Selen. Eine Materialgeschichte zwischen Industrie, Wissenschaft und Kunst [1 ed.] 9783161568688

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Selen. Eine Materialgeschichte zwischen Industrie, Wissenschaft und Kunst [1 ed.]
 9783161568688

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Johann es H ess Selen

1-1 isto ri sche Wi sse nsfor schun g

Essay

h erausgege b en vo n Caro line Arn i, Steph a n G rego r y, Bernh a rd Kleeb e r~, Andr eas La ngeno hl , Marcus Sandl und Rob ert Sut e r t

2

Johannes Hess

Selen Eine Materialgeschichte zwischen Industrie, Wissenschaft und Kunst

Mohr Siebeck

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jo/1111111 es / less, geboren 1989; Studium der Chemie, Medie nku\tvl · und Medienwis,e nschaft ; seit 20 18 wissenschaftlicher Mitarbeite::~ an der Professur für Th eo rie medialer Welten, Bauhaus- Universiti.it Weimar.

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ISBN 978-3- 16- 156868-8/e !SBN 978-3- 16- 156869 -5 DOI I0.1628/978-3- 16- 156869 -5 ISSN 2569-3484/e !SSN 25 12-0220 (I listori sche Wissensforschun g l\ssay) Die Deutsche Nat ion a lbib liot hek verzcich nct d icse Publikation in der Deutschen Nat iona lbibli ograp hie; de ta illiert e bibliographi sche Daten sind über /1t1p:l/d11lu /11lu/ e abrufb a r.

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20 19 Mohr Sicbec k Tübin gen. www.mo hr siebeck .com

Das Werk einschließ lich aller seiner Teile ist urh eberre chtli ch gesch ützt. Jede Verwert un g auGerhalb de r engen G renzen des Ur heberr echtsgesct zes ist ohn e Zust i 111mu ng des Verlags unzul ässig und strafbar. Das gilt in sbeso ndere fii r d ie Verbrcit ung, Vcr vielfii lt igu ng, Ü bersc tzu ng und di e Ei nspeichcru ng und Vera rbci t u ng in clekt ro n ische n Systemen. Das Buch wurd e von Comput ersatz Stai gcr in Rottenbur g/N. c1us der M inion ge~ctzt, von I lub cr t & Co in Gö t tin gcn auf alterun gsbcständ iges Wcrkd ru ckpapie r gedru ckt und gebu ndcn. Print cd in Gc rman y.

Inhalt sverzeichnis Ein Exper iment . . .. .. ..........

.. ......

.. .. .

2 Entdeckun g . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 2.2 2.3 2.4

Die Produkti on von Schwefelsäure......... Die Verlegun g von Seekabeln . . . . . . . . . . . . . Die Stand ardisieru ng von Widers tand . . . . . Die Störun g eines Messappa rats...........

3 Reprod ukti on . ............ 3.1 3.2 3.3 3.4

4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6

... ......

14 22 29 36

.

42

Reproduktion 1- Phänomene . . ........ ... Reproduktion II - Materialien . . . . . . . . . . . . Materia l und Agency . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Materie -Strom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

45 48 53 61

4 Erfindun g ... . . . ................

.. .....

14

. .......

....

69

Ein kün stliches Auge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 1 Das Photophon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 Das Fernsehprob lem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 Fernsehen 1 - Mosaik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 Fern ·ehcn II - Scannen ... .. . .. . ......... 104 Empfindlichkeit - Ende und Anfa ng eines Med iums .... . . ....... . . ........ . . 111

I11/ialt sverzeich nis

VI

126

5 Kun st 5.1 Bauhaus -Experim ente .... . ........ . . . .. 5.2 Der großzügi ge Dadaist . .. . . .. ... .. ..... 5.3 Optopho netik vor dem Optophon ........ 5.4 Andere Anwendun gen von Selen . .. . .....

. . . .

128 135

144 153

6 Schlu ss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156

Literaturverz eichni s

16 1

Bildquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181

1 Ein Experiment „Th e wealher was what in comm on parlan ce would be termed ,a dull , cold afternoon"', stellt Willoughby Smith a m Anfan g seines Protokoll s fest. 1 Dichte, gräuliche Wolken hänge n nah ezu station är über dem London er Hint erhof, in dem sich Smith zusamm en mit einem Assistenten an diesem Nachmittag im Frühj ahr 1876 eingefunden hat. Jm Westen sa mmeln sich zudem große Wolkengebilde, die Smith als „the atmosphere genera lly seen rising from la rge ma nu facturi ng town s" identifiziert. 2 Das mittelmäßig e englische Wetter hält Smith und seinen Mit arbeiter aber nicht davon ab, ein Experim ent zu machen. Die Liste der Materialien ist nicht besonders lang: eine Batterie, ein Galvanometer, einige Kabel und eine Kiste mit siebzehn Widerständen aus einem exol"ischen Materia l namens Selen (Abb. 1).Nacheinander verbind et Smith die grauen Selenbarr en mit dem Stromkr eis aus Batterie und Ga lvanome ter. Die Ga lvanome ternad el schläg t dabei um so weiter aus, je mehr Strom dur ch den Stromkr eis fJießt. Diese Strom menge wiederum ist ab hüngig von der Batter iespannung sowie von den Wider stünden der ei nzclnen Selen barren. Je geringer der Wider sta nd oder je stärker die Batterie, desto weiter schlägt die 1

Willoughb)' Smith , Sele11i11111 . lls Electrica/ ()1111/itie s 1111(/ //, e Ef]ect of Light Th erev11, London : H J)'l11J 11 Brothcrs 1877. S. 8. 2 Smith , Sele11iu111 , S. 8.

2

1 Ein t!xperi111ent

Abb. 1: Willoug hby Smith s Selcnwider ständ e. Die Widers tände sind jeweils eingefasst in eine Umhü llun g aus Glas und können über Drä hte an einen Str omkre is angeschlossen werden.

