Sicherheit für Generationen: Herausforderungen der neuen Weltordnung [1 ed.] 9783428552641, 9783428152643

Die globale Sicherheitspolitik steht vor einem fundamentalen Epochenwandel. Der Aufstieg neuer regionaler Akteure, das W

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Sicherheit für Generationen: Herausforderungen der neuen Weltordnung [1 ed.]
 9783428552641, 9783428152643

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Florian Hahn (Hrsg.)

Sicherheit für Generationen Herausforderungen der neuen Weltordnung

Duncker & Humblot · Berlin

FLORIAN HAHN (Hrsg.) Sicherheit für Generationen

Sicherheit für Generationen Herausforderungen der neuen Weltordnung

Herausgegeben von

Florian Hahn

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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© 2017 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme: Konrad Triltsch GmbH, Ochsenfurt Druck: Das Druckteam, Berlin Printed in Germany ISBN 978-3-428-15264-3 (Print) ISBN 978-3-428-55264-1 (E-Book) ISBN 978-3-428-85264-2 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Inhaltsverzeichnis Florian Hahn Einleitung: Herausforderungen der neuen Weltordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Die Welt im Wandel Michael Stürmer Wendezeiten – Krisenzeiten – Vorkriegszeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Carlo Masala Herausforderungen einer multipolaren Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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James D. Bindenagel Die USA: Eine Schutzmacht im Wandel? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Saskia Hieber Chinas globaler Gestaltungsanspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Margarete Klein Russland – Rückkehr als Großmacht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Reinhard Meier-Walser Neue Regionalmächte Iran, Saudi-Arabien, Türkei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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II. Neue Gefahren für unsere Ordnung Guido Steinberg Internationaler Terrorismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Arne Schönbohm Bedrohung im Cyber-Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Markus Kaiser Hybride Bedrohungen oder der Kampf von Innen (Fake News) . . . . . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis

Maximilian Terhalle Strategische Prioritäten. Nukleare, konventionelle und intellektuelle Erfordernisse deutscher Sicherheitspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Benedikt Franke Graue Nashörner und schwarze Schwäne: Sicherheitspolitische Herausforderungen jenseits der aktuellen Debatte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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III. Weichenstellungen für die Sicherheit von morgen Markus Söder Sicherheit und solide Staatsfinanzen – Zwei Seiten derselben Medaille . . . . . . .

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Géza Andreas von Geyr Generationenverantwortung im Weißbuch 2016 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Holger Mey Sicherheit durch Technologie und Innovation – Der Beitrag der Wirtschaft . . . .

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Markus Ferber Was die EU für unsere Sicherheit leisten kann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Klaus Naumann Die NATO: Ein Bündnis für die Zukunft? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Thomas Silberhorn Entwicklungspolitik als Beitrag zur Sicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107

Einleitung: Herausforderungen der neuen Weltordnung Von Florian Hahn Die globale Sicherheitspolitik steht im Abstand einiger Jahrzehnte regelmäßig vor fundamentalen Zäsuren. Die internationale Sicherheitslage entwickelt sich in diesen Phasen nicht mehr organisch, sondern erfolgt eruptiv. Die bestehende Ordnung gerät in Bewegung, Stabilität weicht Unsicherheit und Erfolgsrezepte der Vergangenheit bleiben wirkungslos. Bislang unbekannte oder auch unvorstellbare Herausforderungen verlangen grundlegend neue Strategien. Der letzte Epochenwandel war im Nachgang des Kalten Krieges der Übergang von einer bipolaren zu einer uni- und später zu einer multipolaren Weltordnung. Dabei sorgte Global Governance für ein neues Gleichgewicht der Kräfte. Deutschland war seiner Rolle als Puffer zwischen den Großmächten Russland und USA entkommen. Wir konnten die Deutsche Einheit vollziehen, die Spaltung des europäischen Kontinents überwinden und neue Wirtschaftsräume erschließen. Eine neue Ära von Frieden und Freiheit, von Stabilität und Ordnung war angebrochen. Sicherheitspolitik trat in den Hintergrund, Augenmerk und Investitionen der Nachwendeund Millenniums-Regierungen galten der Finanz-, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik sowie dem Zusammenwachsen unseres wiedervereinigten Landes. Deutschland und Europa schienen nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Kalten Krieg dem Zeitalter der existenziellen Bedrohungen entronnen. Heute stehen wir erneut vor einem fundamentalen Epochenwandel. Der Aufstieg neuer regionaler Akteure – insbesondere im Nahen Osten und in Afrika –, das Wiedererstarken alter Global Player, der Rückzug der USA als „Weltpolizei“, der verschärfte internationale Terrorismus, asymmetrische Bedrohungen, Cyber-Attacken und hybride Kriegsformen stellen die bestehende Ordnung in Frage. Deutschland ist gemeinsam mit seinen europäischen und transatlantischen Partnern herausgefordert – als Wertegemeinschaft, als Sicherheitsgaranten nach Innen wie nach Außen und als taktgebende Ordnungsmächte. Dabei ist eines klar: Deutschland kann nur im Rahmen einer starken und selbstbewussten Europäischen Union an globaler Gestaltungsmacht gewinnen. Wir müssen in Europa die derzeitigen Selbstzweifel und Renationalisierungstendenzen überwinden und unsere Kräfte bündeln. Zu groß sind die Herausforderungen und die machtpolitischen Gegenspieler, als dass sich ein europäisches Land alleine in der neuen Weltordnung behaupten könnte.

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Florian Hahn

Der beschriebene Epochenwandel hat Sicherheit wieder in das Zentrum der Politik gerückt. Er hat deutlich gemacht, dass sich die Mehrung von Wachstum und Wohlstand, von Gemeinwohl und Generationengerechtigkeit nicht mehr allein durch wirtschaftliche Stärke und Umverteilung verwirklichen lässt, sondern Sicherheit wieder zu einer Grundvoraussetzung für den sozialen Zusammenhalt geworden ist. Unsere Aufgabe ist es deshalb, den Dornröschenschlaf der Sicherheitspolitik zu beenden und sie konsequent auf die Herausforderungen der neuen Weltordnung auszurichten. Was wir dafür brauchen, ist eine neue sicherheitspolitische Ausrichtung für ein wehrhaftes, widerstandsfähiges und willensstarkes Deutschland, das seine Interessen klar formuliert und durchsetzt und mehr Verantwortung übernimmt – in Europa und der Welt. Dabei geht es insbesondere um drei Punkte: Vernetzung der Akteure, Modernisierung der Bundeswehr, Stärkung der Resilienz. 1. Vernetzung der Akteure Wir müssen damit beginnen, Sicherheitspolitik nicht nur ressortübergreifend zu denken, sondern dies auch konsequent umzusetzen. Zwar findet sich die Zielsetzung eines vernetzten Ansatzes in nahezu jeder politischen Absichtserklärung, die Realität sieht jedoch noch oft anders aus und ist geprägt von Parallelstrukturen, von parteipolitischen Befindlichkeiten, von ministeriellen Eitelkeiten und zuletzt von Berührungsängsten auf operationeller Ebene. Das müssen wir ändern und durch eine intelligente Vernetzung aller Ressorts Synergieeffekte ermöglichen: von der Diplomatie über die Entwicklungs- und Klimapolitik, den Menschenrechtsschutz, den Aufbau der Justiz bis hin zum Einsatz von Polizei und Militär zum Zwecke der Krisenprävention, der Friedenssicherung und der Stabilisierung fragiler Staaten. Angesichts der neuen und hochkomplexen Herausforderungen insbesondere in Krisenstaaten stößt ein rein militärisches Eingreifen an seine Grenzen, wenn es nicht von humanitärer, bildungs- und arbeitsmarktpolitischer Unterstützung flankiert wird. Genauso kann entwicklungspolitisches Engagement oft nur geleistet werden und nachhaltig wirken, wenn die Sicherheit der Helfer und der Bürger militärisch garantiert ist. Was wir jetzt brauchen, ist ein nationales Sicherheitskonzept der Bundesregierung, das Prozesse zur vernetzten Planung, Steuerung, Umsetzung und Evaluation unseres internationalen Engagements definiert. Für die Steuerung dieser Aktivitäten brauchen wir feste Strukturen zur Koordinierung bis in alle operationalen Ebenen hinein. Das schafft auch die notwendige Grundlage, um unser nationales Handeln in einem zweiten Schritt noch enger in multilaterale Entscheidungsstrukturen einzubinden und den vernetzten Ansatz dadurch von der nationalen auf die internationale Ebene auszuweiten. Insbesondere vor dem Hintergrund der Einsparungen im diplomatischen, klima- und entwicklungspolitischen Bereich der Trump-Administration

Einleitung

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stehen wir vor der Aufgabe, in Deutschland und Europa Maßnahmen zu erarbeiten, die den amerikanischen Rückzug aus diesen Bereichen abfedern. Auch vor dem Hintergrund dieser Herausforderungen müssen wir unseren Entwicklungsetat weiter erhöhen und die afrikanischen Staaten mit Reformpartnerschaften und Förderprogrammen unterstützen sowie privatwirtschaftliche Investitionen fördern. Die zum ersten Mal erreichte Ausgabenquote für Entwicklungszusammenarbeit von 0,7 Prozent des BIP muss in den kommenden Jahren verstetigt werden. Denn nicht erst seit der Flüchtlingskrise ist klar, dass der Krieg in Syrien oder die Perspektivlosigkeit in Afrika direkte Folgen für unser Leben hier in Europa haben. Investieren wir nicht gemeinsam vor Ort, kommen die Probleme zu uns. Gleichzeitig muss Deutschland auf europäischer Ebene als NATO-Rahmennation und als wichtiger Stabilitätsanker in der europäischen Verteidigungszusammenarbeit in Zukunft noch stärker als Moderator und Treiber agieren. Wir haben rund 1,5 Millionen Soldatinnen und Soldaten und ein jährliches Verteidigungsbudget von über 190 Milliarden in der Europäischen Union – damit sind wir nach den reinen Zahlen einer der stärksten globalen Sicherheitsakteure. Jetzt geht es darum, diese Rolle auch aktiv wahrzunehmen, indem wir uns besser vernetzen und koordinieren. 2. Modernisierung der Bundeswehr Der zweite Aspekt, um Deutschland auf die Herausforderungen der neuen Weltordnung auszurichten, ist die Modernisierung der Bundeswehr. Wir müssen unsere Streitkräfte mit einer umfassenden Investitions- und Modernisierungsoffensive in die Lage versetzen, den gewachsenen Anforderungen gerecht zu werden. Nach jahrzehntelangen Einsparungen und der Fokussierung auf Auslandseinsätze müssen wir nun angesichts der aggressiven russischen Politik zusätzlich die Landes- und Bündnisverteidigung einschließlich der Abschreckung neu denken. Wir brauchen eine Armee, die gleichzeitig internationale Einsätze und die traditionelle Bündnisverteidigung meistern kann. Mit der Digitalisierung kommt neben diesen beiden altbekannten physischen Schauplätzen noch ein virtueller hinzu. Der Cyberspace bietet unzählige Möglichkeiten, die Handlungs- und Reaktionsfähigkeit gerade hoch moderner Armeen mit ihrem digitalisierten Militärapparat zu manipulieren und empfindlich zu treffen. Außerdem macht der Cyberspace, aber auch die gestiegene Bedrohung durch terroristische Anschläge im Inneren des Landes, die bisher strenge Unterscheidung zwischen Innen und Außen als Operationsgebiet zunehmend obsolet. Die notwendigen Trendwenden bei Haushalt, Ausrüstung und Personal, um den geschilderten Herausforderungen begegnen zu können, sind bereits eingeleitet. Die über die Jahre entstandenen hohlen Strukturen werden nun nach und nach mit neuem Gerät und Ausrüstung aufgefüllt und die starre Obergrenze für das Personal ist einer Rekrutierungsoffensive gewichen, um viele junge kluge Köpfe für unsere Streitkräfte zu gewinnen. Die dafür bisher vorgesehene Vergrößerung des Verteidigungshaus-

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halts wird jedoch mittelfristig nicht ausreichen. Deutschland sollte deshalb weiter an seiner Selbstverpflichtung gegenüber den NATO-Bündnispartnern festhalten, die Ausgaben mittel- und langfristig deutlich zu erhöhen. Das Cyberkommando der Bundewehr muss nun auch auf schnellstem Weg vollumfänglich ausgebaut und handlungsfähig sein. Handlungsfähig soll in diesem Zusammenhang jedoch nicht nur abwehrfähig heißen. Um sich gegen Cyberangriffe wehren zu können, muss die Bundeswehr auch über offensive Fähigkeiten verfügen. Auch im Inneren muss die Bundeswehr zur Abwehr terroristischer Gefahren über die bereits bestehenden Möglichkeiten hinaus eingesetzt werden können, wenn die Polizei von Bund und Ländern an Kapazitätsgrenzen stößt. 3. Stärkung der Resilienz Zuletzt muss die Widerstandsfähigkeit – die viel zitierte Resilienz – gestärkt werden, um den aktuellen Herausforderungen die Stirn bieten zu können. Jeder Bürger muss ein Verständnis dafür entwickeln, wie wertvoll und gleichzeitig fragil unsere freiheitliche Gesellschaft ist. Wir dürfen nicht tatenlos zusehen, wenn unsere Werte und unsere Ordnung bedroht werden, sondern müssen es als gesamtgesellschaftliche Aufgabe begreifen, dafür einzustehen. Gerade die zunehmende hybride Kriegsführung mit ihrem Ziel, durch Falschinformationen und Diffamierungen westliche Gesellschaften in ihrem Innersten zu destabilisieren und den einzelnen Bürger zu manipulieren, verlangt ein neues Bewusstsein. Jeder sollte sich seiner Verantwortung, seiner Rechte, aber auch seiner Pflichten als Bürger einer Demokratie bewusst sein. Dabei hilft es, sich daran zu erinnern, was unsere westliche Wertegemeinschaft ausmacht und was ihre großen Verdienste sind: Demokratie, soziale Marktwirtschaft, die Herrschaft des Rechts und die Menschenrechte. Wir sollten deshalb ein gesellschaftspolitisches Semester an den Schulen, ergänzt durch ein Praktikum bei staatlichen oder zivilgesellschaftlichen Einrichtungen oder bei der Bundeswehr sowie frühzeitige Medienerziehung einführen – zur Verankerung dieses Bewusstseins in allen Teilen der Bevölkerung. Denn dieses Bewusstund auch Selbstbewusstsein sind der Schlüssel zu einer freiheitlichen, widerstandsfähigen Gesellschaft. Ich bin überzeugt, dass dies der Weg ist, um Deutschland in die Lage zu versetzen, mehr internationale Verantwortung zu übernehmen und seine gewachsene Stärke in der neuen Weltordnung zu behaupten. Wir sind bereits aus dem Dornröschenschlaf aufgewacht, nun müssen wir weiterhin die richtigen Weichen stellen. Das vorliegende Buch soll einen Diskurs darüber anregen und bringt angesehene Autorinnen und Autoren aus Wissenschaft und Praxis zusammen, die die vor uns liegenden Herausforderungen analysieren und einordnen sowie klare Lösungen formulieren – für ein zukunftsfähiges Deutschland in starken Bündnissen und für die Sicherheit kommender Generationen.

Einleitung

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Florian Hahn ist Mitglied des Deutschen Bundestages und Sprecher der CSU-Landesgruppe für Auswärtiges, Verteidigung, Angelegenheiten der Europäischen Union, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Menschenrechte und Humanitäre Hilfe. Außerdem ist er Landesvorsitzender des Arbeitskreises Außen- und Sicherheitspolitik (ASP) der CSU und Mitglied des Parteivorstandes der CSU.

I. Die Welt im Wandel

Wendezeiten – Krisenzeiten – Vorkriegszeiten Von Michael Stürmer Aus der berechenbaren Welt des Kalten Krieges brauchte es weniger als zwei Jahrzehnte, um in einen Zustand zu driften, der jeder Berechenbarkeit spottet, von weltpolitischen Erbfolgekriegen bedroht wird, neue Technologien mit konventionellen Machtwährungen mischt und alle überkommenen Ordnungsvorstellungen obsolet macht. Im Februar 2017 wurden die Teilnehmer der Münchner Sicherheitskonferenz durch drei Fragen begrüßt – ohne dass eine Antwort erfolgte: „Post-Truth, PostWest, Post-Order?“. Ob die Welt in Chaos zerfällt oder noch einmal einen verlässlichen Steady State findet, hängt am meisten von den Weltmächten und ihrer Fähigkeit ab, sich zurückzunehmen und neue Gleichgewichte zu finden. Deutschland, Führungsland der EU und zögerlicher Nato-Partner, kommt dabei eine Schlüsselrolle zu – ob die Deutschen das wollen oder nicht. * So viel Krise war nie – außer in Vorkriegszeiten. Sie sind klarer zu erkennen in der historischen Rückschau, auf die beiden Weltkriege und den darauf folgenden Kalten Krieg. Aber sie beizeiten zu identifizieren und ihren katastrophalen Folgen vorzubeugen, ist noch weitaus wichtiger, ja lebensentscheidend, als die Erinnerung an Tragödien, die in ihren langfristigen Folgen noch lange nicht vergangen und vergessen sind. Niemand vermag die Welt von heute auch nur halbwegs zu begreifen und zu beschreiben, ohne das Erbe der Weltkriege zu ermessen und sich mit der Frage zu quälen, wie aus Krisenzeiten Vorkriegszeiten und dann Kriegs- und Nachkriegszeiten wurden und werden. Eines ist jedenfalls gewiss: Die Nachricht vom „Ende der Geschichte“, im Wendejahr 1989 von Francis Fukuyama von der sonst eher unspekulativen RAND Corporation in die Welt gesetzt, erwies sich längst als Wunschgebilde und Narrensposse – wenngleich sie die Stimmungslage der 1990er Jahre traf und darin zu großer Wirkung gedieh, von schlafwandlerischer Abrüstung der westlichen Demokratien bis zu hemmungslosem Ausbau des Daseinsfürsorgestaats. Es war nur leider zu schön, um wahr zu sein. Eine neue Lage Heute herrscht ein anderes, ein in vielerlei Hinsicht bedrohliches Bild. Die Rüstungskontrolle, konventionell oder nuklear, wird, obwohl sie im beiderseitigen Inter-

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Michael Stürmer

esse der Weltmächte ist, zerstört. Der Cyberspace annulliert die Unterscheidung zwischen Offensive und Defensive und wirft die Frage auf, was aus Abschreckung werden soll, die doch im Kalten Krieg das System stabilisierte. Putins Russland übt Theorie und Praxis neuer Hybrid-Kriege und lässt den Westen rätseln, wie weit die Ukraine Teil eines alten und neuen imperialen Entwurfs werden soll. Der arabische Krisenbogen steht in Flammen. Völkerwanderungen zeichnen die Landkarten um. Das davon ausgelöste Massenelend überfordert, je länger es dauert, jedes Krisenmanagement und bedroht die wirtschaftlichen und moralischen Gleichgewichte in und um Europa. Die Frage aller Fragen bleibt, was zu tun ist, damit aus Krisenzeiten nicht Vorkriegszeiten werden. Es ist nicht ausgemacht, dass der neue Kalte Krieg, ähnlich dem alten, verlässlich und vertraglich kalt bleibt. Der lange nukleare Frieden, der den Weltkonflikt über mehrere Jahrzehnte regulierte und stabilisierte, ist vorbei. Russland weigert sich, die Rolle des Verlierers fortzusetzen und mit dem Phantomschmerz durch den Verlust des Sowjetimperiums weiterzuleben und verlangt deshalb ein Veto über alle Weltangelegenheiten: „Neue Ordnung oder keine Ordnung“ – so hat der Kreml angekündigt, und Putin meint, was er sagt. Führungsmächte von Gestern Die Vereinigten Staaten, die seit dem Ende des Kalten Krieges einsame Supermacht und Hüter der globalen Verkehrsregeln sind, leisten währenddessen schwankende Führung – und damit keine. Die beiden großen Nuklearmächte sind füreinander und für den Rest der Welt nicht mehr berechenbar. Eine Salve Cruise Missiles gegen ein Terroristen-Hauptquartier ist so wenig eine Strategie wie der Abwurf einer Superbombe in Afghanistan. Die Kommunikation Moskau-Washington ist schwer gestört, ernste Missverständnisse sind nicht auszuschließen. „It takes two to tango“, so resümierte einst US-Präsident Ronald Reagan die Weltpolitik: Zum Tangotanzen braucht es zwei. Zurzeit fehlt es an Bewerbern. Trügerische Sicherheit Vorkriegszeiten und was darauf folgt: Das 20. Jahrhundert bietet Lektionen an, die komplizierter sind als einfache Schulweisheit sich träumen lässt. Eines aber ist gewiss: Die realen Verläufe endeten stets anders als von den Urhebern vorbereitet, gedacht oder geplant. Dem Großen Krieg von 1914 waren Jahrzehnte imperialer Kraftmeierei vorausgegangen: Rüstungsschaukeln, technische Glanzleistungen, die militärisch verführerisch waren, und militärische Exkursionen, ob in ferne Kontinente oder auf dem Balkan. Bündnissysteme, wie die Mittelmächte gegen die Entente, bereiteten eher den Krieg vor, als dass sie der Wahrung des Friedens dienten. Unbehagen an der Kultur, eitle Sehnsucht nach männlicher Bewährung und die Verlockung der Imperien kamen hinzu. Außerdem die kalte Vision, von Moskau bis Lon-

Wendezeiten – Krisenzeiten – Vorkriegszeiten

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don und Wien, der Krieg, wenn er schon als unausweichlich galt, werde helfen, unlösbare Probleme im Innern zu lösen – je früher desto besser. Am 4. August 1914 begann der Krieg, um alle Kriege zu beenden. Endete in einem Frieden, um allen Frieden zu beenden. Eine Welt auf Autopilot Der Zweite Weltkrieg war, kein Zweifel, Hitlers Krieg. Aber auch ohne den deutschen Diktator und seine Real-Apokalypse waren die zwei Jahrzehnte von 1918 bis 1939, aufs Ganze gesehen, immer Zwischenkriegszeit. Amerika hatte den Krieg mit materieller und moralischer Übermacht entschieden, verweigerte sich aber, anders als nach 1945, der streitbaren Sicherung des Friedens, überließ den Völkerbund den alten Dämonen und widmete sich bald schon seinen pazifischen Interessen und dem Ausgreifen des kaiserlichen Japans auf das asiatische Festland. In Europa wurde aus dem Frühling der Demokratien der Winter der Großen Depression, die Angst vor dem Bolschewismus und des Schauderns vor dem Untergang. Von Italien bis Deutschland, von Spanien bis Polen ging die Macht an starke Männer, während die Demokratien wankten und schwankten. Krieg war, von Spanien bis Abessinien, bald nur noch eine Frage der Zeit und Gelegenheit. Es kam, wie es kommen musste. Der lange nukleare Frieden Der Kalte Krieg begann, noch bevor der Zweite Weltkrieg in Europa und Asien zu Ende war. Hatten die Westeuropäer nicht Krieg erklärt, um Polen zu retten? Jetzt sandten westliche Diplomaten aus Moskau Telegramme nach London und Washington, die vor Stalins Appetit auf ganz Europa warnten. Das sowjetische Landimperium stand gegen die amerikanische See-Allianz. 1947 fand die neue Lage ihren Begriff – Kalter Krieg – und zugleich ihre Grand Strategy: Statt Isolationismus setzten die USA auf Eindämmung und erweiterte Abschreckung. Im europäischen Brennpunkt die Deutsche Frage: Wem gehört Deutschland und wohin mit den Deutschen? Dass die Abschreckung von nuklearer Art war, hat sie überhaupt erst ermöglicht. Stalins Vormarsch wurde abgeblockt, am sichtbarsten in der Berlin-Blockade 1948/49. Als im folgenden Jahrzehnt die Sowjetunion nukleare Parität erreichte, begann der Kreml die Doppelkrise um Berlin und Kuba. Stalins Erben setzten die 1949 abgebrochene Berlin-Krise mit dem Ziel fort, die amerikanische Seemacht aus Europa zu verdrängen, die Pax Sovietica über Europa zu etablieren, durch nukleare Mittelstreckenraketen auf Kuba ein strategisches Patt durchzusetzen und die Welt sicher zu machen für den Kommunismus. Nuklearwaffen standen gegen Nuklearwaffen. Erst aus der Rückschau begreift man, wie nahe die Welt damals ihrem Ende war: Keine Sieger, keine Besiegten, nur strahlende Asche. Aus Furcht und Vernunft entstand aus der Doppelkrise um Berlin und Kuba die Logik des nuklearen Gleichgewichts, der Rüstungskontrolle und der wechselseitig gesicherten Zerstörung. Allerdings gehörten Gesichtswahrung und Geduld, Verzicht und Rückzug zu den Elementen der Stabili-

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tät. Es war die reale Möglichkeit des Weltuntergangs, die eine Art von nuklearem Frieden erzwang. Kein Ende der Geschichte Heute gilt noch immer, dass die Schalen des Zorns beides enthalten: Heilsamen Schrecken, wie vor einem halben Jahrhundert, und uneinholbare Eskalation. Die heutige Konfrontation verläuft nicht linear, sondern hat viele Dimensionen. Sie kann vollends außer Kontrolle geraten, oder sie kann noch einmal, aus gemeinsamem Überlebensinteresse, eine Art bewaffneten Frieden verhandeln und befestigen. Zeit ist nicht zu verlieren. Der Kalte Krieg endete mit der Sowjetunion. Doch die Pax Americana war nicht von Dauer, und Amerikas globale Ordnungsmacht endete, statt im ewigen Frieden, in imperialer Überdehnung, Kontrollverlust und Frustration – „imperial overstretch“. Das alte System hat keine Geltung mehr und ein neues ist zwischen Atlas und Hindukusch nicht zu finden. Woran aber erkennt man, wenn Krisenzeiten Vorkriegszeiten werden? Zuerst verstummt der strategische Dialog und Misstrauen füllt die leeren Räume. Alte Gleichgewichte zerfallen, stille Übereinkünfte verlieren an Geltung. Eine junge Führungsgeneration pfeift auf Erfahrung, Mäßigung und vertrauensbildende Maßnahmen. Innere Krisen treiben äußere Konflikte. David Petraeus, ehemals Direktor der CIA, gilt als einer der fähigsten Kommandeure der US Army. Über Vorkriegszeiten und die Lehren der Geschichte schrieb er im Frühling 2017: „Die Geschichte zeigt, dass die Menschheit bei technischen Innovationen oft schneller denkt als bei der Ausformung strategischer Konzepte und ethischer Normen. Die methodische Entwicklung der Einsatzdoktrin für Atomwaffen in den 50er und 60er Jahren, die viel zur Prävention einer nuklearen Apokalypse beigetragen hat, war eher die Ausnahme als die Regel. Typischer war die Erfahrung der europäischen Mächte des frühen 20. Jahrhunderts, die nicht erkannten, dass die neuen technisierten Massenarmeen in ihrer Gesamtheit zu einer Doomsday-Maschine wurden. Deren Vernichtungskapazität hatte keiner der Kombattanten vorher für möglich gehalten.“ Noch ist Europa nicht verloren Wir und die anderen Großmächte, die im Wettlauf um modernste Cybermittel stehen und dabei auch zügig in Bereiche wie Roboter, Biotechnologie und künstliche Intelligenz expandieren – wir alle täten gut daran, dieselbe Energie und Sorgfalt den Folgen solchen Erfindertalents zu widmen. Sicherheit im 21. Jahrhundert hängt weniger von technischen Meilensteinen ab als von unserer moralischen Fantasie und damit von unserer Fähigkeit, Konzepte der Selbstbeschränkung zu entwickeln. Es ist nicht die Technik, welche die Welt zerstört oder sie rettet. Die Verantwortung für unser Schicksal, ob im Bösen oder im Guten, liegt unverändert und unausweichlich bei uns selbst. Es muss nicht so kommen, wie Leopold von Ranke, Ge-

Wendezeiten – Krisenzeiten – Vorkriegszeiten

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schichtschreiber der großen Mächte, einst schrieb: „Sie kennen ihren Ruin, aber sie gehen hinein“. Doch Vorkriegszeiten sind unberechenbar.

Prof. Michael Stürmer, Historiker, ist seit 1998 Chefkorrespondent der WELT-Gruppe, Berlin. Er war von 1988 bis 1998 Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Sein jüngstes Werk erschien 2006: Welt ohne Weltordnung. Wer wird die Erde erben?

Herausforderungen einer multipolaren Welt1 Von Carlo Masala Den wenigsten politisch Interessierten ist klar, was Multipolarität des internationalen Systems konkret bedeutet und welche Herausforderungen eine solche Systemkonfiguration nach sich zieht. Dieser Beitrag versucht eine konzeptionelle Schneise durch den Dschungel der Begriffsverwirrung zu schneiden. Zentral für diesen Beitrag ist dabei eine zweifache These. Erstens, wir leben noch lange in einem hybriden System, das im militärischen Bereich unipolar und im ökonomischen Bereich multipolar sein wird. Zweitens, die mit bestimmten Polaritäten verbundene Hoffnung auf Stabilität wird sich angesichts der veränderten Natur von Macht und den Bedingungen ihrer Ausübung nicht erfüllen. Über Polaritäten Wie ein Magnetfeld stabil wird, wenn es seine Pole gefunden hat, so erwarten manche Beobachter ein Ende der gegenwärtigen Unordnung, sobald sich eine neue Polarität im internationalen System herausgebildet hat. Das gegenwärtige Chaos resultiert aus dem Doppelbefund des amerikanischen Niederganges und des Aufstiegs neuer Mächte, so die Annahme. So lange es auf der globalen Ebene keine neue stabile Balance gebe, so das Argument, so lange werde die Welt durch Unordnung gekennzeichnet sein. Die dahinterstehende Debatte ist alt. Bereits in den 1960er Jahren wurde darüber gestritten, welche Systemkonfiguration, multi- oder bipolar, besser sei. Da der OstWest-Konflikt durch eine scheinbar stabile Bipolarität gekennzeichnet war und das Aufkommen eines dritten weltpolitischen Pols unwahrscheinlich schien, besaß die Frage allerdings nicht die allergrößte Dringlichkeit. Mit dem Epochenwandel von 1990/91 wurde sie jedoch erneut virulent. Grundsätzlich lassen sich in dieser, vor allem in Amerika geführten Debatte zwei Lager unterscheiden: Jene Autoren, die mit der Übermacht der USA (also mit Unipolarität) bestimmte Hoffnungen auf Stabilität verknüpfen, sowie jene, die in einer kommenden Multipolarität die größten Chancen für eine stabile Ordnung im 21. Jahrhundert sehen.

1 Teile der folgenden Ausführungen sind aus meinem Buch Weltunordnung. Die globalen Krisen und das Versagen des Westens, München 2016 entnommen. Dort finden sich auch die entsprechenden Daten und weiterführende Beispiele.

