Sonntagsgedanken: Predigten für Gebildete [Reprint 2020 ed.]
 9783111552477, 9783111182940

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Lonntagsgedanken predigten für Gebildete

Stands G. Peabody Professor an der Harvard-Universität in Cambridge

Autorisierte Übersetzung von

Cornelia Bruns mit einem Vorworte von

Otto Baumgarten Professor an der Universität Kiel

Verlag von Alfred Töpelmann (vormals

Ricker)

Gießen 1913

Inhalt.

Seite

Vorwort........................................................................

.

1. Das große Abfall-Produkt......................................

5—10

11—22

2. Die Offenbarung des Herzens........................................ 23-32 3. Arbeit und

Offenbarung................................................. 33—47

4. Die Eingangspforten...................................................... 48—58

5. Die Verschwendung der Vorsehung.............................. 59—69 6. Der Trost der Wahrheit................................................. 70—79 7. Das Hochzeitskleid........................................................... 80—91

8. Die Untiefen und die Tiefen...................................... 92—103

9. Die Inschrift auf dem Eckstein.................................... 104—115 10. Disziplin

...................................................................... 116-126

11. Das Gleichnis vom leeren Raum............................... 127-140

12. Pilatus......................................................................... 141-152 13. Die Kraft des unendlichen Lebens

...................... 153—164

14. Die christliche Anschauung über soziale Arbeit .

. 165—176

15. Die Zeichen dieser Zeit.............................................. 177—190

Vorwort von

Prof. D. Otto Baumgarten.

Nachdem Fräulein Emma Müllenhoff, zunächst durch mich veranlaßt, die drei Sammlungen von Francis G. Peabodys akademischen Andachten: „Morgenandachten für Studenten" (erschienen bei I. C. Hinrichs in Leipzig mit einem Vorwort von mir), „Abendstunden" und „Morgen­ stunden. Neue Folge der Morgenandachten" (letztere beide bei Alfred Töpelmann in Gießen erschienen), in anerkannt guter Übersetzung dem deutschen Publikum zugänglich gemacht hat, sah sie sich genötigt, die Übersetzung der vorliegenden, nach Peabodys Versicherung abschließenden Sammlung von Abendpredigten in der Univerfitätskirche ihres amerikani­ schen Freundes Fräulein Cornelia Vruns zu überlassen. Doch ist die Vollendung dieser Arbeit nicht ohne ihre Mit­ wirkung zustande gekommen. Haben denn diese so spezifisch amerikanischen Crbauungsbücher auch für unsere deutsche akademische Jugend und für die gebildete Gemeinde Wert und Bedeutung? Darauf kann am besten F. Riebergalls Urteil in der „Theo­ logischen Literaturzeitung" 1913, Nr. 9 einstehen: „Eine ganz besonders eindrucksvolle Art stellt Peabody dar. Ich liebe sie sehr. Auch er strebt immer ins Weite hinaus.

Dazu zwingt ihn ja auch die beneidenswerte Gelegenheit, der diese Reden ihre Entstehung verdanken; sind sie doch Sonntag abends vor Studenten gehalten. Peabody hat eine besondere Vorliebe für Vibelworte, die „in der Ecke stehen"; aus einem solchen zieht er nach kurzer geschichtlicher Er­ läuterung eine allgemeine Wahrheit heraus, die er dann hintereinander auf allerlei Gebiete anwendet, die seine Zu­ hörer angehen.' . . . Sonst ist es stets das Gebiet der Er­ ziehung, der sozialen Verantwortlichkeit, der Bewahrung des persönlich geistigen und sittlichen Lebens im Zeitalter der Maschine, auf das sein weltfroher und zugleich am Evangelium Jesu gestärkter Geist hinführt. Dieser Weg, voll fröhlichen Glaubens die moderne Welt und das moderne Cvangeliumsverständnis zus ammenzubringen, macht diese Reden vor allem wertvoll und vorbildlich." In der Vorrede zu dem englischen Original dieser Sammlung spricht es Peabody direkt aus: „Als ihr Inhalt gepredigt ward, schienen sie sich mit mancherlei Gegenständen zu beschäftigen; nun aber, da sie gesammelt vor mir liegen, erscheinen sie wie Fragmente einer Botschaft, die nie ganz gegeben ward. Jungen Leuten die Geschichte ihrer eigenen Lebenserfahrung zu deuten und dann diese begrenzte Er­ fahrung an ihren Platz zu stellen mitten unter den geistigen Problemen der modernen Welt — das muß das stete Ziel der Aniverfitätspredigt sein; das schreibt aber auch unver­ meidlich eine etwas festgelegte Form der Behandlung vor." Ans will nun freilich fast mehr als der geschloffene Inhalt und Stil dieser Reden ihr großer Lebensreichtum und ihre unbefangene Bewegung auf allen Gebieten des modernen Lebens überraschen, diese Verfolgung der innersten Be­ ziehungen nach allen Seiten der Peripherie. Aber es ist am Ende doch richtig, daß diesen Predigten nicht weniger die zentripetale als die zentrifugale Richtung eignet. Für beides ist besonders bezeichnend die letzte, um ihres spezifisch amerikanischen Interesses willen hier nicht mitgeteilte Pre­ digt, die Peabody zur 250 jährigen Wiederkehr der Grün­ dung des Harvard College gehalten hat. Ich teile daraus

nur wenige, auch für deutsche Leser interessante Par­ tien mit. Peabody stellt seinen Rückblick auf die Geschichte des College unter das Motto: „So hat er dich von einem engen zu einem weiten Platz gebracht" (englische Übersetzung von Hiob 36, 16). Cr feiert den Gedenktag an die eng christ­ liche Gründung der streng puritanischen Väter durch Dank gegen Gott, der in einer jenen selbst gewiß höchst uner­ wünschten Weise den intellektuellen Horizont erweitert und die geistige Freiheit gewahrt hat. Cr läßt uns dann hinein­ blicken in die geistige Struktur der Gründungszeit, die als Hauptzweck der Studien wie des ganzen Lebens die Schrift­ kenntnis bezeichnete und eine peinliche Aufsicht über die Ein­ haltung der frommen Verpflichtungen als wesentlichen Inhalt der Statuten ordnete. Aber er läßt uns doch wieder die enorme Kraft verspüren, die in jener durchaus unter religiöser Verantwortlichkeit geleisteten Erziehungsarbeit liegt. So lehrt er Form und Geist des Puritanismus unterscheiden, in jener die Gefahr der Bigotterie, in diesem die Kraft des heiligen Willens entdecken; der Kampf zwischen jener Form und diesem Geist ist der Inhalt der Geschichte des College, die mit völliger Überwindung der eng religiösen Ziele und Schranken endet. „Oberflächlich betrachtet, könnte dies Resultat nicht als ein solches erscheinen, dessen sich Diener der Religion mit Genugtuung erinnern können; denn man muß zugeben, daß es die Erinnerung an einen fort­ gesetzten Niedergang des geistlichen Einflusses ist. Schritt für Schritt entglitt die Leitung der Anstalt den Händen der Geistlichen; langsam wurde sie weniger und weniger eine theologische Schule. Aber tatsächlich konnte dem christlichen Amt kein größerer Dienst durch eine Studienanstalt erwiesen werden, als indem man sie den Geistlichen aus der Hand nahm. Rur auf diesem Wege konnte das geistliche Amt seinen Anteil haben am Wachstum der weltlichen Bildung, nur so die Anstalt sich von der Unterstützung eines eng­ herzigen geistlichen Amtes der viel edleren Aufgabe zu­ wenden, ein weites geistliches Amt zu fördern. Wer an die

Religion glaubt, muß glauben, daß sie von einer Universität nicht eine besondere und ausschließliche Fürsorge beansprucht, sondern nur eine ehrliche Gelegenheit, Heimstätte und Nahrung zu finden." Sodann zeigt uns der Redner den Unterschied des inneren Lebens eines puritanischen und eines modernen Harvard-Studenten: es ist der Gegensatz eines Lebens, das als Verpflichtung, und eines Lebens, das als Gelegenheit betrachtet wird, als Verpflichtung zu einer uniformen Methode, die von einer göttlichen Autorität auferlegt ward, als Ge­ legenheit zu einer unbegrenzten Mannigfaltigkeit gleich offenstehender Wege. Cs kommt aber alles darauf an, daß jede Anstalt und jeder einzelne in ihr das Leben zuvor als eine Verpflichtung auf sich genommen hat, ehe er es als eine Gelegenheit würdigt. So muß in jeder Hinsicht das Gesetz dem Evangelium vorausgehen. Cs ist ebenso wahr, daß die Furcht der Weisheit Anfang ist, als daß die völlige Liebe die Furcht austreibt. Hier macht nun Peabody eine sehr treffende Be­ merkung, die seine ganze Art charakterisiert: „Derselbe Gegensatz zeigt sich in unserer Lebensauffassung. Cs war eine harte, herbe Auffassung, die unter den Puritanern herrschte, genährt durch ihre Kämpfe, ihre Armut und ihren Glauben. Aber welcher Mut, welche Ausdauer, welcher Optimismus erwuchs daraus! Diese Leute verzweifelten niemals an ihrem Lande, an ihrer Raffe, an den Endzielen Gottes. And was bedeutet auf der andern Seite die selt­ same Erscheinung, der wir nun unter den Gebildeten überall begegnen, dieser verfeinerte und vornehme Pessimismus, dieser Glaube, daß die Welt schlecht ist, und daneben diese entnervende Zuflucht zu den Tröstungen der Kunst mitten unter den Trümmern der Hoffnung, als ob, wenn nun einmal die Dinge übel find, es doch ein Trost wäre, daß sie immer noch schön find? Das kommt, nochmals sei's gesagt, daher, daß so viele Leute heutzutage hineingeschleudert find unter die Gelegenheiten des Lebens, bevor sie verspürt haben die Verpflichtungen des Lebens. Was ihnen not tut, ist eine ge-

fünde Verstärkung der puritanischen Zucht, eine gesündere Reibung mit der Wirklichkeit. Seltsam genug find es nicht leichte, sondern harte Lebensbedingungen, die Lebensglauben erzeugen. . . . Pessimismus andrerseits ist nicht die Folge von Not und Kampf ums Dasein, sondern von Bequemlich­ keit; es ist die Philosophie der Sybariten. Sie glauben an die Schlechtigkeit der Welt, die sie nie erprobt haben. Sie preisen die Heiligkeit der Schönheit, weil sie die Schönheit der Heiligkeit nicht entdeckt haben. Wenn man Glauben an die Welt wiedergewinnen will, kann man es nicht durch Pflege des Luxus, sondern nur durch Rückkehr zur Einfachheit. Die puritanische Lebensauffassung hat noch immer ihre Lehre zu erteilen mitten unter den sich verviel­ fältigenden und verzettelnden Hilfsquellen der modernen Welt; und wo kann man diese Lehre lehren und beachten, wenn nicht an einem puritanischen College vermöge wachsen­ der Einfachheit und abnehmender Schauspielerei?" So sieht der völlig freie und dem Fortschritt der Kulturwillig folgende Redner doch hie größte Gefahr unserer heutigen Religiosität in ihrer Ablösung von der Religiosität der Vergangenheit und glaubt an die Gesundheit einer Religion der Gelegenheiten nur, wenn sie erwächst aus einer Religion der Verpflichtungen. So will er, bei aller Freude über die „sanfte" Kirche unserer Tage, doch ihr die Charakter­ stärke der „harten" Kirche erhalten. „Keine Zeit hat so sehr wie die heutige den Rückhalt gebraucht am puritanischen Geist. Wir brauchen in unserer Geschäftsmoral eine strengere Auffassung der Gottesfurcht. Wir brauchen in unseren Häusern eine Erneuerung der Einfachheit. Wir brauchen in unserer Religion ein Wiederaufleben der Ver­ antwortlichkeit. Cs ist der Ruf, der durch die Jahrhunderte hindurch von den Puritanern an uns ergeht und uns auf­ ruft zur festen Verknüpfung der Gegenwart mit der Ver­ gangenheit." Wie unbefangen und frei aber dieser selbe Mann den reichen Gelegenheiten des modernen Lebens gegenüber­ steht und wie er alles aufbietet, um die Religion als Weihe

des täglichen Arbeits- und Forschungslebens der Gegenwart zu erhalten, das lehrt jeder Blick in diese Predigten. Möchten sie unter unseren Studenten und Gebildeten einen festen Kreis von verständnisvollen Hörern finden! Kiel, den 4. Mai 1913.

Otto Baumgarten.

1.

Das große Abfall-Produkt.

„Sammelt die übrigen Brocken, daß nichts UMkoMMe." Sol). 6, 12.

Cs ist eine der auffallendsten Erscheinungen des moder­ nen Geschäftslebens, daß man neuerdings eine so große Bedeutung darauf legt, die Verschwendung des Abfalls zu verhüten. Neben der erstaunlichen Zunahme der Produk­ tion, wie sie durch neue Erfindungen, neue Verfahren und neue Maschinen ermöglicht ist, hat man eine neue Quelle des Gewinns gefunden in der Verwendung solchen Mate­ rials, das früher fortgeworfen wurde; und in vielen Zweigen der Industrie ist dieser Abfall oder Ausschuß, der sonst nur wertlose Schlacke war, ebenso wertvoll geworden wie das ursprünglich gewünschte Material. Bei der scharfen Kon­ kurrenz im modernen Geschäftsleben kann man beinahe sagen, daß der Unterschied zwischen Gewinn und Verlust nicht selten durch die Verwertung des Abfalls bestimmt wird. Cs bildet sich beispielsweise eine Gesellschaft zur Herstellung von Leuchtgas; die Fabrikation wird durch Niederschlag von Kohlenteer gehemmt. Wenn man jedoch diese Schlacke indu­ striell verarbeitet, entdeckt man, daß ihre Anwendung beim Prozeß des Färbens ebenso gewinnbringend ist wie das Gas, dessen Abfall sie einst war. In derselben Weise findet ein Versandhaus neben der Cinpökelung der Fleischvorräte eine neue Quelle des Gewinns in der Verwertung jedes noch so kleinen Abfalls zu Schmalz, Holzwolle und Leim.

Oder eine Gesellschaft zur Raffinierung von Petroleum ver­ größert ihre Einnahmen dadurch enorm, daß sie über ihren ursprünglichen Zweck hinaus Nebenprodukte wie Naphtha, Benzin und Paraffin verkauft. Lumpen, Asche, Späne, Schalen, Seegras, alle find jetzt wert, aufgehoben zu werden. Brennmaterial, Dünger, Papier, Tuch, alles kann aus Ab­ fall hergestellt werden. Dieselbe Aufdeckung unausgenutzter Werte wird im größten Stil illustriert durch das nationale Unternehmen, bekannt als „ Conservation Movement“. Flüsse find jahr­ hundertelang in voller Verschwendung dahingefloffen, Öd­ land ist unbevölkert geblieben, Wafferfälle haben ihre Kraft damit erschöpft, Felsblöcke fortzureißen, Wälder find durch Feuer verwüstet oder roh niedergehauen worden, bis man endlich die enormen Dimensionen dieser Verschwendung er­ kannt hat. Da ist die Nation, in neuer weiser Vorsorge, ans Werk gegangen, ihre Flüffe zu bändigen, ihr ödland zu bewässern, ihre Wasserkraft in Licht zu verwandeln und der Nachwelt die schon beschädigten Wälder zu retten. Cs ist nicht unwahrscheinlich, daß dem Historiker der Zukunft, wenn er die Ereignisse der Jetztzeit schildert, diese Erhaltung des nationalen Wohlstands als das bemerkenswerteste Werk erscheint. Viele tausend Millionen Dollars werden vor gänzlichem Verlust gerettet, um einst viele hundert Millionen noch ungeborener Staatsbürger zu bereichern. Worin aber besteht eigentlich der große Abfall? Diese Frage ist vor einigen Jahren beantwortet worden von dem Führer der Nationalökonomie in Großbritannien bei Ge­ legenheit einer Ansprache an den Genoffenschaftskongreß in Ipswich. Die Versammlung repräsentierte über eine Million Männer aus der Arbeiterklasse Englands, und ihre ungeheure Genossenschaft, die jährlich viele Millionen Pfund ausgibt, war direkt hervorgegangen aus dem einfachen Grundgedanken gegenseitiger Hilfeleistung, wie er 1844 von 28 armen Webern aus Rochdale ersonnen war. In der Ansprache an diese schlichten Arbeiter sagte Professor Marshall, daß sie den großen Abfall nutzbar gemacht hätten:

die Anlage zu Geschäftssinn und Geschäftsführung, die in un­ endlich vielen Menschen schlummere, ohne je entdeckt und ftuchtbar gemacht zu werden. Das Kooperativsystem hätte die Entdeckung dieser ungeahnten Kräfte an Initiative, Betriebsamkeit, Weitblick, Brüderlichkeit und Führerschaft ge­ fördert. Männer könnten in den Dienst irgendeiner beschei­ denen ländlichen Genossenschaft eintreten, wo ihnen die Prinzipien der Organisation die Möglichkeit gäben, in die Höhe zu kommen, bis dieselben Leute, die ganz unten an­ fingen, an die höchsten verantwortlichen Stellen gelangten und sich fähig erwiesen, die größten Geschäftsunternehmungen mit erstaunlichem Erfolg zu leiten. Das Vorhandensein solcher Fähigkeiten unter einfachen Leuten zum Vorschein zu bringen und es nutzbar zu machen, das sollte, nach den Worten dieses Lehrers, in der Weltgeschichte als die größte Tat verzeichnet werden, die die arbeitende Bevölkerung zu vollbringen vermag. Das heißt, der große, bisher ver­ schwendete Abfall besteht nicht in Teer, Lumpen oder Haut, sondern in den unausgenuhten Charaktereigenschaften des Menschen: in der Intelligenz, Strebsamkeit oder Geschick­ lichkeit, die mancher Mensch besitzen kann, ohne es zu wissen, und die, einmal gefunden und nutzbar gemacht, die beste aller Kapitalsanlagen sein können. Cs ist dies eine Intelligenzprobe, auf die mancher Ar­ beitgeber gestellt wird. Wenn ein Fabrikant gefragt würde, von welchem einzelnen Posten sein Gewinn hauptsächlich abhinge, würde er höchst wahrscheinlich erwidern, daß es weniger auf den Lohntarif, den Preis des Rohmaterials oder die Kosten der Vetriebsanlage ankäme, als auf die Auf­ rechterhaltung einer dauernden Höchstproduktion. Unter­ brechungen und Schwankungen des Betriebs, ein unbestän­ diger Markt, ungenügende Aufträge, Streiks und Gerüchte von Streiks, diese Gefahren, die die Produktion herab­ drücken, sind die stete Angst der Arbeitgeber. Aber wie kann man dieses Maximum von Produktion sichern? Können Maschinen so vervollkommnet werden, daß der Faktor Mensch bei der Produttion ausgeschaltet werden kann? Ist es

klug, die Treue und die Befähigung der Arbeiter als wert­ losen Abfall anzusehen? Kann nicht eine Genossenschaft ebenso umsichtig arbeiten wie ein auf Gemeinsamkeit ge­ gründeter Konsumverein? Die meisten Arbeitgeber glauben hartnäckig, daß ein Appellieren an Strebsamkeit, Sparsam­ keit und Treue bei ihren Angestellten keinen Widerhall finden würde, daß der Geschäftsbetrieb eine ungeheure Maschine ist, in der der Arbeiter nur ein unwesentliches Rad ist, das in die übrigen Räder eingreift. Man muß zugeben, daß ein dehumanifierter, unpersönlicher, mechani­ scher Industriebetrieb das beunruhigendste Merkmal unserer Zeit ist. And ausgerechnet hier liegt die Möglichkeit zu weisem Cingreifen. Die Industrie zu humanisieren, ist der erste Schritt auf dem Gebiet wirtschaftlichen Fortschritts. Großindustrielle, die neue Bahnen eröffnen, um Initiative, Intelligenz und Leistungsfähigkeit recht nutzbar zu machen, und die dieser Mithilfe an der Produktion gerechten Lohn zuteil werden lassen, finden nicht nur eine neue Quelle des Gewinns, sondern sichern sich auch gegen Streiks, Klassenhaß und Revolution. Ein Vernachlässigen des großen Abfalls kann nicht nur geschäftlichen Verlust, sondern Miß­ trauen, Streit und Unheil bedeuten. Eine Verwertung des großen Abfalls kann nicht nur geschäftlichen Gewinn, sondern Menschlichkeit, Brüderlichkeit und Frieden bedeuten. Diese Lehren, aus geschäftlicher und ökonomischer Er­ fahrung geschöpft, find jedoch nur Hinweise auf ein noch viel ernsteres, persönlicheres Problem. Das Prinzip der Erhaltung, das bei unseren nationalen Unternehmungen so ausgiebig zur Anwendung gelangt und das jetzt in allen Geschäftsbetrieben anerkanntes Prinzip ist, wird in den viel wesentlicheren Beziehungen des physischen, moralischen oder religiösen Lebens noch kaum berücksichtigt. Wir haben ge­ lernt, unsere Wälder zu retten, aber noch immer verschwen­ den wir unsere Nerven. Qdes Land bringen wir zum Blühen und Früchtetragen, aber wir lassen es geschehen, daß Tausende von Kindern die Blüte ihres Lebens durch ver­ frühte Arbeit und ungesunde Heimstätten einbüßen. Der-

selbe Mensch kann sein Vieh mit unendlicher Sorgfalt züchten — und dann den folgenschweren Schritt in die Che tun, ohne über eine flüchtige Neigung oder einen geschäftlichen Gewinn hinauszudenken. Wir lehren unsere Landleute, wie sie große Strecken Landes, das für hoffnungslos steril galt, bebauen können, aber wir lassen es geschehen, daß Tausende von jungen Leuten ohne Zucht und Beruf aufwachsen, wie verlassener, brachliegender Boden, und dann schließlich ohne Arbeit find, weil fie zu keiner Arbeit taugen. Unsere Hunde züchten wir zu besonderen Typen, was Farbe, Gestalt, Witterung oder Schnelligkeit anbetrifft, aber unsere Kinder ziehen wir auf in starrer Einförmigkeit der Stunden und Examen und stellen so das Talent auf dieselbe Stufe wie die Dummheit und lassen einen außergewöhnlichen Geist unerkannt bleiben — unerkannt sogar sich selbst. Jahr­ hundertelang hat man fich die größte Mühe gegeben, um die besten Pferde oder Kühe oder Küken zu erzielen, während es dieser Generation vorbehalten blieb, fich zum erstenmal mit der Wissenschaft der Raffenhygiene zu befassen, mit der Erzeugung gesunder Kinder und eines gesunden Stammes von Geschlechtern. Noch merkwürdiger ist die Tatsache, daß die menschliche Verschwendung da am leichtfinnigsten austritt, wo es fich um die wesentlichsten, fich immer wiederholenden Dinge handelt. Durch die Pflege des Körpers hat man seine Erhaltung ja schon bis zu einem gewissen Grade erreicht. Die schwer­ wiegenden Wahrheiten über Vererbung und die außerge­ wöhnliche Fähigkeit des phyfischen Lebens, seine Tendenz zu bilden und umzubilden, werden wenigstens als Wissenschaft anerkannt, wenn auch noch nicht ins Praktische übertragen. Wenden wir uns aber den Interessen des menschlichen Lebens zu, die unfichtbar und ewig find, so scheint uns der große Abfall nicht nur unverwertet zu bleiben, sondern kaum geahnt zu werden. Vernünftige Menschen haben genüg Hygiene gelernt, um mancherlei phyfischen Übeln vorzu­ beugen oder fie zu mildern. Weltkluge Menschen haben gelernt, ihr Geld ficher anzulegen und auf ihre Gesundheit

acht zu geben. Geschäftsleute haben die Entdeckung gemacht, daß ein ersparter Pfennig ein gewonnener ist und haben in ungeheurem Maße einer Verschwendung vorgebeugt. Ar­ beiter haben, oft durch bittere Erfahrungen, gelernt, daß ein Libermaß von Arbeit gedankenlose Verschwendung ist, und fordern gesetzlich feststehende Bestimmungen, um sich ihre Arbeitsfähigkeit zu erhalten. Aber wie steht es um das mo­ ralische und intellektuelle Leben, um deswillen — dürfen wir annehmen — Geld und Gesundheit erworben und geschätzt werden? Wer die Zeichen der Zeit aufmerksam beobachtet, kann sich dem Eindruck nicht entziehen, daß eine ungemein starke Fähigkeit zu geistiger Wirksamkeit vorhanden ist, deren Existenz selbst die nicht ahnen, die sie besitzen. Der englische Finanzminister lentte kürzlich die Aufmerksamkeit auf die Kraftvergeudung, wie sie die Erziehung der Reichen mit sich bringt. Sie bekommen, sagte er, das beste, was für Geld zu haben ist; Geist und Körper werden geschult; und dann „geben sie sich einem Leben der Trägheit hin". Cs ist „eine törichte Verschwendung erstklassigen Materials". Statt bei der Arbeit der Welt mit Hand anzulegen, schlagen sie ihre Zeit tot, indem sie in lebensgefährlichem Tempo über die Landstraßen rasen, oder „werfen bei gänzlichem Nichts­ tun ihr Geld zum Fenster heraus". Dieselbe Melodie ließe sich, in etwas anderer Tonatt, von dem Leben manches Amerikaners fingen. Ein Jüng­ ling z. B. mit gesunden Anlagen und Neigungen erreicht das Mannesalter im Vollbesitz seiner Kraft und tritt, reich an Freunden, Bildung und Geld, in das Leben der modernen Welt ein. Wieviel Einfluß, wieviel Macht find in seine Hand gegeben, wieviel Möglichkeiten, zu führen, zu dienen, aufzurichten und zu befreien. Fn der großen Krise unseres Bürgerkrieges sahen sich Männer, weder älter noch tüchttger als er, plötzlich als Oberst oder General an der Spitze einer Armee, deren Schicksal in ihrer Hand ruhte. And jetzt sieht man bei neuen und nicht weniger verhängnisvollen Konflitten im industriellen und sozialen Leben nach ebenso starken, edelmütigen Männern zur Übernahme der Führer-

schäft aus. Verfolgen wir den jungen Mann, wie das Ge­ triebe der Welt ihn in seine Fesseln schlägt, wie er unter­ taucht in dem ewigen Strudel eines oberflächlichen, leicht­ sinnigen Lebens. Geld und Sport, Erraffen und Ausgeben, Bureau und Klub überwältigen seinen Idealismus und wir­ beln ihn in den Strom des Alltags, bis er in dem eintönigen Ozean der Mittelmäßigkeit versinkt. Nichts Schlechtes oder Entehrendes braucht von diesem Untertauchen einer Seele zu verlauten. Der Mann kann schließlich als respektabler, wohlbestallter, behäbiger Bürger wieder auftauchen, um dann mit dem geschäftsmäßigen Ausdruck unserer „Nachrufe" „er­ folgreich" genannt zu werden. Aber wie ist hier das beste Material vergeudet worden! Wieviel kostbare Neben­ produkte find unverwertet geblieben! Wieviel unentdeckte Charakterstärke und ungeahnte Schätze an Seelenadel und Weisheit find in der steigenden Flut des Wohlstandes und der Gleichgültigkeit zugrunde gegangen! Bedarf es denn eines blutigen Bürgerkrieges, um die heroischen Züge ans Licht zu bringen, die in den jungen Männern von heutzu­ tage ebenso sicher verborgen find wie in denen von 1861, oder muß sich eine neue Wissenschaft geistiger Erhaltung auftun, um die unentdeckte Charaktergröße, die Friedens­ werken nicht minder nottut als kriegerischen Taten, vor dem Schicksal des Verschwendetwerdens zu bewahren? Oder auch ein junges Mädchen wird in dem Strudel geselliger Verpflichtungen mitgeriffen, bis sie Tag und Nacht keine Ruhe mehr hat vor dem Nehmen und Geben, dem Mischen und Gewinnen des gesellschaftlichen Spiels. Sie kann eine harmlose Rolle dabei spielen, das Leben der Ver­ gnügungen kann ihrem Alter sogar durchaus zukommen, und doch wird sie sich mehr und mehr unbefriedigter Ideale und unerfüllter Selbsthingabe bewußt. Ein quälendes Gefühl, daß ihre Kräfte brach liegen, erschüttert ihre selbstsichere Sorglosigkeit und läßt sie ahnen, daß Selbstsucht, Mutlosig­ keit und Verzweiflung ihrem Leben leise nahen. „O, was gäbe ich", klagt sie, „um einen Ruf der Pflicht oder der ausgesprochenen Neigung, verlangte man doch von mir Hilfe Peabody, Sonntagsgedanken. 2

oder Opfer, die meine Seele aus ihrer zunehmenden Läh­ mung befreien, und die nicht nur mein halbes Leben ange­ nehm ausfüllen, sondern alle die Kräfte und Gaben an­ spannen, die ich zuweilen dunkel in mir fühle." Dieselbe Empfindung brachliegender Schätze tritt einem in den weiteren Beziehungen des öffentlichen Lebens ent­ gegen. So zeichnet sich z. V. das große Werk öffentlicher Armenpflege, in das jährlich ein Vermögen versenkt wird, an den meisten Orten durch Übertreibung und Planlosigkeit aus, ist locker organisiert, wird verschwenderisch verwaltet und führt einen großen Teil der Empfänger zu dauerndem Pauperismus. In einem gut organisierten modernen Staate werden sicherlich Leiden und Krankheit, Altersgebrechen und Tod nicht verschwinden, und diese Lebenstragödien müssen Rot und Elend mit sich bringen; aber in einem solchen Staat würde kein Pauperismus im Sinne einer dauernd ab­ hängigen, unbrauchbaren Menschenrasse bestehen. Arme haben wir, wie schon Christus gesagt hat, immer bei uns. Aber die Pauperisten, wie ein englischer Schriftsteller fest­ stellt, find ein künstliches Produkt, eine Schöpfung ver­ schwendeter Sympathie und gesetzlich erlaubten Nichtstuns. Was von öffentlicher Fürsorge gilt, zeigt sich ebenso kraß bei privater Wohltätigkeit. Als Charles Vooths große Londoner Studie zuerst veröffentlicht war, schien sie vielen Lesern ein ganz schreckliches Resultat zu ergeben. Ein Drittel der Bevölkerung verdiente, nach seinen Ausführun­ gen, ein so kleines, unsicheres Einkommen, daß es unter der Linie der Selbsterhaltung blieb. Run kann man aber ebenso­ gut die umgekehrte Seite derselben Tatsachen hervorkehren. Wenn es wahr ist, daß eine von drei Familien unter der Armutslinie bleibt, ist es ebenso wahr, daß zwei Familien von dreien über dieser Linie stehen, und zwar von solchen, die nur gerade genug zum Leben haben, aufwärts zu denen, die im Überfluß leben. Mit anderen Worten: wenn sich zwei solche Familien zusammentun könnten, um einer weniger glücklichen ihre Last tragen zu helfen, ihr Arbeit verschafften, ihr in schweren Zeiten zur Seite ständen, für die Erziehung

ihrer Kinder sorgten und bei jeder Not einsprängen — dann würde das ganze ungeheure, zweideutige Unternehmen der Londoner Armenpflege aufhören zu existieren. Das Problem bleibt ungelöst und drohend nur darum, weil die Fähigkeit, persönlich zu helfen, in den besseren Klaffen wohl schon vor­ handen ist, aber noch nicht genügend angewandt wird. Sehr viele wohlgestellte Bürger machen sich überhaupt nicht klar, daß es eine persönliche Pflicht für sie ist, der sie Zeit und Mittel widmen müßten. Wenn das schon für die ungeheure Menschenanhäufung in London gilt, wieviel mehr noch für die viel weniger erdrückenden Verhältnisse in kleineren Städten. Eine wirklich wirksame Unterstützung der Armen erreicht man nicht durch amtliche Bureaus oder durch ver­ tretungsweise übernommene Verantwortung. Cs ist eine persönliche, individualisierte und stetig fortschreitende Auf­ gabe, die nur erfüllt werden kann, wenn das soziale Gefühl für die große Gemeinschaft, das solange ein vernachlässigtes Abfallprodukt des modernen Lebens war, erwacht und ange­ wiesen wird, seine eigentlichste Aufgabe zu erfüllen: Men­ schen durch Menschen zu retten und die Kraft des Mitleids durch die Maschine wohldurchdachter Barmherzigkeit hin­ durchströmen zu lassen. Wenn wir schließlich von physischen und moralischen Illustrationen des Abfallprodukts zu den religiösen Inter­ essen des modernen Lebens übergehen, so finden wir, daß dieser Fall der ernsteste von allen ist. Wer das Tun der religiösen Welt an sich vorüberziehen läßt, muß dankbar anerkennen, welch ungeheure Summe von Fleiß, Edelmut und Aufopferung der Aufrechterhaltung und Ausbreitung der christlichen Kirche gewidmet wird. Aber gleichzeitig kann er sich nicht dem Eindruck verschließen, welch enorme Kraft geistiger Energie und Wirksamkeit durch die jetzt übliche Handhabung unverwertet bleibt, und welche Menge von Menschen, die eigentlich an der Arbeit der christlichen Kirche mitwirken sollten, anderen und sogar sich selbst als Abfall erscheinen, der untauglich ist für das erhabene Werk mensch­ licher Erlösung. Für eine große, stetig wachsende Anzahl 2*

gebildeter Menschen ist die christliche Kirche jetzt nur noch eine soziale Einrichtung, ein Rest alter Zeiten, oder eine soziale Gemeinschaft, die nur für ihre Mitglieder von Inter­ esse ist. Solche Menschen gehen ihren Weg wie der Mann im Gleichnis, der eine auf seinen Acker, der andere zu seiner Hantierung, der eine zu seinem Golf, der andere in seinen Handelsverein, und überlassen die Religion den Sentimen­ talen, den Theologen und den Reaktionären. Was ist in einer solchen Zeit die Aufgabe des organisierten Christen­ tums? Cs wird ermahnt, seine Einrichtungen und seine Ideale einer strengen Prüfung zu unterziehen und sich von neuem über sein Wirken und seine Ziele Rechenschaft abzu­ legen. Wird in seinen Lehren und Methoden wirklich die ganze Fülle geistiger Kraft verwertet, die ihm zu Gebote steht? Hat es nicht Hilfsquellen, die sein rechtmäßiger Be­ sitz find, verschmäht? Hat es die Menschen nicht eher von festem Zusammenschluß abgeschreckt, statt sie zu innerer Zuge­ hörigkeit zu gewinnen? Ritualprobleme, Meinungsverschie­ denheiten über die Glaubensbekenntnisse, Rivalität der Sekten, Ansprüche auf die Vorherrschaft — so reizvoll dies ganze Treiben der christlichen Kirche für das Gemüt der Geistlichen sein mag, für moderne Menschen unserer Zeit ist es so fernliegend und unwirklich, als seien es Angelegen­ heiten eines anderen Planeten. Die Kirche braucht Dogmen wie der menschliche Körper Kleider braucht, aber die Einzel­ heiten dieser Dogmen als das wesentlichste im christlichen Leben anzusehen, das will vielen Menschen so erscheinen, als studiere man seine Krawatte statt seiner Seele. Muß es denn zugegeben werden, daß das Leben unserer Zeit dazu verurteilt ist, außerhalb der Religion zu stehen — ein bei­ seite geworfenes Abfallprodukt — und der Religionslosig­ keit, Gleichgültigkeit und Verachtung preisgegeben zu sein? Im Gegenteil, der Schrei nach Licht auf den Weg des Lebens, nach einem vernunftgemäßen Glauben, einer ge­ rechtfertigten Hoffnung, einer Sündenerlösung, einem prak­ tischen Evangelium, ist nie so stark gewesen wie in unserer Zeit. Der moderne Mensch hat eine unbezwingliche Sehn-

sucht nach Vereinigung mit dem Ewigen und ruft mit Au­ gustinus: „Mein Herz ist unruhig, bis daß es ruhet in dir, o Gott." Die Möglichkeiten des modernen Lebens find nicht etwa beschränkt oder erschöpft, sondern überhaupt noch nie richtig erkannt und angewandt worden. Das größte aller Abfallprodukte ist die religiöse Natur des Menschen. Zwischen den Zutaten des Glaubens und dem Wesen des Glaubens zu unterscheiden, dem Dienst der Religion nicht einen Teil des Menschen, sondern den ganzen Menschen zu widmen, Haus, Arbeit, Politik und Kunst im Namen Jesu zu heiligen, die Menschen so zu nehmen wie fie find und fie zum Glauben an ihre eigene religiöse Anlage zu führen, — darin besteht das Werk geistiger Erhaltung, das der Religion der Zukunft vorbehalten ist. Und wenn die­ ses Werk von offnem Sinn und echtem Glauben beseelt ist, kann es das Wirken der christlichen Religion ebenso fördern und neu beleben wie ein großes Vewäfierungswerk im Westen erquickendes Wasser über ödes Land hinströmen läßt, bis eine ungeahnte Fülle wogenden Kornes zur Ernte reift. Zu welchem Schluß kommen wir denn, wenn wir diese Kraftvergeudung in Wäldern und im Glauben, im materiellen und im geistigen Leben des Menschen verfolgen? Der erste Eindruck, der fich einem aufdrängt, ist der schwerer Ent­ täuschung und Ernüchterung. Waren wir vorher etwa stolz auf unser Wissen, unsre Erziehung oder unsre Religion, so wird dieser Stolz jetzt verdrängt von Selbstvorwürfen. Die Möglichkeiten, die in unsrer Hand lagen, haben wir nicht zur Hälfte ausgenützt. Kostbaren Abfall haben wir vernachläsfigt oder völlig ignoriert. An den Quellen des Lebens find wir gleichgültig oder achtlos vorbeigegangen. Und doch kann diese Erkenntnis einer ungeheuren Menge brachliegen­ der Kräfte eine neue, auf Vernunft begründete Hoffnung in den einzelnen wie in der Menge rechtfertigen. Ist es wahr, daß die Kräfte des menschlichen Charakters nicht zur Hälfte verwertet werden, daß mancher, der fich zum ewigen Einerlei des Alltags verdammt glaubt, dennoch die Fähigkeit zu Führerschaft und Heldentum in fich trägt, — ist es wahr,

daß man an die Quellen des menschlichen Wirkens noch kaum gerührt hat, daß man die Religion als exotische Treib­ hauspflanze gepflegt hat, anstatt sie mitten hinein in den Boden des modernen Lebens zu säen, in der gewissen Zu­ versicht, daß ihr Feld die Welt ist — dann kann die kom­ mende Zeit, in der diese Abfallprodukte wirksam gemacht werden, in der die spärliche Verwertung großer Besitztümer erseht wird durch die Erhaltung geistiger Energie — für Welt und Kirche große Tage heraufführen. Daß man in seinem Leben das entdeckt, wozu es bestimmt war, daß man es aus seiner Unwirksamkeit befreit und es um andrer willen rettet, daß man die Menschen dazu führt, die Welt zu retten, statt zu erwarten, daß sie durch den Mechanismus Staat oder Kirche gerettet werde, — daß man das religiöse Leben nicht als technischen oder dogmatischen Begriff ansieht, sondern als vernunftgemäße Befreiung des Menschen — darin liegt die Aufgabe der geistigen Erhaltung, deren Erfüllung der gegen­ wärtigen Generation gestellt ist. Sie gleicht dem Wunder vom Samenkorn: Der Boden, der nur eine geringe Ernte gezeitigt hat, reagiert auf Wissenschaft und Industrie und überrascht seinen Besitzer durch eine wunderbar reiche Ernte. Sie gleicht dem Wunder von der Speisung der Fünftausend, von dem das Evangelium berichtet. Das Volk war hungrig, und was war die Speise, die sie bei sich hatten, für so viele? Der Herr aber nimmt das Wenige und macht viel daraus. Aus einem Bissen schafft er ein ganzes Mahl. Durch die Jahrhunderte hindurch spricht er zu manchem kleinmütigen, zagenden, nur mit halben Kräften arbeitenden Menschen unsrer Zeit: „Sammelt die übrigen Brocken, daß nichts um­ komme." Und wenn die Brocken von Wahrheit oder Pflicht aufgesammelt und den Menschen mit offnen Händen dar­ gereicht werden, so können Tausende mit dem gesättigt wer­ den, was für einen einzigen nicht genug schien.

2.

Die Offenbarung des Kerzens?)

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„Auf daß vieler Herzen Gedanken offenbar werden." euh. 2,35.