Na del a m Ga lvanometer aus. Do ch a n diesem Tag h ä n g t der Aussch lag zu sä tzlich noch vo n etwas a nd ere m ab nämli ch von den Wo lke n . „T he sun was no t visible, but th e vary in g d e nsit y of its light , ca used by th e clouds pass in g between it a nd the

J

Ein Experi111ent

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bars, was distin ctly mark ed by the alteration in the electri ca l resista nce of the bar und er test at the tim e", pro tokolliert Smith .3 Der elektrische Widerstand , muss man wissen, ist abhängig von einer Reihe von Faktoren. Die wichtigsten sind die Art des verwendeten Materials und dessen Dimensionen, also die Form , Länge und Dicke, sowie in viel geringerem Maß e die Strom stärke und die Tempe ratur - da s Wetter hatte jedenfalls bislang nicht da zu gezählt . Und dennoch beobachten Smith und sein Assistent, wie das Vorbeiziehen einer Wolke den Widerstand ihrer Selenbarren in nicht gerin gem Maß veränder t. Um den Effekt zu überprüf en, lässt Smith eine Wetter simul at ion durchführen : Der Assistent wird damit beauftr agt, eine kün stliche Wolke aus gekämmt er Futterwolle in einer Höhe von zwei Fuß über der Kiste von Norden nach Süden hinwegziehen zu lassen. Und tatsächlich zeigt nicht nur die „Wolke" einen deutlichen Effekt auf die Ga lvanometernade l; selbst als Smiths Assistent beim Vorbeigehen an der Kiste einen nicht wahrn ehmb are n Schatten wirft, wird dieser im Ausschlag der Nadel sichtbar. ,,T lrns the shadow of a man, although not visible to the naked eye, was found to interfere with the mechan ical laws which govern the motion ofordina ry matter", stellt Smith am Ende seines Protokoll s fest.'1 Dem Elektrot echnik er ist diese außergewöhnli che Eigenschaft des Selens bereits dr ei Jahre vorher, im Jahr 1873, aufgefallen. Das Experiment, das Smith beschreibt, ist der Versuch einer systemati schen Untersuchung des Selens und seiner Lichtempfindli chkeit. BezeichnenderJ '

1

Smith , Se/eniwn, S. 8. Smith , Sele11i11111 , S. 8.

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I Ein txperi111e11/

weise find et er aber in se in er ßesc h reibu ng kein e Wor le für die Rolle des Selens: Es ist auf der ein en Seite der Schatten des Mens chen , d er sich einmi sc ht od er stö rt (interf ere), und es sind auf der a nd eren Seite di e mec hani schen Gese tze her kömmli cher Materie, die d adur ch gestört wer den. O bwohl also d as ga nz e Experim ent eige ntli ch nur zum Zwec k der Untersuchung des Selens aufgebaut wird, bleibt es in Smith s zu sa mm en fasse nd er Schilderung der Vorgä nge auf merk w ürdi ge Weise ung enannt. Einern Medienwi sse nsc haft ler im Jahr 200 2 fä llt hi11gege n sofo rt ein passe nd es Wort ein : Das Selen sei „e in chemi sches Medium ", soga r „e in Medium im etymo lo gischen Sinn , ein Zw isc hen zw ischen Licht und Strom ", schr eibt Peter ßerz .5 Ja, di e Medi enwi sse nsc haft ge ht nicht sparsam mit ihr em Leitb eg riff um . Und ja , auf ge wi sse Wei se ,vermitt elt' d as Selen zw ischen Licht und St ro m , ind em es Lichtv erä nd erun gen in St ro mv erä nd erun ge n üb erse tzt. Dass Pet er ßerz hi er ni cht zöge rt , d as Pr ädik at Medium zu ve rgeben , lieg t aber vielleicht weni ger am Selen se lbst a ls a n ein er Mediengeschichte , di e das Selen zu umgeben (ma n könnt e sage n: zu verschlu cke n ) scheint , und zwa r der Medi engesc hi cht e des Ferns ehens. 13isherige hi sto ri sche Bet rac htun ge n des Selens stellen das Ma teria l fas t aussc hli eß lich in den Kont ex t ein er so lchen Fe rn se hgesc hi cht e. De m Selen und der Entd eckung sein er Licht empfindli chk eit wird nä mli ch na chge sag t, di e Entwicklung des Fern se hens üb erh aupt erst a n s Peter Berz, .,Bildtexturen . Punkt e, Ze ilen, Spalten. II. Bild teelegrafie", in: Sabin e Flach/Georg Chr istoph Tho lcn (Hgg.), Mi111 tische Diffcreuz en. Der Spie/m11111 der Medien z wischen A/J/Jild ung und Nac/1bild1.1 ng (Intervalle 5), Kassel: Kassel Uni versity Press 2002, S. 202 - 2 19, hier S. 2 12.