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Carlo Masala

Die Befürworter amerikanischer Unipolarität sind sich darin einig, dass eine Welt unter US-Vorherrschaft stabiler ist, weil sie sich von ihr einen pazifizierenden Einfluss erhoffen. Sie verkennen jedoch, dass Führung Gefolgschaft braucht. Ohne Staaten, die bereit sind, der amerikanischen Vormacht zu folgen, können die USA die ihr zugedachte Rolle gar nicht ausüben. Viele Befürworter eines unipolaren Systems übersehen zudem, dass die führende Macht dort weniger strukturellen Zwängen ausgesetzt ist als in bi- oder multipolaren Systemen. Dadurch wird die Außenpolitik eines Unipols weitaus stärker als in anderen machtpolitischen Konfigurationen von seiner Innenpolitik bestimmt. Und eine volatile öffentliche Meinung kann diese erratisch werden lassen. Ferner hat der Unipol kaum Autorität über andere mächtige Staaten im internationalen System. Allein diese Tatsache führt dazu, dass von Stabilität unipolarer Konstellationen kaum die Rede sein kann. Im Gegenteil, die unipolare Stellung, die die USA innehatten und in Teilen auch heute noch besitzen, verleitet sie zu Abenteuern. Sie verführt sie dazu, revolutionäre Politik zu betreiben, um die Welt nach ihrem Willen und ihrer Vorstellung umzugestalten und produziert dadurch Widerstände, die die Stabilität des Systems gefährden. Mithin lässt sich aus dem Faktum der Unipolarität allein noch keinerlei Hoffnung auf internationale Stabilität ableiten. Man könnte eher das Gegenteil behaupten. Die zweite große Denkschule glaubt, dass eine multipolare Systemstruktur auf Großmächte zähmend wirkt. Das Verhalten der Pole werde durch die beständige Sorge dominiert, dass die anderen Großmächte zu stark werden könnten. Diese Furcht wirke sich mäßigend auf alle Pole aus, mache ihre Aktionen und Interaktionen berechenbar und lasse sie ihr Verhalten (egal ob es sich um demokratische oder autoritäre Pole handelt) angleichen. Darüber hinaus seien alle Pole darum bemüht, mittlere und kleinere Staaten durch Allianzen und bilaterale Verträge an sich zu binden. Der Preis, den die Pole dafür zu zahlen bereit seien, sei die Bereitstellung kollektiver Güter (zumeist Sicherheit und Partizipation am ökonomischen Reichtum der Pole). Die Pole sorgten somit für regionale Stabilität und nähmen auf der globalen Ebene die Rolle von Managern ein. Allerdings sind sich die meisten Beobachter darin einig, dass eine globale multipolare Ordnung eine prekäre wäre, da die diversen Pole ihren Status durch eine harte, zumeist militärisch konfrontative Politik gegenüber der vorherrschenden Macht erlangen und, wenn sie ihre Position im internationalen System erreicht haben, um Einfluss und Prestige und letzten Endes um Vorherrschaft ringen. Mithin sind auch multipolare Systeme in sich instabil. Letzten Endes unterliegen sowohl die Vertreter der unipolaren wie auch die Befürworter der multipolaren Systemstruktur dem gleichen logischen Fehlschluss. Die Polarität eines internationalen Systems sagt zunächst einmal nichts über dessen Stabilität aus. Sie dient lediglich der Beschreibung der Systemstruktur. Mehr nicht. Die Hoffnung, das internationale System werde sich stabilisieren, wenn es seine Pole wiedergefunden hat, ist trügerisch. Doch welchen Effekt haben der allseits beschworene Niedergang der USA und der Aufstieg der neuen Mächte dann auf das internationale System? Wie hat sich die Machtverteilung in den letzten Jahren verändert und was bedeutet Macht überhaupt in den Zeiten der Weltunordnung?

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Die gegenwärtige Systemstruktur und ihre Herausforderungen Folgt man klassischen Studien zur Messbarkeit von Macht, dann sind es Faktoren wie militärische Stärke, wirtschaftliche Leistungskraft, politische Stabilität, Innovationsfähigkeit im technologischen Bereich und dgl. mehr, die die Machtpotentiale von Staaten ausmachen. Legt man diese Kriterien an, so ergibt sich folgendes Bild: Im militärischen Bereich, insbesondere bei den Ausgaben für Verteidigung, sind die Vereinigten Staaten heute und wohl auch noch auf unabsehbare Zeit die bei weitem stärkste Macht im internationalen System. Doch inwiefern kann militärische Macht heute noch für politische Ziele eingesetzt werden? Wenn es sich bei einem Einsatz nicht um die Verteidigung vitaler nationaler Interessen oder des eigenen Territoriums handelt, so wird es – insbesondere für demokratische Staaten – zusehends schwerer, die dafür notwendige innenpolitische Unterstützung zu generieren. Zusätzlich erschweren die Verbreitung und vor allem die Verbilligung von Technologie den Einsatz militärischer Macht im 21. Jahrhundert. Es kostete den irakischen Widerstand gegen die US-Besatzung ganze 30 US-Dollar, um die Software der Predator-Drohne auszulesen und zu manipulieren. Schließlich finden die Kriege des 21. Jahrhunderts in der Regel nicht zwischen Staaten statt, sondern sind zumeist sogenannte hybride Kriege (Stichwort: „russische grüne Männer“), die sich durch eine Mischung aus konventionellen Waffen, irregulären Taktiken, terroristischen Mitteln sowie kriminellem Verhalten auszeichnen. In diesen Kriegen geht es um militärische Macht und Stärke, allerdings immer öfter auch um Narrative. Israel hat den Krieg gegen die Hisbollah 2006 und gegen die Hamas 2008 und 2014 nicht auf dem Schlachtfeld, sondern im Fernsehen und im Internet verloren. Militärische Macht dient auch dazu, verbündete Staaten zu schützen. Klassischerweise bieten militärisch starke Staaten anderen Staaten bilaterale Sicherheitsverträge oder multilaterale Allianzen an, wenn sich beide einer gemeinsamen Bedrohung ausgesetzt sehen, die der militärisch schwache Staat allein nicht ausbalancieren kann. Um Schutz zu erlangen, ist er unter gewissen Umständen bereit, Einschränkungen seiner Souveränität in Kauf zu nehmen. In dieser Logik war es den USA sowie der UdSSR möglich, während des Ost-West-Konflikts ein fast den gesamten Globus umspannendes Netz aus bi- oder multilateralen Allianzen zu spannen. Mit dem Wegfall der globalen Systemkonfrontation existiert für viele Verbündete der USA keine Notwendigkeit des Schutzes mehr. So ist es – trotz des russischen Verhaltens von 2014 – nahezu undenkbar, dass die Russische Föderation einen umfassenden Angriff auf das Territorium der Bundesrepublik Deutschland planen und durchführen wird. Entfällt ein solches Bedrohungsszenario, dann gibt es für einen Staat wie Deutschland immer weniger Notwendigkeit, sich von der amerikanischen Sicherheitsgarantie (ob konventionell oder nuklear) abhängig zu fühlen. Eine Reduzierung dieser Abhängigkeit (ob real oder nur wahrgenommen) eröffnet jedoch Handlungsspielräume für die vormals abhängigen Akteure.

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Die Bedeutung militärischer Macht für die internationale Politik hat sich also im 21. Jahrhundert stark gewandelt. Sie hat weiterhin Bedeutung für die Sicherheit des eigenen Territoriums. Darüber hinaus gibt es aber eine Vielzahl von Faktoren, die ihren Einsatz heute und auch in Zukunft weitaus weniger effektiv macht, als dies in der Vergangenheit der Fall war. Irreguläre Akteure, die Verfügbarkeit von Technologie, soziale Medien sowie eine Militäreinsätzen zunehmend skeptisch gegenüberstehende Öffentlichkeit führen dazu, dass der erfolgreiche Einsatz von Streitkräften in Zukunft nur unter erschwerten Bedingungen möglich sein wird. Die einseitige Verteilung militärischer Macht allein schafft somit noch keine unipolare Weltordnung. Was die ökonomische Machtverteilung anbelangt, so ergibt sich das Bild einer bereits heute multipolaren Welt. Im ökonomischen Bereich existiert eine tripolare Konfiguration zwischen der EU, den USA und mit einigem Abstand der Volksrepublik China. Auch wenn gegenwärtig die Wirtschaft in der Eurozone und auch in der EU insgesamt in einer tiefen Krise steckt und die USA sich nur langsam von der Finanzkrise im Jahr 2008 erholen, so ändert sich an dieser grundlegenden Konstellation wenig. Die Europäische Union ist ökonomisch gesehen ein Pol in der internationalen Wirtschaftsordnung. Es stellt sich aber die Frage, welche Bedeutung ökonomischer Macht heute zukommt. Lässt sich hier ein ähnlicher Effekt beobachten wie bei der militärischen Macht? Wird es also auch im ökonomischen Bereich zusehends schwieriger, Macht zur Verfolgung eigener Interessen einzusetzen bzw. mit ihrem Einsatz gewünschte Ergebnisse zu erzielen? Zunächst einmal die gute Nachricht: Ökonomisches Wachstum und ökonomische Stärke werden auch weiterhin das Fundament für die Entwicklung und Beibehaltung militärischer Stärke bleiben. Allerdings sind dem Einsatz ökonomischer Macht im Bereich der internationalen Politik heutzutage stärkere Grenzen gesetzt, als dies in der Vergangenheit der Fall gewesen ist. Diese Grenzen resultieren aus einer Vielzahl von Entwicklungen, von denen einige im Folgenden kurz skizziert werden sollen. Heutzutage lassen sich Märkte (vor allem Finanzmärkte) sowie transnationale wirtschaftliche Akteure ungleich schwerer durch Staaten kontrollieren und regulieren. Manchmal entsteht gar der Eindruck, dass diese in der Lage sind, Staaten zu bestimmten Aktionen hin- oder von diesen abzubringen. Auch Ratingagenturen, so hat es die Finanzkrise 2008 gezeigt, verfügen über eine enorme Macht, um Investitionsströme in Staaten hinzulenken oder von diesen abzuziehen. Durch ihre intransparente Ratingpraxis sind diese privatwirtschaftlichen und – man muss es immer wieder betonen – von niemandem legitimierten Akteure in der Lage, staatliche Anstrengungen zu behindern, zu konterkarieren oder zu unterstützen. Ein weiteres Beispiel für die zunehmenden Schwierigkeiten von Großmächten, ihre ökonomische Macht zur Verfolgung ihrer Ziele einzusetzen oder durch den Einsatz ökonomischer Macht bestimmte Ergebnisse zu erzielen, ist das Phänomen ökonomisch potenter Zwergstaa-

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ten. So ist es einem Stadtstaat wie Katar in den vergangenen Jahren möglich gewesen, über den Einsatz immenser ökonomischer Mittel diverse Bewegungen im Mittleren und Nahen Osten finanziell zu unterstützen. Im Bereich ökonomischer Machtmittel spielen heute also neben Staaten transnationale Wirtschaftsunternehmen, unsichtbare Märkte und Nicht-Großmächte eine immer größere Rolle. Die Aktivitäten dieser Akteure können Großmächte daran hindern, ihre ökonomische Macht zur Verfolgung ihrer nationalen Interessen „effektiv“ im Sinne von ziel- und ergebnisorientiert einzusetzen. Zwar versuchen Staaten auch weiterhin, Regeln zu setzen, in deren Rahmen sich nicht-staatliche Akteure bewegen müssen, allerdings wird dies zunehmend schwieriger. Macht zu haben bedeutet im 21. Jahrhundert nicht unbedingt die Fähigkeit, seine Zielvorstellungen in der internationalen Politik auch erfolgreich durchsetzen zu können. Fazit Dieser kurze Überblick hat folgendes zu Tage gefördert: Wir leben in einem hybriden internationalen System, das in Teilen uni-, und in Teilen multipolar ist. Die größte Herausforderung, die von dieser Polarität ausgeht, ist die Tatsache, dass weder Uni- noch Multipolarität per se Ordnung schaffen wird. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass es eine der vordringlichsten Aufgaben staatlicher Politik sein muss, nach Möglichkeiten der Ordnung und Stabilität zu suchen, unter Bedingungen, die zunächst einmal per se der Stabilität nicht förderlich sein werden.

Carlo Masala ist Professor für Internationale Politik an der Universität der Bundeswehr München. Er ist Mitherausgeber der Zeitschrift für Politik (ZfP), der Zeitschrift für Internationale Beziehungen (ZIB) und der Zeitschrift für Strategische Analysen (ZfSA) und außerdem Mitglied im wissenschaftlichen Beirat der Bundesakademie für Sicherheitspolitik.

Die USA: Eine Schutzmacht im Wandel? Von James D. Bindenagel Die Außen- und Sicherheitspolitik der USA ist im Wandel begriffen. Präsident Trump steht für Skepsis gegenüber internationalen Institutionen und erprobten Partnerschaften sowie für eine Rückkehr zu unilateraler Interessenpolitik. Damit soll statt dem Nutzen anderer Staaten wieder das nationale Interesse der USA im Vordergrund stehen. Doch das Wohl des einzelnen Staates ist heute mehr denn je an die Stabilität der internationalen Ordnung verknüpft. * Die Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der USA hat weltweit für erhebliche Verunsicherung gesorgt. Im Wahlkampf hatte er fundamentale innen- und außenpolitische Umbrüche in Aussicht gestellt; groß war die Bestürzung, als Trump begann, seine Versprechen in die Tat umzusetzen. Trump stellt grundliegende Prinzipien der U.S.-Außenpolitik der Nachkriegszeit in Frage, droht mit handelspolitischem Protektionismus und zweifelt den Nutzen der NATO offen an. Während die Verbündeten der USATrumps Erscheinen auf der Weltbühne als Krise unklaren Ausmaßes werten, sieht der neue Präsident seine Politik als längst überfällige Rückbesinnung auf amerikanische Nationalinteressen. Trumps Auftreten hat so gerade die europäischen Partner stark verunsichert. Die Zukunft transatlantischer Sicherheitskooperation scheint ungewiss, was angesichts der russischen Politik in Osteuropa für viele Länder ein potentielles Sicherheitsproblem darstellt. Doch Trumps Verweigerung multilateraler Kooperation in vielen Handlungsbereichen wird keineswegs nur als Problem für nationale Interessen gewertet; aus Sicht vieler Partner ergibt sich hieraus auch eine Bedrohung für regionale und internationale Stabilität und Sicherheit. Für Trump hingegen ist internationale Kooperation ein einziges Verlustgeschäft, während andere Staaten Schutz und Engagement der USA ausnutzen. Tatsächlich ist Trumps Verständnis des internationalen Engagements der USA fundamental fehlgeleitet. Wenn die USA in der Vergangenheit als ,Schutzmacht‘ in Erscheinung traten, dann nicht um die nationalen Interessen anderer Staaten zu vertreten, sondern um Schutzgüter globalen Maßstabs und so auch das eigene Interesse an einer sicheren, stabilen Weltordnung zu wahren. Internationales Engagement, sei es politischer, diplomatischer oder auch militärischer Natur, ist kein Nullsummenspiel, sondern ein unumgänglicher Faktor internationaler Politik in allen Be-

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reichen, dessen Berücksichtigung für den Erfolg aller von Nöten ist. Ein unilateraler Rückzug von der Weltbühne hätte daher weitreichende Konsequenzen, die mittel- bis langfristig auch den USA selbst schaden würden. Internationales Engagement dient nicht nur Amerikas Partnern Ein Blick in die Vergangenheit hilft, die direkte Verknüpfung internationalen Engagements und nationaler Interessenvertretung zu begreifen. So war die Gestaltung der internationalen Nachkriegsordnung maßgeblich geprägt von der Erkenntnis, dass internationaler Dialog und multilaterale Zusammenarbeit für die Sicherung des Weltfriedens unumgänglich sein würden. Rein nationalstaatliche Politik, so erkannte man damals, ist zur Lösung internationaler Probleme unzureichend. Eine Einsicht, die in Zeiten einer globalisierten Wirtschaft und grenzüberschreitender Bedrohungen für Sicherheit und Frieden heute aktueller denn je scheint. Um eine erneute Eskalation zwischenstaatlicher Spannungen zu vermeiden und ein dauerhaftes Forum zum friedlichen Austausch zu schaffen, engagierte sich die damalige US-Führung maßgeblich in der Etablierung und Ausrichtung entsprechender Strukturen – der Vereinten Nationen (VN). Das umfassende Engagement der USA legte den Grundstein für internationale Kooperation in einer Vielfalt politischer, aber auch technischer Bereiche, etwa im Falle der Weltgesundheitsorganisation oder des Internationalen Währungsfonds sowie in der Koordinierung internationaler Entwicklungshilfe über Organisationen wie UNICEF oder das VN-Flüchtlingshilfswerk. Bis heute tragen die USA den größten Anteil am Budget der VN.1 Präsident Trump zieht den Nutzen diesen Engagements nun eindeutig in Zweifel und kündigt eine radikale Kürzung der freiwilligen Beiträge der USA an.2 Doch auch wenn man Trumps transaktionales Verständnis internationaler Beziehungen akzeptieren will, reflektiert eine solche Einschätzung ein fundamentales Unverständnis für die Bedeutung amerikanischen Engagements in der Welt. Zum einen bedeutet ein Einsatz für die VN auch einen Einsatz für eine liberale, kooperative und friedliche Weltordnung, die Stabilität und Wohlstand erst möglich macht, auch in den USA. Zum anderen bietet die VN auch ein Forum, um die Verfolgung nationaler Interessen zu legitimieren und die Koordinierung gemeinsamer Maßnahmen gegen globale Bedrohungen zu stärken, wie etwa im Kontext der Bekämpfung des internationalen Terrorismus.3 Wenn die USA also eine Führungsrolle in der Gestaltung und Unterstützung internationaler Institutionen übernimmt, dann mag das zum Nutzen anderer Länder 1

Mit 22 Prozent des Gesamtbudgets tragen die USA den größten Anteil am Budget der UN für den Zeitraum 2016/17. www.un.org/press/en/2015/gaab4185.doc.htm, Stand 23. 12. 2015. 2 Wang, Amy B.: Why Trump’s plan to slash U.N. funding could lead to global calamity, in: The Washington Post, 18. 03. 2017. 3 Rosand, Eric: Why Trump will need the U.N., in: Foreign Affairs, 10. 01. 2017.

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sein. Ein stabiles und friedliches internationales Staatensystem mit etablierten Mechanismen zur Konfliktlösung und -vermeidung jedoch ist unabdingbar für den Erfolg aller Länder. Militärische Zusammenarbeit ist keine Einbahnstraße Auch das Verhältnis der USA und der NATO ist weitaus vielschichtiger, als Trumps Schilderung eines einseitigen Schutzverhältnisses nahelegt. Zum einen dient die NATO schon in ihrem Selbstverständnis der Sicherung von Stabilität und Sicherheit all ihrer Mitglieder. Dass diese Beistandsversicherung auch den USA dienlich ist und im Einsatz gegen Bedrohungen globaler Dimension aktiviert werden kann, hat nicht zuletzt der gemeinsame Einsatz in Afghanistan demonstriert.4 Zum anderen ist ein wertebasiertes Militärbündnis in Zeiten nichtstaatlicher Konflikte und globaler Machtverschiebungen von zentraler Bedeutung für den Erhalt einer stabilen internationalen Ordnung. Das Bündnis erleichtert nicht nur den Schutz nationaler Sicherheitsinteressen, sondern ermöglicht auch ein gemeinschaftliches und dadurch gestärktes Eintreten für solche Werte und Ordnungsprinzipien, die der Vermeidung internationaler Auseinandersetzungen dienlich sind und beschränken dabei zugleich den Freiraum für unilaterales Handeln gegen das Interesse der internationalen Gemeinschaft. Somit dient das Engagement des einzelnen Mitgliedsstaates stets auch dem Erhalt übergeordneter Strukturen. Dennoch entkräften auch diese Erwägungen nicht die bereits vor der Wahl Trumps in den USA kursierenden Forderungen nach stärkerem Engagement der europäischen Partner. Auch wenn nationale Beiträge dem Eigeninteresse ebenso wie dem Gemeinwohl dienlich sind, so darf doch nicht der Eindruck entstehen, dass einige Partner disproportional von einer Zusammenarbeit profitieren. Europa wird Bereitschaft dazu zeigen müssen, in Zukunft mehr Verantwortung für regionale und globale Sicherheit zu übernehmen, sowohl innerhalb der NATO als auch im rein europäischen Kontext. Trumps Politik legt nahe, dass eine entsprechende Neuausrichtung der europäischen Sicherheitspolitik zum Schutz europäischer Interessen wie auch der westlichen kooperativen und wertebasierten Sicherheitsarchitektur von Nöten sein wird. Die Schutzmacht im Wandel in einer gewandelten Welt Nicht nur im Kontext der NATO sind Präsident Trumps Äußerungen kein absolutes Novum in der amerikanischen Außen- und Sicherheitspolitik. Allgemein 4 Gordon, Michael R. / Chokshi, Niraj: Trump Criticizes NATO and Hopes for ,Good Deal‘ With Russia, in: The New York Times, 15. 01. 2017.

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haben Tendenzen von Isolationismus, Protektionismus und Skepsis gegenüber internationalen Institutionen bereits in der Vergangenheit die amerikanische Außen- und Sicherheitspolitik mitgeprägt. Natürlich standen und stehen derartige Tendenzen dabei stets im Kontrast zu einer entgegengesetzten Bewegung für eine kooperative, multilaterale Außenpolitik, die Engagement befürwortet und Institutionen stärkt.5 Doch heute mehr denn je wäre eine Abkehr von internationalem Engagement und einer Führungsrolle in der Gestaltung internationaler Ordnung fatal. Denn nicht nur die USA sind im Wandel begriffen; auch die Welt um sie hat sich verändert. Grenzüberschreitende Bedrohungen wie der internationale Terrorismus, aber auch Wirtschaftskrisen, Epidemien oder humanitäre Notlagen, lassen sich nicht unilateral bewältigen. In einer globalisierten Welt erstrecken sich die Auswirkungen politischer, sozialer oder wirtschaftlicher Entwicklungen weltweit. Zugleich ist die Welt auch immer mehr von einer Pluralisierung politischer, diplomatischer, wirtschaftlicher und militärischer Macht geprägt. China, Indien, Russland, die Europäische Union, Saudi-Arabien, aber auch immer mehr Entwicklungsländer üben regionalen Einfluss aus und gestalten internationale Politik aktiv mit. Unter diesen Bedingungen sind kooperative Lösungsansätze nicht nur die friedlichste und gerechteste Methode – sie sind die einzige Möglichkeit, internationale Probleme zu bewältigen und Sicherheit und Stabilität zu wahren. Die USA ist somit ebenso auf ihre Partner angewiesen wie diese umgekehrt auf sie, sei es im militärischen, diplomatischen oder wirtschaftlichen Bereich. Wenn die USA sich in internationalen Allianzen engagiert, dann nicht als Schutzmacht für ihre Partner, sondern gemeinsam mit ihnen für den Schutz einer liberalen Weltordnung, die die Grundbedingungen für die Wahrung nationaler Interessen bildet. Je eher Präsident Trump begreift, wie groß die Interdependenz der USA und ihrer Partner in der Welt wirklich ist, desto größer bleibt der Gestaltungsfreiraum der USA in der internationalen Zusammenarbeit. Doch die Partner der USA müssen sich bewusst sein, dass diese Einsicht spät kommen könnte. Sie werden daher größere Verantwortung für den Fortbestand internationaler Zusammenarbeit übernehmen müssen. Dabei ist der kooperative Grundsatz europäischer Politik eine wichtige Grundvoraussetzung für die Weiterentwicklung bestehender Strukturen und die Ausweitung flexiblerer Ansätze, wie beispielsweise des Normandie-Formats. Das Engagement Europas und auch insbesondere Deutschlands wird hierbei in Zukunft besonders gefordert sein. James D. Bindenagel ist seit 2014 Henry-Kissinger-Professor und Leiter des Center for International Security and Governance (CISG) an der Universität Bonn. Er war für das US-State Department tätig und war von 1996 bis 1997 amtierender US-Botschafter in Deutschland. Prof. Bindenagel gilt als einer der führenden Experten für transatlantische Beziehungen und hat jüngst den Sammelband „Internationale Sicherheit im 21. Jahrhundert: Deutschlands internationale Verantwortung“ herausgegeben. 5

Haass, Richard N.: The Isolationist Temptation, in: The Wall Street Journal, 05. 08. 2016.

Chinas globaler Gestaltungsanspruch Von Saskia Hieber China konzeptioniert mit seinem neuen Seidenstraßenkonzept globale Wirtschaftskorridore und vertritt seine außenpolitischen Interessen aus einer selbstbewussten Machtposition. Peking fordert mehr Mitbestimmung in internationalen Institutionen und entwickelt gleichzeitig eigene regionale Entwicklungskonzepte. Ein globaler Machtanspruch Chinas ist nicht zu erkennen, doch bedrohen Regionalkonflikte und Nuklearprogramme die Stabilität Ostasiens. * Asien und der Wirtschaftsgigant China spielen eine wachsende Rolle im internationalen System und in der globalen Politik. Mit der neuen Seidenstraßeninitiative One Belt, one Road (OBOR) und der Asiatischen Infrastrukturinvestmentbank (AIIB) hat China eigene Regionalkonzepte und Institutionen geschaffen und tritt in Konkurrenz zur amerikanischen Außenpolitik. Die Vereinigten Staaten haben über Jahrzehnte ein umfassendes Bündnissystem aufgebaut und gepflegt – nicht nur Richtung Osten, in Europa, sondern insbesondere Richtung Westen, um die pazifische Gegenküste zu sichern. Die größte Herausforderung ist angesichts Chinas machtpolitischer Ambitionen, das amerikanische Bündnissystem im Pazifik, mit Japan, Südkorea, Singapur, Australien und Neuseeland zu pflegen und zu stärken. Chinas Außenpolitik hat sich verändert und zeigt ein selbstbewusstes, teilweise aggressives Profil. Präsident Xi Jinping hat sich von zurückhaltenden Positionen seiner Vorgänger verabschiedet. Die alten, von Deng Xiaoping geprägte Devisen, „vorsichtig nach den Steinen tastend, den Fluss überqueren“ und „die eigene Stärke verbergen“ gelten nur noch in der Erinnerung. Die Regierung in Peking hat den Anspruch auf das gesamte Südchinesische Meer sprichwörtlich betoniert und schafft mit Baggerschiffen und viel Beton künstliche Inseln um Sandbänke und Riffe, in Seegebieten, auf die auch Vietnam, die Philippinen, Malaysia, Indonesien und Brunei Ansprüche erheben. Im Ostchinesischen Meer scheut China keine Konfrontation mit Japan um die Diayu/Senkaku Insel – die früher erfolgreichen Deeskalationsmechanismen zwischen Peking und Tokyo scheinen außer Kraft gesetzt. Die erfolgreiche wirtschaftliche Entwicklung und Investitionen in Forschung und Technik ermöglichten eine großformatige militärische Modernisierung. Moderne Schiffe und Flugzeuge erweitern Chinas Machtprojektionsfähigkeit und befähigen Peking, die kleinen südostasiatischen Nachbarn unter Druck zu setzen. Gleichzeitig beweist die

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Pekinger Regierung auf internationaler Ebene eine kooperative und lösungsorientierte Politik. Welche Interessen und Motive treiben diese zweigleisige Außen- und Sicherheitspolitik an? Wie steht es um Chinas Zukunftsfähigkeit? Chinas Aufstieg Der beispiellose Reformprozess in der Volksrepublik China hat, nach Deng Xiaopings Devise der „Vier Modernisierungen“, Wirtschaft und Industrie, Forschung und Technik, die Landwirtschaft und das Militär modernisiert. Fragen nach Kosten des Aufstiegs und dem Ziel des militärischen Ausbaus sind berechtigt. Zu den spürbaren Lasten dieses Entwicklungsweges gehört die Umweltzerstörung. Entsprechend fordert die chinesische Regierung in ihren Programmvorgaben und Regierungsdevisen inzwischen ein umwelt- und sozialverträglicheres Wachstum. Der „Chinesische Traum“ wird gebremst von der „Neuen Normalität“. Die neue militärische Macht ermöglicht regionale und internationale Seeverkehrswege und die Bedrohung seiner Nachbarn. Berichte des Pentagon formulieren, die Volksrepublik China sei die einzige Macht mit dem Potential, die Freiheit der internationalen maritimen Handelsrouten (SLoC) zu behindern und die Durchfahrts- und Präsenzansprüche der amerikanischen Navy einzuschränken.1 Chinesische Politiker weisen in diesem Zusammenhang auf Chinas friedlichen Entwicklungsweg hin und betonen, die Volksrepublik verfolge im Gegensatz zu anderen Mächten keine expansive oder interventionistische Politik. Regierungspapiere, wie beispielsweise die Verteidigungsweißbücher untermauern diese Haltung und bilden mit außenpolitischen Dokumenten die argumentative Grundlage für sicherheitspolitische Ausrichtung.2 Die sicherheitspolitische Architektur Die Volksrepublik China steht der verteidigungspolitischen Herausforderung gegenüber, ein Territorium sehr großer geographischer Ausdehnung und klimatischer Unterschiede zu sichern. China grenzt an instabile Regionen (Afghanistan, Pakistan) und hat mit Nordkorea einen der gefährlichsten Nachbarn der Welt. Die Beziehungen zu Japan und Indien sind (aus unterschiedlichen Gründen) belastet. Russland und die Zentralasiatischen Staaten bildeten lange einen feindlichen Machtblock. Entsprechend wird die Sicherheitslage formuliert: Die Volksrepublik, aus westlicher Perspektive eine erfolgreiche und stabile Großmacht, steht in der Eigenwahrnehmung zahlreichen Bedrohungen gegenüber. Zusätzlich sieht sich China von neuen Gefahren, wie dem internationalen Terrorismus und unkonventionellen Herausforderun1

Vgl. United States Department of Defence: Annual Report to Congress: Military and Security Developments Involving the People’s Republic of China, Washington, D.C., 2015; http://www.defense.gov/Portals/1/Documents/pubs/2015_China_Military_Power_Report.pdf. 2 Vgl. People’s Republic of China, State Council Information Office: China’s Military Strategy, Beijing, May 2015; http://www.chinadaily.com.cn/china/2015 - 05/26/content_ 20820628.htm.

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gen, etwa durch den Klimawandel bedroht. Auch die Innere Sicherheit des Landes ist laut Pekinger Regierung durch die drei Übel Terrorismus, Separatismus und Extremismus in Gefahr. Gemeint sind islamistische Aktivitäten uigurischer Aktivisten im nordwestchinesischen Xinjiang, tibetische Unabhängigkeits- und taiwanesische Abspaltungstendenzen.

