Sich kreuzende Stimmen : Friedrich von Hardenberg, Friedrich Schlegel und die Romantik 3662705990, 9783662705995

Friedrich von Hardenberg und Friedrich Schlegel verdanken wir zwei der berühmtesten Denkfiguren der Romantik: die ‚blaue

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Sich kreuzende Stimmen : Friedrich von Hardenberg, Friedrich Schlegel und die Romantik
 3662705990, 9783662705995

Table of contents :
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Autorenverzeichnis
Brief. „Symorganisation und Symevolution“ im frühromantischen Briefwechsel zwischen Friedrich von Hardenberg und Friedrich Schlegel
1 Eine neue Form brieflicher Kommunikation
2 Symphilosophie
3 Symorganisation / Symevolution
4 Geschlechtsunterschied
Literatur
Republik. Kosmopolitische Spekulationen der Frühromantik
1 Kant über die Republik und den Menschenstaat
2 Schlegels Auseinandersetzung mit Kant
3 Die Idee der Repräsentation
4 Hardenbergs Vergangenheitsutopie eines kosmopolitischen Ur-Staates
5 Politik und Poesie, Symbol und Metonymie
6 Frühromantischer Zynismus
Literatur
Religion. Apotheosen des Individuellen im Briefwechsel zwischen Friedrich Schlegel und Friedrich von Hardenberg
1 Der leere Himmel
2 Zum Religionsbegriff
2.1 Religionssoziologie
2.2 Systemtheorie
2.3 Kunstreligion
3 Der Briefwechsel
3.1 Bis zum Bibelprojekt (1793–1798)
3.1.1 Glauben/Verstand
3.1.2 Religiöse Semantik
3.1.3 Mehr als Poesie
3.2 Das Bibelprojekt (1798/99)
3.2.1 Magischer Idealismus
3.2.2 Das absolute Buch
3.2.3 Romantisches Christentum
3.3 Nach dem Bibelprojekt (1799–1802)
3.3.1 Der Atheismusstreit
3.3.2 Bis zu Hardenbergs Tod
3.3.3 Nach Hardenbergs Tod
4 Schluss
Literatur
Fragment. Zur Programmatik und Praxis frühromantischer Theorie- und Arbeitsform
1 Zur Vorgeschichte: Historischer Kontext und Lessing als Inspirator einer kritischen Praxis des Fragments
2 Die programmatische Konzeption des romantischen Fragments als universale Theorieform bei Friedrich Schlegel
2.1 Spiel mit begrifflichen Oppositionen – unendliche Kombinatorik und „Wechselsättigung“
2.2 Pluralität und Reihenbildung (Begriffe, Fragmente, Subjekte, Zeiten)
2.3 Multiplikation und Dynamisierung
3 Das Fragment als Arbeitsform und die generative Form des Fragments bei Hardenberg
4 Sinnliche Präfiguration der Erkenntnis und Fragmentaristik als Kunst der zweiten Natur
5 Fazit
Literatur
Idylle. Transformationen der Gattung und romantische Landschaftsökologie bei Friedrich Schlegel und Friedrich von Hardenberg
1 Aneignungen der Idylle in Novalis’ Jugenddichtung
2 Idyllische Bruchstücke und Mischgattung ‚Idylle‘ – Friedrich Schlegels Literaturgeschichtsschreibung
3 Idyllen als poetische Landschaftsstücke betrachtet – Novalis’ Fragmente
4 Gattungsauflösende Transformationen – Friedrich Schlegels und Novalis’ unreine Idyllen
Literatur
Natur. Spielarten romantischer Ökologien bei Friedrich von Hardenberg, Friedrich Schlegel und Karoline von Günderrode
1 Organologien, oder: Welche Natur?
2 Poetologien, oder: Wie dichten?
3 Ethiken, oder: Was tun?
Literatur
Mathematik. Von Zauberformeln, sinnlicher Logik und echter Wissenschaft bei Friedrich Schlegel, Friedrich von Hardenberg und Johann Wolfgang von Goethe
1 Images der Mathematik um 1800
2 Friedrich Schlegel: Die Mathematik als Vehikel des Undarstellbaren
3 Friedrich von Hardenberg: Die Mathematik im Mosaik des goldenen Zeitalters
4 Johann Wolfgang von Goethe: Die Mathematik als Ernüchterung der Naturmystik
5 Fazit
Literatur

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NEUE ROMANTIKFORSCHUNG

BAN D 8

Roland Borgards / Konrad Heumann (Hg.)

Sich kreuzende Stimmen

Friedrich von Hardenberg, Friedrich Schlegel und die Romantik

Neue Romantikforschung Band 8

Reihe herausgegeben von Roland Borgards, Institut für deutsche Literatur und Didaktik Universität Frankfurt, Frankfurt am Main, Deutschland Frederike Middelhoff, Institut für deutsche Literatur und Didaktik Universität Frankfurt, Frankfurt am Main, Deutschland Martina Wernli, Institut für Deutsche Literatur und Didaktik Universität Frankfurt, Frankfurt am Main, Deutschland Beiratsmitglieder Katharina Boehm, Universität Passau, Passau, Deutschland Johannes Grave, Friedrich-Schiller-Universität Jena, Jena, Deutschland Christiane Holm, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Halle (Saale), Deutschland Helmut Hühn, Friedrich-Schiller-Universität, Jena, Deutschland Gesine Müller, Universität zu Köln, Köln, Deutschland Klaus Müller-Wille, Universität Zürich, Zürich, Schweiz Monika Schmitz-Emans, Ruhr-Universität Bochum, Bochum, Deutschland

Die Reihe „Neue Romantikforschung“ (mit Peer Review) versammelt internationale Forschungsbeiträge zu romantischen Themenkomplexen. Aufgenommen werden Monographien und Sammelbände, die Theorien, Kulturen, Künste und Ästhetiken der Romantik beleuchten. Offen steht die Reihe allen romantikrelevanten Disziplinen, den Literatur-, Theater-, Kunst-, Film-, Medien- und Musikwissenschaften, der Philosophie und Politischen Theorie.

Roland Borgards  •  Konrad Heumann Hrsg.

Sich kreuzende Stimmen Friedrich von Hardenberg, Friedrich Schlegel und die Romantik

Hrsg. Roland Borgards Institut für deutsche Literatur und ihre Didaktik Goethe-Universität Frankfurt am Main Frankfurt am Main, Deutschland

Konrad Heumann Freies Deutsches Hochstift/Frankfurter Goethe-Museum Frankfurt am Main, Deutschland

ISSN 2730-6399     ISSN 2730-6402  (electronic) Neue Romantikforschung ISBN 978-3-662-70599-5    ISBN 978-3-662-70600-8 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-662-70600-8 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2025 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jede Person benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des/der jeweiligen Zeicheninhaber*in sind zu beachten. Der Verlag, die Autor*innen und die Herausgeber*innen gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag noch die Autor*innen oder die Herausgeber*innen übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Einbandabbildung: Friedrich Schlegel, Philosophische Fragmente. Erste Epoche. III, pag. 21: „Symphilos[ophie] mit Hardenberg. in Briefen / Er Zauberer, ich nur Prophet. – Ironie über das Experimentiren mit d[er] Fantasie. Polit[ik] + Mythol[ogie] giebt Relig[ion] – Relig[ion] d[er] Physik.“ Historisches Archiv des Erzbistums Köln, AEK, Nachlass Friedrich Schlegel 13. (Vgl. KFSA XVIII 142) Planung/Lektorat: Oliver Schuetze J.B. Metzler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany Wenn Sie dieses Produkt entsorgen, geben Sie das Papier bitte zum Recycling.

Vorwort

Friedrich von Hardenberg und Friedrich Schlegel verdanken wir zwei der berühmtesten Denkfiguren der Romantik: die ‚blaue Blume‘1 und die ‚progressive Universalpoesie‘.2 Quellpunkte solcher Denkfiguren sind häufig ‚symphilosophische‘ Situationen: das Gespräch, die Zuneigung, der Streit, die Hausgemeinschaft, die Geselligkeit, die literarische Zusammenarbeit und nicht zuletzt der Briefwechsel. Ein solcher Briefwechsel ist auch derjenige zwischen Hardenberg und Schlegel, der anlässlich des 250. Doppelgeburtstages von Schlegel (geboren im März 1772) und Hardenberg (geboren im Mai 1772) von April bis September 2022  in einer sechsteiligen Ausstellungreihe im Deutschen Romantik-Museum, Frankfurt am Main, zu sehen war.3 Begleitend zur Ausstellung hat sich die Goethe-Ringvorlesung des Instituts für Deutsche Literatur und ihre Didaktik an der Universität Frankfurt im Sommersemester 2022 unter dem Titel Sich kreuzende Stimmen mit dem Anteil Hardenbergs und Schlegels an der frühromantischen Theoriebildung auseinandergesetzt. Der vorliegende Band dokumentiert die Beiträge dieser Ringvorlesung. Wie die Ringvorlesung so erhebt auch der vorliegende Band keinen Anspruch darauf, die für das Forschungsfeld einschlägigen Themen vollständig oder auch nur repräsentativ zu erfassen. Die Liste des nicht Berücksichtigten ist lang. Nichtsdestotrotz weisen die sieben hier versammelten Beiträge einen Pfad durch das frühromantische Terrain zwischen Hardenberg und Schlegel. Zunächst bleibt dieser Weg nah am Briefwechsel: Nicholas Saul zeichnet nach, wie der Brief selbst zum Me Novalis Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Historisch-kritische Ausgabe. Begründet von Paul Kluckhohn und Richard Samuel. Hg. von Richard Samuel in Zusammenarbeit mit Hans-Joachim Mähl und Gerhard Schulz. Verschiedene Auflagen. 6 Bände. Stuttgart 1960 ff., Bd. 1, S. 195. 2  Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Begründet von Ernst Behler, fortgeführt von Andreas Arndt, hg. von Ulrich Breuer. Paderborn u. a. 1958ff., Bd. 2, S. 181. 3  Vgl. hierzu Nicholas Saul, Johannes Endres (Hg.): Ich liebe Deine Liebe. Der Briefwechsel zwischen Friedrich Schlegel und Friedrich von Hardenberg (Novalis). Eine Ausstellung zum 250. Geburtstag der beiden Dichter. Erläuterungen, Textkonstitution und Redaktion: Konrad Heumann, Katja Kaluga, Bettina Zimmermann. Göttingen, Frankfurt a.M. 2022. 1

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Vorwort

dium des Symphilosophierens wird; Johannes Endres analysiert die sich im ­Briefwechsel entwickelnden Ideen zu einer Republik; Ulrich Breuer folgt den Spuren der Religion. Sodann entfernt sich der Pfad vom Briefwechsel, bleibt aber ganz im Wechselspiel zwischen Hardenberg und Schlegel — und dies im Blick auf zwei Schreibverfahren: Rahel Villinger widmet sich dem Fragment, Barbara Thums der Idylle. Schließlich werden weitere Stimmen mit aufgenommen: In Roland Borgards’ Überlegungen zur Natur geht es neben Hardenberg und Schlegel auch um Karoline von Günderrode; in Franziska Bomskis Erläuterungen zur Mathematik kommt schließlich auch Goethe zu Wort. Der Briefwechsel zwischen Hardenberg und Schlegel bildet also den Ausgangspunkt der hier versammelten Überlegungen. Gleichwohl weist der Band auch über die Fragen, die die beiden Frühromantiker im brieflichen Austausch entwickeln, hinaus. Der Akzent liegt dabei auf Themenfeldern, die in der Forschung bisher weniger intensiv aufgegriffen wurden: auf der Idylle und nicht etwa dem Roman; auf der Ökologie und nicht etwa dem System der Künste; auf der Mathematik und nicht etwa der Chemie. All das bleibt unvollständig, aber es ergibt doch einen charakteristischen Klang: den Klang sich kreuzender Stimmen. Diese Titelformulierung unseres Bandes haben wir den Lehrlingen zu Sais entlehnt: „Der Lehrling hört mit Bangigkeit die sich kreutzenden Stimmen. Es scheint ihm jede Recht zu haben, und eine sonderbare Verwirrung bemächtigt sich seines Gemüths. Allmählig legt sich der innre Aufruhr, und über die dunkeln sich an einander brechenden Wogen scheint ein Geist des Friedens heraufzuschweben, dessen Ankunft sich durch neuen Muth und überschauende Heiterkeit in der Seele des Jünglings ankündigt.“4

Was dem Lehrling Bange macht, ist nicht allein die Mehr- und Vielstimmigkeit des Gesprächs, sondern der unlösbare Widerstreit der sich kreuzenden Stimmen: „Es scheint ihm jede Recht zu haben“. Tertium datur, es gibt ein Drittes zwischen wahr und falsch, und das bringt die Grundfesten der klassischen Metaphysik ins Wanken. Darauf lediglich mit einer „sonderbare[n] Verwirrung“ zu reagieren, kann man schon fast gelassen nennen; es sind auf jeden Fall gute Voraussetzungen, um vom Aufruhr zum Frieden zu gelangen. Denn auch wenn die Stimmen sich kreuzen, Unterschiedliches sagen, bisweilen Unvereinbares und gleichwohl Gültiges, gibt es doch einen Rezeptionsmodus, der dies alles zusammenzuhören vermag und dabei auf voreilige Harmonisierungen zu verzichten weiß: die „überschauende Heiterkeit“. Ihre sich kreuzenden Stimmen in dieser Haltung zusammenzulesen, damit wären Friedrich von Hardenberg und Friedrich Schlegel wahrscheinlich einverstanden gewesen. 

 Novalis Schriften, Bd. 1, S. 91.

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Roland Borgards Konrad Heumann

Inhaltsverzeichnis

Brief. „Symorganisation und Symevolution“ im frühromantischen Briefwechsel zwischen Friedrich von Hardenberg und Friedrich Schlegel ��������������������������������������������������������������������������������������������������������������   1 Nicholas Saul  Republik. Kosmopolitische Spekulationen der Frühromantik ��������������������  17 Johannes Endres Religion. Apotheosen des Individuellen im Briefwechsel zwischen Friedrich Schlegel und Friedrich von Hardenberg����������������������������������������  39 Ulrich Breuer Fragment. Zur Programmatik und Praxis frühromantischer Theorie- und Arbeitsform ��������������������������������������������������������������������������������  75 Rahel Villinger Idylle. Transformationen der Gattung und romantische Landschaftsökologie bei Friedrich Schlegel und Friedrich von Hardenberg�������������������������������������������������������������������������������������������������������� 101 Barbara Thums Natur. Spielarten romantischer Ökologien bei Friedrich von Hardenberg, Friedrich Schlegel und Karoline von Günderrode������������������ 121 Roland Borgards Mathematik. Von Zauberformeln, sinnlicher Logik und echter Wissenschaft bei Friedrich Schlegel, Friedrich von Hardenberg und Johann Wolfgang von Goethe ������������������������������������������������������������������ 145 Franziska Bomski

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Autorenverzeichnis

Franziska Bomski, Dr.,  Einstein Forum, Potsdam, Deutschland Roland  Borgards, Prof. Dr.,  Institut für deutsche Literatur und ihre Didaktik, Goethe-­Universität Frankfurt am Main, Frankfurt am Main, Deutschland Ulrich Breuer, Prof. Dr.,  Deutsches Institut, Neuere Deutsche Literaturgeschichte, Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Mainz, Deutschland Johannes Endres, Prof. Dr.,  Department of the History of Art, University of California, Riverside, Vereinigte Staaten Konrad Heumann, Dr.,  Freies Deutsches Hochstift/Frankfurter Goethe-Museum, Frankfurt am Main, Deutschland Nicholas Saul, Prof.,  Durham University, Durham, Vereinigtes Königreich Barbara  Thums, Prof. Dr.,  Deutsches Institut, Neuere Deutsche Literaturgeschichte, Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Mainz, Deutschland Rahel Villinger, Dr.,  Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, Universität Zürich, Zürich, Schweiz

IX

Brief. „Symorganisation und Symevolution“ im frühromantischen Briefwechsel zwischen Friedrich von Hardenberg und Friedrich Schlegel Nicholas Saul

Im Folgenden geht es um die epochemachende Korrespondenz zwischen Friedrich von Hardenberg und Friedrich Schlegel in den Jahren 1793 bis 1800. Diesem Brief­ wech­sel widmete sich im Sommer 2022 – anlässlich des 250. Geburtstags der beiden Dichter – eine Ausstellung im Deutschen Romantik-Museum in Frankfurt am Main, kuratiert von Johannes Endres und mir selbst.1 Ziel der Ausstellung war es, anhand der Briefe eine Rekonstruktion und Neudeutung dieser singulären Freund­ schaft an der Schwelle der Moderne vorzunehmen, außerdem eine Neupositionierung dieses Briefwechsels in der Geschichte des Briefs. Dabei bauten wir zum Teil auf der verdienstvollen Pionierarbeit von Max Preitz auf. In seiner Ausgabe Friedrich Schlegel und Novalis. Biographie einer Romantikerfreundschaft in ihren Briefen (1957)2 konnte Preitz als Erster, wie er sagt, ein „plastisches Gesamtbild“3 der Freundschaft rekonstruieren, „eine Geschichte der Einwirkungen beider auf­ei­nan­ der“.4 In den letzten Jahren ist in der Forschung aber weniger der Einzelbrief oder  Vgl. Nicholas Saul, Johannes Endres (Hg.): Ich liebe Deine Liebe. Der Briefwechsel zwischen Friedrich Schlegel und Friedrich von Hardenberg (Novalis). Eine Ausstellung zum 250. Geburtstag der beiden Dichter. Erläuterungen, Textkonstitution und Redaktion: Konrad Heumann, Katja Kaluga, Bettina Zimmermann. Göttingen, Frankfurt a.M. 2022. Die folgenden Überlegungen gehen z. T. auch zurück auf die Tagung Novalis’ Netz-Werke: Diskurs und Universalität. Hardenberg zum 250. der Internationalen Novalis-Gesellschaft im Literaturhaus Halle am 2./3. Mai 2022. Die Tagungsbeiträge erscheinen 2023 im Jahrbuch der Internationalen Novalis-Gesellschaft Blütenstaub, Bd. 8. 2  Friedrich Schlegel und Novalis. Biographie einer Romantikerfreundschaft in ihren Briefen. Auf Grund neuer Briefe Schlegels hg. v. Max Preitz. Darmstadt 1957. 3  Friedrich Schlegel und Novalis, S. 234. 4  Friedrich Schlegel und Novalis, S. 235. 1

N. Saul (*) Durham University, Durham, Vereinigtes Königreich E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2025 R. Borgards, K. Heumann (Hrsg.), Sich kreuzende Stimmen, Neue Romantikforschung 8, https://doi.org/10.1007/978-3-662-70600-8_1

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N. Saul

auch nur der Briefwechsel zweier Korrespondenzpartner:innen Gegenstand des ­Erkenntnisinteresses, sondern der Zusammenhang aller solcher bilateralen Kommunikationen in einer übergeordneten Struktur: im sogenannten kommunikativen Netzwerk.5 Im Netzwerk, folgt man den Begründern der Akteur-Netzwerk-Theorie Bruno Latour und Graham Harman,6 werden, ganz allgemein formuliert, Elemente durch Handlungen im System pragmatisch miteinander verbunden, in einer soge­ nann­ten assemblage. Im Klartext: Es gibt kein Außen, auch keine präexistente En­ ti­tät namens ‚Gesellschaft‘ im Sinne von Émile Durkheim, vielmehr werden solche Dinge erst durch das Netzwerk selbst konstituiert. Netzwerkanalysen bieten also einen passenden konzeptuellen Rahmen, um die emergente Struktur der Briefgesellschaft zu beschreiben. Im Zusammenhang dieses Network Turn in der Forschung versucht man nun, die Briefforschung und exemplarisch die Briefe der Romantiker:innen im überindividuellen Kontext des Netzwerks als Elemente im System neu zu beleuchten. So gesehen kann man erkennen, wie in der Frühromantik Ende des 18. Jahrhunderts völlig neue, z.  T. hochkomplexe Konstellationen der Kommunikation entwickelt werden. In der Aufklärung, so kann man auch in den Briefstellern der Zeit lesen,7 herrscht hinsichtlich Stil und Zweck der Briefkommunikation im Zeichen der individuellen Autonomie so etwas wie Diskretion oder Diplomatie, eine Anerkennung der Würde des Anderen. Digressionen oder Selbstinszenierungen sind strikt zu ver­ mei­den.8 Es bildet sich eine Gemeinschaft solcher Individuen. In der Emp­find­sam­ keit dagegen rückt man den Frühromantikern schon einen Schritt näher. Der empfindsame Brief – man denke an den jungen Werther – ist zum Medium inten Siehe zum Thema Jochen Strobel: Brief und Netzwerk. In: Norman Kasper, Jana Kittelmann, Jochen Strobel, Robert Vellusig (Hg.): Die Geschichtlichkeit des Briefs. Kontinuität und Wandel einer Kommunikationsform. Berlin, Boston 2021, S. 39–63; Wolfgang Bunzel: Briefnetze der Romantik. Theorie – Praxis – Edition. In: Anne Bohnenkamp, Elke Richter (Hg.): Brief-Edition im digitalen Zeitalter. Berlin, Boston 2013, S. 109–132. Zur Geschichte des Briefes: Karl Heinz Bohrer: Der romantische Brief. Die Entstehung ästhetischer Subjektivität. München, Wien 1987; Jochen Strobel: Brief. In: Thomas Anz (Hg.): Handbuch Literaturwissenschaft. Gegenstände – Konzepte – Institutionen. Bd. 2: Methoden und Theorien. Stuttgart, Weimar 2007, S. 166–174; Wolfgang Bunzel: Nach Bohrer. Überlegungen zum „romantischen Brief“. In: Norman Kasper u.  a. (Hg.): Die Geschichtlichkeit des Briefs. S. 141–163; Helmut Schanze: Erfindung der Romantik. Stuttgart 2018; Claudia Bamberg: Das Briefnetzwerk der Jenaer Frühromantik. In: Marie Isabel Matthews-Schlinzig, Jörg Schuster, Gesa Steinbrink und Jochen Strobel (Hg.): Handbuch Brief. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. Bd. 1: Interdisziplinarität – Systematische Perspektiven  – Briefgenres. Berlin, Boston 2020, S.  1032–1042; zu Hardenberg und F.  Schlegel grundlegend: Helmut Schanze: „Dualismus unsrer Symphilosophie“. Zum Verhältnis Novalis – Friedrich Schlegel. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 1966, S. 309–335. 6  Bruno Latour: Reassembling the Social. An Introduction to Actor-Network-Theory. Oxford 2005; Graham Harman: Prince of Networks. Bruno Latour and Metaphysics. Melbourne 2009. 7  Für die Aufklärung repräsentativ: Karl Philipp Moritz: Anleitung zum Briefschreiben für das gemeine Leben. Neue Auflage. Berlin 1795; vgl. ferner: Günter Oesterle: Eigenarten romantischer Geselligkeit. In: Helmut Hühn, Joachim Schiedemair (Hg.): Europäische Romantik. Interdisziplinäre Perspektiven der Forschung. Berlin u. a. 2015, S. 201–214. 8  Oesterle: Eigenarten romantischer Gesellschaft, S. 206–212. 5

Brief

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sivster gegenseitiger Selbstmitteilung geworden, fast ohne Selbstzensur. Der Adres­ sat wird nolens volens in seiner rezeptiven Rolle festgebannt. Auch in der Romantik ist, nach Karl Heinz Bohrer, Wolfgang Bunzel oder Helmut Schanze, eine Selbst­ zen­sur gegenüber dem Adressaten nicht gegeben. Es handelt sich aber nicht (nur) um Herzensergießungen als Beichten, sondern eher um hochreflektierte, dra­ma­ tisch-ästhetische Selbstdarstellungen der Schreiber – also um Performanz. Der romantische Brief ist nach diesem Verständnis fast eine Verweigerung der intersubjektiven Kommunikation und eine Feier des Solipsismus. Zugleich werden aber die Adressaten mit einer hermeneutischen Herausforderung konfrontiert, welche eine indirekte Einladung zur Bildung einer esoterisch-ästhetischen Gemeinde darstellt. Somit funktioniert der romantische Brief auch als Brücke zwischen den Polen Kunst und Leben – im romantischen Sinne einer Poetisierung der Welt. Damit ist die romantische Briefkommunikation selbst eine Art von Network Turn. Die so gebildete Gemeinschaft der Schreiber:innen und Leser:innen funktioniert als Instrument für die Analyse der romantischen Briefkommunikation. Nun steckt die Netzwerk-Analyse zwar noch in den Anfängen, doch erscheint sie für die Erforschung von Briefkommunikation als vielversprechend. Ziel einer solchen Metaanalyse sind Fragen wie: Welche Form hat das Netzwerk? Ist es ein zentralistisch-­unipolares Netzwerk oder eines mit einer konstellationhaften, ho­mo­ gen-multipolare Verteilung? Oder wenn beides: Wo und was sind deren Grenzen? Romantische Briefe sind bezeichnenderweise häufig an mehrere Adressaten zu­ gleich gerichtet, das romantische Netzwerk ist also dezidiert polyzentrisch. Auf einer höheren Ebene erlaubt die Netzwerkanalyse ferner  – über digitale Me­ta­da­ ten  – die systematische Erforschung der Zirkulation des Wissens in einer Ge­ sell­schaft. Vor diesem Hintergrund kann es hier nur um einen Beitrag zur Vorstufe der Netzwerk-­Bildung gehen, also um eine Ergänzung zu Preitz’ Ergebnissen, die aus unseren Vorstudien zur Vorbereitung der besagten Ausstellung hervorgeht. Im Zen­ trum steht dabei die Rekonstruktion des Selbstverständnisses der ersten Frühromantiker als Kollektiv oder Familie. Die These ist, dass zwei Begegnungen – einmal mit der Philosophie Fichtes, einmal mit der vitalistischen Tradition  – den Traditionsbruch mit Aufklärung und Empfindsamkeit katalysieren und Hardenbergs und Schlegels radikale Erfindung der romantischen Brieftradition anbahnen. Es entsteht ein neuartiges Verhältnis zwischen zwei jungen Männern, welches die überkommene Auffassung der Individualität auflöst und ein neues Kollektiv-Verständnis anzeigt. Zunächst eine kurze Charakteristik des Briefwechsels. Von der Korrespondenz zwischen Hardenberg und Schlegel haben sich – nach den Recherchen der historisch-kritischen Ausgaben der beiden Autoren – insgesamt 62 Briefe erhalten, 25 aus Hardenbergs Feder, 37 von Schlegel, alle zwischen dem 7. April 1793 und dem 28. Juli 1800 geschrieben. Mit Sicherheit sind 10 bis 20 Briefe verloren oder zerstört. Aus der Perspektive Hardenbergs umfassen sie biographisch die Zeit vom letzten Jahr seines Jura-Studiums in Wittenberg bis zum letzten Sommer überhaupt, in dem er eine mäßig gute Gesundheit genoss, beruflich als Salinenassessor diente,

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bis er Ende 1800 zum Amtshauptmann ernannt wurde.9 Diese Jahre brachten mehrere weltanschauliche Krisen mit sich: die Konsequenzen seines indiskreten Liebeslebens 1792 (Julie Eisenstuck) in Leipzig; seine knapp zwei Jahre umfassenden Fichte-­Studien; den Konflikt zwischen seiner leidenschaftlichen Liebe zur Phi­lo­so­phie und Poesie und der bürgerlichen Berufslaufbahn, welche sein pietistischer Vater  – in dieser Hinsicht typisch für den relativ armen Kleinadel der Zeit – für ihn in den Salinen Thüringens geplant hatte; die bittere Erfahrung vom Tod der jungen Verlobten Sophie von Kühn im März 1797; sein intensives Studium der Bergbauwissenschaften an der Bergakademie Freiberg; seine zweite Verlobung mit Julie von Charpentier Anfang 1799, trotz der noch tiefen Anhänglichkeit an Sophies Er­in­ne­rung; außerdem Freundschaften nicht nur mit Friedrich, sondern auch August Wilhelm und Caroline Schlegel, mit Schiller, Fichte, Tieck, Schelling, Ritter und Baader; wichtige Begegnungen nicht zuletzt mit Goethe und Jean Paul; dann die Herauskristallisierung der frühromantischen Gruppe um die Zeit des ersten großen Romantiker-Treffens am 25. und 26. August 1798 in Dresden mit dem Besuch der Gemäldegalerie und der Antikensammlung bei Fackellicht; dann das zweite Treffen vom 11. bis zum 15. November 1799 in Jena; schließlich, aus dem Briefwechsel mit Friedrich Schlegel hervorgehend, der Beginn von Hardenbergs Karriere als Schrift­ stel­ ler, mit Blüthenstaub, Glauben und Liebe und den Athenaeums-­Fragmenten (1798). Aus der Perspektive Schlegels10 umfassen diese Jahre ebenfalls weltanschaulich-­ emotionale Krisen, nicht zuletzt wegen seiner eigenen indiskreten Liebesaffäre (Laura Limburger) in Leipzig 1792; es folgen sein rastloses Wanderleben von Leip­ zig nach Jena, Dresden, Berlin und zurück nach Jena; seine z. T. polemischen Auseinandersetzungen mit Schiller, Körner, Woltmann, Goethe und anderen; seine Freundschaft mit Schleiermacher und Tieck; seine Entscheidung, gegen den Willen des Vaters, doch in der Familientradition, Schriftsteller zu werden; sein langes Stu­ di­um der griechischen Literatur in Pillnitz, seinem sächsischen ‚Patmos‘, aus dem u. a. der Studium-Aufsatz hervorgeht; die ersten Kritiken und Aufsätze im Deutsch­ land und dem Lyceum; die Gründung des frühromantischen Hauptorgans Athenaeum mit seinem Bruder August Wilhelm (1798); seine Liebe zu Dorothea Veit-­ Mendelssohn; seine grundlegende Begriffsbildung der Frühromantik: die romantische Ironie, das Fragment, die Arabeske, der romantische Roman (Lucinde), die Poesie; und nicht zuletzt seine Lehrtätigkeit als Philosoph in Jena.

 Zu Hardenbergs Biographie Gerhard Schulz: Novalis mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten [1969]. Reinbek bei Hamburg 1987; Gerhard Schulz: Die Berufslaufbahn Friedrich von Hardenbergs (Novalis). In: Ders. (Hg.): Novalis. Beiträge zu Werk und Persönlichkeit Friedrich von Hardenbergs. Darmstadt 1970, S. 283–356. 10  Zu Schlegels Biographie Ernst Behler: Friedrich Schlegel in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten [1966]. Reinbek bei Hamburg 1978. 9

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1 Eine neue Form brieflicher Kommunikation An diesem Punkt einige Anmerkungen zum Inhalt und Tenor der Briefe.11 Die Hauptbedingungen des Briefwechsels sind die ungemein starke, aber noch unverstandene und keimartige innere Affinität zweier junger Intellektueller in der Leipziger Universitätsszene 1792 sowie deren rapide geographische Trennung nach der skandalträchtigen Doppelaffäre mit Julie Eisenstuck und ihrer verheirateten Schwester Laura Limburger. Beides zog ein kommunikatives Bedürfnis nach sich. Es gab unbewältigte Emotionen und weiter bestehende gemeinsame Erkenntnisinteressen, welche nicht mehr durch leibliche Präsenz befriedigt werden konnten, sondern nur kompensatorisch durch schriftliche Vertreter der jeweils abwesenden Person. Bezeichnend ist zunächst Schlegels Haltung. Sowohl Hardenberg gegenüber als auch gegenüber Dritten konnte der nur drei Monate ältere Schlegel in einen geradezu herablassenden Ton fallen. So heißt es in der allerersten Briefäußerung an den Bru­ der August Wilhelm über den neuen Leipziger Freund im Januar 1792: „Das Schicksal hat einen jungen Mann in meine Hand gegeben, aus dem Alles werden kann. – Er gefiel mir sehr wohl und ich kam ihm entgegen; da er mir denn bald das Heiligthum seines Herzens weit öffnete. Darin habe ich nun meinen Sitz aufgeschlagen und for­ sche.“ (Januar 1792, HKA IV, S. 571)

Wenig später heißt es ebenso herablassend, jedoch noch schärfer: „Es kann alles aus ihm werden – aber auch nichts.“ (11.2.1792, HKA IV, S. 573) In Wahrheit war der junge Schlegel keineswegs der dominante Partner. Zunächst ist der Umgangston dezidiert emotional. Schlegel tröstet und stärkt den Freund, nachdem dieser infolge der Leipziger Affäre mit Julie einen „Fleck auf seine Ehre“ (an A.W. Schlegel, 8.5.1793, HKA IV, S.  576) bekommen hat und mit dem Gedanken an Selbstmord spielt (7.4.1793, HKA IV, S.  350f.; vgl. HKA IV, S.  354f.).12 Hier neigt man dazu, die empfindsamen Herzensergießungen eines Werther als Modell zu vermuten. Hardenberg ist durchaus in der Lage, wie der hintergangene Verlobte Lottes in Goethes Roman als „Dein Freund Albert von Hardenberg“ (1. Augusthälfte 1793, HKA IV, S. 126) zu unterzeichnen. Doch funktioniert hier die Kommunikation eben nicht wie beim narzisstischen Werther in seinen Briefen an Wilhelm, denn die Zuwendung der neuen Freunde ist durchaus reziprok. Entsprechend finden wir Hardenberg wenig später in der gegenteiligen Rolle, als er Schlegel nach dessen Affäre mit Laura von eigenen Selbstmordgedanken abbringt,: „Aber nun sag einmal, ist es denn nicht möglich, daß Du unter uns bleibst? [...] Erhalte Dich, wirf Dich der Natur in die Arme, sie hat Plaz und Liebe genug für Dich“ (1. Augusthälfte 1793, HKA IV, S. 124f.).  Die Korrespondenzstücke werden zitiert nach: Novalis Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Historisch-kritische Ausgabe. Begründet von Paul Kluckhohn und Richard Samuel. Hg. von Richard Samuel in Zusammenarbeit mit Hans-Joachim Mähl und Gerhard Schulz. 6 Bde. Stuttgart 1960–2008, Bd. 4: Tagebücher, Briefwechsel, Zeitgenössische Zeugnisse. Stuttgart 1975. (Sigle HKA) Unterdessen überholte Datierungen wurden korrigiert. 12  Ebenso tröstet Schlegel seinen Freund vier Jahre später nach dem Tode der ersten Verlobten Sophie von Kühn – nur diesmal mit einer Dosis Romeo und Julia (13.5.1797, HKA IV, S. 35–36, S. 38). 11

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Dementsprechend sind beide Freunde durchaus auch in der Lage, sich ge­gen­sei­tig ungehemmt-vorwurfsvoll zu schelten. So heißt es, als ein ersehnter Brief des Freundes bei Hardenberg verspätet eintrifft: „Ich sah lange die Züge Deiner Hand an und wollte nur nicht glauben, daß ich wirklich Dich vor mir hätte. Gott sei Dank: stammelte ich [...]“ (1.8.1794, HKA IV, S. 138). Zum Schluss warnt Hardenberg ironisch davor, welche Folgen es hätte, sollte die Briefquelle wieder versiegen: „aber Mittheilung, Theilnahme, Arm, an dem Du wandeltest – das wird Dir fehlen und wird Dir fehlen, wie es keinem fehlt.“ (1.8.1794, HKA IV, S. 138) Noch Jahre später kann Schlegel seinerseits nach einer Schweigeperiode Hardenbergs im glei­chen Ton provozieren: „Wäre es möglich, daß Du an mir etwas entschieden misbilligen oder nur stark bezweifeln könntest, ohne offen zu reden? Deine Freundschaft ist für mich ein zu köstliches Gut, als daß ich nicht mit einer gewissen Reizbarkeit es sagen sollte.“ (26.5.1797, HKA IV, S. 486) Gleiches gilt für den intellektuellen Austausch. Auch hier spielt Hardenberg, vor allen Dingen in den ersten Jahren, die Rolle des Lehrlings, mit überschwänglich-­ schmeichelhaften, klassischen wie biblischen Anspielungen: „Für mich bist Du der Oberpriester von Eleusis gewesen. Ich habe durch Dich Himmel und Hölle kennen gelernt  – durch Dich von dem Baum des Erkenntnisses gekostet“ (erste Augusthälfte 1793, HKA IV, S. 124). Doch werden auch hier die Rollen leicht getauscht. Deutlich ist Hardenberg – besonders nach dessen intensiven Fichte-Studien, während Schlegel seine Griechen liest – der eigentliche Philosoph von beiden. Wenn Schlegel sich auf den philosophischen Austausch freut: „Ach könnten wir doch wie­ der einmahl fichtisiren so herzlich, so gemüthlich, so behaglich wie es einigemahl diesen Winter geschehen ist“ (8.6.1797, HKA IV, S. 487), so muss er schnell ge­ste­ hen: „Ich bin gewiß, ich könnte von Dir, von Deinem geschrieben[en] Du eben so­ viel lernen als von Fichte“ (21.6.1797, HKA IV, S. 488). Hier setzt das briefgeschichtlich Neue im Umgang beider Männer miteinander ein. Nicht nur lieben sie es, gekonnte und geniale Neologismen wie ‚fichtisiren‘ zu prägen für Kommunikationsakte, die radikal neu und daher jenseits der gegebenen Sprache liegen – sie bilden sich selbst auf diese Weise gegenseitig neu. Es ist kein Zufall, dass hier der Name Fichte fällt. Fichtes Philosophie ist eine Art Kon­struk­ti­ vis­mus, die Lehre des sich selbst setzenden Ich, welches in ein und derselben Urhandlung des Ich-Werdens auch das Nicht-Ich – u. a. das persönliche Gegenüber – mitbestimmt. Die Worte des kommunikativen Handelns im dialogischen Austausch sind damit für Hardenberg und Schlegel Instrumente einer „Constructionslehre des schaffenden Geistes“ (7.2.1798, HKA IV, S. 263). Die Freunde erkennen den existenziellen Status des Ich als fragmentarisches Produkt der Urhandlung. Das Ich wird nunmehr – ‚fichtisirend‘ – in Sprache neu konstruiert und der Dialog zum Mit­ tel dieser Neuschöpfung. Damit fangen Hardenberg und Schlegel an, die Tradition brieflicher Kommunikation umzufunktionieren, sich in ihren Briefen nicht nur biographisch-­autobiographisch oder sonst gedanklich auszutauschen, sondern den Briefwechsel selbst als Medium geteilter Kreativität zu gebrauchen. Mehr noch: Das ist auch einer der Anfangsgründe der frühromantischen Ästhetik überhaupt, mithin unserer eigenen Moderne de longue durée.13  Zum erweiterten Begriff der literarischen Moderne: Silvio Vietta: Die literarische Moderne. Eine problemgeschichtliche Darstellung der deutschsprachigen Literatur von Hölderlin bis Thomas Bernhard. Stuttgart 1992, bes. S. 20. 13

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2 Symphilosophie Paradebeispiel für die Neudeutung des Mediums Brief ist Hardenbergs und Schlegels Faszination für die schlichte sprachliche Materialität des Briefes. Es erinnert vielleicht an die Tradition des Briefstellers, wenn Hardenberg, der für gewöhnlich (im Gegensatz zu Schlegel) gepflegt und schön schrieb, sich Anfang 1797 bei Schlegel eingangs für seine unleserliche Handschrift entschuldigt: „Du wirst wohl an meiner Feder sehn, daß ich nicht ganz, wie gewönlich, schreibe“. (10.1.1797, HKA IV, S. 194; Abb. 1) Das Problem? „Auf meiner Reise hab ich die Fatalität gehabt den Finger, neben dem Kleinen an der Rechten Hand auszufallen und bin dadurch sehr am Schreiben verhindert – indem ich nur zwey Finger dazu brauchen kann.“ (10.1.1797, HKA IV, S. 194). Am 4. Januar hatte Hardenberg nämlich vor seiner Fahrt nach Grüningen „[f]rüh den Finger gebrochen“ (HKA IV, S. 26). Interessant ist hier nicht nur seine äußerliche Schreibtechnik – er brauchte mehr als zwei Finger, um die Feder über die raue Oberfläche des Papiers gleiten zu lassen –, sondern vor allem der dadurch ermöglichte Blick in Hardenbergs Innenwelt. Er kann nicht nur nicht schreiben, sondern auch nicht lesen: „Selbst Lesen kann ich nicht recht, weil ich dabey un­auf­hör­ lich die Feder haben muß.“ (10.1.797, HKA IV, S. 194) Man sieht: Lesen ist für Hardenberg konstitutiv nicht nur Rezeption, sondern auch an sich Produktion, proAbb. 1  Hardenberg an Schlegel, 10. Januar [nicht „Dec.“, wie auf dem Manuskript zu lesen ist] 1797, 1. Seite (Freies Deutsches Hochstift/ Frankfurter Goethe-­ Museum, Hs-11873)

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duktive Rezeption. Daran erkennt man Hardenbergs an sich dialogische Natur. Lesen heißt: schreibend auf das Gelesene potenzierend antworten zu müssen oder zu sollen. Daher die knapp 100 Druckseiten, welche die Lektüre Fichtes provoziert haben (HKA II, S.  104–196); daher die Bedeutung des Briefwechsels mit dem ebenso dialogisch veranlagten Freund Schlegel. Hardenbergs Texte sind „Bruchstücke des fortlaufenden Selbstgesprächs in mir – Senker“, heißt es. Und weiter: „Daß wir uns sehn könnten! Meine und Deine Papiere gegen einander auszuwechseln!“ (26.12.1797, HKA IV, S. 242). Das ist mehr als nur ein Spiel mit Neologismen. ‚Symphilosophie‘, ‚Sympoesie‘, ‚Symkritik‘ u.  a.  m. sind Hauptprodukte dieser neuen Form der Ko-Kreativität. Immer wieder haben Schlegel und Hardenberg ernsthaft mit dem Gedanken ge­ spielt, die Form des dialogischen Briefs auf dem Weg Umarbeitung durch den Brief­ part­ner in ein neues literarisches oder philosophisches Werk, gar in einen romantischen Roman, übergehen zu lassen: „Ich muß Dir nur hiemit declarieren“, so Schlegel Ende Juli 1798, „daß ich gesonnen bin, auch über den Mittelpunkt Deiner Philosophie [...] mit Dir in Correspondenz zu seyn. Du scheinst zwar zu glauben, daß Deine Hauptidee nur in einem Roman mittheilbar sey. Das gebe ich bis auf das nur zu, denn sie dürfte wohl auf unendliche viele Weise mittheilbar seyn, und würde am Ende nicht eine solche Corresp[ondenz] ein Roman seyn? – Ich frage also an und bitte mir mit nächster Post zu antworten: ob ich Dir einen zu druckenden Brief über das All Deiner philosophischen Angelegenheiten schreiben darf, und sicher auf Antwort rechnen kann? Ich beziehe mich dann auf Deine Papiere und brauche vieles davon. Die Form ist absolut frey [...]“ (Ende Juli 1798, HKA IV, S. 498).

Exemplarisch für die intendierte Ko-Kreativität ist die Entstehung der Fragmentsammlung Blüthenstaub. „Auf Deine philosophischen Mitteilungen“, schreibt ihm Schlegel im Sep­tem­ ber 1797, „freue ich mich mit Heißhunger. – Aber wenn auch Symphilosophie der eigentliche Nahme für unsre Verbindung ist: so sey nicht geizig, und beschneide sie nicht ängstlich auf die Gränzen derselben. – Herrlich wär’s, wenn ich Dir auch in der Philosophie Diaskeuastendienste leisten könnte. Bescheiden gehe ich gewiß zu Werke, und einen schicklichen Platz will ich Dir dann auch vorschlagen“ (26.9.1797, HKA IV, S. 491).

Wie sind die ‚Diaskeusastendienste‘ zu verstehen, als eine Verlängerung der Symphilosophie? Das Fachwort entstammt den Schlegel wohlbekannten Prolego­ mena ad Homerum (1795) des Hallenser Professors Friedrich August Wolf.14 Dieser nämlich hatte gezeigt, dass ‚Homer‘ als Autor in Wahrheit kein In­di­vi­du­um, sondern ein Konstrukt war – der sogenannten antiken ‚Diaskeuasten‘, die als Kritiker und Editoren aus einer bunten, von den Rhapsoden (Sängern) tradierten Sammlung von Episoden um das Schicksal Trojas ein einheitliches Epos, die Ilias, ko-kreativ erzeugt hatten. Damit ist der Begriff genialer Einzel-Autorschaft sowie auch jede  Vgl. Friedrich August Wolf: Prolegomena ad Homerum. Halle 1795. Vgl. hierzu Reinhard Markner: Fraktale Epik. Friedrich Schlegels Antwort auf Friedrich August Wolfs homerische Fragen. In: Jutta Müller-Tamm, Cornelia Ortlieb (Hg.): Begrenzte Natur und Unendlichkeit der Idee. Literatur und Bildende Kunst in Klassizismus und Romantik. Freiburg i.Br. 2004, S. 199–216.

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Unterscheidung zwischen romantischer Poesie und romantischer Kritik für die beiden Freunden endgültig erledigt. Der Diaskeuastendienst stellt einen re-kreativen, rekursiven Prozess der Potenzierung eines Werks dar. So macht Schlegel, einer Einladung Hardenbergs selbst folgend (26.12.1797, HKA IV, S. 241: „Du kannst sie dann behandeln, wie Du willst“), in der ersten Nummer des Athenaeum (1798) aus dessen Vermischten Bemerkungen die dann zu Berühmtheit gelangende Fragmentsammlung Blüthenstaub. Bescheiden ging er dabei nicht zu Werke, er schnitt 13 Fragmente heraus, fügte zwei eigene hinzu u. a. m. Nicht nur beim Diaskeuastendienst an den Vermischten Bemerkungen, sondern auch nach der Um­ar­bei­tung von Glauben und Liebe bangte Schlegel vor Hardenbergs (nicht erhaltener) Antwort (28.5.1798, HKA IV, S. 493–495).15 So bleiben Hardenberg und Schlegel zeitlebens eng miteinander verbunden, gar verflochten: „Mein Leben will ich forthin gern mit Dir theilen“ (Mitte August 1793, HKA IV, S. 359), schreibt Schlegel schon Ende August 1793. „Ich möchte so herz­ lich gern ein paar Tage mit Dir fraternisieren nach alter Weise. Wie viel müssen wir uns zu sagen haben!“ (29.6.1796, HKA IV, S. 438), heißt es im Juni 1796, nach einer längeren Briefpause und dem darauffolgenden Besuch. „Vergessen hab ich Dich auf keine Weise und konnte es so leicht nicht, ohne mich selbst zu vergessen“, antwortet Hardenberg (8.7.1796, HKA IV, S. 186). Doch kam es anders. Schon immer hatte es Spannungen und Schweigephasen im Briefverkehr gegeben. Nach Abschluss des Jura-Studiums in Wittenberg und einem langen Schweigen von 1793 bis 1794 hatte Hardenberg eigentlich beschlossen, einen bürgerlichen Beruf zu ergreifen: „Wir trennen uns, wie Abraham und Loth. Du gehst nach Aufgang der Sonne; ich den gewönlichen Weg nach Westen zu“ (1. Augusthälfte 1793, HKA IV, S. 126). Später insistiert er, sie sollten eher komplementäre Rollen spielen, etwa der philosophische und der nichtphilosophische Be­ glei­ter auf dem Lebensweg des je anderen sein, wie Plato und Dion, so dass alle Rede „von der divergirenden Bahn“ „pure, blanke Hypothese“ sei: „Unser Gang muß Approximation sein“ (1.8.1794, HKA IV, S. 140f.). Doch kam es im Herbst 1798, als Hardenberg intensiv am Konzept seiner romantischen Enzyklopädie arbeitete und Schlegel eine neue, moderne Religion begründen wollte, tatsächlich zu einer Kollision der um Symphilosophie bemühten Freunde. Sah Hardenberg im Allgemeinen Brouillon, als Medium für die Verbindung von empirischem mit absolutem Wissen, eine Methode, jedes Buch zur Bibel und damit zu einer Of­fen­ba­ rung des Absoluten zu erheben (7.11.1798, HKA IV, S. 262f.),16 so wollte Schlegel eine „neue Bibel“ im traditionellen, historisch-narrativen Sinne schreiben (20.10.1798, HKA IV, S. 501).17 Das führte schnell zu einer starken gegenseitigen Differenzierung des bisher unkritisch-irenisch verstandenen Begriffs der Symphilosophie, der Grundlage ihrer romantischen Freundschaft. Hardenberg für seinen Teil ist angenehm überrascht von der prästabilierten Harmonie ihrer philosophischen  Zur Rekonstruierbarkeit der noch dunklen Entstehungsgeschichte des endgültigen Manuskripts zum Blüthenstaub vgl. Richard Samuel: Einleitung. In: HKA II, S. 399–411. 16  Vgl. Nicholas Saul, Johannes Endres (Hg.): Ich liebe Deine Liebe, S. 116. 17  Vgl. hierzu ausführlich in diesem Band den Beitrag von Ulrich Breuer. 15

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Einbildungskraft, die er als Indiz eines gemeinsamen Ursprungs ansieht: „Je länger wir mit einander umgehn, desto mehr werden wir uns auf einander besinnen und des Geheimnisses unsrer Entzweyung immer theilhaftiger werden“ (7.11.1798, HKA IV, S. 263). Schlegel dagegen bleibt ambivalent. Einerseits ist er ebenso angenehm überrascht über „das absichtslose Zusammentreffen unsrer biblischen Projekte“ wie Hardenberg. Andererseits beurteilt er den gleichzeitigen Einfall eines neuen, aber recht unterschiedlichen Bibelprojekts durchaus kritisch, als Inkongruenz oder gar Scheitern der Symphilosophie. In schneidend und bewusst biblisch konstruierter, apokalyptischer Bildlichkeit bezeichnet er die Gleichzeitigkeit als „eines der auffallendsten Zeichen und Wunder unsres Einverständnisses und unsrer Mißverständnisse“ (2.12.1798, HKA IV, S. 506). Hardenbergs Enzyklopädie hält er des­pek­tier­ lich für eine Art Stilfibel für Naturwissenschaftler. So kommt es notgedrungen zu einer Art Lösung dieses famosen „Dualismus unsrer Symphilosophie“ (2.12.1798, HKA IV, S. 508), wahrscheinlich in der Form der exoterischen Predigt Die Chris­ ten­heit oder Europa, welche auf virtuose Weise die Diskurse der Naturwissenschaft und der Religion vermählt.18

3 Symorganisation / Symevolution Im letzten Teil meiner Ausführungen möchte ich einen anderen Aspekt dieser pro­to­ ty­pisch modernen, therapeutischen Freundschaft zweier selbstbewusst fragmentarisch-­ defizitär-komplementärer Persönlichkeiten hervorheben. Es fällt nämlich auf, dass – für Hardenberg insbesondere – ihre gemeinsame, komplexe Identität eine organische Dimension aufweist. Hardenberg spricht nämlich nicht nur von „Symphilosophie“, sondern in einem eher naturwissenschaftlichen Idiolekt auch von „unserer innern Symorganisation und Symevolution“ (7.11.1798, HKA IV, S.  262). Auch Schlegel wählt häufig solche Termini. Hardenberg sei ihm „un­aus­lösch­lich ins Innerste gewurzelt“ (20.10.1798, HKA IV, S. 502), schreibt er einmal. Kurz vorher hatte Hardenberg, wie wir sahen, spekuliert, ihr fortgesetzter brieflicher Umgang miteinander werde schließlich zur Offenbarung „des Geheimnisses unsrer Entzweyung“ (7.11.1798, HKA IV, S. 263) führen. Dergleichen organische Metaphern ersetzen langsam jene eher mechanistischen oder technischen Wendungen.19 Auch in der versöhnlich gemeinten Christenheit spielen „fortschreitende, immer mehr sich vergrößernde Evolutionen“ (HKA III, S. 510) der Geschichte eine zentrale Rolle. Im Hintergrund der ‚Symphilosophie‘ verbirgt sich deutlich genug Fichtes epochemachende Philosophie. Woher aber die ‚Symevolution‘? Kurz vor dem zitierten Dialog finden wir ein Indiz. Am 20. August 1798 schreibt Schlegel im Zei­chen von Hardenbergs naturphilosophischen Studien in Freiberg über das System des ge Vgl. ferner Schlegels Fragment An Novalis sowie Hardenbergs Antwort An Julius (HKA III, S. 493). Hierzu: Nicholas Saul, Johannes Endres (Hg.): Ich liebe Deine Liebe, S. 119. 19  Zur Organologie bei Schlegel und Hardenberg vgl. in diesem Band ausführlich den Beitrag von Roland Borgards. 18

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meinsamen Freundes Schelling. Insbesondere fragt er im Auftrag Schellings, ob er, Hardenberg, ihm eine Abschrift seiner Zoologischen Fragmente (20.8.1798, HKA IV, S.  500) zukommen lassen könne. Eine solche Fragmentsammlung existiert leider nicht, dafür gibt es zahlreiche Aufzeichnungen Hardenbergs zum Thema Zoologie, welche Schlegel vermutlich kannte. Im gleichen Brief bittet Schlegel den Freund aber auch, ihm sein Exemplar von „Darwins Zoonomie“ (20.8.1798, HKA IV, S. 500) zu leihen.20 Das soll im Zusammenhang der ‚Symphilosophie‘ zur Un­ter­mau­e­rung von Hardenbergs wissenschaftlicher Autorität dienen, insofern er, Hardenberg, die Rolle des Sokrates im dialogischen Erkenntnisspiel übernimmt. Erasmus Darwins Zoonomia (1792–1794, HKA IV, S. 500),21 von der Schlegel spä­tes­tens während der Bearbeitung der Vermischten Bemerkungen (HKA II, S. 418:18) wird erfahren haben, ist in der Tat eine Theorie der Evolution, freilich nicht im Sinne von Charles Darwins materialistischer Theorie der zufällig-ateleologischen Variation im adaptiven Kampf ums Dasein, sondern eher am Vitalismus orientiert. Erasmus Darwin interessiert mehr die innere Einheit – die Lebenskräfte – aller scheinbar getrennten Lebensbereiche. So beschreibt er insbesondere die ver­meint­lich bewegungs- und erkenntnislosen Blumen als eine niedrige Form des animalischen Lebens. Blumen verfügen Darwin zufolge nämlich über bisher unerkannte animalische Erkenntniskräfte, über Sensibilität und Irritabilität, und empfinden auch erotische Begierde. Nur so kann man die lustvolle Bewegung der männlichen Antheren (Staubbeutel) in Richtung des weiblichen Stigma (‚Narbe‘) im Blumenkelch erklären, welche offensichtlich der Selbstreproduktion dient. So entfaltet sich in der progressiven – evolutionären – scala naturae die innere Einheit der vegetabilischen und animalischen Reiche. Bei Darwin fand Hardenberg eine genuin naturwissenschaftliche Autorität für seine Überzeugung, die Liebe sei als „Unum des Universums“ (HKA III, S. 248:50) die höchste Lebenskraft eines progressiven, sich durch die verschiedenen ­Lebensbereiche immer höher entwickelnden Universums, als „Endzweck der Welt­ ge­schich­te“ (HKA III, S. 248:50). Genau um diese Zeit formulierte er seine eigene Analogie zwischen dem animalischen Bewusstsein und der vegetabilischen Blüte. Der dialogische Austausch in Worten zwischen Menschen ist nach dieser Analogie gleich dem Austausch und Empfang der Pollen bei den Blumen. Das Werk Blüthenstaub ist so gesehen die höchste poetische Kommunikation, sie generiert im lebendig-­liebevollen Austausch immer neues geistiges Leben, immer höher aufsteigend auf der frühromantischen scala naturae. Diese Form geistiger Befruchtung ist für Hardenberg kurzum der Motor jener inneren „Symevolution“, welche er in seinem kreativen Dialog mit Schlegel erkennt. Jeder erzeugt im Dialog mit dem Freund in diesem Sinne neue Erkenntnisse, sie steigen damit immer höher ins Reich des Geistes auf. Daher rührt in Hardenbergs dichterischem Werk die Rolle der  Vgl. weiterführend Nicholas Saul, Johannes Endres (Hg.): Ich liebe Deine Liebe, S. 113.  Erasmus Darwin: Zoonomia, or, the Laws of Organic Life. 2 Bde. London 1792–1794; vgl. hierzu Nicholas Saul: Leben und Mitteilen. Zum Kommunikationsbegriff der Romantik. In: Ders. (Hg.): Konstruktion der transzendentalen Gesundheit. Novalis und die Medizin im Kontext von Naturwissenschaften und Philosophie um 1800. In: Blütenstaub. Jahrbuch der Internationalen Novalis-­Gesellschaft. Bd. 5 (2020), S. 153–169. 20 21

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blauen Blume am Anfang des Heinrich von Ofterdingen und die Figur des Astralis im Übergang zum 2. Teil (HKA I, S. 196–197, S. 317). Daher wohl auch Schlegels typisches, ironisch-selbstreflexiv-potenzierendes Wortspiel im Brief an Novalis im September 1797: „Ich liebe Deine Liebe“ (26.11.97, HKA IV, S. 490).

4 Geschlechtsunterschied Darwin bezieht sich nur auf die Verhältnisse zwischen männlichen und weiblichen Wesen. Bei Wilhelm von Humboldt hingegen findet sich eine in diesem Zu­sam­men­ hang aufschlussreiche Variante von Darwins Argument, und zwar in dem Aufsatz Über den Geschlechtsunterschied und dessen Einfluß auf die organische Natur (1795). Hardenberg hat diesen Aufsatz mit hoher Wahrscheinlichkeit gekannt, weil er in einer Zeitschrift erschien, die er regelmäßig las, nämlich in Schillers Die Horen.22 Hier postuliert Humboldt, dass die Lebenskräfte an sich nur polarisiert in Er­schei­ nung treten. Nur zusammen, harmonisch verbunden, sich gegenseitig ergänzend erzeugen sie ein Ganzes in der Natur. Das ‚Männliche‘ und das ‚Weibliche‘ sind für Humboldt solche polaren Gegensätze. Im ‚Männlichen‘ erscheint die Lebenskraft als Produktivität, Spontaneität, im ‚Weiblichen‘ als Rezeptivität und Reaktivität. Nur als Gegensätze, welche sich ergänzen und ausgleichen – Vernunft und Einbildungskraft, Kraft und Stoff – ist ihr Zweck erfüllt, sie generieren zu­sam­men neues Leben. Ohne die sogenannte ‚weibliche‘ Einbildungskraft ist die sogenannte ‚männliche‘ Produktivität buchstäblich nichts; ohne das sogenannte ‚Männliche‘ ist das sogenannte ‚Weibliche‘ unfruchtbar. Diesen Zeugungsprozess, sei es im Bereich des Handelns, der Philosophie oder der Kunst, nennt Humboldt schlicht und einfach „Genie“.23 Nur Leben erzeugt Leben, auch ist nur solche geniale Schöpferkraft per analogiam mit dem eigentlichen Leben fähig, geistige Werke zu erzeugen, welche auch andere Werke in der Kette lebendiger Kunst inspirierend erzeugen können usw.24 Wie steht es aber mit dieser individuellen Kreativität – Kunst, Philosophie usw. –, wenn nur eine Person handelt und keine sexuelle Reproduktion stattfindet? Nach Humboldt wohnen eigentlich beide polare Energien  – die Vernunft, die Ein­bil­ dungs­kraft – in jedem Individuum, ob Mann oder Frau. So behauptet er, im ekstati Wilhelm von Humboldt: Über den Geschlechtsunterschied und dessen Einfluss auf die organische Natur. In: Ders: Gesammelte Schriften. Hg. v. Albert Leitzmann. Bd. 1 (1785–1795). Berlin 1903. S. 311–334. Zuerst in: Die Horen, 1. Bd., 2. Stück (1795), S. 99–132. Vgl. hierzu: Marion Heinz: Wilhelm von Humboldt: Die Idealisierung des Weiblichen und die Feminisierung der Sozialordnung. In: Marion Heinz, Sabine Doyé (Hg.): Geschlechterordnung und Staat. Legitimationsfiguren der politischen Philosophie 1600–1850. Berlin 2012, S.  271–291; Anette Mook: Die freie Entwicklung innerlicher Kraft. Die Grenzen der Anthropologie in den Schriften der Brüder von Humboldt. Göttingen 2012; Hannah Lotte Lund: „Das Eigene” und das Andere – der frühe Wilhelm von Humboldt und die „jüdischen Salons“ der 1790er-Jahre. In: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 69, Nr. 2 (2017), S. 168–192. 23  Humboldt: Über den Geschlechtsunterschied, S. 316f. 24  Vg. Humboldt: Über den Geschlechtsunterschied, S. 316f. 22

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schen Augenblick der Neuschöpfung seien in jedem Individuum beide Kräfte, männlich wie weiblich, in jedem Individuum tätig, ob männlich oder weiblich: „Da alle seine Kräfte in diesem Momente vereinigt sind, bleibt keine zu müssigem Zu­ schau­en, oder kalter Leitung übrig. Selbstthätigkeit und Empfänglichkeit sind beide gleich geschäftig in ihm, und dasjenige, dessen es sich einzig bewusst ist, ist gerade die Ver­mäh­ lung dieser ungleichartigen Naturen.“25

Es gibt also für Humboldt in der realen Natur keine reinen Instantiationen des ‚Männlichen‘ oder ‚Weiblichen‘. Beides, Produktivität und Rezeptivität, Kraft und Stoff, Vernunft und Einbildungskraft, sind in verschiedenem Grad in Individuen beider Geschlechter zu finden. Das sogenannte ‚Weibliche‘ (Einbildungskraft) muss das sogenannte ‚Männliche‘ (Vernunft) ergänzen als Bedingung der Mög­lich­ keit ästhetischer Kreativität in beiden, männlichen wie weiblichen Künstler:innen. So kommt es, dass Humboldt die latente Herrschaft von Vernunft oder Ein­bil­ dungs­kraft in den Werken des Genies entdeckt, je nachdem ob im Genie das ‚Männliche‘ oder das ‚Weibliche‘ vorherrscht: „Denn ist gleich jedes ächte Werk des Genies die Frucht einer freien, in sich selbst gegründeten, und in ihrer Art unbegreiflichen Uebereinstimmung der Phantasie mit der Ver­ nunft; so kann ihm dennoch bald die männlichere Vernunft mehr Tiefe, bald die weiblichere Phantasie mehr üppige Fülle und reizende Anmuth gewähren.“26

Es folgt eine Typologie jener männlichen Dichter und Denker, in denen entweder das ‚Männliche‘ oder das ‚Weibliche‘ in diesem Sinne vorherrscht: Homer und Ver­ gil, Ariost und Dante, Platon und Aristoteles, Thompson und Young.27 So, meine ich, kann man am ehesten Hardenbergs Charakterisierung seiner schöpferischen Freundschaft mit Schlegel als „Symorganisation“ und „Symevolution“ nach­voll­zie­ hen: Beide Genies sind wechselweise rezeptiv oder produktiv in diesem Sinne, durch das geschriebene wie auch das gesprochene Wort. Beide kommen manchmal auf ganz ähnliche Einfälle, manchmal bleibt es jedoch beim Dualismus. Es gibt in Hardenbergs Werk genug Belege für diese Deutung.28 Im Allgemeinen Brouillon heißt es: „Der Mann ist gewissermaaßen auch Weib, so wie das Weib Mann  – entsteht etwa hieraus die verschiedne Schamhaftigkeit?“ (HKA III, S. 262:117) Oder: „Auch Männern kann man absolut anhänglich seyn – so gut wie Frauen.“ (HKA II, S. 606:380) Oder in den poetologischen Fragmenten: „Dichten ist zeugen. Alles Gedichtete muß ein lebendiges Individuum seyn.“ (HKA II, S. 534:36) Im Heinrich von Ofterdingen begegnet der verzweifelte Heinrich Mat­ hil­de nach ihrem Wassertod im Traum wieder. Dort aber übernimmt sie die produktive Rolle: Sie spricht das Wort der Poesie in seinen Mund (HKA I, S. 279). Ähnlich verhält es sich, wenn Heinrich das produktive Gespräch der Kaufleute mithört und dabei eher die rezeptive Rolle übernimmt: „Manche Worte, manche Gedanken fie Humboldt: Über den Geschlechtsunterschied, S. 317.  Humboldt: Über den Geschlechtsunterschied, S. 321. 27  Vgl. Humboldt: Über den Geschlechtsunterschied, S. 321. 28  Dies trotz Hardenbergs bekanntem Urteil über „Humbold[t] sen.“ als „[d]er schwerfällige Humbold[t]“ (Hardenberg an Schlegel, 26.XII.1797; HKA IV, S. 243). 25 26

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len wie belebender Fruchtstaub, in seinen Schooß“ (HKA I, S. 263). Vielleicht fällt unter diese Kategorie auch die Tendenz romantischer Dichter, die Produktivität kreativer Frauen im romantischen Kreis zu unterstützen. Inwiefern diese Verteilung Humboldts der kreativen Funktionen zwischen den Geschlechtern doch als schwerfällig-­patriarchal zu gelten hat, wird weiterhin zu Recht diskutiert.29 So kommt es schließlich von der Symevolution zur Symorganisation, zur Bil­ dung des Netzwerks. Der frühromantische Brief ist auch dazu das Instrument, nur nicht mehr bi-, sondern multipolar. Der Horizont wächst über Hardenberg und den jüngeren Schlegel hinaus. Alle Mitglieder des Kreises teilen bald alle Kommunikationen: „Daß Dich die Lucinde so interessiert, freut mich sehr. Auch gefällt mir das, was Du an Caroline darüber schriebst“ schreibt Schlegel an Hardenberg Anfang März 1799 (HKA IV, S.  524, vgl. Hardenberg an Caroline Schlegel, 27.2.1799, HKA IV, S. 279–281). August Wilhelm und Caroline, die „Ws“, wie sie Friedrich nennt, schreiben Hardenberg selbstverständlich nicht nur separat, sondern auch zu­sam­men (HKA IV, S.  521–523). Einmal kommt sogar ein Dreier-Schreiben (8.7.1798, HKA IV, S. 496–497) zustande. Kein Zufall also, dass einer von Hardenbergs letzten Briefen an Schlegel so endet: „Grüße die ganze poëtische Familie von mir und behalte lieb | Deinen | Freund Hardenberg“ (31.1.1800, HKA IV, S. 318). Immer mehr dominiert dann in der frühromantischen Kommunikation die Kategorie der Familie als Schreib- und Leseinstanz. An Caroline heißt es: „Aber genug – be­ hal­ten Sie mich nur ein bischen lieb, und bleiben Sie in der magischen Atmosphäre, die Sie [in Jena; NDBS] umgiebt, und mitten in einer stürmischen Witterung, mitten unter kümmerlichen Moosmenschen, wie eine Geisterfamilie isoliert, so daß keine niedern Bedürfnisse und Sorgen sie anziehn und zu Boden drücken können“ (20.1.1799, HKA IV, S. 276). Ebenso schreibt er an Caroline wenig später über das neue Verhältnis zur Braut Julie und in Vorfreude auf die Erweiterung des Kreises: „Jetzt kann erst rechte Freundschaft unter uns werden, wie denn jede Gesellschaft nicht aus einzelnen Personen, sondern aus Familien besteht – nur Familien können Gesellschaften bilden – der Einzelne Mensch interessiert die Gesellschaft nur, als Fragment und in Beziehung auf seine Anlage zum Familiengliede“ (HKA IV, S. 278). Nicht zufällig schließlich formuliert Hardenberg die utopische Vision einer „universelle[n] Schriftstellerfertigkeit“ (HKA II, S. 649:479), ja: „Man wird vielleicht einmal in Masse schreiben, denken und handeln – Ganze Gemeinden, selbst Nationen werden Ein Werck unternehmen“ (HKA II, S. 645:465).

Literatur Bamberg, Claudia: Das Briefnetzwerk der Jenaer Frühromantik. In: Marie Isabel Matthews-­ Schlinzig, Jörg Schuster, Gesa Steinbrink und Jochen Strobel (Hg.): Handbuch Brief. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. Bd. 1: Interdisziplinarität – Systematische Perspektiven – Briefgenres. Berlin, Boston 2020, S. 1032–1042.

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 Vgl. nochmals die Publikationen von Heinz, Mook und Lund in Anmerkung 22.

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Republik. Kosmopolitische Spekulationen der Frühromantik Johannes Endres

Im Folgenden geht es um Friedrich Schlegels und Friedrich von Hardenbergs po­li­ ti­sche Theorien bzw. um einige ihrer zentralen Aspekte.1 Entstanden sind diese Theorien in erster Linie als Reaktionen auf entsprechende Positionen der Auf­klä­ rung sowie auf Immanuel Kants Schrift Zum ewigen Frieden (1795).2 Meine Aus­ füh­run­gen gliedern sich daher in sechs Schritte: 1. Kant über die Republik und den Menschenstaat; 2. Schlegels Auseinandersetzung mit Kant; 3. die Idee der Re­prä­ sen­ta­ti­on; 4. Hardenbergs Vergangenheitsutopie eines kosmopolitischen Ur-Staates; 5. Politik und Poesie, Symbol und Metonymie; 6. frühromantischer Zynismus.