I Ein Expe ri111 e111

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gestoßen zu haben. Zahlreiche Fernsehhi storiker lassen ihre Geschichte im Jahr 1873 mit Willoughby Smiths Entdeckun g beginn en, denn bereits kur ze Zeit später nutzen die ersten Erfind er das Selen, um Bilder aus Licht in telegrafisch übertra gbaren Strom zu übersetzen.6 Auch beim Lesen einiger zeitgenössischer Komm entare entsteht der Eindru ck, mit der Entdeckun g der Lichtempfindli chkeit sei das Fern sehen eigentlich scho n erfund en. ,,[TJhe discovery of the light effect on selenium ca rries with it the prin ciple of a plan for seeing by electri city", schreiben zwei Professoren wenige Jahre nach der Entdeckun g und Jahr zehnt e, bevor ein solcher Plan auch nur ansatzweise zur Verwirkli chun g komm t.7 Noch im Jahr 1930 blickt man auf die Jahre nach 1873 zurück und meint, dass „die Er findun gsaufgaben nach der Entdeckun g von Smith in der Luft lagen".8 So haargenau passt das Selen scheinbar zu den Anford erun gen eines entstehenden Fern sehens. Doch zur Erfindun g des Fernsehens gehörte mehr, als eine Idee aus der Luft zu greifen. Die Techn ikgeschichte des Fernsehens ist lang und komplex. Aber die Komm entatoren haben insofern recht, als die Geschichte des Fern6 Beispielsweise David E. f'isher/Ma rshall Fishcr, '/i1/Je. '/'l,e /11 ve11/iv11vf Telev isio11, Washi ngto n D.C. : Co u ntcrpo int 1996, S. 9, Russcll W. ßurn s, Televisio11.A11/11ter11atio11a/ //i story o( t/1e For111 0/ive l'ears ( 1ET H istory of Tcch nology Scries 22), Londo n: Th c 1nst it ut ion of Engineerin g an d Tech nology 200 7, S. 3 oder/\ lexa nder ll. Magoun , Tclevisio11.Tl,e Life Story of a Tec/1110/ ogy, Westpor t: C recnwood Press 200 7, S. xix. 7 William Edward Ayrton/jo h11Pcrry ... Sc:cingby Elcctricit y". Natu re 2 1/5 47 ( 1880), 589. 8 Ar thur Korn . E/ektri sc/1rs Fen1selie11, Berlin: Verlag O tto Sallc 1930 , S. J.

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I Ein Experi,n ent

sehens in ihr er Anfangszeit aufs Engs te mit dem Se len ver bund en ist. Wenn man a lso d as Material Se len von der Ferns ehgesc hi cht e her betra cht et, sieht m a n vor al lem ein Medium. Ma n sieht ein Material, das mit se in en wund ersa men Eigensc haft en di e früh es ten Entwi ck lun gen des Fern sehens beg ründ et. Mit dem Selen wird Fern sehen m ög lich . Da s ist aber ni cht di e ga nze Gesc hi cht e. Ein e Selen ge sc hi cht e, di e aus d er Perspektive d er Fe rn seh gesc hi c ht e erzä hlt wird , wird imm er mehr Gesc hi cht e des Fern se hens se in a ls Ge sc hi cht e d es Selens. Di ese Arb eit wird dagege n ein e eigenständi ge Gesc hi cht e des Selen s ski zzieren . Ein e so lche Mat erialg esc hi cht e d es Selens we ist za hlr eiche Schnittpunkt e auf mi t a nd ern o rt s erzä hlt en Gesc hi cht en vo n aufm erk sa m en Entd ec kern , int ern ational en Technikunt ern ehmun ge n , sc hl auen Erfinde rn ge nial en Kün st lern und eben den Ent stehun gsgesc hi ch ~ ten neuer Medi en. Sie ka nn aber mit kein er di eser Ge sc hicht en zur Deckun g komm en. Vielm ehr verläuft ein e Gesc hi cht e des Mat e ria ls unt erh a lb von Tec hnik -, Wi sse nsc ha fts-, Kun st- und Medien gesc hi cht en und ste llt Tec hnik , Wi sse nsc haft., Kun st und Medien dam it in ne ue Zusa mm enhän ge. Ein e Mat erialg esc hi cht e lässt sich da mit a ls nicht -teleologische Gesc hi cht e sc hr eiben, da sie nicht auf ein e Entd eckung ode r ein e Erfindun g hin or ien tiert ist . G leich ze itig ist sie ein e transversale Gesc hi cht e, da sie quer zu den etabli ert en Nar rat iven von Technik Wissensc haft und Kun st steht. ' Aber wie schr eibt m a n ein e Mat erialgesc hi cht e? Erste A nsä tze liefert di e Wi sse nsc haftsgesch icht e. Dort ste hen di e Instrum ent e, Apparate und Mas chin en der Wi ssensproduk tion schon lange wege n ihr er a ktiv en Beteili -

1 b11 Experim ent

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gung an dieser Produkti on im Fokus des Jnteresses.9 Die Gesc hichtli chkeil von Prakt iken, Appara ten und auch Materialien rückl dabei nicht selten in den Vordergrund . Dadur ch entstehen Qu erverbindun gen zu verm eintlich entfernt en Gebieten und Diskur sen, die klassischen Narrativen einer Fortschritt sgeschichte entgegenlaufcn.1 Für eine Material geschichte beispie lhaft ist auch die Kritik der W issenscha ftsh istori keri n nen Emm a C. Spa ry und Ursula Klein a n teleo logischen Technik geschichlen, die lediglich einen „winner's account " darstellten.11 Ihr Gegenvor schlag ist die Verschiebun g der Perspektive von erfolgreichen Werkzeugen, Maschin en oder Praktik en hin zu Materialien, wie sie im Samm elband Materials a11dExpertise in Early Modem Jiurope: ß e/ween Marke/ and Laboralory exemplarisch dur chgeführt ist.12