So lautet die Prophezeiung des alten Simeon im Tempel, als er wenige Tage nach der Geburt Jesu das Kind in seinen Armen hält. Cs gibt kaum eine schönere Szene in der Geschichte. Der alte Mann hat auf den Trost Israels gewartet. Cr ist ein gerechter und ein frommer Mann, der heilige Geist ist über ihm. And jetzt, im hohen Alter, ist es ihm vergönnt, die Hoffnung seines Volks erfüllt zu sehn. Die dahinsterbende Vergangenheit hält die neu geborene Zu­ kunft in ihren Armen, und der alte Mann fingt: „Herr, nun läffest du deinen Diener in Frieden fahren, denn meine Augen haben deinen Heiland gesehn." And indem er das Kind vor allem Volk hoch emporhebt, schildert er, was ge­ schehn wird, nun dieser Knabe geboren ist. „Cr wird gesetzt", sagt Simeon, „zu einem Fall und Auferstehen vieler in Israel"; und wir denken daran, wie bald es fich erfüllte: Fischer stiegen zu der geistigen Höhe der Apostel empor, und Pharisäer unterlagen dem Arteil Christi- „Cr soll", fährt Simeon fort, „ein Zeichen sein, dem widersprochen wird"; und wir denken daran, wie bald es geschah, daß Jesu Weg von falscher Auslegung, Verleumdung und Schmach umstellt wurde. Dann schließlich und mit noch feinerem Ahnungs*) Vgl. Morgenandachten S. 41.

vermögen erkennt der alte Simeon prophetischen Blicks das letzte Zeichen für Jesus als wahren Messias darin, daß „vieler Herzen Gedanken offenbar werden". Das heißt: Menschen, die mit Jesu in Berührung kommen, werden nicht nur viele und wundervolle Gedanken seines Herzens kennen lernen, sondern ihnen werden auch die Gedanken ihres eige­ nen Herzens geoffenbart werden. Und Jesus, für sein Teil, wird nicht nur diese Gedanken anderer Herzen verstehn, son­ dern er wird die Menschen befähigen, ihre eigenen Gedanken zu verstehn und ihnen das Selbst enthüllen, das in ihnen liegt. Jesu Gabe an manche Seele soll nicht nur eine Offen­ barung der Geheimnisse Gottes sein, sondern eine Offen­ barung der ihr selbst innewohnenden geistigen Fähigkeiten, ein Vewußtwerden ihrer eignen Kraft, ein Wiedererwachen ihrer Selbstachtung, die Entdeckung, daß in ihrem eigenen Herzen Gedanken schlummern, die besser sind als sie je geahnt hätte. So schaut der Mann der alten Zeit der Verheißung der neuen Zeit entgegen, und es gibt in der Geschichte Jesu kaum etwas, das wunderbarer wäre als die Art, wie diese Prophezeiung des Simeon in Erfüllung gehn sollte. Eine nach der andern treten die Gestalten des Neuen Testaments in den Kreis von Jesu Persönlichkeit, freundlich gesinnt die einen, feindlich die andern, ungestüm diese, gleichgültig jene, andere zaghaft. Und auf manche Frage, die sie an ihn richten, wird ihnen keine befriedigende Antwort zuteil. Oft bleiben sie im Unklaren über das Verhältnis Christi zu seinem Vater und über die Mission Christi an die Welt. Und doch, wenn sie von ihm gehen, ist ihnen Eines offenbar geworden, das sie vielleicht am allerwenigsten erwartet hatten: die Gedanken ihres eigenen Herzens. Sie find sich selbst erschlossen worden, und ihr innerstes Wesen, seine Triebfedern, Fähigkeiten und Sünden, die sie bis dahin nur halb verstanden hatten, find durch die Berührung mit Jesu geklärt, gedeutet und erleuchtet. Da tritt ihm z. V. Nathanael entgegen und fragt, zweifelnd und behutsam: „Was kann von Nazareth Gutes kommen?" und Jesus sieht ihn an und blickt auf den Grund seiner Seele, erkennt seinen Charakter: treu, rein, zur Iünger-

schäft geeignet, — sagt von ihm: „Siehe, ein rechter Israelit, in welchem kein Falsch ist", und Nathanael, der da glaubte, er beobachtete und kritisierte Jesus, sieht sich auf sich selbst zurückgewiesen und fragt: „Woher kennest du mich?" Dann kommt Petrus, unbeständig, schwankend, mehr dem rinnenden Sand als dem starken Felsen gleichend, und auch ihn durch­ schaut Jesus und erkennt, daß allen Fehlern, die er begehn wird, dem Selbstvorwurf, der sein Teil sein wird, dennoch die Fähigkeit zu einstiger Führerschaft zugrunde liegt. So sagt er von ihm, der sich selbst so wankelmütig und ungestüm erscheint: „Du sollst Kephas heißen." Dann kommt Pila­ tus, vorsichtig, klug, sehr auf seiner Hut, nicht in den Fall Jesus verwickelt zu werden, und seine glatte, weltkluge Art wird mit einem Schlage bloßgelegt, als Jesus sagt: „Du sagst, ich bin ein König"; und anstatt daß Pilatus Jesus richtet, wird er selbst gerichtet und verdammt. So kommen sie, und so gehen sie vorüber: die Samariterin, von einem tiefen Erstaunen ergriffen, dessen sie sich selbst nicht für fähig gehalten, — die Frau, die eine Sünderin war, zu der Rein­ heit zurückgeführt, die sie verloren geglaubt. Es ist, als ob diese Gestalten aus dem Schatten auftauchten und in den Lichtkreis von Jesu Persönlichkeit einträten: er ließ seine Strahlen einen Augenblick auf sie fallen und enthüllte ihnen ein Selbst in ihrem Innern, und sie zogen weiter mit einem Gefühl, als habe ihr dunkles, unbedeutendes Leben auf ein­ mal Bedeutung und Macht gewonnen. So erfüllte sich die Prophezeiung des alten Mannes, und sie bleibt eine Verheißung, die manches moderne Leben mit Mut und Hoffnung erfüllt. Eine wundervolle Zeit und ein wundervolles Amerika ist es, in dem es zu leben uns ver­ gönnt ist, eine Zeit — wie es heißt — des ausgedehntesten allgemeinen Wohlstandes, von dem die Weltgeschichte meldet, — eine Zeit ganz unvorhergesehener Umwälzungen in der Industrie und erstaunlicher Zunahme an Produktivität und Macht. Noch zu keiner andern Zeit war die Organisation der Welt so hoch entwickelt oder von solcher mechanischen Vollkommenheit, und doch entsteht aus diesem gesteigerten

Leben eine Gefahr, die droht, allem Errungenen die Hälfte seines Werts zu nehmen. Cs ist die Gefahr, daß die Per­ sönlichkeit unterdrückt oder unentdeckt bleibt, daß die Indivi­ dualität in der Bewegung der Masse untertaucht, daß in dieser ungeheuren Organisation die Gedanken vieler Herzen unenthüllt bleiben. Da ist diese mächtige Bewegung des industriellen und politischen Lebens mit ihrer ungeheuren Ansammlung von materiellen Kräften und Menschenmengen; wo aber ist in diesem komplizierten Mechanismus der modernen Welt noch Platz für die individuelle Seele? Was ist sie anders als ein Teil der großen Maschine, ein kleines Rad, das in die andern Räder eingreift und sich mit ihnen dreht? Ein Arbeiter, ein Handlungsgehilfe, ein Handlanger, ein Lehrer, ein Gelehrter blickt auf sein Leben zurück, steht, was für Stückwerk es ist, wie mechanisch und unpersönlich, und ruft aus: „Was sollen mir Gedanken des Herzens? Was soll mir ein Herz über­ haupt? Was bin ich denn anders als ein Schiffchen in dem großen Webstuhl des modernen Lebens, da es den reichen Teppich der Neuzeit webt?" Ich stand einst am Sterbebett eines solchen Mannes, der Schreiber an einem ungeheuren Geschäftshaus gewesen war, und wir sprachen zusammen über den Tod, der fich zu nahen schien. Da blickte der Mann zu mir auf, aus der Tiefe eines trostlosen Lebens, dem alles Persönliche genommen, das zur Maschine geworden ist, und sagte: „Ich bin seit 20 Jahren tot und begraben." Das ist die Kehrseite unsres materiellen Aufschwungs. Cs ist das, was der Nationalökonom die „Kosten des Fortschritts" oder die „Ramenlofigkeit der Industrie" nennt, bei der ein Men­ schenleben nur noch ein Radzähnchen mehr an der großen Maschine ist, ohne daß ihm je die Gedanken seines eigenen Herzens enthüllt werden.

Das Wissen wächst; doch Weisheit säumt, Und ich säume auf der Schwelle, Und der Einzelne vergeht, Und der Weltgewalt'ge Welle Wird zum Meer und schäumt und schäumt.

Wenden wir uns nun der andern Seite des Lebens zu, von seiner Arbeit zu seinem Spiel, von dem ewigen Kreis­ lauf des industriellen Lebens zu dem des geselligen Lebens, finden wir da nicht ganz das gleiche? Wie mechanisch, förmlich, bedrückend und unwirklich erscheint es oft! Was läßt denn manchen jungen Mann oder manches Mädchen zurückschrecken vor den Gewohnheiten und Forderungen des modernen Lebens, vor seinem Konventionalismus, seiner Ein­ tönigkeit und seinem ewigen Kreislauf von geselligen Ver­ pflichtungen und geselligem Einerlei? Was anders als die­ selbe Furcht, daß die Gedanken ihres eigenen Herzens von dem Gewicht der Masse zermalmt werden könnten, so daß ihre Persönlichkeit, Individualität, Originalität, Freiheit, ja ihr Leben verloren ginge? Schon der „Slang“ unsrer Zeit bezeichnet die Welt der Gesellschaft als eine unpersönliche Menschenanhäufung, in der der Einzelne untergeht. Der eine sagt: „Ich lauf' in der Reihe mit", als ob das Problem seines Lebens gleich dem eines kleinen Jungen wäre, der mit der Musikkapelle Schritt hält. Ein andrer sagt: „Ich schwimme mit im Strom", als ob er mit vollem Bewußtsein nur ein Splitter wäre inmitten eines Stromes, gegen den es keinen Widerstand gibt. Und aus dieser alles über­ schwemmenden Zivilisation möchte sich manches junge Men­ schenleben emporarbeiten und ruft: „O, könnte ich ,ich selbst sein! O, nähme man mich heraus aus dem Strom des All­ tags und fände einen Platz, an dem ich auf festen Füßen stehn könnte! Was hilft es mir, so ich die ganze Welt gewinne und nehme doch Schaden an meiner Seele? O Welt, in die ich nun einmal unabänderlich hineingestellt bin, enthülle mir ir­ gendwo, irgendwie die Gedanken meines eigenen Herzens!" Wodurch kann denn ein Leben wie dieses erlöst werden? Durch Neubelebung des moralischen Muts, das wiedererweckte Bewußtsein eigner Fähigkeit, ein Wiederaufrich­ ten des Glaubens in seinem eigenen Innern. Solch einem Leben mag man manchen Fehler vorwerfen können, viel nötiger aber ist es, seine Selbstachtung zu stärken. Es er­ kennt seine Sündhaftigkeit, aber ihm mangelt die Erkenntnis

eigener Kraft. Eine Hochflut ist über die moderne Welt dahingeströmt, eine Hochflut, die in ihrem Formen- und Schablonenwesen eine Woge persönlicher Entmutigung und Ohnmacht mit sich bringt, in der mancher Mensch fast er­ trinkt: atemraubend lastet der Druck der Arbeit oder die lähmende Langeweile des Spiels der Welt auf ihm. Ein Wiedererstarken des Glaubens, eines Glaubens nicht nur an Gott und Christus, sondern an sich selbst, die Erlösung des Le­ bens von all den Dingen, die es niederdrücken, wird zum leiden­ schaftlichen Wunsch und Gebet mancher Seele in unsrer Zeit. An diese Menschen nun, die im Zeitalter der Maschinen leben, die von dem reißenden Strom des Lebens mitgeriffen werden und dennoch nach dem Wasser des Lebens dürsten, gelangt diese erste Botschaft der Religion Christi. Die christliche Religion geht von einer großen Voraussetzung aus: daß die Menschen Gottes Kinder find; — daß weder Be­ schränktheit, noch Schicksalshärte, noch Mangel an Gelegen­ heit uns das Recht nehmen, gut zu sein oder Gutes zu tun; — daß eben dies der Zweck ist, für den wir geschaffen find; — daß jedes Kind Gottes, und habe es sich auch noch so weit in ein Land der Sünde und Schande verirrt, „zu fich selbst kommt" (wie es vom verlornen Sohn heißt),*) wenn es zum Vater zurückkehrt; — daß es nicht sein wahres Selbst war, das hinauszog, sondern daß er fich von seinem wahren Selbst getrennt hatte; — daß die Gedanken unsres eignen Herzens, die uns zu unserm Vesten anspornen, der Ruf Gottes find, der uns zurückkehren heißt zu dem Erbe, das immer unser Kindesteil war. Durchdrungen von diesem Glauben, glaubte Jesus an die Menschen, so wie fie waren. Er glaubte an fie, auch wenn fie selbst nicht an fich glaubten. Er glaubte an Petrus, obwohl Petrus ihn verleugnete. Er glaubte an Thomas, obwohl Thomas an ihm zweifelte. Er erkannte die Hauptgaben der Menschen, ehe fie selbst fich ihrer bewußt geworden. Er nahm die Menschen ganz so wie fie waren, und durch seinen Glauben an fie schuf er in

*) Die englische Bibel sagt: „Er kam zu sich selbst" statt „er schlug in fich."

ihnen den Charakter, dessen sie sich selbst nicht für fähig gehalten, bis ihnen die verborgenen Geheimnisse ihres eignen Herzens durch seinen Glauben an sie endlich enthüllt wurden. Cs lag ein pädagogischer Instinkt in Jesus. Cr war der geborene Lehrer. Cr wußte, daß ein Lehrer wenig aus einem Menschen machen kann, wenn er nicht den Glauben hat, daß jedes Menschenleben seinen Zweck hat, und daß, die göttliche Absicht für jenes Leben auszuführen, höchste Aufgabe und Freude des Lehrers ist. Eben das haben Millionen Menschen gemeint, wenn sie sagen, sie seien durch Jesus Christus gerettet. Nicht, daß sie vom Leiden oder von sich selbst errettet wären, sondern sie sind z u sich selbst gerettet: die Cntwicklungsmöglichkeiten ihrer eignen Natur sind ihnen enthüllt, und die schon verlorenen Gedanken ihres eigenen Herzens haben sie wiedergefunden. Ich las vor einiger Zeit ein kleines Buch, in dem der Verfasser die Geschichte seines eigenen Lebens erzählte, und im Vorwort sagte er: „Dieses Buch will nur eines: wenn ihr es lest, möchte es euch lesen." Das ließe sich auch über den Einfluß der Evangelien sagen. Sie find die Geschichte eines Lebens, aber indem ihr sie lest, lesen sie euch. Sie erzählen euch nicht nur die Geschichte Jesu, sondern die Ge­ schichte eurer eigenen Lebenserfahrung. Nicht nur, daß ihr ihre Bedeutung erkennt, sondern wie Coleridge sagt: „Sie erkennen euch." In seinem Brief an die Korinther schildert der Apostel Paulus dasselbe in einem treffenden Bild. Cs ist, so schreibt er, als ob die Christen vor einen Wunder­ spiegel gesetzt wären, in dem sich die Klarheit Gottes spiegelt. Zuerst blendet das Bild dieser Klarheit den Beschauer, und er zieht einen Schleier darüber; aber allmählich, wie er wieder in den Spiegel schaut, erkennt er darin seine eigenen Gefichtszüge, bestrahlt jedoch von einem Abglanz jener Klar­ heit, die an sich zu blendend war, bis endlich sein eigenes Bild in das Bild der Gottähnlichkeit verwandelt wird, so daß der Beschauer gleich wird dem, das er anschauet. „Nun aber spiegelt sich in uns allen des Herrn Klarheit mit auf­ gedecktem Angesicht, und wir werden verkläret in dasselbige

Bild von einer Klarheit zu der andern, als vom Herrn, der der Geist ist." Das, meint er, könne geschehn, wenn man unablässig in den Spiegel Gottes schaut. Nicht, daß wir auf einmal vollkommen würden, sondern allmählich soll der Schleier von dem Wunderspiegel gehoben werden, und unsre unvollkommenen Gedanken werden wir in dem Abglanz der Klarheit göttlichen Willens sehn, bis sich das, was wir sind, vor unsern Augen verwandelt in das, was wir zu sein er­ flehn, „als vom Herrn, der der Geist ist". Hier sehn wir einen Zug der Religion Jesu Christi, der zum Ausgangspunkt für verständige Jüngerschaft werden könnte. Nicht sein ganzes Evangelium liegt darin, nicht der tiefste Teil seines Evangeliums; aber es kann die erste Gabe sein, die seine Religion manchem scheuen, zagenden, ver­ wirrten Menschenherzen darbietet- Wenn man sich die Mo­ tive klar macht, die durch die Jahrhunderte des Christentums hindurch am stärksten darauf hingewirkt haben, höheres Leben zu erwecken, so findet sich, daß es besonders zwei waren: auf der einen Seite Selbstvorwürfe, auf der andern Selbst­ achtung. Das eine entspringt aus Abscheu gegen die Sünde, das andre aus dem Wunsch nach Reinheit. Diese beiden Motive tragen das ihrige bei zur Bildung des christlichen Charakters, aber die erste und ausstoßende Kraft, die das Böse austreibt, hat eine unendlich viel größere Rolle gespielt als die zweite und anziehende Kraft, die zum Guten drängt. Die erste äußert sich in dem Schrei des Paulus: „Wer wird mich erlösen von dem Leibe dieses Todes?" Ihn haben die Religionsverkünder ausgenommen, als ob das Geheimnis der Heiligkeit in dem Bekenntnis der Hilflosigkeit läge. Bei Jesus jedoch hören wir zumeist den andern Ton. Wohl versteht auch er die Macht der Selbstvorwürfe, wohl freut ihn das Bekenntnis: „Gott, sei mir armen Sünder gnädig!", aber bei Jesus ist das Gefühl der Ohnmacht nur ein Schritt auf dem Wege zu dem Gefühl der Stärke, wie es auch der Soldat empfindet, dem plötzlich das Herz finkt, wenn das Kommando zum Laden ertönt. Der Ruf Gottes, wie Jesus ihn vernahm, ist der Ruf des Befehlshabers, der weiß, daß

er sich auf seine Leute verlassen kann, der Ruf, der anfeuert zu mutigem Vordringen und Siegen. Jesus sagt den Men­ schen nicht nur, daß sie schwach find; er bringt fie zu dem Glauben, daß fie stark find. (Er heißt fie stets nur an das Veste in ihrem Innern glauben. Er zeigt ihnen den Weg hinauf zu der Höhe, die fie erstürmen möchten und geht ihnen auf dem schweren Pfad voran, so daß fie in seinen Fußtapfen folgen können, wo fie ein Gehen für unmöglich hielten. Das ist die Wirkung der christlichen Religion: sie belebt den Mut durch die Übertragung von Straft; in dem Spiegel Gottes verklärt fie das Leben, so daß es durch sein Bild in sein Bild verwandelt wird. Die Rachfolge Christi führt zur Entdeckung unseres eigenen Selbst. Wer zum Vater zurückkehrt, kommt zu sich selbst. Das christliche Leben entwickelt ungeahnte Kräfte. (Ein Vertrautsein mit Jesus bedeutet für uns die Offenbarung des eigenen Herzens. Gar vieles ist es, das die Menschen von ihrer Religion verlangen und das ihnen die Religion nicht zu gewähren scheint. Sie wollen über ihre Zukunft beruhigt, von ihrer Vergangenheit befreit sein; fie wollen, daß ihnen ihr gegen­ wärtiges Leben erleichtert werde; und trotz aller dieser Ge­ bete scheinen fie genau da stehn zu bleiben, wo fie waren. Das alte Einerlei, das unerbittliche Maschinenwerk treibt fie noch immer um, und fie fangen an, sich zu fragen, was eigentlich ihr religiöser Glaube ihnen helfen soll. Eine der auffallendsten Tatsachen in dem Wirken Jesu ist die, daß die Arbeit, der seine Jünger nachgingen, als er ihnen zuerst be­ gegnete, noch die gleiche war, in der er sie zurückließ, als er von ihnen ging. Sie waren am Anfang des Evangelium Matthäi Fischer, die ihre Netze auswarfen, und fie waren immer noch Fischer und warfen ihre Netze aus am Ende des Evangelium Johannis. Was tat Jesus denn für fie? Das alte Leben hatte sich ihnen, ganz so wie es war, in ein neues Leben verwandelt, weil fie in ihm die Möglichkeit gefunden hatten, mitzuarbeiten an Gottes schöpferischem Walten. So fanden sich dieselben Menschen, die ihre Netze ausgeworfen hatten mit der stumpfen Gedankenlosigkeit manch

eines Fischers unsrer Tage, nun dazu berufen, auf die Höhe zu fahren und Menschen zu fangen. Dieses Wunder zu vollbringen, ist der Religion noch vorbehalten. Das Wirken des Glaubens besteht nicht darin, die Verhältniffe umzuwandeln oder den Druck des Alltags zu verringern, sondern die Gedanken des Herzens aus diesem Alltag loszulösen, wie sich die Finger des Petrus und Andreas aus den Maschen ihrer Rehe lösten, als sie auf­ standen und Christus nachfolgten. Inmitten des unvermeid­ lichen Alltags und Kleinkrams dieser Welt steht ein Mensch auf und sagt: „Ich bin kein Radzähnchen, kein Rad in der Maschine; ich bin kein Splitter; ich bin ein Kind Gottes, ich habe teil an dem göttlichen Wesen, ich arbeite vereint mit Gott, ich bin Miterbe Jesu Christi." Dann wird in unsrer Erfahrung die Prosa zur Poesie; die Ideale des Lebens werden zu seinen Realitäten, und die Geheimniffe des Herzens werden offenbar. And wie wir in den Zauber­ spiegel Gottes blicken, wird unser kleines, aus Bruchstücken zusammengesetztes resultatloses Leben verwandelt in einen schwachen Abglanz der Klarheit des Herrn. Die Teppichweber von Paris arbeiteten, wie man er­ zählt, an der Rückseite des Bildes, das sie schufen, wo sie nur die Einzelheiten ihrer Arbeit und die losen Fäden, die hinten herunterhingen, sahn. Aber von Zeit zu Zeit pflegte sich der Arbeiter aus seinem Arbeitswinkel zu erheben und auf die andere Seite zu gehn, um das Gesamtbild zu überschauen, zu dem jeder einen kleinen, aber wesentlichen Teil beitrug. Daß man die Dinge von der andern Seite betrachtet, daß man das Ganze überschaut, an dem man nur seinen kleinen Anteil hat: das ist Religion, und das gibt dem Leben seine Würde, Geduld und Freude. Die losen Fäden er­ halten ihren Platz, wenn man den Plan des Meisters über­ schaut, und die Gedanken vieler Herzen werden endlich ver­ eint, gedeutet und offenbar.

„Die Diener aber wußten's, die das Waffer geschöpft hatten". I°y. 2, 9.

Dieser Sah scheint fast zufällig in die Erzählung hinein­ geschlüpft zu sein. Er ist in unserer Übersetzung in Klammern gedruckt, als sei er kein wesentlicher Bestandteil der Ge­ schichte. Der Evangelist fühlt scheinbar das Bedürfnis zu erklären, wie das Wunder, von dem er berichtet, bekannt wurde. Die Gäste, sagt er, um deretwillen es geschah, be­ merkten nicht, daß sich ein Wunder vollzogen hatte. Sie nahmen die Gabe Gottes hin und hielten sie für eine Gabe von Menschen. „Du hast den guten Wein bisher behalten", sagten sie scherzend zum Bräutigam. Selbst der Speise­ meister „kostete den Wein, der Waffer gewesen war, und wußte nicht, von wannen er kam (die Diener aber wußten's, die das Waffer geschöpft hatten"). Während sie geschäftig für das Fest sorgten, kam ihnen die Erkenntnis, wer der Gast des Festes sei. Sie füllten die Wafferkrüge, wie er's ihnen geboten hatte, als sie aber das Waffer schöpften, war es Wein. Was als Arbeit eines Dienenden begann, endete als göttliche Offenbarung. Die Diener erkannten, was ihre Herren zu erfassen versäumten. Die Freunde des Bräutigams empfingen den Wein, seine Diener aber empfingen den Messias. Die Gäste schieden ebenso ahnungslos, wie sie gekommen waren, die Diener aber wußten's, die das Waffer geschöpft hatten. Peabody, Sonnlagsgedanken.

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Man sollte in den Legenden, die sich früh um das erste Auftreten des großen Meisters bildeten, nicht nach phantasti­ schen Deutungen suchen. Vielleicht wollte der Evangelist nichts Anderes, als die Diener als Zeugen für die Wahrheit des Wunders hinstellen. Wenn einer zweifelte, so frage er doch die Diener, die den Befehl Jesu ausführten, denn fie hatten mit eigenen Augen gesehn, daß das Wasser zu Wein geworden. Cs mutet uns an wie der treuherzige Bericht eines Mannes, der da meinte — wie viele immer noch meinen —, daß man, um ein Mesfias zu sein, ein Zauberer sein muß, und daß fich die Macht, Seelen zu bekehren, kund­ tut in der Macht, Wasser in Wein zu verwandeln. Und doch, wenn auch der Evangelist, wie wir gern annehmen, gar nicht an einen tieferen Sinn dachte, bringt uns dieser einge­ schobene Vers doch zu dem Kern der Geschichte. Nicht die am Fest teilnahmen, sagt er uns, sondern die fich darum mühten, waren es, die das Wunder erkannten. Die Gäste gingen ihres Weges, und wie fich Jesu Wirken ausbreitete, und das Gerücht erscholl in das ganze selbige Land, da waren es vielleicht diese Freunde seiner Jugend, die sagten: „Wie kann dies der Mesfias sein? Saßen wir nicht mit ihm bei der Hochzeit zu Kana, wo der Wein gut war? Suchet und sehet, denn aus Nazareth kommt kein Prophet." „Und jeder Mann ging in sein eigenes Haus." Aber im Hintergrund dieses anmutigen Bildes von einem Dorffest, hinter den sorglosen Gästen, stehn immer diese Gestalten der Diener, wie fie fich neigen und die Speisen darbieten, während ihre Gefichter glühn vor Erstaunen über die Offen­ barung, die fie empfingen. Wissen war ihnen durch Dienen zuteil geworden. Ihre Arbeit war ihr Lehrmeister geworden. Während fie ihre Pflicht erfüllten, wurden ihre Augen der Wahrheit erschlossen, die andere nicht zu sehn vermochten. Die den Wein empfingen, mochten zweifeln oder leugnen; die Diener aber wußten's, die das Wasser geschöpft hatten. Mag man nun auch das historische Zeugnis für die frühe Überlieferung von Jesu Jugend ansehn wie man will, und

mag das Wunder selbst scheinbar wenig auf Jesu geistliche Mission Hinweisen, diese zufällige Erwähnung zeigt doch ein auf Erfahrung gegründetes Gesetz, das in seiner Wirkung heutzutage ebenso klar ist wie einst in Kana in Galiläa. Wir dürfen die Lehre nicht mißverstehn. Sie stellt nicht allein die Tätigen der Welt den Untätigen schroff gegenüber, gebietet Arbeit und wehrt dem Vergnügen. Jesus war, den Gedanken müssen wir festhalten, selbst einer der Hochzeitsgäste. Er war kein Asket und predigte nicht wie Johannes der Täufer die düstere Botschaft der Selbstverneinung. Er teilte die Freu­ den des menschlichen Lebens und hatte ein offnes Herz für sein Glück. Johannes „ist kommen", wie geschrieben steht, „und aß nicht und trank nicht", aber von Jesus hieß es: „Siehe, wie ist der Mensch ein Fresser und Weinsäufer, der Zöllner und der Sünder Geselle." Das himmlische Königreich be­ deutete für ihn eine frohe und glückliche Hoffnung, sein Kommen war ihm wie die Feier eines großen Festes, wie die Hochzeit eines Königssohnes, wie der Zug der Jung­ frauen, die dem Bräutigam entgegengingen. Das heißt also: es ist kein Merkzeichen des christlichen Charakters, immerfort an der Arbeit zu sein wie ein Knecht, oder Erholung und Zerstreuung für Versuchung und Sünde zu halten. Einer der überzeugendsten Züge von Jesu Lehre ist die gesunde Sym­ pathie, die er den harmlosen Freuden des Lebens entgegen­ bringt. „Solches rede ich zu euch", sagt er, „auf daß meine Freude in euch bleibe, und eure Freude vollkommen werde." Auf der andern Seite aber verweilt Jesu Lehre mit be­ sonderem Nachdruck bei der religiösen Bedeutung täglicher Arbeit. Cs gab keinen krasseren Gegensatz zwischen der Tradition Roms und der Religion, die Rom erobern sollte, als diesen: Für den Römer war Arbeit Sache der Sklaven, und Nichtstun das Vorrecht der Freigeborenen. Arbeit bedeutete Erniedrigung, Zwang, etwas Verächtliches. Ein römischer Bürger verbrachte seine Tage auf dem Forum, in den Bädern oder bei den Spielen, nicht im Laden, in der Schmiede oder an der Hobelbank. Wenn der Apostel Paulus dem jungen Timotheus über Christenpflicht schrieb, mußten 3*

schon die Worte an sich für das Ohr eines Römers einen Klang von Knechtschaft in sich tragen. „Befleißige dich Gott zu erzeigen einen rechtschaffenen und unsträflichen Ar­ beiter" (operarius non erubescendus). Cin Römer würde die Lesart so lauten laffen: „Befleißige dich, die Schande zu ver­ meiden, ein Arbeiter zu sein. Beweise, daß du frei geboren bist, indem du dich der Sklaverei der Arbeit fernhältst." Dies war eine der charakteristischen Eigenschaften der neuen Religion, die vor allem es der römischen Aristokratie schwer machten, das Christentum anzunehmen. Es war nicht nur eine theologische Neuerung, es war eine soziale Revo­ lution, die alle alten Werte umstürzte und eher für Sklaven als für Vornehme geschaffen schien. Cs „erregte den ganzen Weltkreis", wie man in Theffalonich sagte. So kam es, daß das Christentum seinen Anfang nahm unter schlichten Handwerkern, die die alltäglichen Pflichten der Arbeitswelt verrichteten. Jesus selbst gehörte nach Her­ kunft, Erziehung und Umgang weder zu den in Luxus schwelgenden Reichen, noch, wie jetzt zuweilen behauptet wird, zu den Ausgestoßenen und Verlassenen, sondern zu dem einfachen Handwerkerstand, zu Zimmerleuten und Fischern. Der Apostel Paulus wohnte bei Aquila und Priszilla, „dieweil er gleichen Handwerks war" — „sie waren aber des Handwerks Teppichmacher". Diesem Milieu ent­ nahm Jesus seine Gleichnisse vom Königreich. Die Men­ schen, die er als besonders befähigt für seine Jüngerschaft annahm, arbeiteten und gingen ihrer gewohnten Pflicht nach. Der Türhüter, der Wächter auf seinem Turm, der Säemann auf dem Feld, die Knechte, die das Geld ihres Herrn ver­ walteten, die Frau, die ihr Haus fegte, fie alle und andere ihrer Art schienen ihm bereit zu sein für das Kommen ihres Herrn. Solange diese Gleichnisse erzählt worden find, nahmen die Arbeitenden der Welt, mochten fie der christlichen Kirche noch so entftemdet sein, die Lehre Jesu fteudig auf. Denn fie redet ihre Sprache, die Sprache schlichter, ehrlicher täglicher Arbeit, und ehrt ihre Motive. Dies ist jedoch nicht alles, was uns die Diener in Kana

lehren. Nicht nur als Arbeiter werden fie uns nahe gebracht, sondern fie werden zum Werkzeug der Offenbarung, zu Zeugen des Wunders, ihnen offenbart fich der Göttliche. Wären fie nicht an ihrer Arbeit gewesen, dem Meister wäre vielleicht kein Willkomm zuteil geworden. Nur die Diener wußten, daß er es war, und nur ihrer Arbeit dankten fie diese Erkenntnis. Mit andern Worten: es gibt einen be­ sondern Zusammenhang zwischen Arbeit und Erkenntnis, zwi­ schen Treue und Glauben, zwischen Tun und Wissen, den allein die Arbeitenden der Welt entdecken, und der schließlich die Rechtfertigung und innere Befreiung der Arbeit eines jeden bedeutet. Ist dies wahr, so bedeutet es gute Kunde für die Welt. Denn gewöhnlich wird die Arbeit, wenn auch nicht gerade von dem römischen Standpunkt der Verachtung, so doch zum mindesten in dem Sinne angesehn, daß fie, ihrer eigentlichen Natur nach, Einschränkung und Unterdrückung bedeutet, eine Art Strafe, ein Knechten des Geistes, ein Etwas, mit dem man gänzlich fertig sein muß, wenn man sich dem höheren Leben zuwenden will. Man will seine Lektion gelernt haben und fie dann los sein, seine Arbeit beenden und dann Freiheit und Freizeit haben. Aus aller Arbeit möchte man fich herausarbeiten, und dann als Gast am Festmahl des Lebens fitzen, während andere einem die Tische decken. Dahin, so kann man mit Sicherheit sagen, strebt die große Mehrheit aller Arbeitenden. Und es ist sicher wahr, daß in dem Einerlei, in der Tretmühle der Arbeit manches schwer idealer zu gestalten ist, daß vieles in der modernen Industrie mensch­ liche Wesen zu Teilen einer großen Maschine macht, daß man das Gewinnen des Lebensunterhalts leicht mit dem Gewinnen des Lebens verwechselt. Dennoch, trotz all dieser Gefahren, die fast jede Art von Arbeit bedrängen, führt die Erfahrung viele tätige Menschen zu einer überraschenden Entdeckung, die das Leben aus Mutlosigkeit und Verzweiflung befreit. Cs ist die Entdeckung, daß man den Einflüssen, die für unsere Lebensführung am nachhaltigsten und bestim­ mendsten find, nicht dann begegnet, wenn man seiner Arbeit

aus dem Wege geht, sondern vielmehr dann, wenn man ihr nachgeht; daß Einsicht, Selbstbeherrschung, die ganze Pflicht­ auffassung, die unser wahres Glaubensbekenntnis ist, zur Hauptsache das Resultat einer uns zur Gewohnheit ge­ wordenen Treue oder Indifferenz gegen unsere tägliche Arbeit find, das Ergebnis einer Arbeit, die mit Abneigung oder Hingabe getan ist. Sobald man sich wieder klar macht, welchen Inhalt das Leben nun einmal haben muß, wird man die Wahrheit jener Behauptung einsehn. Dreiviertel aller Tagesstunden ge­ hören, sechsmal in der Woche, der Arbeit, und von dem, was übrig bleibt, widmet man seinem Innenleben, — der Gottes Verehrung, dem Ausbau seiner inneren Glaubenswelt, — nur einen winzigen Bruchteil: eine Stunde am Sonntag, einen Augenblick des Gebets, hin und wieder eine halbe Stunde über einem Buch oder auf einem einsamen Spazier­ gang, wo man seinen eigenen Gedanken nachhängt. Kann man annehmen, daß die Gedanken und Ideale, die man so flüchtig in sich aufnimmt, von ebenso gestaltender Wirkung sind wie der ständige Zwang und der verhärtende Druck un­ bewußt vergehender Stunden? Hier gibt man sich leicht einer Täuschung hin und bildet sich ein, daß ein Augenblick leiden­ schaftlichen Fühlens oder ein hin und wieder aufflammendes Interesse von ausschlaggebender Bedeutung für unsre Arbeit ist. Solche plötzlichen Wandlungen kommen tatsächlich vor. Aber viel wahrscheinlicher ist es, daß die Art, wie und unter welchen Gesichtspunkten man seine Arbeit leistet, den wahren Glauben des Menschen herausbildet, seinen Optimismus oder Pessimismus, seine Hoffnung oder Verzweiflung. Und die kurzen Stunden leidenschaftlicher Erregung, sie find eher der Luxus als eine Notwendigkeit des Lebens. Erholung und Zerstreuung spielen in jedem vernünftigen Leben eine gewisse Rolle, aber unser praktischer Glaube, der unsere grundlegenden Entscheidungen leitet, ist zum größten Teil die langsame und oft unbewußte Folge der uns zur Gewohn­ heit gewordenen Arbeitsweise. Die Hochzeitsgäste fanden, was sie erwarteten: gute Gesellschaft und guten Wein. Die

Diener aber, die ihrer täglichen Arbeit oblagen, fanden den Messias und erkannten, daß er es war. Wir wollen jenen Grundsatz etwas weiter ins moderne Leben hinein verfolgen. Der ganze Aufbau der Erziehung z. B. gründet sich auf diesen Glauben an Arbeit als Offen­ barung. Bildung ist nicht Belehrung. Bildung empfangen heißt nicht zu einem Festmahl des Mistens zugelaffen werden und alle seine lockenden Genüsse mitkosten. Ein junger Mensch hat keine Bildung, wenn er sich einen großen Haufen unverdauter Tatsachen angeeignet hat. Ein gebildeter Mensch ist kein wandelndes Konversationslexikon. Er­ ziehung, wie das Wort andeutet, zieht den Menschen auf­ wärts: Von der Stufe eines Tieres wird sein Geist durch weise Erziehung emporgezogen zu der Höhe, wo er fähig ist, selbständig zu handeln und zu denken. Der oberste Grundsatz einer modernen Erziehung ist, die Persönlichkeit zu entdecken und wachzurufen, selbständiges Wollen zu entflammen, die Dinge intereffant zu gestalten und den Geist mit Streben nach Wachstum zu erfüllen. Ein einmal gefühlter Impuls, ein Reagieren des Geistes auf die Wahrheit, wie unbeholfen und zufällig es auch sein mag, wiegt hundert eingelernte Tatsachen auf. Das kleine Kind wird vor die Aufgabe ge­ stellt, selbständig die Zusammenhänge von Zahlen oder Formen zu finden; der Heranwachsende Knabe macht auf eigne Hand schüchterne Versuche im Dichten oder Zeichnen; der Student auf der Universität arbeitet in seinen Labora­ torien und an seinen frei gewählten Studien, — und sie alle find in das große Unternehmen der Selbstentdeckung ver­ wickelt, das, neben seinen Erfolgen im Misten und Können, doch als Hauptziel die vollwertige Ausbildung des Geistes verfolgt. Da kann es vorkommen, daß die Jahre, die der Bildung dienen sollen, zu Jahren trauriger Verschwendung werden. Mancher junge Mann widmet seine Zeit und Begabung nicht dem Problem des Studiums, sondern dem weit schwereren, ihm aus dem Wege zu gehn, nicht dem der Arbeit, sondern dem des Arbeitvermeidens. Er will beim Festmahl der

Bildung fitzen, ohne das Waffer der Bildung zu schöpfen. And dies unbekümmerte Drauflosgehn ohne jedes Gefühl von Verantwortung ist auch nicht ohne Lohn. Viele Freuden werden denen zuteil, die die Jahre des Studiums zu Jahren des Spiels machen. Ihr Vergnügen entspricht ganz dem eines Gastes, der an einem reichen Feste teilnimmt. Was geht denn den Faulen und Gleichgültigen verloren? Ein Etwas, das nachhaltiger und feiner ist, als es zuerst den Anschein hat: die Bildung geht ihnen verloren. Die Kinder einer Volksschule in New Z)ork mußten eines Tages ihre Antwort auf folgende Frage niederschreiben: „Welches ist der Unterschied zwischen einem gebildeten und einem klugen Menschen?", und eine kleine Polin antwortete: „(Ein ge­ bildeter Mensch kriegt seine Gedanken von jemand anders, ein kluger Mensch macht seine Gedanken selbst." Nun ist es das Hauptziel der modernen Erziehung, diesen Unterschied zwischen einem gebildeten Menschen und einem klugen Men­ schen zu beseitigen, die Menschen dahin zu bringen, daß fie ihre Gedanken nicht borgen oder erben, sondern fie fich selbst bilden durch unablässiges eigenes Arbeiten. Bei der Bil­ dung ist es wie bei der Athletik. Man kann nicht stark werden, wenn man zufieht, wie andere Leute Sport treiben. Der Geist, der untätig ist, wird ebenso schlaff wie der Muskel, der nicht gebraucht wird. Stärke und Leistungs­ fähigkeit erlangt man durch Übung, nicht dadurch, daß man dem Sport vom Zuschauerplatz aus zufieht, sondern daß man ihn mittut. Die untätigen Gäste empfingen den Wein und gingen an dem Wunder vorüber, die fleißigen Diener aber, die das Waffer schöpften, erkannten es. Dieselbe Offenbarung durch Arbeit läßt fich erkennen in jenen sozialen Bewegungen größeren Umfangs, die den Inhalt der sogenannten „Arbeiterfrage" ausmachen, und die in erster Linie jene Klaffe betreffen, die wir als „arbeitende Klaffe" bezeichnen. Was ist denn das erschreckendste Symp­ tom der gegenwärtigen industriellen Lage? Nicht, wie man fich oft einbildet, der Konflikt zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern, nicht der, der aus dem Verhältnis von Kapital

und Arbeit hervorgeht. Diese Konflikte sind, bei aller Rei­ bung und Bitterkeit, doch wenigstens Zeichen von Lebensfähigkeit und Fortschritt. Die Arbeiterfrage an sich ist kein Zeichen von nationaler Degeneration, sondern von nationa­ ler Kultur. Nicht unter den rückständigsten Nationen tritt sie auf, sondern unter den fortgeschrittensten. Einer Kultur tritt sie entgegen, die sich nicht auf absteigender, sondern aufsteigender Linie befindet. Die „Arbeiterfrage" ist ein Teil jener „Kosten des Fortschritts", die die industrielle Welt zu tragen hat. Das beunruhigendste Moment der Situation liegt viel tiefer. Cs ist der allgemein herrschende Glaube, den man auf beiden Seiten des Konflikts beobachten kann, daß Arbeit im Grunde genommen ein Übel ist, und daß man Glück und Freiheit nur dann findet, wenn man die Arbeit einschränkt oder einen weiten Vogen um sie macht, die Wege zu Freiheit und Vergnügungen dagegen nach Kräften ebnet. Der Arbeitgeber arbeitet, damit er eines Tages der Not­ wendigkeit zu arbeiten enthoben ist, und die Angestellten suchen mit allen Mitteln der Kunst oder Gewalt den Umfang und die Wirksamkeit der Arbeit herunterzudrücken, die sie zu leisten gezwungen find. Cs steht nun zwar außer Frage, daß die Arbeit unserer Zeit sich lösen muß aus vielen ihrer dehumanifierenden und mechanischen Formen. Humanisierung der Industrie ist das schreiende Problem dieses Zeitalters der Geschwindigkeit und Macht. Wie drohend aber auch die Gefahren der Arbeit — übermäßiger oder erniedrigender Arbeit — find, es geht daraus keineswegs hervor, daß Arbeit an fich als ein Fluch anzusehn ist. Im Gegenteil, die Hauptquelle der Selbst­ achtung und Selbstzucht, der geistigen Kraft und des sittlichen Wachstums, man findet sie in der Arbeit, die man zu leisten hat. Und wo je die Auffaffung um fich greift, ob unter Reichen oder Armen, daß Arbeit Knechtschaft und Ernie­ drigung bedeutet, da zeugt das, sei es im alten Rom oder im modernen Amerika, nicht nur von sozialer Unreife, son­ dern von moralischem Niedergang. Als Gott Adam und Eva aus dem Paradies vertrieb mit den Worten: „Im Schweiße

deines Angesichts sollst du dein Brot effen", sprach er damit nicht, wie manche Theologen es ausgelegt haben, einen Fluch, sondern im eigentlichsten Sinne einen Segen für die Menschen aus. „Der Fall des Menschen", wie Theodore Parker einmal sagt, „war ein Fall aufwärts." Es war der erste Schritt zur Zivilisation, als Adam anfing, Selbstbeherrschung und Überlegung zu lernen, die nur der Schweiß der Arbeit lehren konnte. Dies ist das Gesetz der Natur, das man in unserer Zeit wie ein göttliches Urteil unter den untätigen Neichen sich auswirken sieht. Nicht nur das Gefühl der Befriedigung nach getaner Arbeit geht ihnen verloren, sondern sie erfahren auch eine ständige Abnahme ihrer Genußfähigkeit. Je weniger sie zu tun haben, desto mehr geben sie sich der Er­ müdung und Langeweile, der Verzagtheit und Verzweif­ lung hin. Sie fitzen als Gäste an den üppigen Tafeln des Lebens und genießen nicht einmal seine Fülle, während die Diener, die die Arbeit des Lebens verrichten, bezeugen können, welch guten Wein das Leben zu spenden hat. Und hier, wenn man die Sache von der andern Seite betrachtet, liegt die Liefere Bedeutung jener modernen Be­ wegung, die auf industrielle Erziehung hinzielt. Zum Ar­ beiten erzogen werden, ein Gewerbe erlernen, seine Hände üben ist einerseits eine Versicherung gegen Armut. Die Aussicht, daß ein guter Arbeiter nicht sein Brot finden sollte, ist gering. Die große Mehrheit der Arbeitslosen in diesem Land ist ohne Arbeit, weil sie nichts gelernt hat. Aber ganz unabhängig von diesem ökonomischen Nesultat industrieller Erziehung ist die moralische Wirkung auf den Charakter. Wenn ein Knabe die Fugen der Bretter mit peinlicher Ge­ nauigkeit zusammensetzt, lernt er dabei nicht nur Tischlern, sondern Ehrlichkeit, Treue, Wahrhaftigkeit und Geduld. Wenn ein Mädchen ihre Hausarbeit mit Geduld und Geschiä verrichtet, so wird sie durch diese Arbeit gewiffenhaft, auf­ merksam, gehorsam und feiner. Die wahre Bedeutung des Handfertigkeitsunterrichts liegt in seiner charakterbildenden Eigenschaft. Selbstvertrauen, Selbstbeherrschung und Über­ legung find alle die Folgen gewiffenhaft erfüllter Pflicht.