 Der Vortragsduktus wurde beibehalten. Grundlegend für meine Überlegungen sind v. a. Bernd Bräutigam: Eine schöne Republik. Friedrich Schlegels Republikanismus im Spiegel des Studium-­ Aufsatzes. In: Euphorion 70 (1976), S. 315–339; Pauline Kleingeld: Romantic Cosmopolitanism. Novalis’s Christianity or Europe. In: Journal of the History of Philosophy 46/2 (2008), S. 269–284; Hermann Kurzke: Romantik und Konservatismus. Das ‚politische‘ Werk Friedrich von Hardenbergs (Novalis) im Horizont seiner Wirkungsgeschichte. München 1983; Matthias Löwe: „Pluralism ist unser innerstes Wesen“. Romantik und Demokratie. In: Athenäum. Jahrbuch der Friedrich Schlegel-Gesellschaft 30 (2020), S. 3–24; Hans-Joachim Mähl: Der poetische Staat. Utopie und Utopiereflexion bei den Frühromantikern. In: Wilhelm Voßkamp (Hg.): Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie. Bd. 3. Stuttgart 1983, S. 273–302; Ludwig Stockinger: „Politische Romantik“ – „Romantisierung der Politik“. Anmerkungen zum Ursprung und zur Rezeption eines frühromantischen Politikkonzepts. In: Walter Pauly, Klaus Ries (Hg.): Staat, Nation und Europa in der politischen Romantik. Baden-Baden 2015, S. 47–97. 2  Auf die Bedeutung der Rezeption Fichtes – so von dessen Grundlage des Naturrechts (1796) – kann hier nicht eingegangen werden. 1

J. Endres (*) Department of the History of Art, University of California, Riverside, Vereinigte Staaten E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2025 R. Borgards, K. Heumann (Hrsg.), Sich kreuzende Stimmen, Neue Romantikforschung 8, https://doi.org/10.1007/978-3-662-70600-8_2

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1 Kant über die Republik und den Menschenstaat Kants Schrift Zum ewigen Frieden, im Untertitel als „philosophischer Entwurf“ an­ ge­kün­digt, erschien 1795 und steht damit nicht zuletzt unter dem Eindruck der revolutionären Ereignisse in Frankreich und Europa seit 1789, d. h. der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte am 26. August 1789, der Kriegserklärung Frankreichs gegen Österreich im April 1792, der französischen Eroberung von Mainz im Ok­to­ ber desselben Jahres, der Hinrichtung Ludwigs XVI. im Januar 1793, der anschließenden Jakobinerherrschaft, des Beginns des 1. Koalitionskriegs sowie des gewaltsamen Sturzes Robespierres im Juli 1794. In den ersten Jahren der Re­vo­lu­ ti­on, zwischen 1789 und 1795, dem Erscheinungsjahr von Kants Friedens-Schrift, hatte sich die Regierungsform Frankreichs nicht weniger als dreimal geändert: von der konstitutionellen Monarchie zur Revolutionsregierung der Jakobiner und schließlich zur Direktorial-Regierung, die das Land einem besitzbürgerlichen Kol­ le­gi­um unterstellte. Im gleichen Zeitraum waren der Adel und das Feudalsystem of­ fi­zi­ell abgeschafft worden, kirchliche Besitzungen säkularisiert und mehr als eine halbe Million Menschen innerhalb und außerhalb Frankreichs zu Opfern der Ereignisse geworden. In dieser Situation schickt sich ein Königsberger Philosoph an, durch gründliches Nachdenken eine immerwährende Friedensordnung für die Staatenwelt zu entwerfen. Teil dieser Ordnung soll ein System politischer Verfassungen sein, die sich auf ein dreifaches Bürgerrecht gründen: ein Staatsbürgerrecht, das allen Bürgern eines Staates und Angehörigen eines Volkes zukommt; ein Völkerrecht, das das Verhältnis der einzelnen Staaten untereinander regelt; und ein Weltbürgerrecht, insofern nämlich „Menschen und Staaten, in äußerem auf einander einfließenden Verhältnisse stehend, als Bürger eines allgemeinen Menschenstaats anzusehen sind“.3 Wie Kant hinzufügt, ist diese Einteilung „nicht willkürlich, sondern notwendig in Beziehung auf die Idee vom ewigen Frieden“.4 Sie ist auch kein Hirngespinst, wie es deutsche Philosophen ersinnen, die von der Welt wenig wissen und noch we­ ni­ger gesehen haben. Dass Kant mit beiden Beinen in seiner Zeit und ihren politischen Realitäten steht, macht unter anderem folgende Einlassung deutlich, die ins­ be­son­de­re die Notwendigkeit eines ius cosmopoliticum, eines Weltbürgerrechts, verteidigt – und die bemerkenswert aktuell wirkt: „Da es nun mit der unter den Völkern der Erde einmal durchgängig überhand genommenen (engeren oder weiteren) Gemeinschaft so weit gekommen ist, daß die Rechtsverletzung an einem Platz der Erde an allen gefühlt wird: so ist die Idee eines Weltbürgerrechts keine phantastische und überspannte Vorstellungsart des Rechts, sondern eine notwendige Er­gän­ zung des ungeschriebenen Kodex, sowohl des Staats- als Völkerrechts zum öffentlichen

 Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden. Ein politischer Entwurf. In: Ders.: Werkausgabe. Hg. v. Wilhelm Weischedel. Frankfurt a.M. 1977, Bd. 11, S. 195–251, hier S. 203, Anm. 4  Kant: Zum ewigen Frieden, S. 203, Anm. 3

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Menschenrechte überhaupt, und so zum ewigen Frieden, zu dem man sich in der kontinuierlichen Annäherung zu befinden nur unter dieser Bedingung schmeicheln darf.“5

Allerdings beruht Kants Forderung, zumindest in der vorliegenden Frage, nicht auf hehren prinzipienphilosophischen oder wertepolitischen Überzeugungen, sondern auf einer praktischen Erwägung: der Etablierung eines multilateralen Völkerbunds nach föderalem Muster. Von ihm erwartet sich Kant ein größtmögliches Maß an internationaler Rechtssicherheit und, als Folge davon, Frieden in und zwischen den beteiligten Staaten. Die Forschung ist sich heute einig, dass Kant mit seinen Ideen wesentlich auf die internationale Friedensordnung nach dem 2. Weltkrieg und die Gründung von Institutionen wie den Vereinten Nationen (UN) eingewirkt hat.6 Erforderlich ist ein universales Weltbürgerrecht deshalb, weil Bürger eines Staats, die einen anderen Staat besuchen, dort nicht durch die Rechte ihres Herkunftsstaats geschützt sind. Sie sind daher auf eine zwischen- bzw. überstaatliche Rechtssicherung angewiesen. Kant weiter: „Es ist hier, wie in den vorigen Artikeln, nicht von Philanthropie, sondern vom Recht die Rede, und da bedeutet Hospitalität (Wirtbarkeit) das Recht eines Fremdlings, seiner Ankunft auf dem Boden eines andern wegen, von diesem nicht feindselig behandelt zu werden“.7 Ein solches Be­ suchs­recht ist wiederum Mittel zum Zweck, insofern es, dem Recht des „gemeinschaftlichen Besitzes der Oberfläche der Erde“ gehorchend, „entfernte Weltteile mit einander friedlich in Verhältnisse kommen“ lässt und „so das menschliche Ge­ schlecht endlich einer weltbürgerlichen Verfassung immer näher“ bringt.8 Damit ist das Weltbürgerrecht zwar ein Instrument der Friedensstiftung und -sicherung, aber  Kant: Zum ewigen Frieden, S. 216f. Die vor allem in der Germanistik verbreitete Gewohnheit, Kants politische Ideen zugunsten derjenigen der angeblich so viel fortschrittlicheren Frühromantiker abzuwerten, hat die Spezialforschung längst korrigiert. Für Beispiele einer solchen Gewohnheit vgl. Pramod Talgeri: Erstickt im Dickicht der Wertungsgeschichte. Friedrich Schlegels Stellungnahme zum „ewigen Frieden“ Kants. Eine Revision. In: Albrecht Schöne (Hg.): Kontroversen, alte und neue. Akten des VII. Internationalen Germanisten-Kongresses Göttingen 1985. Tübingen 1986, S. 188–196; Peter Schnyder: Die Magie der Rhetorik. Poesie, Philosophie und Politik in Friedrich Schlegels Frühwerk. Paderborn 1999, S. 173–190. Als Regulativ einer solchen Sicht vgl. z. B. Francis Cheneval: Philosophie in weltbürgerlicher Bedeutung. Über die Entstehung und die philosophischen Grundlagen des supranationalen und kosmopolitischen Denkens der Moderne. Basel 2002. 6  Vgl. dazu u.  a. Kwame Anthony Appiah: Cosmopolitanism. Ethics in a World of Strangers. New York, London 2006; Martha C. Nussbaum: The Cosmopolitan Tradition. A Noble but Flawed Ideal. Cambridge/Mass., London 2019. Beide schlagen zugleich Erweiterungen der Kantischen Forderungen angesichts gegenwärtiger politisch-ethischer Debatten vor. Für eine stärker philologische Interpretation der Zusammenhänge vgl. weiterhin Pauline Kleingeld: Six Varieties of Cosmopolitanism in Late Eighteenth-Century Germany. In: Journal of the History of Ideas 60/3 (1999), S. 505–524; Pauline Kleingeld: Kant and Cosmopolitanism. The Philosophical Ideal of a World Citizenship. Cambridge 2011. 7  Kant: Zum ewigen Frieden, S. 213. Für die Missachtung eines solchen Besuchsrechts seitens der Gäste maßregelt Kant den westlichen Kolonialismus und Sklavenhandel in Amerika, Afrika, Indien, auf den Molukken und in der Karibik (vgl. Kant: Zum ewigen Frieden, S. 214ff.). 8  Kant: Zum ewigen Frieden, S. 214, vgl. auch Kant: Metaphysik der Sitten. In: Ders.: Werkausgabe. Bd. 8, S. 475f. 5

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nicht von ähnlich grundsätzlicher Geltung wie das Recht auf Menschenwürde oder körperliche Unversehrtheit. Es macht sich vielmehr eine verbreitete menschliche Neigung zunutze, nämlich das Bestreben, die eigenen Wirtschaftschancen zu optimieren: Als krummes Holz, aus dem nichts ganz Gerades gezimmert werden kann, wählt der Mensch auch den Frieden nicht aus selbstlosen Motiven.9 Und weil er sich dabei mal gesellig und mal ungesellig gebärdet, sollte man auf seine natürliche Friedfertigkeit besser nicht vertrauen. Daneben kennt Kant aber auch ein Weltbürgerrecht, das in einem teleologischen Gedanken fundiert ist, also von der Vorstellung eines idealen geschichtlichen Endzustands geleitet. Ihm begegnet man jedoch nicht in Kants Friedens-Schrift, sondern in anderen Teilen seines Werks, besonders in der Idee zu einer allgemeinen Ge­schich­te in weltbürgerlicher Absicht von 1784. Es ist diese Idee, die für die politischen Reflexionen der Frühromantiker besonders wichtig geworden ist. Zur Erinnerung: ‚Weltbürgerlich‘ ist bei Kant auch als Gegensatz zu ‚gottesstaatsbürgerlich‘ zu verstehen. Als ‚gottesstaatsbürgerlich‘ können Versuche der Aufklärung vor Kant gelten, utopische Vorstellungen einer besseren Zukunft des Menschen als Ver­ wirk­li­chung eines göttlichen Plans zu denken. Sie beruhten auf religiösen Überzeugungen, die die irdische Geschichte auf eine göttliche Vorsehung zu­rück­be­zie­ hen. Für Kant sind solche Überzeugungen hinfällig geworden. Seine Geschichte in „weltbürgerlicher Absicht“ betrachtet stattdessen den Menschen als Urheber und Endzweck einer „nach inneren Rechtsprinzipien zu stiftenden“, diesseitigen Geschichtswelt.10 Diese zitiert religiöse Utopien nur noch zu Vergleichszwecken. Zwar hofft auch Kants weltbürgerliche Geschichte darauf, dass die Menschheit sich unendlich vervollkommnen und ihre Geschichte eine Geschichte des Fortschritts wird. Dabei handelt es sich aber um ein „regulatives Prinzip“, das der Mensch als Beobachter der Weltgeschichte in diese hineindenkt.11 Die Geschichte weiß von einem solchen Prinzip nichts. So hat Kant die Reaktion auf die Fran­zö­si­sche Revolution in Europa als Beispiel für eine von außen an die Ereignisse herangetragene Zweckmäßigkeit der Geschichte gedeutet: Während die Revolution faktisch zu „Elend und Greueltaten“ geführt habe, habe sie in ihrem Zuschauer doch auch die Hoffnung geweckt, die politischen Verhältnisse des Menschen könnten nach Vernunftprinzipien geordnet werden.12 Abermals kann sich eine solche Hoffnung nicht auf den einzelnen Menschen und seine anthropologische Mustergültigkeit berufen. Denn Menschen handeln mal mo­ ra­lisch und mal unmoralisch. Berufen kann sie sich lediglich auf das Postulat einer moralischen Verbesserung des Menschen als Gattungswesen. Als Ganze kann die  Vgl. Immanuel Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht. In: Ders.: Werkausgabe. Bd. 11, S. 41. 10  Cheneval: Philosophie in weltbürgerlicher Bedeutung, S. 407. 11  Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. In: Ders., Werkausgabe. Bd.  12, S. 687f. 12  Immanuel Kant: Der Streit der Fakultäten in drey Abschnitten. In: Ders., Werkausgabe. Bd. 11, S. 358; vgl. dazu auch Andreas Arndt: „Geschichtszeichen“. Perspektiven einer Kontroverse zwischen Kant und Friedrich Schlegel. In: Hegel-Jahrbuch 1995, S. 152–159. 9

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Menschheit fortschreiten, während dem Individuum enge, gleichsam natürliche Grenzen gesetzt sind. An diesem Punkt kommt erneut die Idee eines Weltbürgerrechts ins Spiel. Kant konzipiert Geschichte nämlich als „Rechtsfortschritt im Hin­ blick auf die historische Verwirklichung der weltbürgerlichen Gemeinschaft“, ­womit die Idee einer kosmopolitischen Weltrepublik zugleich zum „unendlichen Fluchtpunkt der Geschichte“ aufrückt.13 Dabei gilt jedoch die bereits be­kann­te Einschränkung: Auf die geschichtliche Erfahrung kann sich eine solche Konzeption ebenso wenig stützen wie auf eine zur Friedfertigkeit disponierte Natur des Menschen oder eine providentielle Macht in der Geschichte. Nur außerhalb solcher vermeintlicher, praktischer und theoretischer Gewissheiten ist die Idee eines Weltbürgerrechts als „Vernunftidee“ begründbar.14 Anders ausgedrückt: „Der weltbürgerliche Standpunkt ist deshalb nicht ein empirischer, sondern ein trans­zen­den­tal fundierter, kritisch-hermeneutischer Standpunkt“.15 Damit treten aber Phi­lo­so­phie und Erfahrung sowie Moral und Politik als differente Legislaturen auseinander. Eine konsequente Moralisierung der Politik würde diese vielmehr zur Religion zurückführen. Wir werden noch sehen: Genau diese Kantische Überzeugung teilen Schlegel und Hardenberg nicht mehr.16 Zuvor ist aber noch zu klären, wie sich Kant in seiner Friedens-Schrift die erste Säule der politischen Verfassung, das Staatsbürgerrecht, denkt. Nach Kant muss jeder Staat als Republik verfasst sein: „Die bürgerliche Verfassung in jedem Staate soll republikanisch sein“.17 Eine Republik ist in Kants Augen eine verfassungsmäßige Staatsform, in der alle Bürger frei und gleich sind und „von einer einzigen gemeinsamen Gesetzgebung“ abhängen.18 ‚Frei‘ sein wiederum heißt, keinen äußeren Gesetzen gehorchen zu müssen, zu denen man nicht seine Zustimmung gegeben hat. Dabei ist eine Republik aber nicht nur die einzig gerechte Staatsform, sondern auch am tauglichsten, den ewigen Frieden herzustellen und zu bewahren. Dazu muss sie zudem repräsentativ sein, d. h. auf dem Prinzip der Gewaltenteilung basieren: „Alle Regierungsform nämlich, die nicht repräsentativ ist, ist eigentlich eine Unform, weil der Gesetzgeber in einer und derselben Person zugleich Voll­stre­cker seines Willens“ ist.19 Damit erteilt Kant Forderungen nach einer direkten Demokratie, wie man sie von Rousseau kennt, eine unmissverständliche Absage.

 Cheneval: Philosophie in weltbürgerlicher Bedeutung, S. 410 und S. 416.  Vgl. Kant: Metaphysik der Sitten, S. 475. 15  Cheneval: Philosophie in weltbürgerlicher Bedeutung, S. 411. 16  Vgl. z. B. Hardenbergs Notiz im Allgemeinen Brouillon: „Dieser rechtliche Zustand soll ein moralischer werden […]“. Novalis Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Historisch-­ kritische Ausgabe. Begründet von Paul Kluckhohn und Richard Samuel. Hg. v. Richard Samuel in Zusammenarbeit mit Hans-Joachim Mähl und Gerhard Schulz. 6 Bände. Stuttgart 1960–2008, Bd. 3, S. 254:79. [Im Folgenden als HKA mit Bandangabe und Seitenzahl sowie gegebenenfalls Fragmentnummer.] 17  Kant: Zum ewigen Frieden, S. 204. 18  Kant: Zum ewigen Frieden, S. 204. 19  Kant: Zum ewigen Frieden, S. 207. 13 14

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Aus demselben Grund warnt er auch davor, die republikanische Verfassung, „wie gemeiniglich geschieht“, mit der demokratischen zu verwechseln.20 Die De­mo­kra­ tie gilt Kant nämlich als eine despotische Staatsform, weil in ihr der Wille der All­ ge­ mein­ heit gegebenenfalls auch gegen den Willen des Einzelnen durchgesetzt ­werden muss. Das sei aber „ein Widerspruch des allgemeinen Willens mit sich selbst und mit der Freiheit“.21 Deshalb favorisiert Kant eine Art parlamentarische Monarchie, auch weil sie die Einführung einer Verfassung erlaubt, ohne das bestehende System vollständig beseitigen zu müssen. Kant schwebt hier wohl die erste Phase der Französischen Revolution als Muster vor, die zur Einführung einer konstitutionellen Monarchie führte und mit der die Revolution, Kants Vorstellungen zufolge, zum Einhalt hätte kommen sollen. Zwischenfazit: Kant versteht eine weltbürgerliche Geschichte einerseits als regulative Idee, die dem empirischen Rechtsfortschritt als Orientierung dient, und andererseits als säkulares utopisches Ideal eines zukünftigen kosmopolitischen Staats, in dem Frieden nach innen und außen auf Dauer gestellt sind. Auf einzelstaatlicher Ebene ist dazu die Schaffung republikanischer Verhältnisse erforderlich. Ein republikanischer Staat muss wiederum auf dem Prinzip der politischen Stell­ver­ tre­tung beruhen. Er kann aber keine Demokratie sein, da Kant das Prinzip der Ge­ wal­ten­tei­lung höher bewertet als das der Volkssouveränität.

2 Schlegels Auseinandersetzung mit Kant Schlegels und Hardenbergs Reaktionen auf die Französische Revolution wurden nicht zuletzt durch zwei Frauen angestoßen. Schlegel lernte die Ideen der Revolution zuerst durch die verwitwete Caroline Böhmer, die spätere Frau seines Bruders August Wilhelm, näher kennen. Caroline hatte sich 1792 bei der Einnahme von Mainz durch die französischen Revolutionstruppen offen zu den Idealen der Revolution bekannt.22 Ein Jahr später wurde sie von einem in Mainz stationierten jungen französischen General schwanger. Sie versuchte daraufhin, Mainz zu verlassen, auch um den Preußen nicht in die Hände zu fallen. Vergeblich: Sie wurde in der Festung Königstein im Taunus inhaftiert und anschließend unter Hausarrest gestellt. Zu­gleich fürchtete sie die Entdeckung ihrer Schwangerschaft. In dieser Zwangslage verwendete sich der mit ihr befreundete August Wilhelm Schlegel für ihre Frei­las­sung. Caroline konnte sich schließlich nach Leipzig zurückziehen, wo sie von Friedrich Schlegel bis zur Geburt ihres Sohnes betreut wurde. All das musste heimlich geschehen – selbst  Kant: Zum ewigen Frieden, S. 206.  Kant: Zum ewigen Frieden, S. 207. 22  Vgl. dazu Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Begründet von Ernst Behler, fortgeführt von Andreas Arndt, hg. von Ulrich Breuer. Paderborn u. a. 1958 ff. [im Folgenden als KFSA mit Bandangabe und Seitenzahl sowie gegebenenfalls Fragmentnummer]. Bd. 23, S. 390; Ulrich Breuer: Lebensstationen. In: Johannes Endres (Hg.): Friedrich Schlegel-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 2017, S. 2–32. 20 21

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Hardenberg, zu dieser Zeit bereits Schlegels engster Freund, durfte davon nichts wissen. Durch Caroline wurde Friedrich mit radikaldemokratischen Ansichten bekannt, und er hat ihr dafür später seinen aufrichtigen Dank ­ausgedrückt: „Was ich bin und seyn werde, verdanke ich mir selbst; daß ich es bin, zum Theil Ihnen“.23 Auch Hardenberg ist revolutionären Ideen zuerst in der Person einer ihrer Anhängerinnen begegnet. Zu den Beobachtungen, die er sich über seine 12-jährige Braut, Sophie von Kühn, notierte, gehören, neben ihrem „Tabaksrauchen“ und ihrem Glauben an die Seelenwanderung, auch ihre Sympathien für die Revolution.24 Am Anfang ihrer Bekanntschaft hatte sie ihm ein blau-weiß-rotes Fähnchen und die französische Nationalkokarde auf den Geburtstagskuchen gesteckt. Zu einer systematischen Auseinandersetzung mit politischen Theorien ist es bei Hardenberg jedoch erst nach der Lektüre von Schlegels Aufsatz Versuch über den Begriff des Republikanismus von 1796 gekommen. Schlegels Aufsatz ist eine kritische Rezension von Kants Friedens-Schrift, wie auch sein Untertitel – „veranlaßt durch die Kantische Schrift zum ewigen Frieden“ – verdeutlicht.25 Kants Gedanke einer Weltrepublik als regulative Idee geht Schlegel nicht weit genug. Ein solcher Gedanke sei vielmehr aus dem Gebiet transzendentalphilosophischer Begründung in das der politischen Erfahrung herüberzuziehen. Das gilt auch für das „teleologische[ ] Prinzip in der Geschichte der Menschheit“, also die „(gedachte) Zweckmäßigkeit der Natur“, die an „die (wirklichen) notwendigen Gesetze der Erfahrung“ sowie an eine positive Anthropologie anzuschließen sei. Sie als politisch-praktisches Postulat zu verhandeln und als „Problem der politischen Kunst“, wie es Kant tut, erscheint ihm unzureichend.26 Schlegel erklärt deshalb: „Die Idee einer Weltrepublik hat praktische Gültigkeit und charakteristische Wichtigkeit“.27 Darum kann eine Universalrepublik aber nicht erst als Folge einer Realisierung republikanischer Verfassungen auf einzelstaatlicher Ebene entstehen, sondern muss dieser vorausgehen. Von einem Republikanismus im eigentlichen Sinne könne man erst sprechen, wenn eine Weltrepublik existiere. Damit kehrt Schlegel die Reihenfolge bei Kant um und stellt die Weltrepublik nicht ans Ende, sondern an den Anfang seiner Überlegungen – und zwar als Prinzip, das auch dem Republikanismus im Nationalstaat zugrunde gelegt werden müsse. Das ist eine ebenso bemerkenswerte wie für die Geschichte der Romantik folgenreiche Mo­di­fi­ka­ti­on der Kantischen Argumentation: Nach Schlegel muss es Freiheit und Gleich­heit schon geben, damit ein Recht auf sie formuliert werden kann. Sein Freund Hardenberg wird diesen Gedanken dann noch eine entscheidende Drehung weitertreiben.  Friedrich Schlegel an Caroline Schlegel, 2.8.1796 (KSFA 23, S. 326); vgl. auch Friedrich Schlegel an August Wilhelm Schlegel, 10.3.1793 (KFSA 23, S. 85). 24  Vgl. HKA 4, S.  24f.; vgl. Hardenberg: Lied beim Punsch, am Abend der Trennung (HKA 1, S. 391–394). 25  Vgl. dazu auch Friedrich Schlegel an Johann Friedrich Reichardt, 23.6.1796. Ein unbekannter Brief von Friedrich Schlegel an Johann Friedrich Reichardt vom 23. Juni 1796. Mitgeteilt von Bettina Zimmermann. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 2020, S. 121–133. 26  KFSA 7, S. 23f. 27  KFSA 7, S. 13. 23

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3 Die Idee der Repräsentation Da „politische Freiheit eine notwendige Bedingung des politischen Imperativs“ ist, und nicht umgekehrt, denkt Schlegel auch das Prinzip des partiellen Re­pu­bli­ka­nis­mus in einem Staat radikaler als Kant.28 Wenn nämlich der „ethische und der po­li­ti­sche Imperativ […] nicht bloß für dies und jenes Individuum, sondern für jedes“ In­di­vi­du­um gelten, und wenn „Gleichheit und Freiheit erfordert, daß der allgemeine Wille [der Wille der Allgemeinheit, J.E.] der Grund aller besondern politischen Tätigkeiten“ ist, dann ist eine repräsentative Republik im Sinne Kants bestenfalls ein Notbehelf – und schlimmstenfalls ein Bruch mit dem Grundsatz der Volkssouveränität: „Der politische Imperativ gilt für alle Individuen; daher umfaßt der Staat eine ununterbrochne Masse, ein koexistentes und sukzessives Kontinuum von Menschen, die Totalität derer, die im Verhältnis des physischen Einflusses stehn, z.B. aller Bewohner eines Landes, oder Abkömmlinge eines Stammes. Dies Merkmal ist das äußere Kriterium, wodurch der Staat sich von politischen Orden und Assoziationen, welche besondre Zwecke haben, also auch nur gewisse besonders modifizierte Individuen angehn, unterscheidet. Alle diese Gesellschaften umfassen keine Masse, kein totales Kontinuum, sondern verknüpfen nur einzelne zerstreute Mitglieder.“29

In einem repräsentativen System, das auf Institutionen wie Wahl und Parlament beruht, wird der Wille der Mehrheit aber so behandelt, als sei er der Wille aller. Mit einer solchen teilweisen Verwirklichung republikanischer Ideen will sich Schlegel nicht zufriedengeben: Sie ist in seinen Augen ebenso wenig ausreichend, wie teil­ wei­se Freiheit und Gleichheit schon Freiheit und Gleichheit sind. Natürlich weiß Schlegel, dass dies theoretische Maximalforderungen sind, die an der politischen Praxis und historischen Wirklichkeit vorbeizielen. Für seine Idee einer direkten Demokratie ohne Repräsentation konzediert Schlegel das auch ex­pli­ zit: „Aber wie ist der Republikanismus möglich, da der allgemeine Wille seine notwendige Bedingung ist, der absolut allgemeine (und also auch absolut beharrliche) Wille aber im Gebiete der Erfahrung nicht vorkommen kann, und nur in der Welt der reinen Gedanken existiert“.30 Dann sind Formen der Stellvertretung auch wieder un­ab­ding­bar: des Willens aller durch den Willen der Mehrheit, des Staatsvolks durch seine gewählten Vertreter und der Idee einer Universalrepublik durch ein zwischenstaatliches System von Bündnissen und Kooperationen: „Daher ist die politische Re­prä­sen­ta­ti­on allerdings ein unentbehrliches Organ des Republikanismus“.31 Theo­re­tisch löst dies das Problem aber nicht, sondern schränkt das Prinzip universaler Gleichheit und Freiheit in praktischer Hinsicht ein, statt es aus der politischen Er­fah­rung abzuleiten. Deshalb holt Schlegel noch einmal grundsätzlicher aus und  KFSA 7, S. 15.  KFSA 7, S. 15. 30  KFSA 7, S. 16. 31  KFSA 7, S. 17f. Vgl. auch Hardenbergs Notiz, die aber wohl nicht seine Meinung wiedergibt, sondern Teil eines dramatischen Dialogs mit verteilten Rollen ist: „Aber die Vortrefflichkeit der repräsentativen Democratie ist doch unläugbar“ (HKA 2, S. 502:66); vgl. dazu Kurzke: Romantik und Konservatismus, S. 187. 28 29

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reformuliert das politische Problem der Stellvertretung als ein logisches. Für seinen Freund Hardenberg liefert er damit die entscheidende Vorlage. Denn wenn der allgemeine Wille „im Gebiete der Erfahrung nicht vorkommen kann“, dann muss man einen solchen allgemeinen Willen fingieren: „Das Einzelne und das Allgemeine ist überhaupt durch eine unendliche Kluft voneinander geschieden, über welche man nur durch einen Salto mortale hinüber gelangen kann. Es bleibt hier nichts übrig, als durch eine Fiktion einen empirischen Willen als Surrogat des a priori gedachten absolut allgemeinen Willens gelten zu lassen; und da die reine Auflösung des politischen Problems unmöglich ist, sich mit der Approximation dieses praktischen x zu be­gnü­gen.“32

Damit ist die Frage der Stellvertretung von den Füßen auf den Kopf gestellt. Die Rechtsfiktion (fictio iuris), an die Schlegel denkt, weist nämlich eine nachdrückliche Ähnlichkeit mit einem poetologischen Begriff der Repräsentation auf. Beide bedienen sich der Analogie, so wenn auf englischen Schiffen geborene Kinder behandelt werden, als ob sie in London geboren wären, oder wenn auf den Gegenstand einer literarischen Darstellung referiert wird, als ob dieser existiere. Und in beiden Fällen hilft die Fiktion „Regelungslücken“ zu überbrücken: eine Gesetzeslücke im Fall der Rechtsfiktion und einen ontologischen Mangel im Fall der ästhetischen Fik­ti­on.33 Der theoretisch nicht aufzulösende Widerspruch eines universalen Republikanismus unter empirischen Vorzeichen wird also einer quasi-literarischen Vorstellungskraft anvertraut, vermöge derer ein Gedankeninhalt über die Form eines Sprachzeichens als vorhanden imaginiert wird.34 Für eine solche symbolische Ersetzungsleistung interessieren sich die Frühromantiker mindestens ebenso sehr wie für die politische Problemstellung, die Schlegel mit ihrer Hilfe umschreibt. Um die politischen Theorien der Frühromantik zu verstehen, muss man sie deshalb mit ihren ästhetischen und semiotischen Theorien zusammen lesen. Diesen Zusammenhang drückt Schlegel im 65. seiner Lyceum-Fragmente, das kurz nach seinem Republikanismus-Aufsatz entstanden ist, auch folgendermaßen aus, und zwar seinerseits in literarischer Form: „Die Poesie ist eine republikanische Rede; eine Rede, die ihr eignes Gesetz und ihr eigner Zweck ist, wo alle Theile  KFSA 7, S. 16. Der Erstdruck in Deutschland hat „Fikzion“ statt „Fiktion“ (vgl. Friedrich Schlegel: Schriften zur kritischen Philosophie. 1795–1805. Hg. v. Andreas Arndt, Jure Zovko. Hamburg 2007, S. 18). Eine ähnliche Verwendung des Begriffs, wenngleich in ironischer Absicht, findet sich auch in den Lyceum-Fragmenten (vgl. Friedrich Schlegel: „Athenaeum“-Fragmente und andere frühromantische Schriften. Edition, Kommentar und Nachwort von Johannes Endres. Stuttgart 2018, S. 65:81). Die Formulierung vom „salto mortale“ taucht prominent auch in Schlegels Jacobi-­ Rezension auf (vgl. Friedrich Schlegel: Jacobis Woldemar [KFSA 2, S. 77]). Auch dieser Ausdruck steht im Zusammenhang mit Schlegels Kant-Rezeption (vgl. dazu den Kommentar in Friedrich Schlegel: Schriften zur kritischen Philosophie, S. XLVff.). 33  Niklas Luhmann: Literatur als fiktionale Realität. In: Ders.: Schriften zu Kunst und Literatur. Hg. v. Niels Werber. Frankfurt a.M. 2008, S. 276–291, hier S. 276. Zum Realitätsstatus und zur Funktion von Rechtsfiktionen vgl. auch Hans Vaihinger: Die Philosophie des Als Ob. System der theoretischen, praktischen und religiösen Fiktionen der Menschheit auf Grund eines idealistischen Positivismus. Mit einem Anhang über Kant und Nietzsche [1911]. 7. u. 8. Aufl. Leipzig 1929, S. 46–49. 34  Ludwig Stockinger substituiert Schlegels Fiktions-Begriff im Republikanismus-Aufsatz darum auch durch seinen Begriff der romantischen Ironie (vgl. Stockinger: Politische Romantik, S. 61–63). 32

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freye Bürger sind, und mitstimmen dürfen“.35 Daran kann Hardenberg anknüpfen. Zur Erinnerung: Schlegels Republikanismus-Aufsatz war im August 1796 erschienen. Hardenberg hatte ihn im Herbst oder Winter des Jahres gelesen. Im Januar 1797 schrieb er Schlegel, er wisse den „ehrlichen Republicanismus“ Johann Friedrich Reichardts, des Herausgebers von Schlegels Aufsatz, zu schätzen.36 Er fügt dem die für ihn typische Einschränkung hinzu: „Reichardt hat Kinder und ich habe Söffchen [Sophie von Kühn, J.E.]. Und an diesen Absolutis hängen wir …“. Damit kündigt sich eine bezeichnende Verschiebung des politischen Themas in die Bereiche des Privaten und der Liebe an. Noch im selben Brief verspricht Hardenberg, Schlegel ebenfalls „mit einem Pröbchen Republick“ zu beschicken. Aus diesem Vorhaben erwächst schließlich die Fragment-Sammlung Glauben und Liebe, die er Schlegel im Mai 1798 schickt. Von ihr verspricht sich Schlegel schon seit längerem eine Vereinigung ihrer „respektiven Philosophien“ über Politik.37 Im April 1798 er­ schei­nen dann Hardenbergs Blüthenstaub-Fragmente im Athenaeum (von Schlegel nach­drück­lich redigiert), in denen es unter anderem um die „Möglichkeit einer Universalrepublik“ und das Ideal eines „poëtische[n] Staat[s]“ geht.38 Schlegel sagt daran besonders die „Idee des Repraesentanten“ zu, mit der sich Hardenberg um das Journal verdient gemacht habe.39 Es ist diese Idee, die Hardenberg mit Schlegels Fiktionsbegriff im Republikanismus-Aufsatz zu amalgamieren versucht. Zwischenfazit: Schlegels kritische Antwort auf Kants Ansichten zu Republik und Weltrepublik setzen mit dem Versuch ein, dessen rechtstheoretische Kon­struk­ ti­on in der politischen Erfahrung zu erden. Dabei werden an Kants regulative Idee eines kosmopolitischen Menschenstaats sehr viel weiter reichende Forderungen geknüpft. Unter anderem weist Schlegel Kants Idee der politischen Repräsentation zu­ rück und ersetzt sie durch ein Modell der direkten Demokratie, das an Rousseau orientiert ist. Solange ein solcher Staat aber noch nicht existiert, ist eine an poetologische Verfahren erinnernde Rechtsfiktion erforderlich, um eine Brücke zwischen Theorie und Praxis zu schlagen. Damit stellt sich jedoch ein neues Problem, auf das als nächstes einzugehen ist: In einem universellen republikanischen Staat gäbe es keinen kategorischen Imperativ im eigentlichen Sinne Kants mehr. An seine Stelle würde ein politischer Imperativ treten. Die Gesetze eines so verfassten Staats würden nicht länger aus moralischen Selbstverpflichtungen fließen, sondern aus der sein-sollenden Erfahrung, dass Moralität sowie Gleichheit und Freiheit sind, die ihrerseits zur Bedingung sowohl des politischen als auch des ethischen Imperativs geworden wären. Woher könnte eine solche Erfahrung in der geschichtlichen Wirk­ lich­keit des ausgehenden 18. Jahrhunderts aber rühren?  Friedrich Schlegel: Kritische Fragmente (Lyceum-Fragmente). In: Ders: „Athenaeum“-Fragmente und andere frühromantische Schriften, S. 63:65. 36  Hardenberg an Friedrich Schlegel, 1.1.1797 (HKA 4, S. 193). 37  Friedrich Schlegel and Hardenberg, 5.5.1797 (HKA 4, S. 481). 38  Hardenberg: Vermischte Bemerkungen/Blüthenstaub (HKA 2, S.  444/445:74/75 und HKA 2, S.  468:122). Das Fragment über den „poëtische[n] Staat“ wurde jedoch nicht in die Veröffentlichung der Blüthenstaub-Fragmente übernommen. 39  Friedrich Schlegel an Hardenberg, 28.5.1798 (HKA 4, S. 494). 35

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4 Hardenbergs Vergangenheitsutopie eines kosmopolitischen Ur-Staates In seinen Notizen zum Allgemeinen Brouillon, die Hardenberg seit dem Sommer 1798 führt, nimmt sich die „Idee des Repräsentanten“ wie folgt aus. Man beachte, wie Hardenberg dabei Schlegels Stichwort aus dem Republikanismus-Aufsatz aufgreift und den politischen Gedanken der Stellvertretung in einen poetologischen umformuliert: „Der ganze Staat läuft auf Repraesentation hinaus. Die ganze Repraesentation beruht auf einem Gegenwärtig machen  – des Nicht Gegenwärtigen und so fort – (Wunderkraft der Fiction). Mein Glauben und Liebe beruht auf Repraesentativen Glauben. So die Annahme – der ewige Frieden ist schon da […]“.40 Von einer Fiktion hatte auch Schlegel gesprochen. Dass seine Umcodierung gegen einen politischen Repräsentationsbegriff gerichtet ist und diesen schließlich ersetzt, macht Hardenbergs Glauben und Liebe deutlich. Eine solche Ersetzung schließt nämlich auch die Absage an konkrete politische Modelle der Französischen Re­vo­lu­ti­on ein: „Diejenigen, die in unsern Tagen gegen Fürsten, als solche, declamieren, und nirgends Heil statuiren, als in der neuen, französischen Manier, auch die Republik nur unter der representativen Form erkennen, und apodiktisch behaupten, daß nur da Republik sey, wo es Primairund Wahlversammlungen, Direktorium und Räthe, Munizipalitäten und Freiheitsbäume gäbe, die sind armselige Philister […].“41

Der von Schlegel begonnene und von Hardenberg fortgesetzte Versuch, Kants politische Ideen zu radikalisieren, scheint also in einen konservativ anmutenden Rückzieher einzumünden. Oder wie kann es sein, dass beider Kant-Kritik an einen Punkt gelangt, der scheinbar hinter Kants eigene Positionen zurückfällt? In Die Christenheit oder Europa, die Hardenberg im Herbst 1799 niederschreibt, wird die von Kant postulierte „[k]unstmäßige, vollst[ändige] Auflösung der Cosmopolitischen Aufgabe“42 sogar an die Adresse der katholischen Kirche delegiert: „Es waren schöne glänzende Zeiten, wo Europa ein christliches Land war, wo Eine Christenheit diesen menschlich gestalteten Welttheil bewohnte; Ein großes gemeinschaftliches Interesse verband die entlegensten Provinzen dieses weiten geistlichen Reichs.  – Ohne große weltliche Besitzthümer lenkte und vereinigte Ein Oberhaupt, die großen politischen Kräfte.“43

Ist von der regulativen Idee eines Weltbürgerstaats und einer gedachten Zweck­mä­ ßig­keit der Geschichte nichts geblieben als eine ultramontane Phantasmagorie, die sich selbstbewusst als Gegenentwurf zu Kants transzendentalphilosophischem Konjunktiv aufspielt? Eine Phantasmagorie zudem, die Schlegels begriffliche Spekulationen gleich mit ins Visier nimmt, so wenn neben der katholischen Kirche das preußische Königspaar als universalrepublikanisches Heilmittel annonciert wird: „Wie würden unsre Kosmopoliten [Schlegel und Kant, J.E.] erstaunen, wenn ihnen die Zeit des ewigen  HKA 3, S. 421:782.  Hardenberg: Glauben und Liebe oder Der König und die Königin (HKA 2, S. 490:23). 42  Hardenberg: Das Allgemeine Brouillon (HKA 3, S. 416:762). 43  Hardenberg: Die Christenheit oder Europa. Ein Fragment (HKA 3, S. 507). 40 41

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Friedens erschiene und sie die höchste gebildetste Menschheit in monarchischer Form erblickten?“44 Oder sind solche Formulierungen gar nicht zum Nennwert zu nehmen? Seit Hans-Joachim Mähl ist es in der Novalis-Forschung üblich geworden, vor einer wörtlichen Interpretation solcher Äußerungen zu warnen.45 Dafür gibt es gute Gründe. Allerdings hinterlassen die gewieften Erklärungsversuche Mähls und seiner Nachfolger ein gewisses Unbehagen.46 Das hat Hermann Kurzke schon 1983 in einer wichtigen Studie zum politischen Werk Hardenbergs moniert. Kurzke wendet sich dagegen, die konkreten politischen Inhalte in Hardenbergs Werk einfach zu überlesen: „Hans Joachim Mähl hat versucht, die Idee des ewigen Friedens [bei Hardenberg, J.E.] von der Idee der Monarchie abzukoppeln. Der ewige Friede werde nur „einstweilen“ in dem liebenden Monarchenpaar repräsentiert, er trete ein, wenn alle Menschen thronfähig ge­wor­ den seien und das Idealbild des Monarchen seine transitorische Funktion erfüllt habe. […] in der Idee des goldenen Zeitalters, die ihrerseits von der des ewigen Friedens kaum zu unterscheiden ist, löst sich jegliche Bestimmtheit auf. Mit dem unaufhörlichen Verweis auf das mit allem Konkreten (z.B. der Monarchie) gemeint sein sollenden „Höheren“ […] zerfällt jede faßbare Bedeutung von Worten wie „König“ oder „Republik“. Alles soll nur ein Höheres symbolisieren.“47

Als strittig kristallisiert sich damit die Frage heraus, was genau Hardenberg mit ‚Repräsentation‘ meint. Zur Beantwortung dieser Frage empfiehlt es sich, noch einmal auf die frühromantische Umdeutung der Kantischen Idee eines Weltbürgerrechts zurückzukommen. Kant hatte die Errichtung eines kosmopolitischen Menschenstaats sowohl als regulative Idee als auch als utopischen Zielpunkt außerhalb der Geschichte bestimmt. Er fasst einen solchen Gedanken unter anderem im Be­ griff eines philosophischen „Chiliasmus“ zusammen, eines an religiöse Heilserwartungen nur noch erinnernden, säkularisierten Perfektibilitätsideals aus dem Geist eines anthropologischen Skeptizismus.48 Die Utopie einer Weltrepublik leitet,

 Hardenberg: Glauben und Liebe (HKA 2, S. 488:16).  Vgl. z. B. die einschlägigen Arbeiten von Herbert Uerlings zu Hardenberg, allen voran seine monumentale Habilitationsschrift: Friedrich von Hardenberg, genannt Novalis. Werk und Forschung. Stuttgart 1991, besonders S. 595–613. 46  Vgl. dazu auch den umsichtigen Kommentar des Mähl-Schülers Ludwig Stockinger: Novalis. Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs. Hg. v. Hans-Joachim Mähl, Richard Samuel. Bd. 3: Kommentar. Hg. v. Hans-Jürgen Balmes [u. a.]. München 1987, S. 367–379 und S. 379–395. 47  Kurzke: Romantik und Konservatismus, S. 191. Vgl. dazu auch Matthias Löwe: Idealstaat und Anthropologie. Problemgeschichte der literarischen Utopie im späten 18. Jahrhundert. Berlin, Boston 2012, S. 277, der die politische Bildlichkeit Hardenbergs zwar ernst nimmt, sie durch ihre perspektivische Umkehrung aber auch wieder abzuschwächen versucht: „Das Bestehende wird nicht im Namen einer konkreten utopisch-gegenbildlichen Norm kritisiert, sondern die Idealisierung empirischer Machthaber vor dem Hintergrund des romantischen Unendlichkeitsgedankens relativiert“. 48  Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte, S. 45; vgl. dazu Mähl: Der poetische Staat, S. 276ff.; Lucian Hölscher: Utopie. In: Otto Bruner u. a. (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. 6. Stuttgart 1990, S. 733–788, hier S. 775ff., spricht deshalb auch von einer Ausdifferenzierung von ‚Utopie‘ und ‚Ideal‘ bei Kant; vgl. dazu Kant: Der Streit der Fakultäten, S. 366, Anm. 44 45

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mit anderen Worten, alle menschlichen Versuche, das Rechtssystem zu verbessern, und dient zugleich als faktisch unerreichbares Vorbild einer idealen Zukunft in diesem Sinne. Dem hatte Schlegel widersprochen und verlangt, alle Bestrebungen nach Freiheit und Gleichheit müssten von der Bedingung der praktischen Mög­lich­ keit eines Idealstaats ausgehen. Deshalb hatte er die Universalrepublik vom Ende an den Anfang seiner politischen Reflexionen gestellt. Darin folgt ihm Hardenberg. Mehr noch: Hardenberg projiziert die Universalrepublik, die er, wenig überraschend, auch unter dem Namen „Universalmonarchie“ kennt, gar in die transzendentale Vergangenheit des Menschen zurück.49 Er verwandelt sie von einer Zukunfts- in eine Vergangenheitsutopie. In Anlehnung an Schlegel kann man sie eine rückwärts gekehrte Prophetie nennen, die Kants teleologischen Gebrauch der Geschichte in einen symbolischen Ursprungsmythos kontrahiert.50 Die Gründe für eine solche Fiktion liegen ebenso auf der Hand wie ihre Konsequenzen. Einer solchen Vergangenheitsutopie zufolge hat es eine Universalrepublik schon einmal gegeben, und zwar vor dem Beginn der Geschichte. Sie stellt einen paradiesischen Urzustand oder ein goldenes Zeitalter der Politik dar. Allerdings darf man diesen Urzustand nicht mit einer fröhlichen Anarchie oder einem Naturzustand à la Rousseau verwechseln. Im urzeitlichen Universalstaat existierten zwar noch keine Nationen, aber schon eine staatsförmige Einrichtung, die Gleichheit, Freiheit und Frieden allererst garantierte. Dazu Hardenberg: „Die abs[olute] Gleichheit ist das höchste Kunststück – das Ideal – aber nicht natürlich – Von Natur sind die Menschen nur relativ gleich – welches die alte Ungleichheit ist – der Stärkere hat auch ein stärckeres Recht. Ebenfalls sind die Menschen v[on] Natur nicht frey, sondern vielmehr mehr oder weniger gebunden.“51

Deshalb hält Hardenberg die Idee, dem Menschen würde es ohne Staat besser gehen, für einen Irrtum: „Das Bedürfniß eines Staats ist das dringendste Bedürfniß eines Menschen. Um Mensch zu werden und zu bleiben, bedarf er eines Staats […]. Ein Mensch, ohne Staat ist ein Wilder. Alle Kultur entspringt aus den Verhältnissen eines Menschen mit dem Staate. Je gebildeter, desto mehr Glied eines gebildeten Staats“.52 Hardenbergs präteritaler Universalstaat fungiert aber zugleich als Modell für den Universalstaat der Zukunft, der eine weltgeschichtliche Reprise seines spiegelbildlichen Vorbilds im Urgrund der Zeiten sein soll. Damit löst eine rückwärtsgewandte Utopie ein wichtiges Problem, das neben Schlegel auch Kant in seiner zeitgleichen Metaphysik der Sitten (1797) zu lösen versuchte – das Problem, ein allgemeines Recht auf Freiheit und Gleichheit nicht nur theoretisch zu begründen, sondern aus der  Hardenberg: Fragmente und Studien 1799/1800 (HKA 3, S. 623:422).  Vgl. Schlegel: Athenaeum-Fragmente. In: „Athenaeum“-Fragmente und andere frühromantische Schriften, S. 86:80. 51  Hardenberg: Das Allgemeine Brouillon (HKA 3, S. 416:762). 52  Hardenberg: Das Allgemeine Brouillon (HKA 3, S. 313:394). Vgl. weiter: „Der vollk[ommne] Bürger lebt ganz im Staate – er hat kein Eigenthum außer dem Staate“ (HKA 3, S. 273:189). Vgl. aber auch: „Eine vollk[ommene] Constitution […] macht alle ausdrückliche Gesetze überflüssig“ (HKA 3, S. 284:250). 49 50

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geschichtlichen oder politischen Empirie abzuleiten. Mit der Annahme eines ursprünglichen Zustands der Gleichheit und Freiheit – der für Kant undenkbar wäre – scheint dies aber möglich zu werden. Erlaubt sie es doch, ein Menschenrecht auf Freiheit und Gleichheit unter Hinweis auf eine entsprechende kosmopolitische Vor­ge­ schich­te zu postulieren. Freiheit und Gleichheit erscheinen dann als Bestandteile eines gattungsgeschichtlichen Gedächtnisses der Menschheit, oder genauer: einer „prophetischen Erinnerung“, die ein utopisches Wunschbild ist, das aber als Er­in­ne­rung daherkommt.53 Dieses Gedächtnis lebt wiederum in den Grundformen der sozialen Organisation nach romantischem Verständnis fort, in Familie, Ehe und Freundschaft bzw. überall dort, wo die Liebe regiert. Solche Formen konservieren Rudimente einer pri­ mordialen Sozialität unter den Vorzeichen einer postlapsarischen Geschichtszeit: „Der Staat besteht nicht aus einzelnen Menschen, sondern aus Paaren und Gesellschaften. Die Stände der Ehe sind die Stände des Staats – Frau und Mann“.54 Was den Romantikern also nicht mehr einleuchtet, ist die aufklärerische Be­grün­ dung des Staats aus einem theoretischen Naturrecht – letzteres wird bei Hardenberg durch die Annahme eines kosmopolitischen Ur-Staates ersetzt. Damit wird auch eine weitere Prämisse der aufklärerischen Staatstheorie hinfällig, die den Romantikern als zu technisch erscheint: die hypothetische Konstruktion eines Gesellschaftsoder Staatsvertrags, der den Übergang aus einem vorstaatlichen in einen staatlichen Zu­stand darstellt. Und schließlich: Die Annahme eines kosmopolitischen Ur-Staates räumt auch mit einer eudämonistischen Staatstheorie auf, wie sie selbst bei Kant noch eine gewisse (instrumentelle) Rolle spielt. Damit ist die Vorstellung gemeint, dass der Staat dazu da sei, private Glückseligkeit zu befördern und die Einzelinteressen der Bürger zu moderieren. Aber auch die Trennung von Rechtstheorie und Rechtswirklichkeit, die Kants Staatsphilosophie leitet, ist den Romantikern ein Dorn im Auge. Hardenbergs Vision, die sich den poetischen Staat als liebevolles Mitei­ nander der Menschen aller Nationen nach dem Vorbild frühromantischer Freundschaftszirkel und Verwandtschaftsbeziehungen denkt, widerspricht dem auf der ganzen Linie. Umgekehrt sind Pragmatismus, Utilitarismus und psychologischer Realismus den Frühromantikern zutiefst suspekt.

5 Politik und Poesie, Symbol und Metonymie Die Romantikforschung neigt dazu, die politischen Theorien vor allem Hardenbergs als tapfere Selbstbehauptung der poetischen Einbildungskraft gegen eine widrige Wirklichkeit im Europa des ausgehenden 18. Jahrhunderts zu verklären. Eine  Vgl. Hardenberg: Glauben und Liebe (HKA 2, S. 489:18): „Jeder ist entsprossen aus einem uralten Königsstamm. Aber wie wenige tragen noch das Gepräge dieser Abkunft?“ Vgl. dazu auch Kurt Wölfel: Prophetische Erinnerung. Der klassische Republikanismus in der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts als utopische Gesinnung. In: Ders.: Jean Paul-Studien. Hg. v. Bernhard Buschendorf. Frankfurt a.M. 1989, S. 316–359, besonders S. 338. 54  Hardenberg: Das Allgemeine Brouillon (HKA 3, S. 470:1106). 53

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solche Selbstbehauptung ist einerseits gegen die verknöcherten und dysfunktional gewordenen politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Verhältnisse des Ancien Régime gerichtet, gegen die auch die Revolutionäre in Frankreich und anderswo kämpften. Andererseits richtet sie sich gegen den technokratischen Staatsapparat des aufgeklärten Absolutismus, vor allem in Preußen. Über ihn sagt Hardenberg in Glauben und Liebe: „Kein Staat ist mehr als Fabrik verwaltet worden, als Preußen, seit Friedrich Wilhelm des Ersten Tode [d.h. seit 1740, J.E.]. So nöthig vielleicht eine solche maschinistische Ad­mi­nis­ tra­ti­on zur physischen Gesundheit, Stärkung und Gewandtheit des Staats seyn mag, so geht doch der Staat, wenn er bloß auf diese Art behandelt wird, im Wesentlichen darüber zu Grunde.“55

Als Abhilfe empfiehlt er jedoch nicht die Abschaffung des Staates, sondern seine Überführung in ein organisches Gebilde, einen „sehr geistvolle[n] Staat“, der lebt und atmet wie seine Bürger.56 In ihm ist nicht mehr das Staatsoberhaupt mit der Ein­ hal­tung der moralischen Gesetze betraut, sondern jeder Bürger selbst. Außerhalb der Romantikforschung sind solche Vorstellungen aber auch kritisch bewertet worden. So von Carl Schmitt in seiner berühmt-berüchtigten Abrechnung mit der „politischen Romantik“ von 1919.57 Aber auch ideologisch unverdächtige Sozial- und Politikwissenschaftler stehen den romantischen Gedankenexperimenten nicht nur aufgeschlossen gegenüber. Unter anderem scheint der romantische Wi­der­ spruch gegen ältere Staatsvertragstheorien auf einem Missverständnis zu beruhen. In den Staatstheorien des 17. und 18. Jahrhunderts diente das Schema des Vertrags als theoretische „Norm zur Beurteilung der Vernünftigkeit menschlicher Gesellschaftsbildung überhaupt“, nicht aber als Aussage über die „historisch-­faktische Genese bestimmter ‚Gesellschaften‘“.58 Mit anderen Worten: Am Übergang vom Naturzustand zum Gesellschaftszustand stand, den von den Romantikern kritisierten Staatsvertragstheoretikern zufolge, kein regelrechter Vertrag.59 Dieser diente nur als ein heuristisches Erklärungsinstrument, wenn auch mit konkreten Folgerungen. Die Frühromantiker substanzialisieren eine solche Vorstellung jedoch und be­han­ deln sie als historisches Faktum, das man nach dem Schema des juristischen Privatvertrags deuten und kritisieren kann. Ein solches Missverständnis ist natürlich nicht ein „Zeichen mangelnden, sondern eines ideologisch interessierten Verstehens“ und insofern „theoriepolitisch beabsichtigt“.60  HKA 2, S. 494:36.  Hardenberg: Vermischte Bemerkungen/Blüthenstaub (HKA 2, S. 468:122). 57  Vgl. Carl Schmitt: Politische Romantik. 2. Aufl. München, Leipzig 1925, zu Hardenberg besonders S. 171ff. Die Möglichkeit einer (teilweisen) Rehabilitation von Schmitts Thesen deutet Stockinger an: Politische Romantik, S. 48–50. 58  Manfred Riedel: Gesellschaft, Gemeinschaft. In: Otto Brunner u. a. (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd.  2. Stuttgart 1975, S. 801–862, hier S. 829. 59  Zur Funktion der Fiktion des Staatsvertrags vgl. auch Vaihinger: Die Philosophie des Als Ob, S. 198, S. 227 und S. 258ff. 60  Riedel: Gesellschaft, Gemeinschaft, S. 829. 55 56

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Um Missverständnisse, tatsächliche wie scheinbare, gewollte wie ungewollte, geht es hier aber nicht, sondern um die konkrete Rolle eines poetologischen und ästhetischen Begriffs, desjenigen der Repräsentation, für die politische Philosophie Hardenbergs und Schlegels. Poetologische und ästhetische Begriffe sind einer Logik von ‚richtig‘ und ‚falsch‘ enthoben, genauso wie die mit ihnen verbundenen kontrafaktischen Aussagen, solange sie sich nicht als faktische Aussagen ausgeben. Was leistet also Hardenbergs „Idee der Repräsentation“ vor einem solchen Hin­ter­grund? Ein erster Hinweis auf eine mögliche Antwort kommt von Schlegel selbst. Im 369. seiner Athenaeum-Fragmente greift Schlegel Hardenbergs Reprä­ sentationsbegriff auf und macht den Unterschied zwischen einem demokratischen Prinzip der Stellvertretung und einer – von Hardenberg favorisierten und von ihm selbst im Republikanismus-Aufsatz angeregten  – fiktionstheoretischen Se­mi­o­tik des Als-Ob deutlich: „Der Deputirte ist etwas ganz anders als der Re­prä­sen­tant. Repräsentant ist nur, wer das politische Ganze in seiner Person, gleichsam identisch mit ihm, darstellt, er mag nun gewählt seyn oder nicht; er ist wie die sichtbare Weltseele des Staats“.61 Ein wahrer Repräsentant im Sinne Schlegels und Hardenbergs ist also kein Abgesandter oder Delegierter, der lediglich ein Mandat ausübt. Ein König, der nicht gewählt ist, kann gar kein Mandatsträger sein. Vielmehr ist er der Staat und vertritt diesen nicht nur. Schlegel weist darum auch darauf hin, dass die Idee der Repräsentation, historisch betrachtet, „nicht selten der Geist der Monarchien war“.62 Nicht nur demokratische, auch republikanische Verhältnisse müssen hinter einem solchen Geist zurückstehen: „Sollte nicht das eine absolute Monarchie seyn, wo alles Wesentliche durch ein Kabinet im Geheim geschieht, und wo ein Parlament über die Formen mit Pomp öffentlich reden und streiten darf? Eine absolute Monarchie könnte sonach sehr gut eine Art Konstituzion haben, die Unverständigen wohl gar republikanisch schiene.“63

Man kann sich schwerlich des Eindrucks erwehren, dass in einem Staat, der ‚re­ prä­sen­ta­tiv‘ in einem poetisch-ästhetischen Sinne ist, auch die Grundsätze von Gleichheit und Freiheit nur noch in einem höheren Sinne gelten. Denn die so verstandenen Repräsentanten des Ganzen sind, in Begriffen der goethezeitlichen und frühromantischen Ästhetik, symbolische Stellvertreter. Als solche sind sie mit dem, was sie symbolisieren, zwar nicht zu verwechseln, wie Hardenberg kritisch anmerkt. Sie heben den „Glauben an wahrhafte, vollst[ändige] Repraesentation“ also auch wieder auf.64 Wohl aber sind etwa Könige, wie man mit Hardenberg sagen kann, „real und symbolisch zugleich“,65 Symbole des Repräsentierten und zugleich  Schlegel: „Athenaeum“-Fragmente und andere frühromantische Schriften, S. 148f.:369.  Schlegel: „Athenaeum“-Fragmente und andere frühromantische Schriften, S. 149:369. 63  Schlegel: „Athenaeum“-Fragmente und andere frühromantische Schriften, S. 149:370. 64  Hardenberg: Das allgemeine Brouillon (HKA 3, S. 397:[685]). 65  Hardenberg: Vorarbeiten (HKA 2, S. 551:118). Zu hier nicht diskutierten Aspekten von poetischer Repräsentation und politischer Schauhandlung bei Hardenberg vgl. auch Oliver Kohns: Der Souverän auf der Bühne. Zu Novalis’ Politischen Aphorismen. In: Weimarer Beiträge 54/1 (2008), S. 25–41. 61 62

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empirische Verkörperungen desselben. Insofern ist es in der Tat „nicht gleichgültig, daß eine Monarchie zum Symbol erklärt wird“, und sie ist auch „nicht nur symbolische Repräsentation des Ideals“.66 Auch die von Hardenberg – kontrakfaktisch – imaginierte katholische Kirche antizipiert das kosmopolitische Ideal einer „Welt­re­li­gi­on“ nicht nur; als „das reinste Muster der Religion, als historische[r] Erscheinung überhaupt“67 ist sie zugleich Anschauungsbeispiel einer möglichen Realisierung des utopischen Idealstaats in der Geschichte selbst. Monarchie und mittelalterliche Kir­che sind, mit anderen Worten, nicht nur literarische Metaphern einer unendlich unerreichbaren Universalrepublik. Da sie das Gemeinte nicht nur gedanklich vertreten, sondern mit ihm auch sachlich zusammenhängen, sind sie vielmehr Metonymien, die das Bezeichnete in konkreter, synekdochischer Form vor Augen stellen.68 Ein solches metonymisches Verständnis von Repräsentation ist besonders bei Hardenberg von religiösen Denkmodellen inspiriert.69 Zu denken ist hier vor allem an das performative Ritual des Abendmahls. Dabei wird ein Zeichen in die Sache selbst verwandelt. Ein wichtiges Ingrediens einer solcher Vorstellung ist die Er­in­ne­rung: „Tut dies zu meinem Gedächtnis“ (1 Kor 11: 23–25). Sie assistiert der Ver­wand­lung der einen in die andere Substanz als gleichsam enzymatischer Ka­ta­ly­sa­tor. Bei Hardenberg ist das ähnlich. Auch bei ihm dient die ‚prophetische Er­in­ne­rung‘ an einen kosmopolitischen Ur-Staat als Katalysator, der die Fleischwerdung der politischen Symbole  – eines Königs, einer Ehe, einer Kirche  – in Darstellungen des poetischen Staats generiert. Denn: „Nichts ist poetischer, als Erinnerung und Ahndung, oder Vorstellung der Zukunft“.70 Zwar sind Erinnerung der Vergangenheit und Ahndung der Zukunft hinsichtlich ihres Richtungssinns verschieden: „Es giebt aber eine geistige Gegenwart – die beyde durch Auflösung identificirt – und diese Mischung ist das Element, die Atmosphäre des Dichters“. Deshalb kann die Idee der Repräsentation aber auch nur als poetisch-literarische zu sich selbst kommen.

 So Stockingers Kommentar in Novalis: Werke, S. 371 und S. 393. Vgl. dazu auch Stockinger: Politische Romantik, S.  65, wo das frühromantische Symbol nun als „Indifferenzpunkt“ umschrieben wird, d. h. als empirischer Kondensationskern, an den sich eine idealisierende Deutung der Wirklichkeit als einer immer schon zeichenhaften anschließen kann. 67  Hardenberg an Coelestin August Just, 26.12.1798 (HKA 4, S. 272), Konjektur JE. 68  Das gilt auch für Hardenbergs Mittler-Theorie, die sich ebenfalls zur „Anwendung auf die Politik“ eignet (Hardenberg: Das allgemeine Brouillon [HKA 3, S. 314:398]). Wie der Folgesatz deutlich macht, liegt auch hier ein im Hardenbergschen Sinne modifizierter Begriff der Repräsentation zugrunde. 69  Vgl. z. B. Hardenberg: Glauben und Liebe (HKA 2, S. 498:40). Im Denken Hardenbergs findet die Idee einer präteritalen Gemeinschaft also gerade nicht in „ihrer Undarstellbarkeit ihre einzig mögliche Form“, wie poststrukturalistische Sprachregelungen suggerieren (Joseph Vogl: Einleitung. In: Joseph Vogl (Hg.): Gemeinschaften. Positionen zu einer Philosophie des Politischen. Frankfurt a.M. 1994, S.  7–27, hier S.  22). Gemeinschaft wird vielmehr zum symbolisch-­ metonymischen Superzeichen, das Darstellbarkeit garantiert. 70  Hardenberg: Vermischte Bemerkungen/Blüthenstaub (HKA 2, S. 468/461:123/109). 66

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6 Frühromantischer Zynismus Wie bereits angedeutet, geht es im poetischen Staat der Frühromantiker allerdings nicht mehr demokratisch zu.71 Zwar hatte Schlegel die Idee einer direkten De­mo­kra­tie noch gegen Kant verteidigt. Im Laufe seiner Gespräche mit Hardenberg bleibt davon aber nur noch eine gemischte Staatsform übrig. Schon im Republikanismus-­Aufsatz hatte Schlegel darüber spekuliert, ob die Ersetzung eines politischen Repräsentationsbegriffs durch einen Begriff der Einbildungskraft („Fik­tion“) nicht auch die Ersetzung des Willens aller durch den Willen einiger weniger möglich mache. Bei einem symbolisch-metonymischen Verständnis von Re­prä­sen­ta­ti­on spielt es nämlich keine Rolle, wie umfangreich die Extension, d. h. der semiotische Umfang des Symbols ist. Auch bei Metonymien ist es nicht entscheidend, wie viele Merkmale des Gemeinten der metonymische Ausdruck enthält: Es reicht ein ‚Dach‘ über dem Kopf zu haben, ohne dass man weitere Teile eines Hauses aufzählen muss. So wenig wie man Dach und Haus identifizieren sollte, so wenig ist ein Haus ohne Dach noch ein Haus. Auch die katholische Kirche des Mittelalters oder ein idealisiertes Königspaar sind mit der Idee eines Weltbürgerstaats nicht zu ver­wech­seln, ohne die ihnen von Hardenberg beigelegten Eigenschaften wäre ein solcher Staat aber auch unvorstellbar.72 Die Konsequenzen, die sich aus der Rückübertragung eines symbolischen Repräsentationsbegriffs auf die politische Sphäre ergeben, sind daher weitreichend. Es müssen dann nämlich nicht mehr alle Bürger gleich und frei sein, solange die Symbolfiguren der Gleichheit und Freiheit frei sind. Im Republikanismus-Aufsatz liest sich das so: „Das Prinzip nämlich, die Geltung der Stimmen nicht nach der Zahl, sondern auch nach dem Gewicht (nach dem Grade der Approximation jedes Individuums zur absoluten Allgemeinheit des Willens) zu bestimmen, ist mit dem Gesetz der Gleichheit recht wohl vereinbar“.73 Das ist aber ein eindeutiges Be­kennt­ nis zur Rechtmäßigkeit einer maior et sanior pars-Distinktion – der Unterscheidung zwischen einem demokratischen Mehrheitsprinzip und einem meritokratischen Prinzip des besseren Willens, das an die Stelle des ersteren treten kann. Folgerichtig überlegt Schlegel im 214. seiner Athenaeum-Fragmente auch: „Die vollkommne Republik müßte nicht bloß demokratisch, sondern zugleich auch aristokratisch und monarchisch seyn; innerhalb der Gesetzgebung der Freyheit und Gleichheit müßte das Gebildete das Ungebildete überwiegen und leiten, und alles sich zu einem absoluten Ganzen organisiren“.74 Hardenberg spitzt eine solche Überlegung noch weiter zu. Ich kann das hier nur noch andeuten. In seinen Gesprächen mit Schlegel entwickelt er eine Theorie des  Vgl. auch Löwe: „Pluralism ist unser innerstes Wesen“.  In Begriffen Nelson Goodmans ließe sich eine metonymische Symbol-Auffassung dieses Stils auch als ‚Exemplifikation‘ verstehen: Eine solche liegt vor, wenn ein Kunstwerk oder ein Zeichen als Muster oder Probe dient, die auf Eigenschaften des Symbolisierten nicht nur verweist, sondern diese auch (buchstäblich oder metaphorisch) besitzt (vgl. z. B. Nelson Goodman: When is Art? In: Ders.: Ways of Worldmaking. 2. Aufl. Indianapolis, Cambridge 1981, S. 57–70, hier S. 67f.). 73  KFSA 7, S. 17. 74  Schlegel: „Athenaeum“-Fragmente und andere frühromantische Schriften, S. 110:214. 71 72

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frühromantischen Zynismus, die in der Forschung bislang noch wenig beachtet wurde.75 Genau genommen, sprechen Schlegel und Hardenberg von ‚Kynismus‘, nicht von ‚Zynismus‘, aber sie meinen damit gerade nicht die antike Philosophenschule gleichen Namens, die auf Antisthenes und Diogenes von Sinope zurückgeht und wegen ihrer Bedürfnislosigkeit (wahrscheinlich) mit dem griechischen Wort für ‚Hund‘ (κύων) belegt wurde. Kynismus im Sinne Schlegels und Hardenbergs ist kein antikes, sondern ein modernes Phänomen. Er bezeichnet eine Haltung der In­ dif­fe­renz gegenüber den Reizen der Außenwelt, unter anderem gegenüber Öko­no­ mie und Politik. Der Kyniker zeigt der Welt also die kalte Schulter, die er mit polemischem Witz und Ironie kritisiert, ohne sie überhaupt noch ver­än­dern zu wollen. In seinen Politischen Aphorismen erläutert Hardenberg eine solche Haltung kynischer Superiorität so: „In unvollkommenen Staaten sind sie [die Kyniker] auch die besten Staatsbürger. Sie neh­ men an allem Guten Theil, lachen über die Allfansereien ihrer Zeitgenossen im Stillen, und enthalten sich von allem Uebel. Sie ändern nicht, weil sie wissen, daß jede Aenderung der Art und unter diesen Umständen nur ein neuer Irrthum ist, und das Beste nicht von außen kommen kann. Sie lassen alles in seinen Würden, und so wie sie keinen geniren – so genirt auch sie keiner, und sind überall willkommen.“76

Als symbolisch-metonymisches Vorbild einer Kyniker-Gemeinschaft dient Hardenberg und Schlegel der Freundes- und Verwandtenkreis der Jenaer Frühromantiker, in dem sie einen kynischen Weltsstaat im Kleinen bereits verwirklicht sehen.77 Dass der Idealstaat damit ausgerechnet von einem Literatenzirkel ausgeht, ist angesichts der Rolle ästhetischer Begriffe für die Realisierung eines ‚poetischen Staats‘ kein Zufall: „Wo die Künstler eine Familie bilden, da sind Urversammlungen der Menschheit“.78 Schlegel stellt denn auch fest: „Man kann ein Cyniker sein und ein großer Dichter: der Hund und der Lorber haben gleiches Recht, Horazens Denkmahl zu zieren“.79 Und Hardenberg nennt Schlegel selbst  Vgl. zum Folgenden ausführlicher Johannes Endres: Frühromantischer Zynismus bei Friedrich Schlegel und Friedrich von Hardenberg. In: Blütenstaub. Jahrbuch für Frühromantik. Bd. 8. 2023, S. 53–86. Vgl. weiterhin Kurzke: Romantik und Konservatismus, S.  163f.; Heinrich Niehues-­ Pröbsting: Der Kynismus des Diogenes und der Begriff des Zynismus. 2. Aufl. Frankfurt a.M. 2016, besonders S. 300–306; Löwe: Idealstaat und Anthropologie, S. 126–131. 76  HKA 2, S. 500:57. In der Forschung wird das „sie“ in „In unvollkommenen Staaten sind sie“ gewöhnlich nicht nur auf die Kyniker, sondern auch auf die Könige bezogen, die in drei vorhergehenden Fragmenten mit den Kynikern verglichen werden. Allerdings ist das sachlich ausgeschlossen. Vgl.: „Der König ist kein Staatsbürger […]“ (HKA 2, S. 489:18). 77  Zur Bedeutung Diogenes von Sinopes für die moderne Geschichte des Kosmopolitismus vgl. auch Pauline Kleingeld: Cosmopolitanism. In: Stanford Encyclopedia of Philosophy (2002/2019), https://plato.stanford.edu/entries/cosmopolitanism/ (letzter Zugriff am 17.09.2023); Louisa Shea: The Cynic Enlightenment. Diogenes in the Salon. Baltimore 2010. 78  Schlegel: Ideen (KFSA 2, S. 268:122). Zu den Besonderheiten romantischer Geselligkeit, gerade auch in Abgrenzung zu jener der Aufklärung, vgl. Günter Oesterle: Eigenarten romantischer Geselligkeit. In: Helmut Hühn, Joachim Schiedermair (Hg.): Europäische Romantik. Interdisziplinäre Perspektiven der Forschung. Berlin, Boston 2015, S. 201–214. 79  Schlegel: Lyceum-Fragmente. In: Ders.: „Athenaeum“-Fragmente und andere frühromantische Schriften, S. 72:119. 75

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einen „Hypermystischen, hypermodernen HyperCyniker“.80 Als solcher lebt der frühromantische Kyniker aber nicht wie ein Diogenes in seiner Tonne, einsam und zurückgezogen. Es sind vielmehr die geselligen Lebens- und Arbeitsformen der Frühromantiker, die zum Modell eines richtigen Staats im falschen werden. Der Ky­ ni­ker ist, mit einem Wort Hardenbergs, ein „mystischer Republicaner“,81 der sich einer symbolischen Tropen- und Rätselsprache befleißigt, die jedem verständlich werden soll – sobald die Zeit dafür reif ist. Ob man den kynischen Republikanismus ohne Republik, der eine sinnhafte Sonderöffentlichkeit im Chaos einer lieblosen Geschichtswelt stiftet, als einen privatpolitischen Eskapismus betrachten kann, sei hier dahingestellt.82 Ebenso wie die Frage, ob die damit verbundene Intimisierung und Sentimentalisierung der politischen Sphäre bereits auf Positionen der ‚politischen Romantik‘ Adam Müllers und anderer vorausweist. Fest steht aber, dass das Experiment eines frühromantischen Kynismus Dynamiken der unendlichen Approximation vorübergehend stillstellt und frustrationsintensive utopische Prozesse psychologisch und denkökonomisch abkürzt. Tatsächlich hat Hardenberg eine Zeit der Erfüllung nicht mehr erlebt: Er stirbt 1801 im Alter von 28 Jahren. In seiner Todesanzeige in der Leipziger Zeitung vom 1. April des Jahres verbittet sich sein Vater „alle Beyleidsversicherungen“.83 Friedrich Schlegel lebt noch fast 30 Jahre, lange genug, um zu einem der Vordenker einer konservativ-restaurativen Spätromantik zu werden. Für die Republik oder den Weltbürgerstaat tritt er nicht mehr ein, wohl aber für eine Wiedergeburt der deutschen Nation aus dem Geist einer verklärten Vergangenheit. Im Alter von 45 Jahren legt er sich noch einen fingierten Adelstitel zu, der nie bestätigt wird.84 Hardenbergs Wunsch für Schlegel, der Freund möge „ein unsichtbares Glied der heiligen Re­vo­ lu­ti­on“ werden, ist damit unerfüllt geblieben.85

Literatur Appiah, Kwame Anthony: Cosmopolitanism: Ethics in a World of Strangers. New  York, Lon­ don 2006. Arndt, Andreas: „Geschichtszeichen“. Perspektiven einer Kontroverse zwischen Kant und Friedrich Schlegel. In: Hegel-Jahrbuch 1995, S. 152–159. Bräutigam, Bernd: Eine schöne Republik. Friedrich Schlegels Republikanismus im Spiegel des Studium-Aufsatzes. In: Euphorion 70 (1976), S. 315–339.

