Seelische Wirklichkeiten in virtuellen Welten 9783666450211, 9783525450215, 9783647450216

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Seelische Wirklichkeiten in virtuellen Welten
 9783666450211, 9783525450215, 9783647450216

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V

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Beiträge zur Individualpsychologie

Band 40: Pit Wahl / Ulrike Lehmkuhl (Hg.) Seelische Wirklichkeiten in virtuellen Welten

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Pit Wahl / Ulrike Lehmkuhl (Hg.)

Seelische Wirklichkeiten in virtuellen Welten

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Mit 10 Abbildungen und 2 Tabellen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ­http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-647-45021-6 Umschlagabbildung: © phloxii/shutterstock © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen /  Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Druck und Bindung: e Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Reinhard Plassmann Von der Bindungsstörung bis zum Bildschirmtrauma. Wie Kinder sich in virtuellen Welten verändern . . . . . . . . . . . . 15 Gerd Lehmkuhl, Dirk Alfer, Christiane Kürschner und Jan Frölich Virtuelle Welten und psychische Entwicklung . . . . . . . . . . . . . 34 Gisela Gandras »Second life«: Wie im Internet eine neue Kreation der eigenen Existenz gelingen soll . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 Andrea Heyder Kein geschützter Raum – nirgends? Abstinenz in Zeiten globaler Vernetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 Annegret Garschagen Blockst du noch oder likest du schon? Adler und Facebook – eine Reise in die Welt der sozialen Netzwerke und die Konsequenzen für (psychosoziale) Beratungsangebote . . . . . . . 103 Damaris Sander »Ein Zimmer für mich allein«: Die Arbeit am seelischen Innenraum in einer psychoanalytischen Behandlung . . . . . . . . 125 Gitta Binder-Klinsing Kinderkriegen heute: Von der Virtualität zur Machbarkeit? . . . 151

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6Inhalt

Manfred Gehringer Liebe in den Zeiten der unendlichen Freiheit . . . . . . . . . . . . . . 181 Rasa Bieliauskaite, Petra Neu und Anna Peter Können wir nah und entfernt zugleich sein? Erfahrungen mit einem litauisch-deutschen Skype-Supervisionsprojekt . . . . . . . . . . . . 196 Rasa Bieliauskaite, Petra Neu and Anna Peter Can we be close and distant at the same time? Skype-supervision: Experiences of a Lithuanian-German project . . . . . . . . . . . . . . 211 Barbara Jaeger und Carola Furck Neue Medien und Psychoanalyse – Fluch und Chance . . . . . . . 225 Gerd Lehmkuhl und Holger Kirsch Brauchen die Alfred-Adler-Institute Forschung für ihre zukünftige Entwicklung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Jürgen Hardt Psychotherapie unter Herrschaft des Man – Subjekt und Beziehung in der Internettherapie . . . . . . . . . . . . . 253 Anna Kirschnek und Sandra Vates Erleben von Jugendlichen, Eltern und Lehrern in und mit medialen Welten. Ein Projekt der Q12 des Nymphenburger Gymnasiums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 Anna Zeller-Breitling »Wenn das Handy zweimal klingelt« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304

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Vorwort

»Seelische Wirklichkeiten in virtuellen Welten« – mit diesem Tagungsthema der Jahrestagung 2013 der DGIP in München wird der Rahmen aufgespannt für viele Fragen, die sich nicht nur generell im Zeitalter postmoderner, virtuell vernetzter Gesellschaften stellen, sondern denen auch in den Bereichen von Psychotherapie und Beratung ein möglicherweise ganz neuer Stellenwert zukommt. So stehen sich in den einschlägigen Kontexten mit den Digital Natives und den Digital Immigrants zwei Generationen gegenüber, die angesichts des unübersehbaren virtuellen Raums mit ganz neuen Kommunikations- und VerständigungsHerausforderungen umgehen müssen. Zwar stand bereits im Jahr 2007 beim damaligen DGIP-Tagungsthema »Der phantastische Raum – Phantasie, Realität, Kreativität« der Stellenwert imaginativer Welten im Fokus, aber seinerzeit ging es vor allem darum, das Spannungsfeld zwischen Vorstellungen und Wirklichkeit, zwischen der Dynamik und der Gestaltungskraft von Wünschen, Hoffnungen, Fiktionen und Zielen, zwischen Möglichkeits- und Wirklichkeitsräumen auszuloten. Sechs Jahre später wird nun spezifischer gefragt: In welcher Beziehung stehen seelische Wirklichkeiten und virtuelle Welten zueinander? Wie bildet sich die eine Dimension in der anderen ab? Wie lassen sich real existierende Wirklichkeitsräume und Vorstellungs- bzw. Möglichkeitsräume aufeinander beziehen, wie beeinflussen sie sich wechselseitig und welche Auswirkungen haben sie auf die menschliche Psyche? Der Tagungstitel »Seelische Wirklichkeiten in virtuellen Welten« verwendet die Begriffe Wirklichkeit und Welt gleichermaßen im Plural. Es war eine bewusste Entscheidung, das Tagungsthema so zu formulieren, denn: Wenn wir uns mit der Welt der neuen Medien und mit einer bis dato unvorstellbaren virtuellen Vernetzung beschäftigen, haben wir es mit äußerst vielfältigen und vielgestaltigen Phänomenen

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8Vorwort

zu tun. Elektronische Medien bestimmen inzwischen unseren Alltag, das eigene Befinden und unsere Beziehungen zu anderen Menschen werden durch sie verändert und teilweise neu strukturiert. Dabei zeigt ein Blick in die Vergangenheit, dass neue Formen der Kommunikation und des (auch öffentlichen) Austausches bedeutsame Veränderungen erfahren haben. Schon die Erfindung des Buchdrucks – und somit die Möglichkeit, Informationen massenhaft und vergleichsweise schnell zu verbreiten – hatte seit der Mitte des 15. Jahrhunderts großen Einfluss auf das Leben der Menschen und ihre Art, sich miteinander zu verständigen. Auch andere Neuerungen, die im Zuge der Industrialisierung und im Rahmen der nachfolgenden naturwissenschaftlichen und technischen Weiterentwicklung an Bedeutung gewannen (Güterproduktion, Fortbewegungsmittel), veränderten das menschliche Leben und Erleben. Schließlich prägte auch die Perfektionierung der Kommunikationsmittel (z. B. Telegraphie und Telefonie) das Lebensgefühl zumindest derjenigen, die sich ihrer bedienen konnten. Aber erst die »Karriere« der elektronisch basierten Austauschmöglichkeiten hat in kürzester Zeit und massenhaft das Verhältnis der heute Lebenden zu sich selbst und ihren Mitmenschen nachhaltig geprägt. Neue Produkte und Technologien – zum Beispiel drahtlose Telefone oder leichte, transportable und internetfähige Computer – machen es aktuell möglich, sich ohne größeren Aufwand per SMS, E-Mail oder Skype fast ohne Zeitverzögerung nahezu weltweit jederzeit mit anderen in Verbindung zu setzen und auszutauschen. Diese Veränderungen haben zu einer enormen Beschleunigung des menschlichen Lebens (und Erlebens?) geführt. Mit diesem Wandel ist außerdem die Möglichkeit – und oft auch die Notwendigkeit – gegeben, eine mitunter unüberschaubar erscheinende Menge an Informationen (schnell) aufzunehmen und zu verarbeiten. Diese Situation ist der Ausgangspunkt für viele der Fragestellungen, die in den folgenden Beiträgen der Jahrestagung der DGIP 2013 aus ganz unterschiedlichen Perspektiven und Erfahrungskontexten heraus hier diskutiert werden. Die Schriftfassungen der Vorträge werden in diesem Band in leicht modifizierter Form in der Reihenfolge abgedruckt, in der sie in München gehalten wurden. Im Folgenden sind sie rückblickend unter thematischen Gesichtspunkten neu geordnet und skizziert.

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Vorwort9

Der Psychologe und Psychotherapeut Jürgen Hardt – selbst kein »Adlerianer«, aber Mitglied der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung (DPV) und Gründungspräsident der Psychotherapeutenkammer Hessen – reflektiert und ordnet in seinem Beitrag »Psychotherapie unter Herrschaft des Man – Subjekt und Beziehung in der Internettherapie« die oben skizzierte Entwicklung in den Kontext eines kultur-, philosophie- und psychotherapiegeschichtlichen Zusammenhangs ein. Er verweist darauf, dass für psychoanalytische Therapeutinnen und Therapeuten die Virtualität immer schon ein zentrales Thema war, im Sinne der Bedeutung von Phantasien, Träumen als Schöpfung einer virtuellen Welt, Archetypen, Fiktionen, verdrängten Inhalten des Unbewussten. Dabei fragt er, ob sich seelische Wirklichkeit, Persönlichkeit, Persönlichkeitsstruktur, seelische Gesundheit oder Krankheit (hauptsächlich) über Vorstellungen und Phantasien bilden oder vor allem über reale Erfahrungen. Grundsätzlich beschreibt er, wie schon im Wechsel von der mündlichen (d. h. der personengebundenen) zur schriftlichen Überlieferung ein Verlust entsteht, der darin besteht, dass der schriftliche Text zu einem toten Text wird, weil er auf Nachfragen nicht unmittelbar reagieren kann. Auch Andrea Heyder reflektiert in ihrem Beitrag »Kein geschützter Raum – nirgends? Abstinenz in Zeiten globaler Vernetzung« einige grundlegende Fragen therapeutischer Beziehungsgestaltung »im Zeitalter der nahezu unbegrenzt erscheinenden technischen Vernetzungsmöglichkeiten«. Sie untersucht die Frage, wie Psychotherapie und Psychoanalyse eine professionelle Haltung zum Umgang mit diesen Medien im Kontext ihrer Behandlungen finden können und wie sich die veränderten Kommunikationsbedingungen auf den Prozess von Übertragung und Gegenübertragung auswirken. Ausgehend von Winnicotts Konzept des Übergangsraumes erläutert sie ihr Verständnis von intersubjektiver psychotherapeutischer/psychoanalytischer Behandlung und Abstinenz und hebt dabei die Bedeutung der leiblich-sinnlichen und räumlich-zeitlichen Realität der Behandlungswirklichkeit hervor. In diesem Zusammenhang warnt sie vor der erhöhten Gefahr von Abstinenz-Brüchen bei einem allzu pragmatischen Umgang mit den modernen Medien. Reinhard Plassmann untersucht – aus dem Blickwinkel seiner kinder- und jugendpsychiatrischen klinischen Praxis – in seinem Beitrag

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10Vorwort

»Von der Bindungsstörung bis zum Bildschirmtrauma. Wie Kinder sich in virtuellen Welten verändern« die Frage, wie sich die Verfügbarkeit von und der Zugang zu verschiedenen Medien (z. B. Fernsehen, Handys und Computern) auf Kinder und Jugendliche und ihr seelisches Befinden auswirken können. Er akzentuiert dabei vor allem mögliche negative Folgen schädlichen oder gar pathologischen Mediengebrauchs. Mit Blick auf die Bedeutung möglichst sicherer und berechenbarer zwischenmenschlicher Beziehungen, die als Grundlage für das Erleben einer sicheren Bindung an relevante Bezugspersonen und damit als wichtiger Prädiktor für seelische Gesundheit gelten können, setzt er ein von ihm beschriebenes »Bildschirmtrauma« in Beziehung zu klinischen Störungsbildern, die vor allem bei bindungsgestörten Kindern und Jugendlichen zu beobachten sind. Auch Gerd Lehmkuhl, Dirk Alfer, Christiane Kürschner und Jan Frölich beziehen empirische Daten in die Beschreibung und Bewertung der Problematik und in die Schilderung ihrer klinischen Erfahrungen mit ein, wobei sie aber auch die möglichen positiven Auswirkungen der neuen Kommunikationsmöglichkeiten in den Blick nehmen. Sie untersuchen in ihrem Beitrag »Virtuelle Welten und psychische Entwicklung« unter anderem, wie sich die für die Generation der »Digital Natives« schon ganz selbstverständliche Verfügbarkeit etwa von Smartphones, Computern und Internet auf die Identitätsentwicklung auswirkt und welchen Einfluss der Gebrauch der neuen digitalen Medien auf den Alltag und das Freizeitverhalten von Kindern und Jugendlichen hat. Welche Folgen haben die veränderten Kommunikationsformen für Freundschaften? Wie sehen die möglichen Nebenwirkungen hinsichtlich der körperlichen und seelischen Gesundheit der Heranwachsenden, ihrer kognitiven und schulischen Funktionsfähigkeit aus? Die Autoren diskutieren mögliche psychodynamische Ursachen und Zusammenhänge und die damit verbundenen Konsequenzen für die pädagogische und psychoanalytische Arbeit. Annegret Garschagen hat für ihren Beitrag die Überschrift gewählt: »Blockst du noch oder likest du schon? Adler und Facebook – eine Reise in die Welt der sozialen Netzwerke und die Konsequenzen für (psychosoziale) Beratungsangebote«. Sie untersucht vor allem die Frage, ob der in Adlers Theorie zentrale Begriff des Gemeinschaftsgefühls heute als ein eher antiquiertes, nicht mehr nützliches und in der Welt digitaler

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Vorwort11

Kommunikationssysteme überflüssiges Konzept anzusehen ist oder ob er für das Verständnis des Geschehens innerhalb sozialer Netzwerke wie etwa Facebook auch aktuell noch von Bedeutung ist. Wenngleich auch sie konzediert, dass das Internet durchaus als Medium narzisstischer Selbstdarstellung genutzt werden kann, so nennt sie doch eine ganze Reihe überzeugender Beispiele dafür, dass die elektronischen Medien sozialen Zusammenhalt durchaus fördern und festigen können. Dass verschiedene Formen digitaler Kommunikation auch gemeinschaftsdienlich sein können, zeigt sie an Beispielen aus ihrer Praxis als Social-Media-Beauftragte bei der Zentralen Studienberatung der Fachhochschule Münster. Dass bei den Jahrestagungen der DGIP gerade auch der Diskussion von Fallgeschichten eine wichtige Rolle beigemessen wird, wird durch die einfühlsame und differenziert geschilderte Kasuistik im Beitrag von Gisela Gandras dokumentiert. Es handelt sich um den Fall einer unter sozialen Phobien leidenden Patientin, der nicht von ungefähr mit »›Second life‹: Wie im Internet eine neue Kreation der eigenen Existenz gelingen soll« überschrieben ist. Die zu Beginn der Behandlung 31-jährige Frau hatte sich per E-Mail um einen Termin für ein Erstgespräch bemüht – ein im Nachhinein nachvollziehbares Verhalten, da sie seit circa zwei Jahren ihre Wohnung kaum noch verlassen hatte und stattdessen ganz überwiegend in der Welt des Internets lebte, das ihr mehr und mehr zur Realität geworden war. Herausgearbeitet werden hier die spezifischen Interaktionsmuster, die sich im Rahmen dieser Behandlung herausbildeten, die therapeutische Kommunikation – all das, was die Entwicklung und den schwierigen Rückweg der Patientin in reale Lebenszusammenhänge prägte. Einen besonderen Zugang zur Kasuistik wählt Manfred Gehringer in seinem Beitrag »Liebe in den Zeiten der unendlichen Freiheit«, in dem er die Darstellung eines Therapieverlaufes aus seiner ambulanten psychotherapeutischen Praxis – bei dem die zwanghafte Suche nach immer neuen (Sexual-)Partnern über das Internet eine relevante Rolle spielte – in Beziehung setzt zu zwei künstlerischen Narrativen: den Geschichten, die in den Filmen »E-Love« und »Der letzte schöne Herbsttag« erzählt werden. Gehringer untersucht vor allem die Frage, ob (Liebes-)Beziehungen, die über Internetkontaktbörsen zustande kommen, eine andere Qualität und Verlaufsgestalt aufweisen als solche, die aus natürlichen Begegnungszusammenhängen heraus entstehen.

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12Vorwort

Aber auch, wenn in diesem Beitrag seine Sympathien für die natürlichen und »klassischen« Formen von Paarbildungen unverkennbar sind, so werden auch Forschungsergebnisse vorgestellt, die belegen, dass die Vermutung, online angebahnte Beziehungen seien prinzipiell oberflächlicher und weniger erfüllend, empirisch nicht bestätigt ist. Beim Thema »virtuelle Welten« liegt es nahe, dass dieses Thema Kinder und Heranwachsende in besonderer Weise betrifft. Insofern ist es kein Zufall, dass eine ganze Reihe von Beiträgen aus den Arbeitsfeldern der Kinder- und Jugendpsychiatrie stammen (wie die bereits erwähnten Beiträge von Plassmann und Lehmkuhl et al.) bzw. aus dem Bereich der ambulanten analytischen Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie. Hierzu gehören die drei Falldarstellungen von Anna ZellerBreitling, die sich selbst noch in der Endphase ihrer Psychotherapieausbildung befindet und somit »altersmäßig« vergleichsweise dicht an den von ihr behandelten Fällen dran ist. Mit Verweis auf einen alten Filmtitel überschreibt sie ihren Beitrag »Wenn das Handy zweimal klingelt« und stellt zunächst zwei jugendliche Patientinnen vor, die in besonderen Krisensituationen auch außerhalb der Sitzungen via SMS oder E-Mail kommunizieren wollten. Es geht hier somit um die Frage möglicher Chancen, aber auch Risiken medial-unterstützter Psychotherapie und um die Bewertung eines therapeutischen Verhaltens, das als entgegenkommendes, aber doch vorsichtiges und abgegrenztes Handeln beschrieben wird. Der dritte Fall diskutiert mögliche Konsequenzen der Verfügbarkeit von Informationen über die psychotherapeutisch Behandelnden im Netz. Frau Zeller-Breitling schildert das Verhalten der Mutter einer Patientin, die versuchte, vermeintliche Schwachstellen der Therapeutin im Internet zu ermitteln und diskreditierend einzusetzen. Auch Barbara Jaeger und Carola Furck stellen in ihrem Beitrag »Neue Medien und Psychoanalyse – Fluch und Chance« drei Fallgeschichten vor, bei denen sich digitale Kommunikationsformen in ganz unterschiedlicher Weise als bedeutsam erwiesen. So berichten sie zum einen über zwei Therapieverläufe, bei denen aufgrund unvorhergesehener Ortswechsel die Fortführung der Behandlung durch den Einsatz der »Skype«-Technologie sichergestellt werden sollte; in einem weiteren Fall wird zum anderen die Rolle der Nutzung des Internets im Hinblick auf die Psychodynamik des Patienten und der Ausformung seiner klinischen Symptomatik und Realbeziehungen beleuchtet. Es

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Vorwort13

zeigt sich, dass die hierbei gemachten Erfahrungen ganz unterschiedlich sein können, wobei die Diskussion der Fälle unter verschiedenen psychodynamischen Gesichtspunkten wichtige neue Aspekte eröffnet. Dass die Verwendung Neuer Medien und moderner Kommunikationstechniken nicht nur in der Patient-Therapeut-Beziehung eine wichtige Rolle spielen kann, sondern in bestimmten Fällen auch im interkollegialen Verhältnis bzw. in Supervision und Intervision sinnvoll und vielversprechend zum Einsatz kommen kann, zeigt der Beitrag »Können wir nah und entfernt zugleich sein?« von Rasa Bieliauskaite, Petra Neu und Anna Peter, die ihre »Erfahrungen mit einem litauischdeutschen Skype-Supervisionsprojekt« vorstellen. Trotz anfänglicher Bedenken hat sich dieses Projekt, das zunächst aus der Not der großen geografischen Entfernung geboren war, mehr und mehr zu einem allseits akzeptierten und für alle Beteiligten bereichernden Bestandteil internationaler Zusammenarbeit entwickelt. Damaris Sander schildert in ihrem Beitrag »›Ein Zimmer für mich allein‹: Die Arbeit am seelischen Innenraum in einer psychoanalytischen Behandlung« den Verlauf einer analytischen Psychotherapie und legt dabei besonderen Wert auf die Reflexion des Übertragungs- und Gegenübertragungsgeschehens. Ihr Beitrag, den sie als ihren »Abschlussfall« im Rahmen des so genannten »Kandidatenforums« vorstellte, macht deutlich, dass jenseits des grundsätzlichen Potenzials neuer Virtualität die Bedeutung des unmittelbar gegebenen, persönlichen und geschützten therapeutischen Realraumes nicht aufgehoben werden kann. Das Tagungsthema wird im Beitrag »Kinderkriegen heute: Von der Virtualität zur Machbarkeit?« von Gitta Binder-Klinsing in einer ganz besonderen Weise beleuchtet und hinterfragt. Es geht hier um die Veränderungen seelischer Wirklichkeiten im Zusammenhang mit den gegenwärtig real gegebenen Möglichkeiten der modernen Reproduktionsmedizin und um die damit aufgeworfenen Fragen: Wie verändert sich das individuelle und gesellschaftliche Bewusstsein von Menschen, die von den vielfältigen Möglichkeiten des medizinischen Fortschrittes Gebrauch machen? Welche Auswirkungen können Maßnahmen wie Samenspenden, künstliche Befruchtung, Eizellspenden – das heißt, die heute auf vielfältige Weise mögliche Entkoppelung von Sexualität und Fortpflanzung bzw. von biologischer und sozialer Elternschaft – auf die psychischen Strukturen der Beteiligten, der Erwachsenen wie auch der

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14Vorwort

Kinder, haben? Welche Rolle spielen dabei die Informations- und die Austauschmöglichkeiten via Internet? Die paradoxen und ambivalenten Wirkungen von Machbarkeit und Anwendungsmöglichkeiten neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse auf die Psyche der beteiligten Menschen, auf ihre Intimität und ihr Liebes- und Generativitätserleben werden höchst informativ, detailreich und erkenntnisgenerierend ausgelotet. Der Beitrag von Gerd Lehmkuhl und Holger Kirsch weist eher einen indirekten Bezug zum Tagungsthema auf. Die beiden Referenten greifen unter der Überschrift: »Brauchen die Alfred-Adler-Institute Wissenschaft für ihre zukünftige Entwicklung?« einen für Ausbildungsinstitute wichtigen Fokus auf und kommen am Ende ihrer Überlegungen und Thesen in jedem Fall zu einer zustimmenden Antwort. Last but not least gab es am Ende der Jahrestagung noch ein ungewöhnliches Highlight. Waren in den zahlreichen Beiträgen zuvor die Heranwachsenden eher Objekte von Forschung und (erwachsener) Besorgnis gewesen, so wurde diese Beziehungssituation im letzten Beitrag in gewisser Weise umgedreht. Da mit dem Tagungsort der Nymphenburger Schulen in München ein Setting im schulischen Kontext bestand, war die Idee entstanden, den Schülerinnen und Schülern der Schule Raum und Zeit zur Verfügung zu stellen, um ihre Perspektive auf das Tagungsthema zu entwickeln, zu untersuchen und den Tagungsteilnehmern zu präsentieren. Unter Anleitung der Schulpsychologinnen Anna Kirschnek und Sandra Vates, die auch Psychologiekurse in der Oberstufe anbieten, wurde ein kleines, von Schülerinnen und Schülern der Klassen 11 und 12 konzipiertes Pilot-Projekt durchgeführt: »Erleben von Jugendlichen, Eltern und Lehrern in und mit medialen Welten. Ein Projekt der Q12 des Nymphenburger Gymnasiums«. (Mit-) Schüler, Lehrer und Eltern wurden befragt, die Antworten aufbereitet und bewertet und damit so manches (Vor-) Urteil im Hinblick auf den Medienkonsum von Kindern und Jugendlichen relativiert. Wir wünschen all denjenigen, die an der Tagung teilgenommen haben, mit diesem Band eine gute »Nachlese«, und denjenigen, die nicht dabei waren, aber Interesse an diesem höchst vielschichtigen und eminent zukunftsträchtigen Themenspektrum haben, viele neue und anregende Erkenntnisse. Pit Wahl und Ulrike Lehmkuhl

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Reinhard Plassmann

Von der Bindungsstörung bis zum Bildschirmtrauma1 Wie Kinder sich in virtuellen Welten verändern

Emotional development in virtual worlds Electronic screen media such as television, computers and video game consoles have to a large extent replaced the natural living human environment – and most evidently the world of children and teenagers in a measurable way. This impact is the result not only of the ubiquitous presence of screen media but also of the differing properties of the programs, which display a toxic potential that varies from case to case. It appears prudent, therefore, to classify electronic media as invasive or non-invasive according to their toxic potential. It is now possible to describe the clinical results of these cataclysmic changes in the lives of children and teenagers with a fair degree of precision even from a psychoanalytical perspective. The consequences in the form of educational and psychotherapeutic actions can be derived directly from these findings. Zusammenfassung Die elektronischen Bildschirmmedien, also Fernseher, Computer, Spielkonsolen etc. haben nachgewiesenerweise in sehr großem Umfang die natürliche, lebendige Lebenswelt ersetzt, insbesondere bei Kindern und Jugendlichen. Dies resultiert nicht nur aus der Allpräsenz von Bildschirmmedien, sondern auch aus den Eigenschaften der Programme, die ein außerordentlich unterschiedliches toxisches Potenzial aufweisen. Es erscheint deshalb sinnvoll, die Bildschirmmedien nach ihrer toxischen Potenz in invasive und nichtinvasive Medien zu differenzieren. Die klinischen Folgen dieser Umwälzung im Leben der Kinder und Jugendlichen lassen sich mittlerweile recht präzise beschreiben, auch unter psychoanalytischem Aspekt. Aus den Befunden leiten sich direkte pädagogische und psychotherapeutische Handlungskonsequenzen ab.

1 Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in: Plassmann, R. (2013). Seelische Entwicklung in virtuellen Welten. Forum der Psychoanalyse, 29, 27–41, und wird hier in leicht veränderter Form mit freundlicher Genehmigung von Springer Science + Business Media abgedruckt.

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Reinhard Plassmann

Warum über Bildschirmmedien sprechen? Warum gibt es eine zunehmende Beschäftigung mit Bildschirmmedien und mit virtuellen Objekten? Für mich persönlich gibt es einen fachlichen und einen emotionalen Grund. Der fachliche ist die Beobachtung, wie viele der jugendlichen und erwachsenen Patientinnen und Patienten, die sich bei uns zur stationären Psychotherapie anmelden, angeben, dass sie in ihrem Alltag mehr in der künstlichen Welt der Bildschirme leben als in der lebendigen Wirklichkeit. Wir sehen ferner bei den Kindern und Jugendlichen in verschiedenen Erscheinungsformen schwere Störungen im Bindungssystem und in der Selbstregulation. Jüngere Kinder wissen nicht, was Spielen ist, sie sitzen zwischen Spielzeug, das sie stereotyp, wie Automaten, hin und her bewegen, ohne dass eine kreative Spielphantasie entstünde. Die Erwartung, dass ein Erwachsener mit ihnen Verbindung aufnehmen und man sich wechselseitig zu einer gemeinsamen Spielphantasie anregen könnte, kommt schon gar nicht mehr auf. Die Kinder kennen das nicht. Wir sehen auch Kinder in emotionaler und vegetativer Dauererregung, getrieben in ihren Bewegungen und sprunghaft in ihrer Aufmerksamkeit, Kinder also mit schweren Störungen in der Emotionsregulation. Was sie nicht kennen, ist, dass Erwachsene ihren Zustand wahrnehmen, mit ihnen Kontakt aufnehmen und gemeinsam mit ihnen ein Gespräch und eine Beschäftigung finden, in der sich das Kind beruhigen kann. Solche Kinder kennen nur, dass sie alleine mit ihren Emotionen sind. Wieder andere Kinder reagieren auf bestimmte Trigger sexueller oder gewalttätiger Art mit einem Identitätswechsel. Sie bekommen dann merkwürdig dunkle Stimmen, sprechen und benehmen sich wie Figuren aus einem Horrorfilm. Anderen Kindern ist das Mentalisieren ihrer Emotionen, vor allem ihrer negativen Emotionen, etwas gänzlich Unvertrautes. Ein negativer Affekt, vielleicht von Neid, Eifersucht, Kränkung, kann weder benannt, noch durchdacht und eingeordnet, noch planvoll als seelische Energie genutzt werden, sondern muss durch Handlung auf ein äußeres Objekt gerichtet, abgeführt und ausgestoßen werden. Häufig ist das der eigene Körper im selbstverletzenden Verhalten. Der eigene Körper wird wie ein äußeres, fremdes Objekt benutzt. Nun liegt zumindest die Frage auf der Hand, wie es solchen Kindern

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Von der Bindungsstörung bis zum Bildschirmtrauma17

und Jugendlichen bekommen wird, wenn sie den größten Teil ihrer Zeit mit nichtmenschlichen Kontakten, also mit Bildschirmen verbringen, so wie es mittlerweile die Norm ist. Sind das nicht Kinder, die gerade das Gegenteil brauchen, nämlich das lebendige Gegenüber, mit dem sie eine Verbindung aufnehmen können? Meinen persönlichen Grund, mich mit der Welt der Bildschirme zu beschäftigen, will ich ebenfalls nicht verschweigen. Ich schätze den gleichsam zivilen Teil der digitalen Medien sehr, beispielsweise das unendliche Wissen, was mir das Web bereithält. Mir sind aber die industrielle Produktion von Pseudoobjekten und deren eindringendes Wesen widerwärtig. Man weiß, dass die Bildschirmmedien auf Erwachsene anders wirken als auf Kinder, es mag also der kindliche Teil meiner Person sein, der derartig aversiv reagiert, er tut das allerdings mit meiner vollen Sympathie und Zustimmung. Die Ausgangsfrage meiner Überlegungen ist also, wie das psychische System des Menschen, insbesondere das emotionale System auf die Virtualisierung der Objektwelt reagiert. Sind Bildschirme im Stande, menschliche Bindungen zu ersetzen? Die Beschäftigung mit dieser Frage ist so alt wie die Psychoanalyse. Ich erinnere an die Studie von Victor Tausk, einem Analytiker der ersten Generation, der 1919 seine Studie Beeinflussungsapparate veröffentlichte (Tausk, 1919/2008), weil die Phantasien seiner Patienten die moderne Welt auf erstaunliche Weise vorwegnahmen. Ich schlage nun folgenden Streifzug durch die Thematik vor: Wir können als Erstes den Raum betrachten, den die Bildschirmmedien im gegenwärtigen Leben der Kinder und Jugendlichen einnehmen. Es haben hier enorme Verschiebungen stattgefunden. Dann sollten wir einige Folgen davon auf die seelische Entwicklung der Kinder und Jugendlichen betrachten und uns im Schlussteil meines Beitrages schließlich einigen praktischen und realisierbaren Konsequenzen zuwenden.

Die Ausgangssituation Die digitalen, virtuellen Bildschirmmedien haben Veränderungen im Lebensalltag bewirkt, die man mit einer Völkerwanderung vergleichen

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Reinhard Plassmann

kann. Die größten Veränderungen betreffen die Kinder und Jugendlichen und gerade bei ihnen sind die Auswirkungen der Digitalisierung des eigenen Lebens am ausgeprägtesten. Die verdrängende Wirkung der digitalen Medien auf die lebendige Welt geht hauptsächlich von drei Bereichen aus: dem Fernsehen, den Computerspielen und den sozialen Onlinenetzwerken. Alle drei Bereiche sind von ihren kommerziellen Produzenten so konzipiert worden, dass sie ständigen Kontakt verlangen und bieten. Beim Fernsehen ist das noch am geringsten ausgeprägt, weil es nicht interaktiv ist. Der kindliche Zuschauer wird nicht Mitglied und Bestandteil der virtuellen Welt, er bleibt Konsument. Ganz anders bei den Computerspielen, wie World of Warcraft (WOW) oder bei den sozialen Onlinenetzwerken. WOW ist so konzipiert, dass das Spiel niemals still steht. Der Benutzer verliert den Anschluss mit jeder Stunde, in der er sich abschaltet, auch den Anschluss an seine so genannte Gilde, zu der er in der virtuellen Realität gehört. Sich aus dem Computerspiel abmelden und sei es nur, um zu schlafen, bedeutet, den Anschluss an eine zunehmend wichtiger werdende soziale Gruppe, nämlich die virtuelle Gilde, zu verlieren, weshalb gerade die Ehrgeizigen und die Tüchtigen unter den Kindern versuchen, in dieser virtuellen Realität erfolgreich zu sein, mit der Folge, dass diese Kinder aus der lebendigen Welt verschwinden (Frölich u. Lehmkuhl, 2012). Bei den sozialen Onlinenetzwerken zeigt sich dieses Konstruktionsmerkmal, Zugehörigkeit nur bei Dauerpräsenz zu bieten, ebenfalls deutlich. Von allen vernetzten Kontaktpersonen gehen permanent Informationen, Einladungen, Fragen, jedenfalls virtuelle soziale Aktivitäten aus. Das natürlichste soziale Bedürfnis der Kinder und Jugendlichen, einer Gruppe anzugehören, in sie integriert zu sein, wird durch das soziale Onlinenetzwerk von der lebendigen Welt in die virtuelle gelenkt, die Kinder glauben, wenn sie nicht auf Facebook oder einer anderen sozialen Plattform ständig präsent wären, so verlören sie den Anschluss. Das digitale Medium wirkt verdrängend auf die lebendige Welt. Ich halte es deshalb für notwendig, die digitalen Medien zu unterteilen in einen invasiven und einen nichtinvasiven Teil. Der nichtinvasive Teil ist so konzipiert, dass er sich benutzen und kontrollieren lässt, er stellt sich zur Verfügung. Wikipedia wäre ein gutes Beispiel. Eine Wikipedia-Sucht kommt praktisch nicht vor. Der invasive Teil der Medien

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Von der Bindungsstörung bis zum Bildschirmtrauma19

ist hingegen daraufhin konstruiert, den Benutzer zu kontrollieren, eine maximale Sogwirkung aufzubauen und die lebendigen Beziehungen zu verdrängen. World of Warcraft wäre hierfür ein Beispiel.

Die Medienforschung Die aktuelle Medienforschung hat ein gewaltiges Volumen, sie kann uns vor allem quantitative Daten liefern, beispielsweise über die Dauer des Medienkonsums oder über die Verbreitung von Endgeräten. Komplexe psychische Vorgänge sind mit den Mitteln der gegenwärtigen Medienforschung aber noch unzureichend messbar, beispielsweise die Entstehung mediogener Bindungsstörungen. Hier besteht wissenschaftlicher Nachholbedarf. Eine weitere Schwäche der Medienforschung liegt in der sehr auffälligen Neigung, die grauen Herren wegzulassen, um ein Gleichnis aus Michael Endes Buch »Momo« zu verwenden (Ende, 2009). Die Inhalte des Fernsehens, die Konstruktion der Online-Spiele und der digitalen Netzwerke scheinen irgendwie da zu sein ohne ein Woher. Sie haben aber ein Woher. Sie sind Produkte einer Industrie und haben einen kommerziellen Zweck zu erfüllen. Die Konstrukteure, also die Hersteller von Fernsehwerbung, Computerspielen und digitalen sozialen Netzwerken legen natürlich ihre Ziele, die sie in ihre Produkte einprogrammieren, nicht offen. Der Nutzer ist Objekt einer industriellen Aktivität, während die Medienforschung davon auszugehen scheint, dass all dies nur aus dem Spieltrieb irgendwelcher »Nerds« entstanden wäre. Hier steht dringend eine Ergänzung und Korrektur der aktuellen Medienforschung an. Sie muss die Produkte und ihre Produzenten untersuchen, nicht nur die Konsumenten.

Befunde: Die Völkerwanderung Zunächst einige quantitative Ergebnisse der neueren Medienkonsumforschung, beginnend beim Fernsehkonsum in Deutschland und den USA: Der Fernsehkonsum in Deutschland (siehe Abbildung 1) hat sich von 1970 bis 2003 über die gesamte Bevölkerung gerechnet von 110 Minu-

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ten auf etwa 220 Minuten pro Tag ungefähr verdoppelt. Erwachsene haben gegenwärtig einen durchschnittlichen täglichen Fernsehkonsum von vier Stunden. Auf meinen Alltag angewandt hieße das: die gesamte Zeit zwischen nach Hause kommen und zu Bett gehen.

300 Fernsehen (Minuten/Tag) 250 200 150 100

0

1970 1972 1974 1976 1978 1980 1982 1984 1986 1988 1990 1992 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 2008 2010

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Abbildung 1: Fernsehkonsum in Deutschland (van Eimeren u. Ridder, 2001; van Eimeren u. Frees, 2010)

Eine große Studie in den USA (Christakis, Zimmerman, DiGiuseppe u. McCarty, 2004) ergab, dass amerikanische Kinder im Alter von 1,8 Jahren durchschnittlich 2,2 Stunden täglich fernsehen, im Alter von 3,8 Jahren sind es durchschnittlich 3,6 Stunden. Die Studie ergab übrigens auch, dass die Fernsehdauer dieser kleinen Kinder in direktem Zusammenhang stand mit der späteren Entwicklung eines Aufmerksamkeits-Defizit-Syndroms. In Deutschland liegt die Fernsehdauer der kleinen Kinder noch niedriger, im Vorschulalter bei durchschnittlich siebzig Minuten pro Tag, bei den Grundschülern sind es circa 1,5 Stunden (Feierabend u. Klingler, 2004). In der Altersgruppe der 11- bis 18-Jährigen ist normaler Bildschirmkonsum unter zwei Stunden pro Tag mittlerweile die krasse Ausnahme.

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Ein amerikanischer Abiturient (Highschoolabsolvent) hat mit 18 Jahren etwa 13.000 Stunden in der Schule verbracht und 25.000 Stunden vor dem Bildschirm, also mit Fernsehprogrammen und Videofilmen. Zur Fernsehzeit addiert sich noch die an Spielekonsolen verbrachte Zeit. Amerikanische Kinder zwischen zwei und 17 Jahren verbringen durchschnittlich eine weitere Stunde pro Tag vor Spielekonsolen (Gentile, Lynch, Linder u. Walsh, 2004). Die Kinder bevorzugen eindeutig die aggressivsten Videospiele, die zu bekommen sind. Am beliebtesten sind die verbotenen Programme, 53 % der Zehn- bis Zwölfjährigen bevorzugen diese Programme, bei den 13- bis 14-Jährigen sind es noch mehr (67 %). Es wäre falsch, hier noch von Spielen zu sprechen. Das 1993 zuerst auf den Markt gekommene Spiel »Doom« wird vom amerikanischen Militär als Trainingsprogramm verwendet, um den Soldaten das Töten des Gegners beizubringen (Anderson u. Dill, 2000). Zu den Nutzungszeiten von sozialen Onlinenetzwerken ist die Studie von Pea et al. (2012) aufschlussreich. Die Forschergruppe der Stanford-University hat für diese Studie circa 3.500 junge Leserinnen des Magazins Discovery Girl zwischen acht und zwölf Jahren in allen fünfzig Staaten der USA befragt. Die Auswahl kann als repräsentativ angesehen werden. Im Durchschnitt betrug die Zeit in sozialen Onlinemedien 6,9 Stunden pro Tag. Diese extreme Abwanderung der Mädchen in den virtuellen Raum hatte starken Einfluss auf die sozialen Beziehungen, sie schrumpften auf zwei Stunden täglich. Je mehr lebendige Beziehungen noch vorhanden waren, desto erfolgreicher, normaler und integrierter fühlten sich die Mädchen. Dagegen waren für die Hälfte der befragten Mädchen mit den Online-Kontakten negative Gefühle verknüpft. Die Befunde stammen nicht aus einer extremen Randgruppe, sondern beschreiben normale amerikanische Mädchen. Spitzer (2012b) stellt fest, dass dieses Schrumpfen der lebendigen, sozialen Kontakte durch die Onlinenetzwerke nur bei Kindern zu beobachten ist, die Facebook-Freunde gingen bei ihnen auf Kosten der realen Freunde. Bei Erwachsenen hingegen geschieht die Facebook-Nutzung im Sinne einer Erweiterung dessen, was diese Menschen in sozialer Hinsicht ohnehin tun: Sie hatten Freunde und Bekannte in der realen Welt und nutzten Facebook zur Kommunikation mit ihnen.

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Seelische Entwicklung in virtuellen Welten Man könnte nun die Wirkung von Bildschirmen auf insbesondere die kindliche Psyche als eine Art Gift betrachten, analog zum Nikotin und würde dann nach den schädlichen Wirkungen dieses Giftes suchen. Ich schlage vor, die Frage anders zu stellen: Was können Bildschirme und was können sie nicht? Insbesondere: Können Bildschirme menschliche Bindungen ersetzen? Die Befunde sprechen eine eindeutige Sprache: Sie können es nicht. Bildschirme haben nicht die Fähigkeit, sichere Bindungen zu Menschen zu ersetzen, die aber die kindliche Psyche so notwendig braucht wie Essen und Trinken. Lassen Sie uns näher betrachten, woran das liegt. Unsere Aufmerksamkeit richtet sich also auf die Beziehung zwischen Konsument und Bildschirm.

Internetsucht Invasive Bildschirmmedien, wie das bereits erwähnte World of Warcraft, haben sehr extreme Suchtpotenzen. Männliche WOW-Spieler kommen im Durchschnitt auf nahezu vier Stunden tägliche Spielzeit (Rehbein u. Borchers, 2009). WOW weist den höchsten Anteil jugendlicher abhängiger Spieler und die längste Spielzeit gegenüber den anderen genutzten Spielen auf (Frölich u. Lehmkuhl, 2012). Je höher die emotionale Vorbelastung der Jugendlichen ist, desto anfälliger werden sie, dem Suchtpotenzial dieses Spiels zu verfallen. Traumatische Erfahrung von Jugendlichen durch schwere elterliche Gewalt beispielsweise erhöhten das Suchterkrankungsrisiko um das Dreifache. Internetsucht wird in der Regel ein Desaster nicht nur im Leben der Jugendlichen, sondern auch in ihren Familien auslösen. Die Jugendlichen verteidigen den Zugang zum Bildschirm verbal und körperlich hoch aggressiv. Frölich und Lehmkuhl (2012) beschreiben den Fall eines Jugendlichen, der mit psychiatrischer Zwangseinweisung vom Bildschirm getrennt werden musste. Mittlerweile wird der Begriff »Binge Viewing« verwendet, also Fernsehen bis zum Umfallen. In den USA sollen nach neueren Daten ungefähr die Hälfte der Bevölkerung in diesem Stil fernsehen (Spitzer, 2013).

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Der Zusammenhang zwischen dem Ersatz einer lebendigen Welt durch eine virtuelle und ADHS liegt auf der Hand und wird auch beforscht (Stolz u. Häntzschel, 2010; Christakis et al., 2004). Bei Computerspielern wurde eine signifikante Verringerung des Tiefschlafanteiles und eine Zunahme der oberflächlichen Schlafstadien festgestellt, eine Folge hiervon ist ein permanent erhöhter Erregungslevel am Tage (Dworak, Schierl, Bruns u. Strüder, 2007). Männliche Jugendliche mit erhöhten Werten für Computerspielabhängigkeit sind drei Mal häufiger von ADHS betroffen als normale Adoleszenten (Rehbein u. Borchers, 2009). Damit ist nicht gesagt, dass Bildschirmkonsum die einzige Ursache von ADHS wäre, aber er ist ein sehr wirksamer Verschlechterungsfaktor. Lernstörungen: Als höchster Risikofaktor für schlechte Schulleistungen gilt der Konsum von Mediengewalt, also von aggressiven Medien (Bushmann u. Bonacci, 2002; Frölich u. Lehmkuhl, 2012). Zu mediogenen Lernstörungen drückt sich Spitzer sehr eindeutig aus: »Bis zu einem Alter von zwei bis drei Jahren können Kinder von Bildschirmen und Lautsprechern nichts lernen. Säuglinge brauchen den sozialen Kontakt und eine Stimulation über alle Sinne. Weil in den Vereinigten Staaten die Kinder im Alter von durchschnittlich neun Monaten beginnen, fernzusehen und im Vorschulalter im Durchschnitt 1,5 Stunden am Tag Medien ausgesetzt sind, hat das Trommelfeuer der Werbung unter anderem zur Folge, dass ein Kind beim Eintritt in die Schule mehr als 200 Markennamen kennt. Etwa 65 % der Werbung, die an Kinder gerichtet ist, gilt Nahrungsmitteln, die wiederum zu 100 % ungesund sind. Die Folge ist eine epidemieartige Zunahme von Fettleibigkeit und sogar Altersdiabetes bei Kindern und Jugendlichen« (Spitzer, 2010, S. 8). Was nach Spitzers (2003) Einschätzung also gelernt wird, sind die manipulativen Medieninhalte, während die Schulleistungen parallel zum Ausmaß des Medienkonsums schlechter werden (siehe auch Ennemoser, 2003a, 2003b; Gentile et al., 2004; Shin, 2004; Hancox, Milne u. Poulton, 2005). In Südkorea ist seit einigen Jahren bei jungen Erwachsenen immer häufiger ein Zustand mit Gedächtnis-, Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen sowie emotionaler Verflachung und allgemeiner Abstumpfung als Folge von intensiver Nutzung digitaler Informations-

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technik aufgefallen. Die südkoreanischen Ärzte bezeichnen dies mittlerweile als digitale Demenz, ein Begriff, der an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lässt (Spitzer, 2012c). Die Hauptaufmerksamkeit möchte ich nun den weniger beachteten, weil komplexeren mediogenen Störungen zuwenden, den Vorgängen im Bindungssystem und in der Emotionsregulation.

Der Verlust der psychosexuellen Latenzzeit Die französische Psychoanalytikerin Florence Guignard (2011) beschreibt, dass Kinder-Analytiker übereinstimmend beobachten, wie die psychosexuelle Latenzzeit in der heutigen Gesellschaft rapide verschwindet. Diese Latenzzeit ist, wie wir wissen, keineswegs eine Episode des seelischen Stillstandes, sondern eine Zeit intensiver seelischer Reifungsschritte. Nach den Turbulenzen der ödipalen Phase können Kinder unter den Bedingungen eines gewissen Reizschutzes in Bezug auf sexuelle Stimuli die Überwindung des Ödipuskomplexes leisten und verinnerlichen. Sie lernen den Generationsunterschied, den Geschlechtsunterschied, das Inzesttabu. Dies hat sich radikal dadurch geändert, dass die Kinder in der virtuellen Realität beliebigen Zugang zu sexuellen Stimuli aller Art haben. Es gibt keinerlei funktionierende Zugangsbeschränkung zu pornografischen, sodomistischen, perversen sexuellen Darstellungen. In einer Studie gab ein Sechstel der Kinder ab acht Jahren an, dass bei ihnen im Internet durch Gewalt- oder Pornografiedarstellungen massive Ängste ausgelöst worden seien (mpfs, 2008). Was bislang an Sexuellem weit weg, in kleinbürgerlicher Prüderie zweifellos viel zu weit weg war, ist nun zu nah, zweifellos viel zu nah. Florence Guignard schreibt: »Es gibt kein Abkühlen mehr von triebbezogenen Manifestationen bei Kindern im Alter zwischen sechs und zwölf Jahren – anstatt dass sie ihre Sexualtriebe auf sublimierte Aktivitäten umlenken, sind sie ebenso erregbar, [sic] wie Drei- bis Fünfjährige in ihrer ödipalen Phase – und gleichzeitig imitieren sie, wann immer möglich, die Haltung und das Sexualleben von pubertierenden Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen« (Guignard, 2011, S. 76). Wir können also damit rechnen, dass durch die Virtualisierung des Lebens und die damit verbundene Überstimulierung die infantile Sexua-

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lität der Kinder erhalten bleibt und die erwachsene Sexualität nicht in einem inneren Entwicklungsprozess erworben, sondern eher imitiert wird. In der Klinik beobachten wir bei den präpubertären Mädchen eine Erotisierung der Kinderkleidung. Die Kinder tragen solche Kleidungsstücke, mit denen eine erwachsene Frau, wenn sie es möchte, ihre körperliche Attraktivität unterstreichen kann. Die Kinder kaufen sich diese Kleidung aber natürlich nicht selbst, sondern werden von Müttern und Vätern damit ausgestattet. Diese Erotisierung der Kindheit lässt sich auch in manchen Mangas, extrem verbreiteten, ursprünglich aus Japan stammenden Comics für Kinder und Jugendliche, beobachten. Verhalten, Aussehen und Erlebnisse der kindlichen Gestalten sind extrem sexualisiert.

Die Virtualisierung der Persönlichkeit Die Entwicklung einer Identität beruht, wie uns die Kinderanalyse, die Neurobiologie und die eigene Erfahrung lehren, darauf, dass wir lebendige Erfahrungen in einer lebendigen Welt mit unserem Körper, unseren Emotionen und unserem Bewusstsein machen (Fonagy, Gergely, Jurist u. Target, 2002). Real ist für Kinder das, was im Umgang mit lebendigen Objekten gespürt, gefühlt und gedacht wird. Erlebnisse mit virtuellen Objekten behalten hingegen einen virtuellen Charakter, der Erlebnisschatz der eigenen Person wird virtuell. Es macht einen Unterschied, ob ein Kind mit dem eigenen Körper und den eigenen Sinnen die Welt erfährt oder Trickfilmfiguren dabei zuschaut, wie sie die Welt erfahren. Die psychischen Repräsentanzen werden zu Pseudorepräsentanzen von Pseudoobjekten, die lebendigen Repräsentanzen werden durch ein Universum virtueller, überwiegend visueller Bilder ersetzt (Guignard, 2011). Diese Virtualisierung der eigenen Person hinterlässt ein schales Leeregefühl, eine Sehnsucht nach Erlebnissen, die sich lebendig anfühlen, und fördert die Bereitschaft, insbesondere bei Jugendlichen, sich mit lebensgefährlichen Risiken solche Stimuli zu verschaffen. »If life gets boring, risk it.«

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Die Bindungsstörungen durch virtuelle Objekte Das Herstellen von sicherer Bindung ist ein lebensnotwendiger Vorgang, der deshalb auch biologisch in vielfältiger Weise gebahnt wird. Wendet sich ein Kind – dem heutigen Trend folgend – sehr früh und sehr intensiv virtuellen Objekten zu, so wird das typische Folgen für das Bindungssystem und damit für die Persönlichkeitsentwicklung haben. Wesentliche Aufgabe sicherer Bindung ist, einen entwicklungsförderlichen Rahmen zu schaffen, in dem das Kind die Möglichkeit hat zu mentalisieren, also in wechselseitiger emotionaler Regulation seine Körperrepräsentanzen und seine Gefühle zu entwickeln und zu verstehen, sie in seine Persönlichkeit zu integrieren und sich, wenn es an der Zeit ist, als autonome, im Hinblick auf Selbstregulation und Verstehen kompetente Person von den Eltern abzulösen, diese Fähigkeiten für sich selbst zu nutzen und sie der nächsten Generation, also den eigenen Kindern, Schülern oder Patienten weiterzugeben (vgl. Bowlby, 1969, 1984; Fonagy et al., 2002). Für Kinder mit virtuellen Pseudobindungen entsteht eine ganz andere Welt: –– Die Bindungen sind nicht stabil, sondern flüchtig und auswechselbar, so wie es eben dem Charakter der elektronisch produzierten Kunstobjekte und virtuellen Identitäten entspricht. –– Die Fähigkeit zur Regulation von Emotionen entwickelt sich nicht normal. Emotionsregulation kann nur mit dem lebendigen Gegenüber erworben werden, nicht von Bildschirmen. Es braucht das lebendige Gegenüber, damit die emotionalen Mikroszenen entstehen, in denen Emotionen wahrgenommen, mitgeteilt, transformiert und reguliert werden. Bildschirme können das grundsätzlich nicht. Ein sicher gebundenes, zur Emotionsregulation befähigtes Kind kann das eine Zeit lang auch vor dem Bildschirm, entwickelt seine Fähigkeiten zur Emotionsregulation dabei aber nicht weiter, sondern zehrt vom Vorhandenen. –– Die Folgen gestörter Fähigkeit zur Emotionsregulation können wir bei ADHS-Kindern gut beobachten. Bei Triggerung belastender Emotionen reagieren sie mit einem meist unsichtbaren vegetativen Erregungssturm. Der normale Herzrhythmus verändert sich, die Herzschlagvariabilität geht stark zurück. Der Außenstehende

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bemerkt diese vegetative Erregung allerdings so wenig wie das Kind selbst. Was tut das Kind, das mit seiner Erregung, die es selbst nicht versteht, allein ist? Was als Aufmerksamkeitsdefizit beschrieben wird, ist ein Reparaturvorgang: ständiges Springen von Bild zu Bild, um unangenehme Emotionen zu verringern, wie Zappen auf der TV-Fernbedienung. Die Kinder lernen vor dem Bildschirm hauptsächlich eine bestimmte Form pathologischer Emotionsregulation: den ADHS-Modus. –– Die mediogene Bindungsstörung enthält auch das Element der Sprachverarmung, sie bewirkt eine Mentalisierungsstörung. Die Kinder haben nicht die Zeit und nicht die natürliche Bindung, Sprache zu entwickeln. Sie können nicht benennen, was emotional vor sich geht, damit nicht den mentalen Abstand herstellen, sie können kein Narrativ ihrer Erfahrung, ihrer selbst und ihrer Welt entwickeln. Der Mentalisierungsprozess ist aber unverzichtbar für die Persönlichkeitsentwicklung. –– Die virtuellen Objekte der Bildschirme sind körperlos und sie machen körperlos, weil das Kind seine eigenen Erlebnisse nicht in seine Körperlichkeit integriert. Bis auf die vegetativen Erregungsstürme reagiert der Körper nicht, der Körper hilft nicht bei der Wahrnehmung von Erfahrung und bei der Ordnung von Erfahrung, der eigene Körper wird für das Kind eine eher fremde, dadurch unheimliche und bedrohliche Welt. –– In der Klinik beobachten wir häufig, dass Mütter sich nicht ihren Kindern, sondern ihren Bildschirmen zuwenden. Das kleine Kind ist im Kinderwagen festgeschnallt und wird von einer Mutter geschoben, die in ihr Smartphone Kurzbotschaften eintippt. Die normale, für das Kind notwendige Kommunikation zwischen Mutter und Kind findet nicht statt. Diese Kinder werden nicht durch eigenen Medienkonsum geschädigt, sondern durch den ihrer Mütter bzw. Eltern. Man könnte das als transgenerationale oder sekundäre mediogene Bindungsstörung bezeichnen.

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Bildschirmtraumatisierung Der nächst höhere Schweregrad von Bildschirmschäden sind Bildschirmtraumata. Dass die Inhalte der digitalen Medien zum Beispiel im Fernsehen einen sehr hohen Anteil an Themen haben, die mit überstarker, negativer Emotion verbunden sind, ist evident. Dieses negative emotionale Material braucht eigentlich intensive Verarbeitungsvorgänge, die aber im Fernsehprogramm nicht enthalten sind. Die Verarbeitung, also die Mentalisierung dieser, mit Bion gesprochen, Beta-Elemente, findet nicht statt (Bion, 1997). Das negative emotionale Material aus digitalen Medien bleibt in der Psyche des Konsumenten weitgehend so unverarbeitet, wie es aufgenommen wurde. Die Psyche des Konsumenten nimmt das desintegrierte negative emotionale Material unbearbeitet in sich auf und behandelt es, wie wenn es etwas Eigenes wäre, obwohl es doch etwas Fremdes ist. Wahrscheinlich kann dieser Vorgang als projektive Identifizierung beschrieben werden. Ich vermute, dass infolgedessen insbesondere im jugendlichen Bildschirmkonsumenten psychische Veränderungen vorgehen, die man als komplexe Traumatisierung auffassen kann. Toxische Inhalte der invasiven digitalen Medien drücken unverarbeitetes negatives Erlebnismaterial durch die Persönlichkeitsgrenzen hindurch in die Psyche des Konsumenten hinein. Dort leben diese psychischen Fremdkörper weiter wie emotionale Implantate. Deren Verarbeitung kann nicht mehr auf normalem Wege durch Integration geschehen, so wie mit eigenem, der eigenen Person entstammendem psychischen Material. Diese in die Psyche gelangten Fremdkörper bedürften eines sehr viel aufwändigeren Vorgangs, um entschärft zu werden. Sie müssten als Fremdkörper erkannt werden. Der psychische Fremdkörper müsste gleichsam isoliert und den Sendern zurückgegeben, ihnen zugeordnet und in deren Bild integriert werden, nicht in die eigene Person. All das findet nicht statt, sondern das Bild und der Affekt beispielsweise einer widerwärtigen sadistischen Szene lebt im Konsumenten als psychischer Fremdkörper weiter.

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Die Konsequenzen Wie heilen diese Bildschirmschäden, wie werden sie verhindert? Es gibt pädagogische und therapeutische Schritte, die notwendig und leicht umzusetzen sind. Wir brauchen nicht zu warten, bis die Politik mit großen Maßnahmen reagiert und eingreift, was ohnehin noch dauern wird (Spitzer, 2012a). Pädagogische Maßnahmen sind: Die lebendige Welt braucht Schutz vor dem toxischen, invasiven Teil der virtuellen Medien. Die lebendige Welt braucht deshalb medienfreie Zonen. Das bedeutet aber: –– kein Fernsehgerät im Kinderzimmer, –– einen fernsehfreien Familienabend, –– das Abschalten des WLAN-Routers ab 22 Uhr, –– dass große onlinefähige Endgeräte, wie Notebook oder iPad erst verschenkt werden, nachdem sich gezeigt hat, dass das Kind nicht zur Suchtentwicklung in Bezug auf Online-Spiele und soziale Onlinenetzwerke neigt, –– dass von pädagogischer Seite Richtwerte für Mediennutzungszeiten altersabhängig formuliert werden müssen und dass diese Richtwerte weit unterhalb dessen liegen müssen, was derzeit schon als normal gilt und praktiziert wird. Auch für die Klinik, die ich leite, gibt es praktische Konsequenzen. Die Patientenzimmer haben keinen Fernseher, es gibt nur einen wenig benutzten Fernsehraum für alle Patienten, kein leicht zugängliches Internet. Im Kinderzentrum gibt es keine Unterhaltungselektronik, aber viele Spielecken, Lesesessel und einen großen Garten mit Wiese, Büschen, Höhlen. Das Erstaunliche: Niemand vermisst etwas. Wer zu Hause gewohnt war, jugendlich oder erwachsen, täglich einige Stunden vor dem Bildschirm zu verbringen, füllt nach wenigen Tagen seine Zeit mit anderen Dingen.

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Konsequenzen für die Psychotherapie Die klassische psychosomatische und biografische Anamnese sollte heutzutage um eine Medienanamnese erweitert werden: –– An wie viel Stunden pro Tag und pro Woche werden Bildschirmmedien benutzt? –– Wie ist die Verteilung auf Fernsehen, Internet, Spielekonsolen und Onlinenetzwerke? –– Zu welchen Tageszeiten wird konsumiert? –– Gibt es eine Tendenz zur Konsumsteigerung? –– Gibt es soziale Schäden in Bezug auf Familie, Schule, Freundeskreis, körperlichen Zustand? Im Gespräch mit den Patienten wird man auf Veränderungen der Persönlichkeit achten, insbesondere auf: –– Störungen der Emotionsverarbeitung mit einer Tendenz zum hohen Erregungsniveau, welches mit weiterer Stimulation bekämpft wird; –– gering ausgeprägte Mentalisierungsvorgänge von Emotionen, stattdessen eine Tendenz zu impulsiven Handlungen; –– eine wenig differenzierte Sprache für emotionale und soziale Vorgänge. In der medizinischen Dimension interessieren: –– die Folgen von chronischem Schlafmangel, –– von Bewegungsmangel und –– von Fast-Food-Ernährung. Aus den in der Medienanamnese erhobenen Befunden über Medienschäden, können direkt therapeutische Konsequenzen abgeleitet werden: –– Bei allen Formen von Intoxikation der sozialen und psychischen Welt durch Bildschirmmedien ist für Abstinenz zu sorgen. –– Es ist für genug Schlaf zu sorgen. Dieser Faktor wird stark unterschätzt (Spitzer, 2012; Heins et al., 2007). Wesentliche Teile der Erlebnisverarbeitung finden im Schlaf statt. –– Die lebendige Welt ist zu stärken, es ist also für reichlich normale menschliche Kontakte zu sorgen.

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–– Bei Bildschirmtraumatisierung gilt es, mit geeigneten traumatherapeutischen Strategien Traumaschemata aufzulösen.

Schlussbemerkung Bei allen diesen pädagogischen, politischen und psychotherapeutischen Schritten wird uns eines helfen: Kinder und Jugendliche wollen nicht krank sein, nicht gestört, sondern normal und lebendig. Sie saugen das Normale auf wie trockener Boden das Wasser, sie holen nach, sie holen auf, in enormem Tempo. Kinder brauchen meist nicht das Besondere, Spezielle an Therapie, sie brauchen das Normale: Sprechen, Hören, Ordnen, gemeinsame Freude an Entwicklung.

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Gerd Lehmkuhl, Dirk Alfer, Christiane Kürschner und Jan Frölich

Virtuelle Welten und psychische Entwicklung

Virtual worlds and mental development The new digital media – smartphones, computers, the internet – have become a major part of daily life and free time both in children and adolescents. The impact of this form of media consumption on the Digital Natives is a subject of lively discussions: Will there be consequences for the development of personal identity? Will communication, friendship and social networks change? Will there be adverse effects on physical and mental health, cognitive function and school performance? The results of an empirical study with 1.087 adolescents concerning their media consumption and the impact on free time, school and health prove the need of a specific therapeutic method. Possible psychodynamic causes and linked conclusions are being discussed for the analytic approach. Zusammenfassung Die neuen digitalen Medien – Smartphones, Computer, Internet – bestimmen von klein auf in hohem Ausmaß den Alltag und das Freizeitverhalten von Kindern und Jugendlichen. Die Auswirkungen des Medienkonsums auf die Generation der »Digital Natives« wird kontrovers diskutiert: Welche Folgen für die Identitätsentwicklung und -gestaltung ergeben sich? Wie verändern sich Kommunikation, Freundschaften und soziale Netze? Und wie sehen die Nebenwirkungen auf körperliche und seelische Gesundheit, kognitive und schulische Funktionsfähigkeit aus? Die Ergebnisse einer empirischen Untersuchung an 1.087 Jugendlichen über ihren Medienkonsum mit seinen Auswirkungen auf Freizeit, Schule und Gesundheit belegen die Notwendigkeit eines spezifischen therapeutischen Vorgehens. Mögliche psychodynamische Ursachen und damit verbundene Konsequenzen für die analytische Arbeit werden diskutiert.

Über die Auswirkungen von Medien auf Verhalten, Leistung und Gesundheit Das Thema »Virtuelle Welten« ist nicht neu. Die damit verbundenen Fragen sind beunruhigend und schüren gesellschaftliche Ängste und Unsicherheiten. Denn es lässt sich nicht leugnen: Der Einzug der neuen

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Virtuelle Welten und psychische Entwicklung35

Medien hat unser Leben, unseren Alltag, unsere Entwicklung nachhaltig verändert. Und dies beunruhigt die ältere Generation bedeutend stärker als die jüngere, so dass in den berechtigten warnenden Stimmen auch manchmal die Angst verborgen scheint, abgehängt zu werden und mit der neuen Technik nicht Schritt halten zu können. Bereits 1983 beklagte Neil Postman »Das Verschwinden der Kindheit« und 1987 stellte Sabine Jörg in ihrem Buch »Per Knopfdruck durch die Kindheit« fest, dass die Technik unsere Kinder betrüge, denn sie »sind damit beschäftigt, die Bedienung von Geräten zu meistern. Aber der Mensch, der Knöpfe drückt, setzt nur Vorhandenes in Gang. Kinder brauchen mehr als den Zauber des Knopfdrucks. Sie brauchen das Gefühl, die Welt mitgestalten zu können« (S. 9). So sympathisch und nachvollziehbar diese Haltung auch sein mag, sie scheint nicht mehr in die heutige Zeit mit ihren Tablets und Smartphones zu passen. Trotz aller Warnungen konnte der mediale Siegeszug nicht aufgehalten werden. Die Informationsgesellschaft entwickelt sich rasant weiter, beherrscht zunehmend unseren Alltag, so dass sie aus Kommunikation, Freizeitaktivitäten und Informationsgewinnung nicht mehr wegzudenken ist.

Wie häufig werden welche Medien von Kindern und Jugendlichen genutzt? Eine Vielzahl von Studien und Umfragen berichten über einen beängstigenden Anstieg des Medienkonsums mit schwerwiegenden Folgen für die psychische und körperliche Gesundheit. Hierzu einige Zahlen: Die Nutzungsdauer von Fernsehen, Radio und Internet hat sich zwischen 2000 und 2010 bedeutsam verändert (van Eimeren u. Frees, 2010, siehe Tabelle 1).