Den Dienern, die das Waffer schöpften, schien eine recht niedrige Arbeit angewiesen zu sein, aber bei dieser Arbeit offenbarte sich das Wunder, und wären fie nicht gewesen, sprächen wir heute vielleicht gar nicht davon. So kommt es zuweilen vor, daß man unter einfachen Handarbeitern einen Grad von Scharfblick und Einsicht, eine Genauigkeit des Urteils findet, die in seltsamem Gegensatz zu der geistigen Trägheit und Unaufmerksamkeit, um nicht zu sagen Dummheit vieler Arbeitgeber, steht. Eine der drama­ tischsten Seiten der modernen Arbeiterbewegung ist das Auf­ tauchen unerwarteter Talente aus den Reihen ganz schlichter Leute, die ohne die Vorzüge von Schulung und Erfahrung find: eine Befähigung zur Führerschaft und eine Verwal­ tungsgabe, die dem Gehirn von Kapitalisten und Finanz­ leuten Ehre machen würden. Fehler, Torheiten und selbst Verbrechen haben sicher die Geschichte der Arbeiteragitation ebenso wie die der Geschäftskorporationen befleckt; und doch bleibt es eine auffallende Tatsache, daß Arbeiter aus eigen­ ster Erfahrung heraus, ohne jegliche Anleitung von oben, enorm große und sichere Organisationen geschaffen haben, die als Denkmäler von Scharfblick, Brüderlichkeit und Mut anerkannt werden müffen. Cs ist die Wirkung der Arbeit auf Verstand und Charakter, die Entdeckung eigener Kraft durch geleistete Arbeit, die Erleuchtung für diejenigen, die nicht das Vorrecht des Studiums genießen, und die ihr Leben gewinnen müssen, während sie ihren Lebensunterhalt ge­ winnen. Vor einigen Jahren hörte ich ein interessantes Zeugnis über diesen Punkt bei Gelegenheit einer besondern Konferenz an einem überraschenden Ort. In Oxford war eine Zu­ sammenkunft von Arbeiterführern und Männern aus Univerfitätskreisen veranstaltet worden, die in dem Garten von Valliol College stattfand. Nie schauten diese grauen, efeu­ umsponnenen Mauern auf eine seltsamere Versammlung herab, und nie vernahmen fie leidenschaftlichere Worte als die Bitten der Arbeiter um bessere Erziehung ihrer Söhne. Llnd doch trat andrerseits nichts so klar und offenkundig

zutage wie der zuversichtliche Glaube dieser Arbeiter, daß es Seiten der Wahrheit gäbe, die sie beffer zu schätzen wüßten als akademisch Gebildete, und Wege zur Führer­ schaft, die man nur durch die Erfahrung der Arbeit entdecken könne. Von Wissenschaft und Kunst möchte ihnen manches verborgen bleiben, aber der Zwang ihrer Pflicht hätte sie vieles gelehrt. „Mit immer neuem Erstaunen bemerken wir", sagte einer der Vertreter des „House of Commons", „wie ausgezeichnet sich die Männer, die in Oxford erzogen find, auszudrücken verstehn, und wie wenig Bedeutendes sie dabei ost zu sagen haben." Mit andern Worten: diese Männer hatten gelernt, ihre eignen Vorteile auszunuhen, statt andere um die ihren zu beneiden, und die ständige Arbeit hatte selbst ihrer Sprache eine Genauigkeit, Knappheit und einen sozu­ sagen arbeitsmäßigen Klang gegeben, den sie an gewandteren Männern vermißten. Das ist eine hoffnungsvolle Seite der Arbeiteragitation. Bei aller Verwirrung und Feindseligkeit, die sie anrichtet, hat sie wenigstens in erstaunlichem Grade die in zahllosen Män­ nern schlummernden Fähigkeiten wachgerüttelt und in ihnen eine Verwaltungsgabe und selbst wirksame Beredsamkeit ent­ wickelt, von deren Existenz viele aus den bevorzugteren Klaffen noch keine Ahnung haben. Die dringendste Not­ wendigkeit der gegenwärtigen industriellen Lage ist tatsächlich die: der Weiterbildung der arbeitenden Bevölkerung eine dementsprechende Weiterbildung der arbeitgebenden Klaffe an die Seite zu stellen, und durch eine neue Art von Einsicht und wohlwollendem Verständnis mit der neuen Bildung Schritt zu halten, die sich die Arbeiter unter großer Mühe und vielen Fehlgriffen erwerben. Wenn die glücklichen Gäste, die an der Festtafel des Wohlstands fitzen, sich noch weiter genügen lassen an dem sorglosen Genuß des Lebens­ weines, wie er ihnen in üppiger Fülle eingeschenkt wird, so können sie es erleben, daß die Diener, die das Wasser schöpfen, vor ihren eignen Augen ein Wunder der Selbst­ entdeckung und Selbsthilfe vollbringen. So kämen wir denn zu der Lebensphilosophie, wie sie

durch solche Tatsachen gekennzeichnet wird. Viele Wege führen zur Wahrheit. Man kann den Weg logischen Denkens einschlagen, auf dem man mit den Philosophen, den Män­ nern der Wissenschaft und den Theologen zusammentrifft. Cs ist die Heerstraße des Geistes, auf der die größten Denker wandern, der geradeste Weg, der nicht zu verfehlen oder zu verschmähen ist. Aber es ist nicht der einzige Weg. Die Wahrheit ist nicht aristokratisch; gesundes Denken ist kein Monopol der Gebildeten, und ein Grund, weshalb Philosophie und Theologie ihre Herrschaft über viele Men­ schen verloren haben, ist der, daß als einziger Weg zur Wahrheit ein Weg vorgeschrieben wurde, den nur geschulte Denker zu gehn vermögen. Oder aber man farni seinen Weg zur Wahrheit auf dem Pfade der Phantasie finden, auf dem man mit Künstlern und Dichtern wandert. Cs er­ öffnen sich in den Regungen des Gemüts reizvolle Ausblicke auf die Wirklichkeit des Lebens, die wie Offenbarungen wirken. Schönheit, Freude, Sympathie, Liebe, — sie alle verknüpfen das Leben mit dem Ewigen. „Der Geist er­ forschet alle Dinge, auch die Tiefen der Gottheit." Und doch ist dieser sich sanft windende Pfad der Phantasie ebenso­ wenig der einzige Weg zur Wahrheit, wie es die wohl ausgebaute Straße der Logik ist. Hier haben wir die von jeher immer wieder auftauchende Frage zwischen dem Mystiker und dem Rationalisten, zwischen Gefühl und Verstand, den Scheideweg, an dem der Wegweiser einen Weg gerade über die Hügel und einen andern quer durch die Täler angibt; beide Wege aber führen zum Ziel der Reise. Und schließlich gibt es noch einen Weg zur Wahrheit, der vielleicht weniger gerade ist als der Weg der Vernunft und weniger reizvoll als der Weg des Gefühls, einen rauhen und oft schattenlosen und heißen Weg, der aber trotzdem sein Ende erreicht: der führt entlang auf dem staubigen Pfade der Pflicht und durch die trockenen Niederungen gewöhnlicher Arbeit. Hindurch durch das Einerlei des Lebens bahnt sich der Wille seinen Weg, und wie er sich dahin schleppt auf müden, wunden Füßen, hebt er seine Augen auf, und siehe, die Wahrheit,

die schon auf anderen Wegen erreicht schien, ist nicht mehr weit, und der Pflichttreue geht zusammen mit dem Denker und Dichter ein in die Tore der Stadt. Das ist die wichtigste Entdeckung, die schlichten Männern und Frauen werden kann, — ihnen, die notgedrungen in der nüchternen Arbeit der Erziehung oder des Geschäfts, des Verdienenmüffens oder des Haushalts aufgehn: daß treue Pflichterfüllung nicht nur um ihrer selbst willen gut ist, sondern daß sie einer der Wege ist, auf dem die Wahrheit erreicht und Offenbarung empfangen wird. Viele wundervolle Wahr­ heiten warten noch auf ihre Enthüllung durch den Verstand oder den Flug der Phantasie, aber manchem Menschen find diese Pfade zum Wiffen einfach verschlossen, während die Arbeit des Lebens gerade vor seinen Füßen liegt, Beruf und Pflicht, die scheinbar die Seele einschließen und die Phantasie ausschließen. Aber wenn man diesen Weg stand­ haft und unbeirrt verfolgt, so kann sich der Sinn des Lebens den Augen des Willens offenbaren, und die Schritte der Pflicht können endlich vor die Pforte der Wahrheit führen. And dies — dessen müssen wir stets eingedenk sein — ist nicht nur ein Weg, auf den die Erfahrung weist, sondern auch der Weg, den Jesus Christus die schlichten Männer gehn ließ, die er zu seinen Jüngern gewählt hatte. Wohl lehrte er den Verstand große Wahrheiten, wohl versetzte er das Gefühl in starke Schwingungen, aber wollte er die, die ihm folgten, ganz zu sich ziehn, so sprach er zu allererst zu ihrem Willen. „Folgt mir nach", hat er gesagt, „nehmt euer Kreuz auf euch und folget mir, und der Weg des Dienens wird euch zum Wege der Offenbarung werden." „Was ihr getan habt einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan." „So jemand will des Willen tun, der wird inne werden, ob diese Lehre von Gott sei." Welch tröstendes Wort ist das für die große Zahl schlichter Menschen, die nicht viel von christlicher Theologie wiffen und keine Zeit haben, sie zu studieren, die aber willens find, an der Hobelbank und in der Schmiede, in ihren Kontors und Bureaus, seinen Willen zu erfüllen, so wie fie

ihn verstehn können. Ihnen ward die Verheißung, daß sie, wenn auch auf keinem andern, so doch auf diesem Wege zur Erkenntnis der Lehre gelangen sollten. Zuerst Pflichtgefühl, Treue, Hingabe, und dann Überzeugung, Gewißheit, innerste Offenbarung. Das ist der Weg der christlichen Religion. Die Arbeit der Welt ist einer der Wege zur Erkenntnis des Ewigen. Eine wundervolle Fülle von Gelegenheiten bietet sich dem Leben unserer Generation, große Gaben bringt sie dem Geist und einen Reichtum von Anregung, aber die, die weder die Fähigkeiten zu schwerer Gedankenarbeit haben, noch die Sammlung für tiefe Empfindungen, mögen getrost an die unvermeidlichen Geschäfte ihres Lebens zurüäkehren, in der Überzeugung, daß auch sie teilhaben an der Offen­ barung Gottes. Ihnen wird noch einmal die Geschichte von den Dienern beim Fest erzählt, und ihnen gilt, durch die Jahrhunderte hindurch, die Verheißung für die Arbeitenden der Welt: „Die Diener aber wußten's, die das Wasser geschöpft hatten."

„Ich bin die Tür."

goi>. 10.7.

Zwei Arten religiösen Erlebens gibt es, die sich so deut­ lich voneinander unterscheiden, als handle es sich um ver­ schiedene Sprachen oder um verschiedene Alters- und Lebensverhältniffe. Diese beiden Arten von Religion haben dieselbe Quelle, schlagen aber entgegengesetzte Richtungen ein, wie zwei Ströme, die auf dem gleichen Berg ent­ springen, aber nach verschiedenen Seiten zu Tal fließen und verschiedenen Meeren zuströmen. Die eine Art faßt das Leben als Ruhe auf, die andere als Bewegung. Die eine ist die Antwort auf die Bitte um Frieden, die andre die Antwott auf die Bitte um Kraft. Die eine ist die Religion der Ruhe, die andre die Religion der Tat. Die eine ist die Religion des Alters, die andre die der Jugend. Rach der einen sagt Jesus: „Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will Euch erquicken", nach der andern sagt er: „Wer mir will nachfolgen, der nehme sein Kreuz auf sich und folge mir." Rach der einen heißt das Grundwott des Reuen Testaments: „Ich bin die Wahrheit", nach der andern lautet Jesu überzeugendste Botschaft: „Ich bin die Tür." Diese beiden Arten Religion find wirklich. Manch müdes Menschenherz ersehnt nichts Andres als ein Ausruhn nach allem Schmerz, Erlösung von allen Sorgen *) Vgl. Morgenstunden S. 3.

und eine Stätte, die sicher ist vor allen Wirren der Welt. Und solchem Herzen tut sich in dem friedlichen sicheren Glauben des Christen ein stiller Zufluchtshafen nach unruhig stürmenden Tagen auf. Aber viele Menschen sehnen sich durchaus nicht nach diesem Gefühl der Sicherheit. Im Gegenteil, der Wunsch, sich vom Leben zurückzuziehn, das ängstliche Suchen nach einem Hafen laffen manchem gesunden glücklichen Menschen den christlichen Glauben unintereffant und fernliegend erscheinen, als einen Glauben für Schwache, Verzagte und Sterbende, aber nicht für junge, starke und tapfere Seelen. Nicht nach Ruhe verlangt ihr Leben, son­ dern nach Bewegung, nicht nach Trägheit, sondern nach Tätigkeit, nicht nach einem stillen Zufluchtshafen, sondern nach großzügigen Abenteuern auf offner See. Wenn ihr seht, wie ein beschädigtes Wrack in den Hafen geschleppt wird, sagt ihr wohl: „Bringt das Wrack in ein sicheres Dock, und vertäut es fest, wo kein Sturm es erreichen kann, denn es ist zu sehr vom Wetter mitgenommen, um den Hafen zu verlaffen." Seht ihr dagegen ein stolzes, wohlgebautes Fahr­ zeug auf See zu halten, ruft ihr: „Da fährt ein Schiff, das kann aller Stürme spotten. Seine Bestimmung ist nicht still zu liegen, sondern weit hinauszuziehn. Sein Kapitän fragt nicht nach einem Dock zum Stilliegen, sondern nach dem Kurs, den er steuern, dem Hafen, den er erreichen soll." Das ist ein Bild des unverzagten, erwartungsvollen, gesunden Menschen, der noch nichts von der Religion des Alters wissen will, sondern der den Weg erfahren möchte, der ihn hinaus­ führt in das unerforschte, unenthüllte, gefahrvolle, aber­ lockende Unbekannte. Solchen Menschen gilt die oft wieder­ holte Verheißung Jesu aus den letzten Stunden seines Lebens: „Ich bin die Tür, durch mich treten die Menschen ein in ihr größeres Leben. Ich bin der Weg. Ich gebe den Kurs zum Steuern. Ich öffne das Tor der günstigen Ge­ legenheit. Mein Evangelium ist nicht nur ein Evangelium des Friedens, sondern des Fortschritts und der Kraft." Dies ist die Seite von Jesu Lehre, der wir uns heute zu­ wenden wollen. Sie zeigt uns nicht das ganze Evangelium. Peabody, Sonntagsgedanken. 4

Sie ist nicht jene Botschaft der Religion an die Müden, die Alten, die Sünder oder die Trauernden, aber sie ist die Antwort auf die gesunde natürliche Sehnsucht manches eifrigen, forschenden, ruhelosen jungen Menschen, der unbe­ friedigt, zaghaft und in sich selbst ohne Halt war. „Ich bin die Tür." Cs ist eigentümlich, wie oft der durch eine lange Reihe von Erfahrungen gewonnene Fortschritt im Leben sich vergleichen läßt mit dem Durchschreiten einer langen Flucht von Zimmern in einem großen, weit­ läufigen Hause. Man betritt ein Zimmer, die Tür schließt sich, und es scheint keinen Ausweg zu geben. Aber während wir so scheinbar eingeschloffen find, öffnet sich unerwartet eine neue Tür vor unsern Augen, und wir gehn weiter in ein größeres Zimmer. So geht es auch mit jedem Schritt in der Erziehung. Ein Kind wird in die ersten Regeln seiner Pflicht eingeschloffen, und sie scheinen ihm eng, be­ schränkt und mühselig, und gern möchte es von ihnen befreit werden. „Was sind denn diese langweiligen Grammatik­ regeln, die Aufsahübungen, die albernen Aufgaben, in denen man Zimmer tapezieren oder Klafterholz messen muß, anders, als extra ausgedachte Zwangsmaßregeln, die die Lebens­ geister eines gesunden Jungen zurückdämmen sollend" „Muß man bei all dem nicht", wie einmal ein Kind vom Erlernen des Alphabets gesagt hat, „schrecklich viel ausstehn, und kriegt dafür so wenig?" Dann, in einer glücklichen Stunde, durch die Eingebung, die wir von einem Buch, einem Ge­ danken oder einem Freunde empfangen, wandeln sich diese abstrakten Vildungsbegriffe in Wirklichkeiten des Lebens. Aus sinnlosen Regeln tut sich ein Eingang auf zu Bedeutung, Leistungsfähigkeit und Fortschritt, und das Kind schaut durch jene Tür in den weiteren Raum der Nützlichkeit, Gewissen­ haftigkeit, des Wissens, der Einsicht und Freude, und es erkennt jetzt, daß der einzige Weg dorthin durch den Vor­ raum jener unwillkommenen Aufgaben führt. Dasselbe ließe sich von der höheren Bildung sagen. Ein junger Mann kommt aus dem Zwang des Schul­ zimmers plötzlich in die Freiheit der Universität, und dort

tritt ihm das verwirrende Problem der Studienwahl ent­ gegen. Die ungeheure Mannigfaltigkeit des Clektivsystems liegt vor ihm mit ihrer überwältigenden Fülle, und er steht wie benommen vor der plötzlichen Erweiterung seines geisti­ gen Lebens. Wenn er jedoch das Problem der Wahl ernst­ hafter erwägt, verwandelt sich dies Gefühl von Freiheit in ein Gefühl neuer Begrenzung. Was ist diese vermehrte Freiheit anders als eine neue Form von Zwang? Die Frei­ heit, viele Gegenstände zu wählen, ist gleichbedeutend mit der Notwendigkeit, einige zu wählen. Hier und da sind in der Welt des Mistens Gebiete, die er betreten kann, aber manch lockendes Feld des Studiums bleibt übrig, das zu erforschen er nicht hoffen kann. Manche Tür muß ihm verschloffen bleiben, und von vielen andern kann er nur eben die Schwelle überschreiten, wenn er mit irgendwelcher Sicherheit in sein eigenes Studium eindringen will. Wie eingeschlosten und beschränkt erweist sich also schließlich die Freiheit des moder­ nen Studenten! Was ist aus jener alten Tradition einerausgeglichenen Bildung geworden, die die Gebildeten vor zwei Jahrhunderten auszeichnete — jene Bildung, die die Unterhaltung durch klassische Zitate zu schmücken verstand und die von vielen Dingen etwas wußte, statt von einem Ding, das niemand anders auch nur dem Namen nach kannte, alles zu wisten. Wie eng erscheint das Feld, oder vielmehr die Furche, in der der moderne Student zu gehn hat, und wie schwer wird es ihm, das Ideal einer alles umfassenden Bildung aufzugeben unter dem Zwang einer in Einzelheiten ausgehenden Welt! Wodurch kann denn die moderne Wiffenschaft die Ach­ tung vor sich selbst zurückgewinnen? Durch die Entdeckung, daß jene Welt umfassenden Wissens, jenes Gefühl von Weite und Freiheit, das anfangs durch die Spezialisierung der Studien ausgeschlossen scheint, durch nichts Andres zu er­ reichen ist als eben durch die enge Eingangspforte der Einzel­ studien. Allerdings schließt sich die Tür hinter dem, der sich an seine erwählte Aufgabe begibt, und schließt viele schöne Möglichkeiten aus, die er schweren Herzens zurückläßt. 4*

Völlige Konzentration der Aufmerksamkeit wird zum strengen Gesetz des Erfolgs. Aber plötzlich öffnet sich in dem engen Zimmer, an einer ganz unerwarteten Stelle, eine neue Tür und führt, wie ein verborgener unterirdischer Gang, aus der engen Haft in größere Freiheit, aus bloßen Tatsachen zu tief begründeten Gesehen, und der Student entdeckt, daß die Aufgabe, die ihm eng begrenzt erschien, in Wahrheit die wichtigste Vorstufe ist zu Erkenntnis, Wissen und Macht. Zuerst der enge Gang der Cinzelstudien, dann die sich auf­ tuende Tür zu dem allgemein anerkannten Gesetz, der schnell entschwindende Durchblick auf die größere Wahrheit, die Stufe zu höherer Meisterschaft — das ist der Weg, den der moderne Studierende zu gehn hat. Dieselbe Erfahrung tritt einem jungen Mann noch lebendiger entgegen, wenn er weiter in die Welt hinauskommt. Er verläßt die Universität und sieht sich nach einer Arbeit im Leben um, die seiner würdig ist und zu der er geeignet ist, und der erste Eindruck, der sich ihm aufdrängt, ist der der Begrenzung und Einengung, des Zweifels, ob für jemand wie ihn überhaupt ein Platz übrig ist, des Mangels jeglicher Aussicht auf ein weites, inhaltsreiches, menschenwürdiges Dasein. Nicht, daß er viel von der Welt verlangte. Alles, was er wünscht, ist ein „Ausblick". „Gebt mir nur eine Gelegenheit weiter zu kommen, und ich will sie schon ausnuhen." Aber die Arbeit der Welt schließt ihn ein in die engen Mauern irgendeiner begrenzten Auf­ gabe, und mit einem Gefühl von Hoffnungslosigkeit gibt er sich ihrem unvermeidlichen Einerlei und Kleinkram hin, als ob der „Ausblick" das einzige wäre, das ihm versagt bliebe. Er will selbst drückenden Verpflichtungen gar nicht aus dem Wege gehn, er will versuchen, an die Würde der Arbeit zu glauben, selbst wenn diese Arbeit mechanisch, unbedeutend und stumpfsinnig ist, aber nach vollbrachtem Tagewerk ist es ihm, als stände die schweigende Gestalt des Lebens vor der Tür, die zu freierem Schaffen führt, um ihn zurückzuhalten, wenn er den Eingang erzwingen wollte, und er ruft aus: „Ist denn dieser beengte Platz alles, was mir an Raum ver-

gönnt ist, und soll diese kümmerliche Aussicht der ganze Er­ folg meines gewissenhaften Arbeitens sein? Du Leben, dessen Schweigen mich zu verspotten scheint, gib mir meinen Weg frei! Öffne die fest verschlossene Tür!" Dann eines Tages, ganz unerwartet und unberechenbar, kommt auch für diesen Menschen seine Stunde. Die Tür geht auf, manchmal an einer ganz andern Stelle, als er er­ wartete — nicht dort, wo die Tür zu sein schien, sondern wo die Wand starr und undurchdringlich schien —, und der junge Mann wird in ein größeres Zimmer gerufen, zu dem seine beschränkte Pflicht der einzige Vorraum war und seine dabei bewiesene Pflichttreue der einzige Schlüssel. Verrichtet die begrenzte Aufgabe, und sie öffnet euch den Weg zu weiteren Möglichkeiten; schaut der beschränkten Pflicht grade ins Gesicht, und eine größere Pflicht zeigt sich gleich dahinter. Die Tür vor euch öffnet sich nur, wenn die Tür hinter euch geschloffen ist. Die Pforte ist enge, und der Weg ist schmal, der zum Leben führet. Dem, der auch im Geringsten treu ist, wird das Größte offenbart. Das eben macht das Leben so reich, so überraschend und so romantisch, daß das Wenige, das wir wissen, uns die Pforte ist zu dem Größeren, das wir nicht wissen, und daß das Wenige, das wir leisten, uns die Möglichkeit gibt, mehr zu leisten. Manchmal find diese Vorhallen, die wir durchschreiten, geheimnisvoll und dunkel, und Pflicht, Opfer und Krankheit schließen sich eng um unsre Aussichten auf Weiterkommen wie Kerkermauern, die uns immer näher rüden, als wollten sie auf uns stürzen. Aber hier liegt das Wunder manches eingeschloffnen Lebens: in der starren schwarzen Mauer, die immer näher zu rüden scheint, zeigt sich zuerst nur ein kleiner schüchterner Lichtstrahl, weiterhin ein Ausblid auf Frieden und Hoffnung und schließlich eine offne Tür, durch die man, wie nie zuvor, den Sinn des Lebens erkennt, und die den Menschen hinüber leitet zu einer Ausgestaltung des Lebens, zu der nur jener dunkle Zugang den Weg erschließen konnte. So lautet die Lebensgeschichte unzähliger Menschen — die überraschende, wunderbare Geschichte von den Cingangs-

Pforten des Lebens. Aber angenommen, wir zögen die Summe aus all diesen verstreuten Lebenserfahrungen und dächten an das Leben als Ganzes, wie es so bewußt von Zimmer zu Zimmer geführt wird zu immer reicheren Mög­ lichkeiten und Freiheiten, zu immer weiteren Gebieten der Pflicht und Schönheit, so fragen wir uns: „Was ist denn eigentlich dieser Weg des Lebens, der sich so vor uns auf­ tut von einer Tür zur andern?" — Cs ist nichts Andres als die Religion, oder genauer gesagt, die erste Gabe der Reli­ gion Jesu Christi, die er dem Leben manches jungen Men­ schen unsrer Zeit zuteil werden läßt. Man bildet sich oft ein, das religiöse Leben bedeute Einengung, Beschränkung und pedantische Zucht. Ihr gebt viel auf, ihr verleugnet euch selbst, ihr werdet von Gelöbnissen, von Glaubensbekennt nissen, von Priestern eingeengt, und dann seid ihr Christen. Verzichten, „Entsagen", wie Carlyle gesagt hat, wird zum großen Wort des Glaubens. Rach dieser Definition ist das religiöse Leben nicht etwas, das sich im Zustand der Be­ wegung, sondern in dem der Ruhe befindet, keine Form des Fortschritts, sondern des Friedens. Man kann keinen größe­ ren Irrtum in bezug auf Religion begehn, als daß man sie auf diesen negativen, asketischen, klösterlichen Geisteszustand zurüäführt. Unterwerfung, Selbstverleugnung und Ent­ sagung werden zwar von jedem Menschen einmal verlangt. Aber zu allererst wendet sich die Religion Jesu Christi bei gesunden jungen Menschen an ihr Kraftgefühl, ihren Tätig keitstrieb und ihr lebendiges Verlangen. Zu allererst fordert sie nicht Verleugnung, sondern Behauptung, nicht ein Verzichtleisten, sondern freudiges Hinnehmen, kein Sich-Zurückziehn, sondern ein Vorwärtsschreiten. „Ich bin gekommen", sagt Jesus, „daß sie das Leben und volle Genüge haben sollen." „Ich bin nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen." Kein sanftes leichtes Leben wird uns damit ge­ boten, kein Leben ohne Lasten. „Nehmt euer Kreuz auf euch", sagt Jesus, „und folget mir nach." Aber selbst dies ist keine Forderung zur Entsagung — als lägen wir lahm und hilflos vor dem Kreuz Christi —, sondern zur Stärke;

es heißt unser Kreuz auf uns nehmen und, wenn auch strauchelnd, dorthin folgen, wohin der Weg des Kreuzes gehn muß. Das Ziel Jesu ist nicht, die Persönlichkeit auszu­ löschen, sondern sie zu entdecken, ist nicht, die Menschen aus der Welt zu retten, sondern sie fähig zu machen, die Welt zu retten. „Wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit." „Alles ist Euer." „Ich bin der Weg." — Das find die großen Gebote, die durch das Neue Testament hindurch­ klingen, Worte des Wachstums, der Ausbreitung, des Fort­ schritts, der Macht. Andere Seiten von Jesu Lehre wenden sich an andere Stimmungen, in dem Maße, wie man tiefer in die Lebenserfahrungen eindringt. Aber das erste Wort, das dem eingeschloffenen, zögernden, an sich selbst irre ge­ wordenen Menschenherzen begegnet, ist die Forderung Jesu, vorwärts zu gehn: „Ich bin die Tür." Und wie kommt es denn, fragt man weiter, daß die Religion so die Pforten des Lebens öffnet? Sie tut es, wie wir sehn werden, auf zweierlei Weise: sie gibt erstens der Welt und zweitens unserm eigenen Leben eine neue Bedeutung. Sie öffnet uns die Tür, d. h. sie führt uns in eine weitere Welt und dann in ein tieferes Selbst. Auf der einen Seite ist die große Zahl nachdenklicher Menschen, die hilflos steht vor dem Mysterium einer unaufgeklärten Welt. Da haben wir jenen unaufhörlichen Wirbel materieller Kräfte, der uns mit fortreißt, jenen tragischen Kampf ums physische Dasein, jene rohe Konkurrenz der industriellen Welt, dies ganze kurze vergebliche Intermezzo des eigenen Lebens mit seinen kleinen Freuden und Sorgen, seinen Wünschen und Träumen, die sich wie eine leuchtende Woge aus dem Ozean erheben und in einem Augenblick wieder in die Tiefe zurückfinken. Und manchem Herzen entringt sich der Schrei: „Was bedeutet dies alles? Hat es überhaupt einen Sinn? Ist es, wie ein Teil der Gelehrten behauptet, eine hohle, leere, trügerische Welt, der Traum eines Narren, voll Schall und Rauch, hinter denen nichts steckt? Ist es nur ein Spiel des Schicksals, in dem wir ohnmächtigen Schachfiguren gleichen?"

„Ein großes Schachbrett ward aus Nacht und Tag, Wo das Geschick mit Menschen spielen mag. Es stellt sie auf und bietet Schach und Matt Llnd legt dann jeden wieder wo er lag."

Was ist es denn, das der Welt tieferen Sinn gibt und uns in ein vernünftiges Weltall der Einheit und des Zwecks anstatt in eines des Chaos und der Verzweiflung hineinstellt? Cs ist der Ausblick, der sich uns durch die Tür der Religion auftut. Mag immerhin in der Ordnung der Welt vieles für uns noch verwirrend und geheimnisvoll bleiben, mögen wir auch Gottes Erziehung des Menschengeschlechts noch lange nicht vollkommen verstehn — ein wichtiger Schritt zu gesunder Anschauung, zur Selbstbeherrschung und zum Frieden der Seele ist getan, wenn wir die Welt als Schau­ platz geistigen Wollens und Wünschens ansehn, die ihren verwirrenden Einzelheiten Einheit und Wert verleiht. Cs ist, als ob sich in der hohen Steinmauer, die unser Erleben umschließt, ein Tor auftäte und uns hindurchschaun ließe auf einen sonnigen Pfad voller Blumen. Unser Teil mag es sein, zwischen den Mauern des Lebens zu bleiben, dort zu arbeiten und zu dulden, aber leichter wird uns die Arbeit und erträg­ licher, wenn wir das Tor ein wenig offen halten dürfen und eine klare Aussicht haben vom Schatten in den Sonnenschein hinaus, von den Pflichten des Lebens zu dem lichtvollen Bilde Gottes. Gilt dies schon von unsrer Weltanschauung, wieviel mehr noch von der Kenntnis unsrer selbst. Auf einen Men­ schen, der an der Bedeutung der Welt zweifelt, kommen hundert Menschen, die an der Bedeutung ihres eigenen Lebens zweifeln. Wie kärglich, wie überflüssig, wie zwecklos ist dies kleinliche Los, an das wir unabwendbar gebunden scheinen! Wie unbedeutend ist sein Amkreis, wie unwichtig find seine Folgen! Wozu kämpfen und fich quälen, wozu hoffen und planen, wenn man in Wahrheit doch nur das Pferd ist, das die Tretmühle dreht, das zur Arbeit an der Maschine gepeitscht wird, aber den ganzen Tag in der immer gleich engen, unbeweglichen Einzäunung an der Kette geht? Dies Gefühl der Vedeutungslofigkeit und Ohnmacht ist es.

das einem Menschen Glauben und Hoffnung raubt. Man hört zuweilen, daß junge Leute heutzutage eine zu hohe Meinung von sich selbst haben, und sicherlich wäre es Über­ treibung zu behaupten, daß auf den Typus des modernen Jünglings die Seligpreisung der geistig Armen paßte. Für junge Menschen liegt aber die größte Gefahr auf moralischem Gebiete nicht, wie man oft annimmt, in einem zu starken Selbstgefühl, sondern in einem Mangel an Selbstvertrauen, nicht darin, daß sie sich zu hoch, sondern daß sie sich zu niedrig einschätzen. Was sie nötig haben, ist nicht so sehr „geduckt", als vielmehr gehoben zu werden; sie brauchen weniger neue Selbstvorwürfe als neue Selbstachtung. Eine zu hohe Selbst­ einschätzung mag eine Art Rausch sein, eine zu niedrige Selbsteinschätzung aber ist eine Art Lähmung. In einer ein­ geschloffenen Welt zu leben, ist ein „philosophisches Miß­ geschick", in einer eingeschloffenen Seele zu leben aber ist eine „moralische Tragödie". Und was ist es denn, das uns aus diesem Gefühl des Beschränktseins und Unterliegens herauskommen läßt? Cs ist das Gefühl, daß wir eng mit Gottes Zwecken verbunden find, daß unser Leben ein Teil des göttlichen Planes ist, die Antwort des Kindes auf den Ruf des Vaters. Du bist nicht allein, weil der Vater bei dir ist. Du bist nicht hilflos, weil unter dir die ewigen Arme ausgebreitet sind. Du bist nicht zwecklos, weil du ein Mitarbeiter Gottes bist, und du entdeckst unerwartete Kräfte zum Können und Wirken, wenn du dich einem Dienste widmest, der nicht dir selbst gilt. Du kommst zu dir und sagst: „Ich will zu meinem Vater gehn." Das ist die beste Gabe der Religion, daß sie der eignen Seele den Glauben an sich selbst gibt. Und was ist dies anders als das Auftun einer Tür, die nicht nach außen in die weitere Welt, sondern nach innen in das tiefere Selbst führt, daß wir eingehn zu einem Innenleben der Ruhe, der Heiterkeit und des Gebets. Das religiöse Leben gleicht jenen ägyp­ tischen Tempeln, deren Außenhöfe große freie Ausblicke ge­ währten auf die fruchtbaren Felder und den tiefblauen Himmel. Wenn aber der Andächtige den Hauptaltar auf-

suchen wollte, tat sich ihm im Innern des Tempels eine Tür nach der andern auf, bis ihn endlich die lautlose Stille der Einsamkeit umfing, die kein andrer mit ihm teilen konnte, und er allein anbetend niedersank in dem innersten Heilig­ tum, wo er seinen Gott fand. So weist also die erste Botschaft der Religion an ein eifriges, vorwärtsschauendes, unverzagtes Menschenherz hin auf freie Entfaltung, weiten Spielraum und Horizont und freudige Hoffnung. Zuweilen fragt ein Mensch wohl, was die Religion für ihn in einer so tätigen und realen Welt tun kann. Sie löst ihm nicht alle Probleme, befreit ihn nicht von seinen Sorgen, räumt ihm nicht Schweres aus dem Weg, versichert ihn nicht gegen Gefahren. Welchen Ruhen hat die Religion dann, wenn sie nicht über alle Dinge Gewalt hat, wenn sie nicht klärend und heilend wirkt, sondern nur ein Friedenshafen für weltfremde Heilige ist? Auf solche Fragen über die Bedeutung der Religion antwortet Jesus am letzten Tage seines Lebens: „Ich bin die Tür", und der gesunde, aufnahmefähige, erwartungsvolle Mensch vernimmt die Aufforderung und heißt den Führer willkommen, der ihm die Tür öffnet. Was ist leben denn anders als in dem großen Hause „Erfahrung" von Zimmer zu Zimmer zu schreiten und jedes neue Zimmer weiter und befriedigender zu finden? Was kann man vom Leben mehr fordern als eben eine günstige Gelegenheit, in die weitere Welt einzu­ treten und das verborgene Selbst zu ergründen? Worin besteht der große Irrtum im Leben? Darin, daß man in den Vorhallen der Erfahrung bleibt und nie erfährt, wie uner­ meßlich weit das Leben sein kann. Llnd wenn wir das Leben von Stufe zu Stufe durchschreiten und endlich vor jene letzte Tür gelangen, die wir Tod nennen — was ist Sterben anders, als daß sich vor unsern erstaunten Augen eine Tür auftut und wir dieselbe Stimme, die uns durch die Türen des Lebens geführt hat, noch einmal sagen hören: „Euer Herz erschrecke nicht. In meines Vaters Hause find viele Woh­ nungen. Ich bin die Tür."

„Siche es ging ein Säemann aus zu säen." Maith. 13, 3.