Das Südchinesische Meer Was motiviert eine um Ansehen bemühte Großmacht dazu, seine sehr viel kleineren Nachbarn im Territorialstreit um ein paar Riffe und Sandbänke im Südchinesischen Meer mit massiven Mitteln zu bedrohen und zu bedrängen? Die wirtschaftlichen Gründe erschließen sich sofort: Energievorkommen, Fischgründe und die maritimen Handelsrouten: Etwa zwei Drittel der Ölexporte aus dem Persischen Golf werden durch die Malakkastraße und das Südchinesische Meer zu den ölimportabhängigen Volkswirtschaften Ostasiens (Japan, China und Südkorea) verschifft. Umgekehrt sind die exportabhängigen Volkswirtschaften Ostasiens auf die Freiheit und Sicherheit der Seewege angewiesen. Bisher war es der Anspruch der amerikanischen Marine, durch globale Präsenz für Sicherheit auf den Meeren zu sorgen. China (und Vietnam) untermauern historische Ansprüche auf die Inselchen und Riffe mit entsprechenden Funden und Dokumenten aus kaiserlichen Archiven. Hinzugezogen wird auch das Argument, die umstrittenen Gebiete schlössen an den Festlandsockel an. Schließlich ziehen fast alle Anrainer eine 200-Seemeilen-Zone um ihre Besitzungen, Ansprüche oder Inselterritorien. Das internationale Seerecht formuliert in diesem Zusammenhang allerdings klar: Der Anspruch auf eine wirtschaftliche Exklusivzone (EEZ) von 200 Seemeilen, kann nicht um unbewohnbare Riffe, Felsen und Sandbänke gezogen werden, auf denen eigenständiges menschliches Leben und wirtschaftliche Aktivitäten nicht möglich sind.3 Die meisten Strukturen der Spratly Gruppe im Südchinesischen Meer sind allerdings Riffe und Sandbänke und damit sind Ansprüche und Besetzungen völkerrechtlich nicht gerechtfertigt. Die chinesische Regierung hat einer philippinische Klage und dem Internationale Gerichtshof wenig Aufmerksamkeit entgegengebracht. Der wichtigste amerikanische Verbündete im pazifischen Asien ist Japan. Die amerikanische Regierung hat in Bezug auf Pekinger Proteste gegen die japanische Verwaltung bzw. die staatliche Eigentumsnahme der Diaoyu-(chin.)/Senkaku (jap.)-Inseln erklärt, die Inseln gehörten zur Okinawakette und fielen damit in das Territorium des amerikanisch-japanischen Verteidigungsbündnisses. Der Princeton-Professor G. John Ikenberry beschrieb in einem viel beachteten Foreign Affairs-Artikel 2008 „The Rise of China and the Future of the West“ den Aufstieg des asiatischen Staates und die Verschiebungen in der internationalen Po3 UNCLOS – United Nations Convention on the Law of the Sea, New York, 1982: siehe Art. 55 – 70 und 121; http://www.un.org/depts/los/convention_agreements/texts/unclos/unclos_ e.pdf.

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litik und fragte, ob China Teil der existierenden Weltordnung werden würde oder eigene Konzepte etabliert. Chinas beispiellose wirtschaftliche Entwicklung und seine außenpolitischen Initiativen haben nicht nur Einfluss auf Asien, sondern auf die gesamte Welt. Die Restrukturierung der amerikanischen Außen- und Sicherheitspolitik und der Machtverlust, bzw. der weltpolitische Rückzug und Bedeutungsverlust der USA schafft für China Möglichkeiten, ein Machtvakuum und strategische Nischen auszunutzen und internationale und regionale Normen und Institutionen zu beeinflussen bzw. durch eigene zu ersetzen oder zu komplimentieren. Die Absetzung des amerikanisch initiierten transpazifischen Handelsabkommens TPP durch den neu gewählten Präsidenten Trump spielt China in die Karten und ermöglicht den Aufbau eigener regionaler Kooperationsprogramme. Asien ist mit der Regional Comprehensive Economic Partnership (RCEP), mit dem südostasiatischen Staatenbund ASEAN, der Shanghai Cooperation Organization (SCO), den transnationalen Entwicklungs- und Infrastrukturbanken ADB und AIIB nicht nur in den Startlöchern, sondern außen- und wirtschaftspolitisch erfolgreich aktiv und keineswegs abhängig von Initiativen und Institutionen des Westens. Heute kann von einer (weiteren) Marginalisierung eines früher bedeutenden Teils des alten Westens, nämlich Europa, gesprochen werden. Inzwischen legt Peking eigene regionale Entwicklungsprogramme und Institutionen auf, die durchaus als Alternative und auch in Konkurrenz zu westlichen Vorstellungen gesehen werden können. Chinas neues Seidenstraßenkonzept One Belt, One Road (OBOR) verbindet nicht nur Ostasien und Europa, es belebt alte Handelskorridore und kulturelle Verbindungen und schafft kürzere und damit preisgünstigere Transportalternativen zu den Seewegen. Es erhebt den Anspruch, eigene maritime Interessen zu verfolgen und zu verteidigen. Die finanzierende AIIB (Asian Infrastructure Investment Bank) ist durchaus als Konkurrentin zur amerikanisch dominierten Weltbank zu verstehen. Die neue Seidenstraße, von Peking als kooperativ und integrativ und nicht exklusiv beschrieben, transportiert eine strategische Vision in einem jeweils unterschiedlichen geographischen Kontext. So sollen Chinas ärmere Gebiete im Norden und Westen des Landes entwickelt und gleichzeitig die instabilen zentralasiatischen Nachbarländer wirtschaftlich eingebunden werden, um in einem größeren geostrategischen Rahmen schließlich über jeweils Russland und Iran, Europa und das Mittelmehr zu erreichen. Chinas neue Seidenstraße endet nicht an den Rändern, sie führt ins Herz Europas, zu Europas größtem Binnenhafen, Duisburg, und weiter nach Spanien und Großbritannien. Parallel zur wirtschaftlichen Integration, unterstützt Chinas militärische Modernisierung eine zunehmend selbstbewusste, teils offensive Sicherheitspolitik. Grundsätzlich betont Peking seine Politik des „Friedlichen Entwicklungsweges“, verweist aber auch auf das Prinzip der Nichteinmischung und verteidigt seine territorialen Ansprüche im Südchinesischen Meer. Die USA sind mehrheitlich auf China angewiesen, als Partner bei der Adressierung aller globalen Herausforderungen, von der Bekämpfung des internationalen Terrorismus, über den Welthandel bis hin zu anderen Themen wie dem Klimaschutz. Indien ist aufgrund seiner hohen Bevölkerungszahl und erheblichen Umweltver-

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schmutzung ein ebenfalls wichtiger Partner bei dem Versuch, Klimawandel und Umweltzerstörung aufzuhalten. Ausbleibende Regenfälle durch Verschiebungen im System der Monsunwinde und Eingriffe in Asiens Flusssysteme können zu Missernten und damit zu Ernährungskatastrophen in den bevölkerungsreichen Gebieten Südund Ostasiens führen. Die entscheidende Zukunftsfrage für die internationale Sicherheit und Stabilität ist die Verortung der Grenze zwischen der legitimen Verteidigung nationaler Interessen und der Stabilisierung der Binnenwirtschaft einerseits und einer aggressiven und offensiven Sicherheits- und Wirtschaftspolitik andererseits. Eine Tradition des ständigen Dialogs, der kooperativ orientierten Diplomatie, kann Konflikte eventuell abfangen. Europa, das beste Beispiel in der Weltgeschichte für Kooperation und gemeinsame Politik, hätte hier Vorbilder schaffen können. Eurokrise, Brexit und die neuen Töne aus Washington seit dem 20. Januar 2017 lassen wenig Hoffnung, dass China sich westlichen Konzepten weiterhin unterordnet.

Dr. Sandra Hieber ist Dozentin für Internationale Politik an der Akademie für Politische Bildung in Tutzing und Lehrbeauftragte für Internationale Politik – Ostasien an der Universität Regensburg.

Russland – Rückkehr als Großmacht? Von Margarete Klein Russlands Führung strebt danach, dass ihr Land wieder als Großmacht anerkannt wird. Nach einer Schwächeperiode in den 1990er Jahren gelang es Putin, die internationale Politik aktiver mitzugestalten. Davon zeugen nicht zuletzt die Interventionen in der Ukraine und in Syrien. Zugleich geht damit eine Ablehnung westlicher Ordnungsmodelle einher, unterfüttert mit militärischem Muskelspiel und strategischen Überraschungen. Ausgeweiteter Instrumentenkasten Das Neue an der russischen Außenpolitik sind weniger die Ambitionen, die seit Beginn der 1990er Jahre ähnlich sind: Mitspracherecht bei allen wichtigen globalen Fragen, Reform der euro-atlantischen Sicherheitsordnung und Hegemonie im postsowjetischen Raum. Was sich verändert hat, sind die außenpolitischen Instrumente sowie die Bereitschaft, zur Durchsetzung der eigenen Interessen hohe Risiken einzugehen. Stützte Moskau in den 1990er Jahren seinen globalen Großmachtanspruch primär auf das Vetorecht im UN-Sicherheitsrat und auf sein Nukleararsenal, weitete Putin den außenpolitischen Instrumentenkasten danach konsequent aus. Besonderes Gewicht kommt dabei „hard power“ zu. Die im Herbst 2008 gestartete Militärreform zeigt Erfolg. Das konventionelle Arsenal wurde teils deutlich modernisiert und die Einsatzbereitschaft der Streitkräfte durch Professionalisierung, verstärktes Training und die Erfahrungen aus dem Ukraine- und Syrieneinsatz massiv verbessert.1 Moskaus Armee ist daher nicht mehr nur zu Einsätzen im postsowjetischen Raum, sondern auch zu begrenzten Operationen außerhalb des beanspruchten Einflussbereichs – wie in Syrien – fähig. Durch eine Aufrüstung im „Militärdistrikt West“ stärkte es zudem seine militärische Position gegenüber der NATO.2 Moskau setzt aber nicht allein auf „hard power“. Generalstabchef Valerij Gerasimov bezeichnete nicht-militärische Mittel der Einflussnahme als vielmals effektiver.3 Dazu gehören die Mobilisierung ethnischer Minderheiten, das Ausnutzen öko1 Vgl. Persson, Gudrun (ed.): Russian Military Capability in a Ten-Year Perspective – 2016, Stockholm 2016; Galeotti, Mark: The modern Russian army 1992 – 2016, Oxford 2016. 2 Vgl. Klein, Margarete: Russia’s military – on the rise?, Washington 2016. 3 http://vpk-news.ru/sites/default/files/pdf/VPK_08_476.pdf.

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nomischer Abhängigkeiten oder die sog. „aktiven Maßnahmen“, die von Sabotage, Subversion, Cyber-Attacken bis hin zu Propaganda und Desinformation reichen. Je ausgeprägter die Verwundbarkeiten eines Staats bzw. einer Gesellschaft sind, desto größer die Wirkung. Bis vor kurzem wurde Russlands „soft power“ unterschätzt. Dabei hatte sich Putin schon lange im Rahmen seiner „konservativen Wende“ zu einem Vorreiter anti-liberaler Demokratiekritik entwickelt, die heute für viele rechte Kräfte in westlichen Staaten attraktiv ist. Mit der Ablehnung amerikanischer Hegemonie ist die russische Führung zudem anschlussfähig für linke Kräfte.4 Die zentrale Schwäche des russischen Großmachtanspruchs stellt bis heute die geringe Wirtschaftskraft des Landes dar. Kaum reformiert und weiterhin abhängig von Rohstoffexporten entspricht sein BIP gerade einmal dem Italiens. Während die USA, Europa und China ihre außenpolitischen Initiativen mit finanziellen Anreizen unterfüttern können, fehlt Moskau eine solche Option weitgehend. Dies erklärt zum Teil auch die starke Rolle des Militärs im Außenverhalten Russlands. Legitimation durch außenpolitische Erfolge Die wirtschaftliche Stagnation Russlands erklärt auch, warum Russlands Außenpolitik in den letzten Jahren risikobereiter geworden ist. Die Legitimation des Putinschen Systems beruhte lange darauf, dass es den Lebensstandard breiter Teile der Bevölkerung im Vergleich zu den 1990er Jahren erhöht hatte. Als der Ölpreis und damit die Staatseinnahmen sanken, geriet das Modell in die Krise. Der Kreml schwenkte daher auf die Demonstration außenpolitischer Stärke als neues Legitimationsmuster um. Das Problem dabei besteht darin, dass sich außenpolitische Erfolge über die Zeit abnutzen und daher Anreize bestehen, neue Erfolgsstories zu produzieren.5 Hegemonie im postsowjetischen Raum Das macht sich insbesondere im postsowjetischen Raum bemerkbar. Der traditionelle Anspruch auf eine eigene Einflusssphäre, in der Russland die Spielregeln festlegt und die Souveränität der dortigen Länder einschränkt, wird durch eine Politik der Stärke umgesetzt. Das Integrationsprojekt der „Eurasischen Union“ stellt nur einen Baustein dar, um die Länder enger an Moskau anzubinden. Im Konfliktfall nutzt Russland die einseitigen Abhängigkeiten vieler ehemals sowjetischer Republiken aus, z. B. im Energie- oder Wirtschaftsbereich. Einfluss geriert Moskau zudem durch „frozen conflicts“ (Karabach, Südossetien, Abchasien, Transnistrien, Don-

4 http://www.bpb.de/internationales/europa/russland/242805/notizen-aus-moskau-ist-russ land-konservativ. 5 Secrieru, Stanislav: Russian Conservative Reawakening, in: PISM Stategic File 18/2014.

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bass).6 Als selbst-proklamierte Schutzmacht der im Ausland lebenden Russen beansprucht Moskau, dafür auch militärische Macht einzusetzen – wie in Georgien und der Ukraine. Auch wenn das aggressive Vorgehen Russlands in manchen Staaten – wie Belarus und Kasachstan – zu einer stärkeren Sensibilisierung gegenüber russischen Hegemonialansprüchen geführt hat, gelang es Moskau doch, de facto „rote Linien“ zu ziehen. Eine NATO-Mitgliedschaft Georgiens oder der Ukraine dürfte für längere Zeit vom Tisch sein. Russland und die euro-atlantische Sicherheit Die nach dem Ende des Kalten Krieges im euro-atlantischen Raum entstandene Sicherheitsordnung wird von der russischen Führung als zutiefst ungerecht auf einem „Sieger-Besiegten“-Modell basierend wahrgenommen. Moskau fordert daher seit den 1990er Jahren ein neues gesamteuropäisches Modell, das die Rolle westlicher Institutionen (NATO, EU) schwächt und Russland ein Mitspracherecht bei allen zentralen Fragen garantiert. Hierfür machte Russland verschiedene Vorschläge, wie eine Stärkung der OSZE (1990er Jahre) oder einen neuen Sicherheitsvertrag (2008).7 Nach dem Scheitern dieser Ideen verlegte sich Moskau darauf, seine roten Linien unilateral durchzusetzen. Die Konkurrenz unterschiedlicher Ordnungsmodelle eskalierte mit der Krise um die Ukraine. Bereits überwunden geglaubte Konzepte aus der Zeit des Kalten Krieges – wie Sicherheitsdilemma, Abschreckung und Eindämmung – erleben nun eine Renaissance. Die Situation wird noch durch die Krise der konventionellen und zunehmend auch der nuklearen Rüstungskontrolle und Abrüstung verschärft.8 Unsicherheit im Verhältnis zu den USA Große Unsicherheit besteht über das künftige russisch-amerikanischen Verhältnis. Mit der Wahl Donald Trumps waren in Moskau große Hoffnungen auf einen „great deal“ („Jalta 2.0“) zur einvernehmlichen Abgrenzung von Einflusszonen verbunden gewesen.9 Auch wenn es noch zu früh ist, die Trumpsche Russlandpolitik klar einzuordnen, zeigte sich schnell, dass die strukturellen Probleme der russisch-amerikanischen Beziehungen, wie geringe wirtschaftliche Verflechtung und geopolitische Konkurrenz, auch nach dem Amtswechsel in Washington die Beziehungen belasten. 6 Fischer, Sabine: Nicht eingefroren! Die ungelösten Konflikte in Transnistrien, Abchasien, Südossetien und Berg-Karabach im Lichte der Krise um die Ukraine, Berlin 2016. 7 Klein, Margarete / Richter, Solveig: Russland und die euro-atlantische Sicherheitsordnung, Berlin 2011. 8 Richter, Wolfgang: Neubelebung der konventionellen Rüstungskontrolle in Europa, Berlin 2016. 9 http://eng.globalaffairs.ru/pubcol/A-view-from-Moscow-18573.

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Dazu kommt das Problem doppelter Unberechenbarkeit. Während Putin Unberechenbarkeit bewusst instrumentalisiert, um Kontrahenten zu verwirren und die Initiative zu ergreifen, scheint sie bei Trump eher das Produkt außenpolitischer Unbestimmtheit sowie eines erratischen Führungsstils zu sein. Dies erhöht die Gefahr von Missverständnissen und (un)intendierter Eskalation. Wachsende Abhängigkeit von China Die Spannungen im Verhältnis zu USA, EU und NATO gehen mit einer stärkeren Orientierung Russlands nach Asien einher. Versuchte Moskau in der zweiten Hälfte der 2000er Jahre durch eine Politik der Diversifizierung zu einer „euro-pazifischen Macht“ aufzusteigen, erschöpft sich Russlands Wende nach Osten spätestens seit der Ukraine-Krise in der „strategischen Partnerschaft“ mit China. In dieser Beziehung droht Russland zum Juniorpartner abzusteigen. In fast allen Machtparametern – mit Ausnahme der Nuklearwaffen – hat der große Nachbar im Osten Russland bereits überholt. Will Moskau mit Peking kooperieren, geschieht dies immer mehr zu chinesischen Bedingungen: Weigerte sich Moskau beispielsweise lange Zeit aus Sicherheitsbedenken moderne Waffen an den großen östlichen Nachbarn zu liefern, tut es dies seit 2014. Auch änderte sich die Handelsstruktur zu Ungunsten Russlands, das anstelle von Fertigprodukten nunmehr fast ausschließlich Rohstoffe exportiert. Modernisierungsimpulse für Russlands Wirtschaft ergeben sich daraus kaum. Gelingt es Moskau nicht, in Asien verlässliche alternative Partner zu gewinnen, wird sich die Machtasymmetrie im Verhältnis zu China weiter verstärken.10 Rückkehr in den Nahen Osten Im Nahen Osten konnte Russland in den letzten Jahren seine Position erfolgreich ausbauen. Nach dem Irakkrieg, dem Sturz Gaddafis und dem beginnenden Krieg in Syrien sah es zunächst so aus, als sei Russland aus der Region verdrängt worden. Durch seine Militärintervention stieg Moskau jedoch zum Vetoakteur in Syrien auf. Parallel dazu gelang es Russland, seine Beziehungen mit Schlüsselländern der Region – wie Ägypten oder Israel – auszubauen. Als pragmatischer Akteur, der auf autoritäre Stabilität statt auf demokratische Transformation setzt, ist Russland in der Region zu einem umworbenen Partner aufgestiegen. Im Gegensatz zu den USA schafft es Moskau zudem, Kontakte mit fast allen regionalen Akteuren zu pflegen – vom Iran bis Israel, von der Hamas bis zu den Taliban. Diesen Vorteil versucht es nun in eigene Verhandlungsformate zu gießen, die westliche Akteure an den Rand drängen. Noch ist aber offen, wie nachhaltig die russischen Aktivitäten im

10 Klein, Margarete: Russland als euro-pazifische Macht: Ziele, Strategien und Perspektiven russischer Ostasienpolitik, Berlin 2014.

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Nahen Osten sind. Will es seine Ordnungsvorstellungen umsetzen, muss es diese nicht nur mit diplomatischen, sondern auch mit finanziellen Mitteln untermauern.11 Herausforderung für Deutschland, die EU und die NATO Die Spannungen im russisch-westlichen Verhältnis stellen eine ernste Gefahr für die Sicherheit im euro-atlantischen Raum dar. Sie zeigen, dass die Idee einer „strategischen Partnerschaft“, die nicht nur auf einer soliden Basis gemeinsamer Interessen, sondern auch geteilter Werte basiert, erst einmal eine Vision bleibt. Zu unvereinbar sind insbesondere die Ordnungsvorstellungen für den europäischen Kontinent. Eine europäische Strategie gegenüber Russland muss zwei Ziele vereinen: einerseits Russlands Machtstreben einhegen und andererseits Möglichkeiten für pragmatische Kooperation offen halten, wo dies für beide Seiten von Vorteil ist; z. B. bei der Bekämpfung des internationalen Terrorismus, der Stabilisierung Afghanistans oder der Einhegung des iranischen Nuklearprogramms. Eine solche Politik der „Kompartamentalisierung“ kann aber nur wirken, wenn die europäischen Staaten in sich geeint sind. Denn die eigentliche Stärke von EU und NATO liegt in ihrer internen Kohärenz. Diese aufrecht zu erhalten ist umso wichtiger, als in den Augen der russischen Führung die EU im Speziellen und die westliche Welt im Allgemeinen, im Abstieg begriffen sind. Dies mag in Moskau – aber nicht nur dort – zu der Versuchung führen, ein vermeintlich günstiges Zeitfenster inner-europäischer Spannungen auszunutzen.

Dr. Margarete Klein ist Stellvertretende Forschungsgruppenleiterin der Forschungsgruppe „Osteuropa und Eurasien“ der Stiftung für Wissenschaft und Politik (SWP).

11 Trenin, Dmitri: Russia in the Middle East: Moscow’s Objectives, Priorities, and Drivers, in: http://carnegie.ru/2016/04/05/russia-in-middle-east-moscow-s-objectives-priorities-and-poli cy-drivers-pub-63244.

Neue Regionalmächte Iran, Saudi-Arabien, Türkei Von Reinhard Meier-Walser Der Gesamtbereich des Nahen und Mittleren Ostens – „Greater Middle East“ im angelsächsischen Sprachraum und fortan kurz „Mittlerer Osten“ genannt – gehört zu den spannungsreichsten Krisen- und Konfliktregionen der Weltpolitik. Gravierende Machtverschiebungen zwischen den Akteuren in dieser Region können sowohl Ursachen als auch Folgen der mannigfaltigen Konflikte und Instabilitäten sein. Zu denjenigen Staaten des Mittleren Ostens, die in den vergangenen Jahren die nachhaltigsten Veränderungen erfahren haben, gehören der Iran, Saudi-Arabien und die Türkei. In diesem Zusammenhang haben die drei Staaten miteinander gemein, dass sie erstens in ihrem inneren politischen und gesellschaftlichen Gefüge signifikante Wandlungsprozesse erfahren. Darüber hinaus sind Teheran, Riad und Ankara in wichtigen Konfliktfeldern der Region (Palästina-Frage, Syrien, Irak, Jemen etc.) durch ihre jeweiligen Interessen bzw. ihre Unterstützung einzelner Konfliktparteien zumindest mittelbar beteiligt. Drittens haben sich ihre Beziehungen zu den Staaten des demokratischen Westens in den vergangenen Jahren zum Teil grundlegend gewandelt und weitere diesbezügliche Veränderungen sind zu erwarten. Und viertens stellen die drei fraglichen Staaten aufgrund ihres gestaltenden Einflusses im Mittleren Osten auch im globalen machtpolitischen Wettstreit zwischen den USA und Russland, in dem diese Region mittlerweile eine zentrale Rolle einnimmt, signifikante Faktoren dar. Der Iran im Spannungsfeld zwischen revolutionären Prinzipien und moderater Öffnung1 Auslöser der tiefgreifenden Veränderungen in der iranischen Innen- wie Außenpolitik war der Wechsel im Präsidentenamt der Islamischen Republik im Jahre 2013. 1

Dieser Abschnitt stützt sich auf: Meier-Walser, Reinhard, zus. mit Peter L. MünchHeubner: Teherans Atomstrategie und die internationale Sicherheit. Eine politikwissenschaftlich-orientalistische Konstellationsanalyse. München 2013 (= „Berichte und Studien“, hrsg. von der Akademie für Politik und Zeitgeschehen der Hanns-Seidel-Stiftung, Bd. 97); Meier-Walser, Reinhard: Iran 2017. In: Sicher. Und morgen? Sicherheitspolitische Jahresvorschau 2017. Hrsg. von der Direktion für Sicherheitspolitik des Bundesministeriums für Landesverteidigung und Sport der Republik Österreich. Wien 2016, S. 169 – 172; MeierWalser, Reinhard: Iran 2016. In: Sicher. Und morgen? Sicherheitspolitische Jahresvorschau 2016. Hrsg. von der Direktion für Sicherheitspolitik des Bundesministeriums für Landesverteidigung und Sport der Republik Österreich. Wien 2015, S. 187 – 190; Meier-Walser, Rein-

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Während Mahmud Ahmadinedschad als konservativer Hardliner agierte und im Streit mit der internationalen Gemeinschaft um das iranische Atomprogramm eine harte und konfrontative Linie verfolgte, gab sich sein Nachfolger Hassan Rohani, ein dem Lager der Pragmatiker zugehöriger moderater Geistlicher, im Dialog mit der „P5+1-Gruppe“ (den fünf Ständigen Mitgliedern des UNO-Sicherheitsrates plus Deutschland) zur Beilegung des Konfliktes kompromissbereit. Unter Rohani und seinem westlich geprägten Außenminister Zarif gewannen die unter Ahmadinedschad festgefahrenen Verhandlungen neuen Schwung und nach mehreren Verhandlungsrunden in Genf, Wien und Lausanne konnte schließlich im Juli 2015 mit dem „Joint Comprehensive Plan of Action“ (JCPoA) eine friedliche Lösung des seit 2002 schwelenden Konfliktes erreicht werden. Mit dem Abschluss dieses auf 15 Jahre Laufzeit angelegten Atomabkommens, demzufolge der Iran sein Anreicherungsprogramm drastisch reduzieren muss und Kernenergie unter strenger internationaler Kontrolle lediglich zivil nutzen darf, gelang aus Sicht der westlichen Vertreter der P5+1-Gruppe ein diplomatischer Dreifacherfolg: Erstens wurde ein gefährlicher internationaler Krisenherd in gemeinsamer Anstrengung zusammen mit China und Russland substanziell entschärft. Zweitens wurde der Iran aus seiner internationalen Isolation befreit und besitzt nun eine Chance, sich im Kreise der internationalen Gemeinschaft als Partner bei der Deeskalation mittelöstlicher Konflikte zu empfehlen. Drittens stärkte die dem Atomabkommen folgende Aufhebung der internationalen Sanktionen gegen Teheran Präsident Rohani und Außenminister Zarif im inneriranischen Machtgefüge und führte zu beachtlichen Zugewinnen der Pragmatiker und Reformer gegenüber konservativen Hardlinern bei den iranischen Parlaments- und Expertenratswahlen Ende Februar 2016. Dieser Trend setzte sich auch bei den Präsidentschaftswahlen im Mai 2017 fort, in denen Hassan Rohani mit über 57 Prozent der Stimmen eindrucksvoll im Amt bestätigt wurde, wobei er seinen schärfsten Gegenkandidaten, den konservativen Hardliner Ebrahim Raisi (38,3 Prozent), deutlich distanzierte. Endgültig entschieden ist der Machtkampf zwischen den Verfechtern islamisch-revolutionärer Prinzipien auf der einen, Pragmatikern und Reformern auf der anderen Seite aber noch nicht, zumal die Konservativen in dem komplexen System konkurrierender Einflusszentren (u. a. Revolutionsgarden, Wächterrat, Expertenrat, Parlament, Staatspräsident, Regierung) mit dem Obersten Geistlichen Führer als höchster Autorität nach wie vor viel Einfluss besitzen. Rohanis Gegner profitieren auch von der Enttäuschung breiter Kreise der Bevölkerung, die bislang vergeblich auf eine spürbare Verbesserung ihrer Lebenssituation durch den erwarteten Wirtschaftsaufschwung und einen Rückgang der bei über 12 Prozent liegenden Arbeitslosigkeit hoffen. Auch bei potenziellen hard: Die Atomvereinbarung mit dem Iran: Ein Erfolg für Barack Obamas Diplomatie? In: „Zeitschrift für Außen und Sicherheitspolitik“, Sonderheft 9/2017 („Eine transformative Präsidentschaft. Die USA in der Ära Barack Obama“, hrsg. von Thomas Jäger, Heinz Gärtner und Jürgen Wilzewski), S. 181 – 192; Meier-Walser, Reinhard: Partner Iran? In: „MUT“, 51. Jg., H. 575, 2016, S. 27 – 34.

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westlichen Investoren ist der anfänglichen „Goldgräberstimmung“ nach dem Atomkompromiss mittlerweile wieder Ernüchterung gefolgt, zumal deutlich wurde, dass die handelswilligen liquiden iranischen Staatsunternehmen zu großen Teilen im Besitz der Revolutionsgarden sind. Private iranische Unternehmen wiederum sind kaum in der Lage, ausländische Kredite zu erwerben, zumal westliche Banken befürchten, mit den nach wie vor gültigen US-amerikanischen Sanktionsregimen zu kollidieren. Neben der Beeinflussung der inneriranischen Auseinandersetzung um Einfluss und Macht hatte das Atomabkommen mit Teheran auch eminente außenpolitische bzw. internationale Konsequenzen. Die bereits erwähnte Beendigung seiner PariaRolle eröffnet nicht nur dem Iran selbst neue Chancen, sondern bietet im Umkehrzug auch der westlichen Staatengemeinschaft eine Möglichkeit, den Iran als Schutzmacht des syrischen Diktators Baschar al-Assad in die internationalen diplomatischen Bemühungen um eine Lösung des im Bürgerkrieg versinkenden Landes einzubinden. Bislang hat der Iran die insbesondere von US-Präsident Barack Obama gehegten Hoffnungen auf eine konstruktive Rolle bei der Deeskalation des Syrien-Konfliktes jedoch nicht erfüllt. Deshalb ist nicht auszuschließen, dass Obamas Nachfolger Donald Trump, der das Atomabkommen bereits vor seiner Wahl als das „schlechteste jemals geschlossene Abkommen“ gegeißelt hatte, auf Konfrontation setzt und durch eine Infragestellung des JCPoA und neue einseitige Sanktionen Washingtons den Druck auf Teheran erhöht. Es war allerdings auch den Befürwortern des Atomkompromisses mit Teheran von Beginn an klar, dass die Etablierung „partnerschaftlicher“ Beziehungen mit dem demokratischen Westen nur unter der Voraussetzung einer konstruktiven und verantwortlichen Rolle Teherans in der internationalen Politik möglich sein würde. Sollte der Iran die zusätzlichen Einnahmen, über die er nach der Aufhebung der Sanktionen durch die Forcierung der Öl- und Gasexporte verfügt, zur weiteren Instrumentalisierung der Auseinandersetzungen mit seinen sunnitischen Gegnern in den Konflikten in Syrien, im Irak, im Libanon und im Jemen verwenden, würde dies seine Strategie außenpolitischen Prestigegewinns massiv konterkarieren. Die Ölmonarchie in der Doppelkrise – Saudi-Arabiens innere Spannungen und außenpolitische Probleme2 Irans Strategie und Vorgehen in den erwähnten mittelöstlichen Konflikten (Syrien, Irak, Libanon, Jemen) ist ohne Kenntnis der tief verwurzelten Rivalität zwischen Teheran und Riad nicht zu verstehen. Iran und Saudi-Arabien führen einen 2

Dieser Abschnitt stützt sich auf: Meier-Walser, Reinhard: Post-JCPoA international relations: The US, Russia, and the Gulf. In: „Orient“, 57. Jg., H. 4, 2016, S. 34 – 40; MeierWalser, Reinhard: Riad versus Teheran. Hintergründe und Eskalationspotenzial der aktuellen Krise (= „Argumentation kompakt“, ein Service der Hanns-Seidel-Stiftung für politische Entscheidungsträger, Nr. 2, 27. 1. 2016).

