mit den Grundlagen des Marxismus-Leninismus, Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Geschichte der Sowjetunion und „aktuellen Problemen des Kampfes gegen Faschismus und imperialistischen Krieg“ schloss sich eine eingehende Erläuterung des von der KPD erarbeiteten Deutschlandprogramms an. Im Grunde war das „Aktionsprogramm des Blocks der kämpferischen Demokratie“ das Kernstück der „Schule für das Land“. In Schodna lehrten die Mitglieder der KPD-Arbeitskommission. Ihre Themen waren: Entnazifizierung (Johannes R. Becher), Wirtschaft (Anton Ackermann), Landwirtschaft (Edwin Hoernle), Jugendorganisation (Hans Mahle), Gewerkschaften (Hermann Matern), Genossenschaften (Otto Winzer), Aufbau der KPD (Wilhelm Pieck) und „Einheit der Arbeiterklasse“, d. h. die Haltung der KPD gegenüber den Sozialdemokraten (Walter Ulbricht).32 Neu war, dass auf der Schule Emigranten und Kriegsgefangene zusammen lernten. Es handelte sich dabei um Kommunisten, die als Soldaten der Wehrmacht in Kriegsgefangenschaft geraten bzw. desertiert waren. Bereits im Herbst 1942 waren einige von ihnen nach Abschluss der Antifa-Schule vergeblich für die Komintern-Schule vorgeschlagen worden. 30 „Nach Hitler kommen wir“. Dokumente zur Programmatik der Moskauer KPD-Führung 1944/45 für Nachkriegsdeutschland. Hg. von Peter Erler, Horst Laude und Manfred Wilke, Berlin 1994. Es gab vier Fassungen, die offenbar nach sowjetischen Vorstellungen immer wieder überarbeitet wurden (S. 96 ff. und 240 ff.). Vgl. auch Jörg Morré, Kommunistische Emigranten und die sowjetische Besatzungspolitik in Deutschland. In: Claus-Dieter Crohn/Martin Schumacher (Hg.), Exil und Neuordnung. Beiträge zur verfassungspolitischen Entwicklung in Deutschland nach 1945, Düsseldorf 2000, S. 282 ff.; zur Einbettung der Exilplanungen in die Politik der KPD/SED siehe Friederike Sattler: Bündnispolitik als politisch-organisatorisches Problem des zentralen Parteiapparates der KPD 1945/46. In: Die Anatomie der Parteizentrale, S. 119 ff. 31 Darstellung der „Schule Nr. 12“ bei Erler, „Moskau-Kader“, S. 247 ff.; Morré, Hinter den Kulissen, 140 ff.; Tischler, Flucht in die Verfolgung, S. 217 ff. 32 Themenplan der Schule Nr. 12 (SAPMO-BArch NY 4036/530, Bl. 20–23); siehe auch die Beschreibung bei Heinz Hoffmann, Moskau Berlin. Erinnerungen an Freunde, Kampfgenossen und Zeitumstände, Berlin 1989, S. 119 ff.

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Nach Abschluss des Theorieteils wurden die Parteischüler wie seinerzeit an der Lenin-Schule einer militärischen Ausbildung unterzogen, die nun „Parteitechnik“ hieß. In der „Technischen Schule“ in Puškino – vermutlich die ehemalige Militärpolitische Schule der Komintern – wurde die Herstellung von Falschdokumenten, Techniken für den Druck von Flugblättern und der Umgang mit Waffen eingeübt. Anschließend wechselten die Absolventen nach Nagornoe zu der „Guljaev-Gruppe“ des „Instituts 100“, in der sie eine Unterweisung im Fallschirmspringen und Funken erhielten. Wie in der Vergangenheit wurden die Parteischüler auf einen „illegalen Einsatz“ vorbereitet. Das durch die praktische Ausbildung intendierte Einsatzziel lässt sich an der Verwendung der in ähnlicher Weise am „Institut 100“ ausgebildeten polnischen Kommunisten ablesen. Diese wurden Ende Juli 1944 per Fallschirm auf dem noch nicht von der Roten Armee besetzten polnischen Gebiet abgesetzt. Wenig später begrüßten sie als „Lubliner Komitee“ die einmarschierende Rote Armee.33 Analog dazu hätten mit den Absolventen der „Schule Nr. 12“ als Fallschirmagenten nationale, aber direkt von Moskau aus eingesetzte Befreiungskomitees in Deutschland vorbereitet werden können. Dabei ging dieses Szenario von der Annahme aus, dass die Rote Armee noch vor den westalliierten Truppen das gesamte Territorium des Deutschen Reiches besetzen würde. Auf der Schule wurden Gruppen für den reichsweiten Einsatz zusammengestellt. Vorgesehen waren die Gebiete Stettin, Wasserkante, Rhein/Ruhr, Berlin, Sachsen, Baden/Pfalz/Hessen und Bayern.34 Mit dem Beginn der „Schule für das Land“ wurde auch über den „legalen Einsatz“ nach der regulären Besetzung deutschen Territoriums und Errichtung eines sowjetischen Besatzungsregimes nachgedacht. Parallel zu dem anlaufenden Unterricht in der „Schule Nr. 12“ plante die Parteiführung eine „Abendschule“. Dieser Schulungszirkel etablierte sich im Dezember 1944 in Moskau, d. h. räumlich und zeitlich getrennt von der „Schule Nr. 12“. Er richtete sich an die in Moskau lebenden Spitzenfunktionäre der KPD, die auf die Übernahme von Ämtern im Partei- und Staatsapparat nach Kriegsende vorbereitet wurden.35 Inhaltlich war es das Programm der „Schule Nr. 12“ in reduzierter Form, wobei die militärische Ausbildung entfiel.36 Bereits im November legte die KPD 33 SSSR – Pol’ša. Mechanizm podčinenija 1944–1949 g. Sbornik dokumentov, pod redakciej Gennadija Bordjugova/Gennadija Matveeva/Adama Koseskogo/Andžeja Pačkovskogo, Moskva 1995 [Die UdSSR und Polen. Mechanismus der Unterwerfung (1944– 1949). Dokumente. Hg. von Gennadij Bordjugov, Gennadij Matveev, Adam Koseski und Andrzej Paczkovski], S. 29 ff. 34 „Verwendung der Schüler vom Objekt 12“ vom 28.11.1944 (RGASPI, 495/74/161, Bl. 158). Vgl. Notizen Piecks, die leichte Abweichungen aufweisen, vor allem die Erwähnung einer Gruppe „Schlesien“, zu deren Bildung es aber nicht kam (SAPMO-BArch, NY 4036/530, Bl. 18 und 109). 35 Namentliche Auflistung bei Tischler, Flucht in die Verfolgung, S. 221. Vgl. auch Erler, „Moskau-Kader“, S. 250. 36 „Themenplan für den Abendkursus“ (SAPMO-BArch, NY 4036/531, Bl. 2 f.). Vgl. Notizen Piecks vom 10.12.1944 zur Eröffnung der Abendschule und zum Abschluss am 4. 3.1945 (ebd., Bl. 9–14 und 25–27).

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eine Aufstellung über 257 Parteimitglieder vor, die für die Besetzung von Ämtern unter einer sowjetischen Militäradministration vorgesehen waren: 37 Funktionäre für den zentralen Parteiapparat, 59 für die Besetzung der Bezirksleitungen und 100 „Genossen, die zur Verfügung des ZK stehen“. Zur Verstärkung des Parteiapparates wurde ferner auf „ca. 50 Genossen für untergeordnete Funktionen“ hingewiesen, ohne diese jedoch namentlich zu benennen. Für den Staatsapparat wurden lediglich 38 und für den Einsatz in Massenorganisationen 23 Funktionäre vorgeschlagen. Mit ihnen sollten die Ressorts Arbeit, Wirtschaft, Finanzen, Landwirtschaft/Ernährung, Wohnungsbau, Erziehung, Kultur, Gesundheit/Soziales, Verkehr, Post, Justiz, „Wiedergutmachung“ (vermutlich ein Ministerium für Reparationsleistungen), „Demobilmachung“ und Rundfunk besetzt werden. Unter Massenorganisation wurden die Gewerkschaften und Genossenschaften, Jugend-, Bauern-, Schriftsteller- und Sportverbände sowie Sozialeinrichtungen („Volkshilfe“) verstanden.37 Vergleicht man diese Aufstellung mit der bereits Anfang 1944 gemachten „Heerschau“, so hatte sich im Kaderverständnis der KPD wenig geändert. Nach wie vor stand der Aufbau des Parteiapparates im Vordergrund. Dieser sollte nur mit den zuvor geschulten Mitgliedern erfolgen. Kommunisten in Deutschland, zu denen die Exilleitung keinen Kontakt hatte, wurden deswegen nicht berücksichtigt. Emigranten, die sich nicht im sowjetischen Exil befanden, sollten zur Schulung nach Moskau geholt werden. Das betraf 36 der genannten Funktionäre. Die Wiederaufnahme der Parteischulung geschah zu einem Zeitpunkt, zu dem sich die militärische Entwicklung eindeutig zugunsten der Alliierten wendete. Im Sommer 1944 eröffneten die Westalliierten endlich die lang ersehnte zweite Front in Frankreich, und an der Ostfront hatte die Rote Armee den entscheidenden Sieg über die Wehrmacht errungen. Die Nachkriegsplanungen der interalliierten „European Advisory Commission“ bekamen im Herbst 1944 erste Konturen. Zudem waren im Sommer 1944 die Überreste des Kominternapparates im Zentralkomitee der VKP (b) in der Abteilung Internationale Politik zusammengeführt worden. Leiter war Georgij Dimitrov.38 Somit liefen in der Entscheidung Dimitrovs bzw. der sowjetischen Führung, der Exil-KPD die „Schule für das Land“ zu gewähren, mehrere Entwicklungen zusammen. Aber im Folgenden litt die Schule in erheblichen Maße an der schleppenden Durchführung durch die verantwortlichen sowjetischen Stellen. Bis zum Frühjahr 1945 kam es lediglich zu zwei Kursen an der „Schule Nr. 12“ und zu einem Durchlauf der „Abendschule“. Dabei wurden insgesamt rund 140 Kader ausgebildet.39 Das entsprach nicht den quantitativen Vorstellungen der KPD. Als 37 „Vorschläge zur Vorbereitung leitender Kader“ (RGASPI, 495/74/161, Bl. 146–149); Pieck an Dimitrov am 25.11.1944; das Anschreiben ist ediert in Keiderling (Hg.), „Gruppe Ulbricht“, S. 135. 38 Adibekov, Kominform, S. 43 ff. 39 Morré, Hinter den Kulissen, S. 145 und 148. Der Versuch exakter quantitativer Angaben ist wegen der extrem unsicheren Quellenlage mit vielen Fehlerquellen behaftet. Mit anderer Herangehensweise kommt Erler auf die Zahl 110 bis 120 geschulter Politemigranten und Kriegsgefangener bis Ende 1945, „Moskau-Kader“, S. 251.

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Ergänzung plante sie daher im Februar 1945 einen „Monatskurs“, in dem 80 „Parteimitglieder, die längere Zeit bereits in der Sowjetunion als Emigranten leben, jedoch in den letzten Jahren ohne Verbindung mit der Parteiorganisation waren“, geschult werden sollten.40 Das letztlich unüberwindbare Problem war nur, dass für diese Emigranten die Anreise nach Moskau nicht gestattet wurde. Der Monatskurs kam nie zustande.41 Bis Kriegsende konnte längst nicht der von der Exil-KPD gewünschte Personenkreis ausgebildet werden. Vieles blieb Planung, denn aufgrund der fehlenden sowjetischen Zustimmung (Dimitrov) wurden die bestehenden Möglichkeiten nicht ausgeschöpft. Die Erklärung für diese passive Haltung liegt in der lange Zeit unentschiedenen sowjetischen Deutschlandpolitik, von der der Einsatz der Kader letztlich abhing.

Einsatz der Kader Anfang Februar 1945 eröffnete Dimitrov den deutschen Kommunisten, dass ihre Kader zusammen mit den Fronten der Roten Armee nach Deutschland zurückkehren würden. Für die KPD kam das überraschend, rechnete sie doch mit einem „illegalen Einsatz“, d. h. der Entsendung der Parteischüler noch vor dem Einmarsch der Roten Armee. Nun nahm alles ganz andere Formen an. Es war auch nicht der „legale Einsatz“, auf den sich die Abendschule vorbereitet hatte. Eigenständige Aktivitäten deutscher Kader waren nicht erwünscht. Ausdrücklich hieß es: „Jetzt nicht Kurs auf neue Regierung. Deutschland wird militärisch besetzt und ökonomisch entwaffnet werden.“42 Ein weiterer Aspekt kam hinzu: Der Einsatz wurde nun nicht mehr nach Regionen in Deutschland, sondern nach den drei Fronten der Roten Armee geplant, die auf deutsches Territorium vorrückten. Zudem behielt sich die sowjetische Seite eine abermalige Überprüfung der Kader vor. In der zuerst eingereichten Aufstellung unterschied die KPD noch in „Kommandierungen“, die Fallschirmeinsätze der Absolventen der „Schule Nr. 12“ im deutschen Hinterland waren, und „Entsendung von politischen Arbeitsgruppen an die Front zur Arbeit in den besetzten Gebieten“, die aus den Spitzenfunktionären der Abendschule gebildet werden sollten. Darüber hinaus regte sie – zum wiederholten Male – die Schulung weiterer Kader an: Emigranten, die außerhalb Moskaus bzw. nicht im sowjetischen Exil lebten, und Antifa-Schüler: „Zuverlässige antifaschistische Kriegsgefangene, die sich 40 Pieck an Dimitrov am 16. 2.1945 (SAPMO-BArch, NY 4036/531, Bl. 92). 41 Namenslisten vom 16. 2., 30. 4. und 31. 5.1945 (SAPMO-BArch, NY 4036/532, Bl. 97– 107). Anfangs wurden 79, dann 31 und schließlich 37 Politemigranten vorgeschlagen (ebd., Bl. 91) befindet sich ein Vermerk, dass der Monatskurs nicht stattgefunden hat. Demgegenüber siehe Erler, „Moskau-Kader“, S. 251, der davon ausgeht, dass der Kurs stattfand. 42 Aufzeichnungen Piecks von der Besprechung mit Dimitrov am 6. 2.1945 sowie sein Konzept für diese Besprechung. In: Keiderling (Hg.), „Gruppe Ulbricht“, S. 182 f. und 180 f.

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für die Arbeit im besetzten Gebiet eignen, sind auszuwählen, vor allem aus den Reihen der früheren Schüler der antifaschistischen Schulen. In der Hauptsache kommen nur solche Kriegsgefangene in Frage, die früher Kommunisten waren oder in einer hitlergegnerischen Organisation organisiert waren. Andere Kriegsgefangene kommen nur in Frage, wenn durch ihre Arbeit im Lager eine gewisse Überprüfung möglich war.“43 In der zwei Wochen später folgenden Liste gab es nur noch Gruppen zur „Mithilfe bei der Schaffung provisorischer Ortskommissionen“ sowie Vorschläge für eine Zeitungs- und eine Radioredaktion. Die Fallschirmeinsätze („Kommandierungen“) der Parteischüler waren gestrichen.44 Es dauerte knapp zwei Monate, bis Dimitrov über die Auswahl der Kader entschied – und bemängelte, dass zu wenig geschulte Kriegsgefangene zur Verfügung stünden: „auf eingereichter Liste nur 30 Antifaschisten, viel zu wenig“.45 Die Anforderungen an das Kaderprofil hatten sich gewandelt. Zu dem lange angenommenen „illegalen Einsatz“ sollte es nicht kommen, so dass die auf der „Schule Nr. 12“ versammelten Kommunisten nicht fuhren. Die vier Wochen später abreisenden Gruppen unter der Leitung von Walter Ulbricht, Anton Ackermann und Gustav Sobottka bestanden aus Funktionären des ehemaligen Kominternapparates, die an der Abendschule teilgenommen hatten, und antifaschistisch geschulten Kriegsgefangenen.46 Die Rückkehr kommunistischer Kader aus dem sowjetischen Exil passte sich den Vorgaben der sowjetischen Deutschlandpolitik an. Die Richtlinien der KPD vom 5. April waren die aufbereitete Fassung eines Berichtes Dimitrovs an die sowjetische Führung vom März 1945. Darin wurde deutlich zwischen sowjetisch besetztem und nicht sowjetisch besetztem Territorium unterschieden. Alle Aktivitäten „deutscher Antifaschisten“ bezogen sich nur auf das sowjetisch besetzte Gebiet und wurden als „Unterstützung für die Rote Armee“ bezeichnet. Von kommunistischen Kadern der Exil-KPD war nicht die Rede. Der reichsweite, „illegale Einsatz“ vor der Besetzung entfiel. Vielmehr spielte das NKFD noch eine gewisse Rolle. Einerseits durfte es in dem sowjetisch besetzten Gebiet nicht mehr auftreten, andererseits sollte seine Frontpropaganda im Kampfgebiet fortgesetzt werden.47 Daraus erwuchs dann das Problem, dass sich viele antifaschistische Komitees in deutschen Städten auf die Losungen des NKFD bezogen, die aber für die „Moskau-Kader“ gar nicht mehr gültig waren.48 Auch inhaltlich liefen die Vorbereitungen auf der Parteischule für den Einsatz der „Initiativgruppen“ ins Leere. Den Rückkehrern wurden Anfang April neue Richtlinien an die Hand gegeben. Es ging nicht mehr um den Aufbau des Parteiapparates der KPD, der bis dahin mit der Parteischulung verbunden war, 43 44 45 46 47

Kaderliste vom 6. 2.1945, ebd., S. 185. Kaderliste vom 20. 2.1945, ebd., S. 234. Notizen Piecks von der Besprechung bei Dimitrov am 1. 4.1945, ebd., S. 256. Morré, Hinter den Kulissen, S. 165 f. Sowjetische Politik in der SBZ 1945–1949. Hg. von Bernd Bonwetsch, Gennadij Bordjugov und Norman Naimark, S. 3 ff. 48 Jeanette Michelmann, Aktivisten der ersten Stunde. Die Antifa in der Sowjetischen Besatzungszone, Köln 2002, S. 357.

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sondern um die Errichtung von Kommunalverwaltungen. Als Hauptaufgaben galten Herstellung der öffentlichen Ordnung und Sicherstellung der Versorgung der Bevölkerung, Hilfestellung bei der Entnazifizierung und antifaschistische, prosowjetische Propaganda. Leitlinie war: „Die Stadt- und Gemeindeverwaltungen haben in erster Linie die Bevölkerung zu überzeugen, dass die Durchführung der Befehle und Maßnahmen der Militärverwaltung in ihrem eigenen Interesse liegt.“49 Um das zu erreichen, sollte die Spitze der kommunalen Verwaltungen (Bürgermeister) vom sowjetischen Ortskommandanten eingesetzt und dessen Beigeordnete von den deutschen Kadern ausgewählt werden. Die Abreisenden wurden neu geschult.50 Aus der Zuordnung der „Initiativgruppen“ zu den Fronten der Roten Armee ergab sich ein Konkurrenzverhältnis zu den geschulten Antifaschisten der dort angesiedelten Frontschulen. Die Frontstäbe der Politischen Hauptverwaltung waren ebenso mit dem Aufbau antifaschistischer Kommunalverwaltungen beauftragt und hatten dafür auch schon entsprechende Abteilungen für die Zivilverwaltung geschaffen.51 Sie konnten aus dem Reservoir der antifaschistischen Frontschüler schöpfen, die in Personalunion Propagandisten des NKFD wie auch „bewährte Antifaschisten“ waren, die zum Aufbau der Ortsverwaltungen herangezogen werden sollten. Die „Initiativgruppen“ fanden an allen drei Fronten NKFD-Bevollmächtigte vor, die bereits Antifa-Ausschüsse oder antifaschistische Verwaltungen eingesetzt hatten.52 In Mecklenburg zum Beispiel waren zahlreiche Verwaltungsspitzen mit geschulten Kriegsgefangenen besetzt und die ortsansässige Zivilbevölkerung in die Antifa-Schulungen einbezogen.53 Auch die im Sommer 1945 nachrückenden „Moskau-Kader“ mussten sich in die von der Politverwaltungen der Roten Armee geschaffen Strukturen und Personalentscheidungen fügen. Gertrud Bobek, die im Juni 1945 aus Moskau zurückkehrte, fand im sächsischen Bautzen eine mit Bürgerlichen besetzte Stadtverwaltung vor. Als der Bürgermeister vom sowjetischen Ortskommandanten abgesetzt wurde, rückte ein NKFD-Bevollmächtigter nach.54 Kommunistische Kader wurden ausschließlich im unmittelbaren sowjetischen Einflussbereich tätig. Damit lagen die vorübergehend amerikanisch (Thüringen, Sachsen-Anhalt, westliches Mecklenburg) oder kurzzeitig gar nicht be49 „Richtlinien für die Arbeit der deutschen Antifaschisten in dem von der Roten Armee besetzten deutschen Gebiet“ vom 5. 4.1945. In: „Nach Hitler kommen wir“, S. 383. 50 Notizen Piecks. In: Keiderling (Hg.), „Gruppe Ulbricht“, S. 266 ff.; Leonhard, Revolution, S. 324 ff. 51 Jan Foitzik, Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD) 1945–1949. Struktur und Funktion, Berlin 1999, S. 331 ff.; Sowjetische Speziallager in Deutschland 1945 bis 1950. Hg. von Sergej Mironenko, Lutz Niethammer und Alexander von Plato (Hg.), Band 2: Ralf Possekel (Hg.), Sowjetische Dokumente zur Lagerpolitik, Berlin 1998, S. 180 f. 52 Siehe Michelmann, Aktivisten der ersten Stunde, S. 83 ff., 127 ff. und 293 ff., die detailliert die Bedingungen für die jeweilige „Initiativgruppe“ darstellt. 53 Wolff, An der Seite der Roten Armee, S. 254 ff. 54 Gertrud Bobek, Erinnerungen an mein Leben, Taucha 1998, S. 164 ff.

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setzten Gebiete (Vogtland), die aber später zur SBZ gehörten, außerhalb des Einflussbereiches der Exil-KPD. Zudem wurden die Kader erst dann aus Moskau eingeflogen, als die Kampfhandlungen weitestgehend zum Erliegen gekommen waren. Im Unterschied zu den antifaschistischen Frontschulen gab es kein gemeinsames Vorrücken deutscher Kommunisten zusammen mit der Roten Armee. Einsätze in Ostpreußen oder Schlesien entfielen. Das mag auch mit der sowjetischen Internierungspolitik zusammengehangen haben. Ende 1944 hatte die sowjetische Führung die pauschale Deportation der deutschstämmigen Bevölkerung in den Ostgebieten des Deutschen Reiches beschlossen und das auf der Jaltaer Konferenz gegenüber den Alliierten als Anspruch auf Reparationen durchsetzen können.55 Darüber wurde die KPD von Dimitrov informiert. In den Notizen Piecks tauchte das als „Wiedergutmachung = 2–3 Millionen deutscher Arbeiter werden in der SU Arbeit finden“ auf.56 Dahinter stand die Deportation von rund 134 000 Deutschen zum Arbeitseinsatz in die Sowjetunion.57 Mitte April stoppte diese Zwangsevakuierung, und ungefähr zeitgleich mit dem Einsatz kommunistischer Kader aus Moskau entstanden auf dem Territorium der SBZ so genannte Speziallager zur Internierung von NS- und Kriegsverbrechern. Die Richtlinien der KPD wiesen die deutschen Antifaschisten an, bei der Verhaftung nationalsozialistischer Partei- und Staatsfunktionäre zu helfen. Die dabei entstehenden Lücken in der Kommunalverwaltung konnten gleichzeitig mit den antifaschistischen Kadern geschlossen werden. Somit ergänzten sich Entnazifizierung, Beseitigung alter Eliten und Aufbau neuer Verwaltungen. Es war daher kein Zufall, dass bei dem Bericht der „Initiativgruppen“ in Moskau Anfang Juni auch der Staatssicherheitsgeneral Ivan Serov anwesend war. Serov war der Hauptverantwortliche für die Verhaftungen und Internierungen im Rücken der Roten Armee.58 Der Bericht bei Stalin am 4. Juni 1945 war der Schlusspunkt der Parteischulung in der Sowjetunion. Ulbricht, Ackermann und Sobottka gaben einen Bericht über die Lage in Deutschland, wonach alles unter Kontrolle der sowjetischen Truppen sei. Ulbricht berichtete, dass es in Deutschland keinen Mangel

55 Ralf Possekel, Einleitung. Sowjetische Lagerpolitik in Deutschland. In: Sowjetische Speziallager in Deutschland 1945 bis 1950, Band 2, S. 30 ff. 56 Besprechung Piecks mit Dimitrov am 6. 2.1945. In: Keiderling (Hg.), „Gruppe Ulbricht“, S. 182. 57 Vladimir A. Kozlov, Die Operationen des NKVD in Deutschland während des Vormarsches der Roten Armee (Januar bis April 1945). In: Sowjetische Speziallager, Band 1: Alexander von Plato (Hg.), Studien und Berichte, Berlin 1998, S. 137. 58 Posetiteli kremlëvskogo kabineta I. V. Stalina. Žurnaly (tetradi) zapisi lic, prinjatych pervym gensekom. 1924–1953 gg. [Besucher des Büros I. V. Stalins im Kreml. Journale (Hefte) über den Empfang von Besuchern durch den ersten Generalsekretär]. In: Istoričeskij archiv, 4 (1996) H. 4, S. 103. Zu Serov siehe Jan Foitzik, Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD) 1945–1949. Struktur und Funktion, Berlin 1999, S. 161 ff.

Kader aus dem Exil

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an Kadern gebe.59 Nach der Sitzung bei Stalin folgten weitere, zum Teil schon vorbereitete Schritte. Die Absolventen der „Schule für das Land“ – seit Anfang des Jahres in Wartestellung – flogen nach Deutschland, weil nun der Aufbau der KPD beschlossene Sache war. Auch wurde über die Rückkehr von Kadern entschieden, die noch nicht die Parteischulung durchlaufen hatten. Das waren Aktivisten des Nationalkomitees, kommunistische Intellektuelle und Parteimitglieder, die ursprünglich für den „Monatskurs“ vorgeschlagen worden waren. Diese Gruppe bildete den letzten Kurs an der „Schule Nr. 12“, die danach schloss. Der letzte Kurs diente vermutlich nur dazu, die bereits ausgewählten Emigranten auch tatsächlich nach Deutschland ausreisen lassen zu können, was ohne Schulung nicht möglich gewesen wäre. Die übrigen, nicht geschulten „Moskau-Kader“ kehrten erst in den Jahren 1946/47 zurück.60

Fazit Die Rückkehr deutscher Emigranten als sowjetische Kader folgte weniger dem Konzept der „Initiativgruppen“ als vielmehr dem der „Hilfsorgane der Roten Armee“. Zwar waren deutsche Kommunisten maßgeblich am Aufbau der Antifa-Schulen beteiligt, aber den erhofften Vorteil zogen sie nicht daraus. Frühzeitig wurden sie von der Nutzung geschulter Kriegsgefangener als Kaderreservoir ausgeschlossen. Gleichzeitig entwickelte die Politische Hauptverwaltung über die Frontschulen das Konzept, das sich bei Kriegsende durchsetzte. Über die Frontschulen wurden mehr Kader eingesetzt als über die Exil-KPD.61 Die „Schule für das Land“ hatte am Ende nur geringen Effekt. Sie war wichtig, um den Zusammenhalt der Exil-KPD wieder herzustellen, aber sie band zu wenig Kommunisten, um die Partei wieder erstarken zu lassen. Nicht zuletzt die Hinzuziehung von Kriegsgefangenen zeigte die personalpolitisch prekäre Situation. Das Kaderprinzip wäre möglicherweise dennoch aufgegangen, wenn es denn zu dem geplanten „illegalen Einsatz“ gekommen wäre. Aber die besatzungspolitischen Interessen der Sowjetunion hatten Vorrang. Ihr war eine kommunale Verwaltung im Zusammenspiel mit den ortsansässigen, nicht-faschistischen Honoratioren lieber als kommunistisch gelenkte Volksausschüsse. Es war dann eine glückliche Fügung, dass fast unmittelbar nach Kriegsende Parteien zugelassen wurden und die KPD rasch ihren Apparat wieder aufbaute. Hier war der Platz der „Moskau-Kader“.

59 Jochen Laufer, „Genossen, wie ist das Gesamtbild“. Ackermann, Ulbricht und Sobottka in Moskau im Juni 1945. In: Deutschland Archiv, 29 (1996), S. 358 ff.; zur Einordnung des Dokuments siehe Morré, Hinter den Kulissen, S. 167 f. 60 Erler, „Moskau-Kader“, S. 253 ff. 61 Anfang Juli 1945 berichtete die Politische Hauptverwaltung von 70 Emigranten und 300 antifaschistischen Kriegsgefangenen, die in Kommunalverwaltungen tätig seien. Vgl. Sowjetische Politik, S. 8.

II. Besatzungsmacht UdSSR

Organisation der sowjetischen Besatzung in Deutschland und Auswirkungen von kompetenzieller Diffusion auf die Rekonstruktion der Besatzungspolitik Jan Foitzik Vorbemerkung: Von den in russischen Archiven derzeit nachgewiesenen 42 000 Aktenbänden zur Tätigkeit der SMAD sind nur 10 000–13 000 entsperrt und damit auch – cum grano salis – zugänglich. Obwohl dieses Quellenmaterial interessante Detaileinblicke in die SMAD-Organisation erlaubt, wird nachstehend im Wesentlichen auf die veröffentlichte Literatur1 rekurriert, denn die Bewältigung der neuen Quellen ist noch nicht so weit vorangeschritten, um jene Widersprüche zum bisherigen Forschungsstand aufzulösen, die insbesondere mit Blick auf die interne Detailorganisation der Besatzungsverwaltung entstanden sind.2 Im folgenden Beitrag wird deshalb das derzeitige Wissen über die Organisationsstruktur der Besatzungsverwaltung knapp wiedergegeben und anschließend die Aufmerksamkeit auf einige methodische Probleme gelenkt, die bisher – nicht zuletzt aufgrund der besonderen Quellenlage – bei der Analyse der Besatzungsorganisation und Besatzungspolitik nicht in adäquatem Maße beachtet wurden. Aus zeitökonomischen Gründen können die Quellenverweise stellenweise nur schematisch angegeben werden.

1.

Formale Struktur der sowjetischen Besatzungsverwaltung in der SBZ

Die Organisation der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD) spiegelte jene weitreichenden Aufgaben wider, die diese im Rahmen der Generalvollmacht, im besetzten Deutschland den Frieden und die Sicherheit zu gewährleisten, von Rechts wegen wahrnahm: „die oberste Regierungsgewalt [...], einschließlich aller Befugnisse der deutschen Regierung, des Oberkom1 2

Vgl. insbes. Jan Foitzik, Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD) 1945–1949. Struktur und Funktion, Berlin 1999. Dies gilt insbesondere für die mittlere und untere Funktionsebene der SMAD. Auch sie sind Gegenstand des laufenden Forschungs- und Editionsvorhabens „SMAD: Struktur und Funktion“ (Handbuch), das vom Institut für Zeitgeschichte München-Berlin und dem Staatsarchiv der Russischen Föderation Moskau im Rahmen des Gemeinschaftsprogramms des Bundesarchivs, der Russischen Archivverwaltung und des Staatsarchivs der Russischen Föderation durchgeführt wird.

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mandos der Wehrmacht und der Regierungen, Verwaltungen oder Behörden der Länder, Städte und Gemeinden“. Darüber hinaus war die SMAD ausdrücklich bevollmächtigt, Deutschland „zusätzliche politische, verwaltungsmäßige, wirtschaftliche, finanzielle, militärische und sonstige Forderungen aufzuerlegen“.3 Diese weitgehenden Vollmachten der SMAD waren lediglich in Fragen eingeschränkt, die Deutschland als Ganzes betrafen. Hier hatte sich die sowjetische Besatzungsverwaltung nach gemeinsamen Grundsätzen der „Großen Vier“ zu richten, die vom Kontrollrat oder vom Rat der vier Außenminister beschlossen wurden. Mit Zunahme der politischen Spannungen innerhalb der Anti-Hitler-Kriegskoalition verlor diese Bestimmung allerdings an praktischer Bedeutung. Die UdSSR legte ihre vertraglichen Besatzungsrechte in Deutschland nach Kriegsende zunehmend extensiv und bald auch ohne Rücksicht auf ihre Vertragspartner aus: Die gemeinsam verabschiedeten internationalen Vertragstexte versuchte sie unter exklusiver Berufung auf den ideologisch legitimierten Klassenkampf zu interpretieren und definierte damit objektiv ihren besatzungsrechtlichen Aktionsradius ausschließlich machtpolitisch. An der Spitze der SMAD stand der Oberste Chef. In der Anlage zum Beschluss des Rates der Volkskommissare der UdSSR Nr. 1326–301ss „Über die Bildung der Militäradministration für die Verwaltung der Sowjetischen Besatzungszone in Deutschland“ vom 6. Juni 1945 hieß es: „Der Oberste Chef ist der Oberbefehlshaber der sowjetischen Besatzungstruppen in Deutschland. In seinen Händen ist die oberste Gewalt zur Verwaltung der Sowjetischen Besatzungszone konzentriert.“4 Damit war der Oberste Chef der SMAD und Oberkommandierende der „Gruppe der sowjetischen Besatzungstruppen in Deutschland“ (GSOVG) sowohl der oberste disziplinarische Vorgesetzte aller in der SBZ und im sowjetischen Besatzungssektor von Berlin befindlichen sowjetischen Dienstpersonen als auch das höchste autoritative Organ, das uneingeschränkte Einwirkungsmöglichkeiten auf die deutsche Verwaltung, das gesamte Wirtschaftspotential und die politische Infrastruktur in der SBZ besaß. Aufgrund des in der letzten Kriegsphase einsetzenden Wildwuchses militärischer, ziviler und polizeilich-geheimdienstlicher sowjetischer Dienststellen konnte diese Vorrangstellung des Obersten Chefs in der SBZ allerdings bis etwa Frühjahr 1947 nur sukzessive durchgesetzt werden. Einige Dienstbereiche – dies gilt insbesondere für Dienststellen des sowjetischen Ministeriums für Staatssicherheit – blieben von diesem Prozess verschont. Dieser Prozess zur Durchsetzung der Autorität des Obersten Chefs der SMAD innerhalb der sowjetischen Besatzungsverwaltung in der SBZ wurde begleitet von einer zunächst 3

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Vgl. Berliner Erklärung der Vier Alliierten vom 5. 6.1945. In: Um ein antifaschistischdemokratisches Deutschland. Dokumente aus den Jahren 1945–1949. Hg. vom Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der DDR und dem Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der UdSSR, Berlin (Ost) 1968, S. 43–51. Vgl. Anordnung des Rates der Volkskommissare der UdSSR für die Sowjetische Militäradministration über die Verwaltung der Sowjetischen Besatzungszone in Deutschland. In: ebd., S. 51. Bei der hier abgedruckten „Anordnung“ handelt es sich tatsächlich um die Anlage zum Beschluss des Rates der Volkskommissare der UdSSR.

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schleichenden Positionsaufwertung des Moskauer Fachapparates des Zentralkomitees der sowjetischen kommunistischen Partei, dessen Interventionsrecht ebenfalls ab 1947 etwa in den Facheinheiten der SMAD als unstrittig galt. Beide Entwicklungen zusammen bedingten eine Positionsaufwertung der SED, zu deren Führung der Zentralapparat der sowjetischen Staatspartei Verbindungen unterhielt, die nicht vollständig von der SMAD kontrolliert wurden. Die SED avancierte damit zu einem Geschäftsträger der Besatzungsmacht. Die vor dem Hintergrund der Positionsaufwertung des sowjetischen Parteiapparats innerhalb des innersowjetischen Kräftespiels wachsende politische Autorität der ostdeutschen Parteiführung wurde nicht zuletzt durch gemeinsame Beratungen der SED- und der SMAD-Spitzen mit Stalin gestützt, der sich in der „deutschen Frage“ ohnehin die Generalkompetenz vorbehielt und die politische Linie der Besatzungspolitik durch konkrete Festlegung einzelner Schritte mehrmals verbindlich ausrichtete. Oberste Chefs der SMAD waren März 1945 bis April 1946 Marschall der Sowjetunion Georgij Konstantinovič Žukov5, März/April 1946 bis März 1949 Marschall der Sowjetunion Vasilij Danilovič Sokolovskij6, März 1949 bis November 1949 Armeegeneral Vasilij Ivanovič Čujkov7. 5

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Marschall der Sowjetunion G. K. Žukov (1896–1974) war ab 1915 Soldat, zunächst Kavalleriekommandeur, 1939 Armeekommandeur der sowjetischen Streitkräfte in der Mongolei und vom Januar bis Juli 1941 Chef des Generalstabes, ab Juli 1941 im Stab des Oberstkommandierenden der Roten Armee und ab April 1942 Erster Stellvertretender Volkskommissar für Verteidigung der UdSSR und stellvertretender Oberster Befehlshaber der Roten Armee. Im Februar 1945 ernannte Stalin Žukov zum Oberbefehlshaber der 1. Belorussischen Front und legte fest, dass Berlin unter Žukovs Führung einzunehmen sei. Bis März/April 1946 war Žukov Oberbefehlshaber der „Gruppe der sowjetischen Besatzungstruppen in Deutschland“ (GSOVG) und Oberster Chef der SMAD. Danach war er für kurze Zeit Oberbefehlshaber der Landstreitkräfte und stellvertretender Minister für Verteidigung der UdSSR, 1946–51 Chef verschiedener Militärbezirke in der UdSSR. 1951 kehrte Žukov ins politische Leben zurück. Er beteiligte sich nach Stalins Tod führend am Sturz des Innenministers Berija und wurde 1953 Erster Stellvertreter, 1955 schließlich Minister für Verteidigung der UdSSR. 1958 versetzte Chruščëv den als eigensinnig geltenden Marschall in den Ruhestand, womit Žukov auch seinen Sitz im ZK und im Präsidium des ZK der KPdSU verlor. Marschall der Sowjetunion V. D. Sokolovskij (1897–1968) war ab 1918 Berufssoldat und machte eine Stabsoffizierskarriere. Im Februar 1941 wurde er stellvertretender Generalstabschef und dann Armeekorpskommandeur. 1945–46 war er Erster Stellvertreter und vom März 1946 bis März 1949 Oberbefehlshaber der GSOVG und Oberster Chef der SMAD. Im März 1949 avancierte er zum Ersten stellvertretenden Minister für Streitkräfte (ab Februar 1950 Kriegsminister) der UdSSR. 1952–60 war er Generalstabschef und gleichzeitig Erster Stellvertreter des Kriegsministers (ab 1953 des Verteidigungsministers), anschließend bis zu seinem Tod Generalinspekteur im Verteidigungsministerium. Armeegeneral (ab 1955 Marschall der Sowjetunion) V. I. Čujkov (1900–1982) war ebenfalls Berufssoldat. Im Krieg nahm er als Kommandeur einer Panzer-Stoßarmee an der Stalingrad- und Berlin-Schlacht teil. 1945–46 war er zunächst Chef der SMAD in Thüringen, 1946–49 Stellvertreter bzw. Erster Stellvertreter des Oberbefehlshabers und von März 1949 bis 1953 Oberbefehlshaber der sowjetischen Besatzungstruppen in Deutschland, von März bis Oktober 1949 gleichzeitig Oberster Chef der SMAD und anschließend bis 1953 Vorsitzender des Nachfolgeorgans Sowjetische Kontrollkommis-

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Die dem Obersten Chef unterstellte Besatzungsverwaltung gliederte sich in vier Funktionsbereiche: 1. Demilitarisierung, 2. sowjetische Besatzungsverwaltung und Kontrolle der deutschen Zivilverwaltung, 3. Wirtschaft und 4. Politik. Die einzelnen Amtsbereiche leiteten Stellvertreter des Obersten Chefs: – ein Erster Stellvertreter (für allgemeine Fragen), der vorrangig für die mit Fragen der Demilitarisierung verbundenen Aufgaben verantwortlich zeichnete (1945–1946 Armeegeneral V. D. Sokolovskij, 1946–1947 Generaloberst Pavel Alekseevič Kuročkin8, Mai 1947–1949 Generalleutnant Michail Ivanovič Dratvin9); – ein Stellvertreter für Fragen der (deutschen) Zivilverwaltung (1945–[1948] Generaloberst Ivan Aleksandrovič Serov10, 1948–1949 Aleksandr Fedorovič Kabanov11); sion in Deutschland (SKK). 1953–60 fungierte Čujkov als Chef des Militärbezirks Kiev, ab 1960 war er als Chef der Infanterie stellvertretender Verteidigungsminister der UdSSR, ab 1972 Generalinspekteur im Verteidigungsministerium. 8 Kuročkin, Pavel Alekseevič (1900–), war ab 1918 Berufssoldat; 1920 VKP(B); Truppenoffizier, Taktiklehrer an der Frunze-Militärakademie, Stabsoffizier; 1941 Korpschef. 1945 höchste Truppenkommandos in der Sowjetunion, Juli 1946–Mai 1947 Erster Stellvertreter des Obersten Chefs der SMAD und Mitglied des Koordinierungskomitees des Kontrollrates für Deutschland. Danach wieder höchste Kommandostellungen in der Sowjetunion, 1951–54 stellvertretender Chef der Generalstabsakademie, 1954–68 Chef der Frunze-Militärakademie, 1959 Armeegeneral, 1968–70 im Oberkommando der Streitkräfte des Warschauer Paktes, ab 1970 Generalinspekteur des Verteidigungsministeriums der UdSSR. 9 Dratvin, Michail Ivanovič (1897–1953), 1943 Generalleutnant; Russe, 1916–17 Teilnehmer am Ersten Weltkrieg, ab 1918 in der Roten Armee, 1919 VKP(B), 1924–26 Militärberater in China, 1927–31 Studium an der Frunze-Militärakademie, danach höhere Kommandoposten, 1937–38 Militärattache bei der sowjetischen Handelsvertretung in China, 1938–39 Mitarbeiter der Aufklärungsverwaltung des Generalstabes, 1939–41 Chef der Geschäftsabteilung des Volkskommissariats für Verteidigung, im Krieg höhere Kommandoposten, u. a. 1942–44 Chef der Versorgung Transkaukasus-Front. Nach dem Krieg zunächst Stellvertreter und von Nov. 1946 bis Mai 1947 Chef des Stabes der SMAD, Mai 1947–49 Erster Stellvertreter des Obersten Chefs der SMAD, Mitglied im Koordinierungskomitee des Kontrollrats. 10 Serov, Ivan Aleksandrovič (1905–1990), 1945 Generaloberst, 1955 Armeegeneral; 1926 VKP(B); ab 1925 in der Roten Armee, 1935–38 Besuch der Frunze-Militärakademie, 1939 Kommissar der Staatssicherheit III. Ranges und 1939–41 Volkskommissar für Inneres der Ukrainischen SSR, Mitglied des Politbüros des ZK der KP der Ukraine; ab Feb. 1941 Erster Stellvertreter des Vollkommissars für Staatssicherheit der UdSSR (NKGB) und nach Zusammenlegung von NKGB und NKVD im Juni 1941 bis März 1954 stellvertretender Volkskommissar bzw. Minister für Inneres der UdSSR (NKVD/MVD). Januar-April 1945 NKVD-Bevollmächtigter bei der 1. Belorussischen Front; März-April 1945 Berater beim polnischen Minister für öffentliche Sicherheit, April-Mai 1945 stellvertretender Kommandeur der 1. Belorussischen Front für Zivilangelegenheiten, Juni 1945–Feb. 1947 Stellvertreter des Oberstes Chefs der SMAD für Zivilverwaltung, gleichzeitig NKVD-Bevollmächtiger in der SBZ, 1947–54 erster stellvertretender Minister des Innern der UdSSR; 1954–58 Gründer und erster Leiter des Komitees für Staatssicherheit beim Ministerrat der UdSSR (KGB), 1958–63 Chef des militärischen Geheimdienstes (GRU) und stellvertretender Chef des Generalstabes. 1956–61 Mitglied des ZK der KPdSU, ab 1958 Deputierter des Obersten Sowjets der UdSSR. 1962/63 nach Verhaftung von Oberst Oleg V. Penkovski (wegen Spionage für

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– zunächst im Rang eines Gehilfen des Obersten Chefs für ökonomische Fragen, noch 1945 als Stellvertreter und ab 1948 ein Erster Stellvertreter des Obersten Chefs für ökonomische Fragen (Maksim Zacharovič Saburov12, 1945–1949 Konstantin Ivanovič Koval’13; – sowie der Politische Berater des Obersten Chefs der SMAD, der formell zwar nicht als Stellvertreter rangierte, jedoch über eine vergleichbar herausragende Position im Kommando verfügte (1945 Andrej Januar’evič Vyšinskij14, 1945–1946 Arkadij Aleksandrovič Sobolev15, 1946–1949 Vladimir Semenovič Semënov16). USA und England) zum Generalmajor degradiert und 1965 u. a. „wegen Verletzung der Rechtsstaatlichkeit“ in seiner SMAD-Position aus der KPdSU ausgeschlossen. – LeninOrden (1940, 1945, 1952, 1955), Held der Sowjetunion (1945, 1963 aberkannt). – Serov wurde 1947 als stellvertretender Innenminister der UdSSR bestätigt, die für 1947– 48 vorhandene Vakanz in seiner früheren SMAD-Funktion ist bisher nicht aufzulösen. 11 Kabanov, Alexandr Fedorovič; 1947–48 Chef der Verwaltung für Land- und Forstwirtschaft der SMAD, 1948 Oberst, 1948–49 Stellvertreter des Obersten Chefs der SMAD und danach stellvertretender Vorsitzender der SKK für Fragen der Zivilverwaltung (zuletzt Generalmajor). 12 Saburov, Maksim Zacharovič (1900–1977); Arbeiter, 1923–26 und 1928–33 Studium; 1933 Diplom-Ingenieur; 1920 VKP(B); Wirtschaftsmanager, 1938–41 Stellvertreter und 1941–44 Vorsitzender der Staatlichen Plankommission der UdSSR (GOSPLAN), im Krieg für Sonderaufträge des Staatskomitees für Verteidigung verwendet (Evakuierung von Industrieanlagen u. a.). 1945 Chef des Sonderkomitees des Rates der Volkskommissare der UdSSR für Deutschland und Gehilfe des Obersten Chefs der SMAD für ökonomische Fragen, 1947 stellvertretender Vorsitzender des Ministerrates der UdSSR, ab 1949 wieder Vorsitzender des GOSPLAN. Ab 1954 stellvertretender Ministerpräsident der UdSSR, 1957 aller Ämter enthoben wegen „Verbindungen zur parteifeindlichen Gruppe“; ab 1939 Mitglied des ZK der VKP(B)/KPdSU und bis 1957 Mitglied des Politbüros bzw. Präsidiums des ZK der KPdSU. 13 Koval’, Konstantin Ivanovič (geb. 1908); Ingenieur, ab 1941 stellvertretender Volkskommissar der UdSSR für Schwerindustrie, gleichzeitig März-Juni 1945 Stellvertreter von Saburov als Bevollmächtigter des Sonderkomitees für Deutschland und ab Juni 1945 bis 1949 nacheinander Gehilfe, Stellvertreter und ab 1948 Erster Stellvertreter des Obersten Chefs der SMAD für ökonomische Fragen; 1946–48 sowjetischer Direktor der Abteilung Wirtschaft des Kontrollrats, 1948–49 Mitglied der Wirtschaftlichen Beratung der SMAD, 1949–Juni 1950 Erster stellvertretender Vorsitzender der SKK für ökonomische Fragen, danach stellvertretender Außenhandelsminister der UdSSR und ab 1956 Vorsitzender des Staatskomitees der UdSSR für auswärtige Wirtschafsbeziehungen. 14 Vyšinskij, Andrej Januar’evič (1883–1954); Jurist; 1920 VKP(B); 1925–28 Rektor der Universität Moskau; 1934–44 stellvertretender Vorsitzender des Rates der Volkskommissare der UdSSR, 1935–39 Generalstaatsanwalt der UdSSR, 1940–46 Erster stellvertretender Außenminister der UdSSR. Mai–Aug. 1945 Politischer Berater des Oberstkommandierenden der GSOVG bzw. des Obersten Chefs der SMAD, 1946–49 stellvertretender Außenminister der UdSSR, 1949–53 Außenminister der UdSSR, 1953–54 Erster stellvertretender Außenminister der UdSSR und Ständiger Vertreter der UdSSR bei UNO. 15 Sobolev, Arkadij Aleksandrovič (1903–1964); Studium der Elektronik; ab 1939 im diplomatischen Dienst; Mitglied der VKP(B); um 1940 Generalsekretär des Volkskommissariats für auswärtige Angelegenheiten der UdSSR, Sonderbotschafter, 1945–46 Politischer Berater des Obersten Chefs der SMAD und Direktor der Abteilung Politik des Kontrollrats, danach bis 1949 stellvertretender Generalsekretär der UNO und Leiter

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Auf der Grundlage der formalen Rechtsregularien der SMAD zeichnete auch der Chef des Stabes der SMAD (1945 Generaloberst Vladimir Vasil’evič Kurasov17, 1945–1947 Generalleutnant Michail Ivanovič Dratvin, 1947–1949 Generalleutnant Grigorij Sergeevič Lukjančenko18) nicht explizit als Stellvertreter des Obersten Chefs, mit einer solchen Funktion war er gleichwohl aufgrund des geltenden militärischen Dienstreglements ausgestattet. Diesem Kommando der SMAD wurde noch im Sommer 1945 als kollektives Organ ein Militär- bzw. Kriegsrat zur Seite gestellt,19 dessen so genanntes führendes (auch: politisches) Mitglied (1945–1946 Generalleutnant Fedor Efimovič Bokov20) in den Jahren 1946–1947 in Personalunion gleichzeitig als

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des Politischen Departments des Sicherheitsrates. 1949–51 Berater im Außenministerium der UdSSR, 1951–53 Botschafter in Warschau, 1953–54 Leiter der Amerika-Abteilung im Außenministerium der UdSSR, ab 1954 stellvertretender bzw. Chefdelegierter der UdSSR bei der UNO; 1960–64 stellvertretender Außenminister der UdSSR. Semënov, Vladimir Semenovič (1910–1992); 1937 Diplom der Philosophischen Fakultät des Staatlichen Instituts für Geschichte, Philosophie und Literatur in Moskau, 1937– 39 Lehrstuhlleiter für Marxismus-Leninismus in Rostow/Don; 1938 VKP(B); ab 1939 im diplomatischen Dienst, 1939–40 Berater an der UdSSR-Vertretung in Litauen, 1940–41 Berater an der UdSSR-Botschaft in Berlin, 1941–42 Leiter der 3. Europäischen Abteilung des Volkskommissariats für Äußeres Moskau, 1942–44 Berater an der UdSSR-Botschaft in Schweden; 1945–46 Erster Stellvertreter des Politischen Beraters der SMAD für allgemeine und außenpolitische Fragen sowie Chef der Abteilung Politik der SMAD (Gesandter 2. Klasse), 1946–49 Politischer Berater der SMAD (Botschafter), 1945–46 stellvertretender und 1946–48 sowjetischer Direktor der Abteilung Politik des Kontrollrats, anschließend bis 1953 Politischer Berater des SKK-Vorsitzenden, 1953 kurze Zeit Leiter der 3. Europa-Abteilung des Außenministeriums der UdSSR, 1953–55 Hoher Kommissar der UdSSR in Deutschland. 1955–78 stellvertretender Außenminister der UdSSR, 1966 Kandidat des ZK der KPdSU, 1978–86 UdSSR-Botschafter in der Bundesrepublik Deutschland. Kurasov, Vladimir Vasil’evič (1897–1973); Generaloberst, Armeegeneral; ab 1915 Berufssoldat, Frunze-Militärakademie; 1928 VKP(B); ab 1938 Taktiklehrer an der Generalstabsakademie, im Krieg hoher Truppen- und Stabskommandeur. Juni – Oktober 1945 Chef des Stabes der SMAD, danach stellvertretender Oberbefehlshaber der sowjetischen Besatzungstruppen in Österreich, 1949 kurzfristig Chef des militärischen Geheimdienstes (GRU). 1949–56 und 1961–63 stellvertretender Chef der Kriegsakademie des Generalstabs, 1956–61 stellvertretender Chef des Generalstabes, danach höhere Kommandoposten. Lukjančenko, Grigorij Sergeevič; Generalleutnant; ab 1945 Chef der Abteilung Landstreitkräfte der SMAD und Direktor der Abteilung Heer des Kontrollrats, 1947–49 Chef des Stabes der SMAD, zuvor stellvertretender Stabschef. Der Kriegs- bzw. Militärrat der SMAD wurde im Frühjahr 1947 funktionslos. Bokov, Fedor Efimovič (1904–1984); 1943 Generalleutnant; militärpolitische Ausbildung, Absolvent der Generalstabsakademie; Komsomol-Funktionär; 1927 VKP(B); politischer Offizier, 1941–42 Kommissar im Generalstab, 1942–43 Stellvertreter des Generalstabschefs für Organisationsfragen, 1943 Mitglied des Kriegsrats der Nord-WestFront, danach in Armeestäben verschiedener Fronten. 1945–46 erstes/politisches Mitglied des Kriegsrats der SMAD, 1947–49 stellvertretender Kommandeur der Militärbezirke Volga und Voronež, danach bis 1961 höchste Kommando-Posten. Bokov war als politisches Mitglied des Kriegsrates kein nomineller Stellvertreter des Obersten Chefs der SMAD.

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Stellvertreter des Obersten Chefs für politische Angelegenheiten fungierte (1946–1948 Generalleutnant Vasilij Emel’janovič Makarov21, 1948–1949 Generalleutnant Aleksandr Georgievič Russkich22). 1947 wurde bei der SMAD ein Stellvertreter des Obersten Chefs für sowjetische Unternehmen in Deutschland bestellt (1947–1949 Bogdan Zacharovič Kobulov23) und 1948 schließlich ein Stellvertreter für Industrie (1948–1949 Michail Iosifovič Perelivčenko24) sowie ein Stellvertreter für materielle Ressourcen (1948–1949 Ivan Vasil’evič Kurmašev25). Der Ministerratsbeschluss vom 10. Mai 1948, der die zuletzt genannten beiden Funktionen und die Position des Ersten Stellvertreters für ökonomische Fragen installierte, ordnete zugleich die Bildung einer „Wirtschaftlichen Beratung“ („çkonomičeskoe soveščanie“) 21 Makarov, Vasilij Emel’janovič (1903–1975); Planungsökonom, Dozent; 1928 VKP(B); ab 1937 Parteifunktionär, ab 1938 Mitglied des ZK der VKP(B), ab 1940 stellvertretender Volkskommissar für Staatskontrolle der UdSSR, im Krieg Mitglied verschiedener Kriegsräte bzw. Chef Politischer Abteilungen, zuletzt im Kriegsrat der 3. Belorussischen Front, 1944 Generalleutnant. 1946–47 Mitglied des Militärrates der GSOVG bzw. gleichzeitig der SMAD, 1946–48 Stellvertreter des Obersten Chefs der SMAD und des Oberkommandierenden der GSOVG für politische Angelegenheiten, 1948–50 stellvertretender Chef der Politischen Hauptverwaltung der Sowjetischen Armee, danach im Apparat des ZK der VKP(B). Ab Jan. 1951 stellvertretender Minister für Staatssicherheit der UdSSR für Kaderfragen und ab Jan. 1952 stellvertretender Verteidigungsminister der UdSSR für politische Aufgaben, 1962 Ruhestand. 22 Russkich, Alexandr Georgievič (1903–1989); Generalleutnant; 1924 VKP (B); 1945 Mitglied des Kriegsrats der 2. Belorussischen Front. Juni 1948–49 Stellvertreter des Obersten Chefs der SMAD für politische Angelegenheiten. 23 Kobulov, Bogdan Zacharovič (1904–1953); Generaloberst; 1921 Komsomol, 1925 VKP(B). Nach Abschluss des Gymnasiums zur Armee, ab 1922 in der Tscheka, 1937– 38 Volkskommissar für Inneres in Georgien, danach leitender Mitarbeiter im NKVD, ab 1941 Stellvertreter des NKVD bzw. NKGB, 1943–Dez. 1945 Erster Stellvertreter des NKGB. Ab 1946 stellvertretender (1951–53 Erster Stellvertreter) Chef der Hauptverwaltung für sowjetisches Eigentum im Ausland beim Volkskommissariat für Außenhandel bzw. April 1947–51 beim Ministerrat der UdSSR; gleichzeitig 1947–49 Stellvertreter des Obersten Chefs der SMAD für Fragen der Tätigkeit sowjetischer Unternehmen in Deutschland, 1948–49 Mitglied der Wirtschaftlichen Beratung der SMAD; 1949–53 stellvertretender Vorsitzender der SKK für Angelegenheiten der Sowjetischen Staatlichen Aktien-Gesellschaften in der SBZ, ab März 1953 erster stellvertretender Innenminister der UdSSR und darin Leiter der Hauptverwaltung für Staatssicherheit, am 27. Juni 1953 festgenommen, am 23. Dez. 1953 zum Tode verurteilt und hingerichtet. 24 Perelivčenko, Michail Iosifovič (geb. 1900); stellvertretender Volkskommissar für allgemeinen Maschinenbau bzw. für Minenwerfer der UdSSR, ab Okt. 1945 Bevollmächtigter des Sonderkomitees für Deutschland in Thüringen, 1948–49 Chef der Planökonomischen Verwaltung der SMAD, 1948–49 Stellvertreter des Obersten Chefs der SMAD für Industrie und Mitglied der Wirtschaftlichen Beratung der SMAD, 1949–53 Stellvertreter bzw. Erster Stellvertreter des Vorsitzenden der SKKD für Industrie. 25 Kurmašev, Ivan Vasil’evič (geb. 1900); General; VKP(B); leitender Mitarbeiter der Staatlichen Plankommission der UdSSR; Leiter einer Fachverwaltung beim Rat der Volkskommissare der UdSSR, zuletzt stellvertretender Volkskommissar für Kohleindustrie der UdSSR. 1945–48 Chef der Verwaltung Heizmaterial und Kraftwerke der SMAD, 1948–49 Stellvertreter des Obersten Chefs der SMAD für materielle Ressourcen und Mitglied der Wirtschaftlichen Beratung der SMAD.

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beim Obersten Chef der SMAD an, dem Sokolovskij, Koval’, Kobulov, Perelivčenko, Kurmašev, Pavel Andreevič Maletin26, Leonid Ivanovič Zorin,27 Ilja Kapitonovič Chmelevskij28 und Georgij Petrovič Arkad’ev29 angehörten. Dieses Kommando der SMAD dirigierte ursprünglich etwa 20 bis 30 Fachverwaltungen des zentralen Apparats in Berlin-Karlshorst. Infolge der Einbeziehung von zahlreichen, zunächst in der SBZ im Rahmen des Programms des Sonderkomitees des Rates der Volkskommissare der UdSSR für Deutschland weitgehend selbstständig wirkenden Vertretungen sowjetischer Fachministerien und anderer Dienststellen in die Struktur der SMAD sowie infolge interner fachlicher Ausdifferenzierung verdoppelte sich die Zahl der Fachverwaltungen zeitweilig, stark zurückgeführt wurde die strukturelle Auffächerung ab Sommer 1948. So entstand beispielsweise 1945 im Amtsbereich des Politischen Beraters der SMAD die Verwaltung für Propaganda und Zensur, 1947 in Verwaltung für Information umbenannt, indem ein Sektor des Apparates des Politischen Beraters ausgegliedert und organisatorisch verselbstständigt wurde. Einzelne Fachverwaltungen wechselten im Zeitablauf ihre formal-hierarchische und funktionale Stellung. So gab der Apparat des Politischen Beraters bis 1948 die ursprünglich bei ihm angesiedelte fachliche Führung der Volksbildungs- und Rechtsabteilung der SMAD an den Stellvertreter für Zivilverwaltung ab. 1948 wurde die Oberaufsicht des Politischen Beraters über die Informationsverwaltung an den Stellvertreter des Obersten Chefs für Politik delegiert, wobei die im Juni 1948 aus der Informationsverwaltung ausgegliederte und verselbstständigte Abteilung für Ziviladministration kompetenziell dem Amtsbereichs des 26 Maletin, Pavel Andreevič; Ökonom, Finanzexperte; stellvertretender Volkskommissar für Finanzen der UdSSR; 1945–49 Chef der Finanzverwaltung der SMAD, sowjetischer Vertreter im Finanzdirektorat des Kontrollrats, 1948–49 Mitglied der Wirtschaftlichen Beratung der SMAD, Sept. 1949 Abberufung in die UdSSR. 27 Zorin, Leonid Ivanovič; Ingenieur; Berufssoldat (Luftwaffe), Generalmajor; VKP(B); im Krieg in den USA, Mitglied des Kollegiums des Volkskommissariats für Außenhandel der UdSSR. 1945–49 Chef der Verwaltung Reparationen und Lieferungen der SMAD, 1945–48 Direktor der Abteilung Reparationen, Lieferungen und Wiedererstattung des Kontrollrats, 1948–49 Mitglied der Wirtschaftlichen Beratung der SMAD, 1949–1950 Leiter der Reparationsabteilung der SKK, ab April 1950 stellvertretender Außenhandelsminister der UdSSR. 28 Chmelevskij, Ilja Kapitonovič; ab 1945 SMAD; stellvertretender und 1948–49 Chef der Planökonomischen Verwaltung der SMAD, 1948–49 Mitglied der Wirtschaftlichen Beratung der SMAD. 29 Arkad’ev, Georgij Petrovič (1905–1993); Wirtschaftswissenschaftler, Lehrer und Publizist; ab 1936 im Zentralapparat des Volkskommissariats für Auswärtige Angelegenheiten der UdSSR, darin ab 1944 stellvertretender und dann bis 1947 Leiter der Wirtschaftsabteilung, Generalsekretär der Interalliierten Reparationskommission; 1945–47 Berater für ökonomische Fragen und 1947–49 stellvertretender Politischer Berater der SMAD, 1948–49 Mitglied der Wirtschaftlichen Beratung der SMAD. Danach Berater und zeitweilig amtierender Leiter der Diplomatischen Mission der UdSSR in der DDR, anschließend Mitarbeiter in der 4. Europa-Abteilung des Außenministeriums in Moskau, 1951–53 Leiter der Amerika-Abteilung, 1954–56 Botschafter in Norwegen, ab 1957 stellvertretender und 1960–62 Leiter der Abteilung für politische und Sicherheitsratsangelegenheiten im UNO-Generalsekretariat, danach in Moskau.

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Stellvertreters für Zivilangelegenheiten zugeschlagen worden war. In dieser im Rang einer selbstständigen Abteilung stehenden und damit mit den Rechten einer Verwaltung ausgestatteten Facheinheit wurden alle Vollmachten zur politischen Einwirkung auf die allgemeine deutsche Verwaltung in der SBZ konzentriert. Insgesamt lässt sich die Dynamik der inneren Organisationsentwicklung der SMAD nur schwer schematisch fassen, weil infolge der in aller Regel praktizierten pragmatisch-informellen Improvisation die formalen Organisationsstrukturen variiert wurden, bevor sie durch die zentralen sowjetischen Aufsichtgremien administrativ bestätigt wurden. Der bloße Aktenniederschlag erzeugt daher oft einen „falschen Schein“, der sich erst auf der Grundlage des Detailstudiums konkreter Geschäftsvorgänge korrigieren lässt. Im Terrain bestanden Verwaltungen der SMAD in den – fünf Ländern und Provinzen der SBZ sowie (mit einer Sonderstellung) die Kommandantur des sowjetischen Sektors von Berlin,30 – 18 (Militär-)Bezirkskommandanturen (okrug); sie wurden 1946 auf 12 reduziert und 1947 aufgelöst.31 – Unterhalb der Bezirksverwaltungen so genannte Kommandanturen zweiter Ordnung oder auch bezirksunterstellte Stadtkommandanturen (1945 insgesamt 14, 1946 auf 12 und 1948 auf 9 reduziert). – Darunter befanden sich Rayon- (d. h. Kreis-)kommandanturen (pro Bezirk 4 bis 15). – Die unterste Stufe bildeten Stadt-/Ortskommandanturen mit Kreisunterstellung (5–27 Ortskommandanturen im Kreis). Zum 1. April 1946 bestanden in der SBZ 507 Kommandanturen der SMAD. Vier Monate später wurde deren Zahl auf 325 und in der ersten Hälfte 1948 auf 157 reduziert.32 Im Juli 1949 waren in der SBZ 139 Kreis- und Stadtkommandanturen tätig.33 Hierarchisch waren die Chefs der zentralen Fachverwaltungen der SMAD in Berlin-Karlshorst den Chefs der Verwaltungen auf der Landes- und (Militär-)Be30 Laut Planstellenverzeichnis vom 20. 3.1946 (vgl. SMAD-Befehl Nr. 012) waren pro Land etwa 490 Mitarbeiter vorgesehen (Gosudarstvennyi archiv Rossijskoj Federacii [Staatsarchiv der Russischen Föderation, Moskau], künftig: GARF, f. 7317, op. 8, d. 36a, Bl. 92). Die ab dem 1.1.1947 (vgl. SMAD-Befehl Nr. 033 vom 31.1.1947) geltenden Planstellenverzeichnisse sahen zwischen 932 (Berlin) bis 2 829 Sachsen (GARF, 7317/8/56), SMAD-Befehl Nr. 0169 vom 5. 6.1947 zwischen 475 (SMAD-Land Mecklenburg) und 513 (Verwaltung des Militärkommandanten von Berlin) Mitarbeiter vor (GARF, 7317/8/52a, Bl. 439f). 31 Der Bereich der Kommandanturen stellt sich auf der Grundlage der zugänglichen Quellen noch als besonders widersprüchlich dar, wobei dessen Ordnung mehr dem Ordnungswillen der zitierten Autoren als der Quellen entspricht. Da bis jetzt nicht mit Sicherheit festgestellt werden kann, inwieweit die Widersprüche objektiv real oder aber nur auf die Besonderheit der selektiven Aktenüberlieferung zurückzuführen sind, müssen die nachfolgenden schematischen Angaben mit einem Vorbehalt versehen werden. 32 Vgl. S. B. Šolkovič, Dejatel’nost’ sovetskich voennych komendatur v Vostočnoj Germanii (1945–1949), Diss. Moskau 1980, Anlage 7. 33 Vgl. Verteiler zum SMAD-Befehl Nr. 85 vom 8. 7.1949 (GARF, 7317/8/20, Bl. 38).

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zirksebene gleichgestellt. Die den Landeschefs unterstellten fachlichen Segmente nahmen als (unselbstständige) Abteilungen eine rangniedere Stufe ein. Die Führung über die internen Fachabteilungen der Landesverwaltungen teilten sich der Verwaltungs- und der Stabschef.34 Eine Bezirksverwaltung war bereits einfacher strukturiert. Sie bestand aus (unselbstständigen) Unterabteilungen (otdelenie). Die Militärkommandanturen der Kreise verfügten nur noch über Fach-Unterabteilungen. Fachspezifisch und/oder temporär wurden jedoch auf dieser Ebene viele Aufgaben unmittelbar durch Instrukteure der zentralen Fachverwaltungen der SMAD wahrgenommen. Auf den darunter liegenden Einheiten der Besatzungsverwaltung bestanden beim Kommandanten in der Regel nur noch Gehilfen für ökonomische Fragen und für Fragen der (deutschen) Verwaltung, ansonsten wurden die fachlichen Aufgaben durch Inspekteure und Instrukteure ranghöherer Diensteinheiten der SMAD wahrgenommen. Das erste Planstellenverzeichnis der SMAD vom Juli 1945 sah nur 1447 Planstellen in 30 Facheinheiten vor (ohne Kommandanturen und Schutzeinrichtungen),35 aber schon im Mai 1946 zählte die SMAD laut einer Mitteilung des Chefs der Versorgungsverwaltung an den Chef der Finanzverwaltung 60 000 Beschäftigte.36 Nach Planstellenkürzungen im Juni 1947 sank zwar der Personalbestand des Verwaltungsapparates um etwa 2 000 Stellen, doch gleichzeitig wuchs das Personal der Bedienungseinrichtungen der SMAD37 fast um 10 000 an. Im April 1948 wurden 5 356 Mitarbeiter des zentralen Apparates, 9 991 in den Landesverwaltungen und Kommandanturen (zusammen 15 447) sowie 24 803 Mitarbeiter in den Bedienungseinrichtungen der SMAD angegeben, insgesamt also mehr als 40 000 Mann.38 1948 wurden in mehreren Schritten Planstellenkürzungen auf 33 259 durchgeführt: 11 264 Planstellen entfielen auf die fachlichen Verwaltungsorgane der SMAD und 21995 auf so genannte Bedienungseinrichtungen.39 34 Vladislav N. Jastrebcev, Sotrudničestvo Sovetskoj Voennoj Administracii i nemeckich demokratičeskich sil v poslevoennom pereustrojstve vostočnoj Germanii (1945–1949 gg.), Diss. Kiev 1977, Band 2, S. 33. 35 Vgl. GARF, 7317/48/1a, Bl. 8 f. 36 Vgl. Leiter der Versorungsverwaltung, Demidov, an Leiter der SMAD-Finanzverwaltung vom 15. 5.1946 (GARF, 7317/7/166a, Bl. 129). 37 Als Bedienungseinrichtungen der SMAD wurden Schutzeinheiten, die Bereiche Verbindungen und Transport, Krankenhäuser, Erholungsheime usw. bezeichnet. Die Trennung zwischen Verwaltung und Bedienungseinrichtungen war nicht stringent. In einigen Fällen kann eine verdeckte interne Übertragung von Planstellen aus dem Bereich der Bedienungseinrichtungen zugunsten des Verwaltungsapparates nachgewiesen werden, die nicht immer nachträglich legalisiert wurde. 38 Vgl. Aufzeichnung des Leiters des Stabes, G. Lukjančenko, und des Leiters der Organisations-Registratur-Abteilung der SMAD, Gusev, über Planstellen der SMAD und 22. 4.1948 (GARF, 7317/8/72b, Bl. 277–282). 39 Vgl. GARF, 7317/48/1a, Bl. 19. Im April/Mai 1948 erfolgte eine Kürzung um 4 543 Planstellen (GARF, 7317/8/72b, Bl. 117 ff.) und im September 1948 um 3 339 Mitarbeiter. – Diese Angaben lassen sich bisher aus zwei Gründen nicht zweifelsfrei einordnen: Zum einen erlaubt die Aktenlage keine genaue Analyse, was Plan und was Beschluss war, zum anderen ist nicht einwandfrei festzustellen, ob der tatsächliche Ist- oder nur der geplante Soll-Bestand gekürzt wurde.

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Der Oberste Chef der SMAD war gleichzeitig Oberkommandierender der sowjetischen Besatzungstruppen in Deutschland. Die Truppenstärke betrug nach amerikanischen Schätzungen 1946 675 000 Mann40 und sei 1947 auf ca. 300 000 verringert worden.41 Ab 1948 wurden die Truppen wieder verstärkt und ihre Stärke schließlich 1954 mit 550 000 Mann angegeben.42 Die – vom Truppenkommando unabhängigen – insbesondere zur Kontrolle der zonalen Demarkationsgrenze eingesetzten so genannten Inneren Truppen des sowjetischen Innenministeriums wurden 1946/47 von ursprünglich 15 000 auf 5 500 Mann reduziert. Außerdem wirkten zwischen 1946 und 1949 in der SBZ zwischen vier- und fünfhundert Mann in der Struktur der operativen Gruppen des sowjetischen Ministeriums für Staatssicherheit.43 Auch sie waren von den Führungslinien der SMAD unabhängig. Dies galt jedoch nicht umgekehrt, denn Personal der sowjetischen Staatssicherheit saß vielfach „einkonspiriert“ auf SMADPlanstellen (so im Bereich Inneres der SMAD; bei wichtigen SMAD-Verwaltungen sind Mitarbeiter aus dem Sicherheitsbereich als Stellvertreter des Verwaltungschefs feststellbar). Der Verbund aus Besatzungstruppen, dem Apparat der SMAD und den Einrichtungen des Innen- und Sicherheitsministeriums in der SBZ bildete die sowjetische Besatzungsverwaltung ab.

2.

Probleme der funktionalen Struktur der Besatzungsverwaltung

Idealtypisch unterschied sich das im Rahmen einer hierarchisch-zentralistischen monostrukturellen Machtverwaltung ohne fest umschriebene Verfahrensgrundsätze exekutierte sowjetische Verwaltungshandeln grundsätzlich vom westlichen Typus der differenzierten Sachverwaltung, die an Grundsätze der Regelhaftigkeit und Schriftlichkeit gebunden ist. Während die zweite jede Art von Verfahrenswillkür zu vermeiden hat, charakterisiert die erstere im Gegensatz eine selbstreferenzielle Verfahrensunförmigkeit, die damit selbst und auch deren Resultate ex post facto ohne großen Aufwand geheilt oder aber auch dementiert werden können. Es handelt sich somit um eine Organisation, die ihr Verfahren im Wesentlichen selbst definiert. Organisationsimmanente Dysfunktionen werden zwar in den verschrifteten Quellen vielfach evident, doch verfahrensbedingt sind sie nicht immer eindeutig objektivierbar. Ein weiteres methodisches Problem bei der Untersuchung des Einflusses der Organisationsstruktur der sowjetischen Besatzungsverwaltung auf die Besat40 41 42 43

Vgl. Foitzik, Sowjetische Militäradministration, S. 87. Ebd. Diese amerikanischen Schätzungen dürften zu niedrig gewesen sein. Ebd. Vgl. Jan Foitzik, Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD). In: Wolfgang Benz (Hg.), Deutschland unter alliierter Besatzung 1945–1949/55. Ein Handbuch, Berlin 1999, S. 302–307; Nikita Petrov, Die Apparate des NKVD/MVD und des MGB in Deutschland (1945–1953). Eine historische Skizze. In: Sowjetische Speziallager in Deutschland 1945 bis 1950. Hg. von Sergej Mironenko, Lutz Niethammer und Alexander von Plato, Band 1: Studien und Berichte, Berlin 1998, S. 143–157.

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zungspolitik bereitet die gleichermaßen komplexe wie dynamische Fachstruktur der Besatzungsverwaltung. Sie war vornehmlich Folge des Umstandes, dass die SMAD als Koordinierungsinstanz in hohem Maße innersowjetische Ämterkonkurrenz austragen musste, die aufgrund der bei zentralen Moskauer Dienststellen angesiedelten fachlichen Richtlinienkompetenz auf die Besatzungsorganisation übertragen wurde. Dies manifestierte sich nicht zuletzt auch in signifikanten funktionalen Überschneidungen und funktionalem „Parallelismus“ zwischen einzelnen Organisationsteilen der SMAD. In den ersten beiden Nachkriegsjahren wird ein herausragender politischer Einfluss vor allem den Bereichen Reparationen und Wirtschaft bescheinigt. Innerorganisatorischen Faktoren wurde hingegen in der Forschung – sowohl aus Quellenmangel als auch wegen der Quellenqualität – kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Dabei ist aber etwa der Einfluss der Politischen Verwaltung der Besatzungstruppen auf die Politik in der SBZ dort evident, wo die SMAD nur ein Handeln vorspiegelte, das 1945/46 tatsächlich oder vorwiegend in der Kompetenz der Besatzungstruppen exekutiert wurde. Im Detail verdient beispielsweise auch die „Doppelunterstellung“ der Kommandanturen unter die SMAD und die Truppe Aufmerksamkeit. Insgesamt bietet die horizontale und vertikale Funktionsstruktur der Besatzungsverwaltung ein hochgradig fragmentiertes Bild, bei dem sowohl Elemente intendierter „Kryptopolitik“ (Astrid von Borck) als auch objektive Resultate innerorganisatorisch erzeugter kompetenzieller Diffusion als unvermeidbare Begleiterscheinung der Tätigkeit von Großorganisationen zu beachten sind. Trotz der unvermeidlichen Frustration, die die kompetenzielle Diffusion in der SMAD bei den Akteuren erzeugte, was sich vielfach in den Quellen niederschlug, darf sie nicht grundsätzlich negativ bewertet werten, sondern auch positiv als ein Element zur Steigerung der Effizienz einer Organisation begriffen werden. Denn in Verbindung mit der hochgradigen horizontalen arbeitsteiligen Auffächerung und der hierarchischen Führungsstruktur ermöglichte sie, dass die Besatzungsverwaltung gleichzeitig mehrere und sogar miteinander scheinbar konfligierende Ziele verfolgen konnte. Andererseits ist zu berücksichtigen, dass die im Arbeitsprozess materialisierten Auswirkungen der in der SMAD auftretenden hochgradigen kompetenziellen Diffusion den Manövrierraum der Besatzungspolitik schon deshalb einengten, weil sie die interne wie externe Kommunikation der SMAD stark beeinträchtigten. Grundsätzlich bleibt dabei zu beachten, dass kompetenzielle Diffusion nicht nur auf der Organisationsebene der Besatzungsverwaltung kondensierte, sondern insbesondere auch auf der Kommunikationsebene, so dass also ihre Folgen bereits beim urkundlichen „Niederschlag“ des administrativen Handelns zu berücksichtigen sind. Mit anderen Worten: Symptome der kompetenziellen Diffusion sind implizite Bestandteile der historischen Quellen, mit deren Hilfe die Organisationsleistungen rekonstruiert werden. Doch auch damit ist der Teufelskreis noch nicht zu Ende, denn in den Bereichen Archivorganisation, Ar-

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chiv- und Geschichtspolitik werden Resultate und Symptome „kompetenzieller Diffusion“ ebenfalls permanent „reproduziert“. Eine Generalisierung des Verwaltungshandelns der Besatzungsmacht ist daher nur auf der Grundlage von Einzelfalluntersuchungen zu leisten. Dabei verdient auch die deutsche Verwaltung in der SBZ unmittelbar Interesse. Laut „Postanovlenie“ des Rates der Volkskommissare vom 6. Juni 1945 über die Bildung der SMAD sollten nämlich die Fachabteilungen der SMAD im Grundsatz durch Führung und Kontrolle paralleler deutscher zentraler Fachverwaltungen im Sinne einer „indirekten Herrschaft“ wirken. Zwar wurden solche deutschen Zentralverwaltungen am 27. Juli 1945 in der SBZ auch geschaffen, doch bereits am 4. Juli 1945 hatten sich Pieck und Stalin über die Bildung von föderalen Landesverwaltungen geeinigt, deren territoriale Kompetenz die Zentralverwaltungen zu respektieren hatten. Die Folge solcher widersprüchlichen ordnungspolitischen Grundsatzentscheidungen manifestierte sich darin, dass Besatzungspolitik in zahlreichen Varianten, die sich weder sektoral noch chronologisch widerspruchsfrei strukturieren lassen, gleichzeitig über zentrale und föderale deutsche Ordnungsstrukturen implementiert wurde, wobei die Prärogative des besatzungsrechtlichen Zwanges entweder über SMAD-Befehle unmittelbar oder mittelbar mit Hilfe der KPD / SED gewährleistet wurde. Obwohl das Schlagwort von der „indirekten Herrschaft“ sowjetischer Besatzungsinstanzen und das von der Kontrolle des deutschen Verwaltungshandeln durch die SMAD die ganze Phase der Besatzungsgeschichte der SBZ und der frühen DDR kennzeichnet, spiegelte es mehr den Wunsch, denn die Wirklichkeit des Vorgehens der Besatzungsverwaltung wider. Den offenen Bankrott der Ordnungspolitik der Besatzungsmacht erklärte sogar der Stellvertreter des Obersten Chefs der SMAD für Zivilangelegenheiten Kabanov, als er am 1. Juli 1949 auf einer internen Arbeitsberatung des Bereiches Volksbildung festhielt, dass „die DWK nur viel Papier produziert“, und die Gesamtlage in der Feststellung zusammenfasste, dass 90 Prozent der anfallenden Aufgaben von der SMAD selbst gemacht werden müssten.44 Kabanovs abfällige Bemerkung über die „Rolle des Papieraktes“ in der Geschichte ist zwar nicht unbedingt wörtlich zu nehmen oder aber exklusiv auf ostdeutsche Archive zu beschränken, dafür aber unbedingt auch mit Blick auf die Geschichtsschreibung zur sowjetischen Besatzungspolitik zu verallgemeinern. Allein die exorbitante Steigerung der personellen Ausstattung der SMAD von 125 im Frühjahr 1945 eingeplanten und etwa 50 000 im Jahr 1947 besetzten Stellen ist derart gravierend, dass von einem unmittelbaren Zusammenhang zwischen Besatzungsorganisation und Besatzungspolitik ausgegangen werden muss. Die bereits durch die historischen Akteure selbst beobachteten und meistens bitter beklagten zahlreichen Verwerfungen in der horizontalen und der vertikalen Besatzungsorganisation wurden erst ab 1947/48 durch die stufenweise 44 Stenogramm der Mitarbeiterversammlung der Abteilung Volksbildung beim Stellv. Obersten Chef der SMAD vom 1. 7.1949 (GARF, 7317/55/8, Bl. 31–46).

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Errichtung einer abhängigen SED-Diktatur in der SBZ ordnungspolitisch bereinigt. Trotz der diffusen Quellenlage könnte man zwar schon heute hypothetisch davon ausgehen, dass die Besatzungsmacht von Anfang an realpolitisch eine zonale Diktatur intendierte. Doch zugleich ist zu beachten – und dies wiegt letztlich schwerer –, dass die Besatzungsmacht durch ihr eigenes diktatorisch-autoritäres Organisationsverhalten nach und nach Sachzwänge geschaffen hatte, die ihr in der Summe keinen anderen ordnungspolitischen Ausweg mehr ließen als die Errichtung einer zonalen Diktatur. Nimmt man das Modell der Organisationssoziologie zu Hilfe, hieße dies, dass bei schwierigen Kommunikations- und / oder Umweltbedingungen in einer Organisation eine dahingehende Zielverschiebung eintreten kann, dass die angewandten (hier: diktatorischen) Methoden an die Stelle der ursprünglichen Organisationsziele treten. Die Resultate des in der SMAD auf weiten Strecken betriebenen situativen Krisenmanagements beschrieb der Politische Berater Semënovs nicht anders, als er erklärte: „Wir kennen die Lage in Deutschland und die Linie der Partei auf diesem Gebiet“, also konnte die SMAD sogar „alle [...] Probleme [...] an Ort und Stelle selbst klären“.45 Weitere offene Fragen zum Verhältnis zwischen Besatzungsorganisation und Besatzungspolitik ergeben sich aus der Überlegung, ob die Gründung der DDR 1949 tatsächlich die erste Zäsur in der Nachkriegsgeschichte Ostdeutschlands war. Mittelbar zielt sie auf die chronologische und systematische Begriffsbestimmung der sowjetischen Besatzung. Inwieweit ist es legitim, die Besatzungszeit auf den Zeitraum des Wirkens der SMAD zu beschränken? Sollten nicht zumindest auch die Phasen der Tätigkeit der Sowjetischen Kontrollkommission in Deutschland (SKK) 1949–1953 und des Hohen Kommissars 1953–1955 als Besatzung berücksichtigt werden? In diesem Zusammenhang taucht ein weiteres Problem auf: Die SKK und der Apparat des Hohen Kommissars stellten in den zentralen Funktionsbereichen sowohl organisationsstrukturell als auch prozedural zwar eine direkte Fortsetzung der SMAD dar, doch zur Wahrnehmung ihrer Organisationszwecke benötigte die SKK schon im März 1950 nur 3 840 Mitarbeiter,46 was einer Reduzierung des SMAD-Bestandes vom 1. Januar 1949 gleich um 90 Prozent entsprach. Im Januar 1951 wurde der Personalbestand der SKK sogar auf 1700 Planstellen gekürzt.47 Um der Kürze wegen eine Aussage Stalins zu paraphrasieren: Wenn die Kader tatsächlich alles entschieden, dann scheint die SMAD-Phase der Besatzung allein aufgrund der personellen Ausstattung des Besatzungsapparates eine andere organisatorische Qualität besessen zu haben als die nachfolgende, denn mit der Qualität der Kader allein lassen sich die gewaltigen Unterschiede in den Planstellenzahlen nicht erklären. 45 Wladimir S. Semjonow, Von Stalin bis Gorbatschow. Ein halbes Jahrhundert in diplomatischer Mission 1939–1991, Berlin 1995, S. 221. 46 Elke Scherstjanoi, Das SKK-Statut. Zur Geschichte der Sowjetischen Kontrollkommission in Deutschland 1949 bis 1953, München 1998, S. 54. 47 Ebd., S. 57.

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3.

Einige Detailprobleme in Stichworten

3.1

Deutsch-russische Kommunikation und Interaktion aus der Organisationsperspektive

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Was die Kenntnis der deutschen Sprache bei Angehörigen der Besatzungsverwaltung bzw. der russischen bei den Deutschen angeht, so eröffnen sich ernstzunehmende Fragen: Für den Stab der SMAD waren 1946 beispielsweise 26 Planstellen für Übersetzer vorgesehen, davon allerdings nur zehn für die deutsche Sprache.48 Im normativen Planstellenschema der Verwaltung einer Bezirkskommandantur der SMAD erster Ordnung, die insgesamt 63 Personalstellen vorsah, war lediglich in der mit sieben Mitarbeitern besetzten Abteilung für Zivilverwaltung ein Übersetzer vorgesehen.49 Beherrschung der deutschen Sprache bescheinigten sich selbst schließlich nur etwa 15 Prozent der Mitarbeiter der Informationsverwaltung,50 die in der SMAD für den unmittelbaren Kontakt zwischen Deutschen und der Besatzungsverwaltung zuständig waren. Die Intensität der Kooperation zwischen Deutschen und der Besatzungsmacht litt aber nicht nur unter der beiderseitigen Sprachblockade. Anders als ihre eigenen Leistungsberichte suggerieren, wird der Beitrag der SMAD zur funktionalen Binnenausstattung des politischen Systems der DDR wohl auch deshalb relativiert werden müssen, weil der SMAD nicht das erforderliche Fachpersonal zur Verfügung stand. Die zentrale Abteilung für Volksbildung der SMAD verfügte beispielsweise über 84 (1946) bzw. 38 (1948) Planstellen sowie weitere 39 (1946) bzw. 34 (1947) in den ihr nachgeordneten Landesverwaltungen, außerdem real über 125 (1948) bzw. 116 (1949) Inspektoren für Volksbildung bei den Kommandanturen.51 Diese in aller Regel des Deutschen nicht mächtigen 188 bis 248 Mitarbeiter waren für den gesamten Bereich der Volksbildung in der SBZ und Ost-Berlin zuständig, unter anderem für 50 000 deutsche Lehrer. Diese gravierenden Personal- und Kommunikationsprobleme sind im Zusammenhang mit dem extremen Einzelfall-Regelungsbedarfs der Besatzungsverwaltung zu sehen. Der Zugriff der Besatzungsverwaltung auf die ostdeutsche Verwaltung, die politisch-gesellschaftliche Infrastruktur und das gesamte öffentliche Leben war nämlich bereits aus strukturellen organisatorischen Gründen durch Gradualismus und Unförmigkeit gekennzeichnet, weil es kein verbindliches 48 Vgl. Planstellen der Allg. Abteilung des SMAD-Stabes vom 25. 3.1946 (GARF, 7317/8/36a, Bl. 108–111). 49 Vgl. Planstellen der Verwaltung einer Bezirkskommandantur 1. Ordnung [Mai 1945] (GARF, 7317/8/33d, Bl. 19–22). 50 Nach Feststellungen einer Moskauer ZK-Überprüfungskommission beherrschten 1948 mehr als die Hälfte der Mitarbeiter der Informationsverwaltung der SMAD die deutsche Sprache überhaupt nicht und 35 Prozent „nur dürftig“. Vgl. Foitzik, Sowjetische Militäradministration, S. 404. 51 Vgl. Aufstellung Artjuchins über Volksbildung in der SBZ mit Stand vom 1.1.1949 vom 21. 2.1949 (GARF, 7317/54/14, Bl. 189–199).

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sowjetisches oder deutsches Ordnungsmodell bzw. allgemein akzeptierte und eingespielte Verfahrensregeln und Prozeduren gab, die als Kommunikationsgrundlage hätten diesen können. Die ersten deutschen Zentralverwaltungen waren nach dem Befehl Nr. 17/1945 gegenüber den Landesregierungen dem Buchstaben nach zwar nicht weisungsbefugt, doch dieses Prinzip wurde mit Befehl Nr. 117 vom 27. Oktober 1945 beispielsweise bei der Zentralverwaltung für Handel und Versorgung durchbrochen.52 Im Bereich Außenhandel etwa lagen die Befugnisse für Verhandlungen mit dem Ausland von Anfang an bei zentralen ostdeutschen Einrichtungen und nicht bei den Ländern und Provinzen.53 Am 18. Januar 1946 wurde dann der Zentralverwaltung für Handel und Versorgung mit Befehl Nr. 5 die alleinige Zuständigkeit für den Interzonenhandel übertragen, aber dieser Grundsatz wurde durch Befehl Nr. 267 vom 2. September 1946 wieder zugunsten der Provinzial- und Landesregierungen revidiert.54 Diese Kompetenzen verloren die Länder mit der Bildung der deutschen Zentralverwaltung für Interzonen- und Außenhandel mit Befehl Nr. 138 vom 4. Juni 1947, die von der SMAD jetzt mit verbindlichen Weisungsrechten gegenüber den Landesregierungen, deutschen Organisationen und Privatfirmen ausgestattet wurde.55 Ähnliche durch situative Einzelfall-Entscheidungen erzeugte Unförmigkeit in der kompetenziellen und prozeduralen Implementation lässt sich in allen Bereichen der sowjetischen Besatzungsverwaltung in der SBZ belegen.56 Dahinter kann politische Intension gestanden haben, wie bei der am 1. April 1946 gebildeten Zentralen Deutschen Kommission für Sequestrierung und Konfiskation, die unter direktem Einfluss des Zentralsekretariats der SED stehend mit Weisungsrechten gegenüber den Landesverwaltungen ausgestattet wurde, um eine Enteignungspolitik zu praktizieren, „die [...] von Anfang an auf radikale Sozialisierung gerichtet war“.57 Insgesamt verdienen aber dabei zunächst die unkontrollierten organisatorischen und politischen Auswirkungen der kompetenziellen Diffusion in der sowjetischen Besatzungsverwaltung größere Beachtung, weil sie generelle Aussagen über ihr Organisationsverhalten ermöglichen. Ihre evidenten Ordnungsdefizite mussten mit Hilfe aufwendiger ostdeutsch-russischer Verhandlungen, für die vielfach schon die sprachlichen Voraussetzungen fehlten, mit einer Flut von Einzelweisungen, oft an der formalen Organisa52 Vgl. Karl-Heinz Schöneburg, Errichtung des Arbeiter- und Bauernstaates der DDR 1945–1949, Berlin (Ost) 1983, S. 63. 53 Vgl. Leopold Hofmann, Die Entwicklung des Außenhandels der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands und die Problematik der Herausbildung des sozialistischen Außenhandelsmonopols als wirtschaftlicher Kommandohöhe der Arbeiterklasse, Diss. Gesellschaftswissenschaften, Berlin (Ost) 1973, S. 68. 54 Ebd., S. 70. 55 Ebd., S. 87 ff.; Schöneburg, Errichtung, S. 192. 56 Vgl. hierzu auch Jan Foitzik, Inventar der Befehle des Obersten Chefs der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD) 1945–1949, München 1995, S. 46 ff. 57 Vgl. Monika Tatzkow/Hartmut Henicke, „... ohne ausreichende Begründung“. Zur Praxis der „Enteignung der Naziaktivisten und Kriegsverbrecher“ in der SBZ. In: Zeitschrift für offene Vermögensfragen, 2/1992, S. 182–189, hier 182.

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tionsstruktur vorbei (intern „Durchstecherei“ genannt), notdürftig – und dies hieß oft: nur auf dem Papier – kompensiert und faktisch „nach unten“ delegiert werden. Der Historiker ist so das letzte Opfer dieser „kompetenziellen Diffusion“. 3.2

Die ideologisch-parteipolitische Organisationskomponente

Stark unterschätzt oder gar gänzlich vernachlässigt wird die Bedeutung der organisationsinternen parteipolitischen Führungsinstrumente in der SMAD. Im internen politischen Apparat – im Juli 1945 zunächst als selbstständige Abteilung des Stabes gegründet und im Sommer 1946 in eine Politische Verwaltung der SMAD überführt, die unmittelbar der Politischen Hauptverwaltung der Sowjetischen Armee unterstellt und ausdrücklich mit der Leitung aller Parteiorgane und Parteiorganisationen in der SMAD beauftragt war58 – waren 1946/1947 mit 717 Mitarbeitern59 beinahe genauso viele tätig wie in der Propaganda- und späteren Informationsverwaltung der SMAD,60 die in der Geschichtsschreibung zur SMAD aufgrund ihrer Außenwahrnehmung und ihres extensiven Quellenniederschlags eine besondere Wertschätzung genießt.61 Nicht mit propagandistischen, sondern mit diskreten Mitteln der parteiamtlichen Weisungen wirkte die Politische Verwaltung der SMAD über die einheitlich strukturierten politischen Abteilungen in den Fachverwaltungen homogen auf die gesamte SMAD-Struktur und jeden Mitarbeiter der SMAD, sofern er – formell gesehen – als Parteimitglied der Parteidisziplin unterworfen war, ein. Schon diese Fakten indizieren, dass die interne parteipolitische Anleitung und Kontrolle des SMAD-Apparates größere Aufmerksamkeit verdient als die politische Kontrolle und Anleitung der deutschen Akteure und Institutionen. Allgemein wird zwar davon ausgegangen, dass Ideologie keinen Einfluss auf die reale stalinistische Politik hatte, sondern nur zu ihrer Legitimation benutzt wurde. Um aber herauszufinden, welche Politik diese „Rechtfertigungslehre“ legitimieren sollte, muss auch der Ideologie unbedingt Aufmerksamkeit geschenkt werden. Besonders tut eine ideologiekritische Aufbereitung der durch 58 Vgl. Protokoll des Sekretariats des ZK der VKP(B) Nr. 266 vom 19. 6.1946, Punkt 4g (Rossijskij Gosudarstvennyi Archiv sozial’no-političeskoj istorii (Russisches Staatsarchiv für soziale und politische Geschichte, künftig: RGASPI, 17/116/266). 59 GARF, 7317/10/21, Bl. 136. 60 1948 waren im zonalen Apparat der Informationsverwaltung der SMAD 761 Mitarbeiter beschäftigt. Vgl. Foitzik, Sowjetische Militäradministration, S. 404. 61 Extrem bei Wilfried Loth, Stalins ungeliebtes Kind. Warum Moskau die DDR nicht wollte, Berlin 1994, der die DDR als ein „Geschöpf“ Ulbrichts und Tjul’panovs vorstellt, das „Moskau nicht wollte“. Bernd Bonwetsch/Gennadij Bordjugov/Norman N. Naimark (Hg.), Sowjetische Politik in der SBZ. Dokumente zur Tätigkeit der Propagandaverwaltung (Informationsabteilung) der SMAD unter Sergej Tjulpanov, Bonn 1998, sehen die Rolle Tjul’panovs zwar differenzierter, doch insgesamt erscheint seine Bedeutung überbewertet.

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spätere wissenschaftspolitische und archivrechtliche Vorkehrungen „permanent gewaschenen“ Quellen auf der Grundlage der damaligen zeitgenössischen Doktrinen des Marxismus-Leninismus-Stalinismus Not und nicht, wie üblich, ex post facto auf der Grundlage des realsozialistischen oder gar postsozialistischen „gesunden ‚antistalinistischen‘ Menschenverstandes“. Aus Illustrationsgründen sei nur sehr knapp auf zwei besonders heikle Komplexe hingewiesen: Stalins Sprachphilosophie ging schon in den dreißiger Jahren davon aus, dass es im Kommunismus nur eine Sprache geben würde: die russische, die alle anderen Sprachen verdrängen und vernichten würde. Welche potentiellen und realen politischen Wirkungen entfalteten Stalins Sprachtheorien damals? Dabei wäre zu beachten, dass sich die sowjetische Parteiführung noch in den Jahren 1947/48 bei der Konkretisierung der kommunistischen Utopie von einer zwanzigjährigen Planperspektive leiten ließ. Was die „biologisch-genetische“ Perspektive der Besatzungspolitik angeht, so wurde „Umzüchtung“ nach der damals in der Sowjetunion verbindlichen, von Stalin persönlich protegierten und in seinen sprachtheoretischen Spätschriften nachdrücklich salvierten Genetiklehre für möglich gehalten und nicht nur „Umerziehung“ oder „Umorientierung“ der Verhaltensattitüden der Deutschen, wie sie die internationalen Vertragswerke über die Besatzung Deutschlands vorsahen. Die Moskauer „Pravda“ erklärte 1948 die „deutsche Aggressivität“ immerhin für eine „historische Konstante“.62 Dass beide Überlegungen im Nachhinein kurios und abstrus erscheinen, heißt nicht, dass es sich beim Stalinismus nicht um ein reales historisches Phänomen gehandelt hatte.

Zusammenfassung Vorbehaltlich der skizzierten offenen Fragen, deren Beantwortung zwar nichts an den Ergebnissen der sowjetischen Besatzungspolitik ändern wird, die aber zur Erklärung und Illustration zahlreicher Initiativen der Besatzungsverwaltung unerlässlich ist, deuten viele organisationsstrukturelle Elemente und insbesondere die in der Anfangsphase der Besatzung in der SMAD eingesetzte Vielzahl der sowjetischen Volkskommissare darauf hin, dass die SBZ von der Besatzungsmacht zunächst nach sowjetischen Arbeitsmethoden verwaltet werden sollte. Solche „genetisch sowjetischen“ Organisationsformen wurden unter dem Druck der realen Verhältnisse sukzessive zurückgebaut zugunsten der Vermittlung des politisch-organisatorischen Ordnungswillens der Besatzungsverwaltung durch die SED, die ab 1947 auch öffentlich zum Geschäftsträger und Juniorpartner der Besatzungsmacht avancierte. Zwar könnte die erste Phase bis etwa 1947/48 in den zentralen Funktionsbereichen der Besatzungsverwaltung als „direkte (Fremd-)Herrschaft“ um62 Vgl. Pravda, Moskau, vom 2. 2.1948.

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schrieben werden (insbesondere in den Bereichen Wirtschaft), insgesamt war jedoch die Arbeitsweise der Besatzungsverwaltung grundsätzlich durch nicht ausdifferenzierte deutsch-sowjetische „Mischformen“ geprägt. Sie waren zunächst nicht intendiert, sondern machten aus der praktischen (Verfahrens-, Kommunikations- und Organisations-)Not die ideologisch-propagandistische Tugend einer ostdeutsch-sowjetischen Interessensymbiose. Ein zentrales Funktionselement dieses „gemischten Systems“ war dessen „falsche Wahrnehmung“ durch die an ihm auf beiden Seiten Beteiligten, die mit entsprechenden Fehldeutungen von Rolle und Funktion der einzelnen Akteure verbunden war. Dieses unmittelbar auf das in Sachfragen wenig differenzierte und auf machtpolitische Dominanz ausgerichtete Organisationsverhalten der Besatzungsmacht zurückzuführende System, das sich anhand der doppelten Quellenüberlieferung aus der Besatzungszeit durchaus auch im Sinne eines improvisationsfreudigen situativen Krisenmanagements interpretieren ließe, verstetigte sich und kennzeichnete auch das spätere ostdeutsch-sowjetische Kooperationsverhältnis.

Die Struktur des sowjetischen Besatzungsapparates in Österreich 1945–1955 Wolfgang Mueller Die Frage nach der Struktur des Apparates der sowjetischen Besatzungsmacht in Österreich 1945–1955 wurde bereits in einigen Arbeiten aufgeworfen.1 Obwohl seither Quellen in russischen Archiven erschlossen werden konnten, sind insbesondere die Bestände des Militärapparates, der Kommandanturen, des Wirtschaftsapparates sowie der Sondereinheiten nach wie vor kaum zugänglich. Nachteilig wirkt sich aus, dass im Fall Österreichs kein dem SMAD-Hauptbestand im Staatsarchiv der Russischen Föderation vergleichbares Aktenkonvolut existiert und sich Militärakten im Archiv des Verteidigungsministeriums befinden. Dankenswerterweise wurden hier zwar einige Dokumente freigegeben, doch schreitet die Deklassifizierung bisher nur langsam voran. Angesichts der Erkenntnisse über die SMAD2 erschien das Forschungsdefizit über die Sowjetbesatzung in Österreich lange Zeit besonders evident. Erst in den letzten Jahren konnten einige Lücken geschlossen werden. Der vorliegende Beitrag versucht , einen Überblick über die Struktur des sowjetischen Besatzungsapparates in Österreich zu geben. Dabei sind folgende Grundelemente zu identifizieren: 1

2

Wolfgang Wagner, Die Besatzungszeit aus sowjetischer Sicht. Die Errichtung der sowjetischen Besatzungsmacht 1945 bis 1946 im Spiegel ihrer Lageberichte, Diplomarbeit Wien 1998; Wolfgang Mueller, Die sowjetische Besatzungsmacht in Österreich. Forschungsstand, Quellenlage und Fragestellungen. In: Zeitgeschichte, 28 (2001), S. 114– 129. Vgl. zuletzt Harald Knoll/Barbara Stelzl-Marx, Der Sowjetische Teil der Alliierten Kommission für Österreich. Struktur und Organisation. In: Stefan Karner / Barbara Stelzl-Marx (Hg.), Die Rote Armee in Österreich. Sowjetische Besatzung 1945–1955. Beiträge, Graz 2005, S. 179–218; sowie Wolfgang Mueller, Die sowjetische Besatzung in Österreich 1945–1955 und ihre politische Mission, Wien 2005, S. 47–70. Der vorliegende Beitrag entstand im Kontext eines vom Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF) geförderten Akteneditionsprojektes. Der Verfasser ist dem FWF, der Russischen und der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, insb. Prof. Aleksandr O. Čubar’jan, Dr. Viktor V. Iščenko, Prof. Gerhard Jagschitz und Prof. Arnold Suppan für ihre Unterstützung und Dr. Jan Foitzik, Institut für Zeitgeschichte München-Berlin, für seine Hilfe und Kommentare zum Manuskript zu Dank verpflichtet. Siehe insbes. Norman M. Naimark, The Russians in Germany. A History of the Soviet Zone of Occupation, 1945–1949. Cambridge 1995 (zit. nach der deutschen Taschenbuchausgabe Die Russen in Deutschland. Die Sowjetische Besatzungszone 1945 bis 1949. München 1999); Jan Foitzik, Sowjetische Militäradministration in Deutschland 1945–1949 (SMAD). Struktur und Funktion, Berlin 1999.

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A) der Militärapparat, bestehend aus Oberkommando, Besatzungstruppen und lokalen Ausführungs- und Kontrollorganen (Kommandanturen), B) der diplomatische Apparat, d. h. die politischen Vertretungsorgane der UdSSR in Österreich, C) der Sowjetische Teil (bzw. das Sowjetische Element3) der Alliierten Kommission für Österreich (Sovetskaja čast’ Sojuzničeskoj komissii po Avstrii, SČSKA), D) der Wirtschaftsapparat, E) die Sondereinheiten. Die folgende Darstellung konzentriert sich auf die militärisch-politischen und diplomatischen Grundelemente (A-C). Wirtschaftsapparat und Sondereinheiten werden nur gestreift, für ausführlichere Details dazu sei auf die entsprechenden Abschnitte dieses Bandes verwiesen. In Bezug auf die Entwicklung und Veränderung der Struktur des Besatzungsapparates lassen sich vier Phasen unterscheiden: 1. von der Besetzung bis zur Gründung der SČSKA (März bis Juli 1945), 2. von der Gründung der SČSKA bis zu ihrer Reform (Juli 1945 bis 1952), 3. von der SČSKA-Reform bis zur Ernennung des zivilen Hochkommissars (1952/53), 4. der überwiegend zivile Apparat des Hochkommissars für Österreich (1953 bis 1955).

Phase 1: Von der Besetzung bis zur Gründung der SČSKA (März bis Juli 1945) Im Zeitraum März bis Mai 1945 wurde Ost-Österreich von der 2. und 3. Ukrainischen Front (Heeresgruppe) unter dem Kommando der Marschälle Rodion Ja. Malinovskij und Fëdor I. Tolbuchin mit etwa 400 000 Mann besetzt.4 Die 3

4

Im zeitgenössischen österreichischen Sprachgebrauch wurden beide Begriffe verwendet, die verbreitete Bezeichnung „Element“ entstammte dem Englischen. Die korrekte Übersetzung der Bezeichnung „Sovetskaja čast’“ lautet: „Sowjetischer Teil“. Vgl. Foitzik, SMAD, S. 435. Manfried Rauchensteiner, Der Krieg in Österreich 1945, Wien 1984, S. 107, nennt diese Zahl als Gesamtstärke der 3. Ukrainischen Front. Dieselbe Zahl gibt er auch als Gesamtumfang der in Österreich stationierte Einheiten der 2. und 3. Ukrainischen Front an. Siehe Manfried Rauchensteiner, Der Sonderfall. Die Besatzungszeit in Österreich 1945 bis 1955. Graz 1979, S. 81. Die Gesamtstärke der 2. und 3. Ukrainischen Front inkl. Donau-Flottille lag bei 644 700 Mann. Am Kampf um Wien beteiligt waren ca. 70 000–90 000 Rotarmisten. Siehe Grif sekretnostik snjat. Poteri vooružënnych sil’ SSSR v vojnach, boevych dejstvijach i voennych konfliktach [Das Siegel der Geheimhaltung ist aufgehoben: Die Verluste der Streitkräfte der UdSSR in Kriegen, Kampfhandlungen und militärischen Konflikten], Moskau 1993, S. 218. Zit. nach Peter Gosztony, Planung, Stellenwert und Ablauf der „Wiener Angriffsoperation“ der Roten Armee 1945. In: Manfried Rauchensteiner/Wolfgang Etschmann (Hg.), Österreich 1945. Ein Ende und viele Anfänge, Graz 1997, S. 131–144, hier 143.

Die Struktur des sowjetischen Besatzungsapparates

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Trennung der Befehlsgewalt zwischen den Gebieten Malinovskijs (nördlich der Donau) und Tolbuchins (südlich) war absolut, was u. a. zur Folge hatte, dass die Ende April mit sowjetischer Förderung gebildete Provisorische Regierung Österreichs anfangs nur in den Gebieten südlich der Donau tätig werden konnte. Im Juni 1945 wurden im Rahmen der Teildemobilisierung und Umstrukturierung der sowjetischen Truppen in Ost- und Mitteleuropa auch die in Österreich stationierten Einheiten der 2. und 3. Ukrainischen Front zum Teil demobilisiert, zum Teil nach Osteuropa verlagert. Sie wurden durch die 1. Ukrainische Front Marschall Ivan S. Konevs ersetzt, die mit anderen Truppen in der Tschechoslowakei und Ungarn zur Zentralen Heeresgruppe (Central’naja gruppa vojsk) zusammengefasst wurde.5 Die Truppenstärke wurde bis Jahresende 1945 auf ca. 200 000 Mann und im Frühling 1946 auf ca. 150 000 Mann reduziert,6 und die Soldaten selbst wurden kaserniert. Das Heeresgruppenkommando befand sich in Baden bei Wien. Die bei Kriegsende „wichtigste politische Führungsinstanz“ jeder Front war ihr Kriegsrat.7 Er besaß alle militärischen, politischen und ökonomischen Machtbefugnisse zur Organisation der besetzten Gebiete sowie das Recht, völkerrechtlich wirksame Vereinbarungen zu schließen. Die ersten Aufrufe der Roten Armee an die österreichische Bevölkerung im April 1945, aber auch viele Verordnungen über sowjetische Hilfsmaßnahmen für die Einwohner Wiens und für die Provisorische Staatsregierung wurden daher auf Beschluss des sowjetischen Staatsverteidigungskomitees vom Kriegsrat der 3. Ukrainischen Front verabschiedet.8 Ihm gehörten bei Kriegsende neben dem Frontkommandeur die Politoffiziere Generaloberst Aleksej S. Želtov und Generalmajor V. Lajok an. Die „Führung der Organisation und Kontrolle der Errichtung der Zivilverwaltung auf dem Territorium Österreichs“ wurde Anfang April Generaloberst Želtov übertragen.9 Die regionale und lokale Umsetzung der Befehle und Überwachung der Ausführung oblag den Militärkommandanturen, die gemäß Befehl 2 des Hauptquartiers des Oberkommandierenden (Stavka) an die 2. und 3. Ukrainische Front vom 2. April 194510 im sowjetisch besetzten Gebiet Österreichs errichtet wur5 6 7 8

Mueller, Die sowjetische Besatzung, S. 47 f. Rauchensteiner, Sonderfall, S. 140 und 153. Foitzik, SMAD, S. 117. Aufruf des Kriegsrates der 3. Ukrainischen Front an die Truppen, vom 4. 4.1945. In: Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der UdSSR (Hg.), UdSSR – Österreich 1938–1979, Moskau 1980, S. 16 f.; Aufruf des Kriegsrates der 2. Ukrainischen Front an die Bevölkerung Österreichs vom 6. 4.1945 (ebd., S. 18 f.); Verordnung des Kriegsrates der 3. Ukrainischen Front über die Versorgung der Bevölkerung Wiens mit Lebensmitteln vom 21. 4.1945 (ebd., S. 25 ff.); Verordnung des Kriegsrates der 3. Ukrainischen Front über die Hilfe für die Provisorische Regierung Österreichs vom 5. 5.1945 (ebd., S. 28 ff.). 9 Entwurf der Direktive über die Aufgaben der Politischen Gruppe für Österreich-Angelegenheiten, o. D. (Anfang April 1945) (AVP RF, 06/7/26/325/4–9). 10 Text in Krasnaja Armija v stranach Central’noj, Severnoj Evropy i na Bal’kanach. Dokumenty i materialy 1944–1945 [Die Rote Armee in den Ländern Zentral- und Nordeuro-

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den. Eine hierarchische Abstufung der Kommandanturen entsprechend den verschiedenen Verwaltungsebenen dürfte in der unmittelbaren Nachkriegszeit nicht bestanden haben. In einem Gespräch mit Marschall Tolbuchin am 6. Juni 1945 wies der Staatskanzler der Provisorischen Regierung Österreichs Karl Renner darauf hin, dass die derzeitige Militärverwaltung lediglich auf den Ebenen der Zentralverwaltung einerseits und der Bürgermeister andererseits angesiedelt sei.11 Um aber auch den Kontakt zu den österreichischen Landesregierungen und Bezirksverwaltungen herzustellen, schlug Renner vor, sowjetische Landes- und Bezirkskommandanturen zu gründen. Es ist nicht belegt, ob die folgende Entwicklung des sowjetischen Kommandanturapparates auf diese Anregung des Staatskanzlers zurückging, aber tatsächlich wurden die von Renner vorgeschlagenen Landes- und Bezirkskommandanturen eingerichtet. Die Kommandanturhierarchie umfasste seither je eine Gebiets- bzw. Landeskommandantur (oblastnaja komendatura) für Niederösterreich (in Wien), das nördliche Oberösterreich (in Urfahr) und das Burgenland (in Eisenstadt), ferner Kreisbzw. Bezirkskommandanturen (uezdnaja k.) etwa in jeder Bezirkshauptstadt und Militär- bzw. Ortskommandanturen (voennaja k.) in allen größeren Ortschaften.12 Zum 31. Dezember 1945 bestanden 51 Orts- und Kreiskommandanturen,13 Ende 1948 waren nur mehr 27 Kreiskommandanturen übrig, davon 22 in Niederösterreich, 3 im Burgenland, 2 im nördlichen Oberösterreich.14 In Wien existierten eine Stadtkommandantur sowie in jedem Gemeindebezirk des pas und auf dem Balkan. Dokumente und Materialien 1944–1945]. Velikaja Otečestvennaja, Band XIV/3(2), Moskau 2000, S. 609 f. 11 Niederschrift des Politberaters Koptelov über das Gespräch mit Kanzler Renner vom 6. 6.1945 (AVP RF, 012/6/92/391/25–29). Ich danke Prof. Oliver Rathkolb für die Gewährung der Einsichtnahme. 12 Die sprachliche Diskrepanz resultiert daraus, dass im Russischen Begriffe verwendet wurden, die nicht der österreichischen Verwaltungsterminologie entsprachen, aber von österreichischer Seite entsprechend dieser Terminologie übersetzt wurden. Die oblastnye kommendatury (eigentl.: „Gebietskommandanturen“) waren grosso modo für je ein Bundesland zuständig und wurden daher von österreichischer Seite als „Landeskommandanturen“ bezeichnet; die uezdnye k. (eigentl.: „Kreiskommandanturen“) waren ungefähr für je einen Landbezirk verantwortlich und wurden von Österreichern daher „Bezirkskommandanturen“ genannt. Kreise bestehen in der österreichischen Verwaltungsstruktur nicht. Die russische Unterscheidung zwischen den Kreis- (Landbezirks-) und Rayons- (Stadtbezirks-) -kommandanturen wurde von österreichischer Seite nicht berücksichtigt, beide wurden als „Bezirkskommandanturen“ bezeichnet. Dafür unterschieden Österreicher zwischen Bezirkskommandanturen auf dem Land (in Bezirkshauptstädten) und so genannten „Ortskommandanturen“ in sonstigen Ortschaften. Diese Unterscheidung ist im Russischen nicht belegt. Hier hießen spätestens ab Ende 1948 alle Kommandanturen auf dem Land „uezdnye“, d. h. Kreiskommandanturen. 13 Leiter der Propagandaabteilung SČSKA, Oberstlt. Pasečnik, an M. A. Suslov vom 6. 8. 1946, und „Österreich (Politischer Bericht)“ (RGASPI, 17/128/117/2–117, hier 92 f.). 14 Struktur und Zusammensetzung der SČSKA zum Stand vom 15.11.1948 (AVP RF, 066/29/139/46/36–46). Die Kreiskommandanturen bestanden in: Amstetten, Baden, Bruck, Gmünd, Hollabrunn, Horn, Klosterneuburg, Korneuburg, Krems, Lilienfeld, Mistelbach, Mödling, Neunkirchen, Purkersdorf, Schwechat, Semmering, St. Pölten, St. Valentin, Tulln, Wiener Neustadt, Zistersdorf, Zwettl (NÖ); Eisenstadt, Güssing, Oberwart (Burgenland); Freistadt, Rohrbach (OÖ).

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sowjetischen Sektors eine Rayons- bzw. Stadtbezirkskommandantur (rajonnaja k.). An der Spitze der Befehlspyramide der Kommandanturen standen der Frontkommandierende und der Kriegsrat, darunter die Abteilung zur Leitung der Militärkommandanturen (Otdel rukovodstva voennymi komendaturami, ORVK, Sitz: Baden) bzw. Verwaltung der Militärkommandanturen (Upravlenie voennych komendatur), sodann die Gebietskommandanturen, denen schließlich die Kreiskommandanturen unterstellt waren. Die innere Struktur der Militärkommandanturen in Österreich dürfte jener der Kommandanturen in Deutschland ähnlich gewesen sein.15 Diese setzten sich 1945 meist aus fünf Funktionsbereichen, zuständig für Politik, Propaganda, Militärangelegenheiten und Sicherheit, Versorgung, Wirtschaft zusammen.16 Seit Juli 1945 existierten bei ihnen stellvertretende Militärkommandanten für den politischen Bereich.17 Die zwischen 1945 und 1952 übliche Personalausstattung der Kreiskommandanturen in Österreich bestand aus einem Kommandanten und vier weiteren Personen. Neben dieser Grundstruktur gab es in größeren Kreiskommandanturen außerdem „Propagandainstruktoren“, die für die politische Arbeit unter der lokalen Bevölkerung verantwortlich waren. Auf der Ebene der Gebietskommandanturen fungierte der jeweilige stellvertretende Gebietskommandant in Personalunion als Bevollmächtigter des Militär- bzw. Hochkommissars im entsprechenden Bundesland. Außerdem bestand in jeder Gebietskommandantur eine Propagandaabteilung zur Anleitung der Propagandainstruktoren. Die Militärkommandanturen übernahmen ein weites Arbeitsgebiet. Befehl 2 des Hauptquartiers vom 2. April 1945 nannte zwar als Aufgabe der Kommandanten lediglich die Einsetzung „provisorischer Bürgermeister und Gemeindevorsteher aus der örtlichen österreichischen Bevölkerung“.18 Aber obwohl die Kommandanten die Zivilverwaltung umgehend in die Hände der von ihnen eingesetzten Bürgermeister legten, übten sie als Vertreter der Roten Armee im besetzten Gebiet weiterhin die höchste Gewalt aus. Laut der von Tolbuchin und Želtov am 20. April 1945 bestätigten Provisorischen Verordnung über die Militärkommandanturen auf dem von sowjetischen Truppen besetzten Gebiet Österreichs19 umfassten die Rechte und Pflichten der Militärkommandanten u. a. die Konfiskation von Waffen, die Festnahme von Kriegsgefangenen, die Registrierung der Bevölkerung sowie die Gewährleistung der Arbeit von Verwaltung und Wirtschaft. Ferner waren die Militärkommandanten zur Beobachtung der politischen und wirtschaftlichen Lage, zur Sicherung von Eigentum und zur Repatriierung sowjetischer Staatsbürger verpflichtet. Zusammen mit 15 Grigorij M. Savenok, Venskie vstreči (Voennye memuary) [Wiener Begegnungen (Militärmemoiren)], Jaroslavl’1968, S. 35 f. Savenok fungierte 1945 in Wien als stellvertretender Stadtkommandant für den Politbereich. 16 Naimark, Russen in Deutschland, S. 23; Foitzik, SMAD, S. 155 f. 17 Foitzik, SMAD, S. 84. 18 Rauchensteiner, Krieg in Österreich, S. 491. 19 Text in Wagner, Besatzungszeit, S. 139–146. Zur Forschungsgeschichte ebd., S. 49.

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der Provisorischen Verordnung wurden die Befehle 1 und 2 des Ortskommandanten20 ausgegeben, worin der Bevölkerung die wichtigsten Bestimmungen mitgeteilt wurden. Einen Sonderfall unter den Kommandanturen stellte die Wiener Stadtkommandantur („Verwaltung des Militärkommandanten [des sowjetischen Sektors] von Wien“) dar.21 Der erste (provisorische) sowjetische Stadtkommandant Generalmajor Nikolaj G. Travnikov wurde im März 1945 von Tolbuchin und Želtov ernannt und am 12. April, kurz vor dem Ende der Schlacht um Wien, durch Generalleutnant Aleksej V. Blagodatov abgelöst.22 Gemäß den Planungen des Volkskommissariats für auswärtige Angelegenheiten (NKID) und dem am 4. Juli 1945 in der Europäischen Beratungskommission (EAC) unterzeichneten Abkommen über den alliierten Kontrollmechanismus für Österreich (1. Kontrollabkommen)23 sollte die Verwaltung von Wien – wie auch jene Berlins24 – von allen vier Alliierten gemeinsam durch eine Interalliierte Kommandantur geleitet und kontrolliert werden. Nach der Bildung einer provisorischen Stadtverwaltung und dem Einmarsch der Westmächte in ihre Sektoren im August 1945 reduzierte sich der Zuständigkeitsbereich des sowjetischen Stadtkommandanten somit auf die für alle Bezirke des sowjetischen Sektors gemeinsamen Fragen sowie die turnusmäßige Hoheit über den ersten Gemeindebezirk alle vier Monate. Zum Militär- und Kommandanturapparat kamen Sondereinheiten der verschiedenen sowjetischen Volkskommissariate (ab 1946 Ministerien), u. a. Truppen des Innen-Volkskommissariats (NKVD) zum Schutz des Hinterlandes (po ochrane tyla), die für die polizeiliche Sicherung des Operationsgebietes der jeweiligen Front verantwortlich waren, ferner Trophäenbataillone und Demontageeinheiten des Außenhandels-Volkskommissariats (NKVT), Mitarbeiter des Volkskommissariates für Staatssicherheit (NKGB) sowie die „Politische Gruppe“ des Außen-Volkskommissariats (NKID). Letztere bildete den Kern des sich etablierenden diplomatischen Apparates. An seiner Spitze standen der per Politbürobeschluss vom 7. April 1945 zum Politberater für Österreich-Angelegenheiten beim Kommandierenden der 3. Ukrainischen Front ernannte stellvertretende Außen-Volkskommissar Vladimir G. Dekanozov und sein Stellvertreter, der Leiter der 3. Europa-Abteilung des NKID Andrej A. Smirnov.25 Der Einsatz derart hochrangiger Politiker für 20 Text in Wilfried Aichinger, Sowjetische Österreichpolitik 1943–1945, Diss. Wien 1977, S. 420–422. 21 Manfried Rauchensteiner, Die Wiener Interalliierte Kommandantur 1945–1955. In: Jahrbuch des Vereins für Geschichte der Stadt Wien, 34 (1978), S. 390–422. 22 Savenok, Venskie vstreči, S. 35 f.; Wagner, Besatzungszeit, S. 44 f. 23 Text in Stephan Verosta, Die internationale Stellung Österreichs 1938 bis 1947, Wien 1947. 24 Georgij P. Kynin / Jochen Laufer (Hg.), SSSR i Germanskij vopros 1941–1949 [Die UdSSR und die deutsche Frage]. Dokumenty iz Archiva vnešnej politiki Rossijskoj Federacii, Band 1, Moskau 1996, S. 480–485, Dok. 103 f. 25 Tagesordnungspunkt 108 der Beschlüsse des Politbüros vom 7. 4.1945 (RGASPI, 17/3/1052/24). Vgl. Wagner, Besatzungszeit, S. 71 f.

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Besatzungsaufgaben war nicht außergewöhnlich.26 Zur Unterstützung Dekanozovs und Smirnovs wurde per Verordnung gleichen Datums des Rates der Volkskommissare die Politische Gruppe nach Österreich geschickt,27 die 15 Personen, u. a. den verantwortlichen Referenten Michail E. Koptelov und drei weitere Referenten aus der 3. Europa-Abteilung des NKID, vier Mitarbeiter von Dekanozovs Sekretariat und vier zuvor in Ungarn eingesetzte Angestellte des NKGB, umfasste.28 Als Aufgabengebiet der Politgruppe legte der NKID die „Führung in allen politischen und wirtschaftlichen Fragen, die aus der Besetzung Österreichs entstehen, und die Aufgaben der Wiedererrichtung eines unabhängigen österreichischen Staates in Zukunft“ fest.29 Gemeinsam mit den Spitzen der Politgruppe wurde vom ZK der VKP(B) Anfang April 1945 eine Gruppe führender österreichischer Kommunisten von Moskau nach Österreich entsandt.30

Phase 2: Von der Gründung der SČSKA bis zu ihrer Reform (Juli 1945 bis Mitte 1952) Das alliierte Kontrollabkommen vom 4. Juli 1945 sah die Errichtung eines vierseitigen Kontrollsystems, bestehend aus dem Alliierten Rat, gebildet von den vier Militärkommissaren = Oberkommandierenden, aus dem Exekutivkomitee und den von den vier alliierten Stäben gemeinsam besetzten Abteilungen der Alliierten Kommission vor.31 Der Alliierte Rat sollte die oberste Gewalt in allen Gesamt-Österreich betreffenden Fragen ausüben, in Fragen der einzelnen Zonen war jeder Oberkommandierende souverän. Die vier Militär- (ab 1946: Hoch-) -kommissare waren nicht nur Vertreter ihres Landes im Alliierten Rat, sondern auch Leiter ihres jeweiligen „Teiles“ oder „Elementes“ der Alliierten Kommission. Die Verbindung zwischen der Alliierten Kommission und den vier alliierten Militärapparaten bestand darin, dass die Ämter der Militär- bzw. Hochkommissare und der Oberkommandierenden von einer Person ausgeübt wurden.32 Die ebenfalls am 4. Juli 1945 vom Rat der Volkskommissare der UdSSR beschlossene Verordnung 1553–355s legte fest, dass bis zum 15. Juli 1945 der Sowjetische Teil der Alliierten Kommission für Österreich (SČSKA) zu schaf26 Vgl. den Einsatz des Ersten stellvertretenden Außen-Volkskommissars Andrej Ja. Vyšinskij als Politberater für Deutschland. 27 Verordnung (Postanovlenie) des Rates der Volkskommissare 690 vom 7. 4.1945 (GARF, R-5446/1/248/151). 28 Dekanozov an Molotov vom 6. 4.1945 (AVP RF, 06/7/26/325/10). 29 Entwurf der Direktive über die Aufgaben der Politischen Gruppe für Österreich ... (AVP RF, 06/7/26/325/4–9). 30 Ernst Fischer, Das Ende einer Illusion. Erinnerungen 1945–1955, Wien 1973, S. 19. 31 Text in Verosta, Die internationale Stellung Österreichs, S. 66–71. 32 Diese Personalunion bestand bei den Westmächten bis 1950, bei der Sowjetbesatzung bis 1953.

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fen sei.33 Der Name des sowjetischen Kontrollapparates entsprach jenem, der in den ursprünglichen Planungen des NKID für die entsprechende sowjetische Behörde in Deutschland vorgesehen gewesen war, jedoch später zugunsten der Schaffung einer „Sowjetischen Militäradministration in Deutschland“ fallen gelassen wurde.34 Die weiteren Punkte der Verordnung glichen weitgehend der einen Monat zuvor verabschiedeten Gründungsverordnung der SMAD. Der gravierendste Unterschied zwischen Deutschland und Österreich lag darin, dass in der sowjetischen Zone Österreichs bereits mit Duldung Stalins eine Provisorische Staatsregierung agierte, weshalb keine sowjetische Militäradministration von Nöten war. In den Verordnungen für die Besatzungsapparate wirkte sich dieser Umstand dadurch aus, dass die SMAD zur „Kontrolle der Erfüllung der Bestimmungen der bedingungslosen Kapitulation durch Deutschland und Verwaltung der sowjetischen Besatzungszone in Deutschland“ errichtet wurde,35 wohingegen die Aufgabe der SČSKA lautete: „Verwaltung der sowjetischen Besatzungszone Österreichs und Durchführung der Kontrolle der Tätigkeit der österreichischen Behörden“.36 Die SČSKA sollte 343 Planstellen umfassen und sich in folgende Einheiten gliedern: Kommando, Stab des sowjetischen Vertreters im Exekutivkomitee; ferner die im Ersten Kontrollabkommen für die Alliierte Kommission vorgesehenen zwölf Fachabteilungen für Politik, Militär, Militärluftfahrt, Kriegsmarine, Wirtschaft, Inneres, Finanzen, Rechtsfragen, Reparationen und Lieferungen, Arbeitskräfte, Kriegsgefangene und versetzte Personen sowie für Transport.37 Weiterhin bestanden eine Kommunikations- und eine Sanitätsabteilung und die „Bevollmächtigten Vertreter des Militärkommissars in der sowjetischen Besatzungszone (an der Peripherie)“. Das Kommando der SČSKA setzte sich laut Verordnung 1945 aus drei Offizieren und zwei Diplomaten zusammen: dem Militär- (ab 1946 Hoch-) -kommissar,38 gleichzeitig sowjetischer Vertreter im Alliierten Rat und Oberkommandierender der sowjetischen Streitkräfte in Österreich; seinem Stellvertreter, 33 Verordnung (Postanovlenie) des Rates der Volkskommissare 1553–355s „Über die Schaffung des Sowjetischen Teils der Alliierten Kommission für Österreich“, gez. Molotov und Čadaev, vom 4. 7.1945, sowie Bestimmung (Položenie) über den Sowjetischen Teil der Alliierten Kommission für Österreich (CAMORF, 275/20996ss/1/23–26). 34 Aleksej M. Filitov, V komissijach Narkomindela ... [In den Kommissionen des AußenVolkskommissariates ...]. In: O. A. Ržeševskij (Hg.), Vtoraja mirovaja vojna. Aktual’nye problemy, Moskau 1995, S. 54–71, hier 66 f. Text in Kynin/Laufer (Hg.), SSSR i Germanskij vopros, Band 2, Moskau 2000, S. 134 ff. 35 Text in Bitva za Berlin. Krasnaja Armija v poveržennoj Germanii. Dokumenty i materialy [Die Schlacht um Berlin. Die Rote Armee im besiegten Deutschland. Dokumente und Materialien]. Velikaja Otečestvennaja, Band XV, Moskau 1995, S. 408–411. Ich danke Dr. Jan Foitzik für die Einsichtnahme. 36 Verordnung (Postanovlenie) des Rates der Volkskommissare 1553–355s vom 4. 7.1945 (CAMORF, 275/20996ss/1/23–26). 37 Das Erste Kontrollabkommen sah zusätzlich eine Abteilung für Restitution vor. 38 Im Original: Voennyj komissar. Die Bezeichnung „Hochkommissar“ (Verchovnyj komissar) wurde erst durch das Zweite Kontrollabkommen vom 28. 6.1946 eingeführt.

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gleichzeitig sowjetischer Repräsentant im Exekutivkomitee; dem Stabschef, dem Politberater und dessen Stellvertreter. In weiterer Folge kamen als Mitglieder des Kommandos hinzu: der stellvertretende Stabschef, der stellvertretende Stabschef für administrative Fragen, der Gehilfe (Assistent) des Hochkommissars, der Kommandant im sowjetischen Sektor Wiens sowie später der Gehilfe (ab 1952: stellvertretende Hochkommissar) für Wirtschaftsfragen und der Gehilfe (ab 1952: stellvertretende Hochkommissar) für die Arbeit in der sowjetischen Besatzungszone mit Zuständigkeit für die Demokratisierung und Demilitarisierung der sowjetischen Besatzungszone und die Leitung der Arbeit der Bevollmächtigten des Hochkommissars in den Bundesländern. Der sowjetische Militär- bzw. Hochkommissar war für „die Verwirklichung des Besatzungsregimes in der sowjetischen Besatzungszone in Österreich und die Kontrolle der Ausführung der Anweisungen und Direktiven der Alliierten Kommission durch alle österreichischen Behörden“ verantwortlich.39 Er war direkt der Regierung der UdSSR unterstellt und ihm oblagen die Ausführung der politischen Linie der Regierung der UdSSR in Österreich sowie die Führung von allen Einrichtungen und Unternehmen der Sowjetunion in Österreich mit Ausnahme der Politischen Vertretung der UdSSR bei der Regierung Österreichs. Der Militär- bzw. Hochkommissar war verpflichtet, an den Sitzungen des Alliierten Rates teilzunehmen und ihnen gemäß festgelegter Reihenfolge zu präsidieren, seine Beschlüsse „in Übereinstimmung mit den Anweisungen der Sowjetischen Regierung“ zu fassen und mit den anderen Alliierten „Informationen über die Direktiven an die österreichischen Behörden zum Ziel der Sicherstellung der Abstimmung der Handlungen auszutauschen“.40 Die Abteilungen der SČSKA standen unter seiner Führung und der seines Stellvertreters. Als erster sowjetischer Militärkommissar in Österreich und Oberkommandierender der Zentralen Heeresgruppe fungierte von Juli 1945 bis April 1946 Marschall Ivan S. Konev. Seine Nachfolger waren von Mai 1946 bis April 1949 Generaloberst Vladimir V. Kurasov, der zuvor Erfahrungen als Stabschef der SMAD gesammelt hatte, und von Mai 1949 bis Juni 1953 Generalleutnant Vladimir P. Sviridov, ehemals stellvertretender Vorsitzender der Alliierten Kontrollkommission für Ungarn. Der stellvertretende Militär- bzw. Hochkommissar fungierte als sowjetischer Repräsentant im Alliierten Exekutivkomitee und war befugt, seinen Vorgesetzten im Alliierten Rat zu vertreten. Der erste Amtsinhaber Generaloberst Aleksej S. Želtov wurde von Zeitgenossen und Historikern völlig zutreffend eingeschätzt, wenn sie ihn als „sehr versierten Politiker in Uniform“ bzw. als „Mann, der die Politik maßgeblich zu steuern hatte,“41 bezeichneten. Ihm folgten von 39 Verordnung (Postanovlenie) des Rates der Volkskommissare 1553–355s vom 4. 7.1945 (CAMORF, 275/20996ss/1/23–26). 40 Ebd. 41 Oskar Helmer, 50 Jahre erlebte Geschichte, Wien 1957, S. 341; Rauchensteiner, Sonderfall, S. 173.

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Juli 1950 bis August 1951 Generalmajor Georgij K. Cinëv, zuvor Stabschef der SČSKA, sowie anschließend Generalmajor Viktor M. Kraskevič nach. Der Politische Berater war der ranghöchste Vertreter des NKID im Besatzungsapparat und in erster Linie zuständig für internationale und außenpolitische Fragen sowie für die Kontakte zu den Regierungsorganen Österreichs. In den ursprünglichen Planungen zum Besatzungsapparat in Deutschland hatte der NKID erwogen, den Politberater nicht dem Hochkommissar zu unterstellen, sondern ihn als Bevollmächtigten des Rates der Volkskommissare im Range eines stellvertretenden Volkskommissars praktisch mit der politischen Gesamtleitung der Besatzungspolitik und allen politischen Kompetenzen, darunter innenpolitische und internationale Fragen, Zensur und Nachrichtendienst, auszustatten.42 Nach der Ablöse Dekanozovs und der Anfang Juni erfolgten Ernennung von Evgenij D. Kiselëv zum Politberater in Österreich durch eine Verordnung des Rates der Volkskommissare43 konnte von einem vom Hochkommissar unabhängig agierenden Politberater allerdings keine Rede mehr sein.44 In den Bestimmungen der SČSKA lautete der entsprechende Absatz: „Beim sowjetischen Militärkommissar besteht ein Politischer Berater, dem die Verpflichtung auferlegt wird, dem sowjetischen Militärkommissar Vorschläge und Gutachten zu allen Fragen politischen Charakters, darunter alle außenpolitischen Fragen, vorzulegen, sowie im Einvernehmen mit dem sowjetischen Militärkommissar der sowjetischen Regierung Information über die Lage in Österreich und seine Vorschläge zu allen die Kompetenz des Sowjetischen Teils der Alliierten Kommission für Österreich betreffenden Fragen vorzulegen. Der Politische Berater führt die Gesamtleitung der Arbeit der Politischen Abteilung [der SČSKA] durch.“45 Im Unterschied zu den früheren Planungen des NKID fungierte der Politberater somit nun als eine Art politischer Assistent des Militär- bzw. Hochkommissars, dem er „Vorschläge und Gutachten“ vorzulegen hatte. Dekanozov wies Kiselëv eigens darauf hin, dass er den Anweisungen Marschall Konevs zu folgen habe.46 Dies entsprach etwa der Regelung des Verhältnisses zwischen Politberater und Oberkommandierendem auf Seite der Westmächte.47 Trotz dieser Einschränkung verfügte der Politberater als ranghöchster sowjetischer Diplomat in Österreich insbesondere durch seine Kompetenz, Entwürfe und Vorschläge für außenpolitische Dokumente und Erklärungen zu formulieren, sowie durch den „besonders kurzen Amtsweg“48 sowohl zum Außenministerium als auch zum ZK-Apparat über wichtige politische Einflussmöglichkeiten. Von 42 Filitov, V komissijach, S. 56 f. 43 Verordnung des Rates der Volkskommissare 1296–298s vom 5. 6.1945 (GARF, R5446/1/254/20a). 44 Vgl. in Deutschland die Ablöse Vyšinskijs durch den rangmäßig niedriger stehenden Arkadij A. Sobolëv. 45 Verordnung des Rates der Volkskommissare 1553–355s vom 4. 7.1945 (CAMORF, 275/20996ss/1/23–26). 46 Telephonogramm Dekanozov an Kiselëv vom 15. 7.1945 (AVP RF, 06/7/26/321/36). 47 Stettinius an US Political Adviser on Austrian Affairs Erhardt vom 3. 4.1945. In: FRUS 1945, Band III, S. 36 ff. 48 Foitzik, SMAD, S. 275.

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1946 bis 1953 fungierte der Politberater der SČSKA gleichzeitig als Politischer Vertreter der UdSSR bei der österreichischen Bundesregierung. Während der Politberater als Organ der SČSKA aber dem Militär- bzw. Hochkommissar unterstand, war er in seiner Funktion als Politischer Vertreter der UdSSR in Österreich lediglich dem Außenministerium unterstellt. 1953 wurde das Amt des Politischen Vertreters zu dem eines Botschafters aufgewertet und seither vom (nunmehr zivilen) Hochkommissar ausgeübt.49 Die Politberater der Sowjetbesatzung in Österreich waren Karrierediplomaten. Dekanozov und Smirnov stammten aus dem Zentralapparat des NKID, Kiselëv, seine Nachfolger Koptelov (1948–51) und Sergej M. Kudrjavcev (1951– 55) aus dem Konsulardienst im Ausland.50 Kiselëv und Koptelov traten im Alter von 29 bzw. 32 Jahren in den diplomatischen Dienst ein. Kiselëv war 1940/41 (General-)Konsul in Königsberg, Koptelov in Danzig und danach kurzfristig in Wien. 1945 wurden beide im Rang von Gesandten nach Wien versetzt, wo Kiselëv zusätzlich die Funktion eines Politischen Vertreters der UdSSR bei der österreichischen Bundesregierung übernahm. 1948 wurde Kiselëv in den Zentralapparat des Außenministeriums versetzt, und Koptelov rückte auf dessen Posten nach. 1951 wurde er nach Moskau zurückberufen und zum stellvertretenden Leiter der 3. Europa-Abteilung ernannt. Er löste in diesem Amt Sergej M. Kudrjavcev ab, der 1946 als Gehilfe des Politberaters der SMAD, danach in der 3. Europa-Abteilung gearbeitet hatte und 1951 bis 1953 als Politberater und ab 1953 als stellvertretender Hochkommissar in Wien fungierte. Nach zwei weiteren Jahren als Gesandter in der BRD, kehrte Kudrjavcev 1957 als Leiter in die 3. Europa-Abteilung zurück.51 Die Kommunikation zwischen der Sowjetbesatzung in Österreich und der politischen Führung in Moskau erfolgte durch schriftliche Berichte und Informationen der SČSKA an das ZK sowie andere Zentralbehörden, vornehmlich das Außenministerium, sowie durch ebenfalls schriftliche Anweisungen dieser Stellen. Die Besatzungsführung und die Moskauer Zentrale kommunizierten in der Regel durch Chiffretelegramme „VČ“ (vysoko častotnaja). Telegramme von der Sowjetbesatzung nach Moskau an den Rat der Volkskommissare (ab 1946: Ministerrat) oder das Politbüro mussten, um Gültigkeit zu besitzen, gemeinsam vom Hochkommissar und vom Politberater bzw. von deren Stellvertretern unterzeichnet sein.52 Die Kommunikation war regelmäßig, wie die Telephonogramme zwischen dem Politberater und Außenministerium zeigen. Auch Anrufe des Hochkommissars bei Stalin werden erwähnt.53 49 Siehe unten. 50 Who was who in the USSR. Hg. von Heinrich Schulz, Paul Urban und Andrew Lebed, Metuchen 1972, S. 279 und 295. 51 Edward Crowley (Hg.), The Soviet Diplomatic Corps, 1917–1967, Metuchen 1970, S. 97 und 112. 52 Vgl. Foitzik, SMAD, S. 255. 53 Nikolaj M. Lun’kov, Vena – kakoj ona byla v sorok pjatom (Glazami očevidca) [Wien – wie es war 1945 (Mit den Augen eines Zeitzeugen)]. In: Diplomaty vospominajut, Moskau 1997, S. 78–91, hier 87.

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Der Handlungsspielraum des SČSKA-Kommandos im Rahmen der Definition der sowjetischen Besatzungspolitik ist nicht eindeutig abzugrenzen. Zusätzlich erschwert wird die Einschätzung durch den Umstand, dass die unmittelbar nach dem Krieg fungierenden sowjetischen Oberkommandierenden offenbar größere Gestaltungsspielräume besaßen als ihre Nachfolger.54 Grundsätzlich war der Militär- bzw. Hochkommissar der sowjetischen Regierung (Rat der Volkskommissare, ab 1946 Ministerrat) unterstellt, die in allen grundsätzlichen Fragen die Entscheidungen zu treffen hatte. Eine klare Kompetenztrennung in dem Sinne, dass der Hochkommissar in Fragen des sowjetischen Standpunktes im Alliierten Rat durch Regierungs- oder Politbürobeschlüsse gelenkt wurde, alle Angelegenheiten seiner Zone jedoch autonom entschied, ist aber nicht durchgehend feststellbar. So ging die Initiative in interalliierten Fragen oft vom Hochkommissar statt von der sowjetischen Regierung aus, andererseits wurde diese vom Hochkommissar auch in wichtigen Fragen der Zone konsultiert. Militärkommissar Konev sandte beispielsweise nicht nur die Entwürfe für vierseitige Vereinbarungen, sondern auch für Befehle mit großer Tragweite und außenpolitischer Relevanz zur Begutachtung an das Außenministerium, das wiederum für die Abstimmung mit den anderen interessierten Ministerien sorgte. Das entsprach einer weit verbreiteten Praxis der Rückversicherung.55 Andere Entscheidungen, etwa über die Freigabe von beschlagnahmten Gebäuden, die Beseitigung der sowjetischen Einmischung in österreichische Zivilrechtsverfahren und sogar die Aufhebung der Kontrolle an den Demarkationslinien, konnte der Hochkommissar kraft seines Amtes autonom fällen.56 Im Alliierten Rat hatten der sowjetische Vertreter und die Führung der SČSKA den Instruktionen der Moskauer Zentrale folgen. Diese Anweisungen waren sehr konkret. Erklärungen des sowjetischen Hochkommissars mussten vorher vom Politbüro bestätigt werden. Äußere Beobachter des Kontrollrats in Deutschland gewannen den Eindruck, dass das sowjetische Mitglied nur selten Beschlüsse ohne Rücksprache mit Moskau fasste, und sämtliche wichtigen Entscheidungen in Moskau getroffen und durch den sowjetischen Vertreter im Kontrollrat lediglich wiedergegeben wurden.57 Dennoch kam es zu Fällen von eigenmächtigen Entscheidungen bei Abstimmungen im Alliierten Rat bzw. Kompetenzüberschreitungen der sowjetischen Besatzungsführung: Als z. B. Generaloberst Želtov in Vertretung von Hochkommissar Kurasov im Alliierten Rat am 3. Dezember 1946 der Festsetzung der Besatzungskosten für 1947 im Ausmaß von 15 Prozent des Budgets Österreichs gegenüber 35 Prozent im Jahr 54 Dies galt für Žukov in Deutschland ebenso wie für Konev. Vgl. Foitzik, SMAD, S. 125. 55 Foitzik, SMAD, S. 246 und 307. 56 Begleitbrief Koptelov und Gribanov an Vyšinskij vom 30. 3.1950, und „Die Position des Sowjetischen Elements der Alliierten Kommission für Österreich zu den in deren Note vom 7. März 1950 dargelegten Vorschlägen der österreichischen Regierung“ vom 30. 3.1950 (AVP RF, 07/23a/7/65/28–34). 57 Gunther Mai, Der Alliierte Kontrollrat in Deutschland 1945–1948, München 1995, S. 54.

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1946 zustimmte, besaß er, wie Smirnov an Molotov meldete, „nicht nur keine Erlaubnis [des Außenministeriums] zur Annahme eines solchen Beschlusses, sondern war sogar gewarnt worden, seine Meinung in der Frage der Besatzungskosten bis zum Erhalt von Anweisungen aus Moskau auszusprechen“.58 Angesichts der Differenz zwischen den veranschlagten sowjetischen Besatzungskosten für 1947 in Höhe von 533 Mio. Schilling und dem österreichischen Beitrag von 135 Mio. werde daher eine Truppenreduzierung nötig sein. Smirnov schloss mit dem Hinweis, „dass der Politische Berater in Österreich, Genosse Kiselëv, Genossen Želtov nicht rechtzeitig vor der Annahme dieses für uns überaus ungünstigen Beschlusses warnte“ und dass der stellvertretende Ministerratsvorsitzende Aleksej N. Kosygin daher vorschlage, Želtov und Kiselëv „zur Abgabe von Erklärungen“ nach Moskau zurückzurufen. Dennoch scheint die Affäre zu keinen schweren Sanktionen geführt zu haben, denn Želtov blieb bis Juli 1950 in seinem Amt. Unklar war aber offenbar nicht nur, welche Fragen der Hochkommissar selbst entscheiden durfte und in welchen er die sowjetischen Zentralbehörden zu befragen hatte, sondern auch, welche dieser Zentralbehörden konsultiert werden mussten. Dies führte insbesondere in den ersten Besatzungsmonaten zu internen Konflikten – namentlich zwischen Militär und Diplomaten. Selbstverständlich war durch die hohen Offiziere in der Leitung der SČSKA strukturell ein beträchtlicher Einfluss der Armee bzw. des Verteidigungsressorts angelegt, doch waren bei politischen Entscheidungen generell auch die anderen interessierten Regierungsressorts hinzuzuziehen, was offenbar nicht immer berücksichtigt wurde. So dürften Konev und Želtov anfangs ignoriert haben, dass in politischen Fragen stets das Außenministerium konsultiert werden musste. Darüber schrieb Kiselëv im August 1945 an Dekanozov: „Zu prinzipiellen Fragen ist es mir gelungen, rasch gemeinsame Beschlüsse zu erzielen, und im Allgemeinen gibt es keine sachlichen Meinungsverschiedenheiten. Aber manchmal muss man auf von unserem außenpolitischen Standpunkt so elementare Regeln und Normen hinweisen, dass man davon ein wahres Wunder erleben kann. Wie nicht anders zu erwarten, betrifft dies hauptsächlich die Frage der Abstimmung und des Erhalts der Zustimmung der Führung des NKID in einer Reihe von Fragen und Entscheidungen.“59 Kiselëv führte die Probleme darauf zurück, dass der Apparat der Alliierten Kommission „hauptsächlich militärisch“ sei und „sogar bei der Führung (Gen. Želtov) nicht immer ein klares Verständnis der Rolle des NKID in unserer Führung in allen prinzipiellen Fragen vorhanden ist“. Offenbar hoffte Kiselëv auf ein besseres Verständnis bei Marschall Konev, doch dieser sei „schwer krank und auch beschäftigt, da er die Verwaltung einer riesigen Zone von Truppen innehat“.60 Die Probleme zwischen Politberater und stellvertretendem Hochkommissar dürften längere Zeit nicht aus dem Weg 58 Smirnov an Molotov, o. D. (AVP RF, 06/8/22/314/11). 59 Kiselëv an Dekanozov vom 7. 8.1945 (AVP RF, 06/7/26/322/16 f.). 60 Ebd.

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geräumt worden sein, denn Ende November beklagte der Mitarbeiter der Politabteilung N. M. Lun’kov in einem Brief an Dekanozov, dass Želtov die wiederholten Aufforderungen Kiselëvs, Sitzungsprotokolle des Alliierten Rates regelmäßig an den NKID zu senden, geflissentlich ignoriere.61 Noch im Jahr 1948 stellte der Abschlussbericht einer eigens nach Österreich entsandten ZK-Prüfungskommission fest, dass Želtov keinen sachlichen Kontakt zum Politberater herzustellen vermocht habe, sondern statt dessen of unnötige Kompetenzstreitigkeiten Platz griffen, worunter insbesondere die politische Arbeit der SČSKA leide.62 Das Kommando der SČSKA war nicht nur mit der Vertretung der sowjetischen Regierung im Alliierten Rat und der Verwaltung der Zone betraut, sondern auch mit der Aufsicht und Führung über die Abteilungen des Sowjetischen Teils der Alliierten Kommission und weitere Funktionseinheiten. Diese Führung und Aufsicht erfolgte mit Hilfe des Stabes, dem die „Vorbereitung des so genannten Führungsbeschlusses, dessen Umsetzung in Befehle und Anordnungen sowie die Überwachung ihrer Durchführung einschließlich der Koordination der beteiligten Einheiten oblag“.63 Der Stabschef war für die „Koordination und technische Organisation“ der Arbeitsabläufe in den einzelnen Abteilungen verantwortlich. Die Struktur der Fachabteilungen der SČSKA war durch den Aufbau der Alliierten Kommission und das Kontrollabkommen im Großen und Ganzen vorgegeben, ihre Neugründung bzw. Auflösung folgte somit weitgehend den entsprechenden interalliierten Vereinbarungen: So wurden nach dem Zweiten Kontrollabkommen 1946 die Restitutions- und Reparationsabteilungen zusammengefasst, die Arbeitsabteilung aufgelöst und statt dessen eine Sozialabteilung gegründet.64 Die 1945 gegründeten Marine- und Luftfahrtabteilungen gingen in der Militärabteilung auf. Eine Aufstellung aus dem Jahre 1948 nennt folgende Abteilungen: 1. Politik, 2. Militär, 3. Transport, 4. Wirtschaft, 5. Finanzen, 6. Kriegsgefangene und versetzte Personen, 7. Reparationen, Lieferungen, Restitutionen, 8. Inneres, 9. Kommunikationszensur, 10. Recht, 11. Sowjetischer Teil des Alliierten Sekretariates, 12. Propaganda.65 Die Propagandaabteilung war – abseits der Alliierten Kommission – bereits am 13. Oktober 1945 per Verordnung des Rates der Volkskommissare 2616–710s geschaffen worden.66 61 Lun’kov an Dekanozov vom 24.11.1945 (AVP RF, 06/7/26/324/20–21). 62 Bericht der Kommission des ZK der VKP(B) „Über den Zustand der sowjetischen Propaganda in Österreich“, o. D. (RGASPI). Text in Sowjetische Politik in Österreich 1945– 1955. Dokumente aus russischen Archiven. Sovetskaja Politika v Avstrii 1945–1955gg. Dokumenty iz Rossijskich archivov. Hg. von Wolfgang Mueller, Arnold Suppan, Norman M. Naimark und Gennadij Bordjugov, Wien 2005, S. 494–507, hier 505. 63 Foitzik, SMAD, S. 111 f. 64 Rauchensteiner, Sonderfall, S. 117. 65 Struktur und Zusammensetzung der SČSKA zum Stand vom 15.11.1948 (AVP RF, 066/29/139/46/36–46). 66 Leiter der Propagandaabteilung SČSKA Dubrovickij, „Über die Arbeit der Propagandaabteilung der SČSK in Österreich 1946 und im 1. Quartal 1947“ (RGASPI, 17/128/ 299/1–64). Vgl. den Entwurf der Verordnung (AVP RF, 06/7/26/321/41 f.).

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Die größten Abteilungen waren jene für Propaganda, die 1952 gemeinsam mit der Redaktion des Besatzungsorgans „Österreichische Zeitung“ 115 sowjetische Mitarbeiter beschäftigte (81 für Propaganda und 34 in der Redaktion), die Wirtschaftsabteilung mit 40 Angestellten und der Apparat des Politberaters mit 30 Mitarbeitern.67 Trotz der mannigfachen Wucherungen und Umstrukturierungen des Apparates und im Unterschied zu Deutschland, wo im Kontrollrat 1945 das vierfache der ursprünglich vorgesehenen 101 Mitarbeiter und im Apparat des Oberkommandierenden sogar 4670 statt der geplanten 125 Stellen, in der SMAD aber 1946 bereits fast 50 000 Menschen eingesetzt wurden,68 dürfte die Gesamtzahl der sowjetischen Mitarbeiter der SČSKA relativ konstant geblieben sein. Anfang 1952 waren laut aktuellem Stellenplan 339 Mitarbeiter im Zentralapparat des Sowjetteils der Alliierten Kommission (ohne Kommandanturen) beschäftigt, davon 251 Offiziere, 22 Unteroffiziere und 66 Zivilisten. Dem weitgehend konstanten sowjetischen Personal stand insbesondere im zentralen und peripheren Propagandaapparat eine wachsende Anzahl österreichischer Mitarbeiter gegenüber, die jene der sowjetischen Offiziere und Angestellten um ein Vielfaches überstieg. 1949 beschäftigte die Propagandaabteilung 1 521 ständige und 2 650 temporäre österreichische Mitarbeiter.69 Entsandt wurden die sowjetischen Mitarbeiter der verschiedenen Abteilungen der SČSKA von den entsprechenden Volkskommissariaten (Fachministerien) und Zentralbehörden der UdSSR, so bestimmte z. B. der NKID die Angehörigen der Politabteilung und den Politberater, das Volkskommissariat für Außenhandel die der Wirtschaftsabteilung, der Volkskommissar für Verteidigung jene des Stabes und der Militärabteilung etc. Die Nominierung der höchsten Besatzungsoffiziere oblag dem Verteidigungsressort, doch dürfte der NKID etwa bei der Ernennung des stellvertretenden Militärkommissars 1945 auf Bitte Kiselëvs zugunsten Želtovs interveniert und so auf die Frage entscheidend eingewirkt haben.70 Der NKVD hatte das Personal der Innenabteilung sowie eine Division von Inlandstruppen zum Schutz der Einrichtungen, des Personals der SČSKA und der Maßnahmen der Alliierten Kommission zur Verfügung zu stellen. Insgesamt bildete die SČSKA eine dominant militärische Bürokratie (1945: 284 Militärangehörige und 59 Zivilisten, 1952: 237 Militärangehörige und 66 Zivilisten). Verstärkt wurde der militärische Charakter dadurch, dass 67 Vergleichstabelle des [...] Personals der SČSKA, o. D. (1952). (GARF, R-5446/86a/ 708/3 f.). 68 Foitzik, SMAD, S. 46; Naimark, Russen in Deutschland, S. 33. Vorošilov rechnete im September 1944 mit „mindestens 130 Personen“ als Personal für den Oberkommandierenden, mindestens 100 sowjetischen Offizieren in der Kontrollkommission und ca. 50 in der Interalliierten Kommandantur Berlins. Vorošilov an Stalin vom 22. 9.1944. Text in Kynin/Laufer (Hg.), SSSR i Germanskij vopros, Band 1, S. 537–544, Dok. 125. 69 Die Verwendung der österreichischen Demokraten in der Propaganda unter der österreichischen Bevölkerung vom 25. 2.1949 (RGASPI, 17/128/501/146). 70 Wagner, Besatzungszeit, S. 72 f.

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der sowjetische Militärkommissar (ab 1946 Hochkommissar) als Oberkommandierender der in Österreich stationierten Truppen fungierte. Neben der SČSKA und dem Kommandanturapparat bestanden in Österreich mehrere nachgeordnete sowjetische Institutionen und Unternehmen hauptsächlich wirtschaftlichen Charakters. Nachdem im Sommer 1945 das sowjetische Projekt einer bilateralen sowjetisch-österreichischen Erdölgesellschaft „Sanafta“ am amerikanischen und österreichischen Widerstand gescheitert war,71 wurde im September 1945 auf Befehl Marschall Konevs die Sowjetische Mineralölverwaltung (SMV bzw. Sovetskoe neftjannoe upravlenie, SNU) gegründet. Außer den Erdölvorkommen wurden bis Anfang 1946 von der Sowjetbesatzung über 200 Groß- und Mittelbetriebe beschlagnahmt, 57 597 Fabrikanlagen in die Sowjetunion abtransportiert und Ansprüche auf 60 Unternehmen mit einem Gesamtkapital von über 301 Mio. RM formuliert.72 Im März 1946 erfolgte die Gründung der Verwaltung des Sowjeteigentums in Österreich (Upravlenie sovetskim imuščestvom v Avstrii, USIA) mit 280 Mitarbeitern auf der Basis der Trophäenverwaltung beim Oberkommandierenden der Zentralen Heeresgruppe zur Verwaltung der von sowjetischer Seite als „deutsches Eigentum“ beschlagnahmten Unternehmen in Österreich.73 Die Initiative dazu war ebenfalls von Konev ausgegangen, der Mitte Dezember 1945 in einem Schreiben an Molotov darauf hingewiesen hatte, dass sich in Österreich noch weitere Anlagen befänden, die laut Potsdamer Beschlüssen als „deutsches Eigentum“ in den sowjetischen Besitz übergehen sollten. Angesichts von „Tendenzen seitens einzelner Staatsbürger Österreichs, Firmen und sogar Organe der österreichischen Provisorischen Regierung, das genannte Eigentum zu ihrem Vorteil zu verwenden,“ hatte Konev die unverzügliche Übernahme der Unternehmen in sowjetische Verwaltung empfohlen und den Entwurf eines entsprechenden Befehls „über die Erfassung des [deutschen] Eigentums in Österreich und die Herstellung der Kontrolle darüber“ vorgelegt.74 Die USIA wurde als Tochtergesellschaft der Hauptverwaltung des Sowjeteigentums im Ausland (Glavnoe upravlenie sovetskim imuščestvom zagranicej, GUSIMZ) mit Sitz in Moskau gegründet, die außerdem Unternehmen in Osteuropa und Finnland verwaltete. Die USIA setzte sich aus einem Zentralapparat mit Leitung, Kaderabteilung, Planwirtschaftsabteilung, Hauptbuchhaltung und Rechtsabteilung sowie zehn als Aktiengesellschaften organisierten Unterabteilungen zusammen, in denen mehrere Betriebe jeweils einer Produktionssparte zusammengefasst waren: „Marten“ („Martin-Stahl“: 16 Betriebe, Stahlund metallverarbeitende Industrie, Kohleförderung), „Pod”ëmnik“ („Kran“: 71 Rauchensteiner, Sonderfall, S. 115 f. 72 Smirnov und Kiselëv an Molotov vom 5. 2.1946: „Über die Lage der deutschen Aktiva in Ost-Österreich“ (AVP RF, 06/8/22/317/1–4). 73 Molotov und Mikojan an Stalin, o. D., und Verordnung (Postanovlenie) des Ministerrates der UdSSR „Über die Verwaltung des sowjetischen Eigentums in Ost-Österreich“ [Entwurf] (AVP RF, 06/8/22/312/13–16). 74 Konev an Molotov vom 14.12.1945 (AVP RF, 06/726/322/100 f.).

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32 Betriebe, Kran- und Maschinenbau), „Avtovelo“ („Auto-Fahrrad“: 15 Betriebe mit Tochtergesellschaften, Auto- und Motorenreparatur), „Cement“ (20 Betriebe, Bau-, Glas-, Keramik-, Tischlereiindustrie), „Kraska“ („Farbe“: 18 Betriebe mit Tochtergesellschaften, Farben- und Chemische Industrie), „Kabel’“ (14 Betriebe mit Tochtergesellschaften, Elektroindustrie), „Vkus“ („Geschmack“: 9 Betriebe, Nahrungs- und Genussmittelproduktion), „Tekstil’“ (18 Betriebe, Textil-, Leder-, Kunststoffindustrie), „Les“ (Holzindustrie) sowie Land- und Forstwirtschaft. Der USIA unterstanden außerdem: die DonauDampfschifffahrtsgesellschaft (DDSG), das Speditionsunternehmen „Južvneštrans“ sowie die SNU. Direkt der Handelsvertretung der UdSSR in Österreich unterstellt waren die gemeinsame sowjetisch-österreichische AG „Internationales Buch“ („Mežkniga“), die Unterabteilung „Sowexportfilm“ in Österreich sowie die AG für den Vertrieb von Erdölprodukten „Österreichisch-russische ÖlProdukte“ (OROP).75

Phase 3: Von der Reform bis zur Ernennung des zivilen Hochkommissars (1952 bis Juni 1953) 1952 wurden die SČSKA und der Kommandanturapparat in Österreich einer grundlegenden Reform unterzogen. Dabei wurden die Gebietskommandanturen für Niederösterreich, das nördliche Oberösterreich und das Burgenland aufgelöst, ihre Aufgaben und Planstellen wurden den drei Apparaten der dadurch aufgewerteten Bevollmächtigten des Hochkommissars in den entsprechenden Bundesländern zugeschlagen.76 Weiterhin wurde die Zahl der Kreiskommandanturen auf 31 und ihr Personal auf jeweils mindestens 7 Mann erhöht.77 Die Kreiskommandanturen wurden in den Apparat der SČSKA eingegliedert und dem Hochkommissar direkt unterstellt. Durch die Eingliederung der Kommandanturen stieg der Personalstand der SČSKA auf 1 019 Planstellen an (383 Mitarbeiter der SČSKA und 636 Mitarbeiter der eingegliederten Kommandanturen, davon 294 Offiziere, 40 Zivilisten und 302 Unteroffiziere).78 Die 75 Struktur und Zusammensetzung der SČSKA zum Stand vom 15.11.1948 (AVP RF, 066/29/139/46/36–46). Zur USIA vgl. Otto Klambauer, Die USIA-Betriebe, Diss. Wien 1978. 76 Verordnung (Postanovlenie) des Ministerrates der UdSSR 986-317s vom 20. Februar 1952 (GARF, R-5446/86a/708/57 f.). Text in Sowjetische Politik in Österreich, S. 778– 789. Zu Hintergrund und Konsequenzen der Reform: Mueller, Die sowjetische Besatzung, S. 60 und 67–69. Manfried Rauchensteiner, Die Zwei. Die Große Koalition in Österreich 1945–1966, Wien 1987, S. 212, gibt an, dass mit 12. September 1953 die Gebiets-/Landeskommandantur für Niederösterreich in „Amt des Vertreters des Hochkommissars der UdSSR in Niederösterreich“ umbenannt wurde. 77 Vasilevskij und Gromyko an Ministerratspräsidium vom 15./16.1.1952; Vergleichstabelle über das Kommandanturpersonal (GARF, R-5446/86a/708/54–56 und 1 f.). 78 Vergleichstabelle über das Kommandanturpersonal, o. D. (GARF, R-5446/86a/ 708/1 f.).

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Abteilung zur Leitung der Militärkommandanturen und auch die Politabteilungen wurden abgeschafft. Den Hintergrund für die Umstrukturierung und Unterstellung der Kommandanturen unter die SČSKA dürfte der Versuch gebildet haben, die Kompetenzunklarheiten, -überschneidungen und Doppelgleisigkeiten zwischen dem Sowjetteil und dem Kommandanturapparat zu beseitigen und den Besatzungsapparat politisch schlagkräftiger zu machen.

Phase 4: Der überwiegend zivile Apparat des Hochkommissars für Österreich (Juni 1953 bis Oktober 1955) 1953/54 wurde der sowjetische Apparat einer zweiten grundlegenden Reform unterzogen. Den Kern dieser Reform bildete die Ernennung des Diplomaten Ivan I. Il’ičëv zum ersten zivilen Hochkommissar der UdSSR in Österreich am 26. Juni 1953. Die Westmächte hatten schon 1950 zivile Hochkommissare entsandt.79 Il’ičëv, ehemaliger leitender Mitarbeiter der Militäraufklärung, seit 1948 im diplomatischen Dienst und 1949 Erster stellvertretender Politberater in Deutschland,80 übernahm auch das Amt eines sowjetischen Botschafters in Österreich. Damit verbunden war eine Umstellung der militärischen auf eine zivile Bürokratie. Die SČSKA wurde restrukturiert und in „Apparat des Hochkommissars der UdSSR in Österreich“ (Apparat verchovnogo komissara SSSR v Avstrii, AVKA) umbenannt. Die Kommandanturen dürften dabei wieder ausgegliedert worden sein. Die Funktionen des Hochkommissars und des Oberkommandierenden wurden von einander getrennt, Oberkommandierender der Heeresgruppe war Generaloberst Sergej S. Birjuzov, ab 1954 Generaloberst Aleksej S. Žadov.81 Die Entwicklung der Struktur des sowjetischen Kontroll- und Besatzungsapparates in Österreich folgte somit abermals jener in Deutschland, wo die Umstellung von der Militäradministration (SMAD) auf die „zivile“ Sowjetische Kontrollkommission (SKK) zwar bereits 1949 erfolgt war, der Vorsitzende der SKK, Marschall Vasilij I. Čujkov, aber erst am 28. Mai 1953 durch den (zivilen) Hohen Kommissar Botschafter Vladimir S. Semënov abgelöst wurde.82 Die sowjetische Truppenstärke in Österreich, die bis 1949 bereits auf ca. 45 000 Mann reduziert worden war,83 betrug bei Ende der Besatzungszeit laut

79 Rauchensteiner, Sonderfall, S. 315–317. 80 Elke Scherstjanoi, Das SKK-Statut. Zur Geschichte der Sowjetischen Kontrollkommission in Deutschland 1949 bis 1953, München 1998, S. 23. 81 Rauchensteiner, Sonderfall, S. 327. Die Trennung der Ämter erfolgte per Ministerratsbeschluss 1420-571ss vom 6. 6.1953, die Schaffung des AVKA per Ministerratsbeschluss 1606-634ss vom 27. 6.1953. Siehe Knoll/Stelzl-Marx, Der Sowjetische Teil, S. 210. 82 Scherstjanoi, SKK-Statut, S. 16. Vgl. Rauchensteiner, Die Zwei, S. 213. 83 Rauchensteiner, Die Zwei, S. 130.

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Befehl des Verteidigungsministers Marschall Georgij K. Žukov vom 30. Juli 1955 über den Abzug der sowjetischen Truppen noch 39 382 Militärangehörige und 2 483 Zivilisten sowie KGB-Verbindungseinheiten im Unfang von 1163 Mann.84 Der Abzug war am 19. September abgeschlossen; neun Tage später wurde der Apparat des Hochkommissars auf Beschluss des ZK-Präsidiums der KPdSU aufgelöst.85

Zusammenfassung Die wichtigsten Elemente des sowjetischen Besatzungsapparates in Österreich lassen sich wie folgt charakterisieren: An der Spitze stand der Militär- (ab 1946 Hoch-) -kommissar. Diese Funktion wurde 1945–53 von einem hochrangigen Offizier, der in Personalunion als sowjetischer Oberkommandierender in Österreich fungierte, ausgeübt, danach durch einen Diplomaten, der gleichzeitig als Botschafter der UdSSR in Österreich akkreditiert war. Der Militär- bzw. Hochkommissar war der sowjetischen Regierung unterstellt und repräsentierte diese im Alliierten Rat. Sein Stellvertreter (1945–53 ebenfalls Offizier, danach Diplomat) vertrat die UdSSR im Alliierten Exekutivkomitee. Der dem AußenVolkskommissariat (ab 1946: -Ministerium) unterstellte Politberater war in den Jahren 1946–53 der höchstrangige sowjetische Diplomat in Österreich und politischer Vertreter der UdSSR bei der österreichischen Bundesregierung. Trotz der Unterstellung des Politberaters unter den Hochkommissar existierten kollegiale Elemente der Amtsausübung. In der unmittelbaren Nachkriegszeit bestanden sowjetische Kommandanturen auf den Verwaltungsebenen der Gemeinden, später auf jenen der Länder und Bezirke. Sie waren für die Überwachung der Umsetzung sowjetischer Befehle und die Kontrolle der lokalen Behörden zuständig und dem Oberkommandierenden unterstellt. Daneben existierte seit Juli 1945 der Sowjetische Teil der Alliierten Kommission, d. h. mehrere Kontroll- und Funktionsabteilungen, die sich bis 1953 ebenfalls überwiegend aus Militärs zusammensetzten und danach in den zivilen Apparat des Hochkommissars umgebildet wurden. In den Jahren 1952/53 waren die Kommandanturen in den Sowjetischen Teil eingegliedert. Vergleichen wir die Entwicklung der sowjetischen Kontroll- und Besatzungsapparate in Deutschland und Österreich, ergeben sich folgende Gemeinsamkeiten bzw. Unterschiede: 84 V. Naumov (Hg.), Georgij Žukov. Stenogramma oktjabrskogo (1957g.) plenuma CK KPSS i drugie dokumenty [Georgij Žukov. Das Stenogramm des Oktober-Plenums (1957) des ZK der KPdSU und andere Dokumente], Moskau 2001, S. 49 f. 85 Gerald Stourzh, Um Einheit und Freiheit. Staatsvertrag, Neutralität und das Ende der Ost-West-Besetzung Österreichs 1945–1955, 5. durchgesehene Auflage Wien 2005, S. 549; Knoll / Stelzl-Marx, Der Sowjetische Teil, S. 214; Pravda (Moskau) vom 1.10.1955, S. 2.

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1. Die Grobstruktur der Apparate war durchaus ähnlich (Oberkommandierender, Politberater, Kommandanturen, etc.). Dies resultierte daraus, dass die alliierten und sowjetischen Planungen für den Besatzungs- und Kontrollapparat in Österreich auf jene für Deutschland zurückgreifen konnten. 2. Die SMAD wurde als Militäradministration, die SČSKA als Teil der Alliierten Kommission gegründet. Ein Grund dafür war wohl, dass in der SBZ Österreichs zum Zeitpunkt der Gründung der SČSKA bereits eine von sowjetischer Seite unterstützte provisorische österreichische Regierung wirkte, was eine Militäradministration der Zone nicht erforderlich machte. 3. Die Umstellung von der SMAD zur zivilen SKK 1949 nahm den Umbau der SČSKA hin zum zivilen AVKA 1953 vorweg. Die Einsetzung ziviler Hochkommissare erfolgte in beiden Fällen 1953. 4. Der Personalexplosion innerhalb der SMAD steht ein konstanter niedriger Personalstand der SČSKA gegenüber.

Anhang 1 Die Struktur des sowjetischen Besatzungsapparates in Österreich 1945–1955

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Anhang 2 Struktur und Zusammensetzung der SČSKA zum Stand vom 15.11.1948 (nach: AVPRF, 066/29/139/46/36–46) I.

Kommando:

1. Hochkommissar und OK Stellvertreter 2. Politberater Stellvertreter 3. Stabschef SČSKA Stellvertreter Stv. für administrative Fragen 4. Gehilfe des Hochkommissars 5. Kommandant im sowj. Sektor Wiens

Armeegeneral V. V. Kurasov Generaloberst A. S. Želtov M. E. Koptelov G. N. Dzjubenko Generalmajor G. K. Cinëv Ingenieuroberst S. A. Evdokimov Oberstlt. P. S. Babenyšev Generalmajor V. T. Jakovlev Generalmajor Abakumov

II. Abteilungen SČSKA (Leiter) 1. Politabteilung 2. Militärabteilung Stellvertreter Stv. für Kriegsmarinefragen Stv. für Militärluftfahrt Offizier für Verbindungsfragen

G. N. Dzjubenko Generalmajor A. S. Medvedev Oberst Konovalov Kapitän 1. Ranges D’jakonov Oberstlt. Ševčenko Oberstlt. A. P. Barybin

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3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12.

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Transport Oberst Vladimirov Wirtschaft G. A. Kulagin Finanzen Oberstlt. F. I. Rybačuk Kriegsgefangene und DP Oberst M. M. Starov Repatriierung, Lieferungen, Restitution Ingenieuroberst Borisov Inneres Oberst A. G. Il’ičëv Kommunikationszensur Major Dyšljuk Recht Justizoberst Pokrovskij Sowj. Teil des alliierten Sekretariates V. K. Čistjakov Propaganda Oberst L. A. Dubrovickij Stv. Oberstlt. F. A. Gurkin a) Gruppe Volksbildung S. I. Ljadovskich b) Unterabt. für Presse-, Kino-, Theaterzensur P. M. Aristova c) Unterabt. für Arbeit mit demokratischen Parteien und Organisationen Oberstlt. M. A. Poltavskij d) Unterabt. Propaganda Oberstlt. I. Z. Gol’denberg e) Unterabt. Information Major Marek f) Unterabt. für Arbeit in sowj. Betrieben Major Rozenman g) Unterabt. für NÖ und OÖ Oberstlt. Žuravlëv (in Gebietskommandantur NÖ) h) Unterabt. für Burgenland Major I. N. Brajlovskij (in Gebietskommandantur Bgl.) i) Redaktion „Österreichische Zeitung“ Oberstlt. Lazak Stv. Major Musatov

III. Verwaltung der sowjetischen Kommandanturen a) Verwaltung der Militärkommandanturen (Sitz Baden) b) Gebietskommandantur Niederösterreich (Sitz Wien) 1. Kommandant 2. Stv. Kd. und Bevollm. des Hochkommissars 3. Leiter der Propagandaabteilung c) Kommandanturen in Niederösterreich 1. Horn 2. Korneuburg 3. Lilienfeld 4. Hollabrunn 5. Gmünd 6. Mistelbach 7. Baden

Oberst Kostkin Oberstlt. Chimov Ingenieuroberst N. N. Usikov Oberstlt. Žuravlëv Major Charlamov Major Ponomarëv Major Jumantgulov Major Stel’nik Major Chlapov Major Kuznecov Oberstlt. Govorlivych

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d)

e)

f)

g)

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8. Bruck Oberstlt. Prichol’ko 9. Tulln Major Pestov 10. Zwettl Hauptmann Čub 11. St. Valentin Major Dolgopolov 12. Krems Oberstlt. Volkov 13. St. Pölten Oberstlt. Erëmin 14. Amstetten Oberstlt. Emel’janenko 15. Klosterneuburg Major Kondrat’ev 16. Semmering Major Bondarenko 17. Wiener Neustadt Major Kapel’kin 18. Neunkirchen Oberstlt. Majsuradze 19. Zistersdorf Major Balandin 20. Schwechat Major Chmel’ 21. Mödling Oberstlt. Kiričenko 22. Purkersdorf Major Sacharov Gebietskommandantur Burgenland (Sitz Eisenstadt) 1. Kommandant Oberstlt. Vdovenko 2. Stv. Kd. und Bevollm. des Hochkommissars Oberstlt. Korkiško 3. Leiter der Propagandaabteilung Major Brajlovskij Kommandanturen im Burgenland 1. Eisenstadt Major Procenko 2. Oberwart Major Michajlenko 3. Güssing Major Čirkov Gebietskommandantur Oberösterreich (Sitz Urfahr) 1. Kommandant Oberstlt. Demidkov 2. Stv. Kd. und Bevollm. des Hochkommissars Oberstlt. Zabaznov Kommandanturen in Oberösterreich 1. Freistadt Major Repin 2. Rohrbach Major Chomajko

IV. USIA Leiter Stv. Hauptingenieur und stv. Leiter Gewerkschaftssekretär der Verwaltung Leiter Kaderabteilung Leiter Planwirtschaftsabteilung Hauptbuchhalter Leiter Rechtsabteilung

G. A. Maljavin M. V. Tichomirov E. M. Starcev P. I. Gribkov A. V. Krasavin N. G. Gusev N. N. Zarudnyj V. I. Chodkov

Marten Generaldirektor Stv.

P. A. Pavlov N. V. Žilenko

Die Struktur des sowjetischen Besatzungsapparates

Pod”ëmnik Generaldirektor Stv. Avtovelo Generaldirektor Stv. Cement Generaldirektor Stv. Kraska Generaldirektor Stv. Kabel’ Generaldirektor Stv. Vkus’ Generaldirektor Stv. Tekstil’ kommiss. Generaldirektor Les Generaldirektor Stv.

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K. I. Rublëv N. F. Kabelevskij F. M. Lomanov I. B. Duchanin D. P. Volovik M. A. Sidorov A. A. Kukoev K. Z. Trusov L. P. Kosov P. S. Šurin G. N. Pavlovskij L. S. Pančenko F. Černobyl’skij S. I. Smirnov A. N. Pavlov

DDSG Generaldirektor

Konteradmiral E. K. Samborskij Južvneštrans Generaldirektor Popov SMV Leiter K. I. Rjabinin Stv. Leiter, Hauptingenieur A. P. Egorov Stv. Leiter für Planungs- und Finanzfragen L. L. Es’kov Hauptgeologe I. P. Safarov Gehilfe des Leiters für Schutz A. M. Terechin Gehilfe des Leiters für Kader N. I. Lešin 1. Abteilung Förderung und Bohrung A. D. Kornev 2. Abteilung Verarbeitung A. P. Tolkačev 3. Planungsabteilung M. A. Tarasov 4. Finanzabteilung P. G. Kirilov 5. Rechtsabteilung Ja. L. Rožkovskij 6. Arbeits- und Lohnabteilung Andrjuškov 7. Hauptbuchhalter M. K. Maminonjanc 8. Abteilung Kapitalbildung L. N. Stepanov 9. Geologische Abteilung G. N. Dalenko 10. Mechanikabteilung A. P. Baboškin 11. Verkaufsabteilung A. M. Valit V. Handelsvertretung der UdSSR in Österreich Handelsdelegierter Sowj.-österr. AG „Internationales Buch“ Unterabteilung „Soveksportfilm“ in Österreich AG für Vertrieb von Erdölprodukten OROP

P. A. Gritčin Generaldirektor V. I. Naumov P. Zimin Generaldirektor A. E. Osipov

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Anhang 3 Sowjetische Kreiskommandanturen in Österreich Kreiskommandanturen (Stand 1948, nach: AVPRF, 066/29/139/46/36–46) Amstetten (Niederösterreich) Baden Bruck/Leitha Gmünd Hollabrunn Horn Klosterneuburg Korneuburg Krems Lilienfeld Mistelbach Mödling Neunkirchen Purkersdorf

Kreiskommandanturen (Stand 1952, nach: GARF, R-5446/86a/708/42–50) Amstetten Baden Bruck/Leitha Gänserndorf Gmünd Hollabrunn Horn Korneuburg Krems Lilienfeld Melk Mistelbach Neunkirchen Scheibbs

Schwechat Semmering? St. Pölten St. Valentin Tulln

Wiener Neustadt Zistersdorf Zwettl Eisenstadt (Burgenland) Güssing

Oberwart Freistadt (Oberösterreich) Rohrbach

St. Pölten Tulln Pöggstall Waidhofen/Thaya Wiener Neustadt Zwettl Eisenstadt Güssing Jennersdorf Mattersburg Neusiedl Oberpullendorf Oberwart Freistadt Perg Rohrbach Urfahr

Von Banden und Klassenfeinden: Stalins Tschekisten in Deutschland 1945–1955 Andreas Hilger

I. Mit den Sommeroffensiven des Jahres 1944 erreichte die Rote Armee die (zukünftigen) Westgrenzen der Sowjetunion. Innerhalb weniger Monate wurden nun die Länder Südost- und Ostmitteleuropas von der deutschen Besatzung befreit bzw. mussten vor dem sowjetischen Ansturm kapitulieren. Anfang 1945 überschritten die Frontverbände endgültig die Ostgrenze Deutschlands und drangen schließlich bis Berlin vor. Bei all ihren Operationen im Ausland wurden sie – wie zuvor bei Kämpfen auf dem Boden der UdSSR – von mehreren sowjetischen Diensten begleitet, die Schlagkraft, Zuverlässigkeit und Sicherheit der Kampf- und Besatzungstruppen gewährleisten sollten. Zu diesen Sicherheitsapparaten, den so genannten organy (oder Organen), zählten die Inneren Truppen des Volkskommissariats für Inneres (NKVD, seit März 1946 als Ministerium MVD), Einheiten des Volkskommissariats für Staatssicherheit ( NKGB, seit März 1946 MGB) sowie die Spionageabwehrabteilungen der Volkskommissariate für Verteidigung und der Marine (NKO resp. NKVMF), die SMERŠ. In diesem Verbund fiel zunächst dem NKVD die wichtigste Rolle zu. Ihm war bereits 1941 der Schutz des Hinterlands der Roten Armee anvertraut worden.1 Stalin selbst hatte in seiner Rundfunkansprache vom 3. Juli 1941 die entsprechenden Herausforderungen in Kriegszeiten definiert: Neben dem Kampf gegen (sowjetische) „Deserteure, Panikmacher, Verbreiter von Gerüchten“ hatten die Organe feindliche „Spione“ und „Diversanten“ zu bekämpfen.2 Aus die1

2

Nikita Petrov, Die Apparate des NKVD/MVD und des MGB in Deutschland (1945– 1953). Eine historische Skizze. In: Sowjetische Speziallager in Deutschland 1945 bis 1950. Hg. von Sergej Mironenko, Lutz Niethammer und Alexander von Plato. Band 1: Alexander von Plato (Hg.), Studien und Berichte, Berlin 1998, S. 143–157, hier 143– 145. Zur Organisationsgeschichte mitsamt der verschiedenen Zusammenlegungen und Ausdifferenzierung der Apparate vgl. A. I. Kokurin/Nikita Petrov (Hg.), Lubjanka. Organy VČK – OGPU – NKVD – NKGB – MGB – MVD – KGB 1917–1991. Spravočnik, Moskau 2003. Zit. nach Gerd R. Ueberschär, Dokumente zum „Unternehmen Barbarossa“ als Vernichtungskrieg im Osten“. In: ders./Wolfram Wette (Hg.), Der deutsche Überfall auf die Sowjetunion, Frankfurt a. M. 1991, S. 272–275, hier 274.

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ser Perspektive gesehen, setzten großflächige Säuberungsbefehle des NKVD von Januar bis Juli 1945, die sich auf Verhaftungen angeblicher und tatsächlicher „Spione“, „Terroristen“ und „subversiver Elemente“3 konzentrierten, die bisherige sowjetische Linie nun in Polen und Deutschland fort. Zur möglichst weiträumigen Erfassung aller Gefahrenherde in Deutschland bildeten die NKVD-Truppen – auf die deutschen Hilfsapparate wird noch einzugehen sein – auf unterster Stufe operative Gruppen von drei bis zu zehn Offizieren, einigen Dolmetschern und durchschnittlich zehn Soldaten. An der Spitze der Pyramide agierten operative Sektoren der Länder, Provinzen und Berlins, dazwischen bewegten sich operative Bezirke mit 15 bis 20 Offizieren. Insgesamt waren 1946 in der SBZ 18 Bezirks- und 170 Kreisopergruppen mit rund 2 600 Tschekisten eingesetzt. Die Sektoren-Organisation wurde im Juni 1952 der neuen DDR-Gliederung angepasst und in 14 Bezirkssektoren umgewandelt.4 Bis 1946/47 lag die Gesamtleitung aller hier genannten sowjetischen Sicherheitsdienste in den Händen Ivan Serovs. Der stellvertretende Innenminister, der sich aus Moskauer Sicht schon vor 1941 unter anderem als Organisator der Massendeportationen baltischer und polnischer Bürger bewährt hatte, fungierte zunächst als NKVD-Bevollmächtigter der 1. Belorussischen Front. Im Juli 1945 übernahm er den neu geschaffenen Posten eines NKVD-Bevollmächtigten bei den Sowjetischen Besatzungstruppen in Deutschland und bekleidete zugleich das Amt des Stellvertretenden Chefs der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD) für Zivilangelegenheiten; Serov avancierte im Übrigen 1954 zum ersten Leiter des KGB.5 SMERŠ und NKGB-MGB, die sich ursprünglich vor allem auf staatsfeindliche Aktivitäten sowjetischer Bürger konzentrieren sollten, kooperierten in ihrer Tätigkeit mit den NKVD-Apparaten bzw. waren ihnen zugeordnet. In der überhitzten Atmosphäre angeblich omnipräsenter Bedrohungen von innen und außen sowie auf Grund des harten Wettstreits um Stalins Gunst zeichneten SMERŠ und NKGB-MGB indes auch schon 1945/1946 für umfangreiche Verhaftungen Deutscher verantwortlich. Die SMERŠ wurden im Frühjahr 1946 in das MGB eingegliedert. Im August 1946 übertrug das Moskauer Politbüro dem MGB schließlich die alleinige Zuständigkeit für die „operativ-tschekistische Arbeit“ in Deutschland und setzte fest, dass „Verhaftungen wegen politischer Vergehen in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands nur von den Organen des MGB durchgeführt werden“6 durften. Diese Neuregelung, über die sich in 3 4 5 6

Vgl. u. a. die NKVD-Befehle Nr. 0016, 00315 und 00780 vom 11.1., 18. 4. und 4. 7.1945 (GARF, f. 9401, op. 12, d. 178, l. 144–148, 30–32 und 10–12). U. a. Jan Foitzik, Der Sicherheitsapparat der sowjetischen Besatzungsverwaltung in der SBZ 1945–1949. In: Peter Reif-Spirek/Bodo Ritscher (Hg.), Speziallager in der SBZ. Gedenkstätten mit „doppelter Vergangenheit“, Berlin 1999, S. 182–191. Nikita Petrov, General Ivan Serov – der erste Vorsitzende des KGB. In: Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte, 2 (1998), S. 161–207. Beschluss des Politbüros des Zentralkomitees der All-Union Kommunistischen Partei (CK VKP (b)) vom 20. 8.1946. In: Petrov, Apparate, S. 147.

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Einzelfällen Innenverwaltungen der SMA(D) durchaus noch hinwegsetzten, entsprach den umfangreichen Kompetenzverschiebungen vom MVD zum MGB, die Stalin nach dem Krieg in der UdSSR initiierte.7 An die Stelle Serovs trat Nikolaj Kovalčuk, der ehemalige SMERŠ-Chef der Karpathen und Stellvertretende Staatssicherheitsminister der UdSSR (später gefolgt von Oberst Semën Davydov bzw. General Michail Kaversnev). Der entsprechende Apparat des MGBBevollmächtigten in Deutschland umfasste rund 2 200 Mitarbeiter (1950). Im März 1953 stand die nächste Reorganisation an, als Berija nach Stalins Tod die Zusammenlegung von MVD und MGB unter dem Dach des MVD durchsetzte. Der MGB- wurde somit in einen MVD-Bevollmächtigten zurückverwandelt, sein Apparat darüber hinaus kurzfristig reduziert. Der Machtzuwachs des MVD überdauerte den Sturz seines Förderers nur um wenige Monate: Mit Gründung des KGB wirkte ab Frühjahr 1954 ein KGB-Bevollmächtigter in der DDR. Er beschränkte sich ab Herbst 1955 offenbar endgültig auf die Anleitung und Kontrolle ostdeutscher Organe und unterließ eigene Zugriffe auf ostdeutsche Bürger. In der Sowjetunion Stalins wurde das „Schild und Schwert“ der Partei von der Justiz ergänzt und unterstützt, nicht aber kontrolliert und kaum je korrigiert. Dieses Verhältnis, das sich letztlich bis zur Gründung der „Tscheka“ 1917 und damit bis Lenin zurückverfolgen lässt,8 übertrug sich grundsätzlich auf die sowjetische Besatzungszone in Deutschland. Als Gerichte agierten hier vor allem Militärtribunale der Roten (ab 1946: Sowjetischen) Armee. Dabei handelte es sich bis zum Herbst 1946 um Tribunale der in Ostdeutschland stationierten Truppenteile, einzelner Garnisonen und der Flotte. Daneben kamen – seltener – Militärtribunale des Transportwesens zum Einsatz, während die Militärtribunale von NKVD-MVD und MGB nahezu ausschließlich gegen sowjetische Bürger verhandelten. Im September 1946 wurden bei den sowjetischen Landes- und Provinzialverwaltungen sowie der SMAD zusätzliche Tribunale geschaffen, die offenbar die Mehrheit aller Fälle an sich zogen. Ab 1948/49 lassen sich schließlich neben einem SMT der Wismut Tribunale verschiedener Garnisonen und ortsunabhängige Tribunale höherer Truppenordnungen sowie der GSOVG nachweisen, die sich hinter nicht dechiffrierbaren Feldpostnummern verbargen.9 In die Kompetenz der Militärgerichtsbarkeit fielen gemäß sowjetischer Gesetzgebung nicht nur die politische Strafjustiz, sondern in Kriegszeiten letztlich 7 8 9

Rudol’f G. Pichoja (Red.), Lubjanka. VČK – OGPU – NKVD – NKGB – MGB – MVD – KGB 1917–1960. Spravočnik, Moskau 1997, S. 35–70. Vgl. George Leggett, The Cheka: Lenin’s political police. The All-Russian Extraordinary Commission for combating Counter-Revolution and Sabotage (December 1917 to February 1922), Oxford 1981, S. 136 ff. Vgl. Andreas Hilger/Nikita Petrov, „Erledigung der Schmutzarbeit“? Die sowjetischen Justiz- und Sicherheitsapparate in Deutschland. In: Sowjetische Militärtribunale, Band 2: Die Verurteilung deutscher Zivilisten 1945–1955. Hg. von Andreas Hilger/ Mike Schmeitzner/Ute Schmidt, Köln 2003, S. 59–152, hier 108–115.

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„alle Verfahren wegen Verbrechen, die gegen die Verteidigung [und] gegen die gesellschaftliche und staatliche Sicherheit gerichtet sind“.10 Die Militärtribunale setzten ihre Tätigkeit ab 1944 in Analogie zum tschekistischen Selbstverständnis bruchlos außerhalb der sowjetischen Grenzen fort.11 Unabhängig von juristischen Erwägungen wurden nun auch ausländische Bürger im Ausland nicht nur sowjetischen Gerichten, sondern, in Abweichung von den Bestimmungen der sowjetischen Strafgesetzbücher, auch sowjetischen Gesetzen unterworfen.12 Parallel zur Militärjustiz übernahmen schließlich die Moskauer Sonderkonferenzen des MVD bzw., wiederum ab 1946, die Sonderkonferenz des MGB die berüchtigte OSO-Fernjustiz, Verfahren gegen Deutsche. Die OSO verhandelte in Fällen, in denen sicherheitsdienstliche Ermittlungen und Methoden nicht der Überprüfung durch die Justiz anvertraut werden mochten, sei es, um einen „wertvollen Agenten“13 nicht zu enttarnen, sei es, weil eine angenommene Schuld „nicht ausreichend dokumentiert werden“14 konnte. In der Praxis bemühte das MGB seine Sonderkonferenz zudem, um eigene Ermittlungsmethoden und -fehler zu kaschieren und „höhere Staatsinteressen“ zu schützen. Ersteres griff in OSO-Verurteilungen von Doppelagenten,15 das zweite Motiv ist zum Beispiel für die Aburteilung von Heinrich Zeiss anzunehmen. Das NKVD verhaftete den Militärarzt im Range eines Generalmajors am 14. September 1945 unter dem Verdacht der Spionage. Hintergrund des Vorwurfs waren langjährige Russlandaufenthalte Zeiss’ vor dem Zweiten Weltkrieg. Schon 1921 habe er, so das NKVD, als Mitglied einer Rot-Kreuz-Delegation 10 Ukaz des Präsidiums des Obersten Sowjets vom 22. 6.1941 über die Bestätigung der Verordnung über Kriegstribunale. In: Skrytaja pravda vojny: 1941 god, Moskau 1992, S. 55–58; Verordnung CIK vom 10. 7.1934. In: Sbornik zakonodatel’nych i normativnych aktov o repressijach i reabilitacii žertv političeskich repressij, Moskau 1993, S. 64 f. 11 Vgl. für Polen: Übereinkommen des Polnischen Befreiungskomitees und der UdSSR vom 26. 7.1944. In: Documents on Polish-Soviet Relations 1939–1945, Band 2: 1943– 1945, London 1967, S. 652 f.; Beschluss der GKO Nr. 7558ss vom 20. 2.1945. In: Sovetskij faktor v Vostočnoj Evrope. Dokumenty, Band 1, Redaktion T. V. Volokitina u. a., Moskau 1999, S. 153–155. 12 Vgl. die kritische Auseinandersetzung von Friedrich-Christian Schroeder, Rechtsgrundlagen der Verfolgung deutscher Zivilisten durch Sowjetische Militärtribunale. In: Sowjetische Militärtribunale, Band 2, S. 37–58. Zum Geltungsbereich vgl. Art. 2–5 des StGB der RSFSR. Während Sowjetbürger u. U. auch für „sozialgefährliche Handlungen außerhalb der Grenzen der Union der SSR“ auf der Grundlage des StGB verurteilt werden konnten, fand es hinsichtlich ausländischer Bürger nur bei „auf dem Gebiet der Union der SSR begangenen Verbrechen“ Anwendung. Strafgesetzbuch der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjet-Republik vom 22. November 1926 in der am 1. Januar 1952 gültigen Fassung mit Nebengesetzen und Materialien. Übersetzt von Wilhelm Gallas, Berlin (West) 1953, S. 1. 13 Befehl NKVD Nr. 00762 vom 26.11.1938. Den Auszug verdanke ich Nikita Petrov, Moskau. 14 Abakumov und Kruglov Nr. 1/16178 an Molotov vom 19.10.1949 (GARF, f. 9401, op. 2, d. 240, l. 262–265). 15 Akten Gerhard B., Sigurd B. und Klaus L. (HAIT-Archiv, Nr. 21057; StSG/HAIT-Archiv, Nr. 118 und Nr. 826).

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„Daten über Epidemien, über Sterblichkeit und Lebensbedingungen der Bevölkerung und über den Stand der sowjetischen Medizin gesammelt“.16 Die sowjetische Regierung hatte seine Arbeit in den zwanziger Jahren allerdings noch positiver bewertet. Mit offizieller Einwilligung konnte Zeiss seine wissenschaftlichen Studien vor Ort damals fortsetzen, mehr noch, als Experte für Bakteriologie (und biologische Kriegführung?) erfuhr er allgemeine Anerkennung. Erst als sich die deutsch-sowjetischen Beziehungen rapide verschlechterten, erhob Moskau 1932 den Spionagevorwurf und verwies Zeiss des Landes. Während der Großen Säuberungen wurde die ehemalige Zusammenarbeit von Roter Armee und Wehrmacht neu bewertet und Zeiss’ sowjetische Kontakte als Spione „enttarnt“: Sie mussten landesverräterische Beziehungen zu Zeiss gestehen. Auch auf dieser Grundlage beschuldigte ihn das NKVD 1945, er habe sowjetische Wissenschaftler als Agenten und potentielle Diversanten angeworben und sich zudem Zugang zu Kulturen für die biologische Kriegführung verschafft. Diese Vorwürfe lassen sich in heutigen Untersuchungen der geheimen Zusammenarbeit von Reichswehr und Roter Armee nicht verifizieren.17 Sie unterstreichen aber die hohe sowjetische Sensibilität hinsichtlich eigener Forschungen und Besitzstände im Bereich von biologischen und chemischen Waffen; diese veranlasste noch 1955 das KGB, gegen die Entlassung jener SMT-Verurteilten Einspruch zu erheben, die Kenntnisse über „Lager mit Giftstoffen der ehemaligen deutschen Armee, die sich in der Verfügung der sowjetischen Besatzungsmacht befanden“,18 besaßen. Zeiss selbst wurde am 10. Juli 1948 von der OSO zu 25-jähriger Haft verurteilt, die er im Sondergefängnis Vladimir verbüßen musste. Hier starb er im März 1949 im Alter von 61 Jahren. Zeiss wurde 1995 rehabilitiert. Während die OSO am 1. September 1953 endgültig aufgelöst wurde, urteilten sowjetische Militärtribunale bis zum Herbst 1955 gegen deutsche Bürger in der DDR. Die letzte nachweisbare Verurteilung durch ein SMT erfolgte am 24. Oktober 1955.19 Der Export der Institutionen brachte zugleich den Export sowjetischer Sicherungsmaßnahmen, genauer: den Export des sowjetischen Strafenkatalogs nach Deutschland mit sich. Katorga-Strafen etwa oder kurzfristige Aussetzun16 Zit. nach dem Rehabilitierungsbeschluss der Militärhauptstaatsanwaltschaft vom 3. 3.1995 (HAIT-Archiv, Nr. Mü 1997). 17 Hier auch das Folgende. Vgl. Erhard Geißler, Biologische Waffen – nicht in Hitlers Arsenalen. Biologische und Toxin-Kampfmittel in Deutschland 1915 bis 1945, Münster 1999, S. 301, 585–595; Manfred Zeidler, Reichswehr und Rote Armee 1920–1933. Wege und Stationen einer ungewöhnlichen Zusammenarbeit, München 1993; Joachim Krause/Charles K. Mallory, Chemische Waffen in der Militärdoktrin der Sowjetunion. Historische Erfahrung und militärische Lehre 1919–1991, Baden-Baden 1993, S. 7–54, 67–70, 121–133. 18 „Liste der verurteilten Deutschen, die der Zurückhaltung zur weiteren Strafverbüßung in Haftorten des MVD UdSSR unterliegen (aus operativen Erwägungen)“. Anlage zu Molotov, Danilov, Kruglov, Serov, Baranov und Zorin an ZK der KPdSU vom 8. 6.1955 (GARF, f. 9401, op. 2, d. 465, l. 18). 19 Urteil gegen Fritz B. (BArch, DO1/32.0, Nr. 39708).

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gen der Todesstrafe (1947–1950) entstammten direkt der Strafpraxis in der UdSSR selbst. Doch auch die administrativ beschickten Speziallager sowie die als „Mobilisierung“ verharmlosten frühen Deportationen ganzer Bevölkerungsgruppen aus Deutschland orientierten sich an sowjetischen Erfahrungen seit 1917.20 Die strafpolitische Integration Ostdeutschlands in den sowjetischen Machtbereich schlug sich daneben im Vollzug der Haftstrafen nieder. Aufgrund des sukzessiven Wandels der Speziallager zu Haftstätten für SMT-Verurteilte wurde die Abteilung Speziallager 1948 direkt dem GULag unterstellt. Unabhängig davon waren arbeitsfähige Verurteilte mitunter schon in den Vorjahren in Zwangsarbeitslager der Sowjetunion deportiert worden. Bis 1947 setzte sich in Moskau indes die Erkenntnis durch, dass die Masse der verurteilten Deutschen „wenig arbeitsfähig“ war und ihre Haft in „MVD-Lagern für den GULag beschwerlich“ wäre.21 In Moskau setzten sich allerdings auch in der Folgezeit überzüchtete sicherheitspolitische Wahnvorstellungen über ökonomische Erwägungen hinweg. So wurden innersowjetisch begründete Verschärfungen der Lagerpolitik auch auf die Ausläufer des GULag in Deutschland angewandt. Nachdem im Februar 1948 in der UdSSR unter anderem für Spione, Diversanten, Angehörige antisowjetischer Organisationen und alle Personen, die nach Meinung der Organe „durch ihre antisowjetischen Verbindungen und ihre feindliche Tätigkeit“22 besonders hervorstachen, Sonderlager und -gefängnisse mit so genanntem „verschärftem Regime“ eingerichtet worden waren, wählten die MGB-Vertreter in Deutschland aufgrund des vorgegebenen Kategorienschemas „besonders gefährliche“ Deutsche für weitere Deportationen in die Sowjetunion aus. Bei dieser Praxis blieb es auch nach Gründung der DDR.23 Als letzter Bestandteil sowjetischer Strukturen im Sicherheits- und Justizbereich24 ist abschließend die sowjetische Auslandsaufklärung – sprich: Spionage 20 Vgl. allg. Nicolas Werth, Ein Staat gegen sein Volk. Gewalt, Unterdrückung und Terror in der Sowjetunion. In: Stephane Courtois (Hg.), Das Schwarzbuch des Kommunismus. Unterdrückung, Verbrechen und Terror, 5. Auflage München 1998, S. 45–295. Zu Deportationen: Pavel Poljan, Ne po svoej vole ... Istorija i geografija prinuditel’nych migracij v SSSR, Moskau 2001; Terry Martin, The Affirmative Action Empire. Nations and Nationalism in the Soviet Union, 1923–1939, Ithaca 2001, S. 311–343. Zu Speziallagern: Bernd Bonwetsch, Der GULag – das Vorbild für die Speziallager in der SBZ. In: Reif-Spirek/Ritscher (Hg.), Speziallager, S. 62–80. 21 Serov Nr. 1/704 an Leiter der Abt. Speziallager, Oberst Cikljaev, vom 19.1.1949 (GARF, f. 9409, op. 1, d. 38, l. 33). Den Arbeitseinsatz in der SBZ verhinderte nicht nur der Gesundheitszustand der Verurteilten, sondern auch die politische Vorgabe, sie von ihrem Umfeld zu isolieren. 22 Befehl MVD Nr. 00219 vom 28. 2.1948 und Befehl MVD/MGB/Staatsanwaltschaft Nr. 00279/00108/72ss vom 16. 3.1948. In: Vjačeslav N. Šostakovskij (Hg.), GULAG (Glavnoe upravlenie lagerej) 1917–1960, Moskau 2000, S. 135–141. 23 Auszug aus dem Politbüro-Protokoll Nr. 72, Entscheidung vom 30.12.1949 (RGANI, f. 89, op. 75, d. 23, l. 1 f.). 24 Militärstaatsanwälte beschränkten sich in der Regel darauf, die von den Organen vorbereiteten Anklagen vor Gericht zu vertreten und nahmen ihre Kontrollfunktion faktisch nicht wahr. Daneben konnten sie eigene Ermittlungen anstoßen, ohne von dieser

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– zu nennen. Sie richtete im Bereich der 1. Belorussischen Front spätestens im Frühjahr 1945 eine Residentur ein, deren Mitarbeiter ab August 1945 vom Apparat des Politberaters beim Obersten Chef der SMAD in Deutschland aufgenommen und getarnt wurden. Die „Aufklärer“ hatten nicht nur Informationen über die Westzonen sowie über die deutschlandpolitischen Pläne der Alliierten zu beschaffen, sondern zugleich bei der „Gewährleistung der Sicherheit und Durchführung von Spionageabwehrmaßnahmen in der sowjetischen Besatzungszone“ mitzuwirken.25 Die heutige offiziöse Geschichtsschreibung der russischen Spionage zählt zu diesem wenig bekannten Tätigkeitsprofil ihrer direkten Vorgänger die „Ausschaltung“ ehemals einflussreicher Nationalsozialisten, „um die Möglichkeit auszuschließen, dass sie einen organisierten Untergrund [...] und illegale terroristische Formationen bildeten“. Daneben hatten sich die Residenten, so die heutige Darstellung weiter, westlicher Spionagegruppen zu erwehren: „Schon Anfang 1947 war es unmöglich, ein Aufklärungs- oder Gegenaufklärungsorgan der USA und anderer westlicher Länder zu nennen, dass keine aktive Spionage- und Diversionstätigkeit gegen die UdSSR geführt hätte“;26 zu den Helfershelfern der westlichen Dienste zählt diese Geschichtsschreibung an anderer Stelle explizit Organisationen wie die Ostbüros, die Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit oder den Untersuchungsausschuss Freiheitlicher Juristen.27

II. Derartige aktuelle Beschreibungen und Interpretationen deuten zunächst einmal darauf hin, dass sich einst mächtige Stützen der UdSSR bzw. ihre direkten Nachfolger offensiv und mit nicht wenig Erfolg um die Deutungshoheit hinsichtlich ihrer Geschichte bemühen. Im gebrochenen Prozess der russischen Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit wird sowjetischen Staats- und Sicherheitsinteressen immer noch ein hoher Stellenwert beigemessen.28 Von daher überrascht es nicht, dass die Zitate aus dem Jahr 2003 im Kern sowjetische si25 26 27 28

Möglichkeit in der Praxis oft Gebrauch zu machen. Vgl. Hilger / Petrov, Erledigung, S. 105–108. Očerki istorii Rossijskoj Vnešnej Razvedki, Tom 5: 1945–1965 gody, Moskau 2003, S. 100 f. Ebd., S. 103. Ebd., S. 103 f. und S. 106 f. Vgl. Elke Fein, Geschichtspolitik in Russland. Chancen und Schwierigkeiten einer demokratisierenden Aufarbeitung der sowjetischen Geschichte am Beispiel der Tätigkeit der Gesellschaft Memorial, Münster 2000; Andreas Hilger, Stalins Justiz auf dem Prüfstand? Deutsche „Kriegsverurteilte“ zwischen Repatriierung und Rehabilitierung, 1953–2002. Analyse und Dokumentation. In: Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte, 8 (2004), S. 123–150, 245–294; Jutta Scherrer, Kulturologie. Russland auf der Suche nach einer zivilisatorischen Identität, Göttingen 2003, bes. S. 98–176; R. W. Davies, Soviet History in the Yeltsin Era, London 1997. Journalistisch: Tanja Wagensohn, Russland nach dem Ende der Sowjetunion, München 2001, S. 191–195 und 220 f.