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Gerd Lehmkuhl, Dirk Alfer, Christiane Kürschner und Jan Frölich

205 204 199

195 196

193

186

185

186

182

187

46

48

54

58

70

77

Internet (Mo-So)3

17

26

35

45

43

2010

Hörfunk (Mo-So)2

2009

231 235 225 225 228 244

2008

221 230

2007

2003

214

2006

2002

203 209

2005

2001

Fernsehen (Mo-So)1

2004

Nutzungsdauer

2000

Tabelle 1: Durchschnittliche Nutzungsdauer von Fernsehen, Radio und Internet 2000–2010 (Personen ab 14 Jahren, in Minuten/Tag) (van Eimeren und Frees, 2010)

AGF/GfK (Arbeitsgemeinschaft Fernsehforschung/Gesellschaft für Konsumforschung): jeweils 1. Halbjahr 2 MA (Media Analyse) 2000, MA 2001/I, MA 2002/I, MA 2003/I, MA 2004/I, MA 2005/I, MA 2005/II, MA 2006/II, MA 2007/II, MA 2008/I, MA 2009/I, MA 2010/I 3 ARD/ZDF-Online-Studien 2000–2010; eigene Angaben der Nutzer

1

Der Konsum von Fernsehen und Internet nahm zu, derjenige vom Radio deutlich ab. Bei der Medienbindung liegt das Fernsehen immer noch deutlich auf dem ersten Platz, vor Computern und Büchern bzw. Zeitschriften, wie die regelmäßig durchgeführten Studien des Medienpädagogischen Forschungsverbundes Südwest belegen (mpfs, 2009, siehe Abbildung 1). Dabei treten deutliche Alterseffekte auf, wobei vor allem die Sechsbis Siebenjährigen ungern auf das Fernsehen verzichten möchten, während die Computernutzung vor allem bei Jugendlichen einen hohen Stellenwert einnimmt. In der KIM-Studie (mpfs, 2008b) wurde auch erfasst, mit welchen Motiven Kinder und Jugendliche die verschiedenen Medien nutzen. Danach kann das Fernsehen verschiedene Gefühlslagen verbessern, während Handy und Internet mit keiner spezifischen emotionalen Entlastung verbunden sind. Wie schon erwähnt: Die Kommunikationswege befinden sich in den letzten Jahren in einem ständigen Wandel und das Internet hat für Jugendliche eine immer zentralere Bedeutung. Dies führt auch zu einer neuen Art der Selbstdarstellung: Ein Viertel der Jugendlichen beteiligt sich aktiv am Web 2.0 und produziert mehrmals in der Woche eigene Inhalte. Dies geschieht entweder durch das Einstellen von Bildern, Videos, Musikdaten oder durch das Verfassen von Beiträgen in Blogs oder in Newsgroups. Ohne soziale Netzwerkverbindungen läuft heute bei

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Virtuelle Welten und psychische Entwicklung37 Fernseher  

27  

63  

Internet  

25  

65  

Handy  

9  

79  

MP3  

18  

64  

Radio  

16  

58  

Musik-­‐CDs/KasseDen  

20  

47  

Tageszeitung  

15  

27  

Bücher  

18  

23  

Computer-­‐/Konsolenspiele  (offline)  

27  

8  

Computer  (offline)  

18  

17  

digitale  Fotos  machen  

23  

10  

ZetschriRen/Magazine  

18  

11  

DVD/Video  

23  

6  

Tageszeitung  (online)  

7  

9  

HörspielkasseDen/-­‐CDs  

7  

7  

ZeitschriRen  (online)  

5  

6  

täglich  

digitale  Filme/Videos  machen   2   5  

mehrmals  pro  Woche  

Kino   1   0  

25  

50  

75  

100  

Abbildung 1: Medienbeschäftigung in der Freizeit 2009 (Angaben in Prozent, N = 1200; mpfs, 2009; van Eimeren u. Frees, 2010)

Jugendlichen nichts mehr. Es hat sich eine neue Gesprächs- und Kommunikationskultur entwickelt, die online erfolgt, wobei den Nutzern überwiegend der Unterschied zwischen echten und virtuellen Freunden klar ist. Die Internetplattformen werden im Wesentlichen dazu genutzt, um bereits bestehende Kontakte aufrechtzuerhalten oder zu intensivieren. Dabei bleibt der reale Kontakt auch weiterhin für Jugendliche unerlässlich, um Freundschaften zu pflegen (mpfs, 2004, 2009, siehe Abbildung 2). Die neuen Medien haben das Beziehungsmanagement vor allem für Kinder und Jugendliche grundlegend verändert. Chatten, E-Mails, Community-Plattformen vermitteln das Gefühl, »dabei zu sein«, und erleichtern es, lockere soziale Beziehungen zu ehemaligen Klassenkameraden, Ferien- oder Partybekanntschaften aufrechtzuerhalten und bei Bedarf, zum Beispiel bei Umzug oder Ausbildungsaufenthalten im Rahmen von Schule und Studium, darauf zurückzugreifen. Diese Form von »Globalisierung« hat jedoch auch ihren Preis. Jugendliche nutzen Smartphones im Schnitt dreieinhalb Stunden am Tag. Sie prüfen spätestens alle zehn Minuten, ob neue Nachrichten eingetroffen sind, und jeder fünfte Jugendliche macht dies bereits 15-mal häufiger in einer Stunde. Allein 44 Minuten der solchermaßen in vir-

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Gerd Lehmkuhl, Dirk Alfer, Christiane Kürschner und Jan Frölich

mit  Freunden/Leuten  treffen   70   67   67   67  

Sport   ausruhen,  nichts  tun   Familienunternehmungen   selbst  Musik  machen   malen,  basteln   Sportveranstaltungen  besuchen   Einkaufsbummel   Partys   5   5   3   4   2   6   2   1  

Disco   Leih-­‐Bücherei/Bibliothek   Briefe/Karten  schreiben   Kirche  

0  

17   18   18   14   15   13   11   10   14   10   11  

23  

88   88  

gesamt  2009,  n  =  1200   gesamt  2004,  n  =  1000  

25  

50  

75  

100  

Abbildung 2: Non-Mediale Freizeitaktivitäten 2009/2004: täglich bzw. mehrmals pro Woche ausgeübte Aktivitäten (Angaben in Prozent, mpfs 2004, 2009)

tuellen Welten verbrachten Zeit entfielen auf soziale Netzwerke wie Facebook (Der Tagesspiegel, 2013).

Kontroverse Diskussion über die Auswirkungen neuer Medien Von »digitaler Demenz« ist die Rede (Spitzer, 2012), einer zunehmend autistisch werdenden Gesellschaft, die unter einem ständigen Informationsstress leidet. Inzwischen gibt es Social-Media-Leitfäden, Ratgeber über Computersucht und eine polarisierte Diskussion zwischen Befürwortern und Gegnern der Nutzung digitaler Medien. Während Gelernter (2011), der mit seinen Forschungen die Grundlagen des World Wide Webs geschaffen hat, Kinderköpfen Ruhe verordnet, geht Heinen (2013), ein Kinderneurologe aus München, davon aus, dass Kinder mit dem Tablet leichter lernen und Wissen zugänglicher wird. Der Zeigefinger mutiere zum Schlüssel einer neuen Kultur. Und so kommt er zu folgender, leicht euphorischer Einschätzung: »Der Zeigefinger erwirbt eine Magie, an der das Wissen buchstäblich haften bleibt, mit der sich Wissen öffnen, anschauen, verwerfen,

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kopieren, übergehen, suchen und mit der Lupenfunktion noch einmal genauer anschauen lässt, und es funktioniert: Die noch nicht zweijährigen Kinder können es, die Heranwachsenden können es sowieso (und überholen alle anderen in ihrer Geschwindigkeit), die Eltern und Großeltern können es auch und selbst diejenigen Großeltern, die bislang den Computer und seine komplexen Mechanismen von einschalten, anmelden und zurechtfinden bewusst gemieden haben, sind nach kürzester Zeit User« (S. N1). Mit dem Tablet sei es möglich, Handmotorik, Zeigefinger und Wissen in einzigartiger Weise zu kombinieren, dabei das Gehirn intensiv zu trainieren und die »Verdrahtung« von Nervenzellen zu unterstützen. Für Spitzer (2005) sind digitale Medien hingegen dem Lernen und damit der geistigen Entwicklung von Kindern mehr als abträglich. Studien über die Auswirkungen von Bildschirmmedien hätten seit Jahren deren negative Effekte gezeigt, sie würden »unsere Kinder um den Verstand bringen« (Spitzer, 2012). Die Ergebnisse einer ganzen Reihe von tierexperimentellen Untersuchungen sind zwar nur bedingt auf den Menschen zu übertragen, erlauben aber gewisse Schlussfolgerungen über die Auswirkungen von Medien auf biologische Prozesse und das Verhalten. Werden zum Beispiel Mäuse medial überstimuliert, dann verändern sich ihr Gedächtnis und Lernverhalten nachhaltig. Fernsehen in der Kindheit, so Spitzer (2013), bewirke auch bei Mäusen eine Beeinträchtigung von Neugierde und Lernen, lasse sie mehr Risiken eingehen und mache sie hyperaktiv. Eine aufwändige neuseeländische Langzeitstudie konnte einen signifikanten Zusammenhang zwischen Fernsehkonsum in Kindheit und Jugend und späteren kriminellen Handlungen im Erwachsenenalter nachweisen. Das Bemerkenswerte besteht darin, dass höherer Fernsehkonsum in dieser Entwicklungsphase negative Auswirkungen auf die späteren Emotionen und Affekte besitzt und die Aggressivität erhöht. Diese Zusammenhänge bleiben auch dann bestehen, wenn andere wichtige, mögliche Einflussfaktoren, wie sozioökonomischer Status und Bildungsniveau, kontrolliert werden (siehe Spitzer, 2013). Für den Evolutionspsychologen Miller (2010) verändert das Internet »jeden Aspekt des menschlichen Denkens und beeinflusst Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Gedächtnis, räumliche Orientierung, Sprache, Vorstellungsvermögen, Kreativität und Problemlösefähigkeit sowie Urteilskraft und Entscheidungsfindungsprozesse«.

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Und auch wenn sich die Auswirkungen der neuen Medien auf unser Denken und Fühlen nicht leugnen lassen, so bleibt die Einschätzung über Schaden und Nutzen ebenso kontrovers wie die Frage nach der richtigen oder schädlichen »Dosis« des Konsums. Einerseits können visuelle Fähigkeiten, Aufmerksamkeit und kognitives Training durch spezielle Programme verstärkt werden, andererseits fördern OnlineAktivitäten im Internet eiliges und zerstreutes Denken und oberflächliches Lernen. Die Vor- und Nachteile der neuen Medien zeigen sich in vielfältiger Weise auch im Leistungsbereich. Computerspiele tragen einerseits dazu bei, spezifische Aspekte der Aufmerksamkeit und des Lernverhaltens zu verbessern, andererseits bewirkt exzessives Spielen signifikante Schulprobleme und verminderte Vigilanzfunktionen. Und es muss offen bleiben, inwieweit digitale Medien, deren Nutzung in vielen Fällen so genannte Multitaskingprozesse erfordert oder nach sich zieht, zu einer tiefgreifenden Veränderung von Wahrnehmung, Emotionen und sozialen Interaktionen führen. Aus diesen Gründen lässt sich nach Müller-Lissner (2012) auf die Frage, was moderne Medien aus unseren Kindern machen, nicht eindeutig antworten. »Fernsehen, Smartphone, Computerspiele: Elektronische Bilder können Quelle von Bildung sein. Allerdings nicht unter allen Umständen. Und nicht für jeden«. Sie spricht deshalb auch vom »Fluch und Segen des medialen Fortschritts« (S. 4). Übereinstimmung besteht darin, dass Fernsehen und Computer insbesondere für Babys und Kleinkinder nicht das adäquate Erfahrungs- und Lernmedium darstellen: »Bild und Ton sind nie ganz perfekt synchronisiert, die Bilder sind flach, Tasten und Schmecken sind unmöglich« (S. 5). Es geht also um reale Erfahrungen, die Möglichkeit, selber aktiv zu werden und nicht nur per Mausklick, eigene Kreativität und Phantasie zu entwickeln. Entsprechend fordert Gelernter (2011), Kindern erst ein Handy mit 14 Jahren zu geben: »Ansonsten sorgt dafür, dass Kinder kein iSpielzeug in die Hände bekommen, sonst landen sie im elektronischen Fegefeuer.« Sein vehementes Plädoyer mündet in die skeptische Einschätzung, »dass die neue Cyberwelt einem ausbetonierten Flussbett gleicht« (S. 27). Am Ende habe man einen perfekten Kanal, aber die Natur und den Fluss verloren.

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Wie beurteilen Jugendliche die neuen Medien? In der heftig geführten Diskussion melden sich vor allem Medienexperten, Entwicklungspsychologen, Ärzte, Psychotherapeuten und Politiker zu Wort. Doch was sagen diejenigen, um die es eigentlich geht und die sich zunehmend in der medialen Welt einrichten und auskennen? Wir haben Kinder und Jugendliche gefragt, was ihnen die neuen Medien bedeuten, wo sie deren Vorteile und Risiken sehen und wie sie von ihnen eingesetzt und benutzt werden. Es zeigt sich, dass diese Altersgruppe durchaus Risiken und Nebenwirkungen reflektiert, aber auch betont, dass die neuen Medien ein Teil ihres Lebens sind. Social Network ist das Schlagwort, ohne das die Jugendkultur heute nicht mehr auskommt. »Mir sind soziale Netzwerke wichtig, weil man auf schnelle und auch kostenlose Weise sich mit Freunden austauschen kann. Wir haben zum Beispiel auf Facebook eine Gruppe nur für unsere Stufe 10, in der wir nach Hausaufgaben fragen können, wenn wir krank sind oder irgendwelche Aufgaben weitergeben, die uns ein Lehrer gegeben hat, weil der Lehrer krank war. Für mich sind soziale Netzwerke auch wichtig, weil ich noch Freunde aus England habe, mit denen ich so in Kontakt bleiben kann. Das Gute an unserer Gruppe ist, dass sie geschlossen ist, das heißt, keiner außer den Mitgliedern kann die Beiträge der Gruppe sehen und die Gruppe wird ausschließlich für Fragen und zur Informationsweitergabe genutzt. Auch soll es so sein, dass niemand auf irgendwelchen sozialen Netzwerken gemobbt wird oder irgendwelche Gerüchte gepostet werden« (Patrick, 17 Jahre).

Isabel, eine 16-jährige Schülerin, gibt differenziert über die Chancen und Gefahren von Medien Auskunft: »Heutzutage muss man sich als Jugendlicher immer häufiger dem Vorwurf ausgesetzt fühlen, sich nur noch für sein Handy, sein iPhone oder den Computer zu interessieren; Eltern und Lehrer belehren einen ständig über die Gefahren, die von den so genannten Massenmedien ausgehen […]. Das Internet bietet die Möglichkeit, sich mit sehr vielen Leuten schnell, einfach und effizient abzusprechen. So können sich über soziale Netzwerke wie Facebook oder Twitter in einer Gruppenkonversation mehrere hundert Leute gleichzeitig unterhalten und jeder bekommt alles mit. Diese Funktion des Internets ist für unsere Stufe in der Vorbereitung des Abiballs von zentraler Bedeutung: mit fast 200 Schülern wäre eine Absprache anders als über eine Gruppe bei Facebook wohl kaum bzw. nur sehr viel aufwändiger möglich. Zudem dient es dazu, Kontakte – per Mail oder per Chat – aufrechtzuerhalten. So ist man über das Internet mit der

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ganzen Welt vernetzt. Diese Funktion des Internets ist für mich wichtig, um mit Freunden im Ausland in Kontakt zu bleiben. An dieser Stelle sollte jedoch auch erwähnt werden, dass Mails oder Chats in keiner Weise als Ersatz für ein regelmäßiges Treffen mit diesen Freunden dienen können; die Kommunikation über das Internet erleichtert lediglich zusätzlich die Aufrechterhaltung einer guten Beziehung über einen längeren Zeitraum und über eine weite Distanz. […] So ist das Internet – vor allem durch die sozialen Netzwerke – schon beinahe zu einer Art Modetrend geworden, dem man hinterherlaufen muss, um nicht ausgeschlossen zu werden. Dem stehe ich jedoch kritisch gegenüber: Das Internet sollte als Mittel zum Zweck und nicht als Modetrend dienen. Zudem ist fraglich, ob alle Freunde bei Facebook – von denen der durchschnittliche Facebook-Nutzer um die 200 hat – tatsächlich als solche zu werten sind. Häufig ist man mit Leuten befreundet, die man gar nicht richtig kennt, und es besteht die Gefahr des Stalkings und des Internetmobbings. Dem kann man jedoch vorbeugen, indem man aufpasst, wen man als Freund anerkennt und welche Daten bzw. welche Fotos über einen veröffentlicht werden.   Zum anderen ist zu nennen, dass das Internet ›nichts vergisst‹ und alle Nachrichten speichert. Somit findet man im Internet ein sehr breites Spektrum an Informationen vor. Dies kann sehr nützlich sein für die Vorbereitung von Referaten, Facharbeiten oder Ähnlichem und ist um einiges einfacher als die Beschaffung von spezieller Literatur. Auch hier sollte jedoch eine Einschränkung vorgenommen werden: Das Internet ersetzt selten fachspezifische Literatur und kann nur dem groben Überblick dienen. Will man sich jedoch tiefgründiger mit einem Thema auseinandersetzen, so kann dies wohl kaum über das Internet geschehen. Außerdem sollte man stets die Authentizität einer Quelle aus dem Internet überprüfen, da nicht alle Informationen als zuverlässig einzuordnen sind. Einen solchen Umgang mit dem Internet haben wir jedoch schon in der fünften Klasse gelernt, so dass wir heute gut zwischen vertraulichen und fragwürdigen Quellen unterscheiden können. […] Internet ist lange nicht mehr nur E-Mails und Google; das Internet ist zu einem Multifunktionsobjekt geworden. Ob Online-Spiele, Musikvideos oder Zeitungsartikel: Alles findet man im Internet. Damit nimmt das Internet einen hohen Unterhaltungswert an und es gibt heutzutage viele Menschen, die sich ohne das Internet zu Tode langweilen würden. Dem stehe ich kritisch gegenüber: Ich persönlich finde es wichtiger, seine Freizeit mit Freunden oder der Familie zu verbringen, als sich alleine in eine visuelle Onlinewelt zurückzuziehen. Trotzdem ist es ab und zu praktisch, sich ein Lied oder einen Trailer kurz bei Youtube anschauen zu können, bevor man sich den entsprechenden Film beispielsweise im Kino anschaut. Alles in allem kann also gesagt werden, dass das Internet sehr viele Chancen birgt, da es einen flexibel macht, einen unmessbaren Gehalt an Informationen enthält, ein kostengünstiges Kommunikationsmittel ist und der Bequemlichkeit und Unterhaltung dient. Insofern kann man uns Jugendlichen eigentlich keinen Vorwurf machen, wenn wir oft das Internet oder ähnliche Medien benutzen. Häufig wird von unseren Lehrern sogar verlangt, sich Hausaufgaben oder Informationsblätter selbst zu Hause auszudrucken; hierzu ist es natürlich unausweichlich, das Internet zu benutzen, um an seine E-Mails und die zugeschickten Dateien zu kommen. Solange wir verantwortungsbewusst und gewissenhaft von den Medien

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Virtuelle Welten und psychische Entwicklung43 Gebrauch machen, sind die Gefahren, welche von ihnen ausgehen, sehr gering und die Chancen, welche sie bergen, unerschöpflich.«

Fast alle befragten Jugendlichen sehen den großen Wert des Internets in einer verbesserten Kommunikation und einem Zugriff auf umfassende Wissensinhalte. So zum Beispiel auch Max (14 Jahre), für ihn bieten die Medien: »die Möglichkeit, Informationen zu sammeln, miteinander zu kommunizieren und sich zu unterhalten. Beispielsweise lässt das Internet vielfältige Kommunikation zwischen Menschen zu, man siehe nur die häufige Benutzung von sozialen Netzwerken wie Facebook und Twitter. Der größte Vorteil der Medien ist meiner Meinung nach die Kommunikationsmöglichkeit. Auch wenn man von der Großstadt oder von sämtlichen Informationen isoliert ist, ist man durch das Internet in der Lage, Kontakte von der ganzen Welt zu pflegen und man besitzt ebenfalls das Privileg, Informationen zu bekommen, welche ohne diese technische Entwicklung nicht möglich wären. Nachteile der Medien sehe ich hauptsächlich in der Entwicklung der Kinder/Jugendlichen, da es durch Computerspiele für die Kinder möglich ist, sich von der sozialen Gesellschaft zu isolieren. Außerdem sehe ich durch den großen Informationsaustausch die Gefahr, dass sich die Kriminalität erhöhen wird. Schon oft wurde davon berichtet, dass sich zum Beispiel kriminelle Straftäter im Internet ihre Opfer suchen. In dem heutigen Bildungsaufbau sollten diese Gefahren erwähnt werden, so dass die Jugend sich vorsichtig im Netz bewegt. Mir selbst hilft die Nutzung des Internets, um soziale Kontakte zu pflegen und mich über den Alltag zu informieren. Welche Party heute angesagt ist, so etwas erfahre ich über Facebook, dem größten Social-Network. Außerdem dient mir das Fernsehen zur Unterhaltung und zu weiteren Informationen (z. B. die Tagesschau). Risiken für mich sehe ich in der Nutzung sozialer Netzwerke, welche viel Informationen über mich preisgeben, und ich so der Gefahr unterlaufe, von Menschen, mit welchen ich mein Leben nicht teilen möchte, gestalked zu werden. Außerdem ist Facebook für potenzielle Arbeitgeber in der Zukunft ein Mittel, um Informationen über mich herauszufinden, welche dem Arbeitgeber ein Bild von mir preisgibt. So kann er aufgrund dessen entscheiden, ob er mich einstellt oder nicht.«

Für Ralf (15 Jahre) stellen Medien eine Möglichkeit dar, sich von Problemen abzulenken. Darüber hinaus sieht er sowohl ihre Vor- als auch Nachteile: »Ich nutze sie auch zur Kommunikation mit Freunden und Verwandten. Vorteile sind meiner Meinung nach, dass man schnell und einfach mit Handys oder Computern mit anderen Leuten kommunizieren kann. Außerdem erfährt man durch Medien Nachrichten aus aller Welt am schnellsten, da man zum Beispiel im Internet nachgucken kann, anstatt bis 20 Uhr auf die Nachrichten zu warten

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oder sogar bis zum nächsten Tag, wenn die Zeitung erscheint. Nachteile vor allem vom PC sind zum Beispiel Datensicherheit sowie die hohe Suchtgefahr.«

Auch die 16-jährige Anne wägt zwischen Vor- und Nachteilen der neuen Medien kritisch ab: »Ich denke, die meisten Jugendlichen sind glücklich, dass es sie gibt, die neuen Medien, besonders das Internet und Facebook. Die Beschaffung von Informationen ist ein Kinderspiel geworden und plötzlich hat jeder irgendwie Ahnung. Einladungen für Partys wie auch schulinterne Veranstaltungen laufen nur noch über Facebook, Menschen können sich leichter finden und hemmungsloser kommunizieren. Allerdings muss ich sagen, dass mich Facebook mittlerweile nervt, es ist sogar so, dass dieses Online-Portal das Leben vieler Jugendlicher kontrolliert. Man hat ständig Angst, etwas zu verpassen, weil die Zeit im Internet nie stillsteht. Genau deshalb besteht auch kontinuierlich die Möglichkeit, dass ein Bekannter mit einem kommunizieren möchte. Diese Möglichkeit macht mich ratlos und verursacht Enttäuschungen, wenn dies nicht der Fall ist. Denn die Umkehrung der Kommunikationsmöglichkeit bedeutet, dass niemand mit mir in Kontakt treten möchte, wenn es keiner tut. Denn die Möglichkeit gäbe es ja. Das führt zu einer ständigen Erwartungshaltung, die mich unfrei macht und die ich am liebsten loswerden würde. Das Problem dabei ist nur, dass Facebook für einen Ausstieg schon viel zu etabliert ist. Es ist ein Teufelskreis, der Fluch und Segen zugleich beinhaltet.«

Wenn aus Spiel Sucht wird Den befragten Jugendlichen gelang es weitgehend, ihren teilweise intensiven Medienkonsum zu kontrollieren, das heißt, er bestimmte nicht ihren gesamten Tagesablauf. Doch ab wann liegt ein Missbrauch bzw. eine Abhängigkeit vor mit negativen Auswirkungen auf die psychische und körperliche Entwicklung und Gesundheit? Obwohl die Computer-/Internetsucht noch keinen Eingang als eigenständiges Störungsbild in die gängigen internationalen Klassifikationssysteme psychischer Störungen gefunden hat, wurden entsprechende Merkmale und Kriterien für pathologisches Computerspielverhalten entwickelt. Hierzu gehören nach Grüsser und Thalemann (2006, S. 32): –– Einengung des Verhaltensmusters, das heißt, Computerspiele/Internet dominieren das Denken und es besteht ein unstillbares und unwiderstehliches Verlangen, dieser Tätigkeit nachzugehen; –– Regulation von negativen Gefühlszuständen; –– Toleranzentwicklung, das heißt, es werden immer häufigere und

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längere Computerspielzeiten notwendig, um den gewünschten Entspannungseffekt zu erzielen; Entzugserscheinungen, das heißt, bei einem reduzierten Spielverhalten treten Nervosität, Unruhe und Spannungen auf; Kontrollverlust – das Spielverhalten kann nicht begrenzt werden; Rückfall – nach Zeiten der Abstinenz kommt es bei Wiederaufnahme zu einem unkontrollierten, exzessiven Spielen sowie zu beruflichen und sozialen negativen Auswirkungen; Kontakte dünnen sich aus, schulische und berufliche Aktivitäten werden nicht mehr oder nur begrenzt wahrgenommen.

Verschiedene empirische Untersuchungen geben die Häufigkeit von problematischen Computerspiel- und Internetnutzungsverhalten mit 2 bis 7 % an. Hierbei sind Jungen stärker betroffen als Mädchen (Batthyany, Müller, Benker u. Wölfling, 2009; Petersen, Weymann, Schelb, Thiel u. Thomasius, 2009). Eine suchtartige Internetnutzung findet sich häufig gemeinsam mit anderen Verhaltensauffälligkeiten, zum Beispiel Ängsten, Depressivität, sozial auffälligem Verhalten sowie Aufmerksamkeitsproblemen. Außerdem bestehen körperliche Beschwerden wie Schlafstörungen, eine erhöhte unspezifische Schmerzbelastung sowie ein schlechterer allgemeiner Gesundheitszustand, der sich durch Bewegungsmangel und Fehlhaltungen erklären lässt (Müller, Ammerschläger, Freisleder, Beutel u. Wölfling, 2012). In einer umfangreichen amerikanischen Studie konnten folgende Merkmale festgestellt werden, die die Gruppe der auffälligen von den nicht auffälligen Spielern unterscheidet (Gentile, 2009). Mit einer erhöhten Abhängigkeitsentwicklung verbunden sind: –– Spielerfahrung über mehrere Jahre, –– bessere Kenntnis der Altersbegrenzung von Spielen, –– schlechtere Schulnoten und vermehrt Aufmerksamkeitsprobleme im Unterricht, –– häufigere gesundheitliche und psychische Probleme, –– die Selbsteinschätzung und Wahrnehmung, computerspielabhängig zu sein, sowie –– vermehrter Kontakt zu Jugendlichen, die ebenfalls computerspielabhängig sind.

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Aufgrund der zunehmenden Bedeutung, die Medien insgesamt in der Freizeitgestaltung von Kindern und Jugendlichen einnehmen, sollten die oben genannten Aspekte im Rahmen der Anamneseerhebung routinemäßig mit aufgenommen werden, um möglichst früh Hinweise auf eine mögliche Computerspiel-/Internetsucht zu erfassen. Dabei sind folgende Merkmale und Aspekte speziell zu beachten (Frölich u. Lehmkuhl, 2012, S. 102): –– Befragung des Kindes/des Jugendlichen mit flankierender Einschätzung durch die Eltern, –– Mediengewohnheiten in der gesamten Familie, –– Informationsstand der Eltern über Computerspiele und Internetnutzung ihres Kindes, –– Involvierung der Eltern in Computerspiele mit ihrem Kind, –– zunehmende Mediennutzungszeiten an Werktagen und am Wochenende für Computerspiele, Internet, Fernsehen, Handy, Musikhören, –– zeitliche zirkadiane Nutzungsmuster, vor allem am Abend, –– Tagesmüdigkeit und Konzentrationsprobleme, –– Zugänglichkeit der Medien (im eigenen Zimmer einschließlich Internetanschluss, WLAN-fähiges Mobiltelefon), –– schulische Leistungen im Verlauf der letzten Monate, –– Änderungen im nichtmedienbezogenen Freizeitverhalten in den letzten Monaten, –– Änderungen der sozialen Aktivität des Jugendlichen innerhalb der Familie, –– Mediennutzung im Freundeskreis sowie Gestaltung von sozialen Kontakten, –– Existenz klar definierter Mediennutzungsregeln, –– Einhalten der Altersbegrenzung bei Computerspielen, –– Inhalte der verwendeten Spiele, –– Spielaktivitäten im Online-/Offlinemodus  – alleine oder in der Gruppe, –– Mitgliedschaft in Chatforen, Aktivitäten im Internet, Mobbingerfahrungen, –– Erfragung der Motive des Kindes/des Jugendlichen für Computerspiele/Internet.

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Auswirkungen des Medienkonsums auf Schlaf-, Freizeitund Lernverhalten Über die Bedeutung, Verbreitung und Nutzung der neuen Medien informieren für den deutschsprachigen Raum auch die bereits erwähnten, jährlich durchgeführten KIM (Kinder + Medien, Computer + Internet)und JIM (Jugend, Information, (Multi-)Media-Studien. Da besonders exzessives Computerspielen mit negativen Folgen für die Entwicklung in Zusammenhang gebracht wird, befragten wir eine repräsentative Stichprobe von 1.087 Jugendlichen im Alter zwischen 18 und 19 Jahren (Kürschner, 2014). Uns interessierte, wie sich das Computerspielverhalten auf Familie, soziale Aktivitäten, Schulleistungen und Gesundheit auswirkt. Hierzu setzten wir unter anderem einen speziellen Fragebogen von Wölfling, Müller und Beutel (2011) ein, der eine Beurteilung der Mediennutzung nach den Kategorien »normales, missbräuchliches und abhängiges Spielverhalten« ermöglicht. Die Rückmeldungen ergaben, dass 60,7 % der Befragten ein normales, 9,1 % ein missbräuchliches und 1,1 % ein abhängiges Verhalten aufweisen. 26,1 % der Jugendlichen spielen überhaupt nicht, bei 2,9 % fehlen die Angaben. Die durchschnittliche Spielzeit beträgt 1,3 Stunden an Schul- bzw. 1,8 Stunden an Wochenendtagen. Das Internet wird am häufigsten für E-Mails und Online-Communities genutzt. Innerhalb der abhängigen Gruppe geben 75 % Probleme in der Schule, 81,8 % Vernachlässigung von Freizeitaktivitäten, 66,7 % Probleme in der Familie und 18,2 % die Vernachlässigung von Freunden an (siehe Tabelle 2). Interessanterweise wird über alle Gruppen hinweg eine Vernachlässigung von Freundschaften durch den Mediengebrauch kaum beschrieben. Wesentlich deutlicher ist der Effekt auf die negativen Folgen für Familie und Schule sowie die Gesundheit (siehe Tabelle 2). Es zeigt sich, dass Jungen signifikant häufiger ein kritisches Spielverhalten aufweisen. Es wird die Wichtigkeit von Smartphones, sozialen Netzwerken, einer ständigen Erreichbarkeit und Multitasking für den Alltag betont.

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Tabelle 2: Negative Folgen des Computerspielverhaltens aus Sicht der Jugendlichen (n = 1087) (Kürschner, 2014) Kein Missbrauch ja (%)

Negative Folgen für Schule Familie

nein (%)

Missbrauch ja (%)

51 (7,9)

595 (92)

43 (44,3)

nein (%)

Abhängigkeit ja (%)

54 (55,7)

9 (75)

nein (%) 3 (25)

61 (9,4)

584 (90,4)

83 (38,3)

60 (61,2)

8 (66,7)

4 (33,3)

Vernachlässigung von Freizeitaktivitäten

89 (13,8)

554 (86,2)

41 (41,4)

58 (58,6)

9 (81,8)

2 (18,2)

Vernachlässigung von Freunden

17 (2,6)

630 (97,2)

9 (9,1)

90 (90,9)

2 (18,2)

9 (81,8)

Probleme mit Gesundheit

29 (4,5)

617 (95,4)

15 (15,2)

84 (84,8)

5 (45,5)

6 (54,5)

Die Schüler machten intensiv von der Möglichkeit Gebrauch, am Ende den Fragebogen zu kommentieren. Ihre Bemerkungen sind, wie die unten folgende Auswahl an wortwörtlich wiedergegebenen Zitaten aus den Fragebögen zeigt, aufschlussreich. Sie belegen, wie differenziert heute Medien genutzt werden und dass unsere Einschätzungen von den Jugendlichen nicht in gleicher Weise geteilt werden. Beispiele von Kommentaren der Jugendlichen zum Fragebogen (Kürschner, 2014): –– »50 % meiner Freizeit ist mit elektronischen Geräten, 50 % aber Sport pur. Sonst ab und zu Schule, mäßig aber nicht oft.« –– »Also ich spiele eigentlich nicht so Onlinespiele, sondern ab und zu Spiele auf verschiedenen Spielseiten.« –– »Also ich spiele keine Computerspiele nur manchmal Onlinespiele. Ich surfe immer im Internet, z. B. auf Facebook oder gucke Filme oder höre Musik, also habe ich den Fragebogen auch so beantwortet also zu dem Internetsurfen und nicht Computerspiele spielen.« –– »Also ich spiele keine Spiele auf meinem Computer aber ab und zu mache ich mich im Internet schlau, z. B. auf Wikipedia und mit meinem handy höre ich oft Musik und schreibe oft oder relativ oft SMS.« –– »Anfangs fühlt man sich schlecht, wenn man in Facebook sieht, was andere für tolle Bilder von Parties posten. Doch dann ist mir klar geworden, dass man in Facebook lediglich die Fassade eines Menschen sieht. Deshalb benutze ich Facebook auch nur dann, wenn es nötig ist.« –– »Computerspiele sind für mich generell uninteressant. Wenn ich am Computer bin, dann meistens für die Schule oder um Filme zu schauen. Ein wichtiger Aspekt zum Medienkonsum ist, finde ich, dass heutzutage viele

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Virtuelle Welten und psychische Entwicklung49 ein Smartphone haben und damit ins Internet gehen und somit den ganzen Tag erreichbar/online sind.« –– »Computerspielen bedeutet für mich soviel wie Serien/Filme im Internet gucken.« –– »Das war ein cooler Bogen und ich konnte viel über mich erfahren! Danke!« –– »Der Fragebogen war sehr interessant, nur nicht wirklich angemessen für ältere Mädchen, da diese wahrscheinlich kein Computer spielen. Trotzdem noch viel Glück.« –– »Der Test war gut aber ich gucke mehr fernsehen als dass ich am Computer spiele J.« –– »Die meisten Fragen haben sich wiederholt. Das Wort ›Computerspiele‹ sollte besser definiert werden. Mir war nicht klar, ob auch Spiele (Apps) auf dem Handy dazu zählen.« –– »Die meisten Sachen mache ich bei Freunden.« –– »Diese Umfrage ist zu Computerspielfragen, ich benutze meinen Computer nicht nur um Computerspiele zu spielen. Des Weiteren wurden Medien wie Ipad nicht beachtet.« –– »Dieser Fragebogen ist für Mädchen relativ sinnlos, da es die meiste Zeit nur um Computerspiele geht und ich denke, dass die meisten Mädchen sich nur für Facebook und Twitter interessieren. Viel Glück bei der Auswertung!« –– »Durch den Computer wird mein Leben nicht beeinflusst, zumindest nicht im schlechten Sinne.« –– »Fragen sind teilweise zu unpräzise; anstatt sich nur auf Computerspiele zu konzentrieren, wäre es sinnvoller, auch z. B. Handyspiele einzubeziehen; da Jugendliche in meinem Alter keine Computerspiele mehr spielen.« –– »Freizeitaktivitäten überschneiden sich, bzw. werden gleichzeitig ausgeführt. Dadurch ist die Summe der verbrachten Zeit größer, als die im Nachmittag vorhandene Zeit. Habt ihr nix anderes zu erforschen?« –– »Ich bin generell nicht an PC-Spielen interessiert, sondern nutze den Computer nur für Musik hören und lernen und Soziale Netzwerke. Nur als Kind habe ich hin und wieder mit Freundinnen Kinderspiele am PC gespielt.«

Es wird deutlich, dass sich die Medienlandschaft in einer rasanten Entwicklung befindet und die Konsumgewohnheiten sowie die Art der Mediennutzung einem raschen Wandel mit immer neueren, perfekteren technischen Produkten unterworfen sind. Was früher nur zu Hause am Computer möglich war, lässt sich inzwischen leicht von unterwegs erledigen. Vieles geschieht auf dem Weg des Multitasking parallel. In welcher Beziehung stehen nun Medienkonsum und Schlafstörungen? Ein Vergleich der drei Gruppen mit unterschiedlich stark ausgeprägtem PC-Konsum belegt eindrucksvoll den Anstieg von Schlafstörungen bei steigender Mediennutzung (siehe Abbildung 3).

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Spielt  normal   80  

Missbrauch   Abhängigkeit  

70   60   50   40   30   20   10   0  

     KöSl  Gesamtskala  

   Ein-­‐/Durchschlafverhalten  

Tagesbefinden  

                   VegetaHve  Symptome  

Abbildung 3: Auffälliges Schlafverhalten für die Gruppen normales, missbräuchliches und abhängiges Computerspielverhalten in Prozent (Kürschner, 2014)

Es zeigt sich, dass nicht allein das Risiko für Schlafstörungen bei einer Computerspiel- oder Internetsucht deutlich erhöht ist, sondern ebenfalls für eine ganze Reihe weiterer psychischer Störungen. Inzwischen liegen viele Studien vor, die belegen, dass neben anderen Suchterkrankungen auch höhere Raten an komorbiden internalen Störungen, wie Depressionen, Ängsten, aber auch Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen anzutreffen sind. Beeindruckende Ergebnisse legen Fischer et al. (2012) über den Zusammenhang zwischen Internetnutzung und selbstverletzendem Verhalten vor: »Die riskanten und die pathologischen Internetnutzer zeigten im Vergleich zu den Schülern mit unauffälliger Internetnutzung signifikant höhere Ausprägungen in Depressivität, selbstverletzendem und suizidalem Verhalten. Erstaunlicherweise zeigte sich kein signifikanter Unterschied zwischen der riskanten und der pathologischen Internetnutzungsgruppe hinsichtlich Depressivität und suizidalem Verhalten. Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass nicht nur pathologische, sondern auch riskante Internetnutzung mit Depressivität, selbstverletzendem sowie suizidalem Verhalten einhergehen kann« (S. 17). Trotz dieser eindrucksvollen Zusammenhänge kann zum jetzigen Zeitpunkt nicht eindeutig beantwortet werden, in welche Richtung die Einflüsse wirksam sind: Führt beispielsweise eine Internetsucht zu mehr depressiven Symptomen, Ängsten usw. – oder

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bestehen die genannten Erkrankungen bereits im Vorfeld und stellen möglicherweise einen besonderen Risikofaktor für die Entwicklung einer Internetsucht dar? Hierzu fehlen noch belastbare Längsschnittstudien (vgl. Frölich u. Lehmkuhl, 2012). Eindeutig lassen sich hingegen negative Auswirkungen auf die körperliche Gesundheit nachweisen. Die meisten Untersuchungen belegen über alle Altersgruppen hinweg einen Zusammenhang zwischen dem Ausmaß von Medienkonsum, Bewegungsmangel und Übergewicht. Besonders Intensivspieler weisen eine ungünstige Energiebilanz mit einem späteren Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen, Diabetes mellitus und Hypercholesterinämie auf. Der Zusammenhang zwischen Mediennutzung und der Körpergewichtszunahme lässt sich dadurch erklären, dass den Kindern und Jugendlichen weniger Zeit für körperliche Aktivitäten bleibt, sie während der Mediennutzung vermehrt Kalorien aufnehmen und es zu einer Verringerung des Körperstoffwechsels kommt (Pfeiffer, Mößle, Kleimann u. Rehbein, 2007; Lehmkuhl u. Frölich, 2013a, 2013b). Aus verschiedenen westlichen Ländern liegen Studien vor, die darauf hinweisen, dass der wachsende Medienkonsum die Schulleistungen negativ beeinflusst. Dies hängt unter anderem mit einer geringeren effektiven Lern- und Übungszeit zusammen, mit einer deutlichen »Dosisabhängigkeit«: Je höher der Konsum digitaler Medien, desto schlechtere Schulleistungen werden später erzielt (Pfeiffer et al., 2007). Als bedeutendster Risikofaktor für schlechte Schulleistungen gilt der Konsum von Mediengewalt. Eine mögliche Erklärung besteht darin, dass emotional aufwühlende Computerspiele andere, kurz zuvor gelernte Gedächtnisinhalte löschen und deren Wiedergabe blockieren können. Dabei verstärkt die wiederholte und dauerhafte Beschäftigung mit gewalthaltigen Computerspielen aggressive Einstellungen und Wahrnehmungen und das Risiko, im Erwachsenenalter selbst gewalttätig zu reagieren. Es lassen sich also Langzeitfolgen mit einer Abstumpfung gegenüber Gewalt und einer erniedrigten Hemmschwelle feststellen. Neben den bereits genannten Gewöhnungseffekten bei exzessivem digitalem Gewaltkonsum kann es zu einem Empathieverlust und einer Senkung der Hemmschwelle gegenüber aggressivem Verhalten kommen. Eine mögliche Ursache mag darin liegen, dass sich die Computerspiele durch eine extreme Gewaltdichte auszeichnen und der Gewalt-

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realismus in den letzten Jahren durch eine immer besser werdende Bildqualität zugenommen hat (Frölich, Lehmkuhl u. Döpfner, 2009).

Auswirkungen und Konsequenzen für die psychotherapeutische Arbeit Plassmann (2013) wies auf die dringende Notwendigkeit hin, die klassische psychosomatische und biografische Anamnese heutzutage um eine Medienanamnese zu erweitern, um sowohl Veränderungen der Persönlichkeit mit Störungen der Emotionsverarbeitung sowie der Mentalisierungsvorgänge festzustellen als auch die medizinischen Auswirkungen zu erkennen. Hieraus ließen sich dann direkte therapeutische Konsequenzen ableiten, die unter anderem darin bestehen würden, für Bildschirmabstinenz, genügenden Schlaf und »reichlich normale menschliche Kontakte« (S. 40) zu sorgen. Wendet man sich intrapsychischen Prozessen zu, dann erfüllt der Medienkonsum häufig wichtige Abwehrfunktionen. Ohnmachtsgefühle können durch das Beherrschen von Spielinhalten mit Erreichen immer höherer Level in narzisstische Größenideen verwandelt und so kompensiert werden. Die Möglichkeit, mit vielen Menschen immer online in Verbindung zu stehen, verringert Gefühle von Einsamkeit, sozialer Leere und Isolation. Andererseits erlaubt die Beschäftigung mit Computerspielen und Internet einen autistischen Rückzug in eine eigene virtuelle Welt mit Phantasien von Unabhängigkeit, Unantastbarkeit und IchAutonomie. Darüber hinaus kann die Beschäftigung mit den Medien die Funktion eines regressiven, lustbetonten Rückzugs besitzen, Nähe und Distanz regulieren und dazu beitragen, depressive Gefühle abzuwehren. Somit erlaubt der Medienkonsum, ein labiles inneres Gleichgewicht zu stabilisieren, wobei dieser Selbstheilungsversuch jedoch häufig die Grundproblematik auf Dauer verschärft und das Kontakt- und Bewältigungsverhalten weiter einschränkt. Es beginnt ein Circulus vitiosus, der, einmal angestoßen, nur schwer veränderbar ist: Negative emotionale Erfahrungen werden durch die Beschäftigung mit den Medien ausgeglichen – dies führt jedoch zu weiterem Rückzug, Misserfolgen in Schule und sozialem Umfeld und damit zu einer noch stärkeren Belastung des ohnehin negativen Selbstbildes (siehe Abbildung 4).

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Kränkung/ Misserfolg in Schule/Familie

Verbesserung der Befindlichkeit durch Medienkonsum, Rückzug in eine eigene Welt

Abbruch realer Kontakte und Aufgaben

negatives Selbstbild, Selbstunsicherheit

Rückzug, verstärkte Beschäftigung mit Medien

Entlastung/Entwicklung von Größenphantasien/ aggressiven Impulsen

Abbildung 4: Psychodynamischer Circulus vitiosus für die Entstehung und Aufrechterhaltung einer Medienabhängigkeit

Wie kann der therapeutische Zugang bei einer solchen Symptomatik aussehen? Zunächst geht es um die Herstellung eines verlässlichen therapeutischen Rahmens, der es dem Patienten ermöglicht, regelmäßige Termine wahrzunehmen. Krankheitseinsicht und Motivation sind hierbei wichtige Voraussetzungen, um die Hintergründe für Rückzug und Isolation zu erarbeiten. Dabei sollte der Patient in der therapeutischen Begegnung die Erfahrung machen, dass seine aktuellen Probleme und Konflikte nicht in einer virtuellen Welt zu klären sind. Die Erarbeitung von Hintergründen für Rückzug und Isolation trägt dazu bei, einen besseren Zugang zu verdrängten Affekten und Beziehungsängsten zu gewinnen. Für Guignard beeinflusst die virtuelle Realität die Prinzipien psychischer Prozesse. Ihrer Meinung nach könnte es durchaus der Fall sein, »dass unsere Fähigkeit, uns mit Kindern der gegenwärtigen Generation und künftiger Generationen zu identifizieren, durch die tiefen Veränderungen in ihrer Weltsicht verschüttet werden könnte – die Fähigkeit

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für Symbolbildung könnte dann aufgrund der Bedeutung, die das virtuelle Universum für sie hat, eine weniger wichtige Rolle einnehmen als in der Vergangenheit. Mit anderen Worten: Unser Ziel als Psychoanalytiker – bei dem Aufbau und der Organisation eines inneren seelischen Lebens, also den intimsten und persönlichsten Aspekten eines jeden Individuums, behilflich zu sein – könnte in den Augen zukünftiger Generationen nicht ganz so interessant sein, da sie überall in der Welt durch ein Universum von vorgefertigten virtuellen Bildern eingenommen sind« (2011, S. 84). Es stellt sich also die Frage, wie stark die globale Verbreitung virtueller Kommunikation in radikaler Weise den Bezug zur Realität und Wahrheit verändert und sich diese Verunsicherung auch in den therapeutischen Prozessen widerspiegelt. Hierauf sollten wir bei der Beziehungsanbahnung ebenso achten wie auf die möglicherweise eingeschränkten Fähigkeiten zur Symbolisierung.

Gesellschaftliche Auswirkungen und Perspektiven Welche Folgen ergeben sich aus der Medialisierung für unseren Alltag und unsere emotionale, kognitive sowie soziale Entwicklung? Wie könnte ein »gesunder«, inhaltlich und zeitlich angemessener Medienkonsum aussehen? Nur warnen, verteufeln und auf die Gefahren hinweisen wird nicht ausreichen und vor allem der komplexen Thematik nicht gerecht: Computerspiele und Internetnutzung stellen mittlerweile einen nicht mehr wegzudenkenden Bestandteil der Freizeitgestaltung von Kindern und Jugendlichen dar. Sie helfen bei der Informationsbeschaffung im Bereich Schule und Bildung, sie haben zum großen Teil das traditionelle Spielverhalten ebenso verändert wie Kommunikations- und Interaktionskanäle. Insofern müssen sich Eltern, Erzieher, Lehrer und auch Therapeuten mit diesem Phänomen und seinen Auswirkungen auseinandersetzen. Es geht dabei nicht nur um das Erkennen und Vermeiden von Risiken und negativen Folgen des exzessiven Medienkonsums auf Verhalten und Entwicklung, sondern auch um Antworten auf die Veränderung und Beeinflussung unserer sozialen Welt und ihrer Netzwerke. Dabei wäre es zu einfach, die gesamte Problematik und Last vor allem den Kindergärten, Schulen und Familien aufzubürden, denn es handelt sich um ein Thema von gesamtgesellschaftlicher Relevanz

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(Lehmkuhl u. Frölich, 2013a, 2013b): Wichtig erscheint eine Anleitung zum kritischen Gebrauch und zur notwendigen Reflexion von »Kosten« und »Nutzen« der neuen Medien. Den Schlagwörtern »Medienkompetenz« und »Medienpädagogik« kommt in dieser Diskussion ein besonderer Stellenwert zu. Doch was bedeuten sie, welche Fähigkeiten und welches Wissen muss erworben werden? Dass Medienkompetenz nicht »einseitig auf technische und instrumentelle Fertigkeiten« beschränkt sein sollte, zeigt nach von Hentig (2002, S. 274) eine fast zwanzigjährige Debatte. Nicht die Technologie sei das Problem, so Lovink (2010), sondern die Kombination von Informationsstress und Konkurrenzdruck. Wenn täglich Hunderte von Mails gelesen und beantwortet werden müssten, könne von einer »Tyrannei der kleinen Entscheidungen« (S. 27) längst keine Rede mehr sein. Die Folge sei ein permanenter Aufmerksamkeitsstress. Die Informationsgesellschaft habe kaum noch Zeit, um zur Ruhe zu kommen. Eine Auszeit, in der man mit sich selbst Kontakt aufnimmt, davon können nach Schnabel die meisten lediglich träumen: »Im Gegenteil, wir sind permanent online und allzeit erreichbar – und haben zugleich ständig Angst, etwas zu verpassen und abgehängt zu werden; wir leiden an Reizüberflutung und dem Gefühl ständiger Überforderung – und gieren gleichwohl nach schnelleren Datenleitungen und leistungsfähigeren Handys; wir fühlen, wie unsere Zeit immer knapper wird, sehnen uns nach Muße – und fürchten zugleich nichts so sehr wie das Nichtstun und die Langeweile« (2010, S. 39). Blendende Zeiten für Psychotherapeuten – könnte man verleitet sein hinzuzufügen, wenn nicht auch die eigene Profession lernen müsste, diesem Druck standzuhalten, um mit Patienten, die im und durch das Netz orientierungslos geworden sind, Antworten zu finden. Für Baker (2010) ist das elektronische Gehirn ein riesiger Parasit und er fragt sich, was dabei mit unseren eigenen Gehirnen passiert: »Wie können wir die Kontrolle über das elektronische Gehirn erlangen, statt diesem erdumspannenden Wunderling zu erliegen? Mehr als je zuvor müssen wir steuern, was wir in unsere Köpfe lassen« (S. 26). Dabei gehen die Visionen oder auch »Horrorvisionen« von Wissenschaftlern wie Ray Kurzweil (Buchter u. Strassmann, 2013) bereits viel weiter, wenn sie unter dem Stichwort »Singularity« eine Einheit zwischen menschlichem Gehirn und Computer in absehbarer Zeit postulieren. Und so führt auch Mit-

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telstraß (2011) in seinem Artikel »Internet oder schöne neue Leonardo-Welt« aus, dass kaum eine Innovation die Lebens- und Arbeitswelt des Menschen stärker verändert habe als das Internet. Denn wo natürliche Strukturen ab- und artifizielle zunähmen, da wüchse die Abhängigkeit einer Gesellschaft von Forschung und Entwicklung. Auch das Verständnis des Menschen selbst drohe die Grenzen des Überkommenen zu sprengen. Zwischen Globalisierung und Medialisierung würde es eng für das autonome Subjekt. Welchen Aufgaben, Zielsetzungen und Herausforderungen hat sich die Psychoanalyse bei solchen Szenarien zu stellen? Hier ist sie nicht nur als Behandlungsmethode, sondern auch als Kulturwissenschaft gefragt. Wie ernst die Psychoanalyse diese Aufgabe nehmen sollte, zeigt ein Interview mit dem Hirnforscher Koch, Direktor des Allen Institute for Brain Sciences in Seattle, in dem er folgende Zukunftsvisionen äußert: »Vermutlich werden wir unser Denken und Fühlen eines Tages in einer Maschine nachbilden können. Dann können wir alle Informationen aus dem Gehirn auf den Rechner überspielen. Unsere Persönlichkeit würde unsterblich. Leider werde ich diesen Tag nicht mehr erleben« (zit. nach Klein, 2013, S. 44). Aber wenn sich unsere Persönlichkeit in einem Rechner befindet, wo bleibt dann unsere Intimität und Einzigartigkeit? Und welche Gefahren der Beeinflussung und Manipulation gilt es dann zu erkennen und zu verhindern? Da greifen Konzepte wie Medienkompetenz, Medienpädagogik und spezielle therapeutische Techniken zu kurz. Es geht vielmehr um etwas Existenzielles, unsere kreativen Potenziale, unsere Individualität und welchen Schaden die Seele und unser Leben nehmen.

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Gisela Gandras

»Second life«: Wie im Internet eine neue Kreation der eigenen Existenz gelingen soll

»Second Life«: How shall it succeed to create yourself a new existence in the internet Patients with social phobia can find on the internet a suitable way to maintain personal and business relationships without having to expose themselves to a direct encounter. The therapist has to compete with the endless possibilities of the World Wide Web. His offer of relationship has little chance of being accepted as important or beneficial. In a case report specific patterns of interaction are described, which can occur in therapeutic communication on the way back into real life contexts. Zusammenfassung Patienten mit sozialen Phobien finden im Internet eine geeignete Möglichkeit, persönliche und geschäftliche Beziehungen zu pflegen, ohne sich einer unmittelbaren Begegnung aussetzen zu müssen. Der Therapeut gerät in Konkurrenz zu den unendlichen Möglichkeiten des World Wide Web, neben dem sein Beziehungsangebot zunächst kaum Chancen hat, als bedeutsam oder heilsam angenommen zu werden. Im Rahmen einer Kasuistik werden spezifische Interaktionsmuster beschrieben, die in der therapeutischen Kommunikation auf dem Rückweg in reale Lebenszusammenhänge auftreten können.

Einleitende Überlegungen In meiner psychotherapeutischen Arbeit habe ich immer großen Respekt vor meinen Mittherapeuten, also vor allen Einflüssen, die neben den Sitzungen selbst an dem Wandlungsprozess beteiligt sind, zu dem sich der Patient/die Patientin entschlossen hat – das Dritte also, das natürlich in erster Linie von bedeutsamen anderen, Partnern, Familienmitgliedern, Eltern, Kindern und Geschwistern repräsentiert wird. Aber auch besondere Ereignisse, die »Wende« 1989, der 11. September 2001 oder das, was wir allgemein mit Zeitgeist bezeichnen, sickern

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in den therapeutischen Raum mit hinein, bilden eine Projektionsfläche für Lebensthemen, für ungelöste innerseelische Konflikte und erfordern eine Reflexion. Und so haben leise und unaufhaltsam die neuen Medien Einzug gehalten in die Therapieräume. Sie kennen es mittlerweile alle: »Gucken Sie mal!«, und es werden einem Smartphones hingehalten mit Bildern oder mit Texten, die wir deuten oder deren Ungeheuerlichkeit wir bestätigen sollen. Die neuen Medien werden als Beweismittel genutzt, um den eigenen Worten mehr Gewicht zu verleihen, um etwa Skandalöses, Unzumutbares aufzudecken. Freunde, Partner, Angehörige, aber auch Politiker, Journalisten oder Showgrößen drängeln sich in den Therapierahmen. Dass dieser Prozess nicht erst mit dem Internet anfängt, zeigt folgende Vignette: Eine 60-jährige Patientin, die sich aufopferungsvoll um ihren kranken Ehemann kümmert, ihn zu Ärzten, ins Krankenhaus fährt, ihn zu Hause versorgt und außerdem noch für eine alte Mutter und ein kleines Enkelkind mitverantwortlich ist, antwortete auf meine Frage: »Was würden Sie tun, wenn Sie all diese Belastungen nicht hätten und Zeit für sich hätten?«: »Fernsehen.«

Auch die mittlerweile alten Medien haben sich in ihrer Bedeutung bei der Sinnsuche unserer Patienten längst verselbständigt und die regelmäßige Teilnahme an den Vorabendserien ist zur Bedingung für psychische Gesundheit geworden. Über das Tagungsthema habe ich mich deshalb gefreut und möchte gerne mit einer Kasuistik dazu beitragen. Erlauben Sie mir aber zuvor noch eine Bemerkung zur Art der Präsentation meiner Gedanken. Dieser Beitrag ist ein reiner Vortrag, eine »sprachgestützte« Präsentation: Kein Dia, kein Powerpoint und kein Zeitschriftenartikel unterstützen das, was vorgetragen wird, selbst wenn die Organisatoren schriftliche Fassungen für einen späteren Tagungsband zusammenstellen. Vorträge sind eigentlich überflüssig, ein Anachronismus schon seit der Erfindung des Buchdrucks. Warum sich hinsetzen und mündlichen Ausführungen folgen, die man doch viel effektiver nachlesen könnte? Wirklich notwendig war das Vortragen nur bis gegen Ende des 13. Jahrhunderts. Dies war der Zeitpunkt, wo die »scriptura continua« sich auflöste und die Worttrennung eingeführt wurde. Man stelle sich das vor: Vorher waren Texte, damals noch Handschriften, Aneinander-

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reihungen von Schriftzeichen ohne Unterbrechungen, durch die die einzelnen Worte erkennbar geworden wären. Man benötigte Vorleser, also Menschen, die besonders geschult waren im Erfassen von Texten, die den Zusammenhang des Ganzen im Kopf behielten und durch ihre Betonung die Wörter und Sätze hervorhoben und damit die Texte verständlich machten. Gelehrte ersparten sich selbst die Mühe des Lesens und nutzten als Vorleser oftmals geschulte Sklaven. Etwas Ähnliches gibt es heute übrigens wieder: In unserer publikationsgesättigten akademischen Welt, in der das Papier vielleicht etwas zu geduldig geworden ist, stellen Professoren studentische Hilfskräfte als »Vorleser« ein, die die Veröffentlichungen lesen und exzerpieren, damit die Professoren sich selbst diese Mühe ersparen können. Doch zurück zur Worttrennung: Erst dieser unspektakuläre Kunstgriff führte zu einer allgemeinen Zugänglichkeit von Büchern und ermöglichte das stille Lesen, das Lesen im sozialen Rückzug, jeder für sich allein. Dies war eine noch ganz und gar »untechnische« Revolution, von der heute kein Mensch mehr spricht, die aber für die Entwicklung des Denkens sicher ebenso bedeutsam war wie die Erfindung des Buchdrucks oder des Internets. Und trotz der allgemeinen Zugänglichkeit von Literatur hat sich die Kultur des Vortragens erhalten. Es ist eben etwas anderes, ein anderes Medium, einen Text für sich allein zu lesen, zu ergründen, zu begreifen, darin Antworten zu finden, oder aber sich dem flüchtigen Erlebnis eines Vortrags zu stellen, der hier und da mal etwas trifft, dann wieder langatmig wird und den Zuhörer in seine eigenen Assoziationen entlässt. Die Weiterentwicklung der medialen Techniken hat damit die vorangegangenen Formen nicht überflüssig gemacht. Was soll dieser historische Ausflug? Ich glaube, er hilft zu verstehen, welche Bedeutung der Wandel durch die neuen Medien hat. Nicolas Carr, ein amerikanischer Literaturwissenschaftler und Publizist, hat 2010 ein Buch geschrieben, das sich mit den Auswirkungen des Internetzeitalters beschäftigt. Es trägt den Titel: »Wer bin ich, wenn ich online bin …?« Ein historisches Verständnis hilft gegen apodiktische Verurteilungen der neuen Medien mit der Forderung nach politischen Reglements, wie sie Manfred Spitzer vertritt, um der Gefahr einer digitalen Demenz entgegenzusteuern (Spitzer, 2012). Ja, kein Zweifel, die neuen Medien haben Folgen für die neurologische Reizverarbeitung. Zahlrei-

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che Experimente haben das nachgewiesen. Aber wir werden das Rad nicht zurückdrehen. Das heißt jedoch nicht, dass wir die Veränderungen einfach ignorieren können. In meiner Kasuistik werde ich mich deshalb darauf beschränken, die Art und die Folgen des Internetkonsums meiner Patientin zu beschreiben und darzustellen, welche spezifischen Interaktionsmuster zwischen uns sich daraus ergeben haben. Dabei ist Frau A. mit ihren 31 Jahren und ihrer Herkunft aus den neuen Bundesländern eher ein »Digital Immigrant«, bei »Digital Natives« werden die zu erwartenden Veränderungen auf den therapeutischen Dialog noch gravierender ausfallen. Mit diesen einleitenden Worten habe ich zugleich etwas davon »geoutet«, welches persönliche Verhältnis ich zu den neuen Medien habe. Natürlich nutze ich sie, habe aber dennoch auch der entschieden vorgetragenen Position unserer verstorbenen Kollegin Monika KruttkeRüping Respekt gezollt, die sich bei der Kassenärztlichen Vereinigung in Hamburg die Möglichkeit ausgehandelt hatte, ihre Quartalsabrechnungen als Letzte weiterhin in Papierform abzugeben. Die Frage, wie wir uns selbst im Netz bewegen, bildet den Hintergrund für unser Verständnis einer solchen Patientin, wie ich sie gleich vorstellen werde. Wie oft schauen wir in unsere »Postfächer«? Wie lange kommen wir ohne Internet aus? Beantworten wir Therapieanfragen, die uns im Netz erreichen? Sind wir bei Facebook? Ich erinnere mich noch an die Aufregung, als mein erstes Modem installiert war, ich die erste Mail geschrieben hatte, diese blitzschnell durch den Äther flog und sofort beantwortet wurde. Ich gebe zu, dass mir diese Leichtigkeit, diese Unkompliziertheit gefiel und noch gefällt, mit der Mitteilungen ausgetauscht werden können. Ich fühlte mich damit irgendwie lockerer, entspannter als bei einem Schreiben, das mich auf dem Postweg erreichte. Und wenn ich einen Film aus den 1980er Jahren sehe, meinetwegen durchaus einen schnellen, einen Actionfilm, und dann geht da jemand zum Telefon, hebt den Hörer ab und wählt mit der Wählscheibe eine Nummer, dann denke ich: »Was sind das für Welten!« Die andere Seite gibt es natürlich auch: die Angst, dass die Daten nicht geschützt sind, dass vertrauliche Informationen in falsche Kanäle geraten und im schlimmsten Fall Skandale erzeugen. Die Aufdeckung der Praktiken der NSA (National Security Agency) zeigt, dass tatsächlich auch getan wird, was möglich ist. Daher war eine meiner ersten

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Sorgen, als ich mich zur Veröffentlichung meiner kleinen Fallgeschichte hier entschieden habe: Was wird meine Patientin dazu sagen, wenn sie es liest? Besteht für sie eine Gefahr, identifiziert zu werden? Wird sie selbst mit meiner Darstellung einverstanden sein? Oder wird sie sich gekränkt, falsch verstanden fühlen? Und auch, wenn ich vor längerer Zeit ihr Einverständnis eingeholt habe, ist die Gefahr damit nicht aufgehoben. Ich hoffe, dass die intensive Beschäftigung mit ihrer Geschichte dieses Risiko ein wenig ausgleicht und dass sie letztlich von den vielen Gedanken profitiert, die wir uns über sie gemacht haben.

