Sicherheitsmentalitäten im ländlichen Raum [1. Aufl.] 978-3-658-15117-1;978-3-658-15118-8

Der Band befasst sich mit der Analyse spezifisch ländlicher Sicherheitskulturen und den damit verbundenen Formen formell

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Sicherheitsmentalitäten im ländlichen Raum [1. Aufl.]
 978-3-658-15117-1;978-3-658-15118-8

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XVIII
Front Matter ....Pages 1-1
Was heißt und zu welchem Ende studiert man Sicherheitsmentalität? (Aldo Legnaro)....Pages 3-21
Sicherheitsmentalitäten: Eine Alternative zum Konzept der Kriminalitätsfurcht (Daniela Klimke)....Pages 23-56
Front Matter ....Pages 57-57
Die Untersuchungsregion – das Oldenburger Münsterland (Nina Oelkers, Sascha Schierz, Gabriele Nellissen)....Pages 59-82
Zur Interdependenz von Ländlichkeit und Sicherheit im „doing rurality“ (Nina Oelkers, Sascha Schierz)....Pages 83-106
Peripherisierung ländlicher Räume (Frieder Dünkel, Stefan Ewert, Bernd Geng, Stefan Harrendorf)....Pages 107-140
Front Matter ....Pages 141-141
Ländliche Sicherheitsmentalitäten. Empirische Einblicke in die soziale Konstruktion ländlicher Kriminalitätsräume (Daniela Klimke)....Pages 143-249
Sicherheitserleben und -verhalten aus differenziell-psychologischer Perspektive – Theoretische Grundannahmen und ausgewählte empirische Befunde (Martin K. W. Schweer, Philipp Ziro, Christian Heckel)....Pages 251-275
Zwischen Policing und Self-Policing: Handlungsstrategien im Alltag und Deutungsstrukturen professioneller AkteurInnen vor Ort (Yvette Völschow, Marlene Gadzala)....Pages 277-292
Keeping Crime at a Distance: Medienkriminalität im ländlichen Raum (Sascha Schierz, Jan-Hendrik Stockmann)....Pages 293-305

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Daniela Klimke Nina Oelkers Martin K.W. Schweer Hrsg.

Sicherheitsmentalitäten im ländlichen Raum

Sicherheitsmentalitäten im ländlichen Raum

Daniela Klimke · Nina Oelkers · Martin K. W. Schweer (Hrsg.)

Sicherheitsmentalitäten im ländlichen Raum

Hrsg. Daniela Klimke Polizeiakademie Niedersachsen Bremen, Deutschland

Nina Oelkers Universität Vechta Vechta, Deutschland

Martin K. W. Schweer Universität Vechta Vechta, Deutschland

ISBN 978-3-658-15117-1 ISBN 978-3-658-15118-8  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-15118-8 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer VS © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Verantwortlich im Verlag: Cori Antonia Mackrodt Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Die Untersuchung von Sicherheitsmentalitäten im ländlichen Raum – eine Einleitung

Außerhalb der Metropolen wird der alltägliche Umgang mit Risiken oder aber die Anpassungen an eine „neue Kultur der Kontrolle“ (Garland 2008) hierzulande wenig betrachtet. Ein zentrales Merkmal der neuen Kontrollkultur bzw. des gegenwärtigen Wandels ist die Umverteilung von Verantwortung für Sicherheit zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren im Sinne einer Verschiebung resp. Neuverhandlung von Sicherheitsmentalitäten zwischen unterschiedlichen Akteuren (vgl. Klimke 2008 und in diesem Band). An diese Prozesse schloss das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) im Rahmen der Forschung für die zivile Sicherheit geförderte Verbundprojekt „Sicherheitsmentalitäten im ländlichen Raum“ (SIMENTA) mit seinen elementaren, bisher allerdings in der Forschung wenig beachteten Fragestellungen nach ebensolchen Mentalitäten ländlicher bzw. kleinstädtischer Räume an.1 Das Projekt SIMENTA befasste sich über einen Zeitraum von drei Jahren mit der Analyse spezifisch ländlicher Sicherheitskulturen und den damit verbundenen

1Das Verbundprojekt wurde im Rahmen des BMBF-Förderprogramms „Forschung für die zivile Sicherheit“, Themenschwerpunkt „Sicherheitsökonomie und Sicherheitsarchitektur“ (Gesellschaftliche Dimensionen in der Sicherheitsforschung II) gefördert, und richtete seinen Fokus auf das Themenfeld „Sicherheitsarchitektur – Regulation verteilter Sicherheit“ (näheres unter www.simenta.de). Hinter den institutionellen Partnern (Universität Vechta und Polizeiakademie Nienburg) stand ein interdisziplinäres Projektkonsortium von Wissenschaftler/innen mit unterschiedlichen Forschungsschwerpunkten: Vonseiten der Universität Vechta waren Prof. Dr. Gabriele Nellissen, Prof. Dr. Nina Oelkers (Verbundkoordinatorin), Prof. Dr. Martin K. W. Schweer und Prof. Dr. Yvette Völschow sowie vonseiten der Polizeiakademie Nienburg Prof. Dr. Daniela Klimke beteiligt. Wissenschaftliche Mitarbeiter/innen im Projekt waren Dr. Sascha Schierz, Dr. Jörg Schulte-Pelkum, Birger Phillip, Marlene Gadzala und Marlene Tietz.

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Die Untersuchung von Sicherheitsmentalitäten im ländlichen Raum …

Formen formeller wie informeller sozialer Kontrollkulturen. Im Mittelpunkt standen dabei zum einen die Untersuchung von Wahrnehmungs-, Deutungs- und Handlungsmustern sicherheitsrelevanter Akteure und Zivilbürger/innen in Bezug auf abweichendes Verhalten bzw. Kriminalität in ländlich geprägten Gebieten, zum anderen die speziellen Umgangsformen mit ebendiesen Verhaltensweisen. Dementsprechend wurde als rekonstruierender forschungsleitender Ansatz untersucht, inwieweit mittels „spacing“ die sozialen Akteur/innen eine Ordnung von Sicherheit und Raum konstruieren2 und somit auch eine Differenz zwischen Stadt (oder globalisierter Welt) und Land (oder Lebensmittelpunkt) immer wieder aktiv herstellen. Implizit werden Fragen gesellschaftlicher Kohäsion und Differenzierung thematisiert. Folgerichtig wird „Ländlichkeit“ als eine soziale Konstruktionsleistung betrachtet, die mittels Erzählungen, Deutungen und Diskursen immer wieder hergestellt wird. Sie kann als eine spezifische und tradierte Figuration (Elias, Scotson 1990, S. 10) verstanden werden, mittels derer die Welt als geordnet wahrgenommen wird. Die Rekonstruktion der Deutungsmuster unterschiedlicher Akteursgruppen (etwa nach institutionellem Hintergrund und Alter) hinsichtlich sicherheitskultureller Herausforderungen und ruraler Formen sozialer Kontrolle (bspw. über Nachbarschaftskontakte) standen im Fokus der Betrachtung. In der Forschungsperspektive wurden lokale Gemeinschaft sowie sicherheitsrelevante Deutungen, Verarbeitungsmechanismen und Kontrollstile systematisch zusammengeführt, weil erst eine derart umfassende Betrachtung eine sinnvolle Thematisierung von sozialräumlichen Sicherheitswahrnehmungen innerhalb der Gesellschaft ermöglicht (Klimke 2008). Bedeutsam erscheinen dabei gleichermaßen formelle Konfliktlösungsstrategien staatlicher Sicherheitsakteure wie auch informelle Strategien innerhalb von Bekanntschafts- und Nachbarschaftsverhältnissen. Mit Bezug auf das Konzept der Sicherheitsmentalitäten (vgl. Klimke 2008; Birenheide et al. 2001; Legnaro sowie Klimke in diesem Band) wurde ein theoretisches Modell (weiter)entwickelt, das mit Blick auf die Spezifika ländlicher Räume die Rekonstruktion von Sicherheitsmentalitäten erfasst (s. Oelkers & Schierz in diesem Band). Konzipiert als regionale Fallstudie in der Tradition der soziologischen Gemeindeforschung, wurden im Rahmen der Forschung zwei norddeutsche Landkreise innerhalb einer Region untersucht (s. Oelkers, Schierz & Nellissen in diesem Band), deren regionale Zentren leicht unterschiedliche soziostrukturelle

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erfolgt häufig im Sinne eines homologen Beschreibens von Raum, Sicherheit und situativ angemessenem Handeln bzw. der Störung dieser Dimensionen durch spezifische Gruppen resp. Einzelakteure.

Die Untersuchung von Sicherheitsmentalitäten im ländlichen Raum …

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Profile aufweisen.3 Die Untersuchung berücksichtigte kriminologische, kulturgeografische, (wissens-)soziologische und sozialpsychologische Zugänge zu Fragen von Sicherheit, Vertrauen, Zugehörigkeit/Ausschluss und Raumkonstruktionen. Für die Rekonstruktion der Sicherheitsmentalitäten wurde ein Mix an Forschungsmethoden in Anlehnung an sequenzielle Mixed-Method-Designs und abduktives Schließen (vgl. Kuckartz 2014; Flick 2011) zugrunde gelegt.4 Die Ergebnisse quantitativer und qualitativer Analysen wurden über ein triangulatives Vorgehen (Datentriangulation/Methodentriangulation) im Sinne einer gegenstandsbezogenen Theoriebildung für die empirisch fundierte Weiterentwicklung des theoretischen Ausgangsmodells zu spezifisch ländlichen Sicherheitsmentalitäten kontinuierlich zusammengeführt und validiert. Dabei ermöglichte die Entwicklung und Anwendung des quantitativen Erhebungsinstruments auf Grundlage der durchgeführten qualitativen und bereits vorliegender quantitativen Studien über den Einsatz einschlägiger statistischer Auswertungsverfahren empirisch fundierte Aussagen zu den relevanten Forschungsfragen auf breiter Datenbasis. Die so generierten Sicherheitsmentalitäten boten wichtige Erkenntnisse über gruppenspezifische sicherheitsrelevante Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsmuster im ländlichen Raum. Darüber hinaus ergaben sich innovative Anschluss- und Vergleichsmöglichkeiten zur bisherigen urbanen Sicherheits- und Kriminalitätsforschung. Zusammengeführt wurden Befunde aus Experteninterviews, etwa mit Polizist/innen, privaten Sicherheitsdienstleistern und Sozialarbeiter/innen (s. Völschow & Gadzala in diesem Band), aus einer Bevölkerungsumfrage zur kollektiven Selbstwirksamkeit bzw. zum individuellen wie kollektiven Sicherheitserleben und -verhalten (s. Schweer, Ziro & Heckel in diesem Band), aus der Re-Analyse ausgewählter Items aus der Allgemeinen Bevölkerungsumfrage in den Sozialwissenschaften5 (ALLBUS) sowie regionaler Statistiken, aus Gruppendiskussionen mit unterschiedlichen ländlichen Akteurskreisen (bpsw. mit Jugendlichen, Eltern, Senioren, lokaler Verwaltung und Polizei), mentalen Karten, die dem Auftakt von Gruppendiskussionen dienten (s. Klimke in diesem Band), aus Notrufauswertungen (Polizei) sowie schließlich aus Presseauswertungen zur lokalen

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sollte allerdings für die Selbstdefinitionen der Akteur/innen nicht unterschätzt werden, da diese es ermöglichen, Differenzen und Eigenheiten herauszustellen. 4Die Beschreibung der (methodisch) unterschiedlich ausgerichteten Arbeitspakete im Projekt finden sich unter: www.simenta.de. 5Z. B. zu Zukunftsperspektiven, Anomiewahrnehmungen, politischen Orientierungen, Einstellungen zum Rechtsstaat und zum Strafen in Gemeinden mit unter 20.000 Einwohnern (vgl. Oelkers, Schierz 2016, Oelkers, Schierz 2016a).

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Die Untersuchung von Sicherheitsmentalitäten im ländlichen Raum …

Kriminalitätsberichterstattung in ländlichen Regionen (s. Schierz & Stockmann in diesem Band). Die Untersuchungsregion des Oldenburger Münsterlands wird dabei themenfokussiert vorgestellt (s. Oelkers, Schierz & Nellissen in diesem Band). Aldo Legnaro ordnet in seinem Beitrag das Sicherheitsgefühl historisch ein und kontextuiert es mit den jeweils vorherrschenden sozialen Konstruktionen von Bedrohungen. Hierzu überprüft er einige Annahmen und selten hinterfragten Gewissheiten, dass etwa Kriminalität objektiv zu den herausragenden Gefahren gehört und die Furcht davor eine selbstverständliche Reaktion darauf ist, die sich klar operationalisieren und quantifizieren ließe. So einfach steht es jedoch nicht mit den Unsicherheitsgefühlen. Sie sind stattdessen tief eingewoben in die politische Ökonomie, in die Modalitäten sozialer Kontrolle, in Otheringprozesse und treten als Ausdruck von Abstiegs- und Prekarisierungsängsten auf. Daher plädiert der Autor für das integrative Konzept der Sicherheitsmentalitäten, das Kriminalitätsfurcht rückbindet an individuelle Dispositionen und Lebenswirklichkeiten sowie an lokale und gesellschaftliche governance-Strukturen. Daniela Klimke stellt das Konzept der Sicherheitsmentalitäten als Alternative zur üblichen Kriminalitätsfurchtforschung vor. Die Kriminalitätsfurchtforschung hat sich im Kontext einer zunehmend viktimistisch orientierten Kriminalpolitik und einer postmodernen Individualisierung rasant entwickelt. Um sie theoretisch und empirisch gehaltvoll zu machen, wäre die Forschung systematisch v.a. an die Gouvernementalitätsstudien, die Soziologie sozialer Probleme und die Genderforschung anzuschließen. Ganz grundsätzlich stellen sich aber Fragen danach, ob es überhaupt Kriminalitätsfurcht gibt, was bei den Operationalisierungen eigentlich gemessen wird und auf welche Wissensbestände Befragte bei der Beantwortung zurückgreifen. Abschließend wird das Konzept der Sicherheitsmentalitäten vorgestellt, das eine Kontextuierung der Unsicherheitsdispositionen vorsieht, einen Akzent auf die Praktiken der Schutzmaßnahmen legt und methodisch das Gewicht auf qualitative Interviews legt. Nina Oelkers, Sascha Schierz & Gabriele Nellissen stellen die ländlich geprägte Untersuchungsregion des Projektes SIMENTA, das Oldenburger Münsterland, themenfokussiert vor. Ähnlichkeiten und Unterschiede der Landkreise sowie die registrierte Kriminalität im Oldenburger Münsterland werden skizziert. Die Beschreibung der Region verschafft einen Einblick in den kulturellen Hintergrund, vor dem sich Sicherheitsmentalitäten herausbilden. Die Gegenüberstellung der zwei untersuchen Landkreise, bzw. deren regionaler Zentren, mit unterschiedlichen soziostrukturellen Profilen ermöglicht es, unterschiedliche Einbindungen von Individuen in soziale Infrastruktur und nachbarschaftliche Netzwerke zu verdeutlichen, die wiederum eine überindividuelle wie sozialräumlich verankerte „structure of feeling“ im Sinne von Sicherheitsmentalitäten formen.

Die Untersuchung von Sicherheitsmentalitäten im ländlichen Raum …

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Der Beitrag von Nina Oelkers & Sascha Schierz zur Interdependenz von Ländlichkeit und Sicherheit im „doing rurality“ thematisiert in einem kurzen Überblick den Stand der Forschung an der Schnittmenge von Sicherheitsgefühlen, sozialer Kohäsion und Raumproduktion mit einem besonderen Fokus auf die Herstellung und Nutzung der Deutungen von Ländlichkeit. Im Zusammenhang mit Fragen der Raumproduktion, kollektiver Gefühlslagen und kultureller Auslegungen werden verschiedene Ansätze einer ruralen Kriminologie ausgelotet. Das im Projekt weiterentwickelte Modell der Sicherheitsmentalitäten wird anhand unterschiedlicher Dimensionen und Ebenen systematisiert und vorgestellt. Es wird ein Ansatz skizziert, der einer stärkeren paradigmatischen Ausrichtung auf Prozesse der Herstellung von Sicherheit und Verarbeitung von Sicherheitsanforderungen durch die Bevölkerung folgt, die sich von klassischen Kriminalitätsfurchtbefragungen unterscheidet, indem sie die prozessbezogene Herstellung von Sicherheit und Ordnung vor Ort in den Blick nimmt. Dass es zwischen als ländlich bezeichneten Räumen weitreichende Unterschiede gibt, zeigt der Beitrag von Frieder Dünkel, Stefan Ewert, Bernd Geng & Stefan Harrendorf zur Peripherisierung ländlicher Räume. Mit dem Begriff der Peripherisierung wird nicht nur eine negative sozioökonomische Entwicklung in einer Region beschrieben, sondern auch auf eine abnehmende Handlungsfähigkeit der gesellschaftlichen Akteure und Institutionen hingewiesen. Die Autoren zeigen auf, wie auf unterschiedlichen Ebenen Peripherisierung die individuellen Lebensbedingungen und die öffentliche Gestaltung der Daseinsvorsorge ungünstig tangiert. Eine zentrale Hypothese ist, dass der Peripherisierungsdruck in ländlichen Räumen aufgrund ökonomischer Strukturschwäche sowie mangelnder technischer und sozialer Infrastrukturfähigkeiten zusätzlich durch eine zunehmende Angleichung der Lebensstile und den damit verbundenen Erwartungen verstärkt wird. Daniela Klimke wertet in ihrem empirischen Beitrag die Gruppendiskussionen der Landbewohner aus, die sich ausführlich zu Themen des raumbezogenen Sicherheitserlebens ausgetauscht haben. Die dezidierte Abgrenzung von allem Städtischen, das sich aus Sicht der Bürger vom Land auf die Begriffe von Diversität, Distanz und Devianz bringen lässt, erlangt für die Ländlichkeitskonstruktionen größte Bedeutung. Das Rurale wird als Vorstellung von der Eigentlichkeit formuliert, das Naturnähe und traditionelle Wertorientierungen betont. Die besondere ländliche Lebenswirklichkeit lässt sich anhand der Dimensionen von Gemeinschaftserleben, Kriminalitätsdiskursen und Schutzpraktiken veranschaulichen. Hierin offenbaren sich aber ebenso die deutlichen Schattenseiten des vordergründig bestehenden ländlichen Idylls. Yvette Völschow & Marlene Gadzala beschäftigen sich in ihrem Beitrag mit der Frage, inwieweit sich in ländlichen Regionen spezifische Deutungsstrukturen und Praktiken im Umgang mit Kriminalität und Unsicherheit zeigen. Im Rahmen von elf

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Die Untersuchung von Sicherheitsmentalitäten im ländlichen Raum …

leitfadengestützten Expert/inneninterviews wurden sowohl professionelle Akteur/ innen aus den Bereichen der Polizei und der Justiz als auch Personen aus dem privaten Sicherheitssektor befragt. Die Ergebnisse weisen zum einen auf die wahrgenommene Bedeutsamkeit stabiler Nachbarschafts- bzw. Beziehungsnetzwerke mit Blick auf die kommunale Kriminalprävention im Sinne eines (intrinsisch motivierten) Community Policings hin; andererseits sehen sich professionelle Akteur/innen angesichts der vielfachen Überschneidung zwischen beruflichem und privatem Bereich gleichsam mit (potenziellen) Interrollenkonflikten konfrontiert. Ausgehend von einem Sicherheitsbegriff, der sowohl Kriminalitätsphänomene als auch weiterführende sicherheitsrelevante Aspekte (u. a. Einstellungen und Erwartungen) berücksichtigt, widmet sich der Beitrag von Martin K. W. Schweer, Philipp Ziro & Christian Heckel den personalen und situativen Einflussgrößen im Kontext individuellen und kollektiven Sicherheitserlebens und -verhaltens aus einer differenziell-psychologischen Perspektive. Vertrauen wie auch Misstrauen fungieren hierbei als wesentliche Regulatoren im Zuge von Wahrnehmungs- und Bewertungsprozessen. Auf Basis einer Fragebogenerhebung ließen sich fünf voneinander abgrenzbare Gruppen von Personen (lokale Sicherheitsmentalitäten bzw. -identitäten im Sinne psychologischer Cluster) identifizieren, die sich signifikant hinsichtlich ihres sicherheitsrelevanten Erlebens und Verhaltes in den verschiedenen Lebensbereichen unterscheiden. Abschließend werden Ansatzpunkte für adressatengenaue(re) Präventions- und Interventionsmaßnahmen skizziert. Vor dem Hintergrund der bislang unzureichenden Studienlage zur Medienproduktion und -nutzung sowie insbes. zur Medienkriminalität in ländlichen Räumen befassen sich Sascha Schierz & Jan-Hendrik Stockmann in ihrem Beitrag mit medialen Darstellungen resp. Repräsentationen von Kriminalität. Die Ergebnisse einer Analyse von Presseberichten aus einem überregionalen und einem regionalen Printmedium werden hinsichtlich diesbezüglicher Differenzen zwischen Stadt und Land vorgestellt und bezogen auf etwaige Effekte auf das Sicherheitsempfinden (als Teilaspekt der Sicherheitsmentalität) diskutiert. Während in der überregionalen Berichterstattung eher das Bild von Kriminalität in (Groß-)Städten als Ergebnis bzw. Ausdruck eines gesellschaftlichen Niedergangs gezeichnet wird, thematisieren regionale Berichte vermehrt lokale Kriminalitätsereignisse auf der individuellen Verhaltensebene. Daniela Klimke Nina Oelkers Martin K. W. Schweer

Inhaltsverzeichnis

Teil I  Sicherheitsmentalitäten Was heißt und zu welchem Ende studiert man Sicherheitsmentalität? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Aldo Legnaro Sicherheitsmentalitäten: Eine Alternative zum Konzept der Kriminalitätsfurcht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Daniela Klimke Teil II  Ländlicher Raum Die Untersuchungsregion – das Oldenburger Münsterland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 Nina Oelkers, Sascha Schierz und Gabriele Nellissen Zur Interdependenz von Ländlichkeit und Sicherheit im „doing rurality“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 Nina Oelkers und Sascha Schierz Peripherisierung ländlicher Räume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Frieder Dünkel, Stefan Ewert, Bernd Geng und Stefan Harrendorf Teil III  Facetten ländlicher Sicherheitsmentalitäten Ländliche Sicherheitsmentalitäten. Empirische Einblicke in die soziale Konstruktion ländlicher Kriminalitätsräume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 Daniela Klimke

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Inhaltsverzeichnis

Sicherheitserleben und -verhalten aus differenziellpsychologischer Perspektive – Theoretische Grundannahmen und ausgewählte empirische Befunde. . . . . . . . . . . . . . 251 Martin K. W. Schweer, Philipp Ziro und Christian Heckel Zwischen Policing und Self-Policing: Handlungsstrategien im Alltag und Deutungsstrukturen professioneller AkteurInnen vor Ort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 Yvette Völschow und Marlene Gadzala Keeping Crime at a Distance: Medienkriminalität im ländlichen Raum. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 Sascha Schierz und Jan-Hendrik Stockmann

Herausgeber‐ und Autorenverzeichnis

Über die Herausgeber Daniela Klimke,  Dr. rer. pol., Soziologin und Kriminologin, Prof. an der Polizeiakademie Niedersachsen. Forschungsschwerpunkte: Soziologie abweichenden Verhaltens, sozialer Probleme und sozialer Kontrolle. Neueste Veröff.: Kriminologische Grundlagentexte, Wiesbaden (2016, zus. mit Aldo Legnaro); Sexualität und Strafe, 11. Beiheft zum Kriminologischen Journal, Weinheim (2016, zus. mit Rüdiger Lautmann); Genieße und tue niemandem weh. Der Grenzgang des Sadomasochismus, in: Geschlossene Gesellschaften. Verhandlungen des 38. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, Bd. 38: http://publikationen.soziologie.de/index. php/kongressband_2016/article/view/588/pdf_228; Die Verwandlung des Opfers. Wie das Opfer eines Sexualverbrechens zur gesellschaftlichen Leitfigur wurde. Eine Stellungnahme, in: Die ZEIT Nr. 8 v. 16.02.2017; Die Verrechtlichung intimer Konflikte, in: Barton, S. et al. (2018, Hrsg.), Festschrift für Thomas Fischer, München. Kontakt: [email protected] Nina Oelkers, Dr. phil., Sozialpädagogin, Professorin für Soziale Arbeit an der Universität Vechta, Fakultät I – Bildungs- und Gesellschaftswissenschaften. Forschungsschwerpunkte: Devianzforschung, gesellschaftliche und sozialpädagogische Reaktionen auf Abweichungsphänomene, unterschiedliche Formen sozialer Kontrolle; Fragen zur (wohlfahrts)staatlichen Transformation Sozialer Arbeit. Neueste Veröff.: Oelkers, Nina (2018): Devianz. In: Böllert, K. (Hrsg.): Kompendium Kinder- und Jugendhilfe. Band 1. Wiesbaden: VS Verlag. S. 881–900; Ehlke, C ­ arolin/ Karic, Senka/Muckelmann, Christoph/Böllert; Karin/Oelkers, Nina/Schröer, Wolfgang (2017): Soziale Dienste und Glaubensgemeinschaften – Eine Analyse regionaler Wohlfahrtserbringung (Monografie). Weinheim Basel: Beltz Juventa. Kontakt: [email protected] XIII

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Herausgeber‐ und Autorenverzeichnis

Martin K. W. Schweer,  Prof. Dr. phil. habil., wissenschaftlicher Leiter des AB Pädagogische Psychologie und des angegliederten Zentrums für Vertrauensforschung sowie der sportpsychologischen Arbeitsstelle Challenges an der Universität Vechta. Forschungsschwerpunkte: soziale Wahrnehmung und interpersonales Verhalten in schulischen und außerschulischen Handlungsfeldern; Vertrauen, Loyalität und soziale Verantwortung; soziale Ungleichheit, Stereotypisierung und Diskriminierung. Letzte Veröffentlichungen: Hrsg., Sexismus und Homophobie im Sport. Interdisziplinäre Perspektiven auf ein vernachlässigtes Forschungsfeld, Wiesbaden 2018; Evaluation der Lehre, in: Detlef H. Rost, Jörn R. Sparfeldt, Susanne R. Buch (Hrsg.), Handwörterbuch Pädagogische Psychologie, Weinheim 2018, S. 176–185; Vertrauen und Misstrauen im Kontext gesellschaftlicher Herausforderungen. Eine differentiell-psychologische Perspektive, in: Martin Kirschner, Thomas Pittrof (Hrsg.), Vertrauen, St. Ottilien (im Druck) (zus. mit Philipp Ziro). Kontakt: [email protected]

Autorenverzeichnis Frieder Dünkel, Prof. Dr., war 1992–2015 Inhaber des Lehrstuhls für Kriminologie an der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät in Greifswald, seit 1.10.2015 ist er emeritiert. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich des Jugendstrafrechts, Strafvollzugs, der ambulanten Sanktionen bzw. Alternativen zur Freiheitsstrafe (jeweils in international vergleichender Sicht), der Jugendkriminalität, Kriminalprävention sowie des Sanktionenrechts allgemein. Letzte Veröffentlichungen: Dünkel, F., u. a. (Hrsg.): Prisoner Resettlement in Europe, New York: Routledge 2018; Dünkel, F.: European penology: The rise and fall of prison population rates in Europe in times of migrant crises and terrorism. European Journal of Criminology 14, S. 629–653; Dünkel, F.: Internationale Tendenzen des Umgangs mit Jugendkriminalität. In: Dollinger, B., Schmidt-Semisch, H. (Hrsg.): Handbuch Jugendkriminalität. Interdisziplinäre Perspektiven. 3. Aufl., Wiesbaden: Springer VS 2017, S. 89–118. Kontakt: [email protected] Stefan Ewert, Dr. phil., Politikwissenschaftler, wiss. Mitarbeiter am Arbeitsbereich Politische Soziologie des Instituts für Politik- und Kommunikationswissenschaft der Universität Greifswald. Forschungsschwerpunkte: Agrarpolitik und Politik zur Entwicklung des ländlichen Raums, Regionalpolitik, Politik des Ostseeraums. Neueste Veröffentlichungen zum ländlichen Raum: Politikpositionen von Regierungen im Ländervergleich. Heterogenität am Beispiel der Agrarpolitik. In: Zeitschrift für Vergleichende Politikwissenschaft 2018 (Online first,

Herausgeber‐ und Autorenverzeichnis

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gemeinsam mit Michael Jankowski und Jochen Müller); Landwirtschaftspolitik und die Entwicklung des ländlichen Raums – neue Felder der Politik der Bundesländer. In: Hildebrandt, Achim/Wolf, Frieder (Hrsg.): Politik in den Bundesländern: Zwischen Föderalismusreform und Schuldenbremse, Wiesbaden 2016, S. 233–257. E-Mail: [email protected] Marlene Gadzala, geb. Helms, M.A., Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Arbeitsbereich Sozial- und Erziehungswissenschaften, Fach Soziale Arbeit, Fakultät I d. Universität Vechta. Forschungsschwerpunkte: Konflikt- und Demokratieforschung, Sicherheitsanalysen, Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit. Auswahl themenrelevanter Veröff.: Vechtaer Bürgerbefragung zum subjektiven Sicherheitsempfinden. In: Völschow, Yvette (Hrsg.): Kriminologie ländlicher Räume. Eine mehrperspektivische Regionalanalyse. Wiesbaden 2014 (zus. mit Yvette Völschow); Soziale Qualität strukturschwacher ländlicher Regionen in Nordwest-deutschland. Eine Analyse menschenfeindlicher Einstellungsmuster am Beispiel einer nieder-sächsischen Samtgemeinde. Frankfurt a. M. 2013. Kontakt: [email protected] Bernd Geng,  M.A., Soziologe, wiss. Mitarbeiter am Lehrstuhl für Kriminologie, Strafrecht, Strafprozessrecht und vergleichende Strafrechtswissenschaften an der Rechts- und Staatswiss. Fakultät der Universität Greifswald. Forschungsschwerpunkte: Soziologie abweichenden Verhaltens, Sozialstrukturanalyse, empirische Sozialforschung. Neueste Veröffentlichungen: Wirtschaftskriminalität – eine kriminologische Perspektive, in: Dünkel, F. et al. (Hrsg.): Gedächtnisschrift für Wolfgang Joecks, München: Beck, 2018, S. 221–241. Der rational kalkulierende Verbrecher? Zu Entwicklung, Stand und Zukunftsperspektiven ökonomischer Kriminalitätstheorien (zus. mit Stefan Harrendorf). Sammelband „Recht trifft Wirtschaft“, Duncker & Humblot (im Druck). E-Mail: [email protected] Stefan Harrendorf, Prof. Dr. jur., Rechtswissenschaftler und Kriminologe, Inhaber des Lehrstuhls für Kriminologie, Strafrecht, Strafprozessrecht und vergleichende Strafrechtswissenschaften an der Rechts- und Staatswiss. Fakultät der Universität Greifswald. Forschungsschwerpunkte: Makrokriminalität, Internetkriminalität, Kriminologie sozialer Gruppen, Bagatelldelinquenz, Comparative Criminal Justice, Sanktionsforschung. Ausgewählte neue Veröffentlichungen: Überlegungen zur materiellen Entkriminalisierung absoluter Bagatellen am Beispiel der Beförderungserschleichung und des Ladendiebstahls. In: Neue Kriminalpolitik 30 (2018), S. 250–267. Prospects, Problems, and Pitfalls in Comparative Analyses of Criminal Justice Data. In: Crime and Justice: A Review of Research 47 (2018), S. 159–207. Attrition in and Performance of Criminal Justice Systems

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Herausgeber‐ und Autorenverzeichnis

in Europe: A Comparative Approach. In: European Journal on Criminal Policy and Research 24 (2018), S. 7–36. Vorüberlegungen zur Analyse von Radikalisierungsverläufen im Internet. In: Neue Kriminalpolitik 2017, S. 388–397 (mit Mark Bibbert, Antonia Mischler und Bernd Geng). Sentencing Thresholds in German Criminal Law and Practice: Legal and Empirical Aspects. In: Criminal Law Forum 28 (2017), S. 501–539. Justizieller Umgang mit kriminellem Verhalten im internationalen Vergleich: Was kann „Comparative Criminal Justice“ leisten? In: Rechtswissenschaft 2017, S. 113–152. E-Mail: [email protected] Christian Heckel, Dipl.-Soz., wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Hochschule Merseburg. Forschungsschwerpunkte: Emotionspsychologie, E-Learing, Angstforschung, Schlüsselkompetenzen, soziale Wahrnehmung. Kontakt: ­[email protected] Aldo Legnaro, Dr. rer. pol., freier Sozialwissenschaftler. Zuletzt: Hrsg. mit Daniela Klimke, Kriminologische Grundlagentexte, Wiesbaden 2016; Die (europäische) Stadt auf dem Weg zum Nicht-Ort?, in: Joachim Häfele, Fritz Sack, Volker Eick, Hergen Hillen (Hrsg.), Sicherheit und Kriminalprävention in urbanen Räumen. Aktuelle Tendenzen und Entwicklungen, Wiesbaden 2017, S. 13–27; 2017 mit Andrea Kretschmann: Ausnahmezustände. Zur Soziologie einer Gesellschaftsverfassung, in: Prokla 188 (3), S. 471–486; 2018: Kennzeichen des Gefährdens. Skizzen einer Ethnomethodologie des Sich-verdächtig-Machens, in: Kriminologisches Journal 50 (2), S. 39–54. Kontakt: [email protected] Gabriele Nellissen,  Dr. jur., Professorin für Recht der Sozialen Dienstleistungen an der Universität Vechta, Fakultät I – Bildungs- und Gesellschaftswissenschaften. Forschungsschwerpunkte: Rehabilitation und Teilhabe, Nellissen, Gabriele (2018), Kommentierung zu §§ 42–49 SGB IX. In: Schlegel/Voelzke, jurisPKSGB IX, www.juris.de; Nellissen, Gabriele (2016), Die Versorgung mit Hilfsmitteln in der medizinischen Rehabilitation. In: Recht und Praxis der Rehabilitation 2016, 34ff.; Nellissen, Gabriele/Telscher, Kerstin (2016), Das Dilemma zwischen Teilhabe- und Pflegeleistungen für Menschen in Einrichtungen der vollstationären Behindertenhilfe. In: Müller, Sandra Verena/Gärtner, Claudia, Lebensqualität im Alter, S. 439–464; Hilfe zur Erziehung, Nellissen (2018), Kommentierung zu §§ 27–35 SGB VIII. In: Schlegel/Voelzke, jurisPK- SGB VIII, www.juris.de. ­Kontakt: [email protected]