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cherheitspolitische Argumentationslinien der Jahre ab 1945 recht naturgetreu abbilden: Auch diese rechtfertigten Verhaftungen und Verurteilungen mit der – a priori zunächst unbestreitbaren – Notwendigkeit, nationalsozialistisch geführte bzw. inspirierte Widerstands- und Sabotagenester zu zerschlagen sowie westliche Angriffe auf die sowjetische Besatzungsmacht in Deutschland abzuwehren. Diesen Schwerpunkten wurde auf Dauer selbst die Verfolgung von nationalsozialistischen Kriegs- und Gewaltverbrechen untergeordnet; dieser Komplex wird an anderer Stelle ausführlicher thematisiert. Der vorliegende Beitrag will die sowjetisch-offiziellen und russisch-offiziösen Grundinterpretationen der Tätigkeit sowjetischer Sicherheitsapparate in der SBZ/DDR einer genaueren Prüfung unterziehen. Der in der neueren Forschung bevorzugte Begriff „Repressionsapparate“ markiert die inhaltliche Gegenposition zu sowjetischen (und manchen postsowjetischen) Selbstdarstellungen: Er impliziert den Einsatz sowjetischer Organe zur Unterdrückung politischer Gegner der UdSSR und der KPD/SED, der indirekt oder gezielt dem Herrschaftsinteresse der neuen ostdeutschen Eliten bei Aufbau und Konsolidierung der DDR diente.29 Eine genaue Analyse der Tätigkeit der relevanten sowjetischen Sicherheitsoder Repressionsapparate und ihrer Stellung in der sowjetischen Deutschlandpolitik muss alle Dimensionen ihres Wirkens in den Blick nehmen: Dazu zählen nicht nur ihre grundlegenden Aufgabenbereiche, sondern etwa auch Mitarbeiterprofile. Darüber hinaus ist besonders die komplexe Ein- bzw. Anbindung der Organe in und an die offenen sowjetischen Besatzungsstrukturen in Deutschland einerseits sowie in und an die Moskauer Führungszentren von Partei und Staat in der UdSSR zu leisten. Daneben gilt es, die mehrschichtigen Verbindungen zu deutschen Partei- und Verwaltungsstellen einschließlich konkreter sowjetischer Aufbauhilfen und ideeller oder ideologischer Vorbildfunktionen zu erfassen. Die Untersuchung möglicher Rückwirkungen der öffentlichen Wahrnehmung in Ost und West auf Ausgestaltung und Durchführung sicherheitspolitischer Maßnahmen können im Idealfall ein Gesamtbild ergänzen, in dem sowjetische Sicherheitspolitik in Deutschland nicht nur als integraler Bestandteil von Besatzungs- und Deutschlandpolitik, sondern auch als wesentlicher Aspekt sowjetischer, stalinistischer Repressions- und Justizpolitik verstanden wird. Auf dieser Grundlage ist die ideologische Dimension sowjetischer Deutschlandpolitik angemessen zu gewichten und für vergleichende Studien zur sowjetischen Außenpolitik in den Blick zu nehmen. Zugleich müssen die relevanten Faktoren, die sowjetisches Handeln in Deutschland beeinflussten und prägten, über die ideologische Komponente hinaus erweitert werden. Die Geschichte sowjetischer Repressionsapparate im Ausland weist darauf hin, dass beispielsweise auch mentale, innersowjetisch gewachsene bzw. begründete Dispositionen die Formulierung und Implementierung sowjetischer Pro29 Vgl. Falco Werkentin, Politische Strafjustiz in der Ära Ulbricht, 2. Auflage Berlin 1998, S. 26.

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gramme respektive Maßnahmen für und in Deutschland wesentlich mitbestimmt haben. Versteht man mit der neueren Forschung den Stalinismus als gewaltbereite und gewalttätige Kultur,30 erweitern sich Prägungs- und Wirkungsfelder des Gesamtphänomens Stalinismus in den internationalen Beziehungen der UdSSR generell und damit auch hinsichtlich Ostdeutschlands. Sie sind nicht mehr auf das Begriffspaar „geopolitisch-strategisch“ und „ideologisch“ – ob in Opposition oder komplementär gebraucht – zu reduzieren und eröffnen neue Möglichkeiten, um aus der „heuristischen Sackgasse“31 derartiger Diskussionen herauszufinden. Der Einsatz erweiterter methodischer Instrumentarien übergeht „alte Fragen“ nicht zwangsläufig, sondern erweitert sie und kann zu ihrer Beantwortung beitragen.32 Auf diese Weise erweist sich auch die vielschichtige und multidimensionale Tätigkeit sowjetischer Tschekisten und Richter in der SBZ/DDR nicht nur als integraler Bestandteil sowjetischer Besatzungsherrschaft in Ostdeutschland. Ihre angemessene Analyse und Einbettung bietet zugleich wichtige Zugänge zu einem erweiterten historischen Verständnis von Zielen und Antriebskräften der UdSSR in Deutschland. Die Forschung über sowjetische Repressionsapparate in Deutschland steht indes vor einem Quellenproblem: Grundlegende Befehle etwa, die einzelne Verfolgungswellen auslösten oder gar begründeten, sind selten zugänglich, während operative und andere Hintergrundmaterialien oft verstreut und sicherlich lückenhaft sind. Generell lassen sich die verschiedenen genannten Aspekte nur in höchst unterschiedlicher Dichte und kaum vollständig darstellen. So ist über das Personal der hier relevanten sowjetischen Apparate in Deutschland unterhalb der Führungskader (und zum Teil auch auf der Führungsebene selbst) bislang nur wenig Substantielles bekannt geworden. Beschwerden aus anderen Apparaten, Machtkämpfe in Ost-Berlin und Moskau sowie Analogien zur Verwaltungsgeschichte der UdSSR bieten zwar durchaus wichtige Einsichten, können aber (noch) nicht für das gesamte Korps der Tschekisten verifiziert wer30 Vgl. Stefan Plaggenborg, Stalinismus als Gewaltgeschichte. In: ders. (Hg.), Stalinismus. Neue Forschungen und Konzepte, Berlin 1998, S. 71–112; ders., Revolutionskultur. Menschenbilder und kulturelle Praxis in Sowjetrussland zwischen Oktoberrevolution und Stalinismus, Köln 1996; Mark Mazower, Violence and the State in the Twentieth Century. In: American Historical Review, 107 (2002), S. 1158–1178, hier 1167–1170; Jörg Baberowski, Der rote Terror. Die Geschichte des Stalinismus, München 2003; ders., Der Feind ist überall. Stalinismus im Kaukasus, München 2003. 31 Hier in Anlehnung an Ursula Lehmkuhl, Pax Anglo-Americana. Machtstrukturelle Grundlagen anglo-amerikanischer Asien- und Fernostpolitik in den 1950er Jahren, München 1999, S. 12 f. 32 Vgl. die aktuelle Diskussion um Bestand und Entwicklungsmöglichkeiten der DDR-Forschung: Jürgen Kocka, Bilanz und Perspektiven der DDR-Forschung. Hermann Weber zum 75. Geburtstag. In: DA, 36 (2003), S. 764–770; Henrik Bispinck / Dierk Hoffmann/ Michael Schwartz / Peter Skyba / Matthias Uhl / Hermann Wentker, DDR-Forschung in der Krise? Defizite und Zukunftsschancen. Eine Entgegnung auf Jürgen Kocka. In: DA, 36 (2003), S. 1021–1026; Thomas Lindenberger/Martin Sabrow, Zwischen Verinselung und Europäisierung: Die Zukunft der DDR-Geschichte. In: DA, 37 (2004), S. 123–127.

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den. Auf der anderen Seite ist beispielsweise bekannt, dass offizielle – geheime oder öffentliche – Appelle, Vorhaltungen oder Bitten Deutscher durchaus auf allen Ebenen Widerhall finden konnten. Die entsprechenden Erfolgsdeterminanten lassen sich in der Regel aber nur annäherungsweise erschließen und die zugrundeliegenden sowjetischen Denk- und Entscheidungsprozesse bleiben oftmals im Dunkeln.33 Daher kann sich die Forschung dem Anteil stalinistischer Sicherheits- und Repressionspolitik an der faktischen Stalinisierung der SBZ/ DDR nur auf einzelnen Ebenen annähern. Angesichts der komplexen Verflechtung und Verankerung sowjetischer Organe in Deutschland sowohl in der sowjetischen Deutschlandpolitik als auch in inner-sowjetischen Dispositionen, Entwicklungen und Entscheidungen werden hier drei Kernmomente genauer dargestellt und gewichtet. Es geht, erstens, um Selbstverständnis und Weltbild sowjetischer Sicherheitsdienste und Gerichte in der SBZ/DDR (Abschnitt III). Ihre Tätigkeit war von zwar hochideologisierten, doch simplifizierten Grundannahmen und wenig variablen Handlungsmustern bestimmt, die im tschekistischen wie im richterlichen Alltag erhebliches Gewicht in der Definition von Feinden sowie im Entwurf entsprechender eigener, vermeintlich adäquater Handlungsstrategien gewannen. Die hohe Bedeutung ideologiegeleiteten Handelns, die eine New Cold War History ins Bewusstsein gehoben hat,34 lässt sich am Beispiel sowjetischer Sicherheitspolitik früh auch im deutschlandpolitischen Kontext beobachten. Daher darf die eingangs beschriebene Vielfalt beteiligter Apparate und Reorganisationen nicht zum dem Trugschluss verleiten, sie seien in fundamentalen Prioritätenwechseln sowjetischer Politik begründet gewesen oder von solchen begleitet worden. Im Gegenteil: Grundlegende Motive und Wirkungsweisen haben sich unter Stalin durchweg, zum Teil gar über seinen Tod hinaus, erhalten.35 Dabei dominierte auch in Deutschland die stalinistische Tendenz, politische oder gesellschaftliche Widersprüche gewaltsam einzuebnen. Im Anschluss widmet sich Abschnitt IV dem Verhältnis zwischen sowjetischen Repressionsapparaten und anderen sowjetischen Besatzungs- und Machtstrukturen in Deutschland und in der Sowjetunion. Die durchaus engen Beziehungen zu allen Sowjet-Funktionären in Deutschland und die Anleitung durch Moskauer Instanzen verweisen auf einen breiten Common sense beteiligter Entscheidungsträger und Funktionäre in Moskau und vor Ort, der die Bedeutung möglicher Eigeninitiativen oder Sonderwege spezieller Machtapparate erheblich reduziert; die Sicherheitsapparate erwiesen sich als wichtiges Ausführungs33 Vgl. Hilger/Petrov, Erledigung, S. 70–73, 119 f.; Andreas Hilger/Mike Schmeitzner/ Ute Schmidt, Widerstand und Willkür. Studien zur sowjetischen Strafverfolgung parteiloser Zivilisten in der SBZ/DDR 1945–1955. In: Sowjetische Militärtribunale, Band 2, S. 193–263, hier 258 f. 34 Vgl. Odd Arne Westad (Hg.), Reviewing the Cold War. Approaches, Interpretations, Theory, London 2000; John Lewis Gaddis, We now know. Rethinking Cold War History, Oxford 1997. 35 Vgl. Hilger/Petrov, Erledigung, S. 68–75.

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organ gemeinsamer Ziele und Überzeugungen, die daher ohne Vorlage einer ausformulierten Strategie wirksam werden konnten. Als letztes wird in Abschnitt V das Verhältnis der sowjetischen Dienste zu korrespondierenden deutschen Apparaten und, allgemeiner, zu deutschen SEDund Verwaltungsstellen untersucht. Es zeigt sich, dass auch im Sicherheitsbereich die deutliche, oft überzeugte Unterordnung Ostdeutscher unter die sowjetischen Besatzer auf Dauer in einem ehrgeizigen Nacheifern – im Extremfall Übertreffen – sowjetischer Vorbilder aufging.36 Noch in den siebziger Jahren ließ die Juristische Hochschule des MfS beispielsweise umfangreiche Dokumentensammlungen aus der Frühgeschichte sowjetischer Organe „für den Dienstgebrauch“ übersetzen.37 Die Befunde erklären in ihrer Gesamtschau zudem, warum die Gründung des ersten Arbeiter- und Bauernstaates auf deutschem Boden 1949 noch keine entscheidene Neupositionierung der Organe mit sich brachte. Anhand von 25 292 dokumentierbaren Verurteilungen Deutscher durch Sowjetische Militärtribunale und OSO – rund 72 Prozent der angenommenen Gesamtzahl von 35 000 Verurteilungen 1945 bis 1955 insgesamt – lässt sich zeigen, dass noch 1950 bis 1952 eine erhebliche Anzahl deutscher Zivilisten vor sowjetischen Richtern standen (1949: 3 582 Personen; 1950: 2 850; 1951–1952: 2 765). Die gleichbleibenden Bedrohungsszenarien sowjetischer Ermittlungsorgane und Richter sprechen für sich: Von insgesamt 4151 nachweisbaren Fällen, in denen der Spionagevorwurf nach Artikel 58-6 des russischen StGB den alleinigen Urteilsgrund darstellte, lassen sich allein 688 dem Jahr 1950 zuordnen. Mehr entsprechende Urteile weisen nur die Jahre 1948 und 1949 aus.38 Schließlich deuten auch Strafmaß und Strafvollzug auf kontinuierliche Wahrnehmungs- und Handlungsmechanismen auf sowjetischer Seite hin: Bezogen auf nachweisbare Deportationen verurteilter Deutscher in den GULag weist das Jahr 1950 den Spitzenwert auf (833 von insgesamt 4 982 Fällen); die entsprechenden Anteile von 1951 und 1952 lagen immer noch über denen der Jahre 1947 bis 1949!39 36 Vgl. Michael Lemke, Einheit oder Sozialismus. Die Deutschlandpolitik der SED 1949– 1961, Köln 2001, S. 503 f.; Jan Foitzik, Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD) 1945–1949. Struktur und Funktion, Berlin 1999, S. 398–409; Mike Schmeitzner/Stefan Donth, Die Partei der Diktaturdurchsetzung. KPD/SED in Sachsen 1945–1952, Köln 2002, S. 531–540. 37 Aus der Geschichte der Allrussischen Außerordentlichen Kommission (1917–1921). Eine Sammlung von Dokumenten, 2 Bände, Potsdam 1971–1974 (russ. Original 1958); W. I. Lenin und die Gesamtrussische Tscheka. Dokumentensammlung (1917–1922), Potsdam 1977 (russ. Original 1975). Alle Bände waren klassifiziert: „Nur für den Dienstgebrauch“. Vgl. auch weitere Titel zum ersten Vorsitzenden der Tscheka, Feliks Dzeržinskij: A. W. Tischkow, Der erste Tschekist, Postdam 1969 (russ. Original 1968); F. E. Dzierzynski, Ausgewählte Schriften in zwei Bänden, Potsdam 1986 (!) (russ. Original 1977). 38 Die Auswertungen sind im Anhang des Sammelbandes Sowjetische Militärtribunale, Band 2, S. 781–808, zusammengefasst. 39 Andreas Hilger, „Haft in entlegenen Gebieten“. Zum Problem der Deportationen verurteilter Deutscher. In: Sowjetische Militärtribunale, Band 2, S. 663–683, hier 667.

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Als letztes ist in diesem Zusammenhang auf die harsche Anwendung der Todesstrafe hinzuweisen: Die innenpolitisch motivierte Wiedereinführung der Höchststrafe in der UdSSR im Januar 1950 wurde sofort auch auf deutsche Delinquenten in der DDR ausgeweitet. Derzeit ist von mindestens 943 Todesurteilen auszugehen, die 1950 bis 1954 an Deutschen vollstreckt wurden; nahezu die Hälfte der Opfer, 461 Personen, wurde im Jahr 1951 hingerichtet.40

III. Dem internen Schriftverkehr und diversen Ermittlungsunterlagen aller Sicherheits- und Justizapparate nach zu urteilen verfügten die durch die Innen- und Außenpolitik der Zwischenkriegsjahre sowie die Propagierungen des Stalinismus ge- und verformten Organe41 über begrifflich vorgestanzte und kaum hinterfragte Wahrnehmungsmuster, Feindbilder sowie festgefügte Handlungsweisen. Primär – und auftragsgemäß – richteten sie ihr Augenmerk auf „Konterrevolutionäre“, und diese Frontstellung wurde ab 1945 stur auf erfahrene und erwartete Widerstände im besetzten Deutschland übertragen.42 Auf diese Weise blieb die Fahndung nach „Spionen“, „Diversanten“ und „Terroristen“ nach dem Ende des nationalsozialistischen Ausbeutungs- und Vernichtungskrieges gegen die UdSSR gegenüber der Suche nach NS-Kriegs- und Gewaltverbrechern vorrangig. Dabei haben NKVD, MGB und Militärjustiz der Verfolgung von Nazi-Verbrechen zweifellos mehr Aufmerksamkeit geschenkt, als es viele Zeitgenossen und die ältere Forschung wahrhaben wollten. Die Verfolgung nationalsozialistischer Kriegs- und Gewaltverbrechen war durchaus ein Anliegen der sowjetischen Besatzer. Es gewann allerdings nie die Bedeutung der Verfolgung politischer – tatsächlicher oder vermuteter – Opponenten und wurde zudem durch die stalinistisch deformierte Justiz nie in adäquaten Verfahren umgesetzt. Schon die Verquickung politischer oder propagandistischer Aufgaben mit der juristischen Ahndung von Verbrechen musste Ermittlungen und Gerichtsverhandlungen beeinflussen. Davon zeugen die Umstände des bekannten Sachsenhausenprozesses ebenso wie die späten Verurteilungen der ehemaligen KZFunktionshäftlinge Ernst Busse und Erich Reschke, die nach 1945 zunächst hohe Ämter in der SBZ innehatten.43 Ideologische Grundannahmen über den 40 Wie Anm. 38. 41 Vgl. Reinhard Müller, Menschenfalle Moskau. Exil und stalinistische Verfolgung, Hamburg 2001, hier S. 17–35 und 287–313. 42 Die „prowestliche Einstellung“ der Deutschen und „ihre Ablehnung des sowjetischen Herrschaftsmodells“ waren von Sicherheitsdiensten und Besatzungsapparaten schon im Frühjahr 1945 registriert worden. Vgl. Foitzik, Sowjetische Militäradministration, S. 383. 43 Lutz Niethammer (Hg.), Der „gesäuberte“ Antifaschismus. Die SED und die roten Kapos von Buchenwald, Berlin 1994, S. 26–67, 79–91; Mike Schmeitzner, Genossen vor

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deutschen Faschisten schließlich konnten zur Verzerrung möglicher Täterprofile bis hin zur tödlichen Justizfarce führen. Das Verfahren des Militärtribunals der 14. Artillerie-Stoß-Division vom 20. April 1945 gegen Richard D. stellt ein solches Extrembeispiel dar. Er wurde Mitte April 1945 im Alter von 62 Jahren von der Spionageabwehr SMERŠ der Division wegen des Verdachts auf Mitgliedschaft in der NSDAP verhaftet. D., der tatsächlich seit 1933 Parteigenosse war, musste bei den folgenden Vernehmungen seine Kenntnis des Parteiprogramms gestehen: „Das heißt also“, schloss der vernehmende SMERŠMitarbeiter das Verhör, „dass Sie damit einverstanden sind, dass Hitler einen Raubkrieg führt und das Ziel verfolgte, das Sowjetvolk sowie den Kommunismus zu vernichten.“44 Das Militärtribunal nahm am 20. April 1945 die Vorwürfe auf und verurteilte D. auf der Grundlage des Ukaz des Präsidiums des Obersten Sowjets vom 19. April 1943 als Kriegsverbrecher zum Tode. „Alle auf die Ausrottung des Sowjetvolkes, die Eroberung und Vernichtung des Vermögens der UdSSR gerichteten Maßnahmen der NSDAP und des Hitlerregimes führte D. aktiv aus“, heißt es in der Urteilsbegründung. Eine Berufung gegen das Urteil war nicht möglich. Politisierung und Ideologisierung der Justiz machten auch vor Alltagsvergehen und -kriminalität nicht halt. Fälle von Diebstahl sowjetischen Eigentums und Unterschlagung von Reparationsgütern, Wirtshausschlägereien mit Rotarmisten oder Fahrlässigkeiten im Eisenbahnverkehr wurden von sowjetischen Sicherheitsapparaten und Richtern immer wieder als politisch motiviert und damit als besonders verwerflich eingestuft. So kamen dann auch in Ostdeutschland Normen wie der Ukaz des Präsidiums des Obersten Sowjets vom 4. Juni 1947 zum Schutz des sozialistischen Eigentums sowie die Artikel 58-14 („konterrevolutionäre Sabotage“) oder Artikel 59 („besonders gefährliche Verbrechen gegen die Verwaltungsordnung“) des Strafgesetzbuches der RSFSR mit ihren harten Strafen zum Zuge, die ursprünglich Prioritäten und Methoden stalinistischer Herrschaft in der Sowjetumion widergespiegelt hatten.45 Der Gesamtbefund hochideologisierter Repressionsapparate, die die Realitäten des deutschen Besatzungsalltags nahezu ausschließlich durch stalinistisch getönte Brillen wahrnahmen, negiert weder die Existenz krimineller Banden in der Besatzungszone noch nationalsozialistisch oder antikommunistisch motiGericht. Die sowjetische Strafverfolgung von Mitgliedern der SED und ihrer Vorläuferparteien 1945–1954. In: Sowjetische Militärtribunale, Band 2, S. 265–344, hier 278. Zu Sachsenhausen: Natalja Jeske/Ute Schmidt, Zur Verfolgung von Kriegs- und NSVerbrechen durch sowjetische Militärtribunale in der SBZ. In: ebd., S. 155–192, hier 186–191; Winfried Meyer, Stalinistischer Schauprozess gegen KZ-Verbrecher? Der Berliner Sachsenhausen-Prozess vom Oktober 1947. In: Dachauer Hefte, 13 (1997), S. 153–180. 44 Fall Richard D. (HAIT-Archiv, ID 55825). Vgl. auch den Fall Fritz G. (HAIT-Archiv, ID 45567), der am 11. 4.1945 vom SMT der 416. Schützendivision Taganrog aufgrund seiner Mitgliedschaft in der NSDAP nach Ukaz 43 zum Tode verurteilt wurde (ebd.). 45 Vgl. Hilger / Schmeitzner / Schmidt, Widerstand und Willkür, S. 193–196, 227–233, 240–263.

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vierte Attacken auf die Besatzungsmacht und ihre ostdeutschen Bündnispartner. Es ist gleichfalls unbestreitbar, dass die westlichen Geheimdienste nach Kriegsende tatsächlich schnell ihre Fühler nach Osten ausgestreckt und sich auch Deutscher bedient haben.46 Form und Ausmaß der sowjetischen Gegenwehr standen aber sowohl in der unmittelbaren Nachkriegszeit als auch in der Frühphase der DDR in keinem Verhältnis zur realen, konkreten Gefährdung der Besatzungsarmee selbst. Verhaftungspraxis wie Rechtsprechung belegen vielmehr, dass man sich in der gesamten Periode weniger von konkreten Gefahrenanalysen oder Verdachtsmomenten, sondern in hohem Maße von Erwartungshaltungen und Interpretationsmustern und, in diesem Zusammenhang, von weitgreifenden Präventionsgedanken leiten ließ – daher war neben der Abschöpfung von Informanten und Denunzianten der Einsatz von Agents provocateurs eine bevorzugte Ermittlungsmethode. Die sowjetischen Repressionen orientierten sich in Ausrichtung und Intensität mehr an ideologischen Axiomen als an einem Anfangsverdacht oder genauen Lageeinschätzungen. Die „ununterbrochene und aktive Suche nach dem Feind“47 zeitigte unter diesen Umständen reiche Ernte: Das tschekistische „Wissen“ um Delikte wurde durch die erpressten und herausgeprügelten Geständnisse von Verhafteten „bestätigt“, die sogleich neue Verhaftungswellen nach sich zogen. Diese Mechanismen hat Hannah Arendt bereits 1951 allgemeingültig beschrieben: „Das Delikt hängt ganz und gar von den im geschichtlichen Augenblick enthaltenen Möglichkeiten ab. Diesen Möglichkeiten muss auch dann entsprochen werden, wenn die Wirklichkeit ihnen nicht entspricht, das heißt, wenn zu dem ‚möglichen Verbrechen‘ keine wirklichen Verbrecher sich entschlossen haben. Denn es liegt im Wesen der totalitären Fiktion, dass sie nicht nur das Unmögliche möglich macht, sondern vor allem auch alles, was sie nach ihrem ideologisch geleiteten Schema als möglich ‚voraussieht‘ – und Voraussehen heißt hier lediglich Berechnen –, bereits als wirklich in Rechnung stellt. Da die Geschichte in der totalitären Fiktion voraussehbar und berechenbar verläuft, muss jeder ihrer Möglichkeiten auch eine Wirklichkeit entsprechen. Diese ‚Wirklichkeit‘ wird dann nicht anders fabriziert als andere ‚Tatsachen‘ in dieser rein fiktiven Welt.“48

46 Vgl. u. a. den Rechenschaftsbericht des Leiters OKS SMAS, Generalmajor Gogunov, über die Arbeit der OKS im Jahr 1946 von Januar 1947 (GARF, f. 7212, op. 1, d. 154, l. 3–43; f. 7317, op. 9, d. 11, l. 130–136); zu den westlichen Diensten vgl. Christopher Simpson, Der amerikanische Bumerang. NS-Kriegsverbrecher im Sold der USA, Wien 1988; Mary E. Reese, Organisation Gehlen. Der Kalte Krieg und der Aufbau des deutschen Geheimdienstes, Berlin 1998, S. 98 ff. Zur Werwolf-Problematik und deutschen Widerstandsoperationen vgl. Hilger/Schmeitzner/Schmidt, Widerstand und Willkür, S. 196–211 und 219–227. 47 Übersicht des Stabschefs des 87. MVD-Schützenregiments, Major Masalkin, vom 29. 6.1946 (RGVA, f. 32925, op. 1, d. 102, l. 63–73, Zitat l. 68). 48 Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft, 6. Auflage München 1998, S. 886 f.

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Ein derartiges Realitätsverständnis und die damit verbundenen Vorgehensweisen konnten weder der differenzierten Realität des Besatzungsalltags noch dem qualitativ neuen, außen- respektive deutschlandpolitischen Umfeld gerecht werden. Vielmehr wurden tatsächliche und angenommene Widerstände in Deutschland schon früh in die als unvermeidlich vorausgesetzte weltumfassende Auseinandersetzung zwischen der UdSSR und den kapitalistischen Mächten integriert. Nach sowjetischer Lesart führten „konterrevolutionäre“ Deutsche den nationalsozialistischen Kampf gegen die UdSSR nur in neuem Gewande fort und wurden dabei – wieder einmal – vom kapitalistischen Ausland unterstützt: Das fast schon klassisch zu nennende Bündnis von innerem und äußerem Feind, das Stalin schon seit langem heimgesucht hatte, entfaltete nach Auffassung Moskaus nun auch in den besetzten Gebieten seine Wirksamkeit. Erste Akzente setzte das NKVD bereits im Juli 1945, als es erstmals Spionage-, Diversions- und andere Gruppen auf seine Fahndungsliste setzte, die erst nach der Besatzung durch die Rote Armee, unabhängig von Geheimdiensten Hitler-Deutschlands, entstanden waren.49 Im Laufe des Jahres 1946 registrierte Ivan Serov, nun schon weitaus konkreter, „Fakten von Spionagetätigkeit durch Angehörige des nazistischen Untergrundes zugunsten ausländischer Geheimdienste und der Organisation von Untergrundgruppen in der sowjetischen Zone auf deren Weisung“.50 Serovs Innere Truppen stießen ins gleiche Horn und meldeten für 1946 „eine Intensivierung der Aktivitäten von Spionage- und Gegenspionageagenturen der Verbündeten [!], vor allem der britischen und amerikanischen Aufklärungsdienste“.51 Das MGB nahm den Faden nach den bereits geschilderten Reorganisationen 1947 sogleich auf: „Die Intensivierung der Aktivitäten faschistischer Untergrundsorganisationen auf dem Gebiet der sowjetischen Zone“, liest man in einem Bericht von August 1947, „drückte sich in Diversion, Terror, anti-sowjetischer Agitation und Sabotage in Reparationsunternehmen aus und war dem wachsenden Einfluss des faschistischen Untergrunds in den anglo-amerikanischen Besatzungszonen und der Tätigkeit der anglo-amerikanischen Aufklärungsdienste geschuldet.“52 Eine Konsequenz tschekistisch-stalinistischer Prädispositionen und Perzeptionsautomatismen war demnach, dass die sowjetische Verteidigungslinie vorverlegt wurde: Die Tschekisten agierten nicht, als ob sie sich in einem Besatzungsgebiet jenseits der eigenen Landesgrenzen, sondern an der äußersten Front der Vaterlandsverteidigung befänden. 49 Befehl NKVD Nr. 00780 vom 4. 7.1945 (GARF, f. 9401, op. 12, d. 178, l. 10–12). 50 Serov an Kruglov Nr. 00833/s vom 26. 7.1946. In: Sowjetische Speziallager in Deutschland 1945 bis 1950. Hg. von Sergej Mironenko, Lutz Niethammer und Alexander von Plato. Band 2: Sowjetische Dokumente zur Lagerpolitik. Bearb. von Ralf Possekel, Berlin 1998, S. 233. 51 Kommandeur des 92. MVD-Grenzregiments, Oberst Bljumin, vom 1.1.1947. In: Pograničnye vojska SSSR: maj 1945–1950. Sbornik dokumentov i materialov, Moskau 1975, S. 166. 52 Stellv. Kommandeur des 83. MGB-Regiments, Gavrikov, von August 1947 (RGVA, f. 32925, op. 1, d. 150, l. 145–155).

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Die Bestimmung des sowjet-russischen Strafgesetzbuchs, wonach „jede Handlung, die auf den Sturz, die Unterhöhlung oder die Schwächung der Herrschaft der [...] gewählten Regierungen der Arbeiter und Bauern der Union der SSR [...] oder auf die Unterhöhlung oder die Schwächung der äußeren Sicherheit der Union der SSR und der grundlegenden wirtschaftlichen, politischen und nationalen Errungenschaften der proletarischen Revolution gerichtet ist“, als konterrevolutionär einzustufen sei, konnte nur aus dieser inneren Logik heraus extensiv auf Deutsche in Deutschland angewendet werden. Es galt, die Entwicklungen in Ostdeutschland als eine Garantie sowjetischer Unversehrtheit und Größe gegen die Angriffe äußerer und innerer Feinde zu verteidigen, das eigene Lager gegen das feindliche Lager zu schützen. Auch von daher haben die Prämissen, unter denen die sowjetischen Apparate in der SBZ/DDR für Ruhe und Ordnung sorgten, den Rahmen einer bloßen „Sicherung“ der Besatzungstruppen eindeutig überdehnt und gesprengt. Dasselbe gilt für alliierte Vorschriften, die die Verfolgung von Kriegsverbrechen, die Sicherheit alliierter Besatzungstruppen, Grundversorgung in den Besatzungsgebieten und vor allem die konsequente Abwehr aller „Versuche zur Wiederherstellung des Naziregimes oder zur Wiederaufnahme der Tätigkeit der Naziorganisationen“53 sowie die strikte Durchsetzung der Demilitarisierung gewährleisten wollten. Durch Einsatz und Anwendung stalinistisch generierter und disponierter Organe und Normen erfuhren die alliiert festgeschriebenen Vorhaben in der SBZ/DDR eine radikale Uminterpretation: Sie verformte zugrundeliegende politische Erwägungen des Westens bis zur Unkenntlichkeit und stufte gesamtalliierte Proklamationen zu hohlen Phrasen offizieller sowjetischer Besatzungsrhetorik herab. Auf der anderen Seite trat in der repressiven Ausformung sowjetischer Besatzungspolitik, wie sie sich in Speziallagern, Geheimprozessen, Deportationen und Verhaftungen manifestierte, die hohe Gewaltbereitschaft des Stalinismus gegen potentielle Gegner, nichtkonforme Bürger oder Unbeteiligte auch in Deutschland zutage. Die nahezu automatische Anwendung des Bekannt-Erprobten, vielmehr: von Dispositionen und verinnerlichten Werten auf das Besatzungsgebiet, tat das Ihrige dazu, um Opposition im Ansatz einzuschüchtern und die Suche nach gangbaren Entwicklungsalternativen in der SBZ zu unterdrücken.

53 Kontrollratsgesetz Nr. 4 vom 30.10.1945. In: Amtsblatt des Kontrollrats in Deutschland, Berlin 1945–1948, S. 26 f. Die weiteren hier genannten Komplexe waren u. a. in den Kontrollratsgesetzen 10, 23, 25, 34 und 43 geregelt. Vgl. ausführlicher Andreas Hilger, Die Tätigkeit sowjetischer Militärtribunale gegen deutsche Zivilisten: Recht und Ideologie. In: Diktaturdurchsetzung. Instrumente und Methoden der kommunistischen Machtsicherung in der SBZ/DDR 1945–1955. Hg. von Andreas Hilger, Mike Schmeitzner und Ute Schmidt, Dresden 2001, S. 79–90.

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IV. Schlichte Welt- und Feindbilder sowie die Bereitschaft zur gewalttätigen „Lösung“ von Konflikten wurden nicht nur von Tschekisten und Militärjuristen in der SBZ/DDR, deren Moskauer Führungskadern oder Stalin selbst gehegt. Sie lassen sich in recht starker Ausprägung für weite Teile des gesamten Besatzungsapparats der SMAD nachweisen. Auch ein prominenter Kritiker einzelner Maßnahmen der Repressionsapparate wie der Chef der SMA Thüringen, Kolesničenko, teilte offenbar sowohl ideologische Grundüberzeugungen als auch das Faible für Gewalt: Hinsichtlich der „Zerschlagung“, „Entlarvung“ und „Zersetzung“ politischer Feinde hätten die Organe, urteilte Kolesničenko Ende 1948 in einem Memorandum zur politischen Arbeit in Deutschland, „eine gewaltige Arbeit zur Ausfindigmachung und Ergreifung aller möglichen faschistischen Verbrecher, Spione und Diversanten geleistet. Ihnen steht auch in der Zukunft noch eine nicht geringe Arbeit bevor, weil die anglo-amerikanischen Imperialisten immer frecher werden und immer mehr Feinde aller Art zur Zersetzungsarbeit in unsere Zone schicken und schicken werden.“54 Eine derartige Übereinstimmung im Grundsätzlichen lässt sich auch für andere Ebenen und Sparten des Besatzungsapparats nachweisen.55 Ihren deutlichsten Ausdruck fand die Wertegemeinschaft in der engen Kooperation der verschiedenen Besatzungsapparate, die in ihrer Intensität und Ausrichtung kaum ausschließlich auf pragmatische Erwägungen – wie dem recht kleinen Mitarbeiterstab der Operativgruppen oder parallelen Zuständigkeiten verschiedener Verwaltungen56 – zurückzuführen ist. So halfen beispielsweise Militärkommandanten „mit allen Kräften den Organen der Staatssicherheit der UdSSR in Deutschland bei der Verfolgung von Agenten ausländischer Aufklärungsdienste (Spione, Diversanten, Banditen und Terroristen-Räuber)“.57 Vor Ort, beispielsweise im Bezirk Annaberg, funktionierte eine solche Zusammenarbeit schon 1945 erstaunlich gut. Hier „übermittelten operative und Truppenmitarbeiter nach Bedarf operative Aufstellungen über neu entdeckte ehemalige aktive Faschisten, über die Stimmung der Massen verschiedener Schichten und Orte an die Opergruppe [SMERŠ]. SMERŠ führt gemäß der Daten der operativen Aufstellungen die weitere Untersu54 Memorandum für B. Ponomarev zu Fragen der politischen Praxis in Deutschland vom 29.11.1948 (Auszug). In: Sowjetische Politik in der SBZ 1945–1949. Dokumente zur Tätigkeit der Propagandaverwaltung (Informationsverwaltung) der SMAD unter Sergej Tjul’panov. Hg. von Bernd Bonwetsch, Gennadij Bordjugov und Norman N. Naimark, Bonn 1997, S. 194. 55 Hierzu ausführlich Hilger/Petrov, Erledigung, S. 87–90. 56 Entsprechende Beschreibungen finden sich bei Vladimir V. Zacharov, Dmitrij N. Filippovych und Manfred Chajnemann (Heinemann), Materialy po istorii Sovetskoj Voennoj Administracii v Germanii 1945–1949 gg., 2 Bände, Moskau 1998/1999. 57 Direktive des Stabs der SMAD Nr. 6/0186, o. D. Zit. nach Zacharov / Filippovych / Chajnemann, Materialy po istorii, Band 2, S. 253 f.

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chung.“58 Daneben ist auch das Zusammenspiel der Organe mit der Rechtsabteilung der SMA(D), dem Politischen Berater und sogar mit der Abteilung Volksbildung (der SMA Sachsen-Anhalts) beispielhaft belegt.59 Außerordentlich enge Beziehungen pflegten die Organe indes zunächst einmal mit den Innenverwaltungen der SMA(D). Neben dem Austausch über laufende Ermittlungen beispielsweise gegen politische Opponenten, Geistliche oder Zeugen Jehovas ging es beiden Dienststellen vor allem um die flächendeckende Kontrolle deutscher Polizeikräfte; in diesem Bereich unterstützten die Organe aktiv entsprechende Kaderprüfungen.60 Eine zweite Säule operativ-administrativer Kooperation stellte schließlich die Verbindung zwischen Organen und den Polit-Apparaten der sowjetischen Haupt- und Landesverwaltungen dar. NKVD und MGB griffen erkennbar gerne auf das gesammelte Wissen der Politabteilungen über Stimmungen und Meinungen im Lande zurück, während die Politarbeiter ihrerseits oftmals die Chancen einer repressiven Absicherung ihrer Tätigkeit zu schätzen wussten. Im Grunde haben politische Mitarbeiter auf allen Ebenen die Organe über so genannte „negative Erscheinungen“ des politischen und gesellschaftlichen Lebens umfassend informiert. Entsprechende Meldungen, die mit Besatzungsbeginn einsetzen, betreffen Kritik an der Bodenreform, an den neuen Ostgrenzen Deutschlands, Fragen der Lebensmittelversorgung, Gerüchte über einen Dritten Weltkrieg usw. Neben allgemeinen Stimmungsberichten lenkten die Politarbeiter die operative Aufmerksamkeit gezielt auf „antisowjetische“, „faschistische“, „reaktionäre“ Flugblätter, anonyme Briefe und dergleichen mehr.61 1947 zum Beispiel meldete der Leiter der Propagandaabteilung des Dresdner Bezirks, Oberst Grigor’ev, Flugblätter gegen SMAD und SED sowie anonyme Aufrufe zu Hungerdemonstrationen. Vom MGB erbat Grigor’ev „ernsthafte Aufmerksamkeit“ und „entschiedene Maßnahmen“, denn: „Ich denke, dass in Freital eine provokatorische Gruppe am Werk ist, die von faschistischen Elementen gegründet und auf jeden Fall von außerhalb unterstützt wird.“62 Auf höherer Ebene war die innere Annäherung an die Organe ebenfalls weit gediehen: Ein Bericht über den „politischen und organisatorischen Zustand der politischen Parteien und der antifaschistischen Organisationen“, den der Leiter der Propagandaverwaltung der SMA der Provinz Sachsen im Frühjahr 1946 58 Militärkommandant des Bezirks, Gardemajor Nemov, an Leiter der Verwaltung der Militärkommandanturen des Kreises Chemnitz vom 26. 8.1945 (GARF, f. 7212, op. 1, d. 118, l. 114–116). 59 Vgl. Hilger/Petrov, Erledigung, S. 92–95. 60 Einzelmeldungen des Leiters OVD SMAS, Major Chvostenko, an Opersektor von März bis Juni 1949 (GARF, f. 7212, op. 1, d. 271). 61 Vgl. Hilger/Petrov, Erledigung, S. 95 f. 62 Oberst Grigor’ev an Leiter der Propagandaabt. SMAS, Oberstleutnant Vatnik, und Leiter der Abteilung MGB, Oberst Drozdov, vom 30. 5. und 6. 6.1947 (GARF, f. 7212, op. 1, d. 197, l. 11–16). Vgl. ders. an dieselben Empfänger vom 19. 6. und 24. 6.1947 (GARF, f. 7212, op. 1, d. 197, l. 20, l. 26–31).

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verfasste, ging in Kopie direkt an den Leiter des MVD-Opersektors der Provinz.63 Auf diese Weise kontrollierten Besatzungs- und Sicherheitsapparate gemeinsam in enger Absprache das Leben in der Besatzungszone. Die vielfachen Verbindungen stellten für die Organe zusätzliche Informationsquellen dar und lieferten zugleich verlässliche Zuarbeiten. Umgekehrt fühlten sich nicht nur NKVD und MGB, sondern auch die Militärjustiz befähigt, aus ihrer besonderen Perspektive und ihrem Erfahrungsschatz heraus etwa den Polit- und Innenverwaltungen der SMA(D) Ratschläge zu erteilen. So setzte das MGB in Rochlitz 1949 die Entlassung des dortigen Polizeipräsidenten durch,64 während der Vorsitzende des SMT Sachsen-Anhalts seiner Politikverwaltung nahe legte, zur Abwehr „nazistischer Elemente“ und Ostbüro-Spione in der SED die „Erziehungsarbeit“ zu verstärken, vor allem aber die „Wachsamkeit“ gegenüber ehemaligen SPD-Mitgliedern zu erhöhen.65 Die allgemein propagierte bolschewistische Wachsamkeit machte aus jedem Sowjetvertreter einen Tschekisten.

V. Das hier nur großflächig beschriebene sowjetische Netzwerk wurde durch deutsche Verwaltungen und Apparate engagiert unterstützt. Die direkten Vorläufer einer deutschen politischen Polizei entstanden ab Mai 1945 unter Anleitung und Kontrolle der Besatzungsmacht bei der Kripo.66 Deren Mitarbeiter wurden vorrangig unter Kommunisten ausgewählt und zunächst nur in Ausnahmefällen gegen „Konterrevolutionäre“ und „politische Verbrecher“ eingesetzt. Die Einheiten entwickelten sich bis Januar 1947 durch Vereinheitlichung und Zentralisierung zur K 5. „Die gesamte Tätigkeit und das Aufgabengebiet des Referates K 5“ war „eine Auftragsangelegenheit der Besatzungsmacht“, bei der die „grundsätzliche Bearbeitung und Entscheidung [...] in den Händen der Besat-

63 Major Semidov an Generalmajor Martirosov vom 19. 4.1946 (GARF, f. 7133, op. 1, d. 273, l. 346). 64 Leiter UVD SMAD, Gardegeneralmajor Gorochov, an Leiter OVD SMAS, Major Chvostenko, vom 10. 3.1949 (GARF, f. 7212, op. 1, d. 271, l. 102 und l. 275 f.). 65 Vorsitzender des SMT SMASA, Gardeoberstleutnant der Justiz Telenkov, an Stellv. Leiter der SMASA für Politangelegenheiten, Gen. Oberst Rodionov, vom 18. 7.1949 (GARF, f. 7133, op. 1, d. 34, l. 151–154). Vgl. weitere Tätigkeitsberichte und Bilanzen dieses SMT (ebd., l. 69–74 und 125–144). 66 Das Folgende stützt sich v.a. auf Monika Tantzscher, Die Vorläufer des Staatssicherheitsdienstes in der Polizei der Sowjetischen Besatzungszone – Ursprung und Entwicklung der K 5. In: JHK, 6 (1998), S. 125–156; Mike Schmeitzner, Formierung eines neuen Polizeistaates. Aufbau und Entwicklung der politischen Polizei in Sachsen 1945– 1952. In: Rainer Behring und Mike Schmeitzner (Hg.), Diktaturdurchsetzung in Sachsen 1945–1952. Studien zur Genese der kommunistischen Herrschaft 1945–1952, Köln 2003, S. 201–267.

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zungsbehörde lag.“67 Während die K 5 im Zuge des SMAD-Entnazifizierungsbefehls Nr. 201 eine massive personelle Aufstockung erfuhr, bemühte sich die SED um die sowjetische Genehmigung zum Aufbau einer eigenen Geheimpolizei. Gegen die Einwände des Leiters des MGB, Abakumov, erteilte Stalin im Dezember 1948 schließlich sein Einverständnis zum Aufbau entsprechender deutscher Strukturen. Sie standen allerdings weiter unter der Überwachung durch das MGB.68 Das MGB wählte auch die ersten Kader für das im Februar 1950 endgültig konstituierte Ministerium für Staatssicherheit aus. Zugleich installierte es seinen Favoriten Wilhelm Zaisser – wie sein Nachfolger, Wollweber, kein Vertrauensmann Ulbrichts – als ersten Minister. Seitens der sowjetischen Apparate wurden K 5 und MfS mittels Kontrollkompetenzen, Instruktionstätigkeit und Kaderpolitik nach sowjetisch-tschekistischen Vorbildern ausgerichtet. Das galt zum einen für die Arbeitsmethoden und, wichtiger, für die Befugnisse in der Strafverfolgung. Hier übernahm die K 5 1947 analog zur sowjetischen Praxis die Aufgabe, aus der eigenen Ermittlung die Anklageschriften selbst zu erstellen. Außerdem ging mit der deutschen Übernahme sowjetischer Häftlingskontingente 1950 schließlich auch die Übernahme sowjetischer Organisationsprinzipien einher: Der Strafvollzug wurde zur Angelegenheit des Innenministeriums und damit aus dem Justizministerium herausgelöst. Die stalinistische Prägung erstreckte sich zum anderen auf das Selbstverständnis der deutschen „Tschekisten“ – wie das MfS seine Mitarbeiter bezeichnenderweise nannte – sowie auf gängige Feindbilder und Perzeptionsmechanismen.69 Diese waren allerdings mit bereits existierenden deutschen (exil-) kommunistischen Traditionen und Verhaltensweisen kompatibel70 – und verweisen zugleich auf die besondere Nähe nationalsozialistischer und stalinistischer Sprachregelungen im ordnungspolitischen respektive polizeilichen Bereich.71 So registrierte der Chef der sächsischen Polizei beispielsweise im Februar 1946, dass man sich teilweise „politischen Banden“ gegenübersehe,

67 1. Vizepräsident der DVdI, Wagner, an UVD SMAD, z.Hd. von Herrn Kapitän Patoka, vom 15. 6.1948 (BArch, DO1/7.0, Nr. 365, Bl. 282–285, hier Bl. 282); Entwurf des Leiters der Abt. K vom 11. 4.1947. Zit. bei Tantzscher, Die Vorläufer, S. 140 mit Anm. 68. Vgl. dazu die „Geschichte der K 5“ (BArch, DO1/7.0, Nr. 355). 68 Vgl. Monika Tantzscher, „In der Ostzone wird ein neuer Apparat aufgebaut“. Die Gründung des DDR-Staatssicherheitsdienstes. In: DA, 31 (1998), S. 48–56; Jens Gieseke, Die hauptamtlichen Mitarbeiter der Staatssicherheit. Personalstruktur und Lebenswelt 1950–1989/90, Berlin 2000, S. 59–62. 69 Vgl. Gieseke, Die hauptamtlichen Mitarbeiter, S. 103–105 und 126–155 mit ausführlichen Analysen alter Moskau-Kader und neuer Mitarbeiter im MfS. 70 Gieseke, Die hauptamtlichen Mitarbeiter, S. 119–124; Schmeitzner, Formierung, S. 223–231; allg. Hermann Weber, Die Wandlung des deutschen Kommunismus. Die Stalinisierung der KPD in der Weimarer Republik, Band 1, Frankfurt a. M. 1969. 71 So ist beispielsweise der „Banden“- oder der „Schädlings“-Begriff aus dem politischen Vokabular Lenins und besonders Stalins nicht wegzudenken.

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„die vom Westen nach der russischen Zone geschickt werden“.72 Damit stand er deutlich nicht nur in sowjetischer, sondern auch in deutsch-kommunistischer Tradition, wie Forderungen Ulbrichts belegen: „Warum“, so seine rhetorische Frage im SED-Parteivorstand im Juni 1946, „warum müssen die Polizeiorgane nicht die Tätigkeit der bewaffneten Gruppen aufdecken, die aus der englischen und amerikanischen Zone kommen, um hier Attentate vorzubereiten?“73 Ideologisch-verquaste Realitätswahrnehmungen ließen auch die sächsische K 5 nicht ruhen: „Die versteckte Sabotage [...] dürfte jedoch sehr zugenommen haben“, vermeldete man im Jahresbericht 1947 mit unfreiwilliger Komik. „Obwohl auf diesem Gebiet naturgemäß das Ausfindigmachen der Täter sehr schwierig ist, zeigt uns die Praxis, dass z. B. noch immer nicht die restlose Erfassung der erzeugten Produktionsgüter möglich ist. Hier müssen also an entscheidender Stelle Menschen sitzen, welche sabotierend wirken und noch nicht gefasst werden konnten.“74 Der politische Glaube war alles – wie beim sowjetischen Vorbild, so ließ auch die fachliche Qualifikation der deutschen Tschekisten sehr zu wünschen übrig.75 Mit ungebrochenem Selbstbewusstsein hat das MGB fehlende Fähigkeiten ihrer deutschen Schüler oftmals harsch kritisiert, ohne seine eigene Lehrerrolle zu thematisieren. Das sowjetische Überlegenheitsgefühl paarte sich mit einem mitunter offen ausbrechenden Misstrauen gegen die deutschen Helfer, denen man deshalb längere Zeit nicht den Einsatz eigener Informanten zugestehen wollte.76 Diese Gefühlslagen lassen sich zugleich als Ausdruck der unbestrittenen Vorrangstellung sowjetischer Organe im ostdeutsch-sowjetischen Beziehungsgeflecht verstehen: Die deutschen Pendants des MGB blieben ihm bis in die fünfziger Jahre hinein untergeordnet,77 und die SED konnte sich nur

72 Protokoll der 1. Zusammenkunft der Polizeipräsidenten der Provinzen und Landesverwaltungen in Dresden am 16. 2.1946 (BStU, MfS-AS, 229/66, Band 2, Bl. 243 f). 73 SAPMO-BArch, DY30/IV 2/1, Nr. 4, Bl. 118. 74 Jahresbericht 1947 Dezernat K 5 Sachsen. In: Günther Glaser (Hg.), „Reorganisation der Polizei“ oder getarnte Bewaffnung in der SBZ im Kalten Krieg? Dokumente und Materialien zur sicherheits- und militärpolitischen Weichenstellung in Ostdeutschland 1948/49, Frankfurt a. M. 1995, S. 96–98. 75 Gieseke, Die hauptamtlichen Mitarbeiter, S. 75–77, 125 f. Vgl. die selbstkritische Einschätzung des 1. DVdI-Vizepräsidenten, Wagner, auf der Arbeitstagung mit den Dezernats- und Kommissariatsleitern K 5 am 7.–8.10.1947 (BStU, MfS-AS, Nr. 442/66, Bl. 123). 76 Hilger/Petrov, Erledigung, S. 134–137. 77 Roger Engelmann, Diener zweier Herren. Das Verhältnis der Staatssicherheit zur SED und den sowjetischen Beratern 1950–1959. In: Siegfried Suckut / Walter Süß (Hg.), Staatspartei und Staatssicherheit. Zum Verhältnis von SED und MfS, Berlin 1997, S. 51–72; ders./Silke Schumann, Der Ausbau des Überwachungsstaates. Der Konflikt Ulbricht – Wollweber und die Neuausrichtung des Staatssicherheitsdienstes der DDR 1957. In: VfZ, 43 (1995), S. 341–378. Vgl. außerdem zu Parteidiensten der KPD/SED Michael Kubina, Von Utopie, Widerstand und Kaltem Krieg. Das unzeitgemäße Leben des Berliner Rätekommunisten Alfred Weiland (1906–1978), Hamburg 2001, S. 162– 184, 215–223.

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dann in Szene setzen, wenn die Moskauer VKP (b) ihre deutsche Bruderpartei unterstützte – die bereits skizzierte Entstehung der ostdeutschen Geheimpolizei ist das beste Beispiel hierfür. Dagegen lief die Initiative Piecks und Grotewohls, die durch einige wenige öffentliche SMT-Prozesse den Ruch politischer Geheimjustiz abstreifen und das Image von Besatzungsmacht und SED verbessern wollten, ins Leere, da niemand in Moskau das MGB in Deutschland öffentlicher Kontrolle aussetzen wollte78; erneute Überlegungen Ende 1951 wurden ebenfalls in Moskau abgeblockt.79 Ebenso spiegelt die gesamte zögerliche Entlassungspolitik hinsichtlich Internierter und SMT-Verurteilter diese fundamentale Nachrangigkeit aktueller eigenständiger SED-Interessen gegenüber Moskauer Erwägungen wider: Trotz erster Massenentlassungen nichtverurteilter Internierter 1948 blieben die Speziallager und ihre Insassen in der SBZ eine ständige Belastung für Politik und Außendarstellung der SED. Die endgültige Auflösung der Lager 1950 war mit der ostdeutschen Verpflichtung verbunden, über 3 000 Insassen „hoch zu verurteilen“: „Würden die noch in Haft befindlichen, den deutschen Behörden zur Aburteilung übergebenen Menschen von unseren Freunden nicht als Feinde angesehen, wären sie mit entlassen worden“,80 erläuterte die SED-Spitze im April 1950 die anstehenden Aufgaben. Hinsichtlich der SMT-Verurteilten selbst ließ sich Moskau ebenfalls kaum von ostdeutschen Vorstellungen beeindrucken: Gegen den Wunsch der SED, „die von den Sowjetorganen abgeurteilten Verbrecher nach der Sowjetunion zu transportieren“,81 beließ Moskau das Gros in DDR-Gefängnissen. Erst nach Stalins Tod nahmen seine Nachfolger 1953 und 1955/56 mittels umfangreicher Entlassungen Korrekturen früherer Justizexzesse vor. Die Abkehr von der politischen Instrumentalisierung der Justiz konnte indes erst nach dem Ende der Parteiherrschaft in der UdSSR vollzogen und in individuellen juristischen Rehabilitierungen dokumentiert werden.82 Die DDR ihrerseits musste nach März 1953 den neuen Kursansätzen in der SMT-Politik folgen: Zögern und Halbherzigkeiten der SED-Führung unterstreichen noch einmal, dass die sowjetische Repressionspolitik der Vorjahre in Ost78 Vladimir K. Volkov (Hg.), Za sovetami v Kreml’. Zapis’ besedy I. V. Stalina s rukovoditeljami SEPG. Mart 1948 g. Istoričeskij archiv, (2002), Nr. 2, S. 3–27. Der entsprechende Beschluss des Ministerrats der UdSSR Nr. 1029–355ss vom 31. 3.1948 blieb ohne Konsequenzen. In: Sowjetische Speziallager, Band 2, S. 321 f. 79 Hilger/Petrov, Erledigung, S. 69–75. 80 Wolfgang Eisert, Die Waldheimer Prozesse. Der stalinistische Terror 1950. Ein dunkles Kapitel der DDR-Justiz, München 1993, S. 64 f. Zu den Verfahren vgl. jetzt Norbert Haase/Bert Pampel (Hg.), Die Waldheimer „Prozesse“ – fünfzig Jahre danach. Dokumentation der Tagung der Stiftung Sächsische Gedenkstätten am 28. und 29. September 2000 in Waldheim, Baden-Baden 2001. 81 Bericht an Stalin vom 19. 9.1949. In: Dietrich Staritz, Die Gründung der DDR. Von der sowjetischen Besatzungsherrschaft zum sozialistischen Staat, 3. überarb. und erw. Neuauflage München 1995, S. 243–247. 82 Vgl. Günther Wagenlehner, Die russischen Bemühungen um die Rehabilitierung der 1941–1956 verfolgten deutschen Staatsbürger. Dokumentation und Wegweiser, Bonn 1999.

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Berlin auf großes Einverständnis gestoßen war.83 Zu einer konsequenten Neubewertung der sowjetischen Repressionsmaßnahmen ist es unter der SED ebenfalls nie gekommen. Erst das Rehabilitierungsgesetz der letzten DDR-Volkskammer von September 1990 vollzog hier eine tatsächliche Wende.84 Die weitreichende Interessenidentität bzw. –parallelität zwischen ostdeutschen Politikern und sowjetischen Besatzern, die Übereinstimmung von Weltbildern und die – aus sowjetischer Perspektive – alternativlose Vertrauens- und Vorreiterrolle der KPD/SED brachten es unweigerlich mit sich, dass die ostdeutschen Kader als Teil des stalinistischen Lagers in den sowjetischen „Staatsschutz“ mit einbezogen wurde. Ostdeutsche Kommunisten waren somit aktive Nutznießer, nicht aber Inspiratoren und Triebfedern sowjetischer Repressionsmaßnahmen. Denunziationen verdeutlichen dieses Verhältnis: Um zum Erfolg zu kommen, mussten sich Deutsche stalinistischer Argumentationsmuster bedienen. Dass klassen- und ideologiebewusste Funktionäre aus KPD/SED und Polizei diese vorgebrachten Überzeugungen auch tatsächlich teilten, spielte für den Erfolg der Denunziationen kaum, für deren hohe Zahl eine entscheidende Rolle: „Wenn ich der Meinung bin“, so sprach sich im SED-Landesvorstand Sachsen das ehemalige KPD-Mitglied Fritz Große zumindest implizit für das tschekistische Verhalten von Parteimitgliedern aus, „dass sich ein Genosse große Verfehlungen hat zuschulden kommen lassen, so würde ich Vertrauen zur Roten Armee haben. Ich würde mich als Agent des Gegners betrachten, wenn ich so etwas verschweigen würde. Die russischen Genossen, die geschult sind, helfen uns.“85

VI. In allen Teilaspekten der Tätigkeit sowjetischer Repressionsapparate in Deutschland schlug sich die Vorrangstellung genuin sowjetischer Interessen nieder. Hinsichtlich der nationalsozialistischen Kriegs- und Gewaltverbrechen konzentrierte man sich auf Untaten gegen sowjetische Bürger, in der Wirtschaftspolitik einseitig auf den Schutz sowjetischer Reparationsinteressen und sowjetischen Eigentums. Die Moskau-zentrierte Prioritätensetzung drückte sich aber vor allem im exzessiven Kampf gegen „konterrevolutionäre“ Gefahren auf deutschem Boden aus. Das spezifisch stalinistische Eigengewicht, die entsprechende präventive Ausformung und die konkrete Umsetzung der Sicherungsmaßnahmen erwiesen sich als zusätzliche Triebfedern einer Sowjetisierung, die 83 Hierzu Andreas Hilger und Jörg Morré, SMT-Verurteilte als Problem der Entstalinisierung. Die Entlassungen Tribunalverurteilter aus sowjetischer und deutscher Haft. In: Sowjetische Militärtribunale. Band 2, S. 685–756. 84 Gesetz vom 6. 9.1990. In: GBl der DDR, Teil I, Nr. 60 vom 18. 9.1990, S. 1459–1465. 85 Sitzung des Sekretariats des SED-Landesvorstands vom 2. 4.1947. Zit. nach Andreas Malycha, Partei von Stalins Gnaden? Die Entwicklung der SED zur Partei neuen Typus in den Jahren 1946 bis 1950, Berlin 1996, S. 268 f.

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so gar nicht erst explizit zum Ziel sowjetischer Deutschlandpolitik erklärt werden musste. Der Export zwar hochideologisierter, aber dennoch grobschlächtiger Gegnerdefinitionen in die SBZ, die strikte Anwendung stalinistischer Methoden zur Gefahrenabwehr, die mögliche Alternativentwicklungen durch Einschüchterung ausschalteten und ihre eigene Machtatmosphäre schufen, sowie, in weiterer Perspektive, die Ausrichtung deutscher Organe an diesen stalinistischen Errungenschaften, entwickelten ihre Eigendynamik. Sie musste nicht bewusst geplant und stringent gefördert werden, aber sie wurde bewusst nie eingedämmt.86 Widerstände gegen die KPD/SED wurden aufgrund ihrer Sonderstellung nicht nur von deutschen Kommunisten selbst als verwerflich angesehen: Die UdSSR interpretierte sie als Widerstand gegen Politik und Sicherheitsbedürfnis der Besatzungsmacht und unterschied daher praktisch nicht zwischen antisowjetischer Opposition und Widerstand gegen KPD/SED. Dabei bewegten sich NKVD-MVD und MGB innerhalb der von Moskau vorgegebenen Rahmenbedingungen: Bei aller Elastizität im Einzelnen orientierten sich diese an ideologisch-fundamentalistischen Kernüberzeugungen, die Handlungsgrundlage aller sowjetischen Apparate in Deutschland und in der UdSSR waren und ihre Wirkung auf der Grundlage gemeinsamer Werte und Methoden entfalteten. Von daher dürfen innersowjetische Reibungen zwischen den verschiedenen Sicherheitsapparaten bzw. mit anderen Besatzungsorganen nicht darüber hinweg täuschen, das die an der Deutschlandpolitik beteiligten sowjetischen Funktionäre in ihren Grundprinzipien und -dispositionen in hohem Maße konform gingen. Die Organe waren ein integraler Bestandteil des sowjetischen Staatsapparats – und damit auch integraler Bestandteil des sowjetischen Besatzungsapparats. Sie wurden, die vielfachen Verbindungen belegen es, von Militär und Besatzungsverwaltung auch als unverzichtbarer Teil und wesentliche Stütze ihrer Besatzungspolitik verstanden und genutzt. Einzelne Auswüchse, in denen sich die besondere Machtposition der Organe im Stalinismus ausdrückten, mochten kritisiert werden: Ihren Werten und Überzeugungen blieben dennoch alle Besatzer verhaftet. Den ideologischen Grundannahmen fiel auch konventionelle Unterscheidung von Außen- und Innenpolitik zum Opfer: Gerade im ureigenen Bereich der Tschekisten wurden ursprünglich innenpolitisch angelegte oder motivierte Maßnahmen durch ihren bloßen Export außenpolitisch wirksam. Der Gegensatz zwischen Defensiv- und Expansionspolitik hob sich in stalinistischen Prophylaxemaßnahmen und Übersteigerungen auf, ohne dass sie sich zu einem ausformulierten deutschlandpolitischen Programm verdichtet hätten. Die Tätigkeit sowjetischer Repressionsapparate in Deutschland, denen von sowjetischen und ostdeutschen Stellen gleichermaßen hohe Bedeutung zugemessen wurde, verdeutlicht die Genese der DDR als die einer Besatzungsdiktatur, die sowjetische Apparate auf der Grundlage letztlich exklusiver Grundüberzeugungen und al86 Vgl. die grundsätzlichen Überlegungen bei Norman N. Naimark, Die Russen in Deutschland. Die sowjetische Besatzungszone 1945 bis 1949, Berlin 1997, S. 586 ff.

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ternativloser Gewaltbereitschaft seit 1945 ansteuerten.87 Die reale Genese und konkrete Ausgestaltung der ostdeutschen Herrschaft verweist im Vergleich mit Entwicklungen außerhalb Deutschlands und gerade mit dem Verlauf in Österreich auf die internationale Einbindung und auf pragmatische Prioritätensetzungen Moskaus zurück, die Ausmaß und Konsequenzen des Exports des Stalinismus mit beeinflussten und formten.

87 Vgl. Foitzik, Sowjetische Militäradministration, S. 398–409. Das Konzept der inneren „Diktaturdurchsetzung“, das Rainer Behring und Mike Schmeitzner entwickelt haben, wird in der weiteren Erforschung der sowjetischen Deutschlandpolitik enger mit der Analyse internationaler Entwicklungen und außenpolitischer Ziele und Strategien der UdSSR verzahnt werden müssen, um die vielschichtigen Motivationen für diese Durchsetzung angemessen erfassen sowie mögliche Abgrenzungen zielgerichteten Handelns und mechanischer Übertragung leisten zu können. Rainer Behring/Mike Schmeitzner, Einleitung. In: dies. (Hg.), Diktaturdurchsetzung, S. 7–24.

„Wir mussten hinter eine sehr lange Liste von Namen einfach das Wort ‚verschwunden‘ schreiben.“ Sowjetische Strafjustiz in Österreich 1945 bis 1955 Harald Knoll / Barbara Stelzl-Marx Mit der Besetzung Ostösterreichs exportierte die Sowjetunion für insgesamt zehn Jahre ihr Justizsystem nach Österreich. Als Folge wurden zwischen 1945 und 1955 etwa 2 200 österreichische Zivilisten von sowjetischen Organen festgenommen; mindestens eintausend von geheimen Militärtribunalen wegen Kriegs-, Staats- und Alltagsverbrechen zu meist hohen Haftstrafen verurteilt, über 150 hingerichtet.1 Für die österreichische Bevölkerung und die Öffentlichkeit blieben die Gründe für eine Verhaftung und das weitere Schicksal der „Verschleppten“ weitestgehend im Dunkeln. „Wir mussten hinter eine sehr lange Liste von Namen einfach das Wort ‚verschwunden‘ schreiben“,2 bezog sich Bundeskanzler Leopold Figl 1948 auf die scheinbar willkürlich durchgeführte „Menschenräuberei“ und die Ohnmacht der österreichischen Behörden. Die Gründe für die Verhaftungen, die am helllichten Tag, beim Spaziergang, unter dem Vorwand einer dienstlichen Erledigung auf der sowjetischen Kommandantur oder in der eigenen Wohnung vorgenommen wurden, waren vielfältig und müssen häufig in einem engen Zusammenhang mit den Ereignissen des Kalten Krieges gesehen werden. So reagierte die sowjetische Besatzungs1

2

Ludwig Boltzmann-Institut für Kriegsfolgen-Forschung, Graz–Wien–Klagenfurt, Datenbank österreichischer Zivilverurteilter in der UdSSR (BIK, Datenbank Zivilverurteilte). Der vorliegende Beitrag beruht auf: Harald Knoll/Barbara Stelzl-Marx, Österreichische Zivilverurteilte in der Sowjetunion. Ein Überblick. In: Sowjetische Militärtribunale, Band 2: Die Verurteilung deutscher Zivilisten 1945–1955. Hg. von Andreas Hilger, Mike Schmeitzner und Ute Schmidt, Köln 2003, S. 571–605, und Harald Knoll/ Barbara Stelzl-Marx, Sowjetische Strafjustiz in Österreich. Verhaftungen und Verurteilungen 1945 bis 1955. In: Stefan Karner/Barbara Stelzl-Marx (Hg.), Die Rote Armee in Österreich. Sowjetische Besatzung 1945 bis 1955. Beiträge, Graz 2005, S. 275–322. Die Recherchen zu diesem Thema erfolgten im Rahmen des vom österreichischen Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur geförderten Projektes „Die Rote Armee in Österreich 1945–1955“, durchgeführt am Ludwig Boltzmann-Institut für Kriegsfolgen-Forschung. Projektleitung: Stefan Karner; Projektkoordination: Barbara Stelzl-Marx. Aus einer Rede von Bundeskanzler Figl in Vöcklabruck, Oberösterreich, am 25. 9.1948: New York Times vom 26. 9.1948 zit. nach: William L. Stearman, Die Sowjetunion und Österreich 1945–1955. Ein Beispiel für die Sowjetpolitik gegenüber dem Westen, Bonn 1962, S. 73.

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macht rigoros auf alles, was sie als Bedrohung empfand: Unerlaubter Waffenbesitz, Zugehörigkeit zu „Werwolf“-Gruppen, Auseinandersetzungen mit Soldaten der Roten Armee, kriminelle Handlungen und vor allem Spionage. Aber auch die Ahndung von NS-Kriegsverbrechen gegenüber sowjetischen Bürgern stellte ein wichtiges Ziel der sowjetischen Strafjustiz in Österreich dar. Unter den Verhafteten befanden sich namhafte Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens und der Wirtschaft – wie etwa die Leiterin der Planungssektion im Ministerium für Vermögenssicherung und Wirtschaftsplanung unter Minister Peter Krauland, Margarethe Ottillinger,3 oder die inoffiziellen „Geheimdienstchefs“, Polizeiinspektor Anton Marek4 sowie der Gendameriebeamte Franz Kiridus,5 – ebenso wie „der kleine Mann von der Straße“. Im folgenden Beitrag werden die Prozesse und Urteile auf breiter Quellengrundlage untersucht, wobei die Verurteilungspraxis und die anhand von Fallbeispielen dargelegten wichtigsten Verurteilungsgründe im Zentrum stehen. Ein eigenes Kapitel widmet sich der Repatriierung und den so genannten „Heimkehrerzügen“, die bis Dezember 1956 die freigelassenen Zivilverurteilten und Kriegsgefangenen nach Österreich transportierten. Abschließend wird noch auf die seit 1996 durchgeführten Rehabilitierungsverfahren der österreichischen „Stalinopfer“ eingegangen, die für viele eine moralische Wiedergutmachung nach mehreren Jahrzehnten bedeutete.

Forschungsstand und Quellenlage Ähnlich wie in Deutschland6 stellte die Thematik der Zivilverurteilten auch in Österreich ein jahrzehntelanges Forschungsdesiderat dar, was insbesondere auf die schwierige Quellensituation zurückzuführen ist.7 Erst seit der – teilweisen – Öffnung der sowjetischen Archive Anfang der 1990er Jahre konnte Einsicht in Personalakten verurteilter österreichischer Zivilisten und Kriegsgefangener 3

4 5

6 7

Stefan Karner (Hg.), Geheime Akten des KGB. „Margarita Ottilinger“, Graz 1992; ders., Verschleppt in die Sowjetunion: Margarethe Ottillinger. In: Gerhard Jagschitz/ Stefan Karner (Hg.), Menschen nach dem Krieg. Schicksale 1945–1955. Ausstellung Schloss Schallaburg 1995, Innsbruck 1995, S. 35–49. RGVA, f. 461, Personalakt Nr. 190448, Anton Marek. Gerald Stourzh, Um Einheit und Freiheit: Staatsvertrag, Neutralität und das Ende der Ost-West-Besetzung Österreichs 1945–1955, 4., völlig überarb. u. erw. Auflage Graz 1998, S. 140 ff.; Manfred Fuchs, Der österreichische Geheimdienst. Das zweitbeste Gewerbe der Welt, Wien 1994, S. 133 ff.; Wilhelm Svoboda, Die Partei, die Republik und der Mann mit den vielen Gesichtern. Oskar Helmer und Österreich II. Eine Korrektur, Wien 1993, S. 84 ff. Vgl. dazu u. a.: Andreas Hilger/Mike Schmeitzner, Einleitung: Deutschlandpolitik und Strafjustiz: Zur Tätigkeit sowjetischer Militärtribunale in Deutschland 1945–1955. In: Sowjetische Militärtribunale, Band 2, S. 7–34. Erste Hinweise auf die Problematik der Verschleppungen durch sowjetische Organe finden sich etwa bei Stearman, Die Sowjetunion und Österreich 1945–1955; Manfried Rauchensteiner, Der Sonderfall. Die Besatzungszeit in Österreich 1945 bis 1955, Graz 1995.

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sowie anderes Aktenmaterial genommen werden, wobei der Zutritt zu den Akten der Sicherheits-, Geheimdienst- und Justizbehörden sowohl in Österreich als auch in Russland nicht uneingeschränkt ist. Auf der Basis der im Folgenden angeführten Quellen versucht das Ludwig Boltzmann-Institut für Kriegsfolgen-Forschung (BIK) seit Anfang der 1990er Jahre, diese Forschungslücke zu schließen und einen möglichst vollständigen Überblick über die verhafteten österreichischen Zivilisten zu erlangen. Der von Stefan Karner herausgegebenen Quellenedition zum bereits erwähnten Fall Margarethe Ottillinger, womit weltweit erstmals überhaupt ein vollständiger Personalakt aus den geheimgehaltenen Archiven des sowjetischen Innenministeriums und des KGB veröffentlicht werden konnte,8 folgten Recherchen zu verurteilten Niederösterreichern,9 steirischen „Werwolf“-Aktivisten und Polizisten10 sowie zum Strafrechtssystem der Sowjetunion.11 Neben der Verfolgung nationalsozialistischer Kriegs- und Gewaltverbrechen als Form der Entnazifizierung12 konnten auch mehrere Einzelschicksale13 exemplarisch beleuchtet werden. 8 9

Karner, Geheime Akten; Karner, Verschleppt in die Sowjetunion. Verurteilte niederösterreichische Zivilisten in der Sowjetunion 1945–1955. Forschungsprojekt gefördert von der Niederösterreichischen Landesregierung, Abteilung Wissenschaft und Kultur, durchgeführt am Ludwig Boltzmann-Institut für Kriegsfolgen-Forschung. Hinweise auf zivilverurteilte Niederösterreicher bzw. Kärntner finden sich auch bei Edda Engelke, Zum Thema Spionage gegen die Sowjetunion. In: Erwin A. Schmidl (Hg.), Österreich im frühen Kalten Krieg 1945–1958. Spione, Partisanen, Kriegspläne, Wien 2000, S. 119–136; Edda Engelke, Niederösterreicher in sowjetischer Kriegsgefangenschaft während und nach dem Zweiten Weltkrieg, Graz 1998, S. 137 ff.; Sabine Elisabeth Gollmann, Kärntner in sowjetischer Kriegsgefangenschaft während und nach dem Zweiten Weltkrieg, Graz 1999, S. 128 ff. 10 Stefan Karner, „Ich bekam zehn Jahre Zwangsarbeit.“ Zu den Verschleppungen aus der Steiermark durch sowjetische Organe im Jahr 1945. In: Siegfried Beer (Hg.), Die „britische Steiermark“, Graz 1995, S. 249–260; Harald Knoll, Verhaftungen durch die Rote Armee in der Steiermark 1945. Unveröff. Manuskript, Graz 2002. 11 Stefan Karner/Barbara Stelzl, Strafrechtssystem und Gerichtspraxis in der Sowjetunion 1941–1956. Teilstudie des Projektes „Die Nachkriegsgerichtsbarkeit als nicht-bürokratische Form der Entnazifizierung: Österreichische Justizakten im europäischen Vergleich“. Unveröff. Manuskript, Graz 1998; Stefan Karner, Die sowjetische Gewahrsamsmacht und ihre Justiz nach 1945 gegenüber Österreichern. In: Claudia KuretsidisHaider/Winfried R. Garscha (Hg.), Keine „Abrechnung“. NS-Verbrechen, Justiz und Gesellschaft in Europa nach 1945, Leipzig 1998, S. 102–129. 12 Barbara Stelzl-Marx, Entnazifizierung in Österreich: Die Rolle der sowjetischen Besatzungsmacht. In: Wolfgang Schuster/Wolfgang Weber (Hg.), Entnazifizierung im regionalen Bereich, Linz 2004, S. 431–454. Im Rahmen der Studie „Strafrechtssystem und Gerichtspraxis“ wurde der Fall des in der Ukraine eingesetzten österreichischen Polizisten Josef Gabriel bearbeitet. Vgl. Karner / Stelzl-Marx, Strafrechtssystem und Gerichtspraxis. 13 Stefan Karner, Schuld und Sühne? Der Prozess gegen den Chef der Gendarmerie von Černigov von 1941–1943: Karl Ortner. In: Stefan Karner (Hg.), Graz in der NS-Zeit 1938–1945, Graz 1999, S. 159–178; Stefan Karner, Die sowjetische Justiz gegenüber Österreichern nach 1945 am Beispiel von Karl Ortner. In: Norbert Weigl (Hg.), Faszinationen der Forstgeschichte. Festschrift für Herbert Killian, Wien 2001, S. 79–100; Barbara Stelzl-Marx, Kolyma – Jahre in Stalins Besserungsarbeitslagern. In: ebd., S. 147–160.

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Im Rahmen des vom Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur geförderten Forschungsprojektes „Die Rote Armee in Österreich 1945– 1955“ konnten neue Quellen zur sowjetischen Strafjustiz in Österreich erschlossen und analysiert werden.14 Ergänzt werden diese u. a. durch die Erkenntnisse des Forschungsprojektes „Militärgerichtsprozesse gegen deutsche, österreichische und ‚volksdeutsche‘ (vor allem sudetendeutsche) Kriegsgefangene und Zivilisten in Weißrussland 1944–1953“, das das BIK seit 2003 in Kooperation mit dem Nationalarchiv der Republik Weißrussland und der Stiftung Sächsischer Gedenkstätten seit 2003 durchführt. Hierbei werden erstmals die Strafprozessakten von auf dem Gebiet Weißrusslands wegen Kriegsverbrechen verurteilten Kriegsgefangenen und Zivilisten herangezogen.15 Einen der wichtigsten Quellenbestände für dieses Themenfeld stellen die im Russischen Staatlichen Militärarchiv (RGVA) archivierten Personalakten und -karten österreichischer Kriegsgefangener und verurteilter Zivilisten dar.16 Im Rahmen eines Forschungsprojektes über österreichische Kriegsgefangene in der Sowjetunion im und nach dem Zweiten Weltkrieg17 gelang Stefan Karner die Erschließung von 130 000 „österreichischen“ Personalakten, worunter sich auch die von 1 230 Zivilverurteilten und Internierten befinden.18 Diese jahrzehntelang geheim gehaltenen Unterlagen erlauben im Fall der Verurteilten vielfach einen wichtigen Einblick in die Anklage, die Begründung für die Verhängung der Untersuchungshaft, das Urteil und die Urteilsbegründung durch die sowjetischen Behörden, in seltenen Fällen auch in die Praxis der Verhöre und Vorerhebungen. Personal- und Strafprozessakten österreichischer Verurteilter 14

Vgl. auch Knoll/Stelzl-Marx, Sowjetische Strafjustiz in Österreich. Verhaftungen und Verurteilungen 1945–1955. In: Karner/Stelzl Marx (Hg.), Die Rote Armee in Österreich, S. 275–322; Nikita Petrov, Die Inneren Truppen des NKVD/MVD im System der sowjetischen Repressionsorgane in Österreich 1945–1946. In: ebd., S. 219–240; Ol’ga Lavinskaja, Zum Tode verurteilt. Gnadengesuche österreichischer Zivilverurteilter an den Obersten Sowjet der UdSSR. In: ebd., S. 323–338. 15 Vgl. auch Galina D. Knatko, Vedomstvo policii bezopasnosti i SD v Minske. Novye fakty o strukture i dejatel’nosti, Minsk 2003. Im Rahmen dieses Beitrages wird das Schicksal von vier österreichischen Polizeibeamten erläutert, die wegen ihrer Verbrechen im Ghetto von Minsk kurz nach Kriegsende zum Tode verurteilt und hingerichtet wurden. 16 RGVA, f. 460 (Kriegsgefangene), f. 461 (Zivilisten), f. 463 (kriegsgefangene Generäle), f. 465 (verstorbene Kriegsgefangene) und f. 466 (verstorbene Zivilisten), wobei das Nummernsystem im Archiv nicht immer durchgehend ist. 17 Als Resultat dieses Forschungsprojektes erschienen u. a. Stefan Karner, Im Archipel GUPVI. Kriegsgefangenschaft und Internierung in der Sowjetunion 1941–1956, Wien 1995; ders. (Hg.), „Gefangen in Russland“. Die Beiträge des Symposions auf der Schallaburg 1995, Graz 1995; Gollmann, Kärntner in sowjetischer Kriegsgefangenschaft; Felix Schneider, Aspekte sowjetischer Kriegsgefangenschaft 1941–1956. Dokumentiert am Beispiel oberösterreichischer Gefangener. In: Mitteilungen des oberösterreichischen Landesarchivs, Band 19, 2000, S. 231–257; Harald Knoll, Verurteilte und repressierte österreichische Kriegsgefangene in der Sowjetunion 1944 bis 1953. In: Kriegsgefangene im Zweiten Weltkrieg. Hg. von Günter Bischof, Stefan Karner und Barbara StelzlMarx, Wien 2005 (im Druck). 18 AdBIK, Datenbank österreichischer Kriegsgefangener, Zivilverurteilter und Internierter in der UdSSR.

Sowjetische Strafjustiz in Österreich

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befinden sich zudem in den Archiven des ehemaligen sowjetischen Innenministeriums, Verteidigungsministeriums und des ehemaligen MGB/KGB, wobei die Zugangs- und Benutzungsbedingungen hier erheblich eingeschränkter sind.. Den zweiten zentralen Zugang zur Thematik stellen die Rehabilitierungsbescheide der Hauptmilitärstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation dar, die in erster Linie von 1997 bis 2001 über das österreichische Außenministerium und das Ludwig Boltzmann-Institut für Kriegsfolgen-Forschung an die Betroffenen oder deren Angehörige weitergeleitet wurden. Von Interesse für die Forschung sind diese meist sehr knapp gehaltenen Bescheide vor allem deswegen, weil sie die Begründung für eine Rehabilitierung bzw. deren Ablehnung enthalten. Bei einem ablehnenden Rehabilitierungsbescheid ist zudem der ursprüngliche Grund für die Verurteilung angeführt, der gerade im Falle der Zivilverurteilten nicht immer bekannt ist. Insgesamt prüfte die russische Hauptmilitärstaatsanwaltschaft bis Ende 2001 mehr als eintausend Fälle verurteilter österreichischer Zivilisten und Kriegsgefangener, wovon insgesamt 660 Betroffene rehabilitiert wurden.19 Im Rahmen des bereits erwähnten Forschungsprojektes „Die Rote Armee in Österreich“ gelang auch die Erschließung eines bisher hinsichtlich der österreichischen Zivilverurteilten gänzlich unbekannten Quellenbestandes im Staatsarchiv der Russischen Föderation (GARF). Hierbei handelt es sich um die Gnadengesuche zum Tode verurteilter österreichischer Zivilisten an das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR und die diesbezüglichen Vorschläge des Obersten Gerichts der UdSSR zur Behandlung der Gnadengesuche.20 Für die Zeit von Juni 1945 bis Mai 1947 sind 32 solcher Fälle bekannt, wobei einem Gnadengesuch stattgegeben und die Todesstrafe in 15 Jahre Strafarbeit umgewandelt wurde; die übrigen 31 Verurteilten wurden hingerichtet. Zwischen Januar 1950 – dem Zeitpunkt der neuerlichen Einführung der Todesstrafe für „Heimatverräter, Spione sowie für subversive Elemente und Diversanten“21 – und Stalins Tod im März 1953 liegen insgesamt 95 Gnadengesuche samt Beilagen der vom Militärtribunal der Zentralen Gruppen der Streitkräfte in Baden bei Wien Verurteilten vor, darunter die von 80 Österreichern. Lediglich zwei dieser 80 Gnadengesuche wurde stattgegeben, wobei eine Umwandlung der Todesstrafe in 20 bzw. 25 Jahre Lagerhaft erfolgte.22 Die zentralen Angaben des Obersten Gerichts, die u. a. den Sachverhalt des jewei-

19 Zur Rehabilitierung österreichischer Stalinopfer vgl. das diesbezügliche Kapitel in diesem Beitrag. 20 Ol’ga Lavinskaja und Nikita Petrov, Moskau, sei für ihre Unterstützung bei der Erschließung dieses Bestandes herzlich gedankt. 21 Die Todesstrafe wurde zwischen 19. 4.1947 und 12.1.1950 ausgesetzt und in 25 Jahre Haft in einem Besserungsarbeitslager oder in einem Gefängnis umgewandelt. Vgl. Karner, Im Archipel GUPVI, S. 170. 22 GARF, f. 7523, op. 66 beinhaltet die Gnadengesuche bis inklusive 1950; f. 7523, op. 76 jene von 1951 bis 1954.

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ligen Falles schildern, wurden in die „Datenbank Zivilverurteilte“ im BIK eingespeist.23 Darüber hinaus liefern die Akten der von 1945 bis 1946 in Österreich stationierten Inneren Truppen des NKVD / MVD einen Einblick in die Verhaftungspraxis in der sowjetischen Besatzungszone. Gerade hinsichtlich der Aufdeckung tatsächlicher oder vermeintlicher Werwolf- und Spionageaktivitäten und der Ahndung solcher Vergehen sind diese Dokumente aus dem RGVA von großer Bedeutung.24 Neu erschlossen wurden auch die Beschlüsse des Politbüros des Zentralkomitees der Allunionspartei, CK VKP(b), die etwa den Briefverkehr der österreichischen Verurteilten mit Familienmitgliedern oder Aufträge zur Verhaftung bestimmter Personen betreffen.25 Eine wichtige Ergänzung zu diesen Quellen sowjetischer Provenienz bieten die so genannten „Vorfallensberichte“ im österreichischen Staatsarchiv und in den jeweiligen Beständen der Landes- bzw. Bezirkshauptmannschaften in den österreichischen Landesarchiven, die in einigen Fällen kurze Charakterisierungen der Vorkommnisse rund um die Verhaftung österreichischer Staatsbürger durch sowjetische Organe beinhalten. Auch die Tagesberichte der Generaldirektion für öffentliche Sicherheit und der Sicherheitsdirektionen für die sowjetisch besetzten Bundesländer geben mitunter Hinweise auf die Umstände der Verhaftungen.26 In der Abteilung IV des Archivs des Bundesministeriums für Inneres lagern zudem die in der Nachkriegszeit angelegten Heimkehrerlisten,27 Vermisstenlisten28 und eine Vermisstenkartei,29 die sich sowohl auf Kriegsge23 BIK, Datenbank Zivilverurteilte. Diese Datenbank entwickelte sich ursprünglich aus der auf der Basis der Personalakten österreichischer Kriegsgefangener, Zivilverurteilter und Internierter erstellten Datenbank heraus (vgl. BIK, Datenbank Kriegsgefangene) und wurde seither laufend ergänzt und überarbeitet. 24 Vgl. Petrov, Die Inneren Truppen des NKVD/MVD. In: Karner/Stelzl-Marx (Hg.), Die Rote Armee in Österreich; Natal’ja Eliseeva, Zum Schutz des Hinterlandes der Roten Armee. Der Einsatz der NKVD-Truppen in Österreich von April bis Juli 1945. In: ebd., S. 91–104. 25 P. 495 vom 15. 8.1955 (RGASPI, f. 17, op. 3, d. 1090, S. 26). Frau Elena Kirillova und Frau Marina Astachova sei für ihre Unterstützung bei den Recherchen im RGASPI vielmals gedankt. 26 ÖstA/AdR, Generaldirektion für die öffentliche Sicherheit 1945–1955. 27 BMI, Heimkehrerlisten 1947–1956. Listen der insgesamt 79 offiziellen Heimkehrertransporte aus der Sowjetunion im Zeitraum von 1947 bis 1956, die rund 65 000 nach Österreich repatriierte ehemalige Kriegsgefangene, Zivilverurteilte und Internierte umfassen. 28 BMI, Listen Nr. 1–7. Kopien des Bestandes befinden sich am BIK Graz. Es handelt sich hierbei um ein 1955 vom Bundesministerium für Inneres, Generaldirektion für die öffentliche Sicherheit erstelltes Verzeichnis jener Personen, die von Organen der sowjetischen Besatzungsmacht bzw. über Auftrag der sowjetischen Besatzungsmacht verhaftet wurden und bis 1955 nicht zurückgekehrt sind. 29 BMI, Abteilung IV, Vermisstenkartei. Die Vermisstenkartei wurde in den Jahren 1991 bis 1992 von Frau Ernelinde Karner, Herrn Univ.-Prof. Dr. Stefan Karner und Herrn Mag. Harald Knoll hinsichtlich der ab 1941 in der Sowjetunion festgehaltenen Österreicher durchgesehen. Auf der Basis der relevanten Karteikarten wurde eine Datenbank mit rund 130 000 Eintragungen angelegt, wobei die Trennung zwischen Zivilisten und

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fangene, als auch auf Zivilisten beziehen. Diese Informationen konnten durch Materialien zu österreichischen Zivilverurteilten in der Österreichischen Botschaft Moskau30 und dem Archiv für Außenpolitik in Moskau (AVP RF) ergänzt werden. Die genannten Unterlagen bilden gemeinsam mit Oral History-Interviews,31 den Anfragen nach vermissten Angehörigen,32 Zeitungsartikeln über „Verschleppungen“33 und biographischen Aufzeichnungen von „Zeitzeugen“34 die Grundlage für die „Zivilverurteilten-Datenbank“ im Ludwig Boltzmann-Institut für Kriegsfolgen-Forschung, die bis dato Angaben zu 2 201 verhafteten Österreichern enthält. Etwa die Hälfte dieser Fälle ist genau dokumentiert und dient als Grundlage für die im Rahmen dieses Beitrages angeführten Statistiken. Bei den übrigen Fällen kennt man zwar einige persönliche Angaben, tappt aber bezüglich des weiteren Schicksals nach einer Verhaftung noch im Dunkeln.35

30

31 32 33 34

35

Kriegsgefangenen nicht immer eindeutig möglich war. Die Datenbank, die sowohl Vermisste, als auch Repatriierte enthält, befindet sich am BIK Graz. Vgl. AdBIK, Datenbank Vermisstenkartei des Bundesministeriums für Inneres der Republik Österreich, Wien, Abteilung IV (= Datenbank BMI-Vermisstenkartei). Der Bestand an der Österreichischen Botschaft Moskau umfasst u. a. den Briefverkehr zwischen der Botschaft und dem Österreichischen Außenministerium bezüglich österreichischer Kriegsgefangener, Zivilverurteilter und Internierter in der Sowjetunion von etwa 1948 bis Ende der 1950er Jahre, weiters „Listen von Personen, die sich in sowjetischer Haft befinden, von denen nichts Näheres bekannt ist“ oder etwa Interventionen des Österreichischen Botschafters in Moskau bei der 3. Europäischen Abteilung im Außenministerium der UdSSR bezüglich verurteilter Österreicher. Herrn Botschafter Dr. Franz Cede sei für die Unterstützung dieser Recherchen an der Österreichischen Botschaft Moskau herzlich gedankt. AdBIK, Oral History Archiv. Hierbei handelt es sich um Anfragen nach vermissten Angehörigen, die seit 1993 an das BIK gerichtet wurden. Besonders intensiv widmete sich die „Arbeiter-Zeitung“ diesem Thema. Vgl. dazu etwa Herbert Killian, Geraubte Jahre. Ein Österreicher verschleppt in den GULAG, Wien 2005; Helmuth Leutelt, Menschen in Menschenhand. Bericht aus Sibirien, München 1958; Josef Ott, Acht Jahre Sibirien für ein Dorf ..., Wien 1988; Margarethe Ottillinger, Die Familie entscheidet. Erfahrungen und Erkenntnisse in 7 Jahren Sowjethaft, Wien 1957; Ferdinand Riefler, Verschleppt – Verbannt – Unvergessen, Wien 1956; Hans Scherleitner, Warum. Vom jüngsten Strafgefangenen Stalins zum General der Gendarmerie, Mattighofen 1997; Kurt Seipel, Meine Jugend blieb im Eis Sibiriens. Mit 19 in den GULAG verschleppt, Krems 1997; Kurt Tannert, Ich war ein Katorgan. Erlebnisse eines österreichischen GULAG-Häftlings, Perg 2002; Margaretha Witschel, Und dennoch überlebt. 8 Jahre in russischer Gefangenschaft, Graz 1985. Zudem befinden sich am BIK in Graz mehrere unveröffentlichte Erlebnisberichte ehemaliger österreichischer Zivilverurteilter. Vgl. Eduard Czubik, ohne Titel, o. J.; Hermine Skole, Tote Seelen an der Hölle Treppen, Manuskript 1978; Kurt Waldherr, Tundra. Ein Bericht über meine Zivilgefangenschaft in der Sowjetunion 1945–1955, Manuskript 1959; Renata Stelzer, Russland-Aufzeichnungen, Band I. Vom Staatsstreich bis zur Verschleppung (23. 8.–4. 9.1944), Manuskript o. J.; Renata Stelzer, Russland-Aufzeichnungen, Band II. Nach dem Urteil, Manuskript o. J. Die laufend überarbeitete Datenbank weist, soweit bekannt, neben Angaben zur Person u. a. Eintragungen zu Ort, Zeit und Grund der Festnahme sowie der Verurteilung,

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Verurteilungspraxis Entgegen dem bis heute im kollektiven Gedächtnis der österreichischen Bevölkerung verankerten Glauben, dass „die Russen“ Tausende Menschen aus der sowjetisch besetzten Zone „verschleppt“ hätten, ergaben die bisherigen Recherchen die vergleichsweise geringe Zahl von 2 20136 verhafteten Zivilisten, wovon bei etwa der Hälfte Informationen zu den Umständen der Verhaftung bekannt sind. Dies entspricht etwa 0,1 Prozent der nach Kriegsende in Ostösterreich lebenden Bevölkerung.37 Nicht eingeschlossen ist hierbei eine Dunkelziffer von insbesondere im Jahre 1945 von der Roten Armee Verschleppten, über deren weiteres Schicksal bis heute nichts bekannt ist. In den zeitgenössischen österreichischen Berichten über Verhaftungen durch die sowjetische Besatzungsmacht bleibt meist auch der Umstand unerwähnt, dass sowjetische Kommandanturen mitunter Festgenommene an österreichische Behörden übergaben. Dies trat vor allem dann ein, wenn die Verhafteten nicht gegenüber der Sowjetunion straffällig geworden waren, d. h. weder wegen Spionage, „Werwolf“-Aktivitäten, Kriegsverbrechen auf sowjetischem Territorium oder an Bürgern der UdSSR noch wegen Vergehen gegen die Besatzungsmacht angeklagt wurden. Ein Beispiel dafür ist die Anfang Dezember 1945 im 10. Wiener Gemeindebezirk im Auftrag des sowjetischen Bezirkskommandanten, Major Šiškin, verhaftete „Diebsbande“, zu der 34 Österreicher zählten. Der diesbezügliche Bericht des Wiener Stadtkommandanten, Generalleutnant Nikolaj Lebedenko, an den sowjetischen Militärkommissar in Österreich, Marschall Ivan Konev, und dessen Stellvertreter, Generalleutnant Aleksej Želtov, führt nicht nur die Namen und persönlichen Angaben der Rädelsführer dieser Bande an, sondern beziffert auch die durchgeführten Einbrüche. Demzufolge verübten die größtenteils jugendlichen Bandenmitglieder mehr als 150 Einbrüche in Geschäften, Lagerhallen oder Fahrzeugen, die jedoch die Bevölkerung – fälschlicherweise – Rotarmisten anlastete. Die Festgenommen wurdes Strafmaßes, der rechtlichen Grundlage für die Verurteilung, Bezeichnungen der Lager bzw. Gefängnisse in der Sowjetunion, sowie des Entlassungs- und Repatriierungsbzw. Todesdatums auf. Zudem sind – wenn vorhanden – Aktennummern und zusätzliche Informationen, wie Interviews, Zeitungsartikel oder Erinnerungen, verzeichnet. Dieser Aufbau erlaubt im Einzelfall nicht nur eine rasche Suche nach bestimmten Personen, sondern ermöglicht auch unterschiedliche statistische Auswertungen. 36 Diese Zahl liegt über der in Knoll/Stelzl-Marx, Österreichische Zivilverurteilte in der Sowjetunion, angegebenen Zahl von rund 2160, da durch die laufenden Recherchen neue Fälle bekannt wurden. 37 Errechnet anhand der im Jahr 1946 in der sowjetischen Zone Österreichs lebenden Bevölkerung von 2 091 215 Personen, wobei sich der Prozentsatz der Verhafteten auf den gesamten Zeitraum von 1945 bis 1955 und nicht nur auf das Jahr 1946 bezieht. Die Gesamtzahl ergibt sich aus 2 039 500 Personen, die 1946 in der sowjetischen Zone Österreichs lebten, und 51715 Personen, die im selben Jahr in der sowjetischen Zone Wiens wohnten. Die Bevölkerungszahl in ganz Österreich betrug in diesem Jahr 6 999 500 Personen. Vgl. Die wirtschaftliche Lage Österreichs am Ende des ersten Nachkriegsjahrzehntes. In: Monatsberichte des österreichischen Institutes für Wirtschaftsforschung, XIX. Jahrgang, Nr. 1–6, ausgegeben am 31. Juli 1946, S. 5 und 50.

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den gemeinsam mit den angelegten Akten dem zuständigen österreichischen Gericht zur weiteren Strafverfolgung übergeben.38 Tabelle 1: Verhaftungen österreichischer Zivilisten nach Bundesländern und Jahren39 Jahr

Wien abso- Anlut teil in % 138 19,6 63 20,7 86 45,3 96 38,2 38 27,7 34 28,6 24 32,9 15 57,7 11 45,8 3 23,1 2 66,7

Niederösterreich abso- Anlut teil in % 165 23,4 186 61,0 65 34,2 101 40,2 46 33,6 44 37,0 20 27,4 7 26,9 6 25,0 4 30,8 0 0,0

1945 1946 1947 1948 1949 1950 1951 1952 1953 1954 1955 ins510 27,6 644 34,9 ges.

Burgenland abso- Anlut teil in % 27 3,8 18 5,9 13 6,8 9 3,6 13 9,5 1 0,8 2 2,7 0 0,0 0 0,0 0 0,0 1 33,3 84

Oberösterreich abso- Anlut teil in % 49 7,0 15 4,9 12 6,3 20 8,0 18 13,1 18 15,1 5 6,8 0 0,0 0 0,0 5 38,5 0 0,0

4,6 142

Steiermark unbekannt insges. abso- An- abso- Anlut teil lut teil in % in % 186 26,4 140 19,9 705 0 0,0 23 7,5 305 0 0,5 13 6,8 190 140 0,0 25 10,0 251 0 0,0 22 16,1 137 0 0,0 22 18,5 119 0 0,0 22 30,1 73 0 0,0 4 15,4 26 0 0,0 7 29,2 24 0 0,0 1 7,7 13 0 0,0 0 0,0 3

7,7 187 10,1 279 15,1 1846

Wie im zeitlichen Längsschnitt klar zu erkennen ist, war die Anzahl der Verhafteten in den ersten vier Jahren der Besatzung am höchsten und nahm danach sukzessive ab. Hier spielten mehrere Faktoren eine Rolle. Zunächst erscheint bemerkenswert, dass Festnahmen auf Grund von Hinweisen aus der Bevölkerung bzw. Denunziationen vor allem in den ersten Wochen nach Kriegsende erfolgten,41 während die späteren Verhaftungen primär auf Grund von 38 CAMO, f. 275, op. 174769, d. 1, S. 181 f. Bemerkenswert erscheint, dass sich Lebedenko im genannten Bericht an Konev und Želtov auch auf die Festnahme von westalliierten Besatzungssoldaten bezieht, die wegen Verkehrsvergehen, unerlaubter Entnahme von Brennholz in der sowjetischen Zone oder Überschreitens der Demarkationslinie auf sowjetischen Kommandanturen festgehalten wurden (CAMO, f. 275, op. 174769, d. 1, S. 182 f.). 39 AdBIK, Datenbank Zivilverurteilte. Hierbei wird von 1846 Fällen ausgegangen, deren Ort oder zumindest Zeit der Verhaftung bekannt ist. In diese Zahl sind inkludiert zwei österreichische Zivilisten aus Klagenfurt, die der sowjetischen Besatzungsmacht ausgeliefert und in Wien bzw. im Mühlviertel festgenommen wurden. 40 Hierbei handelt es sich um Franz Murer, der im März 1948 aus der ab Juli 1945 britisch besetzten Steiermark an die Zentrale Gruppe der Streitkräfte der UdSSR ausgeliefert wurde. Siehe dazu ausführlicher weiter unten. 41 Beispielsweise bezieht sich ein Bericht an den Leiter der NKVD-Truppen zum Schutz des Hinterlandes der 3. Ukrainischen Front vom 9. 7.1945 darauf, dass dank eines Hinweises der KPÖ in St. Pölten neun Personen in Mariazell wegen anti-sowjetischer Propaganda und „faschistischer“ Einstellung vom NKVD festgenommen wurden (RGVA, f. 32914, op. 1, d. 9, S. 245).

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Vor-Ort-Recherchen der NKVD-MVD/MGB-Einheiten bzw. anhand von Fahndungslisten durchgeführt wurden, die etwas mehr Zeit in Anspruch nahmen.42 Abgesehen von Personen, die gezielt gesucht und verhaftet wurden, ging die Bevölkerung anfangs offensichtlich noch zu unvorsichtig und ungeschickt mit den Befehlen der sowjetischen Kommandanturen um, insbesondere hinsichtlich unerlaubten Waffenbesitzes. Einen Unterschied gibt es zwischen den in Tabelle 1 dargestellten Verhaftungsorten und den jeweiligen Heimatbundesländern der Festgenommenen. So wurden nach bisherigem Wissensstand rund 704 Wiener, 614 Niederösterreicher und 223 Steirer verhaftet. Bei den Oberösterreichern liegt die Zahl der Festnahmen bei 163, bei den Burgenländern bei knapp über 80 Personen. Die Steiermark fällt aus der Reihe: Während der kurzen sowjetischen Besatzung bis Juli 1945 wurde hier mit insgesamt 179 Festnahmen die österreichweit höchste Zahl an Verhaftungen innerhalb eines Jahres vorgenommen. Nach der Übernahme der Steiermark durch die Briten im Zuge des Zonentausches nahmen die Sowjets freilich keine österreichischen Zivilisten in der nun „britischen Steiermark“ mehr fest. Sehr wohl aber erfolgten Verhaftungen am Grenzübergang zur sowjetischen Zone, insbesondere am Semmering und am steirisch-burgenländischen Zonenübergang in Fürstenfeld-Rudersdorf.43 Außerdem wurden mehr als 20 Personen mit steirischem Heimat-Wohnort im sowjetisch besetzten Ostösterreich bzw. an der Demarkationslinie zur sowjetischen Besatzungszone verhaftet. Nach jetzigem Wissensstand können Verhaftungen durch sowjetische Organe in den westlichen Besatzungszonen Österreichs ausgeschlossen werden. Allerdings lieferten die Briten einen Steirer, den als „Schlächter von Wilna“ bekannten Franz Murer, im März 1948 an die Zentrale Gruppe der Streitkräfte der UdSSR aus. Das zuständige Sowjetische Militärtribunal verurteilte Murer daraufhin wegen der Tötung von Juden in Vilnius am 25. Oktober 1948 nach Ukaz 43 zu 25 Jahren Arbeitserziehungslager (ITL), wobei die Dauer der Strafverbüßung ab dem 3. März 1948 zu berechnen war.44 In diesem Zusammen42 Karner, Schuld und Sühne, S. 164 f. 43 AdBIK, Datenbank Zivilverurteilte; Zur britischen Besatzung der Steiermark vgl. Siegfried Beer (Hg.), Die „britische“ Steiermark 1945–1955, Graz 1995. 44 RGVA, f. 460p, d. 1871053, S. 6 f.; GVP, Rehabilitierungsbescheid 5uv-169/98. Franz Murer vom 10. 9.1997. Murer konnte nach seiner Rückkehr aus sowjetischer Haft zunächst unerkannt in Österreich leben. Durch die Initiative von Simon Wiesenthal wurde er 1960 ausgeforscht und 1963 vor ein österreichisches Geschworenengericht gestellt. Wegen Nichtigkeitsbeschwerde der Staatsanwaltschaft Graz wurde der dabei erfolgte Freispruch nicht rechtskräftig. Mehrere Versuche für eine Wiederaufnahme des Verfahrens scheiterten. Im Juli 1974 stellte das Landesgericht Graz das Verfahren schließlich ein (LG Graz, 4 Vr 1811/62); Sabine Loitfellner, Die Rezeption von Geschworenenprozessen wegen NS-Verbrechen in ausgewählten Zeitungen 1956–1975. Bestandsaufnahme, Dokumentation und Analyse von veröffentlichten Geschichtsbildern zu einem vergessenen Kapitel österreichischer Zeitgeschichte, Wien 2004, S. 73– 80; Karl Marschall, Volksgerichtsbarkeit und Verfolgung von nationalsozialistischen Gewaltverbrechen in Österreich. Eine Dokumentation, 2. Auflage Wien 1987, S. 181.

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hang sei vorab darauf verwiesen, dass das Landesgericht Wien 50 ehemalige österreichische Schutzpolizisten an die sowjetische Besatzungsmacht auslieferte, die diese wegen der Ermordung von Juden in Galizien zu langjährigen Haftstrafen verurteilte. Tabelle 2: Urteilende Gerichte 1945–1955 (Basis: Angaben in 957 Fällen)45 Gericht 2. Luft-Armee 2., 3. Ukrainische Front 5. Garde-Armee Südliche Gruppe der Streitkräfte (26., 27., 57. Armee) Wien (Garnison) andere Armeedienststellen 4. Garde-Armee Sowjetunion MGB (NKVD-MVD), meist Moskau (OSO) Zentrale Gruppe der Streitkräfte (v.č. 28990) insgesamt

verurteilte Personen 7 13 24 55 58 91 135 171 403 957

Bei den Verhaftungen selbst kooperierte die sowjetische Besatzungsmacht mit österreichischen Behörden. Immer wieder nahmen österreichische Gendarmen und Polizisten im Auftrag der sowjetischen Kommandanturen gezielt österreichische Zivilisten fest und übergaben sie dann der jeweiligen sowjetischen Dienststelle. Die Urteile selbst wurden entweder von der MGB-Sonderkommission (OSO) in Moskau oder von einem der auf österreichischem Territorium stationierten Truppenteile gefällt. Dabei war das Sowjetische Militärtribunal (SMT) der in Baden bei Wien stationierten Zentralen Gruppe der Streitkräfte46 für beinahe die Hälfte der bekannten Fälle verantwortlich. Wenn eine Armee einen neuen Einsatzraum zugewiesen erhielt oder mit einer anderen zusammengelegt wurde, nahm sie üblicherweise die in ihrer Zuständigkeit befindlichen Verhafteten mit. Die im Juli 1945 erfolgte Verlegung vieler Einheiten aus Österreich nach Rumänien und in die Ukraine erklärt auch, warum bei 45 BIK, Datenbank Zivilverurteilte. 46 Direktive des Oberkommandos der Stavka an den Kommandanten der Truppen der 1. Ukrainischen Front über die Umbenennung der Front in Zentrale Gruppe der Streitkräfte. In: Russkij Archiv, Velikaja Otečestvennaja: Bitva za Berlin. Krasnaja Armija v poveržennoj Germanii. Russkij Archiv, Band 15, Moskau 1995, S. 421 f. Seit Sommer 1948 wurde die Einheit nur mehr als v.č. 28990 bezeichnet.

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einigen österreichischen Zivilisten etwa Černigov in der Ukraine47 oder Craiova in Rumänien als Ort der Verurteilung aufscheinen.48 Tabelle 3: Schicksal österreichischer Zivilisten nach ihrer Festnahme durch sowjetische Organe 1945 bis 195549 Schicksal nach Verhaftung zur Verfügung der SU verhaftet, aber nicht übergeben nach Haft in UdSSR verblieben von sowjetischen Stellen nachweislich an österreichische Behörden übergeben wahrscheinlich freigelassen keine Angaben vor Verbringung in UdSSR freigelassen hingerichtet in Haft verstorben bis heute abgängig50 nach Haft repatriiert insgesamt

Anzahl 16

Anteil in % 0,7

26 28

1,2 1,3

56 71 84 152 199 751 818

2,5 3,2 3,8 6,9 9,0 34,1 37,2 100,0

2 20151

Wie Tabelle 3 verdeutlicht, gestaltete sich das weitere Schicksal nach einer Festnahme äußerst unterschiedlich. Während von den insgesamt 2 201 verzeichneten österreichischen Zivilisten etwa acht Prozent relativ bald wieder freikamen, kehrten weniger als 40 Prozent nach ihrer Strafverbüßung in die Heimat zurück, bei etwa 40 Prozent ist das Schicksal ungeklärt, neun Prozent verloren ihr Leben in Haft, beinahe sieben Prozent wurden hingerichtet, und rund ein Prozent verblieb nach der Entlassung – meist jedoch nur vorübergehend – in der Sowjetunion. Geht man ausschließlich von jenen 1379 Fällen aus, deren Schicksal nach der Verhaftung bekannt ist, steigert sich der Anteil der Repatri47 Vgl. etwa die von der 57. Armee in Černigov, Ukraine, oder in Craiova, Rumänien gefällten Todesurteile gegen mehrere in der Steiermark verhaftete Exekutivbeamte: AdBIK, Datenbank Zivilverurteilte; Karner, Die sowjetische Justiz. 48 AdBIK, Datenbank Zivilverurteilte. 49 Ebd. Die Gesamtzahl von 2 201 umschließt die bisher in der Datenbank verzeichneten von 1945 bis 1955 durch sowjetische Organe verhafteten österreichischen Zivilisten. 50 So der Ausdruck in den amtlichen österreichischen Unterlagen. Bei diesem Personenkreis ist das weitere Schicksal in sowjetischer Hand unbekannt. 51 Bei dieser Gesamtzahl von 2 201 durch sowjetische Gerichte verurteilte österreichische Zivilisten sind die rund 80 vor 1945 verurteilten Österreicher sowie die 105 nicht auf österreichischem Territorium verhafteten Zivilisten (darunter vor allem in der SBZ/ DDR festgenommene „Spezialisten“ und Botschaftsangehörige in Rumänien) nicht berücksichtigt

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ierten auf 60 Prozent, jener der in Haft Verstorbenen auf beinahe 15 Prozent, der Hingerichteten auf mehr als elf Prozent und der in der UdSSR Verbliebenen auf etwa zwei Prozent. Rund zwölf Prozent wurden noch vor einer Verschleppung in die Sowjetunion freigelassen bzw. österreichischen Behörden übergeben. Von besonderem Interesse sind dabei jene Österreicher, welche die sowjetische Besatzungsmacht nach einer Verhaftung ohne eine Verurteilung an die österreichische Justiz übergab. Dies betraf jene Personen, die zwar straffällig geworden waren, deren Vergehen sich allerdings nicht gegen die Sowjetunion oder die sowjetische Besatzungsmacht gerichtet hatte. Neben der vorab erwähnten „Diebesbande“ aus Wien zählten hierzu etwa einige Oberösterreicher, die 1950 bei einer Hochzeit in die Luft geschossen hatten. Nach der Festnahme Tabelle 4: Strafmaß verurteilter österreichischer Zivilisten in der UdSSR (Basis: Angaben in 1 082 Fällen)52 Strafmaß Bedingte Haft (1–3 Jahre) 2 Jahre 3 Jahre 4 Jahre 5 Jahre 6 Jahre 7 Jahre 8 Jahre 10 Jahre 12 Jahre 14 Jahre 15 Jahre 17 Jahre 18 Jahre 20 Jahre 25 Jahre Lebenslänglich Tod Gesamtsumme

Anzahl 3 3 19 6 46 15 27 54 247 17 1 116 2 2 55 281 0 188 1 082

Anteil in % 0,3 0,3 1,8 0,6 4,3 1,4 2,5 5,0 22,8 1,6 0,1 10,7 0,2 0,2 5,1 26,0 0,0 17,4 100,0

52 AdBIK, Datenbank Zivilverurteilte. Die Zahl von 1 082 umschließt die bisher in der Datenbank verzeichneten von 1945 bis 1955 österreichischen Zivilverurteilten, deren Strafmaß bekannt ist.

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durch sowjetische Organe wurden sie von diesen den österreichischen Behörden zur weiteren Ahndung der Vergehen übergeben. Ein österreichisches Gericht verurteilte die Oberösterreicher anschließend zu fünf Monaten Verwahrungshaft wegen unerlaubten Waffenbesitzes.53 Dabei kann davon ausgegangen werden, dass es zu keiner Überstellung an die österreichischen Behörden, sondern zu einer Verurteilung wegen unerlaubten Waffenbesitzes durch ein sowjetisches Militärtribunal gekommen wäre, hätte dieser Vorfall unmittelbar nach Kriegsende stattgefunden. Vorfälle dieser Art wurden aber mit zunehmender Besatzungszeit von sowjetischer Seite nicht mehr so streng geahndet. Wie Tabelle 4 zeigt, waren zehn, 15 und vor allem 25 Jahre Haft das am häufigsten verhängte Strafmaß, wobei letzteres zwischen 19. April 1947 und 12. Januar 1950, als die Todesstrafe ausgesetzt war, als Höchststrafe (VMN)54 ausgesprochen wurde. Bemerkenswert erscheint, dass bei mehr als 17 Prozent all jener Fälle, deren Strafausmaß bekannt ist, die Todesstrafe verhängt wurde. Von den 188 zum Tode verurteilten österreichischen Zivilisten wurden 152 Personen – oder mehr als 80 Prozent – hingerichtet, sechs verstarben in Haft, bei 26 wurde die Todesstrafe in Lagerhaft umgewandelt und vier sind bis heute abgängig.55 Der weitaus häufigste Urteilsgrund in diesen Fällen war Spionage (Artikel 58-6), gefolgt von Kriegsverbrechen (Ukaz 43) und unterschiedlichen, nach anderen Paragraphen des Artikels 58 des StGB der RSFSR geahndeten Vergehen.56 Nach Vollstreckung des Urteils waren die Angehörigen darüber nicht zu informieren, sondern es durfte ihnen „mündlich nur mitgeteilt werden, dass der Häftling an einen anderen Haftort verlegt wurde“. Die Personalkarte 1 war nach der Hinrichtung mit dem Vermerk „laut Urteil ausgeschieden“ und dem passenden Datum zu versehen.57

53 54 55 56

ÖBM, Personalakte Karl P. VMN; vysšaja mera nakazanija (Höchststrafe). AdBIK, Datenbank Zivilverurteilte. Ebd. Die Zahl der zum Tode verurteilten österreichischen Zivilisten wurde insbesondere auf Grund der hiermit erstmals erschlossenen Bestände aus dem GARF (Gnadengesuche zum Tode verurteilter österreichischer Zivilisten an den Obersten Rat der UdSSR) nach oben revidiert. 57 GARF, f. 9413, op. 1, d. 114, S. 211.

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Tabelle 5: Todesurteile nach Verurteilungsgründen (Basis: Angaben in 169 Fällen)58 Jahr 1945 1946 1947 1948 1949 1950 1951 1952 1953 1954 1955 insgesamt

Ukaz 43 9 18 4

Art. 59 1

1 4

36

1

Rechtsgrundlage Art. 58-6 Art. 58 4 14 2 10

19 47 22 3

1 3 1

97

29

unbekannt insgesamt 3 30 3 34 4 0 0 21 54 23 3 0 0 6 169

Primär dienten das als „Ukaz 43“ bekannte Dekret des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 19. April 1943 und der Artikel 58 des Strafgesetzbuches der RSFSR bzw. der entsprechenden Artikel des Strafgesetzbuches der Ukraine als Rechtsgrundlage bei der Verurteilung österreichischer Zivilisten.59 Eine äußerst wichtige Rolle spielte dabei der Artikel 58-6 (Spionage), der bei 41 Prozent der verurteilten Männer und bei sogar 67 Prozent der verurteilten österreichischen Frauen herangezogen wurde.60 Auffallend ist zudem die konstante Zunahme von Verhaftungen und Verurteilungen auf Grund dieses Artikels, so dass ab 1950 mehr als 75 Prozent der österreichischen Zivilisten wegen Spionage verurteilt wurden, während Fälle wie „terroristische Handlung“ (Art. 58-8), „Diversion“ (Art. 58-9) oder „Teilnahme an konterrevolutionären Organisationen“ (Art. 58-11) bereits ab 1947 stark zurückgegangen

58 AdBIK, Datenbank Zivilverurteilte. Die Zahl von 169 Fällen umschließt jene zum Tode verurteilten österreichischen Zivilisten, deren Verurteilungsparagraph oder zumindest Verurteilungsjahr bekannt ist. Bei 19 der insgesamt 188 zum Tode verurteilten Österreichern fehlen diese Angaben zur Gänze. 59 Urteile z. B. in der Ukraine stützen sich auf das ukrainische StGB, das – bei identischem Inhalt – die Staatsschutzbestimmungen unter Art. 54 auflistete. Diese Fälle sind hier unter Art. 58 subsumiert. Vgl. dazu: Andreas Hilger/Mike Schmeitzner, Einleitung. 60 Hierbei wird von einer Gesamtzahl von 932 österreichischen Zivilverurteilten ausgegangen, bei denen der Verurteilungsparagraph bekannt ist. Vgl. AdBIK, Datenbank Zivilverurteilte.

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waren.61 Auch der Artikel 58-2 („Bewaffneter Aufstand“ bzw. „Bandentum“) kam bei den österreichischen Zivilverurteilten kaum zum Tragen.62 Der vor allem nach Artikel 58-8, 9 und 11 geahndete Vorwurf der „Werwolfbetätigung“ war beinahe ausschließlich 1945 ein Verhaftungsgrund, danach wurden wegen dieses Tatbestandes nur mehr zwei Österreicher verhaftet; ihre Festnahmen stehen jedoch in direktem Zusammenhang mit Gruppen, die schon 1945 als „Werwölfe“ verurteilt worden waren. Insgesamt bildeten diese so genannten „anderen“ Paragraphen des Artikels 58, d. h. mit Ausnahme von Spionage, in den ersten fünf Jahren der Besatzungszeit rund 36 Prozent der insgesamt 932 dokumentierten Fälle, hingegen nur mehr fünf Prozent in der Zeit von 1950 bis 1955.63 Tabelle 6: Rechtsgrundlagen für die Verurteilungen österreichischer Zivilisten durch die Sowjetunion 1945 bis 1955 nach Jahren und Verurteilungsparagraphen (Basis: Angaben in 932 Fällen)64 Jahr

Verurteilungsparagraphen 65 Ukaz 43 Art. 58-6 Art. 58 andere insgesamt KG 10 abso- Anteil abso- Anteil abso- Anteil abso- Anteil abso- Anteil abso- Anteil lut in % lut in % lut in % lut in % lut in % lut in % 16 6,8 0 0,0 58 24,8 157 67,1 3 1,3 234 25,1 23 16,1 0 0,0 15 10,5 91 63,6 14 9,8 143 15,3 5 5,6 0 0,0 29 32,2 38 42,2 18 20,0 90 9,7 22 15,4 1 0,7 90 62,9 20 14,0 10 7,0 143 15,3 25 24,5 1 1,0 53 52,0 17 16,7 6 5,9 102 10,9 6 7,1 4 4,7 53 62,4 19 22,4 3 3,5 85 9,1 9 11,5 0 0,0 64 82,1 5 6,4 0 0,0 78 8,4 1 2,5 0 0,0 33 82,5 6 15,0 0 0,0 40 4,3 0 0,0 0 0,0 13 100,0 0 0,0 0 0,0 13 1,4 0 0,0 0 0,0 2 66,7 1 33,3 0 0,0 3 0,3 0 0,0 0 0,0 1 100,0 0 0,0 0 0,0 1 0,1

1945 1946 1947 1948 1949 1950 1951 1952 1953 1954 1955 insge107 samt

11,5

6

0,6

411

44,1 354

38,0

54

5,8

932 100,0

61 Ebd. 62 Von den bisher dokumentierten 932 Fällen wurden fünf zivile Österreicher ausschließlich nach Artikel 58-2 und 34 in Kombination mit anderen Paragraphen verurteilt. Vgl. AdBIK, Datenbank Zivilverurteilte. 63 Ebd. 64 Ebd. 65 KG 10: Artikel 2 des vom Alliierten Kontrollrat in Deutschland am 20.12.1945 verabschiedeten Gesetzes Nr. 10.

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Der Ukaz 43 hingegen wurde bei den österreichischen Zivilverurteilten insbesondere in den Jahren von 1946 bis 1949 herangezogen; danach jedoch fand er kaum noch Anwendung. Mehr als die Hälfte der etwa 90 nach diesem Erlass verurteilten österreichischen Zivilisten waren ehemalige Polizisten, die vorwiegend im Bereich des Distriktes Galizien eingesetzt gewesen waren.66 Bei den übrigen Fällen kam dieser „Kriegsverbrechererlass“ etwa bei systematischer Verhöhnung und Misshandlung von ausländischen Kriegsgefangenen und zivilen Zwangsarbeitern in Lagern auf dem Gebiet Österreichs zum Tragen, wobei bisher nur zwei Verurteilungen von österreichischen Frauen nach dem Ukaz 43 bekannt sind. Dagegen wurde die überwiegende Mehrheit der verurteilten österreichischen und deutschen Kriegsgefangenen in der Sowjetunion im Gegensatz zu den Zivilisten nach eben diesem Erlass gerichtlich belangt und nicht – wie lange angenommen – größtenteils nach dem Artikel 58.67 In einigen wenigen Fällen, nämlich bei Verwandtschaft mit Adolf Hitler und bei vor allem in Rumänien und Bulgarien internierten österreichischen Botschaftsangehörigen, kam Artikel 2 des vom Alliierten Kontrollrat in Deutschland am 20. Dezember 1945 verabschiedeten Gesetzes Nr. 10 zur Anwendung. Hier ist anzunehmen, dass die Anwendung dieses Besatzungsrechtes für Österreich formal nicht zulässig war. Schließlich bezog sich sein Geltungsbereich auf das deutsche Reichsgebiet in den Grenzen vom 31. Dezember 1937 – also vor dem „Anschluss“ Österreichs, wodurch es das Territorium Österreichs eigentlich ausschloss. 68 Da es sich bei den verurteilten Botschaftsangehörigen um Internierte handelt, die zudem nicht in Österreich festgenommen oder verurteilt wurden, sind sie zahlenmäßig nicht in der Zivilverurteilten-Datenbank berücksichtigt.69 Auf die „Hitlerverwandtschaft“ dagegen wird noch näher einzugehen sein.

66 AdBIK, Datenbank Zivilverurteilte. Für die Jahre 1950 bis 1952 sind bisher insgesamt 16 österreichische Fälle bekannt, die als Zivilisten nach Ukaz 43 verurteilt wurden. Hierbei handelt es sich ausschließlich um ehemalige, während der NS-Zeit in Galizien eingesetzte Polizisten. 67 Im Gegensatz zu den Zivilisten wurden mindestens 72 Prozent der verurteilten österreichischen Kriegsgefangenen, deren Verurteilungsparagraph bisher dokumentiert ist, nach Ukaz 43 und nur rund zwölf Prozent nach Artikel 58 verurteilt. Vgl. AdBIK, Datenbank Kriegsgefangene; Karner, Im Archipel GUPVI, S. 176. Eine ähnliche Tendenz ist auch bei den Urteilsgrundlagen für deutsche Kriegsgefangene festzustellen, wonach von insgesamt 31 284 verurteilten deutschen Kriegsgefangenen 20 035 nach Ukaz 43 und lediglich 3 979 nach Artikel 58-59 des Strafgesetzbuches der RSFSR verurteilt wurden. Vgl. Andreas Hilger / Ute Schmidt / Günther Wagenlehner, Einleitung: In: dies. (Hg.), Sowjetische Militärtribunale, Band 1: Die Verurteilung deutscher Kriegsgefangener 1941–1953, Köln 2001, S. 7–22, hier 14 f. 68 Karner/Stelzl-Marx, Strafrechtssystem und Gerichtspraxis, S. 26, 41 ff. 69 Nach derzeitigem Wissensstand wurden 17 österreichische Botschaftsangehörige interniert, davon acht in Rumänien und sechs in Bulgarien. Nur in einem dieser Fälle kam es zu keiner Verurteilung.

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Alter und Geschlecht der Verurteilten Im Folgenden sei auf die Altersstruktur der insgesamt 236 in der Datenbank verzeichneten weiblichen und 1 965 männlichen Zivilverurteilten verwiesen, wobei insbesondere zwei Tendenzen bemerkenswert erscheinen.70 Zunächst fällt das verhältnismäßig geringere Durchschnittsalter der Frauen im Vergleich zu den Männern auf. Verurteilte Frauen waren größtenteils im Zeitraum von 1921 bis 1930 auf die Welt gekommen und somit 1945 erst zwischen 15 und 24 Jahren alt. Bei den männlichen Zivilverurteilten hingegen verteilten sich die häufigsten Geburtsjahre auf die Periode von 1887 bis – gleichfalls – 1930, mit einem Höhepunkt im Jahre 1929. Die Ältesten von ihnen waren 1887 geboren worden und hatten 1945 ein Alter von bereits 58 Jahren. Diagramm 1: Altersstruktur der weiblichen österreichischen Zivilverurteilten 1945 bis 195571

Manche der Zivilverurteilten waren bei ihrer Festnahme erst 20 Jahre alt, wie etwa der 1926 geborene Herbert Killian, der im Juni 1947 wegen drei Ohrfeigen, die er dem Sohn eines sowjetischen Besatzungsoffiziers in Korneuburg verabreicht hatte, festgenommen und nach Paragraph 146 wegen „Hooliganismus“ sprich „Rowdytums“ zu drei Jahren Besserungsarbeitslager verurteilt wurde. Als er sechs Jahre später von der Kolyma in die Heimat zurückkehrte, muss70 AdBIK, Datenbank Zivilverurteilte. Die Altersstruktur ist bei 184 weiblichen und bei 1 554 männlichen Zivilverurteilten bekannt. 71 AdBIK, Datenbank Zivilverurteilte. Von 187 der 236 registrierten weiblichen Zivilverurteilten ist das genaue Geburtsjahr bekannt.

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te Killian erst die wegen des Krieges und der anschließenden Verhaftung versäumte Matura nachholen.72 Diagramm 2: Altersstruktur der männlichen österreichischen Zivilverurteilten 1945 bis 195573

Als zweite Tendenz ist bemerkenswert, das bedeutend mehr Männer als Frauen in Österreich von der sowjetischen Besatzungsmacht verhaftet und verurteilt wurden. Dies hängt einerseits damit zusammen, dass nur ganz wenige Frauen – im Gegensatz zu den Männern – wegen Kriegsverbrechen verurteilt wurden und sich auch die Zahl der wegen Schlägereien oder Vergehen gegen die Besatzungsmacht geahndeten Fälle bei den Frauen beinahe auf Null beläuft. Hingegen wurden mehr als 70 Prozent jener 97 Frauen, deren Verurteilungsparagraphen bekannt sind, wegen Spionage verurteilt und nur 40 Prozent der 837 Männer, bei denen die Urteile vorliegen. Gerade Frauen, die ein Verhältnis mit sowjetischen Besatzungssoldaten hatten, waren in dieser Hinsicht besonders gefährdet.

Bekannte Verurteilungsgründe Verbrechen gegen die Besatzungsmacht, Spionage und Kriegsverbrechen zählen zu den wichtigsten Vergehen, die zu einer Verhaftung in der sowjetischen Zone Österreichs führten. Letztere umfassten primär Misshandlungen von sowjetischen Kriegsgefangenen und „Ostarbeitern“, Erschießungen von Juden, Ghettoräumungen und andere Gräueltaten auf dem Gebiet der Sowjetunion während des Zweiten Weltkriegs. Die Ahndung dieser Vergehen ist in einem 72 Stelzl-Marx, Kolyma, S. 148 f. Jahrzehnte später gelang es Herbert Killian, den Sohn des sowjetischen Besatzungssoldaten dank der Hilfe von Oberst Viktor Muchin, Moskau, und dem BIK ausfindig zu machen und persönlich kennen zu lernen. 73 AdBIK, Datenbank Zivilverurteilte. Von 1 541 der 1965 registrierten männlichen Zivilverurteilten ist das genaue Geburtsjahr bekannt.

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engen Zusammenhang mit der sowjetischen Entnazifizierungspolitik zu sehen, die sich von der aus sowjetischer Sicht allzu laxen Haltung der österreichischen Regierung und westlichen Besatzungsmächte bei dieser Frage abhob.74 Im Folgenden sollen einige Fallbeispiele einen Einblick in die wichtigsten Verhaftungsgründe geben. Tabelle 7: Verurteilungen österreichischer Zivilisten nach ausgewählten Gründen (Basis: Angaben in 893 Fällen)75 Jahr

Verurteilungsgrund Spio- „Wer- Waf- „SU- Missnage wolf“ fen- Bür- handlung besitz ger“76 „Ostarb.“Kriegsgef. 13 120 29 1 51 13 0 66 1 22 23 1 21 1 5 50 1 13 14 4 24 0 2 3 6 25 0 13 3 2 35 0 0 0 1 11 0 0 0 0 8 0 0 0 0 1 0 0 0 0 1 0 0 0 0

1945 1946 1947 1948 1949 1950 1951 1952 1953 1954 1955 Sum204 122 144 me

23

91

andere Krimi- Rauf- PoliKriegs- nelle han- zist verbre- Hand- del chen lung

Alkohol

Summe

22 26 23 19 11 7 0 0 0 0 1

2 26 20 23 10 4 4 0 1 2 0

17 32 23 5 2 0 0 0 0 0 0

12 1 4 2 0 0 0 0 0 0 0

8 1 1 0 0 0 0 0 0 0 0

275 188 122 131 58 54 40 11 9 3 2

109

92

79

19

10

893

74 Stelzl-Marx, Entnazifizierung in Österreich. 75 AdBIK, Datenbank Zivilverurteilte. Hierbei handelt es sich primär um jene Verhaftungsgründe, welche die sowjetische Seite den österreichischen Behörden ab 1945 mitgeteilt hatte. Auch diesbezügliche Informationen in den Rehabilitierungsbescheiden, Personalakten oder in der Erinnerungsliteratur fanden Eingang in die Datenbank. 76 Als „SU-Bürger“ werden hier Personen bezeichnet, die in Österreich festgenommen wurden, allerdings auf dem Gebiet der (nachmaligen) Sowjetunion geboren worden waren. Hierzu zählte zum Beispiel Sergej Serbačev, geboren im Gebiet von Rjazan’, der seit Ende des Ersten Weltkriegs in Österreich lebte und am 17. 6.1948 gemeinsam mit vier weiteren russischstämmigen Männern in Amstetten auf der Ortskommandantur verhaftet wurde. Er wurde nach Artikel 58-2, 58-10 und 58-11 zu 25 Jahren ITL verurteilt. Serbačev kehrte 1954 nach Österreich zurück und wurde rehabilitiert. Vgl. AdBIK, Datenbank Zivilverurteilte; Svoboda, Partei, S. 78.

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Spionage Gerade der Tatbestand der Spionage stellt wegen der Komplexität des Themas und einer gewissen „Sprachlosigkeit“ der Betroffenen ein besonders heikles Thema dar. Immer mehr kristallisiert sich Wien als Drehscheibe mannigfaltiger Spionageaktivitäten heraus; hier prallten die unterschiedlichsten Spionageabteilungen aufeinander.77 Neueste Dokumente aus dem Archiv des FSB zeigen, wie genau der sowjetische Geheimdienst in Österreich über die Aktivitäten der amerikanischen Spionageabwehr CIC (Counter Intelligence Corps) unterrichtet war und die angeworbenen österreichischen CIC-Agenten – zum Teil über Jahre hinweg – beobachtete.78 Zu den Aufgaben der wissentlich oder unwissentlich in diesem Bereich eingesetzten Österreicher zählten u. a. das Notieren von Flugbewegungen sowjetischer Flugzeuge und von Kennzeichnen sowjetischer Militärfahrzeuge oder das Fotografieren von Militäranlagen und Truppenübungsplätzen. Selbst 1955 wurde noch ein Österreicher verhaftet, der den Truppenübungsplatz in Kaisersteinbruch fotografiert hatte.79 Neben Margarethe Ottillinger stellten die Festnahmen des Kriminalinspektors Anton Marek und des Gendarmeriebeamten Franz Kiridus nicht nur den Höhepunkt der sowjetischen Verhaftungswelle 1948 dar, sondern erregten als prominente Fälle besonderes Aufsehen: Sowohl in der nationalen wie internationalen Presse riefen diese beiden Verhaftungen starkes Echo hervor und kamen auch am häufigsten von allen Verschleppungen durch die sowjetische Besatzungsmacht im Alliierten Rat zur Sprache. Der Hintergrund von Staatspolizei und Innenministerium sowie deren gegen die KPÖ gerichteten Aktionen sind dabei von besonderem Interesse. Marek war Anfang Mai 1945 einer der Hauptbeteiligten bei der Auffindung der so genannten „Gauakten“ im teilweise durch Bomben zerstörten Wiener Parlamentsgebäude, die brisante personelle Akten aus der NS-Zeit enthielten. Der daraufhin von dem Aktenmaterial in Kenntnis gesetzte Leiter der österrei77 Erwin A. Schmidl (Hg.), Österreich im frühen Kalten Krieg 1945–1958. Spione, Partisanen, Kriegspläne, Wien 2000; Harald Irnberger, Nelkenstrauß ruft Praterstern. Am Beispiel Österreich: Funktion und Arbeitsweise geheimer Nachrichtendienste in einem neutralen Staat, Wien 1983; Fuchs, Der österreichische Geheimdienst. Vgl. auch Vasilij Christoforov, Sowjetische Geheimdienste in Österreich. Zu den Beständen des Zentralarchivs des FSB. In: Karner/Stelzl-Marx (Hg.), Die Rote Armee in Österreich, S. 149–162. 78 So wurde etwa Herbert B. bereits in einem Geheimdienstbericht vom März 1948 im Zusammenhang mit dem CIC-430 erwähnt. Fünf Jahre später, im Februar 1953, erfolgte seine Verhaftung und Verurteilung durch das Militärtribunal der Zentralen Gruppe der Streitkräfte in Baden. Vgl. CA FSB RF, f. 135, op. 1, d. 37, S. 100–106; AdBIK, Datenbank Zivilverurteilte. 79 GVP, Rehabilitierungsbescheid 7ud-407 14–55. Othmar E. vom 24. 5. 2001. Im Vorfallenheitsbericht der Sicherheitsdirektion für das Burgenland heißt es dazu: „Mittels zwei Photoapparaten tätigte er Aufnahmen vom russ. Lager, sowie von Geschützen und Panzern und wurde dabei von russ. Soldaten [...] festgenommen“ (BLA, A/VIII/14, I/5, Vorfallenheitsbericht vom 7. 5.1955).

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chischen Staatspolizei, Maximilian Pammer, unterrichtete Staatskanzler Renner von diesem Fund. Das Material wäre, so Pammers Einschätzung, gefährlich, „wenn es in die unrichtigen Hände – Russen oder Polizeidirektion Wien – gelangen würde“.80 Renner gab den Auftrag, alles Erforderliche zur Auswertung der Akten im Zusammenhang mit der Entnazifizierung zu veranlassen, vor allem aber auch, für strikteste Geheimhaltung des Fundes Sorge zu tragen. Dies bedeutete in erster Linie, die Gauakten nicht nur vor der sowjetischen Besatzungsmacht, sondern vor allem auch dem kommunistischen Chef der Wiener Staatspolizei, Heinrich Dürmayer, geheim zu halten. Marek wurde – bis zu seiner Verhaftung – eine Schlüsselfigur für den Zugang und die Auswertung der „Gauakten“. Allerdings dürfte er wohl mehr ein Hüter, denn ein Benutzer der Akten gewesen sein. Marek hatte nicht nur Zugriff auf dieses brisante Aktenmaterial, er war auch Leiter der so genannten „Gruppe 5“ im Innenministerium, einem eigenen Polizeikader von Innenminister Helmer. Ihre Aufgabe bestand darin, den kommunistischen Wiener Staatspolizeichef Dürmayer zu überwachen und Erhebungen im Auftrag Pammers durchzuführen, die Dürmayer aus bestimmten Gründen verborgen bleiben sollten.81 Franz Kiridus war der zweite führende Beamte in dieser Abteilung, die einen Personalstand zwischen 30 und 40 Personen hatte, wobei noch weitere Beamte für Sonderaufgaben zugeteilt werden konnten.82 Er diente als Pendant Mareks beim „schwarzen“ Stellvertreter Ferdinand Graf des „roten“ Innenministers Helmer. Die hinter dem Rücken Dürmayers stattfindenden Aktivitäten dieser Abteilung waren in erster Linie gegen die KPÖ und subversive kommunistische Tätigkeiten gerichtet. Wie ein erst kürzlich freigegebenes Dokument aus dem Zentralarchiv des FSB in Moskau von September 1947 belegt, wusste der sowjetische Geheimdienst darüber Bescheid: „So erteilten die führenden Beamten des Innenministeriums, Pammer und Peterlunger, Marek eine bestimmte Aufgabe in Bezug auf die kommunistische Partei Österreichs: ‚Marek zitierte neben den ihm zur Verfügung stehenden 36 Personen noch zusätzlich einige Kriminalinspektoren zu sich, denen er den Auftrag erteilte, in der kommunistische Partei und in ihren einzelnen Organisationen eine Agentur zu errichten und sich nach Möglichkeit in ihren Aufbau einzubringen.‘“83 80 Maximilian Pammer, Die „Gauakten“. Unveröff. Manuskript, Wien 1980, S. 1. Zit. nach Svoboda, Partei, S. 62 f. 81 Fuchs, Der österreichische Geheimdienst, S. 136; Svoboda, Partei, S. 64. 82 CA FSB RF, f. 4, op. 5, d. 870, S. 172–181; William B. Bader, Österreich im Spannungsfeld zwischen Ost und West 1945 bis 1955, Wien 2002, S. 82. 83 Sondermitteilung der Inspektion des Sowjetischen Teils der Alliierten Kommission für Österreich an das MGB der UdSSR über die antisowjetische Hysterie in Veröffentlichungen österreichischen Zeitungen, über eine Säuberung des Polizeiapparates unter dem Druck amerikanischer Vertreter und über ein von den Alliierten und eigenen österreichischen politischen Parteien vorgenommenes Bremsen des Prozesses der Entnazifizierung im Land. Vom Leiter der Inspektion des sowjetischen Teils der Alliierten Kommission für Österreich, Oberstleutnant Bogdanov, an den stellvertretende Minister für

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Auch die Aufgabe Mareks und seiner Mitarbeiter, Verschleppungsfälle durch die sowjetische Besatzungsmacht aufzuklären oder Informationen über die sowjetischen Erdölbetriebe in Ostösterreich einzuholen, blieben dem sowjetischen Geheimdienst nicht verborgen. Schließlich saß Josef Pospisil,84 der Leibwächter Helmers, der angeblich ihr Agent war, direkt im Bundeskanzleramt.85 Vor diesem Hintergrund überraschen die Verhaftungen von Marek und Kiridus eigentlich kaum. Marek wurde am 17. Juni auf der sowjetischen Stadtkommandantur festgenommen und sofort ins Gefängnis der Zentralen Gruppe der Streitkräfte nach Baden verbracht. Franz Kiridus wurde am 16. Juli 1948, aus Graz kommend, an der Demarkationslinie am Semmering von sowjetischen Organen festgenommen. Noch im Herbst 1948 nahmen sowjetische Organe Igor Mermelstein, der bei der Handelsabteilung des sowjetischen Teils der Alliierten Kommission arbeitete, und Viktor Ruew (Großfeld) fest. Ersterer soll von einem Mitarbeiter Mareks als Agent gegen die sowjetischen Truppen angeworben worden sein. Ruew, der als Dolmetscher bei der sowjetischen Erdölverwaltung im Büro für Tiefbohrungen arbeitete, soll ab Mai 1948 drei Berichte über die sowjetische Ölindustrie an Mareks Mitarbeiter übergeben haben. Die Verurteilung aller vier erfolgte erst am 7. Februar 1951 durch ein Militärtribunal des Truppenteils 28 990 nach den Artikeln 58-6-1 (Spionage) und 58-11 (Teilnahme an verbrecherischen Organisationen), bei Mermelstein zusätzlich noch nach Artikel 58-14 (gegenrevolutionäre Sabotage). Marek und Kiridus wurden zum Tod durch Erschießen verurteilt, wobei am 19. März 1951 ein Militärkollegium des Obersten Gerichtes die Strafe in 25 Jahre Haft umwandelte. Mermelstein und Ruew waren sofort zu 25 Jahren Haft verurteilt worden. Kiridus kehrte mit dem 69. Heimkehrertransport am 20. Juni 1955 nach Österreich zurück, Marek mit dem 70. am 25. Juni 1955. Mermelstein wurde erst im Dezember 1956 repatriiert und Ruew war am 13. Dezember 1953 in sowjetischer Haft verstorben.86 Nach den Festnahmen 1948 legten die US-amerikanischen Behörden diese Verhaftungen als Versuch der sowjetischen Besatzungsmacht aus, das antikom-

Staatssicherheit der UdSSR, Generalleutnant Selivanovskij, vom 9.9.2947 (CA FSB RF, f. 4, op. 5, d. 870, S. 172–181). 84 Marek und Pospisil sollen im Mai und Juni 1945 die Sowjets bei der Fahndung nach Kriegsverbrechern unterstützt haben und auch umgekehrt die österreichischen Militärbehörden über die Vorgänge auf der Kommandantur informiert haben. Auch die guten Kontakte zur sowjetischen Zentralkommandantur dürften hier ihre Wurzeln haben. Diese Tätigkeit für die sowjetische Besatzungsmacht kam während eines Prozesses 1958 gegen Josef Pospisil zum Vorschein, in dem er wegen Diebstahl und persönlicher Bereicherung angeklagt war. 85 Siegfried Beer, Monitoring Helmer. Zur Tätigkeit des amerikanischen Armeegeheimdienstes CIC in Österreich 1945–1950. Eine exemplarische Dokumentation. In: Geschichte zwischen Freiheit und Ordnung. Gerald Stourzh zum 60. Geburtstag. Hg. von Emil Brix, Thomas Fröschl und Josef Leidenfrost, Graz 1992, S. 229–259, hier 242. 86 RGVA, Personalakt Anton Marek.

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munistische Innenministerium einzuschüchtern.87 Auch die britische Seite reagierte heftig und versuchte immer wieder, den Fall Marek neu aufzurollen. Schließlich war Marek im „neutralen“ 1. Bezirk verhaftet und in die sowjetische Zone Wiens gebracht worden, als die Briten den Vorsitz in der Bezirkskommandantur für die Innere Stadt innehatten.88 Die starken westlichen Proteste in der Presse waren der sowjetischen Besatzungsmacht durchaus unangenehm. Andrej Smirnov, der Leiter der 3. Europäischen Abteilung des sowjetischen Außenministeriums, bezog sich etwa in einem Brief an Evgenij Koptelov, den politischen Vertreter des sowjetischen Teils der Alliierten Kommission, Ende Dezember 1948 auf die negative Wirkung der Zunahme der Verhaftungen durch sowjetische Organe, „die unserer Politik in Österreich Schaden zufügt“.89 Die Fälle Marek und Kiridus kommen darin mehrfach zur Sprache. Die Mehrheit der wegen Spionage verurteilten österreichischen Zivilisten waren allerdings keine Prominenten, sondern der „kleine Mann“ bzw. die „kleine Frau von der Straße“. Besonders gefährdet in dieser Hinsicht waren anscheinend Österreicherinnen, die – zum Teil „professionelle“ – Verhältnisse mit sowjetischen Besatzungssoldaten unterhielten.90 So wurden mehrere Prostituierte wegen Spionage nach Artikel 58-6 des StGB der RSFSR zu 15 bzw. 25 Jahren Arbeitsbesserungslager verurteilt. Herausragend ist der Fall von Frieda P., verehelichte K., deren Verurteilung 1951 nach Artikel 58-6 (Spionage) und 58-14 (gegenrevolutionäre Sabotage) erfolgte.91 Sie selbst bestritt allerdings vehement den Vorwurf der Spionage, wie aus ihrem Brief an das BIK im Zusammenhang mit der erfolgten Rehabilitierung hervorgeht: „Am 19.12.1950 holte man mich von meinem Arbeitsplatz weg, zur damaligen sowjetischen Stadtkommandantur in St. Pölten. Man konfrontierte mich mit der absurden Anschuldigung, Spionin zu sein, was ich in berechtigter Entrüstung energisch verneinte! Am darauffolgenden Tag brachte mich eine dunkle Limousine mit Vorhängen an den Fenstern in ein Untersuchungsgefängnis in Wien 10., Hardmuthgasse. Dort verblieb ich bis zu meinem 26. Geburtstag am 14. Januar 1951. Die nächste Station war dann Baden bei Wien. Dort verurteilte mich ein sowjetisches Militärtri87 Stearman meint dazu außerdem: „Westliche Befürchtungen, dass die Verhaftung Mareks Teil der Vorbereitungen eines kommunistischen Staatsstreiches gewesen sei, wurden durch die Verhaftungen des Gendarmeriebeamten Franz Kiridus am 16. Juli 1948 und des Beamten der oberösterreichischen Provinzialregierung Friedrich Müller-Willborn am 22. Juli 1948 bestärkt.“ Stearman, Die Sowjetunion und Österreich, S. 77. 88 Rauchensteiner, Sonderfall, S. 391. 89 AVP RF, f. 066, op. 29, p. 137, d. 15, S. 102–112. Vgl. dazu Dokument Nr. 108 in: Stefan Karner / Barbara Stelzl-Marx / Alexander Tschubarjan (Hg.), Die Rote Armee in Österreich. Sowjetische Besatzung 1945–1955. Dokumente. Krasnaja Armija v Avstrii. Sovetskaja okkupacija 1945–1955. Dokumenty, Graz 2005. 90 Vgl. dazu ausführlicher Knoll/Stelzl-Marx, Österreichische Zivilverurteilte in der Sowjetunion, S. 587–589; Barbara Stelzl-Marx, Österreichische „Wiedervereinigung“. Kontinuität und Wandel. In: Manfried Rauchensteiner (Hg.), Die Gunst des Augenblicks. Neuere Forschungen zu Staatsvertrag und Neutralität, Wien 2005, S. 187–222. 91 GVP, Rehabilitierungsbescheid 5uv-1133–97. Frieda P. vom 3.10.1997.

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bunal am Ostermontag 1951 nach § 58–6 zu zweimal92 25 Jahren Sibirien.“93 Das Bundeskanzleramt für auswärtige Angelegenheiten nahm im November 1952 allerdings als mutmaßlichen Grund für die erfolgte Festnahme „die Infizierung zweier Angehöriger der sowjetischen Besatzungsmacht mit Geschlechtskrankheiten“94 an, wodurch sich anscheinend auch die Verurteilung wegen „Sabotage“ erklären lässt. Ausführlicher sind gezielte Spionagetätigkeiten im Fall von Josef H. aus Wien dokumentiert, den ein Militärtribunal im November 1950 wegen seiner Verbindung zur amerikanischen Spionageabwehr CIC zum Tod durch Erschießen verurteilte. H. hatte zunächst von April 1946 bis zu seiner Entlassung im Januar 1949 als Zensor für die 6. sowjetische Zensurstelle gearbeitet. Noch im selben Monat soll H., nachdem er kompromittierende Aussagen über die sowjetische Zensur in Österreich gemacht hatte, von der amerikanischen Spionageabwehr als Agent zur Spionage gegen die Sowjetunion angeworben worden sein. Im Urteil heißt es dazu: „Im Auftrag des CIC sammelte H. von Februar bis April 1949 Informationen über die Arbeit der 6. Zensurstelle und gab diese dann der amerikanischen Spionageabwehr weiter. Im Oktober 1949 bekam H. vom CIC den Auftrag, einen Überfall auf die 6. sowjetische Zensurstelle vorzubereiten und von dort für die amerikanische Spionageabwehr interessante Unterlagen zu entwenden. Bei der Durchführung dieses Auftrages erstellte H. einen ausführlichen Plan der Diensträumlichkeiten der 6. Zensurstelle. In November 1949 vermittelte H. dem amerikanischen Geheimdienst die 2 ehemaligen Angestellten der 6. sowjetischen Zensurstelle, Josef A. und Eduard W., die von diesem zur Spionage gegen die UdSSR angeworben wurden. Außerdem nahm H. mehrmals an Versammlungen teil, bei denen die Gründung einer militärischen konterrevolutionären Organisation zum bewaffneten Kampf gegen die sowjetischen Besatzungstruppen in Österreich zur Sprache kam.“95 Das Urteil wurde am 14. Mai 1951 vollstreckt. Auch bei H. entschied sich die Hauptmilitärstaatsanwaltschaft für eine Rehabilitierung.96 Gleichfalls wegen Spionage für die amerikanische Besatzungsmacht verurteilte das Militärtribunal des Truppenteils 28990 am 31. Dezember 1951 in Baden den 1926 in Wien geborenen Karl Stockhammer nach Artikel 58-6 und 58-14 des StGB der RSFSR zum Tod durch Erschießen ohne Konfiskation des Vermögens. Gemäß dem Bericht des Vorsitzenden des Obersten Gerichts vom 22. Februar 1952 der UdSSR hatte sich Stockhammer Ende 1949 bereit erklärt, für den „CIC 430“ in Wien Spionagetätigkeiten gegen die österreichische Kommunistische Partei und den Verband der freien österreichischen Jugend durchzuführen. In der ersten Jahreshälfte 1950 fotografierte er demgemäß u. a. Ge92 Laut Rehabilitierungsbescheid erfolgte die Verurteilung nach Artikel 58-6-1 und 58-14 zu insgesamt 25 Jahren ITL. Vgl. GVP, Rehabilitierungsbescheid Frieda P. 93 AdBIK, Schriftliche Mitteilung, Frieda K. St. Pölten 1997. 94 ÖBM, Personalakte Frieda P. 95 RGVA, f. 461, Personalakt Nr. 172234, Josef H. 96 GVP, Rehabilitierungsbescheid 5uv-45845–50. Josef H. vom 14. 5.1997.

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bäude der KPÖ in der Umgebung von Wien und fertigte Namenslisten von KPÖ-Mitgliedern des 12. Wiener Gemeindebezirks an, die er seinem Verbindungsmann übergab. Eigens hervorgehoben wird auch seine Spionagetätigkeit im Zusammenhang mit dem Generalstreikversuch im Oktober 1950, wobei es heißt: „Im Oktober 1950, als in Wien ein allgemeiner Proteststreik der werkstätigen Massen gegen die Preiserhöhung [gemeint ist das 4. Lohn-Preisabkommen97] durchgeführt wurde, sammelte Stockhammer Angaben über die Zahl der Demonstranten, die sich aus Liesing vor dem Parlamentsgebäude eingefunden hatten.“98 Weiters soll er im September 1951 Informationen über die Demonstranten im 20. Wiener Gemeindebezirk eingeholt haben, die gegen die Erhöhung der Mieten protestierten. Als Provokation der sowjetischen Besatzungsmacht in Österreich plante Stockhammer laut Oberstem Gericht der UdSSR, einen „Erbsenkranz mit einer antisowjetischen Aufschrift anzufertigen und diesen am 9. Mai 1951 beim Denkmal der im Kampf gegen die Deutschen gefallenen sowjetischen Soldaten in Wien niederzulegen. Aus einer Reihe von Gründen kam es dazu nicht mehr.“99 Dass es sich hierbei um eine Anspielung auf die insbesondere aus Erbsen bestehenden Lebensmittellieferungen100 der Roten Armee 1945 an die hungernde Wiener Bevölkerung, die so genannten „Erbsenschulden“, und einen Protest gegen das nicht unumstrittene „Russendenkmal“ am Schwarzenbergplatz handelte, muss nicht eigens erläutert werden. Auch für den 7. November 1951, dem Jubiläum der Oktoberrevolution, war angeblich eine ähnliche Provokation geplant, die durch seine Verhaftung am 18. Oktober 1951 nicht mehr in die Tat umgesetzt wurde: „Bei der Verhaftung wurde ihm eine dieser antisowjetischen Aufschriften in russischer Sprache, ein von ihm notiertes Kennzeichen eines sowjetischen Fahrzeuges und eine Pistole mit Gefechtspatronen abgenommen. Das oben Dargelegte bestätigte Stockhammer bei Gericht und erklärte, dass er all das als Mitglied der Sozialistischen Partei Österreichs getan habe und dass er gegenüber den Kommunisten und Mitgliedern dem Verband der freien österreichischen Jugend feindlich erzogen worden wäre. Im Gnadengesuch gibt Stockerhammer an, dass er die Informationen für seine Partei gesammelt habe, ohne zu wissen, dass John ein Agent 97 Zum vierten Lohn-Preis-Abkommen und dem versuchten Generalstreik im Oktober 1950 vgl. u. a. Der Oktoberstreik 1950. Ein Wendepunkt der Zweiten Republik. Hg. von Michael Ludwig, Klaus Dieter Mulley und Robert Streibel, Wien 1991. 98 GARF, f. P-7523, op. 76, d. 80, S. 144. 99 Ebd. 100 Sowohl die „Maispende“ oder „Stalin-Spende“ vom 1.1.1945 als auch die Lebensmittellieferungen, die über Befehl Stalins am 23. 5.1945 in Auftrag gegeben wurden und die Versorgung Wiens vom 1. 6. bis 30. 9.1945 sichern sollten, wiesen einen großen Anteil von Erbsen und Bohnen an den gelieferten Lebensmitteln auf. So wurde die zum 1. Mai propagandistisch groß herausgestrichene Lebensmittelspende als „Erbsenspende“ sprichwörtlich. Was in der Öffentlichkeit später als „Erbsenschulden“ bekannt wurde, bezog sich nicht auf die „Maispende“, sondern die Lebensmittellieferungen von Juni bis September 1945. Vgl. Stourzh, Um Einheit und Freiheit, S. 175; Rauchensteiner, Sonderfall, S. 78 f., 275.

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des CIC war und ihn für Provokationen verwendete (was er aber bei der Voruntersuchung und Beweisaufnahme zugegeben hatte). Er ersucht, die Todesstrafe in eine im Arbeitslager zu verbüßende Haftstrafe umzuwandeln.“101 Der Vorsitzende des Obersten Gerichts der UdSSR, Anatolij Volin, kommentierte das Gnadengesuch mit den Worten: „Das Urteil des Militärtribunals erachte ich als richtig.“102 Nur wenige Tage nach der Ablehnung des Gnadengesuches am 18. März 1952 erfolgte die Erschießung Stockhammers. Das im Folgenden zitierte Gnadengesuch Stockhammers an den Obersten Rat der Sowjetunion soll als Beispiel für die nun erstmals zugänglich gemachten Gnadengesuche zum Tode verurteilter Österreicher dienen, die, wie bereits erwähnt, beinahe ausnahmslos abgelehnt wurden. Trotz gewisser wiederkehrender Standardformeln gewähren diese mit Bleistift auf Deutsch verfassten Schreiben einen intimen Einblick in das Schicksal des Verfassers. „An den obersten Rat der Sowjetunion im Präsidium. Sehr geehrter oberster Rat: Ich, Karl Stockhammer, Sohn einer Arbeiterfamilie am 17. IV. 1926 in Wien geboren, Österreicher, 8 Klassen Schulbildung, wurde am 31. XII. 1951 zum Tode durch Erschießen verurteilt. Dieses Urteil wurde vom Militärgericht in Baden nach dem Artikel 58-6 und 58-14 ausgesprochen. Ich wurde seit 1950 von einem Funktionär der Sozialistischen Partei für Informationsbeschaffung herangezogen. Da ich seit 1947 Mitglied der S. P. Ö. bin und mir dauernd gesagt wurde, diese Auskünfte braucht die S. P. Ö., habe ich mich damit einverstanden erklärt. Dieser Funktionär, John Erich, ist aber Mitarbeiter des amerikanischen CIC und hat mich schändlich missbraucht, indem er mich als Agent der CIC verwendete und Geld bezogen hatte, ohne aber mein Einverständnis zu haben. John wusste ganz genau, dass ich nur für die S. P. Ö. handle und niemals für meinen Klassengegner gearbeitet hätte. Dass ich aber für die S.P.Ö. Aktionen durchführte, wird jeder politisch denkende Mensch verstehen und nicht als Verbrechen werten. Dass ich von John zu einer Provokation des russischen Volkes verleitet werden konnte, ist unsere Parteipresse und die schwache russische Gegenpropaganda schuld. Würde das österreichische Volk das russische so kennen, wie ich es jetzt kennen lernte, so würde viele weniger Hass gegen Ihre Nation sein. Ich bitte nun den obersten Rat, meinen Fall zu prüfen und wenn möglich das Urteil in eine Arbeitsstrafe abzuändern. Mit den besten Dank im voraus Ihr ergebenster [Unterschrift]“103

Zum Zeitpunkt dieses Gnadengesuches befand sich Stockhammers Mittelsmann zum CIC, Erich John, gleichfalls bereits in sowjetischer Haft – eventuell sogar auf Grund seines Hinweises. Schließlich existierte gerade in Wien ein ganzes Netz an „amerikanischen Agenten und Russenspitzel[n]“,104 für die sich die sowjetische Besatzungsmacht besonders interessierte.105 John war Mitte Janu101 102 103 104 105

GARF, f. P-7523, op. 76, d. 80, S. 145. Ebd. Ebd., S. 149 f. Amerikanischer Agent und Russenspitzel. In: Arbeiter Zeitung vom 18. 4.1952, S. 6. Zu den US-Geheimdienstaktivitäten in Österreich vgl. u. a. Siegfried Beer, Rund um den „Dritten Mann“: Amerikanische Geheimdienste in Österreich 1945–1955. In: Schmidl (Hg.), Österreich im frühen Kalten Krieg 1945–1958, S. 73–100; Arnold Ko-

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ar 1952 gemeinsam mit weiteren „offiziellen Mitarbeitern des CIC“ auf Grund seiner Tätigkeit für den amerikanischen Geheimdienst in Österreich verhaftet worden. Das Militärtribunal des Truppenteils 28990 in Baden verurteilte ihn am 10. April 1952 nach Artikel 58-6 zur Höchststrafe (Tod durch Erschießen) mit Konfiszierung der bei der Festnahme abgenommenen Wertgegenstände. Wie auch bei Stockhammer wurde sein zwei Tage später vorgelegtes Gnadengesuch abgelehnt. Die Vollstreckung des Urteils erfolgte am 11. Juli 1952. Gemäß dem Gesetz der Russischen Föderation „Über die Rehabilitierung von Opfern politischer Repressionen“ vom 18. Oktober 1991 rehabilitierte die Hauptmilitärstaatsanwaltschaft Russlands John am 5. Februar 2001.106

„Werwolf“ Sensibel reagierte die sowjetische Besatzungsmacht auch auf tatsächliche oder vermeintliche Zugehörigkeit zu „Werwolf“-Organisationen. Deren offizielles Programm beinhaltete neben antisowjetischer Propaganda u. a. die Teilnahme an Kampfhandlungen gegen die Rote Armee nach der Entlassung aus der Wehrmacht, Mithilfe an der Verzögerung des Kriegsendes, Waffenbesitz nach Kriegsende oder Sabotage hinter der sowjetischen Front. Insbesondere in der Steiermark spielte der Vorwurf von „Werwolf“-Tätigkeit unter der Bezeichnung „Diversion“ und „Terrorismus“ eine herausragende Rolle: Hier wurden beinahe 70 Prozent aller bisher bekannten diesbezüglichen Verhaftungen vorgenommen. Zudem erfolgte mehr als ein Drittel aller Verhaftungen in der – nur bis Juli 1945 sowjetisch besetzten – Steiermark auf der Grundlage von „Werwolf“Zugehörigkeit. Insgesamt verurteilte die sowjetische Besatzungsmacht 122 Österreicher auf Grund dieses Deliktes, wovon drei hingerichtet, 75 repatriiert oder entlassen wurden und 33 verstarben. Bei elf Fällen ist das weitere Schicksal ungeklärt. Als steirisches Zentrum kristallisierte sich Admont bei Liezen heraus, wo vom 16. April bis 5. Mai 1945 ein eigener Kurs für „Werwölfe“ abgehalten wurde. Hierbei handelte es sich um eine Ausbildung für das so genannte „Freikorps Adolf Hitler“, das mit einem Befehl Hitlers am 28. März 1945 ins Leben gerufen worden war.107 Die Teilnehmer erhielten Gewehre und MGs, um im Rücken peczek, Die amerikanischen Waffenlager, die „Einsatzgruppe Olah“ und die Staatspolizei im Kalten Krieg der fünfziger Jahre. In: ebd., S. 101–119; Ralph W. Brown III, A Cold War Army of Occupation? The Role of USFA in Quadripartite Occupied Vienna. 1945–1948. In: Österreich unter Alliierter Besatzung 1945–1955. Hg. von Alfred Ableitinger, Siegfried Beer und Eduard G. Staudinger, Wien 1998, S. 349–361, hier 359 f. 106 GARF, f. P-7523, op. 76, d. 95, S. 42–65; GVP, Rehabilitierungsbescheid 7uv-9886– 52. Erich John vom 5. 2. 2001. 107 „Ich verfüge die Aufstellung eines Freikorps ‚Adolf Hitler‘, das sich aus den Aktivisten der Bewegung, Freiwilligen des Volkssturm und Freiwilligen der Werkschar zusammensetzt. Jeder der über 18 Jahre alt ist und sich freiwillig meldet, muss von der Partei, dem Volkssturm und den Betrieben freigegeben werden. Mit der Aufstellung dieses Freiwilli-

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Tabelle 8: Verhaftungen wegen „Werwolf“-Aktivitäten nach Bundesländern (Basis: Angaben in 122 Fällen) Bundesland Steiermark Niederösterreich Wien Burgenland Gesamt

Anzahl 85 34 2 1 122

Prozent 69,7 27,9 1,6 0,8 100,0

der Roten Armee „Diversions- und Terrorarbeit“ durchzuführen, allerdings kam es nachweislich niemals zu einer der geplanten Aktionen. Nichtsdestotrotz erfolgte im Juni 1945 eine große Verhaftungswelle in den obersteirischen Orten Kapfenberg, Judenburg, Knittelfeld, Eisenerz, Fohnsdorf, Leoben, Niklasdorf, Thörl, Turnau und Aflenz, die ausschließlich Teilnehmer am genannten „Werwolf“-Kurs betraf. Das 91. Belgoroder Grenz-Regiment des NKVD verhaftete im Mur- und Mürztal vom 11. Mai bis 13. Juli 1945 39 dieser als „Diversanten oder Terroristen“ bezeichneten Personen, davon 23 nach gezielten Hinweisen aus der Bevölkerung und Nachbarschaft.108 Allein am 30. Mai 1945 nahm eine Abteilung des 17. Grenz-Regiments der NKVD-Truppen 16 Personen in Zivilkleidern fest, die – wie sich bei den Verhören herausstellen sollte – gleichfalls an den Spezialkursen in Admont zu Operationen im Hinterland der Roten Armee ausgebildet worden waren.109 Dies legt den Schluss nahe, dass die sowjetischen Organe – abgesehen von den Hinweisen aus der Bevölkerung – eine Teilnehmerliste gefunden haben müssen, auf deren Basis sie die gezielten Festnahmen durchführten. Die Politabteilung des 17. Grenz-Regiments der NKVD-Truppen zum Schutz des Hinterlandes der 3. Ukrainischen Front führt außerdem in ihrem Tätigkeitsbericht vom 31. Juni 1945 die Festnahme von 32 „Volkssturm“-Angehörigen in Wildon an, die vom 1. April bis Anfang Mai 1945 an einem Kurs für „Diversionstätigkeit“ im Hinterland der Roten Armee teilgenommen hatten. Bei ihrer Verhaftung wurden 29 Gewehre, Munition und zahlreiche Granaten vorgefunden. Gemäß dem Bericht bestand die Aufgabe der Verhafteten darin, „Brücken, Bahnkörper und wichtige Objekte zu sprengen; fahrende Autokolonnen und genkorps und seiner Führung beauftrage ich den Reichsorganisationsleiter der NSDAP, Parteigenossen Ley.“ Zit. nach Martin Moll, „Führer-Erlasse“ 1939–1945. Edition sämtlicher überlieferter, nicht im Reichsgesetzblatt abgedruckter, von Hitler während des Zweiten Weltkrieges schriftlich erteilter Direktiven aus den Bereichen Staat, Partei, Wirtschaft, Besatzungspolitik und Militärverwaltung, Stuttgart 1997, S. 488 f. 108 Vgl. RGVA, f. 32903, op. 1, d. 25. 109 RGVA, f. 32902, op. 1, d. 28, S. 246 f. Vgl. auch Natal’ja Eliseeva, Zum Schutz des Hinterlandes der Roten Armee.

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einzelne Soldaten der Roten Armee zu überfallen; Personen zu terrorisieren, die in der neuen österreichischen Regierung leitende Positionen einnehmen“.110 Unter den insgesamt 122 nachweislich wegen „Werwolf“-Zugehörigkeit verurteilten Österreichern befand sich der Arbeiter Egon R., der gemeinsam mit fünf weiteren Kapfenbergern im Juni 1945 festgenommen wurde. Am 13. August 1945 verurteilte ein Militärtribunal der 4. Garde-Armee alle sechs in einer geschlossenen Gerichtsverhandlung zu zehn Jahren Besserungsarbeitslager nach „Artikel 19-58-8 und 19-58-9 des Strafgesetzbuches der RSFSR und unter Berücksichtigung der Artikel 319 und 320 der Strafprozessordnung der RSFSR“.111 Als Begründung für die Strafe führt das Urteil folgenden Tatbestand an: „Die Verdächtigen H., R., N., A., N., M. wurden im April des Jahres 1945 von Funktionären der nazistischen Partei zur Durchführung von Tätigkeiten Diversions- und terroristischen Charakters angeworben. Die Ausbildung erfolgte in der Diversions- und Terrorschule in Admont, Bezirk Liezen, Österreich, welche die Genannten von 18. April bis 5. Mai 1945 besuchten. Nach Absolvierung der Diversions- und Terrorschule wurden sie mit Feuerwaffen (Schnellfeuergewehren, Maschinenpistolen) ausgestattet und in der Etappe der Roten Armee zur Durchführung von Diversions- und terroristischen Aufgaben eingesetzt. Beim Einmarsch der Roten Armee in der Stadt Kapfenberg im Mai 1945 wurden H., R., N., A., N., M. in Gewahrsam genommen und als Angehörige einer Diversions- und terroristischen Formation entlarvt.“112 R. kam zuletzt in das Gefängnis Verchne-Ural’sk, wo er schließlich 1953 amnestiert wurde. Wegen einer Krankheit konnte er nicht – wie geplant – mit dem 60. Heimkehrertransport am 14. Oktober 1953 in Wiener Neustadt eintreffen, sondern verblieb noch weitere acht Monate im Repatriierungslager Pot’ma II. Schließlich kam er mit dem 61. Heimkehrertransport nach Österreich zurück, wo am 11. Juni 1954 „auf dem Bahnhof von einer großen Menschenmenge und von Kindern mit Blumen erwartet wurde, die ihm, als der Zug endlich einfuhr, einen außerordentlich herzlichen Empfang bereiteten. Vizebürgermeister Herbertz brachte den Heimkehrer, der 1945 wegen angeblicher Werwolftätigkeit denunziert und von der damaligen sowjetischen Besatzungsmacht verhaftet worden war, in seine Wohnung. R. ist verheiratet und hat einen bereits 25-jährigen Sohn.“113 Seine Rehabilitierung erfolgte am 23. September 1997.114

110 RGVA, f. 32902, op. 1, d. 28, S. 247; Stefan Karner, Die Steiermark im 20. Jahrhundert. Politik – Wirtschaft – Gesellschaft – Kultur, Graz 2000, S. 320. 111 RGVA, f. 461, Personalakt Nr. 172458, Egon R. 112 Ebd. 113 Zwei Steirer aus der Gefangenschaft heimgekehrt. In: Südost-Tagespost vom 12. 6.1954. 114 GVP, Rehabilitierungsbescheid 5uv-11992–51. Egon R. vom 23. 9.1997.

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Illegaler Waffenbesitz Besonders in den ersten drei Jahren der Besatzung kam es zu einer Reihe von Verhaftungen auf Grund von unerlaubtem Waffenbesitz, wobei persönliches Sicherheitsbedürfnis, antisowjetische politische Überzeugung oder die unklare Regelung bei Jagdwaffen die wichtigsten Gründe für die nicht erfolgte Waffenabgabe waren. Gerade im Zusammenhang mit diesem Delikt erfolgten immer wieder anonyme Anzeigen bei den sowjetischen Kommandanturen, die daraufhin Hausdurchsuchungen veranlassten. Ab 1948 nahm die Zahl der wegen Waffenbesitzes Festgenommenen stark ab, was einerseits darauf zurückzuführen ist, dass die Bevölkerung bereits vorsichtiger mit diesem Verbot umging, andererseits, dass von diesem Zeitpunkt an häufiger österreichischen Behörden die Ahndung von unerlaubtem Waffenbesitz übertragen wurde. Die Mehrheit der Verurteilungen wegen dieses Deliktes wurde ursprünglich auf der Basis der Artikel 58-2 (Aufstand, Aggression von Banden) und 58-14 (gegenrevolutionäre Sabotage) des Strafgesetzbuches der RSFSR durchgeführt. Dies ist insofern bemerkenswert, als heute die Moskauer Hauptmilitärstaatsanwaltschaft in diesen Fällen häufig keine Rehabilitierung, sondern vielmehr eine Umwandlung der Strafe – nämlich nach Artikel 182-1 (Herstellung, Verwahrung, Kauf und Verkauf von explosiven Gegenständen oder Geschossen sowie von Feuerwaffen – außer für Jagdzwecke) – vornimmt. Beispielsweise setzte das Oberste Gericht der Russischen Föderation die ursprüngliche nach Artikel 58-2 zu zehn Jahren ITL erfolgte Verurteilung von Karl R. in eine Strafe von fünf Jahren ITL auf der Basis des Artikels 182-1 herab.115 Auch bei dem nach Artikel 58-14 zu zehn Jahren ITL verurteilten Leopold T., der verbotenerweise eine Pistole besessen hatte, wandelte das Oberste Gericht im Januar 2000 sein Urteil in fünf Jahre Besserungsarbeitslager nach Artikel 182-1 um.116 Besonders großes Aufsehen rief die Festnahme des niederösterreichischen Landtagsabgeordneten Franz Gruber hervor, der wegen unerlaubten Waffenbesitzes nach Artikel 58-14 im September 1946 verurteilt und in die Sowjetunion verbracht wurde, wo er Anfang Januar 1949 in Haft verstarb. Insbesondere die „Arbeiter-Zeitung“ widmete sich dieser Verhaftung, die auch unter der Bevölkerung viel Unruhe hervorrief. Demgemäß sollen bei Gruber „ein oder zwei Revolver“ gefunden worden sein, was „zwar verboten, aber angesichts der Sicherheitsverhältnisse in Niederösterreich sicherlich kein schwerwiegendes Delikt sei“.117 Die „Arbeiter-Zeitung“ warf zudem die Frage der Immunität des 115 VSRF, Bescheid 1n-01812/p-52. Karl R. vom 13.1. 2000. 116 VSRF, Bescheid 1n-02279/p-52. Leopold T. vom 13.1. 2000. 117 Zit. nach Herbert Killian, Im GULAG von Kolyma. Betroffene erzählen. In: Konflikte und Kriege im 20. Jahrhundert. Aspekte ihrer Folgen. Hg. von Harald Knoll, Peter Ruggenthaler und Barbara Stelzl-Marx, Graz 2003, S. 73–90, hier 85. Zum Schicksal von Grubers Tochter, Helene Gruber, verehelichte Elena Bondareva, die 1946 wegen Mitwisserschaft verhaftet wurde und erst 1960 mit ihren drei Kindern aus der Sowjetunion nach Österreich zurückkehrte vgl. ebd., S. 85–89.

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Abgeordneten auf,118 worüber auch die Politische Verwaltung der Zentralen Gruppe der Streitkräfte im August 1946 intern berichtete.119 Laut diesem Bericht und gemäß der Untersuchungen des Militärtribunals soll bei Gruber allerdings ein größeres Waffenarsenal gefunden worden sein.120

Kriegsverbrechen und NS-Gewaltverbrechen Wenngleich Tatbestände wie Misshandlungen von sowjetischen Zwangsarbeitern während der NS-Zeit oder Verbrechen gegen die sowjetische Zivilbevölkerung weniger stark im kollektiven Gedächtnis als Verhaftungsgrund verankert sind als etwa Festnahmen wegen illegalen Waffenbesitzes oder Spionage, machten sie doch beinahe ein Viertel der Verurteilungsgründe aus: Von den 893 Zivilverurteilten, deren Verhaftungsgrund bis dato bekannt ist,121 wurden allein 91 wegen Vergehen an „Ostarbeitern“ oder sowjetischen Kriegsgefangenen und 109 wegen primär auf dem Gebiet der Sowjetunion begangenen anderen Kriegsverbrechen festgenommen.122 Dazu zählen auch die 50 ehemaligen Schutzpolizisten, die im Gebiet von Galizien Tötungen und Misshandlungen an Juden vorgenommen hatten.123 Hier liegt ein bemerkenswerter Unterschied zu den verurteilten österreichischen Kriegsgefangenen in sowjetischer Hand vor, da diese in erster Linie wegen auf dem Gebiet der Sowjetunion begangener Kriegsverbrechen verurteilt wurden. Die überwiegende Mehrheit dieser Verbrechen wurde nach Ukaz 43 vom 19. April 1943 geahndet, der bezeichnenderweise den Titel „Über Maßnahmen zur Bestrafung deutsch-faschistischer Übeltäter, die der Ermordung und Misshandlung der sowjetischen Zivilbevölkerung und der gefangenen Rotarmisten schuldig sind, sowie der Spione und Vaterlandsverräter unter den Sowjetbürgern und Helfershelfern“ trägt.124 Bemerkenswert ist, dass der Ukaz 43 nur wenige Wochen nach dem sowjetischen Sieg in der Schlacht um Stalingrad entstand, als die Sowjetunion mit einer baldigen Rückeroberung der verloren gegangenen Gebiete und der Gefangennahme größerer Kontingente an Wehr-

118 Vgl. etwa: Die Verhaftung des Abgeordneten Gruber. In: Arbeiter-Zeitung vom 17. 7.1946, S. 2. 119 RGASPI, f. 17, op. 128, d. 118, S. 216. Vgl. dazu Dokument Nr. 99 in: Karner/StelzlMarx/Tschubarjan, Die Rote Armee in Österreich. 120 RGASPI, f. 17, op. 128, d. 118, S. 216–218. 121 Vgl. dazu Tab. 7. 122 Marschall fasst vor Kriegsende gesetzte Delikte gegen Kriegsgefangene und „Fremdarbeiter“ als „Verletzungen des Kriegsvölkerrechts“ zusammen. Marschall, Volksgerichtsbarkeit, S. 76 f. 123 AdBIK, Datenbank Zivilverurteilte. Hierbei wird von einer Zahl von 685 Zivilverurteilten ausgegangen, deren Verhaftungsgrund bekannt ist. 124 Günther Wagenlehner, Stalins Willkürjustiz gegen die deutschen Kriegsgefangenen. Dokumentation und Analyse, Bonn 1993, S. 44 f.

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machtssoldaten sowie „abtrünniger“ Rotarmisten rechnen konnte.125 Dementsprechend bedroht das Dekret in Artikel 1 einerseits „deutsch-faschistische Übeltäter“, die „Mordtaten und Misshandlungen an der sowjetischen Zivilbevölkerung und gefangenen Rotarmisten“ begangen hatten, sowie andererseits „Spione und Vaterlandsverräter unter den Sowjetbürgern“ mit dem Tod durch Erhängen. Da zwischen 1947 und 1950 in Übereinstimmung mit den Dekrets zur Abschaffung bzw. Wiedereinführung der Todesstrafe keine Hinrichtungen vollstreckt wurden, wurde die Todesstrafe in dieser Zeit in 25 Jahre Freiheitsstrafe umgewandelt.126 Als Beispiel für Festnahmen österreichischer Zivilisten wegen Kriegsverbrechen soll hier zunächst der Fall von Julius M., geboren 1896 im Bezirk Horn, dienen, den ein sowjetisches Militärtribunal am 10. Juli 1945 zum Tod durch Erschießen verurteilte.127 Die Begründung des Urteils lautete folgendermaßen: „Aus den Materialien der Voruntersuchung und der Gerichtsversammlung geht hervor, dass Julius M. 1935 freiwillig Mitglied der faschistischen Partei wurde und als eifriger Nazi – er übte seit 1938 die Funktion eines Parteiortsgruppenleiters und Kreisleiters aus – Propaganda für die nationalsozialistischen programmatischen Bestimmungen unter der örtlichen Bevölkerung betrieb und neue Mitglieder anwarb.“128 Nach diesem Verweis auf die nationalsozialistische Vergangenheit des Angeklagten erfolgt die Beschreibung des eigentlichen Tatbestandes: „M. hatte seine eigene Landwirtschaft, in welcher er sechs ausländische Arbeiter ausbeutete, darunter auch ein russisches Mädchen, die er bestialisch misshandelte, dem Hunger aussetzte und wegen eines geringen Vergehens in ein Konzentrationslager schickte. Für den Kampf gegen die Rote Armee bildete M. eine Volkssturmeinheit, der 500 Mann angehörten, welche er selbst kommandierte. Die Einheit, die M. befehligte, war mit Gewehren, Panzerfäusten und Granaten bewaffnet. Durch seine Handlungen verübte der Angeklagte M. ein Verbrechen, das gemäß Artikel 1 des Ukaz des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 9. 4.1943, Artikel 1, geahndet wird.“129 Nur zwei Wochen nach seiner Verurteilung zum Tod beurteilte das sowjetische Militärtribunal der Zentralen Gruppe der Streitkräfte wegen M.’s Berufung seine Schuld neu und wandelte die Strafe in 20 Jahre Zwangsarbeit gemäß des Artikels 2 des Ukaz 43 um.130 M. kehrte im Juni 1955 nach Österreich zurück.131 Seinen Antrag auf Rehabilitierung im Jahre 1998 lehnte die Hauptmi125 Martin Lang, Stalins Strafjustiz gegen deutsche Soldaten. Die Massenprozesse gegen deutsche Kriegsgefangene in den Jahren 1949 und 1950, Herford 1981, S. 92; Andreas Hilger/Nikita Petrov/Günther Wagenlehner, Der „Ukaz 43“: Entstehung und Problematik des Dekrets des Präsidiums des Obersten Sowjets vom 19. April 1943. In: Sowjetische Militärtribunale, Band 1, S. 177–209. 126 Karner, Im Archipel GUPVI, S. 176. 127 Vgl. auch Stelzl-Marx, Entnazifizierung in Österreich. 128 RGVA, f. 461, Personalakt Nr. 190236, Julius M., S. 5. 129 Ebd. 130 Ebd. 131 AdBIK, Datenbank Zivilverurteilte.

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litärstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation mit der Begründung ab, dass „Julius M. wegen der systematischen Misshandlung der bei ihm in der Landwirtschaft arbeitenden Fremdarbeiter rechtmäßig und gerechtfertigt verurteilt worden war“.132 Ein ähnlicher Tatbestand liegt auch bei Johann E. vor, den die 95. SchützenDivision wegen Vergehen an sowjetischen Kriegsgefangenen im Stalag XVII B Krems-Gneixendorf,133 dem größten Kriegsgefangenenlager der „Ostmark“, am 27. Februar 1948 zu 25 Jahren ITL verurteilte: „Der Genannte ist laut Angabe der russischen Behörden verdächtigt, anlässlich seiner Tätigkeit als Kompanieführer im ehemaligen Kriegsgefangenenlager Gneixendorf (Stalag XVII B), während der NS-Herrschaft, unter Ausnutzung seiner dienstlichen Gewalt, russische Kriegsgefangene misshandelt und in ihrer Menschenwürde gekränkt zu haben. Der Genannte, der nach seinen eigenen Angaben seit 1938 der NSDAP als Mitglied angehörte, bestritt die ihm zur Last gelegten Verbrechen und behauptet, dass die Versetzung in das erwähnte Kriegsgefangenenlager strafweise erfolgt ist, sowie dass er die Kriegsgefangenen stets human behandelt hätte, ja bemüht war, ihre Lage zu verbessern. Am 25. Oktober 1947 wurde E. von sowjetischen Organen aus Krems abtransportiert.“134 E. kehrte im Juni 1955 mit dem 70. Heimkehrertransport nach Österreich zurück.135 Dem Ansuchen auf Rehabilitierung wurde wegen nachgewiesen „grausamer Behandlung von Kriegsgefangenen“ nicht stattgegeben.136 Gezielt gesucht wurden ehemalige Kommandeure des Kriegsgefangenenwesens, wie u. a. die Verhaftungen von Generalmajor Hugo Schäfer,137 des ehe132 GVP, Rehabilitierungsbescheid M. Julius vom 29.10.1998. 133 Zur Geschichte des Stalag XVII B Krems-Gneixendorf vgl. Barbara Stelzl-Marx, Zwischen Fiktion und Zeitzeugenschaft. Amerikanische und sowjetische Kriegsgefangene im Stalag XVII B Krems-Gneixendorf, Tübingen 2000; Barbara Stelzl-Marx (Hg.), Unter den Verschollenen. Erinnerungen von Dmitrij Čirov an das Kriegsgefangenenlager Krems-Gneixendorf 1941 bis 1945, Horn 2003; Hubert Speckner, In der Gewalt des Feindes. Kriegsgefangenenlager in der „Ostmark“ 1939 bis 1945, Wien 2003, S. 228 ff. 134 ÖBM, Personalakte Johann E. 135 AdBIK, Datenbank Zivilverurteilte. 136 GVP, Rehabilitierungsbescheid 5uv-6188–48. Johann E. vom 8. 7.1998. 137 Zu den Hintergründen siehe folgendes Zitat: „Oberst Schäfer wurde in der Wehrmacht General. Er nahm ein tragisches Ende. Nach Kriegsende kehrte er nach Wien zurück, in Unkenntnis, dass er von den Russen auf Grund seiner Dienststellung als stellvertretender Kommandant eines Kriegsgefangenenlagers gesucht wurde. Er meldete sich vorschriftsmäßig bei den österreichischen Behörden und auch bei der russischen Kommandantura, was zunächst ohne Folgen blieb. Jedoch hatte sich ein österreichischer KPÖFunktionär in seiner Wohnung eingenistet, und als Schäfer diese zurückverlangte, denunzierte in der Funktionär bei den russischen Behörden. General Schäfer wurde nach dieser Meldung in die UdSSR verschleppt und dort erschossen.“ Zit. nach Marcel Stein, Österreichs Generäle 1938–1945 im Deutschen Heer. Schwarz/Gelb – Rot/Weiß/Rot – Hakenkreuz, Bissendorf 2002, S. 94. Gesucht wurde offensichtlich auch Generalmajor Paul Ritter von Wittas, der gleichfalls Kommandeur des Stalag XVII B Krems-Gneixendorf gewesen war. Im Gegensatz zu Schäfer erfuhr Wittas allerdings rechtzeitig, dass er von den Russen gesucht wurde, und konnte sich in die westlichen Besatzungszonen absetzen. Vgl. Stein, Österreichs Generäle, S. 101.

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maligen Kommandeurs für das Kriegsgefangenenwesen in den Wehrkreisen XXI und XVII, sowie von Gustav Grachegg, des ehemaligen Kommandeurs für das Kriegsgefangenenwesen im Wehrkreis VII, zeigen. Ersteren verurteilte ein Militärtribunal im September 1945 zum Tod und vollstreckte das Urteil durch Erschießen zwei Monate später.138 Als offizielle Todesursache gab das sowjetische Außenministerium Anfang 1956 „Gehirnblutung“ an.139 Auch bei Gustav Grachegg erscheint eine Verurteilung zum Tod als wahrscheinlich. Er gilt bis heute als abgängig.140 Schäfers Gattin, die selbst fünf Jahre nach seiner Hinrichtung nichts von seinem Schicksal wusste, schildert in einem Brief an den österreichischen Botschafter in Moskau seine Tätigkeit folgendermaßen: „Nach Ausbruch des 2. Weltkrieges wurde er 1939 zur Kriegsdienstleistung einberufen und anfangs als Kommandeur des Kriegsgefangenenlagers Gneixendorf, später als Kommandeur der Kriegsgefangenen des Wehrkreises Posen und 1942 in gleicher Eigenschaft beim Wehrkreis XVII Wien verwendet. Nach seiner Erkrankung im April 1944 wurde er im Juni dieses Jahres aus dem Wehrmachtsdienst entlassen. [...] Hätte mein Mann sich auch nur das Geringste bezüglich der Behandlung von Kriegsgefangenen vorzuwerfen gehabt, so wäre er rechtzeitig nach dem Westen vor den russischen Truppen ausgewichen. [...] Ich selbst bin infolge der schweren Schicksalsschläge, die ich durch den Kriegertod meiner beiden Söhne und meines Schwiegersohnes, die Trennung von meinem Mann, des Verlustes der Wohnung und der gesamten Habe erlitten habe, geistig und körperlich schwer in Mitleidenschaft gezogen und dem Zusammenbruch nahe. Die qualvolle Ungewissheit, in der ich seit 5 Jahren mit meinen Töchtern lebe, ist kaum noch zu ertragen.“141 Zum Zeitpunkt dieses Schreibens war Schäfer bereits fünf Jahre tot. Eindeutig wegen Kriegsverbrechen wurden mehr als 50 österreichische Polizisten festgenommen,142 die wegen der Ermordung von sowjetischen Bürgern größtenteils jüdischer Nationalität in Galizien nach Ukaz 43, Artikel 1, zu 25 Jahren Freiheitsentzug in GULAG-Besserungsarbeitslagern, verbunden mit der Konfiskation des Vermögens, verurteilt wurden.143 Das Wiener Landesgericht hatte sie in der Zeit von 1947 bis 1950 auf Grund dieser im Bereich von Galizien, insbesondere in Drohobycz, Kolomea, Tarnopol, Boryslau und Stanislau, begangenen Verbrechen den sowjetischen Behörden übergeben. Zwei von ihnen wurden hingerichtet, 33 meist Mitte der 1950er Jahre repatriiert und fünf verstarben in Haft. Als Begründung der Urteile heißt es beispielsweise: „Gabriel 138 139 140 141 142 143

AdBIK, Datenbank Zivilverurteilte. ÖBM, Personalakte Hugo Schäfer. AdBIK, Datenbank Zivilverurteilte. ÖBM, Personalakte Hugo Schäfer. AdBIK, Datenbank Zivilverurteilte. Zu den Judenmorden in Galizien vgl. u. a. W. Thomas Sandkühler, „Endlösung“ in Galizien. Der Judenmord in Ostpolen und die Rettungsinitiativen von Berthold Beitz 1941– 1944, Bonn 1996.

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Josef, ein aktiver Nazi, verübte seit 1940 den Dienst im von Truppen okkupierten Polen in der Funktion eines Vertreters der Gestapo bei der Sicherheitspolizei. Im Juli 1941 kam Gabriel nach Drohobycz in die Abteilung der Sicherheitspolizei und des SD. Als Referent der jüdischen Abteilung übernahm Gabriel die Leitung von Massenrazzien von sowjetischen Bürgern jüdischer Nationalität. In der Periode von 1941 bis 1944 wurden unter der unmittelbaren Teilnahme von Gabriel und unter seiner Leitung in Drohobycz und in den Rayonen des Gebiets Zehntausende sowjetische Bürger erschossen, erhängt und in Lager transportiert. Gabriel nahm mehrmals persönlich an den Erschießungen der Zivilbevölkerung in Boryslau teil. Das gesamte gestohlene Vermögen und die Wertsachen wurden aus den Wohnungen der Verhafteten weggeführt und das von den Todgeweihten Beschlagnahmte wurde auf Anweisung Gabriels versandt.“144 Einige dieser ehemaligen Polizisten wurden in zwei Prozessen vor österreichischen Geschworenengerichten nach ihrer Rückkehr aus der Sowjetunion nochmals zu Haftstrafen verurteilt.145 In diesem Kontext sind auch die im Zusammenhang mit der „Mühlviertler Hasenjagd“146 vorgenommen Verhaftungen zu sehen, wovon bisher zwölf Fälle genauer bekannt sind. Hierbei handelt es sich um Personen, die – wie etwa Felix S., Johann K. und Stefan H. – aus Mauthausen flüchtige sowjetische KZHäftlinge erschossen hatten und anscheinend denunziert wurden. S. und H. „verstarben“ bald nach ihrer Festnahme am 13. August 1945, was auf eine Hinrichtung durch sowjetische Organe schließen lässt.147 K. wurde zu 20 Jahren ITL verurteilt und verstarb am 28. Mai 1955 kurz vor seiner Entlassung an einem „Bluterguss in seiner rechten Gehirnhälfte“.148 Keiner der zwölf Verurteilten kehrte in die Heimat zurück. Zu Prozessen gegen an der „Hatz“ betei-

144 RGVA, f. 461, Personalakt Nr. 190400, Josef Gabriel. Der Fall Josef Gabriel wurde im Rahmen der am BIK verfassten Teilstudie „Strafrechtssystem und Gerichtspraxis in der Sowjetunion 1941–1956“ sowie des vom DÖW durchgeführten FWF-Projektes „Die Nachkriegsgerichtsbarkeit als nicht-bürokratische Form der Entnazifizierung: Österreichische Justizakten im europäischen Vergleich. Strafprozessualer Entstehungszusammenhang und Verwertungsmöglichkeiten für die historische Forschung“ genauer behandelt. 145 Am 26. 7.1956 wurden Leopold Mittas zu lebenslanger Haft und Josef Pöll zu 20 Jahren Haft verurteilt. Vier weitere Angeklagte wurden bei diesem Prozess freigesprochen. Vgl. LG Wien, 20a Vr 3333/56; Marschall, Volksgerichtsbarkeit, S. 158 ff. Am 18. 3. 1959 wurde der oben erwähnte Josef Gabriel zu lebenslanger Haft verurteilt. LG Wien, 20 Vr 1077/57; Marschall, Volksgerichtsbarkeit, S. 163 f. 146 Zur Geschichte der „Mühlviertler Hasenjagd“, bei der etwa 500 aus dem Konzentrationslager Mauthausen in Januar 1945 geflüchtete sowjetische Häftlinge (ehemalige Kriegsgefangene) von SS, Gendarmerie und u. a. der Zivilbevölkerung gesucht und bis auf 17 oder 19 alle Geflüchteten wiederergriffen und ermordet wurden, vgl. u. a. Hans Maršálek, Die Geschichte des Konzentrationslagers Mauthausen, Wien 1995, S. 263 ff. 147 Fritz Fellner, Das Mühlviertel 1945. Eine Chronik Tag für Tag, Grünbach 1995, S. 260. 148 AdBIK, Datenbank Zivilverurteilte.

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ligten Volkssturmangehörige und Zivilisten kam es in der unmittelbaren Nachkriegszeit auch vor österreichischen Gerichten.149 Von besonderem Interesse ist der Fall mehrerer noch im Juni 1945 wegen ihrer „Werwolfzugehörigkeit“ verhafteter Steirer, die zugleich an der Erschießung abgesprungener amerikanischer Flieger oder an Gräueltaten gegenüber ungarischen Juden beteiligt waren. Beispielsweise wurde der 1902 in Graz geborene August Fuchs wegen seiner „Werwolfaktivität“ nach Artikel 58-8 des Strafgesetzbuches der RSFSR („Begehung terroristischer Handlungen gegen Tabelle 9: Prozesse gegen österreichische Polizisten wegen Ermordung von Juden und sowjetischen Bürgern im Distrikt Galizien (Urteilsgrundlage: „Ukaz 43“) Anzahl Datum der Überstellung an sowjetische Behörden verurteilt Tatort Strafmaß freigelassen repatriiert gestorben hingerichtet in UdSSR verblieben abgängig

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Aug. Okt. 1947/48 1947 1947

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DrohoDrohoKolobycz, mea bycz Borislau

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Jun. 1949

10. 6. 1949

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Tarno- Borispol lau

27. 9. 1949 Drohobycz, Stryj

7

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4. 4.1951 3.10.1951 Stanislau, Nadworna 25 J. (1)/ Tod (3)

Stryi

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149 Winfried R. Garscha, Mauthausen und die Justiz (II). Zur Ahndung von Morden und Misshandlungen außerhalb des KZ Mauthausen sowie von Verbrechen in KZ-Nebenlagern durch österreichische Gerichte. In: Justiz und Erinnerung, 2002/6, S. 12–18.

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Vertreter der Sowjetmacht“) zu 18 Jahren ITL verurteilt. Die Ermordung des amerikanischen Fliegers wurde durch das sowjetische Tribunal nicht eigens geahndet, obwohl dieser Tatbestand bekannt war.150 Dieser Tatbestand führte jedoch dazu, dass der nach seiner Repatriierung zunächst untergetauchte Fuchs von einem österreichischen Geschworenengericht im Jahre 1960 zu neun Jahren schweren Kerkers verurteilt wurde, wobei seine Strafe durch die Vorhaftzeit in der Sowjetunion von 1945 bis 1953 sowie die Untersuchungshaft in Österreich von 1959 bis 1960 bereits verbüßt war.151 Bemerkenswert erscheint auch, dass Fuchs im Jahre 1997 von der Russischen Hauptmilitärstaatsanwaltschaft rehabilitiert wurde. Die Verurteilung auf Grund seiner „Werwolf“-Zugehörigkeit galt nun nicht mehr als rechtmäßig, wobei die Beteiligung am „Fliegermord“ wiederum außer Acht gelassen wurde.152

„Verbrechen gegen die Besatzungsmacht“ Unter „Verbrechen gegen die Besatzungsmacht“ fasste das österreichische Innenministerium unterschiedliche Vergehen zusammen, die sich – im weitesten Sinne – gegen sowjetische Organe im Nachkriegsösterreich richteten und eine Festnahme nach sich zogen. Ausschank von gesundheitsschädlichem Alkohol zählt hier ebenso dazu wie Raufhandel mit Angehörigen der Roten Armee oder Unfälle, die zum Tod von sowjetischen Soldaten führten. All diese Delikte nahmen mit fortschreitender Dauer der Besatzung immer mehr ab und kamen ab 1950 kaum mehr vor. Als Beispiel soll hier zunächst ein von Robert R. und Johann B. am 4. Dezember 1947 in Wiener Neudorf verursachter Autounfall dienen, in den ein sowjetischer PKW verwickelt war. Während die beiden Österreicher unverletzt blieben, wurden die sowjetischen Insassen – darunter angeblich der Stadtkommandant von Wien – verletzt. Der Lenker des Wagens, Johann B., meldete den Vorfall der österreichischen Polizei und wurde daraufhin den sowjetischen Behörden übergeben. Am 7. Januar 1948 verurteilte ihn das Militärtribunal der Zentralen Gruppe der Streitkräfte nach Artikel 59-3 des Strafgesetzbuches der RSFSR für die „Verletzung der Arbeitsdisziplin (Verletzung der Verkehrsregeln)“ zu drei Jahren ITL.153 B. kehrte jedoch erst im Dezember 1956 zurück, fünf Jahre nach der Verbüßung seiner ursprünglichen Strafe.154 Seinen Beifahrer, der zunächst am Unfallort verblieben war, nahmen sowjetische Organe gleich an Ort und Stelle fest und brachten ihn auf die Kommandantur. Als R. am 11. Dezember 1947 aus der Kommandantur zu fliehen versuchte, warf er sich auf den sowjetischen Wachposten und schlug diesem mit 150 151 152 153 154

RGVA, f. 461, Personalakt Nr. 172372, August Fuchs, S. 25. LG Graz, 7 Vr 2257/59; Marschall, Volksgerichtsbarkeit, S. 186 f. GVP, Rehabilitierungsbescheid August Fuchs. GVP, Rehabilitierungsbescheid 5uv-835–97. Johann B. vom 9. 9.1997. ÖBM, Personalakte Johann B.

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einer Flasche auf den Kopf. Das Militärtribunal der Zentralen Gruppe der Streitkräfte verurteilte ihn daraufhin am 31. Dezember 1947 nach Artikel 58-8 („terroristische Handlung gegen Vertreter der Sowjetmacht“) zu 15 Jahren ITL. R.’s Rehabilitierungsantrag wurde 1997 mit der Begründung abgelehnt, dass seine Verurteilung rechtmäßig erfolgt sei.155 Als Folge mehrerer Zugsunglücke, die bei sowjetischen Besatzungssoldaten zu Verletzungen oder sogar zum Tod führten, wurde eine Reihe österreichischer Eisenbahner verhaftet und verurteilt. Eines der schwerwiegendsten Unglücke ereignete sich am 22. November 1945 auf der Mühlkreisbahn beim Gasthaus Saurüssel, wo infolge zu großer Geschwindigkeit ein Güterzug mit 16 schwer beladenen Güterwaggons entgleiste und über eine mehr als vier Meter hohe Böschung in den Saurüsselgraben stürzte. Von dem auf dem verunglückten Zug mitfahrenden 40 sowjetischen Besatzungssoldaten wurden acht getötet, zwei schwer und acht leicht verletzt. Der 57-jährige Zugsführer Josef Mistelbacher aus Urfahr und der 62-jährige Lokomotivführer Josef Klein aus Linz wurden daraufhin verhaftet und nach Artikel 59-3c156 des Strafgesetzbuches der RSFSR zu sieben bzw. zehn Jahren Lagerhaft verurteilt. Mistelbacher kehrte 1953 aus der Sowjetunion zurück; Klein verstarb in Haft. Während das sowjetische Militärtribunal dem österreichischen Zugspersonal die alleinige Schuld anlastete, pochten österreichische Einrichtungen auf die Unschuld der Festgenommenen und forderten die Begnadigung der „beiden unglücklichen Eisenbahner“. Gemäß zeitgenössischen Artikeln in der „ArbeiterZeitung“ hatten Mistelbacher und Klein wegen der Überbelastung des Zuges und des großen Gefälles von Gerling bis Rottenegg noch einige Waggons abkuppeln wollen. Dies hatte aber das sowjetische Begleitpersonal nicht zugelassen, sondern statt dessen das Zugspersonal gezwungen, den gesamten Transport ohne Zurücklassung von Waggons nach Rottenegg zu fahren. Nachdem das Unglück geschehen war, deklarierte die sowjetische Seite den Fall als Sabotageakt, weswegen Mistelbacher und Klein auch nach Artikel 59-3c verurteilt wurden.157 155 GVP, Rehabilitierungsbescheid 41–N. Robert R. vom 19. 8.1997. 156 Artikel 59-3c des StGB der RSFSR: „Verletzung der Arbeitsdisziplin von Bediensteten im Verkehrswesen (Verletzung von Verkehrsregeln, mangelhafte Reparatur von Verkehrsmitteln usw.) wenn diese Verletzung eine Beschädigung oder eine Zerstörung des Verkehrsmittels, des Verkehrsweges und von Einrichtungen oder Unfälle mit Personenschaden, eine nicht rechtzeitige Abfahrt von Zügen und Schiffen, eine Häufung am Entladeort von Leerfuhren, leeren Waggons und Schiffen und andere Handlungen, die eine Nichterfüllung der von der Regierung festgelegten Transportpläne oder eine Bedrohung für einen gesetzmäßigen und gefahrlosen Verkehr nach sich gezogen hat oder hätte ziehen können, zieht nach sich: Freiheitsentzug mit einer Frist bis zu zehn Jahren.“ 157 AdBIK, Datenbank Zivilverurteilte; Johann Blöchl, Der Vater des Mühlviertels, Linz o. J., S. 155 f.; Die Begnadigung der beiden Eisenbahner abgelehnt? In: Arbeiter-Zeitung vom 14. 5.1945, S. 2; Warum? Die Begnadigung der beiden Eisenbahner vom russischen Hochkommissar abgelehnt. In: ebd. vom 15. 5.1948, S. 2; Für die Aufhebung der alliierten Militärgerichte. In: ebd. vom 23. 5.1948, S. 1.

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Ebenfalls auf Grund eines Zugunglücks wurde der 1895 geborene Josef Krumm am 31. Dezember 1947 nach Artikel 58-9158 zu 20 Jahren ITL verurteilt. Das sowjetische Militärtribunal in Wien warf ihm vor, am 29. April 1947 als Diensthabender an der Eisenbahnstation „Wien-Nord“ einen mit Kohle beladenen Güterzug abfahren gelassen zu haben, ohne sich vergewissert zu haben, ob die Strecke frei sei. Daraufhin kam es am Bahnhof „Hauptzollamt“ zu einem Zusammenstoß mit einem Militärzug, wobei sechs Rotarmisten schwere Körperverletzungen davon trugen und sieben Pionierautos zerstört wurden. Der materielle Schaden belief sich auf 180 252 Rubel. Im Rahmen des 1998 durchgeführten Rehabilitierungsverfahrens erfolgte eine Umwandlung des Urteils von Artikel 58-9 des Strafgesetzbuches der RSFSR in Artikel 59-3c, wodurch das Strafausmaß nachträglich von 20 auf zehn Jahre ITL herabgesetzt wurde.159 Mit einer Verurteilung endete auch der Verkauf von Alkohol und Spiritus an sowjetische Besatzungssoldaten im Herbst 1945, die in Folge des Konsums verstarben. Als Tatbestand gab das Bundeskanzleramt für auswärtige Angelegenheiten der österreichischen Botschaft in Moskau bekannt, „dass K. an mehrere Angehörige der sowjetischen Besatzungsmacht auf deren ausdrückliches Verlangen Schnaps und Spiritus verkauft hat. Im September 1945 sind infolge des Genusses von Spiritus zwei russische Soldaten an Alkoholvergiftung verstorben und ein 3. vorübergehend erblindet. Da nun K. kurz vorher mehrere Liter Spiritus, der mit Methylalkohol vermischt gewesen sein soll, an die betreffenden Soldaten verkauft hatte, wurde er von der Besatzungsmacht für den Tod der beiden Soldaten verantwortlich gemacht.“160 Die österreichische Botschaft in Moskau konnte daraufhin in Erfahrung bringen, dass K. „wegen Verbrechens gegen die sowjetischen Besatzungstruppen zu einer Freiheitsstrafe verurteilt [wurde], die er in der UdSSR verbüßt“.161 Wie sich später zeigen sollte, war K. bereits im April 1946 an Blinddarmdurchbruch verstorben.162

158 Artikel 58-9 des StGB der RSFSR: „Zerstörung oder Beschädigung mit konterrevolutionärem Ziel durch Explosion, Brandlegung oder andere Arten von Eisenbahn- oder anderer Verbindungsmittel, Mittel der Volkskommunikation von Wasserleitungen öffentlichen Lagern und anderer Einrichtungen oder von staatlichen oder öffentlichem Eigentum zieht nach sich: Die in Artikel 58-2 diese Gesetzbuches bezeichneten Maßnahmen des sozialen Schutzes.“ 159 AdBIK, Datenbank Zivilverurteilte; GVP, Rehabilitierungsbescheid 778. Josef Krumm vom 7. 5.1998; Killian, Im GULAG von Kolyma, S. 74. 160 ÖBM, Personalakte Josef K. 161 Ebd. 162 Ebd.

