Semantik der Gelassenheit: Generierung, Etablierung, Transformation 9783666367182, 9783525367186, 9783647367187

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Semantik der Gelassenheit: Generierung, Etablierung, Transformation
 9783666367182, 9783525367186, 9783647367187

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© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

Historische Semantik Herausgegeben von Bernhard Jussen, Christian Kiening, Klaus Krüger und Willibald Steinmetz

Band 17

Vandenhoeck & Ruprecht © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

Semantik der Gelassenheit Generierung, Etablierung, Transformation

Herausgegeben von Burkhard Hasebrink, Susanne Bernhardt, Imke Früh

Vandenhoeck & Ruprecht © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung, Köln.

Mit 2 Tabellen Umschlagabbildung: Einsiedeln, Stiftsbibliothek, cod. 277, f. 208v (www.e-codices.unifr.ch) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-36718-6 ISBN 978-3-647-36718-7 (E-Book) © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U. S. A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. – Printed in Germany. Satz: textformart, Göttingen Druck und Bindung: w Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

Semantiken des Lassens Almut Suerbaum (Oxford) Sprachliche Interferenz bei Begriffen des Lassens. Lux Divinitatis und das Fließende Licht der Gottheit . . . . . . . . . . . . . 33 Andrea Zech (Freiburg i. Br.) Performative Inszenierungen eines vernichteten Selbst im Mirouer des simples ames der Marguerite Porete . . . . . . . . . . . . . 48 Julia Weitbrecht (Berlin) Die werlt lâzen durch got. Weltflucht und ›soziale Heiligung‹ in legendarischen Adaptationen des hellenistischen Liebes- und Reiseromans . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 Seraina Plotke (Basel) Semantiken der Seelenruhe. tranquillitas, serenitas und impassibilitas in der paganen Antike, bei den Kirchenvätern und im lateinischen Mittelalter . . . . . . . . . . . 80

Etablierung und Übernahme Susanne Bernhardt (München) Die implizite Pragmatik der Gelassenheit in der Vita Heinrich Seuses . . 115 Imke Früh (Stuttgart) Im Zeichen und im Kontext von gelossenheit. Semantisierungsstrategien in den Predigten Johannes Taulers . . . . . . . 143 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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Inhalt

Regina D. Schiewer (Eichstätt) Gelassenheit ist (k)eine Tugend. Exzerpieren im Dienste der Mystagogik am Beispiel von Spamers Mosaiktraktaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Stephen Mossman (Manchester) Zeitzeuge der Begriffswerdung. ›Gelassenheit‹ bei Marquard von Lindau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Johanna Thali (Freiburg i. Br.) andacht und betrachtung. Zur Semantik zweier Leitvokabeln der spätmittelalterlichen Frömmigkeitskultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226

Transformation und Aneignung Markus Enders (Freiburg i. Br.) Die Semantik der Gelassenheit in der Theologia Deutsch und bei Jakob Böhme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 Bent Gebert (Freiburg i. Br.) Technik und Ereignis. ›Gelassenheit‹ in Johannes Schefflers Cherubinischem Wandersmann . . . 288

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Vorwort Auf der Gründungsveranstaltung der Meister-Eckhart-Gesellschaft in Köln hatte ich im November 2004 die Gelegenheit, unter dem Stichwort Semantik der Ge­ lassenheit neuere Ansätze der Historischen Semantik im Rahmen der Mystikforschung vorstellen zu können. Die Diskussion in den Göttinger Oberseminaren von Klaus Grubmüller über die Entfaltung von Bedeutung zwischen ­Kollokation, Text und Diskurs, zwischen Lexikographie, Interpretation und ­Diskursanalyse, hatte mir dazu entscheidende Anstöße gegeben. Die Universität Freiburg i. Br. bewilligte 2005 dankenswerterweise eine Anschubfinanzierung für das geplante Forschungsprojekt Semantik der Gelassenheit. Bent Gebert und Andrea Zech haben mit viel Elan an der Antragstellung für das Projekt mitgewirkt, und es entstanden erste Probeanalysen und Auswertungsansätze. 2007 begann unter meiner Leitung das von der Fritz Thyssen Stiftung für zwei Jahre und drei anschließende Monate geförderte Forschungsprojekt, in dem Susanne Bernhardt und Imke Früh mit großem Einsatz die Schriften Heinrich Seuses und Johannes Taulers untersuchten. Es wurden umfangreiche Belegstellensammlungen, Einzelanalysen und Semantisierungsmodelle erarbeitet, die zum Teil in die entsprechenden Aufsätze eingegangen sind. Für die lebendigen Diskussionen vor Ort, die sich durch die Projektarbeit wie durch Lehrveranstaltungen und zahlreiche Gespräche zogen, bin ich allen Beteiligten zu großem Dank verpflichtet. Im Herbst 2008 fand in Freiburg ein internationales Kolloquium statt, auf dem neben einer Reihe von Gastvorträgen erstmals die Ergebnisse des Forschungsprojekts der Fachöffentlichkeit präsentiert wurden. Für den ausgesprochen fruchtbaren Austausch danke ich ebenso wie für die Bereitschaft auch der auswärtigen Gäste, die Vorträge für den Druck zur Verfügung zu stellen. Der Fritz Thyssen Stiftung gebührt nicht nur Dank für die großzügige Förderung des Projektes, sondern auch für die Finanzierung des Kolloquiums und für den Zuschuss zur Drucklegung. Christian Kiening und Bernhard Jussen danke ich sehr für das Angebot, den Band in die Reihe ›Historische Semantik‹ aufzunehmen. Ebenfalls gilt mein Dank dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, und namentlich Frau Dr. Blech und Herrn Pätzke für die sorgfältige Drucklegung. Für die zuverlässige redaktionelle Arbeit danke ich zudem herzlich Vera Bronn, Björn Buschbeck, Eva Killy, Yannick Lauppe, und Ramona Raab. Schließlich gilt ein besonderer Dank Nadine Krolla, die mit großer Umsicht die Redaktion vorangetrieben und ko­ordiniert hat. Burkhard Hasebrink © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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Einleitung 1. Gelassenheit als Modell: Paradoxien im Vollzug Der mensche, der sich selben und alliu dinc gelâzen hât, der des sînen niht ensuochet an deheinen dingen und würket alliu sîniu werk âne warumbe und von minne, der mensche ist tôt aller der werlt und lebet in gote und got in im.1

Es bedarf keiner ausführlichen Analyse der rhetorischen Brillanz dieses Satzes aus einer deutschen Predigt Meister Eckharts, um dessen Emphase plausibel zu machen – sie vermittelt sich in einem solchen Maße, dass die Predigt die Differenz zwischen ästhetischem Glanz und fehlender Evidenz in einer in­szenierten Klage aufgreift, der sich der Prediger selbst anschließt: Nû sprechent etlîche liute: ›ir saget uns schœne rede, und wir enwerden des niht gewar.‹ Daz selbe klage ouch ich.2 Ob der Prediger wirklich dasselbe beklagt wie sein Publikum, ist die Frage. Denn während die Leute darüber klagen, dass sie die Präsenz Gottes in sich nicht wahrnehmen, klagt der Prediger offensichtlich über diese Klage selbst, ist sie doch das Negativ jenes Wollens, das der Mensch in der Gelassenheit preisgibt. Diese Figur des performativen Widerspruchs begleitet aber nicht nur die Lehre der Abgeschiedenheit in den Predigten Meister Eckharts, sondern weist weit darüber hinaus auf die paradoxen Prämissen der religiösen Kulturen des Mittel­alters. Zugleich macht diese metakommunikative Äußerung des Predigers über die Klage der Leute deutlich, wie sehr im Lassen seiner selbst und aller Dinge, in der Preisgabe des Eigeninteresses und im Wirken ›ohne Warum‹ das Verstehen auf den Vollzug angewiesen ist und damit Hermeneutik und Performativität im Akt des Gewahrwerdens konvergieren. Im Modell der Gelassenheit potenziert sich daher diejenige Dynamik, auf welche sie sich richtet, denn Gelassenheit setzt als Bedingung ihrer Möglichkeit bereits in gesteigerter Form ihren eigenen Verzicht voraus. ›Bedeutung‹ ist also eingespannt zwischen diskursiven und literarischen Praktiken der Bedeutungsherstellung einerseits und performativen Lektüren andererseits. Das Projekt Semantik der Gelassenheit geht daher nicht von einem abstrakten Bedeutungsgehalt des Begriffs der Gelassenheit aus, sondern fokussiert die jeweiligen Semantisierungsstrategien in den unterschiedlichen 1 Meister Eckhart, Die deutschen und lateinischen Werke, hg. im Auftrag der Deutschen Forschungsgemeinschaft. 1. Abteilung: Die deutschen Werke [DW], Bd. I–III, V, hg. und übers. von Josef Quint, Stuttgart 1958–1976; Bd. IV,1, hg. und übers. von Georg Steer unter Mitarbeit von Wolfgang Klimanek und Freimut Löser, Stuttgart 2003; Bd. IV, 2, Lfg. 1–2, hg. und übers. von Georg Steer unter Mitarbeit von Wolfgang Klimanek, Stuttgart 2003, hier DW II, S. 80,1–3. 2 DW II, S. 80,4–5. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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literarischen und pragmatischen Kontexten.3 Die Verwendungsweisen des Wortes werden insofern nicht als Manifestationen einer vorgegebenen begrifflichen Bedeutung gelesen, sondern umgekehrt als kommunikative Praktiken der Herstellung, Etablierung, Konventionalisierung, Verschiebung oder Transformation von Bedeutungen, was Akte der literarischen Performierung ebenso einschließt wie Prozesse poetischer Desemantisierung. Ein solches Vorgehen ist nicht nur durch den methodischen Anspruch historischer Semantik, sondern auch durch die wortgeschichtlichen Gegebenheiten selbst bedingt: gelâzenheit ist erstmals in den Erfurter Reden Meister Eckharts belegt, wobei die Verwendung dieses Abstraktums höchst aufschlussreich ist.4 Es geht um den Verdacht, dass man wahre Abgeschiedenheit oder Gelassenheit mit Trägheit verwechseln könnte: Woran erkennt man, ob jemandem aus Trägheit oder aus wahrer Abgeschiedenheit die Süße der göttlichen Gegenwart fehlt? Schon der erste Beleg des Substantivs gelâzenheit steht im Zusammenhang mit der diskursiven Sicherung des eigenen Denkmodells durch Unterscheidung: Die Gelassenheit eines Menschen erkenne man daran, dass er in der Empfindung der göttlichen Gegenwart Gott ebenso treu ist, wie wenn er die Süße 3 Einen vorzüglichen Problemaufriss zum methodischen Hintergrund bietet Christian Kiening, Gegenwärtigkeit. Historische Semantik und mittelalterliche Literatur, in: Scientia ­Poetica 10 (2006), S. 19–46 [mit ausführlicher Literatur zur Historischen Semantik]. 4 Zur Wort- und Begriffsgeschichte von gelâzenheit vgl. vor allem die Arbeiten von Ludwig Völker, Die Terminologie der mystischen Bereitschaft in Meister Eckharts deutschen Predigten und Traktaten, Tübingen 1964, bes. S. 80–91; ders., »Gelassenheit«. Zur Entstehung des Wortes in der Sprache Meister Eckharts und seiner Überlieferung in der nacheckhartschen Mystik bis Jacob Böhme, in: Franz Hundsnurscher und Ulrich Müller (Hg.), ›Getempert und gemischet‹ für Wolfgang Mohr zum 65. Geburtstag von seinen Tübinger Schülern, Göppingen 1972, S. 281–312; Adeltrud Bundschuh, Die Bedeutung von gelassen und die Bedeutung der Gelassenheit in den deutschen Werken Meister Eckharts unter Berücksichtigung seiner lateinischen Schriften, Frankfurt a. M. [u. a.] 1990; Alois M. Haas, Gelassenheit  – Semantik eines mystischen Begriffs, in: ders., Kunst rechter Gelassenheit. Themen und Schwerpunkte von Heinrich Seuses Mystik, Bern [u. a.] 1995, S. 247–269; Erik A. Panzig, Gelâzenheit und abegescheidenheit. Eine Einführung in das theologische Denken des Meister Eckhart, Leipzig 2005; Markus Enders, Gelassenheit – ein Grundwort der Deutschen Mystik und seine Botschaft für unsere Zeit, in: ders., Gelassenheit und Abgeschiedenheit – Studien zur Deutschen Mystik, Hamburg 2008, S. 349–375; Gerard Visser, Gelatenheid. Gemoed bij Meister Eckhart, Amsterdam 2008. Bei der Forschungsdiskussion fällt eine Konzentration auf Eckhart auf, die ergänzt wird durch Seitenblicke auf Heinrich Seuse, Johannes Tauler, die Theologia Deutsch des anonymen sog. ›Frankfurter‹, Andreas Bodenstein von Karlstadt, Valentin Weigel und Jakob Böhme, also durch eine Entwicklungslinie von Eckhart bis in die Barockmystik. Völker, »Gelassenheit«, S. 303, zeichnet diese Linie als einen »Vorgang zunehmender Entleerung des ursprünglich spekulativen Bedeutungsgehalts« nach. Diese teleologische Sicht auf Einzeltexte soll im vorliegenden Sammelband vermieden werden durch Einbezug von Texten, die mit Modellen des Lassens in einem weiteren Rahmen umgehen als nur in einer ›mystischen‹ Verwendungsweise; ergänzt wird dieser erweiterte Rahmen durch kritische Diskussion der Forschungsliteratur, beispielsweise durch eine differenzierende Revision der Sicht Völkers auf ­Jakob Böhme im Beitrag von Markus Enders. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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dieser Gegenwart nicht empfindet. Von Anfang an ist gelâzenheit in die Auseinandersetzungen um theologische Positionen und damit in die Praktiken und Regeln eines Diskurses einbezogen, der sich fundamental über die Begründung von Unterscheidungen konstituiert. Zugleich ist aber eine sprachliche Gegenbewegung zu konstatieren, insofern im Lassen aller Dinge und seiner selbst zugleich die Unterschiede auf das Eine, Ununterschiedene hin überschritten werden: In diesem prekären Spannungsfeld von Distinktion, Transgression und Entgrenzung bewegt sich die komplexe Semantik der Gelassenheit. Und insofern Gelassenheit die Differenz von Anwesenheit und Abwesenheit, Nähe und Entfremdung, übersteigt, indiziert sie genau jene Krise der Repräsentation, die Eckhart in der religiösen Kultur seiner Zeit diagnostiziert. Die einzelnen Beiträge dieses Bandes zeigen eindrucksvoll, wie dieses Repräsentationsproblem die Referentialisierung von lâzen und gelâzenheit selbst erfasst und in kommunikative Aporien führt. Es ist die genuine Aufgabe historischer Semantik, die Verwendungsweisen von Bezeichnungen im Kontext dieser komplexen Prozesse zu untersuchen, statt sich in der Auflistung semantischer Merkmale zu erschöpfen, Bedeutungsangaben aufzulisten oder von Gebrauchskontexten abstrahierte Bedeutungsgehalte zu klassifizieren. Wenn die Bedeutung eines Wortes sein Gebrauch in der Sprache ist (Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 43), dann erschließt sie sich in der Erforschung der vielfältigen Arten und Weisen dieses Gebrauchs.5 Im Rahmen eines solchen Programms sind sachliche und methodische Belange bereits miteinander verschränkt: Das Projekt Semantik der Gelassenheit zielt in diesem Sinne nicht allein auf historische Bedeutungsdimensionen, sondern nutzt die historische Semantik als methodische Kontrolle und Präzisierung anthro­ pologischer und kulturhistorischer Fragestellungen. Christian Kiening, der diese Spannung im Begriff der historischen Semantik herausgearbeitet hat, zieht daraus die Konsequenz einer »beständigen Koppelung von Detailanalyse, Modellbildung und Methodenreflexion.«6 Der vorliegende Sammelband stellt den Versuch dar, im Ensemble der Beiträge eine solche ›Koppelung‹ zur gemeinschaftlichen Forschungspraxis werden zu lassen, um so die weit ausgreifenden Erwartungen eines solchen Unternehmens (Bent Gebert hat im Rahmen des Workshops von ›Sehnsüchten‹ der historischen Semantik gesprochen) auf der Basis enger fachlicher Kooperation in Ansätzen Wirklichkeit werden zu lassen. Der historisch-semantische Ansatz will also die komplexe kulturwissenschaftliche Frage nach der Bedeutung der Gelassenheit für die religiöse Kultur des späten Mittelalters nicht auf ein lexikalisches oder begriffsgeschichtliches Spezialproblem 5 Im Rahmen der germanistischen Linguistik wurde ein gebrauchstheoretisch fundiertes Modell für Bedeutungswandel von Gerd Fritz, Historische Semantik, Stuttgart 22006, ent­ wickelt. 6 Kiening, Gegenwärtigkeit (Anm. 3), S. 21. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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reduzieren, sondern bindet die unterschiedlichen sprachlichen Ebenen der Bedeutung an die kulturellen Praktiken ihrer Erzeugung zurück, ohne umgekehrt die Ebene der »sprachlichen Verfasstheit«7 zu ignorieren.

2. Sprachliche Dimensionen von ›Gelassenheit‹ Ludwig Völker eröffnet seine grundlegende Studie zu Gelassenheit mit Über­ legungen zur problematischen Übersetzungssituation: »Welches französische Wort ist geeignet, den Gehalt des Wortes ›Gelassenheit‹ voll wiederzugeben? ›calme‹, ›tranquilité‹, ›sang-froid‹, ›impassibilité‹, ›placidité‹, ›sérénité‹, ›résignation‹, ›abandon‹…?«8 Ein Spezifikum des Wortes Gelassenheit ist, wie das Zitat zeigt, seine tendenzielle Unübersetzbarkeit. Diese Überlegung weist auf die Wichtigkeit der einzelsprachlichen Analyse, will man die Verwendungsweisen eines Begriffs beschreiben. Gleichzeitig wird deutlich, wie fruchtbar die ana­lytische Trennung von (einzelsprachlichem) Wort und (außersprachlichem) Konzept in einem ersten Schritt sein kann. Nicht nur das außersprachliche Konzept, sondern detaillierte einzelsprachliche Analysen sollen bei der Rekonstruktion von ›Gelassenheit‹ als Zentralbegriff spätmittelalterlicher Frömmigkeit darum der Ausgangspunkt sein.9 Auf der Grundlage von Belegstellensammlungen, der Analyse der verschiedenen Verwendungsweisen und der ganzen Wortfamilie kann die reichhaltige Lexik des Lassens erschlossen werden und so die Basis bilden, von der aus die Verflechtungen zwischen der sprachlichen Ebene und der Ebene der Diskurse näher bestimmt werden. Die Forschung zur Wortbildung und -verwendung von lâzen, gelâzen und gelâzenheit konzentrierte sich bisher hauptsächlich auf Eckhart. Diese Ergebnisse bilden den Bezugsrahmen für den vorliegenden Sammelband, werden aber sowohl methodisch differenziert als auch um Texte erweitert, die in den einschlägigen Studien nicht hinzugezogen wurden. 7 Vgl. die Kritik an einer Vernachlässigung linguistisch beschreibbarer Analyseebenen bei Klaus Grubmüller, Historische Semantik und Diskursgeschichte: zorn, nît und haz, in: C. Stephen Jaeger und Ingrid Kasten (Hg.), Codierungen von Emotionen im Mittelalter. Redaktionelle Mitarbeit Hendrikje Haufe und Andrea Sieber, Berlin, New York 2003, S. 47–69. 8 Völker, »Gelassenheit« (Anm. 4), S. 281. 9 Dieser differenzierenden Analyse liegt das Modell der Drei-Ebenen-Semantik von ­Andreas Blank zugrunde, in dem Lexien über das ihnen zugeordnete einzelsprachlichlexikalische, einzelsprachlich-sememische und außersprachlich-enzyklopädische Wissen zu beschreiben sind, vgl. Andreas Blank, Einführung in die lexikalische Semantik für Romanisten, Tübingen 2001, S. 129 ff. Dasjenige Wissen, das Blank indes »außersprachlich-enzyklopädisches Wissen« nennt (ebd., S. 133), kann in einem Beschreibungsmodell, das die Generierung von Bedeutung als medial konstituiert bestimmt, nicht als ›Sachwissen‹ abgekoppelt vom ›Sprachwissen‹ gedacht werden. Es wäre vielmehr ein Wissen, das selbst wiederum durch verschiedene Formen der Textualität und Diskursivität generiert wird. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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Geht man vom Verb lâzen aus, dessen Partizip Präteritum die Basis für die Bildung des Abstraktums ist, so werden in der unmittelbaren Umgebung der Wortbildung vor allem die beiden oben bereits erwähnten Texte von Eckhart diskutiert: Die Predigt Qui audit me und die Erfurter Reden. In der Predigt wird das Verhältnis von gelâzen hân und gelâzen sîn sorgfältig entfaltet und steht dabei in enger Beziehung zum biblischen omnia relinquere (Mt 19,29) als alle diese werlt lâzen und zum abnegare semet ipsum (Mt 16,24) als sich selben lâzen.10 In den früheren Erfurter Reden steht die Verwendung des Verbs in der reflexiven Form sich lâzen als Voraussetzung für das Lassen aller Dinge im Zentrum: er sol sich selber lâzen ze dem êrsten, sô hât er alliu dinc gelâzen.11 Gleichzeitig aber weist das Verb lâzen ein breites Spektrum an Verwendungsweisen auf, die sich in einem deutlich weiter gesteckten Rahmen bewegen als die Doppelbewegung der Bedeutung, die bei Eckhart als Grundkonzept abstrahiert wird.12 In narrativen Texten, aber auch bei Eckhart selbst findet sich eine reichhaltige Lexik des Lassens, die die Semantik des Lassens zu begleiten scheint und auf der lexikalischen Ebene ein Wissen bereithält, das für die begriffliche Prägung relevant wird.13 Die Wortbildung vollzieht sich nicht nur im Rahmen der ›mystischen‹ Verwendungsweisen, sondern auf der Basis der bereits vorhande 10 Vgl. dazu beispielsweise Völker, »Gelassenheit« (Anm. 4), der Pr. 12 als »den Schlüssel für das Verständnis der Eckhartschen Gelassenheitsvorstellung und ihre Entstehung« bezeichnet, S. 282, wobei die Formulierung zeigt, dass nicht zwischen außersprachlichem Wissen (Vorstellung) und lexikalischem Wissen (Entstehung als Wortbildung) differenziert wird; für die Wichtigkeit der Predigt im Rahmen der Forschung zur Gelassenheit vgl. auch die text­ linguistisch basierte Analyse von Burkhard Hasebrink, Formen inzitativer Rede bei Meister Eckhart. Untersuchungen zur literarischen Konzeption der deutschen Predigt, Tübingen 1992, vor allem S. 63–136; Otto Langer, Sich lâzen, sîn selbes vernihten. Negation und ›Ich-Theorie‹ bei Meister Eckhart, in: Walter Haug und Wolfram Schneider-Lastin (Hg.), Deutsche Mystik im abendländischen Zusammenhang. Neu erschlossene Texte, neue methodische Ansätze, neue theoretische Konzepte. Kolloquium Kloster Fischingen 1998, Tübingen 2000, S.  317–346; P ­ anzig, Gelâzenheit und abegescheidenheit (Anm.  4), S.  251–258. Auf die sich wandelnden Verwendungsweisen, die in der Predigt tragend werden, verweist auch Alois M. Haas, Kunst rechter Gelassenheit: Themen und Schwerpunkte von Heinrich Seuses Mystik, Bern [u. a.] 1995, S. 253: »Auffällig ist bei Eckhart der in der Abwandlung des Partizips Perfekt gelâzen zum Adjektiv sich dokumentierende Bedeutungswandel.« 11 DW V, S. 194,29 f. 12 So etwa Adeltrud Bundschuh, Die Bedeutung von gelassen (Amn. 4), S. 102, die die Bedeutung von sich gelâzen »einmal im Sinne von verlassen (lateinisch relinquere)« und »zum andern im Sinne von überlassen (lateinisch com-mittere)« beschreibt. Dieser Reduktion auf zwei Bedeutungen steht ihre Belegstellensammlung selbst gegenüber, die das Spektrum von lâzen bei Eckhart aufzeigt, nämlich lâzen »in der Bedeutung von: a) ›verlassen‹ (sich selbst, die Dinge, das Nichts) […] b) ›erlauben‹ […] c) ›bemühen‹ […] d) ›verhindern‹ e) ›leiden‹«, ebd., S. 106 f. Hier böte sich eine deutlichere Unterscheidung zwischen Wort und Konzept an, um die einzeln realisierten Verwendungsweisen und die daraus abstrahierten Konzepte deutlicher differenzieren zu können und gleichzeitig ihre Wechselbeziehung zu reflektieren. 13 Zu den bereits usualisierten Verwendungsweisen von lâzen vgl. die Beiträge von Bernhardt, Früh und Suerbaum in diesem Band. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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nen sprachlichen Mittel. Als Konzept lässt sich ›Gelassenheit‹ bei Eckhart auf die Unterscheidung von gelâzen hân und gelâzen sîn zurückführen, aber insgesamt stehen Modelle des Lassens in einem weiteren Bezugsrahmen als zwischen diesen beiden Punkten. Neben den Beziehungen innerhalb der Wortfamilie wird in der Forschung zur Wortbildung und vor allem in Bezug auf die Generierung des einzelsprachlich-sememischen Wissens die Verwendung des Wortes lâzen als Übersetzungs­ äquivalent für das biblisch-lateinische abnegare semet ispum, odire und relin­ quere diskutiert. Diese »Termini aus der Nachfolgechristologie der Evangelien«14 binden die Semantik der Gelassenheit eng, wenngleich nicht ausschließlich, an die Forderung apostolischer Nachfolge. Aus den unterschiedlichen lateinischen Wörtern und ihren biblischen Verwendungsweisen ergibt sich die typische Doppelbewegung von gelâzen hân (entsprechend dem omnia relinquere) zu gelâzen sîn (entspricht odire und abnegare se ipsum).15 Das von Eckhart über lâzen ausgeschöpfte Übersetzungspotenzial muss ergänzt werden um derelinquere aus dem Kontext der Passionsgeschichte.16 Der Christusruf am Kreuz als Tief- und Höhepunkt der christlichen Leidensmystik wird ebenfalls mit lâzen übertragen, womit die enge Verbindung von Verlassen und Gegenwärtigkeit Gottes für die Semantik von Gelassenheit einen biblischen Bezugspunkt erhält.17 Methodisch stellt sich auch die Frage, wie die einzelnen Elemente der Wort­ familie zur Generierung von Bedeutung beitragen. Die Verwendung des Verbs, des Adjektivs, des substantivierten Verbs oder des Abstraktums kann zu einer Sinn generierenden Textstrategie werden. Während das Verb lâzen eher Prozesse versprachlicht, kann das Adjektiv zum Determinans eines Trägers werden, z. B. des gelâzenen menschen. Das Substantiv gelâzenheit dagegen generiert ein ganz eigenes Bedeutungsspektrum. Auf der einzelsprachlichen Ebene kann es nicht auf einen Aspekt hin verengt werden, sondern weist eine polyseme Struktur auf.18 Bei Tauler beispielsweise gewinnt die Gelassenheit in einigen Predigten die Dimension einer Tugend, allerdings in einer semantisch uneinheitlichen Art und Weise: zum einen als Tugend innerhalb von Tugendaufzählungen, zum

14 Panzig, Gelâzenheit und abegescheidenheit (Anm. 4), S. 274. 15 Vgl. Panzig: »Eckhart entlehnt verschiedene Termini der biblischen Sprache und erweitert deren hauptsächlich praktisch-ethischen Horizont, indem er ihnen ontologische Bedeutung zumisst«, ders., Gelâzenheit und abegescheidenheit (Anm. 4), S. 64. Davor schon Völker, Terminologie (Anm. 4), S. 90: »Das neue ›gelâzen sîn‹ […] ist unter anderem eine Frucht des eckhartschen Bemühens, Tugendbegriffe in Seinsbegriffe umzuwandeln.« 16 Mt 27,46; Mc 15,34: Deus meus Deus meus ut quid dereliquisti me. 17 Vgl. die Beiträge von Bernhardt, Früh und Mossman in diesem Band. 18 Visser, Gelatenheit (Anm. 4), S. 207 beispielsweise erweitert das Spektrum von Gelassenheit bei Eckhart bereits um »sich verlassen auf«: »Het laten bezit de drievoudige zin van los­ laten, zich verlaten op en zijn laten. De strutuur van gelatenheid manifesteert zich in de samenhang van deze drie constitutive momenten.« © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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anderen als Voraussetzung für den Empfang der Tugenden selbst.19 Diese Spannung ist ein Signum der Semantik von Gelassenheit, die sich zwischen den Polen des konkreten Lassens als Tugend und einem absoluten Lassen, das das Lassen selbst lässt, bewegt. Sie wird auch durch die Abstraktbildung erzeugt. Denn Gelassenheit zielt zwar auf Abstraktion, auf einen Zustand, in dem alles Lassen bereits vollzogen ist. Gleichzeitig aber wird Gelassenheit auf den konkreten Stufen des Lassens als Voraussetzung gesehen. Der Unterschied zeigt sich z. B. in der Verwendung der Präpositionen: mit gelâzenheit und in gelâzenheit. Gelassenheit, so könnte man sagen, wird verwendet im Spannungsfeld zwischen Weg zur Einheit und Zustand in der Einheit. So verwendet Heinrich Seuse im Buch der Wahrheit ›Gelassenheit‹ zum einen als Mittel, um in die Wahrheit einzugehen: Man kumet dar nút mit fragenne, mer mit rehter gelazsenheit kumet man z diser verborgnen warheit.20 ›Gelassenheit‹ steht hier in der Spannung zwischen diskursiv erfragbarem Wissen und der nichtdiskursiven Praxis. Man kommt zwar mit der Gelassenheit zur verborgenen Wahrheit, es wird somit ein ›Weg‹ suggeriert. Dieser vermittelnde Weg selbst ist allerdings nicht erfragbar oder vermittelbar. Mit diesem spannungsvollen Satz endet das BdW. Im selben Kapitel wird aus der gleichen Spannung, aber in umgekehrter Perspektive nach dem ›Zustand‹ gefragt: Der in diser inniger gelazenheit úbersetzet ist, ist der nit entlediget von usseren bungen?21 Die Frage zielt damit explizit auf die dem Begriff inhärente Spannung von Zustand (in gelâzenheit) und Herstellung des Zustands (bunge). Die Frage nach dem Verhältnis von Übung und einem Übersteigen der Übungen laufen in der Semantik der Gelassenheit dauerhaft mit.22

3. Gelassenheit – Etablierung, Transformation, Übernahme Indem Meister Eckhart in der Predigt Qui audit me zwischen gelâzen hân und gelâzen sîn unterscheidet, differenziert er nicht nur literarisch höchst kunstvoll unterschiedliche grammatische Formen, sondern vollzieht auch einen entscheidenden Schritt in der Entfaltung seiner religiösen Lehre der Abgeschiedenheit.23 Historische Semantik geht solchen Interferenzen nach und stellt auf diese Weise 19 Vgl. den Beitrag von Früh bzw. zur Frage nach Gelassenheit als Tugend den Beitrag von Schiewer. 20 Heinrich Seuse, Das Buch der Wahrheit. Das bchli der warheit [BdW], kritisch hg. von Loris Sturlese und Rüdiger Blumrich. Mit einer Einleitung von Loris Sturlese, übers. von Rüdiger Blumrich, Hamburg 1993, hier BdW 72,82 f. 21 BdW 68,23 f. 22 Vgl. den Beitrag von Gebert in diesem Band. 23 Vgl. DW I, S. 203,1–5: Und wære ein mensche zweinzic jâr gelâzen, næme er sich selben wider einen ougenblik, er enwart noch nie gelâzen. Der mensche, der gelâzen hât und gelâzen ist und der niemermê gesihet einen ougenblik ûf daz, daz er gelâzen hât, und blîbet stæte, unbeweget in im selber und unwandellîche, der mensche ist aleine gelâzen. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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eine methodische Basis bereit, kulturwissenschaftliche Fragen auf der Ebene ihrer sprachlichen, literarischen und kommunikationspragmatischen Manifestation zu reformulieren. Insofern der Bedeutungsgehalt nicht einfach vorgegeben ist, sondern in Akten der Verwendung gleichsam erst hervorgebracht wird, umspielt die Semantik der Gelassenheit in immer neuem Gebrauch ihr eigenes Referentialisierungsproblem. Der vorliegende Band macht sich zur Aufgabe, diesen vielfältigen Bewegungen in geistlicher Literatur vom 14.  bis in das 17.  Jahrhundert hinein nachzu­ gehen und damit in exemplarischen Einzelstudien das Feld auszuweisen, in dem sich historische Semantik bewegt. An einem zentralen Paradigma der religiösen Sprache des deutschen Mittelalters soll der verwendungsorientierte Anspruch historischer Semantik in einem breiten Spektrum von Untersuchungsansätzen eingelöst werden. Die individuellen Verwendungsweisen führen demnach unmittelbar in die vertiefende Lektüre der jeweiligen Texte, ihrer Sinnbildungsverfahrungen, Argumentationsstrategien und Kommunikationsfunktionen. Das Untersuchungsinteresse des Bandes richtet sich, wie im Exposé zum Workshop Semantik der Gelassenheit programmatisch formuliert, »nicht allein auf den Bedeutungsgehalt sprachlicher Ausdrücke, sondern bezieht kulturelle Praktiken und Manifestationen in die Betrachtung ein. Untersuchungen zur ›Semantik der Gelassenheit‹ führen daher in ganz unterschiedliche Bereiche religiöser Kultur und schließen Andachtspraktiken und Fragen der Bildlichkeit und Medialität ebenso ein wie spezifische Formen der Induzierung von Imagination und Sinnlichkeit auf der Suche nach der Gegenwart des Transzendenten. Nicht zuletzt verdienen die Interferenzen von Latein und Volkssprache besondere Aufmerksamkeit.« Die Beiträge des Sammelbandes sind in drei Sektionen aufgeteilt, die der Semantik der Gelassenheit in unterschiedlichen Konfigurationen nachgehen. Es wurde dabei bewusst mit einer Sektion zur Gelassenheit ›vor dem Wort‹ eröffnet, um den Fokus möglichst weit zu halten.

3.1 Semantiken des Lassens Die erste Sektion behandelt Semantiken des Lassens vor der eigentlichen Wortbildung von gelâzenheit. Eröffnet wird der Band durch einen Beitrag von Almut Suerbaum (Oxford): Sprachliche Interferenz bei Begriffen des Lassens. Lux Divi­ nitatis und das Fließende Licht der Gottheit. Auch wenn das Fließende Licht der Gottheit Mechthilds von Magdeburg das Abstraktum gelâzenheit nicht kennt, entfaltet der Text Vorstellungen des Lassens in einer spannungsreichen Dynamik zwischen Liebesbegehren und Selbstentäußerung, bleibt aber im Wortfeld des Lassens insgesamt an Vorstellungen der Weltabkehr und der Askese gebunden. Suerbaum fragt daneben am Beispiel der lateinischen Übertragung des Flie­ ßenden Lichts der Gottheit, der Lux divintatis, nach den Auswirkungen volks© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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sprachiger Literatur auf lateinische Diskurse und vollzieht eine grundlegende Umkehrung der Frage nach der Funktion der Volkssprache in Texten der Mystik. Damit wird nicht nur eine Ausweitung der meist sich auf Eckhart beziehenden Forschung zu gelâzenheit geleistet. Suerbaum kann zudem an ausgewählten Beispielen die Tendenz der lateinischen Übertragung zur dogmatisch fixierten Dichotomisierung aufzeigen, während der volkssprachige Ausgangstext die Bezüge oft in der Schwebe lässt oder paradoxal verschränkt, wobei auch mit Blick auf die jüngsten Forschungsentwicklungen die Interferenzen zwischen Hoch- und Niederdeutsch herangezogen werden. Methodisch wirft diese Untersuchung ein Schlaglicht auf das Verhältnis von einzelsprachlich gebundenem lexikalischem Wissen einerseits und außersprachlich angesiedeltem Diskurs- und Weltwissen andererseits.24 Man könnte eine korrespondierende Zuordnung zu Volkssprache und Latein erwarten. Das Aufschlussreiche ist aber, dass keineswegs der latei­nische Diskurs einen vermeintlich sicheren Begriffsstatus gewährt, sondern selbst wiederum einzelsprachlich gebundende Referentialisierungsbemühungen erkennen lässt. Die Konzeptebene des außersprachlichen Wissens führt also erneut auf die Ebene einer Einzelsprache und ihrer Semantisierungen zurück. Dieser für historische Semantik fundamentale Zusammenhang findet seine methodische Operationalisierung nicht ohne Grund an einem literarischen Text, der die nominale Abstraktbildung zu gelâzenheit nicht vollzogen hat und umso mehr ›Bedeutungswissen‹ über poetische Sprachbewegungen generiert. Solche poetischen Dynamisierungen von gelâzenheit beschreibt Andrea Zech (Freiburg i. Br.): Performative Inszenierungen eines vernichteten Selbst im Mi­ rouer des simples ames der Marguerite Porete. Mit einem an Jacques Derrida und Judith Butler angelehnten Performanzbegriff werden vor allem Techniken der Wiederholung und Variation untersucht und an Verfahren des iterativen (Selbst)zitats konkretisiert, wodurch innerhalb des Mirouer bedeutungsverschiebende Re-Lektüren vorgeführt werden. So wird die Vernichtung des Selbst in besonderer Weise durch eine artifizielle Negationstechnik präsentiert, mit der der Anspruch der negativen Theologie gleichsam grammatikalisiert wird. Wie sich die performative Bewegung des Textes in Akten beständiger wie variierender Selbstzitation entfaltet (Zech spricht in Anlehnung an Luisa Muraro von ›Spiralen­ technik‹), wird an der Verwendung der Präposition sans demonstriert, über die wiederum negativierende Semantisierungen erzeugt werden. Die Analyse der Verben des Lassens (relinquir, dérober, descombrer) erfolgt in diesem Kontext einer performativen Inszenierung der Selbstvernichtung durch grammatische Negativierung und deren klangliche Effekte, so dass die literarischen Prozesse der Semantisierung auch hier nicht zum Begriff führen, sondern im Gegenteil zu dessen performativer Reinszenierung im Medium der Literatur. Auch im Mirouer Marguerite Poretes lässt sich also eine poetische Verflüssigung von ›Bedeutungs 24 Für diese Unterscheidung sei verwiesen auf Blank, Einführung (Anm. 9). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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wissen‹ nachweisen, die an die innersten Sphären der Sprache wie Klang, Syntax oder Grammatik zurückgebunden ist und somit in selbstbezüg­licher Weise die thematisierte Vernichtung des Selbst literarisch medialisiert. Wo Modelle des Lassens an Vorstellungen der Weltabkehr und der Askese gebunden sind, schwingt eine räumliche Dimension mit, wie sie vor allem in einem der wichtigsten biblischen Referenzwörter – relinquere (Mt 19,29) – zur Geltung kommt. Bislang ist die latente Räumlichkeit der Gelassenheit in mediävistischen Arbeiten nicht eigens thematisiert worden.25 Julia Weitbrecht (Berlin) betritt mit ihrem Beitrag, Die werlt lâzen durch got. Weltflucht und ›soziale Heiligung‹ in legendarischen Adaptationen des hellenistischen Liebes- und Reiseromans, Neuland, indem sie am zentralen Beispiel der Legende narrative Inszenierungen von ›Verlassen‹ und ›Zurücklassen‹ in die historische Semantik der Gelassenheit einbringt. Die Inszenierung von Heiligkeitskonzepten und ihren konstitutiven Momenten des Lassens und der Weltabkehr vollzieht sich im legendarischen Erzählen entscheidend über die Raumsemantik. Vor dem Hintergrund des Schemas von Reise, Selbstisolation und ›sozialer Heiligung‹ untersucht Weitbrecht anhand dreier Fallbeispiele (Acta Pauli et Theclae, die mittelalterliche Eusta­chiuslegende und Die gute Frau) die produktive Aneignung des hellenistischen Romans in der christlichen Erzählliteratur. Anders als im hellenistischen Roman führt jedoch die Folge von Trennungen und Wiedervereinigungen nicht zur Restitution, sondern zu einer Bewegung aus der Welt heraus, auch wenn noch in dieser Transgression das soziale Moment der Heiligung präsent bleibt (Acta Pauli et Theclae). Die Eustachiuslegende weist hingegen zwar Merkmale einer innerweltlichen Restitution auf, doch verlangt der Gattungsrahmen auch hier Akte der Transzendierung und der Überhöhung.26 Die gute Frau zielt schließlich im Modell von Trennung und Wiedervereinigung nicht vorrangig auf Heiligung, sondern auf die Begründung einer Dynastie. In unserem Zusammenhang sind diese Ergebnisse nicht zuletzt insofern von großem Interesse, als sie eine politische Funktionalisierung von Modellen des Lassens und Verlassens aufzeigen und ›Gelassenheit‹ in den Kontext der ethischen Begründung von Herrschaft stellen. Eine noch ausstehende ›Politik der Gelassenheit‹ hätte historisch an solchen narrativen Beispielen anzusetzen. Die ›Verräumlichung‹ von Heiligkeit, wie sie in solchen Texten narrativ inszeniert wird, mag in avancierten Konzepten der Gelassenheit selbst zur Disposition stehen; sie dürfte aber, wie Weitbrecht mit Recht betont, den unterschiedlichen mittelalterlichen Medien der symbolischen Vergegenwärtigung von ›Heiligkeit‹ geschuldet 25 Parallel dazu ist die räumliche Dimension auch für abegescheidenheit zu bedenken. Während Eckhart abegescheidenheit geradezu enträumlicht, hat zum Neuhochdeutschen eine konzeptuelle Verschiebung stattgefunden, mit der der Raumbezug (wieder?) dominant wird. 26 Mit Verweis auf Christian Kiening, Familienroman und Heilsgeschichte, in: KarlHeinz Spiess (Hg.), Die Familie in der Gesellschaft des Mittelalters, Ostfildern 2009, S. 51–76. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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sein, so dass von hier aus auch ein Bogen zu den monastischen Stufenmodellen und deren impliziter Raumstruktur zu schlagen wäre. Einen dezidiert begriffsgeschichtlichen Ansatz verfolgt Seraina Plotke (­Basel) bei ihren Erkundungen lateinischer Begriffstraditionen von ›Gelassenheit‹ (Seman­tiken der Seelenruhe. tranquillitas, serenitas und impassibilitas in der paganen Antike, bei den Kirchenvätern und im lateinischen Mittelalter). Ausgangspunkt ist eine onomasiologische Fragestellung und damit der Begriff jenseits der Einzelsprache, der jedoch über die einzelsprachlichen Bezeichnungen seines Wortfeldes semantisch wie kulturgeschichtlich Profil gewinnt, so dass erst über den semasiologischen Weg die unterschiedlichen Verwendungskontexte und Sinnbezüge des Begriffs differenziert werden können. Plotke zählt auch ge­ lâzenheit im Sinne Eckharts zu den Bezeichnungen aus dem onomasiologischen Feld von ›Gelassenheit‹; die verbindende Bedeutungskomponente sieht sie in der Seelenruhe, insofern bei Eckhart ruowe und gelâzenheit ähnliche, wenn auch nicht kongruente Bedeutungsfelder bildeten (das distinkte Sem sei der Aspekt der Affektlosigkeit, den gelâzenheit nicht besitzt). Für die Frage nach den entsprechenden Bezeichnungen für ›Gelassenheit‹ und ›Seelenruhe‹ sieht Plotke die griechischen Termini apátheia, ataraxía und euthymía als wesentlichen Ausgangspunkt. Die weit ausgreifende Studie, deren Materialbasis die Library of Latin Texts darstellt, verfolgt die Begriffsgeschichte über die entsprechenden lateinischen Nominalabstrakta tranquillitas, serenitas und impassibilitas von der paganen Antike bis zum lateinischen Mittelalter. Anhand schlaglichtartig beleuchteter Belegstellen sollen die »wichtigsten Schattierungen des Wortfelds in seiner histo­rischen Dimension« (S. 92) sichtbar gemacht werden. Die Belegstellen führen von Seneca (besonders von der Dialogschrift De tranquillitate animi) über C ­ yprian (Ad ­Donatum) und Augustin (De civitate Dei, Confessiones und andere Schriften) zu Eriugena bis zu Bernhard von Clairvaux, Hildegard von Bingen, Thomas von Aquin und Dietrich von Freiberg (dessen Werk noch nicht digital erfasst ist). Eine solche breit angelegte Begriffsgeschichte, die über die jeweiligen lateinischen Bezeichnungen und semantischen Differenzierungen im Wortfeld rekonstruiert wird, war bislang Desiderat. Um die Reichweite des in den Einzelwörtern bezeichneten und semantisch differenzierten Begriffs der Seelenruhe über mehr als ein Jahrtausend sichtbar zu machen, nimmt der Beitrag im Fazit eine verallgemeinernde Perspektive ein; bei den meisten aufgeführten Denkern ziele der Seelenfriede darauf, dass der Mensch sich über ihn mit Gott vereinige oder Gott ähnlich werde. Im Kern sämtlicher Konzepte sieht Plotke ein Spannungsfeld von Übung (oder auch Technik), einem Seinszustand und dem (un­verfügbaren) Ereignis. Mit diesem Dreieck, in dessen Mitte Seelenruhe, Seelenfrieden und Gelassenheit gesehen werden, steht der künftigen Diskussion ein Modell zur Verfügung, um unterschiedliche Gewichtungen der einzelnen Autoren und Texte besser bestimmen zu können. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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Semantiken des Lassens bilden den Hintergrund für die Wortbildung des A ­ bstraktums gelâzenheit. In der Spannung zwischen Selbstvernichtung und Präsenz, Weltabkehr und Heiligung, vor der Folie der aus der Antike überlieferten Traditionen und in der mehrsprachigen Situation, so die Beiträge, wird gelâzen­ heit gebildet und stellt in der Einzelsprache einen Begriff zur Verfügung, der zunächst vor allem der Etablierung und der Klärung bedarf.

3.2 Etablierung und Übernahme Auf dieser Basis des Wissens um ›Gelassenheit‹ kommen mit Johannes Tauler und Heinrich Seuse zwei Autoren ins Spiel, die gelâzenheit ins Zentrum ihrer religiösen Modelle stellen. Während bei Eckhart auf der Wortebene fast ausschließlich mit verbalen und adjektivischen Formen des Lassens (lâzen und gelâzen) operiert wird, gewinnt das Abstraktum gelâzenheit bei Tauler und Seuse zunehmend an Bedeutung: Tauler umkreist ›Gelassenheit‹ in seinen Predigten durch eine Vielfalt an Verwendungsweisen. Er stellt das Wort in unterschiedliche Kontexte und entfaltet den Begriff durch Usualisierung, über einen nahezu inflationär häufigen Gebrauch. Bei Seuse dagegen finden sich die Belege immer wieder gehäuft an zentralen Stellen, an denen nach der Bedeutung gefragt, ›Gelassenheit‹ problematisiert oder erläutert wird. Im Gegensatz zu den deutschen Schriften Eckharts, in denen bekanntlich nur ein vereinzelter Beleg von gelâzenheit nachweisbar ist, operiert Seuse im Buch der Wahrheit wie selbstverständlich mit dem Abstraktum gelâzenheit. Das Buch der Wahrheit stellt insgesamt den Versuch dar, den Begriff der ›Gelassenheit‹ diskursiv abzusichern und ihn von einem falschen Begriffsverständnis abzugrenzen.27 Seuse greift dabei auf die Schrift De diligendo Deo Bernhards von Clairvaux zurück, wie Loris Sturlese in Anlehnung an ältere Forschung ausführlich darlegt. Sturlese vermutet darin den Versuch Seuses, »seine Verteidigung des eckhartschen Begriffs der ›Gelassenheit‹ durch dessen Einordnung in die kirchliche Tradition abzusichern.«28 Sturlese kann zeigen, dass die Schlussfolgerung, die Seuse aus der Darlegung der Freuden der Seligen durch Bernhard zieht, keine Entsprechung in De diligendo Deo hat: »Und daz kumet alles von ir selbs grundlosen gelaz­ senheit – Gelassenheit ist also das Prinzip der visio beatifica.«29 Für die Verteidigungsstrategie Seuses ist interessant, welche Rolle die begriffsgeschichtliche Dimension spielt. Offensichtlich gab es den Bedarf, den Begriff 27 Vgl. die Überschrift des ersten Kapitels: Von inrelicher gelazenheite und von gtem under­ scheide, der ze habenne ist in vernunftikeite (»Von innerer Gelassenheit und von der richtigen Unterscheidung, die denkend zu erlangen ist«), BdW 2,1–2. 28 Sturlese, Einleitung (Anm. 20), S. XLVI. 29 Ebd., S. XLVI. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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›Gelassenheit‹ ganz basal zu klären. In der Frage des Jüngers an die personifizierte Wahrheit wird thematisiert, dass ein eindeutiges, orthodoxes Wissen fehlt: waz ist rehtú gelazsenheit? fragt der Jünger und erhält eine wortsemantische Erörterung, eingeleitet mit der Erklärung des Vorhabens: Nim war mit merklichem underscheit diser zweier worten, dú da sprechent: »Sich ­lazsen«. Und kanst du dú zwei wort eben wegen und ze grunde prfen uf ir iungstes ort und mit rehtem underscheide ansehen, so macht du snelleklich der warheit be­wiset werden. Achte auf folgende zwei Worte und erkenne ihre Bedeutung; sie lauten: »Sich lassen«. Und wenn du diese zwei Worte genau abwägen und bis in ihren Grund auf ihren letzten Sinn prüfen und in rechter Unterscheidung betrachten kannst, so kannst du rasch ihren wahren Sinn erkennen.30

Zwar bezieht sich Seuse deutlich auf Die rede der unterscheidunge Eckharts und unterzieht die reflexive Verbform sich lâzen, wie sie in den Erfurter Reden Eckharts auffallend gegenüber der substantivierten Form dominiert, einer faszinierenden, unmittelbar an der Wortform ansetzenden Analyse. Diese Analyse überführt Seuse aber auf die begriffliche Ebene von gelâzenheit; und es scheint gerade diese Transformation von der wortsemantischen zur begrifflichen Ebene zu sein, worauf die Verteidigungsstrategie Seuses im Buch der Wahrheit setzt. Einzelsprachlich gebundenes Bedeutungswissen wird so auf die Ebene eines wahrheitsfähigen philosophischen Begriffs gehoben; und zugleich erlaubt es diese Pro­zedur, entscheidende Modifikationen vorzunehmen und im Akt der Verteidigung die prekären Aussagen bereits umzudeuten. Es ist anzunehmen, dass es das Buch der Wahrheit ist, das Eckhart mit dem Signum der Gelassenheit versieht, obwohl es dies in anonymisierter und modifizie 30 BdW 18,53–57. Blumrich verwendet als Übersetzungsterme ›Bedeutung‹ und ›Sinn‹, während Seuse von grunt, unterscheit und warheit spricht. Seuse nutzt die semantische Analyse der beiden Terme, sich und lâzen, zu einer komplexen Sicherung des Begriffs der ›Gelassenheit‹. Eine nähere Untersuchung könnte zeigen, dass er dabei einerseits dieses sich substantiviert sowie an dieses fünffache ›Sich‹ die fünf Seinsstufen des Menschen anbindet, und dass andererseits die Bedeutungsanalyse von sich lazsen auf wichtige (Teil)synonyme zurückgreift, wie sie zum Teil Eckhart auch in den Erfurter Reden verwendet hatte (entsinken, vernihtet werden, ent­ werden, ûfgeben sîn selbes, vergân). Eine weitere Absicherung wäre über die Anbindung an die Tradition näher zu untersuchen, wenn nämlich das gelassen sich in ein kristfrmig ich transformiert erscheint und diese Transformation mit dem Pauluswort aus dem Galaterbrief, 20,2, rückgebunden wird: ich leb, nit me ich, Cristus lebt in mir. Und schließlich findet sich die Ab­ sicherung auch in der Benennung der Synonyme für das Verb lâzen selbst (BdW 22,95–98): Nu nemen wir daz ander wort herfúr, daz er spricht: »lazsen«. Daz meinde er ufgeben oder verahten, nút also, daz man es múg gelazsen, daz es zemal zenihti werde, denn allein in der verahtunge, und denn ist im gar reht. In der Nicht-Beachtung des Selbst wird das Lassen angesiedelt und setzt sich damit von Modellen der Selbstvernichtung ab. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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render Weise tut. Auch wenn Eckhart in vielfältiger Weise von lâzen, sich lâzen, gelâzen hân, gelâzen sîn und gelâzen spricht, ist seine Leitvokabel abegescheiden­ heit.31 Fast gewinnt man durch das Buch der Wahrheit den Eindruck, als gehöre diese lexikalische Umbesetzung genuin zur Verteidigungsstrategie unmittelbar nach der Verurteilung durch die päpstliche Bulle. Und sollte es – man denke an die Figur des namenlosen Wilden – eine häretische Verwendung des Begriffs der Gelassenheit gegeben haben, so hätte das Buch der Wahrheit Eckhart dadurch aus der Schusslinie zu ziehen versucht, indem es ihn zum namentlich ungenannten Verfechter eines antihäretischen Modells stilisiert. Jedenfalls liegt diese diskursive Sicherung des Begriffs wahrer Gelassenheit vor, als Seuse seine Vita schreibt und in ihr die Gelassenheit auf ein religiöses Lebensmodell bezieht, das sich nicht in theologischer Distinktivität, sondern in spiritueller Performativität vollendet und somit eine brisante Spannung zwischen begrifflicher Abgrenzung und narrativer Umsetzung erzeugt. An diesem entscheidenden Punkt setzt der Beitrag von Susanne Bernhardt (München) zur Vita Seuses an (Die implizite Pragmatik der Gelassenheit in der Vita Heinrich Seuses). Mit dem exemplarischen Leben der Vita wird die Bedeutung als praktisches Wissen präsentiert, doch verharrt der Text nicht im Nar­ rativen, sondern nutzt es, um die Semantik von lassen und gelassenheit32 zu problematisieren und zu korrigieren. Die Spannung zwischen diesen beiden Ebenen wird dadurch zum literarischen Generator, wie umgekehrt Verfahren der Textherstellung in hohem Maße die Semantisierung bestimmen. An der Vita Seuses lässt sich daher demonstrieren, wie literarische Verfahren zwischen lexikalischer Mikroebene und diskursgeschichtlicher Makroebene vermitteln und damit zum zentralen Ort der Herstellung von Bedeutungswissen avancieren.33 Dies zeigt Bernhardt in drei Schritten: Eine Detailanalyse des 38. Kapitels der Vita führt erstens die konkreten Semantisierungsstrategien vor. In einem Zwiegespräch der Figur des Dieners mit Gott fragt dieser nach der gelassenheit des Dieners, der sich mit der Verleumdung konfrontiert sieht, eine Frau geschwängert zu haben. 31 Vgl. Panzig, Gelâzenheit und abegescheidenheit (Anm. 4). 32 Im Falle Eckharts wird das Lexem entsprechend der Ausgabe Quints in normalisierter Form aufgeführt (gelâzenheit), also mit langem Vokal und mit dem aus germ. /t/ (vgl. ndl. laten bzw. gelaten) verschobenen, stimmlosen Reibelaut /z/, während die Wortform gelassenheit bereits Kürzung aufweist (zur Kürzung bei lâzen vgl. Hermann Paul, Mittelhochdeutsche Grammatik, 25. Auflage, neu bearb. von Thomas Klein, Hans-Joachim Solms und Klaus-Peter Wegera. Mit einer Syntax von Ingeborg Schöbler, neu bearb. von Heinz-Peter Prell. Tübingen 2007, S. 83, § L 22,2). 33 Dass eine diskursgeschichtlich orientierte Semantik ohne Anbindung an die einzelsprachlichen Bezeichnungen und deren Verwendungen die Frage unbeantwortet lässt, wie im Einzelfall auf bestimmte Phänomene referiert wird, und welche Rückschlüsse wir daraus auf die Eigenart der jeweiligen Referenten ziehen können, dürfte ein gewichtiger Einwand gegen die konzeptionell weit ausgreifende Studie von Dietrich Busse, Historische Semantik. Analyse eines Programms, Stuttgart 1987, sein. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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In­szeniert wird ein Bedingungsverhältnis von göttlicher Barmherzigkeit und menschlicher Gelassenheit, das in diesem Dialog aber unterlaufen wird, so dass eine komplexe Korrektur von ›Gelassenheit‹ zu ›Gleichmütigkeit im Leiden‹ im Vollzug durchgeführt wird. Indem aber die Frage des gleichmütigen Leidens narrativ an der Figur des Dieners verhandelt wird, ist sie zugleich an die Frage des Vollzugs und der Spannung zwischen Einsicht und existentieller Umsetzung gebunden. Die Problematisierung des Verstehens bleibt aber bei dem, was gelassenheit bedeutet, nicht auf einer abstrakt-sprachlichen Ebene stehen. Anders formuliert: Bedeutungswissen findet erst im praktischen Wissen seinen Maßstab, wie es auf der performativen Ebene des Textes und auf der Handlungsebene am Körper des Dieners mit Blick auf das körperliche Leiden Christi inszeniert wird. Wie in einem zweiten Schritt herausgearbeitet wird, ist es die beständige Wieder­holung, die aufgrund ihrer performativen Wirksamkeit eine religiöse Identität der Gelassenheit konstituiert. Die Betrachtung der narrativen Gesamtstruktur rundet schließlich die Untersuchung ab, wobei die Metaebene der Umsetzung und des richtigen Verstehens eine maßgebliche Rolle spielt. Hinter der literarischen Form der Vita werden dadurch komplexe Semantisierungen sichtbar, wobei die Vita die Kultur von Irrtümern und Missverständnissen nicht einfach voraussetzt, sondern im Text selbst literarisiert. So ist schließlich für gelassenheit das Prekäre ihrer Bedeutung konstitutiv – insofern stellt diese prekäre Bedeutungszuschreibung keine außerhalb des Textes liegende Voraussetzung dar, sondern prägt genuin die literarische Struktur der Vita Seuses. In dieser Untersuchung wird der literaturhistorische Rang der Vita akzentuiert, indem der Text als literarisches Medium erscheint, das die kommunikativen und diskursgeschichtlichen Bedingungen seiner eigenen Sinnproduktion narrativ reflektiert. Während in der Vita Seuses gelassenheit im Rahmen eines narrativen Modells semantisiert wird, lassen die Predigten Johannes Taulers, so Imke Früh (Stuttgart), eine ›semantische Lücke‹ sichtbar werden (Im Zeichen und im Kontext ­ aulers). von gelossenheit. Semantisierungsstrategien in den Predigten Johannes T Denn einerseits beziehen die Predigten Taulers rehte gelossenheit34 auf den Weg zur Einheit mit dem göttlichen Grund, andererseits aber auf diese Einheit selbst, die sich nur in worer gelossenheit jenseits sprachlicher Vermittlung vollziehen kann. Das Wirken Gottes in dem unvermittelten Grund der Seele stellt semantisch gesehen eine Leerstelle dar, der ein beinahe inflationärer Wortgebrauch von gelossenheit in den Predigten Taulers gegenübersteht. Im Zentrum des ­Beitrages von Imke Früh steht damit die Frage, wie diese Spannung in den 34 Die nach der Engelberger und der Freiburger Handschrift sowie aus Schmidts Abschriften der ehemaligen Straßburger Handschriften von Ferdinand Vetter edierten Predigten verwenden die Form lossen bzw. gelossenheit, die die oberrheinische Verdumpfung aufweist (vgl. Mittelhochdeutsche Grammatik [Anm. 32], § E 31 und § L37). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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Predigten ­Taulers produktiv wird. Wie Früh zeigen kann, stehen die entsprechenden Wortverwendungen zum einen nicht im Kontext einer dezidierten Arbeit am Begriff (wie beispielsweise im Buch der Wahrheit Seuses) und zielen eher auf einen performativen Prozess der Einübung einer Haltung als auf ein intellektuelles Verständnis. Zum zweiten weist gelossenheit bei Tauler ein breites Verwendungsspektrum auf, innerhalb dessen sich drei Hauptbedeutungen unterscheiden lassen (›Losgelöstheit‹, ›Gottergebenheit‹ und ›Verlassenheit‹).35 Auch in der Breite dieses Spektrums äußert sich die genannte Spannung, insofern in der Verlassenheit eine Abgrenzung von einem erfahrungshaften Genießen Gottes vorgenommen wird. Zum dritten tritt diese Spannung in spezifischen Semantisierungsstrategien zu Tage, die vor allem durch Kontextualisierung gekennzeichnet sind. Diese Kontextualisierung bezieht sich sowohl auf die syntagmatische Ebene mit ihren Verfahren assoziativer Bedeutungsübertragung als auch auf morpho­ logische Analogien. Während im ersten Fall semantische Überblendungen mit bedeutungsverwandten Begriffen untersucht werden, geht es im zweiten Fall um Ableitungen innerhalb der Wortfamilie. Die spezifische Spannung, die sich in die Semantik der Gelassenheit bei Tauler einschreibt, macht sich schließlich viertens in dem komplexen Verhältnis von Usualisierung und Sinnentleerung bemerkbar. Die Annäherung an das die Vernunft kategorial Übersteigende wird in solchen semantischen Entgrenzungen sprachlich-performativ umgesetzt, so dass, darin liegt die Schlusswendung des Beitrages, die literarischen Verfahren in der Verwendung einer mystischen Leitvokabel den Rezipienten in den paradoxen Prozess der Gelassenheit selbst führen. In einer Theorie des Bedeutungswissens wäre eine solche ›semantische Lücke‹, wie sie Tauler inszeniert, erst noch auszuformulieren. Es würde sich wohl um einen Wissenstyp handeln, der die eigene Negativität als Bedingung seiner Transgression mitführt. Von solchen literarisch-performativen Inszenierungen von Bedeutungs­wissen hebt sich eine Textform ab, die Regina D. Schiewer (Eichstätt) unter dem Titel: Gelassenheit ist (k)eine Tugend. Exzerpieren im Dienste der Mystagogik am Beispiel von Spamers Mosaiktraktaten in den Blick nimmt. Die bislang unedierten Mosaiktraktate, die eine bedeutende Kompilation von Dicta, Zitaten und Mosaiktraktaten einschließlich eigener Zusätze des Kompilators darstellen, stehen nicht an der Schnittstelle von gelehrtem Prediger und externem Publikum, sondern führen, so die plausible These Schiewers, zur Novizen- und Predigeraus­ bildung der Dominikaner. In den vom Ordensgeneral Humbertus de Romanis geforderten hausinternen disputationes ließen sich unter der Leitung eines Lektors solche Fragen diskutieren, wie sie die Mosaiktraktate zum Teil auch explizit in Frageform aufführen. Diskursgeschichtlich eröffnet sich damit ein wichtiger Zugang zu Textformen aus dem differenzierten Studiensystem der D ­ ominikaner, 35 Zu den ersten beiden ›Bedeutungsmöglichkeiten‹ vgl. Stefan Zekorn, Gelassenheit und Einkehr. Zur Grundlage und Gestalt geistlichen Lebens bei Johannes Tauler, Würzburg 1993. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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die einen spannenden Einblick in die Werkstatt dominikanischen Wissens­ transfers erlauben. Zwar fehlt in diesen Mosaiktraktaten die substantivische Form, doch treten dafür ganz unterschiedliche Verwendungsweisen von lâzen hervor: vom Lassen aller äußerlichen Dinge bis zum Lassen seiner selbst in geistiger Armut. Zugleich zeigt der Beitrag, dass das pragmatisch gehaltene mystagogische Bemühen des Kompilators seine Grenzen hat: Komplexe Zuspitzungen des Lassens im Sinne einer alienatio (bei Eckhart: Gott um Gottes willen lassen) fasst ein eingearbeiteter Traktat zwar als ›göttliche Armut‹, doch fehlen solche Radikalisierungen in den vermutlichen Eigenanteilen des Kompilators und den von ihm im Rahmen seiner Kompilation präparierten Predigten. In der Frage nach der Tugendhaftigkeit des Lassens wird präzis diese Grenze bestimmt: Während der Kompilator betont, dass er die Tugend lassen muss, soll er Gott unmittelbar schauen, vermittelt er dem anzunehmenden Laienpublikum seiner Predigten ­Demut und willige Armut als Tugenden. Damit wird deutlich, dass die konzeptuellen Ambivalenzen der Gelassenheit sich kommunikationspragmatisch abbilden lassen. Die Ausgangsfrage nach dem ›Sitz im Leben‹ führt also unmittelbar zur Frage der Semantisierung zurück, womit nachweisbar wird, dass unterschiedlichen Diskursebenen auch unterschiedliche Bedeutungsschichten zugeordnet sind. Denkt man von diesem Beitrag aus an den Prozess um Eckhart, wird die Empörung diskursgeschichtlich begreiflich, mit der die Bulle davon spricht, dass Eckhart vor dem ›einfachen Volk‹ gepredigt habe. Ergänzt wird der Beitrag durch eine Edition der analysierten Traktate. In eine ganz andere Richtung literarischer Retextualisierung geht das deutschsprachige Werk des Franziskaners Marquard von Lindau, dem Stephen Mossman (Manchester) seine Fallstudie widmet (Zeitzeuge der Begriffswerdung. ›Gelassenheit‹ bei Marquard von Lindau). Marquard, der als herausragende Figur der folgenden Generation nach Seuse und Tauler gilt, verfügte über breite Kenntnisse jener Literatur, in der sich gelâzenheit in der ersten Hälfte des 14.  Jahrhunderts etabliert hatte. Wenn man aber vermutete, dass dieser zweisprachige Autor die deutschen Lexeme abegescheidenheit und gelâzenheit durch lateinische Termini wiedergegeben hätte, so sieht man sich interessanterweise getäuscht. Wie Mossman zeigen kann, inseriert Marquard gelegentlich die entsprechenden volkssprachigen Ausdrücke wie abegescheidenheit in seine lateinischen Schriften. Die Bedeutung des Begriffs, der durch den deutschsprachigen Einschub vermittelt werden sollte, war offensichtlich an die Volkssprache gebunden. Bei der Diskussion um die These des ›Mehrwerts‹ der Volkssprache für die Literatur der Mystik wird man einen solchen Befund hoch gewichten müssen. Dabei würde das Argument nicht auf die vermeintliche Erfahrungsnähe der Volkssprache zielen, sondern auf deren Etablierung als Feld eigenständiger Begriffsbildung – ein wirklich weites Feld, das nach wie vor einer umfassenden Erforschung harrt. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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Eine zweite wichtige Perspektive bietet der Beitrag Mossmans mit Blick auf das Verhältnis von onomasiologischem und semasiologischem Zugang. Geht man von der sprachlichen Bezeichnung aus, ist festzustellen, dass Marquard insgesamt eher selten von gelâzenheit spricht. Verwendet wird sie fast ausschließlich im Sinne einer Ergebenheit des Menschen in Gottes Willen oder geduldiger Nachfolge. Es dominiert also ein ethisches, kein theoretisches Interesse. Damit hängt eng zusammen, dass Marquard von gelâzenheit nicht im unmittel­ baren Kontext mystischer Vereinigung spricht. Das muss aber umgekehrt nicht heißen, dass Marquard den Begriff der Gelassenheit nicht kannte. Der springende Punkt liegt jedoch nicht in der Unterscheidung von onomasiologischem und semasiologischem Zugang selbst, auch wenn es äußerst wichtig ist zu bemerken, dass Marquard se abnegare, das Eckhart mit sich lâzen übersetzt hatte, mit sîn selbes verzîhen wiedergibt. Die Pointe in der Argumentation Mossmans liegt vielmehr in der aufschlussreichen Vermutung, dass Marquard durch die Wortwahl bzw. durch die unterlassene Wortwahl eine Distanzierung zum dominikanischen Wortgebrauch und damit zur dominikanischen Position in der Frage der Passivität im Zustand der mystischen Einigung markiert – gelâzenheit also in den Verdacht der mússekait gerät (im Hintergrund stehen die Debatten um häretische Auffassungen falscher Freiheit). Mossman vermag aber Marquards Zurückhaltung präziser zu bestimmen, insofern dieser sich von der Vorstellung einer uneingeschränkten Untätigkeit der Seelenkräfte in der Vereinigung abgrenzen wollte. Die konzeptuelle Verschiebung auf den Begriff der Ergebenheit, so ließe sich die Position Marquards zusammenfassen, geht mit der Funk­ tionalisierung des Lassens zu einer Vorstufe der Einigung einher. Über die Tätigkeit der Seelenkräfte im Vollzug der Einigung ist damit noch nichts gesagt. Die Geste des ­Ignorierens hätte also durchaus Methode; die ordensspezifischen Traditionen und Abgrenzungen wären somit selbst Bestandteil historischen Bedeutungswissens. An den spezifischen Leistungen der Volkssprache bei der Semantisierung religiö­ser Leitbegriffe setzt auch Johanna Thali (Freiburg i. Br.) an (andacht und betrachtung. Zur Semantik zweier Leitvokabeln der spätmittelalterlichen Frömmigkeitskultur). An die Forschungen von Kurt Ruh36 und Susanne Köbele37 anknüpfend spricht Thali von einer größeren Unmittelbarkeit der Volkssprache mit entsprechender affektiver und stimulierender Kraft. Methodisch verknüpft Thali in ihrer Untersuchung den erweiterten Kontextbegriff der historischen Semantik mit Fragen, die von der onomasiologischen Vernetzung über die per­formative Verwendung der Termini bis hin zur kulturanthropologischen 36 Vgl. Kurt Ruh, Vorbemerkungen zu einer neuen Geschichte der abendländischen Mystik im Mittelalter, München 1982, hier S. 28 f. 37 Vgl. Susanne Köbele, Bilder der unbegriffenen Wahrheit. Zur Struktur mystischer Rede im Spannungsfeld von Latein und Volkssprache, Tübingen 1993. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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Dimension mittelalterlicher Religiosität reichen. Gegenüber der Lexikographie (für beide ­Termini liegen die entsprechenden Artikel sowohl des neuen Mittelhochdeutschen Wörterbuchs als auch des Frühneuhochdeutschen Wörterbuchs bereits vor) erzielt sie dadurch einen merklichen Gewinn. Während beispielsweise der Prozess der Bedeutungsverengung von andacht zu ›Andacht‹ sich an den entsprechenden Artikeln der Wörterbücher ablesen lässt, und die Hinzuziehung eines spätmittelalterlichen Vokabulars wie des Vocabularius ex quo die Umrisse einer onomasiologischen Verknüpfung in einem sich abzeichnenden Wortfeld von Andacht, Betrachtung und Kontemplation hervortreten lässt, ermöglicht die Einbeziehung etwa der deutschen Fassung des Unterlindener Schwestern­ buches eine differenziertere Darstellung zwischen Liturgie und persönlichem Gebet. Am Beispiel der Vita Seuses kann Thali zeigen, wie eng betrachtung mit ge­ genwúrtikeit verknüpft ist – hier steht die Verwendungsweise in unmittelbarem Zusammenhang mit der im Text aufgerufenen mentalen Praxis imaginativer Vergegenwärtigung. Dieser kulturanthropologische Kontext erweitert nicht nur das Bedeutungswissen zu betrachtung, sondern verweist auch auf mögliche Rezeptionsvorgänge, die in der Erschließung dieses Wissens die ersehnte Vergegenwärtigung zugleich vollziehen. So vermag der Beitrag einen Bogen zum kunst­ geschichtlichen Terminus des ›Andachtsbildes‹ zurückzuschlagen und gleichsam über die Wortgeschichte das Moment innerer Versenkung historisch an­zubinden. Die Beiträge der zweiten Sektion zeigen, wie stark das Bestreben war, ›Gelassenheit‹ zu bestimmen, abzugrenzen, zu sichern, aber auch über den relativ eng gesteckten Kreis der dominikanischen Literatur hinaus in andere Diskurszusammenhänge zu führen. Fragen nach der Vermittlung, der diskursiven Erörterung, den Übertragungsmöglichkeiten zwischen Einzelsprachen nähern sich ›Gelassenheit‹ auf einer wort- und diskurssemantischen Ebene.

3.3 Transformation und Aneignung Der Band schließt in der dritten Sektion mit zwei Beiträgen, die mit Jakob Böhme und Johannes Scheffler bis zur schlesischen Barockmystik reichen. Auch hier sind die Unterschiede in Methode und Ansatz zu benennen. Im Zentrum des Beitrages von Markus Enders (Freiburg i. Br.), Die Semantik der Gelassenheit in der Theologia Deutsch und bei Jakob Böhme, steht das theologische Begriffsverständnis von ›Gelassenheit‹, das von wortgeschichtlichen und lexikalischen Beobachtungen untermauert wird. Der Beitrag interessiert sich vornehmlich für die spätere Geschichte des Begriffs der ›Gelassenheit‹ bis in die Barockzeit hinein und nimmt seinen Ausgangspunkt bei Johannes Tauler, den er mit seiner auf Eckhart zurückgehenden Grundunterscheidung von ›Sich-Lassen‹ und ›Sich-Überlassen‹ als ›Wegbereiter‹ der späteren Begriffsgeschichte ver© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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steht.38 In Abgrenzung von der älteren These Ludwig Völkers, Gelassenheit habe in der Theologia Deutsch einen rein praktischen, nicht aber einen mystischen oder spekulativen Charakter, hebt Enders den mystischen Kontext von Gelassensein in der Theologia Deutsch hervor: Zwar sei das Gelassensein in der Theologia Deutsch primär auf die Aufgabe des eigenen Willens bezogen (die praktische Dimension), doch sei diese Bestimmung durch die Willensaufgabe im mystagogischen Zusammenhang konsequent, insofern sie eine subjektiv hinreichende Bedingung für die unio mystica darstelle. Demgegenüber betone Jakob Böhme in seinem Traktat Von wahrer Gelassenheit aus dem Jahr 1622 die schöpfungstheologische Dimension der Gelassenheit. Gelassenheit kennzeichne den inneren Seelenzustand des Menschen gemäß der Schöpfung; Gott habe den Willen des Menschen auf dessen Ergebung in den göttlichen Willen geschaffen, während durch den Sündenfall der Wille zu einer falschen Selbstbezogenheit und Selbstvergöttlichung verleitet worden sei. Indem die Unterscheidung von wahrer und falscher Gelassenheit aus der Schöpfung abgeleitet wird, erhält sie, so könnte man die Überlegungen von Enders weiterführen, eine genuin zeitliche Dimension, die sich im lebensgeschichtlichen Vollzug als beständiges Abwehren von Gefährdungen und Versuchungen wiederfindet. Die Spannung von temporaler Struktur und ihrer Transgression, wie sie im abschließenden Beitrag Bent Gebert thematisiert, wird also bei Böhme eher durch eine Prozessualisierung der Temporalität aufgefangen. Möglicherweise liegt hier auch der systematische Grund für die wichtige Schlussbeobachtung von Enders, dass sich bei Böhme keine Lehre von der unio mystica im strikten Sinne finde. Eine solche wäre wohl ohne die Aussetzung und Überschreitung temporaler Iterativität nicht denkbar. Während der Beitrag von Enders seinen Schwerpunkt auf den theologischen Begriffsgehalt legt, setzt Bent Gebert (Freiburg i. Br.) nochmals an der Spannung von Bedeutung und Bedeutungsgenerierung an (Technik und Ereignis. ›Ge­ lassenheit‹ in Johannes Schefflers Cherubinischem Wandersmann). Wenn man davon ausgeht, dass sich Bedeutungswissen in sprachlicher Kommunikation erst konstituiert und dort konkretisiert und modifiziert wird, führt die Frage nach der Bedeutung zur Frage nach den Verwendungsweisen und Verfahren der Semantisierung, so dass literarische Texte nicht einfach Bedeutungen aktivieren, sondern an ihnen arbeiten. Im Fall der Semantik der Gelassenheit erhält eine solche ›Verhandlung‹ eine spezifische Potenzierung. Wie Gebert paradigmatisch 38 Enders weist in diesem Zusammenhang auf die Verwendung von sich lâzen mit Dativ der Person hin (›sich Gott überlassen‹). Theologisch führt das zweifellos in das Zentrum mystischer Literatur, während wortgeschichtlich bemerkenswert ist, dass sich der Verwendungstyp lâzen mit Dativ der Person im Sinne von ›überlassen‹ keineswegs auf den geistlichen Bereich beschränkt, sondern ganz allgemein belegt ist. Vgl. Matthias Lexer, Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1872–1878, mit einer Einleitung von Kurt Gärtner, Stuttgart 1992, Bd. 1, Sp. 1844. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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an mo­derner Ratgeberliteratur zeigt, gilt Gelassenheit einerseits als Ergebnis von Übung; Gebert spricht von ›Technik‹ im präzisen Sinne von Praktiken und ­Effekten regulierten Herstellens.39 Andererseits fehlt es nicht an radikaler Kritik an solchen ›Selbsttechnologien‹ und der Instrumentalisierung der Gelassenheit. Eckhart hat dafür in seiner berühmten Armutspredigt Maßstäbe gesetzt. Gelassenheit kann nicht Ziel eines Wollens sein, wenn sie selbst die Struktur der Intentionalität infrage stellt, so dass sie eher als Unterbrechung von Technik als deren Resultat zu verstehen ist. Die Spannung von Bedeutung und Bedeutungsgenerierung potenziert sich also im Fall der Semantik der Gelassenheit durch die Unterscheidung von Technik und deren Transgression, so dass sich der Fokus nicht nur vom Signifikat auf den Prozess der Signifikation verlagert, sondern die Signifikation selbst zu einem spannungsreichen Balanceakt zwischen Bedeutungswissen und dessen prinzipieller Unangemessenheit wird. Welche literarische Energie dieser Balanceakt freisetzt, machen beispielsweise auch die Beiträge von Susanne Bernhardt, Imke Früh und Andrea Zech deutlich. Gebert erschließt für dieses Programm der Rekonstruktion literarischer Semantisierung mit den Epigrammen des schlesischen Barockdichters Johannes Scheffler eine weitere poetische Form, für die das Thema der Lesbarkeit nicht eigens plausibel gemacht werden muss. Bei der Beobachtung der spezifischen Formen der Bedeutungserzeugung im Cherubinischen Wandersmann entfaltet Gebert diejenige widersprüchliche Struktur, in der sich das Verständnis von ›Gelassenheit‹ zwischen ›Technik‹ und unverfügbarem ›Ereignis‹ im Cherubinischen Wander­ mann zeigt. Die semantische Brüchigkeit wird zum literarischen Programm; und die akribisch aufgezeigten semantischen ›Sprünge‹ kennzeichnen auffallend häufig genau diejenigen Epigramme, die sich auf ›Gelassenheit‹ thematisch beziehen. Gebert weitet schließlich seine philologisch gesicherte Untersuchung der spezifischen Performativität im Cherubinischen Wandersmann zu einem Ausblick auf moderne Theorieansätze zum Spannungsverhältnis von ›Technik‹ und ›Ereignis‹ aus, die signifikant mit dem Begriff ›Gelassenheit‹ verbunden sind (Martin ­Heidegger, Hans Ulrich Gumbrecht und Dieter Mersch). Von Heideggers Feldweggespräch schlägt er nochmals den Bogen zu Scheffler zurück: Wie sich im Gespräch der Spaziergänger über Gelassenheit das Genannte zugleich ereigne (und damit ein Grundphänomen der Sprache zur Geltung bringe), so hieße das für das Lesen der Epigramme, »im Vollzug dieser Lektüre Momente der Gelassenheit von Sinn zu erfahren« (vgl. S. 310). Gelassenheit richtet sich also nicht allein auf das ›Repräsentationsparadox‹ des abwesenden Gottes, wie die mittelalterlichen Texte es inszenieren, sondern auf das Paradox von Repräsentation selbst, dessen privilegierter Ort in der Moderne die existentiell ausgerichtete 39 In einem vergleichbaren Sinne versteht Niklaus Largier die Praktiken der religiösen und monastischen Kultur des Mittelalters als Animationen und Stimulationen innerer Erfahrungen. Vgl. etwa ders., Die Kunst des Begehrens, München 2007. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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ästhetische Erfahrung geworden ist.40 Je gebrochener diese heute ist, desto trivialer klingen die Rufe nach Gelassenheit, die ihr Heil ohne jene Seite des Selbstverlusts suchen, das die Geschichte der Semantik der Gelassenheit seit jeher schon sprachlich begleitet. Dabei geht es, wie die eingangs zitierte Eckhartpredigt zeigt, nicht um eine verlorene Wirklichkeit, sondern um eine stets neu zu artikulierende Verheißung, wie sie sich im Negativbild der Klage bekundet. Die Herausgeber

40 Für die Umbesetzung der Semantik der Gelassenheit bei der Ausformulierung von Theorien der ästhetischen Erfahrung im 18.  Jahrhundert vgl. Lothar van Laak, Nachahmung nach der Nachahmungsästhetik, Mimesis und Präsenz bei Karl Philipp Moritz, in: Christian ­Kiening (Hg.), Mediale Gegenwärtigkeit, Zürich 2007, S. 225–241. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

Semantiken des Lassens

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Almut Suerbaum (Oxford)

Sprachliche Interferenz bei Begriffen des Lassens Lux Divinitatis und das Fließende Licht der Gottheit

Zu den schwierigen, aber auch spannenden Fragen einer Semantik der Gelassenheit gehört es, wie man das Verhältnis zwischen lateinischer und deutscher Sprache in einem Textkorpus beurteilt, dessen Autoren sich oft zwischen beiden Sprachen bewegen, sei es, dass sie, wie Eckhart, Seuse oder Marquard, sowohl in der einen wie der anderen Sprache schreiben, sei es, dass sie Texte in einer Situation funktionaler Mehrsprachigkeit konzipieren, in der die jeweilige Schreibsprache von terminologischen Entwicklungen der anderen Sprache jedenfalls potenziell beeinflusst wird.1 Während Untersuchungen zur historischen Semantik oft die Notwendigkeit einer scharfen analytischen Trennung zwischen einzelsprachig gebundenem lexikalischem und semantischem Wissen einerseits und außersprachlich angesiedeltem Diskurs- oder Weltwissen andererseits hervorheben,2 stellen mittelalterliche geistliche Schriften den Interpreten in doppelter Weise vor ein Problem, da sie sich wie jede Form historischer Schriftlichkeit onomasiologischen Kontrollfragen entziehen, gleichzeitig aber einzelsprachige Trennungen unterlaufen, da in ihnen volkssprachige und lateinische, aber auch gelehrte und an ein Laienpublikum gerichtete Diskurse miteinander in Kontakt treten.3 In 1 Solche Interferenzen zwischen den Bereichen von Volkssprache und Latein beschreibt Burkhard Hasebrink, Grenzverschiebung. Zu Kongruenz und Differenz von Latein und Deutsch bei Meister Eckhart, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 121 (1992), S. 369–398. Vgl. auch Nigel F. Palmer, Latein, Volkssprache, Mischsprache. Zum Sprachproblem bei Marquard von Lindau, mit einem Handschriftenverzeichnis der ›Dekalogerklärung‹ und des ›Auszugs der Kinder Israel‹, in: Spätmittelalterliche geistliche Literatur in der Nationalsprache, Bd. 1, Salzburg 1983, S. 70–110. 2 So programmatisch Klaus Grubmüller, Historische Semantik und Diskursgeschichte: zorn, nît und haz, in: C. Stephen Jaeger und Ingrid Kasten (Hg.), Codierungen von Emotionen im Mittelalter, Emotions and Sensibilities in the Middle Ages, Berlin, New York 2003, S.  47–69, hier S.  48; vgl. zu den praktischen Schwierigkeiten dieser Abgrenzung: Harald ­Fricke, Wortgeschichte oder Begriffsgeschichte? Bemerkungen zu einem wiederkehrenden Problemkomplex der Reallexikon-Arbeit, in: Gerd Dicke, Manfred Eikelmann und Burkhard Hasebrink (Hg.), Im Wortfeld des Textes. Worthistorische Beiträge zu den Bezeichnungen von Rede und Schrift im Mittelalter, Berlin, New York 2006, S. 15–24. 3 Dass diese Beziehungen nicht als Dichotomie von lateinischer Scholastik und volks­ sprachiger Mystik beziehungsweise als »sachfremde Gegenüberstellung zweier geschlossener © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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teressant, wenn auch problematisch, wird dies im Kontext mystischer Texte gerade deswegen, weil hier immer wieder auch die Leistung der Sprache selbst im Zentrum theologischer Überlegungen steht. Sie beziehen daher Position in einer Sprechsituation, in der eine scharfe Trennung zwischen einzelsprachig gebundenen Bedeutungen und übersprachlichen Diskursen nicht ohne Weiteres möglich ist, da je nach Verwendungszusammenhang die Volkssprache genauso wie das Lateinische zur Artikulation gelehrt-theologischer Reflexion dient, andererseits aber gelehrte Formulierung auch von volkssprachig gefassten Bildern und Vorstellungen beeinflusst sein kann.4

1. Wenn hier mit dem Fließenden Licht der Gottheit Mechthilds von Magdeburg und seiner Übersetzung ins Lateinische, der Lux Divinitatis, ein Textpaar des späten 13. Jahrhunderts in den Vordergrund gestellt werden soll, so nicht, um die immer wieder konstatierte besondere Leistung der Volkssprache innerhalb der Œuvres semireligioser schreibender Frauen zu untersuchen,5 sondern im Gegenteil, um die Auswirkungen volkssprachiger theologischer Entwicklungen auf lateinische Diskurse zu beleuchten. Das Fließende Licht der Gottheit bietet dafür insofern einen interessanten Testfall, als es sich um einen Text handelt, der schon früh aus der Volkssprache ins Lateinische übersetzt wird.6 Die Sprachlage ist daDiskurswelten« zu sehen sind, sondern vielmehr als Formen komplexer Interferenzen, weist Hasebrink, Grenzverschiebung (Anm.1), hier S.  398, am Beispiel der deutschen Predigten Eckharts und ihrer »Qualifizierung der Volkssprache zur Bildungssprache« (ebd.) nach. 4 Vgl. Hasebrink, Grenzverschiebung (Anm.1), S. 398; Christian Kiening, Gegenwärtigkeit. Historische Semantik und mittelalterliche Literatur, in: Scientia Poetica 10 (2006), S. 19– 46, und Manuel Braun, Historische Semantik als textanalytisches Mehrebenenmodell. Ein Konzept und seine Erprobung an der mittelalterlichen Erzählung ›Frauentreue‹, ebd., S. ­47–65. 5 Damit soll die besondere Leistung einer in der Volkssprache entwickelten Spiritua­ lität nicht in Abrede gestellt werden; Susanne Köbele, Bilder der unbegriffenen Wahrheit. Zur Struktur mystischer Rede im Spannungsfeld von Latein und Volkssprache, Tübingen, Basel 1993, hat die Sprachmächtigkeit und Eigenständigkeit Mechthilds im Kontext der lateinisch orientierten Schrifttätigkeit in Helfta eindrücklich analysiert; zur »Schaukelbewegung der Reflexivität« in den deutschen Predigten Eckharts und den Besonderheiten poetischer Metaphorik in volkssprachigen geistlichen Texten siehe Hasebrink, Grenzverschiebung (Anm.1), S.  391 f. Vgl. auch Almut Suerbaum, Die Paradoxie mystischer Lehre im ›St. Trudperter Hohenlied‹ und im ›Fließenden Licht der Gottheit‹, in: Henrike Lähnemann und Sandra Linden (Hg.), Dichtung und Didaxe, Berlin, New York 2009, S. 27–40. 6 Mechthild von Magdeburg, Das fließende Licht der Gottheit, hg. von Gisela Vollmann-Profe, Frankfurt a. M. 2003 [FL]; zum Vergleich herangezogen wird die kritische Ausgabe hg. von Hans Neumann, Mechthild von Magdeburg, Das fließende Licht der Gottheit, Bd. I: Text, besorgt von Gisela Vollmann-Profe, München 1990, Bd. II: Untersuchungen, ergänzt und zum Druck eingerichtet von Gisela Vollmann-Profe, München 1993. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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bei auf mehrfache Weise kompliziert, und zwar in Bezug auf Überlieferungs- wie auch Textgeschichte. Schon die Frage nach der Schreibsprache der ersten Fassung lässt sich nicht ohne methodische Schwierigkeiten beantworten, da das Werk zwar nach Aussagen innerhalb des Textes in Magdeburg verfasst, aber nur in einer wohl unter Heinrich von Nördlingen verantworteten, hochdeutschen Übertragung vollständig überliefert ist.7 Bisher war angenommen worden, dass dieser Übertragung ein mittelniederdeutsch abgefasstes Original zugrunde ge­ legen habe, das vor allem in den an vielen Stellen rekonstruierbaren Kolonreimen der oft kunstvollen Reimprosa seine Spuren hinterlassen habe.8 Nach Auffindung der wohl auf das erste Viertel des 14. Jahrhunderts datierenden Moskauer Fragmente wird man allerdings erneut prüfen müssen, ob es tatsächlich in Magdeburg eine niederdeutsche Schreibsprache gegeben hat oder ob man vielmehr Hochdeutsch, wenn auch mit Interferenzen aus dem niederdeutschen Dialekt, als Schreibsprache anzusetzen hat;9 ich komme auf das Problem anhand eines konkreten Beispiels am Schluss dieses Beitrags noch einmal zurück. 7 Vgl. Balázs j. Nemes,Von der Schrift zum Buch – vom Ich zum Autor. Zur Text- und Autorkonstitution in Überlieferung und Rezeption des ›Fließenden Lichts der Gottheit‹ Mechthilds von Magdeburg, Tübingen, Basel 2010, hier S. 237–245, der auf die engen Kontakte Heinrichs von Nördlingen mit den Basler Dominikanern verweist und eine Entstehung der alemannischen Übertragung in diesem Umkreis plausibel macht. 8 Zum Problem von Autoridentität und sprachlicher Fassung des Textes, der einer im niederdeutschen Raum lebenden Autorin zugeschrieben wird, nur in oberdeutscher Form überliefert ist, aber Elemente niederdeutscher Sprachformen in den Binnenreimen zu bewahren scheint: Hans Neumann, Beiträge zur Textgeschichte des ›Fließenden Lichts der Gottheit‹ und zur Lebensgeschichte Mechthilds von Magdeburg, in: Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Philologisch-Historische Nr. 3, Göttingen 1954, S. 27–80. Ein kurzer Überblick zum Problem der Schreibsprache Magdeburgs und der Spannung zwischen Dialekt und literarischer Schreibsprache im niederdeutschen Sprachgebiet bei Sara S. Poor, Mechthild of Magdeburg and Her Book. Gender and the Making of Textual Authority, Philadelphia 2004, S. 30–38. 9 Natalija Ganina und Catherine Squires, Ein Neufund des »Fließenden Lichts der Gottheit« aus der Universitätsbibliothek Moskau und Probleme der Mechthild-Überlieferung, in: Nikolai A. Bondarko und Nikolai N. Kazansky (Hg.), Indoevropejskoe ­jazykoznanie i klassičeskaja filologija  – XIII. Materialy čtenij, posvjaščennych pamjati professora Iosifa Moiseeviča Tronskogo. 22–24 ijunja 2009 g. [Indoeuropäische Sprachwissenschaft und Klassische Philologie – XIII. Arbeitsmaterialien gewidmet dem Gedenken an I. M. Tronskij. 22.–24. Juni 2009], St. Petersburg 2009, S. 643–654 (mit Textprobe), beschreiben das Fragment aus der Sammlung Gustav Schmidt und versuchen eine erste Dialekteinordnung. Der vollständige Text des Fragments ist jetzt ediert in: Natalija Ganina und Catherine Squires, Ein Textzeuge des ›Fließenden Lichts der Gottheit‹ von Mechthild von Magdeburg aus dem 13. Jahrhundert. Moskau, Bibl. der Lomonossow-Universität, Dokumentensammlung Gustav Schmidt, Fonds 40/1, Nr. 47, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 139 (2010), S. ­64–86. Thomas Klein, Umschrift – Übersetzung – Wiedererzählung. Texttransfer im westgermanischen Bereich, in: Werner Besch und Thomas Klein (Hg.), Der Schreiber als Dolmetsch. Sprachliche Umsetzungstechniken beim binnensprachlichen Texttransfer in Mittelalter und Früher Neuzeit, Berlin 2008, S. 225–262, untersucht Fallbeispiele interlingualen und interdialektalen Texttransfers und beschreibt die dabei auftretenden Interferenzen. Wichtig in diesem Kontext © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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Die hochdeutsche Fassung des Fließenden Lichts wurde ihrerseits wohl noch im 13.  Jahrhundert ins Lateinische übersetzt beziehungsweise überarbeitet.10 Diese Fassung wurde vielleicht noch zu Mechthilds Lebzeiten in Angriff genommen, worauf die Tatsache hindeutet, dass das siebte, in Helfta entstandene Buch fehlt;11 sie ist ein Beispiel für die bisher immer noch wenig beachtete, wohl aber gar nicht so seltene Praxis der Bearbeitung, in der die lateinische Fassung der deutschen nachgeht.12 Die sowohl in der Anordnung der Kapitel wie auch in der Präsentation theologischer Details oft von der volkssprachigen Quelle abweichende Lux Divinitatis wirft dabei Fragen nach dem Verhältnis von Latein und Deutsch auf;13 hier interessiert vor allem, wie die lateinische Fassung Vorstellunist vor allem Kleins Diskussion der Iwein-Handschrift A aus Norddeutschland, in der ein norddeutscher Schreiber »eine aus niederdeutschen und hochdeutschen (mitteldeutschen) Elementen bestehende hybride Varietät« produziert (S. 232 f.); analog dazu dürfte es sich bei den in der Moskauer Handschrift beobachteten Formen wohl um Hybridisierungen eines niederdeutsch sprechenden Schreibers handeln, der einen mitteldeutschen Text produziert. Zur genaueren Dialekteinordnung jetzt Catherine Squires, Mechthild von Magdeburg: Ein handschriftlicher Neufund aus dem elbostfälischen Sprachraum, in: Niederdeutsches Jahrbuch 133 (2010), S. 9–44. 10 Revelationes Gertrudianæ ac Mechthildianæ, Bd. 2: Sanctæ Mechtildis Virginis Ordinis Sancti Benedicti Liber specialis gratiæ accedit Sororis Mechtildis Ejusdem Ordinis Lux divinitatis. Opus ad Codicum fidem nunc primum integre editum Solesmensium O. S. B. ­monachorum cura et opera, Paris 1877 [Rev.]; eine Neuausgabe wird im Projekt ›Texteditionen lateinischer Mystik aus dem Kloster Helfta‹ von Ernst Hellgardt, Balázs J. Nemes und Elke Senne vorbereitet. Zu einem neuen Handschriftenfund der ›Lux Divinitatis‹ und den Stufen des Übersetzungprozesses Balázs J. Nemes, Ein wieder aufgefundenes Exzerpt aus Mechthilds von Magdeburg ›Lux Divinitatis‹, in: Zeitschrift für deutsches Altertum 137 (2008), S. 354–369. 11 So Vollmann-Profe, Mechthild von Magdeburg (Anm. 6), S. 672. 12 Prominentestes Beispiel für diese Tendenz ist vielleicht Heinrich Seuses Horologium ­Sapientiae, vgl. Hasebrink, Grenzverschiebung (Anm. 1), S. 377 f. mit weiteren Beispielen; anzuführen wären aber außerdem auch lateinische Bearbeitungen volkssprachiger Heiligen­ legenden wie des Gregorius, oder die lateinische Übersetzung von Ruusbroecs Brulocht bzw. die lateinischen Bearbeitungen des Mirouer des simples ames der Marguerite Porete oder die lateinische Version der Werke Angelas da Foligno. Zu lateinischen Übersetzungen ausgewählter Mechthild­exzerpte bzw. deutscher Rückübersetzungen aus der Lux Divinitatis und deren Überlieferung vgl. Poor, Mechthild of Magdeburg (Anm. 8), S. 175–187; kritische Ergänzungen dazu in der Rezension von Balázs J. Nemes, Neues zu den Fragen der Autorschaft und Kanonizität des Fließenden Lichts der Gottheit Mechthilds von Magdeburg, in: http://www. meister-eckhart-Gesellschaft.de/texte.htm (Zugriff 15.1.2010). 13 Grundsätzlich zu Übersetzungs- und Bearbeitungstendenzen der Lux Divinitatis Gisela Vollmann-Profe, Mechthild von Magdeburg – deutsch und lateinisch, in: Walter Haug und Wolfram Schneider-Lastin (Hg.), Deutsche Mystik im abendländischen Zusammenhang. Neu erschlossene Texte, neue methodische Ansätze, neue theoretische Konzepte, Kolloquium Kloster Fischingen 1998, Tübingen 2000, S. 133–156, und Elke Senne, Probleme der Autorschaft und Authentizität in der Überlieferung des Fließenden Lichts Mechthilds von Magdeburg, in: Thomas Bein, Rüdiger Nutt-Kofoth und Bodo Plachta (Hg.), Autor – Autorisation – Authentizität. Beiträge der Internationalen Dachtagung der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition in Verbindung mit der Arbeitsgemeinschaft philosophischer Editionen und der Fachgruppe Freie Forschungsinstitute in der Gesellschaft für Musikforschung. Aachen, 20.–23. Februar 2002, Tübingen 2004, S. 139–151. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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gen vom Lassen vermittelt, die bei Mechthild innerhalb einer dialektischen Bewegung von Begehren und Entäußern zentrale Bedeutung erlangen, auch wenn das Fließende Licht das Wort gelâzenheit nicht kennt.14 Noch hundert Jahre nach Eckhart stellt sich dieses terminologische Problem in Form einer sprachlichen Lücke im Lateinischen: Stephen Mossman weist in seinem Beitrag nach, wie komplex sich das Verhältnis zwischen lateinischen und volkssprachigen Diskursen in den Schriften Marquards von Lindau präsentiert, vor allem dort, wo Marquards lateinische Texte gelassenheit als volkssprachig geprägte und offenbar terminologisch scharf verstandene Bezeichnung inserieren; Seraina Plotkes Beitrag illustriert, welches Spektrum an Formulierungen lateinische Texte heranziehen, um bestimmte Aspekte des Begriffs ›Gelassenheit‹ auszudrücken.15 Damit ist bereits umrissen, wie sehr der Begriff der gelâzenheit, der als Spezifikum von Eckharts deutscher Theologie gilt, seinerseits in einem Netz sprach­ licher Beziehungen zu lateinischen Diskursen steht. Erik Panzigs Arbeit hat im Detail herausgestellt, wie stark Eckhart den Begriff des Lassens verändert, indem er ihn gegenüber früheren Deutungen ontologisch versteht. Im Zentrum des Interesses stehen für Eckhart damit nicht mehr, wie in den biblischen Ausgangstexten, ethische Überlegungen dazu, dass Gottesnachfolge ein Zurücklassen weltlicher Werte und Güter erfordere, sondern vielmehr die Überwindung der »Geschiedenheit des Geschaffenen von Gott.«16 Eckhart entwickelt seine Vorstellungen von der Vernichtung des geschaffenen Willens allerdings nicht nur in den deutschen Predigten und dort, wo er gelâzenheit terminologisch gepaart mit abegescheidenheit einführt, sondern an zentraler Stelle auch in einer Reihung von Begriffen des Freiseins und Ledigseins, so in Predigt 52 Beati pauperes spi­ ritu, in der sich Bezüge auf die Vernichtung des Willens im Werk der Margue-

14 Den Prozess der Terminologisierung bei Eckhart beschreibt Erik A. Panzig, Gelâzenheit und abegescheidenheit. Eine Einführung in das theologische Denken des Meister Eckhart, Leipzig 2005, hier S. 54–65; auf der Grundlage von Heideggers Eckhart-Interpretation diskutiert Gerard Visser, Gelatenheid. Gemoed en hart bij Meister Eckhart. Beschouwd in het licht van Aristoteles’ leer van het affectieve, Amsterdam 2008, hier S.  202–204, das Verhältnis zu den lateinischen Begriffen relinquere und committere. Zum Begriff der Gelassenheit im theologischen Kontext Eckharts vgl. vor allem Bernard McGinn, The Presence of God: A History of Western Christian Mysticism, Bd. 4: The Harvest of Mysticism in Medieval Germany ­(­1300–1500), New York 2005, bes. S. 164–181, und Burkhard Hasebrink, ›ein einic ein‹. Zur Darstellbarkeit der Liebeseinheit in mittelhochdeutscher Literatur, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 124 (2002), S. 442–465. Vgl. Andrea Zech, Performative Inszenierungen eines vernichteten Selbst im Mirouer des simples ames der Marguerite Porete, in diesem Band. 15 Vgl. Stephen Mossman, Zeitzeuge der Begriffswerdung. ›Gelassenheit‹ bei Marquard von Lindau; Seraina Plotke, Semantiken der Seelenruhe. tranquillitas, serenitas und im­ passibilitas in der paganen Antike, bei den Kirchenvätern und im lateinischen Mittelalter, in diesem Band. 16 Panzig, Gelâzenheit und abegescheidenheit (Anm. 14), S. 58. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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rite ­Porete nachweisen lassen.17 Auch wenn Eckhart damit verantwortlich ist für die semantische Verschiebung dessen, was im Folgenden unter ›Gelassenheit‹ verstanden wird, dürfte seine Umsemantisierung daher in Zusammenhang mit den bei Mechthild wie auch bei Marguerite Porete zu beobachtenden Tendenzen zu sehen sein, die Bewegung des Lassens und damit Aspekte einer negativen Theo­logie zu thematisieren. Wenn hier daher ein Textpaar des späten 13. Jahrhunderts untersucht wird, so nicht, um Kausalketten oder direkten Einfluss auf Eckhart nachzuweisen, sondern eher, um über die Differenzierung gegenüber Eck­hartschen Positionen Einblick in die in dieser Textsorte visionärer Berichte und Bilder offenbar besonders virulente Frage der Negation des eigenen Willens und ihrer Formulierung in je unterschiedlichen Diskursen zu erlangen.

2. Angesichts der noch immer schwierigen Editionslage der Lux Divinitatis können Belege für die sprachliche Interferenz hier nur an Einzelbeispielen an­gerissen werden.18 Auffällig ist, wie sehr sich die Belege für Aspekte des Lassens im vierten Buch der Lux Divinitatis konzentrieren, dessen Eingangskapitel zwei der großen allegorischen Dialoge des Fließenden Lichts bearbeiten. In der Lux Divini­ tatis wird dabei der bei Mechthild zentrale, aber nicht am Anfang eines Buches stehende Dialog zwischen Minne und Seele (FL II 23, S. 115–119) an den Beginn des vierten Buches gerückt, gefolgt von einer Bearbeitung von I 1, einem Dialog der allegorischen Figuren anima und caritas. Dieses Eingangskapitel des Fließen­ den Lichts inszeniert eine fulminante Auseinandersetzung zwischen Minne und Seele als Königin, in deren Verlauf die Seele den Verlust alles dessen beklagt, was sie auf Erden je besessen habe: »Fr minne, ir hant mir benommen alles, das ich in ertrich ie gewan« (FL I 1, S. 18,25 f.). Die irdischen Güter werden dabei in einer Reihung weiter spezifiziert: Es geht um den Verlust von Jugend, weltlicher Ehre, Besitz, Freunden und Verwandten: 17 McGinn, The Presence of God (Anm. 14), S. 168; vgl. auch Edmund Colledge und Jack C. Marler, ›Poverty of Will‹. Ruesbroec, Eckhart, and ›The Mirror of Simple Souls‹, in: Paul Mommaers und N. de Paepe (Hg.), Jan van Ruusbroec. The sources, content, and sequels of his mysticism, Leuven 1984, S. 14–47; Amy Hollywood, The Soul as Virgin Wife. Mechthild of Magdeburg, Marguerite Porete, and Meister Eckhart, Notre Dame 1995, und die Beiträge des Sammelbandes: Bernard McGinn (Hg.), Meister Eckhart and the Beguine Mystics. Hadewijch of Brabant, Mechthild of Magdeburg, Marguerite Porete, New York 1994. Zentral zu solchen Prozessen der Umsemantisierung jetzt Burkhard Hasebrink, mitewürker gotes. Zur Performativität der Umdeutung in den deutschen Schriften Meister Eckharts, in: Peter Strohschneider (Hg.), Literarische und religöse Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit. DFG-Symposion 2006, Berlin, New York 2009, S. 62–88. 18 Zur Überlieferung und ihrer Beziehung zum deutschen Text Neumann, Beiträge zur Textgeschichte (Anm. 8), und Nemes, Von der Schrift zum Buch (Anm. 7). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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»Frwe minne, ir hant mir benomen gt, frúnde und mage« (FL I 1, S. 20,4). Dieser Vorwurf, den Frau Minne als sndú klage kommentarlos abweist, ist unüberhörbar als Bezug zur Berufung der Jünger im Matthäusevangelium formuliert, wo denjenigen das ewige Leben verheißen wird, die um des Namen Jesu willen alles verlassen: Et omnis qui reliquit domum vel fratres aut sorores aut patrem aut matrem aut ­uxorem aut filios aut agros propter nomen meum centuplum accipiet et vitam aeternam ­possidebit. (Mt 19,29)19

Mit solchen Anklängen an den Evangelientext wird daher die Klage der Seele um den Verlust auf doppelte Weise relativiert: Das, was in weltlicher Hinsicht als Verlassen von Besitz und sozialer Bindung erscheint, wird mit Blick auf das Jenseits zur Quelle des Gewinns, womit Leben in der Welt und ewiges Leben einander gegenübergesetzt werden. Doch auch im Diesseits gibt es Hoffnung darauf, dass der Verlust mehr als aufgewogen wird, und die Figur der Frau Minne macht dies in ihrer folgenden Antwort explizit, indem sie die Sendung des Heiligen Geistes als Tröster schon in dieser Welt in Aussicht stellt: »Frwe kúnegin, das wil ich úch in einer stunde mit dem heiligen geiste nach allem úwerm willen in ertrich gelten.« (FL I 1, S. 20,8 f.) Auffällig ist, dass die lateinische Fassung, die Lux Divinitatis, an dieser Stelle nicht das aus dem Matthäusevangelium zu erwartende Verb relinquere als Übersetzung benutzt, sondern vielmehr exspoliare. Auch diese Wahl ist wohl durch Assoziationen des deutschen Ausgangstextes motiviert, weist aber in eine andere Richtung, denn der Begriff greift die am Anfang des Klagemonologes stehende Formulierung vom Raub auf und verschärft damit das, was im deutschen Text des Fließenden Lichts akzentuiert ist, nämlich den juristischen Aspekt der Klage, der auf dem eigenen Verlust insistiert, gleichzeitig aber auch Wiedergutmachung verlangt, allerdings nicht in der gleichen Sphäre, sondern im Geistlichen. Dies ist auch in der Antwort der caritas deutlich: ›O anima, fidele est hoc commercium, et utilis commutatio‹ (Rev. IV 2, S.  542). Mit der Doppelung der Begriffe commercium und commutatio für mittelhochdeutsch wech­ sel wird in der Lux Divinitatis der theologisch orthodoxe Gedanke vom reziproken Geben und Nehmen in den Vordergrund gestellt.20 Das Fließende 19 Vgl. zu dieser Stelle und ihrer Umdeutung bei Panzig, Gelâzenheit und abegescheidenheit (Anm. 14), S. 57–64, hier S. 57. 20 Vollmann-Profe, Mechthild von Magdeburg  – deutsch und lateinisch (Anm.  13), S. 138 f., konstatiert für die Lux Divinitatis insgesamt eine »Neigung […] zu Doppelformulierungen«; kritisch zum »in seiner Bedeutung für die spätmittelalterliche Übersetzungs­praxis meist überbewertete[n] Paarformelgebrauch« Ulrike Bodemann, Die Cyrillusfabeln und ihre deutsche Übersetzung durch Ulrich von Pottenstein. Untersuchungen und Editionsprobe, München 1988, S. 200, Anm. 8. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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Licht dagegen akzentuiert die Paradoxie, nach der Verlust und Gewinn nicht als Stadien eines Prozesses aufeinander abfolgen, sondern gleichzeitig ineinander übergehen.21

3. Das folgende Kapitel des Fließenden Lichts (FL I 2) thematisiert die Vergänglichkeit der unio-Erfahrung im Kontext solch paradoxer Formulierungen, indem es auf dem Höhepunkt der Ekstase, in welcher die Seele vom Körper getrennt wird und in drei aufeinanderfolgenden Stufen zur Einheit mit Gott jenseits ihrer Körperlichkeit gelangt, diese Einheit in der Differenz wieder in Frage stellt: […] wenne der endelose got die grundelosen selen bringet in die hhin, so verlúret sú das ertrich von dem wunder und bevindet nút, das si ie in ertrich kam. Wenne das spil allerbest ist, so ms man es lassen. (FL I 2, S. 22,15–19)

Die Lux Divinitatis übernimmt diese für Mechthilds unio-Verständnis zentrale Passage fast wörtlich, aber eben doch mit interessanten Ergänzungen. Wo der deutsche Text in der anaphorischen Einleitung beide Aussagen analogisch aufeinander bezieht, markiert die lateinische Fassung den zwischen den beiden Sätzen des Fließenden Lichts liegenden Bruch zwischen unio-Erfahrung im ersten und Trennung im zweiten Satz mit einer Kapitelüberschrift De gressu animae ad infe­ riora. Schon die Textgestalt signalisiert damit die zeitliche Abfolge von unio und Trennungserfahrung, was in einem über den deutschen Text h ­ inausgehenden Zusatz der folgenden Dialogpartie aufgenommen wird. Wo im Fließenden Licht allein die Sprecher pronominal markiert werden, also er für den bljende[n] got (FL I 2, S. 22,19) und sie für die Seele als Braut, expliziert die Lux Divinitatis das Erschrecken der Seele: stupefacta illa suumque recognoscens exilium (Rev. IV 11, S. 558) und umschreibt im Bild des Exils den Zustand der Gottesferne. Darüber hinaus kategorisiert sie den die Trennung als notwendig konstatierenden zweiten Satz als Sprichwort, das heißt als volkssprachiges, allgemein für wahr gehal-

21 Dies entspricht der von Vollman-Profe, Mechthild von Magdeburg  – deutsch und ­lateinisch (Anm. 13), S. 135, beobachteten Tendenz der Lux Divinitatis, zeitliche Abfolgen zu determinieren beziehungsweise auch dort herzustellen, wo sie nicht vorgegeben sind. Während man dies, ähnlich wie die semantische Überdeterminierung der Doppelformulierungen, auf allgemein beobachtbare Merkmale von Übersetzungstexten zurückführen könnte, weist Burkhard Hasebrink, Spiegel und Spiegelung im ›Fließenden Licht der Gottheit‹, in: Haug und Schneider-Lastin, Deutsche Mystik im abendländischen Zusammenhang (Anm.  13), S. ­157–174, hier S. 166 f., auf die für das Fließende Licht der Gottheit charakteristische »Dynamisierung der Beziehung in der Relationalität« hin, die sich hier sprachlich manifestiert. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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tenes Erfahrungswissen (juxta vulgi proverbium, Rev. IV 11, S. 558).22 Der lateinische Text greift im Folgenden die dualistischen Tendenzen des Dialogs auf, wie sie auch im deutschen Text des Fließenden Lichts anklingen, wenn die Seele den Körper als Feind und Mörder diffamiert. Schärfer als der deutsche Text aber konstatiert der lateinische die Trennung der Seele von Gott, womit ›lassen‹ und ›verlassen‹ hier als Strafe und Konsequenz der leiblichen Existenz dargestellt werden. In gleiche Richtung weist auch die Bearbeitung, welche der letzte Satz des Dialogs erfährt. Mit der Verschiebung der Pronomina wird aus einer schwebend der Ich-Sprecherin sowie dem Kollektiv zugeordneten Äußerung (Das min ­vient verwundet si, das wirret uns nút, ich frwe mich sin, FL I 2, S. 22,32–34) eine eindeutige Ich-Aussage der Seele: hostis mei victoria profectus meus est et jugis lætitia (Rev. IV 11, S. 558).

4. Die Konsequenzen einer solchen Verschiebung der Gewichte zugunsten einer in der lateinischen Fassung stärker dogmatisch fixierten Dichotomie sind auch in einer der bekanntesten lyrischen Passagen des Werkes zu beobachten, in der in einer Serie von Wechselgesängen Seele und Gott einander anrufen: Du bist min spiegelberg, min genweide, ein verlust min selbes, ein sturm mines hertzen, ein val und ein verzihunge miner gewalt, min hhste sicherheit! (FL I 20, S. 38,2–7)

Die Lux Divinitatis fasst diesen Preis des göttlichen Geliebten wie folgt: Tu es Sion meæ contemplationis; meorum pastus et refectio oculorum, perditio mei, oblivio temporis, status cordis mei, et strepitus casus, et abstractio omnium virium mearum, summa et infallibilis securitas. (Rev. IV 5, S. 547, Versabsetzung: A. S.)

Susanne Köbele hat das Strukturprinzip der einander korrespondierenden Gegengesänge, mit denen die Seele dem göttlichen Bräutigam ebenbürtig gegen 22 Vgl. Thesaurus proverbiorum medii aevi. Lexikon der Sprichwörter des romanisch-germanischen Mittelalters, Bd. 11, 2001, S. 53 (Kap. I.5.3). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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übersteht und ihm antwortet, eindrucksvoll herauspräpariert.23 Die lateinische Fassung in der Lux Divinitatis stellt die in FL I 13 bis FL I 21 überlieferten Kurzkapitel mit Abschnitten aus FL I 36 bis FL I 43 in einem einzigen Kapitel zusammen, das den dialogischen Charakter der Texte unter der Überschrift ­Colloquuntur simul Deus et anima hervorhebt und mit dem Partikel simul, also dem Verweis auf die Gleichzeitigkeit der Rede, die Gleichrangigkeit der Partner anstelle der chronologischen Aufeinanderfolge in den Vordergrund stellt.24 Dennoch ist am lateinischen Text ablesbar, wie sehr die dogmatischen Bedürfnisse einer Wissenschaftssprache zu Nuancenverschiebungen im Vergleich mit dem volkssprachigen Ausgangstext führen. Bereits in der ersten Zeile wird das deutlich sichtbar, wenn die mehrdeutige Metapher vom Spiegelberg überführt wird in die biblische Topographie, in der sie ihren Ursprung hat: mons speculati­ onis ist auf eine verbreitete Etymologie zurückgehende Glossierung für den Berg Sion,25 doch wo das Fließende Licht die Metapher im Nominalkompositum unkommentiert stehen lässt, vereindeutigt die lateinische Übersetzung das Verhältnis der Beziehungsebenen, indem es die Ebenen von Bildspender (Sion) und Bild­empfänger (mea contemplatio) auseinanderdividiert. Dabei dürfte auch eine Rolle spielen, dass in der lateinischen Tradition die mit dem Berg Sion verbundene Form der Gottesschau in der speculatio der in der Stadt Jerusalem ins Bild gesetzten visio untergeordnet wird.26 Wenn die lateinische Übersetzung also die 23 Köbele, Bilder der unbegriffenen Wahrheit (Anm. 5), S. 86–88, zu den aufeinander bezogenen Formen von Lob und Widerlob in FL I 17 und FL I 18; ihre Analyse der strukturellen lyrischen Bezüge dieses auf Hoheliedmotive zurückgehenden Kapitelpaares lässt sich er­weitern um das folgende Kapitelpaar; ähnlich auch Vollmann-Profe, Mechthild von Magdeburg (Anm.  6), S.  710, die von »zwei einander auch formal völlig entsprechenden Wechsel- oder ­besser: ›Zusammen‹reden« spricht. 24 Zur Tendenz der lateinischen Übersetzung, zeitliche Abfolge und logische Zusammenhänge explizit zu machen und zu glätten, vgl. Vollmann-Profe, Mechthild von Magdeburg – deutsch und lateinisch (Anm. 13), S. 143. 25 So Hasebrink, Spiegel und Spiegelung (Anm.  21), S.  165, unter Verweis auf die bei ­Gudrun Schleusener-Eichholz, Biblische Namen und ihre Etymologien in ihrer Beziehung zur Allegorese in lateinischen und mittelhochdeutschen Texten, in: Hans Fromm, Wolfgang Harms und Uwe Ruberg (Hg.), Verbum et Signum. Festschrift für Friedrich Ohly, Bd. 1: Beiträge zur mediävistischen Bedeutungsforschung, München 1975, S. 267–293, hier S. 284 f., auf Hieronymus zurückgehende Deutung des Namens Sion als speculatio. 26 Klassischer Ort dieser Gegenüberstellung ist Ps. Hugo von St. Viktor, Miscellanea, III c.78, PL 177, Sp. 682 f., der in der Auslegung von Psalm 18 Rauch, Feuer und Kohlen auf die graduell gestuften Seelenkräfte der Erinnerung, Erkenntnis und Einheit auslegt: Ira judicii ­recordationem, facies cognitionem, praesentia ponit perfruitionem. Bona est recordatio: melior ­cognitio, optima perfruitio. Is 31 erlaubt dabei eine Gleichsetzung von Sion mit dem Feuer, so dass die mühselige speculatio als Vorstufe zur Frieden verheißenden Gottesschau der visio erscheint: Sion speculatio, Jerusalem visio pacis dicitur. Hic est laboris speculatio, ibi pacis visio. In speculatione igitur ignis est; sed in visione caminus. Quia hic a facie ignis exardet, ibi in camino carbones succensi sunt ab eo. Der räumliche Gegensatz von hic und ibi verweist dabei auf die auch sonst in dieser Allegorese explizite Differenzierung zwischen einer der Immanenz zuge© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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im Spiegel stattfindende Reflexion oder Spekulation hier gerade gleichsetzt mit der Gottesschau der Kontemplation, so modifiziert sie damit traditionelle Positionen zum je unterschiedlichen Status der verschiedenen Formen der Gottesschau. Damit aber vollzieht die lateinische Fassung unter explizitem Bezug auf gelehrte Diskurse zur Möglichkeit der unmittelbaren Gottesschau mit anderen Mitteln genau das, was die Kompositmetapher der volkssprachigen Vorlage leistet, nämlich die »Spiegelung im unmittelbaren Gegenüber.«27 Mit der Einfügung einer temporalen Dimension dagegen (oblivio temporis) konnotiert die Übersetzung den Begriff von der Selbstaufgabe in einer Weise, die der des Ekstaseberichtes aus FL I 2 nahesteht. Wo im Deutschen die Auf­hebung der Differenz in der Einheit hervorgehoben wird, thematisiert der lateinische Text, dass eine solche Überschreitung der Differenz nur außerhalb der Kategorie der Zeit stattfinden kann. Zudem sind die Begriffe perditio und abstractio negativ konnotiert und beschreiben damit das Überwältigtwerden der macht­losen Seele von der Allmacht Gottes, also den kategorialen Unterschied zwischen Gott und menschlicher Seele. Im Fließenden Licht dagegen sind die Begriffe von ver­ lust und verzihunge stärker auf ihren paradoxen Umschlag hin offengehalten, denn noch in der Beschreibung des Verlusts wird die reziproke Wirkung von Gott und Seele hier durch Bilder des Loslassens und des Ziehens sprachlich präsent gehalten.

5. Eine der interessantesten Passagen zum Begriff des Lassens verdankt sich aber vielleicht einer Bedeutungsinterferenz zwischen der hochdeutschen Fassung der Überlieferung, wie sie die Einsiedler Handschrift repräsentiert, und der niederdeutschen oder doch niederdeutsch beeinflussten Schreibsprache der Vorlage. Sie entstammt einem Kapitel, das auch in seiner literarischen Form herausgehoben ist, da es eine ausgedehnte Tierallegorie entwirft, für die es weder sonst im Fließenden Licht noch aber in der Tradition der Tierallegorie direkte Parallelen gibt.28 In Kapitel 18 des vierten Buches beklagt eine betrübte Seele, dass sie bisher ordneten speculatio und der auf die Transzendenz gerichteten visio: Perfruitio vero donat con­ summationem, quia, dum post mortem dabitur frui gloria per majestatem contemplationis, con­ summabitur plenitudo dilectionis. Allerdings weist Niklaus Largier, Spiegelungen. Fragmente einer Geschichte der Spekulation, in: Zeitschrift für Germanistik, N. F. 9 (1999), S. 616–636, hier S. 634 f., darauf hin, dass einer solch abwertenden Deutung der speculatio eine auf Augustinus, Ennarationes in psalmos, zurückgehende Tradition entgegensteht, nach der »in der Spekulation die Vorwegnahme des künftigen Jerusalem, d. h. des versprochenen Friedens und der Ruhe« vollzogen sei. 27 Hasebrink, Spiegel und Spiegelung (Anm. 21), S. 165. 28 Vgl. Vollmann-Profe, Mechthild von Magdeburg (Anm. 6), S. 783. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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weder ein getrúwes geistlich leben noch ein helig ende erreicht habe. Diese Klage erwidert der göttliche Dialogpartner mit einer ausgedehnten Allegorie: Hie z antwúrt únser herre und zeigete mir ein snde, unahtber tierlin und sprach: »sich an, disem cleinen tier bistu gelich.« (FL IV 28, S. 276,13–15)

Alle dreißig Eigenschaften des kleinen Tieres werden im Laufe des Kapitels auf die Natur des vollkommenen geistlichen Menschen hin ausgelegt, wobei die Sprechinstanz wechselt, so dass die Auslegung nicht mehr unmittelbar in der Stimme Gottes geschieht, sondern in der eines extradiegetischen Erzählers. Nach einer ausführlichen Auflistung der physischen Eigenschaften des Tieres mitsamt ihrer Interpretation werden auch Verhaltensweisen geschildert: Das Tier wird im Meer geboren und lebt auf einer Insel; es zeigt keinen Paarungstrieb; es stirbt nicht, sofern es nicht von den Wellen des Meeres eingeholt wird. Doch obwohl es keine Nahrung zu sich zu nehmen braucht und frei von sexuellen Trieben ist, gehorcht es gelegentlich natürlichen Affekten: Das tier hat etwenne ein natúrliche lust, das es des meres trinke dur einen unnútzen turst. So mag es niemer genesen, es msse das bitter mer uslassen und widergeben. Also ist es umb úns súnder gelegen; swenne wir trinken den pfl der welte und nútzen die unedelkeit únsers fleisches na dem rate des bsen geistes, we, so ist úns selben mit úns selben vergeben. Wellen wir denne iemer genesen, so mssen wir úns selben verlassen und der welte schult widergeben. (FL IV 18, S. 278,11–18)

Das Bild des sich am Meerwasser erbrechenden Tieres ist ohne Vorbilder, auch wenn sich Verbindungen zu geistlichen Redetraditionen herstellen lassen. Seit Augustinus etwa sind bildliche Gleichsetzungen des Vorgangs meditativer Aneignung mit dem Verdauungsakt geläufig; so bezeichnet Augustinus das Gedächtnis (memoria), also eine der drei Seelenkräfte, als den Bauch der Seele: memoria est quasi venter animi (Confessiones I, 10, 14).29 Doch obwohl die bei Augustinus als Vergleich entwickelte Analogie der Prozesse für Auslegungen der Memoria in ganz unterschiedlichen Diskursen produktiv wird, so dass im Zuge dieses Vergleiches geradezu eine ›Diätetik‹ der Seele entwickelt wird, gibt es, soweit bekannt, keine Parallele zu dem bei Mechthild verwendeten Bild des Erbrechens.30 29 Ähnlich auch Confessiones I, 14, 21; Nachweis dieser Tradition bei Hildegard Elisabeth Keller, Wort und Fleisch. Körperallegorien, mystische Spiritualität und Dichtung des St.  Trudperter Hoheliedes im Horizont der Inkarnation, Bern [u. a.] 1993, S.  338–343, hier S.  338. Vgl. auch Friedrich Ohly, Bemerkungen eines Philologen zur Memoria, in: Karl Schmid und Joachim Wollasch (Hg.), Memoria. Der geschichtliche Zeugniswert des litur­ gischen Gedenkens im Mittelalter, München 1984, S. 9–68. 30 Bereits Caroline Walker Bynum, Holy Feast and Holy Fast. The Religious Significance of Food to Medieval Women, Berkeley 1987, hatte auf die Verbreitung der Bilder vom ­Essen © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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In diesem Bericht scheint vielmehr, wie an mehreren anderen Stellen des vierten Buches, eine Interferenz zwischen hochdeutschen und niederdeutschen Sprach­elementen vorzuliegen, denn der Text der Einsiedler Handschrift, die ver­ lassen schreibt, dürfte auf das mittelniederdeutsche Verb vorlâten im Sinne von ›­erbrechen‹ zurückgehen.31 Beschrieben wird damit im Bildteil, wie das auf einer Insel lebende Tier gelegentlich seinem Drang nachgibt, Meerwasser zu trinken, was, da Meerwasser bitter ist, zu Erbrechen führt. Uslassen und widergeben wäre damit ein ganz konkret zu verstehender Verweis, der das Ausspucken als physiologische Reaktion auf Unverdauliches beschreibt. Allerdings scheint die geist­liche Auslegung den mittelniederdeutschen Ausdruck genau an die Bilder des Verlassens und Zurücklassens anzunähern, mit denen ihn die lautliche Verschiebung ins Mittelhochdeutsche zusammenfallen lässt, denn im Bild der sich an sich selbst vergiftenden geistlichen Menschen, die daher sich selbst verlassen und der welte schult widergeben sollen, dürfte die Forderung nach der Weltabgeschiedenheit zumindest anklingen, auch wenn der Vorgang der verinnerlichenden Selbstvergiftung im Vordergrund steht. Damit unterscheidet sich das Bild des Fließenden Lichts ganz wesentlich von Vorstellungen, wie sie etwa Hildegard von Bingen im Scivias entwickelt. Dort wird zwar eine Parallele zwischen guten und schlechten Werken hergestellt, die wie Süßigkeit beziehungsweise Gift auf die Seele wirken: Sed cum homo malum opus sciente anima operatur, hoc tam amarum animae est uelut uenenum corpori, cum illud corpus scienter accipit. De bono autem opere anima ­gaudet, sicut et corpus suaui cibo delectatur.32 und Nichtessen hingewiesen, aber auch davor gewarnt, sie vorschnell genderspezifisch aus­ zulegen beziehungsweise unreflektiert auf moderne Körperdiskurse wie solche der Anorexie oder Bulimie zu beziehen. Vgl. Keller, Wort und Fleisch (Anm. 29), S. 404–408. 31 So an mehreren Stellen des vierten Buches, z. B. FL IV 8, S. 254,11; FL IV 18, S. 278,8; S.  278,17 f. Zur Verschiebung des mnd. Verbs in mhd. Lautung Vollmann-Profe, Mechthild von Magdeburg (Anm. 6), S. 777; Neumann, Mechthild von Magdeburg (Anm. 6), Bd. II, S. 70, mit Nachweis aus dem Mittelniederdeutschen Wörterbuch, hg. von Karl Schiller und August Lübben, 5 Bde., Bremen 1875–1881, hier Bd. 5, S. 386a (vorlaten ›erbrechen‹), und Dieter Möhn (Hg.), Mittelniederdeutsches Handwörterbuch, begr. von Agathe Lasch und Conrad Borchling, fortgef. von Gerhard Cordes, Neumünster 1956 ff., hier Bd. 1, Sp. 855. Auf die Nähe von verlassen zu mnd. vorlâten weist vor allem die Verwendung als Reflexivum, die für mhd. (ver)lân ungewöhnlich wäre. 32 Hildegard von Bingen, Scivias, hg. von Adelgund Führkötter, Turnholt 1978, liber I, visio IV, c. 25, 749–753 (Bd. 43, S. 83); vgl. Keller, Wort und Fleisch (Anm. 29), S. 349, Anm. 153 (mit unvollständiger Stellenangabe und fehlerhaftem Zitat). Im Kontext der Vision geht es zwar um den Kampf der Seele gegen die Begehrlichkeiten des Körpers (concupiscentia carnis tuae resiste, Sp. 430 C), und dieser Kampf ist ein verinnerlichter (Dices: desiderium in me non habeo. Respondeo: Disce pugnare contra te. Et dicis: Contra me pugnare non valeo, nisi Deus adjuverit me; Sp. 431 B/C), in dem die göttliche Gnade dem Betenden zu Hilfe kommt: Audi ergo quomodo pugnes adversum te: Cum malum in te surgit nescientem quomodo illud abjicias; tunc tactu gratiae meae adjutus (nam in viis interiorum oculorum tuorum gratia mea tangit te) calma, ora, confitere et plora; Sp. 431 C. Doch bleiben sowohl Übel wie auch Gift Kräfte, die von außen auf die Seele einwirken. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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Doch bleibt das Gift in diesem Vergleich eine von außen auf die Seele ein­ wirkende Größe. Im Fließenden Licht dagegen steht gerade der selbstgefährdende Affekt des allegorisierten Tieres im Vordergrund, der es verinnerlichen lässt, was zur eigenen Vernichtung führt. Die lateinische Fassung der Lux Divinitatis rückt die in jeder Hinsicht un­ gewöhnliche Allegorie an den Beginn des fünften Buches und übersetzt sie detailgetreu, wobei sie in der Ordnung der Bildelemente dem deutschen Text folgt. Die Episode vom Trinken des Meerwassers wird auch innerhalb des am Buchanfang exponierten Kapitels noch einmal hervorgehoben, indem sie durch die untergliedernde Überschrift (De fuga sensibilium cogitationum) vom ersten Teil des Kapitels abgetrennt wird. In der Übersetzung der Termini verlassen und wider­ geben jedoch vollzieht der lateinische Text eine bezeichnende Verschiebung. Im Bildteil wird die Vokabel evomere gebraucht: Hoc animal naturali quadam delectatione ductum, undas maris bibens, reficit inutilem sitim suam; propter quod mortis periculum non evaderet, nisi evomeret, quas sorbuit amarissimas maris guttas. (Rev. V 1, S. 588)

Das Ausspeien ist hier als physiologischer Vorgang zu verstehen, und deutlicher als im volkssprachigen Text wird das Trinken des Meerwassers als lebensgefährlich beschrieben. Das Ausspeien des Wassers ist somit kein Geschmacksurteil, sondern lebensnotwendig. Damit aber ist der Wechsel der Begriffsebenen bereits vorbereitet, den die geistliche Ausdeutung dann vollzieht: Nos quoque qui carnis illecebris illecti, suasione diaboli fœces mundi glutivimus, et nosmetipsos intoxicavimus, mortem incurremus nisi nosmetipsos abnegantes, sæculo abrenuntiemus. (Rev. V 1, S. 588)

Was im Fließenden Licht eine Allegorese des Entäußerns im Bild der Selbstgefährdung war, wird in der Lux Divinitatis zur didaktisch geglätteten Regel: Wer den Verlockungen der Welt in den Einflüsterungen des Teufels erlegen ist, muss sein eigenes Verlangen verneinen und der Welt entsagen, wenn er dem Tod entgehen will. Gegenübergestellt werden hier das Vergiftetwerden durch die Verlockung der Welt (intoxicavimus) und die daraus resultierende Gefährdung des Seelenheils einerseits und die in Aussicht gestellte Heilung durch Weltabsage andererseits. Mit der Verwendung des aus den Synoptikerevangelien bestimmten Begriffs des abnegare se ipsum33 vollzieht der Text damit an entscheidender Stelle, wenn auch mit anderem Schwerpunkt, die Verschiebung von der Verdauungs-

33 Lc 9,23; Mt 16,24; Mc 8,34 (denegare); vgl. Panzig, Gelâzenheit und abegescheidenheit (Anm. 14), S. 60 f. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

Sprachliche Interferenz bei Begriffen des Lassens

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metapher, in der der physiologische Vorgang Naturnotwendigkeit ist, zu einem selbstbestimmten Ablassen. Während die Richtung dieser Bedeutungsverschiebung und die Annäherung der Tierallegorese an die Forderungen nach Weltabsage, wie sie das Matthäusevangelium prominent entwickelt, sicher durch die Formulierungen des volkssprachigen Ausgangstextes bestimmt sind, ist die Differenz der beiden Versionen allerdings ähnlich deutlich. In der Lux Divinitatis wird das ungewöhnliche Tierbild zurückgebunden an biblische Askesepraxis, wie sie als ethische Regel zur rechten Lebensführung vorbildlich sein kann. Mechthilds Text dagegen rückt die asketische Praxis hinter der Paradoxie des Selbstverschlingens in den Hintergrund. Die Vorstellung des sich selbst lassenden geistlichen Menschen ist nicht identisch mit Eckharts ontologisierter Gelassenheit, denn der Zusammenhang mit Diskursen der asketischen Weltabsage bleibt immer noch gewahrt; dennoch aber verweist das Bild bereits auf eine stärkere Bewegung hin zu reflexiver Konstruktion. Gleichzeitig ist das vorgestellte Beispiel womöglich ein Indiz dafür, dass das Fließende Licht der Gottheit bereits bei seiner Abfassung in Magdeburg stärker durch hochsprachliche Schriftsprachlichkeit geprägt ist, als manchmal angenommen. Wo bisher konstatiert wurde, dass die oberdeutsche Überlieferung Spuren niederdeutscher Sprachpraxis bewahrt, scheinen die Moskauer Fragmente darauf hinzudeuten, dass eine im Wesentlichen mitteldeutsche Schreibsprache Züge niederdeutscher Mündlichkeit des Schreibers bewahrt. Gleichzeitig aber legt die verwendete Bildlichkeit nahe, dass die in ihr vollzogenen Verschiebungen von der hochdeutschen Lautung aus gedacht zu sein scheinen. Wie weit dies verallgemeinerbar ist, wird sich wohl erst nach einer Schreibsprachanalyse der Neufunde abschätzen lassen; doch auch die Einzelbeispiele weisen bereits darauf hin, dass mit mehrfacher Interferenz zwischen den Sprachebenen, und zwar sowohl zwischen Hoch- und Niederdeutsch wie auch zwischen Volkssprache und Latein, zu rechnen ist. ›Lassen‹ im Fließenden Licht darf also, so kann man zusammenfassen, nicht direkt mit Eckhartschen Vorstellungen von ›Gelassenheit‹ in Verbindung gebracht werden; zu stark bleibt die Anbindung des Wortfeldes an Vorstellungen der Askese und Weltabsage. Dennoch aber ist zu beobachten, dass sich vor allem in der volkssprachigen Fassung Tendenzen zu einer Wendung nach innen vollziehen, die sich denen Eckharts bereits stark annähern – vor allem dann, wenn diese die Paradoxie der gleichzeitigen Entäußerung und Vereinigung performativ als einen Prozess gestalten. Schließlich scheint es, als sei ein wesentlicher Schritt zu dieser Verschiebung der Tatsache zu verdanken, dass die sprachliche Nähe der niederdeutschen Bezeichnungen des Ausspuckens sich unter dem Einfluss von Mittelhochdeutsch lassen in der Allegorese des kleinen Tierchens zu einem Bild fügen, in dem die Paradoxie des verinnerlichenden Entäußerns auf ganz un­ gewöhnliche Weise vor Augen gestellt wird. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

Andrea Zech (Freiburg i. Br.)