 Hardenberg an Friedrich Schlegel, 26.12.1797 (HKA 4, S. 241).  Hardenberg: Das allgemeine Brouillon (HKA 3, S. 285:251). 82  Vgl. Wölfel: Prophetische Erinnerung, S. 352f. 83  Gerhard Schulz: Novalis. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. 13. Aufl. Reinbek bei Hamburg 1996, S. 162. 84  Vgl. Nicholas Saul, Johannes Endres (Hg.): Ich liebe Deine Liebe. Der Briefwechsel zwischen Friedrich Schlegel und Friedrich von Hardenberg (Novalis). Eine Ausstellung zum 250. Geburtstag der beiden Dichter. Göttingen, Frankfurt a.M. 2022, S. 33. 85  Hardenberg: Randbemerkungen zu Schlegels Ideen (HKA 3, S. 493). 80 81

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Breuer, Ulrich: Lebensstationen. In: Johannes Endres (Hg.): Friedrich Schlegel-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 2017, S. 2–32. Cheneval, Francis: Philosophie in weltbürgerlicher Bedeutung. Über die Entstehung und die philosophischen Grundlagen des supranationalen und kosmopolitischen Denkens der Moderne. Basel 2002. Endres, Johannes: Frühromantischer Zynismus bei Friedrich Schlegel und Friedrich von Hardenberg. In: Blütenstaub. Jahrbuch für Frühromantik. Bd. 8. 2023, S. 53–86. Goodman, Nelson: When is Art? In: Ders.: Ways of Worldmaking. 2. Aufl. Indianapolis, Cam­ bridge 1981, S. 57–70. Hardenberg, Friedrich von: Novalis Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Historisch-­ kritische Ausgabe. Begründet von Paul Kluckhohn und Richard Samuel. Hg. v. Richard Sa­ mu­el in Zusammenarbeit mit Hans-Joachim Mähl und Gerhard Schulz. 6 Bände. Stuttgart 1960–2008. Hardenberg, Friedrich von: Werke, Tagebücher und Briefe. Hg. v. Hans-Joachim Mähl, Richard Samuel. Bd. 3: Kommentar. Hg. v. Hans-Jürgen Balmes [u. a.]. München 1987. Hölscher, Lucian: Utopie. In: Otto Bruner u. a. (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. 6. Stuttgart 1990, S. 733–788. Kant, Immanuel: Werkausgabe. Hg. v. Wilhelm Weischedel. Frankfurt a.M. 1977. Kleingeld, Pauline: Cosmopolitanism. In: Stanford Encyclopedia of Philosophy (2002/2019), https://plato.stanford.edu/entries/cosmopolitanism/ (letzter Zugriff am 17.09.2023). Kleingeld, Pauline: Kant and Cosmopolitanism. The Philosophical Ideal of a World Citizenship. Cambridge 2011. Kleingeld, Pauline: Romantic Cosmopolitanism. Novalis’s Christianity or Europe. In: Journal of the History of Philosophy 46/2 (2008), S. 269–284. Kleingeld, Pauline: Six Varieties of Cosmopolitanism in Late Eighteenth-Century Germany. In: Journal of the History of Ideas 60/3 (1999), S. 505–524. Kohns, Oliver: Der Souverän auf der Bühne. Zu Novalis’ Politischen Aphorismen. In: Weimarer Beiträge 54/1 (2008), S. 25–41. Kurzke, Hermann: Romantik und Konservatismus. Das ‚politische‘ Werk Friedrich von Hardenbergs (Novalis) im Horizont seiner Wirkungsgeschichte. München 1983. Löwe, Matthias: „Pluralism ist unser innerstes Wesen“. Romantik und Demokratie. In: Athenäum: Jahrbuch der Friedrich Schlegel-Gesellschaft 30 (2020), S. 3–24. Löwe, Matthias: Idealstaat und Anthropologie. Problemgeschichte der literarischen Utopie im späten 18. Jahrhundert. Berlin, Boston 2012. Luhmann, Niklas: Literatur als fiktionale Realität. In: Ders.: Schriften zu Kunst und Literatur. Hg. v. Niels Werber. Frankfurt a.M. 2008, S. 276–291. Mähl, Hans-Joachim: Der poetische Staat. Utopie und Utopiereflexion bei den Frühromantikern. In: Wilhelm Voßkamp (Hg.): Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Uto­ pie. Bd. 3. Stuttgart 1983, S. 273–302. Nussbaum, Martha C.: The Cosmopolitan Tradition. A Noble but Flawed Ideal. Cambridge/Mass., London 2019. Oesterle, Günter: Eigenarten romantischer Geselligkeit. In: Helmut Hühn, Joachim Schiedermair (Hg.): Europäische Romantik. Interdisziplinäre Perspektiven der Forschung. Berlin, Boston 2015, S. 201–214. Riedel, Manfred: Gesellschaft, Gemeinschaft. In: Otto Bruner u. a. (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. 2. Stuttgart 1975, S. 801–862. Saul, Nicholas, Johannes Endres (Hg.): Ich liebe Deine Liebe. Der Briefwechsel zwischen Friedrich Schlegel und Friedrich von Hardenberg (Novalis). Eine Ausstellung zum 250. Geburtstag der beiden Dichter. Erläuterungen, Textkonstitution und Redaktion: Konrad Heumann, Katja Kaluga, Bettina Zimmermann. Göttingen, Frankfurt a. M. 2022. Schlegel, Friedrich: „Athenaeum“-Fragmente und andere frühromantische Schriften. Edition, Kommentar und Nachwort von Johannes Endres. Stuttgart 2018.

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Religion. Apotheosen des Individuellen im Briefwechsel zwischen Friedrich Schlegel und Friedrich von Hardenberg Ulrich Breuer

„Some strange Religion“ Mark Lanegan

1 Der leere Himmel 1815 erschien in Nürnberg bei Johann Leonhard Schrag der erste Roman Joseph von Eichendorffs. Er trug den Titel Ahnung und Gegenwart. Eichendorffs Roman spielt noch vor den napoleonischen Kriegen und erzählt die Geschichte des jungen Grafen Friedrich, der im Kampf gegen ausländische Okkupanten unterliegt, seinen Besitz verliert und daraufhin ins Kloster geht. Dort findet er seinen Frieden. Zuvor macht er diejenigen Erfahrungen, die seinen Gang ins Kloster motivieren. Unter an­ derem ist er dabei, wenn in einer größeren Stadt auf einer literarischen Soiree ein längeres, teilweise frei improvisiertes Gedicht vorgetragen wird. Die Vortragende ist die schöne Gräfin Romana. Ihr Gedicht erhält starken Beifall, doch Friedrich er­ scheint es hochgradig problematisch. Er findet es „heydnisch und übermüthig“ und spricht seine Bedenken „halb lachend und halb unwillig“1 auch aus: Sind wir doch kaum des Vernünftelns in der Religion los, und fangen dagegen schon wie­der an, ihre festen Glaubenssätze, Wunder und Wahrheiten zu verpoetisiren und zu ver­flüch­ti­ gen. In wem die Religion zum Leben gelangt, wer in allem Thun und Lassen von der Gnade wahrhaft durchdrungen ist, dessen Seele mag sich auch in Liedern ihrer Entzückung und

 Joseph von Eichendorff: Ahnung und Gegenwart. Ein Roman. Mit einem Vorwort von de la Motte Fouqué. Nürnberg 1815, S. 216. 1

U. Breuer (*) Deutsches Institut, Neuere Deutsche Literaturgeschichte, Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Mainz, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2025 R. Borgards, K. Heumann (Hrsg.), Sich kreuzende Stimmen, Neue Romantikforschung 8, https://doi.org/10.1007/978-3-662-70600-8_3

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U. Breuer des himmlischen Glanzes erfreuen. Wer aber hochmüthig und schlau diese Geheimnisse und einfältigen Wahrheiten als beliebigen Dichtungsstoff zu überschauen glaubt, wer die Religion, die nicht dem Glauben, dem Verstande oder der Poesie allein, sondern allen dreyen, dem ganzen Menschen, angehört, bloß mit der Phantasie in ihren einzelnen Schönheiten willkührlich zusammenrafft, der wird eben so gern an den griechischen Olymp glau­ ben, als an das Christenthum, und eins mit dem andern verwechseln und versetzen, bis der ganze Himmel furchtbar öde und leer wird. — Friedrich bemerkte, daß er von mehreren sehr weise belächelt wurde, als könne er si[ch] nicht zu ihrer freyen Ansicht erheben.2

Das Zitat erlaubt vorgreifend einen Einblick in die Möglichkeiten und Grenzen des Umgangs der Romantik mit der Religion.3 Gleich eingangs wird festgehalten, dass die Romantik sich als Überwindung der Aufklärung und ihrer Herrschaft der Vernunft verstanden hat. Statt aber der christlichen Religion wieder den höchsten Rang einzuräumen, wurde nach Ansicht des Sprechers die Herrschaft der Vernunft durch die Herrschaft der Poesie ersetzt. Sobald allerdings der Poesie erlaubt werde, frei mit religiösen Elementen zu spielen, komme es zu einer Verwässerung und Ver­ flüch­ti­gung der christlichen Grundsätze. Dagegen bringt der Protagonist in Eichendorffs Roman ein existentielles, von Demut geprägtes Religionsverständnis in Stel­ lung. Ihm zufolge muss Religion in den Gläubigen lebendig werden, indem sie sich in ihrem Handeln von der Gnade durchdringen lassen. Nur wem das gelingt, der darf sich auch poetisch äußern. Dabei wird die Religion als anthropologisch-psychologisches Medium verstanden, das allein uns zu ganzen Menschen macht. Allein die Religion verbindet den Glauben, den Verstand und die Fantasie des modernen Menschen zu einer kohärenten Einheit. Überlässt man dagegen der romantischen Poesie das Terrain, dann kommt es zu einer Vermischung, einem Syn­kre­tis­mus heidnischer mit christlichen Symbolen. Dadurch verlieren in Friedrichs Augen die christlichen Symbole ihre Dignität, und es breiten sich Atheismus und Ni­hi­lis­mus aus. Am Ende des Zitats wird schließlich auch die soziale Exklusionsmacht der Religion deutlich. Denn die christliche Romantik, die Friedrich propagiert, trifft auf den Hochmut und das Unverständnis der falschen Romantiker. Sie haben sich in ihrer elitären Kunstreligion verschanzt und belächeln daher den wahren Ro­man­ti­ker, den Anwalt der kleinen Leute, als überspannten Einzelnen. Wenn er nicht zurückschlagen will, muss er sich aus dem Verkehr ziehen. Er wird dann zu jener Figur, mit der die Romantik als Kunstreligion begann – zum kunstliebenden Klosterbruder. Eichendorff unterscheidet in der zitierten Passage zwischen einem poetischen und einem christlich-existentiellen Umgang der Romantik mit der Religion. Nur letzterer ist für Friedrich legitim. Friedrich Schlegel und Friedrich von Hardenberg,

 Eichendorff: Ahnung und Gegenwart, S. 216. Die Emendation („sich“ statt „sie“) nach Joseph von Eichendorff: Ahnung und Gegenwart. In: Ders.: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Bd. 3. Hg. von Christiane Briegleb und Clemens Rauschenberg. Stuttgart 1984, S. 153. 3  Vgl. dazu mit ähnlicher Intention am Beispiel von Eichendorffs Novelle Das Marmorbild und Hardenbergs Geistlichen Liedern Ludwig Stockinger: Poetische Religion – religiöse Poesie. Friedrich von Hardenberg (Novalis) und Joseph von Eichendorff. In: Wolfgang Braungart (Hg.): Ästhetische und religiöse Erfahrungen der Jahrhundertwenden. Bd. 1: um 1800. Paderborn u. a. 1997, S. 167–186. 2

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um deren Briefwechsel es im vorliegenden Beitrag geht,4 versuchen dagegen, den poetischen und den christlich-existentiellen Zugriff auf die Religion zu verbinden. Das geschieht allerdings auf unterschiedliche, teils anthropozentrische, teils theozentrische Weise. Schlegels anthropozentrische Auffassung der Religion trägt mundane Züge und greift im hier thematischen Untersuchungszeitraum nur rhetorisch auf die Transzendenz aus, während Hardenbergs Auffassung im Sinne der Gnosis von einer extramundanen Transzendenzgewissheit bestimmt ist. Dabei kommt es aber auch zu Überkreuzungen und mehr oder weniger wilden Turbulenzen. Das ver­ sucht der folgende Beitrag zu zeigen. Er geht von zwei Voraussetzungen aus. Die erste betrifft sein Binnenverhältnis zur Religion. In den Geisteswissenschaften, auch in der Germanistik, wird vielfach weiterhin das Konzept der Säkularisierung verwendet, bei dem es um den Umgang der Neuzeit mit Bestandsstücken der christlichen Religionen geht.5 Die Säkularisierungsthese ist vor allem von Hans Blumenberg zurückgewiesen worden, weil sie den christlichen Religionen ein exklusives Besitzrecht an einer geistigen Substanz, einer Art Glaubensschatz, unterstellt, den es in Wahrheit entweder nie gab oder der dann, wenn es ihn gegeben haben sollte, allen gehört, die über Vernunft verfügen.6 Die Neuzeit versteht Blumenberg dann als legitime Form der Selbstbehauptung gegenüber gnostischen Radikalisierungen christlicher Kerngedanken. Aus dem hier favorisierten Anschluss an Blumenbergs Kritik ergibt sich eine gewisse Nähe zu der anthropozentrischen, vernunftreligiösen Haltung Friedrich Schlegels und eine gewisse Distanz gegenüber der gnostischen seines Freundes Friedrich von Hardenberg. Dass sich Schlegels Haltung nach dem Tod Hardenbergs ändert, gehört nur noch am Rande zum Gegenstandsbereich dieses Beitrags. Die zweite Vorbemerkung bezieht sich auf den Umgang mit dem Spielraum, den das Thema des vorliegenden Sammelbandes eröffnet. Die Themenstellung erlaubt es, vergleichsweise breit auf das Werk Friedrich Schlegels und Friedrich von Hardenbergs einzugehen oder aber eine mehr oder weniger rigide Beschränkung auf den Briefwechsel zwischen beiden vorzunehmen. Der vorliegende Beitrag beschränkt sich auf den Briefwechsel,7 mar­ kiert aber auch die Abzweigungen, die zu den Werken beider Autoren hinleiten. In einem grundlegenden Abschnitt (2) wird zunächst der aus der Soziologie entlehnte (2.1) und systemtheoretisch präzisierte (2.2) Religionsbegriff erläutert, und  Ich bedanke mich für Fragen, Anregungen und Rückmeldungen bei Roland Borgards, Konrad Heumann, Johannes Endres, Loreen Dalski sowie bei Laura Eckhard für ihre ausgezeichnete, stets umsichtige und zuverlässige Unterstützung. 5  In apologetischer Absicht aufgenommen von Heinrich Detering: Religion. In: Thomas Anz (Hg.): Handbuch Literaturwissenschaft. Bd. 1: Gegenstände und Grundbegriffe. Stuttgart, Weimar 2007, S. 382–395, hier S. 387. 6  Vgl. Hans Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit [1966]. 2. Aufl. Frankfurt a.M. 1988, S. 11–134. 7  Jetzt verfügbar in der kommentierten Neuedition von Nicholas Saul, Johannes Endres (Hg.): Ich liebe Deine Liebe. Der Briefwechsel zwischen Friedrich Schlegel und Friedrich von Hardenberg (Novalis). Eine Ausstellung zum 250. Geburtstag der beiden Dichter. Erläuterungen, Textkonstitution und Redaktion: Konrad Heumann, Katja Kaluga, Bettina Zimmermann. Göttingen, Frankfurt a.M. 2022. 4

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es wird das für die Romantik zentrale Konzept der Kunstreligion umrissen (2.3). Innerhalb des Briefwechsels werden sodann drei Phasen unterschieden. Ihren Mit­ tel- und Höhepunkt bildet das sogenannte Bibelprojekt (3.2), zu dem eine mehrstufige Vorgeschichte hinleitet (3.1) und an das sich eine aufschlussreiche Nach­ge­ schich­te anschließt (3.3). Am Ende des Beitrags werden die Ergebnisse gebündelt und weiterführende Perspektiven angesprochen (4).

2 Zum Religionsbegriff 2.1 Religionssoziologie Der Ausdruck Religion ist vom lateinischen religio abgeleitet, das soviel wie ‚gewissenhafte Berücksichtigung, Sorgfalt‘ bedeutet. Er geht zurück auf relegere (‚be­ den­ken, achtgeben‘), das sich seinerseits vom griechische alegein, ‚den Sinn auf etwas richten, sich kümmern‘ herleitet.8 Religiosität ist also zunächst eine Haltung der Achtsamkeit und der Wertschätzung. Sie hebt sich dadurch ab von allen Formen der Gleichgültigkeit und der aktiven Indifferenz. Bei der näheren Be­griffs­be­stim­ mung begegnet man immer wieder der Definition des französischen Soziologen und Ethnologen Émile Durkheim aus dem Jahr 1912. Durkheim versteht unter Religion ein „solidarisches System von Überzeugungen und Praktiken, die sich auf heilige, d. h. abgesonderte und verbotene Dinge […] beziehen, die in einer und derselben moralischen Gemeinschaft, die man Kirche nennt, alle vereinen, die ihr angehören.“9 Die Definition enthält drei zentrale Bestimmungsstücke: Erstens wird Religion als ein System, als ein intern strukturierter autonomer Zusammenhang verstanden. Dieser Zusammenhang wird als solidarisch bezeichnet, womit auf gegenseitige Verpflichtungen und eine gemeinsame Verantwortung abgehoben wird. Es bleibt dabei bewusst offen, wer sich hier wem verpflichtet und wer für wen oder was Ver­ant­wor­ tung übernimmt – und das muss es auch, denn in Religionen interagieren be­kannt­ lich nicht nur Menschen, sondern Wesen unterschiedlicher Art, zu denen neben Tieren und Pflanzen auch Götter gehören können. Zweitens wird etwas über die Elemente gesagt, aus denen das religiöse System besteht. Es handelt sich dabei um Überzeugungen und Praktiken. Beide gehören unterschiedlichen Ordnungen an – die einen der Ordnung des Geistes, die anderen derjenigen des Körpers –, konvergieren aber in ihrem Bezug auf bestimmte Dinge. Diese Dinge sind von allen anderen scharf unterschieden und insofern exklusiv, sie haben einen Sonderstatus. Durkheim charakterisiert sie als heilig, abgesondert und verboten. Zu denken ist dabei an Objekte wie die heiligen Kühe in Indien, die Kaaba in Mekka oder die Hostie im Christentum. Diese Dinge sind jeweils nicht nur sie  Vgl. Johann Evangelist Hafner: Was ist ‚Religion‘? In: Daniel Weidner (Hg.): Handbuch Literatur und Religion. Stuttgart 2016, S. 1–9, hier S. 4. 9  Émile Durkheim: Die elementaren Formen des religiösen Lebens [frz. 1912]. Übers. v. Ludwig Schmidts. Frankfurt a.M. 1981, S. 75. 8

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selbst, sondern sie haben auch einen Symbolwert, der auf etwas Unsinnliches und Unsichtbares verweist. Ihr Symbolwert macht Religionen immer auch medientheoretisch und mediengeschichtlich interessant. Drittens schließlich geht Durkheims Definition auch auf die Leistung der Re­li­ gi­on ein. Sie vereinigt ihre Mitglieder zu einer moralischen Gemeinschaft, die man auch als Kirche bezeichnet. Religionen erzeugen und stabilisieren soziale Strukturen. Entscheidend ist hier das Attribut ‚moralisch‘, denn es charakterisiert religiöse Gemeinschaften durch geteilte Werte, Gesetze und Pflichten, für die jeweils ein Wahrheitsanspruch erhoben wird. Der Wahrheitsanspruch hat Folgen für die ein­ zelnen Angehörigen, die in der Gemeinschaft Trost finden können, deren Handeln aber auch aus moralischen Gründen sanktioniert werden kann, während er im Außenbezug die Gewalttendenz von Religionen angesichts von tatsächlicher oder vermeintlicher Bedrohung sowie die Expansionstendenz aller Religionen mit universellem Anspruch begründet.

2.2 Systemtheorie Für die Zwecke der folgenden Untersuchung soll die Definition von Durkheim durch eine systemtheoretische Bestimmung ergänzt werden. Dafür bietet sich ein Beitrag von Johann Evangelist Hafner im Handbuch Literatur und Religion an. Mit seiner Hilfe lassen sich die brieflichen Äußerungen von Friedrich Schlegel und Friedrich von Hardenberg terminologisch trennschärfer fassen, als dies mit der Be­ griff­lich­keit Durkheims möglich wäre. Hafner geht davon aus, dass sich Formen des Religiösen bereits in der Alltagskommunikation herausbilden. Immer dann, wenn wir mit Bedauern etwas Getanes als unveränderlich oder etwas Erlebtes als nicht wiederholbar thematisieren, neh­ men wir Bezug auf die Möglichkeit einer Welt, in der sich „die Irreversibilität des Tuns und die Irreversibilität des Lebens aufheben ließen.“10 Das aber ist eine trans­ zen­den­te Welt, wie sie für Religionen charakteristisch ist. Diese Welt kann als grundsätzlich unzugänglich angenommen werden oder als grundsätzlich zu­gäng­ lich. Daraus ergeben sich verschiedene Typen von Religionen, die es entweder mit einem Mysterium oder mit dem Mystischen zu tun haben. Nur mystische Religionen erlauben durch religiöse Übungen eine Annäherung aller Gläubigen an die Transzendenz, Mysterienreligionen schließen sie dagegen aus. Zur Annäherung an die Transzendenz in mystischen Religionen können auch Schrifttexte eingesetzt werden. Indem sie anzeigen, dass sie in der Immanenz von der Transzendenz sprechen, verdoppeln sie die Welt in eine reale und eine religiöse und geben die religiöse Welt der Transzendenz als ebenso universal wie die empirische Welt aus. Von der transzendenten Welt aus betrachtet verliert dann die immanente Welt ihre Notwendigkeit und erscheint als kontingent. Sie könnte auch ganz anders sein. So hat zuletzt Stefan Matuschek die Leistung der Romantik ­charakterisiert und 10

 Hafner: Was ist ‚Religion‘?, S. 6.

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dafür die Formulierung vom gedichteten Himmel vorgeschlagen.11 In jedem Fall dienen Religionen in einem ersten Schritt der Kontingenzerzeugung und in einem zweiten, aufgrund ihrer apotropäischen Leis­tung, der Kontingenzabsorption.12 Das ist vergleichsweise harmlos, solange die transzendente Welt als Fiktion markiert bleibt. Sobald sich aber die Unterscheidung zwischen Immanenz und Transzendenz auf eine transzendente Macht beruft und für die religiöse Beschreibung der Welt eine höhere Autorität in Anspruch genommen wird, kommt es zu einer radikaleren Form von Transzendenz, die nun das Immanente und das Transzendente gleichermaßen umfasst. Die Anthropozentrik wird theozentrisch gewendet. Damit wird auch der Himmel zu einer Welt unter anderen. Es gibt nämlich etwas Mächtigeres als den Himmel, auf das etwa der Beginn der Genesis hinweist mit ihrem Hammersatz: „Am Anfang schuf Gott Himmel und Er­de.“13 Religiöse Texte, die von einer solchen Hypertranszendenz sprechen, beziehen sich in der Regel auf einen nie ganz zu ergründenden Urtext. Dazu gehört die Bibel oder der Koran. Bezogen auf diesen Urtext, als dessen Autor die höchste denkbare Instanz angenommen wird, erscheint dann „alles Reden und Schreiben vorläufig“.14 Religiöse Texte widersprechen insofern der Auffassung, Wirklichkeit bestehe le­dig­lich aus einem Spiel möglicher Imaginationen.15 Das kann bis zum offen deklarierten Metaphernverbot gehen. Man hat diesen Einspruch aus systemtheoretischer Perspektive als „Abschlussfähigkeit“16 bezeichnet. Eben darum geht es auch in der christlichen Romantik Eichendorffs, die mit ihrem existentiellen Ernst und ihrem Schlichtheitsgebot dem unverbindlichen Spiel der romantischen Kunstreligion ein Ende zu machen versucht.

2.3 Kunstreligion Als Ergebnis eines Kompromisses von Religion und Religionskritik entsteht in der Romantik die Kunstreligion.17 Sie ist eine „Sonderentwicklung innerhalb der Aus­bil­ dung einer autonomen Lit.[eratur]“.18 Heinrich Detering hat drei Bedingungen für eine sinnvolle Verwendung des Begriffs in der Literaturwissenschaft angegeben. Die

 Vgl. Stefan Matuschek: Der gedichtete Himmel. Eine Geschichte der Romantik. München 2021.  Vgl. Hafner: Was ist ‚Religion‘?, S. 7. 13  1 Mose 1,1. 14  Hafner: Was ist ‚Religion‘?, S. 8. 15  Vgl. Hafner: Was ist ‚Religion‘?, S. 8. 16  Hafner: Was ist ‚Religion‘?, S. 8. 17  Vgl. Bernd Auerochs: Die Entstehung der Kunstreligion. Göttingen 2006, S. 364. 18  Bernd Auerochs: Religion und Literatur. In: Dieter Burdorf, Christoph Fasbender, Burkhardt Moennighoff (Hg.): Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen. 3., völlig neu bearb. Aufl. Stuttgart, Weimar 2007, S.  643–644. Remigius Bunia: Romantischer Rationalismus. Zu Wissenschaft, Politik und Religion bei Novalis. Paderborn, München, Wien, Zürich 2013, S. 142, hat den Begriff der ‚Kunstreligion‘ als zu diffus und latent liturgisch konnotiert kritisiert und ihm den Begriff der ‚Autonomie der Kunst‘ vorgezogen. 11 12

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Rede von Kunstreligion setze erstens eine „funktionale Ausdifferenzierung von Kunst und Religion zu voneinander nicht abhängigen gesellschaftlichen Teilsystemen“ vo­ raus; zweitens fordere sie „eine emphatische Bezugnahme von Kunst auf Religion und auf das von dieser vorausgesetzte Heilige oder Numinosum“, und drittens müsse der Anspruch der Kunst erkennbar sein, eine „Aufgabe [zu erfüllen], die vom jeweils vorausgesetzten religiösen System nicht oder nicht zureichend erfüllt zu werden scheint.“19 Fasst man das knapper, dann müssen Religion und Kunst unterschieden sein, letztere muss sich auf erstere beziehen und die Kunst muss dabei Funktionen der Religion beanspruchen. Schon der zweite, aber insbesondere der letzte Punkt ist zweischneidig, denn man hat darauf hingewiesen, dass Religionen nur solange wirksam sind, wie ihre Funktionen latent bleiben. In einer Kunstreligion werden religiöse Leistungen aber durch Artefakte realisiert, die ihre Fiktionalität offen markieren. Das kann zu einer Ästhetisierung führen und die re­li­giö­sen Funktionen deutlich werden lassen, die dadurch an Wirksamkeit verlieren.20 Kunstreligionen haben es also schwer. Schon im Moment ihrer Proklamation dro­hen sie kraftlos zu werden. Das gilt auch für die romantische Kunstreligion.21 Sie steht historisch gesehen im größeren Kontext einer Entdogmatisierung und gleichzeitigen Ausweitung des Religionsbegriffs im Laufe des 18. Jahrhunderts.22 Zu ihren wichtigsten Voraussetzungen gehört zum einen der von Friedrich Heinrich Jacobi initiierte Spinozismusstreit, in dem Jacobi jeden Ausgriff der Vernunft auf die Religion im Atheismus enden sah, und zum anderen die Subjektphilosophie Fichtes, die von einer unendlichen Tiefe des Ich ausging. Wer dieser Tiefe nachgebe, so wiederum Jacobi, lande zwangsläufig im Nihilismus. Beide Argumente haben ihren Zweck nicht erreicht, sondern sowohl den Spinozismus als auch die absolute Freiheit des Ich eher noch attraktiver gemacht. Angesichts der Französischen Revolution, die man in Deutschland als Folge einer Krise des Christentums verstand, erhoffte sich zudem vor allem die Ge­ne­ra­ ti­on der nach 1770 Geborenen eine grundsätzliche religiöse Erneuerung.23 Dazu sollte eine neue Mythologie beitragen, die zuerst von Hölderlin, Hegel und Schel­ ling im sogenannten Ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus gefordert wurde,24 später dann von Friedrich Schlegel in seinem Gespräch über die Poesie.  Heinrich Detering: Was ist Kunstreligion? Systematische und historische Bemerkungen. In: Albert Meier, Alessandro Costazza, Gérard Laudin (Hg.): Kunstreligion. Ein ästhetisches Konzept der Moderne in seiner Entfaltung. Bd. 1: Der Ursprung des Konzepts um 1800. Berlin, Boston 2011, S. 11–28, hier S. 12. 20  Vgl. Hafner: Was ist ‚Religion‘?, S. 5. 21  Barbara Thums akzentuiert den poetischen und poetologischen Aspekt der Kunstreligion und versteht die Poetik der Romantik als „Transformation von tradiertem religiösen Wissen“; Barbara Thums: Kunstreligion. Romantische An- und Umbildungen religiösen Wissens. In: LiLi. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 48/1 (2018), S. 147–166, hier S. 152. 22  Vgl. Bernd Auerochs: Goethezeit, Klassik, Romantik. In: Daniel Weidner (Hg.): Handbuch Literatur und Religion. Stuttgart 2016, S. 154–164, hier S. 154. 23  Vgl. Auerochs: Goethezeit, Klassik, Romantik, S. 157f. 24  Zum Beitrag Hölderlins vgl. Bernhard Lypp: Poetische Religion. In: Walter Jaeschke, Helmut Holzhey (Hg.): Früher Idealismus und Romantik. Der Streit um die Grundlagen der Ästhetik (1795–1805). Hamburg 1990, S. 80–111, hier S. 84. 19

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­ erufen konnte sich die neue Mythologie auch auf Karl Philipp Moritz, der 1791 in B seiner Abhandlung ΑΝΘΟΥΣΑ oder Roms Alterthümer die Gebräuche der alten Römer als „eine Religion der Phantasie“ bezeichnet hatte.25 Das ist im Kern bereits das Konzept der Kunstreligion. Diese Religion habe ausschließlich der festlichen Steigerung „des wirklichen Lebens“ gedient.26 Moritz regt seine Leserschaft an, diese dem realen Leben, der Immanenz dienende Religion mit der christlichen zu vergleichen und daraus die nötigen Schlüsse zu ziehen. Das haben nicht nur die Theoretiker einer neuen Mythologie, sondern es hat auch Moritz’ Schüler Wilhelm Heinrich Wackenroder getan, der gemeinsam mit Ludwig Tieck 1796 die Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders publiziert hat. Darin wendet sich die Kunstfigur des zurückgezogen lebenden Klosterbruders an junge Menschen, „die sich der Kunst zu widmen gedenken“,27 um sie zu rühren und zur Ehrfurcht vor bedeutenden Kunstwerken zu bewegen. In Tiecks Roman Franz Stern­ balds Wanderungen von 1798 richtet sich der fiktive Herausgeber dann bereits dezidiert an die „Jünger der Kunst“,28 setzt also eine Glaubensgemeinschaft voraus, eine Art Kirche, zu der sich die Anhänger der Kunstreligion zusammengefunden haben. Zu ihnen gehörten die Vertreter der frühen Romantik, darunter pro­mi­nent Tiecks Freunde Friedrich Schlegel und Friedrich von Hardenberg, um die es im Folgenden gehen wird. Schlegel wird Hardenberg vorschlagen, als Christus der neuen Religion zu firmieren, und er sieht für sich selbst die Rolle des Apostels Pau­lus vor. Die Frühromantik wird zur Überbietung und zugleich zur Fortsetzung des Christentums. In der Forschung ist die Frage nach Formen und Funktionen der Religion im Briefwechsel zwischen Friedrich Schlegel und Friedrich von Hardenberg bisher noch nicht gestellt worden. Es gibt aber vergleichende Studien zur Religionsauffassung beider Autoren. In seiner theologischen, von Spekulationen durchsetzten Pionierarbeit sieht Hermann Timm beide Autoren einer „an der geist-leiblichen, der ideal-realistischen Symbolfunktion der Sprache orientierten Ästhetik“ verpflichtet, die Hardenberg mit antiphilologischer Intention weiterentwickelt habe, „während Schlegel in ihr die Präfiguration seiner philologisch-hermeneutischen U ­ niversalvermittlung entdeckt.“29 Die

 Karl Philipp Moritz: ΑΝΘΟΥΣΑ oder Roms Alterthümer. Ein Buch für die Menschheit. In: Ders.: Werke. Hg. v. Horst Günther. Bd.  2. Frankfurt a.M. 1981, S.  487–526, hier S.  498. Zu Moritz’ Auffassung der Mythologie und der Mysterien vgl. Dirk von Petersdorff: Mysterienrede. Zum Selbstverständnis romantischer Intellektueller. Tübingen 1996, S. 76–87. Die im hier interessierenden Zusammenhang zentrale, an der Götterlehre verifizierte Pointe lautet, dass es für Moritz „kein Bewußtsein von einer Kluft zwischen Immanenz und Transzendenz gibt“ Petersdorff: Mysterienrede, S. 79. 26  Moritz: ΑΝΘΟΥΣΑ oder Roms Alterthümer, S. 498. Vgl. zur ΑΝΘΟΥΣΑ und ihrer Sonderstellung in Moritz‘ Werk auch Petersdorff: Mysterienrede, S. 79–83. 27  Wilhelm Heinrich Wackenroder, Ludwig Tieck: Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders. Hg. v. Richard Benz. Stuttgart 1987, S. 6. 28  Ludwig Tieck: Franz Sternbalds Wanderungen. Studienausgabe. Hg. v. Alfred Anger. Bibl. erg. Ausg. Stuttgart 1988, S. 9. 29  Hermann Timm: Die heilige Revolution. Das religiöse Totalitätskonzept der Frühromantik. Schleiermacher, Novalis, Friedrich Schlegel. Frankfurt a.M. 1978, S. 145. 25

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erste gründliche vergleichende Studie aus germanistischer Perspektive hat Hans Dierkes vorgelegt.30 Sie rekonstruiert die unterschiedlichen Religionskonzepte anhand von Hardenbergs Randbemerkungen zu Schlegels Ideen. Die beiden Freunde teilten nach Dierkes die Annahmen eines metaphysischen Monismus, der Geschichtlichkeit göttlicher Offenbarungen und der Erwartung einer neuen Religion. Sie unterschieden sich aber, insofern Hardenberg gegen Schlegel den Vorrang der Natur über die Geschichte, der mystischen Intuition über die poetische Praxis und einer harmonisierenden Liebe über die Dialektik poetischer Fantasie annehme. Auf dieser Grundlage konnte Mario Zanucchi aufbauen, der in seiner Novalis-Studie die Romantisierung des Christentums bei Friedrich von Hardenberg und Friedrich Schlegel vergleicht.31 Zanucchi geht vom Theorem der Säkularisierung aus. Während Schlegel die religiöse Erfahrung primär ethisch verstehe, schließe sich Hardenberg der Gefühlsreligion Schleiermachers an, betrachte aber, anders als dieser, die Poesie als „unverzichtbare Grundkomponente der Re­li­gi­on.“32 Zuvor hatte Bernhard Rank den religiösen Charakter des Poesiekonzepts von Schlegel und Hardenberg analysiert.33 Speziell mit dem Bibelprojekt beider Autoren haben sich erneut Hermann Timm,34 Hans Blumenberg,35 Georges Gusdorf,36 Bernd Auerochs37 und Daniel Weidner38 auseinandergesetzt. Zudem ist vergleichend das Verhältnis Schlegels und Hardenbergs zur Religionsauffassung der Antike,39 zu Luther40 und zum Katholizismus41 untersucht worden.

30  Vgl. Hans Dierkes: „Geheimnisse unsrer Entzweyung“. Differenzen romantischer Religion in Novalis‘ Randbemerkungen zu Fr. Schlegels Ideen. In: Zeitschrift für neuere Theologiegeschichte 5/2 (1998), S. 165–192. 31  Vgl. Mario Zanucchi: Novalis. Poesie und Geschichtlichkeit. Die Poetik Friedrich von Hardenbergs. Paderborn 2006, S. 361–396. 32  Zanucchi: Novalis, S. 363. Zum Verhältnis von Poesie und Religion bei Hardenberg vgl. Bunia: Romantischer Rationalismus, S. 157: „Eine Kunstreligion wäre dabei eine Form der Kunst und der Religion, die beides verbindet, die Liebe und den Glauben, die bedingungslose Annahme eines Liebenden und die Orientierung an der Vernunft.“ 33  Vgl. Bernhard Rank: Romantische Poesie als religiöse Kunst. Studien zu ihrer Theorie bei Friedrich Schlegel und Novalis. Tübingen 1971. 34  Vgl. Timm: Die heilige Revolution, S. 160–172. 35  Vgl. Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt [1981]. 2., durchges. Aufl. Frankfurt a.M. 1983, S. 233–266. 36  Vgl. Georges Gusdorf: Le Romantisme. Bd. 1: Le Savoir romantique. Paris 1993, S. 753–756. 37  Vgl. Auerochs: Die Entstehung der Kunstreligion, S. 399–408. 38  Vgl. Daniel Weidner: Bibel und Literatur um 1800. München 2011, S. 198–200. 39  Vgl. Helmut Schanze: „Gräkomanie“ oder „die Religion der Antiquare“. Friedrich Schlegel, Novalis, Goethe und die „Göttlichkeit der Antike“. In: Blütenstaub. Jahrbuch für Frühromantik 4 (2018), S. 193–207. 40  Vgl. Sara A. Malsch: The Image of Martin Luther in the Writings of Novalis and Friedrich Schlegel. The Speculative Vision of History and Religion. Bern 1974. 41  Vgl. Siegmar V. Hellerich: Religionizing, Romanizing Romantics. The Catholic Christian Camouflage of the Early German Romantics. Wackenroder, Tieck, Novalis, Friedrich & August Wilhelm Schlegel. Frankfurt a.M. u. a. 1995.

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3 Der Briefwechsel Bevor es um die Formen und Funktionen der Religion im Briefwechsel zwischen Friedrich Schlegel und Friedrich von Hardenberg geht, seien einige wenige Bemerkungen über die Autoren vorangestellt. Beide sind sich erstmals im Januar 1792 in Leipzig begegnet, wo sie sich erfolglos in die Schwestern Laura (verh. Limburger) und Julie Eisenstuck verliebt haben.42 Der Briefwechsel zwischen den jun­ gen Männern beginnt mit einem Brief Schlegels vom 7. April 1793, und er endet nach mehr als sieben Jahren mit einem Brief Hardenbergs vom 28. Juli 1800. Rund sieben Monate nach seinem letzten Brief an Schlegel ist Hardenberg tot. Und sieben Jahre nach seinem Tod konvertiert Schlegel zum Katholizismus. Bevor sie sich kennenlernten, sind beide in der protestantischen Religion sozialisiert worden, allerdings mit beträchtlichen Unterschieden, die sich auch auf die Gemeinsamkeiten ausgewirkt haben. Friedrich Schlegel stammt aus einem gelehrten Pastorenhaushalt mit anfänglich starker Affinität zur Poesie.43 Sein Vater Jo­ hann Adolf Schlegel hatte um 1750 als junger Mann gemeinsam mit seinem Bruder Johann Elias zur Herausbildung der neueren deutschen Literatur beigetragen. Im Alter brachte er es bis zum Konsistorialrat und Superintendenten, der Kirchenlieder dichtete.44 Sein jüngster Sohn strebte nach unbedingter Freiheit und nach Größe,45 wobei er nach Gelegenheiten suchte, „Gott zu verachten“ (KFSA 23, S. 29). Damit ist offenbar der Gott der protestantischen Kirche gemeint. Dagegen trug nach seiner Überzeugung jeder Mensch eine Gottheit in der eigenen Brust (vgl. KFSA 23, S. 87), die seinen Wert bestimme: „Ein Mensch hat so viel Werth als Daseyn d. h. als Leben, Kraft und Gott in ihm ist.“ (KFSA 23, S. 142) Die eigene Lebensaufgabe besteht dann darin, dem Gott in sich immer ähnlicher zu werden (KFSA 23, S. 130) und sowohl die Kraft als auch das Leben mit dem eigenen Genius zu versöhnen (KFSA 23, S. 142). Dem Bruder August Wilhelm, der zugleich sein Mentor und engster Vertrauter war, gestand er, gegenüber dem Vater Religion und gegenüber der Familie Achtung zu heucheln, die er nicht habe (KFSA 23, S. 72). Für den jungen  Vgl. Richard Samuel: Friedrich Schlegel’s and Friedrich von Hardenberg’s Love Affairs in Leipzig. A Contribution to their Biographies. In: Festschrift für Ralph Farrell. Hg. v. Anthony Stephens, H. L. Rogers, Brian Coghlan. Bern u. a. 1977, S. 47–56. 43  Zur Biografie vgl. Ernst Behler: Friedrich Schlegel. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. 6. Aufl. Hamburg 1996, sowie Ulrich Breuer: Lebensstationen. In: Johannes Endres (Hg.): Friedrich Schlegel-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 2017, S. 1–32. 44  Vgl. Ulrich Breuer: Witzige Kleinigkeiten. Zum 300. Geburtstag Johann Adolf Schlegels (1721–1793). In: Zeitschrift für Germanistik 31/3 (2021), S. 559–564. 45  Beides hängt für Schlegel eng zusammen: „Größe“ (z.  B. diejenige einer Nation) „läßt sich immer beßer aus der Freiheit oder dem Entschluß als aus dem Schicksal erklären, obwohl das äußere auf die Art der Größe Einfluß hat.“ Friedrich Schlegel an August Wilhelm Schlegel, 21.7.1791. In: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Hg. v. Ernst Behler. Bd. 23. Paderborn, München, Wien 1987, S. 13–18, hier S. 16. Die Briefe Friedrich Schlegels und Friedrich von Hardenbergs werden künftig mit der Sigle KFSA sowie Band- und Seitenangabe zitiert. Einfügungen der Autoren über oder neben der Zeile werden durch spitze Klammern angezeigt, Ergänzungen des jeweiligen Bandherausgebers durch eckige Klammern. 42

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Friedrich Schlegel war nicht die protestantische Kirche und ihr Gott, sondern die Menschheit der höchste Wert und die Kunst nur um ihretwillen vorhanden (KFSA 23, S. 143). Das prädestinierte ihn zu einer mundanen und anthropozentrischen Va­ ri­an­te der Kunstreligion. Friedrich von Hardenberg stammt anders als Friedrich Schlegel aus einem alten niedersächsischen Adelsgeschlecht.46 Sein Vater Heinrich Ulrich Erasmus hatte 1769 nach dem Tod seiner ersten Ehefrau ein heftiges Bekehrungserlebnis, wo­rauf­ hin er sich der Herrnhuter Brüdergemeinde zuwandte.47 Er regierte die Familie im Geist eines ausgeprägten religiösen Sündenbewusstseins.48 Friedrich von Hardenberg ist entsprechend in der „Tradition pietistischer Frömmigkeit“49 aufgewachsen. Das ist aber nur die eine Seite. Als er elf Jahre war, wurde der kränkliche Ju­gend­li­ che zur Ertüchtigung für längere Zeit seinem Onkel Gottlob Friedrich Wilhelm von Hardenberg übergeben, der als Landkomtur des Deutschritter-Ordens im abgelegenen Lucklum lebte. Hier lernte er eine provinziell vergröberte Variante der erotisierten Kultur des Rokoko und die Lebensformen eines galanten Weltmannes kennen.50 Beide Aspekte, die pietistische Frömmigkeit und das galante Verhalten, gehen bei ihm eine enge Verbindung ein. Kurz nachdem Friedrich Schlegel den mi­ ni­mal jüngeren Hardenberg kennengelernt hat, bemerkt er scharfsichtig in einem Brief an den Bruder sowohl „eine gewisse Keuschheit“ der Seele an ihm als auch eine ausgedehnte Weltkenntnis, denn „er ist schon sehr viel in Gesellschaft gewesen“ (KFSA 23, S.  40). Schlegel fällt auch der religiöse Optimismus Hardenbergs auf. Gleich an einem der ersten gemeinsamen Abende sei dieser mit seiner „Meinung“ herausgeplatzt, „es sey gar nichts böses in der Welt – und alles nahe sich wieder dem goldenen Zeitalter.“ (KFSA 23, S. 40) Nicht zuletzt erkennt Schlegel sofort, dass Hardenberg der Kunst den Vorrang vor der Philosophie gibt: „er geht nicht auf das wahre sondern auf das schöne“ (KFSA 23, S. 40).51 Auf dieser ins Ästhetische ausgreifenden Grundlage hat Hardenberg später „ein ‚Modell religiöser Erfahrung‘“ entwickelt, welches die „früh erworbene christliche Identität“ auch in Krisensituationen dergestalt zu transformieren erlaubt, „daß man sie auf­recht­er­hal­ ten kann.“52  Vgl. Gerhard Schulz: Novalis. In Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. 20. Aufl. Reinbek b. Hamburg 1983, S. 10. 47  Vgl. Schulz: Novalis, S. 12. 48  Vgl. Schulz: Novalis, S. 13, sowie Herbert Uerlings: Novalis (Friedrich von Hardenberg). Stuttgart 1998, S. 11–13. 49  Schulz: Novalis, S. 65. 50  Vgl. Schulz: Novalis, S. 15. 51  Als Begründung dieser Beobachtung kann das Resümee der Religionsauffassung Hardenbergs bei Bunia: Romantischer Rationalismus, S. 157, verstanden werden: „Möglicherweise ist die Poesie der Wahrheit näher als die Liebe beziehungsweise die Religion.“ 52  So die sozial- und funktionsgeschichtliche These der für Hardenbergs Religionsauffassung immer noch grundlegenden Studie von Ludwig Stockinger: Religiöse Erfahrung zwischen christlicher Tradition und romantischer Dichtung bei Friedrich von Hardenberg (Novalis). In: Walter Haug, Dietmar Mieth (Hg.): Religiöse Erfahrung. Historische Modelle in christlicher Tradition. München 1992, S. 361–393, hier S. 363. 46

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Versucht man die Unterschiede zu typisieren, dann kann man den jungen Friedrich Schlegel als Atheisten53 und den jungen Friedrich von Hardenberg als Pietisten bezeichnen. Der Atheist glaubt aber auch an etwas Göttliches, und der Pietist verfügt über eine gute Weltkenntnis. Was die Gemeinsamkeiten zwischen Friedrich Schlegel und Friedrich von Hardenberg betrifft, so haben beide in auffälliger Weise die Nähe zum Tod gesucht und ernsthaft mit dem Gedanken des Selbstmords gespielt. Sie verfolgen dabei aber unterschiedliche Motive. Schlegel will aus dem Leben scheiden, weil seine immensen, stetig zunehmenden Schulden seine bürgerliche Ehre bedrohen. Religiöse Überlegungen spielen dabei keine erkennbare Rolle. Für ihn gibt es nur die eine, anthropozentrische Realität, theologisch gesprochen die der Immanenz, in der er auf seiner Freiheit beharrt und nach antikem Vorbild Größe erlangen will. Hardenberg dagegen beschließt nach dem qualvollen Tod seiner Braut Sophie von Kühn, durch eine Willensanstrengung das Leben zu verlassen und ihr nachzusterben. Das ist für seine religiösen Überzeugungen hochgradig relevant, denn er will dadurch ein höheres Leben gewinnen und zugleich den Menschen ein Beispiel geben.54 Der Tod Sophies gibt ihm die Gewissheit der Existenz einer unsichtbaren, transzendenten Welt,55 die im Sinne Hafners alle irdischen Begrenzungen kontingent werden lässt.56 Bei Hardenberg ist diese Welt die (verlorene) Heimat des extramundanen, als Individuum konzipierten Subjekts.57 Insofern steht er

 Nach Johannes Korngiebel: Friedrich Schlegels Konzeption einer ‚Neuen Religion‘ in seiner Jenaer Vorlesung zur Transcendentalphilosophie von 1800/01. In: Blütenstaub. Jahrbuch für Frühromantik 6 (2020), S.  91–112, hier S.  108, lässt sich Schlegels religiöse Konzeption in der 1800/1801 gehaltenen Vorlesung über Transzendentalphilosophie „mit Blick auf Spinoza als panentheistisch bzw. – gemessen an den Begriffen der Zeit – als atheistisch charakterisieren.“ Ludwig Tieck geht noch Ende 1803 zumindest mit Blick auf „die Offenbarungen des Christenthums“ davon aus, dass Friedrich Schlegel sie „bis jetzt wohl noch nicht anerkennen“ will. Ludwig Tieck an Friedrich Schlegel, 16.12.1803. In: KFSA 26.1, S. 144–153, hier S. 150. 54  Vgl. dazu auch Stockinger: Religiöse Erfahrung, S. 380. 55  Ähnlich Schulz: Novalis, S. 71. Nach Stockinger: Religiöse Erfahrung, S. 374, steht Hardenberg nach dem Tod Sophies vor dem Problem der „Möglichkeit der Erfahrung des Übersinnlichen.“ Das betrifft dann auch seinen rationalen Weltbegriff. Folgt man der an Stockinger anschließenden These von Remigius Bunia: „... in einer andern Welt“. Die Spannung zwischen religiösem und ästhetischem Weltbegriff bei Novalis. In: Albert Meier, Alessandro Costazza, Gérard Laudin (Hg.): Kunstreligion. Ein ästhetisches Konzept der Moderne in seiner Entfaltung. Bd. 1: Der Ursprung des Konzepts um 1800. Berlin, Boston 2011, S. 103–113, so kann Welt für Hardenberg erst über die Vielfalt poietisch (religiös, wissenschaftlich, dichterisch) vermittelter Ansichten als Einheit erfahren werden. Vgl. darauf aufbauend auch Bunia: Romantischer Rationalismus, S. 149–154. 56  Vgl. Schulz: Novalis, S. 73. 57  Laut Stockinger: Religiöse Erfahrung, S. 392, wird in den Hymnen an die Nacht den von ihnen adressierten Eingeweihten „die Erzählung von Tod und Auferstehung Jesu als Symbol ihrer Subjekthaftigkeit und damit des Begreifens ihrer Verbindung mit einer Welt außerhalb von Raum und Zeit“ angeboten. Ähnlich Bunia: Romantischer Rationalismus, S. 149, dem zufolge Hardenberg unter ‚Glauben‘ den durchaus rationalen Versuch versteht, „in einer Welt einen – sinnlichen und operativen  – Zugang zu einer anderen zu finden.“ Diese Form von Subjektivität nenne ich ‚gnostisch‘. 53

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der Gnosis nahe.58 Vom Standpunkt der Transzendenz aus werden dann auch zunehmend die Wissenschaften als symbolische Verweise auf eine in der Natur realisierte göttliche Instanz aufgefasst. Darauf ist zurückzukommen.

3.1 Bis zum Bibelprojekt (1793–1798) Die Analyse des Briefwechsels unter dem Aspekt der Formen und Funktionen von Religion beginnt mit der ersten Phase, die auf das Bibelprojekt hinführt. Diese Phase umfasst die Jahre 1793 bis 1798. In ihr zeichnen sich drei Schwerpunkte ab: die Differenz zwischen Glauben und Verstand (3.1.1), das Problem der unkontrollierten Freisetzung religiöser Semantiken (3.1.2) und die Wende der Kunstreligion ins Existentielle (3.1.3). 3.1.1 Glauben/Verstand Der erste Schwerpunkt, bei dem es um die Differenz zwischen Verstand und Glau­ ben geht, zeigt sich bereits in den ersten Korrespondenzstücken. Mitte Mai 1793 fordert Friedrich Schlegel den neuen Freund auf, sich „den Schwärmereyen zu ent­ rei­ßen“ (KFSA 23, S. 94), weil sie Herz und Kopf zerstörten. Nötig seien dagegen: „kalte Besonnenheit, Muth, Verstand und Ordnung“ (KFSA 23, S. 94). Sie würden gebraucht, um „bey allem Sturm um uns in uns unser Selbst nicht zu verlieren, das 〈ächte〉 Zeugniß des Mannes.“ (KFSA 23, S. 94) Schlegel nimmt hier die Schwärmerkritik der Aufklärung und die Traditionen der Privatklugheitslehren auf und stellt sie in den Dienst der Selbsterhaltung.59 Diese erfordert einen kalten Verstand. Im Folgebrief schlägt er jedoch einen wärmeren Ton an und versucht den von seinem Vater gedemütigten Freund zu trösten und aufzurichten. Zu diesem Zweck erinnert er ihn an seine Stärken. Zu ihnen gehöre „der Glauben, die schuldlose Zuversicht auf Dich und die Natur, die warme Ehrfurcht für alles Große.“ (KFSA 23, S. 95) Es ist be­ zeich­nend, dass der Glaube hier nicht als Glaube an eine transzendente Macht, die für Hardenberg hochgradig relevant war, verstanden, sondern in einen rousseauistischen Glauben an sich selbst, ein Vertrauen in die Natur und die Achtung vor jeder Form von Größe umgedeutet wird. Schlegel legt dem Freund nahe, sein religiöses Gefühl als erhabenes Selbstgefühl zu verstehen.

 Vgl. dazu auch Ulrich Breuer: Eigensinn. Prolegomena zum poetischen Individualitätskonzept der Romantik. In: María Verónica Galfione, Alexander Knopf (Hg.): Abschied vom Individuum? Romantische Konzeptionen von Individualität und ihre Kritik. Paderborn 2023, S. 1–47, hier S. 24f. 59  Zur Schwärmerkritik der Aufklärung vgl. Hans-Jürgen Schings: Melancholie und Aufklärung. Melancholiker und ihre Kritiker in Erfahrungsseelenkunde und Literatur des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1977, S. 185–225, sowie Norbert Hinske (Hg.): Die Aufklärung und die Schwärmer. In: Aufklärung. Interdisziplinäre Halbjahresschrift zur Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte 3/1 (1988), hier S. 3–82. 58

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3.1.2 Religiöse Semantik Der zweite Schwerpunkt in der Anfangsphase des Briefwechsels betrifft die Frei­set­ zung der religiösen Semantik und ihre Grenzen. Auch hier werden sowohl Differenzen als auch Gemeinsamkeiten zwischen den Korrespondenzpartnern erkennbar. In der ersten Augusthälfte 1793 antwortet Hardenberg auf einen Brief, in dem Schlegel von seinen massiven Schulden und seinen darauf bezogenen Selbstmordplänen ge­ spro­chen hatte. Hardenbergs Antwortschreiben greift in exaltierter Weise auf re­li­ giö­ se Semantiken aus, wobei christlich-pietistische mit griechisch-antiken und populären Versatzstücken nachgerade hemmungslos kombiniert werden. So nennt Hardenberg Schlegel einen „frommen Mann“ (KFSA 23, S. 115), dessen „Stirn […] sich ins Göttliche“ tauche (KFSA 23, S. 115). Sein Herz könne die eigene Allmacht nicht ertragen. Der König in Thule, den Goethe 1790 in seinem Faust-Fragment als großen Liebenden populär gemacht hatte, sei Schlegels „Vorfahr“ gewesen. Der neue Freund sei daher „aus der Familie des Untergangs“. (KFSA 23, S. 115) Hardenberg prophezeit ihm ein großes und ruhmreiches Leben, das nicht mit einem „gemeinen Tod“ (KFSA 23, S. 115) enden könne. Vielmehr gelte für den Adressaten: „Du wirst an der Ewigkeit sterben.“ (KFSA 23, S. 115) Denn diese werde ihn zu sich zurückrufen. Alles in allem habe Schlegel „bey Gott“ eine „seltne Bestimmung“ (KFSA 23, S. 115). Damit unterstellt Hardenberg den Freund der göttlichen Pro­vi­ denz. Mit einem harten Sprung in die antiken Mysterienkulte, der Schlegels intensiver Beschäftigung mit der griechischen Literatur Rechnung trägt,60 gesteht er so­ dann, der Freund sei für ihn „der Oberpriester von Eleusis gewesen.“ (KFSA 23, S. 115) Indem er synkretistisch antike und christliche Symboliken vermischt, fügt er hinzu: „Ich habe durch Dich Himmel und Hölle kennen gelernt – durch Dich vom Baum des Erkenntnisses gekostet. – – –“ (KFSA 23, S. 115) Um seinen Briefpartner vom Selbstmord abzubringen, wirft Hardenberg schließlich auch seine eigene Religiosität in die Waagschale: „Mein ganzer Grund ist mein inniges Gefühl am Leben, mein Glaube und Zuversicht zu allem, was in mir und um mir ist“ (KFSA 23, S. 116). Diese Formulierung nimmt Schlegels Umdeutung religiöser Gefühle zum Selbstgefühl vom Mai 1793 wörtlich auf, erweitert sie aber über das eigene Ich hinaus auf die gesamte Umgebung. Das Selbstgefühl wird dadurch wieder universal und religiös, wodurch es sich dem Transzendenzgefühl Jacobis annähert.61 Gegen Ende des Briefs spricht Hardenberg dann auch offen im Klopstock-Sound als pi­e­tis­ tisch sozialisierter Christ: „Uns beyde aber trägt der unendliche Vater am klopfenden Herzen, wenn wir unsere Kraft brauchen, so weit es gut ist und schön, und er selber läßt uns himmlische Freyheit“ (KFSA 23, S. 116). Das dürfte in Schlegels Augen, trotz seiner Bewunderung für Klopstock, ein Rückfall in die Redeweisen der Schwärmer gewesen sein. In jedem Fall versucht Hardenberg, Schlegels Kernanliegen, die persönliche Freiheit, religiös zu wenden und zur Freiheit in der Trans­ zen­denz umzudeuten.  Vgl. dazu Petersdorff: Mysterienrede, S. 142–148.  Vgl. zu Jacobis Einsatz die Studie von Oliver Koch: Individualität als Fundamentalgefühl. Zur Metaphysik der Person bei Jacobi und Jean Paul. Hamburg 2013. 60 61

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Schlegels Antwort ist die eines anthropozentrischen, humanistisch gebildeten Spätaufklärers. Er weist die Entfesselung der religiösen Semantik als unangemessen zurück und verwahrt sich gegen die christliche Umdeutung der eigenen Autonomieansprüche. Nach einem ironischen Lob der Prophetengabe Hardenbergs wirft er dem Adressaten vor, dass er, Schlegel, sich „nach einem freundlichen Blick, einem Funken sanften Gefühls für mich“ gesehnt und stattdessen nur „kalte Bewunderung“ erhalten habe (KFSA 23, S. 117). Entsprechend fordert er Hardenberg zur Mensch­ lich­keit auf: „Du bist ein Prophet  – werde nun auch immer mehr und mehr ein Mensch.“ (KFSA 23, S. 117) Keineswegs sei der vom Adressaten ihm unterstellte feierliche Untergang sein Lebensziel, vielmehr trachte er „nach einem ächten Leben“ (KFSA 23, S. 117). Sein Selbstmordgedanke habe es mit den „gemeinsten Dingen“ (KFSA 23, S. 117) zu tun – eben mit seinen hohen Schulden – und vertrage daher keinerlei Überhöhung. Schlegel benötigt Geld, keine großen Worte. Das führt zu einer soziologischen Differenzierung. Schlegel markiert nämlich klar und deut­ lich die soziale Kluft, die ihn von Hardenberg trennt. Während Hardenberg als Adeliger seinem „Haus treu zu seyn es zu adeln und zu zieren“ habe (KFSA 23, S. 118), sei der verschuldete Bürgersohn Friedrich Schlegel ein Outlaw. Um das zu il­lus­trie­ ren, greift er seinerseits auf das religiöse Register zurück – und bestätigt damit bei aller Skepsis gegen Hardenbergs entfesselte Rhetorik „die großspurige Attitüde“, die Blumenberg den Romantikern attestiert hat:62 „Ich Flüchtling habe kein Haus, ich ward ins Unendliche hinaus verstoßen (der Kain des Weltalls) und soll aus eignem Herzen und Kopfe mir eins bauen.“ (KFSA 23, S. 118) Die Formulierung zeigt, dass beide Briefpartner auf religiöse Semantiken zurückgreifen. Doch sitzen sie bei Hardenberg deutlich lockerer als bei Schlegel. Letzterer sieht die Rhetorik wei­ter­ hin an Regeln der Angemessenheit, des aptum gebunden. Diese Regeln korrelieren für ihn nicht nur mit dem Redegegenstand (Geldprobleme vertragen kein erhabenes Pathos), sondern auch mehr oder weniger latent mit dem sozialen Stand der Redenden (wer von Adel ist, hat gut reden). Für Schlegel hat die Verwendung religiöser Semantiken einen soziologischen Index, für Hardenberg dagegen eher nicht. 3.1.3 Mehr als Poesie Der dritte Schwerpunkt ist deutlich später anzusetzen. Nun geht es um die Wende der Kunstreligion ins Existentielle. Schauplatz sind die Monate von Januar bis Sep­ tem­ber 1797. Ein halbes Jahr zuvor, im August 1796, hatten die Briefpartner sich für mehrere Tage in Weißenfels getroffen und dabei intensiv ihre Gedanken ausgetauscht. Nach einem weiteren, kürzeren Gespräch in Jena, das Anfang Dezember stattgefunden hatte, gesteht Friedrich Schlegel am 2. Januar 1797 dem Freund, er habe in Jena niemanden, mit dem er „〈nur〉 vom Ich reden könnte, geschweige von der polemischen Totalität, die ich den letzten Abend unsres lustigen Beysammen-­ seyns so böslich wider Dich gekehrt.“ (KFSA 23, S. 340f.) Die Passage verdeutlicht zum einen die zentrale Bedeutung von Fichtes Philosophie des Ich im gegenseitigen 62

 Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt, S. 241.

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Austausch und zum anderen den Ausgriff aufs Ganze, den universellen Anspruch der Freunde, den Schlegel primär kämpferisch als offenen Meinungsstreit or­ga­ni­ sie­ren möchte.63 Ende Februar will er dann aber die Polemik hinter sich lassen und schlägt Hardenberg stattdessen eine gemeinsam zu schreibende Irenik, also eine Friedenslehre nach dem Vorbild des frühneuzeitlichen Konfessionsausgleichs, vor, in der auch die religiösen Konflikte zwischen beiden harmonisiert werden könnten (KFSA 23, S. 348). Im selben Brief verdeutlicht Schlegel noch einmal seine an der Antike geschulte Position des Transzendenzverzichts, wenn er sich in der Schluss­ for­mel scherzhaft einen „Apostel der Griechheit / bei Ihrer Majestät, der verwitweten Kritik der reinen Vernunft“ (KFSA 23, S. 348) nennt. Signifikant für die weitere, in das Bibelprojekt einmündende Entwicklung ist hier der kontrollierte Synkretismus, mit dem die christliche Figur des Apostels mit dem klassizistischen Phantasma des Hellenismus kontaminiert wird. Auf der Seite Hardenbergs spitzt sich schon kurz darauf die schwere Krankheit seiner jungen Verlobten Sophie von Kühn zu und tritt in ihre letale Phase ein. Das bringt erneut den Tod ins Spiel. Hardenberg spricht am 14. März 1797 von seiner Traurigkeit und seiner Verzweiflung, in die ihn die furchtbaren Leiden seiner Braut gestürzt hätten.64 Er ekle sich nun vor allen Dimensionen der Zeit und empfinde einen großen Lebensüberdruss (KFSA 23, S. 352). Im April stirbt dann Sophie von Kühn, und ihr Tod löst bei Hardenberg, ähnlich wie schon bei seinem Vater der Tod der ersten Ehefrau, einen starken religiösen Schub aus. Am 13. April schreibt er an Friedrich Schlegel, für ihn sei der Tod Sophies ein „himmlischer Zufall“, ein Schlüssel zu allem – Ein wunderbarschicklicher Schritt. Nur so konnte so manches rein gelößt, nur so manches Unreife gezeitigt werden. Eine einfache, mächtige Kraft ist in mir zur Besinnung gekommen. Meine Liebe ist zur Flamme geworden, die alles Irdische nachgerade verzehrt. (KFSA 23, S. 358)

Man kann das religiöse Gefühl, von dem hier die Rede ist, im Sinne Hafners als Transzendenzgewissheit verstehen.65 Von ihr aus erscheint die Immanenz nicht mehr lediglich als kontingent, sondern als eine Größe, die vernichtet werden kann und soll. Aus seiner religiösen Gewissheit heraus wird Hardenberg zum Kämpfer und Streiter, der fest entschlossen ist zum „Widerstand gegen alles, was mein Heiligthum entweihen will“ (KFSA 23, S.  358). Mit dieser Formulierung wird das po­li­tisch entscheidende Freund/Feind-Schema in die frühromantische R ­ eligionsauffassung eingeführt. Von ihm aus liegt es zum Greifen nahe, sich zu­sam­men mit den engsten Freunden als Angehöriger einer gemeinsamen Kirche zu verstehen.

63  Letzteres geht zurück auf Schlegels Lektüre von Kants Kritik der reinen Vernunft, vor allem auf sein Verständnis der Transzendentalen Dialektik. Schlegel spricht dem dialektischen Schein, anders als Kant, objektive Bedeutung zu und versteht die transzendentale Dialektik als „Schnittstelle, wo Endliches und Unendliches aufeinander bezogen werden und die Philosophie an das heranreicht, was in Wahrheit ist“. Andreas Arndt, Jure Zovko: Einleitung. In: Friedrich Schlegel: Schriften zur kritischen Philosophie 1795–1805. Hamburg 2007, S. VII–LXIV, hier S. XXIV. 64  Zur Krankheit Sophie Kühns vgl. Schulz: Novalis, S. 58–62. 65  Vgl. Hafner: Was ist Religion?, S.  8. Bunia: Romantischer Rationalismus, S.  152, attestiert Hardenbergs Denken „eine genuin religiöse Dimension“, weil es „eine ‚Idealwelt‘ der wirklichen gegenüberstellt“.

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Der wichtigste Schritt zu einer offensiv propagierten Kunstreligion erfolgt im Mai 1797. Nun übersendet Schlegel dem trauernden, in seiner Transzendenzgewissheit isolierten Freund den ersten Band der Shakespeare-Übersetzung seines Bruders August Wilhelm. Der Band enthält unter anderem die Tragödie Romeo und Julia, in der es passenderweise um eine große, den Tod überdauernde Liebe geht. Genau das Richtige für den verzweifelten Hardenberg. Schlegel bittet ihn, er solle den Band „in Acht nehmen wie ein Heiligthum“ (KFSA 23, S. 364). Das bezieht sich zwar primär auf einen schonenden Umgang mit dem Buchkörper, stattet diesen aber auch mit einer sakralen Aura aus. Über Romeo und Julia fällt er das emphatische Urteil: „dies ist mehr als Poesie“ (KFSA 23, S. 364). Begründet wird das Urteil mit dem Umstand, dass alles bildlich Gesagte in Shakespeares Drama „in geistigem Sinn“ verstanden werden müsse: „Denn hier ist alles Sinn, Geist, Seele, Gemüt“ (KFSA 23, S. 364). Nimmt man beide Formulierungen zusammen, dann hat man eine do­ mi­nant anthropozentrische Bestimmung der Kunstreligion und ihrer existentiellen Leistung vor sich.66 Kunstreligion ist demnach mehr als nur Poesie, nämlich Re­li­ gi­on, als Religion aber ist sie eine Bilderrede mit einem geistigen, aus der Seele sprechenden und auf das Gemüt wirkenden Sinn. In seinem Schreiben vom 25. Mai 1797 nimmt Hardenberg Schlegels For­mu­lie­ rung auf und deutet an, dass sie in ihm weiterarbeite: „Es ist ein tiefer Sinn in dem, was Du sagst, daß hier mehr, als Poesie sei. Jetzt fang ich an zu ahnden, was S.[hakespeare] so einzig macht. Er dürfte leicht divinatorische Anlagen entwickeln.“ (KFSA 23, S. 368) Der Hinweis auf die Fähigkeit Shakespeares zur Divination, also zu der Kunst, ‚Heiliges‘ in der Erscheinungswelt zu entdecken, macht erneut deutlich, dass die in der Immanenz verbleibenden Äußerungen Schlegels von Hardenberg auf eine trans­ zen­den­te Realität hin umgedeutet werden. Darin bereitet sich der magische Ide­a­lis­ mus vor. Gemeinsam ist beiden Freunden, dass sie ihre Transzendentalpoetik ins Existentielle hinein erweitern. Nun geht es um Texte und Medien, die das Leben be­ stimmen und daher auch darauf einwirken sollen. Darin ähneln sie der Bibel. Die Vorgeschichte des Bibelprojektes ist im September 1797 abgeschlossen, wenn Friedrich Schlegel zum einen, am Beispiel Schleiermachers, vom unerlässlichen „Sinn für Mystik“ spricht und wenn er zum anderen den Begriff der „Symphilosophie“ einführt. (KFSA 24, S. 22) Das sei „der eigentliche Nahme für unsre Verbindung“ (KFSA 24, S. 22). Der Begriff nimmt den Vorschlag einer neuen Irenik in sich auf und erlaubt es, nicht nur die persönliche Freundschaft, sondern auch die ausgetauschten Schriften und unter ihnen die Korrespondenz als solche zu adres­sie­ ren. Später wird Schlegel auch von einer epistolarischen Symphilosophie sprechen (KFSA 24, S.  135). Konkret geht es ihm im September 1797 um den Vorschlag ­eines gemeinsamen Werkes auf der Basis von Fragmenten. Wenige Wochen später übersendet Hardenberg seinem Freund, „dem Hypermystischen, hypermodernen HyperCyniker“ (KFSA 24, S. 69), „zur Probe“ tatsächlich einen „Bogen mystischer  Wenig später, im November 1797, erwähnt Schlegel gegenüber dem Bruder auch Wackenroder/ Tiecks Herzensergießungen (KFSA 24, S. 41), den ‚Urtext‘ romantischer Kunstreligion. Vgl. dazu Auerochs: Die Entstehung der Kunstreligion, S. 482–502. Aus wissenspoetologischer Perspektive und mit Blick auf Wackenroders Autorkonzept vgl. Thums: Kunstreligion, S. 152–157. 66

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Fragmente“ (KFSA 24, S. 70f.), die dieser dann bearbeiten und ergänzen und unter dem Titel Blüthenstaub. Von Novalis im ersten Stück der von ihm und seinem Bru­ der August Wilhelm neu gegründeten Zeitschrift, dem Athenaeum, publizieren wird. Das ist der erste bedeutende Beitrag zu einer existentiell gewendeten Kunstreligion. Er gehört bereits ins engere Umfeld des Bibelprojekts.

3.2 Das Bibelprojekt (1798/99) Unter dem Aspekt der Religion ist das Bibelprojekt zweifellos der Höhepunkt des Briefwechsels zwischen Friedrich Schlegel und Friedrich von Hardenberg. Hans Blumenberg hat es einen „Wettstreit des Wahns“67 genannt, in dem sich die beiden Frühromantiker in ihrem „Maximalismus“68 zu überbieten versucht hätten. Wenn zwei unterschiedliche Charaktere auf demselben Gebiet ein Absolutum anstreben, liegen Verwerfungen nahe, die in der Tat nicht ausgeblieben sind. Innerhalb des Projektes lassen sich drei Schwerpunkte unterscheiden. Zunächst geht es um Hardenbergs Idee eines magischen Idealismus und seine Religion des sichtbaren Weltalls, der Schlegel die These einer Einheit Gottes in der Vielheit entgegenstellt. Der zweite Schwerpunkt betrifft die Idee einer neuen Bibel, eines absoluten Buches, das von Schlegel und Hardenberg teils als Träger neuer Ideen, teils als merkantiles Materialobjekt konzipiert wird.69 Drittens schließlich geht es um die Umrisse eines neuen, romantischen Christentums, das dann Schlegels Ideen und Hardenbergs Die Christenheit oder Europa ausbuchstabieren werden. Vorausgeschickt sei ein Kurzporträt Hardenbergs aus dem Juli 1798, das Schlegel seinem neuen Freund Friedrich Schleiermacher übermittelt hat: Er hat sich merklich geändert, sein Gesicht selbst ist länger geworden und windet sich gleichsam von dem Lager des Irdischen empor wie die Braut zu Korinth. Dabey hat er ganz die Augen eines Geistersehers, die farblos geradeaus leuchten. Er sucht auch auf dem chemischen Wege ein Medicament gegen die Körperlichkeit (mittelst der Ekstase), die er denn doch für eine Sommersproße in dem schönen Geheimniß der geistigen Berührung hält. Ich werde mich aus maieutischer Machtvollkommenheit mit ihm in eine absolute Correspondenz setzen über den Galvanismus des Geistes, eine seiner Lieblingsideen. Ich werde ganz bescheiden auftreten, nur als Prophet; er selbst wird den Zauberer vorzustellen die Ehre haben. Wie nun seine Theorie der Zauberey, jener Galvanismus des Geistes und das Geheimniß der Berührung sich in seinem Geiste berühren, galvanisiren und bezaubern, das ist mir selbst noch ziemlich geheim. Unterdessen ist der Galvanismus des innern Menschen für  Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt, S. 243.  Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt, S.  245. Auerochs: Die Entstehung der Kunstreligion, S. 406, nennt es etwas vorsichtiger „ein totalisierendes Projekt“ und sieht es eng mit dem Enzyklopädiegedanken verbunden. Weidner: Bibel und Literatur, S. 199, wendet sich gegen Blumenberg und geht davon aus, dass es sich bei dem Projekt „möglicherweise eher um eine Reaktion auf neue Bedingungen der Bibellektüre handelt, die auch immer neue Bedingungen der Lektüre überhaupt sind.“ 69  Vgl. dazu zuletzt Charlotte Coch: Das absolute Buch bei Friedrich Schlegel, Walter Benjamin und Niklas Luhmann. Bielefeld 2021, S. 81–215. 67 68

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mich, wie Kant sagen würde, ein artiger Gedanke, und das übrige hoffe ich – um doch auch wie Lafontaine zu Jeanpaulrichterisiren – durch die sokratische Tortur zu erfahren. (KFSA 24, S. 144f.)