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„Hitlerverwandtschaft“ Abschließend sei noch auf jene Personen hingewiesen, die nur deshalb verhaftet wurden, weil sie mit Hitler verwandt waren. Wie bereits erwähnt, gehören diese Personen zu den insgesamt zehn Österreichern, deren Verurteilung bisher nach dem Kontrollratsgesetz Nr. 10 nachgewiesen werden konnte. Unter ihnen befand sich Otto H., geboren 1889 im Mühlviertel, der am 24. Mai 1945 in Wien „von sowjetischen Organen in Zivilkleidung aus seiner Wohnung angeblich zu einer Auskunftserteilung bei der sowjetischen Kommandantur abgeholt“163 wurde. Als Begründung für die Verhaftung und Verschleppung bezieht sich das Bundeskanzleramt für auswärtige Angelegenheiten in einem Brief an die österreichische Botschaft Moskau auf Otto H.’s Beziehung zu Hitlers Verwandtschaft: „Otto H. wurde vorgehalten, er sei der Geliebte der Schwester Adolf Hitlers, Paula Hitler, gewesen. Tatsächlich kannte H. Paula Hitler seit ca. 40 Jahren persönlich, da diese ebenfalls aus P. stammte und die Jugendfreundin seiner Schwester war.“164 Otto H. wurde im Dezember 1945 nach dem Kontrollratsgesetz Nr. 10 zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Er kehrte im Juni 1955 mit dem 70. Transport nach Österreich zurück.165 Ein ähnliches Schicksal erlitten die Familien Schmidt aus Spital bei Weitra sowie Maria und Ignaz Koppensteiner aus Langfeld, Cousins von Adolf Hitler.166 Maria Koppensteiner wurde als „deutschfaschistische Verbrecherin“ wegen „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ zu 25 Jahren Haft verurteilt. Im Beschluss hieß es dazu: „Gerichtliche Untersuchungen haben festgestellt, dass Maria Koppensteiner, Verwandte des Reichskanzlers A. Hitler, dessen gegen die Sowjetunion gerichteten Pläne guthieß.“167 Einige Zeit später wurde die Anklage in „Ausbeutung russischer Gefangener“ abgeändert, obwohl keinerlei Hinweise auf den Einsatz sowjetischer Kriegsgefangener oder Zivilarbeiter am Bauernhof der Koppensteiners vorlagen. Maria Koppensteiner verstarb am 6. August 1953 an „dekompensiertem Herzschlag“. Ihr Mann Ignaz hatte bereits am 5. Juli 1949 sein Leben wegen TBC und Versagen der Herzgefäße verloren. Ihre einzige „Schuld“ bestand, wie Wilhelm Romeder betont, darin, dass sie mit Hitler verwandt waren.168

163 164 165 166

ÖBM, Personalakt Otto H. Ebd. AdBIK, Datenbank Zivilverurteilte, Otto H. Das Schicksal dieser „Hitler-Verwandten“ wurde ausführlich beschrieben von Wilhelm Romeder, Das Jahr 1945 in Weitra und Umgebung. Ereignisse. Erlebnisse. Schicksale. Mit einem ausführlichen Beitrag über die Hitler-Verwandten, 2., erw. Auflage Horn 2003, S. 99–128; Karin Pöpperl, Das Russlandbild in Weitra heute. Unter Berücksichtigung der Besatzungszeit 1945–1955 und der Propaganda der Kriegs- und Nachkriegszeit, Phil. DA. Wien 2003, S. 22–24. Herrn Romeder sei für die Bereitstellung von Unterlagen zu diesem Thema sehr herzlich gedankt. 167 Zit. nach Romeder, Das Jahr 1945 in Weitra, S. 71. 168 Ebd.

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Entlassung und Repatriierung österreichischer Zivilverurteilter Wie bereits erwähnt, gestaltete sich das Schicksal nach einer Verhaftung durch sowjetische Behörden äußerst unterschiedlich. Nicht alle hatten das Glück, überhaupt wieder nach Hause zurückkehren zu können, bei anderen dauerte es bis zur Repatriierung mehr als zehn Jahre. „Skoro domoj“ – „bald geht’s nach Hause“ – wurde zum Motto während langer Monate und Jahre der Haft und Gefangenschaft in der Sowjetunion. Selbst eine Entlassung bedeutete mitunter noch keine Heimkehr. Ein Beispiel dafür ist der bereits erwähnte Fall von Herbert Killian, der nach Abbuße der Strafe noch drei Jahre als „Freier“ auf der Kolyma bleiben musste und erst nach Stalins Tod 1953 nach Österreich zurückkehren konnte.169 Wie ein erst kürzlich zugänglich gemachtes Dokument aus dem ehemaligen Parteiarchiv in Moskau zeigt, beschäftigte man sich auf höchster Ebene mit diesen Fällen: Am 20. Dezember 1951 sandte der stellvertretende sowjetische Außenminister, Andrej Gromyko, einen geheimen Bericht an Außenminister Vjačeslav Molotov: Leopold Figl hatte im Nationalrat im Oktober 1951 die Bitte geäußert, die Repatriierung von jenen 13 Österreichern zu beschleunigen, die ihre Haftstrafe bereits verbüßt hatten, sich jedoch nach wie vor in der Sowjetunion befanden, darunter Herbert Killian. Hochkommissar Vadim Sviridov und der Politische Berater Michail Koptelov schlugen die Repatriierung dieser Personen nach Österreich vor, um eine „gegenüber der Sowjetunion feindliche Propaganda“ zu vermeiden. Bemerkenswert ist dabei, dass „die Instanz [gemeint ist Stalin] dem MID und MGB der UdSSR den Auftrag erteilte, diese Frage zusätzlich zu analysieren und insbesondere entsprechende Tätigkeiten mit den genannten Personen zu deren möglicher Verwendung durchzuführen. Im Falle ihrer offen feindlichen Einstellung gegenüber der Sowjetunion wäre die Frage zu klären, ob eine Ausreise dieser Personen nach Österreich zielführend wäre und den Interessen der UdSSR keinen Schaden zuführen würde.“ Zum Zeitpunkt des Schreibens Gromykos war das Ministerium für Staatssicherheit „mit dieser Sache noch beschäftigt und hatte seine Vorschläge noch nicht unterbreitet“.170 Killian wurde zum MVD in Magadan zitiert, wo ihm angeboten wurde, dass er sofort „auf Urlaub“ nach Wien fahren könne, wenn er die sowjetische Staatsbürgerschaft annehme oder dass er umgehend repatriiert werde, wenn er bereit wäre, in Österreich als Spion zu arbeiten. Da Killian beides ablehnte, wurde seine Rückkehr somit offensichtlich als „nicht zielführend“ angesehen. Er blieb bis Oktober 1953 „in Freiheit gefangen“.171 169 Vgl. Stelzl-Marx, Kolyma, S. 156 f.; Killian, Geraubte Jahre. 170 RGASPI, f. 82, op. 2, d. 1118, S. 8 f. 171 Herbert Killian, Als „Krimineller“ in Sibirien. In: Offizielles Jahrbuch des Unterstützungsinstitutes der Bundessicherheitswache 1999, Wien 1999, S. 279–292; Stelzl-Marx, Kolyma, S. 156 f.

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Mindestens neun Personen wurden nach ihrer Entlassung aus sowjetischer Haft zwischen 1953 und 1955 nochmals in Österreich vor Gericht gestellt. In acht dieser Fälle war der Grund der Anklage die Ermordung von Juden während der NS-Zeit, insbesondere im Rahmen des vorab geschilderten „Poleneinsatzes“ der Wiener Polizei. Mit Ausnahme von Fuchs, den das sowjetische Gericht wegen „Werwolf“-Zugehörigkeit und nicht wegen der Ermordung des USamerikanischen Fliegers verurteilt hatte, waren gegen alle bereits vor 1955 Verfahren der österreichischen Justiz eingeleitet worden, die jedoch auf Grund der Auslieferung an die sowjetische Besatzungsmacht vorerst nicht weiter verfolgt worden waren. Erst nach ihrer Rückkehr aus der Sowjetunion wurden diese Verfahren wieder aufgenommen, die zum Teil auch zu einer neuerlichen Verurteilung – diesmal durch die österreichische Justiz – führten. Die in der UdSSR verbüßte Strafe wurde dabei jedoch angerechnet. Tabelle 10: Entlassung bzw. Repatriierung der verurteilten österreichischen Zivilisten in sowjetischer Haft 1945 bis 1956 (Basis: Angaben in 898 Fällen)172 Jahr 1945 1946 1947 1948 1949 1950 1951 1952 1953 1954 1955 1956 Gesamt

Anzahl 55 24 1 17 37 12 1 15 237 24 422 53 898

Die Sowjetunion amnestierte aber auch einige der österreichischen Zivilverurteilten und repatriierte sie noch vor verbüßter Haft in die Heimat. Schließlich war dem sowjetischen Außenministerium die negative Wirkung von Verhaftungen auf die Einstellung der österreichischen Bevölkerung gegenüber der Besatzungsmacht und vor allem die diesbezügliche Berichterstattung in der österreichischen Presse nicht verborgen geblieben: „Es steht außer Zweifel, dass die Verhaftungen österreichischer Bürger auf Grund unbedeutender und 172 AdBIK, Datenbank Zivilverurteilte.

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wenig stichhaltiger Verbrechen unserer Politik in Österreich Schaden zufügen“,173 meinte dazu der Leiter der 3. Europäischen Abteilung des MID, Andrej Smirnov. Stalin wurde in diesem Zusammenhang darüber informiert, dass insgesamt 500 österreichische Bürger seit dem Einmarsch der sowjetischen Truppen in Österreich von Militärtribunalen verurteilt worden waren, 200 davon wegen der genannten allgemeinen Vergehen, die nicht gegen die Sowjetunion oder die sowjetischen Truppen gerichtet waren.174 Am 29. Juni 1948 beschloss das ZK der VKP(b), einer Amnestie von 49 österreichischen Bürgern zuzustimmen, die wegen „allgemeiner Verbrechen“ – Diebstahl, Rowdytum, Verursachen von Autounfällen oder unerlaubter Waffenbesitz – von sowjetischen Militärtribunalen in Österreich verurteilt worden waren. Das Präsidium des Obersten Rates der UdSSR stimmte daraufhin am 15. Dezember 1948 der Amnestie von insgesamt 33 dieser Zivilverurteilten zu. Der sowjetische Hochkommissar in Österreich, General Vladimir Kurasov, hatte diese Amnestie bereits im April 1948 befürwortet, da „der Tatbestand der in dieser Zeit verübten Verbrechen mittlerweile keine in politischer Hinsicht relevante Bedeutung mehr besitzt, sondern, ganz im Gegenteil, österreichischen wie auch amerikanischen und englischen reaktionären Kreisen die Möglichkeit einer Negativpropaganda gegen den Sowjetischen Teil“175 der Alliierten Kommission böte. Allerdings schlug Viktor Abakumov176 am 18. April 1949 Molotov vor, den Beschluss des Präsidiums des Obersten Rates vom 15. Dezember 1948 nicht auszuführen. Abakumov befürchtete, dass „reaktionäre Kreise Österreichs versuchen würden, die befreiten Österreicher für verleumderische antisowjetische Propaganda über sowjetische Lager zu verwenden“.177 Trotz dieser Einwände verfügte der neue sowjetische Außenminister, Andrej Vyšinskij, im Mai 1949 die Amnestie der 33, in einem Lemberger Gefängnis festgehaltenen Österreicher. Schließlich repatriiere die Sowjetunion, so Vyšinskij, „massenweise“ Kriegsgefangene und Internierte nach Deutschland und Österreich.178 Die Rückkehr der Amnestierten würde dem Ansehen der UdSSR keinen Schaden zufügen, ganz im Gegenteil. Am 28. Juni 1949 traf als Folge dieser nun doch durchgeführten Amnestie ein Transport mit 30 österreichischen Zivilverurteilten in Wien ein. Zwei weitere Österreicher wurden am 4. August 1949 mit dem 47. Heimkehrertransport repatriiert. 173 AVP RF, f. 066, op. 29, p. 137, d. 15, S. 102–112. Vgl. auch Dokument Nr. 108 in: Karner/Stelzl-Marx/Tschubarjan, Die Rote Armee in Österreich. 174 RGASPI, f. 17, op. 163, d. 1513, S. 34 f. Vgl. dazu Dokument Nr. 107 in: Karner/StelzlMarx/Tschubarjan, Die Rote Armee in Österreich. 175 AVP RF, f. 066, op. 29, p. 137, d. 15, S. 103. 176 Viktor Abakumov: 18. 5.1946–4. 7.1951 Mitglied der Kommission des Politbüros des CK VKP(b) für Gerichtsfälle. Vgl. N. V. Petrov/K. V. Skorkin, Kto rukovodil NKVD 1934–1941. Spravočnik, Moskau 1999, S. 80. 177 RGASPI, f. 82, op. 2, d. 118, S. 1. 178 RGASPI, f. 17, op. 2, d. 1118, S. 1.

Sowjetische Strafjustiz in Österreich

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Tabelle 11: Die offiziellen österreichischen Heimkehrertransporte aus der Sowjetunion 1953 bis 1956179 Die offiziellen österreichischen Heimkehrertransporte der Jahre 1953–1956 Repatriierungs- TransCharakteristik des Transports Zivi- Kriegsdatum portlisten gefannumgene mer 14.10.1953 60 größter Transport seit Januar 1950 210 420 Jahr 1954 61-64 Kleintransporte mit Zivilisten und 11 12 Kriegsgefangenen 28.12.1954 65 „Volksdeutsche“ 55 0 3. 2.1955 66 Kleintransport mit kranken Zivilisten 4 0 29. 4.1955 67 erster Transport nach dem Staatsvertrag; 15 0 Zivilisten 4. 6.1955 68 Großtransport der noch verbliebenen verurteil0 250 ten Kriegsgefangenen 20. 6.1955 69 Zivilisten, verurteilte Kriegsgefangene 142 42 25. 6.1955 70 Masse der Zivilisten, „Prominenz“, einige 180 6 Kriegsgefangene 8. 7.1955 71 Zivilisten, die nach Haftende in der UdSSR 16 0 zwangsangesiedelt worden waren 21. 7.1955 72 „Volksdeutsche“ Kriegsgefangene und Zivilisten 25 1 6. 8.1955 73 Nichtamnestierte 70 3 1. 9.1955 74 Kleintransport mit Zivilisten und verurteilten 7 2 Kriegsgefangenen 16.11.1955 75 ohne offizielle Begrüßung den österreichischen 48 2 Behörden übergeben. Hauptsächlich wegen Kriegsverbrechen Verurteilte, u. a. Polizisten in Galizien 18.12.1955 76 Kleintransport mit Zivilisten und 3 14 Kriegsgefangenen 25. 4.1956 77 Kleintransport mit Zivilisten und 4 3 Kriegsgefangenen 23.12.1956 78 Kleintransport mit Zivilisten und 19 0 Kriegsgefangenen; viele Nichtösterreicher Gesamt 809 755

Wie die Heimkehrerlisten aus dem österreichischen Innenministerium zeigen, wurden insgesamt 78 offizielle „Heimkehrertransporte“ mit rund 65 000 freigelassenen Kriegsgefangenen und Zivilverurteilten in der Zeit von 1947 bis 1956 zusammengestellt.180 Der 60. Transport – der erste große Heimkehrerzug mit verurteilten Zivilisten – traf erst am 14. Oktober 1953, mehrere Monate nach Stalins Tod, ein. Auffallend für die in Tabelle 11 aufgelisteten Transporte (60 bis 78) ab 1953 ist, dass die einzelnen Züge jeweils bestimmte 179 BMI, Heimkehrerlisten. 180 Zur Repatriierung der österreichischen Kriegsgefangenen aus der UdSSR vgl. Karner, Im Archipel GUPVI, S. 187–201.

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Gefangenenkategorien – etwa „kranke Zivilisten“ oder „Wegen Kriegsverbrechen Verurteilte“ – umfassten. Besonders große Aufmerksamkeit zog der 70. Transport auf sich, mit dem Prominente wie Margarethe Ottillinger, Anton Marek oder der ehemalige stellvertretende Gauleiter von Wien, Karl Scharitzer, nach Österreich zurückkehrten. Alle offiziellen Transporte – mit Ausnahme des 73. (Nichtamnestierte) und 75. (wegen Kriegsverbrechen Verurteilte)181 – wurden mit Musik und Blumen auf den österreichischen Bahnhöfen empfangen, worüber die Medien meist auch schon im Vorfeld ausführlich berichtetet hatten. Die Heimkehrertransporte kamen bis zum 25. Juni 1955 in der österreichischen „Heimkehrerstadt“ Wiener Neustadt an, wo heute noch eine Gedenktafel an das oft rührende Wiedersehen mit Verwandten und Freunden erinnert. Danach wurden nur mehr kleine Transporte nach Österreich geführt. Die Übergabe an die österreichischen Behörden wurde nunmehr über den Bahnhof Bad Vöslau abgewickelt. Der letzte reguläre Heimkehrerzug traf unmittelbar vor Weihnachten 1956 in Österreich ein.182

Rehabilitierung österreichischer Verurteilter Im November 1996 vereinbarten der damalige Außenminister der Russischen Föderation, Evgenij Primakov, und der damalige Außenminister der Republik Österreich, Wolfgang Schüssel, die Rehabilitierung von in der Sowjetunion zu Unrecht verurteilten österreichischen Zivilisten und Kriegsgefangenen. Zum erstenmal erkannte Russland damit offiziell Unrechtsurteile gegenüber Österreichern (Emigranten, Schutzbündlern, Kommunisten, Kriegsgefangenen und Verschleppten) aus der Zeit zwischen 1930 und 1955 an. Über 800 Österreicher und Österreicherinnen, darunter 585 Zivilverurteilte, suchten im Rahmen des bilateralen Projektes über das BIK um die Aufhebung ihrer seinerzeitigen Urteile an, wovon die Mehrheit auch positiv erledigt werden konnte.

181 Unter dem Titel „73 kehrten aus Schweigelagern heim“ berichtete die Kleine Zeitung am 7. 8.1955 über den Transport Nr. 73: „Ohne Musik, ohne Blumen, ohne das übliche Bild freudig erregter Menschen auf dem Bahnsteig, lief heute früh ein sowjetischer Urlauberzug mit 73 Russland-Heimkehrern in Vöslau ein. Die 73 kommen aus Schweigelagern, ihre angeblichen Verbrechen galten den Russen für so schwer, dass sie nicht wie die anderen in der Sowjetunion amnestiert wurden, sondern unter Bewachung die Reise antreten mussten, um auf österreichischem Boden unserer Gendarmerie übergeben zu werden.“ 182 Die Ankunftsbahnhöfe waren für Heimkehrertransporte: Nr. 60–70 Wiener Neustadt (Nr. 64 jedoch Wiener Ostbahnhof), Nr. 71–75 Bad Völsau, Nr. 76 Salzburg, Nr. 77 Rattersdorf im Burgenland, Nr. 78 Wiener Ostbahnhof.

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Sowjetische Strafjustiz in Österreich

Tabelle 12:Ergebnisse der bisherigen Rehabilitierungsverfahren österreichischer Zivilverurteilter (Basis: Angaben in 585 Verfahren)183 Ergebnis der Rehabilitierungsverfahren Rehabilitiert Umwandlung des ursprünglichen Urteils Nicht rehabilitiert Keine Entscheidung wegen fehlender Unterlagen Insgesamt

Anzahl 440 24 84

Prozent 75,2 4,1 14,4

37

6,3

585

100,0

Von österreichischer Seite führte dieses bilaterale Projekt das österreichische Außenministerium, Sektion IV, und die österreichische Botschaft in Moskau in Kooperation mit dem Ludwig Boltzmann-Institut für Kriegsfolgen-Forschung durch. Die mit der konkreten Rehabilitierungsaktion in Moskau befasste Rehabilitierungsbehörde der Hauptmilitärstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation mit rund 30 Mitarbeitern wurde in dieser Zeit von den Herren Generalleutnant der Justiz Vladimir Kupec und Generalleutnant der Justiz Valerij Kondrat’ev geleitet und von Abteilungsleiter Oberst der Justiz Leonid Kopalin unterstützt. Insgesamt bearbeiteten die russischen Behörden mehr als 900 Anträge, darunter einige von Amts wegen untersuchte Fälle, die frisch aufgerollt und entschieden wurden, sowie die 800 vom BIK weitergeleiteten. Von den bisher in die Datenbank am BIK eingearbeiteten Verfahren österreichischer Zivilverurteilter wurden 440 positiv und 84 negativ entschieden sowie 24 in eine neu beurteilte Strafe umgewandelt. Bei 37 Fällen waren keine Strafprozessakten vorhanden, die jedoch eine unabdingbare Voraussetzung für einen Rehabilitierungsbescheid darstellen.184 Wie die folgende Tabelle veranschaulicht, erfolgte eine Rehabilitierung insbesondere bei einer nach Artikel 58-6 wegen Spionage erfolgten Verurteilung. Auch wegen terroristischer Handlung (58-8) und Diversion (58-9) Verurteilte wurden häufig rehabilitiert. Auffallend gering ist jedoch die Rehabilitierung bei nach Ukaz 43 geahndeten Vergehen, die diametral der Zahl wegen Kriegsverbrechen verurteilter Zivilisten gegenübersteht. Dies hängt damit zusammen, dass ab 1998 keine Rehabilitierungen bei diesen ursprünglich auf Grund von Kriegsverbrechen und nicht wegen politisch motivierter Verbrechen gefällter Urteile erfolgte.185 Im Gegensatz dazu wurden jedoch alle der nach dem Kontrollratsgesetz Nr. 10 verurteilten Österreicher rehabilitiert, darunter auch die oben erwähnten „Hitlerverwandten“. 183 AdBIK, Datenbank Zivilverurteilte. 184 Vgl. dazu Tab. 12. 185 VSRF, Bescheid 2–001/48, Walter H. vom 17. 2.1998.

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Tabelle 13: Rehabilitierungen österreichischer Zivilverurteilter nach Verurteilungsparagraph (Mehrfachnennungen möglich)186 Verurteilungsparagraphen (Mehrfachnennung möglich) Art. 58-2 Art. 58-3 Art. 58-4 Art. 58-5 Art. 58-6 Art. 58-8 Art. 58-9 Art. 58-10 Art. 58-11 Art. 58-12 Art. 58-14 Art. 139 Ukaz 43 KG 10 Rehabilitiert ohne Urteil Gesamt

Zahl der Rehabilitierungen 14 1 16 2 236 125 140 12 87 1 14 3 3 3 16 673

Prozentsatz 2,08 0,15 2,38 0,30 35,07 18,57 20,80 1,78 12,93 0,15 2,08 0,45 0,45 0,45 2,38 100,00

Weitestgehend analog zur Gesamtzahl der pro Jahr erfolgten Verurteilungen gestaltet sich auch die nach Urteilsjahr verteilte Rehabilitierung. Etwas aus der Reihe fallen hier die Rehabilitierungen von den im Jahr 1945 verurteilten Zivilisten, die beinahe 40 Prozent aller während der Besatzungszeit verurteilten und bisher rehabilitierten Österreicher ausmachen. Gerade die Ablehnung von Rehabilitierungsanträgen zeigt, dass unter den angeführten Gruppen zweifelsohne Menschen waren, die schwerste Verbrechen begangen hatten. Bei weitem nicht alle von sowjetischen Behörden gefällte Urteile waren pauschaliter Fehlurteile, politisch motiviert. Als Beispiel sei hierfür der negative Rehabilitierungsbescheid des bereits erwähnten ehemaligen Polizisten Gabriel angeführt, dem eine persönliche Teilnahme an der Erschießung von Juden in Borislau nachgewiesen werden konnte. Allerdings kann nicht immer von einer Rehabilitierung auf eine zu Unrecht erfolgte Verurteilung oder Schuldlosigkeit geschlossen werden und umgekehrt. Zu vielschichtig sind hier unter anderem formal juristische Kriterien. Nichtsdestotrotz stellt die Rehabilitierung nach mehreren Jahrzehnten für viele Betroffene und ihre Fami186 AdBIK, Datenbank Zivilverurteilte.

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lienangehörigen eine – zumindest teilweise – moralische Wiedergutmachung dar, deren Wert nicht zu unterschätzen ist. Tabelle 14: Rehabilitierungen österreichischer Zivilverurteilter nach Urteilsjahr (Basis: Angaben in 424 Fällen)187 Verurteilungsjahr 1945 1946 1947 1948 1949 1950 1951 1952 1953 1954 1955 Gesamt

Anzahl Rehabilitierungen 165 36 23 54 37 48 27 21 9 3 1 424

Prozentanteil 38,9 8,5 5,4 12,7 8,7 11,3 6,4 5,0 2,1 0,7 0,2 100,0

Resümee Im Gegensatz zu den westlichen Besatzungsmächten in Österreich verurteilten die Sowjets österreichische Zivilisten in geheimen Militärtribunalen und verbrachten die Verurteilten zur Strafverbüßung in die UdSSR. Entnazifierungslager wie die von den Briten bzw. Amerikanern eingerichteten Lager in Wolfsberg und Glasenbach gab es in der sowjetischen Besatzungszone nicht. Trotz penibel genauer Aufzeichnungen wurden den österreichischen Behörden und Familienmitgliedern kaum Informationen über das Schicksal der Verhafteten und Verurteilen mitgeteilt. Gerade dieses Informationsdefizit führte dazu, dass sich die scheinbar willkürlich durchgeführte „Menschenräuberei“ besonders tief im kollektiven Gedächtnis der österreichischen Bevölkerung verankert hat. Die Zahl der insgesamt rund 2 200 Verhaftungen liegt bedeutend unter jener, von der üblicherweise – ohne Zugang zu den sowjetischen Quellen – ausgegangen wird. Außerdem wurden im Vergleich zur SBZ/DDR in der sowjetischen Besatzungszone Österreichs verhältnismäßig wenig Verurteilungen durchgeführt. 187 Ebd.

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Die Urteile selbst fällten sowjetische Militärtribunale der auf österreichischem Territorium stationierten Truppenteile (vor allem der Zentralen Gruppe der Streitkräfte in Baden) oder die Sonderkommission des Ministeriums für Staatssicherheit in Moskau (OSO). Als rechtliche Grundlage wurden dabei das Strafgesetzbuch der RSFSR (insbesondere Artikel 58) und – bei Kriegsverbrechen – der so genannte Ukaz 43 herangezogen. Bei Verwandtschaft mit Hitler kam Artikel 2 des vom Alliierten Kontrollrat in Deutschland verabschiedeten Gesetzes Nr. 10 zur Anwendung, was allerdings formal nicht zulässig war. Im zeitlichen Längsschnitt wird deutlich, dass die Zahl der Verhaftungen in den ersten vier Jahren der Besatzung am höchsten war und ab 1949/1950 sukzessive abnahm. Zu Beginn erfolgten die Festnahmen vor allem auf Grund von Hinweisen aus der Bevölkerung, während mit zunehmender Besatzungszeit vermehrt gezielt nach tatsächlichen oder vermeintlichen Straffälligen gesucht wurde. Selbst 1955 erfolgten noch drei Verhaftungen, wobei nur ein Fall zur Verurteilung führte. Auch die Verhaftungsgründe änderten sich während der Besatzungszeit: Waren zunächst „Werwolf“-Aktivitäten (vor allem 1945), Kriegsverbrechen, unerlaubter Waffenbesitz und Vergehen an sowjetischen Besatzungssoldaten (etwa Ausschank von gesundheitsschädlichem Alkohol oder Verkehrsdelikte, bei denen Rotarmisten getötet oder verletzt wurden) die wichtigsten Gründe für eine Festnahme, erfolgten die meisten Verhaftungen ab 1951 wegen Spionage gegen die Sowjetunion. Dies ist in engem Zusammenhang mit dem Kalten Krieg zu sehen. 70 Prozent der weiblichen Zivilverurteilen wurden wegen Spionage festgenommen, im Gegensatz zu nur 40 Prozent der männlichen. Gerade Frauen, die ein Verhältnis mit Besatzungssoldaten hatten, waren in dieser Hinsicht besonders gefährdet, wohingegen bei Männern der Vorwurf von Kriegsverbrechen naturgemäß stärker zum Tragen kam. Auch Schlägerein mit Besatzungssoldaten oder „Werwolf“-Aktivitäten wurden primär bei Männern geahndet. Insgesamt waren nur rund 240 der insgesamt 2201 Verhafteten Frauen. Sowjetische Behörden suchten gezielt nach Zivilisten, die Kriegsverbrechen auf sowjetischem Territorium oder Verbrechen an Bürgern der UdSSR – etwa Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen – verübt hatten. Dazu zählten u. a. 50 ehemalige Schutzpolizisten, die sowjetische Bürger vorwiegend jüdischer Nationalität im Gebiet von Galizien getötet oder misshandelt hatten. Kriegsverbrechen an nicht-sowjetischen Bürgern (etwa US-amerikanischen Fliegern) waren kein Verurteilungsgrund vor einem sowjetischen Militärtribunal. Im Gegensatz zu den österreichischen Kriegsgefangenen stellten Kriegsverbrechen bei den Zivilverurteilten allerdings nicht den wichtigsten Verurteilungsgrund dar. Die Mehrheit der Verhaftungen wurde in Wien und Niederösterreich durchgeführt, während im Mühlviertel und Burgenland verhältnismäßig weniger Zivilisten von der sowjetischen Besatzungsmacht festgenommen wurden. Hingegen kam es in der Steiermark von März bis Juli 1945 zu Massenverhaftungen. Hier wurde mit insgesamt 186 Festnahmen während der sowjetischen Besat-

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zung der Steiermark die österreichweit höchste Zahl an Verhaftungen innerhalb eines Jahres vorgenommen. Das am häufigsten verhängte Strafmaß waren zehn, 15 und vor allem 25 Jahre in Lagern oder Gefängnissen des GULAG zu verbüßende Haft. Beinahe 190 Österreicher wurden zum Tod durch Erschießen verurteilt, wobei Spionage gegen die Sowjetunion und Kriegsverbrechen die häufigsten Urteilsgründe bei einer Todesstrafe waren. Gnadengesuche an den Obersten Sowjet wurden in beinahe allen Fällen abgelehnt. Als die Todesstrafe zwischen Mai 1947 und Januar 1950 ausgesetzt war, wurden 25 Jahre Haft als Höchststrafe verhängt. Dies bewahrte vor allem die in diesem Zeitraum verurteilten Schutzpolizisten vor dem Todesurteil. Auch bei der Repatriierung aus sowjetischer Haft kristallisieren sich mehrere Etappen heraus: Der erste große Heimkehrertransport mit Zivilisten traf nach Stalins Tod im Oktober 1953 in Österreich ein. Und als Folge des Staatsvertrages wurden 1955 mehrere Transporte mit Zivilisten und Kriegsgefangenen zusammengestellt. Kurz vor Weihnachten 1956 traf der letzte offizielle Heimkehrertransport in Wien ein. Seit 1996 ist die Hauptmilitärstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation mit der Rehabilitierung von zu Unrecht verurteilten „Stalinopfern“ betraut, wobei insbesondere wegen Spionage, „Werwolf“-Aktivitäten und „Hitler-Verwandtschaft“ verurteilte Zivilisten rehabilitiert werden. Bei Kriegsverbrechen hingegen erfolgte in den wenigsten Fällen eine Rehabilitierung. Allerdings ist nicht in allen Fällen bei einer Rehabilitierung auf eine zu Unrecht erfolgte Verurteilung zu schließen und umgekehrt. Zu vielschichtig sind hier allein die formal juristischen Kriterien. Mit Hilfe von nun zugänglich gemachten Dokumenten aus ehemals sowjetischen Archiven ist es nun erstmals möglich, ein differenziertes Bild der sowjetischen Strafjustiz in Österreich von 1945 bis 1955 zu zeichnen. Abgesehen von der Darstellung der Verurteilungspraxis, konnten und können dank dieser Quellen die Schicksale von teilweise bis heute vermissten Österreichern geklärt werden.

III. Besatzungspolitik

Internierung, Entnazifizierung und Strafverfolgung von NS-Verbrechen in der sowjetischen Besatzungszone Clemens Vollnhals Mit den Begriffen „Internierung“, „Entnazifizierung“ und „Strafverfolgung von NS-Verbrechen“ sind drei eng miteinander verbundene Komplexe bezeichnet, die sich – speziell in der Praxis der sowjetischen Besatzungszone – auf vielfältige Weise vermischt und überlagert haben. Hinsichtlich der Notwendigkeit und Berechtigung dieser Maßnahmen, die die „Ausrottung des Nationalsozialismus“, so das Kommuniqué der Konferenz von Jalta, zum Ziel hatten, bestand zwischen den Alliierten ein weitgehender Konsens. Differenzen ergaben sich jedoch schon bald in der Frage ihrer konkreten Umsetzung: der Definition des betroffenen Personenkreises, der praktischen Durchführung und vor allem der politischen Zielsetzungen, die mit diesen Maßnahmen erreicht werden sollten. Für die weiteren Ausführungen erscheint mir eine klare begriffliche Unterscheidung unerlässlich: 1. Die Internierung stellte zunächst eine präventive Sicherheitsmaßnahme der Alliierten dar. Sie sollte mit der umfangreichen Verhaftung von NS-Aktivisten aller Funktionsebenen und der Mitarbeiter des SS-SD-Gestapo-Komplexes präventiv der Bildung einer NS-Untergrundbewegung (Aktion „Wehrwolf“) entgegenwirken und somit primär die militärische Sicherheit im Besatzungsgebiet garantieren. Hinzu kam – bereits in den alliierten Planungen – die Absicht, im Zuge des „automatischen Arrests“ eine große Anzahl mutmaßlicher NS- und Kriegsverbrecher in Gewahrsam zu nehmen, um sie später aburteilen zu können. 2. Von der Internierung wie von der strafrechtlichen Verfolgung schuldig gewordener Einzelpersonen zu unterscheiden ist die Entnazifizierung im engeren Begriffssinn. Sie ist wie jede politische Säuberung ein machtpolitisches Mittel, das die Repräsentanten des alten Regimes ausschalten und eine neue Führungsschicht in Staat und Gesellschaft etablieren soll. Die Entscheidung, welchem Personenkreis aufgrund seiner politischen Vergangenheit die Mitwirkung an der Neugestaltung von Staat und Gesellschaft verwehrt werden soll, ist ihrem Charakter nach stets politischer Natur. Als eine Maßnahme der politischen Disqualifizierung entzieht sich die Entnazifizierung dem traditionellen Strafrecht; ihr Umfang und ihre Durchführung ist deshalb primär eine Frage der politischen Zweckmäßigkeit und der politischen Moral.

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Clemens Vollnhals

3. Die juristische Ahndung der ungeheueren NS-Verbrechen hatten die Alliierten bereits im Oktober 1943 auf der Moskauer Drei-Mächte-Konferenz öffentlich angekündigt.1 Auch wenn die Einführung neuer Straftatbestände große rechtsdogmatische Probleme aufwarf, so stand doch außer Frage, dass der gerichtliche Nachweis einer individuellen Schuld den tragenden Kern jeglichen geordneten Justizverfahrens darstellen müsse. Dieses fundamentale Rechtsprinzip wurde vom Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg in seinem Urteil ausdrücklich bekräftigt. Mit diesen knappen Ausführungen sind bereits die Probleme angedeutet, die einer klaren Scheidung der genannten Schlüsselbegriffe in der sowjetischen Besatzungspraxis entgegenstehen. Doch zunächst soll erst einmal der faktische Verlauf auf den verschiedenen Handlungsfeldern nachgezeichnet werden.

1.

Internierung

Als die Rote Armee im Oktober 1944 erstmals auf deutsches Reichsgebiet vorrückte, verfügte sie über keine speziellen Besatzungsdirektiven, während sich die anglo-amerikanischen Truppen zu diesem Zeitpunkt bereits auf detaillierte Verhaftungskategorien im Zuge des „automatischen Arrests“ stützen konnten.2 Erst im Januar 1945 erließ Moskau, genauer: der Volkskommissar für Inneres, den Befehl 0016. Er ordnete nicht nur die Verhaftung von „Mitgliedern faschistischer Organisationen“, Bürgermeistern, Leitern staatlicher Behörden und Wirtschaftsführern an, sondern – weit darüber hinausgehend – die Internierung der gesamten männlichen Zivilbevölkerung im Alter von 17 bis 50 Jahren, die in die Sowjetunion deportiert werden sollte.3 Im Mittelpunkt standen hier 1

2

3

Erklärung über Grausamkeiten auf der Drei-Mächte-Konferenz in Moskau am 30.10.1943. Deutsche Übersetzung in: Gerd R. Ueberschär (Hg.), Der Nationalsozialismus vor Gericht. Die alliierten Kriegsverbrecherprozesse gegen Kriegsverbrecher und Soldaten 1943–1952, Frankfurt a. M. 1999, S. 285 f. Vgl. Automatischer Arrest. Aufstellung des britisch-amerikanischen Oberkommandos (SHAEF) von Oktober 1944. In: Clemens Vollnhals, Entnazifizierung, Politische Säuberung und Rehabilitierung in den vier Besatzungszonen 1945–1949, München 1991, S. 238 ff. Vgl. auch Heiner Wember, Umerziehung im Lager. Internierung und Bestrafung von Nationalsozialisten in der britischen Besatzungszone Deutschlands, Essen 1992, S. 13–50; Klaus-Dietmar Henke, Die amerikanische Besetzung Deutschlands, München 1995, S. 160 ff. Befehl Nr. 0016 des Volkskommissars für Inneres über Maßnahmen zur Säuberung des Hinterlandes der Roten Armee von feindlichen Elementen vom 11.1.1945. Deutsche Übersetzung in: Sowjetische Speziallager in Deutschland 1945 bis 1950. Hg. von Sergej Mironenko, Lutz Niethammer, Alexander von Plato in Verbindung mit Volkhard Knigge und Günter Morsch, Band 2, Berlin 1998, S. 142–146. Zur sog. „Mobilisierung“ vgl. auch Pavel Poljan, Internierung und Deportierung deutscher Zivilisten aus den besetzten deutschen Gebieten in die UdSSR. In: Diktaturdurchsetzung. Instrumente und Methoden der kommunistischen Machtsicherung in der SBZ/DDR 1945–1950. Hg. von Andreas Hilger, Mike Schmeitzner und Ute Schmid, Dresden 2001, S. 39–53.

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nicht sicherheitspolitische Erwägungen, vielmehr ging es um die „rücksichtlose Eintreibung von Kriegsbeute“4 – der menschlichen Arbeitskraft als vorweg genommener Reparationsleistung. Das pauschale Vorgehen gegen die deutsche Zivilbevölkerung wurde erst im April 1945 mit dem Befehl 00315 aufgehoben und nun weitgehend in Einklang mit dem Vorgehen der Westalliierten auf die Verhaftung von „aktiven Mitgliedern der NSDAP“, „Führern faschistischer Jugendorganisationen“, Mitarbeitern von Gestapo, SD und sonstigen deutschen Straforganen, Leitern von Gebiets-, Stadt- und Kreisverwaltungen, sowie von „Spionen, Diversanten und Terroristen“ der deutschen Geheimdienste eingeschränkt.5 Zugleich wurde der pauschale Abtransport in die Sowjetunion gestoppt. Für rund 155 000 Verhaftete (unter ihnen auch zahlreiche Frauen)6 kam dieser Befehl jedoch zu spät; wer gesund und arbeitsfähig war, verblieb als Zwangsarbeiter in der Sowjetunion und teilte nun das Schicksal der deutschen Kriegsgefangenen. Nach offiziellen Angaben des sowjetischen Außenministeriums von Juli 1990 betrug die Gesamtzahl der Internierten, die zwischen 1945 und Frühjahr 1950 auf dem Boden der SBZ die Speziallager bevölkerten, insgesamt 122 671 Personen. Von ihnen verstarben während der Haft nicht weniger als 42 889 (35 %) an Krankheit und Unternährung. 776 Internierte wurden dieser Aufstellung zufolge von Militärgerichten zum Tode verurteilt. Die Zahl der zumeist nach längerer Internierungshaft anschließend freigelassenen Personen wird auf 45 262 beziffert; weitere 14 202 Personen seien an die ostdeutschen Behörden übergeben, 12 770 in die Sowjetunion verbracht und 6 680 in Kriegsgefangenenlager überstellt worden.7 Auch wenn diese Zahlen bei genauerer Betrachtung von anderen überlieferten Angaben etwas differieren, so geben sie doch die Größenordnung recht zuverlässig wieder. Kennzeichnend für die sowjetischen Internierungslager, die bis August 1948 dem NKVD, dann dem GULag unterstanden, ist zunächst die außerordentlich hohe Todesrate, weniger die Anzahl der nach pauschalen Kriterien inhaftierten Personen. In den drei westlichen Besatzungszonen waren nach einer Statistik des Alliierten Kontrollrats insgesamt rund 182 000 Personen interniert worden, von denen allerdings zum 1. Januar 1947 bereits rund 86 000 wieder aus den Lagern entlassen waren.8 Zurück blieb in den Westzonen die Gruppe der for4 5 6 7 8

So die treffende Bewertung von Ralf Possekel, Sowjetische Lagerpolitik in Deutschland. In: Sowjetische Speziallager, Band 2, S. 15–110, hier 107. Befehl Nr. 00315 des Volkskommissars für Inneres zur teilweisen Abänderung des Befehls des NKVD Nr. 0016 vom 11. Januar 1945 vom 18. 4.1945. Deutsche Übersetzung in: Sowjetische Speziallager, Band 2, S. 178–180. Diese Angabe umfasst nur die Deportationswelle aus dem Reichsgebiet (vor allem Ostpreußen und Oberschlesien), hinzu kommen ca. 112 000 Deutsche aus Südosteuropa. Vgl. Poljan, Internierung, S. 50. Süddeutsche Zeitung vom 26. 7.1990. Statistik über internierte und entlassene Personen. Stand vom 1.1.1947. In: Vollnhals, Entnazifizierung, S. 251. Vgl. Wember, Umerziehung; Christa Horn, Die Internierungsund Arbeitslager in Bayern 1945–1952, Frankfurt a. M. 1992; Internierungspraxis in

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mal schwerbelasteten Personen – Mitglieder der SS, des SD, der Gestapo und des Korps der Politischen Leiter der NSDAP (bis einschließlich Kreisleiter), also jener Organisationen, die im Nürnberger Prozess als „verbrecherisch“ erklärt worden waren. Ihre Anzahl nahm jedoch im Zuge fortgesetzter Überprüfungen rasch ab. So zählte man in der amerikanischen Besatzungszone im Juli 1948 nur mehr 3 500 Internierte, die sich noch vor einer der deutschen Lagerspruchkammern im Zuge des Entnazifizierungsverfahrens zu verantworten hatten. In der britischen Besatzungszone übernahmen diese Aufgabe deutsche Spruchgerichte, die auf Basis des Kontrollrats-Gesetzes Nr. 10 urteilten.9 In der sowjetischen Besatzungszone hingegen fand trotz wiederholter Vorstöße der Abteilung Speziallager wie der SMAD in Moskau keine systematische Überprüfung und Entlassung des Gros der geringfügig belasteten Internierten statt; ebenso wenig erfolgte eine konsequente Ermittlung gegen mutmaßliche NS- und Kriegsverbrecher. Stattdessen verfügte das NKVD im Januar 1946 lediglich einen Aufnahmestopp für Block- und Zellenleiter der NSDAP,10 was den Zustrom reduzierte, jedoch das Problem der weithin völlig willkürlichen Verhaftungs- und Internierungspraxis, wovon nicht zuletzt ein hoher Anteil Jugendlicher betroffen war, nicht löste. Mit anderen Worten: Ab Frühjahr 1946 ließen sich die Speziallager aufgrund der veränderten Sicherheitslage nicht mehr als militärische Präventivmaßnahme rechtfertigen. Da in den Lagern jedoch Entlassungen ausblieben und weder Entnazifizierungsverfahren noch eingehende strafrechtliche Ermittlungen stattfanden – wie dies in den Westzonen der Fall war –, stellten sie auch keine Art von Untersuchungshaft dar. Erst im Juni 1948 beschloss der sowjetische Ministerrat die Entlassung von 27 749 (von insgesamt 43 853 überprüften) Internierten, wobei die Entscheidung auf rein administrativer Basis ohne Anhörung der Betroffenen getroffen wurde. Ganz überwiegend handelte es sich hierbei um „Führer und nominelle Funktionäre von Basisorganisationen der NSDAP und der faschistischen Jugend (unterhalb der Kreisebene)“.11 Zu einer völligen Auflösung der Speziallager – parallel zu dem im Februar 1948 mit SMAD-Befehl Nr. 35 verordneten Abschluss der Entnazifizierung und der Amnestie für „nominelle“ Parteimitglieder – vermochte man sich allerdings nicht zu entschließen. Denn in den Lagern befanden sich seit 1946 zunehmend auch zahlreiche Personen, die nicht wegen einer zumindest formalen NS-Belastung festgehalten Ost- und Westdeutschland nach 1945. Eine Fachtagung. Hg. von Renate Knigge-Tesche, Peter Reif-Spirek und Bodo Ritscher, Erfurt 1993. 9 Die Spruchgerichte verurteilten rund 15 700 Angehörige der sog. „verbrecherischen“ Organisationen, wobei unter Berücksichtung der Internierungshaft zumeist Geldstrafen verhängt wurden. 5 614 Personen erhielten eine Gefängnisstrafe, die im Gesamtdurchschnitt 9,4 Monate betrug. Zum Verfahren vgl. Wember, Umerziehung, S. 276– 355, mit Urteilsstatistik auf S. 320 f. 10 Vgl. Sowjetische Speziallager, Band 2, S. 223. 11 Vgl. Statistik der Überprüfungskommissionen (MGB, MVD und SMAD) von Mai 1948. In: Sowjetische Speziallager, Band 2, S. 84.

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wurden, sondern als tatsächliche oder vermeintliche Opponenten der sowjetischen Besatzungspolitik wegen „Spionage“, „antisowjetischer Propaganda“ oder schlicht aufgrund ihrer sozialen Stellung (Gutbesitzer, Fabrikbesitzer) verhaftet und ohne eine Gerichtsurteil in ein Speziallager verbracht worden waren. Diese Gruppe stellte nach der Entlassungsaktion von Sommer 1948 mit 3 936 Personen ein Viertel aller noch in den Lagern befindlichen nichtverurteilten Internierten.12 Dieser Funktionswandel, der nicht mehr von der alliierten Internierungspolitik gedeckt war, sondern als eine Form des außergerichtlichen Freiheitsentzuges der Verfolgung des politischen Gegners diente, bewirkte, dass die Lager bis zur Gründung der DDR bestehen blieben. Diese Praxis der sowjetischen Repressionsorgane folgte dem eingeübten stalinistischen Muster und setzte aus deutscher Perspektive die Praxis der von der Gestapo verfügten „Schutzhaft“ in den Konzentrationslagern fort. Hinzu kam, dass bereits seit Ende 1945 in die Speziallager unterschiedslos auch jene Personen eingeliefert (sofern sie nicht direkt in die Sowjetunion deportiert) wurden, die ein sowjetisches Militärtribunal zu „Arbeitsbesserungslager“ (ITL), „Zwangsarbeit“ (katorga) oder „Gefängnis“ verurteilt hatte. Ende Oktober 1946 befanden sich in den Speziallagern 7 351 SMT-Verurteilte sowie 62 980 nach Befehl 00315 internierte Personen.13 Als die letzten Lager im Frühjahr 1950 aufgelöst wurden, zählte man nach amtlichen Angaben 10 513 SMTVerurteilte, womit diese Gruppe 36,3 Prozent aller noch Inhaftierten stellte.14 Einen Einblick in ihre Zusammensetzung gibt eine Analyse am Beispiel des Speziallagers Bautzen, das als Sammellager für Personen mit langjährigen Haftstrafen im Februar 1950 6100 SMT-Verurteilte (und nur noch 1100 Internierte) aufwies. Von ihnen waren 85 Prozent zu 25 Jahren und elf Prozent zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt worden. Nur bei rund einem Drittel (36 %) war die Verurteilung wegen „Kriegsverbrechen“ erfolgt, wobei in aller Regel der Erlass des Obersten Sowjets der UdSSR vom 19. April 1943 („Ukaz 43“)15 und / oder das Kontrollrats-Gesetz Nr. 10 vom 20. Dezember 194516 als Begründung diente. Ein weiteres Drittel (33 %) war wegen angeblicher Spionage verurteilt worden. Bei den übrigen (30 %) lautete die Anklage ebenfalls auf „konterrevolutionäre Handlungen“ nach den verschiedenen Be-

12 Ebd., S. 85. 13 Sowjetische Speziallager, Band 2, S. 67. Eine genauere Aufschlüsselung gibt die Information des Leiters der Abteilung Speziallager vom 30.10.1946 (ebd., S. 247 f.). Nicht enthalten sind hierbei jene SMT-Verurteilten, die direkt in die Sowjetunion deportiert worden sind. 14 Sowjetische Speziallager, Band 2, S. 97. 15 Dekret (Ukaz) des Präsidiums des Obersten Sowjet der UdSSR vom 19. 4.1943. Deutsche Übersetzung in: Ueberschär (Hg.), Nationalsozialismus, S. 279–281. 16 Gesetz Nr. 10 des Alliierten Kontrollrats über die Bestrafung von Personen, die sich Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen Frieden oder gegen Menschlichkeit schuldig gemacht haben, vom 20.12.1946. Deutsche Übersetzung, ebd., S. 295–301.

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stimmungen des berüchtigten Artikel 58 des Strafgesetzbuches der RSFSR von 1926.17 Zusammenfassend lässt sich also festhalten, was auch durch andere Untersuchungen bestätigt wird: Die sowjetischen Militärtribunale – die per se keine Justiz im rechtsstaatlichen Sinne darstellten, sondern als ein administratives Repressionsorgan zu bezeichnen sind – verfolgten nur in beschränktem Umfang tatsächliche oder vermeintliche NS-Verbrecher; ihre Aufgabe war „im Wesentlichen Gefahrenabwehr für die Besatzungsmacht und stereotype politische Repression nach dem Vorbild der innersowjetischen GULag-Praxis“.18 Das Gros der nichtverurteilten Internierten, die zu etwa vier Fünftel bereits im Jahre 1945 verhaftet worden waren, stellten hingegen Mitglieder und überwiegend kleinere Funktionsträger der NSDAP, während die Terrorelite der NS-Diktatur sowie das KZ-Aufsichtspersonal in den Speziallagern fast völlig fehlte. Dieser Befund ist im Zusammenhang mit der Regelung zu sehen, wonach Angehörige der paramilitärischen NS-Organisationen in die Kriegsgefangenenlager einzuweisen waren und sich somit in GUPVI-Lagern auf sowjetischem Gebiet befanden. Mit der endgültigen Auflösung der Lager, deren Existenz bei Gründung der DDR eine schwere Hypothek für die Glaubwürdigkeit der SED darstellte, wurden nach ausschließlich sowjetischer Entscheidung 15 038 Internierte in die Freiheit entlassen und 10 513 SMT-Verurteilte zur weiteren Strafverbüßung dem Innenministerium der DDR übergeben, das im November 1950 vom Justizministerium die Zuständigkeit für den gesamten Strafvollzug übernahm.19 Hinzu kamen 3 432 Internierte, die von ostdeutschen Sonderstrafkammern zwischen April und Juni 1950 in den Waldheimer Prozessen im Schnellverfahren zu hohen Strafen abgeurteilt wurden. Diese Justizfarce, die nahtlos an eine terroristische sowjetische Rechtspraxis anschloss, diente nicht der Aufklärung und Strafverfolgung von NS- und Kriegsverbrechen, sondern sollte allein die Willkür der sowjetischen Internierungspraxis nachträglich gegenüber der Bevölkerung legitimieren.

17

Vgl. die detaillierte Aufschlüsselung von Jörg Morré, Das Speziallager Bautzen als Instrument sowjetischer Herrschaftssicherung. In: Rainer Behring / Mike Schmeitzner, Diktaturdurchsetzung in Sachsen. Studien zur Genese der kommunistischen Herrschaft 1945–1952, Köln 2003, S. 79–100, hier 93 ff. 18 Heinz Kersebom/Lutz Niethammer, „Kompromat“ 1949 – eine statistische Annäherung an Internierte, SMT-Verurteilte, antisowjetische Kämpfer und die Sowjetischen Militärtribunale. In: Sowjetische Speziallager, Band 1, S. 510–532, hier 531. 19 Sowjetische Speziallager, Band 2, S. 97. Vgl. auch Beschluss des Politibüros des ZK der VKP(b) vom 30.12.1949 (ebd., S. 365 f.).

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2.

Entnazifizierung

Im Unterschied zur amerikanischen Besatzungsmacht, die auf jahrelange Vorarbeiten diverser Planungsstäbe zurückgreifen konnte,20 besaßen weder die KPD-Führung noch die Sowjetische Militäradministration (SMAD) ein detailliert ausgearbeitetes Entnazifizierungsprogramm, das über allgemein gehaltene Absichtserklärungen hinausging. So erließ die SMAD zwar im August 1945 den Befehl Nr. 42, wonach sich alle Mitglieder der NSDAP, SS und SA sowie Gestapo-Mitarbeiter bei den sowjetischen Militärkommandanturen zu registrieren hatten21 – was vielfach die Verhaftung und Einweisung in ein Speziallager nach sich zog –, doch folgten diesem Befehl keine für das gesamte Besatzungsgebiet gültigen Entnazifizierungsdirektiven. Lediglich im Justizwesen ordnete die SMAD die generelle Entlassung aller NSDAP-Mitglieder an,22 ansonsten gab es – soweit bislang bekannt – keine zentralen Säuberungsvorgaben. Umso größere Bedeutung maß die Besatzungsmacht dagegen der Enteignungspolitik zu. So wurde bereits am 30. Oktober 1945 mit SMAD-Befehl 124 die Beschlagnahmung („Sequestrierung“) des gesamten Eigentums der Amtsleiter der NSDAP sowie „deren führenden und einflussreichen Anhängern“ verfügt.23 Von Juli 1945 bis zum Dezember 1946 fand in der SBZ die politische Säuberung auf der Grundlage unterschiedlicher Landesgesetze bzw. -verordnungen statt, für deren Erlass und Durchführung deutsche Stellen verantwortlich waren. Diesen Weg beschritt auch die französische Militärregierung, während die amerikanische und die britische die Entnazifizierung in der Anfangsphase in eigener Regie und nach Maßgabe einheitlicher Bestimmungen für das gesamte Besatzungsgebiet durchführten.24 Das Fehlen zentraler Direktiven bot den deutschen Auftragsverwaltungen zunächst einen großen Spielraum und führte zu einer bemerkenswerten Spannbreite normativer Säuberungsvorgaben und Verfahrensregelungen. In Thüringen bestimmte das Reinigungsgesetz vom 23. Juli 1945 die Entlassung der „alten Kämpfer“ (Parteieintritt vor 1. 4.1933) sowie von NSDAP-Mitgliedern in bestimmten Führungspositionen, während nominelle Parteigenossen im öffentlichen Dienst verbleiben durften. In der Provinz Brandenburg und im Land Mecklenburg galten hingegen alle ehemaligen Nationalsozialisten generell als entlassen. In Sachsen wurde bei der angestrebten Entlassung aller belasteten 20 Vgl. Lutz Niethammer, Die Mitläuferfabrik. Die Entnazifizierung am Beispiel Bayerns, Berlin (West) 1982, S. 32–68. 21 SMAD-Befehl 42 vom 27. 8.1945. In: Befehle des Obersten Chefs der Sowjetischen Militärverwaltung in Deutschland, Sammelheft 1, 1945, Berlin (Ost) 1946, S. 17. 22 SMAD-Befehl 49 zur Reorganisation der deutschen Gerichte vom 4. 9.1945. In: Um ein antifaschistisch-demokratisches Deutschland. Dokumente aus den Jahren 1945–1949. Hg. vom Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der DDR und dem Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der UdSSR, Berlin (Ost) 1968, S. 142 f. 23 SMAD-Befehl 124 über die Beschlagnahme und die Übernahme einiger Eigentumskategorien vom 30.10.1945. In: ebd., S. 189–192. 24 Vgl. als Überblick Vollnhals, Entnazifizierung.

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Funktionsträger der Dienstrang als Kriterium benutzt, in der Provinz SachsenAnhalt wiederum griff man zum Verfahren der individuellen Fallprüfung.25 Verantwortlich für die Durchführung der Entnazifizierung waren in den Ländern und Provinzen die jeweils 1. Vizepräsidenten, die überall von den Kommunisten gestellt wurden. Am schärfsten gingen Bernhard Bechler in Brandenburg und Johannes Warnke in Mecklenburg-Vorpommern vor, während die Landesverwaltungen in Sachsen, Thüringen und in der Provinz Sachsen 1945 noch an der deutschen NS-Gegnern selbstverständlichen Differenzierung zwischen NS-Aktivisten und nominellen Parteimitgliedern festhielten. Diese Unterscheidung lag auch der Entschließung der „Einheitsfront der antifaschistischdemokratischen Parteien“ vom 30. Oktober 1945 zugrunde.26 Eine Verschärfung der Entlassungspraxis forderte die sowjetische Militärregierung erstmals im Spätherbst, was eine Reaktion auf entsprechende amerikanische Maßnahmen darstellen dürfte. Gleichwohl bleibt es bemerkenswert, dass die SMAD keine zonenweite Direktive erließ, so dass die Durchführung der politischen Säuberung im Ermessen der deutschen Landesverwaltungen blieb. Auch die Führungsspitze der KPD/SED drängte – im Unterschied zur frühzeitig zentralisierten Agrar- und Enteignungspolitik – auf keine Vereinheitlichung des Entnazifizierungsverfahrens. Bis Ende 1946 waren in der sowjetischen Besatzungszone insgesamt rund 390 500 ehemalige Nationalsozialisten entlassen bzw. nicht wieder eingestellt worden.27 Diese Zahlen sind – wie nahezu alle Entnazifizierungsstatistiken – wegen unpräziser, lückenhafter oder gar vorsätzlich falscher Meldungen nur als grobe Richtwerte zu betrachten. Die Entnazifizierung in der sowjetischen Besatzungszone dürfte sich im Umfang jedoch nicht wesentlich von der anfangs äußerst rigiden Entlassungspolitik der amerikanischen Militärregierung unterschieden haben. In der US-Zone zählte man Ende März 1946 337 000 entlassene Personen bzw. abgewiesene Bewerber.28 Der eigentliche Unterschied lag weniger in der Entlassungspraxis, sondern bei den politischen Vorgaben, die die Neubesetzung der leergefegten Ämter regelten. In den Westzonen griffen die Militärregierungen bei der Besetzung po25 Vgl. Helga A. Welsh, Revolutionärer Wandel auf Befehl? Entnazifizierungs- und Personalpolitik in Thüringen und Sachsen (1945–1948), München 1989; Manfred Wille, Entnazifizierung in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands 1945–48, Magdeburg 1993; Ruth-Kristin Rößler (Hg.), Entnazifizierungspolitik der KPD/SED 1945–1948. Dokumente und Materialien, Goldbach 1994; Damian van Melis, Entnazifizierung in Mecklenburg-Vorpommern. Herrschaft und Verwaltung 1945–1948, München 1999; Timothy R. Vogt, Denazification in sovjet-occupied Germany. Brandenburg 1945– 1948, Cambridge, Mass. 2000; zu Sachsen-Anhalt vgl. Alexander Sperk, Entnazifizierung und Personalpolitik in der Sowjetischen Besatzungszone Köthen/Anhalt. Eine Vergleichsstudie, Dössel 2003. 26 In: Vollnhals, Entnazifizierung, S. 186 ff. 27 Wolfgang Meinicke, Die Entnazifizierung in der sowjetischen Besatzungszone 1945– 1948. In: ZfG, 32 (1984), S. 968–979, hier 975. Vgl. auch Wille, Entnazifizierung, S. 209. 28 Vollnhals, Entnazifizierung, S. 159.

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litischer Ämter und hoher Verwaltungspositionen zumeist auf altgediente Politiker und Fachleute aus dem gesamten demokratischen Spektrum der Weimarer Republik zurück, in der Ostzone hingegen wurden auf allen Verwaltungsebenen zielstrebig KPD / SED-Mitglieder gegenüber Mitbewerbern aus bürgerlichen Parteien bevorzugt. Nicht zuletzt diente die Entnazifizierung vielfach als Vorwand, um „wilde“ Enteignungsmaßnahmen und Berufsverbote für Unternehmer und kleine Gewerbetreibende auszusprechen.29 Die oftmals völlig willkürliche Anwendung geltender Vorschriften war Ausfluss einer klassenkämpferischen Politik, die insgesamt auf die Ausschaltung konservativer wie bürgerlichliberaler Kräfte abzielte. Die Entlassung ehemaliger Nationalsozialisten bildete in diesem Konzept nur die erste Etappe auf dem Weg zur Durchsetzung des kommunistischen Machtmonopols in Staat und Gesellschaft. Einen weiteren Stützpfeiler der angestrebten sozialistischen Umgestaltung stellten die Bodenreform, die Verstaatlichung der Banken sowie der Groß- und Mittelbetriebe dar. Die umfangreichen Enteignungen wurden in den ersten Jahren durchweg als antifaschistische Maßnahme begründet. Sie sollten die ökonomische Basis des ostelbischen Junkertums und die Kapitalistenklasse zerschlagen, die im Verständnis der kommunistischen Faschismustheorie die wichtigsten Säulen und Nutznießer des NS-Regimes gewesen waren. „Enteignung der Naziaktivisten und Kriegsverbrecher“ war eine durchaus populäre Forderung; für ein entsprechendes Gesetz stimmten bei dem Volksentscheid in Sachsen am 30. Juni 1946 77 Prozent mit Ja, 16 Prozent mit Nein.30 Zugleich umwarb die SED im Sommer und Herbst 1946 intensiv den „kleinen Parteigenossen“, um ihre Wahlchancen für die bevorstehenden Gemeinde- und Landtagswahlen zu verbessern.31 Im Dezember 1946 begann eine neue, bis August 1947 reichende Phase der Entnazifizierung, die eine abermalige Welle von Massenentlassungen einleitete. Für den Entschluss der sowjetischen Militärregierung, der Entnazifizierung nunmehr die bereits im Januar 1946 verabschiedete Kontrollrats-Direktive 24 zugrunde zu legen, waren vor allem außenpolitische Erwägungen maßgebend, da mit der Übernahme der Direktive die sowjetische Position für die im März 1947 stattfindende Konferenz der Außenminister in Moskau gestärkt werden sollte. Zugleich bot sich damit die Möglichkeit, das Entnazifizierungsverfahren in der Ostzone auf eine neue organisatorische Grundlage zu stellen. Als oberste Instanz mit Kontroll- und Revisionsfunktion fungierten nun die Landesentnazifizierungskommissionen, deren Vorsitz die 1. Vizepräsidenten 29 Vgl. Wille, Entnazifizierung, S. 110 ff., 180 ff. 30 Zu Vorgeschichte und Durchführung des Volksentscheids vgl. Winfried Halder, „Modell für Deutschland“. Wirtschaftspolitik in Sachsen 1945–1948, Paderborn 2001, S. 212–243. 31 Vgl. z. B. „SED und nominelle Parteigenossen“. Beschluss des Parteivorstandes vom 20. 6.1946. In: Vollnhals, Entnazifizierung, S. 191 ff.; Rößler, Entnazifizierungspolitik, S. 94 ff. Bei Rößler ist auch die Rede Grotewohls auf der Sitzung des Parteivorstandes dokumentiert (S. 88 ff.).

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der Regierungen und als Stellvertreter die Leiter der Personalämter übernahmen. Weiterhin gehörten ihnen Vertreter der Parteien, der Gewerkschaften, der Vereinigung der Verfolgten des NS-Regimes sowie der Frauen- und Jugendausschüsse, der Industrie- und Handelskammern, der Handwerkskammern und der Vereinigung der gegenseitigen Bauernhilfe an. Die Arbeit vor Ort wurde von den Kreiskommissionen unter der Leitung der Oberbürgermeister bzw. Landräte geleistet, als deren Stellvertreter wiederum die Leiter der Personalämter amtierten. Sämtliche Entscheidungen mussten den Landeskommissionen vorgelegt werden. Diese gaben die Fälle zur Überprüfung an die jeweilige Landesmilitärregierung weiter, die ein Vetorecht besaß. Die Neubildung und Umstrukturierung der Säuberungskommissionen führte zu einer massiven Verschiebung der parteipolitischen Gewichte. In den 29 sächsischen Landkreisen standen 154 Ausschussmitgliedern der SED lediglich 29 LDPD- und 19 CDUMitglieder gegenüber. Das gleiche Bild bot sich in den sechs Stadtkreisen. Hier gehörten von 42 Mitgliedern 30 der SED an. Ähnliche Verhältnisse herrschten in Thüringen.32 Mit der Neuorganisation setzte eine erneute Überprüfung aller Beschäftigten ein, da mit Wirkung zum 1. Januar 1947 alle bisherigen Genehmigungen zur Weiterbeschäftigung ehemaliger Parteigenossen, die vor allem in der Wirtschaft großzügig erteilt worden waren, ihre Gültigkeit verloren. Bis zum April 1947 verzeichnete die Statistik insgesamt 851479 erfasste ehemalige Parteimitglieder, d. h. jede der 262 Kommissionen hatte durchschnittlich 3 250 Fälle zu bearbeiten.33 Da die Umsetzung der Kontrollrats-Direktive 24 unter großem Zeitdruck erfolgte, häuften sich die Beschwerden. Bereits am 17. Februar 1947 wandten sich deshalb die Parteiführungen von SED, LDPD und CDU in einem gemeinsamen Schreiben an die sowjetische Militärregierung und baten um den Erlass milder Durchführungsbestimmungen: „Eine schematische Durchführung dieser Direktive, wie sie vielfach zu beobachten ist, würde das Ausscheiden vieler Fachleute und Spezialisten in Wirtschaft und Verwaltung zur Folge haben. Dieser Umstand erfüllt die Einheitsfront mit ernster Sorge für die Sicherung und den Fortbestand des in der Ostzone erreichten wirtschaftlichen Fortschritts.“34 Wenige Tage später, am 21. Februar, trat auch Wilhelm Pieck in einem vielbeachteten Artikel im „Neuen Deutschland“ für eine milde Behandlung der Mitläufer ein. Eine Änderung der sowjetischen Position war aber vorerst nicht zu verzeichnen. Im ersten Halbjahr 1947 wurden in der Sowjetzone nochmals insgesamt 64 500 Personen entlassen bzw. bei Bewerbungen nicht angestellt.35 32 33 34 35

Welsh, Wandel, S. 69. Meinicke, Entnazifizierung, S. 976. In: Vollnhals, Entnazifizierung, S. 205 f. Neues Deutschland vom 27. 8.1947. Wesentlich höhere Angaben bei Meinicke, Entnazifizierung, S. 977. Sie dürften im Falle Thüringens und Sachsen-Anhalts wohl eine Addition aller bis Mitte 1947 entlassenen Personen bzw. abgewiesenen Bewerber darstellen.

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Die letzte Phase wurde im August 1947 durch den Befehl 201 der Sowjetischen Militäradministration36 eingeleitet, der drei verschiedene Funktionen besaß: Er gab zunächst allen nominellen NSDAP-Mitgliedern ihre bürgerlichen und politischen Rechte zurück, einschließlich des passiven Wahlrechts. Zu diesem Zweck ordnete der Befehl, zweitens, die beschleunigte Durchführung der Entnazifizierung an, wobei die Überprüfung mutmaßlicher NS-Aktivisten (gemäß Kontrollrats-Direktive 24) in die Zuständigkeit abermals neu gebildeter Kommissionen fiel.37 Drittens ging die Aburteilung von Nazi- und Kriegsverbrechern (gemäß Kontrollrats-Direktive 38) mit gewissen Ausnahmen auf deutsche Gerichte über – wovon noch zu sprechen sein wird. Zur Begründung für den abrupten Kurswechsel wurde auf die Enteignung der Junker wie aller übrigen Faschisten und Kriegsverbrecher verwiesen, womit in der sowjetischen Besatzungszone die „Grundlage des Faschismus, des Militarismus und der Reaktion ernsthaft erschüttert“ worden sei. Neben dieser mehr ideologischen Begründung sprachen auch ökonomische Gründe für einen baldigen Abschluss. Da die öffentliche Verwaltung bereits weitgehend gesäubert war, hätte jede weitere Entlassungswelle vor allem die ohnehin geschwächte Wirtschaft und damit auch die Reparationsleistungen an die Sowjetunion beeinträchtigen müssen. Nicht zuletzt sollte mit dem großzügigen Integrationsangebot für ehemalige NSDAPMitglieder die soeben anlaufende Volkskongress-Kampagne „für Einheit und gerechten Frieden“ politisch flankiert werden. Das offizielle Ende der Entnazifizierung verkündete wenige Monate später, am 26. Februar 1948, der SMAD-Befehl 35.38 Danach hatten die Kommissionen bis zum 10. März 1948 ihre Tätigkeit einzustellen, für Berufungsverfahren endete die Frist am 10. April. Bis dahin nicht erledigte Verfahren mussten eingestellt werden, sofern sich keine ausreichenden Gründe für eine gerichtliche Anklageerhebung ergeben hatten. Dies bedeutete in der Praxis eine Amnestie auch für aktive NSDAP-Mitglieder. Zugleich wurde allen entlassenen Parteigenossen – mit Ausnahme derjenigen, die ihr Wahlrecht eingebüßt hatten – die Rückkehr in ihre alten Positionen in Aussicht gestellt, die durch „ehrliche und loyale Arbeit im Laufe der Zeit“ zu erarbeiten sei. Gesperrt blieben leitende Verwaltungspositionen sowie Justiz und Polizei. Mit diesem Befehl zog die sowjetische Militärregierung als erste Besatzungsmacht einen Schlussstrich unter die Entnazifizierung und setzte damit auch die Westmächte unter erheblichen Druck. Das politische Kalkül benannte Walter Ulbricht, als er auf der Innenministerkonferenz Ende Januar 1948 ausführte: „Wenn in den nächsten Monaten die Frage des Aufbaues in den Vordergrund kommt, wenn wir jetzt erklären, die 36 ZVOBl. 1947, 153 f. In: Vollnhals, Entnazifizierung, S. 206 ff.; Rößler, Entnazifizierungspolitik, S. 147 ff. 37 Zur parteipolitischen Zusammensetzung dieser Kommissionen vgl. Wille, Entnazifizierung, S. 168 f. 38 ZVOBl. 1948, S. 88. In: Vollnhals, Entnazifizierung, S. 212 ff.; Rößler, Entnazifizierungspolitik, S. 257 f.

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Grundlagen unserer demokratischen Ordnung seien geschaffen, jetzt gehe es an den Aufbau, können wir nicht zu gleicher Zeit die Entnazifizierung weiterführen. Denn wir müssen an die ganze Masse der Werktätigen appellieren, auch an die nominellen Nazis, an die Masse der technischen Intelligenz, die Nazis waren. Wir werden Ihnen offen sagen: Wir wissen, dass Ihr Nazis ward, wir werden aber nicht weiter darüber sprechen, es kommt auf Euch an, ehrlich mit uns mitzuarbeiten.“39 Das Angebot einer großzügigen Rehabilitierungspolitik sollte im unmittelbaren Vorfeld der Teilung Deutschlands die gesellschaftliche Basis der SED-Diktatur verbreitern und die Leistungsfähigkeit der ostdeutschen Wirtschaft stärken. Zugleich ließ sich die pragmatische Integration der NS-Mitläufer auch für die deutschlandpolitische Offensive der SED einspannen. So hieß es etwa im SMAD-Befehl Nr. 35, auch im Westen gebe es unter den ehemaligen NSDAP-Mitgliedern viele „vaterländisch gesinnte Menschen“, die die „Politik der Spaltung und Versklavung Deutschlands“ ablehnten. In einem Spannungsverhältnis dazu stand allerdings die Fortexistenz der Speziallager, die in der Bevölkerung weiterhin Furcht und Angst verbreiteten und die Glaubwürdigkeit der SED-Politik konterkarierten. Bis zum 10. März 1948 hatten den Entnazifizierungskommissionen insgesamt 155 864 Fälle zur Entscheidung vorgelegen, wovon 140 699 abgeschlossen waren. Von den ab August 1947 überprüften Personen waren 75 025 (53,4 %) als Mitläufer eingestuft, 11167 Personen entlassen und 10 482 auf andere Positionen versetzt worden. Darüber hinaus wurden 44 025 Anträge auf Neueinstellung negativ beschieden. Die letzte Entnazifizierungsphase hatte auf den öffentlichen Dienst nur noch geringe Auswirkungen. Nach dem SMAD-Befehl Nr. 201 standen 8 173 Fälle von Verwaltungsangestellten zur Entscheidung an; davon wurden 976 Personen entlassen, 790 in rangniedrigere Positionen versetzt und weitere 1134 Bewerbungen abgelehnt.40 Die Gesamtzahl der von der Entnazifizierung betroffenen Personen wurde von DDR-Historikern zumeist mit rund 520 000 angegeben.41 Diese Angabe ist mit Sicherheit überhöht und beruht im Wesentlichen auf der additiven Fortschreibung von Statistiken, die zu unterschiedlichen Zeiten erstellt wurden. Sie umfasst sowohl entlassene bzw. in untergeordnete Stellungen versetzte Personen als auch abgewiesene Bewerber. Dasselbe NSDAP-Mitglied wurde also mehrfach gezählt, zuerst bei seiner Entlassung, dann bei abgelehnten Anträgen auf Wiedereinstellung. Weitere Mehrfachzählungen ergaben sich aus dem mehrmaligen Durchgang des Entnazifizierungsverfahrens (Säuberung ohne Rechtsgrundlage, Landesverfahren bis Ende 1946, Verfahren nach Kontrollratsdirek39 Rede Ulbrichts auf der Innenministerkonferenz am 31.1. /1. 2.1948. Zit. nach Rößler, Entnazifizierungspolitik, S. 248 f. 40 Statistik über die Durchführung der Entnazifizierung seit dem Erlaß des SMAD-Befehls Nr. 201. Stand vom 10. 3.1948. In: Vollnhals, Entnazifizierung, S. 234; Welsh, Revolutionärer Wandel, S. 81. 41 Diese Angabe findet sich bereits in einem Bericht des Neuen Deutschland vom 21. 4.1948.

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tive Nr. 24, Verfahren nach SMAD-Befehl 201). Eine exakte Quantifizierung ist deshalb beim gegenwärtigen Forschungsstand nicht möglich; realistisch erscheint die Schätzung von insgesamt 200 000 Entlassungen von vermutlich etwa 1,5 Millionen NSDAP-Mitgliedern, die 1945 im Bereich der Sowjetzone lebten.42 Auch in der sowjetischen Zone verfolgte man im Interesse des raschen Wiederaufbaus bald eine pragmatische Rehabilitierungspolitik, die noch einer genaueren Untersuchung bedarf.43 Anders als im Westen, wo die Rückflut ehemaliger NSDAP-Mitglieder die personelle Kontinuität im öffentlichen Dienst weitgehend wiederherstellte, blieb ihnen allerdings in der SBZ/DDR in aller Regel die Rückkehr in den Bereich der inneren Verwaltung, des Polizei- und Justizapparates verwehrt. Diese Restriktionen waren in dem „Gesetz über den Erlass von Sühnemaßnahmen und die Gewährung staatsbürgerlicher Rechte für die ehemaligen Mitglieder und Anhänger der Nazipartei und Offiziere der faschistischen Wehrmacht“ vom 11. November 1949 explizit formuliert, das den von Entnazifizierungskommissionen oder Gerichten verhängten Entzug des Wahlrechts sowie noch bestehende Beschränkungen im Erwerbsleben aufhob.44 Vom selben Tag stammte auch ein allgemeines Straffreiheitsgesetz, das implizit als eine Amnestie für NS-Verfahren mit einer Freiheitsstrafe von nicht mehr als sechs Monaten und Geldstrafen bis 5 000 DM wirkte.45 Anfang Oktober 1952 folgte ein weiteres Gesetz, das allen nicht verurteilten NSDAP-Mitgliedern und Offizieren die vollen Staatsbürgerrechte der DDR zusprach, „um allen vaterlandsliebenden Deutschen“, wie es im Gesetzestext hieß, „die uneingeschränkte Betätigungsmöglichkeit und Teilnahme beim Aufbau des Sozialismus zu gewährleisten“.46 Damit war die juristische Rehabilitation zumindest formell abgeschlossen. Der politischen Integration ehemaliger Berufsoffiziere und Nationalsozialisten diente vor allem die im Mai 1948 auf Initiative der SMAD gegründete National-Demokratische Partei Deutschlands, die unter dem Vorsitz von Lothar Bolz, einem bewährten Altkommunisten, stand. Auch die SED, die bereits 1946 intensiv den „kleinen Parteigenossen“ umworben hatte, verschloss sich nicht. Nach einer parteiinternen Statistik zählte sie zum Jahresende 1953 in ihren Rei42 Vgl. Wolfgang Zank, Wirtschaft und Arbeit in Ostdeutschland 1945–1949. Probleme des Wiederaufbaus in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands, München 1987, S. 51 ff. 43 Vgl. Jürgen Danyel, Die SED und die „kleinen Pg’s“. Zur politischen Integration der ehemaligen NSDAP-Mitglieder in der SBZ/DDR. In: Annette Leo/Peter Reif-Spirek (Hg.), Helden, Täter und Verräter. Studien zum DDR-Antifaschismus, Berlin 1999, S. 177–196. 44 GBl. der DDR 1949, S. 59 f. 45 Gesetz über die Gewährung von Straffreiheit vom 11.11.1949. In: GBl. der DDR 1949, S. 60 f. 46 Gesetz über die staatsbürgerlichen Rechte der ehemaligen Offiziere der faschistischen Wehrmacht und der ehemaligen Mitglieder und Anhänger der Nazipartei vom 2.10. 1952. In: GBl. der DDR 1952, S. 981.

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hen 8,7 Prozent ehemalige NSDAP-Mitglieder, weitere 6 Prozent der SED-Mitglieder bzw. -Kandidaten hatten einer NSDAP-Gliederung angehört.47 In einigen Bezirksverbänden stellten ehemalige NS-Mitglieder mehr als 10 Prozent der SED-Mitgliedschaft – rechnet man andere NS-Verbände hinzu, so ergaben sich sogar Spitzenwerte bis zu 35 Prozent48 –, während gleichzeitig der Anteil früherer Sozialdemokraten im Zuge fortgesetzter Parteisäuberungen kontinuierlich zurückging. Die Politik der Integration und verordneten Harmonisierung stieß vor allem bei NS-Opfern auf Widerspruch, worauf die SED im Frühjahr 1953 mit der erzwungenen Auflösung der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) reagierte.49

3.

Justizielle Strafverfolgung

Die unnachsichtige Bestrafung der NS-Verbrechen, auf die sich die Alliierten bereits 1943 verständigt hatten, wurde im Potsdamer Abkommen nochmals bekräftigt und mit dem ebenfalls im August 1945 verabschiedeten „Londoner Viermächte-Abkommen über die Verfolgung und Bestrafung der Hauptkriegsverbrecher der Europäischen Achse“ und dem „Statut für den Internationalen Militärgerichtshof“ in Nürnberg umgesetzt.50 Sieht man von dem Nürnberger Hauptprozess ab, so führten die Besatzungsmächte die Verfahren jeweils in eigener Regie durch. Als rechtliche Grundlage diente dabei das am 20. Dezember 1945 verabschiedete Kontrollrats-Gesetz Nr. 10, das in Artikel II-1 vier Kategorien von Verbrechens-Tatbeständen definierte: a) Verbrechen gegen den Frieden, b) Kriegsverbrechen, c) Verbrechen gegen die Menschlichkeit, d) Zugehörigkeit zu verbrecherischen Organisationen, über die der Internationale Militärgerichtshof noch zu befinden hatte.51 47 SAPMO-BArch, ZPA IV 2/5/1371. In absoluten Zahlen aufgeschlüsselt, hatten 96 844 SED-Mitglieder (8,6 %) und 9 533 Kandidaten der SED (9,3 %) früher der NSDAP angehört. Einer NSDAP-Gliederung waren 69 200 SED-Mitglieder (6,1 %) und 5 023 Kandidaten (4,9 %) beigetreten. 48 Vgl. Andreas Malycha, Die SED. Geschichte ihrer Stalinisierung 1946–1953, Paderborn 2000, S. 505. Zahlreiche Beispiele hoher SED-Funktionäre mit NS-Belastung nennt Olaf Kappelt, Die Entnazifizierung in der DDR sowie die Rolle und der Einfluss ehemaliger Nationalsozialisten in der DDR als soziologisches Phänomen, Hamburg 1997. 49 Vgl. Elke Reuter/Detlev Hansel, Das kurze Leben der VVN 1947 bis 1953, Berlin 1997, S. 502 f. 50 Londoner Viermächte-Abkommen vom 8. 8.1945. In: Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof, Nürnberg, 14. November 1945 – 1. Oktober 1946, Band 1: Einführungsband, Nürnberg 1947, S. 7 ff.; Statut für den Internationalen Militärgerichtshof, ebd., S. 10 ff. 51 Gesetz Nr. 10 des Alliierten Kontrollrats vom 20.12.1945 über die Bestrafung von Personen, die sich Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen den Frieden oder gegen die Menschlichkeit schuldig gemacht haben. In: Amtsblatt des Alliierten Kontrollrats, Nr. 3 vom 31.1.1946, S. 22 ff.; auch in: Gerd R. Ueberschär (Hg.), Der Nationalsozialismus vor Gericht. Die alliierten Prozesse gegen Kriegsverbrecher und Soldaten 1943–1952, Frankfurt a. M. 1999, S. 295–301.

Internierung, Entnazifizierung und Strafverfolgung von NS-Verbrechen 237

In der sowjetischen Besatzungszone wurde mit SMAD-Befehl Nr. 0128 vom 23. Dezember 1945 die Zuständigkeit für Verfahren nach Kontrollrats-Gesetz Nr. 10 den sowjetischen Militärtribunalen übertragen. Die Tribunale setzten sich in der Regel aus einem Militärrichter und zwei weiteren Militärangehörigen als Beisitzer zusammen. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, fanden die Verfahren als Geheimprozess ohne Öffentlichkeit statt, wobei dem Angeklagten grundsätzlich kein Verteidiger gestellt wurde. Charakteristisch war ferner, dass das Militärtribunal zumeist keine umfassende Beweisaufnahme vornahm, sondern sich mit dem – häufig erpressten – Geständnis begnügte. Von einer Justiz im rechtsstaatlichen Sinne lässt sich deshalb nicht sprechen. Wie viele Personen von sowjetischen Militärgerichten auf dem Territorium der SBZ wegen NS- und Kriegsverbrechen abgeurteilt worden sind, ist bis heute nicht eindeutig geklärt. Nach einem Bericht des Alliierten Kontrollrats an den Rat der Außenminister wurden in der SBZ bis zum 1. Januar 1947 insgesamt 17175 Personen verurteilt: 10 063 SS-Männer, 1989 Mitarbeiter der Gestapo, 806 SD-Mitarbeiter sowie 4 317 Angehörige des politischen Führerkorps der NSDAP – also jener Organisationen, die der Internationale Militärgerichtshof in Nürnberg in seinem Urteil vom 1. Oktober 1946 als „verbrecherisch“ erklärt hatte. Die Gesamtzahl der „in Haft“ befindlichen Angehörigen dieser Organisationen gibt der Bericht mit 48 085 Personen an.52 Etwas andere Zahlen nennt Semiryaga, der sich auf ein für Außenminister Molotov bestimmtes Informationsschreiben beruft. Danach sollen, ebenfalls mit Stand zum 1. Januar 1947, in der SBZ 14 240 Personen wegen NS- und Kriegsverbrechen zur Rechenschaft gezogen worden sein. Von ihnen seien 138 zum Tode verurteilt, 13 960 zu anderen Strafen und 142 freigesprochen worden.53 Obwohl sich beide Statistiken auf denselben Zeitpunkt beziehen, differieren die Angaben um fast 3 000 Personen, was zu einer generellen Skepsis gegenüber der scheinbaren Exaktheit sowjetischer Angaben mahnt. Meines Erachtens spricht viel dafür, dass wir es hier mit politisch frisierten Zahlen zu tun haben, die gegenüber den Alliierten eine entschlossene Strafverfolgung suggerieren sollten; der tatsächliche Umfang der wegen NS- und Kriegsverbrechen verurteilten Personen dürfte deshalb erheblich nach unten zu korrigieren sein. Einen Anhaltspunkt hinsichtlich des von SMT verhängten Strafmaßes gibt die Datenbank des Hannah-Arendt-Instituts, in der die Urteile von 25 292 (von insgesamt ca. 35 000) verurteilten deutschen Zivilisten gespeichert sind. Von ihnen wurden 4 464 Personen (17,6 %) wegen NS- und Kriegsverbrechen verurteilt. Davon erfolgten 2 094 Verurteilungen nach Kontrollrats-Gesetz Nr. 10 52 Angaben nach Sergej I. Tjulpanov, Die Rolle der SMAD bei der Demokratisierung Deutschlands. In: ZfG, 15 (1967), S. 240–252, hier 246. Nicht ersichtlich ist hierbei, ob in diesen Angaben auch der kleine, insgesamt zu vernachlässigende Personenkreis enthalten ist, der sich bis dahin vor ostdeutschen Gerichten wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu verantworten hatte. 53 Zit. nach Michail Semiryaga, Wie Berijas Leute in Ostdeutschland die „Demokratie“ errichteten. In: DA, 29 (1996), S. 741–752, hier 750.

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und 45 nach Kontrollrats-Direktive Nr. 38, also auf alliierter Rechtsgrundlage. Weiteren 1 046 Verurteilungen lag der Ukaz 43 zugrunde, in 1 279 Verfahren wurde das Urteil mit dem Artikel 58-2 („Bewaffneter Aufstand oder Eindringen von bewaffneten Banden“) des Strafgesetzbuches der RSFSR begründet.54 Bei Verurteilungen nach Artikel 58-2 dominierten drei- bis zehnjährige Haftstrafen, im Falle des Ukaz 43 verhängten die Militärtribunale fast ein Drittel Todesstrafen, ansonsten zumeist Freiheitsstrafen von 25 Jahren, bei alleiniger Anwendung des Kontrollratsgesetzes Nr. 10 wurde zumeist eine lebenslängliche bzw. eine Freiheitsstrafe von 25 Jahren ausgesprochen. Auf dem Boden der SBZ haben die Sowjetischen Militärtribunale bis Ende 1946 nachweislich mindestens 133 Todesurteile auf der Grundlage des Ukaz 43 gefällt, 1947 waren es gar 160.55 Todesstrafen wurden in größerem Umfang auch von Gerichten der westlichen Besatzungsmächte verhängt. Nach einem Bericht des bundesdeutschen Justizministeriums aus dem Jahre 1965 fanden in der US-Zone wegen Kriegsverbrechen gegen 1941 Personen Verfahren statt, die zu 1 517 Verurteilungen, davon 324 Todesurteile, führten. Britische Militärgerichte führten nach diesen Angaben Verfahren gegen 1 085 Personen durch, wobei 240 die Todesstrafe erhielten; in der französischen Besatzungszone wurden 2107 Personen verurteilt und 104 Todesurteile ausgesprochen. Anzumerken ist hierbei, dass die Todesurteile vielfach nicht vollstreckt wurden.56 Zweifellos steht es außer Frage, dass die Sowjetunion ein legitimes Anliegen besaß, die auf ihrem Territorium begangenen NS- und Kriegsverbrechen unnachsichtig zu ahnden. Ebenso dürften sich unter den Verurteilten auch viele Personen befunden haben, die bei einem rechtsstaatlichen Verfahren ebenfalls verurteilt worden wären. Dennoch wird man als Resümee festhalten müssen, dass die Verfahrensweise der sowjetischen Militärtribunale allen rechtsstaatlichen Prinzipien Hohn sprach und primär die eingeübte sowjetische Repressionspraxis widerspiegelte, die anstelle des individuellen Schuldnachweises den pauschalen Verdacht setzte. Anders als die Verfahren in den westlichen Besat54 Zur völkerrechtlichen Problematik der Anwendung sowjetischer Strafvorschriften vgl. Friedrich-Christian Schroeder, Rechtsgrundlagen der Verfolgung deutscher Zivilisten durch Sowjetische Militärgerichte. In: Sowjetische Militärtribunale, Band 2: Die Verurteilung deutscher Zivilisten 1945–1955. Hg. von Andreas Hilger, Mike Schmeitzner und Ute Schmidt, Köln 2003, S. 37–58. 55 Vgl. die statistischen Auswertungen von Natalja Jeske/Ute Schmidt, Zur Verfolgung von Kriegs- und NS-Verbrechen durch sowjetische Militärtribunale in der SBZ. In: Sowjetische Militärtribunale, Band 2, S. 155–192, hier 166 ff. Einschränkend ist hinzuzufügen, dass unter Artikel 58-2 nicht nur Fälle von Kriegsverbrechen erfasst wurden. 56 Bericht über die Verfolgung nationalsozialistischer Straftaten vom 26. 2.1965 (Deutscher Bundestag, 4. Wahlperiode, Drucksache IV/3124, S. 9 ff.). Zit. nach Klaus-Dietmar Henke, Die Trennung vom Nationalsozialismus. Selbstzerstörung, politische Säuberung, „Entnazifizierung“, Strafverfolgung. In: ders./ Hans Woller (Hg.), Politische Säuberung in Europa. Die Abrechnung mit Faschismus und Kollaboration nach dem Zweiten Weltkrieg, München 1991, S. 21–83, hier 74.

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zungszonen leisteten die Geheimprozesse somit auch keinen Beitrag zur konkreten Aufklärung der NS-Verbrechen. Mit dem Kontrollrats-Gesetz Nr. 10 (KRG 10) vom 20. Dezember 1945 erhielten die Besatzungsmächte auch die Möglichkeit, die Aburteilung von Verbrechen, die Deutsche an Deutschen oder an Staatenlosen begangen hatten, deutschen Gerichten zu übertragen. Davon machte die SMAD ab Frühjahr 1946 in beschränktem Umfang Gebrauch. Grundsätzlich galt dabei die Regelung, dass die deutschen Strafverfolgungsbehörden jede Festnahme wegen des Verdachts der Beteiligung an NS-Verbrechen den örtlichen Organen der Sowjetischen Militäradministration anzuzeigen hatten. Diese entschieden dann auf Grundlage des vorliegenden Beweismaterials, ob sie deutsche Gerichte zur Aburteilung ermächtigten, den Festgenommenen in ein Internierungslager einwiesen oder von einem sowjetischen Militärtribunal aburteilen ließen.57 Da die Rechtsabteilung der SMAD zunächst keine zentralen Anweisungen erließ, besaßen die Länder einen großen Gestaltungsspielraum, der binnen kurzem zu einer „Rechtszersplitterung sowohl in materieller wie in formaler Hinsicht“58 führte. Während in Sachsen und Brandenburg NS-Täter, in erster Linie Denunzianten, von Anfang an auf der Grundlage des KRG 10 verurteilt wurden, legten die Gerichte in Thüringen bis September 1947 gegen den Willen von SMAD und SED das deutsche Strafgesetzbuch zu Grunde, da man einer ausschließlichen Aburteilung nach KRG 10 aus rechtsdogmatischen Bedenken („nulla poena sine lege“) reserviert gegenüberstand. Ebenso unterschiedlich war die Zuständigkeit geregelt. So wurden in Brandenburg die Verfahren zunächst von Schöffengerichten und erst ab Frühjahr 1947 von den Strafkammern der Landgerichte oder Schwurgerichten verhandelt. In Sachsen waren durchweg Schwurgerichte zuständig, während in Sachsen-Anhalt und Mecklenburg bei schweren Fällen die Anklage vor einem Schwurgericht, in minderschweren vor einer Strafkammer und bei leichteren vor einem Schöffengericht erfolgte. In Thüringen wiederum ergab sich die Zuständigkeit aus den Festlegungen des StGB.59 Bis Ende 1946 wurden von ostdeutschen Gerichten 133 Personen wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt. Von ihnen erhielten elf die Todesstrafe, vier eine lebenslange Haftstrafe und weitere 22 eine Haftstrafe von über zehn Jahren. In 37 Fällen verhängten die Gerichte eine Freiheitsstrafe zwischen drei und zehn Jahren, in weiteren 59 Fällen lag das Strafmaß unter drei

57 Vgl. Christian Meyer-Seitz, Die Verfolgung von NS-Straftaten in der Sowjetischen Besatzungszone, Berlin 1998, S. 45, mit Bezug auf einen Erlass des Sächsischen Generalstaatsanwalts vom 22. 7.1946. 58 Meyer-Seitz, Verfolgung, S. 66. 59 Vgl. Meier-Seitz, Verfolgung, S. 66–83.

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Jahren.60 Zum Vergleich: In den drei Westzonen waren bis Ende 1946 261 Personen von deutschen Gerichten wegen NS-Verbrechen abgeurteilt worden.61 Insgesamt wurden bis zum 16. August 1947, bis zum Erlass des SMAD-Befehls Nr. 201, in der SBZ 518 Personen von deutschen Gerichten auf der Grundlage des KRG 10 verurteilt.62 Die Strafverfolgung richtete sich in erster Linie gegen Denunzianten. So verurteilten die Schwurgerichte im Land Sachsen, das eine Vorreiterrolle einnahm, bis Ende Mai 1947 184 Personen wegen Denunziationen, 102 wurden von der Anklage freigesprochen. Wegen anderer NS-Verbrechen ergingen im gleichen Zeitraum hingegen nur 37 Verurteilungen. Das Strafmaß bei den Denunziationsfällen verteilte sich auf ein Todesurteil, 70 Zuchthausstrafen (davon zwölf über zehn Jahre) und 111 Gefängnisstrafen (davon 51 über ein Jahr).63 Blickt man auf diese Urteilspraxis, so lässt sich die massive Kritik, die der Leiter der SMAD-Rechtsabteilung Jakupov erstmalig im April 1947 an der deutschen Strafverfolgung übte, kaum nachvollziehen. Er beklagte auf einer Konferenz der Generalstaatsanwälte, die deutschen Gerichte würden zu viele Verfahren einstellen und zu milde Strafen aussprechen.64 Gemessen an der sowjetischen Praxis war dies allerdings zutreffend. Festzuhalten ist jedoch ebenfalls, dass die sowjetische Militärverwaltung der deutschen Justiz bis dahin einen relativ großen Freiraum überlassen hatte und – soweit bislang erforscht – kaum lenkend in einzelne Verfahren eingriff. Neben deutschlandpolitischen Erwägungen dürfte dabei auch der im Vergleich zu den SMT-Verfahren nur sehr geringe Umfang der deutschen Strafverfolgung eine Rolle gespielt haben. Dies änderte sich mit dem SMAD-Befehl Nr. 201 von August 1947, der nicht nur in der Entnazifizierungspolitik eine neue Phase einleitete. Mit ihm ging gleichzeitig die Aburteilung der Nazi- und Kriegsverbrecher auf deutsche Gerichte über, wobei das politische Kalkül unverkennbar ist: Mit einer verstärkten juristischen Strafverfolgung sollte der sowjetische Vorstoß einer großzügigen Integration der NS-Mitläufer politisch flankiert und gegenüber westlicher Kritik abgeschirmt werden. Mit diesem Wechsel der Besatzungspolitik, dem die SMAD in den ersten Monaten ihre volle politische Aufmerksamkeit widmete, erhielten nun auch die Zentralverwaltungen für Innere Verwaltung (DVdI) und für Justiz (DJV) weitreichende Kompetenzen. Sämtliche Fälle, die mutmaßlich 60 Vgl. Statistik bei Günter Wieland, Die Ahndung von NS-Verbrechen in Ostdeutschland 1945–1990. In: DDR-Justiz und NS-Verbrechen. Sammlung ostdeutscher Strafurteile wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen. Verfahrensregister und Dokumentenband. Bearb. im Seminarium voor Strafrecht en Strafrechtspleging „Van Hamel“ der Universität Amsterdam von C. F. Rüter, Amsterdam 2002, S. 11–99, hier 97. 61 Vgl. Martin Broszat, Siegerjustiz oder strafrechtliche „Selbstreinigung“. Aspekte der Vergangenheitsbewältigung der deutschen Justiz während der Besatzungszeit 1945– 1949. In: VfZ, 29 (1981), S. 477–544, hier 484. 62 Meyer-Seitz, Verfolgung, S. 50, mit Bezug auf Hilde Benjamin u. a., Zur Geschichte der Rechtspflege 1945–1949, Berlin (Ost) 1976, S. 215. 63 Meyer-Seitz, Verfolgung , S. 80. 64 Vgl. Meyer-Seitz, Verfolgung, S. 48.

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strafrechtliche Delikte oder die beiden schwersten Formalbelastungskategorien („Hauptschuldige“ bzw. „Belastete“) gemäß der bereits am 12. Oktober 1946 erlassenen Kontrollrats-Direktive Nr. 3865 erfüllten, waren von den Entnazifizierungskommissionen zur weiteren Ermittlung einer besonderen Abteilung der Kriminalpolizei zu übergeben. Dies galt jedoch nicht für die Inhaftierten der sowjetischen Speziallager sowie für jene Fälle, deren Aburteilung sich die sowjetische Besatzungsmacht weiterhin selbst vorbehielt, was regelmäßig bei mutmaßlichen NS-Verbrechen in den besetzten Gebieten der Fall war.66 Die K 5, die nach außen als eine Spezialabteilung der Kriminalpolizei firmierte und dem Vizepräsidenten der DVdI Kurt Wagner unterstand (wobei die Durchführung der Entnazifizierungskampagne jedoch bei Erich Mielke lag), war der Nukleus der späteren Staatssicherheit und wuchs bis Juni 1949 auf rund 1600 Mitarbeiter an. Zählte beispielsweise die K 5 in Sachsen Ende 1946 erst 163 Mitarbeiter, so waren es zwei Jahre später bereits 738.67 Die politische Polizei, die vor Ort von den sowjetischen Genossen angeleitet und kontrolliert wurde, entschied nicht nur selbständig über die Einleitung oder Einstellung eines Ermittlungsverfahrens, sondern übernahm mit der Erstellung der Anklageschrift zugleich staatsanwaltschaftliche Funktionen.68 Dem Staatsanwalt hingegen oblag nur mehr die Bestätigung des Haftbeschlusses und der Anklageschrift. Der Anpassung an sowjetische Gepflogenheiten entsprach auch, dass der Beschuldigte bzw. Angeklagte erst mit der Eröffnung der Hauptverhandlung einen Verteidiger hinzuziehen konnte. Das Personal der gesonderten 201-Strafkammern an den Landgerichten rekrutierte sich überwiegend aus dem Kreis besonders zuverlässiger Genossen, wobei die im Schnellverfahren ausgebildeten Volksrichter ein besondere Rolle spielten. Gleichwohl war Anfang 1948 noch eine gewisse Pluralität zu verzeichnen, die von der Besatzungsmacht durchaus gewünscht war. So gehörten von insgesamt 98 Richtern 55 der SED, 65 Direktive Nr. 38 des Alliierten Kontrollrats vom 12.10.1946 über Verhaftung und Bestrafung von Kriegsverbrechern, Nationalsozialisten und Militaristen und Internierung, Kontrolle und Überwachung von möglicherweise gefährlichen Deutschen. In: Amtsblatt des Alliierten Kontrollrats, Nr. 11 vom 31.10.1946, S. 184–212. Die Direktive ist amerikanischen Ursprungs und entspricht in ihren Belastungskategorien dem in der amerikanischen Zone im März 1946 eingeführten Gesetz zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus. 66 So bestimmte Ziffer 9c des grundlegenden Erlasses der DJV zur Durchführung des Befehls 201 vom 18. 9.1947: „Ergibt sich aus dem Untersuchungsmaterial, dass der Beschuldigte sich in dem von den Deutschen zeitweise besetzt gewesenen Gebiet eines der alliierten Staaten aufgehalten hat, so ist unabhängig davon, ob Beweismaterial für eine verbrecherische Tätigkeit des Beschuldigten in diesem Gebiet vorhanden ist oder nicht, das Verfahren zu einer weiteren Überprüfung an die örtlichen Organe der Militäradministration zu übergeben.“ Zit. nach Wieland, Ahndung von NS-Verbrechen, S. 33. 67 Vgl. Jens Gieseke, Die hauptamtlichen Mitarbeiter der Staatssicherheit. Personalstruktur und Lebenswelt 1950–1989/90, Berlin 2000, S. 57 f. 68 Vgl. Ziffer 9 der Ausführungsbestimmung Nr. 3 zum SMAD-Befehl Nr. 201 vom 16. 8. 1947. In: Rößler, Entnazifizierungspolitik, S. 153–158. Vgl. auch Meyer-Seitz, Verfolgung, S. 169 ff.

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12 der LDPD, 10 der CDU an, 21 waren parteilos. Von den Schöffen, die ebenfalls eine besondere Schulung erhielten, gehörten im November 1947 112 der SED, 58 der CDU, 51 der LDPD, 24 dem FDGB und 23 anderen Organisationen an. Von den eingesetzten Staatsanwälten waren Anfang 1948 46 Mitglieder der SED, zwei der CDU und zwei parteilos.69 Vor den Sonderstrafkammern wurden von September 1947 bis Ende 1950 (ohne Waldheimer Prozesse) insgesamt 8 321 Personen als NS-Täter verurteilt, davon fünf als Kriegsverbrecher, 2 405 als Hauptschuldige, 5 638 als Belastete und 273 als Minderbelastete. In Sachsen wurden bis zum 15. Dezember 1950 als Hauptschuldige 968 Personen und als Belastete 2 054 Personen rechtskräftig verurteilt. Die Zahl der Freisprüche und gerichtlichen Einstellungen ist bemerkenswert hoch und blieb bis Ende 1950 in etwa konstant. Insgesamt wurden von den 201-Strafkammern mehr als 1 500 Personen freigesprochen, weitere rund 3100 Verfahren vornehmlich aufgrund der Amnestie nach SMADBefehl Nr. 43 vom 18. März 1948 eingestellt.70 Von dieser Amnestie, die sich auf Freiheitsstrafen unter einem Jahr bezog, profitierten auch zu geringfügigen Strafen verurteilte Nationalsozialisten,71 nicht aber die ohne Gerichtsurteil Inhaftierten in den Speziallagern. An Strafen verhängten die 201-Strafkammern bis zum 30. September 1950 in 35 Fällen lebenslanges Zuchthaus und in 155 Fällen zeitige Zuchthausstrafen zwischen 10 und 15 Jahren. Zuchthausstrafen unter 10 Jahren wurden gegen 840 Verurteilte ausgesprochen, wobei diese Strafen rechtlich nur auf der Grundlage des Kontrollrats-Gesetz Nr. 10 ausgesprochen werden konnten. Die meisten Freiheitsstrafen lagen zwischen einem und drei Jahren Gefängnis. Dieses Strafmaß wurde bis zum 30. September 1950 gegen 3 660 Personen verhängt. Höhere Gefängnisstrafen als drei Jahre erhielten insgesamt 699 Verurteilte. Zu Gefängnis unter einem Jahr wurden 1 674 Personen verurteilt. Gegen 1 218 Verurteilte wurden ausschließlich nichtfreiheitsentziehende Sühnemaßnahmen wie Vermögenseinziehung oder berufsbeschränkende Maßnahmen verhängt. In dieser Zahl enthalten sind auch die Bewährungsstrafen, die gegen Minderbelastete verhängt wurden.72 Die durchaus differenzierte Strafzumessung rief seitens der SED wie der SMAD heftige Kritik hervor, die vor allem 1948 auf schärfere Urteile drängten. Der erhöhte politische Druck zeitigte allerdings nicht den gewünschten Erfolg, da selbst die parteipolitisch überformten 201-Strafkammern zu dieser Zeit noch weithin an dem tradierten Rechtsverständnis und einer differenzierten Beurtei-

69 Vgl. Meyer-Seitz, Verfolgung, S. 193, 196, 200. 70 Angaben nach Meyer-Seitz, Verfolgung, S. 231. Die Zahlen enthalten keine Verurteilungen nach Artikel III A III der Kontrollrats-Direktive Nr. 38, der sich auf Taten (NSPropaganda und Friedensgefährdung) nach dem 8. Mai 1945 bezog und vielfach die Verfolgung des politischen Gegners legitimierte. 71 Vgl. Meyer-Seitz, Verfolgung, S. 214 ff. 72 Angaben nach Meyer-Seitz, Verfolgung, S. 319.

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lung der NS-Belastung festhielten und drakonische Kollektivstrafen nach dem Vorbild der sowjetischen Militärtribunale ablehnten. Allerdings fällten auch die 201-Strafkammern in einem beachtlichen Umfang Urteile, die sich allein auf die Organisationszugehörigkeit – ohne den Nachweis einer individuellen Schuld – stützten. Bis Oktober 1949 verurteilten die Gerichte, wie eine interne DJV-Bilanz ausweist, insgesamt 3 037 Personen aufgrund einer „Kollektivschuld“: 1 055 wegen Zugehörigkeit zur SS, jeweils 41 wegen ihrer Tätigkeit für die Gestapo oder den SD, dazu 1163 SA-Führer und 737 politische Leiter der NSDAP.73 Diese Urteile auf Basis der Organisationszugehörigkeit stellten immerhin 40 Prozent aller bis dahin erfolgten Verurteilungen dar und wurden in späteren DDR-Statistiken und offiziellen Dokumentationen nicht mehr ausgewiesen. Den 7470 Verurteilungen standen im Oktober 1949 andererseits 1 228 Freisprüche und 2 498 gerichtliche Verfahrenseinstellungen gegenüber.74 Lässt man die Verurteilungen wegen Organisationszugehörigkeit außer Betracht, so entsprach der Umfang der Strafverfolgung von NS-Verbrechen durch ostdeutsche Gerichte in etwa jener in den Westzonen. Bis Ende 1949 wurden auf dem Gebiet der Bundesrepublik von deutschen Gerichten insgesamt 4 419 Personen rechtskräftig verurteilt, wobei die große Mehrzahl der Urteile in den Jahren 1948/49 gefällt wurde. 1950 leiteten die bundesdeutschen Justizbehörden nochmals 2 495 Ermittlungsverfahren ein, die zu 809 Verurteilungen führten. 1951 sank die Zahl der Verurteilungen auf 259, danach kam die Strafverfolgung bekanntlich nahezu zum Erliegen.75 Blickt man auf die Tätigkeit der regulären 201-Strafkammern – ohne die Strafexzesse der Ausnahmegerichte in Waldheim – wird man ihnen eine differenzierte Strafverfolgung von NS-Verbrechen auf Basis der alliierten Rechtsvorgaben nicht absprechen können. Auch die relativ hohe Anzahl von Freisprüchen und gerichtlichen Einstellungen kann als Indiz für die noch vorhandene Unabhängigkeit der Justiz gelten. Meyer-Seitz kommt in seiner rechtstatsächlichen Untersuchung denn auch zu dem Ergebnis, dass der SED trotz der personellen und strukturellen Umwälzungen der direkte Zugriff auf die Rechtssprechung nach Befehl 201 misslungen sei. Die „überwiegende Zahl der Urteile“ habe durchaus dem „Wortlaut und Geist der alliierten Normen“ entsprochen.76 Gleichwohl erfüllte der SMAD-Befehl Nr. 201 eine wichtige Funktion bei der Transformation des Justizwesens. Er führte erstmals weitgefasste Befugnisse für die politische Polizei ein, die nach Gründung der DDR de facto auf das Minis73 Vgl. Hermann Wentker, Justiz in der SBZ/DDR 1945–1953. Transformation und Rolle ihrer zentralen Institutionen, München 2001, S. 420 f.; Meyer-Seitz, Verfolgung, S. 279. 74 Meyer-Seitz, Verfolgung, S. 239, Anm. 1041. 75 Vgl. die Statistik zur bundesdeutschen Strafverfolgung von NS-Verbrechen bei Adalbert Rückerl, Die Strafverfolgung von NS-Verbrechen 1945–1978. Eine Dokumentation, Heidelberg 1979, S. 125. 76 Meyer-Seitz, Verfolgung, S. 346 f.

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Clemens Vollnhals

terium für Staatssicherheit übergingen. Ebenso leistete die Etablierung der gesonderten 201-Strafkammern mit ihrer gezielten Personalauswahl der politischen Strafjustiz Vorschub. So hatten die Kammern bereits bis Oktober 1949 auf Drängen der sowjetischen Besatzungsmacht und der ostdeutschen Innenverwaltung mehrere hundert Personen in völliger Umkehrung des Sinngehalts von Artikel III A III der Kontrollrats-Direktive Nr. 38 wegen politischer Gesinnungsdelikte („antikommunistische Hetze“ oder „Gefährdung des Friedens“) verurteilt.77 Diese Praxis sollte sich nach Gründung der DDR nahtlos fortsetzen, wobei nun als universell einsetzbarer Tatbestand der Artikel 6 („Boykotthetze“) der Verfassung hinzu kam. Ebenso blieb das Personal der 201-Strafkammern, die seit 1951 unter der Bezeichnung „1. große bzw. kleine Strafkammer“ firmierten, weiterhin für die politische Strafjustiz zuständig. Zum exemplarischen Vorgang, der der ostdeutschen Justiz das Rückgrat brach, entwickelte sich die Aburteilung der rund 3 400 Gefangenen der sowjetischen Internierungslager, die der DDR-Regierung im Januar 1950 übergeben und in das Zuchthaus Waldheim verbracht worden waren. Sie wurden von Ausnahmegerichten, die pro forma als 201-Kammern fungierten, in Waldheim in einer Prozessfarce sondergleichen abgeurteilt. Bei den in diesen Verfahren eingesetzten Richter und Staatsanwälte handelte es sich um besonders willfährige Justizfunktionäre, die eigens von einer hochrangigen ZK-Kommission ausgesucht und bestätigt worden waren. Als Vorgabe der Parteiführung galt die Anweisung: „Die Urteile müssen gerecht, jedoch hart sein. Sie dürfen keinesfalls niedriger ausfallen als die Urteile, die unsere Freunde bei gleichen Tatbeständen ausgeworfen haben. Es gilt, die Menschen, die von unseren Freunden bisher festgehalten wurden, auch weiterhin in Haft zu behalten, da sie unbedingte Feinde unseres Aufbaues sind. Würden die noch in Haft befindlichen, den deutschen Behörden zur Aburteilung übergebenen Menschen von unseren Freunden nicht als Feinde angesehen, wären sie freigelassen worden. Es gilt also, sie unter allen Umständen hoch zu verurteilen. Dabei darf keine Rücksicht genommen werden, welches Material vorhanden ist, sondern man muss die zu verurteilende Person ansehen. Urteile unter 10 Jahre dürfen nicht gefällt werden, wobei es heute unwichtig ist, ob diese Strafen auch verbüßt werden. Formale Gesichtspunkte dürfen dabei keine Rolle spielen.“78

So die Ausführungen Gustav Röbelens, des Vertreters des SED-Zentralsekretariats, bei der Einweisung der Richter am 18. April 1950. 77 Vgl. Meyer-Seitz, Verfolgung, S. 300 f.; Wentker, Justiz in der SBZ/DDR, S. 426. Der Artikel lautete: „Aktivist ist auch, wer nach dem 8. Mai 1945 durch Propaganda für den Nationalsozialismus oder Militarismus oder durch Erfindung und Verbreitung tendenziöser Gerüchte den Frieden des deutschen Volkes oder den Frieden der Welt gefährdet oder möglicherweise noch gefährdet.“ 78 Zit. nach Wolfgang Eisert, Die Waldheimer-Prozesse. Der stalinistische Terror 1950. Ein dunkles Kapitel der DDR-Justiz, Esslingen 1993, S. 65. Vgl. auch Wilfriede Otto, Die „Waldheimer Prozesse“. Historische, politische und juristische Aspekte im Spannungsfeld zwischen Antifaschismus und Stalinismus, Berlin 1993; Norbert Haase/Bert Pampel (Hg.), Die Waldheimer „Prozesse“ – fünfzig Jahre danach, Baden-Baden 2001.

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Beabsichtigte Strafen unter fünf Jahren mussten einer SED-Kommission vorgelegt werden, die vor Ort für permanenten Druck auf die Richter und Staatsanwälte sorgte. In den Verhandlungen, die mit Ausnahme von zehn Schauprozessen unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfanden, wurden keine Zeugen geladen, einen Verteidiger (einen Staatsanwalt als Offizialverteidiger) gab es nur, wenn ein Todesurteil verhängt werden sollte. Die Anklageschrift, die sich ausschließlich auf das zumeist dürftige, von sowjetischer Seite zugestellte Belastungsmaterial stützte, erhielten die Angeklagten nicht früher als 24 Stunden vor Prozessbeginn. Die Urteile entsprachen, wie gewünscht, der Praxis der sowjetischen Militärtribunale mit ihren stereotypen hohen Strafen: 32 Todesurteile, 146 x lebenslänglich, 1829 x 15 bis 25 Jahre, 916 x 10 bis 15 Jahre, 371 x 5 bis 10 Jahre und nur 14 Haftstrafen bis 5 Jahre. In 84 Fällen wurde das Verfahren wegen Verhandlungsunfähigkeit der Angeklagten vertagt.79 Zu Recht steht Waldheim als Synonym für eine politisch motivierte Terrorjustiz, die nicht der Aufklärung und Ahndung von NS-Verbrechen diente. Vielmehr sollte dieser Kotau im Kontext der ostdeutschen Staatsgründung die bedingungslose Loyalität der SED-Führung demonstrieren und mit maßlosen Verurteilungen im Nachhinein die Willkür der sowjetischen Internierungspraxis legitimieren. Mit diesem Justizskandal, der bis zuletzt nicht öffentlich eingestanden wurde, zog die SED-Führung auf ihre Weise den Schlussstrich unter ein finsteres Kapitel und trug damit maßgeblich zur Diskreditierung der NSStrafverfolgung bei. Zugleich flankierte die Aburteilung der angeblichen Schwerstverbrecher die Integrationspolitik gegenüber dem Heer der NS-Mitläufer, die für die neue Ordnung gewonnen werden sollten. Entgegen dem antifaschistischen Gründungsmythos ging in den folgenden Jahren auch in der DDR die Strafverfolgung von NS-Verbrechen kontinuierlich zurück: Von 331 Verurteilten 1951 auf 23 im Jahre 1955. Danach kam die Strafverfolgung nahezu zum Stillstand.80 Auch die SED propagierte mit der Staatsgründung den Kurs einer pragmatisch nach vorne gerichteten Wiederaufbaugesellschaft, die nicht mehr mit der konkreten Auseinandersetzung mit der NSVergangenheit belastet werden sollte – hierin waren sich in den fünfziger Jahren die Eliten und die Bevölkerung in beiden deutschen Teilgesellschaften durchaus einig.

79 Angaben nach dem internen Abschlußbericht für das ZK der SED vom 5. 7.1950. Zit. nach Falco Werkentin, Die Waldheimer „Prozesse“ – ein Experimentierfeld für die künftige Scheinjustiz unter Kontrolle der SED? In: Haase/Pampel (Hg.), Die Waldheimer „Prozesse“, S. 6–26, hier 20. Etwas höhere Angaben bei Possekel, Sowjetische Lagerpolitik, S. 98. 80 Vgl. die Statistik bei Wieland, Ahndung von NS-Verbrechen, S. 97. Zwischen 1957 und 1989 erfolgten lediglich 120 Verurteilungen. Zur späteren Entwicklung, die seitens der DDR primär propagandistischen Zwecken diente, vgl. Annette Weinke, Die Verfolgung von NS-Tätern im geteilten Deutschland. Vergangenheitsbewältigungen 1949–1969 oder: Eine deutsch-deutsche Beziehungsgeschichte im Kalten Krieg, Paderborn 2002.

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4.

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Resümee

Überblickt man die verschiedenen Handlungsfelder, so lässt sich weder ein langfristig geplantes Konzept noch eine in sich konsistente Politik feststellen. So folgten der umfassenden Verhaftungswelle, die nur in der Anfangsphase der Besatzungsherrschaft als Sicherheitsverwahrung zu rechtfertigen war, in den Speziallagern weder Maßnahmen zur politischen Überprüfung der Internierten im Zuge eines geordneten Entnazifizierungsverfahrens noch eingehende strafrechtliche Ermittlungen zur Aburteilung überführter NS- und Kriegsverbrecher. Trotz einer extrem hohen Todesrate, der rund ein Drittel von insgesamt 122 000 Internierten zum Opfer fiel, unternahm Moskau keine Anstalten zur Lösung des Problems, sondern beließ es bei einer Politik der NichtEntscheidung. Auch nach dem Erlass des SMAD-Befehls Nr. 201 wurden die Internierten weder in das Entnazifizierungsverfahren einbezogen noch den deutschen Gerichten zur Strafverfolgung überstellt. Erst Mitte 1948 erfolgte – parallel zum offiziellen Abschluss der Entnazifizierung – eine größere Entlassungswelle auf administrativer Basis, ohne dass die Lager jedoch selbst aufgelöst worden wären. Da die sowjetische Besatzungsmacht weiterhin untätig blieb, erbte das ungelöste Problem schließlich die neugegründete DDR. Auch im Bereich der politischen Säuberung verfolgte die SMAD keine stringente Politik, sondern überließ mangels zentraler Vorgaben das Verfahren den deutschen Auftragsverwaltungen, die damit zunächst über einen relativ großen Handlungsspielraum verfügten. Kennzeichnend für die sowjetische Politik war der sprunghafte Wechsel der Entnazifizierungspolitik, der zu einem mehrfachen Durchgang des Verfahrens und im Frühjahr 1948 zu seinem abrupten Abbruch führte. Dasselbe galt für die deutsche Strafverfolgung von NS- und Kriegsverbrechen, die in die Zuständigkeit der Länder fiel und von einer großen Rechtszersplitterung in materieller und formaler Hinsicht gekennzeichnet war. Trotz ihres zunächst geringen Umfangs zeigten sich hierbei durchaus beachtliche Ansätze einer eigenständigen und differenzierten Strafverfolgung. Ein größeres Interesse legte die sowjetische Besatzungsmacht erst im August 1947 mit dem SMAD-Befehl Nr. 201 zu Tage, der mit der erweiterten Zuständigkeit deutscher Gerichte vor allem das großzügige Amnestie- und Integrationsangebot gegenüber den NS-Mitläufern politisch abfedern sollte. Die verstärkte Strafverfolgung auf Basis der Kontrollrats-Direktive Nr. 38, die nur in der SBZ als echtes Strafgesetz angewandt wurde, blieb allerdings eine kurzfristige Kampagne, die 1950 im Desaster der Waldheimer Prozesse ihr Ende fand. Die sowjetische Strafverfolgung hingegen konzentrierte sich im Wesentlichen auf die schematische Aburteilung von Personen, denen mutmaßliche Verbrechen auf dem Gebiet der Sowjetunion zur Last gelegt wurden. Die stereotypen Urteile der im Geheimen tagenden Militärtribunale wie die Internierungspraxis entsprachen dem stalinistischen Repressionsmuster und diskreditierten von Anfang an jede glaubwürdige Aufarbeitung der NS-Verbrechen. Hinzu kam die

Internierung, Entnazifizierung und Strafverfolgung von NS-Verbrechen 247

frühzeitig einsetzende Verfolgung des politischen Gegners unter dem Deckmantel angeblicher nazistischer Umtriebe. Statt rechtsstaatlicher Prinzipien dominierten operative Ad-hoc-Entscheidungen und politische Nützlichkeitserwägungen, die nicht der Wiederherstellung des Rechtsstaates dienten, sondern ganz im Gegenteil das „Trauma einer andauernden Rechtsunsicherheit“81 speisten. Die sowjetische Politik folgte dem eingeübten diktatorischen Muster und konnte deshalb wohl auch keine Rücksicht auf die gravierenden politischen und psychologischen Auswirkungen nehmen, die eine solche Politik bei den Besetzten hervorrufen musste. Insofern konterkarierte sie damit auch den antifaschistischen Führungsanspruch der KPD/SED, die von der deutschen Bevölkerung primär als Handlanger einer feindlichen Besatzungsmacht wahrgenommen wurde. Dem vermochten die deutschen Kommunisten wenig entgegenzusetzen, da auch sie im Schatten der Besatzungsmacht ein diktatorisches Politikmodell verfolgten und die Entnazifizierung zur eigenen Machtdurchsetzung instrumentalisierten. Die Inkonsistenz der sowjetischen Politik und die politische Instrumentalisierung, die sich auf allen Handlungsfeldern beobachten lässt, untergruben die politisch-moralische Glaubwürdigkeit einer umfassenden Abrechnung mit der NS-Vergangenheit und verdeckten nur in der antifaschistischen Rhetorik, dass Entnazifizierung und Demokratisierung in der politischen und gesellschaftlichen Realität der sowjetischen Besatzungszone zwei verschiedene Ziele darstellten. Anders als in den Planungen der amerikanische Besatzungsmacht, die der politischen und justiziellen Abrechnung mit dem Nationalsozialismus eine außerordentliche Bedeutung zumaß und sie bei allem missionarischen Eifer unter den Bedingungen einer Besatzungsdiktatur mit einer geradezu skrupulösen Gewissenhaftigkeit umsetzte, war die Wiederherstellung des demokratischen Rechtsstaates keine politische Vorgabe, die die deutschlandpolitischen Planungen der Sowjetunion in irgendeiner Weise bestimmt hätte. Sie war auch nicht in der politischen Kultur der deutschen Kommunisten verankert, wie die Moskauer Exilplanungen der KPD ausweisen.82 Insofern war das Ergebnis durchaus folgerichtig.

81 Possekel, Sowjetische Lagerpolitik, S. 17. 82 Vgl. „Nach Hitler kommen wir“. Dokumente zur Programmatik der Moskauer KPDFührung 1944/45 für Nachkriegsdeutschland. Hg. von Peter Erler, Horst Laude und Manfred Wilke, Berlin 1994.

Zur Entnazifizierung in der sowjetischen Besatzungszone in Österreich (am Beispiel Niederösterreichs) Klaus-Dieter Mulley Während nicht nur die Entnazifizierung, sondern auch andere Maßnahmen der SMAD in der sowjetisch besetzten Zone Deutschlands als „Instrumente der Diktaturdurchsetzung“ interpretiert werden,1 können diese für den ebenfalls sowjetisch besetzten östlichen Teil Österreichs als Unterstützung zum Wiederaufbau der demokratischen Republik gesehen werden.2 Wie erst unlängst erneut bestätigt wurde, hatte Moskau im Unterschied zu diversen Phantastereien österreichischer Kommunisten kein Interesse an einer Teilung des Landes.3 Stalin ging bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt von einer Restauration der österreichischen Republik aus,4 welche allenfalls wirtschaftspolitisch an die sowjetisch dominierte Einflusssphäre gebunden werden sollte. Die von ihm favorisierte Einsetzung des Sozialdemokraten, ehemaligen „ersten Staatsgründers“ und Nationalratspräsidenten Karl Renner, der durch sein Votum zum „Anschluss“ an das nationalsozialistische Deutschland 1938 desavouiert war, sowie die damit verbundene Regierungsbildung durch Altpolitiker der beiden großen politischen Lager der Ersten Republik mit Ergänzung durch Vertreter der Kommunistischen Partei (KPÖ) und seine Weisung den administrativen Wiederaufbau ohne direkte Eingriffe der sowjetischen Truppen zu unterstützen, stellten den Rahmen für die Entnazifizierungsmaßnahmen der bis September 1945 nur von den Sowjets anerkannten österreichischen Regierung dar. Die folgenden kurzen und weitgehend überblicksartigen Bemerkungen skizzieren den Ablauf 1

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Clemens Vollnhals, Politische Säuberung als Herrschaftsinstrument: Entnazifizierung in der Sowjetischen Besatzungszone. In: Diktaturdurchsetzung. Instrumente und Methoden der kommunistischen Machtsicherung in der SBZ/DDR 1945–1955. Hg. von Andreas Hilger, Mike Schmeitzner und Ute Schmidt, Dresden 2001; Clemens Vollnhals, Entnazifizierung. Politische Säuberung und Rehabilitierung in den vier Besatzungszonen 1945–1949, München 1991. Vgl. die Beiträge und Dokumente in Stefan Karner/Barbara Stelzl-Marx (Hg.), Die Rote Armee in Österreich. Sowjetische Besatzung 1945–1955. Beiträge, Graz 2005; diess. /Alexander Tschubarjan (Hg.), Die Rote Armee in Österreich. Sowjetische Besatzung 1945–1955. Dokumente, Graz 2005. Peter Ruggenthaler, Warum Österreich nicht sowjetisiert werden sollte. In: Karner / Stelzl-Marx (Hg.), Die Rote Armee in Österreich. Beiträge, S. 61–87. Vgl. etwa das Telegramm Molotovs an Majskij über eine Rede Stalins vom 6.11.1941 betreffend Österreich. In: ebd., Dokumente, S. 27.

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der administrativen Entnazifizierung mit Blick auf die sowjetische Einflussnahme im Bundesland Niederösterreich,5 welches als östlicher Teil Österreichs bis zum Abschluss des Staatsvertrages 1955 von den Sowjets besetzt blieb.6

I. Bedingt durch die „austrofaschistische“ Vorgeschichte7 waren die Rahmenbedingungen für die Entnazifizierung in Österreich bekanntlich andere als in Deutschland: Mit der Ausschaltung des Nationalrates im März 1933 versuchten antidemokratische Politiker der Christlichsozialen Partei 1933 einen „christlichen Ständestaat“ zu errichten, der sich einerseits gegen „Bolschewismus und Sozialismus“ und andererseits gegen die Agitation und zunehmende Akzeptanz der bereits in Landtagen vertretenen Nationalsozialisten richtete. Bereits am 31. Mai 1933 wurde die KPÖ und nach der Niederschlagung des Aufstandes des sozialdemokratischen Schutzbundes am 12. Februar 1934 die Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP) verboten. Die NSDAP wurde in Österreich am 19. Juni 1933 verboten, nachdem Verhandlungen mit Vertretern der Nationalsozialisten scheiterten und es zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen austrofaschistischen und nationalsozialistischen Aktivisten kam. Durch einen dilettantisch ausgeführten Putschversuch der illegalen SS wurde am 27. Juli 1934 der christlichsoziale Bundeskanzler Engelbert Dollfuß von Nationalsozialisten ermordet. Die Jahre bis zum „Anschluss“ des Jahres 1938 waren von der Suche nach einem „Modus vivendi“ mit dem auf Österreich immer stärker Druck ausübenden Hitler-Deutschland geprägt. Die so genannte nationalsozialistische „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten erfolgte im März 1938 in Österreich durch die illegalen Nationalsozialisten, die Unterwanderung des „Ständestaates“ mit NS-Parteigängern und letztlich durch den Einmarsch deutscher Truppen.8 Darum sollten später im Rahmen der administrativen Entnazifizierung die Bestrafung der so genannten „Illegalen“ eine große Rolle spielen. 5

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Die vorliegende Arbeit ist weitgehend eine Zusammenfassung meiner früheren Arbeiten: Klaus-Dieter Mulley, Von der „Entnazifizierung“ zur „Entregistrierung“ – Bemerkungen zur Entnazifizierung in Niederösterreich 1945–1958. In: Ernst Bezemek/Willibald Rosner (Hg.), Niederösterreich 1945 –Südmähren 1945, Wien 1996; ders., Zur Administration der Entnazifizierung in Niederösterreich. In: Walter Schuster/Wolfgang Weber (Hg.), Entnazifizierung im regionalen Vergleich, Linz 2004, S. 267–302. Vgl. Klaus-Dieter Mulley, Befreiung und Besatzung. Aspekte sowjetischer Besatzung in Niederösterreich 1945–1948. In: Österreich unter alliierter Besatzung 1945–1955. Hg. von Alfred Ableitinger, Siegfried Beer und Eduard G. Staudinger, Wien 1998, S. 361– 400. Vgl. Emmerich Talos/Wolfgang Neugebauer (Hg.), Austrofaschismus. Politik – Ökonomie – Kultur 1933–1938, Wien 2005. Gerhard Botz, Zwischen Akzeptanz und Distanz. Die österreichische Bevölkerung und das NS-Regime nach dem „Anschluss“. In: Gerald Stourzh/Brigitta Zaar (Hg.), Österreich, Deutschland und die Mächte. Internationale und österreichische Aspekte des „Anschlusses“ vom März 1938, Wien 1990, S. 429.

Zur Entnazifizierung in der sowjetischen Besatzungszone in Österreich 251

Die Jahre der nationalsozialistischen Herrschaft 1938 bis 1945 waren geprägt einerseits von einer sehr weitgehenden Akzeptanz des NS-Regimes durch die überwiegende Mehrzahl der Österreicher, teils durch eine Radikalisierung der nationalsozialistischer Maßnahmen, andererseits aber auch durch vor allem kommunistischen und katholischen Widerstand. Während Tausende Österreicher exiliert, in Konzentrationslager verschleppt und im Kampf um die Freiheit hingerichtet wurden, trugen ebenso viele zur Aufrechterhaltung der NSHerrschaft bei.9

II. Nachdem am 29. März 1945 Einheiten der 3. Ukrainischen Front bei Klostermarienberg die Grenze des (damaligen) Großdeutschen Reiches überschritten und österreichischen Boden betraten, erging vom Kriegsrat der Armee am 4. April 1945 ein Aufruf an die ihm unterstellten Truppenverbände,10 in welchem mit Bezugnahme auf die „Moskauer Deklaration“11 des Jahres 1943 festgestellt wurde, dass die Rote Armee nicht gegen die Bevölkerung Österreichs, sondern „gegen die deutschen Okkupanten“ kämpfe. Wörtlich heißt es: „Wenn Ihr erbarmungslos gegen die deutschen Unterdrücker vorgeht, dürft Ihr der friedlichen österreichischen Bevölkerung kein Leid zufügen.“ In Bezugnahme auf die NS-Propaganda wurde – was von nun ab Leitlinie der Sowjets in der Behandlung der „NS-Problems“ in Österreich werden sollte – in dem von Tolbuchin, Želtov und Lajok unterzeichneten Aufruf12 festgestellt: „Die Hitlerfa9

Vgl. NS-Herrschaft in Österreich. Hg. von Emmerich Talos, Ernst Hanisch und Wolfgang Neugebauer, Wien 1988, sowie die geänderte Neuauflage Wien 2000. 10 Der Aufruf ist abgedruckt in UdSSR – Österreich 1938–1979. Dokumente und Materialien. Hg. vom Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der UdSSR, Moskau 1980, S. 16 f. Die folgenden Zitate aus diesem Dokument. 11 Die „Deklaration über Österreich“ ist Anlage 6 zum Geheimprotokoll der vom 19.– 30.10.1943 stattgefundenen Moskauer Konferenz der Außenminister der UdSSR, der USA und Großbritannien. Die Alliierten kamen darin überein, dass Österreich das „erste freie Land, das der typischen Angriffspolitik Hitlers zum Opfer gefallen ist [...] von deutscher Herrschaft befreit werden soll“. Der „Anschluss“ wurde für null und nichtig erklärt, die Absicht kundgetan, „ein freies, unabhängiges Österreich wiederhergestellt zu sehen“, wobei – gleichsam als Unterstützung der österreichischen Widerstandsbewegungen – Österreich ob seiner Teilnahme am Krieg an der Seite Hitler-Deutschlands an seine diesbezügliche Verantwortung erinnert und angekündigt wird, dass „anlässlich der endgültigen Abrechnung“ darauf Bedacht genommen werde, „wie viel es selbst zu seiner Befreiung beigetragen haben wird“. Der Text der „Moskauer Deklaration“ wurde u. a. in der Pravda vom 2.11.1943 veröffentlicht (die hier verwendeten Zitate sind aus dieser sowjetischen Fassung übernommen. UdSSR – Österreich 1938–1979, S. 15) und in der „Proklamation über die Selbständigkeit Österreichs“ vom 27. 4.1945 (StGBl. 1 vom 1. 5.1945) zitiert. 12 Marschall Fedor I. Tolbuchin war Befehlshaber der Truppen der 3. Ukrainischen Front, Generaloberst Aleksej S. Želtov Mitglied des Kriegsrates und V. Lajok Generalmajor der Rückwärtigen Dienste der 3. Ukrainischen Front.

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schisten verbreiten auch Gerüchte unsere Armee würde alle Mitglieder der nazistischen Partei vernichten. Das ist Lüge! Mit dem Einzug der Roten Armee werden alle nazistischen Organisationen aufgelöst, doch die einfachen Mitglieder der Nationalsozialistischen Partei werden nicht angerührt, wenn sie sich gegen die sowjetischen Truppen loyal verhalten.“ Dieser Text wurde auch in einem zwei Tage später vom Befehlshaber der 2. Ukrainischen Front, Marschall Rodion Ja. Malinovskij, und Mitglied des Kriegsrates, Generalleutnant A. Tevčenkov, veröffentlichten Aufruf des Kriegsrates der 2. Ukrainischen Front an die Bevölkerung Österreichs13 und in dem bekannten Aufruf Tolbuchins „an die Bevölkerung Wiens“14 sinngemäß verwendet und Bestandteil des Befehles Nr. 1, der von den sowjetischen Ortskommandanturen plakatiert wurde.15 Diese Anweisungen folgten einem Befehl Stalins vom 2. April 1945, in dem es unter anderem hieß, „zu widerlegen sind Gerüchte, dass die Rote Armee alle Mitglieder der NSDAP vernichtet. Es ist klar zu machen, dass die NSDAP aufgelöst wird, einfache NS-Mitglieder jedoch nicht behelligt werden, wenn sie gegenüber den sowjetischen Truppen Loyalität bekunden.“16 Die Sowjets gaben damit – im Unterschied zu den anderen Alliierten, die detaillierte Entnazifizierungsvorschriften erließen17 und selbst begannen Maßnahmen zur Entnazifizierung zu treffen18 – ihre Absicht bekannt, die „einfachen Mitglieder der NSDAP“ nicht zu verfolgen, forderten aber indirekt eine scharfe Bestrafung der NS-Kriegsverbrecher. Sie überließen die Lösung des „Naziproblems“ der sich in den folgenden Wochen bildenden provisorischen österreichischen Regierung und beschränkten sich darauf, Berichte über den Fortschritt der Entnazifizierung anzufordern, weitgehend unkoordiniert einzelne Personen zu verhaften, zum Arbeitseinsatz für die Armee zu verpflichten, teilweise auch für einige Zeit in Haft zu setzen oder in die Sowjetunion abzutransportieren. Ihnen ging es vor allem darum, jene Österreicher festzustellen, von denen sie annahmen, dass sie gegen die Rote Armee vorgegangen waren. Offenbar infolge des Fehlens geeigneter sowjetischer Verwaltungsbeamter und 13 Der Aufruf wurde u. a. in der Pravda am 9. 4.1945 veröffentlicht und ist abgedruckt in UdSSR – Österreich 1938–1979, S. 20 f. 14 Das Dokument, welches bereits in der Zeitschrift Kommunist (Nr. 4 von 1975, S. 66– 67) veröffentlicht wurde, ist abgedruckt in UdSSR – Österreich 1938–1979, S. 18. 15 Wilfried Aichinger, Sowjetische Österreichpolitik 1943–1945, Wien 1977, S. 240 f., sowie den Faksimile-Abdruck S. 420 f. 16 Direktive der Stavka des Oberkommandos Nr. 11055 an die Oberbefehlshaber der Truppen der 2. und 3. Ukrainischen Front über einen Aufruf an die Bevölkerung Österreichs vom 2. 4.1945. In: Karner/Stelzl-Marx (Hg.), Die Rote Armee in Österreich. Dokumente, S. 75–77. 17 Die einschlägigen Dokumente sind abgedruckt in: Das Nationalsozialistengesetz. Das Verbotsgesetz 1947. Hg. von Ludwig Viktor Heller, Edwin Loebenstein und Leopold Werner, Wien 1948, S. III/49 ff. 18 Vgl. dazu Schuster / Weber (Hg.), Entnazifizierung im regionalen Vergleich; Robert Knight, Britische Entnazifizierungspolitik 1945–1949, und Oliver Rathkolb, U.S.-Entnazifizierung in Österreich zwischen kontrollierter Revolution und Elitenrestauration (1945–1949). In: Zeitgeschichte, 11 (1984) H. 9/10, S. 287 ff. und 302 ff.

Zur Entnazifizierung in der sowjetischen Besatzungszone in Österreich 253

der Schwierigkeit, die von Österreichern begangenen Verbrechen gegen die sowjetische Zivilbevölkerung, Kriegsgefangenen und nach Österreich verschleppte Zwangsarbeiter innerhalb kurzer Zeit aufzuarbeiten, kam es – sieht man von der Verschleppung und Aburteilung von rund 1700 Österreichern, die allerdings nur zum geringen Teil mit Entnazifizierung zu tun hatten, ab – nur zu geringen Eingriffen in die österreichische Entnazifizierungspraxis.19 Eine „illegale“ NSDAP-Mitgliedschaft, wie sie im Verbotsgesetz 1945 definiert wurde, war für die Sowjets ohne Belang.20 Erst später, nach Konkretisierung der Entnazifizierungsmaßnahmen durch die Alliierten in den Potsdamer Beschlüssen21 und nach der Konstituierung der Alliierten Kommission, nahmen die Sowjets eine zunehmend restriktivere Haltung auch gegenüber den von der österreichischen Regierung aufgrund des Verbots- und Kriegsverbrechergesetzes gesetzten Maßnahmen ein, übten Kritik an den österreichischen Behörden und forderten laufend Berichte über den Fortgang der Entnazifizierungsmaßnahmen an.22

III. Zweifellos gehörte die Lösung des so genannten „Naziproblems“ zu den vordringlichsten Aufgaben der sich am 27. April 1945 in Wien konstituierenden Regierung. Dies erwarteten nicht nur die Befreier, auf deren Wohlwollen die vorderhand nur auf den Osten Österreichs beschränkte Regierung in ihrer Handlungsfähigkeit angewiesen war, sondern auch ein Großteil der Bevölkerung. Musste doch letztere in den Wochen und Tagen vor dem Einmarsch der sowjetischen Truppen mit ansehen, wie die lokalen NS-Eliten in den Westen Österreichs flüchteten, während sie unmittelbar davor noch Durchhalteparolen ausgegeben, Flüchtende verfolgt und durch unsinnige Anordnungen die Aufrechterhaltung des nationalsozialistischen Gewaltregimes propagiert hatten. Insofern können die genannten Übergriffe auf das Eigentum ehemaliger Nationalsozialisten auch als Ausdruck der von breiten Teilen der Bevölkerung gewünschten raschen und konsequent durchzuführenden Abrechnung mit den nationalsozialistischen Herrschaftsträgern angesehen werden. Karl Renner, der Anfang April von den Sowjets in Gloggnitz aufgegriffen und mit der Rekonstruktion des Staates betraut wurde, dachte vorerst an Vergeltung: Die Nationalsozialisten sollten jenem Ausnahmerecht unterstellt werden, welches sie selbst gegen die Bevölkerung in den Jahren 1938 bis 1945 ange19 Barbara Stelzl-Marx, Entnazifizierung in Österreich: die Rolle der sowjetischen Besatzungsmacht. In: Schuster / Weber (Hg.), Entnazifizierung im regionalen Vergleich, S. 431–454. 20 Sicherheitsdirektion an Staatsamt des Inneren vom 13. 8.1945 (NÖLA, L.A.I/2 ‚Alliierte Kontrollkommission‘ Sektion Russland, Band I). 21 Teilweise abgedruckt in: Das Nationalsozialistengesetz. Das Verbotsgesetz 1947, S. III/49. 22 Stelzl-Marx, Entnazifizierung in Österreich, S. 448.

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wandt hatten, wogegen die Opfer des Nationalsozialismus vom Staat ausgezeichnet werden sollten. Während in der „Proklamation über die Selbständigkeit Österreichs“ vom 27. April 194523 – nicht nur allein aus außenpolitischen Gründen, sondern weil es zu einem nicht geringen Teil dem Selbstverständnis der sich nun wieder an der Spitze des Landes befindenden alten Eliten entsprach – die „Opferrolle“ des durch die Annexion 1938 „macht und willenlos“ gemachten österreichischen Volkes betont und ihr Befreiungsbeitrag von vornherein als „bescheiden“ in Aussicht gestellt wurde, ging Renner in der Regierungserklärung24 vom gleichen Tag auf das „Naziproblem“ ein. Er führte im Einvernehmen mit allen Mitgliedern des Kabinettsrates25 aus: „Nur jene, welche aus Verachtung der Demokratie und der demokratischen Freiheiten ein Regime der Gewalttätigkeit, des Spitzeltums, der Verfolgung und Unterdrückung über unserem Volke aufgerichtet und erhalten, welche das Land in diesen abenteuerlichen Krieg gestürzt und es der Verwüstung preisgegeben haben und es noch weiter preisgeben wollen, sollen auf keine Milde rechnen können. Sie werden nach dem selben Ausnahmerecht behandelt werden, das sie selbst den anderen aufgezwungen haben und jetzt auch für sich selbst für gut befinden sollen.“ Ähnlich den Aufrufen der Sowjets pardonierte Renner die „kleinen Nazis“ und stellte ihnen gleichsam Straffreiheit in Aussicht: „Jene freilich, die nur aus Willensschwäche, infolge ihrer wirtschaftlichen Lage, aus zwingenden öffentlichen Rücksichten wider innerer Überzeugung und ohne an den Verbrechen der Faschisten teilzuhaben, mitgegangen sind, sollen in die Gemeinschaft des Volkes zurückkehren und haben somit nichts zu befürchten.“ Entsprachen diese politischen Grundsätze auch der Überzeugung der drei politischen Parteien, so stellten sich bei der legislativen Festsetzung doch eine Fülle von Schwierigkeiten ein. Der Vorschlag Renners, das NS-Recht für Nationalsozialisten in Kraft zu lassen, erwies sich als nicht praktikabel. Andererseits dachte man damals – als das ganze Ausmaß der NS-Verbrechen und die tatkräftige Mitarbeit der Österreicher zumindest den handelnden Personen nur bruchstückhaft bekannt gewesen sein konnte – vor allem an die Ahndung jener hochverräterischen Tätigkeit der Nationalsozialisten vor 1938, die die Erringung der NS-Herrschaft im Lande erst ermöglicht hatte. Es war – nach eigenen Aussagen – Adolf Schärf, der sich mit der legislativen Umsetzung beschäftigte und ein „Vergeltungsgesetz“ ausarbeitete, welches zwischen der Masse der Mitläufer, den „Illegalen“ und den „qualifiziert Illegalen“ unterschied: Die Mitläufer sollten in besonderen Listen ohne besondere Rechtsfolgen verzeichnet werden, die „Illegalen“ als Gesamtgruppe ex lege bedingt verurteilt und die „qualifizierten Nationalsozialisten“ Verfahren unterzogen werden, deren Urteile bestimmte Sühnefolgen nach sich ziehen sollten. Robert Knight, der diesem Plan keine 23 StGBl. Nr. 1/1945. 24 Die beiden folgenden Zitate nach der Regierungserklärung, StGBl. Nr. 3/1945. 25 Adolf Schärf betonte dieses Einvernehmen in seiner Darstellung: Zwischen Demokratie und Volksdemokratie. Österreichs Einigung und Wiederaufrichtung im Jahre 1945, Wien 1950, S. 99 f.

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besondere Bedeutung zumisst und pauschal meint, der österreichischen Gesellschaft hätten 1945 ganz allgemein „viele gesellschaftliche und geistige Voraussetzungen für eine Bewältigung mit der Erbschaft des NS-Regimes“ gefehlt,26 ist insofern zu widersprechen, als gerade im Sommer 1945 – trotz der fortwährenden Übergriffe von Soldaten der Roten Armee, Kriegsgewinnlern und einzelnen Banden – die Empörung über die Nationalsozialisten und ihr Regime wohl am greifbarsten war, nachdem die vielfach erstaunte Öffentlichkeit vor allem durch die Presse nach und nach mit Meldungen über NS-Verbrechen konfrontiert wurde. Kurz: Das, was der/die Einzelne über das NS-Regime wusste und insbesonders erahnte, bisher allerdings bewusst verdrängt hatte, präsentierte sich als erschreckende Wahrheit.27 Schärfs Vorschlag hätte auch dazu führen können, durch wenige, aber eindrucksvolle Schauprozesse28 sowohl die Phase des Hochverrats in Erinnerung zu rufen und die Mitarbeit an der Aufrechterhaltung und Durchführung des NS-Regimes – entgegen dem vielfach erlebten Bewusstsein – als Kollaboration erkennen zu helfen.29 Durch die im Schärf-Entwurf30 vorgesehene Registierung aller Nationalsozialisten ohne direkte Rechtsfolgen wäre auch jene Grundlage geschaffen worden, auf die Behörden bei bestimmten Tatbeständen hätten zurückgreifen können. Der von Schärf im Kabinettsrat am 30. April 1945 vorgelegte Entwurf wurde nicht angenommen. Wie aus den stenografischen Notizen hervorgeht, gab es zu viele Einwände: So etwa wurde die poena ex lege für die „Illegalen“ in Frage gestellt, Leopold Figl machte auf die „Parteianwärter“ aufmerksam, die „oft ärger als Illegale“ gewesen seien, die KPÖ forderte eine rasche Bestrafung der Hauptverbrecher und die Heranziehung von Nationalsozialisten zur Zwangsarbeit.31 Bei der zweiten Beratung des noch immer als „Vergeltungsgesetz“ bezeichneten „Verbotsgesetzes“ stellte Johann Koplenig (KPÖ) den Antrag auf drei Monate Zwangsarbeit für jeden Registrierungspflichtigen und auf Beschlagnahme des Vermögens flüchtiger Nationalsozialisten.32 Einvernehmlich wurde der Beginn 26 Robert Knight, Kalter Krieg. Entnazifizierung und Österreich. In: Verdrängte Schuld, verfehlte Sühne. Entnazifizierung in Österreich. Hg. von Sebastian Meissl, Klaus-Dieter Mulley und Oliver Rathkolb, Wien 1985, S. 41. 27 Vgl. die Berichterstattung der österreichischen Tageszeitungen, insbesondere des „Neuen Österreich“ im Sommer und Frühherbst 1945. 28 Gerhard Botz hat dies bei einem Symposium im März 1985 als mögliche Option erwähnt. 29 Durch den Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg vom 14.11.1945–1.10.1946 wurde Deutschland eindrucksvoll mit der Realität der NS-Vernichtungsmaschinerie konfrontiert. Über den Prozess wurde selbstverständlich auch in der österreichischen Presse berichtet, allerdings mit eindeutiger Schuldabwehr und -zuweisung auf „die Deutschen“. Eine Arbeit, die die österreichische Berichterstattung über Nürnberg zum Inhalt hat, ist leider noch ein Desiderat. 30 Schärf, Zwischen Demokratien, S. 102. 31 Protokolle des Kabinettsrates der Provisorischen Regierung Karl Renner 1945. Hg. von Gertrude Enderle-Burcel, Rudolf Jerabeck und Leopold Kammerhofer, Band 1, Wien 1995, S. 10. 32 Ebd., S. 17.

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der „Illegalität“ mit dem 1. Juli 1933 bestimmt. Am 8. Mai 1945 wurde dann das – gegenüber dem Schärf-Vorschlag in der Grundidee veränderte – „Verbotsgesetz“ verabschiedet, wobei Ernst Fischer (KPÖ) die baldige Beschlussfassung über ein NS-Schwerstverbrechergesetz forderte. Letzterem wurde mit der Erlassung des „Kriegsverbrechergesetzes“ am 26. Juni 1945 entsprochen.33

IV. Nachdem die von Staatskanzler Karl Renner gebildete Regierung und die Niederösterreichische Landesregierung von den Sowjets noch im April und Mai 1945 anerkannt worden waren, beschränkte sich die sowjetische Besatzungsmacht überwiegend auf die Überwachung der von der österreichischen Administration gegen die ehemaligen Nationalsozialisten gesetzten Maßnahmen. Während für die Zeit von Kriegsende bis zum 1. April 1946 von einer „autonomen Phase der alliierten Entnazifizierung“ in Hinblick auf die Maßnahmen der drei westlichen Alliierten gesprochen werden kann,34 traf dies für die sowjetisch besetzte Zone nicht zu. Weniger deshalb, weil – wie Stiefel zu Recht vermutete – „die meisten wichtigen Nationalsozialisten sich vor der russischen Besatzung in den Westen abgesetzt hatten“,35 sondern weil die politische und administrative Selbstverwaltung durch eine österreichische Regierung Bestandteil des Besatzungskonzepts der Sowjets darstellte. In der Tat hatten sich viele Nationalsozialisten in den Westen abgesetzt, doch kehrten nicht wenige bereits im Laufe des Sommer 1945, als die administrativen Entnazifizierungsmaßnahmen anliefen, wieder in ihre Heimat zurück. Es ist denn auch unzutreffend, wenn Stiefel meint, dass sich durch die Flucht und Abwesenheit vieler Nationalsozialisten „das Entnazifizierungsproblem zum Teil von selbst löste“. Zahlreiche Einzelbeispiele aus den Berichten der Sicherheitsdirektion zeigen vielmehr, dass regional führende Nationalsozialisten bereits unmittelbar nach ihrer Rückkehr verhaftet wurden. So etwa wurde der Kreisbildstellenleiter des Kreises Korneuburg, der in den letzten Kriegstagen in Groß-Rußbach die Bevölkerung unter Gewaltandrohung zum Widerstand gegen die Sowjets zu mobilisieren suchte, unmittelbar nach seiner Rückkehr, im Rahmen derer er „die Stimmung zu erforschen“ suchte, festgenommen und an das Bezirksgericht überstellt.36 Zwar beschränkte sich die Besatzungsmacht großteils auf die Anforderung von detaillierten Berichten über den Fortschritt aller gegen die Nationalsozialisten getroffenen Maßnahmen, griff jedoch darüber hinaus – allerdings auch 33 Verfassungsgesetz vom 26. 6.1945 über Kriegsverbrechen und andere nationalsozialistische Untaten (Kriegsverbrechergesetz), StGBl. Nr. 32/1945. 34 Dieter Stiefel, Entnazifizierung in Österreich, Wien 1981, S. 25. 35 Ebd., S. 33. 36 Sicherheitsdirektion NÖ an Staatsamt für Inneres G. D. 2 vom 13. 8.1945 (NÖLA, Konvolut Alliierte Kontrollkommission, Zl. 390).

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lokal unterschiedlich –, scheinbar unkoordiniert und vielfach von den Befindlichkeiten der jeweiligen Orts- oder Gebietskommandanten abhängig, mit punktuellen, oft nicht nachvollziehbaren Verhaftungen und Befragungen in den Entnazifizierungsvorgang ein.37 Nach den Angaben Stiefels38 wurden von den Sowjets bis zum September 1946 insgesamt 861 Verhaftungen außerhalb Wiens durchgeführt, neueste Forschungen sprechen von 650 sowjetischen Verhaftungen in den Jahren 1945 bis 1955 in Niederösterreich.39 Von Abteilungen der sowjetischen Geheimpolizei GPU wurden oft wahllos und auch auf Grund von Denunziationen Verhaftungen vorgenommen. Die Verhafteten wurden Verhören unterzogen und fallweise auch interniert bzw. in die Sowjetunion abtransportiert.40 Die Bezirkshauptmannschaft Waidhofen an der Thaya meldete, dass vom NKWD wiederholt nationalsozialistische Funktionäre in kurzfristigen Gewahrsam genommen wurden. Auf die Frage des Gendarmeriebeamten, warum das NKWD inhaftierte österreichische Nationalsozialisten so rasch wieder in Freiheit setze, erklärte ein Offizier des NKWD in Groß-Siegharts, dass in jedem einzelnen Falle die Untersuchung nur in der Richtung geführt werde, ob der betreffende Nationalsozialist gegen Russland gearbeitet habe. Stelle sich heraus, dass dies nicht der Fall sei, dann habe das NKWD kein weiteres Interesse an der Verfolgung des Betreffenden. Ein staatsfeindliches Vorgehen gegen Österreich vor dem Jahre 1938 sei für die „Russen“ ohne Belang.41 Auch der Kommandant der sowjetischen Grenzpolizei in Gmünd erklärte gegenüber dem Sicherheitsdirektor, dass es nur darum gehe, „versteckte Wehrmachtsangehörige“ auszuforschen bzw. jene zu verwarnen, die diesen Unterschlupf gewähren würden.42 Zum Teil wurden allerdings auch ehemalige Nationalsozialisten, wie etwa der Leiter des Wehrmeldeamtes Gmünd, den tschechischen Behörden zur Überprüfung ihrer Angaben und zur Feststellung eventueller Kriegsverbrechen übergeben.43 Diese Eingriffe der Sowjets wurden von Teilen der Bevölkerung oft zur Denunziation missliebiger Mitbürger genützt. So soll allein die Bezeichnung „Fa37 Vgl. Klaus-Dieter Mulley, Die Rote Armee in Niederösterreich. Ein ambivalentes Geschichtsbild. In: Karner/Stelzl-Marx (Hg.), Die Rote Armee in Österreich. Beiträge, S. 469–486. 38 Stiefel, Entnazifizierung, S. 33. 39 Harald Knoll/Barbara Stelzl-Marx, Sowjetische Strafjustiz in Österreich. Verhaftungen und Verurteilungen 1945–1955. In: Karner / Stelzl-Marx (Hg.), Die Rote Armee in Österreich. Beiträge, S. 274–322. 40 Vgl. etwa Sicherheitsdirektion NÖ, Amtserinnerung vom 4. 9.1945 (NÖLA, Konvolut Alliierte Kontrollkommission). Bericht des ehemaligen Nationalrates Manhalter aus Pitten, dass ein Gendarmerieinspektor und eine Frau aus Pitten von den Sowjets verschleppt wurden. 41 Sicherheitsdirektion NÖ an Staatsamt für Inneres G. D. 2 vom 13. 8.1945 (NÖLA, Konvolut Alliierte Kontrollkommission, Zl. 814). 42 Sicherheitsdirektion NÖ Bericht vom 25. 8.1945 (NÖLA, Konvolut Alliierte Kontrollkommission). 43 Ebd.

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schist“ oftmals genügt haben, um eine Person in sowjetischen Gewahrsam mit für den Betroffenen unsicherem Ausgang zu bringen.44 Von einem Mann aus Heidenreichstein an der österreichisch-tschechischen Grenze wurde bekannt, dass er der sowjetischen Grenzpolizei 66 Personen genannt habe, die denn auch in kurzfristigen Gewahrsam genommen wurden.45 Die Sowjets legten überdies, wie Interventionen der Besatzungsmacht zeigen, großen Wert darauf, die ehemaligen Nationalsozialisten zur unentgeltlichen Arbeitsleistung für Aufräumungsarbeiten heranzuziehen. Darüber hinaus kam es zur Beschlagnahme des Vermögens ehemaliger Nationalsozialisten durch die Sowjets, zur Übergabe der Häuser, Wohnungen und des Hausrates an deklarierte Antifaschisten und an die Gebietskörperschaften zur weiteren Verwendung. Auch in Niederösterreich bestand die Notwendigkeit, zumindest in der ersten Zeit Nationalsozialisten vorläufig im Dienst zu belassen, um die Verwaltung aufrecht erhalten zu können. Wie ein Bericht aus Lilienfeld zeigt, hatte die Besatzungsmacht dafür vorderhand Verständnis: So etwa meldete der Leiter der Bezirkshauptmannschaft, dass es ihm gelungen sei, „sämtliche Postenkommandanten des Bezirkes, wenn sie auch Angehörige der NSDAP oder kleinere Mitglieder waren, mit Hilfe der Kommandantur im Dienst vorläufig zu belassen“.46 Nachdem jedoch die ersten administrativen Vorarbeiten für die Durchführung der Entnazifizierung nach dem Verbots- und Kriegsverbrechergesetz abgeschlossen waren, forderte die sowjetische Kontrollkommission monatlich detaillierte Statistiken über den Fortschritt in der Durchführung der gesetzlichen Maßnahmen. Schienen regional die Entnazifizierungsmaßnahmen nicht oder zu langsam durchgeführt zu werden, machten die sowjetischen Kommandanten darauf aufmerksam. Im Bereich der Bezirkshauptmannschaft Melk befahl die sowjetische Kommandantur Anfang März 1946 die Einrichtung von NS-Säuberungskommissionen, die die Aufgabe hatten, Beamte und öffentliche Angestellte ob ihrer Zugehörigkeit zur NSDAP zu überprüfen, um ihre etwaige Entlassung aus dem Dienst zu verfügen. Die Sowjets nahmen auf die Kommissionen keinen Einfluss, ließen sich aber über deren Tätigkeit berichten.47 Die Anordnung der Bildung von Entnazifizierungskommissionen für jeden Gerichtsbezirk durch die örtliche sowjetische Kommandantur zeigt, dass sie mit dem Fortschritt der Entnazifizierung nicht zufrieden war. Anders jedoch als etwa Amerikaner oder Briten in ihren Besatzungszonen beschränkten sich die Sowjets jedoch darauf, fallweise Maßnahmen anzuordnen, die unter alleiniger österreichischer Administration abzuhandeln waren. 44 Maria Mayr, Das Jahr 1945 im Bezirk Horn, Waidhofen 1994, S. 139. 45 Sicherheitsdirektion NÖ, Bericht vom 25. 8.1945 (NÖLA, Konvolut Alliierte Kontrollkommission). Der Mann wurde wegen Denunziation angeklagt und in der Folge an das Landesgericht nach Wien überstellt. 46 Monatssituationsbericht der Bezirkshauptmannschaft Lilienfeld vom 4. 2.1946 (NÖLA, L.A.I/2). 47 Wochensituationsbericht der Bezirkshauptmannschaft Melk vom 15. 3.1946 (NÖLA, L.A.I/2).

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Generell legten sie jedoch großen Wert darauf, dass die ehemaligen Nationalsozialisten zu gemeinnützigen Arbeiten herangezogen wurden. Als etwa um die Jahreswende 1945/46 die sowjetischen Bezirkskommandanten die Exhumierung der in den einzelnen Ortschaften gefallenen sowjetischen Soldaten anordneten, mussten zur Durchführung der Grabungsarbeiten ehemalige Nationalsozialisten herangezogen werden.48 Wenn sich auch die sowjetischen Entnazifizierungsmaßnahmen, soweit angesichts der unsystematischen und kaum nachvollziehbaren Verhaftungen einzelner NSDAP-Mitglieder überhaupt davon gesprochen werden kann, überwiegend auf die Beobachtung der administrativen Vorgänge der österreichischen Behörden beschränkten, so meldeten sich einzelne Kommandanten doch immer wieder dann kritisch mit konkreten Beispielen zu Wort, wenn nach ihrer Ansicht zu milde gegen die „Faschisten“ vorgegangen wurde. So etwa wurde im oberen Waldviertel von einem sowjetischen Kommandanten die Ansicht vertreten, „dass gegen die Nationalsozialisten schärfer vorgegangen werden müsse. Diese führen ein vergnügliches Leben, besuchen Kinos und lassen die anderen arbeiten.“49 Es hat auch den Anschein, dass manche regionale Militärkommandanten unter den Sowjets der Beobachtung der Entnazifizierung in ihrem Bereich eine größere Bedeutung zumaßen, als es den obersten sowjetischen Behörden lieb war. So dürfte sich etwa der Kreis- und Stadtkommandant von St. Pölten, Major Šipanov, bei seinen Vorgesetzten vehement über die schleppenden Säuberungsmaßnahmen in seinem Rayon beschwert haben. Der Vorsteher der sowjetischen Kontrollkommission, Oberst Petr I. Kostkin, leitete diese Beschwerde an den Landeshauptmann weiter und vermittelte in der Folge ein Gespräch zwischen dem St. Pöltner Kreis- und Stadtkommandanten und den administrativen Leitern der Landesamtsdirektion und der Sicherheitsdirektion von Niederösterreich. Kostkin nahm nicht selbst an dem Gespräch teil, sondern ließ sich vom stellvertretenden sowjetischen Landeskommandanten vertreten, was als Hinweis gewertet werden kann, dass es mehr um die Klärung von Vorwürfen als um politische Einflussnahme auf den Fortgang der Entnazifizierung ging. Das am 10. Januar 1946 in St. Pölten stattfindende Gespräch eröffnete der sowjetische Stadtkommandant mit heftigen Vorwürfen gegen die Entnazifizierungspraxis in der Stadt und im Landbezirk St. Pölten. Als ihm die verschiedenen Durchführungsverordnungen und -erlasse erläutert wurden und ihm somit erklärt wurde, dass die österreichischen Behörden nur auf Basis der Rechtsvorschriften gegen Nationalsozialisten vorgehen konnten, nahm er dies zwar zur Kenntnis, meinte aber, dass mehr Kontrolle notwendig sei. So sei bislang etwa nicht gegen die Besitzer von „Ostmarkmedaillen“ eingeschritten worden, wiewohl 48 Wochensituationsbericht der Bezirkshauptmannschaft Melk vom 12.1.1946 (NÖLA, L.A.I/2). 49 Sicherheitsdirektion NÖ, Bericht vom 25. 8.1945 (NÖLA, Konvolut Alliierte Kontrollkommission).

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solche Personen nach dem Verbotsgesetz anzuhalten seien. Er übergab seinen österreichischen Gesprächspartnern eine Liste illegaler Nationalsozialisten. Von österreichischer Seite wurde zum einen auf die rechtlichen Vorschriften verwiesen, zum anderen eine sofortige Überprüfung der Vorwürfe zugesagt.50 Ärgerlich waren die sowjetischen Anfragen allemal: Die niederösterreichischen Behörden mussten nicht nur binnen Stunden umfangreiches statistisches Material liefern, sondern den Sowjets auch verständlich machen, dass diese oder jene Maßnahme infolge Personalknappheit oder mangels rechtlicher Voraussetzungen nicht oder nur mangelhaft durchgeführt werden konnte. Davon abgesehen bestand jedoch ein sehr korrektes Verhältnis zwischen den sowjetischen Kontrollbehörden und der Landes- und Bezirksverwaltungsadministration. Kurz: Die Sowjets drängten auf einen raschen Abschluss der Entnazifizierung, mischten sich aber nicht in den administrativen Vorgang ein.

V. Das „Verbotsgesetz“ vom 8. Mai 1945 legte den Focus auf jene, die zur Errichtung der NS-Herrschaft im März 1938 beigetragen hatten, und leitete ein Ausnahmerecht für die Nationalsozialisten ein, das von der politisch-erzieherischen Absicht her kaum hätte strenger sein können. Der Grundsatz des Verbotsgesetzes war: a) Aufzeichnung aller Nationalsozialisten in besonderen Listen; b) Strafe des Vermögensentzuges für „Illegale“ (NSDAP-Mitglieder zwischen 1. 7.1933 und 13. 3.1938), die nach der NS-Machtübernahme politische Funktionen vom Ortsgruppenleiter aufwärts bekleideten; c) Verhängung von Sühnefolgen für Nationalsozialisten nach dem Grad ihrer Involvierung in das NS-Regime: Das bedeutete für „Illegale“, schwerbelastete „Illegale“, Funktionäre der Partei oder ihrer Wehrverbände, Angehörige der SS und wirtschaftliche Förderer abgestufte Kerkerstrafen, Verlust ihrer wirtschaftlichen Stellung, Heranziehung zu Zwangsarbeit und zum Teil Verfall des gesamten Vermögens. Das Gesetz ließ die weiteren Möglichkeiten zur Verhängung von Sühnefolgen durch Sondergesetze offen;51 d) in rechtsstaatlicher Tradition eröffnete das Gesetz aber die Möglichkeit des Einspruchs und damit der „Nachsicht von der Registrierungspflicht und der Sühnefolgen“. Dieser Gnadenakt blieb dem Staatsoberhaupt überlassen und konnte nur individuell gewährt werden. Für die gesamte Gruppe der „Illegalen“, der „Förderer der NSDAP“ und Mitglieder der SS galt außerdem, dass sie ihr gesamtes unbewegliches Vermögen 50 Sicherheitsdirektion NÖ, Bericht vom 21.1.1946 (NÖLA, Konvolut Alliierte Kontrollkommission). 51 Heller, Kommentar, S. I/8.

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weder veräußern noch belasten durften. Alle nach dem 31. März 1945 getroffenen vermögensrechtlichen Verfügungen wurden für nichtig erklärt.52

VI. Mit dem „Kriegsverbrechergesetz“ vom 26. Juni 1945 sollten dann jene Rechtsbrüche einer Sühne zugeführt werden, die sich a) durch Herbeiführung der Machtergreifung der NSDAP in Österreich, durch Vorbereitung des Krieges und seiner Durchführung (§§ 1–2, 8), b) aus der Ausnützung dienstlicher Gewalt (Polizeigewalt der Gestapo) und aus politischer Gehässigkeit (§§ 3–5), sowie c) durch Bereicherung und Denunziation (§§ 6, 7) ereigneten. In Paragraph 9 des Kriegsverbrechergesetzes hieß es dann wörtlich: „Bei Verurteilung wegen eines der in diesem Gesetze angeführten Verbrechens ist neben der Freiheits- und Todesstrafe auf Einziehung des gesamten Vermögens zu erkennen. Nur in besonders berücksichtigungswürdigen Fällen kann von der Einziehung des gesamten Vermögens ganz oder teilweise Abstand genommen werden.“53 In der Zeit von 1945 bis zur Aufhebung der Volksgerichtsbarkeit im Dezember 1955 sind von den Staatsanwaltschaften Anklagen gegen136 829 Personen behandelt worden. Rund die Hälfte der staatsanwaltlichen Verfahren wurde entweder vom Gericht oder von der Staatsanwaltschaft mit Einstellung der Untersuchung beendet. Gegen 28 148 Personen wurde Anklage erhoben, in 23 477 Fällen ergingen Urteilssprüche, wobei es zu 13 607 Verurteilungen kam. Das Übrige waren Freisprüche, Abtretungen und ähnliches.54 Insgesamt wurde in 43 Fällen die Todesstrafe verhängt, die in 30 Fällen zwischen 1945 und 1948 auch vollzogen wurde. Lebenslängliche Freiheitsstrafe wurde in 27 Fällen ausgesprochen, 10 bis 20 Jahre bekamen 279 Täter und über 5 650 wurden mit Freiheitsstrafen unter 10 Jahren belegt. In der Zeit von 1955 bis 1975 wurden nur noch 46 Personen wegen Tötungsdelikten bzw. wegen unmittelbarer Mitwirkung daran angeklagt, wobei es zu 18 Schuldsprüchen (3 lebenslang, 6 10– 20 Jahre, 9 unter 10 Jahre) und 21 Freisprüchen kam.

52 VG 1945, § 19. 53 KVG 1945, § 9. 54 http://www.nachkriegsjustiz.at/prozesse/volksg/index.php sowie Claudia KuretsidisHaider, Volksgerichtsbarkeit und Entnazifizierung in Österreich. In: Schuster/Weber (Hg.), Entnazifizierung im regionalen Vergleich, S. 563–601; Winfried R. Garscha / Claudia Kuretsidis-Haider, Die Nachkriegsjustiz als nicht-bürokratische Form der Entnazifizierung: Österreichische Justizakten im europäischen Vergleich, Wien 1995.

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VII. Insgesamt betrachtet, lässt sich für die Mehrheit der Bevölkerung Niederösterreichs wohl eine grundsätzlich „antifaschistische“ Einstellung konstatieren, die Forderungen nach administrativen Sühnemaßnahmen waren aber zum einen vielfach nur anlass- und personenbezogen und zum anderen auf belastete Nationalsozialisten beschränkt. Bis Ende Juli 1945 wurden rund 2 000 Verhaftungen von Funktionären und belasteten Mitgliedern der NSDAP vorgenommen und ca. 5 000 Hausdurchsuchungen durchgeführt. Mit Erlass des Staatsamtes des Inneren vom 9. Juni 1945 wurde angeordnet, dass „zu Arbeiten, die von der Besatzungsmacht verlangt werden oder die zur Hintanhaltung von Seuchen, zur Wiederherstellung der Verkehrswege, Instandsetzung öffentlicher Einrichtungen aller Art und anderes mehr notwendigerweise verrichtet werden müssen, soweit irgend möglich Nationalsozialisten heranzuziehen“ seien.55 Allerdings sollte nicht willkürlich, sondern nach einer sinngemäßen Anwendung der Bestimmungen des Verbotsgesetzes von 1945 vorgegangen werden. Dies hieß, dass vor allem „Illegale“, Angehörige der SS und Parteifunktionäre der NSDAP zu öffentlichen Arbeiten verpflichtet werden sollten. „Einfache Parteimitglieder oder Parteianwärter“, die „einem ordentlichen Erwerb nachgehen“, waren von dieser Regelung explizit ausgenommen. In der Tat wurden im Sommer und Herbst 1945 in vielen Gemeinden großteils bereits inhaftierte Nationalsozialisten zu Instandsetzungsarbeiten von Straßen und Brücken herangezogen.56 Im Sommer 1945 meldete die Sicherheitsdirektion für Niederösterreich: „Versuche einer Weiterbetätigung für die ehemalige NSDAP sind nur vereinzelt gemeldet worden. Die Amtshandlungen gegen Funktionäre und Mitglieder der Partei, ihrer Gliederungen und Wehrverbände sind im Rahmen der gesetzlichen Bestimmungen im vollen Gange.“57 Wie jedoch Polizeiberichte zeigen, kam es in nicht wenigen Gemeinden immer wieder zu Zusammenkünften und Besprechungen von Nationalsozialisten, in denen sie eine koordinierte Vorgangsweise gegenüber den Entnazifizierungsstellen wie auch gegenüber den politischen Parteien zu finden versuchten. So etwa konnte der Gendarmerieposten Hürm (Bezirk Melk/Donau) in Erfahrung bringen, dass die Nationalsozialisten des Ortes derzeit überlegten, sich der KPÖ anzuschließen, „weil sie sich dadurch der Verantwortung für ihre frühere politische Tätigkeit zu entziehen glauben“.58 Auch aus dem oberen Wald55 Erlass des Staatsamtes für Inneres Zl. 14.267–2/45 vom 9. 6.1945. In: Amtliche Nachrichten des provisorischen Landesausschusses und der Landesregierung für Niederösterreich, Nr. 1 (1945), S. 8. 56 Vgl. Situations- und Lageberichte 1945 (NÖLA, Alliierte Kontrollkommission). 57 Sicherheitsdirektion NÖ, Situationsbericht für den Monat Juli 1945 vom 3. 8.1945 (NÖLA, Konvolut Alliierte Kontrollkommission). 58 Sicherheitsdirektion NÖ, Situationsbericht für den Monat August 1945 (NÖLA, Konvolut Alliierte Kontrollkommission).

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viertel wurden Treffen ehemaliger Nationalsozialisten bekannt.59 In der Gemeinde Groß-Schweinbarth kamen die ehemaligen Nationalsozialisten kollektiv ihrem von der Gemeinde geforderten Arbeitseinsatz nicht nach: „Dieser Umstand ist darauf zurück zuführen, dass bei uns die Nationalsozialisten gut organisiert sind und kurzweg alle Anordnungen des Bürgermeisters sabotieren.“60 Die Betroffenen mussten von der Bezirkshauptmannschaft an ihre Arbeitspflicht erinnert werden. Anfang September 1945 wurde von Seiten der Landesbehörden auf einen Abschluss der Registrierung gedrängt.61 Die vierwöchige Frist zur öffentlichen Einsichtnahme in die Registrierungslisten war abgelaufen, die Gemeinden hatten die Gleichschriften der Listen und Meldeblätter an die zuständigen Behörden zu übermitteln. Allerdings kam es immer wieder zu Verzögerungen durch Nachtragslisten. Der öffentliche Aushang der Listen fand in der Bevölkerung unterschiedlich Beachtung. Aus der Gemeinde Leopoldsdorf im Marchfeld meldete etwa der Bürgermeister, dass nur drei Personen Einblick in die Listen genommen hätten.62 Wie sich aber nun herausstellte, entsprachen die von den Gemeinden vorgelegten Listen der registrierten Nationalsozialisten nicht den Bestimmungen der Registrierungsverordnung.63 Zum Teil wurden andere als die in der Beilage der Verordnung angeführten Formulare verwendet, zum Teil wurden die entsprechenden Funktionen der Registrierten nicht oder nur sehr schlampig genannt.

VIII. Das Verbotsgesetz scheiterte in der praktischen Durchführbarkeit an seiner Konstruktion: Registrierung und Sühnefolge als Regel und individuelle Nachsicht als Ausnahme mussten zu einer Fülle von Gnadengesuchen führen. Politisch hat das Verbots- und das Kriegsverbrechergesetz sehr wenig bewirkt: Von einer „Umerziehung“ konnte keine Rede sein, Tausende Nationalsozialisten beteuerten, nie welche gewesen zu sein, von den Verbrechen und Drangsalierungen durch die Nationalsozialisten war weniger die Rede als von den „guten Taten“ auch führender Nazis. Das Verbotsgesetz hatte seine Wirkung verfehlt: Die vorerst durchwegs antifaschistische Stimmung der Bevölkerung schlug sukzes59 Sicherheitsdirektion NÖ, Bericht vom 25. 8.1945 (NÖLA, Konvolut Alliierte Kontrollkommission). 60 Bürgermeister von Groß-Schweinbarth an Bezirkshauptmannschaft Gänserndorf vom 17. 5.1946 (NÖLA, BH Gänserndorf I/45: Aktenkonvolut „Vorgehen gegen Nationalsozialisten“). 61 Bezirkshauptmannschaft Gänserndorf an die Bürgermeister vom 6. 9.1945 (NÖLA, Konvolut Alliierte Kontrollkommission). 62 Bürgermeister von Leopoldsdorf an Bezirkshauptmannschaft Gänserndorf vom 11. 9.1945 (NÖLA, Konvolut Alliierte Kontrollkommission). 63 Erlass der Landeshauptmannschaft Niederösterreich G.Z. L.A.I./4–1/8–NR vom 8.10.1945 (NÖLA, Konvolut Alliierte Kontrollkommission).

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sive in eine Mitleidsjammerei mit den „kleinen Nazis“ um, die nun für die Taten des Regimes büßen müssten. In einer Vereinbarung, die am 30. März 1946 veröffentlicht wurde, gaben die drei demokratischen Parteien ihren Willen kund, aufgrund der bisherigen Erfahrungen einen neuen Anlauf zur dauerhaften Lösung des „Naziproblems“ zu machen. Bei prinzipieller Beibehaltung der Registrierungspflicht sollte es Ausnahmen für bestimmte Personenkreise geben. Die Nationalsozialisten sollten nun – zum Teil wie von Schärf ursprünglich vorgesehen – in drei Gruppen eingeteilt werden: Abzuurteilende Kriegsverbrecher, Schwerbelastete und Minderbelastete, die Sühnefolgen zu tragen hatten. Das Prinzip der individuellen Nachsicht sollte eingeschränkt aufrecht erhalten bleiben und die Registrierungsbehörde in ihrer Entscheidungsbefugnis gestärkt werden. Nachdem aufgrund der Parteienvereinbarung bis Sommer 1946 ein entsprechender Gesetzesentwurf fertiggestellt wurde, musste dieser der Alliierten Kommission vorgelegt werden. Im Genehmigungsverfahren zeigte sich, dass mit Ausnahme der Briten, die den vorgelegten Gesetzestext sogar als zu streng empfanden, eine Fülle von Änderungen notwendig wurden. So etwa traten die Franzosen für eine Verschärfung der Bestimmungen für Minderbelastete ein, was auch von den Amerikanern unterstützt wurde. Nachdem am 13. Dezember 1946 in der Alliierten Kommission Einstimmigkeit über den Gesetzesentwurf erzielt und dem Nationalrat mit über 50 Änderungswünschen rückübermittelt wurde, wurde er schließlich als „Nationalsozialistengesetz 1947“ am 17. Februar 1947 verlautbart. Sühneabgaben und -folgen hatten nun fast alle registrierten Nationalsozialisten64 zu tragen. Das Gesetz zählt denn auch die Sühnefolgen erschöpfend auf: Diese reichten von der zeitweiligen bis zur dauernden Beschränkung staatsbürgerlicher Rechte, der Ausübung von Berufen und der Führung wirtschaftlicher Unternehmungen, der Heranziehung von Steuerleistungen, der Einschränkung von Rechten bis zur obligatorischen Arbeitspflicht und Einweisung in ein Anhaltelager. Besonders schwerwiegend war allerdings, dass der Alliierte Rat gefordert hatte, die Bemessungsbasis der Sühneabgabe nach dem Wert des Vermögens zum Stichtag 1. Januar 1944 (also einschließlich aller seither stattgefundenen Vermögensverringerungen) zu berechnen. Die österreichische Volksvertretung hatte in ihrem ursprünglichen Gesetzesbeschluss den 1. Januar 1946 als Stichtag gewählt. Für nicht wenige bedeutete die Vorverlegung des Stichtages eine finanzielle Katastrophe, zumal dann, wenn das gesamte oder Teile des Vermögens durch Kriegseinwirkung oder Beschlagnahme verloren gegangen war. Sühnefolgen waren Rechtsfolgen, die kraft Gesetzes nur dann eintreten, wenn die betreffende Person dem in Betracht kommenden Personenkreis ange-

64 Ausnahmen: Minderbelastete Ältere ab 70 Jahre, Versehrte der Versehrtenstufe III, Belastete und Minderbelastete der Versehrtenstufe IV.

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hörte. Sie konnten durch einen Verwaltungsakt ganz oder teilweise auch wieder beseitigt werden. Genau darum sollte es in Zukunft für die Betroffenen gehen: Die ehemaligen Nationalsozialisten versuchten durch diverse Eingaben und so genannte „Persilscheine“ ihre Einstufung als „Belasteter“ oder „Minderbelasteter“ herunter zu setzen. Das am häufigsten vorgebrachte Argument war, dass man für eine bestimmte Funktion während des NS-Regimes (also etwa die eines Ortsgruppenleiters) „nicht ernannt“ worden sei, sondern sie nur „kommissarisch“ ausgeübt habe. Aufgrund der inzwischen zum Ende der NS-Herrschaft verstrichenen Zeit, der sich aus der Umsetzung des Verbotsgesetzes auftürmenden Probleme, sowohl in der Verwaltung als auch bei den Betroffenen, deren Verfahren immer weiter hinausgezögert wurden, und dem nun einsetzenden Ringen der beiden großen politischen Parteien um die Stimmen der bei der Wahl 1945 als ehemalige Nationalsozialisten Nichtwahlberechtigten verfehlte das Nationalsozialistengesetz seinen ursprünglich gedachten Zweck als „endgültige Regelung der Behandlung der Nationalsozialisten“. Die Absicht, mit den durch das Nationalsozialistengesetz 1947 kodifizierten Rechtsvorschriften einen „Schlusspunkt unter ein Kapitel zu setzen, das zu den traurigsten der österreichischen Geschichte gehört“, wurde politisch, administrativ und legislativ nicht erreicht. Dementsprechend wurde das nach diesen Modifikationen am 17. Februar 1947 beschlossene „Nationalsozialistengesetz“ vielfach als alliiertes Diktat empfunden, von „Befreiung“ war längst nicht mehr die Rede: „Es war der Wille der drei Parteien, für die Minderbelasteten den Schwebezustand zu beseitigen und sie in ihrer sozialen Existenz nicht zu gefährden oder zu bedrohen. Sie sollten eine bestimmte Verantwortung tragen, aber zu keiner Gruppe minderen Rechts gestempelt werden. Diese Grundsätze wurden durch die Verfügungen des Alliierten Rates praktisch aufgehoben.“65 Die Registrierung blieb auch der Mittelpunkt des Nationalsozialistengesetzes. Nur registrierte ehemalige Nationalsozialisten hatten die im Gesetz vorgesehenen Sühneabgaben und Sühnefolgen zu tragen. Das Gesetz behielt die Registrierung für Parteimitglieder und Parteianwärter sowie für Angehörige der SS und SA und von Führern des NSKK und des NSFK vom Untersturmführer oder Gleichgestellten aufwärts bei und ergänzte sie durch Angehörige von Gestapo und SD, bestimmten NS-Organisationen, sowie durch Funktionäre von NS-Gliederungen und Organisationen, Autoren verbotener Werke und jene Kollaborateure und Förderer der NS-Bewegung, die von den entsprechenden Untersuchungskommission für schuldig befunden wurden, „die Interessen eines unabhängigen und demokratischen Österreichs geschädigt zu haben“.66 Zur Strafbemessung wurden die Registrierten in „belastete“ und „minderbelastete“ unterteilt: Belastete Personen waren alle „politischen Leiter“ vom Zel65 Migsch in der 44. Sitzung des Nationalrates am 6. 2.1947, S. 1212. 66 Vgl. die Zusammenfassung in Bundespressedienst, Österreichisches Jahrbuch 1947, S. 143 (Zitat S. 144).

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lenleiter aufwärts, Angehörige der SS, der Gestapo und des SD, Führer von NSKK und NSFK, nach den §§ 10, 11 und 12 des Verbotsgesetzes 1945 oder des Kriegsverbrechergesetzes Verurteilte, Träger des „Blutordens“, einer Ehren- und Dienstauszeichnung der NSDAP, sowie für schuldig befundene Förderer der NSDAP und Kollaborateure.67 Alle übrigen Registrierten galten als „minderbelastet“, wobei Personen, die eine bestimmte Versehrtenstufe erreicht hatten und bereits über siebzig Jahre alt waren unter bestimmten Voraussetzungen von der Verpflichtung zur Errichtung der Sühneabgabe befreit waren.68 Zur Registrierung nach dem Nationalsozialistengesetz wurden die Meldungen nach dem Verbotsgesetz 1945 übernommen. Der ehemalige Nationalsozialist hatte nur dann eine Meldepflicht, wenn er zu jenen Personengruppen gehörte, die durch die Rechtsvorschriften des Nationalsozialistengesetzes 1947 neu in die Registrierungspflicht aufgenommen wurden. So etwa wurden Personen, die sich um Aufnahme in die SS beworben hatten (aber niemals aufgenommen worden waren), Angehörige von NSKK und NSFK, die einen niedrigeren Rang als den eines Untersturmführers oder eines ihm Gleichgestellten bekleidet hatten, sowie jene Personen, deren Mitgliedsantrag aus politischen Gründen abgelehnt oder die aus der NSDAP oder einer ihrer Organisationen ausgeschlossen worden waren, von der Registrierung befreit. Zur Bekanntgabe, wer nun von der Registrierung betroffen war und Sühneleistungen zu tragen hatte, wurden so genannte „Registrierungslisten“ von den Meldestellen angefertigt und öffentlich ausgehängt. Es lag nun im Interesse jedes Einzelnen, der einer NS-Organisation angehört hatte bzw. vermutete von den neuen Rechtsvorschriften des NSG betroffen zu sein, seinen Namen in diesen Listen zu suchen. Denn nach einer bestimmten Einspruchsfrist traten die Sühneleistungen in Kraft, die durch Weitergabe der Registrierungsbögen von den dafür bestimmten Behörden eingefordert wurden. Bis zum 31. Dezember 1947 trafen beim Landeshauptmann als Registrierungsbehörde I. Instanz insgesamt 2 212 Einsprüche gegen die Entscheidungen der Bezirksverwaltungsbehörden als Registrierungsbehörden II. Instanz ein. Nur zehn Ansuchen waren bis zu diesem Zeitpunkt positiv erledigt.69 Mit Stand vom 5. September 1948 – also noch vor Auflage der Nach-Registrierungslisten im Herbst 1948 – waren in Niederösterreich 83 380 ehemalige Nationalsozialisten registriert.70

67 Vgl. im Detail § 17 NSG 1947. 68 Vgl. im Detail § 17 Abs. 4 NSG 1947. 69 NÖLA, Pr NS-/9–1947 vom 31.12.1947 betreffend Durchführung des NS-Gesetzes 1947. Bericht an die sowjetische Kontrollkommission für NÖ. Beilage 4. 70 NÖLA, L.A.I/10–6890/13–1948 vom 9. 9.1948.

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IX. 1948 begann die Zeit der Amnestien. Im April 1948 wurde vom Nationalrat mit Zustimmung der Alliierten Kommission zum einen die so genannte JugendAmnestie71 verabschiedet, die in Niederösterreich immerhin 5 942 minderbelastete Jugendliche betraf und sie fortan zur Ausübung aller Berufe sowie zur Absolvierung eines Hochschulstudiums zuließ. Zum anderen wurde eine vorzeitige Beendigung der Sühnefolgen für minderbelastete Personen beschlossen.72 Für 74107 in Niederösterreich wohnende Minderbelastete endeten somit am 6. Juni 1948 die Sühnefolgen, womit auch die im Verbotsgesetz vorgesehenen Berufsbeschränkungen und -verbote entfielen. Mit dem „Streichungsgesetz“ vom 13. Juli 1949 wurden die Minderbelasteten aus den Registrierungslisten gestrichen.73 Mit Stand vom 1. Mai 1949 waren noch 77196 Niederösterreicher als „minderbelastet“ in den Registrierungslisten verzeichnet. Fortan hatte sich Kontrolle der Entnazifizierungsadministration nur noch auf die Belasteten zu beziehen. Doch auch ihre Anzahl reduzierte sich zusehends: Wurden für Niederösterreich am 1. Mai 1949 noch 6 732 Personen als „belastet“ gemeldet, waren es am Ende des Jahres nur noch 6 384, die in den Registrierungslisten verzeichnet waren. Ende des Jahres 1951 beschloss der Nationalrat eine „Spätheimkehreramnestie“ für belastete Nationalsozialisten, die erst nach dem 30. April 1949 aus der Kriegsgefangenschaft heimgekehrt waren.74 Sie betraf in Niederösterreich 138 Personen. 1952 wollte die Politik einen endgültigen Schlussstrich unter das „Naziproblem“ ziehen, doch zwei vom Nationalrat verabschiedete Gesetze („Belastetenamnestie“ und „Vermögensverfallsamnestie“) fanden nicht die Zustimmung der Alliierten Kommission. 1956 – nach Abschluss des Staatsvertrages – wurde dann die Vermögensverfallsamnestie für einen großen Teil der Betroffenen realisiert.75 So erklärte der Abgeordnete Gorbach (ÖVP) im Nationalrat: „Wie lange wollen wir noch Mitbürger einsperren, ihres Vermögens verlustig erklären, sie in der beruflichen Laubahn schädigen und ihrer staatsbürgerlichen Rechte beschneiden, weil sie einmal die Mitgliedschaft einer Partei erworben haben, die zur Zeit, als dies geschehen, erlaubt, ja sogar einzige Staatspartei war?“76 71 72 73 74 75 76

Bundesverfassungsgesetz vom 22. 4.1948 über die vorzeitige Beendigung der im Nationalsozialistengesetz vorgesehenen Sühnefolgen für jugendliche Personen. Bundesverfassungsgesetz vom 21. 4.1948 über die vorzeitige Beendigung der im Nationalsozialistengesetz vorgesehenen Sühnefolgen für minderbelastete Personen. Bundesverfassungsgesetz vom 13. 7.1949 über die Streichung minderbelasteter Personen aus den Registrierungslisten, BGBl. Nr. 162. Bundesverfassungsgesetz vom 17.12.1951 über die Befreiung der Spätheimkehrer von der Verzeichnis- und Sühnepflicht, die Einstellung von Strafverfahren und die Nachsicht gegen solche Personen. So genannte Formaldelikte nach den §§ 10, Abs. 1, 11 und 12 VG und § 1 Abs. 6 KVG, sofern nicht ein höherer Rang als der des Kreisleiters bekleidet wurde. Nationalrat VII.GP. 5. Sitzung am 18. 7.1956, S. 180.

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Das Gesetz sah den Entfall der Strafe des Vermögensverfalls sowie die „Erstattung“ des verfallenen Vermögens vor. Das heißt, der Vermögensverfall wurde rückgängig gemacht: „Der Staat gibt das heraus, was ihm durch den Vermögensverfall zugefallen ist, soweit er es heute in Besitz hat, in natura, und wenn eine zwischenzeitliche Veräußerung stattgefunden hat, erstattet er den Erlös aus diesen Verkäufen.“ Die zurück zu erstattenden Verfallserlöse der Republik wurden 1956 mit 14 bis 18 Millionen Schilling angegeben. Bereits für das laufende Jahr wurden fünf Millionen Schilling an gesonderten Mitteln dafür bereitgestellt. Mit der großen NS-Amnestie des Jahres 195777 wurde politisch ein Schlusspunkt unter die Entnazifizierung gezogen78. Damit liefen auch jene Sühneabgaben aus, die laufend zu entrichten waren. Aus dieser nach dem Einkommen gestaffelten Sühneabgabe hatte der Staat über 300 Millionen Schilling eingenommen.79

Resümee 1. Für die Registrierten begann bereits mit dem Verbotsgesetz 1945 und seinen Nachsichtsmöglichkeiten, jedoch spätestens 1947 – nachdem sie bereits 1945 ihres Posten verlustig gingen und zum Arbeitseinsatz eingeteilt wurden – der Marathon durch die Behörden, um von ihren Verzeichnis- und Sühnefolgen frei zu sein. 2. Dazu bediente man sich offenbar bald jener Bekannten, Dienstvorgesetzten und Kameraden, mit denen man in der NS-Herrschaft zu tun hatte. Sie waren bereit, jede Bestätigung über die Unzulänglichkeit der Registrierung auszustellen. 3. Die politischen Eliten, im Besonderen die Vertreter der drei Parteien80 in der Gemeinde, stellten ab 1947 nahezu jedem ein gutes Zeugnis aus. 4. Die Bevölkerung hatte – auch dies wird aus den eingesehen Akten deutlich – kein gesteigertes Interesse an einer Weiterverfolgung des „Naziproblems“. Obwohl die Bevölkerung öffentlich per Aushang aufgefordert wurde, Einspruch gegen die Entregistrierung zu erheben, geschah dies kaum mehr. 77 Schuster/Weber (Hg.), Entnazifizierung im regionalen Vergleich, S. 166. 78 Stiefel, Entnazifizierung, S. 304–314. 79 Die einmalige Sühneabgabe hatte 40–70 % des Vermögenstandes vom 1.1.1944 zu betragen. Die laufende Sühneabgabe war ein Zuschlag zur Einkommens- bzw. Lohnsteuer. 80 Bislang ist nur die „Entnazifizierungs- und Entregistrierungspolitik“ der SPÖ detailliert erforscht: Maria Mesner (Hg.), Entnazifizierung zwischen politischem Anspruch, Parteienkonkurrenz und Kaltem Krieg. Das Beispiel der SPÖ, Wien 2005; Wolfgang Neugebauer/Peter Schwarz, Der Wille zum aufrechten Gang. Offenlegung der Rolle des BSA bei der gesellschaftlichen Reintegration ehemaliger Nationalsozialisten, Wien 2005.

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5. Die mit der Registrierung befassten Behörden, sowohl I. Instanz als auch in der Landesverwaltung, als auch in der Beschwerdekommission handelten überaus korrekt. Es ist hier nicht festzustellen, dass ihre Entscheide im Laufe der Zeit – wie etwa bei den Volksgerichten – milder ausfielen. 6. Die Entnazifizierung wurde für die Betroffenen zur Entregistrierung: Wahrscheinlich glaubten sie bald selbst jenes, was sie in den zahlreichen Einsprüchen angegeben hatten. Und letztlich: Eine inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, seinen Zielen, seiner terroristischen Methode, seinen abscheulichen Verbrechen und nicht zuletzt seiner Ideologie fand nicht statt. So waren nicht nur die „alten Kämpfer“, sondern auch jene, die zumindest zeitweise begeistert die Errichtung und Aufrechterhaltung des NS-Regimes in Österreich ermöglicht hatten, infolge des nur administrativ durchgeführten Entnazifizierungsprozesses, der sich allzu schnell in ein Entregistrierungsverfahren wandelte, gleichsam gezwungen zu vergessen und letztlich zu so genannten „guten Österreichern“ zu werden.

„Die Kommunistische Partei will nicht Oppositionspartei sein, sondern sie will Staatspartei sein.“1 Die KPD/SED und das politische System der SBZ/DDR (1944–1950) Mike Schmeitzner Das politische System der SBZ ist ein Kind der Moskauer Nachkriegsplanungen. Dort, wo nach der Errichtung der nationalsozialistischen Diktatur die Exilführung der KPD um Wilhelm Pieck, Walter Ulbricht, Wilhelm Florin und Anton Ackermann ihr Lager aufgeschlagen hatte, erarbeiteten führende deutsche Kommunisten eine Konzeption, die nach der Besetzung Deutschlands durch alliierte Truppen für alle Teile des Landes Relevanz erlangen sollte. An eine Neuauflage der bis 1935 gültigen Parole eines „Sowjetdeutschland“ war dabei nicht gedacht, hatte doch die sowjetische Führung ganz Deutschland im Blick und nicht nur die künftige SBZ, wo mit Hilfe sowjetischer Truppen sehr schnell eine offene „Diktatur des Proletariates“ hätte errichtet werden können. Die gewollte weitere Kooperation mit den Westmächten und die Sicherung der besetzten europäischen Gebiete veranlassten Stalin und den Generalsekretär der nur formal liquidierten „Kommunistischen Internationale“, Georgij Dimitrov, der KPD-Exilführung eine flexible Volksfrontstrategie vorzugeben. Für die Realisierung einer sozialistischen Gesellschaft sah diese Strategie mehrere Etappen vor: „Die kommunistischen Parteien Mittel- und Osteuropas sollten durch die Schaffung breiter Koalitionen gestärkt werden, in denen die Kommunisten dominierten und die nach außen hin die Spielregeln der bürgerlichen Demokratie beachteten. Dadurch hofften Stalin und Dimitrov, aufkommenden Widerstand gegen ihr Vorgehen aus dem bürgerlichen Lager aufspalten und die politische Initiative in diesen Ländern gewinnen zu können. Moderate sozialökonomische Umgestaltungsprogramme wie Bodenreform und Verstaatlichung der Großindustrien – beides im Nachkriegseuropa zunächst populäre Vorhaben – zielten darauf ab, die Unterstützung der Bevölkerung zu gewinnen.“2 1

2

Hermann Matern, „Der Wiederaufbau der deutschen Gewerkschaften“. Lektion vom 8. 3.1945 an der Parteischule der KPD in Moskau. Zit. nach: Horst Laude/Manfred Wilke, Die Pläne der Moskauer KPD-Führung für den Wiederaufbau der Gewerkschaften. In: Klaus Schroeder (Hg.), Geschichte und Transformation des SED-Staates, Berlin 1994, S. 27–51, hier 45 f. Mike Schmeitzner/Stefan Donth, Die Partei der Diktaturdurchsetzung. KPD/SED in Sachsen 1945–1952, Köln 2002, S. 47. Vgl. auch Peter Erler/Horst Laude/Manfred

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An diesen Leitlinien orientierte sich die zwanzigköpfige „Arbeitskommission“ der KPD, die im Februar 1944 ihre Arbeit aufnahm. In seinem Auftaktreferat erklärte Florin als erstes Ziel der KPD, das „Weitgehendste, was die internationale Lage und die Kräfteverhältnisse in Deutschland selbst erlauben, zu erreichen“.3 Die erste Etappe auf dem Weg zum Sozialismus und eines „Sowjetstaates“ bezeichnete Florin als „antifaschistisch-demokratischen Neuanfang“.4 Hinter dieser demokratischen Fassade verbargen sich sozialökonomische Umwälzungen und die Übernahme staatlicher Schlüsselpositionen. Die Erwartung, dass sich nach dem Ende des „Dritten Reiches“ wieder demokratische Parteien wie die SPD oder das katholische Zentrum gründen würden, bewog die Führung der Exil-KPD, eine besondere Strategie der Einbindung zu entwickeln. Mittels eines „Blockes der kämpferischen Demokratie“ sollten andere Parteien frühzeitig integriert und in längeren „Differenzierungsprozessen“ „entlarvt“, „eingeengt“ und sukzessive ausgeschaltet werden.5 Eine gleichberechtigte Rolle wurde ihnen von Beginn an versagt. Durch ihre Integration in den „Block“, in dem Entscheidungen nur unter Führung der KPD und im Konsens zu treffen waren, sollte zudem die Neuauflage eines parlamentarisch-demokratischen Prozedere bewusst verhindert und perspektivisch „alle Weg zum Sozialismus“ geebnet werden.6 Besondere Bedeutung maßen die KPD-Führer in diesem Prozess der neu entstehenden SPD zu, war doch aus Sicht der Kommunisten die Einheit der Arbeiterbewegung „die politisch entscheidende Frage, die alle anderen Fragen aufs tiefste beeinflusst“.7 Gemäß ihrer elastischen Taktik und aufgrund des noch ausstehenden Neuaufbaues wollte die KPD „vorläufig keine Einheitspartei“ mit der SPD bilden.8 Erst müssten die eigenen Parteistrukturen geschaffen und die KPD zur größten „Volkspartei“ entwickelt werden,9 damit ein „ideologisch und organisatorisch geschlossener Vortrupp“ die „Einheit der Arbeiterklasse“ verwirklichen könne.10 Dass allerdings die KPD „in der Schaffung einer solchen

3 4 5 6 7 8 9 10

Wilke (Hg.), „Nach Hitler kommen wir“. Dokumente zur Programmatik der Moskauer KPD-Führung 1944/45 für Nachkriegsdeutschland, Berlin 1994. Auftaktreferat Florins vor der Arbeitskommission „Die Lage und die Aufgaben in Deutschland bis zum Sturz Hitlers“ vom 6. 3.1944. In: Erler / Laude / Wilke (Hg.), „Nach Hitler kommen wir“, S. 143. Rede Florins „Was würde sein, wenn Deutschland ein Sowjetstaat werden würde?“, Anfang 1944. In: ebd., S. 127. Schlusswort Florins zum 1. Thema der Arbeitskommission „Alle illegalen Parteien und Gruppen sollten sich rasch in einem Kampfblock vereinigen“ vom 10. 4.1944. In: ebd., S. 159. Disposition Piecks zu einem Vortrag auf dem 2. Lehrgang der KPD-Parteischule „Probleme des Kampfes für ein neues Deutschland“ vom 1. 3.1945. In: ebd., S. 273. „Strategie und Taktik der Machtübernahme“. Notizen Schwabs zu einem Referat Ulbrichts vom 24. 4.1944. In: ebd., S. 168. Beratung der KPD-Führung vom 5.12.1943. In: ebd., S. 100. Zit. nach: Klaus Schroeder, Der SED-Staat. Geschichte und Strukturen der DDR, München 1998, S. 13. Lindau an Pieck vom 14.1.1945 (RCChIDNI, f. 17, op. 128, d. 743, l. 178 ff.).

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Sozialdemokratie, die mit uns zusammenarbeitet“, „selbst Hand anlegen“ wolle, machte Ulbricht bereits in einem Referat von April 1944 deutlich.11 Ebenso selbstverständlich war es für Pieck und Ulbricht, dass eine mittelfristig geplante Verschmelzung beider Arbeiterparteien letztlich eine „Ausschaltung“ der SPD und die „Überwindung“ des „Sozialdemokratismus“ beinhalten werde.12 Die künftige Einheitspartei sollte so konsequenterweise wie die KPD einen marxistisch-leninistischen Charakter tragen.

1.

Der Befehl Nr. 2 und der Aufbau einer „simulierten Demokratie“ in der SBZ 1945

Die ersten Schritte in Richtung eines neuen politischen Systems legten die von der Exil-Führung der KPD instruierten kommunistischen „Initiativgruppen“, die Ende April und Anfang Mai 1945 im Rücken der sowjetischen Armeen nach Deutschland gelangten. Zwar hatten sie zunächst nicht den Auftrag, in Norddeutschland (Gruppe Sobottka), Berlin-Brandenburg (Gruppe Ulbricht) und Mitteldeutschland (Gruppe Ackermann) Strukturen der KPD oder neue politische Institutionen zu schaffen, sondern der Roten Armee bei der Ingangsetzung des öffentlichen Lebens zu helfen.13 Doch schufen ihre Mitglieder schon in den ersten Mai-Wochen 1945 mit der Einsetzung neuer Stadtverwaltungen und der Sammlung alter Parteiaktivisten unabdingbare Voraussetzungen für die spätere Realisierung ihres Programms, was Annahmen über ein abruptes „Aus“ ihrer ursprünglichen Moskauer Planungen als wenig realistisch erscheinen lässt.14 Zuerst in Dresden und dann in Berlin exerzierten die Moskau-Kader vor, was sie mit der Übernahme von Schlüsselpositionen eigentlich meinten: An die Spitze der Verwaltungen stellten sie zumeist einen Parteilosen oder Sozialdemokraten, die Ämter für Inneres und Personal besetzten sie selbst, womit sie künftig auch staatliche Kaderpolitik betreiben konnten.15 Wie eng sich die einzelnen Leiter der Initiativgruppen im Mai 1945 an Teile ihre Moskauer Planungen hielten, geht aus den späteren Aufzeichnungen 11

„Strategie und Taktik der Machtübernahme“. Notizen Schwabs zu einem Referat Ulbrichts vom 24. 4.1944. In: ebd., S. 168. 12 Ebd.; Notiz Piecks zu einem Vortrag Ulbrichts, April 1944 (SAPMO-BArch, NY 4036/501, Bl. 46). 13 Vgl. dazu ausführlich die „Richtlinien für die Arbeit der deutschen Antifaschisten in dem von der Roten Armee besetzten deutschen Gebiet“ vom 5. April 1945. In: Erler/Laude/Wilke (Hg.), „Nach Hitler kommen wir“, S. 380–386. 14 So die Argumentation von Jörg Morré, Kommunistische Emigranten und die sowjetische Besatzungspolitik in Deutschland. In: Exil und Neuordnung. Beiträge zur verfassungspolitischen Entwicklung in Deutschland nach 1945. Hg. von Claus-Dieter Krohn und Martin Schumacher, Düsseldorf 2000, S. 293. 15 Vgl. Gerhard Keiderling, Wir sind die Staatspartei. Die KPD-Bezirksorganisation GroßBerlin April 1945–April 1946, Berlin 1997, S. 165 ff.; Thomas Widera, Dresden 1945– 1948. Politik und Gesellschaft unter sowjetischer Besatzungsherrschaft, Göttingen 2004, S. 86 ff.