Falldarstellung und Reflexionen Doch nun möchte ich sie Ihnen endlich vorstellen, die junge Frau, die mir bei der Veröffentlichung des Tagungsthemas als Erstes eingefallen ist, da mich ihre Art der Nutzung der neuen Medien sehr beschäftigt hat und es noch tut. Die Behandlung – wie könnte es anders sein – nahm im Internet mit folgender E-Mail ihren Anfang: Sehr geehrte Frau Gandras,   ich habe Ihre Daten von Frau Meier, zentrale Psychotherapieplatzvergabe, soeben erhalten zur Vermittlung eines Erstgespräches. Wäre es möglich, einen Termin bei Ihnen zu bekommen? Mit freundlichen Grüßen

Es fand ein Erstgespräch statt, in dem ich die Behandlungsbedürftigkeit ihrer Beschwerden bestätigen konnte, ihr wegen ihrer gravierenden Einschränkungen in der Lebensbewältigung aber eine stationäre Therapie empfahl oder sie alternativ an die Ambulanz eines ortsansässigen Ausbildungsinstituts vermitteln wollte, wo man ihr schneller helfen würde und wo sie nicht fast ein Jahr auf einen Therapieplatz warten müsse. Darauf erhielt ich folgende E-Mail: Sehr geehrte Frau Gandras, ich möchte mich noch einmal bei Ihnen für das sehr nette Erstgespräch bedanken. Ich möchte Sie nun doch darum bitten, mich auf Ihre Warteliste zu setzen. Ich

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»Second life«65 habe Angst, die junge Dame vom Ausbildungszentrum wegen eines Termins zu kontaktieren, nachdem ich ihre junge Stimme auf ihrem Anrufbeantworter gehört habe. Ich könnte noch schwerer zu ihr Vertrauen fassen als zu jemandem, der jahrelange Erfahrung im Umgang mit psychisch Kranken hat. Bei Ihnen habe ich mich sehr wohl gefühlt, und das heißt schon etwas bei mir. Deshalb hoffe ich, bei Ihnen eine Therapie beginnen zu können, auch wenn es mit längerer Wartezeit verbunden ist. Wenn das für Sie in Ordnung ist, würde ich mich sehr darüber freuen! Mit freundlichen Grüßen

Diese E-Mail ist fast fehlerfrei, freundlich, angemessen distanziert, gleichzeitig ein wenig persönlich werbend mit der schmeichelhaften Tatsache, dass in unserem Beruf das Alter kein Nachteil ist. Ihr Anliegen war klar und verriet mir, dass ein Funke übergesprungen sein musste, ohne dass ich selbst viel Anteil daran hatte. Etwa ein dreiviertel Jahr später begannen wir. Sie präsentierte sich, indem sie ihre Diagnosen mitteilte: »Ich leide unter Dysmorphophobie, Borderline-Persönlichkeitsstörung, Soziophobie und Essstörung …«, wie vor einer Fachkonferenz. Aus der Distanz übers Internet war sie freundlich, verbindlich, persönlich gewesen, nun, als sie mir gegenübersaß, verbarg sie ihr Leid hinter einer versachlichenden Diagnosenreihe. Warum tat sie das? Ich war irritiert. Erst später verstand ich es: Sie liebte es, Fragebögen im Internet auszufüllen, psychologische Tests, an deren Ergebnis sie ihre Zugehörigkeit zu Gruppen, Typen oder Persönlichkeitsmerkmalen ablesen konnte: ADHS, Intro- versus Extravertiertheit, Body-Maß-Index, alles lässt sich im Internet berechnen – das gab ihr Sicherheit. Und sie konnte sich nicht vorstellen, diese Sicherheit bei einem lebendigen Gegenüber zu finden, sie hatte kein Vertrauen, dass ich sie auch ohne Diagnose verstehen, mich in sie einfühlen könne. Ihre Diagnosen, glaubte sie, seien die Eintrittskarten in den Dialog mit mir. Dass es eine emotionale Verständigung zwischen Menschen gibt, ein affektives Mitschwingen, kannte sie nicht. Gleichzeitig setzte sie, im Sinne einer aktiven Bewältigung, auch Maßstäbe für unseren Dialog. Sie wollte sich nicht ausliefern, brauchte mich nicht, um sich diagnostizieren zu lassen, das konnte sie selbst. Diese frühe Gegenwehr gegen ein mögliches Machtgefälle, das sie bereits in der Diagnostik witterte, verriet schlechte Erfahrungen im Umgang mit Übergriffigkeit. Ein dritter Aspekt: Sie zeigte ihre Kompetenz. Sie

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hatte sich Gedanken gemacht über ihre Beeinträchtigungen und war zu Ergebnissen gekommen, die sie formulieren konnte. Bei zwei späteren Kontaktaufnahmen zu helfenden Instanzen, einer Ernährungsberatung und einer psychotherapeutischen Klinik, die ich ihr empfohlen hatte, wurde ihr diese Art der Kontaktaufnahme zum Verhängnis: Die Ernährungsberaterin meinte, ihr nichts mehr beibringen zu können, und die Klinik wies sie ab, weil sie ihre Beschwerden nicht in eine Rangreihe bringen und angeben konnte, welches Symptom in der Behandlung im Vordergrund stehen sollte. Ähnlich widersprüchlich war es mit ihrer äußeren Erscheinung: Das Attribut, das ihr Auftreten am besten beschreibt, ist: unauffällig. Nicht wie eine graue Maus unauffällig, nein, sie trug immer ausgewählte Kleidung, bewusst zusammengestellte Farben, war bis aufs letzte Haar frisiert und ließ sich eine Zeit lang die Fingernägel in Farben und Glitzer maniküren. Und trotzdem ging es mir mehrfach so, dass ich, wenn ich sie hinter meiner Türverglasung stehen sah, dachte: »Es hat sich jemand im Termin geirrt«, weil ich sie nicht erkannte. Es gelang Frau A., sich mit aufwändiger Vorbereitung und anspruchsvollem Styling so zurechtzumachen, dass sie nicht auffiel. Zu Beginn der Therapie war sie etwas übergewichtig mit einem BMI von circa 30. Sie lebte mit ihrem wenig älteren Partner und einer Katze in einer Einzimmerwohnung, die seinen Eltern gehörte. Ihr Antrag auf eine Erwerbsunfähigkeitsrente war kurz vor der Bewilligung. Sie hatte circa zwei Jahre lang bis auf Frisörbesuche das Haus nicht verlassen. Sie lebte im Internet, ihrem zweiten Wohnsitz sozusagen. Sie spielte nicht – den Titel »Second life« habe ich wegen der Metapher gewählt. Spieler oder Internetsüchtige – weder als das eine noch als das andere würde ich Frau A. bezeichnen – haben eine andere Art der InternetNutzung: Sie wissen, dass das nicht die reale Welt ist, in der sie sich da bewegen. Ihre Figuren sind Kunstgeschöpfe und alle Mitspieler sind sich dieser Tatsache bewusst. Spieler tauchen ab in ein künstliches Paralleluniversum des Spiels und tauchen wieder auf, gehen ihrer Arbeit nach oder kaufen ein. Selbst wenn sie sich suchtartig darin verloren haben, wissen sie noch, dass es eine andere Realität da draußen gibt. Wie verhält es sich indessen mit der Internetnutzung meiner Patientin? Für meine Patientin ist das Internet die Realität. Und die Terminologie von Windows lädt dazu ein, sich heimisch zu fühlen. Home

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heißt das kleine Häuschen, das einen auf die Startseite von Google zurückbringt. Man öffnet Fenster mit Blick nach draußen, man hat eine Adresse. Man besucht sich gegenseitig auf seinen Seiten. Mindestens sechs Stunden verbringt die Patientin täglich dort, fast einen ganzen Arbeitstag. Was tut sie dort? Sie informiert sich über Mode und Kosmetik. Und da es in der Kosmetik neben der Betonung von körperlichen Vorzügen immer auch um die Korrektur oder das Verbergen von Nachteilen geht, wird sie Expertin dafür, welche Makel es im menschlichen Erscheinungsbild geben kann: Eine Locke wird zu widerspenstigem Haar, eine vergrößerte Pore zur Problemhaut, die Figur ist eine Landkarte von Problemzonen. Frau A. verstrickt sich im Dschungel der kosmetischen Makel, für die sie kostspielige Lösungen sucht. Und sie bleibt nicht bei kosmetischen Korrekturen ihres Äußeren, sie setzt sich mit chirurgischen Eingriffen auseinander, einer Nasenkorrektur, dem Absaugen von Fett usw. Wenn sie das Geld hätte, würde sie sich völlig verändern lassen. In diesem Thema surft sie von Seite zu Seite, liest Produktwerbung neben Erfahrungsberichten und Bewertungen. Dasselbe Vorgehen zeigt sie im Hinblick auf Kleidung: modische Schnitte, neue Farben, preiswerte Angebote. Sie stellt sich Kleidung für Gelegenheiten zusammen, die sie niemals wahrnimmt. Sie bestellt, probiert und schickt zurück. Sie geht also im Internet shoppen – hier gibt es aber auch eine Schnittstelle zur Realität, denn die Waren landen ja tatsächlich bei ihr zu Hause und bleiben nicht virtuell, wie bei einem Spiel, bei ihrem Charakter auf der Festplatte oder im Netz. Dieser Berührungspunkt zwischen virtueller und realer Welt bringt jedoch Schwierigkeiten mit sich. Wenn sie etwas bestellt, wird es auch ausgeliefert. Sie muss die Tür öffnen und den Empfang quittieren. Dazu muss sie sich erst einmal fertig machen, sich präparieren. Eine Zeit lang überlässt sie die Annahme ihrer Sendungen einer Mitbewohnerin im Haus, die sie ihr vor die Tür legt. Sie macht Fotos von sich, bearbeitet sie und lädt sie hoch. Vorteilhafte Fotos, auf denen man ihr Gewicht nicht sieht, auf denen sie makellos erscheint. Die Bilder werden von anderen kommentiert und bewertet, für sie fühlt es sich an wie ein persönliches Kompliment, das sie genießt. Dann die sozialen Netzwerke: Eine ihrer ersten Fragen an mich war, warum ich nicht bei Facebook bin. Und auch jetzt noch lässt sie

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immer mal wieder durchblicken, dass sie mich dort sehen möchte. Ihre Themen, nach denen sie ihre Gruppen aussucht, sind: Krankheiten, Ernährung, Männer. Sie kann schnell eine große persönliche Nähe herstellen – wie sie es bei mir ja auch mit ihrer Mail geschafft hat. Sie ist charmant, kann heiter und humorvoll sein, man fühlt sich angenehm unterhalten mit ihr. Sie versteht sich auf Smalltalk, lässt aber auch Ernsthaftigkeit durchblicken. Wenn sie jedoch bemerkt, dass ihr Gegenüber noch weitere Kontakte pflegt, dass sie nicht die beste Freundin, sondern eine von mehreren ist, überfällt sie schlagartig eine heftige Wut, die sie nicht zurückhalten kann. Sie wird giftig, zieht sich blitzschnell zurück. Das geht prima auf Facebook. Ein Klick und die Freundschaft ist aufgekündigt, man ist ab sofort nicht mehr erreichbar. Über die Kontaktliste ihres Freundes, der natürlich ebenfalls mit ihren Freunden befreundet ist, schielt sie manchmal noch darauf, wie der andere ihre Freundschaftskündigung aufgenommen hat. Durch diese Vermittlung kann unter Umständen eine Versöhnung zustande kommen und es gibt eine neue Runde, die dann aber sicher und endgültig wieder so endet wie beschrieben. Aber auch mit ihrem Partner verfährt sie anfangs ähnlich, flirtet offen im Netz, ändert ihren Beziehungsstatus in »Single«, um zu prüfen, wie groß ihre Attraktivität auf andere Männer ist. Sie lässt es bis kurz vor eine Verabredung kommen, ihr Freund, der in der Einzimmerwohnung natürlich einen großen Teil davon mitbekommt, ist empört und stellt sie zur Rede, sie wird sich bewusst, wie sehr sie auf ihn angewiesen ist, und rudert zurück. Sie informiert sich auf Gesundheitsseiten und auf Essstörungsforen. Kein Symptom, keine Begleiterscheinung ihrer Erkrankung, die ihr nicht bekannt wäre. Und jedes Mal, wenn jemand eine Missempfindung, ein Gefühl, ein Leid beschreibt, das sie kennt, ist sie ganz glücklich: Sie fühlt sich nicht mehr so allein, ist verbunden mit Leidensgenossinnen. Aus diesem Grund hat sie die medizinischen Diagnosen auswendig gelernt. Sie informiert sich auch über Kliniken und stellt Vorteile und Nachteile zusammen. Die Möglichkeiten des Internets kommen ihr dabei in jeder Hinsicht entgegen. Es bietet ihr: –– Anonymität: Ohne mit ihrer Person dafür einstehen zu müssen, kann sie eine idealtypische Repräsentanz von sich entwerfen, wie einen

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Charakter in einem Spiel, einen Charakter, der sie in der fiktiven Gemeinschaft der vielen vertritt, mit dem sie sich in ihren Eigenschaften und Werten widergespiegelt sieht und hinter dem sie sich auch verstecken kann. Geistige Anregung: Sie kann Informationen aufnehmen und verwerten, befriedigt ihre Neugier. Kompetenz: Sie kann mit ihrem Wissen in Erscheinung treten und nicht nur den Eindruck von Kompetenz und Klugheit erwecken, sondern diese Fähigkeiten auch tatsächlich ausleben in der Bündelung und Auswertung und Weitergabe von Informationen auf unterschiedlichstem Niveau. Zwanglose Nähe: Sie kann unverbindliche Nähe genießen, gestalten oder unterbrechen. Diese Nähe kann bei aller Manipulierbarkeit punktuell durchaus den Charakter einer symbiotischen Verbindung haben, kann sich besser, intensiver anfühlen als alles zuvor Erlebte. Geschwindigkeit als Äquivalent zu Bewegung: Die Bewegung im Netz selbst, das Klicken und Surfen, das Aufrufen und Downloaden bewirkt durch Geschick und Geschwindigkeit an sich schon einen gewissen Lustgewinn. Selbstwirksamkeit, Effektivität: Sie kann Spuren hinterlassen, einen bestimmten Eindruck erwecken, erhält Antworten und »Likes«.

Es war letztlich der Körper, der Frau A. signalisiert hat, dass ihr dieses Leben nicht bekommt. Mit ihrem Übergewicht, vor allem aber mit ihrem absoluten Bewegungsmangel war sie in eine Verfassung geraten, mit der sie nach fünfzig Metern Gehstrecke Luftnot bekam und stehen bleiben musste. Und noch etwas mag bei ihrer Entscheidung, sich auf eine psychotherapeutische Behandlung einzulassen, eine Rolle gespielt haben: Sie fühlte sich grenzenlos überfordert und erschöpft. Obwohl sie nicht arbeitete, ihr Haushalt winzig war, sie nicht kochte, keine Freunde einlud, keine Familie zu versorgen hatte, war sie ausgelaugt. Internet ist anstrengend. Die Entscheidung, die jeder Klick erfordert, die Geschwindigkeit und die letztlich ausbleibende Resonanz hatten die Patientin an den Rand ihrer Kräfte gebracht.

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Lebenssituation und Biographie Die folgenden Angaben zur Lebenssituation und Biographie beschränke ich auf das Wenige, das für das Verständnis des Prozesses hier notwendig ist: Wie schon erwähnt, lebt Frau A. mit ihrem Freund und ihrer Katze in einer winzigen Einzimmerwohnung, die seinen Eltern gehört, und war zu Therapiebeginn zwei Jahre lang nicht aus dem Haus gegangen – ausgenommen zur Frisörin gegenüber. Sie kam in der realen Welt (fast) nicht mehr vor. Den Kontakt zu ihrer Mutter, die in derselben Stadt lebt, hatte sie abgebrochen. Es gab nur gelegentlich eine Mail (!) oder eine SMS, der Dialog endete aber immer schnell in gegenseitigen Vorwürfen und brach dann wieder ab. Weiterhin bestand gelegentlich telefonischer Kontakt zur Großmutter, es konnten aber Monate zwischen zwei Gesprächen vergehen und sie nahm den Tod der Großmutter innerhalb des Behandlungszeitraums ohne große emotionale Beteiligung zur Kenntnis. Innerhalb des Hauses, in dem auch die Eltern des Partners lebten, hatte es zunächst regelmäßige Kontakte beim Essen gegeben, das die Patientin selbstverständlich gemeinsam mit ihrem Partner bei der Schwiegermutter eingenommen hatte – was beide aber nach einigen Monaten eingestellt hatten. Aus dem Erwerbsleben war Frau A. aufgrund ihrer Ängste ausgeschieden, berentet mit knapp dreißig Jahren. Abgesehen von dem Kontakt mit der Frisörin, von der sie in fast freundschaftlicher Weise sprach, spielte sich ihr ganzes Leben in ihrer Wohnung ab. Sie versorgte ihre Katze, putzte jeden Vormittag, bereitete für ihren Partner Fertigprodukte als Mahlzeit zu. Alles andere machte ihr Angst. Selbst der Weg zum Briefkasten, der sich gut einen Meter von der Wohnungstür entfernt befand, war an manchen Tagen ein unüberwindbares Hindernis. Sie fürchtete, in der Wohnung Geräusche zu machen, die von Nachbarn gehört werden könnten. Sie wollte den Eindruck erwecken, es sei niemand zu Hause. Sie machte sich Sorgen, was die Leute darüber denken würden, dass sie nicht arbeitete, wie sie aussah, wie dick sie war, was sie in den Einkaufswagen legte. Eine Szene, die sich später ereignete, als sie zumindest schon wieder einkaufen ging: Sie verlässt das Haus, um zur Bushaltestelle zu gehen. Obwohl sie eine Zeit gewählt hat, in der die meisten Menschen auf der Arbeit sind, bekommt sie mit, dass ein Nachbarehepaar

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das Haus verlässt und ins Auto steigt. Sie nimmt den Bus und fährt zu ihrem Einkaufszentrum. Als sie dort aussteigt, sieht sie das Fahrzeug der Nachbarn auf den Kundenparkplatz einbiegen. Aus Angst vor einer Begegnung im Supermarkt bleibt sie so lange an der Bushaltestelle stehen, bis die Nachbarn ihren Einkauf beendet haben und deren Wagen den Kundenparkplatz wieder verlassen hat. Dann geht sie selbst in den Supermarkt. Ihre Angst, beobachtet zu werden, ist in fast paranoider Weise übersteigert, einen Schutzmantel der Anonymität gibt es für sie nicht. Das Ausgeschlossensein aus sozialen Beziehungen reicht bis weit in ihre Kindheit zurück: Auch wenn es noch gar keine PCs, Spielkonsolen und erst recht kein Internet gab, ist die Patientin schon zu Beginn der 1980er Jahre eines von den Kindern gewesen, die man auf der Straße nie sah. Eine Kindheitserinnerung: Eine ihrer frühesten Aufgaben im Haushalt war, den Müll in den entsprechenden Container zu bringen. Sie musste dafür durch einen Kellergang und auf die Rückseite ihres Mietshauses, zu einem Platz, an dem oft Kinder oder Jugendliche spielten oder standen. Ihre Angst, hier gesehen oder gar angesprochen zu werden, führte dazu, dass sie über Monate den Müll im Keller ablegte, wo er natürlich nach einiger Zeit durch Geruchsbildung auf sich aufmerksam machte. Ihre Vermeidung fiel auf, sie wurde ausgeschimpft und bekam die Strafe, die in einzigartiger Weise geeignet war, den Teufelskreis der Vermeidung am Laufen zu halten: Hausarrest. Sich zeigen blieb für die Patientin untrennbar verbunden mit Scham, Angst vor Spott, Demütigung, Bloßstellung oder Ablehnung: »So, wie ich bin, kann mich keiner mögen.« Natürlich deuten sich hier Defizite in der Persönlichkeitsentwicklung und in der Selbstwertregulation an, auf deren psychodynamische Wurzeln ich aber jetzt nicht weiter eingehen möchte – hier soll es ja um die Funktion der neuen Medien in der Bewältigung dieser Defizite gehen. Als Zielfläche ihrer narzisstischen Reparatur wählte die Patientin ihr Äußeres, ihre Erscheinung. Wenn ich mich verändere, anders aussehe, schönere Kleider habe, wenn ich eine andere Figur habe, eine reinere Haut, eine andere Hautfarbe, dann werden mich die Menschen mögen. Frau A. fing früh an, sich für Kosmetikprodukte zu interessieren. Auch wenn sie die politische Bedeutung der Wende mit ihren damals acht Jahren noch nicht erfasste, so bekam sie doch die Folgen mit, die

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plötzliche Erweiterung des Warenangebots. Und diese erreichte sie, ohne auf die Straße oder aus dem Haus gehen zu müssen, sozusagen im Kinderzimmer: durch Fernsehen, Werbeprospekte und Zeitschriften, die sie sich bei Einkäufen ohne Beschränkung in den Wagen legen durfte. Für die Erwachsenen in ihrer Umgebung war es unbedeutend, womit sie sich da beschäftigte, Hauptsache das Kind war still und zufrieden. Ab und zu hatte sie eine Freundin, mit der sie sich über die neuesten Errungenschaften und Kenntnisse austauschte und mit der sie zusammen ihre Karriere als Topmodel plante. Sie war wegen ihres Wissens und ihres Besitzes an Kosmetikprodukten schon im Jugendalter sicher durchaus attraktiv für manches hausbackene andere Mädchen. Diese Kontakte gingen jedoch immer dann kaputt, wenn eine Dritte hinzukam. Hatte die Freundin noch eine andere Freundin, war es vorbei, die Patientin zog sich gekränkt zurück. Sie suchte die absolute Symbiose, die perfekte Zweisamkeit. Immerhin gab es eine kurze Zeit von vier oder fünf Jahren, in der sie sich tatsächlich im richtigen Leben bewegte: Sie machte eine Ausbildung zur Bürokauffrau, besuchte eine Berufsschule, schloss ab, fand eine Stelle in einem Familienunternehmen, in dem sie sich sehr wohl fühlte, die sie aber wegen der Firmenschließung wieder verlor. Sie lernte – wieder über die neuen Medien, übers Internet – einen Mann kennen, mit dem sie eine zweijährige Liebesbeziehung oder besser eine Affäre hatte, die so aussah: Sie fuhr abends siebzig Kilometer zu ihm hin, teilte mit ihm Essen, Sex und Fernsehen und fuhr dann wieder nach Hause. Immerhin setzte sie diese Beziehung gegen den Widerstand der Mutter durch, die sie mit allen Mitteln daran zu hindern versuchte. Am Ende machte sie einen halbherzigen Suizidversuch und kam in eine Klinik, anschließend in eine Tagesklinik, wofür sie heute nur verächtliche Worte findet. Ihre Eltern haben sie dort kaum besucht. Dann lernte sie, wieder im Internet, ihren jetzigen Partner kennen, mit dem sie seitdem in einer Einzimmerwohnung lebt. Anfangs ist er arbeitslos, sie hat noch ihre Arbeit und ein Auto, dann verkehren sich die Positionen, er findet Arbeit, sie verliert ihre und wird krank. Ich habe diesen Fall ausgewählt, weil er mir, bei aller Pathologie der Störung, in seiner Erscheinungsform so normal erscheint. Er zeigt, dass die Medien in der Kompensation psychischer Erkrankungen eine große Bedeutung haben und hier mittlerweile oft soziale Netze, Sport-

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vereine, familiäre Bindungen, Stammtische, Interessengemeinschaften usw. weitgehend ersetzen. Das gilt im Übrigen bereits für das Fernsehen. Wie viele Menschen schalten in Ermangelung lebendiger Kontakte den Fernseher unverzüglich an, sobald sie ihre Wohnung betreten, weil es dann nicht mehr so einsam ist? Und wie viele schalten den Fernseher ebenfalls unverzüglich an, obwohl andere Familienmitglieder da sind? Die Kommunikation geht dann über die Anteilnahme an den im TV gezeigten Schicksalen, stellvertretend für das eigene, was über weite Strecken offenbar genauso befriedigend zu sein scheint. In der psychotherapeutischen Praxis bekommen wir es dann aber mit den Menschen zu tun, die unter der Einseitigkeit ihrer Kontakte so sehr leiden, dass die technischen Kompensationsmöglichkeiten nicht mehr ausreichen.

Der therapeutische Prozess Was bedeutet es für Frau A., sich in Psychotherapie zu begeben? Nach zwei Jahren völligem Rückzug begibt sie sich das erste Mal wieder auf die Straße, auf den Weg. Der Raum, den sie dort vorfindet, ist fremd und er ist real. Mit der Person, also mit mir, weiß sie nicht so recht, was sie mit ihr anfangen soll: Ich sitze zwar leibhaftig vor ihr, bin aber doch nicht zu greifen – bin nur professionell mit ihr befasst und habe damit wiederum Ähnlichkeit mit ihren virtuellen Gesprächspartnern. Sie kommt nicht gut zurecht mit Ärzten, hat schlechte Erfahrungen. Beklagt sich über ihre Psychiaterin, die immer irgendetwas von ihr wolle. Sie soll in die Klinik gehen. Sie soll abnehmen, später soll sie dann zunehmen. Will ich auch etwas von ihr und gebe es nur nicht gleich zu? Es gibt nach circa achtzig Sitzungen eine bedeutsame Interaktion zwischen uns: Ich begrüße sie wie immer freundlich an der Tür und begleite sie ins Behandlungszimmer. Sie schaut mich an und sagt: »Ich mag das nicht, dass Sie immer so freundlich sind. Das setzt mich unter Druck.« Diese Bemerkung trifft mich tief, ich spüre mich in meiner Bewegung auf sie zu plötzlich gebremst, unterbrochen, bin wütend und ratlos. Was soll ich damit anfangen, dass ich ihr noch nicht einmal freundlich entgegenkommen darf? Dann überlege ich, was sie meinen könnte. Bin ich vielleicht wirklich etwas professionell unecht-freundlich ihr gegenüber? Nein, das ist es nicht. Ich mag sie ja gerade wegen

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dieser Reste an Trotz und Widerstand, die sie bewahrt hat, sehe das als Zeichen ihrer Vitalität, die ihr doch sonst so verloren gegangen ist. Und ich merke, wenn ich mich einzufühlen versuche in ihren Affekt, dass ich ihn verstehen kann. Sie hatte den Auftrag, ein liebes, nettes Mädchen zu sein, ist überschüttet worden mit Dingen, mit Süßigkeiten und Spielzeug, um Ruhe zu geben. Ihre Affekte waren nur in Form eines freundlichen Lächelns oder Entzückens erlaubt, wie wenn in der Fernsehwerbung Schokoriegel verteilt werden. Mit diesen Überlegungen fällt es mir nicht mehr schwer, mich zurückzunehmen und ihr zu sagen, dass ich ihren Wunsch respektiere. Und tatsächlich versuche ich eine Haltung anzunehmen, die mehr Neutralität bietet, ich enthalte mich freundlicher ebenso wie spontaner Äußerungen. Doch der Reihe nach: Unser Umgang miteinander war oft schwierig. Die ganze erste Zeit war geprägt von einem unterschwelligen Kampf, latenter Besserwisserei. Wenn ich zum Beispiel mit ihr über die Reaktion von Passanten auf sie sprach – wie andere sie wahrnehmen würden, welchen Eindruck sie mache – und dabei die Möglichkeit erwog, andere würden sich vielleicht gar nicht so sehr für sie interessieren, wie sie meine und auf ihre vermeintlichen Schwachstellen gar nicht Acht geben, musste ich mir manches Mal anhören: »Sie haben ja keine Ahnung, darauf achten die Leute! Was wissen Sie denn schon!« Die Autorität ihrer Argumente bezog sie fast immer aus dem Internet. Dort stand es doch, wissenschaftlich belegt, worauf Menschen bei der Kontaktaufnahme achten! »Männer gucken zu 70 % immer zuerst auf Augen, Taille, Dekolleté oder was auch immer …« – sie hatte eine Art, das Internet als Beleg ihrer tendenziellen Apperzeption anzuführen, die mich ständig ins Unrecht setzte. Und das ist in der Tat eine große Verführung des Internets. In Sekundenbruchteilen lassen sich scheinbar objektive Informationen abrufen. Welches Niveau diese haben, ob es seriöse wissenschaftliche Erkenntnisse sind oder zu Marketingzwecken erzeugte Fakten, erschließt sich nicht auf den ersten Blick. Ganz abgesehen davon, dass es manchmal auch kaum noch Unterschiede zwischen seriöser und marktorientierter Forschung gibt. Wie soll der normale Internetnutzer sich hier zurechtfinden? Die schnelle Verfügbarkeit von Aussagen ersetzt jedoch keine Systematik bei den Suchoptionen. Und die fehlte meiner Patientin. Sie nahm wahllos alles auf, was da stand.

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Gerade Zahlen haben hier eine magische Verführungskraft. Werden fünf Sterne bei einer Bewertung sichtbar, so ist es das Qualitätsmerkmal, das nur in Ausnahmefällen in Relation gesetzt wird zur Anzahl der zugrunde liegenden Bewertungen. Die Werturteile meiner Patientin jedenfalls richteten sich blind nach den Ergebnissen, nicht aber nach deren Zustandekommen. So kämpften wir. Meine Annahmen gegen ihre internetgestützten Wahrheiten. Eine andere Schwierigkeit war, dass ich bei der Anamneseerhebung so viel vergaß. Wie oft sagte sie mir empört: »Das habe ich Ihnen doch schon erzählt!« Wie oft musste ich mich entschuldigen und sie bitten, es doch noch einmal zu wiederholen – ihr erklären, dass wir in der Therapie vermutlich ganz vieles ständig wiederholen würden, immer mit einem anderen Blickwinkel. Selten habe ich so viel am Anfang mitgeschrieben, weil ich ständig Angst hatte, etwas zu vergessen. Und ich bin jemand, die am liebsten gar nicht mitschreibt, die Dokumentationspflicht ist mir ein Gräuel. Andererseits kann ich nach Jahren noch Geschwisterkonstellationen auswendig und weiß noch Träume oder Begebenheiten, an die sich die Patienten selbst kaum noch erinnern können, so dass mir oft gesagt wird: »Dass Sie das noch wissen!« Warum fiel es mir bei dieser Patientin so schwer? Ihre Aussagen waren affektbereinigt. Da sie am Anfang sowieso nicht viel spontan sprach, musste ich vieles erfragen. Ihre ganze Anamnese, die Vorbehandlungen – sie war bereits einmal nach ihrem Suizidversuch stationär und teilstationär behandelt worden –, über all das berichtete sie nicht spontan, sondern ich musste immer wieder nachfragen und es in eine chronologische Reihenfolge bringen. Frau A. antwortete zwar, aber es war ein Dialog, den ich als digital bezeichnen würde. Ich fragte, sie antwortete so, wie man eine Antwort in eine Tastatur eingibt. Damit war für sie ihre Aufgabe erledigt, sie erwartete von mir, alles zu speichern, es abrufbar zu halten. Wenn etwas verloren gegangen war, ärgerte sie sich, als sei ihr PC abgestürzt und sie müsse nun alle Eingaben wiederholen. Ich war ein PC mit Datenverlust. Sie war Funktionieren gewohnt und ich verweigerte ihr das. Sie konnte aber auch verzeihen. Irgendwie muss sie die Ernsthaftigkeit meines Interesses an ihr doch gespürt haben. Denn eine Zeit lang brachte sie Material mit: Fotos von früher, ganz frühe, auf denen sie mit ihrer Mutter abgebildet war – daneben war eine Figur ausge-

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schnitten, die ihren Vater dargestellt hatte. Ihre Mutter hatte die Fotos mit der Schere bearbeitet. Dann Fotos, die sie selbst von ihrer Wohnung, ihrer Katze und dem Blick aus ihrem Fenster gemacht hat, unscharf und durch Fliegengitter hindurch fotografiert. Sie wollte, dass ich mir vorstellen konnte, wie sie da sitzt und fürchtet, irgendjemand könnte etwas von ihren Lebensbewegungen mitbekommen, einen Husten, Schritte oder so. Sie wollte mich schon mitnehmen, aber sie konnte es nicht durch Sprechen äußern, nicht durch das Zeigen ihrer Gefühle, sondern nur durch Vorlegen von Material. Sie brachte auch andere Dinge mit: eine Karte, die ihr Mitpatienten und Therapeuten bei der Entlassung aus der Tagesklinik mitgegeben hatten. Ein gefaltetes Herz mit vielen guten Wünschen für ihren weiteren Lebensweg. Es rührte mich, wie viel Resonanz sie dort trotz ihrer sozialen Defizite ausgelöst hatte. Es folgte eine Phase, in der sie sich, wenn auch in festen Bahnen, wieder in der Welt bewegte. Sie griff auf Aktivitäten zurück, die sie sich in der kurzen Zeit ihrer Selbständigkeit nach dem Auszug aus dem Elternhaus erschlossen hatte. Lebensstiltypisch ging es dabei um die Optimierung ihrer Fassade: Es sprachen sie alle Einrichtungen an, die darauf spezialisiert waren: Nagelstudios, Fitnessstudios, Sonnenstudios, Drogerien und Modeläden. Hierhin führten ihre ersten Wege. Sie tat das ganz von selbst, ohne dass wir vorher darüber gesprochen hatten. Mir erzählte sie es eher beiläufig, manchmal Stunden später, ließ mich an den »Revolutionen«, die sich da nach zweijähriger Versenkung vollzogen, kaum teilhaben. Manchmal spürte ich auch Stolz. Als sie sich nach etlichen Jahren wieder hinter das Steuer eines Autos gesetzt hatte – ihr Schwiegervater hatte sie gebeten, sie von einer Untersuchung beim Arzt abzuholen – fand sie tatsächlich den Mut zu diesem Entwicklungsschritt. Das nächste Projekt, das sie in Arbeit nahm, war eine radikale Veränderung ihres Körpers. Über ein Jahr stellte sie ihre Ernährung um. Nach einem im Internet gefundenen Konzept nahm sie über vierzig Kilo ab, bis sie an die Grenze zur Magersucht geriet und ich anfing, mir Sorgen zu machen. Frau A. verlor in dieser Zeit kaum ein Wort darüber, wie es ihr damit ging. Es schien, als sei sie programmiert auf einen von ihr kaum noch beeinflussbaren Prozess. Ich erfuhr jedoch,

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dass sie durchaus Mühe darauf verwendete, ihn am Laufen zu halten. Sie kaufte aufwändig ein, nur bestimmte Nahrungsmittel waren zugelassen. Sie bereitete sich sorgfältig und zuverlässig jeden Tag zur selben Zeit ihre eine, große Mahlzeit zu. Sie aß allein, noch bevor ihr Freund Feierabend hatte. Sie machte alles sauber, beseitigte quasi alle Spuren, und wenn er nach Hause kam, machte sie ihm völlig unabhängig eine kleine Abendmahlzeit. Ich merkte, wie wichtig es ihr war, völlige Autonomie zu wahren. Keiner sollte sie bei diesem Prozess beeinflussen, außer ihren Chatpartnern im Internet, die sich ebenfalls dieser Ernährungsform verschrieben hatten. Es ist nicht so, dass wir nichts Wichtiges zu besprechen gehabt hätten in diesem Jahr. Kindheitserinnerungen konnten differenziert werden, ihre Phobien wurden in den lebensgeschichtlichen Wurzeln aufgearbeitet usw. Aber aus ihrer radikalen körperlichen Veränderung war ich ausgeschlossen. Ich merkte es manchmal in dieser Zeit besonders an der Entfremdung, wenn sie an der Tür stand. Ich kannte sie oft nicht wieder, sie war ein ganz anderer Mensch und ich musste mich jede Stunde mühsam wieder auf sie einschwingen, sie quasi wiederfinden. Manchmal spürte ich auch ihren Triumph, manchmal ihr Leid, wenn sie mir mitteilte: »Ich mach ja sowieso alles alleine.« Es änderte sich erst wieder, als ihr Gewicht bedrohlich niedrig wurde und ich ihr meine Sorgen mitteilte. Sie fühlte sich kritisiert, unterdrückt, gegängelt von mir, von der Psychiaterin, die auf Klinikeinweisung drängte. Sie konnte sich nicht auf eine andere Ernährung umstellen und fing an, wieder Süßigkeiten zu essen. Sie nahm wieder zu. Selten habe ich mir in einem Behandlungsprozess so oft die Frage gestellt, was ich da eigentlich tue: Sind meine Vorstellungen von seelischer Gesundheit überhaupt vereinbar mit denen meiner Patientin? Warum will ich sie aus einer Welt herausholen, in der sie sich so gut arrangiert hat? Ich antwortete mir selbst: »Weil sie letztlich, bei aller Kompensation in den neuen Medien, darunter leidet, kaum lebendige Kontakte zu haben, und weil ihr Blick durchs Fenster auf die Welt auch ein sehnsüchtiger ist. Sie möchte teilhaben, es misslingt ihr aber und sie rettet sich ins sichere Netz.« Nun würde aber die Tatsache, dass sie für die Therapiestunden einmal, später zweimal pro Woche das Haus verließ, nicht ausreichen, um ihr eine Lebensrealität außerhalb des Internets schmackhaft zu machen.

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Verhaltenstherapie mit Üben und Ausprobieren hatte sie hinter sich, aber nur kurzfristig davon profitiert. Sie brauchte eine Beziehungserfahrung, in der sie ihr eigenes Potenzial erlebte, in der sie etwas bewirken konnte und in der sie mit ihrem destruktiven Agieren angenommen wurde. Wo sie sich sicher fühlte vor Manipulation. Das Internet ist zwar ideal für diese Bedürfnisse, es fehlt ihm allerdings die affektive Resonanz. Die Grenzen der empathischen Einfühlung hat schon ELIZA1 verdeutlicht, das Interaktionsprogramm, das Joseph Weizenbaum 1966 entwickelt hat und das eine Zeit lang unter der Erwartung stand, Psychotherapie überflüssig machen zu können. Doch Empathie war zunächst für meine Patientin eher ein Zeichen von Schwäche. Sie ließ mehrfach erkennen, dass ich ihr nicht belastbar genug erscheine, um ihre Phantasien oder Impulse auszuhalten. »Sie sind so zart, so zerbrechlich«, sagte sie einmal, eine Eigenschaft, die mich eher weniger treffend charakterisiert. Aber sie empfand mich so, wenn ich die Feinheiten ihrer seelischen Bewegungen wahrnahm und aufgriff. Ich stand in Konkurrenz zur Robustheit und Neutralität des Internets, wurde daran gemessen. Unser Kampf um die Sitzungsfrequenz veranschaulicht das Ringen darum, welche Bedeutung sie der therapeutischen Beziehung einräumte und verweigerte: Ich hatte ein modifiziertes analytisches Vorgehen mit zwei Sitzungen pro Woche beantragt. Das kam aber nicht zustande. Frau A. konnte es nur einmal pro Woche schaffen, zumal die Fahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln recht aufwändig war – sie benötigte pro Fahrt eine gute Stunde. Auch wenn das für jemanden, der nicht arbeitete, kein unüberwindbaren Hindernis darstelle dürfte, weigerte sie sich strikt, zwei Therapiesitzungen in der Woche bei mir wahrzunehmen. Wieder ein Machtkampf. Sollte ich, um den Erhalt der Beziehung zu sichern, nachgeben oder darauf bestehen? Ich entschied mich für eine Verschiebung der angestrebten Problem1 ELIZA ist gemäß Wikipedia-Auskunft (2014) »ein 1966 von Joseph Weizenbaum entwickeltes Computerprogramm, das die Möglichkeiten der Kommunikation zwischen einem Menschen und einem Computer über natürliche Sprache aufzeigen sollte. […] Das Programm kann über so genannte Skripten verschiedene Gesprächspartner simulieren. Bekannt geworden ist es für die oberflächliche Simulation eines Psychotherapeuten, der die non-direktiven Methoden der klientenzentrierten Psychotherapie nach Carl Rogers verwendet«.

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lösung. Ich sprach die Patientin immer mal wieder darauf an, ob sich die Voraussetzungen für eine zweite Stunde verbessert hätten. Später war es nicht mehr die Fahrt, sondern ihr Essritual, das dann gestört sei, oder die Katze, die zu lange unversorgt bleiben würde. Da ich auch nicht wollte, dass sie für die Fahrt zu mir alle anderen, mühsam errungenen Aktivitäten einstellte, wartete ich weiter. Es kamen dann Stunden, wo sie mir mit der oben beschriebenen Beiläufigkeit erzählte, was sie unternommen hatte, zum Beispiel schilderte sie einen Tag im Hansapark, wo sie die abenteuerlichsten Fahrzeuge bestiegen hatte, Loopings gefahren war und Dinge getan hatte, bei denen sich mir der Magen umdrehte. Ich dachte: »Wie kann es sein, dass sie zu solchen Aktivitäten inzwischen in der Lage ist, aber mir die zweite Stunde ablehnt?« Als es ihr dann wieder einmal sehr schlecht ging und sie von der Zumutung sprach, die es für mich sei, sie immer wieder zu ertragen, dementierte ich mit dem Hinweis, dass ich sie ja sogar zwei Stunden in der Woche ertragen würde. Da willigte sie ein. Das Respektieren der Autonomiewünsche – besser wäre hier vielleicht die Formulierung Autonomieillusionen – ist damit ein wichtiger Punkt für das therapeutische Vorgehen. In Ermangelung einer feinfühligen, positiv getönten affektiven Beziehung zur Mutter hatte die Patientin sich als universelles Objekt das Internet gewählt, das allzeit verfügbar, antwortend zur Verfügung steht und – wenn auch ohne eigene Affekte – geeignet ist, emotionale Reaktionen bei ihr auszulösen. Die Gefahr von Ausgeliefertsein oder Abhängigkeit erscheint um ein Vielfaches geringer als in der Beziehung zu einem realen Gegenüber. Für die therapeutische Beziehung ist das Internet daher ein gewaltiger Konkurrent und erst, wenn eine Patientin wie Frau A. ein Gefühl dafür entwickelt hat, welche Erlebnisqualitäten ihr ein lebendiges, antwortendes Gegenüber vermittelt, wird sie sich lösen können und beides nebeneinander haben können: einerseits die Internetnutzung für ihre Kommunikation und zur Erledigung von Aufgaben und andererseits persönliche Beziehungen für das Erleben affektiver Spiegelung und empathischer Einfühlung.

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Abschließende Betrachtung Eine große Hilfe in dieser Behandlung war der Partner der Patientin, der mich von vornherein akzeptierte. Meistens kam er sogar mit, weil er seine Freundin auf der Fahrt begleitete, und wartete im Vorraum. Manchmal betrat er statt ihrer das Behandlungszimmer und signalisierte, er müsse heute mal mit mir allein sprechen. Nach einer Rückversicherung bei ihr, die immer damit einverstanden war, taten wir das. Gelegentlich redeten wir auch zu dritt. Ohne es genau zu wissen, vermute ich, dass die Patientin an einigen schwierigen Punkten den Kontakt zu mir nur deswegen hielt, weil ihr Partner darauf bestand. Damit gelang eine Triangulierung, die der Patientin ihr Leben lang gefehlt hatte. Ihr Vater war verschwunden, als sie noch kein Jahr alt gewesen war und hinterließ nichts als ausgeschnittene Flecken auf Fotos. Mit ihrem Partner und mir hatte sie neben dem Internet zumindest schon zwei real existierende und antwortende Personen. Doch was mich als Therapeutin betrifft, liegt darin auch gleichzeitig die Schwierigkeit: Ich bin ja nur ein Übergangsobjekt. Ich bin da, um wichtige, elementare strukturelle Reifungsvorgänge zu ermöglichen, bin aber auch da, um mich sogleich wieder überflüssig zu machen. Therapeuten sind Zwitterwesen: Sie sind reales Gegenüber, sie empfinden mit, zittern mit, trösten, berühren seelisch, zeigen ihre Rührung und helfen so, die eigenen affektiven Bewegungen zu verstehen, zu ertragen und zu steuern. Sie sind aber zu einem anderen Teil auch unwirklich, verbergen ihre eigenen Empfindungen und ihre Lebensrealität, sind professionell ausgewogen und damit auch ein bisschen wie virtuelle Wesen. Man darf sie nicht wirklich lieb gewinnen, denn man muss sie ja wieder loslassen. Ich kann nur hoffen, dass ich meine Aufgabe mit dieser Patientin hinlänglich erfüllt haben werde, wenn das Stundenkontingent erschöpft ist. Sonst besteht die Gefahr, dass sie wieder Internetkontakte vorziehen und die Zeit in meiner Behandlung vielleicht für ganz nett, aber letztlich ineffektiv erklären wird. Ich muss sie nachhaltig davon überzeugen, dass die virtuelle Welt kein Ersatz für die Nähe sein kann, die man mit lebendigen Menschen oder meinetwegen in ihrem Fall auch mit einer Katze auf dem Schoß haben kann. Um es mit Reiner Kunze (1979, o. S.) zu sagen: »Der Mensch kann auf dem Mond erwachen, aber keine Katze machen.«

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Literatur Carr, N. (2010). Wer bin ich, wenn ich online bin … … und was macht mein Gehirn so lange? Wie das Internet unser Denken verändert. München: Blessing. Kunze, R. (1979). Das Kätzchen. Frankfurt a. M.: Fischer. Spitzer, M. (2012). Digitale Demenz. Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen. München: Droemer Knaur. Weizenbaum, J. (1966). ELIZA – a Computer program for the study of natural language communication between man and machine. Communications of the ACM, 9 (1), 36–45. Wikipedia (2014). ELIZA. Zugriff am 15. 10. 13. unter http://www.de.wikipedia.org/wiki/ELIZA

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Andrea Heyder

Kein geschützter Raum – nirgends? Abstinenz in Zeiten globaler Vernetzung

No protected space – nowhere? Abstinence in times of global networking How do the modern possibilities of technical networking influence the virtual world of the psychotherapeutic treatment? What does it mean to the networking of transference and countertransference? How can we find a professional attitude as psychotherapists/psychoanalysts dealing with these mediums in the context of treatment? Starting from Winnicott’s concept of transitional space (potential space) the author develops an intersubjective understanding of psychotherapeutic/psychoanalytic treatment and abstinence and describes it as a dynamic within a multi-dimensional field. Related to the questions above, the significance of the physical-sensual and the spatio-temporal reality of treatment for the development of a potential space is worked out. Finally, the danger of failing abstinence is discussed, if there is a too pragmatic handling of the modern mediums within the psychotherapeutic communication. Zusammenfassung In welcher Weise können die heutigen Möglichkeiten der technischen Vernetzung die virtuelle Welt des Behandlungs-Raumes beeinflussen? Was bedeutet dies für die »Vernetzung« von Übertragung und Gegenübertragung? Wie können wir als Psychotherapeuten und Psychoanalytiker eine professionelle Haltung zum Umgang mit diesen Medien im Kontext von Behandlung finden? Ausgehend von Winnicotts Konzept des Übergangsraumes wird ein intersubjektives Verständnis von psychotherapeutischer/psychoanalytischer Behandlung und Abstinenz entworfen und als eine Dynamik in einem mehrdimensionalen Spannungsfeld beschrieben. Diese Überlegungen werden schließlich auf die Ausgangsfrage bezogen. Dabei wird die Bedeutung der leiblich-sinnlichen und räumlich-zeitlichen Realität der Behandlungswirklichkeit hervorgehoben und die erhöhte Gefahr von Abstinenz-Brüchen bei einem allzu pragmatischen Umgang mit den modernen Medien in der psychotherapeutischen Kommunikation zur Diskussion gestellt.

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Vorbemerkung Die Grundidee zu diesem Beitrag, eingebettet in das Tagungsthema »Virtuelle Welten«, entstand aus der Erfahrung, dass wir auch in unserem Behandlungsalltag – ob wir es wollen oder nicht – immer häufiger mit den täglich fortschreitenden technischen Vernetzungsmöglichkeiten konfrontiert sind: zum Beispiel, indem uns Patienten Therapieanfragen per E-Mail schicken, weil sie uns im Netz gefunden haben; zum Beispiel, indem Stundenabsagen per SMS oder E-Mail getätigt werden. Möglicherweise schreibt uns der Patient auch von sich aus während der Behandlung umfangreichere E-Mails oder SMS. In Krisenzeiten kann es geschehen, dass wir in Erwägung ziehen, dem Patienten unsere Handy-Nummer zu geben oder gar E-Mail-Kontakt anzubieten. Im weiteren Sinne gehört auch die Frage dazu, ob man eine Homepage anbietet, ob man auf Twitter oder Facebook präsent werden will, wie man sich selbst im Netz bewegt und inwiefern man dabei möglicherweise Patienten »begegnet«. Alle diese Vernetzungen können im Behandlungsraum eine Bedeutung gewinnen. Dieser Raum, der in der Regel als eine Zweiersituation konzipiert ist, deren Rahmung als besonders schützenswert gilt und die auf dem Dialog zwischen zwei leibhaftig anwesenden Personen basiert, bekommt dadurch Inputs, die in ihrer jeweiligen Bedeutung subtil wirksam sein können. Das ohnehin sehr komplexe Geschehen von Übertragung und Gegenübertragung, das auf den Halt gebenden Rahmen eines möglichst klaren Settings und einer professionellen inneren Haltung des Therapeuten angewiesen ist, bekommt zusätzliche Dimensionen, die es sich meines Erachtens zu betrachten lohnt. Ausdrücklich nicht eingehen möchte ich an dieser Stelle auf Überlegungen hinsichtlich einer Psychotherapie über das Medium Internet, ein Thema, welches ein weites Feld ist und auf wachsendes Interesse stößt. Ich möchte meine Betrachtungen hier in diesem Beitrag eingrenzen auf die traditionelle leib-seelische Begegnung im realen Behandlungszimmer. Man könnte sich nun auf den Standpunkt stellen: Ich benutze einfach kein Handy und keine E-Mail. Eine Homepage habe ich schon gar nicht – und Facebook – was ist das? Ob wir es aber wollen oder

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nicht: Wir werden mit diesen Vernetzungen und neuen Medien konfrontiert, sie gelangen in den Behandlungsraum. Denn zusätzlich zu den eben beschriebenen möglichen Szenarien begegnen wir auch über die Lebenswelt unserer Patienten neuen Phänomenen. Möglicherweise bekommen wir ganze per SMS erfolgte Dialoge vorgelesen, spontan Lieder vorgespielt, Bilder gezeigt. Oder wir bemerken suchtartige Phänomene im Umgang unserer Patienten mit Twitter, Facebook oder dem Handy bzw. Smartphone und fragen uns, mit wem der Patient denn eigentlich in einer therapeutischen Beziehung steht. Es kann aber auch passieren, dass Patienten uns von Dingen erzählen, von denen wir »nur Bahnhof verstehen«. Eltern lösen das heutzutage manchmal so, dass sie sich selbst zum Beispiel auf Facebook anmelden, um sich einen Durchblick zu verschaffen und kommunikativen Zugang zu erhalten. Uns – als traditionell nach innen blickenden Psychotherapeuten und Psychoanalytikern – geht es – je nach Generation – nicht selten so, dass wir erst einmal kaum wissen, wovon überhaupt gesprochen wird. Gerade bei denjenigen, die diese Medien nie oder selten nutzen, gibt es eher Berührungsängste. Umgekehrt wird es von jüngeren Kollegen dagegen oft recht selbstverständlich gehandhabt, mit Patienten zum Beispiel auch per E-Mail oder SMS zu kommunizieren. Nicht selten wirft dies jedoch im Verlauf der Therapie Fragen bzgl. der Übertragungsdynamik auf. Anliegen meines Beitrags ist es nicht, über die virtuellen Welten von Internet und wachsender technischer Vernetzung zu referieren. Mein Anliegen ist es, zu beleuchten, in welcher Weise die heutigen Möglichkeiten der technischen Vernetzung die virtuelle Welt des Behandlungs-Raumes beeinflussen können, damit wir als Psychotherapeuten/ Psychoanalytiker eine professionelle Haltung zum Umgang mit diesen Medien im Kontext von Behandlung finden können. Im Zentrum dieser Haltung steht die Frage nach der psychotherapeutischen Abstinenz. Ich gehe dabei davon aus, dass wir als Psychotherapeuten und Psychoanalytiker auf unsere Weise schon lange Fachleute für virtuelle Welten sind – nämlich der Welten, die im Zwischen-Raum zwischen Patient und Therapeut im Behandlungsprozess entstehen. Diese Zwischen-Welten werden – je nach Ausrichtung – mit unterschiedlichen Begriffen und Konzepten zu fassen versucht. Das vermutlich bekannteste ist das Konzept des Übergangsraumes, das Donald Winnicott schon in den 1950er Jahren entwickelte. Win-

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nicott nannte diesen Raum auch »intermediären Raum« (Winnicott, 1971/2006). Thomas Ogden prägte darauf aufbauend den Begriff des potenziellen Raumes (Ogden, 1997), und Robert Stolorow verwendet den Begriff des intersubjektiven Feldes (Stolorow, Brandchaft u. Atwood, 1987/1996). Aus einer anderen Richtung kommend finden wir bei Antonino Ferro (1996/2012), einem italienischen Analytiker, mit Bezug auf Bion und frühe gestaltpsychologische Ansätze, die Bezeichnung »bipersonales Feld«. Die im letzten Jahrzehnt zunehmenden Diskussionen über die so genannte »intersubjektive Wende« rücken deutlich in den Blick, dass wir immer mehr zu Spezialisten für Vernetzungen (im interpersonellen Raum) werden. Sicher ist vielen von Ihnen das Buch »Die vernetzte Seele« (Altmeyer u. Thomä, 2006) bekannt, in dem die Thematik aus unterschiedlichsten Perspektiven beleuchtet wird. Adlerianer freuen sich über diese Entwicklungen, da ihnen eine ganzheitliche Betrachtungsweise und das Denken in sozialer Bezogenheit naheliegt. Das nun Folgende möchte ich in drei Abschnitte einteilen: Unter dem Blickwinkel »Die virtuelle Welt der Behandlungswirklichkeit« möchte ich als Erstes diese virtuellen Welten etwas ausleuchten. Dabei geht es mir vor allem darum, dass wir uns zunächst ein möglichst anschauliches Bild von dem machen, was in der Behandlung passieren könnte und/oder sollte. Dann wende ich mich mit der Frage »Wie geht Abstinenz trotz Vernetzung?« der Überlegung zu, wie wir auf dem Boden der komplexen Vernetzung innerhalb der Behandlungs-Wirklichkeit heutzutage eigentlich Abstinenz verstehen könnten. Hierzu möchte ich versuchen, ein abstrakteres Bild dieses Feldes zu entwerfen, das helfen kann, die in diesem Feld wirksamen Spannungen zu veranschaulichen, und das ein intersubjektives Verständnis von Abstinenz beinhaltet. Und schließlich werde ich im dritten Abschnitt – »Medien im Möglichkeitsraum« – diese Überlegungen auf die oben skizzierten Berührungspunkte zwischen den virtuellen Welten der technischen Vernetzung und der jeweils virtuellen Welt eines therapeutischen Prozesses beziehen und dazu ein paar Hypothesen zur Diskussion stellen. Mein Anliegen ist dabei nicht, etwas Fertiges zu präsentieren, sondern zu Gedankenspielen anzuregen.

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Die virtuelle Welt der Behandlungswirklichkeit Schon der allererste Kontakt öffnet den Raum. Der Klang der Stimme am Telefon, die Zeit des Anrufes, mit welchen Worten uns das Therapieanliegen angetragen wird …, all das regt schon Bilder in uns an – vielleicht Erinnerungen an Menschen, die wir kennen, lieben, hassen …, oder auch an Patienten, die schon einmal bei uns in der Behandlung waren. Ob der Patient uns im Internet entdeckt hat oder ob ein Arzt uns empfahl, löst vielleicht Interesse, Angst, Druck oder dass wir uns geschmeichelt fühlen, in uns aus. Wenn wir uns dann von Angesicht zu Angesicht begegnen, gibt es möglicherweise Gefühle von angenehmer Überraschung oder unangenehmem Erschrecken, denn die erste persönliche Begegnung trifft unter diesen Umständen schon auf ein inneres Bild, wie der andere gesprochen, geklungen hat … Wie man sich begrüßt, wie sich Blicke, Hände berühren, löst weitere Gefühle, Phantasien, Erinnerungen aus, womöglich sogar der Geruch des Menschen, dem wir zum ersten Mal persönlich begegnen. Das alles gilt für beide Beteiligte, Patient und Therapeut. Beim Therapeuten, insbesondere beim Analytiker, ist – im guten Falle – parallel ein »drittes Ohr« – wie Theodor Reik (1948/1983) es genannt hat – wirksam, das professionell hinhört, sieht, fühlt, riecht – und alles zu erfassen versucht, was da so außen und innen passiert – und sich auch daraus wieder Bilder macht, die wiederum Einfluss auf unsere so genannte Gegenübertragung, sprich: auf unsere Gefühle und Gedanken im Kontakt mit dem Patienten, nehmen. So könnte man fortführen und jede Sekunde der Begegnung zerdehnen und die Vertiefung wäre ein Bild im Bild im Bild. All das erleben wir in Wirklichkeit nur in begrenzter Weise, denn wir müssen uns ja auch bewegen und verhalten und schließlich etwas sagen und tun, sprich: intervenieren. Außerdem sind wir Menschen mit Begrenzungen, mit persönlichen Vorlieben und Abneigungen, Hoffnungen und Ängsten, wir selektieren also etwas aus der Vielfalt dessen, was wir alles tun könnten. Von Beginn an werden Vernetzungen gebildet, die immer mit dem zu tun haben, was sowohl im Patienten als auch im Analytiker vorgegeben ist: die unbewusst-bewusste Matrix des Erlebens und Ver-

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haltens – das, was wir mit Übertragung und Gegenübertragung zu fassen versuchen. Dies ist die Grundlage dafür, dass überhaupt Vernetzungen entstehen. Dieser Raum, in dem wir uns bewegen, ist schon von Beginn an virtuell – denn er ist mehr als das, was wir sehen, hören, tun, in Worte fassen können. Er besteht aus Phantasien, Bildern, Möglichkeiten. Er ist jedes Mal anders – anders getönt, anders geformt und in Bewegung. In und mit dieser virtuellen Welt, die sich im Behandlungsprozess allmählich immer dichter entfaltet, arbeiten wir. Wir versuchen, ins Spiel zu kommen und eine Wirksamkeit und schließlich eine Entwicklung zu ermöglichen. Das geht nur, wenn wir auch selbst spielen können und es wagen, uns auf ein Spiel einzulassen. Wie wir alle wissen, gibt es sehr unterschiedliche Ansätze, psychotherapeutische und psychoanalytische Behandlung zu verstehen. Ich gehe hier von Winnicotts Konzept des Übergangsraumes aus (Winnicott, 1971/2006). Winnicott beschrieb auf einzigartige Weise, wie die Begegnung zwischen Mutter und Kind innerlich beschaffen sein könnte. »There is no such a thing as a baby«, sein berühmter Satz, mit dem er auf die Beziehung und Vernetzung von Anfang an hinwies (Winnicott, 1965/2006, S. 50), wurde schon früh erweitert auf: »There is no such a thing as a mother«, um zu verdeutlichen, dass sich Subjektivität und Selbst trotz unterschiedlicher Abhängigkeits- und Machtverhältnisse in einer sich entwickelnden Beziehung gleichsam gegenseitig erschaffen. Thomas Ogden (2006) übertrug diesen Betrachtungsansatz schließlich auch auf die analytische Situation: So etwas wie den Patienten gibt es nicht. Er ist immer nur der Patient in der Beziehung mit dem Therapeuten – mit seinem Therapeuten und umgekehrt. Was in diesem Raum ermöglicht wird, hat mit den Möglichkeiten beider und deren Wirkung aufeinander und miteinander zu tun. Mit dem Bild des Schnörkelspiels (»Squiggle«), das Winnicott mit Kindern in der Behandlung verwendete, hat er nicht nur eine Technik gefunden, sondern ein bewegliches Bild kreiert, das – wie ich finde – ausgezeichnet zu dem jeweils einzigartigen Geschehen passt, das im therapeutischen Raum vonstattengeht. Wir beginnen, miteinander etwas zu malen, zu stricken, in Beziehung zu setzen … Es entsteht etwas Drittes. Ogden nennt es auch das

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»analytische Dritte« (2006, S. 36). Das fühlt sich je nach PatientenTherapeuten-Paar ganz unterschiedlich an. Winnicott (1971/2006) machte auf anschauliche und einfühlsame Weise deutlich, wie in der Beziehung des Babys zu seiner Um-Welt innere Wirklichkeit entsteht: Indem die emotionale Resonanz der »ausreichend guten Mutter« ihm ermöglicht, sich als körperlich und seelisch existent, als gehalten und wirksam zu erleben, entwickelt sich das kindliche Selbst. Die Möglichkeit des – wenn auch angesichts der bestehenden Abhängigkeit illusionären – lustvollen Erlebens eigener Schöpfungskraft ist dabei sehr wichtig, prägt den Kern des Selbstgefühls. Indem die Mutter sich den Entwicklungsbedürfnissen des Kindes einerseits als »subjektives Objekt« zur Verfügung stellt (also ihm ausreichend die Illusion eigener Omnipotenz ermöglicht) und andererseits zugleich auch außen, ein Mensch mit Eigenbewegungen, ist, eröffnet sich der Weg zum Erleben des Selbst sowie eines davon unterschiedenen anderen. Darüber bahnt sich allmählich die innere Möglichkeit zur Subjekt-Objekt-Trennung an. Damit einhergehend entwickeln sich die Möglichkeiten zur »Objektverwendung«, das heißt, die Art und Weise, wie das Kind seine Umwelt, den anderen, für sein Wachstum nutzen kann. Dieser Entwicklungsweg kann nur gelingen, wenn von Beginn an in der gemeinsamen Beziehung Übergangsräume und Übergangsobjekte geschaffen werden können, die gleichsam dazwischen liegen. Anschaulich gesprochen lässt sich dies als gemeinsames Spielen mit Blicken, Ritualen, Worten, Berührungen, sinnlichen Erfahrungen verstehen, die Bedeutungen kreieren, die die innere Verbindung symbolisieren. Erst in diesem Übergangsraum entstehen Phantasie und sinnhafte Bedeutung. Hier wurzeln die Möglichkeiten kreativer Objektverwendung – sei es in sozialer Bezogenheit, im Arbeitsleben oder im kulturellen Schaffen. Hier wächst die Fähigkeit zur Besorgnis, Empathie und Anerkennung des anderen – das, was Adler (1933/1981) mit dem Begriff Gemeinschaftsgefühl zu fassen versuchte – und damit letztlich die Fähigkeit, uns im Leben mit all seinen harten Realitäten und in unseren Beziehungen mit allem Unkontrollierbaren zurechtzufinden, uns weiterzuentwickeln und dabei einigermaßen gesund zu bleiben. Dennoch ist all dies ja nie stabiler Besitz und auch auf der Therapeuten-Seite müssen wir immer wieder neu darum ringen. Ich erinnere hier an die Beschreibungen Melanie Kleins (1962/2011)

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zu den zeitlebens vorhandenen inneren Erlebenspositionen der paranoid-schizoiden und der depressiven Position. Hinzufügen möchte ich noch die von Thomas Ogden (1989/2000) beschriebene, grundlegendere autistisch-berührende Position, in der es um das leiblich-sinnlich basierte In-der-Welt-Sein geht. Es geht mir an dieser Stelle nicht um theoretische Vertiefung und Differenzierung, sondern rein um die Phänomene und den – wie ich finde – hilfreichen Gedanken, dass unser Erleben immer von verschiedenen strukturellen Ebenen geprägt ist. Im besten Falle haben wir alle diese inneren Möglichkeiten zur Verfügung, kennen uns etwas darin aus und können uns einigermaßen flexibel und angstfrei darin bewegen. Wir können jedoch vermutlich davon ausgehen, dass die uns aufsuchenden Patienten ihre bisherige Entwicklung nicht ausreichend störungsfrei haben durchlaufen können bzw. dass sie diese Positionen nicht ausreichend angst- und konfliktfrei zur Verfügung haben – denn sonst müssten sie nicht zu uns kommen. Wie können wir uns nun die Behandlung vorstellen, wenn wir im Bild des Übergangsraumes bleiben? Wir eröffnen den Raum für die Entfaltung dieser inneren Welt des Patienten, indem wir uns als Therapeuten innerlich für die Bedürftigkeit des Patienten öffnen: »Wie braucht er uns, wozu macht er uns?« – und zwar in der Phantasie, über Projektionen und projektive Identifikationen. Dieter Tenbrink spricht von der Notwendigkeit einer »empathischen Wahrnehmungseinstellung« auf Seiten des Analytikers und von der Wichtigkeit, sich dem Patienten zunächst als »subjektives Objekt« im Sinne Winnicotts bzw. als »Selbstobjekt« im Sinne Kohuts zur Verfügung zu stellen (Tenbrink, 1997). Christopher Bollas spricht davon, für den Patienten zum »Verwandlungsobjekt« zu werden. Er verweist ausdrücklich auf die Bedeutung der »Gegenübertragungsbereitschaft« (1987/1997), der inneren assoziativen und regressionstoleranten Offenheit des Analytikers. Ich möchte hier noch die von Joseph Sandler (1976) beschriebene Bedeutung der »Bereitschaft zur Rollenübernahme in der Gegenübertragung« hinzufügen: Es ist eine Flexibilität innerer Positionen auf Seiten des Analytikers erforderlich, um überhaupt ins Spiel zu kommen. Denn meist begegnet uns erst einmal und noch für lange Zeit im Behandlungsprozess ein Netz oder gar Dickicht von komplexen Schutzund Abwehrvorrichtungen. Oftmals ist es dem Patienten noch gar nicht

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möglich, Selbstobjektbedürfnisse im engeren Sinne in die Beziehung einzubringen. Vielmehr begegnen uns Ängste, Widerstände, scheinbar paradoxe Inszenierungen – eben: Sicherungsbedürfnisse. Meine frühere Supervisorin, Ursula Bück, sagte dazu: »Vergessen Sie nicht: Wir arbeiten mit kranken Erwachsenen und nicht mit gesunden Kindern«. Der Patient leidet unter der gewordenen Struktur und seinen Schutz- und Abwehrmustern und braucht diese zugleich, um seine innere Balance zu halten. Er ist eben kein Kind, das sich schon allein dadurch entwickelt, dass man ausreichend resonant mit ihm umgeht. Er kann die Welt nicht so nutzen und gestalten, dass es ihm gut dabei ginge. Das ist ja gerade sein Problem. Adler würde vielleicht formulieren: Wir begegnen dem Lebensstil, der sich festgefahren hat, der auf das allem übergeordnete Ziel fixiert ist, bestimmte bedrohliche Minderwertigkeitserfahrungen um jeden Preis zu vermeiden. Wir spüren die Bedürftigkeit und ebenso die Sicherungsbedürftigkeit des Patienten an unserer inneren und auch äußeren Antwort, an unseren Phantasien und Gefühlen in der Gegenübertragung: Mal ist sie »konkordant«, mal »komplementär«, wie Heinrich Racker (1953/2002) es beschrieb. Das ist ein changierendes Spiel, in dem wir, wenn wir uns darauf einlassen und hinhorchen, eine Menge über die Welt der verinnerlichten Beziehungserfahrungen des Patienten erfahren können. Je mehr wir über die Beschaffenheit unserer eigenen Antwort- und Reaktionsbereitschaft wissen, umso eher können wir Bilder entwickeln, die uns dem Verständnis des Patienten näherbringen. Je mehr inneren Raum wir für das »Containing« im Sinne Bions (1962/1992) ermöglichen können – dazu gehören auch die eigene »Regressionstoleranz«, von der Bollas (1987/1997) sprach, und die Offenheit für »Reverien« im Sinne Bions (1962/1992) und Ogdens (1997/2001) –, desto eher entstehen Möglichkeiten, dies dem Patienten in verdaulicher, nutzbarer Weise zur Verfügung zu stellen. Oft oder gar meist ist dieser Weg voller Umwege, er kann Quälendes und schwer zu Entzifferndes enthalten, muss durch Hoffnungen und Ängste, Wut und Zärtlichkeit, Hass und Liebe hindurch. All das im Feld von Übertragung und Gegenübertragung. Im Kern dieses Geschehens beginnt mein Verständnis von Abstinenz.

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Wie geht Abstinenz trotz Vernetzung? Im klassischen Kontext bedeutete die Rede von der Abstinenz eine Art Gegenzauber, nämlich das Gebot an den Analytiker, das eigene Triebleben unter Kontrolle zu halten angesichts diverser Verwicklungsmöglichkeiten in der Begegnung von Bedürftigkeiten zwischen Patient und Behandler, die gerade in den Anfängen der Psychoanalyse kaum kontrollierbar schienen (Krutzenbichler u. Essers, 2002). Nicht selten wurde das Abstinenzgebot als die moralisierende Auflage verstanden, jegliche eigene Regung unter Verschluss zu halten. Der Therapeut sollte der abgeklärte Spiegel sein, der dem Patienten nur dessen eigene innere Welt reflektiert und so dazu beiträgt, dass dieser sich »erkennt«, sein Triebleben zu reflektieren beginnt und unter die Herrschaft des Ich zu bringen lernt. Abstinenz wurde klassisch wie eine Eigenschaft des Analytikers verstanden. Das Vorhandensein der Gegenübertragung war aus diesem Blickwinkel schon eine Quelle für mögliche Entgleisungen. Ich denke, so hat selbst Freud das nie gemeint. Dennoch verfolgt uns in Gestalt von analytischen Über-Ich-Forderungen bis heute das Ideal der Neutralität der Gegenübertragung. Bollas (1987/1997) warnt, dass dies darauf hinauslaufen kann, »dass sich der Analytiker gegen das Erleben der Gegenübertragung sträubt« (S. 259) und damit sein wichtigstes Instrument verstümmelt. Adler hat mit seiner Skepsis gegenüber dem Freudschen Übertragungskonzept ja von vornherein eher auf die realistische Seite der Begegnung geblickt. Mit der Rolle der Gegenübertragung hat er sich so gut wie gar nicht beschäftigt (vgl. Antoch, 1995b). Spätestens seit Michael Balint (1968/1997) ist dann das Denken in einer Zwei-Personen-Perspektive in die Psychoanalyse eingeführt worden. Und zwar auf eine Weise, dass es auch weitere Konzeptbildungen zu prägen in der Lage war. Die Anfänge einer solchen Perspektive gehen bis zu Sándor Ferenczi zurück. Manche Aspekte von Ferenczis Auffassung (insbesondere der der »mutuellen Analyse« – siehe Krutzenbichler u. Essers, 2002, S. 109) zogen jedoch faktische Grenzüberschreitungen nach sich, die deshalb historisch eher mit zur Errichtung des klassischen Abstinenzbegriffs im Sinne einer Sicherungsmaßnahme beigetragen haben. Das, was heute mit intersubjektiver Wende bezeichnet wird, ist deshalb meines Erachtens keine wirklich neue Entwicklung. Dieses Den-

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ken ist vielmehr über die letzten Jahrzehnte gewachsen. Neu ist, dass es im Mainstream der psychoanalytischen Theorien angekommen ist. Darüber hinaus sind die zahlreichen theoretischen Perspektiven, die sich als intersubjektiv verstehen, auch keineswegs einheitlich in ihrem Verständnis von Behandlung (Pohlmann, 2013). Ich möchte Inter-Subjektivität deshalb gerne mit einem Bindestrich schreiben und verstehe den Begriff als den konsequenten Verweis darauf, dass sich innerhalb einer Therapie bzw. Analyse zwei unterschiedliche Wirklichkeiten begegnen, die eine virtuelle Wirklichkeit des Behandlungsraumes kreieren, die im guten Falle zur Weiterentwicklung von Stecken-Gebliebenem beiträgt. So, wie wir Therapie nicht mehr als ein Geschehen zwischen einem abhängigen Kranken und einem potenziell objektiven Spiegel verstehen, sollte sie aber umgekehrt auch nicht missverstanden werden als die erwachsen-realistische Begegnung zweier voneinander unabhängiger Individuen. Das würde das Kind mit dem Bade ausschütten, denn es verleugnet die auch notwendige Hingabe in der Therapie an regressive und träumerische Prozesse im Sinne Balints (1968/1997) und Bions (1962/1992). Ebenso droht eine solche Auffassung die Tatsache zu übersehen, dass die uns aufsuchenden Patienten nicht selten eben nicht in der Lage sind, sich als abgegrenztes Subjekt in der Welt zu behaupten. Und schließlich – ich halte diesen Aspekt für den wichtigsten – kann ein allzu gleichschaltendes Verstehen dazu verführen zu vergessen, dass der Patient von unserer Professionalität abhängig ist und sich auf diese verlassen können muss. Und auch wenn die Gegenübertragung schon lange nicht mehr als die einfache Wider-Spiegelung des Inneren des Patienten im Analytiker verstanden wird, bleiben viele Fragen: Welcher Anteil kommt denn nun vom Analytiker selbst? Wie hängt das alles zusammen? Und wie soll man damit umgehen? Da gehen die Auffassungen doch sehr auseinander. Meines Erachtens sind beide Perspektiven – die des Innen und die des Außen, die des Phantasieraumes wie die des realen Gegenübers im Sinne der realen sozialen Bezogenheit – unerlässlich, um das, was dazwischen geschieht, auch nur annähernd zu erfassen. Der Begriff des Feldes kann uns in gewisser Weise aus diesem Entweder-oder heraushelfen, wenn er als eine Art Übergangsraum verstanden wird, in dem beides zugleich da ist und in dem irgendetwas Schöpferisches passiert.