°

9 lk ispielswc ise Bru no l.atour /Steve Woolga r, J.11/J om tory Life. The Socinl Co11structio11of Scic11tifir Parts, Beverley Hill s: Sage 1979, Kar in Knorr -Ce tina , Tl,e Mn1111jr1 c/11re of K11owledge. i\ 11lissny 011the Co11stru clivisl n11d Ccmtex /110/Natur e of Scic11ce, Oxfo rd/New Yo rk/ Turo nto/Sid ney/ Par is/ f-ran k fu rt : Pcrga 1110 11 Press 198 1 und I lans-Jörg Rheinbcrgcr, l:" xperi 111 e11t11/syste111e 1111d epistc111i sc/1e Dinge, Frank furt a m Ma in : Suhr kamp 2006 . 111 Beispielsweise Steven Shapin /Simon Schaffer, Levi11//,(1110111/ 1/,e Air-P11111p . 1Jobbes, /3oylc, 1111df/, c Experi111e 111 0/ Lift', Prin ceton: Prin ceton Univcrs ity Press 1985 und Henni ng Schmid gcn, /-/im /II/(/ /,e il. Gescl,ic/,/e eines Experi111enl s /800- 1950, Berlin: Mal l hcs & Seitz 2014. 11 Ursula Klein/Emma C. Spa ry, ,,lnt roduc tion. W hy Mate rial s?", in : Ursula Klein/E mma C. Spa ry (l lgg.), M"t cri"ls a11d Exper tise in Early Modem Europe. /3etwee11Marker 1111dJ,abomlory , Chicago: Univcrsity ufC hicagu Press 2010, S. 1- 23, hier S. 16. 12 Ursula Klein/ Emm a C. Spary (Hgg.), Materi"ls (1111/ Expertise in Liarly M odem li 11rope. Betwee11Mark er (/1/d La/Jomtory, Chi cago: Un iversit y of Chicago Press 20 10.

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I Ein Exp erim e11t

Ein ä hnli ches Int eresse für di e Mat e ria lität vo n Appa , ra te n und Instrument en leg t auch di e Medienar chä olog i~ a n d en Tag. Dort kann e in e Materia lgeschic ht e de s Selen ~ vor a llem a n Sieg fri ed Z ielin ski a nsc hli eße n , d er sich il) se in er an-a rchäol og isch en Lesa rt einer Fouca ult 'sc he t\ Archäo log ie davon ab g re nzt , mit se in er Archäo log i~ zw in gend di e Gesc hicht e ein er a ls m edi a lisiert o de r dL g itali siert a ngen o mm enen Gege nw a rt zu erkund en. Eil) Beispie l für eine so lche kl ass ische Arc häo log ie ist auc~ Pete r Berz' Betr ac htun g d es Selens. Berz int e rpr etie rt di ~ Techniken der Bildt eleg ra fie und d es früh en Fernsehe n s a ls Vorläufer von di g ita ler Bildzerlegung, di e aus Bild e n) Texte macht. 13 Was Berz dabei au sblend en mu ss, ist di ~ Tat sac he, dass di ese Techn o log ien gera d e dur ch d en Ein , salz vo n Selen absicht lich zu a na loge n Tec hn olog ien ge, ma cht we rde n .1' 1 Um solc he selek ti ve n Lesarten zu ver , me ide n , setz t sich Z ieli nski s An -Arch äo log ie das Z ie l, ,,führerlo s" (griec hi sch : anarc hos) in di e Vergangenheit zu gchen. 15 So wird es mög lich , e ine Gesc hi cht e de r Me, dien zu sch re ibe n , in der auch d as ein e Ro lle sp ielt , was kein Medium wurd e. ,,Dca d e nd s, lose rs, a nd in ven tio n s th at neve r madc it int o a material prod uc t h ave impor -

13 Vgl. z. B. Be rz , ,,Bildtel egra fie", S. 203. Ä hnli c h ge ht auch Stefa n Rieger vor , siehe Stefa n Rieg er, ,,Licht und Mens ch . Ein e Ges ch ic hte der Wa nd lun ge n", in : Lorenz Enge ll/ Be rnhard Sie ge rt/jo ~eph Vog l ( l lgg.), Lic/11u11d Leitu11g, A rc hi v für Med ie n gesc h ic ht e 2, Weima r: Unive rsitä tsve rlag We im ar 2002, S. 6 1- 7 1. 11 • Vgl. Kapi tel ,1.3 in d iese r Arbeit. " Vgl. Siegfr ied Zicl in sk i, Archiiologie der Medien. Zur TieJe11zeit des technische11Sel,ens u11dHöre11s, Re inb ek be i H amburg : Rowohlt 200 2, S. 46, 40 .

1 /ii11Experi111 e11/

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tant stor ies to teil," bemerken Erkki l-luhtam o und Jussi Parikka in Bezug au f die Heran gehensweise Zielinsk is. 16 Parikk a selbst hat Zielin sk is Archäologie deshalb auch zum Ausgangspunkt seiner Geology of Media gemacht , mit der er die Materia lität der techni schen Medienwelt: in einem erweiterten Kontext von geologischen, öko log ischen und kosmologischen Zusamme nh ängen begreift. 17 Die Materialit ät der Medien ist dabei oft mals ein entscheidendes Verbindun gselement, dur ch das Parikka seinen Medienbegriff an Umwelt- und Öko logied iskurse anschlu ssfä hig macht. Durch ihr e Einbindun g in verschiede ne Techn ologien überbrü cken Mat·crialien bei Parikk a nicht nur tradierte Technikevolution sgeschichten, sondern vermitteln auch zwischen techni schen Endgerä ten und der zu ihr er Herstellun g notwend igen Rohstoffgewinnung, deren ökologische Folgen die Tendenz haben, hint er den poliert en Oberflächen jener Geräte zu verschwind en. Im Anschlu ss an Donna Haraways natu rew /tures verweist Parikka deshalb mit dem Begriff medianatures auf diesen untr ennb aren Zusamm enh ang von Produkt und Material. 18

l h Erkki Huht amo/ju ssi Parik ka, .,lnt rodu clion . An Archacology of Media Archa cology ", in : Erk k i l luh ta mo/ju ssi Parikka ( 1lgg.), Media Archaeology. Approaches, Appliwtio11s, 1111d lmpli cations, 8erkeley/ l.os Angcles/ 1.o ndo n : Un iversily o f Ca liforn ia Press 201 1, S. 1- 2 1, hier S. 3. 17 Jussi Pa rik ka , A Ceology of Media , Minn eapol is/ 1.o ndon: Un ivcrsit y of Mi nn eso ta Press 20 15. 18 Vg l. Par ik ka , Ceology of Media, S. 4, 13 sow ie Jussi Parikka (l lg.), Medi1111at11r es. Th e Ma teri11/it y of /11fcm11t1 tio11"lec/1110/ogy und Electronic Waste, Londo n: Op en Hu 1nan itics Press 20 11.