In diesem Porträt gehen Spott und Faszination eine schwer aufzulösende Ver­bin­ dung ein. Schlegel fühlt sich offenbar von der exaltierten Religiosität Hardenbergs angezogen, distanziert sich aber auch von ihr, indem er sie ironisiert. Teils macht er mit und tritt als Prophet auf, teils bleibt er skeptisch und zieht sich als Sokrates auf die Position des Philosophen zurück. Beides gehört zur Idee einer absoluten Kor­res­ pon­denz, zu der die epistolare Symphilosophie nun radikalisiert und im Bibelprojekt auch überspitzt wird. 3.2.1 Magischer Idealismus Geht man zwei Monate zurück und sieht sich die ersten Umrisse dieses Projektes an, dann erhält Friedrich Schlegel am 11. Mai 1798 eine weitere Fragmentensammlung Hardenbergs. Sie trägt den sprechenden Titel Glauben und Liebe (KFSA 24, S. 129). Im Begleitbrief teilt ihr Autor seinem Freund die Entdeckung der praktischen Theorie des Universums mit. Ihr zufolge verfüge das Universum über eine Art Rezeptivität und habe von sich aus die Fähigkeit, vom Ich belebt zu werden (KFSA 24, S. 129). Das ist der Kerngedanke des magischen Idealismus, der „die gesamte Erscheinungswelt zum ‚Mittelglied‘ einer Beziehung zur transzendenten Gottheit“ machen will.70 In seinem Antwortbrief vom 28. Mai konzentriert sich Schlegel auf Hardenbergs Theorie der Repräsentation in den Blüthenstaub-Fragmenten, die er zutreffend als Grundlage des magischen Idealismus versteht. Konkret spricht Hardenberg nun in hierarchisch gestaffelter Form auf der untersten Stufe den antiken Göttern, auf höherer Stufe der verstorbenen Sophie von Kühn und auf der höchsten Stufe Jesus Christus eine religiöse Mittlerrolle zu.71 Schlegel erhebt dagegen einen historischen Einwand. Die antiken Götter seien keineswegs niederstufige Mittler für eine über sie hinausgehende Form der Transzendenz gewesen, „sondern wahrhafte Götter selbst.“ (KFSA 24, S.  133) Dem Einwand fügt er eine grundsätzliche Reflexion über den Zusammenhang von Monotheismus und Polytheismus hinzu. Nach seiner Überzeugung schlossen sich beide in der Antike nicht aus, wie dies nach christlicher Überzeugung der Fall ist, sondern waren ohne weiteres vereinbar:

 Stockinger: Religiöse Erfahrung, S. 377.  In den Athenaeums-Fragmenten geht Schlegel zustimmend und provokant auf den Mittler-­ Gedanken ein (KFSA 2, S. 203). Er unterscheidet dort außerdem unter verschiedenen Arten der Religion auch die auf dem „Talent für die Anbetung des Mittlers, für Wunder und Gesichte“ beruhende; ihre Anhänger würden gemeinhin „Schwärmer oder Poeten“ genannt (KFSA 2, S. 222). Dabei denkt er offenbar in erster Linie an Friedrich von Hardenberg. Vgl. zur Mittlerreligion bei Hardenberg auch Uerlings: Novalis, S. 114, sowie Auerochs: Die Entstehung der Kunstreligion, S. 463–482. 70 71

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U. Breuer Von der Einheit Gottes, die den Alten nicht bloß den Philosophen sehr bekannt 〈war〉, hatten sie etwas bessere Begriffe als der Haufen der Christen. Sie hielten sie mit der Vielheit nicht streitend; zugleich einer und viele. Was ich hier sage, geht aufs Ganze und aufs Wichtigste. Es gab einzelne Ausnahmen pp. (KFSA 24, S. 133)

Man hat es an dieser Stelle mit dem Kerngedanken der Religionsauffassung Friedrich Schlegels zu tun. Terminologisch lässt er sich als Apotheose des Individuellen fassen.72 Denn Schlegel versteht das Individuelle, sei es eine Person, eine Epoche oder ein Werk, als inkommensurable oder eben göttliche Einheit, die in ihrer Freiheit absolut einzigartig ist, von der es aber viele gibt. Im Kanon des Extraordinären entfallen die Hierarchien.73 In jedem Fall belegt die Passage, dass Schlegel für das Religiöse keine transzendente Welt annimmt. Auch im Rahmen der Im­ ma­nenz kann es zu religiösen Gemeinschaften kommen, die dann ein Effekt der Buchmedialität sind. Das verdeutlicht Schlegel am Beispiel der Fragmentsammlungen Hardenbergs. Er lobt den Freund dafür, seine religiösen Erfahrungen, die eigenen „Heiligthümer“, „ausgestellt und öffentlich gemacht zu haben.“ (KFSA 24, S. 133) Die publizierten Texte hätten das Publikum aber sofort gespalten in Ein­ ge­weih­te, „die viel Sinn haben“, und Außenstehende, die sich von ihnen „ganz ab­ sto­ßen“ würden (KFSA 24, S. 133). Vor allem bei Frauen sei Hardenberg „sehr be­ liebt geworden.“ (KFSA 24, S. 133) Dazu führt Schlegel auch einen Beleg an: „Ein sehr interessantes und religieuses Mädchen die den Blüthenstaub ordentlich studirte, meynte von dem Glauben, er sey wie von einem betrunknen Gott.“ (KFSA 24, S. 133) Indem er Hardenberg über das Fremdzitat, das von Auguste Böhmer stam­ men dürfte, mit dem griechischen Weingott Dionysos identifiziert, unterstreicht er seine Präferenz immanent-­ antiker vor transzendent-christlichen Formen der Religiosität. Hardenberg kommt am 20. Juli 1798 auf sein Konzept eines magischen Ide­a­lis­ mus zurück und erweitert es um eine „Philosophie des alltäglichen Lebens“ (KFSA 24, S. 152). Auch der Alltag wird nun aus der Perspektive der Transzendenz betrach­ tet.74 Es geht aber auch wieder ums Ganze, ums Universum, denn zur Philosophie des Alltags gehöre „die Idee einer moralischen / im Hemsterhuisischen Sinn / As­ tro­no­mie“ sowie „die interessante Entdeckung der Religion des sichtbaren Weltalls“ (KFSA 24, S. 152). Von dieser Entdeckung aus bestehe dann im Rückgriff auf die eigene Theorie der Repräsentation die Möglichkeit, „die Physik im allgemeinsten Sinn, schlechterdings Symbolisch zu behandeln“ (KFSA 24, S. 152).

 Vgl. zum Kontext Breuer: Eigensinn.  Nur am Rande sei bemerkt, dass man von hier aus vielleicht auch Goethes ungeheurem Spruch „Nemo contra deum nisi deus ipse“ („Gegen Gott nur ein Gott“), der dem vierten Buch von Dich­ tung und Wahrheit vorangestellt ist, näher kommen könnte. 74  Dazu wird die Fähigkeit zur Divination, die Hardenberg im Anschluss an Schlegels existentielle Wendung der Poesie Shakespeare zugesprochen hatte (vgl. KFSA 23, S.  368), auf alle Dinge ausgedehnt. 72 73

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3.2.2 Das absolute Buch Mit dem magischen Idealismus Hardenbergs und seiner Religion des sichtbaren Weltalls, die auch die Physik als Symbol der Transzendenz zu behandeln erlaubt, ergänzt um Schlegels Apotheose des Individuellen, sind die hochentzündlichen Materialien versammelt, die das Bibelprojekt im engeren Sinne in Brand steckt. Es be­ ginnt im Oktober 1798 mit Schlegels Bekenntnis, er habe „in der lezten Zeit manche Offenbarung gehabt“ und würde den Freund „nun besser verstehn da ich die Re­li­ gi­on verstehe.“ (KFSA 24, S.  183) Die Offenbarungen, von denen Schlegel hier durchaus blasphemisch redet, waren einerseits die Gespräche mit Schleiermacher in der gemeinsamen Berliner Wohnung (teils von Bett zu Bett durch die morgendlich geöffnete Zimmertür), zum anderen die sexuellen Erfahrungen mit Dorothea Veit, seiner Geliebten.75 Auch hier verlässt Schlegel die Dimension der Immanenz nicht und bleibt, wie Blumenberg festhält, „auf der Ebene einer metaphorischen Selbstbespiegelung von nur illusionistischer Kühnheit“.76 Kurz darauf lässt er die Katze aus dem Sack: „Was mich betrifft, so ist das Ziel meiner litterarischen Projekte eine neue Bibel zu schreiben, und auf Muhameds und Luthers Fußstapfen zu wandeln.“ (KFSA 24, S. 183) Der Satz – oder die Zumutung – steht im größeren Kontext des Vorhabens, eine neue Moral stiften zu wollen, das Schlegel schon Mitte Juli 1798 gegenüber Schleiermacher erwähnt hatte und das auf gemeinsame Diskussionen mit diesem zurückgeht (KFSA 24, S. 147). Offenbar folgt bei Schlegel die Religion der Moral – und nicht umgekehrt.77 Auch darin zeigt sich Schlegels pragmatische Anthropozentrik. Hardenberg antwortet am 7. November 1798, indem er Schlegels vollmundige Ankündigung auf sein eigenes Konzept des magischen Idealismus bezieht: Du schreibst von Deinem Bibelproject und ich bin auf meinem Studium der Wissenschaft üb[er]ha[upt] – und ihres Körpers, des Buchs – ebenfalls auf die Idee der Bibel gerathen – der Bibel – als des Ideals jedweden Buchs. Die Theorie der Bibel, entwickelt, 〈giebt〉 die Theorie der Schriftstellerey oder der Wortbildnerey üb[er]h[aupt] – die zugleich die symbolische, indirecte, Constructionslehre des schaffenden Geistes abgiebt. (KFSA 24, S. 194f.)

Für Hardenberg ist das Bibelprojekt primär eine Poetik der symbolischen Medien. Letztlich stellen sie alle nur eines dar: den schaffenden Geist, den sich Hardenberg wohl primär als dynamisches, in die immanente Welt eingreifendes kreatives Prinzip nach dem Vorbild des Schöpfergottes vorstellt. Unabhängig von der spezifischen Einfärbung ist hier die Koinzidenz der Interessen an einer neuen Bibel be­ mer­kens­wert, einem neuen Buch der Bücher. Blumenberg hat darin einen „Typus von Erfahrung“ realisiert gesehen, „der aus dem Repertoire menschlicher Wünsche  Vgl. Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt, S. 240.  Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt, S. 241. 77  Moral und Religion sind für ihn ihrerseits Bestandteile der Mystik: „Moral ist mir grade wie Religion unsichtbares Element der Mystik.“ Friedrich Schlegel an Friedrich Schleiermacher, 20.9.1799. In: KFSA 25, S. 5f., hier S. 5. Zum Verhältnis zwischen Moral und Religion bei Hardenberg vgl. Christine Weder: Moral Interest and Religious Truth. On the Relationship between Morality and Religion in Novalis. In: German Life and Letters 54/4 (2001), S. 291–309. 75 76

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nicht zu beseitigen war und auf alle anderen, zumal die reduktiven, Formen der Er­ fah­rung aus seinem ästhetischen Reservat heraus zurückwirken mußte.“78 Nicht nur für Blumenberg ist dieser Erfahrungstyp grundlegend gewesen bei der Herausbildung der Geisteswissenschaften und ihrer Kompensationsleistungen.79 Man wird ergänzen dürfen, dass er auch in den Bildungsbegriff eingegangen ist80 und dass die neue Hochschätzung der Form des Buches medienhistorisch wohl nicht zufällig mit der zweiten Leserevolution am Ende des 18. Jahrhunderts koinzidiert.81 Die „Bücher nähern sich 〈jezt〉“, so sagt es Hardenberg aus der Perspektive des Zeitgenossen, „den Einfällen – 〈Einmal〉 vorübergehend – aber schöpferische Funken.“ (KFSA 24, S. 195) Das Bibelprojekt ist selbst solch ein schöpferischer Funke, ein romantisches Fragment, das seine maximale Leuchtkraft am Ende nicht in einem Buch, sondern in Schlegels ausführlichem Brief an Hardenberg vom 2.12.1798 gefunden hat. Der Brief verdiente eine ausführliche Untersuchung, für die hier nicht der Ort ist. Schlegel nennt gleich eingangs die Übereinstimmung der Freunde in der Idee einer neuen Bibel „eines der auffallendsten Zeichen und Wunder unsres Einverständnisses und unsrer Mißverständnisse“ (KFSA 24, S. 204). Er versucht dann, die Missverständnisse zu benennen und seine eigene Position klarer zu konturieren. Ebenso wie für Hardenberg sei auch für ihn die Bibel zwar „die litterair.[ische] Centralform und also das Ideal jedes Buchs“ (KFSA 24, S. 204), doch habe sein Konzept einer neuen Bibel keine Folgen für die Poetik und damit auch für das Gattungssystem. Dem liegt Schlegels Studium-Aufsatz zu Grunde, in dem die Gattungen der griechischen Po­e­ sie als Naturformen verstanden werden. Auf sie satteln dann die Kunstformen der Moderne, die für Schlegel spätestens im christlichen Mittelalter beginnt, auf, indem sie die Gattungsvorgaben reflektieren und sie dadurch potenzieren. Schlegels Bei­ spiel ist Goethes Umgang mit den griechischen Gattungsvorgaben, vor allem mit der Elegie.82 Entsprechend hält er nun fest, dass die bisher bekannten Bibeln „nur Produkte der Natur sind“, während die neue Bibel „das erste Kunstwerk dieser Art“ sein müsse (KFSA 24, S. 204). Als Bibel verlässt dieses Kunstwerk aber notwendig die Grenzen der Literatur, es muss – ähnlich wie Shakespeares Romeo und Julia – mehr sein als Poesie: „Mein biblisches Projekt aber ist kein litterairisches, sondern – ein biblisches, ein durchaus religiöses. Ich denke eine neue Religion zu stiften oder vielmehr sie verkündigen zu helfen: denn kommen und siegen wird sie auch ohne mich.“ (KFSA 24, S. 205)  Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt, S. 244.  Vgl. dazu prominent – im Anschluss an Joachim Ritter – Odo Marquardt: Über die Unvermeidlichkeit der Geisteswissenschaften. In: Ders.: Apologie des Zufälligen. Philosophische Studien. Stuttgart 1986, S. 98–116, bes. S. 102–106. 80  Vgl. Georg Bollenbeck: Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters. Frankfurt a.M. 1996, S. 126–143, prägnant S. 127: „Im Begriff ‚Bildung‘ bündeln sich offensichtlich nicht nur philosophische Ideen, sondern auch Individualisierungsansprüche.“ 81  Vgl. Reinhard Wittmann: Gibt es eine Leserevolution am Ende des 18. Jahrhunderts? In: Roger Chartier, Guglielmo Cavallo (Hg.): Die Welt des Lesens. Von der Schriftrolle zum Bildschirm. Frankfurt a.M. 1999, S. 419–454. 82  Vgl. dazu auch im vorliegenden Band den Beitrag zur Idylle von Barbara Thums. 78 79

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Hier kommt der Funkenflug auf seinen Höhepunkt, und es stellt sich die Frage, was ein mundaner, humanistisch gebildeter Anthropozentriker vom Schlage Friedrich Schlegels unter der neuen Religion versteht, die er stiften will.83 Was sind für ihn im Sinne Durkheims die heiligen Dinge? Sind sie zugänglich oder bleiben sie ein Mysterium? Wie wird er die Transzendenz konzipieren, vor der er doch bisher konsequent ausgewichen ist und von der aus im Sinne Hafners die immanente Welt als kontingent erscheinen kann? Und wem überträgt Schlegel die absolute Macht, der die Stabilisierung der Differenz von Transzendenz und Immanenz zugetraut werden kann? Ist eine neue Kirche nötig – oder ist die neue Kirche die alte? Antworten auf diese Fragen geben Schlegels Bemerkungen gegenüber Hardenberg zu seinem Gottesverständnis.84 Es falle weder in den Zuständigkeitsbereich der Philosophie noch in den der Poesie, auch wenn es Anregungen von beiden Seiten aufnehme. Dazu heißt es, Kant und Fichte hätten „die Philosophie gleichsam bis an die Schwelle der Religion“ geführt, dann aber abgebrochen. Von der Seite der Po­e­ sie habe „Goethes Bildung“ – gemeint sind wohl der Wilhelm Meister und die ersten Ansätze der Metamorphosenlehre  – die Vorhallen des Tempels erreicht, sei dort aber stehen geblieben. Schlegels „durchaus neue Ansicht“ (KFSA 24, S. 205) von Gott will dagegen Neuland betreten. Um es vorwegzunehmen: Im Kern ist Gott für Schlegel ein Rhetor, ein Gott des Wortes und der Schrift, und darum ist das Buch sein bevorzugtes Medium.85 Schlegels Ausführungen dazu schließen an die im Jahr­ hun­dert der Aufklärung ubiquitäre Rede von der „Allmacht 〈des Wortes〉 der Schrift“ an (KFSA 24, S. 205). Zu denken ist dabei vor allem an Lessing, den Schlegel auch explizit als Vorläufer seines Projektes angibt86 und dem er wenige Jahre später eine

 Im Rückblick hat Dorothea Schlegel das Vorhaben ihres Ehemannes gegenüber Caroline Paulus in aufschlussreicher Weise relativiert und umgedeutet: „Eine neue Religion hätte Friedrich stiften wollen meinst Du? Das kann er nicht gewollt haben, man macht keine neue Religion – Hat er von Religion gesprochen und von Poesie, so war es gewiß immer die Alte, und zwar die allerälteste, die Uralte; die vor Alter ganz vergessne und deswegen für die ganze Welt wieder Neue.“ Dorothea Schlegel an Caroline Paulus, 23. und 26.2.1806. In: KFSA 26.2, S. 38–45, hier S. 42. Korngiebel: Friedrich Schlegels Konzeption einer ‚Neuen Religion‘, S. 107, hat auf Schlegels Historisierung von Religionen in der Vorlesung über Transcendentalphilosophie hingewiesen. Entsprechend habe er seine ‚neue Religion‘ „als eine kultur- und zeitabhängige Schöpfung individueller Subjekte“ verstanden, „die sich an den Bedürfnissen und Zielen der Zeit orientierten und innerhalb eines bestimmten Entwicklungsprozesses stehen.“ Sie sei ihrerseits nur eine Zwischenstufe in der Geschichte der Religionen. 84  Vgl. dazu auch den Beitrag von Korngiebel: Friedrich Schlegels Konzeption einer ‚Neuen Religion‘. Zum rationalen Gottesbegriff Hardenbergs vgl. Bunia: Romantischer Rationalismus, S. 148f. 85  In den Philosophischen Lehrjahren heißt es im Rückblick über die Ideen: „Die Ideen im Grunde auch ein rhetorisches Werk, und außerdem auch ein polemisches noch wohl nöthig“ (KFSA 19, S. 93). 86  „Lebte Lessing noch, so brauchte ich das Werk nicht zu beginnen. Der Anfang wäre dann wohl schon vollendet. Keiner hat von der wahren neuen Religion mehr geahndet als er“ (KFSA 24, S.  206). Im Athenaeum hat Schlegel zudem Lessings Kriterien für eine gute Bibel resümiert (KFSA 2, S. 228f.). Speziell zu Lessing als Initiator von Schlegels religiösem Universalismus vgl. Timm: Die heilige Revolution, S. 132–140. 83

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enigmatische Edition widmen wird.87 In jedem Fall sei er, Schlegel, als erster „gesonnen, Ernst daraus zu machen und die Leute mit ihrer Allmacht beim Wort zu nehmen.“ (KFSA 24, S. 205) Das soll „durch ein Buch geschehen“ – eben die neue Bibel (KFSA 24, S. 205). Schlegel erweist sich damit als Vertreter einer Schriftreligion, deren prominenteste Realisierung wohl das Judentum ist. Die neue Bibel, die er projektiert, soll den Aufschwung des Buchmarktes um 1800 als Verstärker nutzen, ein Aufschwung, der seinerseits von neuen Produktionstechniken, einer günstigeren Papierherstellung und effektiveren Vertriebswegen profitiert. Schlegel will die romantische Kunstreligion in eine Buchreligion transformieren. Als Verkünder der neuen Religion ist er auch bereit zu predigen und zu kämpfen, ja sogar sein Leben hinzugeben (KFSA 24, S. 206). Sofort danach rudert er allerdings zurück und schlägt dem Freund einen Deal vor: Doch vielleicht hast Du mehr Talent zu einem neuen Christus, der in mir seinen wackern Paulus findet. Wenigstens ist die eine Aehnlichkeit da, daß eine gewisse Energie und Furie der Wahrheit nur da entstehen kann, wo redlicher Unglaube nicht aus Unfähigkeit, sondern aus Schwerfälligkeit voranging. (KFSA 24, S. 205)

Der Passus ist in zweierlei Hinsicht bemerkenswert: Zum einen wird Hardenberg nun zur Erlöserfigur verklärt.88 Das kann sich auf dessen Absicht stützen, Sophie von Kühn nachzusterben und dadurch der Menschheit ein Beispiel zu geben. In jedem Fall findet sich auch hier das Muster, vorgefundene Konventionen zu nutzen und sie zu potenzieren. Darin zeigt sich Schlegel als typischer Philologe, und insofern kann seine Buchreligion auch als Theophanie des Sekundären ver­ stan­ den werden. Zum anderen bescheidet er sich nicht nur mit der Rolle des wortgewaltigsten und theologisch radikalsten unter den Aposteln, sondern gibt auch einen seltenen Ein­ blick in seine religiösen Gefühle. Er gesteht nämlich, dass sowohl sein Atheismus, den er hier als ‚redlichen Unglauben‘ bezeichnet, als auch sein humanistischer Transzendenzverzicht sich nicht einer fehlenden Disposition zum Glauben ver­dan­ ken, sondern lediglich einer „Schwerfälligkeit“, die man vielleicht am ehesten als Ungeschicklichkeit verstehen könnte.89 Nun aber scheint Schlegel trotz  – oder wegen – seines Ungeschicks zum Glauben gefunden zu haben, und der Gegenstand dieses Glaubens scheint Hardenberg zu sein. Wie ernst man das bei einem Virtuosen des Sekundären nehmen kann, sei dahingestellt. Ernst nehmen muss man aber, dass Schlegel sein Projekt einer neuen Religion des Buches letztlich als ein politisches  Vgl. dazu Christopher Busch: Masse/Lessing. Editoriale Paratextualität bei Friedrich Schlegel. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 135/2 (2016), S. 161–187, sowie Christian Benne: Schlegel als Übersetzer und Herausgeber. In: Johannes Endres (Hg.): Friedrich Schlegel-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 2017, S. 275–277. 88  Vorbereitet ist diese Wende im bereits zitierten Brief an Schleiermacher vom Juli 1798, wonach Schlegel „ganz bescheiden auftreten“ will, „nur als Prophet“; Hardenberg werde dagegen „den Zauberer vorzustellen die Ehre haben.“ (KFSA 24, S.  144) In den Philosophischen Lehrjahren heißt es, man könne die Idee der Gottheit nicht haben, „ohne selbst Gott zu werden“ (KFSA 18, S. 414). 89  Ulrich Breuer: Ungeschickt. Eine Fallgeschichte der deutschen Literatur. Paderborn u. a. 2021, S. 263–294. 87

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Projekt versteht. Das zeigt sich in der Formulierung, die neue Religion betreibe „symb[olisch] mystische Politik“ (KFSA 24, S. 208). Wenig später wird er davon sprechen, in seinen Vorlesungen über „Deutsche Litteratur“ weiterhin „das Evan­ge­ li­um auf meine Weise zu verkündigen“ (KFSA 26.1, S.  74); mit der neuen Zeit­ schrift Europa lasse sich für die gemeinsame Sache „mehr Feld gewinnen“, als es durch irgendein anderes Medium möglich wäre (KFSA 26.1, S. 75). Das ist, bis in die Kampfmetaphorik hinein, bereits die kulturpolitische Wende zur Hochromantik.90 Sie wird die journalistische Propaganda als politisches Instrument ent­ de­cken, das seine Macht der Presse und dem Buchdruck verdankt. Genau diese Spur findet sich in Hardenbergs durchaus überraschender Antwort wieder. Er geht zunächst auf die Schwierigkeiten ein, die sich plötzlich seinem Todeswunsch entgegenstellen. Das macht ihn zum neuen Christus schon deutlich weniger geeignet. Daraufhin wechselt er gleich ganz die Seiten und redet nun als Weltmann und Projektemacher. Dadurch verkehren oder kreuzen sich plötzlich die Rollen, die beide in ihrem Briefwechsel eingenommen hatten. Jetzt ist Hardenberg der Realist und Schlegel der Schwärmer. Um seinen neuen Plan, „ein reicher Mann zu werden“ (KFSA 24, S. 209) – und dem Freund dann auch ökonomisch helfen zu können – umzusetzen, schlägt Hardenberg die Gründung „eines litterairischen, re­ publicanischen Ordens  – der durchaus mercantilisch politisch ist  – einer ächten Cosmopoliten Loge“ mit einer eigenen Druckerei vor: „Eine Buchdruckerey – ein Buchhandel muß das erste Stamen seyn. Jena – Hamburg, oder die Schweitz, wenn Frieden wird – müssen der Sitz des Bureaus werden.“ (KFSA 24, S. 210)91 Wenn sich das realisieren ließe, könnten die beiden Bibelprojekte, das poetologische und das buchmediale, auch ineinandergreifen, so dass Schlegels Projekt „den Himmel in Bewegung sezt, wie meines den irrdischen Sphäroid.“ (KFSA 24, S. 210) Das wird man so verstehen können, dass Schlegel aus der Immanenz heraus die Transzendenz aufmischen soll und Hardenberg aus der Transzendenz heraus die irdischen Verhältnisse verändern will.92 3.2.3 Romantisches Christentum Der dritte und letzte Schwerpunkt des Bibelprojektes lässt sich vergleichsweise rasch abhandeln. Er führt auf das Konzept eines romantischen Christentums bzw. einer christlichen Romantik, das Eichendorff in Ahnung und Gegenwart propagiert hat und das Heinrich Heine in seiner Romantischen Schule massiv verspotten wird.93  Vgl. Till Dembeck: Kulturpolitik und Totalitarismus. Zur deutschen Romantik. In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 66/2 (2012), S.  170–176, sowie Till Dembeck (Hg.): Friedrich Schlegel und die Kulturpolitik der Romantik. In: Athenäum 25 (2015), S. 79–248. 91  Vgl. zu diesem Projekt auch Uerlings: Novalis, S. 48. 92  Zur Politik bei Hardenberg vgl. Bunia: Romantischer Rationalismus, S. 107–138. 93  Vgl. Heinrich Heine: Die romantische Schule [1833]. In: Ders.: Sämtliche Schriften. Hg. v. Klaus Briegleb. Bd. 3. 3., durchges. Aufl. München, Wien 1996, S. 357–504, speziell zu Schlegel S. 405–411, zu Hardenberg S. 439–445. 90

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Am 20. Januar 1799 reagiert Hardenberg verzögert auf einen Vorschlag in Schlegels Brief vom 2. Dezember 1798, wonach er versuchen solle, „wenigstens in einem gewissen Sinne das Christenthum absolut negativ zu setzen.“ (KFSA 24, S. 206) Dann wäre nämlich eine Annäherung beider Versionen des Bibelprojekts denkbar. Hardenberg findet den Gedanken der Negativierung nun höchst produktiv: Deine Meynung von der Negativitaet der Xstlichen Religion ist vortrefflich – das Xstenthum wird dadurch zum Rang der Grundlage – der projectirenden Kraft eines neuen Weltgebäudes und Menschenthums erhoben  – einer ächten Veste eines lebendigen 〈morali­ schen〉 Raums. (KFSA 24, S. 220)

Von hier aus ist es nur noch ein kleiner Schritt, auf ein neues Christentum zu ver­ zich­ten und sich dem schon vorhandenen Christentum anzuschließen – freilich ohne dabei „die Göttlichkeit der Antike“ (KFSA 24, S. 220) preiszugeben. Friedrich von Hardenberg wird diesen Schritt in seinem Essay Die Christenheit oder Europa gehen, in dem der Katholizismus als Inspiration für eine Utopie figuriert.94 Friedrich Schlegel vollzieht den Schritt zum Christentum mit der Konversion zur katholischen Kirche im April 1808.95 Zuvor hatte er Anfang März 1799 gegenüber Hardenberg seine Ideen angekündigt und dazu geschrieben: „Von meiner Religion sollst Du und alle Welt bald genug bekommen, nicht Bruchstücke, sondern Massen“ (KFSA 24, S. 238).96

3.3 Nach dem Bibelprojekt (1799–1802) Die dritte und letzte Phase der Überlegungen zur Religion im Briefwechsel zwischen Friedrich Schlegel und Friedrich von Hardenberg schließt sich an das Bibelprojekt an und betrifft die Jahre 1799 bis 1802. Sie lässt sich in zwei Teilphasen untergliedern, von denen die erste bis zum Tod Hardenbergs im März 1801 reicht, während die zweite die unmittelbaren Auswirkungen dieses Todes bis zum Zerfall

94  Zur frühromantischen Religion in der Europa-Rede vgl. Stockinger: Religiöse Erfahrung, S. 381–389, sowie zusammenfassend Uerlings: Novalis, S. 112–117. 95  Zu den externen Motiven der Konversion vgl. Ulrich Breuer, Maren Jäger: Sozialgeschichtliche Faktoren der Konversion Friedrich und Dorothea Schlegels. In: Winfried Eckel, Nikolaus Wegmann (Hg.): Figuren der Konversion. Friedrich Schlegels Übertritt zum Katholizismus im Kontext. Paderborn, München, Wien, Zürich 2014, S. 127–147. 96  Vgl. Isabelle Faul: Friedrich Schlegels Ideen. Ein Beitrag zur Intellektuellengeschichte. Paderborn u. a. 2016. Speziell zum ‚romantischen Messianismus‘ (Walter Benjamin) der Ideen vgl. Jan Urbich: „Die Kunst geht auf den letzten Messias“. Friedrich Schlegels Ideen-Fragmente und das messianische Verhältnis von Revolution und Religion. In: Klaus Ries (Hg.): Romantik und Revolution. Zum politischen Reformpotential einer unpolitischen Bewegung. Heidelberg 2012, S. 171–194. Die Ideen weisen aber nicht nur auf das Politikverständnis Walter Benjamins voraus, sondern lassen sich auch als Präfiguration des Georgekreises lesen, einem Höhepunkt der Kunstreligion mit massiven Auswirkungen auf die Germanistik des 20. Jahrhunderts; vgl. Wolfgang Braungart: Romantische Mythopoesie, Georges Mythopoesie. In: Ders. (Hg.): Stefan George und die Religion. Berlin 2015, S. 1–26.

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der romantischen Schule mit der Abreise Friedrich Schlegels und Dorothea Veits aus Jena betrifft. In der ersten Teilphase geht es um die externe Politisierung der romantischen Religion zu einer neuen Kirche und ihren internen Absturz ins Tumultuarische, in der zweiten um den Status der Kunstreligion, den Umschlag der re­li­ giö­sen Semantik ins Frivole und die ambivalenten Folgen von Hardenbergs Tod. 3.3.1 Der Atheismusstreit Zuvor ist noch kurz auf den sogenannten Atheismusstreit um Fichte einzugehen. Er steht im größeren Kontext von Versuchen der Politik, „den Geltungsverlust traditioneller christlicher Glaubensbegründungen durch administrative Maßnahmen aufzuhalten.“97 Unter dem Atheismusstreit versteht man eine religionspolitische Aus­ei­ nan­der­set­zung der Jahre 1798/99 über die Frage, ob für eine moralische Welt­ord­ nung die Existenz Gottes vorausgesetzt werden muss oder nicht. Fichte hatte die Notwendigkeit dieser Voraussetzung im Dezember 1798, also etwa gleichzeitig mit Schlegels langem Brief über das Bibelprojekt, öffentlich bestritten und war deshalb im Frühjahr 1799 vom Weimarer Herzog zum Rücktritt von seiner Jenaer Professur gezwungen worden. Der Streit führte den Romantikern vor Augen, wie rigide das staatlich verankerte Christentum mit Andersdenkenden zu verfahren bereit war. Friedrich Schlegel fühlte sich dadurch besonders betroffen, da er in Fichte den Ent­ de­cker der von ihm neu zu verkündenden Religion sah. Fichtes Lehre sei „wahre Religion in Form der Philosophie“ (KFSA 24, S. 262), wie er im April 1799 dem Bruder schrieb. Der Plan, Fichte öffentlich zu verteidigen, musste aufgrund von Rücksichtnahmen auf den in Jena ebenfalls als Professor tätigen Bruder zurückgestellt werden.98 Der Atheismusstreit führte aber zu einer nachhaltigen Po­li­ti­sie­ rung der religiösen Semantik. Dem Bruder schreibt Schlegel am 7.5.1799, es sei ihm mit seiner neuen Religion „der bitterste Ernst“ (KFSA 24, S. 284). Der neue Ernst zeigt sich vor allem im Einsatz des manichäisch aufgeladenen Freund/ Feind-Schemas. Es unterscheidet nun in aller Schärfe zwischen der Partei der Guten, der sich die Romantiker zurechnen, und der Partei der Bösen, zu denen die Feinde Fichtes und wenig später die Philister gehören.99 Auch auf die Sprache wirkt die Unterscheidung zwischen Guten und Bösen zurück, weil sie Eindeutigkeit fordert und Mehrdeutigkeit zu vermeiden auffordert  – bis hin zum „Metaphernverbot“.100 Erst der Atheismusstreit macht aus Schlegel und Hardenberg die Grün­  Stockinger: Religiöse Erfahrung, S. 369.  Schlegel will unter dem Titel Für Fichte. An die Deutschen „eine Brochüre für Fichte“ schreiben, von der sich auch ein Bruchstück erhalten hat (KFSA 18, S. 522–525). Er befürchtet aber, dass man es ihm „in Weimar sehr verübeln wird“ (KFSA 24, S. 262) – und lässt es dann sein. Auch Fichte teilte er seinen Plan mit (KFSA 24, S. 288). Vgl. dazu auch die Vermutung zum Rückzug des Publikationsplans bei Korngiebel: Friedrich Schlegels Konzeption einer ‚Neuen Religion‘, S. 98. 99  Vgl. Remigius Bunia, Till Dembeck, Georg Stanitzek (Hg.): Philister. Problemgeschichte einer Sozialfigur der neueren deutschen Literatur. Berlin 2011. 100  Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt, S. 243. 97 98

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der einer zumindest ­pseudoreligiösen Gemeinschaft. Dass man sich tatsächlich so verstand, belegt ein Brief Dorothea Veits an Schleiermacher vom 22.8.1800. Sie freue sich, „wenn ich in meinem Zimmer die ganze Kirche versammelt sehen werde; Hardenberg rechne ich mit, der soll auch kommen“ (KFSA 25, S. 161). Innerhalb der neuen Gemeinschaft gibt es rasch auch schon die ersten Renegaten, Abtrünnige vom wahren Glauben, die vom guten ins böse Lager wechseln. Sie heißen Caroline Schlegel und Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (KFSA 25, S. 288f.).101 3.3.2 Bis zu Hardenbergs Tod Erneut ist aber zunächst ein kleiner Schritt zurück angezeigt. Höhepunkt der ersten Teilphase ist das Jenaer Romantikertreffen im November 1799.102 Dorothea Veit hat darüber am 15.11.1799 an Schleiermacher berichtet: Das Christenthum ist hier a l’ordre du jour; die Herrn sind etwas toll. Tieck treibt die Re­ li­gi­on wie Schiller das Schicksal; Hardenberg glaubt, Tieck ist ganz und gar seiner Meynung; ich aber will wetten was einer will sie verstehen sich selbst nicht, und einander nicht. (KFSA 25, S. 22)

Zum Außendruck des Atheismusstreits kommen nun interne Turbulenzen hinzu. Verantwortlich dafür sind Schleiermachers Reden über die Religion, die im Kreis der Romantiker begeistert aufgenommen worden sind.103 Sie setzen ganz auf das re­ li­giö­se Gefühl. Vor dem Hintergrund der religiösen Maximalforderungen Schlegels und Hardenbergs stürzen sie die Beteiligten allerdings ins Chaos. Die Gefühle las­ sen sich begrifflich nicht mehr zureichend fassen, die romantische Religion wird tu­ mul­tu­ar­isch, die Stimmen kreuzen sich nicht länger nur, sie überschlagen sich im Wildwuchs der Missverständnisse. Hardenberg schweigt daraufhin in seinen Briefen an Schlegel zu religiösen The­ men still und verlegt sich auf Berichte über seine Publikationspläne. Zum einen sammelt er Materialen für eine religiöse Zeitschrift (er spricht von einem „geistlichen Journal“; KFSA 25, S.  54), zum anderen überführt er seine Religionsauffassung nun konsequent in die Form des Romans. Im zweiten Teil des Heinrich von  Später unterstellt Dorothea Schlegel dem langjährigen Weggefährten Schleiermacher, gemeinsam mit seinen Freunden „eine Loge machen“ zu wollen und den eigenen „Kreis als geschlossen anzusehen“; Dorothea Schlegel an Friedrich Schleiermacher, 20./21.11.1802. In: KFSA 26.1, S. 48–53, hier S. 51. Gegen alle Abschlüsse plädiert sie ebenso wie Friedrich Schlegel für offene Verbindungen. 102  Vgl. Dirk von Petersdorff, Ulrich Breuer (Hg.): Das Jenaer Romantikertreffen 1799. Ein romantischer Streitfall. Paderborn u. a. 2015, sowie Christiane Klein: Das Jenaer Romantikertreffen im November 1799. Dokumentation und Analyse. Heidelberg 2017. 103  Vgl. zur Rezeption Hermann Patsch: Du, Redner der Religion. Zeitgenössische Gedichte auf die Reden. In: Ulrich Barth, Claus-Dieter Osthövener (Hg.): 200 Jahre Reden über die Religion. Akten des 1. Internationalen Kongresses der Schleiermacher-Gesellschaft, Halle, 14.–17. März 1999. Berlin, Boston 2000, S. 344–363. Zu Hardenbergs Umgang mit Schleiermachers Reden vgl. Ernst Müller: ‚Ein neuer Schleier für die Heilige‘. Schleiermacher und Novalis über Religion. In: Blütenstaub. Jahrbuch für Frühromantik 6 (2020), S. 75–89. 101

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Afterdingen, den er Friedrich Schlegel am 31. Januar 1800 ankündigt und den er am 18. Juni 1800 näher erläutert, will er „das Unbekanntheilige“ in poetischer Form darstellen (KFSA 25, S. 127). 3.3.3 Nach Hardenbergs Tod Nach dem Tod Hardenbergs gibt es mit Blick auf die Religion noch ein Nachspiel. Es fällt zunächst ins Auge, dass der Status der gerade erst neu begründeten Kunstreligion zu erodieren beginnt. Das lässt sich an Clemens Brentano zeigen. Brentano beginnt als glühender Verehrer Friedrich Schlegels, schreibt aber am 14. September 1800 mit allen Zeichen des Entsetzens an Dorothea Veit: „ich habe den Glauben verlohren“ (KFSA 25, S. 175). Das kann nun auch die Kunst nicht mehr kom­pen­ sie­ren, denn Brentano fährt fort: „Die Kunst? O die Kunst ist nur künstlich. Aber sie ist nie mehr als ein Grabmahl der Liebe geweßen.“ (KFSA 25, S. 175) Dorothea Veit dagegen gibt sich der neuen Kunstreligion ungebrochen hin. Bei ihr ist sie offenbar rasch zum stabilen Bestandteil eines bürgerlichen Alltags ge­wor­ den. Beispielsweise schreibt sie Ende 1801 nach der Lektüre von Tiecks neuesten Arbeiten dem Verfasser: Ich danke Ihnen tausendmal dafür. Nie habe ich wieder Ihre ganze Liebenswürdigkeit, die Tiefe und die Glorie Ihrer Kunst und Ihrer Liebe so gefühlt! nehmen Sie meine Worte so an, ich möchte wohl ich könnte es Ihnen besser sagen! Die LebensElemente lese ich auch flei­ ßig und sie öffnen meinen Blick in die Natur, und machen mich für jede Ansicht emp­fäng­ lich ich habe schon viel Neues daraus gelernt mehr als ich sagen kann; ich lese sie alle Tage fast, und weiß sie fast auswendig. Das Wasser lese ich immer mit einer recht frommen Empfindung, auch das Licht, es sind rechte Offenbarungen. (KFSA 25, S. 317)

Der Begriff der „Glorie“ belegt, dass die Autoren derartig zur Frömmigkeit anregender Texte ihrerseits religiös überhöht werden.104 Tatsächlich nennt Dorothea ihren Geliebten einen „Gott wo nicht mehr“ (KFSA 24, S. 297). Auch Goethe ist für sie ein „Gott so sichtbar und in Menschengestalt“ (KFSA 25, S.  26), und wenn beide sich treffen, kommt es zum Göttergipfel: „Friedrich der Göttliche ist diesen Morgen zu Vater Göthe, oder Gott den Vater, nach Weimar gewandert.“ (KFSA 25, S. 100) Der göttliche Friedrich nimmt sich nun auch die Freiheiten, die man zumindest den antiken Göttern zugestanden hatte. Das hat Folgen für die religiöse Semantik, die man als Mann dann, wenn es gerade passt, auch für erotische Affären nutzen kann. In einem Billett an die von ihm umworbene, in einer Konvenienzehe lebende Caroline Paulus versichert er ihr: „Deine Hoffnung, Dein Glauben sind mir über alles heilig und schön.“ (KFSA 25, S. 206) Sie solle alles tun, was sie will, denn: „Wenn Du wüßtest wie sehr ich das mit Dir fühle und mit Dir glaube, so würde es  Markant bei Karoline von Günderrode in ihren Gedicht Novalis, deinen heilgen Seherblikken; Karoline von Günderrode: Sämtliche Werke und ausgewählte Studien. Historisch-kritische Ausgabe. Hg. v. Walter Morgenthaler. Bd. 1. Basel, Frankfurt a.M. 1990, S. 391. Mit Dank für den Hinweis an Roland Borgards.

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Dir wenigstens nicht scheinen können, als entweihe Dich meine Umarmung.“ (KFSA 25, S. 206) Das ist frivol. Schlegel ist offen: „Ich will Dich gar nicht glücklich machen. Ich will mich bloß so innig wie es seyn kann mit Dir vereinigen.“ (KFSA 25, S. 206) Das ist die rein strategische Rhetorik eines Lebemannes. Mit Re­ li­gi­on hat sie nichts zu tun, auch wenn religiöse Vokabeln zum Einsatz kommen.105 Man kann den etwas degoutanten Umschlag der religiösen Semantik ins Frivole auch auf das Konto der Folgen von Hardenbergs Tod setzen. Auf der einen Seite hat dieser Tod die Gemeinschaft der Romantiker schwer verstört. Dorothea Veit fühlte sich schon nach dem Tod Auguste Böhmers und während Hardenbergs Krankheit im September 1800 von Wahnsinn, Tod und Elend umgeben: „Manchmal wird es um einem, als ob alles unsichtbare Elend plötzlich sichtbar würde. Pfui!“ (KFSA 25, S.  185) Nach dem Tod Hardenbergs konstatiert Friedrich Schlegel dann am 17. April 1801 in einem Brief an Schleiermacher: „Für das Innere unserer äußeren Existenz ist durch H[arden]d[en]b[erg]s Tod eine Lücke entstanden, die vielleicht nie ersetzt werden kann.“ (KFSA 25, S.  259). Und Ludwig Tieck schreibt am 23. April an Friedrich Schlegel: „Unser Leben muß ein gemeinschaftliches sein, wenn wir uns anders angehören, und so ist der grausamste Schnitt in diese Einheit geschehn.“ (KFSA 25, S. 264) Auf der anderen Seite kann die unersetzbare Lücke im inneren Haushalt und der harte Schnitt in die Einheit der romantischen Gemeinschaft nur durch die Apo­the­ o­se Hardenbergs und seines Nachlasses kompensiert werden. Wenige Wochen nach seinem Tod empört sich Schlegel in einem Brief an den Bruder über dessen Vor­ schlag, Tieck um die Vollendung des Heinrich von Afterdingen zu bitten. Ein solcher Gedanke sei „nicht nur unthunlich und ganz unschicklich sondern auch fre­vel­ haft, abscheulich, gottlos und unheilig.“ (KFSA 25, S. 261) Der Tod Hardenbergs schneidet also nicht nur tief in die Gemeinschaft der Gläubigen ein, sondern gibt ihr auch etwas, das sie anbeten und verehren kann. Die hinterlassenen Papiere des Toten werden zu sakrosankten, ja sakralen Objekten. Jeder Archivar wird wissen, was Schlegel meint, wenn er dem Bruder empört zuruft: „Wollt Ihr Reliquien nicht mehr ehren?“ (KFSA 25, S. 261). Wenige Tage darauf teilt Tieck emphatisch Schlegels Ansicht, „daß alles, was er zurückgelassen, für ein Heiligthum von uns, seinen Freunden zu achten ist.“ (KFSA 25, S. 263) Ein Jahr später werden Schlegel und Tieck die erste Ausgabe der Schriften Hardenbergs publizieren. Und Friedrich Schlegel? Wie steht es mit seiner Religiosität, nachdem Hardenberg gestorben ist? Wie immer hält er sich in seinen Briefen bedeckt. Es gibt aber zwei scheinbar geringfügige Spuren, die sich bereits auf die Konversion beziehen lassen und die daher abschließend zumindest erwähnt seien. Zum einen übersetzt Schlegel ab Dezember 1800 mit einigem Eifer spanische katholische Gedichte  Hardenberg entwirft parallel dazu in seinen Geistlichen Liedern eine postchristliche ‚poetische Religion‘, die Formen einer suchtähnlichen, unersättlichen Sexualität in die Ich-Identität zu inte­ grieren versucht; vgl. Stockinger: Poetische Religion – religiöse Poesie, S. 184–186. Belege zur erotischen Religion der Romantik, insbesondere in Schlegels Lucinde und Hardenbergs Heinrich von Ofterdingen, versammelt Christian Schärf: Marmorbilder und Madonnen. Die erotische Religion der Romantik. In: Toni Tholen, Burkhard Moennighoff, Wiebke von Bernstorff (Hg.): Literatur und Religion. Hildesheim 2012, S. 224–249. 105

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(KFSA 25, S. 211f., S. 270). Das wäre an sich wenig bemerkenswert, wird aber auf­ fäl­lig, wenn er dem Bruder, der die Gedichte in seinem Musenalmanach abzudrucken bereit ist, zusätzlich einen kleinen Sonettzyklus auf griechische Götter anbietet. Sie könnten „ein Gegengift gegen die Misdeutung der kathol[ischen] Gedichte aus dem Spanischen“ sein (KFSA 25, S. 227). Schlegel scheint also damit zu rechnen, dass die Wahl der übersetzten Texte missverstanden werden und seine privaten religiösen Überzeugungen offenbaren könnte. Das möchte er durch die Kombination katholischer mit antiken Texten verhindern. Er verrät damit, dass der Ver­ dacht nicht ganz falsch ist. Freilich teilt erst vier Jahre später Dorothea der Freundin Caroline Paulus mit: „er hasst die sogenannte Aufklärerey über jeden andern Unfug, und meynt es ganz ernstlich mit dem Christenthume“ (KFSA 26.1, S. 230). Und erst Ende 1805 hält sie der gleichen Adressatin gegenüber Friedrichs „Streben, sein Ver­ lan­gen nach der Wiederherstellung des ächt christlichen Glaubens“ fest (KFSA 26.1, S. 396). Zum anderen bittet Schlegel seinen Freund Schleiermacher im Januar 1801 er­ staun­lich beharrlich um die Übersendung von dessen gedruckten Predigten (KFSA 25, S. 223). Schleiermacher teilt ihm mit, dieser könne daraus nichts lernen, die Predigten seien für ihn völlig wertlos (KFSA 25, S. 229). Schlegel bleibt aber bei seiner Bitte, erhält die Predigten, kann aufgrund einer Erkrankung nur darin blättern, doch reicht ihm das für die Vermutung, „daß sie sehr nach meinem Herzen sein werden“ (KFSA 25, S. 278). Möglicherweise wollte er aus ihnen gar nichts lernen, sondern sie religiös nutzen und sich an ihnen erbauen.

4 Schluss Nach einem Einstieg ins Thema Religion in der Romantik über ein Eichendorff-­ Zitat, das vorgreifend den Unterschied zwischen einer poetischen und einer christlichen Form romantischer Kunstreligion verdeutlichen sollte, wurde der Begriff der Religion näher bestimmt. Dazu wurde auf die religionssoziologische Definition von Durkheim und die systemtheoretische von Hafner zurückgegriffen. Schließlich wurde im Anschluss an Detering und Auerochs auch das für die Romantik zentrale Konzept der Kunstreligion erläutert. Im Zentrum des Beitrags standen dann Formen und Funktionen der Religion im Briefwechsel zwischen Friedrich Schlegel und Friedrich von Hardenberg. Die Korrespondenten wurden unter dem Aspekt ihrer religiösen Sozialisation kurz vorge­ stellt, wobei der junge Schlegel als mundaner Anthropozentriker und Verächter des Christentums, Hardenberg dagegen als theozentrischer Schwärmer mit breiten Weltkenntnissen charakterisiert wurde. Beide jungen Männer nähern sich dem Gedanken des Selbstmords, wobei Schlegel in der Immanenz verbleibt und lediglich seinen Ehrverlust fürchtet, während Hardenberg durch den frühen Tod seiner Verlobten Sophie von Kühn in seiner Transzendenzgewissheit bestätigt wird und von ihr aus die empirische Welt als symbolische Darstellung des Göttlichen illuminiert.

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Innerhalb der Auseinandersetzung mit der Religion im Briefwechsel der beiden Freunde wurden drei Phasen unterschieden, in deren Zentrum das Bibelprojekt steht. Die erste Phase leitet zu diesem Projekt hin, die dritte verarbeitet seine Fol­ gen. In der ersten Phase, die von 1793 bis 1798 dauert, geht es um die Differenz zwischen Verstand und Glauben im Sinne der Schwärmerkritik des Aufklärungszeitalters, um die Grenzen der Entfesselung einer religiösen Semantik in profanen Kontexten und um die Wendung der neu aufgekommenen Kunstreligion ins Existentielle. Letztere verbindet sich auf Seiten Hardenbergs mit dem Wunsch, der toten Braut aus eigener Willenskraft nachzusterben. In der zweiten Phase, die in die Jahre 1798 und 1799 fällt, geht es um das hypertrophe Bibelprojekt und seine unterschiedliche Akzentuierung. Dem Projekt liegt der magische Idealismus Hardenbergs zugrunde und seine Theorie der Re­prä­sen­ta­ ti­on einer transzendenten Idealität durch Mittlerfiguren, die Schlegel aber im Re­ kurs auf seine Apotheose des Individuellen zurückweist. Das Bibelprojekt wird von Schlegel mit dem Vorhaben eröffnet, eine neue Religion zu stiften. Hardenberg sieht darin eine Parallele zu seiner Idee einer Poetik der symbolischen Medien. In seinem ausführlichen Brief vom 2.12.1798 versucht Schlegel dann die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen beiden Projekten zu bestimmen. Ihm geht es weniger um eine Poetik des Buches, sondern eher um eine neue Buchreligion. Hardenberg schlägt er darin die Rolle des Messias vor, sich selbst reserviert er die des Paulus. Hardenberg reagiert darauf weltmännisch, indem er die Gründung eines republikanischen Kosmopolitenordens, einer Art PEN-Club, vorschlägt, der über eine eigene Druckerei und einen eigenen Verlag verfügen soll. Insgesamt greift Schlegel aus der Immanenz auf Rhetoriken der Transzendenz aus, während Hardenberg aus seiner Transzendenzgewissheit heraus die irdischen Verhältnisse verändern will. Das Bibelprojekt läuft aus in Überlegungen zu einem neuen Christentum bzw. zu einer christlichen Romantik. Sie münden in das Ideal einer Verbindung der Göttlichkeit der Antike mit den Grundlagen der christlichen Religion. Das ist im Kern die Idee der neuen Mythologie. In der dritten und letzten Phase, welche die Jahre 1799 bis 1802 umfasst, geht es zunächst  – bis zu Hardenbergs Tod  – um eine externe Politisierung der romantischen Religiosität durch den Atheismusstreit und sodann um ihre interne Wendung ins Tumultuarische unter dem Einfluss von Schleiermachers Reden über die Re­li­ gi­on. Hardenberg versucht seine Religiosität nun verstärkt buchmedial im Format einer Zeitschrift und in Romanform zu realisieren. Nach dem Tod Hardenbergs wird die Kunstreligion entweder aus existentieller Perspektive als unzulänglich zurückgewiesen oder aber fest in den bürgerlichen Alltag integriert. Die hochfahrenden Bibelprojekte laufen nun aus in eine Apotheose der Autorfigur, können aber auch zu frivolen Zwecken genutzt werden. In jedem Fall führt Hardenbergs Tod zu einem tiefen Einschnitt in das Gemeinschaftsgefühl, dessen Verlust durch die Sa­kra­li­sie­ rung seines Nachlasses kompensiert werden soll. Bei Friedrich Schlegel zeichnet sich nach dem Tod seines kongenialen Freundes eine neue Faszination für den Katholizismus und für die paränetische und pastorale Dimension der Religion ab. Das aber ist schon das nächste Kapitel einer Geschichte der Religion in der Romantik.

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Fragment. Zur Programmatik und Praxis frühromantischer Theorieund Arbeitsform Rahel Villinger

Was in der Forschung unter dem Namen ‚frühromantisches Fragment‘ im Kollektivsingular firmiert, wurde als Begriff, Kunstgattung und Form maßgeblich von Friedrich Schlegel konzipiert. Während der Ausdruck auf Texte verschiedener Ver­fas­ ser:innen bezogen wird,1 gelten – neben der durch Schlegel herausgegebenen, veränderten und vermutlich auch betitelten Sammlung Blüthenstaub Friedrich von Hardenbergs – Schlegels eigene Fragmentsammlungen, allen voran die heute soge­ nann­ten Athenaeums-Fragmente, die im Juli 1798 im zweiten Stück des ersten Bands der von den Brüdern Schlegel herausgegebenen Zeitschrift Athenaeum unter dem schlichten Titel „Fragmente“ anonym erschienen sind, als Paradigma der Gat­ tung. Berühmt wurde diese Publikation nicht zuletzt deshalb, weil sie oft als Bei­ spiel für das frühromantische Ideal der gemeinschaftlichen Autorschaft, der „Symphilosophie und Sympoesie“2 heranzitiert wird – neben Friedrich Schlegel haben Hardenberg, August Wilhelm Schlegel und Friedrich Schleiermacher Fragmente beigesteuert. Dieses Ideal steht jedoch quer zu der Tatsache, dass Friedrich Schlegel  Beispielhaft sei die Edition Fragmente der Frühromantik von Friedrich Strack und Martina Eicheldinger genannt, die unter diesem Titel neben den auch hier an erster Stelle vertretenen Fragmentsammlungen von Schlegel und Hardenberg Texte von Schleiermacher, Forberg, Hülsen, Schelling, Steffens, Ritter und Görres aufgenommen haben. Es fehlen, wie so oft, Autorinnen, obwohl beispielsweise Rahel Levin Varnhagen oder Karoline von Günderrode Texte verfasst haben, die konzeptuell und formal unbedingt als avancierte Fragmente zu würdigen wären. In der Einleitung sprechen die Herausgeber:innen vom „romantischen Fragment“, um dessen Form vom Fragment in anderen Epochen der Moderne abzugrenzen. Vgl. Martina Eicheldinger, Friedrich Strack (Hg.): Fragmente der Frühromantik. 2 Bde. Berlin, Boston 2011. 2  Friedrich Schlegel: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Begründet von Ernst Behler, fortgeführt von Andreas Arndt, hg. von Ulrich Breuer. Paderborn u. a. 1958ff, Bd. 2, S. 185. Diese Ausgabe wird im Folgenden zitiert als KFSA unter Angabe von Bandnummer und Seitenzahl. 1

R. Villinger (*) Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, Universität Zürich, Zürich, Schweiz E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2025 R. Borgards, K. Heumann (Hrsg.), Sich kreuzende Stimmen, Neue Romantikforschung 8, https://doi.org/10.1007/978-3-662-70600-8_4

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unter Freunden und Familie als der Erfinder, Programmatiker und Theoretiker des romantischen Fragments galt, der die kollektive Fragmentproduktion für das Athenaeum anleitete und bestimmte.3 Zudem hat Schlegel nicht nur weitaus die meisten der Athenaeums-Fragmente selbst verfasst (circa drei Viertel), zu seiner tendenziell übergriffigen Herausgeberpraxis gehörte auch, dass er redaktionell beträchtlich in die Fragmente der anderen Beiträger eingriff und über Auswahl und Anordnung der Texte allein entschied.4 Das Fragment als Form gehört zweifellos zu den wichtigsten Theorieelementen der Frühromantik. Es ist zudem unter allen frühromantischen Erfindungen vielleicht auch diejenige, die in der ästhetischen Moderne das bedeutendste Nachleben entfaltet hat. Jedenfalls hat gerade die frühromantische Fragmentkonzeption we­sent­ lich dazu beigetragen, dass man von Nietzsche bis Benjamin, Derrida und Luhmann ein Erbe und Weiterdenken der Frühromantik entdecken kann – und dass umgekehrt bei Schlegel und Hardenberg Vorwegnahmen späterer literaturtheoretischer, philosophischer und ästhetischer Positionen und Praktiken diagnostiziert wurden.5 Zugespitzt formuliert: Es ist insbesondere die Theorie und Praxis des Fragments, die die Frühromantik zur Avantgarde der künstlerischen und philosophischen Moderne und Postmoderne macht.6 Während das Verdienst der Romantikforschung des ausgehenden 20. Jahrhunderts, diesen großen Bogen der Moderne- und Theoriegeschichte herausgearbeitet zu haben, unbedingt anerkennenswert ist, bleibt jedoch festzustellen, dass sie dabei über den besagten Kollektivsingular (‚das frühromantische Fragment‘) nicht hinausgekommen ist. So wurde einerseits Schlegel als der maßgebliche Programmatiker und Begriffstheoretiker des (früh-)romantischen Fragments nicht genug gewürdigt (Hardenberg bekam meist von Vornherein dieselbe Würdigung zugesprochen), andererseits die Dominanz einer faktisch spe­ zi­fisch Schlegelschen Konzeption selten als solche herausgestellt, weshalb maßgeb An dieser Produktion sollten sich auch Caroline Schlegel und deren zwölfjährige Tochter Auguste Böhmer beteiligen. Wie Schleiermacher die philosophischen Aufzeichnungen des Schwagers, so sollte Caroline (mit Auguste) nach Anordnung Schlegels dessen Briefe und andere Textmaterialsammlungen durchgehen, um „Fragmente zu excerpiren“ (KFSA 24, S. 67). Vgl. Martina Eicheldinger: Fragmente und Notizen. In: Johannes Endres (Hg.): Friedrich Schlegel-Handbuch. Stuttgart 2017, S. 141–169, hier S. 147. 4  Vgl. dazu ausführlich Eicheldinger: Fragmente und Notizen, hier S. 146–148. 5  Vgl. beispielhaft Philippe Lacoue-Labarthe, Jean-Luc Nancy: L’Absolue littéraire. Théorie de la littérature du romantisme allemande. Paris 1978; Winfried Menninghaus: Unendliche Verdopplung. Die frühromantische Grundlegung der Kunsttheorie im Begriff absoluter Selbstreflexion. Frankfurt a.M. 1987 und Ernst Behler, Jochen Hörisch (Hg.): Die Aktualität der Frühromantik. Paderborn, Zürich 1987. 6  Vgl. Rüdiger Bubner: Gedanken über das Fragment. Anaximander, Schlegel und die Moderne. In: Merkur 47 (1993), Heft 529, S. 290–299; Eberhard Ostermann: Das Fragment. Geschichte einer ästhetischen Idee. München 1991 sowie die Beiträge von Gerhard Neumann, David E. Wellbery und Walter Hinderer in: Fetisch Fragment in der Romantik? Eröffnung (Neumann). Erwiderung (Wellbery). Folgerung (Hinderer). In: Gerhart von Graevenitz, Walter Hinderer, Gerhard Neumann, Günter Oesterle, Dagmar von Wietersheim (Hg.): Romantik Kontrovers. Ein Debattenparcours zum zwanzigjährigen Jubiläum der Stiftung für Romantikforschung. Würzburg 2015, S. 161–189. 3

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liche Differenzen der Hardenbergschen Fragmentaristik  – die in inhaltlichen Schwerpunkten, in Formverfahren und Zielen von Schlegels Programm durchaus abweicht – unterbelichtet bleiben oder unterschlagen werden mussten. Tendenziell wurde Hardenberg entweder als Aphoristiker in Einzelstudien behandelt (dann auch eingehend, aber kaum je in vergleichender Absetzung von Schlegels Fragmentkonzept)7 oder aber – wenn allgemein vom ‚frühromantischen Fragment‘ die Rede war  – seine Fragmentform der Schlegelschen zugeschlagen. Das hat vermutlich unter anderem damit zu tun, dass man Hardenbergs Praxis der Verschriftlichung aller möglichen theoretischen und wissenschaftlichen Überlegungen in Fragmenten oder weiterzubearbeitenden fragmentartigen Notizen – wie unten deutlich werden wird – tatsächlich sehr gut als Erfüllung eines Programms lesen kann, das Schlegel begrifflich explizit entwirft. Es hat aber auch Gründe in methodischen Schwierigkeiten: in der Redaktion und Herausgabe aller zu Lebzeiten erschienenen Fragmente durch Schlegel, in der Tatsache, dass Hardenberg konzeptuelle wie redak­ tionelle Entscheidungshoheiten seinem Freund überließ bzw. von vornherein an des­sen Fragmentprogramm orientiert war, und nicht zuletzt in der Überlieferungsgeschichte eines Gesamtwerks, das selbst zum größten Teil ‚Frag­ment‘ geblieben ist.8 Es gibt schlicht nur wenig Anhaltspunkte für stichhaltige Vermutungen darüber, ob und wie Hardenberg seine zahllosen Vorarbeiten zu geplanten Fragmentsammlungen später weiter überarbeitet und in welcher Form er sie selbst als solche publiziert hätte. Nun findet sich eine frühromantische Konzeption des Fragments jedoch nicht irgendwo ausgesagt in einem Satz. Eben darin besteht die genuin ‚moderne‘ In­no­ va­ti­on Schlegels, die von der Forschung erstaunlich selten bis in die letzte Kon­se­ quenz nachvollzogen wurde:9 Die Theorie liegt in der Form und damit auch in den je besonderen Verfahren, mittels derer frühromantische Fragmente ihr Denken und Wissen dynamisch-performativ erzeugen, ausstellen und zugleich unter Beweis stellen. So wie man zeigen kann, dass das frühromantische Fragment der aus Wobei Fragmente nicht ohne Weiteres als Sonderformen von Aphorismen gedeutet werden können, auch wenn sie manchmal aphoristischen Charakter haben. Das vielgestaltige frühromantische Fragment ist schon deshalb eine andere Art von Kurzprosa als der Aphorismus, weil es in sehr unterschiedlichen Längen, Stilen und Formen auftritt. Vgl. Friedrich Strack: „Fermenta cognitionis“. Zur romantischen Fragmentkonzeption von Friedrich Schlegel und Novalis. In: Volker Kapp, Helmuth Kiesel, Klaus Lubbers, Patricia Plummer (Hg.): Subversive Romantik. Berlin 2004, S. 343–364, hier S. 344. 8  So z.  B.  Hardenberg an Schlegel am 26.12.1797 über brieflich mitgeschickte Fragmente: „Du kannst sie [...] behandeln, wie Du willst“ (Novalis Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Historisch-kritische Ausgabe. Begründet von Paul Kluckhohn und Richard Samuel. Hg. von Richard Samuel in Zusammenarbeit mit Hans-Joachim Mähl und Gerhard Schulz. Verschiedene Auflagen. 6 Bände. Stuttgart 1960 ff. Bd. 4, S. 242. [Künftig zitiert als HKA]), und an A.W. Schlegel am 24.2.1798: „meine[] seynsollenden Fragmente[] – ich weis ja noch nicht, ob F[riedrich] sie, als Fragmente, anerkennt“ (HKA 4, S. 252). 9  Eine Ausnahme von dieser Tendenz findet sich bei Jurij Striedter: Die Fragmente des Novalis als ‚Präfigurationen‘ seiner Dichtung. München 1985 sowie zumindest ansatzweise bei Gerhard Neumann und David E. Wellbery in: Fetisch Fragment in der Romantik?, wobei alle drei Autoren ausschließlich Hardenberg behandeln. 7

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gezeichnete locus eines Formbewusstwerdens von Theorie ist,10 ist umgekehrt deshalb auch das Formgeborenwerden der Theorie, so die These des vorliegenden Beitrags, ein Schlüssel zur Differenzierung der Fragmentverständnisse bei Schlegel und Hardenberg. Denn verfahrenslogisch betrachtet  – wozu im Folgenden auch praxeologische Aspekte der konkreten Fragmentproduktion zählen werden – zeigt sich deutlich, wie und worin sich das, was ein romantisches Fragment ist oder sein soll, bei den ‚sich kreuzenden Stimmen‘ der beiden Freunde sowohl überlappt wie unterscheidet. In diesem Sinn sollen im Folgenden konkrete Verfahren der Fragmentproduktion sowie das Fragment als Theorie- und Wissensform bei Schlegel und Hardenberg vergleichend untersucht werden. Aufgrund der genannten methodischen Schwierigkeiten und vor allem auch aufgrund der mehrere tausend Seiten umfassenden Überfülle an Fragmenten und fragmentartigen Notizen in Schlegels Nachlass kann dies im vorliegenden Beitrag allerdings nur in exemplarischen Ansätzen geschehen. Vieles andere müsste durch weitere Einbeziehung von Schriften aus dem Nachlass und vor allem auch durch die Deutung von Handschriftenbefunden beider Autoren aufgearbeitet werden.

1 Zur Vorgeschichte: Historischer Kontext und Lessing als Inspirator einer kritischen Praxis des Fragments Ursprünglich bezeichnete der antike Terminus ‚fragmentum‘ Restteile oder abgesplitterte Stücke von materiellen Gegenständen wie Brot, Stein oder Holz; ebenso versprengte Überbleibsel eines Heeres oder einer Flotte. Erst in der Philologie der frühen Neuzeit etabliert sich ‚Fragment‘ auch als Vokabel für unvollständig überlieferte Texte, und es ist nicht zuletzt diese historische Bedeutung, die den alt­phi­lo­ lo­gisch bewanderten Schlegel inspiriert. Ein Verweis auf sie bleibt in der Zeit-­ Theorie und Geschichtspoetik des romantischen Fragments erhalten, die, in der For­ mu­lie­rung Schlegels, „Fragmente aus der Vergangenheit“, d. h. im ursprünglichen Wortsinn so etwas wie Ruinen oder Bruchstücke, in „Fragmente aus der Zukunft“ oder „Projekte“ verwandeln will.11 Am Beispiel von Hardenbergs Fragmentpraxis wird unten darauf zurückzukommen sein, was das konkret heißen kann. Zugleich muss man wissen, dass ungefähr ab Mitte des 18. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum eine regelrechte Fragmentmode ausbrach und wissenschaftliche bzw. auf­klä­ re­risch-populärwissenschaftliche Abhandlungen sehr oft als ‚Fragmente‘ betitelt wurden. Speziell für Werke literarischer Art spricht Justus Fetscher darüber hinaus vom letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts als dem „Jahrzehnt ästhetischer Frag-

 Vgl. Rüdiger Campe: Das Argument der Form in Schlegels Gespräch über Poesie. Eine Wende im Wissen der Literatur. In: Merkur 68 (2014), Heft 777, S.  110–121, sowie Christian Benne, Christine Abbt: Kastor und Pollux (Schlegel). In: Dies. (Hg.): Mit Texten denken. Eine Literatur-­ Philosophie. Wien 2021, S. 105–130. 11  KFSA 2, S. 168f. 10

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mentaristik“, das Goethe mit Faust. Ein Fragment im Jahr 1790 ­eröffnet habe.12 Zu dem Zeitpunkt, als Schlegel mit seinen Kritischen Fragmenten (den heute soge­ nann­ten Lyceum-Fragmenten) 1797 in der Zeitschrift Lyceum der schönen Künste seine erste Fragmentsammlung publizierte, war der Titel ‚Fragment‘ demnach für wissenschaftliche, kritische und literarische Publikationen aller Arten gängig und keineswegs besonders originell. Die oft zitierte Behauptung der Frühromantiker, dem gemeinen Terminus ‚Fragment‘ – wie überhaupt allen in romantischer Prosa verwendeten Termini – einen eigenen, ‚höheren‘, ‚romantischen‘ oder ‚poetischen‘ Sinn zu geben, muss vor diesem Hintergrund betrachtet werden. Hier wurde keine neue Form aus dem Nichts erzeugt, sondern es wurde etwas in der eigenen kulturellen Gegenwart bereits Gegebenes, ja sogar weit Verbreitetes, weiter- oder neu entwi­ ckelt. Schon deshalb sind Fragment und Kritik für Schlegel von Anfang an un­auf­ lös­lich verbunden, woran zugleich deutlich wird, dass frühromantische Kritik den ‚negativen‘ Aspekt der Destruktion stets mit dem ‚positiven‘ Aspekt produktiver Weiterentwicklung und Potenzierung verbindet. Für Schlegel impliziert das auch eine Ermächtigung zur Fremdbestimmung: „Jemanden kritisiren heißt  – s.[eine] Fr[agmente] und s.[eine] Proj.[ekte] bestimmen“, notiert er 1798.13 Solche Kritik bezieht sich nun jedoch nicht nur und nicht einmal primär auf Inhalte, die in Fragmenten diskutiert oder herausgegeben werden, sondern vor allem auch auf das, was das Fragment selbst ist, was es jetzt – und das ist nun eben doch neu – als veritable Kunst- und zugleich Theorieform sein kann und sein soll. Für eine dezidiert kritische Praxis des Fragments war Gotthold Ephraim Lessing Schlegels entscheidendes Vorbild.14 Nicht nur ist Schlegel von Lessings Form des theoretischen Schreibens inspiriert, die insofern fragmentarisch zu nennen ist, als sie Leser:innen durch scheinbar unverbundene Überlegungen, Aporien, unvermittelte Gegensätze, nicht zu Ende geführte Reflexionen und andere Verfahren zum Selbstdenken anregen soll. Von Lessing übernimmt Schlegel darüber hinaus die Verbindung einer fragmentierenden, also unvollständigen und hochselektiven Herausgabe von Werken anderer Autoren mit deren Anonymisierung und mit kritischem Dissens, unter anderem durch selbst verfasste Kommentare, Pro- und Contra-­Argumentationen, die öffentlich provozieren und polemisieren. So hatte Lessing ab 1774 durch mehrere Herausgaben von anonymisierten „Fragmenten“ des Aufklärers Hermann Samuel Reimarus, die Lessing ab 1777 auch durch seine Gegensätze des Herausgebers und verschiedene Verteidigungsschriften ergänzte, den ‚Fragmentenstreit‘ begründet, eine rhetorisch aggressive Auseinandersetzung mit der orthodoxen lutherischen Theologie. Seit den 1770er-Jahren war für die deutschsprachige Öffentlichkeit Fragmentarismus daher mit Polemik und Disput verbunden, mit öffentlichem Streit, der meist über Zeitschriftenbeiträge geführt wurde. Nicht zufällig werden also auch für die frühromantische Fragmentaristik  Justus Fetscher: Fragment. In: Karlheinz Barck u. a. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Bd. 2. Stuttgart, Weimar 2002, S. 551–558, hier S. 556. 13  KFSA 18, S. 48. 14  Für eine eingehende Darstellung und einen Überblick über die Forschung zum Verhältnis Lessing – Schlegel vgl. Fetscher: Fragment, S. 558–561. 12

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Zeitschriften das präferierte Publikationsorgan, das den Ansprüchen der Diagnose und Kritik, der Steuerung und Transformation der eigenen geistigen Gegenwart die­ nen sollte.