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Wie ließe sich denn nun der Begriff der Abstinenz heutzutage näher fassen? Konsens herrscht vermutlich bei den meisten von uns darüber, dass die per definitionem gegebene Abhängigkeit des Patienten vom Therapeuten (er sucht Hilfe bei uns!) weder in sexueller noch gewaltsamer noch narzisstischer Weise missbraucht werden darf. Dies ist Kern der Ethikrichtlinien der Deutschen Gesellschaft für Individualpsychologie (DGIP) und der Deutschen Gesellschaft für Psychoanalyse, Psychotherapie, Psychosomatik und Tiefenpsychologie (DGPT). Ich meine, diesen Kern kann man durchaus mit dem einer angemessenen elterlichen Haltung vergleichen. Aber selbst wenn wir uns durch das, was wir über das Seelische und über uns selbst wissen, einigermaßen gesichert und gefeit sehen sollten gegen grobe Entgleisungen und Übergriffe im Sinne der Ethikrichtlinien: Was machen wir denn damit, dass wir als ganze Menschen immer schon mittendrin sind? Wir können ja gar nicht nicht reagieren, nicht antworten, nicht agieren – selbst wenn wir es zunächst nur in unserem Innenraum bewahren und bewegen. Im Gegenteil, wir müssen uns bewegen lassen und aktiv selbst bewegen, um etwas zu ermöglichen. Aus der Perspektive von Intersubjektivität und Vernetzung liegt es auf der Hand, dass unser eigenes seelisches Geschehen – unsere Erfahrungen und unser Wissen, unsere narzisstischen und sexuellen Bedürfnisse und Tabus, unser Menschenbild, unser eigener Spielraum hinsichtlich Regression, Moral etc. den entstehenden virtuellen Raum mitgestalten, indem wir in bestimmter Weise zuhören, schauen, sprechen, uns berühren lassen und selbst mit Worten berühren. Wir sind Teil dieses Raumes oder Feldes! Dies führt zur Frage: Was heißt denn überhaupt noch Abstinenz, wenn gegenseitige Berührung – und damit die Gefahr von Grenzüberschreitungen – dem Geschehen in der Behandlung immanent sind? Morgenthaler spricht sogar von einer dem Behandlungsgeschehen innewohnenden gegenseitigen Verführung: »Wir können keinen Analysanden in Analyse nehmen, ohne dass dieser versucht, uns zu verführen, und wir können keinen analytischen Prozess einleiten, wenn wir uns nicht eingestehen, dass wir ihn dazu verführen« (1978, S. 25, zit. nach Grunert, 1989, S. 205). Angesichts der Komplexität der Verhältnisse kann es auf diese Frage keine eindeutige oder konkrete Antwort geben. Ich möchte deshalb

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versuchen, dieses Feld als ein Spannungsfeld zu beschreiben, das von mehreren zentralen Dimensionen bewegt wird (siehe Abbildung 1)1. Realität »Tun«

Bedürftigkeit »Begehren«

Mit-Bewegung »Ver-wickeln«

Selbst-Bewegung »Ent-wickeln«

Fantasie »Träumen«

Enthaltsamkeit »(Aus-)Halten«

Abbildung 1: Abstinenz im Spannungsfeld der Behandlungswirklichkeit

Diese Dimensionen lassen sich im dialektischen Sinne als Polaritäten verstehen, die in einem Spannungs- und Ergänzungsverhältnis stehen. Das eine kann nicht ohne das andere, es sind paradoxe Verhältnisse: Sie brauchen sich gegenseitig und schließen sich zugleich aus. Sie wirken zusammen als ein mehrdimensionales Geschehen, das in ständiger Bewegung ist. Besonders anfangs ist es wichtig, dass der Analytiker bereit und in der Lage ist, sich »ausreichend in die Position eines subjektiven Objekts [zu] bringen« (Tenbrink, 1997, S. 42). Darüber stimmt er sich auf die Bedürfnis- und Mangellage des Patienten ein, um ihn dort abholen zu können – man kann auch sagen: ihm dort begegnen zu können –, wo er steht, um sich dann mit ihm gemeinsam weiterzubewegen. Der Begriff der Mit-Bewegung, den unter anderem Günter Heisterkamp (1995) verwendet, beschreibt dies anschaulich und lässt sich als eine grundlegende Dimension des Geschehens verstehen. Nur wenn dies ausreichend gelingt, kann sich ein Übergangsraum eröffnen, in dem Phantasien und Bedürftigkeiten – auch im Sinne 1 Angelehnt ist dies an das von Wilhelm Salber (1969/1981) entwickelte, allgemeine Konzept der »Wirkungseinheit«, mit dem komplexe Zusammenhänge in ein Bild gefasst werden können.

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regressiver Prozesse – Raum bekommen. Das ganz individuelle SpielFeld wird darüber erst geschaffen und ermöglicht. Die »Gegenübertragungsbereitschaft« (Bollas, 1987/1997) und die »Bereitschaft zur Rollenübernahme« (Sandler, 1976) auf Seiten des Analytikers spielen dabei eine wichtige Rolle, um spüren zu können, welches »Spiel« gespielt werden soll. Zugleich ist die eigene Subjektivität und Selbst-Bewegung des Analytikers unerlässliche Brechung. Der Therapeut nimmt innerlich und äußerlich Bezug, denn er kann nicht anders. In der Gegenübertragung wechseln konkordantes und komplementäres Erleben – mal können wir uns zutiefst einfühlen und identifizieren, mal fühlen wir eher die Perspektive der Objekte, der Gegenüber der Patienten. Das hat auch viel mit unserer eigenen Lebenserfahrung, unserem eigenen Lebensstil zu tun. Indem der Analytiker etwas aus seinem Erleben und seinen Phantasien macht – etwas tut, indem er nonverbal und verbal spricht – bewegt er sich mit und bringt zugleich Trennendes ein, wird auch zum »objektiven Objekt«. Dies schafft – ebenso wie der räumlich-zeitliche Rahmen – eine Realität, die Phantasien und Bedürftigkeiten modelliert, fördert und begrenzt. Hier ist zunächst wieder eine Analogiebildung möglich: Selbst in der dichtesten Kommunikation zwischen Mutter und Kind herrscht niemals absolute Passung. Und diese Differenz ist paradoxerweise – ebenso wie die ausreichende Übereinstimmung – Voraussetzung für die Selbst-Entwicklung. In der kindlichen Entwicklung ebenso wie in der Behandlung kommt es darauf an, wie verdaulich trennende Momente sind und wie mit unvermeidlichen Brüchen und vor allem damit verbundenen Affekten umgegangen wird. Die innere Bereitschaft (der Mutter ebenso wie des Therapeuten), Bedürfnisse und Affekte im Sinne des von Bion beschriebenen Containments zu halten und aus-zu-halten, ist von entscheidender Bedeutung. Im Unterschied zur kindlichen Entwicklung ist jedoch in der Behandlung die Einstimmung auf die Bedürftigkeit des Patienten zwar unerlässlich, darf aber nicht der Illusion erliegen, diese erfüllen zu können, um den Patienten quasi durch Er-Füllung seiner frühen Mangelerfahrungen zu »heilen«. Ebenso wenig kann es darum gehen, die Sicherungsbedürfnisse des Patienten im Sinne seiner Abwehr eins zu eins zu unterstützen.

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Beide – der Analytiker wie der Patient – müssen sich darauf verlassen können, dass sie sich in einer Als-ob-Verfassung bewegen, innerhalb derer der Bedürftigkeit eine zuverlässige Enthaltsamkeit entgegensteht. Liebe ist Liebe und doch nicht Liebe. Hass ist Hass und doch nicht Hass. Das Dazwischen kann so allmählich die Bedeutung eines Übergangsraumes gewinnen – dies dauert und ist vielleicht die größte Kunst – einen Raum zu gewinnen, in dem Worte, Gesten, Stimme und Mimik so etwas wie Übergangsobjekte werden können, die halten und tragen, auch über die Grenzen der Behandlung hinaus. In diesem Wechsel-Spiel erweitern sich die Möglichkeiten sowohl für Nähe und Intimität als auch für Trennendes. Darüber entsteht ein individuelles Spiel mit Bedeutungen und Möglichkeiten, das zugleich Phantasie und Realität ist und das überhaupt ermöglicht, dass Wünsche und Ängste, Liebe und Hass, Ambivalenzen und Konflikte durch-gespielt und neu und anders gespielt werden können. Man könnte sagen: Damit sich etwas entwickeln kann, muss man sich verwickeln lassen. Das gilt – wenn auch in unterschiedlicher Weise – für Patient und Analytiker. Erst durch das Oszillieren von Mit-Bewegung und Selbst-Bewegung kann etwas Neues entstehen. Zusammenfassend lässt sich zum zweiten Abschnitt »Wie geht Abstinenz trotz Vernetzung?« als eine mögliche Antwort festhalten: Es geht darum, Spiel-Räume zu ermöglichen, indem Spannungen ausgehalten und Spiel-Regeln eingehalten werden. Auch wenn der Analytiker auf dem Boden seiner Professionalität die volle Verantwortung für die Herstellung und Bewahrung dieser besonderen Verfassung trägt, wäre Abstinenz so gesehen nicht länger eine Eigenschaft des Analytikers. Sie wäre auch nicht nur eine besondere Qualität seiner analytischen Haltung. Abstinenz würde vielmehr für eine zentrale Qualität des therapeutischen Raumes im Sinne eines in besonderer Weise geschützten Spiel-Feldes stehen, die für diesen Raum Voraussetzung ist. Die Schaffung dieses Raumes gelingt nur, indem wir in diesem Spiel abstinent bleiben in dem Sinne, dass wir uns den Entwicklungs- und Sicherungsbedürfnissen des Patienten zur Verfügung stellen, ohne sie eins zu eins erfüllen zu wollen und ohne die eigenen expansiven oder defensiven Bedürfnisse zum Antrieb für unsere Interventionen werden zu lassen. Diese Haltung hat man nicht,

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sondern muss sie immer wieder neu erringen, im Sinne des Wahrnehmens und Aushaltens des Spannungsraumes. Gesunde Kinder kennen den Unterschied genau: Sie sprechen im Konjunktiv, in der Möglichkeitsform: »Du wärst jetzt … die Hexe«, und sie sagen: »Das ist nur ein Spiel und nicht in echt.« Unsere Patienten müssen sich diese Möglichkeit aber nicht selten erst erobern, und sie lernen das Spielen oft erst im Laufe der Behandlung. Unsere Aufgabe ist es, mit unseren professionellen Möglichkeiten dafür zu sorgen, dass überhaupt ein entwicklungsförderndes Spiel stattfinden kann. Diese Überlegungen sollen nun auf die Eingangsfrage bezogen werden: Was können die neuen Medien und deren globale technische Vernetzung für diesen virtuellen Raum der Behandlungswirklichkeit bedeuten?

Medien im Möglichkeitsraum Es hat natürlich nicht erst alles in den letzten Jahren angefangen: Schon das Telefon und der Anrufbeantworter schafften neue Dimensionen für die Psychotherapie. Hierbei sind aber noch Stimmklang und Betonung erlebbar, die das reale Gegenüber greifbarer machen. Dennoch wird manch einer Geschichten davon erzählen können, wie telefonische Kontakte, Umgang mit der Sprechzeit oder dem Anrufbeantworter Übertragung und Gegenübertragung beeinflusst und zahlreiche Fragen aufgeworfen haben. In der Kommunikation mit den so genannten neuen Medien wird nun die Realität des Gegenübers durch den Wegfall weiterer Dimensionen der leiblichen Präsenz noch stärker abstrahiert: –– In der Kommunikation per E-Mail und SMS sind neben der Mimik, dem Aussehen und der Körpersprache, wie es beim Telefon schon der Fall ist, zusätzlich noch die stimmlichen Aspekte wie Betonung, Stimmklang und Ähnliches, ausgeklammert. –– Darüber hinaus wird in der Kommunikation per E-Mail und SMS durch die potenziell allzeitige Erreichbarkeit eine Aufhebung räumlich-zeitlicher Getrenntheit suggeriert. Noch stärker wirksam wird dies, seit fast jedes Smartphone über eine Onlinemöglichkeit verfügt.

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–– Drittens wird das In-Bewegung-Sein einer echt-sprachlichen Kommunikation gewissermaßen eingefroren auf nachlesbare und digital speicherbare Worte. Die Unmittelbarkeit der ganzheitlichen Begegnung wird zertrennt. Dazu zunächst ein paar allgemeine Gedanken: Durch diese Reduktion von Aspekten der Realität des Gegenübers und der Begegnung kann die Kommunikation zu weit größeren Teilen auf Phantasien basieren. Es lässt sich vermuten, dass dieses Feld sich besonders gut für archaische Projektionen und Bedürfnisebenen eignet und zunächst insbesondere unbewusste Phantasien von idealen subjektiven Objekten wirksam werden. Die potenziell ständige Erreichbarkeit des anderen kann regressive Wünsche nach Verschmelzung und die Illusion eines ungetrennten, omnipotent kontrollierbaren Objekts beleben. Dies würde zum Beispiel die Beobachtung erklären, dass Beziehungen im Chat oftmals eine Intimität erreichen, die im realen Leben kaum denkbar wäre. Umso mehr kann diese Belebung archaischer Bedürfniswelten und die Illusion einer fast primärprozesshaften Erfüllbarkeit potenziell zu einer malignen Regression (im Sinne Balints, 1968/1997) beitragen. Wenn dann doch Brüche, Verzögerungen, Trennendes auftauchen, ist die Kommunikation umso mehr von Entgleisungen bedroht. Beobachten lässt sich dies zum Beispiel nicht selten im Umgang mit dem Handy: Auch wenn dies zunächst wie ein Übergangsobjekt anmutet, scheint es die Anwender doch oft eher wie ein Fetisch in suchtartiger Weise auf Abhängigkeit zu fixieren. Sicher kennen Sie die Verzweiflung oder Wut mancher Patienten, wenn der neue Partner nicht umgehend zurückgesimst hat. Sicher kennen Sie es, wenn einer SMS – je nach verliebtem oder paranoidem Modus – mit einer ganz bestimmten Betonung eine Bedeutung gegeben wird, die dieser gar nicht selbstverständlich innewohnt. Alle diese Dynamiken gelten vermutlich umso mehr, wenn diese Medien eine zentralere Rolle in der therapeutischen Kommunikation spielen, innerhalb derer ohnehin von einer strukturell bzw. regressiv erhöhten Bedürftigkeit ausgegangen werden kann. Hierbei denke ich insbesondere an Sequenzen, die sich bei der Aufnahme einer Psychotherapie, bei Absagen, in Krisenzeiten sowie in Krankheits- und Urlaubszeiten abspielen können.

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Wir Analytiker wissen aus Erfahrung, wie bedeutsam es ist, auf welche Weise wir eine Deutung oder Frage klingen lassen oder wie wir dabei schauen. Oft wirkt der in Betonung oder Mimik transportierte Affekt viel stärker als das Wort. Dies gilt ebenso für die vom Patienten gesagten Worte. Ebenso wissen wir gerade in der Psychotherapie, welch große seelische Bedeutung Zeit und Raum in Gestalt von Sitzungsanfang und -ende, Wochenenden und Urlauben haben. Die realen räumlich-zeitlichen Grenzen des Settings stellen eine natürliche Grenze für Wünsche und Möglichkeiten dar. Sie bedeuten Verzicht, aber auch Schutz und Sicherheit. Man kann sich nun auf den Standpunkt stellen, dass der informative Austausch mit dem Patienten (sei es über Termine oder bei akuter Not) durch die modernen Medien erleichtert wird. Ebenso kann man die Nutzung solcher Medien als selbstverständlich betrachten, da sie ja heutzutage immer mehr zur Selbstverständlichkeit wird. Zugleich wird das oben beschriebene Spannungsfeld jedoch in einseitiger Weise verschoben: Bestimmte Aspekte von Realität können leichter ausgeblendet werden. Damit kann die Modellierung von Phantasien und damit verbundener Wünsche, Ängste und Widerstände, die durch die Auseinandersetzung mit der Realität der Behandlungswirklichkeit – also mit dem Setting und dem Therapeuten in Person – erst möglich wird, verloren gehen. Als erste Hypothese möchte ich deshalb festhalten: Durch ein allzu pragmatisches Verständnis der modernen Medien innerhalb der psychotherapeutischen Kommunikation kann die Ermöglichung und Nutzung des psychoanalytisch bedeutsamen Übergangsraumes eingeschränkt werden. Auf der einen Seite besteht die Gefahr, dass die psychologische Bedeutung nivelliert oder verdeckt bzw. gar nicht erst in nutzbarer Weise erkennbar wird: So können Stundenabsagen per E-Mail oder SMS zum Beispiel den Sinn haben, Konflikte und Ängste im direkten Kontakt zu vermeiden. Zum Beispiel kann es Ausdruck einer Abspaltung von Übertragungswünschen sein, wenn ein anderweitiges, immer präsentes Objekt über Handy oder Internet gepflegt wird, mit dem alle Gefühle und Erlebnisse geteilt werden.

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Auf der anderen Seite birgt ein zu unreflektierter Umgang mit diesen Medien innerhalb der Therapie auch eine erhöhte Gefahr, dass sich sowohl Übertragung als auch Gegenübertragung in archaischere Richtungen entwickeln. Zum Beispiel kann in bestimmten Phasen der Behandlung möglicherweise die Verführung groß sein, für den Patienten zum omnipräsenten (und damit omnipotenten) Objekt (im Sinne Balints, 1968/1997) zu werden, indem man ihm die allzeitige SMS- oder Handyverbindung für den Notfall erlaubt. Hier würde das oben beschriebene Spannungsfeld dahingehend verschoben, dass regressive Bedürftigkeiten keine ausreichend verlässlichen, im Setting verankerten haltgebenden Grenzen mehr finden. Regressive und paranoide Tendenzen können viel größeren Raum gewinnen, sind dann aber möglicherweise kaum noch bearbeitbar, da sie nicht ausreichend im Übergangsraum zu halten sind. Es kann eher zu malignen Entwicklungen, Entgleisungen und Beziehungsabbrüchen kommen. Als Diskussionsanregung möchte ich deshalb als zweite und dritte Hypothese hinzufügen: Der für die psychoanalytische Behandlung wirksam werdende Übergangsraum ist angewiesen auf reale körperliche Präsenz und räumlich-zeitliche Begrenztheit. Die Verführungen zu Abstinenzbrüchen wachsen durch die Möglichkeiten der globalen Vernetzung.

Fazit und Schlussbetrachtung Wenn »Abstinenz« klassisch verstanden würde, schiene der Verzicht auf die leibliche Realität und die Reduktion auf Worte möglicherweise gar nicht so problematisch, sondern vielleicht sogar wünschenswert. Es sind keine körperlichen Übergriffe möglich, der Analytiker soll Einsichten über Worte vermitteln und kann seine Antworten in Ruhe überlegen. So, wie wir unsere Worte im therapeutischen Raum aber schon lange nicht mehr als pure Träger von Einsichten verstehen, so dürfen auch Worte auf Display oder Bildschirm nicht nur als praktische Informationsträger verstanden werden, da sie immer eine Bedeutung im virtuellen Raum der Dynamik von Übertragung und Gegenübertra-

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gung gewinnen. Gerade, wenn uns diese Medien selbst zu fremd oder zu selbstverständlich sind, können wir Gefahr laufen, diese Bedeutungen zu unterschätzen und sie uns nicht mehr ausreichend bewusst zu machen. Abstinenz als Anforderung an eine professionelle therapeutische Verfassung bedeutet auch hier, das Spannungsfeld zwischen archaischen Wünschen und Ängsten und leiblicher Realität der Begegnung auszuhalten, um einen Übergangsraum für Phantasien und Bedürftigkeiten zu eröffnen, der ein geschütztes Durch-Spielen der zentralen Konflikte und Mangellagen ermöglicht. Es bedeutet auch hier, nicht der Illusion zu erliegen, dem Patienten zu helfen, indem Konflikte für ihn gelöst (z. B. durch Ratschläge per E-Mail) oder seine Mangellagen (z. B. durch Omnipräsenz am Handy) beseitigt werden. Auch wenn sich das psychoanalytische Verständnis von Abstinenz im Laufe der Zeit sicherlich verwandelt hat, scheint mir für die Wirksamkeit von Behandlung immer noch grundlegend: Der Patient muss innerhalb der psychotherapeutischen Beziehung selbst schöpferisch werden können, seine eigene Wirksamkeit entdecken, um seine innere und äußere Wirklichkeit neu und anders erschaffen zu können. Nur das hilft ihm weiter.

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Annegret Garschagen

Blockst du noch oder likest du schon? Adler und Facebook – eine Reise in die Welt der sozialen Netzwerke und die Konsequenzen für (psychosoziale) Beratungsangebote

Still blogging or already liking? Adler and facebook – a journey into the world of social networking and the consequences for psycho-social coaching The following contribution takes a deeper look at the sense of community (Gemeinschaftsgefühl) as a centrepiece of individual psychology while specifically focussing on social networking. Do we find and experience a sense of community on facebook and if so, what are the consequences for individual psychology coaches? Starting with a short outline of the development and importance of the concept of sense of community the development of social networking opportunities and its importance to the generation of digital natives are further sketched out. How do these changes impact the sense of community according to Adler? Consequences for coaching guidelines on social networking sites are considered and an example of a possible concept is presented. Zusammenfassung Im folgenden Beitrag geht es um die Betrachtung des Gemeinschaftsgefühls als einem der zentralen Begriffe der Individualpsychologie im Kontext der Phänomene sozialer Netzwerke. Es geht um die Frage, ob und wie sich das Gemeinschaftsgefühl auf Facebook finden und erleben lässt und was das für uns als individualpsychologische Berater bedeutet. Angefangen bei einem Abriss über die Entwicklung und Bedeutung des Konzeptes des Gemeinschaftsgefühls geht es dann um die Entwicklung sozialer Plattformen und um die Bedeutung dieser für die Generation der Digital Natives, verbunden mit der Frage, was diese Entwicklungen für das Gemeinschaftsgefühl im Sinne Adlers bedeuten. Daraus abgeleitet geht es um die Konsequenzen für beraterisches Handeln auf sozialen Plattformen und der Darstellung eines Beispielkonzeptes.

Einleitende Bemerkungen In meinem Beitrag werde ich versuchen, das Gemeinschaftsgefühl – ein individualpsychologisches Kernthema – mit einem Phänomen der sich verändernden Gesellschaft, speziell der Welt der sozialen Netzwerke,

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in Verbindung zu setzen. Mit dem leicht provokanten »Blockst du noch oder likest du schon?« deute ich auf den Generationenkonflikt hin, der sich an der Schwelle von Digital Immigrants und Digital Natives im Umgang und im Zusammenhang mit sozialen Netzwerken entwickelt. Aber wie komme ich überhaupt zu dem Thema? Im vergangenen Jahr gab es auf der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Individualpsychologie (DGIP) in Köln in einer der Diskussionsrunden eine Debatte, die mir noch lange nachhing und schließlich den Anstoß für mein heutiges Thema gegeben hat. Dort ging es um das Gemeinschaftsgefühl – und es wurde die These vertreten, dass es in der heutigen Generation junger Menschen an diesem zunehmend mangele, dass viele Ausdrucksformen, insbesondere im Internet, hauptsächlich zur Befriedigung der eigenen narzisstischen Bedürfnisse dienen würden. Zunächst überzeugt von einigen Wortäußerungen, hat mich die Thematik jedoch nicht losgelassen. Die Frage nach dem Gemeinschaftsgefühl in der heute nachwachsenden Generation und damit verbunden auch die Frage nach dem Gemeinschaftsgefühl in einer Generation, die unter anderem im, mit und durch das Web 2.0 sozialisiert wird, hat sich bei mir eingenistet. Als ich dann gefragt wurde, ob ich einen Vortrag auf der diesjährigen Jahrestagung halten wolle, lag von daher die Idee nahe, mich mit diesem Thema intensiver auseinanderzusetzen. Als Social-Media-Beauftragte der Zentralen Studienberatung der Fachhochschule Münster und nach langjähriger Tätigkeit als Bildungsreferentin in der außerschulischen Jugendbildung liegen die Themen und Werte der jungen Generation sowie die Herausforderung im Umgang mit sozialen Netzwerken für mich quasi auf der Hand. Worüber möchte ich also schreiben? Ich habe mich gefragt, wie es um das Gemeinschaftsgefühl heutzutage bestellt ist, in welcher Form und an welcher Stelle wir es im Web 2.0 am Beispiel von Facebook antreffen und was das letztlich in der Konsequenz für uns als individualpsychologische Beraterinnen und Berater sowie für alle weiteren Berufsgruppen in der DGIP bedeuten kann und muss. Was möchte ich damit erreichen? Ich möchte dazu anregen: –– in eine wertschätzende und konstruktive Diskussion darüber einzusteigen, ob und wie stark sich das Gemeinschaftsgefühl als Kern und Basis der individualpsychologischen Theorie heutzutage zeigt,

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–– sich damit auseinanderzusetzen, welche Haltung wir als Mitglieder dieses Verbandes zu diesem Thema entwickeln möchten, –– in den Austausch darüber zu treten, wie soziale Netzwerke im Rahmen von Beratungsangeboten genutzt werden können, vielleicht sogar müssen und wie wir uns als Verband auch hierzu positionieren möchten. Ich werde versuchen, die These zu belegen, dass das Gemeinschaftsgefühl in der Generation Web 2.0 nicht pauschal weniger wird – zumindest nicht im Vergleich zu vorangegangenen Generationen. Es spricht allerdings einiges dafür, dass sich die Ausdrucksformen des Gemeinschaftsgefühls durch die Generation Web 2.0 teilweise so stark verändert haben, dass sie von den älteren Generationen, den so genannten Digital Immigrants, nicht mehr verstanden und deshalb auch häufig nicht mit einem wertschätzenden Blick gesehen werden können. Das heißt: Es findet bei der Generation der Digital Natives zwar ein rasanter und deutlicher Wandel sowohl im Hinblick auf die individuellen Ausdrucksformen als auch hinsichtlich der kulturellen und sozialen Erscheinungsformen des Gemeinschaftsgefühls statt, doch wird aufgrund dieses Wandels, wie ich entsprechend meiner These aufzeigen werde, das Gemeinschaftsgefühl im Sinne Adlers in der heutigen Zeit und im Netz nicht grundsätzlich weniger.

Das Gemeinschaftsgefühl: Ein Klärungsversuch der Begrifflichkeit – zwischen Trivialität und Metaphysik Um mich meiner These: »Das Gemeinschaftsgefühl sinkt nicht, sondern die Ausdrucksformen des Gemeinschaftsgefühls ändern sich«, zu nähern, stand natürlich zunächst auf meiner To-do-Liste, mich intensiv mit dem Begriff des Gemeinschaftsgefühls zu beschäftigen, einem Begriff, der einen zentralen Stellenwert innerhalb der Individualpsychologie beansprucht, wie unter anderem Robert F. Antoch (2001) betont. Schnell wurde allerdings deutlich, dass die Lektüre der ersten Texte bei mir immer mehr Fragezeichen aufwarf. Auf der einen Seite hat der Begriff etwas trivial Einfaches – auf der anderen Seite ist er in seiner Komplexität stark ausgeprägt, beginnt man,

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sich mit der Materie intensiver zu befassen. So war ich dankbar, bei Rainer Schmidt (2008) zu lesen, dass auch er die verstreuten und leicht missverständlichen Aussagen in Adlers Spätwerken als verwirrend beschreibt. Der Versuch, den Begriff des Gemeinschaftsgefühls klar zu definieren, war also schwieriger als erwartet. Trotzdem wage ich auch in der Kürze der Zeit einen Versuch, seine Entwicklung und Bedeutung zu skizzieren. Adler selbst führte das Konstrukt Gemeinschaftsgefühl – das, so Antoch, die »Dialektik zwischen Individuum und Gemeinschaft« (2001, S. 26) thematisiert – nach dem ersten Weltkrieg als Gegenthese zum Willen zur Macht in sein theoretisches System ein (vgl. Schmidt, 2008), wobei Ansätze dazu bereits früher von ihm formuliert wurden, so zum Beispiel in der frühen Arbeit »Das Zärtlichkeitsbedürfnis des Kindes« (vgl. Schmidt, 1995). Je nach Entwicklungsphase der Individualpsychologie geht es beim Gemeinschaftsgefühl um ein Gefühl des Verbundenseins mit den Mitmenschen und der Umwelt, um eine angeborene seelische Funktion oder um ein angeborenes Streben nach der idealen Gemeinschaft (vgl. Schmidt, 2008). Diese Beschreibungen werfen bei mir neue Fragen auf: Welche Ausdrucksformen findet das Verbundensein? Wer bewertet diese wie? Wie sieht die ideale Gemeinschaft aus? Wer definiert die ideale Gemeinschaft? Uns ist als Individualpsychologen mit einem konstruktivistischen Blick heute klar, dass es dafür viele verschiedene Sichtweisen und Definitionen gibt. Auch die These, das Gemeinschaftsgefühl sei angeboren, wird in der Literatur kontrovers diskutiert. So ist bei Dreikurs (2005) zu lesen, dass das Gemeinschaftsgefühl gerade nicht angeboren sei, sondern sich durch soziale Entwicklung entfalte oder ansonsten nicht zur Geltung komme. Damit macht dieser Autor deutlich, dass die Entwicklung des Gemeinschaftsgefühls – zumindest auch – ein Ergebnis einer liebevollen Erziehung sei. Adler entwickelt das Gemeinschaftsgefühl im Laufe seines Wirkens als Norm zur idealen Vollkommenheit. Eine Vollkommenheit, die wir alle anstreben. Beim Gemeinschaftsgefühl geht es Adler um eine »Gemeinschaftsform, die für ewig gedacht werden muss, wie sie etwa gedacht werden könnte, wenn die Menschheit das Ziel der Vollkommenheit erreicht hat« (1933/2010, S. 555). Er spricht im Folgenden von der letzten Erfüllung der Evolution und bringt die Metaphysik ins Spiel, verbunden mit der Ermutigung, davor keine Angst zu haben.

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Versuche ich, Adlers zentrale Äußerungen an dieser Stelle zu bündeln, scheint das Wesen des Gemeinschaftsgefühls also ein Streben nach einer idealen Welt zu sein, in der alle Fragen über den Sinn des Lebens und über die Beziehungen zueinander gelöst sind. Dabei gehe es nicht um gemeinschaftliches Erleben in Freundes- oder Familienkreisen, wie er in seinem Vortrag »Über den Ursprung des Strebens nach Überlegenheit und des Gemeinschaftsgefühls« von 1933 ausdrücklich betont. Stattdessen stellt er fest: »Wir sind nicht mit der absoluten Wahrheit gesegnet, deshalb sind wir gezwungen, uns Gedanken zu machen über unsere Zukunft, über das Resultat unserer Handlungen usw. Unsere Idee des Gemeinschaftsgefühls als der letzten Form der Menschheit, ein Zustand, in dem wir uns alle Fragen des Lebens, alle Beziehungen zur Außenwelt gelöst vorstellen, ein richtendes Ideal, ein richtungsgebendes Ziel, dieses Ziel der Vollendung muss in sich tragen das Ziel einer idealen Gemeinschaft, weil alles, was wir wertvoll finden im Leben, was besteht und bestehen bleibt, für ewig ein Produkt dieses Gemeinschaftsgefühls ist« (1933/2010, S. 555 f.). Jede Generation unternimmt also laut Adler Versuche, diesem Zustand der Vollkommenheit näherzukommen: zu größerer Kooperationsfähigkeit zu gelangen und für den anderen einzustehen, um eine bessere Zukunft mitzugestalten. Denn: »Eine Bewegung des Einzelnen und eine Bewegung der Massen kann also nur als wertvoll gelten, wenn sie Werte schafft für die Ewigkeit, für die Höherentwicklung der gesamten Menschheit« (S. 556). Im Gemeinschaftsgefühl zeigt sich der Mensch also immer als Teil des Ganzen. »Im Sehen, Hören und Sprechen verbinden wir uns mit den anderen« (S. 556), wobei alle Entwicklungen, die das Gemeinschaftsgefühl nicht unterstützen, Fehlschläge bzw. Fehlentwicklungen seien. Was steckt da also drin? Soziale Verantwortung, Werte, Nächstenliebe, Kooperation und Weiterentwicklung der Menschheit. Und auch die gleichwertige Behandlung der Menschen ist ein zentrales Element, denn: »Die Grundlage der ›Logik des Zusammenlebens‹ ist nach Adler die Anerkennung voller Gleichwertigkeit aller Menschen. […] Es ist der Drang nach einer harmonischen Gesellschaftsordnung, in der jeder Mensch sich seines Platzes sicher und seiner Wertigkeit voll bewusst sein könnte, […]. Nur wenn wir uns als gleichwertig fühlen, können wir unseres Platzes in der Gemeinschaft sicher sein und das notwendige

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Gefühl der Zusammengehörigkeit entwickeln. Dieses Gefühl hat Adler ›Gemeinschaftsgefühl‹ genannt« (Dreikurs, 2005, S. 23). Das Gemeinschaftsgefühl diene seinem Wesen nach auch als Richtmaß für normales und krankhaftes Verhalten, oder, wie es Dreikurs formuliert: »mit anderen Worten, das Gemeinschaftsgefühl, daß [sic] jeder für sich entwickeln muß, zeigt genau den Radius seiner Normalität an. Nur innerhalb dieses Feldes der Zusammengehörigkeit benimmt sich ein Mensch ›normal‹. Außerhalb dessen ist sein Grundstreben nicht mehr auf die Mitarbeit mit anderen, auf das Interesse anderer und der Gemeinschaft hin gerichtet, sondern auf die Befriedigung seiner eigenen Bedürfnisse« (2005, S. 23). Vor einer zu eindeutigen kausalen Verknüpfung zwischen den Begriffen neurotisch, krank und gesund im Zusammenhang mit dem Gemeinschaftsgefühl warnt Antoch in seinem sehr lesenswerten Aufsatz »Über Sinn und Unsinn des Begriffs Gemeinschaftsgefühl oder: Alders verfehlte Theorie der Macht« und bezieht sich in diesem Zusammenhang auf den von Karl-Heinz Witte geprägten Begriff des »schielende[n] Adlerauge[s]«, eine Formulierung, die implizit auch davor warnt, jegliches Verhalten, das nicht ausschließlich im Sinne des Gemeinschaftsgefühls geschehe, als neurotisch zu betrachten (vgl. Antoch, 2001). Wie erkennen wir jedoch, wann ein Mensch sich im Radius seines Gemeinschaftsgefühls verhält? Das ist in meinem Verständnis eine der zentralen Aufgaben unserer Professionen. Adler (1927/2003) gibt uns in seinen früheren Schriften ein Richtmaß mit, damit wir das Gemeinschaftsgefühl richtig erkennen und nicht von einem Schein des Gemeinschaftsgefühls geblendet werden, der über die wahren Tendenzen hinwegzutäuschen versucht: »Was wir in solchen Fällen brauchen, um ein richtiges Urteil fällen zu können, ist ein Standpunkt, dem Allgemeingültigkeit zukommt. Für uns ist dieser Standpunkt der Nutzen der Allgemeinheit, das Wohl der Gesamtheit. Wenn wir uns auf diesen Standpunkt stellen, wird uns die Entscheidung in den seltensten Fällen Schwierigkeiten bereiten« (S. 152). Auch findet sich hier das Konzept der Finalität wieder. Wenn wir ein fiktives Ziel verfolgen, das (auch) dem Wohle der Gesamtheit dient, handeln wir im Sinne des Gemeinschaftsgefühls. Dann sind wir gemeinschaftsfähig. Wenn ich aus den bisherigen Betrachtungen ein Fazit ziehe, so ist das Gemeinschaftsgefühl erstens die grundsätzliche Voraussetzung

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harmonischer und mitmenschlicher Beziehung, die zweitens darauf basiert, dass sich alle Menschen gleichwertig fühlen und aus der drittens Werte geschaffen werden, die zu einer Höherentwicklung der gesamten Menschheit führen. Damit ist viertens immer das Ziel verbunden, zur Vollkommenheit zu gelangen. Das Gemeinschaftsgefühl bekommt in den späteren Ausführungen Adlers (1933/2010) nahezu etwas Paradiesisches, wobei er ausdrücklich betont, dass es eben keine religiöse Form ist. Eine Welt, die wir immer nur ersehnen, aber nie erreichen können. Vermutlich ist es dieser Idealismus, der uns dazu antreiben soll, im Sinne des Gemeinschaftsgefühls zu leben und zu interagieren. Für mich rückte die Greifbarkeit des Konzeptes des Gemeinschaftsgefühls bei dieser Lektüre weiter weg, weil ich mir zunehmend Fragen stellte, die ich nicht konkret beantworten konnte. Eher zufällig bin ich genau in dieser Recherchezeit dann auf eine weitere Beschreibung des Gemeinschaftsgefühls in einem Mitgliederrundbrief von Gisela Eife (2013), veröffentlicht in dem Mitteilungsblatt DGIP-intern, gestoßen. Sie schreibt hier: »Dabei verstehe ich das Gemeinschaftsgefühl ganz basal als Ausdruck einer originären Verbundenheit der Menschen und als Bejahung zum Leben« (S. 1). Danke! Das hat das Gemeinschaftsgefühl für mich persönlich wieder geerdet und zu etwas konkret Fassbarem gemacht. Wenn wir uns also mit dem Begriff des Gemeinschaftsgefühls ernsthaft und in allen Facetten befassen, scheinen wir uns in einer riesigen Spanne zwischen Konkretem und Philosophischem zu bewegen, zwischen der »Zuwendung zum Nachbarn« oder – etwas salopp formuliert – der Aufforderung »Rettet die Welt« auf der einen Seite und – bezogen auf die Frage, ob es im Menschen angelegt ist oder erst entfaltet werden muss – zwischen den Polen angeborener Instinkt oder Erziehungsauftrag auf der anderen Seite. Und: Auch wir Individualpsychologen scheinen bis heute noch sehr unterschiedliche Bilder und Konstrukte im Kopf zu haben, wenn es um den Begriff Gemeinschaftsgefühl geht, einen Begriff, der »offenbar zu Vieles gleichzeitig und damit nichts eindeutig genug« (Antoch, 2001, S. 27) bezeichnet. Weitgehend einig sind sich Individualpsychologen aber hinsichtlich der Einschätzung, dass ein Mangel an Gemeinschaftsgefühl als Unsicherheit erlebt wird und damit die Fähigkeit des Menschen, seine Lebensaufgaben zu erfüllen, beeinträchtigt (vgl. Dreikurs, 2005).

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Wo stehen wir also heute mit dem Konzept des Gemeinschaftsgefühls? Was würde Adler heute dazu sagen? Wie hätte er das theoretische Konstrukt weiterentwickelt? Hätte er es überhaupt weiterentwickelt? Wir wissen es nicht, aber die aufgeworfenen Fragen bleiben offen. Dass das Konzept des Gemeinschaftsgefühls an Aktualität nichts eingebüßt hat, beschreibt Susanne Rabenstein (2011) in ihrem Artikel »Das Gemeinschaftsgefühl im Spiegel der Neurowissenschaften«. Sie vergleicht dabei das Konzept des Gemeinschaftsgefühls, das der Finalität und andere zentrale individualpsychologische Konzepte mit den neueren Forschungsergebnissen der Neurobiologie. Besonders hebt sie dabei die Parallelität von den im Gemeinschaftsgefühl beschriebenen Strebungen mit den Konzepten von Joachim Bauer hervor, der die These aufstellt, dass Menschen – neurologisch betrachtet – auf Kooperation und Resonanz ausgerichtet sind (Bauer, 2008). Mit dieser Sicht distanziert sich dieser Forscher deutlich von dem von vielen als allgemeingültig angesehenen naturwissenschaftlichen Standpunkt, Antriebsfeder der Menschheit sei das Prinzip der Selektion und der Konkurrenz, welches zum Beispiel Charles Darwin als entwicklungsbestimmend angesehen hat (vgl. Rabenstein, 2011).

Ein Ausflug in die Welt von Facebook und die Suche nach dem Gemeinschaftsgefühl im Mekka der Selbstdarstellung Was bedeutet das nun für das Tagungsthema »Seelische Wirklichkeiten in virtuellen Welten«? Wo findet sich das Gemeinschaftsgefühl in den virtuellen Welten? Ist es überhaupt über diese Art der Kommunikation (er)lebbar – und wenn ja, wo und wie äußert es sich? Ich greife Facebook als Beispiel für eine soziale Plattform im Internet heraus, weil sie die bekannteste und derzeit noch relevanteste für diese Thematik ist. Ich sage noch, weil es sich abzeichnet, dass dies eventuell nicht mehr lange der Fall sein wird, da die Nutzerzahlen unter jungen Menschen signifikant rückläufig sind. Facebook, von Mark Zuckerberg, einem damals zwanzigjährigen Harvard-Studenten im Jahre 2004 gegründet, entwickelte sich rasend schnell zu einem weltweit Aufmerksamkeit erregenden Netzwerk. Im Januar 2010 hatte Facebook 5,75 Millionen Nutzer alleine in Deutsch-

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land. Mitte 2012 waren es bereits 23,69 Millionen. Die deutsche Volkszählung im Mai 2013 hat ergeben, dass es in Deutschland 80,2 Millionen Einwohner gibt. Ebenfalls im Mai 2013 gab es 24,97 Millionen deutsche Facebook-Profile. Das heißt, fast jeder dritte deutsche Staatsbürger bzw. jede dritte deutsche Staatsbürgerin hatte zu diesem Zeitpunkt ein Facebook-Profil. Und selbst dann, wenn wir mit einkalkulieren, dass vielleicht einige Teilnehmer zwei Profile haben, ist es noch ungefähr jeder vierte. Im Juni 2013 waren es 26 Millionen. Es war bis dahin also immer noch ein leichter Zuwachs zu verzeichnen, wobei hauptsächlich die Nutzergruppe »45+« Zuwachs erhält. Die User zwischen 25 und dreißig sind allerdings derzeit die aktivste Gruppe (siehe Allfacebook.de, 2013; Statista. Das Statistik-Portal, 2013). Bei Jugendlichen hingegen ist aktuell ein stark abnehmender Trend zu verzeichnen, verbunden mit einer verstärkten Nutzung anderer sozialer Webdienste, bei denen eine gezieltere Kommunikation zu ausgewählten Gruppen einfacher ist: »Gerade die mit der digitalen Welt, mit Smartphones Aufgewachsenen nutzen bestimmte, dedizierte Dienste für bestimmte Zwecke – Tumblr und Instagram zum Ansehen von Fotos, Snapchat, WhatsApp, WeChat und andere zur direkten, persönlichen Kommunikation. Facebook wird für manche Teenager zu einer Art LinkedIn: Digitale Infrastruktur für nicht allzu Persönliches, ein Ort, an dem auch Eltern und Großeltern, Lehrer und Fußballtrainer anzutreffen sind« (siehe Spiegel Online, 2013). Festzuhalten ist also: Die Nutzung sozialer Netzwerke und digitaler Räume (egal bei welchen Anbietern und Diensten), in denen Menschen selbst mitgestalten können, gewinnt an Bedeutung und verändert unsere Kommunikationskultur. Natürlich verändern sich damit auch gesellschaftliche und kulturelle Erscheinungsformen. Eine interessante Entwicklung im Zuge der Betrachtung des Gemeinschaftsgefühls ist zum Beispiel die Entstehung einer Kultur des Teilens, von der IT- und Netz- sowie Wirtschaftsexperten sprechen. Die Ökonomie des Teilens war sogar Leitthema der CeBIT in diesem Jahr. 83 % der Internetuser teilen übers Netz. Bei den Usern zwischen 14 und 29 Jahren sind es sogar 97 %. Sie teilen Erfahrungen, Bewertungen, Persönliches, ihr Fahrrad, ihre Couch, ihr Büro, das Auto, ihre Produktideen oder ihr Geld für Startup-Unternehmen und für soziale Projekte. Natürlich kann man sagen, dass es auch dem eigenen Nutzen

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dient. Trotzdem ist ein Vertrauen, eine Offenheit gegenüber den anderen und eine Bereitschaft vorhanden, andere an persönlichen Inhalten oder Gegenständen teilhaben zu lassen (BITKOM, 2013). Die BITKOM (Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien e. V.) spricht in einer Pressemitteilung anlässlich einer repräsentativen Umfrage davon, dass der Trend zur so genannten Share Economy vor allem auf den Erfolg des Social Web zurückzuführen sei (2013, o. S.). Hinzu kämen Blogs, Foren, die Kommentarfunktionen in Onlinemedien oder Bewertungen in Webshops. Trendverstärkend wirken auch die Verbreitung von Smartphones und mobiler Internetnutzung. Zu den zentralen Umfrageergebnissen gehört die Erkenntnis, dass das Teilen von Produkten oder Dienstleistungen (44 %), das Teilen selbst gemachter Fotos (44 %) sowie eigener Texte (29 %) und selbst gedrehter Videos (15 %) Normalität geworden ist. Die Hälfte der Befragten nennt als wichtigsten Grund für das Teilen von Inhalten, Kontakt zu anderen Menschen halten zu wollen. 31 % möchten neue Bekanntschaften schließen. Ein Viertel will auf Probleme oder andere Sachverhalte aufmerksam machen (o. S.). Man kann darüber diskutieren und streiten, ob tatsächlich durch das Web 2.0 eine Kulturveränderung stattfindet oder ob bereits vorhandene gesellschaftliche Kulturen im Social Web lediglich eine deutlichere Sichtbarkeit bekommen. Das ist ein wenig die Frage nach: Was war zuerst da – die Henne oder das Ei? Ich möchte die Diskussion an der Stelle nicht vertiefen, sondern mich noch einmal Facebook im Speziellen zuwenden. Was passiert da eigentlich auf der sozialen Plattform Facebook? Darauf gibt es eine ganz einfache, wenn auch nicht zwangsläufig zufriedenstellende Antwort: Alles! Von Selbstdarstellung und Beleidigungen, dem »Cybermobbing« und leider auch kriminellen Verhaltensweisen (z. B. pädophiler Kriminalität) bis hin zu dem, was wir im Sinne des Gemeinschaftsgefühls vielleicht sozial erwünscht nennen würden. Zwischen den Extremen passiert in einem durchschnittlich und normal geführten Profil viel Alltägliches: Es werden Grüße ausgetauscht, Fotos und Neuigkeiten gepostet, Glückwünsche verteilt, Dampf abgelassen, aber es wird zum Beispiel auch auf politische Missstände hingewiesen und es werden (lesenswerte) Artikel geteilt. Es werden Hilfeaufrufe gesendet, persönliche Meinungen kundgetan, Mitfahrgelegenhei-

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ten geboten, Restauranttipps geteilt, es wird gefragt, ob jemand mit einer Flex aushelfen oder beim Umzug mit anpacken kann. Es ist der Terminkalender der Generation der Digital Natives – über ihn werden Geburtstage verwaltet, Einladungen ausgesprochen, Verabredungen getroffen, Vorlesungsskripte zur Verfügung gestellt, Urlaubsbekanntschaften gepflegt und Kommentare dazu abgegeben, was man gemeinsam erlebt hat. Wer nicht im »Gesichtsbuch« ist, bekommt viele Dinge dann oft nicht mehr mit. Warum? Weil es ein anerkanntes und weitverbreitetes Kommunikationsmedium geworden ist. Segen und Fluch zugleich ist dabei die schnelle Verbreitung von Informationen, die aber auch mit einer hohen Flüchtigkeit einhergeht. Auch werden längst nicht alle Inhalte gleichermaßen intensiv wahrgenommen. Die Neuigkeiten, die auf der »Profil-Start-Seite« angezeigt werden, sind quasi die individualisierte Tagesschau der eigenen FacebookFreunde und der Unternehmen, Einrichtungen und Informationsdienste, die geliket sind. Ebenso ist es auch eine Plattform für politischen Austausch geworden. Auch ich habe beispielsweise während des Kanzlerduells und am Tag der Bundestagswahl 2013 auf den Facebook-Seiten von ARD & Co verfolgt, was dort gepostet wurde. Es begegnen mir aber auch viele Postings, von denen ich eindeutig sagen würde, dass sie Gemeinschaftsfähigkeit in verschiedenen Facetten zum Ausdruck bringen. Beispiele hierfür sind Aufrufe zu Online-Petitionen, Aufrufe zur Teilnahme an Demonstrationen gegen Rechtsradikalismus, ein Hinweis, an einer Knochenmarkspende teilzunehmen und einiges mehr. Natürlich ist das nur ein atomteilchen-winziger und selektierter Ausschnitt dessen, was auf Facebook gepostet und getauscht wird. Für den Kontext meines Beitrags ist mir nur wichtig zu zeigen, dass die geteilten Inhalte auf Facebook – stellvertretend für andere soziale Netzwerke – nicht nur in ihren negativen Facetten dargestellt und bewertet werden können. Facebook ist genauso komplex wie die reale Welt, wenn nicht sogar noch komplexer, weil wir bei einem »Klick-dich-weiter-Surf« in einem sozialen Netzwerk viel mehr Informationsinput von anderen Menschen, Firmen und Einrichtungen bekommen. Was können wir nun für die seelischen Wirklichkeiten, im Speziellen die Entwicklung des Gemeinschaftsgefühls, daraus ziehen? Eine eindeutige Bewertung fällt an dieser Stelle schwer. Wo liegen die Grenzen

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zwischen gelebtem oder gezeigtem Gemeinschaftsgefühl, wo macht sich Geltungsstreben breit? Wie auch oben im Kontext der Nutzungsmotivation für das Social Web deutlich geworden ist, ist ein sehr starkes Motiv für die Nutzung sozialer Netzwerke, mit anderen in Kommunikation zu treten, Aufmerksamkeit zu bekommen und (teilweise sehr private) Informationen zu teilen. Die Likefunktion verstärkt diese Motive um ein Vielfaches. Natürlich besteht auf der einen Seite die Gefahr, mit einem Like im Grunde genommen nur das Macht- und Geltungsstreben des Postingabsenders zu nähren. Auf der anderen Seite kann über die Likes aber natürlich auch ein gelebtes Gemeinschaftsgefühl zum Ausdruck kommen. Adler schreibt 1933: »Das menschliche Streben zum fiktiven Ziel kann im Dienste des Willens zur Macht stehen oder mit dem Gemeinschaftsgefühl geschehen« (1933/2010, S. 550). Was 1933 für Adler galt, gilt in gleicher Weise auch heute noch. Das Phänomen ist zwar ein ganz anderes. Aber ist die Dynamik nicht die gleiche? Angeregt durch den oben erwähnten Artikel von Antoch (2001) stelle ich mir auch die Frage, ob das Geltungsstreben und das Gemeinschaftsgefühl manchmal nicht auch sehr nah beieinander liegen. Denn sich im Sinne des Gemeinschaftswohls verdient zu machen, geht ja auch häufig damit einher, sich einer gewissen Öffentlichkeit aussetzen zu müssen. Und treten Menschen (ob für einen guten oder für einen egoistischen Zweck) in die Öffentlichkeit und setzen sich massiv für etwas ein, wenn sie gar kein Geltungsstreben haben? Die Frage berührt meines Erachtens einen der Grundkonflikte in der Debatte über die individualpsychologische Theorie. Wie erkennen wir nun das Gemeinschaftsgefühl in sozialen Netzwerken? Ich erinnere noch einmal an den von Adler selbst formulierten Hinweis: Wenn es dem Wohle der Gemeinschaft dient, dann ist es der Ausdruck des Gemeinschaftsgefühls. Gilt das dann nicht gleichermaßen auch für Kommunikation in sozialen Netzwerken!? Ob die Kommunikation auf Facebook tatsächlich zu einer Übernahme sozialer Verantwortung führt, bleibt natürlich offen. Möglich, dass von den über 30.000 Menschen, die eine Aktion geliket haben, die zu einer Knochenmarkspende aufruft, kein einziger zu der Veranstaltung aufgetaucht ist, für die in diesem Zusammenhang geworben wurde. Aber auch mit einem Like oder dem Teilen eines Inhaltes äußere ich meinen Zuspruch, ich bestärke vielleicht etwas oder jemanden, mache

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ein Kompliment, teile Freude. An der Freude anderer teilnehmen zu können ist doch ebenfalls ein Aspekt von Gemeinschaftsfähigkeit. Was können wir hieraus also über die Veränderung des Gemeinschaftsgefühls ableiten? Ändert es sich überhaupt? Ich stelle in meinen beruflichen Kontexten bei den jungen Generationen keinen Nachlass bei den Werten Zusammengehörigkeit, füreinander einstehen, Familienwerte etc. fest. Diesen Eindruck gewann ich während vieler Orientierungstage mit Jugendlichen aller Schulformen, die ich zwischen 2000 und 2012 geleitet habe. In den Bildungsprogrammen waren genau diese Themen, also persönliche und gesellschaftliche Werte, Träume, Wünsche und die Sehnsucht nach Zugehörigkeit zentraler inhaltlicher Gegenstand. Meine Erfahrungen zeigen, dass Werte wie Familie, Freunde und soziale Gerechtigkeit wieder an Bedeutung gewinnen. Die letzte Shell Jugendstudie von 2010 bestätigt das und vermerkt einen Anstieg von sozialem Engagement und Verständnis für Ältere (39 % setzen sich häufig für soziale und gesellschaftliche Zwecke ein), einen leichten Anstieg des politischen Interesses (im Vergleich zu 2002) sowie einen Anstieg der Familien- und Werte-Orientierung. Auch schreiben die Autoren der Jugendstudie: »Die jungen Leute fordern gerade heute sozialmoralische Regeln ein, die für alle verbindlich sind und an die sich alle halten. Eine funktionierende gesellschaftliche Moral ist für sie auch eine Voraussetzung, ihr Leben eigenverantwortlich und unabhängig gestalten zu können. 70 % finden, man müsse sich gegen Missstände in Arbeitswelt und Gesellschaft zur Wehr setzen« (Shell.com, 2010, S. 5). Darin kommt ein Sehnen der Jugendlichen nach sozialer Sicherheit zum Ausdruck, das sich hoffentlich auch darin niederschlägt, dass sie selber auch soziale Verantwortung übernehmen. In der öffentlichen Debatte sind häufiger Sätze zu hören wie dieser: »Die Jugend von heute kennt doch gar keine soziale Verantwortung mehr«. Einer solchen Ansicht könnte man gut das folgende Zitat entgegensetzen: »Leider wachsen unsere Kinder mit dem Gefühl auf, daß das Leben ihnen alles bieten muß und sie selbst wenig Verpflichtungen haben. Wer darauf ausgeht, möglichst viel zu bekommen, greift immer ins Leere. Er ist unersättlich. Dem dauernden Zustand des Begehrens und Erhaschenwollens steht ein seltener und kurzer Augenblick des Erlangens gegenüber. So drückt sich das Gemeinschaftsgefühl darin

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aus, wieweit man zu der Gemeinschaft, mit der man sich verbunden fühlt, beitragen will, ohne eigentlich darauf zu achten, was man dafür bekommt« (Dreikurs, 2005, S. 25 f.). Die Aussage wirkt, als sei sie auf die aktuelle Situation der Jugend von heute gemünzt – formuliert wurde sie aber schon im Jahr 1969 von Rudolf Dreikurs. Möglicherweise geraten Erwachsene aus ihrer Perspektive auf das Leben heraus häufiger in die Versuchung, Jugendlichen einen Vorwurf aus ihrer vermeintlich gedankenlosen und unbeschwerten Art zu machen. Dabei ist ja auch gerade diese Art ein Kennzeichen der Entwicklungsphase Jugend. Bei Adlers Begriff des Gemeinschaftsgefühls spielt die soziale Verantwortung in dem Sinne eine große Rolle, als dass die Bereitschaft, zum allgemeinen Wohle beizutragen, ein deutliches Kennzeichen für Gemeinschaftsfähigkeit ist. »Subjektiv äußert sich [jedoch] das Gemeinschaftsgefühl in dem Bewußtsein, mit anderen Menschen verbunden zu sein, zu ihnen zu gehören, nicht abseits zu stehen« (Dreikurs, 2005, S. 24). Hier sehe ich auch die Motive für Aktivitäten in sozialen Netzwerken: den Wunsch, mit dazuzugehören, etwas mitzubekommen, selber für das ein oder andere positive Resonanz zu erhalten. Genau darin liegt aber auch die Gefahr für unsere seelischen Wirklichkeiten. Die Gefahr, in diesen Motiven getäuscht und enttäuscht zu werden, ist sehr groß. Eine Dazugehörigkeit alleine über eine soziale Plattform, die sich zum Beispiel für viele irrtümlicherweise an der Anzahl der Facebook-Freunde festmacht, kann seelisch kaum erfüllend sein, wenn sie sich im realen Leben nicht auch widerspiegelt. In unzähligen Studien zu Facebook-Aktivitäten wird von psychologischen Effekten gesprochen, die einen negativen Einfluss auf die Psyche haben. So ergab eine amerikanische Studie, die das Journal »Cyberpsychology, Behavior and Social Networking« veröffentlicht hat, dass eine Korrelation zwischen der auf Facebook verbrachten Zeit und depressiven Erscheinungsbildern besteht. Allerdings sind die Ergebnisse umstritten, da das Zusammenspiel aus Ursache und Wirkung nicht nachvollziehbar sei (Haller, 2012, o. S.). Neurotisch wird es auch an der Stelle, wenn ich mir im Web 2.0 eine Parallelidentität oder gleich mehrere Identitäten aufbaue. Interessanterweise sagt Zuckerberg selbst, dass das Ausleben mehrerer Identitäten auf Facebook ein Beispiel für mangelnde Integrität sei (Kirkpatrick, 2011, S. 414).

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Lost in space? Konsequenzen für Beratungshaltung und Beratungsangebote In dieser Realität der sozialen Netzwerke, die viel mehr als eine banale Nebenerscheinung sind, müssen wir uns als Berater, Psychotherapeuten und Psychoanalytiker die Frage stellen, wie und ob wir uns dort positionieren können und sollen. Nehmen wir nun den Gemeinschaftsgefühl-Gedanken für unsere Profession und Tätigkeiten als Berater (und ich denke, dass dieser an einigen Stellen bzw. für einige Aspekte bei Psychologen, Therapeuten und Psychiatern gleichermaßen zutrifft) auch für unsere Bewegung in sozialen Netzwerken ernst, machen wir mit unseren Beratungsangeboten in sozialen Netzwerken doch auch ein Angebot, Beziehungen einzugehen, Sorgen und Ängste formulieren zu können oder Fragen zu stellen. Onlineberatung ist ein weites Feld. Ich möchte aber nicht im Allgemeinen auf Onlineberatung eingehen, sondern im Speziellen auf den Aspekt, welche Beratungsoptionen Facebook ermöglicht. Dazu nehme ich ganz konkret das Beispiel der Zentralen Studienberatung an der Fachhochschule Münster, deren Beratungsgruppe meine Kolleginnen, meine Kollegen und ich dort aufgebaut haben.

Onlineberatung auf Facebook – ein Beispiel Aus der Erfahrung heraus, dass Chatsprechstunden wie über Skype kaum noch wahrgenommen wurden, stellten wir uns die Frage, wie und wo wir die Studieninteressierten und Studierenden erreichen bzw. an welchen Orten gegebenenfalls auch Beratungsbedarf besteht. Als Hochschule haben wir schon länger eine so genannte Fanpage auf Facebook, die derzeit 4.799 Follower hat (Stand 26. 10. 2013). Zweimal pro Werktag werden dort Postings über alle möglichen Themen aus dem Hochschulbereich veröffentlicht. Die Nachrichtenfunktion der Fanpage wurde von den Usern ohnehin schon häufig für Studienberatungsthemen genutzt. Unsere Überlegung dort anzudocken und eine geschlossene Beratungsgruppe zu gründen, wurde zunächst mit den klassischen Bedenken kritisch betrachtet: Was ist mit dem Datenschutz? Was, wenn die Seite für Werbung und unangemessene Inhalte

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missbraucht wird? Ist das nicht sowieso unseriös, sich derart auf Facebook mit einem Beratungsangebot zu positionieren? Wir haben es aus folgenden Beweggründen dennoch umgesetzt: –– Wir möchten dort ansprechbar sein, wo unsere Zielgruppen schon sind und keine weiteren Anmelde- und Registrierungsbarrieren errichten. –– Wir möchten einen Beratungseinstieg so niedrigschwellig wie möglich gestalten. –– Der Beratungseinstieg soll dennoch diskret sein und nicht von allen Facebook-Usern gesehen werden können (geschlossene Gruppe). –– Beratung über diesen Weg ermöglicht synchrone (Chatten = beide Gesprächspartner sind virtuell anwesend) sowie asynchrone (einer von beiden ist offline; verzögerte Antwort) Kommunikation. –– Asynchrone Kommunikation ermöglicht dem Fragenden, sein Anliegen direkt, wenn es auftaucht, zu formulieren. Dem Berater ermöglicht es, die so genannte »zone of reflection« für Nachfragen, Überlegungen etc. zu nutzen. –– Die Kommunikation an der Pinnwand ermöglicht einen Austausch und gegenseitige Hilfestellung der Gruppenmitglieder untereinander. –– Neben dem Austausch an der Pinnwand ist eine direkte Kontaktaufnahme zu einem der Berater über die persönliche Nachrichtenfunktion möglich. Für andere ist dieser Austausch nicht einsehbar. –– Die Gruppenmitglieder können alle Einstellungen (z. B., ob sie Benachrichtigungen über neue Einträge an der Pinnwand erhalten) und auch den Austritt aus der Gruppe selbst steuern. Natürlich haben wir ein Regelwerk beschlossen, wie wir mit dem Traffic umgehen: –– Administration durch Vertreter unterschiedlicher Beratungsfelder, damit alle Fragen fachlich angemessen und nach Möglichkeit ohne Weiterleitung beantwortet werden können (Zentrale Studienberatung, Schulnetzwerk, duale Studiengänge, Serviceoffice für Studierende, Social-Media-Beauftragte). –– Jedes neue Mitglied wird mit einer kurzen Willkommens-Nachricht begrüßt. –– Schnellstmögliche Antwort, maximal binnen 24 Stunden an den Werktagen.

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–– Täglicher Blick auf die Pinnwand, gegebenenfalls Entfernung von Werbepostings oder Ähnlichem. –– Umleitung von Fragestellungen und Problemen, die intensiver und persönlich sind, auf die Funktion »persönliche Nachrichten«. –– Wir beginnen mit den so genannten Hashtags zu arbeiten, um die Pinnwand nach gefilterten Themen zu durchsuchen. Folgende Erfahrungen haben wir bisher gemacht: Die Gruppe ist Anfang 2013 gegründet worden. Momentan sind 218 Mitglieder in der geschlossenen Gruppe. Viele nutzen das Willkommens-Posting, um direkt ihre Fragen loszuwerden. Wir stellen fest, dass an der Pinnwand viele Orientierungsfragen und organisatorische Fragen gestellt werden. Fragen, die psychologische Dimensionen erreichen, werden meist in einer persönlichen Nachricht geschildert. Häufig erfolgt dann ein persönliches Gespräch bei uns in der Studienberatung oder der extern angesiedelten psychologischen Beratung (Statistikauswertungen dazu liegen derzeit noch nicht vor, da diese jährlich erhoben werden und wir erst seit 2013 die Facebook-Beratung statistisch erfassen). Das Ziel, die Facebook-Gruppe als niedrigschwelligen Türöffner zur Beratung zu nutzen, wird nach unseren ersten Erfahrungen eindeutig erreicht. Wir bekommen positives Feedback für unser Angebot und stellen fest, dass das Zugehörigkeitsgefühl zur Hochschule dadurch gestärkt wird. Noch letzte Woche sagte ein Studierender zu mir: »Ich finde es toll, dass es diese Angebote gibt und wir als Studierende nicht im Regen stehen gelassen werden«. Und damit ist der Kern unseres Anliegens getroffen: auch im Netz die Möglichkeit zu eröffnen, mit Anliegen und Fragen Gehör zu finden, und zwar dort, wo sich junge Menschen einen großen Teil ihrer Zeit sowieso aufhalten. Und damit sind wir auch wieder beim Gemeinschaftsgefühl, denn so Dreikurs: »Wenn wir uns erfolgreich und wertvoll fühlen, dann erweitern wir unser Gefühl der Dazugehörigkeit, unser Gemeinschaftsgefühl« (2005, S. 24). Kritisch bleibt natürlich die Tatsache, dass wir das häufig in der Kritik stehende Facebook für unsere Zwecke nutzen. Alle Datenschutzdiskussionen und die Vermarktung der Profilinformationen, die immer wieder und zu Recht ein sehr negatives Licht auf Facebook werfen, geben natürlich auch hochschulintern Diskussionsanlässe. Festzuhalten ist jedoch, dass vermutlich kein User aufgrund unserer Beratungs-

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gruppe Facebook beitritt. Die User sind bereits dort und ihre Daten werden hochschulintern nicht weiter hinterlegt, finden lediglich voll anonymisiert Niederschlag in der Beratungsstatistik. Wir achten weiterhin penibel darauf, dass keine Informationen oder Angebote exklusiv in der Facebook-Beratungsgruppe veröffentlicht werden, sondern auch über alle weiteren Kanäle wie E-Mail, Homepage, Telefonberatung, persönliche Beratung, Aushänge und gegebenenfalls Zeitungen für alle zugänglich sind.

Transfer: Chancen und Grenzen für Beratungsangebote auf Facebook Aus unserer Erfahrung heraus, gebündelt mit Eindrücken anderer Berater, die Onlineberatung anbieten, lassen sich für Beratung generell die im Folgenden aufgeführten Chancen und Grenzen ableiten.

Chancen für die Beratung Wir können etwas dafür tun, auf diesem Wege eine möglichst niedrige Hemmschwelle der Dazugehörigkeit, des Gesehen- und Gehörtwerdens einzurichten. Gerade für Menschen, die aus mangelndem Selbstwertgefühl und Scham einen direkten, persönlichen Kontakt scheuen. Die Auswertung der Modellphase eines Onlineberatungsprojektes der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung ergab bereits 2003 folgendes Ergebnis: »Onlineberatung wird von Personen in Anspruch genommen, die aus persönlichen Hemmnissen heraus von den örtlichen Angeboten keinen Gebrauch machen« (Thiery, 2011, S. 2). Nachdem das dortige Angebot jährlich stärker in Anspruch genommen wurde, wurde 2010 dann ein Einbruch in der Wahrnehmung von Onlineberatungsangeboten verzeichnet – auch hier ist die zunehmende Bedeutung und Verlagerung von Kommunikationsprozessen auf soziale Plattformen der Grund (Thiery, 2011). Individualpsychologen bemühen sich oft, »mit den Augen eines anderen zu sehen, mit den Ohren eines anderen zu hören, mit dem Herzen eines anderen zu fühlen« (Adler, 1928/1982, S. 224). Das

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ist Gemeinschaftsfähigkeit. Heute könnte man vielleicht mit einem Augenzwinkern ergänzen: »durch das Touchscreen des anderen zu surfen«. Die Auseinandersetzung damit, welche Relevanz die virtuelle Welt für viele heute bekommen hat, ist meines Erachtens ein Muss für uns. Und im Übrigen auch explizit Thema in vielen meiner Beratungsgespräche. Eine weitere Chance liegt in einem Verbindung stiftenden Moment. Die Generation Web 2.0 drückt ihre Verbundenheit zu Einrichtungen und Unternehmen auch durch ihre Vernetzung auf Facebook aus. Und auch das ist ein Gedanke des Gemeinschaftsgefühls: »Je größer das Gefühl der Verbundenheit mit einer Gruppe, desto eher wird man ihr treu bleiben, auch wenn man seine eigenen Werte nicht durchsetzen kann« (Dreikurs, 2005, S. 25). Und auch für die DGIP ist das ein Thema, das wir nicht vernachlässigen dürfen, wenn es um die Zukunftsfähigkeit der Individualpsychologie geht. Wenn es darum geht, Menschen auf unser Wirken aufmerksam zu machen und eine Dazugehörigkeit zu entwickeln, die in eine Verbundenheit mündet, aus der letztlich persönlicher und sozialer Einsatz entsteht, der die Zukunft mitgestaltet.