Das erste, was uns auffällt, wenn wir das Gleichnis vom Säemann lesen, ist der Zug von Verschwendung, der darin liegt. — An einem schönen Frühlingsmorgen, als die Hügel von Galiläa wie gebadet in Morgenlicht dalagen, sprach Jesus, wie es seine Gewohnheit war, unter freiem Himmel zu seinen Freunden; und indem er aufschaute, sah er drüben auf dem Hügel einen Mann, der mit weiten Schritten in einer Ackerfurche entlang ging, indes sich seine Gestalt als dunkle Silhouette gegen den tiefblauen östlichen Himmel abzeichnete. Der Lehrer scheint auf den Mann hin­ zuweisen: „Seht, so müssen wir es auch mit unserer Arbeit machen. Säen wir nicht auch das Wort Gottes auf das Feld der Menschenherzen? Drum schaut, welche Verschwen­ dung in der Bewegung des Säemanns liegt. Weit wirft sein Arm die Samenkörner aus, und der Wind faßt sie und trägt sie von dannen, und viele fallen dorthin, wo sie nie­ mals wachsen können, einige auf die Landstraße, wo Räder sie zermalmen werden, einige auf den Felsen, wo sie nicht Wurzel schlagen können, und wieder einige unter die Hecke, da die Sonne ihnen keine Lebenswärme einhauchen kann." So nimmt Jesus jede Bewegung jener fernen Gestalt in sich mif und überträgt sie auf sein Evangelium vom himmlischen

Königreich. Uns aber, Kindern unsrer Zeit, fällt sofort der Unterschied auf zwischen diesem verschwenderischen Säen und der neuen Methode ländlicher Arbeit. Der moderne Säe­ mann treibt eine Maschine über das Feld, die in regel­ mäßigen Abständen kleine Löcher in die Erde bohrt, eine genau berechnete Anzahl von Samenkörnern hineinfallen läßt und sie wieder mit Erde bedeckt, worauf das Feld die Halme hervorsprießen läßt, als stände ein Schachbrett in Blüte; für hungrige Pferde aber, die ein paar Körner von der Hecke lesen möchten, oder für gefräßige Vögel, die der Spur des Säemanns folgen, ist nichts übrig. Welch freigebige Ver­ schwendung betrieb der Landmann, wie er da als dunkle Ge­ stalt gegen den hellen Horizont entlangschritt. Ja, abergerade das war die Lehre, die Jesus herausgriff. Denn dem verschwenderischen Säen stellte sich ein noch verschwen­ derischeres Fruchttragen entgegen. Was tat's, meinte er, wenn etwa ein paar Samenkörner unter die Vögel fielen, zwischen Hecken und Steine, wenn doch zur selben Zeit die, die auf guten Boden fielen, so reiche Frucht trugen? Mochten von vier Samenkörnern drei verloren sein, wenn doch das eine, das Wurzel schlug, sich dreißig--, sechzig- oder gar hundertfach mehrte. Cs blieben noch genug zur Befruchtung des Feldes übrig, selbst wenn viele über den Rand hinaus­ fielen. Man brauchte, in einer so verschwenderischen Natur, nicht zu geizen beim Säen. Fröhlich schritt der Säemann die Furchen entlang, ein lustiges Lied vor sich hinsummend, indes er mit weitem Schwung den Samen ausstreute, wohl wissend, daß manches verwehte Korn nutzlos sein würde, aber glücklich in der Gewißheit, daß die Natur in ihrer Ver­ schwendung hundertfache Frucht zur Ernte reifen lassen würde. So war das Bild, das nach Jesu Meinung für seine Aufgabe am entsprechendsten und bezeichnendsten war. Bei keinem andern Gleichnis verweilt er so eingehend, wiederholt er sich so oft. Und sicherlich ist sein eignes Werk die ganz auffallende Illustration einer ähnlichen Verschwendung. Einer der auffallendsten Züge seines Wirkens ist seine völlige

Gleichgültigkeit gegen Sparsamkeit. Er hält sich nicht zurück in der Voraussicht großer Gelegenheiten, er spart seine Worte nicht auf, bis sie würdige Zuhörer finden, nein, mit unbe­ kümmerter Großmut streut er während der kurzen Jahre seiner Lehrtätigkeit in verschwenderischer Fülle Worte und Taten unter die Menschen aus. Ihm begegnet eines Tages eine Frau, und wie sie ihren Wafferkrug am Rande des Brunnens niederseht, spricht er zu ihrer stumpfen Seele allein die größten Worte, die er je geredet hat. Ein andermal geht er fort, nur von drei Freunden begleitet, und ihnen allein offenbart er seine Herrlichkeit. Er verschwendet seine Hei­ lungen und Segnungen an einzelne, oft unempfängliche Men­ schen, und zuweilen trägt er ihnen auf, niemandem zu sagen, was ihnen geschehn ist. Große Worte streut er aus wie der Säemann seinen Samen, und viele fallen nieder auf harte Herzen und auf kümmerliche Menschenleben, wo sie nicht Wurzel fasten können. Jesus aber schreitet ruhig weiter und spricht: „wer Ohren hat zu hören, der höre." Was will er mit dieser Verschwendung, diesem Über­ fluß? Warum hält er sich nicht zurück, bis sich eine wohl erwogene Gelegenheit bietet, warum verfährt er nicht weiser mit den kurzen Jahren, die ihm vergönnt sind? Darum, weil er in der Verschwendung der Aussaat die verschwen­ derische Fülle der Ernte Voraussicht. Zehn seiner Worte mögen nicht Wurzel fassen, fällt aber ein Wort nur auf ein einziges Menschenherz, das sich ihm austut, so mag es hundert-, nein tausendfache Frucht tragen. Freudigen Mutes schreitet er über die Felder Palästinas und sät seine kostbare Saat, und eines Tages fällt ein Körnchen in das Herz eines eifrigen Fischers, und der Samen geht auf in solcher Fülle, daß Millionen Seelen durch zwei Jahrtausende hindurch in der Kirche des Petrus geborgen worden find. Ein andres Samenkorn fällt in die Seele des Johannes, wo eine Lehre aufsprießt, die abermals für Millionen Seelen eine Ernte vom Brot des Lebens reifen läßt. Das war Jesu Weise: er säte seinen Samen mit vollen Händen in der gewissen Zu­ versicht, daß, ob auch viel an Samen verloren ginge, mehr

als ausgewogen würde er durch die Körner, die guten Voden fänden. Nicht, daß er unbekümmert um das Ergebnis, oder unüberlegt in seinem Vorgehn gewesen wäre, sondern wenn er es sich gönnte, einige Samenkörner über den Nand seines Feldes hinauszustreun, so tat er es, damit er nicht etwa den allerhungrigsten Voden übersähe. Cr konnte ruhig ver­ schwenderisch vorgehn, denn, fanden sich endlich guter Samen und guter Voden, so erfüllte sich die erhoffte Fruchtbarkeit in überreichem Maße. Hier haben wir eine Lehre vor uns, die uns einige der rätselhaftesten Erfahrungen unseres eigenen Lebens erklärt. Wir dürfen das Gleichnis nicht falsch auffaffen. Cs sagt uns nicht etwa, wir sollten uns kein bestimmtes Feld, keinen begrenzten Veruf erwählen. Es sagt nicht, daß es, wenn man ein Feld besitzt, bester sei, den Samen über den Rand hinauszuwerfen. Kein bestimmtes Feld zur Saat haben, sein Leben unbekümmert vergeuden, das heißt nicht großmütig und edel, sondern einfach zerfahren, töricht und ausschweifend sein. Was aber dem Menschen nicht selten im Leben be­ gegnet, ist dies: selbst während er treu sein eignes Feld be­ stellt, wird er von dem unerklärlichen, quälenden Gefühl ver­ folgt, daß er seinen Samen vergeudet. Anfangs wirkt es beunruhigend und entmutigend auf ihn, schließlich aber er­ kennt er es als wesentlichen und wichtigen Bestandteil seiner Aufgabe. Betrachten wir z. V. die Geschichte der Erziehung, an der die meisten von uns, als Lehrende oder Lernende teil­ haben. Ein Lehrer gibt täglich sein Bestes hin in seinen Unterrichtsstunden, seinen Vorlesungen, für die ganze Er­ ziehung seiner Klaste. Und schaut er eines Tages auf seine Arbeit zurück, wieviel Mühe scheint ihm umsonst verschwendet! Cr hat seinen Samen mit offnen Händen ausgestreut, wieviel aber ist nicht aufgegangen! Wie steinig und dornig ist sein Feld, und wie kümmerlich steht es mit der Ernte! Warum ist er nicht sparsamer mit seinem Samen umgegangen und hat sich die unnütze Anstrengung erspart, einem so magern Voden eine Ernte abzugewinnen? Und wie der Lehrer seinen

Unterricht als verschwendet empfindet, so der Schüler sein Lernen. Wie viel hat er studiert, und wie wenig ist davon haften geblieben! Wie viele Stoffe hat er vergessen, kaum daß er sie beherrschte, so daß man sehr paffend sagt, er hat sein Examen „hinter sich", als ob alles, was zum Examen gehörte, schleunigst zurückgelaffen würde. Warum treibt man ihn überhaupt zu Studien, die er nicht verwerten kann, zwingt ihn also gleichsam, Samen zu verstreun über den Rand des Feldes hinaus, das ihm am Herzen liegt? Durch diese klein­ mütige Anschauung von der Erziehung bricht sich eines Tages die tiefere Wahrheit Bahn und stärkt die Hoffnung des Lehrers wie des Schülers. Denn das verschwenderische Aussäen des Samens wird durch eine noch größere Verschwen­ dung beim Aufgehn der Saat übertroffen. Aus dem Wirr­ warr der Dinge, die schnell gelernt und schnell vergeßen sind, taucht eines Tages ein Gedanke wieder auf, ein Thema, ein Studiengang, ein Buch oder ein einziges Wort, das dem ganzen Leben Richtung und Glück verleiht. And der Ler­ nende erkennt erstaunt, wie nah die Eingebung neben der ermüdendsten Aufgabe lag, wie ihm, hätte er seine Pflicht weniger genau erfüllt, leicht das Kostbarste entgangen wäre, das ihm sein Studium zu geben hatte. Dem Lehrer aber, in dem Einerlei und aller Mühsal seiner Arbeit, geht eines Tages die Erkenntnis auf, daß einige wenige empfängliche Herzen weise geführt worden find, daß sich hier und da der Weg zu Brauchbarkeit und Kraft erschlossen hat. And er geht an seine Arbeit zurück wie der Säemann an jenem er­ frischenden Morgen, streut seinen Samen freigebiger denn je aus, in der neuen Hoffnung, daß sich hier und dort ein Stück Land finde, das ihm hundertfachen Lohn bringt. Das ist die Geschichte der Erziehung, die jeder, ob er als Lehrer oder Schüler darauf zurückblickt, erzählen könnte. And dieselbe Tatsache begegnet uns, wenn wir, statt auf den Gang der Erziehung zurückzublicken, vorwärts schaun auf den Weg des Lebens, den jeder zu gehn hat. Ihr gebt euch mit ganzem Herzen eurer Pflicht hin. An eurem Platz im Leben verschwendet ihr Zeit, Kraft und Können zum allgemeinen

Wohl. Ihr heiligt euch selbst für sie, wie euer Meister gesagt hat. Unb dann, eines Tages, stellt sich das lähmende Gefühl bei euch ein, daß ihr alles umsonst verschwendet. Auf was für unfruchtbares Land habt ihr euern Samen gesät! Wie wenig werden eure Gewissenhaftigkeit und Hingabe an­ erkannt und belohnt, wie unfruchtbar bleiben sie! Was für Hohn ist diese überflüssige Großmut bei der Arbeit! Wäre es nicht besser, man schlöffe sich ein in die bestimmten Grenzen seiner genau festgesetzten Aufgabe und würde zur Maschine, die ihre Arbeit stundenweise in geregelter Gleichförmigkeit verrichtet, — man täte seinen bestimmten Dienst um einen bestimmten Lohn? Niemand kann an dem Arbeitsgetriebe der Welt teilhaben, ohne die ungeheure Verschwendung zu empfinden, ohne dies Gefühl, als beständen seine Tage hauptsächlich aus Unterbrechungen, als müsse er die Arbeit, zu der es ihn am meisten drängt, immer wieder hinaus­ schieben. Seine Zeit hätte seiner eignen Arbeit gehören sollen, und sie ist ihm von lauter nebensächlichen Pflichten unter den Händen weggenommen worden. So wurde selbst Jesus eines Tages sogar vom Berge der Verklärung fort­ gerufen, um einem armen lahmen Knaben zu helfen. — Und doch, schaun wir auf diese verschwendeten Tage zurück, wie oft wird uns da klar, daß diese Ablenkung unsrer Energie von der Arbeit, die wir zu tun wünschten, uns den Weg er­ öffnete zu der, für die wir am besten befähigt find, und daß, was uns überflüssig und nebensächlich erschien, in Wirklich­ keit die größte Segnung war, die der Tag uns bringen konnte. Hier ist der grundlegende Unterschied zwischen dem „un­ bezahlbaren" und „bezahlten" Arbeiter. Freiwillige Treue, glühender Diensteifer und eine Geschicklichkeit, die nicht kon­ traktlich ausgemacht ist, — das sind die Eigenschaften, die nicht für Lohn zu haben find, und die man sich als das Kostbarste sichern sollte. Der Säemann auf dem Felde der Industrie, der seine Hand schont, mag gerade jene Ecken des Feldes leer ausgehn lassen, wo der beste Boden darauf wartet, daß auch ihn ein Samenkorn erreicht. In den Furchen des modernen Lebens kann man jene beiden Typen

Seite an Seite dahinschreiten sehn: den knickrigen und den verschwenderischen Säemann. Der eine geht seinen in sich abgeschlossenen, eng begrenzten Weg, indem er sich jedes Interesse an Dingen, die ihn von seiner Arbeit ablenken, versagt, und ohne um sich zu blicken mit peinlicher Genauig­ keit seinen auserwählten Boden bestellt. Endlich hat er das Buch, mit dem er sich so abgeplagt hat, fertig, und — nie­ mand liest es; das Vermögen, für das er alles andre ge­ opfert hat, ist zusammengebracht und — es wird zu Staub in seinen Händen; er hat die Furcht der Menschen gewonnen, aber ihre Liebe hat er verscherzt. Das Leben, das er sich groß und frei gedacht hatte, schrumpft um ihn her zu einem Gefängnis zusammen. Ein großer Mann ist er geworden, aber kein glücklicher; er hat sein Leben gerettet, und doch hat er es verloren; er hat das Feld seines Lebens bebaut, aber sein eigentliches Leben hat er nicht gelebt. Sein einge­ schloffenes Feld ist weiß zur Ernte, aber, will er sich's auch nicht eingestehn, ihm fehlen die Vogelstimmen und die blühen­ den Raine, die dem Feld seines Rachbars Leben und Reiz verleihn. — Auf der andern Seite aber ist der Säemann, der nicht kargt in der Arbeit, sondern mit vollen Händen ausstreut und mit dem freien Schwung der Liebe. Auch er hat seine eigne Arbeit zu tun. Fest schreitet er seine Furche entlang, ohne das Ziel aus den Augen zu verlieren, aber er übersieht nicht die Pflichten, die am Wege liegen^ oder die Spalten im Boden, da hungriger Boden auf Samen wartet, und der Rand der Landstraße blüht, wenn seine Arbeit getan ist. Laßt uns noch einen Schritt tiefer in Jesu Lehre ein­ dringen, dahin, wo er mit seinem Gleichnis noch schwereren Boden betritt, jenen Boden, auf dem unsere sittlichen Probleme und Kämpfe erwachsen, aus dem Verwirrung, Irr­ tümer und Mißgeschick emporschießen und die Saat ersticken, die wir säen wollen. Run kann es natürlich niemals weise sein zu irren, noch vorteilhaft zu sündigen auf diesem Feld sittlicher Fragen, noch ist es klug, guten Samen auf unfrucht­ bares Land zu säen. Der weise Mann verwertet sein Leben Peabody, Sonntagsgedanken.

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und wirft es nicht fort. Stellen wir uns aber das Leben vor, nicht so, wie wir es haben möchten, sondern so, wie es wirklich ist, müflen wir da nicht erkennen, daß Irrtümer und Fehler und Unfruchtbarkeit die unvermeidlichen Begleiter unsrer weisesten Wünsche find? Ihr gebt euch mit ganzem Herzen eurer Pflicht hin, — und eines Tages übermannt euch das lähmende Gefühl der Erfolglosigkeit und Unfähig­ keit, als schlüge euch ein verborgener Feind die Waffe aus der Hand. Ihr wollt gern freundlich sein, — und Undank, falsche Auslegung und Stolz stellen sich euch hemmend ent­ gegen. Ihr geht ganz auf in einer restlosen Liebe, da richtet sich zwischen euch und dem geliebten Wesen die starre, undurch­ dringliche Mauer der Trennung oder des Todes auf. Und nun beginnt ihr auf die Stimmen der Verzweiflung zu hören, die euch sagen: Mußtet ihr das nicht erwarten? Ist diese Welt nicht in erster Linie eine harte, unbarmherzige, undankbare Stätte? Seht euch doch das grausame Lebens­ gesetz an: Von zehn Samenkörnern geht nicht eins auf; von zehn Geschöpfen ist nicht eins imstande, weiter zu leben. Unter hundert trägt nicht eine Pflanze der Liebe ihre voll­ kommene Blüte. Wozu überhaupt lieben und dienen, wenn diese Fülle an Liebe doch verschwendet ist? Warum Fehler riskieren, sich dem Undank aussehen, Kummer und Sorgen ertragen infolge des freien verschwenderischen Schwungs, mit dem wir die Saat ausstreuten? Warum nicht lieber auf dem Feld eures Strebens kämpfen und alle weiteren Hoffnungen ausschließen — so seid ihr doch wenigstens, mögt ihr auch mit gesenkten Blicken in eurer Furche entlangschreiten, sicher vor der Torheit, dorthin zu säen, wo keine Ernte wachsen kann. Ach, aber kaum hat man versucht, dieses weise, sichere, wohlüberlegte Leben zu leben, da entdeckt man auch schon, daß, wenn man so zwar die Übel des Lebens meidet, man dabei am Leben selbst vorübergeht. Denn das Leben ist keine Versicherungsanstalt gegen Gefahren. Das Leben ist ein kühnes Unternehmen, ein Wagnis, ein Siegen über Gefahren. Nicht dadurch, daß er Irrtümer und Mißgeschick ängstlich umgeht, bringt ein Mensch etwas vor sich. Er stolpert viel-

mehr von Fehler zu Fehler, findet sich wieder heraus aus Mißgeschick aller Art und steht schließlich da, ebenso erstaunt über die Torheiten, die er überlebt hat, wie über die Frucht, die ihm irgendein zufällig ausgestreutes Samenkorn gebracht hat. Der Mann, der keine Fehlgriffe macht, wird es auch zu wenig Erfolgen bringen. Man muß damit rechnen, Fehler zu machen und Torheiten und nutzlose Anstrengungen, und hier und da bleibt die Ernte aus, die man erwartete. Aber die verschwenderische Freigebigkeit Gottes hält den ungewissen Aussichten der Menschen das Gleichgewicht, und während dem einen Menschen gerade seine Fehler zum Segen werden, gelingt es einem andern, nur das zu retten, was er für vergeudet hielt. And was sollen wir von jenen Lieferen Erlebnissen sagen, die uns zuweilen das Teuerste rauben, gleich einem Sturm­ wind, der über den Säemann dahinbraust und ihm das SaatLuch von den Schultern reißt, darin er allen Samen geborgen hatte? Was drückt uns, wenn wir die dunkeln Seiten des Lebens an uns vorüberziehen lassen, tiefer nieder als das Ge­ fühl, daß so vieles nutzlos verschwendet ist? Wie überflüssig, wie unverständlich, wieviel weitgehender als alle notwen­ dige Zucht find jene tragischen Erlebnisse, die wie gefräßige Vögel kommen und dem Säemann den kostbarsten Samen aus der Hand stehlen! Aber wie unmöglich es auch sein mag, Gottes Zwecke klarzulegen, oft geschieht es dennoch, daß der Samen, der so vergeudet schien, eine überraschende Ernte bringt. Manches Menschenherz hält nur um jener Liebe willen, die es verloren glaubt, an seiner Aufgabe fest; und unter den Schätzen, an die es sich klammert, gilt der als der teuerste, der nicht mehr ist. Manches Herz könnte alle Besitz­ tümer leichter entbehren als die das Leben heiligenden Leiden. Verschwenderisch wahrlich schaltet die Vorsehung Gottes mit dem Leben des Menschen, aber noch verschwen­ derischer ist die Liebe Gottes, die das Leben durch Tränen fruchtbar macht, wie der Regen den Samen. Das ist das Gleichnis vom Säemann: die Verschwen­ dung Gottes, die sich mit der Freigebigkeit des Menschen 5*

vereint, die ewig wechselnde Geschichte von Fruchtbarkeit und Unfruchtbarkeit, Erfolg und Mißerfolg, von Gewinn und Verlust, von der jedes menschliche Leben zu erzählen weiß. Arbeit und Spiel, Pflichten und Wünsche, Hoffnungen und Befürchtungen der Zukunft liegen vor uns wie eine Land­ schaft mit ihrem Licht und Schatten, ihren Felsen und Fel­ dern, ihrem fruchtbaren und sandigen Boden, und wir fragen uns: Wenn ich nun mein Möglichstes tue, wenn ich sorgsam säe, begieße und geduldig warte, was wird dann meine Ernte sein? Und die Antwort, die die Erfahrung auf diese Frage gibt, ist vollkommen klar: Ihr bekommt beides, einerseits viel weniger als ihr erwartet, andrerseits viel mehr! Viele eurer Pläne werden mißglücken, viele Hoffnungen fehl­ schlagen. Aber aus dem, was mißglückt und hoffnungslos schien, wächst hier und da eine Ernte hervor, die uns reiche Früchte bringt, Früchte an Dankbarkeit, Mitgefühl, Kamerad­ schaft, Trost, Wirksamkeit und Liebe, die den Säemann fast überwältigen durch ihre unerwartete Fülle. Viel steinigen Boden muß es geben, viel karges Land und viele Vögel, die den Samen wegschnappen; aber hier und da kommt es vor, daß achtlos ausgestreuter Samen überraschende Frucht trägt, dreißig-, sechzig-, ja hundertfach. Die Aufgabe, die das Leben ärmer zu machen schien, bereichert es vielleicht; schein­ barer Verlust wird zum Gewinn, Hemmung zur Befreiung. Die Arbeit, die ihr euch vorgenommen habt, bleibt vielleicht ungetan, aber das, was nebenbei geschah und nirgend anders geschehn konnte, belohnt euch durch unerwarteten Entgelt. Das ist es, was das Leben immer wieder überraschend, demütigend und wunderbar macht. Man weiß nie, welch zu­ fälliges Erlebnis jene fruchtbringende Kraft in sich trägt, oder in welchem Winkel des Lebens man den unverdienten Gewinn finden kann. So wird das Leben mit seinen immer neuen Möglichkeiten dramatisch und spannend. Nicht durch eine Welt der Prosa und der Alltäglichkeit führt euer Weg, sondern durch eine Welt der Poesie und der Wunder. Jenes Leben, das sich nur in vorgeschriebenen Bahnen bewegt, mag wohl seine Scheuern füllen, aber Erlebnisse von tiefer Schön-

heit und Romantik erntet es nicht ein. Jenes Leben aber, das teil hat an der verschwenderischen Freigebigkeit Gottes, entdeckt bald, welch weiten Spielraum, welche Freudenfülle der hingebende Dienst für die Menschen uns gönnt. Der Mensch, der dies Gleichnis aus der Natur recht versteht, wird nicht die töricht übertriebene Hoffnung hegen, daß jedes Samenkorn Frucht tragen müsse, sondern ein fröhliches Lied auf den Lippen wird er dem Morgenlicht entgegengehn und auf sein eignes Feld hinaustreten mit dem ihm anvertrauten Samen. Und der Herr und Meister des religiösen Lebens begleitet mit seinen Blicken auch diesen Mann durch das Tal der Jahre, wie er einst dem Säemann über die Hügel von Palästina nachschaute, und wieder sagt er: „Siehe, es geht ein neuer Säemann aus zu säen meinen Samen in alle Welt."

„Denn so ich nicht hingehe, so kommt bcr Tröster nicht zu euch. Wenn aber jener, der Geist der Wahrheit, kommen wird, der wird euch in alle Wahrheit leiten." Jot). 16, 7 u. 13.

Das muß ein harter Ausspruch für Jesu Jünger ge­ wesen sein. Sie waren zu ihm gekommen in der Erwartung, daß er sie in alle Wahrheit leiten würde, und klar und deut­ lich hatte er ihnen gesagt: „Ich bin der Weg, ich bin die Wahrheit." Jetzt aber, in den Tagen da er von ihnen gehn wird, sagt er ihnen, daß es noch manche Wahrheit gibt, die er ihnen nicht sagen kann: „Ich habe euch noch viel zu sagen, aber ihr könnens jetzt nicht tragen", oder, wie es im Griechi­ schen heißt, „jetzt nicht mit euch forttragen". „Wenn aber jener, der Geist der Wahrheit, kommen wird, der wird euch in alle Wahrheit leiten", oder, wie es im Griechischen heißt, „euch den Weg in alle Wahrheit zeigen". Welchen Zug von Unvollständigkeit und Stückwerk erhält Jesu Wirken hier­ durch! Wie verwirrt ist die kleine Schar, als ihnen so das Unvollendete in dem Werk ihres Meisters entgegentritt. Wie konnten sie den Geist der Wahrheit, der an Jesu Stelle treten sollte, einen Tröster nennen! Wie weit von jedem Trost entfernt war eine solche Wahrheit! „Herr, wir wissen nicht, wo du hingehest", sagt Thomas zu ihm. „Wo gehest du hin?" fragt Petrus. „Zeige uns den Vater, so genüget uns", lautet die noch elementarere Bitte des Philippus. Endlich aber kommt der Gedanke an alles, was ihnen unent-

hüllt bleibt, mit solcher Macht über sie, ihre Enttäuschung ist so stark, daß sie nicht einmal mehr fragen: „Wo gehest du hin?", denn ihr Herz war „voll Trauerns worden". Jesus, andrerseits, scheint nicht von dem Gefühl bedrückt zu werden, daß sein Abschied zu früh komme, oder sein Werk unvollendet bleibe. Das Ende seines Wirkens kommt gerade zu der Zeit, wo es kommen muß. „Es ist euch gut, daß ich hingehe", sagt er. „Vater, die Stunde ist hie, ich habe voll­ endet das Werk, das du mir gegeben hast, daß ich es tun sollte." Es kam nicht darauf an, daß er seinen Jüngern alles sagte. Cs war sogar unmöglich für ihn, ihnen alles zu sagen, denn vieles gab es, das sie nicht ertragen konnten. Cs war genug, daß er ihnen, wenn auch kein lückenloses System der Wahrheit, keine endgültige Antwort auf all ihre Fragen, so doch ein feines Empfinden für die Wahrheit, inniges Ver­ ständnis für seine Ideale ins Herz gegeben und ihren Geist und Willen so gebildet hatte, daß sie fähig waren, den Trost der Wahrheit zu empfangen, wie er zu ihnen kam. Jesus läßt ruhig manche Geheimniffe unerklärt, hält viele Lehren zurück, wenn es ihm nur gelingt, denen, die ihn lieben, eine gewisse Willensrichtung zu geben, die sie befähigt, den Geist der Wahrheit recht aufzunehmen, wenn er zu ihnen kommt. Nun er von ihnen scheidet, geschieht es nicht mit dem Gefühl, daß sein Werk an ihnen vollendet, sondern daß es eben be­ gonnen sei. Denn die Lückenhaftigkeit seiner Lehre soll er­ gänzt und eingefügt werden in die ewig fortwirkenden Pläne Gottes, und sie soll ihre Erklärung finden nicht allein in dem, was sie gegeben, sondern auch in dem, dem sie den Weg bereitet hat. „Ich will euch nicht Waisen lassen. Der Geist der Wahr­ heit, welcher der Tröster ist, wird zu euch kommen." „Größere Werke denn diese werdet ihr tun, denn ich gehe zum Vater." Dies ist Jesu Auffassung seiner Aufgabe, wie sie bald darauf von den Theologen zu der christlichen Lehre vom Aus­ gang des heiligen Geistes ausgestaltet wurde. Der heilige Geist, sagt das Glaubensbekenntnis voll tiefer Wahrheit, strömt aus von dem Vater und dem Sohn. Aber ein theo­ logischer Lehrsatz, der in der Sprache eines bestimmten Zeit-

alters ausgedrückt ist, muß des öfteren in die Sprache eines neuen Zeitalters übertragen werden, und ein abstrakter Ge­ danke, der zu einer Formel erstarrt ist, muß in die lebendige Sprache des Lebens umgeschmolzen werden. (Er gleicht einem schwellenden Flusse, den der Winterfrost gefangen hält, den er zu Cis hat erstarren lassen, und die Theologen kommen und schlagen große Blöcke aus dem Cis heraus, um ihre Lagerräume damit zu füllen, während die beweglichen Philo­ sophen über seine Oberfläche dahingleiten und fie mit ihren verschlungenen Zeichen bedecken. Eines Tages aber scheint die warme Sonne des wirklichen Lebens auf den Fluß herab und schmilzt seine Cisdecke, daß er wieder frei dahinströmt mit dem Wasser des Lebens und die Aufgabe erfüllt, die ihm bestimmt war. Wenn man nun in der Sprache der Theo­ logen verkündet, daß die Mission des Sohnes durch die Mission des Heiligen Geistes erfüllt werden soll, von welcher Seite zeigt sich dieser erhabene Lehrsatz dann zuerst? Wir sehn, daß Jesus mit wundervollem Vertrauen sein Werk dem Geist der Wahrheit übergibt. Die Wahrheit wird der Tröster sein. Jesus hätte ein sogenanntes evangelikales System formulieren können, aber man findet kaum eine Spur von System in seinem Denken. (Er hätte einen söge nannten Heilsplan entwerfen können, aber er hat kein Zu­ traun zu einer planmäßigen Menschenrettung. (Er zieht die Menschenherzen ganz einfach zu sich, und dann überläßt er­ ste ohne den leisesten Schatten eines Zweifels dem Geist der Wahrheit, in der völligen Gewißheit, daß sie an ihm einen genügenden Dolmetscher und Tröster finden werden. Cs ist, als gelte es, Männer auszubilden zur Seefahrt auf unerforschten, tückischen Meeren. Man versucht nicht für jeden unberechenbaren Fall ein bestimmtes Verfahren vorzu­ schreiben, sondern man erzieht Verstand und Willen dahin, daß fie für alle Fälle gerüstet find, die in jenen größeren Gewässern eintreten können. Gehorsam und Wachsamkeit müssen den Seefahrern in Fleisch und Blut übergegangen sein, fie müssen alle Regeln ihrer Kunst kennen und die zuverlässigen Instrumente an Bord haben, die ihnen den

Weg zeigen werden. Wenn sie dann auf die unbekannte See hinausfahren, besitzen sie den einzigen Trost, der sie durch alle Abenteuer und Gefahren sicher geleiten kann: der Geist der Wahrheit ist mit ihnen, und er gibt ihnen Herrschaft über jeden heranziehenden Sturm und zeigt ihnen endlich den Weg zum Hafen, dem ersehnten Ziel ihrer Reise. Das ist Jesu Lehre über den Trost der Wahrheit, die, wenn wir sie zuerst feststellen, unsre Aufmerksamkeit auf theologische Streitfragen und Probleme zu lenken scheint, während sie in Wirklichkeit der Ausdruck eines allgemeinen Gesetzes des Fortschritts und Friedens ist. Betrachten wir z. V. die Methode einer weisen, erfolgreichen Erziehung! An welchen Lehrer denken wir mit Dankbarkeit und Aner­ kennung zurück? Richt an den, der uns seine Methode eingetrichtert, uns unsre Aufgaben eingedrillt hat, sondern an den, der durch die vorgeschriebenen Aufgaben hindurch es vermocht hat, die Liebe zum Lernen auf uns zu übertragen: den Geist der Wahrheit, — an ihn, der uns nicht nur unter­ richtet, sondern erzogen hat. Aus einem Gewirr wider­ strebender Kräfte wird durch weise Erziehung ein Mensch herausgebildet, der ungeahnte Fähigkeit zur Selbstbestim­ mung und Selbstbeherrschung besitzt. Wenn der Geist der Wahrheit über den Schüler gekommen ist, so ist die höchste Aufgabe des Lehrers erfüllt. Darin liegt gleichzeitig die Würde und die Tragik seiner Arbeit. Sein Werk bleibt stets nur zur Hälfte vollendet. Seine Klasse geht über an andre Lehrer und andre Aufgaben. Er gleicht dem Lotsen, der ein Schiff voll Menschen durch die ersten Gefahren ihrer Seereise sicher hindurchsteuert und ihnen dann von seinem kleinen Boot ein letztes Lebewohl zuwinkt, wenn sie mutig neuen Küsten zustreben. Aber hierin liegt für den Lehrer auch die Würde seines Berufs. Er ist dafür verantwortlich, daß die Reise einen guten Anfang nimmt. Er lenkt den Geist des Menschen dorthin, wo ihn der Geist der Wahrheit erfassen kann gleich einer kräftigen Brise, die die Segel schwellt und das Schiff sicher durch die Fluten trägt. Wer aber ist ein gebildeter Mensch, und wie beweist er

seine freie Bildung? (Lin gebildeter Mensch zeichnet sich nicht durch einen großen Vorrat von Wißen oder durch technische Fertigkeiten aus. (Ein Schuljunge mag mehr Kenntnisse bei der Hand haben, ein Handwerker besitzt größere Fertigkeit. Das Zeichen des gebildeten Menschen liegt in einer gewissen Richtung des Geistes, einem instink­ tiven Gefühl für Wahrheit, einem Erfassen der Wirklichkeit, in der Fähigkeit, seine Kräfte den verschiedenartigsten Pro­ blemen und Forderungen des Lebens, wie sie an ihn heran­ treten, anzupassen. Cs gibt viele Dinge, die er nicht weiß, aber er besitzt einen großen Trost: seine Wahrheitsliebe. An das Unbekannte tritt er mit ruhigem Vertrauen heran, weil der Geist der Wahrheit bei ihm ist und ihn in alle Wahrheit leitet. Übertragen wir denselben Grundsatz auch auf das Gebiet der Pflicht. Was treibt uns dazu, unsre Pflicht zu erfüllen? Was läßt uns mit Sicherheit und Genauigkeit unsre Pflicht erkennen? Da tauchen vor unserm Geist sofort in langer Reihe alle Lebensregeln, Ratschläge und Definitionen auf, die unser Sittengeseh ausmachen: mütterliche Ermahnungen, väterliche Gebote, Worte von Lehrern und Predigern, Bücher über Ethik und immer mehr andrängende Erfahrun­ gen. Dies alles zusammengenommen hat uns die Pflicht als Inbegriff des ersten Muß unauslöschlich eingeprägt und nach und nach unser moralisches Glaubensbekenntnis gebil­ det. Und doch, wenn unser Pflichtgefühl wirklich nur aus diesem äußeren Gerüst von Ermahnungen und Ratschlägen zusammengesetzt ist, wie leicht wird es dann von dem Feuer­ einer wirklichen Versuchung verzehrt. Wie anders sieht das Leben aus, wenn es uns im Leben gegenübertritt, als wenn wir es nur aus Vorlesungen, Predigten, oder vom Hören­ sagen kennen, und wie unmöglich ist es für den weisesten Berater, uns den genauen Punkt vorauszusagen, wo der Angriff des Bösen erfolgen und seine strategischen Pläne sich enthüllen werden. Treten solche Lebensprüfungen an euch heran, was befähigt euch dann, richtig zu urteilen und eure Pflicht zu erfüllen? Ein aus allen Belehrungen und Erfahrungen gewonnener Instinkt des Willens, der das

Rechte trifft, der das Gemeine vom Cdeln unterscheidet, ge­ nau so, wie des Schülers Instinkt das Falsche vom Rich­ tigen unterscheidet. Die innere Feinheit einer Frau ist nicht das Produkt gelegentlicher Entschlüsse oder Berechnungen in bezug auf ihr Sittenleben; sie lehnt das Gemeine ebenso instinktiv ab, wie sie vor einer Flamme zurückzuckt. Der Mut des Soldaten ist nicht Sache der Überlegung oder Berech­ nung. Er ist ihm zur geistigen Gewohnheit geworden, ist als unumstößliches Gebot so mit ihm verwachsen, daß einst ein Soldat von seinem tapfern Angriff sagte: „Ich wäre sicher davongelaufen, wenn ich mich nicht davor gefürchtet hätte." Das ist moralische Sicherheit: nicht Gehorsam gegen moralische Vorschriften, sondern eine nie versagende mora­ lische Feinfühligkeit. Richt der, der einen großen Vorrat von Lebensregeln aufgespeichert hat, verfolgt seinen Weg sicher durch alle moralischen Probleme der Gegenwart hin­ durch, sondern der, über den der Geist der Wahrheit ge­ kommen ist, und der sich von ihm auf den schlüpfrigen Wegen der Pflichterfüllung Schritt für Schritt der vollen Wahrheit entgegenführen läßt. Moralische Gesundheit, mit andern Worten, ist wie körperliche Gesundheit das Produkt der Akkli­ matisierung. Man kommt schließlich dazu, das Veste ebenso nötig zu haben wie frische Luft. Moralische Stärke erreicht man wie körperliche Stärke nicht durch Schonung, sondern durch Abhärtung, nicht dadurch, daß man die Kälte meidet, sondern daß man sich gegen sie wappnet. Es geht hier wie mit dem Gegengift gegen Krankheiten: es kann das Ein­ dringen der Bazillen nicht verhindern, uns aber gegen ihren Angriff unempfänglich machen. Cs kommt in aller Eltern Leben jener gefürchtete Moment, wo sie entdecken, daß es ihre erste Pflicht ist, ihren Jungen seinen eigenen Weg gehn zu lassen, daß sie ihn seine Probleme selbst lösen und ihn sein eigenes Leben leben lassen müssen. Mit noch unge­ kannter Selbstüberwindung geben weise Eltern ihr Kind dem Geist der Wahrheit hin, der der einzige beständige Tröster ist, und wiederholen des Herrn Wort: „Cs ist euch gut, daß ich hingehe." So geht das Kind allein in die Welt

hinaus, ausgerüstet mit dem Geist der Wahrheit, zu dem seine Eltern es mit Vertrauen aufblicken hießen, und mit wunder­ barer Sicherheit geht es seinen Weg unverletzt und unberührt durch alle Erlebnisse und Entscheidungen hindurch, die selbst die liebevollsten und weisesten Eltern unmöglich voraussehn konnten. Cs handelte sich nun aber bei Jesus weder um Er­ ziehung noch um Moral, wenn er so zu seinen Freunden sprach. Er redete mit ihnen über religiöses Leben, Hingeben und Dienen. Er versuchte, ihnen, ehe er fortging, zu sagen, was er von ihnen erwartete und was er für sich forderte. Cs war für ihn die letzte Gelegenheit, den Charakter seiner eignen Sendung, das Wesen des christlichen Glaubens und die Vorbedingungen der Jüngerschaft noch einmal klarzu­ legen. Was erwartet Jesus denn von denen, die ihm folgen sollen? Was ist ein erlösender christlicher Glaube? Was für Glaubenserfahrungen macht ein Christ? Kaum haben wir diese Fragen gestellt, da Lauchen auch schon die verschiedenen Formeln und Systeme der christlichen Kirche vor uns auf, kämpfen um den Vorrang, behaupten ihre Machtstellung und stellen ihr Glaubensbekenntnis und seine Betätigung als den Kern eines christlichen Glaubens hin. And der Fragende schaut von einem Bekenntnis zum andern und wendet sich enttäuscht von ihren widersprechenden Forde­ rungen ab: es ist ihm, als hätte er um Brot gebeten, und man böte ihm Steine. Dann aber schaut er noch einmal auf Jesum selbst zurück und findet in seinem Evangelium keine solche Versteinerung des Lebensbrotes, sondern eine freie, frohe, erquickende Gabe an hungrige Seelen. Einer der auffallendsten Züge in Jesu Wirken ist die Art, wie er, ohne Forschen und Fragen, mit plötzlichem Entschluß Menschen annimmt, deren theologische Ansichten und kirchliche Stellung nicht den Standpunkt erreichen würden, der heutzutage in mancher christlichen Gemeinde gefordert wird. So begegnet ihm eines Tages ein römischer Soldat, den er vielleicht nie zuvor gesehn hatte, und da er aus seinem Blick und seiner Stimme fühlt, daß er rückhaltlos treu ist, sagt er von ihm: „Wahrlich, ich sage euch, solchen Glauben habe ich in Israel

nicht gefunden." Eine Sünderin kommt zu Jesus: „Herr, hilf mir!" und Jesus antwortet: „O Weib, dein Glaube ist groß!" Ein blinder Bettler ruft Jesus um Erbarmen an, und der Meister sagt: „Dein Glaube hat dir geholfen." Und andrerseits kommen die streng theologisch geschulten und geistig hochbegabten Pharisäer zu ihm, um ihn in seiner Rede zu fangen, und mit demselben feinen Crkennungsvermögen schaut er auch in ihre Herzen und tritt ihnen mit ernster Mahnung und strengem Tadel entgegen. Was erwartet Jesus denn von denen, die ihm folgen? Welches ist der erlösende Glaube? Er ist eine gewisse Rich­ tung des Geistes, die Erziehung des Willens, eine Fein­ fühligkeit des Gewissens, die das Herz zu jeder Zeit für religiöse Berührung empfänglich machen. Wie die Freude des Lehrers darin besteht, Liebe zum Lernen zu entzünden, wie das Geheimnis treuer Pflichterfüllung in der Entwick­ lung eines feinen Instinkts für das Rechte liegt, so richtet sich Jesu ganzes Verlangen auf Empfänglichkeit des Her­ zens für seinen Ruf, und wiederholt begrüßt er diese Emp­ fänglichkeit freudig als eine der wesentlichsten Seiten des christlichen Glaubens. Unvollkommen und schwankend mag solcher Glaube sein: „Herr, stärke uns den Glauben", bitten die Jünger. „Wir glauben, hilf unserm Unglauben." Jesus aber nimmt solche Glaubenstreue ruhig hin und glaubt an die, die ihm folgen, auch wenn sie selbst nicht an sich glauben, bis es ihm endlich gelingt, aus Menschen, die unbeständig und haltlos schienen, Charaktere zu bilden, die fähig find, sein Wort weiter­ zutragen. Und solche Menschen überläßt er mit erhabenem, ruhigen Vertrauen dem Geist der Wahrheit, der in ihnen er­ steht; weiß er doch sicher, daß jener sie auf ihren Wegen festigen und trösten und sie endlich in alle Wahrheit leiten wird. Das ist die erste Gabe Jesu an Seelen, die sich ihm zuwenden. Viele Dinge gibt es, die die Menschen von der Religion ersehnen, und die sie ihnen nicht spendet. Sie wollen einen leichten Weg durchs Leben haben, und Jesus sagt ihnen: „Will mir jemand nachfolgen, der nehme sein eigenes Kreuz auf sich und folge mir." Sie wünschen eine

Lösung ihrer Probleme, und wieder sagt Jesus: „Was ich tue, wisset ihr jetzt nicht. Ich habe euch noch viel zu sagen, aber ihr könnet's jetzt nicht tragen." Sie wollen, daß ihre Last von ihnen genommen werde, aber Jesus sagt ihnen nur: „Kommet her zu mir — und ich verspreche euch: nicht, daß ihr von allen Lasten befreit werdet, wohl aber, daß eure Bürde euerm Rücken so aufgelegt werden soll, daß ihr die bleibende Last dennoch zu tragen vermögt." Was bietet Jesus denn denen, die ihm folgen? Seine Gabe, wie er es oft ausgesprochen hat, ist die Gabe des Lebens. „Ich bin kommen, daß sie das Leben und volle Genüge haben sollen." Aber das Leben empfangen wir nicht in der Vollendung. Leben ist Wachstum, Anlage, Verheißung, lebendige Kraft, Gesundheit, Macht, ein Prozeß der Entwicklung, kein End­ zustand. Auf den Hügeln bedecken sich die knospenden Bäume im kalten Vorfrühling mit einem zarten rötlichen Schimmer. An den Wegen blühn die Krokusse, kaum daß der Schnee geschmolzen ist. Roch ist es kalt, aber der Frühling hält seinen Siegeszug über die winterliche Erde und führt sie aus Frost zur Blüte, aus dem März in den Juni hinein. So hält auch der heilige Geist seinen Einzug: —

„Mächtig wie des Windes Wehn, Ungesehn gleich ihm." Zu Menschen, die ebenso kalt und hart find wie der Boden im März, kommt er, um ihre brachliegenden Kräfte anzufeuern, ihre schlummernden Ideale zu wecken, und selbst, wenn sie nicht daran glauben wollen, daß die Cisrinde um ihr Herz schmilzt, daß die Hoffnung Knospen treibt, läßt der Geist der Wahrheit in ihrer Seele schon einen frühen Frühling aufsprießen. Dem ungestümen Petrus, dem fragen­ den Nikodemus, dem zweifelnden Thomas, Saul, dem Ver­ folger — ihnen allen — und manchem verwandten Menschen­ leben unsrer Zeit — beginnt nach und nach der Geist der Wahrheit zu scheinen, und ihr Leben gleicht jenen Tagen des wachsenden Lichts, die uns die Gewißheit geben, daß endlich der Sommer nicht mehr fern ist. Darin nun liegt der einzige wahre Trost für manche

irrende, zagende, nur halb erwachte Seele. Intellektuelle Zweifel haben sie gequält, moralische Schwäche hat sie be­ fallen, und sie schreckt vor der Wahrheit zurück, weil die Wahrheit nicht nach Trost und Erquickung aussah. Es schien ihr das Fernliegendste, daß Trost, in der Wahrheit liegen sollte. Und doch gibt es, je tiefer wir in die Er­ fahrungen des Lebens eindringen, keinen andern Trost, der so zuverlässig ist wie die Gewißheit, daß das, worauf wir uns stützen, eine tatsächliche und ewige Wahrheit ist. — Viele Hemmungen und Zweifel begegnen uns auf unserm Lebens­ weg, aber das ist unser Trost: der Geist der Wahrheit ist bei uns, wie es der Herr versprach, und führt uns mit fester starker Hand, durch alle Fehlgriffe und Irrungen hindurch, endlich der vollen Wahrheit entgegen. Und wann soll diese Aufgabe des Trösters vollendet sein? Wann soll sich Jesu Prophezeiung erfüllen, wann wird das Herz, das ihm folgt, in alle Wahrheit geleitet werden? Wer weiß, wann oder wo der Trost der Wahrheit voll und ganz gespendet wird? Vielleicht besteht hierin die Vollendung der himmlischen Welt, daß uns dort endlich alle Dinge in ihrer wahren Natur enthüllt werden, daß sich uns die Nätsel des Lebens endlich lösen, alle schweren Erfahrun­ gen klären, und wir die erhabene überzeugende Majestät der Wahrheit voll und ganz erkennen. So soll sich Jesu Werk vielleicht Schritt für Schritt in manchem geduldigen Leben erfüllen und es führen von treuer Zugehörigkeit zu befähigter Jüngerschaft, von Gehorsam zu Macht, von der Lehre des Sohnes zu der Lehre des Heiligen Geistes, und so immer weiter durch alle Stufen des Wissens und des reifenden Glaubens hindurch, durch Leben und Tod, bis endlich alles Stückwerk aufhört und das Vollkommene kommt, und wir nicht mehr durch einen Spiegel in einen dunkeln Wort schauen, sondern von Angesicht zu Angesicht. Dann führt uns der Geist der Wahrheit an seiner Hand und stellt uns der Wahr­ heit selbst, in ihrer ganzen Größe, gegenüber, und wir find getrost und zufrieden, wenn wir erwachen und ihr gleichen.