I Ein lixp eri1ne11t

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Die vo rliege nd e Arb eit versteht sich a ls Ansa tz f ür e ine Ma teria lgesc hic ht e des Selens. Neben d er Ma teri alität der Medi en wird di ese Materialarch äo log ie au ch di e Me dialität des M a ter ia ls freilege n . Zwi schen d en unt e rsc hi edli che n Entd ec kun ge n, App a rat e n, Erfindun ge n und Kun tw erk en, di e im Folgend en beha nd elt we rd e n , vermitt elt nä mli ch d as ihn en gem ein sam e Material und stellt Ve rbindun ge n zwi sche n ihn en her. Di ese Freil egun g erm ög licht d a mit ein en Blick auf ein e e igene Gesc hicht e des Selens, di e bislan g dur ch a nd ere Tec hnik und Wi sse nscha ftsgesc hi cht e n ve rstellt war . Statt e in er Top -down -Selen-Fe rn sehgesc hi cht e ist di es a lso de r v e rsuch einer Bottom-up-Geschichte des Mate rials. Ent sche ide nd ist d abe i auch di e Tat sache, d ass in di eser Gesc hi cht e fast ni cht s so funktioni e rt , wie es soll. Die Licht empfindli chk e it d es Selens ste llt zwar ein e gan ze Reih e vo n ein ziga rti ge n Anw e ndun ge n in Au ss icht , ab er dere n pr a kti sc he Dur chführun g wird meist vo n un er wa rt eten und un erwün sc ht en Effekt e n des Mat erial s vereitelt. Das Le istun gss pektrum d es Materia ls sc he int etw a vo m Stö ren bis zum Nic ht -gan z-F unktioni e ren :z;u reichen . Fo rsc he r und Erfind e r we rd e n dadur ch bi s a n di e G re nz en ihr er Le idensfähi gkeit getri eb en . Das wird ersichtli ch , we nn e in Phy sike r a n fä ngt , Shakes pea re :z;u zitiere n: ,,0 swca r no t by th c m oo n , th e in co nstant moo n ," c ried JuJie l, a nd m a ny a seeke r for a n in strum e nt w hi ch co uld res po nd ro light w it h u nva ry in g sc nsi tiv it y mu st have m ade a sim ila r excJa m a tio n w ith re fere nce to lsele nium] whi ch sce m s so fitl y n a m e d af tcr t hc ce les t ia l type o f cha ngea bil it y a nd fickl eness. 19 19

Jo hn W. T. Wa lsh, ,,Prcfacc ", in : George P. Barn a rd, 7·t,e

se-

I Ein /;'xperim e11/

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Das „wec hse lh a fte" und „la uni sc he" M ateria l steht in einem d eutli ch en Ko ntr as t zu d en ho hen Er wa rtun ge n der Forsc her und Erfind er. Ein e Ma teri a lgesc hi cht e ist a lso a lles a nd ere a ls ein e Er folgsgesc hi cht e. G leich ze itig si nd es aber o ft di e Mo m ent e d er Stö run g, in d enen di e Selen gesc hi cht e neue Wendun ge n nimmt. D as w ird beso nd ers d eutli ch a n d en ,zufälli ge n' Entd eck un ge n d es Selens und se in er Licht empfindli chk e it. Di ese Entd ecku ngen we rd en im zwe ite n Kapit el un ters ucht. E inm a l in Fo rm d er Entd ec kun g d es Element s dur ch Berz eliu s im Ja hr 18 17 und einm a l a ls Entd ec kun g de r Licht empfindli chk eit dur ch Will o ughb y Smith im Ja h r 1873. In beiden Fä llen tritt d as Selen d adur ch in Ersc he inun g, d ass es stö rt. W ä hr end di e Verbindun g vo n Smith s Entd ec kun g z ur tr a n sa tla nti sc hen Te leg ra fie hä ufi g in d e n ent spr ec hend en Ko nt ex ten referiert w ird , ze ichn et di ese A rb eit zu sä tzlich ein e weni g beka nnt e Verbindun g zum Vorh aben de r Sta nd a rdi sierun g d es elektri sc h en Wid e rsta nd s nac h , w ie s ie beispielh a ft dur ch d en W isse nsc h a ftsh isto ri ker Si 1110 11 Scha ffer besc hri eben w urd e. Anhand vo n Ha ns-Jö rg Rh einb erge rs Ko n ze pt des Expe rim ent·a lsys te m s wi rd a nsc hli eß end der Z usa mm enha ng vo n M ate ria l, Stö run g und Entd eck un g erör tert. Was a ls Stö run g beg innt , wi rd im dritt en Kap itel zu m Gege n sta nd vo n Wi sse n sc haft. Forsc her se tze n sich ba ld ein ge hend mit d er Reprod uktion d er Licht empfindli ch ke it a u se i na nd er. Inwi efe rn di ese Licht empfi nd Iich ke it d abei ein „ Ph ä no m en o hn e Bed eutun g" bleibt , w ie es der W isle11iu 111Ce/1. lts Properties n11dApp!iwtio11s, Lo nd o n : C o n stab le & C o m pa n y 1930, S. vii. Das Sele n ist nach d em g riec hi sc he n Wor t für Mo nd (sele11e) be na nnt.