Grenzen für die Beratung Vorwegnehmen und betonen darf ich, dass eine Beratung auf einer sozialen Plattform keinen qualifizierten und persönlichen Beratungsdialog ersetzen kann. Und selbst wenn eine solche als Türöffnerfunktion und niedrigschwelliges Angebot fungieren soll, müssen klare Rahmenbedingungen eingehalten werden, um das Kommunikationsgeschehen zu überprüfen. Dafür bedarf es zunächst einer täglichen Pflege, technischer Offenheit und Sicherheit im Umgang mit dem Medium sowie klarer Grenzsetzungen bei Regelverstößen. Ein weiterer wichtiger Grund, weshalb eine Beratung über soziale Plattformen nicht mit einer persönlichen gleichzusetzen ist, ist die Kommunikation, die sich virtuell völlig anders darstellt. Wichtige Informationen fallen weg. Wir kennen nicht die Mimik, keine Körperhaltung, keine Stimme, wir wissen nicht, was während eines Chats in der Pause passiert. Das erfordert andere Kompetenzen der Berater. Wir müssen

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die spezielle Semiotik verstehen, wortgewandt sein, Verwendungen emotionaler Ersatzfunktionen verstehen und einsetzen (Emoticons etc.). Das bedeutet auch für Berater, dass sie den Menschen nicht mit allen Sinnen wahrnehmen können. Auch hinsichtlich des Ausmaßes an Gemeinschaftsgefühl tut sich im Gegensatz zur normalen Beratungsbegegnung ein Informationsmangel auf, denn: »Die Größe des Gemeinschaftsgefühls wird sich in allen Lebensäußerungen eines Menschen zeigen. Es wird oft schon ganz äußerlich darin zum Ausdruck kommen, wie zum Beispiel einer den anderen anblickt, wie er ihm die Hand reicht, mit ihm spricht. Sein ganzes Wesen wird uns oft schon rein gefühlsmäßig einen Eindruck vermitteln« (Adler, 1927/2003, S. 153 f.). Ein weiteres Problem ist, dass die Beratung von Seiten des Ratsuchenden abrupt beendet werden kann. Die Gründe dafür werden dabei dem Berater selten ersichtlich.

Go to future: Fazit und Ausblick Ich möchte ein Fazit auf zwei Ebenen ziehen – auf der Ebene der Haltung und auf der praktischen Anwendung der dargestellten Überlegungen. An der eingangs genannten These halte ich fest: Das Gemeinschaftsgefühl als individualpsychologisches Grundkonstrukt hat auch in der heutigen Zeit nicht an Bedeutung verloren. Dass soziale Plattformen wie Facebook allerdings das Gemeinschaftsgefühl explizit bestärken, kann bezweifelt werden. Vielmehr zeigt sich bei Menschen, die ein ausgeprägtes Gemeinschaftsgefühl haben, dass sie dieses auch durch ihre Bewegungen und Äußerungen im sozialen Netzwerk zeigen. Umgekehrt bekommen diejenigen, die eine narzisstische Grundausrichtung haben, hier eine hervorragende Plattform, ihren Narzissmus zu nähren. Ebenso kommen böse Absichten und Handlungen mit einer viel stärkeren und verletzenderen Wirkung zur Geltung. Facebook wirkt also quasi wie ein Verstärker – mit allen Chancen und Risiken. Zum praktischen Teil: Für individualpsychologische Berater sehe ich hinsichtlich der Stärkung des Gemeinschaftsgefühls den Auftrag, sich dort, wo es passend ist, mit Beratungsangeboten in sozialen Netzwerken zu positionieren  – vor allem im Kontext von Bildungsein-

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richtungen, Schulen, Vereinen und anderen Beratungseinrichtungen. Dabei kommt es darauf an, flexibel zu sein, am Puls der Zeit, um die Lebenswelten unserer Klienten, Ratsuchenden, Schüler etc. verstehen zu können. Die Digital Natives sind die nächste (teilweise schon die jetzige) Generation, die politische, gesellschaftliche und ethische Weichen stellt. Sie sind unsere Zielgruppen und die Zukunft. Der Trend einer virtuellen Welt, in der jeder mitgestalten kann, hat gerade erst begonnen. Das erfordert von uns eine enorm schnelle Wandlungsbereitschaft, die Aneignung von Medienkompetenz und einen offenen Blick auf das, was uns die Welt der sozialen Netzwerke auch für unsere Professionen ermöglicht. Deshalb möchte ich dazu ermutigen, sich aktiv und wohlwollend mit all den geschilderten Trends und Phänomenen auseinanderzusetzen, denn, um es mit den Worten eines Gesellschafters des Frankfurter Bankhauses Hauck & Aufhäuser, Volker van Rüth (2013), zum Thema Wandlungsbereitschaft zu sagen: »Wer nicht mit der Zeit geht, geht mit der Zeit.«

Literatur Adler, A. (1928/1982). Psychotherapie und Erziehung. Bd. 1. Frankfurt a. M.: Fischer. Adler, A. (1927/2003). Menschenkenntnis (35. Aufl.). Frankfurt a. M.: Fischer. Adler, A. (1933/2010). Über den Ursprung des Strebens nach Überlegenheit und des Gemeinschaftsgefühls. In G. Eife (Hrsg.), Alfred Adler. Persönlichkeitstheorie, Psychopathologie, Psychotherapie (1913–1937) (S. 550–558). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Allfacebook.de (2013). Facebook Nutzerzahlen. Zugriff am 10. 10. 2013 unter http://allfacebook.de/userdata/ Antoch, R. F. (2001). Über Sinn und Unsinn des Begriffs »Gemeinschaftsgefühl« oder: Adlers verfehlte Theorie der Macht. In U. Lehmkuhl (Hrsg.), Beiträge zur Individualpsychologie. Bd. 26 (S. 25–44). München: Ernst Reinhardt Verlag. Bauer, J. (2008). Prinzip Menschlichkeit. Warum wir von Natur aus kooperieren. München: Wilhelm Heyne. BITKOM (2013). Bundesverband für Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien e. V. Pressemitteilung: »Das Internet schafft eine Kultur des Teilens«. Hannover 04. 03. 2013. Zugriff am 24. 04. 2014 unter http://www.bitkom.org/de/markt_statistik/75257_75237.aspx Dreikurs, R. (2005). Grundbegriffe der Individualpsychologie (11. Aufl.). Stuttgart: Klett-Cotta.

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Damaris Sander

»Ein Zimmer für mich allein«: Die Arbeit am seelischen Innenraum in einer psychoanalytischen Behandlung

A room of one’s own Along the development of transference and countertransference it will be shown how the patient in the initial phase of the treatment mostly uses the therapist as an emotional container in the sense of Bion. In the course of treatment the patient can develop her mentalizing skill and by this her own inner place for reflection. The theoretical framework consists in particular of the attachment theory and the concept of mentalization. The 300 hours psychoanalytic treatment was part of a psychotherapeutic training. Zusammenfassung Anhand der Entwicklung von Übertragung und Gegenübertragung wird dargestellt, wie die Patientin die Therapeutin zunächst überwiegend als Container für eigenes Erleben im Sinne Bions nutzt und im Behandlungsverlauf ihren eigenen Innenraum entdeckt und entwickelt. Als theoretischer Rahmen werden vor allem die Bindungstheorie und das Konzept der Mentalisierung herangezogen. Es handelt sich um eine analytische Behandlung von 300 Stunden im Rahmen der Ausbildung zur Psychologischen Psychotherapeutin.

Meine Gegenübertragung während des Schreibens Zum Einstieg in den Behandlungsfall möchte ich gern mein Gegenübertragungserleben vor und während des Schreibens schildern. Ich hoffe, dadurch einen lebendigeren Eindruck von der Dynamik der Behandlung zu vermitteln, als wenn ich versuche, mit Eckdaten oder »Fakten« eine erste Orientierung zu geben. Als ich mit dem Schreiben meiner Abschlussarbeit beginnen möchte, habe ich mit Unlust und einem erheblichen Widerstand zu kämpfen. Es taucht eine ganze Reihe von Einwänden auf: »Eigentlich hat sich in der Behandlung kaum etwas getan, was soll ich da schreiben? Ich habe doch viel interessantere Fälle mit angenehmeren, phantasiebegabteren

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Damaris Sander

Patienten. Soll ich vielleicht doch noch auf einen anderen Fall umsteigen? Die Behandlung von Frau B. war wie ein dreijähriger Ritt durch die Wüste, mit langen Phasen von Ärger und Quälerei. Ich möchte das beim Schreiben nicht alles noch einmal erleben.« Schon bin ich mitten in der Dynamik des Behandlungsverlaufs und den Themen von Frau B.: dem Gefühl tiefer Hoffnungslosigkeit und Wertlosigkeit, der Angst, abgelehnt zu werden, aber auch der Dynamik, andere in Beziehungen so lange zu quälen, bis diese aufgeben und sie tatsächlich verlassen. Außerdem erlebe ich am eigenen Leib Frau B.s Widerstand dagegen, das Schlimme zu erinnern und durchzuarbeiten. Als mir das bewusst wird, tauchen außer dem ärgerlichen Widerwillen auch andere Affekte auf. Ich bekomme etwas von ihrer Angst zu spüren, den Halt zu verlieren, wenn sie sich auf das Fühlen und Wahrnehmen einlässt. Dies ist der Punkt, an dem ich den Eindruck habe, mit Frau B. in Kontakt kommen zu können, und an dem der Einstieg ins Schreiben gelingt. Das Bild von der Wüste taucht während des Schreibens bei meinem Versuch, unsere gemeinsame Arbeit anhand von markanten Punkten zu strukturieren, wieder auf. Mir fällt auf, wie schwierig das ist. Der Prozess erscheint auf den ersten Blick wie eine ungestaltete Landschaft, eine ständige Wiederholung des Gleichen, ohne prägnante Repräsentanzen, und es braucht Geduld und Hoffnung, um darin Markierungen zu entdecken. Alles, was ich herausgreife und genauer betrachte, scheint mir zwischen den Fingern zu zerrinnen und nichts wert zu sein. Ich ertappe mich, wie ich in Rastlosigkeit verfalle, um die Beunruhigung nicht zu spüren, dass da nichts von Bestand sein könnte, und auch die Sorge, etwas falsch zu machen, erschwert es, einfach mal etwas zu Papier zu bringen. Ich entwickle eine gewisse Verbissenheit und Zwanghaftigkeit: ringe um Worte, versuche in Zitaten, konkreten Datumsangaben und Sitzungszahlen Halt zu finden und speichere nach jedem zweiten Satz das Dokument neu ab. Erst im weiteren Verlauf stellen sich eine gewisse Beruhigung und zwischendurch auch eine freudige Überraschung darüber ein, dass da doch vieles ist. So spiegeln sich in meiner Gegenübertragung rund um das Schreiben die Schwerpunkte der Behandlung wider: die Wucht der hypomanen Abwehr, die den fragilen Selbstwert schützt, und das mühsame Ringen um Beruhigung und einen stabilen inneren Raum.

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Unser Kennenlernen: Erstgespräch und Probatorik Frau B. begegnet mir als eine sportlich gekleidete Frau mit mädchenhafter Ausstrahlung, die deutlich jünger wirkt als ihre 49 Jahre. Eindrucksvoll ist, dass sie, anstatt mir Beschwerden und Symptome zu schildern, zunächst berichtet, wie sie von mehreren Therapeuten bereits abgelehnt worden sei. Bei mir stellt sich der Gedanke ein, sie nicht auch noch ablehnen zu dürfen. Im weiteren Kontakt kommen zudem Affekte von Ärger und Wut auf, als sie sich darüber beklagt, dass sie für andere alles tue, dafür aber keinen Dank bekomme. Eine der Therapeutinnen habe ihre Ablehnung mit der Sorge begründet, Frau B. könne zusammenbrechen, wenn sie in der Therapie einen stärkeren Zugang zu ihrem Erleben bekomme. Hier hake ich nach: was denn Frau B. dazu denke und ob sie diese Sorge teile? Sie wiegelt ab. Diese Sorge habe sie nicht, aber sie habe schon Angst, in »das Schwere« hineinzugeraten, und würde sich wünschen, dass die Therapie auch etwas Leichtes haben könne. An dieser Stelle wird für mich in der Gegenübertragung eine Beklemmung spürbar, wie eine Angst vor einem großen schwarzen Loch. Frau B. klagt, dass sie häufig einen starken inneren Druck spüre und immer wieder in Situationen gerate, in denen sie von anderen ausgenutzt werde. Vor einigen Wochen seien eine ihrer Schwestern und eine Nichte in ihre Wohnung eingezogen. Sie fühle sich von der Anforderung, diese zu versorgen, häufig überfordert und sei wütend, es gelinge ihr aber nicht, die Anforderungen zurückzuweisen. Sie fühle sich zwischen dem Ärger und dem schlechten Gewissen ständig zerrissen. In ihrem Alltag arbeite sie entweder schnell und effizient oder liege nur im Bett und sei wie gelähmt. Ein Mittelmaß gelinge ihr nicht. Insgesamt falle es ihr sehr schwer, zur Ruhe zu kommen. Die Situation habe sich so zugespitzt, dass sie sich nun zu einer Therapie entschlossen habe. Ihr Ziel sei es, das ständige Druckgefühl bzw. die innere Zerrissenheit nicht mehr zu haben. Die auf das Erstgespräch folgenden probatorischen Sitzungen sind mir erstaunlicherweise kaum in Erinnerung geblieben. Als ich in meinen Aufzeichnungen nachschaue, stelle ich überrascht fest, dass sie sich über knapp fünf Monate hingezogen haben. Es war eine sehr vorsichtige Annäherung, und Frau B. hat bei mir nur ein blasses Bild hinter-

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lassen. Dass sie wenig von mir forderte und mich nicht herausforderte, löste bei mir, noch unsicher in der Rolle als Therapeutin, den Gedanken aus, dass ich es mit ihr schaffen könne. Das Übertragungsangebot der Patientin lässt sich beschreiben als: »Nimm mich auf, ich werde dir auch keine Mühe machen. Ich störe nicht. Du wirst fast nicht merken, dass ich da bin.« Ich habe es in der Tat kaum gemerkt, wie die sehr blasse Erinnerungsspur an diese Phase zeigt. Was allerdings heraussticht, ist Frau B.s Entschlossenheit, ihre Situation zu verbessern. Diese ist dann auch ein wichtiges Argument bei der Überlegung, eine analytische Therapie zu beantragen. Ich nehme Frau B. als eine Patientin wahr, die distanziert, verschlossen, aber auch äußerst entschieden ist. Überspitzt formuliert: »Wenn es sein muss, mache ich die Psychoanalyse auch ohne einen Therapeuten.« Ich spüre bei ihr wenig Affekte, aber die Entschlossenheit berührt mich, und sie erscheint mir als eine für den Beginn ausreichende Basis.

Lebensgeschichtliche Entwicklung Frau B. wurde als erste von vier Töchtern geboren. Die Mutter (+ 19) hatte keinen Beruf erlernt, der Vater (+ 24) war von Beruf Schreiner. Die Mutter sei an einer Depression erkrankt, als Frau B. zwei oder drei Jahre alt war. Sie sei mit der Erziehung der Kinder »total überfordert« gewesen, habe immer auf dem Sofa gelegen und nicht für die Kinder gesorgt. Frau B. sei deshalb häufig von den Großeltern väterlicherseits betreut worden und sei auch verschiedentlich in Pflegefamilien untergebracht worden. Einmal sei sie auch für ein Jahr im Kinderheim gewesen. Frau B. habe früh begonnen, die Rolle der Mutter in der Familie zu übernehmen. Ihr Vater habe ihr Haushaltsgeld gegeben, und sie habe für ihre jüngeren Geschwister gekocht. An die Beziehung zum Vater habe sie insgesamt positive Erinnerungen. Er habe sie häufig in den Wald zum Pilzesammeln mitgenommen. Nach einem Autounfall sei er jedoch an Schizophrenie erkrankt, und seine Stimmung sei ab diesem Zeitpunkt unberechenbar gewesen. So habe er häufig unvermittelt Wutanfälle bekommen und die Kinder angebrüllt. Frau B. fällt bei der Schilderung ihrer Lebensgeschichte auf, dass sie nur wenig Erinnerungen bis zum Alter von zehn oder elf Jahren hat.

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Dieser Mangel an Erinnerungen ist ein Hinweis auf die Mentalisierungsstörung der Patientin. Da ihre Erlebnisse nicht von einem Erwachsenen aus einer »dritten Position« (Britton, Feldman u. O’Shaughnessy, 1998) gespiegelt und gebündelt wurden, blieben sie als inneres Chaos gespeichert, auf das Frau B. nicht zugreifen kann. Als Schülerin, berichtet Frau B., sei sie sehr brav, still und zurückhaltend gewesen. Sie sei ein unsicheres Kind gewesen, habe aber stets gute bis mittelmäßige Noten erreicht. Nach der mittleren Reife habe sie eine Ausbildung zur Rechtsanwaltsgehilfin absolviert. Danach habe sie lange Zeit als Beamtin in der Buchhaltung eines staatlichen Unternehmens gearbeitet. Ihren ersten Freund hatte Frau B. im Alter von 13, den ersten Geschlechtsverkehr mit 14 Jahren. Mit 17 sei sie von zu Hause ausgezogen und zwei Jahre später schwanger geworden, woraufhin ihr Freund und sie hätten heiraten müssen. Wenige Jahre später habe sie sich von ihm getrennt und in der Zeit danach ihre »Pubertät nachgeholt«. Sie hatte wechselnde Männerbekanntschaften und orientierte sich in der Zeit stark an einer Freundin, die ihr Halt gab. Sie war dann einige Jahre mit dem Vater ihrer zweiten Tochter zusammen. Nach der Trennung heiratete sie im Alter von dreißig Jahren einen anderen Mann, die Ehe wurde jedoch fünf Jahre später geschieden. Seitdem habe sie verschiedene kürzere Beziehungen gehabt, da sie auch schlecht allein bleiben könne. Sie sei jedoch mit keinem Mann mehr zusammengezogen. In ihren Beziehungen sei es so, dass sie entweder Partner habe, die »wie eine Klette« an ihr hingen, oder solche, die sie »niedermachten« und sie betrügen würden. Es gebe »keine Mitte«. Ihre Tätigkeit im Staatsdienst hat die Patientin einige Jahre vor Behandlungsbeginn aufgegeben. Die materielle Versorgung, die ihr die zweite Ehe bot, habe ihr die Möglichkeit gegeben, die ungeliebte Stelle zu verlassen. Sie stieg in die Firma ein, in der auch ihr Mann arbeitete, verließ diese dann aber nach der Trennung. Ihren Lebensunterhalt verdient Frau B. seitdem durch eine Teilzeit-Tätigkeit als Haushaltshilfe, darüber hinaus ist sie als medizinische Fußpflegerin selbständig tätig und legt Karten. Diese »spirituelle Seite« an sich habe sie nach der Trennung von ihrem zweiten Ehemann entdeckt und sich seitdem viel mit Esoterik beschäftigt. Die Töchter von Frau B. sind bei Behandlungsbeginn schon erwach-

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sen. Die ältere führe ihr eigenes Leben und sei für die Patientin »eher wie eine Stütze«. Die jüngere dagegen sei unselbständig und unsicher. Die Patientin sei von ihr »genervt«, habe deswegen aber auch ein schlechtes Gewissen. Der Vater der Patientin, zum zweiten Mal verheiratet, habe Alkoholprobleme und seine Ehe sei nicht harmonisch. Frau B. habe nur wenig Kontakt zu ihm. Die Mutter sei in einer geschlossenen Einrichtung für psychisch Kranke untergebracht und unter gesetzliche Betreuung gestellt. Frau B. besuche sie alle vier bis sechs Wochen, wobei sie häufig eine ihrer Schwestern mitnehme, da die Besuche sie sehr belasteten. Zwei ihrer Schwestern seien ebenfalls psychisch erkrankt, die eine sei alkoholkrank, die andere leide an einer Angststörung. Bezüglich ihres Gesundheitszustandes gibt Frau B. an, unter wiederkehrenden Blasenentzündungen sowie häufigen Kopf- und Rückenschmerzen zu leiden.

Neurosenpsychologische Diagnose Aktiver Modus der Konfliktverarbeitung bei zugrunde liegendem Versorgungs- versus Autarkiekonflikt auf dem Hintergrund einer Zyklothymie.

Überlegungen zur Psychodynamik Frau B. wurde als erste Tochter geboren, ihre Mutter erkrankte an einer schweren Depression, als sie zwei bis drei Jahre alt war. Ab diesem Zeitpunkt, möglicherweise aber auch schon deutlich früher, stand die Mutter nicht mehr als gutes und Halt gebendes Objekt zur Verfügung. Der Vater, berufstätig, konnte den Ausfall der Mutter nicht auffangen. Frau B. wurde zwar durch wechselnde Betreuungspersonen materiell versorgt, konnte jedoch keine sichere Bindung entwickeln. Es gab zudem keine verlässliche Person, die sie differenziert und markiert gespiegelt hätte im Sinne von Gergely und Watson (1996). Es fehlten dadurch wesentliche Voraussetzungen für die Entwicklung von Mentalisierungsfähigkeit als der Fähigkeit, »sich selber und andere als füh-

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lende und denkende Wesen zu begreifen« (Fonagy, Gergely, Jurist u. Target, 2004, S. 70). Aus diesem frühen Mangel resultieren die strukturellen Einschränkungen, die Frau B. heute in der Selbst- und Objektwahrnehmung hat. Das Bild, das die Patientin von anderen zeichnet, ist blass, und auch sie selbst bleibt nach dem Kontakt im Erleben anderer kaum haften. Sie nimmt eigene Affekte nur wenig differenziert wahr; meist ist lediglich von einem unspezifischen »Druckgefühl« die Rede. Dabei handelt es sich um den Druck nichtmentalisierter Zustände aus ihrer Innenwelt, im Sinne einer »namenlosen Angst« (Bion, 1962, zit. nach Bott Spillius, 1990, S. 232), die nicht näher bezeichnet werden kann. Frau B. bewältigte die schwierige familiäre Situation, indem sie sich über gute Leistungen stabilisierte. Sie war sehr tüchtig und übernahm Verantwortung für die jüngeren Geschwister, was ihr die Anerkennung ihres Vaters einbrachte. Für diese Stabilisierung zahlte sie den Preis einer verfrühten Reifung. Sie konnte altersgemäße Versorgungswünsche nicht äußern und letztlich nicht Kind sein. Hierin ist der Ausgangspunkt für die Fixierung auf den Konflikt zwischen Versorgungswünschen einerseits und Autarkiebestrebungen andererseits zu sehen. Aus der unerträglichen Erfahrung heraus, dass Versorgungswünsche nicht erfüllt werden, werden diese abgewehrt und unbewusst gehalten. Die Patientin gibt sich autark, bedürfnislos und bescheiden. In ihren Beziehungen lässt sie sich ihre Bedürfnisse nach Zuwendung nicht anmerken, und auch die Bedeutung von Abschieden wird übergangen. Unbewusst werden die Versorgungswünsche dadurch ausgelebt, dass die Patientin immer wieder andere versorgt. Dieses Verhalten ist von Affekten wie Neid und Wut begleitet, die wiederum weitgehend abgespalten und nur in der Gegenübertragung spürbar werden. Der unbewusste Konflikt wird durch die oben beschriebenen strukturellen Defizite verschärft. Die Möglichkeit, sich Trieb- oder Versorgungswünsche adäquat zu erfüllen, ist eingeschränkt, und Frau B. neigt dazu zu übersteuern. Sie ist sehr emsig, effizient und versorgt andere, bricht dann aber völlig ein und ist wie gelähmt. Insgesamt wird ein zyklisches Muster zwischen getriebener, druckvoller Aktivität und depressiven Einbrüchen erkennbar.

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Behandlungsbeginn: Unsicher-vermeidende Bindung Der Verlauf der ersten Sitzungen ist davon geprägt, dass Frau B. dicht gedrängt Erlebnisse aus ihrem Leben im Stil einer Berichterstattung schildert. Typischerweise schließt sie diesen Part mit der Bemerkung: »So, das ist jetzt der aktuelle Stand«, ab, und es folgt Schweigen. Ich wiederum finde keinen Zugang zu diesem hermetisch abgeschlossenen Paket, das fest verschnürt vor mich hingestellt wird, spüre aber die Erwartung, dass ich etwas damit machen soll – etwas verstehen, etwas aufdröseln, die Not lindern oder auch die Tüchtigkeit loben. Ständig gerate ich in Versuchung, in einen munteren Plauderton einzusteigen. Den Druck der Erwartungen merke ich auch körperlich als Kopfschmerzen, die bei mir im Lauf der Sitzungen aufkommen. So bekomme ich schon früh in der Gegenübertragung das Leitsymptom von Frau B., das ständige Druckgefühl, zu spüren. Ich erlebe mich wie auf dem Prüfstand, als müsse ich meine Nützlichkeit und Tauglichkeit unter Beweis stellen, gleichzeitig finde ich kaum Ansatzpunkte an dem, was Frau B. mir erzählt. Ich fühle mich überflüssig und hilflos, und die Sorge kommt auf, dass Frau B. die Therapie abbricht, weil ich nicht genug für sie tun kann. Ich spiegele ihr, dass sie in ihren Schilderungen als kompetente und tüchtige Frau erscheint und dass ich mich dann frage, wofür sie mich brauche. »Ich brauche viel Bestätigung und Ermunterung. Und ich brauche Sie für die Denkanstöße von außen«, bekomme ich als Antwort. Frau B.s Übertragungsangebot zu diesem Zeitpunkt weist mir die Rolle zu, dass ich kleine »Bröckchen«, nämlich Denkanstöße, beisteuern, aber auch nicht zu bedeutend werden darf. Sie kann von mir nur die dürftigen affektiven Antworten annehmen, die sie als Kind von der depressiven Mutter bekommen hat. Dieser unsicher-vermeidende Bindungsstil (Bowlby, 2006) schlägt sich auch in der Stundenfrequenz nieder. Auch wenn wir relativ schnell die Zweistündigkeit vereinbaren, finden aufgrund von Urlauben und Absagen einzelner Stunden im ersten Jahr der Analyse nur fünfzig Behandlungsstunden statt.

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Regression und Übergang zu unsicher-ambivalenter Bindung Unter dem Einfluss der Frequenzerhöhung und der damit verbundenen stärkeren Regression verändert sich allmählich die Beziehungsdynamik. Frau B. spürt ihre Beziehungswünsche deutlicher, und sie kann auch Traurigkeit über das Fehlen eines Liebesobjekts erleben. In dieser Phase werden erste strukturelle Entwicklungsschritte sichtbar. Die Patientin beginnt, Gefühle von Traurigkeit oder Verlassenheit besser wahrzunehmen und auszuhalten; das Agieren zum Beispiel in der Form, Kontakte zu Männern zu forcieren, geht zurück. Frau B. weitet ihr Hobby, das Tanzen, aus und besucht parallel mehrere Tanzkurse, bei denen sie mit unterschiedlichen Tanzpartnern Erfahrungen sammelt. Dabei beobachtet sie sich selbst und stellt Unterschiede fest, mit welchem Mann sie sich wohler oder weniger wohl fühlt. Sie lernt in dieser Zeit einen Mann kennen, zu dem sie sich hingezogen fühlt, und kann deutlicher als zuvor Gefühle der Zuneigung spüren: »Das Gefühl für H. ist ein neues Gefühl, und ich bin froh, dass ich es empfinden kann. Auch das Aushalten der Traurigkeit ist neu. Es ist ein anderes Aushalten als früher, als Kind. Und Gefühle zu haben und zu unterscheiden habe ich nie gelernt.« Parallel zu den strukturellen Fortschritten in der Affektwahrnehmung und -differenzierung verändert sich die therapeutische Beziehung. Frau B. spürt die Wünsche deutlicher, die sie an mich hat. Das zyklothyme Muster, das uns noch lange begleiten wird, entwickelt sich: Es gibt nahe Stunden mit gemeinsamer Arbeit, in denen Frau B. über sich reflektieren kann, und Stunden, in denen sie ungeduldig an mir zerrt sowie Ärger und Unzufriedenheit äußert. Dies steigert sich bis in ein wütendes Fordern. Frau B. verlangt Tipps (»Haben Sie einen Tipp als Therapeutin, wie man mit dem Schmerz umgehen kann?«), ist unzufrieden mit meinem Angebot (»Wenn Sie um sieben Uhr Termine anbieten würden, hätte ich kein Problem damit, regelmäßig zu kommen«) und erlebt mich als streng und fordernd. Das Bild von einem ambivalent gebundenen Kind kommt auf, das gleichzeitig klammert und tritt. Frau B. sucht nach einem anerkennenden, klaren und wohlwollenden Gegenüber, geht dabei aber gleichzeitig von der festen Grundannahme aus, dass es dieses nicht gibt. Die Enttäuschungswut über die versagende Mutter kommt damit zur Ent-

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faltung: »Nach der letzten Stunde ging es mir den ganzen Tag schlecht. Ich war ziemlich sauer, dass ich keine Antwort auf meine Frage bekommen habe.«

Behandlungskrise: »Sind Sie die richtige Therapeutin für mich?« Die Enttäuschung über mich als versagende, ungenügende Therapeutin spitzt sich schließlich zu einer Behandlungskrise zu. Frau B. stellt den Sinn der Therapie in Frage und inszeniert das Nichtgenügen der Mutter in einem heftigen Streit mit ihrer jüngeren Tochter: »Egal, was ich für meine Tochter tue, es reicht nie! Es ist nie genug!« Trotz dieses Vorlaufs trifft es mich völlig unvorbereitet, als Frau B. ohne spürbaren Affekt eine Stunde mit der Überlegung einleitet, den Therapeuten ihrer besten Freundin aufzusuchen, um »einmal eine andere Sichtweise zu sehen«. Der Therapeut bestätige ihre Freundin immer, das finde sie sehr gut und deshalb wolle sie ihn auch einmal kennen lernen. Dass ihre Freundin über ihren Vorschlag »total sauer« sei, könne sie nicht verstehen; der Therapeut habe doch Schweigepflicht. Ich bekomme einen gewaltigen Schreck und beginne zu überlegen, was ich verkehrt gemacht habe: Habe ich sie in der letzten Zeit überfordert? War ich nicht nah genug bei ihr? Was habe ich übersehen? Heftige Schuldgefühle stellen sich ein. Unter dem Aspekt der Übertragung betrachtet, phantasiert Frau B. einen Vater, der weniger enttäuschend ist als die Mutter. In der Gegenübertragung wird dies als heftige Entwertung und als Gefühl, hintergangen zu werden, spürbar. Ich habe einiges damit zu tun, diesen Affekt bis zur nächsten Sitzung so weit zu verdauen, dass ich damit arbeiten kann. Ich entschließe mich, meine Gegenübertragung anzubieten, auch wenn mir sehr unwohl bei der Vorstellung ist, mich so schwach und verletzlich zu zeigen. Ich schildere Frau B., dass ihre Überlegung bei mir einen Schreck ausgelöst hat sowie das Gefühl, dass das, was ich ihr anbiete, nicht genüge – ein Gefühl, dass sie selber gut kenne. Diese Deutung führt zu einer spürbaren Entspannung und im Verlauf der folgenden Sitzungen aus der akuten Krise heraus: »Wie Sie gesagt haben: das Gefühl, nicht zu genügen als Therapeutin, und dass ich das Gefühl

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gut kenne – da habe ich gedacht, Sie sind die richtige Therapeutin für mich, dass Sie mir das spiegeln.« In den folgenden Sitzungen gelingt es uns, das krisenhafte Geschehen zwischen uns in einigen Aspekten auch biographisch einzuordnen und zu verstehen. Meine Gegenübertragung, völlig unvorbereitet von Frau B.s Abbruchgedanken »überschüttet« zu werden, erinnert sie daran, dass sie und ihre Geschwister wiederholt plötzlich von den Eltern getrennt und in Pflegefamilien untergebracht wurden: »Wir wurden auch vor vollendete Tatsachen gestellt. Wir wurden in Pflegefamilien gesteckt. Das wurde nicht vorher mit uns besprochen.« Auch ihre Leugnung, bei ihrer Freundin eine Grenze überschritten zu haben, indem sie deren Therapeuten anrief, bekommt einen biographischen Bezug. Frau B. erinnert sich daran, dass es in ihrer Familie »kein Mein und Dein« gegeben habe. Immer sei sie aufgefordert worden, mit ihren jüngeren Geschwistern zu teilen. Die Vorstellung, nichts sein Eigen nennen zu dürfen, löst bei mir Betroffenheit und Beklemmung aus. Ich bekomme zu spüren, wie wenig Getrennt-Sein Frau B. entwickeln durfte und wie wenig Schutz und Grenzen es für sie gab. Dass sie damals heftigen Neid auf ihre Geschwister oder andere Kinder empfunden habe und heute auf ihre Freundin oder gar auf mich empfinde, kann Frau B. allerdings nicht annehmen. Neid ist ein Affekt, den sie als bedrohlich erlebt und weit von sich weist. Auch dass sie bei mir so starke Gefühle ausgelöst hat, ist für Frau B. sehr schwer zu erkennen und anzunehmen. Sie bekommt etwas davon zu spüren, dass ihr Verhalten bei anderen Leid verursacht und dass sie nicht nur Opfer, sondern auch Täterin ist. Dies ruft Schuldgefühle sowie Angst vor Rache und Verlassenwerden hervor: »Wenn ich Sie vor vollendete Tatsachen stelle, stellen Sie mich vielleicht auch vor vollendete Tatsachen.« Diese Affekte kann Frau B. in Ansätzen bewusst erleben und damit auch zulassen, dass dadurch ihr Selbstbild als unschuldiges Opfer ins Wanken gerät. Der Gedanke taucht auf, dass sie durch ihr Verhalten ihre Beziehungen bis zu dem Punkt belastet, diese zu zerstören. Auf den Schreck, dass sie fast die Therapie abgebrochen hätte, reagiert Frau B. zudem mit dem Wunsch nach einer Frequenzerhöhung. Sie möchte dadurch sicherstellen, dass sie mir nicht »wegflutscht«. Wegen der nach wie vor sehr angespannten Übertragungsbeziehung erfülle ich diesen Wunsch allerdings zunächst nicht.

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Was die Struktur betrifft, wird in dieser Behandlungskrise deutlicher als zuvor, dass unter der Wirkung der Regression keine Triangulierung möglich ist: Wenn ich die Sichtweise einer anderen Person einnehme oder Kritik äußere, fühlt Frau B. sich von mir verraten. Dass ich eine dritte Position einnehme, kann sie nur so erleben, dass ich sie zwangsläufig fallen lasse.

Plateauphase: Ärgern und Quälen Nach dieser Krise hält die therapeutische Beziehung ersten Konfrontationen und Frustrationen stand, ist aber nach wie vor brüchig. Es folgt eine Phase, die ich als Plateauphase bezeichne. Während ich mir vorgestellt hatte, dass nach der Krise eine deutliche Entspannung eintreten würde, hält die Anspannung an. Frau B. spürt ihre Nähe- und Versorgungswünsche deutlicher als vor der Krise und formuliert sie, insbesondere in der Beziehung zu H., der inzwischen ihr Lebensgefährte ist. Sie überlegt, mit ihm zusammenzuziehen, wobei sie probeweise bei ihm einziehen möchte. Es folgt eine endlos scheinende Anzahl von Stunden, in denen Frau B. sich über H. beschwert. Sie sage ihm doch, was sie sich wünsche, aber er erfülle die Wünsche nicht. Und wenn doch, habe sie das Gefühl, dass er es nicht von Herzen tue. Über mich ergießt sich ein Strom an Enttäuschung, Bitterkeit und Wut, und Frau B. setzt mir mit ihren Entwertungen heftig zu. Meine Versuche, das »Meckern« zu begrenzen, werden mit Wutausbrüchen quittiert, die Frau B. aber nicht als solche wahrnimmt: »Ich stelle doch nur Fakten fest. Ich bin ganz sachlich.« Auch meine Versuche, die Aggression weg von der Außenbeziehung in die therapeutische Beziehung zu lenken, schlagen fehl: »Das hat doch nichts mit Ihnen und der Therapie zu tun!« Die Abwehr ist in dieser Zeit von projektiver Identifikation geprägt, die ich als kontinuierlichen Ärger in der Gegenübertragung spüre. Schon das Klingeln an der Tür löst bei mir Wut aus. Bei den Schilderungen der Patientin identifiziere ich mich häufig mit ihrem Lebenspartner. Frau B. berichtet, dass er sich ständig mit dem Hinweis, dass er Kopfschmerzen habe, zurückziehe, und dass ihm alles zu viel werde. Beides kann ich zu diesem Zeitpunkt gut nachempfinden. Es ist für mich sehr

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schwierig, bei Frau B. zu bleiben und die Not hinter ihrem Schimpfen zu sehen. Bei mir steht der Ärger über ihre maßlosen Ansprüche im Vordergrund. Die Zeiten, in denen gemeinsame Arbeit und Reflexion möglich war, als Frau B. mir scheinbar schnelle Fortschritte präsentierte, erscheinen mir wie Erinnerungen an ein fernes, verloren gegangenes Paradies. War das die gleiche Patientin?

Konfrontation: Weg vom Entweder-oder Insgesamt erlebe ich unsere Beziehung so, dass Frau B. mich quält, aber auch schnell mit Beziehungsabbruch droht, wenn ich mich zur Wehr setze. Wir sind ineinander verkeilt, und ich fühle mich im Würgegriff ihrer Aggression. Es wird deutlich, dass ich meine therapeutische Autonomie zurückgewinnen muss. Dies stellt sich als schwieriger Schritt heraus, denn dazu gehört, dass ich mich davon verabschiede, die Behandlung von Frau B. für meine Ausbildung einzuplanen, und mich damit auch von meinen Zielvorstellungen für das Ausbildungsende verabschiede. Möglich wird das erst, als ich einen Plan B für den Ausbildungsverlauf entwickeln kann. In diesem Moment fühle ich mich wieder unabhängig genug, um die Patientin mit meiner Sichtweise zu konfrontieren, auf die Gefahr hin, dass sie das Vertrauen zu mir verliert und die Therapie abbricht. Ich gewinne also meine Handlungsfreiheit zurück, indem ich mir bewusst mache, dass ich nicht von Frau B. versorgt werden möchte. In der darauffolgenden Sitzung benenne ich den derzeitigen Stand der Therapie als Krise und beschreibe in einer übertragungsfokussierten Deutung das Beziehungsmuster: dass Frau B. einerseits von mir fordere, ihr gegenüber klar und direkt zu sein, sich bei Kritik aber schnell unverstanden fühle und die Beziehung in Frage stelle. Was wiederum dazu führe, dass ich sie mit Samthandschuhen anfasse, was sie dann als distanzierten oder auch unaufrichtigen Kontakt erlebe. Ich formuliere zudem den Wunsch, mit ihr aus dem Entweder-oder (entweder ich bestätige sie oder wir geraten in eine Vertrauenskrise) auszusteigen. Die Konfrontation löst bei Frau B. massive Schuldgefühle aus, die teilweise bewusst erlebt und überwiegend mittels projektiver Identifikation und Somatisierung abgewehrt werden. Ich fühle mich schuldig und

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frage mich, ob ich sie zu hart angefasst habe. Frau B. wiederum wird auf dem Weg in unsere nächste Sitzung in einen Auffahrunfall verwickelt, der sie daran hindert, die Sitzung wahrzunehmen. Bei dem Unfall ist der Unfallgegner der Schuldige, und die Rechnung für das Ausfallhonorar reicht sie entsprechend an ihn weiter. Auch hier wird also die Schuldfrage, die für Frau B. eine so große Rolle spielt, verhandelt. Außerdem hat die Patientin nach der Konfrontation mit wiederkehrenden Blasenentzündungen zu kämpfen. Diese kennt sie aus früheren Zeiten – auch ihre Mutter und ihre Schwester hätten häufig unter Blasenentzündungen gelitten. Unter der Wirkung der Therapie tritt dieses alte Symptom wieder verstärkt auf. Das Deutungsangebot, die Blasenentzündungen als Ausdruck eines seelischen Schmerzes zu betrachten, greift Frau B. bereitwillig auf. Sie versucht, das Auftreten der Beschwerden mit ihrem Erleben in Zusammenhang zu bringen. Zunächst erscheint das Symptom ausschließlich als Ausdruck von körperlicher Erschöpfung und Überforderung. Später fällt Frau B. auf, dass ein Zusammenhang zu Schuldgefühlen und Beziehungswünschen besteht und dass die Blase reagiert, wenn sie sich in ihrer Unabhängigkeit bedroht fühlt. Die Blase steht für den Wunsch loszulassen. Der Aspekt der eigenen Aggressivität anderen, also auch mir gegenüber, ist allerdings nach wie vor kaum besprechbar. Die hiermit verbundenen Schuldgefühle scheinen zu bedrohlich.

Settingfragen: Sitzen, Liegen und Frequenz In der Folge der Konfrontation wird es zunehmend möglich, gewisse Aspekte der Übertragungsbeziehung zu thematisieren. Ärger und Wut können mehr direkt auf mich gerichtet werden, so dass die Beziehung zum Lebensgefährten etwas entlastet wird. Da wir jetzt – in guten Stunden – das Übertragungsgeschehen analysieren können und Affekte nicht mehr in ganz so starkem Maße abgewehrt und agiert werden müssen, greife ich jetzt Frau B.s Wunsch nach Frequenzerhöhung auf. Außerdem bringe ich noch einmal die Couch und das Liegen ins Spiel. An diesem Punkt, als wir über die Veränderung des Settings sprechen, spiegelt sich in anschaulicher Weise die zyklothyme Abwehrstruktur von Frau B. wieder. Es stehen zwei Möglichkeiten der Intensivie-

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rung der Therapie im Raum: Liegen und Frequenzerhöhung. Ich spreche Frau B. darauf an, dass sie das Liegen als Möglichkeit ausblendet und stattdessen auf eine Doppelstunde drängt, obwohl sie häufig über Zeitdruck und ihre hohe zeitliche Belastung klagt. Frau B. probiert daraufhin das Liegen aus, kann es aber kaum aushalten. So entwickelt sich das Setting in Richtung Dreistündigkeit im Sitzen. Die Frequenzerhöhung realisieren wir in Form einer Einzel- und einer Doppelstunde. Parallel zur Frequenzerhöhung vollzieht Frau B. das probeweise Zusammenziehen mit ihrem Lebensgefährten. Ob es etwas bedeuten könnte, dass die therapeutische Beziehung und ihre Partnerbeziehung gleichzeitig näher werden, ist mit Frau B. allerdings nicht besprechbar. Meine Angebote, Zusammenhänge zwischen ihren Beziehungen im Außen und dem, was zwischen uns passiert, herzustellen, lehnt sie zu diesem Zeitpunkt meist noch ab. Rückblickend stellt sich die Frage, ob ich in Bezug auf die Frequenzerhöhung mitagiert habe und Frau B.s Ablehnung gegen das Liegen konsequenter hätte aufgreifen und deuten sollen, statt ihrem Drängen auf die Doppelstunde nachzugeben. Allerdings wurde für mich deutlich, dass das Liegen für Frau B. höchst bedrohlich und angstbesetzt ist. Die Angst, so zu werden wie die depressive, »stinkende« Mutter sowie die damit verbundenen Schamgefühle wurden zudem auch für Frau B. spürbar. Immerhin wurden durch unsere Bearbeitung der Frage »Sitzen oder Liegen« die beiden Pole (väterlicher) Hypomanie und (mütterlicher) Depressivität auf das Hier und Jetzt der therapeutischen Beziehung beziehbar und konnten biographisch eingeordnet werden. Zudem konnte die Patientin den Abwehrcharakter ihrer rastlosen Betriebsamkeit spüren.

Ein Keim, den man nicht behandeln kann: Resistent gegen fast alles Nichtsdestotrotz bleiben die Stunden doch über weite Strecken von unzufriedenem Schimpfen und interpersoneller Abwehr geprägt. Als die erste Verlängerung ansteht und damit auch die Endlichkeit der Behandlung ins Blickfeld rückt, beschließe ich, das Schimpfen früher und konsequenter zu stoppen. Ich mute Frau B. die Realität zu, dass

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ich zwar ihre Wünsche verstehen kann, dass diese sich aber möglicherweise nicht erfüllen werden. Meine Intervention ruft heftigen Ärger hervor, aber die Beziehung trägt. Gleichwohl tappe ich in den Stunden immer wieder in die Falle der hypomanischen Abwehr. Ein typischer Stundenverlauf aus dieser Phase: Frau B. eröffnet die Stunde mit einem Bericht über Erlebnisse aus ihrem Beziehungsalltag, in dessen Verlauf sie sich zunehmend in Rage über H. redet und einen heftigen, schneidenden Tonfall bekommt. Ich stoppe den Ärger mit dem Hinweis, dass er destruktiv sei und ihr und auch ihrer Beziehung zu ihrem Freund nicht gut tue, wobei ich in der Gegenübertragung Schuldgefühle erlebe. Frau B. reagiert hilflos. Sie schweigt oder fragt: »Was soll ich denn machen?«, sagt: »Ich verstehe nicht, was Sie meinen« – und an dieser Stelle schnappt die Falle zu. Ich fange an zu handeln: zu erklären, zu beruhigen, zu loben, Hinweise zu geben und biographische Bezüge herzustellen. Schon sind wir weg vom Affekt und wieder im Tun. Dabei verspüre ich wiederum Ärger, weil ich mich als aktiv-versorgend und sie als passiv erlebe. Ich fühle mich ausgenutzt. Wir bleiben in dem Spiel mit verteilten Rollen gefangen: Wir teilen den hypomanischen und den depressiven Pol unter uns auf. Bei der Reflexion dieser Sequenzen fühle ich mich von Kristin White (2006, S. 246) gleichzeitig ertappt und verstanden: »Die mentalisierende Haltung kann eine Herausforderung sein, wenn Patienten mit Mentalisierungsstörungen zu einem Handeln statt einem Denken beim Therapeuten ›verführen‹. Dies kann zu einem ›Mitagieren‹ führen, bei dem der Therapeut aus seinem Über-Ich agiert, zum inneren Objekt des Patienten wird im Sinne einer komplementären Gegenübertragung […] oder die Kontrolle verliert und wütend wird oder die therapeutische Distanz nicht ausreichend einhält.« Dies ist im Laufe der Behandlung sicherlich immer wieder passiert. Der Blasenkeim, von dem Frau B. zu einem früheren Zeitpunkt erzählt hat, kommt mir in den Sinn. Ich fühle mich selbst wie ein wirkungsloses Antibiotikum und verspüre Resignation angesichts des hartnäckigen, destruktiven Ärgers. Ich biete Frau B. diesen Einfall an, was allerdings zu diesem Zeitpunkt keine erkennbare Wirkung hervorruft.

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Erste Verlängerung: Der Traum vom geschützten Raum In der ersten Sitzung nach ihrem Sommerurlaub berichtet Frau B. einen Traum. Sie habe Harndrang verspürt und sei auf der Suche nach einer Toilette die ganze Zeit umhergelaufen, habe aber keine gefunden. Zur Toilette fällt ihr ein, dass dies ein geschützter Raum sei, in dem sie sich erleichtern könne und weder Beschämung noch Kränkung fürchten müsse. Sie finde diesen Raum allerdings nicht, müsse den Dingen immer hinterherlaufen und bekomme doch nicht, was sie suche. Fasst man den Traum als Übertragungstraum auf, drückt er Frau B.s Wunsch danach aus, in mir als ihrer Therapeutin einen Container im Sinne Bions (1962/1990) für ihre nichtmentalisierten Gefühlszustände zu finden, den ständigen Druck abzulassen und sich zu erleichtern. Das Containment von Affekten innerhalb der therapeutischen Beziehung wiederum ist Basis für die Entwicklung eines geschützten inneren Raumes, in dem eigene Affekte erlebt und »verdaut« werden können. Letztlich drückt dieser kurze Traum das Thema der gesamten Behandlung aus. Das Bild vom Therapeuten als Toilette drückt auch gut aus, mit welchen Schwierigkeiten ich in der Behandlung zu kämpfen habe, nämlich damit, im übertragenen Sinne »vollgepinkelt« zu werden. In der Tat war ich auch immer wieder »angepisst«, angefüllt mit projizierter Aggression. Die Metapher der Toilette als seelischem Container erhellt zudem das Symptom der wiederkehrenden Blasenentzündungen. Im Sinne von Adlers Organsprache (Adler, 1912/1914) verweist die Erkrankung der Blase auf die Erkrankung der inneren Containerfunktion, die insbesondere unter Belastung immer wieder zusammenbricht. Der innere Raum der Patientin entwickelt sich indes zunehmend. Die Gefühle von Erschöpfung und Müdigkeit, die bisher heftig abgewehrt werden mussten, können erlebt werden. Frau B. nimmt in den Blick, was sie sich alles an Mühe und Anstrengung aufhalst: die ständigen Autofahrten zwischen ihrem und H.s Wohnort, das innere Gebot, bei Urlaub keinen Fußpflege-Termin ausfallen zu lassen, sondern alle Termine vor- oder nachzuarbeiten. Mir wird ganz schwindlig, als sie ihr Arbeitspensum konkret, stunden- und tageweise aufschlüsselt. Gleichzeitig werden die dahinter stehende finanzielle Existenzangst sowie die eigene Bodenlosigkeit spürbar. Müdigkeit ist bedrohlich, da Tüchtig-

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keit und Nützlichkeit ihren Selbstwert stabilisieren. Sich überlastet zu fühlen, bedeutet, wertlos zu sein, versagt zu haben und womöglich von anderen fallen gelassen zu werden. Frau B. phantasiert zum Beispiel, dass ihre Fußpflege-Patienten abspringen würden, sobald sie einmal einen Termin ausfallen lasse. In dieser Phase wird die psychodynamische Logik der Zyklothymie sehr deutlich: die hypomane Aktivität und Verbissenheit wird benötigt, um »den seelischen Schmerz, die Verlassenheit und insbesondere das brüchige Selbstwertgefühl zu kompensieren« (Mentzos, 2011, S. 118). Mit der Fähigkeit, die angstbesetzten Erschöpfungsgefühle zu erleben, kommt eine ganze Entwicklung in Gang. Frau B. erstellt eine Übersicht, wofür sie ihre Zeit verwendet, und macht einen Kassensturz. Sie stellt ihre Einnahmen und Ausgaben gegenüber, und sie stellt Überlegungen zur Rentabilität an: lohnt es sich eigentlich, einen Kunden zu bedienen, für den sie eine längere Anfahrt auf sich nehmen muss? Welche Kunden lohnen sich überhaupt und welche nicht? Wie viel muss sie durch die Fußpflege verdienen, um ihre Existenz zu sichern? In der Gegenübertragung spüre ich Stolz, dass Frau B. sich diesen angstbesetzten Themen nähert und sich der Realität stellt. Dann nimmt sie ihre Paarbeziehung in den Blick. Sie betrachtet, welche Mühen sie auf sich nimmt, weil sie meint, H. dies schuldig zu sein. In der Folge reduziert sie ihr Pendeln zwischen den beiden Wohnorten und gesteht sich mehr Ruhe zu. Dies ist zwar mit heftigem Schimpfen über den enttäuschenden H. verbunden sowie mit der Angst, ihn aufgrund der verringerten Anstrengung zu verlieren, aber sie kann sich die Entlastung zugestehen. Auch in Bezug auf die Therapie selbst rücken Anstrengung und Erschöpfung in den Fokus. Teilweise ist das besprechbar, teilweise gerät Frau B. allerdings wieder ins Handeln. So experimentiert sie mit den Terminen. Bittet um Terminverschiebungen, sagt einzelne Termine ab, möchte eine Einzelstunde an einem Tag, an dem die Doppelstunde vereinbart ist. Als ich allerdings anspreche, dass die Doppelstunden womöglich belastend seien, löst dies bei ihr die Angst aus, ich wolle ihr etwas wegnehmen. Frau B.s Grundkonflikt zwischen Versorgungswünschen und Autarkiebedürfnissen spiegelt sich in dieser Phase der Terminverschiebungen deutlich wider. Sie sagt Termine ab, um sich dadurch selbst zu entlasten,

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gleichzeitig lösen die Absagen bei ihr die Angst aus, ich wäre ärgerlich auf sie und enttäuscht von ihr: »Ich will ja auch Ihnen als Therapeutin gerecht werden.« In diesem Zusammenhang fällt ihr auf, was sie in der Therapie alles mit der Vorstellung tut, mich dadurch »bei der Stange zu halten«. Zum Beispiel, dass sie mir ihre Bemühungen schildert, das in den Sitzungen Besprochene umzusetzen, und mir von Erfolgen berichtet. Ich solle sehen, dass sie die Mühe wert sei und sie nicht aufgeben. Darin, dass wir die Übertragungsbeziehung gemeinsam betrachten können, sehe ich einen deutlichen Fortschritt. Frau B. kann ihre Wünsche an mich und ihre Enttäuschungen formulieren, und sie kann mehr von mir annehmen. Ich darf jetzt häufiger markiert spiegeln, ohne dass sie das sofort zurückweist, und sie nimmt Affekte an, die ich ihr anbiete. Insgesamt wird unsere Beziehung lebendiger. Die Affekte differenzieren sich heraus: Statt eines unspezifischen Drucks werden Nähewünsche, Angst vorm Verlassenwerden, Beschämung, Schuldgefühle und Neid spürbar. In dieser Phase berichtet Frau B. folgenden Traum: Sie sei auf der Suche nach einem Schlüssel gewesen und habe ihn gefunden. Ihr Einfall dazu: Es sei wie bei einem Eichhörnchen, das Vorrat sammele für den Winter. Der Schlüssel sei das Heilende in der Beziehung zu H., das Verständnisvolle, das Gebende. Er stehe für das Gefühl, dass ihr gern etwas gegeben werde, ohne Gegenleistung und ohne dass sie sich dafür abmühen müsse. Das zyklothyme Muster bleibt weiterhin erhalten, wird jedoch flexibler. Deutlich wird das am therapeutischen Geschehen rund um die Hochzeit der älteren Tochter im vierten Jahr der Behandlung. Frau B. verfällt im Vorfeld in eine starke Rastlosigkeit und setzt sich mit den Vorbereitungen erheblich unter Druck. Eine gewisse Entspannung tritt ein, als die Rastlosigkeit als Ausdruck innerer Anspannung verstehbar wird. Frau B. gewinnt einen Zugang dazu, dass die Hochzeit für sie mit starken Emotionen verbunden ist: Sie sieht sich in Konkurrenz zur Schwiegerfamilie ihrer Tochter und hat Angst, sie an diese zu verlieren. Sie fragt sich, ob sie als Mutter gut genug war. Auch kommen Schamgefühle auf, nicht wie die Schwiegerfamilie »geschlossen« auftreten zu können. Zudem ist mit der Hochzeit die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit verbunden. Frau B. wird ihrem ersten

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Mann, dem Vater ihrer Tochter, wieder begegnen. Erinnerungen an frühere schmerzhafte, angst- und schambesetzte Beziehungserfahrungen werden wach. Aber auch Hoffnung keimt auf, was für Frau B. ebenfalls schwer auszuhalten ist. Sie erzählt mir in einem Nebensatz, dass sie, angeregt durch die Hochzeit ihrer Tochter, auch selber überlege, wieder zu heiraten. Ich spüre den Impuls, hier nicht nachzufragen, um das »zarte Pflänzchen« nicht zu »zerrupfen«. Nach der Hochzeit bringt Frau B. ihr Notebook mit Hochzeitsfotos mit. Diese schauen wir gemeinsam an, und sie lässt mich an ihrer Freude und ihrem Stolz auf ihre schöne Tochter teilhaben. In der gleichen Stunde äußert sie allerdings auch die Sorge, diese Freude nicht in sich bewahren zu können: »Ich kann die Freude nicht halten«. In der Tat erkrankt Frau B. kurz darauf an einer langwierigen Erkältung und muss für zwei Wochen die Stunden absagen. In den danach stattfindenden Sitzungen kommen wieder viel Druck und Wut auf. Frau B. schleppt sich in die Stunde, hustet viel und ärgert sich, dass sie bei einer Absage Ausfallhonorar hätte zahlen müssen. Nach dem Erleben eines gemeinsamen Berührtseins wird nun die Abwehr wieder hochgefahren, und ich werde entwertet.

Der depressive Pol: Hoffnungslosigkeit und Resignation In der Therapie werden Fortschritte sichtbar, aber es kehrt keine Ruhe ein. Immer ist irgendetwas. Es ist ein steter Wechsel von guten Stunden und Quälstunden. Die Auslöser für die Wut lösen sich ab: Näheangebot aus der Partnerbeziehung, die emotionale Belastung durch die Hochzeit der Tochter, Therapieunterbrechungen durch Urlaube, eine kritische Bemerkung meinerseits, die Versuchungssituation, dreimal statt wie bisher zweimal pro Woche zu kommen. Jedes Mal ist es, als sei alles bisher Erarbeitete weg. Frau B. zieht sich hinter eine Wand aus Wut zurück und schießt aus der Deckung heraus gegen mich. Angesichts der Hartnäckigkeit der hypomanischen Abwehr verspüre ich Hoffnungslosigkeit. Als ich das feststelle, kommt Angst auf: Werde ich an Frau B.s Wut scheitern? Der Gedanke kommt mir vor wie eine therapeutische Bankrotterklärung oder ein Tabubruch. Als würde ich die Patientin und unsere gemeinsamen Anstrengungen ver-

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raten, als würde ich sie fallen lassen. In einer komplementären Gegenübertragung renne ich selbst hypoman gegen die Grenzen an. Ich bin doch auf dem Weg, Analytikerin zu werden, verwende viel Zeit und Mühe darauf, und dann soll ich an Grenzen stoßen? Das Gefühl, nicht zu genügen, und Schuldgefühle tauchen wieder auf. Da dies ein zentrales Thema in der Behandlung ist, beschließe ich, mein Erleben von Resignation anzusprechen. Auf meinen ersten Vorstoß reagiert Frau B. abwehrend und mit Vorwürfen an mich. Als ich einige Stunden später, nach weiteren, heftigen »Krawallstunden«, den Affekt der Hoffnungslosigkeit erneut einbringe, kann sie sich auf eine Reflexion einlassen. Es ist die Stunde vor meiner zweiwöchigen Weihnachtspause. Ich biete Frau B. an, ihr mein Erleben der letzten Stunden zu schildern, und beschreibe ihr auf ihr Einverständnis hin die verschiedenen Affekte von Schuldgefühlen, aber auch Ärger angesichts ihrer Vorwürfe an mich sowie die Sorge, dass sie die Wut nie loslassen werde, und mein damit verbundenes Gefühl von Resignation. Daraufhin spricht Frau B. ihre eigene Angst an. Sie mache sich Sorgen über ihre Diagnose der Zyklothymie. Sie erlebe es so, dass sie mal sehr aktiv sei, dann aber wieder abstürze. Sie frage sich selbst, ob sie das zyklothyme Muster jemals loswerde. Bei dem Gedanken verspüre sie eine Schwere, sagt sie: »als wäre ich in einem Sumpf, und an mir hängen zehn Kilo schwere Klötze«. Dieses Sumpfgefühl habe sie häufig auch morgens nach dem Aufwachen. Damit lässt sich Frau B. mehr als bisher darauf ein, in meiner Gegenwart etwas von dem depressiven Pol, gegen den sie immer anrennt, zu spüren. Ich erinnere mich an das Erstgespräch, als Frau B. den Wunsch formulierte, dass die Therapie etwas Leichtes haben könne, und an meine in der Gegenübertragung erlebte Angst vor einem schwarzen Nichts. Das Nichts hat sich im Verlauf der Therapie zu einem Sumpf entwickelt: immer noch erschreckend und bedrohlich, aber nicht mehr namenlos, sondern ein Stück weit mentalisiert. Meine Intervention, meine Affekte einzubringen, habe sie als Konfrontation erlebt, sagt Frau B., und sie habe sich wieder hinter ihre Wand zurückgezogen. Doch fügt sie dieser Aussage noch folgende hinzu: »Die Wand ist jetzt nur noch 1,50 Meter hoch. Ich kann jetzt drübergucken.«

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Distanzierung vom hypomanischen Pol: Der Traum vom fremden Baby In der Folgezeit rücken das ständige Druckgefühl der Patientin, ihr Ärger und ihre Rastlosigkeit zunehmend als etwas Gewordenes, aus ihrer Biografie Entstandenes, in den Blick. Damit wird auch eine triangulierende Betrachtung dieses Pols möglich. Die Hypomanie als Thema der Auseinandersetzung rückt in den Mittelpunkt, als Frau B.s Vater zum Jahresbeginn 2013 verstirbt. Frau B. erlebt angesichts seines Todes widerstreitende Gefühle. Schmerzhafte Erinnerungen an das, was der Vater in seiner manischen Unberechenbarkeit bei ihr ausgelöst hat, kommen auf, aber auch Stolz auf seine Stärken wie berufliche Tüchtigkeit, Kreativität und Witz. Frau B. gesteht sich zudem die Erleichterung darüber ein, dass sie nun keine Verantwortung mehr für ihn übernehmen muss und die Belastung ein Ende hat. Sie berichtet einen Traum, den sie in der Nacht vor seinem Tod geträumt hat: »Ich bin mit einem Baby beim Arzt, aber es ist nicht mein Baby. Ich habe Kartoffeln und Möhren dabei, und ich habe sie auch im Mund und kaue darauf. Da köttelt mir das Baby eine Möhre in die Hand. Die Möhre ist aber ganz, wie unverdaut. Der Arzt sagt: ›Gib dem Baby die Möhre!‹ –, aber ich will sie dem Baby nicht geben, weil es sie ja schon ausgeschieden hat. Der Arzt wird ungeduldig: ›Egal, das Baby hat Hunger, füttere es jetzt.‹ Aber ich bin seiner Anweisung nicht gefolgt. Ich wollte das Kind ja füttern, aber ich wollte ihm etwas Frisches geben.« Zu dem Baby fällt Frau B. ihr Vater ein, der so viel Fürsorge benötigte. Der Arzt repräsentiert die anderen, das, was »anständig« ist, was sich gehört. Die Nahrung erscheint mehrdeutig. Von ihr wird sie gekaut und vom Baby wie unberührt ausgeschieden. Möglicherweise repräsentiert die Möhre die Affekte, die in der Hypomanie unverdaut ausgelebt werden. Die Autorität wiederum drängt zum Handeln, aber Frau B. wehrt sich und durchbricht den hypomanischen Kreislauf. Sie wagt es, innezuhalten und darauf zu bestehen, dass etwas anderes, »etwas Frisches«, benötigt wird. Dass das Baby nicht ihres ist, eröffnet die Möglichkeit, dass Frau B. die Verantwortung abgeben darf und dass die Hypomanie etwas Ich-Fremdes ist, mit dem sie sich nicht identifizieren muss. Es klingt zudem das Thema des unbewussten Grundkonflikts von Versorgungswünschen und Autarkiebestrebungen an.

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Frau B. erscheint in dieser Stunde wie befreit, und sie genießt es, dass unser Kontakt einmal nicht, wie in der vorangegangenen Zeit so häufig, von Kämpfen geprägt ist. Ich wiederum bin freudig überrascht vom Bilderreichtum des Traums, was ich Frau B. auch mitteile. Mit diesem Traum möchte ich die Darstellung des Therapieverlaufs abschließen und im folgenden Abschnitt den therapeutischen Prozess unter der Perspektive der strukturellen Entwicklung betrachten.

Arbeit an der Struktur: Die Entwicklung der Selbstwertregulation Ich beginne mit einem Zitat von Donald Winnicott: »Psychotherapie geschieht dort, wo zwei Bereiche des Spielens sich überschneiden: der des Patienten und der des Therapeuten. Psychotherapie hat mit zwei Menschen zu tun, die miteinander spielen. Hieraus folgt, dass die Arbeit des Therapeuten dort, wo Spiel nicht möglich ist, darauf ausgerichtet ist, den Patienten aus einem Zustand, in dem er nicht spielen kann, in einen Zustand zu bringen, in dem er zu spielen imstande ist« (Winnicott, 1974, S. 49). Spielerisch ging es über weite Strecken dieser analytischen Behandlung in der Tat nicht zu. Die strukturellen Defizite in der Mentalisierung sowie in der Steuerungsfähigkeit von Selbstwert und Affekten engen die Erlebens- und Verhaltensweisen meiner Patientin deutlich ein. Die Entwicklung der Ich-Funktionen im Therapieverlauf möchte ich exemplarisch anhand der Selbstwertregulation darstellen. Die narzisstische Verwundbarkeit wird zu Beginn der Behandlung aufgrund der unsicher-vermeidenden Bindung nicht deutlich sichtbar. Frau B. stellt sich als kompetent und autark dar. Spürbar wird die Selbstwertproblematik, insbesondere in der Gegenübertragung, in dem starken Impuls, die Patientin zu loben und zu bestätigen, sowie in meinem Gefühl, auf dem Prüfstand zu stehen und nicht zu genügen. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang ein Weihnachtsspiel, von dem Frau B. erzählt: »Bei uns läuft das Geschenkeverteilen mit Würfeln. Wenn man eine Sechs würfelt, darf man sich eines nehmen. Wenn es nicht das eigene ist, muss man es aber wieder zurücklegen.« Dieses Spiel inszeniert die mangelnde Einflussmöglichkeit des Selbst und

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die Angewiesenheit auf unberechenbare, äußere Faktoren. Das Selbst erlebt sich nicht als Urheber kompetenten und wirksamen Handelns. Mit zunehmender Regression werden die Schwierigkeiten in der Selbstwertregulation offensichtlicher. Ich werde als Therapeutin heftig entwertet und bekomme Frau B.s Wut zu spüren, insbesondere wenn ich mich der Verwendung als Selbstobjekt entziehe und mich als getrenntes Objekt mit eigener Sichtweise zeige. Den instabilen Selbstwert und die hohe Kränkbarkeit greife ich in wiederholten, übertragungsfokussierten Deutungen auf. Darin beschreibe ich auch, auf welche Weise sich die Selbstwertproblematik und Selbstobjektverwendung auf unsere Beziehung auswirkt. Damit nehme ich eine Position des Dritten ein. Die Deutungen erlebt Frau B. wiederum als sehr kränkend, doch mit fortschreitender Behandlung ist eine gemeinsame Übertragungsanalyse zunehmend möglich. Frau B. greift mein Bild von der Mauer auf, hinter der sie sich versteckt, und daran können wir untersuchen, wer sich vor wem verstecken muss und wer von uns warum auf wen »schießt«. Mit der Entwicklung der Mentalisierungsfähigkeit und des psychischen Binnenraums verändern sich auch die Mechanismen zur Selbstwertstabilisierung. Frau B. kann nun die Bedeutung von Tüchtigkeit, Fleiß und Nützlichkeit für ihren Selbstwert kritisch hinterfragen. Im Verlauf dieser Entwicklung unterzieht sie ihre Anstrengungen im Beruf sowie in privaten Beziehungen einer Realitätsprüfung: Was tut sie, weil es tatsächlich erforderlich ist, und was aus dem Gefühl heraus, sonst wertlos und nicht liebenswert zu sein? In der Gegenübertragung wird Stolz auf diese mutige, realitätsbezogene Auseinandersetzung spürbar. Die Weiterentwicklung der Struktur spiegelt sich auch in der Art der Patientin zu spielen wider. Ich horche auf, als Frau B. mir in dieser Phase berichtet, sie habe mit H. gespielt, denn über lange Strecken hatte ich nur von Streit und Ärger mit H. gehört. Sie habe mit H. Kniffel gespielt, und sie habe gewonnen. Es wird also wieder gewürfelt, wie beim Weihnachtsspiel, aber es steht nicht mehr die ärgerliche Enttäuschung im Vordergrund, sondern das lustvolle Konkurrieren im schützenden Rahmen der Spielregeln. Zudem darf Frau B. ihre Cleverness zeigen und ihren Triumph genießen. Die »Spielregeln« in der Therapie sind ebenfalls Thema in den Sitzungen. Als Struktur fördernde Intervention instruiere ich Frau B. über

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ihre Aufgaben in der Therapie: nämlich nicht nur Affekte abzuladen, sondern sich selbst zu beobachten und eine reflektierende Haltung einzunehmen. Außerdem markiere ich Träume als wichtiges Therapiematerial. Diese Hinweise greift Frau B. auf und bringt mir zum Beispiel, wieder voller Stolz, Träume mit, die sie zuvor aufgeschrieben hat. Durch ihre Selbstbeobachtung wird ihr zudem die Störanfälligkeit ihres Selbstwertgefühls immer bewusster. So fällt ihr auf, dass sie sich klein fühlt, wenn sie etwas von jemandem annimmt; selbst, wenn es genau das ist, was sie sich sehnlich wünscht. Diesem »Unglücksmechanismus« kann Frau B. sogar eine komische Seite abgewinnen.