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mittlerweile multidimensionalen (jedenfalls religiösen, ideologischen, geostrategischen und energiepolitischen) Machtkampf, der zu Beginn des Jahres 2016 bis nahe an den Rand einer offenen militärischen Konfrontation eskalierte. Ausgelöst wurde die Krise zwischen den beiden Golf-Anrainerstaaten durch die Hinrichtung des schiitischen Predigers Nimr al-Nimr, die im Iran auf Empörung stieß und heftige Proteste auslöste. Es kam zu Massendemonstrationen, in deren Verlauf die saudische Botschaft in Teheran in Brand gesetzt wurde. Irans Oberster Geistlicher Führer, Ayatollah Ali Khamenei, warnte, Saudi-Arabien werde die „Rache Gottes spüren“. Daraufhin brach Riad die diplomatischen Beziehungen zu Teheran ab und strich alle Flugverbindungen und Wirtschaftskontakte. Hinter der aktuellen Zuspitzung des Konfliktes verbergen sich auch alte konfessionelle Spannungen zwischen der sunnitischen (Saudi-Arabien) und schiitischen (Iran) Führungsmacht. Die Feindschaft zwischen Sunniten, die heute rund 85 Prozent der weltweit 1,5 Milliarden Muslime repräsentieren, und Schiiten (15 Prozent) wurzelt in der umstrittenen Frage der Nachfolge des im Jahre 632 verstorbenen Propheten Mohammed. Zusätzliche Verschärfung erfuhr das seitdem zerrüttete Verhältnis durch die Entwicklung der fundamentalistischen sunnitischen Strömung des Wahhabismus, mit der das saudische Königshaus im 19. Jahrhundert eine enge religiöse Verbindung einging. Nach der islamischen Revolution im Iran im Jahre 1979 wurde die traditionelle geostrategische Rivalität zwischen Riad und Teheran um eine religiös-ideologische Dimension erweitert. Der Machtkampf zwischen Saudi-Arabien und dem Iran erschöpft sich nicht im bilateralen Kräftemessen, sondern drückt sich in Stellvertreterkonflikten in all denjenigen mittelöstlichen Konflikten aus, in denen Sunniten und Schiiten um Einfluss ringen. Daneben dreht Saudi-Arabien seit Längerem bereits an der Ölpreisschraube, um den Iran wirtschaftlich in die Knie zu zwingen. Das Fluten des Marktes ist allerdings eine riskante Strategie, zumal der Großteil der saudischen Staatseinnahmen aus dem Ölgeschäft stammt und Riad durch den selbst initiierten Preisverfall mit dem Problem hoher Staatsschulden konfrontiert ist. In seiner machtpolitischen Auseinandersetzung mit Teheran spielen aus der Perspektive Riads die USA eine wesentliche Rolle. Saudi-Arabien profitierte in diesem Wettstreit nach der Ablösung des Shah-Regimes im Iran im Zuge der Islamischen Revolution von 1979 zunächst vom Zerwürfnis zwischen Washington und Teheran. Zusätzlich veränderte sich das machtpolitische Gefüge zugunsten Riads, nachdem im Verlauf des im Jahre 2002 entstandenen Atomkonfliktes zwischen der internationalen Staatengemeinschaft und dem Iran Letzterer durch diplomatische Maßnahmen insbesondere westlicher Mächte zunehmend in eine Paria-Rolle geriet und durch die Sanktionen der USA, der UNO und der EU wirtschaftlich massiv geschwächt wurde. Diese Situation erfuhr durch den Abschluss des Atomabkommens mit Teheran eine grundlegende Änderung. Riad reagierte deshalb mit Argwohn und Verärgerung sowohl auf den Atomkompromiss als insbesondere auch auf den neuen „PartnerschaftsKurs“ der Obama-Administration in Richtung Iran.

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Eine Annäherung zwischen Washington und Teheran ist für Riad nicht zuletzt deshalb so problematisch, weil man damit eine weitere Relativierung seiner eigenen Position auf der Prioritätenskala der USA verknüpft. Die einst „strategische Partnerschaft“ zwischen Washington und Riad verlor durch die Entwicklung neuer Ölfördermethoden wie Fracking ihre herausgehobene Bedeutung, zumal die USA nicht mehr abhängig von Öllieferungen aus der Golfregion sind. Zwar unterstützt Washington Riad nach wie vor durch umfassende Rüstungslieferungen, es werden aber ungeachtet dessen auch zunehmend außen- und sicherheitspolitische Interessendivergenzen deutlich. Während etwa die USA dem Kampf gegen den sogenannten „Islamischen Staat“ (IS) und anderen Terrororganisationen hohe Bedeutung beimessen, steht für Saudi-Arabien die Auseinandersetzung mit dem Iran und der Sturz dessen Verbündeten, des syrischen Diktators Assad, im Vordergrund. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang allerdings, dass US-Präsident Trump auf seiner ersten Auslandsreise, die ihn im Mai 2017 in die Krisenregion des Mittleren Ostens führte, sichtlich um eine Verbesserung der Beziehungen zu Riad bemüht war und Teheran ungeachtet der Wiederwahl Rohanis erneut heftig kritisierte. Die Ölmonarchie Saudi-Arabien befindet sich in einer schwierigen Situation. Ihre Außenbeziehungen sind überschattet durch die mehrdimensionale Rivalität mit dem Iran und durch die Verwicklungen in diverse mittelöstliche Krisen und Konflikte, wobei bereits die Militärintervention im Jemen Riad jeden Tag ca. 200 Millionen Dollar kostet. Daneben ist das Haus Saud mit diversen terroristischen Bedrohungen konfrontiert, die für innere Instabilität sorgen. Diese wiederum wird durch die Volatilität der Ölpreise, durch drastisch sinkende Staatseinnahmen und durch die wachsende Unzufriedenheit der saudischen Bevölkerung zusätzlich verstärkt. Die Türkei am Scheideweg – bleibt Ankara nach dem Verfassungsreferendum Partner des Westens? Im Unterschied zum Iran und zu Saudi-Arabien besitzt die Türkei durch ihre Mitgliedschaft in der NATO seit sechseinhalb Jahrzehnten eine institutionelle sicherheitspolitische Verbindung mit dem demokratischen Westen. Lange Zeit schien es sogar, als ob dem Land an der Schnittstelle zwischen Europa und dem Mittleren Osten die schwierige Gratwanderung gelänge, „muslimisches Selbstverständnis mit Demokratie, parlamentarischer Regierungsform und prowestlicher Orientierung zu verbinden“.3 Im Jahre 2005 begannen Beitrittsgespräche mit der EU, die jedoch wegen diverser strittiger Punkte immer wieder ins Stocken gerieten. Obwohl die EU und Ankara im November 2015 eine Vereinbarung zur Eindämmung der Flüchtlingskrise trafen und damit eine neue Form von Partnerschaft schufen, kamen die Beitrittsgespräche auch danach nicht wieder in Fahrt. Seit dem gescheiterten Putschversuch 3 Seufert, Günter: Die Türkei wird Teil des Nahen Ostens, in: Ausblick 2017: Krisenlandschaften (SWP-Studien 2017/S 01), Berlin Januar 2017, S. 39 – 42, hier S. 39 f.

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im Juli 2016, auf den Präsident Erdog˘ an mit weit reichenden Säuberungen in der Justiz und den Streitkräften, mit massiven Einschränkungen der Meinungsfreiheit und generell mit der Verhaftung von Zehntausenden von Oppositionellen reagierte, liegen die Beitrittsgespräche faktisch auf Eis. Neben diesen rechtlich wie politisch problematischen Entwicklungen in der Folge des Putschversuches werden die Beziehungen zwischen den EU-Mitgliedern und der Türkei auch durch die Konsequenzen des Verfassungsreferendums vom April 2017 überschattet, in dem Präsident Erdog˘ an mit der knappen Mehrheit von 51,4 Prozent die schrittweise Schaffung eines Präsidialsystems und die Aushebelung der Gewaltenteilung erreichen konnte. Zu den ersten sichtbaren Ergebnissen des Referendums gehörte Erdog˘ ans Wiederwahl als Vorsitzender der von ihm gegründeten Regierungspartei „für Gerechtigkeit und Entwicklung“ AKP im Mai 2017. Den Vorsitz hatte er nach seiner Wahl zum Staatspräsidenten im Jahre 2014 abgeben müssen, weil die Verfassung vom Staatsoberhaupt Überparteilichkeit forderte. Diesen Neutralitätspassus ließ Erdog˘ an nach dem Referendum umgehend aus der Verfassung streichen. Mit Blick auf die Wahlen im Jahre 2019, bei denen zum ersten Mal die neue Verfassung gilt, strebt er nun den Status eines „Superpräsidenten“ an, der drei Funktionen in einer Person vereint: Staatspräsident, Regierungschef und Parteivorsitzender.4 Außerdem plant er, die Wiedereinführung der Todesstrafe zum Thema eines weiteren Referendums zu machen. Auch die Beziehungen Washingtons zu Ankara werden durch die innertürkischen Entwicklungen der vergangenen Monate belastet, weil Washington sich bislang strikt weigerte, den von Erdog˘ an der Drahtzieherschaft am Putschversuch beschuldigten Fethullah Gülen auszuliefern. Ein weiteres Problem im Verhältnis USA und Türkei stellt die Rolle der kurdischen Milizen in den mittelöstlichen Kriegsschauplätzen dar. Washington betrachtet die kurdischen Einheiten als wichtige Verbündete im Kampf gegen den IS in Syrien und im Irak, während Ankara befürchtet, eine Kooperation der internationalen Allianz gegen die Terrormiliz IS mit den Kurden könnte deren Autonomieforderungen im Südosten der Türkei zusätzlichen Auftrieb verleihen. Das Verhältnis zwischen Ankara und Teheran wird ebenfalls durch die Eskalation der Krisenherde in Syrien und im Irak belastet. Die Jahrhunderte alte Rivalität zwischen der Türkei und dem Iran konnte in den vergangenen Jahrzehnten durch die Intensivierung der bilateralen Handelsbeziehungen zwar entschärft werden. In jüngerer Zeit steuern beide Staaten aber einen gefährlichen Kollisionskurs, indem sie in den Kriegsgebieten jeweils unterschiedliche Akteure unterstützen und dabei einer unmittelbaren militärischen Konfrontation bereits bedrohlich nahe gekommen sind.5

4

Krüger, Paul-Anton: Erdog˘ an übernimmt Partei, in: Süddeutsche Zeitung, 22. 5. 2017, S. 4, 7. 5 Vaez, Ali: Turkey and Iran’s dangerous collision course, in: International New York Times, S. 15.

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Die Gemeinschaft des demokratischen Westens, der gegenwärtig das „Ende der kemalistischen Republik“6 erlebt, muss sich überlegen, wie auf den neuen Weg der Türkei, die innenpolitisch von parlamentarisch-demokratischen Standards in Richtung Präsidialsystem und außenpolitisch von der Annäherung an pluralistische Demokratien in Richtung Moskau steuert, reagiert werden soll. Für Europa stellt sich in diesem Zusammenhang als erste Herausforderung die Voraussetzung gemeinsamen Handelns, um „eine weitere Entfernung der Türkei vom Westen oder gar eine türkisch-europäische Frontstellung zu verhindern“.7 Wird dies, wie die Erfahrung lehrt, schon schwierig genug sein, stellt sich darüber hinaus die Notwendigkeit, die europäische Türkeipolitik stärker als bisher mit den USA zu koordinieren, was angesichts der heiklen Beziehungen zur Trump-Administration in Washington auch nicht einfach zu bewerkstelligen sein dürfte. Fazit: Drei Staaten am Scheideweg Der Iran, Saudi-Arabien und die Türkei befinden sich gegenwärtig in Phasen signifikanter innerer Veränderungen, die gleichzeitig Kurskorrekturen in ihrer jeweiligen Außenpolitik nach sich ziehen. Die drei Staaten sind keine – im Sinne von unproblematisch – „einfachen“ Partner des demokratischen Westens, aber u. a. wegen ihrer gestaltenden Rolle im Mittleren Osten für Europa und die USA von großer Bedeutung. Daneben ist zu beachten, dass Russland durch die Intensivierung seiner Kooperation mit dem Iran, Saudi-Arabien und der Türkei sowie durch eine geschickte Instrumentalisierung der Spannungen zwischen diesen Staaten untereinander sowie zwischen ihnen und dem demokratischen Westen versucht, seine Machtposition im Mittleren Osten auf Kosten westlicher Interessen und Einflusssphären zu erweitern.

Prof. Dr. Reinhard Meier-Walser ist Leiter der Akademie für Politik und Zeitgeschehen der Hanns-Seidel-Stiftung und Chefredakteur der Zeitschrift Politische Studien in München. Er lehrt Internationale Politik an der Universität Regensburg.

6 7

Seufert: Die Türkei wird Teil des Nahen Ostens, S. 39. Seufert: Die Türkei wird Teil des Nahen Ostens, S. 42.

II. Neue Gefahren für unsere Ordnung

Internationaler Terrorismus Von Guido Steinberg Der internationale Terrorismus ist spätestens seit den Anschlägen des 11. September 2001 zu einem wichtigen Thema der Weltpolitik geworden und islamistische Gruppierungen wie al-Qaida und der „Islamische Staat“ (IS) dominieren heute das Geschehen. Terroristische Gruppierungen sind heute transnationaler zusammengesetzt, ideologisch kompromissloser und militärisch und terroristisch professioneller als früher. Dies hat 2016 auch zu mehreren Anschlägen und Anschlagsversuchen hierzulande geführt, die zeigen, dass Deutschland die Terroristen entschlossener und effektiver als bisher bekämpfen muss. 1. Religion, religiöse Ideologie und Terrorismus Der Aufstieg des islamistischen Terrorismus ist zwar erst seit den 1970er Jahren zu beobachten, doch seine historischen Wurzeln liegen tiefer. Denn er ist auch eine Folge von religiös-politischen Reformversuchen, die in der islamischen Welt seit dem 18. und 19. Jahrhundert unternommen wurden. Zum einen wandten sich enttäuschte Anhänger seit den 1960er von der islamistischen Muslimbruderschaft ab, die sich infolge zahlreicher Misserfolge im Kampf gegen die Regierungen der arabischen Welt für eine Strategie entschied, die auf einen langsamen gesellschaftlichen Wandel abzielte. Militante Splittergruppen setzten hingegen auf den bewaffneten Kampf und gingen später in der al-Qaida auf. Etwas später wirkte sich der Aufstieg der Salafisten aus – einer Teilströmung des Islamismus, deren Vertreter mehr als die politikorientierten und oft pragmatischen Muslimbrüder auf doktrinäre Reinheit nach dem Vorbild des Propheten Muhammad und seiner Gefährten setzen. Sie profitierten zwar enorm von der ideellen, medialen und finanziellen Unterstützung des saudi-arabischen Staates, in dem mit dem „Wahhabismus“ eine salafistische Islaminterpretation dominiert. Doch ist der Salafismus eine Bewegung mit mehreren Wurzeln, die vor allem in den Reformbewegungen des 18. und 19. Jahrhunderts (zu denen auch der Wahhabismus gehört) zu finden sind. Es ist diese tiefe Verwurzelung in der Religion und religiösen Ideologie, die eine Bekämpfung schwierig macht, denn die Dschihadisten (so nennen die meisten Islamwissenschaftler die islamistischen Terroristen) glauben nicht nur, den wahren Islam zu verteidigen. Sie sind zumindest mehrheitlich auch der Überzeugung, dass ihre Gewalt gottgefällig ist und sie ins Paradies bringt – was ihre oft erstaunliche Opferbereitschaft erklärt. Für die Terrorismusbekämpfung ist die religiöse und historische

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Dimension des Dschihadismus vor allem wichtig, weil sie zeigt, wie gering die Möglichkeiten westlicher Politik sind, auf das Gesamtphänomen einzuwirken. Es muss vor allem um die gezielte Bekämpfung der terroristischen Organisationen gehen, deren weltanschauliche Besonderheiten wir kennen müssen, wollen wir die von ihnen ausgehenden Gefahren richtig einschätzen. 2. Die Islamisten und al-Qaida Bis 2014 wurde die dschihadistische Bewegung von al-Qaida dominiert. Sie schrieb mit den Anschlägen vom 11. September 2001 Weltgeschichte, geriet in den Jahren danach aber unter Druck. Dies hatte nicht nur mit den Gegenmaßnahmen der USA zu tun, sondern auch damit, dass ihre ideologische Ausrichtung schon bald nicht mehr dem – zunehmend salafistischen – Zeitgeist in der islamistischen Szene entsprach. Al-Qaidas Führungsspitze um Usama Bin Laden war stark von der Ideologie der Muslimbruderschaft geprägt, die in ihrer Jugend noch die oppositionelle Politik in der arabischen Welt dominiert hatte. Dies führte dazu, dass al-Qaida deren politischen Pragmatismus übernahm. Es ging al-Qaida und der Bruderschaft vor allem um die Macht in ihren Heimatstaaten. Diskussionen über den genauen Inhalt der reinen Lehre standen demgegenüber oft zurück. Wie strategisch al-Qaida Gewalttaten plante, zeigte sie vor allem mit den Anschlägen in New York und Washington. Durch den Angriff auf das finanzielle, militärische und politische Zentrum der USA glaubte die Organisation, diese zum Rückzug aus den arabischen Heimatländern der Dschihadisten zu zwingen. Anschließend wollte sie dort erneut versuchen, die Macht zu übernehmen. Wie pragmatisch al-Qaida ihre Ziele verfolgt, zeigt sich außerdem an ihrer Bündnispolitik. Seit 1996 kooperiert sie eng mit den Taliban, obwohl es gravierende ideologische Unterschiede zwischen beiden gibt. Auf diese Weise ist es al-Qaida nicht nur gelungen, trotz aller Bemühungen der US-Regierung, in Afghanistan zu überleben, sondern sie dürfte auch zukünftig von Erfolgen der Taliban profitieren. Ähnlich geschickt ging al-Qaida in Syrien vor, wo ihr örtlicher Ableger, die Nusra-Front, gute Beziehungen zu zahlreichen Gruppierungen aufbaute, bis sie 2017 gemeinsam mit ihrem wichtigsten Bündnispartner, den Ahrar ash-Sham (= Die Freien Männer von Syrien), den Aufstand im Norden des Landes dominierte. Al-Qaida gelang es so, vom arabischen Frühling zu profitieren, wie sonst nur der IS. Sie ist nicht nur in Afghanistan und Syrien, sondern auch im Jemen, der Sahara und der Sahelzone weiterhin stark. Und auch wenn die Erfolge des IS ihr die Rekrutierung von ausländischen Kämpfern seit 2013 erschweren, sind Nachrufe auf die Organisation verfrüht.

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3. Die Salafisten des Islamischen Staates Auch der IS profitierte von den Wirren, die auf den arabischen Frühling von 2011 folgten. Die Organisation war zwar aus der irakischen al-Qaida hervorgegangen, doch war sie seit Beginn stärker salafistisch geprägt als ihre „Mutterorganisation“. Dies zeigte sich an ihrem größeren Interesse an der reinen Lehre, das sie dazu verleitete, weniger pragmatisch zu handeln als al-Qaida. Anstatt strategische Prioritäten zu setzen und pragmatisch nach Verbündeten zu suchen, bekämpfte sie ab 2014 alle angeblichen Feinde des Islam zugleich und forderte von ähnlich gesinnten Gruppierungen im Irak und Syrien Unterwerfung. Dass die Kompromisslosigkeit des IS nicht rasch zur Niederlage führte, verdankte er vor allem seiner enormen Attraktivität für junge Salafisten. Tausende Rekruten aus aller Welt reisten nach der Ausrufung des Kalifats nach Syrien, um dort nach dem Vorbild des Propheten Muhammad und seiner Gefährten zu leben. Außerdem gelang es dem IS ab 2014, mehrere dschihadistische Gruppierungen in Libyen, Ägypten, Nigeria, im Jemen, im Kaukasus und in Afghanistan zum Anschluss zu bewegen. Hierbei halfen ihm sein vieles vor allem im Irak erbeutetes Geld und die unbestreitbaren Erfolge der Anfangszeit. Diese gingen jedoch nicht nur auf den Fanatismus, die Brutalität und die Opferbereitschaft seiner Kämpfer, sondern auch auf die militärische Professionalität seiner Führung zurück, in der zumindest bis 2015 ehemalige Offiziere des Regimes von Saddam Hussein stark vertreten waren. Sie prägten auch den Geheimdienst des IS, der für die Anschläge im Ausland verantwortlich war. Spätestens im Frühjahr 2014 hatte sich die Organisation entschieden, Attentate in Frankreich, Großbritannien und Deutschland zu verüben und schickte Kämpfer von dort in ihre Heimatländer zurück. Das Ziel dieser Auslandsoperationen war klar definiert: Anschläge sollten die Regierungen und Gesellschaften des Westens zu Überreaktionen gegen Muslime verleiten. Diese würden sich dann vermehrt dem IS anschließen, so das Kalkül der Terroristen.1 Es folgten Anschläge wie der von Paris am 13. November 2015, bei dem 130 Menschen starben. Nur wenige westliche Staaten blieben verschont. Die IS-„Provinzen“ (so nennt der IS seine Ableger) verübten ebenfalls zahlreiche Attentate in fast allen Teilen der islamischen Welt. 4. Eskalation in Deutschland Die Machtverschiebung in der dschihadistischen Bewegung machte sich ab 2014 auch in Deutschland bemerkbar, denn von den mehr als 900 von hier stammenden Dschihadisten, die ab 2012 nach Syrien ausgereist waren, schlossen sich Schätzungen zufolge mehr als 80 % dem IS an. Schon ab 2013 kehrten zahlreiche Dschihadisten zurück, so dass die Gefahr von IS-Anschlägen wuchs. 2016 verübten IS-Anhän1 Der IS beschrieb diese Strategie in seinem englischsprachigen Magazin Dabiq: „The Extinction of the Grayzone.“ In: Dabiq: From Hypocrisy to Apostasy. The Extinction of the Grayzone, 7 (12. 02. 2015): 54 – 66.

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ger dann tatsächlich fünf Anschläge in Hannover, Essen, Würzburg, Ansbach und Berlin. Mehrere andere geplante Attentate scheiterten oder wurden vereitelt. Überraschend war, dass unter den vollendeten und potentiellen Attentätern von 2016 keine Syrien-Rückkehrer waren. Vielmehr waren die Terroristen mehrheitlich Flüchtlinge aus dem Nahen Osten und Nordafrika, die erst wenige Monate oder Jahre zuvor nach Deutschland gekommen waren. Der IS hatte den seit 2014 massenhaften Zustrom von Flüchtlingen nach Europa nicht nur genutzt, um ausgebildetes Personal nach Europa zu schicken – die dann beispielsweise die Anschläge in Paris verübten. Er baute auch neue Kontakte zu Gleichgesinnten auf und veranlasste sie zu Gewalttaten. Dies war umso leichter, als im Sommer und Herbst 2015 die deutschen Grenzen teilweise nicht mehr kontrolliert wurden. 5. Was tun? Wenn der islamistische Terrorismus von al-Qaida und IS auch eine Folge einer ideengeschichtlichen Entwicklung in der arabischen Welt ist, ist die westliche Politik gut beraten zu akzeptieren, dass ihr Einfluss auf diese Entwicklung begrenzt ist. Es wird in den nächsten Jahren vor allem darum gehen, den Zerfall von Staaten in der arabischen und islamischen Welt zu stoppen, um den Dschihadisten so ihre Operationsgebiete zu nehmen. Da die Aussichten für Syrien, Libyen, Afghanistan und andere Länder nicht gut sind, müssen wir aber mit dem Gesamtphänomen leben und uns von der Vorstellung verabschieden, dass eine andere westliche Politik die Entwicklung von Islamismus und Salafismus maßgeblich beeinflussen kann. Da der IS und al-Qaida in vielen wichtigen Herkunftsländern des Flüchtlingsstroms stark sind, ist in Zukunft eine sehr viel vorsichtigere Flüchtlings- und Zuwanderungspolitik gefragt. Die Zahl der Menschen, die aus Syrien, dem Irak und Afghanistan und vielen anderen Ländern nach Deutschland einreisen, muss begrenzt und die Einreisenden möglichst früh und gründlich überprüft werden. Es ist zwar nicht zu erwarten, dass eine deutsche Regierung noch einmal so gravierende Fehler begeht wie 2015, doch kündigen sich heute schon neue Flüchtlingswellen an, auf die die deutsche Politik sich vorbereiten muss. Genauso wichtig wird es in den kommenden Jahren sein, die islamistischen Terroristen entschlossen und effektiv zu bekämpfen. Dazu gehört in erster Linie ein wirksamer Grenzschutz, von dem die Europäische Union immer noch weit entfernt ist. Darüber hinaus benötigt Deutschland stärkere Nachrichtendienste mit mehr Befugnissen, mehr Technik und mehr qualifiziertem Personal, die rechtzeitig drohende Gefahren im Land und außerhalb erkennen. Und schließlich wird es immer wieder nötig werden, die Dschihadisten in ihren Rückzugsräumen militärisch zu bekämpfen, um sie daran zu hindern, Anschläge in Deutschland vorzubereiten. Dr. Guido Steinberg ist promovierter Islamwissenschaftler und Mitarbeiter der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin. 2001 bis 2005 arbeitete er als Terrorismusreferent im Bundeskanzleramt.

Bedrohung im Cyber-Raum Von Arne Schönbohm Wie begegnen Staat, Wirtschaft und Gesellschaft den zunehmenden Bedrohungen im Cyber-Raum? Wie können wir die Chancen der Digitalisierung für Deutschland nutzen? Das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik nimmt bei der Gestaltung von Informationssicherheit und der Abwehr von Cyber-Angriffen eine Schlüsselrolle ein. Die Cyber-Sicherheitsstrategie für Deutschland und das IT-Sicherheitsgesetz bilden hierfür den Rahmen. * Leistungsfähige und sichere Kommunikationssysteme sind das zentrale Nervensystem der Gesellschaft im 21. Jahrhundert. Kaum ein Bereich kommt ohne zuverlässige und sichere Kommunikationssysteme aus. Sie sind essenziell für eine funktionierende Wirtschaft und für viele weitere Bereiche unserer eng vernetzten Gesellschaft. Sie schaffen die Voraussetzung für Mobilität, Datenaustausch sowie Kapital-, Waren- und Dienstleistungstransfer. Sie ermöglichen das einfache Telefonieren und lassen uns via Kurznachrichtendienste, soziale Netzwerke oder Instant-Messenger miteinander in Verbindung treten. Sie sorgen für die Vernetzung von medizinischen Geräten in einem Operationsaal und sind Voraussetzung für die Industrie 4.0, die Energiewende oder den Betrieb von Kritischen Infrastrukturen. Mit der immer stärkeren Verbreitung von Kommunikationssystemen entstehen dabei immer auch neue Abhängigkeiten des Menschen von der einwandfreien Funktionsfähigkeit der Systeme. Durch Kommunikationssysteme intelligent vernetzte Wertschöpfungsketten ermöglichen systemische, energie- und ressourcenschonende Produktionsprozesse und neue Lösungen für Mobilität und Logistik. Die Dynamik der Digitalisierung im Produktions- und Dienstleistungssektor ist weiterhin ungebrochen: Bis zum Jahr 2018 werden weltweit voraussichtlich allein 1,3 Millionen Industrieroboter miteinander kommunizieren und kooperieren. Im Internet der Dinge werden bis 2020 schätzungsweise 50 Milliarden Endgeräte interagieren. Leistungsfähige und sichere Kommunikationssysteme entwickeln sich daher immer mehr zum zentralen Nervensystem für Anwendungsfelder wie Industrie 4.0, Telemedizin und autonomes Fahren.

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Bedrohungslage im Cyber-Raum Gleichzeitig nimmt auch die Bedrohung durch Sicherheitslücken in diesen Systemen zu. Die Zahl der IT-Angriffe steigt von Jahr zu Jahr. Sie werden immer professioneller, ihre Konsequenzen immer folgenschwerer: Erfolgreiche Angriffe auf Kommunikationssysteme, Krankenhäuser und Kraftwerke, auf demokratische Institutionen wie den Bundestag, auf Medien und die Beeinflussung gesellschaftlicher Entscheidungsprozesse durch Informationsveröffentlichungen, Social Bots und Fake News zeigen, dass hier ein neues Konfliktfeld besteht. Kriminelle, terroristische und nachrichtendienstliche Akteure nutzen den Cyber-Raum für ihr Handeln. CyberSicherheit ist damit eines der zentralen Themen der Informations- und Kommunikationstechnologie geworden. Nicht nur für den Staat und die Wirtschaft, sondern auch und insbesondere für den einzelnen Bürger. Eine erfolgreiche Digitalisierung wird es ohne Cyber-Sicherheit nicht geben. Die Akteure der Cyber-Angriffe sind international organisiert, sie profitieren von der globalen Vernetzung und den Tarnungsmöglichkeiten des Internets. Ihre Spur ist oftmals schwer zu verfolgen und stößt schnell an nationale Grenzen. Die Offenheit und Ausdehnung des Cyber-Raums erlaubt es ihnen, verschleierte Angriffe durchzuführen und dabei verwundbare Opfersysteme als Werkzeug für Angriffe zu missbrauchen. Häufig kann bei Angriffen weder auf die Identität noch auf die Hintergründe des Angreifers geschlossen werden. Aufgrund hoher Renditen und einem vergleichsweise geringen Entdeckungsrisiko zieht der Cyber-Raum Kriminalität in immer größerem Ausmaß an. Sowohl Quantität als auch Qualität der Angriffe steigen, die Professionalisierung der Täter nimmt immer weiter zu. Cyber-Gefährdungen betreffen praktisch jeden Nutzer von IT und Internet. Die Täter begehen Cyber-Angriffe mit Hilfe von Informationsund Kommunikationstechnik, per Computer, Netzwerk oder Hardware-Gerät. Der Computer ist dabei der Agent, der Vermittler oder das Ziel des Verbrechens. Zur Bedrohung im Cyber-Raum gehören u. a.: - Computerbetrug und Betrug mit Zugangsberechtigungen zu Kommunikationsdiensten (Identitätsdiebstahl), - Täuschung im Rechtsverkehr bei Datenverarbeitung, - Daten- und Informationsmanipulation, - Computersabotage, Ausspähen und Abfangen von Daten, - Phishing im Bereich Onlinebanking, - Straftaten mit Distributed Denial of Service-Attacken (Überlast-Angriffe auf ITInfrastrukturen), - digitale Erpressung (Ransomware) sowie - Herstellung und Verbreitung von Hacker-Tools für illegale Zwecke.