2 Die programmatische Konzeption des romantischen Fragments als universale Theorieform bei Friedrich Schlegel Schlegels rezeptionsgeschichtlich wirkmächtige Konzeption des Fragments als universale Theorieform, in der alle möglichen Gegenstände der Kunst, der Philosophie, des Lebens, der Politik und der Wissenschaften behandelt werden (können), hat viele verschiedene Interpretationen gefunden.15 Noch diesseits der Kontroversen einer reichhaltigen Forschung möchte ich mich Schlegels Programmatik hier über drei grundlegende und eng miteinander zusammenhängende Verfahren nähren: (2.1.) Spiel mit begrifflichen Polaritäten – unendliche Kombinatorik und „Wechselsättigung“ (2.2.) Pluralität und Reihenbildung (Begriffe, Fragmente, Subjekte, Zeiten) (2.3.) Multiplikation und Dynamisierung Anders als die zahlreichen poetisch-rhetorischen Verfahrensbegriffe wie z. B. Ironie, Kritik, Allegorie, Witz usw., die Schlegel in verschiedenen Fragmenten der frühromantischen Periode zugleich selbstreflexiv problematisiert und anwendet,16 lassen sich die drei hier aufgeführten Verfahren nicht anhand einzelner Fragmente nachweisen, sondern nur durch den Blick darauf, wie frühromantische Fragmente produziert und publiziert wurden – nämlich en masse. Die Verfahren (2.1.)–(2.3.) sind in den rezeptionsgeschichtlich maßgeblichen frühromantischen Frag­ mentsammlungen Schlegels zudem eher am Rande thematisch. Gerade weil sie für Schlegels Denken in Fragmenten so grundlegend sind, dass sie fast schon selbstverständlich erscheinen mögen, können sie leicht aus dem Blick­feld geraten. Für die Art und Weise, wie frühromantische Fragmente Erkenntnis und Denkprozesse erzeugen und verändern (sollen), sind sie jedoch zentral.

 Für einen knappen Überblick über ebenso prominente wie divergente Lesarten vgl. May Mergenthaler: Fragment. In: Friedrich-Schlegel-Handbuch, S.  306–309, hier 307f. Die folgenden Überlegungen zu Schlegel sind insbesondere informiert von Gerhard Neumann: Ideenparadiese. Untersuchungen zur Aphoristik von Lichtenberg, Novalis, Friedrich Schlegel und Goethe. München 1976, sowie Menninghaus: Unendliche Verdopplung. 16  Für eine umfassendere Analyse der Theorieform des Schlegelschen Fragments müssten die genannten poetischen und rhetorischen Verfahrensbegriffe selbstverständlich mit in den Blick genommen werden. Darauf wurde hier aus Platzgründen verzichtet, auch da die genannten rhetorischen Begriffe in Forschungen, die sich in den letzten Jahrzehnten mit der Frage nach der Theorie(-Form) der Frühromantik bzw. mit der von Schlegel propagierten Untrennbarkeit von Philosophie und Poesie auseinandergesetzt haben, bereits extensiv behandelt worden sind. 15

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2.1 Spiel mit begrifflichen Oppositionen – unendliche Kombinatorik und „Wechselsättigung“ Schlegels frühromantische Fragmente operieren fast immer mit expliziten oder impliziten begrifflichen Oppositionen. Solche Gegensätze sind oft zu scheinbaren Widersprüchen, Aporien oder Paradoxien ausgearbeitet, und sie tragen neben der Kürze und Dichte der einzelnen Fragmente und dem Abstraktionsgrad zeitge­ nössischer philosophischer Termini wesentlich zu dem Eindruck von Un­ver­ständ­ lich­keit bei, der Schlegels Fragmenten oft nachgesagt wurde und der auch so intendiert war. Dies zeigt sich beispielhaft an den untenstehenden bekannten und oft zitierten Fragmenten, die vor allem der Sammlung des Athenaeum entnommen sind. Ich beziehe mich hier vorwiegend auf diese Sammlung, da das darin begriffsverfahrenslogisch prägnant ausgeführte und zugleich selbstreflexiv diskursivierte Fragmentkonzept auch für andere, publizierte und unpublizierte Fragmentsammlungen Schlegels aus der frühromantischen Periode als maßgeblich gelten kann.17 Nach seiner konservativen Wende arbeitet Schlegel zwar weiterhin zu allen ihn beschäftigenden wissenschaftlichen und philosophischen Themen und Gebieten in Fragmenten bzw. fragmentartigen Notizsammlungen, aber er distanziert sich nun von seinem früheren, progressiven und kunst-, prosa- sowie geschichtstheoretisch emphatischen Fragmentprogramm. (Dennoch wäre es interessant, auch die erhaltenen Arbeitshefte der Periode nach 1800 aus praxeologischer und produktionsästhetischer Perspektive eingehender zu erforschen. Auch wenn sich darin vielleicht kein neues Theoriekonzept des Fragments expliziert findet, würde diese Perspektive Rückschlüsse darüber ermöglichen, wie Schlegel de facto wissenspoetisch und wissenstheoretisch mit Fragmenten gearbeitet hat und welches Konzept des Fragments als Theorie- und Wissensform mithin in den späteren Arbeiten implizit ist.) Zum Spiel mit begrifflichen Oppositionen hier nun also die Beispiele aus den frühromantischen Sammlungen: „Viele Werke der Alten sind Fragmente geworden. Viele Werke der Neuern sind es gleich bei der Entstehung.“ (KFSA 2, S. 169) „Ein Fragment muß gleich einem kleinen Kunstwerke von der umgebenden Welt ganz ab­ ge­son­dert und in sich selbst vollendet sein wie ein Igel.“ (KFSA 2, S. 197) „Es ist gleich tödlich für den Geist, ein System zu haben, und keins zu haben. Er wird sich also wohl entschließen müssen, beides zu verbinden.“ (KFSA 2, S. 173) „Auch das größte System ist doch nur Fragment.“ (KFSA 16, S. 163) „Jedes System wächst nur aus Fragmenten.“ (KFSA 16, S. 163) „Ein Dialog ist eine Kette, oder ein Kranz von Fragmenten. Ein Briefwechsel ist ein Dialog in vergrößertem Maßstabe, und Memorabilien sind ein System von Fragmenten. Es gibt noch keins was in Stoff und Form fragmentarisch, zugleich ganz subjektiv und individuell,

 Dies wurde wiederholt gezeigt. Vgl. Eicheldinger: Fragmente und Notizen, S.167; Mergenthaler: Fragment, S. 306f. 17

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R. Villinger und ganz objektiv und wie ein notwendiger Teil im System aller Wissenschaften wäre.“ (KFSA 2, S. 176) „A. Fragmente, sagen Sie, wären die eigentliche Form der Universalphilosophie. An der Form liegt nichts. Was können aber solche Fragmente für die größeste und ernsthafteste An­ ge­ le­ gen­ heit der Menschheit, für die Vervollkommnung der Wissenschaft, leisten und sein? – B. Nichts als ein Lessingsches Salz gegen die geistige Fäulnis, vielleicht eine zynische lanx satura im Styl des alten Lucilius oder Horaz, oder gar fermenta cognitionis zur kritischen Philosophie, Randglossen zu dem Text des Zeitalters.“ (KFSA 2, S. 209 [Friedrich Schlegel zusammen mit A.W. Schlegel, Anm. R.V.]) „Universalität ist Wechselsättigung aller Formen und aller Stoffe. Zur Harmonie gelangt sie nur durch die Verbindung der Poesie und Philosophie: auch den universellsten vollendetsten Werken der isolierten Poesie und Philosophie scheint die letzte Synthese zu fehlen; dicht am Ziel der Harmonie bleiben sie unvollendet stehn [...].“ (KFSA 2, S. 255)

Liest man diese Fragmente zusammen, so scheint ein Fragment einerseits als das Gegenteil eines vollendeten Werks, andererseits aber auch als in sich vollendetes Werk bestimmt zu werden; ebenso ist das Fragment einerseits das Gegenteil eines Systems, zugleich ist aber „das größte System [...] nur Fragment“, also kann doch, wie es scheint, auch ein Fragment oder zumindest eine Fragmentsammlung bereits ein System sein. So geht es auch mit anderen polaren Begriffspaaren, die in Schlegels Fragmentsammlungen reihenweise gebildet werden. Um nur an einige der bekanntesten dieser Paare zu erinnern: die Alten (Antiken) – die Neuen (Modernen) Fragment – Werk Unvollendetes – Vollendung Chaos – System Fragment – System Teil – System Teil – Ganzes Endliches – Unendliches (Absolutes) subjektiv – objektiv Individualität – Universalität Begrenztes – Unbegrenztes real – ideal Prosa – Poesie Philosophie – Poesie Natur – Kunst Entscheidend für das Spiel der Begriffe, das in Schlegels frühromantischen Fragmentsammlungen entfaltet wird, ist das Mehrfachvorkommen von Termini in je a­ nderen polaren Oppositionen und Verbindungen. Wie sich schon an der Zu­sam­ men­stel­lung der wenigen hier beispielhaft gelisteten Begriffspaare zeigt, ergibt sich so aus verschiedenen Bezügen, aus Substitutionen und Kombinationsmöglichkeiten

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der Begriffe durcheinander und untereinander eine Begriffsdynamik universaler Wechselbestimmung und „Wechselsättigung“,18 die vor allem zwei Effekte hat: ers­ tens universale Vernetzung und zweitens das implizite Enthaltensein von Begriffen in anderen Begriffen.19

2.2 Pluralität und Reihenbildung (Begriffe, Fragmente, Subjekte, Zeiten) Das führt unmittelbar auf das zweite zentrale Verfahren, das genauer betrachtet kein Verfahren ‚des‘ romantischen Fragments (im Singular), sondern ein Verfahren romantischer Fragmente (im Plural) bzw. romantischer Fragmentsammlungen ist. Denn die Begriffsbeziehungen, Aporien und Denkmöglichkeiten, die Fragmente nach Schlegels Programmatik eröffnen sollen, werden in keinem einzelnen Frag­ ment logisch-schließend deduziert, sondern ergeben sich erst aus der jeweiligen vom Herausgeber stets äußerst bewusst vorgenommenen Zusammenstellung vieler Fragmente. Obwohl oder vielleicht gerade weil Schlegel die „Einheit [...] des Fragments“ durchaus als „Individualität“ und in Analogie zum menschlichen In­di­vi­ du­um als „Mikrokosmos“ denkt (der in je individueller Beziehung zum „Uni­ver­ sum“ charakterisiert werden muss),20 wirken seine (und nicht nur seine) Fragmente alleinstehend rätselhaft verschlossen, thetisch oder unverständlich. So wie Menschen soziale Wesen sind, entfalten frühromantische Fragmente ihr Leben erst in der Mehrzahl oder im Plural, in der Beziehung des einzelnen zu allen anderen Tei­ len einer romantischen Fragmentsammlung, die Hardenberg im kritischen ­Anschluss

 Fasst man begriffliche Wechselbestimmungen und ‚Wechselsättigungen‘ als theoretische Entsprechungen von materiellen Wechselwirkungen, so rückt hier schon eine romantische Formel des Ökologischen in den Blick, auf die unten bei Hardenberg zurückzukommen sein wird. Zur Zentralität der Denkfiguren der Wechselwirkung und Wechselseitigkeit in der Theoriebildung um 1800 vgl. Roland Borgards: „Ich erwachte zu einem süsen Leben im Schoos duftiger Büsche“. Literarische Autoökographien bei Karoline von Günderrode. In: Roland Borgards, Frederike Middelhoff, Barbara Thums (Hg.): Romantische Ökologien. Vielfältige Naturen um 1800. Berlin 2023, S. 105–125, hier S. 110. 19  Vgl. ähnlich anhand von zu Lebzeiten unveröffentlichten Fragmenten und Notizen aus Arbeitsheften vor 1800, aus deren reichem Materialbestand Schlegel seine Lyceums- und Athenaeums-­ Fragmente destillierte, Peter Szondi: Friedrich Schlegels Theorie der Dichtarten. Versuch einer Rekonstruktion aufgrund der Fragmente aus dem Nachlaß. In: Euphorion 64 (1970), S.  181–199 sowie Mirco Limpinsel: Diaskeuasen des Geistes. Perspektiven auf den philologischen Gegenstand bei Friedrich Schlegel, Wolf, Ast und Boeckh. In: Ulrich Breuer, Remigius Bunia, Armin Erlinghagen (Hg.): Friedrich Schlegel und die Philologie. Paderborn u.  a. 2013, S.  145–164, hier S. 151. 20  Vgl. KFSA 18, S. 69. 18

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an Schlegels Ausdruck „bunter Haufen“21 daher als „Gesellschaft“22 bezeichnet hat. Während auch Fragmentsammlungen wie Fließtexte gelesen werden und wurden, ermöglicht erst das Diskontinuierliche in der Form solcher Sammlungen – die laufende Unterbrechung, der Zwischenraum zwischen den Teilen, der kontinuierliche Neuansatz kleiner, in sich inhaltlich ‚igelhaft‘ abgeschlossener und ‚vollendeter‘ Textblöcke  – eine durchgängige Verbindung von irreduzibler Einzelheit und Individualität mit einer nie abgeschlossenen, aber überall eröffneten Demonstration von Universalität. Dieser Zug zur Universalität tritt jedoch erst dann stark heraus, wenn man viele Fragmente beisammen hat (so wie auch eine politische De­mons­tra­ ti­on erst dann wirklich Macht entfaltet, wenn viele kommen). Wie Schlegel in Brie­ fen aus der Zeit der Planung des Athenaeum schreibt: „Die Menge muss es ma­ chen“23 – und es geht um „die größte Masse von Gedanken in dem kleinsten Raum“.24 Man muss sich also die Menge von Fragmenten und damit die Masse von möglichen Denk- und Stoffverbindungen vor Augen führen, die Schlegel vorschwebte. Diesen Anspruch setzte er zumindest teilweise um; allein die Sammlung der Athenaeums-­Fragmente besteht immerhin aus 451 Fragmenten. Aus dem Gesagten folgt aber noch mehr als nur die Tatsache, dass jedes Fragment andere Fragmente um sich braucht, um seinen Sinn oder Unsinn zu entfalten. Denn Schlegels Theorie des Fragments – die Theorie, die in Fragmenten transportiert wird (d. h. die Theorie der romantischen Poesie, des Absoluten, der Kritik, der literarischen Gattungen, der Liebe, der Ehe usw.) und die Theorie dessen, was das romantische Fragment selbst als sprachlich-generative Denkform ist oder sein soll – diese Theorie gibt es nirgendwo fertig ausgeschrieben, in einem materiell vollständigen Text. Es gibt sie nicht, weil es sie in dieser Form nicht geben kann. Es gäbe sie auch dann nicht, wenn man alle von Schlegel oder sogar alle von frühromantischen Autor:innen faktisch geschriebenen Fragmente zusammennähme. Denn es ist eine Theorie, die not­wen­dig Leser:innen braucht, eben weil sie erst durch Assoziationen, Verbindungen, Zusammenhänge oder bemerkte Widersprüche zwischen Fragmenten, die durch viele wirkliche und vor allem durch unendlich viele mögliche Leser:innen in der Gegenwart und Zukunft geistig vollzogen und expliziert werden können, ge­schrie­ben und vollendet werden könnte. In den Worten des Athenaeums-Fragment 238: Diese Theorie existiert nur im „Verhältnis des Idealen und des Realen“.25 Schlegels frühromantische Fragmente sind mithin so angelegt und verfasst, dass sie gelesen, interpretiert, kritisiert und vervollständigt werden müssen, und außerdem so, dass es potenziell unendlich viele Möglichkeiten gibt, sie zu lesen und zu vervollständigen.

 KFSA 2, S. 156.  HKA 2, S. 456. Vgl. zu Hardenbergs Absetzung von Schlegel (in diesem Punkt) Strack: „Fermenta cognitionis“, S. 352f. 23  KFSA 24, S. 88. 24  KFSA 24, S. 111. 25  KFSA 2, S. 204. 21 22

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2.3 Multiplikation und Dynamisierung Daraus ergibt sich drittens die Dynamisierung der Theorie nach Schlegel, die sich ständig verändert, ja eigentlich nur in der Veränderung oder, wie Schlegel sagt, in der Form des ‚ewigen Werdens‘ existiert.26 So wie das schriftliche Verfassen von Fragmenten faktisch immer schon auf der Lektüre, der Interpretation und Kritik von vorliegenden Texten aus der Vergangenheit oder Gegenwart beruht und sich mithin stets auf andere Texte implizit oder explizit rückbezieht, so ist jedes Lesen von Fragmenten immer schon ein Schreibakt, d. h. ein produktiver Akt, der sie verändert und ergänzt. Zur Pluralität der Fragmente und der in ihnen verwendeten Begriffe kommt mithin auch eine Multiplikation der Subjekte, der Autorschaft und damit eine Dynamisierung, die vor allem zeitkritisch, also kulturell und politisch zu ver­ ste­hen ist. Schlegels Fragmente sind in diesem Sinne auch Zeitenverwandler und sogar Zeitenbeschleuniger  – „Treibstoff der Progression“, wie Fetscher treffend schreibt, da sie „Kritik provozieren, die ihnen ihre Fortverwandlung in der Zukunft sichert und damit diese selbst heranbringt.“27 All das mag heute aus literaturtheoretisch informierter Sicht selbstverständlich erscheinen. Die frühromantischen Fragmentsammlungen Schlegels, allen voran die Fragmente des Athenaeum, thematisieren diese genuin modernen Erkenntnisse jedoch nicht nur, sie führen das Gesagte durch ihren Umgang mit Begriffen auch de­ zi­diert und systematisch vor. Erst dadurch haben sie in einem zeitgenössischen Kontext, in dem Philosophie und Wissenschaften noch selbstbewusst auf Uni­ver­sa­ li­tät und bestimmte Totalität zielten, das kritische Bewusstsein dafür geweckt, dass jeder Text Fragment eines unendlichen Gesprächs ist.

3 Das Fragment als Arbeitsform und die generative Form des Fragments bei Hardenberg Grundlegende Theorie-Formverfahren der Fragmente Schlegels finden auch in den Fragmentsammlungen Hardenbergs Anwendung. Auch aufgrund weiterer Gemeinsamkeiten im Hinblick auf die Art und Weise der Fragmentproduktion (s. u.) ist es auf den ersten Blick nicht einfach, einen Unterschied zwischen den Fragmentaristiken der beiden Freunde zu benennen; dies gilt insbesondere im Hinblick auf das Fragment als Medium des begrifflichen Denkens und Erkennens sowie als Mit-

 Vgl. KFSA 2, S. 183: „Die romantische Dichtart ist noch im Werden; ja das ist ihr eigentliches Wesen, daß sie ewig nur werden, nie vollendet sein kann.“ 27  Fetscher: Fragment, S. 552. 26

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teilungsform des Wissens.28 Immerhin gibt es eine erhaltene Kritik der ­Athenaeums-­Fragmente von Hardenberg, aus der deutlich wird, dass er Schlegels Spiel mit der Unverständlichkeit ablehnt und darüber hinaus eine ganze Reihe von Fragmenten als solche, d. h. im Hinblick auf die Form und den Begriff ‚Fragment‘, für misslungen hält, was zumindest ein eigenes Fragmentkonzept auch auf Hardenbergs Seite implizieren würde.29 Im Folgenden möchte ich mich einer möglichen Differenz und Spezifik des Hardenbergschen Ansatzes, der nicht im gleichen Maße programmatisch expliziert ist wie derjenige Schlegels, durch die Analyse von schriftsprachlichen Eigenheiten nähren. Auch mit dieser Vorgehensweise stößt man jedoch zunächst auf Probleme. Zuallererst ist nur wenig darüber vermutbar, wie für die Öffentlichkeit bestimmte Fragmentsammlungen nach Hardenberg in letztgültiger Form hätten aussehen sol­ len. Erstens liegen nur zwei Fragmentsammlungen vor, die zu Lebzeiten publiziert worden sind (Blüthenstaub und Glauben und Liebe, beide 1798). Zudem wurden diese Sammlungen beide von Schlegel zur Publikation gebracht und in diesem Zuge weitreichend bearbeitet, ergänzt oder verändert. Dazu kommt, dass das letzte von Hardenberg autorisierte Manuskript der späteren Blüthenstaub-Sammlung  – der wohl bekanntesten frühromantischen Fragmentsammlung nach den Athenaeums-­ Fragmenten –, das Hardenberg am 24. Februar 1798 an August Wilhelm Schlegel mit der Freigabe zur Publikation im Athenaeum schickte, nicht erhalten ist.30 Umso interessanter sind die auffälligen Differenzen zwischen der publizierten Blüthenstaub-Fassung und ihrer erhaltenen Urfassung mit dem Titel Vermischte Bemerkungen, die auf redaktionelle Eingriffe des Herausgebers Schlegel aber auch auf Hardenberg selbst (also auf die verlorene Reinschrift des an die Schlegels geschickten Manuskripts) zurückgehen können.31 Dasjenige, was in nahezu allen Fragmenten des Blüthenstaub konsequent herausredigiert ist, sind schriftbildlich  Strack unterscheidet Hardenbergs Fragmentkonzeption als „organisch-hermeneutische“ vom „bewusst chaotische[n]“ Fragmentprogramm Schlegels, ohne dies für Hardenberg jedoch genauer zu begründen. Vgl. Strack: „Fermenta cognitionis“, S. 347. Wie Striedter: Präfigurationen, und Lothar Pikulik: Frühromantik. Epoche – Werk – Wirkung. München 1992, konzentriert er sich in seinen Ausführungen zum Fragment bei Hardenberg zudem auf den Übergang zur epischen und lyrischen Dichtung und verlässt mithin die Frage, was die Form der Theorie- und Wissensproduktion in Fragmenten bei Hardenberg von derjenigen Schlegels unterscheidet. 29  Vgl. HKA 2, S. 623f. 30  Als Hintergrund ist an Folgendes zu erinnern: Schlegel bittet Freunde und Familie um Fragment-­ Beiträge für die Publikation der Athenaeums-Fragmente, die er gleichsam als Ouvertüre im ersten Stück des ersten Bandes der von ihm zusammen mit seinem Bruder neu gegründeten Zeitschrift publizieren wollte. So bekommt er unter anderem das besagte Manuskript von Hardenberg. Die Lektüre muss ihn beeindruckt haben, denn nun schlägt er seinem Bruder plötzlich vor, Hardenbergs Fragmentsammlung geschlossen für sich im ersten Stück des Athenaeums zu drucken. So erscheint Blüthenstaub unter dem Pseudonym Novalis im Mai 1798, während die Publikation der eigentlichen Athenaeums-Fragmente zurückgestellt wird für das zweite Stück des ersten Bands der Zeitschrift im Juli 1798. Für letztere Publikation entnahm Schlegel dem Manuskript Hardenbergs insgesamt 13 Fragmente, während er umgekehrt der Blüthenstaub-Sammlung vier eigens verfasste Fragmente hinzufügte. 31  Vgl. dazu Richard Samuel: Einleitung. In: HKA 2, S. 399–411, hier S. 400–403. 28

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meist deutlich sichtbare Eigenarten wie gehäuft vorkommende Gedankenstriche, Unterstreichungen (im Folgenden entsprechend den Konventionen der kritischen Ausgabe kursiv wiedergegeben), eine bestimmte, unterbrechende Setzung von Kommata und andere Besonderheiten, die die Texte der Vermischten Bemerkungen rhythmisieren, auf idiosynkratische Weise akzentuieren sowie oft grammatisch un­ voll­stän­dig wirken lassen. Typische Beispiele sind: „Der wahre Brief ist, seiner Natur nach, poetisch.“ (Vermischte Bemerkungen)32 „Der wahre Brief ist seiner Natur nach poetisch.“ (Blüthenstaub)33 „Unsere Sprache ist entweder – mechanisch – atomistisch – oder dynamisch. Die ächt poetische Sprache soll aber organisch Lebendig seyn. Wie oft fühlt man die Armuth an Worten – um mehrere Ideen mit Einem Schlage zu treffen.“ (Vermischte Bemerkungen)34 „Unsere Sprache ist entweder mechanisch, atomistisch, oder dynamisch. Die ächt poetische Sprache soll aber organisch, lebendig seyn. Wie oft fühlt man die Armuth an Worten, um mehre Ideen mit Einem Schlage zu treffen.“ (Blüthenstaub)35

Es ist wie gesagt nicht klar, auf wen diese Differenzen zurückgehen. Auch Hardenberg selbst könnte sie in der Reinschrift vorgenommen haben (insbesondere die Tilgung von Unterstreichungen, die mutmaßlich für den eigenen Gebrauch notizartig angelegter Texte intendiert waren). Nichtsdestoweniger bleibt festzuhalten, dass in der Blüthenstaub-Fassung gerade dasjenige geglättet und gekittet wurde, was in konkret schriftsprachlicher und formaler Hinsicht als das genuin Fragmentarische der Vermischten Bemerkungen beschreibbar wäre – das Idiosynkratische und grammatisch-stilistisch Unvollständige, Unvollendete, Bruchstückhafte oder Abgebrochene, das noch fast jedes Textstück der Urfassung kennzeichnet. Dazu kommt nun Folgendes: Neben den vergleichsweise wenigen, in ihrer pu­ blizierten Fassung maßgeblich von Schlegel geformten Fragmenten liegen von Hardenberg Hunderte von Seiten philosophischer und wissenschaftlicher Studien, Notizen, Vorarbeiten zu weiteren Fragmentsammlungen und Vorarbeiten bzw. Materialien zu einem enzyklopädistischen Buchprojekt vor. Ich folge den Herausgebern der historisch-kritischen Ausgabe der Schriften von Hardenberg, ins­be­son­ de­re Hans-Joachim Mähl, wenn er nachdrücklich betont, dass diese zu Lebzeiten nicht publizierten theoretischen Schriften, die sich in formaler Hinsicht größtenteils sehr ähneln, nicht  – wie es unter anderem aus editionsgeschichtlichen Gründen lange Zeit Usus war – allesamt unterschiedslos als „Fragmente“ bezeichnet werden sollten,36 auch wenn die meisten dieser verschiedenen Kleintextformen sehr ‚frag­ men­ta­risch‘ aussehen (und im werkgeschichtlichen Sinn auch wirklich alle Frag­ ment geblieben sind). Gerade in den Vorarbeiten zu seinem Enzyklopädie-Projekt finden sich Hinweise darauf, dass das Buch, das Novalis vorschwebte, völlig anders

 HKA 2, S. 434.  HKA 2, S. 435. 34  HKA 2, S. 440. 35  HKA 2, S. 441. 36  Vgl. Hans-Joachim Mähl: Einleitung. In: HKA 3, S. IX–XLIII, hier: S. XXXIX–XLIII. 32 33

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ausgesehen hätte als eine Fragmentsammlung beispielsweise in der Art der Vermischten Bemerkungen. Auch kann man davon ausgehen, dass Hardenberg die nachgelassenen Texte, die tatsächlich als Vorarbeiten zu geplanten Fragmentsammlungen identifiziert werden können, vor einer Publikation noch einmal über­ ar­bei­tet hätte. Zugleich zeigen sich aber im Hinblick auf Inhalte und vor allem im Hinblick auf die konkrete schriftsprachliche Verfasstheit der verschiedenen Studien, Vorarbeiten und auch der Materialien zur Enzyklopädistik einige prägnante Eigenheiten, die für nahezu alle theoretischen Schriften Hardenbergs charakteristisch sind und die eine fragmentaristische Arbeits- und Schreibform sui generis erkennen lassen. Möchte man über das Fragment bei Hardenberg sprechen, so kann man diese Tatsache kaum ignorieren. In vorliegendem Beitrag wird sie deshalb mit den wenigen expliziten Äußerungen Hardenbergs über die Gattung Fragment zusammen in den Blick genommen. Beides zusammen lässt einen praktischen Begriff des Fragments bei Hardenberg erkennbar werden, um den es mir im Folgenden aus­ schließlich gehen wird, und der das Fragment nicht als eine spezifische, wohldefinierte Gattung neben anderen literarischen Gattungen (wie z. B. Brief, Gedicht, Drama u. a.) meint, sondern als eine keimhafte, vorläufige Form des Schreibens, die potentiell alle möglichen Formen, Gattungen und Gehalte in sich enthalten kann. In diesem Sinne können dann auch die Kürzesttexte aus den Vorarbeiten zum En­zy­klo­ pä­die-Projekt zu Hardenbergs Fragmentaristik gezählt werden.37 Im Kontext einer Überarbeitung von Texten aus der ersten Hälfte des Jahres 1798, die er zum Teil später in „eine Sammlung von neuen Fragmenten aufnehmen“ wollte, schreibt Hardenberg:38 „Als Fragment erscheint das Unvollkommene noch am Erträglichsten – und also ist diese Form der Mittheilung dem zu empfehlen, der noch nicht im Ganzen fertig ist – und doch einzelne Merckwürdige Ansichten zu geben hat.“39

Hier wird die Gattung Fragment als Vehikel öffentlicher „Mittheilung“ unvollkommener Ansichten zunächst einmal negativ charakterisiert. Fragmente sind schlicht die „Erträglichste[]“ Form des „Unvollkommene[n]“. Auch an anderen Stellen, an denen Hardenberg über Fragmente reflektiert, klingt der Charakter des Unvollkommenen im Sinne eines ‚noch nicht Fertigen‘, eines Vorläufigen oder noch weiter zu Entwickelnden an – so spricht er in einem Brief an Schlegel vom 26. De­zem­ber 1797 von „Vorübungen“40 und genau ein Jahr später in einem oft zitierten Brief an den Amtmann  In diesem Sinne schreibt Ingrid Kleeberg über Hardenbergs Enzyklopädistik: „Die potenzielle Gestaltbarkeit in allen möglichen Gattungen muss deshalb offen gehalten werden, um jede einzelne Aufzeichnungen als ‚Ideen- und Gattungskeim‘ bzw. als Fragment der unterschiedlichsten formalen Ausgestaltungen verstehbar zu machen. Anders gesagt dürfte der Plan der formalen Gestaltung deshalb weniger darin bestanden haben, ein Werk in der Gattung des Fragments zu schreiben, sondern alle diese Gattungen als Fragmente im Werk anzulegen.“ (Ingrid Kleeberg: Eine Urform aller Gattung. Novalis’ Allgemeines Brouillon als System des assoziierenden Geistes. In: Michael Bies, Michael Gamper, Ingrid Kleeberg (Hg.): Gattungs-Wissen. Wissenspoetologie und literarische Form. Göttingen 2013, S. 138–162, hier S. 146f.) 38  HKA 4, S. 251. 39  HKA 2, S. 595. 40  HKA 4, S. 242. 37

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Just vom „nur transitorischen Werth“41 vieler seiner Blüthenstaub-Fragmente. Insofern also das Fragment als solches etwas ­Projektformartiges, Unfertiges und intrinsisch Unvollkommenes ist, können sich als ‚Werk‘ publizierte Fragmentsammlungen für Hardenberg von seinen zahllosen Vor­ar­bei­ten zu Fragmentsammlu­ngen nur graduell unterscheiden. In dieser Hinsicht wären die Vorarbeiten ja sogar ‚noch mehr‘ Fragment, als es spätere überarbeitete und publizierte Fassungen je sein könnten – denn ihnen eignete nach Obigem eine Potenzierung des Negativen (Unvollkommenen), die, wie in der Folge deutlich wer­den wird, jedoch selbst nicht negativ zu bewerten ist. Gerade als Unfertiges oder noch Unentwickeltes hat das Fragment eine positive Seite, die sich zeigt im Ausdruck „litterarische Sämereyen“, mit dem das oft zitierte Fragment 104 der Vermischten Bemerkungen bzw. das Fragment 114  in der Blüthenstaub-­Fassung selbstreflexiv auf sich und die es umgebenden Fragmente Bezug nimmt. Die große Hoffnung, die das Bild der Samenkörner transportiert und die im letzten Satz emphatisch angedeutet wird – „Es mag freylich manches taube Körnchen darunter seyn – indessen, wenn nur einiges aufgeht!“42 – liegt in dem, was aus solch unscheinbaren Körnchen in der Zukunft alles entstehen kann. (Wie bei Schlegel gilt, dass Fragmente nur in der Mehrzahl zu dieser Hoffnung Anlass geben.) Dass zu Fragmenten jedenfalls ein generativ-poietischer Aspekt gehören sollte, wodurch sie viel Weiteres hervorbringen und mithin zukunftsbildend sein sollen, macht auch Hardenbergs Kritik an Schlegels berühmtem Athenaeums-­ Fragment 116 deutlich. Hardenberg schreibt dazu kurz und lapidar, es sei „nicht ge­ ne­tisch  – oder generirend“.43 Weiter zeigt sich die Zentralität eines generativ-­ poietischen Potentials als positive Kehrseite der negativ gedachten Un­voll­kom­men­ heit des Fragments in der bereits erwähnten Antwort Hardenbergs an den Amtmann Just vom 26. Dezember 1798. Just hatte Hardenberg von seiner intensiven Lektüre der gerade publizierten Fragmentsammlung berichtet, woraufhin dieser erwidert: „Es freut mich, wenn meine abgerissenen Gedanken Ihnen einige beschäftigte Stunden ge­ macht haben – wenn sie Ihnen gewesen sind, was sie mir waren, und noch sind, Anfänge interessanter Gedankenfolgen – Texte zum Denken.“44

Nach dieser in der Forschung häufig unvollständig zitierten Selbstauskunft Hardenbergs sind seine Fragmente „Anfänge“ von „Gedankenfolgen“, Texte, die das Potential haben, weiteres „Denken“ und mithin viele weitere beschäftigte Stun­den der aktiven Auseinandersetzung mit darin Behandeltem nach sich zu ziehen. Wichtig ist hier der Hinweis auf die wiederholte Selbstlektüre, der in den bisherigen Diskussionen dieser Briefstelle meist übergangen wurde. Zieht man ihn hinzu, deutet der Brief auf eine Kontinuität zwischen den zahllosen unveröffentlichten Fragmenten bzw. fragmentartigen Texten, die Hardenberg teils schon mehrfach über­ar­bei­tet hatte und vor allem noch weiter überarbeiten wollte, und den wenigen zur Veröffentlichung frei gegebenen Fragmenten: Texte aus beiden Gruppen sind und bleiben auch künftig produktive Arbeitsmedien, weil sie  HKA 4, S. 270f.  HKA 2, S. 463. 43  HKA 2, S. 623. 44  HKA 4, S. 270. 41 42

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qua fragmentarischer Form Generatoren von (potentiell unendlich) viel weiterem Denken, Erkennen und ­Wissen sind – und zwar zuallererst für den Autor selbst: „Bruchstücke des fortlaufenden Selbstgesprächs in mir“ nennt sie Hardenberg an anderer Stelle explizit.45 Zudem zeigen die Ausdrücke ‚abgerissene Gedanken‘ und ‚Bruchstücke‘ an, dass der älteste Sinn des Wortes ‚Fragment‘ als abgebrochenes Reststück eines größeren (verlorenen und/oder erst noch zu erreichenden) Zusammenhangs oder Ganzen ge­ra­de für die generative Funktion des Hardenbergschen Fragments zentral ist.46 Diese Beobachtung bestätigt sich bei genauerer Betrachtung von Beispielen. Ge­ ra­de weil Hardenbergs Nachlasstexte nämlich meist auch in grammatischer und schriftsprachlich-materieller Hinsicht (z. B. durch Abkürzungen von Worten) ‚ab­ ge­bro­chen‘ oder ‚abgerissen‘ erscheinen, enthalten sie schon in ihrem Stadium der Vorarbeit viele Möglichkeiten, sie zu bestimmten Formen, Erkenntnissen und Wissenssätzen zu vervollständigen. So im folgenden Anfang eines Fragments aus einer Vorarbeit von 1798: „Der Akt des sich selbst Überspringens ist überall der höchste – der Urpunct – die Genesis des Lebens.“47 Durch zwei Gedankenstriche an der Stelle von fehlenden Prädikaten werden in diesem Fragment – ähnlich wie in zahllosen weiteren Kürzesttexten Hardenbergs – mehrere mögliche vollständige Sätze in eine grammatisch verkürzte, gleichsam abgebrochene Form zusammengezogen.48 Ausbuchstabiert könnte man zum Beispiel folgende Sätze in der zitierten Passage lesen: 1. Der Akt des sich selbst Überspringens ist überall der höchste des Lebens. 2. Der Akt des sich selbst Überspringens ist überall der Urpunct des Lebens. 3. Der Akt des sich selbst Überspringens ist überall die Genesis des Lebens. 4. Der Akt des sich selbst Überspringens ist überall der höchste; während der Urpunct die Genesis des Lebens ist. Darüber hinaus sind auch noch andere in der Kurzformel enthaltene Sätze bzw. Satzkombinationen denkbar. Durch die Verkürzung von vollständigen Aussagesätzen, die zu den zentralen Mit­teln der Schreib- und Denkweise Hardenbergs gehört, erhält das Fragment eine semantische Unbestimmtheit und Offenheit, die verschiedene Auslegungen und Anschlüsse denkbar macht und damit zugleich die im Fragment potenziell enthaltenen Bedeutungen, Erkenntnisse und Wissenssätze vervielfältigt. Diese lassen sich häu­fig zugleich als Formulierung von Gegensätzen,  HKA 4, S. 242.  Zwei weitere Denkmöglichkeiten des Verhältnisses von Fragment und Totalität unterscheiden Lucien Dällenbach und Christiaan L. Hart Nibbrig: 1. Das Fragment als Teil einer fraglos und vollständig gegebenen Ganzheit und 2. Das Fragment als Setzung eines absoluten Hiatus zwischen Fragment und Totalität; sprich als Setzung, die sich der Einordnung in eine oder Subsumption unter eine Totalität verweigert. Vgl. Lucien Dällenbach, Christiaan L. Hart Nibbrig: Fragmentarisches Vorwort. In: Lucien Dällenbach, Christiaan L. Hart Nibbrig (Hg.): Fragment und Totalität. Frankfurt a.M. 1984, S. 7–17, hier S. 14–15. 47  HKA 2, S. 556. 48  Zur folgenden Lektüre des Gedankenstrichs vgl. ausführlicher Rahel Villinger: Gedankenstriche. Theorie und Poesie bei Novalis. In: DVjs 86 (2012), S. 547–577. 45 46

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Parallelismen, Gleichungen, Analogien oder auch Assoziationsfolgen lesen; sie verdichten also höchst ökonomisch immer mehrere grammatisch-logische Lesbarkeiten in Einem. Zugleich wirkt der bei Hardenberg extrem häufig eingesetzte Gedankenstrich hier wie meist auch sonst rhythmisch strukturierend und akzentuierend. Er markiert gleichsam ein Atemholen, ein Innehalten, vielleicht ein Zögern oder Nachdenken, vielleicht aber auch ein Staunen nach „der Höchste“ – und noch einmal nach „der Urpunct“ –, um dann umso mehr Emphase auf das zu legen, was folgt: „Genesis des Lebens“. Akzentsetzung nach dem Gedankenstrich ist ebenfalls typisch für Hardenberg. So ist hier, wie in sehr vielen anderen Handschriften, das, was nach dem letzten Gedankenstrich steht, unterstrichen. Der Gedankenstrich als unbestimmte Leer­ stel­le, als Offenheit und Atemholen könnte insofern auch selbst als generativer „Urpunct“ von Bewusstsein und Erkenntnis gelesen werden. Im Lesefluss wirkt die grammatische Verkürzung, assoziative Verdichtung und durchgängige Rhythmisierung von Sätzen bei Hardenberg zudem dynamisierend. Aufgrund der extremen Gleichförmigkeit der Kürzesttexte können diese immer schneller gelesen, d. h.: die in ihnen angelegten Verbindungsoptionen können nach einer gewissen Einübung in die durch die schriftliche Verfasstheit nahegelegte(n) Lesart(en) mental gleichsam ‚blitzartig‘ registriert und eingeordnet werden. So wird bei Hardenberg gleich ein doppelter „Akt des sich selbst Überspringens“ in der Erkenntnis- und Wissensproduktion generiert; ein Akt, der nicht nur das, was zu beiden Seiten eines Gedankenstrichs steht, sprunghaft, ohne logische Ableitung oder erklärende Begründung, verbindet, sondern eine solche sprunghafte, also nicht deduktive, nicht diskursiv erklärende Ableitung und Verbindung von Elementen auch durch assoziative Übertragungen von Fragment zu Fragment vollzieht. Wie Ingrid Kleeberg gezeigt hat, arbeitet Hardenberg insbesondere im Enzyklopädie-Projekt mit Theorien der Ideenassoziation des 18. Jahrhunderts, denen zufolge die assoziative Art des Übergangs von einer Idee zur anderen keineswegs ‚bloß‘ subjektiv und unsystematisch erfolgt, sondern nach ganz bestimmten, auch unbewusst immer schon ablaufenden und allen Denkoperationen zugrunde liegenden Naturgesetzen des Geistes (gemäß Prinzipien der Ähnlichkeit, Kontiguität und Kausalität).49 Das aber würde darauf hindeuten, dass Hardenberg durch bestimmte Schreibweisen ver­ sucht hat, erstens die unbewusst ohnehin immer schon aktiven Assoziationsverfahren des Geistes bewusst zu reflektieren (also auch eine Lehre über die Art und Weise des sinnlich basierten Erkenntnisvollzugs und Wissenserwerbs zu schreiben) und zweitens jene normalerweise sinnlich-unbewussten Assoziationsverfahren in ihrer Wirksamkeit und Effizienz dadurch zu potenzieren, dass ihre Gesetze nun auch auf der Ebene des bewussten Verstandesdenkens (durch Begriffe) Einzug hal­ ten und es formieren.50 Betrachtet man Hardenbergs Fragmentaristik vor diesem  Vgl. Kleeberg: Eine Urform aller Gattung.  Kleeberg beschreibt die Hardenbergs Enzyklopädistik als eine „umfassende Poetik des Geistes“ (Kleeberg: Eine Urform aller Gattung, S. 157), d. h. zugleich als praktisches Projekt der Wissensbildung und als Darstellung einer „Kombinations- und Bildungslehre [der Intelligenz]“ (Kleeberg: Eine Urform aller Gattung, S. 145).

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Hintergrund, so zielt sie auf eine Denk- und Erkenntnisbeschleunigung sowie eine – im Hinblick auf zu trennende und zu verbindende Stoffe und Gehalte – hochgradige Ökonomik und Dynamisierung der Wissensentwicklung und -verbreitung, die so­ wohl gemäß dem theoretischen Selbstverständnis der Zeit (der geltenden Annahme universaler Gesetze der Ideenassoziation) als auch im Hinblick auf den habitualisierenden Effekt strukturell extrem gleichförmig verfasster Texte gerade nicht als un­ sys­te­ma­tisch, willkürlich, zufällig oder gesetzlos zu bezeichnen sind.

4 Sinnliche Präfiguration der Erkenntnis und Fragmentaristik als Kunst der zweiten Natur Verbindet man die obigen Beobachtungen über die Form zahlloser theoretischer Schriften aus Hardenbergs Nachlass mit der Tatsache, dass Hardenberg seine Fragmente explizit als Medien einer fortgesetzten und fortzusetzenden Denkarbeit begreift, so zeichnen sich mindestens zwei (intrinsisch verbundene) Spezifika und graduelle Differenzen zu Schlegels bewusst-programmatisch gesetzter Fragmentkonzeption ab: erstens eine durchgängige Präfiguration eines unbestimmten aber doch systematischen Zusammenhangs von zu vollziehenden Erkenntnisakten im einzelnen Fragment und im Sprung von Fragment zu Fragment (und d.  h. dann auch: von Wissensgebiet zu Wissensgebiet) sowie zweitens die Bildung des lesenden und schreibenden Subjekts zur ‚höheren‘ Fähigkeit beschleunigter und potenzierter Erkenntnisvollzüge (mehrere in einem Fragment verdichtete Lesbarkeiten gleichzeitig im Blick behalten zu können). Wenn Fragmente nach Schlegel durch dezidierte Brüche und absichtliches Chaos so angelegt sind, dass sie vervollständigt – interpretiert, kritisiert, potenziert oder depotenziert – werden müssen, so heißt das: Das Fragment muss von anderen (an­ deren Leser:innen als dem Verfasser oder Herausgeber selbst) zu etwas anderem in Beziehung gesetzt werden, das im materiellen Text noch nicht selbst auf bestimmte Weise ausgeführt und festgelegt ist. Dabei geht es immer auch um eine Trans­zen­ denz des Fragments, des Texts, der Schrift. Grundsätzlich gilt das für Sammlungen wie die Athenaeums-Fragmente ebenso wie für Hardenbergs Fragmentsammlungen und selbstredend auch für andere (fragmentarische) Texte. In Hardenbergs Arbeitsheften scheinen aber zugleich sehr bewusst bestimmte Weisen der Ausführung, der Lektüre und Interpretation hervorgehoben, nachdrücklich suggeriert und somit keimhaft angelegt zu sein. Im Gegensatz zur Willkür, Zufälligkeit und Freiheit der interpretatorischen und kritischen Aufnahme von Fragmenten, die Schlegel intendiert – und durch absichtliche Unverständlichkeit, Widersprüchlichkeit, Abstraktion und Dekontextualisierung auch provoziert – wäre die keimhafte Präfiguration von Erkenntnis im Fragment bei Hardenberg somit tendenziell analog zu natürlichem Blütenstaub zu denken: So wie ein Samen oder ein Keim nicht alle möglichen Kinder, alle möglichen Tiere oder alle möglichen Pflanzen enthält, sondern Anlagen für spezifische Blüten bzw. für das eine und einzigartige Individuum, das daraus ent­ste­

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hen wird, so scheint Hardenberg darauf hinzuarbeiten, dass sich seine Texte nicht der Entfaltung von irgendwelchen Wissenssätzen und Wissenszusammenhängen, sondern der Entfaltung relativ spezifischer, von ihm jeweils schon angelegter und vorbereiteter Wissenssätze und Zusammenhänge öffnen. Dies mag insbesondere für die vielen Vorarbeiten gelten, d. h. für Texte, die Hardenberg vor einer geplanten Pu­ bli­ka­ti­on selbst noch einmal durchgehen, lesen und schriftlich überarbeiten wollte. Man kann die These aber auch auf die bereits veröffentlichten Fragmente beziehen, die Hardenberg ja ebenfalls als „Vorübungen“ begriffen hat. Die vielen notizartigen Kürzesttexte, zumal aus dem Bereich des Enzyklopädie-­ Projekts, fungieren für Hardenberg zunächst als mnemotechnisches Abkürzungsund Erinnerungsmittel für den eigenen Gebrauch, als ein Mittel also, eine Vielzahl von bestimmten Wissenssätzen (Analogien, Parallelen, Gegensätze u. a.) gleich­zei­ tig festzuhalten, die dann später nur noch expliziert und differenziert werden müs­ sen. Somit würde eine Lektüre die im fragmentarischen Text selbst schon hervor­ge­ hobenen Anlagen oder Keime gleichsam nur entbinden; und so wäre der Schreibende hier in gewissem Sinn selbst immer schon sein erster Leser. Hardenberg schreibt zur Verbindung von Schreiben und Lesen in seinen sogenannten Teplitzer Fragmenten (Vorarbeiten) vom Sommer 1798 (Abb. 1): „Die meisten Schriftsteller sind zugleich ihre Leser – indem sie schreiben – und daher entstehn in den Werken so viele Spuren des Lesers – so viele kritische Rücksichten – so man­ ches, was dem Leser zukömmt und nicht dem Schriftsteller. Gedankenstriche – großgedruckte Worte – herausgehobene Stellen – all dies gehört in das Gebiet des Lesers. Der Leser setzt den Accent willkührlich – er macht eigentlich aus einem Buche, was er will.“51

Dieses Fragment wurde oft als Nachweis für die Propagierung einer völligen Willkür und Freiheit des Lesens in der Frühromantik herangezogen (es endet mit einem Hinweis auf Schlegels Lektüre von Goethes Wilhelm Meister). Man muss jedoch darauf achten, wie Hardenberg an dieser Stelle selbst die Gedankenstriche und Akzentsetzungen einsetzt, von denen er spricht, und zweitens mitbedenken, dass es hier nicht um irgendeinen Leser, sondern zuallererst um den Schriftsteller geht, der sich selbst liest und durch die dabei im Text hinterlassenen „Spuren“ der Lektüre auch Mitsprache in der künftigen Auslegung des Werks beansprucht. Solche Mit­ spra­che wird durch jene hier thematischen, schriftbildlich prägnanten Lesespuren vorbehalten („Gedankenstriche – großgedruckte Worte – herausgehobene Stellen“), die, wie oben gezeigt, in vielen Nachlassschriften zugleich entscheidend zur Po­ten­ zie­rung der stofflich-semantischen Gehalte beitragen. Diese Mittel finden sich in ausnahmslos allen zu Lebzeiten unveröffentlichten Kürzesttexten Hardenbergscher Machart und sie präfigurieren die Anschluss- und Auslegungsmöglichkeiten dieser Fragmente nicht nur durch einzelne Akzentuierungen, sondern vor allem aufgrund ihres strukturell äußerst gleichförmigen Einsatzes in Kombination mit der Setzung von je bestimmten begrifflichen Gehalten. Auch die zahllosen zu Lebzeiten unpublizierten Schriften Schlegels, die wie Hardenbergs nachgelassene theoretische Schriften vor allem aus Exzerpten, Lektürenotizen und bereits explizit so betitelten

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 HKA 2, S. 609.

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Abb. 1  Entwurfsblatt aus Hardenbergs Nachlass, entstanden vor und nach dem 15. Juli 1798. Linke Spalte: Beginn der sogn. Teplitzer Fragmente, rechte Spalte oben: Notizen zur Reise nach Teplitz, darunter unter dem Titel „Athenaeum. 2tes St[ück]“ Hardenbergs Kritik der Athenäums-Fragmente von Schlegel (Freies Deutsches Hochstift/Frankfurter Goethe-Museum, Hs-26682)

„Fragmenten“ bestehen und die er ebenfalls wie letzterer als Materialbasis gebrauchte, um daraus seine konzeptuell und stilistisch geschliffenen Lyceums- und Athenaeums-Fragmente zusammenzustellen und zu formen, weisen zwar viele der genannten Eigenheiten auf, die im Schriftbild sofort ins Auge springen. Ohne dies hier schon im Detail belegen zu können, würde ich dennoch behaupten, dass eine genauere Untersuchung auf entscheidende Unterschiede im Einsatz von Gedankenstrichen, Hervorhebungen, Abkürzungen usw. kommen würde. So setzt Schlegel beispielsweise die meisten Gedankenstriche nach dem Punkt, d.  h. häufig nach einem bereits grammatisch vollendeten Satz, während die Gedankenstriche bei Hardenberg noch unausgeführte, bloß mögliche Sätze meist von der Mitte her auf­ spren­gen. Auch gleichen sich Rhythmik und Akzentsetzung in beiden Fragmentpraktiken nicht. Umso mehr böten gerade diese Aspekte der Schreibtechnik einen fruchtbaren Einstiegspunkt für eine weitere vergleichende Lektüre der beiden Autoren. Wie Barbara Thums gezeigt hat, ist Hardenbergs Theorie der Aufmerksamkeit auch eine praktische Theorie darüber, wie Wahrnehmung gesteuert und manipuliert werden kann und soll. Ich möchte mich der These anschließen, dass es dabei

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um eine „Potenzierung der Wahrnehmungsmöglichkeiten“,52 um die „Belebung, ­Stärkung und Höherbildung der Sinne“53 geht. Was bei Hardenberg praktisch entworfen wird, ist ein „ästhetische[s] Selbstverhältnis[] und Bildungsprojekt[]“,54 das nichts Geringeres als die Bildung der Welt zum Ziel hat. In diesem Projekt ist neben der Bildung des Geistes auch die „Modification“ der Sinnesorgane zentral, die gezielte Ausbildung des eigenen Körpers zum „allfähigen“ Medium der Welterkenntnis: „Körper [...] das Werkzeug zur Bildung und Modification der Welt – Wir müssen also unseren Körper zum allfähigen Organ auszubilden suchen. Modification unseres Werkzeugs ist Modification der Welt.“55

Führt man sich noch einmal die Vielzahl der Fragmente, Vorarbeiten, Notizen und Materialien vor Augen, die Hardenbergs Arbeitshefte füllen und die oft nur aus sehr wenigen Sätzen oder sogar nur aus einem einzigen Satz oder unvollständigen Satzbruchstücken bestehen, zugleich aber formal-stilistisch alle äußerst ähnlich verfasst sind, so wird deutlich, wie Hardenbergs fragmentaristische Schreibpraxis das Ziel einer „Modification“, Manipulation und Steuerung der eigenen welter­ kennenden Organe umsetzt bzw. – davon zeugen Hunderte von Seiten innerhalb von kaum ein bis zwei Jahren extrem gleichförmig verfasster Kürzesttexte – bereits umgesetzt hat. Jene äußerste Gleichförmigkeit manifestiert sich im Schriftbild sowie in einer durchgängigen Rhythmisierung der Texte, die die Bewegung der Hand und die davon untrennbare Augenarbeit, das Schreiben und das Lesen auf die Dauer nachhaltig prägt, ja wohl geradezu körperlich habitualisiert (hat). Mit einer neueren Begriffsprägung könnte man von einer „Kunst der zweiten Natur“56 spre­chen, durch die Hardenberg sich selbst und seine Leser:innen jedoch nicht auf bestimmte Inhalte oder Sätze festlegt, sondern vielmehr eine ganz bestimmte Form des Denkund Erkenntnisvollzugs darstellen und einüben lässt, die die impliziten  semantischen und propositionalen Gehalte der einzelnen Textfetzen auf nicht-willkürliche und nicht-zufällige Weise vervielfacht und ihre multiplen Sinndimensionen im Übergang von Fragment zu Fragment – und d. h. dann ja auch: von Wissensgebiet zu Wissensgebiet – zugleich erhält. Was diese Form auszeichnet, wurde in vorliegendem Beitrag in ersten Ansätzen dargelegt. Ihr zentraler Effekt ist die Beschleunigung der Erkenntnis im unabgeleiteten, sprunghaften Erkenntnisvollzug sowie die Potenzierung und Ver­viel­ fäl­ ti­ gung von präfigurierten Bedeutungs- und Erkenntniszusammenhängen. In einem Kleinsttext, der vielleicht noch nicht einmal einen einzigen grammatisch vollständig ausformulierten Satz enthält, sind bei Hardenberg – vorausgesetzt man

 Barbara Thums: Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und Selbstbegründung von Brockes bis Nietzsche. München 2008, S. 296. 53  Thums: Aufmerksamkeit, S. 303. 54  Thums: Aufmerksamkeit, S. 303. 55  HKA 2, S. 587. 56  Vgl. Thomas Khurana: Die Kunst der zweiten Natur. Zu einem modernen Kulturbegriff nach Kant, Schiller und Hegel. In: WestEnd. Neue Zeitschrift für Sozialforschung 13/1 (2016), S. 35–55. 52

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liest den einzelnen Text im Kontext der Textsammlung(en), in dem er steht – jeweils viele Wissenssätze zugleich keimhaft enthalten und zudem strukturell die Über­trag­ bar­keit bzw. Analogie der Gehalte des einzelnen Fragments zu wiederum jeweils ­mehreren anderen Fragmenten und deren Wissens- und Bildungsbereichen präfiguriert. Eine weiterführende Darstellung der Fragmentaristik Hardenbergs müsste dies auf die verschiedenen Stoffe und Inhalte aus Dichtungstheorie, Philosophie, Ethik, Politik und Wissenschaften, vor allem auch aus den verschiedenen Naturwissenschaften, beziehen, die Hardenberg behandelt, und insbesondere darauf ein­ ge­hen, inwiefern die Form der Erkenntnisproduktion im Fragment bei Hardenberg verschiedenen Formen der zeitgenössischen wissenschaftlichen Beschreibung von gesellschaftlichen, geistigen und natürlichen, z.  B. physikalischen, chemischen oder biologischen Prozessen, entspricht.57 Der Fluchtpunkt der mit jüngsten Ansätzen der Romantikforschung als ‚proto-ökologisch‘ zu bezeichnenden58 Durch­ drin­gung von Körper und Geist in Hardenbergs Arbeit am Fragment wäre dann vielleicht die ‚unendliche Annährung‘ an eine Wissensform, in der die objektiven ‚Gegenstände‘, über die gehandelt und nachgedacht wird, deren Bestimmungen und Verbindungen (der Ähnlichkeit, Analogie usw.) zu Gegenständen anderer Wissensgebiete prozessiert, bearbeitet und modifiziert werden, von der dazu benutzten und bearbeiteten Denkform des Subjekts nicht mehr trennbar wären.59 Wie Hardenberg schreibt: „Was ist die Natur? – ein encyclopaedischer systematischer Index oder Plan unsers Geistes. Warum wollen wir uns mit dem bloßen Verzeichniß unsrer Schätze begnügen – laßt sie uns selbst besehn – und sie mannichfaltig bearbeiten und benutzen.“60

 Zu Hardenbergs Auseinandersetzung mit der Physik vgl. Michael Gamper: Elektropoetologie. Fiktionen der Elektrizität 1740–1870. Göttingen 2009, S. 122–128. 58  Roland Borgards, Frederike Middelhoff und Barbara Thums heben unter den vielfältigen begriffs-, wissenschafts- und wissensgeschichtlichen „Vorarbeiten zum Denken des Ökologischen“ in der Romantik „vor allem das Prinzip der Wechselwirkung“ hervor (Borgards, Middelhoff, Thums: „Romantische Ökologien  – Zur Einleitung“. In: Romantische Ökologien, S.  1–15, hier S.  7). Damit wären die durch Hardenbergs Fragmentverfahren anvisierten und progressiv erarbeiteten (bzw. weiter zu erarbeitenden) wechselseitigen Durchdringungen von Erkenntnissubjekt und Objekt bzw. von Verfahren und Gehalten verschiedener Wissenschaften und Künste als einschlägige proto-ökologische Ansätze zu verzeichnen. 59  Diesem Brennpunkt von Novalis’ Projekt nährt sich der Aufsatz von Thums im Ausgang von der Frage nach ökologischer Teilhabe (im Sinne von Mitwirkung und Zusammenwirkung). Vgl. Barbara Thums: Methexis. Ökologie und Teilhabe in Novalis’ Enzyklopädistik. In: Romantische Ökologien, S.  55–80. Die Enzyklopädistik wird von Thums entsprechend als „Projekt der Teilhabe unterschiedlichster Wissensbestände und -formate an einem organologisch konzipierten Ganzen“ (S. 55) charakterisiert, in dem „alle Wissensbestände frei miteinander kombinierbar und netzwerkartig ineinander verflochten“ (S. 64) sind. 60  HKA 2, S. 583. 57

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5 Fazit Viele der Athenaeums-Fragmente lassen sich als Theorie-Manifest einer Praxis lesen, die man Hardenberg ebenso zuschreiben kann wie Schlegel selbst. Eine maß­ geb­lich von Schlegel konzipierte und bestimmte Programmatik träfe damit nicht nur das eigene theoretische und wissenschaftliche Arbeiten und Denken in ­Fragmenten, sondern auch Hardenbergs fragmentaristische Lese- und Schreibpraxis. Während für beide Autoren die progressiv-generative Projektform des Fragments zentral ist, unterscheiden sie sich jedoch im Hinblick darauf, wo sie im Spannungsfeld zwischen Offenheit und Vorherbestimmtheit im Leben der Fragmente den Schwerpunkt setzen: wieviel und vor allem wie sie manipulieren, steuern und kontrollieren und wo und wie sie Freiheit, ja sogar Willkür und Zufälligkeit der Anschluss- und Weiterentwicklungsmöglichkeiten zulassen. Wenn auf den ersten Blick eher Schlegel als der autoritäre Bestimmer erscheint, dessen (redaktionellen) Entscheidungen über Form und Konzept des Fragments sich Hardenberg in Briefen immer wieder beugt oder die er sogar von Vornherein an Schlegel abgibt, so er­ scheint anders betrachtet Hardenberg als derjenige, der seine Fragmente bereits auf eine sehr bestimmte Lebensbahn geschickt und ihre wissenschaftliche, politische, philosophische und poetologische Entfaltung präfiguriert hat. Während Schlegel das Fragment als kollektiv-universale Theorie- und Gesprächsform erfunden hat, arbeitet Hardenberg ‚single handed‘ mit und in dieser Form, an zahllosen ver­schie­ de­nen philosophischen, ethischen, diätetischen, politischen, wissenschaftlichen und dichterischen Bildungsprojekten gleichzeitig. Der formal-methodische Charakter seiner Fragmentaristik erlaubt ihm, am Horizont der Arbeit die Vereinigung all dieser verschiedenen Projektspezies und Projekte zu sehen. Hardenbergs Fragmentarismus ist darum als ein monologischer zu deuten, der nicht zuletzt auf Verfahren der Bildung einer zweiten Natur des eigenen Lese- und Schreib-­Körpers beruht.61 Denn Hardenberg fasst das Fragment als Denk- und Wissensform nicht nur kon­zep­ tu­ell  – auf terminologischer und inhaltlicher Ebene  – in naturwissenschaftlicher Metaphorik, in Analogie zu natürlichen und naturphilosophisch-mystisch bzw. naturwissenschaftlich beschreibbaren, zum Beispiel elektrophysikalischen und chemischen Prozessen,62 er arbeitet auch ganz konkret mit und an einer zweiten Natur der eigenen zusammenwirkenden Sinnes- und Erkenntnisorgane zur ökonomisch (im Hinblick auf Sparsamkeit und Effizienz) und ökologisch (im Hinblick auf Ver­

61  Vgl. hierzu in Hinblick auf Hardenbergs Monolog Villinger: Gedankenstriche. Das Stichwort des ‚Monologischen‘ zur Charakterisierung von Hardenbergs Fragmentaristik fällt auch bei Fetscher: Fragment, S. 567. Schlegel selbst legt diese Differenz zu Hardenberg nahe: „Für Monologe sind meine M[anu]skripte nicht offen, nicht individuell genug, wenige ausgenommen. [...] Naturfragmente“ (KFSA 18, S. 95). 62  Auch Schlegel denkt den Vollzug von Verbindungen und Trennungen im Fragment in der Terminologie des Chemischen (vgl. KFSA 2, S. 243; KFSA 24, S. 8f und S. 364; KFSA 3, S. 83f; vgl. umfassender dazu Michel Chaouli: The Laboratory of Poetry. Chemistry and Poetics in the Work of Friedrich Schlegel. Baltimore 2002) sowie die Fragment-Form als Form der Natur-Philosophie: „Die Fragmente die eigenthümliche Form der Naturph[ilosophie]“ (KFSA 18, S. 100).

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net­zung, „Wechselbestimmung“ und „Wechselsättigung“) exponentiell gesteigerten Erzeugung, „Modification“, Vereinigung und Universalisierung von Wissen. Während sich die Prozesse des Wahrnehmens, Denkens, Schließens, Assoziierens, Verbindens und Unterscheidens in Fragmenten bei und mit Hardenberg demnach (wie­ der) mehr und mehr selbsttätig-unbewusst vollziehen können, ist Schlegel eher der bewusste Macher, der Kritiker, Redakteur und Konstrukteur, der in die Texte, die ihm andere liefern, eingreift, der sie zerschneidet, neu zusammensetzt und in eine größere Sammlung einmontiert. Offen bleiben muss damit, was im romantischen Sinn das höhere Fragment wäre – Schlegels absichtsvoll konstruierten und rhe­to­ risch brillant geschliffenen Publikationen, die aus der wirklichen Zusammenarbeit mit anderen Menschen entstehen und in denen einzelne Fragmente zu Kunstwerken der Aporie und offenen Vieldeutigkeit werden, oder Hardenbergs Vorarbeiten zu Fragmentsammlungen, die nicht zuletzt durch Abkürzungs- und Notizverfahren, durch schriftbildliche, grammatische, rhythmische und auditive Mittel die multiplen Bedeutungsdimensionen von Kürzesttexten und ihre kontextuellen Verbindungen in einer Sammlung ebenso systematisch präfigurieren wie ad infinitum potenzieren.

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Idylle. Transformationen der Gattung und romantische Landschaftsökologie bei Friedrich Schlegel und Friedrich von Hardenberg Barbara Thums

Vom 12. Juni bis 21. August 1807 hat Friedrich Schlegel in Köln eine Privat-­ Vorlesung mit dem Titel Über deutsche Sprache und Literatur gehalten. Er trägt hier Allgemeines zur Sprache vor, äußert sich zur Sprachgeografie und -ge­schich­te, zu Rhetorik und Poetik, widmet sich den inneren und äußeren Bestandteilen der Poesie, der Literaturgeschichte und den kritischen Prinzipien der Ge­gen­ warts­li­te­ra­tur. Wie bereits in früheren Schriften soll auch hier alle Poesie ro­man­ tisch und auf das Unendliche bezogen sein: Für die Theorie des Romantischen, ebenso wie für die Theorie des Romans und die Theorie des Märchens, gibt es einen eigenen Paragrafen. Bedeutsamer jedoch als eine Einteilung der Poesie in Gattungsformen, die für Schlegel historisch zufällige Formen sind, ist für ihn eine Einteilung in ‚Töne‘ – in Töne des Epischen, Dramatischen und Lyrischen.1 Kurz gesagt, die Vorlesung ist eine umfängliche Auseinandersetzung mit Fragen der Literatur- und Sprachgeschichte, und sie zeigt ein besonderes Interesse für Gattungsfragen.2 Legt man diesen Befund zugrunde, ist es um so erstaunlicher, dass in diesen detailreichen Ausführungen eine im 18. Jahrhundert überaus populäre Gattung  Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Begründet von Ernst Behler, fortgeführt von Andreas Arndt, hg. von Ulrich Breuer. Paderborn u. a. 1958ff., Bd. 15, S. 40–42. Zitate aus der KFSA werden im Folgenden mit Sigle und unter Angabe von Band und Seitenzahl in Klammern im Fließtext zitiert. 2  Zur Begründung einer romantischen Hermeneutik und Kritik der Philologie in Schlegels Literaturgeschichtsschreibung vgl. Hans Dierkes: Literaturgeschichte als Kritik. Untersuchungen zu Theorie und Praxis von Friedrich Schlegels frühromantischer Literaturgeschichtsschreibung. Tübingen 1980, S. 323. 1

B. Thums (*) Deutsches Institut Neuere Deutsche Literaturgeschichte, Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Mainz, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2025 R. Borgards, K. Heumann (Hrsg.), Sich kreuzende Stimmen, Neue Romantikforschung 8, https://doi.org/10.1007/978-3-662-70600-8_5

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fehlt – die Idylle. Schlegel weist eigens darauf hin: „Eine wichtige Untergattung[,] die keine Stelle in unserer Abtheilung gefunden[,] ist noch die Idylle“ (KFSA XV.2, S. 70). Diese Bemerkung bildet den Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen zum Stellenwert der Gattung Idylle in den Schriften Friedrich Schlegels und Friedrich von Hardenbergs, genannt Novalis. Schlegels Einlassung, so wie sie bisher zitiert wurde, ist symptomatisch: Einerseits ist die Idylle eine im 18. Jahrhundert äußerst beliebte Gattung – Salomon Geßners Idyllen etwa waren regelrechte Kas­sen­schla­ ger, deren Wirkung noch weit ins 19. Jahrhundert hineinreicht.3 Andererseits führen Versuche, die Gattung zu modernisieren, indem lange Zeit ausgeschlossene Kategorien wie Zeit, Arbeit und Geschichte integriert werden, dazu, dass die Gattung Idylle gewissermaßen implodiert. Die Grenzen zwischen einer Welt des Idealen im geschützten Raum der Idylle und einer Gegenwelt des Prosaischen im Raum der Geschichte lösen sich zunehmend auf – Goethes Versepos Hermann und Dorothea, in dem der Krieg Einzug in die Idylle hält, ist hierfür beispielhaft.4 In dieser Perspektive erscheint es wenig erstaunlich, dass sich die Ro­man­ti­ ker:innen  – zumindest auf den ersten Blick  – wenig um die Idylle gekümmert haben. Idyllen im strengen Gattungssinn haben sie nicht geschrieben, einzig Schlegels Idylle über den Müßiggang aus der Lucinde trägt den Begriff im Titel.5 Der Befund bestätigt sich mit Blick auf die Forschung. Überblicksdarstellun­ gen zur Gattung Idylle  – stark geprägt von den Forschungen Renate Böschen­ stein-Schäfers, aber auch Gerhard Kaiser ist hier zu nennen – lassen Ausführungen zur Idylle in der Ro­man­tik vermissen: Sie führen in aller Regel die Neubegründung der Idylle durch Geßner aus, die Erweiterungen im Sturm und Drang, deren Bedeutung bei Goethe und Schiller, überspringen die Romantik und widmen sich sodann der biedermeierlichen Idylle sowie weiteren Ausprägungen des Idyllischen im 19. Jahrhundert. Jean Pauls ironisch gebrochenen Idyllen kommt dabei insofern eine Brückenfunktion zu, als an seinem Theorem vom Vollglück in der Beschränkung der Übergang von der Idylle als Gattung zum Idyllischen als „Denk-

 Vgl. dazu Renate Böschenstein-Schäfer: Idylle. 2. Aufl. Stuttgart 1977, S. 79, sowie Uwe Hentschel: Salomon Gessners Idyllen und ihre deutschsprachige Rezeption im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert. In: Orbis Litterarum 54 (1999), S. 332–349. 4  Zur Gattungsgeschichte der Idylle im 18. Jahrhundert vgl. Böschenstein-Schäfer: Idylle; Renate Böschenstein-Schäfer: Idyllisch/Idylle. In: Karlheinz Barck u. a. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Bd. 3: Harmonie – Material. Stuttgart, Weimar 2001, S. 119–138; Gerhard Hämmerling: Die Idylle von Geßner bis Voß. Theorie, Kritik und allgemeine geschichtliche Bedeutung. Frankfurt a.M. 1981; Gerhard Kaiser: Wandrer und Idylle. Goethe und die Phänomenologie der Natur in der deutschen Dichtung von Geßner bis Gottfried Keller. Göttingen 1977; Florian Schneider: Im Brennpunkt der Schrift. Die Topographie der deutschen Idylle in Texten des 18. Jahrhunderts. Würzburg 2004. 5  Zur Übernahme formaler Aspekte aus der Idyllentradition des 18. Jahrhunderts in Schlegels Lucinde vgl. John Hibberd: The Idylls in Friedrich Schlegels Lucinde. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 51/1 (1977), S. 222–246, hier S. 226. 3

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bild“6 festgemacht wird: Sein Beitrag zur Gattungsbestimmung wird mithin nicht primär unter dem Etikett ‚romantisch‘ verhandelt, sondern mit Blick auf die weitere Gattungsgeschichte im 19. Jahrhundert diskutiert.7 Allerdings geht Schlegels marginale Einlassung zur Idylle noch weiter. Dem be­ reits zitierten Satz „Eine wichtige Untergattung[,] die keine Stelle in unserer Abtheilung gefunden[,] ist noch die Idylle“, fügt er hinzu: „diese scheinbare Untergattung bedarf einer Erörterung“ (KFSA XV.2, S. 70). Ich möchte diesen Hinweis auf den Erörterungsbedarf, den die Idylle als scheinbare Untergattung fordert, auf­ grei­fen und fragen: Was meint ‚scheinbar‘ in diesem Kontext? Welchen Stellenwert hat die ‚scheinbare Untergattung‘ für die romantische Poesie? Lässt sich ihre Un­ sicht­bar­keit fassen, und wenn ja, wohin hat sich ihre Sichtbarkeit als bestimm- und abgrenzbare Gattung verflüchtigt? Um diesen Fragen nachzugehen, gilt es zunächst, den Spuren zu folgen, die in den Schriften von Schlegel und Novalis auf die Idylle führen. In beiden Fällen stößt man zunächst auf frühe Schriften, die zeitlich zum Teil vor der Konstitutionsphase der gemeinsam betriebenen frühromantischen Theoriebildung liegen. Auffällig ist weiter, und dies lässt sich vielleicht schon als erster Befund festhalten, dass Schlegels und Novalis’ Auseinandersetzungen mit der Idylle in unterschiedliche Richtungen weisen. Während Schlegel vornehmlich philologisch vorgeht und gattungstheoretische Überlegungen zur Idylle anstellt, sammelt Novalis eher praktische Erfahrungen, indem er sich die Gattung durch spielerische Transformationen bekannter Gattungsbeispiele und Übersetzungen aneignet. Und während Schlegel ausgehend von der Idylle Fragen der Gattungsreinheit diskutiert und darüber spekuliert, welche Bedingungen es sind, die Texte erfüllen müssen, um überhaupt erst den An­ spruch auf einen eigenen Gattungsstatus erheben zu dürfen, während Schlegel also eher an formalen Fragen interessiert ist, scheint sich Novalis zunächst eher für inhaltliche Fragen, für konkrete Motive und Topoi der Gattung Idylle zu in­te­res­sie­ ren. Man könnte auch sagen, bei Schlegel führt der Weg in die Richtung seiner romantischen Romantheorie, bei Novalis in die Richtung einer romantischen Landschaftstheorie. Beide Wege jedoch münden in jene Theorie des Romantischen, die wir als progressive Universalpoesie kennen. In einem ersten Schritt werden diese unterschiedlichen Wege zunächst in ihren Grundzügen skizziert  – beginnend mit Novalis, konkreter mit seiner Jugenddichtung, die sich auf den Zeitraum zwischen 1788 und 1794 datieren lässt.