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Anton Ackermanns hervor: Die „personelle Zusammensetzung der neuen deutschen Selbstverwaltungsorgane“ habe das „repräsentiert, was wir 1944/45 in Moskau den Block der kämpferischen Demokratie genannt hatten“.16 Den Startschuss für die offizielle Gründung neuer „antifaschistisch-demokratischer Parteien“ gab Stalin dann doch schon Ende Mai 1945. Einige Wochen vor der Potsdamer Konferenz der Alliierten versuchte er mit dieser Initiative, die Fäden des politischen Neubeginns in der eigenen Hand zu konzentrieren, was mit der frühen Konstituierung von parteipolitischen Gründungskernen in der sowjetisch besetzten Reichshauptstadt Berlin durchaus erfolgversprechend schien. Den organisatorischen und politisch-programmatischen Anfang machte in dieser Hinsicht die KPD: Anfang Juni 1945 wurden die Leiter der Initiativgruppen nach Moskau zurückbeordert und zu vorbereitenden Gesprächen zu Stalin zitiert. Für den sowjetischen Diktator wie für die Mehrzahl der KPD-Funktionäre stand – gemäß den Moskauer Planungen von 1944 – natürlich nicht die Schaffung einer sozialistischen Einheitspartei auf der Tagesordnung, sondern die Gründung der KPD in dem bereits skizzierten „demokratischem“ Gewand.17 16 Anton Ackermann, Der neue Weg zur Einheit. Manuskript 1965 (SAPMO-BArch, NY 4109, Nr. 5, Bl. 224). 17 Nur schwer vorstellbar erscheint, dass ausgerechnet Ulbricht, der 1944 in Moskau die genaue Perspektive für die KPD und spätere Einheitspartei entwickelt hatte, Anfang Juni 1945 plötzlich den Gedanken einer Einheitspartei verfochten haben soll. Einen Erinnerungsbericht Anton Ackermanns zitierend, behauptet Monika Kaiser, („Es muss demokratisch aussehen ...“ Moskau und die Gleichschaltung des Parteiensystems in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands 1944/45–1948/49. In: Stefan Creuzberger/ Manfred Görtemaker (Hg.), Gleichschaltung unter Stalin? Die Entwicklung der Parteien im östlichen Europa 1944–1949, Paderborn 2002, S. 265–299, hier 269 f.), Ulbricht habe Stalin am 4. Juni 1946 in Moskau eine „Konzeption“ vorgetragen, die auf die Bildung einer Einheitspartei hinausgelaufen sei, worauf der sowjetische Diktator mit Ablehnung reagierte. Gesichert ist, dass Ulbricht in seinem Bericht über die bisherige Tätigkeit der „Initiativgruppen“ auch den mehrheitlichen Einheitswillen von Sozialdemokraten referierte. (vgl. Rolf Badstübner/Wilfried Loth (Hg.), Wilhelm Pieck. Aufzeichnungen zur Deutschlandpolitik 1945–1953, Berlin 1994, S. 51.) Es erscheint nicht abwegig, dass Ackermann diesen Zusammenhang später unbewusst oder auch bewusst überhöhte; letzteres vielleicht, um seinen alten Rivalen in ein innerparteiliches Zwielicht zu rücken. In anderen Erinnerungsberichten Ackermanns spielt dieser Sachverhalt jedenfalls keine Rolle. Ulbrichts Einheitsthese stützende Selbstzeugnisse aus dieser Zeit und weitere Quellen sind bislang nicht aufgetaucht. Schließlich darf auch bezweifelt werden, ob Ulbricht als Gehilfe der Hauptverwaltung der Roten Armee überhaupt berechtigt gewesen wäre, Stalin gegenüber eine politische „Konzeption“ zu entwickeln. Die entsprechende „Konzeption“ hatte Stalin nicht nur bereits seit Ende Mai 1945 selbst entwickelt, er trug sie den deutschen Gehilfen auch unmissverständlich vor. Diese handelten dann noch in der Nacht vom 5. zum 6. Juni in seinem Sinne. (vgl. die beiden Manuskripte Ackermanns von 1965 (SAPMO-BArch, NY 4109, Nr. 5, Bl. 151 und 224). Im Übrigen war Ulbricht wie auch anderen KPD-Führungskadern durch Moskauer Weisung bereits seit 26. Mai 1945 klar, dass es zwei Arbeiterparteien geben würde: die KPD und die SPD. Warum also sollte Ulbricht Tage später in Moskau die sowjetische Linie anfechten wollen? Vgl. Badstübner/Loth (Hg.), Pieck, S. 50, und Dokument 7: Semenov an Vysinskij, Anfang Juni 1945, über „Die deutschen Kommunisten und ihre politische Orientierung. In: Jochen P. Laufer/Georgij P. Kynin (Hg.), Die UdSSR und

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Noch in Moskau entwarfen Ackermann, Sobottka, Ulbricht und Pieck einen „Aufruf“ der KPD, mit dem sich die Führungsspitze der Partei an die deutsche Öffentlichkeit wenden wollte. Der auch von Dimitrov korrigierte Text lehnte sich eng an die programmatischen Vorstellungen der Exil-KPD von 1944 an: Er proklamierte die „Aufrichtung eines antifaschistischen, demokratischen Regimes, einer parlamentarisch-demokratischen Republik mit allen demokratischen Rechten und Freiheiten für das deutsche Volk“. Zugleich plädierte er für die „Wiederaufrichtung der auf demokratischer Grundlage beruhenden Selbstverwaltungsorgane“ auf kommunaler Ebene, einschließlich der Landtage. Darüber hinaus erklärte die Führungsspitze der KPD, dass es „falsch wäre“, „Deutschland das Sowjetsystem aufzuzwingen“, denn „dieser Weg“ entspräche „nicht den gegenwärtigen Entwicklungsbedingungen in Deutschland“. Zu notwendigen sozialökonomischen Maßnahmen zählte die Führung die „Enteignung des gesamten Vermögens der Nazibonzen und Kriegsverbrecher“ sowie die „Liquidierung des Großgrundbesitzes“ zugunsten der besitzlosen Bauern. Dreh- und Angelpunkt aber war die Aussage, dass „das vorstehende Aktionsprogramm als Grundlage zur Schaffung eines Blocks der antifaschistischen demokratischen Parteien [...] dienen kann“. Begründet wurde diese Auffassung damit, dass nur ein „solcher Block die feste Grundlage im Kampf für die völlige Liquidierung der Überreste des Hitlerregimes und für die Aufrichtung eines demokratischen Regimes“ bilden könne.18 Nur einen Tag nach Verkündung des Befehls Nr. 2 der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD) am 10. Juni 1945, der die Zulassung „aller antifaschistischen Parteien [...] unter ihrer Kontrolle“ gestattete,19 trat die KPD mit ihrem Aufruf an die deutsche Öffentlichkeit. Trotz aller demokratischen Phrasen, die der KPD unter den „gegenwärtigen Entwicklungsbedingungen“ als nützlich erschienen, markierte doch die Schaffung eines „Blocks“ als Vorbedingung für die Lizenzierung aller anderen Parteien die entscheidende Zäsur auf dem Weg zu einer neuen kontingentierten oder besser: „simulierten Demokratie“. Denn die Zulassung von reinen „Blockparteien“ nahm den bald in Gründung befindlichen Sozialdemokraten, Christen und Liberalen von vornherein den Bewegungsspielraum, den Parteien in der Weimarer Republik und seit dem Spätsommer 1945 auch in den Westzonen Deutschlands zur freien Entfaltung und zu einem ungehinderten Kräftemessen in Anspruch nehmen konnten. Die Vorenthaltung eines tatsächlichen politischen Pluralismus war denn auch das entscheidende Merkmal dieses entstehenden politischen Systems, was kritische Zeitgenossen wie z. B. den früheren Reichstagsabgeordnedie deutsche Frage 1941–1949. Dokumente aus dem Archiv für Außenpolitik der Russischen Föderation. Band 2: 9. Mai 1945 bis 3. Oktober 1946, Berlin 2004, S. 20–27, hier 27. 18 Aufruf der Kommunistischen Partei Deutschlands vom 11. 6.1945. In: Günter Benser, Aufruf der KPD vom 11. Juni 1945, Berlin (Ost) 1980, S. 23. 19 Befehl Nr. 2 des Obersten Chefs der Sowjetischen Militärischen Administration, Marschall Shukov, vom 10. 6.1945. In: ebd., S. 18.

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ten Kurt Schumacher (Hannover) schon im August 1945 zu ätzender Kritik herausforderte.20 Im Gegensatz dazu entschloss sich die Spitze des neu gegründeten Zentralausschusses (ZA) der SPD in Berlin für eine Annahme des KPD-Aufrufes. Ohnehin hatten führende frühere SPD-Funktionäre schon im Mai für eine Einheitspartei plädiert, sich aber von Vertretern der Gruppe Ulbricht eine Abfuhr geholt.21 Nun, am 12. Juni, aus Anlass der Vorstellung des KPD-Aufrufes im Berliner Stadthaus, erklärte sich für die SPD der frühere Reichstagsabgeordnete Gustav Dahrendorf bereit, „rückhaltlos [..] auf diesen Boden zu treten“.22 Anders als seine Weggefährten Otto Grotewohl, Max Fechner und Erich W. Gniffke revidierte Dahrendorf schon Anfang 1946 diese Bereitschaft und kam nach einschlägigen Erfahrungen mit der KPD zu einer ganz ähnlichen Einsicht wie Schumacher. Doch im Sommer 1945 herrschte im Lager der SPD weitgehend Einigkeit über das Verhältnis zur KPD: Wenn schon nicht eine sofortige organisatorische Einheit erreicht werden konnte, dann wenigstens ein enges Bündnis mit der KPD. Die Spaltung der Arbeiterbewegung wurde hier als ver20 In seinen „Politischen Richtlinien“ von Ende August 1945 erklärte Schumacher mit Blick auf den „Block“ in der SBZ: „Abzulehnen sind auch alle Versuche einer überparteilichen Organisation, durch die die Sozialdemokratische Partei und andere mitmachende Parteien gebunden wären, die Kommunistische Partei aber freie Hand zur Führung bekäme. In Deutschland spielt sich das in Gestalt der von früher her stark belasteten ‚Antifaschistischen Front‘ ab, die lediglich den kommunistischen Versuch darstellt, Nichtkommunisten für kommunistische Zwecke einzusetzen und für die Kommunistische Partei zu erziehen.“ Scharfsichtig analysierte Schumacher zudem das „überraschende Bekenntnis“ der KPD zur Demokratie, wie es in ihrem „Aufruf“ zum Ausdruck komme. Er kam zum Schluss, dass für die KPD die Demokratie keine Frage des Prinzips, sondern eine Frage der Taktik sei. Alle Leute – so Schumacher –, die die Demokratie „als eine Frage der Taktik betrachten, werden von uns erst einer gewissen Periode der Quarantäne und der Beobachtung unterworfen. In dieser Periode müssen sie sich praktisch auf ihre demokratischen Qualitäten hin bewähren. Dabei sei vorweg bemerkt, dass es auf die Dauer unhaltbar ist, wenn in dem einen Lande die Diktatur theoretisch und real herrscht, in einem anderen aber von derselben Richtung die Demokratie mit der ganzen Begeisterung der Neubekehrten verkündet wird.“ Den Satz im KPD-Aufruf, wonach das Sowjetsystem „nicht den gegenwärtigen Entwicklungsbedingungen in Deutschland“ entsprechen würde, interpretierte Schumacher so, wie man es nach kritischer Analyse tun musste: Nämlich dahingehend, dass das Sowjetsystem zwar nicht den „gegenwärtigen Bedingungen“, „wohl aber den zukünftigen“ entsprechen würde, „die von der KPD erhofft werden“. Schumachers Resümee war klar: „Hier gilt nur die Tatsache, dass das Prinzip der Diktatur nicht negiert, sondern als das höhere Prinzip für eine zukünftige Eventualität zurückgestellt wird.“ Kurt Schumacher, Politische Richtlinien für die SPD in ihrem Verhältnis zu den anderen politischen Faktoren vom 25. 8.1945. In: Willy Albrecht (Hg.), Kurt Schumacher. Reden – Schriften – Korrespondenzen 1945–1952, Bonn 1985, S. 278 ff. 21 So Max Fechner. Vgl. Matthias Loeding, Führungsanspruch und Einheitsdrang. Der Zentralausschuss der SPD im Jahre 1945, Hamburg 2002, S. 94 ff. 22 Zit. nach: Benser, Aufruf, S. 32. Zu Dahrendorfs dortigen Auslassungen über die „Emigrantenpolitik“ der SOPADE und eine neue Ostorientierung Deutschlands vgl. Günter Benser, Die KPD im Jahre der Befreiung. Vorbereitung und Aufbau der legalen Kommunistischen Massenpartei (Jahreswende 1944/45 bis Herbst 1945), Berlin (Ost) 1985, S. 159.

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hängnisvolle Voraussetzung für die „Machtergreifung“ der NSDAP betrachtet. Dementsprechend fiel auch der „Aufruf“ aus, den die SPD am 15. Juni 1945 verbreitete: Sie bekannte sich zu den entscheidenden Forderungen der KPD – einschließlich des „Blocks“ und einer in der Perspektive notwendig erscheinenden organisatorischen Einheit. Dieser Punkt war in der Tat die zentrale Differenz zwischen Ost- und West-SPD, wobei in den ersten Wochen und Monaten auch in den Westzonen einheitsfreundliche Vorstellungen existierten.23 Alle anderen Punkte, vor allem aber die Formel „Demokratie in Staat und Gemeinde, Sozialismus in Wirtschaft und Gesellschaft!“, erschienen kompatibel.24 Den entscheidenden Schritt zur Schaffung eines „Blocks“ unternahmen KPD und SPD am 19. Juni 1945 mit der Bildung eines gemeinsamen „Arbeitsausschusses“, in dem sich beide Seiten auf eine „enge Zusammenarbeit“ verständigten. Zu den fünf Punkten, die das ZK der KPD und der ZA der SPD erarbeiteten, zählten die Bildung eines „festen Blockes“ mit allen anderen Parteien sowie die Durchführung gemeinsamer Veranstaltungen und gemeinsamer Beratungen „zur Klärung ideologischer Fragen“.25 Mit dieser Bindung hatte sich die Spitze der ostzonalen SPD in das Fahrwasser der KPD begeben und – ohne entsprechende Kenntnis – einen zentralen Teil der kommunistischen ExilPlanungen bereits erfüllt. Aus dieser Bindung sollte die SPD nicht mehr entlassen werden – auch dann nicht, als maßgebliche Führer der Partei zu begreifen schienen, dass die antifaschistische „Aufbau“-Argumentation der KPD nur vorgeschoben war, um den eigenen Führungsanspruch besser legitimieren zu können. Eine mehr oder weniger ähnlich illusorische Lagebeurteilung bekundeten sowohl die Vertreter der am 26. Juni 1945 gegründeten Christlich-Demokratischen Union (CDU) als auch die Vertreter der am 5. Juli konstituierten Liberal-Demokratischen Partei (LDP): Beide Parteien akzeptierten am 14. Juli 1945 das System des „Blocks“ – die CDU immerhin erst nach mehrmaliger Aufforderung durch die SMAD.26

23 Mit seinem Abgrenzungskurs gegenüber den Kommunisten konnte sich Schumacher, der im Spätsommer 1945 schon als unumstrittener Führer der West-SPD galt, erst bis Ende des Jahres weitgehend durchsetzen. Vgl. etwa Walter Tormin, Der Traum von der Einheit. Der Schriftwechsel zwischen SPD und KPD in Hamburg über die Gründung einer Einheitspartei 1945/46 und ergänzende Dokumente, Hamburg 1990, S. 29 ff. 24 Aufruf des ZA der SPD vom 15. Juni 1945. In: Die Programme der politischen Parteien im neuen Deutschland, zusammengestellt von Dr. Karl Mahler, Berlin 1945, S. 17. 25 Vereinbarung des ZK der KPD und des ZA der SPD vom 19. 6.1945. In: Benser, Aufruf, S. 34. 26 Vgl. Kaiser, Gleichschaltung, S. 271; Ralf Thomas Baus, Die Christlich-Demokratische Union Deutschlands in der sowjetisch besetzten Zone 1945 bis 1948. Gründung – Programm – Politik, Düsseldorf 2001, S. 91 ff. Dem Vorsitzenden der Ost-CDU, dem früheren Reichsminister Andreas Hermes, war dabei der Zusammenhang zwischen Parteienzulassung und „Block“-Akzeptanz durchaus klar: „Es gab keine Möglichkeit, diese Zusammenarbeit abzulehnen, die eine Forderung der sowjetischen Besatzungsmacht war, es sei denn, man verzichtete überhaupt auf die Gründung einer Partei. So sein Sohn Peter Hermes in einer später verfassten Schrift. Zit. nach Baus, CDU, S. 95.

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In den Anfang Juli 1945 konstituierten Ländern und Provinzen der SBZ vollzogen sich unter Federführung der SMAD und der KPD analoge „Block“-Bildungen, die – wie auf zentraler Ebene auch – das Ziel verfolgten, die „Formierung einer parteipolitisch organisierten Opposition gegen die Kommunisten [...] durch das Einstimmigkeitsprinzip von vornherein unmöglich zu machen“.27 In verschiedenen Regionen der SBZ gelang es der KPD zudem mit dem Hinweis auf die bereits zugelassenen Parteien SPD, CDU und LDP, abweichende Parteigründungen zu verhindern.28 Im Falle der SPD war die KPD mit ihrem Moskauer Konzept, „selbst Hand anzulegen [...] in der Schaffung einer solchen Sozialdemokratie, die mit uns zusammenarbeitet“, zumindest partiell sehr erfolgreich: Die Installierung der späteren Einheitsikone Otto Buchwitz als Landesvorsitzenden der sächsischen SPD darf wohl als einer ihrer wichtigsten Gründungserfolge gelten.29 Bei der zügigen Etablierung ihrer eigenen Partei ließ sich die KPD vom tradierten zentralistisch-leninistischen Ansatz leiten: Ihr Aufbau erfolgte als Kaderpartei und unter Zugrundelegung eines weit verzweigten Abteilungssystem, das von Anfang an auf eine Anleitung und Kontrolle von Staat und Gesellschaft ausgerichtet war.30 Damit bekundete die Partei noch im Sommer 1945, dass sie in der Tat nicht mehr „Oppositionspartei“, sondern „Staatspartei“ sein wollte. Die dazu nötige Hilfestellung erhielt sie von der SMAD – vor allem von deren Propaganda-Verwaltung, die der schillernde Oberst Tjulpanov leitete.31 Ihr Ziel, „Staatspartei“ zu werden, um von den Schalthebeln staatlicher Macht aus grundlegende gesellschaftliche Umwälzungen einleiten zu können, verfolgte die KPD bereits im Juli 1945 bei der Besetzung aller Schlüsselfunktionen in den staatlichen Verwaltungen. Ausschlaggebend waren dabei die neu errichteten Zentral- und Landesverwaltungen: In ersteren stellte die KPD mehr als die Hälfte aller Präsidenten und nahezu alle Stellvertreter, wobei sie mit der erst 1946 errichteten „Deutschen Verwaltung des Innern“ (DVdI) ein beson27 So pointiert Rainer Behring, Die Zukunft war nicht offen. Instrumente und Methoden der Diktaturdurchsetzung in der Stadt: Das Beispiel Chemnitz. In: Andreas Hilger/Mike Schmeitzner/Ute Schmidt (Hg.), Diktaturdurchsetzung. Instrumente und Methoden der kommunistischen Machtsicherung in der SBZ/DDR 1945–1955, Dresden 2001, S. 155–168, hier 160. 28 So geschehen mit dem „Bund demokratischer Sozialisten“ in Thüringen, der „Deutschen Demokratischen Fortschrittspartei“ in Chemnitz und der „Demokratischen Partei Deutschlands“ in Leipzig. Vgl. ebd., S. 161; Manfred Overesch, Hermann Brill. Ein Kämpfer gegen Hitler und Ulbricht, Bonn 1992, S. 339 ff.; Baus, CDU, S. 106 ff. 29 Vgl. Schmeitzner/Donth, Die Partei der Diktaturdurchsetzung, S. 110 ff. 30 Vgl. Michael Kubina, Der Aufbau des zentralen Parteiapparates der KPD 1945–1946. In: Manfred Wilke (Hg.), Die Anatomie der Parteizentrale. Die KPD/SED auf dem Weg zur Macht, S. 49–117. 31 Zur Bedeutung dieser SMAD-Struktur und der umstrittenen Rolle Tjulpanows vgl. Norman M. Naimark, Die Russen in Deutschland. Die Sowjetische Besatzungsszone 1945 bis 1949, Berlin 1997, S. 374 ff., und Jan Foitzik, Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD) 1945–1949. Struktur und Funktion, Berlin 1999, S. 122 f., 136 ff., 262 ff.,

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ders schlagkräftiges Instrument in die Hand bekam. Wichtiger noch als die zu Anfang mit nur wenigen Kompetenzen ausgestatteten Zentralverwaltungen aber war die Besetzung von „Kommandohöhen“ (Hermann Matern) in den Landesverwaltungen: Kommunisten übernahmen die Leitung aller fünf Länderinnenministerien, die sie in nur kurzer Zeit zu kompetenzstarken „Parteiministerien“ ausbauten.32 Dem sächsischem Landesinnenministerium ließ der Moskau-Kader Kurt Fischer z. B. zentrale Bereiche wie das Personalamt, die Landespolizeiverwaltung, das Landesnachrichtenamt und die Volksbildung unterstellen und mit eigenen Kadern besetzen.33 Eine beinahe ebenso große Bedeutung maß die KPD den Wirtschaftsministerien der Länder zu, die sie in der Mehrzahl der Fälle übernahm. In Sachsen und Brandenburg beauftragte sie mit Fritz Selbmann und Heinrich Rau profilierte Funktionäre mit der Leitung der Ressorts, die noch Ende 1945 erste konkrete Weichenstellungen auf dem Weg zum Wirtschaftssozialismus unternahmen. Ungeachtet der Besetzung von Schlüsselpositionen gelang es der KPD mit Hilfe der „Postenfrage“, die demokratischen Parteien in das von ihr konstruierte System zu integrieren und damit den pluralistischen Schein zu wahren. Dabei verfuhr sie nach dem „Block“-Grundsatz, den sie ja bereits bei der personalpolitischen Besetzung von Großkommunen erfolgreich erprobt hatte: Den repräsentativen Posten des Ministerpräsidenten übertrug sie zumeist Vertretern der SPD, die Ministerien der Justiz und der Finanzen Politikern von LDP und CDU. So durften beispielsweise führende Liberaldemokraten die Spitzenpositionen in der Zentralverwaltung für Justiz und in den Justizministerien der Länder übernehmen, was für KPD und SMAD nicht wirklich problematisch erschien, da letztere doch mit ihrer Sondergerichtsbarkeit die politisch wirklich relevanten Fälle selbst bearbeitete und die Kommunisten in der Zwischenzeit die ihr fehlenden Kader ausbilden konnten. Mochten sich so führende Politiker der LDP wie der rechtsstaatlich geprägte Altliberale Eugen Schiffer oder Länderminister wie Hermann Kastner, Ralph Liebler und Johannes Dieckmann am Aufbau eines ostdeutschen Justizwesens abarbeiten34 – mehr als eine Alibifunktion fiel ihnen angesichts der ca. 35 000 SMT-Verurteilten nicht zu.35 32 So die zutreffende Kennzeichnung von Peter Müller, „Parteiministerien“ als Modell politisch zuverlässiger Verwaltungsapparate. Eine Analyse der Protokolle der SED-Innenministerkonferenzen 1946–1948. In: Ebd, S. 337–411. 33 Vgl. Schmeitzner/Donth, Die Partei der Diktaturdurchsetzung, S. 146. 34 Für die ostdeutsche Seite der SBZ-Justiz vgl. die Studien von Hermann Wentker, Justiz in der SBZ/DDR 1945–1953. Transformation und Rolle ihrer zentralen Institutionen, Oldenburg 2001; Petra Weber, Justiz und Diktatur. Justizverwaltung und politische Strafjustiz in Thüringen 1945–1961, Oldenburg 2000; Dieter Pohl, Justiz in Brandenburg 1945–1955. Gleichschaltung und Anpassung, Oldenburg 2001; Ruth-Kristin Rössler, Justizpolitik in der SBZ/DDR 1945–1956, Frankfurt a. M. 2000; Andreas Thüsing, Demokratischer Neubeginn? Aufbau, Organisation und Transformation des sächsischen Justizministeriums 1945–1950, Dresden 2003. 35 Für die sowjetische Seite der SBZ-Justiz vgl. die Studien von Andreas Hilger / Mike Schmeitzner/Ute Schmidt (Hg.), Sowjetische Militärtribunale, Band 2: Die Verurteilung deutscher Zivilisten 1945–1955, Köln 2003; Andreas Hilger (Hg.), „Tod den Spio-

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Wie selbstbewusst die Führungskader der KPD bei der Realisierung ihrer Moskauer Planungen zu Werke gingen, zeigt das Beispiel des sächsischen Parteichefs Hermann Matern, der bis Frühjahr 1945 Leiter der Parteischule in Moskau gewesen war und entscheidenden Anteil an den Exil-Planungen hatte. Er machte im Sommer 1945 deutlich, dass er die SBZ von vornherein nur als Exerzierfeld für jene gesellschaftlichen Umwälzungen betrachtete, die die KPD in ganz Deutschland umzusetzen hoffte. Auf dem ersten Parteitag der sächsischen kommunistischen Landesverbandes erläuterte er seinen Funktionären: „Wir könnten auf dem Gebiet, was die Rote Armee besetzt hat, in der Entwicklung zu neuen gesellschaftlichen Formen sehr schnell marschieren. Das würde bedeuten, eine politisch andere Entwicklung auf diesem Gebiet, als auf dem Gebiet, das von England und Amerika besetzt ist. Wir wollen und können nichts anderes, als auf unserem Gebiet, auf dem wir arbeiten, vorbildliche Beispiele und Anregungen für die anderen Gebiete schaffen. Wir werden immer ein wenig voraus sein. Wir müssen mit dem ganzen Volk marschieren, überall. Wir dürfen nicht zulassen, dass andere Entwicklungen stattfinden.“36 Mochte auch eine solche – auf Ausschließlichkeit bedachte – Strategie anfangs nicht völlig illusionär erscheinen, so waren zumindest seit Schumachers Lageeinschätzung im Westen doch erste Zweifel erlaubt. In der SBZ vermochte es die KPD hingegen recht schnell, die „vorbildlichen Beispiele und Anregungen“ zu schaffen: Vor allem mit Hilfe der Landesverwaltungen konnten die Kommunisten unter Anleitung der SMAD antifaschistisch drapierte Weichenstellungen in die Wege leiten: die notwendige Entnazifizierung der Verwaltung, die die KPD für die eigene Kaderpolitik instrumentalisierte, die Verstaatlichung aller privaten Banken und Kreditinstitute, eine durchgreifende Bodenreform und erste Verstaatlichungen im industriellen Sektor. Bei all diesen Weichenstellungen erwies sich die KPD als die entscheidende Kraft, da sie ihre gesellschaftspolitischen Vorstellungen aufgrund des Einstimmigkeitsprinzips mühelos im Parteien-Block exekutieren und in den Präsidien der Landesverwaltungen durchsetzen konnte.37 Neben der SPD, die sich aufgrund ihrer wirtschaftssozialistischen Ausrichtung bereit fand, wichtige Elemente der sozialökonomischen Umwälzungen mit zu tragen, waren CDU und LDP zwar in der Lage, eigene Konzepte und Einsprüche zu formulieren, realisieren konnten sie sie aber nicht. In Fällen, wo die Führungen beider „bürgerlicher“ Parteien auf rechtsstaatlichen Verfahren beharrten, wie z. B. bei der Realisierung der Bodenreform im Spätherbst 1945, nen!“ Todesurteile sowjetischer Gerichte in der SBZ/DDR und in der Sowjetunion bis 1953, Göttingen 2006; Arsenij Roginskij / Jörg Rudolph / Frank Drauschke / Anne Kaminsky (Hg.), „Erschossen in Moskau ...“ Die deutschen Opfer des Stalinismus auf dem Moskauer Friedhof Donskoje 1950–1953, Berlin 2005. 36 Protokoll der 1. Landeskonferenz der KPD Sachsen am 28. 7.1945 (SAPMO-BArch, NY 4076, NL Hermann Matern, Nr. 139, Bl. 27 f.). 37 Für Sachsen vgl. Schmeitzner/Donth, Die Partei der Diktaturdurchsetzung, S. 144– 173.

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wurden sie von der SMAD kurzerhand abgesetzt. Mit ihren ersten großen Eingriffen in die Führungsstrukturen von CDU und LDP demonstrierten SMAD und KPD eindrucksvoll, dass die auf dem politischen Schachbrett der SBZ selbst Führungsfiguren nach Belieben auszutauschen in der Lage waren. Für die LDP beinhaltete der sowjetische Eingriff immerhin einen Wechsel an der Spitze der Partei – vom „marktwirtschaftlich orientierten“ Waldemar Koch zum anpassungsfähigeren Wilhelm Külz und für die CDU sogar den kompletten Austausch des bisherigen „bürgerlichen“ Führungstandems Andreas Hermes / Walter Schreiber zugunsten der christlich-sozialistischen Gewerkschafter Jakob Kaiser/Ernst Lemmer.38 Mit diesen Politikern, so die keineswegs unbegründete Hoffnung der SMAD, war die Umsetzung der anstehenden sozialökonomischen Umwälzungen reibungsloser zu vollziehen, als mit dem gerade demontierten Tandem.

2.

Der erste große Schritt zur deutschen Spaltung: die Gründung der SED

So erfolgreich KPD und SMAD bei der Schaffung „vorbildlicher Beispiele und Anregungen“ in ihrer Zone auch agierten: Die Etablierung eines Block-Parteien-Systems vermochten die Führer der demokratischen Parteien in den Westzonen nicht gerade als vorbildlich anerkennen. Die Absetzung der ersten Vorsitzenden-Riege der Ost-CDU bestätigte dann nicht nur bei ihren Westgliederungen, sondern auch bei dem jetzt unumstrittenen Führer der West-SPD, Kurt Schumacher, schon vorhandene Vorbehalte.39 Zu einer schlagartigen Vertiefung der von Anfang an vorhandenen Kluft führte jedoch die maßgeblich von der SMAD und Stalin selbst befohlenen Vereinigung von KPD und SPD in der SBZ. Der im Frühjahr 1946 vollzogene Akt spaltete die politische Landschaft Deutschlands endgültig. Die Liquidierung der Ost-SPD zugunsten einer nunmehr noch mächtigeren KPD/SED bildete die erste große Teilungszäsur der Nachkriegsgeschichte. Was waren es für Gründe, die Moskau und die KPD bewogen, die noch im Frühsommer 1945 abgelehnte und erst für eine mittelfristige Perspektive ins Auge gefasste Verschmelzung nun derart überstürzt zu bewerkstelligen? Es hatte wohl mit dem eigenen kommunistischem Anspruch zu tun, zur „wahrhaft nationalen Volkspartei“ zu avancieren, der bereits im Spätherbst 1945 wie eine Seifenblase zu platzen drohte. Ungeachtet der Tatsache, dass die KPD in den staatlichen Verwaltungen alle „Kommandohöhen“ besetzte und im Parteien38 Zur Auswechselung der Führungsspitzen von LDP und CDU vgl. ausführlich Ulf Sommer, Die Liberal-Demokratische Partei Deutschlands. Eine Blockpartei unter der Führung der SED, Münster 1996, S. 44; Baus, CDU, S. 231 ff. 39 Vgl. Protokoll der Zusammenkunft von Otto Grotewohl und Gustav Dahrendorf mit Kurt Schumacher und Herbert Kriedemann in Braunschweig am 8. 2.1946 (AdsD, NL Kurt Schumacher, Mappe 212).

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Block nach Belieben dominierte, stand ihr eine Bewährungsprobe ins Haus, die sie nach Lage der Dinge nicht mehr erfolgreich bestehen konnte: die anstehenden Wahlen zu den Kommunal- und Landesparlamenten, auf die sich die Alliierten grundsätzlich geeinigt hatten.40 Schon im September 1945 war klar geworden, dass die KPD in der Frage der Mitgliederwerbung und der Resonanz in der Bevölkerung gegenüber der SPD den Kürzeren ziehen würde. Der anfangs vorhandene organisatorische Vorsprung der Kommunisten war zusammengeschmolzen und die Partei selbst durch die flächendeckenden Übergriffe von Angehörigen der Roten Armee als „Russenpartei“ diskreditiert.41 Angesichts dieser Entwicklung war es nicht weiter verwunderlich, dass die Ost-SPD zunehmend an Selbstbewusstsein gewann und sich große Teile der Partei in eine Art „Wahlfieber“ steigerten.42 Für den neuen und bald unumstrittenen Führer der Ost-SPD, Otto Grotewohl, trat die organisatorische Einheit mit den Kommunisten daher immer stärker in den Hintergrund. Ähnlich wie Schumacher in den West-Zonen proklamierte er nun auch für die SPD des Ostens eine Führungsrolle, die sie als Mittlerin zwischen Ost und West doch überzeugend ausspielen könne.43 Auf das neue Selbstbewusstsein Grotewohls, Gniffkes und Dahrendorfs reagierte die Spitze der KPD mit erheblichem Argwohn und einer jetzt von ihr betriebenen Einheitskampagne.44 Die Befürchtung Moskaus und der KPD, bei Wahlen dem sozialdemokratischen Konkurrenten zu unterliegen, wuchs weiter, als die Ergebnisse der ersten Nachkriegswahlen aus Ungarn und Österreich in die Öffentlichkeit drangen: Vor allem der Ausgang der österreichischen Nationalratswahlen vom 25. November 1945 war nicht nur für die betroffene KPÖ, sondern mehr noch für die KPD ein schockierendes Erlebnis. Österreichs Kommunisten hatten lediglich fünf Prozent und vier von 165 Sitzen erhalten, während SPÖ und ÖVP auf 76 und 85 Mandate kamen. Damit war kommunistischerseits die Möglichkeit verspielt, über parlamentarische Mehrheiten oder auch nur über eine parlamentarische Schlüsselstellung die Geschicke des Landes entscheidend beeinflussen zu können. Von einer Einheitsfront oder gar von einer Einheitspartei mit den Kommunisten wollte die SPÖ nach diesem Wahlausgang nun ebenso wenig noch etwas wissen.45 Ein derart folgenreiches Desaster wie in Österreich durfte in der deutschen Sowjetzone nicht zugelassen werden – darin waren sich KPD wie SMAD 40 Vgl. Wolfgang Benz, Potsdam 1945. Besatzungsherrschaft und Neuaufbau im VierZonen-Deutschland, München 1992 (2. Auflage), S. 213 f. 41 In Dresden notierte das KPD-Mitglied Klemperer erste Hinweise darauf schon Mitte August 1945. Vgl. Victor Klemperer, So sitze ich denn zwischen allen Stühlen. Tagebücher 1945–1949, Band 1, Berlin 1999, S. 74 f. 42 Zit. nach Loeding, Führungsanspruch, S. 315. 43 Vgl. ebd., S. 245 ff. 44 Vgl. ebd., S. 256 f. 45 Vgl. Wolfgang Mueller, Die sowjetische Besatzung in Österreich 1945–1955 und ihre politische Mission, Wien 2005, S. 145–153 und 198–208.

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gleichermaßen einig. Ulbrichts Hinweis auf die „Gefahr Österreich“46 macht deutlich, was alles für die Kommunisten auf dem Spiele stand: Bei einer wahrscheinlichen Wahlniederlage die Gefährdung der bislang gesicherten Schlüsselpositionen in zentralen Bereichen der Verwaltung, die Führungsrolle im Parteien-Block und eine organisatorische Verschmelzung mit der SPD.47 Hatte die Führung der KPD schon nach den ersten deutlichen Absetzbewegungen Grotewohls die „Parole der Einheit“ wieder verstärkt in Umlauf gebracht, beschleunigte sie nach der deprimierenden österreichischen Erfahrung das Vereinigungstempo drastisch.48 Die Moskauer Führung gab dabei Leitlinien und Prämissen eines Verschmelzungsprozesses vor, in den sich sogar Stalin immer wieder selbst einschaltete. Noch im November 1945 war dem sowjetischen Diktator durch den Militärrat ein Bericht der SMAD-Propaganda-Verwaltung zugegangen, in dem es hieß, „dass für den Fall, dass es nicht zu einer politischen Vereinigung der Arbeiterparteien käme“, die KPD bei den anstehenden Wahlen eine „Niederlage erleiden“ würde.49 Daraufhin zog Stalin das Tempo an: Im Januar 1946 ließ er die Spitze der SMAD und der KPD wissen, dass eine Vereinigung von KPD und SPD bis Ende Mai zu erfolgen habe – und zwar zweckmäßigerweise „noch vor den Wahlen“.50 Von Generalleutnant Bokov, Mitglied des Kriegsrates der SMAD, erfuhr Pieck zugleich, wie sich Stalin die Vereinnahmung der SPD seitens der KPD vorstellte: Nämlich mit einer „scharfen Kampagne gegen Rechte“ sowie mit „Entlarvungen“ und „isolieren“.51 Das Vorgehen seiner Propaganda-Verwaltung erläuterte Oberst Tjulpanov vor einer Kommission des ZK der KPdSU im September 1946 rückblickend so: „Die Voraussetzung für diese Vereinigung war eine intensive Arbeit sowohl mit der SPD als auch mit der Kommunistischen Partei. Dabei wurde diese Arbeit von allen unseren Mitarbeitern etwas einseitig geführt. Bis zum Mai haben wir nur für eine Idee gelebt – 46 Diese Formulierung fiel während eines Gesprächs zwischen Ulbricht und den Spitzen der SMAD am 22.12.1945. Vgl. Badstübner/Loth (Hg.), Pieck, S. 62. 47 Während einer Unterredung mit einem Referenten des Politischen Beraters der SMAD am 15. Dezember 1945 erklärte der KPD-Chefideologe Anton Ackermann unmissverständlich: „Wenn die Sozialdemokraten separat in die Wahl gehen und einen größeren Erfolg als die Kommunisten erzielen, dann werden sie sich auf eine Vereinigung mit den Kommunisten nicht mehr einlassen.“ Zit. nach Dokument 66: Unterredung zwischen Makuchin und Ackermann am 15. Dezember 1945. In: Laufer/Kynin (Hg.), Die UdSSR und die deutsche Frage, Band 2, S. 192–196, hier 194. 48 Vgl. Loeding, Führungsanspruch, S. 376 f. 49 Stenogramm des politischen Lageberichts von S. Tjul’panov vor der Kommission des ZK der KPdSU (B) zur Überprüfung der Arbeit der Propagandaverwaltung der SMAD (Auszug) vom 16./17. 9.1946. In: Sowjetische Politik in der SBZ 1945–1949. Dokumente zur Tätigkeit der Propagandaverwaltung (Informationsverwaltung) der SMAD unter Sergej Tjul’panov. Hg. von Bernd Bonwetsch/Gennadij Bordjugov/Norman M. Naimark, Bonn 1998, S. 73. 50 Besprechung am 23.1.1946 um 4 Uhr in Karlshorst bei Marsch.[all] Bockow. In: Badstübner/Loth (Hg.), Pieck, S. 63. 51 Ebd.

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die Vereinigung der Parteien.“ Alles sei dieser „Hauptaufgabe“ untergeordnet worden.52 Wie aber sah nun die Umsetzung dieser „Hauptaufgabe“ aus? SMAD und KPD drängten zum einen die immer selbstbewusster agierende SPD bald mit Hilfe jenes Instrumentariums in die Defensive, dem die Sozialdemokratie noch im Sommer 1945 euphorisch zugestimmt hatte. Über den gemeinsamen Aktionsausschuss versuchte die KPD in immer stärkerem Maße, die Sozialdemokraten durch gemeinsame Veranstaltungen und Feiern zu binden. In der dritten Dezemberwoche 1945 nötigten schließlich KPD und SMAD dem ZA der SPD auf einer ersten „Sechziger Konferenz“ das grundsätzliche Ja zur organisatorischen Vereinigung und zu einem gemeinsamen Programm für die anstehenden Wahlen ab; ein Ja zu einer gemeinsamen Wahlliste ließen sich die Sozialdemokraten jedoch noch nicht abringen. Zudem machten sie noch in dieser Phase ihr Ja zur Vereinigung vom Zustandekommen auf der gesamtdeutschen Ebene abhängig, um die absehbare Spaltung ihrer Partei in Ost- und Westzonen zu verhindern.53 Solche „Nuancen“ spielten jedoch bald keine Rolle mehr, da Moskau und die sowjetische Besatzungsmacht mit weit reichenden Eingriffen in das sozialdemokratische Organisationsgefüge den Vereinigungstermin so schnell wie möglich auf die Tagesordnung setzten. Die Propaganda-Verwaltung der SMAD verstärkte die ohnehin seit Sommer 1945 bestehende Überwachung und Zensierung von sozialdemokratischen Versammlungen, von Funktionären und Zeitungsorganen, wobei sie jetzt auch auf die inhaltliche Ausgestaltung erheblichen Einfluss auszuüben begann. Seit der Jahreswende 1945/46 kam es – wenn auch regional verschieden – zu Vorladungen, Verhören, Redeverboten und Absetzungen von Spitzenpolitikern, die sich – wie etwa in Magdeburg (Gustav Schmidt-Küster) oder in Leipzig (Rudolf Rothe) – als offene Gegner einer Vereinigung zu erkennen gegeben hatten.54 Zu Verhaftungen von sozialdemokratischen Spitzenpolitikern griff die Besatzungsmacht nur in geringem Maße und meist nur in zeitlich befristeter Form.55 Andererseits schreckte sie nun nicht mehr davor zurück, weniger bekannte Regionalpolitiker oder einfache Mitglieder für längere Zeit zu inhaftieren oder als „konterrevolutionäre Verbrecher“ von ihren Militärtribunalen aburteilen zu las-

52 Stenogramm des politischen Lageberichts von S. Tjul’panov vor der Kommission des ZK der KPdSU (B) zur Überprüfung der Arbeit der Propagandaverwaltung der SMAD (Auszug) vom 16./17. 9.1946. In: Sowjetische Politik, S. 73. 53 Vgl. Loeding, Führungsanspruch, S. 377–414. 54 Vgl. Andreas Schmidt, „... mitfahren oder abgeworfen werden.“ Die Zwangsvereinigung von KPD und SPD in der Provinz Sachsen / im Land Sachsen-Anhalt 1945–1949, Münster 2004, S. 183 f.; Schmeitzner/Donth, Die Partei der Diktaturdurchsetzung, S. 184 und 205. 55 So etwa im Falle des 2. Vorsitzenden des SPD-Bezirksverbandes Berlin, Werner Rüdiger, der im Februar 1946 mehrere Tage in Haft genommen wurde. Vgl. Mike Schmeitzner, Genossen vor Gericht. Die sowjetische Strafverfolgung von Mitgliedern der SED und ihrer Vorläuferparteien 1945–1954. In: Hilger/Schmeitzner/Schmidt (Hg.), SMT 2, S. 265–344, hier 307.

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sen.56 Ähnlich verhielt es sich auch in strukturellen Fragen: Regionale Parteitage der SPD, die den Einheitskurs in Frage zu stellen drohten (z. B. in Leipzig), wurden ebenso verhindert wie das Instrument der Urabstimmung. Zudem verstanden es Besatzungsmacht und KPD bald virtuos, sozialdemokratische Gliederungen gegeneinander auszuspielen. Die seit Ende 1945 angelaufenen Gewerkschaftswahlen nutzten sie wiederum dazu, hier existierende Machtpositionen der SPD zu schleifen und sie so zu einem Motor für die Vereinigung von KPD und SPD umzufunktionieren.57 Neben solchen Eingriffen bewies die Besatzungsmacht allerdings auch ein hohes Maß an Elastizität und Fürsorglichkeit, wenn es etwa darum ging, sozialdemokratische Politiker auf einen schnellen Verschmelzungskurs festzulegen. Vor allem bei der Führung der Ost-SPD gelang ihr dies recht gut: Hier bediente sie sich nicht nur des Mittels der Sonderrationen, um für ihre politischen Forderungen Gehör zu finden. So wurden die drei (eigentlich paritätischen) Vorsitzenden des ZA, Otto Grotewohl, Erich W. Gniffke und Max Fechner, mit sowjetischen Liebesgaben regelrecht überhäuft: Noch Ende 1945 sorgte die Besatzungsmacht für die Entlassung der Söhne Gniffkes und Grotewohls aus der Gefangenschaft.58 Fechner wurde über ein großzügig bemessenes Buchprojekt alimentiert und Grotewohl mit einer Reihe politischer Versprechen umgarnt.59 Lediglich bei Dahrendorf, der Nummer vier der SPD, stieß die Besatzungsmacht auf taube Ohren. Ausgerechnet er, der noch im Frühsommer 1945 vehement das Projekt einer Einheitspartei vertreten hatte und von der SMAD als Vizepräsident für die Zentralverwaltung der Brennstoffindustrie berufen worden war, avancierte wegen des stetig steigenden Druckes nun zum schärfsten Kritiker im ZA. Als dann noch die Besatzungsmacht seinen 15-jährigen Sohn Ralf als Spitzel gegen den Vater zu installieren versuchte, hatte sie den Bogen überspannt:60 Nur wenige Tage nach dem Scheitern seines Auflösungsantrages im ZA (10./11. 2.1946) flüchtete er mit der gesamten Familie und mit Hilfe der britischen Besatzungsmacht nach Hamburg. Während der geflohene ZA-Politiker noch im März 1946 seine Erfahrungen in einem längeren Bericht über die „Zwangsvereinigung der Kommunistischen 56 In Berlin wurden beispielsweise die weniger bekannten SPD-Politiker Julius Scherff und Hermann Löwenthal sowie sozialdemokratische Jugendliche und Angestellte wegen ihres vereinigungsrenitenten Verhaltens SMT-verurteilt. Scherff, Löwenthal und mindestens zwei SPD-Jugendliche starben in sowjetischen Speziallagern. Vgl. ebd., S. 290 ff. 57 Vgl. Detlef Brunner, Sozialdemokraten im FDGB. Von der Gewerkschaft zur Massenorganisation, 1945 bis in die frühen 1950er Jahre, Essen 2000, S. 86–143. 58 Vgl. Erich W. Gniffke, Jahre mit Ulbricht, Köln 1990 (Reprint von 1966), S. 103. Grotewohls Sohn wurde im Dezember 1945 „wahrscheinlich auf russische Initiative hin“ aus der britischen Kriegsgefangenschaft entlassen. Loeding, Führungsanspruch, S. 382. 59 Vgl. Friederike Sattler, Bündnispolitik als politisch-organisatorisches Problem des zentralen Parteiapparates der KPD 1945/46. In: Wilke (Hg.), Anatomie, S. 119–212, hier 193. 60 Vgl. Ralf Dahrendorf, Über Grenzen. Lebenserinnerungen, Frankfurt a. M. 2004, S. 88 ff.

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und der Sozialdemokratischen Partei in der russischen Zone“ dokumentierte und bereits so seine Sicht auf die Ereignisse gab,61 legte die Führung der KPD in der letzten Vereinigungsphase noch einmal ein enormes taktisches Konzessionsvermögen an den Tag, um den Prozess zu einem endgültigen Erfolg zu führen. Dem Chefideologen der KPD, Anton Ackermann, fiel dabei die Aufgabe zu, mit der Aufsehen erregenden These vom „besonderen deutschen Weg zum Sozialismus“ sozialdemokratisch motivierte Bedenken gegen eine Sowjetisierung zu zerstreuen. Im Statutentwurf der Einheitspartei wurde den Sozialdemokraten mit der Beschreibung eines demokratisch-sozialistischen Weges gleichfalls Entgegenkommen signalisiert. Analog dazu sicherte die KPD ihren „Partnern“ die paritätische Besetzung aller Leitungspositionen zu.62 Der KPDVorsitzende Wilhelm Pieck verkündete schließlich öffentlich, dass wiederholte Vorwürfe gegen die künftige Einheitspartei, sie würde „die totalitäre Macht ähnlich der Hitlerpartei erstreben“, „schamlose“ Propaganda sei, die lediglich der „schlimmsten Reaktion“ in Deutschland Vorschub leiste.63 Intern ließen freilich führende KPD-Funktionäre erkennen, dass sie einen tatsächlichen Kompromiss zwischen beiden Parteien zu keiner Zeit im Auge hatten. Anknüpfend an eigene Exil-Vorstellungen meinte etwa Walter Ulbricht, der eigentliche „starke Mann“ der KPD, auf einer Sekretariatssitzung Ende Dezember 1945, „es kommt darauf an, dass man die alten Sozialdemokraten entfernt“. Zuvor hatte der KPD-Kaderchef Franz Dahlem erklärt: „Wir müssen uns darüber klar sein, dass die konsequente [...] schrittweise Annäherung von KPD und SPD ein ständiger Prozess der Liquidierung aller Grundlagen des sozialdemokratischen Ideals ist.“64 Und Hermann Matern, der im März 1946 als KPD-Bezirksparteichef nach Berlin wechselte, äußerte im kleinen Kreis seiner kommunistischen Funktionäre die Ansicht: Es sei das Ziel der KPD, „die Einheit der Arbeiterklasse herzustellen durch die Vereinigung von zwei Arbeiterparteien, um auf diesem Wege den reformistischen, opportunistischen und Paktierereinfluss in der Arbeiterklasse auszuschalten“.65 Auf dem 15. Parteitag der KPD, der vor dem ostzonalen Gründungskonvent der SED in Berlin stattfand (19./20. 4.1946), machten Ackermann und Dahlem dann noch einmal parteiintern deutlich, dass das kommunistische Selbstverständnis auch in der neuen Partei fortbestehen würde. Während Ackermann die „Lehren von Marx und 61

62 63 64 65

Gustav Dahrendorf, „Zwangsvereinigung der Kommunistischen und der Sozialdemokratischen Partei in der russischen Zone“. In: ders., Der Mensch, das Maß aller Dinge. Reden und Schriften zur deutschen Politik 1945–1954, hg. und eingeleitet von Ralf Dahrendorf, Hamburg 1955, S. 89–124. Vgl. Andreas Malycha, Die SED. Geschichte ihrer Stalinisierung 1946–1953, Paderborn 2000, S. 109–135. Rede Wilhelm Piecks auf dem Gründungsparteitag der SED am 22. 4.1946. In: Protokoll des Vereinigungsparteitages der SPD und KPD am 21. und 22. April 1946 in der Staatsoper „Admiralspalast“ in Berlin, Berlin 1946, S. 85 ff. Rolf Steininger, Deutsche Geschichte. Darstellung und Dokumente in vier Bänden, Band 1: 1945–1947, Frankfurt a. M. 2002, S. 173. Schmeitzner/Donth, Die Partei der Diktaturdurchsetzung, S. 209.

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Engels und erst recht von Lenin und Stalin“ beschwor, ohne die „wir im Dunkeln tappen“ müssten, verpflichtete Dahlem die künftigen Personalabteilungen der SED auf Stalins Kaderpolitik,66 womit er der Einheitspartei „bereits ihre Zukunft als marxistisch-leninistische Kader- und Massenpartei“ vorgab.67 Solche eindeutigen Bekenntnisse decouvrierten die offiziell bemühte Propaganda von der „Kompromissbereitschaft“ der KPD als ein rein taktisch motiviertes Täuschungsmanöver. Dass es der SMAD und der KPD dennoch in so kurzer Zeit (bis April 1946) gelang, die SPD zu beseitigen, und das auf allen Ebenen der SBZ, hatte jedoch nicht nur mit den organisatorischen Eingriffen der Besatzungsmacht und den taktischen Konzessionen der KPD zu tun. Entscheidend waren auch die weit verbreiteten Illusionen innerhalb der Sozialdemokratie und ihre politisch-programmatische Verfassung. Viele Funktionäre und einfache Mitglieder hatten nicht begriffen, dass in der neuen Partei nicht die stärkeren Bataillone entscheidend waren, sondern der straff organisierte und dirigierte Hauptamtlichenapparat der Kommunisten mit ihren teilweise konspirativen Arbeitsmethoden und nicht zuletzt die flächendeckende Anleitung und Kontrolle durch die Propaganda-Verwaltung der SMAD. Als psychologisch bedeutsam sollte sich noch der Umstand erweisen, dass die Führung der Ost-SPD bereits im Gründungaufruf das Postulat der Einheit verfochten hatte – ganz im Gegensatz zu den programmatischen Erklärungen Kurt Schumachers und des letzten gewählten SPDVorsitzenden Hans Vogel, der im Londoner Exil eine Sammlung aller sozialistischen Kräfte jenseits der KPD für erstrebenswert hielt.68 Auf das sozialdemokratische Postulat der Einheit konnten sich jedenfalls SMAD und KPD immer dann berufen, wenn die Führung der Ost-SPD wieder einmal neue Vorbehalte geltend machte. In einer sozialdemokratischen Minderheit hatten SMAD und KPD in den entscheidenden Wochen und Monaten überdies einen Bündnispartner gefunden, ohne den ein solcher Prozess nicht so einfach zu bewältigen gewesen wäre. Neben mehreren Landesvorsitzenden, unter denen die sowjethörigen Heinrich Hoffmann (Thüringen) und Otto Buchwitz (Sachsen) besonderes 66 Protokoll des 15. Parteitages der KPD vom 19./20. 4.1946. In: Dokumente zur Geschichte der kommunistischen Bewegung in Deutschland. Reihe 1945/46. Hg. von Günter Benser und Hans-Joachim Krusch, Band 5, München 1996, S. 70 f. (Dahlem) und 83 (Ackermann). 67 So pointiert das Urteil von Manfred Wilke, Die SED-Gründung und ihre Bedeutung für die deutsche Teilungsgeschichte, S. 54 (Manuskript). Der Verfasser dankt Prof. Wilke für die vorab ermöglichte Einsichtnahme in das Manuskript. 68 Vgl. Vorstand der SPD (London/Vogel) an Mitglieder und Funktionäre der Sozialdemokratischen Partei von Anfang September 1945. In: Mit dem Gesicht nach Deutschland. Eine Dokumentation über die sozialdemokratische Emigration, aus dem Nachlass von Friedrich Stampfer ergänzt durch andere Überlieferungen. Hg. im Auftrage der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien von Erich Matthias, bearbeitet von Werner Link, Düsseldorf 1968, S. 706–709; Rainer Behring, Demokratische Außenpolitik für Deutschland. Die außenpolitischen Vorstellungen deutscher Sozialdemokraten im Exil 1933–1945, Düsseldorf 1999, S. 473–491.

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Gewicht erhielten,69 war es vor allem eine ganze Reihe mitteldeutscher Funktionäre, die durch die sozialdemokratisch-kommunistische Einheitsfront des Jahres 1923 eine maßgebliche Prägung erhalten hatte. So war es nicht verwunderlich, dass ehemalige sozialdemokratische Länder-Ministerpräsidenten der Weimarer Republik wie Paul Frölich (Thüringen) oder Erich Zeigner und Alfred Fellisch (beide Sachsen) den Weg in die Einheit bereitwillig und mit einer gehörigen Portion Pathos gingen. Für sie sollte sich jene Vorstellung als bedeutsam erweisen, die Fellisch bereits 1920 mit der Formel „Hauptprinzip Sozialismus – Hilfsprinzip Demokratie“ beschrieben hatte.70 Dass sich diese Politiker auch in einem anderen als dem sowjetischen Umfeld für die Einheitspartei entschieden hätten, zeigt nicht zuletzt der Fall des ehemaligen sächsischen Fraktionsvorsitzenden Oskar Edel, der in Schweden für die SED optierte und ab 1947 als Landesparteisekretär an der Gleichschaltung der CDU und LDP in Sachsen mitwirkte.71 Auf diese Linkssozialisten konnten sich SMAD und KPD im Vereinigungsprozess verlassen.72 Dennoch wäre es verfehlt, den Gesamtprozess der Vereinigung als freiwilligen Akt zu interpretieren, wie dies vornehmlich die DDR-Geschichtsschreibung suggerierte. Dagegen spricht nicht zuletzt der Selbstbehauptungskampf der Berliner SPD, der aufgrund der Viermächteverwaltung der Stadt erfolgreich endete. Bei einer Ende März 1946 stattfindenden Urabstimmung votierten 82 Prozent der teilnahmewilligen Mitglieder der Westsektoren gegen eine schnelle Vereinigung mit der KPD. Obwohl sich die im Ostsektor wohnenden Mitglieder nicht an der Abstimmung beteiligen durften, entschied sich auch hier eine Mehrheit für eine eigenständige Sozialdemokratie – und zwar nach der Neulizenzierung von SED und SPD für Groß-Berlin (Mai 1946).73 Dass sich letz69 Allerdings handelte es sich gerade bei diesen beiden Landesvorsitzenden um Politiker, die von der Besatzungsmacht in ihre Ämter lanciert worden waren: Während Buchwitz schon im Sommer 1945 den Posten zugespielt bekam, verdrängte die SMA Ende 1945 Hoffmanns Vorgänger Hermann Brill aus diesem Amt. Vgl. Schmeitzner/Donth, Die Partei der Diktaturdurchsetzung, S. 110 ff.; Overesch, Brill, S. 385 ff. 70 Vgl. Mike Schmeitzner, Alfred Fellisch 1884–1973. Eine politische Biographie, Köln 2000, S. 151. 71 Zum Verhalten Edels im schwedischen Exil, wo er der Landesleitung der SPD angehörte und Vorsitzender der Ortsgruppe Malmö war, und als Spitzenfunktionär der SED vgl. Schmeitzner/Donth, Die Partei der Diktaturdurchsetzung, S. 341 ff., 432 f. und 544 f. 72 Während Karsten Rudolph (Die Ausschaltung der SPD aus der sächsischen Politik (1945/46). In: Bernd Faulenbach/Heinrich Potthoff (Hg.), Sozialdemokraten und Kommunisten nach Nationalsozialismus und Krieg. Zur historischen Einordnung der Zwangsvereinigung, Essen 1998, S. 171–183, hier 177) die Rolle dieser Linkssozialisten zu positiv zeichnet und ihren teils tragischen späteren Lebensweg als Argument bemüht, versucht sie Franz Walter (Die Einheit der Arbeiterklasse – Traum und Trugbild. In: Die Zeit (12) vom 15. 3.1996) als „freiheitsfeindlich, antidemokratisch, illiberal, in der Konsequenz totalitär“ zu überzeichnen und gleichsam auf dieselbe Stufe zu stellen wie die Funktionäre der KPD. 73 Zum präzisen Ergebnis der Berliner Urabstimmung und zur Mitgliederentwicklung der Berliner SPD im Jahre 1946 vgl. Harold Hurwitz, Die Anfänge des Widerstandes. Teil 2: Zwischen Selbsttäuschung und Zivilcourage: Der Fusionskampf, Köln 1990, S. 1288–

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ten Endes die anderen Landesverbände der Ost-SPD so diszipliniert in ihr Vereinigungsschicksal fügten, war nicht nur auf die Alternativlosigkeit ihrer Situation zurückzuführen. Der Zwang, von dem bereits Dahrendorf sprach, korrespondierte vor allem in der letzten Phase mit der als unausweichlich betrachteten Unterwerfung der Grotewohl-Führung, die sich von einem geschlossenen Eintritt der eigenen Organisation eine größere Mitbestimmung in der künftigen SED versprach.74 Diese Überlegung sollte sich angesichts der internen kommunistischen Gleichschaltungsstrategie und der Kontrolle der SMAD als pure Illusion erweisen.75 Hätte eine andere Strategie der West-SPD den Ost-Genossen ihr bitteres Schicksal erspart, wie es manche Historiker nahe legen?76 Waren etwa Schumachers Absagen an eine gemeinsame Führung der SPD und einen Reichsparteitag entscheidende Marksteine auf dem Weg zu einer Isolierung der Ost-SPD und deren letztendlicher Liquidierung durch die SMAD? Man mag es in der Tat bedauern, dass der unumstrittene Führer der West-SPD nicht wenigstens den Versuch unternahm, beide Instrumente auszuloten. Doch angesichts auch persönlicher Spannungen zwischen Schumacher und Grotewohl und eines lange aufrechterhaltenen Führungsanspruchs des ZA hätte wohl ein solch fragiles Führungsgremium kaum die nötigen Schutz gewährleisten können, um den kombinierten Druck von SMAD und KPD zu widerstehen. Ähnliches gilt für einen Reichsparteitag, den die Besatzungsmacht auch bei einem größeren Entgegenkommen der West-SPD versucht hätte zu verhindern. Schumachers wenig konziliantes Verhalten lag wohl darin begründet, dass er sich nicht auf ein politisches System einlassen wollte, dass er bereits im August 1945 als nicht-demokratisch beschrieben hatte. Dennoch hätte in seinem Fall ein „Mehr“ an Wagemutigkeit und ein „Weniger“ an Intransigenz dazu führen können, den 1348, hier 1294 f. und 1311 f. Hurwitz macht darauf aufmerksam, dass infolge der SEDGründung im Ostsektor im April 1946 und der dortigen Wiederzulassung der SPD Wochen später ein spürbarer Mitgliederverlust zu verzeichnen war, der im Besonderen durch Rückzug ins Privatleben zustande kam. 74 Walter, Die Einheit der Arbeiterklasse, verweist in diesem Kontext zurecht auf die Tatsache, dass die Sozialdemokraten der SBZ auf ihren Parteitagen auf Kreis-, Bezirks-, Landes- und Zonenebene (März/April 1946) einstimmig für die Einheitspartei votierten. Auf dem ersten Parteitag der West-SPD Anfang Mai 1946 sprach daher Schumacher polemisch sogar davon, dass der ZA die „einzige Partei der Demokraten verschleudert und verhökert“ habe. Diese „Leute“ [die Führung der Ost-SPD, d.V.] seien nicht nur „übergelaufen“, sie hätten auch gewusst, dass sie „jetzt Hunderttausende von Sozialdemokraten an den diktatorischen Leninismus verkaufen wollen“. Rede Schumachers auf dem ersten Nachkriegsparteitag der SPD am 9. 5.1946. In: Albrecht, Kurt Schumacher, S. 411 f. 75 Anfang Mai 1946 skizzierte Schumacher auf dem ersten Parteitag der West-SPD in geradezu prophetischer Weise die Einschmelzungsstrategie der KPD/SMAD und die baldige Auslöschung des sozialdemokratischen Elements in der SED. Vgl. ebd., S. 413. 76 Vgl. Lucio Caracciolo, Der Untergang der Sozialdemokratie in der sowjetischen Besatzungszone. Otto Grotewohl und die „Einheit der Arbeiterklasse“ 1945/46. In: VfZ, 36 (1988), S. 281–318, hier 304 ff.; Matthias Loeding, Otto Grotewohl kontra Kurt Schumacher. Die Wennigsener Konferenz im Oktober 1945, Hamburg 2004.

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Zwangscharakter des ostdeutschen Vereinigungsprozesses noch deutlicher hervortreten zu lassen. Die Westmächte, und allen voran die USA und Großbritannien, sahen sich von der rasanten Entwicklung der politischen Verhältnisse in der SBZ nicht nur überrascht und überrollt, sie werteten sie auch als „schwere Niederlage“ der eigenen Diplomatie.77 Alle ihre Versuche, das politische Überleben der Ost-SPD zu sichern, mussten seit Mitte Februar 1946 als gescheitert gelten. In einer Denkschrift für den britischen Außenminister Bevin ließ der Politische Berater des Oberbefehlshabers der britischen Besatzungstruppen keinen Zweifel über die grundlegende Bedeutung dieser Weichenstellung: „Die SEP wird, wenn sie entsteht, nicht mehr sein als eine KPD unter anderem Namen. Sie wird eine Partei sein, ohne Rücksichtname auf die Ansichten ihrer Mitglieder, die ausschließlich von ihrer Führung dirigiert werden wird. Um den Anschein, völlig totalitär zu sein, zu vermeiden, kann erwartet werden, dass sie der CDU und der LDP einige Sitze in jedem gewählten Gremium zugestehen wird, aber in Wirklichkeit wird Ost-Deutschland von einer Partei regiert werden. Auf diese Weise wird innerhalb eines Jahres nach dem Sieg über das Nazi-Regime erneut ein Teil Deutschlands unter totalitärer Herrschaft stehen.“78

3.

Der Schein der Legitimation: die Herbstwahlen 1946

Westmächte und West-SPD waren sich also einig in der Analyse, gerade Zeuge einer bedeutenden Teilungszäsur geworden zu sein. Für die unmittelbare Zukunft erwarteten sie nichts anderes als die Aufrichtung eines totalitären Systems unter Führung der KPD/SED. Für Schumacher wie für Dahrendorf und die britische Regierung stand es im Frühjahr 1946 außer Frage, dass nach der Liquidierung der Ost-SPD nunmehr auch mit Einheitslistenwahlen in der SBZ zu rechnen sei.79 Eine solche offene Diktaturankündigung hielt die sowjetische Besatzungsmacht allerdings noch für verfrüht: Sie gab sich immer noch der Hoffnung hin, dass der Einheitspartei nun das gelingen möge, was der KPD verwehrt geblieben war – zu einer „wahrhaft nationalen Volkspartei“ zu avancieren. Leicht dürfte ihr das nicht gefallen sein, hatte doch die KPD bei ersten 77 So die entsprechende Verlautbarung im britischen Foreign Office. Zit. nach: Reiner Pommerin, Die Zwangsvereinigung von KPD und SPD zur SED. Eine britische Analyse vom April 1946. In: VfZ (36) 1988, S. 319–338, hier 321. Die amerikanische Besatzungsmacht wertete die Vereinigung als das „bedeutsamste politische Ereignis seit dem Sturz des Nazi-Regimes“. Anjana Buckow, Zwischen Propaganda und Realpolitik. Die USA und der sowjetisch besetzte Teil Deutschlands 1945–1955, Stuttgart 2003, S. 193. 78 „Die Kampagne zur Vereinigung der Sozialdemokratischen und Kommunistischen Parteien in Ost-Deutschland“. Denkschrift Sir William Strangs an Außenminister Bevin vom 16. 4.1946. In: Pommerin, Zwangsvereinigung, S. 325–338, hier 337. 79 Vgl. ebd., S. 321; Interview Kurt Schumachers mit dem „Hannoverschen Kurier“, Februar 1946 (AdsD, NL Kurt Schumacher, Mappe 36, S. 2 f.); Dahrendorf, Zwangsvereinigung, S. 121.

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Kommunalwahlen in der amerikanischen Besatzungszone im Januar 1946 gerade eine ähnlich vernichtende Niederlage erlitten wie Wochen vorher in Österreich. Dennoch hielt Moskau an der eigenen Lageeinschätzung vom Sommer 1945 fest, „aus demokratischen Elementen parlamentarische Vertretungen in Form von Landtagen auf Provinzebene zu bilden“.80 Wohl um Zeit für die organisatorische Vereinigung von SPD und KPD und eine entscheidende Stärkung der SED zu gewinnen, verschob die Besatzungsmacht den ursprünglich ins Auge gefassten Wahltermin von Mai auf Herbst 1946.81 In der Zwischenzeit nahm sie über einen Umweg Kurs auf die Schaffung parlamentarischer Gremien auf Kommunal- und Landesebene. Bei diesen Gremien handelte es sich freilich nicht um gewählte Parlamente, sondern um berufene Repräsentationen, die sich aus Vertretern der SED, der CDU, der LDP, den Gewerkschaften und weiteren „Massenorganisationen“ wie der Freien Deutschen Jugend (FDJ) und den Frauenausschüssen sowie Handwerkern und „hervorragenden Persönlichkeiten des wirtschaftlichen und kulturellen Lebens“ zusammensetzten. Die so geschaffenen „Beratenden Versammlungen“ verfügten über keinerlei parlamentarischen Rechte und waren somit auch nicht in der Lage, auf die Entscheidungen der eingesetzten Landes- und Kommunalverwaltungen wirklich Einfluss zu nehmen.82 Die erste Generalprobe für spätere Wahlen, die die sowjetische Besatzungsmacht fast zeitgleich mit der Eröffnung dieser Beratungsgremien abhalten ließ, war der Volksentscheid über die „Enteignung der Nazi- und Kriegsverbrecher“, der am 30. Juni 1946 nur in Sachsen stattfand. Die Bevölkerung sollte an diesem Tag über die Übergabe eines Großteils der schon im Oktober 1945 sequestrierten Betrieben in Landeseigentum entscheiden. In Abstimmung mit der Besatzungsmacht hatte Walter Ulbricht dem hochindustrialisierten Sachsen die Rolle eines „Schrittmachers in der Veränderung der Produktionsverhältnisse“ in der SBZ und ganz Deutschlands zugebilligt.83 Nach einer generalstabsmäßigen Vorbereitung und der Einspannung aller gesellschaftlichen Kräfte sprachen sich schließlich 77 Prozent der Wahlbeteiligten für den Vorschlag aus. Aus Sicht der SMAD und des kommunistischen Kerns der SED hatte sich damit der Volksentscheid als erfolgreiche Generalprobe für die anstehenden Wahlen erwiesen. Wenige Tage vor dem Tag der Abstimmung, am 19. Juni 1946, hatte die SMAD die Durchführung von Gemeindewahlen in der SBZ be80 Dokument 17: Sobolev und Semenov an das NKID vom 8. 7.194. In: Laufer / Kynin (Hg.), Die UdSSR und die deutsche Frage, Band 2, S. 52 f., hier 52. 81 Dokument 88: Bericht von Semenov vom 2. März 1946 über die Gemeindewahlen in der amerikanischen Zone. In: ebd., S. 265–272, hier 271, und Einleitung, S. XXXVII. 82 Erste Verordnung zur Durchführung der Verordnung vom 13. Mai 1946 über die Bildung von beratenden repräsentativen Körperschaften bei der Landesverwaltung und den Selbstverwaltungen im Bundeslande Sachsen. In: Gesetz- und Verordnungsblatt Land Sachsen, Nr. 16 vom 29. 6.1946, S. 242 f. 83 Stefan Creuzberger, „Klassenkampf in Sachsen“. Die Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD) und der Volksentscheid am 30. Juni 1946. In: HPM, 2 (1995), S. 119–130, hier 121.

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fohlen. Die Stimmungsberichte des Landesnachrichtenamtes Sachsen ließen einen „positiven Ausgang“ des Volksentscheids erwarten, so dass die Besatzungsmacht auch für die Gemeindewahlen auf entsprechende Erfolgchancen der Einheitspartei hoffen konnte. Den Wahlreigen sollte deshalb nicht von ungefähr das Land Sachsen am 1. September 1946 eröffnen. Erst danach durfte die Bevölkerung der anderen vier Länder an die Wahlurnen treten.84 Was die sowjetische Besatzungsmacht von den Gemeindewahlen erwartete, erläuterte ein geheimes Rundschreiben des Obersten Chefs der SMAD. Darin erklärte er das Ziel der Wahlen mit den Worten, dass von einem Wahlerfolg erst dann die Rede sein könne, wenn die „Einheitspartei die absolute Mehrheit der Stimmen auf sich vereinigen würde“.85 Die Besatzungsmacht unternahm in den darauf folgenden Wochen alles, um dieses Ziel zu erreichen. Obwohl sie Wahlen nach getrennten Listen gestattete, waren doch die Bedingungen, unter denen sie stattfanden, keineswegs mit jenen zu Zeiten der Weimarer Republik oder in den westlichen Zonen vergleichbar. Verfügte die wahlberechtigte Bevölkerung durch die Einschmelzung der SPD ohnehin nur über ein eingeschränktes Angebot an politischen Alternativen, so gestaltete die SMAD auch den Wahlkampf äußerst restriktiv. Die Mittel und Methoden, derer sie sich dabei bediente, waren vielgestaltig: Im Falle der SED kam die massive Unterstützung durch eine größere Papierzuteilung, eine eigens organisierte Kinowerbung und die Herstellung von „Agitationsmaterial“ zum Tragen. Im Falle von CDU und LDP erteilte die Besatzungsmacht Redeverbote und empfindliche Geldstrafen wegen angeblicher Verletzung bestehender Anordnungen. Darüber hinaus sorgte sie für eine Verhinderung von bestimmten Kandidaten der CDU und LDP und für kurzzeitige Verhaftungen von Funktionsträgern dieser Parteien.86 Der spektakulärste, weil wirkungsvollste Eingriff der Besatzungsmacht bestand jedoch in der Nichtregistrierung von liberal- und christdemokratischen Ortsgruppen. Parteien konnten nämlich nur dort mit eigenen Kandidaten antreten, wo sie auch über eigene Ortsgruppen verfügten, die bei der SMA registriert werden mussten. Am Tag der Wahl konnte die CDU nur in ca. 2100, die LDP nur in 1 600 von insgesamt 11 600 Orten der SBZ antreten, obwohl beide Parteien über 4 050 bzw. 3100 Ortsgruppen verfügten.87 Welche Auswirkungen diese Bestimmungen hatten, lässt sich am Beispiel Sachsens, dem bevölkerungsreichsten Land der SBZ, gut verdeutlichen: Hier konnte die SED mit ihren 2 402 Ortsgruppen in fast allen 2 410 Gemeinden die Wahl bestreiten, während CDU und LDP nur auf der Grundlage ihrer 654 bzw. 421 Ortsgruppen Kandidaten aufstellen konnten. Wie auf der Ebene der SBZ hatte die Be84 Vgl. Schmeitzner/Donth, Die Partei der Diktaturdurchsetzung, S. 248. 85 Stefan Creuzberger, Die sowjetische Besatzungsmacht und das politische System der SBZ, Weimar 1996, S. 49. 86 Vgl. ebd., S. 44–76; Schmeitzner/Donth, Die Partei der Diktaturdurchsetzung, S. 248 ff. 87 Vgl. SBZ-Handbuch. Staatliche Verwaltungen, Parteien, gesellschaftliche Organisationen und ihre Führungskräfte in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands 1945– 1949. Hg. von Martin Broszat und Hermann Weber, München 1993, S. 385.

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satzungsmacht auch in Sachsen fast genau die Hälfte der bestehenden Ortsgruppen beider Parteien nicht registriert.88 Aufgrund dieses Prinzips sah sich die SED in vielen Orten der SBZ in der Lage, als einzige politische Kraft Kandidaten ins Feld zu führen. Dort hatte sie also die Wahlen bereits gewonnen, ehe es überhaupt zur Stimmauszählung kam. Und in denjenigen Orten, in denen die Bevölkerung eine solche Konstellation mit über 50 Prozent Stimmenthaltung beantwortete, konnte es auch zu direkten Wahlfälschungen kommen, um so der SED die notwendige absolute Mehrheit zu sichern.89 Den wohl einzigen „Fehler“, den die SED beging, war wohl der, dass sie ihren wahlstrategischen Hauptstoß gegen die christlich-sozialistisch argumentierende CDU richtete, die der Einheitspartei ihrem Wesen nach als genauso „reaktionär“ galt wie die LDP.90 Die Überschätzung der CDU als mögliche „sozialistische“ Konkurrenz, auf die auch Stimmen ehemaliger Sozialdemokraten entfallen könnten, spiegelte sich in den Wahlergebnissen wieder, nach denen die SED mit Abstand als stärkste, die LDP jedoch als zweitstärkste Kraft ins Ziel ging: Tabelle 1: Gemeindewahlen in der SBZ vom 1.–15. September 194691 Länder

WahlAbg. berechtigte Stimmen

Gültige Stimmen

SED

LDP

CDU

Brandenburg

1 587 875

1481823

1 344 353

803 992 59,8 %

233 882 17,4 %

253158 18,8 %

MecklenburgVorpommern

1159 162

1 073 868

973 324

677177 69,6 %

102 540 10,5 %

162 730 16,7 %

Sachsen

3 547 575 3 322 342 2 996 364

1608 851 53,7 %

671 271 22,4 %

655147 21,9 %

Sachsen-Anhalt

2 501889

2 351 539

2118 720

1 253 489 59,2 %

493 991 23,3 %

328 557 15,5 %

Thüringen

1775 475

1 624 875

1489 861

752 396 50,5 %

383 046 25,7 %

270 882 18,2 %

9 854 447 8 922 622

5 095 905 57,1 %

1884 730 21,1 %

1670 474 18,7 %

SBZ

10 571976

Trotz der massiven Bevorzugung der SED durch die Besatzungsmacht und die Benachteiligung von CDU und LDP hatte die Einheitspartei sicherlich auch von einer Propaganda profitieren können, die die „Wiederaufbauerfolge“ der Ein88 Vgl. Schmeitzner/Donth, Die Partei der Diktaturdurchsetzung, S. 249. 89 So z. B. in der sächsischen Kleinstadt Gröditz. Vgl. Silke Klewin/Mike Schmeitzner, Anklage: „Sozialdemokratismus“. Der Fall Benno von Heynitz. In: Hilger/Schmeitzner/ Schmidt (Hg.), SMT 2, S. 417–437, hier 421 f. 90 Schmeitzner/Donth, Die Partei der Diktaturdurchsetzung, S. 248. 91 Vgl. SBZ-Handbuch, S. 396. Mandate erhielten auch der VdgB, die Frauenausschüsse und der Kulturbund.

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heitspartei des letzten Jahres ebenso stark herausstellte wie die Einheits-, Demokratie- und Sozialismusparolen. Obwohl sie sich offiziell gegen die Charakterisierung als diktatorische Partei zu wehren versuchte, wurde sie in nicht wenigen Fällen als totalitäre Kraft und als „Russenpartei“ wahr genommen.92 Größere Gewinne konnte ihre Konkurrenz allerdings nicht daraus ziehen, da sich die bereits genannten Hürden als zu stark erwiesen. Immerhin war es jedoch beiden bürgerlichen Kräften gelungen, in vielen größeren Städten zusammen die SED zu überrunden – so etwa in Dresden, Leipzig, Halle, Erfurt, Gera, Potsdam oder Zwickau. Nur in wenigen früheren sozialdemokratischen Hochburgen oder Arbeitermetropolen wie Magdeburg und Chemnitz konnte die SED die Hälfte der Stimmen auf sich vereinigen. Auffällig ist, dass gerade in den großen Städten die dezidiert antisozialistisch auftretende LDP zumeist wesentlich bessere Ergebnisse erzielen konnte als die CDU; in der Großstadt Erfurt wurde sie sogar mit 42 Prozent stärkste Partei.93 Dort und in einigen kleineren Städten kamen Liberal- oder auch Christdemokraten in den Genuss von Bürgermeisterämtern, jedoch nicht überall, wo sie zusammen über komfortable Mehrheiten verfügten. Nach einem vor den Wahlen gefassten Blockbeschluss der Parteien hatte nämlich nur die Partei Anspruch auf das Bürgermeisteramt, die die meisten Stimmen erringen konnte. Damit hatte sich die SED auch im Falle einer relativen Mehrheit von nur 30 oder 40 Prozent das Amt gesichert. In der Folge gelang es der SED zudem mit Hilfe der Besatzungsmacht, eigene politische Vorgaben auch dort durchzusetzen, wo bürgerliche Stadtverordnetenmehrheiten existierten.94 Die für die SED im Großen und Ganzen recht erfolgreich organisierten Gemeindewahlen veranlasste die SMAD noch im September, nunmehr Landtagsund Kreistagswahlen für den 20. Oktober 1946 anzusetzen. Am selben Tag sollten auch für Groß-Berlin die Stadtverordnetenwahlen stattfinden, die aufgrund der Zulassung der SPD in allen Sektoren für besondere Spannung sorgten. Obwohl die SED nach außen hin die Fortsetzung ihres Siegeszuges von Anfang September beschwor, war der Führung durchaus klar, dass sie diesmal nicht wieder ein Ergebnis von 57 Prozent würde einfahren können. Da bei den Kreisund Landtagswahlen die Stimmen auf Landeslisten und nicht auf Ortslisten entfielen, war den beiden Konkurrenten mit formalen Restriktionen nicht mehr beizukommen. Genau diesen Punkt analysierte der paritätische SED-Vorsitzende Otto Grotewohl auf einer Landeskonferenz der sächsischen SED am 28. September, als er von den „Vorbelastungen“ jener 57 Prozent sprach, die in der „Wahltechnik des Wahlgesetzes liegen, die ganz automatisch zu einer Vermin92 Vgl. Malycha, SED, S. 175 ff. 93 In Erfurt kam die SED auf 33 und die CDU auf 24 Prozent. Vgl. Karl-Heinz Hajna, Die Landtagswahlen 1946 in der SBZ. Eine Untersuchung der Begleitumstände der Wahl. Mit dem Kapitel „Entzug des aktiven und passiven Wahlrechts“ von Britta Oltmer, Frankfurt a. M. 2000, S. 249 f. 94 Zum Dresdner Beispiel vgl. Widera, Dresden, S. 353–379.

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derung der 57 Prozent der Stimmen beim Ausgang der kommenden Wahlen führen müssen“. Durch die uneingeschränkte Stimmenabgabe für CDU und LDP verschiebe sich „für uns die errungene Prozentzahl von 57 Prozent ganz erheblich, [...] so dass wir gut tun, real und nüchtern von der Erkenntnis auszugehen, [...] bei den kommenden Wahlkämpfen 40 Prozent als absolut sicher für uns zu werten [...], so dass wir 10 bis 15 Prozent aufholen müssen, um eine sichere Mehrheit [...] herzustellen“.95 Sachsens Innenminister Kurt Fischer (KPD/SED) trug diesen Einwänden insofern Rechnung, als er in diesem Land die Aufstellung gesonderter Landeslisten des Kulturbundes, der Frauenausschüsse und des VdgB durchsetzte. Seinen SED-Vorstandskollegen rechnete er vor, dass nur über diesen Umweg faktisch eine absolute Mehrheit zu erzielen sei: „Wenn wir auf diese drei Listen auch nur 4–5 Mandate dazubekommen, dann braucht uns auch im eng begrenzten Falle für eine Mehrheit im kommenden Parlament nicht bange zu sein.“96 Sieht man einmal davon ab, wie bedenkenlos die SED schon zu diesem frühen Zeitpunkt die vorgeblich überparteilichen „Massenorganisationen“ als Stimmenköder benutzte, so sollte sich Fischers Taktik als durchaus erfolgreich erweisen; erfolgreicher immerhin als in allen anderen Ländern der SBZ, wo bei den Wahlen nur der VdgB in Erscheinung trat, nicht aber die Frauenausschüsse und der Kulturbund. Trotz oder gerade wegen der nun weniger manipulierbaren „Wahltechnik“ machte die Propaganda-Verwaltung der SMAD auch diesmal wieder von ihren bewährten Restriktionen reichlich Gebrauch: Der verdeckten und offenen Unterstützung der SED und der Behinderung der bürgerlichen Konkurrenz. Die Besatzungsmacht versuchte sogar auf die künftige Zusammensetzung der bürgerlichen Landtagsfraktionen Einfluss zu nehmen, in dem sie offene Kritiker der bisherigen Entwicklung von den Landeslisten einfach strich: In Sachsen-Anhalt betraf dies z. B. den SED-Kritiker Wilhelm Falk, in Sachsen die Landesjugendreferenten Wolfgang Mischnick und Ruth Ehrlich, die sich beide gegenüber einer Zusammenarbeit mit der FDJ äußerst skeptisch verhielten.97 Trotz einer solchen massiven Behinderung erhielten CDU und LDP in Brandenburg und Sachsen-Anhalt gemeinsam absolute Mehrheiten. In den anderen drei Ländern kam die SED nur im Verein mit den so genannten „Hilfslisten“ (VdgB, Frauenausschüsse, Kulturbund) auf über 50 Prozent der Stimmen und Mandate, wobei sich im Falle Sachsens die Aufstellung aller drei Hilfslisten und die präzisen Berechnungen Fischers als punktgenau erwiesen:

95 Zit. nach Markus Jodl, Amboss oder Hammer? Otto Grotewohl. Eine politische Biographie, Berlin 1997, S. 158 f. 96 Protokoll der Landesvorstandssitzung der SED Sachsen vom 20. 9.1946 (SächsHStAD, SED-BPA Dresden, A/755, Bl. 200 f.). 97 Vgl. Schmeitzner/Donth, Die Partei der Diktaturdurchsetzung, S. 256.

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Tabelle 2: Landtagswahlen in der SBZ vom 20. Oktober 194698 Länder

Wahlberechtigte

Abg. Stimmen

Gültige Stimmen

SED

LDP

CDU

VdgB

1 655 980

1 515 987 1446 819

634 787 298 607 442 634 43,9 % 20,6 % 30,6 %

70 791 4,9 %

Mecklenburg1 308 727 Vorpommern

1178 211 1113 748

551594 49,5 %

138 662 379 829 12,5 % 34,1 %

43 663 3,9 %

Sachsen

3 803 416

3 518 108 3 290 995

1616 068 49,1 %

813 224 766 859 24,7 % 23,3 %

57 356 1,7 %

SachsenAnhalt

2 700 633

2 473184 2 330 511

1 068 703 696 669 507 765 45,8 % 29,9 % 21,8 %

57 374 2,5 %

Thüringen

1986 081

1737 786 1 661859

Brandenburg

SBZ

11454 837 10 423 276 9 843 932

818 967 49,3 %

472 959 28,5 %

314 742 18,9 %

55191 3,3 %

4 690 119 2 420 121 2 411829 284 375 47,6 % 24,6 % 24,5 % 2,9 %

Nur im Falle Groß-Berlins, wo Wahlen zum Stadtparlament zum selben Zeitpunkt stattfanden (20.10.1946), ließ sich erkennen, wie hoch tatsächlich der Zuspruch für die SED bei Fortexistenz der SPD und unter einer Vier-MächteVerwaltung war, die fairere Bedingungen für alle Parteien garantierte. Obwohl die Berliner SPD durch die Abspaltung einer linken Minderheit und ihrer verspäteten Zweit-Lizenzierung (Mai 1946) gehandicapt schien und noch keineswegs mit ihrem später so bekannten Frontmann Ernst Reuter in den Wahlkampf ziehen konnte, vermochte sie doch die größeren Sympathien der Bevölkerung zu verbuchen: Ihr Widerstand gegen die sowjetische Besatzungsmacht und neuerliche Diktaturbestrebungen hatten ihr seit Frühjahr selbst auf bürgerlicher Seite den Ruf einer Freiheitspartei eingetragen. Unter diesen Voraussetzungen gelang es der SED nicht einmal mit massiver Unterstützung der SMAD, 20 Prozent der Stimmen und Mandate zu erzielen. Wahlsieger in der Hauptstadt des Vierzonen-Deutschlands wurde die als „Zehlendorfer Krankenhaus-Klub“ verspottete SPD,99 der fast die absolute Mehrheit zufiel. Nicht einmal im sowjetischen Sektor Berlins war es der SED gelungen, die linksdemokratische Konkurrenz zu schlagen. Es war wohl diese Katastrophe am symbolträchtigsten deutschen Ort, der die Führung der SED bewog, nie mehr Wahlen nach getrennten Listen zuzulassen: 98 Vgl. SBZ-Handbuch, S. 397. In Sachsen erzielten die Frauenausschüsse und der Kulturbund mit eigenen Listen noch jeweils 0,6 Prozent und damit ein Mandat. 99 So die Kennzeichnung durch Pieck auf dem Vereinigungsparteitag am 22. 4.1946. In: Protokoll des Vereinigungsparteitages, S. 95. Der vorangegangene (Neu)Gründungsparteitag der Berliner SPD war in einer Zehlendorfer Schule, nicht jedoch in einem Krankenhaus abgehalten worden.

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Tabelle 3: Stadtverordnetenwahlen in Groß-Berlin am 20. Oktober 1946100 Sektoren

WahlAbg. Gültige berechtigte Stimmen Stimmen

SPD

SED

CDU

LDP

Sowjet. Sektor

854106

801 092

782 367

341400 43,6 %

233 458 29,9 %

146 220 18,7 %

61 289 7,8 %

Amerik. Sektor

708 388

650 323

638 539

331829 51,9 %

80 922 12,7 %

158 398 24,8 %

67 390 10,6 %

Britischer Sektor

443 214

400 122

392 743

199 584 50,8 %

40 651 10,4 %

106 089 27,0 %

46 419 11,8 %

Franz. Sektor

301414

277140

271 689

142 796 52,6 %

57 551 21,3 %

51718 19,0 %

19 624 7,2 %

2 307122 2128 677 2 085 338

1 015 609 48,7 %

412 582 19,8 %

462 425 22,2 %

194 722 9,3 %

GroßBerlin

Der Ausgang der Berliner Wahlen zeigte zweierlei: Zum einen verdeutlichte er, dass es in der unmittelbaren Nachkriegszeit Mehrheiten für einen freiheitlichdemokratischen Sozialismus gab, wie ihn die Berliner SPD seit ihrem Unabhängigkeitskampf ab Frühjahr 1946 selbst verkörperte.101 Zum anderen deuteten sie die enormen Wahlverschiebungen an, zu denen es durch den organisierten Wegfall der SPD in der SBZ gekommen war: Von den Stimmen, die KPD/SED und CDU/LDP bei den Landtagswahlen gemeinsam erhalten hatten – nämlich jeweils annähernd 50 Prozent – blieben in Berlin gerade einmal die Hälfte übrig. Die andere Hälfte fiel komplett an die SPD. Von daher sind Annahmen darüber, wie wohl die politische Landkarte der SBZ bei einem Fortbestand der SPD ausgesehen hätte, kaum als haltlose Spekulationen zu bezeichnen: Verglichen mit ihren Ergebnissen bei den Landtagswahlen hätte die SED sicher mehr als auf die Hälfte der Stimmen verzichten müssen, aber auch die beiden bürgerlichen Parteien wären um ein gutes Drittel oder Viertel ihrer Stimmen geschrumpft. Eine derartige Analyse würde auch dann nicht grundsätzlich an Gewicht verlieren, wenn man der Berliner Bevölkerung eine besondere antidiktatorische Resistenz zubilligen wollte, wie es etwa Hannah Arendt tat.102 100 Vgl. SBZ-Handbuch, S. 422. 101 Der Landesverband Groß-Berlin der SPD warb ab 1946 mit der Parole „Freiheit – Demokratie – Sozialismus“. Dahinter verbarg sich das Konzept eines wirtschaftlichen Wiederaufbaus Berlins auf gemeinwirtschaftlicher, genossenschaftlicher und privatwirtschaftlicher Grundlage, unter voller Wahrung von politischem Pluralismus und Gewaltenteilung. Vgl. SPD Groß Berlin 1947–1948. Als Manuskript gedruckt für die Delegierten zum 5. Landesparteitag am 8. und 9. Mai 1948, S. 70 ff. 102 Arendt kam während eines längeren Aufenthaltes in Westdeutschland und Berlin 1949/50 zu dieser Auffassung. Vgl. Hannah Arendt, Besuch in Deutschland. Mit einem Vorwort von Henryk M. Broder und einem Porträt von Ingeborg Nordmann, Berlin 1993, S. 36 f.

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Im Ergebnis der Landtagswahlen in der SBZ und den Stadtverordnetenwahlen in Groß-Berlin kam es bis Ende 1946 zur Bildung von Allparteienregierungen, die dem äußeren Schein nach denjenigen in den Westzonen glichen. Doch abgesehen von Sachsen-Anhalt, wo mit Erhard Hübener ein Liberaldemokrat Ministerpräsident wurde, konnte die SED das höchste Amt auch weiterhin mit eigenen Leuten besetzen – so in Sachsen mit Rudolf Friedrichs (SPD/SED), in Thüringen mit Rudolf Paul (DDP/SED), in Brandenburg mit Karl Steinhoff (SPD / SED) und in Mecklenburg-Vorpommern mit Wilhelm Höcker (SPD / SED). Als bedeutsamer erwies sich jedoch die Tatsache, dass SED und SMA darauf beharrten, auch sämtliche Schlüsselressorts wie das Innen-, das Volksbildungs- und das Wirtschaftsministerium in die Hände zuverlässiger Kader zu legen. Anderweitige Vorstellungen von CDU und LDP liefen ins Leere. Die kommunistische Konzeption von 1945, das eher dekorative Amt des Ministerpräsidenten mit Sozialdemokraten zu besetzen, die Länder-Innenministerien jedoch als eigene Schaltzentralen auszubauen, kam erneut zur Geltung: Wie schon zuvor wirkten auch nach den Wahlen die Altkommunisten Kurt Fischer (Sachsen), Ernst Busse (Thüringen), Robert Siewert (Sachsen-Anhalt), Hans Warnke (Mecklenburg-Vorpommern) und Bernhard Bechler (Brandenburg) als Parteiminister des Inneren. Sie konnten so weiterhin die Kaderpolitik in den Staatsverwaltungen steuern und neue politische Polizeistrukturen aufbauen. Den beiden Leitern der jetzt im „Ministerium für Wirtschaft und Wirtschaftsplanung“ umbenannten Ressorts in Sachsen und Brandenburg, Fritz Selbmann (KPD/SED) und Heinrich Rau (KPD/SED), blieb es schließlich vorbehalten, auf der Basis bereits verstaatlichter Betriebe ein neues Planwirtschaftssystem in die Wege zu leiten.103 Konnten trotz dieser aufgezählten Einschränkungen die Herbstwahlen von 1946 als „Demokratisierung“ des öffentlichen Lebens gelten, von der hin und wieder immer noch die Rede ist?104 Von bestimmten formalen Kriterien her betrachtet (wie dem Prinzip der Listenwahl) entsprachen sie in der Tat den in Weimar und den Westzonen gepflegten Standards, nur änderte dies nichts am Gesamtcharakter der Wahlen und am politischen Gesamtsystem: Die prophylaktische Ausschaltung spezieller Parteien (SPD) sowie die Manipulation der organisatorischen Grundlagen und sogar der Wahlgesetze zugunsten einer Partei (SED) lassen selbst diese ersten und einzigen Listenwahlen in der SBZ / DDR als nur bedingt frei erscheinen. Sie können auch deswegen nicht als entscheidender Schritt beim Aufbau einer parlamentarischen Demokratie bezeichnet werden, da sich die Reihenfolge der politischen Entscheidungsebenen nicht wirklich veränderte: Auch nach den Wahlen blieb die für die Steuerung des Parteiensystems bedeutsame Propaganda-Verwaltung der SMAD die erste Entscheidungsebene, eine zweite bildete die SED und eine dritte der Parteienblock. 103 Vgl. Malycha, Die SED, S. 186 f.; Winfrid Halder, „Modell für Deutschland“ Wirtschaftspolitik in Sachsen 1945–1948, Paderborn 2001, S. 344 ff. Das Amt des Wirtschaftsministers übernahm lediglich in Mecklenburg ein CDU-Politiker. 104 So z. B. bei Reiner Groß, Geschichte Sachsens, Berlin 2001, S. 287.

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Erst dann – und nachdem alle Entscheidungen bereits präjudiziert worden waren – traten die Parlamente in Erscheinung, denen im Prinzip nur noch die Aufgabe zufiel, die eigentlich schon gefällten Entscheidungen formal zu bestätigen. Dass diese Art „Demokratie“ in Groß-Berlin an ihre Grenzen stoßen würde, lag auf der Hand: Da die SPD auch in den Bezirken des sowjetischen Sektors die Mehrheit errungen hatte, stellte sie nicht nur den Oberbürgermeister und die Mehrzahl der Fachbürgermeister, sondern auch die Bezirksbürgermeister. Doch der Aufbau einer funktionierenden parlamentarischen Demokratie in ganz Berlin blieb schnell auf der Strecke, da sowjetische Besatzungsmacht und SED die Beschlüsse des Parlaments nicht akzeptierten und statt dessen mit Absetzungen, Vetos und bewusster Ignoranz gegenüber der Legislative ihre eigenen Machtpositionen zu behaupten versuchten.105 In den Ländern der SBZ konnten dagegen SMA und SED die sozialökonomischen Weichenstellungen mit entsprechenden Enteignungs- und Planwirtschaftsgesetzen „parlamentarisch“ weiter treiben und in den bis Anfang 1947 erarbeiteten Länderverfassungen festschreiben. Eine Verankerung der Gewaltenteilung wurde – anders als in Berlin oder in den westzonalen Ländern – nicht einmal auf verfassungsrechtlichem Wege vorgenommen.106 Versuche der Landtagsfraktionen von CDU und LDP, eigene Vorstellungen zu verwirklichen, scheiterten an den bereits genannten Vorfeldinstanzen.107 Die Spielräume, die den Abgeordneten dieser Fraktionen blieben, konzentrierten sich zumindest noch für 1947 auf die Möglichkeit einer weitgehend ungehinderten Meinungsäußerung; in den Folgejahren war auch das kaum mehr möglich.

4.

Der Weg in die offene Diktatur: Stalinisierung – Gleichschaltung – Einheitslistenwahlen (1946–1950)

Unmittelbar nach den Herbstwahlen 1946, deren Ergebnisse von der Besatzungsmacht als enttäuschend betrachtet wurden, unternahm die PropagandaVerwaltung der SMAD erhebliche Anstrengungen, die SED organisatorisch und ideologisch zu stärken, wie es in ihrem Duktus hieß.108 Einerseits orientierte sie auf den Ausbau der Betriebsgruppen der SED und auf eine weitere Zentralisierung des Organisationskörpers durch die Zerschlagung der aus der SPD 105 Vgl. Arthur Schlegelmilch, Hauptstadt im Zonendeutschland. Die Entstehung der Berliner Nachkriegsdemokratie 1945–1949, Berlin 1993, S. 125 ff. 106 In Berlin wurde eine Verfassung erst im April 1948 mit den Stimmen von SPD, CDU und LDP verabschiedet; die SED hatte u. a. auf dem Grundsatz der Gewalteneinheit bestanden. Vgl. ebd., S. 491 und 500 f. 107 Im brandenburgischen Landtag, in dem die Fraktionen von CDU und LDP über eine Mehrheit verfügten, gelang es ihnen mit zwei SED-Abgeordneten sozialdemokratischer Provenienz, wirtschaftssozialistische Leitlinien der SED aus deren Verfassungsentwurf zu entfernen. Ein Eingriff der SMA führte zur „Korrektur“. Vgl. Creuzberger, Die sowjetische Besatzungsmacht, S. 127 ff. 108 Vgl. Schmeitzner/Donth, Die Partei der Diktaturdurchsetzung, S. 292.

300

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übernommenen Bezirksparteistrukturen. Andererseits ordnete sie die Bildung eines weit verzweigten Parteischulungsimperiums an, dass neben der Vermittlung der marxistisch-leninistischen Ideologie vor allem der Entwicklung kommunistischer Kader für die Partei, aber auch für Positionen in den Verwaltungen und der Wirtschaft dienen sollte. Noch Ende 1946 wurden die ersten der insgesamt 130 Kreisparteischulen aufgebaut und der Ausbau der bereits bestehenden Landesparteischulen vorangetrieben.109 Der Weg der SED zur marxistisch-leninistischen Staatspartei war allerdings auch und vor allem durch innerparteiliche Säuberungswellen gekennzeichnet, die unmittelbar nach den Herbstwahlen einsetzten und 1948/49 einen Höhepunkt erreichten. Es bestand daher kein Zweifel, dass Moskau seit den Wahlen eifrig darum bemüht war, die eigene Zone noch stärker politisch zu sichern und in den eigenen Machtbereich zu integrieren. Das bekamen zuerst die früheren SPD-Mitglieder zu spüren, die, blieben sie auf grundsatztreuen Positionen stehen, bald schon in die innerparteiliche Defensive gerieten und nach nur weniger als einem Jahr ihre Ämter verloren: Die Säuberung der Partei begann auf Länderebene, und hier wiederum in Sachsen, wo bereits im Spätherbst 1946 renitente Landessekretäre wie der vormalige SPD-Hoffnungsträger Arno Wend aus ihren Ämtern geworfen oder, wie der Freitaler Oberbürgermeister Arno Hennig (SPD/SED), zur Flucht in den Westen veranlasst wurden.110 Direkte Verhaftungen und Parteiausschlüsse waren in diesem Stadium noch eher selten. Vielmehr konnte es passieren, dass eine so bekannte Person wie der Rostocker Oberbürgermeister Albert Schulz (SPD/ SED) im Frühjahr 1947 verhaftet und von einem SMT zu zehn Jahren Lagerstrafe verurteilt wurde, um einige Wochen später wieder in sein Amt zurückkehren zu dürfen.111 So ein „Warnschuss“ sollte nicht nur den Betroffenen gefügig machen, sondern auch die einstigen Anhänger disziplinieren und die innerparteiliche Meinungsfreiheit Stück für Stück einebnen. Der nächste Schritt der sozialdemokratischen Einschmelzung bestand im innerparteilichen Elitenwechsel, der sich mit kräftiger Unterstützung der Propaganda-Verwaltung der SMAD in den Sommermonaten des Jahres 1947 auf allen Ebenen der Partei vollzog. Im Zuge der ersten SED-Parteiwahlen wurden zumeist ältere sozialdemokratische Funktionäre auf Kreis- und Landesebene durch jüngere und zumeist angepasstere oder schon auf den Parteischulen „erzogene“ Kader ersetzt, womit Ulbrichts Forderung von Ende 1945 in Erfüllung ging. Allein im Landesverband Sachsen betraf dies etwa 61 Prozent der Funk-

109 Vgl. Alexander Haritonov, Ideologie als Institution und soziale Praxis. Die Adaption des höheren sowjetischen Parteischulungssystems in der SBZ/DDR (1945–1956), Berlin 2004, S. 17 ff.; Thekla Kluttig, Parteischulung und Kaderauslese in der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands 1946–1961, Berlin 1997, S. 146 ff. 110 Schmeitzner/Donth, Die Partei der Diktaturdurchsetzung, S. 289 ff. 111 Vgl. Mike Schmeitzner / Meik Woyke, Oberbürgermeister auf Bewährung. Der Fall Albert Schulz. In: Hilger/Schmeitzner/Schmidt (Hg.), SMT 2, S. 519–535.

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tionäre.112 Von der alten Führungselite blieben diejenigen übrig, die sich zu arrangieren versuchten oder aber den marxistisch-leninistischen Weg bewusst beschritten. In Thüringen war das Heinrich Hoffmann, in Sachsen Otto Buchwitz und in Mecklenburg-Vorpommern Wilhelm Höcker.113 An der Spitze der Partei bewegten sich Otto Grotewohl, Max Fechner und Helmut Lehmann ideologisch auf die Altkommunisten zu. Das endgültige Scheitern aller deutschlandpolitischen Verhandlungen auf den Außenministerkonferenzen in London und Moskau und auf der Münchner Konferenz der deutschen Ministerpräsidenten 1947 verschärfte diesen Prozess erheblich. So war es nicht weiter verwunderlich, dass Walter Ulbricht auf dem 2. Parteitag der SED im September 1947 die Formel von der marxistisch-leninistischen „Partei neues Typus“ erstmals der Parteiöffentlichkeit vorstellte, und der sächsische Polizeiminister Kurt Fischer fast zeitgleich zum Kampf gegen den innerparteilichen Sozialdemokratismus und die westliche „Wühlarbeit“ aufrief. Seit Frühjahr 1948 sanktionierten dann zentrale Vorstandsbeschlüsse der SED die Entwicklung auf den unteren Ebenen der Partei. Jetzt wurde parteioffiziell der Marxismus-Leninismus zur verbindlichen ideologischen Doktrin erklärt, mit Parteikontrollkommissionen neue Instrumente zur organisatorischen und ideologischen Überwachung der Mitglieder etabliert und der „demokratische Zentralismus“ offen proklamiert. Die Transformation der SED in eine kommunistische „Partei neuen Typus“ erreichte mit der 1. Parteikonferenz der SED Anfang 1949 und der dort beschlossenen Bildung neuer Führungsorgane (Politbüro) und der Aufhebung der Parität einen Höhepunkt, wobei unter Transformation nicht nur eine Rückbildung der SED in die ehemalige KPD zu verstehen ist, sondern auch eine partielle Weiterentwicklung gerade in organisatorischer und ideologischer Hinsicht.114 Spätestens jetzt war der Zeitpunkt gekommen, wo sich vor allem führende ehemalige SPD-Mitglieder in der Einheitspartei entscheiden mussten, entweder den Weg der marxistisch-leninistischen Anpassung weiter mitzugehen und schließlich zu vollenden, oder aber einen gerade noch glaubwürdigen Bruch zu vollziehen. Während die einen (wie Grotewohl, Fechner, Lehmann) den ersten Weg beschritten und sich dabei teilweise sogar zu Kronzeugen der Parteitransformation instrumentalisieren ließen,115 flüchteten andere Prominente wie 112 Vgl. Sowjetische Politik, S. 116 ff.; Schmeitzner/Donth, Die Partei der Diktaturdurchsetzung, S. 340. 113 Zur Entwicklung führender SPD-Funktionäre der Länder der SBZ vgl. jetzt umfassend Solveig Simowitsch, „Werden als Wortbrüchige in die Geschichte der SPD eingehen“ Sozialdemokratische Konvertiten: Wilhelm Höcker, Carl Moltmann, Otto Buchwitz und Heinrich Hoffmann, Berlin 2006. 114 Vgl. Malycha, Die SED, S. 296 ff.; Monika Kaiser, Die Zentrale der Diktatur – organisatorische Weichenstellungen, Strukturen und Kompetenzen der SED-Führung in der SBZ/DDR 1946 bis 1952. In: Jürgen Kocka (Hg.), Historische DDR-Forschung. Aufsätze und Studien, Berlin 1993, S. 57–86, hier 67 ff. 115 Dies trifft vor allem auf Grotewohl zu, der auf mehreren zentralen Vorstandssitzungen der SED die Parteitransformation legitimierte. Sein historisches Rechtfertigungsreferat

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Erich W. Gniffke und Ernst Thape in den Westen. Beide Politiker begründeten ihren Schritt in öffentlichen Briefen an die SED, in denen sie sowohl auf eigene Illusionen und Versäumnisse als auch auf ihre sozialdemokratische Prinzipienfestigkeit verwiesen. So ließ das SED-Zentralsekretariatsmitglied Gniffke im Oktober 1948 die SED-Führung wissen, dass es ihm leichter falle, heute aus der „Partei neuen Typus“ austreten als vor einem Jahr aus der SED, da doch die heutige Partei die „Ulbrichtsche KPD“ von 1932 sei.116 Der sachsen-anhaltinische Volksbildungsminister Thape bekundete wiederum, er könne sich nicht einfach politisch „kastrieren“ oder aber seine „Vergangenheit verleugnen“ und vor der „kommunistischen Minderheit zu Kreuze kriechen“.117 Es war der ehemalige Einheitsbefürworter Thape, der analytisch präzise schlussfolgerte, dass die Bildung der „Partei neuen Typus“ nur einen „Sinn als Werkzeug der russischen Außenpolitik“ habe, nämlich, um in der „Sowjetzone das Einparteiensystem zu schaffen“. Am Ende seines Lebens könne er sich aber nicht mehr „zu der Auffassung bekehren, dass man mit derselben Methode, die ich unter dem Nationalsozialismus hasste, jetzt den Sozialismus erlangt, für den mein Vater schon unter Bismarck im Gefängnis war und für den ich viele Jahre in Buchenwald verbrachte. Sozialismus und Konzentrationslager schließen sich gegenseitig bedingungslos aus wie Feuer und Wasser.“118 Die in seiner Austrittserklärung beklagten Tatsachen entsprachen der innerparteilichen Situation seit mehr als einem halben Jahr: „Von Tag zu Tag“, so Thape, werde es ein „immer größeres Verbrechen, aus der Sozialdemokratie zu stammen oder gar mit dem wesentlichsten Grundsatz der Sozialdemokratie, der Anerkennung der Demokratie, zu sympathisieren.“ Die gerade erfolgten Verhaftungen langjähriger Parteifreunde ließen ihn nur mehr die „Wahl zwischen Flucht oder sowjetischem Buchenwald“, wobei er sich für ersteres entschied.119 Hunderte weitere prominente SED-Mitglieder und einfache Parteimitglieder sozialdemokratischer Provenienz konnten sich weder nach West-Berlin noch über die „grüne Grenze“ in die Westzonen retten. Sie fielen vor allem 1948/49 dem kombinierten Zugriff von sowjetischen Repressions- und Justizorganen zum Opfer. Dabei spielte es nur eine geringe Rolle, ob der Betroffene tatsächlich zu einem der beiden Ostbüros der SPD im Kontakt gestanden oder aber beharrlich grundsatztreue Positionen in der SED vertreten hatte. Seit Mitte 1948 wurde auch keine Rücksicht mehr auf Personen genommen, die hohe Verwaltungsämter bekleideten. Dem Zugriff des sowjetischen Geheimdienstes MGB und der Verurteilung durch ein SMT fielen Ministerialdirektoren wie

116 117 118 119

„Die Novemberrevolution und die Lehren aus der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung“ vom 29. 7.1948 erschien noch im selben Jahr als Buch. Vgl. Jodl, Amboss oder Hammer?, S. 188 f. Zit. nach Andreas Malycha, Partei von Stalins Gnaden? Die Entwicklung der SED zur Partei neuen Typs in den Jahren 1946 bis 1950, Berlin 1996, S. 144. SED-Austrittserklärung Ernst Thapes an den SED-Landesverband Sachsen-Anhalt vom 29.11.1948. In: ebd., S. 305 ff. Ebd. Ebd.

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Fritz Drescher ebenso zum Opfer wie etwa die Oberbürgermeister von Aue (Alfred Franz), Rudolstadt (Gustav Hartmann) und Werdau (Gerhard Weck). Frühere Parteiführer wie Max Fank, Willy Jesse, Arno Haufe und Arno Wend waren von diesem Terror gleichfalls betroffen. Sie wurden gemeinsam mit vielen einfachen, Zivilcourage zeigenden Mitgliedern in sowjetische Speziallager auf deutschem Boden oder gleich ins sowjetische GULag gepfercht.120 Die Transformation der SED zu einer kommunistischen „Partei neuen Typus“ sollte die Partei jedoch noch für ganz andere, als nur für innerparteiliche Aufgaben und Perspektiven befähigen. Ihre ideologische und organisatorische Ausrichtung auf das sowjetische Vorbild entsprach den eigenen langfristigen Planungen, Staatspartei werden zu wollen. Um Staat, Gesellschaft und Wirtschaft auf allen Ebenen beherrschen zu können, bedurfte es eines Stahlkorsetts, das alle Sphären der Gesellschaft durchzog – eben eines straff und zentralistisch ausgerichteten Parteikörpers. Nach dem Scheitern der SED-Westausdehnung und der alliierten Konferenzen über Deutschland war klar, dass die eigene zentral gestaltete Herrschaft nur noch im Ostteil realisiert werden konnte. Diesen Zusammenhang erläuterte kein geringerer als der Chef der Propaganda-Verwaltung der SMAD, Oberst Tjulpanov, der SED-Führung Anfang Mai 1948: „1. Faktisch ist eine Aufteilung Deutschlands in zwei Teile, welche sich nach verschiedenen Gesetzen entwickeln, zustande gekommen. 2. Die Entwicklung der sowjetischen Zone ist eine Entwicklung nach dem Typ der neuen Demokratien. 3. An der Macht in der sowjetischen Zone steht die Partei der Arbeiter und Bauern. 4. Die Funktionen der Staatsmacht ändern sich grundsätzlich. Das vergesellschaftlichte Eigentum, die Planierung, die Teilnahme der Massen an dem wirtschaftlichen Leben stellen die Partei vor neue Aufgaben und legen ihr neue Funktionen auf.“121 Das war der Hintergrund, vor dem sich in der ersten Jahreshälfte 1948 grundlegende Weichenstellungen in der Wirtschafts- und Verwaltungspolitik vollzogen. Auf ihrer ersten „Staatspolitischen Konferenz“ in Werder (Havel) gaben die Partei- und Verwaltungsspitzen der SED Ende Juli 1948 den neuen Kurs bekannt: Zentralisierung statt regionaler Selbstverwaltung, strikte Kaderpolitik in den Verwaltungen und Realisierung eines Zweijahresplans auf ostzonaler Ebene.122 Um diesen Gegenentwurf zum westzonalen Modell verwirklichen zu können, bedurfte es einer schnellen und zielgerichteten Bündelung wichtiger wirtschafts- und sicherheitspolitischer Kompetenzen auf der zentralen Ebene. Schon bestehende Zentralverwaltungen wie die „Deutsche 120 Zur Verfolgung vgl. ausführlich Schmeitzner, Genossen vor Gericht, S. 304 ff., sowie Beatrix Bouvier, Ausgeschaltet! Sozialdemokraten in der Sowjetischen Besatzungszone und in der DDR 1945–1953, Bonn 1996, S. 205–260. 121 Zit. nach Steininger, Deutsche Geschichte, Band 2. 1948–1955, S. 88 (Hervorhebung im Original). 122 Vgl. Christoph Boyer, „Die Kader entscheiden alles ...“ Kaderpolitik und Kaderentwicklung in der zentralen Staatsverwaltung der SBZ und der frühen DDR (1945–1952), Dresden 1996, S. 18 ff.

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Wirtschaftskommission“ (DWK)123 und die DVdI waren „für die SED die entscheidenden administrativen Bastionen, die den Weg in die ostzonale Diktaturplanwirtschaft ebnen sollten“.124 Beide wurden systematisch ausgebaut, was wiederum einen stetig steigenden Abfluss von Länderkompetenzen nach sich zog. Mit den abfließenden Kompetenzen aus Dresden oder Halle wechselten konsequenterweise auch die durchsetzungsstärksten Länderkader nach Berlin. Während der bisherige sächsische Innenminister Kurt Fischer die DVdI zu einem Vorläufer des DDR-Innenministeriums ausbaute, entwickelten die vormaligen Wirtschaftsminister Sachsen-Anhalts und Sachsens, Heinrich Rau und Fritz Selbmann, die DWK zu einer zentralistischen Planwirtschaftsbehörde. Sie waren nur noch dem Politbüro der SED und im schwindenden Maße den verschiedenen Behörden der SMAD verantwortlich.125 Ein derart zielbewusster Ausbau der SED zu einer kommunistischen Staatspartei ließ für einen auch hur halbherzig erscheinenden politischen Pluralismus keinen Platz mehr. Das bekamen seit der Jahreswende 1947/48 CDU und LDP in immer schnellerem Tempo zu spüren. Einigermaßen eigenständige bürgerliche Residuen hatten aus der Sicht der SMAD und der SED ihre Existenzberechtigung verloren – und zwar infolge ihres deutschlandpolitischen Scheiterns und der darauf folgenden Fixierung auf den eigenen Oststaat. Wie schon Ende 1945 war auch zwei Jahre später die CDU diejenige Partei, die davon härter und umfassender getroffen wurde als die LDP: Zwar hatte ihre christlich-sozialistische Führung um Kaiser und Lemmer alle wichtigen sozialökonomischen Weichenstellungen mitvollzogen, doch machte sie im politischen Raum entscheidende Vorbehalte geltend. Das betraf zum einen ihre auf Ausgleich zwischen Ost und West bedachte Politik, ihre Kritik an der Domestizierung der bürgerlichen Parteien und an der herrschenden Rechtsunsicherheit sowie ihre ablehnende Haltung gegenüber der Volkskongresspropaganda126 der SED. Ein CDUVorsitzender, der seine Partei als „Wellenbrecher des dogmatischen Marxismus und seiner totalitären Tendenzen“ bezeichnete,127 konnte Ende 1947 in der SBZ genau aus diesem Grund nicht mehr auf eine politische Überlebenschance hoffen. Und dennoch beinhaltete der neue Eingriff der SMAD eine andere Dimension als der vorangegangene. Was sich seit der Jahreswende 1947/48 im Umgang mit der CDU vollzog, war eine neue Qualität sowjetischer Gleichschaltung: Über die Amtsenthebungen Kaisers und Lemmers hinaus griffen SMAD 123 Die 1947 gegründete DWK hatte unter ihrem Dach die vordem existierenden Zentralverwaltungen für Wirtschaft gebündelt. 124 Müller, „Parteiministerien“, S. 362. 125 Vgl. André Steiner, Von Plan zu Plan. Eine Wirtschaftsgeschichte der DDR, München 2004, S. 51 ff. 126 Im Dezember 1947 hatte die SED einen „1. Deutschen Volkskongress“ initiiert, um durch eine gesamtdeutsche Propaganda der Weststaatbildung entgegenzuwirken; im März 1948 folgte der zweite und im Mai 1949 der dritte Volkskongress. 127 Rede Jakob Kaisers auf der Jahrestagung der CDU in Berlin am 6. 9.1947. Zit. nach Baus, CDU, S. 379.

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und SED nun tief in das innerparteiliche Organisationsgefüge ein. Umfangreiche „Säuberungen“ auf Kreis- und Landesebene richteten sich in erster Linie gegen die Anhänger Kaisers; in zweiter Linie dienten sie dazu, „fortschrittliche“ Kräfte aufzubauen, die in der CDU und im Parteienblock eine weitere Kooperation mit der SED garantieren sollten.128 Dieses Vorgehen traf mit zeitlicher Verzögerung auch den Funktionskörper der LDP, die nach dem Tod des anpassungswilligeren Vorsitzenden Wilhelm Külz (April 1948) der konfliktfähigere Arthur Lieutenant führte. Die hier ebenfalls einsetzenden „Säuberungen“ machten auch nicht vor der parlamentarischen Immunität von Landtagsabgeordneten halt.129 Bei der Ausschaltung der jungen kritischen Generation von CDU und LDP schreckte die Besatzungsmacht selbst vor Justizmord nicht zurück: So ließ sie fast die komplette Landesspitze der mecklenburgischen jungen Liberalen um Arno Esch zum Tode verurteilen und hinrichten.130 Ein solch rigoroses Vorgehen lässt sich nur damit erklären, dass mit diesem Personenkreis nicht nur die jungen kritischen „Geister“ innerhalb der CDU und LDP zum Schweigen gebracht werden sollten, sondern zugleich auch die anerkannten Studentenvertreter an den Universitäten der SBZ.131 Im Grunde verfolgten diese Säuberungen und Eingriffe nur ein übergeordnetes Ziel: Die Transformation von CDU und LDP in prokommunistische Blockparteien. An ihrer direkten Beseitigung hatten SED und SMA kein Interesse, auch wenn dies z. B. prominente Funktionäre der LDP befürchteten. Erschüttert über das Ausmaß an Amtsenthebungen, Verhören und Verhaftungen, hatte z. B. der brandenburgische Landessekretär Manfred Schollwer (LDP) im November 1948 seinem Tagebuch anvertraut: „Ich fürchte, dass die SMA unsere Partei bis zum Frühjahr 1949 zerschlagen wird.“132 Solche Sorgen erwiesen sich zwar bald als unbegründet, doch wurde die Bedeutung beider bürgerlicher Parteien im politischen System der SBZ noch einmal erheblich reduziert. Sie sollten bald so bedeutungslos werden, wie die von der SMA und SED als bürgerliche Konkurrenten neu gegründete Demokratische Bauernpartei 128 Vgl. Michael Richter, Die Ost-CDU 1948–1952. Zwischen Widerstand und Gleichschaltung, Düsseldorf 1991, S. 88 ff.; Mike Schmeitzner, Im Schatten der FDJ. Die „Junge Union“ in Sachsen 1945–1950, Göttingen 2004, S. 154 ff. 129 Eines der prominentesten Opfer war in dieser Hinsicht der thüringische Fraktionsvorsitzende der LDP, Hermann Becker, der vom sowjetischen MGB im Sommer 1948 verhaftet und von einem Sondergericht zu 25 Jahren Lagerhaft verurteilt wurde. Vgl. Jürgen Louis, Die Liberal-Demokratische Partei in Thüringen 1945–1952, Köln 1996, S. 277 f. 130 Vgl. Ute Schmidt, „Vollständige Isolierung erforderlich ...“. SMT-Verurteilungen im Kontext der Gleichschaltung der Blockparteien CDU und LDP 1946–1953. In: Hilger/ Schmeitzner/Schmidt (Hg.), SMT 2, S. 345–394, hier 383 ff. 131 Zur Ausschaltung der demokratischen Studentenvertreter vgl. Ilko-Sascha Kowalczuk, Geist im Dienste der Macht. Hochschulpolitik in der SBZ/DDR 1945 bis 1961, Berlin 2003, S. 483–515. 132 Tagebucheintrag vom 20. November 1948. In: Manfred Schollwer, Potsdamer Tagebuch 1948–1950. Liberale Politik unter sowjetischer Besatzung. Hg. von Monika Faßbender, München 1988, S. 99.

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Deutschlands (DBD) und die National-Demokratische Partei Deutschlands (NDPD). Ihre Weiter- und Neuexistenz verdankten sie lediglich Propagandazwecken und Funktionsbestimmungen im Sinne der SED: So erschien in der deutschlandpolitischen Auseinandersetzung eine Weiterexistenz von CDU und LDP durchaus vorteilhaft. Die CDU konnte zudem eine Scharnierfunktion zu den beiden Kirchen wahrnehmen und die LDP die Funktion eines Transmissionsriemens für den noch bestehenden Mittelstand. Ähnliches galt für die neu geschaffene Bauernpartei. Die NDPD hatte wiederum die Funktion eines Sammelbeckens für ehemalige NS-Funktionäre und Wehrmachtoffiziere, die dadurch effizienter kontrolliert und instrumentalisiert werden konnten. Was aber veranlasste jenen Teil der Führungseliten von CDU und LDP, die von den Säuberungen verschont geblieben waren, dazu, nicht von sich aus die Partei zu verlassen oder diese sogar aufzulösen? Lässt man den zuerst noch kleinen Kreis der jungen „fortschrittlichen“ Kader wie Gerald Götting, Hermann Gerigk oder Manfred Gerlach außer acht, dann dürften wohl ähnlich gelagerte Illusionen wie bei den Sozialdemokraten im Spiele gewesen sein. Glaubten sich noch 1946 viele SPD-Mitglieder in der neuen Einheitspartei behaupten zu können, rechtfertigte ein Großteil der bürgerlichen Funktionseliten ihr Ausharren damit, die eigene Parteiorganisation bis zu den vorgesehenen Wahlen 1948/49 intakt zu halten.133 Diese Hoffnung sollte sich als bitterer Irrtum erweisen, da weder der Besatzungsmacht noch der SED an weiteren Listenwahlen gelegen war. Die für den Herbst 1948 anstehenden Kommunalwahlen für Berlin und die SBZ wurden Ende August vom Obersten Chef der SMAD, Marschall Sokolowski, einfach um ein Jahr verschoben. Im Dezember 1948 holte sich dann die Führung der SED von Stalin selbst die Zusicherung ein, sich nie mehr Wahlen nach getrennten Listen stellen zu müssen.134 Als sich die demokratischen Parteien Groß-Berlins, nämlich SPD, CDU und LDP, dennoch entschlossen, die geplanten Wahlen abzuhalten, reagierte die Berliner SED mit einem Wahlboykott und der endgültigen Abspaltung des sowjetischen Sektors – so groß war inzwischen ihre Angst vor wirklich demokratischen Abstimmun133 Vgl. Tagebucheintrag vom 29. 8.1948. In: ebd., S. 77. 134 Im Gespräch mit Stalin unterbreitete der SED-Vorsitzende Wilhelm Pieck den Vorschlag, künftig nur noch Wahlen mit Einheitslisten abzuhalten. Mit ostzonalen Wahlen rechnete er jedoch erst im Frühjahr 1950, da zuerst noch der „rechte Flügel in den bürgerlichen Parteien zerschlagen werden“ müsse. Von Stalin musste sich Pieck darauf vorhalten lassen, dass sich wohl die SED fürchte, „bei Wahlen nicht die Mehrheit“ zu bekommen. Da seiner Meinung nach eine „nicht gewählte Regierung nichts taugt“, müsse die SED nach Wahlen im Westen ebenfalls Wahlen ansetzen; „andernfalls wird man schreien, dass die Regierung in der Ostzone undemokratisch ist, was Sie in eine schlechte Lage bringen wird“. Letztlich einigten sich beide Seiten darauf, einen III. Volkskongress „auf einer breiteren repräsentativeren Grundlage einzuberufen“, der dann einen Volksrat wählt und „die Bildung einer provisorischen deutschen Regierung billigt“. Aufzeichnung des Gesprächs des Genossen Stalin mit den führenden Vertretern der SED Wilhelm Pieck, Otto Grotewohl und Walter Ulbricht am 18.12.1948. In: Elke Scherstjanoi/Rolf Semmelmann, Die Gespräche Stalins mit der SED-Führung im Dezember 1948 und im April 1952 (Teil 1). In: ZfG, 2/2004, S. 138–166, hier 160 ff.

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gen. Die Ergebnisse der Berliner Wahlen – die SPD erhielt bei 86 Prozent Wahlbeteiligung 64 Prozent der Stimmen – belegten eindrucksvoll die ablehnende Haltung der Bevölkerung gegenüber einer neuerlichen Diktatur.135 So war es nur konsequent, dass die SED im Mai 1949 nunmehr Einheitslistenwahlen zum „3. Deutschen Volkskongress“ durchführen ließ, der zumindest offiziell nicht als parlamentarisches Gremium fungierte. Auf dieser Einheitsliste fanden sich Delegierte aller Parteien und Massenorganisationen der SBZ. Ungeachtet der Tatsache, dass trotz massiver Manipulationen die verkündete Zustimmung nur bei 66 Prozent lag,136 bedeutete diese Wahl auch einen symptomatischen Kontrapunkt zur demokratischen Bundestagwahl, an der alle Parteien der Westzonen nach getrennten Listen teilnehmen konnten. Auf seiner ersten Tagung wählte der ostzonale Volkskongress Ende Mai 1949 dann einen 330 Personen umfassenden „Deutschen Volksrat“, in dem nach Vorgaben des „Demokratischen Blocks“ ebenfalls alle Parteien und Massenorganisationen vertreten waren. Zwar entfielen auf die SED-Fraktion nur 90 Abgeordnete, doch sicherte sich die neue Staatspartei ihre absolute Mehrheit der Mandate über die Vertreter der Massenorganisationen (FDGB, FDJ, DFD usw.), die in der Mehrzahl der Fälle über das SED-Mitgliedsbuch verfügten. Nach Gründung der westdeutschen Bundesrepublik konstituierte sich der „Deutsche Volksrat“ einen Monat später (7.10.1949) als „Provisorische Volkskammer der DDR“. Besondere Wahlen waren dieser Konstituierung nicht vorausgegangen, obwohl genau das der DDR-Verfassungsentwurf vorgesehen hatte.137 Statt also die komplett jetzt anstehenden Volkskammer-, Landtags- und Kommunalwahlen im Herbst 1949 abzuhalten, setzte die Besatzungsmacht und die Führung der SED ihre erneute Verschiebung um ein Jahr auf Herbst 1950 durch.138 Dass die Führungen von CDU und LDP auch dieses Manöver akzeptierten, hatte mit mehren Faktoren zu tun: Beide Parteien wurden auch noch über den Herbst 1949 hinaus im Glauben belassen, dass die verschobenen Wahlen nach 135 Bei den Wahlen in den Berliner Westsektoren kam die CDU auf 19 und die LDP auf 16 Prozent. Die hohe Wahlbeteilung war zudem ein Schlag ins Gesicht von SED und SMAD, deren Boykottpropaganda somit gescheitert war. Vgl. Creuzberger, Die sowjetische Besatzungsmacht, S. 167 ff.; Schlegelmilch, Hauptstadt im Zonendeutschland, S. 383. 136 Das offizielle Ergebnis lautete: 66,1 % Ja-Stimmen und 33,9 % Nein-Stimmen. Der an der brandenburgischen Abstimmung direkt beteiligte LDP-Landessekretär Schollwer kommentierte dieses „Ereignis“ so: „Der größte Wahlbetrug in der deutschen Geschichte ist vorüber. Über 60 % der Bevölkerung hatten mit Nein gestimmt und auf den Wahlzetteln darüber hinaus ihren Hass gegen die SED zum Ausdruck gebracht. Dennoch schaffte es die Einheitspartei, das Wahlergebnis in das genaue Gegenteil zu verfälschen.“ Tagebucheintrag vom 20. 5.1949. In: Schollwer, Potsdamer Tagebuch, S. 123. 137 Nach Artikel 51 der „Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik“, die vom Volksrat am 30. 5.1949 bestätigt worden war, sollte die künftige Volkskammer aus Wahlen hervorgehen. Vgl. Die Verfassung der DDR. In: Handbuch der Volkskammer der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin (Ost) 1957 (2. Auflage), S. 31. 138 Vgl. Wilfried Loth, Stalins ungeliebtes Kind. Warum Moskau die DDR nicht wollte, München 1996, S. 164.

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getrennten Listen abgehalten würden. Dieser Glaube, der gerade nach den Einheitslistenerfahrungen vom Mai 1949 als eigentlich erschüttert gelten durfte, schien zumindest durch einen entsprechenden Passus in der DDR-Verfassung formalrechtlich abgesichert.139 Darüber hinaus ist der fortwährende Druck durch Säuberungen und permanenten Personalaustausch in Rechnung zu stellen, dem CDU und LDP unterworfen waren. Andererseits wurde auch ein Teil beider Parteiführungen über lukrative Regierungsposten eingebunden: So gehörten der „Provisorischen Regierung der DDR“ unter Ministerpräsident Otto Grotewohl (SPD/SED) die Stellvertreter Hermann Kastner (LDP) und Otto Nuschke (CDU) sowie als Außenminister Georg Dertinger (CDU), als Finanzminister Hans Loch (LDP), als Arbeitsminister Luitpold Steidle (CDU) und als Postminister Friedrich Burmeister (CDU) an. Der mit Fachministern unterrepräsentierten LDP hatte die SED den Posten des Volkskammerpräsidenten (Johannes Dieckmann) angetragen. Trotz solcher Bindungen und des großen Drucks beharrte der Unions-Fraktionsvorsitzende der Volkskammer, Gerhard Rohner, auf dem ostzonalen Parteitag der CDU im November 1949 darauf, dass die Partei „unter gar keinen Umständen sich auf den Weg der Volksdemokratie und damit des Einparteiensystems drängen lassen kann, wie es den Endzielen der SED erklärtermaßen entspricht“.140 Solch ein Maß an Zivilcourage sollte umgehende Konsequenzen hervorrufen, hatte doch die Führung der SED bereits ein Jahr zuvor genau diesen Weg festgelegt. Mit Hilfe der „Sowjetischen Kontroll-Kommission“ (SKK) in Deutschland, der Nachfolgeeinrichtung der SMAD, und des im Februar 1950 gegründeten Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) sorgte sie in den folgenden Monaten dafür, dass noch existierender Widerstand in der CDU und der LDP gebrochen wurde. Den öffentlich organisierten Säuberungskampagnen fielen bereits im Januar 1950 Gerhard Rohner und der sächsische Landesvorsitzende Hugo Hickmann zum Opfer; ihnen folgten noch einmal Dutzende bürgerliche Landespolitiker und zuletzt der Generalsekretär der LDP, Günther Stempel, den ein SMT zu 25 Jahren Lagerhaft verurteilte.141 Nun lenkten auch die Spitzen von CDU und LDP ein und gaben der Forderung nach Einheitslistenwahlen nach. Der Block der Parteien und Massenorganisationen entschied ein Vierteljahr vor den Herbstwahlen über die Zusammensetzung der Volkskammer, der fünf Landtage, der Kreistage und der Gemeindevertretungen. Mit der Festlegung eines bestimmten parteipolitischen Schlüssels orientierte er sich dabei am Beispiel des im Jahr zuvor gebildeten Volksrats. Von den 400 Volks139 Artikel 51 legte fest, dass die „Abgeordneten in allgemeiner, gleicher, unmittelbarer und geheimer Wahl nach den Grundsätzen des Verhältniswahlrechtes auf die Dauer von vier Jahren gewählt“ werden. Handbuch der Volkskammer, S. 33. 140 Zit. nach Schmeitzner, Im Schatten der FDJ, S. 190. 141 Vgl. Schmeitzner/Donth, Die Partei der Diktaturdurchsetzung, S. 415–436; Johannes Tuchel, Günter Stempel. In: Opposition und Widerstand in der DDR. Politische Lebensbilder. Hg. von Karl Wilhelm Fricke/Peter Steinbach/Johannes Tuchel, München 2002, S. 61–65.

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kammersitzen erhielten u. a. die SED 100, CDU und LDP je 60, der FDGB 40, NDPD und DBD je 30 sowie FDJ und Kulturbund je 20. Wie schon zuvor sicherte sich die SED auch im „gewählten“ Parlament ihre absolute Mehrheit über die Mandate der Massenorganisationen.142 Den Fahrplan für die Einheitslistenwahlen vom 15. Oktober 1950 hatte unterdessen das SED-Politbüro entworfen, das bereits im März beschloss, „durch eine breite Massenkampagne die Voraussetzungen für die Aufstellungen gemeinsamer Listen zu schaffen“.143 Damit war der Startschuss für die bislang aufwendigste Materialschlacht gefallen, in der die Führung der SED erstmals komplett die nun von ihr beherrschten staatlichen Verwaltungen einschaltete. Darüber hinaus machte sie auch kräftig Gebrauch vom MfS als einem Instrument zur Einschüchterung der eigenen Bevölkerung. Das entscheidende Ziel dieses konzertierten „Wahlkampfs“ bestand darin, die präsentierten Einheitslisten mit einer möglichst hohen Wahlbestätigung auszustatten. Ein solch schmerzhaftes Desaster wie im Mai 1949 sollte der SED nicht noch einmal passieren. Die „Ergebnisse“ der „Volkswahlen“ (99,72 Prozent Ja-Stimmen bei der Volkskammerwahl bei 98,53 Prozent Wahlbeteiligung) bildete die Messlatte für allen folgenden Wahlen bis 1989.144 Nach den Volkskammer-, Landtags- und Kommunalwahlen vom 15. Oktober 1950 entschied das Politbüro der SED über sämtliche Personalbesetzungen auf DDR- und Länderebene. So legte der interne Zirkel um Pieck, Grotewohl, Ulbricht und dem MfS-Minister Wilhelm Zaisser fest, wer künftig welches Amt in der Regierung der DDR, der Staatlichen Plankommission, des VolkskammerPräsidiums oder den Regierungen der Länder übernehmen sollte. Es war wohl nicht nur eine Ironie der Geschichte, das sie mit der „Durchführung“ dieser Personalvorschläge das Politbüro-Mitglied Matern betrauten.145 Als Leiter der Moskauer Parteischule hatte er Anfang 1945 das strategische Ziel der KPD mit den Worten umschrieben, künftig nicht mehr „Oppositionspartei“, sondern „Staatspartei“ werden zu wollen. Diesem Ziel war die Spitze der KPD/SED Ende 1950 ein gewaltiges Stück näher gerückt. Als „Staatspartei“ kontrollierte sie bereits in jenem Jahr alle staatlichen Verwaltungen, die Wirtschaft und große Teile der Gesellschaft. Die Einheit von Partei- und Staatsführung personifizierten seitdem Wilhelm Pieck (der neue Staatspräsident und Parteivorsitzende) und Otto Grotewohl (der neue Ministerpräsident und Parteivorsitzende), in immer stärkerem Maße aber Walter Ulbricht, der als neuer Generalsekretär der SED und stellvertretender Ministerpräsident die zentrale Rolle spielte.146 142 Vgl. Siegfried Suckut, Parteien in der SBZ/DDR 1945–1952, Bonn 2000, S. 94. 143 Protokoll Nr. 77 der Sitzung des Politbüros am 21. 3.1950 (SAPMO-BArch, DY 30 IV 2/2/77, Bl. 42). 144 Zu den Ergebnissen von 1950 vgl. Handbuch der Volkskammer, S. 7. 145 Vgl. Protokoll Nr. 16 der Sitzung des Politbüros des Zentralkomitees am 31.10.1950 1950 (SAPMO-BArch, DY 30 IV 2/2/116, Bl. 445 ff.). 146 Zur Stellung Ulbrichts im Partei- und Staatsgefüge der DDR vgl. Mario Frank, Walter Ulbricht. Eine deutsche Biographie, Berlin 2003, S. 225 ff.; Loth, Stalins ungeliebtes Kind, S. 166. Bereits im Januar 1949 hatte Ulbricht die Funktion eines Leiters des „Klei-

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Mit dieser Entwicklung hatten sich letztlich auch die Prognosen Schumachers und Dahrendorfs bestätigt, wonach der Einheitspartei die Einheitslisten folgen würden – und somit eine neue totalitäre Herrschaft. Als Kernstück dieser Herrschaft durfte das von Rohner und Thape befürchtete „Einparteiensystem“ gelten, das seit Ende 1950 faktisch Realität war, auch wenn sich die SED bemühte, ihre Allmacht durch die Existenz von ihr ergebenen Blockparteien zu verschleiern. Der schon Anfang Oktober 1949 geäußerte Anspruch der Führung der SED – „Wenn wir eine Regierung gründen, geben wir sie niemals wieder her, weder durch Wahlen noch durch andere Methoden“147 – sollte sich zumindest bis in den Herbst 1989 hinein als gültig erweisen.

Resümee Bei Kriegsende verfügte die Führung der KPD als einzige deutsche Reichspartei über ein politisches Konzept, das, wie die Entwicklung seit dem Mai 1945 zeigen sollte, mit dem Aufbau der KPD, der Gründung der SED unter kommunistischem Vorzeichen und der darauffolgenden Stalinisierung der Partei, der Besetzung der Schlüsselpositionen in Staat und Gesellschaft durch kommunistische Kader sowie der Einbindung der bürgerlichen Parteien im Block mit großer taktischer Flexibilität umgesetzt wurde.148 Doch was auf den ersten Blick als Erfolgsgeschichte gelten könnte, muss bei näherer Betrachtung als halber Erfolg, wenn nicht gar als Niederlage gewertet werden. Denn das flexible Volksfrontkonzept der KPD war ja nicht primär für die politische Herrschaftssicherung in der SBZ gedacht, sondern als Strategie für ganz Deutschland. Insofern hätte eine sofortige und offene Sowjetisierung durch die Besatzungsmacht der KPD die politische Herrschaft und ihre Rolle als Staatspartei in der SBZ wesentlich früher sichern können. Obwohl die sowjetische Führung und die KPD/SED noch Ende der 40er Jahre nicht „direkt zum Sozialismus gehen“ wollten, sondern „nur mit Zickzacks und Umgehungsmanövern“ (Stalin),149 um vielleicht doch noch in ganz Deutschland reüssieren zu können, hatte sich das Scheitern der gesamtdeutschen KP-Konzeption viel früher abgezeichnet. Als entscheidend dafür kann die Fehlannahme gelten, dass sich die KPD zu der beherrschenden deutschen Volkspartei entwickeln würde, welcher es aus eigener Kraft gelänge, die deutsche Entwicklung maßgeblich zu beeinflussen. Diese Vorstellung erwies sich bereits im Herbst 1945 als Makulatur, als nicht die KPD, sondern die gleichnen Sekretariats“ des SED-Politbüros übernommen; seit dem 3. Parteitag der SED (Juli 1950) amtierte er als Generalsekretär der SED. 147 Auf diese Äußerung Gerhart Eislers in einer Sitzung des SED-Parteivorstands vom 4. Oktober 1949 erklärte Walter Ulbricht zustimmend: „Das haben einige noch nicht verstanden!“ Zit. nach Loth, Stalins ungeliebtes Kind, S. 167. 148 Vgl. Schmeitzner/Donth, Die Partei der Diktaturdurchsetzung, S. 53. 149 Scherstjanoi/Semmelmann, Gespräche mit Stalin S. 155.

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falls neu entstandene SPD die Rolle übernahm. Angesichts der immer größer werdenden Mitgliederdiskrepanz zur Sozialdemokratie und katastrophaler Wahlaussichten sah sich die KPD dem Zwang zur Vereinigung ausgesetzt, um so ihren größten Konkurrenten auszuschalten. Dieser diktatorische Oktroy sicherte der KPD zwar in der SBZ/DDR für Jahrzehnte die Herrschaft, im Westen Deutschlands dagegen ihren politischen Bankrott. Der magere Erfolg der KPD bestand letztlich in der Diktaturdurchsetzung im kleineren Teil Deutschlands, der überdies nur durch die militärstrategische Präsenz der Sowjetunion gesichert werden konnte. Nach dem Scheitern ihres mitteldeutschen Aufstands 1921, des „Deutschen Oktobers“ 1923 und ihrer Niederlage 1933 durfte sie diese Entwicklung immerhin als einen handfesten Fortschritt begreifen – es war vermutlich ihre letzte Chance zur Herrschaftsetablierung. Der – trotz sowjetischer Truppenpräsenz – entbrannte Volksaufstand vom 17. Juni 1953 führte ihr dann noch einmal ihre äußerst schmale Basis schmerzhaft vor Augen. Für die Sowjetunion bedeutete dagegen die politische Herrschaftssicherung ihrer Zone durch die KPD/SED nur eine von mehreren Optionen. Das zeigt nicht nur ihre Optionspolitik in der Nachkriegszeit, sondern letztmalig und sehr eindrücklich ihr Verzicht auf die DDR in den Jahren 1989/90, in deren Folge das politische System der SED abrupt zusammenbrach. Die übergroße Mehrheit der Ostdeutschen entschied sich für die deutsche Einheit und damit für das bundesrepublikanische Modell.

Die politischen Parteien in der sowjetischen Besatzungspolitik in Österreich 1945–19551 Wolfgang Mueller

1.

Planung und Scheitern der „Nationalen Front“ 1943–1947

Die 1943/44 entwickelten sowjetischen Vorstellungen von Nachkriegs-Österreich sahen seine Wiederherstellung als unabhängiger Staat in den Vorkriegsgrenzen vor. Dies entsprach dem sowjetischen Ziel, Deutschland zu schwächen und auch keine andere Macht in Kontinentaleuropa entstehen zu lassen, die der Sowjetunion gefährlich werden könnte. Um die friedliche und Sowjetunion-freundliche Außenpolitik der europäischen Staaten in Zukunft sicherzustellen, war die UdSSR daran interessiert, dass die Regierungen dieser Länder nach dem Krieg „im Geiste der Nationalen Front“2 gebildet würden. Das vom stellvertretenden Außen-Volkskommissar und Leiter einer außenpolitischen Planungskommission, Ivan M. Majskij, verfasste bekannte Memorandum vom 11. Januar 1944 bekräftigte dieses Interesse und ging davon aus, dass derartige Nationalfront-Regierungen in einigen Staaten nach dem Krieg von selbst entstehen würden (u. a. in Frankreich, den Niederlanden, Belgien, Dänemark, der 1

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Der vorliegende Beitrag entstand als Teilprojekt eines gemeinsamen Forschungsprogramms in Zusammenarbeit mit dem Institut für allgemeine Geschichte der Russischen Akademie der Wissenschaften sowie im Kontext eines vom Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF) geförderten Akteneditionsprojektes. Der Verfasser ist dem FWF, der Russischen und der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, insbes. Prof. Aleksandr O. Čubar’jan, Dr. Viktor V. Iščenko, Prof. Gerhard Jagschitz und Prof. Arnold Suppan für ihre Unterstützung und Mag. Manfred Mugrauer für die Gewährung der Einsichtnahme in Dokumente zu Dank verpflichtet. Memorandum Majskijs vom 11.1.1944. In: Georgij P. Kynin/Jochen Laufer (Hg.), SSSR i Germanskij vopros 1941–1949 [Die UdSSR und die deutsche Frage]. Dokumenty iz Archiva vnešnej politiki Rossijskoj Federacii, Band 1, Moskau 1996, S. 333–360, hier 348. Vgl. Aleksej M. Filitov, V komissijach Narkomindela ... [In den Kommissionen des Außen-Volkskommissariates ...]. In: O. A. Ržeševskij (Hg.), Vtoraja mirovaja vojna. Aktual’nye problemy, Moskau 1995, S. 54–71, hier 56 f. Vgl. Vladimir O. Pechatnov [Pečatnov], The Big Three After World War II. New Documents on Soviet Thinking about Post-war Relations with the United States and Great Britain. Cold War International History Project Working Paper, 13 (1995), S. 2–4. Der verwendete russ. Terminus ist „narodnij front“ (Volksfront). Zur terminologischen Unschärfe der russ. Verwendung von „Volksfront“ und „Nationalfront“ vgl. Jan Foitzik, Sowjetische Militäradministration in Deutschland 1945–1949 (SMAD). Struktur und Funktion, Berlin 1999, S. 17.

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Tschechoslowakei), in anderen durch Eingriffe der Alliierten geschaffen werden müssten (u. a. in Deutschland, Italien, Ungarn, Rumänien). Österreich dürfte wohl der zweiten Kategorie zugezählt worden sein. In den zu bildenden Nationalfront-Regierungen sollten jeweils alle antifaschistischen Parteien, UdSSR-freundliche Demokraten, Parteilose und Kommunisten zusammenarbeiten und eine friedliche und der Sowjetunion genehme Ausrichtung der Politik ihrer Staaten gewährleisten. Äußerlich sollten die Nationalen Fronten den Konventionen der „bourgeoisen“, d. h. parlamentarischen Demokratie folgen, langfristig aber den friedlichen, nichtrevolutionären Übergang ihrer Länder zum Sozialismus vollziehen. Durch die Schaffung eines sozialistischen Europas, regiert von Nationalfront-Regierungen, würde die nichtaggressive, UdSSR-freundliche Politik dieser Länder und die konfliktfreie Ausbreitung des sowjetischen Einflusses sichergestellt werden. Ein gewaltsames Herbeiführen von Revolutionen, eine brutale, blitzartige „Sowjetisierung“ im sowjetischen Einflussbereich war somit nicht beabsichtigt, da dies zum Konflikt mit den Westmächten geführt hätte, den zu vermeiden Stalin aufgrund der kriegsbedingten Schwächung seines Landes interessiert sein musste. Vielmehr sollten sowjetischer Einfluss und Kommunismus auf „evolutionärem“ Weg verbreitet werden.3 Wie Majskij im Januar 1944 an Molotov schrieb, rechnete er mit der Verwirklichung dieses Ziels in Europa innerhalb von 30 bis 50 Jahren nach Kriegsende.4 Ein Dominostein in dieser langfristigen, auf ganz Europa bezogenen sowjetischen Konzeption war zweifellos Österreich. Ein sozialistisches Österreich würde gemeinsam mit einem sozialistischen Deutschland den sowjetischen Einfluss über den unmittelbaren Machtbereich der UdSSR und die von der Roten Armee 1944/45 besetzten Gebiete Europas hinaus tragen. Der „friedliche Übergang zum Sozialismus“ als politische Zielvorstellung der sowjetischen Politik konkret für Deutschland, Österreich (und Ungarn) fand sich spätestens seit Sommer 1944 in den Überlegungen sowjetischer Politiker5 und besaß wohl auch bei Kriegsende Gültigkeit. Stalin hatte sich aus Rücksicht auf die temporäre Präsenz der Westmächte entschieden, dass die Sowjetunion nicht selbst beim Einmarsch der Roten Armee gewaltsam die politische Transformation einleiten, sondern einer langfristigen evolutionären Machtübernahme den Vorzug 3

4 5

Eduard Mark, Revolution by Degrees. Stalin’s National Front Strategy for Europe, 1941–1947. Cold War International History Project Working Paper, 31 (2001), S. 7–16; V. V. Mar’ina (Hg.), Totalitarizm. Istoričeskij opyt Vostočnoj Evropy. „Demokratičeskoe intermezzo“ s kommunističeskim finalom 1944–1948 [Totalitarismus. Die historische Erfahrung Osteuropas. Ein „demokratisches Intermezzo“ mit kommunistischem Finale], Moskau 2002. Filitov, V komissijach, S. 56 f.; Pechatnov, The Big Three, S. 2; Kynin/Laufer (Hg.), SSSR i Germanskij vopros, Band 1, S. 335. T. V. Volokitina, Stalin i smena strategičeskogo kursa Kremlja v konce 40–ch godov. Ot kompromissov k konfrontacii [Stalin und der Wechsel des strategischen Kreml-Kurses Ende der 40er Jahre. Von Kompromissen zur Konfrontation]. In: Aleksandr O. Čubar’jan (Hg.), Stalinskoe desjatiletie cholodnoj vojny. Fakty i gipotezy, Moskau 1999, S. 10–22, hier 13.

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geben solle – das Ziel des Überganges Österreichs zum Sozialismus blieb aber auch in den folgenden Jahren bestimmender Faktor der sowjetischen Politik und prägte das sowjetische Verhältnis zu den österreichischen Parteien und zur österreichischen Innenpolitik insgesamt. Die von der Sowjetbesatzung in Österreich in der ersten Nachkriegsphase angewandte Vorgangsweise unterschied sich nicht grundsätzlich von der in Ostmitteleuropa eingesetzten volksdemokratischen Initiativtaktik. Die Grundprinzipien lauteten: Zusammenarbeit aller antifaschistischen Parteien in einer Nationalen Front, gleichzeitig Aufbau starker kommunistischer Positionen, wodurch in weiterer Folge der friedliche Übergang zum Sozialismus herbeigeführt werden sollte. Die lokalen kommunistischen Parteien wurden ab 1941 im Rahmen der Komintern, nach deren Auflösung 1943 durch deren Nachfolgerin, die Abteilung für internationale Information des Zentralkomitees der VKP(B), bzw. in direkten Gesprächen mit Georgij Dimitrov oder Stalin darauf festgelegt, vorerst revolutionäre Absichten zurückzustellen, mit den konservativen und sozialdemokratischen Parteien ihrer Länder Koalitionen zu bilden, ihre Kräfte zu sammeln und durch populäre Forderungen (Verstaatlichung, Bodenreform, Nationalismus) die Unterstützung der Massen zu gewinnen, um so die Ausgangsbasis für weiteres Handeln zu schaffen. Dies galt auch für Westeuropa, Deutschland und die Länder außerhalb der unmittelbaren sowjetischen Sicherheitssphäre.6 Im Gegenzug für ihre Geduld konnten die kommunistischen Parteien auf Unterstützung durch die UdSSR rechnen. Die österreichischen Kommunisten fügten sich in die Nationalfront-Strategie Stalins ein. Ernst Fischer betonte im Juni 1944 in einem Interview in seinem Moskauer Exil, dass die Kommunistische Partei Österreichs (KPÖ) bereit sei, gemeinsam mit Katholiken und demokratischen bürgerlich-kapitalistischen Kräften bei der Errichtung einer demokratisch-patriotischen Front zusammenzuarbeiten.7 Für die Zeit nach der Befreiung Österreichs forderten die Kommunisten kein politisches Monopol, sondern die Schaffung einer provisorischen Regierung „auf breitester demokratischer Basis“.8 Bevor ihre Vertreter im April 1945 von Moskau an die sich Wien nähernde 3. Ukrainische Front entsandt wurden, legte die Exil-KPÖ der Abteilung für internationale Information des ZK der VKP(B) folgendes Aktionsprogramm9 vor: 1. die Neugründung der 6 7

8 9

N. S. Lebedeva/M. M. Narinskij (Hg.), Komintern i vtoraja mirovaja vojna [Die Komintern und der Zweite Weltkrieg], Band 2, Moskau 1997, S. 114 f.; Mark, Revolution by Degrees, S. 17–22 und 33–35. Zit. nach Wilfried Aichinger, Sowjetische Österreichpolitik 1943–1945, Diss. Wien 1977, S. 175. Zur Haltung der KPÖ 1944 vgl. Manfred Mugrauer, Die Politik der Kommunistischen Partei Österreichs in der Provisorischen Regierung Renner, Diplomarbeit Wien 2004, S. 25–34. Zit. nach Aichinger, Sowjetische Österreichpolitik, S. 87. Begleitbrief von Chvostov an Dimitrov vom 17. 4.1945 und Politische Plattform der KPÖ (RGASPI). Text in Sowjetische Politik in Österreich 1945–1955. Dokumente aus russischen Archiven. Sovetskaja Politika v Avstrii 1945–1955gg. Dokumenty iz Rossijskich archivov. Hg. von Wolfgang Mueller, Arnold Suppan, Norman M. Naimark und Gennadij Bordjugov, Wien 2005, S. 116–123. Eine Kopie des deutschen Originals, das sich

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demokratischen Parteien (Kommunisten, Sozialdemokraten, Katholiken, Gewerkschaft, Bauernbund) und überparteilichen Massenorganisationen (Gewerkschaft, Jugend-, Frauen- u. a. Verbände); 2. die Bildung eines Einheitsblockes aller Parteien und Massenorganisationen und sein gemeinsames Antreten bei den Wahlen (die Vereinigung von KPÖ und SPÖ innerhalb des Einheitsblockes sei erst langfristig angestrebt); 3. der Aufbau der Volksvertretung von unten nach oben. Zuerst seien Gemeinderäte zu wählen, diese hätten sodann Abgeordnete in die provisorische Nationalversammlung zu entsenden, die schließlich die provisorische Regierung wähle. Alle politischen Vertreter würden durch den Einheitsblock der Parteien und Massenorganisationen nominiert, der auch die Regierung bilde. Als Regierungschef solle ein Parteiloser fungieren. Wir können davon ausgehen, dass dieses von der sowjetischen KP und Dimitrov offenbar gebilligte10 KPÖ-Programm von April 1945 den aktuellen sowjetischen Vorstellungen für Österreich entsprach. Die Schaffung eines Einheitsblockes der Parteien und Massenorganisationen und einer Regierung aus Vertretern des Blockes folgte der sowjetischen Nationalfront-Strategie. Im Rahmen dieses Blockes hatte die KPÖ eine UdSSR-freundliche Politik zu gewährleisten und die wichtigsten Schlüsselpositionen zu besetzen; langfristig (30–50 Jahre) war es ihre Aufgabe, den Übergang zum Sozialismus sicherzustellen. Die sowjetische Seite war sich der Schwierigkeit dieser Aufgabe wohl bewusst. Insbesondere für eine vor dem Krieg derart schwache Partei wie die KPÖ erschien es nicht einfach, zentrale Machtpositionen zu besetzen und Rückhalt in der Bevölkerung zu erringen. Dennoch wurden die Chancen dafür angesichts der bei Kriegsende weit verbreiteten Akzeptanz „linker“ Reformideen als günstig angesehen. Überdies war die Sowjetunion bereit, der KPÖ substanzielle Hilfe zu leisten. Der zwischen dem 4. und 6. April 1945 datierbare Entwurf einer Direktive des sowjetischen Außen-Volkskommissariats für die gleichzeitig mit der KPÖ-Spitze aus Moskau nach Österreich entsandte „Politische Gruppe“11 belegt dies klar. Hier heißt es über „die Bildung der österreichischen Verwaltung“: „Bis zur Herstellung der alliierten Kontrolle in Österreich, d. h. in dem Zeitraum, wenn die Gesamtheit der Macht in den Händen des sowjetischen Kommandos konzentriert ist, darf man die Betätigung bourgeoiser politischer Parteien nicht zulassen oder ihnen gestatten, eigene Presseorgane zu besitzen. In diesem Zeitraum muss man der österreichischen kommunistischen Partei die Möglichkeit gewähren, die Arbeit zur Sammlung ihrer Kräfte, zur Festigung im Nachlass von Johann Koplenig im Archiv der Alfred-Klahr-Gesellschaft in Wien befindet, wurde mir von Mag. Manfred Mugrauer zur Verfügung gestellt, wofür ich ihm herzlich danke. Vgl. Mugrauer, Die Politik der Kommunistischen Partei, S. 35–37. 10 Dimitrov notierte in seinem Tagebuch, dass er am 4. April mit Chvostov, Koplenig und Wieden [i. e. Fischer] die Bildung einer Nationalversammlung und Regierung in Österreich besprochen habe. Vgl. Ivo Banac (Hg.), The Diary of Georgi Dimitrov, 1933– 1949, New Haven 2003, S. 366. 11 Vgl. den Beitrag zur Struktur des Besatzungsapparates in diesem Band.

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ihres Einflusses in den Massen und zur Entfaltung des Kampfes mit den Überresten des Faschismus in Österreich zu beginnen. Zu diesem Ziel wird eine Gruppe österreichischer Kommunisten mit Genoss[en] Koplenig an der Spitze nach Österreich entsandt.“12 Es war somit beabsichtigt, den Kommunisten beim Aufbau der politischen Strukturen einen Startvorteil zu gewähren, um auf diese Weise die „Festigung ihres Einflusses in den Massen“ und wohl auch in den politischen Institutionen sicherzustellen. Diese Absicht wird auch in der sowjetischen Politik in Deutschland evident, wo die KPD seit dem sowjetischen Einmarsch aktiv war, die anderen antifaschistischen Parteien aber erst durch den SMAD-Befehl 2 vom 10. Juni 1945 zugelassen wurden. Dass diese geplante Vorgangsweise in Österreich nicht angewandt wurde, dürfte auf das von der UdSSR und der KPÖ nicht vorhersehbare Auftauchen Karl Renners und seine Initiative zur Regierungsbildung zurückzuführen sein. Die Behauptung, Stalin habe angeblich bereits vor Renners Auftauchen gezielt nach „diesem Sozialdemokraten“ suchen lassen,13 ist erstens fragwürdig14 und stellt zweitens kein Indiz dafür dar, dass Stalin vorgehabt hätte, sofort nach dem Einmarsch in Österreich nichtkommunistische Parteien zuzulassen und Renner bei der Regierungsbildung zu unterstützen. Es ist vielmehr anzunehmen, dass – wenn überhaupt – nur nach irgendeinem potenziellen Staatsoberhaupt Ausschau gehalten wurde, das die eigenen Anforderungen erfüllte und in einer späteren Phase (nach Festigung des Einflusses der KPÖ) Einsatz finden sollte. Die KPÖ erfuhr überhaupt erst bei ihrer Rückkehr von der Initiative Renners und dem sowjetischen Einverständnis.15 Die Parteien- und Regierungsbildung erfolgte somit in etwas anderer Weise, als von Moskau und der KPÖ vorgesehen. Das Ergebnis glich aber dennoch weitgehend den sowjetischen und KPÖ-Vorstellungen. Stalin konnte sich schlussendlich damit zufrieden geben, dass die von Renner vorgeschlagene und gebildete provisorische Regierung unter Beteiligung aller demokratischer Parteien der sowjetischen Vorstellung einer Nationalen Front entsprach und die Kommunisten – nach einer entsprechenden sowjetischen Intervention bei Renner16 – nicht nur die Schlüsselressorts Inneres (inkl. 12 Entwurf der Direktive über die Aufgaben der Politischen Gruppe für Österreich-Angelegenheiten, o. D. (AVP RF, 06/7/26/325/4–9). Vgl. Wolfgang Mueller, Sowjetbesatzung, Nationale Front und der „friedliche Übergang zum Sozialismus“. Fragmente sowjetischer Österreich-Planung 1945–1955. In: Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs, 50 (2003), S. 133–156, hier 144–147. 13 Sergej M. Štemenko, General’nyj štab v gody vojny [Der Generalstab in den Kriegsjahren], Band 2, Moskau 1972, S. 356. 14 Der für Innenpolitik zuständige Generaloberst im Kriegsrat der 3. Ukrainischen Front und spätere stellvertretende Hochkommissar Aleksej S. Želtov erwähnte 1985 in einem Interview „mit keinem Wort [...], dass Renner von den Sowjets bereits gesucht worden wäre“ (Hugo Portisch, Österreich II. Die Wiedergeburt unseres Staates, Wien 1985, S. 152). 15 Aichinger, Sowjetische Österreichpolitik, S. 190. 16 Ernst Fischer, Das Ende einer Illusion. Erinnerungen 1945–1955, Wien 1973, S. 66 f. Manfried Rauchensteiner, Die Zwei. Die Große Koalition in Österreich 1945–1966, Wien 1987, S. 37, weist darauf hin, dass sich auch der Sozialist Oskar Helmer für die Ernennung des Kommunisten Franz Honner als Innenminister eingesetzt habe.

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Polizei) und Bildung (inkl. „Propaganda“) erhielten, sondern mit neun von 34 Regierungsmitgliedern überaus stark vertreten waren. Renners Initiative brachte somit ziemlich exakt jenes Ergebnis, das in den KPÖ-Planungen gefordert und von sowjetischer Seite gewünscht war,17 – nur rascher und ohne den im sowjetischen Entwurf vorgesehenen KPÖ-Vorsprung. Auch auf der Ebene der Bürgermeister, Gemeinderäte, Polizeichefs und Landesregierungen sorgte das Wirken der Sowjetbesatzung dafür, dass die KPÖ zumindest drittelparitätisch an den entsprechenden Gremien beteiligt wurde und wichtige Posten übernehmen konnte. Von den durch die sowjetischen Militärkommandanten bestätigten provisorischen Wiener Bezirksbürgermeistern (Bezirksvorstehern) gehörten im April 1945 13 der KPÖ, 7 der SPÖ und einer der ÖVP an, unter den Bezirkspolizeichefs lautete die Verteilung 16 KPÖ, 3 SPÖ, 2 ÖVP.18 Bei der Bildung der provisorischen Landesregierungen in Wien, Niederösterreich, der Steiermark und dem Burgenland wurde von sowjetischer Seite zu verstehen gegeben, dass die KPÖ drittelparitätisch bzw. in Niederösterreich mit mindestens zwei von neun Landesräten beteiligt werden müsse, um die sowjetische Zustimmung zu erhalten.19 Ebenso wurde bei der Zusammensetzung der Gemeinderäte verfahren. Die sowjetische Besatzung forderte die Beteiligung der KPÖ an der Macht zu einem Drittel, nicht mehr. Ein österreichischer Vorschlag, die Wiener Landesregierung aus 5 Sozialisten, 4 Kommunisten und einem Bürgerlichen zu bilden, wurde vom Wiener Stadtkommandanten General Aleksej V. Blagodatov abgelehnt.20 Dafür blieb die Sicherung der kommunistischen Beteiligung an den politischen Entscheidungsgremien für die Sowjetbesatzung offenbar Gesetz. So verhinderte die Sowjetbesatzung nach den Wahlen 1945 und 1949, dass in ihrer Zone die Zusammensetzung der Gemeinderäte den Wahlergebnissen entsprechend verändert und der kommunistische Anteil auf eine der KPÖ-Stimmenstärke entsprechende Mandatszahl reduziert wurde. Des Weiteren bestand sie auf der Beibehaltung der von der KPÖ gestellten Vizebürgermeister.21 Insgesamt gab es aber beim Aufbau der politischen Strukturen somit keinen sowjetischen Druck für eine KPÖ-Mehrheit oder gar ein kommunistisches Machtmonopol. Es steht aber außer Zweifel, dass die KPÖ beim Aufbau der politischen Strukturen von sowjetischer Seite klar bevorzugt wurde und dank dieser Bevorzugung einen im Vergleich zu ihrer tatsächlichen Stärke überproportionalen Machtanteil erhielt.22 17 18 19 20 21 22

Adolf Schärf, Österreichs Erneuerung 1945–1955. Das erste Jahrzehnt der zweiten Republik, Wien 1955, S. 30. Adolf Schärf, April 1945 in Wien, Wien 1948, S. 33 und 35. Vgl. Josef Rauchenberger, Bezirksvertretungen in Wien, Wien 1990, S. 451–454. Fischer, Ende einer Illusion, S. 50–56; Oskar Helmer, 50 Jahre erlebte Geschichte, Wien 1957, S. 201–208; Rauchensteiner, Die Zwei, S. 46. Fischer, Ende einer Illusion, S. 50 und 56. Helmer, 50 Jahre, S. 222; Rauchensteiner, Die Zwei, S. 130. Nicht mehr haltbar sind gegenteilige Aussagen, z. B. Aichinger, Sowjetische Österreichpolitik, S. 266; Rauchensteiner, Die Zwei, S. 36; Wolfgang Wagner, Die Besatzungszeit aus sowjetischer Sicht. Die Errichtung der sowjetischen Besatzungsmacht 1945 bis 1946 im Spiegel ihrer Lageberichte, ungedruckte Diplomarbeit, Wien 1998, S. 113.

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Dies bedeutete nicht, dass die anderen beiden Parteien maßgeblich behindert worden wären. Zwar dürften die Proponenten der im April 1945 aus Sozialdemokraten und Revolutionären Sozialisten gegründeten Sozialistischen Partei Österreichs (SPÖ) von den sowjetischen Besatzungsbehörden einige Tage lang hingehalten worden sein,23 aber die Parteigründung wurde nicht verhindert und auch nicht nennenswert verzögert. Mancherorts wurde ferner in den ersten Nachkriegstagen von lokalen sowjetischen Kommandanten die Gründung von Komitees für eine einheitliche Arbeiterpartei gefördert, wenn nicht ausdrücklich angeordnet.24 Dabei handelte es sich jedoch um eine vorübergehende Erscheinung. Die Planungen der Moskauer Exil-KPÖ hatten stets die Gründung zweier unabhängiger Arbeiterparteien, einer sozialistischen und einer kommunistischen, vorgesehen, denn das von der UdSSR favorisierte NationalfrontKonzept erforderte mehrere Parteien. Die aus Moskau heimgekehrte KPÖ-Spitze wandte sich daher gegen die sozialistisch-kommunistischen Vereinigungsbestrebungen der Basis und auch von sowjetischer Seite war die Bildung einer Einheitspartei zu diesem Zeitpunkt offenbar nicht gewünscht. Auch die Gründung der Österreichischen Volkspartei (ÖVP) wurde von sowjetischer Seite toleriert und nicht maßgeblich beeinflusst. Die Exil-KPÖ hatte keinen Zweifel daran gelassen, bürgerliche Gruppen in den Einheitsblock der demokratischen Parteien und Massenorganisationen integrieren zu wollen. Die Planungen zeigen zwar, dass man keine Neugründung der Christlichsozialen, d. h. keine monolithische Partei des Bürgertums und der Bauernschaft wünschte, sondern eher die Schaffung von separaten „katholischen“, „bürgerlich-demokratischen“ und bäuerlichen Parteien und Bünden, was zu einer Zersplitterung und damit Schwächung des bürgerlichen Lagers geführt hätte. Da aber im April 1945 keine Schritte gegen die Gründung der ÖVP unternommen wurden, ist anzunehmen, dass KPÖ und Sowjetbesatzung darauf setzten, die ÖVP später zu spalten oder aber im Rahmen der Nationalen Front kontrollieren zu können. Überdies sollten der Einfluss und die Unabhängigkeit der politischen Parteien durch die Schaffung der Einheitsfront und die Einbeziehung der „Massenorganisationen“ in diese reduziert werden. Die von der Sowjetunion geförderte KPÖ-Strategie, einheitliche, äußerlich „überparteiliche“ Massenorganisationen aufzubauen, erlitt aber bereits in den ersten Nachkriegswochen eine Niederlage. So bestanden SPÖ und ÖVP bei der Einberufung der provisorischen Wiener Arbeiterkammer auf der Bildung von Fraktionen. Die SPÖ schuf durch die Formierung eigener Jugend-, Sport- und Gewerbetreibendenverbände eine ganze Reihe von Faits accomplis, die dem kommunistischen Ziel, in den genannten Bereichen „überparteiliche“ Organisationen zu bilden, eindeutig widersprachen. Im Gegenzug dazu ignorierte die KPÖ die sozialistischen Verbände. Dieser Konfrontationskurs führte anlässlich 23 Helmer, 50 Jahre, S. 212. 24 Helmer, 50 Jahre, S. 198–204; Fritz Weber, Der Kalte Krieg in der SPÖ. Koalitionswächter, Pragmatiker und Revolutionäre Sozialisten 1945–1950, Wien 1986, S. 26.

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der Gründungsversammlung der als „überparteilich“ konzipierten Freien Österreichischen Jugend (FÖJ) am 16. Mai 1945 zum Eklat zwischen KPÖ-Vertretern und dem Obmann der bereits konstituierten Sozialistischen Jugend (SJ) Peter Strasser, der nicht eingeladen worden war. Die SJ weigerte sich daraufhin, in der FÖJ mitzuarbeiten, worauf sich auch die Katholische Jugend, die der Idee einer überparteilichen Jugendorganisation anfangs positiv gegenüber gestanden war, zurückzog und die Kommunisten in der FÖJ „praktisch unter sich“ blieben. Im Sommer 1945 schlossen sich noch die sozialistischen Gewerkschafter im Bundesvorstand des neu gegründeten Österreichischen Gewerkschaftsbundes (ÖGB) auf Anraten des provisorischen SPÖ-Obmannes Adolf Schärf zu einer eigenen Gruppe zusammen, womit auch hier – zumindest auf der Führungsebene – das kommunistische Ziel einer „einheitlichen“ Organisation vereitelt war.25 Dabei handelte es sich um den bedeutendsten von allen Fehlschlägen der Politik der Einheitsparolen, da „der Verzicht auf eine fraktionelle Gliederung des Gewerkschaftsbundes [...] eine Differenzierung in kommunistische und sozialistische Funktionsträger erheblich erschwert [hätte]. Das Misslingen der kommunistischen Pläne, auf allen kulturellen und sozialen Gebieten staatliche Einheitsorganisationen zu schaffen, und die dadurch ermöglichte Gliederung nach parteipolitischen Gesichtspunkten“ erleichterten die „Reduzierung der kommunistischen Machtpositionen auf das Maß, das der KPÖ entsprechend ihrer tatsächlichen Verankerung in der Bevölkerung zukam.“26 Die zweite KPÖ-Initiative, die nicht den gewünschten Erfolg erzielte, war die Herstellung der „Aktionseinheit der Arbeiterklasse“, d. h. die Einigung über gemeinsame politische Ziele und Maßnahmen von KPÖ und SPÖ. Dadurch sollte die SPÖ zur Erfüllungsgehilfin der KPÖ gemacht und die KPÖ-SPÖMehrheit im Rahmen der Nationalen Front im Interesse kommunistischer Ziele ausgenützt werden. Zwar fanden 1945 auf KPÖ-Initiative gemeinsame Mai-Demonstrationen von sozialistischen und kommunistischen Arbeitern und auch mehrere Besprechungen von SPÖ- und KPÖ-Regierungsmitgliedern vor den Ministerratssitzungen statt sowie ab dem 5. September einige Treffen eines von der KPÖ vorgeschlagenen Kontaktkomitees. Den Höhepunkt der inoffiziellen sozialistisch-kommunistischen Zusammenarbeit dürften die Länderkonferenzen im September/Oktober 1945 markiert haben. Je näher aber der Wahltermin rückte, desto weniger opportun waren die Kontakte zur KPÖ, und so beschloss die SPÖ-Spitze, den „Annäherungsversuchen der Linkssozialisten an die KPÖ ein Ende zu setzen“, da sich bei den Wahlen ein enges Verhältnis „zur kompromittierten, mit den Ausschreitungen der Roten Armee identifizierten 25 Weber, Der Kalte Krieg in der SPÖ, S. 17 f. Zur Gründung des ÖGB vgl. Fritz Klenner, Die Österreichische Gewerkschaftsbewegung. Entstehung, Entwicklung, Zukunft, Wien 1987, S. 372–375. Die eigentliche Fraktionsbildung im ÖGB erfolgte erst in den 50er Jahren. Siehe ebd., S. 547. 26 Anton Pelinka, Auseinandersetzung mit dem Kommunismus. In: Erika Weinzierl/Kurt Skalnik (Hg.), Österreich. Die Zweite Republik, Band 1, Wien 1972, S. 169–201, hier 179.

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Kommunistischen Partei negativ auswirken“ werde.27 Außerdem bestärkte die Parteispitze der britischen Labour Party die provisorische SPÖ-Führung darin, den kommunistischen Einfluss zurückzudrängen und statt dessen den Ausgleich mit den Bürgerlichen zu suchen. Anfang Oktober beschloss der SPÖ-Vorstand, dass das Kontaktkomitee bis nach den Wahlen nicht mehr zusammentreten solle. Insgesamt geriet die KPÖ bereits innerhalb der Provisorischen Regierung in zunehmende Isolation. Zwar deutete Renner sowohl der Sowjetbesatzung als auch den Kommunisten gegenüber wiederholt sein Bereitschaft an, politische Maßnahmen gemeinsam mit der KPÖ gegen die ÖVP zu beschließen. Doch war der greise Regierungschef keineswegs bereit, sich KPÖ-Einwänden zu beugen. Als sich die kommunistischen Regierungsmitglieder im Mai 1945 gegen Renners Antrag auf Übernahme der Verfassung von 1920/29 aussprachen, stellte der Staatskanzler sie kurzerhand vor die Alternative, entweder dafür zu stimmen oder aber aufgrund der erforderlichen Einstimmigkeit die Regierung zu verlassen.28 Auch in der Beamten- und Entnazifizierungsfrage konnte sich die KPÖ trotz ihrer starken Position nicht gegen die „Präsidialdiktatur“ Renners29 durchsetzen. Die Ausgangsposition der KPÖ für die Wahlen 1945 war somit nicht günstig; hinzu kamen der frühe Wahltermin, mangelhafte Vorbereitung und Kaderschwäche. Der Termin war aber von den Alliierten und im Rahmen der Länderkonferenz bereits akkordiert worden und so bemühte sich die sowjetische Seite, die Besorgnisse der KPÖ zu zerstreuen und ihr durch zusätzliche Papiermengen und Transportmittel Wahlkampfhilfe zu leisten.30 Außerdem versuchte die Sowjetbesatzung, durch großzügige Hilfeleistung und politische Gesten eine günstige Atmosphäre zu erzeugen, die bei den Wahlen den Kommunisten zugute kommen sollte. So befürwortete der Leiter der 3. Europa-Abteilung des Außen-Volkskommissariats (NKID) Andrej A. Smirnov in einem Schreiben an den stellvertretenden Volkskommissar Andrej Ja. Vyšinskij vom 15. November, dass die Aufnahme von diplomatischen Beziehungen zwischen der UdSSR und Österreich unbedingt „in den nächsten Tagen durchzuführen [sei], damit sie von unseren Freunden in Österreich im Wahlkampf vorteilhaft ausgenützt“ werden könne.31 In diesem Zusammenhang sind auch die sowjetische „Spende“ für den Wiederaufbau der Staatsoper sowie die Übergabe der mit sowjetischer 27 Weber, Der Kalte Krieg in der SPÖ, S. 35–37, hier 36. 28 Manfried Rauchensteiner, Der Sonderfall. Die Besatzungszeit in Österreich 1945 bis 1955, Graz 1979, (zit. nach der Neuauflage 1995), S. 112. 29 Ernst Fischer, Der Weg der Provisorischen Regierung. In: Weg und Ziel, Jänner 1946. Zit. nach Heinz Gärtner, Zwischen Moskau und Österreich. Die KPÖ – Analyse einer sowjetabhängigen Partei, Wien 1979, S. 75. 30 Gärtner, Zwischen Moskau und Österreich, S. 93; Josef Leidenfrost, Die Nationalratswahlen 1945 und 1949. Innenpolitik zwischen den Besatzungsmächten. In: Günter Bischof/Josef Leidenfrost (Hg.), Die bevormundete Nation. Österreich und die Alliierten 1945–1949, Innsbruck 1988, S. 127–153, hier 134 f. 31 Zit. nach Wagner, Besatzungszeit, S. 115.

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Hilfe wiederhergestellten Donau-Brücke bei Tulln an die österreichische Regierung zu sehen. Trotz der intensiven sowjetischen Wahlkampfhilfe brachten die Wahlen ein Desaster für die österreichischen „Freunde“ (KPÖ 5,4 %). Diese Niederlage kam für die Sowjetunion zweifellos unerwartet. Sowohl KPÖ und UdSSR als auch ÖVP, SPÖ und Westmächte dürften mit einem kommunistischen Stimmenanteil von mindestens 10 bis 15 Prozent gerechnet haben.32 Angaben Renners, wonach die KPÖ 20 Prozent der Stimmen erhalten werde, waren vom Politberater der Sowjetbesatzung Evgenij D. Kiselëv als überhöht abgetan worden.33 Ein derartiger KPÖ-Erfolg war aber auch gar nicht nötig, denn bereits ein kommunistischer Stimmenanteil von 10 bis 15 Prozent hätte bei Verwirklichung der angestrebten Aktionseinheit mit der SPÖ durchaus ausgereicht, den Kommunisten eine nicht unbedeutende Mitsprachemöglichkeit in der österreichischen Politik zu sichern. Doch auch diese moderaten Erwartungen wurden enttäuscht. Die Wahlniederlage reduzierte die KPÖ, die zuvor knapp ein Drittel der Regierungsämter innegehabt hatte, auf das Format einer Kleinpartei. Für das Verhältnis der sowjetischen Besatzung zu den beiden siegreichen Parteien ÖVP (49,8 %) und SPÖ (44,6 %) markieren die Wahlen 1945 den Beginn einer letztlich bis 1955 dauernden politischen „Eiszeit“. Die Verschlechterung der Beziehungen geht aber bereits auf einen früheren Zeitpunkt zurück. Schon das Auftreten der Westmächte und die ersten Kontakte der Provisorischen Regierung zu ihnen im Sommer 1945 führten zu merklichem sowjetischen Misstrauen. Politberater Kiselëv formulierte dies mit den Worten: „In einer Lage, in der derzeit sogar die Engländer [...] und auch die Amerikaner geheime Gespräche wenn nicht mit Renner so doch mit einzelnen Regierungsbeamten [...] führen, wird es für uns wirklich nützlich sein, die Richtigkeit unserer Methoden in den Beziehungen zu der Regierung und den Alliierten zu überprüfen.“34 Gemeint war damit, dass die sowjetische Besatzung der Provisorischen Regierung ein zu großes Maß an Freiheit und Vertrauen eingeräumt habe, das nun von österreichischer Seite zum Nachteil der Sowjetunion ausgenützt werde. Das Scheitern der Verhandlungen über die von der UdSSR vorgeschlagene sowjetisch-österreichische Erdölgesellschaft „Sanafta“35 belastete die Beziehungen zur Provisorischen Regierung weiter. Auf die österreichische Ablehnung sowjetischer Vorschläge und das „unbotmäßige“ Verhalten ihres „Klienten“ reagierte die Großmacht, welche über die Auseinandersetzungen

32 Zu den verschiedenen zeitgenössischen Wahlprognosen siehe Pelinka, Auseinandersetzung mit dem Kommunismus, S. 180; Mugrauer, Politik der Kommunistischen Partei 335–338. 33 Lun’kov an Dekanozov vom 24.11.1945 (AVP RF, 06/7/26/324/20 f.). 34 Kiselëv an Dekanozov vom 7. 8.1945 (AVP RF, 06/7/26/322/16 f.). 35 Rauchensteiner, Der Sonderfall, S. 115 f. Vgl. Günter Bischof, Austria in the First Cold War, 1945–55. The Leverage of the Weak, Basingstoke 1999, S. 41 f.

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innerhalb des Kabinettsrates genau informiert war,36 mit „Liebesentzug“. Als sich Renner am 17. Oktober wieder einmal an Stalin wandte und bat, die Westmächte zur Anerkennung der Provisorischen Regierung zu bewegen sowie die sowjetische Truppenstärke zu reduzieren,37 handelte die sowjetische Seite dilatorisch. Erst einen Monat später verfasste Smirnov ein Gutachten für Vyšinskij, worin er empfahl, die Antwort Stalins solle lediglich in mündlicher Form überbracht werden. Als Grund dafür nannte Smirnov, „dass sich das Benehmen Renners in Bezug auf die Sowjetunion in den letzten Monaten zum Schlechteren verändert hat. Auf die konkreten Bitten Renners zu antworten, ist derzeit nicht nötig. Es ist besser, sich auf den Hinweis zu beschränken, dass die sowjetische Regierung diese Bitten begutachtet.“38 Vyšinskij war mit dem Vorschlag einverstanden und leitete ihn an Molotov weiter. Die De-facto-Anerkennung der Provisorischen Regierung durch die Alliierten in Form einer Zustimmung zur Ausweitung der Kompetenzen auf ganz Österreich am 20. Oktober 1945 ließ das Ansuchen Renners bald obsolet werden, doch die Verstimmung der UdSSR gegenüber der österreichischen Regierung, der SPÖ und Renner persönlich war nicht zu überwinden. Kiselëv wies in einem Schreiben an Molotov vom 26. Januar 1946 darauf hin, dass eine Antwort auf den Brief Renners nicht zweckmäßig sei, da die Frage sich erledigt habe. Aber außerdem „muss man schon deshalb auf eine Antwort an Renner verzichten, da die SPÖ, die er leitet, und auch er selbst derzeit in Beziehung zu uns häufig eine doppelzüngige Politik betreiben“.39 Nach den Nationalratswahlen im November 1945 verschlechterte sich die sowjetische Haltung gegenüber den beiden Wahlsiegern rapide. Im Januar 1946 konstatierte ein sowjetischer Bericht, dass die Wahl die „reaktionären Kräfte“ in Österreich gestärkt und die innenpolitische Lage negativ beeinflusst habe. Namentlich die SPÖ wurde heftig kritisiert: Karl Renner sei prinzipien- und rückgratlos, „äußerlich loyal gegenüber der Sowjetunion“, kritisiere sie aber bei geschlossenen Veranstaltungen.40 Der SPÖ-Vorsitzende Adolf Schärf sei ein erbitterter Gegner der Einheit der Arbeiterklasse und der Zusammenarbeit mit den Kommunisten, Innenminister Oskar Helmer ein „unverbesserlicher Opportunist und erbitterter Feind der Kommunisten und der Sowjetunion“. Als besonders „erbitterten Feind der Sowjetunion“ betrachtete man Oscar Pollak, den aus dem Londoner Exil zurückgekehrten Chefredakteur der „Arbeiter-Zeitung“.41 Das sowjetische Verhältnis zur ÖVP war weniger schlecht. Bereits der 36 Oberstlt. Merkulov an den Leiter der 7. Abteilung der Politverwaltung der Zentralen Heeresgruppe Oberstlt. Dubrovickij vom 14. 9.1945 und Bericht über die 3. Sitzung der Prov. Regierung Österreichs am 12. 9.1945 (AVP RF, 66/23/24/8/134–138). 37 Renner an Stalin vom 17.10.1945 (AVP RF, 06/8/22/305/1–7). 38 Smirnov an Vyšinskij vom 17.11.1945 (AVP RF, 06/8/22/305/10). 39 Kiselëv an Molotov vom 26.1.1946 (AVP RF, 066/26/121/10/20). 40 „Über die innenpolitische Lage Österreichs“. In: Bulletin 9 (33) des Informationsbüros des ZK der VKP(B) zu Fragen der Außenpolitik vom 1. 5.1946 (RGASPI, 17/128/94/ 147–155). 41 Zit. nach Wagner, Besatzungszeit, S. 108.

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Bericht über das Treffen zwischen Renner und dem Oberkommandierenden der 3. Ukrainischen Front Marschall Fëdor I. Tolbuchin am 19. April 1945 wies darauf hin, dass das „Auftreten der Katholiken“ [d. h. der Volkspartei] „besser“ sei als jenes der Sozialisten und dass sie ihren Antisowjetismus wenigstens „in etwas verhüllterer Form“ verfolgen würden.42 Die sowjetische Kritik an der Volkspartei selbst war einerseits außenpolitisch, andererseits ideologisch motiviert. Die ÖVP, so ein Bericht der Besatzung, „bekundet unverhohlen ihre nicht nur politische, sondern auch ökonomische Orientierung auf die USA“. In innenpolitischen Fragen würden die Positionen der Volkspartei und ihrer Teilorganisationen „immer reaktionärer“ und richteten sich gegen eine Bodenreform und andere demokratische Umgestaltungen. Die Volkspartei verteidige die „Kulaken“ (Großbauern), obwohl diese die Lebensmittel nicht ablieferten, und versuche gleichzeitig, „im Block mit der katholischen Kirche [...] die Massen von politischen Fragen“ ab- und statt dessen „in den Bereich der Religion und Kultur“ zu lenken.43 Das sowjetische Verhältnis zu den Großparteien wurde durch mehrere Faktoren belastet. Dabei spielte die sowjetische Empfindlichkeit gegenüber Kritik von außen eine wichtige Rolle. Die besondere Feindseligkeit der Besatzung gegenüber der SPÖ war zum Teil darauf zurückzuführen, dass die SPÖ die wichtigste Ursache für die Niederlage der KPÖ 1945 in deren Nähe zur Sowjetbesatzung sah und daraus die Strategie ableitete, sich klar von „den Russen“ und der „Russenpartei“ zu distanzieren und zu zeigen, „dass nicht die ÖVP, sondern sie selbst die konsequenteste antirussische und antikommunistische Partei sei“.44 Insbesondere das SPÖ-Zentralorgan „Arbeiter-Zeitung“ (AZ) thematisierte rücksichtslos Fälle von sowjetischen Übergriffen und Verbrechen und hielt auch seine Kritik am politischen System der Sowjetunion nicht zurück. Aus sowjetischer Perspektive handelte es sich dabei um „antisowjetische Propaganda“.45 Die AZ – so die sowjetischen Vorwürfe – setze die Rolle der Roten Armee im Kampf gegen den Faschismus herab, untergrabe die Einheit der Alliierten und publiziere Artikel „offen provokatorisch-verleumderischen Charakters“. Auf Kritik von außen reagierte die Sowjetbesatzung mit heftiger Gegenpropaganda, Beschlagnahmungen, Einschüchterungsmaßnahmen, Zensur, Verhaftungen und Verurteilungen. Der Chefredakteur der SPÖ-Zeitung „Burgenländische Freiheit“ Hans Bögl, der Artikel über Plünderungen durch sowjetische Soldaten veröffentlicht hatte, wurde vor einem sowjetischen Militärtribunal wegen Verleumdung und Provokation angeklagt; der Sekretär des ÖVP-Bauernbundes

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Ebd., S. 110. Ebd. Weber, Der Kalte Krieg in der SPÖ, S. 37. Stabschef der SČSKA, Generallt. Morozov, an ZK der VKP(B), M. A. Suslov, vom 10. 9.1946 und „Die politische Lage Österreichs“ (RGASPI, 17/128/114/1 ff., hier 6– 9).

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Herbert Schretter wurde für seine Kritik an der Besatzung zu sieben Jahren Zwangsarbeit verurteilt und verstarb in Haft.46 Der zweite Hauptgrund für die Konflikte zwischen der Sowjetbesatzung und den Großparteien bestand darin, dass sich die österreichischen innenpolitischen Akteure einfach nicht so verhielten, wie von der UdSSR gewünscht. Die SPÖ lehnte die Aktionseinheit mit den Kommunisten ab und kritisierte die sowjetischen Beschlagnahmungen und Übergriffe. Der sozialistische Innenminister bemühte sich, den 1945 etablierten kommunistischen Einfluss in der Polizei zurückzudrängen. Die ÖVP befürwortete Wirtschaftskontakte zum Westen und lehnte eine kommunistisch inspirierte Bodenreform ab. Die Sowjetunion war aber schlichtweg nicht bereit, politischen Dissens und abweichende Standpunkte zu akzeptieren. Verständnis für die österreichische Kritik an den sowjetischen Beschlagnahmungen und Übergriffen zu zeigen, lag jenseits der sowjetischen Politikauffassung; ebenso fehlte ihr die Einsicht, dass sich die Großparteien nicht als willenlose Marionetten in einem Einheitsblock unter der Führung der Kommunisten zusammenschließen wollten. Die sowjetische Interpretation dieser „Unbotmäßigkeit“ war der Vorwurf, „reaktionär“, „antisowjetisch“ und „undemokratisch“ zu sein. Ein weiteres belastendes Moment in der Beziehung der Sowjetbesatzung zu den Großparteien war die KPÖ. Einerseits benützten die Kommunisten ihre Sonderbeziehungen zur Besatzung und ihren nicht unbeträchtlichen Einfluss auf die sowjetische Wahrnehmung dazu, ihre innenpolitischen Konkurrenten aktiv zu denunzieren und verleumden. Nicht aus Zufall beriefen sich sowjetische Berichte häufig auf KPÖ-Quellen. Andererseits kreidete die sowjetische Seite den nichtkommunistischen Parteien jede gegen die KPÖ gerichtete Aussage und Maßnahme – auch wenn sie inhaltlich zutreffend bzw. demokratisch legitim war – als „undemokratisch“ an. Im September 1945 meldete das Informationsbulletin des ZK der VKP(B), dass die sozialistischen Gewerkschafter in den Betriebsräten die Kommunisten behindern und das Prinzip der gemeinsamen Entscheidungen aller drei Parteien verletzen würden. In diesem Zusammenhang wurde auch darauf hingewiesen, dass Bürgermeister Theodor Körner in Wien mehrere kommunistische Bezirksvorsteher durch sozialistische ersetzt habe.47 Beide kritisierten Vorgänge entsprachen durchaus den Grundprinzipien demokratischer Konkurrenz, wurden aber dennoch als gegen die KPÖ, somit „gegen die demokratischen Kräfte“ gerichtet und folglich als „undemokratisch“ kritisiert. Die sowjetische Seite betrachtete sowohl ihre Vertreter und Maßnahmen als auch die KPÖ als sakrosankt, was dazu führte, dass keine Kri46 Klaus-Dieter Mulley, Befreiung und Besatzung. Aspekte sowjetischer Besatzung in Niederösterreich 1945–1948. In: Österreich unter alliierter Besatzung 1945–1955. Hg. von Alfred Ableitinger, Siegfried Beer und Eduard Staudinger, Wien 1998, S. 361–400, hier 375. Mulley bezeichnet Schretter irrtümlich als SPÖ-Politiker. 47 „Über die innenpolitische Lage Österreichs“. In: Bulletin des Informationsbüros des ZK der VKP(B) zu Fragen der Außenpolitik vom 1. 9.1945 (RGASPI, 17/128/49/184– 189).

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tik von außen gestattet war, ohne dass der Kritiker zum politischen Feind erklärt wurde.48 Die Sowjetbesatzung identifizierte sich in einem derart großen Maße mit der KPÖ, dass deren innenpolitische Gegner automatisch auch zu „Feinden der Sowjetunion“ gestempelt wurden. Den vierten – und wahrscheinlich wichtigsten – Hauptgrund für die Probleme zwischen der Sowjetbesatzung und den Großparteien bildete die ideologisch geprägte Wahrnehmung der sowjetischen Beobachter. Die sowjetische Ablehnung der nichtkommunistischen Parteien als „reaktionär“ und „undemokratisch“ ging weniger auf deren tatsächliche Verhaltensweisen zurück als vielmehr auf die sowjetische doktrinär-manichäische Weltsicht, in der Freunde und Feinde der Sowjetunion streng getrennte Lager bildeten und sich so verhielten, wie es ihnen gemäß dem marxistisch-leninistischem Welt- und Geschichtsbild zukam. Die sowjetische Reaktion auf die demokratische Konkurrenzsituation bestand in dem Rückfall in eine undifferenzierte Scheidung der Außenwelt in Freund („demokratisch“) und Feind („reaktionär“, „undemokratisch“), womit sie die Zwei-Lager-These vorwegnahm. Renner und der Führung von SPÖ und ÖVP kam in diesem Schema die Rolle der „reaktionären“ Feinde zu. Nach den Wahlen 1945 verstärkte sich die innenpolitische Isolation der schwer geschlagenen KPÖ deutlich. Zwar überließen ihr die beiden Großparteien – wohl aus Rücksicht auf die sowjetische Besatzungsmacht – einen Sitz im Hauptausschuss des Parlaments und ein Ministerium. (Dass es sich dabei ausgerechnet um das Ressort für Energiewirtschaft und Elektrifizierung handelte, entbehrt angesichts von Lenins berühmter Formel „Kommunismus ist Räteherrschaft plus Elektrifizierung“ nicht der Ironie. Der Schluss liegt nahe, dass die Großparteien den Kommunismus in Österreich auf „Elektrifizierung ohne Räteherrschaft“ begrenzt wissen wollten.) Trotz dieser Beteiligung der KPÖ an der Macht wurden alle wichtigen Fragen von einer aus ÖVP und SPÖ gebildeten „Koalition in der Koalition“ meist vorweg abgesprochen und zur Beschlussfassung gebracht. Dem letzten kommunistischen Regierungsmitglied Karl Altmann blieb somit in vielen Fällen nichts anderes übrig, als im Ministerrat aufgrund der geforderten Einstimmigkeit mehrmals gegen die offizielle KPÖ-Linie für ÖVP-SPÖ-Anträge zu stimmen. Dies betraf z. B. den Entschließungsantrag der Regierung über einen Protest gegen die Enthebung von österreichischen Polizeichefs durch die Sowjetbesatzung 1947. Am 28. Juni 1947 stimmte Altmann im Ministerrat sogar für die Teilnahme Österreichs am Marshall-Plan, was jedoch später von der KPÖ-Propaganda dahin umgedeutet wurde, dass Altmann nur der Teilnahme an der Pariser Konferenz zugestimmt habe, nicht aber am Marshall-Plan an sich.49 48 Vgl. Norman M. Naimark, The Russians in Germany. A History of the Soviet Zone of Occupation. Cambridge 1995. Zit. nach der dt. Taschenbuchausgabe Die Russen in Deutschland. Die Sowjetische Besatzungszone 1945 bis 1949, München 1999, S. 348, 390. 49 Rauchensteiner, Die Zwei, S. 107 f. und 111.

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Es steht außer Zweifel, dass dieser „Spagat“ zwischen westorientierter Regierungspolitik und UdSSR-orientierter Opposition von der KPÖ als zunehmende Belastung empfunden wurde. Die KPÖ-Führung ventilierte daher bereits im November 1946 gegenüber der sowjetischen Parteispitze den Plan, die Regierung zu verlassen und dadurch Neuwahlen zu provozieren. Dabei rechnete die Partei, wie ihr Vorsitzender Johann Koplenig und ZK-Sekretär Friedl Fürnberg am 2. November in einem Brief an Stalin mitteilten, mit einer Verdopplung ihrer Wählerstimmen und einer Mehrheit für die SPÖ, was den Druck auf die SPÖFührung, mit der KPÖ zusammenzuarbeiten, erhöhen werde.50 Wir wissen zwar nicht, welche Antwort die sowjetische Seite gab, doch dürfte die KPÖ grünes Licht erhalten haben, denn der Plan verschwand nicht aus der Diskussion. Den lange gesuchten Anlass zur Demission Altmanns am 20. November 1947 bot schließlich die Verabschiedung des für die Umsetzung des Marshall-Planes notwendigen Währungsschutzgesetzes. Der Austritt aus der Regierung versprach den Kommunisten nicht nur die Befreiung von Regierungsverantwortung, sondern auch die Chance, durch Verschärfung des innenpolitischen Kampfes Protestwähler zu gewinnen und den eigenen Einfluss zu erhöhen. Auch in Frankreich und Italien verließen die kommunistischen Parteien 1947 die Regierungen. Das sowjetische Ziel, in Mittel- und Westeuropa UdSSRfreundliche Nationalfront-Regierung unter kommunistischer Kontrolle zu errichten, war damit gescheitert.

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Die Suche nach Alternativen 1947–1955

Angesichts des Scheiterns des Versuches, in Österreich eine NationalfrontRegierung mit einer starken Machtposition der KPÖ zu etablieren und den Übergang zum Sozialismus auf demokratischem Weg einzuleiten, dürfte die innenpolitisch isolierte, sich kritiklos mit der stalinistischen Sowjetunion identifizierende51 und von der Bevölkerungsmehrheit als „Russenpartei“ verachtete KPÖ bald nach ihrem Austritt aus der Regierung begonnen haben, Alternativkonzepte auszuarbeiten. Das erste Szenario bestand in der Teilung Österreichs und der Errichtung einer KPÖ-Herrschaft in der sowjetischen Besatzungszone. Vorstufen dazu waren bereits in den 1946 entwickelten Vorschlägen der KPÖ für die Organisation der Wirtschaft in der SBZ Österreichs enthalten gewesen, die vorsahen, dass die gesamte Versorgung und Produktion Ost-Österreichs unter sowjetische und KPÖ-Kontrolle gestellt werden und auf Osteuropa und die Sowjetunion ausge50 Koplenig und Fürnberg an Stalin vom 2.11.1946. In: Sowjetische Politik in Österreich, S. 340–350. 51 Josef Toch, Enklave KPÖ. In: Jacques Hannak (Hg.), Bestandsaufnahme Österreich 1945–1963, Wien 1963, S. 63–83; Fritz Keller, Die KPÖ 1945–1955. In: Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 1994, S. 104–121, hier insb. 111–115.

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richtet werden sollten.52 Die sowjetische Reaktion auf diese Anregung ist nicht dokumentiert, jedenfalls wurde sie nicht verwirklicht. Eindeutig zur Sprache kamen die Teilungsphantasien der KPÖ in einer Unterredung des Politbüromitglieds Andrej A. Ždanov mit Koplenig und Fürnberg am 13. Februar 1948, in der er mit den KPÖ-Führern hart ins Gericht ging und ihre Politik verurteilte.53 Dabei warf Ždanov der KPÖ vor, sie baue ihre Taktik darauf auf, die sowjetische Besatzung so lange wie möglich in Österreich zu behalten, und sie habe sich intern sogar für eine Teilung Österreichs ausgesprochen. Mit beidem könne die Sowjetunion nicht einverstanden sein. Die KPÖ solle, der Deklaration der Mitglieder des Kominformbüros folgend, die „inneren national-demokratischen Kräfte“ des Landes „entfesseln“, für das Ende der Besetzung und die nationale Unabhängigkeit Österreichs kämpfen und die österreichische Bevölkerung auf die Herstellung freundschaftlicher Beziehungen mit der UdSSR ausrichten. Das von der KPÖ ausgearbeitete Teilungsszenario entsprach offenbar nicht den Interessen der Sowjetunion. Solange die Westmächte die übrigen drei Viertel des Landes besetzt hielten, musste eine Teilung ihnen mehr Nutzen bringen als der Sowjetunion, die propagandistisch für die Spaltung verantwortlich gemacht und überdies mit der Versorgung der Bevölkerung der sowjetischen Besatzungszone belastet worden wäre. Ein zweites Alternativkonzept für die KPÖ war die gewaltsame Machtergreifung durch einen Putsch. Welche Bedeutung diese Ideen erlangten, belegt ein von der französischen Besatzung entdeckter angeblicher „Aktionsplan“ der KPÖ aus dem Jahr 1948. Das mit 15. November 1948 datierte vierzigseitige Dokument stellte einen Generalplan für einen kommunistischen Putsch in Österreich mit Hilfe von 17 000 KPÖ-Aktivisten dar. Einleitend wurde festgestellt, dass das ZK der KPÖ beschlossen habe, „alle Maßnahmen vorzubereiten, die notwendig sind, um im gegebenen Falle alle reaktionären und dem westlichen Kapitalismus hörigen arbeiterfeindlichen Elemente schlagartig auszuschalten“.54 Dazu sollten Bundeskanzler Leopold Figl, Vizekanzler Schärf, der Innen- und der Außenminister Oskar Helmer und Karl Gruber sowie der sozialistische Gewerkschafter und Abgeordnete Franz Olah verhaftet, die wichtigsten Partei- und Gewerkschaftsgebäude, Bezirksämter, Gendarmeriekommandos, Telephonzentralen, Elektrizitätswerke und Banken besetzt und Aktenmaterial und Parteikarteien gesichert werden. Mit bewaffnetem Widerstand in der SPÖZentrale sowie den SPÖ-Bezirksleitungen wurde gerechnet. Trotzdem seien der 52 Kopie des Vorschlages, den wir G[enossen] Želtov gaben, vom 3. 3.1946 (RGASPI, 17/128/110/112–119). 53 Niederschrift des Gesprächs mit den Vertretern des ZK der Kom[munistischen] Partei Österreichs vom 13. 2.1948. In: Wolfgang Mueller, Die Teilung Österreichs als politische Option für KPÖ und UdSSR 1948. In: Zeitgeschichte, 32 (2005) 1, S. 47–54. 54 Zit. nach Günter Bischof, „Prag liegt westlich von Wien“. Internationale Krisen im Jahre 1948 und ihr Einfluss auf Österreich. In: ders./Josef Leidenfrost (Hg.), Die bevormundete Nation. Österreich und die Alliierten 1945–1949, Innsbruck 1988, S. 315– 345, hier 336 f. Die Authentizität des „Aktionsplanes“ ist umstritten.

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„rein innenpolitische Charakter der Aktion“ stets im Auge zu behalten und „Zwischenfälle mit den alliierten Dienststellen und Besatzungsangehörigen [...] unbedingt zu vermeiden“.55 Als Ziel des Putsches wurde die Schaffung einer „volksnahen Führung“, das „Vertrauen aller Besatzungstruppen“ sowie „ein baldiger Abschluss des Staatsvertrages“ genannt. Es ist offensichtlich, dass ein solcher Plan nicht nur über äußerst geringe Erfolgschancen verfügte, sondern selbst im Fall einer erfolgreichen Durchführung aller Verhaftungen, Besetzungen etc. aufgrund seiner inneren Widersprüche in sich zusammenbrechen musste. Es war auch kaum möglich, eine von immerhin über 80 Prozent der Bevölkerung und den drei Westmächten akzeptierte Regierung gewaltsam zu beseitigen, sodann die Zustimmung der Bevölkerung und aller Besatzungsmächte zu diesem Machtwechsel zu erhalten und zuletzt in aller Eile noch den Staatsvertrag abzuschließen. Die KPÖ dürfte für derartige Aktionen auch keine sowjetische Zustimmung erhalten haben. Jedenfalls kam der Plan nicht zur Durchführung. Als die Partei im Oktober 1950 schließlich Anstalten machte, einen von ihr selbst gar nicht initiierten Generalstreik zur gewaltsamen Destabilisierung und zur „radikalen Änderung der ökonomischen, aber auch der politischen Verhältnisse“ zu benützen,56 zeigte sich, dass die UdSSR nicht bereit war, offen an einem Umsturzversuch teilzunehmen. Zwar unterstützte die Sowjetbesatzung die von der KPÖ gelenkten Unruhen, indem sie den kommunistischen Streiktrupps Lastwagen zur Verfügung stellte und den Einsatz von Polizisten gegen die Besetzung von Gebäuden und Verkehrswegen durch die gewalttätigen Streikenden ausdrücklich verbot oder zumindest verhinderte. Doch sie überschritt niemals die Grenze zur direkten militärischen Intervention. Die Präsenz der Westmächte im Land war wohl dafür verantwortlich, dass keines der von der KPÖ entworfenen Szenarios volle Unterstützung von sowjetischer Seite fand, denn ein durch einen Putsch errichtetes kommunistisches Regime in Wien hätte zweifellos zu einer Konfrontation mit den Westmächten und/oder zu einer Teilung Österreichs geführt, woran die Sowjetunion, wie gesagt, nicht interessiert war. Als sowjetisches Alternativkonzept nach dem ersten Scheitern der Nationalfront-Strategie 1947 zeichnete sich bald die Tendenz ab, mit Hilfe der lokalen Kommunisten die Klassengegensätze und die Unzufriedenheit der Massen zu schüren, um auf diese Weise die Regierung zu destabilisieren, die herrschenden Parteien zu spalten und die Kommunisten auf „demokratischem“ Weg zurück an die Macht zu bringen. Auch hierbei handelte es sich um kein Sofortprogramm, sondern um eine langfristige Strategie. Der erste Ansatzpunkt der Spaltungsversuche waren der linke Flügel und die Parteibasis der SPÖ. Indem die Kommunisten die sozialistischen Arbeitermassen zum Übertritt von der SPÖ zur KPÖ aufforderten, hofften sie, die SPÖ-Führung ihrer Gefolgschaft 55 Ebd. 56 Zit. nach Rauchensteiner, Der Sonderfall, S. 289–297, hier 295. Rauchensteiner bezieht sich auf eine spätere Aussage des KPÖ-Generalsekretärs Fürnberg.

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zu berauben und die von ihr abgelehnte Aktionseinheit gegen ihren Willen „von unten“ herzustellen.57 Die SPÖ-internen Spannungen zwischen der Parteiführung und dem linken Flügel sah die KPÖ daher „mit einiger Sympathie“ und bezeichnete sie als Beweis dafür, „dass sich die Führung von den Massen entferne“.58 Fürnberg erklärte am 22. September 1946 auf einer Konferenz der Wiener KPÖ: „Unser Verhältnis zur SP ist das Entscheidende. [...] Unsere komm[unistischen] Funktionäre haben in den meisten Fällen noch nicht verstanden, wie man solche Sozialisten, die schon halboppositionell sind, [...] langsam und systematisch bearbeitet. [...] Wenn unsere Funktionäre es verstehen, diese oppositionellen Sozialisten heranzuziehen, sich privat mit ihnen zu unterhalten, eventuell einen Sonntag mit ihnen verbringen, einen Ausflug mit ihnen machen, in näheren Kontakt mit ihnen kommen, dann werdet Ihr sehen, wie rasch Ihr zu einem politischen Erfolg kommen werdet, auch bei den so genannten Russen-Feinden, wie rasch Ihr imstande sein werdet, diese Leute umzumodeln!“59 Auch von sowjetischer Seite wurden die Anzeichen von innerparteilichen Meinungsverschiedenheiten in der SPÖ und Unzufriedenheit an der Basis über den Kurs der Parteileitung ab Sommer 1946 registriert und namentlich die MaiDemonstrationen, die mancherorts gegen das ausdrückliche Verbot der SPÖLeitung gemeinsam von Sozialisten und Kommunisten durchgeführt wurden, als Indiz für das Streben der sozialistischen Basis nach Zusammenarbeit mit der KPÖ interpretiert.60 Der SPÖ-Zentralsekretär und spätere Obmann der Linkssozialisten Erwin Scharf fiel der sowjetischen Besatzung nachweislich im Oktober 1946 durch seine Kritik an der kompromissbereiten Haltung der SPÖFührung gegenüber der ÖVP und an der USA-Orientierung der Regierung61 auf. Von sowjetischer Seite wurden die Artikel Scharfs als „Programm für eine Opposition in den Reihen der sozialistischen Partei“ und Scharf selbst als „Führer des linken Flügels der Sozialisten“ begrüßt.62 Der einen Monat später abgehaltene 2. Parteitag der SPÖ brachte, wie der Leiter der u. a. für die innenpolitische Einflussnahme zuständigen Propagandaabteilung des Sowjetischen Teils der Alliierten Kommission für Österreich (SČSKA) Oberstleutnant Lev A. Dubrovickij konstatierte, bereits „die Widersprüche zwischen der [...] rechten Führung einerseits und einem bedeutenden Teil der Mitgliedermasse andererseits“ deutlich zu Tage.63 Die sowjetische Besatzung unterstützte daher das Vor57 Pelinka, Auseinandersetzung mit dem Kommunismus, S. 182 f. 58 Rauchensteiner, Die Zwei, S. 110. 59 Genosse Fürnberg auf der Tagung des Wiener Landesausschusses vom 22. 9.1946 (RGASPI, 17/128/108/34–39). 60 Informationsbulletin SČSKA 38 (59) vom 4. 5.1946 (RGASPI, 17/125/392/47–55). 61 Erwin Scharf, Offene Fragen. In: Die Zukunft, 8/1946, S. 8 f. Zit. nach Weber, Der Kalte Krieg in der SPÖ, S. 83. 62 Stabschef der SČSKA, Generallt. Morozov, an ZK der VKP(B), M. A. Suslov, vom 10. 9.1946 und „Die politische Lage Österreichs“ (RGASPI, 17/128/114/1 ff. hier 37). 63 Leiter der Propagandaabteilung SČSKA Dubrovickij, „Der II. Parteitag der Sozialistischen Partei Österreichs“, vom 19.12.1946 (RGASPI, 17/128/113/2–31, hier 3).