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Je wichtiger Digitalisierung für unser Leben und unsere Geschäfte wird, desto mehr müssen die damit verbundenen Herausforderungen gemeinsam von allen Akteuren in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft auf nationaler und internationaler Ebene angegangen werden. IT-Sicherheitsgesetz und Cyber-Sicherheitsstrategie Die Bundesregierung hat bereits 2011 mit der ersten Cyber-Sicherheitsstrategie für Deutschland den Grundstein für mehr Sicherheit im Cyber-Raum gelegt. Das IT-Sicherheitsgesetz, das im Juli 2015 in Kraft trat und das auf die Verbesserung der Verfügbarkeit und Sicherheit der IT-Systeme, insbesondere im Bereich der Kritischen Infrastrukturen (KRITIS) abzielt, befindet sich in der Umsetzung. Der erste Korb der KRITIS-Verordnung für die Sektoren Energie, Telekommunikation und Informationstechnik, Ernährung sowie Wasser ist im Mai 2016 in Kraft getreten. Darin sind die Kriterien enthalten, die bestimmen, welche Anlagen unter das Gesetz fallen. Der zweite Korb, der 2017 erwartet wird, enthält die KRITIS-Sektoren Gesundheit, Finanzen und Versicherungen sowie Transport und Verkehr. Mit der Cyber-Sicherheitsstrategie für Deutschland 2016 ist ein weiter entwickelter, ressort-übergreifender strategischer Rahmen für die Aktivitäten der Bundesregierung mit Bezug zur Cyber-Sicherheit gegeben. Vor dem Hintergrund der rasch voranschreitenden Digitalisierungsprozesse wurden dabei insbesondere die Länder und die Wirtschaft mit einbezogen. Nationale Cyber-Sicherheitsbehörde BSI Mit dem Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik gibt es in Deutschland seit 1991 ein staatliches Kompetenzzentrum für Fragen der IT- und Cyber-Sicherheit, dessen fachliche Expertise weit über den Bereich der öffentlichen Verwaltung hinaus anerkannt ist. Das BSI hat einen klaren gesetzlichen Auftrag, der 2015 durch das IT-Sicherheitsgesetz sowie durch die Cyber-Sicherheitsstrategie 2016 deutlich erweitert wurde. Das BSI als die nationale Cyber-Sicherheitsbehörde gestaltet die Informationssicherheit in der Digitalisierung durch Prävention, Detektion und Reaktion für Staat, Wirtschaft und Gesellschaft. Die Handlungsfähigkeit und Souveränität Deutschlands muss auch im Zeitalter der Digitalisierung gewährleistet sein. Das betrifft zum einen das staatliche Handeln. Hier sorgt das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik für die Sicherheit der Regierungsnetze, die sich unter anderem beim weltweiten Angriff durch das Schadprogramm WannaCry im Mai 2017 erneut als besonders robust erwiesen haben.

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Mit dem Ausbau des Nationalen Cyber-Abwehrzentrums, in dem die für CyberSicherheitsfragen zuständigen Bundesbehörden kooperieren, wird die staatliche Cyber-Abwehrfähigkeit erweitert und auf die Wirtschaft und die Länder ausgedehnt. Ein Beispiel für die erfolgreiche Interaktion von BSI, dem Nationalen Cyber-Abwehrzentrum und den ermittelnden Behörden, auch international, ist die erfolgreiche Zerschlagung der weltweit größten Botnetz-Infrastruktur Avalanche im November 2016. Die Zusammenarbeit des BSI mit der Wirtschaft und insbesondere mit den Betreibern Kritischer Infrastrukturen wird weiter ausgebaut und umfasst auch operatives Handeln. Schon jetzt informieren wir – meist automatisiert – täglich bis zu 100.000 Betroffene sowie Internet- und Hosting-Provider über Infektionen auf ihren Systemen bzw. zu Schwachstellen oder sicherheitsrelevanten Fehlkonfigurationen. Um bei Bedarf auch vor Ort helfen zu können, wurden beim BSI Mobile Incident Response Teams (MIRTs) eingerichtet, die Cyber-Vorfälle in den für das Gemeinwesen besonders bedeutenden Einrichtungen analysieren und bereinigen sollen. Mit dem IT-Sicherheitsgesetz, der Cyber-Sicherheitsstrategie für Deutschland und dem personellen und strukturellen Ausbau der nationalen Cyber-Sicherheitsbehörde BSI sind die Eckpfeiler dafür gesetzt, um die Informationssicherheit in der Digitalisierung erfolgreich gestalten zu können.

Arne Schönbohm ist Präsident des Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI). Er arbeitete auf dem Gebiet der Cyber-Sicherheit in führenden Positionen in Industrie und Beratung u.a als Vice President Commercial und Defence Solutions bei EADS und als Vorsitzender des Vorstands des IT-Sicherheits-Beratungsunternehmen BSS.

Hybride Bedrohungen oder der Kampf von Innen (Fake News) Von Markus Kaiser Hybride Bedrohungen – ein Thema, das von Sicherheitspolitikern verstärkt ernst genommen wird und zum Beispiel auch die NATO beschäftigt. Die neuen hybriden, das heißt vermischten Konflikte werden nicht mehr nur mit Waffen, sondern auch durch digitale Propaganda und andere sozialen Techniken geführt, um Gesellschaften zu spalten bzw. zu destabilisieren. Wie stark die hybride Bedrohung tatsächlich ist und wie stark ihre Auswirkungen maximal sein könnten, darüber kann aber nur spekuliert werden. * Psychologische Kriegsführung und mediale Beeinflussung der eigenen Bürger und der Bevölkerung anderer Nationen ist kein neues Phänomen. Während des Zweiten Weltkriegs verbreiteten die Nationalsozialisten in der „Deutschen Wochenschau“ ihre Propaganda an das eigene Volk. Die USA warfen Flugblätter in deutscher Sprache über Deutschland ab, später wiederholten sie dies im Irak, wo sie auch Schulmaterial und Zeitungen verteilten. Flugblätter, Rundfunk, Lautsprecher und Zeitungen – im digitalen Zeitalter wird der Kampf um die Deutungshoheit nun auch im Internet und in den sozialen Netzwerken geführt. Nicht immer muss es bei Kampagnen um Manipulation oder gar die Verdrehung von Fakten gehen, und nicht nur vor, während oder nach einem Krieg wird an die Bevölkerung der anderen Länder herangetreten. Es kann auch darum gehen, anderen Nationen objektive und gut recherchierte Informationen zukommen zu lassen, deren Bürger wiederum sich nicht durch eine eigene unabhängige Presse informieren können. Die 1953 gegründete „Deutsche Welle“ beispielsweise arbeitet unabhängig von der Bundesregierung und ist dem freien Journalismus verpflichtet. Intendant Peter Limbourg sagte im Gespräch mit der „Zeit“ trotzdem: „Unsere Werte in der Welt zu verbreiten, ist eine nationale Aufgabe. Oder wollen wir Russia Today, Al-Dschasira und CCTV News die Deutungshoheit über die internationale Politik überlassen?“ Der Fernsehsender „RT“, wie sich „Russia Today“ heute nennt, sendet seit seiner Gründung 2005 positive Nachrichten über Russland, bringt die eigene nationale Sichtweise ein (zum Beispiel beim Kaukasuskrieg) und berichtet auch über Verfehlungen im Westen, um – wie es „Reporter ohne Grenzen“ ausdrückt – die angebliche Doppelzüngigkeit westlicher Politik anzuprangern und die Werte der USA und der

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Europäischen Union in Frage zu stellen. Wenn diese Berichterstattung mit OnlineAktivitäten kombiniert wird, kann diese crossmediale Vorgehensweise eine deutlich höhere Schlagkraft entfalten. Im Krim-Konflikt soll die russische Regierung gezielt Falschinformationen gestreut haben.1 Auch während der Flüchtlingskrise soll sich Russland eingemischt haben, um die Stimmung in Deutschland aufzuheizen und die Bevölkerung zu spalten.2 „Spiegel TV“ berichtet von ganzen Fabriken, in denen Russland im Social Web aktiv ist und versucht, Stimmungen zu manipulieren.3 Auch während der US-Präsidentenwahl 2017 ist darüber heftig diskutiert worden, welchen Einfluss Fake News, also gezielte Falschmeldungen, auf den Wahlausgang hatten. Nach Ansicht der beiden Wissenschaftler Matthew Gentzkow und Hunt Allcott der Universitäten in Stanford und in New York sollen im vergangenen Jahr Social Media und Fake News allerdings nur eine deutlich geringere Bedeutung für den Ausgang der Wahl gehabt haben, als die mediale Berichterstattung über deren Auswirkungen glaubhaft machen wollte. Die beiden haben untersucht, wie viele User über soziale Netzwerke zu Nachrichtenseiten gekommen sind und welche Fake News die größte Reichweite erlangten. Daneben befragten die US-Wissenschaftler 1200 Wähler, wobei lediglich 14 Prozent Facebook als wichtigste Informationsquelle für die Präsidentschaftswahlen nannten. Das Fernsehen spiele immer noch eine deutlich wichtigere Rolle. Auch die am weitesten verbreiteten Fake News scheinen nur von einem Bruchteil der Wähler gesehen worden zu sein – und von denen wiederum wollen nur die Hälfte diese geglaubt haben.4 Problematisch wird die hybride Bedrohung, wenn politische und wirtschaftliche Interessen, wie im US-Wahlkampf, nicht mehr voneinander unterschieden werden können. Fälscher von Nachrichten wollen dann möglichst viele User auf Facebook, Twitter & Co. dazu bringen, den Link zu deren eigener Website zu klicken. Damit sollen Werbeeinnahmen erzielt werden. Das war auch die Motivation von bis zu 200 Fake-News-Produzenten in der 55.000-Einwohner-Stadt Veles in Mazedonien, die mit ihren gefälschten Nachrichten im US-Präsidentschaftswahlkampf Geld verdient hatten.5 Social Bots, also falsche von Robotern durch Software gesteuerte Social-MediaProfile, dienen in diesem Fall dazu, dass die Fake News stärker verbreitet werden und 1

Vgl. www.sueddeutsche.de/politik/krise-auf-der-krim-putins-propaganda-kampf-1.1909161, Stand: 22. 4. 2017. 2 Vgl. www.deutschlandfunk.de/die-nato-und-die-hybride-kriegsfuehrung-der-kopf-als-ziel. 724.de.html?dram:article_id=359455, Stand: 22. 4. 2017. 3 Vgl. www.spiegel.de/sptv/spiegeltv/spiegel-tv-ueber-russische-propaganda-a-1136559.html# spRedirectedFrom=www&referrrer=&ref=nl-dertag, Stand: 22. 4. 2017. 4 Vgl. http://news.stanford.edu/2017/01/18/stanford-study-examines-fake-news-2016-presiden tial-election/, Stand: 20. 4. 2017. 5 Vgl. www.ard-wien.de/2016/12/13/mazedonien-reich-werden-mit-fake-news/, Stand: 22. 4. 2017.

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damit der Link zur werbefinanzierten Website noch häufiger angeklickt wird. So kann man dank Künstlicher Intelligenz womöglich künftig ganze Kampagnen auch ohne große Troll-Fabriken wie in Russland steuern. Hinzu kommt, dass bei einer zunehmenden Digitalisierung aller Lebensbereiche im Internet der Dinge Nachrichten und vor allem Eilmeldungen omnipräsent sein werden: ob eingeblendet in den Badezimmerspiegel, in die Windschutzscheibe im Auto oder in die Brille bzw. künftig womöglich sogar Kontaktlinse. Meinungen werden verstärkt Unterschieden werden muss bei der hybriden Bedrohung zwischen falschen Fakten und einer gezielten Interpretation von wahren Fakten im Sinne eines anderen Staates. Bedrohlich wird es, wenn die traditionellen Massenmedien von einem gewissen Teil der Bevölkerung nicht mehr gelesen, gehört bzw. geschaut werden oder wenn deren Glaubwürdigkeit in Misskredit gezogen wird. Denn so bleiben Fake News in der eigenen Filterblase unberichtigt. Weniger dramatisch ist das Problem, wenn richtige Fakten bewusst anders gedeutet werden. Denn Medien scheinen politische Meinungen nur zu verstärken und selten zu verändern, wie die empirischen Kommunikationswissenschaftler Lazarsfeld, Berelson und Gaudet bereits während des US-Präsidentschaftswahlkampfs 1940 in einer Untersuchung herausfanden. Hinzu kommt, dass bei der Wirkung von Medien für Leser auch die Glaubwürdigkeit der Quellen eine Rolle spielt.6 Deshalb spielt es bei einer hybriden Bedrohung eine entscheidende Rolle, die Informationshoheit nicht aus der Hand zu geben. Einen deutlich stärkeren Effekt können Fake News entfachen, indem durch gezielte Falschmeldungen Tabus gebrochen werden und Meinungen verstärkt werden. Dies würde extreme Positionen und Parteien am Rande stärken. Schweigespirale nannte die Kommunikationswissenschafts-Professorin Elisabeth Noelle-Neumann, Gründerin des Instituts für Demoskopie in Allensbach, ihr Modell. „Schweigespirale heißt: Menschen wollen sich nicht isolieren, beobachten pausenlos ihre Umwelt, können aufs Feinste registrieren, was zu-, was abnimmt. Wer sieht, dass seine Meinung zunimmt, ist gestärkt, redet öffentlich, lässt die Vorsicht fallen. Wer sieht, dass seine Meinung an Boden verliert, verfällt in Schweigen.“7 Echtzeit und virale Effekte als Gefahr Eine neue Dimension erhalten hybride Bedrohungen aus zwei Gründen: Erstens werden die bewusst gestreuten Meldungen in Echtzeit und damit so schnell wie noch 6

Vgl. Beck, Klaus: Kommunikationswissenschaft, Konstanz 2017 (5. Aufl.), S. 212. Noelle-Neumann, Elisabeth / Schulz, Winfried / Wilke, Jürgen (Hrsg.): Fischer Lexikon Publizistik Massenkommunikation, Frankfurt am Main 2004 (3. Aufl.), S. 403. 7

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nie zuvor verbreitet. Zweitens können virale Effekte dafür sorgen, dass die Propaganda sehr effektiv breit gestreut wird, während Richtigstellungen womöglich deutlich weniger wahrgenommen werden. Ein Tweet kann – anders als das auf gegnerischem Terrain abgeworfene, eingangs beschriebene Flugblatt im Zweiten Weltkrieg – in Bruchteilen von Sekunden Follower auf der ganzen Welt erreichen. Dadurch, dass die Internetnutzung immer stärker durch das Smartphone erfolgt, nimmt die Geschwindigkeit noch einmal rapide zu. Dadurch können sich auch Fake News rasend schnell verbreiten. Im Jahr 2016 gab es zudem einen Durchbruch beim Livestreaming: Mit den Apps von Periscope/Twitter oder Facebook kann man mit mobilen Endgeräten live übertagen. Diese vermeintliche Authentizität kann Fake News noch mehr Wirkung verschaffen. Hinzu kommt, dass sich diese Meldungen durch virale Effekte potenzieren können. Wenn wiederum ein User eine Fake News teilt, könnte dadurch auch die Glaubwürdigkeit der Meldung gesteigert werden. Schließlich stammt diese Meldung dann ja nicht von einem dem zweiten User unbekannten zum Beispiel russischen Account, sondern von einem Bekannten, dem man vertraut. Besonders bekannt ist dieses Phänomen bei Messenger-Diensten wie WhatsApp. Problematisch erscheint hier zudem, dass die Algorithmen der Betreiber von Social-Media-Kanälen undurchsichtig sind. Während sich womöglich Propaganda anderer Staaten durch virale Effekte gut verbreitet, werden Richtigstellungen nur wenigen Usern auf ihrer Facebook-Pinnwand angezeigt, wenn diese weniger Likes oder Kommentare haben – oder aus sonstigen undurchsichtigen Gründen weit weniger sichtbar sind. Für Europa problematisch ist zudem, dass die bedeutenden Betreiber sozialer Netzwerke wie Facebook, Instagram, YouTube, Twitter und Snapchat in den USA sitzen und man nicht weiß, welchen Einfluss in China oder Russland der Staat auf den Algorithmus derer sozialer Netzwerke ausübt. Mehr Medienkompetenz ist nötig Das Internet, die Digitalisierung und bald das Internet der Dinge – all dies verändert nicht nur unsere Kommunikation, sondern die komplette Art und Weise, wie wir leben und vernetzt sind. Manche Experten fordern deshalb, dass neben Lesen, Rechnen und Schreiben digitale Medienkompetenz den Stellenwert einer vierten Kulturtechnik eingeräumt bekommen soll. Die Kultusministerkonferenz hat bereits im Jahr 2012 in einem Beschluss über „Medienbildung in der Schule“ die Bedeutung hervorgehoben: „Medienkompetenz ergänzt zeitgemäß die traditionellen Kulturtechniken und gilt in nahezu allen Bereichen allgemeiner und beruflicher Bildung inzwischen als unverzichtbare Schlüsselqualifikation.“8

8 www.kmk.org/fileadmin/Dateien/veroeffentlichungen_beschluesse/2012/2012_03_08_Me dienbildung.pdf, Stand: 22. 4. 2017.

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Durch Medienkompetenz, wie ein Blick auf die Quelle, der Vergleich mit anderen Nachrichtenseiten oder der Bilder-Rückwärtssuche von Google, und politische Bildung lassen sich Fake News relativ leicht enttarnen. So hat Russland beispielsweise behauptet, dass die USA 3.600 Panzer gegen Russland in Stellung bringt. Die Zahl war frei erfunden.9 Wer nachprüft, dass die USA insgesamt weniger als 10.000 Panzer hat, konnte diese Fake News sofort als solche entlarven.

Markus Kaiser ist Professor für Medieninnovationen und digitalen Journalismus an der Technischen Hochschule Nürnberg, Berater, Journalist und Buchautor (unter anderem „Innovation in den Medien“, „Recherchieren“, „Special Interest“). Vorherige Stationen: Redakteur der Nürnberger Zeitung, Pressesprecher einer Behörde, Leiter der Medienstandort-Agentur Bayerns. www.markus-kaiser.org.

9 www.tagesspiegel.de/politik/russische-propaganda-wie-aus-87-panzern-3600-werden/ 19298234.html, Stand: 22. 4. 2017.

Strategische Prioritäten Nukleare, konventionelle und intellektuelle Erfordernisse deutscher Sicherheitspolitik Von Maximilian Terhalle Der Artikel zeigt, wie Deutschland seine strategischen Prioritäten in einer Welt konkurrierender Nationen(verbände) identifiziert. Zu diesem Zweck führt die Analyse den Begriff des Strategischen ein und zeigt, warum deutsche Sicherheitspolitik zumeist reaktiv und ohne strategische Ausrichtung agiert. Daraus leiten sich drei konkrete Forderungen für die Zukunft ab. * Kern der Münchner Rede des damaligen Bundespräsidenten Joachim Gaucks von 2014 war, dass Deutschland fortan willens sei, mehr Verantwortung zu übernehmen. Gaucks Appell wurde fortan bekannt als der Münchner Konsens, verriet aber wenig darüber, wie die Definition sicherheitspolitischer Prioritäten gelingt.1 Diese schwierige Aufgabe stellt sich aber unentrinnbar in einer Welt des globalen Wettbewerbs von Nationen(verbänden) um politischen, wirtschaftlichen und militärischen Machtzuwachs mit dem Ziel des Erhalts oder Neugewinns globaler Vormacht. Wie kann nun eine Definition entworfen werden? Zuletzt haben 144 Autoren versucht, „Deutschlands neue Verantwortung“ auf 432 Seiten herauszuarbeiten.2 Prioritäten wurden in ihrem Kompendium allerdings weder klar hergeleitet noch abgegrenzt. Der Begriff des Strategischen Genau dies aber wird hier versucht. Ein Einstieg gelingt durch die folgende Frage an Gauck: Verantwortung als Handeln zum Wohle von und Schutz gegen was? Daraus lassen sich zwei Komponenten des Begriffs des Strategischen ableiten: die Identifikation des höchsten Schutzgutes und dessen größtmöglicher Bedrohungsquelle; und zusätzlich zu worst-case Szenarien, die Denktechnik der Antizipation.

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Terhalle, Maximilian/Giegerich, Bastian: The Munich Consensus and the Purpose of German Power, in: Survival 58:2 (2016), 156. 2 Ischinger, Wolfgang/Messner, Dirk (Hgg.): Deutschlands neue Verantwortung. Berlin 2017.

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Zur ersten Komponente: Deutschland ist heute ein Kernpfeiler der internationalen liberalen Ordnung. Durch den westlichen Verband ist seine staatliche Existenz begründet und gesichert. Sein vitales Interesse, im Extremfall verkörpert im Willen zum Kampf hierfür, liegt demnach im Erhalt dieser westlichen Ordnung, nicht einer nicht-westlichen Ordnung. Daraus leitet sich die erste strategische Priorisierung auf das Überleben des Staates ab (im Gegensatz zu nicht unmittelbaren Bedrohungen der eigenen Existenz). Die Bedrohung vitaler sicherheitspolitischer und wirtschaftlicher Grundlagen unserer Existenz als Teil des westlichen Nationenverbandes (G7, EU, NATO) kann nur von nicht-westlichen Großmächten ausgehen. Diese allein haben (im Gegensatz zum islamistischen Terror) das Gewicht, die westliche Ordnung stark bis nachhaltig zu stören. Die zweite strategische Priorisierung liegt damit auf der Entgegnung auf die Sicherheitspolitik von Großmächten. Häufig übersehen schließt dies auch das Ausspielen politischer Gegensätze zwischen diesen Mächten ein. Zur zweiten Komponente: Klassiker wie Clausewitz, Morgenthau und andere haben sich eingehend mit der Denktechnik der Antizipation beschäftigt.3 Seitdem Bismarck das Mantra von der Politik als ,Kunst des Möglichen‘ einführte, ist es simplifiziert und missverstanden worden. Hermann Oncken hat dessen eigentliche Bedeutung für Politiker treffend formuliert: Diese/r müsse nicht nur „die Realitäten, die ihn umgeben und mit denen er zu rechnen hat, nüchtern einschätzen [und] gegen Phantasien und Vorurteile immun sein“; dieser „sachliche Wirklichkeitssinn“ müsse vielmehr ergänzt werden „durch die noch schwerer erlernbare Fähigkeit …, das noch nicht Wirkliche rechtzeitig zu erkennen“; ja sie müssten „das Witterungsvermögen auch für das Keimende, den Instinkt für die unsichtbaren und unwägbaren Dinge haben.“ Erst hierdurch gelänge es Politikern, die ja „auf der Brücke zwischen dem Gegenwärtigen und dem Zukünftigen“ stünden, „viele Dinge zusammensehen [zu] können [und] in ihren Beziehungen und wesentlichen Wertungen“ zu erkennen und „dieses Viele in einer lebendigen Einheit zu verschmelzen“.4 Deutschland denkt aber nicht strategisch – und handelt deshalb meist reaktiv. Eine ganze Kette von Einsätzen hat sich so ergeben, ohne dass strategische Prioritäten im obigen Sinne berührt gewesen wären. Ohne Bemessung strategischer Relevanz ging die Bundeswehr nach Afghanistan (und ist noch immer dort), aber nicht in den Irak, mühte sich, den ohnehin minimalen Libyen-Einsatz herunterzuspielen, aber dafür mit 1.000 Mann den größten Bundeswehr-Einsatz seit Langem in Mali durchzuführen. Die ca. 300.000 Toten in Syrien spiegeln die Inkohärenz dieses reaktiven Ansatzes zynisch wider. Nüchtern betrachtet haben diese Interventionen im Ergebnis zu einer kaum verantwortbaren Aushöhlung der strategischen Ausrichtung und Kapa3 Paret, Peter: Makers of Modern Strategy. Princeton 1986; Freedman, Lawrence: Strategy. Oxford 2013; Heuser, Beatrice: The Evolution of Strategy. Cambridge 2010; Gray, Colin: Strategy & Defence Planning. Oxford 2014. 4 Oncken, Hermann: Nation und Geschichte. Berlin 1935, S. 365 – 6. Gray, Strategy, S. 79 – 106.

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zitäten Deutschlands in den letzten 20 Jahren geführt. Den islamistischen Terror, das eigentliche Zielobjekt, haben sie dabei nicht entscheidend geschwächt. Das Fehlen strategischer Prioritäten: Konsequenzen Der Blick auf die Großmächte, die tatsächlich genügend erhebliches Potential haben, um das oberste Schutzgut, die liberale Weltordnung, als Grundlage von Wohlstand und Sicherheit zu erschüttern, zeigt hingegen, dass der Mangel an Strategie nicht durchzuhalten ist. Ob Chinas Aufstieg friedlich bleiben wird, wissen wir nicht. Aber aus der Geschichte (besonders aus unserer eigenen) sollten wir wissen, dass der Aufstieg von Großmächten oder dessen Verhinderung nur selten friedlich verläuft.5 Bis heute hat die Bundesregierung aber keine (militärisch untermauerte) Strategie, wie sie im Verein mit anderen der unübersehbaren Politik Pekings begegnen könnte, die Freiheit der Meere in Ostasien neu zu definieren. Amerika wird dies nicht hinnehmen. Da keine der beiden Parteien auch nur im Geringsten signalisiert, dass es Kompromissmöglichkeiten gibt, ist hier ein (bestenfalls begrenzter) Konflikt antizipierbar. Dass vitale deutsche Wirtschaftsinteressen aufgrund des Handels mit (Südost-/ Ost-)Asien betroffen sind (ca. 30 % bei Einrechnung globaler Versorgungsketten), ist signifikant, aber als Frage unbeantwortet. Der Dilletantismus, mit dem der Verkauf einer U-Bootflotte an den Partner Australien unternommen wurde, kann deshalb nur durch den als europäisch zu kaschierenden Zuschlag an Frankreich abgemildert betrachtet werden. Hochrangige deutsche Militärs konnten hinter dem Angebot ohnehin keine strategische Absicht erkennen. Noch deutlicher wird die Vernachlässigung des Begriffs des Strategischen beim Blick auf jene revisionistische Großmacht, die seit Jahren noch offensichtlicher deutsche vitale Interessen bedroht: Russland. Am einfachsten lässt sich dies an der zwischen November 2016 und April 2017 geführten Debatte um die mögliche Aufrüstung Deutschlands mit Nuklearwaffen veranschaulichen.6 Hatten vor allem die baltischen Staaten während der Krim-Krise schon explizit „deutsche Panzer“ (-Bataillone) gefordert, war es im Februar 2017 Polen, das sich mit der Idee eines europäischen Nuklearwaffenarsenals unter deutscher Führung sichtlich unerschro-

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Allison, Graham: Destined for War: Can America and China Escape Thucydides’s Trap? New York 2017. 6 Terhalle, Maximilian (23. 1. 2017): Deutschland braucht Atomwaffen, https://causa.tages spiegel.de/politik/europa-und-die-weltweiten-krisen/deutschland-braucht-atomwaffen.html; (3. 4. 2017): If Germany Goes Nuclear, Blame Trump Before Putin http://foreignpolicy.com/2017/04/ 03/if-germany-goes-nuclear-blame-trump/; The Economist (2. 3. 2017): Eine deutsche Atombombe – Germans are debating getting their own nuclear weapon, S. 27; Kohler, Berthold (27. 11. 2017): Das ganz und gar Undenkbare, http://www.faz.net/aktuell/politik/trumps-praesi dentschaft/nach-donald-trump-sieg-deutschland-muss-aussenpolitik-aendern-14547858.html.

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cken anfreunden konnte.7 Mit ganz wenigen, wenn auch renommierten, medialen Ausnahmen wurde der Vorschlag regierungsamtlich und in der Presse in Bausch und Bogen verworfen. An dieser Ablehnung waren zwei Aspekte aus strategischer Sicht bemerkenswert. Beide untermauern den Wert von Onckens Definition von Realität. Erstens: Der Nuklear-Vorschlag wurde trotz gut messbarer russischer Aufrüstung und Drohung mit Nuklearwaffen (u.a vom nahen Königsberg aus) als „Phantom-Debatte“ gegeisselt. Damit wurde ein Kernmerkmal strategischen Denkens, antizipierendes Denken in Wahrscheinlichkeitsoptionen als Hilfestellung für die Entwicklung von Abschreckungsdiplomatie, kurzum negiert. Und dies trotz der wiederholten Äußerung der USA, des ultimativen Schutzgaranten deutscher Sicherheit, das zentrale Mittel hierfür, die NATO, als obsolet zu betrachten.8 Der militärische Selbstschutz, also das vitale Interesse par excellence, stand zu diesem Zeitpunkt zur Disposition – aber selbst Veteranen deutscher Sicherheitspolitik offenbarten sich hier als bedenklich unstrategisch.9 Gewiss, Deutschlands Wirtschaftssanktionen setzen Russland zu und wären mit der multilateralen Verdrängung aus dem SWIFT-Abkommen weiter zu verschärfen. Aber sie funktionieren nur solange, wie Amerika sie militärisch stützt, nicht zuletzt nuklear. Fällt dieser Schutz und kreiert ein „strategisches Vakuum“, so die unbeantwortet gebliebene Frage, kollabiert die Politik der Bundesregierung, „starken Männern“ wie Putin stets auf einer nicht-militärischen Ebene zu begegnen und sie damit ins Leere laufen zu lassen. Diese Erkenntnis stand hinter der Forderung nach Atomwaffen. – Es wäre naiv, anzunehmen, Putins Revisionismus bliebe nicht aktiv. Zweitens: Die Relevanz des anderen Teils von Onckens Definition des „Wirklichkeitssinns“ wurde noch deutlicher erkennbar. Die meisten Kommentatoren übersahen in ihrer Kritik am Nuklearvorstoss, was sie spätestens seit Gauck hätten wissen können: Seine Nachbarn vertrauen Deutschland und teilen seine Perzeption der Sicherheit in Osteuropa vis-a-vis Russland. Deshalb wollen diese Staaten mehr deutsche Verantwortung im Sinne von mehr selbstbewusster Führung für Europa, selbst in Nuklearfragen. Offensichtlicher hätte dies jüngst am Beispiel Polens nicht zu Tage treten können. Allein, wesentliche Teile der deutschen Sicherheitselite verkannten (und verkennen) diesen Bewusstseinswandel in Europa und fielen (und fallen) damit zurück in die Zeit vor der Gauck’schen Rede von 2014. Im entscheidenden Au-

7 n-tv: Nukleare Supermacht Europa (7. 2. 2017)? http://www.n-tv.de/politik/Kaczynskisetzt-auf-die-Kanzlerin-article19690908.html. 8 Zuletzt hat der US-Praesident seine Position hierzu revidiert: The White House (12. April 2017): Joint Press Conference of President Trump and NATO Secretary General Stoltenberg, https://www.whitehouse.gov/the-press-office/2017/04/12/joint-press-conference-presidenttrump-and-nato-secretary-general. 9 Ruehle, Hans/Ruehle, Michael (23. 3. 2017): German Nukes. The Phantom Menace. http://www.nipp.org/2017/03/21/ruhle-hans-and-michael-ruhle-german-nukes-the-phantommenace/.