Abschließende Betrachtung und Ausblick Die Behandlung ging über mein Ausbildungsende hinaus und ist aktuell etwa in der 260. Stunde angelangt. Die Endlichkeit der Therapie ist in den Sitzungen immer wieder Thema und auch der Rückblick auf das, was wir erreicht haben. Auf der Ebene der psychischen Struktur konnten spürbare Veränderungen erzielt werden. Die Affektdifferenzierung hat sich verbessert. Das Ausgangssymptom, das unspezifische Druckgefühl, ist deutlich gemindert, und Frau B. nimmt nun verschiedenartige Affekte wie Traurigkeit, Schmerz, Enttäuschung, Angst, Beschämung, aber auch Freude und Stolz wahr. Die Affektregulation hat sich verbessert, ebenso die Steuerung des Selbstwerts. Das zyklothyme Muster ist nach wie vor wirksam, allerdings deutlich abgemildert. Insgesamt hat sich der psychische Binnenraum, in dem Affekte erlebt werden können, stabilisiert. Die Neigung zur Somatisierung besteht nach wie vor, ist aber vorwiegend auf Blasenbeschwerden begrenzt. Unter Kopf- und Rückenschmerzen leidet Frau B. deutlich weniger als zu Beginn der Behandlung. Eigene Versorgungswünsche kann Frau B. ebenfalls bewusster wahrnehmen. Diese bedrohen nach wie vor ihr Selbstwertgefühl, können aber ein Stück weit besser ausgehalten werden. Damit erschließen sich auch neue Befriedigungsmöglichkeiten. Frau B. kann es mehr zulassen, versorgt zu werden, gleichzeitig übernimmt sie mehr Verantwortung für die Befriedigung ihrer Bedürfnisse.

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Gitta Binder-Klinsing

Kinderkriegen heute: Von der Virtualität zur Machbarkeit?

Expecting a child today: From virtuality to feasability? The unsatisfied longing for a baby may cause severe inner conflicts and suffering in patients. Nowadays more and more women and men alike seek the abundant medical treatment possibilities which form new ways to parenthood and are known as »artificial reproduction«. Aspects of this world in which everything seems possible and borders are getting brittle are shown and reflected upon in their psychosocial and cultural interchangement and multifaceted contradictions. Zusammenfassung Die unerfüllte Sehnsucht nach einem Kind kann bei Patienten und Patientinnen zu schweren inneren Konflikten und seelischem Leid führen. Heute nehmen dann immer mehr Betroffene die sehr vielfältig werdenden medizinischen Behandlungsmöglichkeiten wahr, die als »künstliche Befruchtung« auch zu neuen Formen der Elternschaft führen. Aspekte dieser Welt, in der alles möglich scheint und Grenzen zunehmend brüchig werden, werden in ihren psychosozialen und kulturellen Wechselwirkungen und vielfältigen Widersprüchlichkeiten dargestellt und reflektiert.

Reproduktionsmedizin: Brüche und Widersprüche Ich möchte im Folgenden eine Vorstellung davon vermitteln, in welch vielfältiger Weise die Gestalt der virtuellen Welten im Zusammenhang mit der modernen und sich rasch weiterentwickelnden Reproduktionsmedizin auftaucht und mit welchen Ambiguitäten, Spannungen, Widersprüchen und Paradoxien dies einhergeht. Die inhärenten Widersprüche und Paradoxien der Reproduktionsmedizin haben dabei nicht nur Konsequenzen für die mit ihrer Hilfe behandelten Patienten und deren Kinder sowie für die behandelnden Ärzte und Therapeuten. Sie zeigen sich auch in den sozialen Bedingungen und den weitreichenden kulturellen und gesellschaftlichen Folgen der Reproduktionsmedizin mit

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einer gegenseitigen und ko-konstruktiv zu nennenden Beeinflussung von Technik, Kultur und Individuum. Hierauf möchte ich mit Bezug auf das Tagungsthema der virtuellen Welten den Schwerpunkt legen und sehe dabei die intersubjektiv-systemische Perspektive bestätigt: Alles, was auftaucht, macht einen Unterschied. 1978 wurde in England das Mädchen Louise Brown geboren. Sie war das erste Kind, das mittels künstlicher Befruchtung nicht mehr im menschlichen Körper gezeugt wurde. Sie entstand außerhalb des mütterlichen Leibs in einer Petrischale durch die Zusammenarbeit eines Gynäkologen mit einem Physiologen (Patrick Steptoe und Bob Edwards). Die In-vitro-Fertilisation (IVF) beim Menschen war geboren. Hatte die Anti-Baby-Pille eine Entkoppelung von Sexualität und Reproduktion eingeleitet, wurde nun der Akt der Befruchtung in Teilschritte zerlegt. Als Sinnbild dieser Entkoppelung und Zerlegung eines ursprünglich ganzheitlichen Vorgangs mit Hilfe der Biotechnik kann die intra-zytoplasmatische Spermieninjektion (ICSI) angesehen werden. Dabei wird ein einzelnes ausgewähltes Spermium mittels einer Kanüle direkt in eine weibliche Eizelle injiziert. Eingefügt sei hier die Beobachtung eines interessanten Widerspruchs: Die Möglichkeiten zur Entkoppelung natürlicher biologischer Vorgänge und deren künstlicher technischer Zerlegung wachsen rasant. Trotz aller Skepsis und Technikkritik werden sie immer selbstverständlicher in Anspruch genommen. Auf der anderen Seite geht damit aber offenbar zugleich ein großes Bedürfnis einher, genau diese Technisierung aus dem Bewusstsein zu verdrängen. Zum Beispiel ist in Informationsbroschüren davon die Rede, die Natur lediglich nachzuahmen, ihr nachzuhelfen und sie so allenfalls zu verbessern. Dies spiegelt sich auch in der Wandlung der Sprache wider. Dabei erscheint pikanterweise im Akronym das Verdrängte wieder auf: Sprach man früher überwiegend von »künstlicher Befruchtung«, so wird der Terminus heute weitgehend vermieden. Er wird ersetzt durch »assistierte Reproduktion« – die englische Abkürzung lautet ART, wo dann das Artifizielle und die Kunst als Künstlichkeit doch wieder anklingt. Bei der Befruchtung in der Petrischale mussten sich 1978 nicht mehr zwei Menschen im sexuellen Akt begegnen. Ihre Zellen genügten. Der Körper einer Frau war damit erstmals nicht mehr von Anfang

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an zur Entstehung menschlichen Lebens nötig. Er war nunmehr im Nährmedium der Petrischale lediglich noch in seiner Funktionalität präsent. Auch wenn dies zunächst noch als Imitation der Natur verstanden werden konnte, markierte dies doch den Schritt zur Virtualität. Es kennzeichnete den Einstieg in eine Entwicklung, die noch vor dreißig Jahren als Science-Fiction gegolten hätte: eine weitere Zerlegung in Teilfunktionen, und zwar nun auch der weiblichen Fruchtbarkeit in die Funktion einer Eizellspenderin einerseits und einer Austragenden und/oder Gebärenden andererseits. Um Ihnen eine erste Vorstellung zu geben, welche Entwicklungen und Themenbereiche angesichts neuer reproduktionsmedizinischer Techniken hier berührt werden, möchte ich ein paar besonders prägnante Begriffe und Bilder nennen. Es geht um: –– die durch die IVF eingeführte grundsätzliche Möglichkeit des technischen Eingriffes in die menschliche Reproduktion und deren soziokulturelle und psychische Implikationen (Franklin, 1997, 2007; Strathern, 2005), –– die Entgrenzung der Körper und menschlichen Beziehungen: von der »verstreuten Empfängnis« (Strathern, 2005) über die geteilte Mutterschaft zur verteilten Elternschaft bis hin zu beziehungslosen intimen Beziehungen einander Unbekannter, –– die Veränderung der verwandtschaftlichen Vorstellungen: vom genealogischen »Stammbaum zum Gebüsch« (Knecht, 2012), –– die Globalisierung der Intimität: von der Internetsuche nach Spendern, unbekannten Vätern und Halbgeschwistern bis zum »reproduktiven Reisen« (Knecht, Klotz u. Beck 2012), –– die Spannung von zu viel Nähe und zu viel Distanz, von Sichtbarkeit und Verborgenheit, von früher Bindung und beziehungslosen Relationen (Berkel, 2012), –– die Entwicklung und Ausdehnung der Technik: von der Imitation zur Innovation, von der Krankenbehandlung zur Ermöglichung neuer Optionen für immer größere Gruppen von Gesunden, –– die Entgrenzung von Zeitlichkeit mittels der Verschiebung von Zeit sowie die Auflösung der Linearität von Zeit mit der Veränderung des Alterns und dem Verschwimmen von Generationengrenzen, –– die Entkoppelung nicht nur von Sexualität und Reproduktion, son-

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dern auch die weitere Zerlegung der Reproduktion in räumlich und zeitlich getrennte Teilschritte, die Angleichung der Geschlechter und ihrer Körper als bloße Funktionsträger im inzwischen geschlechtslosen Begriff vom »Gametenspender«, das Verschwinden des weiblichen Körpers in der Schwangerschaft: die Frau als »gestational carrier«, Autonomie und Selbstbestimmung zwischen Markt und Ethik: der Patient als Konsument zwischen Freiheit einerseits und Last der Entscheidung andererseits, die Grenzen der Machbarkeit – auch von Grenzen.

In dem Satz von Niklas Luhmann: »Traum und Trauma der Freiheit gehen unversehens ineinander über« (1995, S. 132) sind viele dieser Widersprüchlichkeiten, Spannungen und Paradoxien verdichtet. Er berührt auch den Zusammenhang mit ethischen Fragen angesichts von Entscheidungen, die Menschen nie zuvor treffen konnten, aber die sie auch nie zuvor treffen mussten. Man kann die Entwicklung der Reproduktionsmedizin als eine Geschichte der Auflockerung und Erweiterung von Grenzen lesen, zuweilen aber auch als eine Geschichte der Überschreitung von Grenzen. Immer aber zeigt sich die gegenseitige Beeinflussung von biotechnischen Möglichkeiten und soziokulturellen Veränderungen. Dies geht einher mit Auswirkungen auf das Selbst und die eigene Identität, das Erleben und die Integrität des Körpers sowie die Gestaltung und innere Repräsentanz von interpersonellen Beziehungen. Und es reicht von veränderten Geschlechter- und Generationenvorstellungen bis hin zum Auftauchen völlig neuer Formen der Elternschaft, so dass ein Baby drei Mütter haben könnte: eine genetische, eine austragende und eine soziale Mutter (bzw. zwei Väter, einen genetischen und einen sozialen). In der englischsprachigen Literatur hat sich für unsere vertraute Vorstellung von Mutter der Begriff »complete mother« entwickelt. Die Anthropologin Monika Konrad fasst dies in ihrer Arbeit über die Beziehung britischer Eizellspenderinnen und -empfängerinnen (2005) wie folgt zusammen: »It is the time of multiple being, the time of multiple coexistence and co-production« (S. 142).

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Katastrophe, Anpassungskrisen oder neue Normalitäten? Ein zentrales Anliegen von mir ist, zu grundsätzlichen Fragen an uns als Psychoanalytiker und Psychotherapeuten anzuregen und dafür zu plädieren, dass wir uns den Spannungen und Paradoxien im Umfeld der modernen Reproduktionsmedizin als einer neuen Biotechnologie mit weitreichenden individuellen, sozialen und kulturellen Folgen stellen. Beginnen möchte ich mit der Frage, ob diese Entwicklungen nur als ein Zeichen des allseits beklagten zunehmenden Narzissmus und der regressiven Vermeidung von reifen Verarbeitungsmöglichkeiten von Leid anzusehen sind. Martin Dornes (2012) schreibt hierzu: »Insofern hat nicht die Leidensbereitschaft generell abgenommen, denn die Menschen sind bereit, für ein Kind in ganz erheblichem Maß und sogar mehr als früher zu leiden. Abgenommen hat die Akzeptanz des Unumstößlichen. Aber das ist keine Realitätsverleugnung, sondern eine zutreffende Realitätswahrnehmung, weil heute weniger unumstößlich ist als früher und es geradezu widersinnig wäre, etwas Veränderbares als unumstößlich zu ›verarbeiten‹« (S. 142 f.). Glauben wir angesichts der Möglichkeiten der Reproduktionsmedizin, dass wir in diesen lediglich eine weitere Form der von vielen als katastrophal empfundenen Auflösung von Familienstrukturen der westlichen Welt und ihrer Machtund Ausbeutungsstrukturen vor uns zu haben? Wie sehr man hier vorschnelle Katastrophenszenarien vermeiden sollte, macht ein Beispiel von Michi Knecht (2012, S. 125) deutlich, die im Rahmen eines Forschungsprojektes über so genannte Regenbogenfamilien ein lesbisches Paar, Akademikerinnen, beschreibt. Eine der beiden Frauen hat aus ihrer ersten Ehe mit einem Mann drei Kinder. Zusammen hat das Paar schon ein Kind von der einen Frau, das zweite wird nun von der anderen erwartet. Der Erzeuger der beiden Kinder ist ein homosexueller Bekannter, der eine distante, aber verlässliche soziale Vaterschaft praktiziert. Alle vermissen eine Möglichkeit zur rechtlichen Regelung abgestufter Pflichten und Rechte dieser »Mehrelternschaft«. Ich zitiere Michi Knecht: »Unspektakulär sind Corinna, Celeste, David und die Kinder auch deshalb, weil ihre schwul-lesbische Lebensform viele Ähnlichkeiten mit Familien aufweist, wie wir sie schon länger kennen: solche, die durch Scheidung und Wiederverheiratung, Trennung und Neugründung von Familien entstehen und dann Patchworkfamilien

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heißen. Besonders ist diese Familie, weil sie die heterosexuelle Matrix im Kern jedweder Genealogie sprengt und weil sie Mehrelternschaft nicht als Resultat unvorhersehbarer und meist unerwünschter Prozesse realisiert, sondern als intentionale Wahl. Das Beispiel zeigt zudem, wie wenig kausal für solche Prozesse Reproduktionstechnologien sind, wie sehr sie hingegen ko-konstitutiv wirken, mit parallelen zeitgenössischen Formen sozialen Wandels und kultureller Beharrung.« Was bedeuten diese Entwicklungen im Hinblick auf die uns vertrauten psychoanalytischen Konzepte und können wir mit diesen die psychische Welt der Betroffenen adäquat erfassen? Michel Tort (2005/2012) schreibt in seiner sehr scharfen Auseinandersetzung mit dem psychoanalytischen Konzept des symbolischen Vaters und dem Diskurs von der Vaterfunktion: »Alles wird klarer, wenn man sich, eher zufällig, ein wenig prosaisch fragt, welches denn die historische Realität ist, die von dieser sonderbaren Fiktion zwischen den Zeilen wiedergegeben wird. Es geht ganz offensichtlich um die Veränderung der Beziehungen zwischen den Geschlechtern und ihre philosophischen und politischen Rechtfertigungen. Die Realität, die sich verändert, besteht trivialerweise, aber grundlegend in dem Kräfteverhältnis zwischen den Geschlechtern mit seinen Auswirkungen auf die Fortpflanzungsbeziehungen, auf Eltern- und Kindschaft. Sobald die (realen) Väter, wie schon seit Jahrzehnten, ihre (reale) Macht verlieren, perpetuieren sich ihre früheren Machtbefugnisse durch psychische Weitergabe in Form der Vater-Ideologien und der ›Vaterfunktion‹, die – wie alle Diskurse dieses Typs – die Funktion haben, den durch die neuen Vorstellungen vollzogenen Einschnitt zu kitten« (S. 67). In welcher Weise betrifft die Welt der Reproduktionsmedizin nicht nur mögliche Patienten, sondern auch uns Psychoanalytiker und Psychotherapeuten? Das heißt: Wie stellen wir uns als Psychoanalytiker und Psychotherapeuten zum Beispiel den hier berührten Fragen der gesellschaftlich veränderten Haltung zu Autonomie und Selbstbestimmung in Lebensentwürfen, zu Transparenz und Verborgenheit in Familien und deren Geschichte, zu Zielen wie der Annahme von Leid oder deren Behandlung durch medizinische Möglichkeiten, zu Entscheidungen zwischen Machbarkeit und Verzicht darauf, zu Fragen von Geschlechtsidentität und Geschlechterrollen, zu Generationengrenzen und zu Vorstellungen von Zeit und Endlichkeit?

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Wie schwer hier Antworten zu finden sind, kann beispielhaft an einer der neuesten Entwicklungen innerhalb der Reproduktionsmedizin deutlich gemacht werden, dem so genannten Social Freezing. Als Social Freezing wird das vorsorgliche Einfrieren weiblicher Eizellen für eine eventuelle Schwangerschaft in höherem Alter unter Nutzung der besseren reproduktiven Kapazität der jungen Eizellen bezeichnet. Frauen, die das Verfahren bereits angewendet haben, sagen dazu: »Die Freiheit, irgendwann Kinder zu bekommen, ist der letzte Schritt zur völligen Gleichstellung von Mann und Frau.« Und: »Damit sind wir Männern gegenüber nicht mehr im Nachteil« (Bahnsen, 2013, S. 32). Die ethische Diskussion wird wohl zukünftig nicht mehr bestimmt sein von der Frage, ob Frauen diese Freiheit haben und das dürfen, sondern wie lange sie es dürfen – also wo die Grenzen sind. Dass auch hier die Bedeutung der psychischen und kulturellen Verarbeitung der Technik bedeutsamer werden kann als die Technik selbst, zeigt eine Arbeit von S. E. Richards (2013), die in den USA Frauen interviewt hat, die sich dieser Prozedur unterzogen haben, und die dann die weitere Lebensgeschichte dieser Frauen verfolgt hat. Nur etwa ein Drittel der Probandinnen hat später die Eizellen auch für den Kinderwunsch (erfolgreich) genutzt, einige haben sich gegen eigene Kinder entschieden und einige sind auf natürlichem Weg schwanger geworden. Aber alle befragten Frauen schildern, durch die Nutzung dieser Technik von der dadurch ausgelösten, tiefgreifenden Reflexion ihrer Lebens- und Selbstkonzepte – wenn vorhanden, auch mit den jeweiligen Partnern – sehr profitiert zu haben. Die Bereicherung in ihrem Leben sehen die Interviewten vor allem darin, endlich wie Männer die Freiheit der Wahl zu haben, auch wenn diese Wahl nicht immer einfach und manchmal leidvoll ist und das Thema die Frauen oft jahrelang immer wieder beschäftigt. Die andere neueste Entwicklung betrifft die in Deutschland aus bekannten Gründen besonders heftig geführte Debatte um die pränatale Diagnostik. Diese Technik ist inzwischen schon so weit fortgeschritten, dass es möglich wird, neue Ziele anzustreben. Das neue Ziel ist es, Frauen das Leid von wiederholten Fehlgeburten oder reproduktionsmedizinischen Fehlversuchen zu ersparen, indem genetisch Embryonen bestimmt werden, die die Potenz zum weiteren Wachsen haben – ein Verfahren, das in Deutschland aufgrund des Embryonenschutzgesetzes

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verboten ist. Ulrich Bahnsen meint hierzu: »Wenn Embryonenselektion die Gefahr einer Fehl- oder Totgeburt drastisch senkt, ist ein Verbot medizinethisch kaum noch vertretbar.« Aber er fragt auch: »Wie lange mag es dauern, bis den Menschen die gewöhnliche Zeugung im Bett, wenngleich romantisch, viel zu riskant vorkommt? Und unverantwortlich gegenüber den Kindern?« (2013, S. 33). Mit diesem Ausblick auf die schöne neue oder vielleicht nicht so schöne Welt möchte ich Ihre Vorstellungskraft anregen und Sie bitten, sich vorzustellen, welchen Patienten wir in Zukunft gegenübersitzen und wie wir uns selbst in diesem Prozess verändern werden.

Biologie als Kultur Mit der Entwicklung von Genetik und Reproduktionsmedizin erscheint Biologie zunehmend von Kultur überformt. Dieser Prozess ist von enormer Bedeutung vor allem in Hinblick auf die Normalisierung der grundsätzlichen Möglichkeit zur Intervention in Entstehungsprozesse des Lebens. Dies zeigt sich nicht nur daran, dass es nur dreißig Jahre nach dem ersten Retortenbaby etwa fünf Millionen reproduktionsmedizinisch gezeugter Kinder geben soll (AFP, 2012). Allein in Deutschland sollen es etwa 160.000 bis 200.000 sein (siehe zum Beispiel Revermann u. Hüsing, 2011, S. 22). Die gesellschaftliche Akzeptanz ist stetig gewachsen, wie bei vielen anderen neu entwickelten medizinischen Behandlungsmöglichkeiten, die anfangs große Ängste auslösten und inzwischen medizinischer und sozial akzeptierter Alltag sind. Die damit verbundene Banalisierung und Merkantilisierung menschlicher Existenz ist nicht nur der Reproduktionsmedizin vorbehalten, sondern auch in anderen Bereichen der Medizin zu beobachten. Welche Veränderungen hier in nur dreißig Jahren erfolgt sind, ist abzulesen an der selbstverständlichen Behandlung dieser Thematik in den Medien, in Filmen, Fernsehserien und Büchern. Insbesondere die rapide wachsende Ratgeberliteratur markiert den Schritt zur gesellschaftlichen Akzeptanz: Hier geht es nicht mehr um das Ob, sondern nur noch um das Wie. Das Ausmaß der Veränderung lässt sich besonders gut erfassen an den zur Illustration des Themas verwendeten Bildern.

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Da es vor dreißig Jahren noch kein Internet gab, wähle ich hier als Beispiel das Cover des Buches »Der Neue Klapperstorch« von Gerhard Amendt (1986/1988). Die Stimmung auf dem Titelbild ist apokalyptisch: Auf einem steinigen Weg in einer kargen, von einem düsteren Himmel überwölbten Landschaft zerrt ein als Arzt erkennbarer Klapperstorch, einen Embryo im Glaskolben in der Hand, eine barfüßige Frau hinter sich her. Der hinter ihr als Dritter an ihrer Hand nicht mehr nachkommende Mann im Anzug löst sich wie in Fetzen brennend auf. Diese bildhafte Anmutung entspricht dem Text der Buchrückseite, in dem bemerkt wird, »daß die Entstehung von Kindern aus einer Mehr-Personen- und SubstanzenBeziehung, die Teile ihres eigenen Körpers oder ihrer reproduktiven Substanzen für ihre Entstehung bereitstellen, eine lebenslang wirksame Konstellation ist, die alle Mitglieder der synthetisch-technischen Familie schwerwiegend belasten« (Buchrückseite). Ganz anders die Überfülle der Bücher (und natürlich Internetseiten) und die in ihnen aufscheinende Stimmung nur dreißig Jahre später. Häufig finden sich kitschig anmutende Naturbilder, offenbar der oben schon beschriebenen Suche nach »Natürlichkeit« entsprechend, besonders in den Aufklärungsbüchern für Kinder (Donor Conception Network, 2003; Thorn, 2011). Meist sind aber nur niedliche, kleine Babygesichter, kleine Säuglingshände oder -füße zu sehen, ob auf Internetseiten, in Zeitungsartikeln oder den umfassend alle möglichen Fragen erörternden Ratgeberbüchern. Besonders in den USA und in England mit der in diesen Ländern verbreiteten und uns oft als unkritisch und technokratisch erscheinenden Herangehensweise führt dies zu einer überaus nüchternen Haltung. Es wird der autonome und in seiner Entscheidung freie Mensch adressiert, dem von Experten umfassend alles Erdenkliche an Informationen zur Verfügung gestellt wird, von der Technik über Erörterungen diffiziler juristischer Fragen bis hin zur Berücksichtigung psychischer und ethischer Aspekte. Auch wenn im Bereich der Reproduktionsmedizin natürlich ökonomische und Machtaspekte sowie gesellschaftliche Rollenerwartungen berührt sind, die zum Teil mit erschütternden Entwicklungen einhergehen, möchte ich doch davor warnen, eine grundsätzlich ablehnende Haltung gegenüber der Reproduktionsmedizin per se für die ethisch

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reifere oder überlegene zu halten. Interessant ist es nämlich, zu welch unterschiedlichen Entscheidungen es in diesem Zusammenhang gerade im ethischen und juristischen Diskurs kommt. Zentrale Werte wie Autonomie des Einzelnen und Gleichheit der Geschlechter werden in verschiedenen Gesellschaften unterschiedlich gewichtet. Gerade auf die Autonomie von Patienten wird in den angloamerikanischen Ländern traditionell wesentlich mehr Wert gelegt als in Kontinentaleuropa. Betrachtet man die unterschiedliche Gewichtung der beiden medizinethischen Prinzipien Autonomie und Fürsorge, wurde lange in Deutschland bei Behandlungsentscheidungen eher der paternalistische Aspekt der ärztlichen Fürsorge vertreten. Angestoßen durch soziale Veränderungen und unterstützt durch die zunehmende Verrechtlichung der Medizin wird auch hierzulande die Autonomie der Betroffenen immer zentraler – mit positiven Folgen, aber auch Risiken und Nebenwirkungen, auf die insbesondere der Medizinethiker Maio (2012) engagiert hinweist. Gravierende Differenzen zwischen einzelnen Kulturen gibt es auch bei Vorstellungen von Mutterschaft und in der Einordnung des Status von Embryonen. Dies führt auf dem Hintergrund ganz unterschiedlicher kultureller, historischer und religiöser Vorstellungen zu völlig gegensätzlichen Entscheidungen. Es bedeutet aber keineswegs, dass diese ohne Reflexion von Werten getroffen werden. Es werden lediglich auf dem Boden lange gewachsener und weitreichender religiöskultureller und sozialer Unterschiede sowie aktueller gesellschaftlicher Diskurse völlig divergierende Schlussfolgerungen gezogen. Dies übt wiederum kulturellen Einfluss auf die biologischen Möglichkeiten der Reproduktionsmedizin aus und gestaltet die psychischen Belastungen und Folgen für die Betroffenen sehr unterschiedlich mit. In den deutschsprachigen Ländern ist zum Beispiel die heterologe Samenspende sicher weiter umstritten, aber gesetzlich erlaubt und geregelt. Dagegen ist die Eizellspende als Behandlungsmethode verboten, unter anderem mit der Vorstellung, eine »gespaltene Mutterschaft« verhindern zu müssen. Berührt sind hier sicher tief verwurzelte archaische Mutterbilder, vielleicht gerade in Deutschland, aber auch historisch gewachsene Mutterbilder der jüngeren Geschichte. Dies führt nun aber dazu, dass unter anderem deutsche Paare oft zur Behandlung ins Ausland gehen, was nach meiner Beobachtung zu einer diskrepanten und

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äußerst widersprüchlichen Entwicklung führt: Die zunehmende soziale Akzeptanz der Reproduktionsmedizin und die sich verändernden Selbstbilder mit nachlassender Scham führen nach meiner Erfahrung auf der einen Seite dazu, dass – anders als noch vor einigen Jahren – inzwischen nicht mehr alle Paare während der reproduktionsmedizinischen Behandlungsphase den Weg in die soziale Isolation und die völlige Heimlichkeit wählen. Immer häufiger werden einzelne Freunde, Familienangehörige und inzwischen sogar Chefs und Kollegen informiert und zeigen überwiegend Verständnis und Unterstützung. Bei der Eizellspende ist das bisher völlig anders und führt zu einem teilweise jahrelangen Leben mit Geheimnissen und Notlügen für die Betroffenen. Welche Folgen das für die Kinder haben kann, können wir uns als Psychotherapeuten vorstellen; erste Untersuchungen weisen zudem bereits auf die möglichen Folgen für die betroffenen Kinder hin. Die gravierenden Widersprüche in den gefundenen rechtlichen Lösungen spiegeln sich in einander widersprechenden Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte wider: Hat er 2010 in einem Fall, der Österreich betraf, entschieden, dass die unterschiedliche Handhabung von Samen- und Eizellspende gegen den Gleichheitsgrundsatz verstoße und somit nicht rechtens sei, hob eine höhere Instanz dieses Urteil 2011 wieder auf. Gleichzeitig wies das Gericht darauf hin, dass es den Frauen ja in Österreich nicht verboten sei, in ein anderes europäisches Land zu reisen, wo andere Gesetze herrschten. In Deutschland wurde inzwischen allerdings gegen Ärzte und Berater, die Frauen bei der Behandlung im Ausland unterstützen oder unterstützt haben sollen, strafrechtliche Ermittlungen eingeleitet. Und auch wenn sich die Frauen selbst nicht strafbar machen, wurden sie doch unter Offenlegung ihrer Krankenakten peinlichen Befragungen in den Ermittlungen unterzogen, was ihre psychische Belastung noch verschärfte. Diese Situation reflektiert die Spannungen zwischen den sich rasch ändernden individuellen Vorstellungen, dem sich allmählich wandelnden gesellschaftlichen Konsens und den mühsam und bisher inkonsistent sich entwickelnden rechtlichen Regelungen in Deutschland. Andere Kulturen kommen im Hinblick auf die Samen- und Eizellspende zu völlig anderen Regelungen: So ist in Israel aufgrund der Bedeutsamkeit der biologischen Abstammung von einer jüdischen Mut-

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ter (für die Zugehörigkeit zum Judentum) die Eizellspende gesellschaftlich hoch anerkannt und wird dort ebenso gefördert wie in Spanien aufgrund einer Konstruktion, die die Eizellspende als soziale Tat ausweist. Für sunnitische Muslime wiederum ist die Reinheit der väterlichen Herkunft (Inhorn, 2012) ein moralischer Imperativ und heterologe Insemination durch Fatwas ebenso verboten wie die Eizellspende. Solche Verfahren könnten nach sunnitischer Auffassung durch die Einbeziehung eines Dritten in die heilige Dyade der Ehe als Ehebruch angesehen werden und die Gefahr des Inzestes unter Halbgeschwistern heraufbeschwören. Außerdem würden sie offenbar die im Mittleren Osten zentrale Patrilinearität massiv bedrohen. Dagegen kommen die im Iran vorherrschenden Schiiten zu völlig anderen, sehr pragmatischen und zugleich äußerst komplizierten religiös-moralisch fundierten Schlüssen. Zum Beispiel wird im schiitischen Islam erörtert, wie es erreicht werden kann, dass die Gametenspende kein Ehebruch ist. Dies mutet für mich als mit den religiösen Regeln des Islam Unvertraute zuweilen skurril an, könnte aber für viele Patienten bedeutsam sein, zum Beispiel bei der Frage einer notwendigen Zeitehe mit der potenziellen Eizellspenderin zur Vermeidung von Ehebruch und deren sofortigen Auflösung nach dem Embryotransfer – wiederum, um Ehebruch zu vermeiden. Ein weiteres Indiz für die Vorstellung, dass Biologie zunehmend kulturell überformt wird, kann in der Erweiterung der Indikation von reproduktionsmedizinischen Behandlungen auf immer neue soziale Gruppen gesehen werden. Teilweise verstärken oder wecken die biologisch-technischen Möglichkeiten und deren genaue Kenntnis erst den Kinderwunsch in bestimmten Gruppen, die vorher gar keine Kinder hätten bekommen können. Denn zunächst war die Reproduktionsmedizin als Krankenbehandlung für umschriebene Erkrankungen konzipiert, nämlich die weibliche Unfruchtbarkeit durch Verlegung der Eileiter. Das wachsende Wissen der Biologen und die soziokulturell zunehmende Akzeptanz der Tatsache, dass auch Männer unfruchtbar und also Verursacher der Kinderlosigkeit sein können, ermöglichten die Einführung der medizinisch überwachten heterologen Samenspende und später der intrazytoplasmatischen Spermieninjektion ICSI. Diese bedeutet eine weitere Technisierung und Entmythifizierung des Zeugungsvorganges. Sichtbar wird dies in Bildern, auf denen zu

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sehen ist, wie mittels einer Kanüle eine einzelne Samenzelle in die Eizelle verbracht wird, oder im Bild eines riesigen Kühltanks, in dem in dünnen Glaskanülen bei minus 196 Grad tiefgefrorene Spermien aufbewahrt werden. Man könnte sagen: Hier befinden wir uns in einer virtuellen technischen Welt potenziellen Lebens. Die neuen medizinischen Verfahren treffen darüber hinaus auch auf einen veränderten kulturellen Diskurs von Geschlechtlichkeit, der die Voraussetzung dafür ist, dass bei unerfülltem Kinderwunsch mit großer Selbstverständlichkeit auch die Männer mit zu untersuchen sind. Zugleich verstärken und erweitern diese biologischen Aspekte selbst den kulturellen Diskurs von Männlichkeit: Denken Sie nur an Woody Allens Film »Was Sie schon immer über Sex wissen wollten« (Allen, 1972/1973) mit als Spermien verkleideten Männern, ein Bild, das in einer ungebrochen patriarchalen Welt undenkbar wäre. Die Erweiterung der Interventionsmöglichkeiten erfasste schließlich eigentlich gesunde Menschen, für die vorher der Wunsch nach einem Kind gar nicht in Betracht gekommen wäre. Zunächst betraf dies ältere Frauen: Die weibliche Fruchtbarkeit ist zwischen zwanzig und 25 Jahren auf dem Höhepunkt, nimmt dann allmählich und etwa ab dem 35. Lebensjahr rapide ab. Dies wird dadurch zum Problem, dass der Wunsch nach Kindern mit den sich verändernden Lebensentwürfen von Frauen und Männern zeitlich immer weiter nach hinten verschoben wird oder überhaupt erst spät auftaucht, zum Beispiel mit einem neuen Partner oder nach dem Erreichen beruflicher Ziele. Deswegen suchten zunächst immer mehr eigentlich gesunde ältere Frauen die reproduktionsmedizinischen Praxen auf. Hinzu kamen dann nicht nur die Frauen, die ohne einen Partner Mutter werden wollen (»single mothers by choice«), sondern immer häufiger lesbische Frauen und Homosexuelle. Dies ist wiederum auf dem Boden eines veränderten gesellschaftlichen Klimas mit der zunehmenden Akzeptanz vielfältiger Lebensformen und unterschiedlicher sexueller Orientierung zu sehen. Zugleich ist es verbunden mit der immer größeren Selbstverständlichkeit, mit der zunächst exklusives Expertenwissen von Betroffenen erobert und für ihre Wünsche angewandt wird, zum Beispiel im häuslichen Do-it-yourself-Verfahren der Insemination. Dass diese aus dem Zusammenspiel von veränderter Technik und veränderter Kultur entstehenden, neuen Möglichkeiten der Familienbil-

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dung nicht nur die Menschen sowie deren Identität und Selbsterleben berühren, die diese Wege ergreifen, sondern uns alle als Gesellschaft, möge ein Zitat von Johannes C. Huber verdeutlichen, dem Leiter der Reproduktionsmedizin an der Universitätsklinik Wien: »Nun verändert aber auch die heterologe Insemination den Zusammenhang von Nähe, Verbot und Ordnung. Denn ähnlich wie bei der in der Natur nicht vorkommenden Eizellspende entstehen bei der heterologen Insemination Neuordnungsrelationen, Geschwister, die nichts voneinander wissen, obwohl sie biologisch miteinander verwandt sind« (2012, S. 98). Inzwischen finden sich im Internet schon Tausende durch Samenspende gezeugte Erwachsene und Jugendliche, die ihre Halbgeschwister und Väter suchen. Sie plädieren für das Recht auf Kenntnis ihrer biologischen Herkunft und engagieren sich gegen die anonyme Samenspende. Der nächste Schritt, bei dem die enge Verwobenheit von medizinischtechnischen Entwicklungen und kulturell überformter und überformender Biologie erst in den kommenden Jahren deutlich werden wird, ist die ebenfalls ursprünglich krebskranken, jungen Frauen vorbehaltene so genannte Vitrifizierung (Gefriertrocknung) von Eizellen. Diese Methode, unbefruchtete weibliche Eizellen einzufrieren, stammt aus der Tiermedizin und ist erst seit einigen Jahren ohne die Gefahr der Zerstörung der Eizellen möglich. Welche raschen Einflüsse auf gesellschaftliche, kulturelle und psychische Aspekte insbesondere für junge Frauen und deren Selbstbild und Lebensgestaltung mit dem so genannten Social Freezing hier zu erwarten sind und wie stark wiederum Medien dies beeinflussen, mögen stellvertretend diese Zitate zeigen: Die Süddeutsche Zeitung titelt in ihrem SZ-Magazin: »Bis später, Baby« und schreibt (Cadenbach, 2013): »Die biologische Uhr lässt sich jetzt anhalten […] Der letzte Schritt zur Emanzipation?« (S. 1). Und in Die Zeit fragt Martin Spiewak (2013) unter dem Titel »Familie auf Vorrat«: »Setzt sich die Technisierung der Fortpflanzung also fort? Steht uns nach der Pille die zweite Revolution der Familienplanung bevor? Wird sich die ärztlich kontrollierte Zeugung irgendwann als die überlegene Methode erweisen?« (S. 32).

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Reproduktionsmedizin, das Internet und die Globalisierung Die Welt des Internets ist mit den Formen und Folgen der Reproduktionsmedizin eng verschränkt. Ohne die Vernetzung des Internets und den Einfluss der Medien wäre der verändernde Einfluss der Reproduktionsmedizin auf Vorstellungen von Wegen zur Elternschaft, auf Körper- und Geschlechtsbilder nicht möglich. Die Durchdringung der Reproduktionsmedizin durch die Möglichkeiten des Internets und die daraus resultierende Globalisierung ist beschreibbar mit den Worten eines Buchtitels: »Reproductive technologies as global form« (Knecht et al., 2012). Beispielhaft ist hier die Selbstverständlichkeit, mit der sich heute alleinstehende oder lesbische Frauen mit Kinderwunsch nicht nur über bestehende Hilfsmöglichkeiten austauschen und informieren können, sondern mit der sie das Internet auch über merkantile Plattformen für die Realisierung des Wunsches intensiv nutzen. Dies ruft selbst wiederum eine virtuelle und zugleich transnationale Welt des Schwangerwerdens durch Samenspenden hervor und prägt sie. Dabei muten diese Seiten in ihrer technisch-banalen Selbstverständlichkeit im Umgang mit der Sehnsucht nach einem Kind an, als handele es sich um eine gemütliche Shoppingtour. Sichtbar wird dies an den Internetseiten der entsprechenden reproduktionsmedizinischen Zentren, unter anderem in Dänemark, wo man regelrecht anklicken kann, welche äußeren Eigenschaften das potenzielle Kind haben soll, von der Haarfarbe bis zur angestrebten Körpergröße. Zur Verbesserung der Vorstellungskraft der Kundinnen und potenziellen Mütter stellen einige der Samenspender Kinderbilder von sich ins Netz. Zu einer weiteren Folge der Möglichkeiten des Internets und deren vielfältiger Nutzung durch lesbische und homosexuelle Menschen mit Kinderwunsch gehört, dass diese sich zu neuen Formen der Elternschaft zusammenfinden. Vermittelt durch das Internet und geprägt von veränderten Vorstellungen von sexueller Liebe und Elternschaft proben offenbar inzwischen auch Heterosexuelle neue Formen der Reproduktion ohne Sexualität: Sie streben an, die Elternschaft für ein Kind zu teilen, und möchten angesichts häufig scheiternder Partnerschaft kein Paar werden, sondern nur lebenslang Eltern sein. Gesucht werden dann im Internet potenzielle Partner für diese Lebensform, von der sie glau-

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ben, sie biete größere Chancen auf eine angestrebte verlässliche und gemeinsame elterliche Beziehung zum Kind als eine Liebesbeziehung. Diese durch das Internet mit ermöglichte Entwicklung zu selbstbestimmten neuen Wegen zur Elternschaft wird von den betroffenen Erwachsenen als eine beglückende Erweiterung ihrer Lebensperspektiven erlebt, bei der andererseits das Wohl der potenziellen Kinder oft wenig reflektiert zu werden scheint. Das Phänomen ist eng mit einem Einkaufs- und Konsumprozess und den entsprechenden ökonomischen Interessen verwoben, was in manchen Ländern mit einem weitgehend ungeregelten und privatisierten Markt wie den USA zu einem Milliardengeschäft geworden zu sein scheint, in dem ein Kind aus einer erlaubten Leihmutterschaft bis zu 150.000 Dollar kosten soll. Welche erschütternden Formen dies annehmen kann und wie rasch hier Fragen der kolonialistisch anmutenden ökonomischen Ausbeutung und des Machtmissbrauches berührt werden, lässt sich an dem Film »Google Baby« (2009) von Zippi Brand Frank zeigen. Allerdings warten auch hier schon wieder Verunsicherung und InFragestellung einfacher Wahrheiten, wenn zum Beispiel in anthropologischen Studien mögliche positive ökonomische und emanzipative Folgen für eizellspendende Frauen aus ärmsten Schichten erörtert werden (Nahman, 2012). Wie oben schon ausgeführt, schlagen sich auch in Europa die komplexen und schwierigen Spannungen und Widersprüche bezüglich ethischer, rechtlicher und verfahrenstechnischer Fragen in widersprüchlichen nationalen Regelungen nieder. Dies wird angesichts der offenen Grenzen und der Möglichkeiten des Internets von vielen nach reproduktionsmedizinischer Hilfe Suchenden genutzt. Offenbar lassen sich gerade viele in Deutschland lebende Betroffene angesichts der im Ausland bestehenden liberaleren Regelungen dort behandeln, insbesondere bezüglich Eizellspende, Präimplantationsdiagnostik (PID) und Samenspende für lesbische oder nicht verheiratete Paare. Auffallend ist auch hier wieder ein starker Kontrast mit vielfältigen Widersprüchen: Einerseits besteht eine ausgeprägte Offenheit im Explizitmachen von Intimitäten unter Zuhilfenahme des Internets. Anderseits herrscht eine ausgeprägte Verborgenheit mit oft angst- und schambesetzter Heimlichkeit bezüglich der Behandlung, die ja lange das Leben außerordentlich belastet und dominiert mit den Hormonbehandlungen,

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Laborkontrollen, Fahrten in das betreffende Zentrum, quälenden Wartezeiten etc. Dieses Leben im Verborgenen wählen eher heterosexuelle Frauen und Paare, insbesondere wenn sie sich für bestimmte Behandlungsformen wie die heterologe Insemination oder die Eizellspende im Ausland entscheiden, sich aber zugleich sehr nach »Normalität« sehnen. Oft weiß dann niemand in der Umgebung von den Behandlungen, so dass die Betroffenen sich lange Zeit auch sozial zurückziehen und isolieren, oft verbunden mit depressiven Reaktionen. Im Vergleich dazu scheinen sich lesbische Frauen oft integriert in eine Community zu erleben, offen geworden im Umgang mit ihrer Lebensform auch vermittels intensiver Vernetzung durch das Internet und zunehmend erlebter sozialer Akzeptanz ihrer Lebensform. Dies wiederum fördert die Offenheit und das Erleben von Selbstbestimmtheit und wird noch verstärkt durch das Ziel, autonom und ohne Inanspruchnahme von Ärzten vorzugehen. Weitreichende Folgen dürften Anonymität und Heimlichkeit haben, wenn es um die Frage geht, wie die späteren Kinder aufgeklärt werden – mit entsprechenden Auswirkungen auf die Identitätsentwicklung, wie Einzelfallberichte von Betroffenen und erste diesbezügliche Untersuchungen (Golombok, Kramer, Freeman u. Jadva, 2009) zeigen. Diese Überlegungen machen deutlich, dass die Problematik nicht einfach in der genutzten Biotechnologie selbst liegt, sondern in deren Potenz zur (Ver-)Störung und Erweiterung tradierter Selbstbilder und Beziehungskonzepte. Auch der Umgang mit dem Wissen um die eigene Herkunft verändert sich und hier offenbaren sich ebenfalls widersprüchliche Tendenzen: Neben der bisher üblichen Verheimlichung von zum Beispiel Insemination und Eizellspende – wie oben beschrieben – findet sich parallel zu der beobachtbaren Öffnung gegenüber der Heterogenität von Lebensformen die Forderung nach Transparenz und Offenheit gegenüber der eigenen Entstehungsgeschichte. Druck zur Aufklärung über ihre biologische Herkunft geht zum Beispiel von den so genannten Spenderkindern aus, die das Internet global nutzen für die Suche nach ihrer genetischen Herkunft, ihren Spendervätern und Halbgeschwistern. In großen Foren suchen Betroffene ihre Väter und gleichen mittels komplexer Suchstrategien ihre Informationen bis hin zu genetischen Befunden ab, um ihre zuweilen zahlreichen unbekannten Halbgeschwister zu finden. Dies könnte man angesichts des weltweiten Austausches von Gameten als einen fast grenzenlos erscheinenden Möglichkeits-

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raum potenzieller Verwandter auf der ganzen Welt beschreiben, was als beziehungslose Relationen imponiert (Berkel, 2012). Als Beispiele seien zwei Netzwerke für mittels donogener Insemination gezeugter Kinder angeführt, die sich als Unterstützer nicht nur bei der Suche nach den unbekannten Verwandten verstehen: in Deutschland das Internetportal: »www.di-familie.de« (Die Di-Familie, o. J.), weltweit das Internetportal: »www.donorsiblingregistry.com« (DSR, 2000/2014). Zugleich verweist diese Entwicklung auf eine weitere Paradoxie: In dem Maße, wie die Identitätsentwicklung als beziehungsbasiert, intersubjektiv und somit kulturvermittelt verstanden wird, wird andererseits der biologisch-genetische Aspekt der Identität immer stärker betont.

Von der geteilten zur verteilten Elternschaft Wie Genealogen nüchtern konstatieren, gibt es das Phänomen der heterologen Vaterschaft durch außereheliche Beziehungen von Frauen (»pater semper incerta est«) und die Unterscheidung zwischen biologischer und sozialer Elternschaft historisch gesehen schon lange und nach den Erkenntnissen von DNA-Untersuchungen auch in europäischen Ländern in viel größerem Ausmaß als bisher bewusst war. Erst das Zusammenwirken von moderner Genetik und Reproduktionsmedizin mit einer veränderten sozialen Haltung macht solche nichtehelichen Formen der Elternschaft heute nicht nur explizit und transparent, sondern ermöglicht sie in einer neuen Weise: als etwas von Menschen Gewolltes und planvoll Herbeigeführtes. Darüber hinaus tauchen aber zugleich gänzlich neue Formen der Elternschaft als hybride, vorher so nicht mögliche Verwandtschaftsbeziehungen auf, mit einer Aufspaltung in genetische, austragende und soziale Elternschaft, die über das bisher uns vertraute Auseinanderklaffen von biologischer und sozialer Elternschaft hinausgehen. Aus der alltäglichen Arbeit werden viele von Ihnen die Folgen, Herausforderungen und Schwierigkeiten kennen, die mit geteilter Elternschaft einhergehen, sowohl als Erwachsenentherapeuten als auch gerade als Kinder- und Jugendlichentherapeuten. Bisher ist diese geteilte Elternschaft die ungewollte Folge von Trennung, Scheidung

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oder Tod. Aber wir werden uns in Zukunft mit gänzlich neuen Formen der Elternschaft auseinandersetzen müssen, die gewollt sind und gewählt werden und zu einer verteilten Elternschaft führen (Knecht, 2012; Knecht et al., 2012). Zunächst erfordert dies erneut, sich die Komplexität möglicher Elternschaft an den biologischen Fakten klar zu machen. Ich möchte hier nun nicht alle Varianten aufzählen, aber es scheint plausibel, dass alles, was biologisch-technisch möglich ist, auch von Menschen realisiert werden wird, wenngleich die Gefahr extremer Formen (Designerbabys) bisher wohl eher medial überschätzt wird. Einige Beispiele sollen aber deutlich machen, worum es gehen kann und welche Fragen der Identität hier berührt sein können: Ein heterosexuelles Paar, bei dem nur die Frau nicht mehr fruchtbar ist, könnte sich – bisher allerdings nur außerhalb des deutschen Rechtsraumes – dazu entschließen, mit Hilfe einer Eizellspende und dem Samen ihres Mannes ein Kind bekommen zu wollen. Gelingt dies, bedeutet es, dass die Mutter zwar austragende (biologische) und gebärende sowie soziale Mutter wird, aber nicht die genetische Mutter ist, während der Vater sowohl biologisch-genetischer als auch zeugender und sozialer Vater ist. Ein lesbisches Paar kann sich dazu entschließen, dass mit Hilfe von Spendersamen die eine Frau die genetische, biologische, das Kind austragende und gebärende sowie die soziale Mutter wird, während die andere (nur) die soziale und gegebenenfalls die Adoptivmutter wird. Es gibt lesbische Paare mit zwei oder mehreren Kindern, bei denen jede der Frauen einmal in der einen und der anderen Rolle ist (»Mama« und »Mami«), wie auch das oben angeführte Beispiel gezeigt hat. Dies verlangt sicher hochkomplexe Anpassungsprozesse von allen Betroffenen, die auch krisenhaft verlaufen können und/oder Menschen überfordern können. Insbesondere die in diesen Beziehungen lebenden Kinder sind schwierigen Identitätsentwicklungen ausgesetzt. Allerdings teile ich nach meinen bisherigen Erfahrungen mit den psychischen Folgen der reproduktionsmedizinischen Behandlungen die Einschätzung von Martin Dornes (2012) über »Die Modernisierung der Seele« und glaube, dass wir hier Zeugen und Mitgestalter erweiterter Regeln für neue Formen der geteilten und verteilten Elternschaft werden, die in ihren interpersonellen und intrapsychischen Konsequenzen mit sowohl problematischen als auch positiven Aspekten einhergehen.

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Welche Rolle die Väter dabei spielen, zeigt sich heute schon in sehr individuellen Lösungen und teilweise hochkomplizierten Arrangements, je nachdem, ob die Männer selbst sowie die betreffenden Frauen nur deren Funktion als Spender wünschen, ob der genetische Vater ein Fremder sein soll, der mit Hilfe einer Samenbank vielleicht sogar im Ausland gesucht wird, oder ob der Mann auch als sozialer Vater einbezogen werden soll – oder ob vielleicht sogar je ein lesbisches und homosexuelles Paar anstreben, die Elternschaft zu teilen. Die Entwicklung ist noch sehr jung, so dass die Anzahl von Langzeitstudien über die psychosoziale Entwicklung der Kinder noch beschränkt ist (Golombok, 2013; Golombok et al., 2009; Golombok, Blake, Casey, Roman u. Jadva, 2013; ausführliche Literatur, siehe: VARTA, 2014). Dies betrifft sowohl Kinder, die durch Samen- oder Eizellspende bei heterosexuellen Eltern aufwachsen als auch Kinder in Familien, die sich selbst als Regenbogenfamilien oder »Queer Families« bezeichnen. Es zeichnen sich bisher offenbar aber keine grundsätzlich negativen Auswirkungen ab und es gibt sogar eher Hinweise auf eine größere elterliche Wärme mit positiver Eltern-Kind-Beziehung. Wie zu erwarten, scheint sich frühe, altersgemäße Aufklärung und Offenheit bei klarer Haltung der Erwachsenen günstig auszuwirken. Interessant und anregend für unsere Familienkonzepte, die sehr von der klassischen Vorstellung einer hierarchisch-patriarchal geordneten Familie – bestehend aus Vater, Mutter und Kind – geprägt sein dürften, ist das von Michi Knecht (2012) benutzte Bild der »Verbuschung« von Stammbäumen. Dieses Modell soll beschreiben, dass die vertikale Gliederung von Herkunft und Familie immer mehr einer horizontalen Vorstellung weicht und die geschichtliche Tiefe des Wissens um die vorangehenden Generationen immer mehr abnimmt. Familien im anatolischen Teil der Türkei wissen die Namen von Verwandten offenbar noch bis mindestens zur vierten Generation, in Deutschland allenfalls bis zur zweiten. Dafür vermischen sich Verwandte mit Freunden, die einem so nahestehen, dass sie »wie Verwandte« werden. Dies dürfte sich auch immer mehr in den Anamnesen spiegeln, die wir erheben. Folgt man einer intersubjektiven Konzeption der Identitätsbildung, ist zu erwarten, dass diesen veränderten sozialen Bedingungen und den veränderten Narrationen von Familie und Verwandtschaft auch Veränderungen der unbewussten Repräsentanzen des Selbst und der anderen

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entsprechen werden. Eine weitere Folge dieser »Verbuschung« und verteilten Elternschaft ist das Phänomen der unbekannten Halbgeschwister, die durch eine »beziehungslose Beziehung zu einem namenlosen Genitor verbunden [sind]« (Knecht, 2012, S. 127) und die sich, wie oben schon ausführlicher beschrieben, suchen müssen, um sich zu finden.

Freiheit und Grenzen Ich komme jetzt mit den folgenden Fragen zum letzten Punkt meiner Überlegungen, dem Durchlässigwerden und der Erweiterung von Grenzen: Wie viel Freiheit verträgt der Mensch und wie viel Grenze akzeptiert er? – Aber auch: Wie viel Freiheit und wie viel Begrenzung ist ethisch vertretbar? In erster Linie betrifft dies die Grenzen, die das Vergehen und die Linearität von Zeit durch Altern und als Endlichkeit von biologischen Prozessen im Lebenslauf setzen. Die Möglichkeiten der Reproduktionsmedizin bedeuten eine Erweiterung von Altersgrenzen, und zwar insbesondere für die Mutterschaft. Veränderte Lebensentwürfe von Frauen und damit verbundene veränderte Rollenerwartungen und Selbstbilder führen zum sozial verursachten Hinausschieben von Altersgrenzen für den Kinderwunsch. Diese soziale Veränderung trifft auf neue biologische Möglichkeiten, wenn ältere Frauen jenseits ihrer natürlichen Altersgrenzen Mutter werden können. Die Zeit- und Altersgrenzen weichen ebenso auf wie die Geschlechtergrenzen. Ältere Frauen können ebenso wie lesbisch orientierte Frauen oder Homosexuelle mit Hilfe der scheinbar körper- und seelenlosen, zur Funktion reduzierten »gestational carrier« Eltern werden. Wahrscheinlich wird sich diese Tendenz zur Verschiebung der Altersgrenzen für das Kinderkriegen durch das als »Anhalten der Zeit« beschriebene Social Freezing noch verstärken. Ob die wachsenden technischen Möglichkeiten zur Aufrechterhaltung der Potenzialität von Mutterschaft mit der ambivalenten Suspendierung von Schwangerschaft über die natürlichen Fruchtbarkeitsgrenzen des alternden weiblichen Körpers hinaus andere Verfahren wie die Leihmutterschaft vielleicht (und hoffentlich) zurückdrängen, bleibt abzuwarten. Im Internet jedenfalls scheint der zentrale Aspekt der Entgrenzung von Zeit eindrucksvoll erfasst zu werden: Auf ihrer Internetseite wirbt eine

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spanische Fertilitätspraxis für das Einfrieren der Eizellen junger Frauen und deren spätere Nutzung für ihre Familienplanung mit der Adresse »www.timefreeze.es« (timefreeze.es, o. J.). Dieses Phänomen könnte als ein neuer Aspekt von technisch ermöglichter, aber vor allem individuell und gesellschaftlich rasch rezipierter zeitlicher und räumlicher Diskontinuität verstanden werden: Durch das Einfrieren und die extrakorporale Lagerung jung bleibender Eizellen ist Frauen trotz ihres weiter alternden weiblichen »Restkörpers« die Austragung einer Schwangerschaft und damit auch die soziale Mutterschaft zu einem späteren Zeitpunkt in ihrem Leben möglich. Eventuell vermindert aber eine solche biologische und sozial akzeptierte Behandlungsmöglichkeit zugleich auch die Notwendigkeit gesellschaftlicher Veränderungen, zum Beispiel hinsichtlich der Lebens- und Arbeitsbedingungen junger Menschen. Dass mit diesen neuen Methoden grundsätzlich auch die bisher üblichen Grenzen zwischen den Generationen – vor allem bezogen auf die weibliche Fruchtbarkeit – berührt sind, lässt sich daran zeigen, dass inzwischen eine Fünfzigjährige gleichzeitig mit ihrer 25-jährigen Tochter nochmals schwanger werden kann und dann Mutter und Großmutter gleichzeitig wird. Hatten Frauen noch in den 1970er Jahren mit dem Gefühl von Scham zu kämpfen, wenn sie vierzigjährig schwanger wurden, weil so auch offenbar wurde, dass sie noch sexuell aktiv waren, ist es heute gesellschaftlich völlig akzeptiert, dass über Vierzigjährige Mutter werden. Dass dies oft nur mit Hilfe von Eizellspenden durch jüngere Frauen möglich wird, zeigen die weit verbreiteten exemplarischen Geschichten beispielsweise von Filmstars in den Medien. Eine weitere Entgrenzung, und zwar diejenige durch Aufspaltung der weiblichen Fruchtbarkeit, wird so explizit: Zum einen geht es um den Teil der weiblichen Fruchtbarkeit, der mit der Bereitstellung von Eizellen (Gameten) sehr dem biologischen Altern unterworfen ist und bisher nicht mit technischen Mitteln rückgängig gemacht werden kann. Zum anderen handelt es sich um den Teil der weiblichen Fruchtbarkeit, der viel länger durch hormonelle Stimulation wieder herstellbar ist, nämlich die Austragung einer Schwangerschaft. Der öffentliche Diskurs konzentriert sich zunehmend auf die Frage, wie weit denn die Altersgrenzen für Schwangerschaften verschoben

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werden dürfen. Aufschlussreich ist auch hier wieder die Rezeption in den Medien. Als ein Beispiel aus jüngster Zeit sei die Frauenzeitschrift »Brigitte« genannt. Diese titelt 2013 in Heft 19 in ihrem Dossier: »Ist es nie zu spät für ein Kind? Ein Kind mit 40: heute normal. Aber ein Kind mit 50? Geschichten über Frauen, die sich noch getraut haben – allen Klischees zum Trotz« (Laude, 2013). Wie weit zurück die Sehnsucht nach dem Hinausschieben des Endes der weiblichen Fruchtbarkeit reicht, zeigt das biblische Beispiel von Rahel und Lea. Und wie weitgehend heute das Hinausschieben von Altersgrenzen für Mutterschaft schon Normalität geworden ist, wird wiederum sichtbar in der öffentlichen Diskussion, wo trotz aller Skepsis bezüglich der Folgen für die Kinder immer wieder sehr individuelle Entscheidungen akzeptiert werden. Interessant ist dabei unter dem Aspekt der sich verändernden Geschlechterbilder allerdings auch, dass neuerdings die lange ausschließlich positiv konnotierte männliche Fruchtbarkeit in hohem Alter nicht nur mehr als bewunderter Ausdruck lebenslanger Potenz gesehen wird, sondern ebenfalls zunehmend der kritischen Erörterung unterliegt. Erst seit kurzem wird hohes Alter von Vätern auch in Zusammenhang gebracht mit vermehrten Fehlbildungen und Nachteilen für die von ihnen gezeugten Kinder. Diese Entwicklung erinnert an die verspätete Realisierung der Möglichkeit auch männlicher Unfruchtbarkeit zu Zeiten der beginnenden Reproduktionsmedizin und verweist auf soziokulturelle Veränderungen des Männerbildes. Betroffen von der Erweiterung von Grenzen sind auch bisherige Geschwisterrelationen. Nicht nur, dass Spendersamenkinder mit einer unbekannten Anzahl potenzieller Halbgeschwister leben und nach ihnen suchen. Auch andere Konstellationen sind nicht nur denkbar, sondern auch realisierbar und insbesondere in den USA auch schon realisiert worden – so die Mutter, die für ihre Tochter deren Schwangerschaft als »gestational carrier« austrägt, oder die Schwester, die ihrer unfruchtbaren Schwester ein Ei spendet. Dem Zuviel an Distanz bei den oben beschriebenen beziehungs-losen Relationen von unbekannten Spendern, ihren Kindern und deren Müttern steht hier wiederum ein Zuviel an Nähe mit Auflösung und Verwischung von familiären Grenzen gegenüber. Bemerkenswert ist zugleich, wie stark eine zunächst sehr individualisierte, schambesetzte und im Verborgenen ertragene Lebensent-

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scheidung durch die zunehmende Vernetzung und Transparenz bei bestimmten Gruppen zu einem Gemeinschaftsgefühl von geteilter Lebenswirklichkeit führt – die Betroffenen sprechen von ihrer »Community«. Hier finden sie sich inzwischen auch politisch zusammen, um bestimmte Forderungen zu stellen, zum Beispiel nach der Verunmöglichung anonymer Spenden auch im Interesse der klaren Identität der Kinder und der Klarheit für die betroffenen Familien, aber auch für die Spender. Man könnte fast von einem intersubjektiv-systemischen Konzept sprechen, das alle am System Beteiligten wertzuschätzen und anzuerkennen versucht und bisherige Grenzen erweitert, zugleich aber neue sucht. Deutlich wird aber auch erneut, wie die Erweiterung der Möglichkeiten sozialer Elternschaft zu einer Neugewichtung biologisch-genetischer Herkunftsfragen führt. Die Aufweichung von Grenzen betrifft außerdem zunehmend die durchlässiger werdenden nationalen Grenzen. Verhindert werden soll zum Beispiel in Deutschland mit dem schon erörterten Verbot der Eizellspende neben der Vermeidung einer geteilten Mutterschaft zugleich eine Ausbeutung der Spenderinnen. Wie wichtig gerade das letztere ist, zeigen die zum Teil erschütternden Beispiele von Frauen aus ärmsten ökonomischen Verhältnissen in manchen Ländern. Paradoxerweise könnte jedoch gerade das gut gemeinte, aber inkonsistente deutsche Verbot der Eizellspende in einem Europa freier Grenzen und unterschiedlicher rechtlicher Regelungen den so wichtigen Schutz der Frauen verfehlen, ob Spenderin oder Empfängerin. Es gibt Hinweise, dass es geradezu das Entstehen einer problematischen und zuweilen gefährlichen Grauzone befördert, wenn deutsche oder österreichische Frauen vermehrt zur Behandlung ins Ausland reisen. Deshalb möchte ich im Folgenden noch auf den Aspekt der Grenzen von Machbarkeit und auf Probleme bei Grenzziehungen eingehen. Die schnelle Erweiterung der medizinisch-technischen Möglichkeiten hält an. Sie wird wiederum verstärkt und vorangetrieben durch Betroffenengruppen im Zusammenspiel mit wirtschaftlichen Interessen – die Fortpflanzungsmedizin ist unter anderem eine inzwischen internationale Fortpflanzungsindustrie, wie die obigen Beispiele von entsprechenden Internetseiten oder der Film »Google Baby« (Brand Frank, 2009) beleuchten. In den USA ist inzwischen der Begriff »consumer-patient« weit verbreitet. Auch in Deutschland ist mit der zuneh-

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mend durch die Rechtsprechung verstärkten Betonung der Patientenautonomie diese Entwicklung absehbar, selbst wenn sie gravierende ethische Probleme und Schwierigkeiten für die Arzt-Therapeut-Beziehung aufwirft, was zum Beispiel der Freiburger Medizinethiker Maio (2012) in seinen Veröffentlichungen problematisiert. Dabei gibt es offenbar eine Diskrepanz zwischen individuellem Wollen sowie der individuellen Freiheit, sich rasch erweiternder biologisch-technischer Möglichkeiten zu bemächtigen, einerseits und den Möglichkeiten von Gesellschaften andererseits – in einer Welt mit durchlässiger werdenden Grenzen –, Grenzen des Machbaren sowie des ethisch und juristisch Gewollten zu erzwingen. Dies zeigt sich zum Beispiel an den Schwierigkeiten, die eher begrenzenden deutschen rechtlichen Regelungen vor allem bezüglich der Eizellspende und bestimmter Auflagen für den Behandlungsprozess durchzusetzen. Möglicherweise führt angesichts der begrenzten Machbarkeit auch von eventuell sinnvollen Begrenzungen nur eine geduldige und vertiefte Auseinandersetzung über diese Fragen zu Lösungen, die getragen sind von einer inneren Akzeptanz, dass nicht alles, was machbar ist, auch gemacht werden muss. Vielleicht werden wir in fernerer Zukunft dies auch in der Reproduktionsmedizin sehen – parallel zu einer Entwicklung, die heute in Ansätzen bei so verschiedenen Phänomenen wie dem Autofahren oder dem Fleischkonsum gerade bei jungen Menschen schon zu beobachten ist und freiwilligen Verzicht unter Einbeziehung überindividueller Interessen bedeutet. Ich möchte mit diesem Beitrag auch uns als Psychoanalytiker und Psychotherapeuten zu einer offenen Auseinandersetzung ohne vorschnelle Urteile anregen. Deswegen will ich Sie jetzt abschließend noch einmal mit Fragen und Aspekten konfrontieren, die uns als Profession betreffen. Handelt es sich bei den immer umfangreicher wahrgenommenen Behandlungsmöglichkeiten nun um ein Zeichen zunehmender regressiver oder narzisstischer Störungen und muss Desymbolisierung befürchtet werden? (Thomä, 2002). Oder ist, wie von verschiedenen Autoren befürchtet wird, eine neue Stufe der Verdinglichung erreicht? Da es immer problematisch ist, klinische Begriffe auf soziale oder kulturelle Phänomene anzuwenden, erscheint Reiches Unterscheidung in Ausdrucksgestalten, die sich in der sozialen Welt zeigen, und Symp-

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tome, die sich beim Individuum manifestieren, hilfreich (2004). Dornes (2012) schreibt hierzu: »Früher waren die Mittel dafür primitiv, und die Probleme mussten häufig einfach ertragen werden, ohne dass sie deshalb auch verstanden oder psychisch verarbeitet wurden. Der Umgang damit war aber nicht reifer oder weniger regressiv, sondern nur auf eine andere Weise ›sprachlos‹ oder sogar noch gedankenloser. Weil die Probleme heute nicht mehr ertragen werden müssen, nimmt die Fähigkeit ab, sie als unumstößlich hinzunehmen – und in diesem Sinne nimmt auch die Leidensbereitschaft ab. Früher musste man unter seiner Unfruchtbarkeit leiden, sie als Schicksalsschlag hinnehmen, sie verdrängen oder in Alkohol ertränken, heute nicht mehr. Hormonelle Therapie oder künstliche Befruchtung bringen sowohl neue Freiheitsspielräume als auch neue Formen des Leids mit sich« (S. 142 f.). Wenn man die sich immer weiter ausdehnende Welt der Reproduktionsmedizin als kulturelle Ausdrucksgestalt versteht, kann man auch beobachten, dass es zu einem fließenden Übergang von kultureller Ausdrucksgestalt zu individueller Symptomatik kommen kann, zum Beispiel bei einem Paar, das trotz ärztlicher Hinweise suchtartig eine erfolglose Behandlung an die nächste anschließt – in einer narzisstisch getönten Haltung von: »Geht nicht – gibt’s nicht!« Um Ihnen zum Schluss meiner Ausführungen eine Vorstellung von den Spannungen und schwerwiegenden inneren Konflikten betroffener Patienten jenseits solcher narzisstischen Symptomatik zu geben, möchte ich Ihnen drei kurze Beispiele aus meiner Arbeit schildern. Die Patientinnen kommen teilweise in der Folge von zumeist depressiven Reaktionen, hartnäckigen somatoformen Störungen oder schweren Lebens- und Partnerschaftskrisen im Rahmen von unerfülltem Kinderwunsch in meine Behandlung, teilweise stellt sich erst während einer Behandlung aus anderen Gründen der Kinderwunsch ein – und manchmal werden die Patienten dann unerwartet mit ihrer vergeblichen Hoffnung konfrontiert. Sichtbar wird an diesen Beispielen1, wie die Freiheit, uns entscheiden zu können, unversehens auch zur Last wird – insofern sie uns vor schwierigste Entscheidungen stellt, die wir ohne die biotechnischen 1 Die Beispiele sind aus Gründen des Datenschutzes so modifiziert, dass eine Erkennung von Personen ausgeschlossen ist.