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/ Ei11lixperi111e11/

senschafts philo so ph lan Ha ck in g ne nnt , wird hi er zur Debatte gestellt.20 Denn obwohl man lan ge Ze it ve rgebli ch an der wisse nschaftli chen Erklärun g d er Licht empfind lich keit a rbeit et, spielen d eren techni sch e Anwendungen bereits früh eine dur chau s bede ut sa m e Roll e . Die Bernü hun gen der Selenforsc her werden d ara ufhin zum Anlass geno mm en , na ch dem Verhältnis vo n Wi sse nsc haft und Materia l zu fragen. Die Selen forschung mus s dab ei a ls e in Vorhaben erkannt werden, da s sich auf beso nd ere Weise mit ein er materia l agency des Selens befasse n mu ss . Di ese age ncy wird a nschli eße nd a nhand vo n Konzepten vo n Andrew Pickering , Tim ln go ld sow ie G illes De leuz e und Felix Guatt a ri nä her charakt eri siert. Das vierte Kapit el pr äse nti ert ein e Re ih e von Erfin dun ge n , di e sich di e Lichtempfindli chk e it de s Sele ns z u nut ze mac hen. Diese Re ihe beweg t sich ni cht teleo log isc h auf ein Ziel na mens Fernsehen zu und ma cht gerade da durch neue Nachbarschaften sichtbar. So w ird ein neuer Blick auf das Fernsehprob le m mö glich, der ze igt, warut11 Selen so wichtig für di e Ent w ick lun g des Fernsehens war und warum es trot zde m mit Selen kein Fernsehen geb en kann. Das Aussc he iden des Selens aus der Fernsehge schicht e wird hi er a nhand d es beka nnt e n Fernsehpatents de s Helmholtz -Schül ers Paul Nipkow nä he r unt ersucht. Das fünft e Kapitel behandelt Entwi ck lun gen in d er Kunst, die zeitlich etwa parall el zu d enen des vierten Ka pite ls ablaufen . Während Fern seherfind er d as Sele n zuin Materia l e in es „elek tri sc he n Sehe ns" m ac h en, folge n Künstler dem Selen in ein en Bereich jense its von m en sc h20 Jan H ack in g, Einfiilzru11 g i11die Philosoplzie rler No turwi sse11scliaft.e11,Stuttgart : Recl a m 1996 , S. 263 f.

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lieber Sinn eswahrn ehmung , der nicht ga nz Sehen und nicht ganz Hören ist. Vor allem im Umkr eis von Bauhaus und Dada besteht ein Int eresse für selenbasiert e Appa rate, mit denen op tische Reize, a lso Bilder oder Lichtfarben, und ak ustische Reize ineinander übersetzt werden kön ncn. Die Gesc hichte dieser Oplupho11elik verdeutlicht , wie am Anfang des 20. Jahrhund ert s Kunst und Technik inci na ndergreifen, besonders auf dem Feld der Selenap parat e. Absc hließe nd wird der vie lschichtige Verlauf der Selengeschichte mit seinen tran sversalen Verbindun gen zusamme ngefass t. Dab ei wird klar, da ss das Material selbst als ein Medium funktioni ert , da s in der Lage ist, über Geschichten hinw eg zu vermitt eln und damit Trennung en wie diejenige zwischen Natur und Kultur infra ge zu stellen.

2 Entdeckung Selen wi rd nicht nur e inm a l, so nd ern zweima l entd eckt. Ein erstes Ma l im Ja hr l8 I7 als chemi sc hes Elem ent , das in sehr geringem Ant eil in versc hi edene n Erze n vorkommt. Dana ch bleibt das Int eresse a m Selen lange Ze it so m a rgina l w ie se in Vorkommen. Das ä nd ert sich schla gart ig im Ja hr 1873, dem Jahr der zwe ite n Entd ec kun g. Damals stellt der Ingeni eur Wi lloughby Smith fest , da ss der Wi der stand de s Selens von der einfal lend en Lichtm enge ab h ä ngt. Beide Entd eck un ge n finden ni cht im Labor stat t , sondern in ei ner Schwefelsä ur efa brik und in der Küsten station eines tr ansa tlant ischen Teleg rafenkabe ls. In beid en Fällen kommt es zu ein er Stö run g di eser tec hni sc hen Sys teme und in beiden Fällen entd eckt man Selen a ls Ursach e die se r Störung . Wa s ist a lso der ge naue Z usamme nh a n g zw ischen tec hni sc her Störu ng und wisse n sc haf tli ch e r Entd eck un g und welc he Rolle spie lt dabei das Materia l?

2.1 Die Produktion von Schwefelsäure ,,Wa s für d en Mechan iker da s Eisen ist, ist für den C he m ike r di e Schwefe lsä ur e." 2 1 Mit di ese m Ve rg leich ver sucht Juliu s Stöck hardt, dem Leser se in er Schul e der Che2 1 Julius Ado lph Stöck harclt, Die Schul e der Chemi e. Oder li rster Unterricht in der Che111i e, versinn lichl durch einfa che L'xperi111 ent e. Z u111Sc/11il gebm1.1c/1und z ur Selbstbelehrnn g, i11sbcso11dere

2. 1 Die Produktion 11011 Sch wefelsäure

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rnie di e Wi chtigkeit d er Schwefelsäure zu verdeutlichen. N icht nur di e Ma sc hin en, sondern auch sein e Werk zeuge s te llt d er Mechanik er aus Eisen her, so Stöckh a rdt weiter. Ähn lich ist es mit d er Schwefe lsäur e, di e ein erseits selbst zu v iele n chemis chen Produkt en weiterverarbe ite t w ird und a nd erer se its e in nüt zlich es Werk zeug im Labor ist. Aufgrund ihr er umfa sse nd en Verwendung - zum Beispiel in der Texti lindu stri e und in d er Meta llverarbeitung - s te ig t di e Nachfr age na ch Schw efelsä ur e während d er Indu stri alisierun g sta rk an. Da s bisherige Produkti onsverfahre n, bei dem in ein em kleinen G lasbehä lter Schwefel und Salpete r verbra nn t und di e entst ehend en Dä mpf e d ann auf Wasser ge leitet werd en, ka nn di ese n Bedarf ni cht mehr decke n . Zur Erhöhung d es Produktion svo lum en s kommen zunä chst Verfahre n zum Ein satz, bei d ene n mehr e re Glas behältni sse gleich ze itig zur Produktion verw end et werd e n. 22 Indu stri elle Ausmaß e nimmt di e Schw e felsä ur eproduktion jedo ch erst a n , a ls di e klei nen Glasgefä ße ersetzt werd e n. Statt in G läse rn läss t m a n den Pro zess nun in viel größ eren, mit sä ur eresistent em Blei a usge kleid eten Kamm ern ab la ufen , wodur ch d as Pro duktion svo lum en st a rk erhöht werd en ka nn. Die ses in d e r Mitt e des 18. Ja hrhund ert s aufkommend e Bleikam merverfahren marki e rt für heutig e Autor _ inn en o ft de n Beg inn de r che mi sc hen l ndu stri e. 23