7.

Das Kochzeitskleid.

„Da ging der König hinein, die Gäste zu besehn, und sah allda einen Menschen, der hatte kein hochzeitlich Kleid an, und sprach zu ihm: .Freund, wie bist du hereingekom­ men und hast doch kein hochzeitlich Kleid an?' Cr aber verstummte. Da sprach der König zu seinen Dienern: Bindet ihm Hände und Füße und werfet ihn in die Finsternis hinaus." messt). 22.11-13.

Jesu Lehre über die Zukunft der Welt zeichnet sich durch unwandelbare Hoffnung und größtes Vertrauen aus. Cr wußte genug von den Tragödien des Lebens, er kannte Kummer und Leid, er kam oft mit kranken, traurigen und sündigen Menschen in Berührung. Zu den Müden und Be­ ladenen sprach er: „Kommet her zu mir", und doch sah er beständig eine bessere Welt voraus und predigte das Evan­ gelium vom Reich Gottes. Wenn er jenes Reich ausmalte, wählte er nicht graue, düstre, sondern sonnige, ja sogar fest­ liche Bilder, z. V. ein großes Gastmahl, zu dem alle, die kommen wollten, weitherzig geladen waren, eine Hochzeit, bei der Jungfrauen sich zu Spiel und Tanz einfanden, ein Fest, das die Güte eines großmütigen Königs für alles Volk aus der Stadt bereitet hatte. Nicht nur Trost und

Erquickung spendet das Evangelium. Wie trostreich es auch in Zeiten der Not sein mag, sein Grundton ist ein Ton der Freude. Als Kernpunkt des Lebens erscheint Jesus die groß­ mütige Freigebigkeit der Vorsehung Gottes. An meiner heutigen Textstelle jedoch wendet sich Jesus von diesen Bildern vom Reich Gottes und spricht von denen, die als Gäste in das Reich geladen find. Unter ihnen, sagt er, find erstens solche, die, wenn ihnen diese Quellen des Lebens gezeigt werden, des Königs Aufforderung verachten und ihrer Wege gehn. Cs ist intereffant zu beobachten, wie er mit einem Schlage die Motive bloßlegt, die die Menschen gleichgültig gegen den Ruf Gottes machen. Der eine geht auf seinen Acker. — Die Sorge ums tägliche Brot füllt ihn ganz aus. Ein andrer dentt an seine Hantierung — er ist der Sklave seines Geschäfts. Einem Dritten stimmt die Auf­ forderung des Königs nicht zu seinen eigenen niedrigen Wünschen, und er hört den Voten nicht einmal an, sondern ergreift ihn und tötet ihn. Und heute ist es dasselbe wie damals. Daß der Sinn so ganz vom Alltag ausgefüllt ist, daß Arbeit und Geschäft alles andre ersticken, und endlich, daß man erkennt, wie wenig das eigene Leben und das Wesen Gottes zusammenstimmen — das find die drei Punkte, die den Menschen noch heute die Botschaft des Königs leicht nehmen laffen. Wer Land besitzt, geht auf seinen Acker. Wer Handel treibt, verbirgt sich hinter seiner Ware, und wer sich mit vollem Bewußtsein unwürdig fühlt, der haßt es, auch nur an Gottes Willen erinnert zu werden und schlägt den Boten Gottes auf der Stelle nieder. Auf der andern Seite aber sehn wir den Mann aus meinem heutigen Text, jenen Mann, der zum Fest kommen wollte, aber nicht dorthin gehörte, und die Geschichte betont, daß er wußte, er paßte nicht dorthin. Als der König herein­ kommt, „die Gäste zu besehn", fällt sein Blick auf diesen Mann, und er bemertt, daß etwas versäumt worden ist. Mit freundlicher Begrüßung wendet er sich an diesen Gast und fragt: „Freund, wie bist du hereingekommen und hast doch kein hochzeitlich Kleid an?" Der Mann aber weiß keine Peabody, Sonntagsgedanken.

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Antwort. Er verstummt, wie es heißt, und verteidigt sich nicht. Da nimmt des Königs Stimme einen strengen Klang an, als er seinen Dienern gebietet, ihn zu binden und auszustoßen aus der Gesellschaft. Wie kam es, daß der Mann sich seines unwürdigen Äußern wohl bewußt war? Warum war es eine solche Schande, bei einem Fest, zu dem die Gäste von der Straße aufgelesen waren, ohne ein hochzeitlich Kleid zu erscheinen? Warum sagte der Mann nicht, daß er in dem besten Gewand gekommen war, das er besaß? Sicher­ lich hört die Gastlichkeit Gottes nicht dort auf, wo die „gute Gesellschaft" ihre Grenzen zieht, sicherlich richtet sich das Ur­ teil Gottes nicht nach der äußern Erscheinung. Alles dies wird uns klar, wenn wir uns die Gebräuche orientalischer Gastfreundschaft ins Gedächtnis rufen. Jedem Gast war bei seinem Eintritt mit dem Gruß des Königs ein äußeres Festgewand geboten worden. „Bringet das beste Kleid hervor und tut es ihm an", sprach der Vater des verlorenen Sohnes, als er ihm ein Fest bereitete. So geschah es auch hier. Auch diesem Mann war ein Hochzeitskleid gereicht, als er mit den andern Gästen eintrat, und er hatte es verschmäht. Sein eignes Kleid sei gut genug, hatte er gesagt. Er hatte die Cintrittsbedingung mißachtet und sich dreist eingedrängt. Wie er nun so mitten unter der festlichen Gesellschaft fitzt, ist es, als wolle er ihnen allen seine unfreundliche anmaßende Art recht sichtbar vor Augen führen. Er fällt unter allen als derjenige auf, der an des Königs Tafel fitzen wollte, ohne das Kennzeichen des königlichen Gastes anzunehmen. Er hatte die Erleichterungen des Lebens hinnehmen wollen, ohne sich den Bedingungen anzupaffen, unter denen sie geboten wurden. Ohne das äußere Hochzeitskleid konnte er sich auch innerlich nicht zugehörig zum Hochzeitsfest fühlen. Sein Herz blieb fremd in dem fröhlichen Kreise, und die äußerste Finsternis war die Stätte, wohin er mit seinem verdüsterten Gemüt naturgemäß gehörte. Das ist die bilderreiche Sprache, in der Jesus seinen orientalischen Zuhörern eine Wahrheit nahebringt, bei der er häufig verweilt. Er stellt zweierlei einander gegenüber:

die Erleichterungen des Lebens und die Fähigkeit, sie zu verwerten, das Fest und den Gast, die äußere Gabe und die innere Tauglichkeit, diese Gabe zu empfangen, das Milieu, wie wir sagen, und das Individuum. Und er betont die persönliche Bereitschaft, ohne die auch das üppigste Gastmahl Gottes umsonst für uns gerüstet wird. Kein Problem ist charakteristischer für unsre Zeit als jenes, das dieser Gegen­ satz andeutet. Was ist bestimmend in unserm Erleben: die äußere Gelegenheit oder die innere Bereitschaft? Macht die Umgebung den Menschen, oder ist der Mensch Herr seiner Umgebung? Ist der Charakter das Produkt der Verhältnisse, oder find die Verhältnisse das Werkzeug des Charakters? Was ist unsre erste Pflicht: unsere Lebensbedingungen zu verbessern, oder uns selbst zu bessern, eine bessere Welt oder einen bessern Menschen zu schaffen, Gutes zu tun, oder gut zu sein? Wie soll das Reich Gottes zu uns kommen: da­ durch, daß wir das Hochzeitsfest rüsten, oder daß wir das Hochzeitskleid anlegen? Natürlich müssen wir gleich erwähnen, daß keine dieser beiden Alternativen als grundlegend oder absolut feststehend anzusehn ist. Beide Voraussetzungen sind wahr. Oft bilden die Verhältnisse den Charakter, und oft überwindet der Charakter die Verhältnisse. Jedes Bestreben, eine bessere Welt zu schaffen, trägt dazu bei, die Menschen zu bessern. Jede persönliche Vervollkommnung an Bildung, Selbstzucht und Streben beschleunigt das Kommen einer bessern Welt. Aber bestehn bleibt, je nach den gegebnen Verhältnissen, das Problem, diese beiden Faktoren des Forschritts einander anzupaffen und jedem seinen richtigen Platz und Einfluß an­ zuweisen. And hier stoßen wir auf eine Gefahr des modernen Lebens, die, wie wir aus dem Gleichnis sehn, zur Zeit Jesu Christi nicht weniger augenfällig war als jetzt. Es ist die Gefahr der Veräußerlichung, die Erwartung, daß man das Leben von außen her erlösen kann, daß man das Hochzeitsfest rüstet und das Hochzeitskleid vernachlässigt. Die moderne Zivilisation hat in ihrem Gefolge so viele Abel und so viel Falsches mit sich gebracht, daß dies aus6*

schließliche Streben nach äußerer Veränderung nicht nur un­ vermeidlich, sondern in hohem Grade wohltätig ist. Unge­ sunde Fabriken und dumpfige, überfüllte Hinterhöfe, Kinder, die in die Fabrikarbeit eingezwängt, und Frauen, die zu Voden getreten werden, der Fluch der Trunksucht und die Verlockung zum Laster — all diese und zahllose andre Tragö­ dien des modernen Lebens reden laut zu dem Verstand und Gefühl unsrer Zeit, und fordern von ihnen, daß sie neue Lebensbedingungen schaffen, die der Menschen würdig find. Soziale Tätigkeit und neue Gesetze arbeiten daran, jedem menschlichen Wesen einen ausreichenden, saubern Platz am Tisch des Lebens zu verschaffen. Besiere Wohnungen und bessere Nahrung, weniger Zusammenpferchen von Menschen und weniger Trunk, mehr Parks und mehr Bäder, gerechtere Verteilung des Gewinns und kürzere Arbeitszeit, und außer all diesen Linderungsmaßnahmen eine völlige Umwandlung des industriellen Lebens durch Gütergemeinschaft und soziale Gerechtigkeit. Durch die eine oder andre all dieser sozialen Bestrebungen soll das große Festmahl des Lebens vorbereitet werden, und alle sollen satt werden an seiner reichgedeckten, üppigen Tafel. Cs ist das wundervolle Ideal einer neuge­ schaffenen Gemeinschaft, wie es seit der Zeit, da Jesus sein Evangelium vom Reich Gottes predigte, kaum je wieder mit so gebieterischer Dringlichkeit seiner Forderungen hervorge­ treten ist. Im Zeitalter des erwachenden sozialen Gewissens leben zu dürfen, ist ein Vorrecht, das man nicht hoch genug preisen kann. Aus träger Selbstbetrachtung ruft es uns auf zu reger Selbstbetätigung, von Selbstsucht zu Selbstvergessen, von der zweifelhaften Aufgabe, unsre eigne Seele zu retten, zu jener glücklichen, unsre vom Schicksal weniger begünstigten Nächsten zu retten. Und doch wird es keinem, der an der Ausführung dieses großen sozialen Rettungsplans irgendwie beteiligt ist, ent­ gehn können, daß dieser Plan eine schwache Seite hat, die manchem hoffnungsfreudigen Streben Enttäuschung und Er­ nüchterung bereitet. Wer find die Menschen, die imstande find, die Aufgaben sozialer Retter zu übernehmen? Sind-

es dieselben, die in ihrem Privatleben prahlerisch, extra­ vagant und ohne jede Selbstzucht find? Können fie Gutes tun, ohne gut zu sein? Können fie zu Rettern werden, ohne selbst gerettet zu sein? Im Gegenteil, die Möglichkeit zu erfolgreicher sozialer Arbeit ist ein sehr viel beschränkteres Vorrecht als man gewöhnlich annimmt. Nicht jeder, der helfen möchte, ist zum Helfen geeignet. Nicht Protektion, Almosengeben oder Vereinstätigkeit können den Hilflosen zur Selbsthilfe emporziehn, sondern Sympathie, Erfahrung eignen Leids, Berührung mit dem Reinen, mit innerer Hoff­ nungsfreudigkeit, mit der Schönheit der Heiligkeit. „Nach­ dem er vierzig Tage und vierzig Nächte in der Wüste gefastet hatte", so hat man zynisch vom Amateurwesen auf dem Ge­ biet der Armenpflege gesagt, „flehe, da kamen Engel und protegierten ihn". Das ist die eine schwache Seite der Philanthropie, daß der Segen, andern Menschen zu helfen, einem Menschen zuteil werden kann ohne die Verpflichtung, fich selbst zu beherrschen und zu erziehn, daß man jener neuen Philanthropie angehören kann, ohne das dafür taugliche Kleid zu tragen. And derselbe schwache Punkt fällt einem auf der andern Seite auch bei denen auf, denen soziale Hilfe geboten wird. Bessere Lebensbedingungen find wohl all des Planens und all der Mühe wert, die fie verursachen. Zahllose Existenzen gehn unter dem Druck schlechter Verhältnisse zugrunde. And doch ist es unmöglich, zu behaupten, daß widrige Amstände stets verderblich, oder günstige stets befreiend wirken. Aus den schmutzigsten Verhältnissen können Reinheit und Schön­ heit hervorgehn, wie eine Wasserlilie aus einem sumpfigen Pfuhl aufblüht, und hinter Wohlstand und Behagen kann die tödlichste Versuchung lauern gleich den heimtückischen Krankheiten der Tropen. Bessere Wohnungen, bessere Be­ dingungen in der Industrie, kürzere Arbeitszeit, Versicherung gegen Arbeitslosigkeit — der ganze wunderbare Mechanis­ mus sozialer Reform wird wirkungslos und voller Ent­ täuschung, wenn ihn nicht Fleiß, Genügsamkeit und Spar­ samkeit aufnehmen und verwerten. Die neue Badewanne in

der Wohnung wird zur Kartoffelkiste, die Motive, die den Arbeitgeber zur Hilfe treiben, erscheinen als abgekartetes Spiel, das Problem der Arbeitslosen wird zu dem weit schwereren Problem der Arbeitsuntauglichen, — kurz: die bessere Welt braucht bessere Menschen, um in vollem Umfang Segen stiften zu können. „Ein goldenes Zeitalter", wie Herbert Spencer gesagt hat, „kann nicht geschaffen werden aus Instinkten von Blei." Das soziale Problem, das, von außen betrachtet, wirtschaftlicher und mechanischer Natur zu sein scheint, ist im Grunde persönlich und ethisch. Der Hoch­ zeitsgast muß das Hochzeitskleid tragen. Diese Wahrheit leuchtet uns noch mehr ein, wenn wir uns die extremsten Tatsachen des „Cxternalismus" ins Gedächt­ nis rufen, wie sie in dem Glaubensbekenntnis der sozialen Revolution zum Ausdruck kommen. Einer der Eckpfeiler des strengen Sozialismus ist jener Lehrsatz, der als „ökonomischer Determinismus" bekannt ist, oder die Überzeugung, daß es die wirtschaftlichen Verhältnisse und Veränderungen find, die die Institutionen, die Meinungen, die Moral und den Glauben einer Zeit absolut vorzeichnen und bestimmen. In diesem Sinne hat Marx gesagt, nicht das Bewußtsein der Menschen bestimme ihre Existenz, sondern ihre soziale Existenz bestimme im Gegenteil ihr Bewußtsein. Und Bebel läßt den Menschen das Produkt seiner Zeit und das Werkzeug der Verhältnisse sein. Kurz, wir find das, wozu uns unser industrielles und soziales System macht. „Sag mir, was du ißt, und wie du dir deinen Unterhalt verdienst, und ich will dir sagen, wer du bist", hat ein bekannter Agitator kurz und bündig gesagt. Wenn wir jedoch so völlig die Geschöpfe der vorherrschenden wirtschaftlichen Verhältnisse find, dann liegt allerdings die einzige Hoffnung auf Fortschritt darin, daß man diese Verhältnisse ändert und umgestaltet. Und die Linderungsmittel der Philanthropie und die Aufforde­ rung zur Selbsthilfe müssen, um einen bekannten Ausspruch zu gebrauchen, unter Verhältnissen wie den jetzigen wirken wie „ein Umschlag auf ein gebrochenes Vein". „Ein weiser Reformator sollte fich ausschließlich auf wirtschaftliche Re-

volution werfen." Laßt nur den Tisch des Lebens so reichlich gedeckt sein, daß alle satt werden, dann wird dieser neue Überfluß eine neue Menschennatur schaffen, die ihn voll und ganz verwerten und genießen kann. Natürlich gibt es vieles, das diese neue Forderung radikaler Veränderung rechtfertigt. Moralischer Niedergang des Menschen ist oft die schreckliche Folge trostloser Ver­ hältnisse. Cs ist schwer, hoffnungsfreudig und strebsam zu sein, ohne genug zum Leben zu haben, oder rein zu bleiben, wenn man mit fünf Menschen in einem Raum wohnt. Fast ebenso schwer ist es, sich Selbstlosigkeit, Selbstzucht und An­ spruchslosigkeit zu bewahren, wenn man im äußersten Luxus und Behagen lebt. Mangel und Überfluß find der Reinheit und Selbstachtung gleich gefährlich. Der erdrückende Schmutz der elendesten Gaffen wird, was seinen demoralisierenden Einfluß angeht, von der selbstsüchtigen Gemeinheit rücksichts­ loser Reicher mehr als ausgewogen. Ist es nicht z. V. eine erschreckende Tatsache, daß die Che unter der armen Be­ völkerung am wenigsten gefährdet ist, während die Zeitungen täglich strotzen von Berichten über die unglaublichste Scham­ losigkeit unter Menschen in den besten Verhältnissen. Wer aber die Behauptung aufrechterhalten will, daß soziale Ver­ hältnisse ein Kerker find, dem der Charakter nicht entrinnen kann, daß das Schicksal unwiderruflich von äußeren Um­ ständen bestimmt wird, der zeigt, daß er wenig von der Geschichte und der Natur des Menschen weiß. Keine äußere Lebenslage ist so hoffnungslos, daß aus ihr nicht die Fähig­ keit zu Selbsthilfe, Initiative und Führerschaft entspringen könnte. Keine Verhältnisse find imstande, Strebsamkeit, Fleiß und Hoffnung völlig den Weg zu versperren. Man kann sogar in einem Palast ein guter Mensch sein, hat Mark Aurel gesagt. Man kann auch, wie manche ehrenhafte Exi­ stenz bewiesen hat, äußerste Armut und schwärzeste Unwissen­ heit durch Ausdauer und Fleiß überwinden. Der Kraft sozialistischer Vorausbestimmung tritt die überlegene Kraft menschlicher Selbstbestimmung entgegen. Das Individuum verwandelt seine feindliche Umgebung in einen dienstbaren

Geist und Bundesgenossen. Der Mensch, der ein Hochzeits­ kleid trägt, mag schon ein mageres Mahl als Hochzeitsmahl ansehn. Die tiefgehendste Wirkung des Lehrsatzes vom sozialen Determinismus liegt darin, daß er den einzelnen Menschen vom Tadel befreit. Der Fehler, so folgert jener, liegt in seinen Sternen, nicht in ihm selbst. Ihm bleiben nur zwei Möglichkeiten: entweder die bestehende Ordnung umzustürzen, oder, wenn er dieses Ideal noch nicht erreichen kann, den Dingen ihren Lauf zu lasten, ohne ihnen den ge­ ringsten Widerstand entgegenzusehen, und so träge und laster­ haft zu sein, wie er mag. Die Hoffnung aller gesunden, menschenfreundlichen Bestrebungen und Reformen andrerseits richtet sich darauf, hinter der sozialen Ordnung die Persön­ lichkeit zu entdecken, und ihre schlummernden Fähigkeiten zur Selbstentwicklung und Selbstbefreiung zu erwecken. Umsonst hebt das Fest einer besseren Zukunft an, wenn nicht bessere Menschen bereit find, daran teilzunehmen. Kehren wir nun zu dem Gleichnis zurück, in dem Jesus seine Lehre vom Reich Gottes niederlegte. Cr wäre der letzte gewesen, der die Wirkung der Verhältnisse auf den Charakter unterschätzt hätte. Einen großen Teil seines kurzen Crdenwirkens widmete er dem äußeren Elend der Menschen. Cr ging im Lande umher, um Elende zu heilen und aufzurichten. Gott hatte ihn gesalbt, sagte er, daß er die Gefangenen befreite und die zerbrochenen Herzen verbände. Das Reich Gottes sollte ein äußerer Zustand sozialer Ein­ heit und sozialen Friedens sein. Aber hinter jeder Ver­ änderung äußerer Zustände suchte Jesus auch eine Verände­ rung des menschlichen Herzens. Cr hatte eine wahre Leiden­ schaft für Persönlichkeit. Cr rettete immer nur einen Men­ schen auf einmal. Cr strebte danach, den Menschen das Leben weniger hart zu gestalten, aber noch mehr, Menschen heran­ zubilden, die ein hartes Leben meistern konnten. Das Reich Gottes sollte wohl in äußerer Form, aber ebensowohl von innen heraus kommen. Die Einladung zum Hochzeitsfest sollte ergehn, aber der Gast mußte auch ein Hochzeitskleid tragen. Kurz: das Gesetz des Fortschritts ist ein zwiefaches.

und das Prinzip des Cxternalismus geht nur auf die eine Hälfte des ganzen ein. Jeder Mensch findet in der Welt das, was er erwartet; seine Verhältnisse werden zum Spiegel seines Geistes. So kommt z. V. ein junger Mann in die Großstadt, um seinen Lebensunterhalt zu finden, und ihre mannigfaltigen Chancen werden ihm, dem Gast, frei dargeboten. Was aber findet der junge Mensch in der Großstadt? Ist fie eine An­ sammlung schlechter Gesellschaft und Versuchungen, oder ist fie der Mittelpunkt von Bildung und Kunst, von Biblio­ theken und Museen, von religiöser Regsamkeit und sozialer Arbeit? Sie ist beides, und die Wirkung der Großstadt auf das Leben des jungen Mannes ist nur ein Reagieren auf seine etwaige Selbstzucht oder seine Triebe. Ohne das taug­ liche Kleid paßt er nicht auf das Fest der Großstadt und gerät bald in jene schreckliche Finsternis, in der sich die verlorenen Seelen der Großstadt verbergen. Ein andrer junger Mann kommt in der gleichen Weise zur Universität, wo das üppige Gastmahl der Bildung vor ihm ausgebreitet ist, und ihm erscheint die Universität als eine Stätte schwerer Versuchungen, während andre Männer neben ihm in denselben Verhältnissen Freiheit und Freude für Verstand, Phantafie und Willen entdecken. Keine Ver­ änderung im Betrieb der Universität kann einen Faulpelz in einen eifrigen Studenten verwandeln. Cr mag sozusagen für die Universität „paffend ausgerüstet" sein, und doch nicht für fie paffen. Che man am Fest des Lebens teilnimmt, muß man den Geist des Festes in sich ausgenommen haben. „Fort mit ihm!" sollte es von dem heißen, der hier irr­ tümlicherweise eingedrungen ist, „stoßt ihn hinaus in die äußerste Finsternis". Cr kann die Vorrechte, die sich ihm bieten, nicht genießen, und die akademische Freiheit taugt nicht für ihn. Das ist Jesu Lehre über Welt und Individuum, Milieu und Charakter, Fest und Gast. Das blinde Auge sieht eine dunkle Welt um sich. Das taube Ohr horcht umsonst auf die Harmonien der Welt. An Selbstgefälligkeit und Cigen-

dunkel prallen alle sich bietenden Gelegenheiten ab. Der Gast, der nicht bereit ist, gehört in die äußerste Finsternis. Im älteren Englisch pflegte man zu sagen, das Kleid des Menschen sei seine Art, und seine Art sei ernst oder heiter. Jesu Gleichnis formt diesen Sprachgebrauch um. Die Art eines Menschen umschließt ihn wie ein Gewand und stem­ pelt ihn zu dem, was er ist. Trägt er ständig „das Kleid des Lobes", so erlöst das sein Leben von dem „Geist der Traurigkeit". Ist er, wie es im Neuen Testament heißt, „angetan" mit einem reinen Herzen, dann erfährt er da, wo andre nur Verwirrung oder Verzweiflung sehn, den Segen, Gott zu schauen. Unser Wesen ist unser Kleid zum Fest des Lebens. Der Charakter ist der Schlüssel des Schicksals. Die, die bereit sind, gehn ein zur Hochzeit, und die Tür schließt sich hinter ihnen. Und wenn wir endlich fragen, wie wir diese innere Bereitschaft gewinnen — diese Bedingung zum Eintritt in eine bessere Welt —, dann beantwortet das Gleichnis auch diese Frage. Nicht allein die Welt mit ihren reichen Quellen und Möglichkeiten ist seine Gabe, sondern auch die Fähigkeit, diese Welt auszunutzen, auch das innere Wesen, das die Lebenserfahrungen deutet und übersieht, auch das ist eine Gabe von Ihm. Hier gerade unterscheidet sich das Gebiet der Religion von allen andern Gebieten des mensch­ lichen Lebens. Die Verhältnisse des Lebens zu gestalten und zu ordnen, das ist Sache der Politik, der National­ ökonomie, des Handels und der Kunst. Die Diener Gottes, die zu solchem Werk bestellt find, breiten das reiche Gast­ mahl Gottes in all seiner Fülle aus und machen es mannig­ faltig und schön. Sie tragen wesentlich dazu bei, eine bessere Welt zu schaffen. Das Reich Gottes soll sein wie ein großes Fest, das einem Königssohn bereitet ist. Der Reli­ gion aber fällt die vorbereitende Aufgabe zu, das Kleid des Geistes und Willens darzubieten, das uns befähigt, die Welt auszunutzen. Die Arbeit der Religion ist nicht die der Nattonalökonomie. Die christliche Kirche ist keine Genossen­ schaft, keine polittsche Pattei, kein Sozialistenverein. Das

religiöse Leben bewirkt keine Umwandlung der Verhältnisse, sondern eine Umwandlung des Herzens. Ein Mensch weiht seinen Willen, in aller Bescheidenheit und Demut, dem Willen Gottes, dann werden dieselben Lebensverhältniffe, die unerträglich bitter schienen, ein Weg zu Mut und Frieden. Dem verwandelten Herzen erscheint auch die Welt verwandelt und neu. „So jemand will des Willen tun, der wird inne werden, ob diese Lehre von Gott sei", steht ge­ schrieben. Das gilt von all den mannigfachen Erfahrungen des Lebens. Der Wille, den Willen zu tun, öffnet den Weg zur Erkenntnis der Lehre. Das Hochzeitskleid verschafft uns einen Platz beim Festmahl des Königs. Und vielleicht besitzt nicht nur in dieser Welt das Kleid, das wir tragen, jene umwandelnde Macht. Vielleicht bedarf es in der geheimnisvollen Ordnung einer zukünftigen Welt nicht mehr solcher Seelentrennung, wie man sie sich gewöhn­ lich ausmalt. Vielleicht gibt es dort, wo allen der gleiche Willkomm geboten wird, einige, die sich schon selbst für unwürdig halten, dort zu bleiben. Was wir Himmel und Hölle nennen, mag am Ende nur unser eignes Selbsturteil sein, das sich unser eignes Wesen abgerungen hat. Wenn der König hereinkommt, um seine Gäste zu begrüßen und unter ihnen einen Menschen sieht, der seinen Willen nicht hat tun wollen, braucht er ihn nur mit milder Stimme zu fragen: „Freund, wie bist du hereingekommen?", und die sich selbst erkennende Seele geht hinaus und sucht die Dunkelheit, in die sie gehört. Dann aber begrüßt derselbe König vielleicht einen Menschen, der seine eigene Unwürdigkeit mit dem Kleid der Weihe bedeckt hat, und zu ihm spricht er: „Du bist über wenigem getreu gewesen, ich will dich über viel setzen. Du trägst das Kleid, das ich dir reichte. Gehe ein zu deines Herrn Freude!"

„Und Simon sprach zu ihm: Meister, wir haben die ganze Nacht gearbeitet und nichts gefangen. ... Er sprach zu Simon: Fahre auf die Höhe und werfet eure Netze aus, daß ihr einen Zug tut." Luk. 5,5. 4.

Wir haben hier wahrscheinlich nicht die erste Begeg­ nung Jesu mit diesen Fischern. In dem vierten Evangelium lesen wir, daß einer von ihnen, Andreas, schon zu Jesus gekommen war samt seinem Bruder Simon, und daß Jesus fie ansah und sprach: „Du bist Simon. Du sollst Kephas heißen, ein Fels." Cs scheint danach, daß die ersten Jünger, wenn fie auch ihren neuen Meister schon freudig begrüßt hatten, fich doch noch nicht so vollständig an ihn angeschloffen hatten, als daß fie ihren alten Beruf ganz aufgegeben hätten. Sie vernahmen seine Botschaft und antworteten: „Wir haben den Messias gefunden", und dann kehtten fie zurück an ihre Arbeit, als sei keine wesentliche Veränderung in ihr Leben getreten. Als Jesus ein zweites Mal zu ihnen kommt, fitzen fie grade am Llfer und waschen ihre Netze, und ihre Gedanken find ganz bei dieser Arbeit. „Meister", sagen fie, „wir haben die ganze Nacht gearbeitet und nichts gefangen." Muß es nicht wie ein Schatten von Enttäuschung und trüber Ahnung auf Jesu Gemüt gefallen sein, als er sah, *) Vgl. Morgenstunden S. 55.

daß seine ersten Worte so wenig ernst genommen waren? Wessen er bedurfte, war eine Schar von Jüngern, die alles opfern würde, um sein Evangelium auszubreiten, und was er als erstes fand, waren Männer, die jenes Evangelium fteudig ausgenommen hatten, aber nicht daran dachten, irgend etwas dafür zu opfern. Sie hatten die Botschaft des Trostes für sich selbst hingenommen, aber ihnen war nicht der Gedanke gekommen, daß sie zu Verkündern dieses Trostes werden sollten. Und fie waren mit dem ihnen zuteil ge­ wordenen Trost an ihre eigene Arbeit zurückgegangen, an die Ufer ihres eigenen Sees. Die Lehre war nicht zurück­ gewiesen, aber ihre Weite und ihre Tiefe waren nicht er­ kannt worden. Da kommt Jesus ein zweites Mal zu ihnen, als fie am Strande fitzen, ganz hingenommen von der Crfolglofigkeit ihres Fischzugs, und mit einer jener plötzlichen Eingebungen findet er, wie so oft, in der seinen Augen ver­ trauten Umgebung ein Gleichnis für seine Lehre. Einmal war es der Säemann am Rande des Hügels, der ihm den Text gab zu einer Predigt, ein andermal waren es die Lilien, die seinen Pfad umsäumten, oder aber es war der tiefe kühle Quell, der aus dem Brunnen Jakobs hervor­ sprudelte. So schaut Jesus an diesem Tage hin über den weiten See, der fich im Sonnenlicht vor ihm ausdehnt bis zu den fernen Hügeln, und er erscheint ihm recht als ein Bild der großen, tiefen, strahlenden Botschaft, für die er diese lauen Fischer begeistern möchte. Da mühten fie fich ab mit ihrem Handwerk am flachen Ufer, wenn der tiefe See vor ihnen lag und fie lockte zu kühnerem Beginnen und loh­ nenderen Zielen. Galt nicht das gleiche von der großen Sendung, für die er fie zu gewinnen hoffte? Sie hatten fich zwar eine kleine Strecke herausgewagt, um ihm ihren Willkomm zu bringen, aber bald hatten fie fich zurück­ gezogen mit leeren Netzen und leeren Herzen, und nun saßen fie da, verzagt und mutlos, weil fie keine Fische ans Ufer gebracht hatten. Da lehrt Jesus fie durch das Gleichnis ihres eignen Berufs, was fie durch seinen direkten Befehl nicht gelernt hatten. „Fahret auf die Höhe und werfet eure

Netze aus, daß ihr einen Zug tut. Wagt mehr, wenn es mehr gilt!" Cs ist, als käme man heutzutage in ein kleines Stranddorf, wo die Einwohner kärglich ihr Leben fristen vom Fischfang in ihrer eignen flachen Bucht, und erzählte ihnen zum erstenmal von den stolzen Fischerflotten, die zu den fernen Sandbänken hinausfahren, und von den Myriaden von Fischen, die dort ihrer warten. „Fahrt auf die Höhe", würde solch ein Bote sagen, „überlaßt euren Kindern und Greisen die zahmen Streifzüge hier tut flachen Wasser, und wagt euch hinaus zu einer Arbeit, die einem Manne Manneslohn bringt." Die, die Jesus folgen wollten, muß­ ten, das wußte er wohl, alle Gefahren der Tiefe kennen lernen; sie würden vom Sturm hin und her geschleudert werden und fich fürchten, aber sie sollten auch die reichet: Erfahrungen jener sammeln, „deren Pfad in großen Wassert: war", wie der Psalmist sagt. Ihr Leben war seicht und ein­ geschloffen gewesen wie ihre Bucht, es sollte tief und weit werden wie das Meer. Sie hatten ihre Kräfte nicht einmal halb verwertet, sie sollten das Glück einer Arbeit erfahren, die mehr als all ihre Kraft anspannte. Sie hatten denen geglichen, die Weißlinge fangen, sie sollten künftig zu denen gehören, die Menschen fangen. Der erste Ruf Jesu hatte sie in den Untiefen gelassen, sein zweiter Ruf wies sie zur Tiefe. Und von der Zeit an, lesen wir, „verließen sie alles und folgeten ihm nach". „Fahret auf die Höhe!" Wer die Zeichen unsrer Zeit aufmerksam beobachtet, dem tritt zunächst die erstaunliche Zu­ nahme an Krastentfaltung entgegen, die wachsende Tätigkeit auf dem Gebiet der Produktion und des Handels, die Ausdehnung aller Wirkungskreise durch Erfindungen und Entdeckungen und die Lebensbereicherung jedes Einzelnen durch die Gabe einer neuen Lebensverwertung. Roch nie war das soziale Leben so organisiert, noch nie der Mechanis­ mus des Lebens so vollkommen, der Kreis persönlichen Wirkens so groß, das Vorrecht der Bildung so allgemein, das Glück der Kultur so leicht zugänglich und die Sphäre der Religion so im Mittelpunkt stehend, so vernunftgemäß

und überzeugend. Nichts schlägt dieser Tatsache mehr ins Gesicht, wenigstens in unserm Lande, als die Klagen der sozialen Agitatoren, daß die Welt schlechter und schlechter wird, daß die Lebenschancen ständig finken und daß weitaus die Mehrzahl aller Menschen zu Knechtschaft und Verzweif­ lung verdammt ist. Bedrückung, Ungerechtigkeit und Grau­ samkeit gibt es, weiß Gott, immer noch, und es ist die Auf­ gabe jedes ehrlichen Reformators, sie zu erkennen und zu bekämpfen. Aber in einer fließenden Zivilisation, wie der der Vereinigten Staaten, ist es unmöglich zu behaupten, die Verhältnisse seien ein für allemal festgelegt, günstige Chancen nicht vorhanden und soziale Hoffnungen illusorisch. Trotz vieler betrüblicher Mißstände haben wir nicht eine dekadente, sondern eine vorwärtsschreitende Welt. Mit der Kultur geht es nicht abwärts, sondern aufwärts. Der neue Ton in der Erziehung, in der Industrie und in der Religion ist durchaus hoffnungsvoll. Innerhalb der sozialen Probleme der Gegenwart muß man sich allerdings auch damit befassen, annehmbare Lebensbedingungen für alle mensch­ lichen Wesen zu schaffen, aber dringender, wenigstens für die Gebildeten und Begünstigten, ist das Problem, die noch nie dagewesenen Möglichkeiten, die noch unerforscht, ja so­ gar noch unbekannt find, zu entdecken und zu verwerten. Und wenn dies — in großen Zügen und mit vielen traurigen Ausnahmen — der herrschende Charakter unsrer Zeit ist, was ist dann die Hauptsünde, die man den unter diesen Verhältnissen Lebenden vorwerfen muß? Wir haben es nicht mit einer allgemeinen moralischen Degeneration zu tun wie bei dem Niedergang Roms, mit dem dies Zeit­ alter oft verglichen wird. Im Gegenteil, das Herz der Zeit ist gesund, und trotz allem übertriebenen Luxus, trotz aller Ruhelosigkeit und Ungleichmäßigkeit, geht das Hauptstreben unsrer Zeit doch auf soziale Verantwortlichkeit und indu­ striellen Frieden. Vergleicht man aber die verschwenderische Fülle der Gaben, die dies Zeitalter bietet, und die spärliche Gegenliebe, die sie bei den Bevorzugten findet, so wirkt der Gegensatz geradezu beschämend. Die Sünde der Zeit liegt

nicht in ihrer Verderbtheit, sondern in ihrer Seichtheit, der geringen Ausnutzung großer Gelegenheiten, dem schwachen Widerhall auf den Ruf zur Tiefe. Die wunderbaren Hilfs­ quellen der Welt find uns ebenso vertraut geworden wie es die Ufer des blauen Sees von Genezareth den Fischern waren, aber der Geist der Zeit fitzt am Rande seiner Chancen und wäscht seine leeren Netze am Strande. An eine solche Zeit nun ergeht der Ruf Jesu, sich frei zu machen von der seichten, zaghaften, halben Lebenserfüllung, auf die Höhe zu fahren und die Netze in die Tiefe auszuwerfen, für die sie bestimmt find. Laßt uns auf diese Botschaft horchen, wenn wir am Ufer des Lebens warten und hinausschaun auf die stürmi­ schen Wogen der Lebensfragen und Nöte, aus denen die moderne Welt zusammengesetzt ist. Da ist, für uns am naheliegendsten, das akademische Leben mit seinen besondern Privilegien und Versuchungen — eine Bucht von Möglich­ keiten, die in den Ozean des Lernens mündet, der sich gleich dahinter ausdehnt. Welches ist der häufigste und charakte­ ristischste Fehlgriff der jungen Studenten? Nicht, daß sie, wie man sich oft einbildet, wirklichen Versuchungen oder offenkundigen Sünden unterlägen. Nichts entspräche den Tatsachen weniger, als wenn man das Univerfitätsleben als besonders reich an Versuchungen oder außergewöhnlich laster­ haft schildern wollte. Im Gegenteil, es ist besonders be­ hütet und außergewöhnlich rein. Die Atmosphäre an einer Universität ist unvergleichlich viel weniger schmutzig und niedrig als die, der junge Männer in der Geschäftswelt ausgesetzt find. Die größte Versuchung im Univerfitätsleben ist, wie ein großer Lehrer gesagt hat, die Versuchung zum Besten. Und doch werden, andrerseits, die Abfichten der Uni­ versität für viele Männer in ihrer Wirkung geschwächt durch einen mehr äußeren, einen elementaren Fehler: durch die geringe Ausnutzung großer Möglichkeiten, die leichte Veftiedigung, die viele an der Außenseite des akademischen Lebens finden, während sie seine Tiefen unerforscht laffen. Ein junger Mann steht vielleicht am äußersten Rande dieser