 Böschenstein-Schäfer: Idyllisch/Idylle, S. 131.  Vgl. dazu auch die Ausführungen Sabine Schneiders zur Auflösung der „Gattungstradition als Versidylle“ und einer erneuten Konjunktur der „Gattung in der Prosaliteratur“, die im Ausgang von Jean Pauls Idyllenparagrafen die Transformation der Gattung zu einem „Wahrnehmungsdispositiv“ bestimmt. Sabine Schneider: Einleitung. „Himmelfahrten des gedrückten Lebens“. Prekäre Idyllen im bürgerlichen Zeitalter. In: Sabine Schneider, Marie Drath (Hg.): Prekäre Idyllen in der Erzählliteratur des deutschsprachigen Realismus. Stuttgart 2017, S. 1–12, hier S. 3. 6 7

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1 Aneignungen der Idylle in Novalis’ Jugenddichtung Novalis greift bei seiner Auseinandersetzung mit der Idylle zentrale Stationen der Gattungsgeschichte auf: Ausführlich widmet er sich der antiken Bukolik, also der idyllischen Hirten- und Schäferdichtung Theokrits und Vergils. Er befasst sich aber auch mit der Idyllik seiner Zeit. Aus seiner Jugenddichtung geht hervor, wie sehr er Geßner schätzt, der im 18. Jahrhundert die deutschsprachige Idylle neu begründet hat. Auch die Transformation der Gattung durch den Sturm und Drang scheint ihm wichtig. Darauf weist ein Dichtungsplan hin, der eine Idylle nach Mahler Müller vorsieht.8 Das wäre eine Idylle, in der – wie etwa in Maler Müllers Pfälzer Idylle Die Schaaf-Schur (1775) – mit der Arbeit die Sphäre der Alltagsrealität und der Ge­ schich­te, und damit auch die Kategorien Zeit und Entwicklung, in die bei Geßner noch vergleichsweise statisch konzipierte Gattung integriert würden. In dieser Per­ spek­ti­ve ist es nicht unerheblich, dass die einzige Idylle, die Novalis vollständig übersetzt hat, Theokrits 21. Idylle Die Fischer ist. Fischeridyllen nehmen in den Gattungsdiskussionen des 18. Jahrhunderts insofern eine Sonderstellung ein, als sie eben nicht von Hirten und Schäfern handeln und deshalb für all jene systematisch relevant sind, die für eine Erweiterung der Gattung argumentieren – die also das Idyllenpersonal nicht auf Schäfer beschränken und nicht nur ideale Welten, sondern auch die konkrete Alltagsrealität zum Thema der Idylle machen wollen.9 Diese Er­ wei­te­rung hat weitreichende Konsequenzen für die Gattung: Zum einen macht sie die Idylle zum „Reflexionsraum der Moderne“,10 die durch Spaltungs- und Entfremdungserfahrungen gekennzeichnet ist, zum anderen führt der Abbau des Gegensatzes zwischen Realität und Idealität, wie bereits erwähnt, zur Auflösung der Idylle als eigenständiger Gattung. Im Folgenden jedoch zunächst zu Novalis’ Übersetzungstätigkeit: Er übersetzt insgesamt nicht viel, meist sind es nur einzelne Verse. In seiner Auswahl jedoch las­ sen sich bereits die Problemstellungen erkennen, die er in seinen späteren Schriften immer wieder umkreisen wird. Von Theokrit, der 300 bis ca. 250 v. Chr. in Ale­xan­ dri­en gelebt hat und am Beginn der europäischen Bukolik und der Idylle als literarische Gattung steht, hat Novalis kaum etwas übersetzt. Auf Theokrits sogenannte Eidyllia geht das Ideal des idyllischen Lebens am idyllischen Ort zurück; ebenso  Novalis Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Historisch-kritische Ausgabe. Begründet von Paul Kluckhohn und Richard Samuel. Hg. von Richard Samuel in Zusammenarbeit mit Hans-Joachim Mähl und Gerhard Schulz. Verschiedene Auflagen. 6 Bände. Stuttgart 1960 ff. Zitate aus der Historisch-Kritischen Novalis-Ausgabe werden im Folgenden mit der Sigle HKA und unter Angabe von Band, Nummer und Seitenzahl in Klammern im Fließtext zitiert. 9  Vgl. etwa die Argumentation Moses Mendelssohns gegen Johann Adolf Schlegels Idyllentheorie im 86. Brief seiner Briefe, die neueste Literatur betreffend, in dem Theokrits Fischeridylle als Beispiel dafür angeführt wird, dass Idyllen nicht zwangsläufig reizende Naturszenen darstellen müssen. Moses Mendelssohn: Briefe, die neueste Literatur betreffend (Auszüge). In: Helmut J. Schneider (Hg.): Deutsche Idyllentheorien im 18. Jahrhundert. Tübingen 1988. S. 144–153, hier S. 148. 10  Barbara Thums: Wissen vom (Un)Reinen. Zum diskursiven Zusammenspiel von Idylle und Moderne. In: Gunhild Berg (Hg.): Wissenstexturen. Literarische Gattungen als Organisationsformen von Wissen. Frankfurt a.M. 2014, S. 145–164, hier S. 146. 8

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zentrale, die Gattung bestimmende Motive und Strukturen, etwa der durch Distanz gekennzeichnete Blick auf das ländliche Leben aus der Perspektive des Städters. Für den mit Kultiviertheit und Bewusstsein assoziierten Städter repräsentieren die Hirten ein naives Dasein, es geht also um die Spannung Natur – Kultur. Verweise auf das reale Landleben seiner Heimat Sizilien sind bei Theokrit zwar erkennbar, im Vordergrund steht jedoch der Gesang und das Flötenspiel der Hirten, oft auch als Liederwettbewerb zwischen den Hirten inszeniert. Deutlich wird so: Es geht um Kunst, um die Künstler, die sich hinter der Maske des Hirten verbergen.11 Theokrits Idyllen entwerfen Vorstellungen einer harmonischen Einheit mit einer Natur, die – so könnte man sagen – aufs Bild berechnet sind. Denn was wir in der Bukolik vorfinden, ist keine individualisierte Natur, sondern eine Natur, die sich aus Versatzstücken zusammensetzt – aus Bächen, Wäldern, Bergen, Höhlen, Schluchten, Hainen und Tälern. Bereits in seiner ersten Idylle namens Thyrsis wird dies in der Art und Weise deutlich, wie die Aufforderung zum Austausch von Liedern in Szene gesetzt wird. Die Beschreibung des Ambientes, das Rieseln einer Quelle und das Wispern eines Baumes, ist schon ganz auf den Einklang abgestimmt. Natürliche Laute und Gesang der Hirten bilden eine Einheit. Novalis hat diese Idylle in Teilen übersetzt, konkret sind das die Verse 1–11.12 In diesen Versen wird zunächst ein klassischer locus amoenus entworfen, wobei No­va­ lis kleinere Abweichungen einbaut. So lässt er im Gesang des Thyrsis nicht eine Pinie, sondern eine Fichte „am silbernen Quell des Haynthals“ (HKA 6.1, S. 515) lieblich lispeln und gibt mit dem Haynthal eine konkretere Landschaftsvorstellung. Im Antwortgesang des Geißhirten fällt auf, dass auch hier der Fokus auf das idyllische Versatzstück aus der Natur – den strömenden Bergquell – gerichtet wird. Bei Novalis wird das vom Felsen in der Höhe herabfallende Wasser zum strömenden Bergquell, „welcher von thürmender Klippe in lachende Auen herabrauscht“ (HKA 6.1, S. 515). Während Theokrit Lied und Wasser analogisiert, indem er auch das Lied strömen lässt, lässt Novalis das Lied ertönen. Er verknüpft also den visuellen mit dem auditiven Sinn, außerdem fügt er mit den lachenden Auen den Ort hinzu, an dem das Wasser ankommt. Auch hier, so könnte man sagen, wird die Landschaftsvorstellung konkretisiert, indem sie synästhetisch erweitert und den Elementen der Natur mittels Anthropomorphisierungen Handlungs- und Wirkungsmacht zugesprochen wird. Die Glücksvorstellung, die sich mit idyllisch-harmonischen  Vgl. zur Idyllenfigur der poetischen Hirten bei Theokrit Helmut J. Schneider: Einleitung: Antike und Aufklärung. Zu den europäischen Voraussetzungen der deutschen Idyllentheorie. In: Ders. (Hg.): Deutsche Idyllentheorien im 18. Jahrhundert. Tübingen 1988, S. 7–74, hier S. 18–20. 12  Vgl. die Übersetzung dieser Verse in Theocritus: Gedichte, griechisch-deutsch. Hg. und übersetzt von Bernd Effe. 2. überarb. Aufl. Berlin 2013, S. 9: „THYRSIS / Süß läßt ihr Wispern die Pinie dort, Ziegenhirt, bei den Quellen erklingen, süß spielst auch du auf der Syrinx; nach Pan wirst du den zweiten Preis davontragen. Wenn er einen gehörnten Bock nimmt, wirst du eine Ziege bekommen; und wenn er eine Ziege als Preis bekommt, fließt dir [5] das Zicklein zu. Vom Zicklein ist das Fleisch gut, bis du es melkst. / ZIEGENHIRT / Süßer, Schäfer, strömt dein Lied, als sich das rauschende Wasser dort vom Felsen aus der Höhe ergießt. Wenn die Musen das Schaf als Geschenk mit sich führen, wirst du ein Stall-Lamm als Preis bekommen; und wenn es ihnen gefällt, [10] das Lamm zu nehmen, wirst du danach das Schaf mit dir führen.“ 11

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Naturbeschreibungen verbindet, teilt sich dem Rezipienten nicht nur irgendwie mit. Vielmehr gehört das Glück den lachenden Auen selbst an, die den Rezipienten an ihrem Lachen teilhaben lassen. Gilt Theokrit in der griechischen Literatur als Hauptvertreter der Bukolik, so ist es Vergil in der römischen Literatur. Vergils Eklogen bringen mit der Ideallandschaft Arkadiens einen neuen Vorstellungsbereich in die Gattungsgeschichte der Idylle ein.13 Und zwar die Vorstellung eines Zustands der Einheit und Ur­sprüng­lich­ keit, der noch vor der Geschichte liegt und in dem die Kategorie Zeit noch keine Re­ le­vanz hat. In diese Ideallandschaft Arkadiens jedoch bricht die Geschichte ein und mit ihr die Zeit und die Entfremdung von dem ursprünglich einheitlichen Zustand.14 Wie Vergil ausgehend von dieser Ideallandschaft Arkadiens die Spannung zur geschichtlichen Welt entfaltet, zeigt seine 1. Ekloge. Hier unterhalten sich zwei Hirten: Der eine beklagt sein Schicksal der Vertreibung, der andere preist einen jungen Mann, der ihn vor diesem Schicksal bewahrt hat. Es geht also um Landenteignungen. Solche Landenteignungen fanden in Vergils Heimat nach dem Ende des Bürgerkrieges zwischen den Caesarmördern und Pompeius statt. Von dieser 1. Ekloge übersetzt Novalis nur die ersten vier Verse – eben jene Verse, in denen der Hirte MELIBOEUS beklagt, dass die Seinen „des Vaterlands Gränzen, die seligen Fluren [verlassen]“ müssen, während Tityrus „in den Schatten der breiten Buche gelagert [...] die ländliche Muse mit leichtzerbrechlichem Rohre“ (HKA VI.1, S. 490) feiern kann.15 Novalis überträgt diese vier Verse als Epigramm. Er akzentuiert damit die auch für die Gattungstradition der Idylle wichtige Bildhaftigkeit und, denkt man an Lessings Bestimmung des Epigramms als ein zwischen Erwartung und Aufschluss gespanntes Sinngedicht, d.i. „ein Bild voller Leben und Seele“,16 füllt diese mit der Vorstellung von Lebendigkeit. In der Verbindung von epigrammatischer Ge­schlos­ sen­heit, Lebendigkeit und gespannter Erwartung lässt sich überdies eine An­nä­he­  Grundlegend zum Mythos Arkadien vgl. Bruno Snell: Arkadien. Die Entdeckung einer geistigen Landschaft. In: Klaus Garber (Hg.): Europäische Bukolik und Georgik. Darmstadt 1976, S. 14–43; Klaus Garber: Arkadien und Gesellschaft. Skizze zur Sozialgeschichte der Schäferdichtung als utopischer Literaturform Europas. In: Wilhelm Voßkamp (Hg.): Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien. Bd. 2. Stuttgart 1982, S. 37–81. 14  Vgl. dazu Böschenstein-Schäfer: Idylle, S. 11. 15  Vollständig zitiert lauten die ersten vier Verse in der Übersetzung von Novalis wie folgt: „Tityrus! Du in den Schatten der breiten Buche gelagert / Feyerst die ländliche Muse mit leichtzerbrechlichem Rohre. / (Sinnest auf zartem Rohre die lieblichen Weisen des Landvolks) / Wir verlassen des Vaterlands Gränzen, die seligen Fluren, / Fliehn das heimische Land, Du Tityrus müßig im Schatten“ (HKA 6.1, S. 490). Vgl. dagegen Vergil: Bucolica, Georgica/Hirtengedichte, Landwirtschaft. Übers. und mit Anmerkungen von Niklas Holzberg. Berlin, Boston 2016, S. 42 „MELIBOEUS / Tityre, tu patulae recubans sub tegmine fagi / silvestrem tenui Musam meditaris avena. / nos patriae finis et dulcia linquimus arva: / nos patriam fugimus; tu, Tityre, lentus in umbra“. Vgl. ebd., S. 43, die deutsche Übersetzung: „MELIBOEUS / Tityrus, unter dem Dach der Buche, der weithin verzweigten, / ruhst du, ersinnst ein Lied des Waldes auf zierlichem Schilfrohr. / Ich dagegen verlasse die Heimat, die süßen Gefilde: / Ich bin verbannt von daheim; du, Tityrus, lässig im Schatten“. 16  Gotthold Ephraim Lessing: Zerstreute Anmerkungen über das Epigramm, und eine der vornehmsten Epigrammatisten. In: Ders.: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hg. v. Wilfried Barner, u. a. Bd. 7: Werke 1770–1773. Hg. v. Klaus Bohnen. Frankfurt a.M. 2000, S. 179–290, hier S. 189. 13

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rung dieser vier Verse an das frühromantische Fragment sehen, zumal dann, wenn man berücksichtigt, dass – wie noch zu zeigen sein wird – die Idylle auch bei Friedrich Schlegel mit vergleichbarer Tendenz als Bildchen und Teil eines größeren Ganzen gefasst wird. Wesentlich intensiver hat sich Novalis mit Vergils vierter Ekloge auseinandergesetzt. Die zunächst zwei fragmentarischen Anläufe zu den ersten 12 Versen und schließlich die vollständige Übersetzung der vierten Ekloge lassen sich auf das Jahr 1790 datieren.17 Nimmt man den Gehalt von Novalis’ Vergil-Übersetzungen zu­sam­ men, so zeichnet sich in ihnen bereits das geschichtsphilosophische Denken ab, das seine späteren philosophischen und poetischen Schriften auszeichnet. Der in der ersten Ekloge thematisierten Entfremdungserfahrung durch die Vertreibung aus der heimatlichen Landschaft folgt mit der vierten Ekloge die Ankündigung eines künftigen goldenen Zeitalters, das gekennzeichnet ist durch einen ewigen elysischen Frühling, durch eine Erde, die freiwillig ihre Früchte schenkt, sowie durch friedlich zusammenlebende Tiere in einer Natur, die Bosheit, Gewalt und Tod nicht kennt. In seiner Studie Die Idee des goldenen Zeitalters im Werk des Novalis hat Hans-­ Joachim Mähl diese Verbindungen ausführlich dargelegt: Er hat die strukturelle Ver­ knüp­fung von erster und vierter Ekloge aufgezeigt und den Einbruch der Ge­ schich­te, mithin die Entfremdungserfahrung als Vorausdeutung der „Prophetie des kommenden goldenen Zeitalters“18 gefasst; und er hat Vergils Verknüpfung antiker und jüdisch-­christlicher Motivkomplexe in ein neues, idyllisch ausgemaltes und an die antike Bukolik rückgebundenes Wunschbild quellenkundlich eingeordnet.19 Vor allem hat er den Stellenwert der „messianischen Weissagungen jüdisch-hellenistischer Sibyllen“ im Hinblick auf die Integration „der Geburt eines kommenden, zur Weltherrschaft bestimmten Erlöserhelden und Friedenskönigs“ in den tradierten Vor­ stellungskomplex der Wiederkehr des goldenen Zeitalters aufgezeigt.20 Die These, dass Novalis’ Auseinandersetzung mit der Gattung Idylle in die ge­schichts­phi­lo­so­ phisch fundierte Idee des goldenen Zeitalters mündet, hat Mähl mit Blick auf Die Lehrlinge zu Saïs und Heinrich von Ofterdingen mit der weiteren These verknüpft, dass Novalis in seinen Romanfragmenten die Idylle durch das Märchen ersetzt.21 Diese Thesen liegen den folgenden Ausführungen zugrunde, auch wenn mit Rekurs auf Fragmente des Novalis, die Mähl nicht berücksichtigt hat, der Akzent insofern etwas verschoben wird, als weniger geschichtsphilosophische, sondern vielmehr konkrete natur- und landschaftsästhetische Dimensionen in den Fokus rücken werden. Es kann dann gezeigt werden, wie aus dem Zu­sam­men­spiel von Gattungsreflexion und Reflexion des Landschaftsbegriffs eine als ökologisch qualifizierbare

 Vgl. zur Entstehung Hans-Joachim Mähl: Die Idee des goldenen Zeitalters im Werk des Novalis. Studien zur Wesensbestimmung der frühromantischen Utopie und zu ihren ideengeschichtlichen Voraussetzungen. 2., unveränderte Auflage. Tübingen 1994, S. 429. 18  Mähl: Die Idee des goldenen Zeitalters, S. 69. 19  Mähl: Die Idee des goldenen Zeitalters, S. 72. 20  Mähl: Die Idee des goldenen Zeitalters, S. 73. 21  Mähl: Die Idee des goldenen Zeitalters, S. 405. 17

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Auffassung von Natur entsteht. Zuvor soll jedoch im Sinne einer Stimmkreuzung Friedrich Schlegels Auseinandersetzung mit der antiken Bukolik näher betrachtet werden, die ebenfalls in Gattungsreflexionen einen zentralen Fokus haben.

2 Idyllische Bruchstücke und Mischgattung ‚Idylle‘ – Friedrich Schlegels Literaturgeschichtsschreibung Friedrich Schlegels Auseinandersetzung mit der Idylle als Gattung setzt etwas später ein. Anders als Novalis übersetzt Schlegel selbst keine Idyllen, aber er kommentiert das „Bruchstück eines Idylls von Bion“ (KFSA I, S. 390), das sein Bruder August Wilhelm Schlegel übersetzt hat. Dieses Bruchstück, von dem man inzwischen weiß, dass es nicht von Bion stammt,22 trägt den Titel Achilleus und Deïdamia und schildert den Versuch Achills, die Nacht mit der Nymphe Deïdamia zu verbringen. Obwohl er sich zur Tarnung als Frau verkleidet, gelingt ihm dies nicht. Das Bruch­ stück endet unvermittelt mit der sehnsüchtigen Klage Achills über seine Ein­sam­ keit, denn, so die letzten Verse: „jene verhaßte / Und arglistige Wand, sie scheidet böslich von dir mich. / Denn ich könnte ja nicht...“ (KFSA I, S. 390). Schlegels philologischer Kommentar urteilt: „der beste Meister der Idylle war Bion. Von ihm ist das unvergleichliche Bruchstück aus der Liebesgeschichte des Achilles und der Deïdamia; es wäre allein hinreichend meine Vorliebe zu recht­fer­ti­ gen“ (KFSA I, S. 391).23 In dieser Perspektive bestimmt er die Idylle als eine jener „neu ersonnener oder neu gewendeter Dichtungsarten“, welche die Nachfolge der „großen Formen der alten Poesie“ (KFSA I, S. 390) antreten: Idyllen sind in der ursprünglichsten Bedeutung, was wir vermischte Gedichte, Darstellungen nach dem Leben nennen würden; der Name Bildchen ist unbestimmt und all­ge­ mein genug für solchen Inhalt, und erinnert zugleich an die Form und das Maß derselben. (KFSA I, S. 391)

Etymologisch betrachtet, geht die Idylle nicht auf das griechische εἰδύλλιον (eidyllion) zurück, ‚kleines Gedicht‘ wäre deshalb die angemessenere Übersetzung.24 Wichtiger ist die Betonung des Kleinen und v. a. der Bruchstückhaftigkeit, auf die der Kommentar mehrfach zu sprechen kommt. Bruchstückhaft sind die „Werkchen“  Vgl. dazu Andreas Hjort Møller: Das alexandrinische Jena. Zur philologischen Mereologie Friedrich Schlegels. In: Christian Benne, Ulrich Breuer (Hg.): Antike – Philologie – Romantik. Friedrich Schlegels altertumswissenschaftliche Manuskripte. Paderborn 2011, S.  207–226, hier S. 215. Vgl. auch S. 217: „Die scheidende Wand poetisiert das Fragmenthafte dieser Idylle, denn sie scheidet nicht nur Achill und Deïdamia, sondern auch die Moderne und die Antike, den Leser und das Gedicht, dessen Ende wahrscheinlich nie rekonstruiert werden kann.“ 23  Er verbindet dieses Urteil mit der These, dass Theokrit „ein Schüler des Bion war“ und wertet den „roheren Theokritos“ (KFSA I, S. 392), dessen Kunst durch einen „mimische[n]“ Geist bestimmt sei, gegenüber der Zierlichkeit und Lieblichkeit der Kunst Bions ab, die durch einen „erotische[n]“ Geist (KFSA I, S. 394) ausgezeichnet sei. 24  Vgl. zu diesem „durch die Jahrhunderte hin tradierten Irrtum“ Böschenstein-Schäfer: Idylle, S. 2f., Zitat S. 2. 22

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auch deshalb, weil sie stets Teil einer Sammlung sind, d. h. weil sie stets auf eine größere „Einheit“ bezogen sind: Diese „subjektive Einheit“ liegt gerade nicht im einzelnen Bruchstück, sondern „in ihrem geselligen Zusammenhange, im Ganzen, im Dichter selbst und in dem Eigentümlichen seiner Ansicht“ (KFSA I, S. 391). Fasst man Schlegels Bestimmungen hier zusammen, so lässt sich unschwer eine Verbindung zu Grundgedanken der frühromantischen Ästhetik herstellen, wie sie in den zeitgleich entstehenden Athenaeums-Fragmenten theoretisch und wenig später in Schlegels Lucinde, die ja die Idylle über den Müßiggang enthält, poetisch ausformuliert werden. Systematisch relevant und poetisch produktiv ist das Bruch­ stück, wie das Fragment, durch seinen Verweischarakter auf das Ganze. Die Lucinde greift diesen Gedanken der Bruchstückhaftigkeit bzw. der Fragmentarizität auf, ihre Textgestalt lässt sich durchaus als geselliger Zusammenhang von einer aus Bruchstücken konzipierten subjektiven Einheit verstehen, und der Skandal, den der inszenierte gender trouble der Lucinde ausgelöst hat, liegt in dem begründet, was laut Schlegel das idyllische Bruchstück ausmacht: sein „erotische[r] Geist“ (KFSA I, S. 394). Wie intensiv Schlegel seine gattungsphilologische Auseinandersetzung mit der Idylle betrieben hat, ist auch seinen Fragmenten zur Literatur und Poesie aus dem Jahr 1797 zu entnehmen. Sie befassen sich mit der Verhältnisbestimmung einzelner Dichtarten und ihrer jeweiligen Funktion für die romantische Poesie im Allgemeinen und den Roman im Besonderen. Verbunden sind die idyllische, die satirische und die mimische Dichtart darin, dass sie  – wie es in Fragment 65 heißt  – als „Vorübungen zur romantischen Poesie“ (KFSA I, S.  204) aufgefasst werden können. Isoliert betrachtet, ist die idyllische Dichtart insbesondere in ihrer Rolle als direkter Gegenspieler zur satirischen Dichtart von Interesse. Eine ganze Reihe an Fragmenten widmet sich dieser Verhältnisbeziehung, in der die Auseinandersetzung mit Schillers Über naive und sentimentalische Dichtung durchscheint. In dem ebenfalls 1797 erschienenen Vorrede zum Studium-Aufsatz schreibt Schlegel, dass seine Be­ stim­mung der antiken Idyllen weitaus präziser ausgefallen wäre, hätte er Schillers Abhandlung früher gelesen (KFSA I, S. 209). Er hätte dann früher erkannt, dass be­ reits die griechischen Idyllen im Spannungsfeld von Naivem und Sentimentalischem zu situieren sind, dass sie „nicht immer das Natürliche, sondern oft schon das Naive d. h. das Natürliche im Kontrast mit dem Künstlichen“ zum Ausdruck brin­ gen, „welches nur der sentimentale Dichter darstellt“; anders formuliert, er hätte be­ reits früher erkannt, dass „die natürliche und die künstliche ästhetische Bildung [...] ineinander[greifen]“, dass „die Rückkehr von verderbter Kunst zur verlornen Natur der erste Keim der sentimentalen Poesie“ ist und deshalb „die Spätlinge der antiken Poesie [...] zugleich die Vorläufer der modernen [sind]“ (KFSA I, S. 209). Schlegel schließt hier an Schiller an, der den ‚Stand der Unschuld‘ nicht mehr in Kategorien des Verlusts denkt, sondern ihn als in der Zukunft einlösbares Ideal versteht. Entsprechend sei es die Aufgabe der Idylle, dass sie „den Menschen, der nun einmal nicht mehr nach Arkadien zurückkann, bis nach Elisium führt.“25 Schiller  Friedrich Schiller: Über naive und sentimentalische Dichtung. In: Schillers Werke. Nationalausgabe. Bd. 20. Hg. v. Benno von Wiese. Weimar 1962, S. 413–503, hier S. 472.

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macht die Idylle also zum Ort einer Aufhebung der Gegensätze von Wirklichkeit und Ideal. In diesem Zuge werden Idylle, Satire und Elegie, die auf unterschiedliche Weise das Verhältnis von Wirklichkeit und Ideal gestalten, zu Empfindungsweisen und Dichtungsweisen der sentimentalischen Poesie. Anders als Schiller ist es ­Schlegel jedoch nicht um die Unterscheidbarkeit dieser Dichtarten zu tun. Sein Fokus liegt stattdessen auf der Bestimmung des sentimentalen, d. h. modernen Romans bzw. der romantischen Prosa. Ihr Wesen ist die Mischung, bestimmt das 20. der Fragmente zur Litteratur und Poesie: Es gebe zwar qualitative Unterschiede zwischen mimischen, idyllischen, satirischen und epischem Dichtarten, „Extreme“ im Sinne einer einseitigen Dominanz jedoch seien „fehlerhaft“ (KFSA XVI, S. 87), da sie das Wesen des Romans, die Mischung zerstörten. Ziel sei es vielmehr, diese qualitativ unterschiedlichen Bestandteile – so formuliert es Fragment 65 – „zu einer progressiven Einheit“ (KFSA XVI, S. 90) zu verknüpfen. Eine Dichtung, die dieses Ziel einer progressiven Einheit einlöste, müsste, so Schlegel im berühmten Athenaeums-­Fragment 238, stets zugleich „Poesie und Poesie der Poesie“ sein und „Transzendentalpoesie heißen“ (KFSA II, S. 204). Entsprechend lautet der Beginn des Fragments: Es gibt eine Poesie, deren eins und alles das Verhältnis des Idealen und des Realen ist, und die also nach der Analogie der philosophischen Kunstsprache Transzendentalpoesie heißen müßte. Sie beginnt als Satire mit der absoluten Verschiedenheit des Idealen und Realen, schwebt als Elegie in der Mitte, und endigt als Idylle mit der absoluten Identität beider. (KFSA II, S. 204)

„[Z]um Behuf der Progressivität“ – ist im 4. Fragment der Fragmente zur Litteratur und Poesie zu lesen – kann sogar ausnahmsweise der Grundsatz, dass alle Po­es­ ie metrisch sein soll, vernachlässigt werden, denn: „Der Roman ist noch ungleich gemischteres Mischgedicht als Idylle oder Satire, welche doch ein bestimmtes Ge­setz der Mischung befolgen. –“ (KFSA XVI, S. 85) Schlegels Gattungsreflexionen zur Idylle, so lässt sich bis hierher zusammenfassen, gewichten die Idylle als historisches Beispiel einer Mischgattung, und sie werten die nicht mehr auf die Gattung Idylle beschränkte idyllische Poesie als Vorbereitungsdichtart der romantischen Po­ e­ sie auf. Im Sinne der Transzendentalpoesie bzw. einer auf dem Prinzip der Gattungsmischung basierenden progressiven Universalpoesie wird der Status der einzelnen Gattung relativiert. Dies zeigt sich – wie Peter Szondi bemerkt hat – auch an der Umwandlung der Dichtarten in Töne sowie an der „Adjektivierung der Gattungsbegriffe“.26 Nicht mehr von der Idylle, sondern vom Idyllischen ist deshalb die Rede. Szondis Befunde ergänzend, könnte man sagen: Auch die Verbalisierung des Gattungsbegriffs Idylle, das Idyllisieren als Darstellungsverfahren, wird äs­the­ tisch und poetologisch bedeutsam. Schlegel leistet damit einen wesentlichen Beitrag zur Gattungsdiskussion um 1800 im Allgemeinen, jedoch auch – und dies ist noch nicht intensiver bedacht worden – für die Idylle im Besonderen. Für die vielfach in der Forschung vertretene  Peter Szondi: Friedrich Schlegels Theorie der Dichtarten. Versuch einer Rekonstruktion auf Grund der Fragmente aus dem Nachlaß. In: Euphorion 64 (1970), S.  181–199, hier S.  192 und S. 198. 26

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These, es gäbe einen Bruch in der Gattungsgeschichte der Idylle, der mit der Trans­ for­ma­ti­on der Idylle in die Denkform des Idyllischen markiert ist, lassen sich, wie zu sehen war, auch in Schlegels Gattungsreflexionen wichtige Belege finden. Dabei macht er mit der Verbalisierung des Begriffs, dem Idyllisieren, nicht nur ein ­Darstellungsverfahren stark, das in der Prosa des 19. Jahrhunderts dominant werden wird, sondern bindet es auch an jenen Text zurück, an dem die Auflösung der Gat­ tung Idylle für gewöhnlich festgemacht wird. Die Nummer 158 aus den Fragmenten zur Litteratur und Poesie formuliert dies in aller Prägnanz: „Hermann und Do­ro­ thea ein romantisirtes Epos, das eben darum idyllisirt.“ (KFSA XVI, S. 98)

3 Idyllen als poetische Landschaftsstücke betrachtet – Novalis’ Fragmente Im Horizont dieser Befunde wird mit Blick auf Novalis nun ein Bogen von der frühen Lyrik zu den späteren Fragmenten geschlagen. Ausgangspunkt der Überlegungen ist ein auf Herbst 1789 datierbares Widmungsgedicht an August Wilhelm Schlegel. Es besteht aus vier Sonetten, in denen Novalis seine Berufung zum Dich­ ter beschwört und um die Dichterfreundschaft mit dem älteren Schlegel bittet. Ver­ bun­den werden die vier Sonette über ein abgewandeltes Schiller-Zitat. Aus Schillers „Auch ich war in Arkadien geboren“ aus der Ode Resignation (1786) wird das präsentische „Auch ich bin in Arkadien gebohren“.27 Mit dem Präsens bewahrt er seiner Dichtung die Möglichkeit, die Wiederkehr des goldenen Zeitalters zu gestalten. Als solche Gestaltungsversuche sind seine Romanfragmente durchaus zu verstehen. Novalis verknüpft hier den Arkadienmythos, und darauf kommt es im Folgenden an, mit dem Sonett, das wiederum auf August Wilhelm Schlegel bezogen ist. Das ist erstens interessant, weil sich dieser ausführlich mit dem Sonett auseinandergesetzt hat, zweitens, weil von Novalis Fragmente vorliegen, die diese Auseinandersetzung aufgreifen, und drittens, weil sich daraus eine Theorie der Landschaft extrapolieren lässt, in welcher Novalis der Idylle, sofern man sie „als poetische Landschaftsstücke betrachtet“ (HKA III, S. 570), einen prominenten Platz einräumt. August Wilhelm Schlegel hat wesentlich zur Aufwertung des Sonetts beigetragen.28 Für ihn repräsentiert das Sonett die romanische Lyrik, es steht für die Musikalität der poetischen Sprache sowie für die sich aus seiner Form ergebende Verbindung zur bildenden Kunst. In Zusammenarbeit mit Caroline Schlegel arbeitet er die Affinität von Sonetten und Gemälden aus, sie erfinden die sogenannten Gemäldesonette. Und sie veröffentlichen im zweiten Athenaeums-Band 1799 unter dem Titel Die Gemählde einen Dialog, der mit einem Zyklus von Gemäldesonetten  Friedrich Schiller: „Resignation“ [Zweite Fassung]. In: Schillers Werke. Nationalausgabe, begr. v. Julius Petersen. Bd. II/1: Gedichte. Hg. v. Norbert Oellers. Weimar 1983, S. 401ff., hier S. 401. 28  Vgl. zum Folgenden auch Thomas Borgstedt: Topik des Sonetts. Gattungstheorie und Gattungsgeschichte. Berlin, New York 2009. 27

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abschließt. Handlungsort des Dialogs ist eine Galerie, zum Gegenstand hat der Di­ a­log ausführliche Gemäldebeschreibungen, darunter Raffaels Madonna, sowie Reflexionen über das Vermögen der poetischen Sprache und über das Prinzip „gesellige[r] Wechselberührung“ als Mittel der Transzendierung und Verbindung einzelner Künste.29 Die den Dialog abschließenden geistlichen Gemälde werden als eine „Verwandlung von Gemählden in Gedichte“ aufgefasst, die dem Glauben „als schöne freye Dichtung [...] unvergängliche Dauer“ verleiht.30 Die Gemäldesonette, so lässt sich zusammenfassen, sind also eine Spielart frühromantischer Kunstreligion, und der Dialog mit seinem programmatischen Ziel einer wechselseitigen Annäherung der Künste ist ein Beitrag zur frühromantischen Theorie der Gattungsmischung. Novalis nimmt darauf in einem Konvolut mit Studien zur bildenden Kunst unter dem Titel Antiken Bezug und macht die Gemäldesonette zu einem Baustein seiner Theorie der Landschaft, die neben anderem mehr ein Projekt der Wiederbelebung der Antiken sind. In diesem Fragment werden zunächst das Individuum und die Menschheit sowie die Nationen und Gesellschaften als geschichtlich geworden und stets in Entwicklung befindlich gefasst. Mit Bezug auf Fichte wird dann die Mitt­ler­ funk­ti­on der Chemie – „Fichtes intellectuelle Chemie. Die Chemie ist der leidenschaftliche Boden. Die Chemie ist die roheste und Erste Formation“ (HKA II, S. 648) – für die Verbindung von Materie und Geist eingeführt. Zugleich wird die Chemie als „Erste Formation“ in ihrer Fähigkeit zur Gestaltbildung betrachtet, man könnte auch sagen, sie wird als eine Spielart der Verflechtung von Natur und Kultur, als ‚natureculture‘ konzipiert.31 Dies ermöglicht im nächsten Schritt die metonymische Verschiebung zu Formen der Gestaltbildung, die man für gewöhnlich dem Be­ reich der Kultur zurechnet  – „Gemähldebeschreibungen etc. / Über Landschaftsmalerey – und Malerey gegen Sculptur überhaupt“ (HKA II, S. 648). Die folgende Behauptung wiederum, dass sich alles „zugleich quadriren und nicht quadriren las­ sen [muß]“ und der „Nutzen, der Gebrauch“ davon „unendlich graduell“ ist (HKA II, S. 648), biegt die künstlichen Gestaltbildungen wieder auf natürliche zurück. Be­ tont werden so erneut Natur-Kultur-Verflechtungen, „Landschaften – Oberflächen – Structuren  – Architektonische. HöhlenLandschaften. Atmosphären, WolkenLandschaften“ (HKA II, S.  648). Mit Novalis’ transzendentalphilosophischer Theorie der Wechselrepräsentation gesprochen entsteht die Ganzheit der Landschaft, indem das Bedingte erhöht und das Unbedingte erniedrigt wird. Diese Ganzheit der Land­ schaft bildet einen lebendigen Organismus und wird anschaulich in der Un­end­lich­ keit ihrer Naturvariationen: „Die ganze Landschaft soll Ein Individuum bilden – Ve­ ge­ta­ti­on und unorganische Natur – Flüssige, Feste – Männliche – Weibliche. geognostische Landschaften. Natur Variationen.“ (HKA II, S.  648) Anschließend an diese naturphilosophische Bestimmung von Landschaft befragt Novalis den Stel­  August Wilhelm Schlegel: Die Gemählde. Gespräch. In: Athenäum II (1799), S. 39–151, hier S. 49. Vgl. dazu auch Thomas Borgstedt: Topik des Sonetts, S. 437. 30  Schlegel: Die Gemählde, S. 137 und S. 136. 31  Vgl. zum Begriff ‚natureculture‘ Donna Haraway: The Companion Species Manifesto. Dogs, People, and Significant Otherness. Chicago 2003, S. 1. 29

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len­wert der Kunst: „Müssen nicht Sculptur und Malerey symbolisch seyn. / Die Ge­ mäl­de Gallerie ist eine Vorrathskammner indirecter Reitze aller Art für den Dichter. / Nothwendigkeit aller Kunstwerke. / Jedes K[unst]W[erk] hat ein Ideal a priori – hat eine Nothwendigkeit bey sich da zu seyn.“ (HKA II, S.  648) Die Kunst der Alten, so könnte man diese Aussagen verstehen, birgt den Stoff für die Künstler der Gegenwart: Diese sind einerseits an Browns moderner Reiztheorie geschult, bzw. an deren Implementierung in Novalis’ geschichtsphilosophisches Konzept, nach dem alles Materielle als Ausdruck des Geistes erscheint; andererseits jedoch „wird [man] durch die Antiken gezwungen sie [die Kunstwerke] als Heiligthümer zu be­ han­deln“ (HKA II, S. 648). Und zwar deshalb, weil „[b]esondere Arten von Seelen und Geistern. Die Bäume, Landschaften, Steine, Gemählde bewohnen“, weil jede Landschaft als „Dryade und Oreade“ (HKA II, S. 648) anzusehen ist. Landschaften sind, so betrachtet, Räume der Begegnung von Wald- und Bergnymphen, und als solche Räume der Begegnung von Materie und Geist erfordern sie einen spezifischen Modus der Wahrnehmung: „Eine Landschaft soll man fühlen, wie einen Körper.“ (HKA II, S. 648) Das Fragment schließt mit der Erläuterung: „Jede Land­ schaft ist ein idealischer Körper für eine besondre Art des Geistes. / Das Sonnett. / Der Witz./ Sinn fürs Alterthum – d[urch] d[ie] Antiken geweckt.“ (HKA II, S. 648) Abschließend wird also mit dem Witz nochmals der Gedanke der Vermittlung akzentuiert, und mit dem Hinweis auf das Sonett führt das Fragment am Ende auf seinen Anfang zurück, auf „Die Madonna“ (HKA II, S. 648). Diese Verknüpfung von Sonett und Madonna wiederum führt zu der erwähnten Aufwertung des Sonetts durch August Wilhelm Schlegel. In vergleichbarer Weise reflektiert auch ein Fragment aus dem Allgemeinen Brouillon Verhältnisbeziehungen zwischen den Begriffen Antike, Natur und Landschaft: „ARCHAEOLOGIE. Galvanism der Antiken, ihr Stoff-Revivification des Alterthums. Wunderbare Religion, die sie umschwebt – Ihre Geschichte – die Philosophie der Skulp­ tur – Gemmen – menschliche Petrificationen – Mahlerey – Portrait – Landschaften – der [Me]nsch hat immer symbolische Philosophie seines Wesens in seinen Werken und seinem Thun und Lassen ausgedrückt – Er verkündigt sich und sein Evangelium der Natur. Er ist der Messias der Natur – die Antiken sind zugleich Produkte der Zukunft und der Vorzeit – Göthe betrachtet die Natur wie eine Antike – Karacter der Antike – die Epigrammen – die Antiken sind aus einer andern Welt – Sie sind, wie vom Himmel gefallen. Etwas über die Madonna. Zum Schluß einige Gedichte. Die Betrachtung der Antiken muß gelehrt (phy­ sisch) und poëtisch seyn. Giebt es eine Zentral Antike – oder einen Universalgeist der Antiken? Mystischer Sinn für Gestalten. D[ie] Antiken berühren nicht Einen sondern alle Sinne, die ganze Menschh[ei]t.“ (HKA III, S. 248)

Eine am Galvanismus orientierte Wiederbelebung der Antike, so die hier formulierte Vorstellung, würde zu einer neuen, religiös begründeten Auffassung von Kunst führen. Bzw. genauer noch, zu einer neuen Verbindung von Naturreligion und Kunst. An den Antiken könne man sehen, dass Kunst immer eine symbolische Re­ prä­sen­ta­ti­on des Menschen und seines Verhältnisses zur Natur sei. Der Mensch – so wörtlich – „verkündigt sich und sein Evangelium der Natur. Er ist der Messias der Natur.“ Hier klingt Vergils Erneuerung der Arkadienvorstellung durch die In­te­gra­ ti­on des messianischen Erlösungsgedankens an. Bezugspunkt ist hier jedoch nicht,

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wie bei Vergil, die Politik, sondern die Natur. Deutlich erkennbar rückt das Projekt einer Wiederbelebung der Antiken – „die Antiken sind zugleich Produkte der Zu­ kunft und der Vorzeit“ – in den geschichtsphilosophischen Kontext der Moderne um 1800. Im vorliegenden Fragment ist dies mit Goethe markiert, dessen Art und Weise der Naturbetrachtung beispielgebend ist. Die reflexive Dimension eines solchen Antike-­Bezugs wird auch durch den Hinweis auf die Epigramme und die Mar­kie­ rung der zeitlichen Distanz hervorgehoben: „die Epigrammen – die Antiken sind aus einer andern Welt – Sie sind, wie vom Himmel gefallen“. Und schließlich kön­ nen die Antiken, die „nicht Einen sondern alle Sinne [berühren]“, für die Einlösung des romantischen Konzepts der Synästhesie stehen. Im Horizont dieser beiden Fragmente betrachtet wird auch ein weiteres Frag­ ment aus dem Allgemeinen Brouillon verständlicher, in dem Novalis seine Theorie der Landschaft gleichsam epigrammatisch auf den Punkt bringt: „Wenn man die Idyllen, als poëtische Landschaftsstücke betrachtet – so gewinnen sie.“ (HKA III, S. 570) Die Fragen, die dieses Fragment aufwirft – Was heißt es, Idyllen als poetische Landschaftsstücke zu betrachten? Und: Worauf bezieht sich der Gewinn? – las­ sen sich, das sollten die bisherigen Ausführungen deutlich gemacht haben, leichter beantworten, wenn man Friedrich Schlegels Gattungsreflexionen hinzuzieht. Poetische Landschaftsstücke sind dann stets als Teil eines umfassenderen Ganzen zu be­ trach­ten. Landschaftstücke sind keine Idyllen im Gattungssinn, vielmehr geht es um Verfahrensweisen des Idyllisierens, um das Herstellen von poetischen Landschaftsbildern, die als idyllisch rezipiert werden können und die darin, den Antiken vergleichbar und im Anschluss an die Modernisierung des Arkadienmythos formuliert, „Produkte der Zukunft und der Vorzeit“ (HKA III, S. 248) sind.

4 Gattungsauflösende Transformationen – Friedrich Schlegels und Novalis’ unreine Idyllen Abschließend ist nochmals auf den Anfang zurückzukommen – auf Friedrich Schlegels Kölner Vorlesung von 1807: Hier äußert sich Schlegel auf ca. eineinhalb Seiten (KFSA XV.2, S. 70–71) zur Idylle, nachdem er zunächst gesagt hatte, sie sei eine wichtige Untergattung, die keine Stelle in seiner Abhandlung gefunden habe. Er be­ ­ tont Gemeinsamkeiten und Unterschiede zur Epik, präsentiert traditionelle Gattungsbestimmungen,32 führt dann Näheres zum Schäferroman aus, nennt Boc-

32  „〈[Sie] ist bei den Alten eine Unter- und Abart des Epischen; hier ist nur eine sehr kleine schwache Verschiedenheit vom Epischen –[.]〉 Sie ist bey den Alten nach dem Metro episch; dadurch daß sie erzählt[, dem] Carakter[, der] Darstellung nach ethisch[; der] Inhalt [ist] meist erotisch und bukolisch und dies unterscheidet die Idylle von dem Epos[,] daß sie nicht heroisch, sondern bukolisch[.] 〈Indessen ist sie doch nicht auf das Hirtenleben eingeschränkt[,] sondern überhaupt für leichte Erzählungen[,] liebliche Begebenheiten. / Bey den Römern ward das Bucolische idealisirt von Leuten[,] die mit dem Landleben nicht bekannt waren.〉 / Bey den Neuern ist eine eigene Unterabtheilung des Romans dadurch entstanden[,] der Schäferroman“ (KFSA XV.2, S. 70).

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caccios Ameto, Sannazaros Arcadia und Cervantes’ Galatea, um dann zu dem Schluss zu kommen: Es ist dies eine sehr zufällige Abart; die eben keine Billigung verdient[.] Es ist gar kein Grund vorhanden, eine eigene Trennung für diese Gattung zuzugeben[.] Es ist immer po­e­ tisch, das Landleben[,] und ein Contrast seiner Stille und Freundlichkeit mit Krieg[,] ­Unruhe des Ritterlebens und [des] Kriegs usw. [,] aber dies kömmt genug auch in anderen alten Werken beyläufig vor – 〈in einer größeren Dichtung macht im Gegensatz eine solche Darstellung große Würkung, bey der Absonderung verliert sich aber diese[.]〉 (KFSA XV.2, S. 70)

Das Problem, das Schlegel sieht, besteht in der Absonderung. Auf die Ab­son­de­rung zielt auch die Kritik, die er an zeitgenössischen Idyllen formuliert: Wird es abgesondert für sich[,] so wird es, wie wir aus der Erfahrung sehen[,] aber bald ganz unbedeutend[,] insipid  – unwürksam  – dies besonders bey den Idyllen der Neue­ ren[.] – Daher [ist] die Idylle als eigene Gattung ein bloßes Phantom – hingegen [ist] der idyllische Stoff durchaus dem poetischen Gebrauch angemessen – [.] Bey den Älteren ist die Idylle nicht wie bey den Neueren so ganz unbedeutend[,] eben weil sie nicht ganz reine Idylle[.] (KFSA XV.2, S. 71)

Die Frage der Absonderung zu stellen ist deshalb besonders interessant, weil der Absonderung in der Idyllenforschung eine systematisch relevante Bedeutung zugewiesen wird. Die kanonisch gewordene Definition der Idylle von Renate Böschenstein-­Schäfer lautet kurz und prägnant: „Der Charakter des Abgeschirmten, Eingegrenzten, Geborgenen bestimmt den Raum der Idylle.“33 Der Begriff der Ab­ son­de­rung bezieht sich damit auf Praktiken der Grenzziehung, die allererst den Raum der Idylle konstituieren. In diesem Sinne bezieht auch Schlegel den Begriff der Absonderung auf die Frage der Gattungsreinheit. Er bezieht ihn aber auch auf das Verhältnis zwischen den Alten und den Neueren. Wenn das, was die Idylle verhandelt, auch in anderen Gattungen verhandelt werden kann, so das Argument, dann hat die Idylle als eigene Gattung keine Berechtigung. Es macht also einen Unterschied, ob man, wie die Modernen, auf die Reinheit der Gattung pocht, oder, wie die Antiken und Älteren, be­ reit ist, Unreinheiten zuzulassen. Folgt man dem Prinzip der Gattungsreinheit, so lässt sich Schlegel paraphrasieren, dann sind Idyllen unbedeutend. Hält man sich jedoch nicht an die „ganz reine Idylle“ und folgt dem Prinzip der Gattungsmischung, wie etwa Cervantes, dessen Galatea laut Schlegel „ein Zwitter“ (KFSA XV.2, S. 71) ist, dann lässt sich, zumal im Horizont der romantischen Fragmentästhetik betrach­ tet, auch die Absonderung produktiv machen: „Ein Fragment muß gleich einem kleinen Kunstwerke von der umgebenden Welt ganz abgesondert und in sich selbst vollendet sein wie ein Igel.“ (KFSA II, S. 197) Abgesondert wie ein Igel und doch vernetzt mit dem großen Ganzen des romantischen Romans, ist „der idyllische Stoff durchaus dem poetischen Gebrauch angemessen“ (KFSA XV.2, S.  71). In dieser Angemessenheit wird der idyllische Stoff zum idyllischen Ton, der sich mit dem mimischen, satirischen und epischen Ton mischt und so den universalpoetisch organisierten romantischen Roman ermöglicht. 33

 Böschenstein-Schäfer: Idylle, S. 8.

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In der Forschungsdiskussion zur Auflösung der Idylle als eigenständiger Gattung spielen Schlegels Gattungsreflexionen keine ausgewiesene Rolle, obwohl sie, wie gezeigt, dazu einen systematisch relevanten Beitrag leisten. Mit und gegen Schiller argumentiert bilden sie das romantische Seitenstück zu dessen klassizistischer Idyllentheorie in Ueber naive und sentimentalische Dichtung (1795), insofern auch sie eine Verschiebung von der Idylle als eigenständige Gattung zum Idyllischen unternehmen. Ebenso lassen sie sich an die Seite von Jean Pauls Vorschule der Äs­ the­tik (1. Aufl. 1804, 2. Aufl. mit ‚Idyllenparagraph‘ 1813) stellen. Bestimmt Schiller das Idyllische als Empfindungsweise, so hebt Jean Paul die Gattungsbeschränkung auf und bestimmt das Idyllische als „Nebenform des Romans“.34 Während für Schillers Bestimmung jedoch der Arkadienmythos eine leitende Funk­ ti­on hat, ist dies für Schlegel, und das unterscheidet ihn auch von Novalis, nicht der Fall. Insofern könnte man sagen, wenn Schlegel das Idyllische als Ton bestimmt, der an keine bestimmte Gattung gebunden ist, liegt er näher bei Jean Paul als bei Schiller. Gerade deshalb ist es aber auch nicht uninteressant zu erwähnen, dass Jean Paul seinen berühmten Idyllenparagraphen erst in die zweite Auflage seiner Vor­ schu­le der Ästhetik von 1813 eingefügt hat, mithin Schlegels Bestimmung die chronologisch frühere ist. Auch mit Blick auf Novalis und auf sein Fragment aus dem Allgemeinen Brouil­ lon ist eine die Gattung auflösende Transformation der Idylle zu beobachten. Er hatte dort proklamiert: „Wenn man die Idyllen, als poëtische Landschaftsstücke betrach­tet – so gewinnen sie.“ (HKA III, S. 570) Unter der Voraussetzung der sich kreuzenden Stimmen von Novalis und Schlegel kann man festhalten: Die von Schlegel kritisierte Absonderung der Idylle ist offenbar nicht problematisch, sofern man – wie Novalis es tut – kleinere, in sich abgeschlossene idyllische Naturszenen als poetische Landschaftsstücke betrachtet. In Novalis’ poetischer Praxis sind diese Landschaftsstücke nämlich stets auch Bruchstücke in Prosa, die Teile eines Ganzen sind und im Handlungszusammenhang eines Romans stehen. Solche, gleichsam insuläre Idyllen, deren Umgebung die ausgreifende Romanform ist, sind generell kenn­zeich­ nend für die Aneignung der Gattung Idylle durch die Romantik. Novalis’ Roman Heinrich von Ofterdingen ist hierfür auch insofern beispielhaft, als aus der erläuterten Verknüpfung von Gattungsreflexion und Reflexion des Landschaftsbegriffs eine als ökologisch qualifizierbare Auffassung von Natur hervorgeht. Diese in Novalis’ Roman Heinrich von Ofterdingen eingelassenen poetischen Landschaftsstücke sind nicht nur deshalb idyllisch, weil sie erkennbar jene Versatzstücke der Natur enthalten, die zu den kanonischen Idyllentopoi gehören. Idyllisch sind sie auch, weil Ideal und Wirklichkeit in ihnen als vereint vorgestellt werden. Überdies stellen sie, um eine Bestimmung Schlegels aufzugreifen, eine ‚subjektive Einheit‘ dar, sind sie doch als äußere Landschaft der Natur und innere Landschaft des Gemüts wechselseitig aufeinander bezogen. Auf diese Weise bilden sie zugleich eine lebendige Einheit, und zwar auch deshalb, weil Novalis Natur generell als lebendigen, fortwährend verändernden Organismus auffasst.

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 Böschenstein-Schäfer: Stichwort ‚Idyllisch/Idylle‘, S. 130.

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Eine in dieser Hinsicht aufschlussreiche Betrachtung der Idylle als poetisches Landschaftsstück liefert der Beginn des siebten Kapitels. Im Kapitel zuvor hatten sich Heinrich und Mathilde als Liebespaar gefunden. Nun fragt der Dichter Klingsohr Heinrich und seine Mutter, ob sie Lust hätten, mit ihm und Mathilde „vor der Stadt auf einer schönen Anhöhe zu frühstücken“; wenig später begeben sie sich „nach einem kleinen Hügel am Flusse, wo sich unter einigen hohen Bäumen eine weite und volle Aussicht öffnete“ (HKA I, S. 279) – eine idyllische Szenerie, dem Picknick im Walde aus Vossens Luise vergleichbar. Völlig verschieden aber sind die Aussichten, ist konkret der Blick in die idyllische Landschaft. Wo in Vossens Luise die Schamesröte Regie führt,35 sind es hier – um nochmals Schlegel zu zitieren – der erotische Geist der Idylle, d. h. „Freude, Lust und Entzücken“ sowie ein feuriger Blick Heinrichs: Jene Fernen sind mir so nah, und die reiche Landschaft ist mir wie eine innere Fantasie. Wie veränderlich ist die Natur, so unwandelbar auch ihre Oberfläche zu seyn scheint. Wie anders ist sie, wenn ein Engel, wenn ein kräftigerer Geist neben uns ist, als wenn ein Nothleidender vor uns klagt, oder ein Bauer uns erzählt, wie ungünstig die Witterung ihm sey, und wie nöthig er düstre Regentage für seine Saat brauche. (HKA I, S. 279f.)

Im Horizont des universalpoetischen Romans gewinnt die Idylle als poetisches Landschaftsstück betrachtet auch deshalb, weil sie die ganze Natur integrieren kann und das Andere des Schönen und Harmonischen nicht ausgrenzen muss.36 Eine be­ son­ders eindrückliche Gestaltung einer in dieser Weise ‚ganzen Natur‘ findet sich im Klingsohr-Märchen gestaltet. Hier wird die königliche Schatzkammer wie folgt beschrieben: Die Schatzkammer war ein großer Garten, dessen Mannigfaltigkeit und Reichtum alle Be­ schrei­bung übertraf. [...] Große Herden von Schäfchen, mit silberweißer, goldner und rosenfarbner Wolle irrten umher, und die sonderbarsten Tiere belebten den Hain. [...] Auf einer Anhöhe erblickten sie ein romantisches Land, das mit Städten und Burgen, mit Tem­ peln und Begräbnissen übersäet war, und alle Anmut bewohnter Ebenen mit den furchtbaren Reizen der Einöde und schroffer Felsengegenden vereinigte. [...] Die Ferne schmückte sich mit allen Veränderungen von Blau, und aus der Dunkelheit des Meeres wehten unzählige bunte Wimpel von zahlreichen Flotten. Hier sah man einen Schiffbruch im Hintergrunde, und vorne ein ländliches fröhliches Mahl von Landleuten; dort den schrecklich schönen Ausbruch eines Vulkans, die Verwüstungen des Erdbebens, und im Vordergrunde ein liebendes Paar unter schattenden Bäumen in den süßesten Liebkosungen. [...] Die Szenen verwandelten sich unaufhörlich, und flossen endlich in eine große geheimnisvolle Vor­ stel­lung zusammen. Himmel und Erde waren in vollem Aufruhr. Alle Schrecken waren losgebrochen. [...] Ein Scheiterhaufen türmte sich empor, und unter dem grausenvollsten Ge­ heul wurden die Kinder des Lebens von den Flammen verzehrt. Plötzlich brach aus dem 35  Exemplarisch etwa in der ersten Idylle, Das Fest im Walde, in der Luise auf die Annäherung Walters wie folgt reagiert: „Leise bebt’ ihr die Lipp’, und wandte sich; aber ihr Antlitz / Lächelte, hold verschämt, wie ein Frühlingsmorgen erröthend. / Und sie entschlüpfte dem Arm, und brach ein unscheinbares Blümchen / Seitwärts, stand in Gedanken, und schaut’ es an, wie bewundernd.“ Johann Heinrich Voß: Luise. Ein ländliches Gedicht in drei Idyllen [1795/1823]. In: Ders.: Ausgewählte Werke. Hg. v. Adrian Hummel. Göttingen 1996, S. 36–93, hier S. 41. 36  Vgl. zu solchen idyllentypischen Strategien der Ausgrenzung Barbara Thums: Ethik der Transformation. Das Modell ‚Idylle‘. In: Robert Matthias Erdbeer, Florian Kläger, Klaus Stierstorfer (Hg.): Grundthemen der Literaturwissenschaft. Form. Berlin, Boston 2022, S. 382–398.

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B. Thums dunklen Aschenhaufen ein milchblauer Strom nach allen Seiten aus. Die Gespenster wollten die Flucht ergreifen, aber die Flut wuchs zusehends, und verschlang die scheußliche Brut. Bald waren alle Schrecken vertilgt. Himmel und Erde flossen in süße Musik zu­sam­ men. Eine wunderschöne Blume schwamm glänzend auf den sanften Wogen. Ein glänzender Bogen schloß sich über die Flut auf welchem göttliche Gestalten auf prächtigen Thro­ nen, nach beiden Seiten herunter, saßen. Sophie saß zu oberst, die Schale in der Hand, neben einem herrlichen Manne, mit einem Eichenkranze um die Locken, und einer Friedenspalme statt des Zepters in der Rechten. Ein Lilienblatt bog sich über den Kelch der schwimmenden Blume; die kleine Fabel saß auf demselben, und sang zur Harfe die süßesten Lieder. In dem Kelche lag Eros selbst, über ein schönes schlummerndes Mädchen hergebeugt, die ihn fest umschlungen hielt. Eine kleinere Blüte schloß sich um beide her, so daß sie von den Hüften an in eine Blume verwandelt zu sein schienen. (HKA I, S. 300)

In dieser Perspektive ist das Idyllische, um nochmals mit Schlegel zu sprechen, stets zugleich eine Vorübung zu einer romantischen Poesie, die, auch im Hinblick auf Bestimmungen des Ökologischen, Wechselwirkungen inszeniert und auf eine Vereinigung des Realen und Idealen, des Endlichen und Unendlichen zielt;37 d. h. es ist Vorübung im Sinne der Gattungsmischung und auf ein Ganzes verweisendes Fragment. Die ökologischen Dimensionen solcher Wechselbeziehungen kommen ins­be­son­ de­re in den Materialien zur Fortsetzung des Heinrich von Ofterdingen zur Geltung. Hier wird die künftige Landschaft als ökologische, als Oikos und Wechselbeziehung von Mehr-als-Menschlichem vorstellbar. Heinrich ist hier stets in Begleitung des Hirtenmädchens Zyane. Am Ende des Romanfragments hatte ihn Zyane zu Sylve­ s­ter geführt, der ihm das Geheimnis der stummen Blumensprache aufschließt und ihm von Glücksgefühlen erzählt, die man aus der abgesonderten Welt der Idylle kennt: Ich bin nicht müde geworden, besonders die verschiedene Pflanzennatur auf das sorgfältigste zu betrachten. Die Gewächse sind so die unmittelbarste Sprache des Bodens; jedes neue Blatt, jede sonderbare Blume ist irgend ein Geheimnis, was sich hervordrängt und das, weil es sich vor Liebe und Lust nicht bewegen und nicht zu Worten kommen kann, eine stumme, ruhige Pflanze wird. Findet man in der Einsamkeit eine solche Blume, ist es da nicht, als wäre alles umher verklärt und hielten sich die kleinen befiederten Töne am liebsten in ihrer Nähe auf? Man möchte für Freuden weinen, und abgesondert von der Welt nur seine Hände und Füße in die Erde stecken, um Wurzeln zu treiben, und nie diese glückliche Nachbarschaft zu verlassen. (HKA I, S. 329)

‚Abgesondert von der Welt‘ erschließen sich in der „lebendige[n] Natur“ (HKA I, S.  329) mehr-als-menschliche Wechselbeziehungen, und im Wunsch, Pflanze zu sein, sich mit dem Boden und dem, was seine Sprache vermittelt, zu verbinden, offenbart sich ein Glück verheißendes Resonanzgeschehen. Auf idyllischem Grund offenbart sich ein mehr-als-menschlicher oikos, der unter der Formel „Poëtisierter Idealism“ ein poetisches Landschaftsbruchstück entwirft: „Menschen, Thiere, Pflanzen, Steine und Gestirne, Flammen, Töne, Farben, müssen hinten zusammen, wie Eine Familie 〈handeln〉 oder Gesellsch[aft] wie Ein Geschlecht handeln und sprechen.“ (HKA I, S. 347)  Vgl. dazu Roland Borgards, Frederike Middelhoff, Barbara Thums: Romantische Ökologien. Zur Einleitung. In: Dies. (Hg.): Romantische Ökologien. Berlin 2023, S. 1–18. 37

Idylle

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Literatur Borgards, Roland, Frederike Middelhoff, Barbara Thums: Romantische Ökologien. Zur Ein­lei­ tung. In: Dies. (Hg.): Romantische Ökologien. Berlin 2023, S. 1–18. Borgstedt, Thomas: Topik des Sonetts. Gattungstheorie und Gattungsgeschichte. Berlin, New York 2009. Böschenstein-Schäfer, Renate: Idylle. 2. Aufl. Stuttgart 1977. Böschenstein-Schäfer, Renate: Idyllisch/Idylle. In: Karlheinz Barck u.a. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Bd. 3: Harmonie  – Material. Stuttgart, Weimar 2001, S. 119–138. Dierkes, Hans: Literaturgeschichte als Kritik. Untersuchungen zu Theorie und Praxis von Friedrich Schlegels frühromantischer Literaturgeschichtsschreibung. Tübingen 1980. Garber, Klaus: Arkadien und Gesellschaft. Skizze zur Sozialgeschichte der Schäferdichtung als utopischer Literaturform Europas. In: Wilhelm Voßkamp (Hg.): Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien. Bd. 2. Stuttgart 1982, S. 37–81. Hämmerling, Gerhard: Die Idylle von Geßner bis Voß. Theorie, Kritik und allgemeine geschichtliche Bedeutung. Frankfurt a.M. 1981. Haraway, Donna: The Companion Species Manifesto. Dogs, People, and Significant Otherness. Chicago 2003. Hardenberg, Friedrich von: Novalis Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Historisch-­ kritische Ausgabe. Begründet von Paul Kluckhohn und Richard Samuel. Hg. von Richard Sa­ mu­el in Zusammenarbeit mit Hans-Joachim Mähl und Gerhard Schulz. Verschiedene Auflagen. 6 Bände. Stuttgart 1960 ff. Hentschel, Uwe: Salomon Gessners Idyllen und ihre deutschsprachige Rezeption im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert. In: Orbis Litterarum 54 (1999), S. 332–349. Hibberd, John: The Idylls in Friedrich Schlegels Lucinde. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 51/1 (1977), S. 222–246. Kaiser, Gerhard: Wandrer und Idylle. Goethe und die Phänomenologie der Natur in der deutschen Dichtung von Geßner bis Gottfried Keller. Göttingen 1977. Lessing, Gotthold Ephraim: Zerstreute Anmerkungen über das Epigramm, und eine der vornehmsten Epigrammatisten. In: Ders.: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hg. v. Wilfried Barner und Klaus Bohnen, Frankfurt a.M. 2000, S. 179–290. Mähl, Hans-Joachim: Die Idee des goldenen Zeitalters im Werk des Novalis. Studien zur Wesensbestimmung der frühromantischen Utopie und zu ihren ideengeschichtlichen Voraussetzungen. 2. unveränderte Aufl. Tübingen 1994. Mendelssohn, Moses: Briefe, die neueste Literatur betreffend (Auszüge). In: Helmut J. Schneider (Hg.): Deutsche Idyllentheorien im 18. Jahrhundert. Tübingen 1988, S. 144–153. Møller, Andreas Hjort: Das alexandrinische Jena. Zur philologischen Mereologie Friedrich Schlegels. In: Christian Benne, Ulrich Breuer (Hg.): Antike  – Philologie  – Romantik. Friedrich Schlegels altertumswissenschaftliche Manuskripte. Paderborn 2011, S. 207–226. Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. In: Schillers Werke. Nationalausgabe. Bd. 20. Hg. v. Benno von Wiese. Weimar 1962, S. 413–503. Schiller, Friedrich: „Resignation“ [Zweite Fassung]. In: Schillers Werke. Nationalausgabe, begr. v. Julius Petersen. Bd. II/1: Gedichte. Hg. v. Norbert Oellers. Weimar 1983, S. 401–403. Schlegel, August Wilhelm: Die Gemählde. Gespräch. In: Athenaeum II (1799), S. 39–151. Schlegel, Friedrich: Kritische Ausgabe. Begründet von Ernst Behler, fortgeführt von Andreas Arndt, hg. von Ulrich Breuer. Paderborn u. a. 1958ff. Schneider, Florian: Im Brennpunkt der Schrift. Die Topographie der deutschen Idylle in Texten des 18. Jahrhunderts. Würzburg 2004. Schneider, Helmut J.: Einleitung: Antike und Aufklärung. Zu den europäischen Voraussetzungen der deutschen Idyllentheorie. In: Ders. (Hg.): Deutsche Idyllentheorien im 18. Jahrhundert. Tü­ bin­gen 1988, S. 7–74.

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B. Thums

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Natur. Spielarten romantischer Ökologien bei Friedrich von Hardenberg, Friedrich Schlegel und Karoline von Günderrode Roland Borgards

„Bild[ungs]Lehre d[er] Natur. Die Natur soll moralisch werden. Wir sind ihre Erzieher – ihre moralischen Tangenten – ihre moralischen Reitze.“ (Friedrich von Hardenberg)* „Die Welt im Ganzen und ursprüngl[ich] ist eine Pflanze.“ (Friedrich Schlegel)** „Die unendliche Natur will sich stets neu offenbaren in der unendlichen Zeit.“ (Karoline von Günderrode)***

*Novalis Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Historisch-kritische Ausgabe. Begründet von Paul Kluckhohn und Richard Samuel. Hg. von Richard Samuel in Zusammenarbeit mit Hans-Joachim Mähl und Gerhard Schulz. 6 Bände. Stuttgart 1960–2008, Bd. 3, S. 252. (Künftig mit der Sigle HKA). **Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Begründet von Ernst Behler, fortgeführt von Andreas Arndt, hg. von Ulrich Breuer. München, Paderborn, Wien u.a. 1958ff., Bd. 18, S. 151. (Künftig mit der Sigle KFSA). ***Karoline von Günderrode: Sämtliche Werke und ausgewählte Studien. Historisch-Kritische Ausgabe. Hg. v. Walter Morgenthaler. Frankfurt a.M. 1990–1991, Bd. 1, S. 356.