für n11gehende Apoth eker, Landw irt/1e, Gewerbetrei/;enrle, Braun schweig: Vieweg 1852, S. 16 1. 22 Thoma s Richarclso n/ Hen ry Watt s, Che111i cnl Tech110/ogy. Or Chemi stry in its Applicnt ions to the Ar ts n11dMn1111(ac tures, Bel. 1, Pa rt 111:Acids, Alka lics, ancl Salts, London: H. ßa illicre 1863, S. 45. 23 Vgl. Fred Aftalion , A /-/istory nf thc /11/ ernntional Che111i -

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2 /i,1/deck ung

Zwe i Faktor en führ en zu ein em ern eut e n sta rke n A nstieg d er Nac hfr age nac h Sch we felsä ur e zu Beg inn d es 19. Ja hrhu nd e rt s. Ein e rse its ve rz e ichn e t di e Tex tilin du stri e im späten 18. Ja hrhund er t ein ext rem es W ac h stum und hat des ha lb imm er g rö ßeren Bed a rf an Schwefelsäur e, di e so wohl zur Pro dukti o n vo n Farb stoffe n a ls auch zum Bleichen vo n Sto ffen gebr aucht wi rd .24 And ererse its w ird Schw efelsä ur e a ls Roh sto ff für da s a m End e d es l8. Ja hrhund ert s aufk o mm end e Lebl a nc-Ve r fa hr en zur Herstellun g vo n Sod a be nö tig t. 25 Soda w ird ebe n fa lls für di e Herstellun g vo n Farb sto ffen und d as Bleichen ve r26 we nd et sow ie für di e Herstellun g von Seifen und G lasDe r imm er weiter ste igend e Bed a rf wird vo n eu ro pawe it auft auchend en Schw efelsä ur efa brik e n ged ec kt , di e Ro h sc hwefel od er sc hw efelh a lt ige Erze in ihr en Ble ik a mm e rn um se tze n . Es dürft e a lso ein e lohn en swe rt e In ves tit io n se in , il11 Ja hr 18 16 ein e Schwefelsä ur efa bri k zu kaufe n . Um so m ehr, we nn di ese spez ielle Fabrik au fgrund e in er Zwa ngs ve rste ige run g unt e r ihr em eigentli ch en Pr e is zu h aben ist. Ä hnli ch mu ss wo hl di e Ar g um ent atio n d es Min e ra loge n Jo ha n Go ttli eb Ga hn ve rlaufe n se in , a ls di ese r ve rsuch t, se in en Freund Jö ns Jaco b Berze liu s z um ge m ein siim en Kaul di ese r Fab rik im sc hw edi sc h en G rip sh o lm t U wl /11d 11stry, Phil adelp hi a: Universily of Pcnn sylvania Press 199 1. S. 10. 2•1 Vgl. Wilhelm Strub e, Der 1-/i s torische Weg d er Chem ie, Bd. 2: \1011der illll11slrielle11Hevo/111i o11/Jis z ull'l /3cgin11des 20. j aJ,r/,11W derls, Leipzig: Dt. Ver!. fü r Gr und sto ffind ustri e 1986 , S. 134. 2 slorische Weg der Chemi e, S. 142. ' Vgl. Stru be, Der J--Ji 26 Vgl. David M. Kiefer, .,Sul phur ic Acid. Pum pin g up th e Volum e", Todny's Chem isl nl Work 10/9 (200 1), 57-58, hi er S. 58.

2. 1

Die Prod11klio1111011 Schwe/elsiiurc

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überreden. ßerzel ius hat aber stark e Bedenken. Zu diesem Zeitpunkt ist er bereits ein intern al"ional bekannt er analy tischer Chemik er und hat längst eine aka demische Laufbahn eingeschlagen. Außerdem hat er sich nach eigener Aussage schon früh er an indu striellen Unternehmungen „die Finger verbrannt". 27 Dass er dennoch einwilligt, hat mehr ere Grü nde. Er hat die Fabrik, die 1800 gegründ et wurde und damit d ie älteste Chemiefabrik Schwedens ist,28 wohl bereits 1814 besichti gt und konnte so den Zusta nd und die Probleme der verschiedenen Produkti onszweige recht gut einschät zen.29 Da mit Gahn, ihm selbst und dem Mineralogen Hans Peter Egger tz dr ei erfahr ene Wissenschaftler die Führung der Fabrik übern ehm en sollen, hofft er, auf der Basis dieses chemischen Fachwissens die Produktion wieder rentabel zu machen.30 Nicht zu unter schätzen ist außerdem die enge persönliche Bindung, die er zum viel älteren Gahn aufgebaut hat. Der 70-Jährige steckt Berzelius mit seiner „jugendl ichen Lebe ndigk eit" an;31 Berzelius bezeichnet Gahn als „the on ly one of my scientific friends with whom lhe sympathy and zeal between us never slumbered".32 17 Jöns Jacob Berzeli us, Jakob Herz elius. Selbst/1iogrnphische J\11fz eich111111 ge11,hg. von Henr ik G. Siidcrbaum , über,. von Emilic Wöh ler und Georg W. A. Kahlh aum , Leipzig: Joha nn Ambros ius Barth 1903, S. 68. 28 Jan Trofa st, ,,ßcrzcl ius' Discovery of Selenium" , C/1e111i slry /11tem11lio11a/33/5 (20 11), 16- 19, hier S. 16. 29 Vgl. Jöns Jaco b Berzcliu s, 13revviixeli11 g 111 el/a11/lerzelius ocl, j o/u111Goi/lieb Gah11(/1!04 - / 8/8), Uppsa la: Almquist & Wik sclls 1922, S. 96 f. 30 Berzelius, Selbstbiographische A11/ze ic/1111111 ge11,S. 68. 11 l:lerzclius, Selbstbiogrnphisch e Au/ z eic/1111111gc11 , S. 67. 12 Berze lius im Nac hru f auf Gahn, ~.itiert nach Ca rl C ustaf