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haben, Scharf und der innerparteilichen Opposition eine Tribüne zu geben, das Organ des Verbandes Sozialistischer Studenten Österreichs (VSStÖ) „Strom“ zum „Sprachrohr der linken Elemente in der SPÖ“ umzuwandeln64 und diese von der SPÖ abzuspalten. Die Kooperation zwischen dem „Strom“ und Scharf wurde aber bald auf Druck der SPÖ-Führung beendet und Scharf nach Verletzung eines vom Parteischiedsgericht verhängten Redeverbots im Oktober 1948 aus der SPÖ ausgeschlossen.65 Vier Monate später gründete er die „Vereinigung fortschrittlicher Sozialisten“ (später: Sozialistische Arbeiterpartei, SAP), die bei der Nationalratswahl am 9. Oktober 1949 gemeinsam mit der KPÖ als „Linksblock (Kommunisten und Linkssozialisten)“ kandidierte. Die Gemeinschaftsliste war, wie der stellvertretende Hochkommissar Aleksej S. Želtov im August 1949 in einem Schreiben an das ZK der VKP(B) mitteilte, auf Druck der Sowjetbesatzung gebildet worden, die die KPÖ überzeugt hatte, dass „der Block [der Linkssozialisten] mit der KPÖ ihre Wählerbasis erweitert“, wohingegen ein „eigenständiges Antreten Scharfs“ ihm „keine Mandate sichert“ und statt dessen „Stimmen von der Kom[munistischen] Partei abzieht“.66 Insgesamt blieb der Linksblock mit 213 000 Stimmen und einem zusätzlichen Mandat gegenüber 1945 deutlich hinter dem selbst gesteckten Wahlziel zurück. Dennoch stellten Oberstleutnant Dubrovickij und der Leiter der Unterabteilung für Arbeit unter den demokratischen Parteien und Massenorganisationen Oberstleutnant Poltavskij in ihrem Bericht vom 27. Oktober 1949 über die Nationalrats- und Landtagswahlen in Österreich unter anderem fest, dass sich der Linksblock „in den Wahlen bewährt“ habe und die Linkssozialisten „gemeinsam mit der KPÖ eine ernste Rolle in der Sache des Zusammenschlusses der Arbeiterklasse spielen und [...] die einfachen Sozialisten von der reaktionären Führung der SPÖ abtrennen“ würden.67 Der mit 11,6 Prozent der Stimmen eindeutige Wahlsieger 1949 war der „Verband der Unabhängigen“ (VdU). Der sowjetische Hochkommissar hatte im dafür zuständigen Alliierten Rat die Zulassung des um die Stimmen der ehemaligen Nationalsozialisten werbenden VdU stets befürwortet. Der Grund dafür war wohl darin gelegen, dass man sich von der „vierten Partei“ eine Schwächung der Großparteien erhofft hatte. Der VdU-Erfolg resultierte aber aus der Zulassung der minderbelasteten ehemaligen Nationalsozialisten zur Wahl, und – wie wohl auch die sowjetische Seite erkennen musste – nicht aus der Abspaltung von ÖVP-Wählern. Dieser Umstand und auch die prowestliche Ausrichtung des VdU dürften dafür verantwortlich gewesen sein, dass die Sowjetbesatzung kurz nach der Wahl zu einer VdU-feindlichen Haltung überging und mit einem Parteiverbot in ihrer Zone drohte. 64 Jugendreferent der Propagandaabteilung der SČSKA Hauptmann Patyk, „Die politische Arbeit [...] im Jahr 1947 unter der österreichischen Jugend“, vom 12.11.1947 (RGASPI, 17/128/248/121–142, hier 136). 65 Vgl. Weber, Der Kalte Krieg in der SPÖ, S. 165–184, 185 f. 66 Želtov an Grigor’jan undat. In: Sowjetische Politik in Österreich, S. 592–605, hier 593 f. 67 Dubrovickij und Poltavskij, Bericht vom 27.10.1949. In: ebd., S. 604–629, hier 626 f.

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Die SČSKA dürfte jedoch bald auf die bereits gegenüber der SPÖ angewandte Taktik der Parteispaltung zurückgekommen sein. Im Januar 1950 wurde mit kommunistischer und vermutlich auch sowjetischer Hilfe die „Nationale Liga“ gegründet. Für die sowjetische Unterstützung sprechen viele Indizien. So wurde sie von sowjetischer Seite stets als „demokratische Gruppe“ [!] bezeichnet, was angesichts der Tatsache, dass die beiden Regierungsparteien 1950 als „antidemokratisch“ bzw. „Demokratie-feindlich“ tituliert wurden, nicht nur die Perversion des Demokratiebegriffes in der sowjetischen Propagandaterminologie illustriert, sondern auch belegt, dass die Nationale Liga zu jenen politischen Organisationen gehörte, deren Unterstützung zu den ausdrücklichen Aufgaben der Sowjetbesatzung in Österreich zählte. Die Versammlungen der Nationalen Liga fanden meist im sowjetischen Sektor und in Anwesenheit sowjetischer Offiziere statt, ohne dass die Besatzung gegen das öffentliche Auftreten schwerbelasteter Nationalsozialisten und die Verbreitung nationalsozialistischen Gedankenguts einschritt.68 Die SČSKA verhinderte zwar nicht, dass das Presseorgan der Nationalen Liga Ende 1950 vom Alliierten Rat für zwei Monate verboten wurde,69 griff aber die Liga, die ein krudes Gemisch aus prosowjetischer und neonazistischer Propaganda vertrat, im Unterschied zum VdU nicht an. Die Parallele zur 1948 in Deutschland mit SMAD-Unterstützung gegründeten NDPD ist offensichtlich. Im Falle Österreichs kam die Zielsetzung hinzu, durch die Unterstützung der Nationalen Liga den bereits als Nazi-Sammelbecken bestehenden, aber westorientierten VdU zu untergraben. Nachdem die Sowjetbesatzung versucht hatte, die SPÖ durch die Unterstützung von abtrünnigen Gruppen zu spalten, wurde dieselbe Methode gegenüber dem VdU eingesetzt. Diese Vorgangsweise hatte sogar einigen Erfolg, wie z. B. der Übertritt des Wiener VdUGemeinderats Robert Keller zur Nationalen Liga bezeugt.70 Aber trotz oder wahrscheinlich eher wegen der sowjetischen Unterstützung konnte die Nationale Liga in der österreichischen Innenpolitik nicht Fuß fassen und beschloss nur wenige Wochen nach der Unterzeichnung des Staatsvertrages, am 26. Juni 1955, ihre freiwillige Selbstauflösung. Zurück zum Wahlergebnis von 1949. Trotz Mandatseinbußen hatten sich die beiden Großparteien als widerstandsfähig erwiesen. Der Versuch, die SPÖ mithilfe der Linkssozialisten zu spalten, war gescheitert, der anfangs von der SČSKA geförderte VdU hatte der ÖVP zwar Mandate, aber keine Stimmen weggenommen, und der auf sowjetischen Druck aus KPÖ und Linksozialisten ge68 Fritz Keller, Stalinistischer Populismus – Die Nationale Liga. In: Anton Pelinka (Hg.), Populismus in Österreich, Wien 1987, S. 110–122, hier 110; Rauchensteiner, Die Zwei 160. 69 Elfriede Sieder, Die alliierten Zensurmaßnahmen 1945–1955 unter besonderer Berücksichtigung der Medienzensur, Diss. Wien 1983, S. 176, gibt fälschlich an, die SČSKA habe in der Alliierten Kommission u. a. das Organ der Nationalen Liga, „Österreichischer Beobachter“ (ÖB), „angegriffen“. Das ist nicht korrekt. Im Gegenteil bemühte sich die SČSKA, die Sanktionen gegen den ÖB durch Verhängung gleicher Maßnahmen gegen demokratische Zeitungen abzuschwächen bzw. zu verhindern (ÖNB, Sitzungsprotokolle des Exekutivkomitees und Alliierten Rates vom 1.12. bzw. 8.12.1950). 70 Keller, Stalinistischer Populismus, S. 115.

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bildete Linksblock hatte die Grenzen der kommunistischen Wählerschaft kaum überschritten. Die Sowjetbesatzung kritisierte insbesondere, dass man es versäumt habe, in den Block auch „bürgerliche Elemente“ einzubeziehen, mit deren Hilfe der Linksblock, wie Dubrovickij und Poltavskij in ihrem Bericht vom 27. Oktober 1949 über die Wahlen schrieben, zu einer „Einheitsfront der demokratischen und patriotischen Kräfte“71 ausgeweitet werden könne. Nachdem das Vorhaben einer Einheitsfront von KPÖ mit SPÖ und ÖVP 1945 gescheitert war, wollte man nun mit der KPÖ und neu geschaffenen, UdSSR-gefügigen Parteien einen neuen Anlauf unternehmen. Als bürgerlicher Partner bot sich die „Demokratische Union“ (DU) Josef Dobretsbergers an. Dobretsberger, Nationalökonom und 1935/36 Sozialminister, war nach dem Krieg Rektor der Universität Graz und hatte enge Verbindungen zur ÖVP. Seine auf sein Istanbuler Exil während der NS-Zeit zurückgehenden72 Kontakte zu Kommunisten und seine Nähe zum Marxismus ließen ihn zu einem bürgerlichen Hoffnungsträger der KPÖ und der Sowjetbesatzung werden. Bereits am 16. September 1946 teilte Fürnberg Hochkommissar Vladimir V. Kurasov und Želtov in einer Besprechung mit, dass zwischen Dobretsberger und der KPÖ vereinbart worden sei, „einen oppositionellen Flügel in der Volkspartei zu organisieren“.73 Im März 1947 informierte Fürnberg den Mitarbeiter der Internationalen Abteilung des ZK der VKP(B) G. Korotkevič in einem Gespräch, dass Dobretsberger rege Kontakte zur KPÖ unterhalte, sich oft mit ihren Vertretern berate und eine Annäherung an die Partei suche. Von der kommunistischen Führung wurde dies mit Wohlwollen und, wie Fürnberg gegenüber Korotkevič erklärte, als Möglichkeit betrachtet, „die demokratischen Elemente von der Volkspartei abzutrennen“.74 Als die Demokratische Union im August 1948 beim Alliierten Rat um Zulassung als Partei ansuchte, wurde sie – wie auch der VdU – vom sowjetischen Vertreter unterstützt.75 Dem US-Diplomaten Martin F. Herz zufolge stellte das Sowjetelement der DU nicht nur die baldige Anerkennung durch den Alliierten Rat, sondern auch gleich 25 Prozent der Wählerstimmen bei der nächsten Wahl und die Leitung des Innen-, Außenund Handelsministeriums in Aussicht.76 Finanziell dürfte die DU von der Sowjetbesatzung sowie von der SPÖ und Industriellenkreisen unterstützt worden sein. 71 72 73 74 75 76

Dubrovickij und Poltavskij, Bericht vom 27.10.1949. In: Sowjetische Politik in Österreich, S. 604–629, hier 626 f. Dieter A. Binder, Karl Maria Stepan – Josef Dobretsberger. Verlorene Positionen des christlichen Lagers, Wien 1992, S. 35–48, hier 39. Koptelov an Panjuškin vom 18.10.1946 und Niederschrift der Besprechung mit der Führung des ZK der KPÖ bei Generaloberst Kurasov. In: Sowjetische Politik in Österreich, S. 306–333, hier 331. Korotkevičs Niederschrift des Gespräches mit dem Sekretär des ZK der KP Österreichs, Genossen Fürnberg, vom 15. 4.1947. In: ebd., S. 370–395, hier 376 f. Peter Autengruber, Kleinparteien in Österreich 1945 bis 1966, Innsbruck 1997, S. 47. Reinhold Wagnleitner (Hg.), Understanding Austria. The political reports and analyses of Martin F. Herz, political officer of the US legation in Vienna, 1945–1948, Salzburg 1984, S. 522 f., 538.

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Inhaltlich besaß die DU Parallelen zur KPÖ: außenpolitische Neutralität, Osthandel, Kampf gegen die Westintegration.77 Die Nähe zur KPÖ hatte zur Folge, dass der im Sommer 1949 als Parteiobmann präsentierte Dobretsberger im Wahlkampf vom VdU als „Prof. Sowjetsberger“78 diffamiert wurde, und sie war wohl auch der Grund dafür, dass der DU der Einbruch in das bürgerliche Lager nicht gelang. Die verantwortlichen Offiziere der Propagandaabteilung der SČSKA, Dubrovickij und Poltavskij, konstatierten daher anlässlich des für die „Demokratische Union“ enttäuschenden Wahlergebnisses von ca. 12 000 Stimmen: „In 4 Jahren [...] hat sich in Österreich noch keine fortschrittliche Kraft für fähig erwiesen, von der ÖVP die in ihren Reihen befindlichen demokratischen Elemente abzuspalten. Es hat sich auch noch keine Kraft gefunden, die fähig ist, sie ihres Monopols zur Vertretung der Interessen des Bürgertums zu berauben.“79 Nichtsdestoweniger empfahlen sie „ernsthafte materielle Hilfe“ zur Unterstützung der Linkssozialisten, der Demokratischen Union und anderer „demokratischer Bewegungen“. Der konsequente nächste Schritt war die Einbeziehung der DU in den 1949 von KPÖ und Linkssozialisten begründeten Block. Das auf der Gründungskonferenz der „Wahlgemeinschaft Österreichische Volksopposition“ (VO) von KPÖ, SAP und DU im November 1952 beschlossene Programm sah folgende Kernpunkte vor: 1. außenpolitische Neutralität; 2. Kampf gegen Korruption; 3. „soziale Gerechtigkeit“, „Einstellung des Schleuderexports von wertvollen Rohstoffen und elektrischem Strom zu Gunsten ausländischer Kriegsrüstungen“, „keinerlei Drosselung des für Österreich lebenswichtigen Osthandels“.80 Von sowjetischer Seite wurde das Programm positiv bewertet: Es entspreche den „Lebensinteressen der österreichischen Arbeiterklasse, der Klein- und Mittelbauern, der werktätigen Intelligenz, der Frauen und der Jugend“ und trete für die „Wiederherstellung eines unabhängigen Österreichs“, für Neutralität und den „Verzicht auf Kriegsvorbereitungen“ ein.81 Es besteht aber kein Zweifel, dass das sowjetische Augenmerk weniger den „Lebensinteressen der österreichischen Arbeiterklasse“ galt als vielmehr dem neuerlichen Versuch, eine Sowjetunion-freundliche und KPÖ-kontrollierte Einheitsfront zu schaffen. Das von sowjetischer Seite intern genannte langfristige Ziel der Volksopposition lautete somit: „Vereinigung aller demokratischen Kräfte unter der Führung der KPÖ zur Schaffung einer nationalen Einheitsfront“.82 Dabei sollte die SAP den Platz der SPÖ und die DU jenen der ÖVP übernehmen, die Volksopposition 77 Autengruber, Kleinparteien, S. 133–141. 78 „Der Alpenruf“, Wien, vom 23. 7.1949. Zit. nach Autengruber, Kleinparteien, S. 167. 79 Dubrovickij und Poltavskij, Bericht vom 27.10.1949. In: Sowjetische Politik in Österreich, S. 604–629, hier 614 f. 80 „Die Union“, Wien, vom 4.12.1952. Zit. nach Autengruber, Kleinparteien, S. 173 f. 81 Bericht über die Arbeit der Abteilung für Propaganda und Information der SČSKA im 1. Quartal 1953 vom 4. 6.1953 (RGANI, 5/28/71/71–137, hier 73 f.). 82 Hochkommissar I. I. Il’ičëv, „Einige Fragen der Arbeit der KPÖ“, vom 23. 9.1955 (RGANI, 5/28/330/260–276, hier 267 f.).

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aber als „Mantel für ein volksdemokratisches ‚Mehrparteiensystem‘“83 dienen, das in Österreich bereits 1945 verankert hätte werden sollen, aber bislang stets gescheitert war. Nun sollte die Volksopposition die Errichtung der Volksdemokratie und den Übergang Österreichs zum Sozialismus übernehmen. Dementsprechend „systematisch“ unterstützte die Sowjetbesatzung den Wahlkampf der VO und der ihr angehörenden Organisationen. Die Besatzungsmedien „Österreichische Zeitung“ und „Russische Stunde“ brachten Artikel und Sendungen zur Unterstützung der VO sowie zur „Entlarvung“ und „Diskreditierung“ von ÖVP, SPÖ und VdU; die SČSKA veröffentlichte unermüdlich Plakate, organisierte Vorträge und Kabarettdarbietungen und warb sogar mit Auftritten einer sowjetischen Volkstanztruppe für die Volksopposition. Sowohl in den Kommandanturen als auch auf höchster Ebene fanden laufend Beratungen zwischen der Sowjetbesatzung und der KPÖ über die Strategie und Durchführung der Kampagne der Volksopposition statt. Die Sowjetbesatzung kritisierte und beriet, wies auf Schwächen der Kampagne hin und spornte die Kommunisten zu einem Einsatz aller Kräfte an. Die Wahlergebnisse waren niederschmetternd. Die Volksopposition erhielt zwar in einzelnen Gemeinden um 30 bis 90 Prozent, in ganz Niederösterreich um 18,3 Prozent mehr Stimmen als der Linksblock bei den Nationalratswahlen 1949. In Wien konnte die VO mit 8 Prozent ihr bestes Teilergebnis verbuchen, in den sowjetisch-besetzten Bezirken lag das Resultat sogar bei 16 Prozent. Damit war erstmals eine politische Sonderentwicklung der sowjetischen Besatzungszone feststellbar. In absoluten Zahlen jedoch waren die Gewinne unbedeutend. Österreichweit errang die Volksopposition 5,24 % der Stimmen und damit nur wenig mehr als der Linksblock 1949. Den Wahlsieg der SPÖ erklärten sowjetische Berichte damit, dass es ihr gelungen sei, den Eindruck zu erwecken, nicht für die Regierungspolitik verantwortlich zu sein. Beide Regierungsparteien hätten ihr Ziel erreicht, durch Demagogie die Hauptmasse ihrer Wähler zu halten. Die KPÖ habe gute Arbeit geleistet, ihr Erfolg sei zwar bisher gering, aber ihr Zuwachs innerhalb der sowjetischen Zone gab der sowjetischen Besatzungsmacht offenbar Anlass zur Hoffnung. Insgesamt zeuge das Wahlergebnis davon, dass „die Massen noch immer der Demagogie der reaktionären Parteien glauben, [aber] der Prozess des Linksrutsches der Massen wenn auch langsam weiterhin voranschreitet“.84 Trotz derartiger Beteuerungen und Selbstbestärkungen der Sowjetbesatzung bestand ein Hauptproblem der Volksopposition aber gerade darin, dass die Wahlgemeinschaft mit Ausnahme ihrer Nähe zur Sowjetunion keine tragfähige gemeinsame Basis besaß. Sie war vom größten Partner, der KPÖ, nicht gewollt und wurde von deren Funktionären nicht verstanden. Bereits während des Wahlkampfes hatte die SČSKA vehement angeprangert, dass die KPÖ insbesondere in den sowjetischen Betrieben derart von Selbstüberschätzung verblen83 Kurt Skalnik, Parteien. In: Weinzierl/Skalnik (Hg.), Österreich, Band II, S. 197–228, hier 225. 84 Bericht über die Arbeit der Abteilung für Propaganda [...] vom 4. 6.1953 (RGANI, 5/28/71/71–137, hier 76 f.).

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det und ihrem Sieg überzeugt sei, dass sie die Wahlgemeinschaft schlichtweg für überflüssig halte.85 Doch auch nach der Wahl äußerten KPÖ-Funktionäre gegenüber Mitarbeitern der SČSKA Zweifel an der eingeschlagenen Taktik. Das Bündnis mit der Demokratischen Union habe der KPÖ keinen Vorteil gebracht; es wäre besser gewesen, den Linksblock beizubehalten. Sowjetische Berichte konstatierten, dass den lokalen Kommunisten nicht klar sei, welche Ziele die Gründung der Volksopposition überhaupt verfolgt habe und welche Rolle die KPÖ in ihr spielen solle. Im November 1953 vertraute der Vorsitzende der kommunistischen Betriebsorganisation der elektrotechnischen Fabrik von BrownBoveri in der sowjetischen Besatzungszone, Kellner, dem Gehilfen des Leiters der Abteilung für innenpolitische Fragen im Apparat des sowjetischen Hochkommissars in Österreich, Moiseev, an, dass „viele in der KPÖ [...] bis heute nicht verstehen, warum die Partei mit Dobretsberger zusammengeht“ und sich „niemand [...] für die VO-Komitees interessiert“.86 Auch inhaltlich erwies sich die Gemeinsamkeit zwischen KPÖ und ihren „Partnern“ SAP und DU begrenzt. So ergab sich die skurrile Situation, dass die KPÖ 1954 die Neutralitätslosung aufgab, da sie keine Mobilisierung des Volkes für die Verteidigung der Unabhängigkeit ermöglichte, sie aber im Rahmen der Volksopposition weiter mittrug, da SAP und DU nicht bereit waren, auf die Neutralitätsforderung zu verzichten. Das zweite, gravierendere Hauptmanko der Volksopposition war zweifellos ihre KPÖ-Dominanz. Die sowjetische Besatzung selbst erkannte dies und kritisierte im Laufe einer Besprechung am 1. April 1953, an der u. a. Hochkommissar Generalleutnant Vladimir P. Sviridov, sein Stellvertreter Viktor M. Kraskevič, Politberater Sergej M. Kudrjavcev sowie Koplenig und Fürnberg teilnahmen, die mangelnde Bereitschaft der KPÖ, Scharf und Dobretsberger zwei der errungenen fünf Nationalratsmandate zu überlassen. Dadurch werde „der Reaktion die Möglichkeit gegeben, darüber zu spekulieren, dass die Volksopposition nichts anderes ist als ein Deckmantel der KPÖ zur Heranziehung von Wählern“.87 Diese sowjetische Einschätzung der öffentlichen Meinung traf ausnahmsweise zu, doch handelte es sich dabei um keine „Spekulationen“ der „Reaktion“, sondern um eine bereits vor den Wahlen weit verbreitete allgemeine Überzeugung. Es war auch nicht zu leugnen, dass die KPÖ innerhalb der VO die entscheidenden Posten besetzt hatte. Dobretsberger und Scharf wurden lediglich propagandistisch eingesetzt. Das entsprach – trotz aller Kritik durch die Besatzung – letztendlich auch der sowjetischen Konzeption, SAP und DU 85 Stv. Hochkommissar Kraskevič und Politberater Kudrjavcev, Niederschrift der Besprechung mit den Genossen Koplenig und Fürnberg am 19. Jänner 1953, vom 25.1.1953 (RGANI, 5/28/68/17–22, hier 17). 86 Korneev, Über die Arbeit der Parteiorganisation des Werkes „Brown-Boveri“ (USIA-Betrieb) – Aus dem Gespräch des Gehilfen des Leiters der Abteilung für innenpolitische Fragen Moiseev mit dem Vorsitzenden der Werksorganisation der KPÖ, Genossen Kellner, am 19. November 1953 vom 30.11.1953 (RGANI, 5/28/68/119–121). 87 Politberater Kudrjavcev, Niederschrift des Gespräches mit den Genossen Koplenig und Fürnberg vom 9. 4.1953 (RGANI, 5/28/68/77–81, hier 79).

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zwar dazu zu benützen, SPÖ und ÖVP zu spalten und in weiterer Folge zu ersetzen, ihnen aber keine Eigenständigkeit zuzugestehen. Vielmehr wurden SAP und DU von sowjetischer Seite als Appendices der KPÖ betrachtet, die mit eingeschleusten „Vertrauenspersonen“ zu durchsetzen und zu lenken seien. Der Linksblock und die Volksopposition waren somit nichts anderes als Bündnisse der KPÖ mit sich selbst,88 doch aus solchen Bündnissen konnte unter demokratischen Umständen kein Stimmenzuwachs resultieren. Insgesamt stellte die Volksopposition den letzten missglückten Versuch der Sowjetbesatzung dar, „mit Hilfe demokratischer Spielregeln in die österreichische Politik einzugreifen“,89 und – nachdem die Nationale Front aus KPÖ mit SPÖ und ÖVP 1945– 47 gescheitert war – durch eine neue Nationale Front von sowjetischen Gnaden aus KPÖ mit SAP und DU den Weg Österreichs zur Volksdemokratie zu bereiten.

3.

Zusammenfassung

Die sowjetischen Nachkriegsvorstellungen von Österreich sahen die Errichtung einer Nationalfront-Regierung aus Kommunisten, Sozialisten und Bürgerlichen vor, die unter Kontrolle der Kommunisten schrittweise den „friedlichen Übergang zum Sozialismus“ einleiten sollte. Obwohl der KPÖ entgegen ursprünglichen sowjetischen Planungen beim Parteiaufbau 1945 kein Vorsprung gegenüber den anderen Gruppen gewährt werden konnte, wurde sie durch das von sowjetischer Seite geforderte drittelparitätische System der Provisorischen Regierung und durch die Sowjetbesatzung systematisch bevorzugt und unterstützt. Nach dem Scheitern der Nationalfront-Konzeption in den Wahlen 1945 bemühte sich die Sowjetbesatzung, durch die Förderung von Spaltungstendenzen innerhalb von SPÖ und ÖVP und die Zulassung neuer politischer Gruppen die Großparteien zu untergraben. Die sowjetische Unterstützung für SAP, DU, VdU und Nationale Liga diente diesem Zweck. Die innerparteiliche Spaltungsgefahr in SPÖ und ÖVP wurde von der sowjetischen Besatzung überschätzt. Der Grund dafür lag zum Großteil in der ideologisch geprägten Erwartungshaltung der sowjetischen Beobachter, die davon ausgingen, dass sich die Konflikte innerhalb der „bourgeoisen“ Parteien verschärfen und die demokratischen Massen von der „reaktionären“ Führung ab- und der KPÖ bzw. SAP und DU zuwenden würden. Diese Erwartungshaltung bestimmte die sowjetische Wahrnehmung und führte dazu, dass die Sowjetbesatzung zum Opfer einer ideologisch verzerrten Rezeption der österreichischen Innenpolitik wurde. 88 Keller, KPÖ, S. 118. 89 Norbert Hölzl, Propagandaschlachten. Die österreichischen Wahlkämpfe 1945–1971, Wien 1974, S. 66. Zur Gesamtthematik vgl. Wolfgang Mueller, Die sowjetische Besatzung in Österreich 1945–1955 und ihre politische Mission, Wien 2005, insbes. S. 137– 232.

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Das von der Sowjetbesatzung ab Ende der vierziger Jahre verfolgte politische Ziel war die Etablierung einer neuen Nationalfront, wobei SAP und DU die bisherigen Partner im Rahmen des Einheitsblockes SPÖ und ÖVP ersetzen und schließlich verdrängen sollten. Aus den Wahlniederlagen des Linksblockes 1949 und der Volksopposition 1953 wurden letztlich keine grundsätzlichen Konsequenzen in Form einer Aufgabe des politischen Ziels gezogen, sondern die Nationalfront-Taktik und einseitige Orientierung auf die KPÖ weiterverfolgt. Vergleichen wir die Entwicklung der demokratischen Parteien und der sowjetischen Politik ihnen gegenüber in Deutschland und Österreich, fallen folgende Unterschiede bzw. Parallelen auf: 1. Die in Österreich mit sowjetischer Zustimmung 1945 gebildete Parteienlandschaft entsprach weitgehend jener aus der Zwischenkriegszeit, wohingegen die bürgerlichen Parteien in Deutschland auf keine direkten Vorgänger zurückgreifen konnten. 2. Die KPÖ war bis zu ihrem Verbot 1933 eine Splittergruppe geblieben, wohingegen sich die KPD als Massenpartei etabliert hatte. 3. Der Aufbau der demokratischen Institutionen erfolgte in Österreich 1945 durch Renners Initiative „von oben“. Dabei wurde Österreich von sowjetischer Seite ein größeres Maß an politischer Betätigung und auch Gesamtstaatlichkeit (Bildung der Provisorischen Regierung) zugebilligt als Deutschland. 4. Die „bürgerlichen“ Parteien ÖVP und SPÖ konnten in Österreich durch die Initiative Renners entgegen sowjetischen Planungen fast zeitgleich mit der KPÖ aktiv werden, während sie in Deutschland erst mit Verspätung zugelassen wurden. 5. Die Gewerkschaften und Massenorganisationen konstituierten sich 1945 in Österreich unter Berücksichtigung des Parteiprinzips, was der kommunistischen Forderung nach „überparteilichen“ Organisationen widersprach und die KP-Schwäche zutage brachte. 6. Die „präsidialdiktatorische“ Realverfassung der in Österreich 1945 formierten Provisorischen Regierung aus SPÖ, ÖVP und KPÖ bevorzugte Renner und mit ihm die SPÖ, die sich schließlich für eine Zusammenarbeit mit der ÖVP entschied. 7. Die rasche Durchführung gesamtösterreichischer Wahlen 1945 begünstigte ÖVP und SPÖ, führte bereits 1945 zu deren Restauration und besiegelte die KP-Schwäche. 8. Die konsequente Weigerung der SPÖ, die Aktionseinheit mit der KPÖ herzustellen, isolierte diese und dämmte deren politischen Einfluss ein. Anders als in Deutschland erzwang die sowjetische Besatzungsmacht in Österreich keine Vereinigung von Kommunisten und Sozialisten. 9. Nach dem Scheitern der Nationalen Front 1945–47 besaßen die KPÖ und mit ihr die Sowjetbesatzung nur mehr indirekte Einflussmöglichkeiten auf

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die österreichischen Parteien, und durch das Zweite Kontrollabkommen 1946 war auch der sowjetische Zugriff auf die Gesetzgebung eingeschränkt. 10. Der von der Sowjetbesatzung auf die nichtkommunistischen Parteien ÖVP und SPÖ ausgeübte Druck war geringer als jener auf CDUD und LDPD. 11. Wie in Deutschland unterstützte die Sowjetbesatzung auch in Österreich die Abspaltung von Splittergruppen von den „bourgeoisen“ Großparteien und engagierte sich für die Neugründung Sowjetunion-freundlicher Gruppen. 12. Die Teilung des Landes wurde von der KPÖ – ebenso wie von der SED – als probates Mittel zur Machtergreifung bzw. Machtsicherung betrachtet. Von sowjetischer Seite wurde dieser Weg abgelehnt.

Die SMAD, die deutsche Selbstverwaltung und die Sowjetisierung Ostdeutschlands 1945–1949 Nikita Petrov „Dieser Krieg ist nicht wie in der Vergangenheit, wer immer ein Gebiet besetzt, erlegt ihm auch sein eigenes gesellschaftliches System auf. Jeder führt sein eigenes System ein, so weit seine Armee vordringen kann. Es kann gar nicht anders sein.“ J. Stalin, 11. April 19451

Diesen Ausspruch konnte Stalin nur im Kreise der „eigenen“ Leute tun. Er zeigt die wahren Ziele der sowjetischen Nachkriegspolitik in Europa. Wenige Jahre zuvor, als die deutsche Armee vor Moskau stand und der Ausgang des Krieges noch unklar war, hatte Stalin öffentlich geschworen, dass die UdSSR nicht die Absicht habe, ihren Willen und ihr politisches System den slawischen und anderen europäischen Völkern aufzuzwingen: „Unser Ziel besteht darin, diesen Völkern in ihrem Befreiungskampf gegen die Hitlertyrannei zu helfen und es ihnen dann zu überlassen, sich auf ihrem Boden völlig frei einzurichten, wie sie das wollen. Keinerlei Einmischung in die inneren Angelegenheiten der anderen Völker!“2 Dies war aber lediglich ein propagandistischer Schachzug. In Wirklichkeit beabsichtigte Stalin die Sowjetisierung nicht nur aller von der Roten Armee besetzten Gebiete der osteuropäischen Staaten, sondern auch die der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands und in der Perspektive des gesamten Deutschland. Das äußerte der sowjetische Führer ganz deutlich im Sommer 1946 während eines Gesprächs mit führenden bulgarischen und jugoslawischen Repräsentanten im Kreml: „Ganz Deutschland muss unser werden, das heißt sowjetisch, kommunistisch.“3 Wie Milovan Djilas in seinen Memoiren feststellte, resultierten derartige Erklärungen Stalins aus dem Mitgerissensein „von dem Schwung der militärischen Siege und von den Hoffnungen auf einen wirtschaftlichen und sonstigen Zerfall Westeuropas“.4 1 2 3

4

Milovan Djilas, Gespräche mit Stalin, Frankfurt a. M. 1962, S. 146. Der Beitrag wurde von Hannelore Georgi aus dem Russischen übersetzt. Rede auf der Festveranstaltung in Moskau am 6. November 1941. In: Josef W. Stalin, Über den Großen Vaterländischen Krieg der Sowjetunion, Berlin (Ost) 1951, S. 36 f. Djilas, Gespräche mit Stalin, S. 196. Die führenden Repräsentanten Jugoslawiens und Bulgariens hielten sich Anfang Juni 1946 zur selben Zeit in Moskau auf. Am 6. Juni empfing Stalin im Kreml die bulgarische und am 10. Juni die jugoslawische Delegation. Vgl. Istoričeskij archiv, 4 (1996) H. 4, S. 125. Ebd.

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Die reale Kräfteverteilung im Nachkriegseuropa machte es Stalin jedoch nicht möglich, diesen Plan sofort in die Tat umzusetzen. Einige Expansionspläne, z. B. im Hinblick auf Finnland, mussten fallen gelassen werden. Später bedauerte Stalin, dass er Finnland nicht besetzt hatte und bezeichnete das als Fehler: „Wir haben zu sehr auf die Amerikaner geschaut, aber sie hätten nicht einmal den kleinen Finger gerührt.“5 Dennoch begann in der Endphase des Krieges „zusammen mit der Roten Armee auch das politische System der Sowjetunion die Landesgrenzen zu überschreiten“,6 was bedeutete, dass in den von der faschistischen Besetzung befreiten Ländern kommunistische Parteien und von diesen geführte politische Blöcke an die Macht gelangten. Die den Truppen der Roten Armee folgenden sowjetischen Straforgane NKVD, NKGB und SMERŠ sollten jeglichen Widerstand gegen die vom Kreml oktroyierte Macht niederhalten und nahmen umfassende Repressalien gegen „unerwünschte Elemente“ vor. Die Anwendung von Gewalt bei der gesellschaftlichen Umgestaltung stand in völliger Übereinstimmung mit der Doktrin und der politischen Praxis der kommunistischen Bewegung. Auch die Sowjetische Besatzungszone Deutschlands war keine Ausnahme. Hier wurden von den ersten Tagen der sowjetischen Anwesenheit an Verhaftungen und Erschießungen so genannter „faschistischer“ und „feindlich gesinnter“ Elemente vorgenommen. In der Praxis weit verbreitet waren Internierung und Deportation von Zivilisten zur Zwangsarbeit in die UdSSR; an Orten, an denen sich Lager der Nationalsozialisten befunden hatten, wurden nun Speziallager des NKVD eingerichtet.7 Vor diesem Hintergrund hatte es die Sowjetische Militäradministration leichter, soziale Umgestaltungen vorzubereiten und ein politisches System nach sowjetischem Muster einzuführen. Nach solchen „Schockmethoden“ mussten die Deutschen jede Normalisierung, selbst wenn sie kommunistisch unterlegt war, mit Erleichterung aufnehmen. In den letzten zehn Jahren wurden sehr viele Dokumente und Aufsätze veröffentlicht, die sich mit der deutschen Nachkriegszeit befassen, darunter auch zur Bildung der Selbstverwaltungsbehörden und der diesen Behörden unterstellten Polizei, der Gerichtsbehörden und der Staatsanwaltschaft. Am umfassendsten sind die Arbeiten von Wilfried Loth und Norman Naimark, die eine gute Zusammenfassung geben.8 Eine Reihe historischer Forschungsarbeiten 5

6 7 8

Milovan Džilas, Lico totalitarizma, Moskau 1992, S. 110. Vgl. Djilas, Gespräche mit Stalin, S. 197 (der hier zitierte Satz fehlt allerdings in der deutschen Ausgabe). Diese Episode bezieht sich auf Djilas’ Besuch in Moskau im Januar 1948. Die Begegnung mit Stalin fand am 16. Januar statt. Vgl. Istoričeskij archiv, 4 (1996) H. 4, S. 64. Vladimir K. Volkov, Uzlovye problemy novejšej istorii stran Central’noj i Jugo-Vostočnoj Evropy, Moskau 2000, S. 75. Zu einzelnen Aspekten der sowjetischen Strafpolitik im Nachkriegsdeutschland vgl. Sowjetische Speziallager in Deutschland 1945 bis 1950. Hg. von Sergej Mironenko, Lutz Niethammer und Alexander von Plato, 2 Bände, Berlin 1998. Wilfried Loth, Stalins ungeliebtes Kind. Warum Moskau die DDR nicht wollte, Berlin 1994; Norman Naimark, Die Russen in Deutschland. Die Sowjetische Besatzungszone 1945 bis 1949, Berlin 1997.

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und Veröffentlichungen berührt die Herausbildung der ostdeutschen Staatlichkeit im Kontext des geteilten Deutschland. Besonders hervorzuheben sind dabei die Arbeiten der russischen Historiker Aleksej M. Filitov und Vladimir K. Volkov, denen Archivquellen zugrunde liegen, die früher nicht zugänglich waren.9 Verschiedene Aspekte der deutschen Nachkriegsgeschichte widerspiegeln sich in den Arbeiten von Bernd Bonwetsch, David Pike, Jan Foitzik und anderen Historikern.10 Der seit den 1990er Jahren offene Zugang zu den Archivmaterialien der SMAD, die im GARF aufbewahrt sind (wenngleich auch noch nicht alle Dokumente freigegeben sind und es etliche künstliche und gesetzeswidrige Einschränkungen gibt), machte es möglich, dass eine Reihe ernstzunehmender Bücher zusammengestellt und herausgegeben werden konnten, die sich der Geschichte der SMAD und der Tätigkeit ihrer einzelnen Strukturbereiche widmen.11 Von großem Interesse für die Geschichtsschreibung über die Entstehung und die Anfangsphase in der Tätigkeit der deutschen Selbstverwaltungsbehörden sind auch die zu unterschiedlichen Zeiten herausgegebenen Memoiren sowjetischer Militärbefehlshaber sowie von Partei- und Staatsfunktionären, die nach dem Krieg in der SMAD gearbeitet haben.12 Diese Quellen haben allerdings mitun9 Aleksej M. Filitov, Germanskij vopros: ot raskola k ob-edineniju. Novoe pročtenie, Moskau 1993; ders., Sovetskij Sojuz i germanskij vopros v period pozdnego stalinizma (k voprosu o genezise „stalinskoj noty“ 10 marta 1952 goda). In: Stalin i cholodnaja vojna. Hg. von Aleksandr O. Čubar’jan u. a., Moskau 1997, S. 315–349; Vladimir K. Volkov, Germanskij vopros glazami Stalina (1947–1952). In: Volkov, Uzlovye problemy, S. 118– 151. 10 Bernd Bonwetsch/Gennadij Bordjugov, Stalin und die SBZ. Ein Besuch der SED-Führung in Moskau vom 30. Januar – 7. Februar 1947. In: VfZ, 42 (1994), S. 279–303; David Pike, The Politics of Culture in Soviet-occupied Germany, 1945–1949, Stanford University Press 1993; Jan Foitzik, Inventar der Befehle des Obersten Chefs der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD) 1945–1949. Offene Serie. Hg. vom Institut für Zeitgeschichte, München 1995; ders., Befehls- und Kommunikationsstruktur der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland. In: Klaus Schönhoven / Dietrich Staritz, Sozialismus und Kommunismus im Wandel. Hermann Weber zum 65. Geburtstag, Köln 1993. 11 Jan Foitzik, Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD). 1945–1949. Struktur und Funktion, Berlin 1999; SBZ-Handbuch. Staatliche Verwaltungen, Parteien, gesellschaftliche Organisationen und ihre Führungskräfte in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands 1945–1949. Hg. von Martin Broszat und Hermann Weber, München 1993; Dmitrij N. Filippovych, Sovetskaja voennaja administracija v Germanii: voenno-političeskij aspekt dejatel’nosti (1945–1949 gg.), Moskau 1995; Materialy po istorii Sovetskoj voennoj administracii v Germanii v 1945–1949 gg. Hg. von Vladimir V. Zacharov, Dmitrij N. Filippovych und Manfred Chajnemann (Heinemann). Vypusk 1, Moskau 1998, Vypusk 2, Moskau 1999. 12 Als wichtigste Werke seien hier angeführt: V. Abysov, Berlin, vesna, god 1945–j. In: Junost’, 5/1968; Vasilij I. Čujkov, Konec tret’ego rejcha, Moskau 1975; Fëdor E. Bokov, Vesna pobedy, Moskau 1979; Georgij K. Žukov, Vospominanija i razmyšlenija. T. 3, Moskau 1990; Konstantin I. Koval’, Poslednij svidetel’. „Germanskaja karta“ v cholodnoj vojne, Moskau 1997; Ivan S. Kolesničenko, Bitva posle vojny, Moskau 1987; Petr I. Nikitin, Zwischen Dogma und gesundem Menschenverstand. Wie ich die Universitäten der deutschen Besatzungszone „sowjetisierte“. Erinnerungen des Sektorenleiters Hoch-

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ter den Mangel, dass sie subjektiv gefärbt sind, manche Dinge verschwiegen werden und die sowjetische Ideologie stark zu spüren ist, was besonders die Memoirenliteratur betrifft, die vor 1991 veröffentlicht wurde. Darüber hinaus erschienen in den letzten Jahren Sammelbände mit den wichtigsten Dokumenten und Materialien über den politischen Kampf in der sowjetischen Zone und die Bemühungen Moskaus bei der Einführung der kommunistischen Ordnung.13 Sobald die Rote Armee die Grenze zu Deutschland überschritten hatte, ergab sich für die sowjetische Kommandoführung das Problem, wie man die Kontrolle über die besetzten Gebiete errichten und die Verwaltung organisieren sollte. Dieses Problem war schon 1944 beim Einmarsch in Ostpreußen aufgetreten. Obwohl der künftige Status dieser Gebiete formal noch nicht entschieden war, betrachtete Stalin sie als Kriegsbeute mit der Absicht, sie zugunsten der UdSSR von Deutschland loszulösen. In Ostpreußen wurde nicht einmal der Versuch unternommen, eine Art deutsche Zivilverwaltung zu schaffen, dort agierten nur Militärkommandanturen. Auf der Potsdamer Konferenz der drei alliierten Mächte nach Kriegsende erklärte Stalin bei der Diskussion über die Grenzen von Deutschland kategorisch: „Falls in Königsberg eine deutsche Administration in Erscheinung tritt, dann werden wir sie davonjagen, mit Sicherheit werden wir das.“14 Seine erste Anweisung über die Schaffung einer deutschen Verwaltung auf den von der Roten Armee besetzten Gebieten gab Stalin erst am 20. April 1945 und legte damit die zukünftigen Ostgrenzen Deutschlands fest.15 Um Informationen zu sammeln und Hilfe bei der Organisierung der Verwaltung auf deutschem Gebiet zu geben, wurde den Befehlshabern der 1. und der 2. Belorussischen sowie der 1. Ukrainischen Front spezielle Gruppen russischer Mitarbeiter zur Verfügung gestellt, die von Beamten des Volkskommissariats für Auswärtige Angelegenheiten geleitet wurden (zur 1. Belorussischen Front beispielsweise wurde am 25. April 1945 Andrej A. Smirnov, der Leiter der schulen und Wissenschaft der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland, Berlin 1997; Wladimir S. Semjonow, Von Stalin bis Gorbatschow, Berlin 1995; Sergej I. Tjulpanov, Deutschland nach dem Kriege (1945–1949), Berlin (Ost) 1986. 13 SVAG. Upravlenie propagandy (informacii) i S. I. Tjul’panov. 1945–1949. Sbornik dokumentov. Hg. von Bernd Bonveč [Bonwetsch], Gennadij Bordjugov, Norman Nejmark [Naimark], Moskau 1994; SSSR i germanskij vopros. 1941–1949. Dokumenty iz Archiva vnešnej politiki Rossijskoj Federacii. V trëch tomach. T. 2: 9 maja 1945 g. – 3 oktjabrja 1946 g. Bearb. von Georgij P. Kynin und Jochen Laufer, Moskau 2000. 14 Sovetskij Sojuz na meždunarodnych konferencijach perioda Velikoj Otečestvennoj vojny, 1941–1945 gg. T. 6: Berlinskaja (Potsdamskaja) konferencija rukovoditelej trëch sojuznych deržav – SSSR, SŠA i Velikobritanii. 17 ujulja – 2 avgusta 1945 g., Moskau 1984, S. 57. 15 Diese wichtige Direktive Stalins vom 20. April 1945 über das Verhältnis zur deutschen Bevölkerung und zur Herausbildung der deutschen Administration auf örtlicher Ebene wurde veröffentlicht in: Russkij archiv. Velikaja otečestvennaja. T. 4 (5): Bitva za Berlin (Krasnaja armija v poveržennoj Germanii). Dokumenty i materialy, Moskau 1995, S. 220.

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3. Europäischen Abteilung des Volkskommissariats für Auswärtige Angelegenheiten, geschickt).16 Diese Beamten stießen jedoch auf Widerstand seitens der NKVD-Bevollmächtigten der einzelnen Fronten, die der Meinung waren, ihre eigenen Funktionen umfassten mehr als nur die „Säuberung“ des Hinterlandes von „feindlichen Elementen“. Ihr Leiter, der Volkskommissar für innere Angelegenheiten, Lavrentij P. Berija, ergriff die Initiative und richtete am 22. April 1945 ein Schreiben an Stalin, in dem er vorschlug, bei den Frontbefehlshabern „Stellvertreter für die Verwaltung ziviler Angelegenheiten“ einzurichten und sie mit der Vollmacht zur „Beobachtung der Arbeit der örtlichen deutschen Behörden sowie zur Kontrolle über die Umsetzung der Verfügungen der sowjetischen Militärführung durch diese Behörden“ auszustatten.17 Den entsprechenden Beschluss des Staatlichen Verteidigungskomitees Nr. 8377ss zur Einrichtung der Funktion eines Stellvertreters des Frontoberbefehlshabers für zivile Angelegenheiten unterschrieb Stalin am 2. Mai 1945. Mit diesem Beschluss wurden die ranghohen Tschekisten Ivan A. Serov, Lavrentij F. Canava und Pavel Ja. Mešik zu stellvertretenden Frontoberbefehlshabern für zivile Angelegenheiten ernannt. Zugleich verblieben sie jedoch an der Spitze der Apparate der NKVD-Bevollmächtigten ihrer Fronten. Nunmehr gehörte neben ihrer Hauptaufgabe – der Durchführung von Repressalien – auch die Kontrolle „über die Tätigkeit der deutschen örtlichen Behörden [...], insbesondere im Hinblick auf die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, sowie über die Erfüllung aller Anordnungen und Aufgaben der sowjetischen Militärführung durch diese Behörden“ zu ihren Obliegenheiten. Dabei sollte diese Kontrolle begleitet werden von der „erforderlichen Arbeit [...], um auf dem von der Roten Armee besetzten Territorium Deutschlands Spione, Diversanten, Terroristen, Angehörige der hitlerschen Straforgane, führende Mitglieder faschistischer Organisationen und andere aktive feindliche Elemente aufzuspüren“. Dafür wurden „Operativgruppen“18 gebildet, die als Geheimpolizei fungierten und aus Mitarbeitern des NKVD-NKGB und SMERŠ bestanden. Für die Verwahrung der von ihnen verhafteten Deutschen erhielten sie die Genehmigung, in Deutschland „die nötige Anzahl von Gefängnissen und Lagern“ zu errichten. Über ihre Tätigkeit hinsichtlich der Organisierung der deutschen Selbstverwaltung erstatteten Serov, Canava und Mešik regelmäßig Bericht nach Moskau an Berija, und dieser wiederum leitete die Berichte an Stalin weiter. Der Beschluss, alle Bemühungen zur Organisierung der deutschen Administration in den Händen der NKVD-Bevollmächtigten zu konzentrieren, legte im Weiteren die besondere Rolle der sowjetischen NKVD/MGB-Organe auf deut16 SSSR i germanskij vopros. 1941–1949. Dokumenty iz Archiva vnešnej politiki Rossijskoj Federacii. V trëch tomach. T. 2: 9 maja 1945 g. – 3 oktjabrja 1946 g., S. 15 17 GARF, f. 9401, op. 2, d. 95, l. 317 f. 18 Bis Dezember 1945 hießen sie offiziell Operativgruppen des NKVD der UdSSR, im Dezember wurde dann beschlossen, sie „Operativgruppen der SMA“ zu nennen, was natürlich keinerlei Einfluss auf ihre Unterstellung hatte (RGVA, f. 32921, op. 1, d. 28, l. 141).

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schem Gebiet fest. Ohne dass sie dem SMAD-Apparat unterstellt waren, beeinflussten sie sowohl mit direkten repressiven als auch mit verdeckten Methoden (indem sie sich zahlreicher deutscher Agenten bedienten) nicht nur den anfänglichen Einsatz der deutschen Kader, sondern auch deren weitere Arbeit. In den Dokumenten aus den Beständen der SMAD und der SMA-Länderverwaltungen kann man nur die Spitze dieses Eisbergs sehen. Unsichtbar bleiben die tagtäglichen Anstrengungen des NKVD-MGB-Apparats, die Kader der deutschen Administration und deren Tätigkeit zu kontrollieren. Dabei waren die Empfehlungen der Operativsektoren des MGB für die SMAD entscheidend für die Ernennung, die Säuberung oder die Entlassung von Deutschen. Vor der Ernennung von Leitern der deutschen Selbstverwaltung wurden die Kandidaten (selbst wenn es sich um Kommunisten handelte) von den Organen des NKVDMGB überprüft. So nannte beispielsweise der stellvertretende SMA-Chef für die Provinz Brandenburg, Vasilij M. Šarov, am 3. August 1945 in einem Schreiben an den Chef des NKVD-Operativsektors dieser Provinz, Pëtr M. Fokin, die vom Präsidenten der Provinz unterbreiteten Kandidaten für die Oberlandräte und bat darum, das „über die genannten Personen vorliegende Material“ mitzuteilen.19 Ebenso zog Šarov bei Fokin Erkundigungen ein über die Kandidaten für die Funktionen des Direktors der Staatsbankfiliale in Potsdam sowie des Leiters der Versicherungsgesellschaft der Provinz.20 Es sind jedoch nur einzelne Dokumente, die über dieses Procedere berichten, in den GARF-Beständen der SMAD und der einzelnen SMA-Verwaltungen enthalten. Die meisten Dokumente dieser Art befinden sich nach wie vor im Zentralarchiv des FSB und sind für die Forscher unzugänglich. Im Unterschied zu den Alliierten hatte die Rote Armee frühzeitig zuverlässige und ergebene Kader für den weiteren Einsatz bei der Verwaltung in Deutschland vorbereitet. Davon zeugt z. B. eine Notiz von Georgij Dimitrov und Aleksandr Panjuškin an Georgij M. Malenkov vom März 1945. Darin heißt es ohne Umschweife, dass es notwendig sei, „Organe zur Unterstützung“ der Roten Armee in den besetzten deutschen Gebieten zu schaffen, an deren Spitze die „zuverlässigsten und stärksten Funktionäre aus den Reihen der deutschen Kommunisten gestellt werden“ müssten.21 Das Schriftstück nennt auch die konkreten Kandidaten für die künftigen deutschen Leiter, darunter Anton Ackermann, Walter Ulbricht, Gustav Sobottka, Hermann Matern u. a.22 Die gesamte Auswahl und Vorbereitung der Kader für die künftige deutsche Selbstverwaltung nahm die Verwaltung für antifaschistische Arbeit (7. Verwaltung) der Politischen Hauptverwaltung der Roten Armee und das jeweils 7. Ressort der politischen Verwaltungen der Fronten vor. Bereits in den ersten Apriltagen des Jahres 1945 wurden die Kader für die künftigen Bürgermeister ausgewählt und die entsprechenden Beurteilungen ausgearbeitet. 19 20 21 22

GARF, f. 7077, op. 1, d. 28, l. 13. GARF, f. 7077, op. 1, d. 28, l. 11. SVAG. Upravlenie propagandy (informacii) i S. I. Tjul’panov. 1945–1949, S. 23. Ebd.

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Ende April 1945 kamen aus Moskau nach Deutschland „drei repräsentative Gruppen des ZK der KPD, deren Arbeit eine von ihnen koordinierte, und zwar die Gruppe um das Mitglied des Politbüros des ZK der KPD W. Ulbricht, bekannt als ‚Gruppe Ulbricht‘“.23 An den darauf folgenden Tagen kamen Gruppen von je 100 und mehr Personen nach Deutschland, die aus deutschen Politemigranten, Antifaschisten aus den Reihen der Kriegsgefangenen und Funktionären des Nationalkomitees „Freies Deutschland“ bestanden, welche eine politische Ausbildung in der Sowjetunion durchlaufen hatten.24 Wie sich in der Praxis die Herausbildung der neuen Macht vor Ort gestaltete und welche Probleme dabei entstanden, ist aus den „Historischen Auskunftsberichten“ ersichtlich, die Ende 1948 in den SMA-Verwaltungen der einzelnen Länder erstellt wurden, wenngleich das in diesen Dokumenten gezeichnete Bild nicht immer glaubwürdig ist. Beispielsweise wird die politische Situation in Sachsen und Dresden als das Ergebnis eines spontanen Prozesses dargestellt und folgendermaßen beschrieben: „Vor den Selbstverwaltungsbehörden gab es nach dem Zusammenbruch und der Zerschlagung der hitlerschen Staatsmaschinerie vor Ort spontan entstandene antifaschistische Komitees, die unverzüglich nach der Einstellung der Kampfhandlungen mit Hilfe der Kommandanturen damit begannen, in den Dörfern und Städten elementare Ordnung zu schaffen. Aus den Reihen dieser antifaschistischen Komitees ernannten die Kommandanten Bürgermeister, die sich in erster Linie gemeinsam mit den Kommandanturen damit befassten, die Bevölkerung mit Lebensmitteln zu versorgen und die kommunale Wirtschaft wieder in Gang zu bringen. Kurze Zeit später wurden in den Kreisen Landräte ernannt, die alle örtlichen Selbstverwaltungen in den Kreisen vereinigten mit dem Ziel, die Verwaltung zu verbessern, Ordnung zu schaffen und die Bevölkerung besser zu versorgen.“ In Mecklenburg trat ein anderes Problem auf, das damit zu tun hatte, dass anfangs mehrere Kreise von den Alliierten besetzt gewesen waren. „Etwas später (nach dem Abzug der anglo-amerikanischen Truppen) wurde in den westlichen Kreisen Mecklenburgs die Ernennung der Bürgermeister und Landräte vorgenommen, dabei mussten hier die meisten von den Engländern ernannten Führungskräfte ausgewechselt werden, da sie aus den Reihen reaktionärer und nazistischer Elemente ausgewählt worden waren. Die Schwierigkeit, auf die die sowjetischen Menschen bei der Schaffung des deutschen Verwaltungsapparats stießen, bestand darin, dass beim Einrücken der sowjetischen Truppen in die Städte nicht bekannt war, auf wen von den Kommunisten und Kämpfern gegen den Faschismus man sich sofort stützen konnte. Eine große Hilfe bei der Auswahl der leitenden Kader für die deutschen Selbstverwaltungsbehörden gaben die Offiziere der 7. Ressorts der Politischen Abteilungen der Armeen und die der 7. Abteilung der Politischen Verwaltung der Front. Die Auswahl der Oberbürgermeister und Landräte erfolgte hauptsächlich unter den KPD-Mitgliedern, 23 Michail I. Burcev, Prozrenie, Moskau 1981, S. 315. 24 Ebd., S. 315 f.

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den deutschen Kriegsgefangenen, die Antifa-Schulen in der UdSSR absolviert hatten, und den deutschen Antifaschisten, die von den sowjetischen Truppen aus faschistischen Konzentrationslagern befreit worden waren. [Diese Praxis wurde auch später beibehalten. Bei der Politischen Verwaltung der Gruppe der sowjetischen Streitkräfte in Deutschland agierte 1946 weiterhin eine antifaschistische Schule,25 die Verwaltungs- und Propagandakader ausbildete.] Es muss auch in Betracht gezogen werden, dass es, da die deutschen Selbstverwaltungsbehörden ‚auf die Schnelle‘ geschaffen wurden, nicht wenige Fälle gab, in denen die Auswahl der Leiter dieser Behörden übereilt oder nach einer oberflächlichen Prüfung und mitunter nur nach Vorlage des KPD-Mitgliedsausweises erfolgte. Das führte dazu, dass in den Verwaltungsapparat nicht wenige Nazis und Emporkömmlinge gelangten, die in der Folgezeit entlarvt und davongejagt werden mussten.“ Weiter hieß es: „Der von den Engländern ernannte Präsident der Provinz Mecklenburg Hans Jeß sowie eine ganze Reihe führender Nazi-Beamter – Protegés der Engländer und Amerikaner – wurden sofort ihrer führenden Ämter enthoben.“ Sehr offen werden die Kriterien bei der Auswahl von Deutschen für die Arbeit in der Selbstverwaltung in einem „Historischen Auskunftsbericht“ der SMA-Verwaltung für das Land Brandenburg genannt: „Hauptkriterium bei der Auswahl der Führungskader waren in erster Linie antifaschistisch-demokratische politische Ansichten und eine loyale Einstellung der Sowjetunion gegenüber.“ Das totale Misstrauen gegenüber den Selbstverwaltungsbehörden, die von den Westalliierten in denjenigen Kreisen geschaffen worden waren, in die die Rote Armee erst später Einzug hielt, erklärt sich nicht nur aus der Gegensätzlichkeit der politischen Systeme und der Ansichten über die Gesellschaftsordnung. Da die Alliierten keine vorbereiteten Kader hatten, ernannten sie häufig unbürokratisch und ohne Überprüfung solche Personen, die objektiv hätten Verdacht erregen können. Eine solche Situation entstand in Sachsen-Anhalt: „Kreise von Sachsen-[Anhalt] waren von amerikanischen Truppen besetzt. Die in den Gefängnissen und den Lagern Buchenwald, Torgau u. a. gefangen Gehaltenen wurden von den Amerikanern befreit. Diese Lager und Gefängnisse waren nicht nur mit politischen, sondern auch mit kriminellen Häftlingen gefüllt gewesen. Berüchtigte Banditen, Berufsganoven, gewiefte Betrüger und Fälscher von Dokumenten wurden zusammen mit den politischen Häftlingen freigelassen. Beim Verlassen der Gefängnisse und Lager erhielt dieses ganze Gesindel von den amerikanischen Behörden Dokumente, dass sie ‚Opfer des Faschismus‘, also politische Gefangene gewesen seien.“26 Viele von ihnen „zog es“ nicht nur zur Arbeit in die deutschen Behörden und die im Aufbau begriffene Polizei, sondern „um ihre Position zu stärken, traten sie in die kommunis25 GARF, f. 7317, op. 49, d. 69, l. 412. Im August 1946 wurde sie von Major Wilgel’m Ljudvigovič Martens geleitet. 26 GARF, f. 8131, op. 37, d. 3418, l. 4 f.

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tische Partei ein“.27 So gelangte in Bernburg ein gewisser Alfred Rieck an die Spitze der Polizei, „der sich als politischer Gefangener ausgab, in Wirklichkeit jedoch ein Krimineller war. Er hatte gesetzwidrig Verhaftungen vorgenommen, Vermögen eingezogen und Verhaftete geschlagen.“28 Interessanterweise verteidigte der Chef der NKVD-Operativgruppe in Bernburg, Major F. I. Sudarikov, geleitet von behördlichen Interessen, Rieck und seine Mitarbeiter bis zuletzt und versuchte, ihnen ihre Posten bei der Polizei zu erhalten. Auf Beschluss des Rates der Volkskommissare der UdSSR vom 6. Juni 1945 wurde die Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD) gebildet.29 Die Meldung darüber erschien in den zentralen Zeitungen mit einiger Verspätung erst am 14. Juni.30 Am 9. Juni unterschrieb Georgij K. Žukov, Oberster Chef der SMAD und Oberbefehlshaber der Gruppe der sowjetischen Streitkräfte in Deutschland (GSSD), den Befehl Nr. 1, in dem er über die Bildung der SMAD informierte. Der SMAD-Befehl Nr. 2 erlaubte die Existenz mehrerer politischer Parteien und die Gewerkschaften.31 Das politische Leben in der SBZ hatte jedoch schon früher begonnen. Wilhelm Pieck hatte bereits am 26. Mai 1945 eine Weisung aus dem Kreml über die Zulassung von Parteien und Gewerkschaften erhalten.32 In der Tätigkeit der SMAD zeichnete sich von Anfang an eine gewisse Selbstständigkeit der Handlungen ab. Auch der SMAD-Befehl Nr. 17 über die Bildung zentraler deutscher Verwaltungen war offenbar ohne Beteiligung des Volkskommissariats für Auswärtige Angelegenheiten33 vorbereitet und am 27. Juli herausgegeben worden. Natürlich wurden die führenden Positionen in diesen Verwaltungen von KPD-Mitgliedern besetzt.34 In der ersten Julihälfte 1947 prüfte Žukov die Kandidaten für die Präsidenten und deren Stellvertreter in den Ländern und Provinzen der SBZ und bestätigte sie.35 Gemäß dem Befehl Nr. 5 des Obersten Chefs der SMAD und Oberbefehlshabers der GSSD vom 9. Juli 1945 wurden „zur Verwaltung der Provinzen und zur Absicherung der Kontrolle über die Arbeit der örtlichen Selbstverwaltungsbehörden“ Chefs der Sowjetischen Militäradministration (SMA) der Länder und Provinzen sowie deren Stellvertreter für zivile Angelegenheiten ernannt.36 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36

Ebd. Ebd. Russkij archiv. Velikaja otečestvennaja. T. 4 (5), S. 408–410. Pravda vom 14. 6.1945. GARF, f. 7317, op. 8, d. 1, l. 2 f. Vgl. Rolf Badstübner/Wilfried Loth (Hg.), Wilhelm Pieck. Aufzeichnungen zur Deutschlandpolitik 1945–1953, Berlin 1994, S. 50; SSSR i germanskij vopros, S. 721. Zumindest sind im Archiv für Außenpolitk der Russischen Föderation bisher noch keine Dokumente aufgefunden worden, die die Beteiligung des Volkskommissariats für Auswärtige Angelegenheiten belegen würden. Vgl. SSSR i germanskij vopros. T. 2, S. 61. Ebd. Filippovych, Sovetskaja voennaja administracija v Germanii: voenno-političeskij aspekt dejatel’nosti, S. 24. GARF, f. 7317, op. 8, d. 1, l. 9 f.

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SMA-Chefs wurden, entsprechend dem Territorialprinzip, die Befehlshaber der in den entsprechenden Ländern und Provinzen stationierten Armeen: – für die SMA der Provinz Brandenburg – Marschall der Panzertruppen Semën I. Bogdanov, Befehlshaber der 2. Garde-Panzerarmee; – für die SMA der Provinz Mecklenburg – Generaloberst Ivan I. Fedjuninskij, Befehlshaber der 2. Stoßarmee; – für die SMA der Provinz Sachsen (Sachsen-Anhalt) – Generaloberst Vasilij I. Kuznecov, Befehlshaber der 3. Stoßarmee; – für die SMA des Landes Sachsen – Generaloberst Michail E. Katukov, Befehlshaber der 1. Garde-Panzerarmee; – für die SMA des Landes Thüringen – Generaloberst Vasilij I. Čujkov, Befehlshaber der 8. Garde-Armee. Ihre Stellvertreter für zivile Angelegenheiten wurden die Generalmajore Vasilij M. Šarov (Brandenburg), Michail I. Skosyrev (Mecklenburg), Aleksandr G. Kotikov (Sachsen-Anhalt), Dmitrij G. Dubrovskij (Sachsen) und Ivan S. Kolesničenko (Thüringen). Eine Ausnahme bildete Sachsen-Anhalt, wo neben der Position des Stellvertreters für zivile Angelegenheiten auch noch die eines stellvertretenden SMA-Chefs eingerichtet wurde. Diesen Posten erhielt gemäß dem genannten Befehl Generalleutnant Franz I. Perchorovič, der Befehlshaber der 47. Armee. Das lässt sich damit erklären, dass Žukov „der Gerechtigkeit halber“ den Befehlshaber einer weiteren in Sachsen-Anhalt stationierten Armee nicht ohne Posten lassen wollte. Am selben Tag, dem 9. Juli 1945, bestätigte Žukov durch den Befehl Nr. 029 die „Zeitweiligen Bestimmungen über die Arbeit des SMA-Chefs einer Provinz bzw. eines Landes in der Sowjetischen Besatzungszone und seines Stellvertreters für zivile Angelegenheiten“. In diesen Bestimmungen hieß es, der SMAChef sei der „oberste Repräsentant“ des Obersten Chefs der SMAD und verfüge über „das gesamte Spektrum der Besatzungsmacht innerhalb der entsprechenden Provinz bzw. des entsprechenden Landes“. Hauptziel der Tätigkeit der SMA sei die „Durchführung der Verwaltung der Provinz sowie die Kontrolle über die Tätigkeit der deutschen Provinzverwaltung und der örtlichen Selbstverwaltung“. In Punkt 6 der Bestimmungen wurde auch der Dienststatus der Stellvertreter für zivile Angelegenheiten genau festgelegt: „Der Stellvertretende Chef der Sowjetischen Militäradministration für zivile Angelegenheiten ist gleichzeitig auch Chef der Verwaltung der Sowjetischen Militäradministration [SMA-Verwaltung] der jeweiligen Provinz bzw. des jeweiligen Landes und in seiner Arbeit dem Stellvertretenden Obersten Chef der SMAD rechenschaftspflichtig.“37 Ende 1946 traten die SMA-Chefs der Provinzen und Länder in den Hintergrund und ihre Stellvertreter für zivile Angelegenheiten – die Chefs der SMAVerwaltungen – begannen die Hauptrolle in ihrer Provinz bzw. ihrem Land zu 37 GARF, f. 7184, op. 1, d. 2, l. 1 f.

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spielen. Hauptursache war, dass im Dezember 1946 der Beschluss gefasst wurde, die sowjetischen Truppen in Deutschland beträchtlich zu reduzieren und etliche Einheiten in die UdSSR zurückzuführen. Dementsprechend verließen eine Reihe hochrangiger Militärbefehlshaber ihre Posten in Deutschland. Über die bevorstehende starke Reduzierung der sowjetischen Truppen im Ausland hatte Stalin mit Molotov im Oktober 1946 in Gagra diskutiert.38 Kurz darauf, am 23. Oktober 1946, hatte Stalin Molotov in Moskau davon unterrichtet, dass er Nikolaj A. Bulganin und Aleksandr G. Vasil’evskij zu sich gerufen und mit ihnen ebenfalls diese Frage erörtert habe. So entstand der Beschluss, die im Ausland stationierten Truppen insgesamt um 280 000 Mann zu reduzieren, davon in Deutschland um 200 000 (die übrigen in Rumänien, Port Arthur und Korea). Statt 450 000 sowjetischen Militärangehörigen sollten nur noch 250 000 in Deutschland verbleiben.39 Nun war also die am 9. Juni 1945 festgelegte unmittelbare Leitung der örtlichen deutschen Selbstverwaltungsbehörden und die Kontrolle über deren Tätigkeit vom NKVD-Apparat, der von Ivan A. Serov geleitet wurde, auf die stellvertretenden SMA-Chefs für Zivilangelegenheiten übergegangen und in den Städten und Kreisen an die Militärkommandanten. Die Situation der „Doppelherrschaft“ wird eindrucksvoll beschrieben in dem Fragment einer politischen Meldung des stellvertretenden Militärkommandanten für politische Arbeit der Stadt Saßnitz, Makarikov, vom 20. Juli 1945: „Unklar bleiben für mich noch Fragen der Beziehungen zu den örtlichen Behörden und zur Operativgruppe für Zivilangelegenheiten [gemeint ist die Operativgruppe des NKVD]. Aus einem Gespräch mit dem Assistenten des Operativgruppenchefs, Hauptmann Rebrov, weiß ich, dass sie Bürgermeister ernennen und absetzen, ohne den Kommandanten der jeweiligen Stadt davon zu informieren.“40 Dennoch wurden bis Ende 1945 auf örtlicher Ebene nicht selten zwischen den Militärkommandanten und den NKVD-Operativgruppen die „Beziehungen geklärt“, wer welche deutschen Behörden leite, wer berechtigt sei, Verhaftungen vorzunehmen usw. Mitunter nahmen diese Streitereien komische Formen an. Verhaftungen Deutscher wurden allerdings weiterhin von allen vorgenommen, die Lust dazu hatten. Der Leiter der Abteilung Kommandantendienst der SMA Provinz Sachsen, Muchin, schrieb am 25. August 1947 voller Empörung an den Stabschef der 47. Armee, dass am 9. und 10. August in Wittenberg und anderen Ortschaften dieses Kreises eine Gruppe von Armeeangehörigen „Verhaftungen einfacher Mitglieder der faschistischen Partei vorgenommen hat, wobei sie Uhren, Rundfunkempfänger und andere Sachen entwendet haben“, 38 Vjačeslav M. Molotov hatte die Absicht, die Generalversammlung der UNO zu besuchen, wo u. a. die Frage nach einer Reduzierung der Waffen und des Aufenthaltes bewaffneter Streitkräfte der Alliierten auf dem Gebiet „nichtfeindlicher Staaten“ erörtert werden sollte. Vgl. Vjačeslav M. Molotov, Voprosy vnešnej politiki, Moskau 1948, S. 246–344. 39 APRF, f. 45, op. 1, d. 101, l. 129 f. 40 GARF, f. 7317, op. 9, d. 35, l. 500.

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„sämtliche Handlungen wurden ohne Wissen der Kommandantur durchgeführt“.41 In einigen Provinzen, z. B. in Mecklenburg, waren der Chef der SMAVerwaltung Michail I. Skosyrev und der Chef des Operativsektors des NKVD V. V. Gubin gezwungen, am 20. Oktober 1945 an die örtliche Ebene eine gemeinsame Direktive über die Errichtung „normaler“ Beziehungen zwischen dem Kommandantendienst und den Chefs der NKVD-Operativgruppen der Kreise zu geben, in der mit aller Strenge gefordert wurde, „einen sachlichen Kontakt in der Arbeit herzustellen“.42 Letztendlich kam es zwischen dem NKVD und den SMAD-Organen zu einer Aufteilung der Obliegenheiten bei der Leitung und der Aufsicht über die Tätigkeit der deutschen Verwaltungsbehörden. Die nominelle Kontrolle über die Arbeit der deutschen Polizei und die Auswahl ihrer Kader wurde den im August 1945 bei den SMA-Verwaltungen der Provinzen und Länder gebildeten Sektoren für Innere Angelegenheiten übertragen. Die deutschen Gerichte und die Staatsanwaltschaft wurden von der jeweiligen Rechtsabteilung der SMAD bzw. der SMA-Verwaltungen kontrolliert und die Kontrolle über die Tätigkeit der Selbstverwaltungsbehörden erfolgte durch speziell dafür bereitgestellte Mitarbeiter der Abteilungen Propaganda (Information) der SMA-Verwaltungen sowie unmittelbar durch die Militärkommandanten vor Ort. Im Sommer 1948 wurden zur Leitung und Kontrolle über die Tätigkeit der deutschen Selbstverwaltungsbehörden bei der SMAD und den SMA-Verwaltungen der Länder Abteilungen für zivile Verwaltung gebildet. Diese neuen Abteilungen ließen sich jedoch von den alten Richtlinien leiten, die noch aus dem Jahre 1945 stammten. Wie real die Macht der deutschen Selbstverwaltung war, wird in einem kuriosen Zitat aus den Dokumenten der Abteilung Zivilverwaltung in Sachsen-Anhalt deutlich: „Ein ernster Hemmschuh bei der Festigung der Disziplin unter den Bürgermeistern, Oberbürgermeistern, Landräten und allen Angestellten des Verwaltungsapparats, ein Hemmschuh bei der Schaffung eines wirklich einheitlichen, in sich geschlossenen Systems der Machtorgane von unten nach oben ist die weite Verbreitung unter den Verwaltungsmitarbeitern, u. a. auch unter den SED-Mitgliedern, der alten und heutzutage schädlichen ‚Theorie‘, wonach die örtlichen Verwaltungsorgane ‚Selbstverwaltungs‘organe seien.“43 Dabei standen die Operativsektoren des NKVD-MVD der Provinzen und Länder, die die Funktionen einer politischen Polizei in der SBZ erfüllten, sowie ihre Organe auf örtlicher Ebene – die Operativgruppen der Kreise und Städte (ab November 1946 waren es dann die Operativsektoren des MGB der Provinzen und Länder sowie die Kreis- und Stadtabteilungen des MGB) – in operativer Hinsicht über der deutschen Kriminalpolizei. Sie kontrollierten nicht nur ihre Leitung und Tätigkeit, sondern zogen die Polizei auch heran, damit diese 41 GARF, f. 7133, op. 1, d. 115, l. 49. 42 GARF, f. 7103, op. 1, d. 9, l. 76–78. 43 GARF, f. 7133, op. 1, d. 221, l. 55–78.

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die Aufgaben der sowjetischen Operativorgane bei der Durchführung von Verhaftungen deutscher Bürger wahrnahm. So wurden laut Aufzeichnungen eines Abteilungsleiters der Polizei in Sachsen-Anhalt namens Maier im Jahre 1946 von der deutschen Polizei 10 179 Personen „für die SMA-Verwaltung“ bzw., wie die Deutschen unter sich sagten, „für den russischen NKVD“ verhaftet.44 Der sowjetische Staatssicherheitsapparat war, wie schon gesagt, der SMAD nicht unterstellt, spielte aber eine äußerst wichtige Rolle im inneren Leben der SBZ. Das wird allein schon daraus ersichtlich, dass von 348 führenden Mitarbeitern der SMAD, die am 24. Juni 1948 mit Orden ausgezeichnet wurden, mindestens 40 (11,5 %) Mitarbeiter des Apparats des MGB-Bevollmächtigten in Deutschland sowie der Operativsektoren des MGB in den einzelnen Ländern waren.45 Der Apparat des MGB-Bevollmächtigten in Deutschland spielte bei der verdeckten Kontrolle über die Tätigkeit der politischen Parteien eine nur schwerlich zu überschätzende Rolle. Beispiele für die Aktivität des sowjetischen MGB gibt es nicht wenige. So heißt es in einem operativen Bericht für den Juli 1947, dass durch die Bemühungen der MGB-Abteilungen des Operativsektors des Landes Sachsen „Maßnahmen ergriffen wurden zur Aufdeckung praktischer Aktionen, die von der LDP in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands zur Schaffung ihrer eigenständigen Jugendorganisation durchgeführt wurden“.46 Zu einem ernsten Problem für die SMAD wurde die Umsetzung der Beschlüsse der Potsdamer Konferenz hinsichtlich der Wahlen zu den deutschen Selbstverwaltungsorganen. Im September 1945 verkündete die amerikanische Militärregierung, dass sie ab Januar 1946 in ihrer Zone Kommunalwahlen durchführen werde.47 Diese Nachricht beunruhigte die SMAD-Führung, um so mehr als im Ergebnis dieser Wahlen die CDU siegte. Für die Kandidaten dieser Partei stimmten etwa 40 Prozent der Wähler, für die SPD 25,7. Die Kommunisten erlitten eine Niederlage, ihre Kandidaten erhielten ganze vier Prozent der Stimmen.48 In der SBZ sollten die Wahlen ursprünglich im Mai 1946 stattfinden,49 aber die politischen Schachzüge zur Vereinigung von KPD und SPD banden viele Kräfte, und deshalb wurden die Wahlen auf den Herbst verschoben.50 Im Frühjahr 1946 war zwar als Ersatz ein Referendum vorgeschlagen worden, dieser Vorschlag hatte jedoch unter den Deutschen Unzufriedenheit ausgelöst. Interessant ist auch die Technik, die von der SMAD für die Wahlen in der SBZ ausgearbeitet wurde. Hier sieht man deutlich, wie administrativ eingegrif44 45 46 47

GARF, f. 8131, op. 37, d. 3418, l. 7. Vedomosti Verchovnogo Soveta SSSR 1948, 2. Juli. RGVA, f. 32883, op. 1, d. 95, l. 107. Die Wahlen sollten in drei Etappen vor sich gehen: im Januar Gemeindewahlen, April– Mai Wahlen zu den Kreisräten, Ende 1946/47 Wahlen zu den Landtagen. Vgl. SSSR i germanskij vopros, S. 778. 48 SSSR i germanskij vopros, S. 373. 49 Ebd., S. 778 f. 50 Ebd., S. 376.

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fen und konkurrierende Parteien unterdrückt wurden: Die Gemeindewahlen im Land Brandenburg vom 15. September brachten der SED den Sieg, die Erklärung dafür ist einfach: „Der relativ hohe Prozentsatz (59,8), der bei den Gemeindewahlen für die Listen der SED abgegeben wurde, erklärt sich daraus, dass es der SMA im Land Brandenburg gelungen war, in 33 Prozent der Gemeinden zu verhindern, dass Listen bürgerlicher Parteien aufgestellt wurden.“51 Die Hauptaufgabe, die die SMAD im Spätsommer 1945 den deutschen Verwaltungsbehörden zugedacht hatte, bestand in der Einbringung der Ernte. Das kam sowohl in den Dokumenten als auch in persönlichen Gesprächen sowjetischer Vertreter mit den führenden Repräsentanten der Länder zum Ausdruck. Hinderlich dabei wirkte jedoch die außerordentlich komplizierte Situation. Es gab zahlreiche Beschwerden deutscher Bürgermeister über die Willkür der Militärkommandanten sowie die anhaltenden Massendiebstähle und Gewaltanwendungen in der SBZ. Im Frühjahr 1945, als der Krieg noch im Gange war, hatte Stalin eine recht lockere Einstellung zu Disziplinlosigkeit und sogar zu kriminellen Verbrechen (natürlich nur, wenn sie sich nicht gegen die sowjetische Staatsmacht richteten). Dafür brachte er eine etwas seltsame Rechtfertigung vor: „Stellen Sie sich einen Mann vor, der auf dem ganzen Weg von Stalingrad bis Belgrad gekämpft hat – über Tausende Kilometer seines eigenen verheerten Landes hinweg, über die Leichen seiner Kameraden und liebsten Angehörigen hinweg! Wie kann ein solcher Mensch noch normal reagieren? Und was ist schon dabei, wenn er sich mit einer Frau amüsiert, nach all den Schrecknissen? [...] Man muss den Soldaten verstehen. Die Rote Armee ist nicht ideal. Wichtig ist, dass sie die Deutschen bekämpft – und sie kämpft gut, alles andere spielt keine Rolle.“52 Doch bereits im Sommer 1945 wurden derartige „Exzesse“ zu einem ernsthaften Hindernis für die Normalisierung des Lebens in der SBZ und störten nicht nur die Verwaltungsordnung und die Deutschen, sondern bedrohten auch die Wirtschaftspläne der SMAD. Entsprechende Maßnahmen wurden unaufschiebbar. Mehrere Befehle des Obersten Chefs der SMAD zielten auf eine Verbesserung der Disziplin und die Einstellung von Überfällen, Diebstählen, Vergewaltigungen und Mordanschlägen, an denen neben sowjetischen Repatrianten und Deserteuren, die sich häufig zu Banden zusammenschlossen, auch Rotarmisten regulärer Einheiten beteiligt waren. Nicht weniger Sorgen machten der 51 GARF, f. 7077, op. 1, d. 1, l. 168–194. 52 Djilas, Gespräche mit Stalin, S. 141. Im Gespräch mit Džilas erklärte Stalin, die Rote Armee sei „nicht ideal“ und könne es auch nicht sein, da sie einen gewissen Prozentsatz von Verbrechern enthalte: „Wir haben die Tore unserer Strafanstalten aufgemacht und alle in die Armee gesteckt“ (ebd.). Zur Untermauerung seiner Worte berichtete er über einen realen Fall, als er einen zum Tode verurteilten Major begnadigt hatte – einen Flieger, der einen zivilen Ingenieur erschossen hatte, weil dieser eine Frau beschützen wollte. „Irgendwie kam mir die Sache vor die Augen“, sagte Stalin, „und ich stellte Nachforschungen an – mir stehen in Kriegszeiten die Rechte eines Oberkommandierenden zu – und ich ließ den Major frei und schickte ihn an die Front. Jetzt ist er einer unserer Helden“ (ebd.).

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SMAD außerdem die sowjetischen Halbwüchsigen, die auf verschiedenen Wegen in deutsche Gebiete eindrangen, um „Beute“ zu machen, d. h. der örtlichen Bevölkerung Wertgegenstände zu stehlen oder einfach mitzunehmen. Allein im September und in der ersten Oktoberhälfte 1945 wurden in Deutschland 150 Halbwüchsige aus der UdSSR festgenommen, „die Diebstahl begangen und Gewalt angewendet hatten“.53 Das Verhalten der sowjetischen Truppen wurde zu einem politischen Problem. Im Befehl des Oberkommandierenden der GSSD Nr. 063 vom 3. August 1945 heißt es: „Das Missverhalten und die Eigenmächtigkeit, besonders nach dem Krieg, kompromittieren uns sehr stark in den Augen der deutschen Antifaschisten und sind eine gute Hilfe für die Faschisten, gegen die Rote Armee und die Sowjetregierung Agitation und Verleumdung zu betreiben.“54 Der Befehl zielte auf die Festigung der Disziplin in den GSSD-Einheiten und ordnete unter anderem an, den Ausgang und die Entfernung aus dem Objekt auf ein Minimum zu reduzieren; er verbot „Exkursionen“ nach Berlin und die Übernachtung von Militärangehörigen in Privatwohnungen ohne Erlaubnis der Kommandanten. Zwei Wochen später erklärte der Oberbefehlshaber Žukov, er würde nicht davor zurückschrecken, „einige zehntausend Menschen“ zu erschießen, um Ordnung in der SBZ zu schaffen.55 Diese Befehle waren oft ganz eindeutig dadurch motiviert, dass es für deutsche Frauen nicht möglich war, „ins Feld hinaus zu gehen“. Vielleicht hätten die Führung der SMAD und der Roten Armee keine solche Entschiedenheit gezeigt, wenn es nicht um die Einbringung der Ernte gegangen wäre. Ein Jahr später, als für die sowjetischen Besatzungsbehörden im Zusammenhang mit den Wahlen die Ruhe und ein gutes politisches Gefühl der Deutschen erneut wichtig war, wurde wiederum ein schneller Beschluss gefasst: An den Wahltagen durften die Rotarmisten nicht aus den Kasernen gelassen werden. Mitunter jedoch endeten die Versuche der Deutschen, sich aus eigener Kraft vor den Überfällen der Marodeure zu schützen, tragisch. So instruierte der Bürgermeister eines Dorfes im Kreis Gardelegen im Juli 1945 die Männer seines Dorfes dahingehend, dass sie, wenn Rotarmisten oder Polen auftauchen würden, Alarm schlagen, sich mit Hieb- und Stichwerkzeugen ausrüsten, die Fremden festhalten und verprügeln sollten. Doch nicht immer konnten die Deutschen unterscheiden, was in den Handlungen der Angehörigen der Roten Armee „legitim“ und was „illegitim“ war. Als der Kommandant des Dorfes versuchte, seine Leute in verschiedene Wohnungen einzuquartieren, schlugen die Bewohner Alarm und beim Versuch des Kommandanten, einen der Deutschen festzunehmen, begegnete er physischem Widerstand. Obwohl der Kommandant keinen Schaden davontrug, ordnete Serov, als er von diesem Vorfall erfahren hatte, an: „Die Organisatoren sind wegen Nichtausführung einer Weisung des 53 RGVA, f. 32925, op. 1, d. 101, l. 180. 54 RGVA, f. 32925, op. 1, d. 297, l. 30 f. 55 GARF, f. 7317, op. 7, d. 14, l. 121–133.

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Militärkommandanten und wegen des Versuchs, Schläge auszuteilen, zu verhaften, vor Gericht zu stellen und nach der Verabschiedung der Gerichtsbeschlusses an Ort und Stelle zu erschießen.“56 Der Bürgermeister des Dorfes und einige Einwohner wurden erschossen.57 Auch 1946 blieb die Hauptforderung der SMAD-Führung an die deutschen Verwaltungsbehörden die Absicherung der landwirtschaftlichen Lieferungen. Im Sommer 1946 herrschte in der UdSSR eine extreme Dürre und der Ernteertrag war sehr niedrig. Auf Weisung Stalins schlossen sich dem „Kampf um das Getreide“ alle Mitglieder des Politbüros und der Apparat des ZK der VKP (b) an – sie fuhren durch die Gebiete, um die Getreidebereitstellung anzukurbeln.58 Gleichzeitig richtete Serov ein persönliches Schreiben an Stalin, in dem er vorschlug, Getreide für die UdSSR aus der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands auszuführen. Serovs Vorschlag kam überaus gelegen. Davon angeregt diktierte Stalin am 3. November 1946 per Telefon von Südrussland aus einen Text nach Moskau, der an Andrej A. Ždanov, Nikolaj A. Voznesenskij, Nikolaj A. Bulganin, Nikolaj S. Patoličev, Boris A. Dvinskij und Nikita S. Chruščëv ging und in dem er bat, Serovs Vorschlägen Beachtung zu schenken. Von sich aus fügte er hinzu, „man könnte jetzt sofort verlangen, dass für die Ausfuhr in die Sowjetunion unverzüglich mindestens 100 000 Tonnen Getreide, mindestens 150 000 Tonnen Zucker und etwa 250 000 Tonnen Kartoffeln ausgeliefert werden. Das kommt alles in die Reserve, zum Verbrauch in der UdSSR.“59 „In zwei Monaten“ schrieb Stalin weiter „werden unsere Truppen in Deutschland um 40 Prozent reduziert. Es wäre gut, in diesem Zusammenhang irgendwelche Lebensmittelreserven für die Sowjetunion abzuzweigen und sie in unser Land zu bringen.“ Stalin bat, Sokolovskij nach Moskau zu beordern „und ihm meine Bitte im Sinne der oben dargelegten Forderungen zu übermitteln“, außerdem sollte „Gen. Serov mein Dank für sein Schreiben übermittelt werden“.60 Die Ausfuhr von Lebensmitteln aus Ostdeutschland hatte ernste Auswirkungen auf die ohnehin karge Versorgung der Bevölkerung. Es entstand eine allgemeine Unzufriedenheit, was die Arbeit der deutschen Selbstverwaltung erschwerte – die Deutschen gaben die Schuld für ihr Elend zu Recht nicht nur den sowjetischen Besatzungsbehörden, sondern auch den Selbstverwaltungsbehörden und der herrschenden Partei, der SED. Anfang 1947 hielt es der Oberste Chef 56 Diese Anordnung Serovs vom 14. September 1945 sollte allen Militärkommandanten der Provinz Brandenburg als Lehre dienen (GARF, f. 7133, op. 1, d. 115, l. 149). 57 In der Strafsache gegen Friedrich Sch. (geb. 1892), Wilhelm K. (geb. 1880), Paul V. (geb. 1922) und Otto Sch. (geb. 1896) verhandelte das Militärtribunal der 3. Stoßarmee am 24. August 1945 in einer geschlossenen Gerichtsversammlung nach Art. 58-2 StGB der RSFSR im „vereinfachten Verfahren“ (ohne Beteiligung von Staatsanwalt und Rechtsanwälten). Alle Angeklagten wurden zur Höchststrafe – Tod durch Erschießen – mit Einziehung ihres gesamten Vermögens verurteilt. Das Urteil war endgültig, Berufung durfte nicht eingelegt werden. 58 Nikolaj S. Patoličev, Sovest’ju svoej ne postupljus’, Moskau 1995, S. 18 f. 59 APRF, f. 45, op. 1, d. 102, l. 6. 60 Ebd.

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der SMAD Vasilij D. Sokolovskij für erforderlich, ein Schreiben an die Ministerpräsidenten der Länder und Provinzen der SBZ zu richten. Darin rief er dazu auf, die Erfolge des Jahres 1946 zu festigen und „den weiteren Aufschwung der landwirtschaftlichen Produktion zu gewährleisten“, man solle dafür „alles Erforderliche“ tun.61 Am Vorabend der Frühjahrsaussaat im März 1947 wurde das Schreiben Sokolovskijs in den örtlichen Behörden verlesen, dabei verfolgten die sowjetischen Kuratoren sehr aufmerksam die Reaktion der Deutschen. Diejenigen, die es wagten, Kritik am Landwirtschaftsprogramm zu üben, wurden Verfolgungen ausgesetzt. So wurde der Beschluss gefasst, den Landrat des Kreises Prenzlau, Kinzmann, wegen seiner Ablehnung des Amtes zu entheben.62 Ein spezielles Thema ist die Säuberung der deutschen Verwaltungsbehörden von „Reaktionären“ und sonstigen „feindlichen Elementen“. Hier zeigt sich ganz deutlich die Widersprüchlichkeit des Entnazifizierungsprozesses und dessen Ausnutzung zur Festigung der Macht der SED. Die Kadersäuberung erfolgte auf der Grundlage der Kontrollratsdirektive Nr. 24 – „Entfernung von Nationalsozialisten und Personen, die den Bestrebungen der Alliierten feindlich gegenüberstehen, aus Ämtern und verantwortlichen Stellungen“ – vom 12. Januar 1946.63 Ihren Bericht über die Erfüllung dieser Direktive in der gesamten SBZ, einschließlich Berlin, per Stand 1. Januar 1947 legte die UdSSR dem Kontrollrat vor:64 Tabelle 1: Statistik der Entnazifizierung per 1.1.1947 Bezeichnung der Behörden bzw. Organisationen

insgesamt abgelöst und nicht zur Arbeit zeitweilig im entlassen und entlassen zugelassen Dienst belassen nicht zugelassen

Deutsche Selbstverwaltungsbehörden

71 385

12186

8 255

83 571

Polizei

13 702

11911

139

25 613

8 467

1 351

74

9 818

Gerichte und Staatsanwaltschaft

61 GARF, f. 7077. op. 1, d. 215, l. 27–29. 62 GARF, f. 7077. op. 1, d. 215, l. 67–71. 63 Text der Direktive in: Amtsblatt des Kontrollrats in Deutschland, Nr. 5 vom 31. 3.1946, S. 30–115. 64 Die hier angeführten Angaben beziehen sich nur auf die Selbstverwaltungsbehörden, die Polizei, die Gerichte und die Staatsanwaltschaft. Vgl. Doklad Kontrol’nogo Soveta v Germanii Sovetu Ministrov inostrannych del. Razdel 2. Denacifikacija, Berlin (Ost) 1947, S. 51.

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In einer Meldung des Leiters der Rechtsabteilung der SMAD, Jakov A. Karasev, an Koval’čuk und Malenkov vom 16. März 1948 heißt es, dass entsprechend dem Befehl Nr. 201 des Obersten Chefs der SMAD vom 16. August 1947 von deutschen Gerichten in der SBZ bereits mehr als 500 Personen – „Naziund Kriegsverbrecher“ – zu Gefängnishaft verurteilt worden seien, ihre Strafe in den Gefängnissen der Länder verbüßten und die Gerichte ihre Arbeit fortsetzten.65 Ende 1948 kam man auf den Einfall, eine Kampagne zur Reduzierung des deutschen Staatsapparats durchzuführen. Ihr verdeckter Zweck (neben dem offensichtlichen Ziel, die Effektivität sowohl der Wirtschaftsverwaltung als auch der allgemeinen Verwaltung zu steigern) bestand darin, die Säuberung von politisch missliebigen Elementen fortzusetzen. So heißt es ohne Umschweife in einem Bericht der Abteilung Ziviladministration der SMA-Verwaltung Thüringen: „Die Reduzierung der Festangestellten führte zu einem Ansteigen des Anteils der SED in den Selbstverwaltungsbehörden von 36,9 auf 42,9 %, d. h. um 5,4 %, und zu einem Ansteigen des Anteils der aus Arbeiter- und Bauernfamilien Stammenden von 45,45 auf 56,2 %, d. h. um 10,57 %. Positiv zu bewerten ist auch die Tatsache, dass nach unvollständigen Angaben aus den Verwaltungsbehörden im Prozess der Personalreduzierung 1721 Personen wegen antisowjetischer bzw. antidemokratischer Einstellung und aus anderen Motiven heraus entlassen und gesäubert wurden.“66 Die Maßnahmen zum Aufbau der deutschen Polizei hatten bereits begonnen bevor die SMAD in Erscheinung trat. Bereits Mitte 1946 hatte sich die Frage nach einer einheitlichen Führung der Polizei aller Länder der SBZ gestellt. Nach der Schaffung der SMAD wurde deren Abteilung (ab April 1947 Verwaltung) für Innere Angelegenheiten mit der Führung und Kontrolle über die Tätigkeit der deutschen Polizei beauftragt. Die Kadersäuberungen der deutschen Polizei dauerten von 1945 bis 1949. Schon am 2. Juni 1945 hieß es in einer operativen Zusammenfassung des 105. Grenzregiments, das dem Berliner Operativsektor des NKVD zugeteilt war und Objekte in Berlin bewachte: „Leiter von Parteigruppen der faschistischen Partei und Gestapo-Mitarbeiter, die in Berlin leben, versuchen auf jegliche Weise, sich in die örtlichen Selbstverwaltungsbehörden und die im Aufbau befindliche Polizei einzuschleichen.“67 Eine recht starke Kaderreserve für die künftigen ostdeutschen Geheimdienste waren die deutschen Kriegsgefangenen, die die sowjetischen Antifa-Schulen durchlaufen hatten und in der konkreten Arbeit in der UdSSR erprobt worden waren. Am 20. August 1948 unterbreitete Kruglov Molotov den Vorschlag, 25 Deutsche – ehemalige Mitglieder des Nationalkomitees „Freies Deutschland“ und des „Bundes deutscher Offiziere“, die eine spezielle politische Ausbildung absolviert hatten – zu repatriieren. Darunter waren fünf Generäle: 65 GARF, f. 7317, op. 52, d. 8, l. 90 f. 66 GARF, f. 7184, op. 1, d. 136, l. 357–364. 67 RGVA, f. 32925, op. 1, d. 121, l. 64.

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Vincenz Müller, Otto Korfes, Hans Wulz, Arthur Brandt und Walter Schreiber; vier Oberste, darunter die berühmten Heinrich Scherhorn und Hans Michaelis (sie hatten 1944/45 mit Pavel Sudoplatov und der 4. NKGB-Verwaltung beim Unternehmen „Beresino“ zusammengearbeitet, woraufhin eine Gruppe deutscher Kriegsgefangener in der Lubjanka erschossen wurde). Kruglov schrieb: „Im Januar 1948 hat Ihnen das MVD der UdSSR seine Überlegungen hinsichtlich des Einsatzes führender Mitglieder des Nationalkomitees ‚Freies Deutschland‘ und des ‚Bundes deutscher Offiziere‘ bei der politischen Aufklärung und Gegenpropaganda in Deutschland unterbreitet, der das Ziel haben soll, den in den Westzonen Deutschlands verbreiteten provokatorischen und antisowjetischen Gerüchten entgegen zu wirken. Gemäß Ihrer Weisung wurde dann gemeinsam mit dem Komitee für Information68 eine Reihe von Maßnahmen durchgeführt, um den Abtransport der Mitglieder des Nationalkomitees und des ‚Bundes deutscher Offiziere‘ nach Deutschland vorzubereiten. In einem Lager bei Moskau wurden 47 Mitglieder dieser Organisationen zusammengefasst, mit denen nach einem speziellen Programm politischer Unterricht durchgeführt wurde und die außerdem einer sorgfältigen geheimdienstlichen Prüfung unterzogen wurden, um politisch unzuverlässige Personen herauszufinden und auszusondern. Unter Berücksichtigung dessen, dass die ehemaligen Mitglieder des Nationalkomitees und des ‚Bundes deutscher Offiziere‘ in Absprache mit den Gen. Sokolovskij und Ulbricht sowie mit dem Komitee für Information in den Verwaltungsbehörden der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands zum Einsatz kommen, wurde bei 22 Deutschen das Einverständnis erbeten, ihre Familien aus den Westzonen in die sowjetische Zone zu holen. Im Ergebnis der gemeinsam mit dem Komitee für Information durchgeführten Maßnahmen wurden 25 ehemalige Mitglieder des Nationalkomitees ‚Freies Deutschland‘ und des ‚Bundes deutscher Offiziere‘ ausgewählt, die nach mehrfach geprüften geheimdienstlichen Angaben und nach ihrem Verhalten in den Kriegsgefangenenlagern als positiv eingeschätzt werden und bei denen es das MVD der UdSSR für möglich erachtet, sie im Zusammenhang mit dem Abschluss der Vorbereitungen zu ihrem Abtransport nach Deutschland zu repatriieren. [...] Dieser Gruppe kann für den Abtransport nach Deutschland der kriegsgefangene Generalmajor der ehemaligen deutschen Armee Hans Weecht hinzugefügt werden, der nicht Mitglied des Nationalkomitees war, aber zur Repatriierung vorgesehen ist im Zusammenhang mit den Maßnahmen zur Auswahl deutscher Generäle für den Einsatz in Leitungsfunktionen bei der Polizei in der Sowjetischen Besatzungszone. Ich bitte um Ihre Entscheidung. Der Entwurf für die entsprechende Verfügung des Ministerrats der UdSSR liegt bei.“69

Molotov stimmte zu. Bereits acht Tage später erging die Verfügung des Ministerrats der UdSSR Nr. 12095 vom 28. August 1948 über die Repatriierung ausnahmslos aller in Kruglovs Schreiben genannten Deutschen. Diese Verfügung wurde mit dem MVD-Befehl Nr. 001064 vom 3. September 1948 bekannt ge68 Das Komitee für Information (KI) beim Ministerrat der UdSSR wurde im Mai 1947 gegründet und vereinte den gesamten sowjetischen Auslandsgeheimdienst. An der Spitze des KI stand bis 1949 Molotov höchstpersönlich. 69 GARF, f. 9401, op. 2, d. 204, l. 209–211. Vgl. auch Viktor P. Konasov, Sud’by nemeckich voennoplennych v SSSR, Vologda 1996, S. 211–213.

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geben, in dem es hieß, aus dem Kriegsgefangenenlager Nr. 27 seien 26 ehemalige Mitglieder des Nationalkomitees ‚Freies Deutschland‘ und des ‚Bundes deutscher Offiziere‘ zu entlassen und bis zum 20. September über das Lager Nr. 69 in Frankfurt/Oder an die Verwaltungsorgane des Bevollmächtigten des Ministerrats der UdSSR für Repatriierungsangelegenheiten zu übergeben. Mit einem der Repatriierten aus dieser Gruppe, Generalmajor des medizinischen Dienstes Walter Schreiber, erlebte man allerdings einen Misserfolg. Entweder hatte man ihn schlecht überprüft oder es war ihm gelungen, die sowjetischen Geheimdienstler an der Nase herumzuführen – jedenfalls floh er, nachdem er am 10. Oktober Moskau verlassen hatte, schon am 17. Oktober mit seiner Familie nach Westberlin.70 Etwa zur gleichen Zeit verabschiedete der Ministerrat der UdSSR den Beschluss Nr. 2443–1019ss vom 6. Juli 1948 „Über die Stärkung der deutschen Polizei in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands“. Laut diesem Beschluss sollten unter den deutschen Kriegsgefangenen Kader für die im Aufbau befindliche Polizei ausgewählt und vorbereitet werden. Davon war auch im Befehl des MVD der UdSSR Nr. 00796 vom 8./9. Juli 1948 die Rede. Der Chef der GUPVI und der Chef der Operativen Verwaltung der GUPVI wurden angewiesen, sie sollten „aus den Reihen der deutschen Kriegsgefangenen, die eine spezielle Überprüfung durchlaufen haben, 5 000 Soldaten und Unteroffiziere, 100 Offiziere und 5 Generäle, die in der deutschen Polizei eingesetzt werden können, auswählen und bis zum 1. Oktober d. J. in die Sowjetische Besatzungszone in den Verfügungsbereich des Obersten Chefs der SMAD, Gen. Sokolovskij, entsenden“.71 Zum 1. April 1949 war die Leitung der verschiedenen Zweige der deutschen Polizei und die Kontrolle über deren Tätigkeit zwischen den Abteilungen der Verwaltung für Innere Angelegenheiten der SMAD folgendermaßen aufgeteilt: – Die 1. Abteilung der Verwaltung für Innere Angelegenheiten (Organe der deutschen Polizei in den einzelnen territorialen Bereichen) bestand aus vier Ressorts: Kriminalpolizei, Schutzpolizei, Verwaltungspolizei, Feuerwehr; – die 2. Abteilung der Verwaltung für Innere Angelegenheiten (Kasernierte und Reservepolizei, Grenzpolizei und Wasserpolizei) aus drei Ressorts: Kasernierte und Reservepolizei, Grenzpolizei, Wasserpolizei; – die 3. Abteilung der Verwaltung für Innere Angelegenheiten (Ausbildung und Versorgung der Polizei) aus vier Ressorts: Gefechtsausbildung der Polizei, Versorgung der Polizei, Umsiedlung und Arbeitsplatzvermittlung von Deutschen, Analyse der Kader der deutschen Polizei.72 70 Konasov, Sud’by nemeckich voennoplennych v SSSR, S. 213–215. 71 GARF, f. 9401, op. 2, d. 9, l. 585 f. Zur Anwerbung deutscher Kriegsgefangener und zum Fall „Schreiber“ vgl. auch Andreas Hilger, Deutsche Kriegsgefangene in der Sowjetunion, 1941–1956. Kriegsgefangenenpolitik, Lageralltag, Erinnerungen, Essen 2000, S. 237–242. 72 GARF, f. 7317, op. 60, d. 116, l. 190–196.

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Neben diesen Untergliederungen gab es in der Verwaltung für Innere Angelegenheiten eine Allgemeine Abteilung, eine Abteilung Archiv, ein Büro für die Ausgabe von Interzonenpässen und eine Abteilung für Registrierung und Information. Insgesamt waren zu diesem Zeitpunkt 74 Personen angestellt.73 Darüber, dass MVD und MGB der UdSSR die Auswahl der Kader, die zur Arbeit in die Verwaltung für Innere Angelegenheiten der SMAD vermittelt wurden, „nicht ernsthaft“ vornehmen würde, beschwerte sich am 25. Mai 1949 S. F. Gorochov in einem Schreiben an den Obersten Chef Vasilij I. Čujkov und den politischen Berater Vladimir S. Semënov: „Auf Beschluss des ZK der VKP (b) wurden zur Verstärkung der Verwaltung und der Abteilungen für Innere Angelegenheiten Ende 1948 von den Ministerien für Innere Angelegenheiten und für Staatssicherheit der UdSSR 40 Personen nach Deutschland geschickt, von denen wegen eines Missverhältnisses zwischen ihrer Funktion und ihrem amoralischen Verhalten 11 bereits wieder zurückbeordert wurden und weitere 4 unverzüglich zurückgeschickt werden müssen.“ Zudem hätten es die Kaderabteilungen des MVD und des MGB abgelehnt, Ersatz zu schicken.74 Den Historikern zufolge existierten im Bewusstsein Stalins in Hinblick auf die Umgestaltungen in Deutschland zwei Programme nebeneinander: ein „Minimalprogramm“ (Absonderung und Sowjetisierung Ostdeutschlands) und ein „Maximalprogramm“ (Friedensvertrag mit einem geeinten Deutschland).75 Anfang 1948 jedoch zeichnete sich bei ihm ganz klar ein Bruch zwischen diesen Zielen ab. Stalin hatte begriffen, dass die Spaltung Deutschlands unausweichlich war, und wollte deshalb das Ziel der sowjetischen Anwesenheit fixieren: „Der Westen wird sich Westdeutschland zu eigen machen, und wir werden aus Ostdeutschland unseren eigenen Staat machen!“76 Im Herbst 1948 wollten sich Pieck, Grotewohl und Ulbricht in Moskau mit Stalin treffen. Das meldete Semënov nach oben. Der Text seines Telegramms wurde Stalin am 5. November 1948 zugeschickt. Darin hieß es, die deutsche Führung habe Sokolovskij in einem Gespräch mitgeteilt, dass eine Konferenz der SED bevorstehe, und sie würde gerne noch zuvor von Stalin erfahren, ob die SED-Führung die Situation richtig einschätze und „wie hoch die Wahrscheinlichkeit sei, dass die Sowjetzone demnächst in einen selbstständigen Staat mit eigenem Parlament und eigener Regierung umgebildet werde“.77 Das Treffen der deutschen Führung mit Stalin fand am 18. Dezember 1948 im Kreml statt. Dort stellte Pieck die Frage nach der Bildung einer deutschen Regierung in der sowjetischen Zone, wobei er allerdings sofort einschränkte, dass dies erst passieren solle, nachdem eine westdeutsche Regierung gebildet sei. Stalin lobte die Deutschen dafür, dass sie nicht die „Initiatoren der Spal73 74 75 76 77

Ebd. GARF, f. 7317, op. 60, d. 116, l. 286 f. Volkov, Uzlovye problemy, S. 137. Djilas, Gespräche mit Stalin, S. 195. APRF, f. 45, op. 1, d. 110, l. 145. Stalin, der sich gerade im Süden aufhielt, nahm offenbar von dieser Mitteilung Kenntnis, traf aber keinerlei Anordnungen.

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tung“ sein wollten, und gab seine Zustimmung zur Bildung einer „Regierung in Berlin“.78 Bei der Diskussion über das Procedere wurde beschlossen, dass die Volkskammer nach ihrer Bildung aus Vertretern der Landtage in der Lage sein müsse, die Regierung zusammenzustellen und diese Liste dem Deutschen Volksrat zur Bestätigung vorzulegen. Stalin betonte dabei: „An der Regierung müssen sich die maßgeblichen führenden Personen der Partei beteiligen. Die Regierung muss Autorität genießen, es müssen Leute mit Autorität darin sein, sonst sagt man, dass das keine richtige Regierung ist, weil die maßgeblichen Leute nicht dabei sind.“79 Im Verlaufe des Gesprächs erinnerte Stalin die deutsche Führung daran, dass der Weg zum Sozialismus „nicht geradlinig verläuft, sondern in Zickzackwindungen und auf Umwegen, da die Bedingungen in Deutschland kompliziert sind und eine vorsichtigere Politik diktieren“. Scherzhaft meinte er: „In diesem Fall bin ich auf meine alten Tage Opportunist geworden.“80 Als einziger Marxist in der SMAD erwies sich der Chef der SMA-Verwaltung Thüringen, Ivan S. Kolesničenko. Er zeichnete sich dadurch aus, dass er 1948 auf einer Beratung der Kommandanten, ihrer Stellvertreter und der Leiter der Informationsabteilungen des Landes Thüringen die These verteidigt hatte: „Wir errichten in Deutschland nicht allgemein eine friedliebende demokratische Republik, sondern eine sozialistische Republik“, und der SED vorwarf, sie würde „mit den bürgerlichen Parteien kokettieren“, man müsse jedoch „den Klassenkampf anfachen und nicht zwischen den bürgerlichen Parteien lavieren“.81 Der offizielle Vertreter der Politischen Hauptverwaltung der Streitkräfte der UdSSR, der für die Überprüfung der Arbeit der Informationsverwaltung der SMAD zuständig war, wertete Kolesničenkos Äußerungen im Juli 1948 als „linksradikal“.82 Kolesničenko genoss jedoch das Wohlwollen des Ersten Stellvertretenden Leiters der Außenpolitischen Abteilung des ZK der VKP (b), Boris N. Ponomarëv (später war er als ZK-Sekretär unter Brežnev für alle internationalen Kontakte der KPdSU verantwortlich), dem er ein umfangreiches Dokument mit seinen Überlegungen und Beobachtungen (die mitunter sehr präzise und vernünftig waren) über die SMAD-Politik in Deutschland zusandte. Zur selben Zeit war der gemäßigte Sergej I. Tjul’panov, der in seiner Funktion für das gesamte deutsche politische Leben in der SBZ verantwortlich zeichnete, in Ungnade gefallen und Ponomarëv erinnerte sich später in den 50er Jahren an dessen „Fehler“.83 Auch der MGB-Bevollmächtigte in Deutschland, Nikolaj K. Koval’čuk, brachte seine Ablehnung der von Tjul’panov vertretenen Linie offen zum Ausdruck. Dieser Konflikt kostete Tjul’panov die Karriere.84 Am 19. September 1949 wandten sich Pieck, Ulbricht und Grotewohl in einem Schreiben an Stalin. Hauptinhalt des Briefes war die „Bildung einer pro78 79 80 81 82 83 84

Volkov, Uzlovye problemy, S. 135. Ebd., S. 136. Ebd., S. 135. SVAG. Upravlenie propagandy (informacii) i S. I. Tjul’panov. 1945–1949, S. 219. Ebd. Ebd., S. 236–238. Ebd.

SMAD, deutsche Selbstverwaltung und Sowjetisierung Ostdeutschlands 363

visorischen deutschen Regierung in der Sowjetischen Besatzungszone“. Pieck, Ulbricht und Grotewohl stellten sich das Procedere folgendermaßen vor: Die Regierung „muss in der ersten Oktoberhälfte innerhalb einer Woche gebildet werden“, der bestehende Volksrat werde in eine provisorische Volkskammer umgewandelt, die die bereits verabschiedete Verfassung zum Gesetz erkläre sowie einen Beschluss über die Bildung einer Länderkammer aus 35 Vertretern der fünf Länder fasse, und anschließend werde auf einer gemeinsamen Sitzung von Volkskammer und Länderkammer der Präsident der Republik gewählt. „Den Ministerpräsidenten“, schrieben Pieck, Ulbricht und Grotewohl weiter, „stellt gemäß der Verfassung die stärkste Fraktion, was die SED ist. Der Ministerpräsident stellt der Volkskammer die provisorische Regierung vor und verliest eine Regierungserklärung.“85 In dieser Erklärung sollte, der deutschen Führung zufolge, verkündet werden, dass „die Regierung Schritte unternehmen wird, damit die Sowjetische Militäradministration in Deutschland in eine Sowjetische Kontrollkommission umgewandelt wird unter Übertragung der Verwaltungsfunktionen an die Regierung der Deutschen Demokratischen Republik“.86 An dieser Stelle erläuterten Pieck, Ulbricht und Grotewohl, es dürfe „keine Erklärung über eine Anerkennung der westdeutschen Regierung“ abgegeben werden.87 Die Regierung der DDR solle aus 18 Mitgliedern bestehen (dem Ministerpräsidenten, 3 Stellvertretern und 14 Ministern), davon müssten 8 SEDMitglieder und die übrigen Mitglieder anderer Parteien sein. Die Rollen wurden vorab verteilt: Präsident der Republik sollte Wilhelm Pieck sein, Ministerpräsident Otto Grotewohl und seine Stellvertreter Walter Ulbricht (SED), Otto Nuschke (CDU) und Hermann Kastner (LDP).88 Stalin las den Brief aufmerksam durch und diktierte auf dieser Grundlage einen „Vorschlag“, der am 28. September 1949 vom Politbüro des ZK der VKP (b) angenommen wurde (Beschluss P71/236–OP). In diesem Beschluss wurde über die Vorschläge von Pieck, Ulbricht und Grotewohl in stalinscher Manier gesagt, sie seien „als annehmbar einzuschätzen“, das Procedere bei der Gründung der DDR ergänzte Stalin allerdings durch ein effektvolles propagandistisches Element: „Es ist als erforderlich einzuschätzen, dass nachdem vom Deutschen Volksrat der Beschluss über die Bildung einer Provisorischen Regierung der DDR verabschiedet ist, Gen. Čujkov im Auftrag der Sowjetischen Regierung auftritt und erklärt, dass die UdSSR dem Beschluss des Deutschen Volksrates zustimme und der Regierung der DDR „die Verwaltungsfunktionen übergebe, die bisher die SMAD innehatte“, an deren Stelle die Sowjetische Kontrollkommission geschaffen werde.89

85 86 87 88 89

APRF, f. 3, op. 5, d. 808, l. 34–38. Ebd. Ebd. Ebd. APRF, f. 3, op. 5, d. 808, l. 12.

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Resümee Die 1945 in Ostdeutschland durchgeführten Maßnahmen lassen in ihrer Gesamtheit keinen Zweifel daran, dass sie präzise und geplant im Zuge der Sowjetisierung verliefen, die traditionelle Lebensweise veränderten und im Grunde genommen revolutionär waren. Den Weg der sozialen Umgestaltungen, den die Sowjetunion in den zwanzig Vorkriegsjahren durchlaufen hatte, legte die Sowjetzone Deutschlands innerhalb von fünf bis sieben Jahren zurück. Gleich von Anfang an wurde die Bodenreform realisiert, die Gutsbesitzerland über 100 Hektar aufteilte. Es war eine Art russisches 1917 unter der Losung: „Das Land den Bauern.“ Dieser Prozess wurde zwei Jahre später forciert, als man die Bauern, die es geschafft hatten, einen gewissen Wohlstand zu erwerben, angriff,90 und fünf bis sieben Jahre später brach die Kollektivierung herein. Der Herbst 1945 brachte neben der Bodenreform auch eine Lebensmittel-Pflichtabgabe, die mit Methoden des Kriegskommunismus durchgeführt wurde. Die Militärkommandanten waren mit aller Entschlossenheit bereit, mit äußerst brutalen Maßnahmen gegen alle diejenigen vorzugehen, die ihre Ernte nicht hergeben wollten. Die Deutschen, die mit der Agrarpolitik in der Sowjetzone nicht einverstanden waren, wurden hart bestraft.91 Von 1945 bis 1948 wurde außerdem eine soziale Säuberung der deutschen Gesellschaft vorgenommen, wenngleich nicht so demonstrativ und deutlich wie der „große Terror“ 1937/38 in der UdSSR. Es wurden einfach Zehntausende Deutsche – Häftlinge in den Speziallagern des NKWD-MWD in Deutschland – durch Hunger und Krankheit zu Tode gequält.92 Dabei verhielt sich Stalin völlig gleichgültig gegenüber den Meldungen über ihre erschreckende Situation. Ihn erfüllte immer der Gedanke, dass in diesen Lagern zwar auf unterschiedlicher Ebene agierende, aber doch führende Funktionäre des Dritten Rei90 Auf zwei Plenartagungen des Zentralvorstands des SED im Jahre 1948 griff Ulbricht die wohlhabenden Bauern an und nannte sie „Kulaken“. Die neuen Tendenzen in der Politik der herrschenden SED blieben von den Führern der anderen Parteien nicht unbemerkt. Der Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt Hübener (LDPD) erklärte in einem Gespräch mit dem stellvertretenden Oberkommandierenden der SMAD A. F. Kabanov im Dezember 1948 ganz offen, dass er kein „liberaler Deckmantel der SED-Politik“ sein wolle. Er erläuterte, dass der „von der SED eingeschlagene Kurs auf ihre Umwandlung in eine Partei neuen Typus“ und die „von Ulbricht verkündete und von den sowjetischen Offizieren unterstützte Antikulaken-Bewegung“ ihn überzeugt hätten zurückzutreten (GARF, f. 7317, op. 64, d. 2712, l. 30). 91 Personen, „die sich der Pflichtabgabe landwirtschaftlicher Erzeugnisse böswillig entziehen“, wurden strafrechtlich verfolgt gemäß Befehl Nr. 160 des Oberkommandierenden der SMAD vom 3.12.1945 „Über die Haftung wegen Sabotage und Diversionshandlungen“, der eine Strafe von 15 Jahren Gefängnis mit Zwangsarbeit und in „besonders schweren Fällen“ die Todesstrafe vorsah. Vgl. V. V. Zacharov / D. N. Filippovych / M. Chaineman, Materialy po istorii Sovetskoj voennoj administracii v Germann v 1945– 1949 gg. Vypusk 1, Moskau 1999, S. 198 f. 92 In vier Jahren (Mai 1945–Mai 1949) verstarben in den Speziallagern des NKVD-MVD in Deutschland 41907 deutsche Staatsbürger, d. h. ca. 35 Prozent aller deutschen Speziallagerinsassen (GARF, f. 9414, op. 1, d. 364, l. 200).

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ches und deren Familienmitglieder in Gewahrsam gehalten wurden. Vieles wird daraus deutlich, was Stalin wie im Scherz bei einem Essen mit seinen Bündnispartnern in Teheran äußerte und wonach alle Macht der Hitler-Armee von etwa 50 000 Offizieren und Fachleuten abhänge: „Wenn man diese Leute nach dem Krieg ausfindig macht und erschießt, wird die militärische Macht Deutschlands mit der Wurzel vernichtet sein.“93 Ähnlich dachte Stalin möglicherweise auch über die in den Speziallagern dahinsterbenden Staatsbediensteten, Industriellen und Vertreter der Intelligenz, die die „Macht“ des Staates darstellten. Darüber hinaus wird natürlich auch der Wunsch des Kreml deutlich, seine wahren Absichten in Bezug auf Ostdeutschland zu verschleiern, sich verdeckt seinem Ziel zu nähern und keinen Anlass zu Kritik und Vorwürfen zu geben, dass SED eine „russische Partei“ sei. Im Dezember 1948 belehrte Stalin die deutschen Parteiführer: „Die SED sollte besser ihre Eigenständigkeit gegenüber Moskau zu betonen“, da „man den Feinden keine neuen Argumente geben sollte“,94 und im April 1952, als er dazu aufrief, gegen die „Kulaken“ vorzugehen und Kollektivwirtschaften zu bilden, riet er, dennoch „zu lavieren und sich gegenüber den Mittelschichten zu maskieren“, man brauche „kein Geschrei über den Sozialismus“ zu machen.95 Es ist anzunehmen, dass der allgemeine Plan Stalins darin bestand, aus den von der Roten Armee besetzten Ländern Osteuropas und des Ostteiles von Deutschland einen prosowjetischen Block zu bilden. Natürlich ging es nicht wie in den 20er Jahren um eine „Weltrevolution“ oder um die Weltherrschaft des Kommunismus. Am ehesten muss man diesen Prozess als den Wunsch verstehen, diese Länder zuverlässig in den sowjetischen Interessenbereich einzugliedern und aus ihnen eine Art „Sicherheitsgürtel“ gegenüber dem Westen zu bilden. Dabei sah Stalin es als den sichersten und zuverlässigsten Weg an, diese Länder in Satelliten der UdSSR zu verwandeln, indem sozialökonomische Umgestaltungen (die unbedingt unumkehrbar sein sollten) nach dem Muster der Sowjetunion durchgeführt wurden. Die Sowjetisierung war in diesem Fall also nicht das Ziel, sondern lediglich das effektivste Mittel, um diese Länder fest an die UdSSR zu binden. Es war gewissermaßen der neue Typus einer sowjetischen Kolonisierung (ein „sowjetischer Neokolonialismus“). Nicht zufällig wurde zwei Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg für den wirklichen Status des Sowjetblocks eine recht genaue Bezeichnung gefunden – „begrenzte Souverä93 V. A. Nevežin, Zastol’nye reči Stalina. Dokumenty i materialy, Moskau 2003, S. 354. 94 RGASPI, f. 558, op. 11, d. 104, l. 77. 95 Im Verlaufe des Gesprächs fragte Ulbricht, der sich daran erinnerte, dass sich Stalin früher gegen Kollektivwirtschaften ausgesprochen hatte, wie es sich denn mit der früheren Linie verhalte. Stalin antwortete: „Geschrei über den Sozialismus braucht man auch jetzt nicht zu machen. Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften sind ein Stückchen Sozialismus. Volkseigene Betriebe sind auch Sozialismus.“ Er riet, die Produktionsgenossenschaften vorerst nicht als Kollektivwirtschaften zu bezeichnen. Ulbricht äußerte die Befürchtung, dass bei der Organisierung von Kollektivwirtschaften „ein Teil der Großbauern in den Westen überläuft“. Stalin parierte: „Und was ist daran schlecht? Ihr werdet ihr Land übernehmen“ (RGASPI, f. 558, op. 11, d. 104, l. 182–185).

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nität“.96 In den Ländern Osteuropas wurden „gezähmte“ Parteien an die Macht gebracht, an deren Spitze Menschen standen, die zuverlässig waren und Stalin Gehorsam zollten. Der Sinn der Umgestaltungen in den Ostblockländern, die theoretische Grundlage dieses Prozesses und sein Endziel waren extrem deutlich formuliert im Referat, das A. A. Ždanov am 25. September 1947 auf einer Informationsberatung von Vertretern der kommunistischen Parteien in Polen hielt. Er stellte fest, dass in Jugoslawien, Bulgarien, Rumänien, Polen, Ungarn, Albanien und der Tschechoslowakei eine Agrarreform durchgeführt worden sei, die zur „Liquidierung der Klasse der Gutsbesitzer“ geführt habe, und dass die Großindustrie und die Banken nationalisiert worden seien. Damit „wurde die Grundlage für staatliches Volkseigentum gelegt und ein neuer Staatstypus geschaffen – die Volksrepublik, in der die Macht dem Volk gehört, die Großindustrie, das Transportwesen und die Banken dem Staat gehören und die führende Kraft ein Block der werktätigen Klassen der Bevölkerung mit der Arbeiterklasse an der Spitze ist. Im Ergebnis dessen haben sich die Völker dieser Länder nicht nur von der Umklammerung durch den Imperialismus befreit, sondern sie legen die Grundlage für den Übergang zu einer sozialistischen Entwicklung.“97 Ždanovs Referat stellte den offiziellen Standpunkt der Führungsspitze aus dem Kreml dar. Den Text hatte Stalin am Vorabend der Beratung durchgesehen und gebilligt.98 Damit waren die Hauptmerkmale bzw. Hauptkriterien klar formuliert, die es ermöglichten festzulegen, ob ein bestimmter Staat zu den Ländern der „Volksdemokratie“ gehörte, und man kann sehen, was sich real hinter dem Terminus Sowjetisierung verbirgt, d. h. welche sozialpolitischen Umgestaltungen nach Meinung Moskaus den Übergang zu einer sozialistischen Entwicklung garantierten.

96 Dieser Terminus entstand nach dem Einmarsch der sowjetischen Truppen in die Tschechoslowakei 1968. Das Prinzip der Vasallenabhängigkeit der Ostblockländer von der Moskauer Führung nannten die westlichen Politologen „Brežnev-Doktrin“. 97 Soveščanja Kominforma, 1947, 1948, 1949. Dokumenty i materialy, Moskau 1998, S. 153. 98 Außerdem hatte Ždanov Instruktionen direkt von dem im Urlaub befindlichen Stalin erhalten, als er ihn im Süden der Sowjetunion aufgesucht hatte. Das belegen die gemeinsam unterzeichneten Telegramme nach Moskau an die übrigen Politbüro-Mitglieder vom 17. und 20. 9.1947 (RGASPI, f. 558, op. 11, d. 106).

Regierungs- und Verwaltungsaufbau in Österreich 1945 im Spannungsfeld sowjetischer Besatzung Gerhard Jagschitz

Prolog: Ein Verwirrspiel Die Geschichte der so genannten „Zweiten Republik“1 scheint durch eine größere Zahl von Publikationen genügend aufgehellt.2 Doch betrachtet man das scheinbar fest gefügte historische Gebäude dieser Nachkriegszeit näher, so ergeben sich Ungereimtheiten und Widersprüche. Die formalen Abläufe, Institutionen sowie Struktur-, Macht- und Mentalitätsverflechtungen sind seltsam inhomogen, passen nicht zueinander und viele Fragen sind gar nicht beantwortbar. Völlig verwirrend wird aber der Blick durch das historische Mikroskop, in dem wir nur mehr ein zusammenhangloses Durcheinanderwimmeln höchst unterschiedlicher Personen, Interessen, Handlungen und Abläufe feststellen können. Der Verdacht liegt daher nahe, dass einige Erklärungsmuster nicht stimmen und eine traditionelle Historiographie Vorgegebenes nicht genügend kritisch unter1

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Der Begriff „Zweite Republik“ wird von Juristen und Sozialwissenschaftern in Österreich unterschiedlich verstanden. Geht man von der juristischen Definition aus, so ist die Verfassung das Kontinuitätskriterium. Demnach müsste die gesamte Geschichte Österreichs (mit Ausnahme der nationalsozialistischen Periode) entweder als „Erste Republik“ (da die Verfassung von 1920/29 nach dem Zweiten Weltkrieg wieder in Kraft getreten ist) oder als „Dritte Republik“ bezeichnet werden (da 1934 von der Regierung Dollfuß eine neue Verfassung erlassen wurde, die bis März 1938 gültig war und somit Fundament einer „Zweiten Republik“ gewesen wäre. Demgegenüber hätte die Rückkehr zur Verfassung 1920/29 im Jahre 1945 einen Bruch zur vorherigen bedeutet und eine „Dritte Republik“ begründet.). Historiker verwenden den Begriff „Zweite Republik“ uneingeschränkt als Gegensatz zur „Ersten Republik“ von 1918–1938 und stellen damit zwei unterschiedliche politische Realsysteme – unter Ausklammerung der nationalsozialistischen Zeit von 1938–1945 – einander gegenüber. Im allgemeinen Sprachgebrauch bedeutet der Begriff „Zweite Republik“ die Geschichte Österreichs seit 1945. Etwa: Erika Weinzierl/Kurt Skalnik (Hg.), Österreich. Die Zweite Republik. 2 Bände, Graz 1972; Wolfgang Mantl (Hg.), Politik in Österreich. Die Zweite Republik: Bestand und Wandel, Wien 1992; Handbuch des politischen Systems Österreichs. Hg. von H. Dachs, P. Gerlich, H. Gottweis, F. Horner, H. Kramer, V. Lauber. W. Müller und E. Talos, 2. Auflage Wien 1992; Österreich 1945–1995. Gesellschaft, Politik, Kultur. Hg. von Reinhard Sieder, Heinz Steinert und Emmerich Tálos, 2. Auflage Wien 1996; Ernst Hanisch, Der lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert, 2. Auflage Wien 2005, S. 395 ff.

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sucht hat. Die österreichische Zeitgeschichte steht gegenwärtig wieder vor einem Paradigmenwechsel und es ist nötig, in diesem Zusammenhang eine Neustrukturierung und Neuinterpretation der Anfangsphase der „Zweiten Republik“ ebenso wie der gesamten Besatzungszeit einzufordern. Da es aber hiefür noch wenig Ansätze gibt, kann die vorliegende Arbeit nicht mehr als Konturen einer Neupositionierung versuchen. Tatsächlich umgibt die Nachkriegsgeschichte Österreichs ein mehrfaches Verwirrspiel. Die Große Koalition3 gab von Anfang an historische Erklärungsmodelle vor und etablierte eine Reihe von Gründungslegenden, Heldenepen und Mythen – Anlass für zahlreiche Weihestunden und Erinnerungsrituale –, ergänzt durch entsprechende Gründungslegenden der einzelnen Parteihistoriographen und –hagiographen: 4 etwa die These von Österreich als erstem Opfer Hitlers, 3

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Vom 27. April bis 20. Dezember 1945 bestand unter der Leitung Karl Renners als Staatskanzler eine „Provisorische Staatsregierung“ als Konzentrationsregierung der drei damals zugelassenen Parteien Österreichische Volkspartei (ÖVP), Sozialistische Partei Österreichs (SPÖ) und Kommunistische Partei Österreichs (KPÖ). Als „Große Koalition“ wird in der Historiographie das politische System nach den ersten Nationalratswahlen im November 1945 bis zu den Nationalratswahlen 1966 verstanden. Sie bestand seit Dezember aus einer gemeinsamen Regierung der Sozialistischen Partei Österreichs und der Österreichischen Volkspartei, die 1945 eine Balance zwischen Traditionen ihrer Vorgängerparteien vor 1938 und einer Neupositionierung versuchten und in vielfältigen und engen Verflechtungen verbunden waren. Hauptmotiv war die Absicht, das Entstehen von Konflikten, wie dies charakteristisch für die „Erste Republik“ war, zu vermeiden, weshalb in dieser Periode auch von einer „Konsensdemokratie“ in Österreich gesprochen wird. Der Begriff „Große Koalition“ ist insofern etwas ungenau, weil von Dezember 1945 bis November 1947 noch ein Alibikommunist in der Regierung war, jedoch lag die Macht in den Händen der beiden Großparteien. 1966 errang die Österreichische Volkspartei einen Wahlsieg und bildete eine Alleinregierung. Die Kooperation der beiden Großparteien in weiten Bereichen des öffentlichen und halböffentlichen Sektors war aber damit noch nicht zu Ende. Das Standardwerk dazu ist: Manfried Rauchensteiner, Die Zwei. Die Große Koalition in Österreich 1945–1966, Wien 1987. Maßgeblichen Anteil an der Gleichsetzung von Staats- und Parteibildern der Nachkriegszeit im Sinne einer von parteipolitischen Interessen geleiteten Geschichtsdarstellung hatte der SPÖ-Politiker und spätere Vizekanzler Adolf Schärf mit seinen Werken: April 1945 in Wien, Wien 1948; Zwischen Demokratie und Volksdemokratie. Österreichs Einigung und Wiederaufrichtung im Jahre 1945, Wien 1950 (beide in Neuauflage zusammengefasst unter dem Titel: Österreichs Wiederaufrichtung im Jahre 1945, Wien 1960) und Österreichs Erneuerung 1945–1955. Das erste Jahrzehnt der Zweiten Republik, 7. Auflage Wien 1955. Auf der Seite der ÖVP prägte der Mitgründer der neuen bürgerlichen Partei ÖVP und spätere Wiener Vizebürgermeister Lois Weinberger mit seinem Erinnerungswerk: Tatsachen, Begegnungen und Gespräche. Ein Buch um Österreich, Wien 1948 das politische Selbstbild der Gründungsphase der Zweiten Republik. Im Übrigen ist es müßig, die zum Teil belanglosen parteioffiziellen oder parteinahen Darstellungen anzuführen, als Beispiel mögen gelten: Für die ÖVP etwa: 1945– 1960. Wie wir wurden. Der Weg der Österreichischen Volkspartei, Wien o. J.; Ludwig Reichhold, Geschichte der ÖVP, Graz 1975, und Robert Kriechbaumer, Von der Illegalität zur Legalität. Die ÖVP im Jahre 1945. Politische und geistesgeschichtliche Aspekte des Entstehens der Zweiten Republik, Wien 1985. Für die SPÖ: Fritz Kaufmann, Sozialdemokratie in Österreich, Wien 1978, S. 413 ff., und Erich Fröschl/Maria Mesner/ Helge Zoitl (Hg.), Die Bewegung. Hundert Jahre Sozialdemokratie in Österreich, Wien

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der „Stunde Null“ – Instrument einer Generalamnestie für die vielfältigen Verwicklungen mit der nationalsozialistischen Periode und gleichzeitig breites und begreifbares Fundament des Neubeginns –, der Wiederaufbau im Dienste des Staats- und Volkswohls oder das in der Lagerstraße der Konzentrationslager gewachsene eherne Bekenntnis zur Gemeinsamkeit. Die Usurpation und gleichzeitige Simulation einer gemeinsamen Geschichte bewirkte die Dominanz eines offiziellen Geschichtsbildes, das von öffentlichen Feiern bis hin in die Schulbücher verfestigt wurde und das zahlreiche dahinterliegende, von der Koalition unabhängige Alternativen, Probleme und Lösungsvarianten ausklammerte. Die Vermittlung einer Zwangsläufigkeit des historischen Ablaufs verschleierte aber gleichzeitig die tatsächliche Bedeutung und Rolle der Parteien oder die realpolitischen Motive für die Machtaufteilung. Parteien und Verbände wurden als monolithisch dargestellt, massive Interessensgegensätze zugedeckt und wichtige Themen aus der öffentlichen Diskussion ausgespart. Damit entstand aber auch insgesamt ein falsches Bild der Politik und der politischen Kultur in der Frühzeit der Zweiten Republik. Die zweite Verwirrung betrifft die österreichische Historiographie. Aus einer anfänglichen Funktion der Zeitgeschichte als staatspolitische Notwendigkeit reproduzierten Historiker und Historikerinnen lange Zeit dieses Geschichtsbild im Sinne einer Koalitionsgeschichtsschreibung5 und trugen dazu bei, dass die Vordergründigkeit des historischen Geschehens verfestigt wurde und sich kritische Ansätze und Fragen nach dahinterliegenden Schichten erst relativ spät entwickelten. Nach Ständestaat, Nationalsozialismus und Krieg hatten aber diese Gründungslegenden und die Koalitionsgeschichtsschreibung eine starke identitätsstiftende Wirkung und boten eine ideologische Orientierung für eine gesellschaftliche und politische Neuordnung der Zweiten Republik und ihr kollektives Selbstverständnis. Viel zur Verwirrung trug auch die internationale Geschichtsschreibung bei. War doch ein Teil des Ost-West-Konflikts auch ein Krieg der Worte, und Geschichte wurde als Legitimation für Ideologie und Politik der Großmächte und zur Verschleierung der dahinterliegenden Motive verwendet. Die Historiographie der Westmächte als Waffe im Kalten Krieg war bemüht, die Österreich-Politik als ausschließlich von humanitären und demokratischen Interessen geleitet darzustellen, während der Sowjetunion die Rolle des weltpolitischen Schurken zugewiesen wurde, die eine Besatzung als Vorbereitung einer Einverleibung Österreichs in das sowjetische Machtsystem aufrechterhalten wollte.6 Diesen Po-

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1990. Für die KPÖ: Die Kommunisten im Kampf für die Unabhängigkeit Österreichs, Wien 1955, S. 121 ff.; Die Kommunistische Partei Österreichs. Beiträge zu ihrer Geschichte und Politik, Wien 1987. Das markanteste Werk dieser Koalitionsgeschichtsschreibung, das großen Einfluss auf das allgemeine Geschichtsbild hatte, ist der erwähnte Sammelband von Weinzierl/Skalnik, Österreich. Die Zweite Republik. Die wichtigsten Repräsentanten dieser Richtung waren: Cary Travers Grayson, Austria’s International Position 1938–1953, Geneve 1953; Richard Hiscocks, Österreichs Wiedergeburt, Wien 1954; William Lloyd Stearman, Die Sowjetunion und Österreich

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sitionen setzte die Sowjetunion nur eher hilflose Versuche entgegen.7 Die politischen Rollenbilder des Ost-West-Konflikts blieben auch dadurch lange Zeit verfestigt, dass es nur geringe oder verzerrte Informationen über die Hintergründe sowjetischer Politik und das Zustandekommen politischer Entscheidungen gab. Einige Vertreter einer jüngeren Historikergeneration in Österreich versuchten in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts – orientiert an amerikanischen revisionistischen Ansätzen in der Bewertung der sowjetischen Politik – einen neuen Zugang, der zu einer Relativierung der Kalten-Kriegs-Literatur führte.8 Eine weitere Entwicklung des wissenschaftlichen Standards bewirkte die, seit Glasnost und Perestroika entstandene reichhaltige internationale Literatur zur sowjetischen Politik. Teilweise war sie aber mit einer postrevisionistischen Neuinterpretation verbunden, die wieder stärker sowjetische Verantwortlichkeiten betonte. In Österreich finden sich allerdings dafür erst Ansätze, die zu stärkeren Differenzierungen in der Interpretation sowjetischer Besatzungspolitik führen können.9 Wesentlich beeinflusst war die wissenschaftliche Literatur auch vom Ungleichgewicht der Aktenzugänge. Wenn auch mit Einschränkungen, waren Archivalien der Vereinigten Staaten zugänglich, etwas reduziert jene Großbritanniens und Frankreichs, die Archive der Sowjetunion blieben der Forschern und Forscherinnen jedoch verschlossen. Wohl hat sich dieser Zustand seit 1989 wesentlich verbessert. Doch das Goldgräberzeitalter ist zu Ende, jetzt gehören wieder Verweigerungen, Überraschungen, Ausdauer und Mühen zum Alltag internationaler Benützer von russischen Archiven.10 1945–1955, Bonn 1962; William B. Bader, Austria between East and West 1945–1955, Stanford 1966. 7 Sowjetpolitik gegenüber Österreich April 1945/April 1947. Eine Dokumentensammlung, Wien 1947; UdSSR-Österreich 1938–1979. Dokumente und Materialien. Hg.vom Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten, Moskau 1980. 8 Zu den markantesten Vertretern gehören: Rudolf G. Ardelt/Hanns Haas, Die Westintegration Österreichs nach 1945. In: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft, 4/1975. S 379–399; Wilfried Aichinger, Sowjetische Österreichpolitik 1943–1945, Wien 1977; Alfons Schilcher, Österreich und die Großmächte. Dokumente zur österreichischen Außenpolitik 1945–1955, Wien 1980; Alfons Schilcher, Die Politik der Provisorischen Regierung und der Alliierten Großmächte bei der Wiedererrichtung der Republik Österreich, Phil. Diss. Wien 1985. 9 Gerald Stourzh, Um Einheit und Freiheit. Staatsvertrag, Neutralität und das Ende der Ost-West-Besetzung Österreichs 1945–1955, 4. Auflage Wien 1998, ist stark diplomatiegeschichtlich orientiert, während Wolfgang Mueller, Die politische Mission der sowjetischen Besatzungsmacht in Österreich 1945–1955, Phil.Diss. Wien 2004 breite Politikbereiche erfasst (die nach der Beendigung des vorliegenden Aufsatzes publizierte Druckfassung konnte nicht mehr berücksichtigt werden). Bei Müller, Mission, S. 3–20, findet sich eine eingehende, sehr profunde Analyse der gesamten einschlägigen Literatur. 10 Der Autor kann hier seine eigenen und die Erfahrungen der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Wiener „Forschungs- und Dokumentationsstelle für russisch-österreichische Zeitgeschichte“ einbringen. Die russischen Behörden waren Anfang der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts von außergewöhnlicher Zuvorkommenheit, öffneten bereitwillig Zugänge zu Findbehelfen und Archivalien und sorgten für eine reibungslose Benützung. (Ich denke mit Wehmut an unser kleines Häuflein von Forschern, die es sich im Benützerraum des ehemaligen „Sonderarchivs“ gemütlich gemacht hatten, und die freundli-

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Die Öffnung der russischen Archive verbesserte auch die Quellenlage für das gegenständliche Thema. In zwei russisch-österreichischen Akteneditionen finden sich verstreute Dokumente zur Vorbereitung der sowjetischen Besetzung Österreichs,11 während die neueste einschlägige umfassende Arbeit über die sowjetische Besatzungspolitik von 1945 bis 1955 von Wolfgang Mueller auf umfangreichen – wenn auch nicht vollständig erreichbaren – russischen Quellen beruht.12 Merkwürdigerweise hinkt aber auch die Forschung über die österreichische Seite der sowjetischen Besatzungsperiode selbst nach. Den großen politischen Übersichten13 stehen in den letzten Jahren eine Fülle von Darstellungen auf Oral history-Basis gegenüber, doch lassen sie sich – ohne grundsätzlich die Bedeutung von Erinnerungen für die Geschichtswissenschaft schmälern zu wollen – jedoch oft auf persönliche Erfahrungsgeschichten mit Vertretern der sowjetischen Besatzungsmacht, oder auf das Atmosphärische und Anekdotische, das nicht selten zur Geschwätzigkeit wird, reduzieren.14 Regionale und lokale che Archivarin, die uns mehrmals am Tag mit Tee bewirtete). Auf diesem weitgehend liberalisierten Zugang zu russischen Archiven beruhen das Archivverzeichnis von Gerhard Jagschitz/Stefan Karner, „Beuteakten aus Österreich“. Der Österreichbestand im russischen „Sonderarchiv“ Moskau, Graz 1996, und das Standardwerk von Patricia Kennedy Grimsted (Hg.), Archives of Russia. A Directory and Bibliographic Guide to Holdings in Moscow and St. Petersburg. 2 Bände, New York 2000. In den folgenden Jahren wurde eine Roll-back-Politik spürbar, die allmählich die administrativen Bedingungen erschwerte, und Zugänge zu Archivalien unkalkulierbar machte, es kam sogar vor, dass einmal eingesehene Akten zu einer zweiten Benützung verweigert wurden. In Einzelfällen sind die Bedingungen jedoch noch immer den internationalen Standards entsprechend. Die bilateralen Akteneditionen Österreichs mit Russland (siehe Anm. 11) verliefen weitgehend problemlos, bei einem laufenden bilateralen Editionsprojekt der Historischen Kommission der Österreichischen Akademie der Wissenschaften ist die uneingeschränkte Aktenbenützung durch die österreichischen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen allerdings nicht mehr selbstverständlich. 11 Die Rote Armee in Österreich. Sowjetische Besatzung 1945–1955. Dokumente. Hg. von Stefan Karner, Barbara Stelzl-Marx und Alexander Tschubarjan, Graz 2005 (zweisprachige Edition russisch-deutsch) und die Edition der Österreichischen Akademie der Wissenschaften: Sowjetische Politik in Österreich 1945–1955. Dokumente aus russischen Archiven. Hg. von Wolfgang Mueller, Arnold Suppan, Norman M. Naimark und Gennadij Bordjugov, Wien 2005 (zweisprachige Edition russisch-deutsch). 12 Mueller, Mission, S. 20 ff., konstatiert strukturelle Schwierigkeiten der sowjetischen Archivistik durch ein mangelhaftes Provenienzprinzip, willkürliche Bestandsverstreuungen und unklare Zuständigkeiten sowie Benützungsbeschränkungen. Die Arbeit beruht auf einer großen Zahl verstreuter Akten, einen zentralen Bestand der sowjetischen Militärverwaltung in Österreich gibt es auf Grund zersplitterter sowjetischer Kompetenzen entweder nicht oder er konnte bisher noch nicht gefunden werden. 13 Vor allem ist hier Manfried Rauchensteiner, Der Sonderfall. Die Besatzungszeit in Österreich 1945 bis 1955, Graz 1979, zu nennen. 14 Beispielhaft sei erwähnt: Österreich 1945. Zeugen der Zeit berichten. Zeitgeschichte (Wien), 12 (1985) H. 7; Sieglinde Klinger/Armin Eidherr, Österreicher erleben Geschichte. Freud und Leid um 1955, Salzburg 2004; Theresia Zierler (Hg.), ... und trotzdem gab es Hoffnung. „Trümmerfrauen“ aus Österreich berichten, Graz 2006. Besonders zu Jahrestagen – vor allem 1995 und 2005 – wurden in der Presse, in Diskussionen und Workshops Tausende Erinnerungen ausgebreitet, die nicht der Differenzierung dienten sondern das ohnedies ziemlich unreflektierte Bild des Jahres 1945 in der österreichischen Gesellschaft noch verfestigten.

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Darstellungen allgemein zum Jahr 1945 gibt es mehrere,15 jedoch die konkrete Fragestellung der sowjetische Besatzungsstruktur und -praxis im Spannungsfeld zur regionalen oder lokalen politischen Kultur ist kaum ein Thema. Es bedarf wohl hier noch erheblicher Anstrengungen auf der Basis eines modernen Zugangs, die zweite Ebene der Politik zwischen individuellem Erleben und staatlicher Geschichte aufzuhellen und systematisch die notwendigen Differenzierungen herauszuarbeiten.

Ende und Anfang: Das Chaos Fragen nach der Etablierung der österreichischen Verwaltung unter Kontrolle der sowjetischen Militärverwaltung einerseits und unter gemeinsamer alliierter Besatzungskontrolle andererseits werfen zunächst Fragen nach der Ausgangsbasis und dem Zustand zu Kriegsende 1945 auf. Die weit in das 19. Jahrhundert hineinreichende österreichische und föderale Verwaltungstradition wurde mit dem „Anschluss“ an das Deutsche Reich verändert.16 Nach dem militärischen Einmarsch deutscher Truppen in Österreich beendeten zwei Gesetze vom 13. März 1938 über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich die österreichische Souveränität,17 obwohl eine politische Entscheidung über das kommende Ausmaß von Selbständigkeit oder Kompetenzverlust damals noch nicht getroffen war. Von diesem Datum an bis April 1940 erfolgte jedoch in mehreren Abschnitten die weitgehende Liquidation österreichischer po15 Niederösterreich: Christoph Schadauer, Das Jahr 1945 im politischen Bezirk Waidhofen an der Thaya, 2. Auflage Horn 1994; Maria Mayr, Das Jahr 1945 im Bezirk Horn, Horn 1994; Krieg und Besatzungsalltag in Niederösterreich 1945. Begleitheft zur Sonderausstellung, Hollabrunn 1994; Judith Sonnleitner, Die frühen Nachkriegsjahre 1945 bis 1947/48 in der Bezirkshauptstadt Scheibbs – aus bürokratischer Sicht, Phil. Dipl. Wien 2002; Franz Jordan, April 1945. Die Kämpfe im nordöstlichen Niederösterreich, Salzburg 2003. Burgenland: Stefan Karner (Hg.), Das Burgenland im Jahr 1945. Beiträge zur Landes-Sonderausstellung, Eisenstadt 1985; Hermann Krenn, Der „Umbruch“. Das mittlere und nördliche Burgenland 1944–1946, Phil. Diss. Wien 1991; Ferdinand Mühlgaszner, 1945 – Ende und Anfang. Erinnerungen an Kriegsende und Neubeginn 1945 in kroatischen Dörfern des Burgenlandes, Großpetersdorf 1996; Sonja Elisabeth Ivansich, Eisenstadt 1945. Kriegsende und Besatzungszeit, Phil. Dipl. Wien 2002; Judith Sonnleitner, Die frühen Nachkriegsjahre 1945 bis 1947/48 in der Bezirkshauptstadt Scheibbs – aus bürokratischer Sicht, Phil. Dipl. Wien 2002. 16 Herbert Schambeck, Der Staat und seine Ordnung. Ausgewählte Beiträge zur Staatslehre und zum Staatsrecht, Wien 2002, S. 359–418 (Österreichs Föderalismus und das Subsidiaritätsprinzip, Föderalismus und Gewaltenteilung). 17 Das mit Hilfe einer Bestimmung der von Dollfuß eingerichteten Verfassung 1934 über außerordentliche Maßnahmen im Bereich der Verfassung erlassene Gesetz (Bundesgesetzblatt Nr.75 vom 13. 3.1938), das Österreich zum Land des Deutschen Reiches erklärte und darüber eine Volksabstimmung für den 10. April 1938 festlegte und das von der deutschen Reichsregierung beschlossene Gesetz (Reichsgesetzblatt I vom 13. 3.1938, S. 237), in dem das österreichische Bundesgesetz zum deutschen Reichsgesetz gemacht wurde. Vgl. Helfried Pfeifer, Die Ostmark. Eingliederung und Neugestaltung. Historisch-systematische Gesetzessammlung, Wien 1941, S. 19 ff.

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litischer und organisatorischer Strukturen und ihre Ersetzung durch neue, ganz im Sinne einer Äußerung des Reichskommissars Bürckel, das „künstliche Gebilde Österreich“ sei zu beseitigen.18 Als oberste Repräsentanten des Reiches wurden ein Reichskommissar für die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich und ein Reichsstatthalter in Österreich eingesetzt, die Geltung der deutschen Reichsgesetze (damit auch die Grundlagen der Verwaltung) auf Österreich ausgedehnt.19 Das Land Österreich blieb als Verwaltungseinheit zunächst noch bestehen. Es erfolgte jedoch die Unterstellung der zur „Österreichischen Landesregierung“ umgewandelten Bundesregierung unter den Reichsminister des Innern und die verschiedenen Reichsminister, sie hatte nur mehr das Recht, Verordnungen zu erlassen.20 Der Begriff „Österreich“ sollte weitgehend vermieden und durch den Begriff „Ostmark“ ersetzt werden. Zahlreiche Vollziehungskompetenzen wurden auf das Reich übertragen, Behörden und Institutionen aufgelöst, eingegliedert oder umgestaltet, Reichskompetenzen auf Österreich ausgedehnt. In einem eigenen Ostmarkgesetz21 wurden statt der neun Bundesländer sieben durch kleinere Gebietsverschiebungen veränderte Reichsgaue als Verwaltungseinheiten geschaffen, der Name „Österreich“ in den Bundesländernamen getilgt (Das Burgenland wurde auf Steiermark und Niederdonau aufgeteilt, Tirol mit Vorarlberg verbunden, es musste kleinere Gebiete an Bayern und Kärnten abtreten, Niederdonau erhielt sudetendeutsche Gebiete und zudem erfolgte noch die Errichtung eines als Hauptstadt entmachteten „Groß-Wien“ zu Lasten von Teilen Niederdonaus).22 Darüber hinaus sollten aber die Bundesländeridentitäten unangetastet bleiben. Innerhalb des Reichsgaus verblieben die Bezirkshauptmannschaften als Verwaltungseinheiten, erhielten aber etwas veränderte Kompetenzen und die Bezeichnung „Landkreise“ mit einem Landrat an der Spitze, Städte waren in Stadtkreise mit einem Oberbürgermeister gegliedert. Die Gemeinden behielten den Selbstverwaltungscharakter, unterstanden jedoch einer reichseinheitlichen Deutschen Gemeindeordnung. Die endgültige Beseitigung der Rechtspersönlichkeit „Österreich“ erfolgte im März 1940, von da an gab es keine zwischengeschaltete Verwaltungseinheit zwischen den Gauen und den Reichsbehörden mehr. Gleichzeitig erlosch die Funktion des Reichskommissars, das Amt des Reichsstatthalters war schon ein Jahr vorher auf diesen übergegangen. In der Folge sollte jedoch auch jede Erinnerung an eine österreichische Gemeinsamkeit getilgt werden, 1942 untersagte Hitler die Verwendung des Wortes „Ostmark“ im Notfall sollte der Begriff „Alpen- und Donaureichsgaue“ Verwendung finden.23 18 19 20 21

Radomir Luza, Österreich und die großdeutsche Idee in der NS-Zeit, Wien 1977, S. 62. Pfeifer, Ostmark, S. 27 f., 82 f. Ebd., S. 29, 84 f. Gesetz über den Aufbau der Verwaltung in der Ostmark (Reichsgesetzblatt I vom 14. 4.1939, S. 777). Ebd., S. 533 ff. 22 Ebd., S. 88 ff. 23 Luza, Österreich, S. 253, Anm. 94.

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Trotz der gewaltigen Anstrengungen einer Gleichschaltung, Eingliederung und Angleichung Österreichs an das Deutsche Reich24 bot sich nach mehreren Jahren nationalsozialistischer Herrschaft ein uneinheitliches Bild. Der Krieg und die Konzentration auf Kriegsanstrengungen hatte die Umgestaltung Österreichs verlangsamt, in vielen Bereichen sogar abgebrochen, manches wurde auf die Zeit nach dem erwarteten Sieg verschoben. Die angestrebte Einheit von Staat und NSDAP geriet ins Stocken, die Verbindung der Partei mit den Belastungen des Krieges ließ ihre Attraktivität sinken. In der Herrschaftspraxis hatte sich eine seltsame Mischung von Zentralismus und föderalen Elementen entwickelt, manche Gauleiter waren regelrechte Diadochen, einige – wie Hofer in Tirol und Schirach in Wien – suchten durch Eigenständigkeit, so etwas wie eine regionale kulturelle Identität aufzubauen. Die Auswirkungen eines allmählich verlorenen Krieges, die zur Selbstlähmung führenden Konflikte in der Führungsschicht des Dritten Reichs und eine Überbürokratisierung reduzierten die Effizienz der hierarchisierten Verwaltung. Man wird in der letzten Kriegsphase durchaus von einer Ausdünnung der Wirksamkeit nationalsozialistischer Verwaltung reden können, ein Prozess, der sich durch die Verlagerung des Kriegsgeschehens auf österreichischen Boden und den Zusammenbruch bürokratischer Handlungsfähigkeit dramatisch beschleunigte. Wie auch in anderen Bereichen des Lebens verschoben sich Verantwortungen von Behörden und Organisationen zu den einzelnen Menschen und forderten immer dringender die Entwicklung von individuellen Überlebensstrategien. Diese Tendenz zur Distanzierung wurde noch durch ein weiteres Element verstärkt. Nach dem Verlust der Schlacht um Stalingrad 1943 begann sich zunehmend wieder ein eigenständiges Österreichbewusstsein bemerkbar zu machen.25 Gab es nach dem „Anschluss“ schon immer – wenn auch schwer greifbar – Reste eines autonomen Österreich-Denkens, das sich zunächst vor allem als antipreußische Affekte äußerte, so manifestierten sich nun einerseits mentale Rückgriffe auf eine vor-nationalsozialistische Zeit, andererseits Entwicklungen von Alternativen zum offensichtlich gescheiterten nationalsozialistischen Konzept, auf das man sich aus unterschiedlichen Gründen eingelassen hatte. Es ging ein Riss durch die Gesellschaft auf österreichischem Boden. Während ein Teil der Bevölkerung mit fanatischem Eifer durch öffentliche Durchhalteaktionen, Denunziationen und Terror im Kleinen das Regime unterstützte und noch immer von einem kommenden Endsieg träumte, begann der größere Teil der Bevölkerung, soweit er nicht immer schon oppositionell eingestellt war, mit einer Absetzbewegung vom System. Dies ist aber eine der mentalen Grundlagen für das rasche eigenständige Handeln nach dem Ende der Kampfhandlungen. 24 Emmerich Tálos, Von der Liquidierung der Eigenstaatlichkeit zur Etablierung der Reichsgaue der „Ostmark“. Zum Umbau der politisch-administrativen Struktur. In: NSHerrschaft in Österreich. Hg. von Tálos Emmerich, Ernst Hanisch, Wolfgang Neugebauer und Reinhard Sieder, Wien 2002, S. 55–72, hier 62 ff. 25 Luza, Österreich, S. 206

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Das abtretende nationalsozialistische System zeigte sich in den letzten Kriegswochen noch einmal von seiner dunkelsten Seite. Was sich in dieser Zeit an unvorstellbaren Gräueln abspielte, ist ein leider bisher viel zuwenig bekanntes Faktum. Da zogen endlose Kolonnen von Konzentrationslagerhäftlingen aus den aufgelassenen Lagern in Ungarn, dem Protektorat und Ostösterreich gegen Westen. Zehntausende starben an Krankheiten, Erschöpfung oder wurden von der SS-Begleitmannschaft erschossen und im Straßengraben verscharrt. Noch in den letzten Kriegstagen wurden Hunderte Juden und politische Häftlinge in regelrechten Massakern ermordet. Soldaten, die – oft nahe ihrer Heimat – den Irrwitz des sinnlosen Kampfes nicht mehr mitmachen wollten und desertierten, wurden ebenso wie echte oder vermeintliche Saboteure oder als Verräter an der deutschen Sache Verhaftete schon kurze Zeit nach der Verurteilung durch fliegende Standgerichte oder direkt von Feldgendarmen erschossen.26 Aus Ortschaften, die sich mit weißen Fahnen den alliierten Soldaten ergeben hatten, wurden nach der Rückeroberung durch deutsche Truppen (meist Waffen-SS) aus Rache auch Geiseln ermordet. Zusätzlich zu den Verwüstungen im Verlauf der Kämpfe versuchten die sich zurückziehenden deutschen Truppen – allerdings nicht konsequent – in Befolgung von Hitlers „Nero-Befehl“ Verkehrs-, Industrie-, Nachrichten- und Versorgungsanlagen zu zerstören, die dem Feind nützen konnten. Die rückflutenden Truppen, die riesigen Flüchtlingskolonnen aus dem Osten, etwa eine halbe Million Zwangsarbeiter, Hunger, Not und die verzweifelte Stimmung der Bevölkerung kennzeichneten den Untergang des „Dritten Reiches“. Rasch zerfiel auch der nationalsozialistische Herrschaftsapparat, die Zentralen konnten keine Befehle mehr erteilen, die letzte Kriegsphase war nicht mehr administrierbar und in manchen Orten tauchten die Funktionäre unter, flüchteten oder begingen Selbstmord. Dazu kamen die menschlichen Abgründe in dieser Umbruchszeit. Die Grenzen zwischen Recht und Unrecht, zwischen Rache und Strafe verwischten sich, der Opportunismus und der blitzschnelle Frontwechsel der Wendehälse machten vor Bekannten und Freunden nicht halt, wieder traten zahlreiche Denunzianten – nun für die andere Seite – auf und Plünderer, die keineswegs immer alliierte Soldaten waren, machten reiche Beute. Zusammen mit den allgemeinen Noterscheinungen, den Selbstmorden, Flüchtlingen, Bombentoten, Verwundeten, der Sorge um die Angehörigen und den Zerstörungen der Häuser und Herzen bildet dies alles einen Teil der Demokratie des Jahres 1945, den man nicht außer acht lassen darf.

26 Im Zuge derartiger Standgerichtsverfahren wurden etwa allein in Niederösterreich 246 Wehrmachtsangehörige hingerichtet. Die Stunde Null – Niederösterreich 1945. Ausstellungskatalog, Wien 1975, S. 13. Das in Pregarten im Mühlviertel stationierte Standgericht fällte am 4. Mai 1945 sein 500. Todesurteil gegen fahnenflüchtige Soldaten. Vgl. Fritz Fellner, Das Mühlviertel. Eine Chronik Tag für Tag, Grünbach 1995, S. 182.

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Vakuum der Macht Die Etablierung der demokratischen Verwaltung nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges verlief in mehreren Stufen. Als erste Stufe kann man ein Machtvakuum annehmen, in dem noch nicht klar war, wohin sich die Macht neigen werde und welche Ordnungsstrukturen sich autonom ausbilden würden. Diese Phase reduziert sich auf etwa ein bis zwei Wochen. Hier werden die vielen spontanen Initiativen anzusetzen sein, wenn auch zwischen den Entwicklungen in Wien und den größeren Städten einerseits und den ländlichen Ortschaften andererseits unterschieden werden muss. Die zweite Stufe umfasst die Bemühungen zur Einrichtung einer Zentralverwaltung. Die dritte, im Allgemeinen zeitgleich verlaufende, Stufe betrifft die Etablierungen der Landesregierungen. Die mittleren Verwaltungseinheiten (Bezirkshauptmannschaften) begannen etwas später ihre Arbeit und erhielten zumeist erst ihre Impulse von den gefestigten Landesverwaltungen. Die vierte Stufe umfasst die Eingriffe der sowjetischen (in den westlichen Bundesländern der amerikanischen, britischen und französischen) Militärverwaltung in der letzten Kriegs- und ersten Nachkriegsphase, während die fünfte Stufe die Zeit nach den Abkommen über die gemeinsame Verwaltung Österreichs durch die alliierten Mächte und die Aufteilung der Zonen betrifft. Im Konkreten lassen sich die Stufen oft nicht klar trennen, es kam immer wieder zu Vermischungen und Diskrepanzen. Der gesamte schwierige Komplex der Verwaltungsübertragung auf allen Verwaltungsebenen wird wohl am ehesten dadurch begreifbar, dass man sich das verwirrende Nebeneinander und Durcheinander vergegenwärtigt, das von Mitte April bis Anfang Mai 1945 herrschte. Denn da bestanden gleichzeitig auf österreichischem Territorium – je nach militärischem Fortschritt – die sowjetischen, etwas später auch die westalliierten Militärverwaltungen, nationalsozialistische Gau- und Gemeindeverwaltungen, die Provisorische Staatsregierung Renner und die neuen demokratischen Landes- und Gemeindeverwaltungen. Allerdings waren diese oft spontan zusammengesetzt und ohne Kenntnis paralleler politischer Entwicklungen. Infolge der Kriegsereignisse kann man einen groben Verlauf der Etablierung demokratischer Strukturen zeitverschoben von Ost nach West konstatieren. Für die Phase der Machttransformation geht es also nicht um das Problem der Verwaltung sondern um jenes nebeneinanderliegender Verwaltungen, die sich erst allmählich zu einem hierarchisierten Netz verknüpften. Die nationalsozialistische Zentralverwaltung war durch den kriegsbedingten Zusammenbruch der Verkehrs- und Kommunikationswege, der inneren Führungsstruktur und der Machtlinien vollständig lahmgelegt. Die nachgeordneten Verwaltungen auf österreichischem Gebiet waren daher entweder orientierungslos, warteten auf Befehle, die nie kamen, und suchten, irgendwie durchzulavieren, oder verstiegen sich in immer irrwitzigeren Fanalen, den aussichtslosen Kampf weiterzuführen. Sie waren durch fehlende Ressourcen und Machtinstru-

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mente auch nicht mehr imstande, ihre Aufgaben zu erfüllen. So zerbrachen sie in viele unzusammenhängende Teile, die ein veritables Machtvakuum bewirkten. Wenn man die erste Phase der Verwaltungsübertragung untersucht, so kann man eine Fülle regional sehr unterschiedlicher Entwicklungen feststellen, die allerdings grobe Konturen erkennen lassen. Der in erheblichen Abweichungen verlaufende Zerfall des nationalsozialistischen Machtsystems führt aber auch zu der Frage, ob es noch irgendwelche Ordnungssysteme gab und was das Vakuum ausfüllte. Mehrere Faktoren lassen sich klar erkennen: 1. Reste von bis zum Schluss funktionierenden nationalsozialistischen Verwaltungseinheiten, 2. traditionelle föderalistische Kräfte, 3. eine Selbstorganisation aktiver Bürger und dezentralisierter Bürokratie, 4. auf den Traditionen vor 1938, mitunter auch vor 1934, beruhende fragmentarisch bewahrte organisatorische oder mentale Strukturen politischer Gruppierungen oder Netzwerke, 5. individuelle Überlebensstrategien. In diesem Vakuum erhielt noch ein anderer Faktor Bedeutung, der eine punktuelle Dynamik in der Machtübertragung bewirkte: der Widerstand. Im Gegensatz zu anderen Ländern kann man in Österreich über den individuellen Widerstand hinaus nicht von einer geschlossenen Widerstandsbewegung gegen den Nationalsozialismus sprechen. Einzelne, meist ideologisch motivierte Gruppen fanden sich schon 1938 zusammen, manche entwickelten sich erst während des Krieges in unterschiedlicher Größe und Bedeutung, viele wurden von der Geheimen Staatspolizei zerschlagen. Dominierend waren die Kommunisten sowie katholische Priester und Laien, die allerdings von der Amtskirche nicht unterstützt wurden. Charakteristisch ist das Nebeneinander von parteipolitisch und nicht parteipolitisch motiviertem Widerstand. Aus dem ersteren entstand eine auf politischen und ideologischen Kontinuitäten beruhende Basis des Parteiensystems nach dem Krieg, aus dem anderen entwickelten sich Tendenzen einer Bürger-Selbstverwaltung, die für kurze Zeit in der Transformationsphase zum Tragen kamen. Es ist jedoch unangebracht, direkte Beziehungen zwischen Widerstandsgruppen und den entscheidenden politischen Kräften – mit Ausnahme Tirols – in den April- und Maitagen 1945 herzustellen.27 Ohne die großen Leistungen österreichischer Widerstandshandlungen schmälern zu wollen, ist zu konstatieren, dass die Realpolitik des neuen Österreich nur in einem ganz geringen Maß von Widerstandsorganisationen beeinflusst war. Stand das nationalsozialistische System und mit ihm die Verwaltung ab April 1945 mitten in der inneren Auflösung, so waren die einzelnen konkreten Aus27 Vgl. dazu etwa Otto Molden, Der Ruf des Gewissens. Der Österreichische Freiheitskampf 1938–1945, 3. Auflage Wien 1958, S. 168–181, 202–219, 260–329; Radomir Luza, Der Widerstand in Österreich 1938–1945. Wien 1985, S. 183 ff.

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wirkungen vom militärischen Vordringen der alliierten Streitkräfte abhängig. Am 29. März 1945 überschritten sowjetische Truppen der 3. Ukrainischen Front unter Marschall Tolbuchin bei Köszeg (Güns) die Reichsgrenze und betraten bei Klostermarienberg österreichischen Boden.28 Ein Teil stieß Richtung Wien, ein anderer Richtung Graz vor, am 6. April war das Wiener Becken erobert, am 13. April fiel Wien und zwei Tage später St. Pölten. Knapp hinter der Stadt blieben die Einheiten der Roten Armee aber auf einer Linie TraisentalSemmering stehen. Die 2. Ukrainische Front unter Marschall Malinovskij stieß von der Südslowakei in das nördliche Niederösterreich vor, blieb aber ab dem 23. April ebenfalls stehen, die Hauptkampflinie von Laa an der Thaya bis Stockerau bestand – von Gefechten mit sich zurückziehenden deutschen Verbänden abgesehen – unverändert bis zur deutschen Gesamtkapitulation. Das Burgenland, Teile der nördlichen Steiermark und das östliche Niederösterreich unterstanden daher der sowjetischen Militärverwaltung bereits in der Kampfphase. Weite Teile des westlichen Niederösterreich, der Steiermark und das Mühlviertel wurden aber von der Roten Armee erst nach dem Inkrafttreten des Waffenstillstandes am 9. Mai 1945 besetzt. Der Kampfverlauf bewirkte aber auch, dass neben sowjetischen Soldaten auch amerikanische Truppen im Mühlviertel und im westlichen Niederösterreich eindrangen.29 Das amerikanisch-russische Siegesmahl zur deutschen Kapitulation am 8. Mai 1945 in Erlauf – das nach vielen Stunden in einem gröberen Besäufnis endete – und die Siegesparade im Schloss Wallsee am 14. Mai unter Teilnahme von Marschall Tolbuchin und dem amerikanischen General Patton diente der Inszenierung gegenseitiger Freundschaft;30 während das feierliche Zusammentreffen amerikanischer und russischer Generäle am 8. Mai auf der Ennsbrücke ein öffentliches Signal für die Etablierung einer provisorischen militärischen Demarkationslinie zwischen den beiden Alliierten sein sollte, jedoch darüber hinaus die lokalen Kommandeure auch pragmatische Waffenstillstandslinien ausmachten.31 Jedenfalls kam es öfter vor, dass Gebiete im westlichen Niederösterreich zunächst von amerikanischen Truppen, dann wieder von sowjetischen besetzt wurden und manche Orte verwirrende Situationen unterschiedlicher Militärverwaltungen über sich ergehen lassen mussten. Später als die Sowjets drangen die Westalliierten auf österreichischem Gebiet vor. Ab Ende April 1945 rückten französische Truppen in Vorarlberg ein, amerikanische in Tirol, Salzburg und Oberösterreich, während die Briten erst ab dem 8. Mai Teile Kärntens und der Steiermark eroberten. Mit der deutschen Kapitulation waren nur einige Teile Österreichs von den Alliierten besetzt, erst 28 Die Darstellung der militärischen Ereignisse folgt: Theo Rossiwall, Die letzten Tage. Die militärische Besetzung Österreichs 1945, Wien 1969, S. 18 ff. und Manfried Rauchensteiner, Krieg in Österreich 1945. Wien 1970, S. 77 ff. 29 Edmund Merl, Besatzungszeit im Mühlviertel, Grünbach 1989, S. 40 ff. 30 Josef Buchinger, Das Ende des 1000 Jährigen Reiches. Dokumentationen über das Kriegsgeschehen in der Heimat. Band 2, Wien 1972, S. 37 ff. 31 Fellner, Mühlviertel, S. 206.

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in den folgenden Wochen okkupierten die Alliierten ihre Gebiete, wenngleich der endgültige Zustand erst mit dem Inkrafttreten des Abkommens über die Besatzungszonen vom 9. Juli 1945 erreicht wurde. Das Ende der Kampfhandlungen in Wien am 13. April 1945 scheint eine ganze Menge Menschen mit öffentlichen Interessen in Bewegung gebracht zu haben. Da trafen sich überall ehemalige Funktionäre von Vereinen, Verbänden und Interessensgruppen, Beamte fanden sich in ihren ehemaligen Dienststellen ein.32 Bezirksbürgermeister übernahmen das Kommando und versahen alle möglichen Papiere mit Stempel, ein wichtiges Legitimationszeichen für die sowjetische Besatzungsmacht, selbst wenn sie gefälscht waren.33 Polizisten, Straßenbahner, Lehrer oder Ärzte erkundeten die Möglichkeit einer Arbeitsaufnahme und dazwischen die „Adabeis“, selbsternannte Leiter, Wichtigmacher, Bluffer und Wirrköpfe. Ein buntes Häuflein war es, das die ersten politischen Gehversuche machte. Nun traten auch Personen im Namen einer Widerstandsgruppe – sei es als Österreichische Freiheitsbewegung, als Österreichische Freiheitsfront oder als Provisorisches Österreichisches Nationalkomitee34 – mit meist selbst gefertigten Armbinden als provisorische Polizei auf, setzten ab und ein, erließen Proklamationen,35 stellten Bestätigungen und Ausweise aus oder führten Hausdurchsuchungen, Beschlagnahmen oder Verhaftungen durch.

32 Vgl. etwa Alois Brusatti (Hg.), Zeuge der Stunde Null. Das Tagebuch Eugen Margaréthas 1945–1947, Linz 1990, Kapitel: „Der Beginn des politischen Lebens 16. bis 28. April 1945“, S. 44–61. Margarétha war ÖVP-Nationalratsabgeordneter, 1949–1952 Finanzminister und ab 1972 Präsident der Österreichischen Nationalbank. 33 So fertigte etwa der provisorische Bezirksbürgermeister Helm viersprachige Stempel „Bürgermeisteramt Währing Wien 18“ an, ohne von irgendjemandem dazu legitimiert worden zu sein, und stellte Identitätsausweise, Heimkehrerbestätigungen und Passierscheine aus. Unser Währing (Wien), 10 (1975) H. 4, S. 47 f. 34 Die katholisch-konservative „Österreichische Freiheitsbewegung“ wurde bereits 1940 aufgedeckt und war danach praktisch inexistent, ihre Führer wurden 1944 hingerichtet (Widerstand und Verfolgung in Wien 1934–1945. Band 3, Wien 1975, S. 95 ff.); ab Mai 1944 wurden unter diesem Namen einige Flugblätter verbreitet (Widerstand und Verfolgung in Wien. Band 2, S. 448 ff.) und es ist zu vermuten, dass eine dünne Kontinuitätslinie bis April 1945 reichte. Die überparteiliche „Österreichische Freiheitsfront“ war im Oktober 1944 von der Geheimen Staatspolizei ausgehoben worden und dürfte nur einen sehr kleinen Personenkreis umfasst haben (Widerstand und Verfolgung in Wien 1934–1945. Band 2, S. 451). Das konservative „Provisorische Österreichische Nationalkomitee“ war erst im Dezember 1944 in Wien gegründet worden (Molden, Ruf, S. 177) und war nicht mehr als ein geheimer politischer Klub, der vorsichtig politische Fäden knüpfte. 35 So publizierte etwa die Österreichische Freiheitsfront Wien-Hietzing bereits am 14. April 1945 ein Nachrichtenblatt mit dem Stand des Kriegsgeschehens in Europa und politischen Informationen. Die Österreichische Freiheitsbewegung Wien-Döbling drohte – ohne jede Legitimation – Plünderern die Todesstrafe an und die Österreichische Freiheitsbewegung Wien-Mariahilf rief demokratisch-patriotische Akademiker auf, sich bei einer Sammelstelle zu melden (3 Original-Flugblätter, in: Zeitgeschichtliche Sammlung Jagschitz, Wien [ZGSlgJ]. Mappe: Österreich 1945, 4.2 – Widerstand, Widerstandsgruppen).

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Ernstzunehmender waren Aktivitäten im Namen einer Widerstandsbewegung, die sich O 5 nannte.36 Die O 5 war als parteiübergreifende, wenn auch eher konservative, lose Gruppe Anfang 1944 entstanden und erlangte als Gerüst eines politischen Netzwerks vorübergehend einige Bedeutung, wenn auch die Hochstilisierung zu einer gesamtösterreichischen Widerstandsbewegung37 übertrieben ist. Ende März 1945 erließ sie eine Proklamation an das österreichische Volk mit Aufrufen zu Sabotagehandlungen, und Anfang April 1945 wurden die Wiener und Wienerinnen in einem Flugblatt aufgerufen, die eindringende Rote Armee zu unterstützen, Zerstörungen zu verhindern, die russischen Truppen mit Informationen über militärischen Widerstand zu versorgen und die Straßen freizuhalten.38 Der im Februar 1945 im Rahmen der O 5 gegründete „Siebener-Ausschuss“ – mit Personen höchst unterschiedlicher Weltanschauung und politischer Gewichtung besetzt – wollte zwar so etwas wie der Kern einer kommenden Verwaltung sein, vielleicht fühlten sich auch schon einige zu höheren Weihen berufen, doch alles war zu unverbindlich und zu lose, so dass eine erhebliche Kluft zwischen den Ansprüchen und deren Verwirklichung bestand. Obwohl im Punkt 4 des Flugblatts der O 5 vom April lapidar angemerkt wird: „Die zivile Verwaltung bleibt im Amt“,39 was ein Indiz dafür ist, dass zu dieser Zeit, trotz aller Überlegungen, noch keine konkreten Vorbereitungen für die Übernahme der Verwaltung getroffen waren, verhandelte ein Repräsentant der O 5 in der Nacht vom 13. auf den 14. April 1945 mit Offizieren im Hauptquartier der Roten Armee mit dem Ziel, die O 5 als Allparteien-Einheitsverwaltung für das kommende demokratische Österreich zu akzeptieren.40 Die sowjetische Reaktion dürfte aber zurückhaltend gewesen sein. Der „Siebener-Ausschuss“, der sich im Wiener Palais Auersperg einquartiert hatte, beanspruchte das Recht, die neuen demokratischen Verwaltungen einzusetzen. Er ernannte einen Chef der Gendarmerie, einen Wiener Polizeipräsidenten sowie einen ehemaligen sozialdemokratischen Stadtrat und einen ehemaligen Schutzbündler als Bürger36 O 5 ist eine Chiffre für O und den 5. Buchstaben des Alphabets „e“, was Oe(Ö)sterreich symbolisieren sollte. Es gibt aber auch andere Interpretationen. 37 Molden, Ruf, S. 168 ff. 38 Der Text der beiden Flugblätter ist abgedruckt in: Widerstand und Verfolgung in Wien 1934–1945. Band 2, S. 452 f. 39 Ebd., S. 453. 40 Oliver Rathkolb, Raoul Bumballa, ein politischer Nonkonformist 1945. In: Unterdrückung und Emanzipation. Festschrift für Erika Weinzierl. Hg. von Rudolf G. Ardelt, Wolfgang J. A. Huber, Anton Staudinger, Wien 1985, S. 295–317, hier 301. Bumballa hatte sich im Ende 1944/Anfang 1945 immer mehr in der O 5 in den Vordergrund gespielt und so etwas wie eine Sprecherfunktion beansprucht, war aber von der O 5 dazu nicht formal legitimiert worden. In einem Bericht des stellvertretenden Leiters der 7. Verwaltung der Politischen Haupt-Verwaltung der Roten Armee Šapošnikov vom 28. April 1945 über die O 5, in der auch die Inhalte diese Besprechung angeführt werden, wird eine eingehende Analyse der Widerstandsgruppe vorgenommen und ihre bramarbasierenden Ansprüche dargestellt. Eine politische Empfehlung ist darin jedoch nicht enthalten. Vgl. Rote Armee. Dokumente, S. 129 ff.

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meister und Vizebürgermeister.41 Doch die Legitimation der Spontaneität, des guten Willens und der Kooperation ohne Programm und ohne politisch durchsetzbarem Reformkonzept – man war sich lediglich einig in der Vision eines freien und unabhängigen Österreich – reichte nicht aus, das politische Vakuum auf Dauer auszufüllen. Zu sehr war das Sammelbecken inhomogen, die Personen waren politische Randfiguren, eine feste Organisation und ein effizienter Apparat fehlten. Parallel zu dieser Entwicklung gab es auch in den alten und in den im Mai 1938 eingemeindeten Bezirken Wiens lebendige demokratische Bewegungen für die Wiedererrichtung einer Verwaltung. Es wurden provisorische Bezirks- und Gemeindeausschüsse errichtet, Bezirksbürgermeister bestimmt und erste Aufräumungs- und Ordnungsmaßnahmen gesetzt.42 Allen diesen Initiativen gemeinsam war eine politische Offenheit, Spontaneität, politischer Nonkonformismus und große Begeisterung. Sie wurden bis zum Sommer 1945 weitgehend ausgeschieden oder von den Parteien aufgesogen. Denn es betraten bald die wahren Mächtigen aus dem Hintergrund die Bühne und sorgten dafür, dass in wenigen Tagen der Machtanspruch der O 5 und der Bewegungen von unten scheiterte. Wie unakzeptabel für sie das Allparteienkonzept und wie unbequem die politisch agierenden Widerstandsgruppen und die O 5 für sie waren, zeigt deren Liquidierung. Repräsentanten der politischen Parteien disqualifizierten massiv die Vertreter der O 5 und gingen auf Distanz.43 Die sowjetische Besatzungsmacht war misstrauisch, verdächtigte sie einer Zusammenarbeit mit einem westlichen Geheimdienst und schließlich verbot der sowjetische Ortskommandant von Wien die Tätigkeit aller politischer Gruppierungen ohne vorherige Registrierung durch die Kommandanturen und unterstellte alle Druckwerke einer Zensur, was die Tätigkeit der O 5 praktisch lahm legte.44 In der Folge kam es mit Hilfe der sowjetischen Besatzungsmacht zu Ent41

Anton Weber, Erinnerungen an die Apriltage 1945. In: Wien 1945. Beiträge zur Geschichte Wiens 1938–1955. Sonderheft der Wiener Geschichtsblätter, 30 (1975), S. 70– 73. Mitglieder des Republikanischen Schutzbundes als WehrverBd. der Sozialdemokratischen Partei in der Zwischenkriegszeit flüchteten nach dem Bürgerkrieg im Februar 1934 in großer Zahl in die Sowjetunion und galten teilweise als der KPÖ nahestehend. 42 Peter Csendes, Der Übergang zur demokratischen Kommunalverwaltung 1945. In: Wien 1945. Sonderheft der Wiener Geschichtsblätter, S. 48–52, hier 50; Erinnerungen von Adolf Schärf, Felix Slavik, Hubert Pfoch, Bruno Sokoll, ebd., S. 76 f., 89, 91, 94 ff. 43 Der aus Moskau zurückgekehrte KPÖ-Funktionär Ernst Fischer nannte nach einem Besuch im Palais Auersperg die O 5 eine „Bd.e von Gaunern, Schwindlern und naiven Leuten“ und drückte die Hoffnung aus, „die Schwätzer von O 5 kaltstellen zu können“. Vgl. Aichinger, Sowjetische Österreichpolitik, S. 163. Grundlage ist ein Notizbuch Ernst Fischers aus seinem Nachlass im Österreichischen Institut für Zeitgeschichte, Wien. Auch der ÖVP-Funktionär Weinberger urteilte nach seinem Kontakt mit der O 5: „Im Palais Auersperg trieben sich die verschiedensten Elemente um. Es ging wahrhaft wüst zu. Neben sehr gut wirkenden und sicher auch sehr anständigen Menschen sah man auch eine Reihe sehr zweifelhafter Gestalten, etliche ‚Bobby‘ und auch sonst noch allerlei, das gar nicht nach unserem Geschmack war.“ Weinberger, Tatsachen, S. 246. 44 Bericht Šapošnikov an Dimitrov über die O 5 vom 28. 4.1945. In: Rote Armee. Dokumente, S. 129–133; Befehl Nr. 4 des Ortskommandanten der Stadt Wien Blagodatow

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waffnungen, Hausdurchsuchungen und Verhaftungen von Angehörigen der O 5. Der Kopf der Gruppe löste schließlich die O 5 auf, wurde in den Schoß der ÖVP gezogen und als Staatssekretär in der Provisorischen Regierung als Widerstandskämpfer in die Auslage gestellt, gleichzeitig aber an die Kandare genommen.45 Auch in anderen Orten wurden die Widerstandsbewegungen in der Ausübung politischer Tätigkeiten gehindert und als Organisationen aufgelöst.46 Staatskanzler Renner vertrat noch im Juli 1945 die Meinung, die Widerstandsbewegung, von der er separatistische Tendenzen befürchtete, habe ihre Arbeit getan und empfahl ihren Mitgliedern, in eine der drei Parteien einzutreten.47 Tatsächlich entstand in wenigen Tagen nach dem Fall von Wien eine neue politische Struktur und beanspruchte sofort die zentrale Kompetenz für ganz Österreich. Und sie entstand aus einer großen Zahl verschiedener politischer „Nester“, die sich zunächst unabhängig voneinander und mit unterschiedlichen Zielsetzungen bildeten. Die Ursachen, die Struktur und der Verlauf der Verknüpfungen dieser politischen Initiativen gehört zu den interessantesten, bisher noch kaum aufgehellten Bereichen der Frühgeschichte der Zweiten Republik. In diesen Tagen war die ausschlaggebende Frage, wohin sich die Macht neigte, ob die alten Eliten wieder ihre Positionen einnahmen oder ob neue an ihre Stelle traten und wer sie zu Eliten legitimierte. Ende April 1945 entschied sich in wenigen Tagen das Geschick des Landes für mehrere Jahrzehnte. Denn neben den politischen Leichtgewichten des Widerstandes etablierten sich die Schwergewichte jener Funktionäre, die für die Bildung starker, zentraler Parteiorganisationen eintraten. Es war aber nicht so sehr die in vielen Memoiren bemängelte Naivität der Widerstandsfunktionäre, die die professionellen Politiker zum Handeln veranlassten. Es war vielmehr ein für sie gefährliches, radikal anderes politisches Konzept: Basisdemokratie und Föderalismus, Selbstverwaltung und Konzentration aller politischer Kräfte. Die in zahlreichen Initiativen gebildeten spontanen losen „Einheitsfronten“ in Bezirken und Orten zwischen Christlichsozialen, Sozialdemokraten und Kommunisten schienen nicht lenkbar und beherrschbar zu sein. Im modernen Jargon könnte man sagen, es handelte sich um das Konzept einer Bürgergesellschaft und diese stand nun im radikalen Gegensatz zur Parteiendemokratie. vom 21. 4.1945 (ZGSlgJ. Mappe: Österreich 1945, 3.1 – Besatzung: Sowjetunion, Submappe: Aufrufe, Anschläge und Flugblätter). 45 Rathkolb, Bumballa, S. 304 ff.; Oliver Rathkolb, Wie homogen war Österreich 1945? Innenpolitische Optionen. In: Wolfgang Kos / Georg Rigele (Hg.), Inventur 45/55. Österreich im ersten Jahrzehnt der Zweiten Republik, Wien 1996, S. 157–180, hier 175. 46 Tweraser konstatiert, dass „der Widerstand beinahe eine Erscheinung der Zeit nach der Besetzung“ war. In Oberösterreich und in der Stadt Linz kamen die Vertreter des Widerstandes sehr bald in Konflikt mit den von den politischen Parteien bestimmten Verwaltungen und mit der amerikanischen Militärverwaltung. Kurt Tweraser, US-Militärregierung Oberösterreich. Band 1: Sicherheitspolitische Aspekte der amerikanischen Besatzung in Oberösterreich-Süd 1945–1950, Linz 1995, S. 146. 47 19. Sitzung des Kabinettsrates vom 24. 7.1945. In: Protokolle des Kabinettsrates der Provisorischen Regierung Renner 1945 (PKR). Band 2, Wien 1999, S. 98.

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Außerhalb Wiens lassen sich in dieser Spontanphase ähnliche Konturen, jedoch nicht in diesem Umfang erkennen. Die sich zurückziehenden deutschen Truppen (öfter auch SS-Panzerverbände oder Waffen-SS-Einheiten) machten in der Regel den Versuch, die Bevölkerung in die Verteidigungsanstrengungen einzubeziehen und sie zum Bau von Straßensperren zu veranlassen oder sie an der Hissung von weißen Fahnen zu hindern. Dabei ist generell ein unterschiedliches Verhalten der ortsansässigen nationalsozialistischen Funktionäre festzustellen. Einige unterstützten die deutschen Truppen und bedrohten die Bevölkerung, andere wieder versuchten, einen Kampf um eine Ortschaft zu verhindern, die Kapitulationswünsche der Bevölkerung zu unterstützen und in Verhandlungen den Abzug der deutschen Streitkräfte zu erreichen oder den Ort kampflos an die einrückenden Alliierten zu übergeben. Ein Teil der Parteiführer flüchtete oder beging Selbstmord.48 In den ländlichen Gebieten scheint die Bereitschaft zu autonomem politischen Handeln in den ersten Tagen nicht sehr ausgeprägt gewesen zu sein, gelegentlich folgte man auch internen lokalen Gesetzen, die – niemals niedergeschrieben – doch von allen akzeptierte Regelmechanismen enthielten. Die Bestrebungen der Bevölkerung galten in erster Linie der Einstellung der Kämpfe und nicht der Beseitigung des nationalsozialistischen Verwaltungssystems. Es gab wohl einige Akte von Zivilcourage,49 doch sind die Verwaltungsübertragungen in Niederösterreich und im Mühlviertel in den meisten Fällen erst mit dem Einmarsch der Besatzungstruppen verbunden. Es kam vor, dass die nationalsozialistischen Bürgermeister auch nach der deutschen Kapitulation am 7. Mai 1945 im Amt blieben,50 wenn bis dahin noch keine Besatzungssoldaten aufgetaucht waren. Äußerst selten scheinen auch Widerstandsgruppen als Ordnungsfaktoren aufgetreten zu sein.51 So etwa verbreitete im Mühlviertel eine „Vereinigung freies Österreich“ am 5. Mai 1945 ein Flugblatt, in dem aufgerufen wurde, nicht zu fliehen und die Rote Armee würdig zu begrüßen, eine darüber hinausgehende Tätigkeit ist nicht feststellbar.52 Ebenfalls im Mühlviertel – in Wartberg ob der Aist – beschloss am 13. Mai 1945 ein Nationalkomitee der Freiheitsbewegung „Neues Österreich“, die nationalsozialistische Eingemeindung wieder rückgängig zu machen und bestellte auch gleich einen Bürgermeister.53 Im niederösterreichischen Heidenreichstein bewogen Mitglieder der „Österreichischen Freiheitsbewegung“ den nationalsozialistischen Bürgermeister, der 48 Fellner, Mühlviertel, S. 207, 233. Schadauer, Das Jahr 1945, S. 55 f. 49 Im oberösterreichischen Freistadt vermittelten erfolgreich beherzte Bürger zwischen der SS und den amerikanischen Truppen, um den Ort kampflos zu übergeben. Merl, Besatzungszeit, S. 38. 50 Schadauer, Das Jahr 1945, S. 55. 51 Die beiden großen Ausstellungen zum Kriegsende in Niederösterreich im Jahr 1975 konnten, trotz intensiver Recherche, keine derartigen Aufrufe entdecken. Die Stunde Null, S. 39; Das Jahr 1945 in Österreich. Katalog der Sonderausstellung vom 22. 3. bis 2.11.1975, St. Pölten 1975, S. 41 ff. 52 Fellner, Mühlviertel, S. 184 f. 53 Merl, Besatzungszeit, S. 56.

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noch nach der deutschen Kapitulation im Amt bleiben wollte, zum Rücktritt und nahmen zur Begrüßung der sowjetischen Soldaten mit Armbinden Aufstellung.54 Waren wenige Tage des Vakuums von Tausenden Haltungen und Initiativen geprägt, so änderte sich dieses Bild bald. Die ersten kämpfenden Sowjettruppen griffen im Allgemeinen in die Verwaltung nicht ein, ihr Interesse war die Fortführung des Kampfes und die Zurückdrängung des deutschen militärischen Widerstandes. Jedoch unmittelbar nach ihnen trat eine zweite Welle von Angehörigen der Roten Armee auf, die auch Funktionäre enthielten, die den Auftrag hatten, eine sowjetische Militärverwaltung einzurichten und die vorgesehenen Anordnungen durchzusetzen. Es war daher von großer Bedeutung, welche Vorstellungen dies waren, welche Mittel die Besatzung zur Durchsetzung einsetzte und wie die lokalen politischen Kräfte und die Bevölkerung damit umgingen. Belastend waren allerdings die Übergriffe und Willkürakte gegenüber der Bevölkerung durch einen Teil der Roten Armee. Bei der Bewertung dieser Frage muss aber berücksichtigt werden, dass zwei Linien antisowjetischer Propaganda ineinander übergingen: die nationalsozialistische Antibolschewismuspropaganda, die sehr starken Einfluss auf die Mentalität der Bevölkerung in den letzten Kriegstagen hatte, und die Propaganda des Kalten Krieges, die ein FreundFeind-Schema zu etablieren suchte. Als Beweis mag gelten, dass vergleichbare Gewaltakte und Übergriffe der amerikanischen und französischen Soldaten bis heute nicht denselben Stellenwert im öffentlichen Bewusstsein haben. Prägend war aber auch das persönliche Erleben, das nur zu bereitwillig verallgemeinert wurde. Ohne die Plünderungen, Brandstiftungen, Vergewaltigungen und Morde beschönigen zu wollen, überstieg das Verhalten der sowjetischen Truppen, denen die Position der Befreier nicht vermittelt werden konnte und die sich als Sieger fühlten, nicht die „normale“ Brutalität und Verrohung des Krieges.

Die Stunde der Militärs Will man das Problem des Einflusses des sowjetischen Elements auf die österreichische Verwaltung untersuchen, ergeben sich zwei unterschiedliche Entscheidungskomplexe und eine Reihe von Entscheidungsstufen. Die nach der Moskauer Konferenz eingerichtete „European Advisory Commission“ (EAC) hatte die Aufgabe, unter anderem auch Grundlagen für eine gemeinsame Besetzung Österreichs auszuarbeiten. In diesem, der Politik zuzuordnenden Komplex übernahm die Sowjetunion einerseits Vorstellungen der anderen Mitglieder, andererseits brachte sie ihrerseits Vorschläge ein, die zu gemeinsamen Beschlüssen wurden. Zudem hatte sie aber nach Beschlussfassung in der EAC auch die Bedingungen zu beachten, die im Zonenabkommen und in den beiden Kontroll54 Widerstand und Verfolgung in Niederösterreich 1934–1945. Band 3, Wien 1987, S. 325 f.

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abkommen als gemeinsame Verwaltungsgrundlage festgelegt wurden. Davon weitgehend unabhängig war der militärische Komplex. Während noch die Beratungen in der EAC erfolgten, erforderte der Verlauf des realen militärischen Geschehens und die Besetzung von Gebieten in Österreich bereits konkrete Entscheidungen. Auf Grund vorbereiteter Aufrufe und Anordnungen wurden eine unmittelbare Militärverwaltung etabliert und erste Maßnahmen zur Beseitigung des nationalsozialistischen Systems und der deutschen Verwaltung sowie Weisungen zur Normalisierung der Lage erlassen. Es mussten aber auch spontane Maßnahmen nach der militärischen Besetzung getroffen werden, die in den vorbereiteten Direktiven nicht vorgesehen waren, was mitunter große Unterschiedlichkeiten in der Mikrostruktur der Verwaltung erklärt. Von dieser Phase der ersten Befriedungsaktionen im Zusammenhang mit den letzten Kampfhandlungen und der Frontsituation sind jene Handlungen nach dem Waffenstillstand zu unterscheiden, die dem Ziel der Errichtung einer systematisch organisierten sowjetischen Militärverwaltung dienten. Davon wieder müssen jene Maßnahmen unterschieden werden, die ab dem Spätsommer 1945 die Umsetzung der Beschlüsse der EAC und ab September 1945 die Durchsetzung der Direktiven der neu errichteten Alliierten Kommission als gemeinsames Verwaltungsorgan aller Alliierten für Österreich einerseits, andererseits selbständige Maßnahmen in der sowjetischen Zone neben der gemeinsamen Verwaltung zum Ziel hatten. Sowjetischer Einfluss auf die Verwaltung in Österreich fand – analog der österreichischen Verwaltungsgliederung – in vier hierarchischen Ebenen statt: 1. Die lokale Ebene (Gemeinden, Städte und Wiener Bezirke). Sie betraf die Wiederherstellung normaler Verhältnisse und die Einrichtung von Kommandanturen,55 die Kontroll- und Weisungsorgan für die entsprechende österreichische Verwaltungseinheit waren. 2. Die regionale Ebene. Sie begann erst mehrere Wochen nach Kriegsende und betraf die Bezirkshauptmannschaften, somit den Aufbau und die Kontrolle einer mittleren Verwaltungsebene. Dies umfasste auch die Einrichtung von Ortsverwaltungen, die sich bis dahin nicht autonom gebildet hatten. 3. Die Landesebene. Sie betraf die Einrichtung und Kontrolle der Wiener Stadtverwaltung (in ihrer Doppelfunktion als Bundesland und Stadt) bis zur endgültigen Zonenaufteilung allein, danach gemeinsam mit den anderen Alliier-

55 Mueller, Mission, S. 117, ist der Meinung, dass eine hierarchische Abstufung der Kommandanturen entsprechend den verschiedenen österreichischen Verwaltungsebenen in der unmittelbaren Nachkriegszeit nicht bestanden hat. Es stimmt, dass die endgültige militärische Verwaltungsstruktur erst im Spätsommer und Herbst 1945 klar hierarchisch ausgeprägt war, doch ergab sich eine Zuordnung zu österreichischen Verwaltungshierarchien allein dadurch, dass die Kompetenz des militärischen Kommandanten eben nur für einen bestimmten Ort gegeben war. Man muss also zwischen der Organisation von unten in der Endphase des Krieges und in den ersten Nachkriegswochen und der von oben nach der Einrichtung des gesamten alliierten Kontrollsystems unterscheiden.

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ten, der Niederösterreichischen Landesregierung und der Zivilverwaltung Mühlviertel, etwas später auch der burgenländischen Landesregierung.56 4. Die zentrale Ebene. Sie betraf den Einfluss bei der Bildung der Regierung Renner sowie die Weisungen und Kontrolle bis zur Errichtung der Alliierten Kommission, die Mitwirkung an der Besatzungsverwaltung der vier Mächte und die Wahrnehmung sowjetischer Sonderinteressen gegenüber der Provisorischen österreichischen Staatsregierung beziehungsweise der Bundesregierung nach den Wahlen im November 1945. Während in der EAC noch keine endgültigen Entscheidungen über die Modalitäten einer alliierten Besatzungsstruktur in Österreich getroffen waren, besetzten Truppen der 2. Ukrainischen Front (südlich der Donau) und Truppen der 3. Ukrainischen Front (nördlich der Donau) im Zeitraum von März bis Mai 1945 Ostösterreich und Teile der Steiermark bis Graz. Es ergab sich daher die Notwendigkeit, durch militärische Einheiten die ersten Stabilisierungsmaßnahmen auf dem zivilen Sektor durchzuführen. Trotz aller neuen Zugänge zu russischen Quellen bleibt die Entwicklung der sowjetischen militärischen Vorbereitungen für die ersten Verwaltungsmaßnahmen in den besetzten Gebieten und Gemeinden auf österreichischem Gebiet etwas unscharf.57 Wieweit auch die militärischen Planungen mit den politischen in der EAC abgestimmt waren, ist nicht klar. Die sowjetischen Vertreter suchten zwar offensichtlich, die militärischen Entwicklungen zu taktischen Vorteilen zu nutzen, doch scheinen die Details der ersten Besatzungsmaßnahmen von den Militärs erst sehr spät und eher unabhängig von der Politik in der EAC ausgearbeitet worden zu sein, wenngleich der dort bis dahin verhandelte Rahmen auch für sie gültig war. Die generelle Linie der ersten Maßnahmen entsprach der grundsätzlichen Haltung der Sowjetunion: Österreich sollte in den Grenzen des 31. Dezember 193758 wiederhergestellt werden und ein demokratisches System erhalten, die politischen und Verwaltungsstrukturen sollten mit Hilfe der einheimischen Kräfte – unter gleichzeitiger Beseitigung aller nationalsozialistischer Reste – aufge56 Der Rückzug der Amerikaner im Mühlviertel erfolgte vom 27.-30. Juli 1945, die Besetzung des Mühlviertels durch die Rote Armee war am 8. August 1945 abgeschlossen. Rauchensteiner, Sonderfall, S. 373, Anm.44; Fellner, Mühlviertel, S. 270. Wann die Rote Armee – ob vor oder nach der Wiederaufnahme einer selbständigen Landesverwaltung des Burgenlandes am 1. Oktober 1945 – eine eigene burgenländische Landeskommandantur einrichtete, ist nicht klar zu beantworten. Vgl. Valerij Vartanov, Die Aufgaben der Militärkommandanturen in der sowjetischen Besatzungszone in Österreich 1945–1955. In: Die Rote Armee. Beiträge, S. 163–178, hier 168 f. 57 Müller, Mission, S. 171 hat zwar sehr eingehend die Aufgaben und Tätigkeiten der „Initiativgruppen“ beim Aufbau der politischen Strukturen herausgearbeitet, doch bezieht sich dies eher auf die Zentralverwaltung und das gesamte politische System, nicht aber auf die kleinräumige politische Struktur. 58 Dies hätte auch bedeutet, dass die Aufteilung des Burgenlandes und die Schaffung von Groß-Wien umgehend rückgängig gemacht worden wäre. Dies war jedoch nicht der Fall, die beiden Gebietsfragen blieben ein länger ungelöster Streitpunkt zwischen der österreichischen Verwaltung, den westlichen Alliierten und der Sowjetunion.

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baut werden. Anfang April 1945, also erst Tage, nachdem die Rote Armee die österreichische Grenze überschritten hatte, gab es erste Überlegungen für die notwendigen Maßnahmen.59 Das Staatliche Verteidigungskomitee sollte in einer Verordnung, Richtlinien für das Verhalten der Truppen, für die Aufgaben der Kommandos der 2. und 3. Ukrainischen Front, für die Herausgabe eines Aufrufs an das österreichische Volk und die Befehle der Militärkommandanten sowie die Vorgangsweise bei der Organisierung der Zivilverwaltung und der Ernennung von Bürgermeistern erlassen. Beim Oberbefehlshaber der 3.Ukrainischen Front, Marschall Tolbuchin, wurde eine politische Gruppe für ÖsterreichFragen gebildet, die auch für die Durchführung und die Kontrolle der Maßnahmen bei der Wiedererrichtung eines unabhängigen österreichischen Staates und der Zivilverwaltung zuständig war. Tatsächlich wurde die Direktive am 2. April erlassen, in der Vorschläge für den Text des Aufrufs an das österreichische Volk und für Flugblattpropaganda gemacht wurden.60 Dem Bürgermeister der Stadt Wien sollte zu verstehen gegeben werden, dass das sowjetische Kommando nichts gegen die Bildung einer Provisorischen Regierung unternehmen werde. In den Ortschaften seien Militärkommandanten zu ernennen, die zivile Behörden durch Ernennung provisorischer Bürgermeister aus der lokalen österreichischen Bevölkerung aufbauen sollten. Offensichtlich hatten die sowjetischen Truppen nach dem Einmarsch in Österreich noch allgemeine Flugblätter über die zu erwartende deutsche Niederlage abgeworfen,61 entwickelten jedoch bald eine Anzahl eigener, sich an österreichische Soldaten und Zivilisten wendende Flugblätter mit Aufrufen, die deutschen Kriegsanstrengungen zu sabotieren und die Rote Armee zu unterstützen.62 Zwischen dem 3. und 5. April erließ Marschall Tolbuchin einen Aufruf „Bürger von Wien“ zwei textlich etwas unterschiedliche Aufrufe „An die Bevölkerung Österreichs“ und einen Aufruf „Österreicher“.63 Darin wird unter anderem die Zerschlagung der deutschen Truppen und die Befreiung Österreichs – in Erfüllung der Moskauer Deklaration – sowie die Wiederherstellung der Zu59 Bericht der 3. Europäischen Abteilung des Volkskommissariats für Auswärtige Angelegenheiten der UdSSR „Über Maßnahmen im Zusammenhang mit dem Vormarsch der Roten Armee auf das Gebiet Österreich“, o. D. (spätestens vom 2. 4.1945). In: Rote Armee. Dokumente, S. 59. 60 Direktive des Hauptquartiers des Obersten Kommandos an die Oberkommandierenden der 2. und 3. Ukrainischen Front über Maßnahmen in Zusammenhang mit dem Einmarsch der Roten Armee in das Territorium Österreichs vom 2. 4.1945. In: Sowjetische Politik. Dokumente, S. 107, 109. 61 Etwa: „Die deutsche Kriegsmaschinerie lahmgelegt. Offiziere und Soldaten“ (Flugblatt R. A. 0977– 4. 4. 45); „Deutsche ... Mit Hitler ist’s jetzt aus!“ (Flugblatt 6336– 28. III. 1945). In: ZGSlgJ. Mappe: Österreich 1945, 3.1 – Besatzung: Sowjetunion. 62 Flugblätter „Österreich letztes Schlachtfeld der Nazis?“ (AU 147); „An die österreichischen Offiziere und Soldaten“ (R. A. 0977– 8. 4. 45); „Die Stunde der Befreiung Österreichs vom deutsch-faschistischen Joch ist da!“ (ohne Zeichen); „Den Hitlerfaschisten und ihren Agenten ist kein Wort zu glauben.“ (ohne Zeichen); „Unterstützt die Rote Armee“ (ohne Zeichen). Einige Flugblätter liegen auch in Plakatfassung vor. Ebd. 63 Abgedruckt in: Aichinger, Sowjetische Österreichpolitik, S. 411 ff.