Performative Inszenierungen eines vernichteten Selbst im Mirouer des simples ames der Marguerite Porete 1. Vorbemerkungen Die Negativität oder die Verneinung des Selbst in Form von Aufgabe, Verleugnung, Abtötung oder Vernichtung bezeichnet eine zentrale Signatur innerhalb des Komplexes von ›Gelassenheit‹, die sich im Spannungsfeld zwischen ›Verlassen‹ und ›Überlassen‹ situiert1 und bis auf das Lassen von Gott2 selbst erstrecken kann. Körper und Sinne, Vernunft und Wissen, sämtliche mit dem Eigen­willen verbundene Wünsche und Begierden repräsentieren die Gesamtheit eines durch das eigene Wollen bestimmten Selbst, das im Zuge seiner Vernichtung vollständig aufgegeben, ›verlassen‹ und Gott ›überlassen‹ werden soll. Denn erst, nachdem es sich gänzlich dem göttlichen Willen überantwortet hat, öffnet sich durch seine totale Vernichtung der Raum für die Erfüllung durch die Göttlichkeit. Somit bildet diese Vernichtung eine basale Gelenkstelle für das Wirken der Gelassenheit. Aufgrund der literarischen Spezifik der Texte wird diese ›Negativität des Selbst‹ sowohl unterschiedlich bestimmt als auch unterschiedlich in Szene gesetzt.3 1 Im Lateinischen ausgedrückt mit den Verben relinquere und committere. 2 Ein pointiertes Beispiel hierfür wäre die gotz vrmdunge im Fließenden Licht der Gottheit IV 12, worin Mechthild von Magdeburg jenen äußersten Pol des Lassens, der zugleich die Süße des Genusses enthält, prägnant ausgestaltet. Der Geschmack bzw. die Empfindung der Süße wird zurückgewiesen, da sie nur die selige gotz vrmdunge behalten will. Mechthild von Magdeburg, Das Fließende Licht der Gottheit, hg. von Gisela Vollmann-Profe, Frankfurt a. M. 2003, S. 262–264. 3 Diese ›Negativität des Selbst‹ kann in den jeweiligen Texten ganz unterschiedliche Ausprägungen annehmen. So setzt Heinrich Seuse, im Gegensatz zu Mechthild von Magdeburg oder Marguerite Porete, für deren Mirouer das Zunichtewerden der Seele zentral ist, verahten von zenihti werde[n] deutlich ab: Nu nemen wir daz ander wort herfúr, daz er spricht: »­lazsen«. Daz meinde er ufgeben oder verahten, nút also, daz man es múg gelazsen, daz es zemal zenihti werde, denn allein in der verahtunge, und denn ist im gar reht. Heinrich Seuse, Das Buch der Wahrheit. Daz bchli der warheit, kritisch hg. von Loris Sturlese und Rüdiger Blumrich, mit einer Einleitung von Loris Sturlese, übers. von Rüdiger Blumrich, Hamburg 1993, S. 22,95–98. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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Im Mirouer des simples ames anienties4 von Marguerite Porete lassen sich verschiedene dieser Inszenierungsformen mit performativen Dimensionen auf­ zeigen.5 Der Text, von Kurt Ruh unter die »religiösen Lehrbücher«6 gezählt, entstand im 13. Jahrhundert und avancierte zum mittelalterlichen ›Bestseller‹, wie man an den rasch erfolgten Übersetzungen in andere Volkssprachen7 und seiner Verbreitung vor allem in Frankreich, Italien und England ablesen kann. Seine Verfasserin wurde in einem Häresieprozess verurteilt und, den Akten zufolge, am 1. Juni 1310 auf der Place de Grève in Paris verbrannt. Dieser historisch so skandalöse und zum Politikum geronnene Text blendet in auffallender Beharrlichkeit die Selbstvernichtung der Seele aus und ein, indem er das Aufgeben des Eigen-

4 Der lange und häufig gebrauchte Titel Le Mirouer des simples ames anienties et qui seule­ ment demourent en vouloir et en desir d’amour wurde durch Luisa Muraro durch einen Vergleich der erst aus der Zeit zwischen 1450 und 1530 stammenden französischen ChantillyAbschrift mit der älteren lateinischen Fassung stark in Zweifel gezogen, vgl. Luisa Muraro, Le mirouer des simples ames de Marguerite Porete. Les avatars d’un titre, in: Ons geestelijk erf 70 (1996), S. 3–9. 5 Zitiert nach: Marguerite Porete. Le mirouer des simples ames, hg. von Romana Guarnieri; Margaretae Porete. Speculum simplicium animarum, hg. von Paul Verdeyen SJ, Turnhoult 1986. Deutsche Übertragung: Margareta Porete, Der Spiegel der einfachen Seelen. Wege der Frauenmystik, übers. von Louise Gnädinger, Zürich, München 1987. Grundsätzlich Anlehnung an die deutsche Übersetzung von Louise Gnädinger, nur bei bestimmten Punkten, wie den Präpositionalverwendungen avec elle sans elle, wird der Deutlichkeit halber eine wörtlichere Übersetzung von mir vorgelegt. 6 Vgl. Kurt Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, Bd. 2, München 1993, S. 338. Ob man damit die Gattungsfülle und den Formenreichtum des Mirouers adäquat erfasst, der sowohl lyrische, rhythmisierte Einsprengsel als auch bekenntnishafte, bildliche Prosastücke enthält, bliebe zu überlegen. Bei Marguerite Porete überlappen sich Bekenntnis- und Lehrbuch, aus dessen exklusivem Wissen (maßgeblich im Zentrum stehen der V. und VI. Zustand) sich die Autorität zur Lehre konstituiert, doch stellt sich in dem Zusammenhang die Frage nach den Adressaten bzw. dem geeigneten Publikum für solch eine exklusive Lehre. So erwähnt bereits Ruh (ebd., S. 343) die in Mirouer 98 angesprochenen dames, die in diesem Buch ihre Lebensweise erkennen werden, während diese für alle anderen unzugänglich und verborgen bleibt – wenn der Mirouer lediglich ein Spiegel für die vernichteten, befreiten, friedvollen Seelen ist, in dem sie diesen ihren (vollkommenen) Zustand erkennen, handelt es sich dann im klassischen Sinn noch um einen Spiegel? Und wie darf man in dem Zusammenhang den Titel verstehen? Vgl. hierzu Louise Gnädinger, Die Lehre der Margareta Porete von der Selbst- und Gotteserkenntnis. Eine Annäherung, in: Béatrice Acklin Zimmermann (Hg.), Denkmodelle von Frauen im Mittelalter, Freiburg 1994, S.  125–148, hier S.  129–131, inklusive Fußnote 13. Sie bezweifelt ebenfalls eine breite Zuhörerschaft aufgrund des exklusiven Charakters des Textes. 7 Altfranzösisch als (verlorene) Originalfassung, Latein, Altitalienisch und Mittelenglisch. Insgesamt in sechs verschiedenen Fassungen und insgesamt 14 Handschriften überliefert (Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, Bd. 2 [Anm. 6], S. 345 f.). Ausführliche Angaben und Untersuchungen bei Romana Guarnieri, Il movimento del Libero spirito, Bd. II, Il ›Miroir des simples ames‹ di Margherita Porete und Bd. III, Appendici, Archivio italiano per la storia della pietà IV, Rom 1965, S. 501–708. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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willens und vor allem das Zunichtewerden dialogisch in spiralförmigen Wiederholungen und Abwandlungen umkreist.8 Im Zentrum dieser Umkreisungen steht das Sieben-Stufen-Modell, das Reinigung, Aufstieg, Verklärung und Verherrlichung der ame anientie bzw. der vernichteten Seele in zahlreichen Aspekten durchspielt.9 So vollzieht sich von der ersten bis zur dritten Stufe die mors mystica in den Bereichen Sünde, Natur und (Eigen-)Willen in der Seele. Auf der vierten Stufe erfährt die Seele erstmals die Berauschung infolge der Liebe Gottes, und es wird ausdrücklich gesagt, nun wolle sie auf dieser Stufe, die sie für die letzte ansähe, bleiben. Doch die eigent­ liche Vernichtung des (Eigen-)Willens der Seele geschieht erst auf der fünften und sechsten Stufe, bevor sie auf der siebten Stufe, nach ihrem leiblichen Tod, in den vollständigen und immerwährenden Genuss (fruiction) der Gottheit im glorifizierten Zustand überführt wird.

2. Performanz als Wiederholung und Variation bei Marguerite Porete Die Untersuchung der performativen Inszenierungsformen des negativen Selbst im Mirouer verbindet sich mit der Frage, inwiefern derartige Inszenierungsformen wie z. B. Negationstechniken oder Präpositionalverwendungen durch Klangfolgen oder Wiederholungen Bedeutungen generieren oder stabilisieren können. Da die performativen Formen des Mirouer vor allem auf Techniken der Wiederholung und Variation basieren, bezieht sich der hier verwendete Per­ formanzbegriff vor allem auf Judith Butler10 und Jacques Derrida.11 Selbstverständlich erfolgt die Zusammenführung von (post-)modernen Theo­ rieansätzen und mittelalterlichen Texten keineswegs bruchlos, sondern zwingt zu Einschränkungen und Abwandlungen. Dennoch scheint zwischen Post­ moderne und Mittelalter ein feiner Nexus zu bestehen, der es erlaubt, das Fremde im Eigenen ebenso zu erkennen wie das Eigene im Fremden. Performance der Gegenwart und die performative Lektüre mittelalterlicher Texte wirken in der

8 Vgl. zu dieser Idee der Spiralenform: Luisa Muraro, Die Pfauenfedern – Politik nach Margareta Porete, in: Ingeborg Nordmann, Antje Schrupp und Mechthild M. Jansen (Hg.), Weibliche Spiritualität und politische Praxis, Rüsselsheim 2004, S. 17–36, hier S. 19. 9 Maßgebliche Kapitel hierfür sind vor allem Mirouer 58, 61 und 118, ansonsten finden sich kaum kohärente Darstellungen, sondern vor allem versprengte Details, die teils wiederholen, teils verschieben. 10 Vgl. Judith Butler, Haß spricht. Zur Politik des Performativen, übers. von Kathrina Menke und Markus Krist, Frankfurt a. M. 2006. 11 Vgl. Jacques Derrida, Comment ne pas parler. Dénégations, in: ders., Psyché. Inventions de l’autre, Paris 1987, S. 535–595. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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Rezeption durch die Forschung wechselseitig aufeinander ein und erzeugen jene kreativen Kontexte, die schon Bekanntes verändert aufscheinen lassen. Im Folgenden soll der hier verwendete Performanzbegriff12 kurz vorgestellt werden, der sich durch eine wachsende Verwendung und Beliebtheit in den geisteswissenschaftlichen Fächern auszeichnet. Er umfasst mittlerweile theater-, kultur- und literaturwissenschaftliche sowie linguistische und anthropologische Forschungen, die ihn zu einem subtilen Schnittpunkt von Körper, Sprache, Ästhe­tik werden lassen. Beispielsweise ist die Stimme und Stimmlichkeit zu einem Grenzgänger zwischen Körper und Sprache geworden, die sowohl sinnliche als auch abstrakte Aspekte vermittelt. Für diese Analyse werden vor allem die sprachlichen und stimmlichen Aspekte der Performativität im Zentrum stehen, die sich in der Form des iterativen Zitats bündeln, wie es sowohl punktuell bei Jacques Derrida als auch bei Judith Butler verwendet wird. Beide setzen das iterative Zitat ein, um dieses durch den Akt der Wiederholung und die Verschiebung in einen anderen Kontext abzuwandeln. Somit fungieren Zitat und Wiederholung bei beiden, wenn auch in unterschiedlicher Form und aus unterschiedlichen Motiven, als ›points de départ‹ für Ver­ änderungen und Variationen, die eine Doppellektüre erlauben. Dieses Verfahren, das Derrida in Dénégations performativ erprobt und Butler in Haß spricht als Methode gegen Diffamierungen präsentiert, bildet die methodische Grundlage, das spiralförmige Verfahren des Mirouer zu beschreiben. In Form einer Verwendung von Selbstzitaten führt der Mirouer ebenfalls die Möglichkeit einer Re-Lektüre bzw. einer Re-Inszenierung unter veränderten kon­ textuellen Bedingungen vor. Diese bewirken eine Aufladung mit weiteren Bedeutungsdimensionen, z. B. Verstärkung, Betonung oder Vertauschung. Dass es sich hierbei um Selbstzitate handelt, stellt einen grund­legenden Unterschied zu Butler dar, deren politisches Anliegen es war, sich mit der Rede einer feindseligen Gruppierung nicht etwa mundtot machen zu lassen, sondern diese positiv und innovativ umzuwerten. Derrida dagegen wollte sich als Philosoph und Dekonstruktivist in die negative Theologie einschreiben, ohne als Anwalt der Theologie zu wirken. Beide Aspekte werden hier vernachlässigt, da es in erster Linie darum geht, fruchtbare Impulse zu gewinnen und ein Vokabular zur Beschreibung zu entwickeln. Daher dienen beide auch keineswegs als methodische Leitlinie, sondern als inspirative Anstöße.

12 Vgl. zu diesem Themenfeld exemplarisch: Uwe Wirth (Hg.), Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a. M. 2002; Doris Kolesch und ­Sybille Krämer (Hg.), Stimme. Annäherung an ein Phänomen, Frankfurt a. M. 2006; Cornelia Herberichs und Christian Kiening (Hg.), Literarische Performativität. Lektüren vormoderner Texte, Zürich 2008; Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, Frankfurt a. M. 2004 (Nachdruck 2008); Christoph Wulf, Anthropologie. Geschichte, Kultur, Philo­sophie, Reinbek bei Hamburg 2004, S. 173–190. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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Die Begriffe ›Inszenierung‹ und ›Reinszenierung‹ werden somit als Verfahren des Textes verstanden, die Ebenen bloßer Beschreibung auf die bewusste Darstellung hin zu überschreiten, so dass er zugleich aufführt, wovon er handelt: Nämlich die Vernichtung des Selbst im Fall des Mirouer. Diese Begriffe werden somit als Instrumente eingesetzt, um die Analyse zu schärfen und aufzuzeigen, dass selbst etwas scheinbar Banales wie Wiederholung, verstanden als (Re-)Inszenierung, Sinngehalte verändern und anreichern kann. Dies gilt besonders, wenn die Zitate im Zuge ihrer Reinszenierung durch die Rede der verschiedenen Figuren ›wandern‹. Für die Rezipienten könnte dies eine Einladung zum Mit- und Nachvollzug sein – die, da es sich um Selbstvernichtung und Alles-Lassen handelt, in sich selbst paradox erscheint.

a) Negationstechniken »Parler pour (ne)  rien dire, ce n’est pas ne pas parler.«13 Mit diesem Zitat aus J­ acques Derridas Comment ne pas parler. Dénégations lässt sich prägnant zu­ sammenfassen, was sein Text ebenso wie der Mirouer eindrucksvoll vorführt: ­Negativ sprechen heißt performativ sprechen. Die Verwendung der Negationsformen wird bei Marguerite Porete als eine artifizielle Technik gebraucht, um eine umfassende Vernichtung des Selbst zu inszenieren. Da sie sehr gehäuft auftreten und ganze Passagen bestimmen, formen sie den Text maßgeblich. Indem sie dem aus der negativen Theologie entlehnten rhetorischen Schema folgen, einen Zustand, eine Sache oder eine Eigenschaft ebenso wie deren Gegenteil zu verneinen, gelingt es ihnen, eine totale Gleichgültigkeit zu inszenieren und damit das Ausmaß einer radikalen Vernichtung zu präsentieren. Ich zitiere im Folgenden eine Charakterisierung der vernichteten Seele aus dem Mund der Liebe, die genau das zeigt: Ceste Ame, dit Amour, ne fait compte ne de honte ne de honneur, de pouvreté ne de ­richesse, d’aise ne de mesaise, d’amour ne hayne, d’enfer ne de paradis. (Mirouer 7,3–5; Hervorhebungen A. Z.) Diese Seele, spricht die Liebe, achtet weder auf Schmach noch auf Ehre, weder auf Armut noch auf Reichtum, weder auf Wohlbehagen noch auf Missbehagen, weder auf Liebe noch auf Hass, weder auf die Hölle noch auf das Paradies.

Im Zuge dieser vielfältigen Verneinungen werden zuerst weltliche Güter des Ansehens, des Besitzes, angenehme Empfindungen, sogar geistlich-christliche Erfolge14 13 Derrida, Comment ne pas parler. Dénégations (Anm. 11), S. 538. 14 Die Gleichgültigkeit der vernichteten Seele gegenüber den Tugenden (vgl. Mirouer 6, 8, 21, 66, 69) und den Bußübungen sowie den Predigten und den Messen der Kirche hat viel zu der Verurteilung des Buches durch die Inquisition beigetragen, zahlreiche der auf den Index © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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inklusive deren Gegenteil als gleichgültig betrachtet und deshalb verworfen. Dadurch wird der völlig willenlose Zustand der Seele in Szene gesetzt. Durch die permanenten Wiederholungen der französischen Negationsformeln entstehen zugleich rhythmische Präsenzeffekte mit Assonanzen. Das negative Selbst in seiner Willenlosigkeit und Vernichtung wird hierdurch nicht nur profiliert, sondern auch performativ umgesetzt. Mittels einer bloßen Beschreibung wäre das nicht möglich. Eine Sonderform stellen der Wechsel zwischen Bejahungen und Verneinungen dar, die eine paradoxe Spannung zwischen Nichts (rien / nient) und Alles (tout) aufbauen: Que c’est  a dire? dit Amour. Certes ce sçait celluy et non aultre  a qui Dieu  a donné l’entendement,  – car l’Escripture ne le prent,  – ne sens d’omme ne le comprent,  – ne travail de creature ne desert l’entendre – ne comprendre. Ainsoys est ce don donné du Treshault, en qui ceste creature est ravie par planté de congnoissance, et demeure rien15 en son entendement. Et telle Ame, qui est devenue rien, a adonc tout, et si n’a nyent, elle vieult tout et ne vieult nient, elle sçait tout et ne sçait nient. (Mirouer 7, 8–16; Hervorhebungen A. Z.) Was das heißen will?, spricht die Liebe. Gewiss, dies versteht nur derjenige und kein anderer als der, dem Gott das Verständnis gegeben hat – denn die Schrift enthält es nicht – noch erfasst es der menschliche Sinne – auch nützt das Bemühen der Kreatur da zur Erkenntnis und zur Einsicht nichts. Diese Gabe stammt vielmehr vom Allerhöchsten, in den dieser Mensch entrückt wurde durch eine Fülle an Erkenntnis. Und eine solche Seele, die ein Nichts geworden ist, hat dann alles und hat doch nichts, will alles und will nichts, weiß alles und weiß nichts.

Das Nicht(s)-Wollen umfasst zugleich das Nicht(s)-Haben und das Nicht(s)Wissen (le non-avoir et le non-savoir); dieses Nichts impliziert auch ein AllesWissen, -Haben, -Wollen. Ein Umschwung oder ein Überschlag scheint dieser Konstruktion des Nichts unmittelbar eingeschrieben: ›Negativität des Selbst‹ oder ›Selbstvernichtung‹ bedeutet demnach nicht nur Negation, sondern gleichzeitig Übersteigerung. In Mirouer 13 werden die beiden identisch wiederholten (Selbst-)Zitate aus Mirouer 7 unmittelbar aneinander angeschlossen, wobei eine Verschiebung der Sprecher- und der Textposition stattfindet. Die vorher so uneinsichtige Vernunft übernimmt jetzt die Rolle der lehrenden Liebe und wiederholt deren vorige Aussagen. Damit demonstriert sie stellvertretend für die oft erwähnte Zuhörerschaft des Mirouer ihr neu erworbenes Verständnis folgender Kernsätze: gesetzten Sätze beziehen sich auf diesen Sachverhalt, vgl. hierzu Paul Verdeyen, Oordeel van Ruusbroec over de rechtgelovigheid van Margaretha Porete, in: Ons geestelijk erf 65/66 (1992), S. 88–96. 15 Gnädinger übersetzt an der Stelle freier und verzichtet darauf, das Zunichte-Werden in der Erkenntnis erneut herauszustellen. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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Ad ce vous respons, dame Amour, dit Raison, que ce livre dit de ceste Ame grans admiracions, qui dit – c’est assavoir ou septiesme chapitre – que ceste Ame n’a compte, n’a honte ne a honneur, n’a pouvreté ne a richisse, ne a aise ne a mesaise, ne a amour ne a hayne, ne a enfer ne a paradis. Et avec ce dit que ceste Ame a tout et n’a nient, elle scet tout et ne scet nient, elle veult tout et ne veult nient, comme il dit devant ou neufviesme chapitre. (Mirouer 13,20–27; Hervorhebungen A. Z.) Darauf antworte ich euch, Dame Liebe, spricht die Vernunft, dass das besagte Buch von dieser Seele sehr Wunderliches sagt, wenn es behauptet – im siebten Kapitel nämlich – diese Seele mache sich nichts aus Schmach oder Ansehen, Armut oder Reichtum, Bequemlichkeit oder Missbehagen, aus Liebe oder aus Hass, aus der Hölle oder aus dem Paradies. Und eine solche Seele hat dann alles und hat doch nichts, will alles und will nichts, weiß alles und weiß nichts, wie es zuvor im neunten Kapitel gesagt wurde.

Indem der Text die beiden zentralen Charakterisierungen der vernichteten Seele aus Mirouer 7 zusammenlegt, nämlich a) dass sie sich aus nichts etwas macht und b) dass sie nichts hat, weiß und will, wird die zentrale Bedeutung dieser Leitsätze betont. Gleichzeitig wird infolge der Re-Inszenierung überhaupt erst ihr hervorgehobener Charakter als solcher deutlich. Als kompakte Bündelung von Kernthesen, die immer wieder in andere dialogische Kontexte und Rollen eingesetzt werden, erfüllen derartige Sätze, Teilsätze oder Formeln sicher mnemotechnische Funktionen. Jedoch bieten sie die Möglichkeit, infolge von Wiederholungen, Variationen und textinhärenten Rückverweisen16 – wie hier auf Mirouer 9 und 7 – das dadurch entstehende dichte Netz permanent fortzusetzen, zu verändern und zu verschieben. Obwohl schriftlich fixiert, handelt es sich nicht nur um einen festen, sondern gleichzeitig um einen flüssigen Text, der sich in den einzelnen ­Mirouers sowohl in anderer Besetzung als auch in Verkürzungen oder Erweiterungen selbst re-inszeniert. Indem er unterschiedliche Reihenfolgen seiner Mirouers sowohl für die Lektüre als auch für die häufig erwähnte Zuhörerschaft anbietet,17 hält er somit einen eigendynamischen Semantisierungsprozess am Laufen, der sich, je nach Rezipient, in verschiedenen Lektürepraxen äußern konnte.

16 Dies ist ein Gliederungs- und Kompositionsmerkmal, auf das nahezu alle Interpreten Bezug nehmen, doch ohne diese Beobachtung methodisch zu reflektieren, so Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, Bd.  2 (Anm.  6), S.  344; Gnädinger, Die Lehre der Margareta ­Porete (Anm. 6), S. 130; Muraro, Die Pfauenfedern (Anm. 8), S. 19 f. 17 Der Mirouer unterhält ein faszinierend intermediales Verhältnis zur oralen und zur literalen Praxis. Sowohl Lektüre als auch Audition ist mittels der Textvorgaben (wie z. B. der Kapitelverweise) möglich, vgl. hierzu z. B. Mirouer 37,30 auditeurs […], qui ce livre ­liront. Gleichzeitig wird über das ymage des Loing-Pres im Prolog (Mirouer 1,16–33) die bildlich-imaginative Ebene eingeblendet. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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b) Präpositionalverwendungen mit sans Eigenständige Semantisierungsbewegungen des Textes entstehen auch durch die Verwendung und Einsetzung der Präposition sans. Durch das sans werden die Loslösung vom Eigenen und die Vernichtung des Selbst in einer paradoxen Kombination mit en oder avec sprachlich umgesetzt: C’est la fin de mon oeuvre, dit ceste Ame, tousjours nient vouloir. Car tant comme je ne vueil nient, dit ceste Ame, je suis seule en luy sans moy, et toute enfranchie, et quant je vueil aucune chose, dit elle, je suis avec moy, et ainsi ay perdu franchise. (Mirouer 51,17–21; Hervorhebungen A. Z.) Das ist das Ende/die Vollendung meines Werkes/Wirkens, sagt diese Seele, (für) immer nichts zu wollen. Denn solange ich nichts will, sagt diese Seele, bin ich allein in ihm ohne mich, und ganz befreit, und wenn ich etwas will, sagt sie, bin ich mit mir, und habe so (an) Freiheit verloren.

In dem Dialog mit der Liebe und der Heiligen Kirche der Kleinen bezeichnet sich die Seele selbst als vernichtet, willenlos, allein und frei, indem sie auf die Frage der Heiligen Kirche der Kleinen, was sie denn in jenem Zustand des Nicht(s)Wissens und Nicht(s)-Wollens tue, wie oben zitiert antwortet. Während das avec moy ein Zurückfallen in den Eigenwillen ausdrückt, kennzeichnet das sans moy den Zustand der Loslösung, der sich mit dem völligen Aufgehen in dem gött­ lichen Willen verbindet. Dieses Verfahren, anhand der Präposition sans in Verbindung mit anderen Präpositionen, z. B. pour oder avec, die Vernichtung des Selbst bzw. der Seele auszudrücken, wird im Text vielfach wiederholt, wobei verschiedene Abwandlungen entstehen. Die Wiederholung bestimmter Sätze, Satzteile oder Formeln lädt diese Klangfolgen18 mit einer performativen Kraft auf. Die Verknüpfung von Wiederholung und Performanz hat Judith Butler besonders in Haß spricht prägnant herausgearbeitet. Performanz ist demnach von zweierlei gekennzeichnet: Anrufung und Zitatförmigkeit. In den Zusammenhang integriert sie gleichzeitig die Reflexion des möglichen Potentials von Reinszenierung und Resignifikation, die hierdurch die Kraft zur Veränderung entfalten.19 Für das textuelle Verfahren des Mirouer erweisen sich diese theoretischen Ansätze als ausgesprochen fruchtbar: Denn indem sich der Text permanent selbst zitiert und dabei variiert, gelingt es ihm, sich zugleich aufzuführen und zu transformieren. Wichtig in dem Zusammenhang scheint noch der häufige Wech 18 Ainçoys demoure Amour en elle, qui a prinse sa voulenté, et pource fait Amour sa voulenté d’elle, et adonc oeuvre Amour en elle sans elle, par quoy il n’est mesaise qui en elle puisse demou­ rer (Mirouer 7,23–26; Hervorhebungen A. Z.). »So bleibt die Liebe in ihr, die ihren Willen übernommen hat, und daher erfüllt die Liebe ihren Willen an ihr, und nun handelt die Liebe in ihr ohne sie, daher ist es nicht unbehaglich in ihr verbleiben zu können.« 19 Butler, Haß spricht (Anm. 10), S. 28. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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sel bzw. die Verschiebung der Sprecherrollen, so dass der Mirouer wie ein Lesedrama anmutet.20 Das Selbstzitat ist eine Sonderform, die von Butler in ihrer Theorie der Performanz zwar nicht diskutiert wird, da sie sich in der Hauptsache mit sprachlich ausgeübten Diffamierungen und Diskriminierungen im Kontext der politischen und sozialen Gegenwart beschäftigt. Dennoch erweist es sich als geeignet, um mit Hilfe dieser geringfügigen Abwandlung ein zentrales textuelles Inszenierungsverfahren des Mirouer zu beschreiben, das ich im Folgenden als Spiralentechnik bezeichnen möchte. Denn im Wieder-Aufgreifen, in der Variation und in der Aufführung geschieht erst, wovon er spricht, er vollzieht, was er sagt, und nutzt zugleich das der Reinszenierung inhärente Potential zur Resignifikation. Von der ersten bis zur siebten Stufe inszeniert und re-inszeniert, variiert und wiederholt, verstärkt und verändert der Mirouer das Aufstiegsmodell in seinen verschiedenen Facetten, das der Text ein einziges Mal ausführlich und chrono­ logisch in Mirouer 118 beschreibt. Die ›freie Seele‹ (l’Ame franche) schildert in der dritten Person Singular die sechste und für den Lebenden höchste Stufe mit dem höchsten Grad an Vernichtung folgendermaßen: Mais ceste Ame, ainsi pure et clariffiee, ne voit ne Dieu ne elle, mais Dieu se voit de luy21 en elle, pour elle, sans elle; lequel (c’est assavoir Dieu) luy monstre, que il n’est que fors que lui. (Mirouer 118,186–189; Hervorhebungen A. Z.) Diese Seele aber, derart rein und verklärt, sieht weder Gott noch sich, aber Gott sieht sich in ihr, für sie, ohne sie, er, Gott nämlich, zeigt ihr, dass nichts ist als nur er.

Was in der Seele geschieht, geschieht zwar für, aber zugleich ohne sie.22 Diese umfassende Vernichtung des Selbst, die auf der fünften und sechsten Stufe so vollständig stattfindet, dass die Seele plötzlich vergreist und erblindet, markiert die Präposition sans (elle). Zusätzlich drücken die dreifach wiederholten Ver­neinungspartikel ne diesen negierten Zustand des Selbst aus, der jeg­liche Wahrnehmung unterbindet. Das Nicht-Sehen der Seele, was paradoxerweise die höchste Form von Erkenntnis darstellt, ermöglicht gleichzeitig die vollkommene Spiegelung des göttlichen Partners und veranschaulicht hiermit beider gemeinsame Identität in der Spannung zwischen Vereinigung und Trennung, Einsicht und Blindheit. 20 Vgl. Gnädinger, Die Lehre der Margareta Porete (Anm. 6), S. 131. Von einem »Sprechtheater« spricht Gnädinger, Margareta Porete (Anm. 5), S. 228. 21 Gnädinger verzichtet auf eine Übersetzung des de luy, was man als »von ihm (aus­ gehend)« verstehen könnte. Das Französische betont somit den Spiegelreflex, der von Gott auf den Menschen ausgeht. 22 Hierauf wurde sowohl von Gnädinger, Margareta Porete (Anm.  5), exemplarisch S. 250, Anm. 10 als auch von Muraro, Die Pfauenfedern (Anm. 8), S. 20 verwiesen. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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Sowohl auf der sprachlogischen als auch auf der klanglichen Ebene eröffnen sich weitere Spannungsfelder, denn die Präpositionen en (in) und sans (ohne) schließen sich, auf dasselbe Referenzobjekt bezogen, gegenseitig aus  – was in einem geschieht, kann faktisch nicht ohne einen geschehen. Diese paradoxe Entkoppelung verdeutlicht aber das Aufgeben des eigenen Willens und seine Hingabe an die Göttlichkeit. Gleichzeitig rückt die echoartige, dreimalige Wieder­ holung des elle dieses Personalpronomen auffällig in den Vordergrund. Das heißt, auf der klanglichen Ebene ist dieses gelöschte Selbst immer noch lautlich präsent, obwohl das sans als Kennzeichen seiner Vernichtung und Tilgung gebraucht wurde. Somit gehen bei Marguerite Porete Veränderung und Verdoppelung, Affirmation und Negation Hand in Hand und lassen sich nicht, wie im Falle von Haß spricht, dem Untersuchungsobjekt von Butler, voneinander säuberlich separieren. Das hängt meines Erachtens auch mit der Sonderform des Selbstzitats zusammen, damit, dass nicht die fremde Rede aufgegriffen und durch die Wieder-Aufführung verändert wird, sondern dass die eigene zugleich variiert und verstärkt wird, indem diese durch die Aussagen der verschiedenen, personifizierten Figuren ›wandert‹. Eingängige Formeln wie avec moy sans moy oder en elle pour elle sans elle verfügen über eine performative Kraft, die in der Möglichkeit ihrer Inszenierung und vor allem ihrer Re-Inszenierung liegt. Hierdurch generiert der Text eine spezifische Semantik, die so eng mit dem französischen Sprachmaterial verbunden ist, dass sich diese Wortspiele, Inszenierungs- und Darbietungsformen nicht adäquat übersetzen lassen, was für den des Französischen unkundigen Rezipienten mit einem Verlust von Bedeutungsschichten einhergeht.

c) Verbformen des Lassens und Präpositionalverwendungen Abschließend sollen die möglichen Zusammenschlüsse von Vernichtung und Gelassenheit dargestellt werden, indem die Untersuchung auf bisher einzeln dargestellte Inszenierungsformen zurückgreift und diese verdichtet. Häufig werden diese durch Präpositionalverwendungen von dem beschriebenen Typus in Verbindung mit Verbformen des Lassens wie relenquir,23 dérober, descombrer ausgedrückt. In dem Zusammenhang integriert der Text zusätzlich bestimmte Wendungen wie ne pour Dieu, ne pour elle, ne pour proemes, die z. B. in Mirouer 71 und 80 wiederholt auftreten und in einer kunstvollen Verdichtung folgender­ maßen in Mirouer 92 eingefügt werden: 23 Ein französisches Verb, das eine starke Nähe zum lateinischen relinquere aufweist. Interessanterweise beziehen sich die Bedeutungen aller drei Verbformen eher auf den Aspekt des Verlassens in Form des Beraubens oder des Sich-Entledigens, das zugleich in eine Bewegung des Überlassens einmündet. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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Hee, sire, dit ceste Ame, vous avez tant souffert de nous, et si avez tant oeuvré en nous, par vous, de vous, que ces deux oeuvres, sire, ont prins leur fin en nous. Mais c’est trop tart. Orez oeuvrez en nous de vous pour nous sans nous, ainsi, sire, comme il vous plaira. Car, pour moy, je ne fais d’ores en avant force. Je me descombre de vous, et de moy, et de mes proesmes; et vous diray comment. Je relenquis vous, et moy, et mes proesmes trestous ou savoir de vostre divine sapience, en l’influence de vostre divine puissance, ou gouvernement de vostre divine bonté, pour vostre seule divine voulenté. (Mirouer 92,3–13; Hervorhebungen A. Z.) Ach, Herr, spricht diese Seele. Ihr habt um uns so sehr gelitten, und habt in uns so sehr gewirkt, durch Euch, aus Euch, so dass diese zwei Werke, Herr, in uns ihr Ende gefunden haben. Doch erst so spät! Nun wollet aus Euch (heraus) wirken, in uns, für uns, doch ohne uns, Herr, ganz, wie es Euch gefallen mag! Denn ich, für mich, werde fortan keine Anstrengungen mehr machen. Ich entledige mich Eurer, meiner (selbst) und meiner Nächsten, und ich werde Euch sagen, wie: Ich überlasse Euch, und mich (selbst) und meine Nächsten dem Beschluss Eurer göttlichen Weisheit, dem Einwirken Eurer göttlichen Macht, der Führung durch Eure göttliche Güte, einzig um Eures göttlichen Willens willen.

In dieser kurzen Passage dominieren ausufernd gebrauchte Präpositionalverwendungen, die zum einen im ersten Abschnitt das Wirken Gottes für die Seele, im zweiten dagegen das vollständige Überlassen der Seele inszenieren. Die Präposition sans, die pointiert am Schluss dieser Reihung steht, demonstriert die Bereitschaft der Seele, sich ganz für Gottes Wirken aufzugeben. Sie ist bereit, alle und alles um Gottes willen zu lassen, sich selbst und ihre Nächsten ebenso wie Gott. Diese Aufzählung wird in der Wiederholung im darauffolgenden Satz erneut aufgegriffen und betont den umfassenden Radius der Loslösung. Zwei Verben des Lassens bezeichnen diese Loslösung: Durch das Ver- und Überlassen (relenquir) kann sich die Seele von allem entledigen (descombrer). Auch in 71 und 80 spielen die Verschränkungen von Vernichtung und Gelassenheit durch Präpositionen und Verbformen des Lassens eine auffallende Rolle, die in Mirouer 92 aufgegriffen und verstärkt wird. So finden sich in 71 mehrere kunstvolle Präpositionalverschränkungen, wenn die Seele ohne sich für sich zu Gott gezogen24 und mittels der Verbform descombrer ihre Loslösung von Gott, sich selbst und dem Nächsten geschildert wird.25 In Mirouer 80 dagegen stürzt 24 Auch die Bewegung des Ziehens verweist auf die Passivität der ame anientie. 25  – […] Adonc est en ceste Ame le raiz de divine cognoissance, qui la tire d’elle sans elle, en une divine paix esbahyssable, apoyee d’une elevacion d’affluant amour du treshault Jaloux, qui luy donne en tous lieux magistrale franchise. L’Ame. – Jaloux? Dit ceste Ame. Jaloux voirement est il! A ses oeuvres l’appert, qui m’ont desrobee de toute moy, et m’ont mise en divine plaisance, sans moy. Et telle union de remplie paix me joinct et conjoingt par la souveraine haul­ tesse de la creacion de l’appareil du divin estre, dont j’ay estre, qui est estre. (Mirouer 71,7–17; Hervorhebungen A. Z.) »DIE LIEBE: […] Dann ist der Strahl der göttlichen Erkenntnis in dieser Seele, er zieht sie aus sich selbst ohne sich selbst in einen staunensvollen Frieden, getragen durch die Erhebung in einer Liebesströmung des überhohen Eifersüchtigen, der ihr an allen © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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die Seele ins Nichts und befestigt ihren Willen im Nichts,26 was dann als ›Gelassenheit‹ in Verbindung mit relenquir beschrieben wird.27 Durch den Zusammenschluss in 92 gelingt es dem Text, an dieser Stelle mehrere einzeln entwickelte Stränge zusammenzuführen und pointiert in Szene zu setzen. Dieses Kapitel drängt Phänomene wie Präpositionalverwendungen, Verbformen des Lassens und spezifische sprachliche Formeln auf engstem Raum zusammen und intensiviert sie infolge einer Re-Inszenierung. Hierdurch weist es auf die essentielle Verbindung hin, die zwischen Gelassenheit und Vernichtung besteht. Diese Seele lässt nun nicht mehr nur sich selbst, sondern auch ihre Nächsten und ebenso Gott. Verbformen wie relenquir oder descombrer, aber auch Präpositionen wie sans werden auf eine vollständige und umfassende Gelassenheit hin ausgedehnt, die Negation des Selbst somit um Gott und die Nächsten erweitert, bis nichts mehr bleibt. Besonders der paradoxe Zustand der Gelassenheit28 wird mit performativen Mitteln inszeniert: Entscheidende Schlüsselworte sind repos (Ruhe)  und paix (Frieden), dessen Übersteigerung beispielsweise folgendermaßen lautet: la paix de paix sur la paix.29 Die ame anientie findet sich in einem quasi unangreifbaren und unerschütterlichen Zustand wieder, der sie »im Nichts befestigt«.30 Dies aber ist erst nach der vollständigen Vernichtung der Seele möglich, die zugleich eine Vereinigung mit der Göttlichkeit in einem kurzen raptus gestattet, der sie blitz­ artig von der fünften zur sechsten Stufe emporreißt. Orten seine hoheitliche Freiheit gewährt. DIE SEELE: Eifersüchtig? spricht diese Seele. Ja, eifersüchtig ist er! Seine Einwirkungen beweisen es, die mich ganz meiner selbst beraubt haben und mich in seine göttliche Lust versetzten, ohne mich. Und eine solche von Frieden erfüllte Ver­ einigung bindet und verbindet mich aufgrund der obersten Hoheit der durch das göttliche Sein bewerkstelligten Schöpfung, aus dem ich Sein habe, das selbst aber Sein ist.« 26 Die Sturzmetaphorik (Bsp. Mirouer 80,11 f.: J’ay dit devant que telle Ame est cheue de moy en nient; mais encore en moins que nient sans terme. »Ich sagte vorhin, eine solche Seele sei meinetwegen ins Nichts gestürzt, mehr noch: in weniger als nichts, endlos.«) verbindet sich oft mit der Abgrundmetaphorik, die als Ausdruck der Totalvernichtung der Seele im Mirouer eine zentrale Bedeutung erfährt. Denn erst auf Stufe V erkennt die Seele ihr Nichts, was dazu führt, dass sie in die Tiefe eines Abgrundes fällt, ohne sich jemals wieder daraus erheben zu wollen. 27 L’Ame. – Je relenquis tout, dit ceste confermee en nient, parfaictement en la divine voulenté. (Mirouer 80,48 f.) »DIE SEELE: Ich übergebe alles vollkommen dem göttlichen Willen, spricht diese im Nichts Befestigte«. 28 Paradox, weil der Zustand der Gelassenheit sich aus der Praxis der Selbstvernichtung und des Lassens speist, wobei das Tun des Nicht-Tuns oder des Handelns durch Nicht-Handeln eine unauflösbare Verbindung eingehen, die in der performativen Rhetorik des Textes ihren Niederschlag findet, welche die Sprache bis zu den logischen Grenzen ausreizt. 29 Inwiefern diese so erlangte gelassene Gleichgültigkeit und dieser unveränderliche Frieden Umstülpungen oder gar Ausdrucksformen des Genießens darstellen, in welcher Hinsicht sich paradoxerweise Gelassenheit und Genuss überlagern können, wird in meiner Dissertation, Semantik und Aisthetik des Genießens in der europäischen Frauenmystik des 13. Jahrhunderts, ausgeführt. 30 Vgl. zum Frieden Anmerkung 25. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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Überhaupt ist den Bewegungen im Mirouer große Bedeutung zuzuschreiben: Im Abgrund der Vernichtung sitzt die Seele, nachdem sie hinabgestürzt ist,31 und im raptus wird sie plötzlich in die Höhe gezogen. Ebenso umgreifen Zustände wie Gelassenheit und Vernichtung auch Höhe (raptus, Berg) und Tiefe (Abgrund, Tal, Meer), die eine Art mystischer Topographie entwerfen,32 und die mit diesen Höhen und Tiefen verbundenen Bewegungen: Die Seele steht, sie stürzt, sie wird gezogen, sie ruht, und sie sitzt. Jede diese Bewegungen kennzeichnet auch einen bestimmten Ort, wobei dem Abgrund eine exponierte Rolle zukommt. Diese Körpermetaphorik, welche sich in diesen Bewegungsbildern ausdrückt, erhöht die performative Kraft des Textes, der in seiner Metaphorik gestisches Vokabular eingeschrieben trägt und das sprachliche Potential, die Paradoxie der Selbst­ vernichtung auszudrücken, dadurch entschieden erweitert.

3. Zusammenfassung In einer Engführung von Performanz und Inszenierung wurde methodisch von Folgendem ausgegangen: Performanz wurde im Sinne von Butler als inszenierende Wiederholung bzw. Variation in Form von Zitaten verstanden, die dadurch Möglichkeiten der (Um-)Semantisierung bieten.33 Pointierte und permanent 31 Vgl. bei den Bewegungen des Fallens und Sitzens die starke Körpermetaphorik, die sich darin ausprägt. Inwiefern es sich hierbei um gestische Praktiken handelt oder ob es sich ›lediglich‹ um imaginative Anweisungen handelt, lässt sich, ähnlich wie die Hörersituation, leider nicht mehr rekonstruieren, ist aber möglicherweise in der Intermedialität des Textes impliziert. Vgl. hierzu auch folgende Beschreibung der Seele aus Mirouer 5, 40–42: Et demoure en estant, car elle est tousjours ou regart de Dieu. Et assise, car elle demoure tousjours en la voulenté divine. »Und sie bleibt aufrecht stehen, weil sie immer im Anblick Gottes verweilt, und zugleich sitzen, weil sie immer im Willen Gottes verharrt.« 32 Vgl. hierzu z. B. folgende Schilderung aus Mirouer 9,41–43: Ceste Ame est escolliere de la Divinité, et si siet en la vallee d’Umilité, et en la plane de Verité, et se respouse en la montaigne d’Amour. »Eine solche Seele lernt in der Schule der Gottheit, und sie hat ihren Sitz im Tal der Demut und in der Ebene der Wahrheit, und sie ruht auf dem Berge der Liebe.« In dem Zusammenhang sei besonders auf das ›Tal der Demut‹ verwiesen; sehr häufig ist der Abgrund der Ort der Demut, der Armut und Vernichtung. Beide Aspekte, die mystische Topographie wie die Körpermetaphorik, werden in meiner Dissertation vertieft. 33 Inwiefern Butler für die hier vorgestellten Ergebnisse tatsächlich notwendig sei, wurde in der anschließenden Diskussion angemerkt. Ebenso wurde die Relevanz des Performanz­ begriffs in Zweifel gezogen. Selbstverständlich ist weder das eine noch das andere zwingend notwendig, schärft aber die Perspektive für das iterative und vielschichtige Verfahren des Textes, das selbst Ruh anfangs als eine »beliebige Reihung von Lehrstücken« (Geschichte der abendländischen Mystik, Bd. 2 [Anm. 6], S. 344) anmutete und sich erst bei näherer Untersuchung als ausgeklügelte Komposition entpuppte. Zugleich zeigt es die Grenzen, an die jede, selbst die ausgefeilteste, Theorie im Umgang mit derart komplexen Texten stößt. Gleichzeitig bieten sich genau hierdurch Möglichkeiten, theoretische und literarische Energien miteinander auszutauschen und mitunter gegeneinander auszuspielen, ohne eine bruchlose Auflösung zu erzwingen, die meines Erachtens ohnehin verdächtig wäre. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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aufgegriffene Inszenierungsformen für das vernichtete oder negierte Selbst waren Negationen, Präpositionalverwendungen und Verdichtungen mit Verben des Lassens. Inhaltlich wurde hierdurch eine Verbindung zwischen Selbstvernichtung und Gelassenheit hergestellt, die in der Erweiterung des Sich-Lassens auf Gott und die Nächsten ihren Ausdruck fand. Durch sein spiralförmiges, ein- und ausblendendes Verfahren von Schlüsselsätzen und -wendungen semantisiert und variiert sich der Text vielfach selbst. Mittels derer gelingt es ihm, Vernichtung nicht nur zu markieren, sondern zugleich zu performieren. Partiell fügt er dadurch Elemente des festen Textes mit flüssigen Bewegungen zusammen, so z. B. durch inhärente Rückverweise, die eine andere Anordnung der einzelnen Kapitel vorschlagen. Gleichzeitig bietet er dadurch eine Imitationsfläche für die mehrfach erwähnten HörerInnen, aber auch LeserInnen, dieses Buches, in verteilten Rollen die Dialoge und Diskussionen mitzuverfolgen und selbst Teil einer Performanz zu werden, die Gelassenheit und Vernichtung vereinigt.

© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

Julia Weitbrecht (Berlin)

Die werlt lâzen durch got Weltflucht und ›soziale Heiligung‹ in legendarischen Adaptationen des hellenistischen Liebes- und Reiseromans

Die menschen sprechent: ›eyâ, herre, ich wölte gerne, daz mir alsô wol mit gote wære und alsô vil andâht hæte und vride mit gote, als ander liute hânt, und wölte, daz mir alsô wære oder ich alsô arm sî‹, oder: ›mir enwirt niemer reht ich ensî denne dâ oder dâ und tuo sus oder sô, ich muoz in ellende sîn oder in einer klûsen oder in einem klôster‹.1

Diese unter ungelâzenen liuten verbreiteten Praktiken asketischer Weltabkehr dienen Meister Eckhart im dritten Teil  seiner Erfurter Reden als Exempel dafür, wie man gerade nicht zu Gott findet, weil man in der Konzentration auf die ûzwendigen dinge der Welt stets auf diese Welt bezogen bleibt. Für Eckhart besteht wahres ›Lassen‹ einzig im Akt der Selbstaufgabe: Dar umbe hebe an dir sel­ ber an ze dem êrsten und lâz dich.2 ›Gelassenheit‹ im Sinne Eckharts bezieht sich also allein auf innere Prozesse, auf eine Haltung von ›Lassen‹, die etwas kategorial anderes ist als die Praktik eines sozial verstandenen ›Verlassens‹ oder räumlichen ›Zurücklassens‹. Gleichwohl wird gerade in Eckharts Distanzierung die räumliche und soziale Dimension mit aufgerufen. Auch werden in den bisherigen Versuchen, die seman­ tischen und diskursiven Zusammenhänge zu historisieren, beide Konzepte der Heilsgewinnung, alle dise werlt lâzen wie auch sich selben lâzen, parallel genannt und als Hintergrund mystischer ›Gelassenheit‹ ausgemacht: Der mensche, der gelâzen hât und gelâzen ist und der niemermê gesihet einen ougenblik ûf daz, daz er gelâzen hât und blîbet stæte, unbeweget in im selber und unwandel­ lîche, der mensche ist aleine gelâzen.3 1 Meister Eckhart, Werke I–II. Texte und Übersetzungen, hg. von Niklaus Largier, Frankfurt a. M. 22002 [EW], hier EW II, Traktat 2: Die rede der underscheidunge/Reden der Unter­weisung, S. 334–433, hier S. 338,16–21. 2 EW II, S. 338,32. 3 Pr. 2 Qui audit me, EW I, S. 142–151, hier S. 150,21–24. Beide Bedeutungsebenen fallen im lateinischen [omnia] relinquere zusammen; vgl. Erik A. Panzig, Gelâzenheit und abege© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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Eckhart selbst bezieht sich in seinen Schriften auf das Matthäusevangelium, in dem die Nachfolge Christi als omnia relinquere ebenfalls konkret an das Auf­ geben sozialer Zusammenhänge gebunden ist: et omnis qui reliquit domum vel fratres aut sorores aut patrem aut matrem aut uxorem aut filios aut agros propter nomen meum centuplum accipiet et vitam aeternam possidebit (Mt 19,29).4 Es scheint also durchaus ein Bezug zwischen dem Konzept mystischer ›Gelassenheit‹ und einem räumlichen und sozialen Verständnis von ›Lassen‹ zu bestehen, der über die Etymologie von lâzen hinausreicht – doch in welchem Verhältnis stehen sie zueinander? Schließen sie einander kategorial aus, wie es das Diktum Eckharts anzudeuten scheint, oder ergänzen sie einander, wie man es im Neuen Testament und monastischen Askesekonzepten begründet finden könnte?5 Oder haben wir es mit einer diachronen Abfolge unterschiedlicher Konzepte von Heilsgewinnung zu tun und bildet die Weltflucht gewissermaßen eine (anthropologische oder kulturgeschichtliche) Vorstufe der Selbstaufgabe? Diese Frage muss hier zurückgestellt werden, um im Folgenden zunächst zu untersuchen, welche Bedeutung räumlichen und sozialen Konzeptualisierungen von Heilsgewinnung in legendarischen Texten zukommt.6 Diese beschäftigen sich auf narrativer Ebene ebenfalls mit Fragen der Selbsttransformation und Heiligung und scheinen dabei gerade diejenigen Praktiken des Lassens zu themascheidenheit. Eine Einführung in das theologische Denken des Meister Eckhart, Leipzig 2005, S. 57–60; Alois M. Haas, Gelassenheit – Semantik eines mystischen Begriffs, in: ders., Kunst rechter Gelassenheit. Themen und Schwerpunkte von Heinrich Seuses Mystik, 2., durchges. und verb. Aufl., Bern 1996, S. 247–269, hier S. 253 f. Siehe auch Adeltrud Bundschuh, Die Bedeutung von gelassen und die Bedeutung der Gelassenheit in den deutschen Werken Meister Eckharts unter Berücksichtigung seiner lateinischen Schriften, Frankfurt a. M. 1990, S. 102, sowie den Kommentar von Niklaus Largier zu Meister Eckhart, EW I, S. 959–962, besonders S. 960 f. 4 Vgl. Haas, Gelassenheit (Anm. 3), S. 251 f., sowie Ludwig Völker, »Gelassenheit«. Zur Entstehung des Wortes in der Sprache Meister Eckharts und seiner Überlieferung in der nacheckhartschen Mystik des Jacob Böhme, in: Franz Hundsnurscher und Ulrich Müller (Hg.), ›Getempert und gemischet‹ für Wolfgang Mohr zum 65. Geburtstag von seinen Tübinger Schülern, Göppingen 1972, S. 281–312, hier S. 282–284. Siehe auch Burkhard Hasebrink, sich erbilden. Überlegungen zur Semantik der Habitualisierung in den ›Rede der underscheidunge‹ Meister Eckharts, in: Andreas Speer und Lydia Wegener (Hg.), Meister Eckhart in Erfurt, Berlin 2005, S. 122–136. 5 Vgl. etwa die Regula Benedicti V,7: Ergo hi tales, relinquentes statim quae sua sunt et ­voluntatem propriam deserentes. 6 Ich gebrauche die Bezeichnung ›Legende‹ hier zunächst unabhängig von Historizität oder Kultstatus der Protagonisten für Texte, die das Leben heiliger oder heilsnaher Menschen erzählerisch bearbeiten. Zentral dafür ist die Differenzierung von Transzendenz und Immanenz, auf die ich mich im Folgenden beziehe, wenn es um ›Welt‹ im Sinne immanenter Begründungszusammenhänge geht. Vgl. hierzu Peter Strohschneider, Textheiligung. Geltungsstrategien legendarischen Erzählens im Mittelalter am Beispiel Konrads von Würzburg »Alexius«, in: Gert Melville und Hans Vorländer (Hg.), Geltungsgeschichten. Über die Stabilisierung und Legitimierung institutioneller Ordnungen, Köln 2002, S. 109–147. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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tisieren, von denen sich Eckhart radikal abgrenzt, also das Lassen von ûzwendi­ gen dingen, ez sî an steten oder an wîsen oder an liuten oder an werken oder daz el­ lende oder diu armuot oder smâcheit.7 In einer ganzen Reihe von legendarischen Texten, beginnend bereits bei den apokryphen Apostelakten, sind Heiligung und göttliche Erwählung der Protagonisten mit Flucht und Isolation auf der immanenten Ebene verknüpft: Dabei gibt der Heilige sämtliche sozialen Zusammenhänge (wie Eltern, Verlobte oder Ehepartner) auf und verlässt diese, um Heiligkeit überhaupt erst erfahren oder um sie ungestört von sozialen Erwartungen ausleben zu können. Umgekehrt wird Heiligkeit nicht zuletzt auch sozial sanktioniert oder erst hergestellt, indem sie durch die Umwelt des Heiligen erkannt und öffentlich gemacht wird. Diese soziale Dimension von Heiligkeit bleibt gerade auch in Isolation und Selbststigmatisierung des Heiligen stets präsent und wird in immer neuen Konfrontationen problematisiert. Heiligkeit wird somit in diesen Texten prozessualisiert und als Vorgang der Heiligung erzählt, die sich im sozialen Raum vollzieht. Reise und räumliche Distanz dienen dabei, so scheint es, als Medium dieser Heiligung; Weltflucht und räumliche Bewegung fungieren als asketische Techniken der Heilsgewinnung, die als eine Form von Selbstisolation stets auf den sozialen Raum bezogen bleiben und als zentral für die Identitätskonstitution des Heiligen erscheinen. Die folgenden Überlegungen zu einer solchen ›sozialen Heiligung‹ verbleiben also auf der Ebene der Praktiken, des gelâzen hân,8 und ihrer Funktion im legendarischen Text. Anschlussmöglichkeiten an das Projekt einer historischen Semantik der Gelassenheit liegen somit in der Frage, welche Möglichkeiten christlicher Identitätsbildung sich in den unterschiedlichen Narrativierungsformen von Heils­ gewinnung durch ›Lassen‹ in der Legende eröffnen. Dies soll im Folgenden anhand einiger Beispiele aus der spätantiken und mittelalterlichen Legendarik zur Diskussion gestellt werden.9 Im Zentrum steht dabei ein Legendentypus, in dem Reise und Weltflucht eine besonders wichtige Rolle spielen, da er sich der Erzählstruktur des hellenistischen Liebes- und Reiseromans bedient.10 Dieser Romantyp (ein bekanntes Bei 7 EW II, S. 340,4–6. 8 Zur Unterscheidung von gelâzen hân und gelâzen sîn vgl. Haas, Gelassenheit (Anm. 3), S. 253. 9 Der Frage nach dem Zusammenhang von Askese und Heiligung gehe ich auf teilweise derselben Textgrundlage in einem weiteren Beitrag sowie in meiner Dissertationsschrift nach; vgl. Julia Weitbrecht, Keuschheit, Ehe und Eheflucht in legendarischen Texten: Vita Malchi, Alexius, Gute Frau, in: Werner Röcke und Julia Weitbrecht (Hg.), Askese und Identität in Spätantike, Mittelalter und Früher Neuzeit, Berlin, New York 2010, S. 131–154; Julia Weitbrecht, Aus der Welt. Reise und Heiligung in Legenden und Jenseitsreisen der Spätantike und des Mittelalters, Heidelberg 2011. 10 Zur Einführung siehe Niklas Holzberg, Der antike Roman. Eine Einführung, Darmstadt 32006. Vgl. auch Simon Swain, A Century and More of the Greek Novel, in: ders. (Hg.), Oxford Readings in The Greek Novel, Oxford 1999, S. 3–35. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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spiel dafür sind die Aithiopika des Heliodor)11 wird ins erste vorchristliche bis vierte nachchristliche Jahrhundert datiert und ist in unterschiedlichen Kontexten rezipiert worden, nicht zuletzt in der christlichen Erzählliteratur seit der Spät­ antike.12 Dabei wird das zugrundeliegende Erzählmodell von Trennung und Wiedervereinigung eines Liebes- oder Ehepaares adaptiert und im Hinblick auf Konversion und Heiligung umgedeutet. Für den Zusammenhang von Reise und ›sozialer Heiligung‹ scheinen zwei Aspekte von besonderer Bedeutung zu sein: Das hellenistische Erzählmodell von Trennung und Wiedervereinigung transportiert (1) eine Form von normativer Einübung in sozialer Isolation und anschließender Restitution, und es ermöglicht dabei (2) die Auflösung und Umstrukturierung des sozialen Umfelds. Beide Aspekte werden in den christlichen Adaptationen aufgenommen, gleichzeitig aber auf christliche Normvorstellungen und Konzepte von Askese hin modifiziert. 1) Im hellenistischen Roman hebt das Erzählmodell nach einer Zeit der Krise und Orientierungslosigkeit letztlich auf die Restitution der Verhältnisse ab: Nach gemeinsamer Flucht und diversen schicksalhaften Trennungen wie Schiff­ brüchen und Entführungen finden die liebenden Protagonisten einander wieder und werden in geordneten Verhältnissen reinstalliert. Wie David Konstan gezeigt hat, steht dieses Erzählkonzept in Zusammenhang mit der Affektdifferenzierung innerhalb einer neuen Form der Lebensgemeinschaft, in der Liebe als ein »gegenseitiges und dauerhaftes Gefühl«13 fungiert. Diese Bindungsform bedarf im Roman der Bestätigung durch die Abfolge von Prüfungen und Be 11 Text und frz. Übers.: Héliodore, Les Éthiopiques (Théagène et Chariclée), übers. von Jean Maillon, hg. von Robert Mantle Rattenbury und Thomas Wallace Lumb, 3 Bde., Paris ²1960; dt. Übers.: Die schöne Chariklea, übers. von Rudolf Reymer, hg. von Bernhard Kytzler, München 1990. Außerdem zählen Leukippe und Kleitophon des Achilleus Tatios, die Ephesiaka des Xenophon, Charitons Kallirhoë und Longos’ Daphnis und Chloe sowie eine Reihe von Fragmenten zum Korpus. Alle Texte in deutscher Übersetzung in: Bernhard Kytzler (Hg.), Im Reich des Eros, 2 Bde., Düsseldorf 2001. 12 Dazu bereits Rosa Söder, Die apokryphen Apostelgeschichten und die romanhafte Literatur der Antike, Stuttgart 1932 (Neudruck 1969). Siehe auch Christine M. Thomas, Stories Without Texts and Without Authors. The Problem of Fluidity in Ancient Novelistic Texts and Early Christian Literature, in: Ronald F. Hock, J. Bradley Chance und Judith Perkins (Hg.), Ancient Fiction and Early Christian Narrative, Atlanta (GA) 1998, S. 273–291; Richard Pervo: The Ancient Novel becomes Christian, in: Gareth Schmeling (Hg.), The Novel in the Ancient World, Leiden 1996, S. 685–711; Gerlinde Huber-Rebenich, Hagiographic Fiction as Entertainment, in: Heinz Hofmann (Hg.), Latin Fiction. The Latin Novel in Context, London 1999, S. 187–212. 13 David Konstan, Suche und Verwandlung. Transformation von Erzählmustern in den hellenistischen Romanen und den apokryphen Apostelakten, in: Werner Röcke und Julia Weitbrecht (Hg.), Askese und Identität (Anm. 9), S. 251–268, hier S. 252. Vgl. auch ders.: Acts of Love. A Narrative Pattern in the Apocryphal Acts, in: Journal of Early Christian S­ tudies 6 (1998), S. 15–36; ders.: Sexual Symmetry. Love in the Ancient Novel and Related Genres, Princeton 1994. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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währungen in der Fremde, meist handelt es sich dabei um sexuelle Übergriffe durch Dritte, die abgewehrt werden müssen. Diesen Treueproben sind die Liebenden alleine ausgesetzt, und die temporäre Trennung voneinander erscheint gleichsam als asketische Übung in Triebreglementierung und vorehelicher Bewahrung der Keuschheit. Diese ›Einübung‹ ermöglicht schließlich eine gesellschaftlich sanktionierte Lebensgemeinschaft: Am Ende der Erzählung fallen das Ziel der Reise und das Ziel der Liebesbeziehung, also die legale sexuelle Erfüllung im Unterschied zu den permanent angedrohten illegitimen Verbindungen, zusammen: Der außergewöhnliche Nachdruck, mit dem hier außereheliche Keuschheit propagiert wird, ergibt sich aus [dem] narrativen Schema, oder steht zumindest damit in Zusammenhang: Das Ziel der Protagonisten, ehelich vereint zu werden, findet sein Äquivalent in ihrem Ziel, den Endpunkt ihrer Reise […] zu erreichen – nähern sie sich dem einen, so nähern sie sich auch dem anderen.14

Diese Verbindung von Raumstruktur und Askese wird in den christlichen Texten übernommen, dabei aber modifiziert: Sie behandeln ebenfalls Trennung und Wiedervereinigung eines Paares oder einer Familie, dies steht nun aber in Zusammenhang mit Konversion und Heiligung. Trennung und Wiedervereinigung werden dabei ganz anders funktionalisiert. Statt der normativen Einübung (etwa ehelicher Tugenden) dient die Trennung in den legendarischen Texten der aktiven Verweigerung all dessen, was geltende Normen repräsentiert: Familie und Gemeinwesen, Ehe und Reproduktion, Nahrung und Kleidung.15 Somit wird auf diese Normen stets rekurriert, sie werden aber nicht wie im Roman affirmiert, sondern vielmehr transgrediert und mit Hinblick auf die neue, christliche Ordnung hinterfragt.16 Askese erscheint hier nicht als totale Verweigerung, sondern vielmehr als Medium sozialer Interaktion: Indem freiwillig und bewusst eine Außen­seiterrolle eingenommen wird, wird »die Gesellschaft nicht forciert, durch spezifischen Angriff, sondern elastisch, durch Nachgeben, Ausweichen und Emigration in Frage«17 gestellt. Dies geschieht in den hier untersuchten Texten des hellenistischen Typus insbesondere mittels räumlicher Distanz und Selbstisolation. In dieser Ausweichbewegung, also im aktiven ›Lassen‹, bleibt der Heilige 14 Konstan, Suche (Anm. 13), S. 254 f. Konstan argumentiert hier für eine lineare Erzählstruktur der Aithiopika im Gegensatz zur zyklischen der übrigen Romane, doch lässt sich die Überlagerung von geographischem Ziel und sozialer Erfüllung meines Erachtens auf das gesamte Korpus übertragen. 15 Vgl. Gerhard Schlatter, Askese, in: Handbuch religionswissenschaftlicher Grund­ begriffe, Bd. 2, Stuttgart 1990, S. 60–82, hier S. 71. 16 Vgl. Melissa Aubin, Reversing Romance? The Acts of Thecla and the Ancient Novel, in: Hock, Chance und Perkins (Hg.), Ancient Fiction (Anm. 12), S. 257–272. 17 Wolfgang Lipp, Stigma und Charisma. Über soziales Grenzverhalten, Berlin 1985, S. 151. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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gleichwohl der Welt als permanente Irritation erhalten, und erscheint Askese als Mittel, sich sozialen Erwartungen sichtbar und wirkungsvoll zu entziehen. 2) Die Auflösung des sozialen Umfelds, im Roman nur temporär, wird somit in den christlichen Texten für die Heiligung funktionalisiert: Nur durch die räum­ liche Trennung voneinander und von ihrem gewohnten Umfeld können die Protagonisten überhaupt zum Christentum finden. Dabei ist insbesondere in den apokryphen Apostelakten das im Roman wirksame Konzept der wiederher­ gestellten concordia, also der Eintracht und Stabilität des einzelnen Haushaltes, weiterhin präsent, es wird aber nicht seine Restitution, sondern zunächst vielmehr seine Destruktion vorgeführt: Liebes- und vor allem Ehepaare werden nicht zusammen-, sondern unter Berufung auf das christliche Keuschheitsgebot auseinandergebracht. Die Selbstisolation der Protagonisten wird in einigen Texten (insbesondere den spätantiken) als totale Zerstörung aller sozialen Beziehungen imaginiert, umgekehrt ist aber auch erst durch die Konversion die Wiedervereinigung mit den zuvor verlassenen sozialen Zusammenhängen unter neuen Prämissen möglich. Das Erzählmodell fungiert somit letztlich als Medium der Gotteserkenntnis, denn statt eines wankelmütigen Schicksals, das die Liebenden im Roman auseinanderreißt, waltet in der Legende göttliche Providenz und bewirkt am Ende eine transzendierte Restitution.18 Es geht dabei neben der räumlichen Wiedervereinigung der zuvor getrennten Protagonisten auch um ihre Erkenntnis, dass sich die vermeintlich kontingenten Erlebnisse als sinnhaft erweisen. Gerade die sozial destruktive Selbstisolation und räumliche Trennung ermöglichen damit wiederum neue Formen der geistlichen Beziehung und des keuschen Zusammenlebens. Heiligkeit wird hier also stets in einem Spannungsverhältnis zur Welt und zur sozialen Wirklichkeit inszeniert, wobei das gesamte Geschehen natürlich auf die Transzendenz bezogen bleibt. Diese fungiert jedoch eher als Fluchtpunkt, während sich die Konstitution heiliger Identität im Spannungsfeld von gesellschaftlicher Erwartung und imitatio Christi vollzieht. Dies wird im Konflikt zwischen den heiligen Protagonisten und ihrer Umwelt narrativiert, eben als ›soziale Heiligung‹. Der hier skizzierte Zusammenhang von Reise, Selbstisolation und ›sozialer Heiligung‹ soll im Folgenden anhand dreier Textbeispiele verdeutlicht werden, die in diachroner Folge jeweils unterschiedliche Formen der produktiven Aneignung des hellenistischen Romans in der christlichen Erzählliteratur belegen. Es handelt sich um die apokryphen Acta Pauli et Theclae (wohl zweites Jahrhundert n. Chr.), die mittelalterliche Eustachiuslegende (lateinisch etwa seit dem ach 18 Vgl. hierzu Harald Haferland, Metonymie und metonymische Handlungskonstruktion. Erläutert an der narrativen Konstruktion von Heiligkeit in zwei mittelalterlichen Legenden, in: Euphorion 99 (2005), S. 323–364. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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ten Jahrhundert) sowie den anonym überlieferten Versroman Die Gute Frau (um 1230), letzterer ein Beispiel für hoch- und spätmittelalterliche Adaptationen des Erzählmodells, in denen Reise und transzendierte Restitution wiederum stärker in weltliche Kontexte eingebunden werden. Die Acta Pauli et Theclae aus dem zweiten Jahrhundert sind als Teil der apokryphen Paulusakten überliefert.19 Als tragende Figur der Erzählung  – neben dem Apostel – erscheint Thekla, die zunächst genau dem Heldinnenschema des hellenistischen Romans entspricht: Sie ist schön, stammt aus guter Familie und ist mit Thamyris, einem Angehörigen der städtischen Oberschicht, verlobt. All dies ist sie nach der Begegnung mit Paulus bereit aufzugeben, wodurch sie ihr gesamtes soziales Umfeld herausfordert. Sie wird vor Gericht gebracht und zum Tode verurteilt, auf dem Scheiterhaufen jedoch durch göttliches Eingreifen gerettet. Thekla folgt Paulus auf seiner Weiterreise, doch wird ihr in Antiochia erneut nachgestellt. Als sie sich zur Wehr setzt, wird sie verurteilt und in der Arena wiederum errettet. Sie kehrt kurzzeitig nach Ikonium zurück und tauft ihre Mutter, um dann weiterzuziehen und zu missionieren. Die Konfrontation mit einer antagonistischen Außenwelt jenseits des Meeres dient im hellenistischen Roman als Prüfung der Protagonisten, die dabei partnerschaftliche Treue und die Aufrechterhaltung griechisch-›zivilisierter‹ Norm in der Fremde unter Beweis stellen.20 Dies wird in der kurzen und prägnanten Erzählung der Taten Theklas noch verschärft, denn die feindliche Außenwelt und das nächste soziale Umfeld fallen in den apokryphen Apostelakten zusammen; beide vertreten bestehende religiöse und gesellschaftliche Ordnungen und können Theklas Konversion nicht akzeptieren. Ihr aus pagan-gesellschaft­ licher Perspektive betrachtet destruktives Verhalten erkennt und benennt so auch als erste die Mutter Theoklia: »[…] dieser Mensch [d. i. Paulus] bringt die Stadt der Ikonier in Aufruhr und […] Thekla noch dazu. Denn alle Frauen und jungen Leute gehen zu ihm hinein und lassen sich von ihm belehren.«21 Vor dem Gericht fordert sie die öffentliche Bestrafung ihrer Tochter, um ein Exempel 19 Ricardus Adelbertus Lipsius und Maximilianus Bonnet (Hg.), Acta Apostolorum Apocrypha, Bd. 1, Leipzig 1891 (Neudruck 1959), hier: Praxeis Paulou kai Thekles, S. 235–272. Dt. Übers.: Wilhelm Schneemelcher (Hg.), Neutestamentliche Apokryphen in deutscher Übersetzung, Bd.  2, Apostolisches, Apokalypsen und Verwandtes, Tübingen 61997, hier: Taten des Paulus und der Thekla, S. 216–224 [Taten des Paulus und der Thekla]. Die Acta Pauli et Theclae sind erzählerisch in einer Weise geschlossen, dass sie als eigenständiger Text behandelt werden können. Sie sind auch nachfolgend selbständig überliefert worden, und es hat sich eine eigene Vitentradition herausgebildet. Vgl. Thomas, Stories Without Texts (Anm. 12), S. 285. 20 Zum »context of the cultural (re)construction of ›Greekness‹ under Roman imperial domination« im hellenistischen Roman siehe Virginia Burrus, Mimicking Virgins. Colonial Ambivalence and the Ancient Romance, in: Arethusa 38 (2005), S. 49–88, hier S. 50, Anm. 5; vgl. Tim Whitmarsh, Greek Literature and the Roman Empire. The Politics of Imitation, Oxford 2001, S. 1–38. 21 Taten des Paulus und der Thekla 9, S. 217. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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zu statuieren: »Verbrenne die Gesetzlose, verbrenne die Unglücksbraut mitten im Theater, damit alle Frauen, die sich von diesem haben belehren lassen, Angst bekommen.«22 Auch die Prüfungen der Keuschheit, im Roman Übungen in Monogamie und gesellschaftlicher Anpassung, werden im Kontext christlicher Erzählliteratur gewendet und dienen hier vielmehr dazu, die christliche Gesinnung und den Willen auf die Probe zu stellen, außerhalb der gewohnten sozialen Zusammenhänge zu leben. Nachdem ihre Hinrichtung in Ikonium auf wunderbare Weise sabotiert worden ist, macht Thekla sich auf die Suche nach Paulus. Der Konflikt vertreibt sie aus ihren sozialen Zusammenhängen und die Flucht wird zum Mittel der Heiligung, denn erst in Distanz zu ihrem gewohnten Umfeld kann Thekla in imitatio Christi leben. Ihre Reise gestaltet sich dabei als Weltflucht, zugleich aber auch als Suche nach Paulus, gewissermaßen ihrem spirituellen Geliebten. Allerdings werden die Begegnungen der beiden durch die reservierte Haltung des Paulus konterkariert, die in starkem Gegensatz zu den tränen- und umarmungsreichen Wiedererkennungsszenen des hellenistischen Romans stehen. Dies wird besonders deutlich, als sich in Antiochia ein gewisser Alexander in Thekla verliebt und Paulus zu bestechen versucht. Diese Szene ist kontrovers bewertet worden, vor allen Dingen in einer stark moralisch aufgeladenen Auseinandersetzung mit dem Tatbestand »sexueller Belästigung«.23 In der Tat wird hier das Aufeinanderprallen von rechtlichen, religiösen24 und Geschlechterordnungen inszeniert. Jedoch wird erst mit Blick auf die Folie des hellenistischen Romans deutlich, dass auch hinter dieser Szene ein bestimmter Motivkomplex steht: Einer der Partner wird von einem Dritten begehrt und bedroht, was es dem Helden jeweils ermöglicht, seine Treue unter härtesten Bedingungen unter Beweis zu stellen. Paulus hingegen distanziert sich von Thekla und macht sie damit zur Rechtlosen, die den Übergriffen Alexanders ausgeliefert ist: 22 Taten des Paulus und der Thekla 20, S. 219. 23 Luzia Sutter Rehmann versteht diese »sexuellen Differenzen« als »Anstrengung zur Befreiung der sexuellen Beziehungen von patriarchalen Dominanz- und Unterwerfungsmustern«. Siehe Luzia Sutter Rehmann, Sexuelle Differenzen. Geschichten des Missbrauchs in den Apokryphen Apostelakten – Grundzüge einer Hermeneutik des Konflikts, in: lectio diffi­ cilior 2 (2000), URL: http://www.lectio.unibe.ch/00_2/s.htm [Zugriff: 31.03.2009]. Vgl. Lynne C. Boughton, From Pious Legend to Feminist Fantasy: Distinguishing Hagiographical License from Apostolic Practice in the Acts of Paul/Acts of Thecla, in: Journal of Religion  71 (1991), S.  362–383. Die ideologische Vereinnahmung der Theklageschichte, in der Moderne ins­besondere von Seiten der feministischen Theologie, nimmt indes bereits bei Tertullian ihren Anfang, siehe Tertullian, De Baptismo/Von der Taufe, übers. und eingel. von Dietrich Schleyer, Turnhout 2006, hier 17,4 f., S. 205–207. Vgl. Magda Misset-van de Weg, Magic, Miracle and Miracle Workers in the Acts of Thecla, in: Anne-Marie Korte (Hg.), Women and Miracle Stories. A Multidisciplinary Exploration, Leiden 2001, S. 29–52, hier S. 32, Anm. 8. 24 Alexander ist Priester und Thekla reißt ihm in der Auseinandersetzung den Kranz vom Kopf. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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Paulus aber sagte: ›Ich kenne die Frau nicht, von der du sprichst; sie ist auch nicht mein.‹ [Alexander] aber, der ja ein mächtiger Mann war, umarmte sie einfach auf offener Straße. Sie aber hielt nicht still, sondern sah sich nach Paulus um. Und heftig schrie sie auf: ›Tue einer Fremden nicht Gewalt an, tue nicht der Magd Gottes Gewalt an! Unter den Ikoniern bin ich die Erste, und weil ich den Thamyris nicht heiraten wollte, bin ich aus der Stadt vertrieben.‹ Und sie ergriff Alexander und zerriß ihm das Ober­ gewand, riß ihm den Kranz vom Kopf und machte ihn zum Gespött.25

Die Konfliktkonstellation aus Ikonium – Thekla soll eine Rollenerwartung erfüllen, die mit einem gottgefälligen Leben nicht zu vereinen ist – wird also in Antiochia wiederholt und gesteigert. Die räumliche Entfernung durch die Reise dient hier nicht der Entschärfung des Konflikts, dieser wird vielmehr in der Fremde noch radikalisiert, da Thekla hier als völlig rechtlos dargestellt wird. Auch die Acta Pauli et Theclae bedienen sich der Aneinanderreihung von Prüfungen und Bewährungen, deren Gegenstand aber nicht die Liebesbeziehung ist, sondern allein Theklas Beständigkeit und Leidensfähigkeit angesichts der Bedrohung ihrer Keuschheit. Der Weg Theklas führt somit in eine heilige Isolation und die Bereitschaft, sich außerhalb aller sozialen Zusammenhänge zu begeben, wird zum Umschlagpunkt christlicher Identitätsbildung: Es geht hier nicht darum, innerhalb der sozialen Beziehungen zu funktionieren, sondern diese sollen ganz aufgegeben werden; es geht nicht um das Erlernen sozialer Normen für ein Leben in der Welt, sondern darum, diese zu verweigern. Und obgleich unterschiedliche christliche Lebenszusammenhänge präsentiert werden26 und am Ende ein Wieder­ sehen Theklas mit ihrer Mutter steht, findet keine Restitution der ursprünglichen Verhältnisse statt. Vielmehr sind zuletzt alle Beziehungen Theklas – selbst die zu Paulus, so scheint es – angesichts ihrer Heiligung zerstört oder irrelevant geworden. Die Folge von Trennungen und Wiedervereinigungen führt aus der Welt und nicht, wie im Roman, in die vertraute Welt zurück. Diese (anti-)soziale Heiligung erscheint dabei jedoch zugleich als eine zentrale Voraussetzung für die narrative Erprobung christlicher Identitätsentwürfe und neuer Lebensformen. In der Erzählfolge von räumlicher Trennung und Wiedervereinigung, von sozialer Auflösung und Restitution, können zugleich unterschiedliche Möglichkeiten erzählerisch durchgespielt werden. Dabei werden die Gegensätze von Christentum und Heidentum, von Ehe, Reproduktion, Askese und Keuschheit in ihrer Unvereinbarkeit vorgeführt, im Medium der Legende aber auch zu harmonisieren versucht, indem unterschiedliche Modelle christ­ licher Lebensführung und Vergesellschaftung vorgeführt werden. Gerade die Paradoxie von Weltflucht und Selbstisolation, so scheint es, ermöglicht hier auch die Veränderung der vertrauten Zusammenhänge. 25 Taten des Paulus und der Thekla 26, S. 221. 26 In der Tischgemeinschaft mit der Familie des Onesiphorus (Kap. 25) und im Haushalt der Tryphaina (Kap. 27). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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Dieses Phänomen betrifft etwa die Eustachiuslegende, die lateinisch etwa seit dem achten Jahrhundert überliefert ist.27 Bereits Gordon Hall Gerould hat die Verbindung zur hellenistischen Erzähltradition gezogen und die Eustachiusle­ gende dem Typus ›Man Tried by Fate‹ zugeordnet.28 Hierfür bildet Hiob die biblische Folie29 – ein thematischer Bezug, der gerade im Hinblick auf gelâzenheit von Interesse ist. Placidus, wie Eustachius vor seiner Taufe heißt, wird auf der Hirschjagd durch eine Christuserscheinung bekehrt und lässt sich gemeinsam mit seiner Familie taufen. Als Prüfung seiner Leidensfähigkeit verliert er daraufhin aber seinen gesamten Besitz. Aus Scham verlässt er das Land und wird unterwegs noch zusätzlich von seiner Frau und den beiden Söhnen getrennt. Auf das biblische Vorbild Hiob wird in der Christusvision des Eustachius explizit hingewiesen, denn Eustachius soll sich in diesen Prüfungen als ›alter Iob‹ erweisen. Indem aber mit dem Erzählmodell des hellenistischen Romans die ganze Familie miteinbezogen wird, gewinnt die Erzählung eine zusätzliche soziale Dimension. Zudem ist Eustachius ein Offizier des römischen Kaisers, womit neben den Auswirkungen auf seine Familie auch die politische und gesellschaftliche Bedeutung seines Handelns – seiner asketischen Verweigerungshaltung – zum Thema wird. In Zusammenhang damit steht, dass Einsamkeit und Entbehrungen nicht an den Figuren abprallen (oder von ihnen freudig gesucht werden), sondern dass diese in ihrer ganzen Hilflosigkeit vorgeführt werden. Sie repräsentieren also nicht ein Ideal der hypomoné oder patientia,30 wie es in anderen Legendentypen begegnet, vielmehr wird das Erzählprogramm, also die Funktionalisierung von Leiden und Isolation für die Heiligung, von Christus ausführlich erläutert: […] oportet te multa pati ut de alta seculi uanitate humilieris et rursus in spiritualibus diuitiis exalteris. Tu ergo ne deficias nec ad gloriam pristinam respicias quia per temp 27 Lateinische Fassung in: Jean Bolland (Hg.), Acta Sanctorum, Septembris Bd. VI, Antwerpen 1757, hier S. 123–137. Vgl. Thomas J. Heffernan, An Analysis of the Narrative M ­ otifs in the Legend of St. Eustace, in: Medievalia et Humanistica 6 (1975), S. 63–91, hier S. 65 f., sowie Hippolyte Delehaye, La légende de saint Eustache, in: Académie Royale Belgique. B ­ ulletin de la Classe des lettres 4 (1919), S. 175–210. Ich lege im Folgenden die kürzende, die Narration aber erhaltende Fassung aus der Legenda Aurea zugrunde: Iacopo da Varazze, Legenda aurea, hg. von Giovanni Paolo Maggioni, Tavarnuzze 21998, hier: De Sancto Evstachio, Bd. 2, [De Sancto Evstachio], S. 1090–1098. 28 Gordon Hall Gerould, Forerunners, Congeners, and Derivatives of the Eustace Legend, in: Publications of the Modern Language Association of America 19,3, N. F. 12,3 (1904), S. 335–448. 29 Ebd., S.  338–343. Vgl. Joerg O. Fichte, Die Eustachiuslegende, ›Sir Isumbras‹ und ›Sappho Duke of Mantona‹. Drei gattungs- bzw. typenbedingte Varianten eines populären Erzählstoffes, in: Walter Haug und Burghart Wachinger (Hg.), Kleinere Erzählformen des 15. und 16. Jahrhunderts, Tübingen 1993, S. 130–150, hier S. 138. 30 Vgl. Brent D. Shaw, Body/Power/Identity. Passions of the Martyrs, in: Journal of Early Christian Studies 4 (1996), S. 269–312, hier S. 278. Siehe auch Heinz-Horst Schrey, Geduld, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 12, 1984, S. 139–144. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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tationes oportet te alterum Iob demonstrari. Sed cum humiliatus fueris ueniam ad te et in gloriam pristinam restituam te.31

Im Kontext dieser Betonung von Ruhm und Ehre ist die Isolation in der Fremde auch nicht allein auf die Person des Heiligen, sondern gleichermaßen auf die gesellschaftliche Stellung der Familie bezogen. Sozialer Abstieg und Furcht vor Schande führen hier zur Flucht,32 nicht etwa der Wille zum Leben in Armut für das Seelenheil. Die sozialen Zusammenhänge werden also nicht freiwillig verlassen, Verlust und Isolation werden schmerzlich empfunden und auch extensiv verbalisiert. Selbst Hiob, so klagt Eustachius, hatte es noch besser als er, denn diesem blieben zumindest seine Frau, seine mitfühlenden Freunde und nicht zuletzt ein Misthaufen, auf dem er sitzen konnte – er aber, Eustachius, habe alles verloren.33 Anders als der hier projizierte Hiob ist Eustachius nicht gelassen  – er wird lediglich in der Fremde alleine gelassen. In dem Maße, wie die Figuren hier Schmerz und Verlust empfinden und benennen, bleiben sie auch innerhalb der Welt, und auf dieser immanenten Ebene verläuft auch die Wiedervereinigung: Die Erwartungen der nichtchristlichen Umwelt kommen erneut ins Spiel und führen die Familie wieder zusammen und an ihren Ausgangspunkt zurück. Der Kaiser sucht Eustachius für den Kriegsdienst zurückzugewinnen, was zu einer Form von sozialer Restitution führt, die zunächst einmal nur das ist: Eustachius findet seine Söhne und seine Frau wohlbehalten wieder und hat obendrein die Barbaren besiegt. Die Szene erinnert an die tränenreichen Anagnorismen der hellenistischen Romane: […] et amplectentes eos ipse et mater super eorum collum plurimum fleuerunt et crebrius eos osculabantur. Omnis igitur exercitus plurimum gaudebat et de inuentione eorum et de uictoria barbarorum.34 Es ist also alles eitel Wiedererkennung, doch muss die Legende noch zu einem angemessenen Ende kommen, was zu einer erneuten Wendung führt:35 Cum 31 De Sancto Evstachio, S. 1092. 32 Qui ruborem uerentes Egyptum pergebant […]. De Sancto Evstachio, S. 1092. In der langen Fassung der Acta Sanctorum bildet ein öffentliches Fest den Auslöser zur Flucht, um dem opprobrium, dem Skandal, zu entgehen; vgl. Acta Sanctorum (Anm. 27), S. 127. 33 De Sancto Evstachio, S. 1094. Anders als Eustachius selbst (und im Hinblick auf Zweifel, nicht auf patientia) argumentiert Benedikt Konrad Vollmann, »Eustachius zweifelt keinen Augenblick – Christus hat es ihm ja bereits anläßlich seiner Erscheinung erklärt. Es gibt keine Freunde und kein Weib, die ihm zusetzen, und auch der Ersatz des Aussatzmotivs durch das Motiv ›Verlust des Ansehens‹ wirkt eher blaß.« Benedikt Konrad Vollmann, Die geheime Weltlichkeit der Legende. Fortleben und Verwandlung antik-weltlicher Erzählstoffe in der Legende, in: Christoph Huber, Burghart Wachinger und Hans-Joachim Ziegeler (Hg.), Geistliches in weltlicher und Weltliches in geistlicher Literatur des Mittelalters, Tübingen 2000, S. 17–25, hier S. 20 f. 34 De Sancto Evstachio, S. 1097. 35 Entgegen der Forschung, die dieses Ende meist als angehängt, »geradezu akzidentiell« auffasst (siehe Volker Honemann, Guillaume d’Angleterre, Gute Frau, Wilhelm von Wenden. Zur Beschäftigung mit dem Eustachius-Thema in Frankreich und Deutschland, in: M ­ artin © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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igitur rediret, contigit iam Traianum obisse et successisse ei peiorem in sceleribus Adrianum […].36 Es kommt, wie es kommen muss: Eustachius verweigert die Siegesopfer und wird daraufhin mit seiner Familie zum Tode verurteilt. Aus der räumlich-geographischen Restitution, der Rückkehr nach Rom, folgt somit eine letzte Krise, die im Martyrium kulminiert. Die sozialen Beziehungen werden also nur temporär restituiert, um dann erneut und endgültig zerstört bzw. transzendiert zu werden: »Die Wiederherstellung der Familie ist zugleich auch deren Aufhebung: durch Überhöhung im gemeinsamen Martyrium und Überführung der irdischen Körper in überirdische.«37 Die Eustachiuslegende zeigt somit Ansätze einer sozialen und damit innerweltlichen Restitution, die im Kontext legendarischer Literatur eher überrascht. Die Existenz alternativer Lebensentwürfe in der Wiedervereinigung der Familie wird hier zumindest angedeutet, findet aber innerhalb der Begründungszusammenhänge der Legende keinen Platz und muss gewaltsam auf einen (legendarischen) Nenner gebracht werden. Auch der so genannten Guten Frau38, einem mittelalterlichen Versroman um 1230, liegt das Erzählmodell von Trennung und Wiedervereinigung zugrunde. H.  Jones und Roy Wisbey (Hg.), Chrétien de Troyes and the German Middle Ages. Papers from an International Symposium, Cambridge 1993, S.  311–329, hier S.  315), argumentiert ­Harald Haferland auf einer anderen Ebene nicht für die Kohärenz dieser Handlungsstruktur, sondern versteht sie als Phänomen narrativer Metonymie: »Die Handlung besteht also nicht […] nur darin, über die erzählte Ereignisfolge die Macht der Vorsehung aufzuzeigen, sondern die Handlung selbst steht signifikativ.« Haferland, Metonymie (Anm. 18), S. 353. 36 De Sancto Evstachio, S. 1097. 37 Christian Kiening, Familienroman und Heilsgeschichte, in: Karl-Heinz Spiess (Hg.), Die Familie in der Gesellschaft des Mittelalters, Ostfildern 2009, S.  51–76, hier S.  68. Siehe  auch Christian Kiening, Familienroman, christlich besetzt. Eine Heiligenlegende als Kippfigur, in: Neue Rundschau 116 (2005), S. 31–38. 38 Die gute Frau, hg. von Emil Sommer, in: Zeitschrift für deutsches Alterthum und deutsche Literatur 2 (1842), S. 385–481; Korrekturen in: Zeitschrift für deutsches Alterthum und deutsche Literatur 4 (1844), S.  399 f. Vgl. Gudrun Aker, Die ›Gute Frau‹. Höfische Bewährung und asketische Selbstheiligung in einer Verserzählung der späten Stauferzeit, Frankfurt a. M. 1983, S.  15, Anm.  6. Eine weitere (bisher unveröffentlichte)  Edition in: Denis J. B. ­Mackinder-Savage, Die ›gute Frau‹. A Textual and Literary Investigation. Diplomatic Copy. Critical Edition, 2 Bde., Diss. Auckland (New Zealand) 1978. Zu Quellen und Stoffgeschichte vgl. Gerould, Forerunners (Anm. 28), S. 361 f.; Murray Harold Feder, A Source Study and Interpretation on the Middle High German Poem: Die ›gute Frau‹, Diss. Berkeley (Cal.) 1964; Denis J. B. Mackinder-Savage, ›Die gute Frau‹, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, Bd. 3, 21981, Sp. 328–330. Überliefert in einer Abschrift des 15. Jahrhunderts, wird der Text etwa 1230 datiert. Bereits Edward Schröder verortet ihn im Umfeld des Markgrafen Hermann V. von Baden; siehe ders., Der Dichter der Guten Frau, in: Untersuchungen und Quellen zur germanischen und romanischen Philologie. Johann von Kelle dargebracht von seinen Kollegen und Schülern, Erster Teil, Hildesheim 1975 [Reprograph. Nachdruck der Ausg. Prag 1908], S. 339–352. Vgl. dazu auch Aker, Die ›Gute Frau‹ (siehe oben), S. 125–151; zur Datierung besonders S. 149–151. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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Dieses wird hier jedoch für die Bestätigung christlicher Herrschaft funktiona­ lisiert und damit wiederum stärker ›verweltlicht‹ als in den vorherigen Beispielen. Trennung im Sinne asketischer Weltflucht dient hier nicht vorrangig der Heiligung; vielmehr geht es um die Begründung einer Dynastie: Das im Mittelpunkt der Erzählung stehende Herrscherpaar verlässt zunächst freiwillig sein Land, die Protagonisten müssen dann aber in einer Reihe von schicksalhaften Trennungen alleine zurechtkommen, um danach erwartungsgemäß wieder zusammengeführt und – dies vielleicht weniger erwartungsgemäß – auch wieder in ihre Herrschaft eingesetzt zu werden. In dieser bewussten Weltflucht und den darauf folgenden Trennungen wird also nicht die individuelle Leidensfähigkeit, sondern vielmehr die Herrschaftstauglichkeit der Familie und insbesondere der namenlosen Protagonistin, der guten Frau, auf die Probe gestellt. Die anschließende Restitution erfolgt auf räumlicher, personeller und institutioneller Ebene, wodurch die weltliche Herrschaft transzendent legitimiert wird, das Modell von Trennung und Wiedervereinigung aber auf immanente Zusammenhänge bezogen bleibt. Dies führt in gewisser Weise wieder zurück zur Stiftung ehelicher concordia im hellenistischen Roman, geht aber auch darüber hinaus: Die aufgegebene Ordnung wird nicht lediglich wiederhergestellt, wie sie vorher war, sondern in dieser Restitution transzendiert. Die Ereignisse im ersten Teil  des Textes spielen sich zunächst auch innerhalb der Welt ab, hier geht es um minne und âventiure. Das höfische Weltleben der guten Frau und ihres Ehemannes (der im Folgenden analog als ›der gute Mann‹ bezeichnet werden soll) findet dann jedoch ein abruptes Ende: Nachdem nämlich dieser gute Mann eine Gruppe von Bettlern erblickt hat, beginnt er mit seiner von Besitz und weltlicher Ehre bestimmten Existenz zu hadern. Er beschließt, die werlt [ze] lâzen durch got39, heimlich den Hof zu verlassen und Verzicht auf all das zu üben, daz […] nütze wære,40 also die Annehmlichkeiten der feudalen Existenz. Hierzu gibt die gute Frau bereitwillig ihr Einverständnis, doch geht es ihr dabei um Gehorsam ihrem Mann gegenüber: êst billich / daz ich lâze unde tuo / swâ dîn wille stande zuo.41 Wo die Ehefrau des Eustachius unabhängig von diesem auch zum Christentum findet und ihm deshalb folgt,42 ist die gute Frau schlicht eine liebende Ehefrau: Um ihrem Mann sein Recht zu geben (êst billich), folgt sie ihm in die Selbstisolation und sie verlassen heimlich das Land. Diese radikale asketische Abkehr von Macht und materiellen Gütern wird von der älteren Forschung im Allgemeinen in den Kontext der Armutsbewegungen

39 Gute Frau, V. 1579. 40 Gute Frau, V. 1589. 41 Gute Frau, V. 1582–1584. 42 De Sancto Evstachio, S. 1091. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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des 12. und 13. Jahrhunderts gestellt.43 Dies ist jedoch aus literaturwissenschaft­ licher Perspektive relativiert worden,44 zuletzt hat Armin Schulz die Gute Frau auf ihre ›Kompromissstruktur‹ hin untersucht, denn hier gehe es um »weltliche Protagonisten, die zugleich christliche Exempelfiguren sind«.45 Obwohl wir es hier zweifellos mit modifizierten feudaladligen Leitbildern zu tun haben, greift der direkte historische Bezug somit zu kurz, denn in der Guten Frau geht es ja gerade nicht um permanente Selbstisolation und soziale Auflösung, sondern um eine Rückkehr unter verbesserten Umständen in der Integration von Ehe und Keuschheit, von Herrschaft und Askese. Im Gegensatz zu den bisher vorgestellten Beispielen, die eher die Unvereinbarkeit von Heiligkeit und Welt vorführen, findet hier eine Art Mischkalkulation von feudalen und religiösen Interessen statt. Ehe und Sexualität werden dabei nicht in Frage gestellt, denn immerhin bekommt die gute Frau auf der Flucht zwei Söhne. Die Familie ist aber so arm, dass sie zu verhungern droht, weshalb die gute Frau verkauft wird und fortan als Dienstmagd auf sich allein gestellt ist. Die nun folgende Phase der Trennung und Isolation weicht von der bisher entwickelten Logik der ›sozialen Heiligung‹ in auffälliger Weise ab. Analog zum hellenistischen Roman werden Keuschheit und Treue der guten Frau mehrfach auf die Probe gestellt, doch geht es in diesen Bewährungsproben (anders als im Roman, aber auch als in den legendarischen Beispielen) eher um materielle und politische Probleme. Die gute Frau wird im Verlauf ihrer ›Irrfahrt‹ sogleich wieder unter den Schutz der Ehe gestellt, da sie zuerst einen Grafen und schließlich sogar den König von Frankreich heiratet. Diese Abfolge von Bewährungsproben 43 Als Ausdruck einer »Krise der adeligen Landesherrschaft« liest etwa Gudrun Aker die Gute Frau, vgl. Aker, Die ›Gute Frau‹ (Anm. 38), S. 61–97, Zitat S. 61; Mackinder-Savage, Die ›gute Frau‹ (Anm.  38), hier das Kapitel »Die Gute Frau and the Franciscan Movement«, S. 66–73. 44 Vgl. Werner Röcke, Minne, Weltflucht und Herrschaftslegitimation. Wandlungen des späthöfischen Romans am Beispiel der ›Guten Frau‹ und Veit Warbecks ›Magelone‹, in: Georg Stötzel (Hg.), Germanistik – Forschungsstand und Perspektiven. Vorträge des deutschen Germanistentages 1984, 2. Teil: Ältere Deutsche Literatur. Neuere Deutsche Literatur, Berlin, New York 1985, S. 144–159, hier S. 152 f. 45 Armin Schulz, Hybride Epistemik. Episches Einander-Erkennen im Spannungsfeld höfischer und religiöser Identitätskonstruktionen: Die gute Frau, Mai und Beaflor, Wilhelm von Wenden, in: Peter Strohschneider (Hg.), Literarische und religiöse Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit. DFG-Symposion 2006, Berlin, New York 2009, S. 658–688, hier S. 660. Vgl. zu ›antagonistischen Lebensformen‹ in der Literatur um 1200 Jan-Dirk Müller, Höfische Kompromisse. Acht Kapitel zur höfischen Epik, Tübingen 2007, S. 107–169, zur ­Guten Frau bes. S. 133–136. Während Müller die jeweils unterschiedlich erzählerisch entfaltete Spannung von Virginitätsideal und Reproduktionsgebot weitgehend synchron betrachtet, so erscheint aus der hier zugrunde gelegten diachronen Perspektive auf die historischen Trans­formationen gerade dieses Erzählkerns auffällig, dass die Aushandlung solcher Hybridisierungen oder ›Kompromisse‹ offenbar keine literarhistorische Innovation um 1200, sondern vielmehr ein Charakteristikum des Erzählens von Askese darzustellen scheint. Vgl. dazu Weitbrecht, Keuschheit (Anm. 9), S. 150. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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erscheint auch hier als narrative Steigerung, aber nicht als eine der asketischen Disziplin, sondern vielmehr des sozialen Status, denn in der Folge ihrer beiden Ehen avanciert die gute Frau zur Königin von Frankreich. Zusätzlich kann sie dabei wundersamerweise ihre Keuschheit so lange bewahren, bis sie mit ihrem eigentlichen Ehemann wieder vereint ist. Keuschheit erscheint hier weniger religiös-asketisch konnotiert und folglich auch nicht primär als Weg der Heiligung. Das zeigt sich wiederum im Vergleich mit der Eustachiuslegende: Dort wird ebenfalls die individuelle Bewährungsfahrt von Theopista, der Frau des Eustachius, in der Phase ihrer Trennung kurz erzählt. Diese wird von einem Fährmann begehrt, der sie Eustachius gegenüber als Lohn einfordert.46 Theopista wird aber durch göttliche Gnade beschützt, die den Verfolger umgehend aus dem Weg räumt: Dominus autem uxorem Eustachii conse­ ruauit nec illam ille alienigena cognouit, sed potius eam intactam dimittens uitam finiuit.47 Anders stellt sich die Gefährdung der Keuschheit in der Guten Frau dar: Ihre Keuschheit ist weniger spirituelle Tugend als partnerschaftliche Treue gegenüber ihrem Ehemann, und sie bewährt sich als Ehefrau, nicht als Heilige: got weiz wol, ich gewan nie man / wan disen den ir sehet an.48 Diese Ehe ist trans­ zendent sanktioniert, denn auch hier wirkt göttliche Gnade, dies geschieht aber in vermittelter Form: Beide Ehen werden aufgrund des Unvermögens der Ehe­ männer nicht vollzogen. Es besteht also durchaus ein Zusammenhang zur Heilsnähe der guten Frau, doch liegt die Aufmerksamkeit auf den Konsequenzen, die Ehe und Ehelosigkeit für die feudale Gesellschaft haben.49 Die erste ›außereheliche‹ Verbindung mit dem Grafen von Blois ist eine erzwungene: Er kauft die gute Frau, und sie beklagt die grôze[ ] werltschande,50 der 46 Videns autem dominus nauis uxorem Eustachii quod pulchra esset nimis ipsam plurimum habere desiderauit. Cum uero transfretasset naulum ab eo exigebat; non habentibus uero illis unde soluerent iussit pro naulo detineri uxorem uolens illam secum habere. De Sancto Evstachio, S. 1092 f. 47 De Sancto Evstachio, S. 1094. 48 Gute Frau, V. 3009 f. 49 Ein Zusammenhang, der über das Motiv der Trennung auch die beiden Teile der Erzählung verbindet. Über die mangelnde Kohärenz des Erzählens von minne einerseits, Aufgabe und Wiedereinsetzung von Herrschaft andererseits ist sich die Forschung zur Guten Frau weitgehend einig, vgl. etwa Honemann, Guillaume d’Angleterre (Anm. 35), S. 324 f. Eine Ausnahme bildet Gudrun Aker, die den Text streng vor der Folie höfischer Literatur als historisch-geographisch besetzten doppelten Kursus liest und im Gegenzug auf die legendarischen Vorlagen kaum eingeht; vgl. Aker, Die ›Gute Frau‹ (Anm. 38), S. 20 f. sowie die Darstellung zum »Bauplan« ebd., S. 24. Ich versuche nicht, den Text aus dem Erzählmodell von Trennung und Wiedervereinigung heraus vollständig zu interpretieren, sondern folge den Bezügen zum Zusammenhang von Weltflucht und Heiligung. Vor der Folie der bisher untersuchten legendarischen Texte erscheint dann auch der zweite, ›legendarische‹ Teil der Guten Frau weit weniger theologisiert, als er häufig dargestellt wird, sondern folgt vielmehr einer Logik der Immanenz und kann darin durchaus auf den ersten, ›weltlichen‹ Teil bezogen werden. 50 Gute Frau, V. 2001. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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sie damit ausgesetzt ist. In der Nacht ist dann aber der Graf zum Vollzug nicht in der Lage, was ihn ahnen lässt, dass sie mehr als nur eine magd ist. Zudem liebt er sie bereits so sehr, dass er sie unbedingt heiraten will. Dieses ›Keuschheitswunder‹ dient also der Legitimierung zu einem Zeitpunkt, zu dem die gute Frau über keinerlei Status verfügt. Es hat zudem den paradoxen Effekt, dass der Graf sie gerade aus dem Grund heiraten will, der die Ehe verhindert, weil er sie im Wunder ihres beslozzenen lîbes als ebenbürtig erkennt. Diese wunderbare Bewahrung ihrer Keuschheit und ehelichen Treue wiederholt sich, denn nach dem Tod des Grafen will der König von Frankreich die gute Frau heiraten. Nur widerwillig gibt sie dazu ihr Einverständnis, allerdings erst auf göttliche Aufforderung und auf die Zustimmung ihrer Berater hin. Es handelt sich in diesem Fall also um eine explizit göttlich sanktionierte Verbindung mit dem einzigen Zweck, die gute Frau zur Königin zu machen. Folgerichtig kann auch diese Ehe nicht vollzogen werden, denn aufgrund eines Zaubers hat der König schon länger Schwierigkeiten mannes werc zu trîben.51 Beide Verbindungen werden also unter den prokreativen Prämissen feudaler Herrschaft geschlossen, gleichzeitig werden diese in beiden Fällen sabotiert. Das führt dennoch jeweils zu glücklichen Herrscherehen, die aber in einer Hinsicht defizitär sind: Sie bleiben natürlich kinderlos. Diese keuschen Ehen dienen einzig dazu, die gute Frau sozial zu restituieren: als Gräfin, als Königin von Frankreich und zuletzt in der Wiedervereinigung mit ihrem Mann und ihren Kindern. Somit werden innerhalb der Welt dynastische Ansprüche gewahrt. Die sozialen Beziehungen werden nicht zerstört oder aufgehoben, sondern erneut bestätigt, denn nach der Wiedervereinigung mit ihrem ersten Ehemann kann die gute Frau bruchlos wieder an ihre erste Ehe anknüpfen. Folglich steht am Ende nicht die asketische Erfüllung ultimativer Heilsnähe, sondern die wiedervereinigte Familie. Die Folge von freiwilligen und un­ freiwilligen Trennungen, von Isolation und Selbstisolation, führt am Ende dorthin, wo sie – geographisch wie normativ – auch begonnen hat: in ein Reich, in dem gute und mildtätige Herrschaft waltet. Narrativiert wird, so scheint es, weniger die Heiligung als eine Form von innerweltlicher Erlösung vor der Konfessionalisierung.52 In der wieder intakten Familie, im Weiterbestehen der Dynastie 51 Gute Frau, V. 2444. 52 Ich beziehe mich hier auf Webers Askese-Konzept, obwohl er es als dezidiert protestantisches Phänomen entwickelt. Im Mittelalter sieht er dagegen, mit wenigen Ausnahmen, »planlose[ ] Weltflucht und virtuosenhafte[ ] Selbstquälerei« dominieren. Siehe Max Weber, Die protestantische Ethik I. Eine Aufsatzsammlung, hg. von Johannes Winckelmann, Gütersloh 8 1991, S. 135. Übernimmt man Webers Engführung von sittlicher Praxis mit ökonomischen Prozessen nicht, so lässt sich sein Verständnis von Askese auch auf vormoderne Zusammenhänge übertragen, vgl. Caroline Walker Bynum, Mystik und Askese im Leben mittelalter­ licher Frauen. Einige Bemerkungen zu den Typologien von Max Weber und Ernst Troeltsch, in: Wolfgang Schluchter (Hg.), Max Webers Sicht des okzidentalen Christentums. Interpretation und Kritik, Frankfurt a. M. 1988, S. 355–382. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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und in der transzendenten Begründung von Herrschaftsansprüchen. Statt mit einer sozialen Heiligung haben wir es also eher mit einer sakralisierten Resozialisierung zu tun: Die soziale Restitution gelingt nur mithilfe göttlichen Eingreifens im Wunder, der Transzendenzbezug ist aber sekundär und die Wiedervereinigung bleibt auf die innerweltliche Sphäre bezogen. Am Ende steht dann auch die Botschaft an alle guten (Ehe-)Frauen, daz niemer wîbe missegât / diu triuwe gên ir manne hât.53 Die hier vorgestellten Praktiken des Lassens im Sinne von räumlicher Distanz und Selbstisolation hätten Meister Eckhart wohl kaum zufrieden gestellt, denn hier steht stets das Lassen aller ›geschaffenen Dinge‹ im Vordergrund – ein Königreich aufzugeben aber »bedeutet nichts, wenn nicht die Selbstaufgabe diesen Akt begründet.«54 Vielmehr zeigt sich in den vorgestellten Texten Eckharts Postulat bestätigt, dass in der Abwendung von der Welt der Weltbezug immer erhalten bleibt oder überhaupt erst hergestellt wird. Sie demonstrieren also genau die »Paradoxie der Weltverneinung«,55 auf die Burkhard Hasebrink und Peter Fuchs hingewiesen haben: »Apotaxis (Weltflucht) ist Paradoxieeffekt und selbst paradox gebaut. Sie erzeugt unweigerlich, was sie vermeiden will; sie stößt sich von Immanenz ab und produziert sie eben damit.«56 Hierin liegt der zentrale konzeptionelle Unterschied der Heilsgewinnung durch Weltflucht gegenüber einer mystischen Gelassenheit im Sinne Meister Eckharts. Wie es scheint, führt ein Lassen der Dinge nicht zum Lassen seiner selbst, sondern stets zurück zu den Dingen. Die eingangs gestellte Frage nach dem semantischen und diskursiven Verhältnis der unterschiedlichen Konzepte des ›Lassens‹ lässt sich im Kontext dieser Untersuchung nicht abschließend beantworten. Die Spezifik der hier vorgestellten Entwürfe asketischen ›Lassens‹ in der Legende ist aber sicherlich in Zusammenhang mit den unterschiedlichen Medien symbolischer Vergegenwärtigung zu sehen. Die Aporien und Darstellungsschwierigkeiten, die Niklas Luhmann und ­Peter Fuchs etwa mystischem Sprechen attestieren, stellen sich ebenso in narrativen Texten, sie werden dort aber unter anderen Voraussetzungen verhandelt. Der narrative Text ist auf die Welt zumindest in dem Maße angewiesen, wie er sie 53 Gute Frau, V. 3057 f. 54 Otto Langer, Sich lâzen, sîn selbes vernihten. Negation und ›Ich-Theorie‹ bei Meister Eckhart, in: Walter Haug und Wolfram Schneider-Lastin (Hg.), Deutsche Mystik im abendländischen Zusammenhang. Neu erschlossene Texte, neue methodische Ansätze, neue theoretische Konzepte. Kolloquium Kloster Fischingen 1998, Tübingen 2000, S. 317–346, hier S. 320. 55 Hasebrink, sich erbilden (Anm. 4), S. 124. 56 Peter Fuchs, Die Weltflucht der Mönche. Anmerkungen zur Funktion des monastisch-aszetischen Schweigens, in: Niklas Luhmann und Peter Fuchs, Reden und Schweigen, Frankfurt a. M. 1989, S. 21–45, hier S. 24. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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topographisch und sozial auch selbst entwirft. Er »simplifiziert« aber nicht lediglich mittels räumlicher Metaphorik das Einheitsproblem,57 sondern macht sich die Paradoxie der Weltflucht für eine ›Verräumlichung‹ der Heiligung zunutze. Die vorgestellten Beispiele zeugen somit von der Bedeutung, die räumlichen und sozialen Ordnungen für die Narrativierung von Heiligkeit zukommt: Die Helden der legendarischen Literatur sind nicht gelassen, vielmehr ist ihre innere Haltung im performativen Vollzug ihrer Heiligung im sozialen Raum sekundär. Stattdessen erscheinen ihre Lebensgeschichten als ein ständiges Sich-Reiben an den ûzwendigen dingen, als ewiger Konflikt mit der Welt.

57 Niklas Luhmann und Peter Fuchs, Von der Beobachtung des Unbeobachtbaren: Ist Mystik ein Fall von Inkommunikabilität?, in: Dies., Reden und Schweigen (Anm.  56), S. ­70–100, hier S. 72. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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Semantiken der Seelenruhe tranquillitas, serenitas und impassibilitas in der paganen Antike, bei den Kirchenvätern und im lateinischen Mittelalter

Begriffsgeschichte, Lexikometrie, sozialhistorische Diskurssemantik, Conceptual History, so lauten die diversen Ansätze, die die historische Semantik als zentralen Schlüssel für das Verständnis vergangener Epochen, geistesgeschichtlicher Konzepte und sozialhistorischer Begebenheiten fruchtbar machen.1 So unterschiedlich diese diversen, aus verschiedenen Wissenschaftstraditionen stammenden Zugänge auch sind, so haben sie doch gemeinsam den Nachweis erbracht, dass »die Sprache mehr ist als nur ein passives Medium für den Transport von Bedeutungen.«2 Wörter und ihre Bedeutungen einerseits, der Wandel dieser Bedeutungen im Lauf der Geschichte andererseits beeinflussen soziokulturelle Strukturen, Ordnungen des Wissens, Ideologien und Mentalitäten. Vice versa prägen und verändern gesellschaftspoli­tische Errungenschaften, weltanschau­ liche Orientierungen, neuartige Denkmuster, modifi­zierte Wissensbestände und Kulturpraktiken den Wortgebrauch, führen zu begrifflichen Neuschöpfungen, zu semantischen Verschiebungen, Erweiterungen und Verengungen. Auf eine kurze Formel gebracht: Wörter und ihre Bedeutungen begründen (soziale, philosophische, ideologische etc.) Konzepte, umgekehrt bedingen, schaffen und verändern die betreffenden Konzepte Wörter und ihre Bedeutungen.3 Diese 1 Einen Überblick über die Geschichte und die Methoden der einzelnen Ansätze bieten: Hans Erich Bödeker (Hg.), Begriffsgeschichte, Diskursgeschichte, Metapherngeschichte. Mit Beiträgen von Mark Bevir, Hans Erich Bödeker, Lutz Danneberg, Jacques ­Guilhaumou, Reinhart Koselleck, Ulrich Ricken und Rüdiger Zill, Göttingen 2002; Rolf Reichardt (Hg.), Aufklärung und Historische Semantik. Interdisziplinäre Beiträge zur westeuropäischen Kulturgeschichte, Berlin 1998; Gunter Scholtz (Hg.), Die Interdisziplinarität der Begriffs­ geschichte, Hamburg 2000. Grundlegend zum Thema auch: Dietrich Busse, Historische Semantik. Analyse eines Programms, Stuttgart 1987. 2 Rolf Reichardt, Historische Semantik zwischen lexicométrie und New Cultural History. Einführende Bemerkungen zur Standortbestimmung, in: ders. (Hg.), Aufklärung und Histo­ rische Semantik (Anm. 1), S. 7–28, hier S. 21. 3 In Bezug auf den ›Begriffsbegriff‹, also die Bedeutung des Wortes Begriff, und den Unterschied zwischen ›Wort‹ und ›Begriff‹ herrscht in den einschlägigen Publikationen keine Einigkeit. Verschiedene Vorschläge diskutieren etwa: Hans Ulrich Gumbrecht, Dimensionen und © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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Reziprozität zeigt sich nicht nur anhand der Sozialgeschichte des ausgehenden 18. Jahrhunderts, an deren Beispiel der Erkenntnisgewinn, der sich mithilfe der Historischen Semantik erzielen lässt, besonders eindringlich belegt wurde,4 sondern kann in Bezug auf sämtliche »Wissens- und Verständigungssysteme«5 unter­sucht werden. Das deutsche Wort Gelassenheit meint im heutigen Sprachgebrauch so viel wie Gleichmut oder die ruhige Haltung, es bezeichnet das beherrschte Wesen, das sich gefasst nicht aus der Bahn werfen lässt, sondern ein seelisches Gleichgewicht zeigt.6 Gelassenheit impliziert die Vorstellung der Seelenruhe, einer Haltung und Sicht auf die Welt, die sich nicht tangieren und irritieren lässt durch äußere oder innere Widrigkeiten. Verknüpft damit ist die innerliche Abschottung gegen alles, was dieses Gleichgewicht stören könnte. So gehört zur Gelassenheit nach aktuellem Verständnis das Loslassen derjenigen Wünsche, Begehrlichkeiten, Drangsale und Anliegen, die der Seelenruhe abträglich sind, wenn sie nicht erfüllt werden (oder gegebenenfalls auch gerade durch ihre Erfüllung). Insofern ist der Gelassenheit die Gleichgültigkeit inhärent, und zwar im buchstäblichen Sinn, da um den Preis der Gelassenheit nichts in den Vordergrund gerückt wird, weil eine solche Priorisierung die Ruhe stören würde. Mit dem Wort Gelassenheit ist also eine strebensethische Größe bezeichnet. Die Haltung des Gleichmuts, die seelische Ruhe und Ausgeglichenheit dienen in letzter Konsequenz dem je eigenen (menschlichen) Glück. Mit Gelassenheit ist das Ziel verbunden, den Widrigkeiten der conditio humana trotzen zu können, Seelenfrieden zu erlangen. Grenzen der Begriffsgeschichte, München 2006, S.  17–27; Harald Fricke, Wortgeschichte oder Begriffsgeschichte? Bemerkungen zu einem wiederkehrenden Problemkomplex der Real­ lexikon-Arbeit, in: Gerd Dicke, Manfred Eikelmann und Burkhard Hasebrink (Hg.), Im Wortfeld des Textes. Worthistorische Beiträge zu den Bezeichnungen von Rede und Schrift im Mittelalter, Berlin 2006, S. 15–24. Hier soll ›Begriff‹ so verwendet werden, dass er das betreffende Wort meint, wenn mit diesem ein bestimmtes außereinzelsprachliches Konzept bzw. der Ausgangspunkt des onomasiologischen Feldes bezeichnet wird. Diese Verwendung von ›Begriff‹ findet sich vor allem in der jüngeren Forschung zur Onomasiologie (siehe unten). 4 Siehe grundlegend: Otto Brunner, Werner Conze und Reinhard Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, 8 Bde., Stuttgart 1972–1997; Rolf Reichardt und Hans-Jürgen Lüsebrink (Hg.), Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680–1820, 10 Bde., München 1985– 1988; François Furet und Mona Ozouf (Hg.), Dictionnaire critique de la Révolution française, Paris 1988, dt.: Kritisches Wörterbuch der Französischen Revolution, 2 Bde., Frankfurt a. M. 1996; Werner Schneiders (Hg.), Lexikon der Aufklärung. Deutschland und Europa, München 1995; Vincenzo Ferrone und Daniel Roche (Hg.), L’Illuminismo. Dizionario storico, Rom 1997; Michel Delon (Hg.), Dictionnaire européen des Lumières, Paris 1997. 5 Ralf Konersmann, Komödien des Geistes. Historische Semantik als philosophische Bedeutungsgeschichte, Frankfurt a. M. 1999, S. 21. 6 Vgl. Duden, Deutsches Universalwörterbuch, Mannheim 31996, S. 581; Gerhard Wahrig, Deutsches Wörterbuch, Gütersloh 1997, S. 535. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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Über die genannten Aspekte und Bedeutungsdimensionen ist der Begriff ›Gelassen­heit‹ umrissen, verstanden als außereinzelsprachliches Substrat, das sich erst in einzelnen sprachlichen (und einzelsprachlichen) Bezeichnungen wie Gelassenheit, Seelenruhe, inneres Gleichgewicht, Losgelöstheit, beherrschtes We­ sen usw. verkörpert. Die neuere onomasiologische Theorie geht davon aus, dass außer­einzelsprachliche Begriffe, die in ihrer Qualität nicht identisch sind mit einzelsprachlichen Bedeutungen, die Basis für onomasiologische Felder bilden. Solche Wortfelder konstituieren sich aus Bezeichnungen resp. Ausdrucksformen, die den betreffenden Begriff artikulieren.7 Ausgangspunkt eines onomasiologischen Feldes ist also immer ein außer­ einzelsprachlicher Begriff, für den dann Ausdrucksformen gesucht werden, allerdings kann dieser Begriff nur in der Komplementarität eines semasiologischen Verfahrens ermittelt werden. Die Paradoxie eines onomasiologischen Zugangs besteht darin, wie am Beispiel des Begriffs ›Gelassenheit‹ deutlich wird, dass ein solches Verfahren ohne die Semasiologie nicht auskommt, obwohl es selbst gerade die umgekehrte Analyserichtung beschreitet. Die Onomasiologie setzt also immer schon einen außereinzelsprachlichen Begriff (bzw. eine ›Sache‹) voraus, der aber ohne semasiologische Ermittlungen gar nicht gewonnen werden kann, sie ist vom Verfahren her also eine Art Hysteron-Proteron-Figur. Trotzdem führt eine onomasiologische Fragestellung zu einem erheblichen Erkenntnisge­winn, über den notwendigen Einbezug semasiologischer Diffe­ renzierungen.8 Anders gesagt: Die Feldmitglieder eines außereinzelsprachlichen Begriffs lassen sich zwar nur über semasiologische Analysen definitiv zuordnen und situieren, durch welche aber gerade die entscheidenden Bedeutungsunterschiede und -nuancen der einzelnen Ausdrucksformen sichtbar werden, die der onomasiologische Zugang überhaupt erst nebeneinander stellt. So zeichnet sich ein onomasiologisches Feld dadurch aus, dass die diversen Bezeichnungen, die es konstituieren, einerseits eine Reihe von Semen gemeinsam haben, die das Archisemem bilden, andererseits (in der Regel) nicht alle,9 so dass erst über die 7 Hierbei muss allerdings festgehalten werden, dass die Bezeichnungen »nicht bloße Ausdrucksseiten, nicht bloße Phonemketten usw., sondern bilaterale Sprachzeichen [sind], die als solche eine Ausdrucks- und eine Inhaltsseite besitzen«, und sie sich von daher »in mindestens einer der Bedeutungen ihrer Bedeutungsseiten mehr oder weniger stark mit einem vorge­ gebenen außereinzelsprachlichen Begriff decken.« Hartmut Kubczak, Die europäische Onomasiologie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und ihr Verhältnis zur Semasiologie, in: Sylvain Auroux [u. a.] (Hg.), Geschichte der Sprachwissenschaften. Ein internationales Handbuch zur Entwicklung der Sprachforschung von den Anfängen bis zur Gegenwart, Bd. 3, Berlin, New York 2006, S. 2179–2188, hier S. 2182. 8 Vgl. Kubczak, Die europäische Onomasiologie (Anm. 7), S. 2184–2186. 9 Zur Problematik der Synonymendifferenzierung siehe Kurt Baldinger, Semasiologie und Onomasiologie, in: Roland Posner, Klaus Robering und Thomas A. Sebeok (Hg.), Semiotik. Ein Handbuch zu den zeichentheoretischen Grundlagen von Natur und Kultur, Bd. 2, Berlin, New York 1998, S. 2118–2145, hier S. 2132–2134. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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Komplementarität der Verfahren die Distinktionen in der Similarität zur Geltung kommen. Erst über ein onomasiologisches Verfahren lassen sich also Wörter mit ähnlicher oder vermeintlich gleicher Bedeutung so differenzieren, dass sich die Idiosynkrasie des einzelnen Terminus zeigt, die dann wiederum Aufschluss gibt über die mit dem jeweiligen Wort verbundenen Zielsetzungen, Ideologien, Mentalitäten etc. Die folgende Untersuchung analysiert das onomasiologische Feld von ›Ge­ lassenheit‹ in diachroner Hinsicht, um dadurch die spezifischen Eigenheiten historisch differenter strebensethischer Konzeptionen sichtbar zu machen. Erst die exakte semantische Analyse der Feldmitglieder vermag zu zeigen, wie sich die Vorstellungen von Seelenruhe, innerem Gleichgewicht und Losgelöstheit in ideolo­gisch distinkten Argumentationszusammenhängen unterscheiden. Besonders fokussiert werden die diversen Ausdrucksformen, die die römische pagane Philosophie, die Kirchenväter und das christliche Mittelalter kennen, um das Phänomen der Gelassenheit zu bezeichnen, wobei der Fokus auf den lateinischen Benennungen liegt. Ausgangs- und Spiegelpunkt soll dabei jedoch die spätmittelalterliche deutschsprachige Theologie Meister Eckharts sein, bei dem sich die deutsche Ausdrucksform gelâzenheit erstmals nachweisen lässt, die dann wiederum in den theologischen Konzepten von Johannes Tauler und Heinrich Seuse einen zentralen Stellenwert einnimmt.10 Meister Eckhart gilt heute als eigentlicher Schöpfer der deutschen Wortform gelâzenheit, auch wenn sie in seinem Werk nicht prominent vorkommt, sondern sich lediglich an einer einzigen Stelle findet.11 Andere Wörter, die sich eindeutiger dem onomasiologischen Feld von ›Gelassenheit‹ zuordnen lassen, verwendet Eckhart wesentlich häufiger, so zum Beispiel ruowe. Doch zunächst zu gelâzen­ heit, das von der modernen Forschung zu einem zentralen Theorem der Eckhartschen Philosophie stilisiert wird:12 Die Wortform gelâzenheit ist eine Abstrakt­ 10 Dazu ausführlich die Beiträge im vorliegenden Band, zu Johannes Tauler insbesondere der Beitrag von Imke Früh, zu Heinrich Seuse der Beitrag von Susanne Bernhardt. Des Weiteren etwa: Markus Enders, Gelassenheit und Abgeschiedenheit. Studien zur deutschen Mystik, Hamburg 2008, S. 349–375; Niklaus Largier, Figurata locutio. Hermeneutik und Philosophie bei Eckhart von Hochheim und Heinrich Seuse, in: Klaus Jacobi (Hg.), Meister Eckhart. Lebensstationen  – Redesituationen, Berlin 1997, S.  303–332; Alois M. Haas, Kunst rechter Gelassenheit. Themen und Schwerpunkte von Heinrich Seuses Mystik, Bern [u. a.] 21996. 11 So ist gelâzenheit vor Eckhart zumindest nicht belegt: Matthias Lexer, Mittelhochdeutsches Handwörterbuch, Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1872–1878, mit einer Einleitung von Kurt Gärtner, Stuttgart 1992, Bd. 1, Sp. 806; Jacob Grimm und Wilhelm Grimm (Hg.), Deutsches Wörterbuch, Bd. 4/1/2, Leipzig 1897, Sp. 2869 f. 12 Vgl. etwa Markus Enders, Gelassenheit und Abgeschiedenheit (Anm.  10), S.  349– 375; Erik A. Panzig, Gelâzenheit und abegescheidenheit. Eine Einführung in das theologische Denken des Meister Eckhart, Leipzig 2005; Adeltrud Bundschuh, Die Bedeutung von gelassen und die Bedeutung der Gelassenheit in den deutschen Werken Meister Eckharts unter Be­rücksichtigung seiner lateinischen Schriften, Frankfurt a. M. [u. a.] 1990; Ludwig Völker, »Gelassenheit«. Zur Entstehung des Wortes in der Sprache Meister Eckharts und seiner Über© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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bildung zu gelâzen, dem Partizip Perfekt zu lâzen, das sowohl als Verbform gelâ­ zen hân als auch in adjektivi­scher Verwendung gelâzen sîn auftritt.13 Einschlägig und in dieser zweifachen Benutzungsweise verwendet es Eckhart in der Predigt 12 Qui audit me: Der mensche, der gelâzen hât und gelâzen ist und der niemermê gesihet einen ougenblik ûf daz, daz er gelâzen hât, und blîbet stte, unbeweget in im selber und unwande­ lîche, der mensche ist aleine gelâzen.14

Im doppelten Gebrauch sowohl als Partizip als auch als Prädikativ zeigen sich die beiden Bedeutungsdimensionen, die das Wort gelâzen bei Eckhart besitzt: Es bezeichnet denjenigen Menschen, »der sich selbst und die Welt gelassen und sich Gott gelassen hat.«15 Eckhart umreißt damit eine Vorstellung von Gelassenheit, die durch zwei Momente geprägt ist. Zum einen beinhaltet sie das aktive Loslassen im Sinne der Selbstentäußerung, es meint »das Leer- bzw. Freisein vom Kreatürlichen«;16 zum anderen bezeichnet sie die Bereitschaft, sich Gott ganz zu überlassen, alles anzunehmen, was Gott gibt, im Guten wie im Schlechten.17 Nur dann hat und ist der Mensch gelassen, wenn er sich von allem lossagt und »frei von allen kreaturhaften Bestimmungen«18 ist. Zu diesen Bestimmungen zählt Eckhart lîplicheit (Körperlichkeit), manicvalticheit (Vielheit) und ­zîtlicheit (Zeitlichkeit).19 Entsprechend bedarf es einer »Preisgabe des Eigenen lieferung in der nacheckhartschen Mystik bis Jacob Böhme, in: Franz Hundsnurscher und Ulrich Müller (Hg.), ›Getempert und gemischet‹ für Wolfgang Mohr zum 65. Geburtstag von seinen Tübinger Schülern, Göppingen 1972, S. 281–312. 13 Bundschuh, Die Bedeutung von gelassen (Anm. 12), S. 102. 14 »Der Mensch, der gelassen hat und gelassen ist und der niemals mehr nur einen Augenblick auf das sieht, was er gelassen hat, und beständig bleibt, unbewegt in sich selbst und unwandelbar, dieser Mensch allein ist gelassen.« Meister Eckhart, Die deutschen und lateinischen Werke, hg. im Auftrag der Deutschen Forschungsgemeinschaft. 1.  Abteilung: Die deutschen Werke [DW], Bd. I–III, V, hg. und übers. von Josef Quint, Stuttgart 1958–1976; Bd. IV,1, hg. und übers. von Georg Steer unter Mitarbeit von Wolfgang Klimanek und Freimut Löser, Stuttgart 2003; Bd. IV, 2, Lfg. 1–2, hg. und übers. von Georg Steer unter Mitarbeit von Wolfgang Klimanek, Stuttgart 2003, hier Pr. 12, DW I, S. 203,2–5; Übersetzung S. 479. 15 Bundschuh, Die Bedeutung von gelassen (Anm. 12), S. 102. 16 Panzig, Gelâzenheit und abegescheidenheit (Anm. 12), S. 103. 17 Vgl. Bundschuh, Die Bedeutung von gelassen (Anm. 12), S. 146–153 (mit einschlägigen Belegstellen). Alois M. Haas hält in diesem Kontext fest: »Gelassenheit hat eine aktive und eine passive Seite: gelâzen hân bedeutet aktives Verlassen – gelâzen sîn meint die völlige Überantwortung seiner selbst an Gott in Form einer Zuständlichkeit, die der aktuellen Askese des bewussten Sterbens nicht mehr bedarf«, Alois M. Haas, Predigt 12: ›Qui audit me‹, in: G ­ eorg Steer und Loris Sturlese [Hg.], Lectura Eckhardi. Predigten Meister Eckharts von Fach­ gelehrten gelesen und gedeutet, Stuttgart 1998, S. 25–41, hier S. 40. 18 Niklaus Largier, Kommentar, in: Meister Eckhart, Werke I–II. Texte und Überset­ zungen, hg. von Niklaus Largier, Frankfurt a. M. 1993 [EW], hier EW I, S. 713–1106, zitiert EW I, S. 961. 19 Pr. 12, DW I, S. 193,2. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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der Existenz«,20 um Gott in sich selbst, nämlich im menschlichen Seelengrund, zu finden,21 um einicheit (Einheit) und glîcheit (Gleichheit) von Gott und Mensch wahrzunehmen.22 Das damit bezeichnete Loslassen muss denn soweit gehen, dass der Mensch »Gott um Gottes willen« lässt: Daz hhste und daz nhste, daz der mensche gelâzen mac, daz ist, daz er got durch got lâze.23 Jeder Gedanke und jede Vorstellung von Gott, »jede Intention, jede Vergegenständlichung, selbst Gott als Ziel [muss] überwunden werden«,24 dies ist das strebensethische Programm, das Eckhart damit skizziert. Der Mensch findet im Zustand einer solchen Gelassenheit Gott als Teil seiner selbst.25 Die im Wesentlichen über Verbalformen und Verbaladjektive beschriebene Gelassenheit bezeichnet bei Eckhart also die Selbstentäußerung, die sich dadurch auszeichnet, dass sie in Gott aufgeht. Benannt ist nicht die Seelenruhe im Sinne der ausgeglichenen Haltung: Gemeint ist ein ›Loslassen‹, das nicht so sehr durch ein gleichmütiges Wesen hervorsticht, sondern das sich von allem lossagt und sich selbst negiert, um sich Gott zu überlassen, und dadurch zur Ruhe kommt. So gehört gelâzenheit durchaus zum onomasiologischen Feld von ›Gelassenheit‹, auch wenn damit nicht die Seelenruhe als Affektlosigkeit bezeichnet ist, sondern die Aufgabe des Strebens nach Gottes Erfüllung, um Gottes Erfüllung zu er­ reichen. Eckhart markiert damit ein strebensethisches Paradox, er bringt es mit Bezug auf Paulus wie folgt auf den Punkt: Dô er das liez, dô liez er got durch got, und dô bleip im got […].26 Tatsächlich liegt eine solche Konzeption nicht so weit weg vom modernen Verständnis des Wortes Gelassenheit, wie es auf den ersten Blick scheint. Dies zeigt die Analyse des Wortes ruowe, wie Eckhart es verwendet. Was er genau un 20 Haas, Predigt 12: ›Qui audit me‹ (Anm. 17), S. 37. 21 Dazu grundsätzlich: Peter Reiter, Der Seele Grund. Meister Eckhart und die Tradition der Seelenlehre, Würzburg 1993. 22 Vgl. Pr. 12, DW I, S. 198–202. Siehe auch Völker, »Gelassenheit« (Anm. 12), S. 283. 23 Pr. 12, DW I, S. 196,6 f.; Übersetzung S. 477: »Das Höchste und das Äußerste, was der Mensch lassen kann, das ist, dass er Gott um Gottes willen lasse.« 24 EW I, S. 877. 25 Die Wurzeln einer solchen Konzeption von gelâzenheit sieht die Eckhart-Forschung im Neuen Testament, im Zentrum steht die Formulierung omnia relinquere, die in der Vulgata im Zusammenhang mit der Nachfolge Christi Verwendung findet und von Eckhart in seinen lateinischen Texten aufgegriffen wird. Ebenfalls im Kontext der Jüngerschaft bezeichnen das Verb odire und die Wendung abnegare se ipsum den Gedanken der Selbstentäußerung – auch diese beiden Ausdrücke haben sich im Eckhartschen Werk niedergeschlagen. Der unmittelbare Bezug zur Neubildung gelâzenheit ergibt sich insofern, als die Formulierungen omnia relinquere und abnegare se ipsum bei Eckhart in der Doppelperspektive des gelâzen hân und des gelâzen sîn gespiegelt werden. Siehe dazu: Alois M. Haas, Gelassenheit – Semantik eines mystischen Begriffs, in: ders., Kunst rechter Gelassenheit (Anm. 10), S. 247–269; Panzig, Gelâzenheit und abegescheidenheit (Anm. 12), S. 57–65 (mit Belegstellen). 26 Pr. 12, DW I, S. 197,2 f.; Übersetzung S. 477: »Als er dies ließ, da ließ er Gott um Gottes willen, und da blieb ihm Gott […].« – Hervorhebung im Original. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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ter ruowe versteht, wird deutlich in der Predigt 60 In omnibus requiem quaesivi, die sich ausführlich mit diesem Fragekomplex beschäftigt. Er hält dort zum Auftakt fest: Vrâgete man mich, daz ich endelîche berihten sölte, waz der schepfer gemeinet hte, daz er alle crêatûren geschaffen hte, ich sprche: ›ruowe‹. Vrâgete man mich ze dem andern mâle, waz diu heilige drîvalticheit suochte zemâle an allen irn werken, ich sprche: ›ruowe‹. Vrâgete man mich ze dem dritten mâle, waz diu sêle suochte in allen irn bewegungen, ich sprche: ›ruowe‹. Vrâgete man mich ze dem vierden mâle, waz alle crêatûren suochten an irn natiurlîchen begerungen und bewegungen, ich sprche: ›ruowe‹.27