Herausgeber‐ und Autorenverzeichnis

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Sascha Schierz, Dr. phil., Soziologe, Professor für Jugendsoziologie, soziale Kontrolle an der Hochschule Niederrhein (FB 06 Sozialwesen). Forschungsschwerpunkte: Soziologie abweichenden Verhaltens, sozialer Kontrolle und sozialer Probleme; Nachtleben; Cultural Studies; Wissenschaftstheorie. Neueste Veröffentlichung: Verstehen und Emotionen im Forschungsprozess: Erkenntnistheoretische Reflexionen und ethnographische Betrachtungen, in: Kommission Sozialpädagogik (Hrsg.): Wa(h)re Gefühle? Sozialpädagogische Emotionsarbeit im wohlfahrtsstaatlichen Kontext (zus. mit Dominik Farrenberg, Christine Hunner-Kresisel, Jens Oliver Krüger, Lea Miczuga); Ambivalenzen sozia­ ler Kohäsion und sozialer Ungleichheit, in: Sozialmagazin Ausgabe 12/2016. ­Kontakt: [email protected] Jan-Hendrik Stockmann, M.A. Social Work, Arbeitsschwerpunkte: Soziale Ungleichheit, abweichendes Verhalten. Sozialarbeiter im Bereich der Eingliederungshilfe mit psychisch erkrankten und/oder konsumierenden Menschen. ­Kontakt: [email protected] Yvette Völschow,  Prof. Dr. rer. pol., Univ. Prof.’ in für Sozial- und Erziehungswissenschaften u. Leiterin der Arbeitsstelle für Reflexive Person- und Organisationsentwicklung, Fach Sozia-le Arbeit, Fakultät I der Universität Vechta. Forschungsschwerpunkte: Beratungswissenschaften und Kriminologie (v.a. Gewaltprävention und Gewalt in sozialen Nahbeziehungen). Auswahl themenrelevanter Veröff.: Psychosoziale Arbeit mit traumatisierten Frauen aus Gewalt-­ verhältnissen: Ergebnisse aus einer Studie zum Thema Menschenhandel mit dem Zweck sexueller Ausbeutung. Kröning 2018. (zus. mit Silke Gahleitner et al.); Kriminologie ländlicher Räume: Eine mehrperspektivische Regionalanalyse. Wiesbaden 2014. Menschenrechtsverletzungen durch Zwangsehen: Herausforderungen für die Klinische Soziale Arbeit. In: Spatscheck, Christian/Steckelberg, Claudia (Hrsg.): Menschenrechte und Soziale Arbeit: Konzeptionelle Grundlagen, Gestaltungsfelder, Umsetzung einer Realutopie. Opladen/Berlin/Toronto 2018 (zus. mit Margit Stein und Isabelle Brantl); Lagedarstellung: Deliktsfeld Menschenhandel in Deutschland. Eine längsschnittliche Analyse polizeilicher Hellfelddaten des Delikts Menschenhandel zum Zweck sexueller Ausbeutung. In: SIAK-Journal. Zeitschrift für Polizei-wissenschaft und polizeiliche Praxis, Heft 1/2018 (zus. mit Mascha Körner). Kontakt: [email protected]

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Herausgeber‐ und Autorenverzeichnis

Philipp Ziro, M.A., wissenschaftlicher Mitarbeiter und Lehrkraft für besondere Aufgaben am AB Pädagogische Psychologie an der Universität Vechta. Forschungsschwerpunkte: soziale Wahrnehmung und interpersonales Verhalten in schulischen und außerschulischen Handlungsfeldern; Vertrauen; soziale Ungleichheit, Stereotypisierung und Diskriminierung. Letzte Veröffentlichungen: Vertrauen und Misstrauen im Kontext gesellschaftlicher Herausforderungen. Eine differentiell-psychologische Perspektive, in: Martin Kirschner, Thomas Pittrof (Hrsg.), Vertrauen, St. Ottilien (im Druck) (zus. mit Martin Schweer); Zur Qualität interpersonaler Beziehungen im Klassenzimmer, in: Ewald Kiel, Bardo Herzig, Uwe Maier, Uwe Sandfuchs (Hrsg.), Handbuch Unterrichten in allgemeinbildenden Schulen, Bad Heilbrunn (angenommen) (zus. mit Martin Schweer). Kontakt: [email protected]

Teil I Sicherheitsmentalitäten

Was heißt und zu welchem Ende studiert man Sicherheitsmentalität? Aldo Legnaro

Friedrich Schiller, frisch ernannter Professor für Geschichte an der Universität Jena, hielt am 26. Mai 1789 seine Antrittsvorlesung – allerdings nicht ganz unter diesem Titel, er sprach über Universalgeschichte, nicht über Sicherheitsmentalität(en), und dennoch scheint in diesem Text, wenige Wochen vor der ersten Manifestation der Französischen Revolution vorgetragen, eine Unterscheidung auf, die auch heute noch für die in den Bolognaprozess verwickelten Universitäten (und Studierenden) Relevanz hat, die nämlich nach dem „philosophischen Kopf“ und dem „Brodgelehrten“. (Die Zeitläufte haben uns allen mehr oder weniger das erstere ausgetrieben und uns zum letzteren verdammt, doch darum geht es im Folgenden nicht.1) Schillers Bemerkung zu den unterschiedlichen Herangehensweisen der beiden wirkt nach wie vor so frisch, als stamme sie aus dem Feuilleton von gestern: „Durch immer neue und immer schönere Gedankenformen“, sagt er, „schreitet der philosophische Geist zu höherer Vortrefflichkeit fort, wenn der Brodgelehrte in ewigem Geistesstillstand das unfruchtbare Einerlei seiner Schulbegriffe hütet.“ Welche ‚neuen und schöneren Gedankenformen‘ lassen sich also zum Thema Sicherheit denken, um dem ‚ewigen Geistesstillstand‘ zu entgehen? Das ist schon eine These, die These nämlich, dass die bisherigen ‚Schulbegriffe‘ – in diesem Zusammenhang: Kriminalitätsfurcht – keine hinreichenden Erklärungen bieten und sich im ‚unfruchtbaren Einerlei‘ erschöpfen, während

1Sehr

nebenbei bemerkt: seine Professur war nicht mit einem festen Gehalt verbunden, was die Prekarität heutiger universitärer Zustände noch übersteigt.

A. Legnaro (*)  Köln, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 D. Klimke et al. (Hrsg.), Sicherheitsmentalitäten im ländlichen Raum, https://doi.org/10.1007/978-3-658-15118-8_1

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eine Konzeption der Mentalitäten, die Sicherheitsvorstellungen und -handlungen regieren, eine ‚höhere Vortrefflichkeit‘ besitzen könnte. Um dies zu zeigen, muss man wohl am Anfang anfangen …

1 Kriminalität und der ewige Andere Abweichung und Gesellschaftlichkeit sind ebenso untrennbar miteinander verbunden wie Kriminalität und Strafrecht, und das eine ist ohne das andere nicht zu denken: ohne Normativität ist Devianz nicht möglich, wie auch Devianz immer auf die Normativität verweist, die sie bricht und mit der sie bricht. Dieser Prozess von Definition, Etikettierung und Reaktion scheint bei der Herstellung von Gesellschaftlichkeit unabdingbar. So benennt der erste uns bekannte Strafrechts-­ Kodex, der Codex Hammurabi, im 17. Jahrhundert vor unserer Zeit in Sumer entstanden, in aller Bündigkeit Delikte und die darauf stehende Strafe, zum Beispiel in § 22 so: „Wenn ein Bürger Raub begangen hat und ergriffen wird, so wird dieser Bürger getötet“ (Eilers 1932/2009). Wenn man denn operational weiß, was man sich unter Raub vorzustellen hat, so formuliert das die klassische Trias aus Delikt – Ergreifung/Aburteilung – Vollstreckung einer Strafe. Erst diese gesetzliche Festlegung macht den Raub in einem rechtlichen Sinne zum Raub und bringt das Delikt zu seiner sozialen Existenz. Natürlich wissen wir nicht, ob die damalige Bevölkerung damit spezifische Befürchtungen verband, doch alleine die Tatsache der rechtlichen Festlegung (und der offenbar bestehende gesellschaftliche Bedarf danach) verrät den Wunsch nach normativer Eindeutigkeit, der Sanktionierbarkeit bestimmter Verhaltensweisen und das Bedürfnis, diejenigen, die solche Verhaltensweisen zeigen, als Andere wahrnehmen zu können: So ist die Definition von Kriminalität und die Etikettierung von Kriminellen immer ein Prozess des Othering mit vielfältigen, sich nach gesellschaftlichen Rahmenbedingungen jedoch unterscheidenden Folgen. Ängste und Befürchtungen gerade mit Kriminalität zu verbinden, darin zu bündeln und in ihnen eine dauerhafte Gefahr zu sehen, hätte in Mittelalter und früher Neuzeit Europas sehr nahegelegen, jedenfalls aus heutiger Sicht. In einer Zeit, die noch kein etabliertes staatliches Gewaltmonopol kannte und in der einzelne Fürsten ebenso wie Briganten nach Belieben und vorgeblicher Notwendigkeit plünderten, raubten und töteten, war Kriminalität in vielfältigen Formen bzw. die Möglichkeit, ihr zum Opfer zu fallen, ein permanentes und ubiquitäres Lebensrisiko. Dass sich auch die politischen und militärischen Anstrengungen, ein Gewaltmonopol zu errichten, als eine Form der organisierten Kriminalität begreifen lassen (Tilly 1985), unterstreicht die unentrinnbare Präsenz des

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Phänomens in damaligen Zeiten. Aber das war nicht die Hauptsorge des mittelalterlichen Menschen, der sich vielmehr vor der Pest und dem Verhungern, vor den Verwüstungen des Krieges und der Dunkelheit, dem Steuereinnehmer und – einzig dies erscheint uns Heutigen unrealistisch – nicht zuletzt vor dem Satan fürchtete (Delumeau 1985). Auf Dunkelheit als Grund von Beängstigung wird im Zusammenhang mit heutigen empirischen Untersuchungen noch zurückzukommen sein; an dieser Stelle interessiert der Satan, der im Kosmos des mittelalterlichen Menschen eine bedeutende Rolle einnahm. Paul Reiwald sieht diesen Satan als eine mächtige Projektionsbildung, die dazu verhalf, emotional-sexuelle Verdrängungen zu bewältigen: der Kampf mit dem Satan sei der Kampf mit den verdrängten Triebregungen gewesen.2 Heute sei der Satan zwar verschwunden, „aber er hat einen Erben hinterlassen, einen schmächtigeren Nachfahren, den Verbrecher“ (1948/1973, S. 123), und Verbrecher stellten, „eben wie der Teufel, nur abgeschwächt, die Repräsentanten des ins Unbewußte verdrängten menschlichen Trieblebens dar“ (ebd.). Diese psychoanalytische Interpretation erklärt plausibel, warum man im Mittelalter das Verbrechen nicht sonderlich fürchtete – man hatte ein Substitut zu fürchten, wie es auch erklärt, warum heute Kriminalität eher im Mittelpunkt der ängstlichen Aufmerksamkeit steht, da man kraft weitgehender Säkularisierung den Teufel zu fürchten verlernt hat. Dem Othering stehen wechselnde Projektionsflächen zur Verfügung, und die Art dieser jeweils gesellschaftlich ausgewählten Projektionsflächen – soweit man bei Prozessen, die in einem kollektiven Unbewussten ablaufen, überhaupt von Auswählen sprechen kann – bietet reichhaltiges Material zur Deutung der zugrunde liegenden gesellschaftlichen Prozesse. Gerade Kriminalität als projektives Feld von Othering auszuersehen, ist allerdings auch in modernen Zeiten keineswegs selbstverständlich. Der nachfolgende Text etwa beschreibt einen ganz pragmatischen Umgang damit: Ich kann dir nur sagen, Friederike, sei vorsichtig und denke daran, was alles vorkommt. Erst gestern stand wieder was drin. Ich weiß ja, gnäd’ge Frau. Aber man is doch auch kein Kind mehr. Und wenn es klingelt, mache nicht gleich auf und schiebe dir lieber erst eine Fußbank ran, daß du durchs Oberfenster sehen kannst, wer eigentlich draußen ist … Ja, gnäd’ge Frau.

2Eine

neuere Biografie des Teufels interpretiert ihn denn auch als eine theologische Abspaltung der Gottheit, sodass beide – nach dem Muster von bad cop und good cop – in der Welt agieren können (Flasch 2015).

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A. Legnaro Und wenn du aufmachst, immer noch die Kette vor und immer bloß durch die Ritze … Neulich ist erst wieder eine Witwe totgemacht worden, und wenn du gleich alles aufreißt, kann es dir auch passieren, oder sie streuen dir Schnupftabak in die Augen, oder sie haben auch einen Knebel, und du kannst nicht mal schreien. Und dann rauben sie alles aus …

Das erzählt Theodor Fontane in seinem Roman „Die Poggenpuhls“, der im Berlin des Jahres 1894 spielt, und man wird Fontane, einem aufmerksamen Beobachter seiner Zeit, solche Reaktionen glauben können. Dass ‚neulich erst wieder‘ eine ‚Witwe totgemacht wurde‘, das würde heutzutage allerdings kaum nur mit der Warnung beantwortet, die Kette vorzumachen: es hätte je nach Täter und Tatumständen das Potenzial, als moral panic wochenlang über die gesamte Republik zu schwappen. Nicht so zu jener Zeit, die doch als ‚Zeitalter der Nervosität‘ gilt (Radkau 1998), aber diese Nervosität richtete sich auf andere Sachverhalte und Projektionsflächen – nach Radkaus Interpretation ist 1914 der Krieg dann die Entladung dieser nervösen Energie. Wer einen Erbfeind hat, braucht also weder Satan noch Kriminalität. In den mitteleuropäisch-zivilisierten Zeiten des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts aber kann der Kriminelle (vorrangig tatsächlich Männer und sehr selten Frauen) als jener Feind erscheinen, der das hauptsächliche Objekt von Othering darstellt.

2 Kriminalitätsfurcht – Aufstieg eines Paradigmas Dass sich eine Konzeption von Kriminalitätsfurcht entwickelte und eine Zeit lang zum zwar nicht alleinigen, aber doch dominanten Paradigma allgemeiner Befindlichkeitsbeschreibungen avancierte, ist also nicht verwunderlich. Sie geht zurück auf die Mitte der 1960er-Jahre, als in den USA erstmals in allgemeinen Bevölkerungsumfragen – also mithilfe einer quantifizierenden Methodik und wenigen Antwortalternativen – eine darauf abzielende Frage gestellt wurde; vergleichbare Erhebungen in der Bundesrepublik datieren ebenfalls aus dieser Zeit. Boers (1991) hat die Entwicklung, die zugrunde liegenden theoretisierenden Konzepte3 und die damaligen empirischen Befunde nachgezeichnet, was hier en

3Es

handelt sich dabei um die Viktimisierungsperspektive, wonach Kriminalitätsfurcht vor allem von der Erfahrung eigener Opferwerdung abhängt, um die These sozialer Desorganisation auf lokaler Ebene und um die These sozialer Probleme, wonach Kriminalitätsfurcht vor allem durch die Berichterstattung der Medien entsteht.

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détail nicht interessieren muss. Von Belang ist aber die methodische Erfassung des Konstrukts ‚Kriminalitätsfurcht‘, die mithilfe einer als Standardfrage etablierten Frage geschah und geschieht, was der Methode die Dignität oftmaliger Wiederholung wie dadurch bedingter langer Zeitreihen verleiht, wenngleich offenbleiben muss, ob dies tatsächlich Validität und Reliabilität erhöht. Jedenfalls wird angenommen, dass diese Frage – „Gibt es eigentlich hier in der unmittelbaren Nähe – ich meine im Umkreis von einem Kilometer – irgendeine Gegend, wo Sie nachts nicht alleine gehen möchten?“, mit den Antwortkategorien ja/ nein – etwas misst, das man dann Kriminalitätsfurcht nennt. Alternativ wird auch gefragt: „Wie sicher fühlen Sie sich oder würden Sie sich fühlen, wenn Sie hier in dieser Gegend nachts draußen alleine sind?“ – mit den Antwortmöglichkeiten einer vierstufigen Skala. Dass diese Fragen etwas messen, ist unzweifelhaft, was sie allerdings messen, um so unklarer. Abgesehen davon, dass ‚Furcht‘ schwerlich mit einer einzigen Frage und wenigen vorgegebenen Antwortkategorien zu erheben ist und die Frage nach der Emotion in einer bestimmten Situation unterschieden werden muss von der Emotion in der erlebten Situation selbst, scheint es auch eine gewagte Unterstellung, die Antwort auf die Standardfrage als ein Indiz von Kriminalitätsfurcht zu interpretieren. Schließlich ist im Text der Frage von Kriminalität allenfalls indirekt die Rede, sie überlässt es den Befragten, sie assoziativ mit Kriminalität (aber welcher?) in Bezug zu setzen, und sie spielt durch die zeitliche Bestimmung ‚nachts‘ auf atavistische Ängste vor der Dunkelheit an. Diese Ängste stehen dann allerdings in einer historischen Kontinuität: dass der Mensch des Mittelalters sich in der und vor der Dunkelheit fürchtete, war eine realistische Einschätzung von vorkommenden Gefahren, denn seine Dunkelheit war – im Gegensatz zur heutigen urbanen Dunkelheit – tatsächlich dunkel. Doch zielten seine Ängste wie die der Modernen nicht unbedingt auf Kriminalität. Und nicht zuletzt vermischt die Frage die Furcht vor Kriminalität und die Furcht vor Viktimisierung – beide nahe verwandt, aber nicht identisch.4 Da diese Untersuchungen in aller Regel auf die große Zahl einer repräsentativen Bevölkerungsbefragung setzen, ergeben sich im Langzeitvergleich nach Art einer Fieberkurve oszillierende Zeitreihen, getreulich dargestellt von Reuband (1992a; 1992b; 2009). Allerdings hat Kriminalitätsfurcht ihre Haussen

4Das

sind im Wesentlichen schon in den 1980er-Jahren vorgebrachte kritische Anmerkungen zum Konzept und seiner operationalen Definition; vgl. etwa Garofalo (1981), Ferraro und LaGrange (1987), LaGrange und Ferraro (1989). Zur Kritik der Methoden, einer weiteren Ausdifferenzierung der empirischen Erhebungsstrategien und einer Gesamtbewertung vgl. insgesamt Kreuter (2002).

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und Baissen, und 2015 bereitet die größte Sorge, dass die Schuldenkrise in der Euro-Zone zu überproportionalen Belastungen der deutschen Staatsfinanzen führen könne. Zudem befürchtet nahezu jede/r Zweite, dass eine steigende Einwanderung das Zusammenleben von Deutschen und bereits hier ansässigen Eingewanderten beeinträchtigen könnte (R+V Versicherung 2015).5 Kriminalität spielt in dieser Untersuchung lediglich eine untergeordnete Rolle, was sich schnell ändern kann, und dass die Furcht-Kurve, für sich genommen, über die Tatsache des Oszillierens hinaus gar nichts aussagt, ist der Methodik und der Darstellungsweise inhärent. Angesichts der methodisch gegebenen Einschränkungen kann es auch nicht verwundern, dass derartige Forschungen einige unerklärte Paradoxien erbracht haben. Dazu zählt etwa das Auseinanderklaffen von ‚objektiver‘ Bedrohung durch Kriminalität – eine sehr relative Objektivität, da sie sich allenfalls auf die Daten der Polizeilichen Kriminalstatistik mit ihren spezifischen Verzerrungen und Ermessensspielräumen oder alternativ auf Viktimisierungsbefragungen stützen kann, die ihrerseits eigene Uneindeutigkeiten aufweisen – und der subjektiv empfundenen Bedrohung durch Kriminalität, und dazu zählt ebenfalls das Auseinanderklaffen von Viktimisierungswahrscheinlichkeiten und Kriminalitätsfurcht. Beide Paradoxien sind empirisch gut belegt, bleiben aber vor dem Hintergrund quantifizierter Daten ein wenig rätselhaft. Wie wenig die angewendeten Methoden erlauben, Daten zu kontextualisieren, in dem (vorwiegend) urbanen Zusammenhang zu verstehen, in dem sie entstanden sind, und interpretativ auf diesen Zusammenhang zurückzubeziehen, ist denn vielleicht auch der gravierendste Einwand gegen die tradierte Forschung zur Kriminalitätsfurcht. Ihre auf repräsentativen Umfragen mit sehr vielen Befragten beruhenden Daten erlauben zwar – lässt man die operationalen Probleme außer Acht – einen sinnvollen und das Ausmaß einer unspezifischen Verunsicherung beschreibenden Überblick, aber sie erlauben keinen Einblick in die mikrosoziale Konstruktion des (städtischen) Raumes. Nur ein solcher Einblick aber ist analytisch geeignet, die mannigfaltigen Probleme moderner Urbanität und die damit verbundenen Verunsicherungen in den Blick zu nehmen: „[t]he most recent research shows that individuals’ fears are better understood within a neighbourhood or community context rather than by simply concentrating on individual characteristics“ (Hale 1996, S. 119). Diesen Gedanken verwirklichten dann ansatzweise die kriminologischen Regionalanalysen, die eine Zeit lang

5Die

Erhebung fand von Juni bis Mitte Juli 2015 statt, als der Begriff ‚Flüchtlingskrise‘ noch nicht erfunden worden war. Um so bemerkenswerter, dass die einschlägigen Ängste bereits einen solch großen Raum einnehmen.

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außerordentlich im Schwange waren – kein Landkreis ohne eine solche. Danach wusste man dann, wer sich an welchen Orten vor welchem Publikum fürchtete – was gelegentlich zu neuen Straßenlaternen an als besonders dunkel und furchterregend verschrienen Örtlichkeiten geführt haben mag, aber nicht zu einem vertieften Begriff von Verunsicherung. Denn insofern Raum eben nicht bloß ein physischer Container, sondern immer auch und sogar vor allem eine soziale Konstruktion ist, muss jede Forschung, wenn sie zu analytisch bedeutsamen Aussagen kommen will, diese Konstruktion ebenso wie die Rolle einbeziehen, die (tatsächliche und projizierte) Kriminalität dabei spielt, sie muss die Bezüge kontextuell verdeutlichen und den Begriff insgesamt in die gesellschaftliche Entwicklung einbetten. Wozu die etablierten Fragestellungen und ihr Konzept der Kriminalitätsfurcht sichtlich nicht in der Lage sind. Aber dann kamen die zerbrochenen Fensterscheiben.

3 Zerbrochene Fensterscheiben – zerbrochene Gewissheiten Mit ihrem Aufsatz über die broken windows eröffneten Wilson und Kelling (1982) eine Debatte, die nach der üblichen Verzögerung auch die Bundesrepublik erreichte und in Wahlkämpfen wie in der alltäglichen Stadtpolitik eine beträchtliche Wirkung entfaltete. Ihr Grundgedanke war höchst simpel und lässt sich in dem alten Spruch, dass den Anfängen zu wehren sei, bereits zusammenfassen: disorder and crime are usually inextricably linked, in a kind of developmental sequence. Social psychologists and police officers tend to agree that if a window in a building is broken and is left unrepaired, all the rest of the windows will soon be broken. This is as true in nice neighborhoods as in rundown ones. Window-breaking does not necessarily occur on a large scale because some areas are inhabited by determined window-breakers whereas others are populated by window-lovers; rather, one unrepaired broken window is a signal that no one cares, and so breaking more windows costs nothing. (It has always been fun.)

Den Spaß muss man nicht leugnen, um dennoch die hier gezogenen Verbindungen zwischen „disorder and crime“ ein wenig kurzschlüssig zu finden. Geradezu axiomatisch fassen Wilson und Kelling ‚Unordnung‘ als eine notwendige und auch hinreichende Bedingung für Kriminalität auf, die dann selbst als die höchste Form von Unordnung erscheint, als die Vollendung eines Zustandes, der in der ersten zerbrochenen Fensterscheibe bereits angelegt ist. Daraus folgt zudem bündig, dass bereits die ersten Zeichen von Unordnung selbst

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als eine Form der Kriminalität anzusehen sind, die dann eine „spiral of decay“ (Skogan 1990) in Gang setzen. Diese als Kausalkette vorgestellte Entwicklung geht von einer verführerisch einfachen und empirisch durchaus gerechtfertigten Prämisse aus, dass nämlich der ersten zerbrochenen Fensterscheibe die nächste bald folgen wird. Soweit so richtig. Die weiteren Entwicklungen aber – die dadurch steigende Verunsicherung und Kriminalitätsfurcht der BewohnerInnenschaft und die, neben der materiellen, gewissermaßen moralische Verslummung des betroffenen Viertels – entstehen vor allem aus den projektiven Fantasien der Autoren. Doch haben diese projektiven Fantasien eine beträchtliche Wirkung ausgeübt: für die einen ein reaktionär gefärbtes Konstrukt, das es empirisch zu entkräften galt, für die anderen eine affirmative Bestätigung von Fantasien, die nicht nur in den Köpfen von Wilson und Kelling existierten. Versuche, den von ihnen behaupteten Kausalnexus empirisch nachzuweisen, sind allerdings trotz vieler Anstrengungen nur sehr bedingt gelungen. Schon früh hat man zudem argumentiert, dass nicht ein einziger Faktor die gesamte Spirale bedingt, sondern dass disorder und die Entwicklung von Kriminalität in Zusammenhang zu sehen sind mit den Ausprägungen der informellen Sozialkontrollen und dem Einfluss lokaler Organisationen in den jeweiligen Vierteln (Lewis und Salem 1986), was der Entwicklung weit über zerbrochene Fensterscheiben hinaus eine politische Dimension hinzufügt. Nicht zufällig auch bringen Sampson und Raudenbush (2004) anhand ihrer Daten aus Chicago die gesamte Problematik von ‚Unordnung‘ in einen Zusammenhang mit der ethnischen Zugehörigkeit und den ökonomischen Möglichkeiten der BewohnerInnenschaft in einem Viertel. Sampson (2009, S. 19) hat diese Perspektive dann in Londoner Stadtvierteln noch einmal empirisch untersucht und stellt bündig fest: „The effect of racial composition on perceived disorder was much greater than observed disorder.“ Das mag als ein Eindruck genügen – eine Darstellung der einschlägigen Studien würde viele Seiten füllen und ist hier nicht beabsichtigt; Pars pro toto sei im deutschen Kontext auf Untersuchungen von Lüdemann (2006) und Häfele (2015) und die dort angeführte Literatur verwiesen. Zwar haben die einschlägigen Untersuchungen auch dazu geführt, eine Art von visual sociology für die Stadtforschung nutzbar zu machen (beispielsweise bei Sampson und Raudenbush 1999), was keinen kleinen Gewinn darstellt; auf einer stadtpolitischen Ebene jedoch fällt vor allem – neben der verbreiteten Gründung von Präventionsräten – die aus einer solchen Perspektive zu ziehende Konsequenz, nämlich zero tolerance gegenüber auch marginalen Abweichungen, ins Gewicht (vgl. zusammenfassende Kritiken und Bewertungen der Erfolgsmeldungen etwa bei Hecker 1997; Bowling 1999; Greene 1999; ­Hansen 1999; Smith 2001; Belina und Helms 2003; Hubbard 2004; O’Shea 2006).

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Deswegen scheint auch eine ideologiekritische Betrachtung der zugrunde liegenden Vorstellungen, Konzepte und Variablen, die in den oben zitierten Befunden schon angeklungen sind, entschieden wichtiger als eine rezensierende Beschreibung der Empirie zum Thema. Jede Vorstellung von ‚Unordnung‘ transportiert notwendig eine Vorstellung von ‚Ordnung‘, und man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass bei Wilson und Kelling und vielen derer, die das Mantra der broken windows nachbeteten, das Urbild von Stadt aus „Main Street, U.S.A.“ besteht, jener schmalen Eingangspassage in alle Disneyländer dieser Welt, die eine hochgradig idealisierte Nachbildung der Main Street aus Walt Disneys Jugend in der Kleinstadt darstellt – untadelig sauber und nicht mit den Widersprüchen tatsächlicher (damaliger oder heutiger) Urbanität kontaminiert.6 Die Freiheit von Müll verhilft hier zur Gestalt einer fantasierten Imago des konfliktfrei Schönen und Guten. Das verdichtet sich dann im Begriff der incivilities, die deutlich bezeichnen, was demgegenüber als Zivilität zu gelten hat. Als solche incivilities gilt eine breite Palette von Verhaltensweisen (Lärm, öffentliche Betrunkenheit, Betteln, öffentlicher Konsum illegaler Drogen beispielsweise), sozialen Bevölkerungsgruppen (Bettlern, Junkies, Obdachlosen, all jenen, die nicht ‚standortgerecht‘ gekleidet sind) und Erscheinungen des Straßenbildes (Graffiti, Müll, Verschmutzungen des öffentlichen Raums),7 und diese Palette mit dem Sammelnamen ‚incivilities‘ zu bedenken, sagt mindestens so viel über die Benennenden aus wie über das Benannte. Es handelt sich durchgehend um Verhaltensweisen und Erscheinungsformen, die einem Ideal bürgerlicher Wohlanständigkeit widersprechen,8 und den Verdacht, dass es sich dabei definitorisch um das Naserümpfen der Mittelschicht gegenüber Lebensäußerungen der Unterschicht handele, äußern schon LaGrange, Ferraro und Supancic (1992). Das enthüllt sich um so deutlicher, vergegenwärtigt man sich die ökonomischen Veränderungen der letzten zwanzig Jahre: „Entire social groups that previously were more or less integrated into urban and national economies have been ‚surplused‘ […] raising the question of social control. Further, whole new populations of

6Eine

phänomenologische Beschreibung samt detaillierter Analyse von „Main Street, U.S.A.“ bei Legnaro und Birenheide (2005, S. 177 ff.). 7Es gehört zur Ironie der Entwicklung, dass gerade an solchen incivilities reiche Stadtviertel für die erste Welle von gentrifiern oft auch einen Reiz entfalten und über kurz oder lang dann in den Sog einer Gentrifizierung geraten, die die Bevölkerung zu einem großen Teil austauscht und sie im Sinne gediegener Bürgerlichkeit ‚normalisiert‘. Das beschreibt am Beispiel des Hamburger Schanzenviertels Naegler (2012). 8Diese Kritik habe ich vor nahezu zwanzig Jahren formuliert; vgl. Legnaro (1998).

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workers, raised and socialized in one place but recruited into the global economy to work in another very different place, also prompt the issue of social control“ (Smith 2001, S. 72). Er präzisiert diesen Zusammenhang noch weiter: „If […] a critical analysis of ‚globalization‘ must start from the premise that globalization is before anything else a social project, then social cleansing passed off in the name of decency and civility and carried into the world on the back of ‚zero tolerance‘ policing is a rapidly crystallizing antidemocratic form of global social control“ (ebd. S. 73, Hervorhebung im Original). Belina (2005, S. 153) hat den gesamten Komplex der broken windows denn auch als eine „neokonservative Legitimationsideologie räumlicher Kontrollmaßnahmen“ gekennzeichnet. Aus dieser Perspektive heraus scheint es sich eher um einen Kampfbegriff im Krieg gegen die Armen (eindringlich beschrieben bei Wacquant 2004) zu handeln als um eine sozialwissenschaftliche Deskription. Denn Armut bildet den gemeinsamen Nenner der incivilities, und der Begriff diszipliniert und kontrolliert als distanzierende Beschreibung terminologisch die Armen, die zudem oft MigrantInnen sind. Liest man die Schilderungen von Friedrich Engels über Londoner Vororte aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, so scheint sich heute optisch kaum etwas verändert zu haben: „fast keine ganze Fensterscheibe ist zu sehen, die Mauern bröcklig, die Türpfosten und Fensterrahmen zerbrochen und lose, die Türen von alten ­Brettern zusammengenagelt oder gar nicht vorhanden […]. Hier wohnen die Ärmsten der Armen […]“ (Engels 1845/1974, S. 93). Im 19. Jahrhundert erregen sich über solche Lebensumstände zwar einige Sozialreformer, doch dem Mainstream des Bewusstseins erschienen sie als eine natürliche Gegebenheit des Lebens, über die sich zu empören einem nicht in den Sinn kam: Armut war eine soziale Selbstverständlichkeit. Das hat sich – nach der sozialstaatlich bestimmten Periode der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – insofern geändert, als diese Selbstverständlichkeit fraglich geworden ist. Da Armut allerdings weiterhin – und zunehmend sichtbarer – existiert, braucht es sozialpsychologische Mechanismen, um einerseits nicht allzu offensichtlich die Anschauungsweisen des 19. Jahrhunderts zu revitalisieren, sich andererseits jedoch, ebenfalls nicht allzu offensichtlich, mit den heutigen Realitäten konfrontieren zu müssen. Übergangsweise konnte man Armut für pittoresk halten (vor allem dann, wenn man sie fern von eigenen Lebenswelten in den Ferien sah), doch vor der eigenen Haustüre ergeben sich eher Reaktionen, die die Ambivalenzen eines schlechten Gewissens mit einer aggressiv getönten Selbstbestätigung verbinden und als ideologischer Überbau dazu neigen, Armut für einen selbst verschuldeten und gewissermaßen selbst gewählten Lebensumstand zu halten, wie das durch neoliberale ökonomische Theorien nahegelegt wird. Die zerbrochenen Fensterscheiben sind die zeichenhafte Verdichtung des Rationalisierungsprozesses, der hier stattfindet: aus politischen Prozessen werden

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individuelle Entscheidungen, aus eigenen Prekarisierungsängsten, wie sie Teile der Mittelschicht beherrschen,9 projektiv gefürchtete Verfallserscheinungen des Urbanen, die einen selbst in den Abgrund ziehen könnten (oder zumindest die Immobilienpreise negativ beeinflussen). Aus dieser Perspektive heraus symbolisieren die broken windows auch zerbrochene Gewissheiten: die Ahnung, dass die Welt sich ins Unberechenbare hinein verändert, die Unübersichtlichkeit steigt und die Fluiditäten der späten Moderne etablierte und altvertraute Muster und Gewohnheiten unbrauchbar machen, was alles in einem Bewusstsein von Gefährdung und der Befürchtung des möglichen sozialen Abstiegs kulminiert. Wenn man das nicht bewusst als eine politökonomische Entwicklung reflektiert, sondern schicksalhaft und sprachlos erfährt, dann muss es dafür doch Verantwortliche und Sündenböcke geben – und dafür reicht das Bild der broken windows dann bei weitem nicht mehr aus.