tätigen Welt des Lernens und Suchens, froher Arbeit und unverlierbaren Gewinns, und doch hebt er seine Augen nicht auf von dem Strande, wo er im seichten Wasser herum­ spielt und plätschert. Der große Wettkampf des Studiums mit all seiner intensiven Arbeit und all seiner Freude spielt sich vor ihm ab, und — wenn überhaupt — sieht er ihn doch nur von der Tribüne als müßiger Zuschauer. Nichts ist entmutigender, als einen Mann so durch seine Universitäts­ jahre Hingleiten zu sehn wie ein Stück Treibholz, das von jeder zufälligen Welle erfaßt und schließlich ans Ufer ge­ worfen wird. Und nichts, andrerseits, stärtt einen so in dem Glauben an Lernfreiheit, als wenn man einen jungen Mann sieht, der unter neuen Einflüssen des Studiums, eines Leh­ rers oder Freundes aus seiner Untätigkeit oder Gleichgültig­ keit erwacht und erkennt, in was für eine Welt ihn sein glückliches Los gestellt hat. Der Ruf des Herrn ergeht an ihn, wie er einst an die Fischer von Galiläa erging, und er hebt seine Augen auf und schaut über das Meer von Privilegien, an dem er steht, und mit frohem Gehorsam und studentischem Mut fährt er das Schiff seines eignen geistigen Lebens hinaus zu unerforschten, grenzenlosen Tiefen. Aber nicht nur beim Beginn des akademischen Lebens sollte man diesen Ruf hören. Die Spezialisierung der Studien, die jeder Student willkommen heißen muß, bringt eine ständige Versuchung mit sich: die Versuchung, sich eine eingeschloffene, verstümmelte, lückenhafte Bildung anzueignen, die kleine Probleme mit großen verwechselt. Wenn man ins Auge faßt, wie der Weg zu akademischer Würde nur über das Doktorexamen geht, und dann die Fächer prüft, die zu diesem Examen nöttg find, wird es einem klar, daß wir bei der Heranbildung von Gelehrten vielleicht Gefahr laufen, Männer zu verderben, und daß der Beruf eines Ge­ lehrten, statt dem kühnen Vordringen eines Forschers auf unbekannten Meeren zu gleichen, der Arbeit eines Muschel­ fischers ähneln kann, der sich mühsam seinen Lebensunterhalt sucht an den Sandbänken und seichten Stellen des Wissens. Zwar kann Gelehrsamkeit nie zu genau, nie zu sehr ins Peabody, Sonntagsgedanken. 7

einzelne gehend sein. Absonderung und Konzentration müssen zunehmen in dem Maße wie das Wißen weiter wird, aber der Prüfstein für einen Gelehrten ist seine Fähigkeit^ das Cinzelgebiet, das er beherrscht, mit dem vollen Umfang der Wahrheit, zu dem es gehört, in Einklang zu bringen und den Kanal offenzuhalten, der aus der kleinen Bucht, seinem Arbeitsfeld, hinausführt in die weite offene See, von der sie nur ein bescheidener Teil ist. Den Kanal ver­ sperrt halten oder ihn auf Karten unverzeichnet laßen, hieße nicht zum Gelehrten werden, sondern zum Pedanten, Nörg­ ler und Karrengaul. Jede gesonderte Gruppe von Studie­ renden wirft ihre eigenen Netze an ihrem eignen Ufer aus, aber hinter den trennenden Landzungen tut sich die weite Einheit des Lernens auf, und in jeden gesonderten Berus strömt die Flut der Wahrheit und reinigt und vertieft jede einzelne Aufgabe. Laßt uns noch einmal auf diesen Ruf Jesu achten, wie wir ihn inmitten der Bräuche und Neigungen der jetzigen Gesellschaft wahrnehmen können. Wenden wir uns von der Arbeit der Studierenden den mehr allgemeinen Dingen in­ tellektuellen Lebens zu, welche Beobachtung machen wir dort in bezug auf Lesen und Leser? Wir sehn, daß für Millionen zivilisierter und gebildeter Menschen die Erfindung der Buchdruckerpresse für ihre tägliche Geistesnahrung nichts weiter bedeutet als das Verkonsumieren von zwei Zeitungen pro Tag oder von einer, die dick genug ist, um die Be­ dürfnisse am Sonntag zu befriedigen. Nun darf man die Gewohnheit des Zeitunglesens nicht als eine an sich schlechte Gewohnheit ansehn. Cs ist für den modernen Menschen ein ungeheurer Vorteil, sich die Nachrichten aus aller Welt jeden Tag austischen zu lassen. Aber es ist sicher, daß der Geist, der sich ausschließlich von dieser vorgekauten Nahrung nährt, als Denkorgan nach und nach geschwächt wird. Er kommt dazu, Tatsachen für Ideen zu halten, Information für Inspiration, kleine Dinge für große, Klatsch für Wissen, und ist schließlich damit zufrieden, als oberflächlicher Halb­ wisser an den Sandbänken der Kultur herumzuplätscherrr

oder sich mit allerlei Schmutz zu besudeln. Es gibt nur ein Erleben, das die Kraft des Geistes stärkt, und das ist die Berührung mit größeren Geistern. Ein Meister der Dicht­ kunst, den man sich zum Freunde gemacht hat, ein Prophet des Idealismus, den man in sich ausgenommen hat, bringt geistige Gesundheit, Selbstvertrauen, einen Reichtum an Offenbarung mit sich. Geistige Gesundheit, inneres Gleich­ gewicht, Einsicht, der ganze Wert der Erziehung selbst hängt ab von dem energischen Entschluß, hinauszusteuern aus dem seichten Gewässer der modernen Literatur zu ernstem Er­ leben in ihrer tiefen Strömung. Gilt dies von den Lesern, so gilt es nicht weniger von den Schriftstellern und von den Zielen der Literatur selbst. Prüft man die Richtung moderner Romane, Dramen und moderner Kunst, so wird man in ihr ein charakteristisches Moment finden, das an sich gesund und beruhigend ist. Es ist das Streben nach Wahrheit, nach Echtheit, das Prinzip, das durchweg als Realismus bekannt ist. Alles, was wahr­ ist, hat künstlerischen Wert. Die Romane schildern das Leben ganz so wie es ist. Die Dramen spiegeln die Ge­ fühle wirklicher Menschen wieder. Der Künstler arbeitet in freier Natur. Die Rückkehr zur Natur ist aufrichtig und unverkennbar. Wodurch bekommt denn dieser Realismus so oft einen Beigeschmack von Roheit, Oberflächlichkeit und Zynismus und wird zum Werkzeug der Welt, des Fleischs und des Teufels? Durch die Voraussetzung, daß die Reali­ täten des Lebens schmutzig, häßlich und niedrig find, daß man, um aufrichtig zu sein, gemein sein muß, daß die mensch­ liche Natur nur bei Tiefstand des Wassers zum Vorschein kommt, daß die das Leben beherrschenden Motive sinnlich, tierisch und schlüpfrig find. Menschentypen und Ereignisse, die so dargestellt werden, find tatsächlich nicht unwirklich. Sie leben, aber ihr Leben ist ein triviales, ungesundes und sinnliches. Das Verderbliche am Realismus ist nicht Un­ wahrheit oder moralischer Niedergang, sondern Seichtheit. Er zerlegt den Schmutz bis ins Kleinste, die Sterne aber entgehn ihm. Wie hungert die Seele unsrer Zeit nach 7*

neuem Zeugnis eines vornehmen Realismus, nach einer Wiedergeburt der Romantik, nach Helden, die man verehren und Heldinnen, die man lieben kann. „Das Ergebnis des Zusammenwirkens von reiner Kunst und roher Ratur" schrieb William Morris mit Bezug auf Swinburne, „ist derart, daß nichts ernsten Einfluß auf die Menschen gewinnen kann oder darf als das, was am tiefsten in der Wirklichkeit wur­ zelt, und ... sich aus eigenster Kraft und Offenbarung einem tiefempfindenden Menschen abgerungen hat." Jeder Hauch dieser frischeren Luft verjüngt Literatur und Kunst. Wir haben genug gehabt von den literarischen Straßen­ kehrern, die aus dem Kehrichthaufen des menschlichen Cha­ rakters noch alle erdenklichen Fehen herauswühlen. Die Tage, da wir auf geistigem Gebiet wahrhaft Großes vollbringen, werden dann kommen, wie sie es stets getan haben, wenn der Realismus des Geistes die Vekenntniffe niederer Sinnlichkeit verdrängt, wenn der Genius Mut faßt und aus den seichten Gewässern des Lebens in das Geheimnis und in die Romantik der geistigen Tiefe hinaussteuert. Aber nicht an Intellektuelles oder Soziales dachte Jesus, wenn er seine Freunde rief, ihm zu folgen. Ihm lag daran, das religiöse Leben bis in die tiefsten Tiefen einer Gemeinschaft mit Gott auszudehnen. Er hatte ihnen diese Botschaft gebracht, und sie hatten sich mit ihr in den engen Kreis ihrer eignen Röte zurückgezogen, wie sie sich wohl vor den Gefahren des Sees in den Schuh des Ufers bargen. Wenn nun derselbe Herr und Meister wieder käme zu denen, die sich seine Jünger nennen, müßten sie nicht die gleiche Trauer, denselben Vorwurf in seinen Blicken lesen? In dem Bekenntnis der heutigen Kirche gegenüber ihrem Herrn und Heiland liegt keine Untreue oder Ablehnung. Roch nie gab es mehr Beweise von gläubiger Hinnahme und Übereinstim­ mung, nie so viele Organisationen christlicher Gottesver­ ehrung, noch nie eine solche Fülle von Plänen und Pro­ grammen auf dem Gebiet christlicher Liebesarbeit. Aber mit was für nebensächlichen Fragen beschäftigt sich die Kirche, r»nd in welch geringem Maße wird die Kraft der Religion

verwertet? Geht nur einmal über einen Dorfplah oder durch die Straße einer Stadt, wo die Kirchtürme gleichsam Schild­ wache stehn zur Verteidigung des Glaubens, und fragt euch, warum sie so getrennt dastehn, und wodurch sie ihre Jüngerschäft beweisen. Gottesdienstformen, kirchliche Angelegenheiten, die Sakramente, geistliche Würden, Autorität der Bischöfe oder Priester, Taufe durch Besprengen oder Antertauchen, das Abendmahl als übernatürliche oder sinn­ bildliche Handlung — das find die Netze, die die christlichen Gemeinden, jede an ihrem eignen Ufer, geschäftig waschen, als gäbe es in unsrer Zeit keine tiefen Gewässer, die zu erforschen die christliche Kirche berufen wäre. Man braucht nicht zu behaupten, daß diese Angelegenheiten der inneren Ordnung und Disziplin unwesentlich oder unwürdig seien, aber, macht man nur seine Augen auf und sieht die erregen­ den Probleme und Streitfragen, die den modernen Geist verwirren, wie unbedeutend erscheinen dann solche kleinen Gegensätze! „Zu was für einem Ergebnis sie kommen", sagt ein bedeutender Theologe, „ist unwesentlich. Das einzig Wesentliche ist, daß sie überhaupt einen Abschluß finden." Hier liegt, zweifellos, für viele junge Leute die ab­ stoßendste Seite der Nachfolge Christi. Nicht, daß die christ­ liche Religion zu viel von ihnen verlangte, nein, sie fordert nicht genug. Sie verlangt, daß sie sich für eine gewisse erbauliche Erhebung oder für Einzelheiten der Verwaltung begeistern, wo sie sich sehnen nach einem Ruf zu kühnen, manneswürdigen Unternehmungen. Sie wenden sich ab von dem Beruf des Geistlichen, nicht weil sie reich werden wollen, oder weil es ihnen an Glauben fehlt, sondern weil sie eine männliche, kraftvolle, kühne Aufgabe erwünschen. Sie haben nicht vor, am Rande des heutigen Lebens fitzen zu bleiben, fie find bereit für alle Gefahren, die die zu bestehn haben, „deren Pfad in großen Wassern ist". An die christliche Kirche also ergeht dieser Ruf des Herrn, seinem Glauben einen weiteren Wirkungskreis zu schaffen. Noch nie, im Lauf der Geschichte, erklang aus dem Herzen der Zeit ein so leiden­ schaftlicher Schrei nach moralischer Hebung der Industrie,

nach Vergeistigung des geselligen Lebens, wurde so dringend soziale Gerechtigkeit und persönliche Hingabe gefordert, und nie war es so klar, daß die Antwort auf diesen Ruf in dem Evangelium Jesu Christi liegt. Welche Gelegenheit bietet sich für die christliche Kirche — vielleicht zum letztenmal — zu Herrschaft, Führerschaft und ausgedehntester Wirksam­ keit! Wie offenkundig wartet die moderne Welt auf jenes schöpferische Wirken, jenes Ausströmen geistiger Kraft, um deretwillen der Mechanismus des Christentums so kunstvoll gefügt ist! Wieder steht der Herr am Ufer der Gelegenheit und gebietet denen, die ihm zögernd folgen, ihre halbgewaschenen Rehe liegen zu lassen und auf die Höhe hinauszufahren. So ergeht der Ruf Jesu an eine mit sich selbst beschäf­ tigte, zögernde Kirche, und das ist endlich auch seine Bot schäft an jede einzelne Seele. Hier, in der Stille des Gottes­ dienstes, sitzt ein junger Mensch und blickt hinaus in die geheimnisvolle, unbetretene Welt, in der sich sein Leben einen Weg suchen muß, und er bittet um ein Zeichen, das ihm Wirksamkeit, Gelingen und Lohn verheißt. Was kann denn dies Leben lebenswert machen und es aus Leere, Mut­ losigkeit und Verzweiflung retten? Nichts scheint in der Welt gewiß als ihre Ungewißheit. Keine Lebenslage leistet Gewähr für Sicherheit und Frieden. Wohlstand kann die Quelle der heimtückischsten Gefahren sein. Widrige Verhält­ nisse können die Schule sein, die man am allernötigsten hat. Die Erfahrung, die man scheut, kann das Heil in sich bergen, das man sucht. Die Aufgabe, der man ausweicht, brächte vielleicht die Offenbarung, um die man betet. So bleibt denn nur eine vernünftige Lebensregel übrig: das Leben zu nehmen, wie es kommt, und das beste daraus zu machen. Jedes Leben hat seine kleinen Werte und seine große Be­ deutung, und die Lebenserfahrungen deuten können nur die, die aus der Untiefe in die Tiefe hinaussteuern. Ein gesund denkender Mensch, der die Tatsachen des Lebens fest ins Auge faßt, beginnt sein religiöses Bekenntnis etwa mit folgendem Gebet: „Ich bitte nicht, daß mein Leben sanft unb leicht sei; ich bitte um Stärke, daß ich mich

dorthin wage, wo das Leben am schwersten scheint. Bewahre mich, Gott, vor allem vor Seichtheit, Ängstlichkeit und Miß­ trauen, und verleihe mir Cinficht, Erkenntnis, Klarheit, weiten Horizont und Spielraum. Laß mich nicht im seichten Wasser plätschern, sondern stärke mich zu kühnen Wagnissen auf hoher See. Sieh meinen Geist — ein Netz mit weiten Maschen, durch die meine kleinen Gedanken gar leicht ent schlüpfen. Fülle es mit größeren Zielen und stille meinen Hunger nach Wahrheit. Sieh mein Leben — voll Spielerei, feige und unbeständig. O, ruf es auf zu neuen Idealen der Treue, der Beständigkeit und des Muts! Und meine Religion — mit sich selbst beschäftigt, träge und eng — mach sie reich an sozialem Verantwortungsgefühl und Hoffen, heilige sie um andrer willen, steure mein kleines Lebensschiff hinaus auf das weite Meer tätiger Nächstenliebe und mach mich zum Menschenfischer." Wird ein solches Gebet alle Geheimnisse des Lebens enthüllen und das Leben einfach, gradlinig und klar machen? O nein, vieles muß übrig bleiben, das uns verwirrend, grau­ sam, gefährlich und unverdient erscheint. Cs lauern Gefahren in der Tiefe, die man am Ufer vermeiden kann. Aber darin gerade liegt das tief Veftiedigende kühnen Wagens, daß es einen Mann an den Platz stellt, an den er gehört, mitten hinein in die Wechselfälle und Vergeltungen des Lebens, die eines Mannes würdig find. Er ist wenigstens kein Fahnen­ flüchtiger, sondern ein guter Soldat Christi. Der Feigling in ihm erstirbt, wenn der Herr seine Jünger ruft, und der Held in ihm antwortet: „Hier bin ich, sende mich, wohin -u willst." Cr führt sein kleines Boot mit heiligem Ver­ langen dorthin, wo die Hochflut des Geistes es erfassen kann, und, ein frohes Lied auf den Lippen, fährt er hinaus auf die Höhe des Lebens und wirft seine Netze aus, um einen größeren Zug zu tun.

Aber der feste Grund Gottes bestehet und hat dieses Siegel: der Herr kennet die Seinen, und es trete ab von Ungerechtigkeit, wer den Namen Christi nennet." 2. Tim. 2,19.

Der Apostel blickt in diesem Kapitel auf das Wachsen des Christentums, wie ein Baumeister seinen Blick über sein Bauwerk gleiten läßt und sein Wachsen beobachtet. Cr ist, wie er an andrer Stelle sagt, ein weiser Baumeister. Cr hat den Bauplan nicht entworfen. Cr, Apollus, Kephas und die übrigen arbeiten, wie er an die Korinther schreibt, in verschiedenem Material — sei es kostbarer Stein, oder Holz oder Stoppel — einen Plan aus, der ihnen gegeben ist. Das soll heißen: hinter dem Baumeister steht der Architekt. Gott hat den Plan zu der Kirche entworfen, und dies find seine Arbeiter, die ausführen, was er geplant hat, und der Baumeister ermahnt in diesem Kapitel den jungen Timotheus, seinen Teil der Arbeit gut zu vollbringen und ein rechtschaffner unsträflicher Arbeiter zu sein. Wenn der Apostel den Aufbau der christlichen Kirche mit dem Blick eines am Bau beschäftigten Arbeiters anfieht, so fieht er, wie fich hinter dem Gerüst schon die Spuren schlechter Arbeit und falscher Kunst zeigen, und Abirrungen von dem ursprünglichen, ihm wohlbekannten Plan des Architekten.

Einige der Arbeiter meinten, sie wüßten mehr als der, der den Plan entworfen. Hymenäus und Philetus haben in einer Ecke des Baus eine neue eigne Lehre errichtet über die Auferstehung, und die fällt auf dem Plan des Architekten als Schandfleck in die Augen. Der Baumeister ist entrüstet. Er nennt diese Verdrehungen der Wahrheit „ungeistliches Geschwätz" und „törichte Fragen" und zeigt dem jungen Timotheus, daß das geschmacklose Beiwerk den ganzen Plan verderben würde, wenn man es nicht entfernt. Mit einem Gefühl wahrer Erleichterung aber erinnert der Baumeister an einen Zwischenfall aus der Geschichte des Bauwerks, der seine Form und seinen Grundriß sozusagen festgelegt hat. Gott der Architekt, der bei der Ausführung seines Plans wohl verschiedenes Material und verschiedene Bauart dulden kann, weil er weiß, daß sie leicht zu ersehen und zu ändern find, hat den Grundstein mit eignen Augen legen sehn. Die Grundmauern, das weiß er, werden Gestalt und Festig­ keit des ganzen Gebäudes bestimmen, und was auch geschehn mag, der Grund ist ficher. „Einen andern Grund kann nie­ mand legen, außer dem, der gelegt ist, welcher ist Jesus Christ." Tief verborgen unter allen Abweichungen im Auf­ bau der Gedanken und des Lebens, die den Plan Gottes entstellen könnten, liegt der eine wesentliche und unveränder­ liche Grund, wie der Apostel sagt, „bei Christus in Gott". Das ist der erste Trost für einen Menschen, der fich klar macht, wieviel Törichtes und überflüssiges in das Ge­ bäude des Christentums hineingebaut ist. Aber es gibt noch mehr, das ihn tröstet. Gott hat nicht nur den Grund gelegt, den selbst die Fehler der Christen nicht zum Wanken bringen, sondern er hat diesem Grunde außerdem ein besonderes Zeichen, einen besonderen Stempel ausgeprägt, damit wir Wissen: dieser Grund ruht auf Christus. Gott hat ihm einen Eckstein eingefügt und ihm eine Inschrift eingemeißelt, wie es noch heute geschieht, die das Wesen und den Zweck seines Bauwerks bezeichnen soll. Mögen die Menschen all ihr über­ flüssiges Beiwerk an Türmen und Zinnen anbringen — es kommt der Tag, da die Christenheit mit befferem Verständnis

diese dekadente Kunst erkennen und ummodeln wird. Vis dahin aber gilt es, den eigentlichen Zweck des großen Planes nicht -u verkennen. Man soll immer wissen, was dies lang­ sam wachsende Bauwerk sein und bedeuten sollte. Denn seine Grundform, die Lage und Inschrift des Ecksteins drücken diese Absicht deutlich aus. Das gibt dem Baumeister Mut bei seinem Kirchenbau. Zwar wirkt die schlechte Arbeit des Hymenäus und Philetus, die mit ihren neuen Lehren in die schlichte Lehre Jesu eindringen, störend genug, aber schließlich stärken auch sie nur das gläubige Vertrauen des Apostels und machen ihn fähig, zu sagen: „dennoch bestehet der feste Grund Gottes." Ein fester Grund! Laßt uns als erstes dies Wort gläu­ biger Zuversicht wiederholen,, mit dem der Apostel zu den unwandelbaren Dingen zurückkehrt. Ein Gefühl wahrer Er­ leichterung überkommt jeden Menschen, wenn er sich einmal wieder den Unterschied klar macht zwischen den tausenderlei Dingen im Christentum, die man dem Bauplan als Beiwerk mitgeben kann, und seinem klaren, ewigen, unverkennbaren Grund, der, den Blicken verborgen, darunter liegt. Denn in unsrer Zeit, wie zu Zeiten des Paulus, begegnet man dem Kehertum eines Hymenäus und Philetus, dem Bestreben, aus dem Christentum einen komplizierten, überladenen Prunk­ bau zu machen, der den ursprünglichen Plan kaum noch er­ kennen läßt. Für einen solchen Ketzer — der sich selbst noch dazu weit von aller Ketzerei entfernt glaubt — ist das Christentum ein theologisches System, das bis in die feinsten Glaubensunterschiede ausgearbeitet ist, so daß einem als erstes die Anmenge von Einzelheiten ins Auge fällt. Jeder neue Reformator fügt einen neuen Strebebogen, einen neuen Dachreiter hinzu und versammelt seine kleine Iüngerschar um sich: „Seht", ruft er aus, „erst jetzt geht es uns auf, wie die christliche Kirche eigentlich sein sollte!" So geht es mit der Sektengründung und den Vauereien der Ketzer lustig weiter. Aber auf dem Grunde all dieser theologischen und kirchlichen Geschmacklosigkeiten und Übertreibungen, die der Apostel ruhig „ungeistliches Geschwätz" nennt, findet der

Baumeister, zu seiner eignen Beruhigung, das, was er die „Einfältigkeit in Christo" nennt, und sie bezeichnet nicht das zeitweilige Gerüst, sondern den ewigen Grund des christlichen Glaubens. Diese glückliche Erkenntnis eines festen Grundes ist zu jeder Zeit das Zeichen reifenden religiösen Lebens. Hymenäus und Philetus brauchen, wie die meisten Neubekehrten, ein prunkvolles Glaubensbekenntnis. Aber wenn man schon mehr religiöse Erfahrungen hinter sich hat, ändert sich der Begriff dieses Wertes. Man kommt dahin, auf viele Punkte des Glaubens wenig Gewicht zu legen, auf wenige Punkte viel. Man schätzt das Äußere des Bauwerks geringer, seinen Grund mehr. Man gewinnt eine feste Überzeugung weniger dadurch, daß man sein Glaubensbekenntnis um neue Wahr­ heiten bereichert, als dadurch, daß man sich recht fest auf einige wenige Wahrheiten stützt und ihrer Dauerhaftigkeit vertraut. Wenn ein Mann aus dem Petroleumlande Pennsylvanien den Wert seiner Besitzung überschlägt, sagt er nicht: „Ich habe zehn Quellen, während mein Nachbar nur eine hat", denn er weiß, daß zehn Quellen versiegen können, während eine vielleicht ein Vermögen bedeutet. Nicht zehn Quellen braucht er, sondern eine, die fließt. Wenn er eine solche besitzt, ist er reich. Aus ihren geheimnisvollen Tiefen quillt ein überwältigender Strom, der alle Röhren und Be­ hälter füllt, und der Besitzer bedarf nun nicht neuer Quellen, sondern weiter Lagerräume für all den Reichtum, den er gefunden. So stößt ein Mensch auf die Wahrheit. Nicht die Zahl der Quellen, die er erbohrt, gibt den Ausschlag, sondern das, was die einzelne ergibt. Nicht viele Glaubens­ sätze brauchen wir, sondern viel Glauben. Nicht um viele Götter bitten wir für den Fall, daß einige versagen, — ein wahrer Gott genügt. Eine echte Wahrheit macht den Men­ schen reich. Aus ihren geheimnisvollen Tiefen quillt ein solcher Strom von Gewißheit und Trost, als hätte das ganze Weltall Gottes nur diesen einzigen Ausfluß. So geht es uns mit unsern religiösen Erfahrungen. Unser Glaubensbekenntnis wird immer kürzer, aber wahrer.

Wahrheiten, die uns einst unwichtig erschienen, gehn uns in ihrer vollen Bedeutung auf. Cs ist, als hätten wir am Strande geseffen und müßig in die Blinklichter geschaut, die die Küste umsäumen, und erlebten es dann, wie uns diese selben Lichter in einer grausigen Sturmnacht, auf dem schwan­ kenden Boden einer zertrümmerten Erfahrung, zu Lotsen und Rettern aus Seenot werden. In jener Dunkelheit, die nur von den zitternden Strahlen der Leuchtfeuer erhellt wird, verstehn wir endlich die Weisheit, die uns an der stürmischen Küste des Lebens jene verstreuten Lichter angezündet hat, und mit unbedingtem Vertrauen auf sie steuern wir in Frieden unsern Weg. Von vielen Gesichtspunkten aus betrachtet ist das gegen­ wärtige Zeitalter ein Zeitalter der Zerstörung in der christ­ lichen Kirche. Mancher Glaube wird erschüttert, manches Bekenntnis gekürzt; viele von den prunkvollen Lehren der Vergangenheit erscheinen uns wie das eitle Geschwätz und die törichten Fragen des Hymenäus und Philetus. Aber bedeutet all das, wie viele meinen, einen Niedergang des Glaubens? Im Gegenteil, es ist vielleicht gerade das Zeichen erneuter Festigung. Eine Zeit, da alle Punkte des Glaubens in Frage gestellt werden, ist recht dazu angetan, die Punkte herauszuheben, die grundlegend find. Cs ist eine Zeit der Aussonderung. Die Quantität weicht der Qualität. Das Ergebnis der krassen Gegensätze wird voraus­ sichtlich das sein, daß die Menschen ihren Glauben auf ein paar große Wahrheiten gründen, gegen die weder die Ge­ schichte noch die Kritik eine Waffe besitzt, und daß sie auf dieser breiten, einfachen Grundlage nicht allein Stärke, son­ dern auch Einigkeit finden. Nie fand religiöser Glaube eine günstigere Zeit als unsere, die die Menschen so gebieterisch von den Ungewißheiten ihres eignen Lebens zu dem festen Grund Gottes ruft. Sie gleicht der Zeit, da der Einfluß Jesu durch alle Traditionen und Riten seiner Tage hin­ durch als reinigender Luststrom wehte. Sein Volk glaubte an viele Dinge, aber an nichts hatte es einen starken Glauben. Sie setzten neue Türme auf ihre Tempel, während der Grund

unten fortbröckelte. Da rief er sie zu den wenigen großen Tatsachen zurück, auf die sich das Ganze gründete. In ihnen, sagte er, „hanget das ganze Gesetz und die Pro­ pheten". Die Schriftgelehrten sahen in ihm einen Zerstörer des Glaubens, denn er hatte an einigen ihrer Zinnen ge­ rüttelt, bis fie wankten und umfielen. Und doch war er nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen: auszufüllen den Grund des Glaubens mit seiner ganzen gewaltigen Be­ deutung. Rückkehr zur Einfältigkeit war der Ton, der am deutlichsten hervorklang. Das tiefste Geheimnis der Seele lag in ihren schlichtesten Äußerungen. Das große Zeitalter der Welt kam herbei, als unter den Fehlern und Auswüchsen der Menschengedanken der klare und feste Grund Gottes bloßgelegt wurde. Aber der Apostel spricht nicht nur von dem Grunde. Einer Ecke des Grundes, fährt er fort, hat der Architekt einen Stein eingefügt, und jeder Seite dieses Steins hat er seine eigne Inschrift gegeben. Das ist noch heutzutage Sitte der Erbauer und war schon durch jüdische Gesetze vor­ geschrieben. „Die Worte, die ich dir heute gebiete, sollst du über deines Hauses Pfosten schreiben und an die Tore", sagt Jehova. Was hat Gott denn auf den Eckstein ge­ schrieben, der in den Grund seiner Kirche gefügt werden soll? Cs ist eine zweifache Inschrift, sagt der Apostel. Die eine Lehre ist der einen Seite des Gebäudes zugewandt, die andre der andern. Die eine handelt von Gott, die andre vom Menschen. Die eine hängt mit der Religion zusammen, die andre mit der Ethik. Die eine ist grundlegend für unsre Beziehungen zu Gott, die andre für unsre Beziehungen zu den Menschen. „Der feste Grund Gottes bestehet und hat dieses Siegel, einmal: ,der Herr kennet die Seinen', und zum andern: ,es trete ab von Ungerechtigkeit, wer den Namen Christi nennet.'" Laßt uns einen Blick werfen auf diese beiden entgegen­ gesetzten Seiten des göttlichen Ecksteins, wie er auf seinem sichern Grunde ruht. Was ist einerseits grundlegend in dem Verhältnis eines Christen zu dem Leben Gottes? Was ist

der Grund seiner religiösen Erfahrung? Man wird versucht sein zu antworten: „Zu allererst muß man Gott finden, an Gott glauben, gewiß sein, daß es einen Gott gibt, und etwas über sein Verhältnis zu den Menschen wissen." Nun steht wohl außer Zweifel, daß die höchste Vollendung menschlicher Vernunft in dieser Kenntnis Gottes und seines Wesens liegt. Das ist Theologie, und die Theologie ist die Königin der Wissenschaften, die weder zu verachten, noch zu ignorieren, noch als überwunden anzusehn ist, sondern nur erneuert und gestärkt wird in dem Maße wie andre Wisienschaften ihr neues Material zuführen, das ihrer Deutung harrt. Aber wie einseitig und spärlich ist die Kenntnis Gottes, zu der man auf diesem Wege gelangen kann! Der menschliche Geist steht verwirrt und enttäuscht wie ein Forscher am Äser der kleinen Insel unsres Wissens und träumt hinaus auf das weite Meer des Mysteriums. Der Ozean liegt tatsächlich vor ihm, aber er ist unerforscht. Sein Vorhandensein kann nicht geleugnet werden, aber seine Tiefen sind unermeßlich. So steht die menschliche Weisheit vor der Tiefe des gött­ lichen Lebens. Die Klügsten wagen sich eine kleine Strecke auf jenen Ozean hinaus — und er scheint ihnen noch un­ endlicher als vorher. Ist denn dies Verfahren, diese Art der Erforschung, wie sie die Theologen und Philosophen betreiben — so gerecht­ fertigt und tapfer sie auch sein mag —, das, was wir religiöses Erleben nennen? Im Gegenteil, die ganze Ge­ schichte der praktischen Religion erzählt von völlig andern Dingen. Die Theologie schlägt bei ihren Nachforschungen gerade den umgekehrten Weg ein wie die Religion bei ihrem ersten Suchen nach Gott. Wir fangen in der Religion nicht mit Fragen und Forschen an, sondern wir empfangen. Wir entdecken in der Religion nicht zuerst Gott, sondern Gott entdeckt uns. Unser Vertrauen zu Gott gründet sich nicht auf eine völlige Kenntnis seines Wesens, sondern auf seine restlose Kenntnis unsrer Seele. Nicht das Bewußtsein, Gott zu finden, verleiht uns Stärke, sondern das, von ihm gefunden zu sein. Das ist Religion: Unwissenheit in den

Händen der Allwissenheit, Schwachheit, die von der Stärke geleitet wird, das Kind, das den Vater bekennt, nicht um ihn zu verstehn, sondern um ihm zu gehorchen. And das, glaube ich, meint der Apostel, wenn er auf der einen Seite des göttlichen Ecksteins die Grundwahrheit liest: „Der Herr kennet die Seinen." Das steht nicht im Widerspruch zur Theologie. Cs ist einfach das Bekenntnis, daß unser Wissen von Gott um­ schlossen ist von der größeren Wahrheit: Gott kennt uns. And das führt die Menschen nicht zum Philosophieren, son­ dern zum Beten. Darauf baut sich nicht eine Vorlesungs­ halle, sondern ein Tempel zur Gottesverehrung auf. Aus dem Bewußtsein, daß uns, in unsrer Anwiffenheit und Blind­ heit, göttliche Liebe uüd göttliches Leben tragen, entspringen alle Psalmen und Gebete, aller Frieden und alle Hoffnung, die der Religion ihren Platz in der Geschichte der Mensch­ heit sichern. Denkt man an die ganze lange Reihe trauriger Erfahrungen, an das Streben der Menschen, das religiöse Leben auf unser Wissen von Gott zu gründen, oder den Grund der Religion in Organisation und Ritus zu suchen, an die Anmaßung der Theologen, an das Formenwesen der Kirche, dann kann man dem Apostel nachfühlen, mit wie erleichtertem Herzen er sich zu der schlichten, klaren Gewiß­ heit flüchtet, daß Gott ihn kennt. O Hymenäus und Philetus, sagt er, hött auf mit euerm Geschwätz über vergangene Auferstehungen und künfttge Geheimnisse, und lest, was auf dem Eckstein geschrieben steht. Gott verlangt nicht von euch allen, daß ihr die Höhe und Tiefe der Vorsehung kennt. Der Grund eures Glaubens liegt weder in eurer Weisheit noch in euern Spekulationen. Cs gibt viele Dinge im Himmel und auf Erden, die ihr nicht verstehn werdet, bis euch das hellere Licht einer andern Welt umfängt. Aber daß ihr euer Leben als ein von Gott voll und ganz erkanntes anseht, als einen Teil seines mächttgen Plans, daß ihr ihm allen Segen abzugewinnen sucht, weil Gott das Wollen und Vollbringen darin wirft, das ist — was ihr auch sonst noch auf dem Be­ kenntnis aufbaut — der Eckstein eines religiösen Lebens.

Es steht darauf nicht eine philosophische Maxime, sondern ein Wort, das euch zur Anbetung ruft. Die erste Inschrift des Steins lautet: „Der Herr kennet die Seinen." Auf diesem schlichten Grunde ruht das religiöse Leben. Sein Glaubensbekenntnis ist ein Psalm der Gemeinschaft und des Vertrauens. „Hoch über meiner Unrast deine Ruhe — Rings um mich her rauscht deines Lebens Strom. Er stärkt die Kraft, daß ich das Rechte tue; Und in der Einsamkeit gewalt'gem Dom Herrscht du, allgegenwärtig deine Hände, Sie führen alles zu dem guten Ende."

Das ist die Inschrift, die Paulus auf der einen, Gott zugewandten Seite des Ecksteins sah. Blickt nun einen Augenblick auf die entgegengesetzte Seite, jene, die den Men­ schen zugekehrt ist. Auf ihr steht die andere Hälfte des Siegels geschrieben. Und was ist dies anders als einfach eine dem Christen gestellte Forderung? „Und es trete ab von Ungerechtigkeit, wer den Namen Christi nennet." Das ist für den Apostel die zweite Inschrift auf dem Eckstein des Christentums. Die Religion eines Menschen offenbart fich durch nichts andres als durch seine Lebenshaltung. Die Gemeinschaft in Christo ist eine Charaktergemeinschaft. Kein andres Christentum ist echt als das, das einen Menschen zu allererst dazu bringt, „abzutreten von Ungerechtigkeit". Wie oft schien die Religion im Lauf der Geschichte etwas durch­ aus andres zu sein als eine Schule des Lebens. Wie oft haben Theologen und Geistliche versucht, einen andern Text auf den Eckstein zu schreiben. Aber einen andern Grund kann niemand legen außer dem, der gelegt ist. Die Nach­ folge Christi beginnt mit einer Läuterung des eignen Lebens. „An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen." Keine denkbare Vollendung des Glaubens, der Formen und Riten, keine Behauptung ihrer Autorität kann eine Kirche Christi schaffen, wenn nicht auf ihrem Eckstein das schlichte Gelöbnis eines geläuterten Charakters steht. Das ist für Christus das Zeug­ nis der Strenggläubigkeit, das Zeichen einer wahren Kirche.

Alles dieses ist uns heutzutage klar genug geworden. Die christliche Kirche ist bereit, die Moral als Prüfstein gelten zu lasten, und keine Gemeinde kann Treue erwarten von dieser unsrer praktischen Zeit, wenn sie nicht auf ihren Eckstein schreibt: „Cs trete ab von Ungerechtigkeit, wer den Namen Christi nennet." Aber in unsern Tagen verfallen wir in die entgegengesetzte Ketzerei. Wenn ein guter Lebens­ wandel etwas Wesentliches für das Christentum ist, was ist dann das Christentum anders als ein guter Lebenswandel? Heißt es nicht nur die Schwierigkeiten vermehren, wenn wir auch noch ein Verhältnis zu Gott fordern? Was haben wir mit dem übernatürlichen zu tun? Ethik ohne Glauben, Charakter ohne Religion — davon redet die heutige Zeit. Welchen Unterschied macht es, was ein Mensch glaubt, so­ lange er recht handelt? Laßt uns den Eckstein der Kirche umwenden und seine auf Gott hinzielende Inschrift als über­ flüssig gegen die Wand kehren, der Welt aber die andre Seite zeigen, die Forderung der Gerechtigkeit — und lasten wir uns genügen mit jenem noch schlichteren Grunde. Auf all diese Behauptungen, daß Pflicht ohne Glauben, Ethik ohne Religion als ausreichender Grund denkbar sei, antwortet der Apostel ganz einfach, daß Religion und Ge­ rechtigkeit nur zwei verschiedene Seiten desselben Ecksteins, verschiedene Ansichten desselben Grundes seien. Was ist unsre Pflicht? Unser den Menschen zugewandter Glaube. And was ist unser Glaube? Unsre Gott zugewandte Pflicht. Übt eure Pflicht im Leben in einem möglichst weiten Sinne aus, und ihr geht von selbst zu religiösem Erleben über. Übt eure Religion im Leben bestimmt genug aus, und sie be­ herrscht und belebt jeden Akt der Pflicht. Daß die Menschen an ihrer Pflicht ohne Glauben genug haben, liegt daran, daß sie noch nicht angefangen haben, die Ausdehnung der Pflicht zu den idealsten Zielen zu erkennen. Daß sie zu­ frieden find mit einer Religion, die nicht durch die Praxis bewiesen wird, liegt daran, daß sie noch nicht ganz von dem Bewußtsein eines lebendigen Gottes durchdrungen find. Es handelt sich hier nicht um zwei verschiedene Dinge, sondern Peabody, Sonntagsgedanken. 8

um ein einziges. Ist eure Pflicht weit genug, so offenbart sie euch Gott. Habt ihr einen wahren Gott, so wirkt er belebend auf eure Pflicht. Cs ist, als wären wir auf einer kleinen Insel geboren und wüßten gar nicht, daß es eine Insel ist. Wir haben festen Grund unter den Füßen und können im Innern der Insel ein fleißiges und pflicht­ treues Leben führen. Aber steigen wir eines Tages auf den Höhenrücken, der sich hinter unserm Besitz erhebt, oder gehen wir bis an den Saum des Landes, so dehnt sich das unend­ liche, ungeahnte Meer vor uns aus. So umfängt das Leben des Glaubens das Leben der Pflicht, und die dringenden Wirklichkeiten des täglichen Lebens werden rings umschloffen von der größeren Wirklichkeit des unendlichen, allumfassen­ den göttlichen Lebens. Das ist Pauli Lehre vom Eckstein — das Bild eines Lebens, das einen Grund hat und schlicht und stark dasteht inmitten aller Wechselfälle dieser Welt. Ein solches Leben wird vielleicht von den oberflächlichen Menschen seiner Zeit gar nicht bemerkt. Cs gleicht einem stillen, festen Gebäude, an dem man vorübergehn kann, ohne es sonderlich zu be­ achten. Wirft man aber einen Blick darauf, so berührt einen seine Ruhe und Gleichmäßigkeit im Gegensatz zu sonstigem übertriebenem Beiwerk und Zierat äußerst wohltuend. Ein solches Leben hat des Herrn Wort vernommen: „Ihr werdet Ruhe finden für eure Seelen." Cs ist nicht ruhelos und anmaßend, sondern still und bescheiden. Cs ist geruhig, weil es etwas hat, darauf es ruhn kann. Sein Grund ist fest. Seine Stützen find sicher. Sein Glaubensbekenntnis ist kurz, aber wahr. Ein solcher Mensch hält nicht seinen Glauben aufrecht, sein Glaube hält ihn aufrecht. Wenn sein Charakter auf diesem Grunde ersteht, und das Gerüst der Erziehung und Disziplin entfernt wird, so erweist sich der Bau als harmonisch und fest. Sein Lebenswandel stützt sich auf seinen Glauben. Sein Glaube zeigt sich in seinen Werken. Das Gebäude ist solide aufgeführt und durchweg reine Kunst. Sein Glaube und seine Pflicht sind entgegengesetzte Seiten eines Plans. Die eine Hälfte seines Wesens ist Gott zu-

gewandt, die andre den Menschen. Auf der einen Seite steht geschrieben: „Der Herr kennet die Seinen", und sie ist be­ strahlt von ewigem Licht; die andre Seite trägt die In­ schrift: „Cs trete ab von Ungerechtigkeit, wer den Namen Christi nennet", und sie schaut mitten hinein in das Geschäftsund Arbeitsgetriebe der Welt. So steht das schlichte, gleich­ mäßige Leben eines Christen in einer überarbeiteten, ruhe­ losen Welt da. Und endlich kommt auch für diesen Menschen, wie für alle, ob früher oder später, ein Tag, wo er alle seine Kräfte anspannen muß, wenn die Lebensstürme um ihn brausen, und die Wogen der Versuchung über ihm zusammen­ zuschlagen drohn. Cr aber bleibt inmitten des Ungestüms sicher und unerschüttert stehn. Sein Grund ist fest. Der Jünger erfüllt die Verheißung seines Meisters: „Wer diese meine Rede höret und tut sie, den vergleiche ich einem klugen Manne, der sein Haus auf einen Felsen baute."