Strategische Prioritäten

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genblick, so scheint es, war die „Angst vor der Macht“ zurückgekehrt – und hat Onckens „Wirklichkeitssinn“ betäubt.10 Der Fairness halber muss gesagt werden, dass die deutsche Sicherheitspolitik seit geraumer Zeit konventionell neu denkt und plant. Während China unverständlicherweise keine Rolle in den Planungen spielt (obgleich ein Konflikt in Ostasien sehr wahrscheinlich ist), reagiert die Sicherheitspolitik auf Russlands Verhalten mit der Rückkehr zur Heimat- und Bündnisverteidigung. Während dies begrüßenswert ist, sticht erneut der reaktive Charakter der Entscheidung hervor. Daneben sollen Interventionen (wie in den letzten 20 Jahren) „gleichrangig“ fortgeführt werden.11 Kurzum: Es ist weiterhin keine Priorisierung vitaler Interessen erkennbar.12 Stattdessen wird ein Offiziers- (und Diplomaten)korps den Kampf zum Erhalt des Staatswesens neu erlernen müssen, das im Wesentlichen durch die Kriseneinsätze in Afrika und im Fernen Osten sozialisiert worden ist. Hieran zeigt sich am deutlichsten, welches gefährliche Vermächtnis die strategische Nicht-Priorisierung der letzten zwei Jahrzehnte hinterlassen hat. Ob diese „Rückkehr“ lähmend die Aneignung alter Doktrinen bedeutet oder eine agile Anpassung und Fortentwicklung von Gerät und Konzepten mit sich bringen wird, bleibt abzuwarten. Dass ein deutscher General in der einen Verwendung Piraten bekämpft, um in der nächsten Panzerverbände im Winterkampf zu führen, ist dabei schwerlich vorstellbar. Eine strategische Agenda Wie überall auf dem Globus wird auch die in Deutschland nachwachsende, strategisch denkende Generation das tun, was Henry Kissinger kürzlich so resümierte: „[Every] generation … will, as did their predecessors, distill their experiences into a view of the world and a vision of national greatness.“13 Ausgehend vom Begriff des Strategischen wird sie zunächst drei konkrete Forderungen stellen: Im Verbund mit Polen und Balten muss Deutschland das Israel seit langem zur Verfügung gestellte Know-how für atomar aufrüstbare U-Boote nun auch zum Eigenschutz nutzen. Solche nuklear bestückten Boote sollten zur Abschreckung in der Ostsee operieren. Mit Frankreich und Großbritannien muss überdies der nukleare Schutz Europas neu konzeptualisiert werden. Deutschlands Beitrag muss dabei auf eigene Fähigkeiten gerichtet sein. Während die Rückkehr zur Landes- und Bündnisverteidigung gegenwärtig ohne die Wiedereinführung der Wehrpflicht geplant wird, sollte sich Deutschland 10

Schoellgen, Gregor: Angst vor der Macht. Berlin 1997. Leithaeuser, Johannes/Seliger, Marco: Bis zu den Sternen, FAZ 19. 4. 2017, S. 5. 12 Siehe aber: Terhalle, Maximilian/Giegerich, Bastian, Strategische Sicherheitspolitik. Die Gefahr der Gewalt zwischen Großmächten. FAZ 25. 4. 2016, http://www.faz.net/aktuell/po litik/inland/strategische-sicherheitspolitik-die-gefahr-der-gewalt-zwischen-grossmaechten14192934.html; von Bredow, Wilfried, Eine Bundeswehr für alle Fälle? Von der Schwierigkeit, sicherheitspolitische Prioritäten zu setzen in: Zeitschrift für Staats- und Europawissenschaften 14:4 (2016), S. 519 – 544. 13 On China. New York 2011, S. 512. 11

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diese Option bei Bedarf in der Zukunft offenhalten. Hinsichtlich des Aufstiegs Chinas muss Köhlers seinerzeitige (Rücktritts-)Bemerkung mit Blick auf die Absicherung internationaler Handelswege sicherheitspolitisch neu durchdacht werden. Und schließlich: Deutschland benötigt ein internationales Strategie-Kolleg. Im Sinne Onckens muss es darum gehen, dass zukünftige Sicherheitspolitiker nicht nur handwerklich präzise arbeiten, sondern intellektuell besonders darin unterrichtet werden, „das noch nicht Wirkliche rechtzeitig zu erkennen“. Ausgehend von den oben genannten Prämissen zur Strategiebildung bedarf es dafür einer fein kalibrierten Schulung, um substantiiert das Erkennen der Reichweite größerer Zusammenhänge zu ermöglichen und flexibel den immer offenen Ausgang politischer Entwicklungen als variable Modelle möglicher Handlungsströme zu analysieren. Strategische Denker wie Thukydides, Scharnhorst, Bismarck, Aron, Kissinger, Freedmann, Petraeus und Gray dienen hier als Vorbilder. Das vertiefte Erlernen strategischen Denkens, allzu lange in Deutschland vergessen, verhindert und trivialisiert, muss hier im Mittelpunkt stehen.14

Prof. Maximilian Terhalle ist Tenured Associate Professor of International Politics an der Universität Winchester (UK), Senior Research Fellow an der Universität Cambridge und Privatdozent an der Universität Potsdam. Er hat in wissenschaftlichen Journalen u. a. Security Studies, International Studies Review, Zeitschrift für Internationale Beziehungen veröffentlicht ebenso wie in Survival, Foreign Policy, der FAZ, NZZ, dem Tagesspiegel und der Welt. Sein letztes Buch analysierte „The Transition of Global Order“ (Palgrave 2015).

14 In den USA, Großbritannien, Frankreich, Russland, Indien oder China ist das Studium strategischen Denkens gang und gäbe. – In Deutschland sollte sich das Internationale Strategische Kolleg mit Denkern wie Thukydides, Sun-Tzu, Scharnhorst, Bismarck, Aron, Kissinger, Freedman, Heuser und Gray auseinandersetzen.

Graue Nashörner und schwarze Schwäne: Sicherheitspolitische Herausforderungen jenseits der aktuellen Debatte Von Benedikt Franke Das vorliegende Kapitel widmet sich den sicherheitspolitischen Herausforderungen, die gerade nicht im Zentrum der aktuellen Debatten stehen und damit die Gefahr bergen, unterschätzt zu werden. Es ordnet die möglichen Szenarien dabei in zwei Kategorien, nämlich in Herausforderungen, die gänzlich unvorhergesehen auftreten (die sog. schwarzen Schwäne) und solche, die zwar bekannt sind, aber trotzdem nicht ernstgenommen werden – bis es zu spät ist (die sog. grauen Nashörner). Im Anschluss empfiehlt es die Stärkung systemischer Flexibilität sowie bestehender Krisenfrüherkennungskapazitäten, um die Reaktionsfähigkeit der Bundesregierung zu steigern. Die sicherheitspolitische Debatte ist breit – aber nicht breit genug! Viele der sicherheitspolitischen Herausforderungen der nächsten Jahre sind bekannt. Trotz zweifellos gestiegener Volatilität wissen wir doch, dass uns der religiöse Fundamentalismus, der weltweit wachsende Populismus und Autoritarismus und die vielen Krisen, die bereits in diesem Buch erwähnt wurden, auch in der überschaubaren Zukunft weiter beschäftigen werden. Wir wissen auch, dass weder die Konflikte in und um die Ukraine, Afghanistan, Libyen oder Syrien noch die Auseinandersetzungen zwischen dem Iran und Saudi-Arabien, zwischen Israel und Palästina oder zwischen China und den Anrainern des südchinesischen Meers bald gelöst sein werden. Wir können uns auch sicher sein, dass unsere digitale Infrastruktur und unsere freiheitliche demokratische Grundordnung weiter von innen und außen angegriffen werden, dass das wachsende soziale Ungleichgewicht in vielen Schwellenländern immer größere Spannungen mit sich bringen wird und dass die Migrationsströme weiter Richtung Norden zeigen werden. Auf dieser Basis schmieden wir unsere Allianzen, reformieren unsere Streitkräfte und Sicherheitsbehörden und passen unsere Politik und Strukturen an.1

1 Für eine Übersicht ausgewählter sicherheitspolitischer Herausforderungen siehe auch Stiftung Münchner Sicherheitskonferenz: Munich Security Report 2017, München 2017.

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Die Geschichte lehrt uns aber – jedes Mal wieder schmerzhaft aufs Neue – dass es gerade die unvorhergesehenen, die (zu) lange ignorierten und die von anderen Krisen überlagerten Entwicklungen sind, die uns oft vor die größten Herausforderungen stellen. Ob der arabische Frühling oder der Terror des 11. September 2001, der kometenhafte Aufstieg des Islamischen Staates, die Flüchtlingskrise oder die russische Annexion der Krim – all diese Entwicklungen trafen uns mehr oder weniger plötzlich und, in den meisten Fällen, unvorbereitet. Das ist Grund genug, sich regelmäßig mit der Frage zu beschäftigen, wie wir uns besser aufstellen können.

Schwarze Schwäne: Höchst unwahrscheinliche Ereignisse, die dennoch eintreten Die Redewendung „schwarzer Schwan“ geht auf den römischen Satiriker Juvenal zurück. Über Jahrhunderte galt sie als Metapher für das Unmögliche, da jeder bis dahin gesehene Schwan weiß war. Seit der Entdeckung (echter) schwarzer Schwäne im australischen Dschungel 1697 ist die Metapher jedoch zum klassischen Beispiel einer deduktiven Falsifizierung, das heißt einer nie auszuschließenden Wiederlegung gängiger Theorien durch höchst unwahrscheinliche Ereignisse, geworden.2 Nassim Nicholas Taleb beschreibt das Phänomen des schwarzen Schwans in seinem gleichnamigen Buch als ein Ereignis, auf das drei Dinge zutreffen: Erstens kommt es völlig unerwartet, weil nichts in der Vergangenheit darauf hingewiesen hat. Zweitens hat es enorme Auswirkungen, weil sich niemand darauf vorbereitet hat, und drittens lassen sich im Nachhinein Erklärungen für das Ereignis konstruieren, die es retrospektiv vorhersehbar machen.3 Es fällt nicht schwer, viele der derzeitigen Krisen im Rückblick als schwarze Schwäne zu definieren. Neben der Entscheidung der Briten für den Austritt aus der Europäischen Union oder dem Wahlsieg Donald Trumps gehört sicherlich auch die rapide Regression der Türkei in diese Kategorie. Es ist, per Definition, schwer, wenn nicht gar unmöglich, zukünftige schwarze Schwäne vorherzusagen. Zu den häufigsten Prognosen gehören Terroranschläge mit hohen Todeszahlen, prominenten Opfern oder besonderer Symbolkraft, der Ausfall kritischer Infrastruktur wie des Internets oder signifikante Fortschritte in Schlüsseltechnologien wie künstlicher Intelligenz oder autonomer Kriegsführung. Deutlich seltener werden konkrete Szenarien genannt, wie z. B. die Blockade des Suezkanals mit massiven Folgen für den Welthandel,4 das abrupte Ende der al-Saud Monarchie mit enormen Auswirkungen auf die weltweiten Energiepreise, ein nuklearer Erstschlag Nordkoreas oder die Eskalation der Auseinandersetzung mit der russischen 2

Siehe auch Popper, Karl: Logik der Forschung, Berlin 1935. Taleb, Nassim Nicholas: Der schwarze Schwan: Die Macht höchst unwahrscheinlicher Ereignisse, München 2007. 4 Siehe Babst, Stefanie: Auf der Suche nach schwarzen Schwänen, in: Internationaler Politik 2, März/April 2014, S. 88 – 91. 3

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Föderation.5 Auch Naturkatastrophen von der disruptiven politischen Qualität eines Fukushimas oder der plötzliche Tod eines zentralen politischen Akteurs werden immer wieder als mögliche Szenarien genannt. Allen Szenarien ist dabei die disruptive Qualität und fundamentale Unberechenbarkeit der Folgen zu Eigen. Auch wenn unerwartete Wendungen und Ereignisse seit jeher fester Bestandteil der Geschichte sind, so gibt der aktuelle (desolate) Zustand der liberalen internationalen Ordnung doch Grund zu besonderer Sorge. Die Abwesenheit klarer Ordnungsmächte, die enge systemische Interdependenz und die globale Erosion liberaler Werte bedeuten, dass die Effekte der schwarzen Schwäne von morgen potential schwerer zu handhaben sind als die jener von gestern. Die Simultanität der heutigen Krisen gepaart mit diffuser Multipolarität und der Schwächung von NATO, EU und den Vereinten Nationen hat Willen und Fähigkeit, gemeinsam auf neue Bedrohungen zu reagieren, substantiell reduziert. Darüber hinaus hat die gestiegene systemische Unsicherheit die Risiken des eigenen Handelns unwägbarer gemacht und damit die Entscheidungsfindung weiter verkompliziert und die Reaktionszeit in die Länge gezogen. Die zögerliche Reaktion des Westens auf die Gräueltaten in Syrien oder die Ambivalenz gegenüber Russland und China sind Beispiele für diese neue Macht- und Hilflosigkeit.

Graue Nashörner: Latente Risiken, die ignoriert werden, bis es zu spät ist Ein graues Nashorn ist eine Herausforderung, die wir von weitem sehen, deren Gefahr wir kennen und die wir trotzdem ignorieren – bis es zu spät ist. Graue Nashörner gehen stets mit einer Reihe an Warnsignalen und sichtbaren Beweisen für ihre Existenz einher.6 Sie sind unterschiedlich schnell, können die Richtung wechseln und grasen gelegentlich sogar friedlich vor sich hin. Gefährlich sind sie trotzdem alle! Die meisten der heutigen sicherheitspolitischen Herausforderungen sind genau solche grauen Nashörner. Ob der Syrienkonflikt oder die Flüchtlingskrise, ob die zunehmenden Bedrohungen aus dem Cyberspace oder Nordkoreas Spiel mit dem Feuer, die Liste ist lang. Wir haben diese Probleme alle kommen sehen. Zu jedem gibt es unzählige Studien und Analysen und alle waren jahrelang Teil des sicherheitspolitischen Diskurses. Trotzdem haben wir erst verhältnismäßig spät, oft viel zu spät, reagiert. Das ist leider nichts Neues. Unsere Geschichte ist gespickt mit unzähligen Beispielen solcher grauen Nashörner, von der schlafwandlerischen Sicherheit, mit der die großen europäischen Mächte in den ersten Weltkrieg torkelten, bis hin zur globalen Finanzkrise von 2008.7 5

Shirreff, Richard: War with Russia, London 2016. Für weitere Details zur Definition von grauen Nashörnern siehe auch Wucker, Michele: The Gray Rhino: How to recognize and act on the obvious dangers we ignore, New York 2016. 7 Clark, Christopher: Die Schlafwandler: Wie Europa in den ersten Weltkrieg zog, München 2015. 6

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Die Liste potentieller grauer Nashörner ist beinahe genauso lang wie die der vergangenen. Zu den latenten Bedrohungen, die immer wieder genannt werden, gehören die explosive Mischung aus demographischem Wandel, wachsender Jugendarbeitslosigkeit und Staatsohnmacht in großen Teilen Afrikas, die Auswirkungen des Klimawandels, die zunehmende Knappheit wichtiger Ressourcen, die Proliferation von Massenvernichtungswaffen, Pandemien wie Ebola oder der Staatszerfall in Schlüsselländern wie Ägypten, Algerien oder der Türkei. Auch wenn es hier und da Pläne und sogar vereinzelt sinnvolle Gegenmaßnahmen gibt, so sind wir doch nicht wirklich auf die jeweiligen worst-case-Szenarien vorbereitet. Wie können wir uns besser auf unbekannte und unterschätzte Risiken vorbereiten? Die Welt wird auf absehbare Zeit nicht weniger unberechenbar werden.8 Um die Bundesrepublik besser auf Überraschungen und Schocks vorbereiten zu können, ist ein Dreiklang nötig: die Stärkung der Früherkennungskapazitäten, die Steigerung systemischer Flexibilität sowie die Erhöhung strategischer Reserven. Das neue Weißbuch der Bundeswehr und die ebenfalls im vergangenen Jahr verabschiedete Konzeption ziviler Verteidigung der Bundesregierung haben hier bereits wichtige Weichen gestellt.9 Trotzdem bleibt noch Einiges zu tun. Insbesondere die Stärkung einer ressortübergreifenden Risiko- und Bedrohungsanalysefähigkeit sollte von der nächsten Bundesregierung offensiv vorangetrieben werden. Ein Model könnte das 2012 gegründete Comprehensive Crisis and Operations Management Center der NATO sein, in dem mittlerweile über 100 Analysten an potentiellen Krisen- und Operationsszenarien arbeiten. Es geht aber nicht nur um das Erkennen und Einordnen von Herausforderungen, sondern vor allem um die Reaktion darauf. Hier steht neben dem tatsächlichen politischen Willen vor allem die systemische Flexibilität unseres Regierungsapparats und seiner Behörden im Vordergrund. Ohne die Möglichkeit, Kompetenzen und Arbeitsschwerpunkte unbürokratisch verlagern zu können, ist eine schnelle Reaktion auf eine unerwartete Krise kaum möglich. Zu guter Letzt gilt es die Debatte sicherheitspolitischer Herausforderungen regelmäßig neu zu bewerten und gegebenenfalls zu erweitern. Wir müssen das Bewusstsein von Entscheidungsträgern und Bevölkerung für das unbekannte, unterschätzte und ignorierte Risiko weiter schärfen und Verständnis dafür schaffen, dass man selbst im Angesicht scheinbar dringenderer aktueller Krisen nach schwarzen Schwänen und grauen Nashörnern Ausschau hält. Die Münchner Sicherheitskonferenz wird 8 Siehe auch Ramo, Joshua Cooper: Das Zeitalter des Undenkbaren: Warum unsere Weltordnung aus den Fugen gerät und wie wir damit umgehen können, New York 2010. 9 Bundesministerium der Verteidigung: Weißbuch zur Sicherheitspolitik und zur Bundeswehr, Berlin, 2016; Bundesministerium des Inneren / Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe: Konzeption Zivile Verteidigung, Berlin 2016.

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genau das auch in Zukunft machen und sich bei jeder ihrer Veranstaltungen mit der Frage beschäftigen, welche Herausforderungen gerade unterschätzt werden und was getan werden müsste, um ihnen zu begegnen. Stay tuned!

Dr. Benedikt Franke ist Chief Operating Officer der Münchner Sicherheitskonferenz und Bezirksvorsitzender des Außen- und Sicherheitspolitischen Arbeitskreises (ASP) der CSU. Er gibt an dieser Stelle ausschließlich seine persönliche Meinung wieder.

III. Weichenstellungen für die Sicherheit von morgen

Sicherheit und solide Staatsfinanzen – Zwei Seiten derselben Medaille Von Markus Söder Die Gewährleistung von Sicherheit und Stabilität ist fundamentale Kernaufgabe des Staates. Nur wenn der Staat vor Bedrohungen von außen und innen geschützt ist und sich die Bürger auch im alltäglichen Leben sicher fühlen, sind eine freie Gesellschaft, funktionierender Zusammenhalt und eine prosperierende Wirtschaft überhaupt denkbar. 1. Staatsaufgabe Sicherheit Fragen der inneren und äußeren Stabilität waren in den vergangenen Jahren in den westlichen Industrienationen zwar stets im Hintergrund präsent. In der Alltagswahrnehmung der Menschen wurde Sicherheit aber letztlich als etwas selbstverständlich Gewährleistetes angesehen. Die Krisenherde an den Rändern Europas und der ungeregelte massenhafte Flüchtlingszustrom nach Deutschland mit seinen vielfältigen Folgen haben das Sicherheitsgefühl der Menschen jedoch ganz neu in das Zentrum des öffentlichen Interesses gerückt. Bedrohungen wie der Terror auf europäischem Boden, Angstzonen im öffentlichen Raum oder die deutschlandweite, stark gestiegene Kriminalität bei Wohnungseinbrüchen rücken ins unmittelbare Umfeld und nehmen Einfluss auf unser alltägliches Leben. Um auf diese Herausforderungen zu reagieren, muss sich der Staat im Bereich der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, beim Rechtsschutz durch die Justiz und auch beim Ausbau der IT-Sicherheit deutlich verstärkt engagieren. Der Rechtsstaat kann nur so der neuen Bedrohung auch weiterhin seine Schlagkraft entgegensetzen. Dies erfordert erhebliche finanzielle Anstrengungen. Auf den ersten Blick führt dies zu einem Spannungsfeld zwischen Sicherheit und Staatsfinanzen, bei dem Sicherheit ausschließlich als unvermeidbarer Kostenfaktor begriffen wird. Eine solch einseitige Sichtweise greift jedoch zu kurz: Sicherheit ist kein naturgegebener Zustand, sondern ist gestaltbar und lässt sich erarbeiten. Die staatlichen Sicherheitsausgaben sind daher mehr als eine bloße Reaktion auf eine vorgefundene Herausforderung. Sie sind eine bewusste Schwerpunktsetzung, mit der sich konkrete Erfolge erzielen lassen. Von einer aktiven Stärkung des Standortfaktors innere Sicherheit profitieren Bürger und Unternehmen, was sich wiederum positiv auf die Staatseinnahmen auswirkt und einen höheren Gestaltungsspielraum beim Haushalt

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mit sich bringt. Der Freistaat Bayern ist hierbei wie kein zweites Land Vorbild und steht für diesen Zusammenhang. 2. Bayerische Investitionen in die Sicherheit Bayern unternimmt erhebliche finanzielle Anstrengungen auf dem Feld der inneren Sicherheit. Im Doppelhaushalt des Freistaates für die Jahre 2017 und 2018 sind rund 10,2 Mrd. E für die Bereiche Sicherheit und Rechtsschutz vorgesehen. Jeder zwölfte Euro bzw. fast 9 % des Staatshaushalts werden damit für die Sicherheit ausgegeben. Die bayerische Staatsregierung hat den Bereich bewusst immer weiter ausgebaut. Seit 2009 wurden 4.290 neue Polizei-Stellen und über 100 neue Stellen beim Verfassungsschutz geschaffen, alleine im aktuellen Doppelhaushalt 2017/18 zusätzliche 1.030 Stellen. Mit rund 42.370 Stellen wird 2018 der höchste Personalstand bei der bayerischen Polizei der Nachkriegsgeschichte erreicht sein. Der Freistaat verfügt bereits jetzt über die höchste Polizeidichte unter den großen westdeutschen Flächenländern. In Bayern kommt ein Polizeivollzugsbeamter auf 353 Einwohner, in Nordrhein-Westfalen hingegen auf 389 Einwohner. Die Polizeidichte in Bayern ist damit um rund 10 Prozent höher. Das Sachmittelbudget der Polizei erreicht im aktuellen Doppelhaushalt rund 800 Mio. E und liegt damit um rund 30 Prozent über den Ansätzen des Doppelhaushaltes für die Jahre 2015 und 2016. Zusammen mit Sondermitteln aus dem Nachtragshaushalt 2016 hat der Freistaat damit die größte Investitionsinitiative der letzten Jahrzehnte für die bayerische Polizei mit Schwerpunkt im Bereich technische Ausstattung und Ausrüstung mit modernster Sicherheitstechnik umgesetzt. Die Stärkung der Polizei ist aber nur ein Standbein der bayerischen Sicherheitsstrategie. Zudem ist es unerlässlich, in IT-Sicherheit und modernste Technik zu investieren, um Bürger und Wirtschaft nicht nur in der realen Welt, sondern auch im virtuellen Raum zu schützen. Bayern setzt in diesem Punkt als erstes Bundesland auf eine eigene IT-Sicherheitsbehörde. Die Bayerische Staatsregierung hat die Errichtung eines Landesamts für Sicherheit in der Informationstechnik (LSI) bis zum Jahr 2020 beschlossen. Von Nürnberg aus werden bis zu 200 IT-Sicherheitsexperten die bayerische IT-Infrastruktur umfassend schützen, Bürger und Kommunen aktiv beraten und Cyberangriffe abwehren. 3. Der Erfolg gibt Bayern Recht Diese Anstrengungen tragen Früchte. Der finanzielle Einsatz auf dem Feld der inneren Sicherheit zahlt sich konkret aus, was sich in der hervorragenden Sicherheitslage in Bayern widerspiegelt. In Bayern zu leben, heißt sicherer zu leben. Dies lässt sich sowohl anhand der allgemeinen statistischen Daten als auch an konkreten Einzelbeispielen zeigen:

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Nach den Zahlen der bundesweiten Kriminalitätsstatistik 2016 konnte der Freistaat seine Position als sicherstes Bundesland trotz des besonders herausfordernden Umfelds im letzten Jahr sogar noch ausbauen. Bayern hat die mit Abstand niedrigste Kriminalitätsbelastung und die bundesweit höchste Aufklärungsquote. Bayern hatte 2016 bereinigt um rein ausländerrechtliche Verstöße eine Kriminalitätsbelastung von 4.785 Straftaten pro 100.000 Einwohner. Der entsprechende bundesweite Durchschnitt lag mit 7.161 Straftaten pro 100.000 Einwohner um 50 Prozent höher. Die Aufklärungsquote betrug in Bayern 63,7 Prozent. Bundesweit lag sie bei lediglich 54,0 Prozent. Auch bei der Entwicklung der Einbruchskriminalität hat Bayern bundesweit die besten Eckwerte vorzuweisen. Das Einbruchsrisiko war in Bayern 2016 mit 58,2 Einbrüchen pro 100.000 Einwohner wie in den Vorjahren deutschlandweit gesehen am niedrigsten. Bundesweit ist das Einbruchsrisiko mehr als dreimal so hoch. Auch das Beispiel des gelungenen und reibungslosen G7-Gipfels im Jahr 2015 beweist den Erfolg der bayerischen Strategie, durch Stärkung der Sicherheitskräfte und gezielte Prävention Sicherheit zu schaffen. Der G7-Gipfel 2015 auf Schloss Elmau konnte als einer der sichersten vergleichbaren Veranstaltungen in den vergangenen Jahrzehnten durchgeführt werden. Die Herausforderungen an die Absicherung waren beachtlich, wobei wegen der Landeszuständigkeit für Sicherheit und Gefahrenabwehr die Hauptlast beim Freistaat Bayern lag. Nach Schätzungen der Polizei haben insgesamt über 45.000 Bürgerinnen und Bürger an den fast 50 Veranstaltungen und Versammlungen um den G7-Gipfel herum im Raum München und im Werdenfelser Land teilgenommen. Dies hat den größten Einsatz der bayerischen Polizeigeschichte erfordert, bei dem alleine in der Umgebung des Veranstaltungsortes rund 18.000 Polizisten und 1.950 Einsatzkräfte von Feuerwehren, Rettungsdiensten und THW tätig waren. Bei potentiellen Gewalttätern hat die deutliche Präsenz der Sicherheitskräfte ihre Wirkung voll entfaltet, sodass es – anders als beispielsweise bei den entsprechenden Veranstaltungen in Heiligendamm oder etwa bei der Eröffnung der EZB-Zentrale in Frankfurt – kaum zu Vorfällen gekommen ist. 4. Sicherheitsausgaben sind Zukunftsinvestitionen Sicherheit ist nicht zuletzt auch Standortfaktor. Ein starker Staat, der seinen Einwohnern Sicherheit bieten kann, trägt immer auch zum gesamtwirtschaftlichen Erfolg des Landes bei. Nur wenn der Staat dieser Garantenstellung nachkommt, sind Bürgerinnen und Bürger zum Konsum und Unternehmen zu Investitionen bereit. Bei der Standortentscheidung von Unternehmen spielt Sicherheit eine unmittelbar entscheidende Rolle. Dies gilt zum einen für die Verlässlichkeit der Investition selbst, vor allem aber auch hinsichtlich der Gewinnung und Bindung von qualifizierten Fachkräften. Ein Standort, der auch als Wohnort mit einem Klima des Vertrauens und der Sicherheit punkten kann, verschafft einen klaren Wettbewerbsvorteil.

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Noch deutlicher wird dies bei der IT-Sicherheit. Daten sind in vielen Wirtschaftsbereichen bereits jetzt der entscheidende Rohstoff. Nur wenn Unternehmen auf die Sicherung ihrer Daten hierzulande vertrauen können, werden sie sich zu einer Investition entscheiden. Sicherheitsausgaben tragen somit zu einem investitions- und wirtschaftsfreundlichen Klima bei. Dies sichert die Steuereinnahmen der Zukunft und erhöht wiederum die Gestaltungsspielräume im Staatshaushalt. Sicherheit und Staatsfinanzen bilden daher kein Spannungsfeld, sondern greifen ineinander und bedingen sich gegenseitig. Sicherheitsausgaben sind im besten Sinne Investitionsausgaben. Der Staat erfüllt nicht nur die Kernerwartung seiner Bürger, sondern trägt zu wirtschaftlichem Wachstum und Wohlstand von morgen bei.

Dr. Markus Söder ist Mitglied des Bayerischen Landtags und Bayerischer Staatsminister der Finanzen, für Landesentwicklung und Heimat.

Generationenverantwortung im Weißbuch 2016 Von Géza Andreas von Geyr Unsere Welt ist eine Welt voller sicherheitspolitischer Herausforderungen. Als offene Gesellschaft, der Menschenwürde, dem Frieden und der Freiheit verpflichtete Nation und global vernetzte Volkswirtschaft betreffen uns Terror, Unfreiheit, Krisen und Konflikte, zumal in unserer unmittelbaren Nachbarschaft, direkt. Altbekannten und neuen Herausforderungen an unsere Werte und unsere Sicherheit müssen wir langfristig wirkungsvoll begegnen können. Deutschlands politisches und wirtschaftliches Gewicht verpflichtet uns dabei – immer gemeinsam mit europäischen und transatlantischen Partnern – Verantwortung für unsere und Europas Sicherheit sowie die Stabilität unserer nahen und weiteren Nachbarschaft zu übernehmen und dafür in fairer Lastenteilung die notwendigen Instrumente bereitzuhalten. Deutschland ist strategisch gut aufgestellt und stellt seine Sicherheitspolitik in eine Zukunftsperspektive für nachfolgende Generationen, die Tiefenschärfe und Weitblick verbindet. Im Zentrum wird die Bereitschaft zu beidem stehen müssen: Freiheit zu verteidigen und Wohlstand zu teilen. * Hannah Arendt meinte bezüglich der Orientierung für alles politische Handeln: „Der Sinn von Politik ist Freiheit“. Diese ebenso einfache wie anspruchvolle Maxime setzte sie den furchtbaren Erfahrungen der Diktaturen des vergangenen Jahrhunderts entgegen. Diese Losung überwand 1989 die schmerzvolle Teilung unseres Landes und Kontinents und dies bleibt auch Richtschnur einer Sicherheitspolitik für zukünftige Generationen, wie sie das „Weißbuch 2016 zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr“ beschreibt. Prüfstein dieser Generationenverantwortung, also des Nachdenkens darüber, „wieso“ „was“ und „wie“ langfristig zu sichern und zu schützen sei, ist, dass unser Handeln jederzeit aus dem Interesse optimaler Sicherheit für die Menschen in unserem Land erklärbar sein muss – und unser Nicht-Handeln ebenso. Was es zu schützen gilt Das heute bei uns erreichte Maß an individuellen Freiheiten, Entfaltungsmöglichkeiten und wirtschaftlicher Prosperität zeigt den Erfolg einer Gesellschaft, die für

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Offenheit steht, für Toleranz, politischen Wettbewerb, für die ständige mühsame Suche nach Ausgleich und Kompromiss und für das kontrollierte Teilen von Macht. So ist für beides Raum: für Einheit und für Vielfalt, die zusammen unser Land ebenso wie Europa prägen, seinen Charakter und größten Reichtum ausmachen. So ist es auch das europäische Miteinander, das mindestens ebenso wie für Binnenmarkt und Währungsunion für einen gemeinsamen Kulturraum steht. In diesem haben wir vor allem mit einem aufrichtigen Blick in den Spiegel der guten und auch schwierigen Seiten der Geschichte Hass und Krieg überwunden, und so stellt Europa bei allem Tun heute eines mit aller Konsequenz und kompromisslos in den Mittelpunkt: die unantastbare Menschenwürde. Zu verdanken ist dies zu weiten Teilen auch dem beharrlichen Engagement der Vereinigten Staaten von Amerika nach dem Abgrund zweier Weltkriege für einen endlich funktionierenden Frieden in Europa. Und auch heute bleibt dies die Sehnsucht so Vieler, auch in unserer Nähe, sei es in den Folterkammern von Diktatoren, in überfüllten Flüchtlingsbooten, auf den zerbombten Straßen Aleppos, unter den Millionen vermeidbar Hungernden am Horn von Afrika oder an der innerukrainischen Frontlinie. Im Kern sind es also Freiheit, Menschenwürde, Demokratie, Offenheit und Wohlstand, die es für unsere künftigen Generationen zu bewahren gilt – und ebenso kostbar ist der Zusammenhalt derer, die für diese Werte gemeinsam einstehen. Der ehrliche Blick nach vorne zeigt uns freilich, dass dies in unserer globalisierten Zukunft nur gelingen wird, wenn wir bereit sind zu beidem: Freiheit zu verteidigen und Wohlstand zu teilen. In einer Welt in Unruhe Aktuell erleben wir, wie sich die Sicherheit auf unserem Kontinent, wie sich unsere Werte in einer Welt in Unruhe neu behaupten müssen: Wir erfahren die Rückkehr von Konflikten, Kriegen und brutalstem Terror in unserer Nachbarschaft, unmittelbar an unseren Grenzen und sogar direkt in unsere Gesellschaften hinein. Und wir spüren Unsicherheit angesichts dessen, was man „Hybride Bedrohungen“ nennt: kaum erkennbar gesteuerte, subtile Einflussnahmen verschiedenster Art auf unterschiedliche Lebensbereiche, von der Manipulation von Nachrichten bis zum Auftauchen „kleiner grüner Männchen“1. So genügt es nicht mehr, den Bogen der Instabilität geografisch von der SahelZone über den Nahen und Mittleren Osten bis zum Hindukusch zu zeichnen, da er ebenso etwa den Cyber-, Informations- und Weltraum umfasst. 1 Hierzu u. a. Joffe, Josef: Der Krieg der kleinen grünen Männchen, in: ZEIT Online vom 17. April 2014.