4 Alte Ängste – neue Phobien Und eine Konzeptionierung von Kriminalitätsfurcht, wie auch immer operational gefasst, wird den Phobien, die sich hier artikulieren, ebenfalls bei weitem nicht mehr gerecht. Denn wenngleich ‚der Kriminelle‘ (‚die Kriminelle‘, sowieso entschieden seltener vorkommend, wird vergleichsweise harmloser stereotypisiert) nach wie vor ein Urbild des ewigen Anderen bildet, so bietet sich doch noch eine Vielzahl anderer Anderer an. Die sind teilweise im Bild der broken windows bereits erfasst, doch darüber hinaus geraten unterschiedliche Minderheiten in den Blick, die sich nach Religion, Sprache, Herkunft, Lebensstilen oder Sexualgewohnheiten von dem unterscheiden, was als kennzeichnend für eine vermeintlich existierende Mehrheitsgesellschaft angenommen wird – wobei diese weitaus eher eine Idealisierung als ein kulturelles Faktum darstellt, denn ‚die‘ Mehrheitsgesellschaft differenziert sich in unzählbar viele Subkulturen, die wenig oder gar nichts miteinander zu tun haben und anfangen können. Immerhin bleiben jedoch

9Es

ist umstritten, wie begründet diese Ängste sind, doch beherrscht die „fear of falling“ (Ehrenreich 1994) offenbar weite Teile der Mittelschicht, die allerdings vorrangig unter temporärer und wohlstandsnaher Prekarität zu leiden haben, während armutsnahe und zur Verfestigung neigende – also tatsächlich bedrohliche – Prekarität eher ein Phänomen von niedrig Qualifizierten darstellt (Kraemer 2009); siehe auch Schimank et al. (2014); Burzan et al. (2014). Aber bekanntlich entfalten auch lediglich vorgestellte und imaginativ antizipierte Situationen Wirkungen.

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als Gemeinsamkeit die Sprache und, in der Bundesrepublik, der Verfassungspatriotismus des Grundgesetzes, die in aller Regel von den unterschiedlichen Minderheiten des Landes überhaupt nicht infrage gestellt werden. Das hindert diejenigen, die sich als die Träger von ‚Leitkultur‘ empfinden, jedoch keineswegs an Ressentiments, womit sie nur die eine Seite des prinzipiell janusköpfigen Fremden anerkennen. Denn der, die und das Fremde sind doppelgesichtig, wie Bauman betont hat: Die Erfahrungsmehrdeutigkeit der postmodernen Stadt spiegelt sich in der postmodernen Ambivalenz des Fremden wider. Er hat zwei Gesichter: das eine wirkt verlockend, weil es mysteriös ist […], es ist einladend, verspricht zukünftige Freuden, ohne einen Treueschwur zu verlangen; ein Gesicht unendlicher Möglichkeiten, noch nie erprobter Lust und immer neuen Abenteuers. Das andere Gesicht wirkt ebenfalls geheimnisvoll – doch es ist ein finsteres, drohendes und einschüchterndes Mysterium, das darin geschrieben steht. […] Es bleibt dem Interpreten überlassen, die Bedeutung zu fixieren, die fließenden Eindrücke in Empfindungen der Lust oder Furcht umzuformen. Und diese Empfindungen verdichten sich dann zu der Gestalt des Fremden – so widersprüchlich und mehrdeutig wie die Empfindungen selbst (Bauman 1997, S. 224 f.).

Es scheint bezeichnend, dass – ungeachtet der Diskussionen im Feuilleton – ein Index der sozio-kulturellen Bereicherung unabhängig von ökonomischen Rechnungen offenbar noch nie erstellt worden ist, sondern bei einschlägigen Umfragen immer Ängste und Furcht im Vordergrund stehen. Folgerichtig hat Heitmeyer (2002, S. 20 f.) in seine Konzeptionierung von ‚gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit‘ Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, Heterophobie (die auch Islamophobie umfasst), Etabliertenvorrechte und Sexismus einbezogen. Sieht man von dem etwas ungelenken Ausdruck ab, so umfasst er jene Phobien, die zwar nicht alle neu sind – Antisemitismus hat eine Tradition nicht nur in Deutschland –, die in dieser Kombination jedoch ein neuartiges Syndrom darstellen dürften. Es handelt sich oft um eine Mischung aus Wohlstandschauvinismus und volkstümelnder Dumpfheit, bei der sich die Ablehnung alles Fremden und Anderen mit retrospektiv orientierten Homogenitätssehnsüchten (wie sie sich bereits in der Konzeptionierung der incivilities zeigten) und dem Gefühl verbindet, die gesellschaftlichen Entwicklungen der späten Moderne nicht nachvollziehen zu können oder zu wollen und insgesamt Verlierer eines sozialen Prozesses zu sein, der über die eigenen Köpfe hinwegrollt. Während einerseits diese frühzeitige Konzeptualisierung eines Syndroms komplexer Vorurteilsstrukturen, das sich heute – nimmt man die Wahlergebnisse der europäischen Nachbarn als Indikator – bei überschlägig einem Drittel der

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Bevölkerung findet, ihr eigenes Verdienst hat, lässt sie doch andererseits einige relevante Fragen offen. Wie schon der eher deskriptive Terminus der ‚gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit‘ andeutet, geht es vor allem um eine Messung von Ausmaß und Veränderungen des Syndroms im Zeitverlauf im Rahmen einer Studie, die sich insgesamt über zehn Jahre erstreckte. Wenngleich die Rede ist von Struktur-, Regulations- und Kohäsionskrisen (Heitmeyer 2002, S. 16) und Teilanalysen den Zusammenhang von Prekarisierung und Xenophobie thematisieren (Mansel et al. 2012), so bleibt doch eine systematische Einbettung der erhobenen Daten und interpretierten Befunde in ein sozio-ökonomisches Gesamtpanorama aus, und manchmal scheint ein moralischer den analytischen Gestus zu ersetzen. Das mag teilweise an der theoretischen Rahmung liegen, die den Begriff der Gleichwertigkeit in den Vordergrund stellt – was zwar inhaltlich-deskriptiv einen plausiblen Begriff bildet, aber es bleibt fraglich, wie weit er trägt, um komplexe Interdependenzen, die kognitiven Überformungen von ökonomisch bestimmten Lebenslagen und insgesamt die Ökonomisierung des Sozialen in ihren Auswirkungen auf gesellschaftliche Stereotypisierungen abzubilden. In eine ähnliche Richtung mögen die Bedenken gehen, die Kahane (2012, S. 306 f.) im zehnten und letzten Band der Reihe äußert: Die Individualisierung von Vorurteilsstrukturen könne pädagogisch in der praktischen Arbeit wichtig sein, und zudem erlaube die Komplexität des Ansatzes einen erweiterten Blick auf Diskriminierungen, trage aber auch die Gefahr der Entpolitisierung in sich. Das ist die Sicht der Praktikerin; aus einer sozialwissenschaftlichen Sicht ließe sich ergänzen, dass die Studie, da sie sich eher als eine sozialpsychologische Erhebung denn als eine Forschung in politischer Ökonomie versteht, eben deswegen unter ihren analytischen Möglichkeiten bleibt. Da Kriminalität im Konzept der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit keine Rolle spielt (wenngleich sie sich sinnvoll einbeziehen ließe), konnte eine aufschlussreiche Übereinstimmung zwischen diesem Konzept und den neueren Entwicklungen der Kriminal- und Kontrollpolitik nicht auffallen: die Konzentrierung auf Gruppen(-zugehörigkeiten) statt auf Individuen. Diese geraten vor allem deswegen, weil sie einer bestimmten, als Risiko definierten Gruppe angehören, in den Blick, was sich bei Video-Überwachung ganz wörtlich nehmen lässt. So sind in einer britischen Untersuchung (Norris und Armstrong 1998) 90 % der gezielt Observierten männlich, 40 % Jugendliche, und Schwarze werden wesentlich häufiger observiert als es ihrem Bevölkerungsanteil entspricht. Vergleichbares gilt auch für driving bzw. shopping while black (Gabbidon 2003). Ein generalisiertes Verdachtsprofil steuert die Kontrolle, und die Chance und das Risiko, beobachtet zu werden, sind sehr unterschiedlich verteilt. Es ist müßig zu spekulieren, ob dieses Spezifikum des kontrollierenden Blicks herrschende Vorurteilsstrukturen

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lediglich reflektiert oder die Vorurteilsstrukturen ihrerseits durch die Kriminalpolitik beeinflusst werden – beide entstehen aus derselben gesellschaftlichen Situation und sind miteinander verzahnt, und beide teilen dieselbe Alltagstheorie, die „essentialized difference“ (Garland 1996, S. 461) zum Ausgangspunkt allen Räsonierens macht. Dabei verbinden sich Zuschreibungen von Nicht-Zugehörigkeit und Nicht-Vertrautheit zu einem „essentializing the Other“ (Young 1999, S. 104 ff.), zur Zirkulationskontrolle von folk devils (Kreissl und Fischer 2004) und zu ‚dangerization‘ als „the tendency to perceive and analyse the world through categories of menace“ (Lianos mit Douglas 2000, S. 267). Solche Tendenzen verweisen darauf, dass eine erweiterte Konzeption, die über die bisher unverbunden nebeneinander stehenden Untersuchungen zur Kriminalitätsfurcht und die Studien zur gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit hinausgeht, ein größeres analytisches Potenzial entfalten könnte.

5 ‚Sicherheitsmentalitäten‘ als integratives Konzept Sicherheit bildet ein hegemoniales Narrativ der späten Moderne (Legnaro 2012). Ein permanentes Gefühl von Gefährdung entsteht zwar in Mitteleuropa spätestens seit 2001 auch durch Akte des Terrorismus, vor allem jedoch durch die zunehmend ökonomisierten Lebensverhältnisse, die – mit einer Unterscheidung von Bauman (1998) – safety, also Sicherheit als Unverletzlichkeit der persönlichen Integrität, security als Sicherheit vor existenziellen Risiken und certainty als soziale Gewissheit und Berechenbarkeit als prekär und fragil erscheinen lassen. Unter diesem Blickpunkt werden dann zunehmend Zustände und Situationen als sicherheitsrelevant codiert, selbst dann, wenn sich das dem unbefangenen Blick nicht gleich erschließt. Darin wirkt ein Mechanismus, den Michel Foucault 1978 in seinen späten Vorlesungen (2004, S. 73) so beschrieben hat: Disziplin wirke zentripetal und isoliere dabei, konzentriere und schließe ein, während Sicherheit zentrifugal wirke – sie tendiere dazu, sich auszudehnen und „immer weiträumigere Kreisläufe zu organisieren oder sich jedenfalls entwickeln zu lassen“. Diese Ausdehnung legt eine Erweiterung des etablierten Begriffs der Kriminalitätsfurcht auf Fragen des alltäglichen Sicherheitsbewusstseins nahe; zudem ist ‚Sicherheit‘ konzeptionell weitaus umfassender und umfasst begrifflich eine Vielfalt anderer Verängstigungen, die weitaus dominanter sein können als die Furcht vor Kriminalität. Der Begriff ‚Mentalität‘ wiederum ist der englischen ‚mentality‘ nachgebildet und findet erst am Ausgang des 19. Jahrhunderts ins Deutsche (Paul 1992, S. 568). Prominent figuriert ‚mentalité‘ in der französischen Historiker-Gruppe um die

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Zeitschrift Annales d’histoire économique et sociale in den 1930er-Jahren, spielt aber bereits in Durkheims Zeitschrift Année sociologique eine Rolle, die eine Rubrik La mentalité des groupes führte, worunter im Wesentlichen Denkweisen verstanden wurden. Umfassend definiert Raulff (1987, S. 10) in der Einführung des von ihm herausgegebenen Bandes zur Mentalitäten-Geschichte: „Mentalitäten sind demnach nicht nur Vorstellungen, Einstellungen und evtl. Regeln, sie sind nicht zuletzt auch gefühlsmäßig getönte Orientierungen, zugleich sind sie die Matrices, die das Gefühl erst in seine (erkennbaren, benennbaren) Bahnen lenken. Mentalitäten umschreiben kognitive, ethische und affektive Dispositionen.“10 Mentalitäten beschreiben demnach die (individuelle oder kollektive) Art, sich zur Welt ins Verhältnis zu setzen. Sie sind nicht so tief gegründet wie der Habitus und deswegen bei aller Stabilität leichter veränderbar als dieser. ‚Sicherheit‘ und ‚Mentalität‘ – also die individuellen Dispositionen gegenüber einem dominanten Narrativ – begrifflich miteinander zu verbinden, liegt aus der hier entwickelten Perspektive nahe. Ich habe den Terminus ‚Sicherheitsmentalität‘ einmal fast nebenbei geprägt (Legnaro et al. 2001), um Spezifika lokaler governance zu beschreiben. Das war als ein zusammenfassender Begriff für kollektive Einstellungen, Verhaltensweisen und Positionierungen gedacht, aber von einem ausdifferenzierten und theoretisch begründeten Konzept konnte in diesem ersten Versuch noch nicht die Rede sein; diese Weiterentwicklung, die auch eine Individualisierung einschließt, hat dann erst Klimke (2008) vorgenommen (siehe die Beiträge in diesem Band). Ganz allgemein gilt, dass Sicherheitsmentalitäten konzeptionell einerseits die etablierte Forschung zur Kriminalitätsfurcht mit jener latenten Struktur individueller Einstellungen versehen, die der Furcht motivational zugrunde liegen, und andererseits dem Begriff der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit einen Raumbezug und eine Einbettung in alltägliche Lebensvollzüge verleihen, die darin nicht enthalten sind. Das erlaubt die Entwicklung einer gesellschaftspolitischen Typologie, die sowohl Kriminalitätsfurcht wie Einstellungen der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit überwölbt und diese beiden Forschungsprogramme in einem dreifachen Sinne aufhebt: sie auf eine analytisch höhere Ebene versetzt und sie dabei zwar auflöst, zugleich aber aufbewahrt. Inwieweit das Konzept der Sicherheitsmentalitäten dann im Schiller’schen Sinne eine „höhere Vortrefflichkeit“ zu zeigen geeignet ist als die sonstigen operationalen Fassungen von vergleichbaren Syndromen, das allerdings muss sich empirisch erweisen.

10Vgl.

zur Entwicklung des Konzepts in einzelnen europäischen Ländern Spode (1999); zusammenfassende Darstellungen und Essays zu den Konzeptionierungen in der Geschichtswissenschaft bei Raulffs (1987), Le Goff et al. (1990).

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Aldo Legnaro, Dr. rer. pol., freier Sozialwissenschaftler. Zuletzt: Hrsg. mit Daniela Klimke, Kriminologische Grundlagentexte, Wiesbaden 2016; Die (europäische) Stadt auf dem Weg zum Nicht-Ort? in: Joachim Häfele, Fritz Sack, Volker Eick, Hergen Hillen (Hrsg.), Sicherheit und Kriminalprävention in urbanen Räumen. Aktuelle Tendenzen und Entwicklungen, Wiesbaden 2017, S. 13–27; 2017 mit Andrea Kretschmann: Ausnahmezustände. Zur Soziologie einer Gesellschaftsverfassung, in: Prokla 188 (3), S. 471–486; 2018: Kennzeichen des Gefährdens. Skizzen einer Ethnomethodologie des Sich-verdächtig-Machens, in: Kriminologisches Journal 50 (2), S. 39–54.

Sicherheitsmentalitäten: Eine Alternative zum Konzept der Kriminalitätsfurcht Daniela Klimke 1 Der Aufstieg des Opfers und die Erfindung der Kriminalitätsfurcht Für das Jahr 2015 errechnete die jährlich durchgeführte Studie der R+V-Versicherung, „jeder vierte Bundesbürger (26 %) befürchtet, dass ihn Straftäter überfallen, betrügen oder bestehlen“ (R+V 2015). Kontextuiert wird dieses Ergebnis mit der Anzahl registrierter Straftaten bei der Polizei, die mit über sechs Millionen die höchste Zahl seit 2009 ausweise. Vor allem das Risiko eines Einbruchsdiebstahls besorge 30 % der Bürger. Diese Furcht korrespondiere mit den steigenden Zahlen für dieses Delikt in der Polizeilichen Kriminalitätsstatistik. Die Furcht vor Kriminalität falle gerade bei Frauen, Älteren und Ostdeutschen besonders hoch aus. Betrachtet man die Ergebnisse etwas genauer, entpuppt sich diese Darstellung als geradezu irreführend. Zwar geben 26 % der Bürger an, große Angst vor Straftaten zu haben, was hier über einen eher schmalen und auf Eigentumskriminalität fokussierten Bereich deliktbezogener Kriminalitätsfurcht gemessen wurde (i. E. Raubüberfall, Diebstahl/Einbruch und Betrug). In der Gesamtschau landet diese Kriminalitätsfurcht aber – wie seit vielen Jahren – unter den 16 möglichen Besorgnissen, die den Befragten vorgelegt wurden, auf dem vorletzten Platz. Tatsächlich betrifft die Hauptsorge nicht die Kriminalität i. e. S., sondern mehr als die Hälfte der Befragten sorgt sich vor Naturkatastrophen, fast genauso viele vor Terrorismus (der in dieser Befragung seit einigen Jahren als gesonderte Angst erfasst wird), knapp die Hälfte davor, im Alter ein Pflegefall zu werden, ebenso

D. Klimke (*)  Polizeiakademie Niedersachsen, Bremen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 D. Klimke et al. (Hrsg.), Sicherheitsmentalitäten im ländlichen Raum, https://doi.org/10.1007/978-3-658-15118-8_2

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viele vor Spannungen durch den Zuzug von Ausländern, gleichauf mit der Angst vor überforderten Politikern und steigenden Lebenshaltungskosten. Unmittelbar nach der Kriminalitätsfurcht steht die Angst vor dem Zerbrechen der Partnerschaft mit 15 % auf dem letzten Platz. Dieses hier exemplarisch herausgegriffene Zahlenspiel mit alarmistisch verkündeten hohen Untersicherheitsgefühlen der Bevölkerung steht symptomatisch für die enorme Nachfrage nach Daten zur ‚gefühlten Kriminalität‘, für die sich neben der Wissenschaft Regierungen, Sicherheitsindustrie und eben die Versicherungswirtschaft interessieren. Diese Dimension der Kriminologie wurde in den USA erfunden, als The President’s Commission on Law Enforcement and the Administration of Justice im Jahre 1966 mithilfe von Bevölkerungsbefragungen eine genauere Vorstellung von der tatsächlichen Kriminalitätsbelastung erzielen wollte. Eher beiläufig wurden darüber hinaus Informationen zur Kriminalitätsfurcht erhoben (Ditton, Farrall 2000, S. XV). Seit den 1970er Jahren wird in den USA regelmäßig der National Crime Survey durchgeführt. „Es gab in Großbritannien keine Kriminalitätsfurcht, bis sie 1982 entdeckt“ (Ditton et al. 1998, S. 10) und der British Crime Survey ins Leben gerufen wurde. 1989 wurde der International Crime and Victimization Survey (ICVS) erstmals vorgelegt, in dem aus mehr als fünfzig Ländern Daten zur Kriminalitätsfurcht, Viktimisierung und Sanktionseinstellungen erhoben werden. Auch in Deutschland wurden bereits in den 1970er Jahren die ersten Studien zur Kriminalitätsfurcht durchgeführt.1 Die Konstruktion der Kriminalitätsfurcht kam mit der gesellschaftlichen Aufwertung des Opfers (u. a. von Kriminalität) auf (Walklate 2007). Das Opfer hat seit Mitte der 1970er Jahre eine erstaunliche Konjunktur in der Öffentlichkeit, der Politik und der Wissenschaft erfahren. Zuvor allenfalls abstrakt wahrgenommen, wird der Leidtragende seitdem zunehmend zu einer zentralen Figur auf verschiedenen gesellschaftlichen Bühnen. Die Figur hat sich aus ihren religiösen (die Opfergabe) und ethischen (Aufopferung) Ursprüngen gelöst und ist inzwischen umgekehrt mit einer Anerkennungsthematik verknüpft.2 Aus der

1Vgl.

z. B. Stephan (1976), Schwind et al. (1978). Etablierung einer gesellschaftlichen Deutungsfigur lässt sich dann eindeutig feststellen, wenn sie auch ‚auf der Straße‘ angekommen ist. Die jugendsprachliche (häufig ethnolektale) Beschimpfung als Opfer („du Opfer!“) dreht die eigentliche Bedeutung der Opferrhetorik um, indem sie dem Betreffenden jegliche Anerkennung aufgrund eben von Schwäche und Hilflosigkeit verweigert. Hat diese Beschimpfung einerseits die Popularität der Opferdiskurse aufgegriffen, so verbleibt dessen gemeinte Bedeutung andererseits im traditionellen Sinngehalt, in der das hilflose Ausgesetztsein in der Viktimisierung den Betreffenden entehrt.

2Die

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­ osition des Geschädigten oder Verletzten und in dessen Namen wird um poliP tische Ansprüche gestritten. Dabei stellt die Opferfigur einen erfolgreichen kulturellen Sinnzusammenhang zur Verfügung, private Gefühle des Leids und des Unrechts öffentlich zu artikulieren, um Gerechtigkeit und Hilfe zu beanspruchen. Begonnen haben diese Aufwertung der Opferfigur sowie auch die damit verbundenen Formen der individuellen und gesellschaftlichen Bearbeitung der Opfererlebnisse mit der Bewältigungsarbeit am Holocaust, die vornehmlich durch die Opfer selbst vorangebracht und bestimmt wurde. Das NS-Opfer erschien nicht nur als passives Objekt, sondern als erzählendes Subjekt seiner eigenen Geschichte. Mit den Berichten der Holocaust-Überlebenden entstand das Genre der Opfererinnerungen, die als Teil der „memoro-politics“ (Hacking 1996) die öffentliche Darstellung von Unterlegenheit und Leid etablierten. Ebenfalls wesentlich für den sich entwickelnden Opferdiskurs waren die us-amerikanischen Vietnamveteranen, die ihre Kriegserfahrungen als Trauma und deren Auswirkungen als posttraumatische Belastungsstörung etablieren konnten. Unterdessen wurden die aufgewerteten Opferlagen v. a. von Frauenrechtlerinnen in Verbindung mit der gesellschaftlichen Therapeutisierung zu einer „gemeinsamen kulturellen Matrix“ verschmolzen (Illouz 2011, S. 208). Wie durchschlagend diese Matrix etabliert werden konnte, hat Frank Furedi (2004, S. 4) in einer Factiva-Suche3 des Begriffs ‚Trauma‘ in dreihundert britischen Zeitungen zeigen können. Innerhalb eines sechsjährigen Zeitraums ab dem Jahr 1994 verzehnfachte sich die Nennung des Begriffs von knapp 500 Fundstellen auf über 5000 im Jahre 2000. Die Feminisierung von Unrecht wird zwar durch weibliche Opferlagen dominiert, was sich zum einen aus der traditionellen und auch wesentlich mit dem Opferdiskurs reproduzierten Frauenrolle ergibt, zum anderen aus der frühzeitig einsetzenden feministischen Prägung des Opferdiskurses. Insbesondere hängt dies aber auch mit dem Aufstieg des Kriminalitätsopfers in der Opferhierarchie zusammen und hier v. a. mit dem enormen Bedeutungswandel, den das Opfer sexueller Gewalt erfahren hat, das stark geschlechtlich konnotiert ist. Gleichauf sind eher geschlechtsunabhängige Opferlagen wie z. B. die von Armut oder Fremdenfeindlichkeit in ihrer gesellschaftlichen Bedeutung ab- oder sogar umgewertet worden, wodurch der Opferstatus aberkannt wird. Trotz der nach wie vor weiblich gekennzeichneten Opferlagen, besteht jedoch eine allgemeine geschlechtsunabhängige Anerkennung von Opfern, soweit es den Opfergruppen

3Eine

Factiva-Suche wird von diesem Unternehmen angeboten: http://www.dowjones.com/ products/product-factiva/de/.

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D. Klimke

oder ihren Fürsprechern gelingt, ihre ‚Unschuld‘ am Leiden gesellschaftlich zu etablieren.4 Die seelische Beschädigung aus einer Opfererfahrung, die ehemals zur Schande gereichte, weil eine Leidzufügung ohnmächtig zu ertragen war, hat ihre Bedeutung im Zuge dieses Prozesses nachgerade ins Gegenteil verkehrt. War der autobiografische Bericht einstmals vor allem eine Erfolgsgeschichte der eigenen Leistung, verhelfen nun die nuancierte Beschreibung intimster Seelenqualen und die Zuschaustellung persönlicher Schwäche zur Anerkennung und wird damit paradoxerweise ebenfalls zu einer Art Erfolgsgeschichte über das Erleiden. Die viktimistische Durchschlagkraft erweist sich auch daran, dass Opferbekenntnisse längst zum guten Ton gehören und so von der Couch der Psychoanalyse in den halbprivaten Raum der Selbsthilfegruppen bis hin zu den öffentlichen Darstellungen der privaten Leidenserfahrung etwa in Talk-Shows oder in der „diseased victim literature“ (Furedi 2004, S. 41) gelangten. „Identitäten werden buchstäblich über Risikodiskurse hergestellt, die sozial danach festgelegt werden, ob sie in das Profil von Tätern oder Unschuldigen passen“ (Walklate, Mythen 2008, S. 218). Opfergeschichten bieten eine unendlich formbare Vorlage für die Produktion wiederkehrender Erzählungen über Viktimisierung und Unschuld, die Erfindung neuer Identitäten um diese Bedingungen und die Herstellung eines unerschöpflichen Bedarfs an immer anspruchsvolleren Modi der Überwachung, Kontrolle und des Schutzes (Lancaster 2011, S. 3).

Die Opferdiskurse entstanden in einem Klima des Umbruchs, in dem gesellschaftliche Strukturen als unterdrückend und ungerecht wahrgenommen wurden. Seit Ende der 1960er Jahre erscheinen die traditionellen patriarchalen Herrschaftsstrukturen der Gesellschaft vor allem in ihrer die freien Subjekte unterdrückenden Wirkung. Kritik richtete sich gegen die paternalistische Unternehmensorganisation, die Entfremdung von der Arbeit und allgemeiner gegen die „patriarchale Disziplin“ (Hardt, Negri 2002, S. 285). Im Kern wurde das „Hierarchieprinzip als solches angezweifelt“ (Boltanski, Chiapello 2003, S. 226). Dagegen werden Eigenverantwortlichkeit, Selbstverwaltung, Kreativität, Mobilität, Flexibilität sowie Offenheit gegenüber anderem und anderen geltend gemacht (ebd., S. 217, 143 f.). Die westlichen Gesellschaften halten seitdem das persönliche Befreiungspotenzial gegen die gesellschaftliche Heteronomie hoch: „(speziell sexuelle) Emanzipation, Autonomie von Privat-, Gefühls-, aber auch Arbeitsleben, Kreativität, eine

4Zu den vielen Ausnahmen nicht (vollständig) anerkannter Opferlagen s. Klimke und Lautmann (2016).

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freie Selbstverwirklichung, ein authentisches Eigenleben gegen die verlogenen und überkommenen Gesellschaftskonventionen“ (Boltanski, Chiapello 2003, S. 449). Die ehemaligen Ordnungsstrukturen, die die Entfaltung des Selbst nicht genügend berücksichtigen, erscheinen seitdem zumindest verdächtig, das Subjekt zu unterdrücken, insbesondere dann, wenn man von Entscheidungsprozessen ausgeschlossen ist (Pfaller 2009). Auch die zweite Frauenbewegung richtete sich gegen die staatlich-paternalistische Bevormundung. Passive Wohlfahrtsempfänger sollten ‚empowered‘ werden, damit sie aktiv und eigenverantwortlich an den demokratischen Prozessen partizipieren (Fraser 2009, S. 105). Jenseits einer verbindlichen äußeren symbolische Ordnung der disziplinierenden „Gussformen“ (Deleuze 1993), die in Vorstellungen von Sittlichkeit und Konventionen wirkte, setzte sich zunehmend die Anforderung nach dem individuellen Selbstregiment durch. Diese Individualisierung ersetzt die „Vorgabe“ durch die „Aufgabe“ an jeden (Bauman 2003, S. 43). Nicht die Anpassung an äußere Strukturen, sondern die Hervorbringung eines inneren Kerns wird erstrebt. Wenn aber die gesellschaftliche Position als unmittelbarer Ausdruck persönlicher Fähigkeiten verstanden wird, richtet sich der Blick auf das Innere und dessen mobilisierbare Potenziale statt auf die kollektiv geteilte Lage. Diese „neue Innerlichkeit“ mit ihrer Vereinigung von „Körper und Geist, Gefühl und Intellekt, Politik und Person“ (Vester et al. 1993, S. 212, 219) befördert einen Kult um Gesundheit und Sexualität (Bourdieu 1982, S. 578). „Doch ist der Innere Kern empfindlich; seine Entwicklung kann leicht gestört werden. Fast immer ist das subjektive Modell des inneren Kerns verbunden mit Vorstellungen seiner Beschädigung“ (Schulze 1992, S. 314). Ein „Sinn für Vulnerabilität“ sei zu kultivieren (Furedi 2004, S. 21). Die Vulnerabilität, die sich in der Viktimologie zur dominierenden Erklärung von Kriminalitätsfurcht entwickelt hat, geht so wesentlich auf die veränderten Befindlichkeiten der Mittelschicht zurück. Dieses Milieu hat sich häufig (mit einem großen Frauenanteil) in den neueren Berufsfeldern der „Sozialarbeit, der Erwachsenenbildung, Kulturarbeit, Erziehungs- und Sexualberatung“ etabliert (Bourdieu 1982, S. 581; vgl. auch Schulze 1992, S. 313). Eben jene Berufe arbeiten mit großem Erfolg an der Bedarfsherstellung für die von ihnen angebotenen Dienstleistungen. Vermarktet wird hier oft genug die eigene Problemsicht verletzbarer Persönlichkeitsentwicklungen. Und von eben jenen Berufsfeldern geht wesentlich die viktimistische Orientierung aus. Diese viktimistische Trendwende lässt sich kriminalpolitisch verarbeiten und nutzbar machen. Das Kriminalitätsopfer gerät zur entscheidenden Figur, die gegen die Liberalen und ‚ihre‘ Opfer gesellschaftlicher Benachteiligungen in Stellung gebracht wird (Shapiro 1997, S. 13). Wurde den Liberalen von

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k­onservativer Seite ehemals eine laxe Moral vorgeworfen, die sich u. a. mit sexueller Ausschweifung in den 1960/70er Jahren gesellschaftlich auszubreiten schien, hat sich die Kritik der Konservativen nun erneuert. Sie stellen sich nicht mehr offenkundig als Wächter von Sitte und Anstand dar, sondern nutzen die Opfer sexueller Gewalt, um sich als Kinder- und Frauenschützer gegen die Gefährdungen einer sexuellen Libertinage der 1968er zu positionieren.5 Gerade der sexuelle Missbrauch bietet sich als konservatives Opferprojekt an, da dieser Problemdiskurs von Beginn an als klassenloses Delikt konstruiert wurde, das damit nicht in die Agenda der Liberalen nach Sozialreformen fiel (Hacking 1999, S. 134). Der auf das Kriminalitätsopfer fixierte Opferdiskurs ist „der Motor, der den tief greifenden und nachhaltigen Paradigmenwechsel von der wohlfahrtsstaatlich-resozialisierenden Kriminalpolitik der 1960er und 1970er Jahre zu der gegenwärtig vorherrschenden gleichzeitig retributiven und sichernden Kriminalpolitik antreibt“ (Günther 2013, S. 188). Zwar trägt dieser Viktimismus paternalistische Züge, indem er vorgibt, der Staat trüge wenigstens in seiner strafenden Funktion den Schutzbedürfnissen der Bürger Rechnung. Tatsächlich aber steht die Opferwende in einem Spannungsverhältnis zwischen staatlicher Umsorgung und der Politik der Responsibilisierung, die eine teilweise Verantwortungsverschiebung ehemals wohlfahrtsstaatlicher Aufgaben an die Individuen vorsieht. Entscheidend für diese scheinbar widersprüchlichen Entwicklungen ist die gewandelte Konstruktion der Kriminalität. Die liberale Perspektive erklärte Opferlagen v. a. mit sozialökonomischen Benachteiligungen, aus denen eben auch Kriminalität folgen konnte. Der Straftäter war mithin wenigstens in Teilen Opfer zum einen der gesellschaftlichen Ungleichheitsstrukturen und zum anderen des staatlichen Strafens, dessen Übermacht er sich ausgesetzt fand. Die konservativ-neoliberale Position hingegen betont die Eigenverantwortlichkeit, wodurch die ehemaligen gesellschaftlichen Opferlagen nach und nach individuell verrechnet wurden. Damit wurden die root causes of crime ebenso diskreditiert wie die damit zusammenhängenden wohlfahrtsstaatlichen Großstrategien der primären Kriminalprävention.

5So wird nicht nur auf individueller, sondern ebenso auf sozialer Ebene unter der Opferperspektive die Gegenwart als Produkt zurückliegender Ereignisse interpretiert, womit linke Positionen erfolgreich destabilisiert und zu einer Art Vergangenheitsbewältigung unter den Vorgaben der Wertstandpunkte von heute gebracht werden (etwa zur Reformpädagogik, zur Geschichte der Grünen Partei).

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Kriminalität wird nun im Wesentlichen als Ergebnis einer Kosten-Nutzen-Kalkulation konstruiert. Die Dominanz des Risikoparadigmas6 macht Kriminalität zu einer Frage der Kalkulation und stellt über verschiedene Techniken der Klassifikation und Kontrolle von Risiken die Fiktion einer Unterscheidbarkeit von den ‚Kriminellen‘ und den unbescholtenen Bürgern her. In dem Maße, wie Viktimisierungen als Risiko gedeutet werden, fällt der Blick auf die Zuständigkeit zur Prävention. Diese Vorsorgeaufgabe fällt gerade für den Bereich der Alltagskriminalität auch zivilen Akteuren selbst zu und wird regelmäßig mit Kampagnen angereizt (z. B. zur Zivilcourage, der bundesweiten, aus den USA übernommenen Aktion „Wachsamer Nachbar“ u. a.). Nichtstaatliche Akteure treten im Bereich der Prävention eher in unterstützender Funktion auf, die sich aus der Größe und Bedeutung der staatlichen Aufgabe des Kriminalitätsschutzes zu ergeben scheint und diese plausibel macht. Kriminalität aus einem komplizierten Zusammenhang gesellschaftlicher Mitverursachung zu lösen und stattdessen überwiegend als Ergebnis rationaler Wahl zu konstruieren, vereinfacht schließlich den Strafkonflikt und enthebt ihn einer alleinigen Bearbeitung durch Experten. Die Popularisierung der Kriminalpolitik hängt so wesentlich zum einen mit der allgemeinen Verstehbarkeit des Sachverhalts zusammen, die sich aus der unterstellten Wahlentscheidung des Delinquenten ergibt und die zugleich mit einer ebenso klaren Unterscheidbarkeit von Schuld/Unschuld, Böse/Gut usw. einhergeht. Zum anderen resultiert sie daraus, dass mit der individuellen Pflicht zur Beteiligung an der Kriminalprävention Kriminalität nicht nur über ihr Bedrohungspotenzial, sondern auch über die eigenen Investitionen in die Sicherheit zu einem allgemeinen Anliegen wird und zur Identifikation mit den Leidtragenden einlädt. Das Opfer ist so keine Randfigur mehr in einem Strafverfahren, das sich ehemals um den Beschuldigten formierte. Damit erscheint Kriminalität weniger als Bruch einer Strafnorm, sondern als Verletzung eines konkreten Menschen. Lässt sich die nüchterne rechtliche Perspektive des Normbruchs kaum mit öffentlichen Affekten aufladen, spielen nun Emotionalität und Empathie mit dem Opfer in das Strafverfahren hinein. Sobald der Strafkonflikt schließlich in der Art eines Konkurrenzverhältnisses um die Anerkennung der Täter- oder Opferseite gedacht wird, wird der Kampf für die Rechte und die Leidberücksichtigung des Opfers angereizt, und es verschwinden auch die Vorbehalte gegen einen Staat, der von seiner Macht unverhältnismäßig

6Luhmann

(1990, S. 140 f.) unterscheidet Risiko und Gefahr danach, dass im ersten Fall Schäden selbst zugerechnet werden müssen, während Gefahren dem Kontrollbereich anderer unterliegen, und stellt fest, „die Zurechnungstendenz driftet in Richtung Risiko“.