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Möglichkeiten und deren Verfügbarkeit gar nicht hätten. Und zugleich wird deutlich, dass das Individuum selbst Entscheidungen treffen kann, aber auch muss, weil es kein gesellschaftlich verbindlich regelndes Zentrum mehr gibt. Dornes (2012) meint hierzu, »dass der flexibilisierte psychische Apparat in eine Umwelt eingebettet ist, die einerseits unüberschaubarer geworden ist, andererseits selbst flexibler bzw. poröser. Deshalb findet die Psyche weniger (starren) Halt in ihrer sozialen Umwelt« (S. 346). Bei einer 34-jährigen Frau wird in der Schwangerschaft festgestellt, dass ihr Kind schwer genetisch geschädigt ist und nicht lebensfähig sein wird. Die Schwangerschaft wird abgebrochen. Nach einer längeren Trauerphase entsteht der Wunsch, es noch einmal zu versuchen; die Patientin wird aber nicht spontan schwanger. Es finden sich gynäkologisch behandlungsbedürftige Veränderungen, angesichts ihres inzwischen schon höheren Alters wird schließlich die Indikation zu einer IVF gestellt. Es werden ausreichend viele Eizellen gewonnen, ein befruchteter Embryo wird eingesetzt. Die Patientin wird schwanger, es zeigt sich erneut eine schwerste, mit dem Leben nicht vereinbare Behinderung und es erfolgt erneut ein Abbruch. Die jetzt veranlasste genetische Untersuchung der Eltern ist unauffällig, so dass es sich wohl um Spontanmutationen gehandelt hat. Die verzweifelte Patientin steht nun mit ihrem Partner vor der Frage, ob die eingefrorenen beiden Embryos eingesetzt werden sollen. Frau B. ist Migrantin und wünscht sich sehnlich ein Kind, steht aber auch unter dem starken Druck ihrer gesamten Familie, endlich ein Kind zu bekommen. Sie ist noch jung. Es stellt sich aber heraus, dass sie aufgrund eines drohenden Eintritts in vorzeitige Wechseljahre von einem verfrühten Nachlassen ihrer Fruchtbarkeit betroffen ist, so dass ihre Chancen, spontan schwanger zu werden, minimal sind. Sie kommt aus einem Land, in dem Eizellspende erlaubt ist, der hier geborene Ehemann möchte dies aber nicht. Es kommt zu einem schweren partnerschaftlichen Konflikt, die Ehe droht zu zerbrechen und die Patientin wird depressiv. Frau C. hat bereits ein Kind, das zweite stirbt circa acht Wochen vor dem errechneten Termin plötzlich ohne vorherige Warnzeichen. Versuche, wieder schwanger zu werden, bleiben ohne Erfolg. Es kommt zu einer heftigen, verspäteten Trauerreaktion mit massiven Selbstvorwürfen und Selbstzweifeln, die die Patientin schließlich mit therapeutischer Hilfe bewältigen kann. Sie versucht ihre Situation als Mutter nur eines Kindes zu akzeptieren und beginnt, sich auch beruflich neu zu orientieren. Als aber immer mehr Frauen in ihrem Freundes- und Bekanntenkreis mit Hilfe der Reproduktionsmedizin schwanger werden, entschließen sie und ihr Partner sich, fünf Jahre nach dem Tod des Kindes, zu einer IVF. Hierfür braucht sie aber erneut psychotherapeutische Begleitung, um ihre massive Angst zu bewältigen.

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Mit diesen drei Beispielen möchte ich Sie am Ende meines Beitrages noch einmal an das Eingangszitat von Niklas Luhmann (1995) über die »Freiheit als Traum und als Trauma« erinnern. Nach meiner Erfahrung brauchen Patienten und Patientinnen mit unerfülltem Kinderwunsch oft nicht nur professionelle Hilfe, ihr Leid kann auch persönlich sehr berühren und, wie in meinem Fall, zudem zur Reflexion des psychosozialen und kulturellen Kontextes anregen.

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Gitta Binder-Klinsing

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Manfred Gehringer

Liebe in den Zeiten der unendlichen Freiheit

Love in times of infinite freedom Sven Hillenkamp (2009) announces the death of love in his book »Das Ende der Liebe – Gefühle im Zeitalter unendlicher Freiheit«. His basic assumption is that freedom itself has become a well-repressed enemy of love. Faced with boundless possibilities, human beings can only fail. The quest for the ideal love, which of course does not exist, is strongly promoted by numerous partner-dating sites. The mode of love-seeking in the internet stands in sharp contrast to the romantic yearning for love.   Surprisingly however, empirical studies show that the internet mode of finding a partner is apparently quite successful. Postmodern human beings seem to be able to cope with the mental psychic challenges of the digital revolution better than the current cultural criticism assumes, perhaps due to a structural change in the human psyche as Altmeyer (2013) suggests. Zusammenfassung Sven Hillenkamp (2009) verkündet in seinem Buch »Das Ende der Liebe – Gefühle im Zeitalter unendlicher Freiheit« das Ende der Liebe. Er geht von der Annahme aus, dass die Freiheit zum gut verdrängten Feind der Liebe geworden ist. Angesichts grenzenloser Möglichkeiten können wir Menschen nur scheitern. Die Suche nach der idealen Liebe, die es natürlich nicht gibt, wird von unzähligen Portalen der Partnersuche sehr gefördert. Der Modus der Partnersuche im Internet steht in schroffem Gegensatz zur romantischen Suche nach Liebe. Erstaunlicherweise zeigen empirische Studien, dass diese Art der Partnersuche im Internet anscheinend ziemlich erfolgreich ist. Postmoderne Menschen scheinen besser mit den psychischen Herausforderungen der digitalen Revolution zurechtzukommen, als von der zeitgenössischen Kulturkritik angenommen wird. Dies ist vielleicht auf eine von Altmeyer (2013) postulierte Strukturveränderung der menschlichen Psyche zurückzuführen.

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Vorbemerkungen Die Überschrift meines Beitrags ist dem Titel eines Buches von Sven Hillenkamp »Das Ende der Liebe – Gefühle im Zeitalter unendlicher Freiheit« (2009) entlehnt. Hillenkamps Buch stellt eine große Provokation dar. Es ist keinem bestimmten Genre zuzurechnen, sondern verbindet auf gekonnte Weise Erzählung, soziologische Analyse und philosophische Betrachtung. Das Provokative ist, dass in diesem Buch eloquent das »Ende der Liebe« verkündet wird. »Man stelle sich vor: Die Liebe stirbt aus. Sie verschwindet wie Absolutismus und Sowjetsozialismus, wie die Ohnmachtsanfälle der Frauen, die Hysterie der Massen, das Unbehagen in der Kultur. Mehr noch als andere Phänomene wird sich die Liebe als historisch erweisen, als Besonderheit, die mit ihren Bedingungen kommt und geht. Die Liebe wird wieder sein, was sie einst war: Ausnahme, Seltenheit. Die Liebenden werden wieder, wie Millionäre oder Rollstuhlfahrer, zu einer kleinen Minderheit« (2009, S. 18). Wie kommt Hillenkamp zu dieser Prophezeiung? Offenbar sind die Voraussetzungen für die Liebe heute besser denn je. Gesellschaftliche und kulturelle Barrieren sind gefallen, zumindest in unserer westlichen Welt. Die Menschen begegnen immer mehr Menschen, sie sind frei zu wählen. Nicht nur die Männer, auch die Frauen können mit oder ohne Partnervermittlung im Internet aktiv auf Partnersuche gehen. Niemand ist mehr wie einst die vom Schicksal weniger Begünstigten dazu verurteilt, ein alter Junggeselle oder eine alte Jungfer zu werden und sozial stigmatisiert zu sein. Über die gewerbsmäßige, zur mächtigen Industrie gewachsene Partnervermittlung im Internet, die per maschineller, computergestützter Suche eine größtmögliche Auswahl von Sex- und Lebenspartnern erzeugt, können auch Menschen, die von der Norm abweichen, die vorher kaum eine Chance hatten, einen Partner finden. Jeder scheint nunmehr in der Lage zu sein, der Schmied seines Liebesglückes zu sein, für jeden Topf scheint es einen Deckel zu geben, zumindest potenziell. In dieser »schönen, neuen Welt« tragen Social Media und Internetpartnervermittlungen dazu bei, Einsamkeit und Isolation aufzuheben und in soziales Glück umzuwandeln. Wie also kommt Hillenkamp zu seiner Behauptung? Er meint, dass genau das Element, das ursprünglich Begründer der Liebe gewesen

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sei, zum größten, kaum wahrgenommenen, gut verdrängten Feind der Liebe geworden sei: die Freiheit. Er schreibt: »Die Liebe kann nicht nur an ihren Unmöglichkeiten scheitern, sondern auch an ihren Möglichkeiten, nicht nur an höheren Gewalten, auch an der Gewalt eines sich als frei und originär verstehenden Bewusstseins« (2009, S. 38). Die scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten selbst seien der Feind, weil der Mensch vor seinen unbegrenzten Möglichkeiten nur versagen könne. Die Freiheit, so meint Hillenkamp, sei zum Zwang geworden, und damit einhergehend sei die Einsicht verschwunden, »dass es ein Schicksal gibt, für das der Mensch nicht verantwortlich ist, für das er sich nicht schämen muss; dafür, dass er keinen Erfolg hat, dass andere Menschen ihm mit Ablehnung begegnen, dass er nicht die Liebe findet, dass er krank wird und vor der Zeit stirbt. Die Einsicht, dass der Mensch keine unbegrenzten Möglichkeiten hat« (2009, S. 41). Giovanni Maio, Philosoph und Sozialethiker, hat in diesem Zusammenhang ein höchst lesenswertes Buch herausgegeben: »Abschaffung des Schicksals?« (2011). Freilich verdanken wir Psychotherapeuten genau dieser Emanzipation des Selbst vom Schicksal und Schicksalsglauben unsere berufliche Existenz. Menschen werden dann zu unseren Patienten, wenn sie nicht mehr »können können« und doch eigentlich »können müssten.« Der in Korea geborene Philosoph und Medientheoretiker Byung-Chul Han hat diese Imperative kritisch beleuchtet (2010). Während, so meint Han, die Disziplinargesellschaft vom »Nicht-Dürfen beherrscht war, ist das entgrenzte Können das positive Modalverb der Leistungsgesellschaft. Sein Kollektivplural der Affirmation ›Yes, we can‹ bringt gerade den Positivitätscharakter der Leistungsgesellschaft zum Ausdruck« (S. 15). Die Freiheit mit ihrem Positivitätscharakter ist so unmerklich zum Zwangssystem geworden. Hillenkamp bemerkt süffisant: »Das Zwangssystem der Freiheit ist zwar allen Zwangssystemen der Unfreiheit vorzuziehen. Doch es taugt ebenfalls dazu, Menschen ins Unglück zu treiben« (2009, S. 41). Das Fatale an dieser Entwicklung ist jedoch, dass sich der Zwang von außen in den Menschen hineinverlagert. Das Neue daran ist, dass die typischen Erkrankungen einer spätmodernen Leistungsgesellschaft nicht mehr unter den Bedingungen des äußeren Zwangs, sondern inne-

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rer Freiheit stattfinden. Han schreibt: »An die Stelle der fremdverursachten Gewalt tritt die selbstgenerierte Gewalt, die fataler ist als jene, denn das Opfer wähnt sich in Freiheit« (2011, S. 52). Hillenkamp (2009), dessen kulturpessimistische Sicht durch Han komplementiert wird, kommt zu dem Schluss, dass nicht mehr Zwänge, Regeln und Gewohnheiten die Menschen von ihren Möglichkeiten abhalten, sondern andere Möglichkeiten, weil jede Entscheidung für die eine bedingt, dass man auf eine andere verzichtet und somit auf die Unendlichkeit, die vielleicht das verführerische Versprechen der Postmoderne schlechthin ist. Unsere vermeintliche Liebesfreiheit ist trügerisch. Sie besteht, wenn man Hillenkamp folgt, nur im Widerstand gegen die eigene Freiheit. Aus meiner persönlichen, statistisch natürlich nicht validen Lebensund Psychotherapieerfahrung spricht viel für die Thesen Hillenkamps. Spontan fallen mir dazu einerseits ein Film und andererseits einer meiner Patienten ein.

Der Film »E-Love« In dem französischen Film »E-Love« von Anne Villacèque aus dem Jahr 2011 (deutsche Fassung 2012) stürzt die Heldin Paule, Professorin für Philosophie, Mutter einer 15-jährigen Tochter, seit vielen Jahren anscheinend glücklich verheiratet, kurz vor ihrem fünfzigsten Geburtstag ins Nichts, als sie erfährt, dass ihr Ehemann eine Beziehung mit einer zwanzig Jahre jüngeren Frau hat, die er über eine Partnerbörse im Internet kennengelernt hat. Die Wunde ist tief, ebenso wie das Bedürfnis, diese Wunde durch kompensatorische Erfahrung zu heilen. Natürlich bieten sich die Partnerbörsen des Internets als »Heilungshilfe« an. Unterstützt von ihrer Schwester geht sie ins Netz und erlebt dieses zunächst als riesigen, berauschend wirkenden Supermarkt. Männer jedweden Alters, jeglicher Schicht bieten sich ihr an, zum Gebrauch, zum Konsum. In ihrer enormen Bedürftigkeit ist sie zunächst wahllos und gerät vom Regen in die Traufe. Der erste Kandidat ist ein frühzeitig gealterter, schwerhöriger, feingeistiger Mann, vor dem sie am liebsten schon beim ersten Anblick Reißaus genommen hätte, wenn sie noch gekonnt hätte. Der nächste, ein verführerischer Psychoanalytiker, dem

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sie auf seiner Behandlungscouch fast erliegt, wendet sich im entscheidenden Moment gegen sich selbst, meint, sie müsse sich vor seinem Bauch ekeln. Mit einem farbigen Gigolo verbindet sie zumindest ein gelungenes erotisches Erlebnis, aber keine Zukunft. Schließlich greift sie zu einem Proleten aus den Banlieues von Paris, der sie zunächst aufgrund seiner erotischen Vitalität und Direktheit für sich einnimmt, dann aber fast Kopf und Kragen kostet, als sie seine Besitzansprüche zurückweist. Seelisch und physisch beschädigt wähnt sie sich aber »endlich angekommen«, als sie einem überaus distinguiert wirkenden Mann begegnet, der in jeder Beziehung der Richtige zu sein scheint. Sie ist so ergriffen, dass sie in Ohnmacht fällt. Die Ohnmacht ist freilich letztlich nur ein Vorbote dessen, was kommt. Er lockt sie in einen Swingerclub. Sie ist, wie sie enttäuscht feststellen muss, nur Spielball seiner sexuellen Phantasien. Völlig ernüchtert kehrt sie am Morgen ihres fünfzigsten Geburtstags in den Schoß ihrer Familie zurück, deren Mitglieder sie feiern wollen. Ihr Streifzug durch das Netz hat sich für die Protagonistin als eine Erfahrung erwiesen, die tiefe Wunden hinterlassen hat. Sie muss zu dem Schmerz über die Trennung vom Ehepartner auch noch traumatische Erfahrungen mit Datingpartnern aus dem Netz verarbeiten.

Die Geschichte eines Patienten Auch für einen meiner Psychotherapiepatienten sind die durch das Internet geschaffenen Möglichkeiten eher ein Fluch als ein Segen. Das jahrelange vergebliche Bemühen, eine tragfeste, haltbare Beziehung zu finden bzw. zu gestalten, und die damit einhergehenden Selbstzweifel haben den Patienten zu mir in Therapie geführt. Dabei hat er überhaupt keine Probleme, jeweils eine neue Partnerin zu finden. Seine Suche betreibt er ausschließlich über die Datingportale des Internets. Dort ist er äußerst erfolgreich, ein Prinz sozusagen, der ein nach den gängigen Konventionen gutes männliches Aussehen mit verbaler Eloquenz und einer geschickten Präsentation bzw. Manipulation seiner Emotionen und seines Selbst verbindet. Auch im Beruf ist er erfolgreich, wird für seine harte und clevere Verhandlungsstrategie geschätzt, für sein kühles Urteil, seine Umsicht, kurzum, er ist der perfekte Homo oeconomicus,

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der mit Präzision und Rationalität seine materiellen wie immateriellen Gewinne optimiert. Diese Tugenden kommen ihm beim Anknüpfen von Beziehungen zugute, nicht jedoch, wenn es darum geht, Beziehungen wirklich einzugehen und zu halten. Er ist einer von vielen, die sich vor der Liebe trennen. Seine Beziehungsanknüpfungen verlaufen immer nach dem gleichen Muster. Bei vielen der ihm durch die Matchingmaschinen des Internets vermittelten Partnerinnen drängt er schnell, meist erfolgreich, auf körperliche Intimität. Beim ersten Sex ist er immer potent. Manchmal bleibt es beim One-Night-Stand, nicht selten aber entwickelt er Gefühle und Beziehungswünsche, ohne sich freilich wirklich mit »Haut und Haar« verlieben zu können. In diesem Moment, noch vor der Liebe, passiert etwas Eigentümliches. Sein Begehren und seine Libido sinken rapide und erlöschen schließlich ganz. Er wird impotent. Seine Schuldgefühle nehmen zu, weil sich die Partnerinnen von ihm zurückgewiesen und verletzt fühlen. Den Vorwürfen der Frauen, dass er sie gelockt und dann am ausgestreckten Arm habe verhungern lassen, hat er wenig entgegenzusetzen, außer der Bitte um Geduld. Manche zeigen eine bemerkenswerte Geduld, ohne zu wissen, dass er schon längst dabei ist, sie abzuwählen, bereits wieder bemüht, seine Suchstrategie zu verfeinern und zu optimieren, um endlich die Frau zu finden, die er auf Dauer begehren kann, die ideale Frau. Diese Frau gibt es nicht und wird es nicht geben, was er irgendwie ahnt. Ich brauche wohl nicht hinzuzufügen, dass das Netz einen festen und wichtigen Platz in seiner neurotischen Abwehrformation einnimmt, dass es (im negativen Sinne) seine Tendenz zur narzisstischen Bindungslosigkeit befördert.

Romantische Netze Im Folgenden beziehe ich mich in meinen Ausführungen auf Eva Illouz (2007), die im dritten Teil ihres Buches (S. 109–159) unter dem Titel »Romantische Netze« Grundlegendes zum Thema Partnerdienste im Internet schreibt. Wie kommt das eigene Selbst dazu, virtuell anderen zu begegnen? Um Zugang zu der ungeheuren Menge an potenziellen Partnern zu erhalten, verlangen viele Anbieter das Ausfüllen eines Fragebogens, der dann Profil genannt wird. Bei »eDarling« zum Beispiel müssen die

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Kunden 283 Fragen beantworten, wonach ein Profil erstellt wird. Wo verorten sich die Kandidaten bei den Big Five, jenen fünf Merkmalen, die als stabile Persönlichkeitseigenschaften gelten: Wie neurotisch ist jemand? Wie extravertiert? Wie offen für neue Erfahrungen? Wie verträglich? Wie gewissenhaft? Neben den Hauptmerkmalen fließen Daten wie Wohnort und Einkommen und die Wünsche der Kunden ebenso ein wie Alter, Gewicht, Haarfarbe. So wird ein Profil erstellt, das der Computer mit der Datenbank abgleicht. Am Ende steht ein MatchingScore, ein Punktwert, als Resultat des Abgleichens dieses psychologischen Profils mit potenziell kompatiblen Profilen. Den von Psychologen entworfenen standardisierten Fragebögen liegen also psychologische Kategorien und Annahmen darüber zugrunde, wie das Selbst verstanden werden muss und wie Gemeinschaft durch emotionale Kompatibilität hergestellt werden kann. Das Selbst muss aber zuerst einmal einen enormen Prozess reflexiver Selbstbeobachtung, der Selbstklassifikation sowie der bewussten Artikulation eigener Vorlieben und Meinungen durchlaufen, bevor es einen virtuellen anderen treffen kann. Zum einen wird also ein Selbst konstruiert, das anderen unter Bezug auf die Idee und die Ideologie psychologischer und emotionaler Kompatibilität begegnen kann. Zum anderen führt das Erstellen eines Profils dazu, das private Selbst in einen öffentlichen Auftritt zu verwandeln. Schließlich trägt das Internet, wie das psychologische Weltbild überhaupt, zu einer Textualisierung der Subjektivität bei. Dies hat für den Einzelnen folgende Konsequenzen: 1. Um eine andere Person zu treffen, muss man sich intensiv auf sich selbst konzentrieren, auf die Wahrnehmung des eigenen Selbst und auf das Ideal vom eigenen und vom anderen Selbst. 2. Die Ordnung der traditionellen romantischen Interaktion wird umgekehrt: Wo Anziehung normalerweise dem Wissen vom anderen vorangeht, geht hier Wissen der Anziehung oder zumindest der physischen Präsenz des anderen voraus. 3. Die dritte Konsequenz ist, dass die Begegnung unter dem Banner der liberalen Ideologie der Wahlfreiheit steht. Die romantische Begegnung wird als das Ergebnis der bestmöglichen Wahl konzipiert. 4. Das Internet setzt jeden, der nach anderen sucht, auf einem offenen Markt der Konkurrenz mit anderen aus.

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»Die Technologie des Internet [sic] konfrontiert das Selbst also mit Widersprüchen. Sie bedingt eine tiefe Wendung nach innen, das heißt, sie verlangt eine Fokussierung auf das eigene Selbst, zugleich aber macht das Internet aus dem Selbst eine öffentlich ausgestellte Ware« (Illouz, 2007, S. 120). Was also bedeutet es eigentlich, ein Internetselbst zu haben? »Ein Internetselbst zu haben bedeutet, ein cartesianisches Ego zu haben und sich durch den Blick aus den Mauern des eigenen Bewusstseins auf die Welt einzulassen« (S. 122). Fast zwangsläufig kommen wir zu den Unterschieden zwischen der ökonomischen Produktion von Liebesbeziehungen im Netz und der romantischen Liebe. Romantische Verzauberung ist immer verknüpft mit einer Ökonomie der Knappheit. Er oder sie ist die oder der Einzige, »the only one«. Der beherrschende Geist im Internetdating ist hingegen eine Ökonomie der Fülle, die fast zwangsläufig dazu führt, dass das Selbst seine Optionen zu maximieren sucht und dabei Kosten-Nutzen-Analysen sowie Effizienzberechnungen durchführt. Die Partnersuche im Internet ist so eine eigentümliche Mischung aus Psychologie und Konsumismus. Die Enttäuschung ist ein ubiquitäres Phänomen in den Partnerbörsen des Internets. Daraus resultiert eine eigentümliche Erschöpfung im Netz, die symptomatisch zu einer Kombination aus Müdigkeit und Zynismus führt: kein Wunder nach vielen Flops bei angeblicher oder vorgeblicher perfekter psychologischer Kompatibilität. Dies stellt einen radikalen Bruch mit der Kultur der Liebe und der Romantik dar. Der radikalste denkbare Gegensatz zur Liebe im Netz ist der »Coup de Foudre«, die Liebe auf den ersten Blick als Inbegriff der romantischen Liebe. Wie ist es, wenn der Blitz einschlägt? Eine Patientin berichtet: »Mir geht es ganz schlecht und gleichzeitig ganz gut. Seit zwei Tagen kann ich nur noch an ihn denken, nichts anderes interessiert mich mehr, auf nichts kann ich mich konzentrieren; ich sehe ihn überall, obwohl ich ihn natürlich nicht wirklich sehe, mein Herz pocht, bebt, rast, ich habe dauernd Schweißausbrüche, habe Durchfall und Blähungen, fühle mich elektrisch aufgeladen, spüre ein Kribbeln am ganzen Körper. Ich schwanke zwischen sehnsuchtsvoller Erwartung und tiefster Verzweiflung. Am liebsten würde ich ihn jetzt sofort anmailen und ihn einladen auf einen Kaffee. Aber ich halte mich gewaltsam zurück, weil ich Angst habe,

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panische Angst habe, ihn damit zu verschrecken. Ich hätte nie gedacht, dass mir so etwas passiert.« Kann man sich einen größeren Unterschied denken als den zwischen dieser elementaren Selbstoffenbarung und dem vorher zitierten Patienten mit seinem taktischen, strategischen, manipulativ auf Sicherung bedachten Kalkül im Netz der Partnerbörsen? Eva Illouz beschreibt den »Coup de Foudre« so: »Man erfährt ihn als einzigartiges Ereignis, das plötzlich und unerwartet in das eigene Leben einbricht. Er ist unerklärbar und irrational, er setzt unmittelbar nach der ersten Begegnung ein und beruht deswegen, wie ich hinzufügen möchte, nicht auf irgendeiner kognitiven, kumulativen Kenntnis der anderen Person; er stört das alltägliche Leben und wirkt wie eine tiefe Bewegtheit auf die Seele ein; die Metaphern, in die er gekleidet wird, sind die der Hitze, des Magneten, des Donners sowie der Elektrizität und verweisen damit alle auf eine überwältigende, niederzwingende Macht. Das Internet, so meine Vermutung, bricht radikal mit dieser Tradition der Liebe« (2007, S. 134). Ein, um mich zu wiederholen, größerer Unterschied als der zwischen romantischer Liebe und der Partnerwahl im Internet ist kaum denkbar. Hier ein Muster der Spontaneität und Irrationalität, dort ein rationalisierter Modus der Partnerwahl. Hier die sexuelle Anziehung zweier physisch-materieller Körper, dort eine entkörperlichte, textuelle Interaktion. Hier die Interesselosigkeit der romantischen Liebe, dort die Instrumentalisierung romantischer Interaktion. Hier der Geist der Einzigartigkeit und Exklusivität, dort der Geist der Fülle, verbunden mit dem Effizienz- und Optimierungsdenken einer spätkapitalistischen Konsumgesellschaft. So scheint vieles für die apokalyptische Vision Hillenkamps (2009) zu sprechen, dass wir Zeugen, Opfer und Täter einer epochalen Veränderung der Liebe sind, dass wir Zeitzeugen des Todes der romantischen Liebe sind, an dessen Stelle eine unendliche Beliebigkeit tritt. Komplementiert wird die Vision Hillenkamps durch die klugen, kulturkritischen Studien von Byung-Chul Han (2013). Er sieht die Krise der Liebe vor allem bedingt durch eine Erosion des anderen in der Positivitätsgesellschaft. Und in der Tat wird in der Positivitätsgesellschaft, auch in den Partnerbörsen, ausschließlich nach positiver Übereinstimmung gesucht. Der ideale andere ist in der Ideologie

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des Netzes ein Klon des eigenen Selbst. Dies ist aus der Sicht Hans anti-erotisch. Er schreibt: »Der Eros gilt dem Anderen im empathischen Sinne, der sich ins Regime des Ich nicht einholen lässt« (S. 5). Und noch dramatischer: »In der Hölle des Gleichen, der die heutige Gesellschaft immer mehr ähnelt, gibt es daher keine erotische Erfahrung, diese setzt die Asymmetrie und Exteriorität des Anderen voraus« (S. 6). Zum Ende der Liebe kommt jetzt auch noch das Ende des Eros hinzu.

Warum die Liebe doch überleben kann Freilich passen die Ergebnisse empirischer Untersuchungen über die im Netz gestifteten Beziehungen überhaupt nicht in dieses, von der Kulturkritik gezeichnete Bild. In der Süddeutschen Zeitung vom 06. 04. 2013 berichtet Christian Weber auf der Wissenschaftsseite über psychologische Untersuchungen der Partnersuche im Internet (S. 16). Entgegen dem auch von mir gehegten Verdacht, dass das Internet nur serielle Monogamie beschleunige und die Liebe beschädige, fand ein Forscherteam um den Psychologen John Carcioppo in einer groß angelegten Studie heraus, dass die im Internet gestifteten Beziehungen in der Regel offenbar ganz gut funktionieren. Die Untersuchung stützt sich auf eine repräsentative Befragung von 19.131 Männern und Frauen in den USA. In ihr wird zum einen bestätigt, dass sich tatsächlich wohl gut ein Drittel der amerikanischen Eheleute im Netz kennengelernt hatten. Weiterhin, dass nur 6 % dieser Ehen im Untersuchungszeitraum von 2005 bis 2012 aufgelöst wurden, im Vergleich zu 7,6 % der Offline-Ehen. Schließlich ist auch die Zufriedenheit der Internetpaare höher als die der Offlinepaare. Diese erreichten im Durchschnitt 5,64 Punkte auf der von 1 (»extrem unglücklich«) bis 7 (»perfekt«) reichenden Skala des so genannten Couples-Satisfaction-Index (CSI). Paare, die sich in der realen Welt kennengelernt hatten, kamen nur auf 5,48 Punkte. Diese Unterschiede sind zwar nur klein, widersprechen aber klar der Befürchtung, wonach online angebahnte Beziehungen prinzipiell oberflächlicher und weniger erfüllend seien. Wie lassen sich diese Ergebnisse erklären? Könnte es also sein, dass die postmodernen Menschen besser sind als ihr Ruf, demzufolge sie

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konsumsüchtig, bindungsunfähig, oberflächlich, nihilistisch und sonst noch was sind; dass viele die Möglichkeiten des Netzes mit seinen zahllosen Spiegel- und Echoräumen nutzen zu einer Form der Darstellung, die, wie Martin Altmeyer 2013 in seinem Aufsatz »Die exzentrische Psyche« meint, keineswegs autistischer Natur sei, »sondern den Wunsch nach Kontakt und Rückmeldung erkennbar in sich trägt«? (S. 5). Bei aller Ambivalenz diene die Interaktionsbühne Internet aber weder dem Ersatz von realen Beziehungen noch der psychosexuellen Abwehr oder Flucht aus der Wirklichkeit, sondern eher der kreativen Aneignung, Intensivierung und Ergänzung von sozialen Beziehungen, einschließlich einer Relativierung des Sexuellen. Diese erstaunlichen Fähigkeiten der postmodernen Menschen im Umgang mit dem Netz wären, folgen wir Altmeyer, Ausdruck eines Wandels des sozialen Charakters, den Altmeyer programmatisch verkündet. Die zeitgenössische Psyche habe sich auf den Weg gemacht, den mentalen Innenraum zu verlassen und buchstäblich aus sich herauszugehen. Einen frühen Protagonisten dieser Exzentrik sieht Altmeyer in Heinrich von Kleist, in seinem eigenen Leben wie in seinen Figuren, die von einem verzweifelten Bedürfnis nach sozialem Echo, nach Aufmerksamkeit und nach Anerkennung getrieben seien, ihr Innerstes nach außen zu wenden. Altmeyer schreibt: »Diese psychische Exzentrik scheint mir den Kern eines Persönlichkeitstyps zu bilden, den Kleist, seiner Zeit weit voraus, schon im frühen 19. Jahrhundert verkörpert und der an der Schwelle zum 21. Jahrhundert den Durchbruch zum modernen Sozialcharakter geschafft hat. Die Psyche beginnt exzentrisch zu werden. Im Zuge einer Mentalisierung neigt das zeitgenössische Selbst dazu, sich der ganzen Welt zu zeigen, um wahrgenommen zu werden, Beachtung zu finden und Resonanz zu erhalten« (S. 3). In den liberalisierten, normativ pluralisierten, sexuell freizügigen Gegenwartsgesellschaften hätte somit anscheinend das Leiden daran, wie sich das verunsicherte Selbst mit sich und seiner sozialen Umwelt arrangiert hat, jenes Leiden ersetzt, mit dem Freud noch befasst gewesen war, dem Leiden an restriktiven Verboten. Identität wäre demgemäß das Hauptproblem unserer Zeit mit den zeittypischen Fragen des postmodernen Menschen an sich und sein Umfeld wie: Wer bin ich eigentlich? Wer will ich sein? Wie sehen mich die anderen? Und wie möchte ich gesehen werden?

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»Dass Facebook, Twitter, Youtube oder andere soziale Netzwerke so attraktiv bleiben, könnte daran liegen, dass solche Medien an einer entwicklungsgeschichtlich frühen Erfahrung andocken, die bereits das elementare Verhältnis des Säuglings zu seiner Umwelt prägt, an einer sozialen Resonanzerfahrung, deren überlebenswichtige resonanzstiftende Funktion die empirische Säuglingsforschung eindrücklich nachgewiesen hat: von seinen Bezugspersonen gesehen, beachtet und anerkannt zu werden« (Altmeyer, 2013, S. 20 f.). Der von mir konstruierte Gegensatz zwischen dem von einer idealistischen, romantischen Reinheit geprägten »Coup de Foudre« einerseits und einer von spätkapitalistischen, konsumistischen Interessen kontaminierten Liebessuche im Netz lässt sich so anscheinend nicht aufrechterhalten, weil einerseits die Idealisierung des »Coup de Foudre« fragwürdig erscheint – wird doch aus dem »Coup de Foudre« nicht selten eine »Amour Fou« mit fatalen seelischen und existenziellen Folgen, die nicht selten zu Auto- oder Fremdaggression führen. Anderseits aber schaffen es anscheinend nicht wenige auch aufgrund des von Altmeyer (2013) beschriebenen Wandels im Sozialcharakter, Ratio und Romantik zu verbinden, eine Balance zu finden, zwischen den entgegengesetzten Polen zu spielen im Sinne Friedrich Schillers, der in »Über die ästhetische Erziehung des Menschen« (1793/2000) eine faszinierende Theorie des Spiels entwirft. Schiller unterscheidet zwischen den sinnlichen Trieben einerseits, die alles materielle Sein und alle unmittelbare Gegenwart in den Sinnen umfassen, unserer sinnlichen, verkörperlichten Emotionalität, und dem Formtrieb andererseits. Schiller schreibt in Bezug auf den Formtrieb: »Der Gegenstand des Formtriebes in einem allgemeinen Begriff ausgedrückt, heißt Gestalt, sowohl in uneigentlicher als auch eigentlicher Bedeutung; ein Begriff, der alle formalen Beschaffenheiten der Dinge und alle Beziehungen derselben auf die Denkkräfte unter sich fasst« (S. 58). Der Spieltrieb verbinde, so Schiller, die sinnlichen Triebe mit dem Formtrieb zur lebenden Gestalt. Zum wahren Menschsein gehört nach Schiller, dass seine »Gestalt Leben und sein Leben Gestalt sey« (S. 59). Mit anderen Worten: Bleiben wir in der Ratio befangen, sind wir leblos, bloße Abstraktion, und andererseits sind wir in Gefahr, »gestaltlose, bloße Impression zu bleiben, wenn wir nur unseren Emotionen folgen« (S. 59). Das Spiel, der Spieltrieb kann eine Integration ermöglichen. Er ist, so Schiller, »derjenige

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Trieb also, in welchem beyde [der sinnliche Trieb und der Formtrieb, M. G.] verbunden wirken (es sey mir einstweilen vergönnt, ihn Spieltrieb zu nennen), der Spieltrieb also würde dahin gerichtet seyn, die Zeit in der Zeit aufzuheben, Werden mit absolutem Seyn, Veränderung mit Identität zu vereinbaren« (S. 56 f.). Schiller geht so weit, die Fähigkeit zum Spiel als Grundlage des Menschseins anzusehen. »Denn, um es endlich auf einmal herauszusagen, der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt« (S. 62 f.). Im Anschluss an Schiller meine ich, dass Liebe nur dann gedeihen kann, wenn Spiel im Spiel ist, das, so möchte ich hinzufügen, von Humor getragen ist. Was aber ist Humor, was gehört zum Humor? Zum Humor gehöre, so Odo Marquard (2013), dass man sich auf das Wirkliche in seiner Konkretheit, Besonderheit, Tatsächlichkeit, seiner Alltäglichkeit einlasse und sich der Buntheit des Endlichen aussetze. Zum Humor gehöre die Distanz, einschließlich der Wirklichkeit, die man selber sei. Das Wirkliche, dem man sich aussetze, werde zugleich das Wirkliche, zu dem man Abstand halte. Zum Humor gehöre schließlich, dass seine Distanz nicht durch Auflösung ins Höhere, durch Auflösung ins Absolute entstehe, »sondern indem bekräftigt wird, dass es ist, was es ist: nämlich das Nichtabsolute, das Nichthöhere, das Endliche inmitten von Endlichem« (S. 65). Die wunderbare Komödie »Der letzte schöne Herbsttag« von Ralf Westhoff aus dem Jahr 2010 ist ein Musterbeispiel dafür, wie eine eigentlich wunderschöne Beziehung durch Ansprüche und Erwartungen fast in den Abgrund getrieben wird, aber dann doch durch eine humorvoll spielerische Haltung beider Protagonisten zu neuem Leben erwacht.

Der Film »Der letzte schöne Herbsttag« Der in der Ökobranche tätige Leo und die Studentin Claire begegnen sich zufällig vor einem Fahrradladen. Er hat einen platten Reifen, sie bietet ihm an, den Reifen zu flicken. Es ist der »Coup de Foudre«, es funkt, obwohl sie findet, dass bei ihm physisch nichts zusammenpasst, und er sie eigentlich gar nicht nett findet. Unterschiedlicher könn-

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ten zwei Menschen auch kaum sein. Auf der einen Seite erleben wir Claire als schick, extravertiert, hypochondrisch, quirlig, quicklebendig, vor Temperament sprühend, ein Höchstmaß an Resonanz und Nähe suchend und einfordernd. Auf der anderen Seite steht Leo, der ÖkoFreak: introvertiert, ruhig, humorvoll, ein bisschen schizoid. Scheinbar kann ihn nichts aus der Fassung bringen. Zunächst scheinen sich die beiden Ungleichen, die sich wohl nie über ein Datingportal im Internet hätten treffen können, weil sie keine Matchingpoints gehabt hätten, auch wunderbar zu ergänzen. Claire kann Leo durch ihre temperamentvolle Lebensfreude beleben, Leo kann Claire beruhigen und aufmuntern, wenn sie, was nicht selten ist, unter hypochondrischen Ängsten leidet. Dennoch geraten sie bald in einen Teufelskreis. Der Mangel an gefühlter Resonanz und Nähe, zumindest gemessen an Claires Ideal und Anspruch, den diese bei Leo beklagt, treibt Claire dazu, immer noch fordernder zu sein und führt fast zwangsläufig dazu, dass Leo sich noch mehr zurückzieht, was wiederum nach sich zieht, dass sie ihren Druck erhöht. Nicht einmal brachiale Maßnahmen ihrerseits helfen, um Leo aus der Fassung zu bringen. Auch als sie ihm ein Glas Rotwein über den Laptop schüttet, bleibt Leo ruhig. Beide verzweifeln zunehmend aneinander, sie an dem »emotionalen Eisklumpen Leo«, er an ihrem komplizierten Wesen, für das er gerne eine »Claire-Gebrauchsanweisung« hätte. Als sie sich von ihm trennt, wird aus dem verschlafen und lethargisch wirkenden Leo ein kämpfender Löwe, der mit aller Kraft versucht, Claire zurückzugewinnen. Schließlich finden sie wieder zusammen, indem sie sich auf das Gemeinsame besinnen, auf das Schöne, dass sie zusammen erlebt und geteilt haben. In der Schlussszene wird deutlich, dass die Beziehung von Claire und Leo eine Zukunft hat, weil beide gelernt haben, spielerisch humorvoll mit dem umzugehen, was sie trennt und unterscheidet. Spielerischer Humor und humorvolles Spiel schlagen eine Brücke, die sie verbindet.

Literatur Altmeyer, M. (2013). Die exzentrische Psyche. Zur zeitgenössischen Neigung des Seelenlebens, aus sich herauszugehen und zu zeigen, was in ihm steckt. Forum der Psychoanalyse, 29, 1–26. Han, B.-C. (2010). Müdigkeitsgesellschaft. Berlin: Matthes & Seitz.

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Liebe in den Zeiten der unendlichen Freiheit195 Han, B.-C. (2011). Topologie der Gewalt. Berlin: Matthes & Seitz. Han, B.-C. (2013). Agonie des Eros. Berlin: Matthes & Seitz. Hillenkamp, S. (2009). Das Ende der Liebe. Gefühle im Zeitalter der unendlichen Freiheit. Stuttgart: Klett-Cotta. Illouz, E. (2007). Gefühle in Zeiten des Kapitalismus. Adorno-Vorlesungen 2004. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Maio, G. (Hrsg.) (2011). Abschaffung des Schicksals? Freiburg: Herder. Marquard, O. (2013). Endlichkeitsphilosophie. Über das Altern. Ditzingen: Reclam. Schiller, F. (1793/2000). Über die ästhetische Erziehung des Menschen. Stuttgart: Reclam. Villacèque, A. (Regie) (2011/2012). E-Love. Schneller als im wahren Leben. Mit Anne Consigny und Antoine Chappey. Paris: PolyBand. Weber, C. (2013). Der Klick zum Glück. Süddeutsche Zeitung vom 04. 06. 2013, S. 16. Westhoff, R. (Regie u. Drehbuch) (2010). Der letzte schöne Herbsttag. Berlin: X Verleih-AG.

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Können wir nah und entfernt zugleich sein? Erfahrungen mit einem litauisch-deutschen Skype-Supervisionsprojekt

Zusammenfassung In den folgenden drei Beiträgen von Anna Peter, Rasa Bieliauskaite und Petra Neu wird ein litauisch-deutsches Supervisionsprojekt vorgestellt, das mit Hilfe von Skype durchgeführt wurde. Nach einer allgemeinen Einführung, die die Entstehungsgeschichte des Projektes skizziert, erörtern die beiden an der Supervision aktiv beteiligten Personen einige grundlegende Gedanken zum Umgang mit dieser Methode und beschreiben die gesammelten Erfahrungen aus ihrer jeweiligen Perspektive.

Herausforderung und Chance: Skype-Supervision (Anna Peter)

Einführung Die zwei folgenden Beiträge von Rasa Bieliauskaite und Petra Neu zur Supervisionsarbeit via Skype untersuchen sowohl die Chancen als auch die Grenzen, die durch diese Form der medialen Zusammenarbeit entstehen. Der erste Beitrag wird dies aus der Sicht der litauischen Supervisandin, Rasa Bieliauskaite, der zweite aus dem Blickwinkel der Supervisorin, Petra Neu, diskutieren.

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Die Schriftfassung dieses Beitrags, der auf der Tagung in englischer Sprache vorgetragen wurde, wird hier zunächst in der deutschen und dann in der englischen Fassung abgedruckt. Die Literaturangaben finden sich am Ende des englischen Textes.

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Ein Stück Geschichte der europäischen Individualpsychologie Zu Beginn möchte ich auf die Entstehungsgeschichte dieser Zusammenarbeit zwischen dem Münchener Alfred-Adler-Institut und dem Institute of Individual Psychology Vilnius eingehen. Die Entwicklung der Individualpsychologie Litauens ist eng mit der politischen Entstehung der jungen baltischen Republik verknüpft, so dass ich hier die wichtigsten Ereignisse und Zusammenhänge dieser Geschichte kurz darstellen möchte. Litauen liegt nicht so weit im Osten, wie vor allem diejenigen von uns, die in der Bundesrepublik Deutschland aufwuchsen, vielleicht fühlen mögen. Es wurde berechnet, dass der geografische Mittelpunkt Europas etwas nördlich der Hauptstadt Vilnius liegt (siehe Abbildung 1) – Litauen könnte also durchaus auch »das Herz Europas« genannt werden.

Abbildung 1: Landkarte der baltischen Staaten

Die Individualpsychologie war in Litauen, wie alle psychoanalytischen Schulen, sowohl in den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg als auch in

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den Jahren danach, während der sowjetischen Besatzung, obwohl von der Besatzungsmacht kaum geduldet, nie ganz vergessen worden. In den 1980er Jahren, also noch während der Sowjetzeit, konnte zumindest in Seminaren den Studierenden an der altehrwürdigen, im Barock errichteten Universität in Vilnius das Gedankengut der Individualpsychologie nähergebracht und damit lebendig gehalten werden. Jedem Reisenden, der die Hauptstadt Vilnius besucht, sei dringend empfohlen, auch das Innere dieser Universität zu besichtigen, deren Räume die vielen Jahrhunderte des gemeinsamen wissenschaftlichen Arbeitens fühlbar ausstrahlen. In den 1980er Jahren des 20. Jahrhunderts wuchs im Zuge von Glasnost und Perestroika der politische Widerstand der Bevölkerung gegen die Machthaber, der die so genannte »singende Revolution« auslöste. Er gipfelte am 28. August 1989 in einem bewegenden symbolischen Akt, dem so genannten »Baltischen Weg«. Circa zwei Millionen Menschen schlossen sich zu einer Kette zusammen, die über 600 Kilometer reichte: von Litauen über Lettland bis nach Estland – die längste Menschenkette der Geschichte, wie die Balten stolz berichten. Bei Youtube ist unter dem Titel »Baltische Ketting« 2010 ein Video eingestellt worden, das einen Eindruck von diesem symbolischen und bewegenden Akt der Gemeinschaft widerspiegelt. Im Jahr darauf, 1990, erklärte sich Litauen als erste ehemalige Sowjetrepublik zum souveränen Staat und strebte fortan intensiv die Anbindung an den Westen an. Bereits 1991 nahm eine an der Individualpsychologie interessierte litauische Gruppe Kontakt zum Internationalen Komitee der Adlerianischen Summer Schools, der ICASSI (International Committee of Adlarian Summer Schools and Institutes), auf. Spontan wurde diese Gruppe von zahlreichen amerikanischen und europäischen, hier vor allem deutschen Kollegen, unterstützt. Während der 1990er Jahre wuchs die mittlerweile gegründete Lithuanian Individual Psychology Society auf 150 Mitglieder. Sie veranstaltete Workshops und Seminare, um die individualpsychologischen Methoden für Therapie und Beratung zu vermitteln. Zur Jahrtausendwende fand sich eine kleine Gruppe zusammen und gründete das Institute for Individual Psychology in Vilnius. Dieses Institut widmet sich seither der Ausbildung künftiger Psychoanalytiker nach europäischem Standard. Es fand in einer klei-

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nen Wohnung in der Altstadt von Vilnius seinen Platz, einer räumlich begrenzten, aber umso mehr Zentrum gebenden beruflichen Heimat.

Abbildung 2: Mitglieder des Institute for Individual Psychology in Vilnius

2002 reiste ein Teil der Mitglieder des Instituts (siehe Abbildung 2) zum Internationalen Kongress für Individualpsychologie nach München. Damals bedeutete diese Reise noch eine erschöpfende 24-stündige Busfahrt über löcherige Straßen und gerade erst entstehende Autobahnen. Durch die persönlichen Begegnungen auf dem Kongress begann nun die enge, für beide Seiten bereichernde Zusammenarbeit zwischen den litauischen Kollegen und den vor allem dem Münchener AlfredAdler-Institut zugehörigen Supervisoren und Lehranalytikern. Da die geografische Distanz nicht zu oft mit einer aufwändigen Reise überwunden werden konnte, entwickelte die litauische Gruppe bald die Idee, in den Zeiten zwischen den persönlichen Treffen via Skype zu kommunizieren. Skype, seit 2003 eine neue kostenlose Möglichkeit der Kommunikation über das Internet, durch welche man sich nicht nur sprechen, sondern auch sehen kann, bot der baltischen Bevölkerung nach langer Zeit der zensierten Kommunikation eine willkommene neue mediale Verständigungsmöglichkeit. Endlich konnte man mit all den Verwandten und Freunden, die durch die Emigration über den ganzen Globus verteilt waren, sprechen und sie zumindest virtuell wieder sehen. Die Bedeutung dieser Kommunikationsform spiegelt

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sich in der Tatsache, dass Litauen inzwischen das am besten ausgebaute Glasfasernetz in Europa hat. Für die litauischen Kollegen schon bald eine Selbstverständlichkeit, rief die Idee der Internetkommunikation bei einigen der deutschen Kollegen zunächst große Skepsis hervor. Im Mittelpunkt der Bedenken stand die Frage, ob die Szene zwischen dem Therapeuten und dem Patienten, aber auch zwischen dem Therapeuten und seinem Supervisor ohne den persönlichen Kontakt verstehbar sei. Trotz dieser Skepsis wurde die Skype-Supervision neben der nur in größeren zeitlichen Abständen realisierbaren Face-to-Face-Supervision schon bald zum festen Bestandteil litauisch-deutscher Zusammenarbeit.

Möglichkeiten und Schwierigkeiten der Supervision über Skype (Rasa Bieliauskaite)

Die Supervision aus der Sicht der Supervisandin Es wäre falsch, wenn ich sagen würde, wir hätten uns ganz rational dazu entschlossen, Supervision über Skype in unsere Ausbildung einzubauen. Seinerzeit stand uns weder informierende Literatur zur Verfügung, noch konnten wir nach Forschungsergebnissen suchen. Die Technik des Skypens entwickelte sich rasch und alle möglichen neuen Anwendungen schossen aus dem Boden. Wir hatten ein bestimmtes Anliegen, und Skypen bot die Möglichkeit, es zu befriedigen. Ich muss allerdings einräumen, dass wir nicht die Ersten waren, die Supervision über Skype in der Ausbildung einsetzten, denn die litauischen Kollegen einer Jungianischen Gruppe hatten bereits vor uns damit angefangen. Jetzt aber gab mir die Herausforderung, diesen Beitrag für die Jahrestagung 2013 der DGIP zu verfassen und dort vorzutragen, Anlass, einen Blick auf die vorliegenden Erfahrungen mit Skype zu werfen und zu schauen, was die akademische Welt über diese schreibt und was die praktisch tätigen Kollegen im Hinblick auf diese sagen. Das dabei Gefundene möchte ich Ihnen im Folgenden kurz mitteilen und danach zusammenfassend darstellen, wie die Kollegen in Litauen und in Deutschland die Anwendung dieser Methode beurteilt haben, und

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zwar Supervisoren ebenso wie Supervisanden. Zum Schluss will ich etwas über meine eigenen Erfahrungen als Supervisandin berichten. Überrascht hat mich, in wie vielen Feldern Skype inzwischen verwendet wird: bei Dienstleistungen ebenso wie in der Palliativmedizin und Gerontologie und sogar für die postoperative Nachsorge bei kleineren Eingriffen (McMullen, 2012). Im psychologischen und psychotherapeutischen Feld wird Skype für fachspezifische Dienste eingesetzt und auch in der Weiterbildung (Armfield, Gray u. Smith, 2012; Wright u. Griffiths, 2010). Besonders entwickelt und besonders bedeutsam sind psychotherapeutische Einsätze per Skype in Ländern wie Australien, Neuseeland und im Norden Kanadas (Shandley et al., 2011; Dyck u. Hardy, 2013). Im Internet findet man verstärkt Geschäftsanzeigen, die für Psychotherapie und Psychoanalyse mittels Skype werben. Einige amerikanische und britische Universitäten beziehen E-Supervision in die Curricula postgradualer Studiengänge oder bei Promotionen ein, und daher existiert an diesen Universitäten auch der erste Leitfaden für E-Supervision (Reese et al., 2009; Shandley et al., 2011). Oft ist der Einsatz von Skype-Supervision in der Weiterbildung verknüpft mit internationalen Studiengängen, besonders, wenn Praktiker aus den Ländern mit stärker entwickeltem Psychotherapiewissen bei der Weiterbildung in diesbezüglich weniger entwickelten Ländern helfen. Natürlich ist auch unser Programm ein Beispiel hierfür. Ausgebildete wie Ausbilder sind leider oft nicht sehr motiviert, über ihre Erfahrungen (mit Skype) zu schreiben, weil ihr Augenmerk mehr den Anforderungen der praktischen Anwendung gilt. Eine erfreuliche Ausnahme bildet hier das Trainingsprogramm EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing, auf Deutsch etwa: Augenbewegungs-Desensibilisierung und Wiederaufarbeitung), das nach dem Krieg in Bosnien-Herzegowina gestartet wurde (Hasanovic, Pajevic, Morgan u. Kravic, 2011). Es sollte Psychotherapeuten darauf vorbereiten, zahlreiche Personen zu behandeln, die schwere Kriegstraumen erlitten hatten. Supervision über Skype war dazu ein hilfreiches Werkzeug. Erwähnenswert ist auch ein Projekt der American Psychoanalytic Association in China. Es wird unter Psychoanalytikern zwar nicht einheitlich bewertet, regte aber doch zu wichtigen Erörterungen über Analysen und Supervisionen unter Einsatz von Skype an (Osnos, 2011).

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In der psychoanalytischen Literatur wird gewöhnlich der Ausdruck Telekommunikation verwendet. Die erste Veröffentlichung über Teleanalyse als Möglichkeit stammt aus dem Jahr 1951. Es handelt sich um einen Artikel von Saul über Telefonanalyse. In den nächsten Jahrzehnten folgten weitere Veröffentlichungen. Sie kreisten vornehmlich um die Frage, inwieweit die Patienten einwilligen würden in eine Beziehung außerhalb des üblichen Settings. Hauptsächlich wurde erörtert, ob nicht beiderseits eine Form von Abwehr darin zu sehen sei: dass nämlich Analysand wie Analytiker durch die Änderung des Settings zentralen Fragen ausweichen könnten (Bayles, 2012). Doch Leben bedeutet Wandel. Einige wichtige Veränderungen verlangten eine neue Beurteilung der Telekommunikation oder, wie Analytiker es nennen, der Fern- oder Teleanalyse: –– Die Welt wurde kleiner: Aus verschiedenen Gründen wuchs die Migration in alle Richtungen und in allen Ländern an. –– Neue Technologien entwickelten sich rasant. Sogar, wenn ich unsere heutige Nutzung von Skype für die Supervision mit der von vor ein paar Jahren vergleiche, haben unsere neuen Computer die Qualität des Austauschs rapide angehoben. Das Bild begleitet den Ton ohne Verzögerung, es friert weniger oft ein, der Austausch hat sich insgesamt verbessert. Heute lautet in den Texten über Telekommunikation die hauptsächliche Frage: Was ist Analyse und was nicht? Die Autoren suchen nach dem, was den Wert der Psychoanalyse im Wesentlichen ausmacht. In der Tradition Freuds wird er hauptsächlich definiert durch Abstinenz, Frequenz und Couch (Steinberg, 2011). Doch hat die Theorie der Psychoanalyse sich unterdessen erheblich entwickelt und das Verständnis des Prozesses sich gewandelt. Einflüsse der Mutter-Kind-Forschung, Theorien der Intersubjektivität, Bindungstheorien und solche über Selbstregulation führten zusammen mit Theorien darüber, wie Information verarbeitet wird, zu neuen Auffassungen über die entscheidenden impliziten/ expliziten Grundvorgänge in Analyse oder Therapie (Bayles, 2012). Im Zusammenhang mit Teleanalyse oder Telesupervision nimmt die Frage eine neue Form an: Ist es möglich, ohne körperliche Anwesenheit eine analytische (therapeutische) Beziehung zu erzeugen? Mit anderen Worten: Kann unser Unbewusstes kommunizieren, wenn wir Hunderte oder

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Tausende von Kilometern voneinander getrennt sind (oder uns auch nur in einem anderen Teil derselben Stadt befinden)? In dieser Hinsicht ist ein Artikel von Nancy Chodorow aufschlussreich: »Das analytische Zuhören und die fünf Sinne« (2012). Die Autorin selbst fühlt sich bei Telekommunikation nicht wohl. Sie hält sinnliche Wahrnehmung und körperliche Nähe für wichtig, schließt aber andere Wege unbewussten Verbundenseins nicht aus (nonverbale Anhaltspunkte im Gesprochenen, innere Leerstellen). Sie weist darauf hin, dass mancher Analytiker oder manche Supervisorin besondere sensorische Erfahrungen haben und auch besondere Fertigkeiten in Feldern wie Musik, Literatur oder Ähnlichem und dass sie deshalb sensorisch mehr als andere Menschen über unbewusste Erfahrungen verfügen und einige Sinne bei ihnen intensiver zum Einsatz kommen. Auch Jill S. Scharff behauptet, dass unbewusste Kommunikation bei Teleanalyse ohne oder mit nur wenig verbalen Wahrnehmungselementen stattfinden kann (2013, S. 495). Sie bringt das Beispiel eines Klienten mit Kindheitstrauma. Der Klient erinnerte sich an die traumatische Erfahrung und an die anschließenden Blessuren an seinem Körper; er hatte ein inneres Bild vom Muster dieser Verletzungen vor Augen, die nicht vom Hinfallen stammen konnten; der Analysand konnte dieses innere Bild vermitteln und auch seine Neugier, wie das sein konnte. Der Klient erinnerte auch, wie er angebunden wurde, um nicht fortzulaufen. Verschiedene Autoren benennen Probleme der Kommunikation über Skype. Mary Bayles (2012) erörtert ihre eigenen Erfahrungen als Analysandin über Skype und stellt fest, dass der gegenseitige Anblick auf dem Bildschirm eingeschränkt ist im Vergleich mit der Begegnung im Raum. Zum Beispiel wendet ein Kleinkind, wenn es beim Austausch mit der Mutter ermüdet, seinen Kopf von der Mutter in der Weise weg, dass die Mutter am Rande seines Blickfeldes bleibt; während des Face-toFace-Kontakts beim Skype-Gespräch ist das nicht möglich oder jedenfalls schwieriger. Wichtig ist auch, sich klarzumachen, dass wir beim Skype-Gespräch hauptsächlich das Gesicht und den Oberkörper sehen und dass beide größer erscheinen als bei einer leibhaften Begegnung – bedrohlicher oder eindrücklicher, oder es kann schwieriger sein, einen sicheren Abstand zu finden. Und besonders wichtig kann das in Situationen sein, in denen der Patient zu kleinen Abwesenheiten neigt oder negative Emotionen verspürt, wie zum Beispiel Scham (Bayles, 2012).

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Gefallen hat mir auch ein Gedanke bei Scharff (2013), der nämlich bemerkte, dass diejenigen Leute, die am meisten Einwände gegen das Benutzen von Skype vorbringen, zumeist diejenigen sind, die es nie ausprobiert haben. Im Anschluss an diesen kurzen Bericht nun zur Zusammenarbeit zwischen litauischen und deutschen Kollegen: Petra Neu und ich haben mittels eines kleinen Fragebogens den Supervisoren und Supervisanden einige Fragen zu ihren individuellen Erfahrungen mit Skype-Supervision gestellt. Auf das Ergebnis möchte ich im Folgenden kurz eingehen. Hauptsächlich kam bei der Umfrage heraus, dass beide Gruppen es an Eifer vermissen ließen zu antworten, und die Rate der Antworten somit ziemlich niedrig war. Davon abgesehen, sind wir jedem dankbar, der sich beteiligte. Es war klar, dass das größte Problem, das in den Antworten beider Gruppen angesprochen wurde, technische Fragen betraf: die Qualität der Übertragung, Ängstlichkeit beim Regeln von Ton oder Bild, Anstrengung und Unsicherheit beim Austausch in einer Fremdsprache. Einige Kollegen berichteten, dass diese Umstände besonders in den Anfängen auftraten und sich später beträchtlich verminderten. Ich selbst meine, dass das Können mit jedem Tag zunimmt und die Möglichkeiten sich ausweiten. Andere Fragen von uns betrafen die Möglichkeit der Kommunikation auf unbewusster Ebene: Wir fragten nach den Erfahrungen mit Übertragung und Gegenübertragung. Mehrere der Supervisanden erwähnten und beschrieben Erfahrungen von Übertragung. Eine der Antworten möchte ich zitieren: »Es handelt sich um die Supervision einer Klientin von mir, die Sitzungen zu versäumen pflegte. Manchmal hatte ich das Gefühl, dass sie sich über mich lustig machte. Während der Supervision weinte ich vor Hilflosigkeit und Demütigung. Ich begriff, dass es sich um Gegenübertragung handelte. Nach der Supervision fühlte ich große Erleichterung. Denn im Gespräch mit meinem Supervisor fand ich zu meiner Klientin eine andere Einstellung, verstand, was in der Therapie vor sich ging und konnte weitermachen. Ohne Supervision hätte ich die Klientin nicht aushalten können.« In den Antworten unserer deutschen Kollegen tauchte häufig die Meinung auf, dass Supervisionen über Skype ermüdender und anstrengender seien als direkte – wohingegen die litauischen Kollegen in jeder ihrer Antworten ihre Dankbarkeit ausdrückten und das Gefühl, von den Super-

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visoren bedeutsame Hilfe zu erfahren. Als ich Petra Neus Beitrag las, fand ich dort eine mögliche Erklärung für jene Ermüdung: Wenn die Erkenntnisquellen geringer sind (mangels persönlicher Gegenwart), dann ist es in der Tat anstrengender, zu verstehen und eine Beziehung aufzubauen, oder genauer formuliert: eine Beziehung aufzubauen und dann zu verstehen. Das lässt mich umso mehr Dankbarkeit empfinden für all den enormen Einsatz, den unsere deutschen Kollegen leisten. Ich selbst als Supervisandin erfuhr häufig auch einen persönlichen und direkten Austausch und dabei auch Übertragung und Gegenübertragung. Wenn ich über den Unterschied nachdenke, so ist Supervision über Skype mit stärkerer Konzentriertheit verbunden. Ich sehe meine Supervisorin – ihren Oberkörper und ein kleines Stück ihres Zimmers. Undeutlich erinnere ich ein etwas geöffnetes Fenster, einfallendes Sonnenlicht, auf der anderen Zimmerseite die Geige eines anderen Supervisors oben auf dem Schrank, Schatten von Blumen an der Wand im Zimmer meiner Therapeutin (meine Supervisionen über Skype wechselten mit direkten Sitzungen ab) – und es mag sein, dass solche seitlichen Anhalte wichtig sind für unsere Orientierung, wenn wir vom direkten Blickkontakt zu einem flüchtigen Blick auf neutrale Gegenstände wechseln. Aber die Aufmerksamkeit ist nach innen gerichtet, und so kann sogar die Suche nach dem richtigen Wort, um ein Gefühl oder eine Erfahrung zu beschreiben, die Wortfelder des Verstehens ausweiten, beim Klienten ebenso wie bei uns selbst. Zum Schluss meines Beitrags möchte ich den Supervisoren danken, die mit uns arbeiteten und arbeiten. Ich halte es für wichtig, direkten Kontakt und Verbindung über Skype miteinander zu kombinieren. Die Welt ändert sich, neue Generationen fühlen sich in der virtuellen Welt wie Fische im Wasser, und sie regen uns dazu an, unserer Arbeit neue Wege zu erschließen. Auf ihnen können wir die Welt umfänglicher erreichen – nicht um sie zu ändern, was manchmal auch sein kann, sondern um von ihr zu wissen.

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Rasa Bieliauskaite, Petra Neu und Anna Peter

Möglichkeiten und Schwierigkeiten der Supervision über Skype (Petra Neu)

Die Supervision aus der Sicht der Supervisorin In meinem Beitrag zum Thema Skype-Supervision möchte ich einen Eindruck von der besonderen Qualität der virtuellen Supervisionsbeziehung vermitteln, die ich mit meinen litauischen Kolleginnen erfahren konnte. Zunächst geht es jeweils darum, Hindernisse zu überwinden: Manchmal ist die Bild- und Tonqualität sehr schlecht und immer wieder ist es eine Herausforderung, die passenden englischen Begrifflichkeiten zu finden, da Englisch nicht unsere Muttersprache ist. In der Skype-Supervision sind wir aufgrund der reduzierten Sinneswahrnehmung noch mehr als in der Live-Supervision gefragt, unsere intuitive Aufmerksamkeit zu erweitern, um die Atmosphäre der geschilderten therapeutischen Szene aufzunehmen. Dazu fällt mir ein Vorschlag von Waltraud Nagell ein, die in ihrem Workshop »Explizites und Implizites in der Supervision« (2011) davon sprach, den abwesenden Patienten zu erträumen. Tatsächlich geschieht während des Nachdenkens über eine therapeutische Szene auch ein gleichzeitiges Beobachten des inneren Prozesses, der sich in einem selbst entfaltet. Es ist ein Zustand des DazwischenSeins oder von »Reverie«, wie es Bion (1992) nennt. Ogden (2004) vergleicht diesen Zustand mit dem Aufwachen aus dem Schlaf. Wenn man weniger auf perfektes verbales Verstehen und visuelles Sehen konzentriert ist, kann man leichter die Atmosphäre sowie die Ideen, die aus dem Unbewussten auftauchen, erfassen. Günter Heisterkamp legt ebenso Wert auf die Bedeutung der Atmosphäre, was ich eindrucksvoll bei meiner Teilnahme an seinen Gruppensupervisionen erfahren konnte. In seinem Artikel »Methodologische Überlegungen zu Stimme und Stimmung« (2010) betont er die holistische Perspektive der Atmosphäre: »Wo befinden sich diese Atmosphären? Sie beziehen sich offenbar auf ein Dazwischen oder auch – wie ich ergänzen möchte – auf ein beide Umformendes und Durchdringendes. ›Sie scheinen gewissermaßen nebelhaft den Raum mit einem Gefühlston zu erfüllen‹ (Böhme, 1995, S. 22) und werden gespürt, indem man von ihnen affiziert wird« (S. 34).