Eckhart thematisiert damit vier Aspekte der ›Ruhe‹, die zusammenhängen und die er im Verlauf der Predigt weiter ausführt: ›Ruhe‹ sei das Ziel, das der Schöpfer für sich selbst, für alle Kreaturen und vor allem auch für die menschliche Seele vorgesehen habe; sie sei gekennzeichnet durch völlige Bewegungslosigkeit. Die ›Ruhe‹, wie Eckhart sie versteht, ist also der »finalursächlich wirkend[e] Vollendungszustand allen geschöpflichen Strebens«,28 sie ist das, was die menschliche Seele sucht, um Gott gleich zu werden, weil sie sich dadurch aller Begehren und Bewegungen entledigen kann. Die Seele kommt zur Ruhe, wenn Gott in ihr ruht, und sie ist damit rein, dass sie sich an geistige Dinge hält.29 Sowohl die Unruhe äußerlicher Widrigkeiten als auch den Aufruhr innerer Gedanken soll die Seele meiden, wie Eckhart mit Rekurs auf Anselm von Canter­ bury festhält: Sant Anselmus sprichet ze der sêle: entziuch dich ein wênic von der unruowe ûzwendiger werke. Ze dem andern mâle: vliuch und verbirc dich vor dem sturme inwendiger gedanke, die ouch unruowe machent in der sêle. Ze dem dritten mâle: entriuwen, niht enmac der mensche gote liebers erbieten dan ruowe. Vastennes und betennes und 27 Pr. 60, DW III, S. 11,4–12,5; Übersetzung S. 507: »Fragte man mich, ich sollte erschöpfend Auskunft darüber geben, worauf der Schöpfer abgezielt habe damit, dass er alle Kreaturen erschuf, so würde ich sagen: auf Ruhe. Fragte man mich zum zweiten, was die Heilige Dreifaltigkeit in allen ihren Werken insgesamt suche, ich würde antworten: ›Ruhe‹. Fragte man mich zum dritten, was die Seele in allen ihren Bewegungen suche, ich würde antworten: ›Ruhe‹. Fragte man mich zum vierten, was alle Kreaturen in allen ihren natürlichen Strebungen und Be­ wegungen suchen, ich würde antworten: ›Ruhe‹.« – Hervorhebung im Original. 28 Markus Enders, Gott ist die Ruhe und der Friede. Eine kontextbezogene Interpretation der Predigten 7 (›Populi eius qui in te est, misereberis‹) und 60 (›In omnibus requiem quaesivi‹) des Meister Eckhart, in: Andreas Speer und Lydia Wegener (Hg.), Meister Eckhart in Erfurt, Berlin, New York 2005, S. 450–470, hier S. 463. 29 Pr. 60, DW III, S. 16,5–17,1: [Wir] suln […] prüeven, wie diu sêle sol sîn, in der got r­ uowet. Si sol sîn reine. Wâ von wirt diu sêle reine? – Daz si sich heltet ze geistlîchen dingen, dâ von wirt si erhaben […]. Übersetzung S. 508: »[Wir] sollen […] erkennen, wie die Seele sein soll, in der Gott ruht. Sie soll rein sein. Wodurch wird die Seele rein? – Dadurch, dass sie sich an geistige Dinge hält; dadurch wird sie erhoben […].« © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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a­ ller kestigunge enahtet noch enbedarf got zemâle niht wider der ruowe. Got enbedarf ­nihtes, wan daz man im ein ruowic herze gebe […].30

Eckhart charakterisiert damit Seelenruhe als strebensethisches Ziel, die sich dadurch auszeichnet, dass sie weder Ungemach, das von außen kommt, noch innerliches Ungestüm an sich heran lässt, sondern sich davon wegbewegt und es flieht. Über die ruowe kann sich der Mensch mit Gott vereinigen, sie führt die Seele insofern zu Gott, als sie erstere für letzteren frei und ihm gleich macht. Ruowe und gelâzenheit haben bei Eckhart ähnliche, aber nicht deckungs­ gleiche Bedeutungsfelder: Beide führen zur göttlichen Erfüllung darüber, dass das aktive menschliche Streben nach einer solchen Erfüllung unterbunden wird; ganz explizit negiert Eckhart im Zusammenhang mit der ruowe die geläufigen Mittel, zu Gott zu gelangen, wie Fasten, Beten und Kasteiung. Die ruowe ist das Ziel aller Bewegung und zugleich vollständige Bewegungslosigkeit, womit ein ähnlich widersprüchliches Streben ausgedrückt wird wie durch das lâzen. Stärker als der Zustand des gelâzen hân und gelâzen sîn erfordert die ruowe jedoch nicht nur ein Loslassen, sondern ein aktives Fliehen kreatürlicher Widrigkeiten, die den Menschen seinem Geist entfremden, über den er Gott gleich werden kann. So thematisiert Eckhart im Kontext der ruowe ausdrücklich die Affekte: Alsô sölte ein rehte geistlich mensche sîn erhaben an einem rehte vride ganz und ­unwandelhaftic an götlîchen werken. Des mac sich ein geistlich mensche wol schamen, daz er sô lîhte gewandelt wirt an betrüepnisse und an zorne und an ergerunge: der mensche enwart nie rehte geistlich.31

Eckhart verweist hier auf den über die ruowe zu erlangenden Seelenfrieden (vride), durch den sich ein rehte geistlich mensche auszeichnet. Entgegen stehen einem solchen Seelenfrieden jedoch Betrübnis, Zorn und Ärger, weil sie Be­ wegung bringen und den Menschen damit nicht mehr geistlich sein lassen. Meister Eckhart kennt also offensichtlich mehrere Ausdrucksformen, die dem onomasiologischen Feld von ›Gelassenheit‹ zugeordnet werden können,32 wobei 30 Pr. 60, DW III, S. 18,1–19,3; Übersetzung S. 508: »Sankt Anselmus spricht zu der Seele: Zieh dich ein wenig aus der Unruhe äußerer Werke. Zum zweiten: Flieh und verbirg dich vor dem Gestürm innerer Gedanken, die ebenfalls große Unruhe in die Seele bringen. Zum dritten: Fürwahr, der Mensch kann Gott nichts Lieberes bieten als ›Ruhe‹. Des Fastens, Betens und aller Kasteiung achtet und bedarf Gott nicht im Gegensatz zur ›Ruhe‹. Gott bedarf nichts weiter, als dass man ihm ein ruhiges Herz schenke.« 31 Pr. 60, DW III, S. 26,5–27,2; Übersetzung S. 509: »So auch sollte ein wahrhaft geistiger Mensch in einem rechten Frieden ganz und gar unwandelbar in göttlichen Werken emporgehoben sein. Dessen mag sich ein geistiger Mensch wohl schämen, dass er in Betrübnis, in Zorn und in Ärger so leicht dem Wandel unterworfen wird. Ein solcher Mensch ward noch nie recht geistig.« 32 Inwiefern abegescheidenheit auch zum Wortfeld von ›Gelassenheit‹ gezählt werden kann, soll hier mit Blick auf die reiche Literatur zu diesem Begriff ausgespart werden (vgl. jüngst Enders, Gelassenheit und Abgeschiedenheit [Anm. 10], S.  349–375; Panzig, Gelâzenheit und abegescheidenheit [Anm. 12]). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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das distinkte Sem zwischen ruowe und gelâzenheit der Aspekt der Affektlosigkeit darstellt, den Letzteres nicht besitzt. In der Forschungsliteratur zu gelâzenheit wird denn auch immer wieder betont, dass es in der lateinischen Sprache kein Äquivalent für dieses deutsche Wort gebe.33 Von daher soll nun die lateinische Tradition daraufhin untersucht werden, welche Bezeichnungen sie für das Wortfeld von ›Gelassenheit‹ zur Verfügung stellt. Insbesondere gilt es zu prüfen, welche semantischen Merkmale gelâzenheit, ruowe und vride mit den lateinischen Ausdrucksformen gemeinsam haben, wie sie in der historischen Dimension von der Antike bis ins Spätmittelalter anhand von Kontextanalysen erhellt werden können. Auf der Folie einer solchen Auseinandersetzung lassen sich die semasiologischen Spezifika der mittelhochdeutschen Wörter umso deutlicher erkennen. Insofern stellt sich die Frage, welche lateinischen Wörter vor Eckhart überhaupt geläufig waren, um Konzepte seelischer Ruhe oder Gott ähnlichen Seelenfriedens zu bezeichnen. Da die lateinische strebensethische Terminologie wesentlich durch die Kirchenväter und durch die griechisch-römische philo­ sophische Tradition geprägt ist, gilt es in erster Linie in diesen Diskursen zu suchen. Mit Blick auf das betreffende lateinische Wortfeld kommt man zudem nicht umhin, griechische Begrifflichkeiten in die Untersuchung mit einzubeziehen. Den Ausgangspunkt für die Frage nach lateinischen Semantiken der Gelassen­ heit und der Seelenruhe bilden im Wesentlichen drei griechische Termini, nämlich apátheia (ἀπάθεια) und ataraxía (ἀταραξία), die in der stoischen und in der epikureischen Philosophie zentrale Philosopheme der praktischen Lebensführung bildeten, sowie euthymía (εὐθυμία), von Demokrit als Bezeichnung für die heitere, gleichmütige Seelenstimmung gewählt. Alle drei Wörter beschreiben einen Habitus, eine Lebenshaltung, die in der Vorstellung des jeweiligen philo­ sophischen Konzepts zur Glückseligkeit führt. Alle drei Wörter wirkten zudem im Zuge des griechisch-römischen Kulturtransfers auf die lateinische Sprache. Das durch die Stoa wesentlich geprägte Wort apátheia führte in der Spätantike sogar zu einer lateinischen Neubildung. Schon von ihren Wortbildungen her geben die drei genannten Termini Aufschluss über die durch sie bezeichneten Konzepte. Bei ataraxía, von Epikur gepriesen als die Seelenruhe und der Gleichmut, der die Vorbedingung für die E ­ udaimonie darstellt,34 handelt es sich um eine verneinte Substantivbil­dung zum Verb tarássein (ταράσσειν bzw. ταράττειν) mit den Bedeutungen ›verwirren‹, ›beunruhigen‹, ›durcheinanderrühren‹. Ataraxía meint also die Gemütsruhe im Sinne der Unerschütterlichkeit, die in sich und für sich ruht und sich 33 Vgl. Bundschuh, Die Bedeutung von gelassen (Anm. 12), S. 110 und S. 118; ­Panzig, Gelâzenheit und abegescheidenheit (Anm.  12), S.  55; Völker, »Gelassenheit« (Anm.  12), S. 281. 34 Zum Stellenwert der ataraxía im philosophischen Denken Epikurs siehe weiterführend: Katharina Held, Hedone und Ataraxia bei Epikur, Paderborn 2007; Heinz-Michael Bartling, Epikur: Theorie der Lebenskunst, Cuxhaven 1994. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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durch nichts erschrecken oder aufrühren lässt. Sie erhält von daher auch die Bedeutung der Leidenschaftslosigkeit, wie apátheia, das von seiner Wortbildung her allerdings eine andere Grundbedingung ausdrückt. In apátheia steckt das Verb páschein (πάσχειν) mit den Sememen ›erleiden‹, ›erdulden‹, ›etwas erfahren‹, ›einen Eindruck empfangen‹.35 Es bezeichnet das erduldende Verhalten gegenüber einer äußerlichen Einwirkung, die positiv oder negativ sein kann, Gutes oder Schlechtes mit sich bringt. Ebenfalls als verneintes Substantiv gebildet, drückt apátheia Seelenruhe im Sinne der Unempfindlichkeit gegenüber äußeren Reizen, der Leidenschafts- und Teilnahmslosigkeit, der mangelnden Erregbarkeit und der Freiheit von Empfindungen aus. Das Wort euthymía entstammt einem noch anderen Vorstellungsbereich.36 Es ist zusammengesetzt aus dem griechischen Adverb für ›gut‹, ›wohl‹, ›recht‹, ›glücklich‹ (εὖ) und dem Substantiv thymós (θυμός). Letzteres besitzt vielseitige Bedeutungen wie ›Leben‹ und ›Lebenskraft‹; ›Leidenschaft‹ im Sinne von ›Mut‹ oder ›Heftigkeit‹; ›Empfindungsvermö­gen‹, ›Gemüt‹, ›Herz‹; aber auch ›Geist‹ und ›Verstand‹. Euthymía bezeichnet also von seinem ursprünglichen Wortsinn her den Zustand eines seelischen Wohlbefindens. Es meint eine positive Gestimmtheit, eine innere Haltung des Frohsinns. Die mit den erläuterten drei Wörtern verbundenen philosophischen Konzepte wurden sowohl von römisch-paganen als auch von christlichen Denkern aufgegrif­fen und weiter entwickelt, wobei sich für die einschlägigen griechischen Termini lateinische Begrifflichkeiten herausbildeten. Die drei wichtigsten Nominalabstrakta in diesem Zusammenhang sind tranquillitas, serenitas und impassi­ bilitas, die sich allerdings insofern unterscheiden, als die beiden ersteren bereits in der klassischen Antike belegt sind und zunächst nicht (und später auch nicht nur) im spezifischen Sinne der Seelenruhe verwendet wurden, Letzteres hin­ gegen eine spätantike Neubildung zu sein scheint, die als Lehnübersetzung von apátheia in die lateinische Sprache eingeführt wurde. Die zu den Adjektiven tranquillus und serenus gebildeten Substantive stammen eigentlich aus dem Bereich des Wetters. Mit tranquillitas wird die Windoder Meeresstille und überhaupt das stille und ruhige Wetter bezeichnet, sere­ nitas meint in der Grundbedeutung das heitere und klare Wetter, den heiteren Himmel und allgemein die Heiterkeit oder Klarheit. In übertragener Bedeutung 35 Das Ziel der apátheia spielt insbesondere in der stoischen Ethik eine zentrale Rolle, dazu grundlegend: Max Pohlenz, Die Stoa. Geschichte einer geistigen Bewegung, Göttingen 71992, S. 111–158; Maximilian Forschner, Die stoische Ethik. Über den Zusammenhang von Natur-, Sprach- und Moralphilosophie im altstoischen System, Darmstadt 32009; mit einführendem Charakter: Andreas Urs Sommer, Die Kunst der Seelenruhe. Anleitung zum stoischen Denken, München 2009. 36 Die Vorstellung der euthymía ist vor allem bei Demokrit von größerer Wichtigkeit, dazu einführend: Wolfgang Röd, Geschichte der Philosophie, Bd. 1: Die Philosophie der Antike. Von Thales bis Demokrit, München 21988, S. 206–211. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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wird tranquillitas zum ›heiteren Glanz‹ und zur ›Helle der Farbe‹, besitzt aber auch die Sememe ›Ruhe‹ und ›Frieden‹ und erhält insbesondere in der Kombination von tranquillitas animi oder tranquillitas mentis die Bedeutungen ›Gemütsruhe‹ und ›Seelenfrieden‹. Auch mit serenitas wurde in übertragenem Sinne die Gemütsruhe bezeichnet. Dem Nomen impassibilitas liegt, analog der griechischen Wortbildung apátheia, das Verb pati (›erdulden‹, ›erleiden‹, ›hinnehmen‹) zugrunde.37 Da das Wort allem Anschein nach überhaupt als lateinische Über­ setzung zum griechischen Terminus geschaffen wurde, stimmen die Sememe und Seme von impassibilitas und apátheia zunächst im Wesentlichen überein. Mit tranquillitas, serenitas und impassibilitas sind diejenigen Wörter genannt, mit denen sich bis zur Zeit Eckharts in lateinischer Sprache philosophisch-theologische Konzeptionen der Seelenruhe und des Gott gegebenen bzw. Gott ergebenen Seelenfriedens verbinden ließen. Der genauere Gebrauch dieser Wörter sowie ihre spezifischen semantischen Merkmale sind jedoch nur dann zu erfassen, wenn die Wortverwendungen über die Jahrhunderte und in den jeweiligen Kontexten untersucht werden. Vorarbeiten für ein derartiges Unterfangen leistet in der Regel die historische Lexikographie, die sämtliche ihr zugänglichen Belege sammelt, ordnet, interpretiert und auf dieser Basis eine erste Übersicht über die Bedeutungsfelder der untersuchten Wörter in historischer Dimension ermöglicht. Hinsichtlich tranquillitas, serenitas und impassibilitas bleibt ein solcher Zugang allerdings verschlossen, da die einschlägigen Lexika beim gegenwärtigen Stand die betreffenden Wörter noch nicht erfasst haben. Der Thesaurus Linguae Latinae, der diese Arbeit für die lateinische Literatur der Antike leistet, ist aktuell beim Buchstaben P angelangt, berücksichtigt also die für jenen Zeitabschnitt maßgebenden Wörter tranquillitas und serenitas noch nicht.38 Das groß angelegte Mittellateinische Wörterbuch bis zum ausgehenden 13. Jahrhundert, das auch den in der mittelalterlichen Literatur an Gewicht gewinnenden Begriff impassibi­ litas erhellen könnte, ist mit seinen soweit publizierten Untersuchungsergebnissen überhaupt erst bis E gekommen.39 Einen anderen Zugang bieten digitale Textsammlungen, die es über entsprechende Suchbefehle ermöglichen, einzelne Wörter innerhalb eines bestimmten Textkorpus aufzuspüren. Bei einem solchen Vorgehen geben allein schon die Anzahl der ermittelten Belegstellen und ihre Verteilung auf die Autoren und Diskurse einigen Aufschluss. Die Sichtung und Auswertung der Belege gestattet darüber hinaus qualitative Aussagen über die Wortverwendung im jeweiligen 37 Das lateinische Verb pati ist mit griechisch páschein verwandt. 38 Der Thesaurus Linguae Latinae wurde von 1900 bis 1999 bei Teubner (Leipzig), dann bei Saur (München) und wird nun seit 2007 bei De Gruyter (Berlin) herausgegeben. Er umfasst mittlerweile zehn Bände, die jeweils selbst wiederum aus mehreren Teilbänden bestehen. 39 Das Mittellateinische Wörterbuch bis zum ausgehenden 13.  Jahrhundert erscheint seit 1959 bei Beck in München und umfasst bis jetzt drei Bände. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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Kontext. Die umfassendste digitale Sammlung lateinischer Texte ist die Library of Latin Texts, bei Brepols bereits in der sechsten, ergänzten Auflage erschienen.40 Die Datenbank enthält Texte von den Anfängen der lateinischen Literatur bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil und erfasst über 900 Autoren. Für die Untersuchung von tranquillitas, serenitas und impassibilitas und deren semantischen Merkmalen eignet sie sich deshalb, da sie neben der paganen antiken Literatur die Texte des Corpus Christianorum (Series Latina und Continuatio ­Mediaevalis), der Patrologia Latina, der lateinischen Editionen der Sources Chrétiennes, der Opera Sancti Bernardi sowie eine große Anzahl von Ausgaben des Corpus Scrip­ torum Ecclesiasticorum Latinorum bereitstellt. Bei der rein quantitativen Erhebung der drei fokussierten Wörter innerhalb der Library of Latin Texts ergibt sich folgender Befund: In der römischen paganen Literatur finden sich 124 Belege für tranquillitas und 33 für serenitas, wobei die große Mehrheit der Textstellen nicht zu den Semantiken von Seelenruhe gerechnet werden kann, da die Wörter in den betreffenden Kontexten ›Windstille‹ bzw. ›heiteres Wetter‹ bedeuten; impassibilitas lässt sich noch nicht nachweisen. Die Patristik liefert weit über 700 Textstellen für tranquillitas, annähernd 300 für ­serenitas. Im Verhältnis zu den jeweiligen semasiologischen Feldern der klassischen Antike entfallen hier mehr Belege auf das zu untersuchende Wortfeld. Einschlägig findet sich bei den Kirchenvätern zudem impassibilitas, welches mit 19 Belegen vertreten ist. In der mittelalterlichen Literatur können im Textkorpus der Library of Latin Texts über 850 Belege für tranquillitas und an die 400 für serenitas nachgewiesen werden, deutlich über 200 für impassibilitas. Bemerkenswert in Bezug auf diesen Befund ist weniger der Umstand, dass über neunzig Prozent aller mittelalterlichen Belegstellen der geistlichen Literatur zuzuzählen sind, als vielmehr die Tatsache, dass gerade die letzteren beiden Wörter überhaupt nur bei einigen wenigen Autoren vorkommen. Serenitas findet sich in erster Linie im Wortschatz von Bernhard von Clairvaux, Hildegard von Bingen und Thomas von Aquin, im­ passibilitas wird besonders häufig von Johannes Scotus Eriugena und Thomas von Aquin gebraucht.41 Tranquillitas bleibt als Wort das am wenigsten spezifische und ist von daher in der breitesten Streuung belegt.

40 Paul Tombeur, Centre ›Traditio Litterarum Occidentalium‹. Library of Latin Texts (­CLCLT-6). Turnhout 2005. Die auf CD-Rom veröffentlichte Datenbank ist auch über Internet zugänglich. Bei den im Folgenden untersuchten lateinischen Textstellen beziehe ich mich, wo nicht anders vermerkt, auf die in diese Datenbank eingegangenen Editionen, so dass ich auf Einzelnachweise zu den gedruckten Ausgaben verzichte. 41 Das Wort serenitas wird von Bernhard von Clairvaux über 20 Mal in seinem überlieferten uvre verwendet, von Hildegard von Bingen über 25 Mal, für Thomas von Aquin finden sich 16 Belege, für Bonaventura 10; impassibilitas wird von Johannes Scotus Eriugena beinahe 50 Mal gebraucht, von Thomas von Aquin fast 100 Mal. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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Wie sich das lateinische onomasiologische Feld in seinen Feinheiten gliedert, erschließen allerdings erst die Einzelbelege von tranquillitas, serenitas und im­ passibilitas und ihre Kontexte. Anhand ausgewählter Textstellen lässt sich exemplarisch erörtern, wie sich das Wortfeld von der Antike über die Patristik bis in die Zeit der spätmittelalterlichen Theologie entwickelte, welche Konstanten und welche Transformationen im Laufe der Jahrhunderte zu greifen sind. Solche Textbeispiele können natürlich nur Schlaglichter darstellen, mit denen die hinter den Wörtern stehenden Konzepte bestenfalls angeleuchtet werden, keineswegs aber umfassend eingeholt. Doch sind die im Folgenden präsentierten Beleg­ stellen so gewählt, dass die wichtigsten Schattierungen des Wortfelds in seiner historischen Dimension sichtbar werden. Für die pagane Antike ist Lucius Annaeus Seneca der einschlägige Gewährsmann: Seelenruhe im Sinne der unerschütterlichen Heiterkeit des Gemüts, ja der Immunität gegenüber jeder Art von Aufregung ist eine zentrale Größe in der Philosophie Senecas, sie bildet eine der grundlegenden Kategorien in seinem Denken.42 Eine ganze Reihe seiner ethischen Schriften dreht sich um die Frage, wie im Umgang mit den Herausforderungen des Lebens Ruhe bewahrt werden kann, wie eine innere Haltung der Ausgeglichenheit davor schützt, von Schicksalsschlägen niedergeschmettert oder durch Affekte aus der Bahn geworfen zu werden.43 Im Dialog De tranquillitate animi greift Seneca die Thematik schon mit dem Titel auf. Der Gesprächspartner, mit dem Seneca die Frage der Seelenruhe in diesem Werk erörtert, heißt denn auch kaum zufällig Serenus. Gleich zu Beginn des Gesprächs erklärt Seneca seinem Gegenüber, was unter tranquillitas zu verstehen sei: Das aber, worauf du deine Sehnsucht richtest, ist etwas Großes, Vollkommenes [sum­ mum] und der Gottheit Nahes, sich nicht erschüttern zu lassen. Diese ruhige Gesetztheit nennen die Griechen εὐθυμία [euthymía]  – über sie gibt es ein ausgezeichnetes Buch des Demokrit –, ich nenne sie Ausgeglichenheit der Seele [tranquillitas]. Es ist ja nicht nötig, die Wortbildungen nachzuahmen und so zu übertragen. Nur der Gegenstand, der behandelt wird, soll bezeichnet werden mit irgendeiner Benennung, die die Aussagekraft des griechischen Ausdruckes, nicht seine äußere Gestalt wahren muss. Unsere Frage richtet sich also darauf, wie der Geist [animus] immer in gleichmäßiger und glücklicher Bewegung verbleibe, mit sich in segensreicher Übereinstimmung 42 Richtungsweisend dazu: Ilsetraut Hadot, Seneca und die griechisch-römische Tradition der Seelenleitung, Berlin 1969; Gregor Maurach, Seneca. Leben und Werk, Darmstadt 5 2007. Des Weiteren: Edgar M. Krentz, πάθη and ἀπάθεια in Early Roman Empire Stoics, in: John T. Fitzgerald (Hg.), Passions and Moral Progress in Greco-Roman Thought, London, New York 2008, S. 122–135. 43 In einem solchen thematischen Zusammenhang stehen die meisten von Senecas philosophischen Schriften. Besonders hervorheben lassen sich Werke wie die beiden Trostschriften Ad Polybium de consolatione, Ad Helviam matrem de consolatione, die drei Bücher De ira oder die Abhandlung De constantia sapientis. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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stehe, sein eigenes Tun freudig betrachte und diese Freude nicht unterbreche, vielmehr in einem Zustand der Ruhe verharre, ohne je überheblich oder niedergeschlagen zu sein. Dieser Zustand wird die Ausgeglichenheit der Seele [tranquillitas] sein.44

Seneca definiert tranquillitas zugleich als einen Seinszustand des Geistes45 und als eine innere Haltung. Wer über tranquillitas verfügt, besitzt das höchste Gut, besitzt das, was einen Menschen in die Nähe Gottes bringt. Die von Seneca hier auf den Begriff tranquillitas gebrachte Seelenruhe zeichnet sich dadurch aus, dass der Mensch in einer gleichmütigen Grundstimmung durch das Leben geht und sich durch nichts erschüttern lässt, sondern freudig in sich ruht. In ähnlicher Weise zeigt sich Senecas Konzeption einer heiteren Gemütsruhe im dritten Buch des Dialogs De ira, dort verbunden mit dem Terminus serenitas. Seneca spricht über Menschen, die als Vorbild zu dienen vermögen, da sie sich nicht durch Unrecht in Zorn versetzen oder aus der Ruhe bringen lassen: Aber jener, den ich eben als erhaben über jede Unannehmlichkeit dargestellt habe, hält in seinen Armen das höchste Gut [summum bonum] und antwortet nicht dem Menschen allein, sondern dem Schicksal selbst: »Alles magst du tun, zu gering bist du, meine Gelassenheit [serenitas] zu beeinträchtigen! Es verbietet das die Vernunft [ratio], der ich mein Leben zu lenken gegeben habe.«46

Wiederum bezeichnet Seneca Seelenruhe als höchstes Gut. Im Verbund mit ihr steht ratio: Derjenige Mensch, der sein Leben in heiterer Gemütsruhe zubringt, hat sich der ratio unterworfen. Ratio ist nach der Auffassung der stoischen Philosophie die universale Gesetzmäßigkeit, die Weltvernunft, an der die Menschen 44 Seneca, De tranquillitate animi [dialogi, 9], 2,3–4: Quod desideras autem magnum et summum est deoque vicinum, non concuti. Hanc stabilem animi sedem Graeci euthymian ­vocant, de qua Democriti volumen egregium est, ego tranquillitatem voco: nec enim imitari et transferre verba ad illorum formam necesse est; res ipsa de qua agitur aliquo signanda nomine est, quod appellationis Graecae vim debet habere, non faciem. Ergo quaerimus quomodo animus semper ­aequali secundoque cursu eat propitiusque sibi sit et sua laetus aspiciat et hoc gaudium non in­ terrumpat, sed placido statu maneat, nec attollens se umquam nec deprimens. Id tranquillitas erit. Deutsche Übersetzung aus: L. Annaeus Seneca, De tranquillitate animi. Über die Ausgeglichenheit der Seele. Lateinisch, deutsch, übers. und hg. von Heinz Gunermann, Stuttgart 2002, S. 13–15. 45 Das lateinische Wort animus ist in seinen Bedeutungsdimensionen vielschichtig, es bezeichnet einerseits die Seele als Prinzip des geistigen Lebens, meint dann auch ›Geist‹, andererseits die Seele als Inbegriff aller Seelenkräfte wie Empfinden, Begehren oder Denken (entspricht dann in seinen semantischen Schattierungen dem griechischen Wort thymós). 46 Seneca, De ira [dialogi, 3–5], III,25,4: At ille, quem modo altiorem omni incommodo ­posui, tenet amplexu quodam summum bonum, nec homini tantum, sed ipsi fortunae respondet: ›omnia licet facias, minor es, quam ut serenitatem meam obducas. Vetat hoc ratio, cui vitam re­ gendam dedi.‹ Deutsche Übersetzung aus: L. Annaeus Seneca, Philosophische Schriften. Lateinisch, deutsch, übers., eingel. und mit Anmerkungen versehen von Manfred Rosenbach, Bd. 1, Darmstadt 1976, S. 279. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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über ihren Geist bzw. ihre eigene Vernunft teilhaben.47 In der ratio bzw. im ló­ gos (λόγος) sehen die Stoiker nicht nur den Ursprung aller Dinge, sondern auch die bewegende Kraft und den Grund der Gesetzmäßigkeit allen Geschehens.48 So identifizieren sie die Weltvernunft auch mit der Weltseele, mit dem letzten, göttlichen Prinzip.49 Der Mensch, der sich der ratio unterwirft, fügt sich damit nicht nur der göttlichen Gesetzmäßigkeit, sondern rückt selbst in die Nähe Gottes (wie es Seneca auch im Zusammenhang mit der tranquillitas animi formuliert).50 Ein weiterer Zeuge für den Wortgebrauch von serenitas bei den Stoikern ist Aulus Gellius, der in seinen Noctes Atticae in lose aneinandergereihten Anekdoten und Miszellen Fachwissen und Testimonien aus den verschiedensten Bereichen präsentiert, so aus der Rhetorik und der Rechtswissen­schaft, aus der Philosophie und der Medizin, aber auch aus der poetischen Literatur oder der Geschichtsschreibung.51 Über einen jungen Anhänger der stoischen Philosophie berichtet Gellius wie folgt:52 Die Haltung und den Zustand des Lebensglückes [vita beata], in dessen vollem Besitz er sich zu finden meinte, könne, nach seiner Ansicht, durch Martern, durch körper­ liche Leiden, selbst durch drohende Todesgefahren weder unangenehm berührt noch vermindert werden, und es wäre kein Kummer im Stande, bei einem Stoiker die heitere Gelassenheit [serenitas] in Miene und Blick zu umwölken [obnubilari].53

Auch Gellius beschreibt serenitas sowohl als eine Haltung wie auch als einen Seinszustand, der durch größtmögliche Unerschütterlichkeit geprägt ist und des 47 In der griechischen Philosophie stehen dafür die Wörter lógos (λόγος) und nûs (νοῦς) zur Verfügung. Die lateinische Literatur verwendet neben ratio auch mens, um ›Geist‹ und ›Vernunft‹ auch im Sinne von ›Weltgeist‹ und ›Weltvernunft‹ auszudrücken. Auch das Wort animus steht in diesem Zusammenhang, bezeichnet aber eher ›den am Weltgeist teilhabenden menschlichen Geist‹. Siehe zu diesem Problemkomplex: Jula Wildberger, Seneca und die Stoa: Der Platz des Menschen in der Welt, Bd. 1: Text, Berlin, New York 2006, S. 217–240. 48 Pohlenz, Die Stoa (Anm. 35), S. 64–158. 49 Vgl. etwa Stoicorum veterum fragmenta, I,88; II,318, hg. von Hans von Arnim, Nachdruck Stuttgart 1964. 50 Die Lebensführung im Einklang mit der menschlichen Vernunft gilt den Stoikern als se­ cundum naturam vivere, als ›der universalen Gesetzmäßigkeit gemäßes Leben‹, und von daher als summum bonum, als ›höchstes Gut‹ (vgl. Cicero, De finibus bonorum et malorum, IV,14). 51 Das betreffende Werk von Gellius trägt den Titel Noctes Atticae in Erinnerung an lange und bildungsbeflissene Winterabende in Griechenland, es ist um 170 n. Chr. entstanden. 52 Nicht unterschätzt werden darf der satirische Duktus, den Gellius bei allen Beschreibungen (insbesondere von Personen) an den Tag legt, siehe dazu: Wytse Hette Keulen, Gellius the Satirist. Roman Cultural Authority in Attic Nights, Leiden, Boston 2009; Dennis Pausch, Biographie und Bildungskultur. Personendarstellungen bei Plinius dem Jüngeren, Gellius und Sueton, Berlin, New York 2004, S. 147–232. 53 Aulus Gellius, Noctes Atticae, I,2,5: Cruciatibus autem doloribusque corporis et pericu­ lis mortem minitantibus habitum statumque vitae beatae, quem se esse adeptum putabat, neque ­laedi neque inminui existimabat ac ne oris quoque et vultus serenitatem stoici hominis umquam ulla posse aegritudine obnubilari. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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wegen das glückliche Leben auszeichnet. Der ursprüngliche Wortsinn des heiteren Wetters, der in serenitas steckt, ist in augenfälliger Weise auf die Gemütsstimmung übertragen, indem die Trübung und Irritation der in sich ruhenden, heiteren Haltung als ›Umwölkung‹ bezeichnet werden. Beide Wörter, tranquillitas und serenitas, finden sich nicht nur in der paganen Philosophie, um bestimmte Konzepte der Gemütsruhe und des Gott ähnlichen Seelenfriedens begrifflich zu fassen, sondern auch früh schon bei den Kirchen­ vätern. In der Schrift Ad Donatum berichtet Cyprian einem Freund die Erlebnisse seiner Bekehrung.54 Er schildert mit Begeisterung die Wirkungen der als Wiedergeburt empfundenen Taufe, die den Menschen innerlich erstarken lasse und ihn gegen die Verführungen und Aufregungen der irdischen Welt wappne. Im Sinne eines Fazits kommt Cyprian gegen Ende der Abhandlung zum Schluss: Nur dann also ist eine sanfte und zuverlässige Seelenruhe [tranquillitas], nur dann eine feste und beständige Sicherheit [securitas] zu finden, wenn einer, diesen Wirbeln [­turbines] der beunruhigenden Welt entrückt, in der Bucht des heilbringenden Hafens sich festlegt. Zum Himmel erhebt er seine Augen von der Erde und, zur Gnade des Herrn zugelassen und seinem Gott im Geiste [mens] schon ganz nahe, kann er sich rühmen, dass all das, was im Menschenleben den anderen groß und erhaben erscheint, seinem Bewusstsein ferne liegt.55

Derjenige, der über tranquillitas verfügt, besitzt nach Cyprian auch beständige Sicherheit, securitas und tranquillitas scheinen in der Konzeption des Kirchenvaters nur die zwei Seiten derselben Medaille zu sein. Bedingung für diesen Zustand der Seelenruhe ist jedoch die Abkehr von den Wirren der Unruhe stiftenden Welt. Die turbines inquietantis saeculi sind es, die der einzelne hinter sich lassen muss, um den gewünschten Seelenfrieden zu erlangen. Mit turbo ist wiederum ein Wort aus dem Bereich des Wetters aufgegriffen, es bezeichnet in seiner Grundbedeutung den Wirbelwind. Schon die pagane Philosophie verwendet Wörter aus demselben Wortfeld, um die ›Gegenspieler‹ der Gemütsruhe zu benennen: Cicero etwa spricht von den páthe (πάθη) – den ›Gegenspielern‹ der

54 Die konkrete Einordnung dieser Schrift in den Zusammenhang der paganen philo­ sophischen Traditionen erarbeitet Rolf Noormann, Ad salutem consulere. Die Paränese ­Cyprians im Kontext antiken und frühchristlichen Denkens, Göttingen 2009, S.  22–28 und S.  47–81. Siehe des Weiteren auch George R. Boys-Stones, Post-Hellenistic Philosophy. A Study of its Development from the Stoics to Origen, Oxford, New York 2001. 55 Cyprianus Carthaginensis, Ad Donatum, 14: Una igitur placida et fida tranquillitas, una solida et firma securitas, si quis ab his inquietantis saeculi turbinibus extractus salutaris portus statione fundetur: ad caelum oculos tollit a terris et ad domini munus admissus ac deo suo mente iam proximus, quicquid apud ceteros in rebus humanis sublime ac magnum videtur, intra suam iacere conscientiam gloriatur. Deutsche Übersetzung aus: Des heiligen Kirchenvaters Caecilius Cyprianus Traktate. Des Diakons Pontius Leben des Hl. Cyprianus. Aus dem Lateinischen übers. von Julius Baer, Kempten, München 1918, S. 53. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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apátheia  – als von den perturbationes.56 Perturbatio meint im ursprüngli­chen Sinn das stürmische Wetter und bildet schon auf dieser buchstäblichen Ebene den expliziten Gegensatz zu serenitas. Dass auch im christlichen Kontext pertur­ batio und perturbare im Zusammenhang mit tranquillitas und serenitas immer wieder auftauchen, wird unten noch zu zeigen sein. Der Zustand der Seelenruhe ist bei Cyprian jedoch nicht nur durch die Abkehr von den weltlichen Wirren gekennzeichnet, sondern zugleich auch durch die Hinwendung zu Gott und seiner Gnade.57 Mit der doppelten Bewegung von einerseits ab his inquietantis saeculi turbinibus extractus und andererseits ad d ­ omini munus admissus ist ein zweifaches Moment ausgedrückt, einerseits die Abkehr von den Wirren der Welt, andererseits die Zukehr zu Gott.58 Ganz in der Tradition der paganen Philosophie steht Cyprian mit der Vorstellung, dass der Mensch Gott über seinen Geist nahe komme, so spricht er von deo suo mente iam proximus. Eine der prägendsten Figuren für die Kulturvermittlung und den Wissens­ transfer in der Spätantike ist Augustin, der zentrale Philosopheme der heidnischen Antike aufgreift, transformiert, dem Christentum einverleibt oder auch verwirft.59 In seiner Schrift De civitate Dei etwa setzt sich Augustin eingehend 56 Cicero umreißt die perturbationes in seinen Tusculanae disputationes (III,7) wie folgt: »[…] Etwa auch die übrigen Wirren der Seele [perturbationes animi], Ängste, Begierden, Leidenschaften? Das ist nämlich ungefähr derlei, was die Griechen πάθη heißen. Ich hätte Krankheiten sagen können und das wäre Wort für Wort übersetzt, aber es würde nicht unserem Sprachgebrauch entsprechen. Denn sich erbarmen, neidisch sein, ausgelassen sein, sich freuen, alles dies nennen die Griechen Krankheiten, Bewegungen der Seele, die der Vernunft [ratio] nicht gehorchen; wir aber würden diese selben Bewegungen einer aufgepeitschten Seele richtig, wie ich meine, Wirren [perturbationes] nennen, Krankheiten nicht eigentlich aber nach dem Sprachgebrauch, wenn du nicht anders denkst.«  – […] Num reliquae quoque perturba­ tiones animi, formidines libidines iracundiae? Haec enim fere sunt eiusmodi, quae Graeci πάθη appellant; ego poteram ›morbos‹, et id verbum esset e verbo, sed in consuetudinem nostram non caderet. Nam misereri, invidere, gestire, laetari, haec omnia morbos Graeci appellant, motus animi rationi non obtemperantis, nos autem hos eosdem motus concitati animi recte, ut opinor, pertur­ bationes dixerimus, morbos autem non satis usitate, nisi quid aliud tibi videtur. Deutsche Übersetzung aus: Marcus Tullius Cicero, Gespräche in Tuskulum. Tusculanae disputationes, eingel. und neu übers. von Karl Büchner, Zürich, Stuttgart 21966, S. 197. 57 Den Stellenwert der Gnade innerhalb Cyprians Denken behandelt Brigitte Proksch, Christus in den Schriften Cyprians von Karthago, Wien, Berlin 2007, S. 114–116. 58 Damit kommt bei Cyprian eine ähnliche Doppelbewegung zur Geltung wie bei Meister Eckhart, wenn dieser von gelâzen hân und gelâzen sîn spricht. 59 Zu Augustins Auseinandersetzung mit der paganen Philosophie siehe etwa die jüngeren Bände: Therese Fuhrer (Hg.), Die christlich-philosophischen Diskurse der Spätantike: Texte, Personen, Institutionen. Akten der Tagung vom 22.–25. Februar 2006 am Zentrum für Antike und Moderne der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Stuttgart 2008; Peter Seele, Philo­ sophie der Epochenschwelle. Augustin zwischen Antike und Mittelalter, Berlin, New York 2008; Waltraud Maria Neumann, Philosophie und Trinität. Erörterungen, Hildesheim [u. a.] 2002; Therese Fuhrer und Michael Erler (Hg.), Zur Rezeption der hellenistischen Philosophie in der Spätantike. Akten der 1. Tagung der Karl-und-Gertrud-Abel-Stiftung vom 22.–25. September 1997 in Trier, Stuttgart 1999. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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mit verschiedenen hellenistischen Denkgebäuden auseinander.60 So kommt er unter anderem auch auf die Ansichten der Stoiker und der Peripatetiker hinsichtlich der Gemütserregun­gen zu sprechen: Zwei Ansichten sind es, die von den Philosophen über die Gemütsbewegungen ver­ treten werden, die die Griechen πάθη [páthe] nennen, die Unsrigen aber bald wie ­Cicero Erregungen [perturbationes], bald Affektionen [affectiones] oder Affekte [affec­ tus], bald auch im engeren Anschluss an das Griechische Passionen [passiones].61

Nach einem gegenüberstellenden Vergleich der beiden Auffassungen zieht Augustin folgendes Fazit: Ist das richtig, dann besteht zwischen der Ansicht der Stoiker und der der anderen Philo­sophen über die Affekte [passiones] und Gemütsbewegungen [perturbationes ani­ morum] kein oder doch fast kein Unterschied, denn beiderseits bestreitet man, dass Geist [mens] und Vernunft [ratio] des Weisen ihrer Herrschaft unterliege. Und vielleicht behaupten die Stoiker darum, die Affekte könnten einen Weisen nicht anfechten, weil sie seine Weisheit, die ihn weise macht, keinesfalls durch einen Irrtum verdunkeln [obnubilare] oder durch einen Fehltritt aufheben können. Aber unbeschadet der klaren Ruhe [serenitas] der Weisheit finden sie doch Eingang in der Seele [animus] des Weisen […].62

Summarisch fasst Augustin die diversen philosophischen Positionen zusammen und bringt sie auf einen gemeinsamen Nenner: Derjenige besitzt serenitas, dessen Geist (mens oder ratio) sich nicht durch Gefühlsaufwallungen und Gemütserregungen umwölken lässt. Insofern vollzieht Augustin die paganen Argumentationsgänge nach und schält ihren Kern heraus: Die ›Gegenspieler‹ der Seelenruhe sind die Gemütserregungen (die verschiedenen Termini, die sich in lateinischer Sprache für sie herausgebildet haben, zählt der Kirchenvater auf), die zentrale Größe bildet der Geist oder die Vernunft, sie wird – zwar nicht im Referat 60 Dazu weiterführend: Richard Sorabji, Stoic First Movements in Christianity, in: ­Steven K. Strange und Jack Zupko (Hg.), Stoicism. Traditions and Transformations, Cambridge 2004, S. 95–107. 61 Aurelius Augustinus, De civitate Dei, IX,4: Duae sunt sententiae philosophorum, de his animi motibus, quae Graeci πάθη, nostri autem quidam, sicut Cicero perturbationes, quidam affectiones, vel affectus, quidam vero, sicut iste de graeco expressius, passiones vocant. Deutsche Übersetzung aus: Aurelius Augustinus, Vom Gottesstaat, 2 Bde., eingel. und übertr. von Wilhelm Thimme, Zürich 1955, hier Bd. 1, S. 469. 62 Aurelius Augustinus, De civitate Dei, IX,4: Quae si ita sunt, aut nihil, aut pene nihil dis­ tat inter Stoicorum aliorumque philosophorum opinionem de passionibus et perturbationibus ani­ morum: utrique enim mentem rationemque sapientis ab earum dominatione defendunt. Et ideo fortasse dicunt eas in sapientem non cadere Stoici, quia nequaquam eius sapientiam, qua utique sapiens est, ullo errore obnubilant, aut labe subvertunt. Accidunt autem animo sapientis, salva serenitate sapientiae […]. Deutsche Übersetzung aus: Aurelius Augustinus, Vom Gottesstaat (Anm. 61), Bd. 1, S. 472. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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­ ugustins, aber in der Vorstellung der hellenistischen Philosophie – in die Nähe A Gottes gerückt oder mit diesem gleichgesetzt. Wie bei Cyprian zeigen sich auch bei Augustin zudem andere Kontextualisierungen von tranquillitas und serenitas, die einen Gebrauch realisieren, der sich ebenso bei späteren christlichen Denkern findet. Dieser Gebrauch steht zwar eindeutig unter dem Einfluss der antiken Philosophie, setzt aber die Akzente anders. In seinen Confessiones etwa weiß Augustin über seine Jugendzeit zu berichten: Auch ließ man, statt lediglich die Strenge zu mildern, die Zügel schießen, gab mir volle Freiheit zu spielen und in mancherlei Leidenschaften [affectiones] mich auszutoben. Über mir breitete sich völlige Finsternis [caligo], verbarg, mein Gott, die heitere Ruhe [serenitas] deiner Wahrheit […].63

Ähnlich wie die paganen Denker stellt Augustin serenitas und affectiones gegenüber. Es sind die Gemütsbewegungen und Affekte, die in Opposition zur Seelenruhe stehen. Serenitas ist im vorliegenden Kontext aber nicht so sehr Seins­ zustand und Haltung des Einzelnen für sich allein, sondern sie definiert sich mit direktem Bezug auf Gott. Die Rede ist von serenitas veritatis tuae; Seelenruhe ist in Augustins Konzeption also eine Qualität, die in und durch die Erkenntnis Gottes erlangt wird, sie ist zugleich Seinszustand, Haltung und Ereignis. Noch deutlicher wird diese Akzentuierung in Augustins Enarrationes in Psal­ mos bei der Auslegung des sechsten Psalms. Die Psalmzeile Convertere, Domine, et erue animam meam64 gibt Augustin Anlass, über die Bekehrung zu sprechen und darüber, was bei dieser im Innern des Menschen geschieht: Wenn er [Gott] also in der Welt war und die Welt ihn nicht erkannte, dann ist es unsere Unreinheit, die seinen Anblick nicht erträgt. Wenn wir aber umkehren, das heißt durch die Änderung des alten Lebens unsern Geist [spiritus] neuschaffen, dann finden wir es hart und mühsam, vom Nebel [caligo] der irdischen Begierden [cupiditates] uns zur heiteren Gelassenheit und Ruhe [serenitas et tranquillitas] des göttlichen Lichts zurückzuwen­den.65 63 Aurelius Augustinus, Confessiones, II,3,8: Relaxabantur etiam mihi ad ludendum habe­ nae ultra temperamentum severitatis in dissolutionem affectionum variarum, et in omnibus erat caligo intercludens mihi, deus meus, serenitatem veritatis tuae […]. Deutsche Übersetzung mit Modifikationen aus: Aurelius Augustinus, Confessiones. Bekenntnisse. Lateinisch, deutsch, übers. von Wilhelm Thimme, Düsseldorf, Zürich 2004, S. 67. 64 »O, wende dich, befreie meine Seele, Herr« – Aurelius Augustinus, Die Auslegungen der Psalmen. Christus und sein mystischer Leib, ausgew. und übertragen von Hugo Weber, Paderborn 1955, S. 17. 65 Aurelius Augustinus, Enarrationes in Psalmos, 6,4: Si ergo in hoc mundo erat, et mun­ dus eum non cognovit, nostra immunditia non fert eius adspectum. Dum autem nos convertimus, id est, mutatione veteris vitae resculpimus spiritum nostrum, durum sentimus et laboriosum ad serenitatem et tranquillitatem divinae lucis a terrenarum cupiditatum caligine retorqueri. Deutsche Übersetzung mit Modifikationen aus: Aurelius Augustinus, Die Auslegung der Psalmen (Anm. 64), S. 17. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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Augustin beschreibt die Bekehrung gleichsam als innerliche Kehrtwendung, die von einem Leben mit irdischen Bedürfnissen und Begierden zu einem Dasein führt, das in göttlicher Gelassenheit ruht. Finsternis und Licht, Unreinheit und Reinheit, blinde Unkenntnis und einsichtige Schau stehen einander als Zustände gegenüber. Die erkennende Schau des göttlichen Lichts setzt voraus, dass der menschliche Geist66 neu geformt bzw. erneuert ist. Sie markiert einen Zustand der heiteren Ruhe, den Augustin mit dem Hendiadyoin serenitas et tranquillitas erfasst. Augustin steht mit dieser Konzeption der seelischen Heiterkeit weniger unter dem Einfluss stoischer Theoreme als unter demjenigen Platons und des Neuplatonismus,67 wie in seinem Dialog De quantitate animae noch deutlicher wird, der sich nicht nur in religiöser, sondern auch in philosophischer Hinsicht mit dem Begriff der Seele auseinandersetzt. In der Art eines großen Finales beschreibt Augustin gegen Ende dieses Werks die ›Sieben Stufen der Seele‹. Die siebente und letzte Stufe fasst er dabei wie folgt: Und damit sind wir bei der eigentlichen Schau und Betrachtung der Wahrheit, die die siebente und oberste Stufe der Seele ist, das heißt schon nicht mehr Stufe, sondern bereits eine Art von Bleibe, zu der man auf jenen Stufen gelangt. Welche Freuden da sind, welches Erlaben am höchsten und wahren Gut [summum et verum bonum], welcher Anhauch seiner heiteren Ruhe [serenitas] und Ewigkeit […]. Ich für meinen Teil wage dir nur schlichthin zu sagen, dass wir, wenn wir mit höchster Ausdauer den Weg verfolgen, den uns Gott befiehlt und den einzuhalten wir uns vorgenommen haben, durch die Kraft und Weisheit Gottes hingelangen werden zu jenem höchsten Beweggrund, dem höchsten Bewerksteller, dem höchsten Urgrund aller Dinge oder wie immer dieses große Wesen noch angemessener benannt werden kann.68

Die oberste Stufe, zu der die Seele in einem Akt größter Ausdauer und unbeirrbarer Zielgerichtetheit finden kann, stellt in der Vorstellung Augustins zugleich den höchsten zu erreichenden Seelenzustand dar. Dieser Zustand ist charakteri 66 Augustin verwendet das Wort spiritus und macht damit deutlich, dass auch nach seiner Vorstellung der Mensch über seinen Geist an Gott teilhat. 67 Zum Einfluss des Neuplatonismus auf Augustin siehe grundlegend: Joachim Ritter, Mundus intelligibilis. Eine Untersuchung zur Aufnahme und Umwandlung der neuplato­ nischen Ontologie bei Augustinus, Frankfurt a. M. 1937; Martin Heidegger, Augustinus und der Neuplatonismus, in: Gesamtausgabe, Bd.  60: Phänomenologie des religiösen Lebens, hg. von Matthias Jung [u. a.], Frankfurt a. M. 1995. 68 Aurelius Augustinus, De quantitate animae, 33,76: Iamvero in ipsa visione atque contem­ platione veritatis, qui septimus atque ultimus animae gradus est; neque iam gradus, sed quae­ dam mansio, quo illis gradibus pervenitur; quae sint gaudia, quae perfructio summi et veri boni, cuius serenitatis atque aeternitatis afflatus […]. Illud plane nunc ego audeo tibi dicere, nos si cur­ sum quem nobis deus imperat, et quem tenendum suscepimus, constantissime tenuerimus, perven­ turos per virtutem dei atque sapientiam ad summam illam causam, vel summum auctorem, vel summum principium rerum omnium, vel si quo alio modo res tanta congruentius appellari potest. Deutsche Übersetzung mit Modifikationen aus: Aurelius Augustinus, Die Größe der Seele. De quantitate animae liber unus, übers. von Carl Johann Perl, Paderborn 1960, S. 107. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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siert durch die Schau der Wahrheit und wird als höchstes Gut angesehen. Es ist ein Seinszustand, durch welchen die menschliche Seele an der heiteren Ruhe und an der Ewigkeit Gottes teilhat. Serenitas ist damit als eine Seinsqualität beschrieben, die göttlichen Ursprungs ist und über die sich der Mensch mit Gott ver­ binden kann.69 Erstmals in der Spätantike ist neben tranquillitas und serenitas ein weiteres Wort belegt, das zur Bezeichnung von Konzepten der Gemütsruhe und des Seelenfriedens verwendet wird. Die Rede ist von impassibilitas, das offensichtlich als Lehnbildung zu apátheia in die lateinische Sprache eingeführt wurde. Dementsprechend definiert Augustin, wiederum in seiner Schrift De civitate Dei: Versteht man also jene von den Griechen sogenannte ἀπάθεια [apátheia]  – auf la­ teinisch müsste man etwa impassibilitas [Leidensunfähigkeit] sagen –, wenn man sie auf die Seele [animus], nicht auf den Leib [corpus] bezieht, in dem Sinne, dass man von Gemütserregungen [affectiones] frei ist, die der Vernunft [ratio] widerstreiten und den Geist [mens] verwirren [perturbare], so ist sie ohne Frage etwas Gutes und höchst wünschenswert, freilich in diesem Leben unerreichbar.70 69 Zahlreiche weitere Belegstellen könnten herangezogen werden, um die Bedeutungsspektren von serenitas und tranquillitas bei Augustin noch schärfer zu umreißen. Dass sich das in den soweit fokussierten Kontexten gezeigte Verständnis von Seelenruhe etwa auch in der Praxis des Religionsunterrichts und in der christlichen Unterweisung als Haltung des Predigers beweisen muss, verdeutlicht eine Passage aus dem Werk Vom ersten katechetischen Unterricht, wo der Kirchenvater mit Blick auf eine spontane Unterrichtsituation festhält (Aurelius Augustinus, De catechizandis rudibus, 10): »Manchmal werden wir von einem Geschäft weggerissen, an dessen Vollendung wir Interesse haben, an dem wir Freude haben oder das uns vordring­ licher erscheint; und nun sehen wir uns durch jemandes Befehl, bei dem wir nicht anstoßen wollen, oder durch unausweichliche Bitten genötigt, einen Katechumenen zu unterrichten; so treten wir dann schon missmutig [conturbatus] an unsere Aufgabe heran, bei der es doch große Ruhe [tranquillitas] brauchte […]. Welcher von den angeführten Gründen nun die heitere Gelassenheit [serenitas] unseres Geistes [mens] umwölken [obnubilare] mag, die Heilmittel, durch welche jene Beklemmung behoben und uns die geistige Frische gegeben wird, wodurch wir mit Vergnügen und Freudigkeit in Herzensruhe [tranquillitas] Gutes wirken, müssen wir bei Gott suchen.« – Nonnumquam etiam, cum avertimur ab aliqua re, quam desideramus agere, et cuius actio aut delectabat nos aut magis nobis necessaria videbatur, et cogimur aut iussu eius quem of­ fendere nolumus, aut aliquorum inevitabili instantia catechizare aliquem, iam conturbati accedi­ mus ad negotium, cui magna tranquillitate opus est […]. Tot igitur ex causis, quaelibet earum se­ renitatem nostrae mentis obnubilet, secundum deum sunt quaerenda remedia, quibus relaxetur illa contractio, et fervore spiritus exsultemus et iucundemur in tranquillitate boni operis. Deutsche Übersetzung mit Modifikationen aus: Des heiligen Kirchenvaters Aurelius Augustinus ausgewählte Schriften. Bd. 8: Des heiligen Kirchenvaters Aurelius Augustinus ausgewählte praktische Schriften homiletischen und katechetischen Inhalts, übers. aus dem Lateinischen und mit Einleitungen versehen von P. Sigisbert Mitterer, München 1925, S. 255 f. 70 Aurelius Augustinus, De civitate Dei, XIV,9,4: Quocirca illa quae ἀπάθεια graece dicitur, quae si latine posset, impassibilitas diceretur, si ita intelligenda est (in animo quippe, non in cor­ pore accipitur), ut sine his affectionibus vivatur, quae contra rationem accidunt mentemque per­ turbant, bona plane et maxime optanda est; sed nec ipsa huius est vitae. Deutsche Übersetzung aus: Aurelius Augustinus, Vom Gottesstaat (Anm. 61), Bd. 2, S. 178 f. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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Augustins Erläuterungen zu apátheia und zum lateinischen Pendant impassibi­ litas stehen im Kontext einer größeren Auseinandersetzung mit den apátheiaKonzepten der paganen Philosophie, die er vor dem Hintergrund christlicher Lehren diskutiert. Der Kirchenvater ordnet diese nicht einer spezifischen Schule zu, sondern beginnt mit dem Bezug auf die oben zitierte Stelle zu den Gemüts­ erregungen. Augustin schließt sich derjenigen philosophischen Position an, die davon ausgeht, dass vollständige apátheia für den Menschen, zumindest während seines irdischen Daseins, nicht zu erreichen ist.71 Die von Augustin in seinem Werk verwendeten Bedeutungsdimensionen von tranquillitas, serenitas und impassibilitas finden sich auch in der mittelalterlichen Philosophie wieder, teilweise jedoch in modifizierter Form. Für das Frühmittel­ alter ist als einschlägiger Gewährsmann Johannes Scotus Eriugena zu nennen, der wie Augustin wesentlich zum Kulturtransfer zwischen griechischer Philo­ sophie (und östlicher Theologie) und lateinischem Christentum beitrug, indem er die pseudo-areopagitischen Schriften sowie wichtige Werke von Maximus Confessor ins Lateinische übersetzte.72 Unter starkem Einfluss insbesondere des Neuplatonismus steht auch Eriugenas eigenes großes systematisches Werk Peri­ physeon, in der Tradition besser bekannt unter dem Titel De divisione naturae. Das Werk ist als Dialog zwischen Lehrer und Schüler gestaltet und in fünf Bücher eingeteilt, thematisch setzt es sich mit der Weltordnung des Kosmos und mit dem Verhältnis zwischen Schöpfer und Schöpfung auseinander. Die beiden letzten Bücher des Periphyseon widmet Eriugena der Natur des Menschen. Wie das ganze Werk, so ist auch seine Vorstellung vom Menschen und von dem, was den Menschen ausmacht, wesentlich durch die neuplato­ nische Emanationslehre geprägt.73 Eriugena knüpft an das neuplatonische Philosophem an, dass das Eine bzw. Gott zwar in sich verharrt, sich gleichzeitig aber auch in niederere Wirklichkeitsbereiche ergießt, ohne jedoch durch diese niedereren Seinsschichten tangiert oder nach unten gezogen zu werden. Parallel zu diesem Ausfließen findet zudem die Bewegung der Rückkehr und des Zurückstrebens aller Dinge zu Gott statt, wobei der Geist einen zentralen Stellenwert einnimmt (für den, wie sich unten zeigen wird, Eriugena verschiedene Bezeichnungen kennt).74 71 Diese Problematik behandeln etwa: Forschner, Die stoische Ethik (Anm. 35), S. 114– 141, sowie die Beiträge im Sammelband: Barbara Guckes (Hg.), Zur Ethik der älteren Stoa, Göttingen 2004. 72 Zu den Traditionslinien, in denen Eriugena steht, siehe: Hilary Anne-Marie Mooney, Theophany. The Appearing of God According to the Writings of Johannes Scottus Eriugena, Tübingen 2009, S. 186–194, des Weiteren auch: John J. O’Meara, Studies in Augustine and ­Eriugena, Washington 1992. 73 Siehe zum neuplatonischen Einfluss in Eriugenas Werk: Werner Beierwaltes, Eriugena. Grundzüge seines Denkens, Frankfurt a. M. 1994, S. 32–51. 74 Den Themenkomplex der doppelten Bewegung von Ausfließen und Rückkehr bespricht ausführlich: Deirdre Carabine, John Scottus Eriugena, New York, Oxford 2000, S. 29–107. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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In vollkommener Analogie zur Gottesvorstellung konzipiert der frühmittel­ alterliche Philosoph den Menschen bzw. das, was den Menschen ausmacht, ­Eriugena spricht von humanitas im Sinne der Essenz des Menschen:75 Auch die humanitas ergießt sich in die Sinnlichkeit der Dinge und hin zur vergänglichen Körperlichkeit, nimmt dadurch aber nicht grundsätzlich Schaden. In diesem Zusammenhang kommt Eriugena zum Ende des fünften Buches mehrfach auf sere­ nitas zu sprechen und verwendet dabei das aus der Tradition bekannte Vokabular, auch wenn seine Konzeption eines heiteren Seelenfriedens im Anschluss und als Teil der Emanationslehre entworfen ist: Damit du dich aber nicht darüber wunderst, dass die menschliche Natur (wie ich gesagt habe)  zur Aufnahme des Entgegengesetzten fähig ist, ohne darunter zu leiden [pati] und in ihrer heiteren Ruhe [serenitas] und Einfachheit getrübt zu werden [per­ turbari], so höre Beispiele. Die uns umgebende Luft [aer] […] trägt zugleich die glänzenden wie die dunkeln Wolken, von welchen jene den Sonnenstrahl aufnehmen, diese dagegen denselben abweisen. Jene erhalten von oben durchsichtigen Glanz, welcher der Reinheit des Äthers nahe steht, wodurch sie leuchten; die dunkeln Wolken dagegen ziehen von unten die dem irdischen Schmutz ähnliche dichte Finsternis an, die Luft [aer] selbst aber bewahrt in Allen stets die unbewegliche Eigenschaft ihrer natürlichen Einfachheit und heiteren Ruhe [serenitas], ohne sich in den Wolken zu verkörpern, noch durch die Störungen [perturbationes], die sie erfährt, verwirrt zu werden [perturbari] […]. Die Luft [aer] selber aber behält ihre Reinheit und Geistigkeit [spiritualitas] unvergänglich und ist weder reiner und geistiger im Licht als in der Finsternis und ist nicht feiner beim Durchdringen der niedrigeren Körper in ihrem heitern Zustande [se­ renitates], als in ihren Trübungen [perturbationes]. Sie ist darum des ihr von den griechischen Philosophen beigelegten Namens ganz würdig. Sie wird nämlich Hauch [aer], d. h. Geist [spiritus] genannt […]. Dieses Beispiel habe ich aber deshalb angeführt, damit wir unverweilt erkennen, dass die menschliche Natur bei ihrer Wiedergeburt [regeneratio] ganz heiter [serenissima] sein werde und ohne dass in ihr etwas Irdisches oder Feuchtes oder Gewichtiges zurückbleibt, ganz in Geist [spiritus] verwandelt […].76 75 Eriugena bezeichnet diese humanitas denn auch wörtlich als humanitas ad imaginem Dei facta, als die ›nach Gottes Bilde geschaffene Menschheit‹ (Johannes Scotus Eriugena, De divi­ sione naturae, V,31). 76 Johannes Scotus Eriugena, De divisione naturae, V,31: Et ne mireris, quod dixi, huma­ nam naturam contrariorum capacem esse, ex quibus nihil patitur, neque suae simplicitatis sereni­ tas perturbatur, accipe paradigmata. Aer iste, quo circumfundimur, […] lucidas simul tetrasque fert nubes, illas quidem solaris radii receptivas, illas vero repulsivas; illae ex superioribus tenuita­ tem fulgidam, aethereae puritati propinquam, qua lucent, accipiunt; illae vero ex inferioribus den­ sitatem tenebrosam, terrenis sordibus similem, qua lucem respuunt, attrahunt: ipse autem aer in omnibus suae semper subtilitatis et serenitatis immobilem custodit qualitatem, nec in nubibus cor­ porascit, nec cum perturbationibus, quas suffert, perturbatur […]; ipse vero, ut praediximus, pu­ ritatem suam et spiritualitatem incorruptibilem possidet, neque purior neque spiritualior in luce, quam in tenebris, neque subtilior, neque plus inferiora se corpora penetrat in serenitatibus, quam in perturbationibus suis. Hinc  a philosophis Graecorum vocabulum sibi attributum est condig­ num. Aer enim dicitur, id est spiritus […]. Hoc autem paradigma propterea introduximus, ut in­ cunctanter cognoscamus, humanam naturam in regeneratione eius serenissimam esse futuram, © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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Nach Eriugena besitzt die menschliche Natur die Eigenschaft, die mit der irdischen Körperlichkeit verbundenen Verdunklungen in sich gleichsam zu inte­ grieren, ohne jedoch durch diese Störungen verwirrt zu werden oder unter ihnen zu leiden. Die dem Menschen gemäße Grundhaltung ist diejenige der sereni­ tas, die durch reine Geistigkeit geprägt ist.77 Ähnlich wie die aus sich fließende Gottheit, die sich nicht nur in die Materialität ergießt, sondern gleichzeitig auch bei sich und in sich bleibt, so ist der Mensch in der Konzeption von Eriugena durch das Paradox geprägt, dass er in seiner Geistigkeit untangiert bleibt durch den ›irdischen Schmutz‹, zugleich aber der regeneratio bedarf, um ganz zu sich zu kommen. Mit dem Wort regeneratio nimmt Eriugena auf die Vulgata und auf Augustin Bezug, wo es um die Erlangung des Reiches Gottes geht.78 Das Wort tritt überhaupt nur in christlichem Kontext auf und wird gleichsam zum Terminus technicus, es bedeutet neben ›Wiedergeburt‹ so viel wie ›Seelenrettung‹ und ›Taufe‹. Häufiger als serenitas findet sich in Eriugenas Gesamtwerk jedoch die spät­ antike Lehnbildung impassibilitas.79 Vor allem in seinen Übersetzungen der Quaestiones ad Thalassium von Maximus Confessor verwendet Eriugena impas­ sibilitas an zahlreichen Stellen für das griechische Ursprungswort apátheia. Immer wieder ist die Rede von habitus impassibilitatis, von der Unempfindlichkeit als Haltung also.80 Mehrfach gebraucht Eriugena den Terminus aber auch in seiner eigenen Schrift Periphyseon. So stellt er im ersten Buch allgemeine Überlegungen darüber an, wie die Dinge im Kosmos bewegt werden. Mit direktem Bezug auf Maximus Confessor hält er zunächst fest, dass Gott »ebenso der Ausgangspunkt oder die Ursache, wie das Ziel oder der Endzweck aller Geschöpfe [sei], weil sie ihr Sein von ihm sowohl empfangen, als auch beginnen und zu ihm sich bewegen, um in ihm zu ruhen.«81 Er definiert darauf Bewegung als Erleiden (passio), dessen Ziel impassibilitas ist, die er zugleich als »tätige Wirksamkeit, dum in ea nil terrenum seu humidum seu ponderosum relinquetur, omnino in spiritum conversa […]. Deutsche Übersetzung mit Modifikationen aus: Johannes Scotus Eriugena, Über die Einteilung der Natur, übers. von Ludwig Noack, Hamburg 1994, S. 301–303. 77 Eriugena kombiniert seine Vorstellungen von Gott und der Schöpfung mit der Lehre der vier Elemente. Aristoteles verteilte die Eigenschaften warm/kalt und feucht/trocken auf die vier Elemente und definierte den Äther als zugrundeliegende Quintessenz. In der Stoa wurde das Pneuma im Sinne des Geistes bzw. des Hauchs in die Vier-Elemente-Lehre eingeführt, als eine Art ›feuriger Lufthauch‹ verstanden, der alles durchdringt und somit kosmische Macht besitzt. Eriugena nimmt diese Aspekte auf und integriert sie in sein Welt- und Gottesverständnis. 78 Siehe Mt 19,28; Tit 3,5; Aurelius Augustinus, De civitate Dei, 15,16,3; 20,5,2. 79 Kaum Verwendung findet bei Eriugena jedoch das Wort tranquillitas. 80 So zum Beispiel: Maximus Confessor, Quaestiones ad Thalassium, sec. trans. Ioannis Scoti Eriugenae, 52,52; 54,40; 54,46; 54,138; 55,235. 81 Johannes Scotus Eriugena, De divisione naturae, I,70: Deus enim principium, id est causa, omnium creaturarum est et finis, quoniam ab ipso et accipiunt, et incipiunt esse, et ad eum mo­ ventur, ut in eo quiescant. Deutsche Übersetzung aus: Johannes Scotus Eriugena, Über die Einteilung der Natur (Anm. 76), S. 106. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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deren Ziel die Vollendung durch sich selber ist«, bezeichnet.82 Ein solches Er­ langen der impassibilitas ordnet Eriugena aber ausschließlich Gott selbst zu, alle anderen Geschöpfe befinden sich seiner Ansicht nach lediglich auf dem Weg zur impassibilitas und streben dieses Ziel an: Denn Gott allein kommt es zu, Endzweck und Vollendung und Leidenslosigkeit [­impassibilitas] zu sein, da er mit Recht unveränderliche und leidenslose [impassibilis] Fülle ist; den Geschöpfen dagegen kommt es zu, sich zum anfanglosen Endzweck hinzubewegen.83

Eriugena beschreibt impassibilitas als einen göttlichen Zustand, den zu erreichen der Mensch und alle Dinge erstreben. Dieser Zustand ist dadurch gekennzeichnet, dass er nicht durch äußere Reize beeinflusst wird, sondern in sich selbst vollkommen ist. Impassibilitas ist diejenige Qualität, die keine Bewegung kennt und unempfindlich gegenüber jeder Art von Streben ist, da sie ihr Ziel in sich selbst besitzt. Eriugena differenziert serenitas und impassibilitas demnach insofern, als er ersteren Terminus den Menschen betreffend verwendet, letzteren, um einen göttlichen Zustand zu beschreiben, der aber als immer schon erstrebens­wertes und erstrebtes Ziel des Menschen (und aller Dinge im Kosmos) ausgezeichnet wird. Auch bei Bernhard von Clairvaux finden sich beide Wörter, und zwar in erster Linie in seinen Predigten. In augenfälliger Weise kehrt auch bei Bernhard das einschlägige Vokabular wieder, wie es seit der paganen Antike im Kontext der betreffenden Termini gebraucht wird. Den schon in der antiken Philosophie zentralen Gegensatz von serenitas und passio beispielsweise spricht Bernhard zum Auftakt der 16. Predigt aus der Sammlung Sermones de diversis an. Er redet dort über schädliche Gedanken, die Unreinheit und Überheblichkeit zur Folge haben, über Stolz, Ehrgeiz und andere Leidenschaften, die den Menschen quälen und ihn von der heiteren Ruhe heiliger Gedanken abhalten.84 Einen anderen Akzent setzt Bernhard in den Predigten über den Psalm 90 (91) Qui habitat. Auch hier wird serenitas an Überlegungen geknüpft, die sich in der theologisch-philosophischen Tradition bereits finden: 82 Johannes Scotus Eriugena, De divisione naturae, I,70: […] operationem activam, cuius ­finis est per se ipsam perfectio. Deutsche Übersetzung aus: Johannes Scotus Eriugena, Über die Einteilung der Natur (Anm. 76), S. 107. 83 Johannes Scotus Eriugena, De divisione naturae, I,70: Solius enim Dei est finis esse et per­ fectio et impassibilitas, merito incommutabilis, et pleni, et impassibilis: eorum vero, quae facta sunt, ad finem principio carentem moveri. Deutsche Übersetzung aus: Johannes Scotus Eriugena, Über die Einteilung der Natur (Anm. 76), S. 106. 84 Bernhard von Clairvaux, Sermones de diversis, 16,1: Unde ergo nobis tam vanae, tam ­noxiae, tam obscenae cogitationes, quae nunc immunditia et elevatione, nunc superbia et ambi­ tione caeterisque passionibus contorquent nos, ut vix aliquando in serenitatem sanctarum cogita­ tionum respiremus? © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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Wie im übrigen zum Glanz jenes Lichtes kein Unreiner emporsteigt, so auch kein Geist [animus], der in irgendeiner Weise verwirrt [turbatus] oder voll Unruhe ist. Das ist der Grund, weshalb uns auch jetzt schon befohlen wird, wie ich oben erwähnt habe, nach Heiligung und Frieden zu streben [Hebr 12,14], denn ohne sie kann niemand Gott schauen. Wenn also dein Verlangen mit Gutem erfüllt ist [Ps 102,5], so dass es nichts mehr gibt, was du suchst, dann wird dein Geist [animus] aus eben dieser Sättigung völlig beglückt [serenatus] sein, und du wirst endlich jene Heiterkeit [serenitas] schauen können, jene Fülle der Majestät, denn du bist Gott ähnlich geworden, weil du ihn siehst, wie er ist.85

Wie bei Augustin ist der von Bernhard an dieser Stelle definierte Zustand der Seelenruhe an die Schau Gottes gebunden.86 Die Bedingung dieser Schau ist nicht nur, alle Unreinheit abzustreifen, sondern auch, dass der menschliche Geist jede Unruhe und Verwirrung hinter sich lässt. Erst wenn er ganz zur Ruhe gekommen ist und nichts mehr erstrebt, befindet er sich im Zustand der sere­nitas und wird damit Gott ähnlich. Demnach ist serenitas zugleich eine menschliche und eine göttliche Qualität. Charakteristisch für Bernhard ist die Vorstellung vom Frieden, der mit zur Grunddisposition der Seelenruhe gehört.87 So sind es ähnliche Bausteine und Klassifikationen, die im Kontext der untersuchten Wörter immer wieder auftauchen und die philosophisch-christlichen Konzeptionen der Seelenruhe – und damit das onomasiologische Feld von ›­Gelassenheit‹ – über die Jahrhunderte prägen. Trotzdem ergibt sich bei jedem Autor eine je eigene Akzentuierung. Bei Bernhard steht nicht das Wort serenitas allein im Vordergrund, sondern es sind eine ganze Reihe von Zuschreibungen, 85 Bernhard von Clairvaux, Sermones super psalmum ›Qui habitat‹, 17,6: Alioquin ad ­illius fulgorem luminis, sicut non impurus, sic nec turbatus quidem in aliquo animus vel inquietus ­assurgit. Inde est quod nunc quoque, ut supra memini, sanctimoniam simul et pacem sectari prae­ cipimur, quod sine his nemo videat Deum. Cum ergo repleverit in bonis desiderium tuum, ut non aliud sit quod requiras, serenato penitus ex ipsa plenitudine animo, videre iam poteris serenita­ tem illam, illam plenitudinem maiestatis, similis Deo factus, quod videas eum sicuti est. Deutsche Übersetzung aus: Bernhard von Clairvaux, Sämtliche Werke. Lateinisch, deutsch, Bd. 7, hg. von Gerhard B. Winkler, Innsbruck 1996, S. 717. 86 Den Einfluss antik-paganen sowie augustinischen Denkens in Bernhards Werk behandelt ausführlich: Gillian R. Evans, Bernard of Clairvaux, New York, Oxford 2000. 87 Eine ganz ähnliche Konzeption der Gelassenheit zeigt sich etwa auch in den Sermones in vigilia nativitatis Domini, wo Bernhard fordert: »Reinige auch dein Auge, damit du das reinste Licht sehen kannst; neige dein Ohr zum Gehorsam, damit du einmal zur ewigen Ruhe gelangst und zu dem Frieden, der über jedem Frieden ist. Dort ist nämlich Licht wegen der heiteren Gelassenheit [serenitas], Friede wegen der Seelenruhe [tranquillitas], die Quelle wegen der Fülle und Ewigkeit.« Bernhard von Clairvaux, Sermones in vigilia nativitatis Domini, 4,9: Oculum quoque purga, ut videre possis merissimam lucem, et aurem tuam inclina ad oboedien­ dum, ut quandoque pervenias ad quietem perpetuam et pacem super pacem. Lux enim est prop­ ter serenitatem, pax propter tranquillitatem, fons propter affluentiam et aeternitatem. Deutsche Übersetzung mit Modifikationen aus: Bernhard von Clairvaux, Sämtliche Werke (Anm.  85), Bd. 7, S. 191. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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die den vom Menschen erstrebten, Gott ähnlichen Zustand umreißen: Friede, Ruhe, Fülle, Sicherheit sind nur einige dieser Charakteristika, die im Kontext von serenitas immer wieder genannt werden, wie sich am Beispiel der Predigten über das Hohe Lied zeigen lässt. Dort spricht Bernhard: Doch warum bist du traurig, meine Seele, und warum verwirrst [conturbare] du mich? Hoffe auf Gott, denn ich werde ihn immer preisen, bis jeder Irrtum von der Vernunft, jeder Schmerz vom Willen und jede Furcht vom Gedächtnis gewichen ist, wenn an ihre Stelle jene wunderbare heitere Ruhe [serenitas], auf die wir hoffen, die volle Süßigkeit [suavitas] und die ewige Sicherheit [securitas] getreten sind. Das erste wird Gott, die Wahrheit, bewirken, das zweite Gott, die Liebe, das dritte Gott, die Allmacht. So wird Gott alles in allem sein, wenn die Vernunft das unauslöschliche Licht aufnimmt, wenn der Wille den ungestörten Frieden [imperturbabilis pax] gewinnt und das Gedächtnis ewig an der unversiegbaren Quelle ruht.88

Derjenige, der das Ereignis der seelischen Heiterkeit, wie Bernhard sie hier zeichnet, möglich macht, ist Gott: Er wird den Menschen von Verwirrung befreien und ihn Ruhe und Frieden finden lassen. Mit Hilfe eines Trikolons beschreibt Bernhard dreifach den erhofften Zustand, der sich gleichermaßen durch mira serenitas, plena suavitas und aeterna securitas auszeichnet. Neben den tradierten Werten der Seelenruhe und der Sicherheit ist mit dem Charakteristikum der Süße eine Vorstellung gegeben, die nicht nur im Bernhardschen Werk eminent wichtig ist, sondern die in der spätmittelalterlichen und in der frühneuzeitlichen Mystik geradezu paradigmatisch wird.89 Solche und ähnliche Wortkonstellationen zeigen sich im uvre Bernhards zuhauf, immer wieder ist im Kontext von serenitas die Rede von der Ruhe, der Fülle, der Süße, der Sicherheit und vom Frieden, wobei auch tranquillitas als Wort mehrfach explizit Teil entsprechender Aufzählungen ist. Schärfer konturiert und seltener gebraucht Bernhard den Begriff impassibilitas, den er ausschließlich in Verbindung mit passio verwendet. Ähnlich wie bei Eriugena bedeutet impas­

88 Bernhard von Clairvaux, Sermones super Cantica Canticorum, 11,6: Verumtamen quare tristis es, anima mea, et quare conturbas me? Spera in Deo, quoniam adhuc confitebor illi; cum error videlicet a ratione, a voluntate dolor, atque a memoria timor omnis recesserit, et successerit illa quam speramus mira serenitas, plena suavitas, aeterna securitas. Primum illud faciet veritas Deus, secundum caritas Deus, tertium summa potestas Deus, ut sit Deus omnia in omnibus, rati­ one recipiente lucem inexstinguibilem, voluntate pacem imperturbabilem consequente, memoria fonti indeficienti aeternaliter inhaerente. Deutsche Übersetzung mit Modifikationen aus: Bernhard von Clairvaux, Sämtliche Werke (Anm. 85), Bd. 5, S. 165. 89 Siehe etwa Peter Dinzelbacher, Süße, in: ders. (Hg.), Wörterbuch der Mystik, Stuttgart 21998, S.  471; Jean Châtillon, Dulcedo/Dulcedo Dei, in: Dictionnaire de spiritualité ­ascétique et mystique. Doctrine et Histoire 3, Paris 1957, Sp. 1777–1795. Des Weiteren die Beiträge im Band: Kaspar Elm (Hg.), Bernhard von Clairvaux. Rezeption und Wirkung im Mittelalter und in der Neuzeit, Wiesbaden 1994. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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sibilitas bei Bernhard spezifisch die Leidenslosigkeit und steht im Kontext der Auferstehung und der Unsterblichkeit Gottes.90 Neben Bernhard von Clairvaux gibt es im lateinischen Mittelalter weitere Verfasser, die einen auffälligen Gebrauch der einschlägigen Termini zeigen. Eine von ihnen ist Hildegard von Bingen, die zwar tranquillitas eher unspezifisch und im­ passibilitas gar nicht verwendet, serenitas hingegen in ihren Visionen gehäuft.91 In der Art und Weise, wie Hildegard das Wort benutzt, kann man es allerdings nicht mehr unmittelbar dem onomasiologischen Feld von ›Gelassenheit‹ zu­ ordnen. Die Mystikerin beschreibt mit serenitas eine Eigenschaft Gottes, die dem Menschen sichtbar wird.92 Diese Eigenschaft der Heiterkeit und Klarheit – Hildegard verwendet im Austausch auch häufig claritas, ein Wort, das ursprünglich ebenfalls aus dem Bereich des Wetters stammt – wird immer wieder im Zusammenhang mit der Fülle und der Unfassbarkeit Gottes genannt. Der Mensch kann an dieser Heiterkeit über die Vision teilhaben, wie Hildegard in der ersten Schau des ersten Teils des Scivias formuliert: Denn du empfängst diese Geistesschärfe und Tiefe nicht von einem Menschen. Von dem himmlischen, furchtbaren Richter wird sie dir von oben her gegeben, wo diese Heiterkeit [serenitas] unter den Leuchtenden stark mit hellem Licht flammen wird. […] Der auf dem Berg in so großer Klarheit [claritas] thront, dass seine Klarheit [cla­ ritas] deine Augen blendet, sinnbildet im Reiche der Seligkeit den Beherrscher des ganzen Erdkreises im Blitzesleuchten unvergänglicher Heiterkeit [serenitas], in göttlicher ­Hoheit. Unfassbar ist Er dem menschlichen Geiste.93 90 So beispielsweise: Bernhard von Clairvaux, Sermones de diversis, 54; Sermones in festivitate omnium sanctorum, 4,6. 91 Einführend zu Hildegards Visionen siehe etwa: Heinrich Schipperges, Hildegard von Bingen, München 52004, S. 35–114; Viki Ranff, Wege zu Wissen und Weisheit. Eine ver­ borgene Philosophie bei Hildegard von Bingen, Stuttgart-Bad Cannstatt 2001; weiterführend auch der Sammelband: Änne Bäumer, Wisse die Wege. Leben und Werk Hildegards von Bingen. Eine Monographie zu ihrem 900. Geburtstag, Frankfurt a. M., Bern 22000. 92 Zum Beispiel in der ersten Schau im zweiten Teil: »Auf Gott also, den Allmächtigen und Lebendigen, deutet das helleuchtende Feuer. Seine lichteste Heiterkeit [clarissima serenitas] wird durch keine Unbilligkeit je verdunkelt. Unbegreiflich ist Er, da Er durch keinerlei Teilung je geteilt werden kann. Ohne Anfang und ohne Ende, wird Er von dem Funken geschöpflicher Erkenntnis nie erfasst, wie Er ist. Unauslöschlich ist Er als die Fülle, die an kein Ende kommt.« Hildegard von Bingen, Scivias, 2,1: Nam ille lucidissimus ignis quem vides designat omnipoten­ tem et viventem Deum, qui in clarissima serenitate sua numquam ulla iniquitate offuscatus est, incomprehensibilis manens: quia nulla divisione potest dividi, aut initio aut fine, aut ulla scintilla scientiae creaturae suae comprehendi sicuti est, et inexstinguibilis exsistens: quoniam ipse est illa plenitudo quam numquam ullus finis tetigit, ac totus vivens. Deutsche Übersetzung aus: Hildegard von Bingen, Wisse die Wege. Scivias. Nach dem Originaltext des illuminierten Rupertsberger Kodex ins Deutsche übertragen und bearbeitet von Maura Böckeler, Salzburg 1954, S. 149 (Hervorhebungen S. P.). 93 Hildegard von Bingen, Scivias, 2,1: Nam tu acumen huius profunditatis ab homine non ­capis, sed  a superno et tremendo iudice illud desuper accipis, ubi praeclara luce haec serenitas ­inter lucentes fortiter lucebit. […] et super ipsum [i. e. montem] quidam tantae claritatis sedens, © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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Hildegard verwendet jene topische Vorstellung von Gott als Licht, wie sie in der theologisch-philosophischen Tradition auch im Zusammenhang mit serenitas omnipräsent ist.94 Doch ist serenitas bei Hildegard zur Heiterkeit Gottes selbst geworden, der mit gleißendem Licht den Menschen unfassbar bestrahlt. Die meisten Belege für alle drei Wörter, die das betreffende onomasiolo­ gische Feld in der lateinischen Sprache umreißen, liefert Thomas von Aquin. Zwar verwendet er tranquillitas und serenitas mehrheitlich im eigentlichen Sinn, bezeichnet damit spezifische Wetter- und Himmelsverhältnisse, die er gleichnishaft auf verschiedene Lebenslagen projiziert. Doch kennt er vor allem auch die aus der stoischen Tradition überlieferte Verbindung von tranquillitas animi, die er wechselweise auch als serenitas animi oder serenitas mentis bezeichnet.95 Besonders häufig benutzt Thomas aber impassibilitas, auch dieses Wort mitunter in der Verbindung von impassibilitas animae oder habitus impassibi­ litatis.96 Doch bleibt Thomas mit seiner Verwendungsweise dieser Termini im Rahmen des Be­deutungsspektrums, wie es bei den behandelten Denkern angelegt ist. Mit Blick auf Meister Eckhart soll abschließend der Gebrauch der untersuchten Wörter bei Dietrich von Freiberg beleuchtet werden, obwohl dieser quantitativ betrachtet keine besondere Rolle zu spielen scheint.97 Tranquillitas und sereni­ tas können in Dietrichs Werk nicht nachgewiesen werden, impassibilitas lediglich innerhalb eines einzigen Fragenverbundes, dort jedoch durchaus aufschlussreich. In seinem Tractatus de dotibus corporum gloriosorum beschäftigt sich Dietrich in mehreren aufeinanderfolgenden Paragraphen mit der impassibilitas, die er zu den dotes corporum gloriosorum rechnet, zusammen mit claritas, subtilitas und agili­ tas.98 Dietrich stellt die betreffenden vier Qualitäten in den Kontext der Schau

ut ­claritas ipsius visum tuum reverberet, ostendit in regno beatitudinis ipsum qui in fulgore indefi­ cientis serenitatis toti orbi terrarum imperans superna divinitate humanis mentibus incompre­ hensibilis est. Deutsche Übersetzung mit Modifikationen aus: Hildegard von Bingen, Wisse die Wege (Anm. 92), S. 95 f. 94 Siehe zu diesem Themenkomplex auch: Bardo Weiss, Die deutschen Mystikerinnen und ihr Gottesbild. Das Gottesbild der deutschen Mystikerinnen auf dem Hintergrund der Mönchstheologie, Bd. 1, Paderborn 2004, S. 213–347; Fabio Chávez Alvarez, »Die brennende Vernunft«. Studien zur Semantik der »rationalitas« bei Hildegard von Bingen, StuttgartBad Cannstatt 1991. 95 Siehe beispielsweise: Thomas von Aquin, Catena aurea in Iohannem, 14,7; Summa theologiae, II-II, q. 146, 1. 96 Zum Beispiel: Thomas von Aquin, Catena aurea in Lucam, 3,3; In Aristotelis libros Meta­ physicorum liber, 9,1. 97 Das Werk Dietrichs von Freiberg ist nicht digital erfasst, deswegen ist der Nachweis einzelner Termini hier schwieriger. 98 Dietrich von Freiberg, De dotibus corporum gloriosorum, 3,4 (Dietrich von Freiberg, Opera omnia. Veröffentlicht unter Leitung von Kurt Flasch, Bd. 2, Schriften zur Metaphysik und Theologie, hg. von Ruedi Imbach [u. a.], Hamburg 1980, S. 272). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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Gottes, nennt mit Blick auf dieses Ziel zudem jeweils deren Gegenteil im Sinne von Kontrahenten.99 Werden die in der lateinischen Tradition verankerten Wörter tranquillitas, ­serenitas und impassibilitas den Eckhartschen Verwendungsweisen von gelâzen­ heit und ruowe gegenübergestellt und sowohl auf ihre semantischen Gemeinsamkeiten als auch auf ihre Unterschiede hin geprüft, dann lässt sich folgende Summe ziehen. Das theoretische Gerüst der mit tranquillitas, serenitas und im­ passibilitas verbundenen Kon­zepte bildet die Vorstellung, mit ihrer Hilfe Gott gleich oder zumindest ähnlich zu werden, das Göttliche im Menschen zur Vollendung zu bringen und dadurch Glückseligkeit zu erlangen. Die Rede ist in diesem Zusammenhang auch immer wieder vom summum bonum, vom höchsten Gut. Wie die analysierten Textpassagen erhellen, zeichnet sich der mit den be­ treffenden Wörtern qualifizierte Seelenfrieden in der Konzeption der meisten Denker dadurch aus, dass sich der Mensch über ihn mit Gott vereinigen oder Gott ähnlich werden kann, da tranquillitas, serenitas resp. impassibilitas einen Seinszustand bezeichnet, in welchem der menschliche Geist gegen alle Begierden, Leidenschaften und Affekte stark gemacht wird. Dass der Mensch über seinen Geist an Gott Anteil hat oder zu ihm gelangen kann, dieser Grundgedanke ist der abendländischen Philosophie seit Platon und Aristoteles eigen, so sehr sich die Konzeptionen der mit nûs, lógos, mens, ratio, spiritus, intellectus oder anderen Wörtern bezeichneten Größe im einzelnen unterscheiden. Auch bei Eckhart zielen gelâzenheit und ruowe dahin, einunge mit Gott zu erfahren.100 In der gelâzenheit sieht Eckhart die Bedingung für die menschliche Einheit mit Gott: In der »Ratifikation der geschöpflichen Nichtshaftigkeit, was nichts anderes bedeutet als die Preisgabe aller Selbstbezogenheit und radikales Absterben[,] […] verwirklichen sich glîcheit und einicheit«101 von Mensch und Gott.102 Bei Eckhart spielt in diesem Zusammenhang die Vorstellung der deifor­ mitas eine wichtige Rolle.103 Ebenfalls zielt Eckharts Konzeption der gelâzenheit 99 Dietrich von Freiberg, De dotibus corporum gloriosorum, 3,4–7. 100 Siehe dazu etwa: Haas, Predigt 12: ›Qui audit me‹ (Anm.  17), S.  36–39; Burkhard Hase­brink, Formen inzitativer Rede bei Meister Eckhart. Untersuchungen zur literarischen Konzeption der deutschen Predigt, Tübingen 1992, S. 63–92. 101 Haas, Predigt 12: ›Qui audit me‹ (Anm. 17), S. 36. 102 Dazu ausführlich auch Panzig, Gelâzenheit und abegescheidenheit (Anm. 12), S. 181–268. 103 Siehe Udo Kern, »Gottes Sein ist mein Leben«. Philosophische Brocken bei Meister Eckhart, Berlin, New York 2003, S. 63–66; Panzig, Gelâzenheit und abegescheidenheit (Anm. 12), S. 135–138. Wie die Eckhart-Forschung gezeigt hat, steht der deutsche Denker mit seinen Philosophemen wesentlich in der Tradition von Albertus Magnus und Dietrich von Freiberg (siehe Kurt Flasch, Meister Eckhart. Die Geburt der »Deutschen Mystik« aus dem Geist der ara­ bischen Philosophie, München 2006, S. 67–111; Kurt Flasch (Hg.), Von Meister Dietrich zu Meister Eckhart, Hamburg 1984). Von daher ist auch der intellectus-Begriff der lateinischen Werke Eckharts aus dieser Linie heraus dadurch gekennzeichnet, dass er die menschliche © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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letztlich darauf ab, Glückseligkeit zu erreichen.104 Ähnliches gilt für sein Verständnis der ruowe.105 Neben diesen semantischen Übereinstimmungen, die tranquillitas, sereni­ tas, impassi­bili­tas, gelâzenheit und ruowe in ein gemeinsames onomasiologisches Feld binden, treten aber auch die Divergenzen zu Tage. Die Termini unterscheiden sich allein von ihrer Wortbildung her grundlegend voneinander. Eine wesentliche Differenz der Wörter liegt in den durch sie ausgedrückten Bewegungswerten. Mit der Semantik dieser Bewegungswerte korrespondieren die durch die einzelnen Wörter vermittelten Denkkonzepte. Das Eckhartsche gelâzen hân und gelâzen sîn drückt eine doppelte Be­wegung aus. Es markiert die Richtung von sich selbst weg und gleichzeitig auf etwas hin, nämlich auf Gott. Die Abkehr von sich selbst, das ›Sich-selbst-lassen‹, ist das zentrale Sem der Wortbildung gelâzenheit. Eine andere Qualität wird durch die Nominalabstrakta tranquillitas und serenitas wiedergegeben. Diese Wörter bezeichnen das ›In-sich-ruhen‹ und die damit verbundene ›Heiterkeit‹. Die mit tranquillitas und serenitas bezeichnete Seelenruhe meint ein ›Zu-sich-selbstkommen‹. Ausgedrückt wird die Ruhe, der Frieden und die heitere Stille, in der sich der Mensch befindet, wenn er über tranquillitas oder serenitas verfügt. Eine wiederum andere Perspektive besitzt die Wortbildung impassibilitas. Dieses Wort drückt das Abwehrende aus, wenn etwas auf einen zukommt. Es verdeutlicht die Abwehrhaltung, die der Mensch zeigt, wenn er von den Leidenschaften bedrängt wird. Insofern werden die Leidenschaften auch als von außen her kommend verstanden; sie bedrängen den Kern des Menschen, als der sein Geist (animus, mens, ratio) angesehen wird. Wie die visierten Textstellen zeigen, wird eine solche Standfestigkeit, die alle Wirren abzuwehren vermag, im christlichen Kontext häufig allein Gott zuerkannt. Semantisch dazwischen liegt das Wort ruowe, wie Eckhart es verwendet. Ruowe besitzt einerseits das Sem der völligen Bewegungslosigkeit, andererseits dasjenige der fliehenden Bewegung von sich selbst weg. So liegt der Unterschied zwischen der Neuschöpfung gelâzenheit und der Verwendung von ruowe darin, dass Eckhart erstere als absolute Entäußerung von allen Inhalten definiert. Zwar eignet auch der gelâzenheit Ruhe und untangierbare Unbewegtheit: Der mensche, der gelâzen hât und gelâzen ist […], und blîbet stte,

Vernunft als imago Gottes sieht (siehe etwa Meister Eckhart, Expositio libri Genesis 115, in: Meister Eckhart, Die deutschen und lateinischen Werke, hg. im Auftrag der Deutschen Forschungsgemeinschaft. 2.  Abteilung: Die lateinischen Werke [LW], hg. von Josef Koch [u. a.]. Bd. I,1; II–IV; V,1–2, Stuttgart 1936–1975. Bd. I,2 (Recensio L), 1–5/6, hg. von Loris Sturlese, Stuttgart 1987–2007; hier LW I,1, S. 155; dazu auch Flasch, Meister Eckhart, S. 114 und S. 120; ­Reiter, Der Seele Grund [Anm. 21], S. 269–282, S. 360–375). 104 Zum intellectus und zur Glückseligkeit: Flasch, Meister Eckhart (Anm. 103), S. 155–159. 105 Vgl. Pr. 60, DW III, S. 12 ff. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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unbeweget in im selber und unwandelîche […],106 doch handelt es sich dabei um ein ontologisch-spekulatives »In-Sich-Ruhen des reinen Seins«,107 es ist die Ruhe des »jenseits aller Unterscheidungen liegende[n], somit überseiende[n] und eigentlich dem Sein des Seienden (nicht kausal aufzufassen) vorausliegende[n] und daher von ihm freie[n], ergo ›seinslose[n] Seins‹.«108 Die qualitas des ›seinslosen Seins‹ lässt sich nur mittels dieser contradictio in adjecto einholen, sie ist inhaltsleer und nicht fassbar, ist Teil  der Seele und doch nicht.109 Deswegen verweist der Terminus gelâzenheit im Grunde genommen auf eine Leerstelle, bezeichnet also gerade nicht die (Seelen-)Ruhe selbst, während sowohl tranquil­litas und serenitas als auch impassibilitas und ruowe auf den in sich ruhenden bzw. abwehrenden Kern des Menschen zielen, auf seinen Geist, seine Seele (oder welcher Begriff auch immer im betreffenden Kontext für diese Größe definiert und verwendet wird). Alles in allem zeichnet sich das onomasiologische Feld, zu dem die Ausdrucksformen tranquillitas, serenitas, impassibilitas, ruowe und gelâzenheit zu zählen sind, jedoch grundsätzlich dadurch aus, dass sich die Semantik aller genannten Wörter in einem Spannungsfeld zwischen Übung (oder auch Technik), einem Seinszustand sowie dem (unverfügbaren) Ereignis bewegt.110 Diese drei Pole markieren ein Dreieck, in dessen Mitte Seelenruhe, Seelenfrieden und Gelassenheit als Haltung im Sinne von habitus stehen: Der Mensch, der darüber verfügt, besitzt eine bestimmte Lebenshaltung. Dies ist der Kern sämtlicher der analysierten Konzepte, sowohl der paganen und der patristischen als auch der diversen in der mittelalterlichen Literatur greifbaren Ansätze. Je nach philo­ sophisch-theologischer Konzeption und auch je nach Textsorte steht das Einüben in die betreffende Haltung, ihr Erreichen über ein (Bekehrungs-)Ereignis oder der erreichte Zustand als solcher im Vordergrund. In einem je eigenen Verhältnis zu diesem semantischen Dreieck steht denn auch das Sprechen über die mit tranquillitas, serenitas, impassi­bili­tas, ruowe oder gelâzenheit bezeichnete Haltung. Dieses Sprechen kann philosophisch-reflektierend, narrativ oder inszenierend-performativ sein. Es ist in der Regel philo­ sophisch-reflektierend, wenn die Beschreibung des Seinszustandes im Zentrum steht und die Qualität dieses Zustands und der damit verbundenen Haltung erörtert wird. Eher inszenierend oder auch performativ wird der betreffende Habitus verhandelt, wenn das Einüben in die Technik, wie er erreicht werden kann, im Vordergrund steht. Am ehesten narrativ wird berichtet, wenn das Ereignis, das 106 Pr. 12, DW I, S. 203. 107 Völker, »Gelassenheit« (Anm. 12), S. 285. 108 Reiter, Der Seele Grund (Anm. 21), S. 461. 109 Dazu grundlegend Reiter, Der Seele Grund (Anm. 21), S. 406–533. 110 Siehe zu diesem Problemkomplex auch den Beitrag von Bent Gebert im vorliegenden Band: Technik und Ereignis. ›Gelassenheit‹ in Johannes Schefflers Cherubinischem Wanders­ mann. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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die Haltung ermöglicht, eingeholt wird. In der philosophisch-mystischen Tradition finden sich alle drei Typen, letztere beiden eher dort, wo die betreffende Haltung als habitus mentis dargestellt werden soll, ohne auf abstrakte Begrifflich­ keiten zu rekurrieren. Da bei einer wortgeschichtlichen Analyse, wie sie mit Blick auf die lateinischen Semantiken der Seelenruhe vorgenommen wurde, begriffliche Definitionen und Terminologien im Blickpunkt der Untersuchung stehen, stammen die fokussierten Textpassagen vornehmlich aus einem philosophisch-reflektierenden Kontext. Schon die schlaglichtartige Ausleuchtung einschlägiger Belegstellen vermag die Interdependenzen zwischen dem onomasiologischen Feld und den jeweiligen begrifflichen Semantisierungen einerseits und den mit diesen Begriffen verbundenen Konzeptionen andererseits zu erhellen. Sie schärft das Verständnis für die Gemeinsamkeiten und die Unterschiede der diversen Ansätze und verhilft zu einer deutlicheren Konturierung der diversen Konzeptionen. Zugleich liefert sie die Basis, um die gewonnenen Erkenntnisse an Texten und Textsorten zu spiegeln, die das Sprechen über Seelenruhe, Seelenfrieden und Gelassenheit eher narrativ oder inszenierend-performativ gestalten.

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Etablierung und Übernahme

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Susanne Bernhardt (München)

Die implizite Pragmatik der Gelassenheit in der Vita Heinrich Seuses 1. Einleitung min begird stat nút na klgen worten, si stat na heiligem lebene […]. (Heinrich Seuse, Vita, Kapitel 33)1

Wie soll man bei der semantischen Untersuchung eines Textes vorgehen, der explizit thematisiert, dass die Erörterung von Worten und Begriffen nicht in seinem Zentrum und damit im Zentrum der Konstitution religiöser Identität stehen soll? Schließlich untersagt der Text selbst, lediglich auf der Ebene der klgen worte zu operieren. ›Gelassenheit‹ steht in der Vita nicht im Rahmen eines diskursiv produzierten, abstrakten Wissens. Stattdessen wird der Begriff im Narrativ eines exemplarischen Lebens auserzählt als praktisches Wissen, das es nachzuvollziehen gilt. Wissen und Nicht-Wissen werden an wenigen zentralen Stellen ausgestellt und thematisiert, an denen die schwer verständliche Semantik der Gelassenheit problematisiert und korrigiert wird. So wird das Wort also durchaus sprachlich reflektiert, aber der Vollzug und die Umsetzung von Gelassenheit stellen die eigentliche Zielsetzung dar. Gerade das Spannungsfeld zwischen diesen beiden Ebenen ermöglicht es Heinrich Seuse in der Vita, die Frage nach Bedeutung immer wieder unter verschiedenen Perspektiven zu stellen: Wie kann der Text mit der Produktion von Bedeutung auf der Wortebene umgehen? Wo liegen die Gefahren einer auf Worte fixierten Unterweisung? Wie kommt man von einer Unterweisung in rein diskursives Wissen zu einer Unterweisung in auf Nachvollzug ausgerichtete Praktiken? An diesem Punkt kann eine historische Semantik, die an der Rekonstruktion historischer Selbstbeschreibungsformen2 ansetzt, ihre Methoden und Grund­ 1 Heinrich Seuse, Deutsche Schriften, hg. von Karl Bihlmeyer, Stuttgart 1907 (Nachdruck Frankfurt a. M. 1961) [B], S. 98,21 f. 2 Vgl. Christian Kiening, Gegenwärtigkeit. Historische Semantik und mittelalterliche Literatur, in: Scientia Poetica 10 (2006), S. 19–46. Dort wird als Grundzug aktueller Ansätze der historischen Semantik formuliert, dass Bedeutung »weder als einfach historisch gegeben noch als nur interpretatorisch zugeordnet verstanden (wird), sondern als rekonstruierbar anhand historischer Selbstbeschreibungsformen und ihrer Regularitäten«, S. 21. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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fragen erproben und plausibilisieren. Alle Texte des Korpus, nämlich des Exem­ plars als »Ausgabe letzter Hand«3, thematisieren den Begriff ›Gelassenheit‹ explizit und stellen ihn zur Disposition. Man kann also beobachten, wie dieser zentrale Begriff der Klosterkultur innerhalb der individuellen Semantik Seuses aufgeladen wird, wie er ausgestellt, diskutiert und verhandelt wird. Damit aber gewinnt man Einblick in die Grenzverstöße, die das Verstehen von Gelassenheit immer wieder provoziert, und in die Versuche, diesen Missverständnissen auf verschiedenen Wegen entgegenzuwirken. Bei der detaillierten Analyse des Wortmaterials, in der sowohl die unterschiedlichen Verwendungsweisen im semantischen Netz ihrer sprachlichen Umgebung als auch ihr Status im gesamten Textgefüge betrachtet wird, ist festzustellen, dass sich die Belegstellen in nur wenigen Kapiteln auffällig verdichten, in denen dann an Fragen der Bedeutung und Bedeutungsproblematik intensiv gearbeitet wird.4 Statt ›Gelassenheit‹ unkommentiert zu verwenden, ist im Exem­plar eine ›Arbeit am Begriff‹ zu beobachten. Historische Semantik kann bei diesen Texten nicht auf der Ebene einer lexikalisch-statistischen Belegstellensammlung stehen bleiben – also nicht reine Wortgeschichte schreiben –, will sie diese besonderen Phänomene in den Blick bekommen. Die Texte selbst zeigen recht schnell die Grenzen der Möglichkeit, mit Hilfe einer Sammlung syntaktischer Verbindungen Aussagen über die Konstitution oder die Etablierung eines Begriffes machen zu können, da gerade textstrategische Verfahren in hohem Maße an der Semantisierung beteiligt sind.5 Um die Varianz der Verwendung und der Verfahren der Semantisierung aufzuzeigen und damit die Relevanz der Einzeltextanalysen transparent zu machen, sollen einige exemplarische Beobachtungen zum Umgang mit ›Gelassenheit‹ im bchli der ewigen wisheit und im bchli der warheit ausgeführt werden. Auch dort ist die Semantisierungsstrategie der ›Arbeit am Begriff‹ festzustellen, wobei jeder Text des Exemplars eine je eigene Form der Semantisierung und der thema­ tischen Fokussierung ausarbeitet. Ähnlich wie in der Vita wird auch in diesen

3 Kurt Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, Bd.  3: Die Mystik des deutschen Predigerordens und ihre Grundlegung durch die Hochscholastik, München 1996, S. 421. 4 Diese Art der Semantisierung stellt das Textkorpus Seuses demjenigen Taulers gegenüber, der über frequenten Gebrauch eine Usualisierung des Begriffs zu erreichen sucht. Vgl. dazu den Aufsatz von Imke Früh in diesem Band: Im Zeichen und im Kontext von gelossenheit. Semantisierungsstrategien in den Predigten Johannes Taulers. 5 Meinen Ausführungen liegen die Überlegungen von Andreas Blank zugrunde, der von einem Dreiebenenmodell der Bedeutung ausgeht und der zwischen lexikalischem, einzelsprachlich-sememischem und enzyklopädischem Wissen differenziert. Diese Ebenen werden in seinem Modell gleichzeitig analytisch getrennt und in ihrer engen Kopplung dargestellt, vgl. ders., Einführung in die lexikalische Semantik für Romanisten, Tübingen 2001, vor allem S. 132–140. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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Texten in Dialogen immer wieder nach dem Begriff ›Gelassenheit‹ gefragt, wobei die Verwendungsweisen und die textuellen Verfahren stark variieren.6 Im bchli der ewigen wisheit wird die ›Gelassenheit‹ antonymisch der ›Gegenwärtigkeit‹ gegenübergestellt. Das Semantisierungsverfahren im für die Semantik der Gelassenheit wichtigsten neunten Kapitel arbeitet dabei mit dem Bild des minne spils, dem Leiden an der Abwesenheit der Liebe. Der Entzug der göttlichen Präsenz (›Gelassenheit‹ als ›Verlassenheit‹) wird als notwendige Voraussetzung perspektiviert, um dem Menschen im Diesseits die Anwesenheit der Gottesminne (als gegenwúrtikeit) erst begreifbar zu machen: Alle die wile liep bi liebe ist, so enweis liep nit, wie liep liep ist; swenn aber liep von liep gescheidet, so enphindet erst liep, wie lieb lieb waz (B 234,13–15). Die Abwesenheit der gotes minne führt zum Zustand der Gelassenheit. ›Gelassenheit‹ wird in ein ausschließlich nega­ tives Wortfeld gestellt: ein sieche mensch, trege, swere, hertikeit, trurikeit, kalt, law (B 233,12–20). ›Gegenwärtigkeit‹ dagegen wird in ein positiv konnotiertes Wortfeld gestellt: der liehte morgensterne, lieht heitri, hohzitklich, lihte, sze (B 233,21– 234,5). Gelassenheit ist somit zwar Leiden an der Verlassenheit, gleichzeitig aber auch die Bedingung für die Erkenntnis der Gegenwärtigkeit als Anwesenheit der gotes minne. Über dieser Auffächerung in Gelassenheit und Gegenwärtigkeit steht der wohl prominenteste Satz zur Gelassenheit im bchli der ewigen wis­ heit: Ein gelazenheit ob aller gelazenheit ist gelazen sin in gelazenheit (B 232,16 f.). Doch wird im Folgenden eben nicht die gelazenheit ob aller gelazenheit entfaltet, sondern die Klage des Dieners über seine gelazenheit als Verlassenheit. Die Verwendungsweise von gelazenheit als ›Verlassenheit‹ wird konsequent im ganzen Text beibehalten, wie auch die Kollokationen des Adjektives gelassen zeigen, das mehrfach in Doppelformeln auftritt: bloz und gelazen (B 234,7), von Gott gela­ zen und vergessen (B 238,17), verlggent und gelazen (B 251,5), hilflos und gelazen (B 272,19), wobei sich ›verlassen sein‹ sowohl auf die Gottverlassenheit als auch auf die Verlassenheit von der Welt beziehen kann. Auch als Verb taucht lazen und gelazen in dieser Verwendungsweise auf und wird ebenfalls in unterschiedlichen Perspektiven der Verlassenheit durchgespielt. Dabei ergeben sich immer wieder Doppelbewegungen, von denen ich zwei exemplarisch vorstellen möchte. Die Aufforderung zur Nachfolge Christi im Leiden wird sprachlich umgesetzt über den Christus-Ruf am Kreuz. Christus (in der Figur der ewigen Weisheit) be 6 Unterschiedliche Textsorten und Medien stärker in den Blick zu nehmen, forderte 1998 bereits Rolf Reichardt in seinem Aufsatz: Historische Semantik zwischen l­ exicométrie und New Cultural History. Einführende Bemerkungen zur Standortbestimmung, in: Rolf ­Reichardt (Hg.), Aufklärung und Historische Semantik. Interdisziplinäre Beiträge zur westeuropäischen Kulturgeschichte, Berlin 1998, S. 7–28. Um die Gefahr zu vermeiden, »einheitliche Denk- und Argumentationsmuster zu rekonstruieren« und damit »in sich geschlossene, völlig homogene Zeichensysteme«, müsse man »verstärkt die unterschiedlichen Textstrategien und die je eigene Zeichensprache einzelner Typen von Textsorten und Medien berücksichtigen«, S. 26. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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schreibt sein Leiden mit einer dreimaligen Wiederholung von lazen bzw. gelazen, wobei die dritte Nennung ein Eigenzitat aus der Bibel ist: do waren doch die nideren krefte des inren und des usseren menschen als gar in selber gelazen uf daz jungste púntli grundloser bitterkeit in ganzem trostlosem liden […] und do ich genzklichen als gar hilflos und gelazen also stnt […] do hb ich ich uf ein jemerlich stimme und rfte ellendklich z minem vater und sprach: »min got, min got, wie hast du mich gelazen!« (B 272,15 ff.; Hervorhebungen S. B.)7

Verlassenheit wird gesteigert bis zum letzten Wort Christi vor seinem Tod. Pa­ rallel aufgebaut ist die Klage derjenigen, die sich im Zustand der Verlassenheit befinden: »owe herr, wie hast du mich gelassen!« (B 246,9). Verlassenheit wird zur Möglichkeit, sich in der Sprache dem Leiden Christi in der Abwesenheit Gottes anzugleichen und dem zu Anfang gestellten Postulat zu folgen: Dar umb, wilt du mich schowen in miner ungewordenen gotheit, so solt du mich hie lernen erkennen und minnen in miner gelitnen menscheit, wan daz ist der schnellest weg ze ewiger selikeit (B 203,7 ff.). Die zweite Bewegung, in der Gelassenheit perspektiviert wird, hat ihren Ausgangspunkt in der Klage über die Welt: mine waren trieger […] hein mich ­walschlich und ellendklich gelazen und ab mir gezerret alles daz gt, da mit mich min einges liep hate gekleidet (B 211,22 f.). Die Verlassenheit von der Welt geht einher mit der Verlassenheit von Gott (dem liep): Mich hat doch ellú disú welt ge­ lazen, wan ich min einiges liep han gelazen (B 211,26 f.). Mit dem Verlassen Gottes überlässt man sich also nicht der Welt, sondern man wird von der Welt verlassen. Obwohl der Fokus im bchli der ewigen wisheit auf der Gelassenheit als Verlassenheit liegt, bietet es dennoch eine Vielfalt an Verwendungsweisen. ›Gelassenheit‹ wird nicht definitorisch entwickelt, sondern in immer neuen Bewegungen als Verlassenheit herausgebildet: als Verlassenheit von der Welt und als Verlassenheit von Gott im minne spil. Ganz anders perspektiviert ist ›Gelassenheit‹ im bchli der warheit, das terminologisch viel strikter vorgeht. Lazen taucht dort fast ausschließlich als Vollverb auf und wird im fünften Kapitel ebenso kunstvoll wie vorsichtig entfaltet,8 wobei die reflexive Form sich lassen auseinandergelegt und auf Grenzen und Möglichkeiten des Lassens im Diesseits befragt wird.9 Daneben findet sich für die Verbformen mehrfach die Paarformel ›Tun und Lassen‹, die auf das komplexe Verhältnis von Aktivität und Passivität verweist und in der paradoxen Formulierung im letz 7 Vgl. auch Kapitel 2.3. 8 Vgl. dazu Alois M. Haas, Gelassenheit – Semantik eines mystischen Begriffs, in: ders., Kunst rechter Gelassenheit. Themen und Schwerpunkte von Heinrich Seuses Mystik, Bern [u. a.] 1995, S. 247–269, hier S. 263 f. 9 Kurt Ruh spricht davon, dass Seuse sich hier »erneut als Scholastiker [erweist].«, Geschichte der abendländischen Mystik, Bd. 3 (Anm. 3), S. 429. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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ten Kapitel gipfelt: Eines wolgelazsenen menschen tn ist sin lazsen, und sin werk ist mssig bliben, wan sines tnnes blibet er rwig und sins werkes blibet er mzsige.10 Auch das Substantiv wird restriktiv verwendet. Die rehte gelassenheit wird keineswegs einer falschen gelassenheit gegenübergestellt. Sorgfältig bleibt das Sub­ stantiv immer rehte gelassenheit, während als Gegenbegriff nur die falsche friheit oder die ledige friheit auftaucht. Das bchli der warheit bleibt also nicht nur inhaltlich darauf bedacht, brisante Meinungen an die Orthodoxie zu­rückzubinden, sondern zeigt diese Bedachtsamkeit bis in das letzte Detail der Wortwahl.11 So kann man auf der Ebene der Belegstellen nicht von der Gelassenheit bei Seuse reden. Stattdessen muss man für jeden Text – unter Berücksichtigung der Gattungsdifferenzen  – die Semantisierungsstrategien separat betrachten, will man zu einem differenzierten Bild der Etablierung und Sicherung des Begriffs bei Seuse gelangen. Im Folgenden werden die Belegstellen, ausgehend von der Mikroebene des Wortmaterials, auf ihren direkten Kontext – bei Seuse also die einzelnen Kapitel – und dann auf das Textganze bezogen. Denn der zentrale Begriff ›Gelassenheit‹ wird nicht nur auf der Textoberfläche thematisch aufgeladen, sondern dient in der argumentativen Grundstruktur stets als Fluchtpunkt. Notwendig ist eine Perspektive, die die Statik der Wortbelege mit der Dynamik der Textstrategien verknüpft und diese Dynamik aus der historischen Kommunikationssituation plausibilisiert, also die lexikalische Mikroebene in Beziehung zur Makroebene kultureller Praktiken und Diskursformationen setzt. Gemäß dieser Überlegungen schließt sich eine Analyse der semantischen Strategien der Vita in drei Schritten an: Um die Spezifika in angemessener Form darzustellen, wird anhand eines Kapitels mit verdichteten Belegstellen die Semantisierungsstrategie auf der Textoberfläche exemplarisch vorgeführt (2.1 und 2.2). Diese Lektüre wird dann in Beziehung gesetzt zum ganzen Kapitel, um zu zeigen, wie über Wiederholungsstrukturen die Komplexität gesteigert wird (2.3). In einem dritten Schritt wird der Gesamttext und dessen narrative Grundstruktur12 betrachtet, wobei die oben angesprochene Umsetzung der Gelassenheit im Le 10 Heinrich Seuse, Das Buch der Wahrheit. Das bchli der warheit, kritisch hg. von ­Loris Sturlese und Rüdiger Blumrich. Mit einer Einleitung von Loris Sturlese, übers. von ­Rüdiger Blumrich, Hamburg 1993, S. 68,40 ff. 11 Vgl. dazu Susanne Köbele, Emphasis, überswanc, underscheit. Zur literarischen Produktivität spätmittelalterlicher Irrtumslisten (Eckhart und Seuse), in: Peter Strohschneider (Hg.), Literarische und religiöse Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit. DFG-Symposion 2006, Berlin, New York 2009, S. 969–1002, hier vor allem S. 992 f. 12 Hans-Jürgen Lüsebrink weist darauf hin, dass gerade der narrativen Dimension eine wichtige Funktion bei der Etablierung und Verbreitung von Begriffen zukommt. Durch die Einbindung in einen Handlungsrahmen erhalten (abstrakte) Begriffe ein höheres Maß an Kon­ kretisierung und perspektivieren die Bedeutung auf eine anders zu beschreibende Art und Weise als bspw. eine Predigt. Vgl. Hans-Jürgen Lüsebrink, Begriffsgeschichte, Diskursanalyse und Narrativität, in: Rolf Reichardt (Hg.), Aufklärung und Historische Semantik (Anm. 6), S. 29–44. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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bensvollzug sowie die Problematik des Missverstehens als zentrale Dimensionen herausgearbeitet werden (3.1 bis 3.3).

2. Die Mikroebene: Detailanalyse des 38. Kapitels der Vita 2.1 Die Deklination der Gelassenheit – Eine lexikalische Analyse Im Gegensatz zu Kapitel 48, in dem diskursiv ein gter underscheid under warer und falscher gelassenheit (B 160,15) erörtert wird, die Definition von ›Gelassenheit‹ also im Mittelpunkt steht, sind in Kapitel 38 eine Vielzahl an sprachlichen Strategien zu beobachten. Diese konstituieren und definieren Bedeutung nicht nur, sondern stellen sie auch in die Spannung zwischen Sprache und Vollzug. Das Vorgehen des Textes bietet die Möglichkeit, die Semantik der Gelassenheit in ihren vielfältigen Implikationen darzustellen und zu einer Betrachtungsweise zu gelangen, die den spezifischen Umgang mit ›Gelassenheit‹ in der Vita sichtbar macht. Kapitel 38 steht im zweiten Teil der Vita, der die Unterweisung der geistlichen Tochter Elsbeth Stagel durch den Diener der ewigen Weisheit erzählt. Elsbeth Stagel als Modellrezipientin ermöglicht die Darstellung der Unterweisung in ein auf Vollkommenheit ausgerichtetes Leben. Das Kapitel besteht aus zwei Ebenen: einem Erzählrahmen und verschiedenen Erzählungen in Briefform. Der Rahmen wird erzeugt durch die Kommunikationssituation zwischen Diener und Tochter, die den Kommunikationszweck formulieren: Elsbeth Stagel bittet ihren Beichtvater, ihr etwas Tröstendes zu schicken, damit ir lidendes herz erlupfet wurdi (B 114,11 f.). Dieser antwortet ihr in einem Brief mit verschiedenen Episoden, die sein Leiden thematisieren, damit sie, wie er schreibt, dest gedultiger sei in ihrem lidene (B 114,17 f.). Sie erhält ein Modell, an dem sie ihr eigenes Leben und Leiden ausrichten soll. Dass dieses ›Lernen am Modell‹ Wirkung zeigt, ist an der Inszenierung ihrer Reaktion auf das Leiden des Dieners ablesbar: nach der Lektüre ist sie so bewegt, dass sie sich von erbermde wol erweinete (B 130,28). Die Erzählung in Kapitel 38, aus dem der Textausschnitt stammt, schildert eine Episode, in der eine Frau mit wúlfin herz (B 119,2) den Diener bezichtigt, sie geschwängert zu haben, eine Verleumdung, die dazu führt, dass sich alle Menschen einschließlich seiner Freunde von ihm abwenden. Der zu analysierende Textausschnitt bildet den Kulminationspunkt des Kapitels, in dem der Diener in einer Klagerede sein Leiden inszeniert. Entfaltet wird das Leiden über eine weit reichende Semantik der Gelassenheit. Under dannen, do er in der kleglichen ungehebd waz, do sprach neiswas von got in ime also: »wa ist nu din gelassenheit, wa ist glichstan in lieb und in leide, daz du dik hast andren lúten frlich geliept, wie man sich gote lidklich súl lassen und uf niht beliben?« Dez entwúrt er vil weinlich hin wider also: »fragest du mich, wa min gelassenheit sie, eya, so sag du mir, wa ist gotes grundlosú erbarmherzikeit úber sin frúnde? © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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Ich gan doch hie wartende, und bin in mir selb verdorben als ein verteilter man libes und gtes und eren. Ich wande, got weri milt, ich wande, er weri ein gnediger, tugenthafter herr allen den, die sich getrstin an in gelassen; owe mir, got ist an mir erzaget! Owe, dú milt ader, dú nie erseig an erbermde, dú ist an mir armen ersigen! Owe, daz milt herz, von dez miltekeit ellú dú welt schriet, hat mich ellendklich gelassen! Er hat sinú schnú ogen und sin gnediges antlút von mir gekeret. Owe du gtliches antlút, owe du miltes herz, ich heti dir es nie getrúwet, daz du mich so gar hetist verworfen! Owe grundloses abgrúnd, kum mir ze staten, wan ich bin vorhin verdorben! Du weist, daz alle min trost und zversiht an dir allein lit und an nieman anderm uf ertrich. Eya, hrent mich húte dur got, ellú lidenden herzen! Lgent, es endarf nieman kein unbild nemen ab miner ungehabd, wan alle die wile, do mir gelassenheit allein in dem mund waz mit rede dur von ze sprechen, do waz mir sss dur von ze reden; owe, nu hat es alles min herz durwundet und daz innigest gemarg aller miner adren und mins hirnis dursofet, daz kein gelid an minem libe niene ist, es sie durmartret und durwundet; wie kan ich denne gelassen sin?« Do er in diser ungehabt wol einen halben tag waz und sin hirni verwstet hate, do gesass er also stille und kerte sich von im selb z gote und ergab sich in sinen willen und sprach: »mag es anders nit sin: fiat voluntas tua!« (B 127,4–33) Unterdessen, als er sich in diesem jämmerlichen Zustand befand, sprach etwas von Gott folgendermaßen in ihm: »Wo ist jetzt deine Gelassenheit, wo ist der Gleichmut in Freud wie Leid, was du oft anderen Menschen fröhlich angenehm gemacht hast, wie man sich Gott geduldig überlassen soll und auf nichts beharren?« Er antwortete ganz kläglich: »Wenn du mich fragst, wo meine Gelassenheit sei, ach, dann sag du mir, wo Gottes unergründliche Barmherzigkeit gegenüber seinen Freunden ist? Ich muss doch hier warten und bin zugrunde gerichtet als ein an Leib, Gut und Ehren verdammter Mann. Ich glaubte, Gott sei gütig, ich glaubte, er sei ein gnädiger, tugendhafter Herr all denjenigen, die es wagten, sich ihm anzuvertrauen; oh weh, Gott hat mich aufgegeben. Oh weh, die milde Ader, deren Erbarmen nie versiegt, an mir Armen ist sie versiegt! Oh weh, das gütige Herz, von dessen Güte alle Welt verkündet, hat mich jammervoll zurück gelassen! Er hat seine herrlichen Augen und sein gnädiges Antlitz von mir abgewandt. Oh weh du herrliches Antlitz, oh weh du gütiges Herz, ich hätte es dir niemals zugetraut, dass du mich so völlig verstoßen würdest! Oh weh unergründlicher Abgrund, hilf mir, denn ich bin zugrunde gerichtet. Du weißt, dass mein ganzer Trost und meine Zuversicht von dir abhängen und von niemandem sonst auf der Erde. Ach, hört mich heute um Gottes willen, alle leidenden Herzen! Seht, es darf sich niemand über meine Bedrängnis entrüsten, denn die ganze Zeit, als mir nur die Rede von Gelassenheit durch den Mund ging und ich davon sprach, da war es mir ein Süßes, davon zu reden. Oh weh, nun ist mein ganzes Herz durch und durch verwundet und das innerste Mark aller meiner Adern und meine Hirnes durchtränkt, so dass kein Glied an meinem Leib ist, das nicht durchmartert und tief verwundet ist; wie soll ich da gelassen sein?‹ Nachdem er sich in dieser Bedrängnis wohl einen halben Tag befand und ihm sein Hirn wüst geworden war, da setzte er sich ganz still und kehrte sich von sich selbst ab und hin zu Gott und ergab sich in seinen Willen und sprach: ›Es soll nicht anders sein: Fiat voluntas tua!« (Übersetzung: S. B.) © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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Die Textstelle ist als Zwiegespräch zwischen Gott und dem Diener verfasst: do sprach neiswas von got in ime also (B 127,5). Die Narration des Leidens wird dialogisch formuliert, erhält eine Dynamik, in deren Fluchtpunkt die Gelassenheit steht. Die Bedeutung von Gelassenheit selbst kann so in der Kommunikation ausgestellt, erfragt und erörtert werden. Der Dialog öffnet mit der Frage des neiswas von gote: wa ist nu din ge­lassenheit (B 127,5 f.). ›Gelassenheit‹ erscheint sofort als zentraler Begriff, nach dem über das lokale Interrogativpronomen wo? gefragt werden kann. Es wird die Frage nach dem Ort der Gelassenheit gestellt, die Sprache bedient sich ihrer topo­ logischen Struktur, um herauszustellen, dass der Diener diese Struktur noch nicht durchschritten hat. Und dieses Durchschreiten der topologischen Struktur  – vom Nicht-Ort zum Ort des Vollzuges der Gelassenheit  – vollzieht der Text selbst, indem er die gesamte Wortfamilie zur Entfaltung bringt, ein Verfahren, das ich mit ›Deklination der Gelassenheit‹ umschreiben möchte. ›Gelassenheit‹ wird aber nicht nur durch die Frage nach ihrem Ort, sondern auch durch den darauf folgenden syntaktischen Parallelismus aufgeladen und in ein Verhältnis semantischer Synonymie gestellt. Der ersten Frage nach der ge­lassenheit folgt nämlich die parallel strukturierte zweite Frage: wa ist glichstan in lieb und in leide (B 127,6). Durch dieses parallelsyntaktische Verhältnis findet eine semantische Über­tragung statt: ›Gelassenheit‹ steht im Kontext von glichstan. Diese Verwendung von ›Gelassenheit‹ im Zusammenhang von ›Gleichmut‹ wird verbal aufgelöst. Während die syntaktische Parallelisierung auf einen teilsynonymen Zustand verweist, zeigt die Verbalphrase sich gote lidklich […] las­ sen den Prozess des ›von sich selbst Lassen‹ und ›sich Gott Überlassen‹, der über die das Verb determinierende adverbiale Bestimmung lidklich in den Kontext von Geduld gestellt wird. Die Verbalphrase steht dabei in einem antonymischen Verhältnis zu uf niht beliben. Das mittelhochdeutsche Wörterbuch gibt als Übersetzung für belîben mit der Präposition ûf ›beharren‹ an,13 als Text­ beleg eine Stelle aus den Predigten Nikolaus’ von Straßburg: wan Kristus hatte disen selben willen, daz er gerne gelebet hête, alleine er nie dar ûf beleip einen ougenblik.14 Auf nichts beharren, sondern sich geduldig auch leidend Gott überlassen, diese Verwendungsweise wird von der inneren Stimme gefordert. Das neiswas von gote zitiert hier den Diener selbst. Dieser hatte gelassenheit zwar and­ ren lúten frlich geliebt, anderen Menschen ›angenehm gemacht‹, im eigenen Leben aber nicht umgesetzt. Der Dialog öffnet damit ein spannungsvolles Gefüge: Die innere Stimme Gottes im Diener zitiert denselben mit Forderungen nach 13 Wilhelm Müller und Friedrich Zarncke (Hg.), Mittelhochdeutsches Wörterbuch. Mit Benutzung des Nachlasses von Georg Friedrich Benecke, Bd. 1, Leipzig 1854 (Nachdruck Leipzig 1963), Sp. 968a. 14 Deutsche Mystiker des vierzehnten Jahrhunderts, hg. von Franz Pfeiffer. Bd. 1: Hermann von Fritzlar, Nikolaus von Straßburg, David von Augsburg, Leipzig 1845 (Neudruck ­Aalen 1962), S. 291,10 f. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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lassen, die der Diener zwar sprachlich vermitteln kann, aber selbst nicht umsetzt. Das Wissen um ›­Gelassenheit‹ wird also nicht nur semantisiert als ›Gleichmut‹, sondern steht auch in der Spannung zwischen abstraktem Sprachwissen und Handlungswissen im Vollzug. Vollzogen werden kann nur, was verstanden wurde, aber Verstehen scheint nicht sprachlich vermittelbar zu sein. Die Figur des Dieners nimmt den Dialog in einer Klagerede auf, in der sie fortfährt mit dieser nahezu lexikographischen Entfaltung der Verwendungsweisen von lassen und gelassen. Er schließt mit einer Gegenfrage an, die syntaktisch die Ausgangsfrage aufnimmt: dem ›Wo‹ der Gelassenheit wird das ›Wo‹ der göttlichen erbarmherzikeit gegenübergestellt. Über verba dicendi wie fragen und sa­ gen wird dabei der vermeintliche Gegensatz verstärkt: fragest du mich, wa min ge­ lassenheit sie, eya, so sag du mir, wa ist gotes grundlosú erbarmherzikeit úber sin frúnde? (B 127,9 f.). Wird nach dem Ort der Gelassenheit gefragt, so soll sich zuerst die Barmherzigkeit offenbaren. Gelassenheit erscheint durch diese Gegenüberstellung in ein Bedingungsverhältnis zur Barmherzigkeit gesetzt. Im Leiden wird sie als abwesend wahrgenommen, damit ist aber auch das ›gleichmütig im Leiden Stehen‹ für den Klagenden problematisch geworden. Die syntaktisch identischen Texteinheiten – wa ist gelassenheit, wa ist glich stan, wa ist gotes erbarmherzikeit – stellen als rhetorische Figur des Parallelismus die Gelassenheit in ein Verweisnetz von Bedeutungen. Durch die Teil­synonymie mit glichstan wird gelassenheit semantisch aufgeladen; durch die Frage nach der Barmherzigkeit dagegen wird eine Bedingungsstruktur formuliert: Bedingung für Gelassenheit scheint demnach die göttliche Barmherzigkeit zu sein, die das Leiden aufhebt. Dieses Bedingungsverhältnis unterläuft der Text im Folgenden selbst. Doch das Spektrum der Verwendungsweisen erschöpft sich keineswegs in der Bewegung von ›sich selbst in Gleichmut lassen‹ und ›sich Gott geduldig überlassen‹. Die folgenden Belegstellen zeigen, wie über bereits usualisierte Verwendungsweisen das Verb lassen in seiner semantischen Varianz entfaltet wird. Auf der Ebene der lexikalischen Einheit weist sich an einen gelassen die gleiche phono­logische Struktur auf, doch morphosyntaktisch ist eine Unterscheidung möglich. Diese Verwendungsweise von gelassen wird durch die Präposition an in einen spezifischen Verwendungszusammenhang gestellt, der im Wörterbuch von Matthias Lexer mit »sich einem anvertrauen« übersetzt und mit einem Vers ­Walthers von der Vogelweide belegt wird.15 Der Text bedient sich hier bereits bekannter volkssprachiger Verbalkonstruktionen, die nicht aus dem Bereich geistlicher Literatur stammen. Das schwer explizierbare Abstraktum ›Gelassenheit‹ 15 Matthias Lexer, Mittelhochdeutsches Handwörterbuch, Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1872–1878, mit einer Einleitung von Kurt Gärtner, Stuttgart 1992, Bd.  1, Sp.  806. Die Belegstelle von Walther von der Vogelweide in: Christoph Cormeau (Hg.), Walther von der Vogelweide. Leich, Lieder, Sangsprüche. 14., vollständig neu bearbeitete Aufl. der Ausgabe Karl Lachmanns mit Beiträgen von Thomas Bein und Horst Brunner, Berlin, New York 1996, S. 238: Jâ möht ich michs an in niht wol gelâzen, / daz er wol behuote sich. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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wird durch die usualisierte Verwendungweise der Verbalphrase in den Kontext bereits bekannter Wortverwendungen gestellt. Auf der Ebene der Propositionen steht dieses ›sich einem anvertrauen‹ in einer konsekutiven Struktur zu daz milt herz […] hat mich ellendklich gelassen. Da der Diener das Vertrauen in Gott als nicht erfüllt beklagt, ist die Konsequenz daraus die Klage über das Verlassensein. Diese Verwendungsweise des Verlassenseins im Leiden wird durch die adverbiale Bestimmung ellendklich zusätzlich deter­ miniert. Sie evoziert, als Ableitung vom Adjektiv ellende, die Dimension der ellen­ den sele, der verlassenen Seele. Die Konstruktion [Subjekt + Personalpronomen im Akkusativ + lassen] taucht in der Vita dabei mit 8 von 27 Belegstellen für das nicht reflexiv gebrauchte Vollverb frequent auf; diese Wortbelege lassen sowohl in der Vita als auch im bchli der ewigen wisheit auf die Verwendungsweise ›verlassen‹ schließen. Auch in adjektivischer Verwendung taucht lassen auf. Die Frage: wie kan ich denne gelassen sin? greift die Ausgangsfrage wa ist nu din gelassenheit? auf. Der Wechsel vom Abstraktum gelassenheit zum prädikativ verwendeten Adjektiv ge­ lassen sowie der Wechsel der lokalen Frage wo? zur modalen Frage wie? erscheint dabei programmatisch in der Bestrebung, Gelassenheit nicht nur abstrakt aus­ zuführen. So macht der Text eine Bewegung von der prägnanten Erfassung des Themas im Abstraktum über die Entfaltung in den verbalen Formulierungen hin auf das adjektivische Prädikat. Entscheidend ist dabei, dass semantische Prädikate auf einen Träger verweisen, in diesem Fall das sprechende Ich. Gelassenheit erhält im Adjektiv gelassen einen Träger, den Diener der ewigen Weisheit. Auf der Ebene lexikalischen Wissens wird deutlich, wie breit ›Gelassenheit‹ semantisiert wird: Die Bedeutungsübertragung erfolgt über Synonymieverhältnisse, über die Entfaltung bereits usueller verbaler Konstruktionen und über die Ausschöpfung des fast gesamten Spektrums der Wortfamilie und deren verschiedenen Funktionen. Dabei zeigt sich die Tendenz, durch die kontrastive Deutung von ›anvertrauen‹ einerseits und ›verlassen‹ andererseits das Verwendungspotenzial des verbalen Ausdruckes auszuschöpfen. Das Abstraktum wird über die verbalen Ausdrücke determiniert und in die Spannung zwischen Gleichmut, Gottes Barmherzigkeit, Gottvertrauen und dem Leiden an Gottes Abwesenheit gestellt. Bereits aus der Analyse der lexikalischen Ebene ergibt sich so ein interessanter Befund: ›Gelassenheit‹ wird semantisch entfaltet im Spektrum Gleichmut – Gottvertrauen – Gottverlassenheit sowie mit Geduld und natürlich mit Leiden in Beziehung gesetzt. Wiederholt wurde bereits auf die Spannung zwischen Sprach­ wissen und Handlungswissen hingewiesen. Der Frage nach Sprache und Vollzug soll im Folgenden nachgegangen werden, um so die Dimension der Pragmatik von Gelassenheit zu entwickeln.