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Gebrauch macht. Der Staat wird stattdessen zum „buddy-state“ (Simon 2001, S. 138), einem hilfreichen ‚Kumpel‘, der mit entschlossenen Strafen eine machtvolle Geste seiner Souveränität und seiner Unterstützung für die Opfer demonstriert. Das wirkt sich auf das Verhältnis zwischen Bürgern und Staat aus. Man fürchtet sich weniger vor dem Leviathan, der die bürgerlichen Freiheitssphären bedroht, sondern vor dem Verbrechen, gegen das der Staat ruhig seine Muskeln spielen lassen soll. Wird Kriminalität solchermaßen ‚desozialisiert‘, verknüpft sich der Delinquent mithin auf mehreren Ebenen wieder direkt mit seinem Opfer. Daraus erklärt sich der rasante Bedeutungsaufstieg des Kriminalitätsopfers, mit dem zugleich ein kriminalpolitischer „Paradigmawechsel“ (Hassemer, Reemtsma 2002, S. 15) eingeläutet wurde, in der sich die Perspektive auf Straftaten grundlegend gewandelt hat. Die vermittelnde gesellschaftliche Instanz sowohl in den Annahmen zur Verursachung von Kriminalität als auch in der Prävention und Reaktion konnte diese Verflechtung lösen und damit den interpersonellen Konflikt abmildern. In dem Maße aber, wie dem Straftäter unterstellt wird, aus freien Stücken oder aus einem inneren Zwang heraus zu handeln, richtet sich sein Tun unmittelbar gegen ein Opfer. Diese Wende in der gesellschaftlichen Konstruktion des Opfers bildet sich in der viktimologischen Forschung ab. Zielte die frühe Kriminalitätsfurchtforschung v. a. darauf, angesichts steigender registrierter Kriminalitätszahlen deren Auswirkungen auf die Lebensqualität (Schwind et al. 1978) und staatliche Sicherheitspolitik zu erheben, indem mögliche Vertrauensverluste in staatliche Kriminalpolitik erkannt werden sollten, wandelte sich diese Zielsetzung im Laufe der Jahrzehnte. Lag damals dieser Forschung die Sorge zugrunde, die Anzeigenneigung der Bürger könne sinken oder sich der Unmut über das staatliche Versagen in der Kriminalitätsbekämpfung sogar in Selbstjustiz ausdrücken (Schwind 2001, Rdnr 14), die Bevölkerung könne sich also von der souveränen Macht des Staates abwenden und das Recht privatisieren, hat sich die Funktion der Kriminalitätsfurchterhebungen unterdessen nachgerade in ihr Gegenteil gekehrt. Aktuell diene die „Furcht als Taktik von governance“ (Lee 2001, S. 482), die „fearing subjects“ produziere und so auf der einen Seite die Subjekte responsibilisiere, ihr Kriminalitätsrisiko selbst zu managen, wobei sich auch die Kriminalprävention besonders an Frauen richtet, und auf der anderen Seite eine Politik von law and order abstütze (ebd., S. 480 f.; vgl. auch Garland 1996; Sasson 1995; Furedi 2005).

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2 Konzeptionelle und methodische Probleme der Kriminalitätsfurchtforschung Wenden wir den Blick auf die grundlegende Frage, was Kriminalitätsfurcht eigentlich ist, mag es erstaunen, dass nach über fünfzig Jahren Kriminalitätsfurchtforschung diese Frage ungeklärt geblieben ist und in den ganzen Forschungsaktivitäten zur Messung dieses Konstrukts kaum eine Rolle spielt. Eine erste allgemeinere Annäherung schafft die Definition der Verbrechensfurcht von Ferraro (1995, S. 4), die gleichwohl zu eng erscheint, wenn er Kriminalitätsfurcht als „emotionale Reaktion von Furcht und Angst vor Kriminalität oder Symbolen, die Personen mit Kriminalität assoziieren“ erklärt. Immerhin wird hier berücksichtigt, dass wir nur auf in Interaktionsprozessen hergestellte Repräsentationen von Kriminalität mit Furcht reagieren können. Trotzdem wird auch in dieser vielbeachteten Untersuchung Verbrechensfurcht ontologisiert und individualisiert und damit die Frage ausgeblendet, wie Kriminalitätsfurcht in die gesellschaftlich produzierten Unsicherheitsdiskurse eingewoben ist. Ein deutlicher Forschungsbedarf besteht in der systematischen Verknüpfung der Makroebene solcher gouvernementalen Wandlungen, der sozialen Probleme sowie der v. a. gendergebundenen Risikodiskurse mit der Mikroebene des tatsächlichen Unsicherheitserlebens und den Schutzaktivitäten der Individuen. Schließlich ist Kriminalitätsfurcht eine „kontingente Kategorie, die sich aus einem Satz von besonderen diskursiven Arrangements und Verschiebungen zusammensetzt“ (Lee 2001, S. 467). Eine Einordnung der viktimologischen Befunde z. B. in die Governementalitätsstudien wäre wünschenswert, da das von Simon (2007) diagnostizierte governing through crime für die Kriminalitätsfurcht keinesfalls folgenlos bleiben kann: Wir werden zunehmend durch Kriminalität und Unsicherheit regiert. Öffentliche Angelegenheiten werden mehr und mehr im Hinblick auf ihre potenziell kriminogenen Eigenschaften oder ihre feindlichen Auswirkungen auf die Sicherheit definiert. Kriminalität und Unsicherheit haben einen prominenten Rang im politischen Diskurs, in der Herstellung sozialer Ordnung und den kulturellen Repräsentationen der Gegenwart besetzt. Sie stehen an vorderster Stelle öffentlicher Fantasie und beeinflussen derart stark die Aktivitäten und die Unterhaltung ganz gewöhnlicher Bürger (Crawford 2002, S. 1).

Zu wenig werden die Befunde der Kriminalitätsfurchtforschung auch mit der Privatisierung von Risiken – nicht nur der Kriminalität – kontextuiert. Ähnlich wie es in den Bereichen sozialer Risiken, wie Arbeitslosigkeit, Altersversorgung und Krankheit geschieht, wird auch die Kriminalitätsverhütung in Teilen dieser

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Responsibilisierungsstrategie unterworfen. Unklar bleibt hingegen, inwieweit diese Verantwortlichmachung die Routinepraxen der Bürger beeinflusst, also „wie responsibilisiert die Bürger tatsächlich geworden sind“ (Walklate, Mythen 2008, S. 212). Es ist gerade das Aufgeben umfassender integrativer Sicherheitsstrategien wohlfahrtsstaatlicher Prägung zugunsten kleinräumlich ansetzender und die Kriminalität nur situativ erschwerender Vorkehrungen, die die Kommodifizierung von Sicherheit erst ermöglicht und auf die Schultern staatlicher, privatwirtschaftlicher und ziviler Akteure verteilt. Das Herunterbrechen vormals von staatlichen Institutionen übernommener Sicherungsaufgaben auf individuell bewältigbare persönliche Vorsorge mag wesentlich zu einem Gefühl der dauernden Unsicherheit der Bürger beitragen, was als Krisenbewusstsein politisch durchaus nutzbar zu machen ist (vgl. Steinert 2007). Empirisch lässt sich diesem Zusammenhang nur näherungsweise nachkommen: Furcht vor Kriminalität erscheint als Ausdruck einer unspezifischen Verunsicherung, die sich auf diffuse, im Einzelnen schwer fassbare Existenz- und Zukunftsängste gründet. Diese unterschwelligen Befürchtungen werden auf Kriminalität projiziert, die dann als greifbare Vergegenständlichung der ansonsten schwer auf den Punkt zu bringenden Formen der Unsicherheit dient. Kriminalität wird damit zum kleinsten gemeinsamen Nenner einer Fülle anders gelagerter – sozialer, kultureller, ökonomischer, ökologischer und politischer – Unsicherheiten (Hirtenlehner 2009, S. 17).

Die Kriminalitätsfurchtforschung müsste systematisch die sich aus dieser umfassenden Entsicherung und Privatisierung von Sicherheit ergebenden Wirkungen auf die Verbrechensfurcht und v. a. auf ihre Verhaltensdimension untersuchen. Eine weiteres Defizit der Kriminalitätsfurchtforschung betrifft auch etwa die Soziologie sozialer Probleme, die Moralpanik (Stanley Cohen 1972), die humanitarian crusaders (Gusfield 1963/2016) – allesamt klassische theoretische Ansätze, die den Prozess der Kriminalisierung durch interessegeleitete Akteure und die gesellschaftliche Resonanz auf diese hergestellten Bedrohungen analysieren. Ein besonders eindrückliches Beispiel einer solchen Skandalisierung betrifft die Sexualgewalt. Selten erfährt ein sozialer Missstand derart ungebrochene Aufmerksamkeit und kann sich ohne relevante Gegenstimmen über Jahrzehnte so prominent etablieren. Die Botschaft, männerdominierte Strukturen seien in ihrem Kern gewalttätig und damit ein soziales Problem, ist längst zum breit geteilten Konsens geworden. Ein wohl einzigartiger Vorgang wurde in Gang gesetzt. Sämtliche Phänomene sexueller Übergriffigkeit, die vor gar nicht langer Zeit zu den herausragenden Opferlagen gehörten, denen fraglos ein gehöriger Anteil individueller Mitverursachung und Schuld zugeschrieben wurden, fallen innerhalb weniger Jahrzehnte der Skandalisierung den sozialen Problemen ohne jegliche

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Verschuldung des Opfers zu. So sind heute die ursprünglich feministischen Botschaften als „breites Massen-Sozialphänomen“ (Fraser 2009, S. 107 f.) mit „leitkulturellem Charakter“ (Marx 2007, S. 523) gesellschaftlich fest etabliert. Eine systematische Verknüpfung der Kriminalitätseinstellungen zu diesen Diskursen wäre wichtig, bestimmt Sexualgewalt doch gerade die Kriminalitätsfurcht von Frauen maßgeblich. Männliche Gewalt bilde die mehr oder minder bewusste Hintergrundfolie auch für die Furcht vor nicht-sexuellen Viktimisierungen: „[…] sexuelle Übergriffe dürften andere Viktimisierungsarten von Frauen ‚überschatten‘. Vergewaltigung wirke für Frauen als „Master-Delikt“, das insbesondere bei jungen Frauen, die das höchste Vergewaltigungsrisiko tragen, Furchtreaktionen auf andere Formen der Kriminalität erhöht“ (Ferraro 1995, S. 87, 97). Warrs (1984, S. 696 ff.) Befund der „contemporaneous offenses“ zeigt etwa auf, dass Frauen mit den gängigen Deliktnennungen (z. B. Körperverletzung, Einbruch) häufig zusätzlich das Risiko eines sexuellen Übergriffs verbänden, was zu entsprechend höheren Furchtangaben führe (vgl. auch Callanan, Teasdale 2009, S. 372). Die empirische Forschung zur Kriminalitätsfurcht hätte hieran breiter anzuknüpfen, indem sie diese theoretischen Perspektiven von vornherein in die Erhebung integriert. Ebenso zentral ist die deutlich stärkere, jedoch noch nicht ausreichende Rückbindung der Kriminalitätsfurcht an die Genderforschung.7 Es ist davon auszugehen, dass über Unsicherheitsgefühle, Schutzmächtigkeit und Unsicherheitsstimuli sowie über geschlechtlich konnotierte Unsicherheits- und Gefährdungsdiskurse gesellschaftliches Risikowissen generiert wird, das wesentlich die soziale Ordnung entlang einer geschlechtlichen und sexuellen Hierarchie herstellt (vgl. Valentine 1989, 1992; Gardner 1990; Stanko 1990; Goodey 1994; Pain 1997). Dabei ist Gender nicht als individuelles Merkmal, sondern als soziale Struktur und Relation zu begreifen (Risman 2004), welche durch gesellschaftlich etablierte Zuschreibungen im Sinne des „doing gender“ (West, Zimmerman 1987) konstruiert werden. Doing Gender wirkt über eine diskursiv hergestellte binäre Struktur von schutzbedürftig/ schutzmächtig, schwach/stark, passiv/aktiv usw., die sich insbesondere auch in weiblichen Gefühlen der Unsicherheit und Verletzbarkeit sowie umgekehrt in männlichen Sicherheitsgefühlen und einer Schutzmächtigkeit äußert.

7Gleiches

gilt insgesamt für die interaktionistische Perspektive, die in der viktimologischen Forschung praktisch keine Rolle spielt, wie auch Phillips und Smith (2004, S. 380) im Hinblick auf E. Goffmans Interaktionismus und Z. Baumans Phänomenologie kritisieren: Diese Ansätze „sind aufgrund einer paradigmatischen Kluft zwischen interpretativer Forschung einerseits und einem eher positivistischen, politikrelevanten Diskurs auf der anderen Seite von der Mainstream Kriminologie abgetrennt“.

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Während sich die Kriminalitätsfurchtforschung lange Zeit mit der Forschung zur ‚Irrationalität‘8 dieser erhöhten Furchtwerte von Frauen aufhielt (das sog. Kriminalitätsfurchtparadox), erbrachten feministische Arbeiten einen anderen Blick auf Viktimisierungserfahrungen von Frauen (Stanko 1990, 1997; Campbell 2005). Insbesondere die häusliche Gewalt als in den offiziellen Statistiken kaum registrierte Opferwerdung ließe die Furcht von Frauen nicht mehr als irrational erscheinen. Darüber hinaus aber ist es das weniger erforschte tatsächliche und als belästigend oder bedrohlich wahrgenommene Verhalten auch im öffentlichen Raum, das die Unsicherheitsdiskurse gewissermaßen absichert. Von Erfahrungen in Gestalt etwa schwerer Beleidigungen, sexueller Adressierungen bis hin zu Gewalt auf der Straße kann eine Mehrheit der Frauen berichten. Dieses Risikowissen wird im alltäglich geführten und medial verbreiteten crime talk sowie z. T. im place talk (Girling et al. 2000, S. 9) verarbeitet. Bedrohungssituationen und Risikodiskurse wirken faktisch oft als Verhaltenssanktionen, worauf Unsicherheiten verstärkt und häufig vermeidende Schutzmaßnahmen ergriffen werden (Klimke 2008, S. 154 ff.). Unter der Irrationalitätsthese konzentrierte sich die Kriminalitätsfurchtforschung überdies einseitig auf die Erklärung der scheinbar erhöhten Furchtwerte von Frauen und hat das männliche Unsicherheitsempfinden vernachlässigt (Rader, Haynes 2011, S. 294; May et al. 2010, S. 161; Cobbina et al. 2008). Die Kriminalitätsfurchtforschung und diese gehaltvollen Ansätze bleiben ganz überwiegend unverbunden. Doch sollte die Furcht „innerhalb eines breiteren Makrokontexts“ verortet werden, womit geklärt werden müsse, wie „die großen massenmedial verbreiteten Befürchtungen auf die routinisierten impliziten Befürchtungen treffen und sich mit ihnen vermischen, die unseren alltäglichen Erfahrungen zugrundliegen“ (Walklate, Mythen 2008, S. 215). Lautmanns (2005, S. 253) Kritik auf die Frage, ob Kriminalität auf die Grenzen der Sozialwissenschaften verweist, gibt den Ball an die viktimologische Kriminologie zurück: „Vielleicht liegt gerade hier eine Crux des Missvergnügens an der Kriminologie: dass sie sich so ungenügend auf die Fülle und den Stand sozialwissenschaftlicher Theorien beziehen mag und sich im selbstreferenziellen Klein-klein eingemauert

8Es ist hierbei zu erwähnen, dass diese Frage nach der Rationalität der Furcht aus zweierlei Gründen sinnlos ist. Zum einen kann die ‚objektive Kriminalität‘ keine Referenz für eine affektive Reaktion bilden. Zum anderen aber wissen wir auch nichts über ein wahres Kriminalitätsaufkommen, um hieraus überhaupt einen Maßstab für das ‚richtige‘ Empfinden bilden zu können. Beides – die affektive Reaktion und die gezählte Kriminalität – sind gleichermaßen Wirklichkeiten eigener Art, die unabhängig von Anzahl und Qualität kriminalisierbarer Sachverhalte bestehen, über die wir nicht viel wissen.

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hat.“ Verbrechensangst wird kaum an den sozialwissenschaftlichen Forschungsstand angeschlossen und stattdessen als „prädiskursives Objekt der Forschung“ (Lee 2001, S. 468) behandelt, das nur eines methodisch richtigen Aufspürens in den Seelen der Befragten bedarf. Skogan (1993, S. 131; vgl. auch Warr 1984, S. 681) weist darauf hin, dass Kriminalitätsfurcht ein Konzept sei, welches sich in seiner Allgemeinheit nur zur „Alltagskonversation“ eigne. Es gäbe aber keinen Konsens darüber, „was das Konzept der Kriminalitätsfurcht bedeutet oder wie es am besten gemessen werden kann“. So besteht eine Vielzahl von Konzeptualisierungen und entsprechenden Operationalisierungen (etwa die sog. Standardfrage9, die deliktbezogene Kriminalitätsfurchtmessung usw.), die hier nicht im Einzelnen diskutiert werden sollen. Stattdessen wird es um das Konstrukt der Kriminalitätsfurcht auf einer Metaebene gehen. Ich möchte drei grundsätzliche Überlegungen anstellen, die die Existenz und damit auch die Messbarkeit der Kriminalitätsfurcht als von anderen Alltagssorgen ausreichend klar abgrenzbaren Gefühlsbereich infrage stellen: Gibt es überhaupt eine Kriminalitätsfurcht, die einen eigenen Stellenwert in den Sorgen der Bürger einnimmt und deren Bedeutung als „eines der am stärksten beforschten Themen der gegenwärtigen Kriminologie“ (Farrall et al. 1997, S. 399) die immensen Forschungsaktivitäten rechtfertigt? Was wird und was kann gemessen werden mit den Kriminalitätsfurcht-Items? Schließlich, auf welche Wissensbestände greifen Befragte bei der Beantwortung der Fragestellungen zurück? Signifikanz  Was für die juristisch geprägt Kriminologie so selbstverständlich auf der Hand zu liegen scheint, nämlich, dass kriminalisierbares Verhalten eine Sondergattung von Störungen bildet und dass sie mithin auch zu gesonderten Gefühlsreaktionen Anlass geben, scheint nicht für die befragten Laien zuzutreffen. Diese unterscheiden die alltäglichen „Ärgernisse und Lebenskatastrophen“ kaum nach strafjustiziablen und zivilen Ereignissen (Hanak et al. 1989, S. 20). Offenbar

9Es

gibt leicht variierende Fragestellungen, die sich an das aus den angelsächsischen Befragungen eingeführte Item („How safe do you feel walking alone in your neighbourhood after dark?“) anlehnen, und immer die beiden potenziell Angst erzeugenden Marker ‚nachts‘ oder ‚abends‘ und ‚allein‘ enthalten, z. B.: „Wie sicher fühlen Sie sich oder würden sich fühlen, wenn Sie hier in Ihrer Wohngegend nachts draußen alleine sind?“. Zur Kritik an diesem Item sei auf verschiedene Einschätzungen verwiesen. Ferraro kommt zu dem Ergebnis, das Standarditem messe nicht die affektive Furcht, sondern die kognitive Risikoeinschätzung (Ferraro 1995, S. 22). Reuband (2000, S. 91) errechnet, dass 88 % der Befragten bei dieser Frage immerhin an Kriminalität dächten. Kury et al. (2004, S. 154) entgegnen, dieses Item „misst von allem etwas, aber nichts richtig“.

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ist Kriminalitätsfrucht eine unter vielen Befürchtungen, die im Alltag der meisten Befragten eine kaum wahrnehmbare eigenständige Sorge bildet, sondern Teil der Routinestörungen oder Katastrophen darstellt, die den Menschen im Leben in sehr verschiedener Form und durch unterschiedliche Verursachung begegnen (vgl. Taylor 1996). Ebenso plausibel ließe sich jegliche andere denkbare Sorge erheben, etwa eine Verkehrsunfallfurcht, eine Krankheitsfurcht, eine Xenophobie usw., ohne dass sich hieraus eine wissenschaftliche „Subdisziplin“ (Hale 1996) etabliert hätte wie im Falle der Kriminalitätsfurchtforschung. Allein die Messbarkeit begründet noch nicht deren Relevanz oder gar eigenständige Existenz in der Lebenswirklichkeit der Befragten. Erheben lassen sich alle möglichen Fragestellungen, selbst wenn sich die Befragten dazu zuvor überhaupt noch keine Gedanken gemacht haben. Validität  Tatsächliche Kriminalitätsfurcht könnte – selbst wenn es sie als eigenständige Angst gebe – nicht mithilfe von Befragungstechnik erhoben werden, denn hierzu bedürfte es eines Experiments, in dem unter Laborbedingungen die Furchtreaktionen auf simulierte kriminogene Risikosituationen auftreten und gemessen werden könnten (Ferraro 1995, S. 25; vgl. auch Fattah 1993, S. 45). Und selbst dann würde keine im Alltag erlebte Furcht erhoben, sondern eine artifiziell erzeugte Furcht aufgrund eines möglicherweise lebensfremden Stimulus. Gemessen werden kann mithilfe der Befragung allenfalls ein „Ausdruck vorgestellter Furcht“ (Ferraro 1995, S. 25). Kriminalitätsfurcht bedeutet also eine vorgestellte Furcht aufgrund hypothetischer Viktimisierungsbeschreibungen. Die Antworten der Befragten auf solche „Was-könnte-sein-wenn“-Fragen ist das Datenmaterial des überwiegenden Teils dieser Forschung. Unabhängig von der Messbarkeit von Kriminalitätsfurcht stellt sich die Frage, ob Furcht überhaupt das alleinige oder dominierende Gefühl ist, das sich mit Kriminalität verbindet. Ditton et al. (1999) beklagen, dass eine immer ähnliche Fragestellung die Erhebung anderer Gefühlszustände als Furcht von vornherein ausschließe. Damit wird nicht nur ein Teil möglicher Einstellungen zur Kriminalität ausgeblendet. Vermutlich mischen sich darüber hinaus in Kriminalitätsfurchtangaben ganz heterogene Wahrnehmungen und führen zur Überschätzung der Furcht. In ihrer Untersuchung experimentieren Ditton et al. erstmals mit der Frage: „Macht Sie der Gedanke an [Deliktgruppe] in ihrem täglichen Leben ärgerlich?“ Sie stellen fest, dass die meisten Befragten viel mehr verärgert sind über die Bedrohung durch kriminelle Adressierungen als dass sie sich hiervor fürchteten. Auch Kury et al. (2004, S. 158) stellen in der qualitativen Validierung im Anschluss einer quantitativen Befragung fest, dass hinter der Kriminalitätsfurcht

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tatsächlich ein „Unwohlsein oder Ärger, etwa über die Wohnverhältnisse, die Nachbarschaft oder wahrgenommene Incivilities, aber keine wirkliche Angst oder Furcht vor Straftaten“ ständen. Da dieses Gefühl jedoch nicht abgefragt wurde, hätten die Befragten ihren Unmut als Verbrechensangst umcodiert. Mutmaßlich, so wäre zu ergänzen, sind auch weitere Gefühlsreaktionen denkbar, etwa Belustigung (wenn z. B. die Polizei ausgetrickst wird oder sich der Delinquent dumm anstellt), Neid oder Anerkennung (bei geglückten Beutezügen z. B. im Bereich der white collar crime) und v. a. auch Faszination, weshalb Kriminalität für die meisten in erster Linie als Unterhaltung in Erscheinung tritt (im massenmedialen und interpersonellen crime talk). Im Anschluss an eine Viktimisierung wird zumeist nur übergangsweise mit erhöhter Unsicherheit reagiert. Die allermeisten Befragten verarbeiten aber selbst schwere Viktimisierungen höchst konstruktiv und können ihr Sicherheitsgefühl wiedererlangen, in Teilen sogar stärken. Einigen Befragten wiederum reichen Beobachtungen weit unterhalb von Viktimisierungen oder Kriminalitätsgeschichten vom Hören und Sagen, um ihr Unsicherheitsgefühl zu bestätigen (Klimke 2008, S. 179–216). Der Ansatz von Farrall und Gadd (2004) greift die Erkenntnis auf, wonach Kriminalitätsfurcht kein fester Persönlichkeitsbestandteil ist, sondern „transitorisch und situational“ (Fattah, Sacco 1989, S. 211) auftritt. Damit reagieren sie auf die Feststellung, dass die quantitative Befragung Kriminalitätsfurcht überschätze, weil Befragte ihre Antwort „auf sehr spezifische, in der Regel selten eintretende Gegebenheiten“ beziehen, aus der nicht auf eine allgemein bestehende Kriminalitätsfurcht geschlossen werden dürfe (Kury et al. 2004, S. 144). Anstatt Kriminalitätsfurcht als ein statisches Gefühl zu messen, das eine dauernde Eigenschaft einer Person beschreibt, schlagen Farrall und Gadd (2004) vor, die Fragestellung dahin gehend zu modifizieren, dass auch die Furchtintensität und die Häufigkeit dieser Furchtempfindungen gemessen werden sollten. Sie haben herausgefunden, dass damit deutlich weniger dramatische Ergebnisse erzielt werden. Die meisten Befragten können für das vergangene Jahr von keinem furchtauslösenden Ereignis berichten, und nur gut ein Drittel hat im letzten Jahr überhaupt Furcht empfunden – dabei mag manches Ereignis vergessen worden sein, das offenbar das Sicherheitsgefühl nicht nachhaltig beeinflusst hat. Gut 14 % aller Befragten klagen über regelmäßige Kriminalitätsbefürchtungen (mehr als fünfmal im vergangenen Jahr). Zur Furchtintensität geben unter allen Befragten 2 % „nicht sehr“, 18 % „ein bisschen“, 11 % „ziemlich“ und 5 % „sehr“ an – der übrige Teil teilt mir, im vergangenen Jahr keine Kriminalitätsfurcht erlebt zu haben.

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Die Dehnbarkeit des Konstrukts der Kriminalitätsfurcht sowohl hinsichtlich seiner inhaltlichen Dimension der dominierenden Gefühlszustände als auch seines von der Fragestellung höchst abhängigen Ausmaßes nähren den Verdacht, dass es sich nicht um eine manifeste Einstellungsdimension handelt, sondern wenigstens in Teilen um ein methodeninduziertes Artefakt, das sich über unaufhörliche Erhebungen und Analysen selbst reproduziert. Repräsentation  Diese Überlegungen führen zur dritten Frage. Sollten sich die Einstellungen der Befragten nicht auf einen eigenen Gegenstandsbereich der persönlichen Kriminalitätsrisiken beziehen und sich Furcht über Befragungstechnik nicht messen lassen, was wird dann eigentlich erhoben? Immerhin erbringen die gebräuchlichen Fragestellungen zur deliktbezogenen Kriminalitätsfurcht und erst recht über den Standardindikator recht konsistente Ergebnisse, was das Ausmaß und die sozialstrukturelle Verteilung anbelangen. Wenn die Befragten keine klare Einstellung zur persönlichen Risikobetroffenheit speziell durch Kriminalität haben, ist es naheliegend anzunehmen, dass stattdessen auf vorgefertigte Meinungen zurückgegriffen wird. Damit würde in das Antwortverhalten nicht das Mikroerleben der Befragten, sondern gesellschaftliche Diskurse der Makroebene einfließen. Hierfür kämen v. a. zwei Unsicherheitsdiskurse infrage, die aufgrund ihrer Dominanz und Präsenz im öffentlichen crime talk als sehr geeignete Wissensquellen erscheinen, auf die durch Befragte zurückgegriffen wird. Der erste Unsicherheitsdiskurs betrifft die geschlechtsbezogenen Kriminalitätsrisiken. Das Geschlecht gilt als „der größte einzeldemografische Faktor“ (Ditton, Farrall 2000, S. xvi), der positiv mit Kriminalitätsfurcht korreliert. Regelmäßig geben Frauen eine deutlich höhere Kriminalitätsfurcht an als Männer. Männer erfahren aber weitaus öfter Gewalt im öffentlichen Raum als Frauen, was jedoch tabuisiert werde (Müller 2010, S. 671 f.). Die Opferrolle steht entsprechend der Verweiblichung des Opfers im Widerspruch zur wehrhaften Männlichkeit. Männer „neutralisieren“ dieses Gefühl auch für sich selbst (Smith, Torstensson 1997). Gleichwohl erlebten Männer gerade im öffentlichen Raum einen „Schatten der Machtlosigkeit“ (May 2001; May et al. 2010, S. 173 f.), wenn sie sich nicht in der Lage sehen, sich selbst zu verteidigen. Wirksam seien bei den geringen Furchtwerten von Männern auch die Effekte sozial erwünschten Antwortens, wie Sutton und Farrall (2005) empirisch nachweisen konnten, wodurch v. a. die Angaben der männlichen Befragten beeinflusst seien. Männer, die stark zu sozial erwünschtem Antwortverhalten neigten, geben systematisch geringere Furchtwerte an als Männer, die wahrheitsgemäß auf

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der Lügenskala10 antworteten. Für Frauen konnte ein solcher Effekt nicht nachgewiesen werden. Die Befragungssituation selbst sei vom doing gender geprägt, wenn die Befragten sich evaluiert fühlen und einen guten Eindruck hinterlassen wollen (Sutton, Farrall 2009, S. 120). Mithilfe einer Genderidentitätsskala11 überprüften Cops und Pleysier (2011) den Einfluss von Gender auf die Kriminalitätsfurcht und stellten fest, dass die Identifizierung mit gendertypischen Merkmalen einen Einfluss auf die Kriminalitätsfurchtangaben hat. Je stärker sich beide Geschlechter mit Maskulinität identifizieren, desto geringer fallen ihre Furchtlevel aus. „Kriminalitätsfurcht kann (mindestens zum Teil) als eine feminine Emotion oder Attitüde angesehen werden“ (ebd., S. 11). Auch für den politischen Unsicherheitsdiskurs dürften Effekte sozial erwünschten Antwortens eine Rolle spielen. Es ist zu vermuten, dass in die persönlichen Furchtangaben Reflexionen öffentlicher Diskurse zur Inneren Sicherheit hineinspielen. Mit der zumeist verwendeten quantitativen Erhebungstechnik verknüpfen sich nicht nur stark die allgemeinen Effekte der sozialen Erwünschtheit, die das Antwortverhalten inhaltlich prägen, aber mutmaßlich auch einen Druck erzeugen, zu diesem gesellschaftlich relevanten Themenbereich der Kriminalität überhaupt eine Meinung zu haben. Dann würden nicht bestehende Befürchtungen gemessen, sondern auch ad hoc erzeugte Aussagen zur Inneren Sicherheit. Kreuter (2002, S. 62) listet einige Varianten dafür auf, dass Befragte ihre Antworten in Befragungen spontan herstellen, weil sie eigentlich gar keine Meinung zu kriminalitätsbezogenen Themen haben: Nach dem „equal-probability-model“ werden Antworten auf Fragen gleichmäßig über die Kategorien

10Die

Lügenskala enthält Fragen, wie z. B. „Ich habe mich noch nie über eine Person geärgert, die gegenteilige Ansichten zu meinen vertreten hat“ oder „Haben Sie jemals etwas genommen, das jemand anderem gehörte […]“, deren Verneinung sozial erwünscht, aber äußerst unwahrscheinlich ist. Die Kriminalitätsfurcht-Skala umfasste die Fragen „thinking about“ und „being afraid of“ hinsichtlich Wohnungseinbruch, Körperverletzung und Vandalismus. Männer, die hier offenkundig i. S. sozialer Angepasstheit ‚gelogen‘ hatten, wiesen niedrigere Furchtwerte auf als Männer, die hier wahrheitsgemäß geantwortet hatten. Die Furchtwerte von Frauen, die auf der Lügenskala nicht die Wahrheit angaben, unterschieden sich nicht systematisch von den Angaben der übrigen Frauen. 11Die Genderidentitätsskala misst mithilfe von gendertypischen Attitüden, wie stark die Identifizierung mit einem sozial konstruierten Geschlecht ausfällt. Gefragt wird etwa nach der Präferenz für Shopping, der Zufriedenheit mit dem Körpergewicht, Medienpräferenzen usw. Kriminalitätsfurcht wird über Statements gemessen, wie „Heutzutage ist es zu unsicher, um Kinder unbewacht auf der Straße spielen zu lassen“, „Abends muss man sehr vorsichtig sein, durch die Straßen zu gehen“ usw.