R. Borgards (*) Institut für deutsche Literatur und ihre Didaktik, Goethe-Universität Frankfurt am Main, Frankfurt am Main, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2025 R. Borgards, K. Heumann (Hrsg.), Sich kreuzende Stimmen, Neue Romantikforschung 8, https://doi.org/10.1007/978-3-662-70600-8_6

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R. Borgards

‚Natur‘ ist ein problematischer Begriff. In seiner Gegenstellung zu ‚Kultur‘ fügt er sich rasch in eine binär-hierarchische Opposition und organisiert so die ganze be­ kann­te Serie dunkler Asymmetrien: Mann und Frau, Mensch und Tier, Gebildete und Ungebildete, Europäer und Indigene – die Liste einschlägiger Gegensätze ließe sich verlängern. Es ist deshalb ratsam, von ‚Natur‘ nur mit einer dekonstruktiven Aufmerksamkeit zu sprechen,1 die hierarchische Gegenstellung in eine verflochtene „natureculture“2 zu überführen, auf „die Auflösung des alten Formats Natur/Kultur“3 hinzuarbeiten, etwa im Sinne eines ‚planetaren Denkens‘,4 oder in bestimmten Zusammenhängen ganz auf den Begriff der Natur zu verzichten.5 Neben diese systematischen Vorsichtsmaßnahmen lässt sich nun eine gleichfalls hilfreiche Historisierung stellen,6 hat doch der Begriff ‚Natur‘ eine lange und komplexe Ge­schich­te.7 In dieser Geschichte spielt die Romantik eine zentrale und zugleich ambivalente Rolle, insofern sich in ihr beide Haltungen finden lassen: einerseits die forcierte Entgegensetzung von Natur und Kultur, andererseits aber auch die entschlossene Verschränkung von Natur und Kultur.8 Dem entspricht in ­epistemologischen Kategorien das Verhält Jacques Derrida hat das u. a. am Beispiel des Tieres vorgeführt, vgl. Jacques Derrida: Das Tier, das ich also bin. Aus dem Französischen von Markus Sedlaczek. Wien 2010. 2  So der Vorschlag von Donna Haraway: When Species Meet. Minneapolis 2008, z. B. S. 5 u. S. 27. 3  So der Vorschlag von Bruno Latour: Kampf um Gaia. Acht Vorträge über das Klimaregime. Berlin 2017, S. 257; vgl. auch Bruno Latour: Das Parlament der Dinge. Für eine politische Ökologie. Frankfurt a.M. 2001. 4  Vgl. Frederic Hanusch, Claus Leggewie, Erik Meyer: Planetar Denken. Ein Einstieg. Bielefeld 2021. 5  So der Vorschlag von Timothy Morton: Ecology without Nature. Rethinking Environmental Aes­ thetics. Cambridge, MA 2007. 6  Vgl. z. B. Dalia Nassar: Romantic Empiricism after the „End of Nature“. Contributions to Environmental Philosophy. In: Dies. (Hg.): The Relevance of Romanticism. Essays on German Romantic Philosophy. New York 2014, S. 296–314. 7  Vgl. Fritz Peter Hager, Tullio Gregory, Alfonso Maierù, Gorgio Stabile, Friedrich Kaulbach: Natur. In: Joachim Ritter, Karlfried Gründer (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 6. Basel, Stuttgart 1984, Sp. 421–478; Wolfgang Riedel: Natur/Landschaft. In: Ulfert Ricklefs (Hg.): Fischer Lexikon Literatur. Frankfurt a.M. 1996, Bd. 3, S. 1417–1433. 8  Aus der Fülle der einschlägigen Forschung zum Naturbegriff der Romantik vgl. zu Hardenberg vor allem Patricia Vieira: Mountains Inside Out. The Sublime Mines of Novalis. In: Interdisciplinary Studies in Literature and Environment 22/2 (2016), S.  1–16; Dalia Nassar: The Romantic Absolute. Being and Knowledge in Early German Romantic Philosophy, 1795–1804. Chicago, London 2014, S. 15–79 („Novalis“); Alison Stone: Being, Knowledge, and Nature in Novalis. In: Journal of the History of Philosophy 46/1 (2008), S. 141–164; Bärbeli Wanning: Die Fiktionalität der Natur. Studien zum Naturbegriff in Erzähltexten der Romantik und des Realismus. Berlin 2005, S. 25–96; Frederick C. Beiser: German Idealism. The Struggle against Subjectivism, 1781–1801. Cambridge, MA, London 2002, S. 407–434 („Novalis’ Magical Idealism“); Axel Goodbody: Natursprache. Ein dichtungstheoretisches Konzept der Romantik und seine Wiederaufnahme in der modernen Naturlyrik (Novalis – Eichendorff – Lehmann – Eich). Neumünster 1984, S. 21–104. Zu Schlegel vgl. vor allem Nassar: The Romantic Absolute, S.  81–154 („Friedrich Schlegel“); Alison Stone: Friedrich Schlegel, Romanticism, and the Re-enchantment of Nature. In: Inquiry 48/1 (2005), S. 3–25; Beiser: German Idealism, S. 435–461 („Friedrich Schlegel’s Absolute Idealism“). Zu Günderrode vgl. vor allem Frederike Middelhoff, Martina Wernli (Hg.): Noch Zukunft haben. Zum Werk Karoline von Günderrodes. Berlin 2023; Anna Ezekiel: Earth, Spirit, Humanity. Community and the Nonhuman in Karoline 1

Natur

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nis von Idealismus (Fichte) und Re­a­lis­mus (Spinoza),9 von der eine direkte Linie zu gegenwärtigen Debatten um eine an­ge­mes­se­ne Theorie der Natur führt.10 Entsprechend intensiv beschäftigen sich die umweltorientierten Geistes- und Kulturwissenschaften, die Environmental Humanities bzw. der Ecocriticism, mit romantischen Künsten und Wissenschaften.11 Herausgearbeitet wurde dabei, dass die von Günderrode’s Idea of the Earth. In: Kir Kuiken (Hg.): Romanticism and Political Ecology (in Vorbereitung); Roland Borgards: „Jch erwachte zu einem süsen Leben im Schoos duftiger Büsche“. Literarische Autoökographien bei Karoline von Günderrode. In: Roland Borgards, Frederike Middelhoff, Barbara Thums (Hg.): Romantische Ökologien. Vielfältige Naturen um 1800. Berlin 2023, S. 105–125; Alison Stone: Bettina von Arnim’s Romantic Philosophy in Die Günderode. In: Hegel Bulletin, 43/3 (2022), S. 371–394; Dalia Nassar: The Human Vocation and the Question of the Earth. Karoline von Günderrode’s Philosophy of Nature. In: Archiv für Geschichte der Philosophie 104/1 (2022), S.  108–130; Joanna Raisbeck: Karoline von Günderrode. Philosophical Romantic. Cambridge 2022; Anna C. Ezekiel: Introduction. The Work of Karoline von Günderrode. In: Karoline von Günderrode (Tian): Poetic Fragments. Translated and with Introductory Essays by Anna C. Ezekiel. New York 2016, S. 1–37; Helga Dormann: Die Kunst des inneren Sinns. Mythisierung der inneren und äußeren Natur im Werk Karoline von Günderrodes. Würzburg 2004, S.  138–202; Wolfgang Westphal: Karoline von Günderrode und „Naturdenken um 1800“. Essen 1993, S. 92–104. Vgl. allgemein auch Elizabeth Millán Brusslan: The Romantic Poetry of Nature. An Antidote to German Idealism’s Eclipsing of Natural Beauty. In: Elizabeth Millán Brusslan, Judith Norman (Hg): Brill’s Companion to German Romantic Philosophy. Boston 2019, S. 97–112; Christian Becker: Ökonomie und Natur in der Romantik. Das Denken von Novalis, Wordsworth und Thoreau als Grundlegung der Ökologischen Ökonomie. Marburg 2003. Für die Bildende Kunst vgl. Nina Amstutz, Anne Bohnenkamp-Renken, Mareike Hennig, Gregor Wedekind (Hg.): Das Bild der Natur in der Romantik. Kunst als Philosophie und Wissenschaft. Paderborn 2021. 9  Zur frühromantischen Auseinandersetzung mit Spinoza bzw. Herders Spinoza-Lektüren vgl. mit Blick auf Schlegel z. B. Brusslan: The Romantic Poetry of Nature, S. 102f.; mit Blick auf Hardenberg z. B. Nassar: The Romantic Absolute, S. 16; mit Blick auf Günderrode z. B. Raisbeck: Karoline von Günderrode, S. 21–35; einen Überblick gibt Michael Mack: Spinoza and Romanticism. In: Elizabeth Millán Brusslan (Hg.): The Palgrave Handbook of German Romantik Philosophy. Cham 2020, S. 65–94. 10  Vgl. hierzu insbesondere die Auseinandersetzung mit Spinoza bei Rosi Braidotti: The Posthuman. Cambridge 2013; Jane Bennett: Vibrant Matter. A Political Ecology of Things. Durham 2010; Karen Barad: Meeting the Universe Halfway. Quantum Physics and the Entanglement of Matter and Meaning. Durham 2007. 11  Dies beginnt schon mit den Gründungstexten des Ecocriticsm von Bate und Buell, vgl. Jonathan Bate: Romantic Ecology. Wordsworth and the Environmental Tradition. London u. a. 1991; Lawrence Buell: The Environmental Imagination. Thoreau, Nature Writing, and the Formation of American Culture. Cambridge, MA 1995. Mit Blick auf die folgende Argumentation vgl. aber vor allem Kate Rigby: Topographies of the Sacred. The Poetics of Place in European Romanticism. Charlottesville 2004; Timothy Clark: Old World Romanticism. In: Ders.: The Cambridge Introduction to Literature and the Environment. Cambridge 2011, S. 15–24; Arran Gare: From Kant to Schelling to Process Metaphysics. On the Way to Ecological Civilization. In: Cosmos and History: The Journal of Natural and Social Philosophy 7/2 (2011), S. 26–69; Benjamin Bühler: Romantische Ökologien. In: Ders.: Ecocriticism. Grundlagen – Theorien – Interpretationen. Stuttgart 2016, S. 107–112; Jeremy Davies: Romantic Ecocriticism. History and Prospects. In: Literature Compass 15/9 (2018), S. 1–15; Heinrich Detering: Menschen im Weltgarten. Die Entdeckung der Ökologie in der Literatur von Haller bis Humboldt. Göttingen 2020; Kate Rigby: Reclaiming Romanticism. Towards an Ecopoetics of Decolonization. London u. a. 2020; Dalia Nassar: Romantic Empiricism. Nature, Art, and Ecology from Herder to Humboldt. Oxford 2022; Roland Borgards, Frederike Middelhoff, Barbara Thums (Hg.): Romantische Ökologien. Vielfältige Naturen um 1800. Berlin 2023.

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R. Borgards

Romantik gleich dreifach mit einem zentralen Moment in der Geschichte der Ökologie verbunden ist. Denn mit der Romantik beginnt erstens eine spezifisch mo­der­ne Form von Umweltbewusstsein, zweitens eine spezifisch moderne Form von Naturkonsum und drittens eine spezifisch moderne Form von ökologischer Theoriebildung. In der Romantik, so der Konsens der Forschung, formt sich damit eine Hal­ tung gegenüber der Natur, die noch heute unser Denken und Handeln bestimmt. An der Ausbildung solcher ‚romantischen Ökologien‘12 sind, so ist im Folgenden zu zeigen, Friedrich von Hardenberg, Friedrich Schlegel und Karoline von Günderrode mit weitreichenden organologischen, poetologischen und ethischen Angeboten beteiligt.

1 Organologien, oder: Welche Natur? Hardenberg beklagt seine aufgeklärte Gegenwart, in der „Zahlen und Figuren / Sind Schlüssel aller Kreaturen“.13 Hardenberg traut der Mathematik zwar grundsätzlich zu, einen Weg zur Erschließung der Welt zu eröffnen.14 Doch lässt sich die Welt nicht auf eine Rechenaufgabe reduzieren. Ein solches Rechnen verfehlt die „wahren Weltgeschichten“.15 Damit steht das zählende Wissen für Hardenberg, so for­mu­lie­ ren es etwa die Lehrlinge zu Sais, zunächst einmal in einer langen Geschichte menschlicher Naturbeherrschung: „Schon unter den kindlichen Völkern gabs solche ernste Gemüther, denen die Natur das Antlitz einer Gottheit war, indessen andre fröhliche Herzen sich nur auf sie zu Tische baten; die Luft war ihnen ein erquickender Trank, die Gestirne Lichter zum nächtlichen Tanz, und Pflanzen und Thiere nur köstliche Speisen, und so kam ihnen die Natur nicht wie ein stiller, wundervoller Tempel, sondern wie eine lustige Küche und Speisekammer vor.“16  Zur heuristischen Tragweite sowie zu den methodischen Grenzen dieses Konzepts vgl. Roland Borgards, Frederike Middelhoff, Barbara Thums: Romantische Ökologien – Zur Einleitung. In: Borgards, Middelhoff, Thums (Hg.): Romantische Ökologien. S. 1–15. 13  HKA 1, S. 344. 14  Vgl. hierzu den Beitrag von Franziska Bomski in diesem Band. 15  HKA 1, S. 345. Vgl. zu diesem Gedicht, das wohl „das bekannteste seines Verfassers sein“ dürfte, zusammenfassend Herbert Uerlings: Novalis. Stuttgart 1998, S. 118–125. Uerlings Abbildung des Manuskripts in der Sammlung Radowitz der Biblioteka Jagiellońska, Krakau, (S. 120) zeigt, dass das verneinende „nicht mehr“ eine nachträgliche Korrektur ist, in etwas kleinerer und gedrängterer Schrift nach dem „Wenn“ über die erste Zeile gesetzt. Helmut Schanze: Erfindung der Romantik. Stuttgart 2018, S. 149, gibt angesichts dieses Befunds zu bedenken: „Ob das dann eingefügte ‚nicht mehr‘ im Sinne der Editionsphilologie eine Sofortkorrektur ist, oder ob es aus einem späteren Korrekturschritt stammt, vom Autor selbst oder vom Herausgeber Ludwig Tieck, ist kaum eruierbar.“ Ein Vergleich der Handschriften Hardenbergs und Tiecks, die sehr deutlich voneinander abweichen, schafft indes Klarheit: Es ist auf keinen Fall Tieck, der hier nachträglich tätig wird, denn die Änderung gleicht im Duktus und bis in die Dicke des Strichs hinein völlig der Grundschicht. Dies macht es auch unwahrscheinlich, dass Hardenberg die Ergänzung erst in einem späteren Redaktionsschritt vorgenommen hat. So spricht dann doch alles für eine Sofortkorrektur durch Hardenberg selbst. 16  HKA 1, S. 85f. Vgl. zur Natur in den Lehrlingen auch Silvio Vietta: Wie Natur zur Sprache bringen? Novalis’ Lehrlinge zu Sais. In: Gabriele Dürbeck, Christine Kanz (Hg.): Deutschsprachiges Nature Writing von Goethe bis zur Gegenwart. Kontroversen, Positionen, Perspektiven. Berlin 2021, S. 75–93; Nassir: The Romantik Absolute, S. 48–70. 12

Natur

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Die Natur erscheint als „Speisekammer“, in der man sich bedienen kann, als Ressource, die wir ausbeuten dürfen. Dieser konsumierende Naturgebrauch setzt, ganz wie die zahlenbewehrte Naturerkenntnis, eine fundamentale Differenz oder Distanz zwischen dem Menschen auf der einen Seite und der Natur auf der anderen Seite voraus: hier der Mensch, als erkennendes und verbrauchendes Subjekt, dort die Natur als erkanntes und verbrauchtes Objekt. Grundlage für diese Distanzbeziehung ist nach Hardenberg eine „Entwilderung der Natur“,17 deren Befürworter zu einem „langsamen, wohldurchdachten Zerstörungskrieg mit dieser Natur“18 auf­ ru­fen: „Mit schleichenden Giften müssen wir ihr beizukommen suchen […]. Euch unterthänig muß sie werden“.19 Ein Gegenmodell zur Geschichte menschlicher Naturbeherrschung findet Hardenberg in einer noch weit älteren Tradition, in einer historischen Zeit geglückter Kohabitation von Menschen, Tieren, Pflanzen, Naturen. Entsprechend notiert er in einem kurzen Fragment: „Historie. Über die Zeit, wo Vögel, Thiere und Bäume gesprochen haben.“20 Oder wie es im Heinrich von Ofterdingen heißt: „Ich hörte einst von alten Zeiten reden; wie da die Thiere und Bäume und Felsen mit den Menschen gesprochen hätten.“21 Diese „alte goldne Zeit“22 entwirft Hardenberg als speziesübergreifende Sprachgemeinschaft, die sogar über die Grenzen zwischen den Naturreichen der Tiere, Pflanzen und Steine hinweg besteht: Alle sprechen mit allen, und alle können alle verstehen. In einer solchen goldenen Sprach- und Verständigungsgemeinschaft entsteht Naturerkenntnis nun nicht aus der Distanz des Zählens, sondern aus der Intimität des Gesprächs: Wenn ein Mensch des goldenen Zeitalters wissen wollte, was die Natur eines Vogels, eines Baumes oder eines Felsens ist, dann hat er einfach Vogel, Baum und Felsen fragen können und es sich von ihnen erzählen lassen. Mit einer solchen Verständigung ist es in der Gegenwart zwar schon lange vor­ bei. An die Stelle der Sprachgemeinschaft ist der Giftkrieg getreten, aus ­mitbewohnenden Personen sind, zumal unter den Bedingungen einer fundamental anthropozentrischen Aufklärung, Herrscher und Untertanen geworden. Doch gegen die trübe Gegenwart setzt Hardenberg nicht nur den sentimentalen Blick zurück in das unwiderruflich vergangene „goldne Alter“,23 sondern auch die Idee einer kommenden Zeit „ächter Klarheit“24: „Dann fliegt von Einem geheimen Wort / Das

 HKA 1, S. 87.  HKA 1, S. 89. 19  HKA 1, S. 89. 20  HKA 3, S. 276. 21  HKA 1, S. 195. Vgl. auch in den Paralipomena zum Heinrich von Ofterdingen, HKA 1, S. 347: „Menschen, Thiere, Pflanzen, Steine und Gestirne, Flammen, Töne, Farben müssen hinten zusammen, wie Eine Familie handeln oder Gesellschaft wie Ein Geschlecht handeln und sprechen.“ Vgl. hierzu auch den Beitrag von Barbara Thums in diesem Band. 22  So z. B. in den Lehrlingen, HKA 1, S. 86, und im Ofterdingen, HKA 1, S. 225. 23  HKA 1, S. 104. 24  HKA 1, S. 345. 17 18

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ganze verkehrte Wesen fort.“25 In vielerlei Hinsicht orientiert sich diese kommende an der vergangenen Zeit: Wieder werden alle mit allen sprechen, wieder werden alle einander verstehen. Doch es gibt einen fundamentalen Unterschied: Die „goldne Zeit“ war einfach da; die kommende Zeit hingegen muss eigens erarbeitet werden. Es braucht das „Eine geheime Wort“, und wer es auszusprechen berufen ist, ist der Mensch. Entsprechend formuliert es auch eines der Blüthenstaub-Fragmente: „Wir sind auf einer Mißion: zur Bildung der Erde sind wir berufen.“26 Bildung unterscheidet sich von Herrschaft nun darin, dass sie nicht darauf zielt, dem Gegenstand ihrer Bemühungen eine fremde Form aufzuzwingen, sondern da­ rauf, einem im Gegenstand selbst begründet liegenden Formprinzip zur Entfaltung zu verhelfen. Dieses Formprinzip findet Hardenberg im naturwissenschaftlichen Konzept der „Organologie“27 und dem ihr zugrunde liegenden Begriff der „Wech­ sel­ wir­ kung“ bzw., wie es bei Hardenberg noch häufiger heißt, der „Wechselbestimmung“.28 Immanuel Kant – der damit der sich um 1800 ausbildenden moder-

 Ich zitiere diese Verse nach dem Vorschlag von Gabriele Rommel: Friedrich von Hardenbergs All-Tags-Welten aus Dokumenten des Gutsarchives. In: Dies. (Hg): All-Tags-Welten des Friedrich von Hardenberg (Novalis). Wiederstedt 2009, S. 15–31, hier S. 16. Wo es nach HKA 1, S. 345, „vor“ heißt, liest Rommel „von“. Das scheint mir im Abgleich mit der Abbildung des Manuskripts bei Uerlings: Novalis, S. 120, die plausiblere Lesung zu sein. 26  HKA 2, S.  427. Zur Idee einer zu bildenden und zu erziehenden Erde vgl. auch Nassar: The Romantic Absoltute, S. 55–58 („Educating the Earth“); zu dem hiermit verbundenen „magischen Idealismus“ Hardenbergs als „the possibility of a complete control over our bodies and all nature“” vgl. Beiser: German Idealism, S. 421–426, insb. S. 422. 27  HKA 3, S. 332. Zur romantischen Organologie vgl. Leif Weatherby: Transplanting the Metaphysical Organ. German Romanticism between Leibniz and Marx. New York 2016, insb. S. 206–250 (zu „Novalis’ Organology“) und S. 232f. (zum „Organologie“ überschriebenen Fragment aus dem Allgemeinen Brouillon). Zum „general organic concept of nature“ Hardenbergs vgl. auch Beiser: German Idealism, S. 428f.; zu Hardenbergs Auseinandersetzung mit den organologischen Überlegungen bei Goethe und Kant vgl. Nassar: The Romantic Absolute, S. 58–65. Für Stone: Being, Knowledge, and Nature in Novalis, S. 147, liegt genau hier die konzeptionelle Verschiebung zwischen Hardenbergs Fichte-Studien und seinem Allgemeinen Brouillon, als „move from constructing being as unknowable to thinking that being can be known to be an organic, self-developing, whole.“ Zum Verhältnis zwischen einem Organismusdenken und einem weltgestaltenden „magischen Idealismus“ vgl. Maximilian Bergengruen: Magischer Organismus. Ritters und Novalis’ ‚Kunst, die Natur zu modificiren‘. In: Britta Herrmann, Barbara Thums (Hg.): Ästhetische Erfindung der Moderne? Perspektiven und Modelle 1750–1850. Würzburg 2003, S.  39–54. Zur Wissenschaftsgeschichte organologischen Denkens vgl. Georg Toepfer: Organismus. In: Ders.: Historisches Wörterbuch der Biologie. Geschichte und Theorie der biologischen Grundbegriffe. 3 Bde. Stuttgart 2011, Bd. 2, S. 777–842, insb. S. 786–796, sowie Tobias Cheung: Die Organisation des Lebendigen. Die Entstehung des biologischen Organismusbegriffs bei Cuvier, Leibniz und Kant. Frankfurt a.M. u. a. 2000. 28  Vgl. zu „Wechselwirkung“ und „Wechselbestimmung“ z.  B.  HKA 2, S.  213f. Zur Wissenschaftsgeschichte des Begriffs vgl. Georg Toepfer: Wechselseitigkeit. In: Ders.: Historisches Wörterbuch der Biologie, Bd.  3, S.  738–763; zur vielfachen und frühen, seit der Mitte des 18. Jahrhunderts nachzuzeichnenden Verwendung des Begriffs „Wechselwirkung“ vgl. insb. S. 746–748. Zum Verhältnis von „Organismus und Wechselseitigkeit“ vgl. Toepfer: Organismus, S. 790–792. 25

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nen Biologie29 ihre erkenntnistheoretische Grundlage gibt – formuliert dies in der Kritik der Urteilskraft als „Prinzip der Beurteilung der innern Zweckmäßigkeit in organisierten Wesen“: „Ein organisiertes Produkt der Natur ist das, in welchem alles Zweck und wechselseitig auch Mittel ist.“30 Ein Organismus ist mithin so beschaffen, „daß die Teile desselben sich dadurch zur Einheit eines Ganzen verbinden, daß sie von einander wechselseitig Ursache und Wirkung ihrer Form sind“.31 Das meint in der Naturkunde um 1800 zunächst den organisierten Gesamtzusammenhang des gesamten Lebens auf der Erde – Friedrich Wilhelm Joseph Schelling nennt dies im Untertitel seines naturphilosophischen Grundlagenwerks Von der Weltseele den „allgemeinen Organismus“32 –, dann aber ebenso die Organisationsform einzelner Lebewesen, für die sowohl im Verhältnis des individuellen Organismus zu seinen Organen als auch im Verhältnis der Organe un­ter­ein­an­der eine wechselseitige Abhängigkeit besteht. So fasst etwa Johann Georg Streng in Anlehnung an Schelling „das Leben […] als vollkommenste Wechselbestimmung der Rezeptivität und der Thätigkeit“;33 angemessen beschreiben lasse sich dieses Leben entsprechend nur mit einem physiologischen Modell „der Erregbarkeit, welches den Organismus als Objekt und Subjekt zugleich betrachtet“.34 „Wechselbeziehungen“, „Wechselbestimmung“, „Wechselverhältnisse“, „Wechselwirkung“, „Wechselerweis“ werden damit zu Kernbegriffen einer romantischen Naturtheorie, in denen sich ein organologisch-ökologisches Naturverständnis artikuliert: Alle Lebewesen sind aufeinander angewiesen, da, mit einer For­mu­lie­rung Johann Gottlieb Fichtes, „im Naturprodukte jeder Theil, was er ist, nur in dieser Verbindung seyn kann, und ausser dieser Verbindung dies schlechthin nicht wäre; ja, ausser aller organischen Verbindung schlechthin nichts wäre, indem ohne die Wechselwirkung organischer sich gegenseitig im Gleichgewichte erhaltender Kräfte überhaupt keine bestehende Gestalt, sondern ein ewiger Kampf des Seyns und Nichtseyns Statt haben würde.“35

Die Elemente der Natur bedingen sich gegenseitig, sie sind sich wechselseitig Ursache und Effekt; sie lassen sich, so noch einmal Schelling, nur „aus der Wech­  Zur Formierung der Biologie als Wissenschaft vom Leben vgl. Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Aus dem Französischen v. Ulrich Köppen. Frankfurt a.M. 1981, S. 165–210 u. S. 321–341. 30  Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. Werkausgabe. Bd. 10. Hg. v. Wilhelm Weischedel. Frankfurt a.M. 1992, S. 324; vgl. hierzu auch Nassar: Romantic Empiricism, S. 36–43. 31  Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 321. 32  Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Von der Weltseele. Eine Hypothese der höhern Physik zur Erklärung des allgemeinen Organismus (1798). In: Ders.: Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Bd.  I,6. Hg. v. Jörg Jantzen unter Mitwirkung v. Thomas Kisser. Stuttgart 2000, S.  64–271, hier S. 82. 33  Johann Georg Streng: Dedukzion der Erregbarkeit nach Herrn Professors Schelling erstem Entwurfe eines Systems der Naturphilosophie. In: Magazin zur Vervollkommnung der theoretischen und praktischen Heilkunde. 4. Bd. 1. Stück. Frankfurt a.M. 1800, S. 1–62, hier S. 34. 34  Streng: Dedukzion der Erregbarkeit, S. 34f. 35  Johann Gottlieb Fichte: Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre. Zweiter Theil oder Angewandtes Naturrecht. Jena, Leipzig 1797, S. 24. 29

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sel­wir­kung verschiedner Materien erklären.“36 Oder mit Andreas von Löwis of Menars Vom Leben der Erde: „Alles individuelle Seyn, mithin auch das organische Leben, ist Resultat einer dynamischen Wechselwirkung.“37 Oder mit Bettina von Arnim: „Das ists, alles ist ein Wechselwirken, alles was lebt, gibt Leben und muß Leben empfangen.“38 Oder in der so knappen wie prägnanten Formulierung Ale­xan­ der von Humboldts: „Alles ist Wechselwirkung.“39 Für Hardenberg besteht nun der Auftrag des Menschen darin, die Natur dazu anzureizen, ihr organologisches Potenzial umfassender Wechselwirkungen voll zu entfalten. Dies wäre dann, so schreibt Hardenberg im Allgemeinen Brouillon, die „Bild[ungs]Lehre d[er] Natur. Die Natur soll moralisch werden. Wir sind ihre Er­ zie­her  – ihre moralischen  Tangenten  – ihre moralischen Reitze.“40 Darauf, dass diese ‚Bildungslehre der Natur‘ zugleich in eine eigene Umweltethik führt, wird zurückzukommen sein.41 Schlegel formuliert in seinem frühen Aufsatz Über das Studium der griechischen Poesie aus dem Jahr 1797 ganz ähnlich wie Hardenberg zunächst eine scharfe Kritik an der aufgeklärten Gegenwart: „Der isolierende Verstand fängt damit an, daß er das Ganze der Natur trennt und vereinzelt.“42 Isolation, Trennung, Vereinzelung: Analytisches Wissen, so Schlegel, zerstört das Einzelne und ist blind für das Ganze. Mit wahrer Naturerkenntnis, darin ist sich Schlegel mit Hardenberg einig, hat dies nichts zu tun. Auf der Suche nach besseren Verhältnissen wendet sich wie Hardenberg auch Schlegel zunächst in die Vergangenheit, indes nicht in ein unbestimmt fernes, goldenes Zeitalter, sondern in eine datierte und kulturell überlieferte griechische Antike. Die griechische Poesie zeige von Göttern belebte Tiere, Pflanzen, Bäche, Berge und habe darin erfasst, was der Gegenwart entglitten ist: dass die Natur sich  Schelling: Werke I,6, S. 82. Zu Schellings Beitrag zu einer romantischen Ökologie vgl. Johanna Hueck: Schellings Ökologien. In: Borgards, Middelhoff, Thums (Hg.): Romantische Ökologien, S. 41–54. 37  E. Meiners (d.i. Andreas von Löwis of Menar): Vom Leben der Erde. Tübingen 1807, S. 86; vgl. hierzu auch Toepfer: Wechselseitigkeit, S. 747. 38  Bettina von Arnim: Die Günderode. In: Dies.: Werke und Briefe in drei Bänden. Bd. 1. Hg. v. Walter Schmitz. Frankfurt a.M. 1986, S. 295–746, hier S. 529; vgl. hierzu Frederike Middelhoff: Phytoökologien in den Briefbüchern Bettina von Arnims. In: Borgards, Middelhoff, Thums (Hg.): Romantische Ökologien, S. 127–160, hier S. 151. 39  Alexander von Humboldt: Tagebücher der Amerikanischen Reise, 1. August 1803, zit. nach Ottmar Ette (Hg.): Alexander von Humboldt-Handbuch: Leben  – Werk  – Wirkung. Stuttgart 2018, S. 107. 40  HKA 3, S. 252. Zum Bergmann als Erdbearbeiter vgl. Vieira: Mountains Inside Out, S. 7 („the miner could be regarded as nature’s helper, assisting it in giving birth to the minerals it developed in its midst“) und S. 13 („The proto-ecological posture of the miner in the novel should be understood in the context of this resistance to the values of industrial capitalism.“). Als wenig überzeugende Figur des Ausweichens vor den anhebenden ökologischen Problemen der Gegenwart erscheint der Bergmann hingegen in der Lektüre von Detering: Menschen im Weltgarten, S. 283f. 41  Zu einer „morality in terms of relationality and affectivity“ bei Hardenberg vgl. Nassar: The Romantic Absolute, S. 17. 42  KFSA 1, S.  245. Vgl. hierzu auch Stone: Friedrich Schlegel, Romanticism, and the Re-­ enchantment of Nature, S. 7f. 36

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nicht aus seelenlosen Objekten zusammensetzt, sondern aus animierten Personen. Jedes Tier, jede Pflanze, jeder Bach erscheint hier als ein potenzielles Gegenüber, als, so Schlegel in den Philosophischen Vorlesungen, „ein lebendiges, kräftiges Gegen-Ich, ein Du“43 – und mithin als ein Gesprächspartner.44 Das ist nicht weit ent­ fernt von Hardenbergs Entwurf der Natur als Wohn- und Hausgemeinschaft mitbewohnender Personen, als kommunikativer Oikos. Das „Ganze der Natur“ versteht auch Schlegel als ein organologisches System von Wechselwirkungen. Doch während bei Hardenberg dieses Naturganze für seine Verwirklichung auf die Bildungsmission des Menschen angewiesen ist, betont Schlegel, so Alison Stone, „that nature itself, in some way, already evinces spontaneous creative agency […]. From this perspective, human freedom would have to be rethought not as opposed to nature but as a manifestation, or derivate form, of a more generalized creativity located within the natural world.“45 Mit der Betonung einer fundamentalen Kreativität, Spontaneität und Produktivität der Natur wendet sich Schlegel kritisch gegen den zählenden und isolierenden Zugriff auf die Natur und mithin gegen eine Aufklärung, in der die Natur als Reich der Notwendigkeit, Kausalität und Determination erscheint. Schlegel spricht der Natur zu, was für die Aufklärung allein den Menschen, und zwar gerade in seiner Differenz zur determinierten Natur, ausmacht: Freiheit.46 Und wenn die Natur selbst schon pro­duk­ tiv, frei und kreativ ist, dann kann sie für Schlegel aus eigener Kraft, wozu sie bei Hardenberg auf den Menschen angewiesen ist: Sie kann sich selbst bilden. Als paradigmatischer Fall dieser organologischen Selbstbildung erscheint bei Schlegel bemerkenswerterweise nun nicht das Animale, sondern das Vegetabile: „Die Welt im Ganzen und ursprüngl[ich] ist eine Pflanze und soll auch wieder ganz Pflanze werden. Auch die Menschheit im Ganzen ist eine Pflanze.“47 Freie, kreative Produktivität ist damit schon von Anfang an nichts, was allein dem Menschen (mit seiner Vernunft) vorbehalten ist; und zudem reicht es nicht, diesen Spielraum auch den Tieren (mit ihrem Verstand) zuzubilligen. Freie Kreativität beginnt vielmehr schon im Pflanzlichen, in der Organisationsform des Vegetabilen. An der Selbst-Bildung der Natur kann sich der Mensch aus dieser Perspektive am besten beteiligen, wenn er sich selbst als ein Teil dieser Natur begreift, und das heißt: als Pflanze. Die „Idylle über den Müßiggang“ aus der Lucinde mit ihrem Plä­ do­yer für eine produktive Passivität deutet, so noch einmal Stone, in diese Richtung:  KFSA 12, S. 337.  Zu Schlegels Vorstellung eines „living dialogue“ des Menschen mit der Welt, deren Elemente „not things, but dialogue partners“ sind, vgl. Brusslan: The Romantic Poetry of Nature, S. 103 u. 100. 45  Stone: Friedrich Schlegel, Romanticism, and the Re-enchantment of Nature, S.  14.f. Meine Überlegungen zu Schlegels Naturbegriff ruhen auch im Folgenden zu weiten Teilen auf Stones Argumentation. 46  Vgl. zu dieser Position Schlegels auch Nassar: The Romantic Absolute, S. 122–125 („Organicism versus Mechanism. Freedom in Nature“), sowie Brusslan: The Romantic Poetry of Nature, S. 48. 47  KFSA 18, S. 151. Vgl. zu „nature and poetry on the model of the plant“ auch Stone: Friedrich Schlegel, Romanticism, and the Re-enchantment of Nature, S. 17. 43 44

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„Read in this context, and in relation to Lucinde, the idea that the world is a plant suggests that all natural processes are vegetal, in the sense that natural things strive to interweave into coherent bodies and groupings, but never achieve a stable, unified organization. Instead, they move towards such unity, and so display the same form of creativity that is manifest in romantic poetry.“48

Darauf, dass diese Pflanzenorientierung in eine eigene Naturpoetik führt, wird ebenfalls zurückzukommen sein. Eine dritte Variante einer Kritik am Naturverständnis der Aufklärung findet sich bei Günderrode: „Vorzeit, und neue Zeit. Ein schmaler rauher Pfad schien sonst die Erde. Und auf den Bergen glänzt der Himmel über ihr, Ein Abgrund ihr zur Seite war die Hölle, Und Pfade führten in den Himmel, u zur Hölle. Doch alles ist ganz anders nun geworden, Der Himmel ist gestürzt, der Abgrund ausgefüllt, Und mit Vernunft bedekt, und sehr bequem zum gehen. Des Glaubens Höhen sind nun demolieret. Und auf der flachen Erde schreitet der Verstand, Und misset alles aus, nach Klafter und nach Schuhen.“49

Die Vorzeit war zwar rau, aber immerhin gab es noch Himmel und Hölle; die neue Zeit ist zwar bequem, aber dafür ist auch alles nivelliert. Nun herrscht ein rechnender Verstand, der die Erde in einem horizontalen Längenmaß, den Schuhen, und einem vertikalen Tiefenmaß, den Klaftern, erfasst. Die neue Zeit zeichnet sich mit­ hin dadurch aus, dass sie die Erde – und mit ihr die Dinge, die sich auf ihr Befinden, die Berge, Bäume und Bienen – messbar macht. Über das Messen und Messbar-Machen hinaus ist mit dem Klaftern noch ein zweiter Aspekt im Spiel. Denn der ‚Klafter‘ ist das klassische Volumenmaß für Brennholz, nach der Definition in Adelungs Grammatisch-kritischem Wörterbuch aus dem Jahr 1796: „Besonders ist es ein Maß des Scheitholzes, ein solcher Stoß oder aufgesetzter Haufen dieses Holzes, welcher eine Klafter hoch und eine Klafter breit ist.“50 Mit dem Klafter geht es also nicht nur um die Messbarkeit der Erde, sondern darüber hinaus auch um ihren Brennwert, um die Frage, welche Energie sich aus ihr extrahieren lässt. Das schließt an Hardenbergs Metapher von der Natur als Speisekammer an, ist aber radikaler und  – mit Blick auf die Geschichte des 19., 20.  und 21. Jahrhunderts  – noch hellsichtiger: Das Problem besteht nicht allein darin, dass wir Menschen die Welt aufessen, es besteht auch – und heute vor allem – darin, dass wir sie verbrennen. Nun hat die Romantik – und namentlich der im Bergbau kompetente Salinenassessor Hardenberg – sich gegenüber dem anbrechenden  Stone: Friedrich Schlegel, Romanticism, and the Re-enchantment of Nature, S. 18.  Günderrode: Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 375. 50  Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der Oberdeutschen. 2. Bd. Leipzig 21796, Sp. 1596. 48 49

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Verbrennungszeitalter nicht nur kritisch verhalten, sondern das Prinzip der Verbrennung bzw. der Umwandlung von Rohstoffen in Energie selbst mit in die Welt gesetzt. Jason Groves hat diesen Aspekt romantischer Literatur und Theorie auf den Begriff des „German petromanticism“51 gebracht. In einer Geschichte ökologischen Denkens und Handelns spielt die Romantik damit eine ambivalente Rolle: Einerseits finden sich in ihr Ideen für eine Haltung zur Umwelt, die wir heute brauchen kön­nen, andererseits hat sie das Problem, in dem wir uns heute befinden, mit verursacht.52 Was also tun, insbesondere aus einer Perspektive, die der Verbrennung kritisch gegenübersteht? Hardenberg schickt die Menschen auf die „Mißion: zur Bildung der Erde“, dank der die Natur ihre volle organologische Gestalt entfalten kann. Schlegel schlägt den Menschen vor, sich durch ein Pflanze-Werden an dieser organologischen Kreativität zu beteiligen. Und auch Günderrode schließt – in einem naturphilosophischen Essay mit dem Titel Jdee der Erde53 – an die Vorstellung von der Natur als einen organologisch-ökologischen Gesamtzusammenhang an. Auch hier hat das Konzept der Wechselwirkung eine zentrale Stellung: „Die Erde ist eine realisirte Jdee, ein zugleich wirkendes (kraft) und gewirktes (Er­schei­ nung). […] Das ihr angemessene Dasein kann also die Erde nur dann erlangen wenn ihre organische und unorganische Erscheinungen sich in einem gemeinschaftlichen Organismus auflösen, indem die beiden Faktoren Sein (Körper) und Denken (Geist) sich bis zu Ununterscheidbarkeit durchdringen.“54

Auf dieser Grundlage weist Günderrode dem Menschen nicht die aktive Rolle dessen zu, der die Natur bildend zu sich selbst bringt, und auch nicht die passive Rolle dessen, der sich selbst vegetabil in die Natur auflöst, sondern die mitwirkende Rolle eines Organs in einem übergreifenden Organismus: „So gibt jeder Sterbende der Erde ein erhöteres, entwikleteres Elementarleben zurük welches sie in aufsteigenden Formen fort bildet und der Organißmus indem er immer entwikeltere Elemente in sich aufnimt muß dadurch immer vollkommener und allgemeiner werden.“55

 Jason Groves: The Geological Unconscious. German Literature and the Mineral Imaginary. New York 2020, S. 18. Vgl. hierzu auch die entsprechende kritische Perspektive bei Morton: Ecology without Nature, und Rigby: Topographies of the Sacred. 52  Auf diese Ambivalenz verweisen z. B. Clark: Old World Romanticism; Davies: Romantic Ecocriticism; Rigby: Reclaiming Romanticism, z. B. S. 166; Rigby: Sympoesie. 53  Günderrode: Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 446–449. Günderrodes intensive und produktive Auseinandersetzung mit Schellings Naturphilosophie ist dokumentiert in Günderrode: Sämtliche Werke, Bd. 2, S. 358–406; vgl. hierzu den Kommentar in Günderrode: Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 336–345, sowie Raisbeck: Karoline von Günderrode, S. 178–182; Nassar: The Human Vocation and the Question of the Earth, S. 108 u. passim; Kir Kuiken: Günderrode’s Earth. On the Political Ecology of „Life“. In: European Romantic Review 34/3 (2023), S. 369–376. 54  Günderrode: Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 446 u. 448. 55  Günderrode: Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 447. Vgl. auch Raisbeck: Karoline von Günderrode, S. 190: „Günderrode pursues the thought of the primacy of nature to the point of removing the human element altogether – and with that its distinctiveness, ethical or otherwise.“ 51

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Sowohl bei Hardenberg (der Mensch bildet die Natur) als auch bei Schlegel (der Mensch wird Pflanze) erscheint der Mensch bisweilen als etwas von der Natur Getrenntes. Das erinnert in seiner Struktur noch an die Wissenschaften der Aufklärung, von denen Hardenberg und Schlegel sich kritisch absetzen wollen: hier der Mensch, dort die Natur. Günderrode schlägt nun vor, die Menschen als Mitwirkende innerhalb eines organologischen Gesamtzusammenhangs zu verstehen. Aus dieser Per­ spek­ti­ve kann ein Mensch der Natur schon allein deshalb nicht gegenüberstehen, weil es kein Außerhalb der Natur gibt. Dieser Wendung würden Hardenberg und Schlegel wohl zustimmen: Die Befähigung und auch die Befugnis zu seiner Bildungsmission erhält der Mensch genau deshalb, weil er selbst ein Naturwesen ist;56 und im Pflanze-Werden leistet der Mensch nichts anderes als die Reaktivierung seiner eigenen natürlichen Grundverfassung.57

2 Poetologien, oder: Wie dichten? In einem kurzen fiktiven Briefwechsel, den Briefen zweier Freunde,58 in den auch lange Passagen aus der Jdee der Erde eingearbeitet sind, lässt Günderrode einen jungen frustrierten Dichter an der schlechten Gegenwart schier verzweifeln: „Genug also von dem aufgeblasenen Jahrhundert, an dessen Thorheiten noch ferne Zeiten erkranken werden. Rückwärts in schönre Tage lass uns blicken.“59

Anders als in diesen ‚schönren Tagen‘, so der junge Dichter, kann es in der Gegenwart keine überzeugende Dichtung geben, denn „abgeschlossen sind wir durch enge Verhältnisse von der Natur“.60 Es ist wieder das nun schon bekannte Argument: Dort, wo Mensch und Natur getrennt sind, auf Distanz, voneinander iso­ liert, da kann es keine gedeihlichen Verhältnisse geben, nicht einmal in der Dichtung. Der junge Dichter entschließt sich deshalb, „den Weg eigner poetischer Pro­ duk­tion zu verlassen, und ein ernsthaftes Studium der Poeten der Vorzeit, und be­ son­ders des Mittelalters zu beginnen“.61 Der junge Dichter formuliert damit eine ­literaturhistorische These, die auf die schwindende darstellende Kraft der Poesie verweist: Früher, im Mittelalter, konnte die Dichtung für die Natur noch eine an­ge­ mes­se­ne Form finden, heute gelingt ihr das nicht mehr. Deshalb ist es am klügsten, das Dichten ganz sein zu lassen und nur noch alte oder zumindest mittelalterliche Literatur zu lesen. Der väterlich beratende Freund beharrt indes darauf, dass der junge Dichter weiterhin „ganz leben soll […] in der Natur, der Poesie und der göttlichen Weis­  Zu diesem Argument von Hardenberg vgl. auch Nassar: The Romantic Absolute, S. 64f.  Vgl. Stone: Friedrich Schlegel, Romanticism, and the Re-enchantment of Nature, S. 18. 58  Günderrode: Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 350–362. 59  Günderrode: Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 352. 60  Günderrode: Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 352. 61  Günderrode: Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 352. 56 57

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heit“62 und begründet dies bemerkenswerter Weise damit, dass auch die Natur, ganz wie die Dichtung, eine Geschichte habe: „die unendliche Natur will sich stets neu offenbaren in der unendlichen Zeit. In der Fülle der Jahrhunderte ist Brahma oftmals erschienen, aber in immer neuen Verwandlungen; dieselbe Gestalt hat er nie wieder gewählt. So thue und dichte doch Jeder das wozu er berufen ist, wozu der Geist ihn treibt, und versage sich keinen Gesang als den mißklingenden.“63

Die Dichtung muss also nicht etwa auf eine zeitlos gegebene, sondern auf eine sich stets wandelnde Natur angemessen reagieren können. Naturdichtung hat mithin eine doppelte Geschichte: eine Geschichte der natürlichen Gegebenheiten und eine Geschichte der poetischen Formen. Deshalb gilt: Die Literatur des Mittelalters mag zwar die Natur des Mittelalters in eine überzeugende Form gebracht haben, kann aber für die Natur der Gegenwart dennoch keine überzeugende Form anbieten. Für Gegenwartsnatur braucht es Gegenwartsliteratur. Diese Gegenwartsliteratur ist für Hardenberg nun genau das Mittel, das er dem Menschen auf seiner Naturbildungsmission zur Verfügung stellen will. Nicht der Pflug der Bäuerin oder die Schere des Gärtners gibt die Form, sondern die Dichtung. Insofern geht es Hardenberg nicht um eine Kultivierung, sondern um eine Poetisierung der Natur. Damit, so schreibt er im Heinrich von Ofterdingen, habe schon die Dichtung der goldenen Zeit begonnen: „So sollen vor uralten Zeiten […] Dichter gewesen seyn, die durch den seltsamen Klang wunderbarer Werkzeuge das geheime Leben der Wälder, die in den Stämmen verborgenen Geister aufgeweckt, in wüsten, verödeten Gegenden den todten Pflanzensaamen erregt, und blühende Gärten hervorgerufen, grausame Thiere gezähmt und verwilderte Menschen zu Ordnung und Sitte gewöhnt, sanfte Neigungen und Künste des Friedens in ihnen rege ge­ macht, reißende Flüsse in milde Gewässer verwandelt, und selbst die todtesten Steine in regelmäßige tanzende Bewegungen hingerissen haben.“64

‚Poetisierung der Natur‘ meint hier also nicht, dass die Natur der Gegenstand ist, der in Dichtung aufgenommen und dort dann in poetischer Form dargeboten wird. ‚Poetisierung der Natur‘ meint vielmehr, dass die Natur selbst, so wie sie in der Welt vorzufinden ist, in eine neue, eben eine poetische Form gebracht werden soll: Eine poetisierte Natur ist kein Gedicht, das von einem Wald handelt, sondern ein Wald, der gedichtförmig geworden ist. Die erwachten Stämme, die erregten ­Pflanzensamen, die blühenden Gärten, die gezähmten Tiere, die sanften Menschen, die milden Flüsse, die tanzenden Steine: All dies ist poetisierte Natur. An diesem Vorbild soll sich, so Hardenberg in den Lehrlingen, auch eine kom­ men­de Dichtung messen lassen: „So wird auch keiner [kein Dichter, RB] die Natur begreifen, der kein Naturorgan, kein innres naturerzeugendes und absonderndes Werkzeug hat, der nicht, wie von selbst, überall die Natur an allem erkennt und unterscheidet und mit angeborner Zeugungslust, in inniger

 Günderrode: Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 356.  Günderrode: Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 356. 64  HKA 1, S. 211. 62 63

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mannichfaltiger Verwandtschaft mit allen Körpern, durch das Medium der Empfindung, sich mit allen Naturwesen vermischt, sich gleichsam in sie hineinfühlt.“65

Wenn das „Naturorgan“ des Dichters „naturerzeugend“ ist, dann werden natürliche Dichtung und gedichtete Natur ununterscheidbar. Das Dichten erscheint so als Vollzugsorgan einer schaffenden Natur, einer natura naturans; und die Na­tur­dich­ tung erweist sich damit als eine zugleich poetische und ethische Aufgabe für den Menschen: Naturdichtung als Vollzugsform der Bildungsmission, der Entfaltung des organologischen Potenzials umfassender Wechselwirkungen. In leichter Va­ri­a­ ti­on des schon zitierten Blüthenstaub-Fragments: ‚Wir sind auf einer Mißion: zur Poetisierung der Natur sind wir berufen.‘ Mit der doppelten Historisierung der Naturdichtung verweist Günderrode da­ rauf, dass auch die Natur eine zu berücksichtigende Geschichte hat; mit der Poetisierung der Natur verweist Hardenberg darauf, dass die Dichtung in der Natur selbst eine Wirkung entfalten kann. Das sind beides Positionen, die der Natur einen eigenen Raum, ein eigenes Recht, eine eigene Macht zugestehen und die sich damit von der distanzierten Herrschaftslogik der Aufklärung unterscheiden. In beiden Fällen aber bleibt das Dichten etwas, das allein Menschen tun. Dichten erscheint damit als Kriterium der anthropologischen Differenz: Der Mensch ist das Naturwesen, das Literatur zu produzieren vermag, er ist das dichtende Tier, der dichtende Or­ga­nis­ mus. Der Mensch ist das Dichtende der Natur. Vor dem Hintergrund der Kritik, die Hardenberg, Schlegel und Günderrode an ihrer zahlenbewehrten und verbrennungssüchtigen Gegenwart formulieren, ist das nicht unproblematisch. Denn eingeführt wird damit ausgerechnet in der Dichtung genau das, was zuvor naturpolitisch und umweltethisch als Grund allen Übels erkannt wurde: die distanzierende Trennung von Mensch und Natur. Nun liegt einer frühromantischen Poetologie bekanntermaßen weniger an Trennungen und mehr an Verbindungen, an „Universalpoesie“66 und „Sympoesie“.67 „Die romantische Po­e­sie“, so formuliert es Schlegels 116. Athenäumsfragment, zielt darauf, „zu vereinigen“, „in Berührung zu setzen“; sie möchte „bald mischen, bald verschmelzen“.68 Was sich hier mischt, das ist zwar zunächst Menschliches mit Menschlichem, z. B. ­„Poesie und Prosa“,69 dann aber auch Menschliches mit Mehr-als-Menschlichem, z. B. „Kunstpoesie und Naturpoesie“.70 Kunstpoesie, das sind, mit einer Formulierung aus dem Gespräch über die Po­e­ sie, „die künstlichen Werke oder natürlichen Erzeugnisse, welche die Form und den Namen von Gedichten tragen“;71 Naturpoesie hingegen ist „die formlose und bewußtlose Poesie, die sich in der Pflanze regt, im Lichte strahlt, im Kinde lächelt, in  HKA 1, S. 105.  KFSA 2, S. 182. 67  KFSA 2, S. 185. 68  KFSA 2, S. 182. 69  KFSA 2, S. 182. 70  KFSA 2, S. 182. 71  KFSA 2, S. 285. 65 66

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der Blüte der Jugend schimmert, in der liebenden Brust der Frauen glüht“.72 Für ein poetisierendes Mischen von Kunst und Natur nennt Schlegel im Gespräch über die Poesie gleich zwei gute Gründe. Zum einen bestehe zwischen Natur und Kunst eine Analogie: „Unermeßlich und unerschöpflich ist die Welt der Poesie wie der Reich­ tum der belebenden Natur an Gewächsen, Tieren und Bildungen jeglicher Art, Ge­ stalt und Farbe.“73 Natur und Kunst sind also gleichermaßen vielfältig, und zudem zeigen beide die gleichen vielfältigen Gegenstände; biologische Diversität und poetische Diversität sind analog. Zum anderen, so Schlegel weiter, finde sich zwischen Kunst und Natur auch eine Genealogie: „Diese [die Naturpoesie, RB] aber ist die erste, ursprüngliche, ohne die es gewiß keine Poesie der Worte geben würde.“74 Kunst geht also aus der Natur hervor; genau deshalb kann Schlegel Gedichte ja auch „die künstlichen Werke oder natürlichen Erzeugnisse“ nennen. Das „oder“ zielt hier auf eine Doppelbestimmung: Gedichte sind sowohl „künstliche Werke“ als auch „natürliche Erzeugnisse.“ Und anders herum ist „die Erde“ ihrerseits nichts anderes „als das eine Gedicht der Gottheit, dessen Teil und Blüte auch wir sind“.75 Ausgehend von dieser Verschränkung von natürlicher Welt und menschlicher Kunst stellt sich, so Kate Rigby in ihren Studien zu einer romantischen Ökologie,76 die Frage neu, welche Wesen es genau sind, die in der „Sympoesie“ zu einer eigenen Form der Koproduktivität finden. Schlegel formuliert im 125. Athenäumsfragment folgendermaßen: „Vielleicht würde eine ganz neue Epoche der Wissenschaften und Künste beginnen, wenn die Symphilosophie und Sympoesie so allgemein und so innig würde, daß es nichts Seltnes mehr wäre, wenn mehre sich gegenseitig ergänzende Naturen gemeinschaftliche Werke bildeten.“77

Das Beispiel, an dem Schlegel im weiteren Verlauf des Fragments diese „Symphilosophie und Sympoesie“ erläutert, bleibt dann ganz im Bereich menschlicher Naturen: „so möchte ich Jean Paul und Peter Leberecht [d.i. Ludwig Tieck, R.B.] kombiniert sehen“.78 Doch die Hinweise im 116. Athenäumsfragment und im Ge­ spräch über die Poesie erlauben es, Schlegel mit seiner Rede von den „Naturen“ im Plural versuchsweise beim Wort zu nehmen. Sein Fragment erscheint dann als eine frühe Fassung dessen, was Donna Haraways 2016 wirkungsvoll in die En­vi­ron­men­ tal Humanities eingebracht hat, bemerkenswerter Weise ganz ohne einen Hinweis auf Schlegel im Besonderen oder die Romantik im Allgemeinen:

 KFSA 2, S. 285. Vgl. hierzu, auch mit kritischen Hinweisen auf die Genderzuschreibungen an die Natur, Kate Rigby: Sympoesie. Potentiation, Conviviality and Collaboration in Romantic Ecopoetics. In: Borgards, Middelhoff, Thums (Hg.): Romantische Ökologien, S. 207–225, S. 209. 73  KFSA 2, S. 285. 74  KFSA 2, S. 285. 75  KFSA 2, S. 285. 76  Vgl. Kate Rigby: Sympoesie, S. 208; vgl. auch Rigby: Reclaiming Romanticism, S. 83f. 77  KFSA 2, S. 185. 78  KFSA 2, S. 185. 72

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„Sympoeisis is a simple word; is means ‚making with‘. Nothing makes itself; nothing is really autopoetic or self-organizing […], earthlings are never alone. That is the radical implication of sympoiesis. Sympoiesis is a word proper to complex, dynamic, responsive, situated, historical systems. It is word for worlding-with, in company.“79

Mit der „Sympoiesis“ zielt Haraway auf eine avancierte Form aktueller Biotheorie, in der natur- und kulturwissenschaftliche Ökologie zusammenfinden. Ihre Beschreibung trifft aber auch viel von dem, was romantisches Naturverständnis, was romantische Ökologien ausmacht: „wenn mehre sich gegenseitig ergänzende Naturen gemeinschaftliche Werke bildeten“. Schlegel wendet dies dezidiert po­et­o­ lo­gisch: Gelungen wäre im Sinne einer Sympoesie nicht eine Naturdichtung, bei der eine Gegenwartsliteratur angemessen auf eine Gegenwartsnatur antwortet (wie bei Günderrode), oder eine solche, bei der menschliche Dichtung die Natur selbst in eine poetische Form zu bringen vermag (wie bei Hardenberg), sondern eine solche, an deren Produktion mehrere menschliche und nicht-menschliche Naturen beteiligt sind: Ein Wald und ein:e Dichter:in bringen gemeinsam ein Waldgedicht bzw. einen Gedichtwald hervor. Und sie können dies, insofern sie beide gleichermaßen eine freie Kreativität zu entfalten in der Lage sind.80

3 Ethiken, oder: Was tun? Schlegel betont die spontane Kreativität der Natur und entwirft Poesie als menschliche Teilhabe an dieser im Kern vegetabilen Kreativität. Dies weist der Literatur eine ethisch-politische Aufgabe zu, deren Aktualitätswert Stone nachdrücklich hervorgehoben hat: „we above all need an alternative worldview on which natural entities have their own agency and freedom“.81 Diese alternative Weltsicht eröffnet die Poesie dort, wo sie die Natur zu verzaubern vermag: „This conception of nature would be re-enchanting, portraying natural phenomena as partly mysterious in virtue of their independent spontaneity, and, therefore, as deserving respectful and circumspect treatment.“82 Schlegels implizite Naturethik weist damit in zwei Richtungen. Zum einen geht es um die Welt, die es zu beleben, zu animieren gilt. Denn in einer Welt, die zur Gänze aus mitbewohnenden Personen besteht, umschließt der Kreis der ethisch zu berücksichtigenden Wesen schlicht alle und jedes. Zum an­ deren geht es um das Ich, das es zu verpflanzlichen, zu vegetabilisieren gilt. Denn

 Donna Haraway: Staying with the Trouble. Making Kin in the Chthulucene. Durham, MA, London 2016, S. 58; vgl. hierzu, auch mit Hinweisen auf die Grenzen der Vergleichbarkeit zwischen Schlegel und Haraway, Rigby: Sympoesie, S. 208. 80  Vgl. Brusslan: The Romantic Poetry of Nature, S. 48: „the early German Romantics saw in nature itself an Ursprung or source of creativity that had beauty, freedom, indeed a poetry of its own.“ 81  Stone: Friedrich Schlegel, Romanticism, and the Re-enchantment of Nature, S. 21. 82  Stone: Friedrich Schlegel, Romanticism, and the Re-enchantment of Nature, S. 21. 79

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ein Ich, das als Pflanze unter Pflanzen lebt, entfaltet erst das volle Potenzial des Menschen – und zugleich das volle Potenzial der ganzen Natur.83 Günderrode beschreibt dieses Involviertsein des Menschen in ihren Fichte-­ Studien folgendermaßen: „Das ich der u kein Anderer bin liegt nothwenig bestimmt im Zusammenhang des Ganzen.“84 Die Identität eines Ich, seine Eigenheit, seine Individualität ist demnach nichts Gegebenes, sondern etwas Entstehendes. Diese Konzeption des Ich setzt zwar noch bei Fichtes Philosophie an, gibt ihr aber einen neuen Akzent: Es geht Günderrode nicht um die Autonomie, sondern die He­te­ro­no­ mie des Subjekts; und diese Heteronomie wird nicht als etwas epistemologisch Bedrohliches gedacht, sondern als etwas ontologisch Begründendes gesehen. Die Eigenständigkeit dieser ethischen Position – auch gegenüber Schelling und dessen Naturphilosophie – hat Dalia Nassar mit Blick auf Günderrodes Jdee der Erde als „a moral account of the human relation to the natural world“85 herausgearbeitet: „the self emerges only through being with others, such that others are not secondary to the self, but are at its very foundation.“86 Damit formuliert Günderrode eine zu­ tiefst ökologische Subjekttheorie („the human self is fundamentally relational“87) und leitet aus ihr zugleich eine Ethik ab, die wir heute als ökologisch bezeichnen würden: Richtiges Handeln entsteht nicht dort, wo der Mensch zur Harmonie mit sich selbst gelangt, wo also im Sinne Kants vernünftiges Wollen und praktisches Handeln übereinstimmen, sondern dort, wo der Mensch eine fundamentale, das eigene Ich übersteigende Relationalität zur Geltung kommen lässt: „Accordingly, our experience of separation or our sense of ourselves as isolated and self-grounding misrepresents the reality of the self and its relation to the world. It is, in turn, the human being’s special task to transform herself so as to become more aligned with this reality.“88

Diese allgemeine Verbundenheit des Ich mit allen Elementen der großen weiten Welt inszeniert Günderrode auch in Ein apokaliptisches Fragment mit ihrer Vision eines Ich, das zunächst auf einem Felsen im Meer steht, dann zu einem Tropfen im Meer, in der Gischt, im Nebel, im Regen wird und das sich schließlich noch ra­di­ka­ ler auflöst in die Fülle seiner Beziehungen zur ganzen, allumfassenden Natur: „ich schien mir nicht mehr ich, und doch mehr als sonst ich […]. Erlöset war ich von den engen Schranken meines Wesens, und kein einzelner Tropfen mehr, ich war allem wie­der­ ge­ben, und alles gehörte mir mit an, ich dachte, und fühlte, wogte im Meer, glänzte in der Sonne, kreiste mit den Sternen; ich fühlte mich in allem, und genos alles in mir.“89  Vgl. hierzu auch Nassar: The Romantic Absolute, S. 85: „Schlegel develops a conception of morality which he likens to the vegetative status of the plant.“ 84  Günderrode: Sämtliche Werke, Bd. 2, S. 290. 85  Nassar: The Human Vocation and the Question of the Earth, S. 108. 86  Nassar: The Human Vocation and the Question of the Earth, S. 126. 87  Nassar: The Human Vocation and the Question of the Earth, S. 125. 88  Nassar: The Human Vocation and the Question of the Earth, S. 125; vgl. auch S. 126: „To achieve ‚unity‘ or ‚harmony‘ with oneself, Günderrode maintains, is to achieve unity or harmony with oth­ ers – or, to put it in terms of ‚Idea of the Earth‘, unity with the earth.“ 89  Günderrode: Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 54. Zum Apokaliptischen Fragment vgl. Raisbeck: Karoline von Günderrode, S. 146–156. 83

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Günderrode formuliert hier eine öko-ethische Vision: Das Ich ist nirgends und überall; und alles ist im Ich. Das Selbstgefühl90 wird zu einem Allgefühl. Von einem regressiven Aufgehen in eine ozeanische Unbestimmtheit unterscheidet sich dieser Vorschlag deutlich, indem er auf die heteronome Relationalität des Ich setzt: Das Selbst ist in der ganzen Natur, die ganze Natur ist im Selbst; es gibt nichts, mit dem das Ich nicht verbunden wäre. Schlegels Vorschlag, zu einer Pflanze unter Pflanzen zu werden, und Günderrodes Vision, ein relational erweitertes Selbst in Wasserwirbeln zu entfalten, lassen sich als naturethische bzw. naturpolitische Vorschläge verstehen, die ganz in der Linie von Hardenbergs berühmter Aufforderung liegen: „Die Welt muss romantisirt werden.“91 Im Ofterdingen hat auch Hardenberg dies  – sogar noch deutlicher als Schlegel – in vegetabile Bilder gefasst: „Auf mich, sagte Sylvester, hat freylich die lebendige Natur, die regsame Überkleidung der Gegend immer am meisten gewirkt. Ich bin nicht müde geworden besonders die verschiedene Pflanzennatur auf das sorgfältigste zu betrachten. Die Gewächse sind so die unmittelbarste Sprache des Bodens; Jedes neue Blatt, jede sonderbare Blume ist irgend ein Geheimniß, was sich hervordrängt und das, weil es sich vor Liebe und Lust nicht bewegen und nicht zu Worten kommen kann, eine stumme, ruhige Pflanze wird. Findet man in der Einsamkeit eine solche Blume, ist es da nicht, als wäre alles umher verklärt und hielten sich die kleinen befiederten Töne am liebsten in ihrer Nähe auf. Man möchte für Freuden wei­ nen, und abgesondert von der Welt nur seine Hände und Füße in die Erde stecken, um Wur­ zeln zu treiben und nie diese glückliche Nachbarschaft zu verlassen.“92

Auch hier erscheint das Pflanze-Werden als Ziel, und zwar als Pflanze in „glückliche[r] Nachbarschaft“ zu anderen Pflanzen, als Ich-Pflanze in einer Welt-Pflanze. Wie bei Günderrode, so kann sich diese allgemeine Relationalität des Ich auch im Wasser entfalten, so Hardenberg wiederum in den Lehrlingen: „Wie wenige haben sich noch in die Geheimnisse des Flüssigen vertieft […]. Nur Dichter sollten mit dem Flüssigen umgehn, und von ihm der glühenden Jugend erzählen dürfen“.93 Pflanze-Werden, Flüssig-Werden: Das lässt sich durchaus als ethische oder po­li­ ti­sche Aufforderung verstehen. Hardenberg fügt dem noch eine dritte Variante hinzu: das Fels- und Stein-Werden. Das hat zum einen damit zu tun, dass auch Fel­ sen, Steine, Mineralien als belebte Mitsprechende der wechselwirkenden Kommuni­ kationsgemeinschaft gedacht werden: „Wird nicht der Fels ein eigenthümlichs Du, eben wenn ich ihn anrede?“94 Und das hat zum anderen damit zu tun, dass die Versenkung in die Natur der „Steine und Gestirne“95 die sich Versenkenden selbst zu Stein werden lassen, insbesondere beim Betrachten altertümlicher Statuen:

 Vgl. zu diesem zentralen Konzept der Romantik Manfred Frank: Selbstgefühl. Eine historisch-­ systematische Erkundung. Frankfurt a.M. 2002. 91  HKA 2, S. 545. 92  HKA 1, S. 328f. Vgl. zu dieser Passage den Beitrag von Barbara Thums in diesem Band. 93  HKA 1, S. 104f. 94  HKA 1, S. 100. 95  HKA 1, S. 101. 90

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„In jenen Statuen, die aus einer untergegangenen Zeit der Herrlichkeit des Menschengeschlechts übrig geblieben sind, leuchtet allein so ein tiefer Geist, so ein seltsames Verständniß der Steinwelt hervor, und überzieht den sinnvollen Betrachter mit einer Steinrinde, die nach innen zu wachsen scheint.“96

Pflanze-Werden, Flüssig-Werden, Stein-Werden: Das sind bei Hardenberg also die Varianten dessen, was auch Schlegel und Günderrode als eine Politik und Ethik der Natur formulieren. So arbeiten Hardenberg, Schlegel und Günderrode mit unter­ schiedlichen Akzentuierungen am gleichen Thema. Dabei geht es erstens darum, neu zu bestimmen, wie der Mensch zur Natur steht (das ist die epistemologische Frage), und zwar zur Natur als einem organologischen System von Wechselwirkungen. Diese Neubestimmung richtet sich zwar gegen spezifische Wissenschaftsnormen der Aufklärung, gegen das Zählen, Isolieren, Verbrennen, nicht aber gegen die Naturwissenschaften an sich. Im Gegenteil: Günderrode, Schlegel und Hardenberg sind begeistert davon, was die zeitgenössische Wissenschaft zu for­mu­ lie­ren in der Lage ist, insbesondere die Chemie und die Biologie.97 Zweitens geht es ihnen darum, die Möglichkeiten und Wirksamkeiten einer Naturdichtung neu zu be­ stimmen (das ist die poetologische Frage): Naturdichtung ist eine Dichtung, deren Geschichte auf der Höhe einer Naturgeschichte bleiben muss (Günderrode), eine Dichtung, die selbst Natur formen und naturförmig sein kann (Hardenberg), vielleicht sogar eine Dichtung, an der Natur sympoetisch mitschreibt (Schlegel). Und drittens geht es darum, wie wir Menschen in und mit der Natur handeln sollten (das ist die ethisch-politische Frage): nicht distanziert (zählend, isolierend, verbrennend), sondern involviert, als Pflanze unter Pflanzen (Schlegel), als Wasserwirbel (Günderrode), als Felsenkunst (Hardenberg), wobei dies lediglich drei verschiedene Versionen sind, die fundamentale Relationalität des Menschen zu poetisieren, zu ro­man­ti­ sie­ren und d. h. auch: zu realisieren. Versuchsweise lässt sich aus dieser Position heraus ein kategorischer Imperativ formulieren, der sich von Kants Version aus der Kritik der praktischen Vernunft deutlich absetzt und der die ökologische Version von Hans Jonas in Das Prinzip Ver­ ant­wor­tung vorformuliert. Bei Kant heißt es: „Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“98 Hans Jonas schreibt: „‚Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung ver­  HKA 1, S. 101.  Vgl. exemplarisch Herbert Uerlings (Hg.): Novalis und die Wissenschaften. Tübingen 1997; Michel Chaouli: Das Laboratorium der Poesie. Chemie und Poetik bei Friedrich Schlegel. Paderborn 2004; zu Günderrodes Auseinandersetzung mit den Naturwissenschaften vgl. die Hinweise bei Frederike Middelhoff, Martina Wernli: Karoline von Günderrode (neu) lesen. Zur Einleitung. In: Dies. (Hg.): Noch Zukunft haben, S. 1–15, hier S. 6f.; Raisbeck: Karoline von Günderrode, S. 180; Dormann: Die Kunst des inneren Sinns, S. 9; vgl. allgemein zu den romantischen (Natur-)Wissenschaften Antje Pfannenkuchen, Leif Weatherby: Writing Polarities. Romanticism and the Dynamic Unity of Poetry and Science. In: The Germanic Review: Literature, Culture, Theory 92/4 (2017), S.  335–339; Gabriele Brandstetter, Gerhard Neumann (Hg.): Romantische Wissenspoetik. Die Künste und die Wissenschaften um 1800. Würzburg 2004. 98  Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft. Hg. v. Karl Vorländer. Hamburg 1990, S. 36 (AA V, 30). 96 97

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träg­lich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden‘; oder ne­ ga­tiv ausgedrückt: ‚Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung nicht zer­stö­re­ risch sind für die künftige Möglichkeit solchen Lebens.‘“99 Mit Schlegel, Hardenberg und Günderrode ließe sich formulieren: ‚Handle so, dass Deine Handlungen je­der­ zeit die konstitutive Verflechtung zwischen Dir und allen anderen Elementen der Natur auf eine für alle verträgliche Weise artikulieren.‘ Und eine der zentralen Handlungsformen, in denen sich diese allgemeine Relationalität artikuliert, ist, zu­ min­dest für die drei romantischen Erdlinge, die hier zu Wort gekommen sind, die Poesie.