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2.2 Sprechen und Sprechen-Lassen: Gelassenheit im Vollzug Nicht betrachtet wurde bislang die zweite Belegstelle des Substantivs in der Figuren­rede des Dieners: do mir gelassenheit allein in dem mund waz mit rede dur von ze sprechen, do waz mir sss dur von ze reden (B 127,24–26). Das Sprechen über Gelassenheit wird in der figura etymologica – mit rede […] dur von ze reden – rhetorisch hervorgehoben. Sprechen – Rede – reden, Gelassenheit, die nur im Munde ist: Der Text problematisiert innerhalb der Klagerede die Differenz zwischen Rede und Vollzug, zwischen sprachlicher Vermittlung von Gelassenheit und dem Wissen, das nicht mehr auf der sprachlichen Verständnisebene liegt, sondern trotz – oder wegen? – des Leidens als Existenzform zu leben ist. Wie aber bewältigt der Text die Schwierigkeit, über etwas zu sprechen, von dem gesagt wurde, die Bedeutung läge eben nicht allein in dem mund mit rede? Wie kann der Text die Ebene der Bedeutung sprachlich darstellen, die als nicht sprachlich erscheint, die als Vollzugsebene, als performative Ebene durchgeführt, ›gelebt‹ werden muss? Drei Strategien sollen als besonders wirksam herausgestellt werden, um die Performativität16 des Textes zu erläutern: zum einen der Wechsel von der Ent­ faltung der Wortsemantik auf eine Semantik der Körpersprache; zum zweiten, damit zusammenhängend, die zitathafte Einschreibung des Körpers in die Passion Christi; und als dritte textuelle Strategie der Darstellung der Perspektivwechsel von der Figurenrede zur Erzählerdarstellung. Die Engführung von Körper und Gelassenheit führt zu zwei Aspekten: Wie stellt die Figur ihren Körper dar, und wie inszeniert der Erzählerkommentar den Körper der Figur? Die Erfahrung äußerster Verlassenheit  – von der Welt und von Gott  – wird als körperliches Leiden erzählt: nu hat es alles min herz dur­ wundet und daz innigest gemarg aller miner adren und mins hirnis dursofet, daz kein gelid an minem libe niene ist, es sie durmartret und durwundet (B 127,26– 29). Hier möchte ich mit den Offenbarungen Elsbeths von Oye einen Text heran 16 Performativität wird hier auf der Ebene des Wechsels von der Sprache zum Körper angesiedelt, also gewissermaßen als Aufführung der Bedeutung im Text. Das Verstummen des Monologs und die starke körperliche Inszenierung vollziehen – gleichwohl natürlich auch der Körper sprachlich konstituiert wird – einen Wechsel von interner Perspektive auf die externe (Erzähler-)Perspektive. Dies möchte ich performativen Wechsel nennen, denn die Gelassenheit erscheint hier als das Unverfügbare, das nicht im Monolog erörtert werden kann, sondern nur über den Wechsel auf die andere Darstellungsebene. Gleichzeitig spielt auch das Verhältnis von Ein­maligkeit und Wiederholbarkeit in verschiedenen Dimensionen eine Rolle, wie in Kapitel 2.3 ausführlicher gezeigt wird. Vgl. Cornelia Herberichs und Christian Kiening, Einleitung, in: dies. (Hg.), Literarische Performativität. Lektüren vormoderner Texte, Zürich 2008, S. 10: »Das Performative besteht insofern nicht nur in dem Einmaligen oder Ereignishaften einer bestimmten Aufführung oder Lektüre, sondern auch in der Wiederholbarkeit eines Aktes, der auf paradoxe Weise den Eindruck von Einmaligkeit erzeugen und zugleich mit Dauer versehen kann.« © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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ziehen, der immer wieder mit Seuses Vita in Beziehung gesetzt wird. Im Gegensatz zur körperlichen Schmerzinszenierung bei Elsbeth von Oye ist das Leiden, das dem Diener von außen zukommt, ein eigentlich unkörperliches Leiden. Dieses nicht physische Leiden aber wird von ihm in schmerzvoller Klage somatisiert. Körperliches Leiden wird von der Gelassenheit als Verlassenheit erzeugt, und wenn es bei Elsbeth »eine performative Praxis [ist], die in unablässigen Akten körper­licher Askese die Kreuzigung Christi reinszeniert«,17 so ist es beim Diener – trotz des Ablassens von äußeren Askeseübungen – eine Praxis, die über das Erzählen von Leiden als körperlichem Leiden die Nachfolge in der Passion aktualisiert. Auch sein Körper ist verwundet bis ins innigest gemarg, und erlaubt so trotz der Distanzierung von harten Askeseübungen ein Einschreiben in den Passions­körper. Das innerlich induzierte Leiden führt zu äußeren Symptomen, der Schmerz existiert körperlich, auch wenn die Verwundung seelisch erfolgte. So schränkt die Vita zwar die körperlichen Übungen selbst ein, das Leiden aber bleibt ein körperliches. Der Unterschied zu Elsbeth von Oye läge dann nicht nur darin, die Askese aufzugeben, sondern, als Substitut, die körperlichen Schmerzen über seelisches Leiden verfügbar zu machen. Der verwundete Körper kann dabei nicht mehr von Gelassenheit sss […] reden, aber er hat den Modus des wie kan ich denne gelassen sin? noch nicht gefunden. An dieser Stelle bricht die Klage ab, die erzählte Passion verstummt mit der Frage nach dem gelassen sin. Das Sprechen über den eigenen Körper wechselt auf die Erzählerperspektive, von der aus die Transformation der Körpersemantik geschildert wird. Die Antwort auf das Wie wird aus der Erzählerperspektive körperlich inszeniert. In zwei Teilsätzen, die durch die doppelte Verwendung von do in temporaler Relation stehen, wird der erste Teilsatz im zweiten gleichsam aufgehoben. Im ersten Teilsatz wird der Versuch, über ›Gelassenheit‹ begrifflich zu reflektieren, in der eindrücklichen Metapher der ›Hirnverwüstung‹ synthetisiert. In der Klage über das Verhältnis von Leiden und Gelassenheit hat er sin hirni verwstet (B 127,30 f.). Für Mittelhochdeutsch verwsten finden sich zwei Verwendungsweisen. Neben der konkret-äußerlichen Verwendungsweise ›zerstören‹, die auf das lateinische devastare zurückzuführen ist, findet sich auch die abstraktere Verwendungsweise ›einsam machen, verlassen‹, lateinisch desolare. Die begriffliche Reflexion über Leiden und Lassen hat das Hirn des Dieners nicht nur zermartert, sondern auch leer gemacht, oder anders formuliert: Die Leere der Wüste findet sich nicht außen, sondern im Inneren des Körpers. In dieser Leere wendet sich der zweite Teilsatz ganz dem äußeren Körper zu: do gesass er also stille. Das stille sitzen hat in der Vita Signalfunktion als Körperhaltung des geistigen Empfangens; Sitzen taucht in zentralen Kapiteln auf und

17 Vgl. Burkhard Hasebrink, Elsbeth von Oye: Offenbarungen (um 1340), in: Herberichs und Kiening, Literarische Performativität (Anm. 16), S. 258–279, hier S. 265. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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leitet Visionen oder Auditionen ein.18 Mit der Körpergeste wird eine Kulturtechnik aufgerufen, die in dem von der Forschung als geradezu werkkonstitutiv19 ein­geschätzten Intertext der Vitaspatrum eine große Rolle spielt. Die Vitensammlung der spätantiken Anachoreten, die in der Klosterkultur einen hohen Stellenwert hatte, wird in der Vita Seuses an zentralen Textstellen eingeblendet und aktualisiert.20 Sitzen wird in den Vitaspatrum im Kontext asketischer Praktiken reflektiert; das äußere Sitzen soll einer inneren Haltung entsprechen, die leibliche Haltung ist Teil des Strebens nach Demut und Stillwerden.21 Einen der bekanntesten Sprüche aus den Apophthegmata, der den Viten der Altväter folgenden Spruchsammlung, schickt der Diener zur Unterweisung an Elsbeth Stagel: du solt fliehen und solt swigen und dich ze rw sezzen (B 104,5 f.). Diese Anweisung setzt der Diener hier selbst um. Durch den Perspektivwechsel auf den Erzähler wird sein Schweigen inszeniert, durch das Sitzen eine Unterbrechung markiert, die ein stille werden ist. Diese Pause aber, das Stillsitzen, ist der Wendepunkt, an dem das Erkennen der Gelassenheit einsetzt, an dem der Prozess des Lassens selbst geschildert wird. Die drei folgenden Teilsätze weisen über ihren syntaktischen Parallelismus und das anaphorische und am Satzanfang einen inneren Zusammenhang auf, der sich weniger als sukzessive Struktur darstellt, sondern vielmehr als ein in sich geschlossener Vorgang: […] do gesass er also stille und kerte sich von im selb z gote und ergab sich in sinen willen und sprach: »mag es anders nit sin: fiat voluntas tua!« (B 127,31–33). Die Unterbrechung ist die Bedingung der Möglichkeit für Gelassenheit. Die Abkehr von sich selbst zu Gott, die Willensaufgabe und das Christus-Zitat, das als zweite Strategie im Folgenden 18 Interessanterweise ist dieses Sitzen häufig eine in die Liturgie eingebundene oder daran anschließende Körpertechnik. So setzt sich der Diener in Kapitel 19 nach der Matutin  – na metti (B 53,8) – zur Ruhe, worauf ihm eine Engelsvision die Semantik der Gelassenheit erläutert; in dem bekannten Kapitel 4, in dem die Einritzung des IHC Monogramms in seine Brust geschildert wird, kehrt er nach Matutin – eins mal na meti (B 17,1) – in die Zelle zurück, setzt sich und legt sich das Altväterbuch unter den Kopf, woraufhin ihm die Vision eines goldenen Kreuzes auf der Brust erscheint. Das Schweigen dagegen erhält sogar ein eigenes Kapitel in der Vita: Von der núzzen tugende, dú da heisset swigen (Kapitel 14). 19 Vgl. die grundlegende Arbeit von Werner Williams-Krapp, Nucleus totius perfectionis. Die Altväterspiritualität in der ›Vita‹ Heinrich Seuses, in: Johannes Janota [u. a.] (Hg.), Festschrift Walter Haug und Burghart Wachinger, Bd. 1, Tübingen 1992, S. 407–421, hier vor allem 411. 20 Vgl. Niklaus Largier, Figurata locutio. Hermeneutik und Philosophie bei Eckhart von Hochheim und Heinrich Seuse, in: Klaus Jacobi (Hg.), Meister Eckhart: Lebensstationen – Redesituationen, Berlin 1997, S. 303–332, hier S. 312: Die aktualisierende Hermeneutik »nimmt auch hier nicht die Form einer diskursiven Deutung an, sondern mündet in eine aktuelle Neuschrift der Altväterleben. Eine solche Neuschrift haben wir in der Vita Seuses vor uns, welche gleichzeitig einerseits deutende Lektüre der Vitaspatrum ist, andererseits selbst als Allegorie auftritt, die der Leser auf sich zu beziehen hat.« 21 Vgl. Franz Dodel, Das Sitzen der Wüstenväter. Eine Untersuchung anhand der Apophtheg­mata Patrum, Freiburg (Schweiz) 1997. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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näher analysiert wird, sind nur möglich, wenn die Reflexion auf der Sprachebene unterbrochen wird. Swigen und ze rw sezzen als traditionelle Praktiken werden in der Vita aktualisiert auf die Figur des Dieners hin. Dieser wird über seine Körpergeste in die Haltung traditioneller Modelle der Transformation eingeschrieben, sein Körper wird diskursiviert als leerer Körper, als stiller Körper und in dieser Haltung kann sich die vollkommene Aufgabe des Eigenwillens vollziehen. ›Gelassenheit‹ wird innerhalb des klösterlichen Diskurses traditioneller Formen der Selbstaufgabe perspektiviert; als Begriff wird ›Gelassenheit‹ in einem über­ lieferten Rahmen semantisiert, womit das Konzept durch Einbindung diskursiv gesichert werden kann. Eine zweite Strategie, um Gelassenheit nicht nur sprachlich-lexikalisch zu seman­tisieren, sondern die für die Vita wichtige Ebene des Vollzugs darzustellen, findet sich in der Angleichung an Christus. Die Nachfolgethematik22 dominiert als grundlegende apostolische Forderung die gesamte Vita.23 Bereits aus der Figurenrede wurde eine Annäherung des eigenen leidenden Körpers an den leidenden Körper Christi evoziert: min herz durwundet, gemarg aller miner adren und mins hirnis dursofet, durmartret. Als Zitat der Bibel findet man diese Einschreibung des Dieners in Christus jetzt: Der Diener hat sich ganz in Gottes Willen begeben, hat sich von sich selbst abgekehrt, wobei der Text diese Abkehr als Abnahme der Selbstreferenz der Figur inszeniert. Es spricht nicht mehr die Figur selbst, sondern es spricht Christus aus ihrem Mund: fiat voluntas tua, Christi Worte im Garten Gethsemane. In der Wiederholung der Worte als Zitat findet sich die Möglichkeit der Transformation, oder anders: In der Wieder­holung ist die Transformation bereits geschehen.24 Gelassenheit, hier semantisiert als Aufgabe des Eigenwillens, führt zur Angleichung an Christus; der Vollzug der 22 Die Semantik von Gelassenheit steht dabei unmittelbar mit der Forderung nach Nachfolge in Beziehung. Lâzen und gelâzen dient Eckhart als Übersetzungsäquivalent für relinquere, den zentralen Terminus der Berufung der Jünger im Matthäusevangelium (illi autem statim re­ lictis retibus et patre secuti sunt eum, Mt 4,22); zu den biblischen Übersetzungsäquivalenten vgl. Erik A. Panzig, Gelâzenheit und abegescheidenheit. Eine Einführung in das theologische Denken des Meister Eckhart, Leipzig 2005, S. 57–65. 23 Vgl. etwa B 34,11 f.: Du mst den durpruch nemen dur min gelitnen menscheit, solt du warlich komen z miner blossen gotheit. Diese Anweisung der Nachfolge findet sich ähnlich auch im bchli der ewigen wisheit: Dar umb, wilt du mich schowen in miner ungewordenen got­ heit, so solt du mich hie lernen erkennen und minnen in miner gelitnen menscheit, wan daz ist der schnellest weg ze ewiger selikeit (B 203,7–10). 24 Vgl. Herberichs und Kiening, Einleitung, in: Literarische Performativität (Anm. 16), S. 14: »Das kulturelle Muster der Iterabilität, das im Modus des wörtlichen Zitierens ein inter­ textuelles Wiederholungsmuster ist, stellt einen performativen Sprechakt stets in die Reihe der vorausgegangenen Sprechakte und verleiht ihm eine Identität, die eine Voraussetzung für die wirklichkeitsverändernde Wirkmacht des Wortes ist.« Diese Wirkmacht von Wiederholungen, auch von Gesten, ist eine der dominanten Strategien der Vita, um das Leben des Dieners auf die heilsgeschichtliche Dimension christlicher Nachfolge zu öffnen (vgl. die oben beschriebene Wiederholung der Körpergesten aus den Vitaspatrum). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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Gelassenheit und nicht das Sprachwissen ist, so der Text, der Weg aus der Selbstreferenz. Die dritte Strategie des Textes, um den Perspektivwechsel von der Rede über ›Gelassenheit‹ zur Gelassenheit ›im Vollzug‹ darzustellen, ist auf der Ebene der Stimme, besser: des Klanges angesiedelt. Betrachtet man den Klagemonolog des Dieners, so fällt bei der rhetorischen Gestaltung die gehäuft auftretende Figur der exclamatio als »Ausdruck des Affekts«25 in den Blick. Es werden insgesamt neun Mal die Interjektionen eya und owe verwendet, die anzeigen, dass Sprechen über ›Gelassenheit‹ nur im Leiden möglich ist. In der schriftlichen Inszenierung des lautlichen Materials werden somit Klangeffekte erzeugt, die das Sprechen im Leiden kontrastieren mit dem Sprechen über das Aufgeben des Eigenwillens. Das Sprechen über die Willenstransformation findet, im Wechsel auf die Außen­ perspektive, in erzählerischer Distanzsprache statt. Nun ist nicht mehr die innere Stimme des Dieners vernehmbar, sondern der Erzähler stellt die Abkehr vom Selbst und den Übergang in den göttlichen Willen dar. Interessanterweise ist der Erzähler dabei auch der Diener, aber der Diener gewissermaßen als Beobachter zweiter Ordnung, nämlich als Beobachter seiner eigenen Beobachtung,26 die er in Briefform weitergibt. Die Transformation des Eigenwillens, so stellt der Text dar, kann der gelassene Mensch nicht mehr versprachlichen, weshalb sie in die Spannung zwischen Klagerede und Erzählerrede gestellt wird. In diesem Bruch zwischen Sprache und Leiden auf der einen Seite sowie Stille und Willensaufgabe auf der anderen scheint ein Wechsel im Existenzvollzug auf. Im Leiden kommt Gelassenheit zur Sprache, wird durchdekliniert und rhetorisch inszeniert, aber erst im körperlichen Vollzug wird Gelassenheit zur Existenzform  – und darin liegt die implizite Pragmatik von Gelassenheit: Ihre Bedeutung, so der Text, liegt nicht nur in der sprachlichen Entfaltung, sondern vor allem in der praktischen Umsetzung als Gelassenheit im Vollzug. Der Text führt vor, wie Sprachwissen in Handlungswissen überführt wird, wie Wissen ›gelebt‹ werden muss. Bei all den Strategien, die den Wechsel von der begrifflichen Reflexion zu einem Vollzug der Gelassenheit steuern, bleibt zu betonen, dass sich auch dieser Wechsel innerhalb der Sprache vollzieht, sprachlich vermittelt bleibt. Betrachtet man die dem Text selbst inserierte Vermittlungssituation, die oben als Beobachterperspektive erster und zweiter Ordnung bezeichnet wurde, lässt sich die komplexe narrative Einbindung des Problems aufzeigen: Der Abschnitt, der innerhalb 25 Heinrich F. Plett, Einführung in die rhetorische Textanalyse, Hamburg 92001, S. 83; vgl. Dietmar Till, Exclamatio, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 3, 1996, Sp. ­48–52. 26 Terminologisch bediene ich mich hier bei Niklas Luhmann. Beobachtungen zweiter Ordnung machen in seinen Überlegungen den »blinden Fleck« sichtbar, also das, was in der Beob­achterperspektive nicht darstellbar ist. Der lassende Diener kann die Beobachtung zum Lassen nicht darstellen, während die zeitlich distanzierte Figur eine Beobachterperspektive auf sich selbst einnehmen kann; vgl. ders., Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1995, S. 57. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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eines Briefes des Dieners der ewigen Weisheit an seine Beichttochter erzählt wird, ist eine intradiegetische ›Erzählung‹, deren Erzähler, der Diener, gleich­zeitig die Hauptfigur der Erzählung ist. Durch diese Doppelung kann er sprechen  – in der Klage – und schweigend ›handeln‹ – im Aufgeben des Eigenwillens. Die doppelte Erzählsituation ermöglicht es, das schweigende Text-Ich als identisch mit dem sprechenden darzustellen, da Figur und Erzähler, der Briefschreiber, zusammenfallen.

2.3 Gelassenheit und der liturgische Rahmen Die Semantik von ›Gelassenheit‹ wird in Kapitel 38 nicht nur in diesem Abschnitt entwickelt. Um die Komplexität der Bedeutungskonstitution zu beschreiben, ist es notwendig, das Gesamtkapitel zu betrachten. Dabei möchte ich zwei für die historische Semantik von ›Gelassenheit‹ wichtige Komplexe heraus­stellen. Zum einen ist dies der Umgang mit Übersetzungsäquivalenten, zum anderen der Zusammenhang von Liturgie, Wiederholung und performativer Identitätsbildung. Kapitel 38 stellt nicht nur die oben umrissene Verleumdung auf Vaterschaft dar, sondern berichtet in plastischen Erzählungen vom Leiden des Dieners an seiner Umwelt. Nach der ausführlichen Schilderung einer Leidenszeit folgt eine Audition, die  – ebenso wie die oben ausgeführte  – über das Sitzen initiiert wird: Eins males do saste er sich in ein stilles rwli und vergiengen im neiswi die wúrkliche sinne (B 124,22 f.). Wieder spricht das neiswaz in dem grund siner sele (B 124,24 f.) zu dem Diener: hr, hr ein trostlich wort, daz ich dir wil lesen (B 124,25). Was folgt, macht die Wichtigkeit des Verhältnisses von Latein (als biblischer Sprache) und Volkssprache mit ihren Übersetzungsäquivalenten deutlich. Der Text selbst thematisiert dieses Verhältnis: Do vie es an und las dú wort in latine […]: non vocaberis ultra derelicta etc.; daz sprichet ze tútsch: »du ensolt nu fúrbas nút heissen dú gelassen von gote, und din ertrich sol nút heissen daz verwstet ertrich, du solt heissen: gotes wille ist in ir« (B 124,26–125,1). Dass die Vita eine Bibelstelle lateinisch anzitiert und danach in die Volkssprache übersetzt, ist nicht außergewöhnlich. Dass sie die Übersetzung aber explizit thema­tisiert, findet sich nur an dieser Stelle. Derelicta wird dabei mit gelassen übersetzt,27 womit gelassen als ›verlassen‹ gebraucht wird. Die grundlegenden Arbeiten zu Gelassenheit und zu den Übersetzungsäquivalenten für lassen28 arbeiten detailliert die biblischen 27 Vgl. dazu den Beitrag von Stephen Mossman in diesem Band: Zeitzeuge der Begriffswerdung: Gelassenheit bei Marquard von Lindau, der die Übersetzungsäquivalente Marquards von Lindau beschreibt. 28 Ludwig Völker, Die Terminologie der mystischen Bereitschaft in Meister Eckharts deutschen Predigten und Traktaten, Tübingen 1964, S. 80–91; Panzig, Gelâzenheit und abe­ gescheidenheit (Anm. 22), S. 57–64; Adeltrud Bundschuh, Die Bedeutung von gelassen und © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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Referenzstellen heraus, wobei der Schwerpunkt auf relinquere aus dem Kontext der Christusnachfolge liegt. Interessant erscheint hier, dass relinquere anders verwendet wird als derelinquere. Während relinquere in den Bibelstellen auf ein räumliches Verlassen der Dinge verweist und im Kontext der Nachfolge Christi verwendet wird, findet sich derelinquere auch im Kontext der Passionsgeschichte. Derelinquere ist das Verb, das in Mt 27,46 und Mc 15,34 verwendet wird, um die absolute Verlassenheit Christi am Kreuz auszudrücken: Deus meus Deus meus ut quid dereliquisti me. Gelassen ist damit nicht nur Übersetzungsäquivalent für re­ linquere und eventuell noch abnegare, wie es für Eckhart herausgearbeitet wurde. Bei Seuse erhält es über das Verhältnis zu derelinquere vielmehr eine Aufladung als ›innere Verlassenheit‹ im engen Bezug zur Passion Christi. Als zweiten Punkt möchte ich kurz auf die Verwendung der Liturgie eingehen. Während sie in früheren Vitentexten als »Entstehungsmechanismen visionärer Vorgänge«29 fungieren, geht die Vita freier im Einsatz liturgischer Texte vor.30 So wird die Audition nicht innerhalb der liturgischen Handlung ausgelöst, sondern steht ebenfalls im Kontext der asketischen Selbsttechnik des Sitzens. Gleich­zeitig aber wird sie in den liturgischen Rahmen gestellt, denn die innerlich gehörte Stimme liest ein Wort aus dem capitel ze none an dem heiligen abent ze winnahten (B 124,27 f.). Und da das 38. Kapitel in die Weihnachtszeit eingebettet ist – z der die Bedeutung der Gelassenheit in den deutschen Werken Meister Eckharts unter Berücksichtigung seiner lateinischen Schriften, Frankfurt a. M. [u. a.] 1990, fragt zwar nach Gelassenheit im lateinischen Werk Eckharts, aber nicht nach der biblischen Herkunft von lassen als ›relinquere‹, vgl. S. 102 f. 29 Vgl. Felix Heinzer, Imaginierte Passion – Vision im Spannungsfeld zwischen liturgischer Matrix und religiöser Erfahrung bei Elisabeth von Schönau, in: Andreas Bihrer und Elisabeth Stein (Hg.), Nova de veteribus. Mittel- und neulateinische Studien für Paul Gerhard Schmidt, München, Leipzig 2004, S. 463–475, hier S. 465, wobei es sich in der Vita an dieser Stelle nicht um eine Vision, sondern um eine Audition handelt. 30 Die Liturgie und ihre eigentlich gerade auf die genaue Reglementierung der Zeit abzielende Zirkularität, die eine Distanz von sich selbst über die Einschreibung in die Wiederholung der Heilsgeschichte – also eine Art liturgischer Gelassenheit – erlaubt, wird in der Vita auf die individuelle Aktualisierung der Heilsgeschichte hin modifiziert. Diese Individualisierung der Liturgie in Visionen bzw. Auditionen wird zu Beginn des Kapitels problematisiert. In einem gesiht wird der Introitus für die messe von den martrern: Multae tribulationes justorum etc. (B 117,31 f.) angestimmt, die Offiziumsantiphon für den Tag der Heiligen Johannes und Paulus Märtyrer. Interessant ist jedoch, dass die Vision des Dieners und das liturgische Jahr nicht zusammenfallen, was der Diener kritisch kommentiert: War z singent ir hút von den martrern, und es hút enkaines martrers tag ist, den wir begangen? (B 118,1 f.). Der liturgische Gesang wird nun ganz auf ihn und seine Leiden – marter – ausgelegt. Zeitlich unabhängig von der Liturgie kann der Diener hier die Liturgie individuell auf sich aktualisieren. Auf den Raum bezogen beobachtet Arnold Angenendt, Geschichte der Religiosität im Mittelalter, 2., überarb. Aufl., Darmstadt 2000, S. 439, ein ähnliches Phänomen der Verinnerlichung der liturgischen Handlungen: »Im Konstanzer Dominikaner-Kloster baute er ein ›inneres Kloster‹ auf, einen imaginär abgesteckten Sonderraum, der weniger durch eine objektive Liturgie als vielmehr durch seine eigene Frömmigkeit geheiligt war.« © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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zit in den vinstren tagen vor den winnahten (B 118,24 f.) – scheint die Audition der Widerhall der in der Lectio des Stundengebets gehörten Worte zu sein. Der eingeblendete liturgische Kontext stellt damit einen Bezug zur Heilsgeschichte her, die über die Liturgie aktualisiert wird. Gleichzeitig nimmt die Übersetzung der biblischen Passage fast wortwörtlich die in 2.1 und 2.2 analysierte Textstelle vorweg: gelassen, verwstet, gotes wille ist in ir. Dies verwundert nicht, betrachtet man die vom Text vorgeführte Wiederholungsstruktur: do vie es [das neiswaz in siner sele, S. B.] dú selben wort wider an aber und aber ze lesene wol ze vier malen (B 125,3 f.). Viermal wird dem Diener das Bibelwort wiederholt, aber interessanterweise wird dabei kein Raum geschaffen, in dem das biblische Wort unmittelbar zugänglich wäre. Stattdessen wird ein Raum hermeneutischer Deutung entworfen, in dem der Diener fragt, was die Wiederholung bedeute und die Stimme ihm das Bibelwort auslegt. Die Wiederholung, so die Stimme, diene der Festigung der Seele, in Gott zu vertrauen. In der in der Detailanalyse vorgestellten zweiten Audition wird dieses Wissen dann transformiert in Handlungswissen, die Willensaufgabe im Fiat voluntas tua ist letztendlich die Aktualisierung der Heilsgeschichte im eigenen Leben. D. h. die Einschreibung und Umsetzung der Heilsgeschichte über die Liturgie erfolgt nicht unmittelbar, das Verstehen wird nicht in der ersten Audition ent­wickelt, sondern erst im komplexen Verhältnis von Wiederholung, Missverständnis und Nachvollzug. Was in dieser ersten Audition sprachlich-programmatisch formuliert wird, wird in der zweiten Audition wiederholend im Erleben des Dieners selbst inszeniert. Die Wiederholung – argumentiert man über die performative Wirk­ samkeit der Wiederholung zur Konstitution von Identität und Transformation von Wahrnehmung – hätte dann die Wirkmacht, eine religiöse Identität zu konstituieren, deren ›Wirklichkeit‹ in der Gelassenheit besteht. Denn in der zweiten Audition wird gelassenheit zur Leitvokabel in der Umsetzung des gehörten bi­ blischen Wortes.

3. Die Makroebene: ›Gelassenheit‹ im textuellen Gefüge der Vita Die Analyse von Kapitel 38 hat im Detail gezeigt, was eine Grundlinie der Vita ist: die Problematik der Beziehung von Sprache und Vollzug. Damit eng verknüpft ist die Anfälligkeit der Sprache für ein Missverstehen der Begriffe. Dieses Thema wird im Gesamttext in einem Bogen entfaltet, dem die Konzeption eines Stufenmodells zugrunde liegt. Der Prolog entwirft dieses Modell als Entwicklung vom anfangenden über den fortschreitenden Menschen, um schließlich zur blossen warheit eins seligen volkomen lebens zu kommen (B 3,17 f.). Die Erkenntniskompetenz ist auf jeder Entwicklungsstufe unterschiedlich ausgereift und ermöglicht es, die Semantik der Gelassenheit unter der jeweiligen Perspektive zu problema© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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tisieren und zu diskutieren. Dieser Verlauf vom Missverstehen über die Habitualisierung bis zur Auseinandersetzung mit dem Begriff selbst wird im Folgenden anhand der Kapitel nachgezeichnet, die explizit am Begriff arbeiten. Denn auch hier liegt ein für den Umgang mit ›Gelassenheit‹ grundlegender Befund vor: Von den 84 Belegstellen, die es zu lassen, gelassen und gelassenheit gibt, entfallen allein 55 Belegstellen auf fünf Kapitel. Insgesamt gibt es acht Kapitel, in denen sich mehr als drei Belegstellen finden. Bereits die Statistik zeigt also, dass ein Interesse zu bestehen scheint, den Begriff in herausgestellten Kapiteln prominent zu semantisieren. Die Grundbewegung der Semantisierung verläuft allerdings nicht nur in den Kapiteln, auf deren sprachlicher Oberfläche der Begriff erscheint. ›Gelassenheit‹ wird zwar in Scharnierkapiteln, die Drehpunkte im geistlichen Entwicklungsweg bilden, zum Thema, womit gewisse Vorgaben gegeben werden, denen die Figur des Dieners folgen soll. Um diese Vorgaben aber zu verstehen, um sie umzusetzen, schließen sich Kapitel an, die das vermittelte Wissen narrativ entfalten und den Prozess der Habitualisierung darstellen. Im ersten Teil sind es vor allem Kapitel 6, 19 und 32, die an entscheidenden Stationen des Lebens nach Gelassenheit fragen. Was den zweiten Teil betrifft, wird Kapitel 33 näher zu betrachten sein, da ›Gelassenheit‹ an dieser Stelle als Begriff vorerst suspendiert wird. Dagegen wird in den Kapiteln 48 und 49 der Begriff diskursiv bestimmt.

3.1 Der anfangende Mensch und das Verhältnis von Wort und Übung Im sechsten Kapitel, das den Diener als anfangenden Menschen zeigt, wird eine Vision des Dieners dargestellt, in der er zwei Fragen von meister Eghart (B 22,28) beantwortet wissen will: wie dú menschen in got stndin, dú der nehsten warheit mit rehter gelassenheit ane allen falsch gern gng werin (B 23,4–6). Die Antwort: Dez wart ime erzget, daz dero menschen ingenomenheit in die wiselosen abgrúnd­ keit nieman mhti gewrten (B 23,6 f.). Die Frage zielt auf die Einheit – in got –, Gelassenheit wird als Ziel formuliert, als Zustand in der Einheit mit der Wahrheit. Dieser Zustand, die gelassenheit als ingenomenheit, kann sprachlich nicht gefasst werden, niemand kann ihn gewrten. Die zweite Frage dagegen möchte den Weg in die Einheit erfahren: ein mensch, der gern dar z [zur gelassenheit, S. B.] kemi, waz dem dú fúrderlichest bung weri? (B 23,8 f.). ›Gelassenheit‹ wird also nun nicht mehr im Kontext der Einheit mit Gott verwendet, sondern im Kontext mit bung. Die Antwort ist umso verblüffender, als die Übung als dasjenige erläutert wird, von dem gesagt wurde, es könne nicht versprachlicht werden: er sol im selb nah sin selbsheit mit tiefer gelassenheit entsinken, und ellú ding von got nút von der creatur nemen, und sich in ein stille gedultkeit sezzen gen allen wúlfi­ nen menschen (B 23,9–12). Hier zeigt sich die doppelte semantische Struktur von ›Gelassenheit‹, zum einen als Abstraktum, dessen sprachliche Erläuterung nicht © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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möglich ist, und zum anderen als Übung, prozessual gedacht als Weg, der über gedultkeit in den Kontext der Habitualisierung in äußeres Leiden gestellt ist. Es kommt regelrecht zu einem Sprung im (Miss-)Verstehen, da die begrifflich nicht zu vermittelnde ›Gelassenheit‹ als klärender Begriff verwendet wird. Die Sprache selbst wird problematisch, da sie den Vollzug der ingenomenheit der Menschen mit rehter gelassenheit nicht abzubilden vermag. Als Übung dagegen wird ›Ge­ lassenheit‹ in den Kontext der Geduld gegen die Außenwelt gestellt, die schwer verständliche abstrakte Formulierung des mit tiefer gelassenheit entsinken wird über die Tugend der gedultkeit31 konkretisiert. In der zweiten, unmittelbar folgenden Vision wird diese Perspektive ge­ doppelt. Durch die Figur des Johannes Fterer wird ›Gelassenheit‹ noch stärker in den Kontext der Übungen gestellt. Die nützlichste Übung sei nämlich, dass der mensch in gelassenheit von got im selber gedulteklich us giengi und also got dur got liessi (B 23,19f). Hier wird die semantische Dimension der ›Gelassenheit‹ als Verlassenheit deutlich. In der Verlassenheit von Gott von sich selbst zu lassen – durch das Synonym im selber us gân versprachlicht – wird als die schmerzlichste und gleichzeitig nützlichste Übung bezeichnet. Der Fokus liegt also im Unterschied zur ersten Vision nicht auf der Einheit, sondern auf der Passion, auf dem Leiden an der Verlassenheit. Zugleich wird das ›von sich Lassen‹, wie bei Eckhart, über das Adverb gedulteklich näher determiniert. Gedultkeit und gedulteklich stellen gelassenheit wiederholt in den Kontext von Leiden und Übung. Die Differenz zwischen Gelassenheit als Zustand der Einheit und Gelassenheit als Übung im Kontext der Geduld stellt das Kapitel in eine spezifische Spannung. Dabei stehen Formulierungen wie got dur got lassen, die keinerlei konkreten Anhaltspunkt geben, anschaulicheren Formulierungen gegenüber, die die Übungen erläutern, etwa die Geduld gegen die wúlfinen menschen. Die Semantik der Gelassenheit wird in der Vita stets als prekäre gekennzeichnet, Irrtümer und Missverständnisse sind die Regel und nicht die Ausnahme. So versteht der Diener die Visionen offenbar nicht richtig, denn die gedultkeit soll auf das Leiden, das dem Menschen von außen, von seinen Mitmenschen zufällt, gerichtet sein. Das

31 Ludwig Völker, »Gelassenheit«. Zur Entstehung des Wortes in der Sprache Meister Eckharts und seiner Überlieferung in der nacheckhartschen Mystik bis Jacob Böhme, in: Franz Hundsnurscher und Ulrich Müller (Hg.), ›Getempert und gemischet‹ für Wolfgang Mohr zum 65. Geburtstag von seinen Tübinger Schülern, Göppingen 1972, S. 281–312, spricht davon, dass der »ontologisch-spekulative Charakter dadurch verschleiert wird, daß die ›gelassenheit‹ neben die ›gedultkeit‹ gestellt wird.«, S. 287. Er operiert damit auf einer konzeptuellen Ebene, da auf der lexikalischen Ebene über die ›Gelassenheit‹ bei Eckhart ja nur an einer Stelle, in den reden der underscheidunge, Aussagen gemacht werden können. Im vorliegenden Aufsatz wird dagegen nach den Bedingungen der Möglichkeiten, Bedeutungen zu etablieren und zu verstehen gefragt. Deshalb stehen die textuellen Verfahren, die dem jungen Begriff ›Gelassenheit‹ Bedeutung beimessen, im Zentrum sowie die Versuche, mit der brisanten Begrifflichkeit umzugehen. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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Leiden, das in Kapitel 15 bis 18 systematisch entfaltet wird, ist aber kein ihm zufallendes Leiden. In den Askeseübungen bleibt das Leiden stets von ihm selbst reguliert und kontrolliert. Die Einübung in das Leiden der Askese – in Anlehnung an die Vitaspatrum – erzählt zwar von der gedultkeit, wird aber in Kapitel 19 eine für die Gelassenheit notwendige Korrektur erfahren. Eine ähnliche Konstellation des problematischen Verhältnisses von Wissen, Worten und Übungen findet sich in Kapitel 33, dem Anfangskapitel des zweiten Teils der Vita, in dem die Unterweisung der Elsbeth Stagel im Zentrum steht. In diesem Kapitel wird, wie im sechsten Kapitel beim Diener, der Anfang Elsbeths in ihren Bemühungen, eine religiöse Identität zu konstituieren, gezeichnet. Nach kurzer Darstellung ihrer vollkommenen Tugendhaftigkeit und ihrer schreiberischen Tätigkeit wird beschrieben, aus welchem Diskurs sie kompiliert; so hört sie von der blossen gotheit, von aller dingen nihtkeit, von sin selbs in daz niht gelassen­ heit, von aller bilden bildlosekeit und von derley sinnen, die mit schnen worten be­ daht waren (B 97,11–14). Gelassenheit wird aufgezählt in einem Vokabular, das an das bchli der warheit erinnert, das der begrifflichen Differenzierung dient. Inszeniert wird dieses Wissen als eckhartsches Wissen, wenn es am Ende des Kapitels über eben dieses Vokabular heißt, Elsbeth habe es selbst usgelesen uss der sssen lere dez heiligen maister Eghards (B 99,11 f.).32 Der Text wechselt die Perspektive nun von Elsbeth auf eine Kommentatorenebene, die diese Lehre gleichzeitig zu sichern und zu problematisieren sucht. Problematisch ist die Lehre für den anvahenden menschen, wan im gebrast alzemal noturftiges underschaides, daz man dú wort mohte hin und her ziehen uf geist und uf natur, wie der mensch gemt waz (B 97,16–18). Gesichert wird sie dagegen in der Abgrenzung vom anfangenden Menschen: Disú lere waz gt in ire, und kond im [dem anfangenden Menschen, S. B.] aber doch nit getn (B 97,18 f.). Es ist nicht die Lehre selbst, die problematisch ist, sondern der Mensch, der sie sich nur begrifflich aneignen möchte, ohne sie als ›Lebenslehre‹ umzusetzen. Elsbeth Stagel erkennt dieses Problem nicht, sie hat lustes in der selben lere geliket (B 97,21) und bittet den Diener um Unterweisung. Eckhart liefert die Textgrundlage, die Lehre, die deutlich positiv gewertet wird. Seine Stilisierung als Autorität geht einher mit dem Bewusstsein um die Gefahr der schwer verständlichen abstrakten Formulierungen, was der Diener ihr deutlich macht. Denn diese hohen sachen (B 98,2) führen zu einem schedlichen iergang (B 98,5), noch klarer: Rehtú selikeit lit nút an schnen worten, si lit an gten werken (B 98,6 f.). Stattdessen kommt wieder die praktische Seite zur Sprache, wenn an Stelle der hohen Worte die Übungen thematisiert werden. 32 Zu der in den Dominikanerinnenklöstern des Spätmittelalters verbreiteten Kompila­ tionspraxis vgl. den Aufsatz von Hans-Jochen Schiewer, Uslesen. Das Weiterwirken mystischen Gedankenguts im Kontext dominikanischer Frauengemeinschaften, in: Walter Haug und Wolfram Schneider-Lastin (Hg.), Deutsche Mystik im abendländischen Zusammenhang. Neu erschlossene Texte, neue methodische Ansätze, neue theoretische Konzepte. Kolloquium Fischingen 1998, Tübingen 2000, S. 581–603. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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›Gelassenheit‹ gehört damit zu der zentralen Terminologie, die in ihrer Abstraktheit vor allem als missverständlich gezeigt wird. Für den anfangenden Mensch werden die Begriffe selbst vorerst suspendiert.

3.2 Der fortschreitende Mensch: Gelassenheit als Pflichtfach Im ersten Teil taucht der Begriff im 19. Kapitel wieder auf, welches einen Wendepunkt für den Weg des Dieners ebenso wie für die Semantik von Gelassenheit markiert. Kunst rechter gelassenheit (B 53,7) gehört zu den bekannten Formulierungen aus Seuses Vita.33 Im Folgenden soll jedoch weniger der Genitiv ge­ lassenheit als vielmehr das determinierte Wort kunst betrachtet werden. Bereits in der Überschrift wird die prominente Formulierung angeführt: Wie er ward ge­ wiset in die vernúnftigen schle z der kunst rechter gelassenheit (B 53,6 f.). Die kunst rechter gelassenheit wird also nicht absolut gesetzt, sondern steht über die Präposition z in Abhängigkeit von schle. Damit wird der semantische Unterschied zwischen neuhochdeutsch Kunst und mittelhochdeutsch kunst bereits ersichtlich. Kunst wird hier verwendet innerhalb einer Semantik des Lernens und des Lehrens im Bereich geistlicher Vermittlung.34 Gelassenheit wird in eine Semantik gestellt, die auf Habitualisierung und Einübung der richtigen Lebensform ausgerichtet ist. Das Interessante ist nicht nur die Kollokation kunst rech­ ter gelassenheit, sondern die Verbindung zwischen schle und kunst, also dem Ort, an dem ein spezifisches Wissen vermittelt wird. Der Wissensinhalt ist die Ge­lassenheit. Diese Engführung macht der Text selbst, wenn auf die Frage des Dieners, was denn nun die kunst und die schle sei, geantwortet wird: Dú hohe schl und ir kunst, die man hie liset, daz ist nit anders denn ein genzú, volkomnú 33 So zum Beispiel der Titel der Sammlung grundlegender Aufsätze von Haas, Kunst rechter Gelassenheit (Anm.  8); in einer neueren theologischen Veröffentlichung zum Umgang mit dem Sterben ist die Kollokation ebenfalls titelgebend: Peter Birkhofer, Ars moriendi – Kunst der Gelassenheit. Mittelalterliche Mystik von Heinrich Seuse und Johannes Charlier Gerson als Anregung für einen neuen Umgang mit dem Sterben, Berlin 2008. Auch in einer ganzen Reihe von aktuellen Ratgebern taucht die Verbindung von Kunst und Gelassenheit auf, was zeigt, dass man in der Vita umso mehr die mittelhochdeutsche kunst in ihrer historischsemantischen Differenz betrachten muss. Die Frage nach der Bedeutung von kunst kann hier nur umrissen werden. Die äußerst interessante Verbindung von kunst und gelassenheit zeigt, dass semantische Analysen für die Wortfelder des Wissens ein weiteres wichtiges Desiderat darstellen. 34 Jost Trier arbeitet für die frühmittelhochdeutsche geistliche Literatur das »Teilfeld des durch Studium und Übung Erworbenen« (S. 141) heraus, dessen Vertreter cunst ist. Cunst wird dabei vorsichtig als »lernbares (?) Wissen und Können« (S. 146) und als »nach außen wirkende Seite der list-ars bezeichnet« (S. 149). Cunst gehört in diesen frühen Texten zum »durch Lehre und Unterricht erworbenen Wissensinhalt und dem durch solchen Wissensinhalt bestimmten Habitus« (S. 144 f.). ders., Der deutsche Wortschatz im Sinnbezirk des Verstandes, Band 1: Von den Anfängen bis zum Beginn des 13. Jahrhunderts, Heidelberg 1931. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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gelassenheit sin selbs (B 54,1–3). Gelassenheit muss auch hier über ein Synonym, entwordenheit (B 54,4), erklärt werden. Die Erklärung wird weiter ausgeführt über die bereits oben genannte Forderung nach Gleichmut: daz er alle zit stand glich (B  54,5 f.). Daraus resultierend betrachtet der gelassene Mensch al­ lein gotes lob und ere (B 54,7), und zwar in lieb ald in leide (B 54,5). Diese Antwort erhält der Diener in einer Vision, die ihren Rahmen wieder durch den liturgischen Kontext erhält: Es sass der diener ze einer zit nach der meti in sinem stle (B 53,8 f.). Sitzen und Liturgie, Ort und Zeit, wirken erneut als ›Initialzündung‹ und in dieser Vision wird die kunst als Wissensinhalt erörtert. Denn zuerst missversteht der Diener die oben genannten Ausführungen, da er die Gelassenheit weiterhin als ­äußeres Werk begreift. In dieser Meinung wird er korrigiert35 und folgendermaßen belehrt: disú kunst wil haben ein ledig mssekeit: so man ie minr hie tt, so man in der warheit ie me hat getan (B 54,12–14). Das Nichtstun – die mssekeit – wird aus der Perspektive der gelassenheit zu einem massiven Tun aufgewertet. Nicht äußere Werke, in denen der Mensch noch auf sich selbst bezogen bleibt, sondern das Empfangen der frmd widerwertikeit (B 54,22), des Leidens von den Mitmenschen, erkennt der Diener damit als notwendige Übung, um die kunst rechter gelassenheit zu erlernen. Das Wissen um Gelassenheit steht in einem Wortfeld erwerbbarer Lern­ inhalte. Die hhste schle wird der nideren schle übergeordnet, ben (B 53,12), lernen (B 53,14), lisen (B 54,2), aber auch der kunst phlagen (B 53,20), die kunst lernen (B 53,23) und der kunst leben (B 54,10) stellt die kunst rehter gelassen­ heit als ›Lernstoff‹ dar, der nicht nur gelernt, sondern gelebt werden muss. Der Wissensinhalt muss habitualisiert werden, der Habitus muss durch das Wissen überformt werden. In dieser Überformung aber liegt auch die Angleichung an Christus. Denn dieser ist der oberste Wissensträger und -vermittler: Der Diener erkennt, daz es lutrú warheit ist, die Cristus selber lerte (B 54,18). Die kunst lernen, üben, verstehen und sie zu habitualisieren ist die Anforderung an den Menschen, der Gelassenheit als Lebensform der religiösen Vervollkommnung wählt. Dass diese kunst nicht bereits durch intellektuelle Einsicht begriffen ist, zeigt der letzte Satz: owe, wenn sol ich iemer ein reht gelassenr mensch werden? (B 54,32). Hier formuliert der Text selbst erneut die semantische Dimension der Gelassenheit, die nicht über das Verständnis der lexikalischen Wortbedeutung allein erschlossen werden kann. Ein gelassener Mensch wird der Diener nicht dadurch, dass er die Verwendungsweisen von Gelassenheit lernt (also gelassenheit als entworden­ heit in lieb ald in leide). Die Semantik der Gelassenheit liegt vielmehr, wie in der Analyse von Kapitel 38 ausgeführt, auf der Ebene der Umsetzung im eigenen Leben. Dies wird im Text konsequent durchgeführt. Nach dem Scharnier­kapitel 19 35 Hier findet sich wieder die für die Vita charakteristische Dialogstruktur, in der der Diener eine Frage oder einen Irrtum formuliert, der im Folgenden von den Dialogpartnern kor­ rigiert wird. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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erzählen die folgenden Kapitel von der Einübung des Dieners in die kunst rechter gelassenheit, ohne auf der begrifflichen Oberfläche mit dem Wort selbst zu operieren. Diese Einübung in das Erleiden der frmd widerwertikeit wird dargestellt in einer Reihung kleiner Erzählungen, die den Prozess der Habitualisierung, des Lassens, narrativ entfalten. Während im 19. Kapitel die Bedeutung und das Wissen problematisiert werden, wird die geforderte Einübung in die Gelassenheit in den folgenden Kapiteln auserzählt und die kunst rechter gelassenheit als einzuübende Praktik dynamisiert. Der fortschreitende Mensch lernt Gelassenheit als Grundhaltung im Leiden.

3.3 Der vollkommene Mensch.36 Vom Erzählen zur Begriffsbestimmung Aus dem zweiten Teil der Vita wurde bereits Kapitel 33 betrachtet und die dort dargestellte Problematik einer verfrühten Beschäftigung mit Begriffen der spekulativen Theologie. Die diskursive Klärung der Begriffe kann nun, da Elsbeth ­Stagel bereits die Unterweisung in die praktische Seite der Gelassenheit erhalten hat, im Text entwickelt werden. Neben dem wichtigen Kapitel 19 nehmen  – gemessen an der Quantität der Belegstellen  – die Kapitel 48 und 49 einen herausragenden Platz ein. So tritt das Substantiv in Kapitel 48 dreizehn Mal auf, das Verb (reflexiv und nichtreflexiv) acht Mal. In Kapitel 49 finden sich sogar 24 Belegstellen, wovon allerdings 16 Belege allein auf das Adjektiv entfallen.37 Diese Verdichtung verwundert nicht, betrachtet man die Kapitelüberschrift: Gter underscheid under warer und falscher gelassenheit (B 160,15). Damit arbeitet sich der Text auf der konzeptuellen Ebene ab, d. h. ›Gelassenheit‹ wird terminologisch aufgeladen.38 Das Kapitel dient der Unterscheidung zwischen wahrer und falscher Gelassenheit und hat »fast ausschließlich seelsorgerische Relevanz«.39 Im Gegensatz zu den oben 36 Da im zweiten Teil der Vita das Leben Elsbeths nicht systematisch entfaltet wird, sondern verschiedene Unterweisungssituationen vorgeführt werden, fällt der im ersten Teil ausein­ andergelegte Schritt vom anfangenden zum fortschreitenden Menschen zusammen. Elsbeth soll sich sofort vom Status des anfangenden Menschen hinaufschwingen in die hhi dez schwlichen adels eins seligen volkomen lebens (B 156,5). Vgl. Ruh, Geschichte der abendlän­dischen Mystik, Bd. 3 (Anm. 3), S. 452. 37 Insgesamt finden sich 29 Belegstellen für das Adjektiv in der Vita, Kapitel 49 arbeitet dabei dezidiert an einem ›Handlungskatalog‹ des gelassenen Menschen, der weiterhin in der Spannung zwischen bung und entwerden steht. 38 Vgl. Markus Enders, Das mystische Wissen bei Heinrich Seuse, Paderborn [u. a.] 1993, hier vor allem S. 186–190. Seine Darstellung dieser Kapitel als mystischer Stufenweg wird von Kurt Ruh kritisch diskutiert, der von einem rein asketischen Weg ohne mystische Akzente ausgeht; Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, Bd. 3 (Anm. 3), S. 453, Anm. 68. 39 Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, Bd. 3 (Anm. 3), S. 453. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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betrachteten Kapiteln und Belegstellen wird ›Gelassenheit‹ nicht narrativ, sondern als dis­kursives Wissen entfaltet. Aber auch die begriffliche Auseinandersetzung – die distinctio – bleibt in den narrativen Rahmen gebettet. So sind die ›Begriffsanalysen‹40 im Gesamttext verankert, da sie der von Elsbeth Stagel formulierten Bitte entsprechen, sie in der begrifflichen Unterscheidung zu unterweisen. Diese Bitte entspringt der erneut durch die Figur des Dieners detailliert aufgezeigten Gefahr des Missverstehens, das durch genaues Unterscheiden der Verwendung – und damit des Sinngehaltes – vermieden werden kann: so wil ich dir vor lúhten mit dem liehte eins gten underscheides, wenn du den underscheid wol begrifest, daz du mit nihtú maht verierren, wie hoh du iemer mit den sinnen flúgest (B 156,13–16). Nicht mehr der Vollzug des religiösen Handelns und Lebens soll nun dargestellt werden, sondern tatsächlich gelassenheit als klge[s] wort […].41 Die letzten Kapitel der Vita, die häufig als theoretische oder spekulative Kapitel vom erzählenden Anfang der Vita getrennt betrachtet werden, sind eng bezogen auf den ersten Teil. Der Text selbst inszeniert ja die Gefahr, die droht, liest man die klgen worte ohne sie davor verstanden zu haben. Gelassenheit, die in Kapitel 48 als Wissensbestand erläutert wird, kann erst jetzt gefahrlos als solcher vermittelt werden, da sie bereits als kulturelle Praktik, als Ordnung des klösterlich-kulturellen Handelns, eingeübt ist. Kapitel 49 schließt an diese Wissensvermittlung an, indem es über eine Spruchsammlung den gelassenen menschen anleitet (Ein vernúnftiges inleiten dez ussren menschen z siner inrekeit B 163,13 f.). Auch hier lässt sich die Verschiebung von der praktischen Anleitung zu einer abstrakteren Vermittlung fest­stellen. Die Spruchsammlung steht als Reflex auf eine Sammlung patristischer Sprüche  – also dezidiert auf praktische Übungen ausgerichtete Dicta  –, die der Diener in Kapitel 35 zur Unterweisung an Elsbeth Stagel schickt.42 Das didaktische Vorgehen, seiner Schülerin erst eine Form praktischer Gelassenheit zu vermitteln, bevor er die spannungsvolle Semantik des Wortes ganz ausspielt, zeigt sich im Vergleich dieser beiden Spruchsammlungen. Während die erste, an der Altväterliteratur orientierte Sammlung sich im Wortfeld von swigen, rw, still halten, liplichú kestung, verschmeht liden, hertekeit bewegt, also einem 40 Neben der Unterscheidung von warer und falscher gelassenheit wird auch zwischen or­ denlicher und floierender vernúnftikeit (B 158,19 f.) unterschieden. 41 Vgl. B 98,22. 42 Vgl. dazu Ulla Williams, Vatter ler mich. Zur Funktion von Verba und Dicta im Schrifttum der deutschen Mystik, in: Rüdiger Blumrich und Philipp Kaiser (Hg.), Heinrich Seuses philosophia spiritualis. Quellen, Konzepte, Formen und Rezeption. Tagung Eichstätt 2.– 4. Oktober 1994, Wiesbaden 1994, S. 173–188. Williams hebt hervor, dass »[i]n dieser Spruchsammlung […] der gelassene mensch angesprochen [wird], der durch bereits erworbene Selbsterkenntnis und Unterscheidungsfähigkeit in die Lage gesetzt worden ist, sich ohne (Vor-)Bilder nach der Lehre zu richten. Die Sprüche dieser Sammlung [Kapitel 49, S. B.] sind im Ganzen abstrakter formuliert als die Altvätersprüche am Anfang der Unterweisung und enthalten kurz­ gefaßte Kerngedanken des Vollkommenheitsstrebens in der Terminologie der Mystik.«, S. 176. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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Wortfeld asketischer Übungen, beinhaltet die Sammlung in Kapitel 49 Sprüche, die den gelassenen menschen in die Spannung zwischen Übung und Einheit stellen. Interessanterweise taucht nun das Vokabular wieder auf, das im 19. sowie im 33. Kapitel für Verwirrung sorgte: entwerden, glich stan, entsinken. Gleichzeitig aber ist dieses Vokabular weiterhin eng verbunden mit einem Vokabular des Übens und des Strebens. Es ist eine paradoxe Semantik der Einübung in das úbernatúrlich […] leben (B 170,2). So wird als Übung entwerden akzentuiert: Waz ist eins wolgelassen menschen bunge? Daz ist ein entwerden (B  164,10 f.). Die Übung eines gelassenen Menschen, die technische Seite der Gelassenheit, ist ent-werden, also ein Prozess, der nicht mehr über Techniken erreicht werden kann. Auch in der Gradualität der Gelassenheit kommt der gelassene Mensch nicht nur über Exklusivität oder über die Unterbrechung der Übung in den Blick: So vil der mensch minr und me gelassen ist, so vil wirt er minr und me betrbet von den hinziehenden dingen. Und alsus geschah einem halbgelassen menschen: do er in der empfindung im selb ze nahe lag, do ward gesprochen also: »du sltist min als flissig sin und din selbs als unehtig, wenne du waist, daz mir wol ist, daz dich enrchti, wie es dir giengi«. (B 169,22–27; Hervorhebungen S. B.)

Der gelassene Mensch ist auf der einen Seite der transformierte Mensch, der Mensch, der úberbildet in der gotheit (B 168,10) ist. Auf der anderen Seite muss sich der gelassene Mensch weiterhin in Techniken üben, die auf die Gradualität, d. h. auf die stufenweise Annäherung an die Gelassenheit verweisen. Es ist ein para­doxes Verhältnis, das den gelassenen Menschen prägt: Bereits gelassen, also am Ziel der Übungen angelangt, muss er sich dennoch weiterhin üben, um das Ziel, ein gelassener Mensch zu werden, einzuüben. Als abschließenden Hinweis auf die enge textuelle Verknüpfung innerhalb der Vita möchte ich folgende Sentenz hervorheben: Wilt du ein gelassenr mensch sin, so fliz dich, wie dir got ist mit im selb ald mit sinen creaturen in lieb ald in laid, daz du alle zit standest glich in einem usgene des dinen. (B 169,8–10)

Sie zitiert fast wörtlich das 19. Kapitel: […] daz ein mensch stand in slicher entwordenheit, wie im got ist mit im selb ald mit sinen creaturen, in lieb ald in leide, daz er sich dez flisse, daz er alle zit stand glich in einem usgene des sinen […]. (B 54,3–6)

Während diese Paraphrase der gelassenheit im 19.  Kapitel zu dem oben aus­ geführten Missverständnis führt, geht der Text hier davon aus, dass die Sentenz keine weitere Erläuterung mehr benötigt. In Kapitel 19 muss der Diener die Pa© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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raphrase selbst ›lassen‹, um sich vorerst – ohne die Begrifflichkeit verwenden zu können – in die Bedeutung der Begriffe einzuüben; in Kapitel 49 dagegen werden die Begriffe isoliert präsentiert und sind nicht mehr narrativ eingebettet. Die Schülerin des Dieners, die die erste Stufe des geistlichen Wegs hinter sich gelassen hat, kann auf der begrifflichen Ebene die Anforderungen umsetzen, die an sie als gelassener mensch gestellt werden. Diese Wiederaufnahme der vorerst un­ verständlichen, dem eingeübten Menschen aber einsichtigen Definition der ge­ lassenheit bzw. des gelassenen menschen zeigt, wie sehr die Vita geprägt ist von der Sorge um eine missverständliche Semantik der Gelassenheit, die sie deshalb immer wieder erfragen lässt und je nach Wissenstand erläutert.

4. Schlussbemerkung »Owe, wenn sol ich iemer ein reht gelassenr mensch werden?«, fragt der Diener am Ende des 19. Kapitels. Und die Vita diskutiert diese Frage ausführlich, diskutiert, was die Bedingungen und Grenzen sind, Voraussetzungen und Gefahren. Als Grundbewegung zeigt sich dabei, dass ›Gelassenheit‹ zum einen im Wechsel zwischen expliziter Begriffsarbeit und deren narrativer Entfaltung (ent-)steht. Zum anderen, auf der Ebene der semantischen Grundstruktur, wird insbesondere ein Fokus auf die Pragmatik gelegt, auf die Umsetzung des Begriffswissens in Vollzugswissen. Über den Diener und Elsbeth Stagel erhält das abstrakte begriffliche Wissen Träger, die auf den verschiedenen Erkenntnisstufen des anfangenden, fortschreitenden und vollkommenen Menschen jeweils verschiedene Möglichkeiten des Verstehens aufzeigen. ›Gelassenheit‹ kann konkretisiert werden in den exemplarischen Leben, wird zum Fluchtpunkt auf dem Weg zur religiösen Identität, zum gelassenen Menschen. Das Abstraktum erhält einen Körper, in dem es narrativ entfaltet werden kann.43 Das Wissen um Gelassenheit wird also nicht nur innerhalb der wenigen Kapitel ermittelt, in denen sich das Lexem auf der Textoberfläche findet. An Schlüsselstellen der exemplarischen Lebenswege wird ›Ge­lassenheit‹ zur Debatte gestellt, um in den darauf folgenden Kapiteln entwickelt zu werden. Der Gesamttext verfolgt immer wieder als ein Grundthema Bedingungen und Grenzen der religiösen Vervollkommnung, was synthetisch im Abstraktum ›Gelassenheit‹ formuliert wird. ›Gelassenheit‹ wird in einem Hand 43 Und nicht nur narrativ, sondern auch in Bildern werden Aspekte der Gelassenheit umgesetzt. Zumindest als Ausblick soll darauf hingewiesen werden, dass das Bildprogramm des Exemplars für die Einübung in die Gelassenheit eine zweite mediale Ebene bereitstellt. Richtungsweisend arbeitete Jeffrey F. Hamburger die Umsetzung komplexer klösterlicher Leit­ gedanken in Text-Bild-Relationen heraus, vgl. etwa ders., The Use of Images in the Pastoral Care of Nuns: The Case of Heinrich Suso and the Dominicans, in: The Art Bulletin 71 (1989), S. 20–46. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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lungsverlauf entwickelt, wird über die Figuren situiert in Zeit und Raum. Der schwer verständliche und nicht zuletzt deshalb brisante Begriff kann eingeholt und an einen festen, systematisch erzählten Rahmen zurückgebunden werden. Als Gattung hat die Vita so die Möglichkeit, komplexe Wissensbestände anhand eines exemplarischen Lebens zu erzählen. Im Gegensatz zu Texten, die meist stärker darauf ausgerichtet sind, Wissen argumentativ herzustellen, kann der Erzähltext Begriffe ausklammern und Bedeutung über Beschreibung von Beispielen erörtern. So kann die Forderung Elsbeth Stagels im Erzählen erfüllt werden: Nicht klge worte, sondern ein heilig leben strukturiert und entfaltet das Wissen um Gelassenheit.

© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

Imke Früh (Stuttgart)

Im Zeichen und im Kontext von gelossenheit Semantisierungsstrategien in den Predigten Johannes Taulers

Do wurt der mensche berbet sin selbes in rechter worer gelossenheit und versincket in den grunt des gttelichen willen, nút in diseme armte und blosheit z stande ein wochen oder ein manot, mere, obe Got wil, tusent jor oder eweklichen, oder, obe in Got ein ewigen hellebrant wolte haben in ewiger pinen, daz er sich darin z grunde gelossen kan: kinder, dis were gelossenheit. […] in diser gelossenheit so setzet rechte der mensche sinen fs in das ewige leben, und noch diser pin so enkummet er niemer in keine pin noch helle noch liden, und daz ist unmúgelich das Got disen menschen iemer gelasse; also wenig also sich selber Got mag gelassen, also mag er dise gelassen, wan sú habent sich im gelassen […]. (Johannes Tauler: Predigten; V 26, S. 108,12–109,8)1

1. Vorbemerkungen zu Forschungsstand und Methode Die Erforschung des Wortschatzes der mittelhochdeutschen Literatur der Mystik stellt für die Sprachgeschichte des Deutschen weiterhin ein großes Desiderat dar. Denn die zentrale Bedeutung, die der geistlichen Literatur (vor allem den Schriften der Dominikaner und Franziskaner) hinsichtlich der Entwicklung der deutschen Sprache zukommt, ist in der Sprachwissenschaft seit langem bekannt.2 1 Die Predigten Taulers. Aus der Engelberger und der Freiburger Handschrift sowie aus Schmidts Abschriften der ehemaligen Straßburger Handschriften, hg. von Ferdinand Vetter, Berlin 1910 (Nachdruck Dublin, Zürich 1968) [V]. 2 Beispielhaft verweise ich hier auf Otfried Ehrismann, der in seiner Einführung ins Mittelhochdeutsche über den Stellenwert der Mystik für die Entwicklung der deutschen Sprache, insbesondere die Erweiterung des Wortschatzes schreibt: »Das mystische Erleben forderte der Sprache das Äußerste ab. Es drängte geradezu nach einer Erweiterung des Wortschatzes. Weder konnte die Wortwelt der scholastischen, lateinisch geprägten Kultur genügen […], noch konnte man an die elitäre höfische Kultur anknüpfen […]. Um das ›Unaussprechliche‹ dennoch sagbar zu machen, arbeitete die Mystik deshalb zum einen mit den Ausdrucksmöglichkeiten der heimischen Muttersprache und zum andern nach dem Vorbild der Scholastik auf der Basis des Latein […]. Hinsichtlich der Ausdrucksmöglichkeiten der Muttersprache wurden hauptsächlich die Möglichkeiten der Präfigierung und Suffigierung genutzt […].« Otfried © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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Besonders in der Morphologie und Semantik wird den mystischen Texten des 13.  und 14.  Jahrhunderts ein entscheidender Einfluss attestiert und ausdrücklich auf ihre Erweiterung des mittelhochdeutschen Vokabulars durch Abstraktbildungen hingewiesen: Für die Entwicklung des abstrakten Wortschatzes im Deutschen sind die Mystiker von sprachgeschichtlicher Bedeutung […]. Mit Hilfe von metaphorischen Wortbildungen haben sie z. B. den religiösen Verstehensprozess beschrieben; […] Charakteristisch sind auch Abstraktbildungen mit den Suffixen -heit, -keit, -ung, die bisher nicht sehr häufig gewesen waren.3

Trotz allem bleibt die Erforschung des Wortschatzes der mittelhochdeutschen geistlichen Literatur derzeit noch hinter philosophisch-theologischen und literarisch-poetischen Analysen mystischer Texte zurück.4 Neben der lexikographischen Aufarbeitung mangelt es vor allem an Untersuchungen zu zentralen Begriffen der Mystik, die auf der breiten Materialbasis einer historischen Semantik operieren und die  – gerade im Bereich der Abstraktbildungen  – eine Verbindung von formalen und inhaltlichen Analysen anstreben: Es fehlen also weitgehend Arbeiten, die theologische und literarische Interessen mit wortsemantischen, begriffsgeschichtlichen und diskurs­analytischen Fragestellungen verknüpfen. Auch im Hinblick auf den – für die christliche Mystik ab dem 14. Jahr­hundert so zentral gewordenen – Begriff ›Gelassenheit‹ finden sich zahlreiche Veröffent­ lichungen mit philosophisch-theologischem Profil. Dagegen sind sprachlich orientierte Arbeiten eher die Ausnahme.5 Zudem weisen die wenigen Publikatio­ Ehrismann, Der Weg zur Hochsprache: Mittelhochdeutsch, Frühneuhochdeutsch. Eine Einführung, Baltmannsweiler 2007, S.  190–192. Vgl. auch: Peter Ernst, Deutsche Sprachgeschichte. Eine Einführung in die diachrone Sprachwissenschaft des Deutschen, Wien 2005, S. 126–129. Und: Gerhart Wolff, Deutsche Sprachgeschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart. Ein Studienbuch, Tübingen 62009, S. 98–101. 3 Astrid Stedje, Deutsche Sprache gestern und heute. Einführung in die Sprach­geschichte und Sprachkunde, Paderborn 2007, S. 128 f. 4 Während in den letzten Jahrzehnten zahlreiche Publikationen zu verschiedenen Autoren und Texten der geistlichen Literatur des 13. und 14. Jahrhunderts (insbesondere zu Meister Eckhart, aber auch zu Heinrich Seuse, Johannes Tauler und Mechthild von Magdeburg) erschienen sind, die sich mit philosophisch-theologischen, literarischen oder auch kodikologisch-paläografischen Fragestellungen befassen, mangelt es an neueren Arbeiten, die sich gezielt mit dem Wortschatz und der Bedeutung der geistlichen Literatur für die Entwicklung der deutschen Sprache auseinandersetzen. Die entsprechenden Standardwerke zur deutschen Sprachgeschichte (vgl. Anm. 2 und 3), insbesondere die darin enthaltenen Kapitel zur Mystik, sind defizitär und referieren einen veralteten Forschungsstand, werden jedoch in Ermangelung aktuellerer Alternativen immer wieder neu aufgelegt. 5 Vgl. Markus Enders, Gelassenheit und Abgeschiedenheit  – Studien zur Deutschen Mystik, Hamburg 2008. Alois M. Haas, Gelassenheit – Semantik eines mystischen Begriffs, in: ders., Kunst rechter Gelassenheit. Themen und Schwerpunkte von Heinrich Seuses Mys© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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nen zu diesem Thema eine Konzentration auf das Werk Meister Eckharts6 und eine Vernachlässigung der Schriften Heinrich Seuses und Johannes Taulers auf, die der historischen Entwicklung des mittelhochdeutschen Wortes gelossenheit (auch gelâzenheit) entgegensteht. Zwar ist das Abstraktum erstmals in den Erfur­ ter Reden Meister Eckharts belegt,7 weshalb der dominikanische Theologe immer wieder als Schöpfer des Wortes gelâzenheit bezeichnet wird, doch ist dieser eine Beleg – nach heutigem Überlieferungsstand – im Eckhartschen Gesamtwerk singulär. Häufiger und zentraler sind bei Eckhart die verbalen und adjektivischen Formen des Lassens sowie das Abstraktum abegescheidenheit. Semantisch geschärft und im Wortschatz der Mystik etabliert wurde das Wort gelâzenheit erst durch Heinrich Seuse und Johannes Tauler, die es in ihren Schriften breit tik, 2., durchges. und verb. Aufl., Bern [u. a.] 1996, S. 247–269. Stefan Zekorn, Gelassenheit und Einkehr. Zur Grundlage und Gestalt geistlichen Lebens bei Johannes Tauler, Würzburg 1993. L ­ udwig Völker, »Gelassenheit«. Zur Entstehung des Wortes in der Sprache Meister Eckharts und seiner Überlieferung in der nacheckhartschen Mystik bis Jacob Böhme, in: Franz Hundsnurscher und Ulrich Müller (Hg.), ›getempert und gemischet‹ für Wolfgang Mohr zum 65. Geburtstag von seinen Tübinger Schülern, Göppingen 1972, S. 281–312. Diese Arbeiten befassen sich zwar ausführlich mit der Gelassenheit, gehen jedoch über eine theologisch-philosophisch orientierte Interpretation im Kontext der mystischen Lehre nur selten hinaus. Wortsemantische und diskursgeschichtliche Fragestellungen werden in diesen Arbeiten nur in Ansätzen berücksichtigt. Eine positive Ausnahme bildet die Arbeit von Adeltrud Bundschuh, Die Bedeutung von gelassen und die Bedeutung der Gelassenheit in den deutschen Werken Meister Eckharts unter Berücksichtigung seiner lateinischen Schriften, Frankfurt a. M. 1990, die ausführlich die Bildung von lâzen und gelâzen beschreibt und auch auf die Unterscheidung zwischen dem Partizip (gelâzen han) und dem Adjektiv (gelâzen sin) eingeht, die insbesondere für Eckharts Predigt Qui audit me von zentraler Bedeutung ist. Vgl. Meister Eckhart, Die deutschen und lateinischen Werke, hg. im Auftrag der Deutschen Forschungs­ gemeinschaft. 1. Abteilung: Die deutschen Werke [DW], Bd. I–III, V, hg. und übers. von J­ osef Quint, Stuttgart 1958–1976; Bd. IV,1, hg. und übers. von Georg Steer unter Mitarbeit von Wolfgang Klimanek und Freimut Löser, Stuttgart 2003; Bd. IV, 2, Lfg. 1–2, hg. und übers. von Georg Steer unter Mitarbeit von Wolfgang Klimanek, Stuttgart 2003, hier DW I, S. 190–206. 6 Neben Adeltrud Bundschuh, Die Bedeutung von gelassen (Anm.  5) hat sich auch Erik A. Panzig mit dem Theorem der Gelassenheit sowie vergleichbaren Konzepten in den Schriften Eckharts befasst: vgl. Erik A. Panzig, gelâzenheit und abegescheidenheit – zur Verwurzelung beider Theoreme im theologischen Denken Meister Eckharts, in: Andreas Speer und Lydia Wegener (Hg.), Meister Eckhart in Erfurt, Berlin 2005, S. 335–355; ders., Gelâzenheit und abegescheidenheit. Eine Einführung in das theologische Denken des Meister Eckhart, Leipzig 2005. 7 DW V, S. 283,6–284,2: Ein vrâge: sol man sich ouch gotes süezicheit williclîche erwegen? Enmac daz denne niht ouch wol komen von trâcheit und von kleiner minne ze im? Jâ, harte wol âne daz bekennen des underscheides. Wan, ez kome von trâcheit oder von wârer abegescheiden­ heit oder von gelâzenheit, sô sol man merken, ob man sich hier inne vindet, als man sô gar von in­ nen gelâzen ist, daz man denne gote als getriuwe ist, als man in dem grœsten enpfindenne wære, daz man hier inne allez daz tuo, daz man dâ tæte, und niht minner, und daz man sich als abe­ gescheidenlîche halte von allem trôste und helfunge, als man tæte, sô man gegenwerticlîchen got enpfünde. (Hervorhebung: I. F.) © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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verwendet und dezidiert an seiner Semantisierung gearbeitet haben. Eine Untersuchung der historischen Semantik von gelâzenheit muss deshalb nach den Schriften Eckharts notwendigerweise die Texte Taulers und Seuses in den Blick nehmen und von dort ihren eigentlichen Ausgang nehmen. Für eine umfassende Erschließung der spezifischen Semantik von gelâzen­ heit kann ein ausschließlich lexikographischer Ansatz ebenso wenig genügen wie eine rein philosophisch-theologische Herangehensweise. Denn in der Bedeutung eines sprachlichen Zeichens greifen einzelsprachliches und außersprach­ liches Wissen stets ineinander.8 Grundlage für die in diesem Beitrag dargelegten Ergebnisse ist daher die Verbindung von wortsemantischen Untersuchungen mit textpragmatischer Diskursanalyse unter Einbezug historisch-kultureller Hintergründe. Ausgangspunkt ist zunächst das Lexem, also das konkrete Wort gelossen­ heit und seine syntagmatischen Relationen. Die genaue Analyse der sprachlichen Umgebung und der textuellen Strategien rund um die Bezeichnung gelossenheit können unter Einbeziehung inhaltlicher Kontexte und etymologischer Gesichtspunkte Aufschluss über die verschiedenen Verwendungsweisen9 von gelossen­ heit geben. Auf der Grundlage dieser philologischen Feinarbeit lässt sich über die Integration historisch-kultureller Hintergründe sowie die Berücksichtigung der Eigenschaften der Gattung weiter auf den konzeptuellen Gelassenheitsbegriff im Kontext einer Lehre des mystischen Weges schließen. Da es sich bei den Taulerschen Texten um Predigten handelt, die einerseits zwar im Verbund rezipiert werden können (und vermutlich auch häufig so rezipiert worden sind, da sie größtenteils im Verbund überliefert wurden),10 jedoch in gleichem Maße auch als Einzeltexte funktionieren müssen (beim konkreten Vortrag oder beim Lesen einer einzelnen Predigt), war für die Erschließung der Semantik von gelossenheit sowohl die genaue Analyse der jeweiligen Einzelpredigt als auch das Miteinbeziehen aller im Predigtcorpus vorliegenden Verwendungsweisen notwendig. Zentral war dabei nicht nur die Frage nach der Bedeutung von gelossenheit (im Sinne einer Polysemie), sondern auch – oder vor 8 Ich folge hier dem Modell von Andreas Blank, der für das sprachliche Zeichen eine Kombination von einzelsprachlich-lexikalischem, einzelsprachlich-sememischem und außersprachlich-enzyklopädischem Wissen zugrunde legt, wobei er von der »prinzipiellen Offenheit der einzelnen Wissensbestände« ausgeht. Vgl. hierzu Andreas Blank, Einführung in die lexika­ lische Semantik für Romanisten, Tübingen 2001, S. 132. 9 Aus dem Spektrum der Verwendungsweisen eines Wortes ergibt sich seine Bedeutung. Vgl. hierzu Gerd Fritz, Einführung in die Historische Semantik, Tübingen 2005, S. 7: »[D]ie Bedeutung eines Ausdrucks besteht in dem Spektrum seiner Verwendungsweisen. Wenn ein Ausdruck mehrere Verwendungsweisen besitzt, spricht man von einer Polysemie dieses Ausdrucks […]. Die Polysemie ist ein Mittel der sprachlichen Ökonomie: Eine neue Verwendungsweise ist so gut wie ein neues Wort«. 10 Zur Überlieferungssituation vgl. Johannes Gottfried Mayer, Die »Vulgata«-Fassung der Predigten Johannes Taulers. Von der handschriftlichen Überlieferung des 14. Jahrhunderts bis zu den ersten Drucken, Würzburg 1999. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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allem – die Frage nach der Art und Weise der Semantisierung und Etablierung, nach performativen Elementen und textuellen Strategien und dem daraus ableitbaren Gelassenheitskonzept im Rahmen der mystischen Lehre Taulers.

2. Tauler als Prediger – Reden über Gelassenheit Enkein vernunft enmag daz begriffen waz in diser rehter worer gelossenheit ver­ borgen lit. Mit diesen Worten formuliert Johannes Tauler in einer Predigt zu Joh 10,27 (Oves mee vocem meam audiunt)11 das Geheimnis, zu dem der Mensch im Zustand ›rechter Gelassenheit‹ gelangen kann und das jegliche Vernunft, jeg­ liches Denken des Menschen übersteigt. Was Tauler mit diesem ›Verborgenen‹ meint, wird in vielen seiner Predigten deutlich: Es ist das Wesen oder das Sein Gottes, dem sich der Mensch zwar gedanklich annähern kann, das letztlich jedoch nicht mit dem Verstand oder den Sinnen, sondern nur über ›wahre Gelassenheit‹ erreicht werden kann.12 Immer wieder zeigt sich in den Predigten,13 welch hohen Stellenwert die Gelassenheit in der sogenannten Lebenslehre14 Taulers einnimmt. Zugleich wird jedoch deutlich, dass es sich bei der Gelassenheit um ein Phänomen handelt, das sich zu einem gewissen Grad der mensch­lichen Vernunft entzieht und das letztlich nicht erklärt, sondern vollzogen werden muss. Das Erreichen Gottes, das Einswerden mit ihm, liegt im Bereich des Transrationalen,15 und Gelassenheit  – als Weg zu dieser unio  – liegt demnach (zumindest teilweise) ebenfalls auf dieser Ebene. Da die Gelassenheit in den Predigten als notwendige Voraussetzung für das Erreichen der Vereinigung mit Gott 11 V 13, S. 62,13 f. 12 Als eines von zahlreichen Beispielen vgl. V 73, S. 397,16–19: Wol kummet der mensche darz das er dis edel wesen verstet und floiert mit den sinnen hie inne und in der vernunft; aber das man es sige und das man es gewerde, do enmag man nút z kummen dan durch disen weg: wore gelossenheit; dan vindet man es sicherlichen. 13 Als eines von zahlreichen Beispielen vgl. V 26, S. 109,4 f.: in diser gelossenheit so setzet rechte der mensche sinen fs in das ewige leben. 14 Der Begriff ›Lebenslehre‹ dient in der Taulerforschung zur Kennzeichnung »der ethisch-aszetisch-praktischen Ausführungen« Taulers; vgl. Zekorn, Gelassenheit und Einkehr (Anm. 5), S. 8. 15 Das ›Transrationale‹ (oder auch ›Transintellektuelle‹) bezeichnet im Prozess der mystischen Erkenntnis den Überstieg auf eine Ebene oberhalb der ratio, also das Hinausgehen über den Verstand bzw. Intellekt (wobei das Transrationale nicht als Gegenbegriff zur ratio aufgefasst wird). Das Transrationale wird häufig mit dem Erkenntnisziel der Mystik, der mystischen ­Einung, in Verbindung gebracht. Loris Sturlese hat in seinem Aufsatz über Taulers philosophischen Hintergrund den »transrationale[n] und transintellektuelle[n] Charakter dieser Erfahrung [der unio]« als zentrales Motiv in einigen Predigten Taulers herausgestellt. Ders.: Tauler im Kontext. Die philosophischen Voraussetzungen des ›Seelengrundes‹ in der Lehre des deutschen Neuplatonikers Berthold von Moosburg, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur (Tübingen) 109 (1987), S. 390–426, hier S. 412. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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erscheint, muss es Taulers Anliegen als Prediger sein, den Schwestern und Brüdern16 diesen zentralen Bestandteil des mystischen Weges besonders nahezubringen. Er muss also eine Möglichkeit finden, über dieses den Verstand übersteigende Phänomen so zu sprechen, dass seinen Zuhörern eine Annäherung, idealerweise sogar ein innerer Nachvollzug ermöglicht wird. Dass es dabei nicht um eine Versprachlichung eigener mystischer Erfahrungen geht, wird in Predigt V 41 deutlich. Hier heißt es im Anschluss an eine Passage zur ›Einkehr in den Grund‹, die bei Tauler der unio entspricht: Nút wenent das ich mich dis út anneme das ich út her z komen si, allein enkein lerer nút ensúlle leren das er selber von lebende nút enhabe. Doch ist es ze nten gng das er es minne und meine und nút do wider ent. Doch wissent das es nút anders enmag sin.17

Tauler verdeutlicht damit, dass er zwar nach bestem Wissen und Gewissen die Wahrheit zu lehren versuche, dass er selbst jedoch noch nicht alles erfahren habe, wovon er spreche. Damit inszeniert er sich selbst zu einem gewissen Grad als ›Nicht-Mystiker‹ und bezieht eine höchst interessante Position, die für so manche in den letzten Jahrzehnten geführte Diskussion um mystische Sprache interessant sein könnte: Denn es wird klar, dass es ihm in seinen Predigten keineswegs darum geht, eigene mystische Erfahrungen weiterzugeben oder mystische Erlebnisse zu versprachlichen. Aus zahlreichen Predigtstellen geht sogar hervor, dass eine solche Versprachlichung prinzipiell als unmöglich angesehen wird: Immer wieder wird betont, dass es undenkbar sei, das Wesen Gottes oder die Geheimnisse des Glaubens wie auch der unio mit dem Verstand zu begreifen oder mit Worten auszudrücken.18 Die Predigten zeigen damit ein deutliches Bewusstsein für die Grenzen des menschlichen Verstandes und der menschlichen Sprache in Bezug auf religiöse Phänomene und spirituelles Erleben. Doch darin – wie auch in möglichen Defiziten eigener mystischer Erfahrung – wird kein Hindernis 16 Ich gehe in Übereinstimmung mit Kurt Ruh und Louise Gnädinger davon aus, dass die schriftlich überlieferten Predigten Taulers nicht an Laien, sondern an ein monastisches Publikum und wohl meist an Ordensschwestern und Beginen gerichtet waren. Vgl. hierzu Louise Gnädinger, Johannes Tauler. Lebenswelt und mystische Lehre, München 1993; Kurt Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, Bd. 3: Die Mystik des deutschen Predigerordens und ihre Grundlegung durch die Hochscholastik, München 1996. Der Einfachheit halber ist im Folgenden vereinheitlicht von Taulers Zuhörerschaft die Rede, da auch Lesepredigten häufig einer größeren Zuhörerschaft mündlich vorgetragen wurden. 17 V 41, S. 175,4–7. 18 Ein Beispiel hierfür ist V 5, S. 24,27–32: Got wúrket in disem grunde mit mittele als in den ersten lúten, und sunder mittel in den anderen edelen seligen lúten; aber waz er in disen lúten in den unvermittelten grunt wúrcke, dovon enkan nieman gesprechen noch kein mensche enmag dem andern dovon gesagen, sunder der es weis, hat dis befunden alleine, aber er enkan dir selber nút darabe gesagen […]; vgl. auch V 11, S. 54,28–34; V 21, S. 87,30–88,1; V 26, S. 109,20–30; V 27, S. 114,18–29. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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für eine erfolgreiche Predigttätigkeit gesehen. Eine intensive gedankliche Auseinandersetzung mit den wesentlichen Punkten des Glaubens – anders gesagt eine spekulative Annäherung an die göttliche Wahrheit – in Kombination mit einem ernsthaften Bemühen um Vermittlung und ehrliche Liebe zur Wahrheit sei ausreichend, um andere, in ihrer geistlichen Entwicklung noch weniger weit fortgeschrittene Gläubige zu unterweisen und ihnen die nächsten Schritte auf dem mystischen Weg zu verdeutlichen: Doch wissent das es nút anders enmag sin.19 Dieses mithilfe des Verstandes beziehungsweise der Spekulation erreichte Wissen scheint zu genügen; ein eigenes Erleben der unio – das nach Aussage der Predigten Taulers ohnehin nicht versprachlicht werden könne – für die Vermittlung dieser Wahrheit nicht notwendig zu sein. Durch die Worte der Predigt sollen die Gläubigen auf den Vollzug der Einheit vorbereitet und bis zu jener Grenze zum Transrationalen begleitet werden. Dies kann mithilfe des Verstandes und über die Mittel der Sprache geleistet werden. Das eigentliche Ziel ist dabei jedoch nicht diese Grenze selbst, sondern das, was dahinter liegt; das, was von jedem Menschen selbst erreicht werden muss und was nur mithilfe der göttlichen Gnade erreicht werden kann: die Einheit mit Gott, die jenseits von Sinnen und Vernunft liegt. So kann und muss Tauler zwar über Gelassenheit sprechen und seinen Zuhörern verdeutlichen, wie sie auf den Weg der Gelassenheit gelangen können, er kann dies aber nur bis zu einem gewissen Grad tun. Denn als Grenzkategorie zum Transrationalen lässt gelossenheit notwendigerweise eine semantische Lücke offen, die immer nur umkreist, jedoch nie geschlossen werden kann. In diesem Beitrag möchte ich zeigen, wie Tauler dieser Spannung begegnet, indem er mithilfe besonderer Strategien das Wort gelossenheit in seinem Sinne semantisiert und so ein eigenes Gelassenheitskonzept etabliert. Zunächst sollen einige Textbeobachtungen im Mittelpunkt stehen, die in Taulers Umgang mit dem Abstraktum gelossenheit auffällig sind und auf die Spur von Taulers spezifischen Semantisierungsstrategien führen. Anschließend soll anhand von weiteren Beispielen zu den verschiedenen Verwendungsweisen des Abstraktums gezeigt werden, wie unterschiedlich die Semantik von gelossenheit bei Tauler in verschiedenen Kontexten aussehen kann. Zentraler als die Frage nach der Polysemie des Wortes gelossenheit ist dabei jedoch die Frage, wie diese Bedeutungsvielfalt in den Predigten Taulers jeweils zustande kommt, wie also die jeweiligen Textstrategien auf die Semantik von gelossenheit wirken. Mithilfe einiger Predigtpassagen sollen deshalb die wichtigsten Semantisierungsstrategien veranschaulicht und signifikante Aussagen über eine Semantik von gelossenheit daraus abgeleitet werden. Abschließend soll anhand der Wechselwirkungen zwischen Semantisierungs­ strategie und historischem Hintergrund eine Verortung des Gelassenheitskonzepts innerhalb der mystischen Lehre Taulers erschlossen werden. 19 V 41, S. 175,7. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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3. Die Verwendung von gelossenheit – Einige Textbeobachtungen Trotz vieler inhaltlicher und historischer Parallelen in Leben und Lehre von Heinrich Seuse und Johannes Tauler lassen sich in den Texten der beiden Dominikaner deutliche Unterschiede im Umgang mit dem Wort gelossenheit und in der Etablierung eines spezifischen Gelassenheitskonzepts feststellen. Bereits bei der ersten Sichtung aller Belegstellen zu gelossenheit in den Predigten Taulers fällt der geradezu inflationäre Gebrauch des Abstraktums (sowie des Adjektivs ge­lossen) in zahlreichen Predigten auf (im Gegensatz zu den Schriften Seuses, in denen gelossenheit eher sparsam und auf wenige, dezidiert dem Thema der Gelassenheit gewidmete Kapitel beschränkt verwendet wird). Rund neunzigmal ist das Nomen gelossenheit in insgesamt 34 der rund 80 als echt anerkannten Predigten Taulers belegt; weitere 80 Belege finden sich für das Adjektiv gelossen; nimmt man alle Derivate des Verbs lossen hinzu, so kommt man auf nicht weniger als 450 Belegstellen. Dabei tauchen gelossenheit und die anderen Wörter der Wort­ familie (zum Stammwort lossen bzw. der Wurzel loss-) immer wieder in ›Clustern‹ auf (also gehäuft in wenigen Zeilen oder innerhalb einer Predigtpassage), wie hier an einer Textstelle aus Predigt V6 zu sehen ist: […] die trag mit arbeit und mit flisse uf den acker des minnenclichen willen Gottes in rechter gelossenheit din selbes. Spreite dinen mist uf das edel velt, on allen zwifel do wehsset in einer temtigen gelossenheit edel wunnecliche frucht us. Wer sich ­truckete under dise und alle die urteil und verhengnisse Gottes mit demtiger gelossenheit […].20

Auffällig ist an Taulers Umgang mit dem Wort gelossenheit auch die häufige Verwendung von immer wiederkehrenden, formelartigen Phrasen. So kommt beispielsweise die Formulierung in rechter gelossenheit allein in den Predigten der Vetter-Edition insgesamt 20 Mal vor. Weitere Beispiele für derartige Formeln lassen sich in den Predigten finden: in

rechter

gelossenheit

V 6, S. 28,2 f.;  V 19, S. 79,6; V 19, S. 79,9 f.;  V 37, S. 143,20 f.; V 45, S. 200,25;  V 47, S. 212,32; V 47, S. 214,15;  V 50, S. 225,7; V 50, S. 227,15 f.;  V 55, S. 255,8; V 55, S. 255,31;  V 60e, S. 308,7; V 60f, S. 313,15;  V 60f, S. 313,31 f.; V 65, S. 355,12 f.;  V 66, S. 362,10; V 66, S. 362,15;  V 67, S. 365,7; V 67, S. 371,24;  V 69, S. 379,24

20 V 6, S. 28,1–6 (Hervorhebung: I. F.). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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mit

rechter

gelossenheit

V 47, S. 212,20

an

rechte/r

gelossenheit

V 64, S. 348,30;  V 65, S. 355,19

in

rechter / rehter worer

gelossenheit gelassenheit

V 13, S. 62,14;  V 26, S. 108,13; V 63, S. 345,15 f.;  V 81, S. 432,35

in

wore(r)

gelossenheit

V 2, S. 15,9 f.;  V 15, S. 67,31; V 37, S. 145,21;  V 38, S. 152,16; V 46, S. 206,28

in

aller

gelossenheit

V 37, S. 142,6;  V 43, S. 184,25

in / mit

temtiger /  demtiger

gelossenheit

V 6, S. 28,4;  V 6, S. 28,5 f.; V 27, S. 112,7 f.

mit

grundeloser

gelossenheit

V 28, S. 115,36;  V 73, S. 396,6

von

grundeloser

gelossenheit

V 55, S. 258,1 f.

Formeln dieser Art bewirken bei den Zuhörern eine Art Wiedererkennungseffekt und tragen durch ihren meditativ-repetitiven Charakter zur Verinnerlichung bei. Ein Nebeneffekt dieser Betonung von rechter Gelassenheit ist die Absicherung des Konzepts gegen mögliche Vorwürfe, so zum Beispiel etwaige Assoziationen mit den Ideen der ›Brüder und Schwestern des Freien Geistes‹,21 von denen Tauler sich und seine Lehre an verschiedener Stelle abgrenzt und deren Ideale er als unrehte,22 ungeordente23 oder valsche friheit24 bzw. valsche lidikeit25 ganz deutlich 21 ›Brüder und Schwestern des Freien Geistes‹ ist eine Bezeichnung für eine im 13. Jahrhundert aufkommende religiöse Bewegung, die wegen ihrer allzu freiheitlichen Ideale rasch in den Verdacht der Ketzerei geriet und von der Inquisition verfolgt wurde. In der Forschung wird zunehmend bezweifelt, dass es sich bei den ›Brüdern und Schwestern des Freien Geistes‹ um eine organisierte Sekte gehandelt hat. Vgl. zuletzt hierzu Irmgard Kampmann, Eckharts Predigten und die Verurteilung freigeistiger Beginen und Begarden, in: Andrés Quero-Sánchez und Georg Steer (Hg.), Meister-Eckhart-Jahrbuch Bd. 2, Meister Eckharts Straßburger Jahrzehnt, Stuttgart 2008, S. 119–140, hier S. 119–121. Eine Abgrenzung von derartigen Gruppierungen und deren Idealen war für Tauler von essentieller Wichtigkeit, um seine eigene Lehre nicht dem Häresieverdacht auszusetzen. 22 Z. B. V 24, S. 99,2–6: Etteliche verblibent ouch also daz sú in der sssekeit vallent in un­ rechte friheit; und in disem lust und bevindende so widerbiget die nature uf sich selber mit behende­keit und besitzet sich selber do, darz daz der mensche geneiget ist vor allen dingen, und verlot sich uf daz gewar werden […]; vgl. auch V81,431,21 f. 23 Vgl. V 11, S. 55,19–22: […] die nidersten krefte sol man halten noch ir wise, oder der heilge geist ginge zmole enweg, und do wurde geborn geistliche hochfart und ungeordente friheit und vellet in die vernúnftige bevellikeit und enwurde nút drus und verblibe alzmole […]. 24 Z. B. V 43, S. 188,32–34: Das sint arme ungelerte einvaltige lúte, die verderbent si mit ir ­valscher friheit und mit iren leren. Vgl. auch V 48, S. 219,1. 25 V54,250,4–8: Dis ist wider die frijen geiste, die mit iren valschen liechtern wenent die wor­ heit bekant han, und swimment do mit uf in ir eigen beheglicheit und in ir gt dunklicheit und kerent den sin in in ir valsche lidikeit und sprechent us dem unserm herren unerlichen, ob man noch nút úber die bilde in si komen, und andere frije wort. Vgl. auch V 54, S. 250,23. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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verwirft. In Predigt V 43 stellt er diese Art des Libertinismus explizit der rechten Gelassenheit gegenüber, indem er sie (über das Wort ungelossen) mit der Ungelassenheit in Verbindung bringt und die Lehren dieser ›ungelassenen Menschen‹ bzw. deren ›falsche Freiheit‹ mit ›Würmern‹ vergleicht, die das ›gute Kraut‹ (einfache und rechtschaffene Menschen) verderben: […] das sint eigene ungelossene mtwillige menschen, die uf iren grossen gten werken stont, […] und stont uf ir usgenomen wisen, die die heilige kilche nút gesetzt enhat […] und die wúrme die in in sint, die slihent usser in und entreinent das gt krut. Das sint arme ungelerte einvaltige lúte, die verderbent si mit ir valscher friheit und mit iren leren. […] Aber in die engen phede der woren grundeloser gelossenheit den enhant nút gevolget, wan si enwolten sich nie ze grunde gelossen […]26

Das Wort gelossenheit selbst taucht jedoch an keiner Stelle in Verbindung mit dem Adjektiv unrehte auf. Während es also auf der Konzeptebene sehr wohl so etwas wie eine falsch verstandene oder falsch gelebte Gelassenheit gibt, existiert die val­ sche oder unrehte gelossenheit auf der Wortebene nicht. Die auffällig häufig gebrauchte Wendung rehte gelossenheit ist damit nicht als Antonym zu einer falschen oder unrechten Gelassenheit zu sehen. Noch ist diese Formel – bei aller Abgrenzung gegen Lehren einer falsch gelebten Freiheit – primär apolo­getisch zu werten. Es handelt sich vielmehr um eine in den Texten etablierte Kollokation, die vor allem die Funktion erfüllt, auf performativer Ebene ausschließlich positive Assoziationen mit dem Wort gelossenheit zuzulassen. ›Unrechte Gelassenheit‹ existiert auf der Wortebene nicht: Eine solche Kollokation müsste als ­Oxymoron angesehen werden. Denn ›Gelassenheit‹ im Sinne Taulers ist per se nie falsch oder unrecht. Daher muss eine auf begrifflicher Ebene als falsch oder unrecht verstandene Gelassenheit auf der Wortebene mit dem Wort ungelossenheit wiedergegeben werden.27 Tendenzen zu formelhafter Verstetigung lassen sich auch für das Adjektiv ge­ lossen und das Verb lossen feststellen: Beide tauchen immer wieder in ähnlichen syntagmatischen Kontexten auf, so zum Beispiel in der Phrase alle ding lossen28 26 V 43, S. 188,20–189,7. 27 Bei der Untersuchung der syntagmatischen Kontexte fällt insgesamt auf, dass gelossenheit in den Predigten Taulers nie in direkter Nachbarschaft mit negativ besetzten Adjektiven zu finden ist, sondern ausschließlich in Verbindung mit positiv Belegten auftritt, am häufigsten mit den Adjektiven rehte und wore. Einzige Ausnahme bildet eine Belegstelle, bei der gelossenheit in der Verwendung von ›Verlassenheit‹ auftritt: Hier wird die Leidensdimension einer totalen Verlassenheit einmalig mithilfe negativ konnotierter Adjektive zum Ausdruck gebracht, wobei aus der Syntax nicht genau hervorgeht, inwiefern sich diese Adjektive direkt auf gelossenheit oder auf das Substantiv vinsterkeit beziehen. V 13, S. 62,15: […] dúrre vinstere quetschlicher quellen­ den vinsterkeit gelossenheit […]. 28 Z. B. in V 7, S. 30,12–14: Dodurch lident sú und lossent alle ding und enpfohent von Gotte und tragent ime alles daz sú enpfohent, zmole luterlich wider uf und ennement sich des sinen zmole nút an. Vgl. auch V 8, S. 37,5; V 8, S. 39,31; V 16, S. 73,7 f.; V 16, S. 75,14; V 19, S. 79,33; V 22, S. 89,14; V 26, S. 109,1; V 55, S. 253,26; V 55, S. 254,1; V 55, S. 254,2 f.; V 55, S. 255,4; V 55, S. 255,5; V 60f, S. 313,21; V 60h, S. 325,8; V 63, S. 341,28 f.; V 73, S. 397,1. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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bzw. gelossen mensche.29 Auch das reflexive sich lossen wird meist formelartig gebraucht: Am häufigsten ist hier das Syntagma sich Gotte lossen.30 Die Predigten Taulers etablieren gelossenheit also nicht zuletzt über eine hohe Quantität der Wortbelege und mithilfe von immer wiederkehrenden Kollokationen und vollziehen damit eine Usualisierung31 des Neologismus gelossenheit. Dabei scheint es eher um einen Gewöhnungsprozess oder die Einübung einer Haltung als um ein intellektuelles Verständnis zu gehen. Dafür spricht auch der Befund, dass Tauler in seinen Predigten weder eine Definition für gelossenheit gibt, noch den Begriff explizit problematisiert – sehr im Unterschied zu Heinrich Seuse, der beispielsweise in seinem Buch der Wahrheit mit der Frage des ›Jüngers der Wahrheit‹, Herre, waz ist rehtú gelazsenheit?,32 gezielt das Verständnis des Wortes sowie des damit verbundenen Konzepts thematisiert. In den Predigten Taulers sucht man vergeblich nach einer entsprechend dezidierten Problematisierung von Gelassenheit. Dies liegt keinesfalls daran, dass Tauler eine solche Art der Fragestellung generell fremd wäre. Im Gegenteil: In verschiedenen Predigten tauchen eben solche direkten Fragen im Kontext von Worterklärungen auf, beispielsweise Fragen nach penitencie,33 gebet,34 andaht,35 lugene36 oder 29 Z. B. in V 14, S. 66,33–67,3: Nu enhaltent dise grossen vernúnftigen menschen dicke den anstos in den sinnen vil eigenlicher wan ein edel gelossen mensche; z dem sprechent sú: ›Got se­ gen, waz ungelossens mensche bistu!‹ z den edeln menschen, die doch harte gelossen sint in irme grunde! Vgl. auch V 36, S. 139,15 f.; V 36, S. 140,13 (zweimal); V 36, S. 140,16 f.; V 36, S. 140,27; V 37, S. 146,1; V 41, S. 171,25 f.; V 55, S. 255,16; V 55, S. 255,23 f. 30 Z. B. in V 5, S. 23,8–10: Mer die andern daz sint edele menschen, die […] lossent sich Gotte zmole; vgl. auch V 8, S. 35,30; V 16, S. 73,30; V 36, S. 138,33; V 38, S. 150,9; V 41, S. 173,12; V 50, S. 224,20; V 60d, S. 299,30; V 77, S. 415,31. 31 Usualisierung verstehe ich hier als die Etablierung einer bestimmten okkasionellen Verwendungsweise, beziehungsweise auch als Prozess des Gebräuchlichwerdens eines Neologismus. 32 Heinrich Seuse, Das Buch der Wahrheit. Das bchli der warheit, kritisch hg. von ­Loris Sturlese und Rüdiger Blumrich. Mit einer Einleitung von Loris Sturlese, übers. von ­Rüdiger Blumrich, Hamburg 1993, S. 18,52. 33 V 12, S. 59,30–34: Was ist daz leben der penitencien in dem wesende und in der worheit? Daz enist anders nút denne ein gantz wor abeker von allem dun daz Got nút enist, und ein gantz wor zkeren z dem luteren woren gte daz Got ist und heisset. Wer daz me hat und dis me tt, der tt me penitencien. V 14, S. 65,22–26: Was ist nu wore penitencie? Das ist, wanne der munt aller­ liebest spreche, das er denne swige, und wenne daz ouge allerliebest mit gelústlicheit sehe, daz du es denne ztst und nút sehest mit gelústlicheit, und warz dine sinne allermeist kerent mit lústlich­ eit, daz du dich daruz brechest und darvon kerest und dich insliessest. 34 V 39, S. 154,16 f.: Nu was ist nu das gebet? Das wesen dis gebettes das ist ein ufgang dis gemtes in Got […]. 35 V 78, S. 419,30–34: Andaht, was ist daz? daz ist devocio, das ist also vil gesprochen also ›quasi se vovere deo‹, ein innewendig verbinden mit Gotte mit einer bewegunge der ewikeit. Wenne du dich Gotte also verbindest, alsus gelobest, so hest du andaht, du sist wo du sist oder waz gter wercke du tst, welicher kunne die sint. 36 V 55, S. 259,24–26: Nu was ist lugene? Was ein mensche bewiset, es si mit zeigende oder mit schine, wort oder werk, des er nút enmeint in dem herzen, do der munt und das herze wider ein­ ander sint: das ist lugene. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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gloube.37 In Predigt V 23 findet sich sogar eine ganz ähnliche Frage wie die nach gelossenheit im Buch der Wahrheit, hier allerdings in Bezug auf abgescheidenheit. So heißt es an dieser Stelle: Was ist nu wore abgescheidenheit?38 Doch im Hinblick auf die Gelassenheit selbst stellt Tauler derartige Fragen nicht und gibt auch keine klare, für alle Kontexte gültige Definition des Begriffs. Im Gegensatz zu Seuse verwendet Tauler gelossenheit wie eine allseits bekannte Vokabel.

4. Die Polysemie von gelossenheit Ein Grund für diese jenseits der klassischen Definition liegende Art und Weise der Etablierung und Semantisierung von gelossenheit könnte in der Komplexität des Taulerschen Gelassenheitskonzepts liegen, die eine außerordentliche semantische Bandbreite des Wortes gelossenheit notwendig macht: So weist das Abstraktum in den Predigten Taulers eine Vielzahl an Verwendungsweisen auf und lässt sich im Neuhochdeutschen nicht adäquat mit einem einzelnen Übersetzungspendant wiedergeben. Je nach Kontext und thematischem Schwerpunkt einer Predigtpassage gehen mit den verschiedenen Semantisierungsstrategien oft unterschiedliche Verwendungsweisen einher. Dabei lassen sich im Wesentlichen drei Hauptbedeutungen unterscheiden: 1. gelossenheit als Losgelöstheit 2. gelossenheit als Gottergebenheit 3. gelossenheit als Verlassenheit Die ersten beiden Hauptbedeutungen wurden im Wesentlichen bereits von Stefan Zekorn in seinem 1993 erschienenen Buch Gelassenheit und Einkehr39 herausgestellt, dabei jedoch nicht weiter differenziert: Zekorn konstatiert zwei »Bedeutungsmöglichkeit[en], wobei sich des öfteren die beiden Pole des Bedeutungsgehaltes durchdringen und manches Mal keine eindeutige Zuordnung zum einen oder anderen möglich ist.«40 Er unterscheidet gelossenheit im Sinne von ›Freiheit‹ oder ›Losgelöstheit‹ als Antonym zu kleben (›kleben an etwas‹) bzw. annemlicheit (›Anhänglichkeit‹, ›Anmaßung‹) und gelossenheit als ›Gott­ 37 V 78, S. 420,5–7: Was ist nu ein lebendig gloube? das enist nit anders wan ein lebendiger gunst z Gotte und z allem dem das gttelich ist. 38 V 23, S. 92,4–10: Was ist nu wore abgescheidenheit […]? Das ist daz sich der mensche abe­ kere und abescheide von allem dem das nút Got luter und blos enist, und mit dem liehte siner be­ scheidenheit alle sine werg, wort und gedenke durchsehe mit eime verstanden gemte, obe út do si in dem grunde das Got nút luterlich ensi oder Got nút blslichen enmeine in allen dingen, in tnde und in lossende […]. 39 Zekorn, Gelassenheit und Einkehr (Anm. 5), S. 83–88. 40 Ebd., S. 83. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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ergebenheit‹ im Kontext der bei Tauler zentralen Formel sich Gotte lossen (›sich Gott überlassen‹).41 Beide Verwendungsweisen sieht er in engem Zusammenhang mit dem in den Predigten ebenfalls recht häufig auftretenden Nomen lidi­ keit (auch ledikeit),42 das er semantisch zwischen dem Adjektiv lidig (›frei‹, bei Tauler im Sinne von ›frei von allem, das nicht Gott ist‹) und dem Verb liden (›­leiden‹) ansiedelt, und dessen Bedeutung er mit dem (im Neuhochdeutschen ungebräuchlichen) Wort »Ledigkeit«43 wiederzugeben versucht. Die dritte Bedeutung von gelossenheit als konkrete Erfahrung beziehungsweise als Zustand vollkommener Verlassenheit – sowohl von den Menschen als auch von Gott – ist in der Taulerforschung bislang noch weitgehend unbeachtet geblieben, gehört jedoch ganz elementar zur Semantik von gelossenheit bei Tauler, wie an folgendem Beispiel aus Predigt 13 deutlich wird: Es ist ouch noch ein ander winter, do ein gt gtlich mensche, […] von Gotte ge­lossen wurt in bevintlicher wisen […]. In disem wintere was unser lieber herre ­Jhesus ­Cristus, der also gar gelossen waz von sime vatter […]. Er waz vor allen menschen der aller lidendeste und der aller gelossenste one alle helffe. […] Dise zmole gelossenheit von Gotte und von allen creaturen, do were Got Jhesus werlicher und in nútz­licher in gegenwertig denne in allen den summeren spilender gebrúchlicheit […]. Also es zmole winter ist und dúrre vinstere quetschlicher quellenden vinsterkeit gelossenheit, daz get úber alle bevindende gebrúchlicheit, so man sich do in hielte in gelicher gelicheit.44

Hier steht gelossenheit nicht primär für die Akzeptanz des göttlichen Willens und die Bereitschaft zum Ertragen von Gottesferne, sondern bezeichnet vor allem den Zustand der Gottverlassenheit selbst. Ganz konkret meint gelossenheit an dieser Stelle die Erfahrung einer totalen Verlassenheit – nicht nur von Gott, sondern auch von allen Geschöpfen: Dise zmole gelossenheit von Gotte und von al­ len creaturen. Dieser Aspekt von Gelassenheit ist für das Verständnis der Predigten Taulers, insbesondere für ihre spezifische Lehre des mystischen Weges nicht zu unterschätzen.45 Innerhalb der drei Hauptverwendungsweisen von gelossenheit werden in unterschiedlichen Kontexten wiederum verschiedene semantische Akzente gesetzt. Dabei kommt es meist zu leichten Bedeutungsverschiebungen, teils aber auch zu gravierenden semantischen Abweichungen bis hin zu Widersprüchlichkeiten: 41 Die Konstruktion sich Gotte lossen ist allein in den Predigten der Vetter-Edition 45 Mal belegt (wobei auch Belege mit auf Gott referierenden Personalpronomen wie z. B. sich ime los­ sen mitgezählt sind). 42 lidikeit bzw. ledikeit ist in den Predigten der Vetter-Edition insgesamt 19 Mal belegt, das Adjektiv lidig bzw. ledig insgesamt 42 Mal. 43 Zekorn, Gelassenheit und Einkehr (Anm. 5), S. 81. 44 V 13, S. 61,35–62,17 (Hervorhebung: I. F.). 45 Vgl. hierzu Kapitel 5. Wie Bedeutung entsteht – Semantisierungsstrategien für gelossen­ heit, Strategie II: Semantisierung durch morphologische Analogie. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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So erscheint die Gelassenheit in einer Predigt als Weg oder Mittel,46 in einer anderen als Ziel, Zustand oder Eigenschaft;47 an einer Stelle als eine Tugend oder Tugendübung unter vielen,48 an anderer als eine über den Tugenden stehende höhere Gabe;49 einmal als innerlich wirkende Kraft,50 dann wieder als eher äußerlich wirksames Mittel.51 Diese Unterschiede können sogar innerhalb von Einzelpredigten auftreten. Der semantische und kontextuelle Rahmen spannt sich dabei von innerer Ruhe, Frieden, Unerschütterlichkeit und Gleichmut,52 über geistige Armut, innere Leere, Bildlosigkeit, Freiheit und Reinheit,53 über die ­äußere und innere Loslösung von allem Irdischen,54 die Tugenden Sanftmut und 46 Z. B. in V 67, S. 365,2–4: Und do er in disem gevengnisse was, do wisete er sine frúnt uf den weg der gelossenheit, das si sich dis noch keines dinges enbetrbten […]. 47 Z. B. in V 63, S. 345,15–17: und stont die menschen in dem dúnsternisse in rechter worer gelossenheit, also ob Got das armte von in wolte eweklich gehebet han. 48 Z. B. in V 37, S. 143,30–35: Die uswendige schunge do der mensche Got mit scht, das ist in uswendigen bungen gter werke in maneger hande wise, als er von Gotte gemant und ge­ triben wirt und von sinen frúnden angewiset wirt, und aller meist mit bungen der tugende, als demtkeit, senftmtikeit, stillikeit, gelossenheit und mit allen anderen tugenden die man bet oder geben mag. 49 Z. B. in V 67, S. 365,7–9: Dis wolte er das si stnden in allen dingen in rechter gelossenheit; wan rechte gelossenheit ist enphenglich aller der gebúrte und der gaben und tugenden die Got ie gegab oder iemer geben wil, aller gnaden und alles gtes. 50 Z. B. V 67, S.  365,30–366,3: Der mensche ist als er drú menschen si. Den ussern men­ schen den sol man betwingen als verre man iemer mag an gelossenheit, und ziehen in inwert in den anderen menschen der innewendig ist. Das ist der vernúnftige mensche, das ist: das der usser ­mensche nút enwúrke noch us enlffe denne nach anwisungen des vernúnftigen menschen und nút nach der vihelicheit. Als denne der ander, der vernúnftige mensche, stet in rechter lidiger gelossen­ heit und sunder annemlicheit, denne haltet er sich in sime lutern nichte und lat Got ein herren sin und underwirfet sich ime. 51 Z. B. V 67, S.  370,1–3: in gebristet des grundes der minklicher senftmtikeit, und senftmtikeit die dienet innerlichen disen grúnden und hat me inwert wúrkendes wan gelossen­ heit; die sicht me z dem usseren menschen. 52 Z. B. V 67, S. 370,32–34: Hettest du dise minnekliche tugende von den das ir gehrt hant: gelossenheit, lidikeit und unannemlicheit; sessest du denne allen den tag bi aller der unrwe, es enschat dir nút […]. 53 Z. B. V 55, S. 257,30–358,2: Und dannan ab spricht der himelsche vatter z ime: ›du solt mich vatter heissen und ensolt nút uf hren in ze gonde, alles fúrbas in gon, ie noher ie tieffer ver­ sinken in das unbekante und ungenante abgrúnde úber alle wise, bilde und formen, úber alle die krefte sich selber verlieren und al ze mole entbilden in disem, so enblibt nút in diser verlornheit denne ein grunt der weselichen uf im selber stot, ein wesen, ein leben, ein úber al. Us disem mag man sprechen das man werde kennelos und minnelos und werklos und geistlos. Dis enist nút von natúrlicher eigenschaft, sunder von úber formunge, die der Gotz geist dem geschaffenen geiste hat gegeben von siner friger gti und von der grundeloser verlornheit dis geschaffenen geistes und grundeloser gelossenheit. 54 Z. B. V 55, S.  255,29–32: Nu dis ist aber uswendig; also solt och sin, und noch me, an inwendigen dingen. Was han wir das uns Got nút gegeben enhat? Und darumbe alles das er uns hat gegeben, das sol man im in rechter gelossenheit alles lossen als ob mans nie gewunnen ­enhette. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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Geduld,55 die Aufgabe des Eigenwillens und die Loslösung vom Selbst,56 Gottergebenheit (im Kontext von Gottesfurcht, Gottesliebe und Gottvertrauen57 bis hin zur resignatio ad infernum),58 Gehorsam (auch gegenüber der kirchlichen Obrigkeit)59 bis hin zu Geduld im Ertragen von Leid, Einsamkeit und Verlassenheit,60 zu einer inneren Einstellung, die Freude im Leid ermöglicht61 und zur Akzeptanz der eigenen Nichtigkeit.62 Da der Schwerpunkt meines Bei 55 Vgl. hierzu V 67, S.  370,1–3: senftmtikeit die dienet innerlichen disen grúnden und hat me inwert wúrkendes wan gelossenheit; die sicht me z dem usseren menschen; und V 70, S. 381,22–24: senftmtikeit; die sicht me in wert in den grunt wan die gedult: die sicht me uswert an bunge der wúrklicheit des uswendigen menschen. 56 Z. B. V 55, S. 255,5–8: Der mensche, als er alle ding gelies und sich selber in allen dingen, so sol er Gotte volgen úber alle ding mit dem usseren menschen, mit aller bunge der tugende und mit der gemeinen minne, und mit dem inwendigen menschen in rechter gelossenheit sin selbs in allen wisen […]. 57 Als Beispiel vgl. V 15, S.  70,17–22: […] so mst du gezogen werden in daz minnen­ cliche bilde unsers herren Jhesu Cristi, das du ein flissig ansehen daran habest und sehest an sine sanftmtikeit und demtikeit und an sine tieffe fúrin minne, die er hette z sinen frúnden und z vigenden, an die grosse gehorsame gelossenheit die er hette in alle wege, in alle wise, in alle die stet­ ten do ime der vatter in rief. und V 60e, S. 309,29–33: Ein mensche der Got gerne minnete und meinde, der sol alle ding von minnen tn Gotte z lobe in rechter ordenunge, die uf in vallent, wie es Got ime fget, in minnen und in senftmtiger gtlicheit und in fridelicher gelossenheit, dir und dinen nehsten in friden z blibende […]. 58 Z. B. V 26, S. 108,16 f.: obe in Got ein ewigen hellebrant wolte haben in ewiger pinen, daz er sich darin z grunde gelossen kan: kinder, dis were gelossenheit. 59 Z. B. V 55, S. 255,11–24: Ich han enphangen von Gotz gnaden minen orden und von der heiligen kilchen, und dise kappe und dise kleider und min priesterschaft und ein lerer ze sinde und bichte ze hrende. Kemes nu also das mir dis der babest nemen wolte und die heilige kilche von der ich es han, ich solte es in alles lossen mit einander und ensolte nút frogen war umbe si mir es ­nemen, wer ich gelossen mensche, und solt einen grawen rok antn, mcht ich in haben, und ich ensolte númme in minem kloster bi den brderen sin, so gieng ich dar us, noch númme priester sin noch bichte ze hren noch bredien, alles in Gotz namen, so si nit me, wan si hant es mir gegeben und múgent mirs och nemen; des enhan ich si nút ze frogende war umbe; oder ich enwolt nút ein ketzer heissen noch ich enwolt nút ze banne sin geton. Och wolt mir diser dinge eins ieman anders nemen: wer ich ein recht gelossen mensche, ich solte den tot do fúr kiesen e ich es mir nemen liesse. 60 Als Beispiel vgl. V 16, S. 72,3–7: Kinder, in disen sin ist sere nauwe z sehende, das den Gotz frúnden der heilige geist nút mhte werden, er mste z dem ersten von in varen. Weles ist sin von úch varn anders danne gelassenheit, trostlosekeit und ungeschickeit z alleme gte, trege und kalt und swer und dúnster? danne ist Jhesus von uns gevarn. und V 21, S. 86,11–17: und so dan daz liden und daz vinsternisse kam und sú gelossen worent indewendig und ussewendig, so enwústent sú nút wo sú hin soltent, und verblibent zmole, und enwart nút drus. Also die gruwe­ lichen sturmwinde koment und so stiessent indewendige gelossenheit und ussewendige bekorunge von der welte und von dem fleische und von dem viande, der dis durchbreche, der funde wesen­ licher fride den ime nieman genemmen mhte. 61 Vgl. hierzu V 67, S. 365,3 f.: do wisete er sine frúnt uf den weg der gelossenheit, das si sich dis noch keines dinges enbetrbten; und V 67, S. 365,7 und 10: Dis wolte er das si stnden in allen dingen in rechter gelossenheit; […] Dis wolte er das si sunder betrbnisse weren. 62 Z. B. V 67, S. 365,18–24: […] also sol der mensche alles sin vermúgen búgen fúr Got […] und sol gruntlich bekennen sin natúrlich nicht und sin gebrestlich nicht. Das natúrlich nicht das ist © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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trags nicht darauf liegen soll, im Sinne einer Wortgeschichte die Bedeutungs­ vielfalt von gelossenheit und die unterschiedlichen Übersetzungsmöglichkeiten des Wortes, sondern vielmehr das Ineinandergreifen von Textstrategien, Performativität und Semantik in den Predigten Taulers aufzuzeigen, soll dieser kurze Überblick zu den häufigsten Kontexten und Verwendungsweisen von gelossen­ heit an dieser Stelle genügen.

5. Wie Bedeutung entsteht – Semantisierungsstrategien für gelossenheit Im Zentrum des folgenden Kapitels steht die Frage, wie sich der spezifische Umgang der Predigten Taulers mit gelossenheit auf dessen Semantik auswirkt und wie der Ausdruck im Zuge dieser Semantisierung etabliert wird. Entscheidend sind in diesem Kontext die Fragen, wie es zu der beobachteten Bedeutungsvielfalt von gelossenheit kommt und inwiefern diese Bedeutung etwas ist, das sich auch performativ in den Texten selbst ereignet. Es soll gezeigt werden, wie Bedeutung durch bestimmte Techniken generiert wird und welche Auswirkungen die sprachliche Gestaltung auf das Verständnis von gelossenheit beziehungsweise auf die Verinnerlichung des Konzepts durch die Rezipienten hat. Wie bereits erwähnt, verzichtet Tauler auf Definitionen und macht auch eher selten Gebrauch von konkreten Beispielen oder direkten Vergleichen. Stattdessen versucht er, gelossenheit zu usualisieren, d. h. das Wort in seinem Predigtwortschatz zu etablieren und dabei mit spezifischer Bedeutung aufzuladen. Er umkreist das Wort und spielt es in unterschiedliche Kontexte immer wieder mit hinein. So entsteht eine Vielzahl an Verwendungsweisen und damit eine komplexe Semantik von gelossenheit. Im Folgenden sollen anhand einiger Beispiele die wichtigsten Textstrategien zur Semantisierung von gelossenheit vorgestellt werden.