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verteilt; das „playing-it-safe-model“ umfasst die Neigung von Befragten, die unauffälligen Mittelkategorien oder die „weiß-nicht“-Kategorie zu wählen; nach dem „positive-response-set-model“ bevorzugen Befragte bei Zustimmungsfragen die positive Antwortvariante; das „social-desirability-model“ umfasst die Orientierung an der Mehrheitsmeinung oder der vermuteten Meinung des Interviewers, und schließlich könnten Befragte nach dem „imputed understanding“ in der Frage selbst nach Antworten suchen. Kury et al. (2004, S. 158) stellten im Rahmen ihrer eigenen Untersuchung mit einem gemischt quantitativ-qualitativen Design fest, dass die zunächst quantitativ Befragten, die angaben, sich (sehr) unsicher zu fühlen, dies in den anschließenden qualitativen Interviews abmilderten. „Sie wurden offensichtlich durch den Fragebogen angeregt und fühlten sich aufgefordert, ‚etwas‘ anzugeben.“ Dies sei auf eine Diskrepanz zwischen medialer Skandalisierung von Kriminalitätsthemen und der eigenen „Nonattitüde“ hierzu zu erklären, die dazu verführe, das anzugeben, „was man als ‚normal‘ erachtet“. Befragungen zur Kriminalitätsfurcht scheinen außerdem, zu Botschaften an ‚die Verantwortlichen‘ einzuladen, in denen durch eine Dramatisierung der tatsächlich erlebten Situation auf empfundene Missstände aufmerksam gemacht werden soll. Kury et al. (2004, S. 160) beschreiben dies etwa für ihre Untersuchung u. a. von privaten Schutzmaßnahmen. So zeigte sich im Rahmen des mündlichen Interviews nicht selten, dass die erst im Fragebogen angegebenen Schutzmaßnahmen (v. a. Tür- und Fenstersicherungen) tatsächlich gar nicht existierten. Die Autoren kommentieren: „Auch das deutet auf die fragliche Validität solcher Angaben in schriftlichen Befragungen hin“. In diesem Fall würde Kriminalität als soziales Problem gemessen, in das sich Vorstellungen zu den Gefahren und Gefährdern der Inneren Sicherheit sowie zu den Opfern mischen. Die Medien spielten bei der Einschätzung an eine mögliche eigene Opferwerdung eine große Rolle (Kury et al. 2004, S. 158). Es wäre auch geradezu verwunderlich, wenn den in der medialen Darstellung überaus präsenten Diskursen etwa zu ‚kriminellen Ausländern‘, ‚Pädophilenringen‘ und ‚unschuldigen Kindern‘ usw. nicht auch und sogar eine herausragende Bedeutung bei der Beantwortung zukäme. Wenn die Befragten aufgrund des Mangels an einer klaren Einschätzung persönlicher Viktimisierungsrisiken durch Kriminalität auf gesellschaftliche Repräsentationen zurückgreifen, bedeutet das nicht, dass diese Makroebene nicht die Mikroebene eigenen Erlebens beeinflusst. Es scheint sich hieraus nur nicht ein eigenes, abrufbares Einstellungsfeld zu bilden. Kriminalitätsrisiken als lebensweltliche Angelegenheit sind eingewoben in verschiedene kriminalitätsunabhängige Risikosichten und Unsicherheiten, die nicht die persönlichen Gefahren rechtswidriger Adressierungen fokussieren, sondern einen Teil der in

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Alltagshandlungen vorgenommenen routinierten Sicherheitsmaßnahmen bilden: Wenn man das Haus verlässt, verschließt man ebenso selbstverständlich seine Wohnung, wie man sich im Auto anschnallt.

3 Alternativkonzept: Sicherheitsmentalitäten Wenn die Befragten nicht klar nach strafrechtlich relevanten und zivilen Konflikten unterscheiden, lassen sich auch die Kriminalitätsfurchtangaben der Bevölkerung nicht isoliert von anderen Risikovorstellungen begreifen. Kriminalitätsfurcht existiert nicht „in einer hermetisch verschlossenen Kapsel“, daher sollte die Kriminologie „die breiteren Zusammenhänge und Disjunktionen zwischen verschiedenen Typen der Furchtsamkeit in verschiedenen Kontexten“ untersuchen (Walklate, Mythen 2008, S. 216). Die Furcht vor kriminellen Adressierungen korrespondiert mit weiteren Unsicherheiten und ist damit nur Teil umfassender sicherheitsbezogener Einstellungen und Verhaltensweisen. Das hierfür entwickelte alternative Konzept der Sicherheitsmentalitäten12 umfasst daher Dispositionen der Vorstellungen und Wahrnehmungen von Risiken sowie Praktiken, mit ihnen umzugehen. Kriminalitätsfurcht definiert sich als das Ergebnis einer Übersetzung und Anwendung von Unsicherheitsdispositionen auf das Gesamtfeld der Kriminalität, womit nicht allein die einzelnen Dimensionen der Kriminalitätsfurcht gemeint sind, sondern auch etwa kriminalpolitische Einstellungen, Alltagstheorien zur Erklärung und Prävention von Kriminalität usw. Drei wesentliche Unterschiede zur Kriminalitätsfurchtforschung charakterisieren dieses Konzept: 1. Unsicherheitsdispositionen, die sich im Denken, Wahrnehmen und Handeln der Individuen abbilden, sollen in ihrer Gesamtheit und überdies in ihrer persönlichen und sozialen Kontextuierung erfasst werden. 2. Statt der Einstellungsebene der Unsicherheit (affektiv und kognitiv) stehen die Schutzmaßnahmen als tatsächlich gelebte Praxis der Akteure im Vordergrund. 3. Schließlich erfordert diese Perspektiven einen aufwendigeren methodischen Zugang, der eines qualitativen Designs, auch ggf. in Kombination mit einer quantitativen Befragung, bedarf.

12Der

Begriff wurde in einem anderen Kontext in einem Aufsatz von Birenheide et al. (2001, S. 49) verwendet, mit dem „zusammenfassend ein Syndrom von Einstellungen und Praktiken des Umgangs mit Kriminalität und Verunsicherungen“ in städtischen Zonen bezeichnet wird.

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In Anlehnung an Bourdieus Habituskonzept (1982) lassen sich Sicherheitsmentalitäten als strukturierendes Prinzip verstehen, auf dessen Grundlage Akteure sozial interagieren, gesellschaftliche Wirklichkeit herstellen und das seinerseits sozial hervorgebracht wird. Mit dieser breiten Kontextuierung der Sicherheitsmentalitäten als Produkt und Produzent gesellschaftlicher Wirklichkeit wird zum einen die individualistisch-rationalistische Konzeption der Kriminalitätsfurcht aufgegeben. Zum anderen trägt dieses Konzept dem Umstand Rechnung, dass Kriminalitätsfurcht – wie Kriminalität selbst – kein einfach vorfindlicher und zählbarer Gegenstand, sondern Ergebnis sozialer Definitionsprozesse ist. Entscheidend ist mithin, von vornherein die oben skizzierten gesellschaftlichen Unsicherheitsdiskurse als Teil dieses Konzepts miteinzubeziehen, auf deren Grundlage sich erst Kriminalitätsfurcht herausbildet. Damit können zugleich die üblicherweise herangezogenen Variablen zur Erklärung von Furcht, v. a. der Vulnerabilität, der Viktimisierungen usw. allenfalls Zwischenschritte einer Erklärung bilden. Diese individualistisch-rationalistischen Erklärungen resultieren im Wesentlichen aus dem Bestreben, Furcht an die Messlatte tatsächlicher Viktimisierungswahrscheinlichkeiten bestimmter Bevölkerungsgruppen zu halten. Die Differenz zwischen berichteter Viktimisierungsfurcht und ‚wirklicher‘ Gefährdung durch Kriminalität erscheint dann als der zu erklärende irrationale Rest (Ferraro 1995; Lupton, Tulloch 1999). Damit wird versucht, die Furcht auf ein rationales Fundament zu heben – man fürchtet sich zurecht, weil man schon Schlimmes erlebt hat oder weil Ereignisse schlimme Folgen haben könnten. Hat sich ein Zusammenhang zwischen Furcht und den eigenen Viktimisierungserfahrungen längst als statistisch schwach und widersprüchlich erwiesen, so hält man mit dem Vulnerabilitätsansatz am Grundgedanken fest, dass Kriminalitätsfurcht in einem unmittelbaren Zusammenhang mit einer Opferwerdung stehen müsse. „Die Voreingenommenheit der Kriminologie, Kriminalitätsfurcht in der Weise zu verstehen, dass sie mit dem Risiko einer kriminellen Viktimisierung verbunden ist, scheint sehr beschränkt“ (­Walklate, Mythen 2008, S. 220). So scheint man mit dem Vulnerabilitätsansatz weniger eine Erklärung für die Furcht zu finden, als dass damit die Furcht vor einer Opferwerdung durch ihre Verletzungsfolgen ersetzt wird. In ihrer Erklärungskraft bleiben diese Konzepte unbefriedigend, da sie an der Stelle stehen bleiben, wo sich die eigentlichen Fragen erst ergeben. Entscheidend für das Konzept der Sicherheitsmentalitäten ist der konstruktivistische Gedanke, dass die Individuen auf der Grundlage sozial hergestellter Bedeutungen handeln (und ebenso denken und wahrnehmen), die den Dingen erst ihren Sinn verleihen (Blumer 1973, S. 81). Diese Definitionsprozesse müssen nicht notwendigerweise überhaupt einen ‚realen‘ Bezug haben, sondern können als von objektiven Grundlagen enthobene Diskurse ihre soziale Bedeutung entfalten

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(Spector, Kitsuse 1977). Übertragen auf das Feld von Kriminalität und Kriminalitätsfurcht bedeutet dies, dass es sich bei beiden Sachverhalten nicht einfach um messbare Gegenstände handelt, sondern um soziale Konstruktionen, denen in beiden Fällen mehrstufige Prozesse sozialer Kontrolle vorausgehen, in denen Wahrnehmung, Deutung und Konsequenzen nahegelegt werden. Wenden wir diesen Gedanken exemplarisch auf den nahezu durchgehenden Befund der Kriminalitätsfurchtforschung an, nach dem Frauen eine höhere Furcht als Männer aufweisen und auf dessen hauptsächliche Erklärung dieser ‚irrationalen‘ Furcht als Resultat erhöhter Vulnerabilität (Skogan, Maxfield 1981; Boers 1991; Wetzels, Greve 1995; Kury 1992; Kury et al. 2000; Ferraro 1995; Tulloch, M. 1998; Pantazis 2000; Killias, Clerici 2000; Heinz, Spiess 2001). Diese These, wonach sich Frauen ‚zu Recht‘ mehr fürchten, „weil sie physisch schwächer sind und das Potenzial für das Leid größer“ sei (Scott 2003, S. 204), folgt und reproduziert alltagstheoretische Annahmen über die ‚natürliche‘ Beschaffenheit von Frauen und Männern, die sich anhand der Zuschreibungen vulnerabel/wehrhaft u. a. festmachen lassen (Hollander 2001). Während die Kriminalitätsfurchtforschung weibliche Unsicherheit und männliche Souveränitäts- und Schutzdemonstrationen im öffentlichen Raum noch überwiegend als Folge von (biologisch bedingter) Vulnerabilität bzw. Stärke erklärt, bleibt die eigentlich interessierende Frage dabei unbeantwortet, wie sich Konstruktionen von Verletzungsoffenheit und Verletzungsmacht sozial herstellen. Bereits die Grundlage dieser Erklärung – die ‚natürliche‘ Beschaffenheit weiblicher Körper als schwach – wird nach dem Konzept der Sicherheitsmentalitäten als soziale Konstruktion und nicht als in der Physis verwurzelte Tatsache betrachtet. Sozial hergestellte Geschlechterstereotypen spielen bereits bei der Herstellung der körperlichen Hexis eine Rolle. Physische Kraft, körperliche Ausstrahlung etc. entstehen aus konstitutionellen Vorgaben und sozialen Körperdefinitionen, die Körpern erst die Attribute von Wehrhaftigkeit und Schwäche anheften. Geschlechterstereotypen betonen die geschlechtlichen Unterschiede, während die große Varianz innerhalb der Geschlechter zu wenig berücksichtigt wird. Die Ebene gesellschaftlicher Diskurse über das Frau- und Mannsein bilden die Hintergrundfolie für gefährdete und gefährliche Körper sowie für die Risikodeutungen. Die vulnerable Frau wird als Gegenstück und Ableitung zur verletzungsmächtigen Männlichkeit hergestellt (Kessler, McKenna 1978; Gildemeister 2010; Wedgewood, Connell 2010). Wesentlich wirkt das Prinzip der Verletzungsoffenheit und -mächtigkeit über die körperliche Dimension. „Frauen werden so sozialisiert, dass sie sich vulnerabel fühlen. Dieses Vulnerabilitätsgefühl wird jedoch durch kontinuierliche Belästigungen von Männern verstärkt“ (Jennett 1998, S. 35). Der weibliche Körper ist nicht nur „unablässig der Objektivierung durch den Blick und die Reden der anderen ausgesetzt“ (Bourdieu 2005, S. 112), wodurch

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eine eindeutige Subjekt-Objekt-Beziehung geschaffen wird. Neben den Blicken und Reden über Frauen sind es auch sexuell konnotierte Hands-on-Delikte, die nicht nur Entwürdigung und gar Verletzungen bedeuten, sondern Frauen ‚in ihre Schranken‘ zu weisen vermögen, was durchaus wörtlich verstanden werden kann. Denn Frauen reagieren auf solche Interaktionen sehr häufig mit der Meidung nicht nur bestimmter Gegenden und Situationen, sondern schränken ihren Bewegungsraum oft auch so stark ein, dass ihre sozialkulturelle Teilhabe signifikant beschnitten wird. Die starken Einschränkungen werden von Frauen kaum beklagt, sondern als selbstverständlicher Teil der Alltagsroutinen berichtet (Klimke 2008, S. 155), um die herum sich Weiblichkeit in Einklang mit den Geschlechterverhältnissen konstruiert. Viktimisierungsängste leiten sich hiernach nicht einfach aus physisch begründeten Vulnerabilitäten ab, deren ‚Objektivität‘ überdies selbst schon fragwürdig ist. Denn Gegebenheiten können nicht unmittelbar in Risikovorstellungen und Befürchtungen münden. Geschlecht wird durch die Akteure im sozialen Prozess des doing gender konstruiert, wobei hierfür durchaus auf althergebrachte Rollenmodelle zurückgegriffen wird. Denn Geschlechtsidentität wird in Übereinstimmung mit den Geschlechterverhältnissen entworfen, die durch Heteronormativität und hegemoniale Heterosexualität gekennzeichnet seien (Butler 1991, 2003). Und hiernach seien eben „Frauen gegenüber Viktimisierungen vulnerabel, insbesondere wenn sie sich in den öffentlichen Raum wagen“ (Cavender et al. 1999, S. 645). Das Frausein konstruiert sich mithin wesentlich über ihre Kriminalitätsfurcht, insbesondere über die Furcht vor sexuell konnotierten Delikten. Diese Unsicherheit ist konstitutiver Teil von Weiblichkeit und beschränkt sich nicht allein auf die körperliche Dimension. Darüber hinaus besteht ein enger Zusammenhang zwischen dem Befund, dass sich Frauen stärker vor Kriminalität fürchten und ihrer Unsicherheit in den meisten anderen sozial relevanten Feldern, wie v. a. im Berufsleben. Unsicherheit und Zurückhaltung sind geradezu geschlechtsherstellende Merkmale für Weiblichkeit. In beiden Fällen – auf der Straße und zu Hause, aber auch im Beruf – drohen Frauen, die diesen Erwartungshaltungen nicht entsprechen, entwürdigende Bemerkungen bis hin zu solchen, die direkt die Geschlechtsidentität infrage stellen („Mannweib“ u. dgl.) oder körperliche (sexualisierte) Gewalt.13

13Möglicherweise

macht die ‚Minorisierung des Mannes‘ in den übrigen sozialen Feldern patriarchaler Ordnung die biologische Dimension geschlechtlicher Ungleichheit umso bedeutsamer. In dem Maße, wie geschlechtliche Chancenungleichheit in Bildung, Beruf, Familie usw. nicht mehr als Naturtatsachen verstanden werden, können verletzbare Körper als letztes sicheres Fundament bestehender Ungleichheit erscheinen. Eine Renaturalisierung geschlechtlicher Unterschiede wird parallel durch die Lebenswissenschaften und durch Populärdiskurse (etwa „Women Who Love Too Much“, „Men Are From Mars, Women Are From Venus“) vorangetrieben.

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Kriminalitätsfurcht steht so in einem größeren Zusammenhang patriarchaler Ordnung, die Frauen nicht nur unsicherer im Hinblick auf kriminogene Risiken macht, sondern auch schwächer abschneiden lässt in Bezug auf Berufskarriere, Verdienstniveau, Anzahl der Unternehmensgründungen etc. Kriminalitätsfurcht von Frauen leitet sich nicht naturhaft aus physischen Determinanten ab, sondern aus eben diesen sozialen Prozessen, die über Unsicherheitsdiskurse Weiblichkeit erst herstellen. Die kulturellen Konstruktionen weiblicher Opferwerdung sind eine bedeutsame Quelle informeller und formeller sozialer Kontrolle über Frauen. Sie schließen die angemessenen Rollen für Frauen und den besten Weg zur Disziplinierung des Verhaltens von Mädchen und Frauen ein. Populäre Diskurse über die Opferwerdung von Frauen stimmen eng überein mit betont femininen Idealen von Frauen als vulnerabel, geschlechtlich und dem Schutz der Männer bedürfend (Cavender et al. 1999, S. 645).

Fragwürdig ist daher nicht nur das Konzept der Vulnerabilität, womit nach dieser Perspektive nichts erklärt, sondern nur ein weiteres Merkmal dieser Unsicherheit benannt wird, sondern auch ob Kriminalitätsfurcht überhaupt der angemessene Erklärungsrahmen für weibliche Unsicherheit ist. Die weibliche Zurückhaltung in der Karriereplanung wäre auch nicht gut mit Begriffen einer Erfolgs- oder Sozialfurcht zu erklären. Kriminelle Adressierungen sind gerade im Bereich der sexuellen Übergriffe gegen Frauen als Interaktionen zu begreifen, die mittels symbolischer Degradierung oder Gewaltandrohung dafür sorgen, dass Geschlechterverhältnisse abgesichert werden. Dies sind die sozialen Randbedingungen einer Furchtkultur, in der die Schwäche und Schutzbedürftigkeit von Frauen über patriarchale Kontrollmechanismen auf makro- und mikrosozialer Ebene abgesichert werden und die so die weiblichen Opferlagen herstellt. Auch wäre die in der Kriminalitätsfurchtforschung deutlich vernachlässigte Frage nach der bekundeten geringeren Kriminalitätsfurcht von Männern zu untersuchen, deren Beantwortung ebenso wenig allein in der naturhaften körperlichen Stärke zu suchen sein kann: „Und während es nicht länger akzeptabel ist, Frauen als ‚Opfer‘ von Kriminalität zu etikettieren (und stattdessen besser Wege für das Empowerment von Frauen gegen das Opferstereotyp gesehen werden sollten), sollte sich die Kriminologie über das Etikett der Männer als ‚Angreifer‘ hinaus bewegen“ (Goodey 2000, S. 490). Die Kriminalitätsfurchtforschung hätte hier ein interessantes Feld, wenn sie diese genderstereotypen Vorstellungen in ihrer Forschung nicht einfach reproduzieren, sondern tatsächlich analysieren würde. Die Aufgabe wäre es, diese Alltagsannahmen zum Geschlecht nicht zum impliziten theoretischen Rüstzeug

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zu machen, sondern ihren Einfluss auf die Kriminalitätsfurcht zu erhellen. Es wäre dabei zu prüfen, wie Kriminalitätsfurcht als Risikowissen und Machtrelation einer patriarchalen Ordnung wirkt und die Sicherheitsmentalitäten insgesamt bestimmen.14 Die zweite konzeptionelle Unterscheidung der Sicherheitsmentalitäten von der Kriminalitätsfurchtforschung ergibt sich aus der Feststellung, dass die Bürger Konflikte und Ärgernisse kaum danach unterscheiden, ob und welches Gesetzbuch zur Regulation Anwendung finden könnte. Entsprechend muss davon ausgegangen werden, dass es auch keine spezielle, auf die strafrechtlich relevanten Sachverhalte allein ausgerichtete Furcht gibt. Dies zeigt sich auch empirisch an dem o. g. Befund, dass viele Befragte zum Thema der Kriminalitätsfurcht keine rechte Meinung haben. Während die Befragten zur persönlichen Furcht und auch zur Risikoeinschätzung einer Viktimisierung auf die weiter oben genannten Wissensquellen der gesellschaftlichen Unsicherheitsdiskurse zurückgreifen können, erlaubt die Erhebung dessen, was die Befragten tatsächlich kriminalpräventiv unternehmen, bessere Rückschlüsse auf ein kriminalitätsbezogenes Unsicherheitsempfinden. Die Handlungsebene der Schutzpraktiken erscheint daher als ein validerer Indikator für die Risikoperspektiven der Befragten als eine bloße Einstellungsbefragung nach den üblichen Kriminalitätsfurchtitems. Der Schutz vor kriminellen Adressierungen ist in Bedeutung, Art und Umfang jedoch erst zu ermitteln. Auch in offenen Interviews wird deutlich, dass Schutzmaßnahmen nicht mit der gewünschten Genauigkeit angegeben werden (vgl. Fattah, Sacco 1989). Die Schwierigkeit besteht darin, dass die präventiven Praktiken in unterschiedlichem Grad überhaupt eine bewusste, gezielte Strategie sind, sich gegen Viktimisierungen zu wappnen. Sobald die Sicherheitspraktiken über einfache und konkret fassbare Maßnahmen, wie etwa die technischen Anbringungen zum Schutz der Wohnung hinausgehen, muss intensiv nachgefragt werden. Das Schutzrepertoire umfasst zumeist eine differenzierte, in alltäglichen Routinen eingebaute Struktur, die Tag für Tag eher intuitiv das Handeln der Befragten anleitet. Unzählige Gefahren- und Entwarnungshinweise werden aufgenommen, um dann je nach Gefühl über die Situation und den richtigen Umgang zu entscheiden. Die Schutzkompetenz ist so nur in seltenen Fällen als benennbare Handlungen zur Risikobewältigung leicht abrufbar.

14Analog

wären auch andere Unsicherheitsbekundungen der Interviewten nach ihrer Kontextuierung etwa in gouvernementale Strukturwandlungen, in soziale Probleme usw. zu analysieren.

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Diese Schutzmaßnahmen treten auf als • Resultat bestimmter Risikowahrnehmungen, die zu bewussten und gezielten Schutzmaßnahmen veranlassen, • Teil der alltäglich vollzogenen Routineaktivitäten, • mit weiteren Gewohnheiten der Befragten verwobene Praktiken. Selbst der erste Typus bewusst und gezielt getroffener Schutzvorkehrungen aufgrund von bestimmten Risikowahrnehmungen ist den Interviewten meist nicht als alltagsrelevante Präventivtechnik präsent, weil sie eher selten aufgesuchte Situationen betreffen (etwa große Feste, das als gefährlich wahrgenommene Urlaubsland, wo weniger Bargeld mitgeführt wird u. dgl.) oder nur Momente in Alltagssituationen (z. B. wenn sich plötzlich ein mulmiges Gefühl einstellt, woraufhin man kurzzeitig besonders vorsichtig ist). Der zweite Typus alltäglich vollzogener Routinen ist zum überwiegenden Teil derart selbstverständlich, dass ihre kriminalpräventive Zielsetzung kaum noch bewusst ist (etwa die Wohnungstür zu verschließen, das Portemonnaie sicher zu verstauen u. a.). Manche Vorkehrungen sind auch bereits stark habitualisiert, wie etwa die für viele Bürger bedeutsame Präventionsmaßnahme eines sicheren Gangs im öffentlichen Raum zur Inszenierung als Nicht-Opfer oder eine besondere Aufmerksamkeit, sobald man sich im öffentlichen Raum aufhält. Darüber hinaus umfasst dieser Maßnahmentyp aber auch die Bedienung technischer Anbringungen (Rollläden, Alarmanlagen usw.), die – vom zu verschließenden Türschloss abgesehen – meist bewusster vollzogen wird. Entscheidend ist hierbei allerdings die wirkliche Praxis der Prävention und daher, dass diese technischen Vorkehrungen nicht nur vorhanden sind, sondern tatsächlich auch benutzt werden. Häufig zählen Bürger ein technisches Schutzrepertoire auf, das sie z. B. vom Voreigentümer übernommen haben oder aufgrund eines Wohnungseinbruchs haben installieren lassen, das dann aber tatsächlich oft nicht (mehr) benutzt wird. Der dritte Typus umfasst Praktiken, bei denen nicht klar zu ermitteln ist, ob es sich überhaupt und in erster Linie um eine kriminalpräventive Maßnahme handelt oder um eine Gewohnheit. Wenn Bürger etwa berichten, bestimmte Gegenden zu meiden, kann dies aus kriminalpräventiven Zwecken geschehen, aber oft ergibt sich, dass diese Viertel den Befragten ohnehin nicht viel zu bieten haben. Häufig wird auch berichtet, man gehe im Dunkeln fast gar nicht hinaus – dies ist ein Grund, weshalb die sog. Standardfrage für einen Teil der Befragten hypothetisch bleibt. Bei vielen beschränkt sich die übliche Abendgestaltung aber auch unabhängig von kriminogenen Risiken auf die Häuslichkeit (vgl. Skogan, Maxfield 1981, S. 187 f.). Bei diesem Typus bleibt mithin der kriminalpräventive Anteil der Praktiken schwer zu ermessen.

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Trotz dieser Schwierigkeiten, ein genaues Bild der privaten Schutzaktivitäten zu erlangen, ermöglicht die Untersuchung dieser Handlungsebene, erlebte Unsicherheit klarer zu erfassen als über Einstellungsfragen. Die direkte Frage nach erlebter Kriminalitätsfurcht im Rahmen qualitativer Forschung erlaubt zwar auch einen tieferen Einblick in das erlebte Ausmaß, in die konkreten Angstauslöser und deren Kontextuierung in weitere Unsicherheiten. Doch auch diese Aussagen verweisen häufig auf eine Nonattitüde, ad hoc produzierte Meinungen oder eine appellative Sprechabsicht, um vor den Gefährdungen der Inneren Sicherheit zu warnen. Dieses Antwortverhalten lässt zwar ebenso Rückschlüsse auf Dimensionen der Sicherheitsmentalitäten zu, jedoch können sie nicht unbedingt als Beleg für Kriminalitätsfurcht dienen. Die Frage nach den Schutzaktivitäten hat demgegenüber den Vorteil, jenseits der Unsicherheitsdiskurse, die den Befragten als Wissensquelle und als Bezugsrahmen dienen können, tatsächliche Handlungen zur Kriminalprävention zu erheben, bei deren Beschreibung die wirklich erlebte Unsicherheit deutlicher zutage tritt. Schließlich sei noch auf die Bedeutung eines qualitativen Zugangs eingegangen. Da das Konzept der Sicherheitsmentalitäten grundlegend darauf beruht, Unsicherheitserleben und -handeln hinsichtlich Kriminalität nicht isoliert, sondern als Teil eines Ensembles von Sicherheitsdispositionen zu erheben, ist eine breitere und vertiefte Kontextuierung kriminalitätsbezogener Aussagen notwendig. Entsprechend formulieren auch Walklate und Mythen (2008, S. 220), „Furcht ist eine multidimensionale Entität, durch die Individuen ihren Erfahrungen Sinn und Ordnung geben. Daher macht es keinen Sinn, sich nur auf eine Dimension“ zu beziehen. Ein gemischtes Design mit einer quantitativen Befragung für Erkenntnisse zu Häufigkeiten und Zusammenhängen von Kriminalitätseinstellungen ist dabei aber durchaus sinnvoll, wie es die vorliegende Studie zeigt (und ebenso meiner Untersuchung zu den städtischen Sicherheitsmentalitäten zugrundlag, Klimke 2008). Ein allein quantitatives Vorgehen, wie es in der Kriminalitätsfurchtforschung üblich ist, wäre mit folgenden Schwächen in einigen relevanten Untersuchungsdimensionen verbunden: Kriminalitätsfurcht  Die bereits erörterten Problemen der ad hoc hervorgebrachten Kriminalitätsfurchteinstellungen, der offenbar mit der Beschränkung auf die Furcht zu einseitigen Abfrage möglicher Gefühle und der Messung der Kriminalitätsfurcht als statischer Zustand der Person führen allesamt zur Überschätzung der Kriminalitätsfurcht. Eine weitere Überschätzung ist auch mit den Fragestellungen verbunden. Die Standardfrage, in der nicht direkt auf Kriminalität Bezug genommen wird, sondern auf die Situation, abends allein im Stadtviertel zu gehen, misst nur zu einem (großen) Anteil tatsächlich Kriminalitätsfurcht

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(vgl. LaGrange, Ferraro 1987; Pantazis 2000, S. 418; Sessar 1992, S. 70). Gerade bei älteren Befragten führt sie daher zu einer Überschätzung der kriminalitätsbezogenen Unsicherheit und mischt sich mit allgemeinen Ängsten (abends und allein) sowie mit altersbedingten spezifischen Schwächen, nicht mehr richtig sehen zu können, der Sorge hinzufallen usw. Kury et al. (2004, S. 158) stellen fest, „dass nach den Angaben im geschlossenen Standarditem der schriftlichen Befragung ca. jeder zweite Befragte fälschlicherweise als unsicher bzw. als Person mit (hoher) Kriminalitätsfurcht klassifiziert worden sei. Nach dem persönlichen Interview wurden nur zwei der 30 Befragten als Personen mit (sehr) hoher Kriminalitätsfurcht eingestuft.“ Die deliktbezogene Kriminalitätsfurchtabfrage (z. B. „Wie sehr fürchten Sie sich, Opfer eines Wohnungseinbruchs zu werden“) hat den Vorteil, tatsächlich auf Kriminalität einzugehen, aber läuft gleichauf damit Gefahr, in die Befragten eine Furcht ‚hineinzufragen‘, weil sie an das Delikt zuvor vielleicht noch nicht gedacht haben. Zudem stellen Lisbach und Spiess (2003, S. 212) fest, „dass die Befragten zwischen den verschiedenen Risikoitems nur wenig differenzieren“. Wesentlich ist darüber hinaus, dass die je verschiedenen Vorstellungen der Befragten, wie genau dieses Szenario aussehen könnte, nicht kontrolliert werden können. Stellen sich etwa Frauen gemäß der These von Sexualkriminalität als Master-offence den nächtlich einsteigenden Einbrecher vor, der das Opfer auch sexuell bedrohen könnte, werden die Furchtwerte deutlich höher ausfallen als bei Männern. Eine scheinbare Lösung dieses Problems wäre die genaue Szenarienbeschreibung über Vignetten, die u. a. Killias und Clerici (2000, S. 449) vorschlagen, die aber aufgrund ihrer Situationsschilderung erst recht Gefahr läuft, eine Furcht erst aufgrund der Darstellung zu produzieren. Schutzmaßnahmen  Sehr selten sind die privaten Schutzvorkehrungen Teil einer Befragung zur Kriminalitätsfurcht. Dies hängt sicher auch mit den Schwierigkeiten zusammen, diese Handlungsdimension quantitativ befriedigend zu erheben. Denn im Rahmen geschlossener Fragen lässt sich nur ein Bruchteil der Vielfalt ergriffener Maßnahmen ermitteln. Eine offene Fragestellung würde das differenzierte Präventionsrepertoire eher erfassen können, soweit die Maßnahmen den Befragten überhaupt bewusst sind, wobei sich ob der situativen Vielfalt Codierprobleme einstellen. Zudem ist es entscheidend, wie häufig die Befragten diese Maßnahmen anwenden, ob sie allein kriminalpräventiven Zwecken dienen usw., um etwa ermitteln zu können, welche Einschränkungen damit verbunden sind und mithin welche Bedeutung ihnen im Alltag und mit Blick auf eine zugrunde liegende Kriminalitätsfurcht zukommen. Im Rahmen einer quantitativen Abfrage wird es daher zu Über- und Unterschätzungen privater Schutzmaßnahmen kommen.