Der Hauptmann antwortete und sprach: Herr, ich bin nicht wert, daß du unter mein Dach gehest, sondern sprich nur ein Wort, so wird mein Knecht gesund. Denn ich bin ein Mensch, der Obrigkeit untertan, und habe unter mir Kriegsknechte; und wenn ich sage zu einem: Gehe hin! so geht er; und zum andern: Komm her! so kommt er; und zu meinem Knecht: Tu das! so tut er's. Da das Jesus hörte, verwunderte er sich und sprach: Wahrlich, ich sage euch, solchen Glauben habe ich in Israel nicht gefunden. Matth. 8, 8 u. 9.

Die Antwort, die Jesus dem römischen Soldaten gibt, scheint auf den ersten Blick außerordentlich kurz und bündig. Nichts spricht dafür, daß er diesen Hauptmann schon gesehn hätte, und doch erkennt er in ihm augenblicklich einen größe­ ren Glauben als Israel selbst je besaß. Von einer so schnellen Auffassung erzählen die Evangelien des öfteren. In derselben Weise begegnet Jesus dem Matthäus, dem Nathanael und der Magdalena — er steht ihnen ins Herz, liest es mit einem Blick und fordert es als sein Eigentum. Natürlich wäre das unmöglich gewesen, wenn er ein voll­ ständiges Glaubensbekenntnis verlangt hätte, ehe er ein Herz

zu sich zog. Das tat er aber nicht. Was er zu allererst suchte, war eine gewisse Sinnesrichtung, eine gewisse Wesens­ art, die die Menschen für ihn empfänglich machte. Fand er dies bei einem Menschen, dies unbewußte Reagieren, so war er der Seele dieses Menschen sicher. Vermißte er es, so wußte er, daß keine noch so große Glaubensstrenge oder äußere Sittenreinheit einen Jünger nach seinem Herzen aus ihm schaffen konnte. Zöllner und Sünder würden in das Reich eingehn, Pharisäer und Schristgelehrte würden aus­ geschlossen sein. Welches war denn die Wesensart, die dieser Hauptmann sofort zu erkennen gab, und die Jesus zu einem so schnellen, frohen Willkomm trieb? Cs waren seine soldatischen Eigen­ schaften. Der Mann trat Jesus genau in derselben Weise gegenüber, wie er seinen Vorgesetzten gegenüber getreten sein würde. Seine Begriffe von Pflicht hatten sich durch seinen Dienst im Heer gebildet. Dort hatte er Disziplin und Gehorsam gelernt. Cr nimmt einerseits Befehle ent­ gegen und erteilt andrerseits selbst Befehle. Er ist der Au­ torität unterstellt, da er Vorgesetzte über sich hat, und gleich­ zeitig besitzt er selbst Autorität, da er Soldaten unter sich hat. Cr hat Gehorsam zu leisten, und ihm muß Gehorsam geleistet werden. Cr kommt zu Jesus und sagt: „Ich weiß, daß man dir gehorchen muß, wenn du im Namen Gottes sprichst, weil ich weiß, daß man mir gehorcht, wenn ich im Namen des Kaisers spreche." So bringt er Christus solda­ tische Disziplin entgegen. Sie besteht aus zwei Elementen. Sie bedeutet Gehorsam, und sie bedeutet Autorität. Oder besser gesagt: sie ist der eigene Gehorsam, der dem Soldaten das Recht gibt, als Offizier Gehorsam zu verlangen. Cr ist imstande, zu befehlen, weil er zum Gehorsam erzogen ist. Das ist das Wesen der Disziplin: der Soldat steht zur Autorität in einem dienstlichen Verhältnis. Cr hat gehorchen gelernt, und darum kann er zu andern sagen: „Geht", und sie gehn, „kommt", und sie kommen. So war es auch bei diesem Manne. Hätte er nie gelernt zu folgen, dann wäre er nicht fähig zu führen. Hätte er nicht in der Front Diszi-

plin bewiesen, dann hätte er nicht als Hauptmann Soldaten unter sich gehabt. In soldatischem Geist wendet er sich an jemand, in dem er seinen Vorgesetzten sieht, und erkennt das Recht Jesu an, Gehorsam zu verlangen, als ständ? er mit seinen Truppen vor seinem General und nähme seine Tages­ befehle entgegen. Diese Eigenschaft der Disziplin in dem Leben eines Soldaten ist es, glaube ich, die Jesus veranlaßt, mit seinen Jüngern so oft von dem christlichen Leben als dem eines Soldaten, eines Streiters, zu sprechen. Der Christ ist der „gute Streiter Jesu Christi, auf daß er gefalle dem, der ihn zum Kriegsmann angenommen hat". Nichts steht scheinbar in größerem Gegensatz zu dem christlichen Ideal als die blutdürftige, gewiffenlose Brutalität eines römischen Soldaten. Friede, nicht Krieg, möchten wir sagen, Liebe, nicht Gewalt ist das Gesetz eines Christen. Aber hinter dem Beruf des Soldaten erkennt das Neue Testament den wesentlichen Charakter des Soldaten. Cr besitzt nicht nur Mut, sondern auch Disziplin. Das unterscheidet eine Armee von einen» Pöbelhaufen. Die Einzelnen in einem Pöbelhaufen können furchtlos sein, aber der Haufen als Ganzes schmilzt zusammen, wenn die Soldaten kommen, weil er keine mili­ tärische Disziplin hat. Als vor einigen Jahren in Ägypter» die Scharen wütender Araber sich wie ein rasender Orkan auf die englische Truppe warfen, als ob sie durch ihre Masse allein die kleinen Bataillone zermalmen wollten, was schlug da den Ansturm zurück? Nicht allein Tapferkeit. Man hat kaum je einen so fanatischen Mut gesehn wie bei diesem Angriff. Disziplin war es, der anerzogene Gehorsam, der, zu einem zwingenden Instinkt entwickelt, die gesamte Kraft zu einer starken Einheit verband. Die Engländer behaup­ teten das Feld, weil jeder einzelne seinen Platz behauptete. Jeder einzelne stand unter Autorität und war dadurch stark. So liegt das Geheimnis persönlicher Macht zuerst darin, daß man seinen Platz in der Gesamtordnung findet. Die Kraft zum Befehlen erwächst aus der Kraft zu gehorchen. Die eigne Pflichttreue ist die erste Stufe zur Führerschaft.

Man fängt an, Autorität über andre zu gewinnen, wenn man sein eignes Leben unter eine Autorität gestellt hat, die so befehlend, überzeugend und unbedingt gültig ist wie das Wort Cäsars an seine Truppen. Laßt einen Menschen nur erst mit vollem Bewußtsein unter einer Autorität stehn, dann kann er auch zu andern sagen: „Tu das", und fie tun's. Das ist die zweifache Natur soldatischer Disziplin, die Jesus als erste Eigenschaft für einen Jünger freudig begrüßte. Fassen wir z. V. die Resultate einer freien Bildung ins Auge. Wodurch hat ein gebildeter Mann Chancen zur Füh­ rerschaft? Worin liegt sein Vorteil beim Wettkampf des Lebens? Was scheint ihm, bei einem Rückblick aus dem praktischen Leben, von seiner sogenannten freien Bildung übrig geblieben zu sein, und welche Vorteile gewährt fie ihm noch jetzt? Das, was übrig geblieben ist, find sicherlich keine Einzelheiten des Unterrichts, keine speziellen Unter­ weisungen, kein stets zu Gebote stehender Vorrat an Namen, Daten, Verbformen oder mathematischen Formeln. Die find ihm entschlüpft mit einer Geschwindigkeit und Restlosigkeit, die ihn überraschen würde, hätte er nicht schon oft, am Schluß manches Examens, erlebt, wie ein ganzer aufge­ stapelter Haufen von Wissen in einem Rutsch vom Dach seines Gehirns herunterfiel. Was ist denn von seiner Bil­ dung übrig geblieben? Die Disziplin. Er ist imstande, neue Probleme mit Leichtigkeit aufzufaffen und zu meistern, weil im Lauf seiner Erziehung dieselbe geistige Beweglichkeit und schnelle Fassungskraft von ihm verlangt wurde. Er hat es zu einem hohen Standpunkt, einem weit umfassenden Urteil gebracht. Er weiß, was es heißt, die Dinge von Grund auf zu tun. Und wie erlangt man diese Disziplin in der Bildung? Durch die Berührung mit großen Gedanken und großen Geistern. Der gebildete Mensch ist den Meistern der Litera­ tur nahegetreten, hat die Kraft und den Schwung wissenschaft­ licher Gesetze gespürt, hat zu Füßen der Philosophen ge­ sessen, und während er so in der Armee von Lernenden Frontdienst getan hat, hat er sich unmerklich auf die Führer-

schast unter den Lernenden vorbereitet. Zuweilen nimmt sich ein Mensch vor, große Fragen auszuarbeiten ohne die Disziplin der Bildung. Cr will neue Bahnen des Wissens eröffnen, er will Führer sein, ohne sich je haben leiten zu lassen. Cr will die Welt in Erstaunen sehen durch eine neue Weltanschauung oder eine neue wissenschaftliche Entdeckung. Das find die Männer, die die Buchhandlungen und Patent­ ämter mit ihren literarischen Machwerken und Erfindungen überschwemmen. Sie find mit fich selbst zufrieden, weil fie unwissend find. Sie haben die wahren Meister nicht kennen gelernt, noch die Wahrheit in ihrer ganzen Weite, und so halten fie fich selbst für Meister und die Wahrheit für arm­ selig und klein. Ein disziplinierter Geist dagegen hat unter Autorität gestanden. Große Lehrer haben zu ihm gesprochen, große Gedanken haben ihn beherrscht. Rings um die kleinen Erfolge, die er erreicht hat, dehnt fich für ihn das Mysterium eines unerforschten Weltalls. Er hat Ehrfurcht, Demut und Geduld gelernt, hat die erhabne Größe der Wahrheit erkannt, die Reihenfolge ihrer Gesetze, die Strenge ihrer Gefichtspunkte, die Forderungen, die fie ihren Jüngern auferlegt. Wenn es fich dann um den Übergang von Gehorsam zu Autorität handelt, nimmt der disziplinierte Mensch die Stelle des Führers ein. Seine Schulung und Gewandtheit ver­ wertet er im praktischen Leben. Er hat den Dienst in der Front kennen gelernt, darum ist er jetzt fähig, zu befehlen. Er glaubt nicht alles zu wissen, er meint nicht, daß geringe Kenntnisse für seinen Zweck genügen, denn er hat die Größe der Gesetze erkannt, die den Einzelheiten zugrunde liegen. Ein undisziplinierter Geist wird von Einzelheiten überwältigt, ein disziplinierter fieht die Einzelheiten in der Beleuchtung allgemeiner Gesetze. And darum entgeht die Disziplin der Gefahr der Kleinkrämerei. Ein Mann geht nicht gänzlich in seinem Beruf unter, er ist Herr, nicht Sklave seines Berufs. So wirkt freie Bildung: fie löst den Geist von der Tyrannei äußerer Lebensverhältniffe und macht ihn zum Herr derselben. Der disziplinierte Geist erlangt die Frei­ heit des Gelehrten dadurch, daß er fich der Schulung des

Studenten unterwarf. In dem Maße, wie man sich während seiner Erziehung der Autorität unterstellt, fich demütig beugt vor der Majestät und Kraft der Naturgesetze und fich von großen Führern wie Plato oder La Place, Kant oder Goethe innerlich bewegen läßt, wie einem Soldaten das Herz klopft, wenn der General die Front entlang reitet, in dem Maße ist man diszipliniert für den Posten eines Führers in der Welt des Denkens, ist man fähig, zu einem Menschen zu sagen: „Gehe", so geht er, und „komm her", so kommt er, und zu seinem Diener: „Tue dies", so tut er's. Liberlegen wir uns die Wirkung dieses zweifachen Ge­ setzes auf unser Verhalten in der Welt. Was verleiht unserm Leben inmitten aller moralischen Probleme Festigkeit und äußeres und inneres Gleichgewicht? Was macht uns widerstandsfähig gegen den Ansturm der Versuchungen und läßt uns über die Macht der Verhältniffe Herr werden? Unsre erste Antwort auf die Frage ist: Willensstärke. Was einen Menschen unstet und unficher, zum Sklaven der Verhältniffe und Versuchungen macht, ist, wie wir sagen, Willens­ schwäche. Moralisch emporzusteigen vermögen wir nur, wenn unser Wille uns beherrscht. Cs ist, wie wenn man in einem Cntscheidungskampf ruft: Wo ist der Befehlshaber, der die vielen Impulse in Reih und Glied ordnet, der die Reserven der Selbstbeherrschung heranzieht und den Angriff der Leiden­ schaft zurückschlägt? Was die moralischen Konflikte unsres Lebens fordern, ist ein starker, alles beherrschender Wille. Aber wie kann der Wille so zur Herrschaft im Leben gelangen? Was verleiht ihm die Macht, den Befehl zu er­ greifen, wenn eine Krifis naht? Wird er fich wohl irgend­ eine nicht überlegte Autorität anmaßen, fich zwischen die Impulse des Lebens drängen, wie irgendein unbekannter Führer, der an die Spitze einer Armee eilt und fie anstachelt, ihm zu folgen? Sicher nicht! Charakterstärke kann man ebensowenig wie Geistesstärke durch ein Wunder erlangen. Sie ist das Resultat eines langsamen Vildungsprozeffes, die Frucht einer zur festen Gewohnheit gewordnen Disziplin. Der Wille erwirbt einen Schatz von Kraft genau so wie

der Geist einen Schatz von Erkenntnis erwirbt, und diese aufgespeicherte Energie wartet auf den entscheidenden Augen­ blick, um dem Leben Triebkraft und Einheit zu geben. Die moralischen Krisen des Lebens kommen unerwartet und plötz­ lich. Ein Mensch segelt über den Ozean seiner Crlebniffe wie ein Schiff, das zur Sommerzeit über Meer fährt, und leicht ist es für den Willen, bei den milden günstigen Winden einen guten Kurs zu steuern. Dann plötzlich fahren aus einer winzigen, scheinbar harmlosen Wolke schreckliche Böen auf die achtlose, untätige Besatzung herab und stellen ihre Stärke, Geschicklichkeit und Disziplin auf die Probe. Dann ist nicht Zeit zu erwägen, was geschehn sollte, oder umher­ zublicken, ob sich nicht irgendwo ein seemännisches Talent auftut. Dem Entschluß gehört der Augenblick. Die Diszi­ plin der Vergangenheit wird in einen Instinkt der Tat ver­ wandelt, so daß ohne Besinnen das richtige Tau ergriffen, das richtige Kommando erteilt wird. So brechen auch die moralischen Krisen des Lebens aus heiterm Himmel über den Menschen herein. Er treibt dahin, ohne je daran zu denken, daß das Leben ernst und dramatisch ist, und plötzlich stellt Gott ihn auf die Probe. Geschäftliche, sinnliche und ehrgeizige Versuchungen stürzen sich auf ihn, verdunkeln ihm den Himmel, versehen sein ganzes Wesen in Spannung und schlagen wie Wogen über ihm zusammen. Dann wird seine Sicherheit verbürgt nicht durch einen plötzlich ins Leben ge­ rufenen Willen, sondern durch einen Willen, der sich langsam und sicher in ihm entwickelt hat. Der Erfolg solcher über­ wältigenden Ereignisse hängt ab von der Plötzlichkeit ihres Angriffs und der moralischen Unreife ihrer Opfer. Keine erst im Augenblick entwickelte Kraft kann sich ihnen entgegen­ stellen. Der Wille, der den Oberbefehl ergreift, ist in einem solchen Grade diszipliniert worden, daß er handelnd instink­ tiv das Rechte ergreift. Seine Herrschaft ist von der Leich­ tigkeit eines routinierten Virtuosen, der ohne Anstrengung das ausführt, was er in langen, mühevollen Jahren der Übung sich zu eigen gemacht hat. Sie hat den Instinkt des Seemanns, der ihn augenblicklich so handeln läßt, wie es die

Gefahr verlangt. Bricht ein plötzlicher Sturm herein, so ergreift der disziplinierte Wille den Oberbefehl über das Leben und ruft: „Geh — komm — tu dies", und alle ihm unterstellten Impulse und Fähigkeiten gehorchen. Und wie erlangt man diese moralische Disziplin? Durch Gehorsam. Die Kraft, Befehle zu erteilen, erwächst aus der Kraft, Befehlen zu gehorchen. Der Wille führt, weil er Grundsätze erkannt hat, denen er ohne Zögern folgt. Wer un­ terliegt der Versuchung? Derjenige, der an die Beurteilung einzelner Fälle herangeht, ohne allen Fällen gegenüber einen festen Standpunkt zu haben, gleich einem Kapitän, der die Steuerung seines Schiffs ausprobiert, wenn der Sturm schon über ihn hereingebrochen ist. Und wer steht sicher in den moralischen Krisen des Lebens? Wer sich daran gewöhnt hat, sein Leben zu betrachten unter dem Gesichtspunkt ewiger Grundsätze, absoluter Gesetze, klarer Forderungen, die er nicht bestechen, noch nach seinem Geschmack ummodeln darf, sondern denen er ganz einfach zu gehorchen hat. Ein solcher Mensch, plötzlich in die moralischen Kämpfe des Lebens hineingedrängt, tritt ihnen als Soldat entgegen. Sein Ver­ halten im einzelnen wird bestimmt von dem allgemeinen Plan des Lebens, nach dem er sich richtet, wie die Aufgabe jedes einzelnen, einsam auf Wache stehenden Postens einen wich­ tigen Teil in dem Plan des Oberbefehlshabers bildet. Als ein Mensch unter Autorität tritt er vor die Probleme seiner Pflicht hin und läßt seine Befehle an sie ergehn wie ein Hauptmann an seine Truppen. Und nun laßt uns diesselbe Gesetz in seinen Wirkungen noch weiter verfolgen, hinein in jene Liefere Welt religiösen Erlebens. Was bedeutet Religion, und wie kommt es, daß sie unser Leben verwandelt? Angenommen, ein Mensch, der sich dem Leben und all seinen mannigfaltigen Forderungen gegenübergestellt sieht, beschlösse, es allein und aus eigner Kraft auf sich zu nehmen. Er will seinen eignen Weg auf eigne Art suchen, mit allen an ihn herantretenden Problemen selbst fertig werden und sein Leben völlig selbst in die Hand nehmen. Und nun stürzt dies Leben sich auf ihn. Die Ge-

Heimnisse umdrängen ihn, Mißerfolge bringen ihn aus der Fassung, Freud und Leid überwältigt ihn, und der Tod läßr ihn verarmen. Was lernt er aus all diesen unvermeidlichen Erfahrungen? Daß sein Leben nicht ihm gehört, daß er cs nicht allein gestalten, führen und deuten kann, sondern daß er es nur hinzunehmen vermag als ein Pfand, das eine höhere Macht in seine Hände gelegt hat. Dann kommt ihm der Gedanke, daß sein Leben mit allen Leiden und Freuden, allem Gelingen und Mißlingen, von oben bestimmt wird, und der Gedanke an diese höhere Macht offenbart sich ihm wie einem Soldaten, der nur Teile des Schlachtfelds, ein­ zelne Siege und Niederlagen gesehn hat und dann an den Platz des Befehlshabers tritt, von wo er erkennt, wie all die mannigfachen Cinzelfälle den einen großen Plan auswirken. So geschieht es, daß, wenn ein Mensch Gott findet auf dem Schlachtfeld der Welt, die Erfolge und Niederlagen seines eignen Lebens sich in den großen Plan einordnen und er tapfer wieder in den Pulverdampf des Lebens hinabsteigt in dem Bewußtsein, daß es seinem General zukommt, den Plan zu entwerfen, und ihm, an der Ausführung mitzuhelfen. Cs ist derselbe Grundsatz, der sich hier wieder vollzieht. Ci,» Mensch, der ohne Religion zu leben versucht, findet sein Leben fortwährend verwirrend und überwältigend, weil er ihm nicht als Diener einer höhern Macht gegenübertritt. Religiöses Leben ist diszipliniertes Leben. Cs befiehlt, weil es gehorcht. Cs ist unter Autorität, und darum wird es Herr über seinen Gang. Der Gehorsam gegen den Gott in der Höhe gibt uns die Herrschaft über die Welt zu unsern Füßen. überdenken wir dies noch einmal, wie es in Jesu Per­ sönlichkeit zum Ausdruck kommt. Was gab ihm die Kraft, seine Lehre mit voller Autorität zu verkünden? Daß er selbst unter der Autorität Gottes stand. Sein Vater war stets über ihm, darum stand er stets über der Welt. Cr wußte, was in den Menschen war, weil er sich selbst Gott hingab. Cr war ein Führer durch das Bewußtsein, geführt zu werden. „Ich habe nicht von mir selber geredet, sondern

der Vater, der mich gesandt hat." „Meine Speise ist die, daß ich tue den Willen des, der mich gesandt hat und voll­ ende sein Werk." Wenn man an die Erfahrungen denkt, bei denen ein Mensch entweder sich selbst beherrscht oder besiegt wird, wenn man sieht, wie diese Charakterproben un­ erwartet an das Leben herantreten, wenn man sich die Un­ sicherheit der Geschäfte, die verschlungenen Fäden der Ge­ danken, Unglück im Familienleben, die Unbeständigkeit der Freundschaft, alle Leiden und Freuden des Lebens recht vergegenwärtigt, dann sieht man, wo es auf geistige Diszi­ plin ankommt. Glaubt mir, ein Mensch geht nur dann als Sieger aus dem Leben hervor, wenn er als Soldat ins Leben tritt. Viele Befehle ergehn an ihn, deren volle Be­ deutung er nicht ermessen kann, aber er ist ein Mensch unter Autorität. Gott spricht und er gehorcht. Seine Speise ist die, daß er den Willen tut des, der ihn gesandt hat und vollendet sein Werk. Getragen von jener Kraft des Gehor­ sams bringt er die Welt zum Gehorchen. Unberührt geht er aus seinen Siegen hervor, denn er gewann sie für seinen General, und in seinen Niederlagen ist er nicht verlassen — der Vater ist bei ihm. Er führt sein Leben, das Leben führt nicht ihn. Er sagt zu ihm: „gehe!", und es geht, „komm her", und es kommt, weil er selbst ein Mensch unter Autori­ tät ist. Und nun laßt uns zum Schluß sehn, wie Jesus das nennt, was wir Disziplin nannten. Er nennt es Glauben. Er sagt zu dem Hauptmann, seine Antwort sei eine Ant­ wort des Glaubens. „Wahrlich, ich sage euch, solchen Glauben habe ich in Israel nicht gefunden." Religiöser Glaube ist also etwas viel Einfacheres, als man ost an­ nimmt. Er besteht nicht darin, daß man Meinungen zu­ stimmt, sich der Tradition fügt, er ist keine Ekstase des Ge­ fühls. Er ist, wie es sich aus dieser Geschichte ergibt, im Grunde seines Wesens moralische Treue. Was der Soldat für seinen General fühlt — das ist Glaube: Liebe, Ehrfurcht und Vertrauen, die in Gehorsam gipfeln. Der Glaube an eine bestimmte Reihe von Ansichten hat seine Kraft und

Bedeutung, aber er macht die Religion nicht zu einer Lebens­ betätigung. Die erreicht ein Mensch nur, wenn er alle ge­ ringeren Kräfte, seinen Gehorsam gegen die Wahrheit, seinen Instinkt für die Pflicht, zusammenrafft, und sie, wie ein Soldat seine Bereitschaft, Befähigung und Treue, mit allem, was er sonst besitzt, dem Führer widmet, dem er dient. Das ist Religion. Das ist das Wesen aller Beziehungen von Christen zu Christus: Die schlichte Erkenntnis, daß es einen Führer gibt, der das Recht hat zu führen, und dem wir uns, trotz vieler Rätsel und Probleme über seine Persön­ lichkeit, willig unterwerfen, um unter seiner Fahne seiner Sache willig zu dienen. And das gibt allen Erfahrungen des Lebens Einfachheit und Gehaltenheit. Daß man sich vornimmt, nicht sich selbst, sondern seinem Führer treu zu dienen, das vereinfacht manches Problem und verscheucht manche Sorge. Rur der Mensch findet sich in dieser Welt zurecht und wird ihrer Herr, der über der Welt steht, weil er nicht seinen Willen sucht, sondern den Willen des Vaters, der ihn gesandt hat. In dem Maße, wie er sich von Gott abhängig fühlt, fühlt er sich frei von der Welt. Sein Dienen ist völlige Freiheit. Er hat das große Wort ver° nommen und ihm gehorcht: „Dein Glaube hat dich gerettet", und „unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwun­ den hat."

11. Das Gleichnis vom leeren Raum?)

Wenn der unsaubere Geist von dem Menschen ausfähret, so durchwandelt er dürre Stätten, sucht Ruhe und findet ihrer nicht; so spricht er: „Ich will wieder umkehren in mein Haus, daraus ich gegangen bin." Und wenn er kommt, so findet er's mit Vesemen gekehret und geschmückt. Dann geht er hin und nimmt sieben Geister zu sich, die ärger find denn er selbst; und wenn sie hineinkommen, wohnen sie da, und wird hernach mit demselbigen Menschen ärger denn vorhin.

Dies ist ein schwieriges Gleichnis. Vielleicht können wir nicht genau sagen, was es in dem hier gegebenen Zu­ sammenhang lehren sollte. Aber es hat eine allgemeine Bedeutung, die uns klar zu sein scheint. Das Gleichnis beschreibt einen Menschen, der von einem sogenannten unsaubern Geist besessen ist und diesen Geist aus seinem Leben austreibt. Das sollte doch einen großen, glücklichen Sieg bedeuten — den Sieg des Guten über das Böse. Wir sollten meinen, der Mensch gehe frei und unanfechtbar daraus hervor. Aber der, von dem wir hören, kann seinen Sieg nicht in Ruhe genießen. Im Gegenteil, er fühlt sich un*) Vgl. Morgenandachten S. 67.

befriedigt, ruhelos und einsam. „Er durchwandert dürre Stätten, sucht Ruhe und findet sie nicht." Er entbehrt die Gesellschaft eben jenes Geistes, den er glücklich vertrieben hat. Sein Leben ist leer ohne ihn. Er versucht, in der einsamen, reinen Atmosphäre zu leben, die er sich geschaffen hat, aber nicht lange, und der ausgestoßene Geist klopft an die Tür und findet einen mehr als herzlichen Willkomm. Er kommt mit Gefährten, die ärger find als er selbst, und wenn fie hineinkommen, wohnen fie da, und wird hernach mit demselbigen Menschen ärger denn vorhin. Man fleht leicht, worauf der Nachdruck in diesem Gleich­ nis liegt — auf der Gefahr der Leere. Die Geschichte sagt, daß eine Wohnung wie das menschliche Leben bewohnt werden muß. Kein Herz kann unbewohnt bleiben. Wenn man einen Insassen austreibt, macht man damit nur Platz für andre. Der alte Geist wird ficher zurückkehren und freudig begrüßt werden, selbst wenn er andre Geister mit fich bringt. Wäre das Gleichnis in einer wissenschaftlichen Zeit wie der unsern erzählt worden, so wäre das Bild vom leeren Haus vielleicht zum Bild vom leeren Raum geworden. Das ist etwas, das die Natur nicht duldet. Man macht einen Raum leer, und sofort füllt er fich wieder. Cs gibt keine Sicherkeit in einem unausgefüllten Leben, oder vielmehr, es gibt überhaupt kein unausgefülltes Leben. Ihr könnt aus eurer Seele nicht wie aus euerm Hause einen Bewohner aus­ treiben und die Seele dann kehren und schmücken und die Tür hinter ihr zuschließen. Gegen euern Willen, oder gar mit euerm Willen, wird, durch verriegelte Türen und fest verschlossene Fenster, gleich eindringender Luft oder gestalt­ losen Geistern, eine Schar von unerbetenen Gedanken und ungedachten Wünschen in euer leeres Leben eindringen, und wenn fie hineinkommen, wohnen fie dort, wo vorher der eine Geist wohnte. Denken wir z. V. an das Leben eines Kindes. Sein kleiner Geist ist nie ficher vor Unheil, wenn er nicht mit nützlichen Dingen ausgefüllt ist. Nicht eigentliche Böswillig­ keit haben die Eltern am meisten zu fürchten, sondern innere

Leere. Kluge Eltern sollten als erstes darauf bedacht sein, durch allerlei Mittel, wie Vergnügungen und Spielgefährten, dafür zu sorgen, daß das Gefühl der Leere nicht die Ober­ hand gewinnt. In demselben Augenblick, wo ein Kind sich selbst eingesteht, daß es nichts zu tun hat, in dem Augenblick lauern auch schon alle kleinen Teufel des Übermuts und der Unart wie Feinde im Hinterhalt, bereit, sich in die un­ bewachte Festung des Herzens zu stürzen. Oder vergegenwärtigen wir uns das Leben eines jungen Mannes oder jungen Mädchens, wenn es aus den Spielen der Kindheit übergeht zu reiferen Gedanken und weiteren Zielen. Cs ist eine folgenschwere Übergangszeit für die Menschen. Hinter ihnen liegt die Kinderzeit mit ihren Be­ schäftigungen und Interessen, ihrem Leiden und Lachen, mit all ihren guten und bösen Geistern, und vor ihnen liegt das Leben der Reife, das zu hochstrebenden, ehrgeizigen oder opferwilligen Träumen lockt, zu neuen Versuchungen, Kämpfen und Siegen. Aber gerade zwischen diesen beiden Epochen kommt für die meisten jungen Menschen eine Zeit, wo weder die eine noch die andre Lebensweise für sie volle Geltung hat. Die einen sehnen sich heimlich nach den Ge­ danken und Büchern der Kindheit zurück, die andern fühlen einen unbestimmten Drang in sich, etwas Starkes und Freies zu tun und zu sein. Cs ist eine Zeit rastloser Selbstbetrach­ tung und Selbstprüfung, eine Zeit unschlüssigen Zauderns. Das verantwortungslose Kinderleben befriedigt den Men­ schen nicht mehr, und doch kann er sich nicht entschließen, die Pflichten eines Erwachsenen auf sich zu nehmen. Die Maschine der Lebenskraft ist mit Dampf gefüllt, der aber noch nicht seiner eigentlichen Arbeit zugeführt wird. Er siedet und kocht und wird geradezu gefährlich, weil seine Energie keinen Widerstand und keine Leitung findet. In den meisten Fällen wird das spätere Leben in einem Grade, den man nicht ernst genug nehmen kann, von dem Verlauf dieser halbverträumten Jahre bestimmt, wo die Kindheit hinter einem versinkt und man zu den Versuchungen und Interessen des reifen Lebens erwacht. Die Geschichte des Peabody, Sonntagsgedanken. 9

ganzen späteren Lebens ist oft nur die Verwirklichung von damals geträumten Träumen, der Kampf gegen uns damals beherrschende Fehler. Wie kommt es, daß diese Übergangszeit so ernst ist? Welches ist die Gefahr, die diese Krisis kennzeichnet? Cs ist die Gefahr, die unser Gleichnis schildert, die Gefahr des Hauses, das leer steht. Die Interessen der Kindheit find abgetan, selbst die unsaubern Geister jener Zeit versuchen uns nicht mehr, aber an ihre Stelle tritt keineswegs gleich das ausdauernde Streben reifer Jahre. Die Freude an dem, was jeder einzelne Tag bringt, an Arbeit und neuer Erfahrung, scheint befriedigend genug. Nichts gibt dem Leben Festigkeit, Beständigkeit und Einzelwert. Cs hat kein alles absorbierendes Ziel, keinen dauernden Zweck. Noch, sagt man sich, ist's zu früh für die ernsten Ziele, die älteren Menschen jene scharf ausgeprägten Züge geben und ihnen das Haar bleichen. Jeder Morgen bringt die Studien, die andere Leute bestimmt haben, und die Vergnügungen, für die die Welt sorgt. Man braucht keine Wahl zu treffen, für nichts dauernde Verantwortung zu übernehmen, und schwere Versuchungen treten nicht an einen heran. Das Haus ist leer, gekehret und geschmückt. Sehr bald mutz man ja doch einen Beruf wählen, sich sein Brot verdienen, sich am Wett­ kampf des Lebens beteiligen, und dann hat man Zeit genug, einen dauernden Bewohner für das Herz zu suchen. Aber ihr könnt euer geistiges Leben nicht so ohne jeden Inhalt lasien; etwas muß darin sein. Cs ist ein leerer Raum, der sich füllen muß. Cs liegt keine Sicherheit in seiner Ein­ samkeit, und es kann nicht dauernd rein bleiben, wenn es den alten Leidenschaften und Sünden entronnen ist. Wenn der unsaubere Geist von dem Menschen ausfährb, läßt er ihn nicht gesund und gefestigt zurück, sondern ruhelos und einsam, und wenn der Mensch dann sein Leben nicht mit befferen Gästen füllt, so werden die unsauberen Geister seiner Jugend zurückkehren, nein sogar sieben andre Geister, die um so vieles ärger sind als die ersten, wie die Sünden des reifen Menschen schlimmer sind als die des Kindes. Sie werden

kommen und sich in das unbewachte Leben stürzen und seine Leere in elende Fülle verwandeln, und „wird hernach mit demselbigen Menschen ärger denn vorhin." Auf diese Weise regiert das Gesetz vom leeren Raum das Leben der Jugend. ünd auch später, in den verschieden­ artigsten Lebenslagen, ist es leicht, seine Wirkung zu er­ kennen. Denken wir an geistige Beschäftigungen! Es gibt zwei Arten des Studierens: mit leerem oder mit vollem Geist. Ihr könnt ein Buch zur Hand nehmen und dabei ganz ohne rege Aufmerksamkeit und geistige Spannung sein, und wie das Buch sich mit eurer Passivität abfindet, glaubt ihr zu arbeiten. In Wirklichkeit aber arbeitet ihr nicht, ihr ruht euch aus. Es gibt kaum eine echtere und täuschen­ dere Trägheit als die, der man sich beim Lesen eines Buchs oder einer Zeitung hingibt. Die Lektüre, die man treibt, ist zum größten Teil keineswegs eine wirkliche Übung des Geistes. Sie ist ein Ausruhn des Geistes, weil der Geist sich alter Gedanken entledigt hat und noch nicht von neuen Gedanken erfüllt wird. Andrerseits aber geschieht es zu­ weilen, daß man sich einem Buch zuwendet mit gesteigerter Aufmerksamkeit, in der Erwartung geistiger Bereicherung, empfänglich und elastisch, als hätte man Gedanken zu geben sowohl wie zu nehmen. Dann wird der Prozeß des Lesens zu etwas völlig anderm. Die unsaubern Geister der Träg­ heit und Achtlosigkeit werden von den Engeln der Sympathie und Phantasie verdrängt. Der Geist wird gefördert, weil er voll ist. So geht es auch bei den ernsteren Anforderungen des Lebens. Da steht ein Naturforscher vor der Fülle seiner alles absorbierenden Intereffen und überlegt sich, wie er seinen Geist disziplinieren soll, daß er ihm am besten in seiner Arbeit hilft. Zwei Wege find möglich für ihn. Der eine ist der, seinen Geist von allen vorgefaßten Meinungen, Erwartungen und Mutmaßungen in bezug auf das, was er finden oder lernen könnte, zu befrein, und ihn als Spiegel vor die Tatsachen der Natur zu halten, sie mit absoluter Klarheit und Genauigkeit aufzunehmen und widerzuspiegeln. 9*

Diese Art intellektueller Disziplin bezeichnet man zuweilen als die streng wissenschaftliche. Der Mann der Wissenschaft, sagt man, muß fich zu absoluter Unparteilichkeit und Aufrichtigkeit erziehn. Er tritt nicht an die Natur heran, um irgendeinen selbst aufgestellten Gedanken zu beweisen, son­ dern um in aller Demut die Tatsachen zu lernen und sie in ihrer Art zu fich sprechen zu lassen. Das eben ist es, was den Wissenschaftler von der Masse der Ungeschulten unterscheidet, den Gefühlsmenschen und theologischen Köpfen, die fich mit irgendeiner vorgefaßten Meinung auf die Natur stürzen und nur die Vorgänge sehn, die ihre Erwartung be­ stätigen. Sich völlig von Voraussetzungen fteihalten, aus seinem Geist auch den letzten Funken von Vorurteil und Parteinahme verbannen, und dann die Eindrücke der Natur auf fich wirken lassen wie auf eine empfindliche photo­ graphische Platte, — das soll die Geistesart sein, die den Wissenschaftler kennzeichnet. Dies alles ist selbstverständlich wahr. Die Wissenschaft unsrer Zeit lehrt und betätigt diese unbedingte Auftichtigkeit und Unparteilichkeit in einem Maße wie nie zuvor. Sie hat der Welt eine neue Definitton des großen Wotts Glaube gegeben, des Glaubens, der sich gehorsam und ehrfürchtig der Wahrheit, so wie sie ist, unterwirft und fich nicht darum kümmert, ob angenommene Theorien zerstört oder aufrecht­ erhalten werden. Aber ist dies schließlich die Art von Wissen­ schaft, die am tiefsten in die Natur eindringt? Aufrichtigkeit, Freiheit, ein offner Sinn find natürlich unentbehrlich. Aber ist es nötig, daß der Geist passiv und träge bleibt und nur wie ein Spiegel die Wahrheit auffängt? Im Gegenteil, der höchste Typus eines wissenschaftlichen Geistes hat eine viel schwerere Aufgabe zu lösen als seine eignen Weisungen zu. ignorieren. Er mutz, oft in geradezu erstaunlichem Maße, einer disziplinierten Phantasie Raum geben. Er muß sich dazu erziehn, Tatsachen mit völliger Klarheit und Genauig­ keit aufzunehmen, außerdem aber seine eignen Mutmaßungen noch über die Grenzen dieser Tatsachen hinausschweifen lassen, daß sie neuen Forschungen den Weg bereiten und die

Bedeutung neuer Resultate schon im voraus ahnen lasten. Oder, genauer gesagt: Hierin liegt der Unterschied zwischen großer, epochemachender, nur um der Wissenschaft willen ge­ leisteter Arbeit und der Arbeit kleinlicher kümmerlicher Geister. Der kleine Geist löscht sich selbst aus und läßt die Natur ihre Schrift auf seine leeren Blätter schreiben; der große Geist tritt an die Natur heran und will seine eignen Eindrücke, Erwartungen und Vermutungen widerlegt oder bestätigt sehn. Immer dann hat die Wissenschaft einen großen Schritt vorwärts getan, wenn große Geister sich auf die beobachteten Tatsachen warfen und ihre Bedeutung, ihren Ursprung und ihre Tendenz erforschten. Männer wie Galilei, Newton, Kepler und Darwin — sie schleuderten der Natur ihre eigenen Ansichten ins Gesicht, wagten eine Voraussehung, erkühnten sich, ihre Phantasie frei spielen zu lassen, und sahn sich dann vor das Problem gestellt, für ihre eignen Visionen den Beweis zu erbringen, oder sie, mit derselben Bereitwilligkeit, zu verbessern oder zu verneinen. Das soll heißen: der eine Mensch tritt mit vollem Geist an die Natur heran, der andre mit leerem, und die Größe des Resultats richtet sich nach der Gedankenfülle, die sich in den Dienst der Wahrheit stellt. Nicht der leere Geist, sondern der von disziplinierten Gedanken erfüllte hat wissenschaft­ lichen Blick und Griff. Ungeschult im Denken sein, heißt unfruchtbar im Beobachten sein. Die Insassen des Geistes herauswerfen, heißt schlechteren Elementen Einlaß gewähren. Der Geist, der zum Forschen und Fragen erzogen und ge­ nügend diszipliniert ist, um bessernd zu wirken, ist derjenige, der aus seiner eigenen Fülle heraus wagt, Entdeckungen zu machen, und der durch seine eigne Disziplin weise ge­ worden ist. Oder denken wir an ein andres großes geistiges Inter­ esse: das Studium der Bibel. Es gibt zwei Arten, die Bibel zu studieren. Die eine besteht darin, daß man sich ftei macht von aller Sympathie mit ihr und ihren Lehren und mit der Bibel sozusagen wie mit jedem andern Buch verfährt. Man nennt dies ost die kritische Methode, wie

man bei Naturforschern von der wissenschaftlichen Methode spricht. Natürlich ist hier Wahrheit so gut wie dort. Selbst­ verständlich kann auch unser Wissen über die Bibel nicht wachsen ohne Unparteilichkeit und Vorurteilslosigkeit. Aber es ist etwas ganz anderes, wenn man sagt, man müsse den Geist freihalten von den Eindrücken und Erwartungen, die ein solches Studium ständig mit sich bringt. Nehmen wir z. V. das Leben Jesu. Wie wird man es am besten ver­ stehn? Soll man es wie einen Stein oder einen Stern be­ trachten ohne wachsende Sympathie und innere Anteilnahme, oder wird man es besser verstehn, wenn man sich seinem Einfluß mehr und mehr hingibt? Wie geht es dir einem andern Freunde gegenüber? Du denkst vielleicht, du ver­ ständest ihn, wenn du dich zurückhältst und ihn studierst —, aber dann verstehst du ihn wahrscheinlich ganz und gar nicht. Du lernst ihn erst kennen, wenn du ihn lieben lernst. Je mehr du aus deinem Sinn alle ihn betreffenden Eindrücke verbannst, desto unmöglicher ist es dir, ihn richtig zu schätzen oder zu bewundern. Du gibst dich seiner Freundschaft hin, und erst dann findest du sie des Besitzens wert. Das Herz, das schnell Sympathie empfindet und auf Freundschaft reagiert, erwirbt sich Freunde und entdeckt den tieferen Sinn im Leben andrer Menschen. So geht es beim Kritisieren der Evangelien. Einige Menschen machen sie zum Gegen­ stand ausgedehntester Studien, und sie kommen doch nie auf den Grund ihres Wesens. Sie wissen alles über die Bibel, aber den Geist der Bibel haben sie nicht gespürt. Die Be­ richte über das Leben Jesu sind ihnen vertraut, aber sie begreifen nicht, worin die Macht des Lebens Jesu liegt, noch können sie es andern begreiflich machen. Sie haben sich von Vorurteilen befreit, aber gleichzeitig ihren Tiefblick ein­ gebüßt. Sie beschreiben die Bibel, sie deuten sie nicht. Sie kritisieren Christus, aber sie verstehn ihn nicht. Nein, mehr noch: nachdem sie alle Empfindungen aus ihrem Geist ver­ bannt haben, tritt das Gesetz vom leeren Raum noch einmal in Kraft, und eine Horde neuer gewagter Theorien stürzt herein, um die Leere auszufüllen. Grade die Gelehrten, die

sich nicht durch geistige Sympathie innerlich bewegen lasten, find groben Deutungen und voreiligen Schlüffen besonders leicht zugänglich. Wenn der Geist die Fähigkeit innerer Anteilnahme verbannt hat, so werden schlechtere Gäste in ihn eindringen: Bitterkeit, Zynismus und Verachtung. Und der Mensch, der fich frei dünkt, erkennt wohl, daß er ein Sklave ist. Das ist es, was unser Gleichnis über das intellektuelle Leben zu lehren scheint. Wenden wir uns noch einmal dein Leben geselliger Vergnügungen und Zerstreuungen zu, an dem wir alle Teil haben, und sehn wir, was das Gleichnis hier lehrt. Man wird fich der Empfindung nicht entziehn können, daß in diesem Austausch von Höflichkeiten und Gast­ lichkeiten eine gewiffe Gefahr liegt, aber es wird einem schwer fallen, genau zu bestimmen, worin fie liegt. Unmöglich in der Fröhlichkeit und dem leichten Sinn, der bei solchen Gelegenheiten herrscht. Cs kann nicht unrecht sein, lustig zu sein, oder unnütz, fich glücklich zu fühlen, und es ist oft äußerst erfrischend, leichtfinnig zu sein. Cs gibt nichts positiv Schlechtes in diesen gesellschaftlichen Beziehungen, die im Leben vieler einen so breiten Raum einnehmen. Was man zu fürchten hat, ist dies: daß jene Beschäftigungen, die unser Leben auszufüllen scheinen, es vielleicht in Wirklichkeit leer machen; daß sie unser Denken und Fühlen ohne Nahrung lasten, uns Willen und Herz nicht festigen; daß man in diesem rastlosen Wirbel geselliger Verpflichtungen jegliche Selbständigkeit der Persönlichkeit verlieren kann und auch zu einem gedankenlosen, seelenlosen Rad wird, das fich mit all den andern Rädern dreht. Diese Art Leben kann leicht einen leeren Raum erzeugen. Die Atmosphäre wird über­ hitzt und die gesunde Luft herausgedrängt, und die dadurch entstehende Leere bietet die Möglichkeit zu jeglicher häßlichen Sünde. Manchmal ist es wie der Ausbruch eines Zyklons über einer friedlichen Stadt. Die überhitzte Luft bildet einen Trichter, in dessen leeres Innere eine große Leidenschaft oder Sünde mit überwältigender Kraft hineingezogen wird. Man muß etwas haben, das das Leben ausfüllt, — wenn nicht die