Strategie 1: Semantisierung durch syntagmatische Kontextualisierung Eine zentrale Semantisierungsstrategie für gelossenheit besteht in einer Art assoziativer Bedeutungsübertragung von anderen Wörtern auf das Abstraktum ge­ lossenheit mithilfe syntagmatischer Beziehungen und weiterer Sinnzusammen-

das wir von naturen nicht ensint, und das gebrestlich nicht das ist das uns ze nichte gemacht hat. Mit disen beiden nichten súllen wir uns legen fúr die fsse Gotz. Dise búgunge wiset uns uf einen rechten underwurf und rechte gelossenheit […]. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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hänge des Textes. So tauchen beispielsweise die Wörter demtekeit,63 armte,64 tugent,65 lidikeit66 und senftmtekeit67 wiederholt im Kontext von gelossenheit auf, teils auch als adjektivische Ergänzungen wie demtige gelossenheit68 oder senftmtige gelossenheit.69 Auch Beiordnungsformen, Asyndeta und Homoioteleuta, die semantische Verwandtschaft oder sogar Synonymie andeuten, sind in Taulers Predigten immer wieder zu finden.70 Eine besonders wichtige Strategie im Rahmen dieser Semantisierung durch Kontextualisierung ist die Einbettung des Wortes gelossenheit in den monastischen Kontext. Durch Bezugnahme auf bekannte Tugendbegriffe, christliche Grundwerte und asketische Übungen, sowie durch Allegorien und die Rück­ bindung an Worte und Passagen der Heiligen Schrift vermitteln die Predigten den Eindruck eines Gelassenheitskonzepts mit konkretem Alltags- und Lebensbezug. Diese Art der Kontextualisierung soll im Folgenden anhand einiger Beispiele aus Predigt V 67 veranschaulicht werden: Interessant ist in dieser Predigt zunächst die Art und Weise, wie das Wort ge­ lossenheit eingeführt wird, nämlich durch Rückbindung an das Neue Testament. Nachdem Tauler den Perikopentext Flecto genua mea aus dem Epheserbrief paraphrasiert wiedergegeben hat, erklärt er:

63 Z. B. V 16, S. 74,1–3: […] wanne wo der heilige geist ist, do bekennet der mensche sine ge­ bresten klerlich und lert gelossenheit und demtikeit und alle ding. Vgl. auch: V 37, S. 143,33 f.; V 38, S. 152,15 f.; V 40, S. 167,27 f. 64 Z. B. V 37, S. 145,16–21: Aber die minnekliche menschen die sleht sint und gelossen sint, der ding gat recht selber z, und do wurden also minnekliche menschen us geborn, und entsunken und enpfielen allem dem do sich die nature an enthalten mochte oder wolte, und trunge echt fúr sich in in den grunt das alles ist ane alles anhangen oder enthalten ichtes, und hielte sich in dem armte und blosheit in worer gelossenheit. Vgl. auch V 63, S. 345,13. 65 Z. B. V 37, S. 143,30–35: Die uswendige schunge do der mensche Got mit scht, das ist in uswendigen bungen gter werke in maneger hande wise, als er von Gotte gemant und ge­ triben wirt und von sinen frúnden angewiset wirt, und aller meist mit bungen der tugende, als demtkeit, senftmtikeit, stillikeit, gelossenheit und mit allen anderen tugenden die man bet oder geben mag. Vgl. auch V 40, S. 167,27 f.; V 67, S. 366,28 f. und V 67, S. 370,32 f. 66 Z. B. V 67, S.  366,28 f.: Wo dise drije tugende in dem grunde funden werdent: gelossen­ heit, lidikeit, unannemlicheit, dar flússet dise salbe Christus sunder underlos […]. Vgl. auch V 67, S. 370,9 f. und 32 f. 67 Z. B. V 37, S. 142,5–7: ir mssent schof sin in worer senftmtikeit, in stillikeit und aller gelossenheit, lidelicheit, das du habest ein under geworffen gemte under Got Vgl. auch: V 37, S. 143,33 f.; V 40, S. 164,21; V 40, S. 167,27 f.; V 67, S. 370,1–3. 68 Z. B. V 6, S. 28,4: […] do wehsset in einer temtigen gelossenheit edel wunnecliche frucht us. Vgl. auch: V 6, S. 28,5 f. und V 27, S. 112,7 f. 69 Vgl. V 60f, S. 313,24–28: Vindestu daz in dir das das stroffen Gottes in dir merre wurt, und lidest das mit einer senftmtiger gelossenheit, […] so ist kein bunge die nútzer si denne der werde licham unsers herren z nemende. 70 Beispiele hierfür sind u. a. V 40, S. 164,21: senftmtikeit, gelossenheit, stillikeit oder V 67, S. 365,24 f.: uf einen rechten underwurf und rechte gelossenheit [wisen]. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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Do min her S.  Paulus dise epistole schreib, do was er gevangen und begerte das sin frúnt sich her umbe nút enbetrbten […]. Und do er in disem gevengnisse was, do wisete er sine frúnt uf den weg der gelossenheit, das si sich dis noch keines dinges enbe­ trbten; […].71

Die Predigt beginnt also nicht sofort mit der Auslegung des Perikopentextes selbst, sondern bettet das Bibelzitat erst in einen breiteren Kontext ein, indem zunächst Redesituation und Redeanlass des Epheserbriefes vor Augen geführt werden. Obwohl bei Paulus das Wort Gelassenheit bzw. ein entsprechendes Über­ setzungsäquivalent gar nicht vorkommt, werden die Anweisungen des Apostels als Aufforderung zur ›rechten Gelassenheit‹ ausgelegt, wodurch die Gelassenheit ins Zentrum der weiteren Ausführungen gerückt wird. Die Formulierung weg der gelossenheit spiegelt dabei gewissermaßen die Bewegung des Textes selbst wider. Was die Predigt über Paulus aussagt, bringt sie selbst auch performativ zum Austrag: Sie weist die Zuhörer auf den ›Weg der Gelassenheit‹. Der Text fokussiert gelossenheit nicht nur, indem er das Wort innerhalb von zwei Sätzen dreimal gebraucht, sondern vor allem auch durch die wiederholte Verwendung der Kollokation rehte gelossenheit, wobei vom Dativ in den Nominativ gewechselt wird: Und do er in disem gevengnisse was, do wisete er sine frúnt uf den weg der gelossen­ heit, das si sich dis noch keines dinges enbetrbten; […]. Dis wolte er das si stnden in allen dingen in rechter gelossenheit; wan rechte gelossenheit ist enphenglich aller der gebúrte und der gaben und tugenden die Got ie gegab oder iemer geben wil, aller gnaden und alles gtes.72

Wird gelossenheit in den ersten beiden Fällen noch als Objekt gebraucht (als Genitivattribut bzw. als Dativobjekt innerhalb einer Präpositionalphrase) tritt es in der dritten Erwähnung als Subjekt auf und wird über das prädikativ gebrauchte Adjektiv enphenglich selbst mit verschiedenen Genitivattributen verknüpft. Die Gelassenheit wird dadurch in unmittelbaren Zusammenhang mit einer ganzen Reihe wichtiger Begriffe der geistlichen Literatur des Spätmittelalters gestellt: (Gottes-)Geburt, Gabe, Tugend, Gnade und das Gute. Im dreimal wiederholten Indefinitpronomen aller bzw. alles kommt zudem eine Totalität zum Ausdruck, mithilfe derer die zentrale Bedeutung der Ge­ lassenheit für das Konzept des mystischen Weges hervorgehoben wird. Die Gelassenheit wird an dieser Stelle als eine Art ›Tugend aller Tugenden‹ etabliert oder zumindest als unmittelbare Voraussetzung für den Empfang sämtlicher Tugenden und anderer Gnadengeschenke eingeführt.73 Deutlich wird dies vor al 71 V 67, S. 364,29–365,4. 72 V 67, S. 365,2–9 (Hervorhebung: I. F.). 73 Interessanterweise wird gelossenheit in derselben Predigt an anderer Stelle selbst als Tugend bezeichnet, was einen weiteren Hinweis auf die Vielfalt der Verwendungsweisen von © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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lem auch durch die Abgrenzung der Gelassenheit von der Betrübnis, die in diesem Abschnitt besonders stark hervorgehoben wird. Mithilfe von Parallelismen werden ›Betrübnis‹ und ›Gelassenheit‹ miteinander in Beziehung gesetzt und über semantisch gegensätzliche Attribute als Antonyme etabliert: Über die Anapher Dis wolte er das si wird zunächst eine Analogie zwischen den beiden Phrasen sunder betrbnisse sin und in rechter gelossenheit stan hergestellt. Der Gegensatz zwischen beiden Ausdrücken wird mithilfe zweier parallel gebauter kausaler Nebensätze verdeutlicht, die sich jeweils an die beiden anaphorischen Hauptsätze anschließen. Dabei stehen sich das bereits erwähnte enphenglich sin der Ge­lassenheit im ersten Nebensatz und das gros hindernisse der Betrübnis im zweiten antithetisch gegenüber. Dadurch wird deutlich: Betrübnis ist mit Gelassenheit nicht kompatibel. Es entsteht vielmehr der Eindruck, dass Gelassenheit eine Voraussetzung dafür ist, dass ein Mensch fähig wird, sich auch im Leid nicht zu betrüben. Ob Gelassenheit selbst mit einem Zustand inneren Gleichmuts oder beständiger Freude gleichzusetzen ist, wird hier nicht explizit gesagt. Diese semantische Offenheit wird bei einer genaueren Analyse der ersten Erwähnung von gelossenheit in dieser Predigt deutlich. Hier heißt es: do wisete er sine frúnt uf den weg der gelossenheit, das si sich dis noch keines dinges enbetrbten. Georg Hofmann übersetzt an dieser Stelle: »Da verwies er seine Freunde auf den Weg der Gelassenheit: sie sollten sich weder über seine Gefangenschaft noch über sonst etwas betrüben«.74 Hofmann lässt also die Konjunktion ›dass‹ (bzw. das) außen vor, indem er den Nebensatz in einen Hauptsatz umwandelt und dem ursprünglichen Hauptsatz beiordnet. Durch den Doppelpunkt signalisiert Hofmann, dass er die Konjunktion das als eine Verkürzung von ›das heißt, dass‹ ansieht. Die mittelhochdeutsche Sprache erlaubt eine solche Interpretation. Dennoch kommt es durch die Übersetzung zu einer Verkürzung der Textstelle. Denn die Konjunktion das kann auch konsekutiv oder final gebraucht und im Neuhochdeutschen entsprechend mit ›so dass‹ oder ›damit‹ wiedergegeben werden. In diesem Fall wäre gelossenheit nicht mit ›Betrübnislosigkeit‹ oder ›Gleichmut‹ gleichzu­ setzen, sondern würde eine Voraussetzung oder Bedingung dafür darstellen. Bedenkt man diese Mehrdeutigkeit, so wird deutlich, dass Tauler mit dieser Ver­ wendungsweise nur einen von vielen Aspekten seines Gelassenheitskonzepts hervorhebt, nicht jedoch eine allgemeingültige Definition dafür gibt. Bevor Tauler im Verlauf der Predigt weiter auf die Gelassenheit eingeht, nimmt er zunächst genaueren Bezug zum Bibeltext der Tageslesung Flecto genua mea. Tauler deutet dieses búge[n] [der] knú75 als inneren Prozess, als eine UnterGelassen­heit bietet. V 67, S. 366,28 f.: Wo dise drije tugende in dem grunde funden werdent: ge­ lossenheit, lidikeit, unannemlicheit […]. V 67, S. 369,16 ff.: Kinder, die her in koment sunder dise drije tugende, rechte gelossenheit und lidikeit und unannemlicheit, und die gekleit mit demtkeit, und die wonent in dem kloster der minne […]. 74 Johannes Tauler, Predigten, hg. von Georg Hofmann, Trier 1987, S. 485. 75 V 67, S. 364,18 und S. 365,15. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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ordnung des Menschen unter die Allmacht Gottes. Diese innerliche b­ úgunge76 setzt das Eingeständnis und die Akzeptanz der eigenen Nichtigkeit (aufgrund von Geschöpflichkeit und Sündhaftigkeit des Menschen) voraus. Und so erklärt Tauler: Mit disen beiden nichten súllen wir uns legen fúr die fsse Gotz. Dise búgunge wiset uns uf einen rechten underwurf und rechte gelossenheit und uf lidikeit und uf un­ annemlicheit. Dise drú die sint recht als dri geswesteren und sint gekleit mit eime kleide, das ist wore demtkeit.77

Auffällig ist hier zunächst, dass an dieser Stelle dasselbe Verb verwendet wird wie bei der ersten Erwähnung von gelossenheit, nämlich wisen uf. War es zuvor Paulus, der seine Freunde auf den Weg der Gelassenheit wies, so ist es nun das innere ›Sich vor Gott beugen‹, das auf die Gelassenheit hindeutet. Offenbar ist diese búgunge bereits der erste Schritt auf dem Weg der Gelassenheit. Diesem ›Sich vor Gott beugen‹ folgen zunächst die Unterwerfung und die Gelassenheit selbst. Wie zuvor ist auch hier wieder von rechte[r] gelossenheit die Rede, ebenso von rechte[m] underwurf. Die Wiederholung des Attributs rechte bewirkt eine Hervorhebung der beiden Nomen gegenüber den anderen Tugenden der Aufzählung: lidikeit und unannemlicheit. Zudem erscheinen underwurf und gelossenheit als Einheit, da sie Teil desselben Präpositionalgefüges sind. Im Gegensatz zu lidi­ keit und unannemlicheit wird die Präposition uf hier nicht wiederholt; underwurf und gelossenheit sind auf diese Weise syntagmatisch miteinander verklammert, während lidikeit und unannemlicheit jeweils in ein eigenes Präpositionalgefüge eingegliedert sind. Gelassenheit wird damit auch semantisch stärker in die Nähe von underwurf gerückt als die beiden folgenden Nomen. Interessant ist auch die Bewegung vom Konkreten zum Abstrakten innerhalb dieses Syntagmas: Das Substantiv búgunge leitet sich vom Verb búgen ab, das im Zusammenhang mit der Perikope Flecto genua mea ein zentrales Wort innerhalb dieser Passage darstellt. Die Bewegung geht von diesem konkreten Verb über das (durch Suffigierung derivierte) Substantiv búgunge hin zum etwas abstrakteren Substantiv underwurf und schließlich zum Abstraktum gelossenheit. Gelassenheit wird so zu einer Art Verbeugung und Unterwerfung (vor Gott) auf einer höheren Ebene. Liest man diese Bewegung im Zusammenhang mit Taulers Forderung nach inwendikeit, so erscheint Gelassenheit als Form der innerlichen Unterwerfung unter Gottes Willen. Tauler vollzieht durch diese Art der syntagmatischen Kontextualisierung die Semantisierung von Gelassenheit in Form einer semantischen Steigerung, setzt Gelassenheit also an den Schlusspunkt einer Aufwärts­ bewegung bzw. einer Bewegung nach innen.

76 V 67, S. 365,24. 77 V 67, S. 365,23–26. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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Dieser Fokus auf gelossenheit wird noch weiter verstärkt. Denn gelossenheit steht hier nicht nur am Ende einer Steigerung, sondern auch am Anfang einer Aufzählung, die Tauler im Laufe seiner Predigt immer wieder aufgreift und dabei ausnahmslos die Gelassenheit an erster Stelle nennt: gelossenheit, lidikeit und ­unannemlicheit.78 Die Verbindung der drei Abstrakta durch ihre gemeinsame Abhängigkeit vom Verb wisen uf setzt Tauler im folgenden Satz auf der inhaltlichen Ebene fort: Er beschreibt die drei Tugenden als drei Schwestern und baut diesen Vergleich über das Bild vom ›Kleid der Demut‹ zu einer Allegorie aus, die er in späteren Passagen immer wieder aufgreift und erweitert. So wendet sich Tauler nach längeren Ausführungen zur allumfassenden Minne und zur Einkehr in den Seelengrund folgendermaßen an seine Zuhörerschaft: Kinder, die her in koment sunder dise drije tugende, rechte gelossenheit und lidikeit und unannemlicheit, und die gekleit mit demtkeit, und die wonent in dem kloster der minne: Kinder, die her durch nút ensint gegangen mit rechter bunge, die vallent al ze mole in den grunt.79

Tauler bezeichnet gelossenheit (wie auch lidikeit und unannemlicheit) an dieser Stelle zum zweiten Mal als Tugenden,80 fügt sie also dem Katalog der christlichen Tugenden hinzu und setzt sie auf diese Weise in Beziehung zu Begriffen wie Demut, Glaube, Liebe und Hoffnung. So erscheint gelossenheit gewisser­ maßen in zwei Bezugssysteme eingegliedert: Einerseits steht das Wort in der Aufzählung der drei Abstrakta gelossenheit, lidikeit und unannemlicheit erneut an erster Stelle und ist wiederum durch das Attribut rechte zusätzlich hervorgehoben. Zugleich ist es jedoch (genau wie die anderen beiden Wörter auch) über die Kloster­allegorie eng mit zwei der zentralen Begriffe der christlichen Theologie (und dieser Predigt) verbunden: mit Minne und Demut. Daran sind zwei Dinge bemerkenswert: Zum einen wird mit dieser Allegorie ein sehr einprägsames Bild geschaffen, das die Gelassenheit mit den beiden etablierten Tugendbegriffen Minne und Demut verknüpft und in seiner Anschaulichkeit den Rezipienten  – vor allem einem weiblichen Klosterpublikum  – viel Identifizierungspotential bieten kann. Zum anderen gewinnt das Wort gelossenheit durch seine syntag­matische und inhaltliche Verbindung zu den Wörtern lidikeit und unannemlicheit auch eine gewisse Offenheit. Hierbei ist festzuhalten, dass es sich bei lidikeit und unannemlicheit wie bei gelossenheit um Abstrakta handelt, die zu Lebzeiten Taulers in der Literatur noch keine etablierten Vokabeln waren.81 Tauler verbindet gelossenheit also mit zwei Abstrakta, die semantisch 78 V 67, S. 365,24 f. und S. 366,28 f. und S. 369,16 f. und S. 370,33. 79 V 67, S. 369,16–20. 80 Vgl. S. 366,28 f.: Wo dise drije tugende in dem grunde funden werdent: gelossenheit, lidi­ keit, unannemlicheit, dar flússet dise salbe Christus sunder underlos […]. 81 Vermutlich handelt es sich bei unannemlicheit sogar um einen Neologismus Taulers. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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zunächst relativ offen bleiben und verzichtet darauf, diese begrifflich zu definieren. Stattdessen setzt er sie als Wörter immer wieder in verschiedenen Kontexten miteinander in Beziehung und etabliert sie – zumindest für diese Predigt – als Kollokationen. Da sich alle drei Wörter letztlich von bekannten Verben oder Adjektiven ableiten lassen (gelossenheit von lossen, sich lossen – ›(sich) (über)lassen‹ bzw. von gelossen – ›gelassen‹, ›verlassen‹; lidikeit von lidic – ›losgelöst‹, ›frei‹; un­ annemlicheit von annemen – ›sich anmaßen‹) ist ein Grundverständnis gewährleistet. Alle darüber hinausreichende Semantik etabliert Tauler in erster Linie über den Kontext. Dabei bleibt notwendigerweise immer ein bestimmter Spielraum offen, der für das Gelassenheitskonzept seiner Predigten konstitutiv zu sein scheint.

Strategie 2: Semantisierung durch Kontextualisierung mit morphologischer Analogie Wie am letzten Beispiel aus Predigt V 67 deutlich wurde, spielen morphologische Beziehungen bei der Semantisierung von Abstrakta generell eine wichtige Rolle, da die Kenntnis der Semantik eines Stammworts ein Grundverständnis für ein neues Derivat ermöglicht. Denn bei einer morphologischen Derivation findet automatisch eine Bedeutungsübertragung vom Stammwort auf das Derivat statt, so dass die Bedeutung des Ausgangswortes – vor allem bei Abstrakta – wesentlich zum Verständnis des neu gebildeten Wortes beiträgt. In den Predigten Taulers wird diese ›natürliche‹ Analogie zwischen Stammwort und Derivat durch bestimmte Formen der Kontextualisierung in eine eigene Semantisierungsstrategie für gelossenheit überführt, indem innerhalb bestimmter Predigtabschnitte oder auch innerhalb desselben Syntagmas das Abstraktum systematisch mit den Wörtern seiner Wortfamilie in Verbindung gebracht wird: Das Wort gelossenheit wird so häufig im Kontext der Verben lossen, gelossen und verlossen sowie des Partizips (bzw. Adjektivs) gelossen verwendet, ja teils in konkrete syntagmatische Beziehung dazu gesetzt, dass eine unmittelbare semantische Übertragung von den Verben oder vom Adjektiv auf das Abstraktum gelossenheit erreicht wird. Denn die Komplexität der Semantik von gelossenheit in den Predigten Taulers hängt unter anderem auch mit den vielfältigen Verwendungsweisen des Verbs lossen zusammen, von dem sich das Adjektiv gelossen und folglich das Nomen gelossen­ heit ableiten. Das mittelhochdeutsche lossen kann je nach Kontext ganz unterschied­liche Bedeutungen haben, die im Neuhochdeutschen oft durch ein entsprechendes Präfix verdeutlicht werden. Wo im mittelhochdeutschen Text einfach lossen steht, bieten sich in der Übersetzung unter anderem die neuhochdeutschen Verben ›unterlassen‹, ›entlassen‹, ›loslassen‹, ›zurücklassen‹, ›freilassen‹, ›zulassen‹ oder © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

Im Zeichen und im Kontext von gelossenheit

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›verlassen‹ an.82 Zwar taucht auch bei Tauler lossen gelegentlich mit Präfix oder Präposition auf, doch sind solche Formen (wie abelossen oder inlossen) eher die Ausnahme. Nur die Form verlossen kommt mit 17 Belegen einiger­maßen häufig vor. Oft gebraucht Tauler mittelhochdeutsch lossen und verlossen synonym im Sinne von neuhochdeutsch ›verlassen‹. Insgesamt hat lossen in den Predigten Taulers meist etwas mit ›überwinden‹, ›loslösen‹ oder ›aufgeben‹ zu tun. In der wiederholt auftretenden Konstruktion ›etwas lassen‹ verweist das jeweilige Akkusativobjekt meist auf innere oder äußere Hindernisse auf dem Weg zu Gott, die der Mensch überwinden oder aufgeben muss. Damit kann persönlicher Besitz genauso gemeint sein wie die Bindung an Freunde oder der Hang zur Sünde. Häufig wird dies mit der Pauschalformel alle ding zusammengefasst. Beispiele: alle ding

lossen

V 7, S. 30,12;  V 8, S. 37,5; V 8, S. 39,31;  V 16, S. 73,7 f.; V 16, S. 75,14;  V 19, S. 79,33; V 22, S. 89,14;  V 26, S. 109,1; V 55, S. 253,26;  V 55, S. 254,2 f.; V 55, S. 255,4;  V 55, S. 255,5; V 60f, S. 313,21;  V 60h, S. 325,8; V 63, S. 341,28 f.;  V 73, S. 397,1

etliche ding

lossen

V 38, S. 147,22;  V 55, S. 256,2; V 56, S. 259,16

drú ding

lossen

V 56, S. 259,17

das hoch edele ding

lossen

V 56, S. 264,10

uns selber und alle ding

lossen

V 26, S. 109,32 f.

diser dinge enkeines

lossen

V 33, S. 127,25 f.

alles das er besessen hat

lossen

V 49, S. 221,20

menschen oder sine frúnt oder gt

lossen

V 33, S. 128,3 f.

den esel und den knecht /  den knecht und den esel

lossen

V 22, S. 89,14 f.;  V 65, S. 357,35

den esel, den vihelichen menschen

lossen

V 65, S. 358,1

82 Vgl. Matthias Lexer, Mittelhochdeutsches Handwörterbuch, Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1872–1878, mit einer Einleitung von Kurt Gärtner, Stuttgart 1992, Bd. 1, Sp. 1843 f.; Wilhelm Müller und Friedrich Zarncke (Hg.), Mittelhochdeutsches Wörterbuch. Mit Benutzung des Nachlasses von Georg Friedrich Benecke, Bd. 1, Leipzig 1963 (Nachdruck d. Ausg. Leipzig 1854), S. 944. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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die lebenden wasser

lossen

V 60b, S. 286,30

alle cisternen

lossen

V 60b, S. 291,25

alle die túfel

lossen

V 45, S. 199,3

die abgt

lossen

V 45, S. 196,11

alle hindernisse

lossen

V 47, S. 210,11 f.

Im Gegensatz dazu bezeichnet die reflexive Variante sich lossen weniger eine aktive Handlung als vielmehr einen Übergang in die Passivität: Tauler verwendet sie (meist in Verbindung mit einem Dativobjekt) in der Bedeutung von ›sich überlassen‹ oder ›sich anvertrauen‹ und impliziert dabei in der Regel die Aufgabe des Eigenwillens. Um es überspitzt zu sagen, bezeichnet sich lossen bei Tauler eine Handlung des Nicht-Handelns, also eine aktive Passivität. Diese steht in den allermeisten Fällen in Verbindung mit der Hingabe und Überantwortung an Gott. In der Konstruktion ›sich jemandem lassen‹ oder auch ›jemandem etwas lassen‹, die auch breit außerhalb der geistlichen Literatur belegt ist, ist die Position des Dativobjektes hier fast immer mit einem auf Gott referierenden Nomen oder Pronomen besetzt. Beispiele: sich

ime/in/im (=Gotte) (alleine) 

lossen

V 3, S. 19,30;  V 26, S. 108,25; V 26, S. 109,8;  V 36, S. 140,22 f.; V 47, S. 213,12 f.

sich

deme (=Gotte)

lossen

V 81, S. 434,13 f.

sich

dieseme (=Gotte) 

lossen

V 3, S. 19,31 f.

sich

Gotte

lossen

V 5, S. 23,10;  V 8, S. 35,30; V 16, S. 73,30;  V 36, S. 138,33; V 38, S. 150,9;  V 41, S. 173,12; V 50, S. 224,20;  V 60d, S. 299,30; V 77, S. 415,31 f.

sich

sime (=Gots) willen

lossen

V 5, S. 23,30

sich

dem willen Gots

lossen

V 56, S. 264,8

sich

der (=vetterlichen kraft)

lossen

V 66, S. 362,12 ff.

sich

dem herren

lossen

V 40, S. 168,35

sich

ime (=Cristus)

lossen

V 15, S. 71,3

sich

dem heiligen geiste

lossen

V 60e, S. 306,27

sich

dem minner und der minne

lossen

V 60b, S. 291,23

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sich

der minne

lossen

V 61, S. 333,18;  V 61, S. 335,12

sich

disen weg

lossen

V 40, S. 163,17

Immer wieder spielen die Texte mit der Polysemie von lossen und übertragen diese auch auf gelossenheit. Dies soll mit einem Textbeispiel aus Predigt V 26 veranschaulicht werden: […] Gottes enberen und darben, das ist verre úber alle ding. […] Hie lat er sich in und lidet es also lange also Got wil, wanne wenne der mensche im selber gelassen wurt, dan so […] ms er alles liden unde lassen sich z grunde darinne. […] Kinder, in diseme und in alleme ms man sich lassen und volgen dem rate, und lassen und úbertretten alle ding und keren in den ursprung wider in, in den grunt und in Gottes willen. […] in diser gelossenheit so setzet rechte der mensche sinen fs in das ewige leben, und noch diser pin so enkummet er niemer in keine pin noch helle noch liden, und daz ist unmúgelich das Got disen menschen iemer gelasse; also wenig also sich selber Got mag gelassen, also mag er dise gelassen, wan sú habent sich im gelassen und haltent sich an daz eine und an den ursprung.83

Hier baut die Predigt die Semantik von gelossenheit systematisch über die verschiedenen Verwendungsweisen des Verbs lossen auf.84 Es heißt hier, der Mensch müsse sich auf Anfechtung, Leiden und Gottesferne einlassen und dies ertragen, müsse dabei ›sich selbst lassen‹ und ebenso ›alle Dinge lassen‹. Dies führt den Menschen in den Zustand der Gelassenheit, was zur Folge hat, dass ein solcher Mensch nie mehr von Gott verlassen werden kann. Ebenso wenig wie Gott sich selbst verlassen kann, kann Er den gelassenen Menschen verlassen, also den­ jenigen, der sich Gott überlassen hat. Durch die morphologische Analogie und die kontextuellen Bezüge innerhalb dieser Passage werden die verschiedenen Verwendungsweisen des Verbs lossen auch mit dem Abstraktum assoziiert. Im Wort gelossenheit scheint über die Phrasen sich lossen und alle ding lossen zunächst also der Aspekt der Loslösung von allen Dingen und von sich selbst auf. Über die Konstruktion sich ime lossen (also ›sich Gott überlassen‹) wird die Ergebung in den göttlichen Willen hervorgehoben. Bemerkenswert ist vor allem der Satz daz ist unmúgelich das Got disen men­ schen iemer gelasse; also wenig also sich selber Got mag gelassen, also mag er dise gelassen. Denn hier wird zwar auf textsemantischer Ebene die Gottverbundenheit als zentraler Bestandteil von Gelassenheit (bzw. des gelassenen Menschen) ins Zentrum gestellt, gleichzeitig wird jedoch mithilfe etymologischer Bezie 83 V 26, S. 108,21–109,9 (Hervorhebung: I. F.). 84 Hinzu kommen weitere Verben, in deren Kontext sich die Semantik von Gelassenheit entfaltet, vor allem enberen, darben und liden, auf die an dieser Stelle jedoch nicht näher ein­ gegangen werden soll. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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hungen der Aspekt der Gottverlassenheit aufgerufen, der – wie bereits in Kapitel 1 an einem Beispiel aus Predigt 13 deutlich geworden ist – eine Verwendungsweise von gelossenheit darstellt. Obwohl der Text diesen Gesichtspunkt hier nicht explizit herausstellt, gelingt es mithilfe der morphologischen Verwandtschaft zwischen Stammwort und Derivat, die beiden einander diametral gegenüber­ stehenden Aspekte – Gottverlassenheit und Gottverbundenheit – im Abstraktum gelossenheit eng zu führen. Damit klingt eine Spannung an, die für das Konzept der Gelassenheit grundlegend zu sein scheint: die Möglichkeit der Gottesnähe trotz oder sogar durch Gottesferne. Mit dieser inneren Paradoxie von Gelassenheit ist eine semantische Grenze erreicht, die auf morphologischer Ebene ihre Entsprechung im Suffix -heit findet. Eine weitere Paradoxie, die Durchdringung und Überschneidung von Aktivität und Passivität, die in der Polysemie des Verbs angelegt ist, fließt auch in die Semantik des Abstraktums mit ein.

6. Gelassenheit auf dem mystischen Weg: Über die Semantisierungsstrategien zum inneren Nachvollzug Die im vorangegangenen Kapitel angesprochenen semantischen Grenzpunkte von gelossenheit führen auf die konzeptuelle Ebene und lassen Folgerungen darüber zu, wo die Gelassenheit in einem Modell des mystischen Weges zu ver­orten ist: Indem gelossenheit in vielfältigen Verwendungsweisen etabliert wird, er­öffnet sich für die Rezipienten die Möglichkeit, sich gemäß ihrer jeweiligen persön­ lichen Situation, ihrer individuellen Fähigkeiten und ihres bisherigen Fortschritts auf dem mystischen Weg dem Phänomen der Gelassenheit anzunähern. Denn ein immer wiederkehrendes Prinzip in den Predigten Taulers ist der Anspruch, dass jeder Mensch seinen eigenen Weg zu Gott finden kann und muss. Bestimmte Konstanten sind auf diesem Weg zwar notwendig, doch bleiben auch immer Entfaltungsmöglichkeiten, welche die Lebenssituation und die Veran­ lagung des Einzelnen berücksichtigen. In einigen Predigten wird dazu ganz konkret Stellung bezogen: Ieklich ms sin wise haben, und als es gerfet ist, so ms eins komen.85 Als ungelich die lúte sint, also sint ch ir wege z Gotte: das eins menschen leben were, daz were des anderen dot […].86

Nach der Lehre Taulers ist es entscheidend wichtig, dass die Stufen des mystischen Weges zwar der Theorie nach immer die gleichen sind, dass die einzelnen 85 V 56, S. 265,25 f. 86 V 81, S. 433,28 ff. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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Schritte auf diesem Weg jedoch für verschiedene Menschen ganz unterschiedlich aussehen können. Somit müssen gerade auch für einen Weg der Gelassenheit verschiedene Perspektiven angeboten werden, was sich notwendig auf die Art und Weise der Etablierung und Semantisierung des Wortes gelossenheit auswirkt oder – anders herum betrachtet – sich aus ebendiesen Strategien ableiten lässt. Hinzu kommt, dass die Predigten insgesamt an die Fähigkeiten der Zuhörer angepasst werden müssen. Das heißt, die Texte müssen so gestaltet sein, dass sie den Bedürfnissen und den intellektuellen Möglichkeiten der Zuhörerschaft entgegenkommen. Indem auf abstrakte Definitionen verzichtet und stattdessen auf Formen der Usualisierung gesetzt wird, kann die Komplexität des Begriffs eher in partizipierender Weise erfasst und nachvollzogen als hermeneutisch extrahiert werden. Gerade die assoziativen und meditativ-repetitiven Elemente der Rede über Gelassenheit erleichtern eine Verinnerlichung des Gehörten, die dessen Nachvollzug entgegen kommt. Der Text entfaltet damit eine performative Dimension und wird selbst Teil eines Weges der Gelassenheit. Maßgeblich hierfür sind vor allem eine breite Verwendung der verschiedenen Wörter aus dem Lexemverband zu lossen, formelartig wiederkehrende Kollokationen sowie syntagmatische Bezüge zu bestimmten Wörtern (bzw. kontextuelle Bezüge zu Begriffen) der geistlichen Literatur. Darüber hinaus kommt es durch den in manchen Predigtpassagen nahezu inflationären Gebrauch der Wörter lossen, gelossen und gelossenheit zu einer Sinnentleerung, über die das notwendige innere Leerwerden auf dem Weg zur vollkommenen Gelassenheit im Text performativ umgesetzt ist. Auch werden immer wieder mithilfe von paradoxen semantischen Durchdringungen Sinngrenzen erreicht und so das Übersteigen der Ratio auch auf sprachlicher Ebene vorgeführt. Über diese performativen Elemente der Predigten werden die Zu­ hörer in einen Vollzug der Gelassenheit hinein genommen. Die spezifische Art der Semantisierung ermöglicht Rückschlüsse auf das Wesen der Gelassenheit: Offenbar finden sich im Gelassenheitskonzept der Predigten Taulers Elemente, die sich dem menschlichen Verstand entziehen und die in einer Definition nicht vollständig erfasst werden können. Geht man von der Semantisierung über die verschiedenen Verwendungsweisen des Verbs lossen aus, kann die Gelassenheit bei Tauler als graduierbar angesehen werden; das heißt, es gibt verschiedene Stufen der Gelassenheit oder anders gesagt: Gelassenheit ist auf unterschiedlichen Stufen des mystischen Weges auf verschiedene Weise wichtig und wirksam. Dabei kann die Gelassenheit ein Prozess, eine Übung, eine Tugend und ein Zustand (mystischer Bereitschaft) sein. Je nach geistlichem Entwicklungsgrad der Gläubigen steht entweder die Aktivität des Menschen oder die Aktivität Gottes (und somit die Passivität des Menschen) im Vordergrund. Gelassenheit im Sinne einer totalen Verlassenheit ist beispielsweise eher auf einer späteren Etappe des mystischen Weges anzusiedeln, wenn der Mensch sich bereits von den irdischen Dingen abgewendet hat, um sich ganz auf Gott auszurichten. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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Die Erfahrung der Gottesferne soll den Menschen gewissermaßen zu einer höheren Form der Gelassenheit führen, zum Verzicht auf Gott um Gottes willen, was dem got durch got lâze[n]87 Meister Eckharts sehr nahe kommt. Wie in den Predigten Taulers immer wieder deutlich wird, muss Gelassenheit über verschiedene Arten des ›Lassens‹ eingeübt, im Letzten also nicht nur mit dem Verstand begriffen, sondern innerlich nachvollzogen werden. Dabei geht die Bewegung von der Aktivität des Menschen in Richtung einer zunehmenden Passivität, welche die Vorbedingung für das Wirken Gottes und damit für den Gnadenakt der unio darstellt: Die Stufe der vollkommenen Gelassenheit, die in den Predigten meist mit der Kollokation rechte wore gelossenheit bezeichnet wird, markiert dabei das Ende menschlicher Bemühungen und den Beginn des gött­ lichen Wirkens, einen Umschlag von der aktiven Passivität in eine totale Passivität, in der Gott dem Menschen so nahe kommt, wie sonst nur Gott sich selbst nahe sein kann. Diese Grenze auf der Konzeptebene ist bereits auf der Wortebene angedeutet: morphologisch über das Suffix -heit und semantisch über syntagmatische und kontextuelle Bezüge, mithilfe derer scheinbar unvereinbare und widersprüchliche Aspekte von ›Gelassenheit‹ nebeneinander gestellt und miteinander verwoben werden. Die Gelassenheit stellt in den Predigten Taulers eine Grenzkategorie zwischen irdischer und göttlicher Sphäre dar. Wahre Gelassenheit bedeutet hier das Verlassen der Verstandeswelt und den Überstieg in den Bereich des Transrationalen. Das Wort gelossenheit muss somit immer eine semantische Lücke offen lassen; das Reden über Gelassenheit – an die Beschränkungen von Verstand und Sprache gebunden  – kann damit immer nur in einem Umkreisen dieser Leerstelle, nicht aber in einem Schließen dieser semantischen Lücke bestehen. Über die Methode der Kontextualisierung wird den Zuhörern der Weg bis zu jener Grenze von Verstand und Sprache gezeigt und dabei zugleich verdeutlicht, dass diese Grenze noch nicht das eigentliche Ziel ist. So wird es möglich, über Gelassenheit ganz konkret zu sprechen und dabei die Komplexität des Konzeptes auf eine Weise zugänglich zu machen, die sowohl den individuellen Fähigkeiten und Bedürfnissen der Zuhörerschaft angemessen ist als auch dem Wesen von Ge­ lassenheit als Grenzkategorie Rechnung tragen kann. Die spezifische Art der Semantisierung von gelossenheit in den Predigten Taulers stellt dabei selbst eine Möglichkeit des inneren Nachvollzugs dar und führt die geforderte Annäherung an die Grenze zum Transrationalen in performativer Weise auf semantischer Ebene vor: im Zeichen und im Kontext von gelossenheit.

87 Vgl. DW I, S. 196,36. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

Regina D. Schiewer (Eichstätt)

Gelassenheit ist (k)eine Tugend Exzerpieren im Dienste der Mystagogik am Beispiel von Spamers Mosaiktraktaten

Spamers Mosaiktraktate, überliefert in zwei Handschriften des 14. Jahrhunderts,1 wurden nach dem jungen Adolf Spamer benannt, der am Anfang des 20. Jahrhunderts die erste und bislang einzige Monographie über diese bedeutende Sammlung von ca. 124 Traktaten, Predigten, Quaestiones und Dicta schrieb.2 In seiner Untersuchung konnte Spamer Hunderte von Parallelen zu einzelnen Teilen und Sätzen der Traktate in einer Reihe geistlicher Texte aus dem 13. und 14. Jahrhundert nachweisen, angefangen von den St. Georgener Predigten bis hin zu Johannes von Sterngassen und Johannes Tauler. Besondere Bedeutung aber hat die Sammlung für die Eckhart-Philologie, weil sie einige komplette Predigten Eckharts und viele Teilstücke aus Eckhart zugeschriebenen Predigten, Traktaten und Sprüchen enthält, so dass sie als einer der wichtigsten Zeugen der frühen Eckhartüberlieferung und -rezeption im 14. Jahrhundert anzusehen ist. Trotz ihrer Bedeutung für die Eckhart-Philologie liegt bis heute keine Edition der Sammlung vor.3 Die Analyse Spamers, die die Paralleltexte in Form einer mathematischen Formel addiert, um so schließlich als Summe einen Traktat zu erhalten, kann nur anhand der verwendeten Handschrift nachvollzogen werden und versperrt dadurch die Sicht auf die Kompilationsart der Traktate und ihre vorhandene oder fehlende inhaltliche Kohärenz. Womöglich hat auch Spamers Betitelung seiner Dissertation Über die Zer­ setzung und Vererbung in den deutschen Mystikertexten von der Beschäftigung 1 Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, St. Peter perg. 85 (K2) und 102 (K1). Zu den Traktaten allgemein vgl. Hans-Jochen Schiewer, Spamers Mosaiktraktate, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, Bd. 9, 21995, Sp. 29–31. Zu ihrer Einordnung in die Eckhartüberlieferung siehe Burkhard Hasebrink, Zersetzung? Eine Neubewertung der Eckhartkompilation in Spamers Mosaiktraktaten, in: Claudia Brinker [u. a.] (Hg.), Contemplata aliis tradere. Studien zum Verhältnis von Literatur und Spiritualität, Bern [u. a.] 1995, S. ­353–369, hier S. 355 f., mit weiterer Literatur. 2 Adolf Spamer, Über die Zersetzung und Vererbung in den deutschen Mystikertexten, Gießen 1910. 3 Eine kommentierte Edition der Sammlung wird von mir gerade erarbeitet. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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Regina D. Schiewer

mit den Texten abgeschreckt. Erst Burkhard Hasebrink hat 1995 den im Deutschen eher mit einem pejorativen Konnotat versehenen Begriff ›Zersetzung‹ auf seinen, vermutlich der biologischen Terminologie entnommenen, neutraleren lateinischen Ursprung, nämlich die Dissimilation, zurückgeführt.4 Darüber hinaus legte er stärkeres Gewicht auf den ebenfalls von Spamer verwendeten Begriff der ›Neubindung‹. Er fragt also nach der Kohärenz der neu entstandenen Texte. Hasebrink rückt die von ihm in seiner Untersuchung behandelten drei Traktate in die Nähe des lateinischen Lemmakommentars: »Sie exzerpieren vorliegende Texte […] und strukturieren das gewonnene Material nach Lemmata geordnet einmal als kompilierte Mosaiktraktate und einmal als sequenzartige Abbreviatur.«5 Ich möchte zunächst hier anknüpfen und eine Hypothese für den Ent­ stehungsrahmen, den ›Sitz im Leben‹, der Mosaiktraktate entwickeln (Punkt I). In einem zweiten Schritt werde ich mich mit der Art und Weise beschäftigen, wie das Thema ›Gelassenheit‹ in Spamers Traktaten behandelt wird und welche Rückschlüsse die Art und Weise der Behandlung des Themas ihrerseits auf die Funktion der Texte erlaubt (Punkt II). Burkhard Hasebrink stellte in seiner Tagungsausschreibung fest, dass »die Semantisierung des Begriffs ›Gelassenheit‹ in einem spezifischen diskursgeschichtlichen Rahmen« erfolge, »so dass die besonderen textuellen, gattungsspezifischen und ordensgeschichtlichen Kontexte mit in die Untersuchung einzubeziehen« seien.6 Diesem Postulat möchte ich in der vorliegenden Untersuchung Folge leisten. Ein Abdruck der in den beiden Abschnitten diskutierten Texte mit den von Spamer ermittelten Verweisstellen findet sich im Anhang des Beitrags. Dem Abdruck der Texte liegt die Karlsruher Handschrift St. Peter perg. 85 zugrunde, da sich Spamers Angaben zu Parallelstellen auf diese Handschrift beziehen. Die Verweise im Text dieses Beitrags auf die abgedruckten Traktate erfolgen mit Nummer des Traktats und Zeilenzahl (SpaMo 00,00–00).

1. Der ›Sitz im Leben‹ Es gibt eine Reihe unterschiedlicher Traktattypen innerhalb der Sammlung: 1. Dicta fremder Herkunft, 2. Zusammenstellungen von Zitaten, die der Kompilator kommentiert, 3. Mosaiktraktate mit einem Eigenanteil des Kompilators, 4. Bearbeitungen längerer Textstücke, 5. Eigenproduktionen, die von Dicta oder Autoritätenzitaten ausgehen und/oder solche in die eigene Argumentation einbeziehen. Die Übergänge zwischen diesen Kategorien sind fließend und nicht 4 Hasebrink, Zersetzung (Anm. 1), S. 368 f. 5 Ebd., S. 367. 6 Vgl. jetzt die Einleitung zu diesem Band, S. 9 f. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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zuletzt von unserem heutigen Kenntnisstand bei der Identifizierung einzelner Textpassagen bestimmt. Bei den ersten beiden Kategorien finden sich zumeist kürzere Textstücke (weniger als eine Spalte), während sich unter den letzten drei Kategorien häufig Texte mit den textsortenspezifischen Merkmalen der Gattung Predigt finden,7 die sich über mehrere Blätter erstrecken. Mit dem ersten Stück der Sammlung, bei dem es sich um eine bearbeitete Form der Eckhartpredigt Et quaerebat videre Iesum (Pr. 100, DW IV,1)8 handelt, liegt uns der Fall eines Textes vor, der durch beständige Interpolationen er­ weitert wird. Zunächst folgt der Text der Eckhartpredigt Et quaerebat (SpaMo 1,2–9), unterbrochen von einem Einschub von einigen Zeilen aus einer anderen, bisher als unecht eingestuften Eckhartpredigt (Adolescens, tibi dico: surge, Pfeiffer Nr. 37)9 (Z. 10–13) und eines vom Kompilator hinzugefügten, fiktiven Pauluszitats, das sich auch in einer Predigt Johannes Frankos von Köln findet (Z. 13 f.). Anschließend wird die Eckhartpredigt Et quaerebat fortgesetzt, jedoch nach einer halben Spalte erneut durch einen Zusatz mit einem Bernhard zugeschriebenen Zitat unterbrochen (Z. 26–29). Betrachtet man den Inhalt der Einschübe, so stellt man fest, dass der Gedankengang der Predigt durch die Einschübe gestört, die Stringenz der Argumentation unterbrochen wird. Das heißt nicht, dass die Einschübe thematisch fehl am Platz wären – im Gegenteil: Betrachtet man den ersten Einschub, so sieht man, dass er an die unmittelbar vorangehende Stelle über den Gehorsam des Leibes anschließt: Der Leib will nicht, was die Seele will, doch Gott ist mit denen, deren Leib und Seele in der rechten Vereinigung leben. Im zweiten Fall der Interpolation ist das Bezugswort die gerunge (Z. 23). Zunächst folgt ein Spruch von der Begierde der Seele (Z. 24 f.), dann ein Bernhardzitat über die ernsthafte Begierde und die Demut, die die göttliche Gnade vermehren können (Z. 26–29). Geht man von diesen ersten beiden Interpolationen aus, erhält man tatsächlich den Eindruck eines Lemmakommentars. Von dieser Stelle an wird die Eckhartpredigt Et quaerebat nur noch zweimal zitiert, und zwar bis zu dem Punkt (Z. 45), an dem das Thema der gerunge bei Eckhart abgelöst wird von der Frage nach dem Wesen Gottes. Hier fährt der Kompilator mit selbst zusammen 7 Siehe hierzu zuletzt: Hans-Jochen Schiewer und Regina D. Schiewer, Predigt im Spätmittelalter, in: Textsorten und Textallianzen um 1500. Handbuch Teil  1: Alexander Schwarz, Franz Simmler und Claudia Wich-Reif (Hg.), Literarische und religiöse Textsorten und Textallianzen um 1500, Berlin 2009, S. 727–771; Regina D. Schiewer, Predigt, in: Ralf Klausnitzer [u. a.] (Hg.), De Gruyter Lexikon Literarische Gattungen (in Vorbereitung). 8 Meister Eckhart, Die deutschen und lateinischen Werke, hg. im Auftrag der Deutschen Forschungsgemeinschaft. 1. Abteilung: Die deutschen Werke [DW], Bd. I–III, V, hg. und übers. von Josef Quint, Stuttgart 1958–1976; Bd. IV,1, hg. und übers. von Georg Steer unter Mitarbeit von Wolfgang Klimanek und Freimut Löser, Stuttgart 2003; Bd.  IV, 2, Lfg. 1–2, hg. und übers. von Georg Steer unter Mitarbeit von Wolfgang Klimanek, Stuttgart 2003. 9 Deutsche Mystiker des vierzehnten Jahrhunderts, hg. von Franz Pfeiffer. Bd. 2: Meister Eckhart, Leipzig 1857 (Neudruck Aalen 1962). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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gestellten Zitaten über die Begierde der Seele nach Gott fort, und der Schlusssatz dieser Kompilation, einer neu entstandenen Predigt eigenen Rechts, macht deutlich, dass der Prediger diese Predigt unter das gedachte Thema ›Das Begehren Gottes in rechter Demut‹ gestellt hat: Nu bitte wir dez unsern herren, daz er unz gebe also lter begirde mit rechter demtikeit, daz er sich unz hie gebe und sich nie­ mer me von unz gescheyde. Amen. (Z. 55–57) Der Schlusssatz Eckharts dagegen – Daz wir alsus gerucket werden in ein lieht, daz got selber ist, und dar inne êwiclîche slic sîn, des helfe uns got (Pr. 100, DW IV,1, S. 278,60 f.) – zeigt, dass für ihn der erste Teil der Predigt über die Begierde der Seele, die das Fassungsvermögen der Seele für die Gnade Gottes beständig erweitern kann, nur die Voraussetzung für das Sehen Gottes ist. Von entscheidender Bedeutung sind für Eckhart hingegen die drei Fragen, die er im Anschluss stellt, die hier nicht überliefert werden und deren Beantwortung einen wesentlich höheren Abstraktionsgrad erreicht als der Abschnitt über die Begierde der Seele: Wer ist Jesus? Wo sieht man Gott? Was ist Gott? (Pr. 100, DW IV,1, S. 274,31 f.) Neben dieser Reécriture einer Eckhart-Predigt durch interpolierende Bearbeitung, die zu einer neuen Predigt führt, stehen – wie oben kurz angedeutet – Traktate, die ohne einen solchen eindeutigen Bezug auf einen einzelnen Text einen Gedankengang entwickeln, der fast vollständig durch Zitate aus verschiedensten Texten erarbeitet wird. Es gibt aber auch Traktate, die eine Eigenproduktion des Kompilators zu sein scheinen und weitgehend ohne wörtliche Übernahmen aus anderen Texten auskommen. Eine Reihe von Texten weist, wie der oben Beschriebene, Gattungsmerkmale der Textsorte Predigt auf. Daneben stehen zahlreiche unkommentierte Dicta und vor allem immer wieder Traktate (11), die mit der Formel Es ist eyne frage eingeleitet werden. Hierzu passt das Stichwort quaestio, und es bringt uns auf der Suche nach dem ›Sitz im Leben‹ der Sammlung zur disputatio. Weil unsere volkssprachige Handschrift nicht im Umkreis der universitären disputatio vorstellbar ist, möchte ich hier den Blick auf die scholae der dominikanischen Konvente, auf die Novizen- und Predigerausbildung der Dominikaner, lenken. Aufschluss über die disputationes in den dominikanischen scholae geben die Instructiones de officiis ordinis Humberts von Romans. Die für unsere Fragestellung entscheidenden Elemente der Instructiones sollen hier kurz skizziert werden:10 Während das Thema der meist wöchentlich stattfindenden disputationes vom Lektor gemeinsam mit den Studenten ausgewählt wurde, entschied der Novizenmeister, ob das Thema adäquat war. Er war derjenige, der die Studenten über die zu disputierende Frage informierte und sie auf die Werke hinwies, die sie zur Vorbereitung benötigten. Einer der Studenten wurde vom Novizenmeister ausgewählt, um seine Beant 10 Die folgende Zusammenfassung folgt weitgehend Michèle Mulchaheys aus Humbert geschöpfter Beschreibung der disputationes. M. Michèle Mulchahey, »First the Bow is Bent in Study …«. Dominican Education before 1350, Toronto 1998, S. 167–175. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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wortung der Frage vorzustellen, gleichzeitig musste der Novizenmeister dafür Sorge tragen, dass zumindest einige der Studenten in der Lage waren, eine andere Meinung zu vertreten. Diese Vorbereitung der disputationes in den Konventen könnte zusammen mit unserer Kenntnis der Schulung der Prediger, die nicht in die Welt entlassen wurden, ohne zuvor eine Reihe von Probepredigten vor den Mitbrüdern im Konvent gehalten zu haben, eine Antwort auf die Frage sein, wie man sich die Zusammenstellung der verschiedenen Textsorten bei ­Spamers Mosaiktraktaten zu erklären hat: Die Texte dienen der Selbstschulung und der Selbstbelehrung, sie stellen Materialsammlungen zu bestimmten Themen dar, andere wiederum könnten als Probetexte mit belehrendem, teilweise pastoralem Anspruch anzusehen sein. Alle diese Funktionen sind im Rahmen der bei Humbert beschriebenen disputationes denkbar. Für eine andere, weit bekanntere Sammlung hat Burkhard Hasebrink bereits vor längerer Zeit eine Verwendung im Rahmen der Ausbildung der Prediger­ brüder vermutet: Beim Paradisus anime intelligentis lässt sich im sprachlich stilistischen Bereich eine Reduzierung der Predigt auf den theologischen Gehalt beobachten, und zwar unter Tilgung der predigthaften Elemente. Hasebrink sieht im Bemühen des Paradisus-Redaktors den Versuch, ein deutsches Predigtbuch für Dominikaner zu schaffen: His efforts, I would suggest, are directed towards eliminating elements in the text which are aimed at the situation of preaching itself. The Paradisus collection reduces the texts recorded to their materia, thus creating a German-language sermon manual for ­Dominican preachers.11

2. ›Gelassenheit‹ in Spamers Traktaten Die Aussagen über die Funktion von Spamers Mosaiktraktaten sollen im Folgenden am Beispiel einiger Textabschnitte zum Thema ›Gelassenheit‹ verdeutlicht werden. Zu Beginn ist festzuhalten, dass uns das Wort gelâzenheit in keinem der Traktate begegnet; aus diesem Grunde finden alle Texte Berücksichtigung, in denen sich das Wort lâzen findet. Dies sind die im Anhang abgedruckten Texte, die von Spamer mit den Nummern 1, 12, 24, 48, 78 und 79 (von mir zusammengefasst) und 80 versehen wurden. Hinzu kommt Nr.  6, welcher als Spruch Nr.  29 von Franz Pfeiffer in seine Eckhart-Ausgabe aufgenommen wurde. Der Blick auf die 11 Burkhard Hasebrink, Studies on Redaction and Use of the Paradisus anime intelligen­ tis, in: Jacqueline Hamesse und Xavier Hermand (Hg.), De l’homélie au sermon. Histoire de la prédication médiévale. Actes du Colloque international de Louvain-la-Neuve (9–11 juillet 1992), Louvain-la-Neuve 1993, S. 143–158, hier S. 152. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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Texte, die sich mit dem ›Lassen‹ beschäftigen, kann nur ein erster Schritt hin zu einer Semantik der Gelassenheit in dieser Traktatsammlung sein. In einem weiteren Schritt müsste man den größeren Kontext betrachten, in dem Ausdrücke wie sîn selbes verzîhen (›sich verleugnen‹) oder evtl. auch das Abgeschiedensein zum Verständnis dessen beitragen könnten, was der Kompilator unter lâzen versteht.12

a) Das Lassen der äußeren Dinge In den Mosaiktraktaten begegnen uns verschiedene Stufen des Lassens. Die erste Stufe des Lassens ist das Lassen der äußeren Dinge, d. h. das Lassen der Welt und der Sinne, mit denen man die Welt wahrnimmt. Dieses Lassen wird am Anfang des umfangreichen Traktats 24 thematisiert, für dessen ersten Abschnitt (Z. 1–24) Spamer keine Parallelstellen nachweisen konnte. Hier findet sich folgendes Augustinuszitat: [19va] Sanctus Augustinus sprichet: »Nihtez niht ist, daz den menschen so wol fúget z den himelschenen dingen, so daz der mensch den uzzeren dingen unheinlich si und sine sinne do vor besliese und sich ir enziehe. Wann die uzzeren ding mac man niht gehan mit den inneren, noch die inneren mit den usseren. Und darumbe,« sprichet er, »rate ich daz, daz wir die uzzeren dinc lazent und unser sinne besliesent und unz indewendik ziehent, daz wir die geistelichen dinc innewendic ergrifen.«

Diese Augustinuszitat ließ sich von mir innerhalb der St. Georgener Predigten13 nachweisen. Es findet sich innerhalb einer brautmystischen Passage der Predigt Nr. 6 Scio hominem,14 in der der Prediger das Zitat verwendet, um deutlich zu machen, dass der Mensch seine mit der Seele verbundenen äußeren Sinne ganz vor der Welt verschließen und auf die Seele richten müsse, um so sein Gewissen prüfen und seine Gedanken ganz auf den Bräutigam der Seele, Gott selbst, konzentrieren zu können. In diesen Himmel der Seele solle ein geistlicher Mensch mindestens einmal täglich verzückt werden. Noch drei weitere Zitate in diesem Spamerschen Traktat zeugen von der Rezeption der St. Georgener Predigten,15 und auch der Inhalt des Traktats, der sich 12 Ich spreche von ›Abgeschiedensein‹, weil sich abegescheidenheit wie auch gelâzenheit im Text nicht findet. 13 Die Zählung folgt der Neuausgabe der St. Georgener Predigten: Die ›St. Georgener Predigten‹, hg. von Regina D. Schiewer und Kurt Otto Seidel, Berlin 2010. 14 Ebd., Pr. 6,77–82. 15 Eines der Zitate entstammt ebenfalls der St. Georgener Predigt Nr. 6 (Z. 75 f.) und geht dort dem oben abgedruckten Augustinuszitat direkt voran: »[22vb] Aber sprichet s. Bernhart: ›Allez din geistelich leben ist niht anderz, wan daz du z allen ziten flisekliche htest dinez herzen.‹« Beim zweiten Zitat (Z. 155–158) handelt es sich ebenfalls um ein Bernhard-Zitat, das auch in zwei St. Georgener Predigten (Pr. 11,65–68, und Pr. 19,77–80) erscheint. Das dritte Zitat (fol. 22ra) wird wiederum Augustinus zugeschrieben. Es findet sich noch ein weiteres Mal © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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mit dem Antagonismus von Körper und Seele, von äußeren Werken und Worten gegenüber dem vertrauten inneren Gespräch der Seele mit Gott beschäftigt, entspricht in seinen Grundzügen theologischen Gedankengängen, die zu den bestimmenden Themen der St. Georgener Predigten gehören. Ein weiterer Text, der das Lassen thematisiert, ist Traktat Nr. 6 von Spamers Mosaiktraktaten (Eckhart-Spruch Nr. 29 bei Pfeiffer). Hier heißt es: [5vb] Brder Eckart brediete und sprach: »Sancte Peter sprach: ›Wir hant allu dinc gelazen.‹ (Mt 19,27)« Do sprach sancte Jacob: »Wir hant allu dinc begeben.« Do sprach sancte Johannes: »Wir hant núz nut me.« Do sprach brder Eckehart: »Wanne hat man allú dinc gelasen? So man allez daz gelat, daz sin begrifen mac, und allez, daz man gesprachen mac, und allez, daz man gehren mac, und allez daz varwe gemachen mac. Und dan alrest hat man alle dinc gelazen. So man allú dinc also gelat, so wirt man drchkleret und uberkleret von der gotheit.« Und sprach do von: »Unzere vrowen, do sú ir liebez kint sach vor ir sizen alse ein kint und alse einen schonen iungelinc, jungelinc und minencligen herren, von der minenclichen angesiht wart sú lúter und reine, und ir herce und ir sele wart spilnde von freuden in irme libe. Der minenclicher gesiht underzoch sú sich underwilunt, durch daz ir herze und ir sele uberegienge mit der heilgen drivaltikeit.«16

Zwar findet sich der Vers vom Lohn der Nachfolge (Mt 19,27) tatsächlich in Eckharts Erfurter Reden,17 und zwar innerhalb des Abschnittes, der mit Von ungelâ­ zenen liuten, die vol eigens willen sint18 überschrieben ist, doch ist in unserem, dem Spamerschen Eckhart-Spruch, von eigenem Willen nicht die Rede, sondern es sind die im Augustinuszitat erwähnten äußeren Sinne, die angesprochen werden, der Tastsinn, die Sprache, das Hören und das Sehen. Doch während das Lassen der äußeren Dinge im Augustinuszitat die Versenkung in die inneren Dinge ermöglicht, die zu einer Begegnung der Seele mit Gott führen kann, scheint in dem Eckhart zugeschriebenen Spruch das Lassen der äußeren Dinge unmittelbar zu einer Verklärung mit und in das göttliche Wesen zu münden, so wie es auch das Beispiel Mariens zeigt, die irritierenderweise gerade durch die äußerliche Betrachtung ihres Kindes und Sohnes geläutert wird, so dass ihr Herz und ihre Seele sich mit dem dreieinigen Gott vereinigen können. Derselbe Spruch findet in den Mosaiktraktaten noch ein zweites Mal Verwendung, hier allerdings in einem längeren Textstück, das textsortenspezifische in den Mosaiktraktaten (fol. 32rb) und wiederum in zwei St. Georgener Predigten (Pr. 24,43–45 und Pr. 28,35–37). Von der intensiven Rezeption der St. Georgener Predigten durch den Kompilator von Spamers Mosaiktraktaten zeugen mindestens 14 Übernahmen von Autoritätenzitaten. Eine vollständige Auflistung findet sich im Vorwort der Neuedition der St. Georgener Predigten (vgl. Anm. 13). 16 Vgl. die Edition Pfeiffers (Anm. 9), S. 605,26–606,2 (nach der unikalen Überlieferung in St. Peter perg. 85). 17 Meister Eckhart, Werke II, hg. und komm. von Niklaus Largier, Frankfurt a. M. 1993 [EW], Traktat 2: Die rede der underscheidunge, S. 334–433. 18 Ebd., S. 338–341. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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Merkmale einer Predigt aufweist (SpaMo 80). Diese Predigt soll weiter unten noch nähere Berücksichtigung finden. In ihr wird der Spruch nicht Eckhart zu­ geschrieben. Bereits in der ersten Fassung des Spruchs führt die Verdreifachung der Aussage des Petrus: »wir haben alle Dinge gelassen« (Mt 19,27), durch die Wiederholungen im Mund der anderen beiden Jünger, des Johannes und des Jacobus, zu Irritationen, da die Wiederholungen im Gegensatz zur Aussage des Petrus unbiblisch sind.19 In der zweiten Fassung des Spruchs, in der die Autoritätenzuweisung zu Eckhart fehlt, lässt der Kompilator zusätzlich noch die Aussage des Petrus als Anrede an Jacobus erscheinen, so dass nun keine der drei Aussagen der Jünger mehr deckungsgleich mit dem Text des Evangeliums ist. In der zweiten Fassung des Spruchs fehlt darüber hinaus die der Aussage zur Verdeutlichung angefügte Passage über Mariens Vereinigung mit der Dreifaltigkeit und somit auch das Beispiel zur durch contemplatio erreichten unio. Der Spruch wird in Predigt SpaMo 80 als Überleitung zu einem Abschnitt benutzt, der sich mit dem Lassen von weltlichem Besitz beschäftigt. Das Lassen der äußeren Dinge wird hier nicht thematisiert, um einen Weg zur unio aufzuweisen, sondern es geht dem Prediger hier offensichtlich nur um die Besitzlosigkeit der Jünger. Der Name Meister Eckharts als Signalwort für eine weit komplexere Auseinandersetzung mit dem Lassen aller Dinge entspricht an dieser Stelle der Predigt nicht dem Konzept des Predigers und findet dementsprechend keine Erwähnung.

b) Das Lassen seiner selbst in der Nachfolge des Leidens Christi Wie dieser Meister Eckhart zugeschriebene Spruch bereits vermuten lässt, ist das Lassen aller Dinge für den Kompilator der Sammlung vor allem ein Ausdruck der tätigen, und ich möchte hier diesen Aspekt unterstreichen, der tätigen Nachfolge Christi. Der Kompilator versucht, sich der Thematik schrittweise zu nähern. Davon zeugt Traktat Nr.  78, in dem der Kompilator offenbar bemüht ist, sich einige Zitate zu erklären, die er zusammengestellt hat. Er geht dabei aus von Mt 16,24, der Aufforderung Jesu zur Nachfolge in Selbstverleugnung. 19 Den Kompilator könnte die inhaltliche Nähe anderer Evangeliumstexte zu dieser Zusammenstellung bewogen haben: 1. Die Berufung der Söhne des Zebedäus, also des Johannes und des Jacobus, thematisiert ebenfalls das Lassen, weil die Brüder im Augenblick ihrer Berufung sofort ihr Boot und ihren Vater zurücklassen und Jesus folgen (Mt 4,22). 2. Der zitierte Text vom Lohn der Nachfolge (Mt 19,27–30) steht inhaltlich der Bitte der Söhne des Zebedäus nahe, im Reich Gottes zur Rechten und zur Linken Jesu sitzen zu dürfen (Mc 10,35–40): Auch hier handelt es sich um die Nachfolge Christi, denn Jesus fragt die Zebedäiden, ob sie auch von dem Kelch trinken könnten, von dem er trinken müsse. 3. Hinzu kommt, dass es stets Petrus, Jacobus und Johannes sind, die Jesus in entscheidenden Augenblicken bei sich haben möchte, bei der Verklärung (Mt 17,1), bei der Auferweckung der Tochter des Jairus (Mc 5,37) und in Gethsemane (Mc 14,33). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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Kompilator: Unser herre Jesus Cristus spricht: »Wer komen wil z mir, der verlouken sin selbez und habe uf sin cruce und volge mir.« (Mt 16,24) Unser herre manet unz niht allein, daz wir lazent dise dotliche sterbende creature, sunder er heiset unz, daz wir unz unzer selbez verzihent, ob wir ime volgen wollent, und daz wir unz umb unz selben dragent in gotlich wesen, daz sich noch me unz bietende ist, dann wir an unz selben sint. Her umb so manet er unz, daz wir unz selben lasent. [62va] ›Schwester Katrei‹, Pfeiffer Tr. 6, S. 461,17–19: Hatte ich allez daz gt, daz got ie geschf, und liese ich daz allz durch got, ich hatte niht gelazen, wan ez waz min niht, ez waz gotez. Waz gt heisen mac, daz ist gotez. Kompilator: Herumbe sule wir unz selben lazen. ›Schwester Katrei‹, Pfeiffer Tr. 6, S. 461,21–23: Wan ich mich selben gelaze an allen den stuken, do ich mich selben vinden, so mac ich sprechen, daz ich gelazen habe. Kompilator: Wer sich selben lat, der mac ouch danne alle dinc lan. Han ich mich selben uberwunden, so han ich alle dinc uberwunden. Der mensche hat sich selben uberwunden, den kein creature mac uberwinden, daz sú in geneigen múge z ungeordenten liebe oder leide.

Mit diesem Kurztraktat geht der Kompilator nun einen Schritt weiter: Vom Lassen der äußeren Dinge, kommt er zum Lassen seiner selbst, zur Selbstüberwindung. Allerdings fehlt eine konkretere Beschreibung dessen, was es heißt, ›sich an allen Stücken zu lassen‹. Darf man vermuten, dass für einen dem Evangelischen Rat des Gehorsams verpflichteten Angehörigen eines beliebigen Ordens, die Erwähnung des ›sich selbst Lassens‹ unmittelbar die Aufgabe des eigenen Willens evoziert? Oder muss man doch zunächst an die Bereitschaft, körperliche und seelische Leiden zu ertragen, denken, wie es der unmittelbar folgende, von Spamer nur wegen seiner Lombarde abgetrennte Traktatteil Nr. 7920 nahelegt? Hier wird der Gläubige dazu aufgefordert, der Bereitschaft Christi nachzufolgen, Leid um Gottes Willen zu ertragen. Solange habe der Mensch sich nicht gänzlich gelassen, solange er Lieb und Leid habe: Also lange, daz ir liep und leit handt, so sint ir noch dann úwer selben niht abegegangen, noch hant úch selben niht gelazen. Ir sulnt dn, also Christus det, do er sprach: »Vater von himele, ich sie niht min pine an. Dein wil geschie und niht der mine.« (Mt 26,39)

c) Das Lassen des eigenen Willens Die Aufgabe des eigenen Willens wird in zwei Predigten thematisiert, von denen sich eine, Nr. 48, in Anschluss an Eph 5,1 mit der Nachfolge Christi beschäftigt, während die andere, die auch den oben erwähnten Eckhart zugeschriebenen Spruch verwendet, von Mt 5,3, der Seligpreisung der geistig Armen ausgeht. 20 Im Anhang, S. 197, SpaMo 78/79,16–24. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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Letztere folgt als Nr.  80 direkt auf die beiden eben vorgestellten Kurztraktate Nr. 78 und 79. Während die Predigt über die Nachfolge (SpaMo 48) bis auf einen Satz aus der Eckhartpredigt 53 (DW II) und ein Gregorius und Origines zu­ geschriebenes Autoritätenzitat, das sich noch in weiteren Mystikertexten findet, ein eigenständiges Stück des Kompilators zu sein scheint, greift die Predigt über die geistige Armut (SpaMo 80) an mindestens 13 Stellen auf 10 verschiedene Quellen zurück, von denen allerdings drei bereits in der eingangs behandelten Predigt über Zachäus zusammengearbeitet wurden. Die zitierten Texte reichen von einer Albertus Magnus zugeschriebenen Predigt und dem Traktat Von zweierlei Wegen Johannes Frankos, der allerdings auch unter dem Namen Eckharts überliefert wird, über zahlreiche bei Pfeiffer edierte, von der Eckhart-Philologie bisher als unecht eingestufte Predigten, Traktate und Sprüche – unter ihnen auch der Liber positionum –, bis zu der eben eingangs zitierten Predigt Eckharts Et quaerebat videre Iesum (Pr. 100, DW IV,1) über Zachäus. Das Verhältnis zwischen nachgewiesenen Quellen und vermutetem Eigenanteil ist bei dieser Spamerschen Predigt über die geistig Armen (SpaMo 80) weitgehend ausgewogen. Doch wenden wir uns zunächst der Predigt über Eph 5,1 (SpaMo 48), dem ersten Vers der Lectio zum 3. Sonntag in der Fastenzeit, zu. »Ir sulnt gote nochvolgen alze sine aller liebesten uzzerwelten kinder und slnt wonen in der minnen.« – So lautet die Übersetzung des Verses in unserem Traktat. Der Prediger versteht die Nachfolge als Annäherung und als Zeugnis von Gott, als Kerygma (Z. 3–9), und fügt hier das erste fremde Zitat ein, nämlich das Wort Eckharts über den Stein, der durch sein Wesen dasselbe kundtue, wie der Prediger mit Worten (Z. 7–9). In Predigt DW 53 allerdings verwendet Eckhart dieses Bild, um zu verdeutlichen, »dass alle Kreaturen, auch ein Stein, in ihren Werken Gott auszusprechen suchen und mit diesem Rufen wieder in ihren Ursprung, Gott, zurückzugelangen trachten«.21 Der Kompilator von Spamers Mosaik­traktaten dagegen spricht von Nachfolge und Annäherung. Er definiert Nachfolge, indem er sagt, Christi Leben, seine Menschheit und seine Worte müssten vom Gläubigen mit Leben erfüllt werden (Z. 13–15). Nun folgt das Zitat über die Nachfolge in Selbstverleugnung aus Mt 16,24, das der Kompilator auch als Ausgangspunkt für seinen Kurztraktat SpaMo 78/79 über die Nachfolge verwendet. Dieses Zitat scheint hier einer Predigt Heinrichs von Egwint zu entstammen, weil dort wie bei unserem Text ein gleichzeitig Gregorius und O ­ rigines zugeschriebenes Zitat folgt (Z. 19–23). Die Selbstverleugnung – es ist stets von sin selbez verzihen und nicht wie im Kurztraktat von sich selbez lâzen die Rede – wird nun als Aufgabe des eigenen Willens definiert: Man solle sich vom Stolz zur Demut kehren, von der Gier zur Verachtung aller irdischen Dingen und so seinen eigenen Willen aufgeben und Gottes Willen suchen (Z. 23–25). Der Prediger ermahnt die Gläubigen, sich mit Leib und Seele Gott zu überlassen, da man sich 21 Quint, DW II (Anm. 8), S. 527. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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nicht selbst überwinden könne (Z. 25–28). Gott selbst mache den Menschen bereit (Z. 28). Von besonderem Interesse ist sodann der folgende Abschnitt: Er scheint eine direkte Parallele zu den Beispielen zu sein, die Eckhart in den Erfur­ ter Reden für die ungelâzenen liute(n), die vol eigens willen sint gibt, und ähnelt darüber hinaus seinen Aussagen über die wâre pênitencie: Die menschen sprechent: ›eyâ, herre, ich wölte gerne, daz mir alsô wol mit gote wre und alsô vil andâht hte und vride mit gote, als ander liute hânt, und wölte, daz mir alsô wre oder ich alsô arm sî‹, oder: ›mir enwirt niemer reht, ich ensî denne dâ oder dâ und tuo sus oder sô, ich muoz in ellende sîn oder in einer klûsen oder in einem klôster.‹ In der wârheit, diz bist dû allez selber und anders niht zemâle. Ez ist eigener wille, aleine enweist dû es niht oder endünket dich es niht: niemer enstât ein unvride in dir ûf, ez enkome von eigenem willen, man merke ez oder man enmerke ez niht. Swaz wir daz meinen, daz der mensche disiu dinc sol vliehen und jeniu sol suochen – daz sint die stete und die liute und die wîse oder diu menige oder diu werk –, daz enist niht schult, daz dich diu wîse oder diu dinc hindernt: dû bist ez in den dingen selber, daz dich hindert, wan dû heltest dich unordenlîche in den dingen. Dar umbe hebe an dir selber an ze dem êrsten und lâz dich.22

In Abschnitt 16 der Erfurter Reden heißt es von der wâren pênitencie und sligem lebene: Vil liute dünket, daz sie grôziu werk süln tuon von ûzern dingen, als vasten, barvuoz gân und ander dinc des glîche, daz pênitencie heizet. Wâriu und diu aller beste pênitencie ist, dâ mite man grzlîche und ûf daz hhste bezzert, daz ist: daz der mensche habe ein grôz und volkomen abekêren von allem dem, daz niht zemâle got und götlich ist an im und an allen crêatûren, und habe ein grôz und ein volkomen und ein ganz zuokêren ze sînem lieben gote in einer unbewegelîchen minne alsô, daz sîn andâht und gelust grôz ze im sî.23

Die fragliche Passage in Nr. 48 von Spamers Mosaiktraktaten liest sich wie eine Synthese beider Abschnitte: Ein sehr bildhaftes Beispiel für die falsche pênitencie und eines für die falsche, nicht von innen kommende Armut werden vom Kompilator angeführt, um zu verdeutlichen, dass größte Selbstkasteiung und bitterste Armut nichts nützen, wenn der Gläubige nicht bereit ist, seinen eigenen Willen aufzugeben: Nu vindet man der lúte vil und sint mir zkomen, die halsperge drugent und in neiz wie vil hundert venien nament zwischen dag und naht und groze kestegunge daten irme libe. So sint mir etteliche z komen, die alz arm warent, daz sú sprachent: »Herre, so ich habe ein rokelin und ein mentelin und brot und wasser, do mit begnget mir.« Und so ich ez genote ansach, so vant ich liehte ein clein ungunstelin oder ein nidelin oder ein 22 EW II, 2: Die rede der underscheidunge, S. 338,16–32. 23 EW II, 2, S. 380,11–19. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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clin lustelin, do ez sinen eigin willen ufgesezet hate, daz ime lere noch wizer rat benemen mohte. Und der lúte kestegunge ahte ich niht vil.24

Die Gläubigen sollen stattdessen alle ihre Begierde auf Gott richten und ihren eigenen Willen in das Herz der Gottheit geben (Z. 36–39). Der Prediger erklärt im Folgenden mit Berufung auf Augustinus die Bedeutung des Geistes bei der Vereinigung der Seele mit Gott. In dieser Vereinigung verliere die Seele ihren eigenen Willen und sei ohne Willen in Gott und er in ihr (Z. 39–48). Der Prediger fügt die Bilder vom Wassertropfen im Wein, von der Untrennbarkeit von Licht und Tag und vom glühenden Eisen an, um die Untrennbarkeit der sich in Gott verlierenden Seele und Gottes selbst zu verdeutlichen (Z. 48–57). Nur aus einem solchen Willen heraus sollten die Gläubigen handeln, anders sei ihr Werk nichts wert (Z. 57–61). Bis zu diesem Punkt ist in der vorliegenden Predigt vom ›Lassen‹ nicht die Rede. Der Prediger hat bisher beschrieben, was Gott von den Menschen erwartet, nämlich Nachfolge und Selbstverleugnung durch Aufgabe des eigenen Willens, und auf welche Weise sie dies nicht erreichen können, nämlich durch Selbst­kasteiung und Bußübungen. Wie sich der Mensch selbst verleugnen soll, verdeutlicht der Prediger im letzten Abschnitt der Predigt, in dem er von Jesu Gebet im Garten Gethsemane vor seiner Gefangennahme berichtet, als er trotz der ihn erwartenden Leiden seinen Willen ganz in den Gottes gab. Christus habe seine Mutter, seine Freunde und seinen Besitz gelassen und schließlich auch seine Seele vom Leib trennen lassen und nicht an seinem eigenen Willen fest­gehalten. So solle auch der Mensch sich verleugnen und seinen eigenen Willen lassen (Z. 52–73). Im Ergebnis zeigt die Analyse mit aller Deutlichkeit, dass in dieser Predigt das Bestreben des Predigers, die Nachfolge Christi loszulösen von einem leidens­ mystischen Programm, ganz offenkundig wird. Imitatio Christi bedeutet für den Prediger nicht die Abtötung des Fleisches, sondern die Aufgabe des eigenen Willens. Hiermit lehnt sich die Lehre des Textes eng an die Abschnitte der Erfurter Re­ den an, in denen Eckhart das Lassen des eigenen Willens und seiner selbst als das Lassen aller Dinge bezeichnet (Erfurter Reden, Kap. 3, EW II, S. 340,14–16) und über die wâre pênitencie (Erfurter Reden, Kap. 16, EW II, S. 380,10–382,33) spricht. Die Predigt über Mt 5,3, über die Seligpreisung der geistlich Armen (SpaMo 80), soll hier nur kurz angeführt werden: Der erste Teil beschäftigt sich mit der Einheit dieser Armen des Geistes mit Gott: Sie haben nichts, sie wollen nichts und sie wirken nicht (Z. 2–6). Sie sind nur durch göttliche Gnade, und es gibt keinen Unterschied zwischen Gott und ihrer Seele (Z. 6–12). Diesen Menschen ist nichts lieb oder leid. Der Prediger führt als Beispiele Christus, Stephanus und Hiob an (Z. 17–35). Der Abschnitt aus Johannes Frankos Traktat Von zweierlei Wegen be 24 SpaMo 48,29–36. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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trifft den Reichtum des Geistes, der mit Gott eins geworden ist und deswegen weder der Kreatur noch der Tugenden bedarf, die jedoch durch den Reichtum des Geistes wesenhaft mit der Seele werden (Z. 47–62). Im weiteren Fortgang der Predigt führt der Prediger die Erzählungen vom reichen Jüngling (Mt 19, 16–26; Z. 69–73) und vom Scherflein der armen Witwe (Mc 12,41–44; Z. 96–103) an. Hier werden sowohl der zuvor erwähnte, Eckhart zugeschriebene Spruch Petri über das Lassen aller Dinge (Z. 83–89) als auch das in der Predigt über ­Zachäus (s. o.) vorgestellte Zitat über den Reichtum dessen, der über seinen Leib bestimmen kann (Z. 107–112), verarbeitet. Wenngleich der Prediger davon spricht, dass man alles das lassen müsse, was Gott nicht ist, um ihn in sich selbst und in Christus zu finden (Z. 80–82), so mündet die Predigt doch interessanterweise in ein ganz konkretes Verdammen weltlichen Gutes, das eigentlich einem ganz anderen thematischen Kontext entnommen ist, nämlich der Bedeutung des Gottvertrauens. Gottvertrauen bedeute das Lassen allen Gutes, und wer mehr habe, als ihm nötig sei – dies übernimmt der Prediger aus dem mystischen Dialogtraktat Schwester Katrei –, der werde an seinem Nächsten schuldig: »Ich ­spriche me: Wer fúr sich spart ein phenwert uber sich selben z dir zit, alz er ez notdurf­ tig were, und denket ›Ich darf ez morne‹, er ist ein morder vor gote.« (Z. 130–132) Mit dieser sehr pragmatischen Ermahnung zum Verzicht auf weltliches Gut und zum Vertrauen auf Gott endet die Predigt, die höchst anspruchsvoll mit einer Erläuterung der geistlich Armen als derer, die arm an Eigenwillen seien, und Johannes Frankos Ausführungen über den Reichtum des Geistes begonnen hatte. Wie lassen sich nun diese verschiedenartigen Texte, die sich auf je unterschiedliche Weise mit dem Lassen beschäftigen, zusammenführen? Zwei Aspekte sind hierfür entscheidend: a) Das in den verschiedenen Textsorten der Sammlung zutage tretende Stufenmodell für das Lassen (vgl. oben S. 176) und b) das mystagogische Interesse des Kompilators, das sich in seinen Predigten zeigt. a)  Das Stufenmodell: Die verschiedenen Formen des Lassens können be­ sonders gut anhand von Traktat Nr. 126 nachvollzogen werden, dessen Zugehörigkeit zu der ursprünglichen Sammlung bedauerlicherweise fraglich ist, da er in K1 nicht überliefert wird und sich auch in K2 auf einer gesonderten Lage mit Eckhart­predigten am Schluss der Handschrift befindet. Der Traktat findet sich (nach anderen Handschriften) gedruckt in den Editionen von Jostes (Nr.  34, S. 29,13–30,2) und Jundt (Nr. 15, S. 275 f.).25 Es handelt sich um ein kurzes Stück, das mit Mt 5,3 (»Selig sind die Armen im Geist«) eingeleitet wird und sich mit 25 Vgl. Franz Jostes, Meister Eckhart und seine Jünger: ungedruckte Texte zur Geschichte der deutschen Mystik, Freiburg (Schweiz) 1895. Auguste Jundt, Histoire du panthéisme populaire au moyen âge et au seizième siècle (suivie de piéces inédites concernant les Fréres du libre esprit, maître Eckhart, les libertins spirituels, etc.), Paris 1875. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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fünf Arten der Armut beschäftigt. Wie bereits bei den zuvor behandelten Traktaten erkennbar wurde, ist Armut das Resultat von Gelassenhaben. Die fünf in Traktat 126 aufgeführten Arten der Armut sind 1.  die teuflische Armut derer, die nichts haben, aber gerne mehr hätten, 2. die goldene Armut derer, die zwar über Gut verfügen, das Himmelreich aber verdienen, weil der Verlust des Gutes sie nicht schrecken würde, 3. die willige Armut derer, die wie die Apostel aus freiem Willen Besitz und Ehre, Verwandte und Freunde gelassen haben und deshalb mit den Aposteln am Jüngsten Tag urteilen dürfen, 4. die geistliche Armut derer, die zusätzlich sich aller guten Werke frei gemacht haben, so dass das ewige Wort in ihrer Seele wirken kann, und 5. die göttliche Armut derer, die nicht nur ihrer selbst ledig sind, sondern auch Gottes. Die drei in den oben behandelten Texten vertretenen Arten des Lassens entsprechen in diesem Traktat 126 weitgehend der goldenen und der willigen Armut. Allerdings wird in Traktat 126 die unterschiedliche Gewichtung der verschiedenen Arten der Armut stärker hervor­gehoben, als dies in den anderen Traktaten der Sammlung, die das Lassen thematisieren, der Fall ist. Es sind dieses die Arten der Armut, die für den Gläubigen erreichbar sind, für die der Seelsorger ihm auch konkrete Hilfestellungen geben kann, während die geistliche und die göttliche Armut einer weit größeren Abstraktion bedürfen. b) Die Art und Weise, wie das Stufenmodell in den Traktaten der Sammlung zutage tritt, gibt bereits Hinweise auf das mystagogische Bemühen des Kompi­ lators. Um dies noch näher zu belegen, möchte ich nochmals auf die Erfurter Reden zurückkommen, genauer auf den bereits oben erwähnten Abschnitt Von ungelâzenen liuten, die vil eigens willen sint: Auch wenn die Erfurter Reden in Spamers Traktaten, die das Lassen thematisieren, nicht wörtlich zitiert werden, finden sich doch inhaltliche Gemeinsamkeiten: Drei Worte des Matthäusevangeliums zitiert Eckhart am Schluss dieses Abschnittes: Mt 19,27 (»Sieh, Herr, wir haben alle Dinge gelassen«), Mt 5,3 (»Selig sind die Armen im Geist«) und Mt 16,24 (»Wer mir nachfolgen will, der verleugne sich selbst«). Genau diese drei Zitate sind es, um die sich die wichtigen Abschnitte der Mosaiktraktate, die sich mit dem Lassen beschäftigen, gruppieren. Das Paradoxon des Lassens Gottes um Gottes willen, wie es Eckhart in seiner Predigt Qui audit me (Pr. 12, DW I) formuliert, welches der Traktat Nr. 126 als die ›göttliche Armut‹ bezeichnet, wird in den Mosaiktraktaten wie in den Erfurter Reden nicht thematisiert. Der Kompilator scheint vielmehr bereits bei dem Lassen des Eigenwillens, was nun nicht mehr wie noch in den St. Georgener Predigten an den Gehorsam gegenüber den Oberen gebunden ist, an die Grenzen des Vermittelbaren zu stoßen. Zwar zeigen die beiden ausformulierten Predigten auch jeweils einen gewissen Grad an Abstraktion, wenn die Predigt über die Nachfolge etwa die Einheit des göttlichen Willens mit dem der Seele zu erklären sucht, gleichzeitig jedoch bemüht sich der Prediger auch um eine Komplexitätsreduktion. Wenn man dem Kompilator dieser Predigten eine mystagogisches Intention unterstellen möchte, so handelt es sich © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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um eine von ihm vermittelte, äußerst pragmatische Mystagogik: Er warnt vor leidensmystischen Praktiken und ermahnt zur Besitzlosigkeit – beides Themen, die im Laufe des 14. und 15. Jahrhunderts im Dominikanerorden immer wieder für Diskussion sorgten.

Fazit: Gelassenheit ist (k)eine Tugend Wie sich gezeigt hat, lässt sich am Thema der Gelassenheit sehr gut die Pro­ blematik beschreiben, vor die uns Spamers Mosaiktraktate heute stellen: Die verschiedenen Traktate können als gemeinsame Funktion nur die Selbstbelehrung und Vorbereitung ihres Kompilators auf die Laienseelsorge aufweisen. Vermutlich aufgrund einer in der schola zu disputierenden quaestio stellt sich der Kompilator Zitate und Texte zu einem Thema zusammen. Für seine Predigten jedoch verwendet er diese nur insofern, als sie ihm für Laien geeignet zu sein scheinen. Dies zeigt sich deutlich an Traktat 12, welcher von der göttlichen Natur der Seele handelt und das Wesen Gottes im Sinne einer negativen Theologie zu ergründen sucht. Die Predigten der Sammlung sind insgesamt mit einem größeren Eigen­ anteil des Kompilators gearbeitet als die  – zumeist kürzeren  – Textstücke, die keine Predigtmerkmale aufweisen. Im Hinblick auf die Frage, ob der Kompilator die Gelassenheit als Tugend ansieht oder nicht, heißt dies: Er weiß natürlich, dass die Gelassenheit keine Tugend ist (SpaMo 12,19–21): Niht alleine die welt, noch tgende haben – mer: Ich mz tgende lasen, sol ich got sehen sunder mittel. Niht also, daz ich túgende versmehe, mer daz die túgent weselich in mir werde, […]

Trotzdem sind es im Grunde Tugenden, die der Kompilator seinen Zuhörern ans Herz legt, um die rechte Gelassenheit zu erlangen: Demut in Selbstverleugnung und willige Armut. Die Predigten der Spamerschen Sammlung zeugen von dem Bemühen, dem Interesse von Laien, vielleicht auch von Frauen in dominikanischer Seelsorge, an mystischen Gedankengängen zu entsprechen und ihnen in ihrem Verlangen, sich Gott zu nähern, einen gangbaren Weg aufzuzeigen, der sich einerseits mit den Erfordernissen des gemeinschaftlichen Lebens in einem religiösen Konvent und andererseits mit den sozialen Erfordernissen im urbanen Raum vereinbaren ließ.*

* Die Ausarbeitung dieses Aufsatzes und des Textabdrucks erfolgte im Rahmen meiner Arbeit für das Forschungsprojekt ›Predigt im Kontext‹ an der Katholischen Universität Ingolstadt-Eichstätt, welches von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert wird. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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Textabdruck aus Karlsruhe, LB, St. Peter, perg. 85 Vorbemerkung Der vorliegende Textabdruck folgt der Handschrift Karlsruhe, LB, St. Peter, perg. 85. Zur leichteren Lesbarkeit wurden folgende Änderungen vorgenommen: – u/v und i/j werden nach Lautwert ausgeglichen. – Die verschiedenen s- und z-Formen werden durch die heute gebräuchlichen ersetzt. – Eindeutige Abkürzungen werden stillschweigend aufgelöst. Die Kürzungen - und - werden im Folgenden stets mit Jes- bzw. Crist- aufgelöst. Die ausgeschriebene Namensform Jesus findet sich in der Hs. nicht, während Cristus wiederholt ausgeschrieben wird. Nasalstrich für die Dativendung wird dem Gebrauch der Hs. entsprechend mit -en aufgelöst. – Es wird – soweit möglich – eine moderne Interpunktion eingefügt. – Satzanfänge und Eigennamen werden groß geschrieben. – Gestörter Text wird – wenn möglich unter Heranziehung von Parallelstellen (in der Handschrift, in der Schwesterhandschrift St. Peter, perg. 102 oder in anderen Texten) – gebessert, alle Besserungen sind im Apparat vermerkt. Der Apparat enthält neben den Angaben zu Eingriffen in den Text vor allem die von Spamer (Anm.  2) ermittelten Verweisstellen. In Einzelfällen wurden Verweisstellen hinzugefügt oder gestrichen, wenn es sich etwa lediglich um ähnliche Stellen oder die Angabe von Bibelstellen handelte, bei denen offensichtlich unterschiedliche Übersetzungen zugrunde lagen. Wo Spamer auf handschriftliche Parallelstellen verweist, die mir für eine Überprüfung noch nicht zugänglich waren, vermerke ich dies mit ›n. t.‹ (›non testatur‹). Folgende Textausgaben wurden für den Apparat herangezogen: Compilatio mystica R. Cadigan, The Compilatio mystica (Greith’s Traktat) in the Original: An Edition of MS. C 108b Zürich with Reference to Four Other Parallel Manuscripts, University of North Carolina at Chapel Hill 1973. DW I–IV Meister Eckhart, Die deutschen und lateinischen Werke, hg. im Auftrag der Deutschen Forschungsgemeinschaft. 1.  Abteilung: Die deutschen Werke [DW], Bd.  I–III, hg. und übers. von Josef Quint, Stuttgart 1958–1976; Bd. IV,1, hg. und übers. von Georg Steer unter Mitarbeit von Wolfgang Klimanek und Freimut Löser, Stuttgart 2003; Bd. IV, 2, Lfg. 1–2, hg. und übers. von Georg Steer unter Mitarbeit von Wolfgang Klimanek, Stuttgart 2003. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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EvE Germania 3 Greith

Pfeiffer Jostes Jundt

SG Spamer, Texte Tauler Wackernagel ZfdA 8

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Pseudo-Engelhart von Ebrach, Das Buch der Vollkommenheit, hg. von Karin Schneider, Berlin 2006. Franz Pfeiffer, Sprüche deutsche Mystiker, in: Germania. Vierteljahresschrift 3 (1858), S. 225–243. Carl Johann Greith, Die deutsche Mystik im Prediger-Orden (von 1250–1350) nach ihren Grundlehrern, Liedern und Lebensbildern aus handschriftlichen Quellen, Freiburg i. Br. 1861. Deutsche Mystiker des vierzehnten Jahrhunderts, hg. von Franz Pfeiffer. Bd. 2: Meister Eckhart, Leipzig 1857 (Neudruck Aalen 1962). Franz Jostes, Meister Eckhart und seine Jünger: ungedruckte Texte zur Geschichte der deutschen Mystik, Freiburg (Schweiz) 1895. Auguste Jundt, Histoire du panthéisme populaire au moyen âge et au seizième siècle (suivie de piéces inédites concernant les Fréres du libre esprit, maître Eckhart, les libertins spirituels, etc.), Paris 1875. ›Die St. Georgener Predigten‹, hg. von Regina D. Schiewer und Kurt Otto Seidel unter Mitarbeit von Simone Loleit und Eische Loose, Berlin 2010. Adolf Spamer, Texte aus der deutschen Mystik des 14. und 15. Jahrhunderts, Jena 1912. Baseler Taulerdruck, Adam Petri, 1522. Wilhelm Wackernagel, Altdeutsche Predigten und Gebete aus Handschriften, Basel 1876. Franz Pfeiffer, Predigten und Sprüche deutscher Mystiker, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und Literatur 8 (1851), S. 209–258.

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[1ra] Sancte Lucas schribet unz: »Do unser herre wandelte uf ertrich in minschlicher nature, do waz ein richer man, der begerte Jesum ze sehende. Do inmochte er sin vor der vili der schar niht gesehen, wan er klyn was.« (Lc 19,1–3) Eyn heilige sprichet: »Der ist eigenlich riche, der do gottes und dugenden vil hat. Der dis gtes vil hat und gottes ltzel, der ist arm und ist nihtes riche, wan alle dinc sint gegen gotte alse eyn nicht.« Dar uber spricht ein herre, den lobete sin gesinde an vil gewaltes und richtmes. Do sprach er: »Ir habent verswigen des aller grosten: daz ich geweltig waz, mime libe z gebietende, was ich wolte.« Dar uber sprichet unser herre: »Wo sich zwei besament in mime namen, do wil ich sin mit in.« (Mt 18,20) Das sult ir also verstan: Cristus meint sele und lip in einer rechter vereinge, daz der lip nt enwil, wan alse die sele wil. Wissent, mit den lten wil got sin. Do von sprichet sancte Paulus: »Unser gngede ist alleyne an gotte, daz wirdige diener wir sin.« (vgl. I Tim 4,10) Dir[1rb]re mensch, der Jesum gerte z sehende, der frlf die schare und klam uf ein bm, daz er Jesum mochte gesehen. Do sprach unser herre: »Snelliche kum herabe. Ich mz noch hte sin bi dir in dime huse.« (Lc 19,4–5) Wer Jesum sehen wil, der mz frlfen alle dinc. Waz meint, daz ein mensche niht s­ nelleche frloufet alle dinc? Daz meint, daz er gottes niht hat gesmaket. Hatte er gottes gesmecket, er frlffe snelle alle dinc – niht alleyne frlffe: er drbreche alle creature. Waz sin minne lezzen mocht, daz drbreche er. Daz wir got niht sehen mgen, daz meint kleyn der gerunge und mengi der creature. Wer hoher dinge gert, der ist hoch. Der got schouwen wil, der mz hoher gerunge sin. Er sprichet: »Sele, vrowe dich, d do kanst begeren grozer dinge, wan dar uber ist er komen, daz er dich erhohete.« Do von sprichet s. Bernhart: »Hastu etteliche gnade enphangen von gotte, so solt du doch me mten.« Aber sprichet er: »Ez ist enhein gewisser gezgunge der gottelichen gegenwerdikeit danne begirde inrere gnaden. Wan ez ist eigin aller [1va] gottelicher gegenwertikeit, daz sú lst bere in allen menschen.« Wissen, daz ernesthafte gerunge und verworfen demt wunder wirket dar noch, daz die gerunge groz ist und demtic verworfen in ime selber. Ie me der mensche in den grunt rehter demt gesenket were, ie me er gesenket wurde in den grunt gottelichez wesendez. Ich spriche, daz got vermag alle dinc, aber dez vermag er sich niht: daz er den menschen iht versage, der demtig und groser gerunge ist. Ich spriche daz uf mine sele, daz er ez niht vermag, wan waz ich got niht twinge, do gebristet mir entweder demt oder begerunge. Ich spriche, daz etteliche lte von girde also kne werdent, daz su dncket, daz su dr ein mr mohten brechten. Alz wir vinden von sancte Peter, do er unsern herren sach uf den staden, daz er von girde uf dem wasser hinegie. (vgl. Mt 14,28 f.) Ich spriche daz fr wor, daz sin girde sin nature mohte wandelin, daz er natur­ liche uf dem wasser hinegie. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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Nu sprichet David: »Herre, gip mir, daz ich din begeren mge.« Nu sprichet s. Augustinus: »Daz dinc, daz fullende wehset, daz wirt niemer [1vb] vol.« Alse der neme eyn vas, daz fuderich were, und eyn fder dar ingsse, wse ez do mitte, so inwerde ez doch niht vol. Alse ist ez uber die sele: Ie me si gert, ie me si erfullet wirt und ie me ir gerunge gewitert wirt. Nu sprichet David: »Herre, ich han mich erhaben von dem ertriche und hange an girden vor dinen gottlichen ougen.« (vgl. Ps 62,9) Dar uber sprichet s. Augustinus: »Herre, so spriche ich: ›Der mensch, der sich erhaben hat von dem ertriche und hanget an girde vor dinen gottelichen gen, daz din der mensche gewaltiger ist uf ertriche dan die engele in himelriche.‹« D sele heftet und henket sich mit der begirde uber sich an got und zhet den lip so vaste mit ir uber sin nature, daz er dorrende wirt alz ein ertriche, daz uber sich geworfen wirt an ein zun. Und denne mag der mensche sprechen mit Iobe: »Herre, min sele hat die henke erwelt.« (Iob 7,15) Als vil unz dú begirde hat dorret mit minnen iamer, als vil mgen wir in uns geziehen dez lebendigen brunnen gottelichez hongflussez. Nu bitte wir dez unsern herren, daz er unz gebe also lter begirde mit rechter demtikeit, daz er sich [2ra] unz hie gebe und sich niemer me von unz gescheyde. Amen.

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[6vb] Ez sprichet ein heidenischer meister, daz nature ob nature niht inmac. Dar uber enmac hie ob nature sich niht erhaben, wan got ob nature ist. So mac got niht bekant werden mit nature. Der uber sol ir got bekennen. Daz mz geschehen in eime lihte ob nature. Wir mogent dar z niht komen in disem libe, daz wir got erkennent. Sol wir got erkennen, wir msent naturlich erstorben sin. Sancte ­Augustinus sprichet: »Der ist tot, der der welte tot ist.« Sol wir got erkennen, unser leben mz sin ubernaturlich. Dar uber wel sele got erkennen wil, die mz zgan allez irz bekantnisse, wan der himelsche vater sprichet alle sine gotteliche nature [7ra] in die sele mit eime worte. Daz wort liget in der sele so verborchenlich, daz sú ez niht inweiz, noch bekennet, wan mit dem naturlichen oren der verstentnisse inwirt ez niemer gehret. Der ber mz die sele gesemnet sin und ufgezogen und ein geist sin noch gotte z bekennende. Sancte Augustinus sprichet: »Dú solt mit gelben werben noch gotte z bekennende und solt niht mit verstentnisse werben noch gelouben.« Her uf sprichet ein heidenischer meister in den bche, daz do heiset ein lieht der liehte: »Got ist berweselich, berredelich.« Wir kument dar z wol in diseme libe, daz wir got minnent sunder mittel. Got ist ein solich wesen, daz man mit niht baz erkennet dan mit ihte. Wie mit niehte? Daz man abelege allez mittel: Niht alleine die welt, noch tgende haben – mer: Ich mz tgende lasen, sol ich got sehen sunder mittel. Niht also, daz ich túgende versmehe, mer daz die túgent weselich in mir werde, daz ist ob der túgen[7rb]de sin. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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[19va] Sanctus Augustinus sprichet: »Nihtez niht ist, daz den menschen so wol fúget z den himelschenen dingen, so daz der mensche den uzzeren dingen unheinlich si und sine sinne do vor besliese und sich ir enziehe. Wann die uzzeren ding mac man niht gehan mit den inneren, noch die inneren mit den usseren. Und dar umbe«, sprichet er, »rate ich daz, daz wir die uzzeren dinc lazent und unser sinne besliesent und unz indewendik ziehent, daz wir die geistelichen dinc innewendic ergrifen.« Sanctus Augustinus sprichet: »Min herce mac in einer kurzen [19vb] stúnden me gottez willen getn mit inneren dingen dan alle dú welt einez ganzen jarez mit uzzeren dingen.« Hie von sprichet s. Bernhard: »Von der geistelichen búnge sol man niemer verre noch genzeliche sich verlazen uf die fleislichen, sunder man sol sich dez wen, daz man lichteliche von den úzeren dingen sich ziehen múge wider z den inren. Und so man sich den uzeren lihet underwilen dúrch notdurft ader durch bescheidenheit, daz man innen dez allezit den inneren anhafte.« Nu sint sumeliche lúte, die wirkent allez uzerlich ir werc und redent uzerlich wort. Waz si mit gotte sltent redent in der sele, daz redent sú mit den munde. Uzer werc und wort weiz der túfel wol. Dar umbe ist inre bunge gt, wan sich dú sele innewendic ufrihtet z gotte und ret mit gotte, wie heimelich sú wil, und got mit ir, wie heimelich er wil. Die sele mac wol dar z komen, daz ir got offenbart alle sine heimilicheit also verre, alsú ez begrifen mac. Hie von weiz der [20ra] túfel niht. Her umbe mac er sich niht der in gewerfen, noch inmac die lúte betriegen, diz sint gerehte lúte. Wissent, daz si múgent in eime ougenblicke dar z komen, daz sú got also bekennent, daz sú niemer betrogen werden múgen. Her umbe sol dú sele ingan, daz sú sich verliere in aller werclicheit. Daz oberste wesen der sele ist verlust ir selbez in allen gten werken, und der wec dar z ist ein liehtez underscheit súnderlicher gebresten und verliere allez underscheit und verflieze in der drier einikeit. Dú einikeit der drivaltikeit ist grúndeloz. Begrifet dú einukeit dú blozheit der sele, so sinket sú iemer me und findet niemer grunt. Eia, diz solte die sele sere scheiden von allen, den daz iht ist, wan wer uf ihte blibet, daz got niht ist, der enmac in dise einikeit niht enphangen werden. Dú einikeit ist súnder grúnt – mer: sú grúndet sich selben. Sú ist der grundelose diefe ein apgrunt und der endelosen hhe ein dach und der umbegrifen wite ein umberinc. Swenne dú blose sele mit [20rb] irre verstantnisse iht gottez enphahet, so bekennet sú sich selben, wan sú bekennet, wie sú z ime gefúget ist und wie sú z ime hret und wie sú beide ein einunge sint. Mohte sú vor der swerde irez lichamen, sú blibe stetecliche do. O edule sele, wie niht kleine din edelkeit und dine schone! Mirke, wie edel der ist, von den du geflossen bist, und inla dich niht smehe dinc verdrucken von diner wirdikeit! Behalt an dir luter und reine daz ingesigele dez gottlichen bildez! Wan got kome und in dir, aller schonestú, rwen © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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welle, daz er denhein fromede bilde in sú vinde gedrucket. Wan daz ist sicherliche war: Allez, daz got ie gemahte uf erden oder in himele, daz ist gottelichen ge niht also gelustlich anzsehende alse dú sele, do er daz bilder siner gottlichen gelichin unvermasiget vindet. Da von ist sin aller hheste wille und sin groste girde in ir z wonde mit sime zartlichen troste noch ir hohest wollust. Her umb sol dú sele wonen [20va] in ir selber, wan die warheit ist von innen und niht von usen. Her uf sprichet s. Ew9: »O herre, wie vil der ist, die uzzer in selben gangen sint z schende die warheit, die noch nie zu in selben wider inkamen.« Dar umbe hant sú die warheit niht funden, wan got ist der selen inreste inrekeit. Her umbe sol dú sele ingan. Eia, wie sere sú sich hinderent diz himelischen ingangez, die so lihteliche blibent uf lieplichen oder uf úserlichen dingen! Hie z mante s. ­Dyonisius einen sinen iunger: »Eia,« sprach er, »herre frúnt, wiltu komen in die kunzaft der verborgen heimelkeit gottez, so mústu úbergan allz, daz du begrifen maht mit verstentnisse.« Her uber hat got der sele verstentnisse entlútet mit den ubernaturlichen liehte sinez geistez, uf daz dú sele schwen múge sine gotteliche wunder. Wan ein edulú sele sol niemer gerwen, die wile sú einen trophen in gotte weiz, dez sú noch niht befunden hat. Wie sú ez [20vb] doch niht ergrúnden mac, so sol sú doch warten, die wile sú mag. Wan daz ist gottez wollust, daz dú sele den dingen nochspúr, die sú doch niht ergrunden mac. Mohte creature grunt rren in gotte oder vinden, daz wir ergrúnden mohten, daz got ist, so neme himelrich ende und wurde creature got natúrlich. Do von sprichet s. Dyonisius: »Wir súlnt got niht ansehen mit wenkenden ougen.« Wan got hat niht so verborgenz, daz der sele unmugelich si, dú so wise were, daz sú mit flize kúnde súchen. Hie von sprichet aber Dyonisius z eime sime iungerin, der hiez Timotheus, do sancte Paulus gedotet wart: »Eia,« sprach er, »herre frúnt, sule wir die lipliche stimme unserz meister niemer me gehorn?« Nu rate ich uns, frúnt miner, daz wir lasent alle lipliche dinc und gant z gotte. Daz múge wir niht getn wan mit blinden ougen und mit irrenden sinnen. Niht daz wir valsche sinne schent – mer, daz wir slen gan úber alle sinne und verstent[21ra]nisse in sine verborgen einkeit. Eia, wie edeliche mz der mensche leben, der hiez komen sol! Wie gar er mz gedotet werden an aller hande bewegelicheit! Hie von sprichet s. Johannes: »Selig sint die toten, die in gotte sterbent.« (Apc 14,13) Nu prfent, lieben frunt, wy gt ist in gotte sterben. Wir mgent frolich in gotte sterben, uf daz got in unz lebe und alle werc in unz wirke und wir der lidic sint. Wir msen doch sterben. Wissent, daz ist ein senfte dot. Ich spriche: »Wer niht z grunde tot ist, der mac die minneste heimmelicheit niht bekennen, die got sinen geminneten frúnden ie geoffenbarte.« Er stirbet niht wol lipliche, der vor niht dot ist geisteliche. Nu sprichet s. Gregorius: »Der ist dot, der der welte dot ist.« Nu prúfent selbe, wie ein dot sie, wie wenig in rúret allez, daz in der welte ist, den toten menschen, der an den libe dot ist. Also wenig sol ez ouch rren den werlichen toten menschen, der in gotte tot ist. Wan ein mensche dar z kmet, daz in kein dinc rúren mag, alrest [21rb] ruret ez got. Stirbet man dirre welte, © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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man stirbet gotte niht. Nu sprichet s. Paulus: »Wir sint tot, und unser leben ist verborgen in Cristo.« (Col 3,3) Dan ist der mensche in gotte tot, so allez, daz dot ist, daz mittel machen mac zwischen unz und gotte. Nu sprichet aber s. Paulus: »Ich lebe und lebe niht, sunder daz ich lebe, daz lebet Cristus in mir. (Gal 2,20) Ich, Paulus, lebe an menschelicher natúre, und ich inlebe niht alz ich ettewanne lebete – mer: got der lebet in mir.« Und dar umb von der ungelicheit, die s. Paulus hatte mit der welte, do sprach er: »Mir ist die welt gecrúciget, und ich bin der welt gecruciget.« (Gal 6,14) Nu gedenckent die lute: »Wie mac ieman lebende gecruciget werden?« Daz hore: Unser crúce daz ist gottez vorhte. Alse der an eime cruce hanget sine gelide noch sinen willen weder gestrecken noch gezien mac, also súle wir unsern willen und unzer begirde niht noch unseren willen, noch noch unserme gelúste han, sunder nach unzers herren willen. Und alz der sele an den crúce keine [21va] wollust ansiht dirre welte, noch keinez gtez begert und sich selben fúr tot ahtet, also mze wir allen weltlichen frouden sin gecrciget und msent unzer sinne richten uf daz ewige leben, dez wir alle stunden warten. Da von súle wir hten, daz wir daz iemer iht begern, daz wir uf hant gegeben. Nieman wirt behalten, daz er gtez lebendez beginnet. Wer gt leben halten mac biz an sin ende, der wirt behalten, und do von sprichet er: »Ich bin der welte gecrúciget. (Gal 6,14) Wan alse wenig sú min ahtet, alz wenig und noch minre ahte ich ir, wan ich aller dinge niht mer enahte dan einz fulen mistez. « (Phil 3,8) Eia, nu mirke, wie daz liht der gnaden entfromedet den menschen aller eiginschaft, daz er ein unlust gewinnet aller uzzerlicher dinge. Ich bin dez sicher: Und wúrde mir ein trophe gottelicher gnaden, daz ich iemer me ein unlust hatte z uzzerlicheme lebende und ein senunge z sinde bi den, daz ich gesmac[21vb]ket hatte, alse s. Augustinus sprichet: »Got ist ein gt, so úberflúzig gt, wer dez befindet oder gesmacket, der kan uf niht anderz niemer me geruwen.« Alse s. Augustinus aber sprichet: »Herre, nimestu unz dich, so gip unz ein ander dich, daz wir gan von dir z dir, oder wir geruwent niemer, wan wir wellen anderz nieman dan dich.« Nu sprichet s. Augustinus aber: »Waz got gegeben oder geloben mohte, dez begnget mich niht.« Und sprichet: »Herre, du hast mir allez gt gelobet, ob ich dich minne. Nu gip dich alleine mir, so ist iz gng.« War umb, wenent ir, daz gte lúte so gerne sterbent, wan uber daz, daz sú enphunden hant? Her umb ist ouch, daz weltliche lúte so gerne leben, wan sú irn trost hie hant an disen zrganclichen dingen. Wan gat ist ein berfliezender hort aller selde und daz houbetgt der sele. Und diese uzerlichen ding daz ist der zbz. Den nimet dú welt, und lat sú daz houbetgt. Alse ein vrowe, die hatte ein torehten sún, dú sante in z merkete noch oleige und sprach: [22ra] »Du salt dir heisen zgen.« Und du er diz oley koufte, do maz ime die vrowe so wol, daz der krúg fol wart. Do sprach er: »Vrowe, ir súlnt mir zgen.« Sú sprach: »Nu gebe ich dir gerne. War in wiltu ez den dn? Din krug ist doch vol.« Er sprach úber ein: »Ir súlnt mir zgen. Min mter schiltet mich anderz.« Sú sprach: »Nu gebe ich dir gerne. War in wiltu ez danne?« Do sach er an © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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den fze dez krgez, daz er undenan hol waz, und er kerte den krg umbe und sprach: »Gent mirz her in.« Also verschúte wir dicke daz houbetgt drch der zgabe willen. Daz ist, daz wir vergessent unsere ewigen selikeit von diseme aneschine dirre sterbenden creature. Also sancte Augustinus sprichet: »Alle die creature, die got ie geschúf, daz ist niht anderz dan ein winken, do mit er unz z ime locken wil, daz wir in dar an erkennet und wider z ime kerent.« Wan waz got ie geworhte, daz ist niht anderz dan ein zeichen und ein bilde ewigez lebendez. Nu kere wir wider z unser rede, wie unz s. Augustinus manet, [22rb] daz wir den uzeren dingen unheinlich sin. Her umb sol die sele ingan. Eia, gten kint, wez fragent ir uzwendic úch selber und schent got in fromeden landen totlicher creature? Da vindet ir niht. Si lukent alle und wisent úch fúr und sprechent: »Wir sint got niht.« Do von sprichet s. Augustinus. »Habe dich uf uber dich selber in ewige dinc. Do vindestu got.« Fromeder lande ist, daz unz der mt ge­fromedet si und gezogen si von alle wollust dirre welte und geinniget si in daz abgrúnde der gottheite. Der in sime huse ellende kan sin, daz ist gt. Nu sprichet unser herre: »Selig sint die armen, daz himelrich ist ir.« (Mt 5,3) Der ist núzeliche arm, der sich selben arm kan machen aller dinge, die got niht sint. Wez fraget ir uzwendig úch selber? Der heiset alleine volkomen, der nihtez niht schet uz sinen wesende. Waz man von volkomenheit sprechen mac, dar z mac man ouch komen. Waz schent ir uzwendig úch selber, [22va] sit got soliche richeit in den adel unser sele gephlanzet hat, daz daz lieht siner gotteit in der lúchekeit miner sele schinende ist und daz wort der drivaltikeit in miner verstentnisse sprechende ist und daz in miner innewendikeit daz leben siner ewikeit ane underlaz wirkende ist? Ach, waz meinet danne, daz wir so rehte wenic wissent do von und wir sin so rehte selten gewar werdent? Ez ist dez schult, daz wir unz also abegescheiden nit enhant und so luter niht enhalten. Also unz z horte und daz wir unz selbe also rehte fromede sint und niht inahten der infelle creaturlicher bilde. Sancte Ansheilm sprichet: »Ich wil in mich selben gan und wil alle dinc huse besliesen ane mic in. Und da wil ich fúr ingiesen mine sele und allez, daz ich in mir weiz.« Nu sprichet s. Bernhart: »Wiltu gotte heimelich sin, so saltu gerne mit dime herzen heimelich gotte sin und gerne eine sin und alle dinc von dime herzen scheiden wan got alleine. [22vb] Wie rehte núze daz ist,« sprichet er, »daz hat min herze dicke wol befunden.« Aber sprichet s. Bernhart: »Allez din geistelich leben ist niht anderz, wan daz du z allen ziten flisekliche htest dinez herzen.« Wan got wil daz herze alleine han. Alse vil du dinez herzen zúhest von gotte, alse vil zúhet er sich von dir mit siner gottelicher gnaden, wan unser herre sprichet in den wizsagen: »Wez herze gedeilet ist, der ist verdorben in ime selben an ewiger warheit.« Wan got wil alleine geminnet werden von sin aller liebesten. Her umbe sal die sele ingan, daz si sich verliere in aller werkelicher. Wan daz sprichet ein meister, daz ein kuneg niht vil enahtet uf die knehte, die ime wirkent nider werc – mer: er ahtet der, die do sint in siner heinmelichen kamern und dt den © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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alzmale iren willen. Alsuz tt got mit sin uzerwelten frúnden, die do sint in siner verborgen heinmelicheit. Den verseit got denhein bette. Her umbe sol die sele gerne wonen in ir selber. [23ra] Denhein werc ist so vollekomen, ez enhinder die inrekeit. Ein mensche mac mit inrere inrekeit messe hren, dan messe sprechen. Der priester mohte so grose inrekeit haben an der messe, er dete daz schedelich were, da mit er daz versumete, daz er dn solte. Ich sage dir frwar, daz enwirt creature niemer, daz in gropheit der bilde oder der wercke dú sele habe ein alze einvaltige anstar also, so sú lidic stat allez tndez von uzen, daz erwirbet sú niemer. Aber daz sol sú haben, daz si vernúnfteliche ansehe ein iegelich werc von ussen, daz ez stande in gelicheit der warheit, waz der uztreit, daz man daz bi blicke erkenne. Dar inne erwirbet man genedeclichen fliz.

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Sanctus Paulus schribet [50ra] in der lezen: »Ir sulnt gote nochvolgen alze sine aller liebesten uzzerwelten kinder und slnt wonen in der minnen.« (Eph 5,1) Dar an lit unser ewic selikeit, daz wir gote nochfolgent. Und hatte ez unz sancte Paulus niht gemanet, ez bewiset unz alle creature: Der den vogel fregete, der do flúget in die lufte, warumbe er alzo hohe fluge, daz er niht hie nidene blibe, mohte er reden, er spreche: »Daz du ich dar umbe, daz ich mich nehe mime schopher.« Daz selbe nement von allen creaturen. Daz min mnt got offenbaret, daz selbe dt dez steinez wesen und verstet man an dem wesene me dan an den worten. Nu manet unz s. Paulus, daz wir gote nochvolgent. (Eph 5,1) Wissent, waz unz gebristet in der zit sinez lebenez, dar wir ime niht volgent uf daz aller hoheste: Sine edelen lebenne, und siner edeln menscheit und sinen edelen sprchen  – daz mz unz ewelichen bresten. Welle wir du stat besizen dez ewigen lebennez, so mze wirz mit lebenne [50rb] erfullen, alz unz die wareit vor geleret hat, daz ist got selbe. Sanctus Paulus manet unz, daz wir gote nochfolgent. (Eph 5,1) Unser herre Jesus Cristus sezet die wise und sprichet: »Wer mir nochfolgin wil, der mz sin selbez verlouken und sol sin cruce uf sich nemen und alzuz sol er mir nochfolgen.« (Mt 16,24) Diz wort vernimet man in driger hande wise: Gregorius und Origenes sprechent: »Der mensche verzihet sich sin selbez, der sich von siner stolzheit keret in ganze demút und sich keret von gritikeit in versmechnisse aller irdenischer dinge und der sich uzer sinen eiginen willen keret und gotez willen fúrderlicher schet dan sin ewige selikeit.« Nu mant unz unzer herre, daz wir unz unzer selbez verzihet, ob wir ime volgen willent. Daz machet gote nochvolgende, daz man sich sin selbez verzihe und sinen eigin willen gote gebe. Ir wenent uch bereiten und uberreitent ch, wan ir múgent wer nature mit uch selben niht berwinden. Ir súlent uch mit libe und mit sele gote geben und súlent uch halten [50va] bloze creature, wan er weiz wol, wo ir unbereit sint. Er sol uch bereiten. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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Nu vindet man der lúte vil und sint mir zkomen, die halsperge drugent und in neiz wie vil hundert venien nament zwischen dag und naht und groze kestegunge daten irme libe. So sint mir etteliche z komen, die alz arm warent, daz sú sprachent: »Herre, so ich habe ein rokelin und ein mentelin und brot und wasser, do mit begnget mir.« Und so ich ez genote ansach, so vant ich liehte ein clein ungunstelin oder ein nidelin oder ein clin lustelin, do ez sinen eigin willen ufgesezet hate, daz ime lere noch wizer rat benemen mohte. Und der lúte kestegunge ahte ich niht vil. Ir mzent úwer begirde ziehen von anhaftegunge der creature und die rihte legen in got, in daz herze der gotheit. Kinder, kerent alle uwer begirde die rihte in got und gebent uwern eigin willen gote, in daz herze der gotheit. Sancte Augustinus sprichet: »Alz edel ist der geist der sele, daz zwischen gote und den geiste kein mit[50vb]tel enist, und alz edel, daz der sele weselicheit niht begrifen mac den got.« Wan got ist der selen naher, dan su ir selbes libe si, und ist der selen gegenwortiger, dan dú sele ir selben sú, und ist der selen naher, dan ir wesen si, und ist der selen naher dan sú ir selbez libe si, wan got ist eime iege­ lichen dinge innewendelicher, dan kein dinc ime selbe si. ›Geist‹ heiset si noch der obersten craft, so sú sich vereinet mit gote one mittel. ›Sele‹ heiset sú noch der vereinunge dez libez, wan dan du sele die scherphe irez geistez ufkeret in got sunder mittel, so verlret sú sich und iren eigin willen an allen creaturen und ist one willen in ime und er ist ane willen in der zit in ir. Wan er wil niht, wan daz sú wil, und sú enmac niht wellen, wan daz er wil, alz der einen wasserez trophen dete in vil winez und der luf und daz lieht ein ist und alz daz isin und daz fúr ein wirt. Und alz unmugelich daz ist, daz den trophen wassers ieman gesunderen muge von den wine, [51ra] wan er verluret sin eiginschaft und blibet doch wasser, und den luft und daz liht nieman gesundern inmac, do insi ein vollekomen dac, und alz daz isin in den fúr verluret isinz varwe und ist den fúr gelich und brinnet alz daz fúr, alz unmúgelich ist, daz man dise dinc gesundern múge. »Alz unmugelich ist,« sprichet ein heilge, »daz dú sele, die alsuz ir selber benomen ist, ieman gescheiden múge von gote.« Nu, seligen kint, uz eime solichen willen sulent ir wirken. Ich ahte uwer werc niht vil, di wile uwer wille gekeret ist von gote. So ir alz úweren willen gote gebent, so múgent ir danne wirken. Und mir were ein einig gedanc uber mich von einen menschen, der in eime solichen willen gienge, lieber danne allez, daz alle menschen gewirken múgen. ­ ristus Nu spricht got: »Du mst dich dinz selbez verziehen.« (Mt 16,24) Do C an den abende noch den nahtmasse gienc an sin gebet, do hp er sine hende gegen dem himele und sprach: »Vater, ich bite dich, múge ez sin, daz du [51rb] mich diz schemelichen dodez úberhabest.« (vgl. Mt 26,39) Und in den, do ­Cristus alz bettete, do erbeiteten die gedenke der sele Cristus also sere und gedahten, wie man in vahen solte und verspigen und geselin und cronen solte und wie lester­ liche er sterben solte an dem cruce. Und die fchtikeit, die von nature luter brunne solte sin, so dú lute swizent, die wart gewandelt an ime in bltez varve. Und doch sprach er: »Vater, din wille werde und niht der mine.« (Mt 26,39) E © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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wolte Cristus sine liebe mter lazen und alle sine frnt und allez sin gt, dez er doch wenig hatte, und sine zarte sele scheiden von sime libe an den cruce, e er sin willen iht behbe. Nu sprichet got: »Du mst dich dinz selbez verzihen und mst din egin willen lazen.« (vgl. Mt 16,24 f.) E er an eime egin willen funden wurde, so wolte Cristus e sin durez leben lazen. Allz, daz unzer herre Jesus Cristus ie gedet, daz det er dar umb, daz er mit unz were und wir mit ime wurdent. Dar umbe ist got mensche worden. Wan so du allez sin leben be[51va]trahtest mit dinen gedenken in diner andaht, so invindestu nirgen, daz got ime selber an denheinen dingen ie gewere núwen dúrch dez menschen selikeit. Wan got ist aller unser selikeit so fro, alz ob er alle sine selikeit von unz hatte. Her umb ist, so got dinest von unz vordert und unz wolt tt, daz er ez unz danne allez z nze wider kere. Diz ist sin sin, daz unz vollecomenliche wol von ime geschehe, wan anderz bedarf er unsere minne, noch unser dienestez niht, nuwen daz wir siner gnaden hie und ewiger hoher selikeit dort vil enphahen mugen. Dar umb sule wir unzern willen gote geben, alz sancte Paulus sprichet: »Ich lebe iezunt niht, sunder daz ich lebe, daz lebet der heilige Crist in mir. Ich han daz leben minz eigin willen hie gelebet, daz ich in den lebenne der gnaden muge leben.« (Gal 2,20) Sancte Augustinus sprichet: »O herre, wie súze min geist ist worden, daz ich darbe der welte szukeit, und daz mir waz ein forhte z verliesene, daz ist mir nu ein frude z la[51vb] senne. O herre, dú werfe se uz von mir und gienge dú in fúr si und wurde mir ein súze uber alle susukeit und wurde mir ein liht ob allen liehte und ein frude ob allen fruden und mir begnde missevallen, waz man in der welte tt fúr dine susekeit und dine heinmelicheit.« Hie sol die sele den aller ersten trit, den sú uz ir selber tt, treten die rihte in got. Und daz mz sin, daz sú one eiginschaft ir selbez si in gotez wise. Gelobet si der name unserz herren Jesu Cristi. Amen.

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[62rb] Unser herre Jesus Cristus spricht: »Wer komen wil z mir, der verlouken sin selbez und habe uf sin cruce und volge mir.« (Mt 16,24) Unser herre manet unz niht allein, daz wir lazent dise dotliche sterbende creature, sunder er heiset unz, daz wir unz unzer selbez verzihent, ob wir ime volgen wollent, und daz wir unz umb unz selben dragent in gotlich wesen, daz sich noch me unz bietende ist, dann wir an unz selben sint. Her umb so manet er unz, daz wir unz selben lasent. [62va] Hatte ich allez daz gt, daz got ie geschf, und liese ich daz allz durch got, ich hatte niht gelazen, wan ez waz min niht, ez waz gotez. Waz gt heisen mac, daz ist gotez. Her umbe sule wir unz selben lazen. Wan ich mich selben gelaze an allen den stuken, do ich mich selben vinden, so mac ich sprechen, daz ich gelazen habe. Wer sich selben lat, der mac ouch danne alle dinc lan. Han ich mich selben uberwunden, so han ich alle dinc uberwunden. Der mensche hat sich sel© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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ben uberwunden, den kein creature mac uberwinden, daz sú in geneigen múge z ungeordenten liebe oder leide. Also lange, daz ir liep und leit handt, so sint ir noch danne úwer selben niht abegegangen, noch hant úch selben niht gelazen. Ir sulnt dn, alzo Cristus det, do er sprach: »Vater von himele, ich sie niht min pine an. Dein wil geschie und niht der mine.« (Mt 26,39) Mit der minne ist der mensche sin selbez abegegangen, der bereit ist, alle pine von minnen durch got z lidende. Der mensche hat friden, waz ime die lúte dnt, [62vb] wan er ist sin selbez niht. Dar umbe dunt sie ez ime niht, sú dnt ez gote. Her uf sprichet Cristus: »Die mir volgent, die wil ich bringen, do ich bin.« (vgl. Io 8,12) Nu bitten wir unsern herren, daz wir ime also gevolgent, daz wir eweliche mit ime blibent. Amen.

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[62vb] Cristus sprichet: »Selic sint die armen dez geistez, (Mt 5,5) die der geist an den baren bettelstap getriben hat.« Diese armen dez geistez daz sint die, die gote allez dinc gelasen hant, alse er sú hatte, do sú niht enwarent die armen dez ­geistez. Die gant uz in selben und allen creaturen. Sú inhaben niht, und sú enwent niht. Sú inwirkent niht. Sú ensint niht, wan daz sú sint von gnaden got mit gote. Dez selben wissent sú niht, und do von sprichet Cristus: »Selic sint die armen dez geistez.« (Mt 5,3) Diese armen dez geistez die sulent mit den vater gebruchen one underscheit. Der vater bekennet ime selben denhein underscheit zwischen ime und der sele wan also vil, daz er ez von nature hat und du sele von gnaden. Nu sprichet s. Paulus: »Wer alsuz in gote haftet mit [63ra] alleme sime wesenne, der wirt ein geist mit gote.« (I Cor 6,17) Dise seligen lute enphahent niht in den menschen, noch von den menschen, daz in beschiht, sunder alz von inen den menschen und den lúten endt nieman niht noch lp noch leit. Waz in geschiht z gte oder z bele, dar umbe lobent sú got, der ez in gegeben hat drch sine gte in der grozen minne, die er z in hat. Und dise lúte mugent sprechen: »Herre, alz ich sú nichtez enzihe, alz enzich dú mich nichtez.« Und daz lúte her z komen múgent in deseme lebenne, dez han wir urknde an unserme herren Jesu Cristo und an s. Stephan, die fr die lute batent und sú enzuldigetent su, die úbel datent mit disen worten: »Herre niht du disen bele, die mir bel dnt, wan sú en­ wissent, waz su dnt.« (Lc 23,34; Act 7,60) Alz ob sú sprechen: »Ich nime ez niht von menschen sunder von dir, herre got, in den menschen.« Diz han wir ouch urknde an den heilgen man Jobe, den got liez uffallen groz arbeit und ungemach an den gte und an den frúnden und an den libe, also [63rb] daz boze lúte kament und nament ime allez sin gt, und daz unge­ witere nam ime zehen schone kint, siben sne und drige dohtere, und die wurme asent ime sin lip, und die huzfrowe und die frunt, die in trosten soltent, die schultent in und sprochent ime schemeliche z, er mohte wol ein heimelich snder © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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sin ge­wesen, dar umb ime got alz vil vngemachez liez uffallen fúr ander lúte, und sin egin wip hiez in, daz er gote flchete. In allem sime widermte sprach er disu wort: »Unser herre hat ez gegeben, der hat ez ouch genomen.« (Iob 1,21) Er zech ez niht die lute, noch daz weter, noch die wurme, noch die dfele, noch die snde sin selbez, noch ander lúte, alz mange lute dunt, die do ungedultig sint. Er nam ez einvalticliche von gote in den creaturen. Also hatte erz gegeben oder ge­ nomen one creature, also solte ouch unser wille mit gote vereinet sin. Nu ist ez leider anderz: Wir sprechent wol mit den munde »Din wille werde« (Mt 6,10) und widerredent ez mit den herzen. Also got wil, daz wir [63va] arm sint oder versmahet oder ungemach habent an den libe oder dez unz die lúte ubel dunt, so enwelle wir ez niht. War umb ist aber daz? Daz ist dar umbe, daz unser wille ist niht vereiniht mit gotez willen, alz der engel und der heilgen wille ist. Wer aber unser wille vereint mit gotez willen in allen sachen und in allen dingen und in allen ziten, so koment unz alle dinc z gte, waz wir gedetent oder liesent oder liten an unz selben oder an ander lúten, ez si mit worten oder mit werken oder mit gedenken. Alz mohte wir danne sicherliche sprechen, alz wir in den paternoster sprechent und bittent: »Din wille der werde in der erden alz in den himele.« (Mt 6,10) Nu merke die richeit dez geistez, der alzuz ein geist mit gote worden ist. Ern wirt niht gericheset von allen dingen, ob er si ioch alle beslossen hatte in siner gewalt, wan alle dinc notdurftic sint. Her umb ist diz sin richz, daz er wone in eime wesenne uber notdurft der dinge, wan wer niht inhat, ouch nihtez ingert, er ist richer den der alle ding mit notdurft besessen hat. Wan s. Paulus sprichet: »Unser gengede ist allei[63vb]ne an gote, dez wirdige diener wir sint.« (vgl. I Tim 4,10) Och richent alle dugende den geist niht, wan von not mz dú sele alle dúgende haben, wan alle dúgende notdurftig sint. Her umb ist der geist von notdurfte niht richet. Mer alleine die fruht der dgende die richet den geist, wan daz hheste, do der geist z komen mac in desem leben, daz ist, daz er wone uber notdúrft der dúgende. Daz ist, daz alle dgende in der sele alz naturlich sint. Niht alleine daz sú dúgende be mit bewegenheit, mit werkelicheit – mer: daz alle dgende uz erlúhten un gebet mit fúrsihtikeit, rehte alz ob sú die dgent rehte selbe si. Dan alrest hat dú sele durchgangen und úbergangen alle dugende und ist komen z irme zil, dar su dú dúgent leitet, daz ist z ir selber, wan ir selber ist sú alle dugent und alle dúgent ist ir wesen worden. Unser herre sprichet: »Selic sint die armen. Daz himelrich ist ir.« (Mt 5,3) Der ist nzeliche arm, der sich selbe kan arm [64ra] machen aller dinge, die got niht sint. Solt ich fragen noch gter paffheit, so wolde ich fragen z Paris. Solte ich aber fragen noch gotlicher heimelicheit, so wolte ich gon z den aller ­armesten menschen, den ich iergen funde, der mit willen arm wer drch got. Den wolte ich fragen noch gotlicher heimlicheit. Man liset in den ewangelio, daz ein iungelinc fragete unsern herren umbe ein vollecomen leben. Dez antwurte ime unser herre und sprach: »Halt die zehen © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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gebot.« Der iungelinc sprach: »Herre, die han ich gehalten alle mine dage.« Unser herre sprach: »Wiltu vollecomen werden, o verkoufe allez, daz du hast und gip is den armen und volge mir noch.« (Mt 19,16–21) Wir múgent gerne lasen daz niderste umbe daz hoheste, wan diz mz sin, daz hat unser herre Jesus Cristus bewert mit den worte, daz er sprach z sinen iungeren: »Ich sol von uch scheiden, daz ist uch gt. Wissent, blibe ich bi uch, so wirt uch der heiligeist niht geben.« (Io 16,7) Wissent, die wile dú edel menscheit unsers herren [64rb] Jesu Cristi, dú mit der gotheit drchflossen waz, ein sumunge waz sinen geminneten iungern, so wissent, daz unz allez daz irret, daz creature heisen mac alsuz, alz wir in unz selben sehent. Wellen wir der worheit leben und welle wir, daz Cristus unser ­bilder si, so mze wir allez daz lasen, daz got niht enist. Diz vinden wir z allen ziten in unz selben und in Cristo. Do von sprichet s. Peter z sancte Jacobe: »Wir hant alle dinc gelazen.« (Mt 19,27) Do von sprichet s. Jacob: »Wir hant alle dinc begeben.« Do von sprichet s. Johannes: »Wir sint nihtez niht me.« Wanne hat man alle dinc gelazen? So man allez daz gelat, daz sin begrifen mac, und allez, daz man geschriben mac, und allez, daz man gehoren mac, und allez, daz man gemalen mac, und allez, daz varwe gemachen mac, und danne alrest hat man allez dinc gelazen. So man allú dinc also gelat, so wirt in an drchcleret und ubercleret von der gotheit. Nu ist frage, ob ez edelre si, daz man in habende geben mac oder in niht habende frilich lasen [64va] mac. Ez ist edelre, daz man lazen mac, dan daz man geben mac: Geben dreit me schinez, lazen luhtet uz me geistlicheit. Die heilgen gussent blt, wir sulnt reren blt. Do von sprichet s. Gregorius von den lúten, die niht vil hant z lone drch got. Nu sprichet er: »Alz du versmahen kanst, daz leit unser herre in dú woge, daz er dir der umbe lonen wil, so dú ez niht woltest han, ob du ez ioch haben mohtest.« Dez han wir urkunde in den ewangelio: Do die iuden einest opher brahtent z Ierusalem, do waz unser herre ouch do mit sine iungern. Und waz do groz opher: Einer opherte zehen marc, einer ahte marc und iegelicher, alz er danne wolte. Z iungest kom ein arme vrouwe, ein witewe, die opherte zehen helbelinge mith also grozen willen und begirden, daz unser herre sprach: »­Sehent, die vrowe hat me geophert danne alle die húte her kament.« Und sprach aber do: »Ir iegelich gap dez, dez er z vil hate. Aber dise vrowe gap allez, daz sú hatte. Do von ist ez grozer von ir dan von [64vb] inen.« (Mc 12,41–44) Und do von sprichet s. Bernhard: »Waz der riche mit den werken dt, daz dt der arme mit willen.« Wer ist riche? Der gnade hat und dgende und den got heimelich ist, der ist riche. Der diz gtez vil hat und gotez luzel, der ist arm und nihtez riche, wan alle dinc sint gegen gote alz ein niht. Ein herre waz so riche und so gewaltic, daz in sin gesinde lobete an vil richtmez und gewaltez. Do sprach er: »Ir hant verswigen dez aller grosten gewaltez: daz ich gewaltig waz, mime libe z gebietende, waz ich wolte.« Der lip sol sin ein kneht der sele, die sele ein dienerin dez geistez und der geist ein starer der gotheit. Dez geistez edelste werc ist ein luter bloz ancaffen dez obersten gtez, daz got ist. Her umbe sprach unser herre: »Wo © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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sich zwei besament in mime namen, do wil ich mit in sin.« (Mt 18,20) Daz sulnt ir also verstan: Cristus meinet sele und lip in einer rehten vereinunge, daz der lip niht enwil, wan alz du sele wil. Wissent, mit den lúten wil got sin. Nu sprichet unser herre: »Selic sint die armen, [65ra] daz himelrich ist ir.« (Mt 5,3) Nu sprichet s. Bernhard: »Got sprach niht slehtecliche: ›Selic sint die armen.‹ Er sprach: ›Selic sint die armez geistez sint.‹ Daz sint die seligen, die luter­lich durch got arm sint.« Nu sprichet aber s. Bernhard: »Mensch, du solt mit dime gte lip han arme lúte. Doch ist dir nzer und besser, daz du ez allez drch got lasest und daz dú selbe arm sist mit den armen.« Wie man ir nu leider wenic vinde, die friliche gedurret lazen alle dinc und gote vollecliche gedrúwen, so woren sú doch etwanne. Wer daz sprechen mac, daz er gotte gedruwe, der sol niht alz vil behalten úber naht ein phennewert gtez. Ich spriche me: Er sol nihtz niht behalten. Wer uber nac behaltet ein phenwert irdenschenz gtez vor sime ebencristen, den er ez notdurtig weiz, der ist ein rouber vor gote. Daz wil ich bewern mit Cristo, der also vil von minnen durch den menschen geliten hat, daz dú den, der noch Cristo gebildet ist, last gebresten haben, durch dez willen got alle dinc geschafen hat, daz dú ime sine nature crenkest und daz dú ime vorbehebest sinez vater gt, daz er z gote solte dragen. Ich spriche me: Wer fúr [65rb] sich spart ein phenwert uber sich selben z dir zit, alz er ez notdurftig were, und denket »Ich darf ez morne«, er ist ein morder vor gote. Daz wil ich uch bewern: Gedruwete er gote, so liez er sich z gote. Gebe ime got morne den dac, er gebe ime ouch dez er sin notdurftic wiste oder bekande. Do von spriche ich, daz mich dnket, daz wenic lúte si, die gote vollecomenliche gedruwent. Wissent, wer irdenischez gt gehaltet von sime ebencristen, do mit er got bekennen von minnen sol, der mac wol ein morder heisen. Daz bewer ich unz mit Cristo, do er sprach: »Ist daz ich erhaben werde, alle dinc wil ich noch mir zehen.« (Io 12,32) Do meinde er, ob er in unzerme herzen ain verstentnisse erhaben were, so wil er unz noch ime ziehe. Alsuz sol der gte mensche alle dinc uftragen z gote in ir ersten ursprunch. Diz bewert unz der meister, daz alle creaturen sint gemachet drch dez menschen willen. Diz prfent an allen creaturen, daz eine creature die ander nzet: daz rint daz graz, der visch daz wasser, die fogel die lft, daz [65va] dier den walt. Alsuz koment alle creature den gten menschen z nuze: Eine creature in der andern dreit ein gter mensche allez uf z gote. Gedruwete wir gote, er dete unz baz dan wirz selbe iemer georden kundent. Z dirre worheit helfe unz der vater und der sn und der heiligeist. Amen.