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Mathematik. Von Zauberformeln, sinnlicher Logik und echter Wissenschaft bei Friedrich Schlegel, Friedrich von Hardenberg und Johann Wolfgang von Goethe Franziska Bomski

„Hard[enberg] ist daran, die Religion und die Physik durcheinander zu kneten. Das wird ein interessantes Rührey werden“.1 Dies schreibt Friedrich Schlegel 1798 an Friedrich von Schleiermacher und zeigt damit an, wie selbstverständlich auch die – damals noch jungen  – Naturwissenschaften zum breiten Interessenspektrum der Frühromantiker:innen gehörten und in ihre symphilosophischen Projekte einbezogen wurden. Die Mathematik als abstrakteste und rein rational operierende, nicht-empirische Wissenschaft war davon nicht ausgenommen. Gleichwohl wurde dies in der Forschung lange ignoriert, schienen doch Mathematik und Logik nicht so recht zur Apotheose der schwärmerisch-spekulativen Fantasie und Sinnlichkeit der Romantik zu passen. Inzwischen hat sich diese Einschätzung gewandelt. Inwiefern auch von der Mathematik eine große Faszination ausging und sie ebenfalls eine wichtige Zutat des romantischen „Rühreis“ bildete, möchte ich im Folgenden exemplarisch ausführen. Um das weite Spektrum der literarisch-poetischen Be­ hand­lung des Mathematischen um 1800 aufzuzeigen, stelle ich den Protagonisten dieses Bandes, Friedrich Schlegel und Friedrich von Hardenberg, mit Johann Wolf­gang von Goethe einen dritten Autor an die Seite.2  Friedrich Schlegel an Friedrich Schleiermacher in Berlin, Dresden, gegen Ende Juli 1798. In: Novalis: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Historisch-kritische Ausgabe. Begründet von Paul Kluckhohn und Richard Samuel. Hg. von Richard Samuel in Zusammenarbeit mit Hans-Joachim Mähl und Gerhard Schulz. Verschiedene Auflagen. 6 Bde. Stuttgart 1960 ff., Bd. 4, S. 620 (künftig mit der Sigle HKA). 2  Der vorliegende Beitrag ist eine leicht überarbeitete Fassung von Franziska Bomski: The Art of Abstraction. Poetic Reflections on Mathematics in German Romanticism. In: Sonja Hildebrand (Hg.): Ästhetik der Mathematik / Aesthetics of Mathematics. Figurationen. gender literatur kultur 21/2 (2020), S. 41–56. 1

F. Bomski (*) Einstein Forum, Potsdam, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2025 R. Borgards, K. Heumann (Hrsg.), Sich kreuzende Stimmen, Neue Romantikforschung 8, https://doi.org/10.1007/978-3-662-70600-8_7

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Die mathematischen Reflexionen der drei Autoren sind eingebettet in zeitgenössische Kontexte und Diskurse, für deren Verständnis die Literaturwissenschaft auf die Hilfe von bzw. auf die Zusammenarbeit mit anderen Disziplinen angewiesen ist: zum einen auf die Wissenschaftsgeschichte, die sich mit der innerwissenschaftlichen Entwicklung der Mathematik, ihrem body of knowledge, beschäftigt, zum an­ deren auf die Kulturgeschichte der Mathematik, die den images des Mathematischen nachgeht, also der Frage, was Mathematiker:innen, Philosoph:innen, Po­li­ti­ker:innen, Autor:innen und viele mehr über die Mathematik jenseits des mathematischen Gehalts gedacht und gesagt haben. Dieses Kontextwissen ist für ein angemessenes Verständnis der Reflexionen der Mathematik bei Schlegel, Hardenberg und Goethe unabdingbar. Da es jedoch nicht zum Kernbestand literaturwissenschaftlichen Wissens zählt, beginne ich mit einem Überblick über die wichtigsten images des Mathematischen im 18. Jahrhundert (1), ehe ich mich in der Folge den früh- und spätroma­n­ tischen Bildern der Mathematik zuwende: Friedrich Schlegel, der als prägender philosophischer Kopf der frühromantischen Bewegung gilt, schätzte die Mathematik vor allem aufgrund der ästhetischen Qualität ihrer Formelsprache und setzte sie ein, um den Gehalt seiner Philosopheme sinnlich er­fahr­bar zu machen (2). Er stand be­ kanntlich in engem Austausch mit Hardenberg.3 Dieser ist unter den drei von mir gewählten Autoren derjenige, der die fundierteste mathematische Ausbildung genossen, sich am intensivsten mit der Mathematik be­schäf­tigt und für sie begeistert hat.4 Seine emphatische Einschätzung der Ma­the­ma­tik als divinatorische Erfindungskunst schlug sich in Denkexperimenten und literarischen Texten nieder – anders als Schlegel integriert Hardenberg neben dem ästhetischen auch das epistemische Potenzial der Mathematik in seine Utopie eines goldenen Zeitalters, die er in seinem Klingsohr-Märchen ins Bild setzt (3).5 Ich schließe mit Goethe, dem die abstrakte mathematische Praxis im Gegensatz zu den zeitgenössischen empirischen Naturwissenschaften fremd blieb. Goethe stand dabei, anders als in der Forschung lange ventiliert, der Mathematik keinesfalls feindselig gegenüber. Circa dreißig Jahre später als Hardenberg blickt er jedoch kritischer und weniger optimistisch auf die Mathematisierung des Weltbildes. In seinem Spätwerk Wilhelm Meisters Wanderjahre grenzt er die Mathematik nicht nur dezidiert aus dem Bereich des Ästhetischen aus, sondern fragt insbesondere auch nach den ethischen Implikationen eines durch den Siegeszug der Mathematik beförderten primär rational-­instrumentellen Zugriffs auf die Welt (4).  Vgl. dazu jüngst Nicholas Saul, Johannes Endres (Hg.): Ich liebe Deine Liebe. Der Briefwechsel zwischen Friedrich Schlegel und Friedrich von Hardenberg (Novalis). Eine Ausstellung zum 250. Geburtstag der beiden Dichter. Göttingen, Frankfurt a.M. 2022. 4  Vgl. Richard Samuel: Der berufliche Werdegang Friedrich von Hardenbergs. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 16 (1929), S.  83–112; Gerhard Schulz: Die Berufslaufbahn Friedrich von Hardenbergs (Novalis). In: Jahrbuch der deutschen Schiller-Gesellschaft 7 (1963), S. 253–312. 5  Es gibt viele weitere mathematische Aspekte bei Schlegel und Hardenberg, die einen vergleichenden Blick lohnen. Vgl. etwa zur geometrischen Metaphorik des Punktes Jocelyn Holland: Schlegel, Hardenberg, and the Point of Romanticsm. In: Athenäum. Jahrbuch der Friedrich Schlegel-­Gesellschaft 19 (2009), S. 87–108. 3

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1  Images der Mathematik um 1800 Nicht nur die Mathematiker:innen beschäftigten sich im 18. Jahrhundert mit der Mathematik, vielmehr übte diese auch auf andere Professionen eine starke Fas­zi­na­ ti­on aus, gab einigen Anlass zu großen Hoffnungen und wurde von anderen mit kritischen Augen gesehen. Die Vielfalt mathematischer Referenzen und ihrer Funktionen außerhalb der Mathematik können hier nicht erschöpfend behandelt werden, ich beschränke mich auf einen kursorischen Überblick und eine vorsichtige Sor­tie­ rung wesentlicher Aspekte und Tendenzen. Erstens wurden um 1800 die innermathematischen Innovationen auf ihren konkreten Nutzen oder auch ihren Schaden für die wissenschaftliche Erkenntnis ins­ge­ samt befragt. Aus René Descartes’ analytischer Geometrie, der von Gottfried Wilhelm Leibniz und Isaac Newton entwickelten Infinitesimalrechnung sowie deren Algebraisierung durch Leonhard Euler und Joseph-Louis Lagrange  – um nur die wichtigsten Stationen zu nennen – entwickelte sich die neue Analysis. Sie zeichnete sich durch eine die mathematische Praxis bis heute prägende, starke Formalisierung von Konzepten und Schlussverfahren aus, die mit ihrer breiten Anwendbarkeit zur vielzitierten Mathematisierung der Naturwissenschaften führte und aufklärerisch-­ rationalistische Hoffnungen auf eine Anwendung auch jenseits der exakten Wissenschaften befeuerte. So schrieb etwa der französische Philosoph Condorcet in seinem Esquisse d’un tableau historique des progrès de l’esprit humain (Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes, 1794/1795), die „Sprache der Algebra“ sei die „einzige wahrhaft exakte und wahrhaft analytische Sprache“, welche „die Prinzipien eines Universalinstruments in sich schließt, die auf jede Kombination von Bewußtseinsinhalten anwendbar sind“.6 Ähnlich sah auch der Frühromantiker Friedrich von Hardenberg die In­fi­ni­te­si­mal­ rech­nung als Modell epistemischen Fortschritts – darauf komme ich zurück. Dem standen nüchterne Einschätzungen wie die August Wilhelm Schlegels entgegen, die mathematische Praxis sei weniger eine Wissenschaft als ein nützliches Handwerk, das „in bloßen Erleichterungs- und Abkürzungs-Methoden besteht, woran be­son­ ders die Arithmetik so reich ist.“7 Noch kritischer warnte Johann Wolfgang von Goethe in seinem Aufsatz Über Mathematik und deren Mißbrauch vor einer unreflektierten „Anwendung von Formeln“, die in der Naturforschung mehr und mehr zum dominanten Selbstzweck gerieten: Die „Zauberformeln“ der Mathematik würden, so monierte er, nicht selten in unredlicher Weise benutzt, um intuitiv-­einsichtige Zusammenhänge zu verkomplizieren und insbesondere dem interessierten Laien den Weg zur Naturerkenntnis zu versperren.8

 Condorcet: Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes. Übers. v. Wilhelm Alff in Zusammenarbeit mit Hermann Schweppenhäuser. Köln 1976, S. 169 f. 7  August Wilhelm Schlegel: Vorlesungen über Encyklopädie. In: Ders.: Kritische Ausgabe der Vorlesungen. Bd. 3. Hg. v. Frank Jolles, Edith Höltenschmidt. Wien 2006, S. 23. 8  Johann Wolfgang von Goethe: Über Mathematik und deren Mißbrauch so wie das periodische Vorwalten einzelner wissenschaftlicher Zweige (1826). In: FA 25, S. 65–76, hier S. 69. 6

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Allgemeiner verfolgten mathematikphilosophische Reflexionen – zweitens – die Frage nach dem ‚Wesen‘ mathematischer Erkenntnis überhaupt. Die Antworten bewegten sich in einem Spektrum zwischen zahlenmystischen Spekulationen, dem Leibniz’schen Panlogismus und seinem frühen Projekt einer kombinatorischen Erfindungskunst sowie Immanuel Kants transzendentalphilosophischer Behandlung der Mathematik in der Kritik der reinen Vernunft (1787). Letztere bildet einen zen­ tra­len Bezugspunkt für die Auseinandersetzung mit der Mathematik um 1800, daher seien ihre mathematikphilosophischen Grundzüge hier kurz zusammengefasst: Die Kritik der reinen Vernunft ist eine metaphilosophische Schrift, in der es nicht um philosophische Einzelfragen geht, sondern um die Begründung von Methoden und den Erkenntniswert der Philosophie oder Metaphysik überhaupt. Ihre Leitfrage lautet: „Wie ist Metaphysik als Wissenschaft möglich?“9 Kant gibt zunächst eine formale Antwort: Eine wissenschaftliche Metaphysik bestehe „aus lauter synthetischen Sätzen a priori“.10 Ein solcher Satz liefert erstens neue Erkenntnisse, indem er einem Subjekt ein nicht schon in seinem Begriffsumfang enthaltenes Prädikat zuordnet und somit die Kenntnisse über das Subjekt erweitert – das bedeutet „syn­the­ tisch“.11 Zweitens bedarf ein solcher Satz keiner empirischen Begründung, er gilt notwendig und unabhängig von aller konkreten Erfahrung – das bedeutet „a priori“. Kant fragt nun weiter: Kann es denn überhaupt solche Sätze geben? Ihre Mög­lich­ keit – und damit die Möglichkeit der Metaphysik als Wissenschaft – wird, so Kants These, durch die Mathematik bestätigt, die „das glänzendste Beispiel einer sich ohne Beihülfe der Erfahrung von selbst glücklich erweiternden reinen Vernunft“12 darstellt; er konstatiert: „Mathematische Urtheile sind insgesammt synthetisch“13 und zudem „jederzeit Urtheile a priori und nicht empirisch […], weil sie Nothwendigkeit bei sich führen, welche aus Erfahrung nicht abgenommen werden kann“.14 Gewährleistet wird die objektiv-notwendige Wahrheit der synthetischen mathematischen Sätze durch die Zuordnung der Mathematik zur reinen Anschauung, also der transzendentalen Bedingung der sinnlichen Wahrnehmung.15 Mit dieser Bestimmung mathematischer Urteile setzte sich Kant wesentlich von bis dahin dominierenden philosophischen Überlegungen zur Mathematik ab: Die Auszeichnung ihrer Urteilsformen als synthetisch unterscheidet sie von der ana­ly­ tisch operierenden Logik und misst ihren Erkenntnissen einen eigenständigen Wert zu. Die Zuordnung zur reinen Anschauung anstatt zum diskursiven Erkenntnisvermögen des Verstandes weist der Mathematik zudem eine grundlegende Rolle für die empirisch arbeitenden Naturwissenschaften zu. Pointiert zugespitzt, lieferte Kants  Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Zweite Aufl. 1787. In: Kant’s gesammelte Schriften. Hg. v. d. Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 1911, Bd. 3, S. 41 (künftig mit Sigle AA 3). 10  AA 3, S. 39. 11  Vgl. AA 3, S. 27f., 33–36. 12  AA 3, S. 468. 13  AA 3, S. 36. 14  AA 3, S. 36f. 15  Vgl. AA 3, S. 472. 9

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Auszeichnung der mathematischen Sätze als formale Vorbilder wissenschaftlicher Erkenntnis eine philosophische Begründung der im 18. Jahrhundert einsetzenden Mathematisierung der Naturwissenschaften, die auch in Bereiche des Sozialen auszustrahlen begann. Mit der zunehmenden Bedeutung mathematischer Verfahren in anderen Disziplinen stellte sich auch die wissenschaftspolitische Frage nach der Position der Ma­the­ ma­tik in der Wissensordnung. Einen der wichtigsten Versuche einer systematischen Neuordnung der Disziplinen unternahmen der Mathematiker Jean Le Rond D’Alembert und der Philosoph Denis Diderot mit ihrem Großprojekt der Enyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers (Enzyklopädie oder ein durchdachtes Wörterbuch der Wissenschaften, Künste und Handwerke, 1751–1780). Die dort proklamierte rationalistische Wissensordnung wird im Baum des Wissens, einer von Christian Friedrich Wilhelm Roth gefertigten Illustration, ins Bild gesetzt:16 Seinen Stamm bilden die Vermögen Vernunft und Verstand, aus denen in direkter Verzweigung insbesondere auch die mathematischen Wissenschaften her­vor­ ge­hen. Zu ihnen gehörte im 18. Jahrhundert auch die Astronomie. Von der Antike bis zum Mittelalter wurde sie im Verbund mit der Astrologie zum mathematischen Qua­ dri­vi­um der sieben freien Künste gerechnet und als „unerläßliche Propädeutik für ein umfassendes philosophisches Wissen erachtet“.17 In der Frühen Neuzeit begann sich ihre Position in der Wissensordnung zu ändern: Die mathematisierenden Beschreibungen des Universums beanspruchten zunehmend ein „Erklärungsprimat bzw. ein Deutungsmonopol […], wie es zuvor (Natur-)Philosophie und Theologie besessen hatten“.18 Diese Frage nach dem Verhältnis von naturphilosophischer Betrachtung und mathematischer Beschreibung des Kosmos spielt auch im dritten Bereich mathematischer images immer wieder eine zentrale Rolle: in den poetischen Bezugnahmen auf Mathematisches. Ich verwende dabei die Zuschreibung ‚poetisch‘ in Absetzung von einem rein begrifflich-diskursiven Denkverfahren, das, wie in der Philosophie und anderen Wissenschaften, auf eine stringente Argumentation angelegt ist. Die  Die Abbildung findet sich im Supplementband der Encyclopédie: Table analytique et raisonnée des matieres contenues dans les XXXIII volumes in-folio du Dictionnaire des sciences, des arts et des métiers, et dans son supplément. Paris, Amsterdam 1780, Bd. 1. Vgl. zu Funktion und Deutung dieser Illustration Silke Förschler, Nina Hahne: Das Methodenwissen der Aufklärung. In: Dies. (Hg.): Methoden der Aufklärung. Ordnungen der Wissensvermittlung und Erkenntnisgenerierung im langen 18. Jahrhundert. München 2012, S. 7–19, hier S. 7–10. Zum zentralen Anliegen der En­ cyclopédie, der Entthronung der Religion durch die (rationalistische) Philosophie, vgl. Robert Darnton: Philosophen stutzen den Baum der Erkenntnis. Die erkenntnistheoretische Strategie der Encyclopédie. In: Ders.: Das große Katzenmassaker. Streifzüge durch die französische Kultur vor der Revolution. Übers. v. Jörg Trobitius. München 1989, S. 218–243. 17  Richard Lemay: Astronomie I.  In: Joachim Ritter (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Basel, Stuttgart 1971, Bd. 1, Sp. 588–590, hier Sp. 588. 18  Volker Remmert: Widmung, Welterklärung und Wissenschaftslegitimierung. Titelbilder und ihre Funktionen in der Wissenschaftlichen Revolution. Wiesbaden 2005, S.  10. Vgl. zu den wissenschaftlichen Entwicklungen in der Astronomie im ausgehenden 17. und im 18. Jahrhundert Curtis Wilson: Astronomy and Cosmology. In: Roy Porter (Hg.): The Cambridge History of Science. Bd. 4: Eighteenth-Century Science. Cambridge 2002, S. 328–353. 16

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Rekurse auf die Mathematik bei Schlegel, Hardenberg und Goethe, die ich im Folgenden vorstelle, gehören stattdessen in den Kontext der sich um 1800 als ästhetisch-­ sinnliche Erkenntnis von der Philosophie emanzipierenden Poesie: Die Autoren er­ pro­ben individuelle Perspektiven, setzen auf semantische Mehrdeutigkeiten und ästhetische Wirkungen, arbeiten mit Metaphern und assoziativ-analogischen Verfahren.

2 Friedrich Schlegel: Die Mathematik als Vehikel des Undarstellbaren Schlegel bedient sich in seinen philosophischen Entwürfen immer wieder einer der Mathematik entlehnten formelhaften Schreibweise. In den Fragmenten zur Littera­ tur und Poesie finden sich zum Beispiel Notizen wie diese: FSM sind die poetisch [ en ] Ideen. - Das p Ideal = 0 0 0



1 0

1

FSM 0 = Gott. 0

Schlegels auf den ersten Blick kryptische Schreibweise folgt einer eigenen Sys­ te­ma­tik und lässt sich daher durchaus in natürlicher Sprache formulieren:19 Zentrale Begriffe werden mit ihren lateinischen oder griechischen Anfangsbuchstaben abgekürzt, das Konzept des Absoluten bzw. Unendlichen wird durch die (ma­the­ma­ tisch unzulässige) Division durch 0 dargestellt, Potenzierung und Wurzelziehen ste­ hen für den jeweiligen Übergang von der Einheit zur Mannigfaltigkeit bzw. um­ gekehrt der essenziellen Reduktion der Mannigfaltigkeit auf ihren Urgrund. Entsprechend wird in der Kritischen Friedrich Schlegel-Ausgabe die Transkription der Notiz mit der Übertragung der Formel in natürliche Sprache (in eckigen Klam­ mern) versehen: FSM [absolute Fantastik, absolute Sentimentalität, absolute Mimik] sind die po­e­ 0 0 0 1 1 0 0 FSM tisch[en] Ideen. – Das π [poetische] Ideal = = Gott.“20 0 „

Folgt man dieser Systematik, so ließe sich die letzte Formel etwa als die ‚absolute Essenz der mannigfaltig gesteigerten, absoluten poetischen Ideen‘ verstehen. Die Mathematikerin würde über diese Notation und ihre sprachliche Decodierung  Vgl. Ernst Behler: Einleitung. In: Friedrich Schlegel: Kritische Ausgabe. Begründet von Ernst Behler, fortgeführt von Andreas Arndt, hg. von Ulrich Breuer. München, Paderborn, Wien u. a. 1958ff. Bd. 18: Philosophische Lehrjahre 1796–1806, Teil 1. Paderborn u. a. 1963, S. IX–LXX, hier S. XLIf. (künftig mit Sigle KFSA). In kritischer Perspektive zu dieser Übersetzung der mathematischen Symbole in natürliche Sprache: Helmut Schanze: Romantik und Aufklärung. Untersuchungen zu Friedrich Schlegel und Novalis. Nürnberg 1976, S. 87–90. 20  Friedrich Schlegel: Fragmente zur Litteratur und Poesie. In: KFSA 16, S. 83–190, hier S. 148. 19

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den Kopf schütteln. Die Kultur- und Literaturwissenschaftlerin aber stellt sich die Frage: Macht die Übersetzung in Begriffe der natürlichen Sprache den Sinn der Notiz klarer? Wenn das so wäre, hätte Schlegel sich die Kalkülisierung seiner Überlegungen nicht ersparen können? Im besten Fall wären die Formeln dann für ihn lediglich eine Aufschreibe- und Memoriahilfe, die er, wie Hans Behler annimmt, „aus rein ökonomischen Gründen“ anwendet.21 Im schlechtesten Fall handelte es sich um eine der von Goethe kritisierten pseudo-mathematischen „Zauberformeln“, die keinerlei epistemischen Zugewinn bringen. Schlegel sieht das jedoch anders, wenn er sie als Ausdruck einer Art des Philosophierens erläutert, die der syllogistisch-­ analytischen Argumentationsweise überlegen sei: Im Gegensatz zu den „tautologischen, inhaltsleeren, logischen Prinzipien“ ist für Schlegel die verformelte Aus­ drucks­wei­se erkenntnisfördernd, weil sie „die Gegenstände nach ihrer innern Zu­ sam­men­set­zung und ihren Elementen, ihrer stufenweisen Entwicklung und ihren innern Verhältnissen zu sich“ darstellt.22 Vorbild dürfte dabei trotz der mathematischen Symbole wohl auch die stöchiometrische Formelsprache der Chemie sein. Explizit – und im Rekurs auf Kants transzendentalphilosophische Bestimmung – rekurriert Schlegel aber auf die mathematische Erkenntnisform: „Die Mathematik ist gleichsam eine sinnliche Logik, sie verhält sich zur Philosophie, wie die materiellen Künste, Musik und Plastik zur Poesie.“23 Den Formeln der Mathematik kommt also für Schlegel auch eine sinnlich wahr­ nehm­ba­re ästhetische Qualität zu: Sie veranschaulichen und sprechen nicht nur, wie Logik und Poesie, über Begriffe und Bilder zu unseren inneren, sondern auch zu unseren äußeren Sinnen und haben daher eine konstruktive, schaffende Funktion. Wegen ihrer „Ähnlichkeit mit der Mathematik“ könne man die verformelte Dar­stel­ lung die „Methode der Konstruktion“ nennen.24 Formeln allein aber reichen nicht aus. Sie seien, so Schlegel, tatsächlich „bloß für den subalternen, technischen Ge­ brauch gültig[ ]“, sie seien „vorläufig und hypothetisch“.25 Erst in der projektierten vollkommenen Philosophie werde sich „alle Form und Methode […] mit dem Inhalt zugleich finden“.26 Die angestrebte Philosophie muss also ihrem Gegenstand auch in ihrer Darstellungsweise gerecht werden: „Zum Verständnis gehört notwendig Mitteilung; die Darstellung ist der Prüfstein des Verstehens“.27 Schlegel entwirft damit eine poetische Form der Philosophie, die sich, so hat Michel Chaouli he­raus­ge­ar­bei­ tet, nicht nur an der Mathematik, sondern an der bereits erwähnten Chemie orientiert, und zwar in ihrem theoretischen Zuschnitt vor John Daltons Atom­mo­dell.28 Die ihr  Behler: Einleitung, KFSA 18, S. XLI.  Friedrich Schlegel: Die Entwicklung der Philosophie in zwölf Büchern (1804/05). In: KFSA 12, S. 107–480, hier S. 322f. 23  Friedrich Schlegel: Athenäumsfragmente (1798). In: KFSA 2, S. 165–255, hier S. 232. 24  Schlegel: Entwicklung der Philosophie, KFSA 12, S. 323. 25  Schlegel: Entwicklung der Philosophie, KFSA 12, S. 323. 26  Schlegel: Entwicklung der Philosophie, KFSA 12, S. 323. 27  Schlegel: Entwicklung der Philosophie, KFSA 12, S. 386. 28  Vgl. Michel Chaouli: Das Laboratorium der Poesie. Chemie und Poetik bei Friedrich Schlegel. Übers. v. Ingrid Proß-Gill. Paderborn u. a. 2004. 21 22

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zeitgenössisch zugrunde liegende Theorie der chemischen Elemente verbindet eine der Logik zugeschlagene Kombinatorik mit dem Konzept der s­ ogenannten Wahlverwandtschaft. Dieser Begriff bezeichnet das empirische, zum damaligen Zeitpunkt eben noch nicht durch das Atommodell apriorisch zu erklärende Phänomen, dass nur zwischen bestimmten chemischen Elementen Anziehungskräfte bestehen, andere – rein logisch ebenso mögliche  – Kombinationen aber de facto nicht auftreten. Das abstrakte kombinatorische Modell der Elemente wird damit, so sieht es jedenfalls Schlegel, durch einen – im wahrsten Sinne des Wortes – unberechenbaren Faktor angereichert. Dieses Zusammenspiel von rational beherrschbaren, abstrakten Strukturen und dem Eigensinn des Empirischen ist für Schlegel der Gegenstand seiner neuen Philosophie, die er entsprechend als „λογ[logische] Chemie“ auszeichnet.29 Sie arbeitet mit idealen Begriffen. Unter einem solchen „Ideal des Begriffs“ versteht Schlegel ein „Sinnbild für eine geistige Anschauung“,30 das sich weder ausschließlich in begrifflicher Sprache noch durch die Darstellung seiner Konstruktionsformel zum Ausdruck bringen lässt: „Der Begriff soll nach uns nicht allein eine willkürliche Konstruktion und Anordnung von allerlei Stoffen, sondern zugleich ein Sinnbild, ein den Geist ausdrückendes Wort sein; da­ raus folgt weiter, daß jeder Begriff immer auch etwas Unerklärbares, Unauflösbares, Unbegreifliches enthält, nicht als etwas, was gar nicht in das menschliche Bewußtsein ein­ge­ hen könne, sondern was sich durch den bloßen Begriff und durch alle Konstruktion nicht mitteilen läßt, wozu die geistige Anschauung durchaus notwendig ist […].“31

Gerade weil sie vorläufigen und vorbereitenden Charakter für eine angemessene Sprache der Philosophie haben sollen, muss man also Schlegels Gedankenformeln auch in ihrer Inkommensurabilität ernst nehmen: Sie lassen sich zwar in natürlichsprachliche Begriffe übersetzen, verloren geht dabei aber die evidenzerzeugende, räumliche, also sinnliche Anordnung der Symbole. Ins Begriffliche übertragen lässt sich diese nicht. Als diagrammatisches Zeichensystem wäre sie dann in ihrer Zusammenordnung mit der begrifflichen Sprache eine Art Irritationsmoment, um verschiedene Modi der Darstellung und der Erkenntnis präsent zu halten und auf das „Unerklärbare[ ], Unauflösbare[ ], Unbegreifliche[ ]“ hinzuweisen, das weder Se­ man­tik, Grammatik und Logik noch den sinnlichen Zeichen allein zugänglich ist. Der epistemische Zugewinn der „Zauberformel“ läge dann gerade darin, dass sie die vorläufige Undarstellbarkeit dessen, was sie darstellen will, sinnlich erfahrbar werden lässt, ähnlich wie im ästhetischen Zusammenhang das romantische Konzept des Fragments. Diese, abermals mit Michel Chaouli gesprochen, „Chemo-Poetik“ siedelt sich affirmativ auf der Grenze zwischen dem „Geist der alchemistischen Magie“ und der

 Friedrich Schlegel: Philosophische Fragmente. Erste Epoche II (1796–1798). In: KFSA 18, S. 17–119, hier S. 33. 30  Schlegel: Entwicklung der Philosophie, KFSA 12, S. 387. 31  Schlegel: Entwicklung der Philosophie, KFSA 12, S. 387. 29

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mathematischen Formalisierung an.32 Gerade in der nicht auflösbaren Spannung zwischen beiden, die ein abschließend-endgültiges Verstehen offenhält, entsteht für Schlegel eine treibende ästhetische Kraft, die die Grundlage seiner progressiven Universalpoesie bildet. Diese Spannung beschäftigt auch Goethe, allerdings in eher resignativer Weise. Doch zunächst zu Hardenberg.

3 Friedrich von Hardenberg: Die Mathematik im Mosaik des goldenen Zeitalters Wie bereits erwähnt, nimmt die Mathematik für Hardenberg eine zentrale Rolle in seinem Denken und Dichten ein.33 Nicht zuletzt angeregt durch die von D’Alembert und Diderot herausgegebene Encyclopédie, versucht er sich an einer Theorie der systematischen Ordnung und Einheit aller Disziplinen und Wissensformen. Sie bleibt unvollendet, überliefert ist jedoch ihr Entwurf: das Allgemeine Brouillon, eine Sammlung von knapp 1200 Aufzeichnungen, die Hardenbergs Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Theorien und Konzepten aus den unterschiedlichsten Disziplinen dokumentieren und auch seine wichtigsten mathematischen Reflexionen ent­ hal­ten. Dort heißt es etwa: „Die Mathematik ist ächte Wissenschaft – weil sie gemachte Kenntnisse enthält – Produkte geistiger Selbstthätigkeit – weil sie methodisch genialisirt. Sie ist Kunst, weil sie genialisches Verfahren in Regeln gebracht hat  – weil sie lehrt Genie zu seyn – weil sie die Natur durch Vernunft ersetzt.“34

Hardenberg charakterisiert hier die Mathematik durch eine zweifache Zu­schrei­ bung: Erstens profiliert er die Arbeit des Mathematikers als aktive Generierung neuen (mathematischen) Wissens. Auf diesen schöpferischen Aspekt zielt auch die  Michel Chaouli: Die „Verwandtschaftstafeln der Buchstaben“ und das große Lalula der Romantik. Zur Produktion von Sinn und Unsinn in der Literatur. In: Bernhard J. Dotzler, Sigrid Weigel (Hg.): „fülle der combination“. Literaturforschung und Wissenschaftsgeschichte. München 2005, S. 101–125, hier S. 107. 33  Pionierarbeit für die angemessene Einbeziehung von Hardenbergs Notizen zur Mathematik in sein Gesamtwerk leistete Käte Hamburger: Novalis und die Mathematik. Eine Studie zur Erkenntnistheorie der Romantik. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 16 (1929), S. 113–194. In einigem zeitlichen Abstand folgten die grundlegenden Arbeiten von Martin Dyck: Novalis and Mathematics. A Study of Friedrich von Hardenberg’s Fragments on Mathematics and its Relation to Magic, Music, Religion, Philosophy, Language and Literature. Chapel Hill 1960; John Neubauer: Symbolismus und symbolische Logik. Die Idee der Ars Combinatoria in der Entwicklung der modernen Dichtung. München 1978; Howard Pollack: Novalis and Mathematics Revisited. Paradoxes of the Infinite in the Allgemeine Brouillon. In: Athenäum. Jahrbuch der Friedrich-Schlegel-Gesellschaft 7 (1997), S. 113–140; ders.: Gott ist bald 1⋅∞ – bald 1/∞ – bald 0. The Mathematical Infinite and the Absolute in Novalis. In: Seminar. A Journal of Germanic Studies 51/1 (2015), S. 50–70; Franziska Bomski: Die Mathematik im Denken und Dichten von Novalis. Zum Verhältnis von Literatur und Wissen um 1800. Berlin 2014. 34  Friedrich von Hardenberg: Das Allgemeine Brouillon (Materialien zur Enzyklopädistik 1798/99). In: KHA 3, S. 242–478, hier S. 473f.:1126. 32

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Beschreibung des mathematischen Verfahrens als ‚Genialisieren‘. Hardenberg schließt damit an die Konzeptualisierung mathematischer Sätze als synthetische Urteile a priori durch Kant an, mit dessen Theorien er sich an zahlreichen anderen Stellen intensiv und explizit auseinandersetzt. Daneben aber ist die Mathematik für Hardenberg zweitens, nun im Anschluss an die auf die Antike zurückgehende Zuordnung zu den sieben freien Künsten und an ihren zeitgenössischen Status um 1800 als Hilfswissenschaft, eine (Handwerks-) Kunst. Ihre Beweise folgen strengen Regeln, die lehr- und lernbar sind.35 Hardenberg bindet damit in seiner Beschreibung der Mathematik zwei Traditionen der Vor­ stel­lung eines Schöpfers und seiner jeweiligen Form der Schöpfung zusammen: auf der einen Seite die des creators, des göttlichen Erschaffers von Welt und Natur, auf der anderen Seite die des artifex, des Handwerkers, der im Akt des Herstellens etwas Künstlich-Gemachtes hervorbringt. Im Lauf des 18. Jahrhunderts, so hat Jochen Schmidt herausgearbeitet, bildete sich eine „Anschauung vom außerordentlichen Rang der Dichtkunst“ heraus, da diese zunehmend mit „schöpferischer Freiheit“ und einem traditionell Gott vorbehaltenen, „naturhaften Schöpfungsbegriff[]“ in Verbindung gebracht wurde.36 Der Dichter wird so zum Inbegriff des Genies, ihm wird „die Würde eines mit höchster Autorität auftretenden Schöpfers“ zugeschrieben,37 dessen freies, nicht regelhaftes, kreatives Schaffen von Neuem dem wissenschaftlichen, regelgeleiteten und erlernbaren Handeln des artifex entgegensteht. So zeichnet sich etwa für Kant das Genie durch ein Vermögen aus, „welches keine Wissenschaft lehren und kein Fleiß erlernen kann“:38 „Darin ist jedermann einig, daß Genie dem Nachahmungsgeiste gänzlich entgegen zu set­ zen sei. Da nun Lernen nichts als Nachahmen ist, so kann die größte Fähigkeit, Gelehrigkeit (Capacität) als Gelehrigkeit, doch nicht für Genie gelten. […] So kann man alles, was Newton in seinem unsterblichen Werke der Principien der Naturphilosophie, so ein großer Kopf auch erforderlich war, dergleichen zu erfinden, vorgetragen hat, gar wohl lernen; aber man kann nicht geistreich dichten lernen […]. Im Wissenschaftlichen also ist der größte Erfinder vom mühseligsten Nachahmer und Lehrlinge nur dem Grade nach, dagegen von dem welchen die Natur für die schöne Kunst begabt hat, spezifisch unterschieden.“39

 Zur mathematischen Praxis als Kunst und ihrer ästhetischen Qualität vgl. Lutz Danneberg: „ein Mathematiker, der nicht etwas Poet ist, wird nimmer ein vollkommener Mathematiker sein.“ Geschmack, Takt, ästhetisches Empfinden im kulturellen Behauptungsdiskurs der Mathematik und der Naturwissenschaften im 19., mit Blicken ins 20. Jahrhundert. In: Andrea Albrecht, Gesa von Essen, Werner Frick (Hg.): Zahlen, Zeichen und Figuren. Mathematische Inspirationen in Kunst und Literatur. Berlin, Boston 2011, S. 600–657. 36  Jochen Schmidt: Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750–1945. 2 Bde. Darmstadt 1985, Bd. 1, S. 1 und 12. 37  Schmidt: Genie-Gedanke, S. 1. 38  Immanuel Kant: Kritik der Urtheilskraft (1790). In: Kant’s gesammelte Schriften. Hg. v. d. Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 1913, Bd. 5, S. 165–485, hier S. 317 (künftig mit Sigle AA 5). 39  AA 5, S. 308f. 35

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„Das eigentliche Feld für das Genie“ ist nach Kant „das der Einbildungskraft: weil diese schöpferisch ist und weniger als andere Vermögen unter dem Zwange der Regeln steht, dadurch aber der Originalität desto fähiger ist.“40 Der Wissenschaftler, insbesondere der Mathematiker, kann demnach zwar ein „großer Kopf“ sein, ist aber nicht geniefähig.41 Hardenberg sieht das anders. Er deutet – gewissermaßen mit dem vorkritischen Kant gegen den kritischen Kant – den synthetisch apriorischen Charakter der mathematischen Urteile als Ausweis von Originalität und Schöpfung im geniehaften Sinne und nähert damit die Mathematik den Künsten und der Dichtung an: „Alles aus Nichts erschaffne Reale, wie z. B. die Zahlen und die abstracten Ausdrücke – hat eine wunderbare Verwandtschaft mit Dingen einer andern Welt – mit unendlichen Reihen sonderbarer Combinationen und Verhältnissen – gleichsam mit einer mathem[atischen] und abstracten Welt an sich – mit einer poëtischen mathem[atischen] und abstracten Welt.“42

Zusammenfassend lässt sich bis hierher festhalten, dass für Hardenberg die Ma­ the­ma­tik ein Beleg für die Möglichkeit einer gleichzeitig genialen wie auch me­tho­ disch verfahrenden Erfindungskunst ist. In den innermathematischen Tendenzen des 18. Jahrhunderts sieht er die wissenschaftlichen Erfolge dieser Erfindungskunst, die er auf die übrigen Wissensbereiche zu übertragen sucht. Die erkenntnisfördernde Funktion für andere Wissensbereiche, die Hardenberg der Mathematik zuschreibt, beruht auf der Annahme einer grundlegenden Analogie zwischen allen Wissenschaften, wie er sie, einmal mehr ausgehend von Kant, im folgenden Brouillon-­ Eintrag formuliert: Kants Frage: sind synthetische Urth[eile] a priori möglich? läßt sich auf mannichfaltige Weise specifisch ausdrücken. z. B. = Ist die Philosophie eine Kunst (eine Dogmatik) (Wissensch[aft]) = Giebt es eine Erfindungskunst ohne Data, eine abs[olute] Erfindungskunst. = Lassen sich Kranckheiten nach Belieben machen etc. = Lassen sich Verse nach Regeln und ein Wahnwitz nach Gr[und]S[ätzen] denken. = Ist ein Perpetuum mobile möglich etc. = Ist ein Genie möglich – läßt sich ein Genie definiren. = läßt sich der Zirkel quadriren – = Ist Magie möglich, = Läßt sich Gott, Freyheit und Unsterblichkeit demonstriren = Giebt es eine Rechnung d[es] Unendlichen usw.43

 Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798). In: Kant’s gesammelte Schriften. Hg. v. d. Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 1917, Bd. 7, S. 117–333, hier S. 224. 41  AA 5, S. 308. Das war nicht immer so, insbesondere im 17. Jahrhundert verband man Naturwissenschaftler:innen mit Attributen, die später in die Konzeption des künstlerischen Originalgenies einflossen. Vgl. Bernhard Fabian: Der Naturwissenschaftler als Originalgenie. In: Hugo Friedrich, Fritz Schalk (Hg.): Europäische Aufklärung. Herbert Dieckmann zum 60. Geburtstag. München 1967, S. 47–68. 42  KHA 3, S. 440:898. 43  KHA 3, S. 388:650. 40

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Hardenberg interpretiert hier die Leitfrage der Kritik der reinen Vernunft auf unterschiedliche Weisen, die, so zeigt das sie jeweils verbindende Gleich­heits­zei­ chen, für ihn äquivalent sind oder zumindest ausreichend analogische Übertragbarkeiten bieten, um Vergleiche zu rechtfertigen. Alle Ausdrücke bezeichnen demnach das gleiche Kernproblem, nur jeweils in einem anderen Kontext, von der Phi­lo­so­phie über Medizin, Poesie, Psychologie, Physik bis hin zur Mathematik, auf die ich mich im Folgenden konzentriere: Es geht um das eben beschriebene „in Regeln ge­ bracht[e]“ „genialische[] Verfahren“.44 Hardenberg benennt als mathematische Kontexte die Quadratur des Kreises und die Rechnung des Unendlichen und verweist damit speziell auf die Infinitesimalrechnung. Dabei gibt es einen wichtigen Unterschied zwischen den mathematischen und den anderen Fragen im Brouillon-­Eintrag Nr. 650: Erstere können (bereits) positiv beantwortet werden. Die Rech­nung des Unendlichen gibt es mit der im 18. Jahrhundert entstehenden neuen Ana­ly­sis tatsächlich. Sie stellt zwar keine Methode bereit, den Kreis im antiken Sinne zu quadrieren, jedoch besteht das Verfahren der Infinitesimalrechnung zur Be­rech­nung von Flächeninhalten unter gekrümmten Linien, anschaulich gesprochen, darin, diese Fläche durch immer kleiner werdende Rechtecke immer besser zu ap­pro­xi­mie­ren. Sie liefert somit, so spekuliert Hardenberg in einer weiteren Notiz, innerhalb der Mathematik eine Methode der Annäherung an die Quadratur des Kreises: Der „Quadratur des Zirkels […] liegt die Hypothese oder das Postulat zum Grunde, daß der Urtyp der Zirckelform das Quadrat sey. Das Problem des Zirkels ist also das Problem der Reduktion aller Figuren aufs Quadrat – oder umgek[ehrt] aller Figuren auf die Runde. Je größer wir die Theilungszahl dieser Figur machen – eine desto genauere Auflösung erhalten wir. Eine unendliche Theilungszahl gibt uns eine unendlich genaue Auflösung. Different[ial] und Integralrechnung.“45

Diese emphatische Auszeichnung der Mathematik als Modell einer absoluten Erfindungskunst spiegelt sich auch in Hardenbergs Dichtung wider, insbesondere im sogenannten Klingsohr-Märchen. Es wird im Romanfragment Heinrich von Ofter­ dingen von der Figur des Dichters Klingsohr erzählt und gilt gemeinhin als Apo­the­ ­o­se der romantischen Universalpoesie. Neben vielfältig-bunten Bezügen zu Mythen aus den verschiedensten Kulturkreisen strotzt das Klingsohr-Märchen nur so vor Bezügen zu zeitgenössisch hochaktuellen Themen der Naturforschung. Gal­va­nis­ mus, Magnetismus und chemische Verbindungen spielen eine äußerst prominente Rolle, in der Forschung wird das Märchen daher mitunter sogar als frühe Form der Science Fiction gehandelt.46 Die abstrakte, nicht-empirische Mathematik, Sinnbild

 HKA 3, S. 474:1126.  HKA 3, S. 329:447. 46  Vgl. Walter D. Wetzels: Klingsohrs Märchen als Science Fiction. In: Monatshefte für deutschen Unterricht, deutsche Sprache und Literatur 65/2 (1973), S. 167–175. Ertragreich auch Benjamin Specht: Physik als Kunst. Die Poetisierung der Elektrizität um 1800. Berlin u. a. 2010, S. 287–308, der nachweist, dass Hardenberg das Klingsohr-Märchen (unter anderem) nach dem Modell einer Leidener Flasche konstruiert. 44 45

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des unpoetischen Rationalismus, figuriere jedoch, so wurde oft i­nterpretiert, als böse Gegenspielerin der Poesie, und ihre Niederlage gehe einher mit der Rückkehr des goldenen Zeitalters am Ende des Märchens. Inszeniert werde der Antagonismus zwischen Mathematik und Poesie in den Figuren des Schreibers und des Kindes Fabel.47 Nach der allegorischen Konzeption des Märchens verkörpert der Schreiber den menschlichen Verstand.48 Er wird als missgünstiger, ewiger Nörgler be­schrie­ ben und arbeitet gegen die Bemühungen des Kindes Fabel, die Märchenwelt von ihrem verkehrten Wesen zu befreien. Deutlich wird der Antagonismus der beiden Figuren bereits in der ersten Szene, in der sie auftreten. Eine „edle[], göttergleiche[] Frau“ mit dem sprechenden Namen Sophie (Weisheit) prüft hier den Wert dessen, was der Schreiber notiert, indem sie die Blätter mit seinen Aufzeichnungen in eine „dunkle Schale mit klarem Wasser“ gibt: „Sie tauchte die Blätter jedesmal hinein und wenn sie bey’m Herausziehn gewahr wurde, daß einige Schriften stehen geblieben und glänzend geworden war, so gab sie das Blatt dem Schreiber zurück, der es in ein großes Buch heftete, und oft verdrießlich zu seyn schien, wenn seine Mühe vergeblich gewesen und alles ausgelöscht war.“49

Nachdem sich jedoch Fabel in einem unbeobachteten Augenblick der Feder des Schreibers bemächtigt hat, zeigt sich, dass Fabels Worte anders als die des Schreibers ausnahmslos Bestand haben: Sophie zieht sie „völlig glänzend und unversehrt aus der Schale“.50 Darüber hinaus produziert Fabel im Gegensatz zum Schreiber nicht nur Text: Mitunter wird sie von Sophie mit dem Wunderwasser benetzt, und es bilden sich „tausend seltsame Bilder“, die sich ständig verändern. Treffen diese lebendigen Gebilde aus Weisheit und Poesie jedoch auf den Schreiber, so „fielen eine Menge Zahlen und geometrische Figuren nieder, die er mit vieler Ämsigkeit auf einen Faden zog, und sich zum Zierrath um den magern Hals hing“.51 Die Mathematik als Inbegriff eines knöchernen Verstandes, dessen Wahrheiten nur partiell ewige Weisheiten sind – nämlich die Aufzeichnungen des Schreibers, welche die Taufe im Wunderwasser überstehen – und der mit poetischen Bildern  Diese Deutung wird insbesondere auch in einschlägigen Studien vertreten. So formuliert Hans Joachim Mähl: Die Idee des goldenen Zeitalters im Werk des Novalis. Studien zur Wesensbestimmung der frühromantischen Utopie und zu ihren ideengeschichtlichen Voraussetzungen. Heidelberg 1965, S. 400, dass im goldenen Zeitalter „nun die ‚Poesie‘ an die Stelle der ‚Vernunft‘ tritt; Hermann Kurzke: Novalis. 2. überarb. Aufl. Bremen 2001, S. 13, deutet die Romanhandlung als eine „Wendung gegen Mathematik und Geometrie“. Eine differenziertere Deutung der Mathematik im Heinrich von Ofterdingen findet sich bei Sophie Vietor: Astralis von Novalis. Handschrift – Text – Wirkung. Würzburg 2001, S. 271, Anm. 648, die auf den Vorbildcharakter der Ma­ the­ma­tik für die utopische Entsprechung von Individuum und Natur/Kosmos, wie sie in der Atlantis-­Erzählung und im Klingsohr-Märchen entworfen werden, verweist. 48  Vgl. zur von Hardenberg angelegten allegorischen Dimension des Märchens: Paralipomena zum Heinrich von Ofterdingen. In: HKA 1, S. 335–359. Auf der Grundlage dieser Notizen und mit genauem Blick auf die Märchenhandlung rekonstruiert etwa Vietor: Astralis, S. 355–362, die vermögenspsychologischen Figurationen. 49  Heinrich von Ofterdingen. In: KHA 1, S. 193–334, hier S. 294. 50  HKA 1, S. 296. 51  HKA 1, S. 294. 47

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nichts anderes anzufangen weiß, als sie auf abstraktes Wissen hin zu befragen und ihnen damit ihre Lebendigkeit zu nehmen, das sollte deutlich geworden sein, wird hier nicht eben positiv gezeichnet. Jedoch vernachlässigt eine solche Deutung die von Hardenberg immer wieder geäußerte positive Einschätzung der Mathematik, die sich für ihn – hier ist er sich mit Schlegel einig – eben nicht auf trockene, abs­ trak­te Strukturen reduzieren lässt, sondern, als der inneren Anschauung zugehörig, Ratio und Imagination miteinander vereint. Ins Bild gesetzt wird dies im Märchen durch zeittypische astronomisch-kosmologische Referenzen. Das Märchen führt in der Eingangsszene die ihm selbst zugrundeliegende regulative Idee vor: eine (nur) im Transzendenten verwirklichte, vollkommene Erfindungskunst, in der An­schau­ ung und Verstand im Gleichgewicht sind. Der Sternenkönig Arktur und seine Toch­ ter Freya sind in ein besonderes Spiel vertieft: Im Wechsel legen sie Karten aus, „auf denen heilige tiefsinnige Zeichen standen, die aus lauter Sternbildern zu­sam­men­ge­ setzt waren“: „Der König küßte ehrfurchtsvoll diese Blätter, mischte sie sorgfältig untereinander, und reichte seiner Tochter einige zu. Die andern behielt er für sich. Die Prinzessin zog sie nach der Reihe heraus und legte sie auf den Tisch, dann betrachtete der König die seinigen genau, und wählte mit vielem Nachdenken, ehe er eins dazu hinlegte. Zuweilen schien er ge­zwun­ gen zu seyn, dies oder jenes Blatt zu wählen. Oft aber sah man ihm die Freude an, wenn er durch ein gutgetroffenes Blatt eine schöne Harmonie der Zeichen und Figuren legen konnte.“52

Auch in Arkturs Reich tauchen also „Zeichen und Figuren“ schon auf, allerdings nicht als lebloser Schmuck um den Hals eines missgünstigen, knochigen Mannes, sondern in Reihen, nach bestimmten Gesetzmäßigen geordnet; sie bilden „eine schöne Harmonie“, an der sich Arktur erfreut. Arkturs Kuss verweist auf die Liebe als synthetisierendes, die Ordnung des Universums begründendes Vermögen.53 Sein „Nachdenken“ bei der Auslage zeigt an, dass die „schöne Harmonie“ nicht nur ein sinnlicher Genuss ist, sondern gleichzeitig auch gemäß einer intellektuellen Ord­ nung konstruiert wird, die dem Modell einer potenzierenden Kombination folgt: Auf den Karten selbst sind Sternbilder abgebildet. Diese Sternbilder, be­zie­hungs­ wei­se genauer: eigentlich diese Bilder von Sternbildern, sind dann wiederum die Elemente der größeren Muster, die Arktur auslegt. Die Kartenreihen spielen damit auch auf die unendlichen Potenzreihen an, ein zentrales Konzept der zeitgenössisch hochgehandelten kombinatorischen Analysis, mit der Hardenberg sich nach­weis­ lich intensiv beschäftigt hat.54 Die von Arktur ausgelegten Muster lässt Hardenberg zudem, pythagoreisch-platonische Vorstellungen aufgreifend, von einer Art Sphärenmusik begleiten, schließlich werden sie von den Sternen selbst, den Bewohnern von Arkturs Reich, nachempfunden:  HKA, S. 292.  Vgl. etwa Bernhard Winkler: „Das Unum des Universums“. Zur synthetisierenden Kraft der Liebe bei Hölderlin, Novalis und Schlegel. In: Athenäum. Jahrbuch der Friedrich-Schlegel-­ Gesellschaft 26 (2016), S. 121–160. 54  Vgl. dazu ausführlich Franziska Bomski: Die Mathematik im Denken und Dichten von Novalis, S. 115–146, 156–176. 52 53

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„Zugleich ließ sich eine sanfte, aber tief bewegende Musik in der Luft hören, die von den im Saale sich wunderlich durcheinander schlingenden Sternen, und den übrigen sonderbaren Bewegungen zu entstehen schien. Die Sterne schwangen sich, bald langsam bald schnell, in beständig veränderten Linien umher, und bildeten, nach dem Gange der Musik, die Figuren der Blätter auf das kunstreichste nach. Die Musik wechselte, wie die Bilder auf dem Tische, unaufhörlich […]. Mit einer unglaublichen Leichtigkeit flogen die Sterne den Bildern nach.“55

Damit sind die Abbilder zu echten Sternbildern geworden, an Arkturs Hof ist die Differenz zwischen (abstrakten) Zeichen und (konkreten) Objekten also auf­ge­ho­ ben. Diese Eingangsszene präfiguriert den Ausgang des Märchens. Am Ende sind sowohl Fabel als auch der Schreiber, und damit auch der Antagonismus zwischen ihnen, verschwunden. Fabel steigt in die himmlische Sphäre auf und schafft dort genau wie Arktur bewegte Bilder für die Zuschauer aus der irdischen Sphäre. Sie nähert sich somit der vollkommenen Erfindungskunst an, die auf Verstand und An­ schau­ung gleichermaßen setzt. Dem Schreiber ergeht es weniger gut: Er wird von Taranteln zu Tode gebissen. Jedoch wird der Altar mit Sophies Schale, in die er seine Schriften zu tauchen pflegte, neu errichtet: „Mit bunten Steinen war der Fuß­ bo­den ausgelegt, und zeigte einen großen Kreis um den Altar her, der aus lauter edlen bedeutungsvollen Figuren bestand.“56 Dieses Bodenmosaik ist ge­wis­ser­ma­ ßen die verbesserte Version, der potenzierte Nachfolger vom Halsschmuck des Schreibers, denn es ist Kunstwerk und geometrische Figur in einem. Anders als für Schlegel, für den die Mathematik eine konstruktive, sinnlich anregende, aber nur provisorische Gedankenformel auf dem Weg zur neuen Phi­lo­so­ phie ist, hat sie für Hardenberg einen eigenen und bleibenden epistemischen Wert: Seine progressive Universalpoesie integriert die Mathematik, zusammen mit allen anderen Wissens- und Kunstformen, in die Utopie eines goldenen Zeitalters, wie er es in einem seiner inzwischen bekanntesten Gedichte ausmalt: „Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren Sind Schlüssel aller Kreaturen Wenn die so singen, oder küssen, Mehr als die Tiefgelehrten wissen, Wenn sich die Welt ins freye Leben Und in die ‹freye› Welt wird zurück begeben, Wenn dann sich wieder Licht und Schatten Zu ächter Klarheit wieder gatten Und man in Mährchen und Gedichten Erkennt die ‹alten› wahren Weltgeschichten Dann fliegt vor einem geheimen Wort Das ganze verkehrte Wesen fort.“57

Lange ist dieses Gedicht dahingehend interpretiert worden, dass im von Hardenberg entworfenen goldenen Zeitalter der analytisch-rationale Weltzugriff der  HKA, S. 293.  HKA, S. 311. 57  Paralipomena zum Heinrich von Ofterdingen, HKA 1, S. 344f. Zu diesem Gedicht vgl. auch in diesem Band den Beitrag von Roland Borgards: Natur. Spielarten romantischer Ökologien bei Friedrich von Hardenberg, Friedrich Schlegel und Karoline von Günderrode. 55 56

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­ athematisierten Wissenschaften durch einen synthetisch-ästhetischen, gefühlhafm ten abgelöst werde. Doch stattdessen entwirft es, genau wie das Klingsohr-­Märchen, eine „wunderbare[] Synthesis“58 von Verstand und Anschauung, in der auch die Mathematik ihren Platz hat. Vers 7 und 8 („Wenn dann sich wieder Licht und Schat­ten / Zu ächter Klarheit wieder gatten“) bringen zum Ausdruck, dass scheinbar unvereinbare Gegensätze Merkmale einer unvollkommenen Welterkenntnis sind und ihr Widerstreit schließlich in einer höheren Einheit, der „ächte[n] Klarheit“, auf­ge­ho­ ben werden soll. Daher wird den „Tiefgelehrten“ keinesfalls jegliche Welterkenntnis abgesprochen; denn „die so singen, oder küssen“ wissen nichts voll­kom­men anderes, sondern „mehr“: Die „Zahlen und Figuren“ sind, je nach Geschmack, wie Licht oder Schatten ein Baustein, der zur „ächte[n] Klarheit“ jedoch der komplementären Ergänzung bedarf. Im Gegensatz zu dieser optimistisch-harmonischen Einbindung der Mathematik in eine idealistische Utopie steht der kritische Blick des späten Goethe auf die ethischen Folgen des mathematischen Weltbildes, die auch er im Rekurs auf die As­tro­ no­mie poetisch ausgestaltet.

4 Johann Wolfgang von Goethe: Die Mathematik als Ernüchterung der Naturmystik Der erste Teil von Goethes Roman Wilhelm Meisters Wanderjahre oder Die Ent­ sagenden erscheint erstmals 1821, Goethe überarbeitet ihn dann vollständig und bindet ihn in die zweite Fassung letzter Hand ein, die 1829 gedruckt wird.59 Der gute 30 Jahre zuvor publizierte erste Teil – Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/96) – begründet die Gattung des Bildungsromans und gilt als einer der zentralen Texte der Weimarer Klassik. Die Wanderjahre hingegen zeichnen sich durch eine gänzlich andere Erzähltechnik aus und werden daher in der Forschung mitunter auch der Spätromantik zugeschlagen: An die Stelle eines (weitgehend) chronologisch erzählten, auf die persönliche Entfaltung des Protagonisten Wilhelm teleologisch ausgerichteten Plots tritt ein komplexes Geflecht multiperspektivisch präsentierter, in­ ei­nan­der geschachtelter Erzählstränge und -gattungen, die sich nicht, oder je­den­ falls nicht ohne hohen hermeneutischen Aufwand zu einem konsistent-harmonischen Ganzen fügen. Inhaltlich lässt sich die Differenz zwischen den Lehrjahren und den

 HKA 3, S. 455:989.  Johann Wolfgang von Goethe: Wilhelm Meisters Wanderjahre oder Die Entsagenden (1829). In: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. [‚Frankfurter Ausgabe‘]. Hg. von Friedmar Apel [u. a.]. 40 in 45 Bänden. Frankfurt a.M. 1985–2013. Bd. 10: Wilhelm Meisters Wanderjahre. Hg. v. Gerhard Neumann und Hans-Georg Dewitz. Frankfurt a.M. 1989, S. 261–774 (künftig mit Sigle FA). 58 59

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Wanderjahren als Wandel vom individuellen Bildungs- zum „Sozialroman“60 ­beschreiben: Seine Figuren sind auf der Suche nach neuen gesellschaftlichen Entwürfen in einer von „ökonomischen, technischen und industriellen Neuerungen“ bestimmten Lebenswirklichkeit.61 Insbesondere kommt dabei neben zahlreichen Reflexen auf naturwissenschaftliche Entwicklungen auch die Mathematik zur Sprache  – oder genauer: explizit nicht zur Sprache.62 In Kapitel 10 des ersten Buches lernt der Protagonist Wilhelm Makarie kennen, eine „ältliche wunderwürdige Dame“, und ihren „Hausfreund im schönsten und weitesten Sinne, bei Tag der belehrende Gesellschafter, bei Nacht Astronom und Arzt zu jeder Stunde.“63 Diese sind im Begriff, einen Disput über die Mathematik zu führen. Nach einigen Präliminarien, in denen sich die drei Ge­ sprächs­part­ner ihres Interesses für den Gegenstand versichert haben, beginnt der Astronom, einen zum Thema vorbereiteten Aufsatz vorzutragen – der im Roman jedoch ausgespart bleibt, um die Leser:innen nicht zu langweilen, wie der Erzähler expliziert: „Wenn wir aber uns bewogen finden diesen werten Mann nicht lesen zu lassen, so werden es unsere Gönner wahrscheinlich geneigt aufnehmen […]. Unsere Freunde haben einen Roman in die Hand genommen, und wenn dieser hie und da schon mehr als billig didaktisch geworden, so finden wir doch geraten, die Geduld unserer Wohlwollenden nicht noch wei­ ter auf die Probe zu stellen. Die Papiere, die uns vorliegen, gedenken wir an einem andern Orte abdrucken zu lassen und fahren diesmal im Geschichtlichen ohne weiteres fort […].“64

Der ausgesparte Vortrag, in dem der Astronom sein „Bedenken“ gegenüber der Mathematik mit der Referenz auf andere „Autorität“ untermauert, weist in der An­ la­ge Ähnlichkeit mit Goethes eingangs erwähnten Text Über Mathematik und deren Mißbrauch auf.65 In aphoristischer Verkürzung finden Gedanken daraus Eingang in die „Betrachtungen im Sinne der Wanderer“, die den erzählenden Passagen des Romans am Ende des zweiten Buchs beigefügt sind66 – auf einen vollständigen Ab Carsten Rohde: Ingenieursdenken und Sternenglaube. Natur- und Naturwissenschaften in Goethes Wanderjahren. In: Anne-Kathrin Reulecke (Hg.): Von null bis unendlich. Literarische Inszenierungen naturwissenschaftlichen Wissens. Köln u. a. 2008, S. 175–188, hier S. 176. 61  Henriette Herwig: Die Makarien-Figur in Goethes Wanderjahren. Allegorie der Versöhnung neuzeitlicher Naturwissenschaft mit der Naturphilosophie der Renaissance. In: Dietrich v. Engelhardt, Hans Wißkirchen (Hg.): Von Schillers Räubern zu Shelleys Frankenstein. Wissenschaft und Literatur im Dialog um 1800. Stuttgart, New York 2006, S. 41–56, hier S. 41. 62  Vgl. zur Mathematik bei Goethe v. a. die Arbeiten von Martin Dyck: Goethe und die Mathematik. [Masch.] Winnipeg/Kanada 1954; Martin Dyck: Goethe’s Views on Pure Mathematics. In: Germanic Review 31 (1956), S. 49–69; Martin Dyck: Goethes Verhältnis zur Mathematik. In: Goethe. Neue Folge des Jahrbuchs 23 (1961), S. 49–71; ferner John Neubauer: „Die Abstraktion, vor der wir uns fürchten“. Goethes Auffassung der Mathematik und das Goethebild in der Geschichte der Naturwissenschaft. In: Volker Dürr, Géza von Molnár (Hg.): Versuche zu Goethe. Festschrift für Erich Heller. Heidelberg 1976, S. 305–320. 63  Goethe: Wanderjahre, FA 10, S. 379. 64  Goethe: Wanderjahre, FA 10, S. 381f. 65  Goethe: Wanderjahre, FA 10, S.  381. Vgl. den entsprechenden Stellenkommentar von Hans-­ Georg Dewitz in FA 10, S. 1077. 66  Vgl. den entsprechenden Stellenkommentar von Hans-Georg Dewitz in FA 10, S. 1169. 60

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druck seiner kritischen Reflexionen zur Mathematik im literarischen Kontext verzichtet Goethe jedoch und grenzt damit anders als die Frühromantiker:innen die Mathematik deutlich aus dem Bereich des Ästhetisch-Poetischen aus. Sie bleibt aber im Roman als Problem präsent – nur eben nicht in diskursiv begrifflicher Form, sondern in der literarischen Präsentation des Figurenpaars Makarie und Astronom. Mit Makarie hat es eine besondere Bewandtnis: „Makarie befindet sich zu unserm Sonnensystem in einem Verhältnis, welches man auszusprechen kaum wagen darf. Im Geiste, der Seele, der Einbildungskraft hegt sie, schaut sie es nicht nur, sondern sie macht gleichsam einen Teil desselben; sie sieht sich in jenen himmlischen Kreisen mit fortgezogen, aber auf eine ganz eigene Art; sie wandelt seit ihrer Kindheit um die Sonne, und zwar, wie nun entdeckt worden ist, in einer Spirale, sich immer mehr vom Mittelpunkt entfernend und nach den äußeren Regionen hinkreisend.“67

Makarie erlebt ihre Prädisposition zunächst als problematisch: Sie habe „viele Jahre ihres Lebens die innern Erscheinungen mit dem äußern Gewahrwerden zusammengehalten und verglichen, aber niemals hierin eine Übereinstimmung finden können“.68 Ihre Visionen gelten daher „in ihrem langem Leben nach außen als Krankheit“,69 die sie selbst ängstigt. Allerdings, und dies unterscheidet Makarie von Wilhelm, findet sie schließlich „Einheit und Beruhigung“70 nicht durch eine ethische Selbstversicherung, sondern durch die Mathematik: Zu ihrem „gute[n] Glück“ trifft sie auf den besagten Hausfreund, der nicht nur Mathematiker und Astronom, sondern auch „durchaus ein edler Mensch“71 ist. Erst und ausschließlich in dieser Kombination von abstraktem Wissen und ethischer Qualität kann der Mathematiker für Goethe einen wertvollen Beitrag zur Welterkenntnis leisten und sich dem Ideal des ‚ganzen Menschen‘ annähern: Die Mathematik allein, so heißt es in den „Betrachtungen im Sinne der Wanderer“, vermag „nichts von allem Sittlichen“.72 „[I]n der Ausübung ist sie eine Kunst“, das heißt, eine handwerkliche Fähigkeit, die ihrem Anwendungsgegenstand moralisch indifferent gegenübersteht.73 Dieses Defizit muss der Mathematiker in seinem Charakter ausgleichen: „Hier aber kommt es nun auf die Natur des Menschen an, der ein solches Geschäft betreibt, eine solche Kunst ausübt. Ein durchgreifender Advokat in einer gerechten Sache, ein durchdringender Mathematiker vor dem Sternenhimmel erscheinen beide gottähnlich. […] Der Mathematiker ist nur in sofern vollkommen, als er ein vollkommener Mensch ist, als er das Schöne des Wahren in sich empfindet; dann erst wird er gründlich, durchsichtig, umsichtig, rein, klar, anmutig, ja elegant wirken.“74

 Goethe: Wanderjahre, FA 10, S. 734.  Goethe: Wanderjahre, FA 10, S. 390. 69  Goethe: Wanderjahre, FA 10, S. 735. 70  Goethe: Wanderjahre, FA 10, S. 390. 71  Goethe: Wanderjahre, FA 10, S. 735. 72  Goethe: Wanderjahre, FA 10, S. 583. 73  Goethe: Wanderjahre, FA 10, S. 852. 74  Goethe: Wanderjahre, FA 10, S. 583. 67 68

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Treibt den Astronomen/Mathematiker zwar vor allem eine wissenschaftliche Neugierde, so gelingt es ihm jedoch aufgrund seiner charakterlichen Vorzüge, Makariens Vertrauen zu gewinnen, sodass sie ihm ihre ansonsten geheim gehaltenen Visionen bereitwillig schildert. Die Beziehung zwischen beiden ist somit ein ­Gegenentwurf zum forcierten mathematisierten Zugriff auf die Natur, wie ihn Goe­ the exemplarisch an Newtons Farbenlehre kritisiert: Diese stehe einer „freien An­ sicht der Farberscheinungen […] mit Gewalt“ entgegen.75 Es gelinge ihr nicht, „die Abstraktion, vor der wir uns fürchten, unschädlich, und das Erfahrungsresultat […] recht lebendig und nützlich zu machen“.76 Im Gegensatz dazu ist die Beziehung zwischen Makarie und dem Astronomen/Mathematiker freundschaftlich; seine Berechnungen tun Makariens Einsichten keine Gewalt an, sondern finden darin Mus­ ter, zeigen die ihnen innewohnende Wahrheit auf und bewirken so, dass Makarie ihre Visionen nicht mehr als Krankheit wahrnimmt. Sie kann zum einen ihre An­ schau­ung des Universums ästhetisch unvoreingenommen genießen. Zum anderen leitet sie, so deutet Henriette Herwig Makariens weiteres Wirken im Roman, „aus ihrer Verbindung zum Kosmos einen ethischen Auftrag ab: Wer mehr weiß, kann auch mehr tun.“77 Einen Wandel vollzieht andeutungsweise auch ihr Hausfreund mit. Zunächst reagiert er, so der Erzähler, in zunfttypischer Weise: „Er ist ein Mathematiker und also hartnäckig, ein heller Geist und also ungläubig; er wehrte sich lange“78 gegen die Einsicht in Makariens intuitiv-integrative Verbindung zum Universum. Folglich sucht er nach einer rationalen Erklärung und unterstellt Makarie, dass ihre Ein­bil­ dungs­kraft erlerntes astronomisches Wissen mittels „eines versteckten Calculs“79 schlicht reproduziere. Diese Hypothese ist jedoch nicht aufrecht zu erhalten, da Makarie auch erst später von der Astronomie entdeckte Planeten antizipiert. Der As­tro­ nom beginnt daher, ihr Glauben zu schenken, und prüft ihre Visionen mittels seiner exakten mathematischen Methoden: „Der Wissende ließ sich hierauf dasjenige was sie schaute, welches ihr nur von Zeit zu Zeit ganz deutlich war, auf das genaueste vortragen, stellte Berechnungen an und folgerte da­ raus, daß sie nicht sowohl das ganze Sonnensystem in sich trage, sondern daß sie sich vielmehr geistig als ein integrierender Teil darin bewege. Er verfuhr nach dieser Voraussetzung und seine Calculs wurden auf eine unglaubliche Weise durch ihre Aussagen bestätigt.“80

Goethe nähert hier mathematisierte Naturwissenschaft und ein auf esoterisch-­ hermetische, naturmystische Traditionen zurückgehendes Naturverständnis ei­nan­ der an. Diese Annäherung benötigt – anders als bei Schlegel – die Mathematik jedoch nicht als Zwischenstufe und läuft – anders als bei Hardenberg – auch nicht auf ein utopisch-harmonisches Gleichgewicht hinaus. Goethes Konzeption markiert

 Johann Wolfgang von Goethe: Zur Farbenlehre. In: FA 23/1, S. 14.  Goethe: Farbenlehre, FA 23/1, S. 14. 77  Herwig: Makarien-Figur, S. 54. 78  Goethe: Wanderjahre, FA 10, S. 736. 79  Goethe: Wanderjahre, FA 10, S. 736. 80  Goethe: Wanderjahre, FA 10, S. 390. 75 76

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vielmehr deutliche Bruchstellen, die nur im interpersonellen Miteinander temporär überbrückt werden. Goethe räumt der Makarie-Figur als Repräsentantin einer intuitiven Einheit von Mensch und Natur eine besondere Stellung ein, die dem instrumentellen mathematisierten Zugriff ethisch, aber auch epistemisch vorgängig und überlegen ist:81 So findet der Astronom letztlich nicht Makariens Aussagen durch seine mathematischen Berechnungen bestätigt, vielmehr bürgen Erstere für die Richtigkeit seiner Berechnungen. Während sich aber Wilhelm Makariens Be­son­der­ heit bei einem nächtlichen Blick in den Sternenhimmel intuitiv als ein „wunderbarer Traum“82 eröffnet, zieht sich der Astronom letztlich auf einen mechanistischen Vergleich Makariens mit einem astronomischen Gerät zurück: „nun warum sollte Gott und Natur nicht auch eine lebendige Armillarsphäre, ein geistiges Räderwerk erschaffen und einrichten, daß es, wie ja die Uhren uns täglich und stündlich leisten, dem Gang der Gestirne von selbst auf eigne Weise zu folgen im Stande wäre.“83 Die Beschreibungen von Makariens Weltenschau evozieren bei Wilhelm ein Erhabenheitserlebnis, das einerseits durch die vom Astronomen vorgenommene, Komik erzeugende Reduktion auf ein Maschinenwesen ernüchtert wird, „denn das Ungla­ub­ liche verliert seinen Wert, wenn man es näher im Einzelnen beschauen will“.84 An­ dererseits führt Goethe so auch ironisch die Beschränktheit seines Mathematikers vor. Dabei artikuliert der Text keine wirklichkeitsfremde Absage an den technisch-­ mathematischen Fortschritt. So äußert Wilhelm in einem Gespräch mit dem Astronomen über den Nutzen von Brillen und Teleskopen: „Wir werden diese Gläser so wenig als irgend ein Maschinenwesen aus der Welt bannen“.85 Im Ge­gen­satz zu dieser in direkter Rede artikulierten Zukunftsgewissheit steht die textuelle Präsentation Makariens, die sie als Relikt einer vergangenen Zeit markiert: Was die Leser:innen über sie erfahren, stammt zumeist aus fiktiven Archivmaterialien, die, so heißt es, „erst lange Zeit, nachdem der Inhalt mitgeteilt worden, aus dem Ge­dächt­nis geschrieben und nicht, wie es in einem so merkwürdigen Fall wün­schens­wert wäre, für ganz authentisch anzusehen“86 sind. Goethe greift „mit Makarie noch einmal auf vorkritische und vormoderne Naturmodelle zurück, um an die mit der Naturbeherr­ schung verbundenen Verluste zu erinnern“.87 Diese Erinnerung ist mit einer deutlichen Melancholie über das Unabänderliche verbunden, aber eben auch mit dem Appell einer Re-Integration des Ethischen und Intuitiven in die technisch-mathema-

 Im Gegensatz dazu erlebt der Protagonist Wilhelm den Blick in den nächtlichen Sternenhimmel als ungeheuerlich-bedrohlich. Vgl. Barbara Hunfeld: Das sprachlose All und der Kosmos der Sprache. Zur Sternwartenszene in Goethes Wilhelm Meisters Wanderjahre. In: Claudia Benthien, Irmela Marei Krüger-Führoff (Hg.): Über Grenzen. Limitation und Transgression in Literatur und Ästhetik. Stuttgart 1999, S. 39–60. 82  Goethe: Wanderjahre, FA 10, S. 389. 83  Goethe: Wanderjahre, FA 10, S. 736. 84  Goethe: Wanderjahre, FA 10, S. 736. 85  Goethe: Wanderjahre, FA 10, S. 385. 86  Goethe: Wanderjahre, FA 10, S. 733. 87  Herwig: Makarien-Figur, S. 52. 81

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tische Moderne.88 Ins Bild gesetzt wird diese Hoffnung durch einen Blick auf Makariens Bewegung ins Jenseits des Universums: „Dorthin folgt ihr keine Einbildungskraft, aber wir hoffen daß eine solche Entelechie sich nicht ganz aus unserm Sonnensystem entfernen, sondern wenn sie an die Grenze desselben gelangt ist, sich wieder zurücksehnen werde, um zu Gunsten unsrer Urenkel in das irdische Leben und Wohltun wieder einzuwirken.“89

5 Fazit Die poetischen Reflexionen des Mathematischen bei Friedrich Schlegel, Friedrich von Hardenberg und Johann Wolfgang von Goethe sind nicht nur im engeren, literarhistorischen Sinne, von Interesse. Das 18. Jahrhundert ist der Beginn unserer Moderne, seine kanonisierten Autor:innen dienten in der Folge als Kronzeugen verschiedenster Weltanschauungen und Ideologien – und tun dies bis heute. Folgt man dem Mathematikhistoriker Ivo Schneider, so hat Goethes vermeintliche Abneigung lange als „Alibi für eine bildungsbürgerliche Geringschätzung der Mathematik“ ge­ dient.90 Goethe selbst war mit dieser schon zeitgenössisch vorherrschenden Mei­nung nicht einverstanden. Denn dass die Mathematik ihm unzugänglich blieb, hinderte ihn nicht daran, seine Wertschätzung für sie zum Ausdruck zu bringen: „Ich hörte mich anklagen, als sei ich ein Widersacher, ein Feind der Mathematik überhaupt, die doch niemand höher schätzen kann als ich, da sie gerade das leistet, was mir zu bewirken völlig versagt worden.“91 Korrekturen wie diese sind nicht nur für die professionelle Goethe-Exegese, sondern auch für die Kulturgeschichte der Ma­the­ma­tik von Bedeutung. Ähnliches gilt für die Vereinnahmungen der Frühromantik und Romantik für ihren angeblich radikalen Antirationalismus, die sich kurz vor und in der NS-Zeit beobachten lässt.92 Anders als dies für die mathematischen Wissensbestände selbst zu gelten scheint, sind die kulturellen und gesell­schaft­lichen Bilder der Mathematik historisch, weltanschaulich und nicht selten auch wissenschaftspolitisch instrumen­ talisierbar. Den kritischen Blick dafür zu schärfen, ist ein wichtiges Anliegen, zu dem meine Ausführungen beitragen wollen – ebenso wie dazu, das Bild der Romantik auszudifferenzieren und anzureichern. Denn die­ses kann nur dann vollständiger und  Vgl. zu wissenschaftsethischen Fragen bei Goethe Rüdiger Görner: Goethes geistige Morphologie. Studien und Versuche. Heidelberg 2012, S. 62–74. 89  Goethe: Wanderjahre, FA 10, S. 737. 90  Ivo Schneider: Goethe als Vorbild für die Einstellung deutscher Bildungsbürger zur Mathematik? In: Goethe-Jahrbuch 128 (2011), S. 251–262, hier S. 252. 91  Goethe: Mathematik, FA 25, S. 65. 92  Vgl. dazu einschlägig Ralf Klausnitzer: Blaue Blume unterm Hakenkreuz. Die Rezeption der deutschen literarischen Romantik im Dritten Reich. Paderborn u.  a. 1999. Am Beispiel der Hardenberg-­Rezeption vgl. Andrea Albrecht: „[H]eute gerade nicht mehr aktuell“. Käte Hamburgers Novalis-Deutung im Kontext des Marburger Neukantianismus und der deutschen Geistesgeschichte. In: Andrea Albrecht, Claudia Löschner (Hg.): Käte Hamburger. Kontext, Theorie und Praxis. Berlin, Boston 2015, S. 11–76. 88

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dichter werden, wenn man versteht, wie die romantischen Tendenzen eng an Aufklärung und Rationalismus anschließen. Die Fas­zi­na­ti­on für die Mathematik und das von Schlegel, Hardenberg und Goethe betriebene Ausloten ästhetischer, epistemischer und ethischer Potenziale des Mathematischen liefern hierfür einen geeigneten hermeneutischen Schlüssel. Denn nicht nur Schlegel und Hardenberg sind überzeugt von der „Wunderbarkeit der Ma­the­ma­tik. Sie ist ein schriftliches Instrument – was noch unendlicher Perfection fähig ist – Ein Hauptbeweis der Sympathie und Identitaet der Natur und des Gemüths.“93

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