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Diese Entwicklungen und Perspektiven wirken sich alle direkt oder indirekt auf unser Leben aus. Sie fordern ein weitsichtiges Verständnis des sicherheitspolitisch Notwendigen und ein Maß an Verantwortung, das die wesentlichen Realitäten akzeptiert: Dass die komplexen Herausforderungen eine immer engere Vernetzung von diplomatischem, entwicklungspolitischem, militärischem und auch nachrichtendienstlichem Denken und Handeln verlangen. Dass die früher strikten Grenzen von innerer und äußerer Sicherheit immer mehr verschwimmen, so dass nur gemeinsame Ansätze gesamtstaatliche Sicherheitsvorsorge voranbringen. Dass unsere Sicherheit immer intensiver von verlässlichen Partnerschaften abhängt, die auf Vertrauen beruhen und auf fairer Lastenteilung. Dass der Fokus deutscher Sicherheitspolitik global sein muss und damit auch für uns grundsätzlich keine weißen Flecken mehr auf der sicherheitspolitischen Landkarte existieren. Und dass für all diese Politikbereiche ausreichend Mittel und Fähigkeiten zur Verfügung gestellt werden müssen. Das „Weißbuch 2016“ stellt genau dies in den Mittelpunkt: Deutschlands Verantwortung für nachhaltige Sicherheit. Oder anders ausgedrückt: unser herausragendes sicherheitspolitisches Interesse, ein angemessen relevanter Partner zu sein – mit allen Konsequenzen. Sicherheitspolitik 4.0 – klug, vernetzt und vorausschauend Ein moderner Sicherheitsbegriff muss heute diplomatische Mühe und Finesse mit entwicklungspolitisch klugen Konzepten verbinden und zu militärisch und auch polizeilich abgesicherter Stabilisierung – oder wenn nötig Intervention – auch im schwierigen und gefährlichen Umfeld bereit und in der Lage sein. Zugleich ist es eine Selbstverständlichkeit, zur analytischen Klarheit die Expertise von Wissenschaft und Organisationen aus dem zivilen Bereich ebenso einzubeziehen wie die Erfahrung einer engagierten Außen-Wirtschaft, deren Investitionen gerade in fragilen Regionen erst gesunde Nachhaltigkeit ermöglichen. Eine solche Sicherheitspolitik aus einem Guss verlangt ein Maximum an Analyseund Entscheidungsbereitschaft gleichberechtigter Regierungs-Akteure, das Ausrichten aller Ressourcen auf einen politischen Lösungsweg und jeweils nach Legitimität und Wirksamkeit komponierte Maßnahmenbündel. Frühere Berührungsängste oder Ressort-Eitelkeiten würden unsere Einflussmöglichkeiten nur schwächen, zumal die Grenzen zwischen verschiedenen Politikbereichen zunehmend verschwimmen: ob bei Terrorismusbekämpfung, im Umgang mit Flucht und Migration oder im Cyber- und Informationsraum. So entsprechen beispielsweise Bereiche der Entwicklungspolitik im besten Sinne auch einer vorbeugenden und nachsorgenden Sicher-

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heitspolitik. Und umgekehrt wirkt die Bundeswehr mit Ausbildung, Beratung und Ertüchtigung von Streitkräften in fragilen Regionen durchaus auch entwicklungspolitisch. „Wer alleine arbeitet, addiert; wer zusammen arbeitet, multipliziert“ (Arabische Weisheit) Der partnerschaftliche Charakter deutscher Sicherheitspolitik wird angesichts unseres immer komplexeren Umfelds zusätzliche, neue Züge bekommen. Zum einen wird der Wert verlässlicher, fester Bündnisse steigen, zum anderen unser Netz an weitergehenden Partnerschaften erheblich auszubauen sein. Unser betont um NATO und EU zentriertes Profil ist nicht nur Ergebnis historischer Erfahrungen, sondern es liegt auch in der Logik unserer Zukunftsperspektiven. Denn sowohl die großen geostrategischen Trends mit den Verschiebungen in Richtung Asien und Afrika, wie auch die weltweiten demographischen Realitäten lassen klar werden: wir Europäer werden unsere sicherheitspolitischen Interessen in Zukunft nur durchsetzen können, wenn wir noch wesentlich enger zusammenrücken. Dies ruft nach Kräftigung des europäischen Pfeilers in der NATO, ebenso wie nach dem Aufbau einer veritablen Europäischen Verteidigungsunion, wohlgemerkt komplementär und nicht in Konkurrenz zur Allianz. Es geht darum, kurzsichtige Verlockungen zu Abschottung und Introvertiertheit auch als Schutzverlust zu demaskieren und im Gegenteil zu mehr europäischer Gemeinsamkeit im Planen, Entwickeln, Beschaffen und dann auch Einsetzen von Fähigkeiten zu gelangen: Europa braucht den echten Willen zu gemeinsamer sicherheitspolitischer Relevanz – ein Weg, der, ausgehend vor allem von im Sommer 2016 vorgestellten deutsch-französischen Initiativen, aktuell engagiert beschritten wird: mit einem Maßnahmenpaket, das darauf abzielt, gemeinsam effizientere Strukturen, ein stärkeres Fähigkeitsprofil und eine höhere Reaktionsgeschwindigkeit zu entwickeln. Dazu gehört, die losen Enden der vielen zivilen und militärischen Instrumente der EU besser zusammenzuführen und damit ihr einzigartiges Potenzial endlich auszuschöpfen, beides aus einer Hand zu planen und in Missionen zu führen. Bringt dies beherzte Ergebnisse, wird dies auch der NATO ein europäischeres Gesicht geben und damit die Allianz als zentralen Anker unserer Sicherheit stärken und erhalten. Denn verständlicherweise werden die Vereinigten Staaten von Amerika, die unzweifelhaft seit Jahrzehnten einen erheblichen Aufwand für die Sicherheit Europas treiben, von uns europäischen Verbündeten beharrlich verlangen, dass wir einen angemesseneren Teil auf unsere Schultern nehmen. Dabei liegt es in unserem eigenen Interesse, Verlässlichkeit zu beweisen, zu den Zusagen zu stehen, die für alle NATO-Partner gelten, nämlich konsequent in einer Dekade das Ziel zu erreichen, 2 % der Wirtschaftsleistung für Verteidigungszwecke bereitzustellen: ein Ziel, das angesichts der absehbaren Entwicklungen unserer Sicherheitslage sowie des Bedarfs der Bundeswehr am Auffüllen „hohler“ Strukturen

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und an Modernisierung, allem voran beim Sprung in die digitale Zukunft, in der Sache gerechtfertigt ist. Und es ist ein Ziel, das mit Blick auf Bündnissolidarität und Verlässlichkeit deutscher Sicherheitspolitik keinen Sonderweg für unser Land erträgt. Umgekehrt dürfen wir erwarten, dass innerhalb der NATO die Frage, „wie“ unsere Aufwendungen der Allianz zu Gute kommen, mehr Aufmerksamkeit erhält: die Allianz sollte einen einfachen Index definieren, der verständlich zeigt, wer in welchem Maße die zugewiesenen Fähigkeiten aufbringt und wer sich in den Engagements der Allianz in welchem Maße einbringt. Wir dürfen auch erwarten, dass sich das amerikanische Verständnis von Lastenteilung weitet und den Blick über die Allianz hinaus auch auf unser Engagement in der Sicherheitspolitik der EU, zugunsten von Friedensmissionen der Vereinten Nationen, bei den wichtigen Transparenzinstrumenten der OSZE oder im Kampf der Internationalen Koalition gegen den Terror des „IS“ legt; allesamt Maßnahmen, die außerhalb der NATO stattfinden. Und wir dürfen erwarten, dass mit unserer Bereitschaft zu Verantwortung und Engagement auch die amerikanische Bereitschaft zu gemeinsamer Entscheidungsfindung und multilateraler Legitimität des Handelns steigt, sei es bei der Art des Kampfes gegen den Terror oder bei der Frage strategischer Arrangements mit Moskau. Würde man gemeinsam mit unseren Partnern in NATO und EU etwa zu einer Formel „2 plus 1“ gelangen, die sich neben den 2 % Verteidigungsausgaben auch zu einer etwas erhöhten Quote für Entwicklungsleistungen (ODA-Quote 0,7 %) bekennt, wäre für eine wirklich zukunftsfeste Sicherheits- und Entwicklungspolitik des Westens ein enormer Schritt getan. Angesichts des weltweiten Fokus unserer Sicherheitspolitik werden Partnerschaften über unsere festen Allianzen und Foren hinaus an Bedeutung gewinnen – sei es mit sicherheitspolitischen Schlüsselländern oder mit Regionalorganisationen auf anderen Kontinenten. Dabei wird uns die Notwendigkeit, um unserer eigenen Sicherheit Willen auch mit autoritär geführten Ländern gemeinsame Interessen zu definieren, einiges abverlangen. Entscheidend wird sein, zu Wegen zu finden, die keinesfalls unsere Werte ausblenden, sondern diesen mit strategischer Geduld Raum geben zu überzeugen. Beides zu verbinden, sollte europäischer Diplomatie gelingen. Dies gilt auch für unser Verhältnis zur Russischen Föderation, gegen die diverse brisante Konflikte rund um den Globus nicht zu lösen sein werden, mit der aber umgekehrt nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim und angesichts eines Politikansatzes, der auf Durchsetzungskraft und eine Rückkehr zu Einflusszonen setzt, ein neuerlich vertrauensvolles Miteinander nur schwer aufbaubar sein wird. Wir werden unser strategisches Ziel eines guten Miteinanders im Auge behalten, jedoch angesichts der von Moskau gesetzten Realitäten auf absehbare Zeit sicherheitspolitisch glaubwürdige Abschreckung und Angebote zum Dialog sinnvoll verbinden müssen.

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Entscheidend wird sein, hier einheitliche europäische und atlantische Linien zu halten und Versuchungen zur Bilateralisierung des Verhältnisses zu Moskau oder gar zu einer äquidistanten Positionierung zwischen Moskau und Washington zu widerstehen. Zugleich werden wir unser Verständnis schulen müssen, den Norden und Westen Afrikas sowie den Nahen und Mittleren Osten ohne Wenn und Aber als unsere unmittelbare europäische Nachbarschaft wahrzunehmen, ebenso wie über das östliche Europa hinaus auch den Kaukasus und Zentralasien – als Nachbarschaft in dem Sinne, dass wir als Europäer in unserem eigenen Interesse Partnerschaften für Sicherheit und Entwicklung aufbauen: mit Respekt für dort gewachsene Traditionen, um gemeinsam Gefahrenzentren des Terrors auszutrocknen, illegaler Migration das Handwerk zu legen und um einen gemeinsamen Raum von Sicherheit und Stabilität zu schaffen. Bei all dem wird dem Ansatz der „Ertüchtigung“ eine zentrale Rolle zukommen: durch die gezielte Stärkung der Sicherheitsstrukturen von Ländern wie Jordanien oder Niger und Mali sowie Regionalorganisationen wie die G-5 Sahel oder die ECOWAS in fragilen Regionen Stabilitätsanker zu schaffen; mit Ausrüstung und Ausbildung Schlüsselpartner zu befähigen, zukünftig selbst besser für Sicherheit und damit auch für Prosperität in der eigenen Region zu sorgen. Wenn dies gelingt, wäre es ein großer Schritt bei der wesentlichsten aller sicherheitspolitischen Zukunftsaufgaben: die nicht-westliche Welt davon zu überzeugen, dass wir nicht gegen sie stehen. Fazit So verfügt Deutschland mit dem „Weißbuch 2016“ über eine gute strategische Basis für eine nachhaltig gestaltete Sicherheitspolitik. Wir werden heute als verlässlicher und leistungsfähiger Partner angesehen, sind Referenzgröße bei den Aktivitäten der NATO und Treiber beim Aufbau einer stärkeren europäischen Verteidigung, die transatlantische Abhängigkeiten ausgeglichener gestalten soll. Wir zeigen Bereitschaft, sicherheitspolitisch auch „aus der Mitte“ zu führen, also mit dem ständigen Bemühen, unsere Partner zu überzeugen. Unsere Soldatinnen und Soldaten stehen von Afghanistan bis zum Irak, von Somalia bis Mali in gefährlichen und fordernden Einsätzen als Streitkraft, die in sich die Menschenwürde als strengen Maßstab achtet. Damit die Bundeswehr ihre wachsenden Aufgaben erfüllen kann, sind Trendwenden bei Haushalt, Ausrüstung und Personal ebenso eingeleitet wie etwa der Aufbau eines modernen Cyber-Bereichs. Wir engagieren uns aus moralischer Pflicht zum Handeln, wenn wir direkt betroffen sind und aufgrund handfester eigener Interessen. Dabei schützen wir im Kern unsere Lebensform, die das Individuum mit seiner Würde und seinen Freiheitsrechten in den Mittelpunkt stellt. Wenngleich diese Lebensweise, die auf der Stärke des Rechts und institutionellen Regeln basiert, in den

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vergangenen Jahrzehnten eine beispielslose Lebensqualität und einen enormen Wohlstand ermöglicht hat, steht sie doch aktuell erheblich unter Druck. Sicherheitspolitik für Generationen bedeutet, das Verständnis zu entwickeln, dass uns die Wahrung unserer Werte etwas wert sein muss. Dabei wird beides immer mehr zusammengehören und voneinander abhängen: unsere Freiheit zu verteidigen und unseren Wohlstand zu teilen – im richtigen Maß und mit der Kraft unseres Kontinents.

Dr. Géza Andreas von Geyr ist Politischer Direktor im Bundesministerium der Verteidigung. Der Autor gibt seine persönliche Meinung wieder.

Sicherheit durch Technologie und Innovation – Der Beitrag der Wirtschaft Von Holger Mey Die Industrie leistet innovative, technologische Beiträge zur Sicherheit des eigenen Landes. Allerdings kann Technologie, in den „falschen Händen“, auch erhebliche Sicherheitsrisiken darstellen. Technologieentwicklung ist dynamischer Natur: Mal ist die eine, mal die andere Seite im Vorteil. Voraussetzung für die äußere Sicherheit ist der Erhalt einer innovativen wehrtechnologischen und verteidigungsindustriellen Basis. * Alle Menschen streben nach Sicherheit. Ungeachtet der persönlichen Verantwortung für die eigene Sicherheit und Gesundheit sowie das finanzielle Wohlergehen hat der Bürger vielfältige Erwartungen an den Staat: Zum einen die zahlreichen Facetten innerer Sicherheit – von Schutz vor Verbrechen über Lebensmittelsicherheit bis Rechtssicherheit –, und zum anderen Sicherheit vor äußerer Bedrohung. Zahlreiche Aspekte der inneren und der äußeren Sicherheit lassen sich nicht voneinander trennen. Cyberangriffe, Terrorismus, u. U. auch mit biologischen Mitteln, und vieles mehr kann nicht immer eindeutig der Kategorie „Innen“ oder „Außen“ zugeordnet werden. So kann etwa eine sich ausbreitende Seuche Teil asymmetrischer Kriegführung eines Staates gegen einen anderen sein, sie kann die Folge eines Terroraktes durch Kräfte von „Außen“ oder von „Innen“ sein, sie kann aber auch durch einen Touristen eingeschleppt worden sein. Die Risiken für die Sicherheit sind so vielfältig wie die Dimensionen der Sicherheit selbst. Willentlich in böser Absicht herbeigeführt, menschlichem (zumeist!) oder technischem (selten!) Versagen geschuldet, den Unberechenbarkeiten der Natur ausgesetzt: Sicherheit bleibt ein gefährdetes (und hohes) Gut, das zu schützen vornehmste Aufgabe staatlicher Vorsorge ist und bleibt. In der vorliegenden kurzen Betrachtung zur Frage, welche Rolle Technologie für die Sicherheit aus Sicht der Industrie spielen kann, geht es – wie in diesem Sammelband insgesamt – primär um die äußere Sicherheit. Zur Nutzung von Technologie Stets haben Menschen Technologie für ihre Zwecke genutzt oder gezielt hierfür entwickelt. Mal ging es um die Entlastung von mühseligen Arbeiten, mal um die Be-

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fähigung, Dinge zu tun, die man anderenfalls nicht hätte tun können, und fast immer ging es auch darum, Kosten zu senken. Technik ist – wie praktisch alles im Leben – ambivalenter Natur. Sie kann sich als Fluch oder Segen herausstellen, je nach dem durch wen und in welcher Form sie eingesetzt wird. So wie Medikamente Kranke gesund machen können, so können sie auch Gesunde krank machen. Somit geht es letztlich nicht um Technik und Wissen an sich, sondern um die Frage ihrer konkreten Anwendung – und diese ist stets an Werte gebunden und muss mithin politisch entschieden werden, was im Zeitalter der Globalisierung auf nationaler Ebene immer schwieriger wird. Diese Ambivalenz alles Technischen gilt auch für das Militärische: Technologie als Bedrohung der Sicherheit und Technologie als Garant der Sicherheit. Die nicht aufzuhaltende Weiterverbreitung modernder Technologie führt dazu, dass extrem machtvolle Mittel (Cyber, biologische und nukleare Waffen etc.) auch in die Hände von Staaten und nicht-staatlichen Akteuren geraten, die gegen unsere Interessen handeln. Und gleichzeitig versprechen eigene technische Fähigkeiten Schutz vor mächtigen Gegnern. Technologie und Sicherheit: Die militärische Dimension Streitkräfte als Instrument äußerer Sicherheit haben in der Geschichte stets auf Technik gesetzt. Entweder wurden bereits existierende Technologien für militärische Zwecke genutzt (Keule, Rad) oder Technologien wurden für militärische Zwecke entwickelt (Kampfwagen, U-Boot, Raketen). Seit Beginn des 19. Jahrhunderts und seinen technologisch-industriellen Revolutionen erweiterten sich die Optionen, neue Technologien für Streitkräfte nutzbar zu machen (mechanische Antriebe, Flugzeuge, Kernwaffen, industrielle Massenfertigung). So wie neue technologische Möglichkeiten neue operative Konzepte ermöglichen, so müssen umgekehrt auch Technologieentwicklungen auf politisch-militärische Vorgaben eingehen und diesen entsprechen: Unsicherheiten im Hinblick auf konkrete Kriegsszenarien erfordern Flexibilität bei den Waffensystemen; begrenzte Budgets erfordern kostengünstige Lösungen; personelle Obergrenzen legen die Entwicklung von Gerät nahe, das mit geringerem Personalaufwand betrieben werden kann; die Vorgabe geringen Kollateralschadens beim Einsatz von Waffen erfordert eine präzise Zielaufklärung und eine hohe Genauigkeit; Einsätze im multinationalen Rahmen bedeuten, dass die Systeme interoperabel sein müssen. Eine Technologieentwicklung führt geradezu zwangsläufig zu Gegenmaßnahmen, die ihrerseits wiederum Gegenmaßnahmen provozieren. Vergleichbar verhält es sich mit der Offensive und der Defensive. Technologieentwicklung ist nun mal dynamischer Natur. Man mag dies bedauern, ändern kann man es nicht. Diese Dynamik ließe sich nur aufhalten, wenn man den Wettbewerb (oder die Konflikte) beenden könnte, aufgrund derer die Dynamik zur Anwendung kommt. Dies ist auf absehbare Zeit nicht zu erwarten.

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Neue Technologien So wie es in der Geschichte Elemente der Kontinuität und des Wandels gibt, so gilt dies auch für die Technologieentwicklung. Zwar gibt es in Folge der Mechanisierung der Streitkräfte nur noch wenig Kavallerie, aber Messer und Gewehre werden ihre Bedeutung auch im Zeitalter von Computern und Laserwaffen noch für lange Zeit nicht verlieren. Auch die Erfindung von Waffen langer Reichweite haben Waffen kurzer Reichweite nicht überflüssig gemacht. Pfeil und Bogen sind als Fernwaffe der Keule überlegen, aber nur solange der Bogenschütze nicht in den Wirkungsbereich der Keule gerät. In zentralen Fähigkeitsbereichen von Streitkräften @ Nachrichtenwesen, Aufklärung, Zielerfassung, Führung, Fernmeldewesen, Geschwindigkeit und Reichweite von Operationen, Waffenreichweite, Waffenwirkung, Personalwesen – sind dramatische technologische Fortschritte zu verzeichnen. Neben der Fortschreibung bereits klar zu erkennender Trends kommen völlig neue Technologien hinzu, wie sie durch die Verbindung von Nanotechnologie, Biotechnologie, Robotik und künstliche Intelligenz entstehen dürften. Ihre konkreten Auswirkungen sind heute noch kaum abschätzbar. Die grobe Richtung erscheint jedoch vorgezeichnet: Weitgehende Transparenz der Lage, detaillierte Aufklärung und Überwachung des Gegners, Verhaltensvorhersagemodelle, Entscheidungsunterstützungssysteme und zunehmende Autonomisierung, Kampfwertsteigerungen durch Softwareverbesserungen, sich selbstreparierende Oberflächen, die Kontrolle von Terrain über Distanz etc. Der Beitrag der Wirtschaft Die Wirtschaft eines Landes stellt für Staat und Gesellschaft die materielle Grundlage für ihren Wohlstand und ihre Sicherheit bereit. Aber auch ganz konkret sind Sicherheitslösungen und wehrtechnische Systeme ohne die Forschungslabore und Fertigungsanlagen der Industrie nicht denkbar. Insofern ist der Beitrag der Wirtschaft für die Sicherheit eines Landes in jeder Hinsicht grundlegend. Ein großer Teil der technologischen Entwicklungen und Innovationen im zivilkommerziellen Sektor reflektiert einen konkreten oder angenommenen Kundenbedarf. Und manchmal müssen umgekehrt die Forschungslabore und Firmen den Nutzern erklären, dass es etwas Neues gibt, das man ganz bestimmt gut gebrauchen kann. Wie Henry Ford es im Zusammenhang mit der Entwicklung seines Autos formulierte: „Wenn ich meine Kunden gefragt hätte, was sie wollten, hätten sie geantwortet, schnellere Pferde!“. In einer freien Marktwirtschaft hängt die Bereitschaft der Industrie, mit Eigenmitteln in Forschung zu investieren, von der erwarteten Marktentwicklung (sprich: dem Verkauf) oder von Forschungsaufträgen ab. Voraussetzung für innovative Sicherheitslösungen und die Verteidigungsfähigkeit ist eine Industrie, die entsprechende Produkte und Dienstleistungen anbieten kann. Ohne Entwicklungs- und Beschaf-

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fungsaufträge muss sich die wehrtechnische Industrie vielversprechenderen Märkten zuwenden. Noch verfügt Deutschland über eine innovative wehrtechnische Industrie. Für privatwirtschaftlich organisierte Firmen ist die Gewinnerwartung jedoch entscheidend. Ein Staat, der sich nicht in allzu große Abhängigkeit vom Ausland begeben, sondern auch über eigenständige Fähigkeiten verfügen will, auch und gerade im europäischen und transatlantischen Kontext und in Zeiten erheblicher Unsicherheiten, sollte sich der eigenen industriellen Fähigkeiten nicht berauben. Schlussbetrachtung Wo geht die Reise hin? Biometrische Datenerfassung, Überwachung, Verhaltensanalyse und Verhaltensvorhersagemodelle, autonome Systeme etc.: Interdisziplinäre Forschung und industrielle Fertigkeiten sind der Schlüssel für die zukünftige Sicherheit eines Landes, wobei es darauf ankommt, diese potenziellen Fähigkeiten in konkrete Maßnahmen zu überführen. Letzten Endes kommt es darauf an, die entsprechenden Systeme auch zu beschaffen. Mit guten Ideen auf Papier allein lässt sich Sicherheit nicht gewährleisten. Sicherheit bleibt oftmals eine personalintensive Aufgabe. Viele Aufgaben können aber zunehmend mit Hilfe von Technik erbracht, zumindest aber das Personal von zeitraubenden Routine-, Verwaltungs- und Überwachungsaufgaben teilweise befreit werden. Hinzu kommt, dass viele gefährliche Aufgaben durch Roboter und auf Distanz wahrgenommen werden können. Viele Sensoren „sehen“ besser und mehr als das menschliche Auge, Roboter sind stärker und schneller – und ihr Verlust eher hinnehmbar als der Tod eines Soldaten. Die Industrie stellt innovative technologische Lösungen für sicherheitsbezogene Herausforderungen bereit oder kann diese entwickeln, wenn entsprechende Aufträge vorliegen. Gerade in Zeiten großer Unsicherheit über zukünftige sicherheitspolitische Entwicklungen und Unklarheiten über die technologischen Fähigkeiten möglicher Gegner entspricht es einer verantwortungsvollen Sicherheitsvorsorge des Staates, auf eine kompetente und innovative wehrtechnische industrielle Basis zurückgreifen zu können. Diese gilt es zu erhalten und auszubauen.

Prof. Dr. Holger H. Mey ist Vice President, Advanced Concepts, bei Airbus und Honorarprofessor für Außenpolitik an der Universität zu Köln.

Was die EU für unsere Sicherheit leisten kann Von Markus Ferber Was kann die EU für unsere Sicherheit heute und in der Zukunft leisten? Dieser Artikel soll die zur Verfügung stehenden Handlungsmöglichkeiten und Instrumente der Europäischen Union beleuchten und Antworten finden. Darüber hinaus werden strukturelle Probleme identifiziert, welche der EU auf dem Weg in eine Verteidigungs- und Sicherheitsunion im Wege stehen. * Die EU feiert im Jahr 2017 das 60-jährige Bestehen der Römischen Verträge. 1957 wurden in Rom die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft und die Europäische Atomgemeinschaft gegründet. Dadurch konnte die europäische Integration durch den Einbezug der wirtschaftlichen Zusammenarbeit weiter ausgebaut werden. Seit über 70 Jahren herrscht nun Frieden in Europa; eine vergleichbare Periode ohne Krieg hat es auf unserem Kontinent noch nicht gegeben. Die EU, als Stabilisator in Europa und der Welt, trägt einen großen Teil dazu bei und ist aus diesem Grund auch eine relevante Institution im Hinblick auf die Sicherheit für Generationen in Deutschland und Europa. Nach 60 Jahren gilt es, den Schwerpunkt auf zukünftige Lösungen und Lösungsvorschläge für die dringenden und wichtigen Probleme von morgen zu legen. Dazu ist ein inhaltliches Fundament zur europäischen Sicherheitspolitik notwendig. Deshalb will ich hier auch jeweils einen kurzen Überblick über die Begründung, Probleme und Gefahren der Zukunft, die Vision und Ziele der europäischen Sicherheitspolitik, die damit einhergehenden politischen Prozesse und beteiligten Institutionen sowie Lösungen und Antworten auf Sicherheitsfragen in der Vergangenheit und in der Gegenwart liefern. Warum Europa? Weshalb ist die EU überhaupt in der Sicherheitspolitik involviert? Der Grund dafür liegt in der Natur der Herausforderungen, die in puncto Sicherheit auf die Bürger heute und morgen zukommen. In Zeiten einer zunehmend globalisierten und sich grundsätzlich immer schneller verändernden Welt lassen sich viele Probleme nur überstaatlich lösen. Als ein Beispiel sei hier die Terrorgefahr von radikalen Islamisten anzuführen. Terroristen machen nicht Halt vor Grenzen und Schlagbäumen.

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Diese Herausforderungen von globaler Größe lassen sich nur durch ein entschlossenes und gemeinsames Agieren der betroffenen Staaten in den Griff bekommen. Gleichzeitig muss betont werden, dass das jedoch kein Mikromanagement der EU in allen Belangen der Sicherheit bedeutet. Probleme, wie beispielsweise die zunehmende Anzahl an Einbrüchen in Städten, sollten zweifellos auch weiterhin, gemäß dem Subsidiaritätsprinzip, nicht von der EU geregelt werden. Probleme und Gefahren der Zukunft Drei Herausforderungen sind in diesem Sammelband besonders herausgestellt worden: Terrorabwehr sowie die Bekämpfung von organisierter Kriminalität und Cyberkriminalität. Wir als EU müssen gegen diese Gefahren gemeinsam angehen. Obwohl auf europäischer Ebene schon umfangreiche Verbesserungen im Bereich der Terrorabwehr gemacht wurden, zeigen die letzten Anschläge auf europäischem Boden – zuletzt in Berlin, Brüssel und Paris –, dass die Terrorismusbekämpfung weiterhin Priorität haben muss. Eine nicht unerhebliche Anzahl an gewaltbereiten Extremisten lässt sich terroristisch im Ausland ausbilden und stellt nach ihrer Rückkehr eine potentielle Bedrohung für die Sicherheit Europas dar. Der Umfang und der Zustrom der Kämpfer aus den Krisengebieten in Nordafrika und dem Nahen Osten sind hierbei weitere mögliche Gefahrenpunkte.1 Cyberterrorismus, beispielsweise in Form von Anschlägen auf europäische Regierungen, Firmen, Stromnetze, Atomkraftwerke usw., ist heute kein Szenario der Zukunft mehr, sondern findet so zurzeit statt. Gleichzeitig ist innerhalb Europas die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität weiterhin ein großes Problem. Waffenlieferungen, Drogenschmuggel, Umweltverbrechen und die Unterwanderung der Finanzmärkte sind auch 2017 in der EU keine Ausnahme. Vision und Ziele Im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) verfolgt die EU mehrere grundlegende Ziele. Zunächst ist die Friedenserhaltung sowie die Stärkung der internationalen Sicherheit das primäre Bestreben. Frieden und Sicherheit sind wichtige Grundpfeiler der EU. Dafür ist es zwingend notwendig, dass wir als EU die europäische, aber auch die internationale Zusammenarbeit aktiv fördern. Ziel muss es sein, Demokratie, Rechtstaatlichkeit und die Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten weiterzuentwickeln und nachhaltig zu festigen. Neben kurz- und mittelfristigen Zielen brauchen wir jedoch auch langfristig eine Vision, wie wir die EU in dieser Sache in Zukunft weitergestalten wollen. Langfristig sollten wir uns weiter stark für ein gemeinschaftliches europäisches Handeln einsetzen. Im Spannungsfeld zwischen Russland und den USA kann die EU nur als eigenständiger 1 https://ec.europa.eu/home-affairs/sites/homeaffairs/files/e-library/documents/basic-docu ments/docs/eu_agenda_on_security_de.pdf, Stand 28. 04. 2015.