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Viktimisierungen  Die Befragungstechnik behandelt Viktimisierungen notwendigerweise als vorfindliche Sachverhalte, deren Erhebung im Wesentlichen zwar dadurch erschwert wird, dass Befragte aus Scham, Vergesslichkeit, falscher zeitlicher Zuordnung u. dgl. keine vollständigen oder richtigen Angaben machen. Das Problem der Viktimisierungsabfrage ist aber grundsätzlicher. Die Frage, wie sich Menschen als Opfer definieren, setzt deutlich mehr voraus, „als nur die Narrative zu berücksichtigen, die Leute für sich selbst und untereinander erzeugen, um den Dingen einen Sinn zu verleihen, die um sie herum geschehen“ (Walklate, Mythen 2008, S. 219). Auch Viktimisierungen sind Ergebnis von Definitionsprozessen, die überdies im Falle der Dunkelfelderhebung juristischen Laien abverlangt wird. Die Bedingungen bleiben völlig unklar, unter denen Befragte eine Viktimisierung • überhaupt bemerken (gerade bei z. B. Diebstahl, Sachbeschädigung, Betrug usw. ist ein Fremdverschulden bzw. das Wahrnehmen einer Opfersituation durchaus nicht selbstverständlich), • als strafrechtlich relevanten Sachverhalt deuten (im laienhaften Verständnis der Befragten ist weder die Unterscheidung zwischen strafrechtlichen und zivilen Konflikten sichergestellt noch die richtige Deliktzuordnung – so muss ein Diebstahl unter Freunden nicht als Strafrechtsfall verstanden, und umgekehrt mag eine versehentliche Rempelei von manchen als Körperverletzung interpretiert werden, die Wahrnehmung mancher Gefährdungssignale als ebenso bedeutsam wie eine Viktimisierung angesehen werden usw.), • als Opferwerdung verstehen (die Identifikation als Opfer einer Straftat fällt je nach Geschlecht, Situation, aber auch abhängig vom sozialkulturellen Hintergrund sehr unterschiedlich aus, was etwa bei Studien zu auch sexueller Gewalt regelmäßig zu Schwierigkeiten führt – die Europastudie zur Gewalt gegen Frauen etwa weist im Ländervergleich eine extreme Diskrepanz auf zwischen Däninnen, die sich zu 52 % als Opfer physischer und/oder sexueller Gewalt seit dem 15. Lebensjahr fühlen, und Polinnen, die dies nur zu 19 % angeben), • berichten wollen (weil etwa dem Datenschutz misstraut wird, man sich nicht erinnern mag, ein Erlebnis durch die Angabe im Fragebogen nicht noch dokumentiert haben will oder umgekehrt in appellativer Absicht einiges angibt, das einem nicht selbst, nicht in dieser Weise oder nicht im abgefragten Zeitraum widerfahren ist). Die hier benannten Unzulänglichkeiten eines allein quantitativen Abfragens des Unsicherheitserlebens und der präventiven Praktiken der Bürger verweisen auf die zwei Richtungen, in die sich die Kriminologie seit den 1960er Jahren ent-

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wickelt hat. Zum einen besteht eine traditionelle, stark am Strafrecht orientierte Kriminologie, die einen positivistischen Zugriff auf Kriminalitätsthemen hegt, nach dem es sich bei Kriminalität und ebenso der Kriminalitätsfurcht um einfach vorfindliche und abzählbare Sachverhalte handeln soll, deren Erklärung im Wesentlichen auf ein Warum hinausläuft (warum handelt jemand kriminell und entsprechend: warum fühlt sich jemand bedroht). Auf der anderen Seite steht die konstruktivistisch orientierte Kriminologie, die Kriminalität und die ‚gefühlte Kriminalität‘ als Ergebnis gesellschaftlicher Prozesse des Definierens und der sozialen Kontrolle versteht und die Frage nach dem Wie stellt (wie wird aus einer Handlung ein kriminelles Delikt konstruiert, wie werden Subjekte furchtsam). Das Konzept der Sicherheitsmentalitäten verlangt hinsichtlich dieser kriminologischen Ausrichtungen keine Entscheidung, sondern kann über ein qualitativ-quantitativ gemischtes Design angewendet werden. Dem qualitativen Teil kommt jedoch nicht nur eine vertiefende und validierende Funktion in der Untersuchung zu, sondern es ermöglicht das grundlegende und umfassende Verstehen der Unsicherheitsdispositionen und ihre Anwendung auf die verschiedenen sozialen Felder. Über ein induktives Vorgehen lässt sich Unsicherheit nicht allein abzählen, sondern ihre Kontextuierungen mit den Wirklichkeitsauffassungen und normativen Vorstellungen der Akteure ermitteln. Kriminalitätsfurcht und Opferwerdungen sind nicht einfach vorfindliche Tatsachen, die sich allein quantitativ angemessen abfragen lassen. Die dominierende individualistisch-rationalistische Konzeption in der Erfassung und Erklärung von Kriminalitätsfurcht vernachlässigt, dass Unsicherheit hinsichtlich rechtswidriger Avancen ein ganzes Bündel von Risikobewertungen zugrunde liegt, das in die Gefahrensicht auf kriminelle Adressierungen einfließt. Kriminalität erweist sich hierbei oftmals nur als Metapher für weitere Unsicherheiten. Ein ressourcentheoretischer Ansatz wie der der Vulnerabilität, der sich überdies zumeist auf die Körperdimension der Wehrhaftigkeit verengt, kann nur vordergründige Erklärungen erhöhter Unsicherheiten liefern, solange die hinter diesen Fremd- und Selbstdefinitionen stehenden sozialen Zuschreibungsprozesse aus dem Blick geraten. Das Erinnern und die Klassifizierung krimineller Adressierungen hängt von den interpretativen Rahmungen der Ereignisse ab. Der positivistische Zugriff verengt die Verbrechensfurcht auf die Perspektive strafrechtlich relevanter Ereignisse. Konfrontationen weit unterhalb rechtswidriger Avancen verweisen aber in Teilen besser auf die Risikosicht als echte Viktimisierungserfahrungen, von denen gerade die besonders vorsichtigen Bevölkerungsteile kaum berichten können. Die Verarbeitungsformen, mit den gedeuteten Erfahrungen umzugehen, gestalten sich darüber hinaus vielschichtiger als es die Kriminalitätsfurchtforschung oft unterstellt. Während Furchtreaktionen erwartet werden, treten sie tatsächlich nur sehr

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selten auf Dauer ein. Stattdessen verarbeiten die Befragten die Ereignisse i. a. R. höchst konstruktiv und zumeist kriminalitätsfurchtmindernd, wenn sie nicht sogar gestärkt aus ihnen hervorgehen entsprechend ihrer dispositionellen Vorgaben. Auch müssen die Deutungen und Praktiken der Akteure interpretativ verknüpft werden. Das Abfragen von Meinungen über die Sicherheitslage mit ungesicherten Operationalisierungen steht zu Recht im Verdacht, Artefakte zu (re)produzieren. Das, was tatsächlich getan wird, um sich vor kriminellen Übergriffen zu schützen, erlaubt hingegen valide Rückschlüsse auf den Umgang mit Kriminalitätsrisiken. Gerade die Praktiken zur Kriminalprävention zeigen, wie Sicherheit als lebensweltliche Aufgabe bewältigt wird. Unsicherheit lässt sich nur über einen sozialwissenschaftlich sensiblen Zugang analysieren. Ein qualitativer Zugang ermöglicht zugleich, die räumliche Dimension der Sicherheitsmentalitäten zu erfassen. Idealerweise erlaubt er, Unsicherheit zu untersuchen „als facettenreich und dynamisch, als eine Emotion, die in örtlichen Feinheiten der individuellen Umstände und Lebensverläufe eingebunden ist und ist sensitiv gegenüber räumlichen, zeitlichen und sozialen Kontexten“ (Pain 2000, S. 369). Zeigen sich die Sicherheitsdispositionen über den Lebensverlauf als stabile Ordnungsstruktur, wie zu Unsicherheit gedacht, wie sie wahrgenommen und in Praktiken umgesetzt wird, sind sie zugleich nicht festgezurrt, sondern modifizieren sich mit der Wahrnehmung des Raums. Die Stadt bestätigt so andere Facetten der Sicherheitsmentalitäten als das Landleben, das von seinen Bewohnern gern nicht nur als sicheres, sondern auch das Gemüt wärmendes Idyll dem städtischen Treiben entgegengesetzt wird.

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Daniela Klimke,  Dr. rer. pol., Soziologin und Kriminologin, Prof. an der Polizeiakademie Niedersachsen. Forschungsschwerpunkte: Soziologie abweichenden Verhaltens, sozialer Probleme und sozialer Kontrolle. Neueste Veröff.: Kriminologische Grundlagentexte, Wiesbaden (2016, zus. mit Aldo Legnaro); Sexualität und Strafe, 11. Beiheft zum Kriminologischen Journal, Weinheim (2016, zus. mit Rüdiger Lautmann); Genieße und tue niemandem weh. Der Grenzgang des Sadomasochismus, in: Geschlossene Gesellschaften. Verhandlungen des 38. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, Bd. 38: http://publikationen. soziologie.de/index.php/kongressband_2016/article/view/588/pdf_228; Die Verwandlung des Opfers. Wie das Opfer eines Sexualverbrechens zur gesellschaftlichen Leitfigur wurde. Eine Stellungnahme, in: Die ZEIT Nr. 8 v. 16.02.2017; Die Verrechtlichung intimer Konflikte, in: Barton, S. et al. (2018, Hrsg.), Festschrift für Thomas Fischer, München.

Teil II Ländlicher Raum

Die Untersuchungsregion – das Oldenburger Münsterland Nina Oelkers, Sascha Schierz und Gabriele Nellissen

Im Sinne einer kommunalen Fallstudie (in der Tradition soziologischer Gemeindestudien, vgl. König 1958, S. 131 ff.) wird die ländlich geprägte ­Untersuchungsregion des Projektes SIMENTA (s. BMBF-Projekt SIMENTA 2014), das ­Oldenburger Münsterland, themenfokussiert vorgestellt. In die Darstellung sind u. a. Daten des Landesamtes für Statistik Niedersachsen, der Polizeilichen Kriminalstatistik für Niedersachsen sowie kommunalspezifisch aufbereitete Daten des wegweiserkommune.de eingeflossen, die sich hauptsächlich auf den Untersuchungszeitraum des Projektes (01.02.2012–31.01.2015) und zum Teil auch auf den Zeitraum vor dem Projekt beziehen. Abschließend skizziert unser Beitrag zukünftige sicherheitsbezogene Herausforderungen für das Oldenburger Münsterland.

N. Oelkers (*) · G. Nellissen  Universität Vechta, Vechta, Deutschland E-Mail: [email protected] G. Nellissen E-Mail: [email protected] S. Schierz  Hochschule Niederrhein, Mönchengladbach, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 D. Klimke et al. (Hrsg.), Sicherheitsmentalitäten im ländlichen Raum, https://doi.org/10.1007/978-3-658-15118-8_3

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1 Das Oldenburger Münsterland als ländlich geprägte Region Die Untersuchung zweier rural geprägter Landkreise (Vechta1 und Cloppenburg) in einer nordwestdeutschen Region (Oldenburger Münsterland) stand im Vordergrund. Die Auswahl der Region für die Fallstudien folgt dem forschungspraktisch häufig genutzten Vorgehen der Kontrastierung weniger (meist zweier) Modellstädte bzw. Stadtviertel (vgl. Taylor et al. 1996 für Manchester und Sheffield; Birenheide et al. 2001 für Hamburg). Seine soziologische Begründung findet ein solches Vorhaben in der Rekonstruktion des Aufbaus der soziokulturellen Persönlichkeit im Kontext nachbarschaftlicher und sozialräumlicher Positionierungen und Relationen (vgl. König 1958, S. 136). Diese Kontrastierung ermöglicht es, unterschiedliche Einbindungen von Individuen in soziale Infrastruktur und nachbarschaftliche Netzwerke zu erfassen, die wiederum eine überindividuelle wie sozialräumlich verankerte „structure of feeling“ im Sinne von Sicherheitsmentalitäten formen (vgl. Birenheide et al. 2001, S. 17 f.). Die Gefühlsstruktur – um eine Übersetzung dieses Konzeptes der Cultural Studies zu versuchen – umfasst einerseits einen Sinn von Verortung, Zugehörigkeit, Lebensgefühl oder Relationierung, aber auch andererseits eine Abgrenzung gegenüber Anderen und Fremden, da eine Deutung als umfassende und historisch gewachsene Lebensweise impliziert wird. Empirisch manifestiert sich diese Gefühlsstruktur immer wieder in einer betonten Distinktion gegenüber anderen Regionen in Deutschland und den großstädtischen Agglomerationen.2 Für die Bevölkerung stellt das Oldenburger Münsterland eine starke Bezugsgröße dar, um das sich Gefühle und Identitäten von belonging entwickeln und stabilisieren können (vgl. Youkhana und Sebaly 2014 und 2015 zum Zusammenspiel von belonging und placemaking). Die Region wird als kulturelle und wirtschaftliche Einheit gedeutet, mit der die Bevölkerung sich stark identifiziert. Es ist zu betonen, dass der Begriff „ländlich geprägte Region“ nicht eine einheitliche Raumkategorie darstellt, sondern im Projektkontext vielmehr als kultureller Deutungsraum verstanden wird (vgl. Oelkers und Schierz in diesem Band).

1Für den Landkreis Vechta liegt eine umfängliche und mehrperspektivische Regionalanalyse vor (Völschow 2014), in der weitere Informationen zur Region, Kriminalitätslage, Sicherheitsempfinden, Prävention sowie Jugendgewalt nachzulesen sind. 2In gewisser Weise finden wir hier alltagsweltlich die Unterscheidung vor, die bereits von Tönnies (2017) mit einer Dualität von Gemeinschaft und Gesellschaft soziologisch theoretisiert wurde. Für eine kriminologische Diskussion der Unterscheidung vgl. Donnermeyer (2007) und Deflem (1999).

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So führt die Vorstellung eines ländlichen Raums oder einer ländlichen Region ein gewisses Eigenleben, das sich nicht im Sinne von Bevölkerungsdichte oder durch agrarische Nutzung erfassen lässt. Es handelt sich um eine relationale Konstruktion. Entgegen einer objektiven Zuordnung kommt es in alltäglichen sowie professionellen Diskursen immer wieder zu kommunikativen Versicherungen, ländlich oder zumindest nicht urban zu sein, was wiederum aus dem Blickwinkel einer kleineren Gemeinde oder eben eines Dorfes durchaus anders gesehen wird (so zum Beispiel das regionale Zentrum Vechta im Landkreis aus der Perspektive von Einwohner/innen peripherer und stärker agrarisch genutzter Ortschaften). Ländlichkeit wird dabei von regionalen Akteur/innen aus ihrer Perspektive häufig positive Eigenschaften zugeschrieben: man sei traditionell, halte zusammen, sei gleichsam als ökonomische und kulturelle Einheit erfolgreich. Man ist halt nicht so, wie es die anderen sind. Gleichzeitig gilt es, einige Einschränkungen vorzunehmen: Eine Vielzahl von statistischen Daten ist für die Untersuchungsregion bzw. ländliche Räume im Allgemeinen nicht in der gleichen aufgearbeiteten Weise verfügbar, wie dies im Rahmen von großstädtischen Verwaltungen (und dort zum Teil nach Stadtbezirk) erfolgt. Insbesondere gilt dieses Argument für statistische Zeitreihen und für die Aufarbeitung der historischen Entwicklung seit der Nachkriegszeit. Die periphere, also ländliche Lage einer Region macht sie für eine Vielzahl von Verwaltungseinheiten oder Institutionen kaum interessant. Es fehlen außerdem historische Studien über die Veränderung von Lebenswelt seit der Nachkriegszeit. Schwerwiegend erweist sich, dass es nahezu keine Daten oder Berichte über den Zuzug in die Region und insbesondere zu Migrationsbewegungen gibt. Inwieweit wirtschaftlicher und sozialer Wandel, aber auch alltagsweltlich formuliert Popkultur, neue Partnerschaftsvorstellungen und Ökologiedenken die Entwicklungen nach Ende des zweiten Weltkriegs und insbesondere in der Umbruchszeit zwischen den 1960er und 1980er Jahren die Region beeinflussten, muss an dieser Stelle leider offen bleiben. Es ist davon auszugehen, dass diese Transformationen hin auf eine spätmoderne Vergesellschaftung3 durchaus einen Einfluss auf den regionalen sense of place oder weiterhin die Sicherheitsmentalitäten entfaltet haben. Das Oldenburger Münsterland (oder inoffiziell auch Südoldenburg) ist das Gebiet der niedersächsischen Landkreise Cloppenburg und Vechta (bzw. von 23 zugehörigen Gemeinden), gelegen im Städtedreieck von Oldenburg, Bremen und

3In

diesem Sinne verstehen wir die Region ebenfalls als Teil einer spätmodernen, differenzierten Sozialordnung, die nicht außerhalb der Veränderungen der Gesamtgesellschaft tradiert und als homogene Einheit weiterexistiert.

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Osnabrück in der Norddeutschen Tiefebene. Der Landkreis Vechta grenzt im Norden an den Landkreis Oldenburg, im Nord-Westen an den Landkreis Cloppenburg, im Süd-Westen und Süden an den Landkreis Osnabrück sowie im Osten an den Landkreis Diepholz. Der nördlich vom Landkreis Vechta gelegene Landkreis Cloppenburg grenzt im Norden an die Landkreise Ammerland und Leer, im Osten an den Landkreis Oldenburg, südöstlich an den Landkreis Vechta, im Süden und im Westen an die Landkreise Osnabrück und Emsland. Das Oldenburger Münsterland ist bis in die Gegenwart eine stark landwirtschaftlich geprägte Region. Massentierhaltung, Veredelungsbetriebe und regionale Obst- und Gemüseproduktion sind ein bedeutender Wirtschaftsfaktor. Das Produktspektrum umfasst Geflügel-, Schweine- und Rindfleisch, Schinken- und Wurstwaren, Feinkost und Salate, Eier und Eiprodukte, Milch- und Milchprodukte, Brot- und Backwaren, Kartoffelprodukte, Obst und Gemüse als Frisch- und Tiefkühlware sowie Säfte und Limonaden. Die Region steht für Agrartechnik, Landwirtschaft und Ernährungsindustrie sowie spezialisierte Logistik und Verpackungsindustrie (vgl. Verbund Oldenburger Münsterland e. V. 2017b). Die Katasterfläche des Landkreises Cloppenburg (141.843 ha) wird zu 69 % als Landwirtschaftsfläche genutzt, 1 % ist Gewerbe- u. Industriefläche. Wald, Heide und Moor machen heute noch ca. 15 % der Fläche aus (vgl. LSN o. J. a, KatGegenwärtigasterfläche in Niedersachsen, Stand 31.12.2014). Es wechseln sich landschaftlich Geest- mit Moorböden ab. Der südliche Teil des Landkreises liegt innerhalb der geografischen Landschaft der Ems-Hunte-Geest. Von Löningen bis Essen gehört ein schmaler Streifen zur geografischen Landschaft Artland. Das Gebiet von Garrel bis Barßel zählt zur Leda-Jümme-Niederung. Die im Vergleich kleinere Katasterfläche des Landkreises Vechta (81.262 ha) wird zu 67 % als Landwirtschaftsfläche genutzt, mehr als 1 % ist Gewerbe- u. Industriefläche. Wald, Heide und Moor sind noch zu ca. 15 % der Fläche ausgewiesen (vgl. ebd.). Der Landkreis hat Anteil an den Naturparks Wildeshauser Geest und Dammer Berge-Dümmer. An der Grenze zum Landkreis Diepholz liegen große Hochmoore.

1.1 Der Landkreis Vechta Der Landkreis Vechta4 erstreckt sich über 812,63 km2 (60 km Nord-Süd und 20 km Ost-West) und besteht aus zehn Gemeinden. Davon sind vier der Gemeinden Städte: Vechta (Sitz der Kreisverwaltung) und Lohne sind Mittelstädte, Damme

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Die Untersuchungsregion – das Oldenburger Münsterland

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und Dinklage sind Kleinstädte. Die größte Fläche innerhalb des Landkreises nimmt die Stadt Damme ein (104,38 km2). Die anderen Gemeinden haben eine Fläche von unter 100 km2: Neuenkirchen-Vörden (90,85 km2), die Stadt Lohne (98,0 km2), Goldenstedt (88,6 km2), Vechta (87,78 km2), Visbek (84,1 km2), Bakum (78,72 km2) und Dinklage (72,66 km2). Die zwei Gemeinden Holdorf (54,92 km2) und Steinfeld (59,83 km2) sind flächenmäßig die kleinsten Gemeinden im Landkreis.

Den größten Anteil an der Bevölkerung des Landkreises (136.184) haben die Städte Vechta (31.352) und Lohne (25.652) (vgl. ebd.). Die anderen zwei Städte Damme (16.693) und Dinklage (12.795) haben unter 20.000 Einwohner/innen (EW) während die Gemeinden Goldenstedt, Holdorf, Neuenkirchen-Vörden, Steinfeld und Visbek knapp unter 10.000 Einwohner/innen vorweisen. Die von der Einwohnerzahl her kleinste Gemeinde ist Bakum (6047). Die beiden Mittelstädte

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Vechta (357,2 EW pro km2) und Lohne (282,5 EW pro km2) haben die höchste Einwohnerdichte gefolgt von der Kleinstadt Dinklage (176,1 EW pro km2) und den Gemeinden Steinfeld (162,7 EW pro km2) und Damme (159,9 EW pro km2). Holdorf, Goldenstedt und Visbek haben eine Bevölkerungsdichte von über 100 EW pro km2, Neuenkirchen-Vörden knapp unter 100 EW pro km2. Bakum (76,8 EW pro km2) hat die geringste Bevölkerungsdichte. Gegenwärtig (vgl. LSN o. J. b, Bevölkerungsfortschreibung, Stand 26.02.2017) liegt die Bevölkerungszahl bei 31.352 Einwohner/innen (136.184 im Landkreis). Die Einwohner/innenzahl pro Quadratkilometer hat sich von 129,7 im Jahr 1990 kontinuierlich auf 169,7 im Jahr 2014 gesteigert (vgl. ebd.). Das Durchschnittsalter von gut 39 Jahren (gut 40 im Landkreis) sowie die Altersgruppenverteilung – so sind fast ein Fünftel der Bevölkerung unter 18 Jahre und lediglich etwa 15 % 65 Jahre und älter – verdeutlichen eine relativ junge Bevölkerungsstruktur. Ein weiteres Charakteristikum ist die relativ hohe Geburtenzahl von rd. zehn auf eintausend Einwohner/innen. Der Ausländeranteil in Vechta liegt bei 9,5 % (8,3 % im Landkreis). Nach den Daten des Zensus 2011 weisen 20,7 % der Einwohner/ innen einen Migrationshintergrund auf. Das entspricht knapp einem städtischen Durchschnitt (die Region Hannover etwa weist einen Anteil von 22,7 % auf). Im Bildungssystem und insbesondere bezüglich eines Hochschulbesuchs sind die Migranten deutlich benachteiligt (vgl. Rohrschneider und Zufall 2014). Stadt und Landkreis sind traditionell von der katholischen Kirche geprägt, aber neben den Kirchengemeinden, die zum Amtsbezirk des Bischöflich Münsterschen Offizialats in Vechta gehören (vgl. Bischöflich Münstersches Offizialat o. J.), weist die Region auch evangelische, evangelisch-lutherische, evangelisch-freikirchliche, neuapostolische Glaubensgemeinschaften auf sowie die muslimische Ahmadiyya-Gemeinde.5 Es gehören 60 % der Einwohner/innen der katholischen Kirche an, 21 % sind evangelisch und 19 % sind Mitglieder einer sonstigen Gemeinde oder gehören keiner Religion an.6 Ein in jüngerer Zeit in Auftrag gegebenes demografisches Gutachten bestätigt der Region mit ihren stabilen Haushalts- und Familienstrukturen, der niedrigen Arbeitslosigkeit, dem relativ hohen Lebensstandard und den ausgeglichenen kommunalen Finanzen eine vorteilhafte Ausgangslage. Politisch kann die Region weitestgehend als deutlich konservativ geprägt angesehen werden. So erreichte die CDU bei den Stadtratswahlen 2016 in Vechta trotz nahezu neun Prozent Verlust 52,14 %, gefolgt von der SPD 27,2 %, der AFD mit 5,56 % und den Grünen mit 5,52 % (vgl. Stadt Vechta 2017).

5Eigene 6Die

Recherchen und Bischöflich Münstersches Offizialat (o. J.). Daten beziehen sich auf das Jahr 2011.

Die Untersuchungsregion – das Oldenburger Münsterland

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1.2 Der Landkreis Cloppenburg Der Landkreis Cloppenburg7 hat eine Gesamtfläche von 1418,45 km2 (50 km Nord-Süd und 40 km Ost-West) und besteht aus 13 Gemeinden. Davon sind drei Gemeinden Städte: Cloppenburg (Sitz der Kreisverwaltung) und Friesoythe sind Mittelstädte, Löningen ist eine Kleinstadt. Die größte Fläche innerhalb des Landkreises haben die Stadt Friesoythe mit 247,09 km2 und die Gemeinde Molbergen mit 162,52 km2. Es folgen die Stadt Löningen mit (143,23 km2), die Gemeinde Saterland (123,62 km2) und die Gemeinde Garrel (113,31 km2). Größer als 100 km2 sind die Gemeinden Emstek (108,14 km2) und Bösel (100,17 km2). Die restlichen sechs Gemeinden sind kleiner als 100 km2: Essen (Oldenburg) (98,02 km2), Lastrup (85,31 km2), Barßel (84,34 km2), Cappeln (Oldenburg) (76,24 km2), Cloppenburg (Stadt) (70,63 km2). Die flächenmäßig kleinste Gemeinde im Landkreis ist Lindern (Oldenburg) (65,81 km2).

7Bildquelle

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Den größten Anteil an der Bevölkerung des Landkreises von 162.350 Einwohner/innen haben die Städte Cloppenburg (33.221) und Friesoythe (21.670). Fünf weitere Gemeinden (Löningen, Garrel, Emstek, Barßel und Saterland) haben über 10.000 Einwohner/innen. Die Gemeinden Molbergen, Essen, Bösel, Cappeln und Lastrup haben unter 10.000 Einwohner/innen. Lindern ist mit 4.681 Einwohner/innen die von der Einwohnerzahl her kleinste Gemeinde. Die größte Bevölkerungsdichte innerhalb des Kreises haben die Stadt Cloppenburg (470,3 EW pro km2) sowie die Gemeinden Barßel (149,3 km2) und Garrel (127,2 km2), gefolgt von den Gemeinden Emstek (107,5 km2) und Saterland (106,7 km2). Die Stadt Löningen (91,9 km2) sowie die Gemeinden Molbergen, Friesoythe, Essen, Cappeln, Lastrup und Bösel haben eine Bevölkerungsdichte von unter 100 und über 70 Einwohner/innen pro km2. Die Gemeinde mit der geringsten Bevölkerungsdichte ist Lindern (Oldenburg) (71,1 pro km2). Die Bevölkerungszahl liegt bei 33.221 Einwohner/innen8 (162.350 im Landkreis). Die Einwohner/innenzahl pro Quadratkilometer hat sich von 85 im Jahr 1990 kontinuierlich auf 114,5 im Jahr 2014 gesteigert (vgl. LSN o. J. b, Bevölkerungsfortschreibung, Stand 26.02.2017). Auch in Cloppenburg liegt eine relativ junge Bevölkerungsstruktur vor. Das Durchschnittsalter von gut vierzig Jahren sowie die Altersgruppenverteilung (gut 20 % der Bevölkerung unter 18 Jahre und weitere 20 % 65 Jahre und älter) entspricht Vechta. Auch hier ist die Geburtenzahl mit 11,3 je eintausend Einwohner/innen (zehn im Landkreis) relativ hoch. Der Ausländeranteil in Cloppenburg liegt bei 8,8 % (7,1 % im Landkreis). Nach den Daten des Zensus 2011 weisen 25,7 % der Personen im Landkreis eine Migrationsgeschichte auf. Neben der Selektion nach Herkunft im Bildungssystem lassen sich negative Effekte hin auf die Erwerbstätigkeit feststellen (vgl. Rohrschneider und Zufall 2014). ­Cloppenburg (Stadt und Landkreis) gehört ebenfalls zu den Regionen in Niedersachsen, die traditionell von der katholischen Kirche geprägt sind. Allerdings hat sich die S ­ truktur aufgrund des Zuzuges evangelischer Spätaussiedler seit den 1990er ­ Jahren verändert. Stadt und Landkreis gehören wie Vechta zum Offizialatsbezirk Oldenburg bzw. zum Amtsbezirk des Bischöflich Münsterschen Offizialats (vgl. Bischöflich Münstersches Offizialat o. J.). Weitere Glaubensgemeinschaften sind evangelisch, evangelisch-lutherisch, evangelisch-freikirchlich, n­euapostolisch oder gehören der evangelisch-christlichen Baptistengemeinde an (vgl. Stadt C ­ loppenburg 2017). Die Hälfte der Einwohner/innen (Cloppenburg Stadt) sind katholisch, gut 21 % evangelisch und 29 % sind Mitglied einer sonstigen Religion oder gehören keiner ­Religion

8Die

Daten beziehen sich auf das Jahr 2014 und wurden dem wegweiser-kommune.de entnommen.

Die Untersuchungsregion – das Oldenburger Münsterland

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an. Cloppenburg entspricht dem Demografietyp der kleinen kreiszugehörigen Gemeinde im ländlichen Raum. Sie ist überwiegend mit Einfamilienhäusern besiedelt. Die Armut ist gering (vgl. wegweiser-kommune.de 2017). Auch für die Region Cloppenburg kann von einer deutlich konservativen politischen Grundhaltung ausgegangen werden. Bei der Stadtratswahl 2016 erreichte die CDU 43,38 % in der Stadt Cloppenburg, gefolgt von der SPD mit 25,64 %, der UWG mit 10,03 % und den Grünen mit 7,90 % (vgl. Stadt Cloppenburg 2017).

2 Ähnlichkeiten und Unterschiede der Landkreise Die Region stellt sich als wirtschaftlich erfolgreicher, nordwestdeutscher, ländlich und landwirtschaftlich geprägter Raum dar (vgl. Verbund Oldenburger Münsterland e. V. 2017a). Beide Landkreise/Städte sind sich zwar ähnlich, unterscheiden sich aber auch in einigen wesentlichen Punkten (s. u.). Die Region steht allerdings im Kontrast zu sogenannten peripheren Räumen (vgl. Dünkel et al. in diesem Band). Während für periphere Räume häufig ein Bevölkerungsrückgang zu verzeichnen ist, lässt sich für das Oldenburger Münsterland seit Ende der 1980er Jahre ein kontinuierlicher Bevölkerungsanstieg konstatieren, und auch die Prognosen bis zum Jahr 2030 verweisen auf einen weiteren Anstieg. Im Zeitraum 1990 bis 2015 zeigt sich ein kontinuierlicher Anstieg der Einwohnerzahlen, der von der relativ gleichbleibenden Bevölkerungsgröße Westdeutschlands in diesem Zeitraum abweicht (vgl. Verbund Oldenburger Münsterland e. V. 2017c). Der Wanderungssaldo von 2014 für den Landkreis Cloppenburg zeigt ein Plus von 1876 Zugezogenen (658 davon sind im Alter zwischen dreißig bis unter fünfzig Jahren und 493 unter 18 Jahren). Für den Landkreis Vechta sind es 1601 Zugewanderte (546 davon 18 bis unter 25 Jahre und 471 in der Altersgruppe dreißig bis unter fünfzig Jahre). Für beide Landkreise gilt, dass es besonders jüngere Menschen sind, die zugewandert sind (ebd.). Die Betrachtung der Entwicklung des Ausländer/innenanteils an der Bevölkerung im Oldenburger Münsterland zeigt eine steigende Tendenz. Im Landkreis Vechta ist der Anteil etwas höher als in Cloppenburg, allerdings liegt der Anteil in beiden Landkreisen unter dem bundesdeutschen Durchschnitt. Eine weitere Besonderheit offenbart die Zusammensetzung der Bevölkerung in beiden Landkreisen. Die Untersuchungsregion besitzt den niedersachsenweit höchsten Anteil von Kindern und Jugendlichen an der Bevölkerung. Der Anteil der Kinder und Jugendlichen unter zwanzig Jahren in den Landkreisen Vechta und Cloppenburg beträgt über 23 % der Bevölkerung. Dies ist für gesamt Niedersachsen einzigartig und eine strukturelle Besonderheit des Oldenburger Münsterlandes.

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Mit Blick auf Sicherheit und Sicherheitsmentalitäten in der Region gerät damit das Phänomen der Jugendkriminalität bzw. jugendlicher Abweichung verstärkt in den Fokus. Die historische Entwicklung des Oldenburger Münsterlandes wird betitelt mit „Vom Armenhaus zur Boomregion“ (Verbund Oldenburger Münsterland e. V. 2017d). Als spezifisch für die regionale Selbstwahrnehmung kann die Entwicklung einer durch Armut und Mangel geprägten zu einer wirtschaftlich erfolgreichen und demografisch stabilen Region gelten. Der Verbund Oldenburger Münsterland e. V. erläutert auf seiner Homepage, dass die Bezeichnung als Armenhaus daraus resultierte, dass „[d]ie Landwirtschaft […] wegen der kargen Sandböden die kinderreichen Familien jahrhundertelang nicht ausreichend ernähren [konnte]. Gastarbeit in den benachbarten Niederlanden („Hollandgänger“) und Auswanderung in die USA waren vielfach die Folge“ (ebd.). Der Anschluss an das Eisenbahnnetz zum Ende des 19. Jahrhunderts und die Fertigstellung der BAB 1 werden als wesentliche Impulse für die positive wirtschaftliche Entwicklung vor allem im Bereich der Tiermast und Veredlungswirtschaft sowie später in der Futtermittelherstellung, Produktvermarktung, Kunststoffverarbeitung und der Agrartechnologie gedeutet (ebd.). Im Gegensatz zum Großteil des Landes Niedersachsen ist die Bevölkerung des Oldenburger Münsterlands traditionell der katholischen Kirche zugehörig. Das regionale Selbstverständnis steht im Kontext der gemeinsamen Geschichte beider Landkreise als Teile des Fürstbistums Münster (1400–1803) und des Großherzogtums Oldenburg (1803–1918/45).9 Entsprechende Bilder einer traditionellen und konservativen Gemeinschaft dominieren auch in Selbstbeschreibungen der Region: „Bis ins 20. Jahrhundert war das Gebiet arm, abgeschnitten vom Umland durch Moore und auch als katholische Minderheit isoliert. Die Menschen waren auf sich selbst gestellt und auf Solidarität angewiesen. Aus dem Zusammenhalt im kleinen Kreis – Familie, Nachbarschaft, Dorfgemeinschaft – erwuchsen soziale und wirtschaftliche Netzwerke, die bis heute existieren. Werte wie Familie, Bodenständigkeit, Heimat, Ehrenamt, Vereinsleben und Religion haben hier

9Der

Bischof von Münster erwarb 1252 die ehemalige Grafschaft Ravensberg-Vechta. 1400 kam auch das Amt Cloppenburg zum Niederstift des Fürstbistums. Seit Ende des Dreißigjährigen Krieges ist das Oldenburger Münsterland ein katholisches Diaspora-Gebiet (vgl. Hauptmeyer 2004). Vor dem Hintergrund dieser Sondersituation lassen sich die Auseinandersetzung mit konfessionell abweichenden Obrigkeiten und ein ausgeprägtes regionales Selbstbewusstsein deuten. Durch den sogenannten Reichsdeputationshauptschluss von 1803 wechselte die staatliche Gewalt über die Ämter Cloppenburg und Vechta zu dem protestantischen Herzog von Oldenburg (ebd.).

Die Untersuchungsregion – das Oldenburger Münsterland

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überlebt – und gelten heute plötzlich überall wieder als die neuen Mittel gegen gesellschaftliche Defizite“ (Verbund Oldenburger Münsterland e. V. 2012, S. 48). Als besonderes regionales Merkmal wird die Gemeinschaft und Nachbarschaft sowie der familiale und generationsübergreifende Zusammenhalt herausgestellt. Es dominieren traditionelle Vorstellungen von geschlechtsspezifischer Arbeits- und Rollenaufteilung, die im deutlichen Kontrast zu den pluralisierten privaten Lebensformen urbanen Zuschnitts stehen. So überwiegen in der Privathaushaltstruktur die Haushalte, in denen Kinder leben, wenn auch dicht gefolgt von den Ein-Personen-Haushalten. Nicht eheliche Lebensgemeinschaften und Alleinerziehende sind für diese Region in den Mikrozensus-Daten aufgrund der zu geringen Fallzahl nicht ausgewiesen. Fast 70 % (und gut 80 % in den Landkreisen) leben in Ein- bzw. Zweifamilienhäusern.10 Graduelle Unterschiede zwischen den Landkreisen Vechta und C ­ loppenburg beziehen sich z. B. auf die Kaufkraft und Arbeitslosigkeit. Vechta zeigt konstant eine relativ hohe Kaufkraft (49.379 € bzw. 51.583 € im Landkreis) und einen geringen Arbeitslosenanteil (6,6 % bzw. 5,3 im Landkreis), während sich Cloppenburg durch eine vergleichsweise geringere Kaufkraft (43.641 € bzw. 46.506 € im Landkreis) bei einem Arbeitslosenanteil von 10,2 % (7,5 im Landkreis) auszeichnet. Die Betrachtung der Entwicklung der Arbeitslosenquote des Landkreises Vechta zeigt, dass diese konstant unter der durchschnittlichen Quote Westdeutschlands liegt und tendenziell ein rückläufiger Trend beobachtet werden kann. Die Arbeitslosenquote des Landkreises Cloppenburg unterliegt größeren Schwankungen als die in Vechta, liegt jedoch auch leicht unterhalb der Quote Westdeutschlands. Im Vergleich Vechta mit Cloppenburg ist der Anteil der Haushalte mit niedrigem Einkommen (50,2 % statt 45,8 %), mit Kinderarmut (16,2 % statt 10,6 %) und Altersarmut (5,3 % statt 5,2 %) sowie die SGB II-Quote (10,4 % statt 5,2 %) und die ALG II-Quote (8,7 % statt 5,2 %) in Cloppenburg höher. Zudem entstammt jede/r fünfte Einwohner/in Cloppenburgs einer russland-deutschen Spät-Aussiedlerfamilie. Diese Differenz lässt den Schluss zu, dass sich die Städte auch hinsichtlich ihrer Sicherheitsdiskurse, ihres crime talks oder der dominanten Sicherheitsmentalitäten unterscheiden könnten sowie differenzierte Muster informeller Sozialkontrolle aufweisen. Es steht zu vermuten, dass im Falle Cloppenburgs mehr Etablierte-Außenseiter-Konflikte (vgl. Elias und Scotson 2002; Sampson 2009) über und entlang von Kriminalitätsfragen verhandelt werden.