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1 2–9 Pr. 100, DW IV,1, S. 271,2–11 5–9 SpaMo 80,106–110 7–9 SpaMo 35, Bl. 38ra–rb 10–13 Pfeiffer Pr. 37, S. 128,25–28; SpaMo 35, Bl. 38ra; SpaMo 80,112–115 13 f. Johannes Franko von Köln, ZfdA 8, Nr. 8, S. 244,28 f.; SpaMo 80,51 f. 15–23 Pr. 100, DW IV,1, S. 271,12–272,20 25–29 SpaMo 111, Bl. 91vb 26–29 Basel, UB, Cod. B IX 15, Bl. 50ra (n. t.) 26 ist] ist eigin allir 29 f. Pr. 100, DW IV,1, S. 272,20 32–40 Pr. 100, DW IV,1, S. 273,21–274,27 32–35 SpaMo 33, Bl. 36ra 42–45 Pr. 100, DW IV,1, S. 274,27–30 (ohne Zuweisung an Augustinus) 43 wse: Konjunktiv von wassen (wahsen) 45–50 SpaMo 33, Bl. 36ra; SpaMo 22, Bl. 16va 51 ertriche] ertrite 51 f. alz ein ertriche … an ein zun: gestörter Text (»wie eine Scholle, die um­ gegraben auf einen Zaun geworfen wird«)

12 2–6.7–13 2.3–5 9–12 12 f. 15–17 18–22 18

SpaMo 37, Bl. 40vb; SpaMo 109, Bl. 87vb–88ra Pfeiffer Pr. 57, S. 182,37–40 Pr. 19, DW I, S. 312,3–8 SpaMo 106, Bl. 84rb; SpaMo 22, Bl. 16rb Pr. 80, DW III, S. 380,2–4; SpaMo 18, Bl. 10va Pfeiffer Pr. 57, S. 182,31–36 SpaMo 18, Bl. 11ra

24 2–8 16 24–28 24 f. 24 f. 25–27

SG 6,77–82 sumeliche] simeliche Berlin, SBB-PK, mgo 65, Bl. 103r; St. Gallen, StiftsB, 972a, S. 80–90 (n. t.) Z. 163 f. Z. 133 Pfeiffer Liber positionum 15, S. 636,21–23 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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Pfeiffer Tr. 13, S. 525,23–25.29–33 blibet] blidet Johannes Franko von Köln, ZfdA 8, Nr.  8, S.  250,24–29; SpaMo 81, Bl. 66vb–67ra; Basel Cod. B XI 10, Bl. 292r (n.t.) 34 SpaMo 19, Bl. 12rb 35 z ime] doppelt 50–54 Pfeiffer Tr. 11,2, S. 505,35–40; Johannes Franko von Köln, ZfdA 8, Nr. 8, S. 250,18–24; SpaMo 109, Bl. 89rb–va 54–59 SpaMo 35, Bl. 39rb; SpaMo 89, Bl. 72rb; SpaMo 109, Bl. 89va 56–59 SpaMo 19, Bl. 12ra–rb 58 sú] fehlt 59–61 Pfeiffer Liber positionum 103, S. 657,20–22; SpaMo 109, Bl. 89va–vb 61 f. SpaMo 35, Bl. 39ra; SpaMo 89, Bl. 72va; 72vb 62–64 Pfeiffer Tr. 11,2, S. 505,40–506,1; S. 510,15–17; SpaMo 109, Bl. 89va 64–70 Pfeiffer Tr. 11,2, S. 509,4–12; SpaMo 109, Bl. 88vb 65 er] doppelt 68 Niht] Nih 70–72 Pfeiffer Tr. 11,2, S. 508,37–40 75 Wissent] Wi∫∫e∫t 75–77 ›Schwester Katrei‹, Pfeiffer Tr. 6, S. 462,21–23 78–80 Pr. 45, DW II, S. 364,6–365,2 81 f. SpaMo 13, Bl. 7rb 83 f. SpaMo 16, Bl. 8va (verbreitetes Zitat, weitere Stellen vgl. Spamer, S. 47) 84 f. Pfeiffer Liber positionum 65, S. 648, 27–29 85 und] ind 90 vgl. u. Z. 101 96 frouden] fronden 100–106 SpaMo 109, Bl. 89ra–rb 100–102 SpaMo 84, Bl. 68rb 102 Pfeiffer Tr. 10, S. 494,16 f. 103–108 SpaMo 111, Bl. 91rb 108–111 Pr. 20a, DW I, S. 327,5–7 109 nimestu] minestu 111–113 SpaMo 37, Bl. 41rb–va 113–118 SpaMo 111, Bl. 91rb 116–118 SpaMo 31, Bl. 32va 119–126 SpaMo 21, Bl. 32vb 128–130 SG 24,43–45; SG 28,35 f.; Compilatio mystica, S. 157,21–158,4 (Greith, S. 131,32–36); SpaMo 21, Bl. 32rb 133 Z. 24 f.; 163 f. 133–137 Heinrich von Egwint, ZfdA 8, Nr. 5,1, S. 223,20–25 137–139 Nikolaus von Straßburg, Germania 3, Nr. 36, S. 242a,3–6 28–34 30 f. 34–37

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139 141 f. 142–144 144–152 155–158 158 f. 160–163 163 f. 164–168 169 169–172

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Jostes 73, S. 73,18 Jostes 73, S. 73,16 f.; SpaMo 80,64 f. Pfeiffer Liber positionum 35, S. 642,27–29; SpaMo 17, Bl. 9ra Johannes von Sterngassen, Wackernagel, Nr. 62,20–29; Tauler, Bl. 277rb, Z. 21–36 SG 11,65–68; SG 19,77–80; EvE 22,1 f. (mit weiteren Parallelen in: Ba­ sel, UB, B IX 15, Bl. 143vb; München, SB, Cgm 100, Bl. 124r; Cgm 486, Bl. 267r); SpaMo 38, Bl. 42ra SG 6,75 f.; SpaMo 75, Bl. 60va SpaMo 19, Bl. 12ra Z. 24 f.; 133 Pfeiffer Pr. 17, S. 77,34–38 enhinder] einhinder Jostes 73, S. 73,9–12

48 7–9 15 17–23 17 f. 19–23 21 23 f. 25–28 29 f. 41–44 47 f. 49 83 86–88 86 88–96

Pr. 53, DW II, S. 535,2–4 selbe] sebe Heinrich von Egwint, ZfdA 8, Nr. 5,4, S. 232,4–11 SpaMo 78/79,2 f.; SpaMo 112, Bl. 92rb Jundt 16, S. 278,12–17 ganze] gaze SpaMo 22, Bl. 16va SpaMo 83, Bl. 67va; SpaMo 110, Bl. 90va SpaMo 23, Bl. 17vb SpaMo 22, Bl. 16vb und ist one willen in ime] doppelt wellen] willen vollecomencliche] vollecomenliche SpaMo 26, Bl. 40va sunder] suds SpaMo 24, Bl. 37ra–rb

78/79 2 f. 8–10 10–12

Heinrich von Egwint, ZfdA 8, Nr. 5,4, S. 232,4–6; SpaMo 48,17 f.; SpaMo 112, Bl. 92rb ›Schwester Katrei‹, Pfeiffer Tr. 6, S. 461,17–19 A. a. O., S. 461,21–23 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

204 16 22 f.

Regina D. Schiewer

Beginn von SpaMo 79 Pfeiffer Tr. 15, S. 540,20 f.; Pfeiffer Tr. 14, S. 533,18 f.

80 Pfeiffer Tr. 14, S. 533,19–22; Pfeiffer Tr. 15, S. 539,9–12 Pfeiffer Tr. 14, S. 532,31 f. Pfeiffer Tr. 14, S. 533,14–18 Spamer, Texte 4, S. 114,23–25 SpaMo 26, Bl.  25vb-26ra; SpaMo 44, Bl.  47vb; SpaMo 109, Bl.  88va (auch außerhalb der Slg. in zahlreichen myst. Texten) 13 f. gestörter Text 20 f. enwissent] wissent 40 und] in 47–62 Johannes Fanko von Köln, ZfdA 8, Nr. 8, S. 244,22–245,4 50 ouch] doch 51 richer] riche 51 f. SpaMo 1,13 f. 64 f. SpaMo 24,141 f.; Jostes 73, S. 73,16 f. 65–79 Bischof Albrecht, ZfdA 8, Nr. 3,1, S. 215,29–216,15 65–67 SpaMo 88, Bl. 71ra 72 hast] haz 69–73 SpaMo 26, Bl. 26rb 73 f. Ebd. 79–82 Ebd. 80 worheit] woreihet 83–89 Pfeiffer Spr. 29, S. 605,26–33 = SpaMo 6, Bl. 5vb 89–93 Pfeiffer Liber positionum 32, S. 641,36–40 94 herre] hsrē 95 woge = wâge Waage 106–110 Pr. 100, DW IV,1, S. 271,5–11; SpaMo 1,5–9 111 f. Pfeiffer Liber positionum 162, S. 684,11 f.; SpaMo 35, Bl. 38rb 107–112 SpaMo 35, Bl. 38ra–rb 112–115 Pfeiffer Pr. 37, S. 128,25–28; SpaMo 1,10–13; SpaMo 35, Bl. 38ra 110–112 Berlin, SBB-PK, mgo 65, Bl. 81r 116–119 SpaMo 86, Bl. 69ra 119–121 SpaMo 26, Bl. 26rb 123–146 ›Schwester Katrei‹, Pfeiffer Tr. 6, S. 458,37–459,23 125 gtez] fehlt 140–145 SpaMo 30, Bl. 30vb–31ra 2–4 5 f. 7–10 10–12 11 f.

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Stephen Mossman (Manchester)

Zeitzeuge der Begriffswerdung ›Gelassenheit‹ bei Marquard von Lindau

Die deutschsprachigen Werke des Franziskaners Marquard von Lindau eignen sich in besonderer Weise für eine Fallstudie zur historischen Semantik des Wortfeldes um gelâzenheit. Unter den deutschsprachigen Schriftstellern geistlicher Literatur in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts, d. h. in der ersten Generation nach der Wirkungszeit Heinrich Seuses und Johannes Taulers, gilt Marquard unbestritten als die herausragende Figur. Die erstaunlich breite Über­lieferung seiner Werke sicherte ihnen einen bedeutsamen Einfluss bis ins frühe 16. Jahrhundert. Der philosophisch-theologische Inhalt seiner deutschen Predigtsammlung überschritt die ordensbedingten Grenzlinien, die sich im früheren 14. Jahrhundert etabliert hatten; und nicht zuletzt deswegen belegt er nun in den neuesten Studien einen wichtigen Platz in der Geschichte der sogenannten ›deutschen Mystik‹: Bernard McGinn zufolge war Marquard »the last great mystical preacher of the era.«1 Für die vorliegende Untersuchung ist es in dieser Hinsicht von besonderer Bedeutung, dass Marquard eine nachweisbare und sehr gründliche Kenntnis ausgerechnet jener Werke der früheren Tradition der ›deutschen Mystik‹ besaß, in denen sich die Semantisierung der Gelassenheit zeigte. Seine Stellungnahmen zu dieser Tradition sind in der Regel implizit ausgedrückt und werden erst durch einen detaillierten Vergleich ersichtlich, auch im Feld der Gelassenheit; doch lassen sie Marquard bezüglich deren Semantik zu einem wichtigen ›Zeitzeugen der Begriffswerdung‹ werden. Gerade die Tatsache, dass die Prägung der Wortfamilie bei Marquard im ausgehenden 14. Jahrhundert in deutlicher Auseinandersetzung mit einer lebendigen literarischen Tradition geschah, erschwert die Untersuchung der Semantik der Gelassenheit bei Marquard in erheblichem Maße. Die lexikalischen Neuschöpfungen der Wortfamilie hatten bereits stattgefunden, und die Erhärtung der neuen Semantik des Lassens in der Verwendung des Substantivs gelâzenheit war für ihn, im Gegensatz zu Seuse, Tauler oder Jan van Ruusbroec – sieht man vom einmaligen Beleg des Substantivs bei Eckhart in seinen Erfurter Reden ab –, 1 Bernard McGinn, The Presence of God: A History of Western Christian Mysticism, Bd. 4: The Harvest of Mysticism in Medieval Germany (1300–1500), New York 2005, S. 334. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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keine Aufgabe mehr. Wendet man sich der Frage zu, welche semantische Bedeutung gelâzenheit in den Werken Marquards zukommt, eröffnen sich gleich zwei Perspektiven: einerseits Marquards Verständnis früherer Werke, andererseits die Interpretation seiner Werke als eigenständige Zeugnisse der Semantik des Lassens. Es gilt also in erster Linie zu fragen, was Marquard selbst unter dem zu seiner Zeit schon relativ weit verbreiteten Wort gelâzenheit verstanden hat; und zweitens, wie die Wortfamilie in seinen eigenen Werken semantisiert ist. Diese beiden Fragen sind in systematischer Weise kaum getrennt zu beantworten, was den methodischen Ansatz erschwert. Man darf jedoch wohl davon ausgehen, dass Marquard zumindest das Wort gelâzenheit als Bezeichnung eines schon geprägten und klar umrissenen Begriffes verstanden hat. Den Beweis dafür liefert das Phänomen der Mischsprachigkeit in seinen lateinischen Schriften, d. h. das Vorkommen ver­einzelter deutscher Wörter bzw. Satzteile in lateinisch verfassten Texten.2 Einen bekannten Fall stellt die Benutzung des begrifflich verwandten Substantivs abegescheidenheit in Marquards De paupertate dar, seinem lateinischen Beitrag zur Armutsfrage. Im ersten Teil des Traktats unterscheidet er sechs Arten der Armut, und nennt als fünfte Art die innere Armut des Geistes. Nach einer kurzen Erläuterung stellt er die Frage, wie jene Art der Armut zu erkennen sei, und zählt drei Merkmale auf. Erstens, dass im Menschen alles Natürliche gestorben sei; zweitens, eine ernste nach innen und nach außen gerichtete Demut; und drittens, eine besondere Vorliebe für Schwermut, Leiden und Anfechtung. Nachdem er dann eine Alternative zum dritten Merkmal aufgeführt hat, fährt er mit der Erläuterung des ersten Merkmals fort und fügt hinzu, dass der Mensch in voller Abgeschiedenheit aller Kreaturen existieren sollte. Anstatt einer lateinischen Entsprechung verwendet er das deutsche Substantiv abegescheidenheit: Sed in quo vere cognoscitur hec paupertas? Dico, quod in tribus: 1º quod in homine mortuum sit omne, quod naturale est; 2º quod in homine sit seriosa humilitas ab intra et ab extra; 3º quod depressionem et passionem et tribulationem nulli cupiat tam bene sicut sibiipsi. Vel 3º, quod mens sit eleuata ad eternitatem; et pro 1º dic, quod debet stare in plena afghesceydenheit [abegescheidenheit Hs. W] aller creaturen.3

Die wiederholte Verwendung des Substantivs abegescheidenheit in De paupertate4 verweist auf Marquards Versuch, in ein lateinisches Werk einen Begriff einzu­ 2 Zum Phänomen der Mischsprachigkeit bei Marquard vgl. Nigel F. Palmer, Latein, Volkssprache, Mischsprache. Zum Sprachproblem bei Marquard von Lindau, mit einem Handschriftenverzeichnis der ›Dekalogerklärung‹ und des ›Auszugs der Kinder Israel‹, in: James Hogg (Hg.), Spätmittelalterliche geistliche Literatur in der Nationalsprache, Bd.  1, Salzburg 1983, S. 70–110, hier S. 94–99. 3 Josef Hartinger (Hg.), Der Traktat De paupertate von Marquard von Lindau, Würzburg 1965, S. 31,16–32,7. 4 Vgl. Marquard von Lindau, De paupertate (Anm. 3), S. 97,2; das Adjektiv abgescheiden auch S. 42,8. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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führen, dessen volle Bedeutung nur durch das deutsche Wort und nicht durch eine lateinische Entsprechung vermittelt werden konnte. Durch die Tatsache, dass das Substantiv abegescheidenheit (im Gegensatz zu gelâzenheit) ursprünglich aus dem Lateinischen abstrahiert wurde, wird noch deutlicher, dass die begriffsgeschichtliche Entwicklung von abegescheidenheit in der deutschen Sprache erfolgt war.5 Am oben angeführten Beispiel aus De paupertate ist weiterhin zu beobachten, dass man es hier teilweise mit einer Übernahme aus dem ano­nymen Traktat Meister Eckharts Wirtschaft zu tun hat.6 Dort wird die innere Armut des Geistes durch ein Gespräch zwischen einer Jungfrau und einem ›armen Menschen‹ folgendermaßen definiert: Si frâgete ›eyâ, liebez kint, sage mir: waz ist armuot des innern menschen?‹ Er sprach ›daz lît ouch an drin dingen. Daz ein ist ein vollekomen abescheiden von allen crêatûren, die ûzer got sint, in zît und in êwikeit. Daz ander ist ein ernsthaftiu dêmüetikeit des innern unde des ûzern menschen. Daz dritte ist ein flîzigiu innekeit und ein ûf erhaben gemüete in got âne underlâz.‹7

Nebenbei ist zu bemerken, dass in diesem Fall ein substantivierter Infinitiv (ein […] abescheiden), der auf einen fortlaufenden Vorgang hindeutet, aus einem deutschsprachigen Werk übernommen und durch die Benutzung eines Abstraktums (abegescheidenheit) konkretisiert wird, das auf einen bereits erreichten Zustand hindeutet  – dies alles selbstverständlich nur dann, wenn Marquard die Fassung von Meister Eckharts Wirtschaft gelesen hat, wie sie Franz Pfeiffer abdruckt. Eine wichtigere Feststellung ist jedoch die Tatsache, dass die Wortfamilie um abegescheidenheit in den Werken Marquards nur sehr selten verwendet wird. Zum Beispiel in der Dekalogerklärung, Marquards Hauptwerk in deutscher Sprache, befinden sich lediglich zwei Belege: einer von diesen in einer weiteren Bearbeitung der oben zitierten Passage aus Meister Eckharts Wirtschaft.8 In den deutschen Predigten, in denen die Mystik Marquards am stärksten und am aus 5 Zur Genese von abegescheidenheit siehe Erik A. Panzig, Gelâzenheit und abegescheidenheit. Eine Einführung in das theologische Denken des Meister Eckhart, Leipzig 2005, insbes. S. 102–114. 6 So schon Hartinger, Der Traktat De paupertate (Anm. 3), S. 32, Fußnote zu Z. 5, und ferner S.  107–108; eine nähere Untersuchung bietet Georg Steer, Der Armutsgedanke der deutschen Mystiker bei Marquard von Lindau, in: Franziskanische Studien 60 (1978), S. 289– 300, hier S. 292–295. 7 Meister Eckharts Wirtschaft, in: Deutsche Mystiker des vierzehnten Jahrhunderts, hg. von Franz Pfeiffer. Bd.  2: Meister Eckhart, Leipzig 1857 (Neudruck Aalen 1962), Spr.  70, S. 625–627, hier S. 626,4–10. 8 Jacobus Willem van Maren (Hg.), Marquard von Lindau. Die zehe Gebot (Straßburg 1516 und 1520). Ein katechetischer Traktat. Textausgabe mit Einleitung und sprachlichen Beobachtungen, Amsterdam 1980, S. 22b und S. 103b (C1-Fassung); ders. (Hg.), Marquard von Lindau, O. F. M. Das Buch der zehn Gebote (Venedig 1483). Textausgabe mit Einleitung und Glossar, Amsterdam 1984, S. 20,23–24 und S. 137,13 (C3-Fassung). Grundlage der Belegerstel© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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führlichsten zum Ausdruck gebracht wird, finden sich in über 300 eng gedruckten Seiten nur ungefähr ein Dutzend Belege: fast ausschließlich das Adjektiv abe­ gescheiden, um das von allem Kreatürlichen getrennte Sein Gottes oder seinen Namen zu bezeichnen.9 Mit der in den deutschen Werken viel häufiger belegten Wortfamilie um gelâ­ zenheit verhält es sich ähnlich. Im Falle des unikal überlieferten und bisher unedierten Traktates De paradiso spirituali wird das Adjektiv gelâzen als Bestandteil eines kurzen Satzes in einen lateinisch verfassten Traktat eingeschoben. Gegen Ende des Werkes bespricht Marquard die notwendige Ehrfurcht vor dem hohen, verborgenen und damit unerkennbaren Urteil Gottes als Grundhaltung des menschlichen Lebens. In diesem Zustand der demütigen Ehrfurcht sollte der Mensch sich vor die Füße der Würde Gottes setzen, seine Gesinnung gelassen und niedergebeugt, so wie der arme Lazarus vor dem Haus des reichen Mannes saß (vgl. Lc 16,19–21): [E]t in h[o]c humili timore debet homo omnia opera sua interiora et exteriora operari, et se cum illo timore ponere ad pedes dignitatis Dei mit einem gelassen vndergeworffen gemt: et se ponere cum paupere Lazoro ante diues, hostium suum, et exspectare nucas suas, qui cadunt de mensa sua diuiti et habundanti; quare etiam se reputet in­dignum ut eas presumat petere, sed solum ante januam suam debilitatem et necessitatem suam in sua paupertate ostendere, etc.10

Die Bedeutung des Begriffs, den Marquard hier in seinem deutschsprachigen Einschub vermitteln will, konnte offensichtlich nur in der Volkssprache gänzlich erfasst werden. In diesem Fall ist es nicht auszuschließen, dass es sich hier um ein modifiziertes Tauler-Zitat handelt; denn die Aufforderung Taulers, ein under geworffen gemte under Got zu haben, ist dreimal in den von Ferdinand Vetter gedruckten Predigten belegt, allerdings nie mit dem Zusatz des Adjektivs ge­lâzen, das eine eigenständige Hinzufügung Marquards zu sein scheint.11 Dies wäre das zweite bisher identifizierte Tauler-Zitat, das als deutschsprachiger Einschub in lung bieten repräsentative Handschriften der A1-Fassung (Basel, Universitätsbibliothek, Cod. A X 138, fol. 127r–225v, verglichen mit Göttingen, Staats- und Universitätsbibliothek, 4º Cod. Ms. theol. 285, fol. 4v–57v). Zum Thema vgl. Steer, Der Armutsgedanke (Anm. 6), S. 292–295. 9 Rüdiger Blumrich (Hg.), Marquard von Lindau. Deutsche Predigten. Untersuchungen und Edition, Tübingen 1994, vgl. Pr. 2, S.  14,75–76; Pr. 7, S.  62,155; Pr. 14, S.  112,12; Pr. 27, S. 183,74 und 79; Pr. 35, S. 250,245; Pr. 36, S. 257,160 und S. 258,189; Pr. 38, S. 290,371 und S. 291,413; Pr. 41, S. 313,114 und S. 316,230 (Auflistung unvollständig); zu Marquards Bezeichnung des Namens Gottes als abegescheiden siehe McGinn, The Harvest (Anm. 1), S. 331. 10 Marquard von Lindau, De paradiso spirituali, zitiert nach Würzburg, Franziskaner­ kloster, Cod. I 86, fol. 10va–13rb, hier fol. 13rb. 11 Die Predigten Taulers. Aus der Engelberger und der Freiburger Handschrift sowie aus Schmidts Abschriften der ehemaligen Straßburger Handschriften, hg. von Ferdinand Vetter, Berlin 1910 (Nachdruck Dublin, Zürich 1968) [V], V 37, S. 142,6–7; vgl. V 12, S. 58,26–27 und V 45, S. 199,16. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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das kurze lateinische Traktat De paradiso spirituali integriert wurde.12 Davon abgesehen liefert das Beispiel einen möglichen Beweis dafür, dass Marquard eine bestimmte Vorstellung des gelâzen-Seins kannte und vermitteln wollte; eine Vermittlung, die nur mithilfe der deutschen Sprache möglich war, denn in lateinischer Übersetzung könnte die spezifische Prägung des volkssprachlichen Spruches wohl kaum vollständig übertragen werden. Eine andere und für die Textanalyse vielversprechendere Sicht eröffnen die deutschen Schriften Marquards, vor allem die 1389 vollendete Predigtsammlung, in der Marquard seine Ausführungen zur mystischen Einung und zur Gottesschau am ausführlichsten und in ausgereiftester Form vorgetragen hat. Einen ersten Ansatz bietet die Übersetzung der Bibelstellen, aufgrund derer die deutsche Lexik des Lassens seit dem elften Jahrhundert entwickelt wurde; ein Ansatz, der eine vergleichende Analyse erlaubt, und den Erik Panzig mit großem Gewinn auf die Schriften Eckharts angewendet hat.13 Marquard übersetzt sowohl das biblische relinquere als auch derelinquere konventionell mit mhd. lâzen; im Gegensatz zu Eckhart allerdings ohne die Bedeutung der Aufforderungen Christi zum Lassen zu ändern. Die in dieser Hinsicht wichtigste Stelle (Mt 19,29) wird von Marquard zwar verkürzt, aber dennoch wortgetreu übersetzt: Et omnis qui reliquit domum vel fratres aut sorores aut patrem aut matrem aut uxorem aut filios aut agros propter nomen meum, centuplum accipiet et vitam aeternam ­possidebit. […] Christus sprach: ›Quicumque relinquerit patrem etc. Wer da gelssen ht vatter vnd mter, hus ald hof, der sol es hunder stunt als vil wider vmb enpfhen.‹14

Die ethische Forderung des Bibelwortes bleibt hier unverändert, ohne die »onto­ logische Vertiefung« im Sinne eines sich selben lâzen, die diese Stelle bei Eckhart erfährt.15 Wie Eckhart erweitert Marquard jedoch die Semantik des Lassens durch die Umschreibung weiterer zentraler Aufforderungen zur Nachfolge Christi in den Evangelien; im Gegensatz zu Eckhart geschieht dies, ohne dadurch einen seinsethischen Inhalt zu vermitteln. Ein Beispiel aus dem Matthäusevangelium (Mt 10,34–37) verdeutlicht dieses Phänomen: Non veni pacem mittere sed gladium. Veni enim separare hominem adversus patrem suum, et filiam adversus matrem suam, et nurum adversus socrum suam, et inimici ­hominis domestici eius. Qui amat patrem aut matrem plus quam me, non est me ­dignus; et qui amat filium aut filiam super me, non est me dignus. 12 Nigel F. Palmer, Der Hiob-Traktat Marquards von Lindau in lateinischer Überlieferung, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur (Tübingen) 104 (1982), S. 48–83, hier S. 62; vgl. V 46, S. 205,15–17. 13 Panzig, Gelâzenheit und abegescheidenheit (Anm. 5), S. 54–65. 14 Marquard von Lindau, Deutsche Predigten (Anm.  9), Pr. 28, S.  189,44–46; vgl. Pr. 9, S. 80,38–40; ähnlich auch Pr. 10, S. 93,244–245, zu Mc 15,34. 15 Panzig, Gelâzenheit und abegescheidenheit (Anm. 5), S. 57–60. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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In der 18. Predigt zitiert Marquard diese Stelle zunächst in unveränderter Übersetzung. Dann fasst er die Bedeutung jener Aufforderung zur exklusiven Liebe Christi als das Lassen allen weltlichen Besitzes zusammen: Sider nun gottes minn so stark ist als der td, so ist nit vnbillich, daz si diss wrket ch in den frnden gottes. Hier vmb so wúrket si in in ain ganczes schaiden von allen lip­ lichen dingen, als Cristus sprach: ›Non ueni pacem mittere in terram. Ich bin nicht ­komen, frid ze machend vff der erden, ich bin komen, daz ich schaide ainen sun von sinem vatter, ain tochter von ir mter. Wan wer der ist, der vatter oder mter me minnet denn mich, der ist min nit wirdig.‹ O ˇ ch schaidet gtlich minn den menschen von allem zitlichen gt vnd eren, als ch Cristus sprach: Wer nit enlt alles daz, daz er ht, ›der ist min nit wirdig‹.16

Das gesamte Leben Christi charakterisiert Marquard darüber hinaus im Ex­ ordium der vorhergehenden Predigt als ein Leben, das immer auf den Tod und auf das Lassen aller Dinge gerichtet sei: ›Secuti sunt eum.‹ Also schribet sant Matheus von den lieben zwelfbotten: ›Si volgetend im nch.‹ Sider daz leben nsers herren so gar gieng vff ain sterbend wis vnd vff ain lssen aller ding, hier vmb so wrend die junger nsers herren wol ze lobend, daz si im nch volgetend[.]17

Dieses lssen aller ding wird aber im darauffolgenden Predigttext nur indirekt besprochen, und das Verbum lâzen wird nicht weiter benutzt. Die Beschreibung des Lebenswandels der Jünger im dritten Teil  der Predigt beschränkt sich auf die ethischen Dimensionen des Lassens: die äußerliche Armut, die Ablehnung der Hilfe und des Trostes, die von den Geschöpfen angeboten wurden, um sich auf Gott allein zu verlassen, und so weiter. Die zweite Eigenschaft ihres Lebens­ wandels ist die von Christus im Matthäusevangelium gefordete Selbstverleugnung (vgl. Mt 16,24: Si quis vult post me venire, abneget semet ipsum; et tollat cru­ cem suam et sequatur me). Dies wird von Marquard ebenfalls im ethischen Sinne verstanden, und als der Verzicht auf allerlei Begierde umschrieben. Das lateinische se abnegare, das Eckhart u. a. mit sich selben lâzen übersetzt hatte,18 fasst Marquard sowohl hier als auch ein zweites Mal in der 18. Predigt sinngetreu mit mhd. sîn selbes verzîhen: Daz ander waz ain ganczes luters verzihen ir selbs inrlich vnd vsserlich alles gesches in gaist vnd in natur, als Cristus sprach: ›Qui wult uenire etc. Wer mit nch wil komen, der verzihe sin selbes vnd nem sin crcz vff sich vnd volg mir nch.‹19 16 Marquard von Lindau, Deutsche Predigten (Anm. 9), Pr. 18, S. 127,61–128,70. 17 Marquard von Lindau, Deutsche Predigten (Anm. 9), Pr. 17, S. 122,1–5. 18 Dazu Panzig, Gelâzenheit und abegescheidenheit (Anm. 5), S. 60–61. 19 Marquard von Lindau, Deutsche Predigten (Anm. 9), Pr. 17, S. 124,71–74; vgl. Pr. 18, S. 128,71–74. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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So konservativ verhält sich Marquard nicht immer. In seiner Franziskuspredigt kommentiert er Mt 16,24 zum dritten Mal, als er die wesentlichen Merkmale des evangelischen Lebens aufreiht. Durch eine deutliche Veränderung der lateinischen Bibelstelle in der deutschen Übersetzung gelingt es ihm, die Selbstverleugnung als die Verleugnung des eigenen Willens zu deuten: Das ander ist ain wres verzihen sin selbes willen, vnd daz lert Cristus, do er sprach: ›Qui uult uenire etc. Wer mir nh wil gn, der verzihi sich sin selbs willen, vnd nem sin crúcz vff sich vnd volg mir nch.‹ Was ist nun dez menschen crcz, denn daz ­siner naigung vnd sinem willen aller widerzemest ist, dr in so mss er sich gelssen­ lich biegen.20

Die uneingeschränkte Gleichsetzung des Willens mit dem Selbst verweist auf Marquards Ausführungen zur Konstitution der menschlichen Seele in seinem deutschen Traktat De horto paradisi, den ich an anderer Stelle besprochen habe, und demzufolge auf das intellektuelle Erbe der sogenannten ›mittleren Franziskanerschule‹.21 In Bezug auf die Predigtsammlung wird an dieser Stelle nicht weiter über das ontologische Verständnis spekuliert, das dieser Gleich­ setzung zugrunde liegt. Wichtiger ist es nun zu klären, was es wirklich zu bedeuten hat, wenn der Mensch in der oben zitierten Passage aufgefordert wird, sich gelssenlich in der Kreuzaufnahme zu biegen. Anders formuliert: Sollte man mhd. gelâzenlich mit nhd. ›sich selbst verleugnend‹ bzw. ›den Eigenwillen verleugnend‹ übersetzen, was Marquards Übersetzung der vorhergehenden Bibelstelle entspricht; oder hat gelâzenlich – und darüber hinaus gelâzenheit – bei Marquard eine andere Akzentuierung? Klarheit schafft die ausführliche Erläuterung der Gelassenheit, die in der Predigtsammlung zweimal vorkommt: zuerst in der fünften, und ein zweites Mal in der 41. Predigt. In beiden Fällen bespricht Marquard das ideale Verhältnis zwischen Gott und dem Menschen, das in zwei exemplarischen Bibelstellen verdeutlicht wird. In der fünften Predigt, zur Verkündigung, ist es die Begrüßungs­formel Mariens: Ecce ancilla Domini: fiat mihi secundum verbum tuum (Lc 1,38); in der 41. Predigt, zur Bekehrung des heiligen Paulus, ist es der in der heutigen Vulgata nicht mehr erhaltene Spruch des Paulus in der Apostelgeschichte: Domine, quid me uis facere? (Act 9,6). Weil die relevanten Passagen zur Gelassenheit in b ­ eiden Predigten fast deckungsgleich sind, geht die folgende Analyse von der in bestimmten Punkten etwas längeren Version der 41. Predigt aus.22 20 Marquard von Lindau, Deutsche Predigten (Anm. 9), Pr. 13, S. 110,68–72. 21 Stephen Mossman, Die Konzeptualisierung des inneren Menschen im Traktat De horto paradisi Marquards von Lindau und in der Theologia deutsch. Mit einer Textedition, in: Burkhard Hasebrink [u. a.] (Hg.), Innenräume in der Literatur des deutschen Mittelalters. XIX. Anglo-German Colloquium Oxford 2005, Tübingen 2008, S. 327–354, hier S. 334–342. 22 Marquard von Lindau, Deutsche Predigten (Anm.  9), Pr. 5, S.  45,157–47,229; Pr. 41, S. 311,45–314,156. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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Der erste Teil  erläutert sechs Eigenschaften des göttlichen Willens. Zum Schluss fordert Marquard den Menschen dazu auf, die Charakteristika des gött­ lichen Willens erkennend, sich gänzlich zu lassen und, in der Nachfolge Pauli, sich in Gottes Willen zu ergeben: Vnd wan der will gottes so almchtig ist, vnd so gar vss vnmssiger wishait vnd grundlser minn llú ding ordnet oder verhengt, so solt sich der mensch von billichen luterlichen lssen vnd ergeben dem willen gottes vnd ch sprechen mit sant Paulus: ›Herr waz wilt du, daz ich túge?‹ Wilt du mich haben siech oder gesund, arm ald rich, in bekorung oder in rw, ich wil mich dr in geben. Wilt du herr, daz ich in ellend gang, in blss armt, in ainen ewigen krker, in den td des crúczes, ich wil es alles tn. Vnd diss ist der weg aller vssgenomnen frúnd gottes.23

Nach dieser Aufforderung beantwortet Marquard die Frage, welche Früchte ain lutrer gelss im Menschen erzeugt. Erstens seien schwierige Situationen leichter zu ertragen. Der gerade erst in einen Käfig gesperrte Vogel singe und fresse nicht; nachdem er sich jedoch in sein Schicksal ergeben habe, erklärt Marquard, werde er aber bald wieder fröhlich. Zweitens sei die Anwesenheit Gottes auch in ungünstigen Verhältnissen wahrzunehmen, wie z. B. in der geistlichen Dunkelheit oder in Abwesenheit der spürbaren Liebe Gottes. Drittens werde der Mensch von allen vermittelnden Instanzen zwischen ihm und Gott befreit, damit Gott sein Werk in ihm vollbringen könne. Viertens werde der äußere Lebenswandel und die innere Tugendhaftigkeit des Menschen gereinigt, damit er in der nun ge­ läuterten Form den Weg der Vollkommenheit in subtilster Weise erreiche: ein Vorgang, den Marquard durch naturwissenschaftliche Parallelen verdeutlicht.24 Der im Gemüt gelassene Mensch, schließt er, habe einen Zustand erreicht, in dem die Arbeit Gottes im Menschen möglich werde und damit die Christus­ förmigkeit, d. h. die im irdischen Leben höchstmögliche Vollkommenheit, erlangt werden könne: Vnd alsus ist es ch vmb die wren gelssnen gemút, wan in in wirt volbrcht daz edel werk gottes, vnd daz gelassen sterbend bild Jesu Christi erbildet sich in in. Vnd w ­gelassen menschen sind, die fúrend ain himelsch leben vnd sind geschikt, alle gben gottes ze enpfhend, wan got ist allwúrkig, so daz gemút allidig ist.25

Diese Mischung aus lebenspragmatischen und mystischen Perspektiven, die durch die Antwort Marquards gegeben wird, ist für den inhaltlichen Aufbau sei 23 Marquard von Lindau, Deutsche Predigten (Anm. 9), Pr. 41, S. 311,45–53. 24 Marquard von Lindau, Deutsche Predigten (Anm. 9), Pr. 41, S. 311,54–312,71. 25 Marquard von Lindau, Deutsche Predigten (Anm. 9), Pr. 41, S. 312,71–76; zur Bedeutung des sich erbilden Gottes im Menschen siehe Burkhard Hasebrink, sich erbilden. Über­ legungen zur Semantik der Habitualisierung in den Rede der underscheidunge Meister Eckharts, in: Andreas Speer und Lydia Wegener (Hg.), Meister Eckhart in Erfurt, Berlin, New York 2005, S. 122–136, insbes. S. 130–134. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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ner Predigten kennzeichnend. Der oben zitierte Schluss betrifft das Verhältnis zwischen dem gelassenen Zustand des Menschen und der Bereitschaft zur mystischen Einung. Das genaue Verhältnis zwischen dem gelssnen gemút und dem allidig[en] gemút wird allerdings nicht geklärt, und der spezifische Vorgang der mystischen Einung, wie Marquard ihn an anderen Stellen beschreibt, bleibt unerwähnt. Auf diese Problematik komme ich später zurück. Es folgen in der 41. Predigt zwei weitere Quaestiones, die in deutlicher Anlehnung an Eckhart die Sichtmöglichkeiten des heiligen Paulus während seiner mystischen Entrückung behandeln und den ersten Teil der Predigt abschließen.26 Im zweiten Teil kehrt er zum Thema der Gelassenheit zurück und erläutert die sechs Eigenschaften eines gelassenen Menschen, der in der Lage sei, den pau­ linischen Spruch ›Herr, was willst du, daß ich tun sollte?‹ auszusprechen. Es handelt sich dabei hauptsächlich um ethische Grundhaltungen: Die Bereitschaft zur mystischen Einung wird, wenn überhaupt, nur sehr indirekt berührt. Zuerst habe der gelassene Mensch sowohl äußerlich als auch innerlich auf alle Unterstützung (­vffenthalt) der geschaffenen Welt verzichtet. Zweitens habe er sich parallel dazu an Gott gewandt; nackt und bloß habe er sich, der bonaventurianischen Formulierung zufolge, in die Arme des gekreuzigten Gottes gegeben und sich ins Feuer der göttlichen Liebe geworfen.27 Drittens erwarte er keinen Trost, weder von Gott noch von den Geschöpfen, und entwerfe keine besondere Vorstellung von Gott. Stattdessen betrachte er ihn in seiner Liebe, in seinem Sein und in seiner Abgeschiedenheit von allen geschaffenen Dingen. Diese Formulierung steht der wohlbekannten Aufforderung Eckharts, Gott (zumindest den gedachten Begriff von Gott) zu lassen, sehr nah; der Zweck scheint jedoch ein ethischer zu sein, damit der Mensch nicht enttäuscht wird: Das drit ist, das er im selber nit fúrseczet, getrstet ze werdent von got oder von k­ ainer creatur, noch seczet im selber got nit fúr, als er lonet oder ain liecht ist oder ain richer vssfluss ist oder ain geber aller gben, mer er sichet got allain an in siner minn, als er ain luter blss wesen ist, abgeschaiden von allen dingen vnd vsser allen dingen. Hier vmb wenn in die creaturen nit entrstent oder im nit ze helf komend liplich oder gaistlich, so wirt er entseczet nit, so ch got im frmd ist vnd im kainen trst noch liecht noch haimlichait zgt vnd im alle bevintlichait vnder zúhet, so wirt er entseczet nit.28

Viertens sei der gelassene Mensch immer demütig, und schätze sich wie Hiob nur der Hölle würdig. Fünftens gefalle ihm alles, was Gott mit ihm und mit allen Geschöpfen tue. Sechstens betrachte er ständig den göttlichen Willen, und verhalte sich dem göttlichen Willen gegenüber wie ein Spiegelbild. Durch die Metapher des Spiegelbildes drückt Marquard die Vorstellung einer vollkommenen 26 Marquard von Lindau, Deutsche Predigten (Anm. 9), Pr. 41, S. 312,76–313,99. 27 Marquard von Lindau, Deutsche Predigten (Anm. 9), Pr. 41, S. 313,100–109. 28 Marquard von Lindau, Deutsche Predigten (Anm. 9), Pr. 41, S. 313,110–118. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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Ergeben­heit in den göttlichen Willen aus, ohne dadurch eine Willenseinheit im mystischen Sinne zu implizieren: d. h. erst durch ständige Betrachtung des gött­ lichen Willens wird es möglich, Gottes Willen in allen Dingen zu folgen.29 Der zweite Teil  der Predigt schließt mit einer umfassenden Darstellung des gelassenen Menschen. Von allen Einflüssen unberührt ergibt sich der gelassene Mensch in Gottes Willen und wird bereit, das Werk Gottes in ihm zu erleben, Gottes Gnade zu empfangen und die mystische Einung zu erfahren. Es geht aber aus dem angeführten Beispiel des heiligen Paulus hervor, dass Gelassenheit ein primär ethischer Zustand ist. Sie ist zwar für das mystische Erlebnis notwendig, ist aber im Gegensatz zu Eckhart kein seinsethischer Zustand, der mit der Erfahrung Gottes gleichzusetzen ist: W nun ain mensch ist, der da ht dise sechs stuk an im, der haist denn erst ain gelssner mensch. Vnd wie ist der so slig, der da z kumet, daz er sich bevolhen ht der obrosten wishait vnd er in rw vnd frid ist vnd in im gelssenlich lidet daz werk gottes vnd der creaturen, wie es z oder ab vellet n allen behelf, als ob er nichtes nit vmb sich selber wisse, vnd sich lt luterlich von innen dem ainvaltigen still stnden gtlichen wesen in ainem demútigen vnderwurf in verzihung sin selbs vnd aller ding. Diss ist der sin des minnklichen wortes, so sant Paulus sprach, ›Herr waz wilt du mich tn?‹, als ob er sprch: Herr wilt du, daz ich in versmht vnd in ellend gang, ich bin berait. Wilt du, daz ich armt vnd siechtagen lide, ich bin berait. Herr wilt du, daz ich in den td gang, ich wil es tn vnd bin berait. Vnd wie felschen wir ns selb so dik, so wir daz ›pater noster‹ bettend vnd sprechend: ›Fiat voluntas tua. Din will werd, als in himel vnd in erd‹, vnd wir ns doch so dik wider sinen willen seczent, also tet der ­hailig sant Paulus nit. Dr vmb do ward er nit begndet von got, do er ward nider geschlagen oder von dem, das er vmgeben ward von dem liecht, mer von disem wort do er sich gelssenlichen liess dem willen gottes vnd sprach: ›Herr waz wilt du mich tn?‹30

Die parallelen Erläuterungen der sechs Funktionen und vier Eigenschaften der wahren Gelassenheit in den Predigten Nr. 5 und 41 stellen keine wissenschaftliche Definition dar, und eine solche Definition war offensichtlich nicht die Absicht Marquards. Die Leitfrage ist nicht, was ›Gelassenheit‹ ist, sondern wie man gelâzenlich lebt. Durch die enge Einbettung der Wortfamilie in diesen Kontext unter ständiger Betonung der notwendigen Ergebenheit in Gottes Willen wird der Begriff neu semantisiert, und zwar in einer sehr spezifischen, begrenzten und – wie aus dem Folgenden ersichtlich wird – eigenständigen Art und Weise. Die Bedeutung von ›Gelassenheit‹ in Marquards Predigten lässt sich allerdings erst wirklich erschließen, wenn man die Funktion der Gelassenheit in den übrigen Predigten berücksichtigt, in denen eine genaue Erläuterung des Begriffes nicht vorkommt: d. h. wenn man untersucht, wie Marquard über Gelassenheit aus anderen Perspektiven referiert, und nicht, wie er sie prinzipiell definiert. 29 Marquard von Lindau, Deutsche Predigten (Anm. 9), Pr. 41, S. 313,119–314,138. 30 Marquard von Lindau, Deutsche Predigten (Anm. 9), Pr. 41, S. 314,138–156. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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In dieser Hinsicht sind drei grundlegende Tatsachen festzustellen. Erstens ist in Marquards Predigten nur selten die Rede von ›Gelassenheit‹ oder vom ›Lassen‹ überhaupt: häufig vielleicht im Vergleich zu abegescheidenheit, aber dennoch nicht gerade oft. Zweitens verwendet Marquard das Adjektiv gelâzen oder das Substantiv gelâzenheit fast ausschließlich in Verbindung entweder mit der Ergebenheit des Menschen in Gottes Willen oder mit der geduldigen Nachfolge Christi durch sämtliche Schwierigkeiten des irdischen Lebens.31 Er behandelt die Wortfamilie mit auffälliger Sorgfalt, benutzt es nur in wenigen Zusammenhängen und bietet zweimal eine ausführliche Erläuterung des Begriffes an, den er mit der Wortfamilie verbinden will. Drittens spricht er fast nie von gelâzenheit, wenn er die mystische Einung beschreibt. Stattdessen bevorzugt er die Betonung der Stille, der ledikeit, und des Erleidens der Wirkung Gottes in der Seele: Formulierungen, die er aus dem Buch von geistlicher Armut übernahm.32 In mehreren Predigten ist die Abwesenheit des Wortes gelâzenheit sehr auffällig. In der 31. Predigt zum Beispiel, die sich hauptsächlich mit der mystischen Einung beschäftigt, rezipiert Marquard nicht nur die Lehre der wirkenden und der leidenden Minne aus dem Buch von geistlicher Armut, sondern auch Meister Eckharts Begriff vom Seelenfünklein (ohne jedoch Eckharts besondere Betonung der ontologischen Ununterschiedenheit zwischen dem Seelenfünklein und Gott zu übernehmen).33 In der ganzen Predigt wird gelâzenheit jedoch ganz gegen die Erwartung überhaupt nicht erwähnt – und dies ist kein Einzelfall. In der darauffolgenden 32. Predigt legt Marquard in Auseinandersetzung mit Eckhart eine komplexe Bildlehre aus und nimmt zu der Debatte um die visio beatifica Stellung; aber trotz der eingehenden Behandlung des ontologischen Verhältnisses zwischen dem Menschen und Gott sucht man auch hier vergebens nach einer Erwähnung von gelâzenheit.34 Die Abwesenheit der Wortfamilie um gelâzenheit in Marquards häufigen Beschreibungen einer mehr oder weniger ›passiven‹ Haltung der menschlichen Seele während der mystischen Einung betrifft die Spannung zwischen der onomasiologischen und der semasiologischen Perspektive, denn es kann durchaus 31 Vgl. z. B. Marquard von Lindau, Deutsche Predigten (Anm. 9), Pr. 2, S. 20,274–21,280; Pr. 9, S.  85,236–86,242; Pr. 21, S.  141,134–153; Pr. 23, S.  153,72–75; Pr. 28, S.  191,124–127; Pr. 30, S. 208,183–186; Pr. 38, S. 288,296–305; Pr. 38, S. 290,381–392. 32 Zum Verhältnis zwischen Marquards Predigten und dem Buch von geistlicher Armut siehe Blumrich, Marquard von Lindau (Anm. 9), S. 77*–80*. 33 Marquard von Lindau, Deutsche Predigten (Anm.  9), Pr. 31, S.  217,161–187; dazu S. 71*–73*, und Rüdiger Blumrich, Feuer der Liebe. Franziskanische Theologie in den deutschen Predigten Marquards von Lindau, in: Wissenschaft und Weisheit 54 (1991), S. 44–55, hier S. 49–50. 34 Marquard von Lindau, Deutsche Predigten (Anm. 9), Pr. 32, insbes. S. 228,263–230,320; dazu S. 73*–77*; Blumrich, Feuer der Liebe (Anm. 33), S. 49–53; ders., Die deutschen Predigten Marquards von Lindau. Ein franziskanischer Beitrag zur ›Theologia mystica‹, in: Maarten J. F. M. Hoenen und Alain de Libera (Hg.), Albertus Magnus und der Albertismus. Deutsche philosophische Kultur des Mittelalters, Leiden 1995, S. 155–172, hier S. 164–168. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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sein, dass Marquard einen Begriff von ›Gelassenheit‹ hat und ihn in seinen Ausführungen zur mystischen Einung auswertet, ohne jenen Begriff als gelâzenheit oder den damit verbundenen Zustand des Menschen als gelâzen zu bezeichnen. In der bisherigen Forschungsliteratur wurde aber eine solche Differenzierung nicht wahrgenommen. Rüdiger Blumrich setzt Marquards Terminologie der Stille, der ledikeit und des Erleidens der Wirkung Gottes explizit mit ›Gelassenheit‹ gleich, und ihm folgt in dieser Hinsicht auch Bernard McGinn.35 Aus onomasiologischer Sicht gibt es eine Anzahl von Termini, die in Marquards Predigten eine in etwa als ›gelassen‹ zu beschreibende Haltung des Menschen während der mystischen Einung ausdrücken; doch gerade gelâzenheit gehört nicht dazu. Zur Verdeutlichung der Problematik führe ich hier ein Beispiel aus der 37. Predigt an, in dem Marquard die Haltung des Menschen während der Einung sowie den Vorgang der Einung selbst beschreibt. Abgesehen von der Bemerkung, dass die Kraft der Vernunft zu einem gewissen Zeitpunkt sich selber lssen muss, weil die Einung, Marquards stark voluntaristischer Konzeption zufolge, sich im apex affectionis vollzieht, wird die Passivität der menschlichen Seele nie als ge­ lâzen bezeichnet oder als gelâzenheit ausgedrückt: Hier vmb so man seit, daz der mensch so gar ledig sol sin aller wúrklichait vnd in ­ainer stilli vnd luterm liden, daz sol man also verstn: Wenn daz ist, daz die kreft der sel vff gezogen werdent von kraft der gttlichen gnden in ain riches schwen oder veraingen mit gott, so mss die vernunft sich selber lssen, wan si kan von ir kraft d z nit gelangen, vnd vnderbúgent sich vnd ergebend sich alle kreft der sele, vnd wartend ber sich des bernatúrlichen gttlichen influsses. Vnd beschihet dik, daz der mensch so gar hh komet ber alle bild vnd in ain vergessen sin selbes vnd aller bildlichait, das denn in dem vergessen alle kreft ligend still vnd lident vnd schwigend, denn allain die minnend kraft, die ist in der minnrichen zfúgung vnd luter berúrung des obrosten gtes. Vnd die wil daz vergessen sin selbes vnd aller creatúrlicher bildung weret, die wil so lidet der mensch daz werk gottes in im n wúrklichait der vernunft vnd ander krefften. Aber die minnend kraft in irem spicz ist ber vallen mit dem gttlichen influss, vnd die besffet die wúrklichhait aller ander kreft so lang vnd daz weret.36

Setzt man das ledig […] sin aller wúrklichait, die stilli, das liden, das vergessen sin selbes und so weiter – Termini also, die einen passiven Zustand bezeichnen – mit dem Begriff gleich, der in früheren Werken der deutschen Mystik mit gelâzenheit ausgedrückt wird, so übersieht man die Möglichkeit, dass Marquard die Wort­ familie in diesem Zusammenhang bewusst und nicht nur durch Zufall nicht verwendete. Wäre dies tatsächlich eine bewusste Entscheidung, dann müsste man als Grund dafür die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass sich Marquard von einer bestimmten Strömung der kontemplativen Kultur seiner Zeit, die er mit einem 35 Blumrich, Feuer der Liebe (Anm. 33), S. 49; ders., Die deutschen Predigten (Anm. 34), S. 162; McGinn, The Harvest (Anm. 1), S. 335. 36 Marquard von Lindau, Deutsche Predigten (Anm. 9), Pr. 37, S. 279,492–508. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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terminologisierten Verständnis von gelâzenheit verbunden hätte, zu distanzieren suchte. Eine solche Distanzierung wäre nur durch die semasiologische Untersuchung der Wortfamilie um gelâzenheit wahrzunehmen; eine Untersuchung, die mit der eher geistesgeschichtlichen Fragestellung verbunden ist, warum sich Marquard in der Erläuterung mystischer Vorgänge jener Wortfamilie nicht bedient. Mit letzter Sicherheit ist diese Frage nicht zu beantworten. Es ist allerdings gut bekannt, dass Marquard die mystische Einung anders als die dominikanischen Mystiker seiner Zeit konzipiert. Dies betrifft nicht nur den Ort in der Seele, in dem sich die Einung vollzieht, sondern auch die Haltung des Menschen in der ­Einung. Zwar ist im Allgemeinen der Mensch allidig und Gott alwúrkig, wie Marquard gelegentlich behauptet, aber in den genaueren Erläuterungen des Vollzugs der mystischen Einung besteht er darauf, dass ein Teil der menschlichen Seele, der apex affectionis, immer tätig bleibt. Einerseits ist diese Vorstellung der E ­ inung durch das intellektuelle Erbe des Thomas Gallus bedingt, wie Blumrich und ­McGinn gezeigt haben.37 Andererseits hat sie auch eine tiefere ontologische Begründung, die aus den zwei letzten Quaestiones am Ende der 37. Predigt ersichtlich wird (das oben angeführte Zitat aus dieser Predigt bildet die zweite Hälfte der zweiten Quaestio). In der ersten Quaestio behandelt Marquard die Frage, was die größte Gefahr für den vollkommenen Menschen darstelle. Seine Antwort ist eindeutig: das Leben ohne weitere Pflege der Tugenden, wenn der Mensch sich selbst in Un­ tätigkeit ließe: Die frg: Was machet den menschen aller maist vellig, so er stt in tugenden? Die antwúrt: Daz tt vnfliss der tugenden, so der mensch n bung der tugend lebet vnd sich selber lt in mússekait. Wan ain smlicher mensch ist nit gewiss, ob er kain zit n val der ttsúnden bestnde.38

In der ersten Hälfte der anschließenden Quaestio wendet sich Marquard gegen die Meinung, dass die menschliche Seele während des Vollzugs der mystischen Einung völlig untätig sein sollte. Seine Stellungnahme steht nicht nur der Auffassung des gelassenen Menschen in der dominikanischen Mystik entgegen,39 sondern auch anderen Vorstellungen der uneingeschränkten Freiheit der mensch­lichen Seele. Die darauffolgende ontologische Fundierung seiner Meinung weist auf eine Parallelität zwischen den innertrinitarischen Vorgängen in Gott und der Haltung der in imagine Dei geschaffenen menschlichen Seele, die für den Vollzug der mysti 37 Blumrich, Marquard von Lindau (Anm. 9), S. 65*–68*; ders., Feuer der Liebe (Anm. 33), S. 55; ders., Die deutschen Predigten (Anm. 34), S. 162. 38 Marquard von Lindau, Deutsche Predigten (Anm. 9), Pr. 37, S. 278,470–474. 39 Klar ist es, dass unter dem von mir verwendeten Terminus ›dominikanische Mystik‹ eine Vielzahl an verschiedenen Ansätzen zu finden ist, was die Konzeption der mystischen Einung und die Bedeutung und Funktion der Gelassenheit betrifft. Nur im Vergleich mit dem Franziskaner Marquard erlaube ich es mir, die verschiedenen Positionen so zusammenzufassen. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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schen Einung nötig ist. Die Notwendigkeit einer solchen Parallelität ist nicht nur zweckgebunden, um das richtige ontologische Verhältnis zwischen Gott und dem Menschen für die Einung zu etablieren, sondern beruht auch auf einer grundlegenden gnadentheologischen These, nämlich der Unmöglichkeit der mensch­ lichen Begnadung bzw. Belohnung ohne Werke. Die schon früher angeführte Beschreibung der Einung wird dann am Ende des folgenden Zitats angefügt: Die frg: Sol denn der mensch nit gancz still sin n alle bung der tugend vnd luterlich liden daz werk gottes in im? Die antwúrt: Man vindet ettlich menschen, die da sprechend, si lident gottes wúrken ledeklich vnd wellend sin fri alles wúrkends der tugend. Vnd daz ist valsch an im selber, wan gottes wúrken n die creatur ist ewig in im selb vnd vnwandelbr, vnd was gott wúrket n die creatur, d mit wirt nihtes nit verdienet, wan n nser aigen wúrken, minnen vnd bekennen so mugend wir nit slig sin noch slikait gewinnen. Vnd mss von not in dem menschen sin ain minnrich z fúgen inrlich z gott. Vnd der aller inrest mensch sol alle zit haben gebruchen vnd wúrken, gebruchen in gott vnd wúrken in im selb, mit ainem minnrichen zfgen der minnenden kraft z gott. Vnd also ist es in gott, wan gott ht ain ewiges rasten vnd wúrken in im selb, vnd also waz die wirdig sel Jesu Cristi ain liderin vnd ain wúrkerin, vnd workt sich selber alle zit vss in minnricher z fglichait, vnd also gott vatter gebruchet vnd wúrket in im selb, also sol ch die gott gebildet sel im dar an gelich sin.40

Was ist aber genau unter dem missratenen sich selber ln in mússekait in der ersten Quaestio zu verstehen? In der zweiten Quaestio verbindet Marquard es mit einer bestimmten Auffassung der Haltung der Seele in der via perfectiva, wie sie von denjenigen vertreten wird, die da sprechend, si lident gottes wúrken ledeklich vnd wellend sin fri alles wúrkends der tugend. Schon früher in derselben Predigt wendet sich Marquard ausführlich gegen solche in falscher Freiheit lebende Menschen. Sie seien u. a. diejenigen, die im kontemplativen Leben ganz untätig seien, ohne Übung der Tugenden und ohne jegliche Betätigung der Seelenkräfte; die­ jenigen, die sich dem Erleiden der Arbeit Gottes in der Seele ohne die notwen­ digen Einschränkung überlassen hätten: Si dunkent sich selber td alles natúrliches gesches, vnd kerend sich von aller hailger bung. Si sprechend, si wellend sich nit ben, daz gott itt sines werkes werd in in geierret. Vnd si wellend liden daz werk gottes vnd sich dem luterlich lssen, vnd wellend sin als ain gezw vnd als ain stain in dem Rin, der alles wasser ber sich lt lffen vnd er still lit vnd lidet.41

Marquard warnt vor der Gefahr, die sie für ihre Zeitgenossen darstellten, und ­fixiert den Unterschied zwischen richtig und falsch geordneter Freiheit – noch einmal aus dem Buch von geistlicher Armut schöpfend – in den Wurzeln der Frei 40 Marquard von Lindau, Deutsche Predigten (Anm. 9), Pr. 37, S. 278,477–279,492. 41 Marquard von Lindau, Deutsche Predigten (Anm.  9), Pr. 37, S.  271,256–272,291, hier S. 271,272–276. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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heit. Die richtig geordnete göttliche Freiheit beruhe auf Demut; die falsche Freiheit dagegen auf Stolz und Übermut. Die Reaktion eines angeblich in angemessener Freiheit lebenden Menschen auf ungerechte Behandlung zeige, ob seine Freiheit tatsächlich richtig geordnet sei, und lasse so den in falscher Freiheit lebenden Menschen erkennen.42 Marquard tritt hier in die heikle Debatte über die Häresie des Freien Geistes ein. Seine Ausführungen in der 37. Predigt beruhen in der Tat auf der mehrere Jahrzehnte zuvor formulierten Stellungnahme Jan van Ruusbroecs, die bereits als Quelle eines zweiten Angriffes gegen die in falscher Freiheit lebenden Menschen in Marquards 40. Predigt identifiziert wurde. Dort rezipiert Marquard die berühmte Gliederung der verschiedenen Arten solcher Ketzer aus Ruusbroecs Geestelijke brulocht, indem er mit Ruusbroec gegen diejenigen polemisiert, die sich von innan gelssen haben, und im Versuch, die mystische Einung zu voll­ ziehen, völlig untätig bleiben: So sind aber ettlich, die da sprechend, si múgend wol z nemen vnd súnd tn, vnd wend doch ledig sin aller werk als daz gezw vnd wellent got allain lssen wrken. Si sprechend, daz die werk gottes edler sigend denn aller menschen werk in der gnden gottes. Sie haissend sich gott lidendi menschen, wan si lidend in glichait, was got mit in wrket. Si hnd sich von innan gelssen wúrkls in ainer ledikait, vnd seczent ledikait fúr alle minnrich zfgung z got, vnd hnd ain demtig ssse wise vnd knnend wol bergen vnd liden. Si sind gten lten gar gelich, vnd was in ingesprochen wirt, das niemend si, als es der hailig gaist inspreche. Dise ledikait ist alle valsch, wan gottes wúrken n die creatur ist ewig in im selb vnd vnwandelbr vnd nimt weder z noch ab, vnd wúrket sich selb vnd anders nit. Vnd in sinem wúrken ist kain verdienen, mer die creaturen die hnd ir aigen wúrken durch die kraft gottes in naturen vnd in gnden vnd in der gloryen. Dr vmb n nser aigen wúrken, minnen vnd bekennen so mugent wir nichtes nit verdienen noch slikait besiczen.43

Im nächsten Textabschnitt setzt sich Marquard von Ruusbroec ab, indem er die Notwendigkeit von der Tätigkeit der minnenden Seelenkraft während des Vorgangs der mystischen Einung auf ein explizit dionysisches Fundament gründet. Der ideal geordnete Mensch, erklärt Marquard, müsse ain mitwúrker gottes (­cooperator Dei) sein, was sowohl die eher äußerliche Übung der Tugenden als auch den rein geistigen Aspekt der Tätigkeit der Kraft des Willens im kontemplativen Leben betrifft. Auch hier begegnet die tiefere ontologische Begründung dieser Stellungnahme, nämlich die nötige Angleichung der in imagine Dei geschaffenen menschlichen Seele an die Seele Christi.44 42 Marquard von Lindau, Deutsche Predigten (Anm. 9), Pr. 37, S. 272,292–310. 43 Marquard von Lindau, Deutsche Predigten (Anm.  9), Pr. 40, S.  307,235–308,273, hier S.  308,258–273; vgl. Wolfgang Eichler (Hg.), Jan van Ruusbroecs ›Brulocht‹ in oberdeutscher Überlieferung. Untersuchungen und kritische Textausgabe, München 1969, Buch II, S. 213,2273–214,2291 und S. 215,2324–2329. 44 Marquard von Lindau, Deutsche Predigten (Anm. 9), Pr. 40, S. 308,274–309,298. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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In Ruusbroecs Brulocht besitzt die Kritik der falschen Freiheit, wie Geert ­ arnar vor kurzem argumentiert hat, sehr wahrscheinlich eine abwehrende W Funktion; denn viele seiner Werke enthalten ähnliche Polemiken gegen häretische Denkarten, die in erster Linie als Kontrastfolien dienen, damit Ruusbroecs eigene (und oft sehr gewagte) Meinungen im Vergleich dazu orthodox und unanfechtbar erscheinen. Er kritisierte keine ›neuen‹ Häresien, mit denen er aus eigener Erfahrung in Kontakt gekommen war, sondern längst bekannte häretische Stellungnahmen, die er aus inquisitorischen Schriften gekannt haben wird.45 In Marquards Predigtsammlung funktioniert die Kritik der in falscher Freiheit lebenden Menschen anders. Sie ist weder Absicherungsstrategie im Ruusbroecschen Sinne noch Anspielung auf eine fassbare soziale Gruppierung. Stattdessen ist das uneingeschränkte sich lâzen eine Denkstruktur, die Marquard aus seiner eigenen Vorstellung der geistigen Vollkommenheit ausklammern will: erstens, weil sie sonst eine gewisse Schwierigkeit für die intendierten Adressaten seiner Predigten hätte bilden können, und zweitens, um seine Vorstellung der geistigen Vollkommenheit näher zu definieren. Zwar richtet sich seine Kritik nicht explizit an ge­lâzenheit; aber man wird mit gewisser Berechtigung vermuten dürfen, dass Marquard die Wortfamilie nicht benutzte, wenn er einen Begriff der passiven Haltung der Seele in der via unitiva ausdrücken wollte, weil es zu eng mit einer Vorstellung der uneingeschränkten Untätigkeit der Seelenkräfte verbunden war. Unter diesem Gesichtspunkt lässt sich Marquards Umgang mit der Semantik der Gelassenheit in seiner Predigtsammlung differenzierter betrachten. Er verschiebt die Wortfamilie auf einen Begriff, den man im Allgemeinen als vollkommene Ergebenheit in Gottes Willen definieren könnte, und erläutert die Funktionen und Eigenschaften des in diesem Sinne konzipierten Verständnisses von ›Gelassenheit‹ zweimal. Exemplarisch wird das Verständnis in den Aussagen des hl. Paulus (Domine, quid me uis facere?) und der Jungfrau Maria (Fiat mihi secun­ dum verbum tuum) ausgedrückt. In beiden Fällen erfolgt die Erfahrung Gottes (d. h. der raptus des Paulus bzw. die Menschwerdung Christi) zeitlich erst nach dem Sprechen jener Ausdrücke der höchsten Gelassenheit; eine Gelassenheit, die auch in den Worten des Vaterunsers (Fiat voluntas tua) von jeder Einzelperson artikuliert wird. Im Gegensatz zu Meister Eckhart drückt gelâzenheit nicht den unitiven Zustand selbst aus, sondern einen wesentlichen Bestandteil der geist­ lichen Vollkommenheit, auf deren Grundlage sich die mystische Einung dann in einem zweiten Schritt vollzieht. Die Konformität des menschlichen Willens mit dem Willen Gottes bereitet dementsprechend die voluntativ-karitative Seelenkraft für seine Tätigkeit in der Bewirkung der Einung vor. Marquards Ausgrenzung der Terminologie der gelâzenheit von der Beschreibung der passiven Hal 45 Geert Warnar, Ruusbroec. Literature and Mysticism in the Fourteenth Century, übers. von Diane Webb, Leiden 2007, S. 145–160. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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tung der anderen Seelenkräfte während der Einung beruht also auf dem Versuch, mögliche Vorstellungen der uneingeschränkten Untätigkeit der Seelenkräfte, die durch die Wortfamilie vermittelt werden könnte, aus seiner Mystik aus­ zuschließen. Die Predigtsammlung ist bei weitem die wichtigste Quelle für die Unter­ suchung der Semantik der Gelassenheit in Marquards Werken, aber nicht die einzige. Aus der Fülle seines deutschsprachigen Schrifttums bieten zwei weitere Werke neue Perspektiven an, die die Ergebnisse dieser bisher auf die Predigten beschränkten Untersuchung kontextualisieren: der Hiob-Traktat und die Deka­ logerklärung. Der breit überlieferte Hiob-Traktat ist ein sehr wichtiges Zeugnis der spätmittelalterlichen Leidenstheologie und legt das Buch Hiob in seiner Bedeutung für den richtigen Umgang des zeitgenössischen Menschen mit dem Leiden aus. In seiner Auslegung bleibt Marquard dem biblischen Text eng verbunden; eine Tatsache, die durch die in vielerlei Hinsicht unzureichende moderne Ausgabe, die keine Bibelstellen identifiziert, verschleiert, und erst nach einem Vergleich des Hiob-Traktats mit einer Bibel ersichtlich wird. Von Mystik ist hier kaum eine Spur. Wenn von gelâzenheit die Rede ist, dann bedeutet dies, dass man sich dem Willen Gottes überlassen hat. Darüber hinaus wird gelâzenheit fast immer mit Geduld verbunden; eine Akzentuierung, die nur selten in den Predigten vorkommt,46 im Hiob-Traktat dagegen mit einer sehr auffälligen Ausschließlichkeit. Im folgenden Beispiel kommentiert Marquard Hiobs Erkenntnisse, dass Gott in seiner Weisheit alles vorgesehen hat, dass er das Leiden nur aus seiner Liebe erlaubt, dass Leiden demnach nicht mit ungerechter Behandlung zu verwechseln ist, und dass Gott Leiden in Freude verwandelt.47 Das Leiden sei nur dann ertragbar, wenn man sich gedulteklich vnd gelaßenlich in einem gedultige[n] gelaß dem Willen Gottes gegenüber befindet:48 Zü dem sehsten so lernen wir by dem künige Job, wann wir in liden sint, das wir dann solten gedencken, das es alles in ewekeit angesehen ist als vnßer nehstes vnd vnßer bestes; vnd das es alles von vnmeßiger mynne gottes über vns verhengt würt. Vnd sider wir der ewigen wißheit vnd irme almehtigen willen nit entphliegen mögent, herumb so söllent wir vns gedulteklich vnd gelaßenlich dar in geben, das doch müß sin vnd wir ouch entpfliehen nit mögent; vnd diser gedultiger gelaß machet dann alles liden liht vnd alle arbeit kleine.49 46 Marquard von Lindau, Deutsche Predigten (Anm.  9), Pr. 3, S.  23,41–42 und Pr. 21, S. 137,6–14.­ 47 Vgl. Eckart Greifenstein (Hg.), Der Hiob-Traktat des Marquard von Lindau [­Hiob-T.]. Überlieferung, Untersuchung und kritische Textausgabe, München 1979, S. 196,604–613. 48 Obwohl gelâz schon in der höfischen Literatur um 1200 mit der Bedeutung ›Haltung‹ bzw. ›Benehmen‹ belegt ist, scheint Marquard aber das Substantiv gelâz hier aus dem Adjektiv gelâzenlich abzuleiten oder zumindest zur gleichen Wortfamilie zu rechnen. 49 Hiob-T., S.  200,680–686; vgl. S.  180,247–250; S.  207,826–827; S.  207,839–843 und S. 213,963–966. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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Gedultiger gelaß wird an späterer Stelle als Tugend konzipiert (mit dem Akzent nun deutlich auf der monastischen Vorstellung der patientia als Tugend), und als Quelle aller anderen Tugenden betrachtet: Dü weist wol, das alle tügende züsamen sint geswestert vnd gebrüdert; vnd wo ein tügent ist in vollekomenheit, da sint ouch alle vngescheiden. Herumb so gantzer ge­ dultiger gelaß in dem mönschen würt fünden, so koment ouch alle ander tugende in des mönschen hertzen züsamen vnd würt dann von in der inre mönsche gedrencket vnd gespyset. Diß betütet die würtschafft, die do beschach in dem hüse des gedültigen Jobs [vgl. Io 42,11].50

Darüber hinaus empfangen alle getultige gelaßen mönschen die zwei Gaben eines unschuldigen Lebens und der freiwilligen Gehorsamkeit,51 die sieben Gaben des heiligen Geistes, die drei theologischen Tugenden52 und die vier Kardinal­ tugenden.53 Diese enge Verbindung zwischen Gelassenheit und Geduld wird auch durch die lateinischen Entsprechungen dieser Terminologie in der älteren der zwei lateinischen Übersetzungen des Hiob-Traktats bestätigt. Dort wird ge­ dultiger gelaß, der normalen Bedeutung von gelâz als ›Haltung‹ bzw. ›Benehmen‹ gemäß, mit paciens submissio bzw. uera paciencia übersetzt (im zweiten Fall mit ein gedultiger gelaß daneben als deutschsprachige Glosse), der gelassene mönsche aber mit solutus. seu dimissus. homo; diß gelassen leben wird dann durch die Paraphrase per veram pacienciam in tribulacione ersetzt. Wie Nigel Palmer bemerkte, sind die deutschen und lateinischen Glossen »ein Anzeichen dafür, daß die beiden Sprachen über keine allgemein anerkannten Äquivalente für diese Termini [d. h. der Gelassenheit] verfügten.«54 In der Dekalogerklärung drückt die eher selten belegte Wortfamilie um ge­ lâzenheit üblicherweise die vollkommene Ergebenheit in Gottes Willen aus; eine Bedeutung, die uns aus den Predigten schon bekannt ist. Im folgenden Beispiel aus dem marianischen Teil des ersten Gebotes erklärt Marquard, wie Maria ihr Gebet der Güte Gottes und ihren Willen seinem Willen überließ: Si befalch si­ ner gti alles ir gebet, daz er es richteti nach allem sinem liepsten willen, vnd gab iren gantzen willen in demtig gelassenheit.55 An späterer Stelle, als Marquard das 50 Hiob-T., S. 208,859–864. 51 Hiob-T., S. 209,874–883. 52 Hiob-T., S. 211,913–924. 53 Hiob-T., S. 212,937–947. 54 Palmer, Der Hiob-Traktat (Anm. 12), S. 62–63; Zitat S. 63. 55 Marquard von Lindau, Dekalogerklärung (Anm.  8), zitiert nach Basel, UB, Cod. A X 138, hier fol. 135v (A1-Fassung); vgl. die Faksimiles v. J. 1980, S. 12b (C1-Fassung) und 1984, S. ­15,9–11 (C3-Fassung). Im Kommentar zum dritten Gebot ähnlich auch Cod. A X 138, fol. 150r; vgl. die Faksimiles v. J. 1980, S. 29b, und 1984, S. 30,13–17; mit Bezug auf die ›amici Dei‹ im siebten Gebot auch Cod. A X 138, fol. 204v–205r; vgl. die Faksimiles v. J. 1980, S. 89a, und 1984, S. 107,7–19. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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dritte Gebot kommentiert, betrifft diese vollkommene Gottergebenheit auch ihre Leidensbereitschaft: Si gedocht alle zit wie ir kind in liden vnd versmecht was gesin. Darumb satzte si ir leben in ein verdruken vnd liden, so vil daz si alle zit in liden stnd vnd sich so gar ge­ lassenlich do in gab, daz si Got nie gebat, daz ir liden gekúrtzet oder geminret wurdi: me si leit alles ir liden vs mit einem willigen vnder wurff iemer me in allem liden ze stond, ob es Got von ir haben wolt.56

In der Dekalogerklärung bekommt gelâzenheit dagegen auch eine neue Akzentuierung, die den Predigten fremd ist. Im marianischen Teil des neunten Gebotes wird die Gelassenheit Mariens mit innerer geistlicher Armut gleichgesetzt, die von der Armut des Geistes explizit getrennt wird. Die Unterscheidung wird dann nach dem folgenden Zitat (und zwar unter Heranziehung von Meister Eckharts Wirtschaft) näher erläutert: Du solt wissen, min lieber junger, daz die edel maget daz an ir hat, wie arm si was, daz si dennocht ze vil duncket was ir Got z ordnet, wanne si dunkt sich des selben ­vnwirdig. Harumb begert si nút frmdes gt, noch behielt ir eigen gt nie; me si mitteilet es den armen vnd bat denne fúrbas den himelschen vatter vmb ir teglich brot mit gantzen trúwen vnd worer gelassenheit. Sich, min lieber junger, darumb was [in] ir vswendig armt vnd […] inwendig geistlich armt. Es was ouch in ir wor armt des geistes, me denne in keiner creature.57

Durch die Gleichsetzung der gelâzenheit mit inwendig geistlich armt erscheint gelâzenheit ausgerechnet in dem Zusammenhang, aus dem der Terminus in der Predigtsammlung ausgeschlossen wurde. Der Unterschied zwischen den zwei Werken wird in einem Vergleich zwischen der jeweiligen Behandlung der Haltung Mariens unter dem Kreuz deutlich. In beiden Fällen (d. h. in der 21. Predigt und im Kommentar zum vierten Gebot) besteht Marquard darauf, dass Maria ihr unvergleichbares Leid unter dem Kreuz nicht durch irgendwelche äußerliche Leidensausdrücke zeigte. Marquard steht somit in radikalem Gegensatz zu der üblichen Darstellung der mater dolorosa im Spätmittelalter und kritisiert ausdrücklich die bisherige Tradition; ein Phänomen, das ich an anderer Stelle besprochen habe.58 Hier sind die unterschied 56 Marquard von Lindau, Dekalogerklärung (Anm.  8), zitiert nach Basel, UB, Cod. A X 138, hier fol. 151r (A1-Fassung); vgl. die Faksimiles v. J. 1980, S. 30a-b (C1-Fassung), und 1984, S. 31,7–13 (C3-Fassung). Im Kommentar zum neunten Gebot mit Bezug auf die ›amici Dei‹ auch Cod. A X 138, fol. 219r; vgl. die Faksimiles v. J. 1980, S. 105b–106a, und 1984, S. 139,17–21. 57 Marquard von Lindau, Dekalogerklärung (Anm.  8), zitiert nach Basel, UB, Cod. A X 138, hier fol. 216v (A1-Fassung); vgl. die Faksimiles v. J. 1980, S. 103b (C1-Fassung) und 1984, S. 136,38–137,4 (C3-Fassung). 58 Stephen Mossman, Kritik der Tradition: Bildlichkeit und Vorbildlichkeit in den deutschen Predigten Marquards von Lindau und die Umdeutung der mater dolorosa, in: René © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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Stephen Mossman

lichen Begründungen der ruhigen Haltung Mariens wichtig. In der Predigt ist es ihre Vorkenntnis des göttlichen Heilsplans und des göttlichen Willens in der zuversichtlichen Erwartung der Erlösung der Menschheit, die ihre explizit als ge­ lâzen beschriebene Haltung ermöglicht: Si stnd da mit frwlichen zhteklichen gebrden vnd mit gelssnem gemt vnd willen, wan die edel magt wist vnd verstnd vss der geschrift, wie der ewig vatter nit enwolt menschlich natur begnden, denn durch daz bitter sterben sines ain geminten suns. Si bekant ch, wie grss fruht solt komen von dem td ires kindes, vnd wie der liebst will des ewigen vatters solt da durch volbrht werden vnd die geschrift solt erfllet werden. Vnd wan si es alles vor wist gar vil mnig jar, hier vmb so stnd si da zchteklich vnd gelssenlich, vnd luff ch nit z dem grab mit den dry Marien, mer si liess gottes willen vnd ere volbrht werden vnd die hailgen geschrift.59

In der Dekalogerklärung dagegen ist die unter dem Kreuz stehende Maria so ge­ lâzen, weil sie ihre diesseitigen Beziehungen so gestaltete, wie sie unter den Heiligen im Himmel gestaltet seien, in vollkommener Erfüllung des Gebotes Christi, die gesamte Verwandtschaft zu lassen (vgl. Mt 19,29): Nu solt du wissen, wie daz were, daz die wirdige mter von natur vil neigung hat z irem kind, doch solt du wissen daz [si] der neigung nit gnt tet, denne als vil daz Gottes gebot do z twang. Vnd wanne Christus in dem weg der volkomenheit hieß lossen vatter vnd mter vnd swester vnd brder, darumb hielt si sich alle zit in d[er] heilikeit in ir in genden weg aller volkomenheit, [die ir] von dem heiligen geist geoffenet wart. Das selbe hielt si in alle[r] natúrlicher neigung z irem kinde vnd z allen iren gebornen frúnden, wond der neigung waz [si] nie gng, den[ne] als vil [die] gnade Gottes die neigung vs wurkte. Darumb geloub ich nút daz d[ie] edle[] magt[] vil rfte vnder dem krútz, oder vil vngeberden irs lidens hette, als man dik seit; wanne wie daz ir hertz durch wundet wart, doch so was si so gelossen, mcht si die marter irs kindes mit einem wort geirret han, si hett es nút geton. Ir waz ch leider, daz der mnsch den vatter so vil in irem kind enteret wart, denne ir leid wer die marter irs kindes. Sich, alle ir natúrlich neigung waz geordinet noch der neigung so die mnschen nach dem iungsten tag in dem himel z ein ander geneiget sint.60

Keine hoffnungsvolle Erwartung der gnädigen Erlösung der Menschheit ist es, die Maria in der Dekalogerklärung ihr Leid unterdrücken lässt, sondern eine ­Wetzel und Fabrice Flückiger (Hg.), Die Predigt im Mittelalter zwischen Mündlichkeit, Bildlichkeit und Schriftlichkeit. La Prédication au Moyen Age entre oralité, visualité et écriture, Zürich 2010, S. 305–327, insbes. S. 308–317; die einzigartige Radikalität Marquards in dieser Hinsicht nun auch unterstrichen bei Miri Rubin, Mother of God. A History of the Virgin Mary, London 2009, S. 247. 59 Marquard von Lindau, Deutsche Predigten (Anm. 9), Pr. 21, S. 141,144–153. 60 Marquard von Lindau, Dekalogerklärung (Anm. 8): zitiert nach Basel, UB, Cod. A X 138, hier fol. 167v–168r (A1-Fassung); vgl. die Faksimiles v. J. 1980, S. 49b (C1-Fassung) und 1984, S. 55,1–20 (C3-Fassung). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

Zeitzeuge der Begriffswerdung

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fast wortwörtlich übermenschliche Art von Unbetroffenheit, weil sie all ihre menschlichen Beziehungen gelassen hat und demzufolge als gelâzen beschrieben wird. Der Unterschied zu der parallelen Erläuterung des Verhaltens Mariens unter dem Kreuz in der Predigtsammlung ist deutlich und als eine Entwicklung im Ge­dankengang Marquards zu fassen: Obwohl die Dekalogerklärung einer genauen Datierung entbehrt, entstand sie zweifellos vor der 1389 vollendeten Predigtsammlung, denn Marquard ist schon August 1392 gestorben. Sowohl in den obigen Zitaten aus seinem Kommentar zum vierten Gebot als auch an wenigen anderen Stellen in der Dekalogerklärung ist ein anderes Verständnis der Gelassenheit wahrzunehmen, die enger an die dominikanische Mystik des früheren 14. Jahrhunderts – in erster Linie sollte man vielleicht an Meister Eckharts Wirt­ schaft denken – angelehnt ist. Der sehr behutsame Umgang mit der Wortfamilie von gelâzenheit, die in der Predigtsammlung zu beobachten ist, ist damit ein Charakteristikum seiner späteren Wirkungszeit.

© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

Johanna Thali (Freiburg i. Br.)

andacht und betrachtung Zur Semantik zweier Leitvokabeln der spätmittelalterlichen Frömmigkeitskultur

Untersuchungen zum religiösen Vokabular des Mittelalters stellen nach wie vor ein Forschungsdesideratum dar. Bekanntlich kommt der religiöse Wortschatz in den im 19. Jahrhundert entstandenen historischen Wörterbüchern nur ungenügend zur Geltung. Die deutsche Sprache, die im achten Jahrhundert den Weg auf das Pergament fand und sich seit dem zwölften Jahrhundert Schritt um Schritt als Schriftsprache etablierte, dürfte in ihrer schriftlichen Form sehr stark durch die geistliche Literatur geprägt worden sein, die ja bereits vom Umfang her den größten Teil der Überlieferung in deutscher Sprache ausmacht.1 Dies umso mehr, als dass gerade in diesem Bereich ein besonders kreativer und innovativer Umgang mit der Sprache zu beobachten ist. Insbesondere in Texten, die auf eine affektive Frömmigkeit zielen und die das Unsagbare der Gottesbegegnung in der unio in Sprache zu fassen suchen, werden neue Wörter kreiert oder Ausdrücke der Alltagssprache neu semantisiert. Im scholastischen Übersetzungsschrifttum entstandene Lehnübersetzungen lateinischer Termini erfahren durch ihre Verwendung in mystischen Schriften einen markanten Bedeutungswandel. Viele dieser Ausdrücke gehören heute zum Wortschatz der deutschen Sprache. Erinnert sei an Abstraktbildungen des philosophischen Vokabulars wie ›das Nichts‹ (daz nicht), ›das Sein‹ (daz sîn), ›das Wesen‹ (daz wesen) oder an Wortprägungen der Alltagssprache wie ›Eigenschaft‹, ›Einfluss‹, ›eigentlich‹, ›bloß‹ oder ›begreifen‹.2 Betrachtet man das Verhältnis des volkssprachigen religiösen Wortschatzes zum Latein, so zeigt sich, dass die deutschen Termini in vielen Fällen keine fes 1 Jürgen Wolf beziffert den »Anteil geistlicher Texte an der volkssprachigen Buch­ produktion« für das elfte Jahrhundert mit 90 % und bis zum Ende des zwölften Jahrhunderts mit 75 %, siehe Jürgen Wolf, Buch und Text. Literatur- und kulturhistorische Untersuchungen zur volkssprachigen Schriftlichkeit im 12. und 13. Jahrhundert, Tübingen 2008, S. 32, vgl. auch S. 33. 2 Grundsätzlich dazu Werner König, dtv-Atlas zur deutschen Sprache. Tafeln und Texte, München 111996, S.  81; Alois M. Haas, Granum sinapis. An den Grenzen der Sprache, in: ders., Sermo mysticus. Studien zu Theologie und Sprache der deutschen Mystik, Freiburg (Schweiz) 1979, S. 301–329, bes. S. 302, S. 313 f. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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ten Entsprechungen in der Gelehrtensprache haben. Insbesondere die Werke der in der Volkssprache verfassten Mystik bilden eine »religiöse Sprache sui generis in Terminologie und Diktion« aus, wie Kurt Ruh mit Blick auf Hade­wijch, Mechthild von Magdeburg, Marguerite Porete und Meister Eckhart hervorgehoben hat.3 Offensichtlich erfolgt die Semantisierung von Leitvokabeln der neuen Frömmigkeitskultur innerhalb der Volkssprache mit einer gewissen Autonomie gegenüber der lateinischen ›Vatersprache‹, wie Beispiele wie gelassenheit, andaht oder betrahtung zeigen. Wie ein Blick in mittelalterliche Vokabularien zeigt, sind die Bedeutungsspektren deutscher und lateinischer Termini genauso wenig deckungsgleich wie die aufgerufenen Konnotationen; die jeweiligen semantischen Felder sind unterschiedlich strukturiert. Symptomatisch für das skizzierte Verhältnis von Latein und Volkssprache scheint auch das Vorgehen eines anonymen Franziskaners bei der Übertragung des deutschen Eucharistie-Traktats Marquards von Lindau ins Latein zu sein. Obwohl dieser Übersetzer das Latein sehr gut beherrscht, gibt er bei lateinischen Wendungen häufig das originale deutsche Wort bei. Bezeichnenderweise handelt es sich bei diesem nur schwer ins Latein übertragbaren Vokabular in vielen Fällen um mystisches Gedankengut: ab­ grúnde, eins werden in Christo, geboren werden, durchdringen, uskeren, inkeren, entwerden, úbervarn, ein jamer und ein senen, wesenlich usw.4 Dass der versierte Übersetzer insprechen als Verb mit relevare wiedergibt, in substantivierter Form hingegen mit confabulatio, zeigt, dass selbst bei zentralen Begriffen feste deutschlateinische Wortentsprechungen fehlen.5 Wo die lateinische Sprache kein Pendant zu einem deutschen Ausdruck bereithält, verzichtet er gar auf die Übertragung und lässt stattdessen das deutsche Wort stehen.6 Der hier ablesbare Umgang mit der deutschen Sprache ist bemerkenswert, weil er zeigt, dass der anonyme Franziskaner der Volkssprache einen eigenen Wert und eine eigene Aussagekraft zuerkennt, an die das Latein nicht herankommt.

3 Kurt Ruh, Vorbemerkungen zu einer neuen Geschichte der abendländischen Mystik im Mittelalter, München 1982, bes. S. 24–32, hier S. 28 f. Im Unterschied zu Ruh sehe ich dieses Phänomen nicht auf die »Spitzenwerke volkssprachlicher Mystik« (ebd., S. 28) beschränkt, sondern es scheint generell die originär volkssprachlichen Werke zu betreffen. Dagegen scheinen Übersetzungen tatsächlich »mit ihren Inhalten, ihrer Begrifflichkeit, ihrer Bildsprache« lateinischer Theologie und Spiritualität verpflichtet zu sein, wie Kurt Ruh festhält: ders., Meister Eckhart. Theologie – Prediger – Mystiker, München 1985, hier S. 193 f. 4 Zur Handschrift (Würzburg, Franziskanerkloster, Cod. I 38, erste Hälfte des 15.  Jahrhunderts) und zum Verfahren des Übersetzers siehe die Ausführungen von Annelies Julia ­Hofmann, Der Eucharistie-Traktat Marquards von Lindau, Tübingen 1960, S. 14, S. 326–331. Hofmann, S. 328, vermutet, dass der anonyme Franziskaner mit der Übersetzung ins Latein »das Interesse der theologisch Geschulten« seines Ordens für Marquards Compendium über das Sakrament wecken wollte. 5 Vgl. ebd., S. 329: Confabulacionem oder insprechen; revelat (inspricht). 6 Siehe die Belege ebd., S. 329–331. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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Solche Beobachtungen lassen vermuten, dass die deutsche Sprache gerade wegen ihrer weitgehend fehlenden Normierung als Schriftsprache und der semantischen Offenheit ihrer Terminologie ein attraktives Instrument für religiöses oder mystisches Sprechen darstellt. Die Mystikforschung spricht hier vom »spirituellen Mehrwert« der literarisch noch jungen Volkssprache.7 Wie Susanne Köbele zu Recht betont, ist das Latein im Mittelalter im »Vergleich mit den Volkssprachen ein stark traditionsbestimmtes, ›normatives‹ lexikalisches System«. Als »institutionsnahe Bildungs- und Gelehrtensprache« verfügt es über einen »ausdifferenzierte[n] und determinierte[n] Wortschatz«, dessen Einzelbedeutungen »der Tendenz nach ein […] geschlossenes, eindeutiges semantisches Gefüge« ergeben.8 Im Vergleich zum Latein war die Volkssprache aufgrund einer fehlenden längeren literarischen Tradition »›unverbraucht‹« (Ruh) und damit besser geeignet, »Neues zu transportieren« (Köbele).9 Die »Randschärfe« ihrer Begrifflichkeit »ist in vielen Fällen geringer« als die der »lateinischen Präzisionssprache«.10 Die Uneindeutigkeit der Aussage und der damit einhergehende weite Spielraum für Assoziationen verleiht hier dem Akt des Lesens und der Sinnerschließung eine Dynamik, die erwünscht, ja intendiert sein dürfte. Der volkssprachige Text fordert den Lesenden weit stärker zum Nach- und Weiterdenken heraus, als dies bei lateinischen Texten mit ihrer semantisch ungleich stärker festgelegten Terminologie der Fall wäre. Die Volkssprache dürfte zudem selbst für Gebildete eine größere Unmittelbarkeit gehabt haben als die lateinische Bildungssprache. Deutsche Texte eigneten sich deswegen besser, den 7 Vgl. Susanne Köbele, Bilder der unbegriffenen Wahrheit. Zur Struktur mystischer Rede im Spannungsfeld von Latein und Volkssprache, Tübingen 1993, bes. S. 44–51, S. ­192–199. Mit Blick auf die mangelnde begriffliche »›Fixierung‹« und die größere »›Beweglichkeit‹« des Deutschen spricht Köbele, S. 49–51, in Anlehnung an Kurt Ruh und Alois M. Haas vom »Mehrwert« oder dem »spirituellen Eigenwert« der Volkssprache. Haas hatte den Begriff des ›Mehrwerts der mystischen Rede‹ geprägt. Er begründete aber ihren ›Mehrwert‹ nicht mit der Volkssprache, sondern mit der Erfahrung: »Es ist gleichsam der Mehrwert der mystischen Rede, dass sie Erfahrung impliziert als die Bedingung ihrer eigenen Möglichkeit.« Alois M. Haas, Mechthild von Magdeburg, in: ders., Sermo mysticus (Anm. 2), S. 67–135, hier S. 81. Kurt Ruh hat dann den von Haas postulierten ›Mehrwert‹ mit ihrer Volkssprachigkeit begründet: »Dieser Mehrwert darf in mittelalterlicher Zeit zugunsten der Volkssprache verbucht werden«; Ruh, Vorbemerkungen (Anm. 3), S. 30. 8 Köbele, Bilder (Anm. 7), S. 45 f. 9 Ruh, Vorbemerkungen (Anm. 3), S. 29 f.; Köbele, Bilder (Anm. 7), S. 47. 10 Vgl. ebd., S. 47, S. 50. Im Unterschied zur vorliegenden Untersuchung geht es Köbele nicht um die Untersuchung der Lexik, sondern der Metaphorik. Sie geht davon aus, dass die Volkssprache über eine »vom Lateinischen fundamental verschiedene Literatur- und Wissenschaftstradition« verfügt (S. 47) und dass sich als Folge davon auch die volkssprachliche Bildlichkeit grundlegend von jener der lateinischen Sprache unterscheidet: »Etablierte Metaphern mit fixierter, an der Exegesetradition orientierter Bedeutungsanlagerung im Lateinischen stünden neben einer beweglicheren, traditionsunabhängigeren Metaphorik in der Volkssprache« (S. 50). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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Rezipienten auch emotional zu berühren, um Affekte wie die compassio mit dem leidenden Christus zu stimulieren und so den Leseakt zur (Leidens-)Erfahrung werden zu lassen. Das Interesse des vorliegenden Beitrags gilt zwei Leitvokabeln des religiösen Schrifttums, die zur Selbstbeschreibung von Formen oder Praktiken spätmittel­ alterlicher Frömmigkeit verwendet werden: andacht und betrachtung. Das Herauspräparieren der historischen Verwendungsweisen dieser Ausdrücke und die Analyse ihrer semantischen Vernetzung in ausgewählten Texten soll den Blick für das Spezifische der mittelalterlichen Frömmigkeitskultur schärfen. Gerade die Semantik von Andacht ist von Interesse, wird doch der Ausdruck in der wissenschaftlichen Terminologie in Komposita wie Andachtsbild, Andachtsbuch, An­ dachtsliteratur, Andachtsübung usw. zur Beschreibung von Medien und Praktiken der spätmittelalterlichen Frömmigkeit herangezogen. Unter diesen Bezeichnungen hat sich allerdings allein das Wort Andachtsbild als eigentlicher Fachterminus etablieren können.11 Die Ausdrücke Andachtsbuch oder Andachtsliteratur dagegen, welche auf Textmedien referieren, bilden keine Fachtermini im engeren Sinn; ihre Bedeutung ist deswegen vergleichsweise offen.12 Bereits ein flüchtiger Blick in die einschlägigen Wörterbücher zeigt, dass das Wort andacht eine Bedeutungsverengung erfahren hat. Da die wissenschaftliche Beschreibungssprache unsere Sicht auf die mittelalterliche Frömmigkeitskultur mitbestimmt, dürfte es lohnend sein, sich die Differenz von historischer und moderner Semantik des Ausdrucks bewusst zu machen. Es geht dabei nicht um eine Neudefinition des kunsthistorischen Terminus Andachtsbild und auch nicht um den Vorschlag entsprechender literaturwissenschaftlicher Termini, sondern schlicht um die etwas schärfere Konturierung des historischen Wortgebrauchs. Die vorliegende Skizze zur Semantik von andacht und betrachtung soll damit auch der ak 11 Zur Wort- und Begriffsgeschichte siehe Karl Schade, Andachtsbild. Die Geschichte eines kunsthistorischen Begriffs, Weimar 1996. Vgl. Dorothee Klein, Andachtsbild, in: Otto Schmitt (Hg.), Reallexikon zur deutschen Kunstgeschichte, Bd. 1, 1937, Sp. 681–687. 12 In Fachwörterbüchern und Lexika finden sich keine Artikel zu den entsprechenden Lemmata; allenfalls stößt man auf Verweise auf andere Artikel. So widmet die Theologische Real­enzyklopädie allein dem Lemma Andachtsbild einen Artikel, während beim Simplex An­ dacht auf das Stichwort Frömmigkeit und beim Kompositum Andachtsliteratur auf das Stichwort Erbauungsliteratur verwiesen wird, siehe Otto von Simson und Rainer Volp, Andachtsbild, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 2, 1978, S. 661–672. Das Handwörterbuch Religion in Geschichte und Gegenwart wiederum bietet Artikel zu den Lemmata Andacht und Andachtsbild, nicht aber zu Andachtsbuch oder Andachtsliteratur, siehe Ludwig Mödl und Gerhard Hennig, Andacht, in: Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. 1, 41998, Sp. 460–463; Kerstin Hengevoss-Dürkop, Andachtsbild, ebd., Sp.  463 f. Das Reallexikon der deutschen Literatur­ wissenschaft bietet zu den Stichworten Andachtsbuch oder Andachtsliteratur weder einen Artikel noch einen Verweis, die entsprechende Literatur wird unter dem Lemma Erbauungsliteratur dargestellt, siehe Susanne Schedl und Dietz-Rüdiger Moser, Erbauungsliteratur, in: Real­ lexikon der deutschen Literaturwissenschaft, 3., neu bearbeitete Aufl., Bd. 1, 1997, S. 484–488. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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tuellen Diskussion um die Alterität der mittelalterlichen Religiosität historische Tiefenschärfe verleihen. Angesichts des skizzierten Interesses konzentriert sich die Textauswahl auf das geistliche Schrifttum des 14.  Jahrhunderts. Auf eine möglichst breite zeitliche, räumliche und thematische Streuung des Belegmaterials wird verzichtet, um stattdessen im religiösen Bereich in die Tiefe zu gehen (3.–7.). Die weitgehende Beschränkung auf einen einzigen Diskurs ist vertretbar, weil die Artikel zu andacht und betrachtung in den beiden im Entstehen begriffenen historischen Wörterbüchern, dem neuen Mittelhochdeutschen Wörterbuch (1050–1350) und dem Frühneuhochdeutschen Wörterbuch (1350 bis Anfang des 17. Jahrhunderts) bereits vorliegen.13 Im Unterschied zu den im 19. Jahrhundert entstandenen Mittelhochdeutschen Wörterbüchern von Georg Friedrich Benecke, Wilhelm Müller und Friedrich Zarncke sowie von Matthias Lexer, die in ihrer Textauswahl einseitig der höfischen Klassik verpflichtet waren, können diese beiden neuen Wörterbücher den Anspruch auf eine unter zeitlichen und sachlichen Gesichtspunkten systematische Zusammenstellung des Belegmaterials und damit auf Repräsentativität im Hinblick auf Zeitabschnitte, Regionen und Textsorten erheben.14 Für das einleitend skizzierte, allgemeine Bedeutungsspektrum der interessierenden Ausdrücke in unterschiedlichen Gattungs- und Diskurszusammenhängen (2.) wurde neben diesen und anderen einschlägigen historischen Wörterbüchern wie jenem der Gebrüder Grimm auch die online zugängliche Mittelhochdeut­ sche Begriffsdatenbank (MHDBDB) der Universität Salzburg konsultiert.15 Vorausgeschickt werden ein paar Bemerkungen zur neueren Entwicklung der Histo­ rischen Semantik (1.).

13 Mittelhochdeutsches Wörterbuch, bearb. von der Arbeitsstelle der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz an der Universität Trier und der Arbeitsstelle der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Bd. 1, 2006, Sp. 228–230 (Artikel anedâht, anedæhte, anedæhtec, anedæhtecheit usw. und ane denken); Sp. 712 f. (Artikel betrahten, betrahtnisse, be­ trahtunge); Robert R. Anderson [u. a.] (Hg.), Frühneuhochdeutsches Wörterbuch, Bd.  1, 1989, Sp.  1019–1026 (Artikel andacht, andächtig usw.); Sp.  1029 (Artikel andenken); Bd.  3, Sp. 2088–2096 (Artikel betrachten und betrachtung). 14 Vgl. Klaus Grubmüller, Historische Semantik und Diskursgeschichte: zorn, nît und haz, in: C. Stephen Jaeger und Ingrid Kasten (Hg.), Codierungen von Emotionen im Mittelalter. Emotions and Sensibilities in the Middle Ages, Berlin, New York 2003, S. 47–69, hier S. 48 f.; Kurt Gärtner und Klaus Grubmüller (Hg.), Ein neues Mittelhochdeutsches Wörterbuch. Prinzipien, Probeartikel, Diskussion, Göttingen 2000, darin bes. Klaus Grubmüller, Zielsetzung und Darstellungsprinzipien, S. 354–361, und Kurt Gärtner, Quellenauswahl, Corpuskomplexe, Arbeitsverfahren und Kooperation, S. 362–377; Frühneuhochdeutsches Wörterbuch (Anm. 13), zu den Quellen siehe Bd. 1, S. 43–62. 15 Siehe unter http://www.mhdbdb.sbg.ac.at:8000/. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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1. Die Konzentration auf einen einzigen Diskurszusammenhang erlaubt es, den neueren Postulaten der Historischen Semantik Rechnung zu tragen. Wort- und begriffsgeschichtliche Untersuchungen und das Nachdenken über deren methodische Implikationen gehören seit der Einführung der Germanistik als Universitätsfach zu ihren zentralen Forschungsfeldern. Die Historische Semantik hatte sich bereits im frühen 19. Jahrhundert als methodischer Zugang zu den älteren Texten etablieren können; sie verlor aber im Laufe des 20.  Jahrhunderts an Bedeutung. Seit den 1970er Jahren jedoch hat sie mit der Erweiterung des Frage­horizontes ein gänzlich neues Profil erhalten, mit dem sie sich im aktuellen Methodenspektrum der Germanistischen Mediävistik neu positioniert und profiliert hat.16 Dabei kam die Historische Semantik bei ihrer konzeptionellen Neuausrichtung ohne die polemische Geltungsbehauptung ›New‹ und ohne den ›Vatermord‹ aus, mit denen sich andere Ansätze wie beispielsweise die New Philo­logy von älteren Forschungstraditionen absetzten. Die Reflexion der methodischen Implikationen und die Erweiterung des methodischen Instrumentariums vollzog sich stattdessen als organische Weiterentwicklung älterer Ansätze. Da die Historische Semantik in verschiedenen Disziplinen verankert ist, zeigt sie kein einheitliches Profil.17 Für eine ernsthaft betriebene Historische Semantik jeglicher Fachrichtung stellt die Sprachwissenschaft das unverzichtbare me 16 Vgl. Gerd Fritz, Historische Semantik, Stuttgart 22006, bes. S. 85–102, hier S. 87–92; Dietrich Busse, Historische Semantik. Analyse eines Programms, Stuttgart 1987. Zur neueren Diskussion siehe die programmatischen Beiträge im Themenheft zur Historischen Semantik der Zeitschrift Scientia Poetica, bes. Christian Kiening, Gegenwärtigkeit. Historische Semantik und mittelalterliche Literatur, in: Scientia Poetica 10 (2006), S. 19–46; Manuel Braun, Historische Semantik als textanalytisches Mehrebenenmodell. Ein Konzept und seine Erprobung an der mittelalterlichen Erzählung Frauentreue, ebd., S. 47–65; Dominik Brückner, Zum Begriffsbegriff der Begriffsgeschichte. Fragen eines Lexikologen an die Begriffsgeschichte, ebd., S. 66–100; Dietrich Busse, Text – Sprache – Wissen. Perspektiven einer linguistischen Epistemologie als Beitrag zur Historischen Semantik, ebd., S. 101–137; Franz Lebsanft, Linguistische Begriffsgeschichte als Rephilologisierung der historischen Semantik, ebd., S.  138–168. Siehe auch die nicht unkritische Auseinandersetzung mit neueren Ansätzen von Klaus Grubmüller, ›Fride‹ in der deutschen Literatur des Mittelalters. Eine Skizze, in: Johannes Fried (Hg.), Träger und Instrumentarien des Friedens im hohen und späten Mittelalter, Sigmaringen 1996, S. 17–35, bes. S. 25–28; ders., Historische Semantik (Anm. 14), bes. S. 47–49. Untersuchungen in literarhistorischer Perspektivierung bietet der Sammelband von Gerd Dicke, Manfred Eikelmann und Burkhard Hasebrink (Hg.), Im Wortfeld des Textes. Worthistorische Beiträge zu den Bezeichnungen von Rede und Schrift im Mittelalter, Berlin, New York 2006, siehe bes. die Einleitung der Herausgeber: dies., Historische Semantik der deutschen Schriftkultur. Eine Einleitung, S. 1–12. 17 Einen knappen und informativen Überblick über die verschiedenen disziplinären Ausrichtungen bietet Braun, Historische Semantik (Anm. 16), S. 49–56. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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thodische Instrumentarium bereit.18 Den verschiedenen disziplinären Ansätzen jüngerer Prägung gemeinsam ist die Einsicht in das Ungenügen von Einzelwortanalysen und damit die Entwicklung weg von der Untersuchung isolierter Wörter hin zu deren Untersuchung in ihrem Kontext.19 Dieser Kontext kann enger oder weiter gefasst sein: Er kann sich auf den Satz oder den Text erstrecken, er kann syntagmatische und paradigmatische Beziehungen einschließen und Wörter und/oder Begriffe in Wortfeldern oder semantischen Netzen in den Blick nehmen. Der Kontext kann bis zu den Diskursen ausgeweitet werden, welche die Verwendung von Wörtern steuern.20 Mit dem Konzept des ›Wissensrahmens‹ (als »Oberbegriff für die verschiedenen Typen des verstehensrelevanten Wissens«) können über die Sprache hinaus auch außersprachliche oder pragmatische Zusammenhänge mit einbezogen werden.21 Ein solchermaßen weit gefasster Kontextbegriff bietet die Chance, die sprachliche Analyse des Wortmaterials mit der Frage nach dem performativen Vollzug zu verbinden. Mit der angedeuteten Erweiterung des Blickwinkels haben sich Verbindungen der Historischen Semantik mit anderen Methoden ergeben. Die traditionelle lexikalische Wort- und Begriffsgeschichte hat sich in den vergangenen Jahren zur Diskursgeschichte,22 zur Mentalitätsgeschichte23 und zur Historischen Anthropologie hin geöffnet; sie erlaubt die Integration neuerer Forschungsparadigmen wie Performativität und Medialität.24 In diesem Sinne arbeitet auch der vorliegende Beitrag mit einem weiten Kontextbegriff und verbindet die Beobachtungen auf der Textebene zur Verwendung und Semantisierung der Wörter und zu ihrer onomasiologischen Vernetzung usw. mit Fragen nach dem (intendierten) performativen Vollzug – als religiöse Praktiken haben Andacht und Betrachtung auch eine pragmatische Dimension. Daran lassen sich auch kulturanthropologische Fragen nach der mittelalterlichen Religiosität, ihren Vorstellungen der Heilsgewinnung oder der Präsenz des Gött 18 Vgl. Grubmüller, ›Fride‹ (Anm. 16), S. 26–28. 19 Ebd., S. 25 f.; Braun, Historische Semantik (Anm. 16 ), S. 50–56; Dicke, Eikelmann und Hasebrink, Historische Semantik (Anm. 16), S. 9, Anm. 15. 20 Vgl. Grubmüller, Historische Semantik (Anm. 14), S. 54. 21 Zum Begriff ›Wissensrahmen‹ siehe Busse, Text (Anm. 16), bes. S. 104–110, S. 119–122, hier S. 106. 22 Ebd., bes. S.  124–136; Dietrich Busse und Wolfgang Teubert, Ist Diskurs ein sprachwissenschaftliches Objekt? Zur Methodenfrage der historischen Semantik, in: dies. und Fritz Hermanns (Hg.), Begriffsgeschichte und Diskursgeschichte. Methodenfragen und Forschungsergebnisse der historischen Semantik, Opladen 1994, S. 10–28. 23 Fritz Hermanns, Sprachgeschichte als Mentalitätsgeschichte. Überlegungen zu Sinn und Form und Gegenstand historischer Semantik, in: Andreas Gardt, Klaus J. Mattheier und Oskar Reichmann (Hg.), Sprachgeschichte des Neuhochdeutschen. Gegenstände, Methoden, Theorien, Tübingen 1995, S.  69–101; Robert Jütte, Moderne Linguistik und ›­Nouvelle Histoire‹, in: Geschichte und Gesellschaft 16 (1990), S. 104–120. 24 Vgl. Braun, Historische Semantik (Anm.  16); Kiening, Gegenwärtigkeit (Anm.  16); ­Dicke, Eikelmann und Hasebrink, Historische Semantik (Anm. 16). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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lichen anschließen. Mit dieser Öffnung des Fragespektrums gelangt zugleich die in der neueren Forschung intensiv diskutierte Frage nach der Alterität der mittelalterlichen Kultur in den Blick; diese Forschung entwickelt ihre Thesen gerade in jüngster Zeit verstärkt anhand religiöser Texte, Bilder und Praktiken.25

2. Heute versteht man unter Andacht in erster Linie die ›Sammlung der Gedanken beim Gebet, die religiöse Versenkung‹ – daneben fungiert der Ausdruck als ter­ minus technicus für einen kurzen, auf das Gebet konzentrierten Gottesdienst.26 Nur selten wird der Ausdruck außerhalb des religiösen Kontextes gebraucht, etwa in Kollokationen wie Er betrachtete sie mit Andacht oder Sie hören andäch­ tig zu – beim Adverb ist die außerreligiöse Verwendung etwas häufiger zu beobachten als beim Substantiv. Das Bedeutungsspektrum des mittelhochdeutschen Wortes dagegen ist ungleich weiter. Nach Ausweis der historischen Wörterbücher braucht es sich nicht notwendigerweise auf Gott oder eine religiöse Handlung wie das Niederknien, Beten, Singen oder Lesen zu beziehen. andâht (ahd. anathâht/anadâht, zehntes Jahrhundert) ist eine Abstraktbildung zum Verb an­ denken (ahd. anathenken/anadenken) ›an etwas denken, achten auf, aufmerksam sein, beabsichtigen‹; das Substantiv hat vorerst die wenig spezifische Bedeutung ›Denken an etwas, Aufmerksamkeit, Hingabe‹.27 Die Bedeutungsverengung auf den religiösen Bereich, die für den modernen Sprachgebrauch bestimmend ist, beginnt zwar bereits im zwölften Jahrhundert, die engere Bedeutung ›Denken an Gott, innere Sammlung beim Gebet‹ aber setzt sich erst im Laufe des 17.  und 18.  Jahrhunderts nahezu vollständig durch. Der Prozess ist ablesbar an der Bildung neuer Komposita wie Andachtsgefühl, Andachtsglut, Andachts­ stätte oder Andachtsbuch. Auch Neologismen mit pejorativer Denotation, die im 18.  Jahrhundert aufkommen, belegen die weitgehend vollzogene Bedeutungsverengung auf Religiöses: Andächtler für ›Frömmler‹, das dazugehörige Verb an­ 25 Stellvertretend für eine Vielzahl von Arbeiten seien die folgenden Beispiele genannt: Christina Lechtermann, Berührt werden. Narrative Strategien der Präsenz in der höfischen Literatur um 1200, Berlin 2005, bes. S. 21–47; Bruno Quast, Vom Kult zur Kunst. Öffnungen des rituellen Textes in Mittelalter und Früher Neuzeit, Tübingen 2005; ders., Hand-Werk. Die Dinglichkeit des Textes bei Konrad von Heimesfurt, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 123 (2001), S. 65–77. 26 Vgl. Duden. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache in zehn Bänden, Bd. 1, 31999, S. 200; Mödl und Hennig, Andacht (Anm. 12); Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, erarb. im Zentralinstitut für Sprachwissenschaft Berlin, 2. Aufl., durchges. und erg. von Wolfgang Pfeifer, Bd. 1, 1993, S. 39. 27 Ebd.; Jochen Splett, Althochdeutsches Wörterbuch. Analyse der Wortfamilienstrukturen des Althochdeutschen, zugleich Grundlegung einer zukünftigen Strukturgeschichte des deutschen Wortschatzes, Bd. I,1, 1993, S. 128 (Lemma denken/anadenken). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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dächteln für ›frömmlerisch tun‹ oder Andächtlerei für ›übertriebene Frömmigkeit, Bigotterie‹.28 Um die Wende zum 19.  Jahrhundert tauchen die ersten Belege für Andachtsbild auf. Herder bezeichnet Legenden aufgrund ihres erbaulichexemplarischen Charakters als Andachtsbilder, Goethe verwendet den Ausdruck erstmals im heute gebräuchlichen Sinn für eine Statue der Mater dolorosa.29 Der beschriebene Bedeutungswandel ist nicht nur Voraussetzung für die Entstehung des Kompositums Andachtsbild, sondern auch für seine spätere Etablierung als kunstwissenschaftlicher Fachterminus für Bildtypen wie die Christus-JohannesGruppe, der Schmerzensmann oder die Pietà, die im frühen 14. Jahrhundert aufkommen und die sich nach der Bestimmung von Erwin Panofsky durch »die Tendenz« auszeichnen, »dem betrachtenden Einzelbewusstsein die Möglichkeit zu einer kontemplativen Versenkung in den betrachteten Inhalt zu geben, d. h. das Subjekt mit dem Objekt seelisch gleichsam verschmelzen zu lassen.«30 Doch kehren wir zum historischen Sprachgebrauch zurück: Das neue Mittel­ hochdeutsche Wörterbuch gibt die übergeordnete Bedeutung von anedâht, ane­ dæhte mit ›Denken an etw., Aufmerksamkeit, Hingabe‹ an und gliedert dann das Bedeutungsspektrum folgendermaßen: (1) ›Trachten, Bestreben, Absicht, Aufmerksamkeit, Sorgfalt, Fürsorge‹, (2) ›Erinnerung‹ sowie drittens im religiösen Kontext in die beiden bis heute geläufigen Verwendungsweisen (3.1) ›Hingabe (an Gott)‹ und (3.2) ›Andachtsübung, gottesdienstliche Handlung‹.31 Im Frühneuhochdeutschen weist der Ausdruck in etwa das gleiche Bedeutungsspek­ trum auf, wie der entsprechende Artikel im Frühneuhochdeutschen Wörter­ buch zeigt. Innerhalb des »schwer gliederbar[en]« Bedeutungsspektrums werden hier sechs Einzelbedeutungen unterschieden; sie reichen von ›religiöse Haltung‹ bzw. ›Handlung‹ (1. ›Andachtshaltung, Frömmigkeit, Ergriffenheit, Inbrunst, Hingabe‹ etc. und 2.  ›Andachtsübung, Gottesdienst‹ etc.) über ›gerichtete psychische Kraft‹ (3. ›Vorhaben, Plan, Absicht, Anliegen, Wunsch, Streben, Beharrlichkeit‹ etc. und 4.  ›Wohlwollen, Zuneigung, Gunst, Aufmerksamkeit, Verehrung‹ usw.) bis zu ›Rationalem‹ (5. ›Gedanke, Idee, Vorstellung, Meinung‹

28 Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Neubearbeitung, Bd. 2, Stuttgart, Leipzig 1998, Sp. 791 und Sp. 793 f. 29 Ebd., Sp.  793. Beim Beleg Goethes handelt es sich um eine Regieanweisung zu einer Szene in Goethes Faust, die Gretchen im Gebet zeigt: »In der Mauerhöhle ein Andachtsbild der Mater dolorosa, Blumenkrüge davor. Gretchen steckt frische Blumen in die Krüge.« Goethes Werke, hg. im Auftrag der Großherzogin Sophie von Sachsen, Bd. 14, Weimar 1887, Regieanweisung vor V. 3587. 30 Erwin Panofsky, »Imago pietatis«. Ein Beitrag zur Typengeschichte des »Schmerzensmanns« und der »Maria Mediatrix«, in: Festschrift für Max J. Friedländer zum 60. Geburtstage, Leipzig 1927, S. 261–308, bes. S. 264–268, hier S. 264 [Hervorhebung im Original]. Zur jüngeren Diskussion siehe Hans Belting, Das Bild und sein Publikum im Mittelalter. Form und Funktion früher Bildtafeln der Passion, Berlin 21995; Schade, Andachtsbild (Anm. 11). 31 Mittelhochdeutsches Wörterbuch (Anm. 13), Bd. 1, Sp. 228. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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und 6.  ›Hinsicht‹ etc.). Obwohl sich die Belege für andacht im Frühneuhoch­ deutschen in geistlichen, insbesondere in mystischen und scholastischen Texten häufen, ist die Bedeutung noch keineswegs auf Religiöses eingegrenzt.32 Wie die Belegreihen zeigen, muss sich an(e)dâht nicht auf Gott oder eine religiöse Handlung beziehen.33 Bemerkenswert ist, dass sich die allgemeine Verwendungsweise des Wortes in der Bedeutung von ›Aufmerksamkeit, Absicht‹ nicht auf weltliche Texte beschränkt, sondern auch im geistlichen Schrifttum anzutreffen ist. Umgekehrt findet sich die religiöse Bedeutungsvariante ›Hingabe (an Gott)‹ auch in weltlichen Texten.34 So erscheint im Anegenge (um 1173/1180) der mit einem pejorativen Adjektiv kombinierte Ausdruck im Kontext des Sündenfalls, wo er die Gottes Gebot widerstrebende ›Absicht‹ von Adam und Eva unter dem Baum der Erkenntnis beschreibt: ſeín herce enphieng ouch eínen ſtich. / vmbe die bſen an­ dacht. / dív ſiv bede ane vacht. / Daz dív vom ergiſtem gie.35 Auch in einer Predigt Bertholds von Regensburg wird der Ausdruck in der allgemeinen Bedeutung ›Gedanke, Wunsch‹ (im Gegensatz zu werk als ausgeführter Tat) zur Bezeichnung von moralisch verwerflichem Verhalten verwendet – es geht um die Gefährdung des Seelenheils durch den nicht disziplinierten, lüsternen Blick: Swenne ein man eine frouwen an siht in dem willen und in der andâht, daz er gerne sünde mit ir tæte, der hât diu werk vor gote vollebrâht.36 Bezeichnenderweise überliefert ein anderer Textzeuge an der Stelle von andâht die Lesart mut (›Verlangen, Gedanke, Absicht‹): in dem willen und in dem mut, daz er gern sund mit ir volbrecht.37 Bereits anhand der Belegreihen der Wörterbuchartikel wird deutlich, dass die Verwendungsweisen des Wortes andâht weder durch die Gattung noch durch den 32 Frühneuhochdeutsches Wörterbuch (Anm. 13), Bd. 1, Sp. 1019–1023. 33 Vgl. die im Mittelhochdeutschen Wörterbuch (Anm.  13), Bd.  1, Sp.  228, zitierten Belege: der arzet andacht ist daz si die lute sunt behalden (Deutsches salernitanisches Arzneibuch), oder: dâ sie dî siechen mit grôzer andâht underbrâhten unde der mit vlîze phlâgen (Die Statuten des Deutschen Ordens). 34 Vgl. Karl-Heinz Göttert, devotio – andâht. Frömmigkeitsbegriff und Darstellungsprinzip im legendarischen Erzählen des hohen Mittelalters, in: Karl-Heinz Schirmer und Bernhard Sowinski (Hg.), Zeiten und Formen in Sprache und Dichtung. Festschrift für Fritz Tschirch zum 70. Geburtstag, Köln 1972, S. 151–169, hier bes. die Beispiele S. 154 f. 35 »Sein Herz [Christi Herz beim Kreuzestod] erhielt eine Wunde zur Entsühnung des bösen Trachtens, das sie beide [Adam und Eva] überwältigt hatte, das von der schlimmsten Art gewesen war.« Dietrich Neuschäfer (Hg.), Das Anegenge, München 1969, V. 3114–3118 mit Anm. S. 294. Vgl. Mittelhochdeutsches Wörterbuch (Anm. 13), Bd. 1, Sp. 228. 36 Berthold von Regensburg. Vollständige Ausgabe seiner Predigten mit Einleitungen und Anmerkungen von Franz Pfeiffer und Joseph Strobl, hg. von Kurt Ruh, 2 Bde., Berlin 1965, Pr. 32 (Von des lîbes siechtuom unde der sêle tôde), Bd. 1, S. 505–517, hier S. 514,16–18. Vgl. Mittelhochdeutsches Wörterbuch (Anm. 13), Bd. 1, Sp. 228; Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Bd. 2 (Anm. 28), Sp. 789. 37 Berthold, Predigten (Anm. 36), Bd. 2, S. 511: Lesarten zu S. 514,17 f. Die beiden Über­ lieferungszeugen datieren in die zweite Hälfte des 14. Jahrhunderts, siehe ebd., S. 277 f., S. 282 f. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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Diskurszusammenhang gesteuert werden. Wie schwierig es allerdings für moderne Sprachbenutzer ist, zwischen religiöser und nicht-religiöser Verwendungsweise des historischen Ausdrucks zu unterscheiden, mag ein Beleg aus Heinrich Wittenwilers Ring (1400/1408) demonstrieren. andaht taucht hier im Kontext der Werbung von Bertschi Triefnas um Mätzli Rüerenzumph auf: Triefnass andacht die was gross / Gen seines lieben Mätzleins schoss / Und tett recht sam fuchs Rain­ hart, / Der umb die faissen hennen warb, / Und verhiess pei seinem aid, / Ze al­ len dingen sein berait, / Die ein fromer, weiser knecht / Laisten scholt und tuon von recht.38 Ob andaht hier in der Bedeutung ›Denken an etwas‹ gebraucht wird oder mit ironischem Unterton in der Bedeutung ›religiöse Hingabe (an Gott)‹, ist für heutige Sprachbenutzer nur schwer zu entscheiden – der Gebrauch des Wortes Andacht in der Gegenwartssprache wird sie vermutlich an letzteres denken lassen. Das Frühneuhochdeutsche Wörterbuch aber führt diese Stelle als Beleg für die Verwendungsweise ohne religiöse Denotation im Sinne von ›Absicht, Wunsch, Streben‹ an.39 Das breite und nicht auf den religiösen Bereich beschränkte Bedeutungsspektrum des mittelhochdeutschen Wortes andâht zeigt sich auch mit Blick auf die lateinische Begrifflichkeit. Im breit überlieferten lateinisch-deutschen Vocabu­ larius Ex quo beispielsweise erscheint andacht unter den volkssprachigen Interpretamenten zu so unterschiedlichen Lemmata wie Attencio, Deuocio und In­ tencio; die Verbindung helig andacht steht für votiuus, das Syntagma andacht haben (neben andencken) für Attendere.40 Der Blick in mittelalterliche Wörterbücher offenbart, dass der deutsche Ausdruck keine feste Entsprechung im Lateinischen hat. Das dürfte auch damit zusammenhängen, dass es sich hier weder um

38 Heinrich Wittenwiler, Der Ring. Nach dem Text von Edmund Wießner ins Neuhochdeutsche übers. und hg. von Horst Brunner, Stuttgart 1991, V. 5207–5214. 39 Frühneuhochdeutsches Wörterbuch (Anm. 13), Bd. 1, Sp. 1021 f. Horst Brunner übersetzt an dieser Stelle auch in diesem Sinne andacht mit ›Gedanken‹: »Triefnasens Gedanken waren hingebungsvoll auf seines lieben Mätzleins Schoß gerichtet.«; siehe Witten­wiler, Ring (Anm. 38), S. 305. 40 Klaus Grubmüller [u. a.] (Hg.), ›Vocabularius Ex quo‹. Überlieferungsgeschicht­liche Ausgabe, Tübingen 1988–2001, Bd.  6, Tübingen 2001, S.  22: Registereintrag zu andacht mit Nachweis der lateinischen Lemmata; vgl. Bd.  2, Tübingen 1988, S.  255 (A 831 Attendere; A 832 Attencio). Ein ähnliches Bild zeigt sich beim Adjektiv andächtig, das als Entsprechung zu Deuotus, Memor und Votiuus erscheint. Dieser Befund spiegelt sich im Glossarium von ­Lorenz Diefenbach, der neben Handschriften und frühen Drucken des Vocabularius Ex quo eine Reihe weiterer lateinisch-deutscher oder deutsch-lateinischer Glossarien und Vokabularien ausgewertet hat: Lorenz Diefenbach, Glossarium latino-germanicum mediae et infimae ­aetatis, Frankfurt a. M. 1857 (Neudruck 1968), S. 58 (Attentio); S. 178 (Deuotio); S. 303 (Inten­ tio); S. 629 (Votiuus – andechtig); zu den ausgewerteten Quellen s. S. XIII–XXII. – Karl-Heinz Göttert, devotio – andâht (Anm. 34), gelangt zur postulierten Gleichung devotio – andâht, weil er allzu einseitig die Wiedergabe von lateinisch devotio im deutschen Übersetzungsschrifttum in den Blick nimmt. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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einen biblisch geprägten noch um einen theologisch präzise definierten Begriff handelt.41 Vergleichbares lässt sich beim Ausdruck betrachten und seinen Ableitungen beobachten, die ebenfalls nicht als biblisch-theologische Begriffe gelten können.42 Das Substantiv betrachtung erscheint im Vocabularius Ex quo als Inter­pretament zu den lateinischen Lemmata Contemplacio (hier auch das alternative Abstraktum betrachtnis) und Imaginacio.43 Weit offener ist die Bedeutung des Verbs be­ trachten, kann es doch für Auisare, Contemplari, Conuicere (in sim ­herczen be­ trachten), Deliberare, Dubitare, Existimare, Fantasiari, Imaginari und Premeditari stehen.44 Einigermaßen fest scheinen lateinisch-deutsche oder deutsch-lateinische Entsprechungen nur in bestimmten Nischen, d. h. bei theologisch festgelegten Begriffen zu sein: Ein beschauwlich oder schowend leben etwa ist die geläufige Eindeutschung von Vita contemplatiua.45 Aber bereits die volkssprachigen Interpretamente zum Substantiv contemplatio weisen wieder eine recht große Variationsbreite auf: In Vokabularien und Glossaren finden sich neben (be-)schawung oder beschauwenisse u. ä. auch Angaben wie betrachtung, ynwendig trachtinge, be­ trachtunge des obersten gotis, (ynnige) andacht usw.46 Deutlich wird hier zugleich, dass andacht und betrachtung bedeutungsverwandt sind. Umgekehrt erscheint betrachtunge nicht nur unter den volkssprachigen Inter­pretamenten zu contem­ platio, sondern ebenso unter jenen zu meditatio.47 Wie bei Andacht zeigen auch die aktuellen Verwendungsweisen von Be­ trachtung und betrachten Verschiebungen gegenüber dem historischen Sprachgebrauch. Bereits die beobachteten Interferenzen zwischen deutschem und lateinischem Vokabular deuten darauf hin, dass innerhalb des historischen Bedeutungsspektrums weniger die visuelle Wahrnehmung, sondern das Denken 41 Siehe die Belege in der Konkordanz zur Vulgata: Bonifatius Fischer (Hg.), Novae concordantiae bibliorum sacrorum iuxta Vulgatam versionem critice editam, Stuttgart-Bad Cannstatt 1977, Bd. 1, Sp. 168 (adtentio: 1 Beleg); Bd. 2, Sp. 1287 (devotio: 1 Beleg; devotus: 3 Belege für die Kollokation mente devota); Bd. 3, Sp. 2603 (intentio: 1 Beleg). 42 Die Belege aus dem semantischen Feld von meditatio/meditari und considerare sind zwar deutlich häufiger als jene zum Begriff ›Andacht‹, die jeweiligen Bedeutungen entsprechen allerdings nur zum Teil jenem der deutschen Ausdrücke betrachten/Betrachtung, s. ebd., Bd. 1, Sp. 915–917 (considero); ebd., Sp. 946 f. (contemplor); Bd. 3, Sp. 3058 f. (meditatio: 21 Belege, meditor: 46 Belege; beide Ausdrücke häufig in den Psalmen). Für moderne Bibelübersetzungen sind die Ausdrücke Andacht und Betrachtung bzw. betrachten bedeutungslos. So bietet die Konkordanz zur Einheitsübersetzung keine Belege: Neue Konkordanz zur Einheitsübersetzung der Bibel, erarbeitet von Franz Joseph Schierse, neu bearbeitet von Winfried Bader, Düsseldorf 1996. 43 Klaus Grubmüller [u. a.] (Hg.), ›Vocabularius Ex quo‹ (Anm. 40), Bd. 6, S. 83. 44 Ebd., Bd. 6, Registereintrag zu betrachten S. 83; vgl. Bd. 2, S. 646 (C 1005 Conuicere). 45 Ebd., Bd. 6, S. 601; Bd. 5, S. 2895 (V 375 Vita contemplatiua). 46 Diefenbach, Glossarium (Anm.  40), S.  146; siehe auch Klaus Grubmüller [u. a.] (Hg.), ›Vocabularius Ex quo‹ (Anm. 40), Bd. 2, S. 630 (C 933 Contemplacio). 47 Diefenbach, Glossarium (Anm. 40), S. 353. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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im Vordergrund steht. Das Verb (be-)trahten hängt etymologisch mit dem lateinischen Verb tractare zusammen; betrahten bezeichnet ›das Überlegen, das prüfende Durchdenken eines Inhalts‹. So dominieren denn auch unter den im Mit­ telhochdeutschen Wörterbuch aufgeführten Verwendungsweisen die Verben des Denkens das Bedeutungsspektrum, während das Wort im heutigen Sprach­ gebrauch zwar nach wie vor einen Denkakt bezeichnen kann, zuallererst aber die optische Wahrnehmung im Sinne von ›längere Zeit und nachdenklich oder genussvoll ansehen, anschauen‹ meint, wobei der ›betrachtete‹ Gegenstand ein Bild, eine Landschaft, eine Person oder eine Sache sein kann.48 Noch deutlicher zeigt sich dies beim Substantiv: Unter den im Mittelhochdeutschen Wörterbuch verzeichneten Verwendungsweisen  – (1) ›Erwägung, Überlegung, Vorbedenken, Beratung‹, (2) ›geistliche Betrachtung, Meditation‹, (3) ›Trachten (nach etwas), Streben‹  – bezieht sich keine einzige auf die visuelle Wahrnehmung, während sich das neuhochdeutsche Wort gleichermaßen auf die visuelle Wahrnehmung als auch auf den mentalen Akt des prüfenden Nachdenkens beziehen kann.49 Die Verschiebung in Richtung der Bedeutung ›nachdenklich, prüfend anschauen‹ setzt im Spätmittelalter ein, wie die entsprechenden Wortartikel im Frühneu­ hochdeutschen Wörterbuch nahelegen.50 Interessant ist die begriffliche Nähe von andacht und betrachtung, die sich hier ein weiteres Mal abzeichnet: Unter den Bedeutungsangaben zu betrachtung erscheint auch ›Andacht‹ im Verbund mit ›Erwägung, Überlegung, dauerndes Bedenken, Bewussthalten von etwas, Aufmerksamkeit‹; betrachtung im Sinne von ›Meditation, religiös motivierte geist­liche Schau, Vision (religiöser Gegenstände)‹ ist bedeutungsverwandt mit andacht, aber auch mit beschauung.51 Die Wörter andacht, betrachtung und (be-)­schowung sind also onomasiologisch vernetzt. Sie bilden ein Wortfeld, in dem sich die Bedeutungen der verschiedenen Ausdrücke nicht einfach gegenseitig begrenzen, sondern auch überschneiden. Vergleicht man das deutsche Wortfeld mit jenem in der lateinischen Sprache, so stellt man fest, dass die Wortfelder in den beiden Sprachen offensichtlich unterschiedlich strukturiert sind.