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2 Entdeckung

Im August 1817 verbringt a lso d er neue Fabrikbesitzer Berzelius mehr a ls einen Monat in Gripsholm, urn s ich den techni schen Probl emen d er Produktion zu widmen. Eines di ese r Prob leme betrifft di e Schwefelsäureproduk tion: Wenn a ls Roh stoff di e schw efelhaltigen Pyrite aus dem schwedi schen Falun verwendet werden, setzt sich aJll Boden der Bleikammern ein unl ös liche r, roter Schl arn rn ab. Um die Verunreinigung künftig zu verhind e rn , ve_r sucht Berzelius di e Zusammensetzung de s Sch la rnins 10 Erfa hrung zu bring en. Als Hauptb es tandteil ist schnell Schwefel identifiziert , die se r produzi e rt ab er kein e rote Färbung. Auch Eisenoxid und Arsenverbindungen köfl ne n ausgeschlossen werden. 33 Beim Abbrennen d~ S Schl a mm s färbt sich di e Flamme h ellbl au und es „verbrei tet sich umh er ein so heftiger Ge ru ch nac h Me err etti c .h, das s es hinr eicht , 1/50 Gran !ca . I Milligramm, Anm . JI-fl auf di ese Art zu verd a mpf en, um ein großes Zimmer gaf'JZ mit dem Ge ru che zu erfüll en".34 Berze liu s beruft s ich d es ha lb auf die Untersu chun gen des deut sc hen Apothekers Martin Klaproth , der dem Ele ment Tellur di ese n spe:z;Jfischen Ge ru ch beim Abbrennen zuw eist. Gahn erinJ1 ef t sich spä ter, d ass er den Meerrett ichgeru ch auch schon einmal beim Röst en der Erze in Fa lun wahrgenom111en

Bernhard , Tltrcmg/1 l-'m11 cc wit/1 Berz eli11s. Live Scholnrs n11dDeCJd d Volcnnoes, Oxfo rd : Perga mo n Pre ss 1989, S. 128. 3' Jöns Jacob Berzcl ius, ,,Ein ne ues min era lisc hes Alk a li UJ'JB ei n neues Me ta ll", }01mwl f, :ir G ,emie und Phys ik 2 1 ( 18 18). 44 - 4 ' hi e r S. 46 . 14 Jö ns Jacob Be rzcl ius, ,,Chemi sc he En td eck un ge n im Min eralr eic h e, ge mac ht zu Fa hlun bei Sc hw ed e n. Se le nium e in neuei· meta lla rti ge r Körpe r, Lithion e in ne ues A lk a li, Thorina e in e ne v e Erd e", A 1111 a/e11der Physik 59 ( 18 18), 229-25 4, hi e r S. 234.

2. 1

/)ie Prod11ktion von Sc/1wefelsii11re

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ha t. 35 Da Te llur se lte n ist und no ch ni e in de n Fa lun er Erze n ge fund en w urd e, m elde t Berze liu s se in en Fu nd ba ld an e ini ge Fac h zei tsc hr iften. 36 Versuche, d as Te llur a us d em Sc hl a mm zu ex tr a hi eren, sc hl age n jedo ch feh 1.37 A ls Berzelius di e Expe rim ent e eini ge Ze it spä ter w ied er a ufnimmt , ka nn e r abe rm a ls ke in Tellu r find en. Bei Versuc hen mit rei ne m Tellur stellt sich hera us, da ss sich dort nur mit ganz a nd e ren M eth ode n d er Ge ru ch vo n Meerrettic h prod u ziere n läss t. 38 Das läss t ße rzeliu s zu d e m Schlu ss komm en, da ss sich i 111 Sch la111111ein gä nz1ich neues Elem ent ve rstec kt. Fo lg !ich stellt er cleta i 11iert e Ana lyse n d er E ige n sc hafte n d es neuen Stoffs a n und sc hi ck t se in e Beric ht e an m ehr ere Fachze itsc hrift en . Den Na m en d es neue n Elem ent s wä hlt ßerze liu s a ufg run d se iner irr e führ e nd en Ä hnli chk eit mit d em Tellur. Das Tel lur ist n ac h d e m la teini sc hen Wort für Erde, tellus, bena nnt. Das Schwe ster elem ent so ll d es ha lb n ac h dem g riec hi sc he n Wo rt für Mond (selene) be nannt werde n : Selenium. 39 So findet ßerze liu s a lso da s Selen . Ges ucht hat er es aber e ige nt lich erst i 111letzten Moment. Davor hat es sich a nge nä he rt , oh n e da ss ßerze liu s d avo n wusste. Es sc hlumm ert in d en Erzmi nen von Fa lun , wo es d em ni cht s ahnenden Jo h a n Go ttl ieb Ga hn berei ts in di e Na se steig t. Dann 3 s ßcrzeliu s, .,Ein neue s min era lisches Alkali u nd ein neues Metall", S. 46. J