10Die

Daten beziehen sich auf die Soziale Lage im Jahr 2014 und wurden dem wegweiserkommune.de entnommen.

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Kriminalstatistisch deuten die Auswertungen der Polizeiinspektion Cloppenburg/ Vechta auf eine in vielen Deliktbereichen vergleichbare Kriminalitätsbelastung hin. Vechta und Cloppenburg weisen einen relativ einheitlichen Stil des Polizierens auf. Dies hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass Cloppenburg und Vechta als eine gemeinsame Polizeiinspektion im Verbund organisiert sind. Die Polizeiinspektion gehört zu der Polizeidirektion Oldenburg. Zu den Kernaufgaben der polizeilichen Arbeit der Polizeiinspektion Cloppenburg/Vechta gehören die Kriminalitätsbekämpfung und die Verkehrssicherheitsarbeit (vgl. Polizeidirektion Oldenburg 2017a). In jeder Gemeinde der Landkreise Cloppenburg und Vechta befindet sich eine Polizeidienststelle, um die Bürgernähe zu gewährleisten. Die Polizeidienststellen im Landkreis Vechta sind dem Polizeikommissariat Vechta nachgeordnet. Dazu gehören der Einsatz- und Streifendienst (ESD) in Vechta, der Kriminalund Ermittlungsdienst (KED) in Vechta sowie in jeder Stadt bzw. Gemeinde eine Polizeistation. Die Polizeidienststellen im Nordkreis Cloppenburg bzw. die Polizeistationen Barßel, Bösel und Saterland sind dem Polizeikommissariat Friesoythe nachgeordnet. Das Polizeikommissariat Friesoythe teilt sich in einen Einsatz- und Streifendienst, der rund um die Uhr im Einsatz ist, sowie in einen Kriminalermittlungsdienst auf. Die Polizeiwachen in der Stadt Cloppenburg und in der Stadt Vechta sind rund um die Uhr besetzt, während die anderen Städte und Gemeinden flächendeckend versorgt werden, indem außerhalb der Geschäftszeit ein Streifenwagen innerhalb weniger Minuten einen Einsatzort erreichen kann (ebd.). Im Vergleich zur durchschnittlichen Kriminalitätsbelastung Niedersachsens fällt zumindest die Kriminalität im Hellfeld in Cloppenburg und Vechta unterdurchschnittlich aus (vgl. Polizeiinspektion Cloppenburg/Vechta 2009). Es lässt sich allerdings eine hohe Konzentration kriminalpräventiver Gremien und Netzwerke aus professionellen Akteuren in der Region auffinden. In den Landkreisen Cloppenburg und Vechta wurden in elf einzelnen Kommunen Präventionsräte ­ eingerichtet: Cloppenburg, Stadt Damme, Stadt Dinklage, Essen, Friesoythe, Garrel, Lohne (PRL), Löningen, Saterland, Steinfeld und Stadt Vechta (vgl. Polizeidirektion Oldenburg 2017b).11 Darüber hinaus transportiert eine Vielzahl von Verweisen auf Sicherheit und Kriminalität im öffentlichen Diskurs das Thema Prävention. Es scheint ein geringer Grad der Einbindung von Bevölkerung oder von Teilen der Bevölkerung in die Planung und Organisation der S ­ icherheitsproduktion vorzuliegen. Reaktive Einsatzstrategien und weniger „community policing“ scheinen typisch, wodurch die Definitionsmacht der

11Präventionsräte

in den Landkreisen Cloppenburg und Vechta Stand: 01.03.2013.

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­ olizeibeamt/innen im Einsatz als ziemlich hoch gelten kann. ­Festmachen lässt P sich dieser Kontrollstil auch an einer recht hohen Frequenz von S ­ treifenwagen im Stadtbild, während sonstige ansprechbare Sicherheitskräfte im ­öffentlichen Raum selten sind. Gerade in Hinblick auf die Distanzen lässt sich eine Abnahme der Kontrolldichte in weiter entfernten Regionen des Landkreises feststellen. Für Vechta lässt sich zusätzlich anmerken, dass der Stadt mit drei größeren innerstädtischen Justizvollzugsanstalten (U-Haft für jugendliche Straftäter, Jungtätervollzug, Frauenvollzug) das Strafjustizsystem zentral ins Stadtbild eingeschrieben ist und eine alltägliche Konfrontation mit Kriminalitätsfragen kennzeichnend ist (vgl. auch Völchow 2014, S. 41–42). Demgegenüber scheint es für Cloppenburg bis in die Gegenwart üblich, dass lokale Kriminalitätserzählungen mit Verweisen auf den Zuzug von Aussiedlern während der 1990er Jahre verbunden und als alltagsweltlicher Hintergrund für Kriminalitätserklärungen herangezogen werden. Auch im Diskurs über den Landkreis lassen sich entsprechende Deutungsmuster wiederfinden, wonach die Region durch die Entwicklung einer „Parallelgesellschaft“ geprägt sei (vgl. Schröder 2005). Neben dem positiven Image des Oldenburger Münsterlandes als prosperierende und wirtschaftlich starke Region, prägen verschiedene Negativschlagzeilen über die Folgen der industrialisierten Landwirtschaft auch ein negatives Image: Berichte über Massentierhaltung, ausbeuterische Verhältnisse gegenüber osteuropäischen Arbeiter/innen in der Landwirtschaft und die Belastung von Boden und Grundwasser drückten der Region den Ruf als „Jauchelagune“ (Der Spiegel 1984) auf.12

3 Registrierte Kriminalität im Oldenburger Münsterland Die Polizeiinspektion Cloppenburg/Vechta hat in dem Zeitraum von 2012 bis 2016 jährlich zwischen ca. 15.000 und 17.500 Fälle bearbeitet, die in der Polizeilichen Kriminalitätsstatistik (PKS) registriert wurden. Das Landeskriminalamt Niedersachsen weist auf die begrenzte Aussagekraft der Daten hin, da in der PKS

12Die

Dokumentarfilmer Nina Kleinschmidt und Wolf-Michael Eimler zeigten 1984 in der Radio-Bremen-Dokumentation „Und ewig stinken die Felder“ die negativen Seiten der wirtschaftlich erfolgreichen Region. Seinerzeit ätzte der „Spiegel“ über „Jauchelagunen“ und nannte die südoldenburgische Landwirtschaft eine „riesige Latrine“.

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nur die der Polizei bekannt gewordenen Straftaten einschließlich der mit Strafe bedrohten Versuche registriert werden (vgl. Landeskriminalamt Niedersachsen 2017). Die Erfassung erfolgt nach Abschluss der polizeilichen Ermittlungen bei Abgabe der Anzeigen an die Staatsanwaltschaft, weshalb Straftaten mit langer Ermittlungsdauer erst zeitlich versetzt in die PKS eingehen. Da es im Projekt aber auch um die Form des Polizierens im Oldenburger Münsterland ging, geben die Daten allerdings einen Einblick in das „Hellfeld“, in dem sich das Anzeigeverhalten der Bevölkerung oder die Verfolgungsintensität der Polizei sowie die öffentliche Wahrnehmung widerspiegeln. Nach der PKS wurden in den Landkreisen Cloppenburg und Vechta über den Zeitraum zwischen 2012 und 2016 jährlich jeweils zwischen ca. 7000 und ca. 9000 Straftaten verzeichnet (die Zahlen der letzten 15 Jahre sind ähnlich). Insgesamt ist seit 2013 ein leichter Rückgang an Straftaten zu verzeichnen. Dabei lagen die Straftaten im Landkreis Cloppenburg ab dem Jahr 2000 immer über der Zahl der aufgezeichneten Straftaten im Landkreis Vechta. Allerdings ist die Einwohnerzahl im Landkreis Cloppenburg durchgängig höher, sodass der interessantere Wert hinsichtlich der Kriminalitätsbelastung die Häufigkeitskennzahlen (Straftaten pro 100.000 Einwohner) sind. Gemäß der Auswertung der PKS 2016 durch die Analysestelle der Polizeiinspektion Cloppenburg/Vechta liegt die Häufigkeitszahl der Straftaten pro 100.000  Einwohner im Oldenburger Münsterland (vgl. Polizeiinspektion Cloppenburg/Vechta 2017b) für die Jahre 2012 bis 2016 durchgängig (mit zwischen ca. 5000 bis 6000) unter dem Wert der gesamten Polizeidirektion Oldenburg (6000 bis unter 7000) und unter dem für Niedersachsen (knapp über 7000). Die Häufigkeitszahlen der Straftaten in den Jahren 2012 bis 2016 sind für die Landkreise Cloppenburg und Vechta vergleichbar. Der Wert liegt für beide Landkreise zwischen ca. 5000 bis zu knapp 6000 Straftaten pro 100.000 Einwohner. Der Durchschnitt der jährlichen Aufklärungsquoten liegt bei 60 % (vgl. ebd.). Nach der Auswertung der PKS 2015 und 2016 durch die Analysestelle der Polizeiinspektion Cloppenburg/Vechta entfällt ein Großteil der Straftaten auf Diebstahlsdelikte (ca. 40 %) etwas mehr als die Hälfte davon sind einfache Diebstähle. Darauf folgen die sonstigen Taten, wie beispielsweise Sachbeschädigung, Beleidigung und Hausfriedensbruch (ca. 20 %). Neben Vermögens- und Fälschungsdelikten (ca. 20 %) nehmen sogenannte Rohheitsdelikte13 einen weiteren größeren 13Unter

„Rohheitsdelikte“ werden Straftatbestände wie Körperverletzung, Raub, räuberische Erpressung und Straftaten gegen die persönliche Freiheit, z. B. Bedrohung und Nötigung, also Straftaten gefasst, die überwiegend in der Öffentlichkeit begangen werden und dementsprechend das individuelle Sicherheitsgefühl beeinflussen können.

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Anteil (ca. 15 %) ein. Im Bereich der Rohheitsdelikte überwiegen die Fälle von Körperverletzung gegenüber Fällen von Bedrohungen oder Raub. Die Werte für Rohheitsdelikte in den Landkreisen Vechta und Cloppenburg sinken von 2012 bis 2015, steigen 2016 allerdings etwas an. Dies gilt auch für Körperverletzungen: es wurden 2012 ca. 1700 Fälle registriert, in 2015 ca. 1500. Freiheitsdelikte sind von über 600 Fällen auf ca. 500 gesunken, Raub14 von über 100 auf ca. 90 Fälle (vgl. Polizeiinspektion Cloppenburg/Vechta 2017a). Die Entwicklung der Körper­ verletzungsdelikte vor dem Untersuchungszeitraum zeigte einen kontinuierlich steigenden Trend.15 Damit folgte die Region auch dem seit 1994 anhaltenden Trend mit stetig steigenden Fallzahlen der PKS Niedersachsens (vgl. Niedersächsisches Ministerium für Inneres und Sport, PKS 2007, S. 7). Ein weiterer Befund aus den Jahren (1999 bis 2007) vor dem Untersuchungszeitraum ist die Zunahme der Fallzahlen im Bereich Sachbeschädigung von 618 auf 1015 (64,42 % Zuwachs) im Landkreis Vechta und von 484 auf 1092 (125,6 % Zuwachs) im Landkreis Cloppenburg. Von 2007 bis 2009 war jedoch wieder ein starker Rückgang um ca. 23 % in beiden Landkreisen feststellbar. Hinsichtlich registrierter Diebstahlsdelikte16 konnte in den Landkreisen Vechta und Cloppenburg tendenziell ein Rückgang festgestellt werden (vgl. Polizeiinspektion Cloppenburg/Vechta 2017a). So wurden im Jahr 2012 in den Landkreisen Vechta und Cloppenburg etwa 3200 (einfache) Diebstahlsdelikte registriert, in 2015 unter 3000. Im Bereich des schweren Diebstahls wurden 2012 ca. 3400 Fälle bekannt, im Jahr 2016 waren es unter 3000 Fälle. Diese rückläufigen Tendenzen zeichneten sich bereits in den Jahren 1999 bis 2009 ab, sodass die im Projekt erhobenen Daten vor diesem Hintergrund zu interpretieren sind. Bezogen auf schweren Diebstahl (Fahrrad, Kfz, Wohnung, Büro, Geschäft, Gaststätte etc.) weisen besonders die Bereiche Vechta (582 in 2015), Cloppenburg (434 in 2015), Lohne (344 in 2015) und Frisoythe (192 in 2015) höhere Zahlen auf. Im Bereich des Diebstahls ist der „Fahrradklau“ mit einem Anteil um die 30 % führend, jedoch seit 2008 etwas rückläufig (vgl. ebd.). Auch hier häufen sich die Fälle in den Bereichen Vechta, Cloppenburg, Lohne und Frisoythe.

14Ein

Raubdelikt setzt voraus, dass das Opfer unter Anwendung von Gewalt oder Drohung mit Gewalt zur Herausgabe von Sachen gezwungen wird. 15Lagen im Jahr 1999 die Zahlen noch bei 350 Fällen (Landkreis Cloppenburg) bzw. 450 Fällen (Landkreis Vechta), so haben sich diese Zahlen bis zum Jahr 2009 im Landkreis Vechta mehr als verdoppelt und im Landkreis Cloppenburg um insgesamt 28,4 % erhöht. 16Unter den Diebstahlsdelikten werden sämtliche Formen wie Diebstähle rund um das Kfz, Fahrraddiebstähle, Wohnungseinbrüche, Ladendiebstähle etc. gefasst.

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Der Bereich Einbruch in Wohnungen in der Untersuchungsregion hat sich innerhalb von 10 Jahren verändert. So sind die Wohnungseinbruchsdiebstähle insgesamt (inklusiv Tageswohnungseinbrüche zwischen 6 und 21 Uhr) bis 2008 gesunken (214 davon 54 zwischen 6 und 21 Uhr), um dann erst langsam bis 2011 (311 davon 93 zwischen 6 und 21 Uhr) und dann nochmals 2012 (453 davon 168 zwischen 6 und 21 Uhr) sprunghaft anzusteigen (vgl. ebd.). Seit 2012 haben sich die Wohnungseinbruchsdiebstähle auf hohem Niveau (ca. 450 Fälle) etabliert. So titelte die Nordwest-Zeitung (NWZonline vom 23.02.2013) „Kriminalstatistik: Wohnungseinbrüche halten Polizei auf Trab. Die zurzeit bundes- und landesweit überschwappende Wohnungs-Einbruchswelle ist auch im Oldenburger Münsterland angekommen“. Nach Aussagen des Leiters des Zentralen Kriminaldienstes der Polizeiinspektion (PI) Cloppenburg/Vechta wird vor allem entlang der großen Verkehrsader A 1 sowie der Bundesstraßen eine hohe Zahl von Wohnungseinbrüchen beobachtet. Es wird von überregional agierenden Tätern ausgegangen (zumeist aus dem Ruhrgebiet, Hamburg, Bremen und den Niederlanden). Der Bereich Betrugsdelikte bzw. die Vermögens- und Fälschungsdelikte (Warenbetrug, Abrechnungsbetrug, Urkundenfälschung etc.) entwickelten sich bis 2011 rückläufig, stiegen jedoch bis 2013 an, um dann wieder 2015 auf das Niveau von 2011 zurück zu fallen. Dafür zeigt sich für Internet- und Computerkriminali­ tät (Cybercrime) insgesamt seit 2006 (mit Schwankungen) eine leicht steigende Tendenz (vgl. Polizeiinspektion Cloppenburg/Vechta 2017a). Cybercrime bezieht sich gemäß dem Deutschen Bundeskriminalamt (BKA) auf „spezielle Phänomene und Ausprägungen dieser Kriminalitätsform, bei denen Elemente der elektronischen Datenverarbeitung (EDV) wesentlich für die Tatausführung sind“ (ebd. 2012, S. 5). Im polizeilichen Bereich wird zwischen Computerkriminalität und Internetkriminalität unterschieden, sodass es einerseits um Straftaten geht, für die ein Computer mit oder ohne Internetnutzung als Tatwaffe eingesetzt wird und andererseits um Straftaten, die auf dem Internet basieren oder mit den Techniken des Internets geschehen. So schreibt die Nordwest-Zeitung (NWZ online vom 23.02.2013): „Wie überall im Bundesgebiet nimmt auch in den Landkreisen Cloppenburg und Vechta die ‚Internet- und Kommunikationsdienste-­Kriminalität‘ zu“. Erklärt werden kann dies möglicherweise durch den gesellschaftlichen ­Wandel zu immer mehr Möglichkeiten im Bereich der „neuen“ Technologien (Internet etc.). Letzterer lässt eine Wechselbewegung von den „klassischen“ Straftaten hin zu mehr Betrugsdelikten im Rahmen neuerer Medien vermuten. So schreibt die Polizeiinspektion Cloppenburg/Vechta auf ihrer Internetseite, dass insgesamt „in diesem Deliktsfeld aufgrund des noch immer sehr geringen Anzeigeverhaltens und zahlreicher Tatorte im Ausland von einer hohen Dunkelziffer auszugehen“ ist (Polizeiinspektion Cloppenburg/Vechta 2017b).

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Das Thema flüchtende Menschen hat sich im Oldenburger Münsterland erst nach dem Untersuchungszeitraum gestellt. Die Polizeiinspektion Cloppenburg/Vechta schreibt auf ihrer Internetseite: „Flüchtlinge wirken sich nicht auf Kriminalitätsentwicklung aus“ (Polizeiinspektion Cloppenburg/Vechta 2017a). Weiter heißt es dort: „Auch den Landkreisen Cloppenburg und Vechta wurden im Jahr 2015 zahlreiche Flüchtlinge zugewiesen. Aus polizeilicher Sicht gibt es bislang keine signifikanten Daten, dass Flüchtlinge überdurchschnittlich an der Begehung von Straftaten beteiligt waren. In Einzelfällen mussten an den Flüchtlingsunterkünften in Südoldenburg Einsatzmaßnahmen durch die Polizei erfolgen, ohne dass in jedem Fall ein Strafverfahren eingeleitet wurde. Oftmals ging es hier um die Vermittlung von Werten und Normen“ (ebd.). Im Bereich der Jugendkriminalität oder besser Jugenddelinquenz wird trotz der hohen Anteils junger Menschen im Oldenburger Münsterland ein positiver Trend festgestellt (vgl. Polizeiinspektion Cloppenburg/Vechta 2017a). Die Fälle, an denen Minderjährige (Jugendliche und Kinder) beteiligt waren, sinken seit 2006 kontinuierlich. Dies gilt auch für die gesonderte Betrachtung der Jugendlichen (ohne Minderjährige unter 14 Jahren). In dem von der Polizeiinspektion Cloppenburg/Vechta herausgegebenen Bericht „Jugendkriminalität und Jugendgefährdung in den Landkreisen Cloppenburg und Vechta 2016“ wird auch für 2016 eine auf niedrigem Niveau stagnierende Anzahl tatverdächtiger Minderjähriger berichtet (vgl. Garling und Nienaber o. J., S. 9). Die Betrachtung der Deliktsbereiche, in denen der Anteil der Minderjährigen im Vergleich zu ihrem Bevölkerungsanteil hoch ist, umfasst jugendtypische Straftaten wie Diebstahl (darunter Ladendiebstähle und Fahrraddiebstahl), Körperverletzungshandlungen (darunter leichte Körperverletzungen, gefährliche Körperverletzungen und sonstige Raubtaten auf Straßen) und Sachbeschädigungen. So resümiert die Polizeiinspektion Cloppenburg/Vechta in ihrem auf die Daten aus 2016 bezogenen Bericht, dass Diebstahl zu den ersten und auch am häufigsten verübten Delikten von Minderjährigen gehört, da in der Regel für diese Straftaten kein „Fachwissen“ erforderlich sei (vgl. ebd., S. 18). Weiter wird aber auch festgestellt, dass es nur einen kleinen Anteil junger Menschen gibt, der sich ausgesprochen gewaltbereit zeigt (vgl. ebd.). „Der sicherlich überwiegende Teil der Straftaten junger Menschen ist im Bereich der sogenannten Bagatellkriminalität zu verzeichnen. Weiter ist festzustellen, dass delinquentes Verhalten junger Menschen in der Mehrzahl der Fälle episodenhaft auftritt“ (ebd.). Die PKS zeigt ein Bild von jugendlicher Abweichung und Delinquenz im Oldenburger Münsterland, das sich in der Hauptsache im (entwicklungstypischen) Bagatellbereich bzw. im Bereich minderschwerer Delikte abspielt. „Auf diese sollte

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sowohl mit der gebotenen Gelassenheit und zugleich Entschlossenheit reagiert werden. Kriminelles Verhalten in dieser Form sollte weder bagatellisiert noch dramatisiert werden“ (ebd., S. 85). Die Polizeiinspektion Cloppenburg/Vechta führt den Rückgang straffällig gewordener Minderjähriger auf ihre kriminalpräventiven Aktivitäten zurück: „Insofern dürfte sicher sein, dass sich die kontinuierliche polizeiliche Präventionsarbeit und der vor Jahren eingeschlagene Weg, ein besonderes Augenmerk auf die Jugendkriminalität zu haben, ausgezahlt haben“ (Polizeiinspektion Cloppenburg/ Vechta 2017b). Für auf Kinder und Jugendliche ausgerichtete Präventionsmaßnahmen wurden sogenannte „Präventionsteams“ auf Ebene der Polizeiinspektion Cloppenburg/Vechta gebildet, die die Fachkompetenzen des Beauftragten für Jugendsachen, des Beauftragen für Kriminalprävention und des Verkehrssicherheitsberaters zusammenführen (vgl. Garling und Nienaber o. J., S. 85). Mit Blick auf die demografische Entwicklung im Oldenburger Münsterland, die einen hohen Anteil junger Menschen ausweist, zieht die Polizeiinspektion Cloppenburg/Vechta eine positive Bilanz: „Im Vergleich der Tatverdächtigenbelastungszahlen der Polizeiinspektion Cloppenburg/Vechta und des Landes Niedersachsen kann eindeutig festgestellt werden, dass die Zahlen für den hiesigen Bereich deutlich unter den Vergleichswerten auf Direktions- und Landesebene liegen. Das Oldenburger Münsterland ist, auch bezüglich der Jugendkriminalität und Jugendgefährdung, eine der sichersten Regionen Niedersachsens“ (ebd.). Das Oldenburger Münsterland präsentiert sich als eine Region, die zu den sichersten in Niedersachsen und bundesweit zählt, wie von der Polizeiinspektion Cloppenburg/Vechta wiederholt betont wird (z. B. anlässlich der Vorstellung der PKS 2016). Gleichwohl teilt die Region gewisse landesweite Trends: Die Auswertung der PKS auf Landesebene (vgl. Landespolizeipräsidium, Polizeiliche Kriminalstatistik Niedersachsen 2015) verweist in ihrem Fazit darauf, dass Niedersachsen insgesamt ein sicheres Bundesland sei, der Zuzug vieler Flüchtlinge nicht zu einer enormen Zunahme der Kriminalität führe, die Bekämpfung von Cybercrime und Wohnungseinbruchdiebstahl einen Schwerpunkt für die Zukunft bilden werde, Kriminalität durch Kinder und Jugendliche weiter abnähme, die Zahl der Gewaltdelikte weiter zurückgehe und die Zahl der Opfer sich im Zehnjahresvergleich auf einem Tiefstand befände. Auch wenn sich einige Trends und Themen auch für das Oldenburger Münsterland abzeichnen, so scheint doch das Niveau der Kriminalitätsbelastung (zumindest im Hellfeld) im Landes- und Bundesvergleich niedrig zu sein.

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4 Herausforderungen für das Oldenburger Münsterland Zusammengenommen stellt sich das Oldenburger Münsterland als wirtschaftlich und demografisch stabile ländlich geprägte Region dar, die durch starke Traditionen und Gemeinschaftsbezug geprägt ist. Die Kriminalitätsbelastung ist eher gering. Die Bevölkerung wächst über Jahre auch durch Zuzug und Migrationsbewegungen an. Die Beschreibung der Region verschafft einen, sicherlich verkürzten, Einblick in den kulturellen Hintergrund vor dem sich Sicherheitsmentalitäten herausbilden. Wie sich in den Projektdaten immer wieder zeigt, sind es der Gemeinschaftsbezug und die raumbezogenen Deutungen, die die ländlichen Sicherheitsmentalitäten (mit)formieren (s. Beiträge in diesem Band; Oelkers 2016; Oelkers und Schierz 2016a; Oelkers und Schierz 2016b). Sowohl bei institutionellen Akteur/innen wie auch in der Bevölkerung ­lassen sich immer wieder Grenzziehungen finden, mittels derer die Besonderheit der Region dargestellt wird. Hierzu wird vor allem das recht naheliegende und über Bahnverbindung und Autobahn leicht erreichbare Bremen genutzt, das als ein hochbelasteter Kriminalitätshotspot gedeutet wird. Osnabrück und Oldenburg finden dagegen weniger Beachtung. Auch wenn sie formell Großstädte darstellen, werden sie weitaus weniger als Kontrast im Kontext von Kriminalitätserzählungen genutzt. Es ist zu vermuten, dass auch ihnen noch Merkmale ländlicher Regionen zugeschrieben werden, die sich auf Bremen hin nicht anwenden lassen. Vor diesem Hintergrund sind Raumdeutungen ein zentraler theoretischer und empi­ rischer Aspekt, denn Ländlichkeit wird als kulturelles Deutungsmuster oder „doing ­rurality“ im Vergleich zu anderen Regionen bzw. G ­ roßstädten hergestellt (vgl. Oelkers und Schierz 2014). Jene spezifischen Deutungsmuster verweisen auf Sensibilitäten und (Sicherheits)Mentalitäten, die sich auch in alltäglichen Kriminalitätserzählungen mit Ortsbezug, dem crime talk, erkennen lassen. Teil des doing rurality sind Bezüge, die auf G ­ emeinschaft, soziale Kohäsion und informelle Sozialkontrolle hinweisen (s. Oelkers und Schierz in diesem Band). Aus anderen Untersuchungen ist bekannt, dass sich in rurale Deutungsmustern eingelagert eine Vielzahl von Mythen und Idealisierungen von ‚Ländlichkeit‘ finden lassen (vgl. Donnermeyer und DeKeseredy 2014, S. 6 f.). Dies zeigt sich auch in den Befunden zum Oldenburger Münsterland aus dem Projekt SIMENTA. Im Rahmen der Triangulation wurden zentrale Codes (Schlüsselkategorien) herausgearbeitet bzw. aus dem Datenmaterial abgeleitet. Die Codes „Kriminalität ereignet sich woanders“, „Hier ist die Welt noch in Ordnung“ und „Jeder achtet auf den anderen“ verweisen auf die Deutung des Oldenburger Münsterlandes

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als ausgesprochen sicher (im Gegensatz zu anderen Großstädten) und auf die besondere Bedeutung der Gemeinschaft und der informellen Sozialkontrolle. Als Teil dieses Mythos kann hier die Unterstellung einer homogenen Gemeinschaft betrachtet werden, die umfassend durch gegenseitige nachbarschaftliche Beziehungen, Hilfen und informelle Kontrolle geprägt ist. Bereits König (1958, S. 84 f.) weist mit Blick auf seine Untersuchung mehrfach darauf hin, dass Gemeinden trotz ihres eher informellen „Integrationstyps“ durch eine Vielzahl sozialer Hierarchien und sozialer Ungleichheits- wie Abhängigkeitsverhältnisse sowie sozialer Ausschlüsse geprägt waren. Ähnliches zeigt sich auch in dem Datenmaterial aus dem Oldenburger Münsterland, wenn die Stärke der Nachbarschaft und des Einander-Kennens z. B. von Vertreter/innen formeller Kontrollinstanzen in Zweifel gezogen werden oder wenn durch Außenseiter/innen, Fremde und Zugezogene der Gemeinschaftsbezug an Grenzen stößt (s. Völschow und Gadzala in diesem Band). Kohäsion verweist also immer auch auf Machtverhältnisse zwischen Gruppen und wirksame Prozesse von Ein- und Ausschluss.17 Im Rahmen des Mythos der Ländlichkeit werden auch die Binnendifferenzen von ländlichen Regionen ignoriert und eine weitgehende Homogenität dieser Räume unterstellt. Dennoch mag es einen erheblichen Einfluss auf Sicherheitswahrnehmungen, Selbstverständlichkeiten und Kontrollstrukturen haben, wie soziale Ungleichheiten oder aber eine lokale Ökonomie sich entwickeln, ob ein Ort wächst oder schrumpft, ob es sich um eine Wachstumsregion oder eher eine abgehängte oder periphere Region handelt. Die sicherheitsbezogenen Einstellungen und Praktiken, die von einem starken Gemeinschaftsbezug und der Annahme einer homogenen Bevölkerung getragen werden, stoßen an Grenzen, wenn das Verständnis vom lokalen Sozialraum durch soziale Wandlungsprozesse (Verstädterung, Mobilität, Zuzug, Tourismus, wirtschaftlicher Boom etc.) bedroht wird. Da nicht vorausgesetzt werden kann, dass ‚Zugezogene‘ den ortsüblichen Konsens über Normen so tragen, wie es von der alteingesessenen Bevölkerung erwartet wird, kann z. B. die Situation des Zuzugs von ‚Fremden‘ auch als Verstörung der kulturellen (also traditionellen) Vorstellungen von Ländlichkeit und den dort eingelagerten Sicherheitsmentalitäten begriffen werden (vgl. Yarwood 2001). Eine Einigkeit über Normen und homogene Wertorientierungen gilt aber

17Eine

hohe kommunikative Dichte, die für den ländlich-kleinstädtischen Raum spezifisch ist, kann auch dazu führen, dass der Ausschluss aus einem Funktionssystem (z. B. Verein, Arbeit, Familie, Partnerschaft) dazu tendiert, umfassend zu werden und sich auf andere Funktionssysteme zu beziehen. In diesem Sinne ist die Integration in den lokalen Sozialraum auch mit einem Zwangscharakter und einer Vielzahl von Abhängigkeiten verbunden.

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als Voraussetzung für die informellen Kontrollaktivitäten. Migration und Zuzug führen aus dieser Perspektive zu verstärkten sozialen Problemlagen im ländlichkleinstädtischen Raum: Eine Kultur der gegenseitigen Nachbarschaftshilfe lässt nach, Jugendliche zeigen weniger Respekt etc. Diese Befunde lassen sich vor dem Hintergrund der wenigen Forschungen einer internationalen ruralen Kriminologie einordnen: Generell zeigen die (quantitativ angelegten) Studien, dass eine einfache Gegenüberstellung von großstädtischen Kontrollstilen, Kriminalitätsentwicklungen und Unsicherheitserleben zu kurz greift. Zwar weisen auch gemäß etlicher internationaler Studien stabile wie stark integrierte Gemeinden tendenziell eine niedrige subjektive Verunsicherung und häufiger ausgeprägte informelle Kontrollen auf, dieses kann sich allerdings durch verstärkten sozialen Wandel ändern (vgl. Jobes et al. 2005). Wohndauer und Zuzug gelten hierbei als zentral für das Sicherheitserleben. Während eine für ländliche wie kleinstädtische Regionen eher typische längere Wohndauer mit verstärkten informellen Kontrollen einhergeht, mögen diese durch das Entstehen eines Neubaugebietes wie durch Zuzug gefährdet werden und einen vor Ort gültigen Konsens über Normen (wie man sich verhält) unterlaufen. Bis dato von Etablierten akzeptierte und getragene Aushandlungs- und Kommunikationswege werden von den ‚Zugezogenen‘ unter Umständen nicht oder weniger genutzt, während Etablierte entstehende Konflikte ggf. als kriminalisierungsbedürftig deuten, so etwa, wenn es um das nicht-tolerierte Verhalten der Kinder der Zugezogenen geht. Ländlichkeit erscheint demnach in ihrer Konstruktion durch verschiedene gesellschaftliche Transformationsprozesse bedroht (vgl. Girling et al. 2000, S. 10). Dies kann auch als Herausforderung für das Oldenburger Münsterland betrachtet werden.

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Nina Oelkers,  Dr. phil., Sozialpädagogin, Professorin für Soziale Arbeit an der Universität Vechta, Fakultät I – Bildungs- und Gesellschaftswissenschaften. Forschungsschwerpunkte: Devianzforschung, gesellschaftliche und sozialpädagogische Reaktionen auf Abweichungsphänomene, unterschiedliche Formen sozialer Kontrolle; Fragen zur (wohlfahrts)staatlichen Transformation Sozialer Arbeit. Neueste Veröff.: Oelkers, Nina (2018): Devianz. In: Böllert, K. (Hrsg.): Kompendium Kinder- und Jugendhilfe. Band 1. Wiesbaden: VS Verlag. S. 881–900; Ehlke, Carolin/ Karic, Senka/ Muckelmann, Christoph/ Böllert; Karin/ Oelkers, Nina/ Schröer, Wolfgang (2017): Soziale Dienste und Glaubensgemeinschaften – Eine Analyse regionaler Wohlfahrtserbringung (Monografie). Weinheim Basel: Beltz Juventa. Sascha Schierz,  Dr. phil., Soziologe, Professor für Jugendsoziologie, soziale Kontrolle an der Hochschule Niederrhein (FB 06 Sozialwesen). Forschungsschwerpunkte: Soziologie abweichenden Verhaltens, sozialer Kontrolle und sozialer Probleme; Nachtleben; ­Cultural Studies; Wissenschaftstheorie. Neueste Veröffentlichung: Verstehen und Emotionen im Forschungsprozess: Erkenntnistheoretische Reflexionen und ethnografische Betrachtungen, in: Kommission Sozialpädagogik (Hrsg.): Wa(h)re Gefühle? Sozialpädagogische Emotionsarbeit im wohlfahrtsstaatlichen Kontext (zus. mit Dominik Farrenberg, Christine HunnerKresisel, Jens Oliver Krüger, Lea Miczuga); Ambivalenzen sozialer Kohäsion und sozialer Ungleichheit, in: Sozialmagazin Ausgabe 12/2016. Gabriele Nellissen, Dr. jur., Professorin für Recht der Sozialen Dienstleistungen an der Universität Vechta, Fakultät I – Bildungs- und Gesellschaftswissenschaften. Forschungsschwerpunkte: Rehabilitation und Teilhabe, Nellissen, Gabriele (2018), Kommentierung zu §§ 42–49 SGB IX. In: Schlegel/Voelzke, jurisPK- SGB IX, www.juris.de; Nellissen, G ­ abriele (2016), Die Versorgung mit Hilfsmitteln in der medizinischen Rehabilitation. In: Recht und Praxis der Rehabilitation 2016, S. 34 ff.; Nellissen, Gabriele/Telscher, Kerstin (2016), Das Dilemma zwischen Teilhabe- und Pflegeleistungen für Menschen in Einrichtungen der vollstationären Behindertenhilfe. In: Müller, Sandra Verena/Gärtner, Claudia, Lebensqualität im Alter, S. 439–464; Hilfe zur Erziehung, Nellissen (2018), Kommentierung zu §§ 27–35 SGB VIII. In: Schlegel/Voelzke, jurisPK- SGB VIII, www.juris.de.