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und selbstbewusster Akteur regionale Herausforderungen, wie die Krisen in der Türkei und Syrien, lösen. Dieses Ziel werden wir aber nur erreichen, wenn wir die europäische Eigenständigkeit, beispielsweise durch die Stärkung des Europäischen Auswärtigen Dienstes und des Hohen Beauftragten, zementieren. Denkt man diese Entwicklung zu Ende, muss als langfristiges Ziel sicherlich auch eine gemeinsame europäische Armee stehen. Politische Prozesse und beteiligte Institutionen Die Durchführung der europäischen Sicherheitspolitik vollzieht sich in weiten Teilen durch die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU (GSVP), die unter anderer Bezeichnung 2001 im Rahmen des Vertrags von Nizza eingeführt wurde. 1993 wurde in Maastricht erstmals das Ziel der GASP formuliert. Bis zu diesem Zeitpunkt war dieser Politikbereich Sache der Nationalstaaten. Die GSVP zeichnet sich durch die spezielle Verzahnungen mehrerer Institutionen aus. Die politische Richtung wird vom Europäischen Rat einstimmig vorgegeben und vom Ministerrat, in der Zusammensetzung der Außenminister, umgesetzt. Die EU wird außenpolitisch durch den Präsidenten des Europäischen Rates und den Hohen Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik vertreten, deren Ämter 2007 durch den Vertrag von Lissabon geschaffen wurden. Die Europäische Kommission und das Europäische Parlament wirken begrenzt in diesen Prozess mit ein, so muss der Hohe Vertreter beispielsweise dem Europäischen Parlament regelmäßig Bericht erstatten. Für die Sicherung des Friedens und den diplomatischen Austausch zwischen der EU und den internationalen Partnern wurde 2009 zudem der Europäische Auswärtige Dienst ins Leben gerufen. Für die Durchführung der gefassten Beschlüsse, beispielsweise Abrüstung und Friedensmissionen, sind der Hohe Vertreter sowie die EU-Mitgliedstaaten gemeinsam verantwortlich.2 Die EU als Friedensmacht In der Vergangenheit hat sich die EU vor allem an der weltweiten Entsendung von Soldaten in Friedensmissionen beteiligt. Im August 2008 vermittelte sie einen Waffenstillstand zwischen Georgien und Russland, entsandte Beobachter und leistete humanitäre Hilfe für die von den Kämpfen vertriebenen Menschen. Seit 2003 hat die EU rund 30 zivile Missionen und Militäroperationen auf drei Kontinenten durchgeführt. Aktuell unterhält die EU unter anderem Militärmissionen in Bosnien und Herzegowina oder vor der Küste Somalias. Die EU hat sich mittlerweile mit spürbarem Effekt für alle Mitgliedstaaten zweifellos als wichtige Institution im Bereich Verteidigung und Sicherheit etabliert.

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https://europa.eu/european-union/topics/foreign-security-policy_de, Stand: 21. 03. 2017.

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Um die Sicherheit auch morgen gewährleisten zu können, muss sich vor allem strukturell etwas ändern. Insgesamt 66 % der Bürger wünschen sich ein stärkeres Engagement der EU in sicherheitspolitischen Fragen.3 Die Bürger fordern, dass die EU eine große Rolle in wichtigen Fragen einnimmt, sich jedoch gleichzeitig großzügig in kleinen Fragen verhält. Angesichts der steigenden Anzahl globaler und außenpolitischer Krisen ist es essentiell, dass die EU als globaler Akteur stärker als bisher aktiv wird und entschlossener in Erscheinung tritt. Dem Status Quo folgend, läuft Europa Gefahr, tatenlos zusehen zu müssen, wie die Länder der EU zum Spielball eben jener Krisen werden, die sie zu verhindern versucht. Schon viel zu lange zeichnet sich die Politik Europas und die der Mitgliedstaaten in großen Fragen durch bloßes Reagieren aus. Die EU muss ihre Interessen klar formulieren und für deren Umsetzung eintreten. Diese Interessen lassen sich nur durch eine gemeinsame Nachbarschafts- und Handelspolitik verfolgen. Auch eine lösungsorientierte Entwicklungshilfe ist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Wir müssen Problemen gemeinsam proaktiv begegnen. In diesem Kontext hat die derzeitige Hohe Vertreterin, Federica Mogherini, die „Globale Strategie“ erarbeitet. Sie priorisiert für die kommenden Jahre fünf Themenfelder von Verteidigung im Innern sowie an den Außengrenzen, über eine Friedensvorsorge, bis hin zu politischen Steuerungsprozessen. Nichtsdestotrotz ist es unerlässlich, dass die EU in Bezug auf die Sicherheitspolitik weiter gestärkt wird und die Mitgliedstaaten dementsprechend Kompetenzen verlagern. Nur auf diese Weise kann die EU den nächsten wichtigen Schritt der bisher sehr erfolgreichen Integration im Bereich Sicherheitspolitik gehen. Diese Verlagerung von Kompetenzen sollte begleitet werden von der Schaffung eines Ständigen Rates der Verteidigungsminister, wie es jetzt schon unter den Außenministern im monatlichen Turnus üblich ist. Auf diese Weise können sowohl Positionen besser miteinander abgestimmt, als auch Strategien erarbeitet und diskutiert werden. Als Beispiel sei hier die gemeinsame Beschaffung von Rüstungsgütern angeführt. Die EU braucht nicht in jedem Land spezielle Tankflugzeuge, sondern sollte diese besser untereinander teilen und Synergien nutzen. In jedem Fall hat Europa die Werkzeuge und die Konzepte, um für die Sicherheit von Generationen zu sorgen. Es fehlt nur der Wille, stärker gemeinsam zu gestalten. Man kann konstatieren, dass in Europa schon viel für die Sicherheit seiner Bürger getan wird. Es besteht jedoch noch Handlungsbedarf, um den verstärkt globalen und weniger regionalen Herausforderungen der Zukunft erfolgreich begegnen zu können. Von der ausgeschriebenen Vision einer Sicherheits- und Verteidigungsunion sind wir ebenfalls noch weit entfernt. Um der momentanen Problemherde Herr zu werden, dienen kurzfristig der vorangetriebene Schutz der gemeinsamen EU-Außengrenze sowie eine fokussierte Interoperabilität der nationalen Sicherheitsbehörden. Lang-

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Special Eurobarometer 440, Januar 2016.

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fristig müssen wir auch den Mut haben, bestehende Strukturen zu überdenken. Darunter fallen vor allem eine Verlagerung von Kompetenzen sowie eine stärkere Bündelung der nationalen Streitkräfte.

Markus Ferber ist Mitglied des Europäischen Parlaments, Bezirksvorsitzender der CSU Schwaben und Stellvertretender Vorsitzender der Hanns-Seidel Stiftung.

Die NATO: Ein Bündnis für die Zukunft? Von Klaus Naumann Nach kurzer Beschreibung der NATO wird die gegenwärtige Sicherheitslage in Europa beschrieben und geprüft, ob die NATO die geeigneten Maßnahmen ergriffen hat, den Gefahren zu begegnen und Krieg zu verhindern. Davon ausgehend werden die derzeit erkennbaren Gefahren für Europa beurteilt und untersucht, ob und durch welche Schritte die NATO auch künftig für die gemeinsame Sicherheit Europas und Nordamerikas sorgen kann. * Will man die gestellte Frage beantworten, muss man zunächst wissen, was die NATO ist. Sie wurde 1949 in Washington als Bündnis zur gemeinsamen Verteidigung gegen die Sowjetunion gegründet. Sie ist eine internationale Organisation ohne Hoheitsrechte, die Mitgliedsstaaten behalten volle Souveränität, alle Entscheidungen werden einstimmig getroffen. Ihr Auftrag war bei Gründung die gemeinsame Verteidigung des Vertragsgebietes. Heute ist die NATO die politisch-militärische Organisation von 28 europäischen und nordamerikanischen Staaten für gemeinsame Sicherheit und weltweite Stabilität. Ihre Aufgabe ist unverändert gemeinsame Verteidigung, aber zusätzlich Krisenbewältigung und Kooperation. Das NATO-Hauptquartier in Brüssel ist Sitz des Nordatlantikrates, geführt vom Generalsekretär. Oberste militärische Instanz ist der Militärausschuss (MC), geführt von dem von den Generalstabschefs gewählten General oder Admiral (CMC). Generalsekretär wie CMC werden niemals von den USA gestellt. Die nachgeordnete militärische Kommandostruktur aus 19 international besetzten Stäben, stationiert in neun Mitgliedsländern und in drei Ebenen geordnet, wird geführt von dem Allied Command Operations (SHAPE) in Mons und dem Allied Command Transformation (ACT) in Norfolk, USA. Der Oberbefehlshaber Operations ist stets Amerikaner. Mit Ausnahme der AWACS Component Force und des Alliance Ground Surveillance System (AGS) verfügt die NATO über keine eigenen ständigen Streitkräfte. Sie werden für Operationen aus den 3,8 Millionen Soldaten der Bündnisstaaten bereitgestellt. Gemeinsame Finanzierung nach einem festgelegten Schlüssel pro Nation gibt es für Teile der internationalen Organisation und einzelne Projekte. Die Kosten für Einsätze und für die Streitkräfte tragen die Nationen.

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Die NATO ist das einzig funktionierende Sicherheitsorgan Bis Anfang 2014 war die NATO die unbestritten richtige Sicherheitsvorsorge. Sie hatte sich in Einsätzen bewährt, sie war Kern der Stabilität in Europa. Europa war Teil einer Welt, die auf der Hoffnung beruhte, Krieg sei in Europa gebannt, die dachte, die vielversprechend Partnerschaft mit Russland ko¨ nne weiter gefestigt werden, die hoffte, Europa ko¨ nne noch enger zusammenwachsen und die davon ausging, dass Europa sich auch künftig auf die Sicherheitsgarantie der USA verlassen könne. Mehrheitlich glaubte man, die EU als Zusammenschluss souveräner Staaten, der erstmals in Europa Krieg gebannt und Frieden zwischen Staaten geschaffen hatte, die alle rechtsstaatliche Demokratien waren, die durch freien Handel den Wohlstand ihrer Bürger mehren und die durch sozialen Ausgleich die Zustimmung ihrer Bürger gewinnen wollen, könnte Exportmodell werden. Diese Welt ist zerbrochen. Sie wird auch nicht wieder hergestellt werden, ja sie könnte sogar noch weiter zerbrechen. In dieser Welt ist die NATO das einzige funktionierende und damit unersetzliche Sicherheitsorgan. Doch reicht das für die Zukunft? Dazu muss man die erkennbaren Gefahren bewerten, fragen, welche Anpassungen jetzt nötig sind und dann prüfen, ob man damit auch die Zukunft meistern kann. Neue Herausforderungen für das Bündnis Mit welchen Gefahren müssen die Bündnismitglieder heute fertig werden? Die Peripherien Europas sind instabil geworden. Da ist im Osten ein Russland, das sich trotz unglaublicher Schwächen als Weltmacht fühlt, das keine Partnerschaft will, sondern seinem Staatsgebiet vorgelagerte Einflusssphären beansprucht, in denen es bestimmt. Russland ist eine Autokratie, die sich mit modernsten Mitteln verdeckt in die inneren Entscheidungen Anderer einmischt, die vermehrt auf Atomwaffen setzt, um ihre konventionelle Schwäche zu verschleiern, ja deren Einsatz sogar als Deeskalation sieht, und die bereit ist, auch in Europa Grenzen mit Gewalt zu verschieben. Bei den Nachbarn im Süden und Südosten löst sich die Staatenwelt auf und es werden blutige Bürgerkriege geführt. Die Staaten am Südrand des Mittelmeers schützen Europa nicht länger vor Migration, sondern bedürfen stabilisierender Hilfe. Im Südosten löst sich die Türkei aus ihren Bindungen an den Westen, ohne ihr Umfeld befrieden zu können. Die Staatenwelt des erweiterten Nahen Ostens ist in Auflösung und könnte in lang dauernden Kriegen versinken. Die Folgen für Europa sind anhaltende Flüchtlingsströme und vermutlich Jahrzehnte des islamistischen Terrorismus. Ein unersetzlicher Bund für beide Seiten des Atlantiks Umgeben von Instabilität und Unberechenbarkeit ringt Europa mit Gefahren des Zerfalls der EU. Großbritanniens Ausscheiden schwächt die EU und kann Nachahmer finden, hinzu kommt vielfache Reformunfähigkeit in den EU Staaten, die den

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Populisten den Weg bahnt. In dieser Schwäche Europas, das seit dem Ende des Kalten Krieges seine Sicherheit vernachlässigt hat und somit von den USA stärker abhängt als je zuvor, scheint die noch nicht berechenbare US-Regierung seine Sicherheitsgarantie für Europa in Frage zu stellen. Doch die allein schon macht die NATO zu einem Bündnis mit Zukunft. Sicherheit für Europa gibt es nur im Bündnis mit den USA, denn nur mit ihnen und durch sie kann Europa der nuklearen Macht Russlands begegnen und so Krieg ebenso wie nukleare Erpressung verhindern. Das verlangt europäische Gegenleistung. Die für die USA wichtigste, aber nicht die einzige, ist Europas Bereitschaft, als Gegenküste fest mit der maritimen Weltmacht USA verbunden zu bleiben. Nur mit Europa an ihrer Seite können die USA Weltmacht bleiben. Die NATO ist ein für die USA wie Europa unersetzlicher Verbund, sie ist für beide heute so nötig wie sie es bei Gründung war. Doch für Europa ist die vertragliche Bindung der USA von existenzieller Bedeutung: Nur mit den USA im Rücken kann es gelingen, mit Russland wieder zu Dialog und Kooperation zu finden, ohne die USA nimmt Putins Russland Europa trotz dessen globaler Wirtschaftsmacht nicht ernst. Dialog und Kooperation aber sind notwendig, um über Sicherheit hinaus Stabilität zu erreichen und die von Russland erzeugte nukleare Gefahr zu bannen. Mehr europäisches Engagement ist unumgänglich Der Unsicherheit im Osten kann Europa allerdings nur begegnen, wenn es endlich mehr für seine eigene Verteidigung tut. Die Forderungen der USA, das Versprechen von Wales 2014, bekräftigt in Warschau 2016, bis 2024 etwa 2 % des BSP für Verteidigung auszugeben, muss nun mit Leben gefüllt werden. Die europäischen NATOStaaten müssen nun kampfkräftige Truppenteile zur Verteidigung des Bündnisgebietes zu Land, in der Luft und auf See aufstellen und einsatzbereit machen. Diese Truppen müssen in der Lage sein, auch außerhalb des NATO-Gebiets und zur Verstärkung der USA eingesetzt zu werden. Deshalb sind die Schwerpunkte der Modernisierung Aufklärungs- und Führungsfähigkeit, Verlegefähigkeit, vorzugsweise über See, und Interoperabilität, idealerweise in Form multinationaler Truppenteile. Neue Aufgabenfelder wie Cyber Operations, Raketenabwehr und Schutz vor modernen ABCWaffen sind zu bedenken, aber auch verbesserte Fähigkeiten der Streitkräfte zur Unterstützung von Polizeikräften im Kampf gegen den Terrorismus. Die NATO muss dazu ihr Strategisches Konzept ergänzen, insbesondere im nuklearen Bereich, und darauf aufbauend ihre Kommando- wie Truppenstrukturen anpassen. Handle man so, dann wird man schnell erkennen, dass 2 % keineswegs Aufrüstung bedeuten, sondern dazu dienen, europäische Handlungsfähigkeit zu schaffen. Will man das, dann wäre die Zielmarke 2024 eher vorzuziehen denn zu verschieben. Besser noch wäre eine höhere Zielmarke, beispielsweise von 3 %, die aber nicht nur für militärische Zwecke, sondern, dem vernetzten Ansatz entsprechend, für überfällige Verbesserungen in der Inneren Sicherheit, im Bevölkerungsschutz und vor allem bei vorbeugender Entwicklungshilfe.

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Eine so veränderte NATO würde für die USA so unverzichtbar sein wie es die USA für Europa sind und bleiben, vor allem aber könnte sie mit allen bestehenden Gefahren fertig werden, vorausgesetzt, die Bündnispartner nutzen gemeinsam all ihre Ressourcen und die NATO handelt in enger Zusammenarbeit mit anderen Organisationen wie vor allem der EU, aber auch mit der AU, mit der OIC und mit ASEAN, aber auch mit Staaten, welche die Werteordnung der NATO-Staaten, also die Idee des Westens, teilen. Zukünftige Herausforderungen Könnte eine solche NATO aber auch mit den Gefahren der Zukunft fertig werden? Das sind die heute vorhersehbaren des weiteren Zerfalls der Staatenwelt, insbesondere in Afrika, ausgelöst durch Überbevölkerung und Flucht, Ressourcen-, Nahrungs- und Wassermangel, aber auch durch die Übernahme von Staaten durch organisierte Kriminalität. Hinzu kommen die Proliferation von ABC-Waffen sowie Gefahren, die sich durch technologische Durchbrüche in Nanotechnologie, Robotik, Bionic und künstlicher Intelligenz ergeben können. Eine reformierte, sich als Bündnis umfassender Sicherheit verstehende NATO kann damit fertig werden, vorausgesetzt die Verbündeten sind bereit, auch Veränderungen in den politischen Verfahren der NATO zu prüfen und, wo nötig, zu beschließen. Das heißt nicht an der Einstimmigkeit im NATO-Rat zu rütteln, das ist Ausdruck des Respekts vor der Souveränität der Mitgliedstaaten, wohl aber in den Ebenen darunter. Auch Fragen, wie die Finanzierung von allen dienenden Einsätzen, die vorausschauende Delegation von Einsatzbefugnissen in definierten Aufgaben wie CyberAbwehr und die Frage, wie man in einer defensiven Strategie auch präventiv handeln kann, bedürfen der Prüfung und Anpassung. Die Welt von morgen verlangt dies. Die NATO ist ein altes Bündnis, aber sie hat es stets verstanden, den Veränderungen in der sie umgebenden Welt Rechnung zu tragen, vorausgesetzt ihre Mitglieder wollten dies. Nichts spricht dagegen, sie auch jetzt als Ausgangspunkt und Fundament einer euro-atlantischen Sicherheitsarchitektur des 21. Jahrhunderts zu nutzen und eines spricht ganz entscheidend dafür, das zu tun: Die NATO-Staaten eint überwiegend der Respekt vor Menschenrecht, vor der Herrschaft des Rechts, vor Demokratie, schlicht vor der Idee des Westens, die noch immer die beste Idee ist, die Menschen je für ihr Zusammenleben gefunden haben.

Dr. h.c. Klaus Naumann, General a.D., war Generalinspekteur der Bundeswehr 1991 bis 1996, Vorsitzender NATO Militärausschuss 1996 bis 1999 und ist Mitglied des Brahimi Panel der UN, der International Commission on Intervention and State Sovereignty (R2P) und der International Commission on Nuclear Non-Proliferation and Disarmament.

Entwicklungspolitik als Beitrag zur Sicherheit Von Thomas Silberhorn Sicherheit und Entwicklung bedingen einander: Ohne ein Mindestmaß an Sicherheit gibt es keine Entwicklung, ohne Entwicklung gibt es auf Dauer keine Sicherheit. Entwicklungszusammenarbeit trägt dazu bei, menschliche Sicherheit zu schaffen. Sie umfasst die politische, ökonomische und soziale Dimension nachhaltiger Entwicklung. Niemanden zurücklassen Wann eine Auseinandersetzung zum gewaltsamen Konflikt eskaliert, lässt sich a priori nur schwer abschätzen. Doch in der Regel liegt offen zu Tage, wo selbst ein nichtiger Anlass zu dem Tropfen werden kann, der das Fass zum Überlaufen bringt. Wo ein relevanter Teil der Gesellschaft sich seiner Zukunftsperspektiven beraubt sieht, ist das Fass bereits gut gefüllt. Niemanden zurückzulassen, ist deshalb das Grundprinzip der Agenda 2030 der Vereinten Nationen für nachhaltige Entwicklung, zu dem sich nahezu alle Staaten im September 2015 verpflichtet haben.1 Die Realität ist davon weit entfernt, wie zunehmende Ungleichheiten innerhalb und zwischen Staaten bei anhaltend starkem Bevölkerungswachstum zeigen. Umso bedeutsamer ist, dass Frieden und Gerechtigkeit als eigenständiges Ziel nachhaltiger Entwicklung Eingang in die Agenda 2030 gefunden haben. Entwicklungszusammenarbeit kann eine wesentliche Rolle spielen, um die Eskalation zum gewaltsamen Konflikt zu vermeiden. Denn sie trägt dazu bei, die strukturellen Ursachen von Konflikten zu überwinden, die Fähigkeiten zur gewaltfreien Konfliktlösung zu stärken und so eine Krisenregion langfristig zu stabilisieren. Ohne diese Perspektive zu nachhaltiger Entwicklung kann Sicherheit nicht auf Dauer gewährleistet werden. Entwicklungspolitik ist in diesem Sinne präventive Sicherheitspolitik. Umgekehrt gibt es ohne Sicherheit auch keine Entwicklung. Das Scheitern von Staaten wie Syrien oder Libyen wirft die Entwicklung oft um Jahrzehnte zurück. 1 Vereinte Nationen, Transformation unserer Welt: die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung, Einleitung Ziff. 4, http://www.un.org/depts/german/gv-70/a70-l1.pdf, Stand: 28. 5. 2017.

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Die Ebola-Epidemie 2014 bis 2016 führte in Liberia, Sierra Leone und Guinea zum Zusammenbruch der Gesundheitssysteme sowie zu schweren ökonomischen und fiskalischen Schocks. Die gewaltsamen Konflikte im Jemen, im Südsudan, in Somalia und im Norden Nigerias haben zur Folge, dass Felder nicht bestellt werden können und etwa 30 Millionen Menschen an Hunger leiden.2 Rechtzeitig und entschieden handeln Die Auswirkungen dieser Ereignisse auf die Sicherheit in Deutschland und Europa wurden spät – zu spät – wahrgenommen. Die Hilfe der internationalen Gemeinschaft zur Bekämpfung der Ebola-Epidemie lief erst mehrere Monate nach der Meldung bestätigter Infektionen an, als eine weltweite Übertragung des Virus durch Reisende zu befürchten war. Die Dimension der Destabilisierung von Syrien bis Nigeria wurde erst Jahre nach Ausbruch der Gewalt deutlich, als Flüchtlinge in großer Zahl auf dem Weg nach Europa waren. Für die Ernährungskrisen, die sich in derzeit 37 Staaten langsam und leise entwickeln, sind die steigenden Bedarfe an kurzfristiger Hilfe bislang nicht gedeckt. Zu spät und zu schwach ist oft die Reaktion der internationalen Gemeinschaft auf globale Gefährdungen der Sicherheit. Entsprechend hoch sind die ökonomischen Lasten von Gewalt, die im Global Peace Index für 2015 auf 13,6 Billionen US-Dollar oder 13,3 Prozent des weltweiten Bruttoinlandsprodukts beziffert werden.3 Zugleich fehlt schon heute über 65 Millionen Menschen, die vor Gewalt, vor Hunger und Armut oder vor den Auswirkungen extremer Wetterereignisse fliehen, eine Zukunftsperspektive in ihrer Heimat. Unfreiwillige Migration zählt neben extremen Wetterereignissen zu den größten Sicherheitsrisiken 2017 hinsichtlich der Eintrittswahrscheinlichkeit.4 Krisenreaktion kann nur die zweitbeste Lösung von Konflikten sein. Das Mittel erster Wahl – prima ratio – ist Prävention. Dazu ist rechtzeitiges und entschiedenes Handeln vonnöten. Nur wer die Sicherheit anderer im Blick hat, wird auch selbst in Sicherheit leben können. Friedenssicherung, humanitäre Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit müssen dabei ineinander greifen.

2 Food Security Information Network, Global Report on Food Crises 2017, S. 14, 21, http:// www.fao.org/3/a-br323e.pdf, Stand: 28. 5. 2017. 3 Institute for Economics and Peace, Global Peace Index 2016, S. 46 ff., http://visionofhu manity.org/app/uploads/2017/02/GPI-2016-Report_2.pdf, Stand: 28. 5. 2017. 4 World Economic Forum, The Global Risks Report 2017, S. 73 f., https://www.zurich. com/_/media/dbe/corporate/knowledge/docs/global-risks-report-2017.pdf?la=en&hash= 20C39E5D5 A5C1 A64F1D82B40E365DA3B1856539E, Stand: 28. 5. 2017.

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Menschliche Sicherheit schaffen Sicherheit ist dann am besten gewährleistet, wenn alle einen fairen Anteil an Wertschöpfung und Wohlstand und damit ihr Auskommen haben können. Ziel muss es daher sein, menschliche Sicherheit in diesem umfassenden Sinn zu erreichen. Die strukturellen Ursachen von Fragilität und Gewalt, von Hunger und Armut zu beseitigen, ist Aufgabe langfristiger Entwicklungszusammenarbeit. Diese ist allerdings stets bezogen und angewiesen auf den korrespondierenden politischen Willen der jeweiligen Partnerregierung. Deren Eigenverantwortung kann durch Entwicklungszusammenarbeit gestärkt, aber nicht ersetzt werden. Deshalb muss die Bereitschaft zu Reformen gefordert und gefördert werden. Als wesentliche Elemente einer friedlichen und inklusiven Entwicklung umfasst das globale Entwicklungsziel Nr. 16 der Agenda 2030 insbesondere Rechtsstaatlichkeit und Zugang zur Justiz sowie leistungsfähige Institutionen, die Korruption und Kriminalität bekämpfen und Grundfreiheiten schützen.5 Gute Regierungsführung erfordert zudem den verantwortungsvollen Umgang mit öffentlichen Ressourcen mit dem Ziel, eigene Einnahmen zu steigern und für die öffentliche Daseinsvorsorge einzusetzen. Um politische, ökonomische und soziale Stabilität in einer Gesellschaft zu sichern, müssen alle eine faire Chance auf Teilhabe an Willensbildung und Wertschöpfung haben. Ausgleichsmechanismen wie z. B. eine progressive Einkommensteuer oder Sozialversicherungen tragen dazu bei, Ungleichheiten zu reduzieren. In jungen, schnell wachsenden Gesellschaften wie in Afrika – wo das Durchschnittsalter 18 Jahre beträgt und die Bevölkerung sich bis 2050 verdoppeln wird – sind nicht zuletzt Bildung und Beschäftigung ein stabilisierender Faktor. Mit einer weitgehend auf Urproduktion und den Export von Rohstoffen beschränkten Wirtschaft kann jedoch in vielen Entwicklungsländern nicht ausreichend Wertschöpfung und Beschäftigung geschaffen werden. Die Rahmenbedingungen müssen insoweit nicht nur für ausländische Investitionen verbessert werden, sondern vor allem, um das inländische, endogene Potenzial für Verarbeitung, Handwerk, Industrie und Handel zu erschließen. Eine faire globale Ordnung im internationalen Handel wie im internationalen Finanzwesen muss hinzukommen. Entwicklungsländer müssen in regionale und globale Lieferketten so einbezogen werden, dass ihre eigene Wertschöpfung gestärkt und nicht geschwächt wird. Neben der Unterbindung von illegalen Finanzströmen, Steuervermeidung und Gewinnverlagerung ist es genauso wichtig, legale Finanzströme in Entwicklungsländern zu platzieren. Das betrifft insbesondere die bereits dort generierten Mittel, die besser für Wertschöpfung und Beschäftigung vor Ort genutzt werden als zur Kapitalanlage in Industrieländern.

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Vgl. Fn. 1, S. 28.

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Partner einbinden Um menschliche Sicherheit dauerhaft zu bewahren, bedarf es starker Partner auf lokaler, nationaler, regionaler und internationaler Ebene. Gerade in fragilen Situationen ist es unabdingbar, alle relevanten Akteure vor Ort einzubeziehen und ihre Eigenverantwortung zum Tragen zu bringen. Im New Deal for Engagement in Fragile States, den auch die Bundesrepublik Deutschland unterzeichnet hat, wird dies ausdrücklich hervorgehoben.6 Regionale Organisationen sollten noch stärker mit der Vermittlung und Durchsetzung von Konfliktlösungen betraut werden. Ein ermutigendes Beispiel ist die konstruktive Rolle der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft ECOWAS bei der Machtübergabe in Gambia vom abgewählten an den neu gewählten Präsidenten im Januar 2017. Die militärische Intervention verlief ohne Blutvergießen. Schließlich arbeiten die Vereinten Nationen ebenso wie die internationalen Finanzinstitutionen daran, die Widerstandsfähigkeit von Gesellschaften zu stärken, um ein Abrutschen in Krisen zu vermeiden. Dazu müssen die multilateralen Institutionen selbst ihre Wirksamkeit weiter verbessern. In der Umsetzung der Agenda 2030 liegt die besondere Chance, die Vielzahl von – bisweilen kleinteiligen und sich überlappenden – Mandaten, Programmen und Fonds auf die globalen Ziele nachhaltiger Entwicklung auszurichten. Die Reform des UN-Entwicklungssystems ist in vollem Gang.7 Sie zielt auf mehr Kohärenz im UN-System und bessere Koordinierung vor Ort. Den UN-Mitgliedstaaten kommt dabei eine aktive Rolle auch als Unterzeichner der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung zu. In diesem Zusammenhang wird es notwendig, die fragmentierte Finanzarchitektur der Vereinten Nationen zu konsolidieren. Die Finanzierung muss planbarer und zuverlässiger werden, um Konflikten vorbeugen und in Krisen rasch helfen zu können. Wo Regierungen und internationale Organisationen an die Grenzen ihrer Handlungsmöglichkeiten stoßen, wird der Stellenwert von Nichtregierungsorganisationen und Religionsgemeinschaften, von Wissenschaft und Wirtschaft in der Entwicklungszusammenarbeit besonders deutlich. Sie leisten in vielen Bereichen unschätzbare Beiträge zu Frieden und nachhaltiger Entwicklung, zu menschlicher Sicherheit im umfassenden Sinn. Thomas Silberhorn ist Mitglied des Deutschen Bundestages und Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung.

6 International Dialogue on Peacebuilding and Statebuilding, A New Deal for Engagement in Fragile States, http://www.pbsbdialogue.org/media/filer_public/07/69/07692de0 - 3557 494e-918e-18df00e9ef73/the_new_deal.pdf, Stand: 28. 5. 2017. 7 Vgl. Vereinte Nationen, Quadrennial Comprehensive Policy Review, UN-Dok. A/RES/ 71/243 vom 21. 12. 2016, http://undocs.org/A/RES/71/243, Stand: 28. 5. 2017.