48 Das Mittelhochdeutsche Wörterbuch (Anm.  13), Bd.  1, Sp.  712 f., unterscheidet folgende Bedeutungen: (1) ›etwas bedenken, prüfen‹, (2) refl. ›überlegen‹, (3) ›etwas durch Überlegung herausfinden, ergründen‹, (4) ›etwas/jemanden eingehend ansehen, beobachten‹ und (5) ›jemanden mit etwas begaben‹. Zum Bedeutungsspektrum des neuhochdeutschen Wortes siehe Wahrig. Deutsches Wörterbuch, hg. von Renate Wahrig-Burfeind, Gütersloh 82006, Sp. 263b. 49 Mittelhochdeutsches Wörterbuch (Anm. 13), Bd. 1, S. 713; vgl. Wahrig, Deutsches Wörterbuch (Anm. 48), Sp. 263b. 50 Frühneuhochdeutsches Wörterbuch (Anm. 13), Bd. 3, Sp. 2088–2096. Im Unterschied zu betrachten und betrachtung bezieht sich das alternative Abstraktum betrachtnis noch immer ausschließlich auf einen Denkakt (ebd., Sp. 2093). 51 Ebd., Sp. 2094 f. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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3. Für die Untersuchung der Semantik von andacht und betrachtung werden im Folgenden Gebete, Seuses Büchlein der Ewigen Weisheit, Viten- und Offenbarungsschriften sowie Predigten herangezogen. Mit der Wahl der verschiedenen Textsorten ergeben sich unterschiedliche Perspektiven auf die spätmittelalterliche Frömmigkeitspraxis, die wir ja nicht an sich, sondern bloß als sprachlich verfasste Mitteilung greifen. Die vorformulierten Gebete wie auch Seuses Hundert Betrachtungen mit ihren konkreten Handlungsanweisungen in den Rubriken haben prä­skriptiven, die Viten- und Offenbarungstexte deskriptiven, die Predigten diskursiven Charakter. Das gewählte Textkorpus erlaubt es, punktuell die Interferenzen zwischen volkssprachiger und lateinischer Terminologie in den Blick zu nehmen. In den Gebeten wird der Ausdruck andacht regelmäßig in den Rubriken verwendet. Die folgenden Beispiele stammen aus dem Engelberger Gebetbuch, einer Handschrift aus dem ehemaligen Frauenkonvent der Benediktinerabtei Engelberg, die zwei ursprünglich selbstständige Gebetsammlungen aus der zweiten Hälfte des 14.  Jahrhunderts vereinigt.52 Die fast ausschließlich deutschen Gebete sind für die außerliturgische Verwendung – in modernem Sprachgebrauch: für die ›private Andacht‹ – bestimmt. Nach den formelhaften Vorgaben der Rubriken sind die Gebete mit ›Andacht‹ zu verrichten – das gängige Syntagma lautet mit andacht sprechen. Andacht erscheint als Voraussetzung für die Wirksamkeit des Gebets: Wer dis gebet teglich spricht mit andacht, der verdienet grossen applas.53 Oder: Swer dis gebet, das hie nach geschriben stat, alle tag sprichet mit andaht, der sol gt zuersiht han, das er in helle noch in vegfúr niemer kome.54 Das Wort andaht wird in den Gebetstexten in Kombination mit Ausdrücken wie ernst, minne, begirde oder innikeit gebraucht.55Als Attribute erscheinen Adjektive wie gross (auch klein), recht, sss, hitzig, innig oder inbrúnstig.56 Anstelle der 52 Engelberg, Stiftsbibliothek, Cod. 155. Die Edition aufgrund der Vorarbeiten von Peter Ochsenbein ist in Vorbereitung. Zur Handschrift siehe Peter Ochsenbein, ›Engelberger Gebetbuch‹, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, Bd. 2, 21980, Sp. 529 f.; ders., Deutschsprachige Privatgebetbücher vor 1400, in: Volker Honemann und Nigel F. Palmer (Hg.), Deutsche Handschriften 1100–1400. Oxforder Kolloquium 1985, Tübingen 1988, S. 379–398, bes. S. 384 f., S. 390; ders., Mystische Spuren im ›Engelberger Gebetbuch‹, in: Claudia Brinker-von der Heyde und Niklaus Largier (Hg.), Homo Medietas. Aufsätze zu Religiosität, Literatur und Denkformen des Menschen vom Mittelalter bis in die Neuzeit. Festschrift für Alois Maria Haas zum 65. Geburtstag, Bern 1999, S. 275–283. 53 Engelberg, Stiftsbibliothek, Cod. 155, fol. 91v, ähnliche Formulierungen finden sich in zahlreichen weiteren Rubriken, vgl. fol. 92r, fol. 93r usw. 54 Ebd., fol. 171v. 55 Ebd., fol. 124v, fol. 177r, fol. 209v, fol. 215v. 56 Ebd., fol. 37v, fol. 125v, fol. 188r, fol. 188v, fol. 216v, fol. 217r, fol. 217v. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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präpositionalen Fügung mit anda(c)ht (gelegentlich auch in andacht57) kann das Adverb andechteklich gebraucht werden, wie in einer offenbarten Gebetsunterweisung Mariens: Du solt mir siben Aue Maria sprechen mit siben venien andech­ teklich.58 Hier bezeichnet andaht zugleich die innere Haltung beim Sprechen des Gebets und beim Verrichten der Gebetsgebärden (venien). Ort der Andacht ist das Herz: Wer disú fúnf wort alle tag mit wol bedachten ­sinnen vnd mit andacht sins herzen sprichet, der sol wússen, daz er von got niemer gescheiden wirt.59 Auch das Adjektiv kann auf das Herz als ›Sitz der Seele und des Verstandes‹ bezogen werden: Swer si [drei Paternoster] mit andechtigem ›herzen‹ sprichet ein iar teglich úber ein sele, si wirt erlset, wie tief si in dem fegfúr ist.60 Substantiv und Adjektiv zielen in den Gebetsanleitungen der Rubriken und in den Gebetstexten auf den praktischen Vollzug religiöser Handlungen. Sie bezeichnen die Qualität der inneren Verfasstheit, die das Beten oder der Empfang der Sakramente erfordern (Stundengebet, Fürbittgebet, Bußsakrament, Kommunion).61 Die Verwendungsweise ist recht einheitlich: mit andacht oder andächtiglich erscheinen formelhaft in der Bedeutung ›mit Aufmerksamkeit, mit Hingabe an Gott, fromm, mit innerer Sammlung der Gedanken‹. Das Wort bildet offenbar in diesem Kontext das volkssprachige Pendant zum lateinischen Ausdruck devotio, der in lateinischen Gebetsanleitungen verwendet wird.62 Das lateinische Substrat dürfte denn auch der Grund für die einheitliche Verwendungsweise der Vokabel sein. Eine Explikation dessen, was Andacht ist, findet sich allerdings nicht in den Gebeten.

4. Während die Rubriken zu den Gebeten Anweisungen für den Vollzug der Texte bieten, beinhalten die Schwesternbücher narrative Beschreibungen dieses Vollzugs. Ob die dabei suggerierte Faktizität eine reale oder eine inszenierte ist, kann bei unserem Interesse an der historischen Semantik offen bleiben. Bei einem literarhistorischen Zugang steht ohnehin nicht der Erfahrungsgehalt zur Diskus 57 Ebd., fol. 125v, fol. 188r, fol. 188v, fol. 217r, fol. 217v. 58 Ebd., fol. 63v. 59 Ebd., fol. 117v. 60 Ebd., fol. 152v/153r, siehe auch fol. 25r (mit andechtigem herzen). 61 Vgl. die für Ordensfrauen formulierte Beichte, in der das Substantiv andaht und das Adverb andehtklich nicht allein auf das Verrichten des Chor- und des Fürbittgebets bezogen sind, sondern auch auf den Empfang der Sakramente – das Text-Ich bekennt hier voller Reue seine mangelhafte Andacht (ebd., fol. 177v, fol. 178r). Auch in Kommuniongebeten kann andacht auf den Empfang des Altarsakraments bezogen werden, siehe ebd., fol. 209v, fol. 215v, fol. 216v, fol. 217v. 62 Die Entsprechung von devotio – andâht ist in der Übersetzungsliteratur spätestens seit dem 13. Jahrhundert geläufig, siehe Göttert, devotio – andâht (Anm. 34), S. 152, Anm. 3. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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sion, sondern Form und Funktion der überlieferten Texte. In der deutschen Fassung des Unterlindener Schwesternbuchs, die Elisabeth Kempf wohl zwischen 1469 und 1485 aus dem Lateinischen übersetzt hat, weist andacht ein den Ge­ beten vergleichbares Bedeutungsspektrum auf.63 Der Ausdruck erscheint bereits in der Einleitung, die in der deutschen Übersetzung ergänzt wurde. Hier wird der Anspruch formuliert, von der Heiligkeit und andacht der ersten Schwesterngenerationen der Klostergemeinschaft zu berichten: Hie noch wirt beschriben in tsch daz bch der swestren, daz di got geminnte swester genant Swester katrina von gebelswirl in latin hat gemacht vnd in schöner textvr geschriben von der strengen geistlicheit vnd grosser heilikeit vnd andacht der ersten ­swestren diß closters.64

Am Schluss der Vitensammlung wird in einem weiteren Zusatz die Funktion des Schwesternbuchs rückblickend als ›Andachtsbuch‹ bestimmt. Die vorbild­liche Andacht der verstorbenen Mitschwestern soll Gegenstand der Andacht der aktuellen Schwesterngeneration sein mit dem Ziel, diese zur selben Andacht an­zuleiten: weles büch och ir jn dem vergangenen jor uß dem latin zü tùtsch haben gemacht zü andacht denen, die daz latin nit verstond. Vnd als jn dem vorgeseiten büch wirt beschriben von dem volkomenen leben vnd hitziger andacht der ersten heilgen swestren, also 63 Die lateinische Fassung des Unterlindener Schwesternbuchs von Katharina von Gebersweiler (Gueberschwihr) dürfte im frühen 14. Jahrhundert entstanden sein; möglicherweise lag sie Elisabeth Kempf in einer überarbeiteten Fassung des 15. Jahrhunderts vor. Da sowohl die lateinische als auch die deutsche Überlieferung erst nach der Mitte des 15. Jahrhunderts einsetzen, ist nicht auszuschließen, dass es sich bei den erhaltenen Fassungen um Bearbeitungen im Sinne der Observanz handelt, vgl. Johanna Thali, Beten – Schreiben – Lesen. Literarisches Leben und Marienspiritualität im Kloster Engelthal, Tübingen 2003, S.  229–233. Zur Text­ geschichte und zur deutschen Übersetzung siehe Karl-Ernst Geith, Elisabeth Kempf (1415– 1485). Priorin und Übersetzerin in Unterlinden zu Colmar, in: Annuaire de la Société d’histoire et d’archéologie de Colmar 29 (1980/1981), S. 47–73; Peter Dinzelbacher, Katharina von Gebersweiler (Gueberschwihr), in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, Bd. 4, 2 1983, Sp. 1073–1075; Karl-Ernst Geith, Elisabeth Kempf, ebd., Sp. 1115–1117; ders., Elisabeth Kempfs Übersetzung und Fortsetzung der ›Vitae Sororum‹ der Katharina von Gueberschwihr, in: Annuaire de la Société d’histoire et d’archéologie de Colmar 32 (1984), S. 27–42; ders., Zur Textgeschichte der ›Vitae Sororum‹ (Unterlindener Schwesternbuch) der Katharina von Gueberschwihr, in: Mittellateinisches Jahrbuch 21 (1986), S. 230–238; Claudia Teusch, À la recherche d’une sœur connue: Élisabeth Kempf et la traduction allemande des ›Vitae sororum‹ (Unterlinden, vers 1470), in: Jean-Luc Eichenlaub (Hg.), Dominicains et dominicaines en Alsace, XIIIe–XXe s. Actes du colloque de Guebwiller, 8–9 avril 1994, [Colmar] 1996, S. 173–176. 64 Die Textzitate folgen der Teiledition der Lizentiatsarbeit von Murielle Baenziger, Die deutsche Übersetzung der ›Vitae Sororum‹ von Unterlinden, Mémoire de licence Université de Lausanne, Faculté des Lettres, 2009, hier S. 79, die auf die Transkription von Claudia Teusch (Lausanne) zurückgeht. Abkürzungen der Handschrift, die bei Baenziger nicht durchgehend aufgelöst wurden, sind stillschweigend aufgelöst. Vgl. auch Geith, Elisabeth Kempfs Übersetzung (Anm. 63), S. 29. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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wirt jn diser nochfolgenden geschrift zü gesetzet von dem wirdigen lob etlicher er­lichen heilgen vetteren, die daz selb closter geregiert haben vnd öch von etlichen andren er­ lichen geschichten.65

Im Unterlindener Schwesternbuch werden die Anfänge der klösterlichen Gemeinschaft idealisierend verklärt. Leitthema ist die exemplarische klösterliche Lebensführung der Vorfahren. Im Mittelpunkt des Interesses steht deren Vorbildlichkeit in der Verrichtung des liturgischen wie auch des persönlichen Gebets, die harten Kasteiungen sowie die damit einhergehenden Gnadenerfahrungen.66 Die Ausdrücke andacht und andächtig erscheinen gehäuft im Kapitel über den Gottesdienst und das Gebet, das zusammen mit sieben weiteren einleitenden Kapiteln über die vorbildliche Pflichterfüllung der ersten Nonnen dem eigentlichen Vitenkatalog vorausgeht. Die beiden Vokabeln werden sowohl für die Liturgie als auch für die außerliturgischen oder ›privaten‹ Frömmigkeitsübungen gebraucht. Für die Liturgie wird dabei die Doppelformel frölich vnd andechtiklich verwendet: daz die swestren alle mit einander vnd öch zitlich kemen z kor vnd frölich vnd andechtiklich svngen – die lateinische Vorlage spricht an dieser Stelle von alacriter et deuote.67 Beim persönlichen Gebet und den körperlichen Frömmigkeitsübungen erscheint dagegen das Attribut hiczig oder empzig: Noch der metti vnd noch der cvmplet bliben die swestren gemeinlich in dem kor vncz z dem zeichen vnd vertriben daz zit mit den bungen der aller hiczigesten andacht. Etliche die kestgeten sich mit vil niederknwende erbietende mit sölicher bung vnd anbettende die mayestat des herren. Etlich woren so zerflossen von dem fr götlicher liebi, daz si sich von weinen nit mochten enthalten me. […] Die svnnendag vnd die hochzitlichen tag verzerten si mit empzigen bvng der andacht.68

Diese Qualifizierung von andaht setzt sich in den Schwesternviten fort: Auch hier charakterisiert die Doppelformel frölich und andechtiklich das liturgische Gebet, während das Adjektiv hiczig oder empzig als Attribut zu andacht im Kontext privater Gebets- und Frömmigkeitsübungen verwendet wird.69 65 Baenziger, Übersetzung (Anm. 64), S. 99. Die Stelle findet sich im Anschluss an das Schwesternbuch im Vorwort zu den Nachträgen über die Vorsteher und Seelsorger des Klosters eines sich brüder Johannes nennenden Schreibers, vgl. Geith, Elisabeth Kempfs Übersetzung (Anm. 63), S. 33. Geith vermutet in diesem Bruder Johannes den im Seelbuch genannten Klosterkaplan Dominus Johannes capellanus noster, ebd., S. 40, Anm. 21. 66 Zur Konzeption der lateinischen Fassung des Unterlindener Schwesternbuchs siehe Thali, Beten (Anm. 63), S. 230–233. 67 Baenziger, Übersetzung (Anm. 64), S. 85, vgl. Jeanne Ancelet-Hustache (Hg.), Les ›vitae sororum‹ d’Unterlinden. Édition critique du manuscrit 508 de la bibliothèque de Colmar, in: Archives d’histoire doctrinale et littéraire du Moyen-Âge 5 (1930), S. 317–509, hier S. 340,9 f. 68 Baenziger, Übersetzung (Anm. 64), S. 85. Die Wendung mit den bungen der aller hiczi­ gesten andacht entspricht der lateinischen Formulierung ardentissime deuocionis exerciciis, siehe Ancelet-Hustache, ›Vitae sororum‹ (Anm. 67), S. 340,15. 69 Vgl. die Beispiele bei Baenziger, Übersetzung (Anm. 64), S. 89, S. 97. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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Die qualvollen und blutigen Selbstkasteiungen der Schwestern werden als Gott wohl gefällige werk der demt vnd der andacht (humilitatis et deuocionis opera) bezeichnet.70 Werden die mit den verschiedenen Frömmigkeitspraktiken verbundenen religiösen Erfahrungen geschildert, erscheint die Andacht oder die Andachtsübung als Leistung des Menschen, auf die als Gegengabe die göttliche Gnade folgt: Do von wvrden ir etliche vff erhept in dem gebet vnd wvrden gesechen etwo lang zwischen dem himmel vnd der erd bliben also, daz der irdensch swer lib vff gezogen vnd erhept wart mit dem geist der andacht vnd der gnoden (deuocionis et gratie spiritu).71

Bei der Formulierung mit dem geist der andacht vnd der gnoden handelt es sich um eine feste Wendung, die sich in den Viten bei der Schilderung der Gnaden­ erfahrungen der Nonnen wiederholt.72 Die als andacht bezeichnete ›Hingabe an Gott‹ wird nicht allein mit Bezug auf die innere Haltung beim Singen und Beten verwendet, sondern auch bei Körpergebärden wie Kniefällen oder bei Kasteiungen, die zur Ehre Gottes vollzogen werden, etwa der Selbstpeinigung mittels Ruten, Geißeln oder eiserner Ketten. Die Andacht involviert also nicht allein den Geist, sondern auch den Körper. Die Verwendungsweise des Wortes entspricht mehr oder weniger jener in den Rubriken zu den Gebeten. Der Vergleich des deutschen Schwesternbuchs mit der lateinischen Fassung zeigt, dass die Übersetzerin den deutschen Ausdruck andacht und dessen Ableitungen relativ konsequent für das lateinische Substantiv devotio und das dazugehörige Adjektiv devotus bzw. das Adverb devote verwendet. Damit ist die Bedeutung von andacht klar festgelegt. Im Vokabular der Übersetzung spiegelt sich die vergleichsweise präzise Begrifflichkeit der lateinischen Sprache der Vorlage. Auch die Vitensammlung des Dominikanerinnenklosters St. Katharinental bei Dießenhofen wird in der später beigefügten Vorrede des Johannes Meyer in dem Sinn als ›Andachtsbuch‹ bezeichnet, als dass es die Andacht stimulieren soll: das do ze andacht reislichen ist ze hren.73 Das außerliturgische Gebet bildet einen 70 Ebd., S. 85, vgl. Ancelet-Hustache, ›Vitae sororum‹ (Anm. 67), S. 340,32 f. 71 Baenziger, Übersetzung (Anm. 64), S. 85, vgl. Ancelet-Hustache, ›Vitae sororum‹ (Anm. 67), S. 341,11–13. 72 Vgl. etwa die Beschreibung in der Vita der Mechthild von Winzenheim: Ein gar andech­ tige swester vnsers closters sach die selige swester mechthild etwen in iren gebetten von der erden vff erhept werden ein klofteren hoch in die höchi vnd lang also bliben, daz der irdensch swer lib vff erhebt waz mit dem geist der andacht vnd der gnoden (spiritu deuocionis et gracie). Baenziger, Übersetzung (Anm. 64), S. 91, vgl. Ancelet-Hustache, ›Vitae sororum‹ (Anm.  67), S. 369,2–6. 73 Ruth Meyer, Das ›St. Katharinentaler Schwesternbuch‹. Untersuchung, Edition, Kommentar, Tübingen 1995, hier S. 141, *II,23. Vergleichbare Belege aus Legendenprologen siehe Göttert, devotio – andâht (Anm. 34), S. 164–166. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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der thematischen Schwerpunkte des St. Katharinentaler Schwesternbuchs. Zu den Besonderheiten dieser Vitensammlung gehört die ungewöhnlich häufige Nennung von Bildwerken: Während in anderen Nonnenbüchern Bilder nur selten erwähnt werden, widerfahren den Ordensfrauen im St. Katharinentaler Schwes­ ternbuch die Gnadenerlebnisse nicht selten beim Beten vor Kult- oder Andachtsbildern, vor dem Kruzifixus, Maria mit dem Kind, Christus an der Geißelsäule oder der Figurengruppe der Christus-Johannes-Minne.74 Bemerkenswert ist, dass das Wort andacht bei der Schilderung von Gnadenerlebnissen vor solchen Bildwerken nur ausnahmsweise verwendet wird.75 In diesem Kontext ist meist vom Beten bzw. dem Gebet die Rede.76 Das Substantiv andht und die Ableitungen andhtig oder andhteklich erscheinen sowohl im Kontext des privaten Gebets als auch des liturgischen Gottesdienstes, insbesondere der Messe bzw. des Kommunionempfangs, aber auch des Empfangs der Sterbesakramente, es kann generell für die klösterliche Lebensführung stehen.77 Vom betrachten oder der be­ trachtung der Bildwerke ist nicht die Rede. Diese Ausdrücke scheinen für mentale Vorgänge reserviert zu sein, für das Meditieren von Glaubenssätzen und Heilstatsachen, insbesondere aber für die Versenkung in die Passionsgeschehnisse.78 Gebet, Andacht und Betrachtung können sehr nahe in ihrer Bedeutung sein, wie eine Passage aus der Vita der Elsbeth von Stoffeln zeigt: Ze einem ml was si nach metti an ir gebett vnd berdht vnd betrahtet nsers herren marter vnd sin heiligen vrstendi vnd vffart. Vnd kam dar an, das nser herr sinen hei­ ligen gaist sinen jungern sant, vnd begert von nserm herren, das er ir etwas gebe ze gedenken, dar an si andht hett von dem heiligen geist.79

Die Betrachtung als Gebetsübung besteht hier also im schrittweisen gedank­lichen Abschreiten der Heilsereignisse von der Passion Christi über seine Auferstehung 74 Meyer, ›St. Katharinentaler Schwesternbuch‹ (Anm. 73), siehe den Kommentar S. 189 f. Vgl. Carola Jäggi, ›Sy bettet och gewonlich vor únser frowen bild …‹: Überlegungen zur Funktion von Kunstwerken in spätmittelalterlichen Frauenklöstern, in: Jean-Claude Schmitt (Hg.), Femmes, art et religion au Moyen Âge, Strasbourg 2004, S. 63–86. 75 Meyer, ›St. Katharinentaler Schwesternbuch‹ (Anm.  73), Vita Nr.  23,1–3 (Verleben­ digung der Jesuskind-Figur der Marienstatue bei der Berührung mit grosser andht). 76 Ebd., Viten Nr.  28,1 f. (Beten vor dem Bild Christi an der Geißelsäule, Bitte um Mitleiden); Nr.  30,1–4 (Verlebendigung des Cruzifixus beim Gebet); Nr.  32,1–3; Nr.  32,13 f.; Nr. 41,42–45 (Beten vor der Christus-Johannes-Minne); Nr. 49,3–5 (Beten vor dem Cruzifixus, dessen Wunden zu bluten beginnen); Nr. 53,4–7 (Verlebendigung der Jesuskind-Figur der Marienstatue beim gebett). 77 Ebd., Viten Nr.  12,1–3; Nr.  17,1 f.; Nr.  27f,1 f.; Nr.  29,45–47; Nr.  31,9–11; Nr.  33,3 f. Nr. 44,7. Wiederholt erscheint begird als Synonym für andht, vgl. Viten Nr. 8,8 f.; Nr. 39,4–8; Nr. 47,1–3. Auch ernst wird synonym zu andaht gebraucht, vgl. Vita Nr. *54,46. 78 Vgl. ebd., Viten Nr. 33,52 f.; Nr. 41,107–120; Nr. 50,12 f.; Nr. 50,18–20. 79 Ebd., Vita Nr. 33,53–55. Die geäußerte Bitte um einen Gegenstand für die andht wird durch eine Offenbarung Christi erfüllt – es folgt eine umfangreiche Belehrung über das Wesen des Heiligen Geistes in direkter Rede. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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und Himmelfahrt bis zur Aussendung des Heiligen Geistes. In der Bitte um einen Gegenstand für die Meditation über das Wesen des Heiligen Geistes überschneidet sich die Bedeutung des Wortes andht, das hier synonym zu gedenken gebraucht wird, mit jener von betrachtung. Bezeichnet die Andacht sonst in erster Linie die Form oder die Intensität der Hingabe an Gott im Gebet oder bei körperlichen Frömmigkeitsübungen, so hat das Wort in diesem Textausschnitt einen Gegenstand. Die syntaktische Konstruktion dafür ist an etwas von etwas andacht haben – das Syntagma ist weder im neuen Mittel­hochdeutschen noch im Frühneuhochdeutschen Wörterbuch verzeichnet.80 In der gleichen Weise wird das Wort in der Beschreibung einer Audition einer Schwester bei der Betrachtung der blühenden Bäume im Baumgarten gebraucht: vnd hatt grossen andht an den schnen lútseligen blmen der blst. Vnd gedht, wie die gti nsers herren allú ding zierret.81 An beiden Stellen sind die Ausdrücke betrahten und andht mit Verben des Denkens vernetzt, mit überdenken, gedenken und wissen.82 Die begriffliche Nähe des Wortes betrachten zu Verben des Denkens scheint nicht nur für die Viten- und Offenbarungsliteratur typisch zu sein, sondern auch für andere geistliche Schriften erbaulichen Charakters.83 Die gebräuchlichen Doppelformeln überdenken und betrachten und gedenken und betrachten zeigen, dass beim mittelhochdeutschen Wort betrahten weniger die Bedeutungskomponente der physischen visuellen Wahrnehmung, sondern die des geistigen Durchdringens dominiert. Offensichtlich ist die ursprüngliche Bedeutung von lateinisch tractare, von dem trahten und betrahten abhängen, noch immer virulent. Der Ausdruck betrahten findet sich in allen Diskurszusammenhängen und Textsorten; im volkssprachigen geistlichen Schrifttum aber hat er den Status einer Leitvokabel. Hier entwickelt er ein Bedeutungsspektrum mit spezifischen Nuancierungen, wie die folgenden Beispiele zeigen. Im St. Katharinentaler Schwestern­ buch erscheint er in der Vita der Gutta Mestin im Verbund mit gedenken im Kontext einer dialogisch entwickelten Gebetsanleitung: Ain schwester fraget sy von dem gebet, das sy tet, so sy als spat nider gieng. Do sait sy ir vnd sprach: ›Jch gon mit miner betrachtung fúr nsern heren, als er z tisch sass mit sinen lieben jungern an dem iungsten nacht mal, vnd gedenk an die grundlosen min, 80 Vgl. auch ebd., Vita Nr. *55,108 f. Auch in der oben zitierten Passage aus der Einleitung zum Unterlindener Schwesternbuch, welche die Schwesternviten als Gegenstand der Andacht anpreist, zeigt sich diese Nähe von Andacht und Betrachtung, siehe bei Anm. 65. 81 Ebd., Vita Nr. 33,40–51, hier Z. 41 f. 82 Ebd., Vita Nr. 33, Z. 42, Z. 52, Z. 55, Z. 56. 83 Stellvertretend sei hier der Eucharistie-Traktat Marquards von Lindau genannt: In der dialogisch gestalteten Messauslegung scheinen die Verben betrachten und gedenken austauschbar zu sein; wiederholt begegnen sie als Doppelformel, siehe Hofmann, Eucharistie-Traktat (Anm. 4), S. 269,1; S. 269,3; S. 269,29; S. 269,33; S. 271,29; S. 273,32; S. 274,3; S. 274,13. Es handelt sich um Ausführungen des Meisters, was sein Jünger bzw. ein andechtig(es) hertz (ebd., S. 271,4 f.; S. 271,28) während der Eucharistiefeier ›betrachten‹ soll. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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die er jnen erzogt vor allen menschen, das er jnen sich selber gab z einer spisz vnd das sy die ersten warent, die die lebendigen spisz je entpfiengent. Vnd gedenk, wie der gemint junger sant Johannes da ssseklichen rwet vff dem zarten hertzen nsers heren. Vnd dis wirt mir dik jn gaistlicher wis als gegenwúrtig, als ob ich es mit minen lip­ lichen ogen sche. Darnach nim ich jn min hertz, wie nser her sin gewand von jm lait vnd sich begurt mit ainem tch vnd nider knúwet fúr sin junger vnd jn jr fss wsch jn grundloser demttikait […]. Dar nach gon ich mit betrachtung mit nserm heren vff den berg vnd sich an die grundlosen angst vnd not, mit der sin menschliche natur vmb geben ward jn dem gebet, das er do tett z sinem vatter. Vnd ich durch gon alles das liden nsers heren mit betrachttung, als fil es mir denn gegenwúrtig wirt.‹84

Das Wort betrachtung wird hier zur Beschreibung einer Technik des Betens verwendet. Demnach bedeutet betrachten, sich etwas innerlich so lange und intensiv vorzustellen, bis es gegenwärtig wird. Im zitierten Text werden die Syntagmen mit betrachtung fúr (bzw. mit) nsern heren gon und mit betrachtung durchgon gebraucht. Alternative Wendungen sind gedenken und ins hertz nemen. Betrachtung ist offensichtlich eine Imaginationstechnik, mit der die Betende die Grenzen von Raum und Zeit überwindet. Gedanklich stellt sie sich zu Jesus, sie nimmt sozusagen am letzten Abendmahl teil und begleitet ihn auf den Ölberg. Dieses innere Bild wird so lebendig, dass ihr Christus geistlich so präsent wird, als ob er körperlich anwesend wäre – historische Heilszeit und Jetztzeit fallen in eins. Die Betende partizipiert in ihrer Vorstellung am Heilsgeschehen: Vnd dis wirt mir dik jn gaistlicher wis als gegenwúrtig, als ob ich es mit minen liplichen ogen sche. Schließlich wird am Schluss des Abschnitts das als ob durch als fil (›so sehr‹) ersetzt: Vnd ich durch gon alles das liden nsers heren mit betrachtung, als fil es mir denn gegenwúrtig wirt. Mit der Betrachtung wird das Leiden Christi so sehr gegenwärtig, dass es mehr als eine mentale Vorstellung ist – es wird zur erfahr­baren Wirklichkeit.85

5. Vergleichbare Schilderungen finden sich in Heinrich Seuses deutschen Schriften. Das 13. Kapitel der Vita hat die Einübung in die Betrachtung des Leidens Christi zum Thema, die dem diener der ewigen wisheit vorerst schwer fällt: so er aber únsers herren marter solte betrahten und sich dar in mit nachvolge solt ge­

84 Meyer, ›St. Katharinentaler Schwesternbuch‹ (Anm. 73), Vita Nr. *55,80–95. 85 Von einer eigentlichen ›Bildtheorie‹ spricht Thomas Lentes in Bezug auf die in Gebetanleitungen und Passionstraktaten propagierten Imaginationstechniken, ders., Gebetbuch und Gebärde. Religiöses Ausdrucksverhalten in Gebetbüchern aus dem Dominikanerinnen-Kloster St. Nikolaus in undis zu Straßburg (1350–1550), 2 Bde., Münster 1996. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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ben, daz waz im swer und bitter.86 Die Leidensbetrachtung zielt hier auf Nachfolge und emotionale Teilhabe, auf ein cristfrmig mitliden alles des, daz sin herr und sin got Cristus vor hate geliten; die erforderliche Offenheit für das Mitgefühl wird als des lidens enpfintlichkeit bezeichnet.87 Die Technik, die sich der Diener dafür aneignet, ist nicht allein gedankliche Arbeit. Vielmehr kombiniert er seine innere Imagination mit der Bewegung des Körpers: Während er den Kreuzgang des Klosters Seite um Seite durchschreitet, geht er in Gedanken den Leidensweg Christi Station für Station durch, indem er in seiner Vorstellung Christus vom Abendmahl bis zur Richtstätte begleitet. Auch hier ist die Konzentration auf die Imagination so stark, dass sich die Grenze zwischen der Jetztzeit und dem vergangenen Heilsgeschehen aufzulösen scheint: Und daz bild waz im etwen als ge­ genwúrtig, reht als ob er liplich an siner [Christi] siten giengi (B 36,4 f.). Nicht nur Christus dient als Identitätsfigur zum Miterleben der Passion. In seinem alternativen inrlichen krúzgang vergegenwärtigt sich der Diener das Leiden Christi aus der Perspektive Mariens. Bei der Prozession am Schluss der Complet während des Singens des Salve Regina stellt er sich vor, an der Seite der trauernden Maria zu gehen, um sie nach der Grablegung ihres Sohnes in betrahtunge heim zu geleiten.88 Auf diese Weise preist und tröstet er die Gottesmutter Schritt für Schritt mit den Worten des Salve Regina und erbittet ihre Fürsprache. Da die beschriebene geistige Übung während der Prozession des Konvents vollzogen wird, werden die Kniebeugen als Zeichen seiner Verehrung Mariens nicht körperlich, sondern nur in Gedanken ausgeführt.89 Unter wechselnder Perspektive, jener des leidenden Christus und jener der mitleidenden Maria, überwindet der Diener in betrahtunge die Grenzen von Raum und Zeit.90 Mit seiner Körper und Geist involvierenden Betrachtungs- oder Imaginationstechnik erinnert er nicht einfach die Heilstatsachen, sondern er partizipiert gleichermaßen am Heilsgeschehen. Auch die entgegengesetzte Bewegung ist denkbar: Während sich der Diener im 13. Kapitel der Vita gedanklich in das historische Heilsgeschehen hineinversetzt, holt er im siebten Kapitel umgekehrt Gott und Maria in seine eigene Gegenwart hinein, indem er sie in seiner Vorstellung an seinem klösterlichen Alltag partizipieren lässt. Während der Mahlzeiten setzt er die ewige Weisheit mit sich an den Tisch und bittet sie um ihre Gegenwart: So er ze tisch solte gan, so knúwet er nider mit inrlicher betrahtung sines herzen fúr die ewigen wisheit, und bat die vil 86 Heinrich Seuse, Deutsche Schriften, hg. von Karl Bihlmeyer, Stuttgart 1907 (Nachdruck Frankfurt a. M. 1961) [B], hier B 34,6–8. 87 B 34,17 f.; 34,20 f. (und daz er munder und waker in des lidens enpfintlichkeit belibi). 88 B 36,20–37,21, hier 36,20–26. 89 Also machet er in sinem herzen drie venjen, mit din er si in betrahtunge wider hein frte, B 36,25 f., vgl. B 36,28 f.; und denn enpfie er si aber mit einer inner herzklichen venje in den wor­ ten: Eya ergo advocata nostra etc., B 37,7–9; Aber die driten inrun venje machet er vor der túre des huses sant Annen ir mter, B 37,14 f. 90 B 36,22; B 36,26; vgl. B 35,12: mit der betrahtunge. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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getrúlich, daz si mit ime ze tische giengi und mit im enbissi (B 24,11–13). Mit dieser im mentalen Innenraum des herzen stattfindenden betrahtung wird die Bitte um die Gegenwart Christi verbunden: ›[…] daz du mir och húte din zarten ge­ genwúrtikeit verlihest‹ (B 24,16). Wenn sich dann der Diener an der Seite Christi sieht und sich an dessen Brust lehnt, schlüpft er in seiner Vorstellung in die Rolle des Lieblingsjüngers beim letzten Abendmahl (B 24,19, vgl. Io 13,25). In der Weihnachtszeit bietet er in siner betrahtung bei Tisch das eine Viertel seines Apfels Maria für ihr Kind an.91 Wie bei der imaginierten Partizipation des Dieners am Leidensweg Christi wird auch für diese geistige Übung der Ausdruck betrah­ tunge verwendet. Bemerkenswert ist, dass die geschilderten Betrachtungstechniken immer wieder auf die Herstellung göttlicher Präsenz zielen, wie sich an den in diesem Kontext auftauchenden Ausdrücken gegenwúrtikeit und gegenwúrtig ablesen lässt. Die Betrachtung des Leidens ist auch Leitthema von Seuses Büchlein der Ewigen Weisheit. Da dieses im Horologium Sapientiae zugleich in einer lateinischen Bearbeitung des Autors vorliegt, ist es ein weiteres Mal möglich, vergleichend die Interferenzen zwischen deutscher und lateinischer Begrifflichkeit in den Blick zu nehmen. Während beim oben analysierten Unterlindener Schwesternbuch die Übertragung vom Latein in die Volkssprache erfolgte, verläuft hier die Übersetzung in umgekehrter Richtung vom Deutschen ins Latein. Dabei wird sich zeigen, dass dies bezeichnende Unterschiede zur Folge hat: Während dort das Wort andaht konsequent für devotio gebraucht wird und der volkssprachige Ausdruck damit die Bedeutung des lateinischen Wortes übernimmt, wird hier die deutsche Vokabel betrahtung im Lateinischen mit verschiedenen Termini wiedergegeben, so dass im Latein die spezifische Bedeutung des deutschen Ausdrucks in seinem jeweiligen Kontext präzisiert wird. Die Niederschrift des Büchleins der ewigen Weisheit wird mit der (auch im 13. Kapitel der Vita geschilderten) anfänglichen Unfähigkeit des Dieners der Ewigen Weisheit zum mitleidvollen Betrachten des Leidens motiviert. In der Klage über diese ihm mangelnde Fähigkeit, die das Büchlein eröffnet, erscheint das Verb betrachten in der (in den einschlägigen historischen Wörterbüchern nicht nachgewiesenen) Fügung betrahten nah, wobei das präpositionale Objekt den Gegenstand der Betrachtung benennt: Es stnd ein bredier ze einer zit nah einer metti vor einem kruzifixus und klaget got inneklich, daz er nit konde betrachten nah siner martter und nah sinem lidenne.92 Die offenbarte Anleitung verbindet auch hier die Leidensbetrachtung mit körperlichen Übungen, sie fordert einen Wechsel von Kniebeugen, geistigen Betrachtungen und persönlichen Bitten: 91 er bot es in siner betrahtunge der zarten mter, daz sú es ir lieben jungen súnlin gebi, B 25,24 f. 92 B 196,2–5, siehe auch B 257,12, B 257,15 f. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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›du solt hundert venjen machen und iedie venje mit einer sunderlichen betrahtunge mins lidennes und die betrahtunge mit einer begerunge, und ein ieklichs liden sol dir geistlich in gedruket werden, daz selb durch mich wider zu lidenne, als verre es dir muglich ist.‹93

Die programmatische, als göttliche Offenbarung legitimierte Anleitung zur Leidensbetrachtung bezweckt das Mitleiden im Vollzug. Der Text entwickelt damit eine performative Dynamik, die den Rezipienten affizieren und zum Mitleiden bewegen soll, um sich Christus im Leiden anzugleichen. Das Bedeutungsspektrum der Schlüsselwörter betrahtunge und betrahten gewinnt an Profil, wenn man die lateinische Übertragung vergleichend heranzieht. Im Horologium Sapientiae wird betrahten nämlich durch die Wendung ­affectum fervidum habere wiedergegeben, durch eine Formulierung also, die das emotionale Involviertsein, das das deutsche Verb offensichtlich konnotiert, explizit macht: quod affectum tam fervidum ad suam passionem, prout dignum es­ set, non haberet steht für daz er nit konde betrachten nah siner martter und nah sinem lidenne.94 Für die offenbarten hundert Betrachtungspunkte werden anschließend verschiedene Ausdrücke verwendet  – meditationes, considerationes, materiae –; der lateinische Text scheint sich hier mit der Variation des Vokabulars vorsichtig an das nicht scharf umrissene Bedeutungsspektrum des deutschen Wortes betrahtunge heranzutasten und mit seiner differenzierteren Begrifflichkeit zu präzisieren.95 Das deutsche Wort betrahtung steht ja zugleich für den Akt des Betrachtens (meditatio, consideratio) als auch für dessen Inhalte (materiae). Das 14. Kapitel des Büchleins der ewigen Weisheit zum Nutzen der Passionsbetrachtung (Von unsaglicher gti der betrahtunge des gtlichen lidens) bringt eine Fülle verschiedener Wendungen für das Betrachten der Passion: Betrachtung wird hier umschrieben als dich, den gekrúzigeten Jesum, ze allen ziten vor den gen sins herzen tragen (B 256,13 f.). Das metaphorische Sprechen von den Augen des Herzens als dem Wahrnehmungsorgan für das Leiden begegnet auch in der Rede der Ewigen Weisheit, die jenen Menschen als so reht selig preist, der das Leiden wie ein lebendes bch […] ze allen ziten vor sinen gen hat und dar an studieret (B 256,19–21). Die Passionsbetrachtung spielt sich also im mentalen In 93 B 196,8–12. 94 Pius Künzle (Hg.), Heinrich Seuses Horologium sapientiae. Erste kritische Ausgabe unter Benützung der Vorarbeiten von Dominikus Planzer, Freiburg (Schweiz) 1977, S. 369,9 f., vgl. B 196,2 f. 95 Siehe Künzle, Horologium (Anm.  94), S.  369,11–16: statim quasi in exstasi positus, ­lumine quodam caelesti illustratur et eius mentalibus oculis centum meditationes seu considera­ tiones suae passionis ostenduntur, sibique dicitur, quod omni die debeat has centum materias cum centum veniis devota meditatione transcurrere et totidem petitiones adiungere ac se Christo passo spiritualiter, quantum possibile est, in eisdem conformare. Vgl. B 196,7–12 (siehe das Zitat bei Anm. 93) – im Deutschen war diese göttliche Offenbarung als direkte Rede gestaltet. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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nenraum ab. Neben der wachen Aufmerksamkeit erfordert sie Zeit und Gelegenheit (zit und stat).96 Die wiederholte Formulierung ze allen ziten zeigt, dass die Betrachtung mehr ist als eine zeitlich begrenzte geistliche Übung: sie ist eine Lebenshaltung.97 Das Betrachten soll emotional bewegen, Christi pinliches liden soll (ingrúntlich) ze herzen gan, es soll die Augen von Tränen überfließen lassen (daz es usser minen gen einen vliezenden brunnen der bitterlichen trehen nacht und tag hetti gemachet).98 Die Ewige Weisheit betont in ihrer Anleitung zum richtigen Betrachten ebenfalls die Notwendigkeit, der Betrachtung ausreichend Zeit einzuräumen und sich emotional bewegen zu lassen, damit Andacht aufkommen kann: Die betrahtung nach miner marter könne nit mit einem ilenden úber­ varne geschehen – denn so bliebe daz herz […] als unberrt mit andaht, als der mund mit unzertribnem szholze –, sondern mit herzklicher minne und mit einem kleglichen úbergenne. Man könne das Leiden entweder mit weinenden gen úber­ trahten oder, wenn man dazu nicht fähig sei, seiner Heilswirkung wegen mit lachendem herzen úbergan oder, wenn auch dies schwerfalle, in der túrri dins her­ zen úbergan.99 Die Verben úbervarn, úbergan und úbertrahten umkreisen hier die Bedeutung von betrahten. Zeit und emotionale Anteilnahme sind Voraussetzungen einer nutzbringenden Leidensbetrachtung. Auch in diesem Abschnitt haben die deutschen Ausdrücke betrahtung oder betrahten keine festen Entsprechungen im lateinischen Text. Im 14. Kapitel des Horologiums erscheinen dafür die Termini meditatio und meditari, memoria (passionis), recordatio und rememora­ tio.100 Wiederum wird also das deutsche Vokabular im lateinischen Text durch verschiedene Ausdrücke variiert und präzisiert. Der dritte Teil des Büchleins der ewigen Weisheit gebraucht für die offen­barten Betrachtungspunkte konsequent den Ausdruck betrahtunge. Das Wort andaht wird hier in der gleichen Art wie in den Rubriken zu den Gebeten verwendet: Daz dritte teil hat die hundert betrachtunge und begerunge mit kurzen worten, als man sú alle tag mit andaht sprechen sol.101 Schaut man sich den Inhalt der Betrachtungspunkte an, so wechseln sich narrative Sequenzen zur Passionsgeschichte ab mit eigentlichen ›Schaubildern‹, in denen die erzählte Zeit stillsteht. Diese Schaubilder greifen einzelne Szenen aus dem Erzählablauf heraus, um sie durch eine eingehende Beschreibung einer intensiveren Betrachtung darzu­ bieten. Das Verfahren ist jenem von Andachtsbildern vergleichbar, die ebenfalls Momente der Passion herausgreifen und der »kontemplativen Versenkung«

96 B 254,9; B 257,16. 97 B 256,14; B 256,20; B 257,11. 98 B 257,8; B 257,11; B 257,27; B 257,8–10. 99 B 257,15–24, vgl. Künzle, Horologium (Anm. 94), S. 494,28–495,12. 100 Künzle, Horologium (Anm.  94), S.  492,9; S.  494,10; S.  494,25; S.  494,28; S.  495,1 f.; S. 495,8; S. 495,13; S. 495,25; S. 496,9. 101 B 314,8–10; vgl. B 314,16 und B 325,16 f. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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(Panofsky) anbieten.102 Wie Hans Belting mit Blick auf die imago pietatis zu Recht betont, ist der aus dem historischen Zusammenhang herausgelöste und als Einzelfigur inszenierte Christus eine veränderte imago in dem Sinn, als dass die dargestellte Person in einem spezifischen Zustand, in forma pietatis gezeigt werde. Gegenüber der Kreuzigung oder dem Cruzifixus biete die imago pietatis, welche die Präsenz des vom Leiden gezeichneten Toten suggeriere, eine andere Erlebnisform an. Das Bild ermögliche ein Erlebnis von Nähe und von Ähnlichkeit. Die imago wird zum »Erlebnisbild«, das den Betrachter affektiv zu erreichen sucht. Mit Bildtafeln der Passion werde »eine theologische Kontemplation an­ geboten, die der Betrachter auch als affektive ›Einfühlung‹ in die Glaubensmysterien vollziehen konnte, ohne theologisch spekulieren zu müssen«.103 Die in den Hundert Betrachtungen entwickelten sprachlichen Bilder zeigen durchaus eine gewisse Nähe zu den Motiven und vor allem zu den von Belting skizzierten Funktionen von Andachtsbildern. Die wiederholten Beschreibungen des geschundenen Körpers Christi am Kreuz, die eindringliche Schilderung des Schmerzes der Gottesmutter beim Anblick ihres gekreuzigten Sohnes oder die Kreuzabnahme und die Beweinung des blutigen Körpers durch Maria, die die noch frischen Wunden küsst, bieten Szenen der Passion ebenfalls zum Mitfühlen und Mit­ erleben an. Die Betrachtungspunkte entwickeln damit eine Dynamik, die den Rezipienten ins Geschehen involviert, wie beispielsweise die Beschreibung des Leichnams Christi im Schoße seiner Mutter veranschaulichen kann: O wunneklicher glanz dez ewigen liechtes, wie bist du nu in disem anblicke, als dich min sele selber under dem krúze uf der schosse diner trurigen mter also tten mit klage und danke umbvahet, so gar erlschen! Erlsch in mir die brinnenden begirde aller untugende! (B 321,22–26)

Der Text involviert hier den Rezipienten genauso wie bildliche Darstellungen der ›Pietà‹, die den toten Körper Christi im Schoße seiner Mutter als dem Betrachter zugewandt darstellen und eine geradezu taktile Nähe suggerieren. Wie die hier beschriebene Szene sind die Motive nicht immer im biblischen Bericht verankert, 102 Erwin Panofsky hatte 1927 das Andachtsbild in Abgrenzung vom szenischen Histo­ rienbild und kultischen Repräsentationsbild dadurch definiert, dass es dem Betrachter den Bildgegenstand zur »kontemplativen Versenkung« anbietet (siehe Anm. 30): Die neuen Bild­ typen entstünden dadurch, »[…] daß aus geeigneten szenischen Darstellungen bestimmte Einzelgruppen oder Einzelgestalten herausgelöst werden, in denen die Handlung selbst zum Stillstand gebracht, dafür aber dem mit der Handlung verbundenen Gefühlserlebnis eine der kontemplativen Versenkung zugängliche Dauer verliehen erscheint […]«. So werde aus der Kreuztragung der »Kreuzträger«, aus der Geißelung »Christus am Marterpfahl« usw., Panofsky, »Imago Pietatis« (Anm. 30), S. 264–266. Zu Recht betont Hans Belting, dass es nicht reiche, vom »Wechsel der historia zur imago zu sprechen«: Das Passionsbild biete den Cruzifixus dem »affektiven Nacherleben« dar; Belting, Bild (Anm. 30), S. 18 f. Zur Ausein­ andersetzung mit Panofsky siehe auch ebd., S. 69–104. 103 Ebd., S. 31, vgl. auch S. 18 f. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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vielmehr können sie diesen auch szenisch ergänzen und ›weiterdenken‹. Der Stimulierung und Intensivierung des Mitleidens des Rezipienten dienen neben diesen ›Schaubildern‹ auch die wechselnden Perspektiven auf die Passion. In den Hundert Betrachtungen wechselt der Point of View zwischen dem direkten Blick auf den leidenden Jesus und dem durch die mitleidende Gottesmutter gebrochenen Blick. Dies erlaubt es, sich im Akt des Lesens bzw. Betens abwechselnd mit Christus und mit Maria zu identifizieren, um so die eigene compassio zu intensivieren. Der aus unterschiedlichen Perspektiven wiederholte Blick auf den ge­ marterten Körper Christi verleiht dem Text eine repetitive Struktur und damit eine besondere Eindringlichkeit. Der Diskurs über den Wert und die richtige Form der Passionsbetrachtung ist bei Seuse verschränkt mit der Erörterung des Geltungsanspruchs des volks­ sprachigen Idioms. Im Büchlein der Ewigen Weisheit wird die deutsche Sprache explizit als Sprache göttlicher Offenbarung in Anspruch genommen: Und dar umb so screib er die betrahtunge an und tet daz ze tútsche, wan sú im och also von gotte waren worden (B 197,10 f.). Bemerkenswert ist, dass im Horologium mit dem Argument der brevitas von einer Übertragung der Betrachtungen ins Latein abgesehen wird: Gelehrte wie Ungelehrte (doctis et indoctis) werden im Prolog auf den deutschen Text verwiesen.104 Die Volkssprache ist also nicht bloß die Sprache der Ungelehrten, deren Wahl durch die fehlenden Lateinkenntnisse des Ziel­publikums bedingt wäre. Die Gründe für den Verzicht auf die Übersetzung dürften in ihrer größeren Unmittelbarkeit zu suchen sein sowie in ihrer semantisch-begrifflichen Flexibilität, die den Rezipienten emotional weit stärker zu bewegen vermag und ihm weitere Assoziationsräume eröffnet als das Latein. In solchen Äußerungen scheint das historische Bewusstsein des ›spirituellen Mehrwerts‹ der Volkssprache greifbar zu werden. Die Inszenierung des Deutschen als Sprache göttlicher Offenbarung und der explizite Verzicht auf eine Übersetzung der Betrachtungspunkte weisen der Volkssprache einen Wert zu, der jenem des Lateins mindestens ebenbürtig ist. Am (deutschen!) Wortlaut der göttlichen Offenbarung soll und darf denn auch nichts geändert werden, wie aus der Anweisung an die Adresse der Abschreiber hervorgeht, denen im Falle von Eingriffen mit der Rache der ewigen Weisheit gedroht wird.105 Seuse verwendet die Vokabeln betrahten oder betrahtung in erster Linie zur Bezeichnung einer spezifischen Technik zur Meditation des Leidens Christi, die die mitleidvolle, innere Anteilnahme stimulieren soll. Mittel dazu ist die Imagi 104 Quas [die Hundert Betrachtungen] tamen hic causa brevitatis explicite ponere omisi, sed devotis personis, doctis et indoctis, in nostro vulgari videlicet teutonico fideliter communicavi, Künzle, Horologium (Anm. 94), S. 369,16–370,1. 105 Siehe B 325,18–28. Die Stelle wird nur in dem separat tradierten Büchlein der Ewigen Weisheit überliefert (ebd.). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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nation der eigenen Anwesenheit bei der Passion: Das betrachtende Subjekt lässt in seiner Vorstellung die Protagonisten der Heilsgeschichte lebendig werden. Es versetzt sich geistig ins Geschehen, indem es sich in der Rolle von Christus, Maria oder Johannes sieht oder als deren Gegenüber fiktive Gespräche mit ihnen führt. Die durch diese Betrachtungstechnik angestrebte emotionale Partizipation am heilbringenden Leiden zielt auf Christusförmigkeit. Die innere Leidenshaltung soll den Menschen dazu bringen, das eigene Leid als gottgegeben anzunehmen: ›[…] Stant uf und vergang dich in min liden, so úberwindest du din liden!‹ (B 257,1 f.) Wie Peter Ulrich herausgearbeitet hat, dient das eingeforderte Leiden als asketische Übung der Einübung in die Grundhaltung der Gelassenheit und damit der Vervollkommnung des Menschen. Die Angleichung an den leidenden Christus ist »unumgängliche Vorbedingung«106 der unio. Die Betrachtung als Imaginations- oder Meditationstechnik hat ihren Ort im Kontext einer christuszentrierten Frömmigkeit. Bei Seuse häufen sich die Belege zu betrahten oder betrahtung im ersten Teil der Vita auf der einen und im Büchlein der Ewigen Wahrheit auf der anderen Seite. Bezeichnenderweise sind die beiden Ausdrücke in den spekulativ ausgerichteten Schlusskapiteln der Vita nur sporadisch anzutreffen, ist doch hier die affektiv orientierte Leidensbetrachtung kein Thema mehr. Tauchen die Ausdrücke doch einmal auf, so unterscheiden sich deren Verwendungsweisen von jenen im Kontext des Leidens. So ist beispielsweise bei der Aufforderung, das Wesen des dreifaltigen Gottes im Bild des ins Wasser geworfenen Steines zu reflektieren, der im Wasser Kreise bildet, von der biltlichen betrahtung die Rede: Hie sezz in diner biltlichen betrahtung.107 Das geforderte Nachdenken über das dreifaltige Wesen Gottes zielt nicht mehr auf emotionale Anteilnahme, sondern auf rationale Reflexion.

6. Während die Gebete oder Seuses Hundert Betrachtungen Anweisungen für die praktische Umsetzung von andaht und betrahtung geben und die Schwesternviten oder die Vita Seuses den Vollzug narrativ beschreiben, entfalten die Predigten das Thema diskursiv und bieten damit explizite Semantisierungen. Eine Predigt von Johannes Tauler zur Kirchweihe, die vom wesen der andaht 106 Vgl. Peter Ulrich, Zur Bedeutung des Leidens in der Konzeption der ›philosophia spiritualis‹ Heinrich Seuses, in: Rüdiger Blumrich und Philipp Kaiser (Hg.), Heinrich Seuses Philosophia spiritualis. Quellen, Konzept, Formen und Rezeption. Tagung Eichstätt 2.–4. Oktober 1991, Wiesbaden 1994, S. 124–138, bes. S. 131–133 und S. 138, hier S. 132: »In der com­ passio mit Christus soll sich der Mensch auf seinem Weg zur Gelassenheit einüben. Denn darin zeigt sich die eigentliche Gelassenheit, das Leid in rechter Weise anzunehmen, nämlich so, wie es Christus angenommen hat.« 107 B 191,15. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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handelt, enthält eine eigentliche Explikation des Wortes.108 Ausgehend vom Bibelvers Domus mea domus oracionis vocabitur des Berichts über die Vertreibung der Kaufleute aus dem Tempel im Matthäus-Evangelium (Mt 21,12–17), wird der Mensch als Tempel Gottes bezeichnet – sein Inneres soll zum Ort des Gebets werden: Unser herre het uns selber alhie gelert wie es darz komen sol das unser innewendikeit werde ein hus des gebettes, wan der mensche ist eigenlich ein heilig tempel Gotz (V 78, S. 418,15–17). Wie Jesus die Händler aus dem Tempel vertrieben hat, muss auch der Mensch alles, was ihn von Gott trennt, aus seiner Seele verbannen, um die verlorene Gottebenbildlichkeit wiederzufinden, so dass die Seele zum Tempel Gottes und damit zum Ort göttlicher Einwohnung werden kann.109 Wie die einleitenden Rubriken zu den Gebetstexten nennt auch die TaulerPredigt andaht als unabdingbare Voraussetzung für das Gelingen des Gebets: Nu dan: Z dem gebette hrt andaht (V 78, S. 419,30). Auf die rhetorische Frage, was Andacht sei, folgt die Explikation im Rückgriff auf die lateinische Vokabel de­ vocio (V 78, S. 419,30–34): Andaht, was ist daz? daz ist devocio, das ist also vil gesprochen also ›quasi se vovere deo‹, ein innewendig verbinden mit Gotte mit einer bewegunge der ewikeit. Wenne du dich Gotte also verbindest, alsus gelobest, so hest du andaht, du sist wo du sist oder waz gter wercke du tst, welicher kunne die sint.

Das deutsche Wort andaht wird hier also durch den lateinischen Ausdruck devo­ cio ersetzt, dessen Bedeutung durch die etymologisierende Herleitung aus ›quasi se vovere deo‹ (›sich gewissermaßen Gott versprechen‹) erklärt wird.110 Dies wird dann als ein innewendig verbinden mit Gotte mit einer bewegunge der ewikeit in die Volkssprache rückübersetzt, wobei das deutsche Interpretament den Aspekt der Überzeitlichkeit (ewikeit), die das lateinische Verb vovere konnotiert, explizit macht. Andacht ist damit mehr als bloß die ›innere Sammlung der Gedanken beim Beten‹, die, wie die Predigt einleitend ausführt, dadurch erreicht wird, dass alle äußeren Reize aus der Seele verbannt werden, um diese zum Ort der göttlichen Präsenz werden zu lassen. Wahre Andacht als ›Hingabe an Gott‹ ist gleich 108 Die Predigten Taulers aus der Engelberger und der Freiburger Handschrift sowie aus Schmidts Abschriften der ehemaligen Straßburger Handschriften, hg. von Ferdinand Vetter, Berlin 1910 (Nachdruck Dublin, Zürich 1968) [V], Pr. 78, S. 418,10–421,34, hier S. 418,11 f. Vgl. dazu Louise Gnädinger, Johannes Tauler. Lebenswelt und mystische Lehre, München 1993, S. 261–272, bes. S. 266 f. 109 Diser tempel, die sele, daz ist der minnencliche tempel Gotz, do Got in der worheit inne wo­ net, so alle ungelicheit usgetriben ist und gerumet ist, V 78, S. 418,21–23. 110 Moderne etymologische Wörterbücher leiten devotio von devotare (›eine Gottheit anrufen‹), dem Intensivum von devovre (›durch Gelübde geloben, weihen‹) her, vgl. Tullio De Mauro und Marco Mancini (Hg.), Garzanti. Dizionario etimologico, Mailand 2000, S. 561. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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bedeutend mit der ›Verbindung mit Gott‹.111 Sie ist ein wesenhafter Zustand der Gottesnähe und -verbundenheit, der unabhängig ist von Ort und ausgeübter Tätigkeit – er stellt sich also nicht nur während des Betens in der Kirche oder der Zelle ein: Wenne du dich Gotte also verbindest, alsus gelobest, so hest du andaht, du sist wo du sist oder waz gter wercke du tst, welicher kunne die sint (V 78, S. 419,32–34). Die Art der gemeinten Andacht wird in einem nächsten Schritt ex negativo gefasst und nochmals präzisiert: Daz ist kein not daz man allewegent ju­ biliere oder grosse sssekeit habe, das ist wol ein zval; mer daz wesen der andaht lit an diseme innewendigen ergebende oder vereinigen oder verbinden mit Gotte (V 78, S.  419,34–37). Die Ausdrücke innewendige[s] ergebende, vereinigen und verbinden mit Gotte erscheinen hier in synonymer Verwendung für andaht. Die Bedeutung des Wortes, die die Predigt hier umkreist, meint also nicht den Gnadenzustand des Erfülltseins mit göttlicher Gnade im iubilus – als zval steht dieser außerhalb menschlicher Verfügbarkeit –, sondern jene Gottesnähe und E ­ inung, die der Mensch durch eigenes Bemühen erreichen kann, durch seine innere Sammlung und die bedingungslose Hingabe an Gott. In vergleichbarer Weise wurde im Unterlindener Schwesternbuch zwischen andaht als menschlicher Leistung und gnade als göttlicher Gabe unterschieden. Unter Berufung auf Hilarius beschreibt die Predigt in ihrem zweiten Teil das Wesen der Andacht: Als wesentliche Voraussetzungen für Andacht werden warer gloube, ein vernunftig bekennen Gottes und das gebet genannt.112 Die drei Punkte Glaube, Gotteserkenntnis und Gebet werden Schritt für Schritt auseinandergefaltet. Interessant ist, dass die Gotteserkenntnis nicht als intellektuelle Leistung, sondern als Konsequenz des Glaubens beschrieben wird. Mit einem lebendigen Glauben brauche man nicht angestrengt nach der Erkenntnis Gottes zu suchen, da sich diese einfach einstelle, sich von selbst im Glauben offenbare: Das Reich Gottes liege in einem selbst, weswegen jeder, der in sich ruhe, die Wahrheit kenne (V 78, S. 420,35–41). Diese Gotteserkenntnis, die sich nicht der Kenntnis der Schrift, sondern der Andacht verdankt, wird anschließend gegen die Buchgelehrsamkeit ausgespielt: Das Wissen der Pariser Theologen kann sich nicht mit jener Gotteserkenntnis messen, die in 111 Auch die in den Wörterbüchern zitierte Definition des Wortes andacht in einer Predigt Taulers zu Christi Himmelfahrt definiert Andacht als inneres Verbundensein mit Gott: Kinder, wesenliche andaht das ist ein gemtlich anhangen Gottes mit einem bereiten gemte, minnen und meinen alles daz Gotte zgehret, und das man sich innerlich Gotte verbunden habe und welle und meinen in allen dingen (V 84, S. 14–17). Andacht zu haben bedeutet also, mit seinem Denken, Lieben und Wollen ganz auf Gott ausgerichtet zu sein. V 20, S. 84,20–84,26, vgl. Mittelhochdeutsches Wörterbuch (Anm. 13), Bd. 1, Sp. 228. 112 V 78, S. 419,39–420,3. Vgl. auch die Inhaltsangabe zu Beginn der Predigt, die diese drei Punkte folgendermaßen benennt: Ein andere usslegunge von der kilwihen seit von dem wesen der andaht, darz man kummen ms durch drú stúcke iegliches underscheidenliche mit sinen zvellen: das erste ist geworer gloube, das ander ist ein vernunftig bekennen Gottes, das dirte ist gebet; ebd., V 78, S. 418,11–14. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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der Andacht gründet.113 Allein im Tempel des Innern als Ort der Andacht ist die Erkenntnis der tiefsten Wahrheit über das Wesen Gottes und die Erfahrung seiner Gegenwart (wore gegenwertikeit, V 78, S. 421,13) möglich. Hier lässt sich all das erfahren, was den Gelehrten entgeht: Wer dis befunden [›erfahren, erkannt‹] hat, der weis dis alleine; dis ist allen kunstenrichen meistern noch den wisen un­ bekant (V 78, S. 421,14 f.). Als dritter Punkt wird das Gebet nach der Definition von Johannes Damascenus umschrieben als ufgang des gemtes in Gotte und als vereinender inker des geschaffenen geistes in den ungeschaffenen geist Gottes mit eime fúrsatze das do wurt beweget von ewikeit der gotheit.114 Das Gebet ist damit »eine vereinigende Einkehr des geschaffenen Geistes [des Menschen] in den ungeschaffenen Geist Gottes«,115 wobei der Beweggrund zu dieser Einung seinen letzten Ursprung in Gott hat. Die Andacht, die in dieser Tauler-Predigt als vom Mensch gewollte und durch die innere Sammlung geleistete Annäherung an Gott und Verbindung mit ihm verstanden wird, gründet damit letztlich in Gottes Willen. In der Andacht des Gebets verliert sich der Mensch selbst und wird eins mit Gott. Andacht in der hier definierten Form führt zu einer Gotteserkenntnis, die in der Erfahrung gründet. Sie ist deswegen in ihrer vollendeten Form nicht mehr vermittelbar: Waz daz si und wie daz si, do ist bas abe z bevindende danne z sprechende; dis ist also ungelich und also kleine das hievon ist gesprochen, also einer nalden puntelin gegen dem grossen himel (V 78, S. 421,30–32). Andacht gehört in den Kontext einer auf der Erfahrung basierten Frömmigkeit, die eine Möglichkeit der Annäherung an Gott und der Gotteserkenntnis jenseits von theologischer Schriftgelehrsamkeit eröffnet. Diese erfahrungshafte Gotteserkenntnis übertrifft für Tauler jede intellektuelle Gotteserkenntnis. Sie schließt die größte denkbare Einheit ein, die Selbstverlust im Einssein mit dem göttlichen Geist bedeutet.

113 Die grossen meister von Paris die lesent die grossen bcher und kerent die bletter umb; es ist wol gt, aber dise lesent das lebende bch, do es alles inne lebet, sú kerent den himel und das ertrich umb und lesent daz wunderliche werg Gottes, und gent vor an daz underscheit der heilgen engeln und kumment vorn an die obersten botschaft der heilgen drivaltikeit, wie der vatter den sun ­eweclichen geborn het, wie daz ewecliche wort ewecliche het gespilt in dem vetterlichen hert­ zen, und wie der heilge geist flússet von in beden, und wie die heilge drivaltikeit sich ergússet in alle selige geiste und wie sú sich wieder ergiessent in wunderlicher selikeit. […] Das ist das wore leben in disem tempel, dis ist daz edel wartespil, hie ist der oberste priester in sime eigen palaste, hie ist das riche ervolget, wenne hie ist die wore gegenwertikeit in der alles leit, alles liden verswin­ det; V 78, S. 421,1–14. 114 V 78, S. 421,20–22, vgl. Gnädinger, Tauler (Anm. 108), S. 265 f. 115 Ebd., S. 267. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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7. Eine Eucharistie-Predigt aus dem Korpus der Engelberger Predigten diskutiert das Thema Andacht im Kontext des Kommunionempfangs.116 Bei den Engel­berger Predigten handelt es sich um eine heterogene Sammlung deutscher Predigten, die um die Mitte des 14. Jahrhunderts entstanden und vermutlich für die Engelberger Benediktinerinnen redigiert worden sind, aus deren Bibliothek drei Handschriften des ausgehenden 14.  Jahrhunderts stammen.117 Sie stehen den Predigten Taulers nahe, die sie bisweilen wörtlich zitieren.118 Unter zwölf Punkten erörtert die Predigt die Voraussetzungen eines würdigen Kommunionempfangs. Ausgangspunkt ist der Vers Dicite invitatis ut venirent quia parata sunt omnia der Perikope zum zweiten Sonntag nach Pfingsten mit dem Gleichnis vom großen Gastmahl, zu dem der Hausherr Leute von der Straße einlädt, nachdem sich die Geladenen mit Ausflüchten entschuldigen lassen.119 Für unsere Fragestellung von Interesse sind jene Punkte, welche die innere Vorbereitung unmittelbar vor Kommunion, den Empfang selbst und die Zeit danach betreffen, da in dieser Passage andacht und betrahtung zu zentralen Themen werden. 116 Engelberg, Stiftsbibliothek, Cod. 336, Pr. 5 (Sigle: Eb 5, vormals Sb 5), fol. 43v–53v, hier fol. 49r–53v. René Wetzel (Genf) und seinen Mitarbeiter/innen des Genfer Projekts zur Edition der Engelberger Predigten bin ich für das Überlassen der Transkription zu großem Dank verpflichtet; die folgenden Zitate stammen aus dieser Transkription. Zum besseren Verständnis habe ich den Text interpungiert. Die Ausgabe wird unter folgendem Titel erscheinen: Die Engelberger Predigten. Edition und Textgeschichte, kritisch hg. von René Wetzel und Fabrice Flückiger, in Zusammenarbeit mit Balázs J. Nemes und Mathias Stauffacher. Zur hier analysierten Predigt siehe René Wetzel und Fabrice Flückiger, Bild, Bildlichkeit und EinBildung im Dienst von Glaubensvermittlung und Einübung religiöser Praktiken in drei Eucharistiepredigten der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts (Engelberger Predigten, Engelberg, Stiftsbibliothek, Cod. 336, Eb 3–5), in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 130 (2008), S. 236–271, bes. S. 246 f., S. 262–268; Philipp Strauch, Der Engelberger Prediger, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 50 (1926), S. 1–45 und S. 210–241, hier S. 19–21. 117 Engelberg, Stiftsbibliothek, Codd. 335, 336, 337 (die drei Handschriften werden in der Forschung mit den Siglen Ea [vormals Sa], Eb [vormals Sb], sowie F zitiert). Charakterisierung und Datierung der Engelberger Predigten siehe Wetzel und Flückiger, Bild (Anm. 116), bes. S.  238–241. Siehe auch Mathias Stauffacher, Untersuchungen zur handschriftlichen Überlieferung des Engelberger Predigers, Diss. phil. Basel 1982, online zugänglich unter http:// doc.rero.ch/record/9746; Sigisbert Beck, Engelberger Prediger, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, Bd. 2, 21980, Sp. 532–535; Strauch, Engelberger Prediger (Anm. 116). 118 Siehe Wetzel und Flückiger, Bild (Anm. 116), S. 246, mit dem Hinweis auf die Belege bei Nathalie Châtelain, Die Eucharistiepredigten in der Engelberger Predigtsammlung Engelberg, Cod. 336. Unter besonderer Berücksichtigung der Predigt Eb 5, Lizentiats­arbeit (masch.) Genf 2005, Kap. 3. 119 Lc 15–24. Der zitierte Vers lautet in der Vulgata: Et misit servum suum hora cenae dicere [!] invitatis ut venirent, quia iam parata sunt omnia (Lc 14,17). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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Vorerst wird die Notwendigkeit von ausreichendem Schlaf betont: Die Nacht vor dem Kommunionempfang soll nicht mit vnordenlich vebung durchwacht werden. Bei Schlafentzug werde nämlich die menschliche Natur, so die Begründung, ungeschickt für die göttliche Gnade und unempfänglich für göttliche Gaben: Won dú natur, wenne si nút ir notdurft hat geschlaffen, so wirt si grob und vngeschiket zuo aller goetlicher gnade, und si wirt unenphengklich goetlicher gaben. Und har umb, min kint, so nim din selbs vil eben war (49r). Um empfänglich für Gottes Gnadengaben zu sein, muss der Mensch sich selbst wahrnehmen.120 Die angestrebte Begegnung mit Gott erfordert eine Haltung konzentrierter Aufmerksamkeit, welcher Übermüdung abträglich wäre. Beim Eintritt in die Kirche soll das angesprochene geistliche Kind Herz und Gemüt sammeln und alles Äußer­ liche hinter sich lassen, um sich in einikeit mit Gott zu vereinen. Der geweihte Kirchenraum ist der Ort der potentiellen Gottesbegegnung. Es genügt also nicht, die Schwelle zwischen der Außen- oder Alltagswelt und dem Sakralraum bloß physisch zu überschreiten. Mit dem Eintritt in die Kirche ist zugleich ein mentaler Akt zu vollziehen: Gefordert wird die gleichzeitige innere Sammlung und das Zurücklassen aller Gedanken an weltliche Dinge und Zerstreuungen als Voraussetzung für die Vereinigung mit Gott.121 Der nächste Punkt betont die Notwendigkeit der Liebe zum Altarsakrament um des Leidens Christi willen: Die Sehnsucht nach der Kommunion und die bedingungslose Liebe zum Sakrament kann der Mensch durch die Betrachtung des Leidens Christi erwerben: Disú minn sachet sich von dem liden Christi. Der das minnrich betrachtet, in dem moenschen wirt alsolich minne geborn.122 Die anschließende Aufforderung zur Leidensbetrachtung wird durch die Einsetzungsworte Christi beim letzten Abendmahl begründet, die vom Priester während der Eucharistiefeier wiederholt werden: Nu sol ein jeklich moensche, der das sacrament wil enphachen, vor das liden Christi betrachten, won das hat Christus selber gelert an dem nachtmale, do er sprach zuo sinen jungern: ›Hoc facite in meam commemorationem [Lc 22,19]. Dis tuond in der an­ gedenknúst min.‹ Dis ist recht als ob er spreche: ›Wenne ir das sacrament enphachent, 120 Die Wendung nim din selbes war begegnet auch in den Rede der unterscheidunge Meister Eckharts, Meister Eckhart, Die deutschen und lateinischen Werke, hg. im Auftrag der Deutschen Forschungsgemeinschaft. 1. Abteilung: Die deutschen Werke [DW], Bd. I–III, V, hg. und übers. von Josef Quint, Stuttgart 1958–1976; Bd. IV,1, hg. und übers. von Georg Steer unter Mitarbeit von Wolfgang Klimanek und Freimut Löser, Stuttgart 2003; Bd. IV, 2, Lfg. 1–2, hg. und übers. von Georg Steer unter Mitarbeit von Wolfgang Klimanek, Stuttgart 2003, hier: Tr. 2, DW V, S. 196,3 f. Vgl. auch Tauler, siehe Wetzel und Flückiger, Bild (Anm. 116), S.  246. Zur Formulierung bei Tauler siehe Stefan Zekorn, Gelassenheit und Einkehr. Zu Grundlage und Gestalt geistlichen Lebens bei Johannes Tauler, Würzburg 1993, S. 123 f. Vgl. Alois M. Haas, Nim din selbes war. Studien zur Lehre von der Selbsterkenntnis bei Meister Eckhart, Johannes Tauler und Heinrich Seuse (Dokimion 3), Freiburg (Schweiz) 1971. 121 Engelberg, Stiftsbibliothek, Cod. 336, fol. 49r/v. 122 Ebd., fol. 49v. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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so gedenkent an die angst und not, dú mir gegenwúrtig was, do ich dis minnenklich spis vf saszte, und ich si lies minen geminten jungern und allen minnenden hertzen zeletzi, do ich von diser welt scheiden wolte und zuo minem vatter gieng.‹123

Betrachtung bzw. betrachten ist also commemoratio oder, in der deutschen Übertragung des biblisch fundierten theologischen Begriffs, angedenknúst der Passion. Als Ableitung von anedenken gehört das Abstraktum angedenknúst zur gleichen Wortfamilie wie andaht. Die Aufforderung, an Christi Angst und Not zu gedenken, unterstreicht diesen Zusammenhang. Durch die Semantisierung von betrahten als commemoratio wird die Leidensbetrachtung dem Altarsakrament zur Seite gestellt. Dadurch entsteht eine doppelte Bewegung. Die Eucharistiefeier ist Nachvollzug und Erneuerung des Opfertodes Christi; mit dem Text des Kanons, den kultischen Handlungen und den Gebärden des Priesters (der am Altar als Stellvertreter Christi handelt) verweist sie auf das Leiden und den Tod Jesu, der während des Aktes der commemoratio im Altarsakrament gegenwärtig wird. Mit der Betrachtung des Leidens während der Feier der Eucharistie wiederholt die Messteilnehmerin innerlich, was sich vor ihren Augen im Messritual abspielt, um so Christus in ihrem Innern Raum zu geben. Der nächste Punkt gilt dem eigentlichen Akt des Kommunionempfangs. Das geforderte vergegenwärtigende Erinnern des Leidens in der Betrachtung wird nun rückblickend als andaht bezeichnet: Das dritte stuk ist: Wenne der moensche gat in den kor und das sacrament jetz wil nemen, so sol der moensche alle andacht lassen und sol sechen, das er nútzit missetuege, da von ieman kein ergrunge moecht nemen, und sol hueten, das er mit sinen tuochren noch mit keinen dingen den priester irre noch das sacrament nút ruere noch ime kein unwirdikeit erbiete von unachtsamkeit, noch den kelch nút schútte.124

Wenn nun die angesprochene Ordensfrau sich nach vorne in den Chor begibt, um vom Priester die Kommunion in beiderlei Gestalt zu empfangen, soll sie – so die überraschende Forderung  – ihre ›Andacht‹ sein lassen, um kein Missgeschick im Umgang mit den in Christi Leib und Blut gewandelten eucharistischen Gaben zu riskieren. Die ausführliche Begründung reflektiert die Tatsache, dass diese Aussage im Widerspruch zu der sonst im katechetischen und erbaulichen Schrifttum vertretenen Ansicht steht: Nu sprechent etlich moenschen, won [›man‹] súlle also andechtig sin in dem selben gegenwúrtigen nu, so man das sacra­ ment welle enphachen, das man von andacht da nider valle. Das ist nút recht sicher ane zwivel.125 Im Gegensatz zur vorliegenden Eucharistiepredigt wird in Gebeten, in der Viten- und Offenbarungsliteratur, aber auch in Predigten meist gerade umgekehrt Andacht als Voraussetzung für einen würdigen Kommunionempfang 123 Ebd., fol. 49v–50r. 124 Ebd., fol. 50r. 125 Ebd. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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gefordert. In der Rechtfertigung der Gegenposition zeichnet sich zugleich ein spezifisches Verständnis von andacht ab: Won der moensche moecht soelich andacht haben, das er sin selbes vergesse und ime das sacrament usz dem munde enphiele, das die lúte in grosz not kemen und dem sacrament groessi unwirdikeit da von bescheche. Und dar umbe so sol der moensche allen flis dar an legen, das er denne ze mal von ussnan genuog tuege dem sacrament untz das er es genússet und usz dem kor kumet an sine stat oder an die stat, dú ime denne geordnet ist.126

Die vorliegende Textpassage ruft zugleich außersprachliches Erfahrungswissen über die Messe, deren Ablauf und Inhalte, über die an der Kulthandlung be­ teiligten Personen und deren Rollen sowie über die Orte der einzelnen Handlungen innerhalb der architektonischen Ordnung des Kirchenraums auf. Das Verständnis dieser Stelle wie des ganzen Abschnitts setzt also die Vertrautheit mit dem entsprechenden ›Wissensrahmen‹ voraus.127 Andacht als vollumfäng­liche Konzentration auf das Innere in der angestrebten Versenkung in Christi Leiden birgt also im Akt des Kommunionempfangs die Gefahr, dass dem im Altar­ sakrament nun gegenwärtigen Christus Unschickliches widerfährt: Wegen der Selbstvergessenheit der Kommunizierenden könnte die Hostie aus dem Mund fallen, der Wein könnte verschüttet werden. Folglich ist der Zustand der Andacht gekennzeichnet durch die Selbstvergessenheit (das er sin selbes vergesse), die hier als mangelnde Aufmerksamkeit (unachtsamkeit) gegenüber dem äußeren Geschehen verstanden wird. Die Abwendung von allem Äußeren in der Andacht macht den Menschen für Sinneseindrücke unempfänglich und damit unfähig, seine Umgebung wahrzunehmen und den Körper zu kontrollieren. Nach dem Kommunionempfang aber, wenn die angesprochene Nonne an ihren eigenen Platz zurückgekehrt ist, ihr aktiver Umgang mit dem substantialiter in Brot und Wein gegenwärtigen Christus vorüber ist, kann und soll die Andacht wieder einsetzen: Wenne du kumest an die stat, da du denne beliben solt mit dem sacrament, so solt du nu din andacht har wider nemen. Und recht als du vor in dem kor den mund uf tet von usznan, und du dem sacrament von usznan gnuog tet mit war nemen din selbs in uszwendiger wandlung, also solt du nu den mund diner sele uf tuon, das ist din begirde.128

Der Übergang zum mentalen Innenraum als Ort der Andacht ist markiert durch den sprachlich aufgebauten Gegensatz von außen und innen: Andacht wird hier 126 Ebd., fol. 50r/v. 127 Zum Begriff ›Wissensrahmen‹ siehe Busse, Text (Anm. 16), bes. S. 105–110, vgl. die Ausführungen oben bei Anm. 21. 128 Engelberg, Stiftsbibliothek, Cod. 336, fol. 50v. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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noch einmal aus der Perspektive der zu unterlassenden Andacht während des Empfangs des Sakraments bestimmt: Das für den Akt des Kommunionempfangs geforderte war nemen din selbs in uszwendiger wandlung steht in Opposition zu der nun erneut einsetzenden Andacht und definiert diese ex negativo. Auf der sprachlich-rhetorischen Ebene lässt sich der Übergang von äußerer Kontrolle des Körpers zur inneren Andacht zugleich im Wechsel zu metaphorischem Sprechen beobachten (mund diner sele, armen diner sele) – die brautmystische Bildlichkeit ist von der Hoheliedexegese inspiriert: Und du solt din hertzlieb umbevachen mit dien armen diner sele, vnd solt in niemer mere von dir gelassen, das du mugest sprechen mit der minnenden sele: ›Jnveni quem diligit anima mea tenui eum nec dimittam [Ct 3,4]. Ich habe funden den min sele minnet, nu wil ich inn haben und nút von mir lassen.‹ Wenne du nu sele und gemuete, hertze und begirde und alle din kreft engegen den geminten hast uf getan, so wirt dir denne etwas gegenwúrtig was du tuon solt oder wa mit du dich zuo ime keren solt. Won als du din krefte und din sele und gemuete gegen ime hast uf getan, also entschlússet er dir den minnenklichen verborgnen schatz sins lidens.129

Ziel der Andacht ist also die Öffnung von Herz und Seele für Christus, um mit ihm eins zu werden. Bemerkenswert ist, dass sich die als Umarmung beschriebene unio mit dem in der Hostie empfangenen Christus nicht während des Kommunionempfangs, sondern – zeitlich verschoben – erst im Nachhinein vollzieht. Die Einswerdung ist damit nicht unmittelbarer Effekt des Empfangs der Eucha­ ristie, sondern Resultat der eigenen Andacht, ist also ein geistlicher Akt. Die Ausrichtung aller inneren Kräfte (sele, gemuete, hertze, begirde, alle din kreft) auf Gott erschließt dem Menschen die Heilswirkungen des (in der Betrachtung vergegenwärtigten) Leidens. In der Andacht wird Christus dem Menschen gegenwärtig, sie macht ihn empfänglich für dessen Eingebungen. Es folgt eine Aufzählung von inneren Bildern, die sich nach dem Kommu­ nionempfang einstellen können: das Jesuskind in der Krippe, Christus an der Geißelsäule oder mit der Dornenkrone, unter dem Kreuz oder am Kreuz, im Grab, in der Vorhölle bei den Altvätern, bei seiner Auferstehung oder der Himmelfahrt oder schließlich als Richter über Lebende und Tote.130 Nur nebenbei sei angemerkt, dass die aufgezählten Motive festen Bildtypen entsprechen, sich aber nicht auf sogenannte ›Andachtsbildmotive‹ beschränken. Es handelt sich ausnahmslos um Bilder für den Mensch gewordenen Sohn Gottes. Diese Bilder, in denen Christus nach dem Kommunionempfang gegenwärtig wird (der Ausdruck gegenwúrtig fällt wiederholt), sind also visuelle Konkretisierungen für den empfangenen eucharistischen Leib Christi. Seine Gegenwart kann in der andächtigen Versenkung subjektiv als inneres Bild wahrgenommen werden. Die Aussage, dass 129 Engelberg, Stiftsbibliothek, Cod. 336, fol. 50v–51r. 130 Ebd., fol. 51r/v. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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sich nicht bei jeder Person das gleiche Motiv einstelle und dass dieses oft ein anderes sei, als man wünsche, macht deutlich, dass diese innerlich geschauten Bilder im Gegensatz zur vorausgehenden Leidensbetrachtung nun nicht mehr eine Imaginationsleistung der Kommunizierenden sind, sondern Gnadengabe Gottes. Voraussetzung dafür aber ist die Andacht: Allein in der andächtigen Versenkung lässt sich die göttliche Gegenwart im Innersten in Bildern des Mensch gewordenen Gottes erfahren. In den nachfolgenden Erklärungen, warum sich solche Bilder nicht gleichermaßen bei allen Menschen einstellen, erhält die eingeforderte andacht noch einmal ein deutlicheres Profil. Mögliche Gründe für das Ausbleiben von Bildern der Gegenwart Christi sind Schläfrigkeit als Resultat von Trockenheit, Trägheit und Gelassenheit (Und etlich moenschen werdent recht schlaf­ fent von túrri und von trakheit und gelassenheit).131 Nachlässigkeit oder fehlende Aufmerksamkeit (Ausdrücke dafür sind vnachtsamkeit und hinlessikeit – in dieser Richtung dürfte auch die eben zitierte negativ konnotierte gelassenheit zu verstehen sein) führen zu Trägheit und zu Gottferne – trakheit stellt den Gegenpol zu Andacht als Zustand innerer Sammlung und Wachheit dar. Zum Schluss widmet sich die Predigt dem Thema des Fortbestehens von Christi Gegenwart. Voraussetzung für seine fortdauernde Präsenz ist das liebe­ volle gedankliche Verweilen beim Sakrament und die Konzentration auf das eigene Innere: Das der moensche sol haben ein minnenklich bi beliben bi dem sacra­ment und ein stilles war nemen din selbes. Won je stiller du dich haltest bi dem sacrament, je langer es dir belibet.132 Mit anderen Worten: Die Fortsetzung der Andacht vermag der Gegenwart des Göttlichen Dauer zu verleihen. In Anknüpfung an die Unterscheidung von außen und innen, von Körper und Seele beim Kommunionempfang differenziert die Antwort auf die aufgeworfene Frage nach der Dauer der Gegenwart Christi zwischen der körperlich-materiellen bzw. sakramentalen Präsenz Christi und seiner spirituell-geistigen Gegenwart: Nu ist ein frage, wie lange das sacrament in liplicher gestalt bi dem moenschen belib. Das tuot es nút won als lange dú oblat gantz belibet. Aber geistlich ze nemen so belibet das sacrament als lange als der moensche bi ime selber und bi dem sacrament belibet mit warnemen sin selbs in minnenklicher begirde zuo dem sacrament vnd zuo got.133

Körperlich (in liplicher gestalt) präsent bleibt Christus in der Kommunizierenden nur solange die Hostie unversehrt bleibt, also nur für kurze Zeit. Geistig aber bleibt er gegenwärtig, solange der Mensch mit seiner Wahrnehmung bei sich selbst, beim Sakrament und bei Gott bleibt. Ausdrücklich wird gesagt, dass dieser Zustand auch nach dem Verlassen der Kirche bei der Ausübung der durch den Gehorsam geschuldeten Pflichten fortdauern kann. Die Präsenz Christi ist damit 131 Ebd., fol. 51v. 132 Ebd., fol. 53r. 133 Ebd. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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nicht einfach objektiv in der empfangenen Hostie gegeben und nicht an Raum (Kirchenraum), Zeit (Messfeier) und Materie (konsekrierte Hostie)  gebunden, sondern Ergebnis der subjektiven Andacht, welche die objektiv gegebene Realpräsenz im Altarsakrament zugleich geistlich durch die andächtige Betrachtung des Leidens herstellt. Um einen Begriff der neueren Diskussion über die Alterität der mittelalterlichen Kultur von Hans Ulrich Gumbrecht aufzugreifen, könnte man hier sagen, Andacht erweise sich als Mittel zur »Produktion von Präsenz«.134 Im Gegensatz zu Gumbrechts Thesen aber ist die göttliche Präsenz hier gerade nicht einfach nur an das objektive Geschehen der Messfeier oder die materielle Präsenz Christi in den eucharistischen Opfergaben gebunden, die in der Kommunion empfangen werden, sondern sie ist abhängig von der Andacht des am Geschehen partizipierenden Subjekts.135 Die Vorbehalte, welche in dieser Eucharistie-Predigt gegenüber bestimmten Frömmigkeitsübungen (Wachen, auf das innere Erleben konzentrierte Andacht während des Kommunionempfangs) formuliert werden, mag an Meister Eckharts Kritik an einer auf Äußerlichkeiten fixierten Religiosität erinnern. Eckharts Ablehnung bestimmter Frömmigkeitsformen und einer vom Affekt geprägten Gottesbeziehung lässt sich allerdings nicht am Begriff der andâht festmachen, auch wenn der Ausdruck in diesem Kontext verwendet wird. Dies zeigt sich beispielsweise im Kapitel 20 der Reden der unterscheidunge, das von den Voraussetzungen eines würdigen Eucharistieempfangs handelt. Wie die Überschrift deutlich macht, geht es hier nicht um eine grundsätzliche Kritik der Andacht, 134 Hans Ulrich Gumbrecht, Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz, Frankfurt a. M. 2004. 135 Zu vergleichbaren Ergebnissen gelangt Burkhard Hasebrink bei der Analyse von Eckhart-Predigten: ders., Diesseits? Eucharistie bei Meister Eckhart im Kontext der Debatte um ›Präsenzkultur‹, in: Christian Kiening (Hg.), Mediale Gegenwärtigkeit, Zürich 2007, S. ­193–205. Dass in der mittelalterlichen Theologie die sakramentale Präsenz Christi nicht unabhängig von den »spezifische[n] Leistungen des erkennenden Subjekts« gedacht wurde, sondern der Denkakt gerade als »konstitutiv« für die »Präsentialität des Sakramentes« erachtet wurde, hat Marc-Aeilko Aris aufgezeigt anhand der theologischen Diskussion über die Frage, was eine Maus frisst, wenn sie eine konsekrierte Hostie anknabbert: ders., Quid sumit mus? Präsenz (in) der Eucharistie, ebd., S. 179–192, hier S. 184 f. Verschiedene neuere Forschungsarbeiten zur religiösen Literatur haben inzwischen aufgezeigt, dass ›Präsenz‹ nicht als ›Epochensignal‹ des Mittelalters in Anspruch genommen werden kann. Siehe Christian Kiening, Präsenz – Memoria – Performativität. Überlegungen im Blick auf das Innsbrucker Fronleichnamsspiel, in: Ingrid Kasten und Erika Fischer-Lichte (Hg.), Transformationen des Religiösen. Performativität und Textualität im geistlichen Spiel, Berlin, New York 2007, S. 139–168, bes. S. 167 f.; ders., Gegenwärtigkeit (Anm. 16), bes. S. 28 f. Auch andere Predigten aus dem Engelberger Korpus zeigen im Gegensatz zu Gumbrechts These gerade die »Verschränkung, ja Gleichzeitigkeit« von ›mittelalterlicher‹ Präsenzkultur und angeblich ›moderner‹ Sinnkultur: René Wetzel, Mystischer Weg und Heilserfahrung. Präsenzkonzepte und -effekte der Engelberger Lesepredigten (2. Hälfte des 14. Jahrhunderts), in: Carla Dauven-van Knippenberg, Cornelia Herberichs und Christian Kiening (Hg.), Medialität des Heils im späten Mittelalter, Zürich 2009, S. 279–295, hier S. 291. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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sondern um deren richtige Form beim Kommunionempfang: Von unsers herren lîchamen, wie man den nemen sol ofte und in welher wîse und andâht.136 Eckhart wertet hier das menschliche Streben nach Andacht nur insofern ab, als dass die Suche danach vom eigenen Willen geleitet ist.137 Die andâht eines ›gelassenen‹ Menschen dagegen, der nicht den eigenen, sondern Gottes Willen sucht, wird positiv gewertet: Der Kommunionempfang in rechter Andacht verschafft dem Menschen dereinst einen höheren Platz in den himmlischen Chören138 und in seinem irdischen Leben Gottes Gnadenfülle.139

8. Die unternommenen Sondierbohrungen zur Verwendung der Ausdrücke an­ dâht und betrahtung in einigen wenigen Texten aus unterschiedlichen Gattungszusammenhängen des religiösen und mystischen Schrifttums können natürlich nicht mehr als vorläufige Ergebnisse bieten. So lassen sich zum Schluss zusammenfassend erst Thesen und Tendenzen formulieren, deren Verallgemeinerbarkeit auf der Grundlage eines breiteren Textkorpus zu prüfen wäre. Gerade die Vermutungen zum Verhältnis von deutscher und lateinischer Begrifflichkeit bedürften weiterer Untersuchungen. Die beiden untersuchten Vokabeln begegnen in den verschiedensten Gattungs- und Diskurszusammenhängen und weisen zunächst ein weites und wenig 136 Tr. 2, DW V, S. 262,6 f. Ich danke Ramona Raab (Freiburg i. Br.) für das Zusammen­ stellen von Belegstellen bei Meister Eckhart. 137 Swer den lîchamen unsers herren gerne nemen wil, der endarf niht warten des, daz er in im bevinde oder smecke, oder wie grôz diu innicheit oder andâht sî, sunder er sol war nemen, wie getân sîn wille und meinunge sî. Dû ensolt niht grôz wegen, wes dû enpfindest, mêr: ahte grôz, was dû minnest und waz dû meinest. Tr. 2, DW V, S. 262,8–263,3; vgl. auch Kap. 3, S. 191,6– 193,3. Zu Eckharts Kritik mystischer Erfahrung siehe Otto Langer, Mystische Erfahrung und spirituelle Theologie. Zu Meister Eckharts Auseinandersetzung mit der Frauenfrömmigkeit seiner Zeit, München, Zürich 1987, S. 231–238. Vgl. dazu die Kritik an der von Langer und anderen vertretenen These, Meister Eckhart habe seine Predigten hauptsächlich für Nonnen und Beginen verfasst, von Loris Sturlese, Meister Eckhart e la »cura monialium«. Osservazioni critiche su un mito storiografico, in: Stefano Caroti [u. a.] (Hg.), »Ad ingenii acuitionem«. Studies in Honour of Alfonso Maierù, Louvain-La-Neuve 2006, S. 463–482. Zu den Rede der unterscheidunge siehe auch Burkhard Hasebrink, sich erbilden. Überlegungen zur Semantik der Habitualisierung in den Rede der unterscheidunge Meister Eckharts, in: ­Andreas Speer und Lydia Wegener (Hg.), Meister Eckhart in Erfurt, Berlin, New York 2005, S. 122–136, zur »­Kritik äußerliche[r] Werke der Gottsuche als Chiffren des Eigenwillens« bes. S. 132 f. 138 Tr. 2, DW V, S. 272,1–4. 139 Diz nemen und diz sælige niezen des lîchamen unsers herren enliget niht aleine an ûzwen­ digem niezenne, ez liget ouch an einem geistlîchen niezenne mit begîrlichem gemüete und in ­einunge in andâht. Diz mac der mensche sô getriulîchen nemen, daz er rîcher wirt an gnâden dan kein mensche ûf erdrîche. Tr. 2, DW V, S. 273,5–8. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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spezifisches Bedeutungsspektrum auf. Mit der breiten Verwendung in religiösen Schriften erfahren sie jedoch signifikante Bedeutungsänderungen und -nuan­ cierungen: Die Semantik von andacht (›Denken an etwas, Aufmerk­samkeit‹) verengt sich zunehmend auf die religiöse Bedeutung ›Denken an Gott, innere Sammlung beim Gebet‹. In den analysierten Texten kann sich diese ›gottergebene Haltung‹ auf das liturgische wie auch auf das private Gebet, auf den Sakramentenempfang oder auf körperliche Frömmigkeitsübungen beziehen. Andacht aber kann weit mehr umfassen als nur die konzentrierte Haltung bei der Verrichtung religiöser Handlungen. Bei Tauler, aber auch in den Engelberger Predigten ist sie Voraussetzung für die Gottesbegegnung in der eigenen Seele – Tauler definiert sie als Verbindung und Einswerden mit Gott. Aus dieser inneren Verbindung mit Gott heraus kann jede alltägliche Handlung mit Andacht verrichtet werden. Im Gegensatz zum modernen Sprachgebrauch steht im Spätmittelalter beim Wort betrahten noch nicht die visuelle Wahrnehmung im Vordergrund; das Wort wird beinahe ausschließlich für den geistigen Denkakt gebraucht. Es ist onomasiologisch mit Verben des Denkens wie (ge-)denken, überdenken und durchgan, wissen etc. vernetzt. Beim Substantiv zeigen sich punktuell auch Überschneidungen mit dem Bedeutungsspektrum von andacht. Im geistlichen Schrifttum entwickelt sich das Verb betrachten geradezu zum terminus technicus für das denkerische Durchdringen und Meditieren heilsgeschichtlicher Zusammenhänge, insbesondere der Passion. Die möglichst intensive Vergegenwärtigung einzelner Stationen der Passion, die Identifikation mit einzelnen Personen oder die Ima­ gination der eigenen Gegenwart beim Leidensweg Jesu sind Mittel zur Verlebendigung der Heilsgeschichte und zur emotionalen Teilhabe. Die Texte bieten mehr als Handlungsanweisungen für solche Imaginationsübungen; sie entwickeln eine Dynamik, um den Lesenden affektiv zu erreichen und ihn die Passion Christi gleichermaßen seelisch und körperlich (z. B. Tränenfluss) miterleben zu lassen. Der Akt des Lesens bzw. die Umsetzung der Betrachtungstechnik wird so selbst zum Leidensprozess – Vollzug bedeutet compassio. Damit hat der kunsthistorische Fachterminus ›Andachtsbild‹ durchaus einen gewissen Rückhalt im historischen Sprachgebrauch – etwa in Taulers Definition von andaht –, mehr aber noch in den beschriebenen oder propagierten Imaginations- oder Betrachtungstechniken. Versteht man das Andachtsbild im Sinne Beltings als Erlebnisbild, das einen Weg zur Versenkung in die Glaubenswahrheiten und in das Heilsmysterium jenseits der intellektuellen Theologie bietet, so zeigen sich hier deutliche Parallelen zur Literatur. Texte wie Seuses Hundert Betrachtun­ gen zum Leiden Christi bereiten die Passionsgeschichte ebenfalls zum Mit- und Nacherleben auf. Texte und Bilder stimmen in ihren Intentionen und Funk­tionen überein: Beide Medien appellieren an die Affekte und bieten dem Rezipienten – etwa durch die anschaulich-realistische Darstellung des misshandelten Körpers Christi – eine Grundlage an für spirituelle Erfahrungen der compassio oder der Gottesnähe. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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Die beiden untersuchten Ausdrücke sind Teil  eines semantischen Feldes, in dem sich fließende Übergänge und Überschneidungen in den Verwendungsweisen bedeutungsverwandter Wörter wie andâht, innigkeit, begirde, ernst, gebet, betrahtung und schowung beobachten lassen. Im Unterschied zur Volkssprache scheint das entsprechende Wort- und Begriffsfeld der lateinischen Sprache präziser strukturiert zu sein. Die Ausdrücke attentio, intentio, devotio, oratio, imaginatio, consideratio, meditatio, materia, contemplatio oder visio haben deutlichere begriffliche Konturen, ihre Bedeutungen sind leichter voneinander ab­ zugrenzen. Die fehlende Randschärfe der Begrifflichkeit der Volkssprache dürfte mit ihrer vergleichsweise erst kurzen Verwendung als Schriftsprache zu erklären sein. Es fehlt die jahrhundertelange Tradition, welche die lateinische Gelehrtensprache gerade in der Theologie aufweist. Das Diktum von Hugo von Hofmannsthal »Wenn wir den Mund aufmachen, reden immer zehntausend Tote mit«,140 könnte im Hinblick auf die noch junge mittelhochdeutsche Literatursprache sinngemäß umformuliert werden: Im Mittelalter waren es erst wenige Tote, die Denotationen und Konnotationen des volkssprachigen Vokabulars der Schriftsprache mitbestimmten. Die noch weitgehend fehlende Normierung der Volkssprache, die Offenheit ihrer Assoziationsräume und die damit einhergehende Unabschließbarkeit des Verstehens macht sie zu einem geeigneten Medium insbesondere für Texte, die auf eine auf spiritueller Erfahrung gründende Gotteserkenntnis zielen. So dürfte es kein Zufall sein, dass bei Seuse die Sprache selbst zum Thema wird und die Dignität des Deutschen als Sprache göttlicher Offenbarung herausgestrichen wird. Die von Tauler behauptete Überlegenheit der andacht als Mittel der Gotteserkenntnis über die gelehrte Schultheologie ist wohl ebenfalls nur im Idiom der Muttersprache denkbar. Aufschlussreich für die Semantik von andâht und betrahtung ist die Be­ obachtung, dass die beiden Vokabeln oft mit Ausdrücken für Gegenwärtigkeit vernetzt sind. Die Frömmigkeitspraktiken und Imaginationsübungen zielen auf die Erfahrung der Gegenwart Gottes. Bei Tauler und in den Engelberger Predig­ ten meint andacht die Abwendung von allen Äußerlichkeiten, um im eigenen Innern für die Einwohnung des Göttlichen Raum zu schaffen. Die im St. Ka­ tharinentaler Schwesternbuch geschilderte wie auch die bei Seuse propagierte Leidensbetrachtung bezweckt die Überwindung der Grenzen von Raum und Zeit, um am Heilsgeschehen teilzuhaben und in dieser Teilhabe die Präsenz des Göttlichen zu erfahren. Wie sich bereits bei diesen wenigen Quellen zeigt, kennt die mittelalterliche Kultur eine Vielfalt von Formen zur Herstellung göttlicher Präsenz. Es scheint deswegen fraglich zu sein, ob der Eucharistiefeier im Mittelalter tatsächlich der Status eines »Hauptrituals« oder »Leitmediums« zur »Produktion von Präsenz« zukommt, welches sich auf alle Bereiche der Kultur auswirke, 140 Zitiert nach Braun, Historische Semantik (Anm. 16), S. 50. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

andacht und betrachtung

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wie es Hans Ulrich Gumbrecht und die seinen Thesen verpflichtete kultur­ wissenschaftliche Forschung postuliert.141 Diese Vorstellung scheint sich eher einer romantischen Verklärung des Mittelalters zu einem alteritären Zeitalter naiver, von magischen Ritualen und Vorstellungen geprägten Religiosität als den Quellen zu verdanken. Gumbrechts These, dass »man vom anthropologischen Standpunkt sagen könnte, dass das vormoderne und katholische Abendmahl wie ein magischer Akt funktionierte, durch den eine zeitlich und räumlich entfernte Substanz präsent gemacht wurde«,142 erweist sich mit Blick auf die Quellen als holzschnittartig und undifferenziert. Die Rede von der ›Produktion von Präsenz‹ und vom Abendmahl als magischem Akt ist insofern unpräzise, als selbst in der Rede über die Eucharistie die göttliche Präsenz nicht als objektives Ereignis des Messrituals interessiert, sondern als subjektives Erleben, als ›Erfahrung‹ von Präsenz. So werden in der Engelberger Eucharistiepredigt die mentalen Bilder für die Präsenz Christi nicht als Folge des Empfangs der konsekrierten Hostie dargestellt, sondern als Effekt der persönlichen Andacht. Neben dem Messritus bieten auch Texte, Bilder sowie Gebets- und Betrachtungstechniken im Prozess des Vollzugs spirituelle Erfahrungsräume an, in deren Fluchtpunkt das Erleben göttlicher Präsenz steht. Alle diese Formen rücken das erlebende Subjekt und dessen Verfasstheit in den Mittelpunkt. Seine innere Sammlung, seine Imagination und seine Einübung in eine gelassene Haltung sind un­abdingbare Voraussetzungen für die angestrebte Gottesbegegnung.

141 Für Gumbrecht war »das Sakrament des Abendmahls, d. h. die Herbeiführung der Realpräsenz Gottes auf Erden und unter den Menschen«, »ohne jeden Zweifel« das »Hauptritual der mittelalterlichen Kultur«; Gumbrecht, Diesseits der Hermeneutik (Anm. 134), S. 46–48, hier S. 46. Lechtermann bestimmt mit Jochen Hörisch das Abendmahl als »ontosemiologisches Leitmedium« der mittelalterlichen Kommunikation, Lechtermann, Berührt werden (Anm. 25), S. 21. Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Präsenzbegriff Lechtermanns bietet die Rezension von Corinna Virchow, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 137 (2008), S. 108–116. 142 Gumbrecht, Diesseits der Hermeneutik (Anm. 134), S. 47. Die Thesen Gumbrechts wie auch die der Mehrzahl der kulturwissenschaftlichen Forschung zur mittelalterlichen ›Präsenzkultur‹ kranken zudem daran, dass sie in Bezug auf die Eucharistie mit einem unzulässig vereinfachten Präsenzbegriff operieren: So wird kaum zwischen Realpräsenz und Transsubstantiation differenziert, obwohl diese Unterscheidung nicht nur für die mittelalterliche, sondern auch für die reformatorische theologische Diskussion um das Abendmahl von entscheidender Bedeutung war. Einen kurzen und informativen Abriss zur Entwicklung der Transsubstan­ tiationslehre bietet Claudia Gärtner, Die ›Gregorsmesse‹ als Bestätigung der Transsubstan­ tiationslehre? Zur Theologie des Bildsujets, in: Andreas Gormans und Thomas Lentes (Hg.), Das Bild der Erscheinung. Die Gregorsmesse im Mittelalter, Berlin 2007, S.  125–153, bes. S. 126–131. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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Transformation und Aneignung

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Markus Enders (Freiburg i. Br.)

Die Semantik der Gelassenheit in der Theologia Deutsch und bei Jakob Böhme

1. Einleitende Vorbemerkung zur Vorgeschichte des Begriffs ›Gelassenheit‹ in der Deutschen Mystik Auch wenn Heinrich Seuse der eigentliche Theoretiker der Gelassenheit innerhalb der Deutschen Mystik ist, auch wenn bei ihm die Gelassenheit und nicht, wie bei Meister Eckhart, die Abgeschiedenheit die zentrale mystagogische Tugend darstellt, wird doch die semantische Zweiteilung von ›Gelassenheit‹ bei Eckhart in ein Verlassen seiner selbst und der Welt und ein Sich-Überlassen an Gott innerhalb der Deutschen Mystik deutlicher noch als von Heinrich Seuse von Johannes Tauler wiederaufgegriffen.1 Ver- oder gelassen werden sollen auch nach Tauler die eigenen Neigungen und Wünsche des Menschen,2 der seinen eigenen Willen lassen soll, um dadurch Gottes Willen annehmen zu können.3 Daher soll der Mensch auch das eigene Lassen-Wollen noch lassen, sich also seines Lassens, sofern es noch den Charakter einer eigenen Willenssetzung hat, entäußern und entledigen.4 Dieses Lassen des eigenen Willens geht bei Tauler im Gefolge Eckharts sogar so weit, auch 1 Zur sprachgeschichtlichen Herkunft, zur Semantik und zur existenziellen Relevanz des mystagogischen Verständnisses von ›Gelassenheit‹ bei Meister Eckhart und bei Heinrich Seuse vgl. Markus Enders, Gelassenheit  – ein Grundwort der Deutschen Mystik und seine Botschaft für unsere Zeit, in: ders., Gelassenheit und Abgeschiedenheit – Studien zur Deutschen Mystik, Hamburg 2008, S. 349–375; zur zentralen mystagogischen Tugend der Gelassenheit bei Heinrich Seuse vgl. auch Markus Enders, Die ›höchste Schule‹ (des Lebens): Seuses Lernen der ›Kunst wahrer Gelassenheit‹ in seiner Konstanzer Zeit, in: Heinrich-Seuse-Jahrbuch. Zeitschrift für eine interdisziplinäre Erforschung der Spiritualität Heinrich Seuses und der Deutschen Mystik 2 (2009), S. 67–94. 2 Vgl. Die Predigten Taulers. Aus der Engelberger und der Freiburger Handschrift sowie aus Schmidts Abschriften der ehemaligen Straßburger Handschriften, hg. von Ferdinand ­Vetter, Berlin 1910 (Nachdruck Dublin, Zürich 1968) [V], Pr. 37, S. 146,7 f. Die neuhochdeutsche Übersetzung von Originalzitaten aus dieser Ausgabe ist entnommen der Übertragung von Georg Hofmann (Hg.), Johannes Tauler. Predigten, Freiburg i. Br. 1961. 3 Vgl. V 9, S. 45 f., V 28, S. 116,16–26 etc. 4 Vgl. V 55, S. 255,5–8. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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den Wunsch nach der Erfahrung Gottes aufzugeben, »und zwar bis hin zur Bereitschaft, nach dem Tod in die Hölle verwiesen zu werden, dem auf Röm 9,3 zurückgehenden Motiv der ›resignatio ad infernum‹.«5 Dabei nimmt Tauler auch auf ein falsches, insbesondere von den sogenannten Brüdern und Schwestern des Freien Geistes praktiziertes Verständnis von ›Gelassenheit‹ im Sinne einer völligen Gleichgültigkeit, Teilnahmslosigkeit und eines Libertinismus Bezug;6 er tut dies jedoch nicht in apologetischer Absicht wie Heinrich Seuse, sondern um sein eigenes Verständnis wahrer Gelassenheit zu präzisieren, und steht somit auch darin ganz in der Nachfolge Meister Eckharts. Dies gilt auch für das Verhältnis der beiden Bedeutungsdimensionen von ›Gelassenheit‹ zueinander, indem Tauler das Lassen und das Verlassen von allem, d. h. die eigene Willenlosigkeit, zugleich als ein Sich-Überlassen des Menschen an Gott versteht.7 Dabei dürfte in semantischer Hinsicht die Beobachtung erwähnenswert sein, dass Tauler das gänzliche Sich-Lassen in der Bedeutung des Sich-Überlassens durchaus mit Gott als seinem Dativobjekt verbinden kann. Etwa wenn er sagt:

5 Stefan Zekorn, Gelassenheit und Einkehr. Zu Grundlage und Gestalt geistlichen Lebens bei Johannes Tauler, Würzburg 1993, S. 83 f. (unter Hinweis auf V 26, S. 108,5–22); zu Eckhart vgl. Meister Eckhart, Die deutschen und lateinischen Werke, hg. im Auftrag der Deutschen Forschungsgemeinschaft. 1. Abteilung: Die deutschen Werke [DW], Bd. I–III, V, hg. und übers. von Josef Quint, Stuttgart 1958–1976; Bd. IV,1, hg. und übers. von Georg Steer unter Mitarbeit von Wolfgang Klimanek und Freimut Löser, Stuttgart 2003; Bd. IV, 2, Lfg. 1–2, hg. und übers. von Georg Steer unter Mitarbeit von Wolfgang Klimanek, Stuttgart 2003, hier DW V, S. 21,2 ff. Zur Traditionsgeschichte dieses mystischen Motivs einer radikalen Selbstentäußerung des Menschen vgl. Hans Urs von Balthasar, Theologie der drei Tage, Einsiedeln 1969, S. 55–58; Josef Sudbrack, Abwesenheit Gottes, Einsiedeln 1971, S. 13 ff.; Hans Urs von Balthasar, Christlicher Stand, Einsiedeln 1977, S. 98 und S. 339. 6 Vgl. V 36, S. 139,14–17; V 48, S. 218,11–18; V 54, S. 250,4–7; hierzu vgl. auch Zekorn, Gelassenheit und Einkehr (Anm.  5), S.  84: »Gelassenheit meint ›erleiden‹ des Gott-überlassen-Seins, ›ertragen‹ des Willens Gottes. Und dieser Wille Gottes kann sehr konkret im Ertragen der anderen Menschen liegen. Der einzelne soll sich nicht nur Gott, sondern auch den anderen Menschen ›lassen‹ und die von ihnen ausgehende Bedrängnis erdulden. Die Einübung in Gelassenheit ist also anstrengend und kostet Mühe[]«, mit Hinweis auf V 2, S. 14,30–15,12. 7 Vgl. hierzu Zekorn, Gelassenheit und Einkehr (Anm. 5), S. 85: »Die Dimensionen von ›verlassen‹ und ›überlassen‹, die das Bedeutungsspektrum von gelassenheit bestimmen, ergänzen sich gegenseitig. Präzise gesagt: Das ›Verlassen‹ ist die Möglichkeitsbedingung des ›SichÜberlassens‹. Nur wer nicht von sich und seinen Vorlieben ›besetzt‹, sondern frei ist, kann sich an Gott ›abgeben‹. Gleichzeitig motiviert und fördert das Sich-Gott-Überlassen das Los- und Verlassen. Tauler nutzt die zweifache Bedeutung des Wortes gelassenheit, um diese Zuordnung der beiden Dimensionen des geistlichen Lebens deutlich zu machen. Er verbindet die beiden Aspekte durch den gemeinsamen Begriff, ›spielt‹ mit den beiden Bedeutungsvarianten oder nutzt die sprachliche Möglichkeit der Verwendung von gelassenheit, um die untrennbare Verschmelzung der beiden Dimensionen darzustellen.« Beide Bedeutungen von ›Gelassenheit‹ verbindet Tauler in seiner Predigt 55 (Sequere me), V 55, S. 255,4–32, worauf Zekorn, ebd., hin­ gewiesen hat. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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Mer die andern daz sind edele menschen, die stont uf in der worheit, und davon werdent sú erlúhtet, die lossent Got iren grunt bereiten und lossent sich Gotte zuomole und gont des iren us in allen dingen […] .8

Es ist zweifelsohne richtig, dass der »spätere Begriff der ›Gottgelassenheit‹ […] hier seine Wurzeln«9 hat. Dennoch lässt sich der Gebrauch des Partizips Perfekt oder auch des Adjektivs gelassen mit Gott als Dativobjekt bei Tauler meines Wissens noch nicht wörtlich nachweisen. Schließlich fordert Tauler, worauf allerdings schon Zekorn und Haas hinlänglich hingewiesen haben, sogar das Lassen vorsätzlicher Tugendübungen, wenn und nur wenn Gott dies vom Menschen fordern würde.10 Denn ›rechte‹ oder ›wahre Gelassenheit‹ wird von Tauler gleichsam definiert als der freiwillige Verzicht auf den eigenen Willen und die bedingungslose An- und Übernahme des göttlichen Willens.11

8 V 5, S. 23,8–10; in neuhochdeutscher Übersetzung Hofmann, Tauler (Anm. 2), S. 37: »Die anderen aber, das sind edle Menschen, die stehen in Wahrheit auf und werden davon [sc. von der Berührung des bloßen Grundes ihrer Seele] erleuchtet; sie lassen Gott ihren Grund bereiten und überlassen sich ganz Gott und entledigen sich des Ihren in allen Dingen […].« Zu Taulers Formel ›sich Gott lassen‹ vgl. auch V 21, S. 87,9; V 36, S. 138,33. 9 Ludwig Völker, »Gelassenheit«. Zur Entstehung des Wortes in der Sprache Meister Eckharts und seiner Überlieferung in der nacheckhartschen Mystik bis Jacob Böhme, in: Franz Hundsnurscher und Ulrich Müller (Hg.), ›Getempert und gemischet‹ für Wolfgang Mohr zum 65. Geburtstag von seinen Tübinger Schülern, Göppingen 1972, S.  281–312, hier S. 290. 10 Vgl. V 19, S. 78,29–79,13; V 81, S. 432,29–433,17. 11 Vgl. V 19, S. 79,1–13: Aber ich han mich bas beroten obe ich den willen und den wunsch mit Gotte mhte haben, so wolte ich sprechen: ›nein, herre, nút min gnoden oder goben oder wille, sunder, herre, wie du wilt, herre, so nim ich es oder so will ich es, oder enwoltest du es nút, so wil ich es in dinem willen enbern und darben.‹ Also darbende und enberende in rechter gelossenheit het man me und nimet man me danne nemmende und habende in eigen willen. Alles daz der men­ sche mhte haben in eigen willen, es si Got oder creature, do ist ime unzellicher vil nútzer ein wil­ lig demtig darben desselben und alles habendes in rechter gelossenheit und in uzgon dins willen in gelossenheit. In neuhochdeutscher Übersetzung Hofmann, Tauler (Anm. 2), S. 136: »Aber ich habe mir’s besser überlegt. Wenn ich Willen und Wunsch in Übereinstimmung mit Gott haben könnte, so spräche ich: ›Nein, Herr, nicht meine Gnaden oder Gaben oder mein Wille, sondern, Herr, wie du willst, so will ich es nehmen, Herr, oder so will ich es; wolltest du aber nicht, so will ich es nach deinem Willen entbehren und darben.‹ Wenn man so denkt und entbehrt in rechter Gelassenheit, hat man mehr und empfängt mehr als mit Nehmen und Haben nach eigenem Willen. Bei allem, was der Mensch nach eigenem Willen haben möchte, es sei Gott oder ein Geschöpf, da bringt ihm einen unendlich größeren Nutzen ein williges, demütiges Ent­behren desselben und alles Besitzens in rechter Gelassenheit und im Verzicht seines Willens in Gelassenheit.« – Hervorhebungen in der Vorlage. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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2. Das Verständnis von ›Gelassenheit‹ in der Theologia Deutsch 2.1 Zum Forschungsstand Damit ist Tauler zu einem Wegbereiter der uns hier interessierenden späteren Geschichte dieses Begriffs bis in die Theologie und Mystik des frühneuzeit­lichen Barock hinein geworden, wie erstmals Ludwig Völker sowie später auch Alois Maria Haas12 und Ulrich Dierse in seinem Beitrag zum Lemma ›Gelassenheit‹ im His­ torischen Wörterbuch der Philosophie bereits gezeigt haben.13 Völker, dessen Beitrag meines Wissens immer noch die ausführlichste Untersuchung zur Bedeutung von ›Gelassenheit‹ in der Theologia Deutsch enthält, stellt zutreffend fest, dass für das Verständnis des Adjektivs gelassen die Aufgabe des Willens von zentraler, repräsentativer Bedeutung ist, auch wenn das Substantiv gelassenheit in der Theolo­ gia Deutsch gar nicht vorkommt. Im Ausgang von diesem Befund schließt er auf einen rein praktischen Gelassenheitsbegriff in der Theologia Deutsch, dem die mystischen und spekulativen Qualitäten fehlten.14 Mit letzteren bezeichnet er expressis verbis das semantische Moment der Reinigung der Erkenntnis – gemeint ist insbesondere das Nicht-Wissen –, das er vor allem in Eckharts Armutspredigt realisiert glaubt; dort wird allerdings die Forderung nach einem Gelassensein zumindest nicht in diesem Wortlaut erhoben, so dass diese zur semantischen Bestimmung des Begriffs ›Gelassenheit‹ bei Eckhart nicht unmittelbar geeignet ist. Kehren wir jedoch zu unserem Text zurück und fragen wir: Hat Völker mit seiner prononcierten These vom rein praktischen, mystik- und spekulationsfreien Charakter der Gelassenheit in der Theologia Deutsch eigentlich Recht? Mit anderen Worten: Handelt es sich bei dem von der Theologia Deutsch empfohlenen bzw. geforderten Gelassensein nur noch um eine sittliche Tugend, wenn auch mit der besonderen religiösen Bedeutungsdimension einer Haltung der Passivität und Ergebenheit sowohl Gott als auch, und dies ist eine Besonderheit des semantischen Spektrums von ›Gelassenheit‹ in der Theologia Deutsch, den – weltlichen – Dingen gegenüber? 12 Alois M. Haas, Gelassenheit  – Semantik eines mystischen Begriffs, in: ders., Kunst rechter Gelassenheit. Themen und Schwerpunkte von Heinrich Seuses Mystik, Bern 1995, S. 247–269; Haas, ebd., S. 268, fasst das wesentliche Ergebnis der Untersuchung von Völker, »Gelassenheit« (Anm. 9) für das Grundverständnis von ›Gelassenheit‹ in der Theologia Deutsch wie folgt zusammen: »Ist der Gelassenheitsbegriff noch bei Eckhart und Seuse stark auf Besitz und Erkenntnis ausgerichtet (nichts haben, nichts wissen, nichts wollen), so erfolgt hier in der Tat eine gewisse Einschränkung auf den Willensbereich.« 13 Ulrich Dierse, Gelassenheit, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3, 1974, Sp. 219–224. 14 Völker, »Gelassenheit« (Anm. 9), S. 291–293. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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2.2 Zentrale Thematik und Strukturschemata in der Theologia Deutsch Sehen wir uns die zugegebenermaßen nicht sehr häufigen Stellen zu ›Gelassenheit‹ in der Theologia Deutsch auf dem Hintergrund des gedanklichen Gesamt­ zusammenhangs dieser Schrift etwas näher an. Die Theologia Deutsch, deren Autor auch nach neuerer Forschung über dessen höchst wahrscheinliche Zugehörigkeit als Priesterbruder zur Deutschordenskommende in Sachsenhausen bei Frankfurt am Main hinaus nicht genauer identifiziert werden kann, und die wohl noch im 14.  Jahrhundert im Umkreis der Schriften Meister Eckharts und Johannes Taulers entstanden sein dürfte,15 variiert, wie Alois Maria Haas zweifelsohne richtig gesehen hat, »letztlich ein und dasselbe Thema: die gnadenhafte Vergottung des Menschen im Lichte der vermittelnden Vorbildlichkeit des Lebens Christi.«16 Diese Bestimmung des zentralen Themas der Theologia Deutsch ist in jüngster Zeit durch die eingehende Untersuchung von Andreas Zecherle bestätigt und präzisiert worden: »Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die dauernde, vor allem als Willensvereinigung beschriebene Vergottung des Menschen das zentrale Anliegen des Autors ist.«17 Dabei bedient sie sich zwar einmal, aber nicht durchgängig, des inneren Strukturschemas der traditionellen Drei-Wege-Lehre, d. h. der Lehre von der Dreiteilung des geistlichen, insbesondere mystischen Lebens in die Reinigung, Erleuchtung und Einung des Menschen mit Gott.18 Einbezogen in dieses traditionelle triadische Schema sind ihre Vorstellung von der mystischen Einung sowie deren unmittelbarer Voraussetzung in der Aufhebung des selbstbezogenen

15 Andreas Zecherle, Die Theologia Deutsch. Ein spätmittelalterlicher mystischer Traktat, in: Berndt Hamm und Volker Leppin (Hg.), Gottes Nähe unmittelbar erfahren. Mystik im Mittelalter und bei Martin Luther, Tübingen 2007, S. 1–95, hier S. 2–8. 16 Alois M. Haas, Die Theologia Deutsch. Konstitution eines mystologischen Texts, in: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 25 (1978), S. 304–350, hier S. 305. 17 Vgl. Zecherle, Die Theologia Deutsch (Anm. 15), S. 62. 18 Vgl. ›Der Franckforter‹. (›Theologia Deutsch‹). Kritische Textausgabe, hg. von Wolfgang von Hinten, München 1982 [Th. D.], S.  88,1–4. Die neuhochdeutsche Übersetzung von Originalzitaten aus dieser Ausgabe ist entnommen der Übertragung von Gerhard Wehr (Hg.), Theologia Deutsch. Eine Grundschrift deutscher Mystik, Freiburg i. Br. 1980 [›Th. D., Übers. Wehr]. Zu diesem traditionellen triadischen Schema vgl. Zecherle, Die Theologia Deutsch (Anm.  15), S.  85 f.: »Die Aussagen, die der Verfasser über den Weg der Vergottung macht, lassen sich den Begriffen ›Reinigung‹ und ›Erleuchtung‹ zuordnen. Zum Weg der Reinigung kann man die für den Autor grundlegende Forderung rechnen, die sündhafte Ausrichtung auf das Geschaffene und das eigene Ich aufzugeben. […] Reinigung und Erleuchtung bedingen sich der Theologia Deutsch zufolge wechselseitig. Je weniger sich ein Mensch das Erkennen selbst anmaßt, je mehr er sich also von Gott erleuchten lässt, desto vollkommener wird seine Erkenntnis.« © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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Eigenwillens des Menschen. Sie spricht nach ihrer durchaus spekulativen Einführung in einheitsmetaphysische Grundzüge neuplatonischer Provenienz19 zunächst und zentral von dem Gehorsam gegenüber Gott,20 zu dem der Mensch von Gott geschaffen worden sei,21 der als vollkommen Gewordener zur Einheit von Gott und Mensch führe und den das menschliche Leben Jesu Christi in vorbildlicher und mustergültiger Weise verwirklicht habe.22

2.3 Gelassensein gegenüber Gott und allen Dingen Es scheint, als besitze bei dem Frankfurter die in der Deutschen Mystik eminent wichtige, bei Seuse sogar zentrale Tugend der Gelassenheit für den mystischen Weg keine Bedeutung mehr. Doch dieser von einem ersten, oberfläch­ lichen Blick auf den Text der Theologia Deutsch leicht zu gewinnende Eindruck trügt. Denn schon das in Kapitel 19 gedeutete Wort Jesu von der Selbstverleugnung seines wahren Nachfolgers als eines Lassens und Verlassens aller Dinge weist in die Richtung der genuin und spezifisch mystischen Tugend der Ge­ lassenheit, die dann erstmals in Kapitel 23 thematisiert wird. Hier sagt der Frankfurter ausdrücklich: Aber wer Gott leiden will und soll, der muß und soll alle Dinge leiden, das ist: Gott, sich selber und alle Kreatur, nichts ausgenommen. Und wer Gott gehorsam, gelassen und untertan sein soll und will, der muß und soll auch allen Dingen gelassen, gehorsam und untertan sein in leidender Weise und nicht in tätiger Weise.23

Hier findet man erstmals die für die Semantik der Gelassenheit in der Theolo­ gia Deutsch im Ganzen typische und in genau dieser Form in der Geschichte der Semantik der Gelassenheit seit Eckhart meines Wissens neuartige Wendung: gegenüber Gott und gegenüber allen Dingen gelassen sein. 19 Zu den neuplatonischen und eckhartschen Grundzügen der von der Theologia Deutsch vorausgesetzten Ontologie vgl. ausführlich Zecherle, Die Theologia Deutsch (Anm.  15), S. ­23–32 und S. 84. 20 Nach der Theologia Deutsch führt der Gehorsam gegenüber Gott als das Erfüllen des göttlichen Willens unter Verzicht auf den eigenen Willen den Menschen zur Vergottung als seinem höchsten Zustand; zur zentralen mystagogischen Bedeutung des Gehorsams vgl. (mit zahlreichen Belegstellen) Zecherle, Die Theologia Deutsch (Anm. 15), S. 47–49. 21 Vgl. Th. D., S. 89,19 f. 22 Vgl. Th. D., S. 89,23–90,31; zur fundamentalen Bedeutung Jesu Christi als des Modells des vergotteten Menschen bzw. des Prototyps der Vereinigung des Menschen mit Gott in der Theologia Deutsch vgl. ausführlich Zecherle, Die Theologia Deutsch (Anm. 15), S. 40–46. 23 Th. D., Übers. Wehr, S. 67; Th. D., S. 101,4–8: Aber wer got liden sal vnd wil, der muß vnd sal alle liden, das ist got vnd sich selber vnd alle creatur, nichts vß genommen. Vnnd wer got gehorsam gelaßen vnd vnderthan sal vnd wil seyn, der muß vnd sal allen gelassen, gehorsam vnd vnderthan syn yn lidender wiße vnd nicht yn thunder wiße […]. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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Doch was versteht Der Frankfurter genau darunter, Gott und vor allem allen weltlichen Dingen gegenüber gelassen zu sein? Auf diese Frage, so können wir fast sagen, antwortet der anschließende Passus: Und dies alles in einem schweigenden Innebleiben in dem inwendigen Grund seiner Seele und in einer heimlichen verborgenen Geduldigkeit, alle Dinge oder Widerwärtigkeit willig zu tragen und zu leiden und in allen diesen Dingen keinen Behelf noch Entschuldigung noch Widerrede oder Rache zu tun oder zu begehren, sondern allezeit in einer lieblichen wahren Demütigkeit zu sprechen: Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!24

Die besonders für Tauler charakteristische, aber schon bei Eckhart grundgelegte mystische Einkehr des Menschen in den Grund seiner Seele und die damit verbundene An- und Übernahme einer schier grenzenlosen Demut und Leidensbereitschaft gegenüber allem von Gott unverfügbar Gegebenem, insbesondere gegenüber dem von ihm gegebenen Leiden, welche die Haltung vollkommener Hingabe des eigenen Willens an den verfügenden Gotteswillen zum Ausdruck bringt, dürfte genau das bedeuten, was Der Frankfurter mit dem Ausdruck ›Gott (sc. gegenüber) gelassen sein‹ meint. Was aber kann sinnvollerweise unter dem ›Gelassensein gegenüber allen Dingen‹ verstanden werden? Der Frankfurter fordert dieselbe Haltung des leidensbereiten Untertan-, Gelassen- und Gehorsamseins auch den weltlichen Widerfahrnissen gegenüber, sofern diese ihm unverfügbar vorgegeben und deshalb Ausdruck des zumindest zulassenden Willens dessen sind, dem alleine der Mensch Demut, Gehorsam und Gelassensein, d. h. die Hin- und Übergabe seiner selbst, schuldet. Mit anderen Worten: In der gehorsamen Annahme des unverfügbar Gegebenen gehorcht der Mensch dem sich darin manifestierenden Willen Gottes und somit keinem anderen als diesem selbst, ist ihm allein gelassen, wie Der Frankfurter sagt.25

2.4 Gelassensein als Resultat des Gelassenhabens des eigenen Willens Dass auch Der Frankfurter das Gelassensein des Menschen als ein Gelassenhaben und damit als Resultat eines Lassens, und zwar des Lassens der Selbstbewegung und -setzung des eigenen Willens, und dass er ferner nur dieses Lassen als notwendige Bedingung für das Erreichen der mystischen Einung versteht, geht ganz 24 Th. D., Übers. Wehr, S. 67; Th. D., S. 101,8–14: […] vnd diß alczumal yn eyme swigende ynbliben yn syme grunde seyner sele vnnd yn eyme heymlichen, vorborgen liden, alles czu tragen vnd czu liden, vnd yn allem dissem keyn behelffunge noch entschuldigunge noch widerrede noch rachunge czu thun ader czu begeren, sundern yn allem yn eyner liblichen, demutigen, waren er­ barmunge sprechen: ›Vater, vorgib yn, wan sie wissen nicht, was sie thun‹. 25 Vgl. Th. D., S. 103,4: got gelaßen. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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eindeutig etwa aus Kapitel 27 der Theologia Deutsch hervor. Mit dieser Überzeugung von der, fast könnte man paradoxerweise formulieren: Instrumentalursächlichkeit des Lassens für die mystische, d. h. unmittelbare Erfahrung der Einung mit dem göttlichen Willen und darin mit Gott selbst steht Der Frankfurter ganz in der Traditionslinie der Deutschen, wie überhaupt der christlichen Mystik. Es ist daher gleichsam der Rat Gottes an den Menschen, wie Der Frankfurter in Kapitel 34 formuliert, sich selbst und alle Dinge zu lassen und ihm nachzufolgen; dieses Lassen aber ist gleichbedeutend mit der Aufgabe des eigenen Willens durch das bedingungslose Vollbringen des Willens Gottes, wie anschließend unmissverständlich dargelegt wird.

2.5 Gelassensein als Ergebenheit in den Willen eines Anderen Der für die Theologia Deutsch kennzeichnende adjektivische Gebrauch des Partizips Perfekt gelassen mit Gott als Dativobjekt wird im 35. Kapitel besonders gut deutlich: Hier beteuert Der Frankfurter in geradezu beschwörendem Ton gleich mehrfach die Wahrheit des ontologisch begründeten, normativen Verhaltensprinzips für jede Kreatur: dass sie Gott gegenüber gelassen und ihm untertan sein soll; und dass dies zweitens einschließe, dass sie allen Kreaturen untertan sein soll, in leidender, gemeint ist passiv hinnehmender und ergebener Weise. Und dass drittens ihr nichts und niemand untertan oder gelassen sein soll: Diese Kreatur soll von göttlicher Wahrheit und Gerechtigkeit Gott und allen Kreaturen untertan sein und ihr soll nichts und niemand untertan oder gelassen sein. Gott und die Kreaturen haben Recht über sie und zu ihr, aber sie hat zu nichts Recht. Sie ist allen Dingen schuldig und ihr (ist) niemand (schuldig), und dies alles in leidender Weise und zuweilen auch in tätiger Weise.26

Jemandem gegenüber gelassen zu sein bedeutet demnach: ihm ergeben zu sein, seinen Willen zu tun oder zu erfüllen. Gelassensein als Ergebenheit in den Willen 26 Th. D., Übers. Wehr, S. 96 f.; Th. D., S. 120,20–24: Diße creatur sal von gotlicher war­ heit vnd gerechtigkeit got vnd allen creaturen vnderthan seyn, vnd yr sal nicht vnderthan ader ge­ lassen seyn, vnd got vnnd alle creatur haben recht vbir sie vnnd czu yr, vnnd sie czu nichte ader vbir nichte, vnd sie ist allen schuldig vnde yr nymant, vnd diß alles yn lidender wiße vnd auch et­ wan yn thunder wiße […]. Zu dieser zweifachen Hinsicht des von der Theologia Deutsch geforderten Gelassenseins Zecherle, Die Theologia Deutsch (Anm. 15), S. 48 f.: »Im vorliegenden Kontext meint ›gelassen seyn‹ eine Haltung der Ergebenheit Gott gegenüber. Dieselbe Haltung soll der sich Gott überlassende Mensch, wie der Autor in Kapitel 23 darlegt, gemäß dem Vorbild Christi auch seinen Mitmenschen gegenüber einnehmen; er soll ihnen gehorsam und untertan sein und ihm angetanes Leid ertragen.« © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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eines Anderen stellt daher die Grundbedeutung von ›Gelassensein‹ in der Theo­ logia Deutsch dar. Doch problematisieren wir wenigstens kurz das zitierte normative Verhaltensprinzip: Es mutet prima facie nicht nur extrem und radikal, sondern auch und vor allem ungerecht an. Denn warum soll die vernunftbegabte Kreatur völlig entrechtet sein gegenüber all ihren Mitkreaturen, diese aber umgekehrt nicht gegenüber ihr? Warum soll nicht gleiches Recht für alle Kreaturen gelten? Wird hier nicht eine geradezu extremistische Sichtweise greifbar, die ein geistliches Lebensprinzip durch radikalisierende Übertreibung ins Inhumane pervertiert? Was meint Der Frankfurter, wenn er sagt, dass Gott und die Kreaturen Recht haben über die menschliche Kreatur, die Gott und den anderen Kreaturen gelassen und untertan sein soll? Damit meint er zunächst nicht eine seinsmäßige Ungleichheit, die zwischen und unter den Kreaturen bestünde und hier festgeschrieben würde. Er meint vielmehr nichts anderes, als dass eine vernunftbegabte Kreatur, genauer ein Mensch, der ein von ihm unmittelbar erfahrenes, ein mystisch begnadetes Gottesverhältnis gewinnen will, dies nur dadurch erreichen kann, dass er Gott und seinen Mitgeschöpfen gegenüber freiwillig die Haltung äußerster Demut und vollkommener Gelassenheit einnimmt, indem er ihnen gegenüber seinen eigenen Willen nicht setzt und behauptet, auf die Selbstbewegung seines eigenen Willens sowohl Gott als auch seinen Mitgeschöpfen gegenüber freiwillig verzichtet. Diese extreme Haltung wird nur dann als erstrebenswert verständlich, wenn man mit dem Frankfurter voraussetzt, dass die mystische Einung mit Gott nur durch die gänzliche, in jeder möglichen Hinsicht geübte Aufgabe der Selbstbewegung des eigenen Willens zu erreichen ist und sonst nicht.