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stände vor 1938 als Ziel der Roten Armee erklärt, den Befehlen der Kommandos sei Folge zu leisten. Bis zur Bildung einer österreichischen Staatsgewalt würden die Funktionen der Zivilverwaltung von provisorischen Bürgermeistern und Ortsältesten aus der örtlichen österreichischen Bevölkerung wahrgenommen, die vom Militärkommandanten der Roten Armee bestimmt werden. Einen textlich völlig unterschiedlichen Aufruf mit dem Schwerpunkt, Ruhe und Ordnung zu bewahren, erließ der Oberbefehlshaber der 2. Ukrainischen Front Malinovskij.64 In einer „Erklärung der Sowjetregierung über Österreich“ vom 9. April 1945 wird klargelegt, die Sowjetregierung habe nicht das Ziel, sich einen Teil österreichischen Territoriums anzueignen oder die gesellschaftliche Ordnung Österreichs zu ändern, die Sowjetunion stehe auf dem Boden der Moskauer Deklaration und werde die Wiederherstellung demokratischer Zustände und Einrichtungen in Österreich unterstützen.65 Eine wichtige Funktion beim Aufbau einer lokalen Zivilverwaltung erhielten die Militärkommandanturen. Die nach der Direktive vom 2. April einzurichtenden Militärkommandanten hatten jedoch nicht nur die darin genannte Aufgabe der Hilfe beim Aufbau der Zivilverwaltung und die Ernennung von Bürgermeistern, sie erhielten vielmehr für einige Zeit zentrale Befugnisse der Besatzungsverwaltung.66 Da bis zur Einsetzung einer provisorischen Zentralverwaltung die örtlichen Funktionäre die einzig anerkannten Verwaltungsorgane waren, übernahmen die Kommandanturen die Kontrolle der ersten politische Gehversuche des neuen Österreich. Am 20. April präzisierte Tolbuchin in einer Verordnung die Aufgabengebiete der Kommandanturen, welche die höchste Gewalt auf dem besetzten Gebiet ausübten und für alle Maßnahmen der Trennung Österreichs von Deutschland, der Entmilitarisierung, des Verbots der NSDAP und der Verfolgung von Nationalsozialisten sowie der Normalisierung verantwortlich waren.67 Zusammen mit der Verordnung wurde der Text der Befehle Nr. 1 und 2 der Ortskommandanten erlassen, wobei nur die jeweiligen örtlichen Angaben einzufügen waren.68 Im Befehl Nr. 1 übernahm der Ortskommandant die obers64 „An die Bevölkerung Österreichs“ (o. D.). Unterzeichnet von Malinovskij und dem Mitglied des Kriegsrates der 2. Ukrainischen Front Generalleutnant Tevčenkov (Photokopie einer masch. Abschrift in: ZGSlgJ. Mappe: Österreich 1945, 3.1 – Besatzung: Sowjetunion). Dies und die unterschiedliche Frage der hinausgezögerten Zuständigkeit der Regierung Renner auf dem von der 2. Ukrainischen Front besetzten Gebiet könnten ein Indiz dafür sein, dass zu diesem Zeitpunkt die Vorgangsweisen der beiden Heeresgruppen nicht abgestimmt waren. 65 Flugblatt „Erklärung der Sowjetregierung über Österreich“ (Nr. 990–10. 4. 45), ebd. 66 Vartanov, Militärkommandanturen. In: Die Rote Armee. Beiträge, S. 163–178, hier 163 ff. 67 Wolfgang Wagner, Die Besatzungszeit aus sowjetischer Sicht. Aufbau und Lageberichte der sowjetischen Besatzungsmacht in Österreich 1945 –1946, Phil. Dipl. Wien 1998, S. 139 ff.; Text in: Rote Armee. Dokumente, S. 255–263. 68 Text in: Rote Armee. Dokumente, S. 81, 83, 85. Die Befehle wurden auch tatsächlich so angeschlagen. Vgl. Plakat mit dem Befehl des Ortskommandanten des III. Bezirks der Stadt Wien vom 15. 4.1945 (ZGSlgJ. Mappe: Österreich 1945, 3.1 – Besatzung: Sowjetunion).

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te Gewalt, ordnete die Aufhebung aller nach dem 13. März 1938 erlassenen Gesetze an und übertrug die zivile Gewalt auf die von ihm ernannten provisorischen Bürgermeister. Die NSDAP wurde aufgelöst, alle Reichsdeutschen über 16 Jahre unterlagen einer Registrierungspflicht, Waffen und Rundfunkgeräte mussten abgeliefert werden. Alle Personen sollten ihre Tätigkeiten weiter ausüben. Befehl Nr. 2 betraf den militärischen und zivilen Bereich, versteckte deutsche Soldaten und Offiziere, Vorräte und Minenfelder mussten sofort gemeldet werden. Die ernannten Bürgermeister hatten als erste Maßnahmen Feuerwehrkommandos zu schaffen, Räumungsarbeiten durchzuführen sowie Verkehrswege in gutem Zustand zu halten. Weiters wurden gegen die Rote Armee gerichtete Handlungen verboten, der Straßenverkehr zur Nachtzeit nur mit Passierscheinen erlaubt und die Öffnungszeiten von Gastwirtschaften und Unterhaltungsstätten geregelt. Schon im Mai begann aus manchen Orten der Rückzug sowjetischer Truppen, zahlreiche Ortschaften blieben ohne Ortskommandanturen, es waren dann nur mehr Bezirkskommandanturen für das gesamte Gebiet einer Bezirkshauptmannschaft zuständig.69 Ende Mai 1945 bestanden in Niederösterreich 37 Militärkommandanturen, Mitte 1945 in Oberösterreich 3 und im Herbst 1945 im Burgenland 5.70 Ihre Aufgabengebiete wurden im September 1945 und im Juni 1954 zum Teil erheblich verändert.71 Eine eigenartige Position im Zusammenhang mit den Kommandanturen gibt es von Staatskanzler Renner. Schon am 19. April 1945 machte er in einem Gespräch mit Marschall Tolbuchin und anderen sowjetischen Offizieren den Vorschlag, auf den von der Roten Armee befreiten Territorien Musterbezirke einzurichten, in denen eine gemeinsame Arbeit der lokalen Behörden und der sowjetischen Militärverwaltung organisiert werden sollte.72 Das von den Kommandanten Befohlene sollte von den lokalen Behörden ausgeführt werden. Am 8. Juni 1945 wies Renner in einem Gespräch mit Tolbuchin wieder auf die Verwaltungsfrage hin, bemängelte, dass die sowjetische Militärverwaltung keine der österreichischen Verwaltungshierarchie entsprechende Organisation habe und bat um Errichtung von Kommandanturen in den Bezirken und Ländern.73 Er wolle ein gemeinsames starkes System und eine beispielhafte Ordnung, mit der sich alle anderen Zonen der Alliierten vergleichen sollen, da die Gefahr beste69 Ende Mai beschwerte sich Staatssekretär Buchinger bei Marschall Tolbuchin darüber und erhielt von diesem zur Antwort, es würden auch die letzten Kommandos abgezogen, da ja schon eine Regierung existiere. „Der Krieg ist aus“. Vgl. 8. Sitzung des Kabinettsrates der Provisorischen Regierung Renner vom 22. 5.1945. PKR, Band 1, S. 132. 70 Vartanov, Militärkommandanturen, S. 169 ff. Mueller gibt allerdings für 31.12.1945 51 Bezirkskommandanturen an. Vgl. Mueller, Mission, S. 118. Ob diese unterschiedlichen Zahlen durch Fluktuationen zu erklären sind oder die Quellen unterschiedliche Zahlen angeben, bedarf einer näheren Untersuchung. 71 Ebd., S. 166 f. 72 Bericht M. E. Koptelov an V. G. Dekanozov über die Bildung der Provisorischen Regierung Österreichs vom 19. 4.1945. In: Sowjetische Politik. Dokumente, S. 129, 131. 73 Niederschrift des Gespräches des Oberkommandierenden der 3. Ukrainischen Front, Marschall F. I. Tolbuchin, und des Militärratsmitgliedes der Front, Generaloberst A. S. Želtov, mit Staatskanzler K. Renner vom 8. 6.1945, ebd., S. 159, 161.

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he, dass diese ihre eigenen Verwaltungssysteme in ihren Zonen einführen und damit Lösungen erschwert würden. Das Ansinnen, das sowjetische Kommandantursystem in den Westzonen einzuführen, ist ein markantes Beispiel für die verwickelte politische Taktik Renners. Denn einerseits redete er seinem sowjetischen Gegenüber nach dem Mund, andererseits drückte er dadurch seine Sorge über den drohenden Verlust von staatlicher Einheitlichkeit und Kompetenzen der Staatsregierung aus. Die sowjetische Militärverwaltung umfasste auch zwei Sondergebiete: die Steiermark und das Mühlviertel. Im Zuge des militärischen Vormarsches hatte die Rote Armee die Oststeiermark bis zur Enns und Graz besetzt, mit dem Zonenabkommen wurde dieses Bundesland aber der britischen Zone zugeordnet. Etwa zwei Drittel der Steiermark unterstand daher einer sowjetischen Militärverwaltung bis zum Rückzug am 31. Juli 1945.74 Wie auch in Niederösterreich operierten die militärischen Kommandanten mit den vorgefertigten Befehlen und setzten lokale Verwaltungsbehörden ein. In Graz hatte sich vor dem Einmarsch der Roten Armee aus ehemaligen Politikern eine Provisorische Landesregierung gebildet, die nach der Besetzung unter Beiziehung sowjetischer Offiziere umgebildet wurde.75 Auch hier wurde dem Prinzip einer paritätischen Regierung der drei Parteien gefolgt, Provisorischer Landeshauptmann wurde ein Sozialdemokrat, die beiden Stellvertreter kamen von der ÖVP und der KPÖ. Die Kommunisten erhielten die Zuständigkeiten für Propaganda, Erziehung und Wohnungswirtschaft. Eine ähnliche Vorgangsweise gab es bei der Bildung der Grazer Stadtverwaltung. Etwas anders war die Lage im oberösterreichischen Mühlviertel nördlich der Donau, das in den letzten Kriegstagen teilweise von amerikanischen Truppen besetzt worden war. Nach dem Waffenstillstand rückten allerdings Einheiten der Roten Armee weiter nach Westen vor und besetzten das östliche Mühlviertel, in Freistadt kam es sogar für einige Zeit zur gleichzeitigen Besetzung durch Sowjets und Amerikaner.76 Ab dem 23. Mai bis zum 31. Juli 1945 bildete die Eisenbahnlinie Summerau-Mauthausen die provisorische Demarkationslinie zwischen den sowjetischen und amerikanischen Truppen.77 Wie in Niederösterreich wurden auch in den ersten Tagen nach der Besetzung Ortskommandanturen eingerichtet und die vorbereiteten Befehle erlassen. Nachdem die sowjetische Hauptkommandantur zunächst in Freistadt bestand, wurde nach der Übernahme des Mühlviertels infolge des Zonenabkommens am 28. Juli 1945 eine sowjetische Militärregierung für das nördlich der Donau gelegene Oberösterreich in Urfahr eingerichtet.78 Da mit der Übernah74 75 76 77 78

Edith Petschnigg, Die „sowjetische“ Steiermark 1945. Aspekte einer Wendezeit. In: Rote Armee. Beiträge, S. 523–561, hier 553. Ebd., S. 534 ff.; Bericht der Politverwaltung der 3. Ukrainischen Front (Generalmajor Cinëv) über die Tätigkeit der Verwaltungsorgane der Stadt Graz und die Stimmung der Stadtbevölkerung vom 21. 6.1945. In: Sowjetische Politik. Dokumente, S. 163, 165. Merl, Besatzungszeit, S. 45 f. Ebd., S. 49. Oberösterreich. April bis Dezember 1945. Ein Dokumentarbericht, Linz 1991, S. 56.

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me der Zone die Zuständigkeit der Provisorischen Oberösterreichischen Landesregierung erlosch, existierte bis zum 6. August im Mühlviertel keine zentrale Landesgewalt. An diesem Tag ernannte aber die Provisorische Staatsregierung einen Staatsbeauftragten für das von der Roten Armee besetzte Gebiet, der für das Mühlviertel die Kompetenz eines Landeshauptmanns hatte und der „Zivilverwaltung Mühlviertel“ vorstand.79 Diese Zivilverwaltung war nun bis 1955 das direkte Gegenüber der sowjetischen Militärverwaltung nördlich der Donau. Die Motive und der tatsächliche Einfluss sowjetischer Militärbehörden bei der Errichtung der österreichischen lokalen demokratischen Ordnung werden nicht einheitlich interpretiert.80 Differenzen bestehen in der Frage, ob die Rote Armee ein allgemein politisch-diplomatisches Konzept – wie es auch den Vehandlungen der EAC zugrunde lag und wie es den Erklärungen zur raschen Wiederherstellung einer österreichischen Verwaltung entsprach – oder ein ideologisches Konzept im Sinne der Durchsetzung von Interessen der kommunistischen Partei durchsetzen wollte. Klar sind drei Phasen des sowjetischen Einflusses auf die lokale Verwaltung in Österreich zu unterscheiden. Die erste Phase betrifft die kämpfende Truppe vom Überschreiten der österreichischen Grenze am 29. März 1945 bis zum Stillstand der 3. Ukrainischen Front südlich der Donau unter Marschall Tolbuchin am 15. April und der 2. Ukrainischen Front nördlich der Donau unter Marschall Malinovskij am 23. April. Betroffen waren das Burgenland, Teile der Nordsteiermark und Teile Niederösterreichs nördlich und südlich der Donau. In der zweiten Phase wurde der größere Teil Niederösterreichs, Teile der Steiermark und Gebiete im östlichen Oberösterreich erst nach der deutschen Kapitulation am 8. Mai besetzt. Die dritte Phase, ab dem Sommer 1945, betrifft die Periode, als schon die Staatsregierung, die Landesregierungen und die Bezirkshauptmannschaften die Verwaltung kontrollierten und diesen eine gefestigte sowjetische Militärverwaltung gegenüberstand. Das Verhalten der Roten Armee ist in diesen drei Phasen jedoch höchst unterschiedlich. In der ersten Phase setzte sie die lokale Verwaltung durch Befehl ein, reagierte aber in der Regel auf Initiativen aus der Bevölkerung, die auf politischen Ortsstrukturen basierten und Ausdruck eines lokalen politischen Ausgleichs waren. Sie nahm nur, wenn diese nicht vorhanden waren, – mitunter auch unkonventionelle – Bestellungen vor. In der zweiten Phase gab es schon mehr koordinierte politische Maßnahmen der Parteien und ersten regionalen Verwaltungen, die Militärverwaltungen setz79 Ebd., S. 77; Gerald Hafner, Das Mühlviertel unter sowjetischer Besatzung. In: Rote Armee. Beiträge, S. 503–521, hier 507 f. Vgl. auch die Erinnerungen des Staatsbeauftragten: Johann Blöchl. Der Vater des Mühlviertels. Lebenserinnerungen, 3. Auflage Linz o. J. 80 Zur Verwaltungsübertragung vgl. Manfried Rauchensteiner, Der Sonderfall. Die Besatzungszeit in Österreich 1945 bis 1955, Graz 1979, S. 63 ff.; Aichinger, Sowjetische Österreichpolitik, S. 205 ff., 225 ff.; Schilcher, Politik, S. 154 ff.; Mueller, Mission, S. 178 ff., 224.

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ten jedoch auch hier noch kraft ihrer Autorität die Lokalverwaltungen ein. In der dritten Phase kam es in der Regel zu keiner Einsetzung, sondern nur zu einer Bestätigung der eingesetzten Lokalverwaltung durch die Rote Armee. Im Juli 1945 versicherte Konev der Regierung, dass die Kommandostellen der Roten Armee nicht befugt seien, in die Verwaltung des Landes aktiv einzugreifen. Bei etwaigen Beschwerden hätten die Ortskommandanten nicht das Recht, Funktionäre ab- und neue einzusetzen, sondern müssten Unzulänglichkeiten dem Verbindungsmann des Marschalls melden.81 Militärisch notwendige Maßnahmen dürften nur über die lokalen Behörden ergriffen werden. Doch war dies nur ein Rahmen, den Interpretationen war in der Praxis breiter Raum gegeben. Die sowjetischen Ortskommandanten griffen nämlich mitunter weit in die Tätigkeit der Ortsverwaltungen ein, alle Wirtschaftsbetriebe (Industrie, Gewerbe, Handel und Gaststätten) und administrative Einrichtungen mussten erfasst und kontrolliert werden.82 Die Ortsfunktionäre wurden häufig in die Kommandantur zitiert, mussten über zahlreiche, oft belanglose Dinge Auskunft geben oder erhielten Ratschläge. Zumeist handelte es sich um Vorwürfe über zu langsames Arbeiten, zu wenig Initiative oder zu wenig Arbeitseifer.83 Die heillose Verwirrung in der Interpretation besteht darin, dass diese drei Phasen ständig durcheinandergemischt werden und bisher eine systematische Erforschung der nach dem militärischen Verlauf Tag für Tag eingesetzten Lokalbehörden und der damit verbundenen Umstände noch nicht erfolgt ist. So wie die gesamte sowjetische Besatzung widersprüchlich und janusköpfig war,84 so folgten die ersten Amtshandlungen der sowjetischen Kommandanten tatsächlich keinem einheitlichen Schema. Die Einsetzung der provisorischen Gemeindevorsteher oder Bürgermeister (starosti) lassen nur die Konturen eines Prinzips erkennen, nämlich womöglich die bis 1938 im Amt befindlichen und 1938 von den Nationalsozialisten entlassenen Funktionäre wieder einzusetzen.85 Da81 Konev würde dann in Staatsangelegenheiten das Einvernehmen mit dem Staatskanzler, in Landesangelegenheiten mit dem Landeshauptmann herstellen, so dass klar ist „die Rote Armee ist eine Besatzungstruppe, aber die Zivilverwaltung ist Sache der österreichischen Staatsregierung und der Landesregierungen“. Bericht Figl. 16. Sitzung des Kabinettsrates der Provisorischen Regierung Renner vom 10. 7.1945. PKR, Band 1, S. 360; Im September erfolgten ähnliche Weisungen in Bezug auf das Verhältnis zu lokalen Behörden. Weisung der Zentralen Gruppe der Streitkräfte an die Militärkommandanten auf dem von sowjetischen Truppen besetzten Gebiet Österreichs und Ungarns, 15. 9.1945. In: Rote Armee. Dokumente, S. 319. 82 Weisung der Zentralen Gruppe, ebd. 83 Aichinger, Sowjetische Österreichpolitik, S. 267. 84 Wolfgang Etschmann, Überlegungen zur Rezeption des Besatzungsalltags in Niederösterreich 1945/46. In: Ernst Bezemek/Willibald Rosner (Hg.), Niederösterreich 1945 – Südmähren 1945. Die Vorträge des vierzehnten Symposions des Niederösterreichischen Instituts für Landeskunde. Hollabrunn 4.–7. Juli 1994, Wien 1996, S. 183–190, hier 190. 85 Bericht I. V. Sikin an G. F. Aleksandrov über die Lage in den von sowjetischen Truppen besetzten Gebieten Österreichs und über die Stimmung unter der österreichischen Bevölkerung vom 14. 4.1945. In: Rote Armee. Dokumente, S. 101.

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rüber hinaus gab es jedoch ein wirres, buntes Bild. Da wurden die nationalsozialistischen Bürgermeister vorübergehend bestätigt, Verwaltungsbeamte oder Honoratioren des Ortes ausgewählt, in Schönkirchen war es der Pfarrer und in Artstetten Herzog Max von Hohenberg, der Sohn des 1914 ermordeten Thronfolgers Franz Ferdinand.86 In Windhaag bei Perg fand sogar eine reguläre Bürgermeisterwahl am 20. Mai 1945 statt.87 Für die Besatzungsmacht war in erster Linie entscheidend, dass der eingesetzte provisorische Bürgermeister einen breiten Rückhalt in der Bevölkerung hatte und somit die rasche Umsetzung der Normalisierungsmaßnahmen garantierte. Gelegentlich waren auch Russischkenntnisse für die Betrauung ausschlaggebend.88 Gleichzeitig mit den provisorischen Bürgermeistern wurden meist auch provisorische Ortsausschüsse bestellt, die jedoch zunächst nach den alten Parteistärken vor dem Krieg unter Einbeziehung von Kommunisten bestimmt wurden und erst nach der Übernahme der Kontrolle durch Landesregierung und Bezirkshauptmannschaften in der Regel nach dem Verhältnis 1 SPÖ: 1 ÖVP: 1 KPÖ verändert wurden.89 Die These, dass die sowjetischen Militärkommandanten im April 1945 überwiegend Kommunisten als provisorischen Bürgermeister einsetzten und dies Ausdruck der Umsetzung der geplanten volksdemokratischen Initiativgruppentaktik durch die Sowjetbesatzung war,90 ist nicht haltbar. Die bloße Aufzählung von kommunistischen Bezirkshauptleuten, Bürgermeistern oder Polizeikommandanten ist irreführend, wenn man nicht den Zeitraum, in dem ihre Einsetzung erfolgte, berücksichtigt und außerdem die Zahl der kommunistischen Funktionäre mit der Zahl der nichtkommunistischen insgesamt in Relation 86 Merl, Besatzungszeit, S. 54 f., 58–61; Aichinger, Sowjetische Österreichpolitik, S. 225; Mueller, Mission, S. 178 f. Zur Einsetzung von Pfarrer Bradler in Schönkirchen (Bezirk Gänserndorf): Ernst Bezemek, Demokratie ohne Illusion – Zur Rekonstruktion demokratischer Verhältnisse in Niederösterreich. In: Bezemek / Rosner, Niederösterreich 1945 – Südmähren 1945, S. 109, Anm. 37. Zur Einsetzung von Max von Hohenberg: Museum im Schloss Artstetten (Niederösterreich) 1. Stock Vitrine mit der OriginalArmbinde mit der cyrillischen Aufschrift „Burgermeister“ und der diesbezüglichen Angabe. Max von Hohenberg wurde bei der danach folgenden Gemeinderatswahl wiedergewählt. 87 Fellner, Mühlviertel, S. 235. 88 Buchinger, Ende. Band 2, S. 221. 89 So etwa setzte sich der beratende Ausschuss in Neulengbach unter einem sozialistischen Bürgermeister aus 4 Sozialisten, 3 Kommunisten und 2 Mitgliedern der Volkspartei zusammen. Siegfried Beer, Niederösterreich unter der Roten Armee. Erkundungen des US-Geheimdienstes OSS/SSU im Jahre 1945. In: Bezemek/Rosner, Niederösterreich 1945 – Südmähren 1945, S. 125–182, hier Dok. 11 (S. 154). 90 Mueller, Mission, S. 180 f. In Tolbuchins Befehl über die Militärkommandanturen wird zwar in Punkt 8 angeordnet, der Kommandant habe einen provisorischen Bürgermeister zu ernennen und über ihn „Initiativgruppen aus der örtlichen Bevölkerung“ heranzuziehen, doch kam in der Praxis eine aktive Rolle der sowjetischen Besatzungsmacht nicht vor, vielmehr nahm man die Vorschläge aus der Bevölkerung auf. Provisorische Verordnung der 3. Ukrainischen Front über die Militärkommandanturen auf dem von der Roten Armee eingenommenen Gebiet Österreichs vom 20. 4.1945. In: Rote Armee. Dokumente, S. 255.

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setzt.91 Tatsächlich kamen auch – insbesondere in Industriegebieten – von den Kommunisten Initiativen zur Bildung einer lokalen Verwaltung. Dies hing wohl auch mit der Stellung zusammen, die sich die KP im Widerstand gegen den Nationalsozialismus erringen konnte. So etwa erfolgte bereits am 3. April in Ternitz auf Betreiben ortsansässiger Kommunisten die Konstituierung eines provisorischen Gemeinderates mit einem Kommunisten als Bürgermeister.92 Auch in St. Pölten gab es einen kommunistischen Bürgermeister und eine große Zahl kommunistischer Funktionäre. In anderen Orten erwartete die Bevölkerung ein gutes Einvernehmen zwischen Kommunisten des Ortes und der Besatzungsmacht und schob derartige Personen als Funktionäre vor. Es kam aber auch vor, dass sich Personen als Kommunisten ausgaben, ohne dass die Frage gestellt wurde, wie lange sie das denn schon waren. Die kommunistischen Initiativen waren allerdings eine dezentrale Bewegung der Basis und hatten mit der Verwirklichung einer zentralen Initiativgruppentaktik der heimgekehrten KPÖ-Führung aus der Moskauer Emigration nichts zu tun. Darüber hinaus verfügte die KPÖ keineswegs über so große personelle Ressourcen, dass sie in allen Gemeinden politische Positionen besetzen konnten. In den ländlichen Gebieten waren Kommunisten überhaupt Mangelware, dort fand sich mitunter überhaupt niemand aus dem Ort, der sich für eine Verwaltungsfunktion zur Verfügung gestellt hätte. Noch im Juni 1945 beklagte ein sowjetischer Politoffizier, dass die organisatorische Verbindung zwischen den Ländern und Orten und dem Zentralkomitee äußerst schwach sei, in einigen Städten sei eine Parteiorganisation wieder aufgebaut worden, auf dem Lande werde aber eine kommunistische Parteiarbeit beinahe überhaupt nicht betrieben.93 Eine Zusammenarbeit der anderen Parteien mit der KPÖ wurde keinesfalls von den sowjetischen Militärbehörden oktroyiert,94 sondern entsprach in erster Linie dem autonomen politischen Willen der Bevölkerung. Allerdings übte die Anwesenheit der Besatzungsmacht einen gewissen Druck aus, mit den Kommunisten vorsichtig umzugehen. Obwohl die Militärverwaltung grundsätzlich die KPÖ mit Infrastruktur und Ressourcen unterstützte und den kommunistischen Regierungsmitgliedern den Rücken stärkte, waren direkte Eingriffe der Roten Armee in die österreichische Verwaltung zugunsten der KPÖ keinesfalls die Regel, wenngleich mitunter eine derartige Hilfe feststellbar ist. Wenn ein Nicht91 So waren im Juni 1945 im Verwaltungsbezirk Wiener Neustadt nur 11 von 40 Bürgermeistern Kommunisten (Aichinger, Sowjetische Österreichpolitik, S. 232). Von 18 Bezirkshauptmannschaften in Niederösterreich waren nur 3 mit Kommunisten besetzt (Mueller, Mission, S. 180). In Wien sollen von den 21 nach der Befreiung der Stadt von den Sowjets eingesetzten „Bezirksbürgermeistern“ 13 Kommunisten gewesen sein (die Zahlen sind nicht verifiziert). Anton Pelinka, Auseinandersetzung mit dem Kommunismus. In: Weinzierl/Skalnik, Österreich. Zweite Republik. Band 1, S. 169–201, hier 171. Man kann also nicht von einer „überwiegenden“ Zahl von Kommunisten sprechen. 92 Aichinger, Sowjetische Österreichpolitik, S. 225. 93 M. E. Koptelov und G. N. Dzjubenko über die KPÖ vom 10. 6.1945. In: Rote Armee. Dokumente, S. 663. 94 Wie Mueller behauptet. Mueller, Mission, S. 228.

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kommunist zum Bürgermeister bestellt wurde, drängte der Militärkommandant gelegentlich auf einen kommunistischen Stellvertreter oder kommunistische Vertreter im provisorischen Gemeindeausschuss. Im Bezirk Perg unterstützte die Besatzungsmacht den Aufbau der KPÖ-Organisation.95 In Wien erhielt die KPÖ durch Unterstützung des sowjetischen Militärkommandos 200 Gebäude für die Partei.96 Schwerwiegender waren die Fälle, in denen die jeweiligen Militärkommandanten die Ersetzung des kommunistischen Bürgermeisters verhinderten. In St. Pölten erzwang der Ortskommandant, trotz dessen freiwilligen Rücktritts, den Verbleib, in Ebreichsdorf ordnete der Ortskommandant die Wiedereinsetzung des kommunistischen Bürgermeisters an und der kommunistische Bezirkshauptmann von Lilienfeld konnte sich, dank der Unterstützung des Militärkommandanten, bis 1947 halten.97 In zwei Gemeinden des Bezirks Mistelbach etablierte die Rote Armee ehemalige Angehörige der SS als Polizeichefs und ersetzte sie erst nach Übergriffen durch ehemalige Jugoslawienkämpfer.98 Eine große Affäre, die auch die Staatsregierung beschäftigte, entwickelte sich um den Badener Bürgermeister Josef Kollmann. Dieser war schon von 1919 bis 1938 Bürgermeister von Baden gewesen und am 9. April 1945 durch die Rote Armee wieder als Bürgermeister eingesetzt worden. Auf Wunsch des Stadtkommandanten von Baden wurde er aber am 15. August 1945 abgesetzt, seine Suspendierung endete im Januar 1946 mit seiner Demission.99 Der Grund war ein Streit mit dem von der sowjetischen Militärverwaltung eingesetzten kommunistischen Polizeileiter von Baden, der in einen Mordanschlag auf Kollmann verwickelt war und vom Ortskommandanten gestützt wurde. Da aber auch Marschall Konev sich dieser Haltung anschloss, konnte Renner keine Revision der Entscheidung erreichen. Aus punktuellen Unterstützungen aber einen generellen Druck der sowjetischen Militärverwaltung zur Bevorzugung der KPÖ zu konstruieren, ist nicht angebracht. Ihr Interesse war lediglich, dafür zu sorgen, dass die KPÖ im politischen Spiel mit dabei sein konnte.

95 Merl, Besatzungszeit, S. 58, 60; Bericht I. V. Sikin an G. F. Aleksandrov über die Lage in der österreichischen Stadt [sic!] Floridsdorf vom 24. 4.1945. In: Sowjetische Politik. Dokumente, S. 135. 96 M. E. Koptelov und G. N. Dzjubenko über die KPÖ vom 10. 6.1945. In: Rote Armee. Dokumente, S. 663. 97 Aichinger, Sowjetische Österreichpolitik, S. 233; Bezemek, Demokratie, S. 107; Beer, Niederösterreich, Dok. 8 (S. 148), Dok. 26 (S. 180 f.). 98 Bezemek, Demokratie, S. 108. 99 24. Sitzung des Kabinettsrates vom 15. 8.1945. PKR, Band 2, S. 242 und Personenregister S. 525.

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Parteien, Regierung und sowjetische Besatzungsmacht Von Beginn an war eine entscheidende Frage, welchen Spielraum die zentralen, regionalen und lokalen österreichischen Verwaltungen von den jeweiligen Militärverwaltungen und der alliierten Kontrollverwaltung eingeräumt erhielten. Von Bedeutung war aber nicht allein der Umstand, nach welchen Regeln dieses Kräftespiel erfolgte, sondern welche Mittel und Wege für die Österreicher bestanden, die Regeln zu ihren Gunsten zu interpretieren, die Rahmenbedingungen exzessiv zu nützen, unangenehme Forderungen der Alliierten unwirksam zu machen und eigene Vorstellungen durchzusetzen. Die Besatzungsmächte als Faktum war die eine Seite, die verästelte politische Kultur, die politische Struktur und die unterschiedlichen politischen Interessen in Österreich selbst war die andere Seite. Auch die zahlreichen Verbrüderungs-, Dankbarkeits- und Willfährigkeitsrituale konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich Regierung wie Regierte in der Überzeugung einig waren, die lästigen Mitbewohner so schnell als möglich los zu werden zu wollen. Dieses einigende Band bewirkte eine generelle Antihaltung, wenn man auch gerne die westalliierten Unterstützungen annahm, und war die Grundlage für die Fülle von erlisteten oder ertrotzen Erfolgen, von ständig praktizierten Geschmeidigkeiten, hinhaltenden Ausreden und der Doppelbödigkeit, so viele Politikfelder als möglich in eine unüberprüfbare Zone – gleichsam in einen „grauen Staat“ – zu ziehen, um eine Kontrolle durch die Alliierten zu verhindern. Die elitendominierte Literatur hat auch hier offizielle politische Interessen in den Vordergrund gestellt und die vielschichtigen Kräfte dahinter verdeckt. Das im Alltag praktizierte Hase-und-Igel-Spiel harrt in seinen Details noch der wissenschaftlichen Untersuchung. Die Beseitigung jeder basisdemokratischen oder direkt demokratischen Elemente und die strikte Etablierung einer durchorganisierten Parteiendemokratie bedurfte keiner Palaver, sie war stillschweigender Konsens der allmählich die Handlungsfähigkeit übernehmenden Personen, die sich die Frage einer über die bloße Machterringung hinausgehenden Legitimation zunächst gar nicht stellten. Von den politischen Eliten waren im nationalsozialistischen System einige verhaftet worden. Die meisten hatten sich aber vorsichtig oder äußerlich angepasst verhalten und waren über flüchtige Kontakte kaum hinausgekommen. Einige behutsame Gespräche über eventuelle Nachkriegsvorstellungen waren noch 1944 geführt worden, konkrete Besprechungen über die Neubildung der jeweiligen Parteien begannen aber erst während der letzten Kampftage in Wien. Alte Haudegen und in der Illegalität gewachsene Politiker fanden sich zusammen, suchten nach Führern der Vorkriegszeit, knüpften Fäden und peilten die Lage. Das seltsame Gemisch aus erfahrenen und jungen Köpfen war charakteristisch für die Anfangsphase, manche traten aus der zweiten oder dritten Reihe nach vorne, manche traten in diese zurück, nicht ohne Nachfolger empfohlen zu haben, und manche etablierten sich nur als mächtige graue Eminenzen im Umfeld, ohne ins politische Rampenlicht zu treten. Die vielen kleinen Machtgruppen ver-

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einigten sich in kurzer Zeit zu ausgeprägten weltanschaulich unterschiedlichen Machtebenen. Die konsequente Durchsetzung eines Parteienstaates erfolgte in zwei Schritten: Herstellung einer innerparteilichen Geschlossenheit und Durchsetzung des allen Parteien gemeinsamen Interesses, sich den Staat aufzuteilen. Eine Wiederherstellung der Parteienorganisation der Zwischenkriegszeit war infolge der historischen Hypotheken nicht möglich, Sozialdemokraten und Kommunisten hatten in der Illegalität Profil erhalten, die Christlichsozialen suchten nach der Belastung durch den Austrofaschismus einen neuen Weg, doch waren für alle Parteien eine Reihe von Diskontinuitäten entscheidend. Obwohl die nach der Befreiung Wiens entstandenen Parteien zunächst nur einen schmalen Aktionsradius hatten, beanspruchten sie sofort gesamtstaatliche Kompetenz und die Teilnahme an der Staatsregierung. In der am 14. April gegründeten Sozialistischen Partei (SPÖ) war die Einheit noch keineswegs selbstverständlich, denn durch die Auseinandersetzung zwischen der alten sozialdemokratischen Parteiführung und den im illegalen Kampf gewachsenen Revolutionären Sozialisten hatte eine Spaltung zwischen „Rechten“ und „Linken“ gedroht. Zudem führte die Tatsache, dass sich die Partei nach zweieinhalb Jahrzehnten antistaatlicher oder oppositioneller Haltung nun plötzlich in einer staatstragenden Rolle wiederfand, zu strukturellen Spannungen. Am 17. April wurde die „Österreichische Volkspartei“ (ÖVP) gegründet, die sich als „Bürger- und Bauernblock“ zu profilieren suchte, Distanz zum politischen Katholizismus und Ständestaat vor 1938 propagierte, sonst aber ein heterogenes Konglomerat aus „linken“ Anhängern der christlichen Soziallehre, konservativen Katholiken, Bildungsbürgertum, Kapitalisten, Wirtschaftsliberalen, Vertretern der Landwirtschaft und Resten deutschnationaler Bauern war. In der Kommunistischen Partei (KPÖ) bestanden wieder unüberbrückbare Spannungen zwischen den im illegalen Kampf im Land aktiv gewesenen Parteigängern und den durch eine Weisung Stalins als Parteiführung oktroyierten Emigranten aus Moskau und der Partisanenbewegung in Jugoslawien.100 Die straffe zentralistische Führung bewirkte, dass zahlreiche der Parteiführung genehme Funktionäre den sich um ihren Lohn geprellt fühlenden kommunistischen Widerstandskämpfern vorgezogen wurden. Während sich die Vertreter dieser Parteien rasch auf Parteisekretariate, eine breite Organisation, den Anspruch auf alle politischen Kompetenzen und Parteiengespräche einigten, kam ein entscheidender Impuls von einer anderen Seite: von Karl Renner.101 Er erwies sich als der eigentliche Katalysator für die Ver100 Die Emigranten waren für führende politische Positionen vorgesehen. Am 8. April 1945 wurden Johann Koplenig (KPÖ-Vorsitzender und Mitglied des Kabinettsrates in der Regierung Renner) und Ernst Fischer (Staatssekretär für Volksaufklärung, für Unterricht und Erziehung und für Kultusangelegenheiten) mit dem Flugzeug aus Moskau nach Wien gebracht. Von Jugoslawien kamen Franz Honner (Staatssekretär für Inneres), Franz David (Unterstaatssekretär für soziale Verwaltung) und Friedl Fürnberg (1. Sekretär des ZK der KPÖ). 101 Die neueste Übersicht über die Entstehung der Regierung Renner ist: Wolfgang Mueller, Stalin, Renner und die Wiedergeburt Österreichs nach dem Zweiten Weltkrieg. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 54 (2006), S. 125–154.

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bindung von Parteien- und Staatsmacht, und dies war auch der Grund, warum alle Parteien die Führungsfunktion Renners rasch anerkannten. Seine Erfahrung als Staatskanzler des Jahres 1918 – mit der er auch ständig kokettierte – und die Unterstützung der sowjetischen Besatzungsmacht war dabei nur förderlich. Denn Renner hatte sich am 3. April zum Stab der 103. Garde-Schützendivision in der Nähe seines Heimatortes Gloggnitz aufgemacht und sich mit gespielter Naivität und Bescheidenheit für den demokratischen Wiederaufbau angeboten.102 In der Folge konferierte er mit hohen sowjetischen Offizieren, konzipierte Aufrufe an die österreichische Bevölkerung und ging im sowjetischen Gewahrsam seinem Steckenpferd, der Verfassung von Denkschriften, nach, in denen er – in zeitgemäßem Pathos – seine Vorstellungen über den Wiederaufbau des Staates und einer demokratischen Verwaltung skizzierte.103 Renner schlug die Einberufung aller in Österreich befindlichen ehemaligen Abgeordneten des 1933 aufgelösten Parlaments vor, die eine Regierung bestellen sollten. Das Verhältnis in der Regierung sollte 35 Prozent Sozialdemokraten, 35 Prozent Kommunisten, 20 Prozent Christlichsoziale und 10 Prozent Revolutionäre Sozialisten betragen.104 Nach seinen Vorstellungen sollte auf der Basis der Verfassung von 1920 (und nicht in der novellierten Form von 1929) das Koalitionsmodell von 1918 bis 1920 als „Republik von Arbeitern, Bauern und Bürgern“105 wieder aufgenommen werden. Wenngleich so manches durch die poli102 Er erklärte dabei, alt zu sein, sei als letzter Präsident des durch Dollfuß aufgelösten Parlaments aber bereit, mit Rat und Tat bei der Herstellung einer demokratischen Ordnung mitzuwirken. Kommunisten und Sozialdemokraten hätten nun die gemeinsame Aufgabe der Vernichtung des Nationalsozialismus. Er werde das Parlament zusammenrufen, aber Nazis aus dem Parlament ausschließen (allerdings hatte es Nationalsozialisten im Nationalrat nie gegeben, es wäre aber möglich, dass Renner ehemalige Abgeordnete meinte, die sich nach dem „Anschluss“ der NSDAP angeschlossen oder angenähert hatten). „Damit könnte ich meine Funktionen zurücklegen und mich zur Ruhe setzen.“ Chiffretelegramm des Oberbefehlshabers der 3. Ukrainischen Front F. I. Tolbuchin und des Mitglieds des Militärrates A. S. Želtov an Stalin über das Treffen mit Renner vom 4. 4.1945. In: Rote Armee. Dokumente, S. 85. 103 Diese Denkschriften sind nicht publiziert. Renner blieb aber seiner Passion treu und verfasste auf Anregung der sowjetischen Besatzungsmacht in den ersten Monaten drei Denkschriften, die auch publiziert wurden: Denkschrift über die Geschichte der Unabhängigkeitserklärung Österreichs und die Einsetzung der Provisorischen Regierung, Wien 1945; Drei Monate Aufbauarbeit der Provisorischen Staatsregierung der Republik Österreich, Wien 1945; Denkschrift der Provisorischen Staatsregierung der Republik Österreich über die Organisation der Zusammenarbeit der militärischen und zivilen Behörden, Wien 1945. Die Denkschrift über drei Monate Aufbauarbeit wurde Ende Juli 1945 an den Politoffizier der Zentralen Gruppe Želtov übergeben, gleichzeitig bereitete Renner die Denkschrift über die Zusammenarbeit mit den militärischen und zivilen Behörden vor, die er dem Alliierten Rat nach seiner Konstituierung übergeben wollte. Vgl. 22. Sitzung des Kabinettsrates vom 31. 7.1945. PKR, Band 2, S. 167. 104 Chiffretelegramm F. I. Tolbuchin, A. S. Želtov und A. A. Smirnov an I. V. Stalin über Kandidaten für das Amt des Bürgermeisters Wiens und für die Provisorische Österreichische Regierung vom 15. 4.1945. In: Rote Armee. Dokumente, S. 107. 105 Siegfried Nasko (Hg.), Karl Renner in Dokumenten und Erinnerungen, Wien 1982, S. 32.

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tischen Interessen der Parteien und den Einfluss der sowjetischen Funktionäre verändert wurde, so wurden in diesen Überlegungen doch die Grundzüge der neuen Politik entwickelt. Renner versuchte – zunächst im luftleeren Raum –, Kontakte zu knüpfen und Anordnungen zu geben. Die Fäden begannen sich aber erst dann zu verbinden, als er am 19. April 1945 nach Wien zum Befehlshaber der 3. Ukrainischen Front Marschall Tolbuchin gebracht wurde. In dieser Phase mischten sich die Karten der Macht neu, denn Renner fand zwar die Anfänge einer Parteienstruktur und eine am 17. April vom sowjetischen Stadtkommandanten bestätigte Dreiparteieneinigung für die Wiener Stadtverwaltung vor, doch hatten die Parteifunktionäre von ihm nichts gewusst. Tolbuchin erteilte Renner den Auftrag, eine provisorische Regierung zu bilden und sich mit den Führern der demokratischen Parteien über eine Zusammensetzung zu einigen.106 Nun hatte Renner die Verteilung der wichtigsten Posten in der Hand, die Parteien mussten sich mit ihm arrangieren. Über die in den kommenden Tagen gewälzten Pläne, Gegenpläne, Arrangements und Kompromisse sind noch wenige Details bekannt. Am 20. April trafen nun erstmals die Parteienvertreter mit Renner zusammen. Die Stimmung war nicht sehr harmonisch, denn es ging um eine komplizierte Machtverteilung, vor allem die Kommunisten forderten mehr Einfluss, als Renner einzuräumen bereit war. Nach langen Verhandlungen folgte am 23. April die Einigung: Renner erhielt das Amt des Staatskanzlers, ihm wurde je ein Vertreter der drei Parteien beigegeben, die zusammen einen „Politischen Kabinettsrat“ als engstes Führungsgremium bildeten. Die SPÖ stellte zunächst elf Staatssekretäre und Unterstaatssekretäre, die ÖVP neun und die KPÖ sieben, zwei Staatssekretäre waren parteilos, wurden aber jeweils von ÖVP und SPÖ vorgeschlagen.107 Die Kommunisten erhielten neben dem Staatssekretär ohne Portefeuille im Kabinettsrat die zwei Ressorts Inneres sowie Volksaufklärung, Unterricht, Erziehung und Kultusangelegenheiten. Es war Renners Idee, den Einfluss der Kommunisten durch eine aufwendige Konstruktion zu beschneiden: mit Ausnahme des Finanzressorts wurde allen Staatssekretären Unterstaatssekretäre der beiden anderen Parteien beigegeben. So kontrollierte jeder jeden. In der Praxis war bei der Provisorischen Staatsregierung von Demokratie wenig zu spüren. Denn der Politische Kabinettsrat bestand neben Staatskanzler Renner aus Adolf Schärf (SPÖ), Leopold Figl (ÖVP) und Johann Koplenig (KPÖ), tagte meist geheim, musste einstimmig entscheiden und übte nicht nur alle Rechte eines Staatsoberhauptes aus, sondern legitimierte letztlich alle Par106 Wagner, Besatzungszeit, S. 58. Bericht M. E. Koptelev an V. G. Dekanozov über die Bildung der Provisorischen Regierung Österreichs vom 19. 4.1945. In: Sowjetische Politik. Dokumente, S. 129. 107 Zur Konstituierung der Regierung vgl. 2. Sitzung des Kabinettsrates vom 30. 4.1945. PKR, Band 1, S. 4 f. Die Zahl der Regierungsmitglieder erhöhte sich in der Folge bis auf 39, was damit begründet wurde, dass die Provisorische Regierung zugleich Aufgaben einer Regierung und eines Parlaments zu erfüllen habe. Tatsächlich wurde aber mit dieser Maßnahme wieder versucht, das Kräftegleichgewicht auszutarieren. Zur Bildung der Regierung auch Schärf, Österreichs Erneuerung, S. 33 ff.

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teienentscheidungen. Es war ein autokratisches Organ, das noch zusätzliche antidemokratische Züge durch den sehr autoritären Führungsstil Renners erhielt. Neben dieser „staatspolitischen Einrichtung von sehr zweifelhafter Kompetenz“108 bestand die Provisorische Staatsregierung als „sonderbare Konstruktion“,109 weil sie im Legalitätsvakuum die vollziehende, gesetzgebende und verfassungsgebende Gewalt in sich vereinigte.110 Eine Staatsdiktatur wäre mit diesem heiklen Instrumentarium möglich gewesen. Dazu kam es nicht, doch bleibt die Frage offen, ob nicht bereits damals Elemente einer Parteiendiktatur in die politische Praxis einsickerten. Innerhalb der Koalitionäre gab es erhebliches Misstrauen und Spannungen sowie Unstimmigkeiten über politische Fragen, vor allem über die Behandlung der Nationalsozialisten. Der Staatskanzler verbündete sich einmal mit der KPÖ gegen die ÖVP, dann wieder mit der ÖVP gegen kommunistische Forderungen, suchte jedoch insgesamt die Positionen der ÖVP zugunsten der Sozialdemokraten zu schwächen. Für die KPÖ war er „der schlechteste Sozialdemokrat und ein schlauer Fuchs“,111 die ÖVP warf ihm seine Zustimmung zum Anschluss 1938 vor. Die Koalition war eine reine Zweckgemeinschaft. Die überragende Position der Parteien bei der Staatswerdung und ihr machtbewusstes Agieren nach der Beseitigung der nationalsozialistischen Herrschaft führten auch zu einer gar nicht selbstverständlichen staatspolitischen Handlung. In einer Proklamation über die Unabhängigkeit Österreichs112 erklärten am 27. April 1945 die drei Parteien die Wiederherstellung der Republik im Geiste der Verfassung von 1920, die Annullierung des Anschlusses, die Einsetzung einer provisorischen Staatsregierung, die Entlassung der Bürger aus der Pflicht zum Deutschen Reich und die Herstellung eines Treueverhältnisses zur Republik Österreich. Hinter der vieljährigen patriotischen Euphorie um die Unabhängigkeitserklärung versteckt sich die eigentliche Fragwürdigkeit, dass rechtlich inexistente Gruppen – Parteien waren in der Verfassung nicht vorgesehen – staatsrechtlich so weitreichende Akte setzen und der Bevölkerung Rechte und 108 Karl Gruber, Meine Partei ist Österreich. Privates und Diplomatisches, Wien 1988, S. 89. 109 Karl R. Stadler, Adolf Schärf. Mensch, Politiker, Staatsmann, Wien 1982, S. 197. 110 Schärf berichtet über eine Debatte im Vorstand der SPÖ, wo sich der Ehrenvorsitzende Karl Seitz über die Vollmachten der Provisorischen Staatsregierung mit folgenden Worten alterierte: „... aber jetzt: die Vollmachten des Kaisers hat der Renner, die Vollmachten des Abgeordnetenhauses hat die Regierung Renner, und die Vollmachten des Herrenhauses hat wieder die Regierung Renner?!“ Stadler, Schärf, S. 198. 111 Ein Satz von Friedl Fürnberg, dem 1. Sekretär der ZK der KPÖ. Die wörtliche Übersetzung der Zuordnung Renners lautete „listiger Wolf“. Bericht der politischen Abteilung des 336. Grenzregiments der Truppen des NKVD, o. D. (nicht nach dem 15. 5. 1945). In: Rote Armee. Dokumente, S. 181. 112 Proklamation über die Unabhängigkeit Österreichs durch die Sozialistische Partei Österreichs (Sozialdemokraten und Revolutionäre Sozialisten), die Christlichsoziale Volkspartei bzw. nunmehr Österreichische Volkspartei und die Kommunistische Partei Österreichs vom 27. 4.1945. In: Eva-Marie Csáky, Der Weg zu Freiheit und Neutralität. Dokumentation zur österreichischen Außenpolitik 1945–1955, Wien 1980, S. 36 f.; Staatsgesetzblatt für die Republik Österreich Nr. 1/1945 vom 1. 5.1945.

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Pflichten vorschreiben konnten. Die spätere Aufnahme der Proklamation in das Staatsgesetzblatt ändert an der politischen Dimension auch nichts. Klarer konnte wohl nicht ausgedrückt werden, in wessen Händen die Macht lag. Die Geburtsurkunde der Zweiten Republik hatte aber auch noch einen anderen Teil, in dem die Weichen für die neue Staatsideologie gestellt wurden: das wehrlose Österreich sei besetzt und beraubt, das macht- und willenlos gemachte Volk in einen sinnlosen Eroberungskrieg, den kein Österreicher je gewollt habe, gejagt worden. Diese Grundlage der Opferthese und offiziellen Linie der Vergangenheitsbewältigung – maßgeblich von Renner formuliert113 – wurde von allen Parteien, auch von der KPÖ, akzeptiert und fand auch die Zustimmung der sowjetischen Besatzungsmacht, die den Text vor der Veröffentlichung genehmigen musste. Die Provisorische Staatsregierung Renner, die einen Tag vorher ihre offizielle Tätigkeit aufgenommen hatte, hielt am 29. April 1945 im Wiener Rathaus ihre erste Sitzung ab114 und zog im Anschluss daran in einem theatralischen Spektakel zum teilweise zerstörten Parlamentsgebäude. Dort wurde sie von den Spitzen der sowjetischen Militärverwaltung empfangen und in den Sitzungssaal geführt, wo sie das Parlament feierlich in Besitz nahm. Das Bild des Häufleins frierender Männer in ihren alten Mänteln inmitten sowjetischer Offiziere in dem riesigen Saal symbolisiert sehr deutlich die Schwierigkeiten und die Atmosphäre dieser Zeit. Unabhängig von der Entwicklung zentraler Parteiapparate fanden sich auch in den Städten und Gemeinden – oft spontan – Vertreter unterschiedlicher Parteirichtungen zusammen. Zunächst noch ohne Rückhalt in einer lokalen oder regionalen Parteiorganisation – deren Aufbau oft erst spät erfolgte – kamen sie überein, nach einem unterschiedlichen Stärkeverhältnis eine lokale Verwaltung zu bilden. Die Zuordnung dieser politischer Richtungen folgte – im Gegensatz zur Basisbewegung der ersten Übergangsphase – in der Regel traditionellen Parteistrukturen und ideologisch unterscheidbarer Lager. Es ist das Charakteristikum dieser österreichischen Demokratie des Jahres 1945, dass immer wieder diese dezentralen Initiativen auf zentralistische Entwicklungen trafen. Einerseits musste man sich mit der sowjetischen Militärverwaltung arrangieren, andererseits kamen von oben die Bestrebungen zur Etablierung einer hierarchisierten Verwaltung. Das Dreiparteien-Monopol wurde jedoch überall durchgesetzt. Im September 1945 beschloss etwa der Provisorische Landesausschuss für Niederösterreich, dass alle Personen, die als Gemeindeausschussmitglieder keiner der drei politischen Parteien – ob parteilos oder unpolitisch – angehörten, automatisch aus dem Gremium ausscheiden und durch Mitglieder der SPÖ, ÖVP oder KPÖ ersetzt werden mussten.115 Die Grundzüge der Regierungspolitik Renners, in denen er sich auch mit den Parteiinteressen traf, war die Liquidierung der zu Kriegsende entstandenen fö113 Stadler, Schärf, S. 199. 114 1. Sitzung des Kabinettsrates vom 29. 4.1945. PKR, Band 1, S. 1 f. 115 Aichinger, Sowjetische Österreichpolitik, S. 207.

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deralen Kräfte und die Etablierung einer strikt zentralistischen Staatskonstruktion.116 Allerdings gelang es ihm nicht immer, föderale Widerstände – etwa bei seinem Versuch, anlässlich der Aufhebung des deutschen Gemeinderechts Länderrechte auszuschalten117 – zu überwinden, doch aus der nicht offen ausgetragenen Auseinandersetzung zwischen Föderalismus und Zentralismus ging letzterer für die Anfangszeit der Zweiten Republik als Sieger hervor. Dem Ziel einer Trennung vom Deutschen Reich und der Herstellung einer österreichischen Verfassungs- und Verwaltungsstruktur diente eine Reihe von Gesetzen. Am 1. Mai 1945 wurden zwei Verfassungsgesetze erlassen.118 Das Verfassungsüberleitungsgesetz setzte die Verfassung in der Form von 1929 und alle übrigen Verfassungsgesetze und Verfassungsbestimmungen nach dem Stand vom 5. März 1933 (dem Tag der Wirksamkeit der Ausschaltung des Parlaments durch die Regierung Dollfuß) wieder in Kraft, alle danach erlassenen Verfassungsgesetze einschließlich der deutschen Reichsgesetze, die Verfassungsbestimmungen betrafen, wurden aufgehoben. Die Vorläufige Verfassung übertrug der Provisorischen Staatsregierung bis zur Wahl einer frei gewählten Volksvertretung alle Aufgaben der obersten Vollziehung und Gesetzgebung, sie vereinte damit alle Vollmachten des Nationalrats, des Bundesrats und der Landtage und war somit eine streng zentralistische Übergangsverfassung. Sie trat am 19. Dezember 1945, nach der Konstituierung des neu gewählten Nationalrates, außer Kraft. Der de jure-Beseitigung der deutschen Behördenorganisation und der verwaltungspolitischen Wiederherstellung eines vierstufigen Instanzenzuges (Zentral-, Landes-, Bezirks- und Gemeindeverwaltung) diente das Behörden-Überleitungsgesetz vom 28. Juli 1945.119 Renner verfolgte nahezu manisch zwei zentrale politische Anliegen: die Sicherung der staatlichen Einheit sowie die Ausweitung und eifersüchtige Überwachung der Regierungskompetenzen, worin auch die des Staatskanzlers selbst 116 Renner sagte, die Provisorische Staatsregierung habe „den von den Preußen geschaffenen Apparat liquidiert“ und „einen zentralisierten Apparat von oben nach unten auf demokratischen Grundlagen geschaffen“. Niederschrift eines Gesprächs des Marschalls F. I. Tolbuchin und des Generalobersten A. S. Želtov mit Staatskanzler Renner vom 8. 6.1945. In: Sowjetische Politik, S. 159. In einem Memorandum über die Einrichtung der inneren Verwaltung überlegte Renner, die von den Nationalsozialisten abgeschaffte Autonomie der Länder nicht wieder herzustellen, weil allmächtige Landtage und Landeshauptleute schädlich und untragbar seien, es würden wieder 8 Paschaliks aufgerichtet werden, die Absonderungstendenzen hätten und den Widerstand gegen die Staatsgewalt organisierten. Für ein kleines Land sei es unnötig und beinahe lächerlich, seine öffentliche Gewalt auf solche Weise zu zersplittern. 5. Sitzung des Kabinettsrates vom 10. 5.1945. PKR, Band 1, S. 45 f., Beilage 1. 117 12. Sitzung des Kabinettsrates vom 12. 6.1945, Tagesordnung Punkt 8. PKR, Band 1, S. 221 f. 118 Verfassungsüberleitungsgesetz. In: Staatsgesetzblatt für die Republik Österreich Nr. 4 vom 1. 5.1945; Verfassungsgesetz über die vorläufige Einrichtung der Republik Österreich (Vorläufige Verfassung). In: Staatsgesetzblatt für die Republik Österreich Nr. 5 vom 1. 5.1945; Heinrich Siegler (Hg.), Österreichs Weg zur Souveränität, Neutralität, Prosperität 1945–1959, Bonn 1959, S. 10. 119 Staatsgesetzblatt für die Republik Österreich Nr. 94 vom 28. 7.1945.

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eingeschlossen waren. Ständig beschwor er Regierungsmitglieder und Parteien, für die Einheit des Staates einzutreten. Er war aufgebracht, dass die Regierung Gesetze erlasse, diese aber nicht überall gelten würden, und beschwerte sich bei Marschall Tolbuchin, dass die politischen Anordnungen zwar für die 3. Ukrainische Front, nicht aber für das von der 2. Ukrainischen Front unter Marschall Malinovskij kontrollierte Gebiet gelte Der Versuch der Regierung, einen Bürgermeister in Korneuburg einzusetzen, sei von diesem verhindert worden.120 Zu einer aus der Ersten Republik resultierenden Furcht vor bürgerlichen Separationsbewegungen gesellte sich die Furcht vor einer Tiroler Sezession unter Landeshauptmann Gruber.121 Vor allem aber misstraute er den drei westlichen Alliierten. Er meinte, es sei unmöglich, auf österreichischem Gebiet vier verschiedene Verwaltungen zu haben und stellte die Forderung auf, die Alliierten hätten die österreichische Verwaltungseinheit zu berücksichtigen.122 Mitunter versuchte er sogar, die Spitzen der sowjetischen Militärverwaltung zu Fürsprechern für die österreichischen Anliegen bei den anderen Alliierten zu machen. Dieser Beharrlichkeit ist es wohl auch zu verdanken, dass Separationstendenzen keine größere politische Wirksamkeit hatten und das staatliche Schiff auf Kurs blieb. Denn Renner verstand sich nicht nur als politisches, sondern auch als mentales Zentrum und Wahrer gesamtstaatlicher Interessen. Damit im Zusammenhang stand aber auch die Frage der Anerkennung der Regierung Renner. Die dominante Rolle der Sowjetunion bei der Regierungsbildung, die frühe Notifikation an den Rat der Volkskommissare der UdSSR und die verspätete Information an die westlichen Verbündeten riefen deren Misstrauen hervor. Großbritannien etwa brachte am 27. April 1945 einen scharfen Protest ein, die USA verschoben die Anerkennungsfrage bis zum Zeitpunkt des Zusammentretens der Alliierten Kommission in Wien.123 Renner war sich der Problematik einer Schirmherrschaft unter dem Mantel der Roten Armee durchaus bewusst und sandte danach deutliche Signale an den Westen, so dass den Westmächten bald klar war, dass Renner keineswegs die Rolle einer sowjetischen Marionette zu spielen gewillt war. Dennoch kam es monatelang zu keiner offenen Entspannung, auch die Proklamation des Alliierten Rates vom 11. September 1945 erwähnte keine explizite Anerkennung der Regierung. Erst in einem Memorandum des Alliierten Rates vom 20. Oktober 1945 erfolgte, nach den Entscheidungen der Ersten Länderkonferenz, die Bestätigung für die 120 8. Sitzung des Kabinettsrates vom 22. 5.1945. PKR, Band 1, S. 111; Niederschrift des Gesprächs M. E. Koptelovs mit Staatskanzler Renner vom 11. 5.1945 und Niederschrift des Gesprächs Marschall F. I. Tolbuchins und Generaloberst A. S. Želtovs mit Staatskanzler Renner vom 8. 6.1945. In: Sowjetische Politik. Dokumente, S. 143 und 157. 121 19. Sitzung des Kabinettsrates vom 24. 7.1945. PKR, Band 2, S. 94. 122 12. Sitzung des Kabinettsrates vom 12. 6.1945. PKR, Band 1, S. 204; 17. Sitzung des Kabinettsrates vom 17. 7.1945 und 19. Sitzung des Kabinettsrates vom 24. 7.1945. PKR, Band 2, S. 7 und 78. 123 Die Notifikation erfolgte am 28. April 1945 zu Handen des Volkskommissars für Auswärtige Angelegenheiten Molotov. Vgl. Schilcher, Österreich und die Großmächte. Dokumente, S. 1; Schilcher, Politik, S. 114, 118.

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Regierung Renner, kurze Zeit später nahmen die Besatzungsmächte diplomatische Beziehungen auf.124 Waren in den Ländern und Gemeinden vielfältige Initiativen von unten entstanden, so war es das erklärte Bestreben Renners, diese Entwicklungen unter Kontrolle zu bringen. Er konstatierte Anfang Mai 1945 zwischen der Staatsregierung und Gemeinden ein Vakuum, da die Bezirks- und Landesbehörden ihre Tätigkeit noch nicht aufgenommen hatten.125 Diese Lücke zu schließen, war ebenso sein Bestreben wie die Ansicht, die Staatsregierung müsse alle politischen Landes- und Bezirksbehörden legitimieren, wozu zunächst analog zur Staatsregierung provisorische Landesausschüsse durch die drei Parteien eingerichtet werden sollten. In einem „Memorandum betreffend die Einrichtung der allgemeinen inneren Verwaltung“126 entwickelte er in einem pompösen Gemälde seine Vision der Verwaltung. Ländern sollte in Zukunft nur mehr die Selbstverwaltung, nicht aber die Selbstregierung zugestanden werden. Eine neue politische Konstruktion, die Viertelverwaltung, mit aufwendigen Teilwahl- und Empfehlungsstrukturen sollte errichtet werden, ein Zugriff der Staatsregierung auf die Schlüsselpositionen der Verwaltung aber gesichert werden. Bezirksvertreter wären nicht mehr durch Volkswahl zu berufen, „um das Wahlgeschäft nicht gar zu sehr auszudehnen und die Bevölkerung mit immer wiederholten Wahlen zu beschäftigen“,127 sondern durch Delegation. Über den Bezirksvertretungen und Bezirkshauptmannschaften wäre eine, von der Staatsregierung bestätigte Kreisverwaltung zu etablieren. Im Rahmen der Lokalverwaltung war die Verankerung des Dreiparteienproporzes im Delegationssystem ohne Wahlen vorgesehen. Dieses System sollte dann mit den sowjetischen Militärbehörden eine „Zusammenverwaltung“128 eingehen. Die Verwirklichung dieses Programms hätte in der Realität die Beseitigung des traditionellen Föderalismus unter Beibehaltung einiger föderaler Hüllen bedeutet. In einigen zentralistischen Vorstellungen konnte sich Renner jedoch nicht durchsetzen, im Allgemeinen blieb die langjährig geübte Praxis, nur einige Neuerungen bezüglich der Länder wurden in den Abschnitt über die Verwaltung in die Vorläufige Verfassung aufgenommen. Es blieb die Tradition, dass der Landeshauptmann von der Staatsregierung ernannt und abberufen werden konnte, die Idee der Kreisorganisationen wurde durch die Einführung eines Freiwilligkeitsprinzips zu Grabe getragen. Dieser Plan ist über die Skurrilität hinaus ein gutes Beispiel für Renners politisches Denken. Für ihn waren die Spontaneität, Phantasie und Unkonventionalität der ersten Normalisierungsschritte ein Horror. Er konnte nur ein System begreifen, das nach zentral vorgegeben Regeln die notwendigen Maßnahmen von oben organisierte und die Ziele zentralistisch bestimmte. 124 125 126 127 128

Csáky, Weg, S. 50, 54, 57. 4. Sitzung des Kabinettsrates vom 8. 5.1945. PKR, Band 1, S. 20. 5. Sitzung des Kabinettsrates vom 10. 5.1945. Beilage 1, S. 45 ff. Ebd., S. 47. Ebd., S. 49.

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Doch oft wurde die Rechnung ohne den Wirt gemacht, denn in den Ländern bildeten sich spontan politische Initiativen zur Einrichtung einer Verwaltung, ohne dass man auf Renners Vorschläge wartete. Es blieb diesem dann meist nur übrig, die dezentral getroffenen Entscheidungen nachträglich anzuerkennen. In Wien fand der Probelauf einer Verwaltungseinrichtung statt, noch vor der Ankunft Renners in der Stadt hatten sich am 17. April 1945 die in Entstehung begriffenen Parteien bereits auf eine gemeinsame Wiener Stadtverwaltung unter einem Sozialisten als Bürgermeister und je einem Stellvertreter der ÖVP und KPÖ geeinigt. Eine der Hauptsorgen des neuen Bürgermeisters Theodor Körner galt der Beseitigung einer drohenden föderalistischen Struktur in den Bezirken, die zum Teil weitreichende Kompetenzen ausübten, durch eine straffe Zentralisierung der Verwaltung. Ein besonderes Problem stellten dabei die 1938 eingemeindeten Randgemeinden dar, wo die von der sowjetischen Militärverwaltung eingesetzten provisorischen Bürgermeister und die im lokalen Parteienkonsens erstellten provisorischen Gemeindeausschüsse amtierten. Schon bei der ersten Besprechung der Bezirksbürgermeister am 27. April 1945 bildete dies das Hauptthema. Am 7. Juli 1945 fiel schließlich eine Entscheidung durch eine Einigung der Parteizentralen von ÖVP, SPÖ und KPÖ auf einen Proporz für die leitenden Bezirksfunktionen, wodurch ein großer Teil der Bezirksbürgermeister der ersten Stunde durch Parteivertrauensleute ersetzt wurde.129 In den meisten Darstellungen über die Beseitigung der dezentralen demokratischen Strukturen der ersten Nachkriegszeit wird dies mit der Entfernung der von den Sowjets eingesetzten Kommunisten begründet, doch verdeckte diese Argumentation nur das eigentliche Motiv: die großkoalitionäre Rechtfertigung des Parteienzentralismus. Schon nach der Einnahme Wiens entstanden die ersten Initiativen zur Einrichtung einer niederösterreichischen Landesverwaltung.130 Leopold Figl (für die ÖVP) und Oskar Helmer (für die SPÖ) nahmen gemeinsam am 17. April 1945 das Niederösterreichische Landhausgebäude in Wien in Besitz, die Parteienvertreter schlugen Figl als provisorischen Landeshauptmann und Helmer als seinen Stellvertreter sowie als zweiten Stellvertreter den Kommunisten Otto Mödlagl vor. Die sowjetische Militärverwaltung erklärte ihre Zustimmung zu dieser Entscheidung. Am 9. Mai wurde ein neunköpfiger Landesausschuss als Beratungsorgan mit vier Vertretern der ÖVP, drei der SPÖ und zwei der KPÖ bestellt.131 Dieser Landesausschuss sorgte sehr rasch für den Aufbau der mittleren Landesverwaltung, er gab schon am 11. Mai Richtlinien für die Bezirkshauptmänner aus und forderte sie auf, umgehend ihre Arbeit zu beginnen und mit den örtlichen Kommandos der Roten Armee Kontakt aufzunehmen. Bei den Bezirkshauptmannschaften wurden Räte (Ausschüsse) mit je einem Vertreter 129 Wiener Stadt und Landesarchiv. Magistratsdirektion Bürgermeisteramt 1945. 76/45. 130 Hermann Riepl, Die Neubildung der NÖ Landesregierung und der Wiederaufbau der NÖ Landesverwaltung im Jahre 1945. In: Niederösterreich 1945 – Südmähren 1945, S. 87–100. 131 Ebd., S. 89.

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der drei Parteien eingerichtet, die in der Praxis für den Bezirkshauptmann Befehls- und Kontrollorgan waren. Die Bezirkshauptleute sollten aber auch die Einsetzung von Bürgermeistern und Gemeindeausschüssen veranlassen. Auch hier waren aber die Vertreter der drei Parteien befugt, Vorschläge vorzulegen. Es ist jedoch festzustellen, dass trotz einer anscheinenden Gleichberechtigung der drei Parteien, die Kommunisten in Niederösterreich wenig zu sagen hatten, oft wurde der kommunistische Landeshauptmannstellvertreter zu Sitzungen gar nicht hinzugezogen, oft reiste er mit dem Landeshauptmann und dessen anderem Stellvertreter durch das Land, konnte aber keine Entscheidungen treffen. Die Macht bleib fest in den Händen von ÖVP und SPÖ. Staatskanzler Renner bestand darauf, der provisorischen Landesverwaltung die Legitimation zu verleihen, weshalb er am 29. Mai 1945 im Kabinettsrat die Bestellung vornahm, jedoch resignierend auf die tatsächlichen Entscheidungsträger, die Parteienvertreter, verwies.132 Eine Bestätigung des provisorischen Landesausschusses für Niederösterreich, der schon monatelang amtierte, durch den Kabinettsrat erst im Juli 1945 war sowohl eine bürokratische wie politische Farce.133 In der Burgenlandfrage musste Renner eine Niederlage einstecken. Er hatte sich strikt gegen eine Wiedererrichtung des Burgenlandes ausgesprochen und wollte die nationalsozialistische Aufteilung auf Niederösterreich und die Steiermark aufrecht erhalten.134 Doch schon im Mai 1945 bildete sich ein provisorisches Landeskomitee, das aus drei ehemaligen Sozialdemokraten, drei ehemaligen Christlichsozialen und zwei Kommunisten einen „Provisorischen Landesausschuss“ einrichtete und die Wiedererrichtung des Burgenlandes forderte.135 Renner suchte noch das Gesicht zu wahren und gab vor, erst nach einem Gespräch mit den drei Vertrauensmännern der Parteien aus dem südlichen und nördlichen Burgenland eine Entscheidung treffen zu wollen,136 doch die Würfel waren schon längst gefallen. Auch hier schuf eine regionale Dreiparteienkooperation vollendete Tatsachen. Mit einem Verfassungsgesetz wurde am 29. August das selbständige Land Burgenland wiedererrichtet.137 Nur einen marginalen Einfluss hatte die Regierung in der Steiermark und im Mühlviertel, ihr blieben nur formale Bestätigungen vorbehalten. Im Juni 1945 erfolgte die Ernennung des steiermärkischen Landeshauptmannes, seiner Stellvertreter und des provisorischen Landesausschusses.138 Im Mühlviertel wurde 132 „Da diese Berufung im Einvernehmen aller drei Parteien erfolgt ist, glaube ich, dass wir dem Antrag zustimmen werden.“ 10. Sitzung des Kabinettsrates vom 29. 5.1945, Tagesordnung Punkt 2. PKR, Band 1, S. 162. 133 Bestellung des Provisorischen Landesausschusses für Niederösterreich. 17. Sitzung des Kabinettsrates. PKR, Band 2, S. 18. 134 5. Sitzung des Kabinettsrates vom 10. 5.1945. PKR, Band 1, S. 46. 135 Felix Tobler, Zur Verwaltung des Burgenlandes 1918–1946. In: Stefan Karner (Hg.), Das Burgenland im Jahr 1945. Beiträge zur Landes-Sonderausstellung 1985, Eisenstadt 1985, S. 38–48, hier 46; Rauchensteiner, Sonderfall, S. 82 f., 131. 136 23. Sitzung des Kabinettsrates vom 7. 8.1945. PKR, Band 2, S. 224. 137 Staatsgesetzblatt für die Republik Österreich Nr. 143 vom 29. 8.1945. 138 13. Sitzung des Kabinettsrates vom 19./20. 6.1945. PKR, Band 1, S. 255.

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am 6. August 1945 eine Zivilverwaltung eingerichtet mit einem Staatsbeauftragten an der Spitze und einem von den drei Parteien besetzten Ausschuss, die von der Staatsregierung bestellt wurden.139 Die Zentralisierung der Verwaltung und die Kanalisierung der Politik in den gefestigten Parteienorganisationen führte im Sommer 1945 zur großen Säuberung. Ein Teil der in den April- und Maitagen eingesetzten Bürgermeister, Gemeindefunktionäre und Bezirkshauptleute wurde abgelöst oder entmachtet, wobei es keineswegs nur Kommunisten waren, sondern auch jene, für die ein Einvernehmen der drei politischen Parteien nicht hergestellt werden konnte. Die Zustimmung der KPÖ zu ihrer eigenen Entmachtung wurde mit einer Reihe von Konzessionen (etwa eine Art Vetorecht, Verbleib in den Gemeindeausschüssen) erkauft,140 sie wollte es aber auch auf einen offenen Bruch nicht ankommen lassen. Auch die sowjetische Militärverwaltung war verstimmt, nahm diese Vorgänge aber doch ohne Protest zur Kenntnis. Eine vordergründige Verwaltungsmaßnahme wurde so zur endgültigen Sicherung des Parteieneinflusses. Alle österreichischen politischen und administrativen Maßnahmen beruhten auf einer Fülle autonomer Kräfte, doch war allen Beteiligten klar, dass Österreich ein militärisch besetztes Land war und die sowjetische Militärverwaltung die Spielregeln zwischen Selbständigkeit, Kontrolle und Befehlen festlegte. Es besteht kein Zweifel, dass für die österreichische Zentralverwaltung die Sowjetunion zunächst einer Initiativgruppentaktik folgte und als diese infolge der Unterstützung Renners aufgegeben wurde, durch ein gemäßigtes Nationalfrontkonzept einer Zusammenarbeit der drei zugelassenen Parteien ersetzte.141 Es ist auch offensichtlich, dass die sowjetischen militärischen Spitzen bestimmte politische Vorstellungen entweder über die kommunistischen Vertreter in der Regierung oder über Renner direkt ins Spiel brachten. Es lässt sich jedoch auf beiden Seiten eine anhaltende Geschmeidigkeit, die man auch als Interaktion definieren könnte, feststellen und die auch öfter dazu führte, dass die sowjetischen Vorschläge nicht aufgenommen wurden oder die Militärbehörden keine Einwände gegen österreichische Maßnahmen hatten. Es ist auch nicht ohne Einfluss, dass das streng zentralistische sowjetische Denken Mühe hatte, föderalistische Strukturen und Maßnahmen in Österreich zu verstehen. Jedenfalls gab es regelmäßige und intensive Kontakte zwischen Renner und Marschall Fëdor I. Tolbuchin, dessen Nachfolger Marschall Ivan S. Konev und den sowjetischen Politoffizieren, voran einem der profiliertesten Generaloberst Aleksej S. Želtov und Evgenij D. Kiselëv. Das Erklärungsmodell einer Übernahme sowjetischer Forderungen ist unhaltbar, vielmehr muss man die große Zahl von Adaptionen in jedem einzelnen Fall untersuchen. Außerdem ist es völlig falsch, von einer sowjetischen Homogenität auszugehen, in der Haltung der Roten Armee gegen139 Gesetz über die Ordnung der staatlichen Verwaltung in der russischen Besatzungszone von Oberösterreich. Staatsgesetzblatt für die Republik Österreich Nr. 115 vom 7. 8.1945; 23. Sitzung des Kabinettsrates vom 7. 8.1945. PKR, Band 2, S. 216. 140 Aichinger, Sowjetische Österreichpolitik, S. 230 ff. 141 Mueller,Mission, S. 171 ff. und 196 ff.

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über der österreichischen Politik und Verwaltung gab es eine Reihe von Brüchen. Die Kampfphase entsprach anderen Kriterien als die Phase nach der deutschen Kapitulation, zudem gab es erhebliche Unterschiede zwischen der 2. und 3. Ukrainischen Front, Marschall Tolbuchin hatte Interesse an der ÖsterreichFrage und zeigte ein gewisses Wohlwollen, was man bei Marschall Malinovskij nicht feststellen kann. Einen gewaltigen Umbruch bedeutete die Umstrukturierung der Roten Armee in Mitteleuropa im Mai und Juni 1945, zahlreiche Truppenkörper wurden abgezogen und durch andere ersetzt. Die Schaffung einer neuen „Zentralen Gruppe der Streitkräfte“ für die Tschechoslowakei, Ungarn und Österreich unter dem Oberbefehlshaber Marschall Konev mit dem Sitz in Wien142 war mit erheblichen personelle Änderungen verbunden, was die sowjetische politische Arbeit für mehrere Wochen lahm legte. Kaum zu übersehen ist die Zahl der Interpretationen von Politikern, Hobbyhistorikern und historischen Auguren über die Beweggründe der Betrauung Karl Renners mit der Aufgabe, eine zentrale Verwaltung einzurichten. Auf Grund der zugänglichen russischen Dokumente ist der Schleier des Geheimnisvollen und Unerklärbaren gelüftet.143 Auf den Bericht über das Eintreffens Renners im Kommando der 9. Garde-Armee, der am 4. April 1945 um 14.00 Uhr mit der Bitte um Weisungen an Stalin gesandt wurde, erfolgte schon um 19.30 Uhr die Antwort mit dem Inhalt, Renner Vertrauen zu erweisen und ihn bei der Wiederherstellung der demokratischen Ordnung zu unterstützen.144 Diese geradezu blitzartige Entscheidung ist dadurch erklärlich, dass Renner im Land Autorität zu genießen schien, ein erfahrener Politiker war und die Garantie für eine starke österreichische Selbstverwaltung und die rasche Herstellung stabiler Verhältnisse war. Der Brief Renners an Stalin vom 15. April 1945,145 in dem er sich vertraulich an den „sehr geehrten Genossen“ wandte, sich jedoch auf seine Bekanntschaft mit Trotzki und Rjazanov berief, die beide der Stalinistischen Säuberung zum Opfer gefallen waren, war eine politische Dummheit, traf aber im Ton doch Stalins Interessen. Stalin räumte dem alten erbitterten Gegner in der marxistischen Theoriedebatte wohl höchstens ein gewisses Maß an Schrulligkeit ein, die Ideologie wurde jedoch der politischen Brauchbarkeit untergeordnet.

142 Direktive der Stavka des Oberkommandos an den Oberbefehlshaber der 1. Ukrainischen Front über die Umbenennung der Front in Zentrale Gruppe der Streitkräfte vom 29. 5.1945. In: Rote Armee. Dokumente, S. 267 ff. 143 Mueller, Stalin, S. 136 ff. 144 Chiffretelegramm des Oberbefehlshabers der Truppen der 3. Ukrainischen Front, F. I. Tolbuchin, und des Mitglieds des Militärrates der Front, A. S. Želtov, an I. V. Stalin über das Treffen des Kommandos der 9. Garde-Armee mit K. Renner vom 4. 4.1945 und Chiffretelegramm der Stavka des Oberkommando an den Oberbefehlshaber und das Mitglied des Militärrates der 3. Ukrainischen Front über den Vertrauensbeweis gegenüber K. Renner vom 4. 4.1945. In: Rote Armee. Dokumente, S. 85 ff. 145 K. Renner an I. V. Stalin vom 15. 4.1945. In: Rote Armee. Dokumente, S. 103 ff.

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Die Herren im Haus Die Wiedererrichtung eines freien, unabhängigen österreichischen Staates war seit der Moskauer Konferenz Kriegsziel der Alliierten und wurde in der Moskauer Deklaration vom 30. Oktober 1943 erstmals gemeinsam festgelegt. Damals bestanden noch keine Vorstellungen über Staats- und Verwaltungsstrukturen und auch die Europäische Beratende Kommission (European Advisory Commission – EAC), die ihre erste Sitzung am 14. Januar 1944 in London abhielt, befasste sich zunächst mit den politischen und militärischen Modalitäten einer Besetzung und erst später mit administrativen Belangen, wobei die Österreich-Frage gegenüber den Problemen einer Besetzung Deutschlands weit zurücktrat.146 Die Vereinigten Staaten von Amerika zögerten zunächst, an einer anfangs nur von drei Mächten geplanten Besetzung Österreichs teilzunehmen, doch die Sowjetunion und Großbritannien erreichten schließlich doch eine Zusage, später wurde als vierte Besatzungsmacht Frankreich dazugenommen. Nach einer Fülle von taktischen Spielen sowie Vorschlägen und Gegenvorschlägen gerieten die Verhandlungen im März 1945 ins Stocken, besonders als sich die Rote Armee anschickte, die Grenze zu Österreich zu überschreiten. Als Ostösterreich schon längst militärisch besetzt war, gab es immer noch keinen Vertrag über die Besetzung Österreichs. In einem Klima des Misstrauens zwischen den westlichen Alliierten und der Sowjetunion – besonders als diese die Einreise westlicher Delegationen zur Vorbereitung der Zonenübernahme hinauszögerten und die tatsächlichen Missionen im Juni und Juli auch unter frostiger Begleitmusik stattfanden147 – wurden die Verhandlungen abgeschlossen. Das Besatzungssystem in Österreich bestand aus dem Abkommen zwischen Großbritannien, den Vereinigten Staaten, der Sowjetunion und Frankreich über die Alliierte Kontrolle in Österreich („Erstes Kontrollabkommen“) vom 4. Juli 1945 und dem Abkommen zwischen Großbritannien, den Vereinigten Staaten, der Sowjetunion und Frankreich betreffend die Besatzungszonen in Österreich und die Verwaltung der Stadt Wien („Zonenabkommen“) vom 9. Juli 1945.148 Im Ersten Kontrollabkommen wurde als oberste Gewalt in Österreich ein Alliierter Rat, ein Exekutiv-Komitee und die entsprechenden Stäbe der vier beteiligten Regierungen eingerichtet, in ihrer Gesamtheit stellten sie die „Alliierte Kommission für Österreich“ dar. Dem Alliierten Rat gehörten die vier höchsten militärischen Kommissare an, die gleichzeitig noch die Oberkommandierenden der jeweiligen Besatzungsstreitkräfte waren, während das ExekutivKomitee aus ihren Stellvertretern bestand. Daneben wurde eine „Alliierte Kom146 Aichinger, Sowjetische Österreichpolitik, S. 63 ff., 99 ff., 140 ff., 156 ff. ; Aleksej Filitov, Sowjetische Planungen zur Wiedererrichtung Österreichs 1941–1945. In: Rote Armee. Beiträge, S. 27; Mueller, Mission, S. 83 ff.; Rauchensteiner, Sonderfall, S. 20 ff., 103 ff.; Schilcher, Politik, S. 69 ff. 147 General Béthouart, Die Schlacht um Österreich, Wien 196, S. 25 ff. General Mark W. Clark, Mein Weg von Algier nach Wien, Velden a. W. 1954, S. 520 ff. 148 Csáky, Weg, S. 42–46.

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mandantur“ zur Verwaltung der Stadt Wien errichtet. Der Alliierte Rat hatte die Kompetenz, über die Österreich in seiner Gesamtheit betreffenden militärischen, wirtschaftlichen und politischen Fragen zu beschließen. Die österreichischen Behörden waren weisungsgebunden, österreichische Gesetze mussten vor dem Inkrafttreten dem Rat zur Genehmigung vorgelegt werden. Die Kommission hatte bis zur Errichtung einer frei gewählten Regierung die Verwaltung zu sichern. Sobald Ämter einer österreichischen Zentralverwaltung in der Lage seien, in hinreichender Weise tätig zu werden, werde ihnen die Ausübung ihrer jeweiligen Funktionen übertragen. Die Kommission war nun mit ihren 13 Abteilungen (Divisionen) ein riesiger aufgeblähter bürokratischer Apparat, dessen Handhabung höchst aufwendig und zeitraubend war.149 Das Zonenabkommen wies den vier Mächten Besatzungszonen in Österreich zu, wobei die Sowjetunion den Osten, Großbritannien den Süden, die Vereinigten Staaten den Nordwesten und Frankreich den Westen des Landes erhielten. Auch die Stadt Wien wurde in vier Zonen geteilt, den ersten Bezirk, in dem sich die meisten Ministerien befanden, verwalteten alle vier Mächte gemeinsam.150 Mit der Übernahme der gemeinsamen Kontrolle durch die vier Alliierten für das gesamte österreichische Staatsgebiet erhielt das Verhältnis zwischen der sowjetischen Militärverwaltung und der österreichischen Regierung eine neue Qualität. Hatte die Sowjetunion in einem gegebenen Rahmen der Kontrolle und des Einflusses weitgehend die Souveränität der österreichischen Verwaltung respektiert – was bei Staatskanzler Renner zu Anfällen von Anmaßung und bei manchen Regierungsmitgliedern zu euphorischen Schüben von Illusion, mit der Roten Armee auf Augenhöhe zu verhandeln, führte –, so war Österreich nun eine „bevormundete Nation“.151 Die sowjetischen Hoffnungen auf eine schlanke Kontrollkommission und einen anpassungsfähigen Kontrollmechanismus hatten sich ebenso wenig erfüllt wie der Wunsch, die Isolation der Zonen zu beseitigen.152 Am 4. Juli 1945 beschloss der Rat der Volkskommissare der UdSSR bis zum 15. Juli die Einrichtung des sowjetischen Kontrollapparates bei der Alliierten Kommission und fällte die Entscheidungen über die zu entsendenden Personen.153 Er hatte die Aufgabe, die sowjetische Besatzungszone zu verwalten 149 1946 kamen noch zwei Divisionen dazu. Organigramm bei Rauchensteiner, Sonderfall, S. 117. 150 Was zu der berühmten Erscheinung der „Vier im Jeep“, den gemeinsamen interalliierten Militärpatrouillen führte. 151 Günter Bischof/Josef Leidenfrost, Die bevormundete Nation. Österreich und die Alliierten 1945–1949, Innsbruck 1988. 152 Koptelov meinte, die Besatzungszonen dürften bloß Zonen zur Dislozierung von Truppenverbänden der Alliierten, nicht jedoch Einflusssphären sein. Vorschläge M. E. Koptelovs zur Verbesserung der wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse in Österreich an den stellvertretenden Volkskommissar für auswärtige Angelegenheiten A. Ja. Vysinskij, o. D. (vor dem 3. 6.1945). In: Rote Armee. Dokumente, S. 271. 153 Zum Militärkommissar wurde Marschall Konev, zum Stellvertreter Generalmajor Želtov, zum Chef des Stabes Generalleutnant Morozov, zum politischen Berater für Österreich Kiselëv und zu seinem Stellvertreter Koptelov ernannt. Beschluss des Rates der

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und die Kontrolle der Tätigkeit der österreichischen Verwaltung durchzuführen. Auch dies war ein Muster aufgeblasener Bürokratie, der sowjetische Teil der Alliierten Kommission umfasste 343 Personen, wovon 284 Militärangehörige waren. Mit der anfänglichen Unterordnung unter die Alliierte Kommission war aber die Sowjetunion auch auf das Konzept der totalen Kontrolle, wie sie die Westmächte praktizierten, eingeschwenkt und zunächst noch sehr bemüht, den dort gezogenen Rahmen genau einzuhalten. Staatskanzler Renner hatte noch vor dem Zusammentreten des Alliierten Rates bramarbasierend im Kabinettsrat Forderungen an die Alliierten erhoben.154 Auf Grund der Organisation einer überdimensionalen amerikanischen Verwaltung in Oberösterreich befürchtete er eine Analogie für die gemeinsame alliierte Verwaltung mit einem „Wasserkopf von behördlichen Organen“155 und sah sehr düster, wie überhaupt eine Administration eingerichtet werden sollte und ein Regieren möglich wäre. Auch in Gesprächen mit alliierten Vertretern vor der Konstituierung des Alliierten Rates trat er selbstsicher auf und versuchte seinen Gesprächspartnern klarzumachen, dass er sich nicht allzu viel Einmischung erwartete und die Österreicher alles selbst viel besser regeln könnten.156 Eine derartige Haltung musste zu Spannungen führen, die Alliierte Kommission zeigte bald ihre bürokratischen Krallen, machte der Regierung klar – etwa durch Besetzung von Ministerien157 –, was eine totale Kontrolle ist und zeigte ihr, wer tatsächlich der Herr im Haus war. Damit war der selbstbewusste Anspruch einer Verwaltungssouveränität für einige Zeit einer erheblichen Machtlosigkeit über weite Gebiete und politische Kräfte gewichen. Eine Änderung dieses Zustandes war erst mit dem „Zweiten Kontrollabkommen“ vom 28. Juni 1946 verbunden.158 Das Abkommen bestätigte einen Großteil der Organisation und Bestimmungen des Ersten Kontrollabkommens, jedoch wurde der Freiraum der österreichischen Regierung erweitert und die Einflüsse der Alliierten Kommission reduziert. Gesetze mussten nicht mehr zur Genehmigung vorgelegt werden und die wachsenden Spannungen im Kalten Krieg bewirkten, dass sich die Besatzungsmächte immer weniger einigen konnten. Der politische Zustand im Land und das Verhältnis zu den Besatzungsmächten ließen in der Zentralverwaltung, den Ländern und Parteien die Überzeu154

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Volkskommissare der UdSSR über die Schaffung des sowjetischen Teils der Alliierten Kommission für Österreich vom 4. 7.1945. In: Sowjetische Politik. Dokumente, S. 169. Renner kündigte eine Denkschrift an, „welche zum Gegenstand hat: was haben wir von der Interalliierten Kommission im Interesse der klaglosen Fortführung der Verwaltung und Wirtschaft in Österreich zu fordern? Also all das, was notwendig ist, um den Unsinn der Vierteilung des Staatsgebietes so rasch wie möglich zu überwinden.“ 22. Sitzung des Kabinettsrates vom 31. 7.1945. PKR, Band 2, S. 167. 18. Sitzung des Kabinettsrates vom 20. 4.1945. PKR, Band 2, S. 45. Der spätere britische Militärkommissar General McCreery charakterisierte Renner nach einem Gespräch als „schwatzhaft“ und „selbstgefällig“. Rauchensteiner, Sonderfall, S. 119 f. 34. Sitzung des Kabinettsrates vom 12.10.1945. Tagesordnung Punkt 1. PKR, Band 3, S. 116. Csáky, Weg, S. 83–88.

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gung entstehen, das Provisorium zu beenden. Diesem Ziel dienten zwei Maßnahmen: die Einberufung von gesamtösterreichischen Länderkonferenzen und die Abhaltung von Wahlen zum Nationalrat auf dem gesamten Bundesgebiet. Die drei Länderkonferenzen159 (die erste vom 24. bis 26. September 1945 in Wien, die zweite vom 9. bis 10. Oktober und die dritte vom 25. Oktober 1945) diskutierten und veröffentlichten eine Reihe politischer Forderungen und Erklärungen. Vor allem die erste Länderkonferenz führte zu erstmaligen Kontakten zwischen Vertretern der westlichen Zonen und der Staatsregierung und besiegelte endgültig die Einheit des Landes. Durch die Erweiterung der Regierung um Ländervertreter gelang ein Ausgleich von Bundesländerinteressen, auch das Verhältnis vom Bund zu den Ländern wurde geregelt. Die Regierung Renner wurde nach innen anerkannt, somit war eine Anerkennung von außen nur mehr ein Frage kurzer Zeit. Weiters beschloss man eine Fülle von organisatorischen und Verwaltungsmaßnahmen und legte Wahlen zum Nationalrat für den 25. November fest. Wenig Beachtung nach außen fand aber eine weitere Festigung des Dreiparteienproporzes, in einer Reihe von Organisationen – etwa in den Sicherheitsdirektionen – wurden Beiräte aus den drei anerkannten Parteien eingerichtet.160 Nationalratswahlen wurden schon lange von der sowjetischen Militärverwaltung angemahnt, doch Renner leistete hinhaltenden Widerstand.161 Er begründete dies damit, dass die provisorische Ordnung des Staates noch nicht so weit sei, tatsächlich hatte er jedoch die Sorge, die Wahlen könnten zu einem Zeitpunkt kommen, zu dem die Machtverteilung unter den Parteien noch nicht beendet war. Mit dem Beschluss der Länderkonferenz war jedoch ein Faktum geschaffen. Das Ergebnis der Nationalratswahlen vom 25. November 1945 war nicht wirklich überraschend, die ÖVP erhielt 49,8 Prozent der Stimmen, die SPÖ 44,6 und die KPÖ 5,4.162 Doch wie die Wahlarithmetik spielt – die ÖVP erhielt mit der relativen Mehrheit der Stimmen die absolute Mehrheit der Mandate (85:76:4), hätte also ohne weiteres eine Alleinregierung bilden können. Doch die Machtverflechtung war schon zu weit fortgeschritten, auch schien das Regierungs-Oppositionsmodell für die vielfältigen Probleme des Wiederaufbaus nicht passend. So entschieden sich ÖVP und SPÖ für eine Große Koalition. Um Probleme mit der sowjetischen Besatzungsmacht zu vermeiden, zog man noch zwei Jahre einen Alibikommunisten als Bundesminister für Elektrifizierung und Energiewirtschaft mit sich – dann war man endgültig unter sich. Renner wurde als Bundespräsident in Ehren abgelagert und konnte dort seinen staatspoliti159 Die Länderkonferenzen 1945. Dokumente und Materialien, Wien 1995; Franz Fallend, Föderalismus – eine Domäne der Exekutive? In: Herbert Dachs (Hg.), Der Bund und die Länder, Wien 2003, S. 17–68, hier 26 f. 160 Schilcher, Politik, S. 241. 161 Zur sowjetischen Forderung: Wagner, Besatzungszeit, S. 60. Zu Renners Widerstand: 28. Sitzung des Kabinettsrates vom 29. 8.1945. PKR, Band 2, S. 390. 162 Walter Kleindel, Österreich. Daten zur Geschichte und Kultur, 4. Auflage Wien 1995, S. 383.

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schen Steckenpferden nachgehen. Damit war aber auch – trotz aller Anpassungen Renners – der letzte Störfaktor im Machtspiel beseitigt. Nun war die Stunde der neuen politischen Füchse gekommen. Wenngleich die Stilisierung der Wahlen zu einem Akt der Rettung Österreichs weit übertrieben ist, so stellte einerseits die Wahlbeteiligung von etwa 95 Prozent der Bevölkerung ein deutliches Zeugnis demokratischer Reife aus, andererseits signalisierte das Ergebnis, trotz der Anwesenheit sowjetischer Truppen, eine eindeutige Absage an den Kommunismus. Entgegen einer Fülle von Kalten-Kriegs-Legenden hatten sich die führenden Offiziere der sowjetischen Militärverwaltung keine allzu großen Illusionen gemacht. Auf die anbiedernde Prognose Renners am Tag vor der Wahl, die Kommunisten würden 20 Prozent erringen, antwortete sein Gegenüber, der politische Berater für Österreich Kiselëv, dass diese Zahl zweifellos übertrieben hoch sei.163 Auch Staatssekretär Fischer schätzte den kommunistischen Stimmenanteil auf acht bis zehn Prozent.164 Jedenfalls musste sich die KPÖ vor Stalin rechtfertigen und nannte als Ursachen für den Wahlverlust eine 25jährige Hetze gegen Kommunisten und die Sowjetunion, den Eindruck, die KPÖ hätte jedes einfache Mitglied der NSDAP zur Verantwortung ziehen wollen, die Anwesenheit der Westalliierten, die fehlende Einigung der demokratischen Kräfte und die Mitarbeit an der Regierung Renner, in der den Kommunisten alles Schlechte zugeschoben worden sei.165

Epilog Das politische System der Zweiten Republik Österreich bildete sich unter dramatischen Begleitumständen. Obwohl Karl Renner eine Figur der politischen Vorzeit war und man anscheinend an den 30er Jahren anknüpfte, als sei die Periode von 1938 bis 1945 aus der Geschichte einfach auszulöschen, formte sich im Schmelztiegel der Nachkriegszeit aus den politischen, sozialen, kulturellen und mentalen Brüchen doch hinter dem Vorhang des Konservativismus jenes Neue, das den radikalen Übergang zur Modernisierung der 50er Jahre und damit zu einer neuen Zeit und einer neuen Welt ankündigte. Es wäre ein Fehler, die politische Struktur Österreichs nach dem Zweiten Weltkrieg als Geschöpf zunächst sowjetischer und später auch westallliierter Besatzungspolitik zu verstehen. Die sowjetische Politik im Jahr 1945 war von der klaren – und auch praktizierten – Haltung geprägt, die Souveränität Österreichs wieder herzustellen, eine demokratische Selbstverwaltung zu etablieren, Struk163 Mitteilung N. M. Lun’kov an V. G. Dekanozov über ein Gespräch mit E. D. Kiselëv über den Verlauf des Wahlkampfes vom 24.11.1945. In: Rote Armee. Dokumente, S. 249. 164 Ernst Fischer, Das Ende einer Illusion. Erinnerungen 1945–1955, Wien 1973, S. 162. 165 Bericht J. Koplenig und F. Fürnberg an I. V. Stalin über die Ergebnisse der Parlamentswahlen und die innenpolitische Lage im Land vom 18.12.1945. In: Sowjetische Politik. Dokumente, S. 233, 235, 237.

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turen und Mentalitäten des Nationalsozialismus zu beseitigen und mit diesem demokratischen Österreich bilaterale Beziehungen aufzunehmen. Insofern waren die sowjetischen Offiziere wohlwollende Geburtshelfer für eine politische Eigenständigkeit, die allerdings wechselnder Intensität der Kontrolle unterstand. Die Unterstützung der Provisorischen Regierung war daher in erster Linie ein Garant für die politische Stabilität im Lande. 1945 gab es – auch unter Berücksichtigung von Differenzierungen zwischen außenpolitischen und parteipolitischen Institutionen und Funktionären in der Sowjetunion – die Sowjetisierungsabsicht für Österreich nicht.166 Vielmehr lassen sich Konturen einer Analogie zu dem mit Finnland abgeschlossenen Waffenstillstand erkennen, wonach Österreich selbständig bleiben, jedoch die Funktion eines vorgelagerten „befreundeten“ Landes vor einem durch Osteuropa erweiterten sowjetischen Machtsystem erfüllen sollte. Die Besetzung durch vier Alliierte war zudem auch eine andere Realität, die eine Handlungsfähigkeit der Sowjetunion von vornherein einschränkte. Die temporäre und punktuelle Unterstützung der KPÖ durch die Rote Armee sollte diese Partei nicht als hegemoniale politische Kraft etablieren, sondern ihr nur das Mitspracherecht mit den beiden anderen Großparteien sichern. Durch die zahlreichen Übergriffe sowjetischer Militärangehöriger war allerdings der Vorteil der KPÖ schon in wenigen Wochen zerstoben, eine ganz zaghaft angedachte Einheitsfront mit der Sozialistischen Partei bereits im Ansatz an deren Ablehnung fehlgeschlagen.167 Die erst im Spätsommer eingedämmten Willkürakte sowjetischer Soldaten und die wirre Demontage von Industrieanlagen belasteten nachhaltig das Verhältnis zwischen der Provisorischen Regierung und der österreichischen Bevölkerung einerseits und der sowjetischen Militärverwaltung andererseits. Die sowjetische „Good will“-Politik war schon im Jahr der Befreiung gescheitert. Das Ergebnis der Nationalratswahlen vom November 1945 stellt daher einen logischen Endpunkt dieser Entwicklung dar, es wurde nicht nur die KPÖ geschlagen, sondern mit ihr auch gleich der hinter ihr stehende sowjetische große Bruder. Die sowjetische Österreichpolitik lässt sich in drei, durch gravierende politische Unterschiede gekennzeichnete Phasen einteilen: In der ersten vom April bis zur Übernahme der Zonen durch die Westalliierten im Sommer 1945 war die sowjetischen Besatzungsverwaltung von großer Liberalität geleitet, die Anordnungen dienten der raschen Wiederherstellung der Normalität und der provisorischen Regierung Renner wurden nur wenige Grundprinzipien vorgegeben, an die sie sich zu halten hatte. Es ist unangebracht, das spätere sowjetische Verhalten auf die Anfangsphase der Besatzungspolitik zu projizieren. Die zweite 166 Vgl. auch die entsprechende Textierung in der Provisorischen Verordnung der 3. Ukrainischen Front über die Militärkommandanten auf dem von der Roten Armee eingenommenen Gebiet Österreichs vom 20. 4.1945, Punkt 4. In: Rote Armee. Dokumente, S. 255. 167 Bericht Koptelov und Dzjubenko über die KPÖ vom 10. 6.1945. In: Rote Armee. Dokumente, S. 669.

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Phase ab dem Beginn der Tätigkeit der Alliierten Kommission im September 1945, die sich schon seit Sommer durch stärkere Einflussversuche und eine zunehmende Unzufriedenheit der Führung der Roten Armee mit der provisorischen Regierung ankündigte, folgte – analog zur Position der Westalliierten – wesentlich formalistischeren, bürokratisierten Orientierungen und einer viel strengeren Kontrolle. Es ist offensichtlich, dass das sowjetische Besatzungselement sich als Teil der Gesamtbesatzung verstand und einen Alleingang im Verhältnis zur österreichischen Regierung vermeiden wollte. Die dritte Phase – insbesondere als Österreich als Objekt in den Kalten Krieg hineingezogen wurde – unterschied sich diametral von den vorhergehenden. Ab dem Scheitern der sowjetischen Wirtschaftskonzeption in Österreich und dem Zweiten Kontrollabkommen 1946 ist eine versteifte sowjetische Haltung gegenüber der österreichischen Politik und Verwaltung bis hin zur Obstruktion und Konfrontation zu konstatieren. Der Wandel in den politischen Positionen der Sowjetunion und Österreichs veränderte das bilaterale Verhältnis grundlegend. Einen Beitrag dazu leistete auch die Neuorientierung der österreichischen Politik von der anfänglichen Kooperationsbereitschaft mit der sowjetischen Militärverwaltung – Staatssekretär Figl sprach von einer gleichwertigen Partnerschaft168 – hin zum Arrangement mit den Westmächten, das schon durch das Eintreffen der Westalliierten in Wien im Sommer 1945 eingeleitet wurde. Mit der von sowjetischen politischen Offizieren befürchteten Westorientierung,169 die 1947 endgültig entschieden war, hatte aber auch die österreichische Politik die Seiten gewechselt. Das neue und autonome Charakteristikum der österreichischen Politik war im Gegensatz zum politischen Dissens der Ersten Republik ein konsensuales Prinzip. Dies war bereits tragendes Element der Provisorischen Staatsregierung in der Dreiparteienkoalition seit April 1945 und noch ausgeprägter in der Großen Koalition nach den Nationalratswahlen vom November 1945. Doch bedeutete dies keineswegs nach Autoritarismus und Austrofaschismus der Zwischenkriegszeit nun einen Durchbruch der Demokratie. Vielmehr etablierten die Parteien durch die eng verzahnte Aufteilung des Staates in Interessengebiete und den Proporz ein oligarchisches System. Regierung und Verwaltung im Österreich der Zweiten Republik ist ohne das 1945 etablierte Patronagesystem nicht zu verstehen, wobei schon im Sommer die KPÖ gegenüber der ÖVP und der SPÖ endgültig ins Hintertreffen geraten war. Wer die Schlüsselstellen für materielle und bürokratische Verteilung besetzte, hatte die eigentliche und nicht anzweifelbare Macht. So entstand das österreichische Beziehungssystem. Man brauchte Beziehungen, um einen Posten zu erhalten, Beziehungen, um Glas, Ziegel, Papier oder Lastwagen zu bekommen, Beziehungen, um eine Wohnung 168 Staatssekretär Leopold Figl in der 16. Sitzung des Kabinettsrates vom 10. 7.1945 zum Bericht über das erste Gespräch mit dem neuen Kommandierenden der Zentralgruppe der Roten Armee und Militärkommissar des sowjetischen Teils der Alliierten Kommission für Österreich Marschall Ivan S. Konev. PKR, Band 1, S. 361. 169 Bericht Koptelov und Dzjubenko über die KPÖ vom 10. 6.1945. In: Rote Armee. Dokumente, S. 667.

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zu erlangen, ein Geschäft aufzubauen oder sich den Sühnemaßnahmen gegen Nationalsozialisten zu entziehen. Die Wiederaufbaugesellschaft war auch eine „Eine-Hand-wäscht-die-andere-Hand-Gesellschaft“, eine Gesellschaft der Interventionen und Befürwortungen. So bildeten sich Typen der Zweiten Republik heraus: die angepassten, dankbaren Bürger und Bürgerinnen ohne eigene politische Ansprüche als Klientel der Parteien und die ihre Macht kennenden und oft auch zeigenden Funktionäre und Bürokraten, die die Regeln weitgehend selbst bestimmten oder großzügig interpretierten. Verwaltung wurde dadurch in zahlreichen Fällen auf unterschiedlichen Ebenen zum Erfüllungsgehilfen von Parteiinteressen. All dies war jedoch eine schwere Hypothek für die Demokratie in Österreich in den folgenden Jahrzehnten.

Von der wirtschaftlichen Entwaffnung zur zentralen Wirtschaftsplanung. Zur Wirtschaftspolitik in der SBZ zwischen 1945 und 1949 Burghard Ciesla

1.

Einführende Bemerkungen

Am 6. November 1944, ein halbes Jahr vor der bedingungslosen deutschen Kapitulation, erklärte Josef W. Stalin auf der Festsitzung zum 27. Jahrestag der Oktoberrevolution: „Deutschland wird nach seiner Niederlage natürlich sowohl wirtschaftlich als auch militärisch und politisch entwaffnet werden.“1 Der deutsche Vernichtungskrieg auf dem Territorium der Sowjetunion hatte gewaltige Zerstörungen angerichtet und Verluste gefordert. Kurz nach Kriegsende wurde von sowjetischer Seite geschätzt, dass etwa dreißig Prozent des Nationalreichtums des Landes durch den Krieg verloren gegangen waren.2 In den alliierten Verhandlungen bezifferte Moskau deshalb den Wert der von Deutschland zu leistenden Demontagen und Reparationen auf 20 Milliarden US-Dollar.3 Über diese Summe diskutierten die Alliierten kontrovers. Auf der Potsdamer Konferenz (17. 7.–2. 8.1945) einigte man sich schließlich auf einen verhängnisvollen Kompromiss: Jede Besatzungsmacht sollte sich aus der eigenen Besatzungszone bedienen. Der Sowjetunion wurden schließlich, ausgehend von ihrer ursprünglichen Forderung, Demontagen und Reparationen im Wert von zehn Milliarden US-Dollar zugestanden. Damit programmierten die Alliierten von Anfang an die Teilung Deutschlands.4 In der dann mehr als vier Jahre währenden offiziellen sowjetischen Besatzungszeit wurde „der materielle Reichtum Ostdeutschlands auf verschiedene 1 2 3 4

Zit. bei Jochen Laufer, Politik und Bilanz der sowjetischen Demontagen in der SBZ/ DDR 1945–1950. In: Rainer Karlsch/Jochen Laufer (Hg.), Sowjetische Demontagen in Deutschland 1944–1949, Berlin 2002, S. 44. Dimitri Wolkogonow, Stalin. Triumph und Tragödie. Ein politisches Porträt, Düsseldorf 1993, S. 682. Zu Preisen von 1938. Jörg Fisch, Reparationen nach dem Zweiten Weltkrieg, München 1992, S. 69–80; Rainer Karlsch, Allein bezahlt? Die Reparationsleistungen der SBZ/DDR 1945–53, Berlin 1993, S. 16–34 und 239–240; Rolf Steininger, Deutsche Geschichte seit 1945. Darstellung und Dokumente in vier Bänden, Band 1: 1945–1947, Frankfurt a. M. 1996, S. 32 f., 91 f.

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Weise außer Landes gebracht, sei es durch Plünderungen und Trophäensammeln, sei es durch den Abtransport ganzer Fabriken mit Hilfe besonderer Demontagekolonnen oder durch die Vereinnahmung von Sachwerten als Reparationszahlungen. Die Besatzungszone hatte schwer an diesen Verlusten zu tragen. Das sowjetische Vorgehen veränderte die Wirtschaft und Gesellschaft Ostdeutschlands in einer Weise, die in den betroffenen Regionen heute noch immer spürbar ist.“5 Diese skizzierte Entwicklung lässt deutlich werden, dass die Wirtschaftspolitik der SBZ nur im Zusammenhang mit der sowjetischen Demontage- und Reparationspolitik betrachtet werden kann. Als problematisch erwies sich jedoch, dass Moskau am Ende des Krieges über kein klares deutschlandpolitisches Konzept verfügte. Die wirtschaftspolitischen Vorstellungen der Sowjetführung über ihr Vorgehen in Deutschland entwickelten sich im Wesentlichen aus den Erfordernissen des Besatzungsalltages und den Beziehungen zu den Westalliierten.6 Ausgehend von diesem Ansatz geht der vorliegende Beitrag zuerst auf die Ausgangslage bei Kriegsende und die Grundzüge der sowjetischen Demontage- und Reparationspolitik ein; danach werden zur Darstellung der Wirtschaftspolitik in der SBZ drei Aspekte fokussiert: die ordnungspolitischen Weichenstellungen, die betriebliche Selbstorganisation und die Anfänge der zentralen Wirtschaftsplanung. Auf andere wichtige Aspekte wie die Probleme der Wirtschaftslenkung, die konkrete Industrieentwicklung, der Außenhandel und die Währungsreform kann an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden. Hier sei auf die neuere Forschungsliteratur verwiesen.7

2.

Die Ausgangslage 1945

Die spätere SBZ galt bereits vor dem Krieg als eine „industrielle Kernregion Deutschlands“. Zwischen 1936 und 1945 – im Rahmen der Aufrüstung, Kriegswirtschaft und nicht zuletzt aus strategischen Gründen – erfuhr der mitteldeutsche Raum noch einmal eine beachtliche industrielle Erweiterung. Die Industriestruktur wies jedoch ein deutliches Süd-Nord-Gefälle auf, d. h. der Süden und der Raum Berlin waren hoch industrialisiert und der Norden demgegen5 6 7

Norman M. Naimark, Die Russen in Deutschland. Die sowjetische Besatzungszone 1945 bis 1949, Berlin 1997, S. 181. André Steiner, Von Plan zu Plan. Eine Wirtschaftsgeschichte der DDR, München 2004, S. 35 f. Vgl. u. a. Christoph Buchheim (Hg.), Wirtschaftliche Folgelasten des Krieges in der SBZ /DDR, Baden-Baden 1995; Dierk Hoffmann/Hermann Wentker (Hg.), Das letzte Jahr der SBZ. Politische Weichenstellungen und Kontinuitäten im Prozess der Gründung der DDR, München 2000; Frank Zschaler, Das Finanzsystem in der frühen SBZ / DDR. Effizienzprobleme aus institutionenökonomischer Sicht. In: Johannes Bähr/Dietmar Petzina (Hg.), Innovationsverhalten und Entscheidungsstrukturen. Vergleichende Studien zur wirtschaftlichen Entwicklung im geteilten Deutschland, Berlin 1996, S. 281–301; Steiner, Plan.

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über landwirtschaftlich geprägt. Die starke landwirtschaftliche Ausprägung in den heutigen Ländern Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg und zum Teil in Sachsen-Anhalt bewirkte, dass die SBZ als landwirtschaftliches Überschussgebiet galt und sich selbst versorgen konnte. Im Gebiet der späteren SBZ gab es vor allem eine ungleiche Rohstoffverteilung: Den reichen Vorkommen an Braunkohle, Tonerde, Kalisalz, Kies, Bausanden und Uran standen nicht ausreichende Vorkommen an Steinkohle, Kupfer- und Eisenerze gegenüber. Die fehlenden Steinkohle- und Erzvorkommen führten vor dem Zweiten Weltkrieg dazu, dass sich keine Hüttenindustrie entwickelte. Dafür war der verarbeitende Industriebereich stark ausgeprägt. Hierzu zählten die Metall-, Elektro- und Chemieindustrie sowie die feinmechanischoptische Industrie. Darüber hinaus gab es auch eine entwickelte Papier-, Lebensmittel- und Textilindustrie. Bei der chemischen Industrie dominierte jedoch die Herstellung von Grundprodukten, während eine weiterverarbeitende Produktion weitgehend fehlte. In der Gesamtsicht zeichnete sich die mitteldeutsche Industrie durch ein allgemein hohes technisch-technologisches Produktionsund Erzeugnisniveau aus. Diese Rohstoff-, Wirtschafts- und Erzeugnisstruktur erforderte zwangsläufig den Handel mit den anderen Teilen Deutschlands und dem Ausland.8 Neben der Rohstoff- und Wirtschaftsstruktur wurde die Ausgangslage maßgeblich durch die Kriegszerstörungen bestimmt. Für die SBZ werden diese auf maximal 15 Prozent der 1944 vorhandenen industriellen Kapazitäten geschätzt. Damit waren sie in der Gesamtsicht niedriger als in den Westzonen, die zudem stärker durch den alliierten Bombenkrieg betroffen gewesen waren. Das Verkehrsnetz, der Binnenhandel und das Bankgewerbe in der späteren SBZ lagen hinsichtlich Umfang, Struktur und Qualität nicht unter dem Durchschnitt der anderen deutschen Landesteile. Hinzu kamen die Veränderungen in der Bevölkerungsstruktur durch den Krieg und die Nachkriegsentwicklung. Mit Blick auf die Stammbevölkerung hatte sich diese durch den Krieg zwar signifikant verringert, dieser Rückgang wurde aber durch die weit über fünf Millionen Flüchtlinge und Vertriebene bei Kriegsende und in den Nachkriegsjahren mehr als wieder ausgeglichen. Während im Jahre 1939 auf dem späteren SBZ-Gebiet 16,7 Millionen Menschen lebten, hatte sich die Bevölkerungszahl 1946 auf 17,8 Millionen und 1948 auf mehr als 19 Millionen Menschen erhöht. Ein Jahr nach der Gründung der DDR (1949) betrug der Anteil der Flüchtlinge und Vertriebenen an der Gesamtbevölkerung (18,4 Millionen) etwa 23 Prozent.9 Bei Kriegsende hatte sich also das Industriepotential im Osten Deutschlands im Vergleich zur Vorkriegszeit beachtlich vergrößert. Die Kriegszerstörungen waren begrenzt und insgesamt niedriger als in den Westzonen. Das Arbeitskräftepotential war aufgrund der Flüchtlinge und Vertriebenen wiederum mittelfris8 9

Karlsch, Allein bezahlt, S. 35; Steiner, Plan, S. 20; Matthias Judt (Hg.), DDR-Geschichte in Dokumenten, Berlin 1997, S. 89. Zank, Wirtschaft, S. 30–38; Steiner, Plan, S. 22 f.

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tig mehr als ausgeglichen. Im Wesentlichen gab es in der SBZ im Vergleich zu den Westzonen bei Kriegsende lediglich ein Ungleichgewicht in der Wirtschaftsstruktur. Das Fehlen von Rohstoffen, einer metallurgischen Basis und der zweiten Verarbeitungsstufe der chemischen Industrie hätte man bei einer gemeinsamen alliierten Verwaltung über Binnen- und Außenhandelsbeziehungen schnell wieder ausgleichen können.10

3.

Grundzüge der sowjetischen Demontage- und Reparationspolitik

Wie schon eingangs deutlich gemacht, führte Deutschland gegen die Sowjetunion einen Vernichtungskrieg: „26,6 Millionen Bürgerinnen und Bürger der Sowjetunion verloren ihr Leben. Millionen Gebäude, Zehntausende Fabriken, Sovchosen und Kolchosen, Handelseinrichtungen, Eisenbahnstrecken und -stationen, Post- und Telegrafenämter, Tausende Schulen, Universitäten und Forschungseinrichtungen, Museen, Bibliotheken und Theater, Hunderte Krankenhäuser und Sanatorien wurden in 1710 Städten und 70 000 Dörfern zerstört oder beschädigt.“11 Aufgrund dieser enormen Schäden war die sowjetische Auffassung verständlich, dass Deutschland für immer die ökonomischen Möglichkeiten für eine neuerliche Militarisierung und Kriegsführung genommen werden sollten: Dem Wolf sollten die Zähne gezogen werden. In der Regierungszeitung „Iswestija“ vom 13. September 1945 wurde hierzu erklärt: „Hitlers Verbrecher werden die volle Verantwortung für ihre Taten tragen müssen. Der Schaden, den sie der Volkswirtschaft der UdSSR und den sowjetischen Bürgern zugefügt haben, muss durch Deutschland wiedergutgemacht werden.“12 Die sowjetische Vorgehensweise konzentrierte sich zuerst auf umfassende einmalige Entnahmen aus dem deutschen Nationalvermögen („Trophäen“, Demontagen) und die Inanspruchnahme von Arbeitsleistungen. Parallel dazu sollten aber auch Entnahmen aus der laufenden Produktion vorgenommen werden, was wiederum auf den Erhalt eines wirtschaftlichen Grundstocks in Deutschland hinauslief. Doch die gleichzeitige Existenz von ökonomischer Entwaffnung und ökonomischer Nutzung vor Ort nahm nach dem Ende des Krieges paradoxe Züge an und entwickelte sich zum größten Problem der sowjetischen Besatzungspolitik. Zugleich kollidierten die sowjetischen Forderungen mit den Prinzipien und Zielen der Amerikaner und Briten, die – auch aufgrund ihrer Erfahrungen mit der Reparationsfrage nach dem Ersten Weltkrieg – an einem multilateralen Weltwirtschaftssystem interessiert waren und deshalb den rigorosen Reparationsforderungen der Sowjetunion ablehnend gegenüberstanden. Diese unterschiedlichen Sichtweisen ließen eine gemeinsame alliierte Repara-

10 Vgl. ebd., S. 24. 11 Laufer, Politik, S. 31. 12 Zit. ebd.

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tionspolitik von Anfang an scheitern.13 Die daraus folgende Aushandlung des reparationspolitischen Teilungskompromisses auf der Potsdamer Konferenz hatte in der historischen Perspektive den fatalen Effekt, „dass die SBZ/DDR 1945–1953 die mit großem Abstand höchsten Reparationsleistungen erbracht hat, die im 20. Jahrhundert bekannt geworden sind“.14 Der alliierte Reparationskonflikt trat schon während des Krieges – auf der Konferenz von Jalta (4.–11. 2.1945) – deutlich hervor. Stalin zog daraus die Konsequenzen und veranlasste am 25. Februar 1945 die Gründung eines Sonderkomitees beim Staatlichen Komitee für Verteidigung der Sowjetunion, das zum Nutzen und Wiederaufbau der sowjetischen Volkswirtschaft Entnahmen/ Demontagen in den von den sowjetischen Streitkräften eroberten Gebieten vornehmen sollte. Das Sonderkomitee war „der institutionalisierte Ausdruck einer auf die Demilitarisierung und Deindustrialisierung Deutschlands gerichteten Politik“.15 Während des Vormarsches wurden im Zuge so genannter „Trophäenaktionen“ in großem Umfang Industrieanlagen demontiert. Solange die Reparationsfrage ungeklärt war, arbeitete das Sonderkomitee unter Hochdruck und versuchte vollendete Tatsachen in Hinblick auf eine endgültige alliierte Einigung auf der bevorstehenden Potsdamer Konferenz zu schaffen. Nach sowjetischen Angaben wurden bis zum 8. Juli 1945 rund 4 Millionen Tonnen Güter, Ausrüstungen und Materialien demontiert, wobei allein ca. 86 Prozent der Demontagen zwischen dem 9. Mai und 8. Juli 1945 stattfanden. Diese Demontagemenge fand später keine Berücksichtigung in der offiziellen sowjetischen Reparationsrechnung, sie wurde vielmehr zur Kriegsbeute (Trophäen) gerechnet. Bis zur endgültigen Auflösung des Sonderkomitees zu Beginn des Jahres 1947 hatten die Demontagekolonnen des Sonderkomitees rund 6,2 Millionen Tonnen in die Sowjetunion abtransportieren lassen, d. h. mehr als 65 Prozent der Demontagen des Sonderkomitees erfolgten vor dem Beginn der Konferenz in Potsdam.16 Nach der Potsdamer Konferenz liefen die ungezügelten Demontagen weiter. Der im Juni 1945 gegründeten Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD) wurde durch das rigorose Vorgehen des Sonderkomitees beina13 Erich Klinkmüller / Maria Elisabeth Ruban, Die wirtschaftliche Zusammenarbeit der Ostblockstaaten, Berlin (West) 1960, S. 9–12; Fisch, Reparationen, S. 41–69; Rainer Karlsch, Kriegszerstörungen und Reparationslasten. In: Hans-Erich Volkmann (Hg.), Ende des Dritten Reiches – Ende des Zweiten Weltkrieges. Eine perspektivische Rückschau, München 1995, S. 530–533; Rainer Karlsch/Burghard Ciesla, Vom „KarthagoFrieden“ zum Besatzungspragmatismus. Wandlungen der sowjetischen Reparationspolitik und ihre Umsetzung 1945/46. In: Erobert oder befreit? Deutschland im internationalen Kräftefeld und die sowjetische Besatzungszone (1945/46). Hg. von Hartmut Mehringer, Michael Schwartz und Hermann Wentker, München 1999, S. 72–75; Laufer, Politik, S. 33–44; Steiner, Plan, S. 24 f. 14 Fisch, Reparationen, S. 202, 15 Karlsch/Ciesla, „Karthago-Frieden“, S. 74. 16 Vgl. Laufer, Politik, S. 45–77.

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he die Handlungsgrundlage genommen, da diese in erster Linie die Reparationslieferungen aus der laufenden Produktion sowie die Versorgung der Besatzungstruppen und der Bevölkerung der SBZ zu sichern hatte. Es drohte ein „ökonomisches Vakuum“. Bis April 1946 wählte das Sonderkomitee mehr als 6 000 industrielle Objekte zur Demontage aus. Die vielerorts durchgeführten Demontagen waren jedoch chaotisch und logistisch schlecht organisiert. Die Vertreter der SMAD, die am Verbleiben eines industriellen Grundstocks in der SBZ interessiert waren, gerieten schnell in Konflikt mit den Vertretern des Sonderkomitees. Sogar die maßgeblichen deutschen politischen Kräfte – die Kommunisten bzw. später die SED – sprachen mehrfach bei der SMAD vor. Sie baten darum, die Demontagen zu reduzieren, um eine Massenarbeitslosigkeit bzw. einen drohenden wirtschaftlichen Kollaps zu verhindern. Zwar kündigte man von Seiten der SMAD mehrfach den Stopp der Demontagen an und reagierte damit auch auf das Vorgehen der Amerikaner und Briten, aber 1945/46 erwies sich die SMAD gegenüber dem Sonderkomitee noch nicht als stark genug, um ein Ende der Demontagen tatsächlich zu erreichen.17 Eine der maßgeblichen Ursachen für die Stärke des Sonderkomitees bis weit in das Jahr 1946 hinein war gewesen, dass eine der Hauptaufgaben des Komitees in der Vorbereitung und Durchführung des Technologietransfers bestand. So gründete das Sonderkomitee in der SBZ eine Reihe von wissenschaftlichtechnischen Konstruktionsbüros, die sich mit der Technologie der Strahlflugzeuge und Raketentechnik sowie mit anderen deutschen Technologiefortschritten wie unter anderem der Radartechnik befassten. Zeitgleich wurden in der Sowjetunion enorme Anstrengungen unternommen, um nicht vorhandene Industriestrukturen für die Herstellung von Raketen oder Atomwaffen aus dem Boden zu stampfen. Die technologischen Grundlagen wurden derweil in der SBZ erarbeitet. Allein für die Rekonstruktion der deutschen Raketentechnologie richtete man ein Entwicklungszentrum mit fast 7 000 Beschäftigten ein. Die sowjetische Luftfahrtindustrie unterhielt vier Sonderkonstruktionsbüros mit am Ende 8 000 Mitarbeitern (Stand: Oktober 1946) in der SBZ. Für die erfolgreiche Aneignung der militärischen Hochtechnologien waren mächtige Vertreter aus dem inneren Führungskreis um Stalin, die zugleich maßgebliche Positionen im Sonderkomitee einnahmen, verantwortlich. Erst nach Abschluss der Rekonstruktions- und Entwicklungsaufgaben in der SBZ war der Rückzug des Sonderkomitees bzw. seine Auflösung letztlich denkbar. Ein Blick auf die realhistorische Entwicklung zeigt jedenfalls, dass Ende Oktober 1946 rund 2 000 deutsche Fachleute aus den Sonderkonstruktionsbüros der SBZ in die Sowjet17

Ebd., S. 49; Rainer Karlsch, Das „Selbmann-Memorandum“ vom Mai 1947. Fritz Selbmann und die Reparationslasten der sächsischen Industrie. In: Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung, 35 (1993), S. 88–125; ders., Die Auswirkungen der Reparationsentnahmen auf die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft in der SBZ / DDR. In: Jürgen Schneider/Wolfgang Harbrecht (Hg.), Wirtschaftsordnung und Wirtschaftspolitik in Deutschland, 1933–1993, Stuttgart 1996, S. 139–172; Karlsch/Ciesla, „Karthago-Frieden“, S. 71–92; Steiner, Plan, S. 24–35.

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union gebracht wurden. Die Einrichtungen in der SBZ wurden daraufhin geschlossen und demontiert. Wenige Wochen später kam es schließlich auch zur Auflösung des Apparats des Sonderkomitees.18 Die bis 1948 immer wieder über die SBZ hinweg rollenden Demontagewellen bewirkten vielfach paradoxe Situationen. So erfolgten nicht selten Demontage und Aufbau zeitgleich oder schon wiedererrichtete Betriebe wurden zum zweiten, in Einzelfällen sogar zum dritten Mal demontiert. Bis zum Frühjahr 1948 ließ Moskau in der SBZ schätzungsweise 3 400 Betriebe demontieren. Diese Zahl allein sagt freilich nichts über die wirtschaftlichen Folgewirkungen aus. Noch besser verständlich wird die Entwicklung, wenn man berücksichtigt, dass sich das Bruttoanlagevermögen der Industrie der SBZ im Jahre 1948 auf etwa 75 Prozent des Standes von 1936 verringert hatte. Von Bedeutung ist hierbei zudem, dass kleine Ursachen große Wirkungen haben konnten: Fehlten beispielsweise Maschinen oder wertmäßig eher geringfügige Teile, konnten ganze Anlagen still liegen und es kam zu größeren Kapazitätseinbußen. Nur zum Vergleich: In der seit 1947 vereinigten amerikanischen und britischen Besatzungszone – der Bizone – lag das Bruttoanlagevermögen trotz höherer Kriegszerstörungen, aber infolge geringerer Demontagen im Jahre 1948 mit 111 Prozent schon weit über dem Vorkriegsstand.19 Die Kapazitätsverluste lagen unter anderem in der Optischen Industrie und im Werkzeugmaschinenbau bei 75 Prozent, in der Kraftfahrzeug- und Elektroindustrie bei 80 Prozent sowie in der Metallurgie und Nichteisenmetallindustrie bei fast 90 Prozent. Die Flugzeugindustrie wurde zu 100 Prozent demontiert. Mit schwerwiegenden Folgen hatte vor allem das Verkehrswesen der SBZ zu kämpfen. Dort betrugen die Verluste des Anlagevermögens der Eisenbahn durch Kriegszerstörungen (ca. 15 Prozent) und durch sowjetische Demontagen 1948 mehr als 30 Prozent. Es wurden mehr als 6 200 Kilometer durchgehende Hauptgleise demontiert, von denen wiederum rund 90 Prozent zweite Gleise waren. Der Lokomotivenbestand sank 1947 auf weniger als 60 Prozent des Bestandes von 1936 und bei den Güterwagen waren 1946 nur noch 40 Prozent und bei den Personenwaggons 30 Prozent des Wagenparks von 1936 vorhanden. Am Beispiel des Verkehrswesens wird noch einmal die widersprüchliche sowjetische Besatzungspolitik deutlich: Einerseits forderte die SMAD eine schnelle Ingangsetzung des Verkehrs, andererseits wurde ein umfassender Substanzabbau betrieben. Die sowjetische Entnahmepolitik schädigte das Verkehrs18 Burghard Ciesla, Der Spezialistentransfer in die UdSSR und seine Auswirkungen in der SBZ und DDR. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, 43 (1993), B 49–50, S. 24–31; Christoph Mick, Forschen für Stalin, München 2000; Matthias Uhl, Stalins V-2, Bonn 2001; Burghard Ciesla/Christoph Mick/Matthias Uhl, Rüstungsgesellschaft und Technologietransfer (1945–1958). Flugzeug- und Raketenentwicklung im Military-Industrial-Academic Complex der UdSSR. In: Karlsch/Laufer, Sowjetische Demontagen, S. 187–225. 19 Vgl. Laufer, Politik, S. 31–77; Steiner, Plan, S. 28–29; Rainer Karlsch, Die Reparationsleistungen der SBZ/DDR im Spiegel deutscher und russischer Quellen. In: Karl Eckart / Jörg Roesler (Hg.), Die Wirtschaft im geteilten und vereinten Deutschland, Berlin 1999, S. 11.

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wesen der späteren DDR nachhaltig. Hinzu kam, dass für den Abtransport von Beute-, Demontage- und Reparationsgütern sowie für die sowjetischen Truppentransporte besondere deutsche Transportkolonnen („Lok-Kolonnen“) gebildet wurden. Am Ende des Jahres 1945 gab es in der SBZ 30 dieser Kolonnen mit mehr als 10 000 Eisenbahnern und fast 900 Lokomotiven, die ausschließlich im Auftrag der sowjetischen Besatzungsmacht Transportfahrten unternahmen und damit dem Personen- und Güterverkehr in der SBZ nicht zur Verfügung standen.20 Generell erhöhte sich im Frühsommer 1946 aber die Bedeutung des pragmatischen Konzepts der Nutzung der wirtschaftlichen Kapazitäten der SBZ. Einen deutlichen Hinweis auf diesen Umschwung bietet der SMAD-Befehl Nr. 167 vom 5. Juni 1946. Auf der Grundlage dieses Befehls verblieben mehr als 200 ursprünglich zur Demontage vorgesehene Industriebetriebe in Deutschland; sie wurden in sowjetisches Eigentum in Form Sowjetischer Aktiengesellschaften (SAG) überführt. Mit den SAG kamen die zentralen Bereiche der Wirtschaft der SBZ unter die direkte sowjetische Kontrolle. Der Anteil der SAG an der Industrieproduktion der SBZ betrug Ende der 1940er Jahre mehr als 30 Prozent. Regional gab es aber große Unterschiede. In Sachsen-Anhalt betrug beispielsweise der Anteil der SAG an den Industriekapazitäten Anfang 1947 mehr als 60 Prozent und rund 50 Prozent der Beschäftigten arbeiteten in SAG-Unternehmen. Maßgeblich gewährleisteten die SAG die Reparationslieferungen der SBZ/DDR. Gegen Ende der 1940er Jahre kamen aus den SAG-Betrieben etwas weniger als 50 Prozent der Reparationslieferungen. Zu Beginn der 1950er Jahre waren es weit mehr als 70 Prozent der zu erbringenden Leistungen. Diese Schlüsselfunktion führte zu einer weitreichenden Begünstigung, ungleichmäßigen Belastungen und beachtlichen Kapital- bzw. Ressourcenabschöpfungen: Der SAG-Bereich erhielt höhere Material- und Stromkontingente, es wurden höhere Löhne gezahlt, was zur Abwerbung knapper qualifizierter Arbeitskräfte führte, es gab bessere betriebliche Versorgungsleistungen und die SAG wurden massiv aus den Landeshaushalten und dem Haushalt der Zone subventioniert. Nach einer Schätzung flossen bis 1954 etwa 20 Prozent der jährlichen Industrieinvestitionen in den SAG-Bereich. Unter dem Strich waren die SAG aber keine „Musterbetriebe der Planwirtschaft“, im Gegenteil, aus betriebswirtschaftlicher Sicht unterschieden sie sich wenig von kapitalistischen Unternehmen.21 20 Rainer Karlsch, Umfang und Strukturen der Reparationsentnahmen aus der SBZ/DDR 1945–1953. Stand und Probleme der Forschung. In: Buchheim (Hg.), Folgelasten, S. 47; Rüdiger Kühr, Die Folgen der Demontagen bei der Deutschen Reichsbahn (DR). In: Karlsch/Laufer (Hg.), Sowjetische Demontagen, S. 481; Michael Reimer/Lothar Meyer/Volkmar Kubitzki, Kolonne. Die Deutsche Reichsbahn im Dienste der Sowjetunion, Stuttgart 1998, S. 19–21, 57, 67–75 und 126 f. 21 Rainer Karlsch/Johannes Bähr, Die Sowjetischen Aktiengesellschaften (SAG) in der SBZ/DDR. In: Karl Lauschke/Thomas Welskopp (Hg.), Mikropolitik im Unternehmen. Arbeitsbeziehungen und Machtstrukturen in industriellen Großbetrieben des 20. Jahrhunderts, Essen 1994, S. 214–255.

Von der wirtschaftlichen Entwaffnung zur zentralen Wirtschaftsplanung 425

Die durch die Demontagen und Lieferungen aus der laufenden Produktion direkt und indirekt entstandenen Substanz-, Wert- und Produktivitätsverluste waren für die SBZ enorm und sie fielen deutlich höher als in den Westzonen aus. Am Ende hatten die sowjetischen Demontagen die industrielle Substanz der SBZ stärker geschädigt als die Kriegszerstörungen. Problematisch war hierbei, dass die reduzierte Kapitalausstattung in den Folgejahren nur unzureichend ausgeglichen werden konnte, da mit den laufenden Lieferungen an die Sowjetunion systematisch Mittel für den Wiederaufbau entzogen wurden. Die ungleich höheren Reparationslasten haben den Start im Osten Deutschlands ohne Zweifel erheblich belastet. Erst Mitte der 1950er Jahre konnte in der DDR der Wiederherstellungsprozess weitgehend abgeschlossen werden. Einige Wirtschaftsbereiche wie der einst führende Fahrzeugbau und das Verkehrswesen vermochten sich von den Demontagefolgen nicht mehr vollständig zu erholen. Freilich können dadurch die später zu beobachtenden gravierenden Wachstumsrückstände gegenüber der Bundesrepublik nicht ausschließlich erklärt werden. Hier gilt es vor allem, dass man die Folgen der neuen Wirtschaftsordnung berücksichtigt und zur Erklärung heranzieht.22

4.

Zur Wirtschaftspolitik in der SBZ

4.1

Ordnungspolitische Weichenstellungen

Die wirtschaftliche Umgestaltung setzte mit den besatzungsrechtlichen Konfiszierungen bzw. Enteignungen der agrarischen und industriellen Elite des „Dritten Reiches“ ein. Einer der ersten Schritte auf diesem Weg war die Bodenreform von September 1945, durch die das Privateigentum an Grund und Boden neu verteilt wurde. Bei der Bodenreform ging es erst einmal maßgeblich darum, den vorhandenen Großgrundbesitz im Rahmen der Entnazifizierung zu zerschlagen und den Neubauern (Flüchtlinge/Vertriebene) eine Existenzgrundlage zu bieten. Eine Vergrößerung bestehender Wirtschaften, eine Beleihung oder gar eine weitere Kapitalisierung der Landwirtschaft wurde ausgeschlossen. In der Gesamtsicht beseitigte die Bodenreform die jahrhundertealte Agrarverfassung auf dem Gebiet der SBZ – die Dominanz der Gutsherrschaft in der dörflichen Gesellschaft – und ersetzte diese durch kleinbäuerliche Strukturen. Doch die massenhaft entstandenen Neubauernwirtschaften waren ungenügend ausgestattet und ökonomisch schwach. In der Folgezeit entstanden erhebliche volkswirtschaftliche Kosten und es entwickelte sich ein permanenter landwirtschaftlicher Krisenherd. Der bei Kriegsende bestehende Vorteil der Selbstver-

22 Steiner, Plan, S. 34 f.; Karlsch, Auswirkungen, S. 160–165.

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sorgung auf dem Land wurde mit der Bodenreform zum Teil wieder aufgehoben.23 Beschlagnahmungen von Eigentum und Vermögen hatte es zudem gleich beim Einmarsch der sowjetischen Truppen gegeben. Im Sommer und Frühherbst 1945 waren erste Verordnungen über die Beschlagnahmung und Enteignungen von NS-Vermögen gefolgt, aber erst Ende Oktober 1945 gab es hierfür bindende Befehle der sowjetischen Besatzungsmacht. Mit den SMAD-Befehlen Nr. 124 und Nr. 126 vom 30./31. Oktober 1945 wurde das gesamte Eigentum und Vermögen des deutschen Staates, der NSDAP, der NS-Funktionselite, das Eigentum von Personen, die von der SMAD benannt wurden, und herrenloses Vermögen offiziell konfisziert, d. h. unter Sequester gestellt. Damit entsprach die SMAD den auf der Potsdamer Konferenz festgelegten alliierten Vereinbarungen über die Dezentralisierung und Entflechtung der deutschen Banken und Großindustrie (Konzerne). Die unternehmerische Verfügungsgewalt wurde dadurch einerseits eingeschränkt und unter Kontrolle gebracht; andererseits schuf sich die SMAD dadurch eine eigentumsrechtliche Garantie zur Sicherung der Reparationslieferungen aus der SBZ. Im Zuge dieser beiden Befehle beschlagnahmte die SMAD nicht nur alle Großbetriebe, sondern auch einen Großteil der mittelständischen Unternehmen der SBZ. Damit wurden im Herbst 1945 die wirtschaftlichen Grundlagen für die Entstehung des „Volkseigentums“ (Staatseigentum) in der SBZ/DDR geschaffen.24 Die wichtigsten der unter Sequester stehenden Unternehmen firmierten dann wenig später als sowjetische Unternehmen (SAG-Betriebe) für die Absicherung der Reparationslieferungen aus der laufenden Produktion. Diese Betriebe gab die Sowjetunion der SBZ/DDR in mehreren Etappen (ab 1947) unentgeltlich oder durch Verkauf als „Volkseigene Betriebe“ bis 1954 (zum 1. Januar) wieder zurück. Eine Ausnahme bildete der Uranbergbau der Wismut AG, der als sowjetisch-deutsche Aktiengesellschaft bis zum Ende der DDR bestand. Der andere Teil der beschlagnahmten Industrie wurde zuerst durch einen Volksentscheid im hoch industrialisierten Sachsen, am 30. Juni 1946, der sächsischen Landesverwaltung bzw. den Kommunen als „Volkseigentum“ übergeben. Wenig später erfolgten solche Übereignungen per Verfügungen auch in den anderen Ländern der SBZ. Offiziell beendet wurden die Enteignungen am 17. April 1948 mit dem SMAD-Befehl Nr. 64. Bis zum Ende des Jahres 1948 unterstanden fast zwei Drittel der Wirtschaft der SBZ den deutschen Verwaltungen (ca. 40 Prozent) oder den SAG-Betrieben. Damit erwirtschaftete der 23 Judt (Hg.), DDR-Geschichte, S. 90 f.; Arndt Bauerkämper, Problemdruck und Ressourcenverbrauch. Wirtschaftliche Auswirkungen der Bodenreform in der SBZ/DDR 1945– 1952. In: Buchheim (Hg.), Folgelasten, S. 295–322. Vgl. hierzu auch die Monographie von Bauerkämper, Ländliche Gesellschaft in der kommunistischen Diktatur. Zwangsmodernisierung und Tradition in Brandenburg von 1945 bis zu den frühen sechziger Jahren, Köln 2002. 24 Werner Matschke, Die industrielle Entwicklung in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands (SBZ) 1945–1948, Berlin (West) 1988, S. 142–159; Steiner, Plan, S. 40 f.

Von der wirtschaftlichen Entwaffnung zur zentralen Wirtschaftsplanung 427

staatliche Sektor zusammen mit den SAG-Betrieben am Ende des Jahres 1948 mehr als 60 Prozent der industriellen Bruttoproduktion. Dieser Wandel in der Eigentumsordnung, der das private Eigentum bis Ende der 1950er Jahre marginalisieren sollte, war zugleich mit einem Elitenwechsel in den Unternehmen verbunden. Es waren oftmals Arbeiter und Seiteneinsteiger, die das alte Betriebsmanagement ersetzten. Zugleich blieben aus pragmatischen Gründen nicht selten belastete Fachkräfte in ihren Positionen, da man sie nicht einfach ersetzen konnte. Der Elitenwechsel festigte die Eigentumsumgestaltung in der SBZ/DDR und erzeugte eine beachtliche soziale und politische Bindekraft zum Vorteil der sich etablierenden neuen Ordnung.25 4.2

Produktionsingangsetzung durch betriebliche Selbstorganisation

Als die sowjetische Besatzungsmacht mit dem SMAD-Befehl Nr. 9 vom 21. Juli 1945 die Wiederaufnahme der industriellen Produktion in der gesamten SBZ befahl, hatte sich vielerorts eine Ingangsetzung der Industrieproduktion schon als Prozess der betrieblichen Selbstorganisation vollzogen. Die „fern vom Gleichgewicht“ befindlichen wirtschaftlichen Verhältnisse wurden im Sommer 1945 schnell wieder stabilisiert. Die Produktionsprofile konnten ohne große Probleme von der Rüstungsproduktion auf die zivile Fertigung umgestellt werden. In dieser frühen Phase verfolgten die Unternehmen in der SBZ das gleiche Wiederaufbaukonzept wie die Unternehmen in den westlichen Besatzungszonen: Produktionsingangsetzung, Umstrukturierung und Reorganisation der vorhandenen Industriestrukturen. Doch die betriebliche Selbstorganisation kollidierte schnell mit der sowjetischen Demontagepraxis, d. h. die selbst organisierte Ingangsetzung der Produktion musste sich der sowjetischen Demontageund Reparationspolitik unterordnen und damit kam es zugleich zur Anpassung an die sich neu etablierenden wirtschaftlichen Strukturen.26 Wie sich dieser Prozess vollzog, lässt sich exemplarisch an der Geschichte des sächsischen mittelständischen Unternehmens Freitaler Stahlindustrie GmbH (FSI) aufzeigen. Der Betrieb wurde während des Krieges als Rüstungsbetrieb gegründet, stand nach Kriegsende unter Sequester und war mehrfach für die Demontage vorgesehen. Die Belegschaft begann aber schon im Juni 25 Matschke, Entwicklung, S. 151 und 239; Winfrid Halder, „Prüfstein ... für die politische Lauterbarkeit der Führenden?“ Der Volksentscheid zur „Enteignung der Kriegs- und Naziverbrecher“ in Sachsen im Juni 1946. In: Geschichte und Gesellschaft, 25 (1999), S. 589–612; Rainer Karlsch, „Ein Staat im Staate“. Der Uranbergbau der Wismut AG in Sachsen und Thüringen. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, 43 (1993), B 49–50, S. 14–23; Steiner, Plan, S. 41–43. Vgl. auch die Monographie von Halder, „Modell für Deutschland“. Wirtschaftspolitik in Sachsen, Paderborn 2001. 26 Burghard Ciesla, Demontagen und betriebliche Selbstorganisation in der SBZ. In: Berliner Debatte – Initial, 6 (1995), S. 93–100; Johannes Vogler, Von der Rüstungsfirma zum volkseigenen Betrieb. Aufzeichnungen eines Unternehmers der SBZ von 1945– 1948. Hg. von Burghard Ciesla, München 1992.

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1945 – Wochen vor dem SMAD-Befehl Nr. 9 – mit der Umstellung der Rüstungsproduktion auf eine Lokomotiven- und Waggonreparatur. Bei der FSI ging man davon aus, dass die Arbeitsplätze nur dann erhalten werden konnten, wenn der Betrieb sein Produktionsprofil auf die Interessen der sowjetischen Besatzungsmacht ausrichtete. Angesichts der laufenden Demontagen und des großen Bedarfs an Transportkapazitäten, erschien die Lokomotiven- und Waggonreparatur als eine viel versprechende Überlebensstrategie. In der Folgezeit agierten in der FSI jedoch mehrfach sowjetische Demontagekolonnen, und die Existenz der Eisenbahnreparatur wurde dadurch mehr als einmal ernsthaft gefährdet. Ein Paradoxon war hierbei, dass die Demontagekolonnen nach und nach die Produktionsanlagen des Betriebes abbauten und gleichzeitig die SMA von der Reparaturwerkstatt ein höherer Ausstoß an reparierten Eisenbahnwaggons forderte. Wie konnte das Unternehmen diesem Dilemma entweichen? Von großer Bedeutung war in diesem Zusammenhang, dass der Leiter der Reparaturwerkstatt, der Ingenieur Johannes Vogler, zugleich der von der Besatzungsmacht per Befehl eingesetzte Treuhänder der FSI und der für die Demontage der FSI eingesetzte leitende Ingenieur war. Mit viel Geschick gelang es ihm zwischen 1945 und 1947 die sowjetischen Verantwortlichen für die Demontagen vor Ort davon zu überzeugen, einerseits nur das zu demontieren, was die im Betrieb befindliche Reparaturwerkstatt entbehren konnte, andererseits die Weiterarbeit der Reparaturwerkstatt abzusichern. Dieser „Handel“ konnte deshalb für beide Seiten vorteilhaft funktionieren, weil das Demontagesoll lediglich in Tonnen vorgegeben wurde und es letztlich egal war, ob die Stahlträger irgendeiner Lagerhalle abgebaut wurden oder man produktionswichtige Maschinen entnahm. Solange es gelang, die Demontagekolonnen mit ausreichender Tonnage zu versorgen, konnte der Reparaturbetrieb damit weiterlaufen. Im Frühjahr ließ der Ingenieur Vogler außerdem die Reparaturfirma unter dem Namen Mechanische Werkstätten Freital (MWF) in das Handelsregister eintragen und mietete sich pro forma in der FSI ein, um so eine klare juristische Trennung zwischen Reparaturbetrieb und FSI herbeizuführen. Mit diesem juristischen Schachzug versuchte er auf offiziellem Wege einen Teil der FSI vor der Demontage zu retten. Am Ende war dem nicht ungefährlichen Pokerspiel mit der Besatzungsmacht schließlich Erfolg beschieden: Das Reparaturunternehmen blieb bestehen und wurde 1948 zum volkseigenen Betrieb.27 Die Geschichte der FSI/MWF zeigt, dass auf deutscher Seite die internen sowjetischen Konflikte um die jeweils beste Form der Reparationsentnahmen verborgen blieben und dort der begründete Eindruck vorherrschte, dass die Besatzungsmacht zumindest bis 1947 bei ihren wirtschaftspolitischen Entscheidungen weitgehend konzeptionslos agierte bzw. die eine Hand nicht wusste, was die andere gerade tat. Zwangsläufig passte sich das Unternehmen den neuen Erfordernissen und Rahmenbedingungen der sowjetischen Besatzungspolitik an und musste hierbei mehrfach feststellen, dass die deutschen Instanzen so27 Ebd.; Karlsch/Ciesla, Karthago-Frieden, S. 89.

Von der wirtschaftlichen Entwaffnung zur zentralen Wirtschaftsplanung 429

wohl auf Landesebene als auch auf zentraler Verwaltungsebene unzureichende oder keine Entscheidungskompetenzen besaßen. In der Gesamtsicht standen bei der betrieblichen Selbstorganisation – falls sie gelang – die Stabilisierung der Verhältnisse und der Erhalt des Betriebes im Vordergrund. Damit wurden zugleich zwangsläufig Wege beschritten, die am Ende „im Kleinen“ günstige Voraussetzungen für die Etablierung planwirtschaftlicher Strukturen schufen. Zumindest wurde bei der MWF die Übernahme in das Volkseigentum im Jahre 1948 mit Erleichterung aufgenommen, da sich bis dahin die Zulieferungen, die Auftragslage und die Verfügbarkeit der finanziellen Mittel für das private Unternehmen immer schwieriger gestaltet hatten.28 4.3

Wirtschaftspolitik zwischen Länderegoismus und Zentralismus

Zum Verständnis der Wirtschaftspolitik in der SBZ ist es notwendig, zuerst auf die wirtschaftspolitischen Vorstellungen der Akteure in der unmittelbaren Nachkriegszeit kurz einzugehen. Aufgrund der sowjetischen Besatzung spielten in der SBZ die Kommunisten eine herausragende politische Rolle. Sie orientierten auf eine planwirtschaftliche Ordnung als Instrument ihrer Machtpolitik, aber auch die Sozialdemokraten befürworteten eine planwirtschaftliche Ausrichtung der SBZ. An dieser Stelle sei daran erinnert, dass sich beispielsweise auch die Sozialdemokraten in den Westzonen eindeutig für die Planwirtschaft aussprachen. In einer Selbstdarstellung von 1946 erklärten sie: SPD, dass bedeutet Sozialismus, Planwirtschaft, Demokratie. Zwei von sieben Argumenten der SPD für die Planwirtschaft lauteten, dass „nur Planwirtschaft aus der alles umspannenden Not an Lebens- und Kulturgütern herausführt und weitere Wirtschaftskrisen vermeidet“ und „nur Planwirtschaft dem vom ausbeuterischen Kapitalismus gezüchteten nicht vom Arbeiter ‚erfundenen‘ Klassenkampf seine Schärfe nimmt“.29 In der SBZ waren auch die Christdemokraten mit Einschränkungen für die Planwirtschaft; lediglich die Liberalen orientierten von Anbeginn auf eine sich am Liberalismus orientierende Marktwirtschaft. Alle politischen Kräften waren sich nach dem Kriegsende aber darin einig, dass die wirtschaftliche Herrschaft privater Kartelle und Konzerne beseitigt werden müsse. Der Hintergrund für diesen anfänglichen Konsens unter den politischen Kräften hing mit den Erfahrungen der Zwischenkriegszeit zusammen. Die Weltwirtschaftskrise und die damit verbundenen sozialen und politischen Folgen hatten das kapitalistische Wirtschaftssystem diskreditiert. Darüber hinaus existierte zudem Übereinstimmung darüber, dass man die katastrophale wirtschaftliche Situation der unmittelbaren Nachkriegszeit nur mit einer koordinierten Lenkung in den Griff bekommen werde.30 28 Ciesla, Selbstorganisation, S. 98. 29 Steininger, Deutsche Geschichte, S. 119. 30 Steiner, Plan, S. 35–38.

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Generell war wirtschaftspolitisch in der SBZ nur das möglich, was die Besatzungsmacht wollte oder für sich als vorteilhaft ansah. Das Hauptinteresse Moskaus bei der Wiederankurbelung der Wirtschaft war die Produktion für die eigenen Bedürfnisse. Infolge der unklaren deutschlandpolitischen Vorstellungen bei Ende des Krieges verfolgte Moskau – wie schon weiter oben deutlich gemacht – eine äußerst widersprüchliche Wirtschaftspolitik. Neben der radikalen ökonomischen Entwaffnung war Moskau unter anderem auch daran gelegen, eine offene Konfrontation mit den Westalliierten zu vermeiden, da bis 1947 zeitweise auch ernsthaft von der Möglichkeit eines einheitlichen neutralen Deutschlands ausgegangen wurde. Die Moskauer Führung gab dem Drängen der deutschen Kommunisten bzw. der SED auf eine weitere sozialökonomische Umgestaltung und der Errichtung eines ostdeutschen Staates deshalb immer nur soweit nach, wie von Seiten der Westalliierten eine Staatsbildung in den Westzonen angestrebt wurde. Mit dem sich ab 1947 immer mehr abzeichnenden Kalten Krieg bekamen schließlich die wirtschaftspolitischen Entscheidungen im Hinblick auf eine sozioökonomische Transformation in der SBZ die entscheidenden Impulse.31 Dass eine eigenständige Entwicklung grundsätzlich möglich war, bestätigte der SMAD ein Gutachten vom Dezember 1946. Darin wurde einführend erklärt: „Die eineinhalbjährige, in wirtschaftlicher und politischer Hinsicht geteilte Existenz der vier Besatzungszonen hat zu einem Anwachsen der wirtschaftlichen Selbstständigkeit der Zonen sowie der Länder und der Provinzen innerhalb der Zonen geführt. Die vorhandenen Rohstoffvorräte erlaubten eine getrennte Existenz der Zonen ohne sichtbare wirtschaftliche Erschütterungen.“32 Die realwirtschaftlichen Verhältnisse in der SBZ wurden währenddessen zwischen 1945 und 1948 durch eine tiefgreifende Ernährungs- und Wohnraumkrise geprägt. Die Kriegszerstörungen, die willkürlichen und unkoordinierte Demontagen, der Verlust traditioneller Wirtschaftsbeziehungen sowie die Auskopplung ganzer Wirtschaftsbereiche für die Reparationsproduktion behinderten das Wirtschaftsleben in der SBZ in einem erheblichen Maße. Es gab große Probleme bei der Rohstoffversorgung, das Verkehrswesen litt unter den Kriegsfolgen und vor allem waren die Geldverhältnisse zerrüttet, d. h. es bestand ein beträchtlicher Überhang an umlaufendem Geld. Die schleichende Inflation und die gestörten Wirtschaftsbeziehungen führten sehr schnell dazu, dass Waren gegen Lebensmittel und Rohstoffe getauscht wurden, um die Produktion aufrecht zu erhalten. Zugleich wurden durch die Betriebe Löhne in Form von Nahrung, Heizmitteln oder Sachwerten ausgezahlt: „Unter diesen Bedingungen war der Schwarze oder Graue Markt nicht nur für das Überleben der Menschen, son31 Ebd., S. 51. 32 Jan Foitzik, „Über die Frage, inwieweit die selbstständige Existenz der sowjetischen Zone zweckmäßig ist, muss schnellstmöglich entschieden werden.“ Gutachten aus der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland vom Dezember 1946 mit Bearbeitungsvermerken von Marschall Sokolowski. In: Deutschland Archiv, 36 (2003), S. 428– 446, hier 435.

Von der wirtschaftlichen Entwaffnung zur zentralen Wirtschaftsplanung 431

dern auch für die Aufrechterhaltung der Produktion unabdingbar. Noch 1948 wurde nach verschiedenen Schätzungen ein Viertel des Nationaleinkommens bzw. der industriellen Gebrauchsgüter über den Schwarzen Markt oder über Kompensationsgeschäfte umgesetzt.“33 Angesichts der schwierigen Wirtschaftslage wurde recht bald deutlich, dass die Wirtschaft nur operativ gesteuert werden konnte. Besonders schwierig erwies sich die Wirtschaftslenkung, da die Anstrengungen und Bemühungen der deutschen Stellen gegeneinander liefen und die Besatzungsmacht unter anderem Produktionsvorgaben benutzte, die für die Deutschen wenig durchschaubar waren und damit eine Kontrolle der Reparationsabrechnung erschwerten. Auf deutscher Seite wurde deshalb die Vermutung geäußert, „dass die Pläne absichtlich in verschiedenen Warennomenklaturen erstellt werden, um zwischen dem Produktionsplan und den Plänen für die sowjetischen Bedarfsträger keine Bilanz erstellen zu können“.34 Die sowjetischen Eigeninteressen und das große Misstrauen führten im Wesentlichen dazu, dass die von der SMAD am 22. Juli 1945 installierte Zentralverwaltung für Industrie (DZWI) mit elf Zentralverwaltungen für verschiedene Wirtschaftsbereiche kaum Kompetenzen und Kontrollrechte hatte.35 Dadurch konnten die Länder in der SBZ ein hohes Maß an Selbständigkeit entwickeln, was wiederum eine Art Länderegoismus zur Folge hatte. So bauten verschiedene Länder Industrien zur Verarbeitung eigener Rohstoffe aus, während Kapazitäten in anderen Ländern der SBZ nicht ausgelastet wurden: „Selbstbewusst wachten die Länder nicht nur über ihre Unabhängigkeit von Berlin, sondern schotteten sich auch weitgehend voneinander ab. Erleichtert wurde ihnen dies durch das Fehlen eines zonal einheitlichen Bewirtschaftungssystems.“36 Aufgrund der sich akut verschlechternden realwirtschaftlichen Entwicklung und angestachelt durch die Bildung eines Wirtschaftsrates der Bizone Ende Mai 1947 im Westen Deutschlands, reagierte Moskau mit der Bildung einer ähnlichen Institution am 4. Juni 1947 für die SBZ: Es wurde die Deutsche Wirtschaftskommission (DWK) geschaffen, deren Aufgabe es war, die wirtschaftlichen Aktivitäten in der SBZ besser zu koordinieren. Bis zu diesem Zeitpunkt wurde jeweils für ein Quartal geplant. Zudem nutzte man das deutsche Bewirtschaftungssystem und die Preiskontrolle aus der Zeit des Krieges. Die Demontagen und steigende Reparationsbelastungen untergruben jedoch beständig die Grundlagen der Planung, die doch gerade die Reparationsleistungen absichern helfen sollte. Die DWK sollte nun endlich Abhilfe schaffen, aber in der Anfangsphase waren die Kompetenzen weiterhin beschränkt, wodurch der Konflikt zwi33 Steiner, Plan, S. 44. 34 Zit. nach Klaus Holzwarth, Die Anfänge der zentralen Wirtschaftsplanung in der SBZ. In: Buchheim (Hg.), Folgelasten, S. 255. 35 André Steiner, Zwischen Länderpartikularismus und Zentralismus. Zur Wirtschaftslenkung in der SBZ bis zur Bildung der Deutschen Wirtschaftskommission im Juni 1947. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, 43 (1993) B 49–50, S. 32–39. 36 Holzwarth, Anfänge, S. 249.

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schen den Ländern der SBZ und der Zentrale bestehen blieb und weiterhin widersprüchliche Entscheidungen getroffen wurden. Eine wirtschaftspolitische Wende in der SBZ wurde schließlich durch die Außenministerkonferenz der Alliierten in London Ende November 1947 eingeleitet. Auf dieser Konferenz ging es nicht mehr um ein einheitliches Deutschland. Die Westalliierten beabsichtigten die Errichtung einer Regierung für die drei Westzonen in allernächster Zeit. Als Reaktion darauf erweiterte Moskau im Februar 1948 die Befugnisse der DWK mit dem SMAD-Befehl Nr. 32. Dadurch erhielt die DWK nun verbindliche Weisungsrechte und die seit 1945 wenig erfolgreich agierenden Zentralverwaltungen wurden in die DWK eingegliedert. Moskau schuf damit die Grundlagen für eine spätere ostdeutsche Zentralregierung und bis zum Sommer 1948 wurde über die DWK eine neue Wirtschaftsordnung in der SBZ etabliert. Im Zuge der Vereinheitlichung und Zentralisierung der Wirtschaftslenkung hob die DWK als erstes die wirtschaftspolitischen Kompetenzen der Länder auf und beseitigte so den Länderpartikularismus in der SBZ. Alle inhaltlichen Planungen und die Entscheidungshoheit lagen nun ausschließlich bei der DWK. Mit Genehmigung der SMAD wurde von der DWK im Zeichen des „Wiederaufbaus und der Entwicklung der Friedenswirtschaft“ ein Halbjahresplan für die zweite Hälfte des Jahres 1948 vorgelegt und darauf aufbauend ein Zweijahresplan für die Jahre 1949 und 1950 entworfen. Innerhalb der DWK konnte die SED von Anfang an die entscheidenden machtpolitischen Positionen besetzen und der schon seit Herbst 1947 eingeschlagene Kurs für die Errichtung einer Planwirtschaft sowjetischen Typs wurde nun zum wirtschaftspolitischen Hauptziel, dem sich alle anderen politischen Kräfte zwangsläufig anpassen mussten. Zur wichtigsten wirtschaftspolitischen Maßnahme der DWK und damit Moskaus gehörte die Währungsreform in der SBZ. Sie war einerseits eine erzwungene Reaktion auf die westdeutsche Währungsreform vom 20. Juni 1948, aber andererseits auch eine unbedingte Notwendigkeit dafür, um die Grundlage für ein geregeltes Wirtschaften zu schaffen.37 Die Gründung der DWK und deren Neukonstituierung, die Straffung der Wirtschaftssteuerung und damit die Erhöhung der Planungseffizienz sowie die Währungsreform waren wirtschaftspolitische Maßnahmen, die sowohl als Reaktionen auf die Entwicklungen in den Westzonen abliefen als auch ordnungspolitische Schritte zur Etablierung einer sozialistischen Planwirtschaft sowjetischen Typs darstellten. Die DWK bildete am 7. Oktober 1949 die Basis für die Konstituierung der DDR-Regierung.38

37 Holzwarth, Anfänge, S. 247–253; Steiner, Plan, S. 52–56. 38 Ebd., S. 57 und 62.

Von der wirtschaftlichen Entwaffnung zur zentralen Wirtschaftsplanung 433

5.

Resümee

Die Wünsche und Interessen der sowjetischen Besatzungsmacht waren bei allen wirtschaftspolitischen Entscheidungen grundlegend. Zugleich erwies sich die Wirtschaftspolitik der Besatzungsmacht in der Anfangszeit als äußerst widersprüchlich und kontraproduktiv. Es zeigte sich, dass von sowjetischer Seite in der SBZ unterschiedliche Strategien verfolgt wurden: Einerseits wollte Moskau die industriellen Kapazitäten schnell und radikal abbauen, andererseits sollte die Wirtschaft der SBZ durch Lieferungen aus der laufenden Produktion für die Sowjetunion nutzbar gemacht werden. Im Besatzungsalltag bewirkte das Nebeneinander von „Entwaffnungskonzept“ und „Besatzungspragmatismus“ beinahe die Lähmung des ganzen Wirtschaftssystems der SBZ, da der Binnenmarkt innerhalb der ersten beiden Nachkriegsjahre aufgrund des rigorosen Vorgehens beinahe leergefegt wurde. Die daraus resultierende Krise führte nach und nach zur Modifizierung der sowjetischen Besatzungspolitik. Die beabsichtigte wirtschaftliche Entwaffnung wurde zugunsten einer pragmatischen Wirtschaftspolitik – die auf eine Nutzung der Ressourcen der SBZ für die Sowjetunion vor Ort ausgerichtet war – aufgegeben. Zugleich führte die Verschlechterung der Beziehungen zu den Westalliierten dazu, dass die sowjetische Besatzungsmacht in ihrer Zone den Ausbau einer einheitlichen zentralen Wirtschaftsplanung voranzutreiben begann. Der bis dahin ausgeprägte Länderpartikularismus wurde beseitigt und der sozialökonomische Transformationsprozess bekam in der SBZ ab 1948 entscheidende Impulse.

Die sowjetische Wirtschaftspolitik in Österreich 1945–1955 Otto Klambauer

1.

Der rechtliche Anspruch der Alliierten auf das deutsche Auslandsvermögen in Österreich

In der Serie von Konferenzen zur Planung einer Nachkriegsordnung für Europa nach dem Sieg über Hitler-Deutschland fassten die USA, Großbritannien und die Sowjetunion auf der Konferenz von Potsdam Anfang August 1945 folgenschwere Beschlüsse. Eine wirtschaftliche Weichenstellung betraf indirekt besonders die Besatzungspolitik in Österreich: Die alliierten Siegermächte beschlossen, dass Deutschland für die Schäden des Zweiten Weltkrieges Kriegsentschädigung zu leisten habe – dazu werde auch das deutsche Vermögen im Ausland herangezogen.1 Der Gedanke, sich nach einem Sieg über HitlerDeutschland auch am deutschen Auslandsvermögen schadlos zu halten, war nicht nur in Moskau, sondern auch in Washington und London schon zu Kriegszeiten fest verankert. In Potsdam verzichtete einerseits die UdSSR auf deutsches Vermögen in den westlichen Besatzungszonen Deutschlands. Die USA und Großbritannien verzichteten im Gegenzug auf die deutschen Vermögenswerte in der östlichen Besatzungszone Deutschlands sowie auf die deutschen Auslandsguthaben in Bulgarien, Finnland, Ungarn, Rumänien und Ost-Österreich.2 Gerade Österreich war bei der Requirierung des deutschen Auslandsvermögens durch die engen wirtschaftlichen Verflechtungen seit dem Ersten Weltkrieg und vor allem durch den Anschluss an Hitler-Deutschland 1938 bis 1945 in besonders hohem Ausmaß betroffen – wie sich im Besatzungsalltag in Österreich von Beginn an prompt erweisen sollte.

1 2

Potsdamer Abkommen zit. nach Ernst Deuerlein, Deklamation oder Ersatzfrieden? Die Konferenz von Potsdam 1945, Stuttgart 1970, S. 186. Ebd., S. 188 f.

436

2.

Otto Klambauer

Die sowjetische Beschlagnahmepolitik 1945

Schon das Kriegsende, die Befreiung durch alliierte Truppen und der Beginn der alliierten Besetzung hatten erste direkte Auswirkungen auf die österreichische Wirtschaft: Unter dem Sammelbegriff „Beuteverwaltung“ („Trofejnoe Upravlenie“) organisierten die Truppen der Roten Armee in Ost-Österreich eine umfangreiche Beschlagnahme- und Demontagetätigkeit. Ihren Sitz hatte die Sowjet-„Beuteverwaltung“ zunächst in Mödling bei Wien. Marschall Tolbuchin machte gegenüber Mitgliedern der österreichischen Provisorischen Regierung daraus kein Hehl: Die Erbeutung von reichsdeutscher Kriegsindustrie in Österreich habe einen Abtransport dieser Industrie erforderlich gemacht, da die Deutschen ihrerseits mit der sowjetischen Industrie so verfahren seien.3 Schon von dieser Demontagepolitik der sowjetischen Truppen war das deutsche Vermögen in Österreich besonders betroffen.4 Der Gesamtwert der sowjetischen Demontagen lässt sich wohl kaum mehr exakt feststellen. Laut dem österreichischem Institut für Wirtschaftsforschung beliefen sich die von Sowjets beschlagnahmten und abtransportierten Maschinen, Rohstoffe, Halb- und Fertigfabrikate, Transportmittel und Bargelder in Wien und Niederösterreich auf eine Gesamtsumme von 1,208 Milliarden Schilling, davon entfielen allein auf demontierte Maschinen rund 650 Millionen Schilling.5 Der Nutzen für die sowjetische Wirtschaft dürfte aber gering gewesen sein: Durch nicht fachgerechte Lagerung und Handhabung entstand an den demontierten Industrieanlagen schwerer Schaden – was wiederum große Verbitterung in der österreichischen Bevölkerung hervorrief.6 Auch die größeren Landwirtschaftgüter in Ost-Österreich wurden in den ersten Nachkriegsmonaten der Sowjetkommandantur unterstellt und von sowjetischen Kommissaren verwaltet. Die meisten Demontagen führte die sowjetische Besatzungsmacht im Jahr 1945 durch. Sie wurden bis ins erste Halbjahr 1946 immer geringer und hörten dann auf, als die Sowjet-Macht dazu überging, das deutsche Eigentum zu beschlagnahmen und in Eigenregie weiterzuführen.

3 4 5 6

Die sowjetische Besatzungswirtschaft in Österreich. Endbericht über die Ergebnisse des Forschungsauftrages, Wien 1958, S. 8. Aus dem Bestand des Niederösterreichischen Instituts für Landeskunde (Nachlass Figl). Karl Hendrich, Die wirtschaftliche Durchdringung Österreichs durch Deutschland und deren betriebswirtschaftliche Folgen, Wirtschaftswiss. Diss. Wien 1948, S. 74. Die Wirtschaft, Jg. 1949, Nr. 20, Wien 1949, S. 7. Wilfried Aichinger, Sowjetische Österreichpolitik 1943–1945, Phil. Diss. Wien 1977, S. 253.

Die sowjetische Wirtschaftspolitik in Österreich 1945–1955

3.

437

Moskaus Plan österreichisch-sowjetischer Unternehmen

Parallel zu den Demontagen wollte die sowjetische Besatzungsmacht sofort nach dem Einmarsch in Österreich ein Konzept in die Tat umsetzen, das sie bereits in anderen eroberten Staaten praktizierte: die Bildung gemischt-staatlicher Gesellschaften und Unternehmen. Mit solchen Aktiengesellschaften wollte sich die UdSSR die Kontrolle vornehmlich über Schlüsselindustriezweige in den von ihr besetzten Ländern sichern. Meist sah das Konzept vor, dass die Sowjetunion das von ihr beschlagnahmte Firmenvermögen in die gemischte AG einbringen sollte, das jeweilige Partnerland das notwendige Barvermögen aufzubringen hatte – also die Hauptlast zu tragen hatte. Dieses Konzept der SAG’s verfolgte die sowjetische Besatzungsmacht besonders in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands (SBZ): „Mit den SAG kamen die zentralen Bereiche der Wirtschaft der SBZ unter die direkte sowjetische Kontrolle.“7 In Österreich konzentrierten sich die Bemühungen der Sowjet-Macht zur Bildung sowjetisch-österreichischer Unternehmen auf zwei Schlüssel-Industrien: Die Erdölindustrie und die Donauschifffahrt. Die Erdölförderung auf österreichischem Boden war bei Kriegsende – als Folge der Steigerung der Erdölgewinnung für die reichsdeutsche Kriegswirtschaft – die zweitgrößte in Europa nach Rumänien. Und was die Donauschifffahrt betraf, so war die Erste DDSG das mit Abstand führende Schifffahrtsunternehmen auf der Donau – mit zahlreichen Besitzobjekten und Stützpunkten entlang der Donau von Passau bis zur Mündung. Im Falle der DDSG ging es Moskau um „den Haupteinfluss auf einem der wichtigsten Ströme Europas“.8 Beide Wirtschaftsbereiche waren für die Sowjetunion nach Kriegsende von großer Bedeutung, besonders für die von Stalin angestrebte Sowjetisierung Ostmitteleuropas. Dazu kam auf militärischer Ebene ja, dass Moskau die Notwendigkeit zur Stationierung von sowjetischen Truppen in Ungarn und der Tschechoslowakei mit der Sicherung der Nachschubwege nach Ost-Österreich begründete.9 Im Spätsommer 1945 trat die UdSSR an die Provisorische Regierung Renner heran, eine gemeinsame gemischte sowjetisch-österreichische Erdölgesellschaft mit dem Firmennamen „Sanaphta“ zu gründen. Moskau wollte das von ihr beschlagnahmte deutsche Eigentum an der österreichischen Erdölindustrie einbringen, Österreich sollte seine Hälfte des Firmenkapitals in Form von neuen Maschinen, also von Neu-Investitionen, bereitstellen.10

7 Siehe dazu den Beitrag von Burghard Ciesla in diesem Band. 8 Lujo Toncic, Österreichs Ringen um die Potsdamer Beschlüsse. In: Berichte und Informationen, 1 (1946), S. 2. 9 Manfried Rauchensteiner, Der Sonderfall. Die Besatzungszeit in Österreich 1945 bis 1955, Wien 1979, S. 153. Ders., Stalinplatz 4. Österreich unter alliierter Besatzung. Wien 2005, S. 81. 10 Foreign Relations of the United States. Diplomatic Papers 1945, Vol. III (FRUS), S. 592.

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Im September 1945 stellte die österreichische Regierung die Verhandlungen über die bilaterale Erdölgesellschaft ein – wohl auch nach heftigen Interventionen der Westmächte, besonders der USA. Als erste Gegenreaktion brachte Moskau den geplanten sowjetisch-österreichischen Handelsvertrag zu Fall. Und ab Herbst 1945 ging die sowjetische Besatzungsmacht dazu über, die Erdölvorkommen in Ost-Österreich allein auszubeuten – unter Hinweis auf das deutsche Eigentum. Dazu gründete sie einen eigenen Verwaltungskörper in Österreich, die Sowjetische Mineralölverwaltung (SMV). Erstmals aktenkundig wurde die SMV am 18. Oktober 1945.11 Den Vertrieb der Erdölprodukte übernahm die Firma OROP. Auch was die DDSG betraf, plante die sowjetische Besatzungsmacht die Gründung einer gemischt-staatlichen sowjetisch-österreichischen Aktiengesellschaft. Doch nach dem Scheitern des Erdölprojektes kam auch diese Option nicht zur Realisierung. Die weitere Vorgehensweise der Sowjetunion war im Fall der DDSG wie zuvor bei der Erdölindustrie: Am 2. Februar 1946 beschlagnahmten sowjetische Besatzungsorgane das in ihrer Zone gelegene Vermögen der DDSG als ehemaliges deutsches Eigentum. Auch hier wurde eine eigene Sowjet-Verwaltungsfirma gegründet: Die sowjetische DDSG mit dem Titel „Verwaltung der Donaudampfschifffahrtsgesellschaft“12, in der Kurzversion auch oft „Sowjet-DDSG“ genannt.

4.

Sowjet-Zugriff auf das deutsche Eigentum

Offenbar plante die Sowjetunion ursprünglich, dieses Konzept gemischt-staatlicher Firmen auf das gesamte deutsche Eigentum in Ost-Österreich anzuwenden: Am 8. Juni 1946 meldete die internationale Nachrichtenagentur „United Press“, Moskau habe der österreichischen Regierung angeboten, dass „alle nach der Okkupation Österreichs von den Deutschen erstellten industriellen Anlagen“ und nun von der Sowjetunion konfiszierten Betriebe „durch eine gemischte sowjetisch-österreichische Gesellschaft verwaltet werden“.13 Schon während dieser Verhandlungen über bilaterale Gesellschaften trafen die sowjetischen Besatzungsbehörden erste Maßnahmen, um das deutsche Eigentum in der sowjetischen Besatzungszone zu erfassen. Wie neue Dokumente aus Moskauer Archiven beweisen, die zum 50. Jahrestag der Unterzeichnung des österreichischen Staatsvertrags im Jubiläumsjahr 2005 veröffentlicht wurden, verschärfte sich die Gangart der sowjetischen Besatzungsmacht in Österreich ab Ende 1945.

11 FRUS 1945, S. 630. 12 Die Wirtschaft, Jg. 1946, Nr. 20, S. 13. 13 United Press vom 8. 6.1946. Zit. nach Keesings Archiv der Gegenwart, 16 (1946), S. 775.

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439

Am 14. Dezember 1945 sandte der Oberbefehlshaber der sowjetischen Truppen in Österreich, Marschall Ivan S. Konev, ein geheimes Schreiben nach Moskau an Außenminister Vjačeslav Molotov in seiner Eigenschaft als Stellvertretender Vorsitzender des Rates der Volkskommissare der UdSSR. Thema: „Feststellung und Erfassung des deutschen Eigentums in der sowjetischen Besatzungszone Österreichs“. In diesem bemerkenswerten Dokument, das die Intentionen des sowjetischen Militärkommandanten in Österreich widerspiegelt, berichtete Konev: „Auf dem Gebiet Österreichs befindet sich eine erhebliche Menge an deutschem Eigentum, das gemäß den Beschlüssen der Berliner Konferenz in den Besitz der UdSSR überzugehen hat.“14 Konev wies darauf hin, dass die britischen und amerikanischen Militärbehörden in ihren Besatzungszonen „Tätigkeiten zur Feststellung und Erfassung dieses Eigentums“ durchführen und die deutschen Aktiva zu verwalten beginnen. Konev an Molotov: „In unserer Besatzungszone Österreichs ist ein Teil der Betriebe demontiert, doch die Arbeiten zu einer vollständigen Feststellung und Erfassung des Eigentums wurden nicht durchgeführt, und eine Kontrolle über das deutsche Eigentum, das sich in Österreich befindet, wird nicht ausgeübt.“ Er berichtete sogar, dass Organe der Provisorischen Regierung Österreichs Bestrebungen zeigten, „genanntes Eigentum illegal für den eigenen Vorteil zu nutzen“. Deshalb sandte Konev „einen Befehlsentwurf über die Erfassung des [deutschen] Eigentums in Österreich und über die Herstellung einer Kontrolle darüber“ (Anm.: Dieser Befehl ist nicht im Dokument enthalten). Konev empfahl folgende Vorgangsweise: „Zum Zwecke einer Feststellung und Erfassung des deutschen und des nationalsozialistischen Eigentums in der Sowjetischen Besatzungszone in Österreich und auch zu einer Verwaltung über dieses Eigentum würde ich es als zielführend erachten, die ,Verwaltung für Beutegut der Zentralen Gruppe der Streitkräfte‘ in eine ,Verwaltung für Angelegenheiten des Deutschen Eigentums in Österreich‘ umzuwandeln und diese dem Sowjetischen Teil der Alliierten Kommission zu unterstellen.“15 Spätestens ab Februar 1946 begannen die Sowjet-Behörden mit der Beschlagnahme von Betrieben unter dem Reparations-Titel „Deutsches Eigentum im Ausland“. Ab März 1946 wurden die zuständigen österreichischen Behörden zur Übergabe der Unterlagen über ausländische Besitzrechte aufgefordert. Bis Anfang Juli 1946 wurden die Konfiskationen immer umfangreicher.16 Davon betroffen waren sowohl Industriebetriebe als auch land- und forstwirtschaftliche Betriebe.

14

Stefan Karner/Barbara Stelzl-Marx/Alexander Tschubarjan (Hg.), Die Rote Armee in Österreich. Sowjetische Besatzung 1945–1955. Dokumente, Graz 2005, S. 419 ff. 15 Ebd. 16 Otto Klambauer, Die USIA-Betriebe, Phil. Diss. Wien 1978, S. 147–178.

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5.

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Die Gründung des USIA-Konzerns

Wie jüngst veröffentlichte Dokumente aus Moskauer Archiven belegen, arbeiteten die Sowjet-Organe in Moskau bereits im März 1946 einen „Entwurf eines Beschlusses des Ministerrates der UdSSR über den Übergang Deutschen Eigentums in Ostösterreich in das Vermögen der UdSSR“ aus, der als geheim eingestuft war.17 Vorerst hielten ihn die Sowjet-Behörden noch in der Schublade, er war ab nun aber jederzeit abrufbar. Demnach sollte der Ministerrat der UdSSR beschließen: „1. Der Oberbefehlshaber der Zentralen Gruppe der Streitkräfte, Marschall Konev, ist zu verpflichten, die ehemals deutschen Vermögenswerte und Aktiva in Ostösterreich, die gemäß dem Beschluss der Berliner Dreimächtekonferenz in Eigentum der Sowjetunion übergegangen sind, seiner Verwaltung zu unterstellen und das Eigentumsrecht der Sowjetunion per Befehl rechtsgültig zu machen (wird beigelegt).“18 Da bis Juni 1946 die österreichische Regierung – wohl auch mit Zutun der USA – auf kein Angebot Moskaus zu gemeinsamer Verwaltung eingegangen war, ging die sowjetische Besatzungsmacht auch im Falle der deutschen Vermögenswerte in Ost-Österreich so vor wie zuvor bei SMV und Sowjet-DDSG. Im Alleingang gründete sie für das deutsche Eigentum insgesamt einen eigenen Verwaltungskörper: Die „Verwaltung der sowjetischen Vermögenswerte in Österreich“, nach den russischen Anfangsbuchstaben „USIA“ genannt. Anfangs trug dieser sowjetische Wirtschaftskonzern auf österreichischem Territorium noch den Titel „USIWA“ – „Verwaltung der sowjetischen Vermögenswerte im östlichen Österreich“ („Upravlenie Sovetskim Imuščestvom Vostočnoj Avstrii“). Diese Bezeichnung, die dem Umfang der sowjetischen Besatzungszone in Österreich entsprach, wurde später, vermutlich noch vor November 1947, in „USIA“ abgeändert. Die Basis für die USIA bildete – auf Grundlage des zuvor zitierten Entwurfes vom März 1946 – der Befehl Nr. 17 des Oberbefehlshabers der sowjetischen Besatzungstruppen in Österreich, Generaloberst Vladimir Kurasov, des Nachfolgers Konevs. Der Befehl wurde in den Abendstunden des 5. Juli 1946 von der sowjetischen Nachrichtenagentur „TASS“ veröffentlicht. Er war auf 27. Juni 1946 zurückdatiert und trug den Titel „Übergang des reichsdeutschen Vermögens an die Sowjetunion“. Der Befehl berief sich auf die Potsdamer Beschlüsse und verfügte den Besitzübergang des gesamten deutschen Eigentums in der sowjetischen Besatzungszone Österreichs an die UdSSR. Gegründet wurde das Konzernunternehmen USIA im Frühsommer 1946 im Hotel Imperial in Wien durch Sowjet-Oberst Borisov und einen Herrn Kogan

17 Karner/Stelzl-Marx/Tschubarjan (Hg.), Die Rote Armee in Österreich, S. 431–437. 18 Ebd.

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von der Politischen Abteilung der USIZ, der sowjetischen zentralen „Verwaltung des sowjetischen Vermögens im Ausland“.19

6.

Parallelen zu Osteuropa, Finnland und Deutschland

Die USIA war der zentralen Moskauer Behörde USIZ unterstellt – „Upravlenie Sovetskim Imuščestvom Zagranicej“, „Verwaltung des sowjetischen Vermögens im Ausland“.20 Der USIZ unterstand nicht nur die USIA in Ost-Österreich – die Sowjet-Behörden hatten in allen von ihr besetzten Ländern Osteuropas getreu planwirtschaftlicher Muster ähnliche Verwaltungskonzerne errichtet, etwa die „Hauptverwaltung für das sowjetische Vermögen in Deutschland“ (USIG) in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands21. Auch die Verwaltungen in der Tschechoslowakei und Ungarn wiesen einen ähnlichen Aufbau von Konzernund Betriebsgliederung auf.22 Diese Moskauer Zentralbehörde leitete alle USIA-Pendants in den osteuropäischen Staaten: „Der USIZ unterstand aber nicht nur die USIA, sondern ebenso die analogen Organisationen in den Satellitenstaaten, von denen besonders die in der Tschechoslowakei, in Ungarn und in Ostdeutschland größere Bedeutung hatten und mit der USIA in engster Verbindung standen.“23 Insbesondere entsprach die USIA in Aufbau und Gliederung der USIG in Ost-Deutschland.24 Es bestanden Parallelen der Vorgangsweise Moskaus gerade zwischen den sowjetischen Besatzungszonen in Österreich und in Deutschland: „Der Übergang von deutschen Vermögenswerten in sowjetisches Eigentum sowie die Art der Inanspruchnahme und Nutzung dieser Vermögenswerte durch die UdSSR weist besonders im Falle der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands erstaunliche Parallelen zu der Entwicklung in Österreich auf.“25

19 Klambauer, USIA-Betriebe, S. 276–296. Sowie Otto Klambauer/Ernst Becemek, Die USIA-Betriebe in Niederösterreich. Geschichte, Organisation, Dokumentation, Wien 1983, S. 28–38. 20 Die sowjetische Besatzungswirtschaft in Österreich. Endbericht über die Ergebnisse des Forschungsauftrages, Wien 1958, S. 9. Aus dem Bestand des Niederösterreichischen Instituts für Landeskunde (Nachlass Figl). 21 Berichte und Informationen, 8 (1953) Nr. 383, S. 12. 22 Siehe Klambauer, USIA-Betriebe, S. 238–247. Vgl. auch Lothar Baar/Rainer Karlsch/ Werner Matschke, Kriegsfolgen und Kriegslasten Deutschlands. Zerstörung, Demontagen und Reparationen (Expertise erarb. im Auftrage der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages), Berlin 1993; Lothar Baar, Deutsch-deutsche Wirtschaft 1945 bis 1990: Strukturveränderungen, Innovationen und regionaler Wandel, Berlin 1999; Albrecht Ritschl, Aufstieg und Niedergang der DDR-Wirtschaft 1945–1989. In: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, 1995/2, S. 11–46. 23 Ebd., S. 10. 24 Ebd., S. 10. 25 Vgl. besonders Klambauer, USIA-Betriebe, S. 238–247.

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Auch in Finnland verfügte die Sowjetunion im Waffenstillstandsabkommen im September 1944 die Übergabe der ehemaligen deutschen Vermögenswerte an die UdSSR – ein Eigentumskomplex, der etwa 40 große Unternehmen in Finnland umfasste.26 Seit 1953 veräußerte die Sowjetunion ihre Anteilsrechte an diesen Unternehmungen wieder27 – allerdings verfügte die Sowjetunion noch 1955 über Teilpakete an den meisten finnischen Großunternehmen.28 Untersuchungen der österreichischen Behörden ergaben, dass „von allem Anfang an auch verschiedene Moskauer Fachministerien und Zentralstellen an der Leitung des sowjetischen Vermögens in Österreich beteiligt waren“29 – man schätzte die Zahl der involvierten Moskauer Zentralstellen auf mindestens elf30.

7.

Die Reaktionen Österreichs und der Westalliierten

Die von der sowjetischen Besatzungsmacht einseitig verfügte Übernahme des gesamten deutschen Eigentums in ihrer Zone und die Verwaltung durch drei eigene Konzerne, USIA, SMV und Sowjet-DDSG , führte auf westalliierter und österreichischer Seite zu zwei für Nachkriegs-Österreich wesentlichen Folgen: 1. In der Kalten-Kriegs-Propaganda wurde immer wieder behauptet, die Westalliierten USA, Großbritannien und Frankreich hätten als Reaktion auf den Sowjet-Befehl Nr. 17 in ihren Besatzungszonen auf das deutsche Eigentum verzichtet bzw. sie hätten es der Republik Österreich geschenkt. Dies entspricht nicht den Tatsachen. Vielmehr übergaben sie dieses der Republik Österreich in Treuhand-Verwaltung, „bis die Eigentumsfrage bezüglich der übertragenen Vermögenschaften gelöst ist“.31 Den Anfang machte die amerikanische Besatzungsmacht mit dem Treuhand-Abkommen vom 16. Juli 1946.32 In einer gemeinsamen Absichtserklärung kündigten die drei Westalliierten am 8. April 1949 in London an, „nach Abschluss eines Staatsvertrages auf das in ihren Zonen liegende deutsche Eigentum verzichten zu wollen“.33 2. Die österreichische Bundesregierung setzte ihrerseits nach Bekanntgabe des Befehls Nr. 17 einen für die Wirtschaft der Zweiten Republik wesentlichen 26 Werner von Harpe, Die Sowjetunion, Finnland und Skandinavien 1945–1955. Zwei Berichte zu den internationalen Beziehungen der Nachkriegszeit, Köln 1956, S. 17 und 60 f. Ferner: Sowjetregierung und Staatsvertrag, S. 23, Anm. 1. 27 K. Herczeg, Lehren aus der Praxis der finnischen Reparationen. In: Berichte und Informationen, 10 (1955) H. 490, S. 4. 28 O. V., Die Reparationen und Ostlieferungen Finnlands. In: Berichte und Informationen, 10 (1955) H. 464, S. 10. 29 Sowjetische Besatzungswirtschaft, S. 10. 30 Ebd., S. 20. 31 Rechtsgutachten Hämmerle-Waldkirch, Graz-Bern 1955, S. 40 (Bundesministerium für Finanzen, Finanzarchiv, Bestand Besatzungszeit). 32 Ebd. 33 VWD Wirtschaftsspiegel, Nr. 266 vom 14.11.1950; Wiener Zeitung vom 9. 4.1949.

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Schritt: Sie beschloss am 26. Juli 1946 das Erste Verstaatlichungsgesetz. Sie zwang damit sowohl die Sowjetunion als auch die mit ihr verbündete KPÖ, entgegen ihren sonstigen ideologischen Prinzipien gegen eine Verstaatlichung in Österreich auftreten zu müssen. Innenpolitisch bedeutete dies nach der Wahlniederlage 1945 eine weitere schwere taktische Schlappe der KPÖ, von der sie sich nie ganz erholen konnte. Die in der Sowjet-Zone gelegenen, nun verstaatlichten Betriebe waren, sofern sie von der Sowjet-Macht als deutsches Eigentum beansprucht wurden, dem Zugriff der Republik Österreich entzogen – die Sowjet-Behörden weigerten sich, die betreffenden Betriebe für die Verstaatlichung freizugeben.

8.

Umfang des sowjetischen Wirtschaftskörpers in Österreich

Ursprünglich hatte die USIA-Zentrale ihren Sitz in Wien, 4. Bezirk, Starhemberggasse 4. Im November 1947 übersiedelte sie gemeinsam mit der Sowjetischen Militärbank in den interalliierten Sektor Wiens: In den 1. Bezirk, Trattnerhof 1. Geleitet wurde die USIA von einem sowjetischen Generaldirektor mit drei Stellvertretern für politische, personelle und kommerzielle Angelegenheiten. Der Zentrale unterstanden neun Teilverwaltungen – von Bergbau bis Land- und Forstwirtschaft.34 Am 13. August 1955 wurde die USIA an die österreichische Republik übergeben. Die „Zentralverwaltung der USIA“ bestätigte damals die Übergabe von insgesamt 198 Einzelfirmen.35 Die Liste umfasste Industriebetriebe ebenso wie Guts- und Häuserverwaltungen. Auch die AG für den Handel mit Erdölprodukten, die OROP, stand auf der Übergabeliste, obwohl OROP, SMV und SowjetDDSG von der USIA getrennte Unternehmensgruppen waren. Diese Zahl spiegelt aber längst nicht den wahren Umfang der Vermögenswerte wider, die die Sowjetunion in Ost-Österreich unter Berufung auf das Potsdamer Abkommen fast ein Jahrzehnt lang als deutsches Auslandsvermögen beansprucht hatte. Denn unter den 1946 in den USIA-Konzern eingegliederten Unternehmen und Vermögenswerten befanden sich auch viele Titel, die bei Kriegsende herrenlos geworden waren. Ebenso wurden Unternehmen in der Zeit der Sowjetverwaltung oft wegen Demontagen oder Misswirtschaft stillgelegt, sodass sie 1955 nicht mehr als Aktivposten übergeben werden konnten. Das wahre Ausmaß der sowjetischen Beschlagnahmen in Ost-Österreich zeigte sich, als der österreichische Finanzminister Margaréthas am 10. Juli 1951 eine parlamentarische Anfrage im Nationalrat beantwortete. Margaréthas erklärte, der USIA-Konzern umfasse 471 Einzelbetriebe, davon 351 industrielle 34 Klambauer, USIA-Betriebe, S. 276–296. Sowie Klambauer/Becemek, USIA-Betriebe in Niederösterreich, S. 28–38. 35 Bundesministerium für Finanzen, Finanzarchiv, Zl. 213.526–33/55.

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und gewerbliche, 100 land und forstwirtschaftliche sowie 20 sonstige Unternehmen von gemischtem oder unbestimmbarem Charakter.36 Die am realistischsten erscheinende Angabe über den Umfang des USIAKonzerns machte Vizekanzler Schärf am 4. Mai 1955. Er bezifferte die Zahl der USIA-Betriebe mit 419, davon über 300 Industriebetriebe. Die SMV bezifferte er mit 34 Einzelbetrieben. Schließt man auch die Sowjet-DDSG ein, so verfügte die sowjetische Besatzungsmacht in Österreich insgesamt über 454 Einzelbetriebe.37 Laut den Arbeiterkammern Niederösterreich und Wien im Jahre 1955 befanden sich von den 419 Einzelbetrieben in Wien 251, in Niederösterreich und Mühlviertel 139 Industrie- und 22 land- und forstwirtschaftliche Betriebe sowie im Burgenland sieben Industrie- und landwirtschaftliche Betriebe.38 Was den land- und forstwirtschaftlichen Besitz betraf, so brüstete sich das Zentrale Kulturreferat der USIA 1955, mit dem Staatsvertrag würden „über 167 000 Hektar land- und forstwirtschaftlicher Besitz mit den dazugehörenden Gutshöfen, Baulichkeiten, Maschinen und Viehbestand, ferner Häuser, Schlösser usw.“39 in österreichischen Besitz übergehen. Beschäftigt waren in den USIA-Betrieben im Jahr 1946 zwischen 22 000 und 23 000 Arbeiter und Angestellte. Aus den Unterlagen der Sozialversicherungen errechnete das Finanzministerium im Jahr 1955 einen Stand von rund 53 200 USIA-Beschäftigten, worunter sich auch Beschäftigte der sowjetischen Militärverwaltung befanden.40 Was die Berechtigung der sowjetischen Beschlagnahmen unter dem Titel „deutsches Eigentum“ betrifft, so basierten sie de jure auf Grundbuch- und Firmenregistern mit Stand der Rechtstitel 1945/1946. Damit interpretierten die Sowjet-Behörden den Begriff „deutsches Auslandseigentum“ in Österreich auf die kompromissloseste Weise. Wohl waren die meisten Beschlagnahmungen 1945/1946 tatsächlich de jure deutscher Besitz – nur wenige konnten erfolgreich beeinsprucht werden. Aber von den Sowjets wurden alle unrechtmäßigen Veränderungen der Besitzverhältnisse in der NS-Zeit zwischen 1938 und 1945 nicht berücksichtigt: Unter Zwang während der Annexion an Hitler-Deutschland vorgenommene Besitzwechsel ebenso wenig wie Arisierungen oder Neugründungen in dieser Zeit. So schätzt man etwa, dass von 161 USIA-Einzelbetrieben in Niederösterreich 42, vermutlich sogar 59 arisierte Vermögenswerte waren.41 Für jüdische Besit36 Wiener Zeitung vom 11. 7.1951. 37 Die Presse vom 5. 5.1955. Vgl. auch: Neue Zürcher Zeitung vom 19. 5.1955; Stenographische Protokolle des Nationalrats, Jg. 69, 7. 6.1955, S. 3106–3145. 38 Klambauer/Becemek, USIA-Betriebe in Niederösterreich, S. 41. Zu Schätzungen hinsichtlich des Gesamtumfang der USIA vgl. Klambauer: USIA-Betriebe, S. 250–258. 39 Österreich ist reicher geworden. Hg. vom Zentralen Kulturreferat der sowjetischen Betriebe in Österreich, Wien 1955, S. 6. 40 Die Wirtschaft, Jg. 1955, Nr. 22, S. 3. 41 Klambauer/Becemek, USIA-Betriebe in Niederösterreich, S. 55.

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zer besonders tragisch war, dass die sowjetischen „Befreier“ mit ihren Vermögenswerten kaum anders verfuhren als die NS-Behörden. Deutsches Eigentum bedeutete bei Kriegsende in Österreich auch, dass Vermögenswerte als deutsches Eigentum beansprucht wurden, die zwar de jure bei Anschluss 1938 bereits deutsch waren, de facto aber längst als österreichisch galten – wie etwa die Besitzungen des Hannoveraner’schen Königshauses in Österreich: Der König von Hannover hatte 1866 an der Seite Österreich-Ungarns gekämpft, hatte mit Österreich den Krieg verloren, musste nach Österreich ins Exil und bezog als Gast von Kaiser Franz Joseph das Palais Cumberland. Er blieb auch nach dem Ersten Weltkrieg deutscher Staatsbürger – als solcher wurde sein gesamter Besitz in Österreich nach dem Zweiten Weltkrieg von den Sowjets als deutsches Eigentum beschlagnahmt.

9.

Die Praxis sowjetischer Wirtschafts-Politik in Österreich

Was Betrieb und Verwaltung der USA-Unternehmen während der Besatzungszeit betraf, so wurden von der sowjetischen Verwaltung höchstens Instandhaltungen vorgenommen, Neuinvestitionen erfolgten nur in den seltensten Fällen. Dies führte dazu, dass die USIA-Betriebe im wirtschaftlichen Wettbewerb rasch ins Hintertreffen gerieten. Unrentable Betriebe wurden oft kurzerhand stillgelegt. Steuern und Abgaben an die österreichischen Behörden wurden von den USIA-Betrieben nicht entrichtet. Als Österreich Ende 1947 seine Hartwährungspolitik mit dem Schilling erfolgreich umsetzte, versuchte die Sowjetbesatzung umgehend davon zu profitieren: Sie gründete im Rahmen der USIA eine eigene Kaufhauskette mit den so genannten „USIA-Läden“ – ab August 1948 mit mehr als 400 Filialen in Wien, Niederösterreich, dem Burgenland und dem Mühlviertel. Dort wurden gegen neue Schillinge und zu Dumpingpreisen Waren aus USIA-Betrieben, aus der Sowjetunion und Osteuropa verkauft. So wollte Moskau an harte Westwährung herankommen – abgewickelt wurde dies über die Sowjetische Militärbank in Österreich. Auf politischem Gebiet wurde in der langen Spanne der Staatsvertragsverhandlungen bis 1955 die Frage des deutschen Eigentums zu einem Faustpfand der Sowjets. Dass die Republik Österreich die USIA, SMV und Sowjet-DDSG ablösen werde müssen, war bald klar. Als Ablöse – in den Augen vieler Österreicher waren es de facto Kriegsreparationen, nur unter einem anderen Namen – forderte Moskau 1947 auf der Außenminister-Konferenz in London noch 200 Millionen Dollar in bar. Dies wurde im Laufe der Staatsvertrags-Verhandlungen in der Höhe der Summe, aber auch in Umwandlung der Ablöse von Bargeld auf Warenlieferungen sowie auf längere Laufzeit reduziert. Die österreichische Seite, bestärkt von den Westalliierten, besonders den USA, bestand aber darauf, dass im Falle eines Staatsvertrages der gesamte sowjetische Besitzstand an Österreich übergeben werden müsse. Damit sollte verhindert werden,

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dass die Sowjetunion auch nach Ende der Besatzung einen „Fuß in der Tür“ zu Österreich behält. Eine aktive innenpolitische Bedeutung kam den USIA-Betrieben zum letzten Mal im Herbst 1950 zu: Die KPÖ mobilisierte besonders in den USIA-Betrieben für ihren Generalstreik, der zum „Oktoberputsch“ eskalierte. An den Protesten gegen das 4. Lohn- und Preisabkommen beteiligten sich auch Tausende Arbeiter und Angestellte aus rund 200 Betrieben von USIA und SMV – wie z. B. Einsatztrupps der Raxwerke Wiener Neustadt. Dennoch brach der Aufstand binnen weniger Wochen in sich zusammen.

10.

Die Auswirkungen auf Österreichs Wirtschaft

Die direkten Folgen der sowjetischen Wirtschaftstätigkeit in Ost-Österreich, insbesondere die Folgen der Requirierung der deutschen Vermögenswerte in der sowjetischen Besatzungszone im Rahmen von USIA, SMV und Sowjet-DDSG, waren für Österreich folgenschwer: 1. Da Österreich mit der Eigentumsübernahme der USIA-Betriebe durch die Sowjets die Kontrolle über deren Wirtschaftsproduktion in der entscheidenden Wiederaufbauphase verlor, gingen die österreichischen Behörden in den drei westlichen Besatzungszonen schon ab 1947 davon aus, dass die USIABetriebe nicht in die österreichische Wirtschaftsplanung miteinbezogen werden konnten. Für wichtige Produkte wurden in den westlichen Besatzungszonen Ersatzindustrien zu USIA-Produktionen aufgebaut – etwa im Falle der Glasfabriken Brunn und Moosbrunn. So waren wichtige Betriebe OstÖsterreichs vom Wiederaufbau der ersten Nachkriegsjahre ausgeschlossen. 2. Verstärkt und beschleunigt wurde dies durch die Teilnahme Österreichs am Marshall-Plan. Österreich war das einzige Land, das am „European Recovery Program“ (ERP) beteiligt wurde, obwohl sowjetische Truppen im Land standen und die Sowjets einen wichtigen Bereich der Wirtschaft kontrollierten. Entsprechend scharf waren die Vorkehrungen der österreichischen und westlichen Stellen, Gelder aus dem Marhall-Plan nur ja nicht Sowjet-Betrieben zukommen zu lassen. Der Ausschluss der Sowjet-Betriebe von der amerikanischen Wirtschaftshilfe war ein wesentlicher Grund für das immer größer werdende West-Ost-Gefälle der österreichischen Wirtschaft. 3. Überwacht wurde die westliche Embargo-Politik gegenüber der Sowjetunion und dem Ostblock in der ersten heißen Phase des Kalten Krieges vom Koordinationskomitee „CG-Cocom“ mit Sitz in Paris42. Österreich war im „Cocom“ zwar nicht vertreten, die Einhaltung der westlichen Embargo-Politik wurde in Österreich aber besonders streng überprüft – etwa bei strategisch wichtigen Rohstoffen wie Aluminium und Kupfer. Da die Sowjetuni42 Vgl. Gunnar Adler-Karlsson, Der Fehlschlag. 20 Jahre Wirtschaftskrieg zwischen Ost und West, Wien 1971.

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on ihre Besatzungszone und insbesondere ihren Wirtschaftskonzern in OstÖsterreich zur Versorgung mit strategischen Produkten heranzuziehen versuchte, galt die ost-österreichische Grenze als mögliches „Loch in der Ostgrenze“, als „Loch im Eisernen Vorhang“. Die strikte Einhaltung der Embargo-Bestimmungen führte zu einer weiteren Schwächung der sowjetischen USIA-Betriebe. Der Aufbau von Ersatzindustrien in West-Österreich für sowjetisch beschlagnahmte Schlüsselbetriebe, der Ausschluss der USIA-Betriebe von MarshallplanGeldern, die rigorose westliche Embargo-Politik gegenüber dem sowjetischen Machtbereich und schließlich ein aus der Verstaatlichungspolitik des Jahres 1946 entstandener Großkonzern verstaatlichter Industrie in Österreich schufen ein beträchtliches West-Ost-Gefälle der österreichischen Wirtschaft.43

11.

Die Entwicklung zum Staatsvertrag

Nach Stalins Tod am 5. März 1953 gab Moskau ausgerechnet in der Frage des deutschen Eigentums in der Sowjet-Zone erste Entspannungs-Signale: Die Aussicht auf einen nahen Abschluss des österreichischen Staatsvertrages veranlasste die sowjetische Führung im Frühjahr 1953, die Sowjet-Betriebe in Österreich genauer unter die Lupe zu nehmen. Der russische Zeithistoriker Michail Prozumenščikov vom Russischen Staatsarchiv für Zeitgeschichte, Moskau, scheibt in einer Studie dazu: „Was dabei ans Tageslicht kam, rief in Moskau nur wenig Freude hervor.“44 Anfang Mai 1953 gab das Präsidium des Ministerrates der UdSSR die „Vorbereitung eines Direktiventwurfs für die Aufnahme von Verhandlungen mit der österreichischen Regierung“ in Auftrag.45 Doch schon drei Wochen später wurde die Entscheidung wieder revidiert, die Sowjet-Führung hielt einen Verkauf der Sowjet-Betriebe vorerst für nicht weiter zweckmäßig: „Wie sich herausstellte, befand sich die Mehrheit der sowjetischen Unternehmen in einer sehr angespannten wirtschaftlichen Lage und ihr Verkauf in diesem Zustand hätte als Eingeständnis der sowjetischen Unfähigkeit, die Unternehmen rentabel zu führen, bewertet werden können.“46 Daher traf der Ministerrat im Juni 1953 eine Reihe von Maßnahmen, um die bestehenden Missstände teilweise zu beheben. Man wollte 32 defizitäre USIA-Betriebe stilllegen – die Zahl wurde auf Intervention der österreichischen Kommunisten um einige Betriebe reduziert. Fer43 Dazu ausführlich Klambauer, USIA-Betriebe, S. 356–397. 44 Michail Prozumenščikov, Nach Stalins Tod. Sowjetische Österreich-Politik 1953 bis 1955. In: Stefan Karner/Barbara Stelzl-Marx (Hg.), Die Rote Armee in Österreich. Sowjetische Besatzung 1945–1955. Beiträge, Graz 2005, S. 729–753. 45 Ebd., S. 739. 46 Ebd.

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ner wurde die Kapitalanlage in die USIA wesentlich erhöht und ein spezieller Fond für die Verbesserung der Lage der USIA-Arbeiter und -Angestellten eingerichtet. Weiters wurden die Ressourcen der Sowjetischen Militärbank in Österreich aufgefüllt, die zuvor aus Mangel an Kapital nicht mehr in der Lage war, den USIA-Unternehmen Kredithilfe zu gewähren.47 Weil man vor Unterzeichnung des Staatsvertrages wenigstens einige USIABetriebe rentabel machen wollte, sollten bis Jahresende 1953 17 USIA-Betriebe zu „mustergültigen Betrieben“ gemacht werden. Michail Prozumenščikov: „Im Kreml wurde man sich bewusst, dass durch die Schönfärberei der offiziellen Statistik, mittels derer das eigene Volk getäuscht werden konnte, die Bevölkerung eines Landes [i. e. Österreich], in welchem die UdSSR nicht über die totale ideologische Kontrolle und über mächtige Zensurorgane verfügte, nicht hinters Licht zu führen war.“48 Zwar hatten die USIA-Unternehmen nach offiziellen sowjetischen Angaben Moskau einen Reingewinn von 927 Millionen Rubel innerhalb von acht Jahren Besatzung in Österreich gebracht. Allerdings hätte die Sowjetunion an Österreich davon fast die Hälfte dieser Summe, nämlich 450 Millionen Rubel, als Bundessteuern abliefern müssen.49 Moskau verweigerte aber jede Steuerleistung – unter dem Vorwand, Österreich erkenne die Eigentumsrechte der UdSSR an diesen Unternehmen nicht an. Trotz der Moskauer Maßnahmen sank die Rentabilität der USIA weiter rapide. 1953 betrug der eigentliche Ertrag nur 38 Millionen Rubel – weitere 99 Millionen ergaben sich nur durch Verweigerung von Bundessteuern, Zöllen und Abgaben an den österreichischen Staat. Bei regulärer Steuerleistung wären sie daher völlig unrentabel gewesen. Prozumenščikov: „Somit war es kein Zufall, dass das Präsidium des Zentralkomitees der KPdSU im April 1954 die Lage der Unternehmen der USIA neuerlich begutachtete und sie als absolut nicht zufrieden stellend einstufte.“ Laut Prozumenščikov schlug der Erste Stellvertreter des Ministerratsvorsitzenden der UdSSR, Anastas Mikojan, im Mai 1954 dem ZK vor, mit der österreichischen Regierung unverzüglich in Verhandlungen über einen Verkauf der USIA-Unternehmen einzutreten.50 Die Erdölbetriebe der SMV und die SowjetDDSG wollte Moskau aber zu diesem Zeitpunkt noch unter keinen Umständen abgeben. Als Signal der Verhandlungsbereitschaft übergaben die Sowjets Ende Mai 1953 die Rohbauten des Donaukraftwerkes Ybbs-Persenbeug, das sie als deutsches Eigentum beschlagnahmt hatten, an die österreichische Bundesregierung. Am 17. Juli 1953 wurde der Vertrag über die Überlassung des Donaukraftwerks formell unterzeichnet: Die erste Rückgabe eines deutschen Vermögenstitels von den Sowjets an Österreich. 47 48 49 50

Ebd. Ebd., S. 741. Ebd. Ebd., S. 472.