Zur Interdependenz von Ländlichkeit und Sicherheit im „doing rurality“ Nina Oelkers und Sascha Schierz

Das wissenschaftliche Interesse an ländlichen und kleinstädtischen Regionen hält sich bislang – zumindest in der bundesdeutschen Diskussion – in Grenzen. Dennoch kann eine tiefergehende Auseinandersetzung mit dem Themenfeld als bedeutsam angesehen werden, da ein Großteil der Bevölkerung in ländlich oder kleinstädtisch geprägten Räumen lebt.1 Rein bevölkerungsstatistisch gedeutet, kann die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit sozialen Prozessen in und um ländlich geprägte oder kleinstädtische Räume nicht ausgeblendet werden. Die Definitionsversuche2 unterliegen von Ländlichkeit pragmatischen Anpass­ ungen und folgen Konjunkturen von wissenschaftlichen Theorien oder Konzepten

1Immerhin haben 98 % aller bundesdeutschen Gemeinden eine maximale Einwohnerzahl von 50.000 Bewohner/innen, und rund 60 % der Gesamtbevölkerung der BRD (48.436.362 Menschen) leben in Gemeinden mit einer Einwohnerzahl von bis zu 50.000 (nach ZENSUS 2011, Gebietsstand 31.12.2012). 2Vom ländlichen Raum wird in der Raumordnung gesprochen, wenn dort unter 5000 Einwohner/innen leben, vom intermediären Raum, wenn es zwischen 5000 und 50.000 Einwohner/innen sind. Nach der OECD Definition leben in ländlichen Räumen weniger als 150 Einwohner/innen pro Quadratkilometer.

N. Oelkers (*)  Universität Vechta, Vechta, Deutschland E-Mail: [email protected] S. Schierz  Hochschule Niederrhein, Mönchengladbach, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 D. Klimke et al. (Hrsg.), Sicherheitsmentalitäten im ländlichen Raum, https://doi.org/10.1007/978-3-658-15118-8_4

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(zum Beispiel im Diskurs um die Region3). Die Grenze zwischen Klein- und Mittelstädten wird unter anderem auch gegenwärtig neu verhandelt und Gebietsreformen verändern administrative Zugehörigkeiten. Ländlicher Raum und Kleinstädte erscheinen als sozialräumliche Restkategorie und können auch administrativ als Hinterland der Metropole angesehen werden. Dass dies in den Sozialwissenschaften häufig stattfindet, ist in der theoretisch konstruierten Dualität von Gemeinschaft und Gesellschaft begründet (idealtypisch in der Gegenüberstellung der klassischen Analysen von Tönnies (2017) zu Gemeinschaft und Simmel (1903) zum Geistesleben der Großstädter), nach der die Stadt als Laboratorium der Gesellschaft angesehen wird, während der ländliche Raum, das Dorf oder die Kleinstadt Gemeinschaft, Silität und Tradition verkörpern sollen. Es wird eine fast natürliche Tendenz hin auf Kohäsion und Vergemeinschaftung sowie eine Resistenz gegenüber sozialen Wandlungsprozessen unterstellt. Gerade vor dem Hintergrund der sozialen Transformationen der Nachkriegszeit lässt sich diese Gleichsetzung mit einer gewissen Skepsis deuten. Angemessener erscheint uns dementsprechend eine empirische Annäherung und die erneute Auseinandersetzung mit den, zumindest in der Soziologie als klassisch zu bezeichnenden, theoretischen Konzepten. So ließe sich anmerken, dass auch diese Räume, Regionen und Orte unter den Druck geraten, der mit Globalisierung, italakkumulation und Individualisierung entsteht, und dass sie keinesfalls unhistorisch außerhalb gesamtgesellschaftlicher Wandlungsprozesse stehen. Gleichzeitig erscheint eine strikte Trennung zwischen Stadt und Land im Sinne von distinkten Kategorien sozialwissenschaftlich nicht sinnvoll. So ist es unter anderem möglich, in einem städtischen Kiez nahezu dörflich innerhalb gemeinschaftlicher Netzwerke zu leben, während in kleinstädtische Räume zugezogene Personengruppen häufig ihre eigenen Verständnisse von Alltag und Nachbarschaft aus Großstädten mitnehmen. Entscheidend sind demnach die sozialräumliche Praxis und die sie begleitenden Deutungsprozesse. Soziologisch oder kulturgeografisch gedeutet, sind es die Praktiken und Verständnisse, die Räume als städtisch oder ländlich produzieren und weniger eine objektivierte Einordnung nach räumlicher Dichte oder Einwohnerzahl (vgl. Löw 2001, S. 130 f.). In diesem Sinne gilt es, sozialwissenschaftlich für eine Vielzahl von Verständnissen und Definitionen ländlicher Räume durch unterschiedliche Akteur/innen (im Verhältnis zu anderen Räumen wie Stadt, Nationalstaat etc.) offen zu sein und diese zum Ausgangspunkt von Analysen zu machen. Es

3Im

Diskurs über die Region wird weitestgehend das Verhältnis von Stadt und Umland, Abhängigkeiten und Mobilität diskutiert. Häufig findet hier eine genauere Betrachtung der Vororte und verschiedener suburbaner Lebensformen statt (vgl. Ipsen 1995).

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ist folglich zu klären, wie diese räumlichen Dimensionen Praktiken und Raumproduktionen prägen und anleiten. Insbesondere erscheint uns hierbei die alltägliche Konstruktion von Akteur/innen vor Ort von Bedeutung: Wie definieren sie ihre Zugehörigkeit, Problemlagen und sozialen Beziehungen vor dem Hintergrund der Deutungen eines Ortes als ländlich oder städtisch? Bereits diese wenigen, zuvor angeführten Befunde legen es nahe, den sogenannten cultural oder genauer den spatial turn zum Ausgangspunkt weiterer Ausführungen zu machen, um an einem veränderten Zugang zur Produktion von Räumen und sozialer Ordnung anzuknüpfen. Dabei gehen wir mit Harvey (1989) und Jameson (1991) davon aus, dass sich spätmoderne Gesellschaften durch Individualisierung, Globalisierung und veränderte Produktionsweise als genuin kulturell geprägt deuten lassen. Gebhard, Reuber und Wolkersdorfer (2003) beschreiben den cultural turn in Anschluss an Hall für die Kulturgeografie als eine dreifache Absetzbewegung. Erstens werden wissenschaftlich tradierte Leitdifferenzen zwischen dem Eigenen und dem Fremden durch ein Postulat immanenter Differenzen und einer Berücksichtigung von Mannigfaltigkeit aufgegeben. Konstruktionen von Zusammengehörigkeit werden somit auf die sie erzeugenden Praktiken, Affekte und Diskurse hinterfragt. Zweitens werden Unterschiede zwischen dem Nahen und dem Fernen (ebenso wie in unserem Beispiel von städtisch und ländlich) brüchig. Im Kontext der post-kolonialen Urbanität werden sie zum Beispiel in einem neuen Verhältnis vom Globalen und Lokalen vor Ort zusammengefasst und als gemeinsam existierend begriffen. Drittens verlieren universalistische oder teleologische Konzeptionen gegenüber der Frage nach Positionierungen, Perspektivität und Reflexivität an Bedeutung. Somit lässt sich zumindest ansatzweise eine Orientierung an einer Deutung von Kultur für den cultural turn nachzeichnen, wie sie auch mit den cultural studies genutzt wird: „Kultur ist für die Cultural Studies nicht sil, homogen und festgefügt, sondern durch Offenheit, Widersprüche, Aushandlung, Konflikte, Innovation und Widerstand gekennzeichnet“ (Hörning und Winter 1999, S. 9). In gewisser Weise überträgt der spatial turn diese konzeptionelle Öffnung auf die Problematisierung von Orten und Räumen, in dem sich die Raumforschung von Konzeptionen eines absoluten Raums zugunsten eines relativen Raumverständnisses entfernt (vgl. Günzel 2017, S. 110 ff.). Ländlichkeit und Kleinstadt können zusammengefasst auch als soziale Konstruktionen angesehen werden. Löw4 (2001) unterscheidet analytisch „spacing“ und

4Der

relationale Ansatz oder das relationale Raummodell von Löw (2001) richtet sich auf die „(An)Ordnungen“ (ebd.) von Lebewesen und sozialen Gütern. Sie untersucht, wie Raum in Wahrnehmungs-, Erinnerungs- oder Vorstellungsprozessen hergestellt wird und sich als gesellschaftliche Struktur manifestiert.

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„Syntheseleistung“ als sich in der Regel gegenseitig bedingende Konstitutionsprozesse, in denen Raum hergestellt wird. Das sogenannte spacing bezeichnet den Akt des Platzierens bzw. das Platziertsein von sozialen Gütern und Menschen an Orten. Hierzu verbindet sie Strukturdimensionen mit einem handlungstheoretischen Zugang, um eine relationale Konzeption von Raum zu entwerfen: Um nicht zwei verschiedene Realitäten, Raum und Handeln, zu unterstellen, knüpfe ich an relativistische Raumvorstellungen an und verstehe – als Arbeitshypothese – Raum als eine relationale (An)Ordnung von Körpern, welche unaufhörlich in Bewegung sind, wodurch sich die (An)Ordnung selbst ständig verändert. Das bedeutet, Raum konstituiert sich auch in der Zeit. Raum kann demnach nicht der starre Behälter sein, der unabhängig von den sozialen und materiellen Verhältnissen existiert, sondern Raum und Körperwelt sind verwoben. Durch den Begriff der >>(An) OrdnungKultur< ist nicht eine Praktik und auch keine einfach zu beschreibende Summe von >Sitten und Volksweisen< einer Gesellschaft, so wie es bestimmte Arten von Anthropologie den Anschein hat. Sie schlängelt sich durch alle sozialen Praktiken und ist die Summe ihrer Beziehungen untereinander. […] Der Zweck der Analyse ist, zu begreifen, wie die Interaktionen zwischen diesen Praktiken und Mustern im Ganzen gelebt und erfahren werden, in jeder historischen Periode. Dies nennt Williams ihre >Gefühlsstruktur< (structure of feeling) (Hall 1989, S. 18 f.).

Sensibilitäten entsprechen weitestgehend den sogenannten „Gefühlsstrukturen”, wie sie Williams oder Hoggart für die britische Arbeiterkultur ausformuliert haben (vgl. Grossberg 1992, S. 72). Während Mentalitäten häufig als historisch bzw. kulturell geprägte Rationalisierungen oder Signifikationspraktiken verstanden werden, mischen Sensibilitäten das Psychische wie das Kulturelle auf eine spezifische Weise zu einem Lebensgefühl. Sensibilitäten betonen die Erfahrung des alltäglich gelebten Lebens. Der zentrale Fokus im Projekt SIMENTA wurde auf Mentalitäten oder – in forschungsmethodischer Perspektive – auf Deutungsmuster gelegt, die (kultur-)geografisch mit Vorstellungen von Ländlichkeit und Sicherheit verknüpft sind, so sind (ländliche) Sicherheitsmentalitäten als das zentrale theoretische Konstrukt zu betrachten. Soziokulturelle Deutungsmuster sozialer Ordnung, kulturelle Konzepte angemessener und unangemessener Verhaltensweisen sowie Deutungen örtlicher Raumaneignungen beeinflussen das individuelle Sicherheitserleben sozialer Akteur/innen. Ob ein Verhalten als abweichend, unangemessen oder sogar gefährlich beurteilt, ein Ort ganz oder zeitweise gemieden und wer in Fällen bedrohter Sicherheit als Helfer/in adressiert wird, hängt von unterschiedlichen Faktoren ab. Es ist davon auszugehen, dass das soziale Umfeld eine erhebliche Rolle bei Nutzungsentscheidungen bezogen auf Sicherheitsangebote (z. B. technische Sicherungsmittel), Instanzen formeller Sozialkontrolle (z. B. Anzeige- und

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­ otrufverhalten)8 sowie bei der Frage nach der Verantwortlichkeit für Sicherheit N (z. B. die Gemeinschaft bzw. Nachbarschaft oder die Polizei) spielt. Klimke (2008, S. 217) prägte zusammenfassend hierfür das Konzept der „Sicherheitsmentalitäten“. Im Konzept der Sicherheitsmentalitäten werden die Schemata des Denkens, Handelns und Wahrnehmens in Bezug auf Kriminalitätsrisiken zusammengeführt, auf deren Grundlage Akteur/innen sozial interagieren sowie gesellschaftliche Wirklichkeit herstellen (vgl. ebd.). Der Begriff bezeichnet zusammenfassend ein Konglomerat von Einstellungen und Praktiken des Umgangs mit Kriminalität und Verunsicherungen in (z. B. städtischen) Zonen (vgl. Birenheide et al. 2001, S. 49). Drei zentrale Dimensionen in ihrer Verschränkung sind für Sicherheitsmentalitäten konstitutiv: 1) die dominante soziale Konstruktion von Unsicherheit, also die örtliche, auf Personen und auf soziale Gruppen bezogene Struktur der jeweils vorherrschenden Verunsicherungen; 2) die Ausprägungen der kommunitären Identität, bspw. das Wir-Gefühl eines Viertels oder eines anderen Sozialraumes (und damit die Möglichkeit kollektiver Aktionen); 3) das jeweilige Ausmaß des Polizierens und des Poliziert-Werdens, also das primär aktive bzw. primär passive Management von Sicherheitsbelangen (vgl. ebd.).

3.1 Soziale Konstruktion von Unsicherheit im, crime talk‘ oder Kriminalitätserzählungen mit Ortsbezug Die britischen Kriminologen Girling, Loader und Sparks (2000) untersuchen soziokulturelle Verarbeitungsformen von Unsicherheit im sogenannten „crime talk“ als Hinweis auf „public sensibility“ bzw. die Gefühlsstruktur einer lokalen Bevölkerung, in dem Aspekte der medialen Diskurse, ebenso wie individuelle Sicherheitsvorstellungen und Raumzuweisungen bzw. Nutzungsvorstellungen zusammengeführt werden. Crime talk (Sasson 1995) bezeichnet auch alltägliche Kriminalitätsgespräche zwischen unterschiedlichen sozialen Akteur/innen,

8So weisen Ergebnisse des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen aus einer Schülerbefragung zu Delinquenz 2007/2008 auf interessante Zusammenhänge des Anzeigeverhaltens mit dem sozialen Kontext hin: Nicht nur der Deliktstyp steht nämlich in einem engen Zusammenhang mit der Bereitschaft, das Erlebnis der Polizei mitzuteilen (vgl. Baier et al. 2009, S. 42), sondern auch die Täter-Opfer-Konstellation. So haben interethnische Konflikte eine höhere Wahrscheinlichkeit, zur Anzeige gebracht zu werden als intraethnische (vgl. ebd., S. 43 und 45). Weiterhin lautet einer der Befunde: „In Groß- und Mittelstädten ist die Bereitschaft zur Anzeige ausgeprägter als in Landkreisen“ (ebd., S. 43).

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z. B. zwischen Bürger/innen, Sozialarbeiter/innen oder Polizist/innen. Besonders ­interessant ist, über wen gesprochen wird. Der crime talk oder das Thematisieren von Kriminalität können in ihrer Bedeutung analog zum „Klatsch“ über andere oder ungeliebte Personen in der Studie von Elias und Scottson verstanden werden (2002, S. 166 f.): „Der Gruppenschimpf gegen die Regelbrecher hatte eine stark integrierende Funktion. Aber er stand nicht für sich, sondern erhielt bereits vorhandene Gruppenbande lebendig und befestigte sie“ (ebd., S. 171). Gleichzeitig werden Vorstellungen von Kriminalität und Raum sowohl im Alltagsleben (z. B. in Fragen von persönlicher Unsicherheit, Sicherheitspraktiken und Vermeidungsverhalten), wie auch in den Praktiken professioneller Akteur/innen (z. B. in ­sozialräumlichen Verständnissen der Prävention oder Kontrolle nächtlicher Sozialräume) verbunden (vgl. auch Oelkers und Schierz 2016; 2016a). Es erfolgt eine Ver­ knüpfung von Kriminalitätsgeschichten und -erlebnisse mit regionalen Settings. In der Studie zum lokalen Sicherheitserleben in der britischen Kleinstadt Macclesfield von Girling, Loader und Sparks (2000) zeigte sich die örtliche Einbindung des „crime talk“ als relevanter Faktor, wenn dieser vor allem als „place talk“ sichtbar wurde (vgl. ebd., S. 9).9 Alltägliche Erzählungen über als sicher und als unsicher wahrgenommene Orte und Räume werden gegenübergestellt und aufeinander bezogen (vgl. auch Karstedt 2000, S. 27 f.). Kriminalitätserzählungen im Alltag wie in professionellen Kontexten bzw. der crime talk, lassen sich demnach primär auch als ein „place talk“ beschreiben (vgl. Girling et al. 2000, S. 5), d. h. die Kriminalitätserzählungen beziehen sich auf bestimmte, als unsicher wahrgenommene und gedeutete, Orte. Die ortsbezogenen Deutungen und Raumaneignungen beeinflussen das individuelle Sicherheitserleben sozialer Akteur/innen. Vor diesem Hintergrund wurden im Projekt SIMENTA über Gruppendiskussionen und mentale Karten (dominante) soziale Deutungen von (Un)Sicherheit im Sinne vorherrschender örtlicher Verunsicherungen und wahrgenommener Bedrohungen erhoben (s. den zweiten Beitrag von Klimke in diesem Band). In dieser Perspektive artikuliert sich Sicherheit als fassbare Orientierungskategorie vor Ort, die mit lokalen wie medial vermittelten Geschichten über spezifische Räume, Ereignisse, Gruppen und Erlebnisse und dem Umgang mit ihnen aufgeladen ist.

9Diese

Studie hatte insofern einen gewissen Modellcharakter für das Projekt SIMENTA, da sie sich explizit auf sicherheitsrelevante Deutungen in ländlichen bzw. kleinstädtischen Räumen bezieht.

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3.2 Kommunitäre Identität oder Gemeinschaftsbezug und informelle Sozialkontrolle Gemeinschaftsbezug, soziale Kohäsion und informelle Sozialkontrolle formen als spezifische soziale und kulturelle Praktiken ländliche Mentalitäten. Soziale Kohäsion oder Zusammenhalt gilt als ein Merkmal von Gruppen – stellt also kein persönliches Charakteristikum dar – und wird als ein „multidimensionales Konstrukt“ (Schiefer et al. 2012, S. 16) konzeptualisiert. Eine zentrale Dimension ist zum Beispiel das Zugehörigkeitsgefühl bzw. die Identifikation, die zum einen mit gemeinsam geteilten Werten und Verhaltensanforderungen, zum anderen aber auch mit der Bereitschaft zur Partizipation einhergeht (vgl. ebd., S. 18). Im Zusammenhang mit dem „Zugehörigkeitsgefühl“ steht ebenfalls die Dimension des „gesellschaftlichen Verantwortungsgefühls“ (ebd., S. 19), mit der neben der Bereitschaft auch eine gewisse Verpflichtung in Bezug auf Gemeinschaft angedeutet wird, die darüber hinaus in Form von Solidarität ihren Ausdruck finden kann. Die Gemeinschaft gilt als Medium der sozialen Integration und wird auch mit dem Ziel der Vermittlung bestandswichtiger Normen und Werte der Gesellschaft (besonders an die nachwachsenden Generationen) eingesetzt, da ein Moral- und Wertekonsens als Bedingung für die Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung gilt. Kriminologisch werden letztere Fragen hin auf die Aktivierung informeller Sozialkontrollen oder aber auch hin auf den Rückzug und die mögliche Aneignung von öffentlichen Räumen relevant. Es wird deutlich, dass sich der Begriff der sozialen Kohäsion erst in einem Zusammenspiel mit einer Vielzahl anderer Grundbegriffe der Sozialwissenschaften erschließt, mit denen er diskursiv verbunden ist. Soziale Kohäsion steht zum Beispiel in einem Zusammenhang mit der „Gemeinschaft“ oder dem „Quartier“ (Elias und Scotson 2002), aber auch mit der „Vielfalt“, mit dem „Sozialital“ (Putnam 2000), das notwendig für ein funktionierendes Zusammenleben erscheint, sowie mit der „Solidarität“ (Durkheim 1992). Soziale Kohäsion hat aber auch etwas mit „sozialer Ordnung“ und „sozialer Kontrolle“ (Ross 1986) oder „Systemintegration“ (Habermas 1981) zu tun, und das verweist auf die thematische Nähe zu Fragen der Sicherheit. Um den Zusammenhang zwischen sozialer Kohäsion und sozialer Ordnung nochmals aufzugreifen: Als soziale Kontrolle gelten nach Ross (1896, S. 518 f.) erst die unternommenen Aktivitäten und Organisationsbemühungen, die auf Normkonformität ausgerichtet sind. Er grenzt soziale Kontrolle hierfür von sozialem Einfluss ab. Soziale Kontrolle deutet bereits auf einen gewissen Grad der ‚Formalisierung‘ hin, hat aber (noch) nicht den Zustand der ‚Organisation‘ erreicht. Das Konzept der (informellen) sozialen Kontrolle hat erheblichen Einfluss auf die Erzeugung sozialer Ordnung und

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steht in einem nicht zu vernachlässigenden Zusammenhang mit sozialer Kohäsion. Für eine genauere Beschreibung, wie dies funktionieren soll, liefert die Soziologie entsprechend den theoretischen Voraussetzungen und Forschungsverständnisse (siehe den itt ‚rural criminology‘) unterschiedliche Erklärungen und Beschreibungen. Die Rede von der Kohäsion umfasst somit auch immer etwas Traditionelles oder Konservatives, das auf die Reproduktion bestehender Strukturen und Institutionen abzielt. Kohäsion von Gruppen oder Nachbarschaften lässt sich nicht nur als Modus beschreiben, der eine Normverständigung und -bindung ermöglicht, sondern vor dem Hintergrund sozial ungleicher Kohäsion zwischen Gruppen immer auch als ein Machtpotenzial, das Ausgrenzungen und Stigmatisierungen fördern kann. Integrations- und Kohäsionsdifferenziale zwischen Gruppen gehen demnach mit Machtdifferenzialen einher, die das Schicksal der Gruppe über zugeschriebene Zugehörigkeit von Einzelnen beeinflussen (ebd., S. 16). Entgegen des vor allem auf Gruppenkohäsion abzielenden Zugangs zur sozialen Kohäsion lässt sich vor allem ein primär sozialräumlicher Ansatz auffinden, der sozialen Zusammenhalt weitestgehend anhand von Dimensionen sozialer Ungleichheit sowie der Fähigkeit kollektiven Handelns beschreibt (vgl. Sampson 2009; Häfele 2013). Geteilte Einstellungen scheinen sich demnach silisierend auf soziale Netzwerke und Vertrauensverhältnisse gegenüber Nachbar/innen auszuwirken und zum kollektiven Handeln anzuregen. So deuten us-amerikanische Forschungsergebnisse darauf hin, dass die sogenannte „collective efficacy“ (kollektive Handlungsfähigkeit oder Selbstwirksamkeit) niedrigere Raten an Gewaltdelikten wahrscheinlicher macht. Diese Effekte werden allerdings durch soziale Ungleichheiten begrenzt. Segregation fördert demnach soziale Konflikte (vgl. ­Sampson 2009). Diverse Studien zur kollektiven Handlungsfähigkeit (bzw. Kohäsion) einer Nachbarschaft weisen auf eine statistisch signifikante negative Korrelation mit Kriminalitätsfurcht hin. Menschen, die sich in ihren Nahraum bzw. ihre Nachbarschaft eingebunden fühlen, weisen Effekte in Richtung einer höheren sozialen Integration auf. Soziale Unordnung führt vor diesem Hintergrund nicht zu Verängstigung und Passivität, sondern bewegt in Kombination mit Vertrauen in die informellen Kontrollstrukturen des Umfeldes zum aktiven Handeln (vgl. Morenoff et al. 2001; Sampson 2004, 2009; Chamard 2009). Gerade im Umfeld der neueren amerikanischen Forschungen zur Thematik von „community safety“ lässt sich eine Verbindung der Fragen von lokalen Gemeinschaften, Vertrauen und Kohäsion nachzeichnen (zum Überblick vgl. Sampson 2004). Aufbauend auf den Beobachtungen von Shaw und McKay (1969) wurde ein Zusammenhang zwischen einer Uniformität sozialer Wertvorstellungen und dem Grad sozialer Kontrolle herausgearbeitet, der nicht nur Kohäsion, sondern auch Interventionen gegenüber Abweichung, also gemeinschaftliches Handeln im Sinne informeller Kontrolltätigkeiten, fördert.

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3.3 Management von Sicherheitsbelangen oder ländliche Sozialkontrolle Zum Thema Gemeinschaftsbezug und kleinstädtische oder ländliche Sozialkontrolle erweist sich der internationale Diskurs zu einer „rural criminology“ als weiterführend (vgl. Dingwall und Moody 1999; Yarwood 2001; Donnermeyer und DeKeseredy 2014). Rurale (oder ländliche) Kriminologie nimmt – wie auch die rurale Soziologie – ihren Ausgangspunkt in der Differenzierung zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft (z. B. Tönnies 2017; Liepins 2000) sowie in Fragen sozialer Identität und Kohäsion. Gemeinschaftsbezüge gelten dabei immer wieder als zentral. Das gemeinschaftliche Sicherheitshandeln kann im Zusammenhang mit Strategien des „Self-policing“ engagierter Bürger/innen betrachtet werden. Self-policing beschreibt weitestgehend, wie zivilgesellschaftliche Akteur/ innen und Bürger/innen sich selbst – häufig ohne Rückgriff auf die Polizei – gegenüber Kriminalität und Unsicherheiten absichern. Die Selbstschutzmaßnahmen beziehen sich auf die Sicherheit im öffentlichen Raum und auf den Schutz der Wohnung oder des Hauses. Zum letztgenannten Maßnahmenbündel gehören etwa technische Vorkehrungen (Bewegungsmelder, Alarmanlagen, Zugangskontrollen, private Videoüberwachungsanlagen) oder die Vereinbarung mit den Nachbar/innen, den Briefkasten während der Urlaubsabwesenheit zu leeren und dergleichen. Der Schutz vor Kriminalität im öffentlichen Raum unterteilt sich in zwei Strategietypen: Vermeidung und Wachsamkeit (vgl. Klimke 2008, S. 141– 178).10 Die Bedeutung von nachbarschaftlicher Wachsamkeit und informeller Sozialkontrolle innerhalb der Gemeinschaft können als spezifisch für ein ländliches Self-policing betrachtet werden, wie die Daten aus dem Projekt zeigen (s. den zweiten Beitrag von Klimke sowie Völschow & Gadzala in diesem Band). Gemeinschaftsorientierung und soziale Kohäsion scheinen ein Kennzeichen von ländlichen und ländlich geprägten Räumen zu sein. Sie fördern den Konformitätsdruck und eine weniger stark ausgeprägte Konfliktbereitschaft, sodass ‚man‘ sich vor dem Hintergrund einer reziproken Orientierung eher dazu verpflichtet fühlt, eine gewisse ‚Harmonie‘ zu wahren (vgl. Schmidt 2011). Auf der anderen Seite erzeugt diese Orientierung auch eine Verpflichtung, bei Nicht-Einhalten der Gemeinschaftsregeln jemanden (vorübergehend) zum/zur Außenseiter/in und zum Ziel von Tratsch werden lassen zu können. ‚Starke Gemeinschaften‘ und

10Wird der erste Typus u. a. von Frauen besetzt, die zum Teil weitreichende Vermeidungen, etwa von als gefährlich perzipierten Orten, in Kauf nehmen, so finden sich die Strategien der Wachsamkeit bei beiden Geschlechtern und machen im Wesentlichen die urbane Alltagskompetenz aus, nicht als ‚leichtes Opfer‘ zu erscheinen (vgl. Klimke 2008, S. 141–178).

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Orte ­ausgeprägter sozialer Kohäsion – so auch ländlich geprägte Räume – scheinen demnach auch eine besondere ‚Empfindlichkeit‘ gegenüber ‚Neuerungen‘, ‚Fremden‘ und ‚sozial Ungleichen‘ aufzuweisen. Philo (1997) spricht in diesem Zusammenhang auch von der Herstellung von „rural others“.

4 Abschließende Systematisierungen In Anlehnung an das Sicherheitsmentalitäten-Konzept von Klimke (2008 und weiterführend in diesem Band) wurden folgende zentrale Dimensionen als relevant betrachtet: Sicherheitswahrnehmungen (z. B. wahrgenommene Bedrohungen und hervorgerufene Emotionen), Sicherheitsdenken (z. B. historisch gerahmte Meinungen zur Kriminalitätskontrolle oder Erwartungen an die Sicherheitsinstitutionen) und Sicherheitshandeln (z. B. Schutzmaßnahmen). Die nachfolgende Darstellung zeigt das im Projekt SIMENTA weiterentwickelte Modell der Sicherheitsmentalitäten anhand der benannten Dimensionen und Ebenen.

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Sicherheitsmentalitäten werden auf der Mikro-Ebene beeinflusst von sicherheitsrelevanten Einstellungen, Überzeugungen und Wahrnehmungen, impliziten Vertrauens- und Sicherheitstheorien personenbezogenen Dispositionen wie Selbstwirksamkeit, Ängstlichkeit usw. und soziodemografischen Faktoren wie Alter, Geschlecht, Religiosität usw. Auf der Meso-Ebene sind es z. B. Vernetzungen in der Nachbarschaft und andere sozialräumliche Rahmenbedingungen wie z. B. die Wohngegend und die Gemeinschaft oder die Kontrolldichte, die die Sicherheitsmentalitäten mit formen. Als Makro-Ebene sind der soziokulturelle Kontext, mögliche soziale Differenzierung und Stratifizierung, (Un-)sicherheitsskurse (z. B. in den Medien), Möglichkeiten der Mobilität sowie Deutungsstrukturen, die sich auf Ländlichkeit beziehen, relevante Größen. Auf dieser Ebene geht es um die Einbettung in politische Diskurse und gesellschaftliche Prozesse. Mit der Fokussierung von Sicherheitsmentalitäten wird der wachsenden Bedeutung der symbolischen Dimensionen von Abweichung und Kontrolle sowie einer stärkeren Thematisierung des Feldes in Politik und Öffentlichkeit Rechnung getragen.11 Mentalitäten und Sensibilitäten, auch Emotionen und Gefühlsstrukturen („structure of feeling“) sind Aspekte, die mit dem Projekt SIMENTA in den empirischen und theoretischen Fokus gerückt wurden. In dieser Perspektive stehen vor allem verschiedene kulturelle Dimensionen und Konflikte, Fragen von Emotionen und von kulturellen bzw. ritualisierten Praktiken des Strafens, Kontrollierens und der Sicherheit im Mittelpunkt. Loader (2006) geht dabei soweit, „policing“ primär als „cultural work“ zu verstehen, aus der lokale Gemeinschaften und Identitäten geformt werden. Entsprechend lässt sich davon ausgehen, dass diese Orte und räumliche Praktiken ebenso rahmen. Konzeptionell deutet sich hiermit eine Abgrenzungsbewegung von Ansätzen an, die in Bezug auf urbanes oder dementsprechend rurales „policing“ vor allem sozialstrukturelle Faktoren in den Mittelpunkt stellen. Folgt man Garland (2006, S. 420), steht die wachsende wissenschaftliche Rezeption von Mentalitäten, Gefühlsstrukturen, Sensibilitäten oder eine Rekonstruktion von Habitus und Feld im Sinne Bourdieus für eine kulturelle Wende innerhalb der Kriminologie und der Soziologie des Strafens, die bis dato vor allem auf die systemfunktionalen Dimensionen der Kriminalitätskontrolle fixiert waren. In diesem Sinne wird mit dem hier vorgeschlagenen Ansatz der Versuch unternommen, die Kriminologie ländlicher

11Dabei

ist einerseits zu beachten, dass einerseits stellenweise unterschiedliche Konzeptionen von Kultur genutzt werden und andererseits eine Integration verschiedener Ebenen und Dimensionen, die innerhalb der neueren Diskurse bisher kaum geleistet wurde, angestrebt wird.

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Räume hin auf neuere Theorieüberlegungen zu öffnen, die häufig unter der Bezeichnung ‚cultural turn‘ zusammengefasst werden. Mit dem skizzierten Ansatz erfolgt eine stärkere paradigmatische Ausrichtung auf Prozesse der Herstellung von Sicherheit und Verarbeitung von Sicherheitsanforderungen durch die Bevölkerung, die sich von klassischen Kriminalitätsfurchtbefragungen unterscheidet, indem sie die prozessbezogene Herstellung von Sicherheit und Ordnung vor Ort erfasst. Es geht um Deutungsprozesse im doppelten Sinne, bezogen auf den Raum, als im doing rurality hergestellte Ländlichkeit, und die Sicherheit, als ländliches Polizieren bzw. ein spezifisches Ineinandergreifen von Mechanismen der formellen und informellen Kriminalitätskontrolle. Was ermöglicht die hier vorgeschlagene Perspektivierung? Gegenüber der anfangs erwähnten klassischen Trennung von Stadt und Land, verbindet sich mit ihr die Idee, diese Konzepte relational entwerfen zu können und zum Ausgangspunkt für empirische Untersuchungen zu machen. Durch eine Fokussierung auf Herstellungsprozesse oder eben ein doing rurality fokussieren wir implizit die Frage nach einem Wie. Wie geschieht dies? Da davon ausgegangen werden kann, dass dieses Wie durch verschiedene Lebenslagen und Ungleichheitsverhältnisse geprägt wurde, erwarten wir verstärkt Einblick in Teilhabe- und Ausschlussprozesse in als ländlich hergestellten Gemeinschaften zu erhalten. Vor dem Hintergrund der Ausführungen ging und geht es für uns um die Frage, inwieweit hierbei Sicherheitsmentalitäten im Alltag eine Rolle spielen und wie diese das Erleben und die Lebenswelten prägen.

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