Anregung, die gesunde Arbeit schafft, so die Anregungen un­ gesunder Phantasie; wenn nicht Leidenschaften, die sich auf wertvolle Ziele richten, dann solche, die selbstzerstörend wirken. Cs genügt nicht, von geselliger Zerstreuung zu sagen, sie sei harmlos. Sie muß außerdem das Bedürfnis nach intellek tueller Bereicherung befriedigen und dem Hause des Geistes dauernde Bewohner zuführen. Ich könnte auf noch eine Illustration des Gleichnisses Hinweisen, wie sie sich in der Haltung der Philanthropie zeigt. Bei dem ungeheuren edlen Unternehmen, das darauf ausgeht, den Armen, Lasterhaften, Entehrten und Heiden zu helfen, gibt es neben allem Segen und allem Wohltuenden eine entmutigende Gefahr, die manchmal alles Gute in einen Fluch zu verwandeln droht. Es ist die Gefahr, die durch das Gefühl der Leere erzeugt wird. Nehmt einem armen Mann die Freuden des Wirtshauses, und ihr habt seinem Leben eins der wenigen Dinge genommen, die ihm Heiterkeit und Zufriedenheit gaben. Was soll er jetzt mit seinen Abenden und Feiertagen anfangen? Alles, was ihr getan habt, ist, daß ihr eine Leere schuft. Der Mann durchwandelt dürre Stätten, sucht Nuhe und findet ihrer nicht; und ihr seid noch weit davon entfernt, seine Seele gerettet zu haben. Bringt den Sünder ins Gefängnis, und während ihr ihn so dem Bereich der Versuchungen des Lasters entzieht, entzieht ihr ihm auch alle Beschäftigungen und Hilfsquellen, und wieder folgen die Gefahren eines leeren Lebens. Er geht aus dieser Zeit der Gefangenschaft nicht mit neuer Energie und Wider­ standskraft hervor, sondern mit erschlafften Nerven, einer überhitzten Phantasie und geschwächtem Willen. Das über ihn gefällte Urteil hat ihn dazu verdammt, ein leerer Naum zu sein, und er sehnt sich danach, ausgefüllt zu werden. Oder denkt an die Berührung verschiedener Raffen, höherer und niederer, an das Zusammenkommen von Ameri­ kanern und Indianern, Engländern und Orientalen. Können wir etwas Traurigeres sehn als die Tatsache, daß sich die niederen Raffen bei der ersten Annäherung der höheren von allem Schlechten anstecken laffen? Der Indianer lernt die

Laster des Weißen und verliert seine eignen Tugenden. Der Mohammedaner wächst über den Zwang seines eignen Glau­ bens hinaus und lügt und trinkt, wie er sagt, wie ein Christ. Wieder ist es das Gefühl einer Leere. Es ist ihrem Leben etwas genommen. Sie haben den Glauben an die Autorität, die sie einst beherrschte, verloren. Die höhere Raffe hat die bösen Geister, die schädlich schienen, vertrieben, aber sie hat für keinen besseren Ersah gesorgt. Die Menschen find keine Indianer mehr, aber noch keine Amerikaner, find nicht länger Orientalen, aber noch keine Europäer; und in die dadurch geschaffene Leere ihres unbewachten Willens haben sich die bösen Geister der Zivilisation gestürzt — Geister, die weit schwerer zu vertreiben sind als die Sünden des Barbaren­ tunis —, und wenn sie hineinkommen, wohnen sie da als Schandfleck christlicher Arbeit und moderner Reform. Cs genügt also nicht, zu sagen, daß die Philanthropie bei ihrem Wirken unter der Armut und Sünde und unter den nicht christlichen Nationen nur halbe Arbeit tut. Sie führt auch, und zwar höchst ungerechterweise, eine neue Ge­ fahr ein. Die Temperenzbewegung hat nicht das Recht, den Armen die Wärme und das Behagen des Wirtshauses zu nehmen, wenn sie nicht gleichzeitig dafür sorgt, jene Leere mit dem Behagen und der Wärme besserer Zufluchtstätten auszufüllen. Die Gefängniszucht arbeitet ohne Erfolg, wenn sie der Gesellschaft den Gefangenen nicht in einer Verfassung zurückgibt, in der er bis zu einem gewissen Grade von Be­ strebungen erfüllt ist, die verbrecherische Neigungen aus­ schließen. Das Misfionswerk der Christen mit all seinen glänzenden Selbstopfern trägt eine neue Gefahr in die heid­ nischen Nationen hinein, wenn es nicht, als allererstes, die Kluft überbrückt zwischen den wankenden Idealen des alten Glaubens und den unerprobten Einflüssen des neuen. Dies gilt in der Tat nicht nur von der Heidenmisfion, sondern von allem Predigen und aller religiösen Unter­ weisung. Seinen Zuhörern den Halt einer scheinbaren Wahrheit nehmen, heißt nicht nur, halbe Arbeit tun, sondern eine neue Gefahr heraufbeschwören. Niemand wird so leicht

zum Opfer törichten Aberglaubens und moderner Ersatzmittel für den Glauben als diejenigen, denen man das Törichte ihrer alten Wege klar gemacht hat, ohne ihnen beffere zu zeigen. Sie fühlen die Leere ihrer alten Überzeugung, und irgendeine Überzeugung ist besser als gar keine. Sie find aus dem Land der Knechtschaft in die Wüste geführt und dort gelassen worden. Die einzige Art, Menschen von ihren Irrtümern zu befrein, ist, ihnen ewige Wahrheiten zu predigen. Ein neues Evangelium erfordert nicht eine Predigt der Ver­ neinung, sondern eine höchster Bejahung. Kein Mensch hat irgendwie das Recht, eine Leere des Herzens zu schaffen. Oder besser gesagt: jeder Mensch, der versucht, zerstörend vor­ zugehn, unternimmt etwas Unmögliches. Er schafft einen leeren Raum, in den fich die schlechten Clemente stürzen werden. Er reißt die Überzeugung nieder, und Zügellosigkeit und Gesetzlosigkeit fallen ein. Er verbannt den Aberglauben der Vergangenheit, und der Aberglaube der Gegenwart tritt cm seine Stelle. Er ruft: „Ich habe mein Haus leer gemacht, gefegt und geschmückt", und noch während er über seine Freiheit frohlockt, kommt eine jämmerliche, moderne Sophiste­ rei und fesselt seinen Willen, und wird hernach mit demselbigen Menschen ärger denn vorhin. Diese verschiedenen Formen, in denen sich das Gesetz vom leeren Raum zeigt, führen schließlich zu der Wahrheit, die das Gleichnis anscheinend lehren soll. Sie ist nichts Ge­ ringeres als das Grundprinzip des christlichen Lebens, das Mittel, durch das man, nach Meinung des Christentums, die Sünden und alles Schlechte dieser Welt überwinden kann. Wie können menschliche Wesen von den widerspenstigen Ein­ wohnern ihres Herzens befreit werdend Eine Seele, ant­ wortet das Gleichnis, wird nur dann gerettet, wenn sie voll ist. Eine echte christliche Bekehrung läßt keinen Raum frei, in den die alten Sünden zurückkehren können. Cs gibt eine große Klaffe physischer Krankheiten, die die Tierwelt heim­ suchen und die man unter dem Namen Parasiten kennt. Sie entstehn dadurch, daß fich ein Lebewesen auf einem andern festsetzt und ihm Nahrung entzieht, und sie find meistens

nur auf eine Weise zu beseitigen, nicht etwa dadurch, daß man den Parafiten tötet, sondern daß man den Organismus stärkt. Die Sünde ist ein parasitisches Gewächs. Sie setzt sich in schwachen Wesen fest. Sie ergreift Vefih von leeren Räumen. Will man sie überwinden, muß man sie aus­ schließen. Will man verhindern, daß sie sich im Herzen fest­ seht, muß man dafür sorgen, daß das Herz vorher von rechten Gedanken erfüllt ist. Will man das Vöse überwinden, so überwinde man es mit Gutem. Leidenschaften find uns nicht gegeben, daß wir sie zerstören, sondern daß wir sie beherr­ schen. Gott fordert von einem Menschen nicht, daß er jeg­ lichem ehrgeizigen Streben entsage, sondern er gebietet ihm, sich erfüllen zu laffen von einem Streben, das geeignet ist, dauernd in seinem Herzen zu wohnen. Dieselbe Kraft, die einen Menschen zu einem großen Sünder macht, kann ihn auch zu einem wahren Heiligen machen. Man rettet eine Seele nicht, wenn man ihr ihre Kraft nimmt. Die über­ legene, alles andre verdrängende Kraft eines neuen Strebens ist es, die die Bekehrung des Menschen vollendet. Das ist der Punkt, in dem das Neue Testament dem Alten gegenüber einen Schnitt macht. In der alten Lehre wurde der gute Lebenswandel als die Vertreibung böser Geister bezeichnet. Cs war ein negatives, austreibendes Ge­ setz. Du sollst nicht töten, stehlen oder falsch Zeugnis reden. Dann kommt der letzte Prophet, Johannes der Täufer, der schon auf der Schwelle der neuen Zeit steht, und wiederholt vor den Ohren seines Volks noch einmal dieselbe hebräische Botschaft. „Tut Buße" ruft er. Laßt euch Laufen mit Wasser, daß ihr rein werdet von euern Sünden! Sein prophetischer Geist jedoch offenbart ihm außer seiner eignen eine höhere Lehre. „Ich taufe euch mit Wasser", sagt er. Das ist die Erlösung des Lebens von seinen unsaubern Geistern, das Reinwaschen von all seinen Flecken. „Cs kommt aber ein Stärkerer nach mir, der wird euch mit dem heiligen Geist und mit Feuer Laufen." Was heißt mit Feuer taufen? Cs heißt nicht nur, das Herz reinigen, sondern es entflam­ men, das Leben nicht nur von alten Leidenschaften lösen,

sondern es zu neuer Begeisterung anfachen und das Feuer neuer Ideale darin entzünden; es heißt die Seele nicht leer, sondern voll machen. Das ist der Schritt, den man von dem Wirken Johannes des Täufers weiter Lut zu dem Wirken Jesu Christi, von der Taufe mit Waffer zu der Taufe mit Feuer, von Reinheit zu Leidenschaft, von Leere zu Fülle — so geht die Rettung der Seele Schritt für Schritt ihrer Vollendung entgegen. Man kann sich mit einem passiven Christentum begnügen, mit einer negativen Moral, mit einem konventionellen Glauben, mit der Vertreibung von Fehlern und Sünden. Cs ist die Taufe mit Waffer, das Austreiben der unsaubern Geister. Cs ist die Nachfolge Johannes des Täufers. Cs ist nicht das Bejahende, das eigentlich Wirk­ same des christlichen Lebens. Aber mitten hinein in diese passive, konventionelle Form der Nachfolge tritt vielleicht eine neue Liebe, eine alles beherrschende Neigung, die das Leben entzündet und entflammt und es von allem Alten befreit, indem sie es gänzlich ausfüllt mit neuem Wünschen und Streben. Und diese Liebe, auf die Spur Christi geführt, macht den Menschen zum Christen. Nicht Waffer allein be­ rührt ihn, sondern Feuer. Nicht Leere hat ihn gerettet, son­ dern Fülle. Cr hört nicht länger das Wort des Täufers, das ihm befiehlt, seine alten Wege zu verlassen, denn in ihm tönt jenes Wort über seinen Herrn und Meister: „Von seiner Fülle haben wir alle genommen Gnade um Gnade."

„Spricht Pilatus zu ihm: Was ist Wahrheit? And da er das gesaget, ging er wieder hin­ aus zu den Juden und spricht zu ihnen: Ich finde keine Schuld an ihm." Ioh. 18, 38.

Wir wollen uns heute die letzte Woche von Jesu Leben vergegenwärtigen. Die Chronologie der Evangelien ist zum größten Teil unklar. Die Kritiker find verschiedener Anficht über die Zeitdauer von Jesu Wirken und über den Zeitpunkt, wann jedes einzelne Ereignis geschah, aber in ihrem Bericht über diese letzten Tage stimmen alle Erzählungen überein. Die Ereignisse jedes einzelnen Tages fügen fich zu lückenloser Kette aneinander, und so ist es möglich, den Weg Jesu vom Triumph des Palmsonntags zu der Tragödie am Kreuz genau zu verfolgen. And am bedeutendsten von allen diesen Szenen aus der Passionswoche ist Jesu Begegnung mit Pilatus: wie der römische Statthalter dem jüdischen Christen gegenübergestellt wird, das Reich der Welt dem Reich Gottes. Cs ist die letzte Gelegenheit für Jesus, noch einmal öffentlich Zeugnis abzulegen über seine Ziele und Hoffnungen, die letzte Möglichkeit, dem Cäsar von göttlichen Dingen zu sprechen. Was die Kirche das Leiden Christi nennt, ist tatsächlich zu Ende, als Jesus den Richterstuhl des Pilatus verläßt. Von diesem Zeitpuntt bis hin zum Kreuz geht er

mit den festen ruhigen Schritten eines Mannes, der bei allen äußeren Wirren und Feindseligkeiten innere Sicherheit und Frieden besitzt. „Vater, es ist vollbracht." „Ich habe vollen­ det das Werk, das du mir gegeben hast." „Meinen Frieden lasse ich euch." „Ich habe die Welt überwunden." Laßt uns heute unsere Gedanken auf diesen Nichter Jesu lenken, der als Erster die Forderungen Jesu einer Kritik unterzog. Und statt auf das Urteil des Pilatus über den Fall Jesus näher einzugehn, laßt uns untersuchen, welches Urteil die Geschichte über Pilatus gefällt hat. Wenige ge­ schichtliche Persönlichkeiten würden über den Platz, den die Geschichte ihnen einräumt, so erstaunt sein wie Pilatus über den ihm zuteil gewordenen. Wenn ihm etwas als gewiß erschien, so war es das, daß er nicht in den Fall Jesus ver­ wickelt war. Was ging denn auch einen römischen Statt­ halter dieser unbedeutende, unter aufgeregten Juden ausge­ brochene Streit an? Pilatus einziges Streben ging darauf hin, dem ganzen unangenehmen Fall gegenüber strenge Neu­ tralität zu wahren, und er hatte guten Grund zu glauben, daß ihm dies glänzend gelungen sei. Laßt uns ihm in Gedanken dabei nachgehn. Im Anfang lehnt er überhaupt jede Beurteilung des Falles ab. „Nehmt ihn selbst", sagt er, „und richtet ihn nach euerm Gesetz." Dann, ohne jedes tiefere Interesse, läßt er Jesus in seinen Palast rufen und fragt ihn aus, weigert sich aber, diesen Fragen gegenüber Stellung zu nehmen. „Bin ich ein Jude?" fragt er. Endlich beschließt er, so zu handeln, daß er auf keiner Seite wirklich handelt. Er geht zum Volk hinaus und sagt: „Ich finde keine Schuld an ihm." Dann aber kehrt er zu den Hohenpriestern zurück und sagt: „Nehmt ihn hin und kreuzigt ihn." Er wäscht seine Hände öffentlich vor allem Volk mit den Worten: „Ich bin unschuldig am Blut dieses Gerechten", und gleich darauf überantwortet er Jesus in aller Stille denen, die ihn geißeln und kreuzigen. Cs war ein feines Abwägen seines richterlichen Sinnes. Er hatte es sich zur Aufgabe gemacht, sich nie eine Blöße zu geben. Er war kein Spötter oder Spaßmacher. Bacon sagt von ihm:

„Was ist Wahrheit? fragte Pilatus nur zum Scherz und wartete eine Antwort gar nicht ab." Aber ein Gentleman pflegt sich nicht zu Scherzen herabzulassen, wenn er bei einem Kriminalverfahren auf dem Richterstuhl sitzt. Pilatus war einfach abgeneigt, Partei zu ergreifen, war seinem ganzen Wesen nach vorsichtig, war der Neutrale, der Kritiker, der Indifferente unter den Männern des Neuen Testaments. Von einem vornehmen, amerikanischen Juristen hieß es, daß er sich schließlich aus der Justiz zurückgezogen hätte, weil er dort nicht vermeiden konnte, Entscheidungen zu treffen. So eine Art Mensch war Pilatus. Der französische Staats­ mann Talleyrand tat den Ausspruch, als er in seinem Alter über die Eigenschaften eines Ministers des Äußeren schrieb: „Er müßte eine Art von Instinkt besitzen, der ihn daran hindert, sich selbst eine Blöße zu geben." Pilatus ist ein gutes Beispiel für die Schule des Talleyrand. Da hatte er nun diesen jungen Schwärmer, der das Volk so erregt hatte, weil er seine Mission als die eines Königs hinstellte: „Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, daß ich die Wahrheit zeugen soll"; und Pilatus, der konsequent Neu­ trale, sieht mit ernstem Mitleid auf ihn herab und antwortet: „Ach, mein junger Freund, was ist das für eine Illusion, für die du sterben willst? Stirb denn für sie, wenn du durchaus willst! Ich finde keine Schuld an dir! Ich wasche meine Hände in Unschuld. Du hast dein Schicksal selbst in der Hand!" Und so entledigt er sich dieser Angelegenheit eines Fremden und zieht sich in seinen Palast zurück, höchst zufrieden mit sich selbst, daß er sich weder von der Begeiste­ rung des Reformators hat anstecken, noch von dem religiösen Fanatismus der Masse hat irreführen lassen. So, glaube ich, beurteilte Pilatus sich selbst. Aber sicher­ lich ist das nicht das Urteil, das die Weltgeschichte über ihn gebildet hat. Die Geschichte will ihn nicht als untadelig hin­ gestellt wissen. Die Neutralität, die er aufrecht zu erhalten suchte, war unmöglich. Jede Persönlichkeit im Neuen Testa­ ment wird schließlich nach ihrem Verhältnis zu der einen, im Mittelpunkt stehenden Gestalt eingeschätzt. Ein starker

Wind, wie Jesus sagte, wehte über die Tenne der Nation dahin, ergriff die Menschen und teilte sie in zwei deutlich getrennte Haufen. Wer nicht für Christus war, mußte gegen ihn gerechnet werden; wer nicht gegen ihn war, war für ihn. Und kein Korn blieb übrig, das man weder Spreu noch Weizen nennen konnte. Der Platz des Pilatus aber, des vermeintlich Neutralen, steht für alle Zeiten fest in der Neihe derer, die die Verantwortung für Jesu Tod tragen. An ihn war das große Wort direkt ergangen: „Wer von der Wahr­ heit ist, der höret meine Stimme", und dadurch, daß er es nicht hört, ergreift er, ohne es zu wollen, Partei in dem Fall Jesus. Wenn wir diese letzte Woche von Jesu Leben überschauen, von dem Triumph am Palmsonntag zum Kreuz am Karfreitag, so wird es uns klar, daß die Tatenlofigkeit des unentschlossenen Pilatus die Krifis herbeiführte. Von dem Augenblick an begann die Begeisterung des Volkes ab­ zuflauen, begannen sich die Bande geistiger Gemeinschaft zu lockern. Selbst Judas hätte ohne Pilatus vielleicht nicht sein Ziel erreicht. „Soll ich euern König kreuzigen?" fragt der neutrale Römer, und überliefert ihn dann den Juden, daß fie ihn kreuzigen. Was bedeutet diese unmögliche Neutralität, dieser Widerspruch, daß Pilatus nach seiner aufrichtigen Absicht gerecht sein will und doch auf die Seite des Feindes gehört, daß er die Verantwortung für das Geschehene trägt, wo er ausdrücklich jede Verantwortung ablehnt? Cs bedeutet, daß wir die Grenzen der Neutralität überschritten haben und in einem Kampf stehn, wo ein Mann Partei ergreifen muß, ob er will oder nicht. Cs gibt in jedem Leben viele Probleme, denen gegen­ über Neutralität die einzig vernünftige Haltung ist. Wir kennen eine Sache nicht, und wir haben kein Recht, zu ur­ teilen. Wollten wir tun, als wenn wir fie kännten, so wäre es töricht und falsch. Wahre Weisheit beginnt mit dem ge­ sunden Geständnis großer Unkenntnis auf vielen Gebieten. Rings um den Horizont dessen, das wir wissen, dehnt sich die geheimnisvolle Sphäre des, das wir nicht wissen und nicht

wissen können. Auf der andern Seite aber gibt es viele unmittelbare, allgemeine Interessen, denen gegenüber Neutralität unmöglich wird. Es gibt Entscheidungen und Lebensfragen, bei denen man nicht nur mit Recht sagt: „Ihr solltet Stellung nehmen", sondern wo man sogar sagen muß: „Ihr habt schon Stellung genommen, ob ihr wollt oder nicht." And eins der Hauptprobleme im menschlichen Leben ist das, zu unterscheiden zwischen den Interessen, denen man mög­ licherweise fernbleiben kann, und den Fällen, wo man ge­ zwungen ist, Partei zu ergreifen. Wer fich im ersten Fall neutral verhält, gesteht damit einfach die gesunden Grenzen seines Wissens ein. Wer fich im andern Fall neutral ver­ hält, fieht fich damit unvermeidlich in eine Linie gerückt, auf der er nicht im geringsten zu stehn wünschte. So lag die Sache bei Pilatus. Der Zufall stellte ihn einem Fall gegenüber, wo Reutralität unmöglich war, und er glaubte, es handle fich um etwas, wobei er seine Hände in Anschuld waschen könnte Er arbeitete in seinem Palast an Dingen, die ihm das Wichtigste im Leben schienen. Er mußte seinen Bericht an den Kaiser schreiben, er hatte die Listen steuerpflichtiger Juden aufzustellen, seine Soldaten warteten, daß er Musterung abhielte, und er selber brannte darauf, in die Stille seines Studierzimmers, zu den Pergamentrollen seines Plato oder Cicero zurückzukommen. Bei einem oder dem andern dieser wichtigen Dinge war er vielleicht sogar mit Begeisterung, aber dies jüdische Problem eines geistigen Messias, dies übertriebene Gerede von einem Königreich der Wahrheit berührte ihn wirklich nicht nahe genug, als daß er fich dafür hätte interessieren können. Er verfinkt in seinen vornehmen Indifferentismus, seine Philosophie der Ver­ achtung, und durch seine eigenen Worte wird er gerichtet: „Spricht Pilatus zu ihm: Was ist Wahrheit?" und dann „überantwortete er ihn, daß er gekreuzigt würde". Welches find denn die Grenzen der Neutralität, wie fie fich im modernen Leben ergeben, und wer find diese Pilatus­ naturen unsrer Zeit, die die Verantwortung tragen für Er­ gebnisse, die fie gar nicht herbeiführen wollten? Peabody, 6onntagSgebanlten.

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Vor allen Dingen ist es heutzutage, ebenso wie zu Zeiten Jesu, unmöglich, der Wahrheit gegenüber sich neutral zu verhalten. Manchen Seiten der Wahrheit gegenüber mag man neutral bleiben. Man braucht nicht zu behaupten, daß man die volle Wahrheit wiße. Man mag sich die Be­ scheidenheit, Aufrichtigkeit und Unparteilichkeit des nach Wahrheit suchenden Geistes bewahren. Wer aber der Wahr­ heit selbst neutral gegenübersteht, ist kein mit Ehrfurcht Suchender, sondern einer, dem am Misten der Wahrheit nichts gelegen ist. Er ist der Kritische, der Dilettant, der Zuschauer! Er zerlegt, er schafft nicht neu. Wenn der die Wahrheit Liebende vor ihn Hintritt mit der Botschaft: „Wer aus der Wahrheit ist, der höret meine Stimme", dann er­ widert der Neutrale mit feiner Überlegenheit: „Was ist Wahrheit?" und zieht sich zurück in den Palast seiner eigenen Selbstzufriedenheit. Hier liegt die Hauptgefahr für den Gebildeten. Die Weite und Vielseitigkeit der Wahrheit wirken so überwälti­ gend, daß sie unsre Energie lahmlegen und uns schwankend machen in unsern Entschlüssen. Das Wenige, was wir wissen, zuckt zurück vor der ungeheuren Masse dessen, was wir nicht wissen, und schließlich wird der Instinkt für das Wahre von einem falschen Instinkt verdrängt. Statt der schöpfe­ rischen Macht bleibt nur die Gewohnheit, Kritik zu üben. Kein Produkt der Erziehung stimmt uns so traurig wie diese geistige Neutralität, und keins beruht so sehr auf Selbst­ täuschung. Ein solcher Mensch hält sich wohl gar für einen Geistesaristokraten. Plebejische Begeisterung vermag ihn nicht hinzureißen; er glaubt nicht an geistige Propheten; er hat soviel über Wahrheit studiert, daß ihm seine Begeisterung für die Wahrheit verloren gegangen ist. „Was ist Wahr­ heit?" fragt er — und wartet die Antwort gar nicht erst ab. Aber gelingt es ihm denn, diese akademische Neutralität auf­ recht zu erhalten? Im Gegenteil, er ist der hinterlistigste Feind der Wahrheit. Die Waffe, die er gegen sie führt, und die zersetzender wirkt als Beweise, ist ätzender Spott. Er verdrängt den nach Wahrheit Suchenden nicht mit Gewalt

aus seiner Stellung, sondern durch eisige Kälte. Cr erwidert nicht das Feuer der Diskussion, er gießt Waffer auf das Pulver, mit dem andre schießen. Menschen wie cr find nach Lowell das Merkmal eines Zeitalters, das „Geschaffenes nachdenkt, nicht Neues schafft". Auf Vergangenes baun wir unsre kleinen Nester, Fliegen zwitschernd um die Werke großer Männer, Und entstellen, was wir nicht zu baun vermochten.

Mehr als das: ein Geist, der sich gewöhnt hat, stets Kritik zu üben, wird nicht nur andern ein Hemmnis in ihrer schöpferischen Arbeit, sondern auch sich selbst. Arbeitsglut und Leidenschaft gehn unter in Klugheit, Satire und tech­ nischer Fertigkeit. Die großen Ideale der Kunst und Litera­ tur gehn verloren in der Vorliebe für Genauigkeit und in der Furcht vor Übertreibung. Wenn Metall verfeinert wird, muß es erhitzt werden, wenn aber Menschen verfeinert werden, kühlen sie oft ab, und beim Abkühlen geistiger Be­ geisterung bleibt eine Masse intellektueller Schlacken zurück. Darauf beruht die Selbsttäuschung des Neutralen. Er be­ trachtet die Wahrheit vom Richterstuhl des Pilatus und denkt nicht daran, Partei zu ergreifen, während er doch in Wirklichkeit für das Unterliegen der Wahrheit ebenso ver­ antwortlich ist, als nagelte er sie ans Kreuz. Ich gehe noch weiter und sage: man kann der Pflicht gegenüber nicht neutral sein. Vielleicht erfüllt man seine Pflicht nicht vollkommen, vielleicht ist man zuweilen selbst im Zweifel, wo die Pflicht liegt. Tritt sie aber unverkenn­ bar mit ihren Forderungen an uns heran, dann ist Neu­ tralität völlig ausgeschlossen, und der vermeintlich Neutrale wird durch die vernachlässigte Pflicht ebenso verurteilt wie Pilatus durch den Messias, an dem er keine Schuld findet. Wenn z. V. ein Problem öffentlicher Moral oder politischer Reform vor eine Gemeinde gebracht wird, so genügt es nicht zu sagen, daß von den Bürgern viele sich neutral dazu stellen und nur wenige sich ernstlich damit befassen. Nein, in Wahr­ heit müssen die wenigen nicht nur das Kbel selbst überwinden, 10*

sondern auch das bleierne Gewicht sozialer Passivität und Vorurteile. Die vermeintlich Neutralen find die erbittertsten, hinterlistigsten Gegner. Sie find die Copperheads des moralischen Kriegs, die fich einbilden, nicht am Kampfe teilzunehmen, in Wirklichkeit aber von hinten angreifen. Oder aber ein Problem persönlicher Stellungnahme tritt mit unverkennbarer Forderung an uns heran. Auch da ist Neutralität ausgeschlossen. Eine unsrer Zeitschriften brachte vor kurzem einen Artikel, sicherlich von einem sehr jugend­ lichen Verfasser, der von dem „Götzen, genannt Pflicht", sprach. Man mußte unwillkürlich denken, welch eine Fülle von Erfahrungen auf den warten, der schon für die Öffent­ lichkeit schreibt und noch so wenig vom Leben weiß! Der Götze, genannt Pflicht! Es ist, als spräche ein junger, eben eingekleideter Soldat von der Zwangsvorstellung, genannt Disziplin! Darin zeigt fich die erste nervöse Unruhe des noch nicht gedrillten Rekruten. Aber laßt diesen Rekruten nur erst in eine richtige Schlacht kommen, laßt einen wirk­ lichen Feind mit furchtbarem Anprall fich auf ihn werfen — dann gibt es nur Eins, was ihm Ruhe und Selbstbeherr­ schung verleiht, und das ist die eiserne Gewohnheit der Disziplin, die ihm wie ein Instinkt in Fleisch und Vlut übergegangen ist. Welches ist die Gefahr, die unserm mo­ dernen sozialen Leben am stärksten droht, wenn nicht diese moralische Neutralität? Nicht die moralische Verderbtheit der höheren Klaffen ist das Beunruhigendste, nein, ihre Gleich­ gültigkeit, ihr Mangel an Verantwortungsgefühl. In Frieden leben, Extreme vermeiden, fich um seine eignen An­ gelegenheiten kümmern und fich nie die Finger verbrennen — danach strebt der Pilatus unsrer Zeit. Und so ein Mensch läßt die großen Momente an fich herantreten, wie Pilatus Jesus vor seinen Richterstuhl treten ließ, und tut sie mit einem Lächeln ab. „Wohl dem, der nicht fitzet, da die Spötter sitzen", heißt es im ersten Psalm. Der Spötter steht *) Unionsangehöriger im amerikanischen Bürgerkriege 1861 bis 1865, der mit den Rebellen in den Südstaaten sympathisierte.

nicht fest und aufrecht mitten im Arbeitsgetriebe der Welt — er fitzt auf seinem Stuhl und läßt die Arbeit der Welt an fich vorübergleiten. Was dagegen jedem Akt der Pflicht innere Sicherheit verleiht, ist das Bewußtsein, daß ihr wenigstens Partei er­ griffen habt. Ihr dürft nicht erwarten, daß ihr viel erreichen werdet; ihr macht vielleicht einen Versuch, und — er mißlingt. Ihr mögt Stellung nehmen ohne fichtbare Wirkung. Man wird vielleicht eurer Aufrichtigkeit mißtrauen, euch falsch verstehn und all eure Hoffnungen vereiteln, und ihr denkt an euern Herrn und Meister, an das Kreuz, das er trug. Aber einen großen Segen empfangt ihr, wie er ihn empfing, durch die Erfüllung eurer Pflicht: das ist das Be­ wußtsein, Treue gehalten zu haben. Ihr saßet nicht, wo die Spötter fitzen; ihr standet an eurem Platz in der Schlacht­ ordnung. Bei euch wurde die Linie nicht durchbrochen. War es euch auch nicht beschieden, die Schlacht zu gewinnen, so ist fie doch wenigstens nicht durch euch verloren. Und auf euch lastet nicht die stete Schande des Fahnenflüchtigen. Balsam bringt der Gedanke mir, Wie Hoffnung mich's durchzieht. Lieg ich im Staub, Herr, fern von Dir Und fing nur leis mein Lied: Nicht dem, der fiegreich im Gefecht, Nur ihm, dem rein der Schild, Gilt Dein: „Ci, du getreuer Knecht!" Dein Regen, sanft und mild.

Neutralität ist unmöglich auch auf dem Gebiet der Religion. Cs gibt in Sachen der Religion vieles, bei dem man sehr wohl neutral bleiben kann. Ja, oft täte man sogar bester daran, neutral zu bleiben, weil es einem an Kenntnissen fehlt. Die Religionsgeschichte ist durchseht mit Überbleibseln aus allen Systemen der Wiffenschaft, und die Streitfragen der modernen Theologie hängen eng mit Dingen zusammen, denen gegenüber das Geständnis weiser Unwissen­ heit das Allerweiseste ist. Der erste Schritt, der uns in einer gesunden Theologie vorwärts bringt, ist das Cingestehn der

vielen Dinge, die wir nicht wissen. Was aber die Religion selbst betrifft — jene praktische Betätigung dessen, was die Theologie theoretisch lehrt, das naturgemäße, menschliche Bekenntnis der Abhängigkeit und inneren Zugehörigkeit — ihr gegenüber kann es keine Neutralität geben. Hält man die Gebräuche der Religion aufrecht, so beweist man damit seine Zugehörigkeit; hält man solche Gebräuche nicht ein, macht man seinen Sonntag zum Wochentag, bleibt dem Gottesdienst fern und lebt dahin wie ein Heide, so ist es gänzlich überflüssig, daß man sich der Religion zum Heiraten und Sterben bedient, und ebenso zwecklos, daß man von ihr sagt: „ich finde keine Schuld an ihr" oder „ich wasche meine Hände in Anschuld". In derselben Weise wurde auch Pila­ tus, seiner Meinung nach, falsch beurteilt, wenn er ein Feind Christi genannt wurde. Aber das ist gerade der springende Punkt. Cr mußte falsch beurteilt werden, denn er wählte einen Platz, an dem man ihn nicht anders als unter die Gegner rechnen konnte. Cr glich einem Soldaten, der, wäh­ rend die Schlacht tobt, unter den Nachzüglern des Heeres, beim Troß, gefunden wird. Mag er sich auch damit ent­ schuldigen, er sei nur zurückgeblieben, um sein Schuhband festzuknüpfen, er wird sich doch dem Vorwurf der Feigheit aussehen, bis er wieder in der Front erscheint. Cs ist eine unmögliche Neutralität. Wer nicht mit der Armee kämpft, kämpft gegen sie. Noch immer gären viele unselige Streitfragen in der theologischen Welt, die manchen unter uns so fernliegend und überflüssig erscheinen, als lohnten sie kaum das Feuer, mit dem der Kampf gekämpft wird. Aber die wahre Gefahr unsrer Zeit liegt nicht hier, sondern in der Gegenwirkung, die aus diesen Streitfragen entsteht, nicht in der Beant­ wortung solcher Probleme, sondern in der völligen Neutrali­ tät gegen alle religiösen Fragen, die sich bei so vielen Leuten als das Ergebnis solcher Kämpfe zeigt. Cs mag für Christen Zeitvergeudung sein, darüber zu streiten, ob sie gemeinsamen Gottesdienst äbhalten können, aber noch trauriger ist es, wenn sie überhaupt gegen jeglichen Gottesdienst gleichgültig

werden. Vesser in verschiedenen Kirchen und unter geson­ derten Formen Gott anbeten, als bei den Spöttern fitzen und jeglichen Gottesdienst für eitel erklären. Beffer, mit heißen Köpfen über die Autorität der Bibel streiten, als die Bibel überhaupt nicht kennen, besser über Weiterentwicklung nach dem Tode disputieren, als kein Verlangen nach Weiterent­ wicklung vor dem Tode in fich fühlen. „Cs ist besser", wie Philip Brooks einmal sagt, „Gott an hundert Stätten an­ zubeten, wo er nicht ist, als eine einzige Stätte der Anbetung zu versäumen, wo er ist". Diese ganze fieberhafte Tätigkeit der Sekten und all ihre Streitigkeiten haben wenigstens das eine Gute, daß fie von ernstem Interesse an der Religion zeugen, von lebendiger Hingabe an die Wahrheit, soweit fie verstanden ist, und sicherlich entspringt solchem Streit viel eher dauernde geistige Regsamkeit, als selbstzufriedener Neu­ tralität oder intellektuellem Hochmut. So zeigt sich uns also der Pilatus in unserm modernen Leben: überlegen, zurückhaltend und weltklug, frei von jeg­ licher plebejischen Begeisterung, nicht in die Sorgen andrer Leute verwickelt, unberührt von der Majestät der Wahrheit, selbst wenn sie unmittelbar vor ihm steht. Und dieser blasierten Neutralität steht heute, wie in der Passionswoche in Jerusalem der Geist Jesu Christi, der aufrechte, selbst­ bewußte Glaube eines Menschen gegenüber, der fich eins weiß mit dem Ewigen. Dem Wetterwendischen im politischen Leben steht der treu an politischer Reform Arbeitende gegen­ über, dem literarischen Kritiker mit seiner feinen Verachtung der schaffende Gelehrte mit seinen unbefleckten Idealen und Zielen. Vor der lässigen, konventionellen Weltdame, die ernste Anschauungen als Torheit belächelt, steht die Frau, der fich in der Arbeit unter den Enterbten eine neue tiefe Freude erschlossen hat. Ich sehe diese Typen des christlichen Lebens, wie fie einer nach dem andern noch heutzutage vor dem Richterstuhl des Pilatus erscheinen, sehe, wie der ge­ duldige Forscher vor dem höhnischen Kritiker steht, wie der behaglich in seinen vier Wänden dahin Lebende über den unermüdlichen Reformator mitleidig lächelt; ich sehe, wie

der selbstlos am Gemeinwohl Arbeitende erfolglos bleibt, während dem egoistischen Mantelträger die Erfolge zufallen. Ich sehe, wie ein Leben, das treu am Glauben festzuhalten sucht, schwere Lasten trägt, während ein andres, das in Welt­ zufriedenheit hingeht, seine Ziele erreicht. Es ist ganz so, als schritte Jesus noch einmal vom Richterstuhl des Pilatus hinaus in den Todeskampf von Golgatha, während Pilatus sich wieder hinter seinen Vorhang zurückzieht in die Ruhe seines mit sich selbst zufriedenen, satten Lebens, als müßte sich das christliche Leben noch immer verteidigen, und das neutrale brauchte nur das Urteil zu sprechen und seiner Wege zu gehn, als wäre das Recht stets auf dem Schafott und Unrecht auf dem Thron Ich sehe den geistigen Dilettantis­ mus unsrer Zeit mit seiner moralischen Leichtfertigkeit und religiösen Gleichgültigkeit auf dem Richterstuhl des Spötters fitzen und höre auf seinem Wege selbstficheren Erfolges die leichthin gesprochenen Worte: „Was ist Wahrheit?" Und dann warte ich und sehe, wie diese Pilatusseelen unsrer Zeit, gleich dem Pilatus, der fich Richter über Christus wähnte, eine kurze Zeit scheinbarer Bedeutung erleben, dann aber zu kleinen Flecken in der Weltgeschichte zusammenschrumpfen und unserm Gedächtnis nur darum nicht ganz entschwinden, weil fie zufällig eines Tages dem Leben nahestanden, das fie von oben herab verurteilten. Die treuen Diener der Wahr­ heit aber sehe ich, wie fie gebeugt unter der Last ihres Kreuzes ihren Lebensweg vollenden und das Werk, das ihnen gegeben ist. Vertrauensvoll und ficher schreiten sie dahin wie Menschen, denen ihr Leiden ein Sieg, ihr Kreuz eine Krone ist, und die ihren Platz finden nicht unter den Herrschern, sondern unter den Helfern, nicht unter den Höflingen des Pilatus, sondern unter den Jüngern Christi.

13.

Die Kraflldes unendlichen Lebens. Eine Ostersonntagprcdigt.

ML

s

„Welcher nicht nach dem Gesetz des fleischlichen Gebots gemacht ist, sondern nach der Kraft des unendlichen Lebens."