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Mikojans Initiative fand in Moskau zwar keine Unterstützung, aber „die schwierige Lage ihrer Unternehmen in Österreich nötigte die sowjetische Führung dazu, Mikojans Vorschläge ständig im Hinterkopf zu behalten“.51 Weitreichende Auswirkungen auf Österreich hatten die Machtkämpfe in der post-stalinistischen Führung in Moskau, die Nikita Chruščëv letztlich für sich entschied. Dieser war auf der Suche nach Lösungen weitaus eher zu Kompromissen und zur Suche nach neuen Verhandlungswegen bereit. Wie Prozumenščikov betont, war auch der Wechsel an der Spitze des Verteidigungsministeriums von Nikolaj Bulganin, der Stalins Politik weiterführte, auf Georgij Žukov wichtig, da „nicht eindeutig abzusehen war, wie man in Armeekreisen auf einen möglichen Abzug der sowjetischen Truppen aus Österreich reagieren würde“.52 Als Chruščëv im Frühjahr 1955 die Chance ergriff, im Ringen um NATO und Warschauer Pakt ein politisches Signal zu setzen, und sich dabei vor allem gegen Außenminister Molotov durchsetzte, kam der Durchbruch zum österreichischen Staatsvertrag – und auch für die Frage der Sowjet-Betriebe in Österreich. Moskau entschloss sich, alle Sowjet-Betriebe in Österreich abzugeben: die USIA – und nun auch SMV und Sowjet-DDSG. Zum endgültigen Durchbruch für eine Regelung des deutschen Eigentums kam es im April 1955 während des Aufenthalts der österreichischen Staatsvertrags-Delegation in Moskau. Im Moskauer Memorandum, dem sowjetisch-österreichischen Zusatz-Abkommen zum Staatsvertrag, das am 15. April 1955 in Moskau unterzeichnet wurde, stimmte die sowjetische Führung zu, sich sowohl die USIA als auch SMV und Sowjet-DDSG abkaufen zu lassen. Nur sechs Tage nach Unterzeichnung des Staatsvertrages übergab die Besatzungsmacht am 21. Mai 1955 den land- und forstwirtschaftlichen Besitz der USIA an Österreich: rund 150 000 Hektar Boden. Am 13. August 1955 erfolgte die feierliche Übergabe der USIA-Betriebe, der Sowjet-DDSG und der Sowjetischen Mineralölverwaltung samt OROP an die Republik Österreich. Am selben Tag musste Österreich in Moskau Wechsel in Höhe von 150 Millionen Dollar für die Ablöse der USIA hinterlegen.53 Die westlichen Alliierten beendeten die Treuhand-Verwaltung des deutschen Eigentums in ihren Besatzungszonen ebenfalls durch bilaterale Vereinbarungen mit der österreichischen Regierung – mit beträchtlichen Auflagen von amerikanischer und britischer Seite, besonders was den österreichischen Erdölsektor betraf.

51 Ebd., S. 744. 52 Ebd., S. 745. 53 Bericht Herbert Grubmayr in Hugo Portisch, Österreich II. Der lange Weg zur Freiheit, Wien 2002, S. 499–500.

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12.

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Der Preis der Freiheit

Auch wenn die wirtschaftlichen Konzessionen Moskaus gegenüber Österreich im Moskauer Memorandum vom 15. April 1955 im Vergleich zu früheren Vertragsentwürfen beträchtlich waren, so stellten die Kosten für die Ablöse des sowjetischen Wirtschaftskonzerns in Ostösterreich letztlich doch einen sehr hohen Preis für Österreichs Freiheit dar: 1. Österreich musste die DDSG für 2 Millionen Dollar ablösen. 2. Die Ablöse für die Erdölindustrie wurde mit der Lieferung von 10 Millionen Tonnen Erdöl innerhalb von zehn Jahren an die Sowjetunion festgesetzt, sie wurde später auf 6,5 Millionen Tonnen reduziert. 3. Die Ablöse der Betriebe des USIA-Konzerns erfolgte durch österreichische Zahlung von 150 Millionen Dollar in Form von Warenlieferungen. Der sowjetische Staatsbesitz in Österreich, auf dessen Höhepunkt die Sowjetunion größter Konzernherr innerhalb der österreichischen Wirtschaft und neben dem Bund zweitgrößter Grundbesitzer in Österreich war, hatte damit ein Ende. Bedenkt man, dass Österreich in den Wiener Memoranden die amerikanischen, britischen und französischen Ansprüche auf deutsches Eigentum ebenfalls abgelten musste, besonders was die Erdölindustrie betraf, bei denen es sich häufig um dieselben Besitzungen, Betriebe und Anlagen wie bei den sowjetischen Ansprüchen handelte, so erkennt man, „dass Österreich für ein und dasselbe zweimal zahlte“.54 Doch die Folgen der Besatzungszeit prägten die Wirtschaftsentwicklung der Zweiten Republik noch viele Jahre über das österreichische Staatsvertrags-Jahr 1955 hinaus. Manche Bereiche der indirekten wirtschaftlichen Folgen, die sich vor allem aus dem allzu groß dimensionierten Verstaatlichtenkomplex in Österreich als Reaktion auf die sowjetische Beschlagnahmepolitik ergaben, prägten Österreichs Wirtschaft noch lange. Einige Nachwirkungen sind sogar bis heute spürbar.

54 Rauchensteiner, Stalinplatz 4, S. 265.

IV. Ergebnisse sowjetischer Besatzungspolitik

Von fehlender Öffentlichkeit. Alltagserfahrungen mit der sowjetischen Besatzungsmacht in Deutschland Rainer Behring

I. Die Besetzung von Teilen Deutschlands durch Einheiten der Roten Armee im Gefolge des Zweiten Weltkriegs dauerte ungeachtet aller Souveränitätserklärungen und Stationierungsabkommen zwischen den Regierungen der Sowjetunion und der Deutschen Demokratischen Republik auf der Basis scheinbarer Gleichberechtigung de facto nahezu fünfzig Jahre. Diese Tatsache markiert einen grundlegenden Unterschied zu den Verhältnissen in Österreich. Eine ähnlich lange Phase militärischer Besetzung eines besiegten Landes dürfte in der Geschichte des 20. Jahrhunderts nicht leicht zu ermitteln sein. Auf dem Gebiet der heutigen Bundesländer Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Brandenburg, Thüringen und Sachsen sowie im ehemaligen Ostsektor Berlins war konstant rund eine halbe Million sowjetischer Soldaten stationiert. Ihre Anwesenheit überdauerte schließlich sowohl das Ende der DDR, die auf dem Territorium der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands entstanden war, als auch die Auflösung der Sowjetunion Ende 1991. Die letzten nunmehr russischen Truppeneinheiten verließen somit im Sommer 1994 das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland.1 Die Streitkräfte der Roten Armee, deren Funktion als Besatzungsmacht im besiegten Deutschland sich von vornherein mit der einer militärischen Vorhut am Westrand des sowjetischen Herrschaftsbereichs im Zusammenhang des OstWest-Konflikts verband, waren keinerlei effektiver Kontrolle durch deutsche Organe unterworfen. Zwar wurden die Verbände seit Ende der vierziger Jahre zunehmend streng kaserniert und weitgehend von der deutschen Bevölkerung 1

Ilko-Sascha Kowalczuk/Stefan Wolle, Roter Stern über Deutschland. Sowjetische Truppen in der DDR, Berlin 2001. Den Aspekt der „fortdauernden Okkupation“ der DDR durch sowjetische Truppen als eine der beiden „Grundbedingungen ihrer Existenz“ betont Peter Graf Kielmansegg, Nach der Katastrophe. Eine Geschichte des geteilten Deutschland, Berlin 2000, S. 555–560, hier 555 und 557. Zur Aktualität des Themas vgl. Silke Satjukow, Unsere Freunde mit den schlechten Manieren. Nicht in meinem Haus: Sowjetische Soldaten in der DDR. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 11. 9. 2004.

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abgeschirmt, doch ließen sich Kontakte vielfältiger Art zwischen Besatzern und Besetzten nie ganz vermeiden. Im Alltag der DDR kam es zu zahlreichen Berührungen und Verbindungen von Deutschen mit sowjetischen Soldaten, Zivilangestellten und ihren Angehörigen, im Arbeitsleben, beim Einkaufen und im Zuge von Tauschgeschäften, auch im privaten Bereich bis hin zu Liebesbeziehungen und Eheschließungen, die allerdings von Seiten der sowjetischen Autoritäten ungeachtet der offiziell propagierten deutsch-sowjetischen Freundschaft nicht gerne gesehen und nach Möglichkeit verhindert wurden. Die Kehrseite dieser Kontakte stellten nicht wenige ständig wiederkehrende Konflikte im Zusammen- oder Nebeneinanderleben und speziell die beträchtliche Zahl der von Angehörigen der Besatzungsmacht verübten Straftaten dar, die bis weit in die achtziger Jahre hinein gleichfalls das asymmetrische Verhältnis von Deutschen und Sowjets prägten und die in der Erinnerung mancher die jahrzehntelange Besatzungszeit dominierten: Tötungsdelikte, Körperverletzungen, Vergewaltigungen, Raubüberfälle, Diebstähle und schwere Verkehrsunfälle mit Armeefahrzeugen wurden nicht zuletzt deswegen von der deutschen Bevölkerung mit besonderem Ingrimm zur Kenntnis genommen, weil eine Strafverfolgung der vielfach unter Alkoholeinfluss handelnden Täter gegenüber den sowjetischen Militärbehörden in der Regel nicht durchzusetzen war; die Beschuldigten wurden von ihren Vorgesetzten gedeckt und bestenfalls aus Deutschland abkommandiert.2 Ambivalente, doch in der Bilanz eher unerfreuliche Erfahrungen der einheimischen Bevölkerung mit der sowjetischen Besatzungsmacht kennzeichneten bereits die erste Phase der Okkupation deutschen Territoriums vom sowjetischen Einmarsch 1945 bis zur Etablierung der DDR 1949. Die Geschichte der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands kann inzwischen als relativ gut erforscht gelten. Insbesondere die beiden voluminösen und materialreichen, auch auf zugänglichen russischen Archivalien beruhenden Arbeiten von Norman Naimark und Jan Foitzik3 liefern eine solide Grundlage für weitere Detailuntersuchungen, die sich etwa den politischen Parteien und Organisationen, der zunächst von Reparationslieferungen und Demontagen überschatteten wirtschaftlichen Entwicklung, der Entnazifizierung oder dem Wirken der sowjetischen Repressionsapparate in Deutschland widmen.4 Solche Analysen ent2 3

4

Kowalczuk/Wolle, Roter Stern, bes. S. 145–152. Norman M. Naimark, Die Russen in Deutschland. Die sowjetische Besatzungszone 1945 bis 1949, Berlin 1997; Jan Foitzik, Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD) 1945–1949. Struktur und Funktion, Berlin 1999. Vgl. auch Kowalczuk/ Wolle, Roter Stern, S. 19–103; Stefan Creuzberger, Die sowjetische Besatzungsmacht und das politische System der SBZ, Weimar 1996; sowie den Stand der westdeutschen Forschung bis Ende der achtziger Jahre zusammenfassend Martin Broszat/Hermann Weber (Hg.), SBZ-Handbuch. Staatliche Verwaltungen, Parteien, gesellschaftliche Organisationen und ihre Führungskräfte in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands 1945–1949, München 1990. Vgl. zur reichhaltigen Literatur die Beiträge von Mike Schmeitzner, Burghard Ciesla, Clemens Vollnhals und Andreas Hilger im vorliegenden Band.

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halten jeweils auch für die Alltagsgeschichte des deutsch-sowjetischen Miteinanders wertvolle Befunde, die wiederum in jüngere Gesamtdarstellungen zur deutschen Nachkriegsgeschichte Eingang gefunden haben, soweit sie sich um eine auf Deutschland als Ganzes gerichtete Betrachtungsweise bemühen.5 Aus dieser Perspektive ergibt sich ein recht deutliches Bild, in dem sich die Verhältnisse in den vier Besatzungszonen auf den ersten Blick nicht erheblich voneinander unterscheiden – sieht man einmal von dem Verhalten der jeweiligen Besatzungstruppen gegenüber der Zivilbevölkerung ab; die sowjetischen und mit Einschränkungen auch die französischen Soldaten hinterließen im Vergleich zu den Anglo-Amerikanern einen insgesamt weitaus unangenehmeren Eindruck – : Überall, besonders in den Städten, wurde gehungert und gefroren, mangelte es an Wohnraum, an Gütern des täglichen Bedarfs und an Brennstoff, waren Menschen verzweifelt angesichts der Hinterlassenschaften des Krieges und einer ungewissen Zukunft, auf der Suche nach Lebensmitteln und Unterkunft ebenso wie nach ihren in einer durcheinandergewirbelten Gesellschaft vermissten Freunden und Angehörigen. Ortsfremde, Flüchtlinge und Vertriebene waren zu versorgen und unterzubringen, Schutt wurde entfernt, Häuser und Infrastrukturen mussten wiederhergestellt werden. Schwarzmarkt und dunkle Geschäfte blühten, die Kriminalitätsraten und die Zahl der Selbstmorde stiegen in die Höhe, die gewöhnliche Sterblichkeit vor allem bei Säuglingen, Kleinkindern und alten Menschen erreichte hohe Raten aufgrund von Unterernährung und der Verbreitung ansteckender Krankheiten bei mangelnder Hygiene und unzureichender medizinischer Versorgung. Unter diesen Umständen bemühten sich engagierte Männer und Frauen um den Wiederaufbau von kommunalen Verwaltungen und Einrichtungen, wobei sie stets auf Befehle oder zumindest auf das Einverständnis der fremden Militärbehörden angewiesen waren. Ein solcher Blick aus der Vogelperspektive lässt leicht die doch nicht unbeträchtlichen Unterschiede zwischen den einzelnen Zonen verschwimmen, die sich in der Neugestaltung der politischen wie auch der sozioökonomischen Verhältnisse von vornherein abzeichneten, ungeachtet des in interalliierten Sprachregelungen zonenübergreifend als verbindlich formulierten Ziels der „Demokratisierung“ Deutschlands, das von den Vertretern der Sowjetischen Militäradministration ganz anders interpretiert wurde als von den US-amerikanischen oder britischen Besatzungsbehörden. Diesen Hintergrund gilt es bei 5

Konrad H. Jarausch, Die Umkehr. Deutsche Wandlungen 1945–1995, München 2004, S. 31–132 und passim; Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Band 4: Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1914–1949, München 2003, S. 941–984; Kielmansegg, Nach der Katastrophe, S. 7– 130. Von den älteren Synthesen bleibt wegen des Blicks auf den Alltag in der „Zusammenbruchgesellschaft“ in gesamtdeutscher Perspektive bemerkenswert Christoph Kleßmann, Die doppelte Staatsgründung. Deutsche Geschichte 1945–1955, 5. überarb. und erw. Auflage Bonn 1991, S. 37–65. Als Überblick weiterhin nützlich auch Wolfgang Benz, Potsdam 1945. Besatzungsherrschaft und Neuaufbau im Vier-Zonen-Deutschland, München 1986.

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der Analyse des scheinbar so gleichförmigen Alltagslebens im Nachkriegsdeutschland stets zu beachten, denn die unterschiedliche Besatzungspolitik kam vielfach gerade in eher unscheinbaren Maßnahmen und Entscheidungen zum Ausdruck. Wie eine vordergründige und im Hinblick auf die unmittelbar mit dem Einmarsch der Roten Armee beginnende Errichtung einer diktatorischen Herrschaftsordnung in der SBZ wenig problemorientierte Alltagsgeschichte der Zeit „nach dem Krieg“ zu verfehlten Interpretationen gelangen muss, belegt jüngst die Darstellung von Jörg Echternkamp: Dort wird die Tabelle der täglichen Lebensmittelrationen wiedergegeben, die der Berliner Bevölkerung auf Geheiß des Stadtkommandanten im Mai 1945 zugebilligt wurden, und Echternkamp suggeriert, dass die Berechtigten die auf den Lebensmittelmarken verzeichneten Rationen auch tatsächlich erhielten.6 Genau daran haperte es jedoch in den meisten Städten der SBZ über Jahre hinweg: Besonders hinsichtlich der Fleisch- und Wurstwaren sowie der Versorgung mit Fett und Molkereiprodukten wurden die zugesagten Mengen in aller Regel nicht erreicht – es gab sie schlicht nicht zu kaufen –, und die Qualität der Waren, gleich ob sie nur selten auf den Ladentisch kamen oder regelmäßig beliefert wurden, ließ stark zu wünschen übrig; Brot wurde selbst von den Behörden für mangelhaft oder ungenießbar erklärt, Mehl und Nährmittel waren oft nicht zu gebrauchen.7 Die offiziell verkündeten Lebensmittelzuteilungen rückten damit in den Bereich der Propaganda, nicht zuletzt im ständigen Konkurrenzkampf mit den Besatzungsmächten der Westzonen um die bessere Versorgung der jeweiligen Schutzbefohlenen. Wenn Echternkamp eine Anordnung der Sowjetischen Militäradministration vom 16. September 1946, derzufolge 70 000 Schulkinder in Leipzig fortan täglich mit einem Brötchen und einer Tasse Kaffee versorgt werden sollten, zur symbolischen Geste der Besatzungsmacht in ihrem Willen, die Deutschen zu unterstützen, erklärt,8 dann verfehlt er vollständig den politischen Horizont dieser Maßnahme: Für den 20. Oktober standen Landtagswahlen an, und es handelte sich um nichts anderes als um ein bezeichnendes Detail aus einem ganzen Katalog von Bemühungen der Propagandaverwaltung der SMAD, zugunsten der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands in den Wahlkampf einzugreifen. Die Wählerschaft sollte den Eindruck gewinnen, die SED vermöge sich bei der Besatzungsmacht erfolgreich für eine Verbesserung der Lebensverhältnisse in der Sowjetzone einzusetzen.9 Die Interpretation Echternkamps 6 7 8 9

Jörg Echternkamp, Nach dem Krieg. Alltagsnot, Neuorientierung und die Last der Vergangenheit 1945–1949, Zürich 2003, S. 22–24. Rainer Gries, Die Rationen-Gesellschaft. Versorgungskampf und Vergleichsmentalität: Leipzig, München und Köln nach dem Kriege, Münster 1991, S. 100–106. Echternkamp, Nach dem Krieg, S. 30. Vgl. dazu Creuzberger, Besatzungsmacht, S. 46–48. In der Bevölkerung war man sich dieses Zusammenhangs völlig bewusst. „Dieses Mätzchen mit dem Brötchen ist ja bloß wieder ein Mittel, um für die kommenden Wahlen Stimmung zu machen!“, ließ etwa in Chemnitz ein Bürger verlauten. Zit. nach Zusatzverpflegung für Schulkinder – Was sagt die Bevölkerung dazu? Nachrichtenamt der Stadt Chemnitz – Informationsdienst vom 18. 9.1946 (StAC, Rat der Stadt 1945–1990, Nr. 5778).

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schließlich, durch das „Einfrieren der Bank- und Sparguthaben“ bereits im Sommer 1945 habe die SMAD einer Inflation entgegengewirkt,10 lässt die weitreichenden gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Implikationen dieses Befehls außer acht. Er markierte den Beginn einer Reihe von Aktionen zur Enteignung und Verstaatlichung privaten Vermögens, die „auf eine grundlegende Transformation der Gesellschaft zielten“.11 Die Auswirkungen auf das tägliche Leben wurden sofort erkennbar und vom Oberbürgermeister der Stadt Leipzig lebhaft beklagt: Durch die Schließung der Banken, die Ein- und Auszahlungen sowie Überweisungen verhindere, sei „praktisch jeder geordnete Geschäftsverkehr in Frage gestellt“, die befohlene Ingangsetzung der Industrie werde damit „praktisch unmöglich“, und „die große Masse der kleinen Sparer und Rentner“ falle „der öffentlichen Fürsorge anheim“.12 Die drei eher zufällig gewählten Beispiele beleuchten schlaglichtartig eine charakteristische Diskrepanz zwischen dem Wortlaut und den vorgeblichen Zielen von Anordnungen der sowjetischen Besatzungsmacht einerseits und ihren tatsächlichen Ursachen und Intentionen, die tunlichst verborgen bleiben sollten, andererseits, und sie verweisen auf den engen und unauflöslichen Zusammenhang von politisch motivierten administrativen Entscheidungen auf hoher und höchster Ebene der Militärverwaltung und dem täglichen Leben der Menschen. Ohne die intensive Berücksichtigung des politischen Geschehens und der Zielgerichtetheit der sowjetischen Besatzungspolitik würde folglich jeder Versuch, die Alltagsgeschichte des deutsch-sowjetischen Miteinanders im Deutschland der Nachkriegszeit zu untersuchen und darzustellen, zum Scheitern verurteilt sein. Gleichwohl wird eine Analyse der Alltagserfahrungen mit der sowjetischen Besatzungsmacht in Deutschland nicht primär bei den Rahmenbedingungen, die von der „großen Politik“ geschaffen wurden, ansetzen. Es scheint sinnvoll, den Fokus von den Entscheidungsträgern in Moskau oder Berlin-Karlshorst und von der gesamtzonalen Ebene auf überschaubare Bereiche zu verlagern: Den Wert regionalgeschichtlicher Untersuchungen für die Erfassung der Lebenswirklichkeit im Vierzonendeutschland demonstrierte 1991 Rainer Gries mit seiner bemerkenswerten vergleichenden Studie über die „Rationen-Gesellschaft“ am Beispiel der Städte Leipzig, München und Köln.13 Durch weitere mikrohistorische Arbeiten zu städtischen und ländlichen Lebens10 Echternkamp, Nach dem Krieg, S. 101 f. 11 Klaus Schroeder, Der SED-Staat. Geschichte und Strukturen der DDR, München 1998, S. 48. Zur gleichen Bewertung gelangen Kielmansegg, Nach der Katastrophe, S. 121– 124, und Jarausch, Umkehr, S. 250 f. 12 Oberbürgermeister der Stadt Leipzig und Präsident der Wirtschaftskammer Leipzig an Generalleutnant Trufanow, die Landesverwaltung Sachsen u. a. betr. Neuregelung des Bankwesens laut Befehl 0135 des Marschalls Schukows vom 12. 8.1945. In: Ursula Oehme (Hg.), Alltag in Ruinen. Leipzig 1945–1949. Dokumente, Briefe, Tagebuchaufzeichnungen und Fotografien aus einer bewegten Zeit, Leipzig 1995, S. 44 f. 13 Gries, Rationen-Gesellschaft, zu Leipzig S. 41–134. Vgl. auch die Darstellung von Helge Matthiesen, Greifswald in Vorpommern. Konservatives Milieu im Kaiserreich, in Demokratie und Diktatur 1900–1990, Düsseldorf 2000, S. 449–532.

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welten in der sowjetischen Besatzungszone, die nach der Öffnung der Archive der ehemaligen DDR von einer gegenüber den 1980er Jahren enorm erweiterten Quellenbasis profitieren könnten, ließe sich der Vogelperspektive der Gesamtdarstellungen und der Makroanalysen zur Geschichte der SBZ eine „Besatzungsgeschichte von unten“ oder „Besatzungsgeschichte der kleinen Leute“ aus der Perspektive der Einwohner des besetzten Landes gegenüberstellen.14 Die Kombination beider Sichtweisen verspricht präzisere Einsichten speziell in die Verschränkung von Maßnahmen zur kommunistischen Diktaturdurchsetzung von oben als der politischen Essenz der sowjetischen Besatzungspolitik15 mit dem alltäglichen Verhalten, dem Handeln und Leiden der Objekte dieser Politik. Im Folgenden sollen einige Aspekte der Begegnung von Deutschen und Sowjetsoldaten am Beispiel der sächsischen Industrie- und Arbeiterstadt Chemnitz beleuchtet und dabei ein Blick auf die Quellenproblematik geworfen werden.16 Die Verfügbarkeit von gleichermaßen aussagekräftigem wie authentischem Quellenmaterial zu Fragen der Alltagsgeschichte stellt auch in Zeiten der weitgehenden Alphabetisierung ein nicht unerhebliches Problem dar. Aufzeichnungen der „kleinen Leute“ finden sich selten in Archivbeständen, und die Zahl derer, die in der ohnehin schwierigen Kriegs- und Nachkriegszeit nutzbare Tagebücher führten, mag nicht allzu groß gewesen sein, zumal „der Alltag auch im Krieg und unterm Terror, trotz schwarzer Sensationen, eine langweilige Affäre ist“, die zu protokollieren ein hohes Maß an Zeit, Mühe und Geduld erfordert.17 Der Anteil solcher Aufzeichnungen, der schließlich der historischen Forschung zur Verfügung gestellt wird, dürfte wiederum bescheiden sein. Die Suche nach privaten Briefen könnte einigen Erfolg versprechen, doch die schar14

Vgl. zu einem analogen Konzept der modernen Militärgeschichte Wolfram Wette, Militärgeschichte von unten. Die Perspektive des „kleinen Mannes“. In: ders. (Hg.), Der Krieg des kleinen Mannes. Eine Militärgeschichte von unten, München 1992, S. 9–47, hier 9–26. Zu Möglichkeiten und Forschungsfeldern der Alltagsgeschichte vgl. Alf Lüdtke, Alltagsgeschichte, Mikro-Historie, historische Anthropologie. In: Hans-Jürgen Goertz (Hg.), Geschichte. Ein Grundkurs, 2. Auflage Reinbek 2001, S. 557–578, mit weiteren Literaturhinweisen. 15 Vgl. zum Begriff der Diktaturdurchsetzung Rainer Behring/Mike Schmeitzner, Einleitung. In: dies. (Hg.), Diktaturdurchsetzung in Sachsen. Studien zur Genese der kommunistischen Herrschaft 1945–1952, Köln 2003, S. 7–24, hier 9–17. 16 Der Verfasser arbeitet an einer größeren Studie über die Diktaturdurchsetzung in Chemnitz 1945 bis 1953. Vgl. zum Zusammenhang und zum politischen Hintergrund Rainer Behring, Die Zukunft war nicht offen. Instrumente und Methoden der Diktaturdurchsetzung in der Stadt: Das Beispiel Chemnitz. In: Diktaturdurchsetzung. Instrumente und Methoden der kommunistischen Machtsicherung in der SBZ/DDR 1945– 1955. Hg. von Andreas Hilger, Mike Schmeitzner und Ute Schmidt, Dresden 2001, S. 155–168; ders., Massenaufmärsche, Arbeitseinsatz, Hausvertrauensleute. Die Mobilisierung der Bevölkerung am Beispiel Chemnitz. In: Behring/Schmeitzner, Diktaturdurchsetzung in Sachsen, S. 371–409. 17 Erich Kästner, Notabene 45. Ein Tagebuch, Zürich 1961, Vorbemerkungen, S. 9. Vgl. zur ähnlich gelagerten Quellenproblematik bei der Militärgeschichte von unten Wette, Militärgeschichte, S. 18–23.

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fe Zensur unter sowjetischer Militärherrschaft mindert von vornherein den möglichen Quellenwert; bei Wiederaufnahme des Postverkehrs war zunächst nur die Versendung von Postkarten und unverschlossenen Briefen erlaubt.18 Die Überlieferungen der von Anfang an unter dem beherrschenden Einfluss kommunistischer Funktionäre arbeitenden städtischen Behörden geben dort, wo sie die Meinung der Bürger reflektieren, nicht unbedingt ungefilterte Informationen wieder, und die wiederum unter Zensur arbeitende Presse der sowjetischen Besatzungszone diente rasch vor allem der Manipulation der Bevölkerung, nicht der freien journalistischen Aufbereitung von Nachrichten oder der Förderung der Meinungsvielfalt.19 Der Befragung von Zeitzeugen aus dem Abstand von mehreren Jahrzehnten mit Methoden der „Oral history“ schließlich, bei der die Gefahr der Wiederholung von Stereotypen allgegenwärtig ist, ist die Analyse von zeitgenössischen oder zeitnahen Aufzeichnungen bei weitem vorzuziehen, da nur diese Methode den für die geschichtswissenschaftliche Arbeit nötigen Grad an Authentizität sichert: Um die Sicht der Besetzten auf die Besatzer zu ergründen, bleibt letztlich nur die Suche nach solchen Aufzeichnungen und deren Auswertung, wobei der Zufall der Überlieferung und der Verfügbarkeit eine erhebliche Rolle spielt. Schon daraus ergibt sich, dass jeder Versuch einer „Besatzungsgeschichte von unten“ bestenfalls ein impressionistisches Bild voller Lücken und Unschärfen erstellen kann. Doch bietet der Rückgriff auf solche Quellen den Vorteil, dass sie nicht selten eine kritische Sicht des Geschehens wiedergeben, die ein unverzichtbares Korrektiv der Akten und vor allem der Verlautbarungen von kommunalen und staatlichen Behörden wie auch der sowjetischen Selbstdarstellung liefern.

II. Welche Erfahrungen machten die Chemnitzer mit den sowjetischen Soldaten, wie nahmen sie die Besatzer wahr? Gewiss nicht primär als Befreier, sieht man von eingeschworenen kommunistischen Parteigängern und einigen Sozialisten und politischen Idealisten ab. Vorherrschend waren bei aller Erleichterung, dass der Krieg mit dem Eintreffen der ersten sowjetischen Einheiten am 8. Mai 1945 nun auch in Chemnitz endlich ein Ende genommen hatte, Misstrauen, Furcht und Ablehnung des Fremden, das „der Russe“ für die Mehrzahl der Deutschen verkörperte. Antirussische Vorurteile und Stereotypen hatten in der deutschen öffentlichen Meinung und Publizistik eine lange Tradition. Erinnert sei nur an Stimmen aus der sozialdemokratischen Parteipresse zu Beginn des Ersten Weltkrieges, die zur Abwehr des Einbruchs „halbbarbarischer Horden“ aus dem Osten aufriefen; besonders die „Chemnitzer Volksstimme“ tat sich 1914 hervor 18 Präsident der Oberpostdirektion [Leipzig], Bergs, zur Wiederaufnahme des Postverkehrs in Leipzig vom 26. 7.1945. In: Oehme, Alltag in Ruinen, S. 32. 19 Peter Strunk, Zensur und Zensoren. Medienkontrolle und Propagandapolitik unter sowjetischer Besatzungsherrschaft in Deutschland, Berlin 1996.

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mit dem Appell, „gegen die russische Knutenherrschaft zu kämpfen. Deutschlands Frauen und Kinder sollen nicht das Opfer russischer Bestialitäten werden“. Es gehe um die Verteidigung all dessen, „was es an deutscher Kultur und deutscher Freiheit gibt, gegen einen schonungslosen und barbarischen Feind“.20 An solche tiefsitzenden Ressentiments in weiten Bevölkerungskreisen bis in die politische Linke hinein konnte die rassistische antislawische und antibolschewistische Propaganda der Nationalsozialisten nahtlos anknüpfen. Sie erreichte mit dem ersten Vordringen der Roten Armee auf Reichsgebiet im Oktober 1944 eine letzte Steigerung: Aus dem bis heute nur lückenhaft zu rekonstruierenden Geschehen im kurzzeitig von sowjetischen Truppen besetzten und rasch wieder geräumten ostpreußischen Nemmersdorf erstellte der NS-Propagandaapparat ein Schreckensszenario angeblicher bolschewistischer Gewalt- und Greueltaten, das in Kinowochenschauen sowie in millionenfach verbreiteten Presseartikeln und Flugblättern dazu dienen sollte, den Kampf- und Durchhaltewillen von Front und Heimat im längst sinnlos gewordenen Krieg aufrechtzuerhalten.21 Noch Mitte April 1945 beschwor der „Führer“ Adolf Hitler in einem Aufruf an die „Ostkämpfer“ das Bild des „jüdisch-bolschewistischen Todfeindes“, der „Deutschland zu zertrümmern und unser Volk auszurotten“ versuche: „Während die alten Männer und Kinder ermordet werden, werden Frauen und Mädchen zu Kasernenhuren erniedrigt. Der Rest marschiert nach Sibirien.“22 Solche Propaganda verfehlte nicht ihre Wirkung auf die deutsche Bevölkerung, doch ihre Überzeugungskraft ließ gerade in diesen letzten Kriegsmonaten angesichts einer verbreiteten Kriegsmüdigkeit nach. Der zuständige Reichspropagandaminister Joseph Goebbels musste das schon im November 1944 aus den Berichten seiner Ämter zur Kenntnis nehmen: „Die Greuelnachrichten würden uns nicht mehr abgekauft. Insbesondere hätten die Nachrichten von Nemmersdorf nur einen Teil der Bevölkerung überzeugt.“23 In Chemnitz sehnte man spätestens seit dem Erscheinen von US-amerikanischen Truppen am westlichen Stadtrand am 14. April 1945 das Ende der Kampfhandlungen herbei, das allerdings noch mehr als drei Wochen auf sich warten ließ. Eine Chemnitzer Mutter schrieb sich am 19. April in Aufzeichnungen, die sie in der Art eines Brieftagebuchs an ihren offenbar an der Front ein20 Zit. nach Susanne Miller, Burgfrieden und Klassenkampf. Die deutsche Sozialdemokratie im Ersten Weltkrieg, Düsseldorf 1974, S. 55, und Karlheinz Schaller, „Radikalisierung aus Verzweiflung“. Geschichte der Chemnitzer Arbeiterschaft vom Ersten Weltkrieg bis zur Inflation (1914 bis 1923), Bielefeld 2003, S. 21. 21 Die bisher einzigen ernsthaften Bemühungen um eine Aufklärung des Komplexes „Nemmersdorf“ unternahm der Augenzeuge und Amateurhistoriker Bernhard Fisch, Nemmersdorf, Oktober 1944. Was in Ostpreußen tatsächlich geschah, Berlin 1997; ders., Nemmersdorf 1944 – nach wie vor ungeklärt. In: Gerd R. Ueberschär (Hg.), Orte des Grauens. Verbrechen im Zweiten Weltkrieg, Darmstadt 2003, S. 155–167. 22 Der Führer an die Ostkämpfer. In: Chemnitzer Zeitung vom 18. 4.1945. 23 Die Tagebücher von Joseph Goebbels. Hg. von Elke Fröhlich. Teil II: Diktate, Band 14: Oktober bis Dezember 1944. Bearb. von Jana Richter und Hermann Graml, München 1996, S. 192 f. (Eintrag vom 10.11.1944). Vgl. auch Naimark, Die Russen, S. 141 f., und Kästner, Notabene 45, S. 35 (Eintrag vom 12. 2.1945).

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gesetzten Sohn führte, ihren Unmut über den „Führer“ vom Leib: „Wegen einer Person müssen nun noch so viele Menschen kaputt gehen. Wir können und dürfen nichts tun, warten – warten – was wird der nächste Tag bringen?“24 Die Hoffnung auf eine Besetzung der Stadt durch amerikanische Einheiten erfüllte sich nicht. Dennoch zeigte sich die Frau auch mit der sowjetischen Besetzung nicht unzufrieden. „Komme, was kommen mag, Hauptsache, mit der Führung ist es zu Ende, die so viel Elend und Jammer über die Menschen gebracht hat“, notierte sie am 27. Juli 1945 in einem Rückblick auf die Zeit seit dem 7. Mai, in der sie nichts zu Papier gebracht hatte. Im Vergleich zu den Gefahren, Nöten und Ängsten, die die nationalsozialistische Herrschaft speziell in ihrem letzten Jahr über die Deutschen gebracht hatte, erschien jetzt selbst die Gegenwart sowjetischer Truppen als das geringere Übel: „Nun zu [den] Russen. Uns persönlich hat niemand etwas getan, wir sind bis jetzt auch nicht zu Schaden gekommen. Wir haben auch keine Angst.“ Zwar werde viel geschimpft über Plünderungen; die Besatzer lebten in Saus und Braus, aber „uns kann nichts erschüttern, wir sind es zufrieden. Hauptsache, der Schwindel ist zu Ende.“25 In Leipzig, das Anfang Juli einen Wechsel von amerikanischer zu sowjetischer Besatzung erlebte, vertraute eine Einwohnerin ihre anfänglichen Befürchtungen ihrem Tagebuch an: „Heute sind die Russen eingezogen, am Fleischerplatz sah ich die ersten Schilder in Russisch. Während ich in einem Laden Apfelsinenaroma kaufte, liefen mir die Tränen übers Gesicht.“ Doch wenige Tage später zeigte sie sich erleichtert: „Ich hatte von den Russen nur Schlechtes erwartet. Aber bis jetzt hat sich ihr Kommen nur vorteilhaft ausgewirkt“ – sie hätten „alle Schilder der Amis entfernt“, Ausgangssperren aufgehoben, Bäder und Kinos geöffnet, Versammlungen gestattet.26 Die beiden Zeugnisse aus weiblicher Perspektive bieten zumindest keinen Beleg dafür, dass die Ankunft sowjetischer Truppen in den sächsischen Städten mit einer Welle der Gewalt besonders gegen Frauen verbunden gewesen wäre, wie sie von der nationalsozialistischen Propaganda heraufbeschworen worden war. Auch die wichtigste zusammenhängende Quelle zur Chemnitzer Alltagsgeschichte der Jahre 1945 bis 1949, ein recht umfangreiches Tagebuch, weiß davon nichts zu berichten. Dabei war der anonyme Verfasser – es spricht einiges dafür, dass er in der Stadtverwaltung tätig war, vermutlich in der Arbeitsverwaltung, und ständige Kontakte zu städtischen Angestellten unterhielt – alles andere als ein Freund der „Russen“; seine Aufzeichnungen lassen an seiner tiefen Abneigung gegen die sowjetische Besatzungsherrschaft, ihre Methoden 24 Anonyme Tagebuchaufzeichnungen einer Chemnitzerin, 18. 4.–14. 9.1945, Eintrag vom 19. 4.1945 (Schloßbergmuseum Chemnitz). Der Verf. dankt Herrn Uwe Fiedler vom Schloßbergmuseum für die freundliche Überlassung einer Abschrift. Orthographie und Interpunktion der unveröffentlichten Aufzeichungen werden im vorliegenden Beitrag behutsam korrigiert. 25 Ebd., Eintrag vom 27. 7.1945. 26 Aus dem Tagebuch von Eva Salzer, Einträge vom 2. 7.1945 und 6. 7.1945. In: Oehme, Alltag in Ruinen, S. 21.

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und ihr Personal keinen Zweifel, und offensichtlich unterließ er es nicht, von ihm beobachtete oder ihm zugetragene Vergehen der fremden Soldaten zu notieren. Und doch hat er über das Betragen der Kampftruppen, die zunächst Chemnitz erreichten, an Gewalttaten nur zu berichten, dass im Durchgangslager des Arbeitsamtes ein russischer Offizier einem Angestellten ins Gesicht geschlagen habe.27 Weitaus schlechter als die Rotarmisten, deren Zahl in Chemnitz in den ersten Tagen nach Kriegsende ohnehin gering war, kommen bei dem Verfasser des Tagebuchs im Mai 1945 die massenhaft aus ihren Unterkünften und Lagern befreiten ausländischen Zwangsarbeiter weg, bei deren Beschreibung seine Ressentiments offen hervortreten: „Wenn nur erst die Ausländerplage weg wäre. Nichts wie Plündereien, Diebstahl und Vergewaltigungen. Niemand ist sicher in der Wohnung. Wer hätte derartiges von den Ostarbeitern erwartet [...] Es ist eben der Russe unberechenbar.“28 Unter diesen Umständen konnte „der Russe“ als Soldat sogar nützlich sein, insofern als allein das Militär die ihre wiedergewonnene Freiheit genießenden und die öffentliche Ordnung störenden „Displaced Persons“ zu disziplinieren vermochte. Während sich dieses Problem innerhalb einiger Wochen mit der Zwangsheimführung der aus der Sowjetunion stammenden ehemaligen „Ostarbeiter“ für die Chemnitzer Bevölkerung weitgehend erledigte, stieg die Zahl der Sowjetsoldaten im Stadtgebiet rasch an. Auf deutschem Boden befanden sich im Frühjahr 1945 vorübergehend etwa 1,5 Millionen Soldaten der Roten Armee, erst nach und nach wurde die Stärke der Besatzungstruppen auf ca. 500 000 Mann reduziert.29 Sowjetische Soldaten waren in den ersten Nachkriegsjahren im Alltag ihrer Besatzungszone buchstäblich omnipräsent. Im Garnisonstandort Chemnitz, in dem nicht nur die Stadt- und die Kreiskommandantur mit ihren Mitarbeitern, sondern in erheblicher Zahl auch Kampfverbände stationiert waren, hielt der an militärischen Dingen besonders interessierte Tagebuchautor seine Beobachtungen fest. Demnach wurde die Stadt während des gesamten Zeitraums von Mai 1945 bis Ende 1949 ununterbrochen von Einheiten der Roten Armee in Anspruch genommen. Fortwährend finden sich Bemerkungen wie: „Viel russisches Militär durchzieht Chemnitz“, „Heute zogen wieder viel russische Kolonnen durch, Kampftruppen“, „Heute wieder viel russische Panzer und Truppen eingetroffen. Zu was nur?“, oder „Morgens 2 Uhr wurden am Bahnhof Dresdnerstraße wieder russische Panzertruppen entladen“.30 Die ständigen Truppenbewegungen nährten zunächst die Hoffnung auf ihren vollständigen Abzug, und entsprechende Gerüchte machten vielfach die Runde, doch wurden die Erwartungen immer aufs Neue enttäuscht.31 27 Anonymes Tagebuch 1945–1949, Eintrag vom 9. 5.1945 (Schloßbergmuseum Chemnitz). 28 Ebd., Eintrag vom 11. 5.1945. Vgl. auch die Einträge vom 9. 5., 17. 5. und 28. 5.1945. 29 Kowalczuk / Wolle, Roter Stern, S. 105; Foitzik, Sowjetische Militäradministration, S. 87. 30 Anonymes Tagebuch 1945–1949, Einträge vom 14. 6.1945, 4. 7.1945, 11. 5.1947, 6.10.1949 (Schloßbergmuseum Chemnitz). 31 Vgl. etwa ebd., Einträge vom 4. 6., 11. 6., 28. 6.1945 u. ö.

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Tatsächlich begann die Besatzungsmacht, sich auf Dauer in Chemnitz einzurichten. Bereits am 26. Mai 1945 notierte der Verfasser des Tagebuchs, „Chemnitz wird langsam russifiziert“; es seien große russische Wegweiser angebracht worden.32 Und schon zwei Wochen zuvor hatte er unter dem Eindruck einer unmittelbar mit dem Erscheinen der sowjetischen Truppen einsetzenden Verhaftungswelle und eines ersten Personalrevirements in den städtischen und staatlichen Behörden hellsichtig erkannt: „Eine neue Wirtschafts- und Sozialordnung tritt in Kraft.“33 Das öffentliche und private Eigentum der Deutschen wurde von den Besatzern in keiner Weise respektiert – das stellte offenbar den tiefgreifendsten Einschnitt im Alltagsleben dar, der mit der Besetzung von Chemnitz durch die Rote Armee von Anfang an verbunden war. Die Enteignungen konnten auf dem Verwaltungswege vor sich gehen – „die Güterwagen der Eisenbahn sind schon zum größten Teil russisch geworden, nur durch gewöhnliches Umschreiben“34 –, sie manifestierten sich in den jahrelang anhaltenden Demontagen und Reparationsleistungen, bei denen selbst auf die notwendigsten Lebensgrundlagen der Bevölkerung keine Rücksicht genommen wurde – Lebensmittel wurden ebenso in erheblichen Mengen abtransportiert35 wie das Elektrizitätswerk Chemnitz des größten Teils seiner Kapazitäten beraubt –, vor allem aber betrafen sie buchstäblich den „kleinen Mann“ auf der Straße und in seinem Haus. Die unter den Begriffen Plünderung oder materielle Schädigung im weitesten Sinne erfassbaren Erfahrungen mit den Organen der Besatzungsmacht oder ihren einzelnen Soldaten umfassten ein weites Spektrum. Allein das anonyme Tagebuch liefert dafür schier endlose Belege, von denen nur eine kleine Auswahl zitiert sei: „Die Russen halten die Autos an, nehmen das Benzin weg, damit nicht weiter gefahren werden kann, sie selbst fahren dann spazieren“; „Wieder sind im Chemnitztal neue russische Truppen angekommen, die sofort mit der eigenmächtigen Wegnahme von Fahrrädern begannen“; „Wieder zogen große Kolonnen russischen Militärs durch die Stadt, dem Vogtlande zu, schwer beladen mit Plündergut – Sesseln – Betten – Möbeln aller Art“; „Viel russisches Militär in Chemnitz, und zu was? Zum Faulenzen und zum Plündern. Was wieder einmal sehr um sich greift“; „Gestern haben die Russen in der Kleingartensiedlung Eubaerstraße/Stadtbad Gablenz alles Obst abgenommen. Posten standen mit aufgepflanztem Seitengewehr. Die Russen sagten noch: Der Boden nicht deutsch, sondern russisch.“36 32 33 34 35

Ebd., Eintrag vom 26. 5.1945. Ebd., Eintrag vom 12. 5.1945. Ebd., Eintrag vom 31. 5.1945. „Bei der Groß-Einkaufs-Gesellschaft wurden 17 russische Lastautos mit Lebensmitteln zum Abtransport gebracht.“ – „Auch für diese Woche wird es wenig oder gar kein Fleisch geben. Zufuhren sind keine da, und was dem Schlachthof zugeführt wird, ist dem Russen.“ – „Wenn die Beschlagnahmungen so weiter gehen, wird das Mehl zum Brot keinen vollen Monat mehr reichen“ (ebd., Einträge vom 10. 5., 16. 5. und 17. 5. 1945 sowie passim. 36 Ebd., Einträge vom 30. 6., 24. 6., 6. 7., 7. 7.1945 sowie vom 18. 8.1948.

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Welche Auswirkungen schon solche im Rückblick noch einigermaßen harmlos erscheinenden Eigentumsdelikte auf das deutsche Bild von der Sowjetmacht haben konnten, belegt eine Aufzeichnung, die der 1903 geborene Friedrich Auerbach, der als landwirtschaftlicher Sachbearbeiter bei der Chemnitzer Stadtverwaltung tätig war, im August 1951 unter dem Titel „Meine Gedanken über die Wiederherstellung eines gesamtdeutschen Staates“ anfertigte. Darin schilderte er seine Rückkehr aus britischer Kriegsgefangenschaft Anfang Juli 1945. Versteckt auf einem Kohlenzug wollte er mit rund 200 weiteren Personen formlos die Demarkationslinie passieren. „Die Russen“ entdeckten allerdings die blinden Passagiere, „und infolgedessen fledderten sie den ganzen Zug“. Etwa 30 heimkehrende Soldaten wurden separiert und in einen Bauernhof verbracht, „und hier erlebten wir das, was wir alle nicht wollten. Unser Hab und Gut wurde uns von den Speckjägern abgenommen.“ Auerbach verlor seine „drei neuen Oberhemden sowie zwei gute Trikothemden, drei Unterhosen, eine Bluse, zwei Taschenmesser, ein Zigarettenetui, vier Pfund Speck und zwei Pfund Butter“ und wurde obendrein noch zwei Tage lang auf einem Heuboden bei Wasser und trockenem Brot eingesperrt, bevor er, „ohne noch etwas zu besitzen“, seinen Heimweg nach Chemnitz antreten konnte. Schon dieses vergleichsweise milde Schicksal führte bei dem Betroffenen zu irreparablen Aversionen gegen die Besatzungsmacht insgesamt: „Diesen Schmerz“, so schrieb er sechs Jahre später in der Einsamkeit seiner Gartenlaube nieder, „kann ich Zeit meines Lebens nie vergessen, den man mir auf diese Art und Weise zugefügt hat. Und solch ein Volk nennt sich ein Kulturvolk und spricht von einem Sozialismus.“37 Solche und ähnliche Erfahrungen machten wohl die meisten Menschen in der sowjetischen Besatzungszone mit dem völlig willkürlichen Umgang mit ihrem Eigentum, und die gleichen Erfahrungen prägten die gesamte Gesellschaft in ihren verschiedensten Bereichen. In Firmen und Depots mussten jahrelang ganze Bestände an Lebensmitteln, Elektroartikeln, Vorräten und Waren aller Art abgeschrieben werden, wenn sie Vertretern der Besatzungsmacht in die Hände fielen. Die Betroffenen standen den Forderungen der sowjetischen Soldaten hilflos gegenüber. Ein Fleischermeister durfte sein Problem im Februar 1946 dem zuständigen Stadtrat vortragen: „In meinem Laden erschienen zwei russische Soldaten und forderten Wurst. Ich weigerte mich. Daraufhin zeigten sie mir ein Dokument mit der Unterschrift eines Generalmajors und einem russischen Stempel.“ Als der Fleischer sich dem Ansinnen der ungebetenen Besucher dennoch widersetzte, drohten sie ihm „und forderten außerdem, meinen Eisschrank zu öffnen. Nun war ich gezwungen, die Wurst herauszugeben.“ Vom Dezernat Handel und Versorgung erbat der wackere Mann nun Ersatz für „die fehlende Wurstmenge in Höhe von 10 kg“. Der Stadtrat konnte ihn allerdings lediglich darauf hinweisen, dass er „unter keinen Umständen Wurst oder 37 Friedrich Auerbach, Meine Gedanken über die Wiederherstellung eines gesamtdeutschen Staates vom 17. 8.1951. Original in Privatbesitz. Der Verf. dankt dem Ehepaar Anita und Siegfried Fritz (Chemnitz) für die freundliche Überlassung einer Kopie.

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Fleischwaren ohne gültigen Ausweis abgeben dürfe“; der Fleischermeister versicherte, er werde in Zukunft danach handeln – offensichtlich führte er einen vergeblichen Kampf nach zwei Seiten. Der Oberbürgermeister sollte von dem Vorfall in Kenntnis gesetzt werden.38 Der Oberbürgermeister bemühte sich in der Tat ständig darum, bei der Besatzungsmacht eine Abstellung dieser Zustände zu erwirken, doch kämpfte er ebenso vergeblich wie der Fleischer oder andere Bürger, die versuchten, auf dem Rechtswege ihre Güter zurückzuerlangen. Auch ihm standen bei Besprechungen in der Kommandantur und bei schriftlichen Eingaben keine Druckmittel zur Verfügung, noch dazu war er als überzeugter Parteikommunist zu echter Auflehnung gegen die Vertreter der Sowjetunion nicht in der Lage. Als der Treuhänder der AEG-Vertretung in Chemnitz sich über die „Ausräumung unseres Lagers an Installations- und Elektromaterialien, die zur Zeit eine Quote von 75 % erreicht hat“, auf Befehl eines russischen Majors beklagte – es würden sogar Lagerbestände beschlagnahmt, die für Reparationsaufträge bestimmt seien –, konnte Oberbürgermeister Max Müller lediglich einen unterwürfigen Brief an den Stadtkommandanten schreiben: „Wenn Sie, sehr geehrter Herr General, eine Möglichkeit hätten, zu erwirken, dass uns ein größerer Teil der Elektromaterialien erhalten bliebe, wäre ich Ihnen sehr dankbar.“39 Immerhin wies Müller nicht nur auf die infolge der Plünderungen gefährdeten Reparationslieferungen hin, sondern auch auf die Notlage in Chemnitz und in der gesamten Umgebung bis ins Erzgebirge, wo das konfiszierte Material für den Wiederaufbau gebraucht werde. Doch Antworten auf solche Eingaben sind in der Regel nicht überliefert; die sowjetische Militäradministration hatte ihre eigene Auffassung von einer auf Schriftlichkeit beruhenden Verwaltung. Die unzähligen Diebstähle, Erpressungen und Konfiskationen, die Demontagen und Entnahmen in Fabriken und Werkhallen, von rollendem Material und Schienen der Eisenbahn und von Heizkesseln in Elektrizitätswerken wie auch von Nahrungsmitteln, Nutztieren und Feldfrüchten betrachtete die Mehrzahl der Deutschen unter dem gleichen Gesichtspunkt: Sie sahen sich als Opfer eines gigantischen Raubzugs von Werten aller Art, die die hungernden und frierenden Menschen selbst dringend benötigten. Im Frühjahr 1947 war der Hunger in Chemnitz allgegenwärtig, und die Schuld daran und an Not und Elend gab man der Besatzungsmacht; „der Russe“ habe „ja die Bewohner, die Industrie und den Staat bis aufs letzte“ ausgesaugt, und „ein jeder hat die Nase voll

38 Aufzeichnung betr. Fleischentnahme durch Russen vom 13. 2.1946 (StAC, Rat der Stadt 1945–1990, Nr. 5592). Vgl. dazu eine Aktennotiz ohne Unterschrift vom 29.1.1946: „Diese Eingriffe von Angehörigen der Roten Armee sind laufend bei Besprechungen bei Oberst Pilinoga dort vorzulegen und in gewissen Zeitabständen wieder anzumahnen“ (ebd.). 39 Allgemeine Elektricitäts-Gesellschaft, Büro Chemnitz, an Oberbürgermeister Müller vom 25. 4. und 26. 4.1946, und Oberbürgermeister Müller an „Sehr geehrter Herr General“ vom 2. 5.1946 (StAC, Rat der Stadt 1945–1990, Nr. 5880, Bl. 66–69).

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vom Bolschewismus“.40 Auch zwei Jahre nach Kriegsende war keine Besserung der Zustände in Sicht. Die Willkür hielt unvermindert an, und sie fand beileibe nicht nur in Eigentumsdelikten und Reparationsansprüchen ihren Ausdruck. Mit den massenhaften Beschlagnahmungen von Wohnraum etwa war regelmäßig Gewalt gegen Sachen verbunden. Blitzartig mussten häufig ganze Häuserreihen, Schulen, Kasernen und andere Nutzbauten geräumt werden, wann immer es einem sowjetischen Befehlshaber in den Sinn kam. Schon bei der Einquartierung zerstörten die Rotarmisten wahllos Mobiliar, „warfen die guten Schränke zum Fenster raus, so dass sie nicht mehr brauchbar waren und nur als Feuerholz Verwendung fanden“41; wenn die Unterkünfte wieder geräumt wurden, waren sie vielfach völlig verwüstet und für ihre Besitzer nicht mehr bewohnbar. Sinnlose Zerstörungswut wurde auch in anderen verbreiteten Verhaltensweisen der Sowjetsoldaten erkennbar: So intervenierte der Oberbürgermeister bei der Kommandantur wiederholt, weil „Angehörige der Roten Armee Straßenbeleuchtungskörper zerschossen haben“ – wo doch „der Lagerbestand an Glühlampen und Beleuchtungsarmaturen“ ohnehin „so gut wie völlig aufgebraucht ist und Ersatz weder hier in Chemnitz noch von auswärts beschafft werden kann“, oder weil „im Sechs-Ruten-Walde Wege in einer Länge von ca. 1 200 m durch Panzer grundlos zerfahren und Kulturen beschädigt“ worden waren.42 Diese Alltagserfahrungen schufen bei den Deutschen ebenso wenig Sympathien für die Besatzungsmacht wie die ständige Inanspruchnahme der menschlichen Arbeitskraft für Aufräumungs-, Verlade-, Demontage- und sonstige schwere körperliche Arbeiten. Mitunter fanden regelrechte Razzien auf der Suche nach Arbeitskräften statt: „Der Russe sperrte ganze Straßenzüge ab und nahm die Männer, ganz gleich ob in Arbeit stehend oder nicht, weg zu anderweitigem Einsatz.“43

40 Anonymes Tagebuch 1945–1949, Eintrag vom 18. 6.1947 (Schloßbergmuseum Chemnitz). Mit dem gleichen Tenor noch vier Jahre später Auerbach, Meine Gedanken. 41 Ebd., Eintrag vom 16. 6.1945. Vgl. zu einer Einquartierungswelle im Herbst 1946 ebd., Einträge vom 12. 9., 29. 9. und 26.10.1946. 42 Oberbürgermeister Müller an Oberst Spiridonow vom 6. 2.1948 (StAC, Rat der Stadt 1945–1990, Nr. 165, Bl. 21); Stellv. Oberbürgermeister Berthel an Militärkommandanten der Stadt Chemnitz vom 22. 3.1951 (ebd., Nr. 25, Bl. 93). Immerhin ließ der Kommandant einige Wochen später mitteilen, „dass er den in Betracht kommenden Garnison-Kommandeuren strengste Anweisung gegeben habe, beim Befahren des Geländes jegliche Beschädigung von Kulturen und der Wege zu vermeiden“ (ebd., Nr. 25, Bl. 91). 43 Anonymes Tagebuch 1945–1949, Eintrag vom 4. 8.1945 (Schloßbergmuseum Chemnitz).

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III. Das alles mochte noch unbedeutend erscheinen im Vergleich zu anderen Formen physischer und seelischer Gewalt, die von Angehörigen der Besatzungsmacht ausgeübt wurden. Die Dimension und die Methoden organisierter Repression tatsächlicher oder vermeintlicher Gegner der Sowjetunion sind hier nicht zu erörtern. Das ständige Verschwinden von Personen aus dem persönlichen Umfeld aufgrund von Interventionen seitens der sowjetischen Sicherheitsorgane führte allerdings auch bei den Zurückbleibenden zu anhaltenden Irritationen; auf Eingaben von Müttern, die um das Schicksal ihrer halbwüchsig verhafteten Söhne bangten, musste der Oberbürgermeister bedauernd antworten, die „Inhaftierung der Jugendlichen“ sei „nur Angelegenheit der Besatzungsbehörde, die von deutschen Verwaltungsstellen unabhängig sind [sic]“. Es seien bereits mehrere solche Fälle gemeldet worden, „und wir haben auch alles Denkbare schon versucht, um eine Freilassung der Jugendlichen zu erwirken, doch leider bis jetzt ohne Ergebnis. Auch die Vorsprachen des Landesvorstandes der SED bei der SMA in Dresden waren erfolglos.“ Der Chemnitzer Polizeipräsident konnte verallgemeinernd ergänzen, „alles, was durch eine russische Stelle geregelt worden ist, entzieht sich bei uns der Auskunftsmöglichkeit“.44 Nicht nur die Angehörigen, auch die deutschen Behörden waren in solchen Fällen buchstäblich ahnungslos, was den Verbleib und das Befinden der oft von der Straße weg verhafteten und verschleppten Bürger anbelangte. Das Verschwinden von Menschen im sowjetischen Repressionsapparat bildete ein Extrem der Gewalterfahrung in der SBZ. Die Ausübung von spontanen, zufälligen und doch in der Summe als massenhaft und als allgegenwärtige Bedrohung empfundenen Gewaltakten der Besatzer gegen die Besetzten gehörte zum Alltag. Die Willkür der Sieger schien keine Grenzen zu kennen: „Auf der Wörthstraße wurde von einem russischen Soldaten ein Deutscher angeschossen, weil letzterer dem Diebstahl seiner Uhr Widerstand entgegensetzte“; „Dr. Schweitzer, Chefarzt der Frauenklinik, wurde, weil er sein Auto den Russen auf einer Fahrt nicht überliefern wollte, von diesen angeschossen“; „Ingenieur W. Hengst ist abends gegen 8 Uhr von einem Russen angeschossen worden, es ist ihm die Kinnlade zerschmettert. Auch sind wieder Überfälle auf Zivilleute vorgekommen. Die Soldaten ziehen den Männern die Mäntel und Anzüge aus“; „Wieder ein russischer Überfall [...] auf Deutsche, die mit Messerstichen abends 9 Uhr ins Krankenhaus eingeliefert wurden“; „Viel russische Überfälle wieder“.45 Solche Vorkommnisse schienen sich gelegentlich zu häu44 Oberbürgermeister Müller an Else H. vom 30. 5.1947, und Polizeipräsident Ritscher an Oberbürgermeister Müller vom 22. 5.1947 (StAC, Rat der Stadt 1945–1990, Nr. 7963). Vgl. bereits Oberbürgermeister Müller an Elfriede S. vom 2. 9.1946: „Wir sind nicht in der Lage, irgendeine Auskunft zu erteilen, da auch wir keine Möglichkeit haben, Auskünfte von Seiten der russischen Dienststellen zu erhalten“ (ebd., Nr. 7970). 45 Anonymes Tagebuch 1945–1949, Einträge vom 1. 8.1945, 18. 9.1946, 13.11.1946, 3.12.1947, 6.10.1948 (Schloßbergmuseum Chemnitz).

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fen, dann flauten die Wellen wieder ab. Kritisch war jedes Jahr die Zeit um den ersten und den 8./9. Mai, die Feiertage der Arbeiterbewegung und des Sieges über die Deutschen. Vor den zumeist alkoholisierten Sowjetsoldaten war dann niemand sicher: „Heute zeigte sich der Russe im Siegesrausch. Besoffene russische Soldaten waren überall zu sehen in der Stadt in Massen und belästigten das Zivilpublikum. Dies geht nun schon seit einigen Tagen so“, vermerkte der anonyme Chronist des Chemnitzer Alltags zum 9. Mai 1946, und am 1. Mai 1947 standen an einer Brücke „drei russische Soldaten, die alle darüberkommenden Mädchen mit geballten Fäusten ins Gesicht schlugen, ohne jedweden Grund“.46 Das Ergebnis derartiger Erfahrungen und Wahrnehmungen war eine weit verbreitete Verunsicherung, die dazu führte, dass große Teile der deutschen Bevölkerung jeden Kontakt mit den Besatzungssoldaten nach Möglichkeit zu meiden suchten, um gar nicht erst in Gefahr zu geraten. Gleichzeitig wurden die Vorfälle „den Russen“ als Volk zugeschrieben, sie galten allgemein als gewalttätig – zumindest unter dem Einfluss von Alkohol –, die überkommenen Vorurteile schienen sich in dieser Hinsicht doch zu bestätigen: „Es geht abends niemand gern mehr auf die Straßen, da die jetzt sich hier aufhaltenden russischen Truppen fast alles Verbrecher sind. Messerstechereien und sonstige Akte sind wieder an der Tagesordnung und viele Einwohner sind in den letzten Tagen Opfer solcher Akte geworden.“ Da half es auch nichts, wenn „Schreiben in den Häusern herumgereicht“ wurden, „dass das Verkaufen von Alkohol an russische Soldaten streng verboten ist“.47 Sie besorgten ihn sich gegebenenfalls eben mit Drohungen und Gewalt. Gelegentlich wehrten sich die beteiligten Deutschen, Gewaltbereitschaft zeigte sich auf beiden Seiten, mitunter ereigneten sich in Tanzlokalen sogar „große Schlägereien Jugendlicher mit der russischen Wehrmacht. Selbst Offiziere erhielten ihre nötige Tracht Prügel“, oder „morgens ein Uhr überfiel ein russischer Soldat einen deutschen Zivilisten bei der Parkschänke und wollte ihm die Uhr entreißen, der Deutsche setzte sich zur Wehr, er versetzte dem Russen zwei richtiggehende Faustschläge ins Gesicht und türmte“. Selbst die sowjetische Seite hatte Todesopfer zu verzeichnen: „Auf der Rudolfstraße wurde ein Russe von einem deutschen Polizisten erschossen, weil letzterer es nicht zugeben wollte, dass seine Frau von dem betrunkenen Russen vergewaltigt wurde. Der Russe zog die Pistole und in der Abwehr traf der Schuss ihn selbst.“48 Das führt zu dem schwierigen Thema der sexuellen Gewalttaten, die von sowjetischen Soldaten an deutschen Frauen verübt wurden.49 Es gibt für den 46 47 48 49

Ebd., Einträge vom 9. 5.1946 und vom 1. 5.1947. Ebd., Eintrag vom 11.10.1947. Ebd., Einträge vom 14. 3.1946, 15. 9.1946, 9. 5.1946. Dazu existiert inzwischen eine kontroverse wissenschaftliche Literatur: Vgl. etwa mit weiteren Literaturhinweisen Regina Mühlhauser, Vergewaltigungen in Deutschland 1945. Nationaler Opferdiskurs und individuelles Erinnern betroffener Frauen. In: Klaus Naumann (Hg.), Nachkrieg in Deutschland, Hamburg 2001, S. 384–408; Atina Gross-

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gesamten Zeitraum bis mindestens Ende der vierziger Jahre genügend Hinweise auch aus Chemnitz, dass Vergewaltigungen durch Angehörige der Besatzungsmacht stattfanden und dass sie vor allem als ständige Bedrohung und Gefahr wahrgenommen wurden. Und dennoch mahnen die Chemnitzer Befunde zur Vorsicht gegenüber allzu großzügigen Hochrechnungen oder gegenüber Schilderungen der frühen Besatzungszeit als einer einzigen Orgie von Gewalttaten an deutschen Frauen und Mädchen, die selbst in seriöse geschichtswissenschaftliche Arbeiten Eingang gefunden haben, wie unlängst in Hans-Ulrich Wehlers Deutsche Gesellschaftsgeschichte: „Über Millionen ostdeutscher Frauen und Mädchen, Kinder und Greisinnen brachen jahrelang die barbarischen Exzesse der Massenvergewaltigungen durch Rotarmisten herein.“50 Die nüchterne Einschätzung von Jan Foitzik51 verdient in dieser Hinsicht den Vorzug gegenüber der zur Verallgemeinerung tendierenden epischen Breite Norman Naimarks, der dem Thema der Vergewaltigungen allein ein Sechstel seiner Geschichte der sowjetischen Besatzungszone widmet und ihm dadurch einen herausragenden Rang verleiht. Naimark entnimmt den Quellen tatsächlich eine Fülle von einschlägigen Hinweisen, stimmt mit anderen Autoren in der Einschätzung überein, es sei „höchst unwahrscheinlich, dass Historiker jemals in Erfahrung bringen werden, wie viele deutsche Frauen in den Monaten vor der Kapitulation und den Jahren danach von Sowjetsoldaten vergewaltigt wurden“, und nennt dann doch Zahlen: „Es werden Zehntausende, wahrscheinlich sogar Hunderttausende gewesen sein“, unter Berücksichtigung der ehemaligen deutschen Ostgebiete ergebe sich sogar „möglicherweise eine Zahl von bis zu zwei Millionen“.52 Angesichts einer Kluft zwischen „Zehntausenden“ und „zwei Millionen“ scheint die Frage nach den Dimensionen der sexuellen Gewalttaten allerdings – ungeachtet des mit jedem einzelnen „Fall“ verbundenen persönlichen Leids für die betroffenen Frauen und Mädchen – von einer rein quantitativen mann, A Question of Silence: The Rape of German Women by Occupation Soldiers. In: October, 72 (1995), S. 43–63; Helke Sander/Barbara Johr (Hg.), BeFreier und Befreite. Krieg, Vergewaltigungen, Kinder, 2. Auflage München 1992; sowie jetzt den einleitenden Überblick über Geschichte und Erforschung der Thematik „Sexuelle Gewalt im Krieg“ in der Dissertation von Birgit Beck, Wehrmacht und sexuelle Gewalt. Sexualverbrechen vor deutschen Militärgerichten 1939–1945, Paderborn 2004, S. 17–68. Dieses wichtige Buch bietet erstmals eine Annäherung an die von der deutschen militärgeschichtlichen Forschung grob vernachlässigte Problematik der sexuellen Gewalt, die von Angehörigen der deutschen Wehrmacht an Frauen im besetzten Europa verübt wurde. So ist es bezeichnend, wenn im jüngsten einschlägigen Beitrag von Christian Hartmann, Verbrecherischer Krieg – verbrecherische Wehrmacht? Überlegungen zur Struktur des deutschen Ostheeres 1941–1944. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 52 (2004), S. 1–75, der ohnehin das Ziel verfolgt, die individuelle Schuld deutscher Soldaten an den im Krieg gegen die Sowjetunion verübten Verbrechen nach Möglichkeit zu minimieren, die Frage nach Vergewaltigungen gar nicht gestellt wird. 50 Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Band 4, S. 941. 51 Foitzik, Sowjetische Militäradministration, S. 60 f. mit Anm. 53, und S. 68–71. 52 Naimark, Die Russen, S. 91–179, Zitate 169 f. Naimark übernimmt die Höchstzahl den auf eher dubiosen statistischen Berechnungen beruhenden Angaben bei Sander/Johr, BeFreier, S. 59.

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in eine qualitative umzuschlagen, auch im Hinblick auf die Alltagsgeschichte der sowjetischen Besatzungszone.53 Die Quellenlage in Chemnitz bestätigt vor allem die Beobachtung von IlkoSascha Kowalczuk und Stefan Wolle: „Wer [sich] die Frage stellt, ob es sich um bedauerliche Einzelfälle oder ein Massenphänomen gehandelt hat, steht einem merkwürdigen Schweigen der Quellen gegenüber. Trotz der vielen Einzelerwähnungen und Andeutungen gibt es nur wenig gesichertes und historisch verwertbares Material.“54 So enthält etwa das bereits mehrfach zitierte Tagebuch, dessen Verfasser gewiss keinerlei Sympathien für die Russen als Volk, die Rote Armee als Besatzungsmacht oder den Bolschewismus als politisches System unterstellt werden können, über fünf Jahre hinweg nur eine Handvoll Bemerkungen über diese Gewalttaten, obwohl man vermuten sollte, dass er an deren Dokumentation mindestens soviel Interesse gehabt haben dürfte wie an Aufzeichnungen über Hunger, Truppenbewegungen, Plünderungen oder Demontagen. Zum 18. September 1946 heißt es lapidar: „Zwei Mädchen von fünf Russen überfallen und vergewaltigt nachts ½12 Uhr“, im Oktober 1947 war „am Lessingplatz wieder ein Fräulein von den Russen vergewaltigt worden“, und am Ende desselben Monats gab es „Überfälle und Vergewaltigungen in den vergangenen 1½ Wochen allein in Hilbersdorf vier“.55 Im März 1946 dagegen findet sich nur in einem Eintrag zum 14. des Monats der Hinweis, dass – offenbar aus Anlass der Feiern zum Todestag von Karl Marx – den ganzen Tag Polizei aufgeboten worden sei, „wegen der Belästigungen ausgesetzten Frauen“.56 Naimark dagegen zitiert aus russischen Akten den Bericht eines sowjetischen Politoffiziers, demzufolge im März 1946 in Chemnitz „innerhalb von nur zwei Tagen zahlreiche Fälle von Massen- und Einzelvergewaltigungen angezeigt“ worden waren, von denen einige für die betroffenen Frauen tödlich endeten.57 Solche Anzeigen wiederum finden sich in der deutschen Überlieferung nur als seltene Ausnahme58, und einige zufällig erhaltene Berichte der Chemnitzer Kriminalpolizei werfen mehr Fragen auf, als sie zu beantworten vermögen, wenn sie für die Monate Dezember 1948, Januar 1949 und Mai 1949 jeweils sieben, fünf und dreizehn „sexuelle Verbrechen“ verzeichnen, von denen der Großteil auf53 Generell gilt für die Erforschung der Vergewaltigungen im sowjetisch besetzten Deutschland trotz aller kaum zu bewältigenden Probleme mit der Quellenbasis und ihrer Interpretation die explizite Aufforderung von Grossmann, A Question, S. 48: „I do think that much conventional historical research remains to be done.“ 54 Kowalczuk/Wolle, Roter Stern, S. 36. 55 Anonymes Tagebuch 1945–1949, Einträge vom 18. 9.1946, 14.10.1947 und 31.10.1947 (Schloßbergmuseum Chemnitz). 56 Ebd., Eintrag vom 14. 3.1946. 57 Naimark, Die Russen, S. 114 f. Es berührt allerdings merkwürdig, wenn in der zugehörigen Anm. 89 (S. 620), ein Bericht vom 25.1.1946 als Beleg angeführt wird. 58 Vgl. etwa die Anzeige der Hildegard H. vom 26. 5.1945 gegen einen russischen Soldaten, der von ihr verlangte, „ich solle mich abends ins Bett legen, wenn er wiederkommt, dass ich da sei“. Die Frau entzog sich der Situation, woraufhin ihr Ehemann von dem Soldaten mehrfach bedroht wurde (StAC, Rat der Stadt 1945–1990, Nr. 4944).

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geklärt wurde.59 Das scheint für eine Großstadt von knapp einer Viertelmillion Einwohnern nicht ungewöhnlich. Bei näherem Hinsehen gibt zumindest der Bericht für Mai 1949 zu erkennen, dass es sich bei den „sexuellen Verbrechen“ um Fälle von „Unzucht an Kindern unter 14 Jahren“ handelte; die Täter waren Deutsche. Lediglich eine Notzucht und eine versuchte Notzucht durch einen unbekannten Täter waren angezeigt worden.60 Die polizeiliche Statistik in der SBZ hilft für das Problem der Vergewaltigungen durch sowjetische Soldaten offensichtlich nicht weiter: Die Überlieferung ist höchst lückenhaft, die meisten Delikte dieser Art dürften gar nicht erst zur Anzeige gelangt sein, und es ist fraglich, ob die nicht zuletzt für die Sowjetische Militäradministration angefertigten Berichte in diesem heiklen Punkt überhaupt ein Mindestmaß an Glaubwürdigkeit verdienen. Es würde methodisch zweifelhaft sein, aus derartig verstreuten und zufälligen zeitgenössischen Zeugnissen auf massenhafte Vergewaltigungen als einem alltäglichen Charakteristikum sowjetischer Besatzungsherrschaft in Deutschland hochzurechnen. Tatsächlich scheint eine Vielzahl von Einzelfällen durch Berichte und Weitererzählung in der kollektiven Wahrnehmung eine andere Dimension angenommen zu haben, gerade weil jeder Einzelfall an sich schon ein erhebliches Aufsehen erregt haben wird. Zu bedenken ist dabei, dass die einschlägigen Wahrnehmungen auf ein von der NS-Propaganda intensiv bearbeitetes Terrain stießen und sich auch von daher leicht weiterverbreiteten. Damit soll nichts verharmlost werden. Gelegentlich immerhin fand das Problem der Notzuchtverbrechen auch in die deutschen Verwaltungsakten Eingang. Im Herbst 1946 etwa fand in Chemnitz eine Besprechung unter Beteiligung des Landgerichtspräsidenten Dr. Ziel und der Stadtmedizinalrätin Dr. von Renthe statt über die Frage des in der SBZ außerhalb der rein medizinischen Indikation grundsätzlich verbotenen Schwangerschaftsabbruchs – diese Regelung fand zweifellos die Zustimmung der Besatzungsmacht, entsprach sie doch weitgehend der 1936 nach einem plötzlichen gesellschaftspolitischen Kurswechsel eingeführten restriktiven Gesetzgebung in der Sowjetunion.61 In zwei aus der Besprechung resultierenden Entwürfen zur Neuregelung des Strafrechtsparagraphen 218 ging es zum einen um die soziale Indikation, zum anderen um „die 59 Kreispolizeiamt Chemnitz, Aufstellung über angefallene Verbrechen und Vergehen für die Zeit vom 1. bis 25.12.1948 vom 27.12.1948; Polizeipräsidium Chemnitz/Kreiskriminalpolizeiabteilung, Aufstellung über angefallene Verbrechen und Vergehen für die Zeit vom 1. bis 31.1.1949 vom 2. 2.1949; Polizeipräsident in Chemnitz/Geschäftsstelle/Berichtswesen an die Militärkommandantur Chemnitz, Monatsbericht für Mai 1949 vom 28. 5.1949, S. 2 (SächsHStAD, MdI, Bestand Nr. 4: Landesbehörde der Deutschen Volkspolizei Sachsen, Nr. 19, Bl. 172 f.; 189; 222). 60 Polizeipräsident in Chemnitz/Geschäftsstelle/Berichtswesen an die Militärkommandantur Chemnitz, Monatsbericht für Mai 1949 vom 28. 5.1949, S. 5 f. (ebd., Bl. 224). 61 Manfred Hildermeier, Geschichte der Sowjetunion 1917–1991. Entstehung und Niedergang des ersten sozialistischen Staates, München 1998, S. 552. Vgl. zu den wechselnden und je nach Bundesland unterschiedlichen Regelungen in der SBZ Naimark, Die Russen, S. 157–159.

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dringende Notlage der zahlreichen zur Duldung des Beischlafs gezwungenen weiblichen Personen“. Ein pragmatisches Verfahren zur Genehmigung des Abbruchs von Schwangerschaften infolge von Vergewaltigungen, das man zwischenzeitlich unter Umgehung der Rechtslage angewandt hatte, war auf Intervention der sächsischen Landesjustizverwaltung und des Generalstaatsanwalts untersagt worden. „Danach blieb nur übrig, das einmal geübte Verfahren wieder einzustellen und die geschwängerten Frauen mit ihren Anträgen ohne Weiteres abzuweisen. Das ist seitdem geschehen. Es wird von den Unterzeichneten als eine harte und grausame Maßnahme empfunden, die weder der Menschlichkeit noch den sozialen Belangen der Zeit gerecht wird. Dass man in Verhältnissen, in denen man weibliche Personen vor wahllosen Vergewaltigungen staatlich nicht zu schützen vermag, diese Frauen zwingt, die ihnen aufgezwungene Leibesfrucht auszutragen ohne jede Rücksicht auf die verheerenden Wirkungen, die das Zurweltkommen eines solchen Kindes für persönliches Glück der Mutter, für ihre Ehe und Familie haben kann, erscheint uns untragbar.“ Es entspreche „in keiner Weise dem Volksbewusstsein von Recht und Unrecht, dass in derartigen Vergewaltigungsfällen eine Schwangerschaftsunterbrechung unzulässig sein soll. Es dürfte auch darauf hinzuweisen sein, dass hier ein Verfahren geübt wird, das sich hauptsächlich zu Ungunsten der einfachen, lohnarbeitenden Bevölkerung auswirkt. Denn die vergewaltigten Frauen entstammen fast durchweg diesen Kreisen.“ Schließlich dürfe man „auch nicht glauben, dass die in Frage kommenden Fälle selten seien. Innerhalb einer knappen Woche sind dem unterzeichneten Landgerichtspräsidenten allein 7 derartige Anzeigen und Anträge zugegangen.“62 Aus diesen Angaben ließen sich gewiss Hochrechnungen anfertigen, die Vergewaltigungen durch Sowjetsoldaten auch ein gutes Jahr nach Beginn der Besetzung als ein massenhaftes Phänomen belegen könnten. Allerdings würden diese Berechnungen eine Fülle von Unwägbarkeiten enthalten und rasch in Aporien enden: Ist die vom Landgerichtspräsidenten erwähnte Woche repräsentativ? Wie viele Notzuchtverbrechen führten zu einer Schwangerschaft? Wie groß war der Anteil der Frauen, die dann zu einer Abtreibung entschlossen waren? Wie viele Frauen suchten in Zeiten des sozialen und wirtschaftlichen Elends eine Möglichkeit zum Abbruch einer Schwangerschaft, die gar nicht aus einer Vergewaltigung durch Sowjetsoldaten resultierte? Die Entwürfe wurden jedenfalls von Oberbürgermeister Müller befürwortend an den Zentralvorstand der SED und an einen Herrn Oberst von der Zentralkommandantur weitergereicht.63 Antworten sind wie gewöhnlich nicht überliefert.

62 Stadtmedizinalrätin von Renthe an Oberbürgermeister Müller vom 11. 9.1946, mit Anlagen (StAC, Rat der Stadt 1945–1990, Nr. 7962). 63 Oberbürgermeister Müller an Zentralvorstand der SED vom 17.10.1946, und Oberbürgermeister Müller an „Sehr geehrter Herr Oberst!“ vom 17.10.1946 (ebd.).

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IV. Diese fragmentarischen Überlegungen, die aus der Sicht einer auf die vermeintliche Exaktheit von Zahlen und statistischen Daten fixierten Gesellschaftsgeschichte nicht zufriedenstellend sein können, verweisen auf ein ganz anders geartetes Problem, das die Erforschung der Alltagserfahrungen unter sowjetischer Besatzung massiv behindert. Es kann überhaupt keinen Zweifel geben, dass die geschilderten Erfahrungen mit der Besatzungsmacht authentisch sind und dass sie das Bild der Deutschen von „den Russen“, denen sie ohnehin mit massiven Vorbehalten begegneten, nachhaltig negativ beeinflusst haben, wie auch immer es um die Ausmaße der Gewaltverbrechen bestellt gewesen sein mag. Die Atmosphäre der Angst und der Unsicherheit, die die Bürger und besonders die Frauen umfing und die sie davor zurückschrecken ließ, alleine oder gar in der Dunkelheit ihr Haus zu verlassen, kennzeichnete den Alltag in der sowjetischen Besatzungszone ebenso sehr wie die tatsächlich verübten Verbrechen. Und um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, sei eigens betont, dass die wahllosen Plünderungen, Vergewaltigungen und sonstigen Gewalttaten nicht der offiziellen sowjetischen Besatzungspolitik entsprachen und diese in der Verfolgung ihrer politischen und wirtschaftlichen Zielsetzungen eher behinderten. Ebenso gut wie die Erinnerung an zahlreiche Untaten gibt es die an höfliche und freundliche Sowjetsoldaten und -offiziere, die mit Kindern spielten, ihnen Schokolade und den Erwachsenen Brot schenkten, die ausgezeichnet Deutsch sprachen und der deutschen Kultur mit ausgesprochener Hochachtung begegneten. Die Anweisungen des Kriegsrates und der Politischen Verwaltung der 1. Ukrainischen Front über die Zusammenarbeit mit der deutschen Bevölkerung vom 13. Mai 1945 stellten unmissverständlich fest: „Der gerechtfertigte Wunsch, an den Deutschen Rache zu üben für die Greueltaten, die die Hitlerarmee begangen hat, für den Krieg, den sie entfesselt hat und der unserer Heimat so viel Not und Leid gebracht hat, bedeutet keinesfalls, dass unser Verhalten gegenüber den Deutschen von Gewalttaten, Raub und anderen gesetzwidrigen Handlungen geprägt sein darf. Derartige gesetzwidrige Handlungen müssen im Gegenteil entschlossen bekämpft werden, da sie das gesamte deutsche Volk gegen uns aufbringen, darüber hinaus die Ehre der Roten Armee beflecken und diese moralisch zersetzen. Wir müssen begreifen, dass ein korrektes Verhalten gegenüber der deutschen Bevölkerung, das Gewinnen ihrer Sympathie, zur Festigung unseres Sieges über Hitlerdeutschland und zur Sicherung des Friedens beiträgt.“64 Über die Motive derer, die sich anders verhielten, und derer, die die solchen Richtlinien widersprechenden Vergehen nicht disziplinarisch ahndeten, soll an dieser Stelle nicht spekuliert werden. 64 Anweisung des Kriegsrates und der Politischen Verwaltung der 1. Ukrainischen Front an die Militärkommandanten der deutschen Städte über die Einrichtung der örtlichen Verwaltung und die Zusammenarbeit mit der deutschen Bevölkerung. In: W. A. Solotarew (Hg.), Welikaja otetschestwennaja. Bitwa sa Berlin, Moskau 1995, Dok. Nr. 259, S. 391–398, hier 392. Der Verf. dankt Saskia Langhammer für die Übersetzung.

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Bezeichnend für die sowjetische Besatzungspolitik ist es allerdings, dass all die Geschehnisse, von denen hier berichtet wurde, nicht in die Öffentlichkeit gelangten, weil es eine Öffentlichkeit unter sowjetischer Herrschaft schlicht nicht gab. In der Tat fehlte, wie es Adelheid von Saldern generalisierend für Diktaturen formuliert, in der sich unter Anleitung und Aufsicht der Sowjetischen Militäradministration etablierenden Parteidiktatur der KPD / SED von Anfang an gerade die Art von Öffentlichkeit, „die unter normativem Gesichtspunkt konstitutiv und essentiell für den Öffentlichkeitsbegriff ist“, nämlich „jene Öffentlichkeitsform, die auf dem Boden rechtsstaatlicher Prinzipien und auf der Basis eines freien Rede- und Demonstrationsrechts erwächst“.65 Das behindert die Auseinandersetzung mit allen die SBZ und die DDR betreffenden Fragen bis heute, weil selbst die Überlieferung in den der historischen Forschung nunmehr zur Verfügung stehenden Archiven von einer dem Sowjetsystem und seinen Ablegern, ja tatsächlich bereits den parteikommunistischen Bewegungen eigentümlichen Geheimniskrämerei geprägt ist. Alle Themen, deren öffentliche Diskussion unerwünscht war, durften in den Medien, auf Versammlungen, Parteitagen und selbst auf der Ebene der Ortsgruppen von Parteien und anderen Organisationen nicht erwähnt werden, und wenn sie regelwidrig zur Sprache kamen, musste das in den Aufzeichnungen nach Möglichkeit verwischt werden.66 Selbst in scheinbar unverfänglichen Statistiken über Kriminalitätsentwicklung, Krankheitsfälle, demographische oder ökonomische Trends fand diese Mentalität Eingang; unerwünschte Zahlen wurden nicht veröffentlicht, veröffentlichte waren nicht selten frisiert. Eine öffentliche Meinung gab es in der SBZ von Anfang an nicht, und wenn es auch bis 1948 relativ einfach war, Zugang zu Presseerzeugnissen aus den Westzonen zu erhalten, so waren doch sämtliche Zeitungen der Sowjetzone einer Zensur unterworfen, der es nie bloß darum ging, die Besatzungsmacht vor Angriffen zu schützen, sondern darum, alles, was nicht erwünscht war, aus den Blättern zu verbannen. Nicht zufällig wurde als eine der ersten Einrichtungen der Besatzungsbehörden gleich im Sommer 1945 das Sowjetische Nachrichtenbüro in Berlin aufgebaut, das sofort „die Verfügungsgewalt über Auswahl und Verteilung von Informationen“ in der 65 Adelheid von Saldern, Öffentlichkeit in Diktaturen. Zu den Herrschaftspraktiken im Deutschland des 20. Jahrhunderts. In: Günther Heydemann / Heinrich Oberreuter (Hg.), Diktaturen in Deutschland – Vergleichsaspekte. Strukturen, Institutionen und Verhaltensweisen, Bonn 2003, S. 442–475, hier 467. Gegenüber dieser grundlegend richtigen Einsicht vermag es nicht zu überzeugen, wenn von Saldern Untersuchungen über verschiedene Formen von öffentlich inszenierter Selbstdarstellung diktatorischer Regime zusammen mit der Analyse informeller, eben nicht in der Öffentlichkeit auftretender Kommunikationsstrukturen ausgerechnet unter dem Schlagwort „Öffentlichkeiten in Diktaturen“ als ein neuartiges Forschungsfeld einführen möchte (ebd., S. 443). 66 Das äußerste, was etwa zum Thema der Vergewaltigungen an öffentlicher Diskussion zugelassen wurde, dokumentieren die Aufzeichnungen über zwei Ende 1948/Anfang 1949 in Berlin abgehaltene Veranstaltungen mit dem Titel „Über die Russen und über uns“: Vgl. Naimark, Die Russen, S. 172–179. Naimarks Fazit: „Der Gegenstand, der eine öffentliche Anhörung mehr als nötig gehabt hätte, erhielt nie Gelegenheit, zum Thema zu werden.“

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SBZ beanspruchte. Gleichzeitig wurde den deutschen Lizenzzeitungen nicht nur die Verwendung, sondern bereits der bloße Bezug westlichen Agenturmaterials untersagt; ein kommunistisches Informationsmonopol war die Folge.67 So verfiel das Verhalten von Angehörigen der Besatzungsmacht, verfielen die Erfahrungen der Deutschen mit den Siegern einer behördlich verfügten Beschweigungspflicht. Und über Dinge, die nicht öffentlich diskutiert werden durften, nicht einmal in der Stadtverordnetenversammlung oder im Stadtrat, deren Erwähnung selbst in internen Aufzeichnungen und Stellungnahmen nicht frei von Risiko war, lässt sich aus der Perspektive des Historikers schlecht Gewissheit gewinnen. Das Verbergen unerwünschter Tatsachen als Selbstzweck, verbunden mit der Tendenz zur Abschaffung einer geregelten, auf Schriftlichkeit und nachvollziehbaren Normen beruhenden Verwaltung,68 bildete ein konstitutives Merkmal der ja ohnehin nur pseudopolitischen Entwicklung kommunaler und staatlicher Gebilde in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands. Diese Verhältnisse schufen die Grundlage für eine Unzahl von Gerüchten, die unter der Bevölkerung kursierten, weil eine offener Nachrichtenmarkt nicht existierte. Nicht nur örtliche Skandale, auch die Hintergründe etwa von Personalveränderungen im Chemnitzer Stadtrat wurden in der Presse systematisch vertuscht. Das führte zu teilweise weit von den Tatsachen entfernten Gerüchten, die dann wiederum mit irreführenden oder frei erfundenen Meldungen in der Zeitung bekämpft wurden. Denn eine sachgemäße Berichterstattung, die möglicherweise Fehler der Verantwortlichen in der Kommandantur oder der SED bloßgestellt hätte, war undenkbar. Das ließ nicht nur bei ausgesprochen kritischen Lesern den Informationswert der Presse äußerst gering erscheinen. Die Erfahrung von Demokratie und Meinungsfreiheit wurde der Bevölkerung in der SBZ jedenfalls verwehrt. Äußerlich blieb den Menschen kaum etwas anderes übrig, als sich mit den Verhältnissen abzufinden, denn wirkliche Möglichkeiten zur politischen Partizipation existierten nicht, auch wenn manche sozialdemokratische, christdemokratische und liberale Politiker sich das einbilden mochten:69 Tatsächlich reglementierten die Organe der Sowjetischen Militäradministration im Verein mit den deutschen Kommunisten das politische, ge67 Strunk, Zensur, S. 116–127, hier 116. 68 Vgl. dazu dezidiert Michael Naumann, Aktenloser Übergang. 16 Jahre lang nur telefoniert: CDU-Staatsminister Pfeifer hinterließ ein klinisch reines Büro. In: Die Zeit vom 6. 7. 2000: „Als einen ihrer ersten Hoheitsakte hatte die sowjetische Besatzungsmacht kurz nach Kriegsende in ihrer Besatzungszone das deutsche Verwaltungsrecht abgeschafft. Fortan herrschten asiatische Machtverhältnisse. Nichts war für den Bürger nachzuvollziehen, nichts gegen die Bürokratie einzuklagen. Unfreiheit benötigt Ungenauigkeit. In ihrem Freiraum entfaltet sich Willkür.“ 69 Bezeichnende Einblicke in die nahezu unbegrenzte Fähigkeit solcher Parteifunktionäre, sich selbst über ihre tatsächlichen Einfluß- und Wirkungsmöglichkeiten hinwegzutäuschen, bieten die Tagebuchaufzeichnungen des katholischen Pfarrers und Chemnitzer CDU-Vorsitzenden Ludwig Kirsch für die Jahre 1946 bis 1949 (BArch Koblenz, Kleine Erwerbungen 640, Nr. 5). Vgl. auch Ralf Thomas Baus, Die Christlich-Demokratische Union Deutschlands in der sowjetisch besetzten Zone 1945 bis 1948. Gründung – Programm – Politik, Düsseldorf 2001.

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sellschaftliche und wirtschaftliche Leben von den großen Linien bis in das kleinste Detail gemäß ihren ideologisch geprägten Vorstellungen. Eine unter diesen Umständen bezeichnende Möglichkeit, den verantwortlichen Politikern in Chemnitz wenigstens den Unmut über die Verhältnisse kundzutun, bestand im Versand von anonymen Briefen, von denen einige überliefert sind und die eine weitere wertvolle Quelle für eine Besatzungsgeschichte von unten bilden.70 Das ganz überwiegende Thema in diesen Dokumenten stellte der Hunger dar, der die Chemnitzer in der zweiten Hälfte der vierziger Jahre ohne jede Aussicht auf Besserung quälte, nicht nur in den Wintern, sondern ebenso im Frühjahr 1947 oder im Sommer 1948, als Chemnitz den Einwohnern als die Stadt galt, die „im Hungern von allen Großstädten aller vier Zonen den absoluten Rekord hält“. Ein Schreiben von Anfang März 1947 „an alle Oberbürgermeister, Bürgermeister, Landräte der Chemnitzer Gegend“ mit der Absenderangabe „Eine ganze Menge aus der notleidenden Chemnitzer Bevölkerung“ schildert die Lage in drastischen Worten: „Eine ganze Menge von Menschen hungern und frieren jetzt so unsagbar. [...] Sind das noch menschliche Zustände? Man kann bald vor Hunger nicht mehr sch..., vor Kälte ist man zu nichts in der Lage, Abend für Abend sitzt man im Finstern. Die Kälte treibt einen schon ins Bett, der Hunger jagt einen wieder heraus.“ Besonders in der Chemnitzer Gegend und den umliegenden Landkreisen werde „der reine Massenmord betrieben, denn das ist Mord, langsamer aber sicherer. Und da wollt Ihr uns erzählen, die Sterblichkeitsziffer bewegt sich in normalen Grenzen?71 Jetzt werden ja die armen ausgehungerten Skelette so unauffällig und heimlich beiseite geschafft, da wird die Nachbarschaft manchmal nichts merken, wenn wieder einer ausgelitten hat. [...] Bei allen werden oder sind die Kartoffeln alle, das Brot ist so erbärmlich und knapp, es heißt ‚Nährmittel‘ und ist Saufutter, denn das Suppenmehl kann wirklich den Schweinen gegeben werden. Und die paar Gramm Nährmittel, die werden mit einem Mal aufgegessen, was für 10 Tage sein soll.“ In diesem Stil ging es weiter und weiter, der Anonymus klagte über Stromsperren, fehlende Feuerung, Lumpenkleidung, erbärmliches Schuhzeug und anderes mehr. Doch blieb es nicht bei Beschwerden, vielmehr hatte dieses wie die meisten derartigen Schreiben durchaus einen politischen Hintergrund; die Bürger wussten genau, dass die Lage der Menschen in der SBZ nicht einfach auf die Kriegsfolgen und schlechte Witterung zurückzuführen war: „Wenn die Bevölkerung reden dürfte, Ihr solltet mal sehen, wie das klingen würde. Es wäre eine helle 70 Bestand Oberbürgermeister, Anonyme Briefe. Nur für den Dienstgebrauch, 1945–1950 (StAC, Rat der Stadt 1945–1990, Nr. 96); Dezernat Handel und Versorgung, Anonyme Schreiben zur Versorgung der Bevölkerung, 1946–1951 (ebd., Nr. 5591). Aus diesen beiden Beständen die folgenden Beispiele und Zitate. 71 Das bezog sich auf einen der charakteristischen Presseartikel zur Beruhigung der Bevölkerung, in dem Berichte westlicher Medien und Gerüchte „in der sattsam bekannten Flüstersprache“ zurückgewiesen wurden, denen zufolge in Chemnitz ein Massensterben stattfinde: Der Gesundheitszustand unserer Bevölkerung. Von Frau Reg.-Ob.Med.-Rat Dr. M. v. Rhoeden. In: Chemnitzer Volksstimme vom 28.1.1947.

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Empörung. Und wenn es noch lange so weitergeht, dann dauert es gar nicht mehr und es bricht aus.“72 An der Gegnerschaft zu den Funktionären der SED, denen es an nichts fehle und die häufig mit den nationalsozialistischen Herrschern verglichen wurden – „Dieselbe Diktatur herrscht in der Ostzone, nur um einige Schattierungen schlimmer!“ –, ließ man in solchen anonymen Briefen keinen Zweifel, ebenso wenig an der Ablehnung der sowjetischen Besatzung, der man letztlich die rücksichtslose Ausplünderung der Wirtschaft anlastete: „Nur durch die totalitäre Despotie des bolschewistischen Systems ist es möglich, dass fast alle Lebensmittel, Textilwaren, Wäsche, Strümpfe, Schuhe und andere Waren nach Russland abtransportiert werden und fast nichts für die schwer hungernde Bevölkerung in der Ostzone übrigbleibt.“ Als positives Gegenbild fungierten die Westzonen Deutschlands; niemand glaubte der Propaganda, derzufolge der Lebensstandard dort niedriger sei als in der SBZ. So findet sich in den anonymen Schreiben auch mancher Hinweis auf die politische Orientierung des kritisch denkenden Teils der Bevölkerung. Ein Brief vom 3. Juli 1948 unter dem Motto „Nieder mit Sichel und Hammer – es lebe die Freiheit unter dem Sternenbanner“ forderte unverblümt den Rücktritt von Oberbürgermeister Müller: „Es ist ganz klar, dass Sie bald abtreten müssen und auch die anderen Bonzen von der Russenpartei. Wir erwarten mit heißer Sehnsucht die Amerikaner und das Sternenbanner auf dem Chemnitzer Rathausturm! Jubelnd und mit Blumen werden wir unsere Befreier empfangen, die uns befreien von Hunger, Elend und Not.“ Alltagsnöte und politische Visionen, Chemnitz und die Weltpolitik lagen nahe beieinander. Offen sprechen durfte man über all dies im sowjetischen Herrschaftsbereich nicht. So las man Plakate nach dem Muster „Die Rote Armee bringt uns Brot. Chemnitzer erkennt das dankend an“, und notierte voller Ingrimm in sein Tagebuch: „Welch eine Geschichtsfälschung, die Armee kann nichts bringen, weil sie selbst ohne Lebensmittel ist und nur von Deutschland lebt und das Volk dem Hunger demzufolge ausgesetzt ist. So ist die Wirklichkeit.“ Oder: „Gestern der Russe Kalinin gestorben. Die städtischen und staatlichen Gebäude haben halbmast geflaggt [...]. Was geht das das deutsche Volk an, es war ja nicht einmal ein Staatsoberhaupt. Nun ja, wir leben ja in der Russenzone und da wird zur 72 Etwa um die gleiche Zeit sah auch der Verfasser des Tagebuches Anzeichen für eine drohende Eskalation der Lage: „Jugendsporttreffen. Viele Besucher brachen infolge Hungers zusammen“; „Wenn es weiter so geht ohne Regen, so wird die Hungersnot für nächstes Jahr noch schlimmer. Und wie viele werden dieses Jahr nicht mehr erleben. Wäre der Russe nicht hier, würden ganz bestimmt viele Führer der SED nicht mehr unter den Lebenden weilen. Überhaupt die politische Stimmung ist ganz mau, das stört aber die gewissenlosen Führer unter der Obhut der Russen gar nicht, das Volk dem Hungertode preiszugeben“; „Es mehren sich die Stimmen, das der Russe abziehen muss, dieser Blutsauger an der deutschen Nation“; „Eine Division Russen soll Chemnitz wieder erhalten und es wird gefragt für was nur. Vielleicht um Hungerkrawalle niederzuhalten“ – aber, im unmittelbaren Anschluss: „Die Chemnitzer Arbeiter sind ja so feig und zittern alle vor dem Russen“. Anonymes Tagebuch 1945–1949, Einträge vom 11. 5., 17. 5., 30. 5., 24. 6.1947 (Schloßbergmuseum Chemnitz).

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Befriedigung alles getan.“73 Die Notwendigkeit, außerhalb der eigenen vier Wände stets so zu tun, als sei man mit der Herrschaft der Sowjetmacht und ihrer deutschen Helfer zufrieden, ja bei verschiedenen Gelegenheiten möglichst Begeisterung zu zeigen, führte bei nicht wenigen kritischen Zeitgenossen zu einem tiefen inneren Zwiespalt, der gleichwohl nur selten in authentischen Dokumenten überliefert ist. Ein Beispiel liefert die Aufzeichnung des Chemnitzer Regimegegners und ehemaligen Sozialdemokraten Friedrich Auerbach, der als Verwaltungsangestellter eines öffentlichen Betriebes einmal wöchentlich zwei Stunden politisch geschult wurde: „Als Referenten amtieren nur Mitglieder der SED, die den heutigen Staat als ein Paradies für das deutsche Volk hinstellen. Es ist für mich buchstäblich eine Qual, diesem skandalösen Schwindel zuzuhören und gegebenenfalls noch entsprechend zu antworten, wenn man nicht überzeugt für diese Handlungsweise ist.“ Als Deutscher könne er niemals „die Methoden der Russen als richtig und ehrlich hinstellen“. Für politisch denkende Menschen mochte jenseits aller traumatischen oder auch erfreulichen Erlebnisse mit Soldaten der Roten Armee die wesentliche Erfahrung mit der Besatzungsmacht Sowjetunion darin zu finden sein, dass sie, um noch einmal Auerbach zu zitieren, „dem deutschen Volk auch ihre Politik aufzwingt und keinesfalls bestrebt ist, dem deutschen Volk die persönliche Freiheit einzuräumen“.74

73 Ebd., Einträge vom 6. 7.1945 und 5. 6.1946. Hier irrte der Verfasser des Tagebuchs: Kalinin war tatsächlich das nominelle Staatsoberhaupt der UdSSR. 74 Auerbach, Meine Gedanken.

„Russenkinder“ und „Sowjetbräute“. Besatzungserfahrungen in Österreich 1945–1955 Barbara Stelzl-Marx „Die Russen kommen!“ Dieser meist mehr mit Schrecken als mit Freude über die bevorstehende Befreiung ausgestoßene Ruf eilte der im Frühjahr 1945 in Ostösterreich vorrückenden Roten Armee voraus. Der Extremsituation des Kriegsendes folgte die zehn Jahre dauernde Besatzung, eine im Vergleich zu Deutschland kurze, aber auf jeden Fall prägende Zeit, die bis heute teils lebhaft erinnert, teils bewusst oder unbewusst tabuisiert wird. Schließlich sind die durch den Schleier der Erinnerung wiedergegebenen Erfahrungen mit der Besatzung in Österreich sehr unterschiedlich, weisen eine große, empirisch kaum darstellbare Bandbreite auf, die außerdem zwei Seiten hat: die der Besetzten, sprich der einheimischen Bevölkerung, und die der Besatzer selbst, der sowjetischen Armee und ihrer Familienangehörigen. Im Zentrum dieses Beitrages steht der Schnittpunkt zwischen diesen beiden Ebenen, nämlich die große Bandbreite an freiwilligen und unfreiwilligen Beziehungen zwischen Rotarmisten und Österreicherinnen sowie die daraus resultierenden so genannten „Russenkinder“. Der Topos des „kinderlieben Russen“ sowie die Problematik von Liebesbeziehungen vor dem Hintergrund der in der Nachkriegszeit teilweise noch sehr wirksamen NS-Feindbilder und der negativen Erfahrungen mit Angehörigen der Roten Armee kommen hier ebenso zur Sprache wie die Suche nach dem „verlorenen Vater“.

Formen von Beziehungen Rund 400 0001 Rotarmisten befreiten2 Österreich, allein 270 0003 wurden mit dem Orden „Za vzjatie Veny“ – „Für die Einnahme Wiens“4 ausgezeichnet. Für Herbst 1945 wird die Stärke der alliierten Besatzungstruppen auf österreichi1

Manfried Rauchensteiner, Nachkriegsösterreich. In: Österreichische Militärische Zeitschrift, 6 (1972), S. 407–421, hier 420. Die Recherchen zu diesem Beitrag erfolgten im Rahmen des vom österreichischen Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur geförderten Projektes „Die Rote Armee in Österreich 1945–1955“, durchgeführt am Ludwig Boltzmann-Institut für Kriegsfolgen-Forschung, Graz–Wien–Klagenfurt (AdBIK). Projektleitung: Stefan Karner; Projektkoordination: Barbara Stelzl-Marx. Vgl.

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schem Boden auf 180 000 bis 200 0005 sowjetische, 75 000 britische, 70 000 amerikanische und 40 000 französische Soldaten geschätzt.6 Zehn Jahre später waren noch rund 50 000 sowjetische Soldaten, Familienangehörige und Angestellte der Armee in Österreich stationiert. Diesem aus der Situation heraus besonders „frauenhungrigen“ Männerpotential im besten Alter stand ein eklatanter Männermangel der so genannten leistungsfähigen Jahrgänge gegenüber: 380 000 österreichische Männer waren von den europäischen Schlachtfeldern nicht heimgekehrt. Dazu kommt der Blutzoll der vom NS-Regime in Gefängnissen und Konzentrationslagern ermordeten Österreicher sowie die Hunderttausenden österreichischen Kriegsgefangenen, über deren Schicksal Familienangehörige jahrelang nichts Genaues wussten.7 Noch 1948 schreibt die „Wiener Wochenpost“ im Zusammenhang mit einem Artikel über Heiratsschwindler,

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dazu: Stefan Karner/Barbara Stelzl-Marx (Hg.), Die Rote Armee in Österreich. Sowjetische Besatzung 1945–1955. Beiträge, Graz 2005 und Stefan Karner/Barbara StelzlMarx/Aleksandr Tschubarjan (Hg.), Die Rote Armee in Österreich. Sowjetische Besatzung 1945–1955. Dokumente. Krasnaja Armija v Avstrii. Sovetskaja okkupacija 1945– 1955. Dokumenty, Graz 2005. Die Befreiung Österreichs wurde von einem Großteil der österreichischen Bevölkerung als ambivalent bis negativ betrachtet, nicht zuletzt, weil damit die zehnjährige Besatzung begann. Von sowjetischer Seite hingegen ist die Terminologie eindeutig: Hier steht der – rein heroisch und positiv konnotierte – Befreiungscharakter der militärischen Operation zu Kriegsende im Vordergrund, weswegen es bis heute schwierig ist, in der ehemaligen Sowjetunion negative Aspekte der Handlungen der Roten Armee anzusprechen. Rein technisch gesehen ist der Begriff „Befreiung“ berechtigt, da insbesondere der Sieg der Roten Armee auf heute österreichischem Boden das nationalsozialistische Regime in Österreich beseitigte und den „Anschluss“ dadurch rückgängig machte. Vgl. zu diesem Diskurs u. a. Wolfgang Wagner, Die Besatzungszeit aus sowjetischer Sicht. Die Errichtung der sowjetischen Besatzungsmacht in Österreich von 1945 bis 1946 im Spiegel ihrer Lageberichte. Phil. Dipl.-Arb., Wien 1998, S. 85. V. N. Šunkov, Krasnaja armija, Harvest 2003, S. 341. Auffallend ist, dass der Orden, der für die Einnahme Wiens ausgegeben wurde, nicht den Terminus „Befreiung“, wie das bei Belgrad, Warschau und Prag der Fall war, sondern die Bezeichnung „Einnahme“ trug, was für Städte des Deutschen Reiches, allen voran Berlin, vorgesehen war. Erich Klein führt dies auf den militärischen Aspekt der Eroberung Wiens zurück. Vgl. Erich Klein, Die Russen in Wien. Die Befreiung Österreichs, Wien 1995, S. 16. Wolfgang Wagner spricht hier von einer seltsamen Inkonsequenz, da Österreich seit der Moskauer Deklaration als zu befreiendes Land bezeichnet, Wien allerdings durch die Bezeichnung des Ordens „Für die Einnahme“ als Stadt des Deutschen Reiches bewertet wurde. Vgl. Wagner, Die Besatzungszeit, S. 30. Allerdings verweist Wagner fälschlicherweise darauf, dass auch bei Budapest der Orden „Für die Befreiung“ verliehen wurde, währenddessen diese Auszeichnung – analog zu Wien – den Terminus „Für die Einnahme“ trägt. Vgl. Šunkov, Krasnaja armija, S. 339. Rauchensteiner, Nachkriegsösterreich, S. 420. Franz Severin Berger/Christiane Holler, Trümmerfrauen. Alltag zwischen Hamstern und Hoffen, Wien 1994, S. 174. Diese Ungewissheit über das Schicksal von Kriegsgefangenen trifft insbesondere auf die Gefangenschaft in der Sowjetunion zu, da die Sowjetunion als Gewahrsamsmacht keine Angaben an internationale Hilfsorganisationen oder die Heimatländer der Gefangenen weitergab. Bis heute sind – trotz genauer Aufzeichnungen – zahlreiche Schicksale ungeklärt. Vgl. dazu Stefan Karner, Im Archipel GUPVI. Kriegsgefangenschaft und Internierung in der Sowjetunion 1941–1956, Kriegsfolgen-Forschung Band 1, Wien 1995.

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dass auf 100 österreichische Frauen durchschnittlich 70 Männer zu rechnen sind. Schon allein aus dieser Diskrepanz heraus lässt sich der soziale und psychische Konfliktstoff der Nachkriegsjahre erahnen.8 Gerade zu Kriegsende und in der ersten Nachkriegszeit waren die Soldaten der sowjetischen Armee in Ostösterreich beinahe omnipräsent, dominierten das öffentliche Leben, drangen in die Privatsphäre ein, sahen – zumindest zu einem gewissen Teil – die Frau als Beute der Sieger.9 Weniger bekannt ist, dass sich – wie auch in den westlichen Besatzungszonen10 – eine große Bandbreite erotischer Annäherungen zwischen Österreicherinnen und sowjetischen Besatzungssoldaten entwickelte, die von Flirts, Beziehungen für ab und zu oder die Dauer der Stationierung und – in Ausnahmefällen – bis hin zu Eheschließungen11 reichten. Außerdem gab es jede Form von professioneller und halbprofessioneller Prostitution, wobei sich vor dem Hintergrund der katastrophalen wirtschaftlichen Lage zu Kriegsende und der materiellen Asymmetrien zwischen Soldaten und einheimischen Frauen die Grenzen zwischen Freiwilligkeit und Zwang nicht immer eindeutig ziehen lassen. Das Schlagwort „Überlebensprostitution“, 8 Berger / Holler, Trümmerfrauen, S. 174; Siegfried Mattl, Frauen in Österreich nach 1945. In: Unterdrückung und Emanzipation. Festschrift für Erika Weinzierl zum 60. Geburtstag. Hg. von Rudolf G. Ardelt, Wolfgang J. A. Huber und Anton Staudinger, Wien 1985, S. 101–126, hier 110. 9 Hierbei handelt es sich um ein Begleitphänomen aller Kriege seit Menschengedenken. Auch auf deutscher Seite kam es zu zahlreichen Übergriffen auf Frauen in den besetzten Gebieten. Vgl. dazu Hannes Heer/Klaus Naumann (Hg.), Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944, Hamburg 1995; Marianne Baumgartner, „Jo, des waren halt schlechte Zeiten ...“. Das Kriegsende und die unmittelbare Nachkriegszeit in den lebensgeschichtlichen Erzählungen von Frauen aus dem Mostviertel, Frankfurt a. M. 1994, S. 127. Betont werden muss zudem, dass Vergewaltigungen auch von britischen, amerikanischen und französischen Soldaten in Österreich verübt wurden. Vgl. Margarethe Hannl, Mit den Russen leben. Ein Beitrag zur Geschichte der Besatzungszeit im Mühlviertel 1945–1955. Phil. Dipl.-Arb., Salzburg 1988, S. 63. Außerdem wurden auch Plünderungen und Übergriffe, die von der österreichischen Bevölkerung in der Nachkriegszeit begangen wurden, auf Angehörige der sowjetischen Armee geschoben. So stand nicht immer fest, ob es sich bei den – wie es in der Diktion der Polizeiberichte hieß – „Tätern in Uniform“ tatsächlich um Rotarmisten handelte oder ob ihnen einfach die Funktion eines Sündenbockes für von Österreichern begangene Delikte zukam. 10 Vgl. dazu etwa Ingrid Bauer, „Besatzungsbräute“. Diskurse und Praxen einer Ausgrenzung in der österreichischen Nachkriegsgeschichte 1945–1955. In: Irene BandhauerSchöffmann/Claire Duchen (Hg.), Nach dem Krieg. Frauenleben und Geschlechterkonstruktionen in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg, Herbholzheim 2000, S. 261– 276, hier 263; Regina Brunnhofer, Liebesgeschichten und Heiratssachen. Das vielfältige Beziehungsgeflecht zwischen britischen Besatzungssoldaten und Frauen in der Steiermark zwischen 1945 und 1955. Phil. Dipl.-Arb., Graz 2002, S. 23 ff.; Karin M. Schmidlechner, Frauenleben in Männerwelten. Kriegsende und Nachkriegszeit in der Steiermark, Wien 1997, S. 80 ff. 11 Eheschließungen zwischen sowjetischen Soldaten und österreichischen Frauen waren zwar nicht gestattet, allerdings ist beispielsweise der Fall eines Rotarmisten belegt, der desertierte und mit einer Österreicherin nach Frankreich floh, wo sie heirateten. Vgl. J. C. vom 3. 4. 2004.

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das Beschaffen von Lebensmitteln durch sexuelle Kontakte, wurde in diesem Zusammenhang geprägt.12

Unter einem Dach: Zu den Einquartierungen von Besatzungssoldaten Enge Berührungspunkte gab es insbesondere zu Beginn der Besatzungszeit durch die Zwangseinquartierungen von Angehörigen der Roten Armee in Privatquartieren, was meist als massiver Einbruch in die Privatsphäre gesehen wurde.13 So beschreibt ein mit dem stereotypen Satz „Das Verhältnis zu den Besatzungsmächten ist im Allgemeinen gut“ eingeleiteter Lagebericht der Sicherheitsdirektion für das Burgenland von Anfang September 1946: „Böses Blut erzeugen die gewaltsamen Einquartierungen, wobei weder der Beruf des Wohnungsinhabers noch die Zahl der Familienangehörigen Berücksichtigung finden. Durch die Einquartierungen von Familienmitgliedern der Militärpersonen werden die Bewohner der einzelnen Räume zusammengedrängt und ihre Einrichtungsgegenstände dadurch gefährdet, dass Möbelstücke bei der Räumung der Wohnung durch die einquartiert Gewesenen verschleppt werden.“14 Auch der Monatsbericht der Sicherheitsdirektion Wien für Oktober 1946 schlägt in eine ähnliche Kerbe: „Besonders von den Bewohnern der Randbezirke wurde immer wieder über die russischen Einquartierungen Klage geführt. Die Fälle, in denen russische Soldaten in Privatwohnungen eindrangen, um nach Frauen zu suchen, haben wieder erschreckend zugenommen.“15 Allerdings war das Verhältnis zwischen Gastgeber und ungebetenem Gast während dessen Aufenthaltes nicht immer so schlecht, wie auf der Basis dieser beiden Berichte angenommen werden könnte. Nicht selten stellten die Einquartierten einen Schutz vor Übergriffen seitens anderer Soldaten dar, sie trugen mitunter auch zur Aufbesserung des kärglichen Speiseplans ihrer Gastgeberfamilie bei. Wie groß – zumindest anfänglich – das Misstrauen auf beiden Seiten war, zeigt, dass Familienmitglieder das von österreichischen Frauen zube12 Irene Bandhauer-Schöffmann/Ela Hornung, Von der Trümmerfrau auf der Erbse. Ernährungssicherung und Überlebensarbeit in der unmittelbaren Nachkriegszeit in Wien. In: L’Homme. Zeitschrift für feministische Geschichtswissenschaft, 2 (1991) H. 1, S. 77–105, hier 103. 13 Um Zwangseinquartierungen zu vermeiden, nahmen Hausbesitzer mitunter freiwillig Flüchtlinge oder Verwandte auf, nur um ihr Haus „zu füllen“. Vgl. Karin Pöpperl, Das Russlandbild in Weitra heute. Unter Berücksichtigung der Besatzungszeit 1945–1955 und der Propaganda der Kriegs- und Nachkriegszeit. Phil. Dipl.-Arb., Wien 2003, S. 10. Die Besatzungstruppen beschlagnahmten Häuser, Wohnungen, Werkstätten und u. a. Schulen. Auch Einrichtungsgegenstände mussten zur Verfügung gestellt werden. Vgl. Hannl, Mit den Russen leben, S. 70 f. 14 Monatsberichte, Sicherheitsdirektion für das Burgenland vom 2. 9.1946 (Österreichisches Staatsarchiv/Archiv der Republik [ÖStA, AdR], Abt. 2, Generaldirektion für öffentliche Sicherheit, S. 3). 15 Monatsbericht für die Zeit vom 1. bis zum 31.10.1946, Beilage A vom 4.11.1946 (ÖStA, AdR, Abt. 2, Generaldirektion für öffentliche Sicherheit, Polizeidirektion Wien, S. 3).

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reitete Essen vorkosten mussten, weil die sowjetischen Soldaten befürchteten, vergiftet zu werden.16

Die Angst vor den fremden Soldaten Eine zentrale Zäsur im (Nach-)Kriegsleben der Österreicherinnen stellte der mit Bangen und Hoffen, Angst und Freude verbundene Einzug der Roten Armee in Ostösterreich dar. Angesichts der ersten Begegnungen mit den sowjetischen Soldaten kamen vielfach nun jene stereotypen Feindbilder zum Tragen, welche die NS-Propaganda tief im Unterbewusstsein verankert hatte und die ihrerseits wieder auf einer langen Propaganda vor Kriegsbeginn fußten: die Sowjetunion als „Hort des Bösen“, „behaust“ vom „slawischen Untermenschen“ und infiziert vom „jüdischen Bolschewismus“.17 Verstärkt wurden diese Stereotype durch die unterschiedlichsten Gerüchte und Warnungen der eingerückten österreichischen Männer an ihre Frauen in der Heimat, die selbst erfahren hatten, dass Frauen, entgegen allen bestehenden internationalen Kriegsrechten, als Trophäe gelten.18 Die Übergriffe, die vor allem direkt zu Kriegsende und in den ersten beiden Jahren der Besatzung stattfanden, bestätigten vielfach das von Vorurteilen geprägte Bild „der Russen“ und verankerten es tief im „kollektiven Gedächtnis“. Wie hoch die Zahl der Vergewaltigungen tatsächlich war, lässt sich nicht mehr feststellen, da sich viele Frauen aus Schamgefühlen und/oder Unkenntnis beziehungsweise der schlechten medizinischen Infrastruktur nicht in ärztliche Behandlung begaben oder Anzeige erstatteten. Erfahrungsgemäß liegen im tabuisierten Bereich der Sexualität die Dunkelziffern besonders hoch. Für das Jahr 1945 verzeichneten allerdings alle Gesundheitsämter in den sowjetisch besetzten Bezirken einen signifikanten Anstieg von Geschlechtskrankheiten, insbesondere Gonorrhö (Tripper). Allein das Land Niederösterreich meldete 1945 rund 47 000 Neuzugänge von insgesamt 70 000 bezifferten Fällen von Gonorrhö im gesamten Bundesgebiet.19 16 Maria Mayr, Das Jahr 1945 im Bezirk Horn, Schriftenreihe des Waldviertler Heimatbundes 31, Horn 1994, S. 110. Vgl. dazu etwa auch Elisabeth Bruck vom 30. 5. 2003 (AdBIK, Oral-History-Interview [OHI], VD-0263). 17 Vgl. dazu u. a. Hans-Erich Volkmann (Hg.), Das Russlandbild im Dritten Reich, Köln 1994; Peter Jahn, „Russenfurcht“ und Antibolschewismus: Zur Entstehung und Wirkung von Feindbildern. In: Peter Jahn/Reinhard Rürup (Hg.), Erobern und Vernichten. Der Krieg gegen die Sowjetunion 1941–1945, Berlin 1991, S. 47–64; Irene Bandhauer-Schöffmann/Ela Hornung, Von Mythen und Trümmern. Oral-History-Interviews mit Frauen zum Alltag im Nachkriegs-Wien. In: Irene Bandhauer-Schöffmann/Ela Hornung (Hg.), Wiederaufbau weiblich. Dokumentation der Tagung „Frauen in der österreichischen und deutschen Nachkriegszeit“, Wien 1992, S. 24–54. 18 Gabriele Mörth, Schrei nach innen. Vergewaltigung und das Leben danach, Wien 1994. 19 Marianne Baumgartner, Vergewaltigung zwischen Mythos und Realität. In: Frauenleben 1945. Kriegsende in Wien, Wien 1995, S. 60–72, hier 64 f. Da die vorherrschende Ge-

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Neben der psychischen und physischen Traumatisierung des Opfers und eventuell auch dem Eintreten einer ungewünschten Schwangerschaft20 entwickelte sich der Vorfall in manchen Fällen weit über die unmittelbare Umgebung hinaus zum geradezu lustvollen Tagesgespräch, was die Vergewaltigungsopfer erneut demütigte, brandmarkte und demoralisierte. Diese fehlende Solidarität der Bevölkerung, ihre Sensationsgier und das latente patriarchalische Vorurteil, dass die Mitschuld für einen Übergriff bei der Frau selbst zu suchen ist, ließ viele verstummen oder von ihrem Heimatort, wo jeder genau Bescheid wusste, wegziehen.21 Manchmal waren es sogar die Nachbarn selbst gewesen, die einen oder mehrere Rotarmisten zu einer Frau führten oder ein Versteck verrieten, um die eigene Tochter oder Gattin zu schützen.22 Vor diesem Hintergrund ist auch der Erzähltopos der „Davonkommensgeschichten“ zu sehen, die zugleich als Absage an die Rolle des passiven, hilflosen Opfers zu werten sind. In diesen Erzählungen stellen sich die Frauen stets als die Handelnden der Geschichte dar, die durch Stärke, Mut und List dem übermächtigen, bewaffneten Angreifer entkommen konnten. Dazu gehören Schilderungen, wie sie sich Marmelade ins Gesicht schmierten, um einen ansteckenden Ausschlag vorzutäuschen („Powidlkrankheit“), „krank, krank!“ schrien, um auf eine vermeintliche Infektionskrankheit aufmerksam zu machen, sich als alte, hässliche Frauen verkleideten oder so schnell wie möglich davonliefen. Während andere Frauen als zu „ungeschickt“, „ängstlich“, „dumm“ charakterisiert schlechtskrankheit Gonorrhö bei Nichtbehandlung zu einem akuten, schmerzhaften Krankheitsbild führt, kann davon ausgegangen werden, dass sich ein äußerst hoher Prozentsatz der infizierten Frauen in medizinische Behandlung begab. Mit einzurechnen sind hier auch die aufgrund der so genannten „Überlebensprostitution“ oder einer echten Liebesbeziehung erfolgten Ansteckungen. Merl gibt an, dass 80 bis 85 Prozent der gemeldeten Fälle eine venerische Krankheit aufwiesen. Vgl. Edmund Merl, Besatzungszeit im Mühlviertel. Anhand der Entwicklung im politischen Bezirk Freistadt, Linz 1980, S. 179. Würde man von dieser Quote ausgehen, wäre die hochgerechnete Zahl der Vergewaltigungen geringer als die von Baumgartner errechneten 5,8 Prozent. Vgl. Wagner, Besatzungszeit, S. 39. Andere Schätzungen liegen höher, wobei dies insbesondere auf zwei Ursachen zurückgeführt werden kann: einerseits auf das hohe subjektive Ausmaß von Angst und Bedrohung, andererseits auf die große Bedeutung, die den Übergriffen durch sowjetische Soldaten im gesellschaftlichen Diskurs beigemessen wurde. Vgl. Baumgartner, Schlechte Zeiten, S. 93. 20 Schwangerschaftsabbrüche mussten bei den öffentlichen Behörden zur Anzeige gebracht werden. Allerdings erlaubte beispielsweise die steirische Landesregierung Abtreibungen unter bestimmten Voraussetzungen. Vgl. dazu Wolfram Dornik, Besatzungsalltag in Wien. Die Differenziertheit von Erlebniswelten. In: Karner/Stelzl-Marx (Hg.), Die Rote Armee in Österreich, S. 449–468; Edith Petschnigg, Die „sowjetische“ Steiermark 1945. Aspekte einer Wendezeit. In: ebd., S. 523–564. 21 Berger/Holler, Trümmerfrauen, S. 178 f. 22 Irene Bandhauer-Schöffmann/Ela Hornung, Der Topos vom sowjetischen Soldaten in lebensgeschichtlichen Interviews mit Frauen. In: Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, Jahrbuch 1995, Wien 1995, S. 28–44, hier 33; Berger / Holler, Trümmerfrauen, S. 178. Beispielsweise berichtet auch F. S., deren Mutter und Tante in Niederösterreich vergewaltigt wurden, dass der Bürgermeister des Ortes die Soldaten zu den beiden Frauen gebracht hatte. Vgl. F. S. vom 13. 8. 2004.

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werden oder einfach Pech gehabt hätten, ist die Aussage der meisten Erzählerinnen, dass ihnen selbst nichts passiert wäre. Nur wenige Frauen erzählen über eine eigene Erfahrung mit Vergewaltigung.23 Ein typisches Beispiel für die „Davongekommengeschichten“ ist die folgende Erzählung einer 1926 geborenen Wienerin, die das Kriegsende im Keller eines Wiener Gemeindebaus erlebte.24 Einleitend schildert sie – beinahe staccatoartig – das Eintreffen der ersten Soldaten, die als „Eliteeinheiten“ im Gegensatz zu den im Neutrum Singular angesprochenen Nachschubtruppen nicht ihren offensichtlich von der NS-Propaganda geprägten Vorstellungen „der Russen“ entsprachen. „Es war alles unten im Keller vorbereitet. Nicht mehr hinauf. War immer eine Kontrolle da, ob alles unten geschützt ist. Eines Tages eben, das war so in der Dunkelheit, am 6., glaub ich, war’s, 6. April, hören wir die Stiefel, bum, bum, das Haus rauf. Werd ich nie diesen Klang vergessen. Diese Stiefel, den Klang, und schon die Stiege herunter in den Keller. Die Tür war eh schon offen, glaub ich, und das waren Eliteeinheiten, schöne Menschen, ich kann mich erinnern. Wir haben immer geglaubt, die Russen, das ist so ein richtiges G’sindel, aber das waren wirklich Eliteeinheiten. Eine Kontrolle gleich. Alle Keller ausgeleuchtet, alles geschaut. Alles getan. Und die sind wieder abgezogen, haben das ganze Haus inspiziert. Haben das nachgeschaut. Und wieder weg. Und dann kam der so genannte Treck, Sie kennen den Ausdruck, Treck, diese Nachschubtruppen. Und das war dann wirklich das, was wir immer gefürchtet haben, was kommen wird. Das war wirklich ein niederes Volk. Richtig. Und die haben alle im Haus Quartier bezogen. Die ganzen Wohnungen wurden von diesen Trecksoldaten bewohnt. Auch bis in den zweiten Stock hinauf. Und in dem Haus in der Wohnung meiner Eltern war die Küche, die Ausspeisung.“25

Anschließend kommt sie darauf zu sprechen, wie die jungen Frauen durch die Verbreitung des Gerüchtes, dass sie alle syphiliskrank wären, „nicht geholt wurden“. Mehrere ältere Frauen im selben Keller und die benachbarten jungen Mädchen wären im Gegensatz zu ihr „sehr wohl drankommen“. In diesem Zusammenhang wird auch deutlich, dass nicht nur am Land, sondern auch in der Großstadt diese Neuigkeiten rasche Verbreitung fanden: „Und seit diesem Zeitpunkt war immer ein Wachposten im Keller. Tag und Nacht war einer auf der Stiege. [...] Es war einer vom Ersten Weltkrieg, ein Gefangener da. Der hat ein bisserl russisch können, der hat sich mit diesen gewöhnlichen Soldaten, das waren echt nur diese Trecks, diese Elite- sind weg, der hat sich mit denen unterhalten können, so recht und schlecht. Und wir Mädchen haben immer Angst gehabt. Die haben am Abend in unserer Wohnung gekocht und getrunken und gesungen. Wir hatten Angst im Lauf der nächsten Tage, dass die eines Tages runterkommen und uns holen würden. Die Mädchen. Einer hat uns gesagt: Wir, die Jungen, brauchen keine Angst haben. Der hat sich mit uns verbündet mit dem einen Mann da: wir Jungen nicht, weil wir sind alle geschlechtskrank. Man hat ihnen erklärt, die Jungen in Wien haben alle Syphilis. Das 23 Baumgartner, Vergewaltigungen zwischen Mythos und Realität, S. 60 f.; BandhauerSchöffmann/Hornung, Der Topos des sowjetischen Soldaten, S. 33 f. 24 Hier soll allerdings nicht der Eindruck entstehen, dass die „Davongekommengeschichten“ prinzipiell nicht stimmen und die Erzählerinnen de facto „nicht davonkamen“. 25 Anonyme Interviewpartnerin vom 6.10. 2003 (AdBIK, OHI, VD-0277).

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hat uns aber geholfen. Nur haben sie tatsächlich zwei, drei Frauen vom Haus geholt. Die eine Frau war für mich uralt, die war sechzig. Kann ich mich erinnern, da war der Mann dabei, da haben sie uns auf die Lampe geschossen, auf die Petroleumlampe26, da war die Gefahr, dass das alles zum Brennen anfangt, ein Geschrei, eine Aufregung, aber jedenfalls, uns haben sie nichts getan. Weil wir waren ja ‚syphiliskrank‘. Einer hat das ausgestreut. Das war nur in unserem Haus so. Und wie dann alles vorbei war, haben wir dann gehört, wie ein Gemeindebau halt ist, überall die Stiegen nebenan, dort sind sehr wohl die jungen Mädchen auch drangekommen, nur unser Bau, der hat halt denen erklärt: ‚Verschont die Jungen, weil die sind alle krank.‘ Das war unsere Rettung.“27

Obwohl nicht ausgesprochen, wird im Laufe des Interviews doch deutlich, dass die 60-jährige Nachbarin, die anscheinend beinahe jeden Abend „geholt wurde“, maßgeblich zur Versorgung der Menschen im Keller beitrug. Im Zentrum dieser Passage steht daher auch das plötzlich im Überfluss vorhandene Essen. Statt Mitleid ist eher Dankbarkeit zu spüren: „Die Frau Emmenthaler war das – die Dame ist schon lang tot, werde ich nie vergessen, die Frau Emmenthaler, die 60-Jährige. Aber uns ist es dann sehr gut gegangen, weil die haben dort oben gekocht und haben uns herrliches Essen heruntergebracht. Wir haben ja Hunger gehabt. Wir haben ja nichts zu essen gehabt, war ja alles schon aufgebraucht, die kleinen Vorräte. Es war vorher schon alles auf Marken. Und unten keine Kochgelegenheit. Der kleine Petroleumkocher. Ist ja gar nicht vorzustellen, wie das alles geht, wenn man in Not ist. Und dann haben wir also töpfeweise herrlichste Sachen gekriegt. So Eintöpfe, alles mit Fleisch, nahrhafte Sachen, was wir alle gebraucht haben. [...] Vierzehn Tage waren wir jedenfalls im Keller, dann konnten wir schon langsam hinauf.“28 Ohne die Vergehen rechtfertigen zu wollen, sei darauf verwiesen, dass die Führung der Roten Armee Exzesse und Übergriffe keineswegs tolerierte, geschweige denn guthieß. Österreich galt als befreites Land, und unmittelbare Racheakte29 gegen die Bevölkerung waren ausdrücklich verboten.30 Außerdem 26 Wie sich im Laufe des Interviews herausstellte, handelte es sich hierbei um den Mann der „60-Jährigen“, der eingreifen wollte, um die Vergewaltigung zu verhindern. 27 AdBIK, OHI, VD-0277. 28 Ebd. 29 Nur bei einem Teil der Vergewaltigungen dürfte es sich um gezielte Racheakte wegen der Gräueltaten der deutschen Soldaten am sowjetischen Volk gehandelt haben. Dies zeigt allein der Umstand, dass es auch in mit der UdSSR verbündeten Ländern wie Polen, Jugoslawien und der Tschechoslowakei zu Übergriffen kam. Vgl. Wilfried Loth, Die Teilung der Welt 1941–1955, München 1980, S. 97. Auch die Vergewaltigung befreiter sowjetischer Zwangsarbeiterinnen widerlegt dieses weit verbreitete Argument von befohlenen Racheaktionen. Vgl. etwa Harald Knoll/Peter Ruggenthaler/Barbara Stelzl-Marx, Zwangsarbeit bei der Lapp-Finze AG. In: NS-Zwangsarbeit in der Rüstungsindustrie. Die Lapp-Finze AG in Kalsdorf bei Graz 1939–1945. Hg. von Stefan Karner, Peter Ruggenthaler und Barbara Stelzl-Marx, Graz 2004, S. 103–178, hier 167 f. 30 Beispielsweise betonte der Aufruf des Militärrates an die Truppen der 3. Ukrainischen Front vom 4. April 1945, dass die Rote Armee nach der Befreiung Österreichs zwar gegen die „deutschen Okkupanten“, nicht aber gegen die Bevölkerung Österreichs zu kämpfen habe. Sowohl die österreichischen Einwohner als auch ihr Hab und Gut waren zu achten. Vgl. I. N. Zemskov et al. (Hg.), SSSR – Avstrija 1938–1979gg. Doku-

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war sich die sowjetische Regierung bewusst, dass „negative Aktionen (Raubzüge, Vergewaltigungen von Frauen u. a.) seitens moralisch zersetzter Angehöriger der Roten Armee“ den „Kampf um Einfluss auf die Masse der Bevölkerung“31 zusehends erschwerte, wie ein interner Bericht über das Verhalten der sowjetischen Truppen vom Jänner 1946 betont. In eine ähnliche Kerbe schlägt auch der an die Abteilung für Außenpolitik im ZK der KPdSU gesandte Report „Über die Disziplin der sowjetischen Truppen in Österreich“ vom Dezember 1946, der resümiert: „All dies untergräbt die Würde und die Ehre von sich im Ausland aufhaltenden Sowjetbürgern, schadet der Autorität des sowjetischen Staates und der sowjetischen Armee und verleiht antisowjetischen Sensationsmeldungen, die von der österreichischen und der alliierten Presse nur allzu gerne aufgegriffen werden, neue Nahrung.“32 Als Ursache für die „in letzter Zeit [...] zahlreichen Fälle von Undiszipliniertheit und Rechtsübertretungen seitens sowjetischer Soldaten“ führt der Report schlechte Kontrolle der Kommandanturen über ihre Mannschaften, Missstände im Mannschaftsstamm der Kommandanturen selbst und auch häufige Fälle organisatorischer Schwäche des militärisch-juridischen und administrativen Apparates an. Dazu kam „die mangelhaft durchgeführte politisch-erzieherische Arbeit“.33 Auffallend ist, dass auch in den internen sowjetischen Dokumenten die meisten Vergehen in einem engen Zusammenhang mit Alkoholexzessen und österreichischen Frauen gebracht wurden: „Diese und andere analoge Übergriffe der Truppen im genannten Quartal [Jänner bis März 1946] zeigen, dass beinahe alle verbrecherischen Handlungen auf Trunksucht und Beziehungen zur örtlichen Bevölkerung samt allen daraus resultierenden Konsequenzen zurückzuführen sind.“34 Sämtliche Fälle „von ungesetzlichen Taten von Angehörigen der Roten Armee gegenüber der örtlichen Bevölkerung (Raub, Vergewaltigung von Frauen usw.)“ mussten geahndet werden, wie ein Befehl des Kommandanten des 335. Grenzregiments der NKVD-Truppen35 bereits am 8. März 1945 verlangte: Die „Schuldigen [sind] festzunehmen, ein Akt anzulegen und ein Verhör-

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menty i materialy, Moskau 1980, S. 16 f. Allerdings wussten Vertreter der Besatzungsmacht auch, dass es „Befehle gibt, diese werden aber nicht immer so eingehalten, wie es die Politik gegenüber der österreichischen Bevölkerung erfordern würde“, klagt etwa Evgenij Kiselev in einem Schreiben von August 1945 an den stellvertretenden Kommissar für Auswärtige Angelegenheiten der UdSSR, Vladimir Dekanozov. Vgl. Archiv für Außenpolitik der Russischen Föderation, Moskau (AVP RF), f. 06, op. 7, p. 26, d. 322, S. 19. Vgl. dazu Dokument Nr. 67 abgedruckt in Karner/Stelzl-Marx/Tschubarjan (Hg.), Die Rote Armee in Österreich. Russisches Staatliches Militärarchiv, Moskau (RGVA), f. 38650, op. 1, d. 1222, S. 29. Russisches Staatliches Archiv für sozial-politische Geschichte, Moskau (RGASPI), f. 17, op. 128, d. 117, S. 201. Vgl. dazu Dokument Nr. 127 abgedruckt in Karner / StelzlMarx /Tschubarjan (Hg.), Die Rote Armee in Österreich. RGASPI, f. 17, op. 128, d. 117, S. 199. Vgl. dazu Dokument Nr. 127 abgedruckt in Karner/Stelzl-Marx/Tschubarjan (Hg.), Die Rote Armee in Österreich. RGVA, f. 38650, op. 1, d. 1222, S. 118. NKVD: Narodnyj kommissariat vnutrennych del (Volkskommissariat für innere Angelegenheiten).

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protokoll aufzusetzen, die gemeinsam mit den Materialien der Vorerhebung entweder an die eigene Einheit oder an die SMERŠ36 zu senden sind“37, hieß es darin.38 Konnte ein Vergehen nachgewiesen werden, führte dies durchaus zu harten Strafen wie Gefängnishaft, der Einweisung in ein Arbeitsbesserungslager des GULAG39 oder selbst der Todesstrafe.40 Trotz der klaren Anordnungen, „unmoralischem“ Verhalten der in Österreich stationierten Truppen einen Riegel vorzuschieben beziehungsweise Vergehen sofort zu ahnden41, blieben zahlreiche Übergriffe – im wahrsten Sinne des Wortes – im Dunkeln. Dem Ansehen der Roten Armee, die sich selbst als „Befreierin“ und „Friedensbringerin“ definierte, fügten die vor allem in der ersten Zeit verübten Übergriffe sicherlich nachhaltigen Schaden zu.

„... eine allzu entgegenkommende Haltung“: Zur Überlebensprostitution im Nachkriegsösterreich „Nach wie vor wurde die Einstellung der weiblichen Jugend, die um kleiner Geschenke willen den Angehörigen der Besatzungsmächte gegenüber eine allzu entgegenkommende Haltung einnimmt, aufs schärfste kritisiert und bedauert“42, umreißt ein Bericht der Polizeidirektion Wien von 1946 das Verhalten von Österreicherinnen gegenüber Besatzungssoldaten. Die „mit Bedauern“ vorgetragene Kritik richtet sich hier in erster Linie gegen die angedeutete Käuflichkeit der jungen Frauen, denen als Motiv für ihre „allzu entgegenkommende 36 SMERŠ: Smert’ špionam (wörtlich: Tod den Spionen; sowjetische Spionageabwehr). 37 RGVA, f. 32917, op. 1, d. 7, S. 96. 38 Zu den Inneren Truppen des NKVD in Österreich vgl. v. a. Nikita Petrov, Die Inneren Truppen des NKVD/MVD im System der sowjetischen Repressionsorgane in Österreich 1945–1946. In: Karner/Stelzl-Marx (Hg.), Die Rote Armee in Österreich, S. 219– 242; Natal’ja Eliseeva, Zum Schutz des Hinterlandes der Roten Armee. Der Einsatz der NKVD-Truppen in Österreich von April bis Juli 1945. In: ebd., S. 91–104. 39 GULAG: Glavnoe upravlenie lagerej (Hauptverwaltung der Lager). 40 So wurde sogar im oben genannten Report von Dezember 1946 kritisiert, dass von fünf verurteilten sowjetischen Soldaten zunächst nur einer hingerichtet wurde: „Ein schlechtes Licht auf unsere Truppen wirft auch die Tatsache, dass von den fünf verurteilten Tätern, die eine Aufsehen erregende Vergewaltigung mit Mord im Prater verübt hatten, erst einer erschossen wurde. Hier liegt eine klare Unterqualifizierung der politischen Tragweite dieser Tat vor“ (RGASPI, f. 17, op. 128, d. 117, S. 201). Übersetzung aus dem Russischen. Die erwähnte Vergewaltigung im Prater fand am 3.11.1946 statt. Hierbei wurde eine Österreicherin getötet, eine andere schwer verletzt. Vgl. Das Verbrechen im Prater. Wir fordern Aufklärung! In: Arbeiter-Zeitung vom 7.11.1946, S. 3; Die Praterverbrechen – zum Tod verurteilt. Vom sowjetischen Militärgericht. In: Arbeiter-Zeitung vom 30.11.1946, S. 1. 41 So heißt es etwa in einem Bericht des Kommandanten der 7. Abteilung der Politverwaltung der 2. Ukrainischen Front von April 1945, der die versuchte Vergewaltigung einer Frau durch offensichtlich angeheiterte sowjetische Soldaten zur Sprache bringt: „Durch das Kommando wurden Maßnahmen zur Vermeidung der Taten ergriffen“ (RGASPI, f. 17, op. 128, d. 35, S. 12). Übersetzung aus dem Russischen. 42 Monatsbericht vom 4.11.1946 (ÖStA, AdR, Abt. 2, GD, Polizeidirektion Wien, S. 4).

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Haltung“ die Annahme „kleinerer Geschenke“ unterstellt wird. Die Assoziationskette von den – insbesondere von amerikanischen Besatzungssoldaten bereitgestellten – Verführungsmitteln „Schokolade, Zigaretten, Nylonstrümpfe“ hin zur Überlebensprostitution entsteht beinahe automatisch. Tatsächlich hatte diese „weibliche Art der Lebensmittelbeschaffung“ in der von Hunger und Mangel geprägten Nachkriegszeit einen realen Kern. Die Versorgung mit Lebensmitteln – insbesondere in den Ballungszentren – war nach dem Krieg vollkommen zusammengebrochen, die auf Karten ausgegebenen Rationen reichten in keiner Weise aus. Zur Sicherung der Existenz mussten zusätzliche Ressourcen erschlossen werden, etwa durch Hamstern, Tausch- und Schleichhandel oder eben durch Beziehungen zu Besatzungssoldaten. „Einen Amerikaner zu haben, bedeutete Geborgenheit und keinen Hunger mehr leiden zu müssen“43, heißt es pragmatisch in der Ortschronik einer Salzburger Gemeinde.44 Auch sowjetische Soldaten wurden als Quelle für dringend benötigte Lebensmittel angesehen, wovon häufig die ganze Familie profitierte. Allerdings taten sich die Soldaten der Roten Armee im Gegensatz zu anderen Besatzungssoldaten schwer, mit Luxus- und Mangelgütern aufzuwarten: CadburySchokolade, Kaugummi oder Nylons standen ihnen eher selten zur Verfügung. Ausgenommen davon war die dünne Schicht der Offiziere, die über die Kostbarkeiten der Macht, also Papiere, Passierscheine oder etwa Reisebewilligungen, verfügte sowie über eine größere Auswahl an Lebensmitteln, Zigaretten, Tabak und Schnaps.45 Die Grenze zwischen einer rein erotisch-sexuellen und zumindest auch materialistisch-dialektischen (Liebes-)Beziehung war daher nicht immer eindeutig zu ziehen. Gerade in der sowjetischen Besatzungszone kommt allerdings noch ein weiterer Aspekt hinzu, nämlich die Funktion des „russischen Beschützers“, der die Frau vor Übergriffen durch andere Soldaten bewahren sollte. Mit dieser Strategie versuchten manche Österreicherinnen, sich das patriarchalische Besitzprinzip zunutze zu machen, indem die von einem (ranghöheren) Mann beschützte Frau für andere unantastbar wurde oder werden sollte.46 Häufig wurden aber auch freiwillige Liebesbeziehungen mit Soldaten der Roten Armee, bei denen weder materielle Vorteile noch die Funktion des Beschützers im Vordergrund standen, von der Gesellschaft aus unterschiedlichen Gründen in den Bereich von Leichtfertigkeit und Prostitution gerückt. Tabuisierung des 43 Ingrid Bauer, „Ami-Bräute“ – und die österreichische Nachkriegsseele. In: Peter Eppel (Hg.), Frauenleben 1945. Kriegsende in Wien, Wien 1995, S. 73–84, hier 77 ff. 44 Diese Form der Überlebensprostitution gab es in allen Besatzungszonen Österreichs. Vgl. etwa Berger/Holler, Trümmerfrauen, S. 171 ff.; Ingrid Bauer, Welcome Ami Go Home. Die amerikanische Besatzung in Salzburg 1945–1955. Erinnerungslandschaften aus einem Oral-History-Projekt, Salzburg 1998, S. 182 ff.; Bauer, „Ami-Bräute“, S. 77 ff.; Brunnhofer, Liebesgeschichten und Heiratssachen, S. 23 ff. 45 Berger/Holler, Trümmerfrauen, S. 178. 46 Baumgartner, Vergewaltigung zwischen Mythos und Realität, S. 66. Vgl. dazu auch Anonyma, Eine Frau in Berlin. Tagebuchaufzeichnungen vom 20. April bis 22. Juni 1945, Frankfurt a. M. 2003.

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Verhältnisses und Stigmatisierung der Frau und auch der dieser Beziehung entstammenden Kinder waren die Folge.47 Abgesehen von einer mehr oder weniger offenen Diskriminierung der häufig mit dem abwertenden Begriff „Russenbräute“ bezeichneten Frauen brachten die professionellen oder halbprofessionellen Beziehungen mit sowjetischen Besatzungssoldaten unabsehbare Gefahren mit sich. Gemeint ist hier nicht die durchaus reale Gefahr der Ansteckung mit einer Geschlechtskrankheit, sondern der Vorwurf seitens der sowjetischen Besatzungsmacht, das „Bettgeflüster“ zu Spionagezwecken missbraucht zu haben. Verhaftungen und Verurteilungen einer ganzen Reihe von Österreicherinnen, die „Umgang mit sowjetischen Einheiten pflegten“, waren die Folge.48 Ein Beispiel dafür ist etwa die in einem USIA-Betrieb49 beschäftigte Arbeiterin Inge Brenner, die zunächst mit sowjetischen Soldaten verkehrt, sich aber kurz vor ihrer Verhaftung einem amerikanischen Besatzungssoldaten zugewandt hatte. Sie wurde im April 1952 wegen Spionage zu zehn Jahren Zwangsarbeit in der UdSSR verurteilt. Unter der Überschrift „Die verhängnisvollen Soldatenbekanntschaften: Vor dem Tor des USIA-Betriebes verschwunden“ schreibt dazu die „Arbeiter-Zeitung“: „Ingeborg Brenner hatte bis vor einem Jahr viele Bekanntschaften mit russischen Soldaten. Dann lernte sie den Amerikaner kennen und verkehrte von dieser Zeit an nur noch mit ihm. Ob die bloße Bekanntschaft mit dem Amerikaner den Menschenräubern Grund genug zu einer Verschleppung schien, ist ungeklärt.“50 Ein ähnlicher Fall liegt bei einer Wiener Bordellbesitzerin vor, deren Etablissement in erster Linie Angehörige der Roten Armee frequentierten. Sie wurde im Mai 1947 nach Artikel 58-6-1 des Strafgesetzbuches der RSFSR gleichfalls wegen Spionage zu 25 Jahren Besserungsarbeitslager in der Sowjetunion verurteilt. Die Tatsache, dass sie sich wiederholt auch mit einem US-Offizier getroffen hatte, war ihr anscheinend zum Verhängnis geworden.51 Die im selben Bordell arbeitende Prostituierte H. W., genannt „der Tiger“, wurde rund ein Jahr später von der sowjetischen Besatzungsmacht verhaftet 47 Auffallend ist, dass die Diskriminierung dieser Frauen auch dadurch nicht geringer wurde, dass sie – wie manche „Zeitzeugen“ betonen – einen gewissen Schutz vor Übergriffen mit sich brachten. Vgl. Merl, Besatzungszeit im Mühlviertel, S. 181; Hannl, Mit den Russen leben, S. 68. 48 Harald Knoll/Barbara Stelzl-Marx, Österreichische Zivilverurteilte in der Sowjetunion. Ein Überblick. In: Sowjetische Militärtribunale, Band 2: Die Verurteilung deutscher Zivilisten 1945–1955. Hg. von Andreas Hilger, Mike Schmeitzner und Ute Schmidt, Köln 2003, S. 571–605, und Harald Knoll/Barbara Stelzl-Marx, Sowjetische Strafjustiz in Österreich. Verhaftungen und Verurteilungen 1945–1955. In: Karner / Stelzl-Marx (Hg.), Die Rote Armee in Österreich, S. 275–322. 49 USIA: Upravlenie sovetskim imuščestvom v Avstrii (Verwaltung des sowjetischen Vermögens in Österreich). 50 Die verhängnisvollen Soldatenbekanntschaften. In: Arbeiter-Zeitung vom 12. 4.1951, S. 2. 51 AdBIK, Datenbank österreichischer Zivilverurteilter in der UdSSR, Ziv-SU-107.

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und im Juli 1948 wegen Spionage zu 15 Jahren ITL52 verurteilt.53 Auch hier dürfte der – von der Besatzungsmacht nicht gern gesehene – Verkehr mit den sowjetischen Besatzungssoldaten und die tatsächlich oder vermeintlich ausgetauschten Informationen zur Festnahme geführt haben. Ob ihre von mehreren österreichischen zivilverurteilten Frauen in der Sowjetunion geschilderte venerische Erkrankung dabei eine Rolle gespielt hatte, lässt sich nicht feststellen.54 Diese Infektion war aber sicherlich mit ein Grund, dass die übrigen Zelleninsassen im Gefängnis von Vladimir – allen voran Margarethe Ottillinger55 – einen Hungerstreik organisierten, um H. W.s Verlegung in eine andere Zelle zu erzwingen.56 Die Ansteckung zweier sowjetischer Besatzungssoldaten mit einer Geschlechtskrankheit dürfte im Fall der Wienerin F. P. für ihre Verhaftung im Dezember 1950 ausschlaggebend gewesen sein. Sie wurde nämlich nicht nur wegen Spionage, sondern auch nach Paragraph 58/14 – „Gegenrevolutionäre Sabotage“ – zu 25 Jahren Besserungsarbeitslager verurteilt.57 Auch das Bundeskanzleramt für Auswärtige Angelegenheiten nahm im November 1952 als mutmaßlichen Grund für die erfolgte Festnahme „die Infizierung zweier Ange52 ITL: Ispravitel’no trudovoj lager’ (Besserungsarbeitslager des GULAG). 53 AdBIK, Datenbank Zivilverurteilte; Österreichische Botschaft Moskau (ÖBM), Personalakte H. W. 54 Die in derselben Zelle inhaftierte A. V. gab in diesem Zusammenhang 1954 folgende schriftliche Erklärung an den Leiter des Gefängnisses von Vladimir: „Hiermit erkläre ich, dass ich ab dem heutigen Tage keine Nahrung mehr zu mir nehmen werde, da ich in einer Zelle mit W. lebe. W. ist an einer Geschlechtskrankheit erkrankt. Außerdem ist mir aus dem Gefängnis in Verchne-Ural’sk bekannt, dass sie an hysterischen Wutanfällen leidet, in denen sie zu allem fähig ist. Nur durch Schläge kann man sie zur Vernunft bringen. Das möchte ich jedoch nicht tun. Ich bitte deshalb, dass man sofort meine Lebensmittel wegnimmt.“ RGVA, Personalakte 461.190150, A. V.). Übersetzung aus dem Russischen. 55 Zu Margarethe Ottillinger vgl. insbesondere Stefan Karner (Hg.), Geheime Akten des KGB. „Margarita Ottilinger“, Graz 1992; Stefan Karner, Zur Politik der sowjetischen Besatzungs- und Gewahrsamsmacht. Das Fallbeispiel Margarethe Ottillinger. In: Österreich unter alliierter Besatzung 1945–1955. Hg. von Alfred Ableitinger, Siegfried Beer und Eduard G. Staudinger, Wien 1998, S. 401–430. Ingeborg Schödl, Im Fadenkreuz der Macht. Das außergewöhnliche Leben der Margarethe Ottillinger, Wien 2004. 56 Renata Stelzer, Russland-Aufzeichnungen, Band II. Nach dem Urteil, unveröffentlichtes Manuskript, o. O. o. J., S. 52. 57 Hauptmilitärstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation, Moskau (GVP), Rehabilitierungsbescheid 5uv-1133–97. F. P. vom 3.10.1997. Unter sowjetischen Soldaten herrschte die Vorstellung, dass deutsche/österreichische Frauen sie gezielt mit einer Krankheit ansteckten, um die Rote Armee zu schwächen. Sicherlich auch von der sowjetischen Propaganda beeinflusst, sahen die sowjetischen Soldaten ausländische Frauen mitunter als „epidemologische Waffe“ an. Die Schuld für den hohen Prozentsatz an Geschlechtskrankheiten unter den Besatzungssoldaten lag daher ursprünglich – so die weit verbreitete Meinung – bei den Frauen und nicht bei den Soldaten selbst. Frau Dr. Ol’ga Pavlenko, Moskau, sei für diesen Hinweis herzlich gedankt. Vgl. dazu auch Barbara StelzlMarx, Freier und Befreier. Zum Beziehungsgeflecht zwischen sowjetischen Besatzungssoldaten und österreichischen Frauen. In: Karner/Stelzl-Marx (Hg.), Die Rote Armee in Österreich, S. 421–448.

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höriger der sowjetischen Besatzungsmacht mit Geschlechtskrankheiten“58 an, wodurch sich anscheinend die Verurteilung wegen „gegenrevolutionärer Sabotage“ erklären lässt. Dies wird noch dadurch untermauert, dass die Österreicherin selbst den Vorwurf der Spionage stets vehement bestritt.59 Die im März 1951 nach Artikel 58-1b (gegenrevolutionäre Handlung) zu 25 Jahren ITL verurteilte H. H. gab hingegen selbst an, wegen Spionage festgenommen worden zu sein. Tatsächlich dürfte sie die sowjetische Besatzungsmacht jedoch wegen Diebstahls verhaftet und anschließend nach Russland deportiert haben. Diese zweifellos glaubwürdige Behauptung wurde anlässlich ihrer Verhaftung von mehreren russischen Offizieren unabhängig voneinander gegenüber Gendarmeriebeamten, die in diesem Fall intervenierten, gemacht. Auch H. H. hatte „reichlichen Umgang mit russischen Einheiten“ gepflegt und war wegen „Abtreibung der Leibesfrucht“ 1949 angezeigt worden.60 Wie allein diese exemplarisch ausgewählten Fälle zeigen, war nur ein kleiner Teil der Verurteilten gewerbsmäßige Prostituierte. Die – käufliche – Liebe lebte im Besatzungsjahrzehnt in allen Besatzungszonen primär von spontanen Flirts und der nicht registrierten und somit nicht aktenkundigen Gelegenheitsprostitution.61

Freier und Befreier: Liebesbeziehungen zwischen Rotarmisten und Österreicherinnen Die sowjetischen Befreier nahmen aber auch die Rolle der Freier und Geliebten ein, die zum Teil bis heute romantisch verklärt und als „die große Liebe“ in Erinnerung geblieben sind. Allerdings wurden gerade wegen der weit verbreiteten klischeehaften Dichotomie des fräuleinumringten GI der US-Streitkräfte62 und des frauenverfolgenden Rotarmisten die Beziehungen zwischen Österreicherinnen und sowjetischen Besatzungssoldaten auffallend kritisch beurteilt.63 Aber nicht nur die Übergriffe durch sowjetische Soldaten, sondern auch die weit verbreitete antikommunistische und antislawische Haltung unter der Be58 59 60 61 62

ÖBM, Personalakte F. P. F. K., Brief an das Ludwig Boltzmann-Institut für Kriegsfolgen-Forschung 1997. ÖBM, Personalakte H. H. Vgl. auch Bauer, Welcome Ami Go Home, S. 189. Vgl. dazu auch Maria Höhn, GIs and Fräuleins. The German-American Encounter in 1950s West Germany, North Carolina 2002. 63 Erwähnt werden muss allerdings in diesem Zusammenhang, dass auch Österreicherinnen, die mit französischen, britischen oder amerikanischen Besatzungssoldaten Beziehungen eingingen, diskriminiert wurden. Ein Ausdruck dafür ist die abwertende Bezeichnung „Schoko-Girls“. Besonders ungern gesehen waren Verhältnisse mit schwarzen Soldaten und die daraus resultierenden Kinder. Vgl. dazu Bauer, Welcome Ami, S. 156 ff. und 239 ff.; Bauer, Amibräute, S. 74 ff.; Berger/Holler, Trümmerfrauen, S. 185; Erika Thurner, Frauen – Nachkriegsleben in Österreich. Im Zentrum und in der Provinz. In: Frauen in der Nachkriegszeit. Mitteilungen des Instituts für Wissenschaft und Kunst, 4 (1990), S. 2–7, hier 6.

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völkerung trugen zu den gegenüber „russischen Soldatenliebchen“ besonders ausgeprägten Ressentiments bei.64 Dies führte mitunter dazu, dass Beziehungen so weit wie möglich verheimlicht wurden oder Österreicherinnen aus ihrem Heimatort wegzogen. Gerade die eigene Familie lehnte die Beziehung zu einem sowjetischen Soldaten häufig vehement ab und versuchte sogar, sie zu zerstören, wie der Fall einer 1931 geborenen Wienerin zeigt: „In dieser Zeit lernte ich Iwan kennen! Meine erste Liebe! Iwan Papkow aus Sotschi! Er schwärmte mir von seiner Heimat, der Krim, vor und schickte ein Foto von uns beiden seiner Mutter, denn er wollte mich heiraten. Sie schrieb zurück, sie hätte nichts dagegen. Da unsere Staatsoper total zerstört war, ging ich mit Iwan in die Volksoper. ‚Der Evangelimann‘ wurde gespielt. Zeigte ihm unsere arme, zerbombte, aber trotzdem schöne Stadt. Er hatte aber trotzdem Angst: hinter jedem Fenster vermutete er einen Scharfschützen. Nichts dergleichen geschah, aber mein Papa zerstörte unser Glück! Er wollte mich nicht an Russland verlieren, und viel später erfuhr ich, warum ich plötzlich, grundlos von Iwan verlassen wurde: Er hatte ihm gesagt: Ira bolnoi! Geschlechtskrank!! Das war eine Lüge! War entsetzlich unglücklich, Iwan war wie vom Erdboden verschluckt. Musste ihm doch sagen, dass es nicht wahr ist! Was mir Papa angetan hat!“65 Bis heute leidet die Frau darunter, dass ihr Glück „durch die furchtbare Lüge des Vaters“ ein so abruptes Ende fand und sie trotz zahlreicher Versuche nie die Möglichkeit bekam, „diese Unwahrheit aus der Welt schaffen zu können“. Seit einiger Zeit versucht Ingeborg Walla-Grom, ihre „erste Liebe“, die sie, wie sie meint, durch diesen angeblichen Treuebruch so bitter enttäuscht hatte, ausfindig zu machen, und fuhr sogar im Sommer 2004 mit ihrem Mann nach Russland. Bisher blieb die Suche allerdings ergebnislos. Auch im Fall von Therese Saurer lehnte die eigene Familie die Beziehung zu dem sowjetischen Besatzungssoldaten ab, versuchte sogar, die damals erst 17-Jährige „mit jemanden, der recht hässlich und unsympathisch war, zu verheiraten, nur dass sie möglichst rasch unter die Haube kommt“66, erinnert sich die 1948 geborene Tochter Vera. Als Reaktion darauf verließ die Frau in einer „Nacht-und-Nebel-Aktion“ das Heimatdorf im Burgenland, zog mit ihrem rus64 Nicht bestätigt werden kann die These, dass sowjetische Besatzungssoldaten vor allem auf Frauen aus dem „linken Milieu“ ihre Attraktivität ausüben konnten. Vgl. Bandhauer-Schöffmann/Hornung, Der Topos des sowjetischen Soldaten, S. 43. Dass Österreicherinnen aus kommunistischem oder sozialdemokratischem Milieu große Probleme hatten, ihr positives „Russenbild“ mit negativen Erfahrungen mit den Sowjets in Einklang zu bringen, erscheint aber durchaus als plausibel. Vgl. Irene Bandhauer-Schöffmann/Ela Hornung, Von Mythen und Trümmern. Frauen im Wien der Nachkriegszeit. In: Frauen in der Nachkriegszeit. Mitteilungen des Instituts für Wissenschaft und Kunst, 4 (1990), S. 11–18, hier 17. 65 Ingeborg Walla-Grom an die Russische Botschaft Wien von 2004, S. 4 f.; Ingeborg VallaGrom, Zdravstvujte, tovarišč! Vospominanija žitel’nicy Veny o vojne. In: Novyj Venskij Žurnal, Nr. 5 (2004), S. 18–21. 66 Vera Ganswohl vom 5. 8. 2004 (AdBIK, OHI, VD-0326).

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sischen Freund, Nikolaj Sidorov, in eine sowjetische Kaserne nach Niederösterreich und brach für beinahe fünf Jahre jeglichen Kontakt zu ihrem Elternhaus ab. Erst als der Besatzungssoldat 1950 aus Österreich abgezogen wurde, kehrte die Frau gemeinsam mit ihrer Tochter nach Hause zurück, wo sie noch eine Zeit lang (zensurierte) Briefe, Telegramme und so genannte Liebesgabenpakete aus der Sowjetunion erhielt. Obwohl es rasch zu einer Versöhnung mit ihrer Familie kam und Therese Saurer das Andenken an Nikolaj Sidorov immer sehr hoch hielt, sogar „wie eine Reliquie verehrte“, spricht sie bis heute nicht gerne über die fünf Jahre an der Seite des sowjetischen Besatzungssoldaten.67 Auch Eifersucht und Rivalität zwischen den österreichischen Geliebten von sowjetischen Besatzungssoldaten kamen mitunter zum Vorschein. So berichtet F. S., die Tochter eines sowjetischen Besatzungssoldaten, dass eine Nachbarin der Mutter die Briefe ihres bereits in die Sowjetunion zurückgekehrten Geliebten vernichtete. Kurz vor seinem Abzug aus Österreich und der damit verbundenen Trennung hatte er erfahren, dass die Österreicherin ein Kind von ihm erwartete, und ihr das Versprechen abgerungen, keine Abtreibung vornehmen zu lassen. Die Nachbarin, die ebenfalls ein Verhältnis mit einem Besatzungssoldaten gehabt und ein Kind von ihm bekommen hatte, ließ die Briefe „aus Eifersucht verschwinden“, da sie selbst keine Nachricht mehr erhalten hatte. Erst zehn Jahre später war ihr schlechtes Gewissen so groß, dass sie F. S.s Mutter von den Briefen aus der Sowjetunion erzählte. Eine Kontaktaufnahme war zu diesem Zeitpunkt aber nicht mehr möglich.68 Nicht nur die mentalen Langzeitfolgen des Krieges, auch internalisierte Grundhaltungen des Nationalsozialismus und ein mehr oder weniger offen ausgetragener Konkurrenzkampf zwischen österreichischen Männern und Besatzungssoldaten wirkten nach 1945 in den Diskursen gegen die „Besatzungsbräute“ untergründig fort. Manchmal kam es sogar zu Handgreiflichkeiten der offensichtlich in ihrer Ehre gekränkten österreichischen Männer, denen das angestammte Eigentumsrecht an „ihren Frauen“ streitig gemacht wurde: „In Döbling gab das Verhalten einiger Mädchen, die mit Amerikanern verkehren, Anlass zu Reibereien zwischen ansässigen Burschen und den Soldaten. Dies führte in der Folge zur Festnahme von 16 Jugendlichen durch die amerikanische Militärpolizei, was unter den Bewohnern des Bezirkes einiges Aufsehen erregte.“69 Meist wurden die Diskurse und Praktiken der Ausgrenzung jedoch subtiler ausgetragen, wobei gerade die durch die militärische Niederlage in ihrem Selbstwertgefühl stark angegriffenen Heimkehrer des Zweiten Weltkrieges heftige Debatten – etwa in den Leserbriefspalten verschiedenster Nachkriegsmedien – zu den Beziehungen mit Besatzungssoldaten führten.70 67 Ebd. 68 F. S. vom 15.1. 2004. 69 Monatlicher Lagebericht für September 1946 vom 4.10.1946 (ÖStA, AdR, GD für öffentliche Sicherheit, Polizeidirektion Wien, S. 4). 70 Ingrid Bauer, „Besatzungsbräute“, S. 264 f.; Berger/Holler, Trümmerfrauen, S. 190 ff.

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In diesem Zusammenhang ist auch von Interesse, welche Diskurse es unter den Soldaten der Roten Armee gab beziehungsweise wie die Beziehungen zu österreichischen Frauen von sowjetischer Seite wahrgenommen wurden.71 In vielen Oral-History-Interviews mit ehemaligen sowjetischen Besatzungssoldaten, vor allem Offizieren und Unteroffizieren, finden sich äußerst romantische Schilderungen dieser Liebesgeschichten, die sich zu einem fixen Bestandteil der Erinnerungen an die Nachkriegszeit verfestigten. Frühling in Wien, Sonne, blühende Bäume, schöne Mädchen, Musik und vor allem das Ende der Kämpfe verdichteten sich gleichsam zu einer Assoziationskette, erfüllt von der Freude, den Krieg überlebt zu haben.72 Während Eheschließungen mit Österreicherinnen nicht erlaubt waren, wurden sexuelle Beziehungen seitens der Armee zumindest geduldet oder zogen nur in manchen Fällen Strafen nach sich: „Alle Offiziere hatten solche Beziehungen. Eine ging, glaube ich, sogar in die Geschichte ein. Ein Major verliebte sich in eine Österreicherin. Es war eine echte Liebe und sie wollten heiraten! Das ging dann zum obersten Kommandostab. Es wurde nicht erlaubt. Und dieser Major wurde bestraft. [...] Heiraten, nein. Das durfte man offiziell nicht. [...] Wenn [Vergewaltigungen] aufgedeckt wurden, wurde das hart bestraft. Das war verboten, verboten. Aber wenn das freiwillige Beziehungen waren [...]. Alle hatten diese Beziehungen. All diese Mädchen, sie haben nicht einfach so [...]. Sie hatten Offiziere als Freunde. Solche dauerhaften Freunde. Es gab keine Konflikte, keine Strafen“73, erinnert sich ein ehemaliger Besatzungssoldat. Auffallend ist hier die Betonung der Beziehungen mit Offizieren, die, wie bereits erwähnt, bessere wirtschaftliche Möglichkeiten hatten als einfache Soldaten. Zum Teil waren sich die Rotarmisten durchaus bewusst, dass sich ihnen österreichische Frauen nicht nur aus reiner Zuneigung und Sympathie näherten. So deutete der ehemalige sowjetische Besatzungssoldat in Österreich, K. A., auf die Frage nach österreichischen Mädchen auf eine Fotografie mit zwei Rotarmisten und drei Österreicherinnen und antwortete: „Das ist das Mädchen, da am Rand. Wir bekamen Decken, solche Armeedecken. Sie fragte mich: ‚Ich mache daraus einen Mantel‘, sagte sie. Aus zwei Decken einen Mantel. Und ich gab ihr diese Decken, damit sie sich daraus einen Mantel nähen konnte. Bei ihnen schaute es schlecht aus mit all diesen Sachen. Aber vielleicht haben sie auch, weil wir sie dort verköstigt haben [...].“74 Anschließend an diese Überlegung schildert der ehemalige Rotarmist, wie er zu Silvester 1945/46 eine Gans kaufen und im Haus einer Österreicherin zubereiten lassen konnte: „Ich brin71

Belegt ist beispielsweise der Selbstmord eines Sergeanten der NKVD-Truppen von Januar 1946, den dieser als Resultat „der unerwarteten Trennung von einem befreundeten Mädchen“ verübte. Dieser Fall, der allerdings eine große Ausnahme darstellt, wurde daraufhin vom Leiter der politischen Abteilung der Truppen untersucht. Vgl. RGVA, f. 38650, op. 1, d. 1222, S. 117. 72 Aleksandr Orlov vom 19.1. 2003 (AdBIK, OHI, VD-0221). 73 Anonymer Interviewpartner vom 2. 7. 2003 (AdBIK, OHI, VD-0257a, VD-0256b). Übersetzung aus dem Russischen. 74 Ebd.

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ge die Kartoffeln herein und sie, verdammt noch mal, haben die ganze, ganze Gans aufgegessen. Ja, diese Mädchen, und lachen dazu. Mir haben sie nur ein kleines Stück aufgehoben.“75 Ein anderer ehemaliger Besatzungssoldat, der zum Stab der 4. Gardearmee gehörte und in den 1980er Jahren Mitglied des Zentralkomitees der KPdSU war, wodurch er gewissermaßen die offizielle sowjetische Meinung widerspiegelt, betont auf die Frage nach Kontakten zwischen sowjetischen Soldaten und einheimischen Frauen, dass diese – außer im offiziellen Rahmen, allein schon wegen der militärischen Disziplin nicht toleriert wurden. Allerdings hätten die Österreicherinnen regelrecht Jagd auf die „feschen, gesunden“ Rotarmisten, „besonders die Offiziere“ gemacht, so seine Einschätzung: „Man muss das Besondere an jeder Armee verstehen – dies gilt vor allem für unsere, für die Sowjetische Armee: Disziplin, Ordnung! Und wie soll da ein Soldat mit der örtlichen Bevölkerung sprechen? Er kann sich auch auf seinem eigenen Territorium, dem sowjetischen, nicht frei unterhalten. Es gibt den militärischen Verband, die Formation! Es gibt Ordnung! Ein Soldat kann entlassen werden! Offiziere haben ihren Plan! Ein Offizier – ja, ein Offizier kann sich unterhalten! Er hat Freizeit! Aber ein Soldat – alles streng nach Dienstplan! Wenn er jemanden trifft, dann nur im Klub! Dann auch die örtliche Bevölkerung. Theatergruppen, Tänze – alles [gab es]! Das aber nur zu bestimmten Stunden! Aber ‚sich unterhalten‘ – das ist in der Armee nicht möglich! Wenn, dann nur organisiert! Anderenfalls wäre das ja keine Armee! Organisiert!“76 Nicht unproblematisch waren die Verhältnisse zu Österreicherinnen vor allem, wenn die Besatzungssoldaten gemeinsam mit ihrer sowjetischen Familie in Österreich stationiert waren. So lässt die folgende Passage aus einem Interview mit einem von 1945 bis 1950 in Österreich stationierten Rotarmisten, der bei der Armeezeitung „Za čest’ rodiny“ – „Für die Ehre der Heimat“ arbeitete, durchaus die Interpretation zu, dass es sich bei „Val’ja Dal’skij“ um den „Zeitzeugen“ selbst handelte: „Neben mir lebte eine Witwe. Eine Schönheit, eine Österreicherin. Ihr Mann war bei der SS gewesen. Er ist irgendwo an unserer Front, vielleicht bei Stalingrad, vielleicht woanders, ums Leben gekommen, gefallen. Und da ist sie, diese Schönheit. Val’ja Dal’skij – auch ein literarischer Name – hat sich in sie verliebt. Alle haben versucht, ihn zu überzeugen, dass er sich zugrunde richtet. Aber er: ‚Nein, ich kann nicht ohne sie leben!‘ Er wurde gewarnt, dass er Schluss machen sollte. Er verspricht es, und dann erfahren alle, dass er wieder bei ihr ist. Und warum hat mich dieser Schuft noch verraten? Sie wohnte neben mir, Tür an Tür, im selben Gang, im selben Stockwerk. Und ist sogar vorbeigekommen. Zu Galja, als es ihr schon besser ging. Sie hat

75 Ebd. 76 Anonymer Interviewpartner vom 21.11. 2003 (AdBIK, OHI, VD-0282b, VD-0283a). Übersetzung aus dem Russischen.

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ihr etwas gebracht. Und dann, als Galja – Dal’skij haben sie schon sehr gedroht, wahrscheinlich SMERŠ. Er hat sich erschossen.“77 Bemerkenswert erscheint zudem der angesprochene Verrat, der, so K. A., beinahe zu seiner Hinrichtung geführt hätte. Ausschlaggebend waren seine tatsächlichen oder vermeintlichen Kontakte zu österreichischen Frauen: „Er hat gemeldet, dass er gesehen hat, wie zu mir häufig Österreicherinnen, Frauen, kommen. Und er hat das Gerücht verbreitet, dass A.78 mit Österreicherinnen zusammenlebt. Das wurde als Aufruhr angesehen. [...] Wenn sie glauben, dass ich mit Österreicherinnen befreundet bin, heißt das, dass ich irgendwelche Geheimnisse weitergebe. So ist das.“79 Das oben angesprochene „Bettgeflüster“ konnte, wie dieser Bericht zeigt, nicht nur für österreichische Frauen zur Verurteilung wegen Spionage führen, sondern auch für die Rotarmisten schwere Konsequenzen mit sich bringen.

„Russenkinder“ Aus den vorab dargestellten Liebesbeziehungen, aber natürlich auch als Folge von Vergewaltigungen gingen Tausende80 „Besatzungskinder“ hervor, deren sowjetische Väter bald nicht mehr greifbar oder bereits vor der Geburt absent waren. Viele dieser so genannten „Russenkinder“ wissen bis heute nicht, wer ihr leiblicher Vater ist, oder kennen nicht mehr als einen russischen Vornamen und eine Region in der damaligen Sowjetunion als Herkunft. Wie bereits vorab erwähnt, trug und trägt die Stigmatisierung der Österreicherinnen, die sich „auf einen Russen einließen“, dazu bei, dass selbst bekannte Daten über den sowjetischen Besatzungssoldaten vor den Angehörigen verheimlicht wurden beziehungsweise immer noch werden. Umso schwieriger gestaltet sich daher die Suche nach den eigenen Wurzeln, die sowohl von Kindern als auch von Enkeln vorangetrieben wird. Umgekehrt sind aber auch Fälle von ehemaligen sowjetischen Besatzungssoldaten bekannt, die sich, Jahrzehnte nach Abzug der Truppen, auf die Suche nach ihrem österreichischen „Kind“ machten.

77 Anonymer Interviewpartner vom 27.11. 2002 (AdBIK, OHI, VD-0215b, VD-0216a). Übersetzung aus dem Russischen. 78 Der Interviewpartner spricht hier von sich in der dritten Person und nennt seinen eigenen Nachnamen. 79 AdBIK, OHI, VD-0215b, VD-0216a. Übersetzung aus dem Russischen. 80 Für Österreich liegt keine Gesamtstatistik der „Besatzungskinder“ vor, aber nach Angaben der einzelnen Bundesländer wurden allein zwischen 1946 und 1953 in allen vier Zonen rund 8 000 „Soldatenkinder“ geboren. Vgl. Besatzungskinder – ein Weltproblem. In: Arbeiter-Zeitung vom 3.11.1955, S. 5. Die tatsächliche Gesamtzahl liegt aber sicherlich darüber, da bei weitem nicht alle Kinder von Besatzungssoldaten offiziell als solche registriert wurden. Vielfach wurde nach der Geburt der Vater als unbekannt oder als Österreicher eingetragen.

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„Sehr kinderlieb warens’“: Der Topos vom „kinderlieben Russen“ In der Erlebniswelt der Nachkriegsjahre entwickelte sich auch ein sehr menschliches, positives „Russenbild“, das dem des „Plünderers“ und „Vergewaltigers“ konträr gegenüber stand, nämlich das des „kinderlieben Russen“. „Sehr kinderlieb warens’“81, erinnert sich etwa eine Niederösterreicherin, in deren Haus acht Monate lang fünf „Russen“ einquartiert waren, und greift somit einen der dominanten Topoi des sowjetischen Besatzungssoldaten in Österreich auf. Auffallend ist, wie der Kontrast zwischen ihren von der NS-Propaganda geprägten Erwartungen gegenüber den Rotarmisten und der Realität einerseits und der „viel gemeineren“ einheimischen Bevölkerung andererseits betont wird. „Und der Hitler hat immer gesagt, eine jede Frau soll gegen die Russen kämpfen, weil sie die Kinder an die Tore nageln. Und ich hab gerade mein Kind entbunden. Ich hab mir immer gedacht, ich muss den Russen mein Kind herbringen, damit die Russen es an das Tor nageln. Und da hat die Hebamme gesagt: ‚Redens’ nicht so einen Blödsinn!‘ Das war eine furchtbare Zeit. Und wie die Russen gekommen sind, da war eine Kommandantur da und da waren die Plünderungen aus. Die Bevölkerung untereinander war ja noch viel gemeiner. Und die haben uns beschützt. Die Hannelore hat sich damals – da war sie zwei Jahre alt – blutig geschlagen, da ist das Blut heruntergeronnen. Da war ein Armenier, ein junger, mit 24 Jahren, der hat gleich alle geholt und gesagt: ‚Wer hat dem Kind was gemacht?‘ Und sie hat geweint und geblutet. Dann sind sie zum Bauern gegangen und haben für das Kind eine Milch geholt. Und ich hab mir’s nicht hergeben getraut, weil ich mir gedacht hab – das Volk war sehr gehässig. Dann war mir eh leid.“82

Der letzte Satz verdeutlicht den inneren Konflikt der damals jungen Mutter, die in dieser Zeit des Mangels wegen der „gehässigen“ Propaganda des „Volkes“ auf die wertvolle Milch verzichtete, aus Angst, ihr Kind damit zu vergiften. Die Dichotomie zwischen „kinderlieben Russen“ und „hinterfotzerter Bevölkerung“ wird noch durch die Schilderung verstärkt, wie die Tochter „immer beim Tisch hat mitessen müssen und mitten unter den Russen gesessen ist und mit den Russen gegessen hat“.83 Die persönliche eher positive Erfahrung revidierte somit die von NS-Propaganda und bösen Gerüchten geprägten Vorurteile gegenüber den Besatzungssoldaten, die während dieser Zeit der Lebensmittelknappheit bei weitem hilfsbereiter waren als die einheimische Bevölkerung. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach den Wurzeln der vielfach belegten und auch von sowjetischer Seite dokumentierten Kinderliebe. Die Frage, ob es sich hierbei um ein Spezifikum der Mentalität handelte oder ob sich die vom Krieg gezeichneten Soldaten gerne mit den quasi „reinen“, unbeschwerten, engelsartigen Gestalten umgaben, um die Brutalität des Krieges hinter sich zu lassen, lässt sich nur schwer beantworten. Tatsache ist aber, dass sich

81 Bruck (AdBIK, OHI, VD-0263). 82 Ebd. 83 Ebd.

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gerade die sowjetischen Soldaten nicht nur auffallend um Kinder kümmerten, sondern sich auch gerne mit diesen fotografieren ließen.84 Die vielfach bekundete Kinderliebe, die sich etwa durch das Zustecken von Süßigkeiten oder dringend benötigten Lebensmitteln, medizinische Betreuung, gemeinsames Spielen oder Singen äußerte, wurde zudem von der Besatzungsmacht propagandistisch verwertet.85 Beispielsweise rekurriert das im Stil einer Fotokollage hergestellte Plakat „Sowjetsoldaten – Soldaten des Volkes – Kämpfer für Freiheit und Frieden“86, das einen lächelnden Rotarmisten mit einem blonden Mädchen am Arm zeigt, auf den Topos des „kinderlieben Russen“, der im Dienste von Freiheit und Frieden steht. So wie das Kind Vertrauen zum Sowjetsoldaten hatte, sollten auch Vertrauen und Sympathie unter der Bevölkerung gegenüber der sowjetischen Besatzungsmacht gestärkt werden. Auch das offizielle Organ der sowjetischen Besatzungsmacht, die „Österreichische Zeitung“, zog bewusst diese in der Bevölkerung offensichtlich sehr positiv aufgenommene Eigenschaft der Soldaten heran, um der amerikanischen antisowjetischen Propaganda, dem latenten Antibolschewismus und den antislawischen Ressentiments gegenzusteuern. So widmet sich anlässlich des zweiten Jahrestages der Befreiung Wiens am 13. April 1945 ein eigener Artikel dem Thema „Der Sowjetsoldat und das Kind“, gespickt mit Zitaten aus Aufsätzen österreichischer Schulkinder. Die Versorgung mit Lebensmitteln nimmt hier eine wichtige Rolle ein, wie auch der einleitende Kommentar des Verfassers hervorhebt: „Ja, der Zucker und der Speck! Ich habe in der ganzen dicken Mappe kaum eine Handvoll Briefe entdeckt, in denen nicht davon die Rede wäre, 84 Vgl. hierzu etwa die zahlreichen am AdBIK archivierten Fotos von Rotarmisten mit österreichischen Kindern. Manchmal wurden sogar wildfremde Kinder für die Fotografien herangezogen, die als Belohnung etwas Zucker oder andere Geschenke bekamen. Ein Grund für dieses markante und zugleich etwas naive Verhalten lag darin, dass die Soldaten die Fotos gerne nach Hause schickten, um zu zeigen, wie gut es ihnen in Österreich ginge. Vgl. Berger/Holler, Trümmerfrauen, S. 182. 85 Ein weiteres Beispiel dafür sind die von der sowjetischen Besatzungsmacht jährlich organisierten Weihnachtsfeiern für österreichische Kinder, worüber vor allem die „Österreichische Zeitung“ ausführlich berichtete. Vgl. etwa: 72 000 Kinderherzen danken der Roten Armee. In: Österreichische Zeitung vom 25.12.1945, S. 1; Kleine Wiener zu Gast bei „Väterchen Frost“. Der russische Weihnachtsmann in der Hofburg. In: Österreichische Zeitung vom 28.12.1946, S. 3; Über 50 000 österreichische Kinder als Gäste bei Weihnachtsfeiern der Sowjetarmee. In: Österreichische Zeitung vom 31.12.1948, S. 3; Die Weihnachtsbescherung für Wiener Kinder in der Hofburg. In vier Tagen tausende kleine Gäste der sowjetischen Besatzungsmacht. In: Österreichische Zeitung vom 28.12.1950, S. 3; In den sowjetisch verwalteten Betrieben: Weihnachtsfeiern für tausende Kinder. In: Österreichische Zeitung vom 21.12.1954, S. 4. 86 Wiener Stadt- und Landesbibliothek (WStLB), Plakatsammlung, Nr. 6850–1953. Vgl. auch Barbara Stelzl-Marx, Die Macht der Bilder: Sowjetische Plakate in Österreich 1945–1955. In: Kunst. Kommunikation. Macht. Sechster Österreichischer Zeitgeschichtetag 2003. Hg. von Ingrid Bauer, Helga Embacher, Ernst Hanisch, Albert Lichtblau und Gerald Sprengnagel, Innsbruck 2004, S. 63–72; Barbara Stelzl-Marx, „Russenkinder“. Besatzung und ihre Kinder. In: Stefan Karner/Gottfried Stangler, Österreich ist frei“. Der österreichische Staatsvertrag 1955. Beitragsband zur Ausstellung auf Schloss Schallaburg 2005, Horn 2005, S. 163–168.

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was die Sowjetsoldaten den Kindern alles schenkten. Hier nur eine kleine Auswahl: ‚Da bekamen die Kinder ein Sackerl mit Zuckerln [...], dann wurden wir alle mit Fleisch bewirtet. Als wir gegessen hatten, sagte ein Russe zu mir, ich soll mit ihm gehen. Da führte er mich in ein Zimmer und gab mir eine schöne Puppe. Dann ging er mit mir noch weiter und gab mir eine Flasche flüssigen Honig und eine Schachtel Zucker. Fleisch und Brot hatten wir genug zu essen. [...] es war sehr schön von den Russen, dass sie mir so viel geschenkt haben.‘“87 Bewusst hebt der Autor hervor, wie sehr die nationalsozialistische Propaganda selbst auf die Kinder eingewirkt hatte und sie die Rotarmisten gleichsam als „bösen Wolf“ fürchten ließ. Erst die positiven Erfahrungen mit den sowjetischen Soldaten – so der Artikel – ließ sie die „Schauermärchen“ vergessen. Eine ähnliche Reaktion erhoffte man sich anscheinend auch von erwachsenen Lesern: „Alle diese kleinen Erlebnisse werden im Ton kindlicher, vorbehaltloser Anerkennung geschrieben, obwohl die nazistische Propaganda auch vor den Kleinsten nicht Halt gemacht und ihren leichtgläubigen Sinn durch Schauermärchen vergiftet hatte. ‚Früher, als noch Krieg war, sagte man zu uns, wenn wir schlimm waren: Na, wart nur, wenn die Russen kommen!‘, klagt der kleine Peter Presinger. ‚Sie waren für uns Kinder so wie der böse Wolf für das Rotkäppchen. Aber als wir die Soldaten dann kennen lernten, waren sie für uns keine Wölfe, sondern gute Freunde geworden. Wenn sie beisammensaßen und auf ihren Musikinstrumenten spielten, kraxelten wir vier Geschwister gern zu ihnen auf den Schoß, und unsere Soldaten ließen uns auch Trompete blasen.‘“88 Mehrere Zeichnungen, die etwa einen Rotarmisten mit Kinderwagen darstellen, untermauern noch den Grundtenor dieses Artikels.

„Als Russenkind war ich das Letzte“: Zum Umgang in der österreichischen Familie und Gesellschaft Allein die selbst heute noch verwendete Bezeichnung „Russenkind“ verweist auf die Diskriminierung und Stigmatisierung, der die aus einer Beziehung zwischen einer Österreicherin und einem sowjetischen Besatzungssoldaten hervorgegangenen Kinder in der österreichischen Nachkriegsgesellschaft vielfach ausgesetzt waren. Jahrelang waren die Besatzungskinder für offizielle Stellen wie die Fürsorge ein Problem, für die breite Öffentlichkeit ein beliebtes Versatzstück scheinmoralischer allgemeiner Entrüstung.89 Auch wirtschaftliche Prob87 „Malinki spat“. In: Österreichische Zeitung vom 16. 3.1947, S. 4. 88 Ebd. 89 So verfolgte die Fürsorge genau, ob sich der sowjetische „Kindsvater“ um den Unterhalt seines Kindes sorgte und welches Einvernehmen unter den Eltern herrschte. Im Falle der 1948 geborenen Vera Ganswohl wurde dem Magistrat der Stadt Wien sowohl der Name als auch das Geburtsdatum, die Staatsangehörigkeit und der aktuelle Wohnort – „Flughafen Mödling“ – angegeben. Im Situationsbericht wurde vermerkt, dass „Km. [Kindsmutter] mit dem Kv. [Kindsvater] seit 1945 beisammen [ist]. Dzt. bekommt Kv. keine Heiratsbewilligung. Die Ke. [Kindseltern] leben in gutem Einvernehmen. Der

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leme spielten eine Rolle, weil die in die Sowjetunion zurückgekehrten Väter – so ihre Adresse überhaupt bekannt war – nicht zur Alimentationspflicht herangezogen werden konnten.90 Nichtsdestotrotz standen die Mütter in der Mehrzahl der Fälle zu ihren Kindern: Von österreichweit 603 Fällen, in denen die Mütter von der Fürsorge aufgefordert wurden, ihre Kinder zur Adoption freizugeben, erklärten sich nur 92 dazu bereit, und das vor allem, um ihm bessere Lebenschancen zu bieten.91 Der Terminus „Russenkind“ war noch in den 1960er Jahren ein weit verbreitetes Schimpfwort unter Jugendlichen und Kindern, die diesen Begriff von ihren Eltern als Synonym für besonders Verachtenswertes übernommen hatten, vielfach ohne genau zu wissen, was dahinter an Beleidigendem steckte.92 So berichtet auch der im Februar 1947 geborene F. R., dass er als Sohn eines in Tulln stationierten Soldaten in den Häusern seiner Freunde unerwünscht war: „Als ‚Russenkind‘ war ich das Letzte. Die Eltern meiner Freunde haben mich aus ihren Häusern hinausgejagt.“93 Die Gleichaltrigen aus dem Dorf griffen das von Erwachsenen abwertend eingesetzte Etikett „Russenkind“ auf und verwendeten es als Schimpfwort, erinnert sich F. R. Zwei Gründe macht F. R. dafür verantwortlich, dass „die Russen“ – und somit auch sein Vater – im Ort insgesamt und im Elternhaus seiner Mutter im Speziellen nicht gerne gesehen waren: einerseits die Vergewaltigungen zu Kriegsende, andererseits der hohe Anteil an überzeugten „Nazis“. Es überrascht kaum, dass diese beiden Faktoren gleichsam in einem Atemzug genannt werden: Schließlich bestätigten und verstärkten die Übergriffe, die von den Nationalsozialisten propagierten rassistischen Feindbilder, die seit Jahrhunderten tradierten Negativbilder über die „Gefahr aus dem Osten“ und die antikommunistische Stimmung zu Kriegsende. In der kleinen Gemeinschaft des Dorfes, wo jeder jeden kannte und über alles Bescheid wusste, wurde dieses negative, von der NS-Propaganda geprägte „Russenbild“ außerdem auf jene österreichischen Frauen übertragen, die eine Beziehung mit einem Besatzungssoldaten hatten, und auf die Kinder, die daraufhin geboren wurden. Die „Rassenschande“ ging gleichsam auf sie über und prägte ihr weiteres Leben. Aufgrund dieser Stigmatisierung wurden zwei der insgesamt drei „Russenkinder“ im Ort Alkoholiker, so die Einschätzung von F. R.

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Kv. sorgt für den Unterhalt der Km. u. des Kindes.“ In der Geburtsurkunde des Standesamtes Wien-Favoriten wurde der Vater allerdings nicht vermerkt, da der Besatzungssoldat trotz der genauen Nennung der Mutter nicht vorgeladen und die Vaterschaft somit juristisch nicht festgestellt wurde. Vgl. AdBIK, Bestand Rote Armee, Sammlung Vera Ganswohl. Frau Vera Ganswohl sei für die Bereitstellung der Unterlagen und Informationen sehr herzlich gedankt. Aufgrund der hohen Zahl an Besatzungskindern weltweit versuchten die Sozialbehörden in der Nachkriegszeit ein internationales Alimentationsabkommen durchzusetzen, allerdings ohne Erfolg. Vgl. Besatzungskinder. In: Arbeiter-Zeitung vom 3.11.1955. Ebd. Berger/Holler, Trümmerfrauen, S. 189. F. R., freundliche Auskunft. Tulln, 17. 6. 2004.

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Bezeichnend ist, dass F. R.s Mutter ihrem späteren österreichischen Mann erzählte, dass sie von einem sowjetischen Soldaten vergewaltigt worden wäre, da dies, wie sie meinte, weniger mit Schande behaftet war als der Umstand, eine Beziehung mit einem „Russen“ eingegangen zu sein und ein gemeinsames Kind auf die Welt gebracht zu haben. Trotz dieser offiziellen Distanzierung von dem Rotarmisten fand F. R. nach dem Tod der Mutter ein Foto seines sowjetischen Vaters in ihrem Ausweisetui, das sie ständig bei sich getragen hatte. Der Verleugnung dieses anscheinend glücklichen Lebensabschnittes mit dem Besatzungssoldaten nach außen hin war offensichtlich keine innere Loslösung gefolgt. Eine gewisse Zäsur stellten der Abzug der Truppen und das Ende der Besatzung beim Umgang mit den „Russenkindern“ dar. So erfuhr etwa die 1946 in St. Pölten geborene Eleonore Dupuis erst 1955, dass sie die Tochter eines sowjetischen Besatzungssoldaten war. Bis dahin hatte sie ihre Mutter in dem Glauben belassen, dass der bei einem Unfall ums Leben gekommene Vater der älteren Schwester auch ihr Vater war: „Aber dann hat sie mir doch die Wahrheit gesagt, weil es wahrscheinlich nicht anders gegangen wäre, als mit Lügen. Und das hat sie nicht gemacht. Da war ich natürlich sehr erstaunt, aber irgendwie hat es mir gefallen, so anders zu sein, weil einen russischen Vater hat ja nicht jeder. Das war damals schon gegen Ende der Besatzung. Ich war damals neun Jahre alt. Oder es war sowieso im Zuge, wie die Besatzungsmächte abgezogen sind, das kann sein. Dass meine Mutter dann in dieser Situation gedacht hat, jetzt kann ich es ihr sagen. Das kann auch sein.“94 Ob die Mutter Eleonore Dupuis vor einer etwaigen Benachteiligung durch Nachbarn, Verwandte oder Freunde bewahren wollte und deswegen so lange geschwiegen hatte, ist unklar, wäre aber vor dem Hintergrund der oben dargestellten Stigmatisierung durchaus nachvollziehbar. Frau Dupuis selbst erinnert sich allerdings nicht, jemals als Tochter eines sowjetischen Besatzungssoldaten diskriminiert oder benachteiligt worden zu sein. Im Gegenteil, sie empfand es stets als interessant und positiv, „etwas anderes zu sein“. In anderen Familien hält das Schweigen bis heute, weigern sich insbesondere die Frauen selbst, die eine Beziehung mit einem Besatzungssoldaten hatten, über diese Zeit zu sprechen. Diese Tabuisierung kommt vor allem zum Tragen, wenn sich Nachkommen auf der Suche nach dem Vater oder Großvater an jede zusätzliche, oft noch so spärliche Information klammern. Ein Beispiel dafür ist eine Freundin der Mutter des vorab erwähnten F. R., die gleichfalls ein Verhältnis mit einem Rotarmisten, zudem mit einem Kameraden des Vaters hatte und bis heute nicht darüber reden will.95

94 Eleonore Dupuis vom 27. 9. 2002 (AdBIK, OHI, VD-0200). 95 F. R.

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„... das ist alles, was ich weiß“: Auf der Suche nach dem Vater beziehungsweise dem Kind Die Suche nach dem Vater war und ist für viele Besatzungskinder – und selbst deren Kinder – zeit ihres Lebens ein Thema; wie viele es tatsächlich geschafft haben, kann ebenso wenig ermittelt werden wie die Gesamtzahl der Kinder, die Beziehungen mit Besatzungssoldaten entstammen. Bezweifelt werden muss allerdings, dass es sich hierbei um eine große Anzahl handelt, da zu viele Hindernisse und Schwierigkeiten im Wege standen.96 Eines der größten Probleme bei der Suche besteht darin, dass häufig die persönlichen Daten des sowjetischen Soldaten nur ungenau oder bruchstückhaft bekannt sind. Manchmal ist – abgesehen von ungefähren Orts- und Zeitangaben der Stationierung in Österreich – lediglich ein russischer Vorname überliefert. Die wenigen ursprünglich bekannten Angaben sind außerdem in vielen Fällen verloren gegangen, da das Thema des sowjetischen Vaters entweder in der Familie tabuisiert oder eine intensive Suche erst im Zuge der Öffnung Ende der 1980er Jahre aufgenommen wurde, als manche der wichtigsten Auskunftspersonen nicht mehr am Leben waren. Ein Beispiel dafür ist die vorab erwähnte Eleonore Dupuis, die von ihrem Vater Vor-, Nachnamen und die Region der Herkunft weiß. Trotz intensiver Recherchen, angefangen von Schreiben an die Russische und Österreichische Botschaft in Wien beziehungsweise Moskau, über Kontaktaufnahme mit ehemals sowjetischen Archiven und Behörden vor Ort bis hin zu Fernsehaufrufen in der Sendung „Ždi menja!“ – „Warte auf mich!“, blieb ihre Suche bisher ergebnislos. Ihre Mutter, die eventuell noch zusätzliche Informationen mitteilen hätte können, starb bereits vor einigen Jahren. Hinzu kommt, dass in der Nachkriegszeit keine Unterstützung von sowjetischer Seite bei der Suche nach ehemaligen Besatzungssoldaten zu erwarten war. Beispielsweise teilte die Österreichische Botschaft in Moskau im Oktober 1957 der Jugendfürsorge des Amtes der Niederösterreichischen Landesregierung mit: „Eine Ausforschung über das sowjetische Ministerium des Äußeren ist nicht möglich, dass Pokulov einerseits Sowjetbürger ist und überdies das genannte Ministerium Ausforschungen zu Privatzwecken ablehnt. Eine Ausforschung Pokulovs seitens der Kindesmutter käme daher nur auf dem Weg über das österreichische Rote Kreuz an das sowjetische Rote Kreuz in Frage.“97 Auffallend ist, dass im Fall vieler Besatzungskinder die Mütter – im Gegensatz zu ihren Kindern – in keiner Weise an einer Kontaktaufnahme mit dem ehemaligen Besatzungssoldaten interessiert waren beziehungsweise sind, diese 96 Allein am Ludwig Boltzmann-Institut für Kriegsfolgen-Forschung in Graz meldeten sich im Rahmen des Forschungsprojektes „Die Rote Armee in Österreich 1945–1955“ mehr als zehn „Russenkinder“ in der Hoffnung, mit Hilfe „neuer“ Dokumente aus russischen Archiven zumindest ein paar Spuren zu finden. Dabei handelt es sich natürlich nur um einen Bruchteil jener Besatzungskinder, die nichts von ihrem Vater wissen. 97 ÖBM, Personalakte R. H.

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sogar behinderten. Mit dieser bereits erwähnten Mauer des Schweigens sieht sich beispielsweise die Enkelin einer 1945 aus Schlesien nach Allensteig geflüchteten, damals 15-jährigen Frau konfrontiert, die spätestens ab 1946 eine dreijährige Beziehung mit einem Kirgisen einging. Obwohl ihr Sohn 1947 geboren wurde, konnte das Verhältnis zum Besatzungssoldaten weitestgehend verheimlicht werden, sodass nur die engste Familie Genaueres wusste. Heute weigert sich die Frau, ihrer Enkelin bei der Spurensuche nach dem ehemaligen Rotarmisten zu helfen oder auch nur andeutungsweise über ihre „große Liebe“ zu sprechen: „Nun ist meine Großmutter bis zum heutigen Tage nicht bereit, etwas über meinen Großvater zu erzählen. Von meiner Urgroßmutter, die sich immer noch bester Gesundheit erfreut, habe ich vor einiger Zeit einige Details erfahren können. Sie kann sich allerdings nicht mehr so recht erinnern.“98 – „Es gibt auch ein Foto von ihm, welches meine Großmutter besitzt und natürlich nicht herausrückt. Auch haben beide noch Jahre später heimlich (meine Großmutter war bereits mit einem anderen Mann verheiratet) Briefe ausgetauscht.“99 Die Enkelin vermutet, dass die jahre- beziehungsweise jahrzehntelange Verheimlichung der Beziehung und mögliche moralische Bedenken für diese Tabuisierung seitens der Großmutter ausschlaggebend sind. Die Ambivalenz der Gefühle kommt durch folgende Schilderung zum Ausdruck, die auch auf die äußeren Merkmale Bezug nimmt: „Nun ist es in unserer Familie so, dass alle blond und blauäugig sind, mit Ausnahme von meinem Vater und mir, die wir doch ‚etwas‘ asiatisch aussehen. Meine Großmutter liebt mich sehr und nennt mich immer eindringlich: ‚mein kleines schwarzes Luder‘. Ich weiß, dass ich eine Menge von meinem Großvater geerbt habe und dass meine Großeltern eine innige Liebe verband. Es ist mir sehr wichtig, mehr über meinen Großvater zu erfahren und ihn eventuell zu finden.“100 Auch der folgende Ausschnitt aus einem Brief an das Ludwig BoltzmannInstitut für Kriegsfolgen-Forschung veranschaulicht deutlich den großen Wunsch der Tochter eines sowjetischen Besatzungssoldaten, ihren Vater zu finden, und zugleich die Tabuisierung dieses Themas innerhalb der Familie und des Freundeskreises: „Nun zu meinem Vater: Er war in den ersten Nachkriegsjahren (wie lange weiß ich aber nicht) als Angehöriger der Roten Armee mit Dienstgrad Oberleutnant oder Hauptmann Korrespondent der ‚Russischen Militärzeitung‘ (früher Sitz der Arbeiter-Zeitung im 5. Wiener Gemeindebezirk) und dürfte ca. 25 bis 26 Jahre alt gewesen sein. Seine Heimatstadt war Kursk. Die Leute sprachen ihn mit ‚Iwan‘ an. Ich vermute, dass dies sein Vorname war. Nach seiner Ablöse kam er nochmals nach Wien und besuchte meine Mutter, da sie keine seiner Briefe beantwortet hatte. Ich war damals ein bis zwei Jahre alt. Er wusste also von meiner Existenz. Meine Großmutter hatte alle seine Briefe ver98 M. K. an Barbara Stelzl-Marx vom 6. 5. 2004. 99 M. K. an Barbara Stelzl-Marx vom 26. 5. 2004. 100 M. K. an Barbara Stelzl-Marx vom 6. 5. 2004.

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schwinden lassen, da sie Angst hatte, dass meine Mutter meinem Vater nach Russland folgen würde. Dann ist offensichtlich die Verbindung abgebrochen worden. Es war mir nicht möglich, von meiner Mutter, den Verwandten und auch den Freunden mehr über meinen Vater zu erfahren. Es wurde alles abgeblockt, so dass ich nicht mehr über den Verbleib meines Vaters weiß. In der Hoffnung, dass diese Suche nun endlich erfolgreich wird.“101 In einigen Fällen glückt allerdings diese Suche nach den persönlichen Spuren und Wurzeln, findet ein Wiedersehen – oder sogar erstes Treffen – nach Jahrzehnten statt. Die Dramatik, Emotionalität, Freude und auch Angst in dieser Situation ist schwer zu übertreffen. Vera Ganswohl sah ihren Vater 1983 – mehr als dreißig Jahre nach ihrer Trennung – in Moskau wieder. Noch heute kommen ihr Tränen, wenn sie an das Treffen vor dem Hotel Kosmos denkt: „Aber das war wirklich für alle Beteiligten so ein, irgend so ein Ereignis, das, glaube ich, nicht nachvollziehbar ist für jemanden anderen. [...] An sich bin ich ein recht stabiler Mensch und sehr ausgeglichen, aber das war ganz einfach so viel Gefühl und so viel Emotionen, die da hochgekommen sind. Und das alles so zu verkraften, das hat mich eigentlich schon sehr hergenommen, muss ich sagen.“102 Auslöser des Wiedersehens war eine Ansichtskarte, die der Vater 1979 in ihren burgenländischen Heimatort sandte, wo er die Mutter 1945 kennen gelernt hatte. Der Schock und die Aufregung ob dieser unerwarteten Nachricht aus der Sowjetunion waren gewaltig, berichtet Vera Ganswohl. „Natürlich Schock! Aufregung! Und, und meine Mutter wollte alles so auf sich beruhen lassen. Ja, Vergangenheit und es war schön und aus. Ich hab natürlich ein vitales Interesse gehabt, meine Wurzeln, meinen Vater und so kennen zu lernen. Und sie hat dann lang gezögert, mir überhaupt die Adresse [zu geben ...]. Aber ich hab nicht locker gelassen.“103 Vera Ganswohl entschloss sich, trotz der Ressentiments der Mutter zu antworten und somit den Kontakt wiederherzustellen. Dem ersten Treffen in Moskau folgten weitere in Soči und, nach dem Tod des Vaters 1988, eine Gegeneinladung ihrer russischen Halbschwester nach Österreich. Ein Wiedersehen zwischen den Eltern fand nicht statt, eventuell, weil sich die Mutter nicht das idealisierte Bild ihrer Vergangenheit und Beziehung zerstören wollte: „Im Nachhinein ist es, glaube ich, alles euphorisch. Ja, also sie erzählt, dass das der Mann ist, der sie geprägt hat und sie ist am Land aufgewachsen und man hat sicher noch bestimmte Wertmaßstäbe gehabt. Aber sie hat halt gemeint, er hat ihr Erziehung und Manieren und alles das beigebracht. [...] Also, es ist nie irgendwas Negatives gekommen. Im Gegenteil, extrem euphorisch. Vielleicht auch ein bisschen verklärt in der Vergangenheit. [...] Sie hat also immer gesagt, es war die große Liebe ihres Lebens. Sie hat wohl nachher noch Beziehungen gehabt, sie war auch verheiratet. Hat sich dann scheiden lassen. Aber sie sagt, 101 E. K. an Peter Ruggenthaler vom 24. 4. 2003. 102 Ganswohl (AdBIK, OHI, VD-0326). 103 Ebd.