2.6 Der Primat der Gottesliebe und das Lassen jeden eigenen Willensaktes Für die Theologia Deutsch ist die Überzeugung charakteristisch, dass es die Gottesliebe des Menschen und nicht bereits seine Gotteserkenntnis sei, die den Menschen vergotte bzw. vergöttliche. Der vom Frankfurter gelehrte Primat der Liebe über die Erkenntnis im Gottesverhältnis des Menschen liegt nicht zuletzt darin begründet, dass diese Liebe das Lassen alles dessen einschließt, was nicht Gott selbst ist bzw. ihm zugehört.27 Gott alleine aber sei zu eigen alle Ichheit, Meinheit und Selbstheit, das heißt, eine eigene, durch und aus sich selbst existierende Substanz zu sein und sich selbst als eine solche auch zu wollen. Genau dies darf daher der Mensch weder sich selbst zuschreiben noch selbst praktizieren, er muss

27 Vgl. Th. D., S. 131,43–46. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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diese Selbstzuschreibung und -anmaßung vielmehr lassen;28 sonst wird Gott vom Menschen »nicht gefunden oder empfangen«,29 mit anderen Worten: Der selbstbezogene Eigenwille, ja überhaupt die Setzung eines eigenen Willensaktes muss vom Menschen gelassen werden, damit er in die unmittelbare Erfahrung einer unmittelbaren Anwesenheit bei Gott – in die unio mystica – eintreten kann. Der Frankfurter geht daher auch konsequenterweise so weit zu sagen, dass Sünde sei, was aus eigenem Willen geschehe.

2.7 Die Person Jesu Christi als Vorbild des Gelassenseins Für den Frankfurter ist die Person Jesu Christi auch und gerade in ihrer Haltung eines zweifachen Gelassenseins gegenüber Gott und allen ihr unverfügbar ge­ gebenen Schicksalen, insbesondere gegenüber dem auferlegten Leiden, das universale Vorbild. Beide Formen des Gelassenseins, darauf insistiert Der Frank­ furter vehement, bedingen einander wechselseitig, sind letztlich miteinander identisch.30 Denn in den unverfügbar gegebenen Widerfahrnissen manifestiert sich zumindest der zulassende, oft auch, und zwar bei gutem Gegebenem, der bejahende Wille Gottes. Daher kann Der Frankfurter auch ausdrücklich formulieren: Wessen Wille Gott ganz gelassen wäre, der hätte alle weltlichen Dinge ohnehin gelassen, so dass in ihm alleine Gottes Wille geschähe.31 In knapper Wendung: Es ist der menschliche Eigenwille, genauer der eigene, sich selbst setzende Wille des Menschen, der in der Zeit gelassen werden muss, um überhaupt gelassen werden zu können.32 Denn während es im Himmel keine Eigentums- und Aneignungsverhältnisse, keinen selbstbezogenen Eigenwillen mehr gibt, ist dessen Herrschaft in der Hölle gerade der Grund ihres Unheils- und Unglückscharakters.33 Wahrhaft frei ist ein Mensch daher nur in dem Maße, in dem er ohne eigenen Willen ist. In diesem 51. Kapitel beschwört die Theologia Deutsch noch einmal Christus als das vollkommene Vorbild wahren Gelassenseins, der alle Dinge so gelassen hatte, »wie es in keiner Kreatur je gelassen ward oder ge­ 28 Vgl. ebd., S. 135,22–24. 29 Th. D., Übers. Wehr, S. 127; Th. D., S. 139,39. 30 Vgl. ebd., S. 140,12–22. 31 Vgl. ebd., S. 145,59–62: Vnnd wo das geschee, das der wille got also gar gelaßen were, da wurde das ander alczumal gelassen vnnd da bequeme sich got alles des seynen vnd der wille were nicht eygen wille. Sich, also hat got willen geschaffen, aber nicht, das er eigen sal seyn. 32 Vgl. ebd., S. 145,68–146,74: Das merck man bie dem menschen vnd bie dem teufel. So wirt werlichen alda selbst nymmer ware selikeit, wider yn czeit noch yn ewikeit, wo disser eygen wille geschiet, das ist dy eygenschafft, das man sich des willen an nympt vnd macht yn eygen, vnde nicht gelassen wirt yn der czeit, sunder das er bracht wirt auß der czeite, ßo ist vorsehelich, das er nym­ mer gelassen muge werden, ßo wirt auch yn der warheit do selbst nymmer genuge ader fride ader ruwe ader selikeit. 33 Vgl. Th. D., S. 147,112–128. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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schehen kann.«34 Diese Gelassenheit kann jemand nur dann erreichen, wenn er in echter Christusnachfolge sein Kreuz bereitwillig auf sich nimmt. Jesu im Neuen Testament bezeugter Ruf in seine Nachfolge (vgl. Mt 10,38) wird daher auch von dem Frankfurter in einen mystagogischen Aufruf zum Lassen aller Dinge transformiert: Wer nicht alle Dinge läßt und nicht sein Kreuz auf sich nimmt, der ist meiner nicht würdig und ist mein Jünger nicht und folgt mir nicht nach.35

2.8 Alle Dinge ›durch Gott lassen‹ Daß wir uns selbst also verleugnen und aufgeben und alle Dinge durch Gott lassen und unseren eigenen Willen also können aufgeben und (ihm) ersterben und allein Gott und seinem Willen leben, – das helfe uns der, der seinen Willen seinem himmlischen Vater aufgegeben hat: Jesus Christus, unser lieber Herre, der da gebenedeit ist über alle Dinge ewiglich. Amen.36

Diese in ein Fürbittgebet an Jesus Christus gekleidete Schlussparänese der ganzen Schrift bringt schließlich noch eine weitere sprachliche Variante des ge­forderten Gelassenseins zum Ausdruck: Der Mensch soll alle Dinge durch Gott lassen – gemeint ist: Durch die geforderte Hingabe seines Willens an den Willen Gottes gibt der Mensch auch seinen Willen nach weltlichen Dingen und damit überhaupt seinen eigenen Willen auf. In dieser mystagogischen Forderung nach gänzlicher Aufgabe der Eigenwirksamkeit des eigenen Willens  – nicht des Seins, was aus eigener Kraft für den Menschen nicht möglich ist – ist das Anliegen der ganzen Schrift paränetisch zusammengefasst. Der Mensch soll gelassen werden, das aber heißt: seinen eigenen Willen aufgeben, damit Gottes Wille ihn ungehindert führen und leiten kann.

34 Th. D., Übers. Wehr, S. 142; Th. D., S. 147,131–133: Aber wer ym volgen sal, der muß alle lassen, wan yn ym was alles gelassen also gar, als eß yn creaturen ye gelassen wart ader gescheen magk. 35 Th. D., Übers. Wehr, S. 143; Th. D., S. 147,135–148,137: Wer nicht alles das lesset vnd nicht das creucz uff sich nympt, der ist meyn nicht wirdigk vnnd ist meyn junger nicht vnd volget mir nicht nach. 36 Th. D., Übers. Wehr, S. 153; Th. D., S. 154,105–109: Das wir vns selber ab gehen vnd ­vnsers eygen willen sterben vnd gote vnd seynem willen leben alleyne, des helff vns der, der seynen willen seynem hymmelischen vater auff gegeben hat, der do lebt vnd hersschet mit got, dem vater, yn eynikeit des heiligen geistes yn volkommer dreyvaldikeit ewiglich. Amen. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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2.9 Resümee zur mystischen Grundbedeutung von ›Gelassenheit‹ in der Theologia Deutsch Zusammenfassend müssen wir daher Ludwig Völkers These vom mystikfreien Charakter des Verständnisses von Gelassensein in der Theologia Deutsch widersprechen, nicht jedoch seiner Hervorhebung des rein praktischen, auf die Aufgabe des eigenen Willens beschränkten Charakters dieses Verständnisses von ›Gelassenheit‹; darin stimmen wir auch mit Haas überein, der in Bezug auf den Gelassenheitsbegriff in der Theologia Deutsch von einer »gewiße[n] Einschränkung auf den Willensbereich«37 gesprochen hat. Diese Einschränkung ist aber in rein mystagogischer Absicht und Zielsetzung völlig konsequent: Denn es ist ein nicht nur in der Deutschen, sondern nach meinem Wissen in der christlichen Mystik überhaupt allgemeingültiges mystologisches Credo, dass der Mensch alleine durch die Aufgabe der Selbstbewegung seines eigenen Willens die subjektiv hinreichende Bedingung für den Eintritt der unio mystica als der unmittelbaren Erfahrung seiner unmittelbaren Anwesenheit beim Ersten Prinzip, in religiöser Sprache ›Gott‹ genannt, erfüllt.

3. Jakob Böhmes Verständnis von ›Gelassenheit‹ 3.1 Zum Forschungsstand In Bezug auf Jakob Böhmes Verständnis von ›Gelassenheit‹ ist die Forschungslage nach meinem Kenntnisstand sogar noch dürftiger als bei der Theologia Deutsch. Die Ergebnisse der drei schon genannten Beiträge von Völker, Haas und Dierse zur Geschichte des Gelassenheitsbegriffs können wir in Bezug auf die Bedeutung von ›Gelassenheit‹ bei Jakob Böhme wie folgt zusammenfassen: Nach Völker versteht Böhme die Gelassenheit inhaltlich als Aufgabe des Selbst und Preisgabe des eigenen Wollens und formal als Wiederherstellung der durch die Schöpfung unterbrochenen, ursprünglichen Einheit von Gott und Mensch bzw. genauer als Ort der Einheit von Gott und Mensch und damit sogar mehr als das Ziel des mystischen Weges und weniger als Weg zum Erreichen dieses Zieles. Darin sieht er eine Rückkehr zum Konzept eines statischen, ruhenden Zustands der Gelas­senheit im Verständnis Meister Eckharts.38 Haas beschränkt sich darauf, Völkers Interpretation zu zitieren und als Textgrundlage auf Böhmes Traktat Von der wahren Gelassenheit zu verweisen.39 Dierse gibt nur den Hinweis, Böhme 37 Haas, Gelassenheit (Anm. 12), S. 268. 38 Vgl. Völker, »Gelassenheit« (Anm. 9), S. 299–301. 39 Vgl. Haas, Gelassenheit (Anm. 12), S. 269. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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habe den Begriff ›Gelassenheit‹ in seiner Sündenfalltheorie verwandt, und zwar in Gestalt des gelassenen, auf Gott vertrauenden Willens, den er der Herrschaft des eigenen Willens bedeutungsmäßig entgegensetzt, welche zu einer Trennung des Menschen von Gott führe.40 Die im Folgenden vorzutragenden Überlegungen zu Böhmes Verständnis von Gelassenheit stützen sich ausschließlich auf Böhmes Traktat Von der wahren Ge­ lassenheit aus dem Jahr 1622 als Textgrundlage; eine vollständige Unter­suchung zu dieser Thematik bei Böhme wird durch das Fehlen einer textkritischen Edition mit den entsprechenden Registern etc. erheblich erschwert. Allerdings dürfte das, was Böhme in diesem Traktat schreibt, für sein Verständnis der Gelassenheit zweifellos von zentraler Bedeutung sein.

3.2 Der Gegensatz zwischen der luziferischen Selbstvergöttlichung des Menschen und wahrer Gelassenheit Dierse ist darin Recht zu geben, dass Böhme sein Verständnis von ›Gelassenheit‹ im Ausgang von seiner Theorie des Sündenfalls entwickelt hat. Hier verkörpern Luzifer und der von ihm verführte Adam, insofern er sündig geworden ist, die verkehrte Grundhaltung der Bosheit bzw. Sünde, die Böhme vornehmlich mit dem schon traditionell gewordenen Terminus der ›Selbstheit‹ als der Selbstbezogenheit des menschlichen Vernunft-Willens  – so der eigentümliche Wortgebrauch Böhmes – bezeichnet, in der sich das natürliche Vernunft-Licht des Menschen mit Gott selbst identifiziert.41 Dieser von der biblischen Sündenfallgeschichte erzählten luziferischen Selbstvergöttlichung des Menschen stellt Böhme die wahre Gelassenheit42 des Menschen gegenüber, die er auch die rechte Demut43 nennt und die er näher als Verzicht auf den Gebrauch des eigenen Willens und als Willensübergabe des Menschen an Gott, als ein Einsinken des menschlichen Willens in das Nichts und damit als gelassene und höchste Demut vor Gott kennzeichnet.44 Die Menschen müssen, so Böhme wörtlich, ihre eigenen Gedanken wegwerfen, sie müssen nichts begehren noch lernen wollen, es darf zu keiner willentlichen Annahme eigener Einsichten und Erkenntnisse kommen, damit der Geist Gottes sie lehren, leiten und führen, damit das natürliche Vernunft-Licht des Menschen mit den Augen Gottes sehen, d. h. mit Gottes 40 Vgl. Dierse, Gelassenheit (Anm. 13), Sp. 221. 41 Vgl. Jakob Böhme, De Aequanimitate oder Von der wahren Gelassenheit [VwG], in: ­Jakob Böhme, Sämtliche Schriften. Faksimile-Nachdruck der Ausgabe von 1730 in elf Bänden, neu hg. von Will-Erich Peuckert, Bd. 4, Stuttgart 1957, S. 85–108, hier VwG, S. 88 f. 42 Vgl. VwG, S. 90. 43 Vgl. ebd. 44 VwG, S. 92: Aber der Seelen Wille muß ohne Unterlaß, auch in diesem feurischen Trieb sich ins Nichts, als in die hchste Demuth vor GOtt, einsencken […]. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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eigenem Erkenntnislicht erkennen kann. Diesen Zustand eigener Willenlosigkeit und damit zugleich des gnadenhaften Erfülltseins mit Gottes eigenem Erkennen und Wollen nennt Böhme wörtlich »wahre[] Gelassenheit«.45

3.3 Die Alleinursächlichkeit Gottes und die Instrumentalursächlichkeit des Menschen bei seinen sittlich guten Handlungen Gottes Geist fährt nur, um wieder mit Böhme selbst zu sprechen, in der gelas­ senen Demut, in der Einfalt;46 dies deshalb, weil Gott den Menschen als Werkzeug seiner Wunder, seiner Selbstoffenbarung geschaffen habe.47 Diese Gott offenbar machende Ziel- und Zweckbestimmung der menschlichen Existenz vollbringe der gelassene Mensch am besten: Denn er vertraue auf Gott und erhoffe alles Gute von ihm.48 Der gelassene Mensch betrachte sich daher nur als Knecht und Diener Gottes, als dessen Werkzeug.49 Wer daher nicht im gelassenen Wil­ len, im Vertrauen auf Ihn [sc. Gott] wircket und thut, der verwstet und zerstreuet […];50 denn Gott gefalle nur das, was er selbst mit seinem Geist will und was er durch seine Werkzeuge wirkt. Und um diese christliche Heilswahrheit von der Allein­ursächlichkeit des Willens Gottes für alles Gute und der Instrumental­ ursächlichkeit des Menschen bei sittlich guten Handlungen seinen Lesern einzuschärfen, fügt Böhme noch unter Berufung auf Mt 15,13 (»Jede Pflanze, die nicht mein himmlischer Vater gepflanzt hat, wird ausgerissen werden«) die beschwörende Paränese hinzu: Alle Wercke des Menschen, welche er ausser GOttes Willen wircket, die werden alle im letzten Feuer GOttes verbrennen […],51 d. h. von der von Gott beim Jüngsten Gericht durchgesetzten Gerechtigkeit vernichtet werden. Denn die Selbstheit bzw. jede falsche Begierde, d. h. der selbstbezogene Eigenwille des Menschen, verfalle dem Gericht Gottes.52 Das Wesen der Selbstheit könne nur der gelassene Mensch bzw. Wille zerbrechen, der die Kindschaft Gottes erbe.53 Während 45 VwG, S. 93: sie empfinden sich dann in wahrer Gelassenheit. 46 Vgl. VwG, S. 94. 47 Vgl. ebd. 48 Vgl. ebd. 49 Vgl. ebd. 50 VwG, S. 95. 51 Ebd. 52 Vgl. VwG, S. 97. 53 Ebd.: Dann der gelassene Wille zerbricht der Selbheit Wesen immerdar wieder, daß es der Zorn GOttes nicht errreichen mag: Und ob er es erreichet, welches nicht gar ohne ist, und seyn mag, so fhret doch der gelassene Wille seine Kraft darinnen empor, so stehet es in der Figur vor GOtt, als ein Werck des Siegs im Wunder, und mag die Kindschaft ererben. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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die eigene Begierde, d. h. der eigene Wille, den Menschen in Unruhe versetze – eine von den christlichen Mystikern seit Eckhart schier unendlich oft wiederholte Überzeugung – schreie der gelassene Wille zu Gott um Erlösung vom Übel.

3.4 Gelassenheit als der schöpfungsgemäße Seelenzustand des Menschen Die heilsentscheidende Umwendung des menschlichen Gemütes zu Gott bringe den Menschen in die Gelassenheit und damit an jenen Ort, in den Gott ihn hinein­schuf.54 ›Gelassenheit‹ wird hier von Böhme als der schöpfungsgemäße innere Seelenzustand des Menschen verstanden. Denn Gott habe im irdischen Paradies den Willen des menschlichen Gemüts zu einer Gespielin der Gttlichen Freudenreich55 geschaffen, d. h. in einen Zustand völliger Ergebung in den göttlichen Willen, den Böhme mit der wahren Gelassenheit bezeichnet. Den Willen Gottes aber identifiziert Böhme mit der ewigen Liebe Gottes,56 so dass Gott nach diesem Bild gleichsam sein Liebesspiel mit dem ihm willfährigen menschlichen Willen spielt, sofern dieser Wille sich in seinem ursprünglichen schöpfungsmäßigen Zustand befindet. Der gelassene Wille sei es, der das Joch Christi, das Creutz der Feindschaft im Fleische,57 d. h. den auf die Befriedigung eigener Gelüste bezogenen Willen des Fleisches, auf sich nimmt.58 Denn die An- und Übernahme des göttlichen Willens im Menschen ist nur durch den Tod seines eigenen Willens hindurch möglich, wie Böhme in Aufnahme des Topos der mors mystica, des mystischen Todes, darlegt.59

3.5 ›In Gott gelassen‹ – die innere Gotteskindschaft Böhme schärft mit der gleichen Eindringlichkeit und dem gleichen Sendungsbewusstsein wie Der Frankfurter seinen Lesern ein, dass die Menschen nicht von außen angenommene, sondern aus Gott geborene Kinder werden, dass sie, wie meines Wissens erstmals Böhme formuliert, »in Gott gelassen«60 sein müssen. Einer durch äußeres Tun beglaubigten Gotteskindschaft stellt Böhme die innere Gotteskindschaft gegenüber, die im Anziehen des Geistes und Willens Christi 54 VwG, S. 101: Wann sich aber das Gemthe umwendet wieder in Beruff, als in die Gelassen­ heit, so ist der Wille im Beruff GOttes, als im Loco, da ihn GOtt hineinschuf […]. 55 VwG, S. 102. 56 Vgl. ebd. 57 Ebd. 58 Vgl. VwG, S. 103. 59 Vgl. VwG, S. 104. 60 VwG, S. 105: in GOtt gelassen. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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bestehe. Doch das Sterben des bösen Willens tue erfahrungsgemäß äußerst weh, niemand wolle dies gerne auf sich nehmen. Denn es ist, so können wir erklärend hinzufügen, die Selbstsetzung und -bewegung des eigenen Willens, die die menschliche Natur sucht und will. Deren Aufhebung ist ein Akt contra naturam und als solcher zwar nicht unmöglich, aber extrem schwierig. Daher bedürfe es eines strengen Ernstes, um die Selbstheit zu zerbrechen.61 Doch auch nach Erreichen der wahren Gelassenheit ist der Mensch nicht vor Versuchungen gefeit, im Gegenteil: Er wird äußerlich mit Verfolgungen und innerlich von Versuchungen heimgesucht, die ihn auf die Probe stellen, ob er in Gelassenheit in Gottes Willen bleiben will.62 Der gelassene Mensch müsse im Herzen auf alles Eigentum dieser Welt verzichten, auch und gerade auf eigenes Wissen und Erkennen, um die Versuchung zur Selbsterhebung und zum Stolz erst gar nicht aufkommen zu lassen.63

3.6 Gelassenheit als Herrschaft des göttlichen Willens im Menschen Was aber könnte Böhme mit dem Satz meinen, die Gelassenheit beherrsche alles, was unter ihr ist, und zwar im Gegensatz zur Selbstheit, die nur dem zeit­ lichen Wesen diene?64 Setzt diese Aussage nicht eine Gleichsetzung des Zustands der Gelassenheit mit der Herrschaft des göttlichen Willens voraus, dem alles untertan ist? Genau dies scheint mir der Fall zu sein, und zwar nicht nur hier, sondern auch an einigen der oben bereits angesprochenen Stellen, insbesondere an jener, an der Böhme die wahre Gelassenheit des Menschen als den Seelenzustand eigener Willenlosigkeit und zugleich des Erfülltseins mit Gottes eigenen Kräften gleichsam definiert. Völkers These von dem Zustandscharakter der Gelassenheit bei Böhme stützen daher einige zentrale Belege, auch wenn dieser Zustand, wie wir gesehen haben, nicht vor Versuchungen und Gefahren gefeit ist. Denn es handelt sich bei der wahren Gelassenheit ja um einen Seelenzustand des Menschen in statu viae, d. h. in der irdischen Existenz des Menschen, die bis zu ihrem Ende gefährdet und versuchbar bleibt.

61 Vgl. VwG, S. 106. 62 Vgl. ebd. 63 VwG, S. 107: Er muß alles Eigenthum dieser Welt verlassen; nicht daß er es nicht bessse, oder besitzen drfte, allein sein Hertze muß das verlassen, und seinen Willen nicht darein fhren, und fr eigen achten; er hat sonst keine Macht dem Drftigen damit zu dienen. 64 VwG, S.  107: Die Selbheit dienet nur dem zeitlichen Wesen: aber die Gelassenheit be­ herrschet alles was unter ihr ist. Die Selbheit muß thun, was der Teufel in Fleisches-Wollust und hoffrtigem Leben haben will: Aber die Gelassenheit trit das mit Fssen des Gemths. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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4. Zusammenfassung der Ergebnisse: ›Gelassenheit‹ in der Theologia Deutsch und bei Jakob Böhme Fassen wir zusammen: Die Theologia Deutsch versteht unter dem Gelassensein die völlige Ergebenheit des Menschen in den Willen eines anderen, die mystagogisch als Ergebenheit in den Willen Gottes und in den Willen der Mitgeschöpfe mit dem Ziel der gänzlichen Aufhebung der Wirksamkeit des eigenen Willens als der notwendigen Bedingung für das Erreichen der unio mystica gedeutet wird. Damit konzentriert die Theologia Deutsch den mystagogischen Imperativ auf die Erfüllung der einen, für die mystische Erfahrung einer unmittelbaren Anwesenheit bei Gott einzig notwendigen Bedingung von Seiten des Menschen und ist daher streng heilspraktisch ausgerichtet. Bei Jakob Böhme findet insofern eine Erweiterung des Bedeutungsspektrums von ›Gelassenheit‹ gegenüber der Theo­ logia Deutsch statt, als bei ihm dieser Ausdruck zwar auch den Seelenzustand völliger Willenlosigkeit beschreibt, den er aber stärker als die Theologia Deutsch als den gnadenhaften Zustand der Herrschaft des göttlichen Willens im Menschen akzentuiert. Dies zeigt sich im Sprachgebrauch von ›Gelassenheit‹ nicht zuletzt daran, dass Böhme von einem ›Gelassensein in Gott‹ sprechen kann, während für die Theologia Deutsch der Gebrauch des Adjektivs gelassen in Verbindung mit Gott oder den Mitmenschen als Dativobjekt charakteristisch ist, der das Moment der Selbsthin- oder -übergabe betont. In der Theologia Deutsch besitzt der Begriff der ›Gelassenheit‹ allerdings eine im Vergleich zu Jakob Böhme stärker mystagogische Prägung, als das entscheidende Mittel für das Erreichen der unio mystica, der mystischen Einung. Denn auch wenn Böhme den Zustand der Überformung des Menschen mit Gottes eigenen Kräften kennt, so findet sich bei ihm doch nicht mehr eine Lehre von einer unio mystica zwischen Gott und Mensch im strikten, terminologischen Sinne dieses Wortes.

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Bent Gebert (Freiburg i. Br.)

Technik und Ereignis ›Gelassenheit‹ in Johannes Schefflers Cherubinischem Wandersmann

1. Vorüberlegungen: Technologien der Gelassenheit Dú hohe schl und ir kunst, die man hie liset, daz ist nit anders denn ein genzú, vol­ komnú gelassenheit sin selbs […]. disú kunst wil haben ein ledig mssekeit: so man ie minr hie tt, so man in der warheit ie me hat getan. (Heinrich Seuse, Vita, Kap. 19)1 Ich schreibe dieses Manifest, um zu zeigen, daß man mit einem einzigen frischen Sprung entgegengesetzte Handlungen gleichzeitig begehen kann; ich bin gegen die Handlung; für den fortgesetzten Widerspruch, für die Bejahung und bin weder für noch gegen und erkläre nicht. (Tristan Tzara, Manifest Dada 1918)2

Beobachtet man moderne und mittelalterliche Semantiken von ›Gelassenheit‹, so zeigen sich zunächst vor allem gegenläufige Muster. Dominant ist gegen­wärtig die Vorstellung, Gelassenheit sei eine spezifische Haltung, in die man sich einüben könne. Ratgeber einer auflagenstarken Lebenskunst-Literatur schicken mit Suggestionsvorschriften auf die »Reise zur Gelassenheit«3 gegenüber Krebs, Hörbücher lehren beim Joggen, bei der nächsten Sitzung »nicht alles so schwer zu nehmen« und stattdessen gelassen zu bleiben.4 Aktuelle Diskurse der Lebens 1 Heinrich Seuse, Deutsche Schriften, hg. von Karl Bihlmeyer, Stuttgart 1907 (Nachdruck Frankfurt a. M. 1961) [B], S. 54,1 ff. 2 Tristan Tzara: Manifest Dada 1918, in: Wolfgang Asholt und Walter Fähnders (Hg.): Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde (1909–1938), Stuttgart, Weimar 1995, S. 150. 3 Aus der Fülle der aktuellen Ratgeber-Literatur seien stellvertretend herausgegriffen: Eckhard Schiffer, Reise zur Gelassenheit. Den sicheren Ort in sich entdecken, Freiburg i. Br. 2006; Sabine Asgodom, 12 Schlüssel zur Gelassenheit. So stoppen Sie den Stress, München 6 2007; Peter Lauster, Wege zur Gelassenheit. Souveränität durch innere Unabhängigkeit und Kraft, Reinbek bei Hamburg 52007. 4 Vgl. Irene Becker, Endlich Rose statt Mimose. Wie Sie lernen, nicht alles so schwer zu nehmen, Audio-CD, Frankfurt a. M. 2007; Michaela Merten, Selbstvertrauen. Gelassenheit und Lebensfreude als Ziel. Positive Selbstsuggestion für mehr Selbstvertrauen, Audio-CD, München 2008. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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kunst statten sich so mit Rumpfsemantiken von Gelassenheit aus, hinter denen bisweilen überraschende Kontinuitäten antiker oder christlich-monastischer Selbsttechnologien zum Vorschein kommen können. Quer zu ihrer Ausdifferenzierung ist solchen Programmen gemeinsam, dass sie Gelassenheit als Fluchtpunkt von Techniken eines »Seelen-Coachings«5 entwerfen, das mittels Übungen des Wiederholens, Festigens und Verstetigens operiert. Gelassenheit als Technik meint dabei zumeist – und so möchte ich den Ausdruck auch im Folgenden verwenden – Praktiken und Effekte des regulierten Herstellens. Wendet man sich dagegen mittelalterlichen Textkulturen der Gelassenheit zu, wie sie im Mittelpunkt der Studien des vorliegenden Bandes stehen, be­gegnet man nicht selten radikaler Kritik an solchen Selbsttechnologien. Esel seien die­ jenigen Leute, so formuliert beispielsweise Meister Eckhart drastisch in der Armutspredigt, die sich behaltent mit eigenschaft in penitencie und ûzwendiger üebunge:6 Indem sie an Übungen und spirituellen Techniken festhielten, verfestigten solche Menschen die kreatürliche Differenz zu Gott eher, als sie zu durchbrechen. Erst wer hingegen grundsätzlich nicht wolle, nicht wisse, nicht besitze und noch mit der Grundstruktur von Intentionalität überhaupt breche, der ›lasse‹ im eigentlichen Sinne – so streicht Eckhart in der Predigt Qui audit me lobend an Paulus heraus.7 Eckharts Predigten peilen ›lassen‹ und ›Gelassenheit‹ somit als fundamentale Unterbrechung von intentionaler, regelgeleiteter Übung an – als Unterbrechung von Habitualisierungspraktiken, die im Lassen Gottes ihren absoluten Lackmustest findet. Will sich eine semantische Erforschung von ›Gelassenheit‹ nicht mit isolierten Extrempositionen neuzeitlicher oder mittelalterlicher Provenienz begnügen, so muss sie die Unterscheidung von Technik und Unterbrechung selbst zum Thema machen, die in diesen Positionen wirksam ist. Gehören ›Gelassenheitstechnik‹ und ›Lassen als Durchbruch von Technik‹ gemeinsamen, gegensätzlichen oder gar inkompatiblen diskursiven Formationen von Gelassenheit an?

5 Vgl. Michaela Merten, Seelen-Coaching. Wege zu Gelassenheit und Lebensfreude, München 2006. 6 Meister Eckhart, Die deutschen und lateinischen Werke, hg. im Auftrag der Deutschen Forschungsgemeinschaft. 1. Abteilung: Die deutschen Werke [DW], Bd. I–III, V, hg. und übers. von Josef Quint, Stuttgart 1958–1976; Bd. IV,1, hg. und übers. von Georg Steer unter Mitarbeit von Wolfgang Klimanek und Freimut Löser, Stuttgart 2003; Bd. IV, 2, Lfg. 1–2, hg. und übers. von Georg Steer unter Mitarbeit von Wolfgang Klimanek, Stuttgart 2003, hier DW II, Pr. 52, S. 489,3 f. Vgl. auch DW II, S. 504,6 f. 7 Daz hœhste und daz næhste, daz der mensche gelâzen mac, daz ist, daz er got durch got lâze (Pr. 12 Qui audit me, DW I, S. 196,6 f.). Zu ›Gelassenheit‹ bei Eckhart vgl. ausführlich Eric A. Panzig, Gelâzenheit und abegescheidenheit. Eine Einführung in das theologische Denken des Meister Eckhart, Leipzig 2005; Adeltrud Bundschuh, Die Bedeutung von gelassen und die Bedeutung der Gelassenheit in den deutschen Werken Meister Eckharts unter Berücksichtigung seiner lateinischen Schriften, Frankfurt a. M. 1990. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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Ein besonderes Gewicht verleiht dieser Frage die Tatsache, dass Technik und Unterbrechung im Zeichen von Gelassenheit oftmals paradoxe Nähe eingehen. Schon in den Predigten und Traktaten Eckharts gehen üebunge und ­lâzen bis­ weilen komplexe Verbindungen ein, die einfache Abgrenzungen verwehren.8 Ähnliches findet sich, in verschärfter Form, auch bei Heinrich Seuse. So stellt das Buch der Wahrheit einen mensche in Christo in den Mittelpunkt, der gebet nach dem ussern menschen ist.9 Sodann wird berichtet, wie den Geübten ein kref­ tiger inschlag aus seinen spirituellen Techniken hinauskatapultiert. Dennoch ist sein Interesse an religiöser Übung damit keineswegs verabschiedet, kehrt es doch in der Schlusspartie des Dialogs beharrlich wieder. Er fragt: Der in diser in­ niger gelazenheit úbersetzet ist, ist der nit entlediget von usseren bungen? Viele Menschen, die zwar einsähen, was zu lassen sei, so erhält er zur Antwort, bli­ bent […] uf gemeinen bungen; aber eines wolgelazsenen menschen tn ist sin laz­ sen.10 Die Differenzierung falscher und rechter Gelassenheit führt so geradewegs in die Paradoxie: Die Überwindung von Übungen verweist auf neue Übung in Abstandnahme. Auch Seuses Vita greift diese Spur auf, wenn sie dem Diener eine paradoxe ›Schule der Gelassenheit‹ vor Augen führt: Hier könne man sich im Nichtstun üben, auf dem Lehrplan steht Unterricht in mssekeit.11 Technik und Unterbrechung lassen sich in diesen Beispielen nicht voneinander ablösen. Der Spalt ihrer Unterscheidung ist so provozierend schmal, dass er wiederholt zusammenbricht. 8 In der sogenannten Bürglein-Predigt (Pr. 2 Intravit Iesus in quoddam castellum) etwa verwirft Eckhart gebete, […] vastenne, […] wachenne und aller hande ûzerlîcher üebunge und kesti­ gunge (DW I, S. 28,9 f.) als Formen, sich restlos Gott zu überlassen. An anderen Stellen wie dem 6. Abschnitt der Erfurter Rede der underscheidunge vergleicht Eckhart dagegen den Zustand der abegescheidenheit des gelassenen Menschen, welcher der dinge […] ledic blîbe (DW V, S. 209,2), mit dem erfolgreichen Internalisierungsprozess von Übungen wie z. B. von Schreibübungen oder dem Erlernen von Musikinstrumenten: Er muoz lernen diu dinc durchbrechen und sînen got dar inne nemen […]. Glîcher wîs als einer, der dâ wil schrîben lernen; triuwen, sol er die kunst künnen, er muoz sich vil und dicke an den werken üeben […] (DW V, S. 207,8–208,1). 9 Heinrich Seuse, Das Buch der Wahrheit. Daz bchli der warheit, kritisch hg. von Loris Sturlese und Rüdiger Blumrich. Mit einer Einleitung von Loris Sturlese, übers. von Rüdiger Blumrich, Hamburg 1993, S. 2 [Kap. 1: Von inrelicher gelazenheite und von gtem under­ scheide, der ze habenne ist in vernunftikeite]. 10 Ebd., S. 68 [Kap. 8: Wie adellichen sich haltet ein reht gelazsener mensch in allen dingen]. 11 Vgl. B 54,1–3: Dú hohe schl und ir kunst, die man hie liset, daz ist nit anders denn ein genzú, volkomnú gelassenheit sin selbs […]. – disú kunst wil haben ein ledig mssekeit: so man ie minr hie tt, so man in der warheit ie me hat getan (B 54,12–14) [Kap. 19: Wie er ward gewi­ set in die vernúnftigen schle z der kunst rechter gelassenheit]. Diese paradoxe Vision soll den Diener jedoch auf ein bestehendes Defizit weisen – sie wird im zweiten Kapitelabschnitt gleichsam didaktisch demaskiert: daz du noh mit allen dinen ussren bungen, die du dir selb usser di­ nem eigen grund an tet, bist ungelassen ze enpfahene frmd widerwertikeit. Du bist noh als ein erschrockens hesli, daz in einem buschen verborgen lit und ab iedem fliegenden blate erschriket (B 54,20–24). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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Die Erforschung von Semantiken der Gelassenheit konfrontieren diese Beispiele mit einem intrikaten Beobachtungsproblem: Wie lassen sich solche Diskurse analysieren, deren Selbstbeschreibungen Techniken aufrufen oder technikförmig operieren, dabei aber Nicht-Technikförmiges zu evozieren suchen? Entfalten solche Semantiken von ›Gelassenheit‹ allgemeine Spannungen christ­ licher Anthropologie oder – noch spezifischer – die Paradoxien eines mystischen Sprachhandlungsmodells?12 Grundsätzlicher noch steht dahinter eine methodische Frage, die Christian Kiening unlängst erneuert hat: Wie kann historische Semantik als Bedeutungsforschung verfahren, wenn Bedeutung nicht einfachhin als historisch gegeben oder  – umgekehrt  – als interpretatorisch konstruiert betrachtet werden kann, sondern stets im Wechselspiel von (historischen) Konstitutionssystemen von Bedeutung und konkreten Instanzen entsteht?13 Wie also hängen Bedeutung und bedeutungserzeugende Systeme in den Fällen solcher Semantiken von ›Gelassenheit‹ zusammen, die Technik einerseits aufrufen, andererseits aber aufkündigen? Nicht nur die eindrückliche Differenz und Konkurrenz von ›Selbsttechnik‹ und ›Durchbrechen von Technik‹ gehören demnach zur Semantik von Gelassenheit, sondern auch die Frage nach dem, was diese Unterscheidung im systemtheoretischen Sinne als Einheit organisieren mag. Besonders aufschlussreich scheinen mir daher solche Texte zu sein, in denen diese Stränge deutlich zusammenlaufen. Ein solches Beispiel bietet die 1675 unter dem neuen Titel Cherubinischer Wandersmann veröffentlichte Epigrammsammlung des schlesischen Barockdichters Johannes Scheffler.14 Schefflers Epigramme bilden nicht schon deshalb einen paradigmatischen Gegenstand für diese Fragen, weil sie vielfältige Kontinuitäten zur mittelalterlichen Mystik und zu deren Gelassenheitsprogrammen unterhalten.15 Entscheidend für den hier zu 12 Vgl. dazu die grundsätzlichen Überlegungen von Walter Haug, Wendepunkte in der abendländischen Geschichte der Mystik, in: ders.: Die Wahrheit der Fiktion. Studien zur weltlichen und geistlichen Literatur des Mittelalters und der frühen Neuzeit, Tübingen 2003, S. 446– 463, insbes. S. 446–449, sowie Susanne Köbele, Vom ›Schrumpfen‹ der Rede auf dem Weg zu Gott. Aporien christlicher Ästhetik (Meister Eckhart und das Granum sinapis – Michel Beheim – Sebastian Franck), in: Poetica 36 (2004), S. 119–147. 13 Vgl. Christian Kiening, Gegenwärtigkeit. Historische Semantik und mittelalterliche Literatur, in: Scientia Poetica 10 (2006), S. 19–46, hier bes. S. 19 f. 14 Schefflers Epigramme werden zitiert nach der kritischen Ausgabe von Louise Gnädinger (Hg.): Angelus Silesius [Johannes Scheffler], Cherubinischer Wandersmann, Stuttgart 2000. 15 Vermittelt durch Kompendien wie Maximilian Sandaeus’ Clavis pro theologia mystica schließt Schefflers Cherubinischer Wandersmann beispielsweise an die Radikalität von Eckharts Predigten Beati pauperes spiritu und Qui audit me an: Wie seelig ist der Mensch, / der weder wil noch weiß! / Der GOtt (versteh mich recht) nicht gibet Lob noch Preiß (I,19; vgl. auch I,24 und I,49). Aber auch in direkter Lektüre kommuniziert Scheffler mit Texten mittelalterlicher Mystik, wie Jean Orcibal anhand der Bibliothek Schefflers (zu deren intensivst bearbeiteten Texten unter anderem Schriften Bonaventuras, Taulers und Jan van Ruusbroecs zählen) dokumen© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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verfolgenden Zusammenhang von Technik und Gelassenheit ist vielmehr, dass die Sammlung nicht nur darin irritieren kann, was ihre Epigramme jeweils als ›Gelassenheit‹ bestimmen, sondern dass trotz eindringlicher philologischer und theologischer Bemühung unausgemacht geblieben ist, wie sich ihre Texte überhaupt lesen lassen. Die schwierige Verflechtung zwischen semantisierenden Systemen und semantischen Effekten, zwischen der bedeutungserzeugenden Form des Epigramms und der Bedeutung von Gelassenheit, scheint mir besonders aufschlussreich. Ich möchte daher die Aufmerksamkeit der Analyse noch vor den Signifikaten auf die Prozesse der Signifikation lenken: Welche Möglichkeiten gibt es, um die Bedeutungserzeugung von ›Gelassenheit‹ im Cherubinischen Wanders­ mann zu beobachten? Meine Argumentation verfolgt dazu vier Schritte: Zunächst möchte ich zentrale semantische Paradoxien in den Wortfeldern von ›Gelassenheit‹ und ›Übung‹ nachzeichnen, um davon ausgehend nach dem bedeutungsgenerierenden Muster des Epigramms zu fragen (Abschnitt 2). Im Anschluss daran gilt es, einige grundsätzliche Theorieoptionen zu sondieren, die solchen Arten der Bedeutungs­ generierung Rechnung tragen können; die Unterscheidung von ›Technik‹ und ›Ereignis‹, so mein dritter Schritt, kann hierfür ein fruchtbares Begriffspaar bereitstellen (Abschnitt 4), dessen Beschreibungsleistung auch über den Rahmen mystischer Epigrammatik hinaus fruchtbare Perspektiven eröffnen könnte (Abschnitt 5).

2. ›Gelassenheit‹ im Cherubinischen Wandersmann In seinem Essay Of Studies unterscheidet Francis Bacon dreierlei Arten von Büchern und Zugangsweisen zu Texten: »Some books are to be tasted, others to be swallowed, and some few to be chewed and digested.«16 Es besteht kein Zweifel, wie Bacon der Cherubinische Wandersmann gemundet hätte. Kaum lässt sich von der monumentalen Sammlung von 1675 Epigrammen, Quatrains und Sonetten nur kurz kosten; noch weniger lassen sich diese – wie es Alois M. Haas auf der tiert; vgl. Jean Orcibal, Les sources étrangères du Cherubinischer Wandersmann (1657) d’après la bibliothèque d’Angelus Silesius, in: Revue de littérature comparée 18 (1938), S. 494–506. Zu Schefflers Beziehungen zu Autoren, Texten und Themen der mittelalterlichen Mystik vgl. ausführlich auch Louise Gnädinger, Die spekulative Mystik im Cherubinischen Wandersmann des Johannes Angelus Silesius, in: Studi germanici N. S. 4 (1966), S. 29–59 und S. 145–190, insbes. S. 170–174; ergänzend dazu vgl. die älteren Arbeiten von Rudolf Neuwinger, Die deutsche Mystik unter besonderer Berücksichtigung des Cherubinischen Wandersmanns Johann Schefflers, Bleicherode 1937 und Horst Althaus, Johann Schefflers Cherubinischer Wanders­ mann: Mystik und Dichtung, Gießen 1956. 16 Francis Bacon: Of Studies, in: John Pitcher (Hg.), The Essays, London 1985, S. 209 f., hier S. 209. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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Suche nach einer geschlossenen Frömmigkeitserfahrung Schefflers versuchte –17 in einem geschlossenen Interpretationszug verbinden, ohne auf Widersprüche zu stoßen. Dies möchte ich an den Wortfeldern von ›Gelassenheit‹ und ›Technik‹ zumindest exemplarisch demonstrieren. So fordert einerseits eine Reihe von Epigrammen dazu auf, alle Dinge, sich selbst und sogar Gott zu lassen:18 II,208. Gelassen muß man ewig seyn. Wer auch im Paradiß nicht noch sol untergehn /  Der Mensch muß ewiglich / auch GOttes / ledig stehn.

Andere Epigramme dagegen teilen diese ontologisch unerschütterliche Gelassenheit nicht. Sie warnen ganz im Gegenteil, Gott bloß nicht zu lassen:19 IV,202. Der Strahl ohne die Sonne. Der Strahl ist nichts wenn er sich von der Sonn abbricht; Du gleichfalls / lstu GOtt dein wesentliches licht.

Ist dies ein propositionaler Widerspruch zum zuvor zitierten Epigramm? Oder müssen wir den Ausdrücken Gott und lassen je andere Bedeutungen (z. B. Gott als ›Gottesbild‹ / Gott als ›Quelle des Lebens‹) beilegen, um ihn zu entschärfen? Die Epigramme steuern dies nicht explizit, ja halten es geradezu strategisch offen. Auch das Wortfeld der Übungen ist von Widersprüchen zerklüftet. Zahl­reiche Epigramme favorisieren traditionelle Askesetechniken: II,220. Wachen / Fasten / Bethen. Drey Werke muß man thun / wenn man fr GOtt wil trethen /  Er fordert sonst auch nichts: als / Wachen / Fasten / Bethen.

Mit wachen fasten bethen, heißt es auch im sechsten Buch, Kanstu das gantze Heer der Teuffel unterthreten (VI,207);20 Durch Demutt und Casteyn / und durch All­ mosen geben könne man die eigenen Auferstehungschancen optimieren (VI,16).21 17 Vgl. Alois M. Haas, ›Christförmig sein‹. Die Christusmystik des Angelus Silesius, in: Wolfgang Böhme (Hg.), Zu dir hin. Über mystische Lebenserfahrung. Von Meister Eckhart bis Paul Celan, Frankfurt a. M. 1987, S. 178–206. 18 Vgl. I,130 (Die bloßheit ruht in Gott): Wie seelig ruht der Geist in deß Geliebten schoß! / Der Gotts / und aller ding’ / und seiner selbst steht bloß. Vgl. auch I,164 und II,92. 19 Vgl. auch V,231 (Wahre Liebe ist bestndig): Laß doch nicht ab von Gott / ob du solst elend seyn: / Wer jhn von Hertzen liebt / der liebt Jhn auch in Pein. 20 Vgl. auch in moderaterem Ton II,174 (Es wil gebet seyn): Versuch mein Dubelein mit bung lernt man viel: / Wer nur nicht sitzen bleibt / der kombt doch noch zum Ziel. 21 Vgl. auch II,219 (Die gutten Werke): Mit Speise / Trank und Trost / Beherbrigen / Bekley­ den / Besuchen in der Noth / heist GOttes Lmmlein weiden. Zur Almosen-Thematik vgl. auch © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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Dem halten andere Epigramme entgegen, dass Wachen und Übungen die Überwindung kreatürlicher Differenz gerade verhinderten. Entsprechend pointieren sie um:22 V,207. Das grste Werk. Das allergrste Werk das du fr GOtt kanst thun /  Jst ohn ein eintzigs Werk GOtt leiden und Gott ruhn.

Selbst in engster Nachbarschaft prallen so im Cherubinischen Wandersmann konträre Empfehlungen aufeinander – beispielsweise einmal Gott unbedingt zu begehren (VI,116; VI,157), das andere Mal die Begiehr und das Wollen radikal zu ›lassen‹ (VI,108; vgl. auch II,195 und 196; VI,221 und 222). Schon Benno von Wiese registrierte daher – merklich pikiert – »Verwirrung« und »Widerspruch« in den begrifflichen Bestimmungen des Cherubinischen Wandersmanns.23 Die hermeneutisch inspirierte Schefflerforschung versuchte diese semantischen Spannungen auf die Frömmigkeitsbiographie ihres Autors abzuleiten: 1653 konvertiert Scheffler zum Katholizismus, womit ein grundlegender Routenwechsel auch des Cherubinischen Wandersmanns verbunden zu sein schien.24 Doch lässt dies nicht übersehen, dass semantische Widersprüche sich durch alle Werkphasen und Teile der Epigrammsammlung hindurchziehen und sich zu langen Beispielserien staffeln. Scheffler entscheidet sich zudem vier Jahre nach seinem Konfessionswechsel zur Publikation der ersten fünf Bücher, deren Aussagen über ›Gelassenheit‹ sich zu keiner kohärenten, geschweige denn dogmatischen Position zusammenfügen lassen. Als gegenreformatorischer Eiferer unterlässt es der Autor, flagrante Widersprüche und Reihungen von Gegenaussagen zu harmonisieren. Unabweisbar VI,53 (parallelisiert das ›Lassen‹ der Welt zudem ausdrücklich mit den Übungen von Gebeth und Casteyn); VI,87; VI,88. 22 Vgl. hierzu auch I,53 (Die Tugend sitzt in Ruh.): Mensch wo du Tugend wilst mit Arbeit und mit Mh / So hastu sie noch nicht / du kriegest noch umb sie. 23 Vgl. Benno von Wiese, Die Antithetik in den Alexandrinern des Angelus Silesius, in: Euphorion 29 (1928), S. 503–522, hier zitiert nach dem Wiederabdruck in: Richard Alewyn (Hg.), Deutsche Barockforschung. Dokumentation einer Epoche, Köln 1965, S. 260–283, hier S. 272: »Zunächst scheint jedoch eine Schwierigkeit diese Strukturen wieder aufzulösen und uns in neue Verwirrung zu stürzen. Es sind häufig inhaltlich die gleichen konträren Gegensätze, an denen antithetische Spaltung und mystische Ineinssetzung vollzogen wird, Zeit und Ewigkeit, Diesseits und Jenseits, Tod und Leben. Aber in dieser Verwirrung finden wir das Wesen. Der Widerspruch an und für sich ist das Zentrum der gehaltlichen Konzeption.« 24 So hat Hans Ludwig Held Schefflers religiöse Poetik als »Zuckungen eines zerbrochenen Lebens« zwischen interkonfessioneller Polemik und theologischem Synkretismus nach­ gezeichnet; vgl. Hans Ludwig Held (Hg.), Angelus Silesius, Sämtliche poetische Werke in drei Bänden, 3 Bde., Bd. 1: Die Geschichte seines Lebens und seiner Werke. Urkunden, München 3 1952, S. 13–212, insbes. S. 52 f., und S. 92–96. Auch Hans-Georg Kemper, Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit, 6 Bde., Bd. 3: Barock-Mystik, Tübingen 1988, S. 215, identifiziert als Schefflers »Lebens- und Werkproblematik eine immer wieder bedrohte Identitätssuche und -sicherung.« © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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wird damit der Eindruck, die »chamäleontischen« Verse,25 deren Semantik bei jeder neuen Begegnung die Farbe wechselt, seien gezielt widersprüchlich. Dies hat die Herausgeberin der kritischen Ausgabe nicht von einer Begriffsdefinition abgehalten. »Gelassenheit«, so resümiert Louise Gnädinger, bedeute »Losgelöstheit von Selbst und Welt, Ergebenheit in Gott; Gefaßtheit, Ruhe, Gleichmütigkeit«.26 Dies wird den widersprüchlichen Aussagen der Epigramme wie gesehen kaum gerecht. Wie aber kann man einem solchermaßen gebrochenen Bedeutungsspektrum analytisch begegnen, wenn begriffssemantische Definitionsversuche scheitern? Wichtige Anhaltspunkte könnte eine Analyse der Kollokationen von lassen und seiner Derivationsformen fördern  – die linguistische Bestandsaufnahme der konkreten Wortbelege von lassen und Gelassenheit ginge zunächst einen methodischen Schritt zurück hinter den (vorschnellen) Wunsch nach begrifflicher ­Fixierung. Die 74 Wortbelege des Vollverbs lassen und seiner Ableitungsformen (­verlassen, gelassen, Gelassenheit etc.) streuen sich auf 56 Epigramme und Quatrains sämtlicher Bücher des Cherubinischen Wandersmanns und eine Untersuchung ihrer konkreten Verwendungszusammenhänge mag Aufschluss geben über die sprachlichen Bedingungen ihrer Bedeutung.27 Die kollokationale Einbindung von lassen und Gelassenheit zeigt insgesamt ein Mischbild mit einigen gegenwendigen Regularitäten. Dies möchte ich exemplarisch an drei Untersuchungsaspekten verdeutlichen:

1.) lassen als Kern von Verbalphrasen Schefflers Epigramme verwenden als Kern von Verbalphrasen neben den präfixlosen Grundformen von lassen vor allem Formen mit egressivem Präfix ver-.28 Weitere präfigierte Verbformen  – z. B. gelassen oder erlassen  – sind mit jeweils nur zwei Belegen spärlich gebraucht. Lassen und verlassen führen jeweils 25 In Anlehnung an Held, Angelus Silesius (Anm. 24), S. 91. 26 Vgl. Louise Gnädinger, Glossar, in: Cherubinischer Wandersmann (Anm. 14), S. 307– 315, hier S. 310 (›Gelassenheit‹). Vgl. zusammenfassend auch Gnädinger, Mystik im Cheru­ binischen Wandersmann (Anm. 15), S. 51, mit Hinblick auf die Schützenmetaphorik der Epigramme: »das spekulativ mystische Augenmaß […] trifft und erreicht, gerade wenn es in der Gelassenheit des ›wie Gott will‹ sein eigenes Maß aufgibt […].« 27 Aus Buch I sind dies die Epigramme 13, 21, 22, 39, 44, 99, 164, 215, 234, 244, 288 und 300; Buch II: 61, 92, 133, 135, 136 (Titel: Eben von derselben bezieht sich auf Die Gelassenheit, II,135), 141, 144, 208, 216, 244; Buch III: 11, 73 (Quatrain), 117, 176, 219; Buch IV: 39, 99 (Quatrain), 187, 191, 196, 198, 202, 207; Buch V: 57, 70, 106, 132, 177, 194, 231, 236, 322; Buch VI: 20, 53, 63, 115, 140, 142, 164, 179, 191, 192, 198, 206. 28 Von den insgesamt 43 Verbalphrasen mit lassen (einschließlich Derivationen) als Kern entfallen 23 Belege auf das Paradigma lassen (alle Tempora einschließlich Konstruktionen mit Modalverben), 14 Belege auf das Paradigma verlassen. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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unterschiedliche syntagmatische Relationen mit sich. Verlassen eröffnet zweistellige Relationen: Es verbindet jemanden, der verlässt, mit einem direkten Objekt, das verlassen wird, so beispielsweise in den Syntagmen folgender zweier Über­ schriften: Wer sich verlst (II,61) Sich verlassen ist etwas verlassen (VI,192)

Weitere Komplemente wie z. B. Adverbiale treten abgesehen von zwei Ausnahmen nicht hinzu. Dagegen eröffnen die Verbformen zu lassen und gelassen in mehr als der Hälfte aller Belege Relationen, die mehr als zwei Komplementstellen mit sich führen wie in folgenden Verbalphrasen: Jch lasse mich GOtt gantz (I,99) GOtt lst sich wie man wil (I,21) Ein Mensch der Gott sich lst in allen flln und weisen (IV,39) Der Geitzhalß […] lst anderen sein Geld (VI,179)

Zusammenfassend kann man anhand der unterschiedlichen Kompositions­ formen von lassen also unterschiedliche Relationalitätsgrade der Verbalphrasen feststellen. Wenn ›Gelassenheit‹ Semantiken der Relation von Mensch und Gott markiert, dann können solche Unterschiede der syntagmatischen Relation nicht übergangen werden, mag dieser Befund auch zunächst trivial anmuten. Das Paradigma verlassen hält syntagmatische Bezüge tendenziell begrenzt, während las­ sen und gelassen diese geradezu anziehen, also die sprachliche Bezüglichkeit des ›Lassens‹ vielfältiger ausgestalten. Diese gegenläufige Tendenz bestätigen auch die Komplemente selbst. Fragt man danach, welche Ausdrücke bzw. semantischen Elemente die Ergänzungsstellen auffüllen, so kann man unter den Gelassenheitsepigrammen alle Kombinationsverhältnisse von Immanenz und Transzendenz in sämtlichen Abstraktionsgraden finden, z. B.: Ein Mensch […] lst [sich] Gott (IV,39)29     anderen sein Geld (VI,179)     die gantze Welt (IV,191)     sich / von sich selbst entbunden (II,61)     GOtt […] selbst (II,92; vgl. auch I,22; I,234; I,164; II,208; IV,202)     das Etwas (I,44) GOtt lst sich (I,21)     seiner GOttheit Wein (III,11) 29 Vgl. auch I,44; II,208; III,176; IV,39; IV,187; V,106; zusammen mit den appellativen manFormen und Anredepronomina bildet dies die größte Gruppe, die den Menschen in Subjekt­ position platziert. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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Die Komplemente lassen sich zwar einem weitgehend geschlossenen Sachbereich der ontologischen Spekulation zuordnen (insbesondere dem Verhältnis von Gott und Mensch), doch weisen sie ausgeprägt konträre Einsetzungsmöglichkeiten auf: Wird es einmal als wesentlich für den Menschen herausgestellt, Gott zu lassen (z. B. II,92), so ein anderes Mal, Gott gerade nicht zu lassen (z. B. IV,202).

2.) Substantivierung Auch die substantivierte Form Gelassenheit pendelt zwischen differenzbetonten und einheitsorientierten Verwendungsweisen. In der Regel erscheinen die Wortbelege von Gelassenheit im Cherubinischen Wandersmann ohne weitere Attribution, der bestimmte Artikel kann optional hinzutreten: GOtt schaut man mit gelassenheit (I,164) Gelassenheit fht GOtt (II,92) Die Gelassenheit (II,133)

Wenn einige Belege attribuierte Formen bieten, mitunter ergänzt durch Artikel, geht es in der Regel um betonte Differenzierungen bestimmter Arten von Gelassenheit; herausgestrichen werden so z. B. Die Unvollkommne gelassenheit (I,39) oder Die geheimste Gelassenheit (II,92). Auch der Substantivgebrauch schwankt somit leicht zwischen einer eher monolithischen Verwendung und einem Gebrauch, der auf Differenzierung abstellt.

3.) Reimbindung Schließlich lohnt auch ein kurzer Blick auf die Reimbindung von Epigrammen, bei denen Gelassenheit oder lassen am Versschluss platziert sind. Sechs von insgesamt 15 Reimbelegen bieten die Reimkombination lassen/fassen, drei weitere Belege reimen lassen auf hassen. In beiden Fallgruppen bauen die Reimwörter also konträre Spannung auf, die in der Klangbindung zugleich zusammengehalten und verstärkt wird: ›sich entfernen‹ versus ›zugreifen‹ auf der einen Seite, ›Abstand nehmen‹ versus ›affektiv involviert werden‹ auf der anderen Seite. Die Epigramme streichen diese semantischen Spannungen zum Teil geradezu provozierend heraus: II,92. Die geheimste Gelassenheit. Gelassenheit fht GOtt: GOtt aber selbst zulassen /  Jst ein Gelassenheit / die wenig Menschen fassen. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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IV,191. Wie man alles auf einmal lst Freund wenn du auf Einmal die gantze Welt wilt lassen /  So schau nur daß du kanst die eygne Liebe hassen.

Insgesamt weisen die Gebrauchsweisen und Kollokationen von lassen und Ge­ lassenheit Gegenläufigkeiten auf, die die Möglichkeit untergraben, die Bedeutung von Gelassenheit im Cherubinischen Wandersmann als stabiles syntaktisches Muster oder einheitliche Komplemente zu identifizieren. Müssen wir angesichts eines so wenig homogenen Felds von Gebrauchsweisen letztlich doch mit Benno von Wiese »Verwirrung« und »Widerspruch« als »Zentrum der gehaltlichen Konzeption« betrachten? Ein faszinierendes Phänomen der Gelassenheitsepigramme, das bislang ausgeblendet blieb, kann zu einer anderen Antwort ermutigen  – ein Phänomen, das man ›Sprünge semantischer Kohärenz‹ nennen könnte. Bislang hatte ich die letzte Lektüremöglichkeit unterschlagen, die Francis Bacon anriet: some [books] are to be chewed and digested. Wenn man die Epigramme langsam, gleichsam ›ruminierend‹ liest, begegnen in der Lektüre wiederholt Sprünge, die durch die poetische Form des Epigramms eingeleitet werden. Die Epigramme scheinen Strukturen des Bedeutens sowohl zu bilden als auch aufzulösen – mit einer Rückhaltlosigkeit, die auch die Bedeutungserzeugung von Gelassenheit nachweisbar in sich hineinzieht. Dies möchte ich im Rückgriff auf die historische Gattungs­poetik des Epigramms kurz erläutern. Der Cherubinische Wandersmann folgt weitgehend dem von Julius Scaliger normierten Typus des epigramma compositum, das sich durch brevitas und ar­ gutia auszeichnet:30 In knapper, versisch gebundener Form wird ein Sachverhalt dargelegt, der sodann zu einer überraschenden Pointe, einer scharfsinnigen Spitze geführt wird, den die französische Poetik als esprit, die deutschsprachige als Spitzfindigkeit und später als Witz des Epigramms charakterisiert.31 30 Vgl. Julius Caesar Scaliger, Poetices libri septem. Sieben Bücher über die Dichtkunst. Unter Mitwirkung von Manfred Fuhrmann hg. von Luc Deitz und Gregor Vogt-Spira, Bd. 3, Stuttgart 1995, S. 204: Brevitas proprium quiddam est, argutia anima ac quasi forma. Zur Geschichte und Systematik der Epigrammpoetik stütze ich mich auf folgende Arbeiten: zusammenfassend Peter Hess, Epigramm, Stuttgart 1989; Theodor Verweyen und Gunther Witting, Epigramm, in: Gert Ueding (Hg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 2, Darmstadt 1994, Sp. 1273–1283; speziell zur deutschen Epigrammatik des 17. Jahrhunderts Jutta Weisz, Das deutsche Epigramm des 17. Jahrhunderts, Stuttgart 1979; Wilfried Barner, Vergnügen, Erkenntnis, Kritik. Zum Epigramm und seiner Tradition in der Neuzeit, in: Gymnasium 92 (1985), S. 350–371; Thomas Althaus, Epigrammatisches Barock, Berlin, New York 1996. 31 Zur französischen Epigramm-Poetik vgl. z. B. Guillaume Colletet, Traité de l’épi­ gramme (21658), François Vavasseur, De epigrammate liber et epigrammatum libri tres (1669) und Nicolas Boileau, L’art poétique (1674). Kurt-Henning Mehnert, Sal Romanus und ­esprit français. Studien zur Martialrezeption im Frankreich des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts, Bonn 1970, rekonstruiert die Martialrezeption als Quelle des esprit-Ideals © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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Worin die Scharfsinnigkeit der argutia und ihre Funktionen genau bestehen, ist bereits Stoff erhitzter Debatten des 17.  Jahrhunderts. Die italienische Poetik entwickelt eine ausgefeilte Technik der argutezza, die sich zunehmend vom referenziellen Erkenntnispostulat abkoppelt, wie es der Realismus der klassischen Epigrammtradition vorgegeben hatte. Argutia wird so im Kontext der Epigrammpoetik zum Leitwort artistischer Autonomisierung mit Überraschungseffekten: Das täuschende Spiel der Schlusspointe mit der Erwartung des Lesers, so empfiehlt beispielsweise Emmanuele Tesauro in seinem Cannocchiale aristotelico (1670), müsse geradezu die Unwahrheit suchen, um den Geist des Rezipienten durch verführerische Schönheit zu betören. Die Epigrammkunst der argutezza bestehe darin, ben mentire – ›schön zu täuschen‹.32 Wenn sich die deutschsprachige Poetik auch insgesamt reservierter zum Manierismus der Pointe äußert, so erhebt auch sie »Diskontinuität, Disparatheit, Antinomien« zu Leitkriterien der Epigrammtechnik.33 So betont etwa Martin Opitz gerade die Unterbrechung von Sinn, wenn er Scaligers Charakteristik des Pointenepigramms aktualisiert: spitz­ findigkeit sei gleichsam seine seele vnd gestallt; die sonderlich an dem ende erschei­ net / das allezeit anders als wir verhoffet hetten gefallen soll.34 – Allezeit anders als […] verhoffet; unvermuthliche[r] Schluß;35 contra exspectationem:36 die Formulierungen sind vielfältig, mit der die barocke Epigrammtheorie eine »Erfahrung der Unsicherheit«37 artikuliert, die im pointenorientierten Epigramm aufbricht. Und genau diese Provokationstechnik treiben die Gelassenheitsepigramme innerhalb des Cherubinischen Wandersmanns auf die Spitze. der französischen Epigrammpoetik. Zusammenfassend zur argutia-Bewegung vgl. Wilfried Barner, Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen, Tübingen 1970, S. 46. 32 August Buck (Hg.), Emanuele Tesauro, Il cannocchiale aristotelico. Faksimile-Neudruck der Ausgabe Turin 1670, Bad Homburg 1968, S. 491. Vgl. dazu Klaus-Peter Lange, Theore­ tiker des literarischen Manierismus. Tesauros und Pellegrinis Lehre von der ›acutezza‹ oder von der Macht der Sprache, München 1968, insbes. S. 116–130. 33 Althaus, Epigrammatisches Barock (Anm. 30), S. 47. 34 Herbert Jaumann (Hg.), Martin Opitz, Buch von der Deutschen Poeterey (1624). Studienausgabe. Mit dem Aristarch (1617) und den Opitzschen Vorreden zu seinen Teutschen ­Poemata (1624 und 1625) sowie der Vorrede zu seiner Übersetzung der Trojanerinnen (1625), Stuttgart 1970, S. 31. 35 Vgl. die Charakteristik des Epigramms in Balthasar Kindermanns Der deutsche Poet, Nachdruck der Ausgabe Wittenberg 1664, Hildesheim 1973, S.  257: 4.  Die vornehmste Tu­ gend / und gleichsam dessen Seele […] bestehet in einem scharffen / nachdencklichen / und un­ vermuhtlichen Schluß oder Nachdruck. 36 Vgl. Jacob Masen, ARS NOVA ARGVTIARUM HONESTAE RECREATIONIS IN TRES PARTES DIVISA. CONTINET I. ARGVTIAS EPIGRAMMATICAS ex varijs Fontibus deductas. II. ARGVTIAS FAMILIARES. III. ARGVTIAS EPIGRAPHICAS, SEV Variarum Inscriptionum, Köln 1649, S.  8: Generalissima argutiarum descriptio est: praeter, aut contra exspectationem allata, vel conclusio, vel sententia […] Res igitur omnis, de qua in discursu agitur, vel contra ex­ spectationem est […]. 37 Althaus, Epigrammatisches Barock (Anm. 30), S. 47. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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Ich möchte dies an zwei Gelassenheitsepigrammen demonstrieren. Mein erstes, bereits gestreiftes Beispiel entwirft die geheimste Gelassenheit über zwei P ­ ointen: II,92. Die geheimste Gelassenheit. Gelassenheit fht GOtt: GOtt aber selbst zulassen /  Jst ein Gelassenheit / die wenig Menschen fassen.

Die erste pointierte Umkehrung bedient sich der Technik ›chiastischer Inversion‹: Während Gelassenheit in allgemeinem Sinne Gott fange, ›lasse‹ dagegen die besondere ›Gelassenheit‹ (ein Gelassenheit) Gott. Die zweite Vershälfte nach der Zäsur des ersten Alexandriners stülpt demnach die logische Orientierung um und erzeugt dadurch kognitive Dissonanz. Die Versposition, in der sich dieser Prozess vollzieht, möchte ich im Anschluss an die Terminologie der älteren Epigrammforschung als zweiten Halbschenkel des Epigramms (oder kurz: als Strukturposition S2) bezeichnen.38 Die zweite Umkehrung ereignet sich mit dem Schlusswort des zweiten Alexandriners, also im vierten Halbschenkel des Epigramms (an Strukturposition S4): Der polyseme Ausdruck fassen meint nicht nur ›begreifen‹ im Sinne von ›einsehen‹ oder ›erkennen‹, sondern lässt im thematischen Rahmen von Nähe und Abstand auch die räumlich-praktische Bedeutung ›ergreifen‹ mitschwingen. Gelassenheit wird damit in S4 kontradiktorisch umbesetzt: wurde sie in S2 zunächst als Abstandnahme bestimmt (GOtt aber selbst zulassen), so wird sie nun unter dem Gesichtspunkt von Nähe, Intimität, Vertrautsein angepeilt (fassen). ›Chiastische Inversion‹ und ›kontradiktorische Umbesetzung‹ sind verwandte Sinntechniken, die Scheffler häufig verwendet. Entscheidend ist jedoch nicht allein der Technikcharakter solcher Epigrammgestaltung, sondern ebenso die kognitiven Ereignisse, die sich mit solchen Wendestellen einstellen. Indem die Barockpoetik das Aussetzen und die Unterbrechung von Sinnerwartung ausdrücklich als Gattungsmerkmal des Epigramms diskutiert, wird zugleich deutlich, dass der historische Rezeptionsrahmen in besonderem Maße sensibilisiert ist für solche kognitiven Ereignisse, in denen erwarteter Sinn contra exspectationem unterlaufen, umgekehrt oder sprunghaft umbesetzt wird. Im konkreten Fall beginnt die Bedeutung von ›Gelassenheit‹ dadurch semantisch zwischen den Polen von Nähe und Abstand zu oszillieren, und dieses Oszillieren ist Effekt rhetorisch geschulter Dichtungstechnik. Mit anderen Worten: Die ›semantische Kohärenz‹ der Epigramme bricht wiederholt zusammen oder springt in Momenten um, die technologisch herbeigeführt werden. Ich möchte ein zweites Beispiel für solche Zusammenbrüche und Sprünge von Sinnerwartung untersuchen. Im Unterschied zum ersten Beispiel führt es den 38 Vgl. etwa von Wiese, Die Antithetik in den Alexandrinern (Anm. 23); Althaus, Johann Schefflers Cherubinischer Wandersmann (Anm. 15). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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Ausdruck Gelassenheit nicht explizit im Titel, ordnet sich aber durch traditionsgesättigten Bezug auf die mystische Paradoxie, Gott um Gottes willen zu lassen, implizit in den Gelassenheitsdiskurs ein: I,234. GOtt umb GOtt. Herr liebstu meine Seel / so laß sie dich umbfassen: Sie wird dich nimmermehr […] lassen.

Das Epigramm steuert auf die wechselseitige Nähe Gottes zu, auf die Liebe Gottes zur Seele und die antwortende Sehnsucht der anima diligens nach Gott. Doch habe ich zunächst einen Ausdruck des letzten Verses ausgelassen. Vollständig lautet der zweite Alexandriner: Sie wird dich nimmermehr umb tausend GOtte las­ sen. Die Seele wolle nicht von Gott lassen, selbst wenn sie dafür tausend GOtte erhielte. Dieser Ausdruck, in sich paradox, unterbricht abrupt die Zielspannung der Sinnbeziehung zwischen Seele und Gott, und dies mit einfachen grammatischen Mitteln. Scheffler verwendet häufig den Ausdruck Gotte – jedoch ausschließlich für die Singularform des Dativs, zur Bezeichnung des einen, christ­lichen Gottes.39 Sprechen Epigramme hingegen von der Mehrzahl von ›Göttern‹ im Plural, so verwenden sie fast ausnahmslos die umgelautete Form Gtter.40 Der Cherubi­ nische Wandersmann nutzt somit den Umlaut, um zwischen Singular und Plural – und damit verbunden: zwischen dem christlichen Gott im engeren Sinne und anderweitigen Gottesvorstellungen – deutlich zu unterscheiden.41 Das vorliegende Epigramm greift so betrachtet mit dem Pluralausdruck tausend GOtte zu einer provokanten Hybridform, die das Denotat des christlichen Gottes in den tausendfältigen Plural setzt.42 Das Basiskonzept des Ausdrucks beginnt dadurch auf paradoxe, geradezu ›unmögliche‹ Weise zu oszillieren: Lässt sich vom deus unus ein Plural bilden? Man könnte eine solche gezielte Paradoxierung der Rede über Seele und Gott als Signatur christlich-mystischer Kommunikation ansehen.43 39 22 von insgesamt 24 Belegen für Gotte im Cherubinischen Wandersmann fallen auf die Dativ-Singular-Form. Epigramme in Buch I: 6, 52, 56, 84, 92, 142, 193; Buch II: 54, 104, 114, 119, 141; Buch III: 17; Buch IV: 19, 150, 207; Buch V: 56, 76, 191, 219, 317; Buch VI: 87. 40 7 Belege für Pluralform mit Umlautung stehen zwei umlautlosen Belegen gegenüber. Mit Umlautung aus Buch I: 4, 34, 192; Buch V: 35, 36, 219; Buch VI: 15. Pluralverwendung ohne Umlaut: Buch I: 234; Buch II: 143. 41 Dies betreiben die Epigramme zum Teil programmatisch – vgl. z. B. V,35 (GOtt kan mehr viel als wenig.): Nichts ist das GOtt nicht kan. Hr Sptter auf zulachen. / Er kan zwar keinen GOtt / wol aber Gtter machen. 42 Der Cherubinische Wandersmann besitzt einen einzigen Parallelfall in identischer Formulierung – vgl. II,143 (Jn GOtt ist alles GOtt.): Jn GOtt ist alles GOtt: Ein eintzigs Wrmelein / Das ist in GOtt so viel als tausend GOtte seyn. 43 Vgl. Köbele, Vom ›Schrumpfen‹ der Rede (Anm.  12); vgl. grundsätzlich auch Peter Fuchs, Von der Beobachtung des Unbeobachtbaren: Ist Mystik ein Fall von Inkommunikabilität?, in: Niklas Luhmann und Peter Fuchs, Reden und Schweigen, Frankfurt a. M. 1989, S. 70–100. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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Doch schiene es mir lohnend, nicht nur die religionsanthropologischen oder konzeptgeschichtlichen Wurzeln eines solchen Beispiels zu betonen, sondern auch auf seinem konkreten Technikcharakter zu insistieren sowie den damit einhergehenden kognitiven Ereignissen nachzuspüren. Durch grammatisch-morphologische Mittel regelhaft eingeleitet, wird so an Strukturposition S4 des Epigramms eine kognitive Dissonanz erfahrbar: die programmatisch aufgebaute Ordnung und Unterscheidung von Gott und Göttern wird gestört, die Erwartung der Sinnverweisung auf den einen Gott geradezu aufsprengt. Auch in dieser Sinntechnik ist ein rhetorisch geprägtes Verfahren am Werk: Im Rahmen der Epigrammsammlung könnte man von ›unmöglicher Neologisierung‹ sprechen.44 Die Horizontstruktur von Sinn – stets auf bestimmte weitere Anschlussmöglichkeiten verweisen zu können – reißt also jäh auf: die Grundform eines ›Ereignisses‹, das blockiert und irritiert. Horst Althaus und Hans Ludwig Held haben angesichts solcher Sprünge von »mystischen Pointe[n]« und dem »blitzartige[n] Aufleuchten […] mystische[r] Erkenntnisse« gesprochen, doch zielten sie damit vor allem auf die geistliche Thematik der Sprünge.45 Phänomene der Sinnbrüche lassen sich jedoch unabhängig von ihrer thematischen Ausrichtung untersuchen – so meine These: Sie vollziehen sich zwar in je konkreten Konstellationen von Ausdrücken und Semantiken, doch kommt in diesen Konstellationen etwas zum Vorschein, das prinzipiell nicht an eine einzelne, konkrete Aussage gebunden ist. Interessanterweise eröffnet gerade dies Einsichten für die Semantik von ›Gelassenheit‹. Ich möchte mit methodischen Überlegungen zu einem Analyseversuch ansetzen. Semantische Sprünge ereignen sich auf jener Ebene, die Roman Jakobson die ›poetische Funktion‹ von Sprache nannte: Diese tritt hervor, wenn Sprechakte »auf die Nachricht um ihrer selbst willen« (statt auf Referenz) abstellen und die Achse der »Kombination« von Zeichen fokussieren.46 Analysiert man die Informationsprofile der Epigramme, d. h. ihre Verfahren zur Produktion unerwarteter Differenz daraufhin, wann Fäden kommunikativer Anschlüsse durchtrennt, umgeknüpft oder mit gänzlich anderer Farbe fortgesponnen werden, dann las 44 Dies meint natürlich nicht, dass allein schon der Plural-Ausdruck Gotte ein Neologismus im religiösen Diskurs oder gar im gesamten Sprachsystem der Frühen Neuzeit wäre. ›Neolo­ gisierung‹ eignet sich als Begriff, wenn damit spezieller dasjenige Verfahren beschrieben wird, mit dem morphologisch abweichende Neubildungen eine ansonsten klar unterschiedene Ordnung von Ausdrücken verändern, wie sie sich innerhalb eines klar umgrenzten diskursiven Binnensystems (z. B. in diesem Fall: das Format der Epigrammsammlung) feststellen lässt. Gotte wäre damit als relativer, nicht als absoluter Neologismus zu betrachten. 45 Vgl. Althaus, Johann Schefflers Cherubinischer Wandersmann (Anm. 15), S. 53; Held, Angelus Silesius (Anm. 24), S. 73. 46 Vgl. Roman Jakobson, Linguistik und Poetik, in: Jens Ihwe (Hg.), Literaturwissenschaft und Linguistik. Ergebnisse und Perspektiven, Bd. II.1, Frankfurt a. M. 1971, S. 142–178, hier S. 151 und 153. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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sen sich sehr genau Sinntechniken und Ereignisse von Kohärenzsprüngen, ihre Häufigkeit und die Orte ihres Auftretens innerhalb der Epigrammstruktur registrieren. Wie eine solche Analyse in der Spannung von technologischen und performativen Perspektiven verfahren kann, sei exemplarisch an Epigramm III,180 demonstriert, das mit der Frage nach der Dauer Gottes beginnt:47 Du fragst / wie lange GOtt gewest sey? umb bericht: Ach schweig: es ist so lang’ / […]

Schritt 1 – Untersuchung von Zeichenkombination und Informationsvergabe: Die Frage nach Gottes zeitlicher Existenz beantwortet zunächst der Tadel – so könne nicht gefragt werden. Der zitierte Epigramm-Ausschnitt S1-S3 impliziert die Erwartung traditioneller Prädikate, die Gott als allwissend und unendlich bestimmen und es insofern unmöglich machen, nach der zeitlichen ›Länge‹ Gottes zu fragen. Der letzte, im Zitat ausgesparte Halbschenkel S4 des Epigramms unterbricht dies nun mit einem irritierenden Vergleich: es ist so lang’ / Er weiß es selber nicht. Ist dies noch der Allwissende? Das ›Unwissen‹ Gottes provoziert eine schillernde, ambivalente Aussage: Während die Ausgangsannahme bis einschließlich S3 nahelegt, Gottes Dauer sei für den Menschen (den impliziten menschlichen Adressaten) unbegreiflich lang, wendet die konsekutive Reihung von S4 denselben Überstieg auf Gott an: Gott währt so lange, dass er selbst es nicht wisse. Eine Zeitlichkeit, die selbst Gottes Begriffsvermögen übersteigt: Auf irritierende Weise beginnt ›Gott‹ zwischen Unbegreifbarkeit und bloßem Kapazitätsmangel zu oszillieren. Schritt 2 – Beschreibung poetischer Techniken und Verortung von Sinn­sprüngen: Das Epigramm bedient sich der bereits betrachteten Technik der ›kontradiktorischen Umbesetzung‹, die ein oder mehrere Bedeutungselement(e) eines Ausdrucks ins logische Gegenteil umkehrt. Der semantische Sprung von Gott als ›(zeitlich) Unbegrenztem‹ zu Gott als ›(epistemisch) Begrenztem‹ wird bis nach der Zäsur des zweiten Alexandriners, also bis zum letzten Halbschenkel S4 aufgespart. Das kognitive Ereignis dieses Sprungs setzt also zunächst den Aufbau einer schlüssigen Vergleichsstruktur voraus, die sodann durchkreuzt wird. Neben einer inhaltlichen erzeugt dies auch die formale Irritation, dass der Sprechakt definitorischer Bestimmung sowohl vollzogen als auch durchkreuzt wird. Analog zu diesem Musterfall lassen sich sämtliche Epigramme des Cheru­ binischen Wandersmanns nach Auftreten und Qualität solcher Sprünge entlang zweier Leitfragen auswerten: Wo treten Sprünge der kombinatorischen Zeichenebene in den Epigrammen auf – und mit welchen sinntechnischen Operationen sind sie verbunden? 47 Ich folge dabei der eingehenden Analyse von Althaus, Epigrammatisches Barock (Anm. 30), S. 259 f. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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Insgesamt kann eine solche Analyse ein weitaus breiteres Spektrum von Verfahren, Sprungpositionen und Frequenzmustern aufweisen, als Vorstudien von Wieses oder Althaus’ vermuten lassen.48 Schon das erste Buch des Cherubi­ nischen Wandersmanns belegt eine Reihe weiterer Sprungverfahren, die bestehende Beobachtungen differenzieren und ergänzen können. Zu den häufigsten zählen (mit jeweils kursiv hervorgehobenen Sprungstellen): 1. ›Auflösung der Erwartung‹ (Bezeichnung nach Lessing). Der syntaktische Kern einer Phrase oder die Antwort einer Frage wird aufgeschoben und plötzlich genannt – kognitive Dissonanz wird dadurch weitestmöglich aufgeschoben: I,1. Was fein ist das besteht. Rein wie das feinste Gold / steiff wie ein Felsenstein /  Gantz lauter wie Cristall / sol dein Gemthe seyn.

2. ›Kontradiktorische‹, ›konträre‹ oder ›paradoxe Umbesetzung‹. Ein Ausdruck wird wiederholend aufgegriffen und durch Kollokationen oder Synonyme so modifiziert, dass ein kohärentes Konzept gesprengt wird: I,58. Der Eigen gesuch. Mensch suchstu Gott umb Ruh / so ist dir noch nicht recht /  Du suchest dich / nicht Jhn? bist noch nicht Kind / nur Knecht.

3. ›Umwertung‹. Die konventionale Bewertung eines Ausdrucks wird umgekehrt: I,35. Der Tod ists beste Ding. Jch sage / weil der Tod allein mich machet frey; Daß er das beste Ding auß allen Dingen sey.

4. ›Chiastische (in speziellen Fällen: anti-metabolische) Inversion‹. Die Relation zweier Ausdrücke wird (syntaktisch parallel) wiederholt, wobei die Ausdrücke jedoch konzeptuell überraschend wechselseitig vertauscht werden: 48 Von Wiese, Die Antithetik in den Alexandrinern (Anm. 23) beobachtet zwei Basisverfahren: (1.) ›Umkehr‹ (S. 263) und (2.) ›Negation‹ (S. 265), die wiederum in verschiedenen Unterformen auftreten: dazu zählen (1a) ›Verstärkung durch Negation‹, (1b)  ›parallele Umkehr im zweiten Vers‹, (1c)  ›Umkehr in Bildern‹, (1d)  ›Umkehr durch konträre Entgegensetzung‹ und (1e)  ›Umkehr durch Einschiebung eines dritten vermittelnden Gliedes‹; für die Negation: (2a) direkte und (2b) indirekte Negation sowie (2c) Negation als ›paradoxe Einheit‹. Althaus, Johann Schefflers Cherubinischer Wandersmann (Anm. 15), S. 50–63, folgt der Schematik Benno von Wieses, fügt dieser jedoch drei weitere Typen hinzu: (1.) ›imperativische‹ und ›indikativische Sprüche‹, zusammengesetzt aus ›Forderung‹ (erster Alexandriner) und ›Auswirkung‹ (zweiter Alexandriner); (2.) außerdem ›spruchnahe‹ Epigramme mit vorgezogener Pointe und (3.) pointenlose Epigramme vom ›Typus des Spruchs‹. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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I,224. Was GOtt mir / bin ich Jhm. GOtt ist mir GOtt und Mensch: ich bin Jhm Mensch und GOtt. Jch lsche seinen Durst / und er hilfft mir auß Noth.

5. ›Sprung der Metaphorizität‹ / ›Entmetaphorisierung‹. Der Grad der Metaphorizität steigt oder sinkt sprungartig: I,2. Die Ewige Ruhestdt. Es mag ein anderer sich umb sein Begrbniß krnken /  Und seinen Madensak mit stoltzem Bau bednken. Jch Sorge nicht dafr: Mein Grab / mein Felß und schrein Jn dem ich ewig Ruh / sol’s Hertze JEsu seyn.

6. ›Hyperbolische‹ oder ›unmögliche Neologisierung‹. Ein (relativ) neologistischer Ausdruck sprengt sein Basis-Konzept: I,234. GOtt umb GOtt. Herr liebstu meine Seel / so laß sie dich umbfassen: Sie wird dich nimmermehr umb tausend GOtte lassen.

7. ›Inversion des Raumschemas‹. Räumliche Relationen werden umgestülpt: I,150. Eins in dem Anderm. Jst meine Seel im Leib / und gleich durch alle Glieder: So sag ich recht und wol / der Leib ist in jhr wieder.

8. ›Kontrarisierung‹, ›Kategoriensprung‹ oder ›Metaphernsprung durch Substitution‹. Ein Ausdruck wird durch einen gegenteiligen, inkompatiblen oder referentiell unterschiedlichen, anderen Ausdruck ersetzt: I,176. Eins wie das ander. Die Hll wird Himmelreich / noch hier auf diser Erden /  (Und diß scheint wunderlich) wann Himmel Hll kan werden.

9. ›Bildsprung‹ / ›Katachrese‹: I,218. Das Gttliche Sehen. Wer in dem Nchsten nichts als Gott und Christum siht: Der sihet mit dem Licht das auß der Gottheit blht.

10. ›Polysemierung‹. Ein Ausdruck wird erneut aufgegriffen und erhält dabei zugleich unterschiedliche Bedeutungen, die ein kohärentes Konzept sprengen: © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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I,111. Die GOttheit ist ein nichts. Die zarte GOttheit ist ein nichts und bernichts: Wer nichts in allem sicht / Mensch glaube / dieser sichts.

11. ›Paradoxe‹ oder ›konträre Perspektivierung‹. Ein Ausdruck wird mit einer widersprüchlichen Aussage wiederholt, die aus einer anderen Perspektive jedoch sinnvoll, d. h. nicht-paradox erscheint: I,108. Die Rose. Die Rose / welche hier dein ußres Auge siht /  Die hat von Ewigkeit in GOtt also geblht.* *idealiter.

In zahlreichen Epigrammen ist mehr als nur ein einziges Verfahren der Sprung­ erzeugung wirksam, überlagern sich unterschiedliche Sinntechniken, die mehrfache Pointen produzieren und die Aussagereihen damit an die Grenzen der Verstehbarkeit treiben. Aufschlussreicher noch als die Arten solcher Sprungverfahren erweisen sich im Cherubinischen Wandersmann jedoch die Frequenz und Distribution semantischer Sprünge. Registriert man die Häufigkeitsverteilungen im Verhältnis zu den rhythmisch-metrisch untergliederbaren Epigrammpositionen (S1, S2, S3, S4), so lassen sich daraus Beobachtungen zur Wahrscheinlichkeit semantischer Sprünge und zur allgemeinen ›Brüchigkeit‹ bestimmter Positionen abstrahieren. Hier zeigt sich ein signifikanter Befund insbesondere für Epigramme, die um Wortbelege von lassen bzw. Gelassenheit kreisen. Wie die im Anhang des Beitrags zusammengefasste Auswertung dokumentiert, zeigen die Gelassenheits­ epigramme ein spezifisches Profil erhöhter Brüchigkeit, das sich in drei Punkten bündeln lässt: 1.) Die Gelassenheitsepigramme neigen besonders ausgeprägt zu Brüchen der ›semantischen Kohärenz‹. 2.) Die Sprungwahrscheinlichkeit ist auf fast allen Strukturpositionen deutlich erhöht im Vergleich zum Gesamtdurchschnitt der Epigramme des Cherubi­ nischen Wandersmanns – im dritten Halbschenkel sogar fast siebenfach. 3.) In sämtlichen Fällen, in denen Gelassenheit bzw. lassen im vierten Halbschenkel platziert werden, ereignet sich ein semantischer Sprung – was sich vom allgemeinen Durchschnitt deutlich abhebt. Damit lässt sich ein Zwischenergebnis formulieren: Die Gelassenheitsepigramme greifen signifikant häufiger auf Sinntechniken zurück, die sich zugleich selbst unterbrechen. Im Aufbau und Bruch von Sinnkohärenz radikalisieren die Gelassenheitsepigramme darin performativ die Paradoxie von Technik und Ereignis, die Ausgangspunkt der Überlegungen war. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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Dieses ›janusköpfige‹ Wechselspiel von Bedeutungsförmigkeit und -auflösung hat nicht nur die Schefflerforschung seit jeher beschäftigt, die den Cherubi­ nischen Wandersmann sowohl als spirituelle Sinnsprüche wie auch als gigantische Pointensammlung gelesen hat, deren aufblitzende Aperçus das Verstehen zunächst blenden.49 Das Epigramm gilt als Inbegriff sinnträchtiger Kleinformen, die ihren Technikcharakter bewusst ausstellen.50 Und doch birgt auch das Epigramm gewissermaßen Unverfügbares von Sinn: Jedes neuerliche Rendezvous von technisch gerichteter Sinnerwartung und Sinnsprung gipfelt in einer Irri­ tation des Nicht-Verstehens. Verstehen muss kurzzeitig den Sinn unter den Füßen verlieren, um auf neuem Boden landen zu können. Und die Gelassenheits­ epigramme treiben diese Gedankenakrobatik besonders radikal.51 Kann Bedeutungsforschung solche Phänomene in ihre Modellbildung auf­ nehmen – oder lassen sich anstatt der Sprünge selbst nur die technischen Bedingungen untersuchen, unter denen sich Sprünge ereignen? Ereignisse von Sinnsprüngen glichen dann einer Art Dunkelfeld von poetischen Techniken – oder, um zu einem anderen Bild zu wechseln, einem weißen Rauschen des Hermeneutischen, das den Hintergrund für epigrammatische Sinnkonstruktion bildete, sich direktem analytischen Zugriff aber entzöge. Die Schwierigkeit ihrer Beobachtung erfordert also, nach geeigneten Theorieoptionen für solche Konstellationen von Technik und Ereignis Ausschau zu halten.

49 Vgl. von Wiese, Die Antithetik in den Alexandrinern (Anm. 23), S. 268: »Der klar gebaute Alexandriner gibt die gegenlogische Aussage mit Hilfe rationaler Gegenstände und Medien wieder. In einer verwandelten Form der gleiche Januskopf! Das Unendliche und Widersinnigste in der begrenztesten und sinnvollsten Prägung!« – Auch Althaus, Epigrammatisches Barock (Anm. 30) arbeitet in seiner Scheffler-Lektüre (S. 245–284) die semantischen Aporien des Cherubinischen Wandersmanns heraus, die stabile Semantiken torpedieren: »Die Wort­ bedeutungen werden aufgelöst« (S. 267). 50 Die Barockpoetik versteht die Konstruktion von Pointen ausdrücklich als Zusammenhang von poetischer Technik, so z. B. bereits im Titel von Masens ARS NOVA ARGVTIARVM (Anm. 36); vgl. dazu Althaus, Epigrammatisches Barock (Anm. 30), S. 32–42 sowie Weisz, Das deutsche Epigramm (Anm.  30), S.  31–53, die rhetorische Topik als maßgebliche Quelle der Pointentechnik betont. An der Wende zum 18.  Jahrhundert verstärken die EpigrammSammlungen Christian Wernickes und Samuel Erichius’ ihren technischen Charakter sogar dadurch, dass sie Elemente, aus denen sich Pointen jeweils zusammensetzen, drucktechnisch hervorheben. 51 Gnädinger, Mystik im Cherubinischen Wandersmann (Anm. 15), S. 187, konstatiert daher zutreffend nach ausführlicher thematischer Analyse: »Es bleibt der ›Rest‹, welcher nie aufgeht […].« © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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3. Technik und Ereignis: theoretische Möglichkeiten ihrer Beobachtung Hermeneutische Modelle versagen traditionell vor der Herausforderung, Phänomene des Nichtverstehens und des Bruchs von Sinn anzuerkennen.52 Im Gegensatz dazu hat die Tradition der Rhetorik differenzierte Begriffsrepertoires kultiviert, um Figuren der Sinnunterbrechung namhaft zu machen. Doch bevorzugt auch Rhetorik in asymmetrischer Weise gerade das Dirigieren von Sinn. Sprünge und Unterbrechungen fristen in Witzkonzeptionen ihr eher beschränktes theoretisches Dasein, und selbst wo überwältigende Zusammenbrüche von Sinn im Mittelpunkt stehen, wie etwa in der Theorie über das Erhabene, gilt rhetorisches Interesse vor allem den technischen Möglichkeiten ihrer sprachlichen Induktion.53 Hermeneutik und Rhetorik bieten daher wenig Aussichten, das epigrammatische Zusammenspiel von Sinntechnik und Ereignis näher zu beschreiben, ohne immer schon den Aspekt des Verstehens oder der Technik zu privilegieren. Doch bieten sich attraktive Alternativen. Ich möchte stattdessen Überlegungen dreier Ansätze aufgreifen, die nicht nur das Verhältnis von Sinntechnik und Ereignis ins Zentrum ihrer Überlegungen rücken, sondern dies interessanterweise programmatisch mit dem Begriff der ›Gelassenheit‹ verbinden. 1.) Martin Heideggers 1944/45 verfasstes Gespräch selbdritt auf einem Feldweg zwischen einem Forscher, einem Gelehrten und einem Weisen nimmt seinen Aus 52 Für Friedrich Schleiermachers »Kunst, die Rede eines andern richtig zu verstehen«, ist das Aussetzen von Verstehbarkeit ein blinder Fleck; vgl. Friedrich Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik. Mit einem Anhang sprachphilosophischer Texte Schleiermachers, hg. von Manfred Frank, Frankfurt a. M. 1977, S.  75. Wilhelm Dilthey spricht offen von »Mißlingen«, wenn »einzelne Teile sich so nicht wollen verstehen lassen«, wie es zu einem Ganzen stimmt; vgl. Wilhelm Diltheys Gesammelte Schriften, Bd. VII: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, hg. von Bernhard Groethuysen, Leipzig, Berlin 21942, S. 227. Die Hermeneutik Hans-Georg Gadamers lässt Brüche und Sprünge des Verstehens dagegen mittels universaler Entdifferenzierung von Verstehensproblemen verschwinden, die noch die Erfahrung mit dem, was sich Verstehen widersetzt, als Sinnerfahrung reklamiert: »So wird es wohl im allgemeinen so sein, wenn man das eine oder das andere falsch versteht, aber hingehört hat, dann hat man vielleicht doch mehr verstanden, als wenn einer das genaueste Wissen mitbringt und an dem Ganzen vorbeihört.« Hans-Georg Gadamer, Phänomenologischer und semantischer Zugang zu Celan?, in: Ästhetik und Poetik II. Hermeneutik im Vollzug. Gesammelte Werke, Bd. 9, Tübingen 1999, S. 461–469, hier S. 467; vgl. auch ders., Sinn und Sinnverhüllung bei Paul Celan, in: Gesammelte Werke, Bd. 9, S. 452–460. Zutreffend charakterisiert Bernhard Waldenfels daher den hermeneutischen Umgang mit Nicht-Hermeneutischem als »Infragestellung des Eigenen durch Eigenes«; Bernhard Waldenfels, Grund­ motive einer Phänomenologie des Fremden, Frankfurt a. M. 2006, S. 32. 53 Vgl. Reinhard Brandt (Hg.), Pseudo-Longinos, Vom Erhabenen. Griechisch und Deutsch, Darmstadt 1966, S. 30 f. [Kap. 2,1–3: naturverfügte Überwältigungseffekte], S. 66–93 und S. 100–109 [Kap. 16–32, 37–41: Figuren der passionierten Rede]. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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gang vom Nachdenken über ›Technik‹:54 Technik sei »eine Art des Vorstellens«55 und Zustellens, die gezielt erzwinge, dass etwas sich als Bestimmtes einstelle. Entsprechend wohne nicht nur der Physik oder den angewandten Naturwissenschaften und ihrer praktischen Nutzung, sondern dem Denken überhaupt ein technischer Grundzug inne, insofern es »etwas zur Anwesenheit bringen und erscheinen« lasse.56 Technik in diesem allgemeinen Verständnis meint Akte des aktiven Verfügbarmachens. Mit dieser Auslegung des Begriffs ›τέχνη‹ deutet der Weise in seiner Rede aber gleichzeitig an, dass an Technik stets etwas aufscheine, das selbst nicht Technik ist: »Es wird etwas zu Gesicht gebracht, was wir, ich weiß nicht woher und wie, empfangen haben.«57 Doch dreht sich das weitere Gespräch der Spaziergänger weniger um das, was dieses Erscheinende sein könne, als vielmehr um die Art und Weise, wie es begegne. Dies führt sie auf den Begriff der ›Gelassenheit‹: Inspiriert von Räumlichkeit und Bewegung ihres gemeinsamen Wegs kommen die drei Gesprächspartner überein, unter ›Gelassenheit‹ in räumlicher Hinsicht das In-die-Nähe-Gehen, in zeitlicher Hinsicht das »Warten auf den Einfall des Wortes« zu verstehen.58 Vergleichbar einem Gespräch, dass im offenen Zusammenspiel von Aktivität und Passivität, von Engagement und Empfangen der Gesprächsteilnehmer sich entfalte, bedeute ›Gelassenheit‹, sich in die offene Situation einer Begegnung einzulassen. Sie ist im wörtlichen Sinne ›Ereignis‹: ein Geschehen des Sich-für-einander-Eignens und Zusammenfindens. Ein Grundphänomen solchen ›Ereignens‹ ist für Heidegger die Sprache. Hier platziert er den Begriff der Gelassenheit speziell: ›Gelassen­heit‹ lasse sich als »Nennung« erfahren, »in der sich zumal das Nennbare, der Name und das Genannte ereignen«.59 Genau dies vollziehen auch die Epigramme des Cherubinischen Wandersmanns. Sie nennen beharrlich Namen, Dinge und Prädikate, und noch vor aller Prädikation (und allem Bedeuten) vollziehen sie stets von Neuem er-eignishafte Akte des Nennens, indem Namen, Prädikate und Referenz zusammenfinden und als Aussagen zusammengefügt werden. Dem sinnförmig sich ausrichtenden Leser der Epigramme kommt dabei in den Sprün 54 Vgl. Martin Heidegger, Ἀγχιβασίη. Ein Gespräch selbdritt auf einem Feldweg zwischen einem Forscher, einem Gelehrten und einem Weisen, Gesamtausgabe Bd. 77: FeldwegGespräche (1944/45), hg. von Ingrid Schüssler, Frankfurt a. M. 1995, S. 3–159. Zusammen mit der Gedenkrede über ›Gelassenheit‹ zu Ehren des Komponisten Conradin Kreutzer ist ein Ausschnitt des Feldweggesprächs unter dem Titel Zur Erörterung der Gelassenheit. Aus einem Feldweggespräch über das Denken auch in separater Ausgabe erschienen: Martin ­Heidegger, Gelassenheit, Pfullingen 1959, S. 27–71. 55 Heidegger, Ἀγχιβασίη (Anm. 54), S. 12. 56 Ebd., S. 13. 57 Ebd., S. 87. Um beispielsweise einen Baum als Baum sehen zu können, müsse zuvor erst erscheinen, was sich nicht einem technischen Zurichten und Erzeugen verdanke – das »Baumhafte«, wie die drei Gesprächspartner sagen. 58 Ebd., S. 99; vgl. auch S. 110. 59 Ebd., S. 119. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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gen und Brüchen der semantischen Kohärenz stets etwas ent­gegen, was seine Sinnrichtung verändert. Die Epigramme in der oben vorgeschlagenen Weise zu lesen hieße somit, im Vollzug der Lektüre Momente der Gelassenheit von Sinn zu erfahren. 2.) Heideggers Feldweggespräch über Gelassenheit sucht das Verhältnis von Technik und Ereignis nicht einfach nur zu beschreiben. Seine schwierige Begriffsarbeit bahnt vielmehr den Pfad einer philosophischen Kritik an der modernen Dominanz von Technik, die in eine umfassende Wirklichkeitsbeschreibung eingelassen ist. Aber auch ohne diese Ontologie der Feldweggespräche in allen Aspekten aufzunehmen, lässt sich der Weg ihrer Überlegungen fruchtbar fortsetzen. In jüngster Zeit haben vor allem zwei provokante Projekte diesen Schritt in Richtung kulturwissenschaftlicher Ästhetik unternommen. Zum einen hat Hans Ulrich Gumbrechts Unterscheidung von ›meaning cultures‹ und ›presence cultures‹ die Frage nach nicht-hermeneutischer Wahrnehmung neu zur Diskussion gestellt.60 Gumbrechts vieldiskutierte Typologie61 von Präsenz und Sinn zeigt ihre Leistung weniger in trennscharfer, unstreitbarer Bestimmung kontrastiver Merkmale als vielmehr darin, die theoretische Aufmerksamkeit zu schärfen für Phänomene des »Oszillieren[s] zwischen Präsenzeffekten und Sinneffekten«.62 ›Sinnkulturen‹ und ›Präsenzkulturen‹ kolonisieren nicht völlig getrennte Welten: »Präsenzphänomene [kommen] stets als ›Präsenzeffekte‹ daher, denn sie werden notwendig von Wolken und Polstern des Sinns umgeben, umfangen und vielleicht sogar vermittelt.«63 Momente der »Unruhe« und der 60 Vgl. Hans Ulrich Gumbrecht, Production of presence. What meaning cannot convey, Stanford 2004. Hier zitiert nach der deutschen Übersetzung von Joachim Schulte: Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz, Frankfurt a. M. 2004. Neben Heideggers Abhandlung über den ›Ursprung des Kunstwerks‹ bildet für Gumbrechts Argumentation auch das Feldweggespräch über Gelassenheit einen offenen Bezugspunkt; vgl. Diesseits der Hermeneutik, S. 89 f., S. 124, S. 137 f. 61 Vgl. ebd., S.  100–110: Hermeneutische ›Sinnkulturen‹ sind Gumbrecht zufolge auf Konzepte von Bewusstsein zentriert, das aus exzentrischer Position zur Welt der Körper diese interpretiert und umgestaltet; ›Sinnkulturen‹ spalten ›Bedeutung‹ in materielle Signifikanten und rein ideale Signifikate im Sinne Saussures; ihre Präferenz für Fiktionalisierung und Zukunftsprojektionen enthüllt ›Zeit‹ als wesentliche Dimension. Im Mittelpunkt von ›Präsenzkulturen‹ steht dagegen die gewaltsame Realpräsenz von Körpern im Raum, die im aristote­lischen Sinne als Verbindungen von Substanz und Form erscheinen; Offenbarung und intensive Rituale sind präsenzkulturelle Formen, um in die Organisation der Welt einzuschwingen, deren Kosmos unveränderlich und unveränderbar erlebt wird.  – Eine Reihe ergänzender Aufsätze flankiert diese programmatische Typologie: vgl. z. B. Hans Ulrich Gumbrecht, PräsenzSpuren. Über Gebärden in der Mythographie und die Zeitresistenz des Mythos, in: Udo Friedrich und Bruno Quast (Hg.), Präsenz des Mythos. Konfigurationen einer Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit, Berlin, New York 2004, S. 1–15; ders., Epiphanien, in: Joachim Küpper und Christoph Menke (Hg.), Dimensionen ästhetischer Erfahrung, Frankfurt a. M. 2003, S. 203–222. 62 Gumbrecht, Diesseits der Hermeneutik (Anm. 60), S. 127. 63 Ebd., S. 127 (Hervorhebung: B. G.). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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»Instabilität«64 ästhetischen Erlebens in der Spannung von Präsenz und Sinn aufzuspüren – dies scheint mir die vielleicht entscheidende Leistung eines An­satzes, der sich eben nicht im Aufweis einer ›idealtypischen‹ Inkompatibilität von ›Präsenz-‹ und ›Sinnkulturen‹ erschöpft. Entsprechend zielen Gumbrechts Studien vor allem auf Phänomene der ›Präsentifikation‹ oder ›Epiphanie‹, Phänomene also, die sinnförmige Weltverhältnisse überraschend mit nicht-sinnförmiger Wahrnehmung durchschießen, die nicht immer schon auf Anderes verweist. Attraktiv schiene mir nun der Versuch, in Verlängerung dieser Beobachtungen solche Präsenzmomente nicht nur in sinnlicher Wahrnehmung von Körpern im Raum zu entdecken,65 sondern auch in Phänomenen des Sinns. Schefflers Epigramme könnten geradezu als Exempel der These verstanden werden, dass »Präsenz und Sinn […] stets zusammen auf[treten] und […] immer in einem Spannungsverhältnis zueinander [stehen]«,66 wenn inmitten von Sinntechniken Nicht-Sinnförmiges siedelt. Schefflers Gelassenheitsepigramme als Präsenzeffekte im Medium von Sinn? Zu einer solchen Perspektive ermutigt nicht zuletzt, dass Gumbrechts Suche nach einem Vokabular für ein erneuertes Denken der Präsenz gerade »Ereignishaftigkeit« und »Gelassenheit« als basale Merkmale des ästhetischen Erlebens betont.67 Weniger käme es dabei auf die begriffliche Nähe der Beschreibungen zum Vokabular von Schefflers Epigrammen an; verbindender ist, dass Gumbrechts Frage nach präsenten Körpern in ein theoretisches Grundmoment einmündet, das auch die Sinnbewegungen der Epigramme kennzeichnet. ›Sinn‹ und überraschende, flüchtige Grenzsituationen von Sinn begegnen auch hier. 3.) Die Frage nach dem Zusammenhang von ästhetischer Einstellung und Ereignissen radikalisieren Dieter Merschs Untersuchungen zu Ereignis und Aura. Verbindender Zug von den zufallsorientierten Materialmontagen des Dadaismus bis zur Aktionskunst am versehrten Körper sei der Vorrang des bloßen Ereignisses: »Nicht was dabei im einzelnen zum Vorschein gelangt, ist relevant, sondern daß geschieht«.68 In performativer Event-Kunst scheine generell eine Grund­ bedingung der Möglichkeit von sinnhafter Wahrnehmung auf, wie Mersch all­ gemein herausarbeitet: »die Wahrnehmung [ist], bevor sie Wahrnehmung-vonetwas ist, allem voran Wahrnehmung-daß […]«.69 Dies scheint mir ein aufschlussreicher Parallelbefund zu Schefflers Gelassenheitsepigrammen. Ihr forcierter Kontrast von Sinntechnik und Sinnereignissen zeitigt letztlich nie »Verzweiflung« des Nichtverstehens, wie sich mit 64 Ebd., S. 128. 65 Vgl. hierzu v. a. Hans Ulrich Gumbrecht, Lob des Sports, Frankfurt a. M. 2005. 66 Gumbrecht, Diesseits der Hermeneutik (Anm. 60), S. 126. 67 Ebd., S. 124. 68 Dieter Mersch, Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performa­ tiven, Frankfurt a. M. 2002, S. 290. 69 Ebd., S. 32. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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Mersch sagen ließe: Die »unmittelbare[] Evidenz des ›Es-gibt‹«70 verbindet auch im Medium von Sinn das Zusammenspiel von Technik und Ereignis eher, als es auseinanderzutreiben. Noch die größte »Verwirrung«71 bleibt bei Schefflers Epigrammen  – und auch denjenigen zu ›Gelassenheit‹  – nie des Lesers letzter Schluss: Stets lassen sie sich in sinnkohärenten Aussagen paraphrasieren, wenn dadurch auch die performativen Ereignisse von Sinnsprüngen hermeneutisch gelöscht werden. Pointiert gesagt: Der Cherubinische Wanders­mann führt nicht ausschließlich vor, was sich zu Gott und Mensch propositional aussagen lässt. Zunächst und vielleicht sogar eindringlicher macht er zugänglich, was Akte des Aussagens als solche immer schon voraussetzen: eine überraschende, ursprüngliche Differenz, die in einem zweiten Schritt als Sinn prozessiert werden kann. Mersch arbeitet also ein wichtiges zweites Moment heraus, wenn er die »Unver­fügbarkeit des Daß« nachzeichnet, »die entgegenkommt, und an ein Jenseits der techne […] gemahnt.«72 Ihr korrespondiert eine ästhetische Einstellung, die auch Mersch mit dem Begriff der ›Gelassenheit‹ fasst: ein »Sichöffnen für das, was jeweils geschieht«.73 Die Sinnereignisse barocker Epigramme rücken damit in die überraschende Nähe zu post-avantgardistischer Kunst, die im Bruch mit aussageförmiger Bedeutung ihre Aura findet. Auch Merschs Analysen eröffnen somit in ihrem Interesse für Unverfügbarkeit und ›Wahrnehmung-daß‹ wichtige begriffliche Möglichkeiten, um das irritierende Zusammenspiel von Nicht-Verstehen und Sinnkonstruktion in den Epigrammen nicht länger als den Widerspruch sehen zu müssen, der die ältere Schefflerforschung umgetrieben hatte. Bevor ich diese Skizze resümiere, möchte ich versuchen, einigen Einwänden zu antworten, die der Gang der Überlegung genährt haben mag. Ein so ausgedehnter Streifzug durch ältere und aktuellere Theorievorschläge zum Verhältnis von Technik und Ereignis provoziert skeptische Fragen: Welchen metho­dischen Status haben ästhetiktheoretische Bezüge zu ›Gelassenheit‹ bzw. ›Technik‹ und ›Ereignis‹ für die Beschreibung eines Phänomens, das in einer einfachen wort­ semantischen Frage wurzelte? Unterstellt eine so massive Begriffsgeschichte nicht vorschnell (wenn nicht gar zu Unrecht), dass moderne Konzeptualisierungen einer ›Gelassenheits‹-Ästhetik besonders viel mit dem Wortfeld der Gelas­ senheit in der Mitte des 17. Jahrhunderts zu tun haben? Schärfer noch: Verlängert ein solcher Ausgriff nicht sogar die Dominanz eines ausschließlich begriffsorientierten Zugangs zu Textphänomenen der Gelassenheit, den die Beobachtung von 70 Ebd., S.  141; ästhetischem Erleben widerfahre das »Ereignis von Ex-sistenz, das (sich) zeigt, (sich) gibt, noch bevor etwas ausgezeichnet oder ›als‹ etwas identifiziert ist« (S. 143). 71 von Wiese, Die Antithetik in den Alexandrinern (Anm. 23), S. 272. 72 Mersch, Ereignis und Aura (Anm. 68), S. 43; vgl. auch S. 148: »So nistet ein gleicher­ maßen Unfügliches wie Unverfügbares inmitten der kulturellen Praktiken, das deren Dynamik bestimmt, ihre Bewegungen terminiert und ihre Möglichkeiten zeitigt.« 73 Ebd., S.  49; vgl. auch S.  259: »Seinlassung des Anderen, Ungemachten und Unverfüg­ baren«. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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semantischen Brüchen bzw. Sprüngen von Sinn ja gerade in Frage stellen wollte?  Andererseits: Welche Berechtigung kann es haben, für die Beschreibung von Sinnsprüngen Zuflucht zum historischen Begriffsrepertoire der Rhetorik bzw. einer Logik zu nehmen, die dem Sinngeschehen der Epigramme mit so simplen Begriffen wie ›Umbesetzung‹ oder ›Inversion‹ beizukommen versuchen? Ein Antwortversuch könnte auf die methodische Ausgangsfrage und die zentrale sachliche Beobachtung der hier versuchten Argumentation zurückführen. Meine Überlegungen setzten bei dem Erfordernis an, historische Semantik (und im Speziellen: die historische Semantik von Gelassenheit im Cherubinischen Wandersmann) auf die bedeutungserzeugenden Systeme eines historischen Kontextes zurückzubeziehen. Dies sind im Falle des Cherubinischen Wandersmanns einerseits die Rhetorik, andererseits die frühneuzeitliche Epigrammpoetik; es gibt andere mehr. Wenn mein Vorschlag zur Beschreibung von Sinnsprüngen sich also an rhetorischer Begrifflichkeit orientiert, greift er damit ein Vokabular auf, das einem einschlägigen historischen Selbstbeschreibungsrepertoire literarischer Sinnbildung entstammt (was die Möglichkeit von systematisch angemesseneren Beschreibungsversuchen keineswegs ausschließt). Wegweisende Brücke zur modernen Ästhetik war sodann die Beobachtung, dass das historische bedeutungserzeugende System der Epigrammpoetik in hohem Maße sensibilisiert ist für Aufbau und Bruch von Sinnerwartung. Die Epigramme zum Wortfeld der Gelassenheit treiben diese ›Sollbruchstelle‹ der Epigrammpoetik mit herausragender Radikalität hervor, wie sich nachweisen ließ. Und genau für diese Beobachtung gilt es, nach theoretischen Begriffen zu fragen – nach Begriffen, mit deren Hilfe sich der von der Epigrammforschung bislang vernachlässigte Ereignischarakter genauer ansprechen lässt. Dass dabei auch das Vokabular des Gelassenheitsdiskurses begegnete, mag so betrachtet eine aufschlussreiche Koinzidenz sein, der weiter nachzugehen wäre – für das zweite, systematische Interesse der hier versuchten Argumentation spielt es indes keine Rolle. Die Angebote, die sich mit den Texten Heideggers, Gumbrechts und Merschs eröffnen, antworten also nicht auf die Frage, was Gelassenheit im Cherubinischen Wandersmann be­ deutet – wohl aber lässt sich mit ihnen näherhin beschreiben, wie die Gelassen­ heitsepigramme das bedeutungserzeugende System nutzen, in das die Epigrammsammlung eingebettet ist. Der Cherubinische Wandersmann häuft nicht einfach religiöse Propositionen in poetischer Verkleidung. Die Sinn= und Schluß=Reime wollen einerseits anlei­ ten – so verheißt ihr ursprünglicher Untertitel –, sie sind erklärtermaßen Sinntechnik. Dabei stellen sich zugleich Sinnereignisse ein, in denen Unverfügbares von Sinn aufleuchtet. Und die Gelassenheitsepigramme schließen beides in besonders auffälliger Weise kurz: als Schnittstellen von Technik und Ereignis. Dies lässt sich jetzt präziser fassen. 1. Heideggers Gelassenheits-Dialog erschließt für die Epigramme den Zusammenhang von Nennen und Ereignen. Scheffler kreist beharrlich um ein sehr © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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überschaubares Ensemble von Themen, Adressaten und Sachbereichen. Gerade diese Reduktion lässt dafür umso intensiver Gesten des Beschwörens hervor­ treten, in denen sich Sinn als das Zusammentreten von Ausdrücken und Referenzialisierungsmöglichkeiten zu Bedeutungskonstellationen erst ereignet.74 2. Die Rezeption springt dabei auf vielfältige Weise aus technischen Sinn­ rahmen heraus, kreuzt also unablässig jene Grenze, deren Dynamik Gumbrecht als ›Präsentifikation‹ beschreibt. ›Präsenti­fi­kation‹ bricht also nicht von außen her ein, sondern kann sich auch im Herzen von Sinntechniken wie dem Epigramm ereignen. 3. Mit den Untersuchungen Dieter Merschs ist drittens auf dem fundierenden Charakter dieser Ereignisse zu insistieren. Die Gelassenheitsepigramme führen in performativer Weise vor, was Kommunikation und Sinn immer schon voraussetzen: sich auf etwas hin lassen zu können, das der Verfügung entzogen ist. Ähnlich hatte auch Martin Seel mit dem Begriff des ›Erscheinens‹ die Möglichkeit einer ästhetischen Einstellung unterstrichen, die uns die Dinglichkeit der Welt (wieder) bewusst und körperlich spürbar werden lässt, indem sie auf Unverfügbares aufmerksam macht, das sich zeigt.75 Ausgehend von solchen Ansätzen lässt sich plausibilisieren, dass auch die Möglichkeit von Sinnbrüchen nicht nur als Gefährdung, sondern ebenso als Bedingung der Möglichkeit von Verstehen ›erscheinen‹ kann. Damit lässt sich genauer benennen, was ›Gelassenheit‹ bedeutet – wobei die Antwort das Terrain der begrifflichen Definition verlässt: ›Gelassenheit‹ heißt in Schefflers Cherubinischem Wandersmann, über Sinntechniken Ereignisse zu evozieren, in denen Unverfügbares von Sinn begegnet und zu neuen Fügungen führt. Die Serialität der Epigrammsammlung erlaubt zugleich, sich in diese Bewegung performativ einzuüben: Wer ihre vielen Texte liest, oszilliert permanent zwischen Technik und Ereignis – auf eine Weise, die ›Gelassenheitstechnik‹ und ›Gelassenheit als Durchbruch‹ zusammenschließt, ohne dass ihr Spalt völlig verschwände.

4. Perspektiven Hieran ließen sich unterschiedliche Fragerichtungen und Untersuchungsmöglichkeiten unmittelbar anschließen: Lassen sich Korrelationen zwischen Kohärenzphänomenen (und Brüchen) und bestimmten Themen ausmachen? Was für 74 Dies treiben manche Epigramme phonologisch ins Extrem – so z. B. die erste QuatrainHälfte von III,17 (Am Nchsten am besten.): Mensch werde GOtt verwandt auß Wasser / Blutt und Geist / Auf daß du GOtt in GOtt auß GOtt durch GOtte seyst. Mindestens so entscheidend wie die präpositionale Totalisierungstendenz ist hier die bloße Gebärde des Nennens, die noch vor allem Sinn (auch graphisch) hervortritt. 75 Vgl. Martin Seel, Ästhetik des Erscheinens, München 2000. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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Analyseergebnisse könnte eine differenziertere Untersuchung der einzelnen Bücher des Cherubinischen Wandersmanns aufweisen  – spielen Technik und Ereignis auch auf komplexeren Ebenen der Sammlung jenseits des einzelnen Epigramms eine Rolle? In welchem Verhältnis stehen interne Sprunghaftigkeit des Epigramms und sein externer Sammlungskontext? Jede dieser Fragen bezeichnet weitergehende Untersuchungsrichtungen, die mit den ausgeführten Überlegungen nur vorbereitet sind. So flüchtig, unwiederholbar und fragil Momente des Ereignisses in den Epigrammen aufscheinen, so schwierig und nötig schien es jedoch, Wahrnehmung und begriffliche Beschreibungsmöglichkeiten auf solche Momente zu richten und ausführlich nach ihrer Rolle für die historische Semantik von ›Gelassenheit‹ zu fragen. Dies schließt begriffssemantische Blicke auf die Gelassenheitsepigramme des Cherubinischen Wandersmanns freilich nicht aus – im Gegenteil: Historische Semantik gelangt erst dann zu einem hinreichend komplexen Begriff ihrer Objekte, wenn sie sowohl explizite semantische Binnenstrategien wie Akte der Definition, der Synonymisierung etc. als auch scheinbar ›vorsemantische‹ Systeme der Bedeutungserzeugung berücksichtigt, wie sie meine Beobachtungsskizze am Beispiel von Schefflers Epigrammen zu akzentuieren suchte. Es wäre dann gerade die Spannung dieser Grenze, die sich als aufschlussreiches Instrument der Beobachtung nutzen ließe. Welche Perspektiven dies eröffnen könnte, möchte ich mit drei abschließenden Lektürehypothesen zumindest andeuten: (a)  ›Gelassenheit‹ und mystische Epigrammatik. ›Technik‹ und ›Ereignis‹ bilden ein geeignetes Parameterpaar, um Semantiken von ›Gelassenheit‹ in der mystischen Epigrammatik zu profilieren. So demonstrieren etwa Daniel ­Czepkos zwischen 1640 und 1647 verfassten Sexcenta Monodisticha sapientum, dass mystische Epigramme in Alexandrinern nicht notwendig pointen- bzw. sprung­ orientiert sein müssen – und die Gelassenheitsthematik dabei entsprechend in den Hintergrund zurücktreten kann.76 Umgekehrt belegt Gerhard Tersteegens 1729 veröffentlichtes Geistliches Blumen-Gärtlein, dass ein extensiver Gebrauch des Ausdrucks Gelassenheit auch mit einem anschwellenden Technikcharakter verbunden werden kann: Sprünge kommen seltener vor, es dominieren isometrische, semantisch stabile Liedformen, die den ausgeprägten Übungs­charakter pietistischer Lyrikkultur unterstützen. Obwohl Teerstegen ausgiebig und bis zum Zitathaften den Versen des Cherubinischen Wandersmanns nachschreibt und Schefflers Epigramme wiederum den Epigrammen Czepkos nahestehen, lassen sich für alle drei Sammlungen andere Beziehungen von Technik und Ereignis 76 Stärker als bei Scheffler macht sich bei Czepko die an Catull orientierte Tradition des hymnischen Epigramms vom Typ des ›einfachen Spruchs‹ (Horst Althaus) geltend: semantische Sprünge sind seltener, kreuzen oder variieren seltener Bildfelder; das Vollverb lassen und seine Ableitungen (einschl. Substantivierungen) treten gegenüber anderen Begriffen, Themen und synonymen Ausdrücken (z. B. ›sich überwinden‹, ›ledig sein‹, ›sich ergeben‹, ›sich ver­ gessen‹, ›vergehn‹, ›abgeschieden sein‹ oder ›bloß stehen‹) in den Hintergrund. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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feststellen. Die Frage nach Gelassenheitstechnik und Ereignis lässt sich somit diachron ausziehen und kann unterschiedliche Konfigurationen markieren. (b) Technik und Ereignis in mystischer Lyrik des Mittelalters. Was sich in Gelassenheitsepigrammen der Frühen Neuzeit beobachten lässt, findet sich auch in mystischer Lyrik des Mittelalters, die um Thema und Wortfeld von ›Gelassenheit‹ zirkuliert.77 Freilich können die Formprofile von Technik und Ereignis dabei beträchtlich variieren. Zahlreiche Lieder und Sprüche zu ›Gelassenheit‹ verflechten Techniken und Ereignisse auf der Ebene von prosodischen Merkmalen wie beispielsweise der Hebungsverteilung. Ein einfaches Beispiel aus dem 15. Jahrhundert ist der im alemannischen Sprachraum beliebte Spruch von der Eigenwillig­ keit. In Philipp Wackernagels Transkription der Straßburger Handschrift G 394 beginnen fast alle Verse mit unbetontem Auftakt:78 blib fest in widerwertikeit, durchbrich die vnerstorbenheit, nit sch z vil ergeczlicheit, so wirt din hercze wol bereit z götelicher heimlicheit.

Nur der erste Vers beginnt mit betonter Erstsilbe: Láß din eigenwillikeit

Der Spruch stellt so die isometrisch auftaktigen Verse gegen eine einzige betonte Abweichung, die semantisch mit einer Aufforderung zum ›Lassen‹ einhergeht: Technik und Ereignis brechen so auf der Ebene einfacher Betonungsverhältnisse auf. Andere Lieder platzieren Imperative zur Gelassenheit an Schnittstellen zwischen Refrainwiederholung und Strophenvarianz  – Technik und Ereignis werden also im Medium größerer Textmengen greifbar.79 Wieder andere Verstexte nutzen für dieses Zusammenspiel der Kontraste die Reimstruktur.80 Mystische ­Lyrik verdankt ihre Entstehung unter anderem der allgemeinen Praxis im 14. und 15. Jahrhundert, umfangreichere Reimtexte in Einzelteile zu zerlegen und diese kleineren Partikel meditativ einzuüben. Eingelassen in ein kulturelles Feld reli­ 77 Dieses Gattungsfeld erschließt nun die Freiburger Dissertation von Judith Theben, Mystische Lyrik des 14. und 15. Jahrhunderts. Untersuchungen – Texte – Repertorium, Berlin, New York 2010. 78 Zitiert nach: Philipp Wackernagel (Hg.), Das deutsche Kirchenlied von der ältesten Zeit bis zu Anfang des XVII. Jahrhunderts. Mit Berücksichtigung der deutschen kirchlichen Liederdichtung im weiteren Sinne und der lateinischen von Hilarius bis Georg Fabricius und Wolfgang Ammonius, 5 Bde., Leipzig 1864–1877, hier Bd. 2, S. 317 [Nr. 481e]. 79 Vgl. z. B. das Lied Von der zit keren, das Wackernagel, Das deutsche Kirchenlied (Anm. 78), S. 664 bietet. Vgl. auch den erstmaligen Abdruck von Ich solt mich leren lossen bei Theben, Mystische Lyrik (Anm. 77), S. 399–402. 80 So z. B. die sogenannten Tauler-Cantilenen im Kölner Taulerdruck von 1543; Abdruck bei Wackernagel, Das deutsche Kirchenlied (Anm. 78), S. 305 f. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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giöser Übungstechniken und zugleich Medium ekstatischer Ereignisse, partizipieren auch diese Texte an der Paradoxie von Technik und Ereignis. Die Frage nach der Semantik von Gelassenheit wäre somit auch um mystische Lyrik des 14. und 15. Jahrhunderts zu erweitern. (c)  Prosa-Lyrik-Interferenzen im Zeichen von ›Gelassenheit‹. Solche Phänomene sind jedoch nicht auf Lyrik beschränkt – sie lassen sich grundsätzlich in Texten studieren, deren Formung an Momenten springt, die mit dem Begriff der ›Gelassenheit‹ verknüpft sind. Und hier schließt sich meine Beispielreihe mit Seuses Vita. Das 35. Kapitel berichtet von den Übungsaufgaben, die Elsbeth Stagl vom Diener empfängt: Dieser schickt ihr eine Sammlung von Altväter-­ Sprüchen – kurze satzförmige Maximen, die Askese und Selbstkasteiung empfehlen. Elsbeth folgt den Übungssprüchen. Sie legt ein härenes Gewand an und peinigt sich mit scharfen Eisennägeln – zum Schrecken des Dieners, der sie bestürzt ermahnt, diese extreme strenkheit zu ›lassen‹.81 Nicht solle sie die Anweisungen der Altväter-Sprüche wörtlich nehmen, denn schließlich lege Gott jedem Menschen ein anderes Kreuz auf.82 Seuses Vita stellt somit in umfangreichen Zitaten den Technikcharakter der Altvätermaximen zunächst einladend aus – um diese plötzlich in weitausschwingende Prosa aufzulösen. Es verwundert daher nicht, dass die Semantik dieses formalen Übersprungs das ›Lassen‹ in den Vordergrund rückt. Auch Seuses Text operiert somit mit einer Unterscheidung von Technik und Ereignis. Im Anschluss an die hier versuchten Überlegungen wäre es eine reizvolle Perspektive, nach der semantischen Qualität solcher Inter­ferenz von spruchartig bis lyrisch geformter Rede und Prosa in mystischen Texten überhaupt zu fragen. Es könnte sich damit fruchtbar erweisen, die Kohärenz von Sinntechniken als grundlegende Untersuchungsdimension der (historischen) Semantik zu entdecken.

Anhang: Sprünge semantischer Kohärenz – Detailergebnisse der Analyse Die nachfolgenden Tabellen dokumentieren die relative Wahrscheinlichkeit semantischer Sprünge in den Epigrammen des Cherubinischen Wandersmanns, aufgeschlüsselt nach den metrischen Positionen des Epigramms (Ü: Überschrift; S1: erste Vershälfte des ersten Epigrammverses bis zur Mittelzäsur; S2: zweite Vershälfte des ersten Epigrammverses nach der Mittelzäsur; S3: erste Vershälfte 81 B 107,9. 82 Der Diener empfiehlt Elsbeth damit im ›Lassen‹ die Offenheit gegenüber dem nicht erzwingbaren Ereignis des Empfangens: Ich versich mich dez, daz dir got einer anderley krúz well uf dinen ruggen stossen, daz dir noh pinlicher wirt, denn semlichú kestgung sie; daz krúz enpfah gedulteklich, so es dir kome! (B 108,22–25). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

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Bent Gebert

des zweiten Epigrammverses bis zur Mittelzäsur; S4: zweite Vershälfte des zweiten Epigrammverses nach der Mittelzäsur). Alle Frequenzwerte werden prozentual angegeben, absolute Epigrammzahlen stehen in Klammern: Tabelle 1: Wie wahrscheinlich sind semantische Sprünge an welcher Epigrammposition? Buch I

Buch II

Buch III

Buch IV

Buch V

Buch VI

Ü

9,5 (29/305)

4,7 (12/258)

5,2 (15/288)

5,6 (16/284)

12,5 (47/377)

4,9 (17/344)

S1

6,2 (19/305)

4,3 (11/258)

2,8 (8/288)

4,6 (13/284)

5,0 (19/377)

4,7 (16/344)

S2

11,8 (36/305)

11,6 (30/258)

6,9 (20/288)

8,8 (25/284)

11,9 (45/377)

7,6 (26/344)

S3

9,8 (30/305)

8,5 (22/258)

8,7 (25/288)

8,1 (23/284)

10,3 (39/377)

8,7 (30/344)

S4

28,2 (86/305)

22,5 (58/258)

14,2 (41/288)

19,0 (54/284)

24,4 (92/377)

18,9 (65/344)

Tabelle 2: Wie wahrscheinlich sind semantische Sprünge bei Wortbelegen von lassen / Gelassenheit? Gesamtverteilung im Vergleich speziell zu den Gelassenheitsepigrammen Buch I–VI (gesamt)

Gelassenheitsepigramme

Ü

7,3 (136/1856)

10,3 (3/29)

S1

4,6 (86/1856)

13,3 (2/15)

S2

9,8 (182/1856)

38,5 (5/13)

S3

9,1 (169/1856)

62,5 (5/8)

S4

21,3 (396/1856)

100,0 (9/9)

Auswertung: Von den insgesamt 1856 doppelversigen Epigrammen lassen 969, also fast jedes zweite die semantische Kohärenz aufspringen.83 136 Epigramme 83 Erläuterungen zur Zählung: Quatrains, Sonette und komplexere Gedichte von Buch I und III–VI wurden für die Zählung in Distichen aufgelöst, sofern sie einem doppelversigen Aufbau folgen; der Gesamtzahl von 1675 Einzeltexten wurden entsprechend 181 epigrammatische Elemente hinzugerechnet. Die Analyse der Kohärenzsprünge belegt allgemein eine niedrigere Frequenz als die Analyse von Weisz, Das deutsche Epigramm (Anm. 30), S. 51, die für den Cherubinischen Wandersmann eine »Pointen«-Frequenz von 98,6 % postuliert. Auch wenn © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187

Technik und Ereignis

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weisen Sprünge schon in den Überschriften auf (ca. 7,3 %). Im ersten Halbschenkel (S1) platzieren dagegen nur 86 Epigramme, also ca. 4,6 %, semantische Brüche. Fast doppelt soviel – 9,8 % (bei 182 Epigrammen) – lassen sich im zweiten Halbschenkel (S2) finden. Die erste Vershälfte vor der Zäsur des zweiten Alexandriners (S3) nutzen insgesamt ca. 9,1 % (169 Epigramme)  für semantische Sprünge. Erwartungsgemäß finden sich die meisten Pointen bzw. semantischen Sprünge im Schlussglied S4: 396 Epigramme lassen die Semantik an der Schlussposition springen, was einem Gesamtanteil von ca. 21,3 % entspricht. Die Epigramme speziell zu ›Gelassenheit‹84 heben sich von diesen Kohärenzwerten durch höhere Sprungwahrscheinlichkeit ab: Nur bei drei von 29 Epigrammen, die einen Beleg von Gelassenheit oder des Vollverbs lassen in der Überschrift platzieren, sind semantische Sprünge zu identifizieren – also etwa 10,3 %. 13,3 % der Wortbelege, die auf Epigrammposition S1 erscheinen, 38,5 % auf S2 und 62,5 % auf S3 sind zugleich Sprungstellen. Die Wahrscheinlichkeit für Kohärenzbrüche ist auf diesen Strukturpositionen der Gelassenheitsepigramme also zweifach bis sechsfach so hoch wie im allgemeinen Durchschnitt. Für die Strukturposition S4 ergibt die Analyse einen Maximalwert: In sämtlichen Fällen, in denen lassen und seine Ableitungsformen im letzten Epigrammteil platziert sind, springt die Semantik.

Weisz offen lässt, wie sie ›Pointiertheit‹ analytisch präzisiert, folgt die hier beschrittene Untersuchung einem anderen Erkenntnisinteresse: Während Weisz untersucht, wieviele Epigramme auf (mindestens) eine Pointe zulaufen, untersucht die hier vorgestellte Analyse, (a)  wie häufig Sprünge der Kohärenz auftreten und (b) wie sich diese Sprünge auf die Strukturpositionen des distichisch-alexandrinischen Epigramms verteilen. Nicht selten ereignen sich mehrfach Sprünge in einem Epigramm – die Annahme einer singulären Pointenstruktur kann dies nicht abbilden. 84 Die 74 Wortbelege des Vollverbs lassen und seiner Ableitungen streuen sich auf 56 Epigramme; Quatrains wurden in der Auswertung wie Doppelepigramme behandelt, das Epigramm II,136 trotz seiner nur indirekten Titelverknüpfung zu einem direkten Wortbeleg (Eben von derselben; bezieht sich auf II,135: Die Gelassenheit) ebenfalls hinzugenommen. Für genaue Belegangaben vgl. Anm. 27. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367186 — ISBN E-Book: 9783647367187