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das war’s halt [...] das war’s ganz einfach.“104 Selbst bei wichtigen Jubiläen, wie dem 18. oder 21. Geburtstag, nahm die Mutter immer Bezug auf den nicht präsenten Vater, indem sie etwa „Deine Eltern“ oder „das ist im Sinne Deines Vaters“ in der Glückwunschkarte vermerkte. Auch Briefe, Kleidungsstücke oder persönliche Gegenstände des Vaters bewahrte sie Reliquien gleich auf.105 Sie wurden gleichsam zum Symbol einer glücklichen Zeit. Auf anderem Weg, nämlich mit Hilfe der russischen Fernsehsendung „Ždi menja“, gelang der 1946 in Niederösterreich geborenen F. S. im Dezember 2003 eine Kontaktaufnahme mit ihrer russischen Familie. Zwar war ihr Vater bereits vor 17 Jahren verstorben, doch lebten zwei seiner Söhne, für welche die Tatsache, dass „plötzlich eine österreichische Halbschwester auftauchte“, einen Schock bedeutete. Nichtsdestotrotz erlangte sie durch dieses Treffen ihren Seelenfrieden, kam gleichsam zur Ruhe. Ihr Leben lang hatte es sie beschäftigt, wer ihr Vater eigentlich war.106 Erst mit neun Jahren hatte F. S. zufälligerweise und etwas unsanft von ihrem Vater erfahren: „Weißt eh, dein Vater ist ein Russ’“, hatte ihr eine Schulkameradin am Heimweg offenbart. Mühsam begann sie, einige Geschichten und Erinnerungen zusammenzutragen. Gerade die Großmutter erzählte daraufhin stets sehr positiv von ihrem Vater, er wäre der ideale Schwiegersohn gewesen und hätte sich, als er noch in Österreich war, immer um die Familie gesorgt.107 In den Erzählungen der Großmutter kam – abgesehen von den wirtschaftlichen Aspekten – zudem die wichtige Funktion eines Beschützers hinzu, der die Frauen der Familie vor Übergriffen bewahrte. Schließlich waren F. S.s Mutter und Tante mehrfach vergewaltigt worden, sodass sie resümiert: „Eh interessant, dass sie sich trotzdem in einen Russen verliebt hat.“108 Die Mutter heiratete Anfang der 1950er Jahre, brachte einen Sohn auf die Welt und schloss – wahrscheinlich auch aus Enttäuschung, nichts mehr vom Besatzungssoldaten gehört zu haben – mit „dieser Episode in ihrem Leben“ ab. Erst nachdem ihre Mutter und Großmutter gestorben waren und sie auf niemanden mehr Rücksicht nehmen brauchte, nahm F. S. gezielt ihre Suche auf und hatte innerhalb kürzester Zeit Erfolg. Gleichfalls mit Hilfe des obgenannten Programms, aber gewissermaßen auf umgekehrtem Weg gelang es dem ehemaligen sowjetischen Besatzungssoldaten in Österreich, V. G., seine „österreichische Familie“ ausfindig zu machen und mit ihr in Kontakt zu treten. Während einer Reise nach Deutschland im Sommer 2004 kam es zu einem ersten Treffen mit seinem 1947 geborenen Sohn und unter anderem dessen Tochter, die das Wiedersehen am meisten forciert 104 105 106 107

Ebd. Ebd. F. S. Vgl. dazu auch die unter einem Pseudonym herausgegebene Biographie Marie Bernard, Maria die Unbeugsame, Wien 2003, S. 50 ff. 108 F. S.

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hatte.109 Sie hatte dabei das Gefühl, dass sie ihren Großvater, den sie das erste Mal im Leben sah, schon „ewig gekannt“ hätte und dass schon „ewig ein Kontakt“ bestanden hätte. Ihr Vater, der Sohn des ehemaligen Besatzungssoldaten, hatte bis dahin nur erfahren, dass er einen anderen Vater als seine Geschwister hatte, da ihm seine Mutter diesbezüglich ein Frage- und Redeverbot auferlegt hatte. Bis heute weiß der Rest der Familie nicht, dass es sich bei seinem Vater um einen ehemaligen Rotarmisten handelt. Schließlich war seine Mutter 1946 vor die Wahl gestellt worden, hochschwanger einen Österreicher zu heiraten oder ihres Elternhauses verwiesen zu werden, wodurch „das Ganze vertuscht werden konnte“.110 V. G., der noch vor der Geburt seines Sohnes demobilisiert worden war, charakterisierte dieses erste Treffen tief bewegt als unvergesslich und unbeschreibbar. 57 Jahre hatte er nichts Genaues über seine einstige österreichische Geliebte und ihr gemeinsames Kind gewusst.111 Gerade dieses Beispiel und auch das vorab dargestellte Treffen zwischen Vera Ganswohl und ihrem Vater zeigen, dass natürlich auch für ehemalige Besatzungssoldaten beziehungsweise deren Kinder und Enkel eine persönliche Aufarbeitung der Stationierung in Österreich, gleichsam eine Rekonstruktion der eigenen Biographie wichtig ist. Abschließend sei hier auf die Enkelin eines aus Kasachstan stammenden Besatzungssoldaten hingewiesen, die einerseits herausfinden möchte, ob sie tatsächlich in Österreich Verwandte hat und ob das Kind, das ihr Großvater anscheinend zeugte, einer freiwilligen Beziehung oder eventuell einer Vergewaltigung entstammt: „After the war, he returned to Kazakhstan where one day he got an anonymous note congratulating him on the birth of a son in Austria. My grandfather spoke of this only once in his life, so the family is really not sure what happened and whether it was a rape case. I only know that the Austrian girl’s name was Helen and her father was a university professor. [...] The bottom line is that I want to find out what happened there – whether the child (this would be my uncle born either in 1945 or 1946) survived and what happened to the woman.“112

109 Die Enkelin hatte bereits vor der Nachricht aus Russland versucht, etwas über ihren Großvater in Erfahrung zu bringen. Allerdings wollte die Großmutter, dass sie mit einer intensiven Suche warten sollte, bis sie verstorben sei. Sie teilte ihrer Enkelin jedoch den Vor- und Vatersnamen des sowjetischen Soldaten, ihrer „großen Liebe“, mit, den diese – als Zeichen der Verbundenheit mit dem „unbekannten Großvater“ – ihrem bald darauf geborenen Sohn als zweiten Vornamen gab. Durch die Kontaktaufnahme seitens des ehemaligen Rotarmisten wurde der Plan der Großmutter, „das Ganze auf sich beruhen zu lassen“, durchkreuzt. 110 A. S. vom 17. 8. 2004. Die ehemalige Geliebte des Besatzungssoldaten hat sich bisher noch nicht zu einer direkten Kontaktaufnahme bereit erklärt. 111 V. G. vom 17. 8. 2004. 112 Z. Z. an Barbara Stelzl-Marx vom 1.10. 2002.

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Barbara Stelzl-Marx

Epilog Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die zehnjährige Besatzungszeit in Österreich ein weites Spektrum an Beziehungen zwischen den sowjetischen Soldaten und einheimischen Frauen mit sich brachte, die bis heute – auf beiden Seiten – Spuren in den jeweiligen Biographien hinterlassen haben. Trotz starker gesellschaftlicher Ressentiments stellten die freiwilligen Verhältnisse mit Besatzungssoldaten mitunter eine zentrale Überlebensstrategie dar, die – abgesehen von wirtschaftlichen Vorteilen – gewissermaßen eine Rückkehr zu einem friedlichen Leben bildeten. Auffallend ist, dass ursprüngliche Feindbilder und Ressentiments der Nachkriegszeit auch vor dem Hintergrund der besonders intensiv tradierten Übergriffe durch Rotarmisten teilweise immer noch fest im kollektiven Gedächtnis verankert sind und Bereiche dieses emotional hoch besetzten Themas nach wie vor tabuisiert werden. Auf der anderen Seite setzen sich Besatzungskinder und -enkel über ein jahrzehntelanges Frage- und Redeverbot hinweg, beseelt von dem Wunsch, die eigenen, vielfach von Mythen umwobenen Wurzeln zu finden. Das von der österreichischen Bevölkerung beziehungsweise den sowjetischen Truppen vollkommen konträr rezipierte „Russendenkmal“ auf dem Wiener Schwarzenbergplatz, das auch den unbekannten Soldaten gewidmet ist, erhält somit eine neue Dimension.

Die UdSSR und der alliierte Kontrollmechanismus für Deutschland 1943–1948 Jochen Laufer Der Alliierte Kontrollrat war ein ungeliebtes Kind der UdSSR. Die sowjetische Führung trauerte ihm erst nach, als er auch durch ihr Verschulden seine Arbeit eingestellt hatte und ihr Versuch gescheitert war, die Westmächte aus Berlin zu verdrängen.1 Als der Kontrollrat entstand – und auch während seiner späteren Existenz – begriffen nur wenige Planer und Politiker in Ost und West gemeinsame Institutionen der Alliierten als Chance zur konstruktiven Lösung des deutschen Problems. Besonders in Moskau wurde die Gefahr gesehen, dass solche gemeinsamen Einrichtungen eigene Lösungen erschweren und die selbständigen Handlungsmöglichkeiten der UdSSR in ihrer Zone einengen würden. Diese wie die meisten anderen Aussagen zur sowjetischen Deutschlandpolitik stehen noch immer unter dem Vorbehalt, dass die Erschließung der sowjetischen Quellen nicht abgeschlossen ist. Trotz einer „Archivrevolution“2 nach dem Zusammenbruch der UdSSR war die Öffnung der ehemals sowjetischen Archive niemals vollständig. Dies gilt auch für das Archiv für Außenpolitik der Russischen Föderation. In diesem Zustand drückt sich die Schwäche der zeitgeschichtlichen Forschung in Russland aus. Unkenntnis (Furcht vor Skandalen), politische Interessen (vermeintlicher Schutz vergangener Errungenschaften) und Unterfinanzierung bestimmen die Benutzungspraxis in russischen Archiven. In dieser Situation erwies sich das gemeinsame Interesse an einer fundierten Quellenedition (in russischer und deutscher Sprache) zur Politik der UdSSR

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Auf der letzten Tagung des Rats der Außenminister in Paris schlug der Außenminister der UdSSR Vyšinskij am 24. 5.1949 vor, „die Tätigkeit des Kontrollrates für Deutschland auf der früheren Basis als eines Organs wiederaufzunehmen, das dazu berufen ist, die oberste Gewalt in Deutschland auszuüben“. Vgl. Dokumente zur Deutschlandpolitik der Sowjetunion, Band 1: Vom Potsdamer Abkommen am 2. August 1945 bis zur Erklärung über die Herstellung der Souveränität der Deutschen Demokratischen Republik am 25. März 1954, Berlin (Ost) 1957 (im Folgenden zit. als DDS), S. 218. Vladimir A. Kozlov/Ol’ga Lokreva, »Archivnaja revoljucija v Rossii« (1991–1996). In: Svobodnaja Mysl’, (1997) H. 1, S. 115–123. Zuletzt dazu Vladimir P. Kozlov, Problemy Dostupa v Archivy i ich ispol’zovanija. In: Novaja i novejšaja istoria, (2003) H. 5, S. 79– 103.

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in der deutschen Frage3 als ein aussichtsreicher Weg, um zu einer systematischen, möglichst weitgehenden Erschließung der Quellen im Archiv für Außenpolitik der Russischen Föderation zu kommen. Am besten gelang dies in Bezug auf die Vorgeschichte und Geschichte des Alliierten Kontrollrats. Hierzu sind die Unterlagen des Außenkommissariats (seit März 1946: Außenministeriums) der UdSSR weitgehend lückenlos offengelegt worden. Das Ziel dieser Fallstudie ist ein Zweifaches. Zum einen gilt es, die Beteiligung der UdSSR an der Aushandlung des alliierten Kontrollmechanismus’ in der Europäischen Beratenden Kommission (European Advisory Commission – EAC) zu rekonstruieren, um zu klären, in welchem Verhältnis die sowjetische Politik in der EAC bei der Festlegung des Kontrollmechanismus’ für das zu besetzende Deutschland zu Stalins Plänen zur Aufgliederung dieses Landes standen. Zum anderen wird die Haltung der UdSSR in und zu den zentralen Kontrolleinrichtungen der Alliierten in Deutschland in der kurzen Zeit ihres Bestehens analysiert. Hier ist danach zu fragen, in welchem Verhältnis die sowjetische Politik im Alliierten Kontrollrat zu Stalins Deutschlandzielen nach dem Zweiten Weltkrieg stand. Gab es die von vielen noch heute angenommene doppelte Wende in der sowjetischen Deutschlandpolitik von den Zerstückelungsplänen während der Kriegsjahre (die aus westlichen Quellen seit langem bekannt waren) hin zu einer gesamtdeutschen Politik nach dem Zweiten Weltkrieg und zurück zur Zwei-Staaten-Politik nach Stalins Tod? Die Suche nach Antworten auf diese Fragen bietet die Möglichkeit, neue Forschungsergebnisse zur sowjetischen Deutschlandpolitik zu diskutieren und eigene Hypothesen vorzustellen. Ein besonders günstiger Umstand für die hier vorgestellte Fallstudie war das Erscheinen des fünften Bandes der ersten Reihe der Dokumente zur Deutschlandpolitik.4 Dieser Doppelband bietet die erste wissenschaftlich-kritische Edition der Aufzeichnungen und Papiere der Europäischen Beratenden Kommission, die ausschließlich aus der Provenienz des Foreign Office und des State Departement stammen. Durch diese Edition bietet sich die Möglichkeit zu prüfen, welche der Vorstellungen und Überlegungen, die innerhalb des sowjetischen Außenkommissariats und der dort angesiedelten Kommissionen ausgearbeitet wurden, tatsächlich in den Verhandlungsprozess mit den Westmächten eingeflossen sind.

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Jochen P. Laufer/Georgij P. Kynin (Hg.), Die UdSSR und die deutsche Frage 1941– 1948. Dokumente aus dem Archiv für Außenpolitik der Russischen Föderation, 3 Bände, Berlin 2004. Die russische Ausgabe erschien 1996, 2000 und 2003 in Moskau. Dokumente zur Deutschlandpolitik, I. Reihe, Band 5 (Europäische Beratende Kommission. 15. Dezember 1943 bis 31. August 1945). Hg. vom Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, München 2003 (im Folgenden zit. als DzD).

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1.

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Die Vorbereitung des alliierten Kontrollmechanismus’ für Deutschland (1943/44)

Im Sommer 1943, als sich in der Anti-Hitler-Koalition die Erwartung auf ein baldiges siegreiches Ende des Krieges durchsetzte, wurden in einem Aide-Mémoire des Foreign Office die Prinzipien für die Einstellung der Feindseligkeiten mit den europäischen Mitgliedern der Achse dargelegt.5 Dieses Anfang Juli an die Botschafter der UdSSR und der USA übergebene Dokument bezeichnet Lothar Kettenacker treffend als eines der „folgenreichsten Schriftstücke des Zweiten Weltkriegs“.6 Es enthielt drei fundamentale Bedingungen für die Lösung der deutschen Frage (Punkt 1: bedingungslose Kapitulation, Punkt 5: Bildung einer interalliierten Kommission zur Durchsetzung der Waffenstillstandsbedingungen und Punkt 7: vollständige oder teilweise Besetzung) und implizierte in all seinen Bestimmungen die Übernahme der obersten Gewalt in Deutschland durch die Alliierten. Dieses Aide-Mémoire löste nicht nur in Washington,7 sondern auch in Moskau seit Juli 1943 umfangreiche Aktivitäten aus.8 Letztere zielten darauf, die von den Briten aufgezeigten Möglichkeiten und Instrumente für die Sicherung größtmöglichen sowjetischen Einflusses auf die Aushandlung der Waffenstillstandsbedingungen und ihrer Durchsetzung in Deutschland zu sichern. Statt einer schnellen Antwort auf dieses Memorandum entschied sich Stalin, eine Kommission unter Vorsitz von Klement Vorošilov einzusetzen.9 Vorošilov – zwischen 1925 und 1940 Volkskommissar für Kriegs- und Flottenangelegenheiten bzw. für Verteidigung, seit 1926 Mitglied des Politbüros, seit 1941 einer der Stellvertreter Stalins als Vorsitzender des Rats der Volkskommissare und während des Krieges Mitglied des Staatlichen Verteidigungskomitees und der Stavka – gehörte zu den engsten Gehilfen Stalins. Der von Vorošilov geleiteten Kommission, die hier kurz Vorošilov-Kommission genannt wird, gehörten vier Militärs (Šapošnikov als stellvertretender Vorsitzender, Ignat’ev, Isakov und Galaktionov) und vier Diplomaten (Potëmkin, Majskij, Krylov und Bazarov als Kommissionssekretär) an. Die Kommission arbeitete von September 1943 bis 5

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DzD, I. Reihe, Band 4, S. 445, Anm. 2. Eine deutsche Übersetzung findet sich in: Die Sowjetunion auf internationalen Konferenzen während des Großen Vaterländischen Krieges 1941 bis 1945 (im Folgenden zit. als „SAIK“), Band 1: Die Moskauer Konferenz der Außenminister der UdSSR, der USA und Großbritanniens (19.–30.10.1943). Dokumentensammlung. Hg. vom Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der UdSSR, Moskau 1988, S. 55–57. Lothar Kettenacker, Krieg zur Friedenssicherung. Die Deutschlandpolitik der britischen Regierung während des Zweiten Weltkriegs, Göttingen 1989, S. 222. Vgl. DzD, I. Reihe, Band 4, S. 445–450, Kommentar des US-Subcommittee on Security Problems vom 7. 8.1945 zum britischen Memo vom 1. 7.1943. Vgl. Laufer/Kynin (Hg.), UdSSR und deutsche Frage, Band 1, S. 122–129. Die Bildung erfolgte auf Beschluss des Politbüros des ZK der VKP(b) vom 4. 9.1943 durch den Rat der Volkskommissare der UdSSR am selben Tag. Beide Gremien wurden von Stalin geleitet.

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Anfang 1945.10 Im Archiv für Außenpolitik der Russischen Föderation sind Protokolle und Aufzeichnungen von 45 Sitzungen dieser Kommission aus der Zeit von September 1943 bis Juni 1944 überliefert.11 Ob auch später Sitzungen durchgeführt wurden, ist nicht bekannt. Die Kommission war zwar dem Außenkommissar unterstellt,12 tagte jedoch, wie wir aus einem Tagebucheintrag Majskijs wissen, im Kreml.13 Es ist zu vermuten, dass weitere Unterlagen dieser Kommission in den russischen Archiven liegen, die für die Hinterlassenschaften der Einrichtungen zuständig sind, denen die Kommissionsmitglieder und der Kommissionsvorsitzende angehörten. Die Europäische Beratende Kommission hatte einen ähnlichen Ursprung wie die Vorošilov-Kommission. Sie war ein Ergebnis der Überlegungen, die durch das im Juli 1943 an die Regierungen der USA und der UdSSR übergebene britische Memorandum ausgelöst wurden. Die Sprengkraft der darin behandelten Probleme für die Kriegskoalition offenbarte sich erstmals im Zusammenhang mit der italienischen Kapitulation, als Stalin fürchtete, von seinen westlichen Partnern hintergangen zu werden. Die Einsetzung der Kommission wurde zu einem der Hauptergebnisse der Moskauer Außenministerkonferenz im Oktober 1943. Die durch Spannungen zwischen der UdSSR auf der einen und den beiden Westmächten auf der anderen Seite gekennzeichnete Arbeit der Europäischen Beratenden Kommission muss vor dem Hintergrund des Kriegsverlaufs, in dem die UdSSR seit dem 22. Juni 1941 die Hauptlast des Kampfes gegen Deutschland trug, und im Zusammenhang mit den übrigen Konflikten zwischen diesen Mächten gesehen werden (Nichtanerkennung der sowjetischen Grenzverschiebung zwischen 1939 und 1940, Ausweichen der Westmächte vor Kriegszielabsprachen, Unstimmigkeiten bei der Verfolgung der Kriegsverbrechen und Katyn-Krise). Zu keinem Zeitpunkt entwickelte sich in dieser Kommission eine vertrauensvolle Zusammenarbeit. Weder die Westmächte noch die UdSSR waren bereit, ihre deutschlandpolitischen Ziele und Interessen offen zu legen. Die Vorošilov-Kommission und die EAC gewannen ihre Bedeutung aus dem Umstand, dass alle gegen Deutschland und dessen Satelliten kriegsführenden Staaten daran festhielten, die Kriegshandlungen erst nach Unterzeichnung einer formellen Kapitulation einzustellen. Für keine der beiden anderen im Herbst 1943 im Moskauer Außenkommissariat gebildeten Kommissionen (der Litvinov-Kommission zur Vorbereitung einer Friedenskonferenz und der Majskij-Kommission zur Vorbereitung der Reparationspolitik) gab es eine vergleichbare Perspektive. Dadurch wurde die Vorošilov-Kommission unter den drei im Zusammenhang mit der Moskauer Außenministerkonferenz gebildeten 10 Vorošilov und Bazarov an Stalin und Molotov vom 14. 2.1946 (AVP RF, f. 06/op. 6/p. 15/d. 150, Bl. 2–8). 11 Protokolle und Tagebuchaufzeichnungen der Vorošilov-Kommission (ebd., Bl. 11–183). 12 Protokoll Nr. 1 vom 6. 9.1943: Mitteilung Vorošilovs zur Arbeitsweise der Kommission (ebd., Bl. 12 f.). 13 Tagebucheintrag Majskijs vom 25.1.1944 (AVP RF, 017a/1/2/11, Bl. 16).

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Kommissionen im Außenkommissariat zeitweilig zur wichtigsten und wirksamsten, was sich auch darin zeigt, dass nur Ergebnisse dieser Kommission durch Stalin bestätigt wurden. Doch ihre Wirksamkeit blieb zeitlich eng begrenzt auf die Ausarbeitung des sowjetischen Entwurfs der Kapitulationsurkunde (September 1943 bis Februar 1944), danach wurden keine weiteren Vorschläge der Kommission durch Stalin bestätigt und durch den Vertreter der UdSSR in die EAC eingebracht. Seit März 1944 sank die Bedeutung der Vorošilov-Kommission auf das Niveau der übrigen Kommissionen im Außenkommissariat zurück, in denen zwar wichtige Elemente der sowjetischen Politik entwickelt wurden, auf deren Umsetzung diese Kommissionen jedoch keinen Einfluss nehmen konnten. Die eigentliche Arbeit an den Deutschland betreffenden Waffenstillstandsbedingungen begann in der Vorošilov-Kommission im Dezember 1943, unmittelbar nach der Teheraner Konferenz der drei Regierungschefs, die deutschlandpolitisch zu einem hohen Maß an Übereinstimmung geführt hatte.14 Bereits wenige Wochen später lag ein ins Detail gehender vollständiger sowjetischer Entwurf der deutschen Waffenstillstandsbedingungen15 zusammen mit einer Instruktion vor, die in Form eines „Protokolls“ abgefasst war.16 In beiden Dokumenten, die ohne Kenntnis der parallelen britischen Planungen entstanden waren, dominierte eine „Interalliierte Kontrollkommission“ als höchstes Organ der Vereinten Nationen zur Umsetzung des Dokuments über die bedingungslose Kapitulation Deutschlands. Daneben wurden zwei weitere Kommissionen der Alliierten genannt: die Interalliierte Reparationskommission und die Interalliierte Kommission für die Angelegenheiten der Kriegsgefangenen. In beiden für die sowjetische Position zur deutschen Kapitulation grundlegenden Dokumenten finden sich allerdings keine Bestimmung, wie, wann und wo die drei dort genannten alliierten Kommissionen gebildet werden sollten, wie sie zu gemeinsamen Beschlüssen kommen und welche Vollmachten sie haben sollten. Statt dessen durchzieht beide Dokumente ein Widerspruch zwischen den bereits vorhandenen Vertretern des Oberkommandos der UdSSR, des Vereinigten Königreichs und der USA, die zusammenfassend, aber irreführend als „Vertreter des Oberkommandos der Alliierten“ bezeichnet wurden, und den nicht vorhandenen alliierten Einrichtungen. Möglicherweise wurde stillschweigend vorausgesetzt, dass bei Fehlen dieser interalliierten Organe die einzelnen Oberkommandierenden handeln würden. Deren von Anfang an angestrebte Machtvollkommenheit wurde erst in Punkt 155 des Entwurfs bestimmt. „Alle Fragen der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit

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Die sowjetischen Protokolle und Materialien sind veröffentlicht in SAIK, Band 1. Die wichtigsten amerikanischen Unterlagen zur Teheraner Konferenz sind veröffentlicht in DzD, I. Reihe, Band 4. 15 Laufer/Kynin (Hg.), UdSSR und deutsche Frage, Band 1, S. 277–304. 16 Ebd., Band 1, S. 305–316.

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werden an folgende Personen übertragen: In der von den Streitkräften der UdSSR besetzten Zone – dem Vertreter des Oberkommandos der UdSSR –, in den von den Streitkräften des Vereinigten Königreichs und der USA besetzten Zonen – den Vertretern des Oberkommandos dieser Länder.“17 Nachdem die Briten ihre Vorschläge zur Zoneneinteilung unterbreitet hatten und sich darin ein hohes Maß an Übereinstimmung mit den sowjetischen Planungen zeigte,18 wurde die Vorošilov-Kommission durch Molotov angewiesen, eine Kurzfassung der Kapitulationsurkunde auszuarbeiten, um in der EAC zu einer schnellen Entscheidung zu kommen. Von interalliierten Kommissionen war nun nicht mehr die Rede. Statt dessen wurde durchgehend von den „Vertretern des Oberkommandos der Alliierten“ gesprochen.19 Dass damit die Vertreter der drei Mächte gemeint waren, zeigt sich in der Instruktion für Gusev, wo nur noch einmal von „Vertretern des Oberkommandos der Alliierten“, sonst immer von den Alliierten gesprochen wird. Selbst als die UdSSR am 4. Februar 194420 die von den Briten vorgeschlagene Beteiligung britischer und amerikanischer Truppen an der Besetzung des mitten in der SBZ gelegenen Berlins akzeptierte, verband sie das nicht mit der Funktion dieser Stadt als Sitz des obersten alliierten Kontrollorgans. Während Briten und Amerikaner in der Europäischen Beratenden Kommission bereits im Januar und März 1944 ihre Vorstellungen zum alliierten Kontrollmechanismus darlegten,21 blieb die sowjetische Position bis Ende August 1944 unbestimmt. Diese Verzögerungstaktik entsprach nicht den Vorbereitungen der Vorošilov-Kommission. Dort begannen im März 1944 – noch vor der Vorlage der amerikanischen Vorschläge – die Beratungen zum alliierten Kontrollmechanismus. Die Ausgangspunkte der Diskussion wurden in einem Entwurf für einen Bericht festgehalten, der die Ergebnisse einer Beratung der Kommission antizipierte, die noch nicht stattgefunden hatte. In diesem merkwürdigen Dokument wurde bekräftigt, dass „die oberste Gewalt in Deutschland im ersten Zeitabschnitt jedem der Oberbefehlshaber in der entsprechenden Besatzungszone zustehen“ müsse. Davon ausgehend wurde ein minimalistisches Modell der alliierten Organe vorgeschlagen: „Zur Abstimmung der politischen, wirtschaftlichen, militärischen und administrativen Vorgehensweise der drei Oberbefehlshaber genügt es [...], ein einheitliches interalliiertes Organ aus den Vertretern der drei Oberbefehlshaber zu bilden.“22 Da dieses 17 Ebd., Band 1, S. 303 f. 18 Vgl. Jochen Laufer, Die UdSSR und die Zoneneinteilung Deutschlands 1943/44. In: ZfG, 43 (1995), S. 309–331. 19 Laufer/Kynin (Hg.), UdSSR und deutsche Frage, Band 1, S. 311–331. 20 Ebd., Band 1, S. 315. 21 Vgl. DzD, I. Reihe, Band 5, S. 756–760: Machinery in Germany during the Period of Occupation – Memorandum by the United Kingdom Delegation (EAC /44/3 vom 15.1.1944) und ebd., S. 790–793: Proposed Control Machinery for the Administration of Military Government in Germany during the Occupation Period – Memorandum by the United States Representative (EAC/44/16 vom 25. 3.1944). 22 Laufer/Kynin (Hg.), UdSSR und deutsche Frage, Band 1, S. 371.

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weder betitelte noch unterzeichnete Dokument bereits die entscheidenden sowjetischen Forderungen zum Kontrollmechanismus enthielt, könnte es sich dabei um eine Direktive für die Vorošilov-Kommission handeln. Für eine solche Interpretation spricht auch, dass eine solche Einengung des Kontrollmechanismus’ auf die einzelnen Zonenoberbefehlshaber zu der von Stalin seit 1941 favorisierten Aufgliederung Deutschlands passt. Nach eingehender, jedoch leider nicht verzeichneter Diskussion am 18. und 21. März bestätigte die Kommission einen ersten, bisher nicht zugänglichen Entwurf für ein sowjetisches Memorandum zum Kontrollmechanismus.23 Zur ursprünglich vorgesehenen Weiterleitung des Memorandums an Molotov kam es jedoch nicht. Vielmehr berief Vorošilov, der nach der Kommissionssitzung gemeinsam mit Molotov, Vyšinskij und Dekanozov an einer Beratung im Arbeitskabinett Stalins teilgenommen hatte,24 bereits am folgenden Tag eine erneute Sitzung der Kommission ein, von der zum ersten Mal neben einem Beschlussprotokoll durch den Sekretär der Kommission, Bazarov, eine so genannte Tagebuchaufzeichnung angefertigt wurde. Dabei handelt es sich nicht um wörtliche Aufzeichnungen, sondern um die Zusammenfassung der wesentlichen Äußerungen der einzelnen Mitglieder in indirekter Rede. Diese Aufzeichnungen Bazarovs sind außerordentlich wertvoll, denn sie gestatten eine differenzierte Analyse der Verhandlungen in der Kommission und eine Zuschreibung bestimmter Positionen zu bestimmten Personen. Im Moskauer Archiv für Außenpolitik finden sich allerdings nicht die Originale, sondern lediglich die Abschriften dieser Tagebuchaufzeichnungen, die im Februar 1946 für den Abschlussbericht der Kommission an Molotov und Stalin angefertigt wurden. Bisher kennen wir nicht die Gründe, warum diese Tagebuchaufzeichnungen angefertigt wurden. Fest steht jedoch, dass nach der 24. Sitzung am 22. März 1944 von jeder Sitzung der Kommission neben dem Beschlussprotokoll eine solche Aufzeichnung vorliegt. Auf allen diesen Sitzungen war Deutschland Gegenstand der Beratungen. Möglicherweise wurden diese Aufzeichnungen angefertigt, als innerhalb der Kommission bzw. zwischen dem Kommissionsvorsitzenden und Molotov Meinungsverschiedenheiten auftraten, über die Stalin informiert werden wollte. Ob die Kommissionsmitglieder und der Kommissionsvorsitzende darüber unterrichtet waren, dass solche Aufzeichnungen angefertigt wurden und ob sie darauf Einfluss nehmen konnten, ist bisher nicht bekannt. Als Vorošilov am 22. März erklärte, dass es nach seiner Meinung verfrüht sei, den durch die Kommission erstellten und in den vorangegangenen Sitzungen nach eingehender Erörterung bestätigten Entwurf eines Memorandums zu 23 Protokoll Nr. 23 der Sitzung der Vorošilov-Kommission am 18. 3. und 21. 3.1944 (AVP RF, 06/6/15/150, Bl. 56). 24 Istoričeskij Archiv, (1996) H. 4, S. 71. Vyšinskij und Dekanozov wurden von 21.50– 21.55 und von 22.15–22.25 Uhr vor und während der Beratung zu Stalin gerufen, an der von 22.10–23.45 Uhr neben Molotov und Vorošilov auch Berija, Malenkov und Ščerbakov teilnahmen.

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den alliierten Organen im besetzten Deutschland an Molotov weiterzuleiten, vermerkte Bazarov keinen Widerspruch. Auch die diesbezüglichen Erläuterungen des Kommissionsvorsitzenden blieben unwidersprochen: „Im besetzten Deutschland sind die alliierten Organe nicht das Wichtigste, sondern zweitrangig. Sie bleiben den Aufgaben untergeordnet, die sich aus den Kapitulationsbestimmungen ergeben“ und könnten folglich auch erst nach deren Vereinbarung behandelt werden.25 Die Kommissionsmitglieder sahen darin eine höhere Weisung, die für sie nicht zur Diskussion stand. Anfang Mai wandte sich die Kommission auf zwei Sitzungen erneut dem Kontrollmechanismus zu. Im Mittelpunkt beider Sitzungen stand das Verhältnis der Besatzungsmächte und der von ihnen zu bildenden gemeinsamen Gremien zur deutschen Zentralregierung. Dieses Problem, vor dem alle drei Besatzungsmächte standen, war in den britischen und amerikanischen Vorschlägen ausgespart worden. Durch die Vorošilov-Kommission wurde das Verhältnis zur deutschen Regierung zwar eingehend erörtert, jedoch auch sie thematisierte diese Frage in ihrem Entwurf des sowjetischen EAC-Vorschlags nicht. Am 5. Mai 1944 äußerte sich Vorošilov widersprüchlich zu dieser Frage. Zum einen ging er von dem Axiom aus, „dass die gesamte Gewalt bei der Kontrolle der deutschen Regierung und der deutschen Staats- und Verwaltungsorgane in dem ersten Zeitraum des Prozesses der Kapitulation Deutschlands bei jedem der Oberbefehlshaber in seiner Zone liegen müsse“.26 Gleichzeitig erklärte er jedoch: „Die Alliierten müßten die Besatzung Deutschlands und die Kontrolle über die Tätigkeit der deutschen Staats- und Verwaltungsorgane so gestalten, dass die Deutschen Meinungsverschiedenheiten oder selbst teilweise fehlende Abstimmung zwischen den Alliierten in einzelnen während der Besatzungszeit entstehenden Fragen nicht zu ihren Gunsten ausnutzen können. Zu eben diesem Zweck müsse auch ein einheitliches, mit Vollmachten zur vorläufigen Abstimmung aller wichtigen Deutschland betreffenden Maßnahmen ausgestattetes Konsultativorgan gegründet werden, bevor diese Maßnahmen der deutschen Regierung zum Vollzug vorgelegt werden.“27 In diesem Moment argumentierte Vorošilov als Vertreter effektiver alliierter Organe, die ohne partielle Einschränkung der Machtvollkommenheit der Zonenoberbefehlshaber undenkbar waren. Tatsächlich legt die Forderung nach einem mit Vollmachten ausgestatteten Konsultativorgans die Vermutung nahe, dass Vorošilov von der Einheit Deutschlands nach dem Krieg ausging und auf die Einheit der Alliierten zielte. Am 5. Mai wurde Vorošilov in der Kommission lediglich durch Majskij widersprochen, der von jeder detaillierten Beschreibung der alliierten Organe als verfrüht abriet. 25 Notiz zur Sitzung der Kommission am 22. 3.1944 (AVP RF, 06/6/15/150, Bl. 58–61). Hervorhebung nicht im Original. 26 Laufer/Kynin (Hg.), UdSSR und deutsche Frage, Band 1, S. 386–390. Hervorhebung nicht im Original. 27 Ebd.

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Die Diskussion am 10. Mai, als sich die Vorošilov-Kommission zum letzten Mal mit dem alliierten Kontrollmechanismus für Deutschland beschäftigte, steht im Mittelpunkt des Beitrags von Aleksej Filitov in diesem Band. Ihm ist es zu danken, dass diese Tagebuchaufzeichnung den deutschen Lesern mit nur unwesentlichen Auslassungen bekannt wird. Tatsächlich gehen die Äußerungen Vorošilovs auf dieser Sitzung teilweise über das hinaus, was der Kommissionsvorsitzende auf der vorangegangenen Sitzung zur deutschen Regierung und den Deutschen erklärt hatte. Dies führt Filitov zu der Annahme, die Herausgeber der Edition „Die UdSSR und die deutsche Frage“ hätten bei ihrer Auswahl zum ersten Band dem Leser dieses wichtige Dokument vorenthalten.28 Tatsächlich fehlen diese Tagebuchaufzeichnungen in dem erwähnten Band, doch der damit verbundene schwerwiegende Vorwurf manipulativer Absichten erweist sich unzureichend begründet. Statt für die Tagebuchaufzeichnung Bazarovs über diese Sitzung entschieden sich die Herausgeber dafür, einen Bericht Vorošilovs über dieselbe Sitzung und das Ergebnis dieser Kommissionsberatungen in die Edition aufzunehmen. Filitov nimmt diese beiden Dokumente nicht zur Kenntnis und übersieht dadurch, dass die Erklärungen zur gesamtdeutschen Regierung weder in den Bericht einflossen, den Vorošilov zwei Tage nach der Kommissionssitzung Molotov schickte, noch in den sowjetischen Entwurf eingingen, den die Kommission zur Einbringung in die Europäische Beratende Kommission vorlegte. Wie alle späteren sowjetischen Entwürfe zum Kontrollmechanismus prägte auch den am 12. Mai 1944 vorgelegten Entwurf ein Dualismus zwischen den machtvollkommenen Zonenoberbefehlshabern („Jeder Oberbefehlshaber der Alliierten setzt die ihm von seiner Regierung direkt erteilten Richtlinien zur Kontrolle über die Einhaltung der Kapitulationsbedingungen durch Deutschland in die Praxis um“) und einer machtlosen, turnusmäßig tagenden „Beratung der Oberbefehlshaber“. Dieses Gremium sollte Beschlüsse nur einstimmig fassen, „um das abgestimmte Handeln aller drei Oberbefehlshaber bei der praktischen Umsetzung der ihnen von ihren Regierungen übertragenen Weisungen zu garantieren und die wichtigsten für alle drei Besatzungszonen gemeinsamen Fragen zu lösen“.29 In seinem Bericht an Molotov spricht Vorošilov von einer deutschen Regierung nur im Zusammenhang mit dem von ihm attackierten britischen Vorschlag. Dazu erklärt er in seinem Bericht: Die im „britischen Memorandum30 vorgesehene Oberste Kommission der Alliierten [kann] anstelle einer deutschen Regierung tätig sein und folglich dieser die Verantwortung für die Einhaltung der Kapitulationsbedingungen durch Deutschland in einem gewissen Grade abnehmen. Indes soll die deutsche Regierung nicht nur die Kapitulationsbedingungen für Deutschland unterzeichnen, sondern diese auch umsetzen.“31 Statt über 28 29 30 31

Vgl. Beitrag Filitovs in diesem Band, S. 35 ff. Laufer/Kynin (Hg.), UdSSR und deutsche Frage, Band 1, S. 398–401. DzD, I. Reihe, Band 5, S. 756–760. Laufer/Kynin (Hg.), UdSSR und deutsche Frage, Band 1, S. 395–398.

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seine zur deutschen Regierung vorgetragenen Überlegungen zu berichten, versichert Vorošilov: „Natürlich werden [...] die deutschen Staatsorgane laufend von nazistischen und feindseligen Elementen gesäubert und im Rahmen eines Demokratisierungsprozesses in jeder Hinsicht gefestigt.“32 Beide Erläuterungen lässt Filitov außer Acht und nimmt statt dessen an, dass Vorošilov am 10. Mai die sowjetische Position zur deutschen Frage darlegte, die Filitov auf folgenden „Gesamtnenner“ bringt: „Es soll einen effektiven Koordinierungsmechanismus der Alliierten, keine Diskrepanz zwischen sowjetischen, alliierten and deutschen Interessen, keine ‚Revolutionierung‘ Deutschlands und nicht zuletzt ‚manchen Raum‘ für die deutsche Behörde geben.“33 Eine derartige Interpretation ist zumindest verfrüht, denn es ist bis jetzt nicht klar, warum Vorošilov auf beiden Sitzungen für effektive alliierte Organe und als Verfechter der alliierten und der deutschen Einheit auftrat und schließlich am 10. Mai die von Filitov wiedergegebene Erklärung abgab, die hier noch einmal hervorgehoben werden soll: „Gen. Vorošilov weist darauf hin, dass es notwendig ist, beim Aufbau der Verwaltung des besetzten Deutschlands davon auszugehen, dass die Alliierten, bei aller Härte gegenüber Deutschland, die Verwaltung dieses Landes so organisieren, dass die Deutschen begreifen, dass sie, nach Wiedergutmachung des Übels, das sie den Völkern Europas zugefügt haben, doch Menschen bleiben, mit denen man als mit einer Nation zu rechnen hat.“ 34 Warum schlug sich diese Erklärung, die als Plädoyer für eine zukünftige Zusammenarbeit mit Deutschland interpretierbar ist, weder in dem von der Kommission erarbeiteten Vorschlag zum alliierten Kontrollmechanismus noch in anderen sowjetischen Planungspapieren nieder? Gab diese Erklärung Ansichten wieder, die von anderen Mitgliedern der sowjetischen Führung, insbesondere von Stalin, geteilt wurden? Klar gegen eine solche Annahme spricht ein weiterer Bericht, den Vorošilov am 12. Juni 1944 direkt an Stalin richtete, als der Vorschlag seiner Kommission zum Kontrollmechanismus noch immer ohne Bestätigung geblieben war. In diesem Bericht versicherte Vorošilov: „Nach Meinung der Kommission darf in diesem Zeitraum [unmittelbar nach der deutschen Kapitulation] kein interalliiertes, über den Oberbefehlshabern stehendes Organ geschaffen werden. Die Bildung eines derartigen Organs impliziert von vornherein, dass die UdSSR dort in der Minderheit ist, was sich – verständlicherweise – in der praktischen Arbeit (nicht nur für uns) schädlich auswirken wird.“35 Schon die Tatsache, dass sich Vorošilov gezwungen sah, den Kommissionsvorschlag noch einmal – diesmal direkt Stalin – vorzulegen, ist ein Indiz dafür, dass die Kommission ihre ursprünglich herausgehobene Bedeutung verloren hatte. Erneut erhielt Vorošilov keine Antwort. Vielmehr beschloss der Rat der Volkskommissare am 29. Ju32 33 34 35

Ebd. Vgl. Beitrag Filitovs in diesem Band, S. 36 f. Vgl. Beitrag Filitovs in diesem Band, S. 36. Laufer/Kynin (Hg.), UdSSR und deutsche Frage, Band 1, S. 408 f.

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ni 1944, lange bevor die EAC ihre Arbeit an den deutschen Dokumenten beendet hatte, der Vorošilov-Kommission in verkleinerter Zusammensetzung die Aufgabe zuzuweisen, die Waffenstillstandsdokumente mit den deutschen Satellitenstaaten vorzubereiten.36 Dies kam einer Degradierung gleich, beinhaltete jedoch keine Zurechtweisung Vorošilovs, der zwischen den hier diskutierten Kommissionssitzungen am 5./10. Mai und dem Beschluss des Rats der Volkskommissare zwölf Mal an Besprechungen mit Stalin teilnahm.37 Noch entscheidender für die Interpretation der von Aleksej Filitov veröffentlichten Tagebuchaufzeichnungen vom 10. Mai 1944 ist die weitere Entwicklung der sowjetischen Position zum alliierten Kontrollmechanismus in der EAC. Obwohl der Entwurf der Vorošilov-Kommission, der sich eng an den amerikanischen Vorschlag vom 25. März 1944 anlehnte,38 innerhalb des Außenkommissariats auf Zustimmung stieß,39 wurde er nicht in die Europäische Beratende Kommission eingebracht. Dort reagierte der sowjetische Vertreter Gusev auf die von den Briten und Amerikanern eingebrachten Vorschläge zum gemeinsamen Kontrollmechanismus der Alliierten in Deutschland lange mit Schweigen. Seit Ende Mai drängten die Westmächte auf einen sowjetischen Vorschlag zum Kontrollmechanismus. Demgegenüber erklärte Gusev, es sei “necessary, however, first to clear the Instrument of Surrender and [second to] discuss the question of occupation. The Soviet Delegation were studying the British and American proposals about machinery and would have views to express.”40 Wenig später riet Bazarov zusammen mit dem stellvertretenden Chef der für Großbritannien zuständigen Zweiten Europäischen Abteilung, Vladimir J. Erofeev, sich auf ein Telegramm Gusevs beziehend, den sowjetischen Vertreter in der EAC über die sowjetische Position zu unterrichten.41 36 Vorošilov und Bazarov an Stalin und Molotov vom 14. 2.1946 (AVP RF, 06/6/15/150, Bl. 2–8). Der Kommission gehörten nach diesem Beschluss unter Vorsitz von Vorošilov nur noch Šapošnikov, Isakov und Bazarov an. Nicht geklärt werden konnte bisher die anderslautende Feststellung in Anm. 195 zum ersten Band der „UdSSR und die deutsche Frage“, wo wir unter Berufung auf ein Dokument der VKP(b) festgestellt hatten, dass die „Kommission zu Fragen des Waffenstillstands“ am 29. 6.1944 in „Kommission für den Waffenstillstand mit Deutschland“ umbenannt wurde, wobei ihre personelle Zusammensetzung unverändert blieb (RGASPI, f. 17/op. 162/d. 37, Bl. 119). 37 Istoričeskij Archiv, (1996) H. 4, S. 75–80. Zumindest in der Beratung, die am 8. 5.1944 im Arbeitskabinett Stalins stattfand, dürfte es um die Arbeit der Europäischen Beratenden Kommission gegangen sein, denn daran nahmen neben Vorošilov auch Vyšinskij, Dekanozov und der Vertreter Gusevs in der Europäischen Beratenden Kommission, Sobolev, teil. Nach dem 29. 6.1944 war Vorošilov bis zum Kriegsende nur noch sieben Mal bei Stalin. 38 Laufer/Kynin (Hg.), UdSSR und deutsche Frage, Band 1, S. 397: „Für unseren Entwurf haben wir alle akzeptablen Passagen des amerikanischen Entwurfs verwendet.“ Zum amerikanischen Entwurf vgl. oben Anm. 21. 39 Vgl. das zustimmende Gutachten des Rechtsexperten des NKID in Laufer/Kynin (Hg.), UdSSR und deutsche Frage, Band 1, S. 405 f. 40 DzD, I. Reihe, Band 5, S. 65–68, hier 67: Record by the United Kingdom Delegation of Discussion at Informal Meeting of the three Representatives vom 24. 5.1944. 41 Erofeev und Bazarov an Vyšinskij vom 7. 6.1944 (AVP RF, 082/28/177/1, Bl. 21). Ein Beleg dafür, dass Gusev sehr detailliert über den Vorschlag der Vorošilov-Kommission

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Zu einer Aktivierung der sowjetischen Position in der EAC kam es erst nach der Landung der Westalliierten in der Normandie. Sie beschränkte sich jedoch auf das für die UdSSR Wesentliche, die Aushandlung des Zonenprotokolls und die Vereinbarung über den Kontrollmechanismus. In beiden Fragen blieben die Kernpunkte der sowjetischen Position unverändert, als sich in Moskau in der Frage des Kontrollmechanismus’ ein zähes Ringen entwickelte, wieweit Kompromissvorschläge bereits in den sowjetischen Entwurf eingearbeitet werden könnten, um den sowjetischen Vorschlag zur Verhandlungsgrundlage in der EAC zu machen.42 Höhepunkt dieses Ringens war am 21. August 1944 ein Entwurf Vyšinskijs, der über weite Strecken wortwörtlich auf dem amerikanischen Vorschlag vom 25. März 1944 basierte.43 Das wichtigste von Stalin erst in letzter Minute akzeptierte Zugeständnis war es, das bis dahin in den sowjetischen Entwürfen als „Beratung der Oberbefehlshaber“ bezeichnete oberste Gremium der Alliierten in Deutschland „Kontrollrat“ zu nennen.44 Stalin rechnete fest mit dem Interesse der Westmächte, in beiden Fragen zu Vereinbarungen mit der UdSSR zu kommen. Offensichtlich gründete sich darauf seine Hoffnung, durch Verzögerung der Verhandlungen die Kompromissbereitschaft der westlichen Verhandlungspartner zu erhöhen. Anfang August 1944, als die Verhandlungen in der EAC über das Zonenprotokoll in der EAC einen toten Punkt erreichten, weil sich Briten und Amerikaner nicht auf die Festlegung ihrer Besatzungszonen einigen konnten, drängte der amerikanische Vertreter Winant erneut: “There were two other urgent matters which had been before the Commission for a long time, namely machinery of control in Germany, and proclamations and orders. Until we could settle the principles of a tripartite scheme of control, we could not get on with our detailed planning.” Auch jetzt noch beharrte Gusev auf seiner Position, dass die Kommission vor dem Beginn der Verhandlungen zum Kontrollmechanismus ihre Arbeit am Zonenprotokoll abschließen müsse.45 Erst am 25. August konnte Gusev den ihm am selben Tag aus Moskau übermittelten sowjetischen Vorschlag in die EAC einbringen, der sich durch den Hinweis auszeichnete, dass „diese Vereinbarung (Punkte 1 bis 8) in Form eines von den Vertretern unserer drei Regierungen zu unterzeichnenden Protokolls ausgefertigt werden“ kann.46 Auf der darauffolgenden Sitzung am 11. September war Gusev bevollmächtigt, den lange vorliegenden Entwurf des Zonenprotokolls zu akzeptieren, der die Frage der Zuteilung der Nord- und Südzone an die USA bzw. Großbritannien offen ließ.

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unterrichtet wurde, ist der Entwurf, den Gusev am 8. 7.1944 zur Bestätigung an das NKID übermittelte. Vgl. Laufer / Kynin (Hg.), UdSSR und deutsche Frage, Band 1, S. 412–415. Vgl. ebd., Band 1, S. 412–415, 419–421 und 438–440. Ebd., Band 1, S. 448–451. Dieser Begriff wurde erst nach dem 21. 8.1944 akzeptiert. Vgl. ebd., Band 1, 448–451. DzD, I. Reihe, Band 5, S. 188–190, hier 189. Laufer/Kynin (Hg.), UdSSR und deutsche Frage, Band 1, S. 448–451. Die englische Übersetzung ist abgedruckt in: DzD, I. Reihe, Band 5, S. 829 f.

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Gusev begann nun, souverän über den Kontrollmechanismus zu verhandeln. Häufiger und ausführlicher als je zuvor griff er in die Beratung der EAC ein. Ohne auf Widerspruch zu stoßen, dozierte Gusev – sicher nicht ohne Instruktionen aus der Moskauer Zentrale – am 20. September auf einer informellen Beratung der EAC laut amerikanischer Mitschrift: “What are we creating control machinery for? It is in order to exercise control over Germany and in order to fulfil the tasks outlined in our document. How practically shall we do this? First of all by dividing Germany into three zones with the troops of the corresponding Powers in each of the three zones.”47 Die nachstehenden britischen Aufzeichnungen dieser Unterredungen belegen, dass diese Mitschrift den Sinn der Ausführungen Gusevs präzise wiedergab: “What was all this machinery for? To exercise control over Germany and to fulfil essential tasks. This in practice we should do on the basis of the three zones. The real elements of control would be the forces of occupation in each of the three zones. This was primary. The central authorities, whom we must direct by co-ordinated action from the centre, were secondary. Each Commander-in-Chief would be responsible for the state of affairs in his zone to his own Government and not to the three Governments together.”48 Indem die Vertreter der Westmächte diese Erklärung Gusevs akzeptierten, verzichteten sie im Voraus auf ein Mitspracherecht bei allen Vorgängen, die die Kontrolle der sowjetischen Besatzungszone betrafen. Was war dies anderes als die mittelfristige Anerkennung der Teilung Deutschlands zur Durchsetzung der Waffenstillstandsbedingungen? Ähnlich wie in den Beratungen der Vorošilov-Kommission nahm auch in der EAC die Frage der deutschen Regierung einen zentralen Platz ein. Nachfragen löste auf Seiten der Westmächte der Umstand aus, dass im sowjetischen Entwurf eines Protokolls zum Kontrollmechanismus die Existenz einer deutschen Regierung vorausgesetzt wurde. Tatsächlich gingen alle bisher zugänglichen Planungsunterlagen der Vorošilov-Kommission von der Existenz einer zentralen deutschen Regierung und eines zentralen deutschen Verwaltungsapparats aus. Dies kann jedoch nicht als Ausdruck der sowjetischen Entschlossenheit gewertet werden, die Einheit des deutschen Staates (einschließlich seines zentralen Regierungsapparats) zu erhalten.49 Es verdeutlicht vielmehr, dass die Planungen der Kommission die konkrete politische Situation in Deutschland nicht berücksichtigten. Wie widersprüchlich die Annahme einer deutschen Zentralregierung durch die Vorošilov-Kommission war, zeigt sich in den ausführlichen Kapitulationsbedingungen, die in Punkt 112–119 die Auflösung der NSDAP und in dem dazugehörigen Protokoll die Internierung aller Naziaktivisten vom Blockleiter aufwärts anordneten, aber dennoch die Unterzeichnung der Kapitulationsbedingungen durch Vertreter der deutschen Regierung vorsahen.50 47 48 49 50

DzD, I. Reihe, Band 5, S. 244–253, hier 248 f. DzD, I. Reihe, Band 5, S. 257. Vgl. den Beitrag Filitovs in diesem Band, S. 37. Vgl. Laufer/Kynin (Hg.), UdSSR und deutsche Frage, Band 1, S. 277–304, hier 296 f.

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Noch erstaunlicher ist der Widerspruch zwischen der Annahme einer deutschen Zentralregierung und der Instruktion für die Beauftragten des NKVD bei den nach Deutschland vorrückenden Fronten der Roten Armee.51 Die Vermutung, die UdSSR hätte im Mai 1945 bereit sein können, die Dönitz-Regierung zu akzeptieren, wenn sie sich von den Nazis distanziert hätte, ist völlig unbegründet.52 Als in der EAC am 26. September 1944 die Frage der deutschen Regierung gestreift wurde, kamen keine prinzipiellen Meinungsverschiedenheiten zwischen den drei Mächten in der Frage einer gesamtdeutschen Regierung zur Sprache. Gusev stellte fest: “The Fascist regime will be abolished and all Fascist-created orders will be abolished. Political control will not belong to the Germans but to the Allies. But there must be an organ of government through which the Allies will carry out the orders in order to get effective control. The Allies cannot undertake all the operational direction of the German machinery – that must be done by German hands. This may mean a change in the personnel of the German central organs and institutions. The head of the ministry will be a person appointed by the Allies. [...] If an administration does not exist, the Allies must create it, perhaps temporarily. The ‘administration’ must take the responsibility for fulfilling the terms and requirements of the unconditional surrender. [...] We will not consult the Germans. We will give orders – the Germans will be obliged to execute those orders.”53 Wahrscheinlich um die Annahme des Protokolls über den Kontrollmechanismus nicht zu gefährden, verzichteten die Vertreter der Westmächte darauf, diese prinzipiellen Ausführungen Gusevs konkret zu hinterfragen. Die drei Mächte einigten sich, in dem am 14. November 1944 unterzeichneten “Agreement on Control Machinery in Germany” nicht von einer deutschen Regierung, sondern drei Mal von der “German central administration” zu sprechen.54 51

Vgl. Sowjetische Speziallager in Deutschland 1945 bis 1950, Band 2: Sowjetische Dokumente zur Lagerpolitik. Hg. von Sergej Mironenko/Lutz Niethammer/Alexander von Plato, eingel. u. bearb. von Ralf Possekel, Berlin 1998, S. 142–146: Befehl des Volkskommissars für Inneres Nr. 0016 „Über Maßnahmen zur Säuberung des Hinterlandes der Roten Armee von feindlichen Elementen“ vom 11.1.1945. Dieser Befehl sah ausdrücklich die Verhaftung sämtlicher Funktionsträger des deutschen Staates vor. Ausdrücklich eingeschlossen wurden u. a. Richter, Bürgermeister und das Leitungspersonal von Konzentrationslagern. 52 Alexei M. Filitov, SSSR i germanskij vopros: povorotnye punkty. In: Cholodnaja vojna 1945–1963, Moskau 2003, S. 223–257, hier 229, Anm. 14. 53 DzD, I. Reihe, Band 5, S. 258–270, hier 264–269. Hervorhebung nicht im Original. Vgl. dazu auch die Versicherung Molotovs gegenüber dem französischen Botschafter im August 1945 zu den Potsdamer Beschlüssen erwähnten gesamtdeutschen Zentralverwaltungen: „diese Staatssekretariate würden sich in den Händen der Alliierten befinden, von ihnen sei nichts zu befürchten. [...] Molotov sagt, die Deutschen würden die Verantwortung tragen und würden – falls sie nicht parierten – umgehend aus diesen Ämtern entfernt, so dass hier nichts zu befürchten sei.“ Laufer/Kynin (Hg.), UdSSR und deutsche Frage, Band 2, S. 99–105. 54 DzD, I. Reihe, Band 5, S. 328–340.

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Wie wenig Stalin während der gesamten Verhandlungen in der EAC mit der langfristigen Existenz eines Alliierten Kontrollrats in Deutschland nach dem Krieg rechnete, zeigt sich darin, dass er britische55 und amerikanische Vorschläge56 zur gemeinsamen Vorbereitung von amerikanischen, britischen und sowjetischen Offizieren für dieses Gremium, trotz Unterstützung derartiger Vorschläge durch Vorošilov57 und Vyšinskij,58dilatorisch behandelte.59 Auch die Frage, wo der Alliierte Kontrollrat seinen Sitz haben würde, ließ Stalin unbeantwortet. Die im Entwurf von 8. Juli enthaltene Bestimmung, „den auf dem Gebiet von ‚Groß-Berlin‘ dislozierten alliierten Truppen wird ebenfalls die Pflicht übertragen, die öffentliche Ordnung in jeder Zone von ‚Groß-Berlin‘ aufrechtzuerhalten und die ‚Interalliierte Kommandantur‘ zur Verwaltung von ‚Groß-Berlin‘ wie auch alle übrigen Organe und Einrichtungen, die von den Alliierten in dieser Stadt gebildet werden können, zu bewachen“,60 wurde in späteren sowjetischen Entwürfen wieder eliminiert. In der ersten öffentlichen Verlautbarung über die Arbeit der EAC, die im Außenkommissariat erstellt und von Molotov selbst redigiert wurde, war am 28. September 1944 nicht von Berlin als Sitz des alliierten Kontrollmechanismus’ die Rede. Erklärt wurde: „Obwohl Berlin zur Besatzungszone der sowjetischen Streitkräfte gehört, wird die Stadt vereinbarungsgemäß ebenfalls in drei Zonen aufgeteilt und durch die Truppen der drei Mächte besetzt. [...] Insoweit Berlin Objekt der gemeinsamen Besetzung durch Truppen der drei Mächte – der UdSSR, der USA und Englands – werden soll, wird davon ausgegangen, dass eine ‚Interalliierte Kommandantur‘ für Berlin geschaffen wird.“61 Für sowjetische Zurückhaltung in Bezug auf die künftige Existenz eines Alliierten Kontrollrats könnte auch der Umstand sprechen, dass die “additional political, administrative, economic, financial, military and other requirements”, die im Artikel 12 (b) des am 25. Juli 1944 beschlossenen Dokuments über die “Unconditional Surrender of Germany” angekündigt worden waren, in der EAC niemals vereinbart wurden. Stalin hatte es abgelehnt, die in der VorošilovKommission ausgearbeiteten sowjetischen Entwürfe zu diesen Fragen in die 55 Vgl. DzD, I. Reihe, Band 5, S. 794–798: Machinery in Germany during the Middle Period of Military Government after Hostilities cease – Memorandum by the United Kingdom Representative (EAC/44/17) vom 2. 5.1944. 56 Der amerikanische Vorschlag wurde erstmals am 19. 7.1944 in einer Unterredung Gusevs mit General Wickersham unterbreitet (AVP RF, 06/6/23/237, Bl. 56 f.). 57 Vorošilov an Stalin vom 22. 9.1944 (AVP RF, 06/6/15/150, Bl. 466–473). 58 Vyšinskij an Molotov vom 29.10.1944 (AVP RF, 012/5/61/102, Bl. 7 f.). 59 MID SSSR (Hg.): Sovetsko-anglijskie otnošenija vo vremja Velikoj Otečestvenoj vojny 1941–1945 gg., Moskau 1983, Band II, S. 264–265: Unterredung Molotov-Balfour vom 20.1.1945. Auf die Frage des britischen Geschäftsträgers, wann sowjetische Offiziere nach London entsandt werden, antwortete Molotov ausweichend: „Diese Frage befindet sich noch im Stadium der Erörterung. Wahrscheinlich in nächster Zeit würden Beschlüsse gefasst, über die die britische Regierung informiert werde.“ 60 Laufer/Kynin (Hg.), UdSSR und deutsche Frage, Band 1, S. 414. Hervorhebung nicht im Original. 61 Ebd., Band 1, S. 470–472. Hervorhebung nicht im Original.

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EAC einzubringen. Alle Beispiele, die für die Präferenz der sowjetischen Planungen zugunsten der alliierten Zusammenarbeit angeführt werden,62 übersehen deren Episodenhaftigkeit. Konkrete Vorschläge zu Einzelfragen der künftigen Besatzungspolitik wurden niemals durch Stalin bestätigt, also auch niemals in Verhandlungen mit den Alliierten eingebracht. Wenn sich Stalin 1944 ein Bild von Nachkriegsdeutschland machte, so war es das Bild eines in Zonen aufgeteilten Deutschlands, in denen die Besatzungsmächte die oberste Gewalt übernommen hatten. Stalin hatte bei den Verhandlungen in der EAC nicht die Absicht, ein gemeinsames Kooperationsexperiment mit den Westmächten in Deutschland vorzubereiten. Was er wollte, bekam und gab, waren verbindliche Zusicherungen, dass jede der drei Mächte in ihrer deutschen Zone ihr eigener Herr sein würde. Die Abschirmung der eigenen Zone vor etwaigen Kontrollen der Westmächte hatte für ihn klaren Vorrang vor eigenen Einflussmöglichkeiten in den Zonen der übrigen Mächte. Stalin akzeptierte im Herbst 1944 in der EAC die Einrichtung eines Alliierten Kontrollrats für alle Deutschland als Ganzes betreffenden Fragen nur auf der Grundlage der Anerkennung der Oberhoheit der Besatzungsmächte in ihren jeweiligen Zonen (was von Großbritannien und den USA niemals bestritten worden war), des Einstimmigkeitsprinzips in allen alliierten Kontrollorganen und der völligen Unbestimmtheit der Vollmachten dieser Organe. Damit sicherte sich Stalin freie Hand für die sowjetische Politik in seiner zukünftigen deutschen Besatzungszone. Die von den drei Regierungen bestätigten Vereinbarungen der EAC wahrten die Möglichkeit der Zusammenarbeit nach der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands, schufen aber zugleich die Grundlage für die Verselbständigung der Besatzungszonen. Die mehr als vierzigjährige Teilung Deutschlands war damit keineswegs das unabänderlich vorherbestimmte Ergebnis der Beschlüsse der EAC. Diese Teilung kam nicht abgestimmt, sondern in Konfrontation zwischen der UdSSR und den Westmächten zustande. Dennoch, die Beschlüsse der EAC lenkten die Politik der drei grundverschiedenen Mächte (UdSSR, USA und Großbritannien) in eben jene Bahnen, die zur langfristigen Teilung Deutschlands führten.

62 Filitov verweist auf die Diskussion der Vorošilov-Kommission zur Behandlung ausländischer Investitionen, zur Kontrolle der deutschen Industrie, zur Auflösung der Monopole und auf die Tatsache, dass durch die Kommission mehr Personal für die alliierten Einrichtungen als für die Verwaltung der sowjetischen Zone eingeplant wurde. Vgl. Filitov, SSSR i germanskij vopros, S. 226–229.

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2.

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Die UdSSR und der Alliierte Kontrollrat 1945–1948

Es sind bisher keine Quellen nachweisbar, aus denen im Frühsommer 1945 ein Drängen Stalins auf die Errichtung des Kontrollrats hervorgeht. Weder die Teilnahme eines sowjetischen Beobachters bei der Unterzeichnung der „Urkunde über die militärische Kapitulation“ in Reims am 7. Mai 1945, noch die Anwesenheit ranghoher Vertreter der Streitkräfte der USA, Großbritanniens und Frankreichs bei der Unterzeichnung der „Kapitulationserklärung“ in Berlin in der Nacht vom 8. zum 9. Mai in Berlin, noch die fortgesetzten Tagungen der EAC in London wurden genutzt, um die unverzügliche Arbeitsaufnahme des Alliierten Kontrollrats nach der Beendigung des Kriegs gegen Deutschland vorzubereiten. Im Gegenteil, am 10. Mai 1945 folgte Gusev einer Weisung aus Moskau, als er auf der Sitzung der Europäischen Beratenden Kommission dem Wunsch der USA widersprach, die Vereinbarung über den Kontrollmechanismus zu veröffentlichen.63 Vorschläge des Vertreters des Außenkommissariats in Berlin zur Unterbringung des Alliierten Kontrollrats64 blieben unberücksichtigt. Auch ein Vorschlag des amerikanischen Geschäftsträgers in Moskau, George Kennan, den Kontrollrat nicht in Berlin, dem Symbol des Preußentums, sondern in Leipzig, Jena oder Gotha zu errichten, wurde nicht aufgegriffen.65 Entgegen der Planung des Außenkommissariats unterzeichnete Stalin im Juni 1945 nicht den Gründungsbeschluss für den „sowjetischen Teil der Alliierten Kontrollkommission“,66 sondern für die Sowjetische Militäradministration für Deutschland (SMAD). Erst am 31. Mai 1945 erschien im Zentralorgan der VKP(b) die erste Meldung über die beabsichtigte Bildung des Kontrollrats.67 Dieses kollektive Gremium zur Entscheidung aller Deutschland als Ganzes betreffenden Fragen war eine Neuheit in den internationalen Beziehungen. Es wurde jedoch nicht aus dem gemeinsamen Willen geboren, neue Formen der Zusammenarbeit zu erproben, sondern entstand aus der Unfähigkeit der Mächte, andere Entscheidungen zur Behandlung Deutschlands zu treffen. Ermächtigt durch eine Verordnung des Rats der Volkskommissare68 unterzeichnete Žukov am 5. Juni 1945 gemeinsam mit den Oberbefehlshabern der amerikanischen, britischen und französischen Truppen in Deutschland die in der Europäischen Beratenden Kommission ausgehandelte „Erklärung in Anbetracht der Niederlage Deutschlands“, die die Kapitulationsbedingungen konkretisierte. In diesem grundlegenden Dokument war bezeichnenderweise weder 63 64 65 66 67

Valkov an Vyšinskij vom 14. 5.1945 (AVP RF, 082/28/177/4, Bl. 4). Smirnov an Žukov vom 17. 5.1945 (AVP RF, 082/27/120/9, Bl. 8 f.). Unterredung Majskijs mit Harriman vom 18. 5.1945 (AVP RF, 06/7/18/180, Bl. 9–12). Laufer/Kynin (Hg.), UdSSR und deutsche Frage, Band 2, S. 5–11 und 17–19. Meldung der Pravda über die beabsichtigte Bildung des Kontrollrates vom 31. 5.1945 (AVP RF, 06/7/31/417, Bl. 21). Sie wurde durch die Tägliche Rundschau am 1. 6.1945 übernommen. 68 Verordnung des Rats der Volkskommissare vom 4. 6.1945 (AVP RF, 07/10/16/215, Bl. 38). Dabei handelt es sich offensichtlich um eine improvisierte Verordnung, die durch Molotov und Lozovskij unterzeichnet wurde.

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von einem Kontrollrat noch von einer deutschen Regierung die Rede. Vielmehr wurde erklärt: „Die Regierung des Vereinigten Königreichs, der Vereinigten Staaten von Amerika, der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken und die Provisorische Regierung der Französischen Republik übernehmen hiermit die oberste Regierungsgewalt in Deutschland, einschließlich aller Befugnisse der deutschen Regierung, des Oberkommandos der Wehrmacht und der Regierungen, Verwaltungen der Länder, Städte und Gemeinden.“69 An der Unterzeichnung dieser Erklärung nahm der erste stellvertretende Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten der UdSSR Vyšinskij als Politischer Berater des sowjetischen Oberkommandierenden Žukov teil. Während einer anschließenden Zusammenkunft der vier Oberkommandierenden legte Žukov in Anwesenheit von Vyšinskij den sowjetischen Standpunkt dar, wonach die Einnahme der 1944 vereinbarten Besatzungszonen die entscheidende Voraussetzung für die Arbeitsaufnahme des Kontrollrats sei.70 Über dieses historische Treffen wurde in der sowjetischen Presse zunächst nicht berichtet.71 Eine Meldung erschien erst am 12. Juni in der Gewerkschaftszeitung „Trud“.72 Zur selben Zeit informierte der sowjetische Botschafter in London das Außenkommissariat über gemeinsame britisch-amerikanische Vorbereitungen für die Arbeit des Kontrollrats.73 Am Vorabend der Potsdamer Konferenz war in einer von Vyšinskij entworfenen Beschlussvorlage für diese Konferenz, nicht vom Kontrollrat die Rede. Erst auf Weisung Molotovs wurden entsprechende Formulierungen in das nie den Westmächten übergebene Dokument integriert. Darin war zwar von der umfassenden Entnazifizierung und der Errichtung eines „demokratischen Regimes“ die Rede, nicht aber von einer gesamtdeutschen Regierung oder deutschen Zentralverwaltungen.74 Die Einrichtung dieser Zentralverwaltungen wurde erst auf der Potsdamer Konferenz beschlossen. Sie bildeten ein konstitutives Element der in Potsdam abgestimmten „politischen und wirtschaftlichen Grundsätze, von denen man sich bei der Behandlung Deutschlands in der Anfangsperiode der Kontrolle unbedingt leiten lassen muss“,75 wurden aber weder von 69 Um ein antifaschistisch-demokratisches Deutschland. Dokumente aus den Jahren 1945– 1949. Hg. vom Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der DDR, Berlin (Ost) 1968, S. 43–51. 70 Russkij archiv: Velikaja Otečestnennaja: Bitva za Berlin (Krasnaja Armija v poveržennoj Germanii). Dokumenty i materialy (im Folgenden zit. als RA), Moskau 1995, S. 424–426. 71 Am Kopf der „Erklärung in Anbetracht der Niederlage Deutschlands“ vermerkte Molotov „nicht in die Presse“ (AVP RF, 06/7/31/421, Bl. 1). 72 Trud vom 12. 6.1945: Über das Treffen der vier Oberbefehlshaber. 73 Gusev an Molotov vom 15. 6.1945 (AVP RF, 07/10/16/213, Bl. 6 f.). Übermittelt folgende von den Amerikanern übergebene Materialien: 1. ein Handbuch für die Militärverwaltung in Deutschland vor der Kapitulation, 2. ein Handbuch zur Politik und Prozedur der Militärverwaltung in Deutschland und 3. ein Nachschlagewerk zu Deutschland für Truppenkommandeure. 74 Laufer/Kynin (Hg.), UdSSR und deutsche Frage, Band 2, S. 48–52. 75 Vgl. DzD, II. Reihe, Band 1, S. 2178–2185.

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der UdSSR noch von den beiden anderen Teilnehmermächten der Potsdamer Konferenz durchgesetzt. Formell scheiterte ihre Errichtung am Widerstand Frankreichs. Ausschlaggebend für die sowjetische Passivität waren Warnungen des für die Wirtschaft zuständigen Chefs der SMAD vor unerwünschten Rückwirkungen auf die SBZ.76 Als der Kontrollrat während der Potsdamer Konferenz am 30. Juli zu seiner ersten Sitzung zusammentrat, war sein konkretes Arbeitsprogramm noch unbestimmt. Die auf der Konferenz beschlossene zonale Reparationsregelung, die sich seit dem Krieg langfristig herausgebildet hatte, entsprach den Intentionen Stalins77 und verstärkte das in der EAC angelegte zonale Prinzip der Besatzungsherrschaft. Erst am 8. August 1945 bestätigten die vier stellvertretenden Zonenoberbefehlshaber, noch ohne formellen Auftrag ihrer Regierung, die Aufgaben, die sich aus der Potsdamer Konferenz für den Alliierten Kontrollrat ergaben. Schon vier Tage vorher hatte Vyšinskij eine umfangreiche Aufgabenstellung für die SMAD übermittelt, die sich aus den Beschlüssen der Potsdamer Konferenz ergab. Sie enthielt präzise, aber viel zu knappe Termine und wurde nicht zu einem effektiven Arbeitsprogramm für die SMAD.78 Die Chefs der jeweiligen SMAD-Verwaltungen wurden in der Regel die sowjetischen Unterhändler in den betreffenden Direktoraten des Kontrollrats. Dadurch übernahmen sowjetische Militärs, Techniker und Verwaltungsfachleute Aufgaben in einem internationalen Gremium, auf die sie unzureichend bzw. überhaupt nicht vorbereitet waren. Da die reguläre Arbeit der SMAD bis zum Ende des Jahres 1945 nur provisorisch gesichert war, konnten sich auch die sowjetischen Vertreter im Kontrollrat nur provisorisch an dessen Arbeit beteiligen. Anders als der EAC war dem Kontrollrat in Moskau kein politisches Planungsgremium zugeordnet, das sowjetische Vorschläge und Initiativen im Kontrollrat hätte entwickeln können. Das Außenkommissariat konnte diese Funktion nicht übernehmen. Die von Marschall Žukov geleitete SMAD unterstand formell dem Rat der Volkskommissare (seit März 1946: Ministerrat), war aber praktisch dem Volkskommissariat (seit März 1946: Ministerium) für Verteidigung angegliedert. Der Volkskommissar (seit März 1946: Minister) für Auswärtige Angelegenheiten besaß keine Weisungsbefugnis in Bezug auf die Verhandlungsführung Žukovs im Alliierten Kontrollrat, sondern lediglich ein Mitspracherecht. Die Verwirklichung dieses Mitspracherechts durch den Politischen Berater als Vertreter des Außenkommissariats beim Obersten Chef der SMAD blieb lange ungeklärt. Keines der großen Reformvorhaben, die die UdSSR im ersten Jahr nach der bedingungslosen Kapitulation in ihrer deutschen Besatzungszone in Angriff nahm (Bankenschließung, Sperrung der Alt76 Laufer/Kynin (Hg.), Die UdSSR und deutsche Frage, Band 2, 187 f. 77 Jochen Laufer, Politik und Bilanz der sowjetischen Demontagen in der SBZ / DDR 1945–1950. In: Sowjetische Demontagen in Deutschland 1944–1949: Hintergründe, Ziele und Wirkungen. Hg. von Rainer Karlsch und Jochen Laufer unter Mitarbeit von Friederike Sattler, Berlin 2002, S. 31–78. 78 Laufer/Kynin (Hg.), UdSSR und deutsche Frage, Band 2, S. 72–79.

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guthaben, Entnazifizierung, Boden-, Schul- und Justizreform sowie die Sequestrierung des Eigentums der Nazi- und Kriegsverbrecher) wurde im Kontrollrat mit den Vertretern der übrigen Besatzungsmächte beraten. Die Zulassung der Gewerkschaften, der politischen Parteien und die Bildung des Parteienblocks erfolgten in der SBZ auf direkte oder indirekte Weisung der SMAD ohne vorherige Rücksprache mit den Westmächten. Möglichkeiten zur direkten Verständigung der SMAD mit amerikanischen, britischen und französischen Vertretern wurden nur unzureichend genutzt. Zu Gesprächen zwischen Žukov und Eisenhower sowie zwischen deren Stellvertretern Sokolovskij und Clay wurden die Politischen Berater beider Seiten nicht hinzugezogen.79 Kritische Presseberichte über das Verhalten der Roten Armee in der SBZ (Vergewaltigungen und Plünderungen) wurden in der UdSSR als Teil einer antisowjetischen Kampagne verstanden und provozierten die Forderung nach sowjetischer „Konterpropaganda“.80 Diese richtete sich in erster Linie gegen die Briten. Gelegenheit dazu boten Informationen über die Existenz von „Dienstgruppen“ unter deutschem Kommando in der britischen Zone.81 Die UdSSR ließ Kontakte auf der Kontrollratsebene ungenutzt, um diese Informationen zu erhärten bzw. richtig zu stellen und eröffnete Angriffe auf die britische Militärregierung wegen der vermuteten Verletzung der eingegangenen Verpflichtungen zur Demilitarisierung Deutschlands durch Großbritannien. Trotz einer Vielzahl von Übereinkommen, die die Alliierten in den ersten Monaten im Kontrollrat erreichten, gelang es niemals, eine Vertrauensgrundlage für die gemeinsame Arbeit zu schaffen. Dennoch zögerte Kudrjavcev, ein Mitarbeiter des Politischen Beraters, bis zum April 1946, ehe er eine negative Bilanz zog.82 Diesen Bericht Kudrjavcevs verallgemeinerte der Politischen Berater, Semënov, noch im selben Monat in einem Memorandum zur deutschen Frage.83 Diese kritische Sicht auf den Kontrollrat hatte sich bereits verfestigt,84 als Stalin Molotov während der Pariser Tagung des Rats der Außenminister die Deutschlandpolitik der UdSSR durch die Abgabe zweier grundlegender Erklärungen in Paris am 9. und 10. Juli 1946 öffentlich in Frontstellung zu den Westmächten bringen ließ.85 79 Vgl. ebd., Band 2, S. 126–130 und 166–168. Die Aufzeichnung einer weiteren Unterredung Sokolovskijs mit Clay am 15.11.1945 ist veröffentlicht in: RA, S. 450–452. Eine weitere Aufzeichnungen über die Unterredung Sokolovskijs und Clays am 28. 3.1946 findet sich im AVP RF, 0457a/2/5/20, Bl. 163–168. 80 Vgl. Laufer/Kynin (Hg.), UdSSR und deutsche Frage, Band 2, S. 116 f. und 131 f. 81 Gemeint war u. a. Korpsgruppe von Stockhausen. Vgl. Arthur Smith, Churchills deutsche Armee. Die Anfänge des Kalten Krieges 1943–1947, Bergisch Gladbach 1978. 82 Bericht des Stellvertreters des Politischen Beraters Kudrjavcev vom 23. 4.1946 (AVP RF, 082/30/134/66, Bl. 6–13). 83 Semënov an Molotov, o. D. (April 1946) (AVP RF, 082/30/134/63, Bl. 44–52). 84 Vgl. Laufer/Kynin (Hg.), UdSSR und deutsche Frage, Band 2, S. 405–410. 85 Vgl. DDS, Band 1, S. 10–17: V. M. Molotov, Über die Entmilitarisierung Deutschlands vom 9. 7.1946, und ebd., S. 17–23: V. M. Molotov, Über das Schicksal Deutschlands und über den Friedensvertrag mit Deutschland vom 10. 7.1946. Zum Moskauer Hinter-

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Grundsätzliche politische Meinungsverschiedenheiten in Bezug auf die Zukunft Deutschlands blieben während der 33 Monate, in denen der Kontrollrat existierte, unausgesprochen. Konflikte im Kontrollrat entwickelten sich nicht im Zusammenhang mit politischen Fragen – äußerst folgenreiche Entscheidungen, wie die zwangsweise Aussiedlung der deutschen Bevölkerung aus Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn kamen sehr schnell zustande –, sondern bei der Bestimmung der zukünftigen wirtschaftlichen Entwicklung Deutschlands und dessen Reparationsleistungen. Der Demontagestopp, den der Chef der amerikanischen Militärregierung Clay im April 1946 verkündete, signalisierte früh das Scheitern des Kontrollrats. Ausgelöst wurde diese amerikanische Entscheidung durch eine Erklärung, mit der der Chef der SMAD-Wirtschaftsverwaltung Koval’ im Wirtschaftsdirektorat des Kontrollrats das von der UdSSR verfochtene Prinzip des zonalen Außenhandels zur Verantwortung jedes Zonenoberbefehlshabers für die Ergebnisse der Besatzung seiner Zone verallgemeinert hatte.86 Koval’ wiederholte fast wörtlich die Belehrung Gusevs vom 20. September 1944, die in der EAC damals widerspruchslos hingenommen worden war.87 Ein Versuch der Amerikaner, in der zweiten Hälfte des Jahres 1946 auf der Kontrollratsebene inoffiziell eine Kompromisslösung in der Reparationsfrage auszuhandeln, um die Wirtschaftseinheit Deutschlands wiederherzustellen und die zonale Abschottung der SBZ zu überwinden, scheiterten an der fehlenden Bereitschaft der politischen Führungen in Moskau und Washington, eine solche Lösung zu testen.88 Für die schlechte Arbeit des Kontrollrats wurden in Moskau und Ost-Berlin allein die Westmächte verantwortlich gemacht, die nach Ansicht der UdSSR die gemeinsam in Jalta und Potsdam gefassten Beschlüsse nicht mehr beachteten. Aber auch jene sowjetischen Vertreter im Kontrollrat wurden kritisiert, die nicht wirksam genug den Westmächten entgegentraten.89 Im Vorfeld der Moskauer Außenministertagung war die sowjetische Führung nicht gewillt, die in Deutschland vorhandenen Kontakte mit den Alliierten zu nutzen, um für die vielfältigen Probleme des Kontrollrats neue Lösungen zu suchen. Als die USA und Großbritannien an der Jahreswende 1946/47 begannen, einen separaten Industrieniveauplan für die Bizone auszuarbeiten, und Großbritannien zudem sein eigenmächtiges Vorgehen im Ruhrgebiet fortsetzte, demonstrierten sie damit auch, dass sie das Interesse an der weiteren Arbeit des Kontrollrats verloren hatten. Bereits vor Verkündung dieser Maßnahmen bereitete Andrej A. Smirnov eine Note der sowjetischen Regierung vor,90 in der auf die Verletzung

86 87 88 89 90

grund dieser Reden vgl. Jochen Laufer, Der Friedensvertrag mit Deutschland als Problem der sowjetischen Außenpolitik. In: VfZ, 52 (2004), S. 99–118. Vgl. Jochen Laufer, Die sowjetische Reparationspolitik 1946 und das Problem der alliierten Kooperationsfähigkeit. In: Gustav Schmidt (Hg.), Ost-Westbeziehungen: Konfrontation und Détente; 1945–1989, Band 3, Bochum 1995, S. 53–75, hier 55. Vgl. oben, S. 523. Laufer, Reparationspolitik, S. 62–75. Bericht Škvarins vom 12. 8.1946 (AVP RF, 0457a/2/3/2, Bl. 1–7). Vgl. Laufer/Kynin (Hg.), UdSSR und deutsche Frage, Band 3, S. 353 f.

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des bestehenden Abkommens über den Kontrollmechanismus durch ein separates Industrieniveau für die Bizone hingewiesen und negative Konsequenzen für die weitere Arbeit des Kontrollrats angedeutet wurden. Die Verkündung des Europäischen Wiederaufbauprogramms durch die USA, des so genannten Marshall-Plans, betrachte die sowjetische Führung als ein gegen die UdSSR und ihre Verbündeten in Europa gerichtetes Programm. Die sowjetische Ablehnung wurde entschiedener, als die Einbeziehung Westdeutschlands in diesen Plan bekannt wurde.91 Gerüchte über die bevorstehende Auflösung des Kontrollrats sind seit August 1947 nachweisbar.92 Am 21. November 1947 trug Sokolovskij, der die Nachfolge Žukovs als Oberster Chef der SMAD angetreten hatte, auf der 75. ordentlichen Sitzung des Kontrollrats eine gut vorbereitete und zur sofortigen Veröffentlichung in der sowjetischen und ostdeutschen Presse bestimmte Erklärung vor. Vier Monate vor seinem Auszug aus dem Kontrollrat zog er eine vernichtende Bilanz. Anhand vielfältiger Einzelbeispiele versuchte Sokolovskij nachzuweisen, dass im Gegensatz zur sowjetischen Zone die Demilitarisierung in den Westzonen nicht durchgeführt und die „Demokratisierung“ verhindert werde. Daraus leitete der Oberste Chef der SMAD den Vorwurf ab: „Die Hintertreibung der Demilitarisierung und die Erhaltung des Rüstungspotentials sowohl in der britischen als auch in der amerikanischen Zone verfolgt kein anderes Ziel als die Verwandlung dieser Zone [sic!] in einen Stützpunkt des anglo-amerikanischen Imperialismus im Zentrum Europas.“93 Mit der Abgabe der Erklärung Sokolovskijs am 21. November 1947 standen die Mitglieder des Kontrollrats vier Tage vor der Eröffnung der Tagung des Außenministerrats in London vor einem Scherbenhaufen. Als Sokolovskij seine Erklärung vortrug, erhielt die SED die Weisung aus Moskau, die Initiative für die Einberufung eines Deutschen Volkskongresses zu ergreifen.94 Beides zielte tendenziell sowohl auf die Einschränkung der Zusammenarbeit mit den Alliierten, als auch auf die Festigung der sowjetischen Position in der SBZ. In der Logik der damals gegebenen Verhältnisse lief das auf die politische Verselbständigung der SBZ unter Führung der von der UdSSR kontrollierten SED hinaus. Dadurch fesselte die UdSSR die langfristige Sicherung ihrer Interessen an die Förderung und den Schutz der SED. Im November 1947 beabsichtigte die SMAD ursprünglich nicht, die weitere Arbeit des Kontrollrats in Frage zu stellen. Im Gegenteil, unmittelbar vor dem Auftritt Sokolovskijs wurden intern Vorschläge unterbreitet, die Arbeit der sow-

91 Geraščenko: Der Marshall-Plan und Deutschland vom 15. 9.1947 (AVP RF, 0431/5/5/ 18, Bl. 108–110). 92 Gespräch Nikitins mit dem stellvertretenden Leiter der Abteilung für Bildung und Kultur der französischen Militärregierung P. Pischu vom 5. 8.1947 (AVP RF, 0457a /4/22/ 63, Bl. 131–133). 93 VPSS 1947, Band 2, S. 436 und 438. Veröffentlicht auch in: Izvestija vom 22.11.1947 und Neues Deutschland vom 22.11. und 23.11.1947. 94 Vgl. Laufer/Kynin (Hg.), UdSSR und deutsche Frage, Band 3, S. 705, Anm. 335.

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jetischen Sektion im Kontrollrat zu verbessern.95 Diese Vorschläge wurden unmittelbar nach der Kontrollratserklärung Sokolovskijs durch Befehl in Kraft gesetzt.96 Selbst nach dem Scheitern der Londoner Tagung des Rats der Außenminister gingen Sokolovskij und sein Politischer Berater Semënov noch immer vom langfristigen Fortbestand des Kontrollrats aus. Sie wollten dem von ihnen vorgeschlagenen „Deutschen Konsultativrat“ die Aufgabe zuweisen, Vorschläge für den Kontrollrat auszuarbeiten.97 Am 29. Januar 1948 legte Sokolovskij einen bereits auf der vorangegangenen Sitzung des Kontrollrats angekündigten sowjetischen Vorschlag vor. Ausgehend von seiner Erklärung vom 21. November 1947, listete er nun fünf konkrete Maßnahmen auf, um bereits gemeinsam gefasste Beschlüsse zur Entmilitarisierung Deutschlands umzusetzen und zu kontrollieren. Die in diesem Vorschlag angegebenen Fristen erstreckten sich bis zum August 1948.98 Im Anschluss an den Abbruch der Londoner Tagung des Rats der Außenminister trafen sich die Westmächte im Februar 1948 ohne Beteiligung der UdSSR erneut in London, um über die Weiterentwicklung der Bizone zu beraten. Bereits zuvor hatten sie gemeinsam mit den deutschen Ministerpräsidenten ihrer Zonen in Frankfurt a. M. Maßnahmen verkündet, die auf die staatsähnliche Ausgestaltung der Bizone hinausliefen. In Moskau wurde eine Protesterklärung vorbereitet und am 13. Februar in London, Washington und Paris mündlich vorgetragen. Dort hieß es: „Die Probleme, die zur Behandlung bei der Londoner Beratung vorgesehen sind, sind Probleme, die nur mit allgemeinem Einverständnis derjenigen Großmächte gelöst werden können, die Deutschland okkupieren. Die Einberufung dieser Beratung in London ist eine Verletzung des Abkommens über den Kontrollmechanismus für Deutschland und eine Verletzung der Potsdamer Beschlüsse über die Behandlung Deutschlands als einheitliches Ganzes.“99 Bereits drei Tage zuvor hatte der SMAD-Chef im Kontrollrat gewarnt, „dass die [vom amerikanischen und britischen Kommando] durchgeführte Politik der Spaltung Deutschlands ernsthafte Gefahren in sich birgt, da sie den Kontrollmechanismus Deutschlands zerstört und ein vollständiges Abrücken von den durch Großbritannien und den Vereinigten Staaten hinsichtlich Deutschland übernommenen internationalen Verpflichtungen bedeutet“.100

95 K. Ovčinikov, Praktische Vorschläge vom 15.11.1947 (AVP RF, 0457a/4/8/1, Bl. 25– 28). 96 Befehl des Stabeschefs der SMAD, Dratvin, o. Nr. vom 1.12.1947 (ebd., Bl. 1–4). 97 Vgl. Laufer/Kynin (Hg.), UdSSR und deutsche Frage, Band 3, S. 470–474. 98 CONL/P(48)2: Sowjetischer Vorschlag zur Anwendung der Entscheidungen des Rats der Außenminister in Bezug auf die Demilitarisierung Deutschlands, veröffentlicht in: ADD, S. 575–576 und in Izvestija vom 3. 2.1948. Vgl. Sokolovskij und Semënov an Vyšinskij vom 29.1.1948 (AVP RF, 07/21/16/219, Bl. 6–8). 99 DDS, S. 168 f.: Erklärung der sowjetischen Botschafter in London, Paris und Washington vom 13. 2.1948. 100 DDS, S. 165–167.

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Seit Mitte Februar organisierte Semënov den Rückzug der UdSSR aus den Ausschüssen und Unterausschüssen verschiedener Direktorate des Kontrollrats.101 Gegen den Abbruch der Zusammenarbeit mit den Westmächten wandten sich eine Initiative Polens, der Tschechoslowakei und Jugoslawiens, die am 11. Februar durch den polnischen Botschafter in Moskau vorbereitet wurde und die Zustimmung Molotovs fand.102 Die drei Staaten erinnerten daran, dass die Zusammenarbeit der Verbündeten aus dem letzten Krieg sowie die Einhaltung des Prinzips der Viermächtekontrolle über ganz Deutschland eine Garantie für einen langandauernden Frieden und die Sicherheit Europas sei.103 Anfang März 1948 verschärfte sich der diplomatische Protest der UdSSR gegen das einseitige Vorgehen der Westmächte. Nun bereits in der Vergangenheitsform erklärte die UdSSR: Das „Vorgehen der britischen, amerikanischen und französischen Vertreter lähmte den Kontrollrat in Deutschland und untergrub seine Bedeutung. Das alles bedeutet, dass die Regierungen Großbritanniens, der USA und Frankreichs die Verantwortung für die ‚Sprengung‘ des Abkommens über den Kontrollrat in Deutschland auf sich genommen haben.“ Die UdSSR warf den britisch-amerikanischen Behörden vor, „in Westdeutschland jene einseitige Politik durchzuführen, die dem Kontrollrat in Bezug auf ganz Deutschland aufzuzwingen ihnen nicht gelungen war“.104 In dieser Sichtweise war der Auszug Sokolovskij aus dem Kontrollrat die Fortsetzung der bereits in den Jahren zuvor betriebenen sowjetischen Politik in diesem Gremium. Am 6. März, als diese Note übergeben wurde, war die „Sprengung“ des Kontrollrats für die UdSSR bereits eine vollendete Tatsache. Vier Tage später wurden Sokolovskij und Semënov zur Beratung Deutschland betreffender Fragen nach Moskau gerufen.105 Am 12. März, wahrscheinlich nach Beratung mit Semënov, glaubte der Chef der für Deutschland zuständigen Dritten Europäischen Abteilung des sowjetischen Außenministeriums Smirnov, es sei der UdSSR gelungen, der Weltöffentlichkeit zu zeigen, dass die USA und Großbritannien die alleinige Verantwortung für den Bruch des Kontrollmechanismus’ in Deutschland trügen. Da alle bisherigen diplomatischen Proteste wirkungslos geblieben seien, forderte er neue, wirksamere Maßnahmen, um die Pläne der Westmächte zu durchkreuzen. Dabei dachte der Chef der Dritten Europäischen Abteilung zuerst an die Sammlung der Mehrheit der europäischen Staaten für das Ziel, ein einheitliches Deutschland auf der Grundlage der Beschlüsse von Potsdam und Jalta zu schaffen. Den Außenministerrat 101 Vgl. Mal’kov an Semënov vom 16. 2.1948 (AVP RF, 0457a/5/33/27, Bl. 73–75). 102 Mündliche Erklärung Molotovs gegenüber dem polnischen Botschafter (AVP RF, 06/10/75/1061, Bl. 1). 103 Vgl. Tägliche Rundschau vom 19. 2.1948: Deklaration der Außenministerberatung der Tschechoslowakei, Polens und Jugoslawiens vom 18. 2.1948. 104 Molotov an Stalin übermittelt Entwurf der sowjetischen Antwortnote vom 5. 3.1948 (AVP RF, 06/10/13/122, Bl. 15–26). Die Note wurde am 9. 3.1948 in der Pravda und am 10. 3.1948 im Neuen Deutschland veröffentlicht. 105 Telegramm an Sokolovskij und Semënov vom 9. 3.1948 (AVP RF, 059/20/3/7418, Bl. 108).

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wollte Smirnov nur noch deshalb einberufen, weil er von der Ablehnung eines solchen Vorschlags durch die Westmächte ausging. Dies wollte er nutzen, um sie für die Zerstörung dieses Gremiums und des Alliierten Kontrollrats verantwortlich zu machen sowie gleichzeitig die „Schließung“ der SBZ zu rechtfertigen. Darunter verstand er, die Westmächte zum Verlassen Berlins zu zwingen. Die Verwaltung der sowjetischen Zone wollte Smirnov soweit wie möglich an die Deutschen übergeben, die sogar das Recht erhalten sollten, eine Vertretung für die Angelegenheiten der deutschen Kriegsgefangenen in Moskau einzurichten.106 Zahlreiche Anstreichungen in diesem Dokument deuten darauf hin, dass Molotov sie intensiv zur Vorbereitung einer Beratung zur deutschen Frage bei Stalin nutzte. Doch er erteilte keinerlei Weisungen zu den von Smirnov vorgeschlagenen Maßnahmen und leitete dessen Denkschrift nicht an andere Stellen außerhalb des Außenministeriums weiter. Am 15. März 1948 nahmen Sokolovskij und Semënov an einer Besprechung mit Stalin teil, bei der Molotov, Berija, Bulganin, Voznesenskij, Ždanov, Kaganovič, Malenkov und Mikojan zugegen waren. Nach 50 Minuten verließen Sokolovskij und Semënov das Arbeitskabinett Stalins. Die Führung der VKP(b) setzte ihre Beratungen noch zwei Stunden fort.107 Wahrscheinlich wurde in diesem Zusammenhang in Moskau ein Sonderplan zur Druckausübung auf die Westmächte in Berlin ausgearbeitet, dessen Existenz bisher nur indirekt belegbar ist.108 Offensichtlich gemäß diesem Plan beendete Sokolovskij am 20. März 1948 vorzeitig die Sitzung des Kontrollrats. Fünf Tage später unterzeichnete er zwei SMAD-Befehle, um die Bewegungsmöglichkeiten der Alliierten zwischen den Westzonen und den Westsektoren von Berlin einzuschränken.109 Trotz einzelner Forderungen der SMAD, sofort auch die Arbeit der Alliierten Kommandantur in Berlin zu beenden, wurde eine diesbezügliche Weisung in Moskau nicht erteilt. Sie setzte ihre Arbeit bis zum 16. Juni 1948 fort. Französische Bemühungen, eine Wiederaufnahme der Sitzungen des Alliierten Kontrollrats durch Kontaktaufnahme mit der SMAD vorzubereiten, wurden durch Weisung aus Moskau verhindert. Auch spätere Versuche der Franzosen wurden durch die sowjetischen Vertreter ignoriert.110 Damit wurde das Viermächteexperiment in Deutschland abgebrochen. Dies geschah für niemanden überraschend. Überraschend war eher, dass dieser Schritt solange herausgezögert und vom sowjetischen Vertreter vollzogen wurde.

106 Laufer/Kynin (Hg.), UdSSR und deutsche Frage, Band 3, S. 522–525. 107 Istoričeskij Archiv, (1996) H. 5/6, S. 29 f. 108 Am 11. 6.1948 berichtete Semënov, dass „entsprechend eines bestätigten Plans“ weitere Maßnahmen zur Einschränkung des Transitverkehrs ergriffen worden seien. Vgl. AVP RF, 059/20/37/7669, Bl. 99–101. 109 Laufer/Kynin (Hg.), UdSSR und deutsche Frage, Band 3, S. 717, Anm. 372. 110 Ebd., Band 3, S. 609. Vgl. dazu ebd., Anm. 417.

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3.

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Zur Kontinuität der sowjetischen Deutschlandpolitik

Für die sowjetische Deutschlandpolitik, insbesondere für die Politik der UdSSR in den alliierten Gremien, markiert das Jahr 1945 keinen entscheidenden Wendepunkt. Zielte die Deutschlandpolitik Stalins während des Krieges auf die bedingungslose Kapitulation Deutschlands und die Sicherung einer dauerhaften Position der UdSSR in Deutschland zur Durchsetzung der Waffenstillstandsbedingungen, so war die Politik der UdSSR nach 1945 kontinuierlich darauf gerichtet, die durch den Sieg im Zweiten Weltkrieg errungene sowjetische Position in Deutschland zu verteidigen. Für die Wahrung der wirtschaftlichen und politischen Einheit Deutschlands erwies sich der Kontrollrat als Fehlkonstruktion. Er bewährte sich jedoch als Mantel, der den Schein der Einheit wahrte, ohne die getrennte Entwicklung der Zonen zu behindern. Die durch den Kontrollrat aufrechterhaltene Fiktion der deutschen Einheit erleichterte es deutschen Politikern, ihre entgegengesetzten politischen und wirtschaftlichen Ziele durchzusetzen. Unter der Schirmherrschaft des Kontrollrats und der mehr oder weniger aktiven Mitwirkung der vier Besatzungsmächte gliederte sich Deutschland entlang der westlichen Zonengrenze der SBZ auf, indem sich Schritt für Schritt die Frühformen der beiden deutschen Staaten entwickelten. Dies war ein Ergebnis, das nicht weit von den Zielen entfernt lag, die Stalin bereits im Herbst 1941 für notwendig befunden hatte.111 Auch für die Entwicklung der Zusammenarbeit zwischen den Alliierten erwies sich der Kontrollrat – in seiner 1944 ausgehandelten Form – als ungeeignet. Das Einstimmigkeitsprinzip, das als „unanimity rule“ bereits im Juli 1943 von den Briten vorgeschlagen worden war,112 erzwang nur selten Kompromisse, in der Regel erlaubte es einzelnen Mitgliedern, die Arbeit des Kontrollrats zu blockieren. Welchen Einfluss die nahezu dreijährigen regelmäßigen Kontakte sowjetischer Militärs und Funktionäre mit westlichen Verhandlungspartnern auf die Beziehungen zwischen der UdSSR und den Westmächten hatten, lässt sich bisher nicht ermessen. Eine grundlegende Reform bzw. eine geordnete Selbstauflösung des Kontrollrats hätte nur durch einen Friedensvertrag mit Deutschland erfolgen können. Obwohl Meinungsverschiedenheiten innerhalb der sowjetischen Führung in Bezug auf die Durchsetzung sowjetischen Interessen in Deutschland und gegenüber den Alliierten belegbar sind, können die sowjetischen Planungen zur deutschen Zukunft während des Krieges keineswegs mit dem von Aleksej Filitov vorgeschlagenen Begriff „Pluralität“ beschrieben werden. Bisher deuten sich

111 Laufer/Kynin (Hg.), UdSSR und deutsche Frage, Band 1, S. 11 f. 112 Vgl. DzD, I. Reihe, Band 4, S. 445, Anm. 2. Dieses Prinzip sollte in dem mit dem späteren Kontrollrat vergleichbaren Lenkungsausschuss der vier Mächte für das oberste Gremium der Vereinten Nationen in Europa angewendet werden.

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unterschiedliche sowjetische Konzepte für die Behandlung Deutschlands lediglich in den Ausführungen Vorošilovs vom 10. Mai 1944 und in der sowjetischen Reparationspolitik nach dem Zweiten Weltkrieg an, können jedoch noch immer im Einzelnen nur ansatzweise nachgewiesen werden. Dies stellt den monolithischen Charakter der sowjetischen Planungen und Politik zur deutschen Zukunft während und nach dem Krieg zwar in Frage, doch sind keine Quellen bekannt, die belegen könnten, dass alternative Konzepte zu der von Stalin sehr früh favorisierten Aufgliederung Deutschlands jemals eine Chance hatten, die sowjetische Deutschlandpolitik zu bestimmen. Der Verdacht bzw. die Verdächtigung, die im Zweiten Weltkrieg in Deutschland errungenen Positionen preiszugeben, war – wie der Sturz Berijas 1953 zeigt – mit tödlichen Gefahren für den verbunden, der davon getroffen wurde. Die Existenz der DDR und damit die Teilung Deutschland entsprachen grundlegenden politischen Interessen der UdSSR.113 Nicht nur für Stalin, sondern auch für alle nachfolgenden sowjetischen Führer blieb nicht nur die Anwesenheit eigener Truppen in Deutschland die entscheidende Voraussetzung der DDR, sondern auch umgekehrt die Existenz der DDR die Voraussetzung für die Anwesenheit eigener Truppen in Deutschland. Zumindest letzteres, vielleicht aber auch beides zusammen, blieb bis 1989 der Garant für die Sicherheit der UdSSR, für die Stabilität des sowjetischen Blocks und für das sowjetische Mitspracherecht in Europa.

113 Vgl. Vladislav Zubok und Constantine Pleshakov, Inside the Cremlin’s Cold War. From Stalin to Khrushechev, Cambridge (Mass.) 1996, S. 164: “Kremlin leaders, Gromyko, Ustinov, and Andropov, thought that nothing could justify the loss of the GDR, the linchpin of the Soviet ‘Socialist’ bloc in Central Europe.”

Sowjetische Österreichpolitik 1945–1955: Der Weg zum Staatsvertrag Rolf Steininger Am Sonntag, den 15. Mai 1955, um genau 11.30 Uhr, unterzeichneten die Außenminister Frankreichs, Großbritanniens, der Sowjetunion, der USA, und Österreichs – Antoine Pinay, Harold Macmillan, Vjačeslav M. Molotov, John Foster Dulles und Leopold Figl – im Marmorsaal des Wiener Schlosses Belvedere den Staatsvertrag, der Österreich die staatliche Souveränität und Unabhängigkeit zurückgab. Es war ein Ereignis, auf das die Österreicher zehn Jahre gewartet hatten. Im Rückblick stellt sich die Frage, warum es so lange gedauert hatte. In der Moskauer Deklaration vom 1. November 1943 hatten die späteren Sieger die Wiederherstellung eines unabhängigen, freien Österreich nach Kriegsende festgelegt. Im April 1945 war dieses Österreich denn auch entstanden, wenn auch auf einseitigen Beschluss der Sowjets und monatelang von den Westmächten nicht anerkannt. Diese Anerkennung kam im Oktober 1945, im Anschluss fanden dann die ersten gesamtösterreichischen freien Wahlen statt – die zu einem Desaster für die österreichischen Kommunisten wurden. Im ausbrechenden Kalten Krieg spielte Österreich eine besondere Rolle. „Die Vier im Jeep“ wurden zu einem Symbol für eine mehr oder weniger funktionierende Viermächte-Verwaltung. Im Mai/Juni 1946 hatte der amerikanische Außenminister James Byrnes seinem österreichischen Kollegen Karl Gruber in Paris versichert, dass spätestens in einem Jahr der Staatsvertrag unterschrieben würde. Es sollten neun lange Jahre werden. Auf der Außenministerkonferenz in Paris 1946 wurde das Thema Österreich nicht behandelt. Der sowjetische Außenminister Molotov hatte argumentiert, die Tagesordnung sei bereits überladen, und es sei wichtiger, zuerst Friedensverträge mit Bulgarien, Rumänien, Ungarn, Finnland und Italien abzuschließen. Auf der Konferenz der Stellvertretenden Außenminister in London vom 14. Januar bis 25. Februar 1947 führten die Verhandlungen über den Staatsvertrag zwar zu einem Vertragsentwurf, bei dem allerdings nur in 14 Punkten eine Einigung erzielt wurde. Immerhin wurde ein „Vertrag betreffend die Wiederherstellung eines unabhängigen, demokratischen Österreich“ in Aussicht gestellt. Bei der anschließenden Außenministerkonferenz in Moskau (10. 3.–24. 4.) und den Tagungen der österreichischen Vertragskommission der Vier Mächte in Wien

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(12. 5.–11.10.) standen zwei strittige Fragen im Vordergrund: die jugoslawischen Gebietsforderungen an Österreich und das „deutsche Eigentum“. Während die Westmächte auf den Grenzen von 1938 für Österreich beharrten, machten sich die Sowjets die jugoslawischen Forderungen zu eigen. Jugoslawien verlangte in Kärnten ein Gebiet von 2 470 km2 und 180 000 Einwohnern einschließlich Klagenfurts und eines Teils der Stadt Villach, in der Steiermark ein Gebiet von etwa 230 km2 mit ca. 10 000 Einwohnern. Die Westmächte lehnten diese Forderungen ab, die Sowjetunion unterstützte Jugoslawien grundsätzlich, ohne sich allerdings auf eine genaue Größenordnung festzulegen; im Übrigen wissen wir heute, dass sie Jugoslawien schon bald dazu drängte, seine Forderungen zu reduzieren, was 1948/49 auch geschah. 1948 kam es dann allerdings zum Bruch zwischen Stalin und Tito. Das bedeutete gleichzeitig das Ende der sowjetischen Unterstützung für die Ansprüche Jugoslawiens. Im Sommer 1949 einigten sich die Vier Mächte darauf, dass Österreichs Grenzen unverändert bleiben sollten, allerdings ein Minderheitenschutz im Staatsvertrag zu verankern sei. So entstand damals der heute als Artikel 7 bekannte Minderheitenschutzartikel des Staatsvertrages. Dieser Artikel schloss und schließt insbesondere den Anspruch der slowenischen und kroatischen Minderheiten in Kärnten, Burgenland und Steiermark auf Elementarunterricht in slowenischer und kroatischer Sprache sowie auf eine verhältnismäßige Anzahl eigener Mittelschulen ein.1 Das zweite Hauptproblem war das „deutsche Eigentum“. Die Auffassungen der Westmächte und der Sowjetunion über das, was als deutscher Besitz in Österreich anzusehen war, klafften weit auseinander. Der Vermittlungsvorschlag des Franzosen Paul Cherrière, wonach die Sowjetunion 58 Prozent des Eigentums beim Erdöl und 100 Prozent der Donaudampfschifffahrtsgesellschaft sowie als Ablösezahlung für alle anderen Ansprüche 100 Mio. Dollar erhalten sollte, wurde von Außenminister Molotov auf der Londoner Außenministerkonferenz im November/Dezember 1947 entschieden zurückgewiesen. Molotov forderte 200 Mio. Dollar. 1948 traf man sich dann in der Mitte bei 150 Mio. Dollar. Die Sowjetunion beanspruchte darüber hinaus allerdings zusätzliche Rechte, vor allem im Bereich der Erdölindustrie und der Donaudampfschifffahrtsgesellschaft (DDSG). Dennoch zeichnete sich 1948 eine Lösung ab. Sie wurde durch die weltpolitische Entwicklung verhindert. 1948 waren es die Westalliierten, die wegen der für sie überraschenden und in ihren Folgen nicht absehbaren Entwicklung in Ost-Mitteleuropa, vor allem in der Tschechoslowakei, einen Österreich-Vertrag verzögerten und unter den gegebenen Verhältnissen überhaupt nicht herbeiführen wollten. Auf der Außenministerkonferenz im Mai/Juni 1949 in Paris geschah dann das völlig Unerwartete. Die Westmächte wollten die Stärke der sowjetischen 1

Zur Genesis vgl. Reinhard Bollmus, Ein kalkulierbares Risiko? Großbritannien, die USA und das „Deutsche Eigentum“ auf der Konferenz in Potsdam. In: Günter Bischof / Josef Leidenfrost (Hg.), Die bevormundete Nation. Österreich und die Alliierten 1945– 1949, Innsbruck 1988, S. 107–126.

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Loyalität den Jugoslawen gegenüber testen und boten in den ersten Tagen der Verhandlungen einen Kompromiss an: keine weitere Unterstützung der jugoslawischen Forderungen durch die Sowjets, dafür Zustimmung des Westens zu sowjetischen Wirtschaftsforderungen in Österreich. Die Sowjets gingen auf den Handel ein. Außenminister Vyšinskij stimmte dem westlichen Angebot zu und gab die jugoslawischen Forderungen ohne Weiteres auf. Dafür akzeptierten die Westmächte, dass Österreich eine Pauschalzahlung von 150 Mio. US-Dollar für das „deutsche Eigentum“ in Österreich zu leisten hätte – zahlbar innerhalb von sechs Jahren, sie akzeptierten ferner die sowjetische Forderung nach 60 Prozent der österreichischen Erdölförderung für einen Zeitraum von 30 Jahren ab Vertragsabschluss sowie 60 Prozent der Ölschürfrechte für eine Suchdauer von acht Jahren und eine Ölförderung von weiteren 25 Jahren ab Fündigwerden. Bei der DDSG sollte die Sowjetunion alle Vermögenswerte in Ungarn, Rumänien und Bulgarien sowie in Ostösterreich erhalten. Plötzlich war die Streitfrage, die die Gespräche seit Monaten blockiert hatte, gelöst. Als die Konferenz zu Ende ging, wurden im Kommuniqué die großen Linien des Kompromisses angedeutet und die stellvertretenden Außenminister angewiesen, die Details auszuarbeiten und bis zum 1. September 1949 einen unterschriftsreifen Vertrag fertig zu stellen. Der auf der Konferenz erreichte Kompromiss war ein klares Zeichen für Stalins Bereitschaft, einen Österreichvertrag abzuschließen. Was hat Stalins Sinneswandel damals bewirkt? Zum einen stimmten sicherlich die wirtschaftlichen Bedingungen, zum andern aber wollte Stalin damals die Österreichlösung für etwas ganz anderes nutzen, nämlich für eine Lösung auch der deutschen Frage. Wir wissen heute, dass die Sowjets mit großen Erwartungen in die Außenministerkonferenz nach Paris gegangen waren. Die Hauptfrage war Deutschland, die nicht entschieden wurde. Allerdings erwartete Stalin für den Herbst eine weitere Außenministerkonferenz, in der Hoffnung, dieses Problem doch noch zu lösen. Der politische Berater des Chefs der sowjetischen Militäradministration in Deutschland, Wladimir Semënov, machte dies am 19. Juli 1949 gegenüber dem Vorsitzenden der SED, Wilhelm Pieck, deutlich. Pieck notierte: „Österreich-Frage [...] Hauptmeinungsversch[iedenheiten]“ behoben. Die Vereinbarungen von Paris seien „das Neue“; die „Int[ernationale] Bedeutung des Österr. Vertrages“ sei „Fortschritt in Friedensregelung auch für Deutschland; dtsch. Volk gleiches Recht – nach 3 Monaten Abzug der Bes[atzungs]truppen“. Gleichzeitig wurde der SED-Führung eine „Direktive“ Stalins übermittelt, die Bemühungen fortzusetzen, um „wirtschaft[liche] u. pol[itische] Einheit [zu] erreichen“.2 Die internationale Entwicklung lief anders als von Stalin erwartet. Die Bundesrepublik wurde gegründet, anschließend die DDR; und im Fernen Osten stand der Sieg der Kommunisten in China unmittelbar bevor. Am 1. September 2

Vgl. Rolf Badstübner/Wilfried Loth (Hg.), Wilhelm Pieck – Aufzeichnung zur Deutschlandpolitik 1945–1953, Berlin 1994, S. 288.

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wurde nichts unterschrieben. Dies war nicht zuletzt auf die Schwierigkeiten in Washington zurückzuführen. Das State Department war für den Abschluss, das Pentagon dagegen. Als sich Präsident Truman schließlich für den Abschluss entschied, war es zu spät; Stalin war nicht mehr interessiert. Lediglich in London war Außenminister Bevin entschlossen für einen Abschluss, während auch in Paris Bedenken auftauchten. Man hatte keine besonders hohe Meinung von den Österreichern. Der französische Hochkommissar in Wien, Emile Béthouart, war nicht davon überzeugt, dass Österreich nach Abzug der Besatzungstruppen seine Selbständigkeit bewahren werde. Er charakterisierte die Österreicher damals folgendermaßen: „Die Österreicher sind eine verweichlichte, weibische Rasse, drauf und dran, dass ihnen Gewalt angetan wird. Das letzte Mal waren es die Deutschen. Nächstes Mal sind es vielleicht die Russen. Sie sind nicht nur verweichlicht, sondern sind in vielerlei Hinsicht orientalisch in ihrer Schicksalsergebenheit und Bereitschaft zu akzeptieren, was sie als unwiderstehliche Kraft spüren.“3 Die Frage, ob es sich bei dem Vertrag des Jahres 1949 um etwas handelte, das noch akzeptabel war oder für Österreich auf lange Sicht das Ende bedeutet hätte, spaltete das Land in zwei Lager. Die Kluft ging quer durch die Parteien. Der weitaus größere Teil der Bevölkerung dürfte freilich dazu bereit gewesen sein, den Staatsvertrag zu so gut wie jeder Bedingung abzuschließen, doch das Wort von Bundespräsident Karl Renner, er würde den Tag der Unterzeichnung des Staatsvertrages auf dieser ausgehandelten Basis zum Staatstrauertag erklären, dürfte gerade auch aus nachträglicher Sicht nicht nur leichtfertig hingesprochen worden sein. Ob 1949 eine Chance vertan wurde, bleibt somit eine offene Frage.4 Tatsache ist, dass sich in den folgenden Jahren bei dieser Frage wenig bewegte. Im März 1952 legten die Westmächte den sog. „Kurzvertrag“ vor, der in wenigen Punkten die Feststellung des Abzugs der Besatzungstruppen und die Modalitäten der Erlangung der vollen Souveränität Österreichs sowie den ersatzlosen Verzicht der Sowjets auf das „deutsche Eigentum“ vorsah. Man war bereit, der UdSSR dadurch entgegenzukommen, dass man die Mitschuldklausel Österreichs (wie in der „Moskauer Deklaration“ formuliert) in den Vertrag aufnehmen wollte. Damit sollte offenbar angedeutet werden, dass man zumindest einen Teil der sowjetischen Forderungen erfüllen wollte. Die Sowjetunion akzeptierte den Kurzvertrag jedoch nicht als Verhandlungsgrundlage. Ihr ging es primär um Deutschland und nicht um Österreich, das damit endgültig zur Geisel der deutschen Frage geworden war.5 Für die Sowjets, so hatte George F. Kennan, Botschafter in Moskau, 1952 notiert, „ist Österreich eine Trumpf3 4 5

Zit. bei Bischof/Leidenfrost (Hg.), Bevormundete Nation, S. 14. Vgl. Audrey K. Cronin, Eine verpasste Chance? Die Großmächte und die Verhandlungen über den Staatsvertrag im Jahre 1949. In: Bischof/Leidenfrost (Hg.), Bevormundete Nation, S. 347–370. Vgl. Michael Gehler, Kurzvertrag für Österreich. Die Stalin-Noten und die Staatsvertragsdiplomatie 1952. In: VfZ, 43 (1994), S. 243–278.

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karte, die sie möglicherweise erst ausspielen werden, wenn die Lösung der deutschen Frage definitiv ansteht“.6 Diese Lösung ließ auf sich warten, während auf der anderen Seite der Kalte Krieg nichts von seiner Schärfe verlor und das amerikanische Misstrauen gegenüber der Sowjetunion anhielt. In einer Analyse der sowjetischen Politik vom August 1953 wurde dies in einem Bericht des Hochkommissars in Wien deutlich. Dort hieß es, dass die Weigerung Moskaus, den Staatsvertrag zu unterschreiben, Beweis für die üblen Absichten der Sowjetunion sei. Würden die Sowjets auf der anderen Seite den Vertrag akzeptieren, würde dies nicht das Gegenteil beweisen; er würde lediglich „eine Waffe im Kalten Krieg“ sein.7 Die österreichische Regierung suchte in jener Zeit fast verzweifelt nach Wegen und Möglichkeiten, den Abzug der (sowjetischen) Besatzungstruppen zu erreichen. 1952 begann man die Möglichkeit eines neutralen Österreich zu testen; nach Stalins Tod verstärkte man diese Bemühungen. Der seit April 1953 neu im Amt befindliche Bundeskanzler Julius Raab vertrat eine Linie größerer Gesprächsbereitschaft gegenüber der Sowjetunion. Man setzte Signale in Richtung Moskau, dass man keineswegs eine Mitgliedschaft in der NATO anstrebe und dass man um eine militärische Neutralität – Bündnisfreiheit und Nichtzulassung fremder Militärbasen – bemüht sei. Die Eisenhower-Administration und die britische Regierung hielten nichts von einem neutralen Österreich. Die Diplomaten befürchteten, dass ein solcher Status Österreich daran hindern werde, Bindungen in politischen, wirtschaftlichen und anderen Bereichen mit dem Westen einzugehen. Einige sahen nichts grundsätzlich Falsches in einer Neutralität, befürchteten aber, dass damit ein Präzedenzfall für die viel wichtigere deutsche Frage geschaffen werde. Die entschiedenste Opposition kam vom Pentagon. Die Vereinigten Stabschefs und deren Vorsitzender, Admiral Radford, vertraten durchgängig 1953 und 1954 die Meinung, dass ein neutrales Österreich ein „schwerer Schlag“ für die NATO sein und schwerwiegende Veränderungen in der Strategie der Alliierten nach sich ziehen werde. Man wollte um beinahe jeden Preis die Schaffung eines neutralen Keils – Schweiz-Österreich – zwischen dem Nord-Süd-Bereich der NATO verhindern.8 Auf der Außenministerkonferenz im Februar 1954 in Berlin zerschlugen sich die österreichischen Hoffnungen auf eine Lösung der Frage. Außenminister Figl – erstmals gleichberechtigter Verhandlungspartner – informierte die Konferenz, dass Österreich frei von militärischen Bündnissen bleiben wolle. Die österreichische Delegation machte bei ihrem Auftritt einen hervorragenden Eindruck, wie US-Unterstaatssekretär Livingston Merchant später in den USA berichtete: „Sie konfrontierten Molotov mit ganz außergewöhnlichem Mut. Sie gaben nicht nach; sie gingen nicht in die Falle, mit Molotov hinter den Kulissen bila6 7 8

Kennan an State Department vom 18. 7.1952. In: FRUS, 1952–1954, vol. VII, S. 1770 f. Ebd., S. 1892. James J. Carafano, Waltzing into the Cold War. The Struggle for Occupied Austria, Texas 2002, S. 148.

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terale Gespräche zu führen; sie brachten ihr Anliegen vor und wurden niedergestimmt; sie verließen den Verhandlungssaal in Würde.“9 Molotov verlangte die Einschaltung eines neuen Artikels in den Staatsvertrag, der eine Art vertragliche Neutralisierung Österreichs bedeutet hätte. Die Westmächte lehnten dies strikt ab; sie wollten vor allem eine Modellfunktion des Österreich-Vertrages für Deutschland vermeiden, zumal die Sowjets zwei Jahre vorher einen ähnlichen Neutralisierungsvorschlag für Deutschland präsentiert hatten. Gleichzeitig verlangte Molotov, dass bis zum Abschluss des Friedensvertrages mit Deutschland Truppenkontingente in Österreich bleiben sollten. Hinzu kam sein Vorschlag, alle alliierten Truppen aus Wien abzuziehen; das aber hätte Wien innerhalb des sowjetischen Einflussbereiches isoliert. Die Österreicher kehrten enttäuscht nach Wien zurück, ohne zu wissen, dass für die Zukunft des Landes etwas Wichtiges in Berlin geschehen war. Der amerikanische Außenminister John Foster Dulles hatte nämlich Molotov mitgeteilt, wenn Österreich „eine Schweiz“ werden wolle, würden die USA keine Einwände erheben. Dulles erwähnte weiter, dass die USA Österreichs freie Entscheidung anerkennen würden, wenn es wie die Schweiz freiwillig seine Neutralität erklären würde. Im Herbst 1954 schien die Lösung der deutschen Frage definitiv anzustehen. Im ersten Anlauf scheiterte die Lösung zwar – ohne Zutun der Sowjets: Am 30. August 1954 lehnte die französische Nationalversammlung die Europäische Verteidigungsgemeinschaft ab, allerdings wurde eine Ersatzlösung in wenigen Wochen möglich: In den Pariser Verträgen einigten sich die Westmächte im Oktober 1954 auf den NATO-Beitritt der Bundesrepublik. Als die Verträge unterschrieben wurden, zog Moskau noch nicht die Österreichkarte; nichts deutete darauf hin, dass es das Junktim von Österreich- und Deutschlandfrage auflösen würde. Das änderte sich, als die Ratifizierung der Verträge anstand. Ziel der Sowjets war jetzt ganz eindeutig, in Paris und Bonn Einfluss auf die Ratifizierungsdebatten zu nehmen – z. T. mit warnendem Unterton: Paris wurde am 9. Dezember für den Fall einer Ratifizierung das Ende des sowjetisch-französischen Vertrages von 1944 angedroht, Bonn am 2. Dezember als Ergebnis der Moskauer Ostblockkonferenz gesamtdeutsche freie Wahlen für 1955 und die Bildung einer gesamtdeutschen Regierung in Aussicht gestellt, bei „Verzicht auf die Pläne zur Remilitarisierung Westdeutschlands und zu dessen Einbeziehung in militärische Gruppierungen“. Am 15. Januar 1955 wiederholte die Sowjetregierung ihr Angebot und warnte, dass die Ratifizierung die Spaltung Deutschlands auf lange Jahre festlegen und zum Hindernis auf dem Weg zu einer friedlichen Wiederherstellung der Einheit werden würde.10 9 „The Berlin Conference“; Secret; Vortrag von Livingston Merchant vor dem National War College in Washington, D. C., am 12. 3.1954 (Merchant Papers, Princeton University). 10 Vgl. Rolf Steininger, Deutsche Geschichte seit 1945. Band 2: 1948–1955, Frankfurt a. M. 2002, S. 283–315.

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Als Adenauer am 22. Januar 1955 die sowjetischen Vorschläge rundweg ablehnte, setzte Moskau zu einer neuen Runde an: Am 24. Januar wurden die Botschafter in Washington, London und Paris nach Moskau zurückgerufen, am 3. Februar fand die Sitzung des Obersten Sowjets statt (einen Monat früher als geplant), am 8. Februar machte Molotov in seiner Rede vor dem Obersten Sowjet erste Andeutungen über eine mögliche Österreich-Lösung. Für einen Vertrag nannte er drei Bedingungen: a) angemessene Maßnahmen der Vier Mächte im Zusammenhang mit der deutschen Frage; b) Verpflichtung Österreichs zur Bündnisfreiheit und Nichtzulassung fremder Militärbasen auf seinem Territorium; und c) die Einberufung einer Viermächte-Konferenz, auf der sowohl die deutsche Frage als auch die Frage des Staatsvertrages mit Österreich geprüft werden sollte. Im Westen wurde damals nicht erkannt, dass die Sowjets es diesmal ernst meinten. Entsprechend waren die Reaktionen. Sowohl Julius Raab wie auch Adolf Schärf bedauerten, dass der Staatsvertrag erneut mit der deutschen Frage verknüpft und die sog. „Anschlussgefahr“ betont worden sei; beide wiesen darauf hin, dass Österreich ein moralisches Recht auf Freiheit und Unabhängigkeit habe, so wie es 1943 in der Moskauer Deklaration festgelegt worden sei. Raab bekräftigte die Stellungnahme Figls von der Berliner Konferenz, Schärf wies darauf hin, dass sich trotz des vergleichsweise freundlichen Tones von Molotov die sowjetische Haltung nicht grundlegend geändert habe und äußerte die Hoffnung, dass die Sowjetunion letztlich den Staatsvertrag unabhängig von der deutschen Frage regeln werde.11 Für den britischen Botschafter in Wien, Sir Geoffrey Wallinger, lief Molotovs Rede darauf hinaus, dass die Neutralisierung Deutschlands nach wie vor die sowjetische Voraussetzung für den Abschluss eines Staatsvertrages sei. Ähnlich sah man das auch im State Department in Washington. In Moskau habe sich etwas bewegt, aber der Preis sei genauso hoch oder noch höher, als in Berlin 1954 formuliert; von daher sei Molotovs Rede „keine Grundlage, um auf einen Staatsvertrag zu hoffen“. Und damit sich Wien keine falschen Hoffnungen machen sollte, wurde die US-Botschaft in Wien angewiesen, dies der österreichi11

Vgl. Rolf Steininger, Deutsche Frage und österreichischer Staatsvertrag. In: Geschichte und Gegenwart, 11 (1992), S. 243–252; Bruno Thoß, Modellfall Österreich? Der österreichische Staatsvertrag und die deutsche Frage 1954/55. In: ders./Hans-Erich Volkmann (Hg.), Zwischen Kaltem Krieg und Entspannung. Sicherheits- und Deutschlandpolitik der Bundesrepublik im Mächtesystem der Jahre 1953–1956, Boppard 1988, S. 93–136; Michael Gehler, State Treaty and Neutrality. The Austrian solution in 1955 as a „model“ for Germany? In: Austria in the Nineteen Fifties, Contemporary Austrian Studies 3, New Brunswick (NJ) 1994, S. 39–78; ders., „L’unique objectif des Soviétiques est de viser l’Allemagne“. Staatsvertrag und Neutralität 1955 als „Modell“ für Deutschland? In: Österreich in den Fünfzigern. Hg. von Thomas Albrich/Klaus Eisterer/Michael Gehler/Rolf Steininger, Innsbruck 1995, S. 259–297.

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schen Regierung entsprechend klarzumachen, „da dies mithelfen kann, dass bei den Österreichern kein Wunschdenken aufkommt“. Für diese Art von Warnung bestand allerdings keine Notwendigkeit. Leopold Figl war überzeugt davon, dass Molotovs Rede „nur Propaganda“ gewesen und die Neutralisierung Deutschlands die eigentliche Vorbedingung Moskaus sei. Tatsächlich hatten die Westmächte zu diesem Zeitpunkt bereits die Initiative mit Blick auf den Staatsvertrag an die Sowjets verloren. Am 25. Februar empfing Molotov den österreichischen Botschafter Norbert Bischoff und wies nachdrücklich darauf hin, dass seine Erklärung vom 8. Februar „eine positive Veränderung“ gegenüber seiner Position auf der Berliner Konferenz darstelle. Molotov ging mit ihm den Text seiner Erklärung durch und machte deutlich, dass er nicht eine grundsätzliche Gesamteinigung über die deutsche Frage als Voraussetzung der Bereinigung der österreichischen Frage sehe, sondern, wie Bischoff nach Wien berichtete, „eine Einigung darüber, dass und wie der Anschluss nicht nur jetzt, wo keine ernste Gefahr bestehe, sondern auch für die Zukunft völlig zuverlässig verhindert werden könnte, und wenn man sich darüber einige, könne Besatzung enden“. Bischoff fuhr fort: „Molotov sagte, wenn es also der Bundesregierung recht wäre, sollten wir uns gemeinsam den Kopf zerbrechen, wie wir Anschluss zuverlässig unmöglich machen. Wir sollten unsere Vorstellung über dieses Problem miteinander vergleichen und wenn wir dann auf diplomatischem Wege zu einer Einigung gelangt seien, würde Sowjetregierung mit großem Vergnügen Bundeskanzler und alle sonstigen unsererseits erwünschten Persönlichkeiten zu einem Besuch nach Moskau einladen.“12 Am 28. Februar erhielt Bischoff die Anweisung aus Wien, bei Molotov vorzusprechen und so bald als möglich zu erfahren, welche Gedanken und Maßnahmen Molotov für die Realisierung seines Garantieprojektes vorschwebten.13 Noch am selben Tag sprach Bischoff mit Semënov. Im Gespräch mit diesem verstärkte sich Bischoffs Vermutung, „dass die Initiative Molotovs auf den Wunsch zurückgeht, durch eine real gesicherte Neutralisierung Österreichs zu verhindern, dass die durch die Pariser Abmachung bewirkte Zerreißung Deutschlands zusammen mit der dadurch geschaffenen Frontlinie sich – mit allem, was das u. U. für uns zu bedeuten hätte – auch auf österreichischem Boden fortsetze. Es wäre uns damit eine funktional ähnliche Rolle zugedacht wie Schweden, Finnland, Schweiz und Jugoslawien.“14 Am 14. März machte die Bundesregierung klar, dass sie jede wirkungsvolle Sicherung und Garantie gegen die Anschlussgefahr begrüße. Dies war der Kernsatz des Memorandums, das Bischoff Molotov übergab. Molotov empfing Bischoff noch am selben Tag. Kernpunkt der Diskussion war die Anschlussfrage, die offensichtlich im Mittelpunkt der sowjetischen Überlegungen stand. Bischoff 12 Abgedruckt bei Alfons Schilcher, Österreich und die Großmächte. Dokumente zur österreichischen Politik 1945–1955, Wien 1980, S. 238–297. 13 Ebd., S 241. 14 Ebd.

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berichtete nach Wien, dass die Russen „die Anschlussgefahr pro futuro für ernster zu halten (scheinen) als wir; sie sind es, die zusätzliche Garantien und Sicherungen fordern. An ihnen und nicht an uns ist es daher, zu sagen, was sie sich darunter vorstellen.“ Molotov sagte, man müsse in Betracht ziehen, dass die Verhinderung des Anschlusses nicht nur ein österreichisches und ein sowjetisches Interesse, sondern ein europäisches Interesse sei. Bischoff weiter in seinem Bericht: „Ich fragte: ‚Denken Sie also an eine europäische Garantie gegen den Anschluss?‘ Er: ‚Man müsste wissen, was das konkret bedeutet, wer daran teilnähme, die Großmächte, die Nachbarn Österreichs?‘ Ich: ‚Soll ich meiner Regierung vorschlagen, sich diese Fragen zu überlegen?‘ Er: ‚Nachdenken kann nie schaden. Ich glaube, auch wir könnten darüber nachdenken. Aber sicher ist, dass uns allen miteinander mit rein verbalen Garantien allein nicht geholfen ist, dass man wie Ihr Memorandum sich ausdrückt, etwas Wirkungsvolles (russischer Ausdruck effektivnovje) suchen muss‘.“ Bischoffs Resümee war eindeutig: „Nach meinem heutigen Gespräch mit Molotov bin ich überzeugter denn je, dass es den Russen ernstlich um den Abschluss Staatsvertrags bei gleichzeitiger effektiver Sicherung gegen Anschluss zu tun ist, da dies der einzige Weg ist, um die Bildung einer gesamtkontinentalen Frontlinie zuverlässig zu verhindern. Dieses ihr völlig eindeutiges Interesse muss als permanent angesehen werden.“15 Eine Woche später unterrichteten Figl und Kreisky die westlichen Botschafter in Wien. Die Österreicher waren beeindruckt von der Tatsache, dass Molotov persönlich die Verhandlungen in Moskau führte. Nach Kreiskys Meinung war es nunmehr offensichtlich, dass die sowjetische Initiative nicht gegen die Ratifizierung der Pariser Verträge gerichtet sei. Er und Figl betonten, dass man sich auf österreichischer Seite verpflichtet fühle, die Dinge weiterzuverfolgen und sich nicht später dem Vorwurf ausgesetzt sehen wolle, eine Chance vertan zu haben. Wallinger hatte den Eindruck, dass die Österreicher bereit waren, eine Anti-Anschluss-Garantie zu akzeptieren. Als der amerikanische Botschafter Thompson auf eine mögliche Garantie durch die Nachbarn Österreichs hinwies, lehnte Kreisky dies mit Nachdruck ab; man werde niemals eine solche Garantie akzeptieren, da dies bedeuten würde, dass die Tschechoslowakei und Ungarn die Rolle eines Siegers einnehmen würden. Die westlichen Botschafter waren nicht besonders glücklich über diese Art von bilateralen Gesprächen zwischen Sowjets und Österreichern, denn, wie Geoffrey W. Harrison, Unterstaatssekretär im Foreign Office, am 18. März notierte: „Die Österreicher sind kein Gegner für die Russen.“ Dies zeige allein schon die Tatsache, dass die Österreicher die Gefahr eines Anschlusses akzeptiert hätten. Die Sache wurde auch nicht dadurch besser, dass Raab am 20. März in einer seiner Rundfunkansprachen von einer möglichen Garantie sprach. In London war man überzeugt, dass die Sowjets keinen Abschluss ei15 Ebd., S. 246.

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nes Staatsvertrages wollten, der für den Westen akzeptabel sei: „Die Russen wollen keinen österreichischen Staatsvertrag; von Zeit zu Zeit bauen sie lediglich einen Popanz auf“ („from time zu time they erect a bugbear“), wie P. F. Hancock, der Leiter des Central Departments im Foreign Office, am 18. März notierte. Sein Kollege W. A. Young stellte die Frage: „Müssen wir die österreichische Regierung nicht irgendwann darauf hinweisen, dass wir nicht einfach hinter jedem neuen Hasen, den die Russen aus dem Hut zaubern, herlaufen können?“ Harrison formulierte es etwas drastischer: „Die Österreicher scheinen entschlossen zu sein, wie die Gadaränischen Säue ins Verhängnis zu laufen“ („The Austrians seem intent, like the gadarene swines, on rushing over the precipice to the doom“). Er sah keinen Anlass, sie dabei zu unterstützen.16 Dennoch änderte sich die Lagebeurteilung der westlichen Botschafter in Wien. Der britische Botschafter war sich mit den Österreichern einig, dass offenbar Bewegung in die sowjetische Politik gekommen sei; Moskau beginne sich anscheinend auf die Zeit nach der Ratifizierung der Pariser Verträge einzustellen und deshalb Überlegungen näher zu treten, wie man in diesem Fall dem Westen wenigstens den Zugriff auf Westösterreich verwehren und gleichzeitig die Aufrüstung Westdeutschlands psychologisch erschweren könnte. Am 23. März hieß es in einer gleichlautenden Analyse der drei westlichen Botschafter in Wien, dem Kreml gehe es kurzfristig offensichtlich darum, eine Viererkonferenz über Österreich zur Wiederaufnahme von Deutschlandverhandlungen zu nutzen, zumindest aber die Tür für spätere Gespräche offen zu halten. Es sehe so aus, als ob Moskau die Ratifizierung der Pariser Verträge akzeptiert habe, nicht jedoch deren Realisierung, sprich tatsächliche Wiederbewaffnung der Bundesrepublik. Hauptziel der Sowjets sei offensichtlich die Schaffung eines Gürtels neutraler Staaten, bestehend aus Schweden, Deutschland, Österreich und Jugoslawien.17 Am selben Tag hielt es Harrison für angebracht, grundsätzlich über das Thema Österreich nachzudenken. Er hatte nach wie vor seine Zweifel, dass die Sowjets tatsächlich bereit waren, den Staatsvertrag zu unterzeichnen. Es gehe jetzt um die Garantie der Unabhängigkeit und Integrität Österreichs, aber es gebe keine Garantie dafür, dass die Sowjets nicht wieder einen neuen Schachzug planten. Harrison hatte Verständnis für die Position der österreichischen Regierung, eine Neutralisierung zu akzeptieren, da es ziemlich unlogisch sei, etwas anderes zu erwarten, die große Frage sei aber: „Ist der Westen bereit, dies zu akzeptieren?“ Aus der Antwort, die er selbst gab, erfahren wir erstmals etwas über die amerikanischen Absichten mit Blick auf eine mögliche Mitgliedschaft Österreichs in der NATO. Die amerikanischen Akten darüber sind nach wie vor nicht freigegeben. In der offiziellen Dokumentenreihe „Foreign Rela16 Minutes of Hancock vom 19. 3.1955, Young vom 21. 3.1955, Harrison vom 22. 3.1955 (The National Archives: Public Record Office, London [im Folgenden TNA: PRO], FO 371/117786/RR 1071/43). 17 Confidential Letter Wallingers an G. Harrison vom 22. 3.1955 (ebd., RR 1071/47).

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tions“ fehlen die entsprechenden Dokumente. Harrisons Aufzeichnung aber können wir entnehmen, dass in Washington eine NATO-Mitgliedschaft Österreichs ernsthaft erwogen wurde. „In der Vergangenheit“, so schrieb er, „haben die Amerikaner eine Vorwärtsstrategie in Österreich verfolgt. Sie hätten es gerne gehabt, dass Österreich nach dem Vertrag dem westlichen Bündnis beigetreten wäre. Wir haben Zweifel gehabt, ob dies praktikabel sei, aus militärischen und politischen Gründen. Aber wir haben gehofft, dass Österreich unserem politischen Klub beitreten würde. Selbst das ist jetzt aber zweifelhaft. Im Moment sieht es so aus, dass Österreich politisch militärisch neutral sein wird, möglicherweise mit einer internationalen Garantie.“18 Wenig später machte Molotov seinen nächsten Zug. Er bekundete öffentlich seine Bereitschaft, über die Österreichfrage gesondert auf einer Vier-MächteKonferenz zu verhandeln, gleichzeitig wurden Bundeskanzler Raab und weitere Mitglieder der Regierung zu bilateralen Gesprächen nach Moskau eingeladen. Die Frage war, ob Moskau damit das Junktim „deutsche Frage“ und „österreichische Frage“ aufgegeben hatte. Oder sollte die Österreichinitiative jetzt erst recht für neue Gespräche in der deutschen Frage dienen? In einem zwei Tage später fertiggestellten Strategiepapier über mögliche „Gespräche mit der Sowjetunion“ stellte das Foreign Office klar, dass die Teilung Deutschlands, „an die sich alle Mächte inzwischen gewöhnt haben, nicht ohne Vorteil für uns alle ist, selbst für die Sowjetunion, die Russen aber den Schlüssel für die deutsche Einheit in Händen halten und ihn, wenn sie wollen, den Deutschen schon morgen zu verlockenden Bedingungen anbieten können“.19 Im Westen wurde damals viel darüber spekuliert, ob ein solches Angebot kommen würde. Im State Department in Washington hielt man die sowjetischen Aktivitäten immer noch für Propaganda. Charles Bohlen, der amerikanische Botschafter in Moskau, glaubte nicht daran, dass Moskau der Österreichinitiative bald ein neues Deutschlandangebot folgen lassen würde. Er war überzeugt davon, dass die Sowjetunion die DDR weder fallen lassen wolle noch könne, sondern den Weg zu Vier-Mächte-Gesprächen auf der Grundlage der deutschen Teilung suche.20 Die allergrößte Sorge hatte man wegen der sich abzeichnenden bilateralen Gespräche zwischen Österreich und den Sowjets; die Österreicher, so das Verdikt des Foreign Office, seien keine gleichwertigen Partner. („Es ist gefährlich, alleine nach Moskau zu gehen“; Außenminister Eden fühlte sich an Schuschniggs Berchtesgaden-Besuch im Februar 1938 erinnert.)21 Er drängte darauf, Bundeskanzler Raab von der Reise nach Moskau abzuhalten, er bedauerte, dass die Österreicher nicht mit größerem Nachdruck vor den Sowjets gewarnt worden seien, und hoffte, nicht eines schönen Morgens aufzuwachen 18 Austria. Memorandum Harrisons vom 23. 3.1955 (TNA: PRO, FO 371/11778/ RR 1071/72). 19 Secret, C. P. (5) 83 vom 26. 3.1955: „Talks with the Soviet Union“ (TNA: PRO, CAB 129/74). 20 Bohlen an State Department vom 31. 3.1955. In: FRUS, 1955–1957, vol. V, S. 26. 21 Aufzeichnung vom 28. 3.1955 (TNA: PRO, FO 371/11777787/RR 107/22).

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und zu hören, dass Raab in Moskau sei (Raab „should be warned against it. [...] I’m sorry that Austrians were not more firmly warned against Moscow’s wiles. I hope we shall not wake up some morning soon and find Raab in Moscow“), musste sich aber von Staatssekretär Kirkpatrick sagen lassen, dass dies wohl kaum machbar sei: Raab wolle um beinahe jeden Preis nach Moskau.22 Am 29. März stellte Eden noch einmal die Frage nach den sowjetischen Absichten: „Wollen die Russen die Österreichkarte spielen, um damit das Gespräch über Deutschland neu zu beginnen und damit versuchen, uns Ärger in Deutschland zu machen?“23 Mit anderen Worten: Sagten die Sowjets Österreich und meinten Deutschland? Im April geschah genau das, was Eden befürchtet hatte. Vom 11. bis 15. April 1955 fand der denkwürdige Besuch der österreichischen Delegation in Moskau unter Leitung von Bundeskanzler Raab, Vizekanzler Schärf, Außenminister Figl und Staatssekretär Kreisky statt. Diese Reise war mehr als eine „factfinding mission“; es war der Durchbruch für den Abschluss des Staatsvertrages. In diesen entscheidenden Gesprächen stellte sich heraus, was die Sowjets als eigentliche Garantie gegen die „Anschlussgefahr“ – und gegen die Einbindung Österreichs in die NATO – betrachteten: die Neutralität Österreichs. Bei der Führung der SPÖ, besonders bei Vizekanzler Schärf, gab es gegen den Neutralitätsbegriff erhebliche Bedenken, aber auch – wie bekannt – bei den westlichen Außenministern. Um diese Bedenken zu zerstreuen, schlugen die Sowjets vor, dass Österreich eine Neutralität nach dem Muster der Schweiz ausüben solle. Molotov bezog sich dabei auf entsprechende Äußerungen von Bundespräsident Körner und John Foster Dulles. Der bekannte Hinweis im „Moskauer Memorandum“ vom 15. April 1955 auf eine Neutralität der Art, „wie sie von der Schweiz gehandhabt wird“, war eine Konsensformel: Ihre Funktion war es, eine für Moskau über Wien, Paris bis London und Washington reichende Zustimmung für den internationalen Status Österreichs zu gewinnen. Dabei ging es weniger um völkerrechtliche Details als um diesen politischen Konsens, was auch darin deutlich wurde, dass die Sowjets keine Bedenken gegen den österreichischen Wunsch hatten, den Vereinten Nationen beizutreten. Die Sowjets waren zu großen wirtschaftlichen Konzessionen bereit. Das gesamte in ihrem Besitz befindliche „deutsche Eigentum“ sollte gegen Ablöseleistungen an Österreich übertragen werden: alle Rechte am Erdöl gegen eine Lieferung von 10 Mio. Tonnen Rohöl (später auf 6 Mio. Tonnen herabgesetzt), den DDSG-Besitz im östlichen Österreich gegen 2 Mio. Dollar. Für das übrige deutsche Eigentum blieb es bei der bereits früher festgelegten Ablösesumme von 150 Mio. Dollar, doch war die Sowjetunion bereit, die Zahlung in Form von Warenlieferungen zu akzeptieren. Die Österreicher hatten den Eindruck – 22 TNA: PRO, FO 371/117787/RR1071/74. 23 Eden an britische Botschaft in Washington vom 29. 3.1955 (TNA: PRO, FO 351/ 117787/RR 1071/86).

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und das war entscheidend –, dass die Sowjetunion bereit war, noch vor Jahresende die Besatzung Österreichs zu beenden. Die Westmächte betrachteten die bilateralen Gespräche in Moskau mit größtem Misstrauen; daran konnte auch eine entsprechende Information durch die Österreicher nichts ändern. Letztlich wurden die Westmächte mit dem Ergebnis der Moskauer Beratungen vor vollendete Tatsachen gestellt – und machten jetzt notgedrungen gute Miene zum bösen Spiel. Moskau machte insofern den Weg frei für eine Botschafterkonferenz der Vier Mächte und Österreichs Anfang Mai in Wien, die den Staatsvertragstext in seine endgültige Form brachte. Parallel dazu gab es österreichisch-westliche Verhandlungen, die in zwei in Wien am 10. Mai paraphierte Memoranden mündeten und Entschädigungsund Rückstellungsverpflichtungen Österreichs gegenüber westlichen Firmen regelten. In der Folge kam es zur Entstaatlichung einiger westlicher Erdölfirmen und zu Entschädigungszahlungen von mehreren Millionen Dollar. Das den Westmächten gemäß dem Potsdamer Abkommen zugefallene deutsche Eigentum in Österreich (z. B. die Hermann Göring-Werke in Linz, die spätere VÖEST) wurde ohne Ablöseleistung ins österreichische Eigentum übertragen. Der endgültige Staatsvertragstext legte fest, dass Österreich die von der Sowjetunion übernommenen Ölfelder und Ölschürfrechte nicht in ausländisches Eigentum übertragen durfte; dass Österreich das ihm von allen vier Mächten übertragene deutsche Eigentum – mit Ausnahme der erzieherischen, kulturellen, caritativen oder religiösen Zwecken dienenden Vermögenschaften – nicht an deutsche juristische Personen und – sofern der Wert von 260 000 Schilling überschritten wurde – nicht an deutsche physische Personen übertragen dürfte.24 Am 15. Mai 1955 wurde der Staatsvertrag dann im Schloss Belvedere unterzeichnet. In den Wochen nach dem Moskaubesuch der Österreicher ging es den Westmächten weniger um Österreich als um Deutschland. Das Moskauer Memorandum wurde von Wallinger in Wien mit den Worten „zu gut, um wahr und ehrlich gemeint zu sein“25 kommentiert. Er selbst hatte von einem Mitglied der österreichischen Delegation erfahren, dass dieser aus einem Gespräch mit Semënov den Eindruck gewonnen hatte, dass die Sowjets schon jetzt über geeignete Deutschland-Angebote verfügten und ähnlich wie im Fall Österreich Adenauer und den SPD-Vorsitzenden Ollenhauer in nächster Zeit zu einer Reise nach Moskau einladen würden.26 Der britische Botschafter in Moskau, Sir William Hayter, hielt einen solchen Schachzug immerhin nicht für ausgeschlossen.27 Der neue britische Außenminister Harold Macmillan war am 19. April überzeugt davon, dass schon bald mit dem Angebot Moskaus einer militäri24 Vgl. Gerhard Stourzh, Um Einheit und Freiheit. Staatsvertrag, Neutralität und das Ende der Ost-West-Besetzung Österreichs 1945–1955, 4. Auflage Wien 1998. 25 Wallinger an Foreign Office vom 15. 4.1955 (TNA: PRO, FO 371/117789/RR 1071/ 131). 26 Ebd. 27 Hayter an Foreign Office vom 15. 4.1955 (TNA: PRO, FO 371/117789/RR 1071/134).

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schen Neutralität eines wiedervereinigten Deutschland zu rechnen sei. Dem Kabinett teilte er am 26. April mit: „Ich habe wenig Zweifel, dass es den Sowjets in erster Linie darum geht, die öffentliche Meinung in Deutschland durch die Aussicht zu beruhigen, dass die Wiedervereinigung möglich ist, vorausgesetzt, Deutschland ist neutral.“28 Im Westen breitete sich teilweise Pessimismus aus. Ein leitender Beamter des Quai d’Orsay war davon überzeugt, dass die sowjetische Initiative eindeutig in Richtung Deutschland ging. Moskau wolle mit einem neutralisierten Österreich ein künstliches Paradies schaffen, als Blendwerk für die Westdeutschen. Tausende von deutschen Touristen würden sehen, wie angenehm es sich in einem neutralen Staat lebe, mit Wohlstand und umworben von Ost und West. Die Auswirkungen auf Westdeutschland könnten außergewöhnlich gefährlich sein. Dort werde man die Westmächte für die fortdauernde Teilung verantwortlich machen. Wenn Adenauer erst einmal abgetreten sei, könne sich alles sehr schnell ändern, die Westdeutschen würden zwar aufgrund ihrer Erfahrungen mit der DDR keine Kommunisten werden, aber sie könnten sehr wohl davon überzeugt sein, ohne Gefahr Neutralisten werden zu können. Um die Westdeutschen an der Seite des Westens zu halten, sei eine außerordentliche Anstrengung notwendig.29 Die Medien in der Sowjetunion und der DDR taten das Ihre, um diese Interpretation zu stützen. „Prawda“, „Iswestija“, „Radio Moskau“, „Neues Deutschland“ und „Deutschlandsender“ machten klar, dass das, was für Österreich innerhalb weniger Wochen möglich geworden war, auch für Deutschland möglich sein würde.30 Die Wirkung auf die westdeutsche Öffentlichkeit blieb nicht aus, auch wenn das offizielle Bonn alles tat, um darauf hinzuweisen, dass Österreich eben nicht Deutschland war. Intern aber hatte man die allergrößte Sorge, dass die Auswirkungen nicht mehr kontrollierbar sein würden. Der FDP-Vorsitzende Thomas Dehler war der Meinung, dass man für Deutschland in der Vergangenheit wohl Ähnliches hätte erreichen können wie jetzt für Österreich. Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ sprach offen vom „Vorbild Österreich“, der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU im Bundestag, Heinrich Krone, notierte in seinem Tagebuch: „Moskau will klarmachen, dass, wer mit den Russen verhandelt, auch zu einem Ergebnis kommt, dass man aber die Macht spüren werde, wenn man den Weg nach Moskau ablehnt“, um dann aber auch zu schreiben, es sei nicht erkennbar, was die Russen zur Räumung der Zone veranlassen könnte.31 28 Memorandum Macmillans: „Austria“. C. P. (55) 12 vom 26. 4.1955 (TNA: PRO, CAB 129/75). 29 P. Reilly (Paris) an G. Harrison vom 16. 4.1955 (TNA: PRO, FO 371/117791/ RR 1971/72). 30 Soviet and East German Press and Radio Comment on Austria (TNA: PRO, FO 371/ 117791/RR 1071/194). 31 Am 22. 4. und 23. 4.1955. In: Adenauer-Studien III. Hg. von. Rudolf Morsey/Konrad Repgen, Mainz 1974, S. 137 f.

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Wenn man die zahlreichen Signale Moskaus und die entsprechenden Interpretationen in den westlichen Hauptstädten analysiert, so ist zumindest nicht auszuschließen, dass die Österreichlösung für Moskau die Funktion eines Modellfalles für Deutschland besitzen konnte. (So auch Hayter am 18. April aus Moskau, den die Vorstellung bilateraler Gespräche zwischen Bonn und Moskau beunruhigte.)32 Es gibt weitere Hinweise auf die sowjetischen Ziele: Bulganin äußerte sich am 5. Mai gegenüber dem französischen Botschafter über eine mögliche Lösung der deutschen Frage: ein wiedervereintes, demokratisches Deutschland, Freiheit für alle Parteien, freie Wahlen, eine zahlenmäßig begrenzte Armee. Der stellvertretende sowjetische Ministerpräsident Michail Pervuchin war der erste hochrangige sowjetische Politiker, der sich öffentlich – in Berlin – am 9. Mai zu den Verhandlungen in Wien äußerte und eine Analogie zur Lösung der deutschen Frage zog.33 Eine ähnliche Möglichkeit deutete Molotov am 15. Mai in Wien an; am Rande der Feierlichkeiten erhöhten die Sowjets im privaten Kreis ihr Angebot in Richtung Bonn: Es war die Rede von einer Änderung der OderNeiße-Grenze.34 Anfang Juni erfolgte der nächste Paukenschlag: Der zuvor von den Sowjets öffentlich als Faschist und Reaktionär verschrieene Adenauer wurde offiziell nach Moskau eingeladen. Die Parallele zur Einladung an Raab war unübersehbar. Man habe diesen Schritt erwartet, aber „hardly so soon or in so crude form“, wie William Hayter in Moskau notierte.35 Wie schon 1952 hing wieder alles von der Reaktion Adenauers ab; und wieder, wie drei Jahre zuvor, bewegte sich Adenauer keinen Millimeter. Eine Neutralisierung Deutschlands kam für ihn auch jetzt nicht in Frage. Die Lösung für Österreich war für ihn nur „die ganze österreichische Schweinerei“, wie er das intern formulierte.36 Wenn die Sowjets möglicherweise gehofft hatten, mit Adenauer ins Geschäft zu kommen, so wurden sie gründlich enttäuscht. Für Adenauer, der im September Moskau besuchte, waren Chruščëv und Bulganin „ungebildet und primitiv“, wie er den westlichen Botschaftern in Moskau anvertraute.37 Für Adenauer gab es kein Ausscheren aus der westlichen Gemeinschaft, kein Rapallo, kein „Doppelspiel“, keine Österreichlösung für ein vereintes Deutschland. Das Ergebnis war entsprechend: Der Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit Moskau – und damit Anerkennung deutscher Zweistaatlichkeit – stand die mündli32 TNA: PRO, FO 371/117789/RR 1071/134. Vgl. auch Michael Gehler, Österreich, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 1945/49–1955. Zur Geschichte der gegenseitigen Wahrnehmung zwischen Abhängigkeit und gemeinsamen Interessen. In:, Ungleiche Partner? Österreich und Deutschland in ihrer gegenseitigen Wahrnehmung. Historische Analysen und Vergleiche aus dem 19. und 20. Jahrhundert. Hg. von ders./Rainer F. Schmidt/Harm-Hinrich Brandt/Rolf Steininger, Stuttgart 1996, S. 571–575. 33 Hayter an Foreign Office vom 9. 5.1955 (TNA: PRO, FO 371/118211/WG 1071/519). 34 Adenauer-Studien III. Hg. von Rudolf Morsey/Konrad Repgen, Mainz 1974, S. 138. 35 Hayter an Foreign Office vom 8. 6.1955 (TNA: PRO, PREM 11/906). 36 Hans-Peter Schwarz, Adenauer. Der Staatsmann 1952–1967, Stuttgart 1991, S. 184. 37 Hayter an Foreign Office vom 11. 9.1955 (TNA: PRO, PREM 11/906).

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che Zusage nach Freilassung der deutschen Kriegsgefangenen gegenüber. Das war es und blieb es für lange Zeit. Das Thema Wiedervereinigung Deutschlands war für die Sowjets damit ausgereizt. Auf der Außenministerkonferenz in Genf im November 1955 wurde dann endgültig deutlich, dass sich in der deutschen Frage auf sowjetischer Seite nichts mehr bewegen würde. Für alle ersichtlich war das eingetreten, wovor die Kritiker Adenauers gewarnt hatten: Die Westintegration schloss – zumindest für lange Zeit – eine Wiedervereinigung aus. Was bleibt als Fazit? 1. Die Frage, ob die Österreichlösung aus sowjetischer Sicht möglicherweise die Funktion eines Modellfalles für Deutschland gehabt hat. Im Westen wurde das damals jedenfalls vielfach so gesehen. Ohne Kenntnis der sowjetischen Akten kann diese Frage nicht endgültig beantwortet werden. Möglicherweise hatten die Sowjets 2. Adenauer als „Risikofaktor“ einkalkuliert, das hieß, das Scheitern dieser Initiative mit Blickrichtung Bonn mit ins Kalkül einbezogen. Es blieb dann 3. der Gewinn eines neutralisierten Österreich, mit einem neutralen Riegel Schweiz-Österreich, obwohl der militärische Wert dieser Regelung in keinem Verhältnis zum Abzug der eigenen Truppen aus Ostösterreich stand. Im Kriegsfall wären die Verbindungswege Bayern-Italien über Westösterreich sofort wiederhergestellt worden. 4. Mit der Österreichlösung warf die Sowjetunion außenpolitischen Ballast ab; ein Signal in Richtung Westen, mit der neuen sowjetischen Führung im Sinne des „Geistes von Genf“ (der Gipfelkonferenz im Juli) auf der Basis des Status quo in Europa übergeordnete Probleme zu lösen (atomare Kontrolle, europäische Sicherheit). Dies hieß 5. für Deutschland: Zweistaatlichkeit und das Ende der Diskussion über die Wiedervereinigung für lange Zeit. In Österreich wurden in jenen Wochen jene politischen Schritte gesetzt, die implizit in Moskau von der österreichischen Delegation akzeptiert worden waren. Im Staatsvertrag ist von der Neutralität nicht die Rede. Der Zusammenhang zwischen Staatsvertrag und Neutralität ist ein historisch-politischer – mit Blick auf Moskau –, kein rechtlicher. In Artikel 1 heißt es, dass „Österreich als ein souveräner, unabhängiger und demokratischer Staat wiederhergestellt“ sei; in Artikel 2 wurde die Wahrung der Unabhängigkeit Österreichs durch die Alliierten und Assoziierten Mächte anerkannt, in Artikel 3 wurde die Anerkennung der Unabhängigkeit Österreichs durch Deutschland bestimmt, der Artikel 4 enthielt das Verbot des Anschlusses von Österreich an Deutschland, in Artikel 5 wurden die Grenzen von Österreich festgeschrieben; in Artikel 6 verpflichtete sich Österreich, die Menschenrechte umfassend einzuhalten; in Artikel 7 wurden die slowenischen und kroatischen Minderheitenrechte festgelegt. Bei den Verhandlungen in Wien waren die Österreicher nicht aufzuhalten; die Aussicht, von der sowjetischen Besatzung freizukommen, führte bei ihnen zu „blindem“ Optimismus, der nachgerade gefährlich wurde, wie Wallinger spä-

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ter resümierte: Die Befürchtungen und Argumente der Westmächte seien von den Österreichern beiseite gewischt worden; „es war ein trauriges Bild, mit dem wir in der Konferenz konfrontiert wurden: ein Dr. Figl, der sich wie ein gelähmtes Karnickel verhielt“, so Wallinger am 24. Mai 1955.38 Unmittelbar nach Genehmigung des Staatsvertrages durch den Nationalrat beschloss dieser am 7. Juni mit den Stimmen aller Parteien eine Resolution, dass Österreich aus freien Stücken seine immerwährende Neutralität erkläre und die Bundesregierung aufgefordert werde, dem Nationalrat den Entwurf eines die Neutralität regelnden Verfassungsgesetzes vorzulegen. Am 27. Juli 1955 trat der Staatsvertrag in Kraft, der Alliierte Rat wurde aufgelöst, am 25. Oktober verließen die letzten ausländischen Streitkräfte Österreich. Am 26. Oktober beschloss der Nationalrat das Bundesverfassungsgesetz über die Neutralität Österreichs. Der Bundeskanzler betonte in einer Rede vor dem Nationalrat an diesem Tag den militärischen Charakter der Neutralität und unterstrich, dass die Neutralität keine ideologische sei und den Staat, nicht den einzelnen Staatsbürger verpflichte. Wenig später bat die Bundesregierung alle Staaten, mit denen Österreich diplomatische Beziehungen unterhielt, um Anerkennung der Neutralität im Sinne dieses Gesetzes. Die Vier Mächte taten dies gleichzeitig am 6. Dezember 1955, am 14. Dezember wurde Österreich Mitglied der Vereinten Nationen. Ein außerordentliches Jahr, Österreichs „annus mirabilis“, ging zu Ende. Zehn Jahre später erklärte der Nationalrat den 26. Oktober zum Nationalfeiertag.39

38 Sechsseitiges Memorandum Wallingers an H. Macmillan vom 24. 5.1955 (TNA: PRO, FO 371/117801/RR 1071/450). 39 Vgl. zur Gesamtproblematik Rolf Steininger, Der Staatsvertrag. Österreich im Schatten von deutscher Frage und Kaltem Krieg 1938–1955, Innsbruck 2005.

V. Anhang

556

Anhang

Karten S. 557: Besatzungszonen Deutschland 1945 S. 558: Besatzungszonen Österreich 1945 (Karten: Peter Palm, Berlin)

Karten

557

558

Anhang

Abkürzungsverzeichnis

559

Abkürzungsverzeichnis AdBIK AdR AdsD AEG AG Antifa Art. AVKA AVP RF AZ

Archiv des Ludwig Boltzmann-Instituts für KriegsfolgenForschung Archiv der Republik Archiv der sozialen Demokratie, Bonn Allgemeine Elektricitäts-Gesellschaft Aktiengesellschaft Antifaschistische Bewegung Artikel Apparat Verchovnogo komissara po Avstrii (Apparat des Hochkommissars für Österreich) Archiv vnešnej politiki Rossijskoj Federacii (Archiv der Außenpolitik der Russischen Föderation) Arbeiter – Zeitung

BA BDO BGBl. BIK BRD BStU

Bundesarchiv Bund Deutscher Offiziere Bundesgesetzblatt Ludwig Boltzmann-Institut für Kriegsfolgen-Forschung Bundesrepublik Deutschland Der/Die Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik

CA FSB RF

ČSR

Central’nyi archiv Federal’noj služby bezopasnosti Rossijskoj Federacii (Zentralarchiv des Föderalen Sicherheitsdienstes der Russischen Föderation) Central’nyi archiv Ministerstva oborony Rossijskoj Federacii (Zentralarchiv des Verteidigungsministeriums der Russischen Förderation) Central’nyi archiv Ministerstva vnutrennich del Rossijskoj Federacii (Zentralarchiv des Innenministeriums der Russischen Föderation) Christlich Demokratische Union Christlich Demokratische Union Deutschlands Counter Intelligence Corps (amerikanische Spionageabwehr) Central’nyi ispolnitel’nyi komitet (Zentrales Exekutivkomitee) Tschechische Sozialistische Republik

DA DBD DDP DDR DDSG

Deutschland Archiv Demokratische Bauernpartei Deutschlands Deutsche Demokratische Partei Deutsche Demokratische Republik Donaudampfschifffahrtsgesellschaft

CA MO RF CA MVD RF CDU CDUD CIC CIK

560

Anhang

DEA DFD DJV DP DR DU DVdI DWK DzD DZWI

Dritte Europäische Abteilung Demokratischer Frauenbund Deutschlands Deutsche Justizverwaltung Displaced person Deutsche Reichsbahn Demokratische Union Deutsche Verwaltung des Inneren Deutsche Wirtschaftskommission Dokumente zur Deutschlandpolitik Deutsche Zentralverwaltung für Industrie

EAC ERP

European Advisory Commission European Recovery Program

FAM FAWM FDGB FDJ FDP FÖJ FRUS FSB

Free Austrian Movement Free Austrian World Movement Freier Deutscher Gewerkschaftsbund Freie Deutsche Jugend Freie Demokratische Partei Freie Österreichische Jugend Foreign Relations of the United States Federal’naja slušba bezopasnosti (Föderaler Sicherheitsdienst) Freitaler Stahlindustrie GmbH Fonds zur Förderung der Wissenschaftlichen Forschung

FSI FWF GARF Gestapo GKO GlavPURKKA GOSPLAN SSSR GPU GRU GSOVG GSSD GULag

Gosudarstvennyi archiv Rossijskoj Federacii (Staatsarchiv der Russischen Föderation) Geheime Staatspolizei Gosudarstvennyj komitet oborony (Staatliches Verteidigungskomitee) Glavnoe političeskoe upravlenie raboče-krest’janskoj Krasnoj Armii (Politische Hauptverwaltung der Roten Arbeiter- und Bauernarmee) Gosudarstvennyj planovyj komitet SSSR (Staatliches Planungskomitee der UdSSR) Gosudarstvennoe političeskoe upravlenie (Staatliche politische Verwaltung) Glavnoe razvedyvatel’noe upravlenie (Hauptverwaltung für Aufklärung [der Roten Armee]) Gruppa Sovetskich okkupacionnych vojsk v Germanii (Gruppe der sowjetischen Besatzungstruppen in Deutschland) Gruppe sowjetischer Streitkräfte in Deutschland Glavnoe upravlenie lagerej NKVD/MVD (Hauptverwaltung der Lager des NKVD/MVD)

Abkürzungsverzeichnis GUPVI GUSIMZ

561

Glavnoe upravlenie po delam voennoplennych i internirovannych NKVD/MVD (Hauptverwaltung des NKVD/MVD für Kriegsgefangene und Internierte) Glavnoe upravlenie sovetskogo imuščestva zagranicej (Hauptverwaltung des Sowjeteigentums im Ausland)

HAIT HJ HK HPM

Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung Hitlerjugend Hochkommissar Historisch-Politische Mitteilungen des Archivs für Christlich-Demokratische Politik

ITL

Ispravitel’no- trudovoj lager’ (Besserungs-Arbeitslager)

JHK

Jahrbuch für historische Kommunismusforschung

K5 KGB KI Komintern KP KPD KPdSU KPÖ KRG KZ

Spezialabteilung der Kriminalpolizei, unterstand der DVdI Komitet gosudarstvennoj bezopasnosti SSSR (Komitee für Staatssicherheit in der UdSSR) Komitee für Information Kommunistische Internationale Kommunistische Partei Kommunistische Partei Deutschlands Kommunistische Partei der Sowjetunion Kommunistische Partei Österreichs Kontrollratsgesetz Konzentrationslager

LDP LDPD

Liberal-Demokratische Partei Liberal-Demokratische Partei Deutschlands

MdI MfS MfS – AS MG MGB

Ministerium des Innern Ministerium für Staatssicherheit Ministerium für Staatssicherheit – Allgemeine Sachablage Maschinengewehr Ministerstvo/Ministr gosudarstvennoj bezpopasnosti SSSR (Minister[ium] für Staatssicherheit der UdSSR) Ministerstvo inostrannych del (Außenministerium) Ministerstvo oborony (Verteidigungsministerium) Ministerstvo/Ministr vnutrennich del SSSR (Innenminister[ium] der UdSSR) Mechanische Werkstätten Freital

MID MO MVD MWF NATO NDPD NKFD NKGB

North Atlantic Treaty Organization National-Demokratische Partei Deutschlands Nationalkomitee Freies Deutschland Narodnyj Komissar(iat) gosudarstvennoj bezopasnosti (Volkskommissar[iat] für Staatssicherheit der UdSSR)

562 NKID NKO NKVD = NKWD NKVMF NKVT NÖ NÖLA NS NSDAP NSG NSFK NSKK ÖB ÖBM ÖFF ÖGB OHI OK OK OKS SMAS OMI ÖNB OÖ OROP ORVK OSO ÖstA OVD SMAS ÖVP

Anhang Narodnyj Komissar(iat) inostrannich del (Volkskommissar[iat] für Auswärtige Angelegenheiten der UdSSR) Narodnyj Komissar(iat) oborony (Volkskommissar[iat] für Verteidigung der UdSSR) Narodnyj Komissar(iat) vnutrennich del (Volkskommissariat des Inneren der UdSSR) Narodnyj Komissar(iat) voenno-morskogo flota (Volkskommissariat der Marine) Narodnyj Komissar(iat) vnešnej torgovli (Außenhandels – Volkskommissariat) Niederösterreich Niederösterreichisches Landesarchiv Nationalsozialismus Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei Nationalsozialistengesetz Nationalsozialistisches Kraftfahrkorps Nationalsozialistisches Fliegerkorps Österreichischer Beobachter Österreichische Botschaft Moskau Österreichische Freiheitsfront Österreichischer Gewerkschaftsbund Oral History Interview Oberkommandierender Ozdorovitel’naja komanda (Genesungskommando) Otdel kommandantskoj služby SMA Saksonii (Abteilung des Kommandantur-Dienstes der SMA Sachsen) Otdel meždunarodnoj informacii (Abteilung Internationale Information) Österreichische Nationalbibliothek Oberösterreich Österreichisch – russische Ölprodukte Otdel rukovodstva komendaturami (Abteilung zur Leitung der Militärkommandaturen) Osoboe soveščanie pri NKVD/MVD/MGB (Sonderberatung, Sonderkommission beim NKVD/MVD/MGB) Österreichisches Staatsarchiv Otdel vnutrennich del SMA Saksonii (Abteilung für Innere Angelegenheiten der SMA in Sachsen) Österreichische Volkspartei

Pur

Politische Hauptverwaltung der Roten Armee (GlavPURKKA)

RCChIDNI

Rossijskij centr chranenija i izučenija dokumentov novejšej istorii (Russländisches Zentrum für die Aufbewahrung und Erforschung von Dokumenten der neuesten Geschichte)

Abkürzungsverzeichnis RF RGANI RGASPI RGVA RSFSR

SA SächsHStAD SAG SAIK SAP SAPMO-BArch SBZ SČSKA SD SDAP SED SEPG SHAEF SJ SKK SKKD SM SMA SMAD SMAS SMASA Smerš SMT SNU = SMV SPD SPÖ SS SSR

563

Rossijskaja Federacija (Russische Föderation) Rossijskij gosudarstvennyj archiv novejšej istorii (Russisches Staatsarchiv für zeitgenössische Geschichte) Rossijskij gosudarstvennyj archiv social’no-političeskoj istorii (Russisches Staatliches Archiv für sozialpolitische Geschichte) Rossijskij gosudarstvennyj voennyj archiv (Russisches Staatliches Militärarchiv) Rossijskaja Sovjetskaja Federativnaja Socialističeskaja Respublika (Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik) Sturmabteilung Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden Sowjetische Aktiengesellschaft Buch: „Die Sowjetunion auf internationalen Konferenzen während des Großen Vaterländischen Krieges 1941 bis 1945“ Sozialistische Arbeiterpartei Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv Sowjetische Besatzungszone Sovetskaja čast’ Sojuzničeskoj komissii po Avstrii (Sowjetischer Teil der Alliierten Kommission für Österreich) Sicherheitsdienst Sozialdemokratische Arbeiterpartei Sozialistische Einheitspartei Deutschland Socialističeskaja edinaja partija Germanii, SED Supreme Headquarters Allied Expeditionary Forces Sozialistische Jugend Sowjetische Kontrollkommission Sowjetische Kontrollkommission für Deutschland Sovet Ministrov (Ministerrat) Sowjetische Militäradministration Sowjetische Militäradministration in Deutschland Sowjetische Militäradministration in Sachsen Sowjetische Militäradministration in Sachsen-Anhalt Smert’ špionam (Tod den Spionen) Sowjetisches Militärtribunal Sovetskoe neftjanoe upravlenie (Sowjetische Mineralölverwaltung) Sozialdemokratische Partei Deutschlands Sozialdemokratische Partei Österreichs Schutzstaffel Sovetskaja Socialističeskaja Respublika (Sozialistische Sowjetrepublik)

564 SSSR

Anhang

StAC StGB StGBl. SU SVAG

Sojuz Sovetskich Socialističeskich Respublik (Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken) Stadtarchiv Chemnitz Strafgesetzbuch Strafgesetzblatt Sowjetunion Sovetskaja voennaja administracija v Germanii (SMAD)

TBC

Tuberkulose

UdSSR USA USIA

Union der sozialistischen Sowjetrepubliken United States of America Upravlenie sovetskogo imuščestva v Avstrii (Verwaltung des Sowjeteigentums in Österreich – Tochtergesellschaft der GUSIMZ) Upravlenie sovetskogo imuščestva v Germanii (Hauptverwaltung für das sowjetische Vermögen in Deutschland) Upravlenie sovetskogo imuščestva vostočnoj Avstrii (Verwaltung der sowjetischen Vermögenswerte im östlichen Österreich) Upravlenie sovetskogo imuščestva zagranicej (Verwaltung des sowjetischen Vermögens im Ausland) Upravlenie vnutrennich del SMAD (Verwaltung für Innere Angelegenheiten der SMA in Deutschland)

USIG USIVA USIZ UVD SMAD VdgB VdU VfZ VKP (b) VMN VO VÖEST VSStÖ VVN

Verein der gegenseitigen Bauernhilfe Verband der Unabhängigen Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte Vsesojuznaja Kommunističeskaja partija (bol’ševikov) (Allunions-Kommunistische Partei [Bolschewiken] = KPdSU) Vysšaja mera nakazanija (Höchststrafe) Wahlgemeinschaft Österreichische Volksopposition Vereinigte Österreichische Eisen- und Stahlwerke AG Verband Sozialistischer Studenten Österreichs Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes

WStLB

Wiener Staats- und Landesbibliothek

ZA ZfG ZK

Zentralausschuss [der SPD] Zeitschrift für Geschichtswissenschaft Zentralkomitee

Personenregister

565

Personenregister Seitenangaben mit Stern beziehen sich auf eine Fußnote.

Abakumov, Viktor Semënovič 138, 162, 212 Ackermann, Anton 86, 90, 92, 271, 273–275, 283*, 286, 346 Adenauer, Konrad 20, 543, 549– 552 Altmann, Karl 326, 327 Andrjuškov 141 Arendt, Hannah 297 Aristova, P. M. 139 Arkad’ev, Georgij P. 104 Auerbach, Friedrich 464, 478 Babenyšev, P. S. 138 Baboškin, A. P. 141 Balandin 140 Barybin 138 Bazarov, S. T. 35, 37, 511, 515–517, 519 Becher, Johannes R. 86 Bechler, Bernhard 230, 298 Becker, Hermann 305* Behring, Rainer 13, 19 Berija, Lavrentij P. 99*, 145, 345, 515*, 533, 535 Béthouart, Emile 540 Bevin, Ernest 290, 540 Birjuzov, Sergej S. 134 Bischoff, Norbert 544, 545 Bismarck, Otto von 302 Blagodatov, Aleksej V. 122, 318 Bobek, Gertrud 91 Bogdanov, Semën I. 350 Bogen, von 31 Bögl, Hans 324 Bohlen, Charles 547 Bokov, Fëdor E. 102, 283 Bolz, Lothar 32, 235 Bondarenko 140 Bonwetsch, Bernd 343 Borck, Astrid von 108 Borisov 139, 440

Borrmann, Antje 21 Bradler 393* Brajlovskij, I. N. 139, 140 Brandt, Arthur 359 Breitner, Hugo 66 Brenner, Inge 490 Brežnev, Leonid I. 362, 366* Brill, Hermann 288* Bruckner, Ferdinand 66 Buchinger, Rudolf 389* Buchwitz, Otto 278, 287, 288*, 301 Bulganin, Nikolaj A. 351, 356, 449, 533, 551 Bürckel, Josef 373 Burmeister, Friedrich 308 Busse, Ernst 154, 298 Byrnes, James 537 Canava, Lavrentij F. 345 Černobyl’skij, F. 141 Charlamov 139 Cherrière, Paul 538 Chimov 139 Chlapov 139 Chmel’ 140 Chmelevskij, Il’ja K. 104 Chodkov, V. I. 140 Chomajko 140 Chruščëv, Nikita S. 28, 99*, 356, 449, 551 Churchill, Winston 9, 46, 47 Ciesla, Burghard 18 Cinëv, Georgij K. 126, 138 Čirkov 140 Čistjakov, V. K. 139 Clay, Lucius D. 528, 529 Čub 140 Čujkov, Vasilij I. 99, 100*, 134, 350, 361, 363, 449 Dahlem, Franz 286

566 Dahrendorf, Gustav 276, 282, 285, 290, 310 Dahrendorf, Ralf 285 Dalenko, G. N. 141 Dal’skij, Val’ja 496, 497 David, Franz 397* Davydov, Semën 145 Dehler, Thomas 550 Dekanozov, Vladimir G. 38, 122, 123, 126, 127, 129, 130, 515, 519* Demidkov 140 Dertinger, Georg 308 Deutsch, Julius 66 Dieckmann, Johannes 279, 308 Dimitrov, Georgij 27, 29, 30, 32, 43, 45, 52, 55, 57, 58, 62, 64, 67, 69, 70, 83, 85, 86, 88–90, 92, 271, 275, 315, 316, 346 D’jakonov 138 Djilas, Milovan 27, 341, 342* Dobretsberger, Josef 66, 67, 333, 334, 336 Doernberg, Stephan 32 Dolgopolov 140 Dollfuß, Engelbert 250, 367*, 372*, 398*, 402 Dönitz, Karl 522 Dratvin, Michail I. 100, 102 Drescher, Fritz 303 Dubrovickij, Lev A. 139, 330, 331, 333, 334 Dubrovskij, Dmitrij G. 350 Duchanin, I. B. 141 Dulles, John Foster 537, 542, 548 DuPont 39 Dupuis, Eleonore 502, 503 Dürmayer, Heinrich 190 Dvinskij, Boris A. 356 Dyšljuk 139 Dzjubenko, G. N. 138 Echternkamp, Jörg 456 Edel, Oskar 288 Eden, Anthony 26, 33, 43, 44, 46, 47, 547, 548 Egorov, A. P. 141 Ehrlich, Ruth 295 Eisenhower, Dwight D. 528, 541

Anhang Eisler, Gerhart 310* Emel’janenko 140 Emmenthaler 486 Erëmin 140 Erofeev, Vladimir J. 519 Esch, Arno 305 Es’kov, L. L. 141 Evdokimov, S. A. 138 Falk, Wilhelm 295 Fank, Max 303 Fechner, Max 276, 285, 301 Federovič, Aleksandr 100 Fedjuninskij, Ivan I. 350 Fellisch, Alfred 288 Figl, Leopold 169, 210, 255, 328, 399, 405, 415, 537, 541, 543–545, 548, 553 Filitov, Aleksej Mitrofanovič 15, 343, 517, 518, 524*, 534 Fisch, Bernhard 460* Fischer, Ernst 57–59, 64–69, 70*, 73–76, 381*, 397*, 413 Fischer, Kurt 279, 295, 298, 301, 304 Florin, Wilhelm 271, 272 Foitzik, Jan 15, 16, 343, 454, 469 Fokin, Pëtr M. 346 Försterling, Paul 85 Franek, Fritz 67 Franz, Alfred 303 Franz Ferdinand 393 Franz Joseph 445 Friedrichs, Rudolf 298 Fröhlich, Paul 288 Fuchs, August 205, 206, 211 Fürnberg, Friedl 43, 58, 71, 72, 327, 328, 330, 333, 336, 397*, 400* Gabriel, Josef 203, 204, 216 Galaktionov, M. R. 35, 511 Ganswohl, Vera 500*, 501*, 505, 507 Georgi, Hannelore 21 Gerick, Hermann 306 Gerlach, Manfred 306 Gibianskij, Leonid 25, 27, 28

Personenregister

567

Gniffke, Erich W. 276, 282, 285, 302 Goebbels, Joseph 460 Gol’denberg, I. Z. 139 Gorbach, Alfons 267 Gorbatschow, Michail 38 Gorochov, S. F. 361 Götting, Gerald 306 Gottwald, Klement 43 Govorlivych 139 Grachegg, Gustav 203 Graf, Ferdinand 190 Gribkov, P. I. 140 Gries, Rainer 457 Grigor’ev 160 Gritčin, P. A. 141 Gromyko, Andrej 210 Große, Fritz 165 Grotewohl, Otto 164, 276, 282, 285, 289, 294, 301, 308, 309, 361–363 Gruber, Franz 199, 200, 403 Gruber, Helene verehel. Bondareva, Elena 199* Gruber, Karl 328, 537 Gubin, V. V. 352 Gurkin, F. A. 139 Gusev, Fëdor T. 48, 519–522, 523*, 525, 529 Gusev, N. G. 140

Hickmann, Hugo 308 Hilger, Andreas 15, 16 Hitler, Adolf 11, 26, 29, 31, 42, 43, 50, 57, 70, 155, 185, 196, 209, 215, 219, 368, 373, 375, 420, 460, 498, 511 Hitler, Paula 209 Höcker, Wilhelm 298, 301 Hoernle, Edwin 86 Hofer, Franz 374 Hoffmann, Heinrich 287, 288*, 301 Hohenberg, Max von 393 Honner, Franz 45, 58, 62, 63, 71, 72, 76, 317*, 397* Hooven, Hans Günther van 31 Hübener, Erhard 298, 364*

Hancock, Patrick F. 546 Hannover, König von 445 Harrison, Geoffrey W. 545–547 Hartmann, Gustav 303 Haufe, Arno 303 Hayter, William 549, 551 Heidenreich, Walter 21 Helm 379* Helmer, Oskar 190, 191, 317*, 323, 328, 405 Hengst, Walter 467 Hennig, Arno 300 Herbertz 198 Hermes, Andreas 277*, 281 Hermes, Peter 277* Herr, Willi 29 Herz, Martin F. 333

Kabanov, Aleksandr F. 100, 101*, 109, 364* Kabelevskij, N. F. 141 Kaganovič, Lazar’ M. 533 Kaiser, Jakob 281, 304, 305 Kalinin, Michail I. 477 Kapel’kin 140 Karasev, Jakov A. 358 Kastner, Hermann 279, 308, 363 Katukov, Michail E. 350 Kaverznev, Michail 145 Keller 28 Keller, Robert 332 Kellner 336 Kelsen, Hans 67 Kennan, George F. 525, 540 Kerr, Clark 27*

Ignat’ev, Aleksej A. 35, 39, 40, 511 Il’ičëv, Ivan I. 134, 139 Isakov, Ivan Stepanovič 34, 35, 511, 519* Jagschitz, Gerhard 18 Jakovlev, V. T. 138 Jakupov 240 Janzen, Nikolaj 79 Jeß, Hans 348 Jesse, Willy 303 John, Erich 194–196 Jumantgulov 139

568 Kettenacker, Lothar 511 Killian, Herbert 186, 187, 210 Kinzmann 357 Kiridus, Franz 170, 189–192 Kiričenko 140 Kirilov, P. G. 141 Kirkpatrick, Ivone A. 548 Kiselëv, Evgenij D. 126, 127, 129– 131, 322, 323, 407, 410*, 413 Klahr, Alfred 52 Klambauer, Otto 18, 21 Klein, Josef 207 Klemperer, Victor 282* Knight, Robert 254 Knoll, Harald 15, 16 Kobulov, Amajak Z. 31 Kobulov, Bogdan Z. 103, 104 Koch, Waldemar 281 Kogan 440 Kolesničenko, Ivan S. 159, 350, 362 Kollmann, Josef 395 Kondrat’ev, Valerij 140, 215 Konev, Ivan S. 119, 125, 128, 129, 132, 176, 177*, 392, 395, 407, 408, 410*, 439, 440 Konovalov 138 Kopalin, Leonid 215 Koplenig, Johann 43, 45, 58, 64, 67, 69, 71–73, 76, 317, 327, 328, 336, 397*, 399 Koppensteiner, Ignaz 209 Koppensteiner, Maria 209 Koptelov, Evgenij 192 Koptelov, Michail E. 123, 127, 138, 210, 410* Korfes, Otto 359 Korkiško 140 Körner, Theodor 66, 325, 405, 548 Kornev, A. D. 141 Korotkevič, G. 333 Kosov, L. P. 141 Kostkin, Petr I. 139, 259 Köstler, Marie 66 Kostmann, Jenö 70, 71 Kosygin, Aleksej N. 129 Kotikov, Aleksandr G. 350 Koval’, Konstantin I. 101, 104, 529 Koval’čuk, Nikolaj K. 145, 358, 362

Anhang Kowalczuk, Ilko-Sascha 470 Krasavin, A. H. 140 Kraskevič, Viktor M. 126, 336 Krauland, Peter 170 Kreisky, Bruno 12*, 545, 548 Krivenko, Michail S. 31 Krone, Heinrich 550 Kruglov, Sergej N. 358, 359 Krumm, Josef 208 Krylov, S. B. 35, 511 Kudrjavcev, Sergej M. 127, 336, 528 Kühn, Nicole 21 Kukoev, A. A. 141 Kulagin 139 Külz, Wilhelm 281, 305 Kunschak, Leopold 66, 67 Kupec, Vladimir 215 Kurasov, Vladimir V. 102, 125, 128, 138, 212, 333, 440 Kurmašev, Ivan V. 103, 104 Kuročkin, Pavel A. 100 Kuznecov, Vasilij I. 139, 350 Kynin, Georgij P. 33, 35, 37, 40 Lajok, V. 119, 251 Lattmann, Martin 31 Laufer, Jochen P. 19, 33, 35, 37, 40 Lazak 139 Lebedenko, Nikolaj 176, 177* Leffler, Melvyn 27 Lehmann, Helmut 301 Lemmer, Ernst 281, 304 Lenin (Vladimir I. Ul’janov) 326 Lenski, Arno von 32 Leonhard, Wolfgang 84 Lešin, N. I. 141 Liebler, Ralph 279 Lieutenant, Arthur 305 Litvinov, Maksim M. 33, 39, 41, 44, 47, 48, 512 Ljadovskich, S. I. 139 Loch, Hans 308 Lomanov, F. M. 141 Loth, Wilfried 9, 342 Löwenthal, Hermann 285* Lozovskij, Solomon A. 46, 525* Lukjančenko, Grigorij S. 102 Lun’kov, N. M. 130

Personenregister Macmillan, Harold 537, 549 Mahle, Hans 86 Mählert, Ullrich 20 Maier 353 Majskij, Ivan A. 26, 33, 35, 36, 39, 40, 42, 43, 47, 50, 313, 314, 511, 512, 516 Majsuradze 140 Makarikov 351 Makarov, Vasilij E. 103 Malenkov, Georgij M. 346, 358, 515*, 533 Maletin, Pavel A. 104 Malinovskij, Rodion J. 118, 119, 252, 378, 388, 391, 403, 408 Maljavin, G. A. 140 Maminonjanc, M. K. 141 Manuil’skij, Dmitrij Z. 45 Marek, Anton 139, 170, 189–192, 214 Margaréthas, Eugen 379*, 443 Martens, Wilgel’m Ljudvigovič 348* Marx, Karl 470 Matern, Hermann 86, 279, 280, 286, 309, 346 McCreery 411* Medvedev, A. S. 138 Merchant, Livingston 541 Mermelstein, Igor 191 Mešik, Pavel J. 345 Michaelis, Hans 359 Michajlenko 140 Mielke, Erich 241 Miklas, Wilhelm 65 Mikojan, Anastas I. 448, 449, 533 Mikolajčik, Stanislav 27 Mirov, J. 32 Mischnick, Wolfgang 295 Mistelbacher, Josef 207 Mittas, Leopold 204* Mödlagl, Otto 405 Moiseev 336 Molotov, Vjačeslav M. 25–27, 35, 38, 42–44, 46–48, 129, 132, 210, 212, 237, 314, 323, 351, 358, 359, 439, 449, 514–517, 522*, 523, 525*, 526, 528, 532, 533, 537, 538, 541–545, 547, 548–551

569

Morozov 410* Morré, Jörg 15 Muchin, Viktor 187* Muchin, Vitalij J. 351 Mueller, Wolfgang 13, 15, 16, 18, 20, 64, 371 Mugrauer, Manfred 15, 21 Müller, L. 31 Müller, Max 465, 472, 477 Müller, Vincenz 31, 359 Müller-Willborn, Friedrich 192* Mulley, Klaus-Dieter 16, 17 Murer, Franz 177*, 178 Musatov 139 Naimark, Norman 342, 454, 469, 470 Naumov, V. I. 141 Nuschke, Otto 308, 363 Oelßner, Fred 32 Olah, Franz 328 Ollenhauer, Erich 549 Osipov, A. E. 141 Ottillinger, Margarethe 170, 171, 189, 214, 491 Pammer, Maximilian 190 Pančenko, L. S. 141 Panjuškin, Aleksandr Semënovič 346 Papkov, Ivan 493 Patoličev, Nikolaj S. 356 Patton, George S. 378 Paul, Rudolf 298 Pavlenko, Ol’ga 491* Pavlov, A. N. 141 Pavlov, P. A. 140 Pavlovskij, G. N. 141 Penkovskij, Oleg V. 100* Perchorovič, Franz I. 350 Perelivčenko, Michail I. 103, 104 Pervuchin, Michail 551 Pestov 140 Peterlunger 190 Petrov, Nikita 18 Pieck, Wilhelm 28–30, 33, 34, 47, 81, 83, 86, 92, 109, 164, 232, 271,

570 273, 275, 283, 286, 306*, 309, 349, 361–363, 539 Piefel, Matthias 21 Pike, David 343 Pinay, Antoine 537 Pokrovskij 139 Pokulov 503 Pöll, Josef 204* Pollak, Oscar 323 Poltavskij, M. A. 139, 331, 333, 334 Ponomarëv, Boris N. 139, 362 Popov 141 Pospisil, Josef 191 Potëmkin, Vladimir 511 Presinger, Peter 500 Prichol’ko 140 Primakov, Evgenij 214 Procenko 140 Prozumenščikov, Michail 447–449 Quittner, Genia 64 Raab, Julius 541, 543, 545, 547, 548, 551 Radford, Arthur W. 541 Rathkolb, Oliver 76 Rau, Heinrich 279, 298, 304 Rebrov 351 Reisberg, Arnold 43 Renner, Karl 11, 17, 66, 74, 76, 120, 190, 249, 253, 254, 256, 317, 318, 321–323, 326, 338, 368*, 382, 386, 388*, 389, 390, 395, 397– 408, 410–414, 540 Renthe, Barbara von 471 Repin 140 Reschke, Erich 154 Reuter, Ernst 296 Rieck, Alfred 349 Rjabinin, K. I. 141 Rjazanov 408 Röbelen, Gustav 244 Rohner, Gerhard 308, 310 Romeder, Wilhelm 209 Roosevelt Franklin D. 46 Rothe, Rudolf 284 Rozenman 139 Rožkovskij, J. L. 141

Anhang Rublëv, K. I. 141 Rüdiger, Werner 284* Ruew, Viktor 191 Russkich, Alexandr G. 103 Rybačuk, F. I. 139 Saburov, Maksim Z. 101 Sacharov, Aleksej D. 140 Safarov, I. P. 141 Saldern, Adelheid von 474 Samborskij, E. K. 141 Šapošnikov, Boris M. 35, 36, 380*, 511, 519* Šarov, Vasilij M. 346, 350 Saurer, Therese 493, 494 Saurer, Vera 493 Savenok, Grigorij M. 121* Ščerbakov, Aleksandr 515* Schäfer, Hugo 202, 203 Schärf, Adolf 254–256, 323, 328, 368*, 399, 400*, 444, 543, 548 Scharf, Erwin 67, 330, 331, 336 Scharitzer, Karl 214 Scherhorn, Heinrich 359 Scherff, Julius 285* Schiffer, Eugen 279 Schirach, Baldur von 374 Schmeitzner, Mike 17, 18 Schmidt 209 Schmidt-Küster, Gustav 284 Schollwer, Manfred 305, 307* Schreiber, Walter 281, 359, 360 Schretter, Herbert 325 Schulz, Albert 300 Schumacher, Kurt 276, 277*, 281, 282, 289, 290, 310 Schuschnigg, Kurt von 52, 547 Schüssel, Wolfgang 214 Schweitzer, Bernhard 467 Seitz, Karl 66, 400* Selbmann, Fritz 279, 298, 304 Semënov, Vladimir S. 38, 101, 102*, 110, 134, 361, 528, 531–533, 539, 544, 549 Semiryaga, Michail 237 Serbačev, Sergej 188 Serov, Ivan A. 92, 100, 101*, 144, 145, 157, 345, 351, 355, 356

Personenregister Ševčenko 138 Seydlitz-Kurzbach, Walter von 31 Sidorov, M. A. 141 Sidorov, Nikolaj 494 Siewert, Robert 298 Šipanov (Major) 259 Šiškin 176 Skosyrev, Michail I. 350, 352 Smirnov, Andrej A. 38, 122, 123, 127, 129, 192, 212, 321, 323, 344, 529, 532, 533 Smirnov, S. I. 141 Smolka, Peter 66 Sobolev, Arkadij A. 101, 519* Sobottka, Gustav 90, 92, 275, 346 Sokolovskij, Vasilij D. 99, 100, 104, 306, 356, 357, 359–361, 528, 530–533 Stalin, Josef (Iosif V. Džugašvili) 9, 12, 15, 19, 20, 25–29, 33, 42, 43, 45*, 46–48, 67, 76*, 93, 99, 109, 110, 114, 127, 143–145, 152, 157, 159, 162, 164, 173, 194*, 210, 212, 213, 219, 252, 271, 274*, 281, 283, 306, 310, 314, 315, 317, 323, 327, 341, 342, 344, 345, 351, 356, 361– 366, 397, 408, 413, 417, 422, 437, 447, 449, 510, 512, 513, 515, 518– 520, 523–525, 527, 528, 533– 535, 538–541 Starcev, E. M. 140 Starov, M. M. 139 Steidle, Luitpold 308 Steinhoff, Karl 298 Steininger, Rolf 19 Stel’nik 139 Stelzl-Marx, Barbara 15, 16, 19 Stempel, Günther 308 Stepanov, L. N. 141 Stiefel, Dieter 256, 257 Stockhammer, Karl 193–196 Strang, William 36, 39 Strasser, Peter 320 Sudarikov, F. I. 349 Sudoplatov, Pavel 359 Šurin, P. S. 141 Sviridov, Vladimir P. 125, 210, 336

571

Tarasov, M. A. 141 Terechin, A. M. 141 Tevčenkov, A. 252 Thape, Ernst 302, 310 Thompson, Llewellyn E. 545 Tichomirov, M. V. 140 Tito, Jozip Broz 27, 538 Tjul’panov, Sergej I. 81, 113*, 278, 283, 303, 362 Togliatti, Palmiro 43 Tolbuchin, Fëdor I. 76, 118–122, 251, 252, 324, 378, 387–389, 391, 393*, 399, 403, 407, 408 Tolkačev, A. P. 141 Travnikov, Nikolaj G. 122 Trotzki, Leo 408 Truman, Harry S. 540 Trusov, K. Z. 141 Ulbricht, Walter 32, 77, 78, 80, 86, 90, 92, 113*, 162, 163, 233, 271, 273–275, 283, 291, 300–302, 309, 310*, 346, 347, 359, 361–363, 364*, 365* Usikov, N. N. 139 Valit, A. M. 141 Vasil’evskij, Aleksandr G. 351 Vdovenko 140 Vladimirov 139 Vogel, Hans 287 Vogler, Johannes 428 Volin, Anatolij 195 Volkov 140 Volkov, Vladimir K. 343 Vollnhals, Clemens 16 Volovik, D. P. 141 Vorošilov, Klement 33–37, 39, 40, 47, 48, 511–519, 521, 523, 524*, 535 Voznesenskij, Nikolaj A. 356, 533 Vyšinskij, Andrej J. 44, 101, 212, 321, 323, 509*, 515, 519*, 520, 523, 526, 527, 539 Wagner, Kurt 241 Walla-Grom, Ingeborg 493

572 Wallinger, Geoffrey 543, 545, 549, 552, 553 Warnke, Johannes 230, 298 Weck, Gerhard 303 Weecht, Hans 359 Wehler, Hans-Ulrich 469 Weinberger, Lois 368*, 381* Wend, Arno 300, 303 Wettig, Gerhard 33 Wickersham 523* Wiesenthal, Simon 178* Winant, John Gilbert 35, 520 Winzer, Otto 86 Wittas, Paul Ritter von 202* Wolle, Stefan 470 Wollweber, Ernst 162 Wulz, Hans 359 Young, W. A. 546

Anhang Zabaznov 140 Zacharovič, Bogdan 103 Žadov, Aleksej S. 134 Zaisser, Wilhelm 32, 162, 309 Zarudnyj, N. N. 140 Ždanov, Andrej A. 47, 50, 328, 356, 366, 533 Zeigner, Erich 288 Zeiss, Heinrich 146, 147 Želtov, Aleksej S. 119, 121, 122, 125, 128–131, 138, 176, 177*, 251, 331, 333, 398*, 407, 410* Ziel, Rudolf 471 Žilenko, N. V. 140 Zimin, P. 141 Zorin, Leonid I. 104 Žukov, Georgij K. 99, 128*, 135, 349, 350, 355, 525–528, 530 Žuravlëv 139

Autorenverzeichnis

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Autorenverzeichnis Dr. Rainer Behring, Historiker, Lehrbeauftragter an der Universität Köln. Dr. Burghard Ciesla, Historiker, Lehrbeauftragter an der Universität der Künste, Berlin. Prof. Dr. Alexei Filitov, Historiker, Leitender wiss. Mitarbeiter am Institut für Allgemeine Geschichte der Russischen Akademie der Wissenschaften, Moskau. Dr. Jan Foitzik, Historiker, wiss. Mitarbeiter des Instituts für Zeitgeschichte, Außenstelle Berlin. Dr. Andreas Hilger, Historiker, wiss. Mitarbeiter an der Universität Hamburg. Prof. Dr. Gerhard Jagschitz, Historiker, em. Professor für Zeitgeschichte an der Universität Wien. Dr. Otto Klambauer, Historiker, Zeitgeschichtsredakteur des Wiener „Kurier“. Magister Harald Knoll, Historiker, wiss. Mitarbeiter des Ludwig BoltzmannInstitutes für Kriegsfolgen-Forschung, Graz. Dr. Jochen Laufer, Historiker, wiss. Mitarbeiter am Zentrum für Zeithistorische Forschungen, Potsdam. Dr. Jörg Morré, Historiker, wiss. Mitarbeiter der Gedenkstätte Bautzen. Dr. Wolfgang Mueller, Historiker, wiss. Mitarbeiter an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien. Magister Manfred Mugrauer, Historiker, Alfred-Klahr-Gesellschaft, Wien. Dr. Klaus-Dieter Mulley, Historiker, wiss. Mitarbeiter im Präsidialbüro der Arbeiterkammer Wien. Nikita Petrov, Historiker, stellv. Vorsitzender des Forschungszentrums „Memorial“, Moskau. Dr. Mike Schmeitzner, Historiker, wiss. Mitarbeiter am Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung an der TU Dresden. Prof. Dr. Rolf Steininger, Historiker, Leiter des Instituts für Zeitgeschichte an der Universität Innsbruck.

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Anhang

Dr. Barbara Stelz-Marx, Historikerin, stellv. Direktorin des Ludwig BoltzmannInstitutes für Kriegsfolgen-Forschung, Graz. Dr. Clemens Vollnhals, Historiker, stellv. Direktor des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung an der TU Dresden.

Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung Band 31: Uwe Backes Politische Extreme Eine Wort- und Begriffsgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart 2006. 310 Seiten mit 12 Abb., gebunden ISBN 978-3-525-36908-1 In der abendländischen Tradition des Verfassungsstaats, deren ideengeschichtliche Wurzeln in die Antike zurückreichen, wurden die politischen Extreme als Inbegriff des unbedingt Abzulehnenden einer tugendhaften, Mäßigung verbürgenden Mitte gegenübergestellt. Die Begriffsgeschichte der politischen Extreme war mehr als zwei Jahrtausende lang eng mit der ethischen Mesoteslehre und der politischen Mischverfassungstheorie verknüpft. Erst im Zuge der Französischen Revolution verband sich die alte Gegenüberstellung von Mäßigung und Extremen mit der noch heute fortwirkenden geistig-politischen Geographie der Unterscheidung von Rechts und Links. Uwe Backes zeichnet diese Entwicklung von der Antike bis zur Gegenwart nach.

Band 30: Babett Bauer Kontrolle und Repression Individuelle Erfahrungen in der DDR 1971–1989. Historische Studie und methodologischer Beitrag zur Oral History 2006. 492 Seiten mit 2 Abb., gebunden ISBN 978-3-525-36907-4 Babett Bauer analysiert in einer doppelten Perspektive den Zusammenhang von Diktaturerfahrung und individueller Identitäts-

stiftung in der DDR. Zeitzeugeninterviews werden mit Akten des Staatssicherheitsdienstes in direkte Beziehung gesetzt und subjektive Lebenswirklichkeiten aus dem »realsozialistischen« Alltag der Diktatur vor dem Hintergrund staatlicher Kontrolle und Repression nachgezeichnet. So entfaltet sich ein Spektrum unterschiedlichster Typen der Erfahrung und des Umgangs mit staatlichen Unterdrückungsmechanismen, das vom Arrangement über erzwungene Anpassung und Kompromissbildung bis hin zu kollektiver Systemopposition und konsequenter Systemablehnung reicht. Anhand ausgewählter Einzelfälle zeigt die Autorin, mit welchen Mitteln und Methoden der Staatssicherheitsdienst arbeitete und wie sich dies auf die Lebensgeschichten der Betroffenen bis heute auswirkt.

Band 29: Uwe Backes / Eckhard Jesse (Hg.) Gefährdungen der Freiheit Extremistische Ideologien im Vergleich 2006. 592 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-36905-0 Politikwissenschaftler, Historiker und Soziologen untersuchen die ideologischen Inhalte und Strukturen in den Diskursen, Visionen, Programmen und propagandistischen Bemühungen extremistischer Organisationen. Trotz einer Pluralität der Sichtweisen ist allen Autoren eine Definition von Extremismus gemeinsam, die sich aus der Negation von Demokratie herleitet.

Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung Band 28: Gerhard Besier / Hermann Lübbe (Hg.) Politische Religion und Religionspolitik Zwischen Totalitarismus und Bürgerfreiheit 2005. 415 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-36904-3 Analysen europäischer und amerikanischer Strategien der Religionspolitik erklären Konfliktpotenziale und Chancen der Pluralisierung.

Band 27: Frank Hirschinger »Gestapoagenten, Trotzkisten, Verräter« Kommunistische Parteisäuberungen in SachsenAnhalt 1918–1953 2005. 412 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-36903-6 Die Studie untersucht anhand zahlreicher, vielfach erstmals veröffentlichter Dokumente das Vorgehen der Säuberungs- und Sicherheitsorgane in Partei und Staat in Sachsen-Anhalt vor und nach 1945.

Band 26: Stefan Paul Werum Gewerkschaftlicher Niedergang im sozialistischen Aufbau Der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund (FDGB) 1945 bis 1953 2005. 861 Seiten mit 63 Tab., gebunden ISBN 978-3-525-36902-9

»... schließt die vorgestellte Untersuchung eine wichtige Forschungslücke zur Frühgeschichte des FDGB und bietet zahlreiche neue Informationen zur programmatischen und organisatorischen Entwicklung des Gewerkschaftsbundes.« sehepunkte

Band 25: Thomas Widera Dresden 1945–1948 Politik und Gesellschaft unter sowjetischer Besatzungsherrschaft 2004. 469 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-36901-2 »Widera gelingt es mit seiner eindrucksvollen Arbeit, das jahrzentelang von der SED propagierte Trugbild von der ›antifaschistisch-demokratischen Umwälzung in der SBZ‹ für sein Untersuchungsgebiet detailreich zu widerlegen.« Zeitschrift des Forschungsverbundes

Band 24: Michael Richter Die Bildung des Freistaates Sachsen Friedliche Revolution, Föderalisierung, deutsche Einheit 1989/90 2004. 1184 Seiten mit 16 Abb., 8 Karten und einem Dokumententeil auf CD, gebunden ISBN 978-3-525-36900-5 Die Studie untersucht die Entstehung des Freistaates Sachsen im Zuge der deutschen Einheit 1989/90. »Wahrlich eine Pionierarbeit für die Erforschung des innerdeutschen Vereinigungsprozesses.« Das Parlament