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Während Skype-Supervisanden mit mir gemeinsam versuchen, die Essenz und Bedeutung einer therapeutischen Szene zu erfassen, bemerke ich, dass ich mich für die Atmosphäre öffne, die meinen beseelten Körper durchdringt. Interessanterweise spielt die Tatsache, dass wir unzählige Kilometer weit voneinander entfernt sind und vor einem Computer sitzen, bei unserer geteilten Suche nach Verstehen keine Rolle. Meines Erachtens scheint die Haltung von Offenheit objektive Grenzen zu überwinden. Diana Pflichthofer (2007) schreibt in ihrem Artikel »Sich anstecken lassen – Das Unheimliche der Leibhaftigkeit« über die »leibliche Präsenz [des Analytikers] und ihre Wirkung auf unsere Analysanden« (S. 238): »Die Bedrohung liegt in der Potentialität des realen Leibes. […] Die Analytikerin könnte einfach gehen, sie könnte den Analysanden anbrüllen, schlagen, küssen, streicheln usf. Dass sie es nicht tut, liegt allein in ihrer Verantwortung, auf die sich der Analysand verlassen muss; er hat gar keine andere Wahl«. Eine virtuelle Therapie ist für Diana Pflichthofer ausgeschlossen, denn es fehle die »Dimension des ›Sich-Aussetzens, die für Beziehungen überhaupt konstitutiv ist‹ (Mersch, 2002, S. 104)« (S. 246). Meines Erachtens gibt es in diesem Kontext einen Unterschied zwischen einer virtuellen Therapie und einer virtuellen Supervision. Bei der virtuellen Supervision tauschen sich eine Psychoanalytikerin und eine angehende Psychoanalytikerin über eine dritte Person, den Patienten aus, um ein tieferes Verständnis seiner seelischen Vorgänge zu erlangen. Obwohl auch das Übertragungs-/Gegenübertragungsgeschehen sowohl zwischen Therapeut und Klient als auch zwischen Supervisor und Supervisand eine Rolle spielt und thematisiert wird, liegt in einer Supervisionsbeziehung nicht diese brisante Bedrohung, von der Diana Pflichthofer spricht. Dennoch wäre es unweigerlich eine seltsame Situation, wenn einer von beiden unerwartet per Mausklick die Sitzung beenden würde. Achtsamkeit in der Psychotherapie ist ein Thema, mit dem sich auch Martin Kalff intensiv beschäftigt. Er ist praktizierender Buddhist und Sohn der Begründerin der Sandspiel-Therapie, Dora Kalff. Bei seinem Vortrag im Rahmen der 2. Sommerakademie der Deutschen und Schweizerischen Gesellschaft für Sandspieltherapie (2012) sprach er über die verschiedenen Persönlichkeiten der Psychotherapeuten: Was

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allen gemeinsam sein sollte, so Kalff, sei eine Haltung des Ruhigdie-Dinge-auf-sich-wirken-Lassens. Kalff sprach weiter von einer so genannten COAL-Haltung, das bedeutet: C für »curiosity« (Neugier), O für »openness« (Offenheit), A für »acceptance« (Akzeptanz) und L für »loving kindness« (Wertschätzung). Eine solche achtsame Haltung befähige uns dazu, »alle Dimensionen wahrzunehmen«. Wir sollten uns beim Betrachten eines Sandbildes eines Analysanden sowie beim Hören einer therapeutischen Szene Fragen stellen wie: »Was berührt mich?«, »Wie reagiert mein Körper?«, »Was fühle ich?« Dies erlaube uns »Neues, nie Erlebtes wahrzunehmen«. Mit dem Ausatmen könnten wir entspannen, um mit dem Einatmen Neues zuzulassen. Mit technischen Geräten wie einem Computer setze ich mich normalerweise äußerst ungern auseinander. Doch ich kann behaupten, dass meine Neugier und Offenheit für das Projekt Skype-Supervision dazu beigetragen hat, meine eigene therapeutische Haltung zu verfeinern und dass ich davon auch in Live-Supervisionen profitiere. Nicht zuletzt ermutigen mich die Akzeptanz meiner Lücken hinsichtlich der englischen Sprache und die Wertschätzung, die mir von meinen litauischen Kolleginnen entgegengebracht wird, dieses interessante Projekt weiterzuführen. Es ist auch nicht ausschlaggebend, immer die vermutlich richtigen Worte in Englisch zu wissen, um eine therapeutische Szene zu verstehen. Manchmal sprechen zwei Menschen dasselbe Wort aus, haben jedoch ganz unterschiedliche innere Vorstellungen davon. Man kann zum Beispiel nicht davon ausgehen, dass jeder das gleiche innere Bild von dem Begriff Mutter hat. Vielmehr geht es darum, sich darüber zu verständigen, was die individuelle Bedeutung für diese besondere Person in diesem speziellen Moment ist. Daher eröffnet das Nichtwissen bestimmter Worte sogar die Möglichkeit für ein differenzierteres Verstehen des Patienten und der therapeutischen Situation. In diesem Zusammenhang erinnere ich mich an meine Teilnahme an einer deutschen Babybeobachtungsgruppe unter der Leitung von Ross A. Lazar: Es wurde intensiv um die bestmögliche Beschreibung eines Phänomens gerungen, wenn es darum ging, eine bestimmte BabySzene zu erfassen. Lazar beschreibt diesen Vorgang folgendermaßen: »Man kreist um die Bilder, feilscht um die Details, um die Worte, die sie treffend erfassen, und um die Stimmung, die sie erzeugen. Nicht die ›Wahrheit‹ der Videokamera oder des Tonbandes ist das Ziel, son-

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dern eine ›Wahrheit der Erfahrung‹ in Gegenwart des Kindes und seiner Umgebung« (zit. nach Auch-Dorsch et al., 2007, S. 361). Daniel Stern, (2011) Entwicklungspsychologe und Psychoanalytiker, machte als zweijähriger Junge frühe, prägende Erfahrungen in einem Krankenhaus, in dem er fünf Monate bleiben musste und kreierte dabei seine eigenen Wahrheiten: Die englische Sprache nicht verstehend, war das Kleinkind darauf angewiesen, immer wieder neu die gesamte Atmosphäre seiner jeweiligen Umgebung zu erfassen und eine Meinung von sich und der Welt (Adler, 1928/1992) zu bilden, um sich zu orientieren und sicher zu fühlen. Christiane Ludwig-Körner schreibt in ihrem Artikel »›Ein Stern ist erloschen‹ – Nachruf auf Daniel N. Stern«: »Er war mit einem tschechisch sprechenden Kindermädchen aufgewachsen, so dass er tschechisch, aber kaum englisch sprach. Da er nicht verstand, was im Krankenhaus mit ihm geschah, wurde er, wie er selbst meinte, notgedrungen ein Beobachter, der ganz darauf angewiesen war, zu beobachten, wie Menschen sich verhalten, was sich in ihren Gesichtern zeigt, wie sie sich bewegen, welche Ausstrahlung von ihnen ausgeht und wie ihre Stimme klingt« (2013, S. 121). Dann beschreibt sie eine weitere Lebenserfahrung von Daniel Stern und zitiert ihn auch selbst: »er [erlebte] als Siebenjähriger […], dass Erwachsene Kleinkinder nicht verstanden, während er selbst noch beide verstand. Ich [D. S.] war ›in einem Übergangsalter […], noch zweisprachig und fragte mich, ob ich diese Fähigkeit mit zunehmendem Alter zwangsläufig verlieren würde‹ (Stern, 2010, S. 10). Glücklicherweise hat er sie nicht verloren, sondern ist ein ›Brückenbauer‹ zwischen Generationen und Theorien geworden« (S. 122). In seinem Buch »Ausdrucksformen der Vitalität« macht Daniel Stern deutlich, dass wir nicht Objekte internalisieren, sondern Interaktionserfahrungen. Er führt aus, dass die Wahrnehmung des Säuglings weitgehend multimodal und multisensorisch ist. »Stimulationen, gleichgültig, in welcher Sinnesmodalität sie erfolgen, [werden] zuerst als ein dynamischer Bewegungsfluss erlebt […], als Fluss mit einer zeitlichen Kontur, mit antreibender Energie und mit intentionaler Richtung: als Vitalitätsform« (2011, S. 146). Auch bei der Skype-Supervision geht es darum, Vitalitätsformen aufzunehmen, um einen Eindruck von der Bedeutung einer therapeuti-

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schen Szene zu bekommen. Dies mag wohl die Art und Weise sein, wie Kinder die Welt wahrnehmen und diesen oben benannten Übergangszustand erfahren, in dem man fähig sein kann, verschiedene Formen der Kommunikation zu verstehen. Begibt man sich jedoch in einen solchen Zustand und taucht in diesen dynamischen Bewegungsfluss ein, bekommt man mühelos Zugang zu Bildern und Ideen, die das Thema der Supervision bereichern. Für mich persönlich bedeutet das Projekt Skype-Supervision eine wertvolle Herausforderung, die eine Chance für ein noch umfassenderes, tieferes Verständnis von zwischenmenschlicher Kommunikation und Interaktion bietet.

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Can we be close and distant at the same time? Skype-supervision: Experiences of a Lithuanian-German project

Summary The following three contributions by Anna Peter, Rasa Bieliauskaite and Petra Neu introduce a Lithuanian-German supervision project that was carried out via Skype. After a general introduction of the project’s beginning both participants of the supervision project, supervisor and supervisee, reflect on coping with this method and describe their experience each from their own particular perspective.

Challenge and opportunity: Supervision via Skype (Anna Peter)

Introduction The following two articles by Rasa Bieliauskaite and Petra Neu, about supervision via Skype, consider both the opportunities and the limitations that emerge from this type of virtual collaboration. In the first article, Lithuanian Rasa Bieliauskaite approaches the subject from the supervised person’s point of view, while in the second Petra Neu deals with it from the supervisor’s perspective.

A small part of the history of European individual psychology To begin with, I would like to address the development of cooperation between the Munich Alfred-Adler-Institute and the Institute of Individual Psychology in Vilnius. As the growth of Individual Psychology in Lithuania is closely related to the political evolution of the young Baltic Republic, I will sketch out the most important events and concomitants in this history.

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Lithuania is not as far off in the East as, particularly, those of us who grew up in the Federal Republic of Germany, might feel. The geographic centre of Europe was calculated to lie slightly north of its capital Vilnius (see fig. 1), and Lithuania could therefore indeed be called the heart of Europe.

Figure 1: Map of the Baltic States

In Lithuania, although it was hardly tolerated by those in power, individual psychology, and in fact all psychoanalytic/psychotherapeutic schools of thought, was never entirely forgotten during the years before the Second World War, or in the years after, during the Soviet occupation. During the 1980s, a time when the USSR still existed, the impressive Baroque styled University of Vilnius was at least able to convey an understanding of the ideas of individual psychology to students through seminars, and thereby kept this body of thought alive. It is highly recommended to anyone who tours the capital Vilnius to go and visit the inside of this university, where one can feel the spirit of many centuries of concerted scientific work linger in every room.

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In the context of Glasnost and Perestroika in the 1980s, there was a growing resistance by the people against those in power, which triggered what is known as the »Singing Revolution«. This revolution reached its climax with the touching symbolic act that took place August 28th 1989: »the Baltic Way«. Approximately two million people joined hands to form a human chain spanning over 600 kilometres from Lithuania via Latvia to Estonia, the longest human chain in history as the Baltic people proudly report. There is a video on YouTube (uploaded 2010), called »Baltische Ketting«, which conveys an impression of this moving symbolic act. The following year, in 1990, Lithuania became the first of the Soviet Republics that proclaimed its sovereignty, and it has henceforth striven intensely to establish ties with the West. Not long after, in 1991, a Lithuanian group interested in individual psychology contacted the International Committee of Adlerian Summer Schools and Institutes (ICASSI). The group spontaneously received support from American and European colleagues, with German colleagues being particularly active. In the 1990s the Lithuanian Individual Psychology Society, which had already been formed by then, grew up to 150 members. Workshops and seminars were organized in order to teach methods of therapy and counselling with particular reference to Individual psychology. At the turn of the millennium, a small group of individuals got together and launched the Institute for Individual Psychology in Vilnius. Since then this institute has been dedicated to training future psychoanalysts according to European standards. The institute found accommodation in a small place in Vilnius’s old town, and developed despite, or rather because of limited space into a genuine Alma Mater (see fig. 2). In 2002 some members of the institute travelled to Munich to attend the International Congress for Individual Psychology. At that time such a journey meant an exhausting 24 hours bus ride over bumpy roads and highways under construction. Owing to the personal encounters that had taken place during the congress, the Lithuanian colleagues and the supervisors and training analysts, particularly those from the Munich Alfred-Adler-Institute, now embarked on a close and enriching cooperation for both sides. Since the geographical distance could not all too often be overcome by arduous journeys, the Lithuanian group came up with the idea to

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Figure 2: Members of the Institute for Individual Psychology in Vilnius

communicate via Skype in the periods between the personal encounters. Skype, offering a new and free mode of communication by internet since 2003, through which one can not only chat, but also see the other person, provided the Baltic population with an alternative after so many years of censored communication. They were finally able to communicate with, and even see family members and friends who had emigrated and were dispersed all over the globe. The fact that Lithuania boasts the most developed fibre optic network in Europe reflects the significance of this form of communication for the population. For our Lithuanian colleagues, Skype had soon become an implicit technology, whereas for our German colleagues the idea of communicating via internet was met with great scepticism. The main concern was whether the scene between therapist and patient, as well as the one between therapist and supervisor, would be comprehensible without personal contact. Despite this scepticism, alongside face-to-face supervision, which is only practicable infrequently, supervision via Skype has rapidly become a regular feature in Lithuanian-German cooperation.

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Chances and challenges of Skype supervision (Rasa Bieliauskaite)

Supervision from the supervisee’s perspective I would be wrong if I would say that we were very rationally taking the decision to apply Skype supervisions in our training. At that point we were not studying literature or looking for research – as at that point they were unavailable. Skype technology was developing quickly, and applications were springing out together with possibilities. We had a need and Skype was providing the possibility to fulfill it. I must admit that we were not the first to use Skype supervisions in the training. Our colleagues from Lithuanian Jungian group began it a little bit earlier. Now meeting the challenge of this article I turn to the sources of information to look what is said in the world of academics and practical working professionals about the use of Skype technology. I would shortly share with you my findings and then I would present summarized feedback of our colleagues in Lithuania and Germany – supervisors and supervisees – about application of this method. At the end I would try to say some words about my experience as a supervisee. I was astonished in how many fields Skype is used in providing services: pallative and gerontological medicine, even minor surgical consultations about aftercare (McMullen, 2012). In the field of psychology and psychotherapy Skype is used for providing psychological or psychotherapeutic services, and for training (Armfield et al., 2012; Wright & Griffiths, 2010). Psychotherapeutic services are especially developed and especially important in such countries as Australia, New Zealand, Northern Canada (Shandley, 2011; Dyck & Hardy, 2013). The Internet is beginning to see increasing numbers of practitioners advertising and conducting the psychotherapy and psychoanalysis via Skype. Some American and British universities include e-supervisions in the program of postgraduate or PHD studies, there you can find the first guide for using e-supervision (Reese et al., 2009; Shandley et al, 2011). The use of Skype supervisions in training is often connected with international studies, especially when professionals from the countries with more developed psychotherapeutic knowledge assist in educating people in

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the countries with less developed psychotherapeutic knowledge. Of course our program is in this situation too. It is a pity that professionals who are taught or who teach are not eager to write about their experiences as they focus on the needs of practical application. Nice exception is EMDR training program that started after the Bosnia Herzogovina war (Hasanovic et al., 2011). The aim was to prepare psychotherapists ready to work with a large number of people who have undergone severe war trauma. Skype supervision was a tool that helped to accomplish this project. Worth mentioning is the project of the American Psychoanalytic Association in China. This project is still evaluated ambivalently in the society of analytics but it initiated important discussions about Skype analysis and supervision (Osnos, 2011). In psychoanalytic literature the term of telecommunication is used. The first publication about the possibility of tele-analysis was in the 1950s = the article by Saul on the possibility of analysis by phone (Saul, 1951). Some articles followed in next decades. Main situation discussed at that time was that patient is willing to have relationship with analyst beyond setting. The main question was if it isn’t a form of defense from both sides – analysand and analyst – changing setting and in this way escaping main questions (Bayles, 2012). Life changes with times. There are some important changes that implied anew the importance of the question of telecommunication or tele-analysis as psychoanalytics themselves call it: –– The world became small: migration is growing for various reasons to all directions in all countries. –– Technologies are evolving with a great speed. Even if I compare our beginning in Skype supervision a few years ago and now – after having new computers – the quality is expanding very quickly. There is almost no delay between sound and sight, considerable less freezing of sight, quality in general is much better. In the writings about telecommunications now the main issue is: what is analysis and what is not. This discussion is making authors to turn to an essential question: what is that makes psychoanalysis worth of this name? Freudian tradition is that neutrality, frequency and coach are the main defining points (Steinberg, 2011, p. 1239). But now the theory of

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psychoanalysis has developed a lot and understanding of the process has changed. The influence of mother-infant research, theories about intersubjectivity, theories about attachment and self-regulation along with theories about how information is processed brings new understanding of implicit/explicit decisive elements in analysis or therapy (Bayles, 2012, p. 573). The question in connection with teleanalysis or supervisions acquires a new format: is it possible to create analytical (therapeutical) relationship when you are not in bodily presence. Another wording for this question: can our unconsciousness communicate when we are divided by hundreds or thousands of kilometers (or may be just in the other part of the same town). In this aspect the article by Nancy J. Chodorow »The analytic listening and the five senses« (2012) is interesting. The author herself is not comfortable with telecommunication. She states that senses and body proximity are important but does not negate other ways to be in touch with unconscious (nonverbal clues in speech, inner space). She shows that depending on the analyst’s/supervisor’s sensory experience and her/his accomplishments in various fields (music, poetry, and similar) and more unconscious experiences some sensory modes are used more. Scharff also argues that unconscious communication can occur in teleanalysis without or with little non-verbal cues (2013, p. 495). She gives an example of one client after childhood trauma. His client was remembering experience of trauma and bruises on the body after it, analytic had inner image of the pattern of bruises that could not be from falling; analytic shared his vision and curiosity how it can be. The client remembered how he was tied up in order not to run away. Problems in Skype communication are named by various authors. Mary Bayles (2012) analyzes her own experience as analyzand via Skype and notices that seeing one another on the screen is restricting in comparison with in room experience. For example, a baby who is tired from interaction turns his head away from the mother but in such way that the mother is in the periphery of his visual field; during Skype contact face to face it is not possible or more complicated. It is important to have in mind that in Skype contact we see mainly face and upper part of the body and they are larger than we see them in real life situation – they can be more threatening or impact doing, or it can be more difficult to regulate safe distance. Especially important, it can

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be in situations in which a patient tends to have mini dissociations or feels negative emotions such as shame (Bayles, 2012). I liked the idea mentioned by Scharff (2013) who noticed that those people who talk most against using Skype are usually the people who never tried to do it. From this short account now to the cooperation between our colleagues in Lithuania and Germany: Petra and I, we both gave some questions to the supervisors and supervisees in our project. Unfortunately, both groups were not very eager to answer so that response rates are rather low. Anyway, we are really grateful to everyone who did. The largest problem depicted clearly in the answers of both groups were technical issues: the quality of transmission, anxiety about regulation of sound or view, strain and anxiety about the work in a foreign language. Some colleagues noted that this was especially noticeable in the beginning of the process and later on it considerably diminished. I myself think that with an every day routine the quality is growing and possibilities expanding. Our other questions were about the possibility of communicating on the unconscious level: we asked about the experience of transference/countertransference. Several supervisees mentioned and described experiences of transference. I would like to quote one of the answers: »Supervision was important in the case of my client who used to miss sessions. Sometimes I had the feeling that she is mocking at me. During supervision I cried from helplessness and humiliation. I understood that this is countertransference. I felt great relief after supervision. We discussed this with my supervisor. I was able to see my client from a different perspective, I understood what is going on in the therapy and I could work further. Without supervision I would not have been able to withstand the client«. In the answers of our German colleagues there was one frequent idea – that Skype supervisions are more tiresome and require more energy than live supervisions. While Lithuanian supervisees were in every response stating their gratitude and the feeling that they get important help from the supervisors. When I read Petra’s presentation it gave me one possible explanation of this fatigue: really, when you have less informational resources (no body presence) you must work harder in order to understand and to connect or more precisely to connect and then to understand. It makes

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me feel even more gratitude for all the tremendous work done by our German colleagues. In my experience as supervisee I also had numerous experiences of lively and real communication and of transference/countertransference. When I think about difference, Skype supervisions are connected with stronger concentration. I see my supervisor – her upper part of the body and a small piece of her room. Somehow I remember the window partially opened, sunlight coming into the room, another supervisor’s violins on the top of the cupboard at the other wall of the room, shadows of the flowers on the wall in my therapist’s room (I had Skype analysis in between life sessions) – maybe really those areas are important for our space when we make short glimpse from direct contact into neutral space. But the concentration is turned inward, and even search for a right word to describe feeling or experience expands the semantic field of understanding the client and ourselves. Finishing my paper I would like to say that I am grateful for the supervisors who worked and are working with us. I think that it is very important to combine live and Skype contact. The changing world and the new generations who feel like fishes in the virtual waters are inspiring us to extend the ways we work. It gives us a possibility to reach much more of the world – not in order to change it, although sometimes this may be, but just to know it.

Chances and challenges of Skype supervision (Petra Neu)

Supervision from the supervisor’s perspective In my contribution to the subject of Skype supervision I would like to give you an impression of the special quality of the virtual relationship in mentoring I experienced with Rasa and her Lithuanian colleagues. First of all we have to overcome some obstacles: there are sometimes technical problems concerning the quality of voice or screen and always the struggle of finding the most convenient English expression as we are not native speakers. More than in live supervision we are asked to expand our attention in order to assimilate atmosphere and imagination. In this context I remember a proposition of Waltraud Nagell who said

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in her workshop »The explicit and the implicit in supervision« (2011) in Munich that we should allow ourselves to dream up the absent patient. In fact, thinking about a therapeutic scene that I’ve been told via Skype is usually an observation of the inner process that flowers out in myself. It is a realm of in-between, of dreaming or reverie like it is named by Bion (1992). Ogden (2004) writes about the state you are in when you are on the way of awakening. When you are less concentrated on perfect verbal understanding and view you are able to catch more atmosphere and ideas arising out of your unconscious. Günter Heisterkamp also sets value on the term atmosphere which I could intensively experience while attending his group supervisions. In his article »Methodology of Voice and Atmosphere« (2010) he points out the holistic perspective of the atmosphere. He quotes Böhme (1995, p. 22) who says that these atmospheres seem to fill up the room in a misty emotional manner; we are enveloped by them, while being affected by them. When Rasa or other Skype supervisees and I are trying to capture the essence and meaning of a therapeutic scene I find myself trying to be open for the atmosphere that infuses my ensouled body. Interestingly the fact that we are miles away from each other and sitting in front of a personal computer doesn’t avoid the intensive experience of our shared search for understanding. I would say that the attitude of openness seems to be transborder and overcomes objective constraints. Bodily being affected as an analyst by the expressions of the client and vice versa – this is also a main theme explored by Diana Pflichthofer (2007, p. 238 ff.): She writes about the thread that lies in the potential of the real body and furthermore that particularly a traumatized patient is asked to confront himself with this kind of reality. This means that the patient needs to realize painfully that the analyst could potentially leave the room or she could kiss or beat him in reality. Therefore a virtual therapy would be impossible for Diana Pflichthofer, because the essential dimension of exposing oneself to the counterpart is missing. In my opinion there is a difference between a virtual therapy and a virtual supervision. In supervision there are two professionals who are asked to open themselves emotionally in order to get a broader understanding of a third person, the patient. Although we are talking about transference- and countertransference-subjects in supervision that occur in

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the relationship between the therapist and the client as well as between the supervisor and the supervisee there is not this kind of thread about which Diana Pflichthofer is talking. However, it would be a strange situation too if one of us would unexpectedly press the off-button during our virtual session. Attentiveness in psychotherapy is a subject to which Martin Kalff (2012), practicing Buddhist and the son of the founder of the sandplay therapy, Dora Kalff, refers to when he gave a lecture on the different personalities of psychotherapists: what we all should have in common would be the attitude of letting calmly things simmer without evaluation. Martin Kalff talked about the COAL-attitude which means C for curiosity, O for openness, A for acceptance and L for loving kindness. We should curiously observe our body and soul in order to grasp what affects us and where it is located in our body. We should furthermore be open in the way that we are breathing in and out in order to let new things in. This attitude enables a great acceptance for the unknown in a manner of loving kindness. Technical equipment like the personal computer is really not the kind of thing I like and I’m originally used to. But I could say that my excited curiosity and openness for this project of Skype supervision helped me to develop my own therapeutic attitude and that I benefit from it in my live supervisions as well. Not least the acceptance of my deficiency concerning the English language and the loving kindness of Rasa and her colleagues make it easy for me to continue this very interesting kind of supervision. Not always knowing the assumed right English word or sentence that would fit for a reported therapeutic scene matters for the process of understanding. Sometimes two people pronounce the same word and have different inner representations and phantasies about it. A good example would be the word mother. One can’t expect that everyone has the same imagination about the word mother; in fact one has to elaborate the individual meaning of this special person at this particular moment. Therefore not having the right English word at the tip of your tongue opens the possibility for a differentiated understanding of the patient and the therapeutic scene. I remember my participation at a German infant observation group led by Ross A. Lazar when the group members – all native speakers – were struggling for the best

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fitting expression while we were trying to understand a special babyscene. Ross A. Lazar expressed it like this in the AKJP-Journal (2007): »One circles the images, haggles for details and words that capture them accurately and for the atmosphere that the images generate. The ambition is not a kind of objective truth, but the truth of experience« (quot. by Auch-Dorsch et al., 2007, p. 361). Daniel Stern, (2011) the famous psychoanalyst had an early formative experience as a 2-year-old boy in a hospital where he had to stay for five months. Raised by a Czech nanny he couldn’t understand what happened with him in that English-speaking hospital. He was dependent on his own capability to observe what was going on. The little boy has been looking at the behavior of the people; he has been wondering what is showing in their faces; he has been observing how they are moving and which charisma they have. Furthermore he has been listening to their voices and – this is my interpretation – the 2-year-old boy has been trying to get an impression of the whole atmosphere of the people in his surroundings in order to feel safe and secure. Christiane Ludwig-Körner who wrote about this scene of Daniel Stern’s life in the »Psychotherapeuten-Journal« (2013, S. 121 f.) went on telling about an interesting experience of the 7-year-old Daniel Stern: »At the age of 7 the young boy has been wondering why adults couldn’t understand children while he himself could do so. He found himself in a kind of transition-age understanding both sorts of languages and he was wondering if he would lose this capability with increasing maturity. Fortunately Daniel Stern never did, as we all know. In his book ›Forms of vitality. Exploring Dynamic Experience in Psychology, the Arts, Psychotherapy, and Development‹ (2010) he makes clear that we don’t internalize objects but we internalize experiences of dynamic interactions. What does this mean? Daniel Stern holds the view that in early life, perception is multimodal and multisensory. Stimulation, no matter in which modality of sense it occurs, is experienced as a dynamic flow of movement. It is a flow of a chronological outline with propulsive energy and with an intentional direction. Relating to Skype supervision I am trying to assimilate the form of vitality coming from Rasa or others in order to get an impression of the significance or the meaning of a therapeutic scene. Maybe this is the way children perceive the world and experience this kind of transition-state in which one is able

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Can we be close and distant at the same time?223

to understand multiple sorts of communication. Being in such a state it is easier to plunge into a dynamic flow out of which phantasies and ideas concerning the supervision’s subject will emerge. And being in such a state of attentive openness, bad technical conditions or the fact that the supervisee is physically miles away doesn’t fortunately influence me in a displeasing manner. Quite the contrary, I consider this instance as a challenge. However, I can’t deny that I enjoy the personal contact when we meet in Vilnius or in Munich.

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Barbara Jaeger und Carola Furck

Neue Medien und Psychoanalyse – Fluch und Chance

New media and psychoanalysis – curse and opportunity New media are used by our patients without second thoughts. As they are part of their daily routine, they become instruments to compensate structural or neurotic deficits easily. Patients use them too to communicate with us. We have collected different experiences concerning electronic media and discuss them under a psychodynamic point of view. Zusammenfassung Elektronische Medien werden von unseren Patienten heute selbstverständlich genutzt. Die neuen Medien werden auch zum Medium, um strukturelle oder neurotische Defizite zu kompensieren. Unsere Patienten nutzen sie ebenfalls, um mit uns zu kommunizieren. Wir haben unterschiedlichste Erfahrungen zusammengetragen und diskutieren diese unter psychodynamischen Blickwinkeln.

Persönliche Vorbemerkung Als Carola Furck und ich (Barbara Jaeger) uns das erste Mal zusammensetzten, um uns dem Thema unseres Vortrages, auf den dieser Beitrag zurückgeht, zu nähern, wurde sehr schnell deutlich, dass wir uns beide für die Spannbreite der neuen Medien, die rasante Entwicklung der letzten Jahrzehnte und die Veränderungen, die sie für unsere Lebensund Arbeitswelt mit sich bringen, interessieren. Da mittlerweile für uns und unsere Patienten virtuelle Kontakte über Mailen, in Chatrooms, durch Facebook und anderen soziale Netzwerke zum Alltag gehören und allmählich unsere Erlebens- und Beziehungswelt verändern, finde ich es wichtig, uns im Rahmen dieser Tagung mit diesen aktuellen Entwicklungen auseinanderzusetzen. Patienten nutzen zum Beispiel Mails, um mit uns Kontakt aufzunehmen, uns Fotos zu schicken, für sie wichtige Gedanken zwischen den Therapiestunden

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Barbara Jaeger und Carola Furck

zu bewahren oder den Kontakt in Urlaubspausen zu halten. Ich selbst habe suizidale Patienten in ihrer Krise aufgefordert, täglich über dieses Medium Kontakt mit mir zu halten. Das machte es mir leichter, den Zeitpunkt und Inhalt meiner Reaktion zu überdenken. Große Vorbehalte hatte ich schon immer wegen der Datensicherheit, insbesondere, wenn es um berufliche Kontakte geht. Gibt es eine Sicherheit im Hinblick auf die Schweigepflicht, wenn Geheimdienste mitlesen können? Nun, die Kassenärztliche Vereinigung in Hessen zwingt uns mittlerweile dazu, online abzurechnen und damit sensible Daten ins Netz zu stellen! Das Feld zur Reflexion ist vielfältig. Wir werden uns in unserem gemeinsamen Beitrag auf zwei Bereiche begrenzen: Zunächst möchte ich meine Erfahrungen mit Skype1 vorstellen und reflektieren. Ich habe mich (zunächst aus der Not geboren) auf die Fortsetzung der modifizierten Analytischen Psychotherapie mit zwei Patienten per Skype eingelassen, deren Behandlung sonst vorzeitig beendet gewesen wäre. Carola Furck wird später über die Therapie eines Patienten berichten, für den das Internet eine Abwehrmöglichkeit im Rahmen seiner psychischen Störung war. Als ich mich entschied, mich auf diese Form der Kommunikation auch in meiner psychotherapeutischen Arbeit einzulassen, hatte ich zahlreiche Bedenken: Mir war bewusst, dass manches bei Skype wegfallen würde, und ich habe vielfältige Fragen reflektiert: »Das sinnliche Erleben im direkten Kontakt wird fehlen – ist das dann noch Analytische Psychotherapie? Hat diese Form der Kommunikation Einfluss auf das Unbewusste oder die Übertragungsbeziehung?« In einem aktuellen Artikel in der Zeitschrift »Psyche« reflektiert Irmgard Dettbarn widersprüchliche Reaktionen auf den Einsatz von Skype in psychoanalytischen Therapien: Sie registriert »einerseits totale Ablehnung, mit unterschiedlichen Begründungen, andererseits begeisterte Hinweise darauf, dass anonymisierte Telefon- und Skype-Stundenprotokolle von befragten Analytikern nicht unterschieden werden können« (2013, S. 650). Ähnlich wie bei der Reflexion des Einsatzes des Telefons in der Psychoanalyse in der Fachliteratur der 1990er Jahre wird bei der erweiterten Kontaktform über Skype in Fachkrei1 Skype, das Programm bzw. die Software, mit deren Hilfe man kostenlos und visuell via Internet telefonieren kann, setze ich als bekannt voraus.

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sen gehäuft diskutiert und allmählich nimmt sich die Forschung dieses Phänomens an (siehe etwa die Evaluationsstudie von Kächele u. Taubner zu Skype-Analysen: International Psychoanalytic University, 2014; vgl. Kächele, 2011). Anders als beim Telefonieren ermöglicht die Skype-Kommunikation, auf mehreren Ebenen mit Patienten in Kontakt zu kommen. Je nach der Qualität der Übertragung können wir Mimik, Gestik und Körperausdruck in unseren Gesamteindruck einbeziehen. Bei meinen modifizierten Analytischen Psychotherapien mit strukturell gestörten Patienten ist mir der Sichtkontakt enorm wichtig. Aber trotzdem irritiert mich Bild und Stimme ohne körperliche Präsenz auch. Ich möchte nun zunächst zwei Fallgeschichten darstellen, bevor ich meine Erfahrungen auf die praktische Nutzbarkeit hin reflektiere.

Fallgeschichte 1: Herr F. Zunächst möchte ich von einem 18 Jahre jungen psychosomatisch erkrankten Patienten, Herrn F., berichten, der von seiner Familie zu seinen Großeltern nach Norddeutschland geschickt wurde, damit er dort – so die Hoffnung der Angehörigen – (vordergründig) sein Abitur machen und aus der gefährlichen Verwicklung in seinem Freundeskreis aussteigen konnte. Unter diesen besonderen Umständen machte ich von der Möglichkeit Gebrauch, im Laufe von fünf Monaten Skype zu nutzen, um den Kontakt zu meinem Patient zu halten – auch deshalb, weil aus meiner Sicht berechtigte Zweifel am Gelingen dieses Versuches bestanden. Es folgen Auszüge aus meinen Berichten an den Gutachter. Symptomatik: Der zum Zeitpunkt der ersten Begegnung 18-jährige Patient berichtete, dass er seit fünf Jahren massive Schulprobleme und Konflikte mit seinen Lehrern entwickelt habe. Zu Hause habe niemand seine Verzweiflung bemerkt. Aus dem Gefühl heraus, »gegen alle nicht mehr anzukommen«, habe er sich mit einem Gummiband stranguliert, seine Schwester habe sein Umfallen bemerkt und die Eltern gerufen. Nach einem ersten Therapieversuch zog die Familie 2006 nach Frankfurt um, er wurde seiner stabilisierenden Umgebung und seines Freundeskreises beraubt. Zeitgleich verstarb die geliebte Uroma. Im Anschluss habe er Bauchschmerzen entwickelt. »Bauchweh war besser

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als gar nichts zu spüren, außerdem können das meine Eltern ansatzweise nachvollziehen.« Zunächst wurde er ständig untersucht, da man einen Zusammenhang mit seiner angeborenen Gefäßanomalie und Missbildung der Leber vermutete. Ab 2008, im 16. Lebensjahr, nahmen die Schmerzen des Patienten so stark zu, dass er deshalb zweimal in einer Spezialklinik in Berlin operiert wurde. Diese Operationen gefährdeten den Patienten körperlich und seelisch. Die Symptomatik habe zu Schulversagen geführt. Bei einer gründlicheren somatischen Untersuchung wurden noch ein juveniler Diabetes und ein Morbus Crohn entdeckt. Durch seine Erkrankungen fühle er sich in seinem Leben eingeschränkt. In der psychosomatischen Klinik habe er sich erstmals mit allen seinen Problemen verstanden gefühlt. Biografie: Als erstgeborener Sohn, aufgewachsen in einem kleinen Dorf im Rhein-Main-Gebiet, war sein erstes Lebensjahr geprägt durch die lebensbedrohliche Erkrankung und den langen Aufenthalt in einer Universitätsklinik. Seine Lebergefäße waren verändert, dadurch entstand ein ausgeprägter Umgehungskreislauf, der operativ korrigiert wurde. Es kam zu wiederholten Sepsitiden, chronischer intestinaler Malabsorption. Der Patient wurde als Säugling längere Zeit parenteral ernährt, dies führte zu einer Entwicklungsverzögerung. Seine Mutter (+ 29), Hornlehrerin, beschreibt er einerseits als lieb, ihre drei Kinder unterstützend und ständig aktiv. Andererseits sei sie leicht kränkbar. Oft fühle er sich durch ihre strenge Haltung in seiner Krankheit unverstanden und in seinen Bedürfnissen nicht ernst genommen. Sein Vater (+ 30), Klarinettist, sei viel unterwegs und unerreichbar. Beide Eltern seien einander ähnlich in Perfektionismus und Riesenanforderungen an sich selbst im Hinblick auf Musik. Sie seien dann so konzentriert, dass sie sonst nichts mehr mitbekämen. Vater wie Mutter hätten aber auch einen ähnlichen Humor und einen Hang zur Unordnung. Sie stammen beide aus Musikerfamilien, hätten früh Instrumente gelernt und das auch von ihren Kindern gefordert. Zu seiner Schwester (– 1,5, Schülerin, Klavier und Klarinette) habe er eine schwierige Beziehung, seit sie zusammen in einem OberstufenJahrgang eines Musikgymnasiums seien. Sie unterstütze ihn manchmal, spiele sich aber zunehmend auch als »verlängerter Arm« der Mutter auf. Zu seinem Bruder (– 7, Schüler, Klavier und Cello) habe er ein

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gutes Verhältnis. Dieser hätte in der Familie auch nichts zu sagen und würde oft »als Blitzableiter« benutzt. Er habe keine frühen Erinnerungen. Ab dem fünften Lebensjahr begann der Patient Geige, später Bratsche zu lernen. Er habe nie gerne geübt. Die Grundschulzeit sei unauffällig gewesen. Er habe sich allein in der Natur wohl gefühlt. Anders als seine Freunde sei er ab der fünften Klasse nie ohne Freundinnen gewesen. Eine einschneidende Veränderung war im Sommer 2004 der Tod der »Uroma« (98) väterlicherseits. Sie hat er im positiven Sinne als »das Familienoberhaupt« in Erinnerung. Bei der Beerdigung sei in ihm alles nur noch taub gewesen. Psychodynamik: Durch die frühkindliche intensivmedizinische Behandlung kam es zu einer massiven körperlichen und psychischen Entwicklungsstörung. Dies führte zu strukturellen Defiziten im Bereich des Körperselbst, des Selbstwertes, der emotionalen Kommunikation (Affekterleben, -äußerung, -verständnis und -differenzierung) und der Selbst-Objekt-Differenzierung. Es ist anzunehmen, dass die Mutter durch die schwere Erkrankung des Erstgeborenen massiv verunsichert und überfordert war. Durch die lange lebensbedrohliche Erkrankung des Sohnes entwickelte sich eine ambivalente Bindung. Kurz nach der Stabilisierung des körperlichen Zustandes des Sohnes war die Mutter erneut schwanger. Mit der Geburt der Schwester musste der Patient also früh die Aufmerksamkeit seiner engsten Bezugsperson teilen. Er blieb aber in der besonderen Rolle des »Kranken in der Familie«, der zu regelmäßigen Untersuchungen in eine Universitätsklinik begleitet und körperlich geschont wurde. Andererseits bekam er nur über den kranken Körper, nicht aber emotional angemessene Zuwendung. Der Vater blieb in der Beschreibung blass und erschien wenig geeignet als positives männliches Identifikationsobjekt. Er war beruflich oft abwesend und brauchte viel Rückzug. Die Urgroßmutter väterlicherseits erschien ihm das einzige emotional verfügbare Objekt, das ihm Halt, Anerkennung und Orientierung geben konnte. Seine frühen Bindungsversuche an Mädchen – verfügbare, verwöhnende, ihn spiegelnde Objekte – können als Ausgleich der fehlenden Möglichkeit zur Selbstberuhigung interpretiert werden. Durch den Verlust der Urgroßmutter brach für den Patienten und für die gesamte Familie ein emotional stabilisierender Faktor weg, es kam zum ersten Auftreten der psychisch überlagerten Bauchschmerzen.

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Durch den zeitnahen Umzug nach Frankfurt wurde er seiner Kompensationsmöglichkeiten beraubt. Die Familie und er konnten sich durch Hinwendung an die körperliche Symptomatik stabilisieren. Seine emotionalen Probleme, das Schulversagen, Cutting und die Kleinkriminalität wurden hingegen nicht wahrgenommen. Erst durch seinen Suizidversuch konnte er seine seelische Not ausdrücken und ein erster Therapieversuch wurde unternommen. Mit dem Eintritt in die Pubertät versuchte er sich durch nicht regelkonforme selbstschädigende und hochaggressive Freundinnen von der Familie abzugrenzen. Erneut traten massive Bauchschmerzen als Korrelat dafür auf, dass er dazu neigte, die unterdrückte Wut aus den Beziehungen zu seinen Freundinnen gegen sich selbst zu richten. Die Operationen 2008 und 2009 lösten nichts, sondern gefährdeten ihn. Sein bereits beschädigter Körper erschien unberechenbar, zudem entwickelte sich ein juveniler Diabetes als Folgeerkrankung. Dies warf ihn in seinen Bestrebungen, sich als Mann abzulösen, zurück. Unbewusst mussten massive Aggressionen unterdrückt werden. Die daraus entstandene depressive Entwicklung ist durch strukturelle Defizite in Form eines wenig integrierten, brüchigen Selbst mit einer fragilen Identität als Mann und den dadurch entstandenen Einschränkungen der Affektregulation und Beziehungsgestaltung geprägt. Gemäß der Einteilung nach Rudolf (2004, 2010) ist die Struktur mäßig integriert. Der Patient befindet sich im passiven Modus. In der Übertragung konnte der Patient seine ursprünglich pseudoautonome Haltung aufgeben und zeigte sich zunehmend angemessen hilfsbedürftig. In der Gegenübertragung erlebte ich mich als um ihn besorgt, versuchte ihn in seinen Schritten in eine angemessene Selbständigkeit zu begleiten. Diagnosen: a) rezidivierende depressive Episoden, mittelgradig, auf dem Hintergrund multipler Traumatisierungen in Kindheit und Jugend, und Ausbildung eines Autonomie-Abhängigkeitskonfliktes und eines männlichen Identitäts- bzw. Adoleszenskonfliktes; b) ausgeprägte somatoforme Schmerzstörung sowie c) Posttraumatische Belastungsstörung und dissoziative Störung; d) Morbus Crohn des Kolons; e) portale Hypertension mit Leberfibrose bei Z. n. Behandlung einer AV-Malformation der Leber im Kindesalter.

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Verlauf: In der Familie und auch in der psychotherapeutischen Behandlung stand immer wieder die körperliche Symptomatik im Vordergrund, zum »Eigentlichen«, der familiären Abwehr der Aggressionen und der Beschädigungsthematik, konnten wir nur schwer durchdringen. Wut durfte in der Familie nicht ausgedrückt werden, sondern wurde agiert. Seit seiner Geburt wurde auf die Symptomatik des Patienten und seine Äußerungen nur auf der Körperebene reagiert und seine Entwicklung pathologisiert. Die Bearbeitung der zugrunde liegenden psychischen Problematik wurde ein längerer Prozess, da diese eng mit der körperlichen Erkrankung und Behinderung verbunden war. Entsprechend versuchte ich zunächst Teilziele zu verfolgen, nämlich die Stabilisierung der aktuellen Symptomatik in Form von Dissoziation und depressivem Rückzug, um im ersten Schritt dem Patienten den Schulabschluss und den Eintritt in eine Berufsausbildung zu ermöglichen. Ein weiteres Teilziel war, den Körper von krank zu ausreichend männlich umzudeuten und eine angemessene Selbstfürsorge zu entwickeln. Das Ziel seiner Ablösung aus der Ursprungsfamilie gestaltete sich schwieriger als erwartet. Der Patient sollte lernen, Aggressionen in der Gestaltung der Beziehungen zu nutzen und nicht gegen sich selbst zu richten oder an andere zu delegieren. Der Verzicht auf seinen sekundären Krankheitsgewinn fiel ihm schwer. Die Familie wollte ihren, das System stabilisierenden Symptomträger, nicht freigeben. Herr F. erkannte, dass er in der Familie nur aufgrund seiner Erkrankung Zuwendung erfahren hatte. In der Psychotherapie erlebte er mein Interesse an ihm und seiner Entwicklung. Darüber gingen die depressive Stimmungslage und die Schmerzen zurück. Lange beschäftigte er sich mit seiner Beziehungsgestaltung zu seinen Freundinnen. Im Rahmen eines in der Therapie durchgeführten Familiengespräches, in dem deutlich wurde, wie wenig beide Eltern an dem Gefühlsleben ihres Sohnes Anteil nehmen konnten, wurde in der Familie die Idee entwickelt, dass der Patient zu seinen Großeltern nach Lüneburg ziehen sollte, um das Abitur machen zu können. Aus meiner Sicht entfachte das Familiengespräch die Konkurrenz der Mutter zu mir und ich verstand das Wegschicken des Patienten einerseits als Therapiewiderstand gegen die Autonomieentwicklung des Patienten in der Psychoanalyse, andererseits stellte sich später heraus, dass die Eltern durch diese Maßnahme zu verhindern suchten, dass bisher verleugnete, mas-

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sive familiäre Konflikte sichtbar wurden. Die Krankheit des Sohnes war ein wichtiges Bindeglied in der Familie. Es war nicht möglich, die Entscheidung gemeinsam zu reflektieren und darin enthaltene Gefahren vorher zu besprechen. Im Wegfallen der Halt gebenden psychotherapeutischen Beziehung sah ich die Gefahr der erneuten Destabilisierung, die von dem Patienten und der Familie verleugnet wurde. Ich hatte große Bedenken, weil er gerade erst in unserer Arbeit begonnen hatte, eigene Ideen zu entwickeln und darüber natürlich auch seine Eltern zu hinterfragen. Aus diesem Grund vereinbarte ich mit dem Patienten, mit ihm über Skype in Kontakt zu bleiben. Im Norden fühlte Herr F. sich einsam, von der Großmutter kontrolliert. In der Zwischenzeit trennten sich die Eltern. Hilflos stand der Patient der Trennung der Eltern gegenüber. Er fühlte sich zwischen allen Stühlen. Am meisten litt er mit seinen Geschwistern. Er kehrte mit einem Gefühl des Versagens nach Frankfurt zurück. Er richtete die dadurch ausgelösten Aggressionen in Form von Bauchschmerzen erneut gegen sich selbst. Unbewusst erlebte Herr F. das Auseinanderbrechen der Familie als seine Schuld, da er sie »im Stich gelassen« hatte, als er nach Lüneburg gegangen war. Anders als seine Eltern habe ich ihm einen Platz freigehalten. Über Skype hatte ich mit ihm zusammen ausgehalten, wie er dort wieder mehr gelitten hatte und gescheitert war. Ich konnte ihm dadurch den Halt geben, den er in seiner Familie nie erfahren konnte. Nach seiner Rückkehr löste er sich aus seiner Familie. Durch den Umbau im Elternhaus existierte sein Zimmer nicht mehr, so dass er vorübergehend bei der Familie seiner Freundin unterkam. In der Fortführung der Analytischen Psychotherapie gelang es, den Patienten in seiner Autonomieentwicklung so weit zu stärken, dass er sich von der (letztendlich vereinnahmenden) Hilfe in der neuen Familie distanzierte und mit seiner Partnerin bald in eine eigene Wohnung zog. Auf der Suche nach eigenen beruflichen Zielen ohne Abitur gelang es dem Patienten, zu seinen Kompetenzen zu stehen. Er machte eine private Tontechnikerschule in Berlin ausfindig, klärte die Finanzierung diese Ausbildung durch seine Großeltern und zog nach dem Abitur der Freundin mit dieser zusammen nach Berlin. Bei einem Abschlussgespräch berichtete er, dass ihm die neue Schule viel Freude bereite. Er

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habe kaum mehr Bauchschmerzen und wenn, könne er herausfinden, woran es läge und entsprechend positiv darauf einwirken. Ich bin sehr froh, dass ich in diesem Fall Skype genutzt habe, um mit dem Patienten in Kontakt zu bleiben.

Fallgeschichte 2: Frau H. Als Nächstes möchte ich von der Auswanderung einer Patientin nach Großbritannien berichten. Frau H. hatte aus meiner Sicht für den Umzug im Hinblick auf den therapeutischen Prozess einen zu frühen Zeitpunkt gewählt, da die Umschulung des Sohnes den Zeitablauf für sie vorgab. Ich hatte massive Zweifel, ob die Patientin zu diesem Zeitpunkt bereits so gestärkt war, dass sie ohne die weitere Unterstützung der Analytischen Psychotherapie diese Schritte in die Autonomie gehen konnte. Symptomatik: Die Patientin berichtete, dass sie im Herbst 2009 drei Panikattacken erlitten habe. Daraufhin habe sie sich um eine Behandlung bemüht und sei akut in eine psychiatrisch-psychotherapeutische Klinik aufgenommen worden. Seit der Behandlung dort fühle sie sich stabiler, spüre aber noch den Hang zu grübeln. Der Antrieb sei deutlich reduziert. Sie fühle sich oft überfordert, da sie Perfektionistin sei und ihre Arbeit in einer Teilzeitstelle nicht bewältigen könne. Sie arbeite seit zwölf Jahren Teilzeit, um nachmittags für ihren achtjährigen Sohn sorgen zu können. Schon im Sommer habe sie kündigen wollen. Ihr Partner habe ihr aber aus finanziellen Gründen abgeraten. Biografie: Die 43-jährige Patientin wuchs mit ihrer Mutter (+ 30, Künstlerin, später Sekretärin) auf, die sie viel allein gelassen habe. Ihre Mutter hatte bereits eine uneheliche Tochter bei der Großmutter zurückgelassen. Die Mutter war klagsam und depressiv. Sie versuchte, sich über Männerbeziehungen zu definieren, was zu mehreren Abtreibungen geführt hatte. Der Vater der Patientin (+ 46, Arzt) sei mit einer anderen Frau verheiratet gewesen. Die Mutter sei ganz auf ihn fixiert gewesen, wenn er zu Besuch gekommen sei. Als Tochter habe sie kaum eine Beziehung zu ihm aufbauen können. Um Zeit mit ihm zu verbringen, habe sie versucht, bei seinem Frühsport mitzuhalten. Er trennte sich 1976 von ihrer Mutter wegen einer anderen Frau, als die Patientin elf Jahre alt war. Die Mutter reagierte verbittert. Nach einem Suizid-

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versuch mit Tabletten wurde sie von der elfjährigen Patientin gefunden. Die parentifizierte Patientin versuchte, die Mutter nicht zu belasten. Zu Beginn der Pubertät habe sie epileptische Anfälle bekommen. Ihre Mutter habe sich in dieser Zeit erstmals um sie gekümmert und sie bei den Arztbesuchen begleitet. Seit dem zwanzigsten Lebensjahr wurde keine Anfallsbereitschaft mehr nachgewiesen. Mit ihrem Vater habe sie erst wieder mit zwanzig Jahren Kontakt aufgenommen. Dies habe die Mutter als Verrat empfunden. Sie brach den Kontakt zur Tochter ab. Die Patientin habe sich gut mit der neuen Freundin des Vaters verstanden und sich in die neue Familie integriert. Als der Vater 2009 plötzlich an einem Herzinfarkt verstarb, traf dies die damals 42-jährige Patientin schwer, da sei sie erstmals symptomatisch geworden. Nach dem Abitur studierte Frau H. Wirtschaftsarabisch und -französisch. In einem Auslandspraktikum im Jemen lernte sie ihren späteren Ehemann, einen Engländer, kennen und heiratete ihn. Als das Paar nach England zurückgekehrt war, habe ihr Mann zunehmend Alkohol getrunken und sei immer häufiger aggressiv geworden. Als sie von ihrem Arbeitgeber die Gelegenheit bekam, mit nach Deutschland zu gehen, nutzte sie diese, um sich von ihm zu trennen. In Deutschland lernte sie bald ihren heutigen Partner kennen und wurde schnell mit ihrem Sohn schwanger. Ihr Partner ist Kommunikationsberater im Finanzsektor. Psychodynamik: Ich nehme an, dass die Mutter aufgrund ihrer eigenen schweren Beziehungsstörung ihrer Tochter keinen verlässlichen Rahmen für die gefühlsmäßige Rückversicherung bieten konnte. Erschwerend kam die problematische Beziehung zwischen den Eltern der Patientin hinzu, die die Mutter ganz absorbierte. Die Patientin entwickelte strukturelle Defizite im Bereich der Selbstwahrnehmung, der Wahrnehmung von Affekten, der Steuerung von Affekten, der Selbstberuhigung und der Selbstwertregulation. Die Patientin konnte keine konstanten Selbst- und Objektrepräsentanzen entwickeln. Kompensatorisch suchte sie die Nähe des Vaters, der ihr ein Gefühl von Wert und Bedeutung geben sollte. Es blieben aber nur eine phantasierte Nähe und die Begegnungen beim Frühsport, für die sich die Patientin verausgaben musste. Sie entwickelte sich zu einem selbstgenügsamen Kind, das die Mutter stabilisierte. Dabei spielte sicher auch die Angst eine Rolle, wie die ältere Halbschwester bei der Großmutter abgegeben zu werden. Stabilisieren konnte die Patientin sich immer durch ihre Leistungen in

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der Schule, im Studium und im Beruf. Zu der aktuellen Symptomkrise kam es durch den plötzlichen Verlust des Vaters, der von der Patientin zur Aufrechterhaltung ihres Selbstwertgefühls benötigt wurde. Die Patientin war zudem in dieser Zeit durch den Wegfall der beruflichen Anerkennung im Rahmen der beruflichen Überlastung labilisiert. Die fehlende Unterstützung des Partners in ihrem Plan zu kündigen, hatte sie massiv enttäuscht. Die daraus resultierende Wut auf ihn musste sie zum Beziehungserhalt gegen sich selbst richten. Sie wurde depressiv. Die daraus entstandene depressive Entwicklung ist durch strukturelle Defizite in Form eines wenig integrierten brüchigen Selbst mit einer fragilen Identität als Frau und der dadurch entstandenen Einschränkung in der Affektregulation und Beziehungsgestaltung geprägt. Gemäß der Einteilung nach Rudolf (2004, 2010) ist die Struktur mäßig bis gering integriert einzuschätzen. In der therapeutischen Beziehung entwickelte sich rasch eine idealisierend positiv gefärbte Mutterübertragung. In der Gegenübertragung erlebte ich mich als haltend, gewährend und eng verbunden. Ziel der Analytischen Psychotherapie war, der Patientin die Möglichkeit zu geben, gute Objekte zu internalisieren, beziehungsfähig zu werden und ein stabiles Selbstwertgefühl zu entwickeln. Diagnose: Angst- und Panikstörung mit depressiver Entwicklung bei Selbstwertproblematik, auf dem Hintergrund eines IndividuationsAbhängigkeits-Konfliktes. Verlauf: Im Verlauf der Analytischen Psychotherapie wurde der Patientin bewusst, wie wenig Halt, Unterstützung und Schutz sie durch ihre Eltern gehabt hatte und wie wenig sie dadurch lernen konnte, sich selbst zu schützen. Im Lauf der Behandlung gewann sie an Sicherheit, indem sie Vergangenes reflektierte und sich mit Unterstützung in der Therapie von kindlichen Gefühlen der Schuld und des Versagens befreite. Da sie nun mehr Zeit zu Hause in einer Kleinstadt verbrachte, spürte sie zunehmend, wie wenig sie sich dort zugehörig fühlte. Da sie sich in England sehr wohl gefühlt hatte, entstand die Idee zur Auswanderung. Zweifel daran, ob sie ohne weitere Unterstützung durch die Therapie schon in der Lage war, sich dieser Veränderung zu stellen, wischte sie weg. Sie stellte die Bedürfnisse des Sohnes wegen der Umschulung bei der Auswanderung in den Vordergrund. Auf dem Hintergrund des emotionalen Mangels in der Beziehung zur Mutter

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versuchte sie überkompensatorisch die Belange des Sohnes über ihre zu stellen. Wir hielten in der Phase nach der Auswanderung den Kontakt regelmäßig über Skype. Die Patientin ermöglichte ihrem Sohn eine gute Integration in die neue Schule. Ihrem Partner gelang es, seine Kunden von England aus zu betreuen und neue vor Ort zu gewinnen. Nur sie litt unter fehlenden Aufgaben. Trotzdem blieb sie symptomfrei. Der Kontakt über Skype war schwierig. Es kam nur zu einem Austausch von Alltäglichkeiten, so dass wir die Kontakte einstellten. Die Patientin schrieb mir daraufhin noch einige Mails, betonte darin, wie gut es ihr tue, mir von ihrem aktuellen Leben zu erzählen. In einer letzten Reflexion und Beendigung der Therapie meinte sie nur: »Skype ist doof!« Im Nachhinein betrachtet kann es sein, dass Frau H. irritiert war von meinen Bemühungen, sie zu schützen und zu behüten. Dieses Gefühl war ihr fremd. Die frühzeitige Beendigung der Analytischen Psychotherapie durch die Patientin nur als Widerstand zu interpretieren, fällt mir schwer. Ich gehe eher von Angst vor Nähe und einem Wieder-benutzt-Werden aus.

Mein persönliches Fazit (B. J.) Im Nachhinein haben sich für mich beim Benutzen von Skype mehr Schwierigkeiten ergeben als erwartet. Die Zeitverzögerung der Übermittlung irritierte mich, weil Mimik bzw. Gestik nicht zum Gesagten passten. Das Schweigen bekam durch die Technik eine andere Qualität, es wirkte unangenehmer, verunsicherte, da ich immer erst eine Störung ausschließen musste. Die Verzerrung der Stimme und das Wegfallen von feinen Nuancen der stimmlichen Modulation bzw. Sprach- und Bildstörungen störten und senkten die Qualität der Behandlung. Skype bestimmt die Möglichkeiten – »das unheimliche Dritte«. Was bedeutet es für den Patienten, mich in meiner Ohnmacht und Hilflosigkeit gegenüber dem Medium zu erleben? Die Desillusionierung, dass ich nicht omnipotent als Psychoanalytikerin bin, sondern der Unberechenbarkeit der Technik ausgeliefert, verändert die Beziehung. Manche Fragen tauchten erst im Verlauf auf: Wo ist der geschützte therapeutische Raum? Das meine ich nicht nur in Bezug auf die NSA-

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Affäre, sondern etwa hinsichtlich der Frage, ob es ein Patient schafft, sich zu Hause von Störungen abzugrenzen – muss er oder sie nicht auch immer damit rechnen, dass ich in seinen bzw. ihren privaten Bereich eindringe? Was bedeutet Skype für die Abstinenz bzw. unter dem Aspekt des Schutzes für mich als Psychoanalytikerin? Meine Patienten können sehen, wann ich online bin. Dringen sie damit nicht auch in mein Privatleben ein? Wichtig erscheint mir, dass uns bewusst ist, dass durch das Medium Skype manchmal nur eine Pseudonähe erreicht wird. Raum und Zeit werden scheinbar bedeutungslos – ein realer Kontakt fühlt sich anders an. Ich denke, wir dürfen uns nicht der Illusion oder dem Trugschluss einer ständigen Präsenz hingeben. Nach meinen ersten Erfahrungen mit dem Einsatz von Skype stehe ich zu meinen geschilderten Entscheidungen. Beide Patienten, über die ich hier berichtet habe, waren strukturell gestört und litten unter einem »Grundkonflikt der Nähe« (vgl. Rudolf, 2010). Ich sah die Gefahr, dass sie durch die Ortswechsel ihrer »tiefsitzende[n] Angst, die basale Beziehung zu einem Objekt oder die Beziehung zu sich selbst zu verlieren« (S. 34), ausgeliefert waren. Durch die Begleitung über die Ferne, die mit Skype möglich war, wollte und konnte ich dies verhindern. Trotzdem sehe ich die Gefahr der Verleugnung von Trennung und der damit verbundenen Trauer – zumindest hat mir das die zweite Fallgeschichte gezeigt. Manchmal muss ich eine Patientin gehen lassen, auch wenn ich gravierende Befürchtungen habe, und die damit verbundenen Gefühle aushalten. Andererseits konnte durch den Erhalt der therapeutischen Beziehung im ersten Fall der Widerstand der Familie gegen die Autonomieentwicklung des Patienten erfolgreich überwunden werden.

Weitere Überlegungen: Wie neu sind die neuen Medien? In meinem Teil des Beitrages gehe ich, Carola Furck, einem anderen Aspekt der neuen Medien nach als Barbara Jaeger. Meine These ist, dass die so genannten neuen Medien gar nicht so neu sind. Bereits seit Mitte der 1980er Jahre stehen sie uns zur Verfügung.

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Das Internet mit seinen Möglichkeiten ist ein so selbstverständlicher Teil des Alltages der Patienten wie die Benutzung des Autos. Es ist zur Kompensation der strukturellen oder neurotischen Defizite unserer Patienten geeignet, wie vorher Sport, Magersucht oder Ladendiebstahl. Daher sollte bei der Anamneseerhebung die Internetbenutzung mit abgefragt werden. Hätte der Patient, von dem nachfolgend berichtet wird, seine Familie ernähren, seine Steuern zahlen und seine Rentenvorsorge finanzieren können, wenn er die Kompensation durch das Internet nicht gehabt hätte? Hätte er sonst vielleicht getrunken und sich damit körperlich großen Schaden zugefügt und seine Existenz und seine Familie zerstört?

Fallgeschichte 3: Herr W. Ich berichte Ihnen über einen bei Erstkontakt 58-jährigen Patienten, der mehr als zwanzig Jahre ein Doppelleben als Ehemann und Vater in der Realität und als Fraueneroberer in der virtuellen Welt des Internets führte. Er sagte bei Erstkontakt am Telefon, er sei internetsüchtig und seine Frau habe deshalb Brustkrebs bekommen. Internetsucht bei einem Mann, der nicht 18, sondern 58 Jahre alt war – das machte mich neugierig. Aktuelle Lebenssituation: Der Patient meldete sich telefonisch nach einem sechswöchigen Psychiatrieaufenthalt. Er sei während des Auszugs aus der ehelichen Wohnung akut suizidal geworden und durch den von der Ehefrau gerufenen Notarzt in die psychiatrische Klinik eingewiesen worden. Seit einem Jahr fordere seine Frau von ihm, dass er seine Internetkontakte beende. Er habe dies versprochen, trotzdem heimlich weitergemacht. Seine Frau habe das immer wieder herausbekommen. Schließlich habe sie ihn rausgeworfen. In dieser Zeit sei bei seiner Frau Brustkrebs diagnostiziert worden. Während des Klinikaufenthaltes sei er in eine eigene Wohnung gezogen. Kurz darauf habe ihn seine Frau gebeten, zurückzukommen, da es ihr unter der operationsvorbereitenden Chemotherapie sehr schlecht gehe und sie seine Hilfe benötige. Der Patient nimmt Doxepin (25 mg) zur Nacht ein. Zum Erstgespräch kommt ein etwas zu jugendlich in Safarihosen gekleideter, weißhaariger Mann mit Bart.

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Biographie: Der Patient wurde 1947, sechs Monate nach Eheschließung der Eltern, geboren. Die Mutter war zu diesem Zeitpunkt zwanzig Jahre, der Vater 34 Jahre alt. Der Vater hatte im Zweiten Weltkrieg in Ostpreußen seinen Besitz verloren und einen steifen Arm aufgrund einer Kriegsverletzung. Er gründete eine neue Existenz und arbeitete in seinem 150 Kilometer entfernten Geschäft. Die Schwester des Patienten, zwei Jahre jünger als er, war zeitlebens kränklich. Die bei Behandlungsbeginn inzwischen 82-jährige Mutter sei vom 96-jährigen Vater bis heute abhängig. Der Kontakt zum Vater sei distanziert gewesen, er sei jedoch regelmäßig zu den Fußballspielen des Patienten mitgegangen. Dort habe der Patient sich aggressiv behauptet, während er sich in der Familie stets angepasst verhalten habe. Pubertäre Konflikte mit den Eltern gab es nicht. Nach Abschluss der Realschule absolvierte Herr W. eine Lehre als Techniker im Maschinenbau. Er arbeitete in dem Beruf, empfand ihn aber als langweilig. Der Patient war ein sensibles Kind, das noch mit zehn Jahren leicht weinte. Als Kind habe er ausgeprägte Ängste vor dem Alleinsein gehabt. Die Gefühle des Patienten waren in der Familie nie Thema. Er verhielt sich gegenüber der kränklichen Schwester fürsorglich und bemühte sich, die Mutter zu unterstützen. Die Mutter ging mit dem Vater nie in Konflikt, sondern log und taktierte. In der Adoleszenz wurde der Patient immer wieder eingegrenzt. Er arbeitete auf dem Bau, um sich ein Rennrad kaufen zu können. Der Vater verbot das. Er wünschte sich ein Motorrad und bekam ein billiges. Dieses fuhr er ohne Führerschein und wurde angezeigt. Es kam zur Gerichtsverhandlung mit Verurteilung. Mit 18 Jahren fuhr er mit Freunden nach Holland. Zwei Tage später verstarb der Freund, der mit ihm im Zelt schlief, an einer Hirnembolie. Der Patient war fassungslos. Herr W. nutzte die Abwesenheit während des Wehrdienstes, um sich aus der Familie zu lösen. Seit Bundeswehrzeiten hatte er immer mehrere Freundinnen gleichzeitig. Seit dem 26. Lebensjahr arbeitete er in gehobener Position im kaufmännischen Bereich. Er habe Freude am Umgang mit Menschen und verkaufe gern. Mit 28 Jahren lernte er seine unselbständig und hilflos agierende Ehefrau kennen und heiratete sie mit 32 Jahren. Er adoptierte deren Sohn, zu dem er ein gutes Verhältnis habe. Nachdem die Zeit der Existenzgründung mit seiner Frau vorüber war, nahm er Kontakte zu anderen Frauen über das Internet auf und führte so zwanzig Jahre ein Doppelleben. In den Internetforen

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habe der Patient sich schriftlich gut ausdrücken können. Er beschrieb, einen »Jagdtrieb« ausgelebt zu haben. Es sei aufregend gewesen, mit Frauen Kontakt aufzunehmen, Nähe und Distanz hätten sich über das Internet von selbst geregelt. Er habe sich gespürt. Es blieb nicht bei virtuellen Kontakten. Er traf sich mit den Frauen, hatte sexuelle Kontakte. Er hielt die Frauen hin, legte sich nicht fest. Er log und taktierte, um sich mit ihnen zu treffen. Erst als die letzte Freundin ihn massiv bedrängte und Verbindlichkeit forderte, bemerkte die Ehefrau, was vorging. Es kam so weit, dass die beiden Frauen sich trafen und ihn auch gemeinsam in der Klinik besuchten. Die Freundin berichtete seiner Frau alles, was sie wusste. Als Diagnose stellte ich die einer Anpassungsstörung (ICD-10: F 43.2) mit depressiver Episode (ICD-10: F 32.1) und Suizidalität bei aktualisiertem Identitäts- und Selbstwertkonflikt mit ödipalen Zügen. Das Strukturniveau ist bei »Bewältigung der strukturellen Störung durch symptomwertiges Verhalten« einzuordnen. Danach wäre das Strukturniveau mäßig bis gering. Die neurotischen Konflikte, ein Autonomie-Abhängigkeitskonflikt, ein narzisstischer Identitätskonflikt und ein ödipaler Konflikt sind vermischt. Das klinische Bild ist das langjährige Leben in der virtuellen Welt. Die Trennung durch die Partnerin löst beim Patienten eine schwere depressive Episode mit Suizidalität aus. Ich orientiere mich an der »Strukturbezogenen Psychotherapie« von G. Rudolf (2004). Psychodynamik (in Bezug auf das Internet): Der Patient übernahm früh für seine junge Mutter Verantwortung und entwickelte ein falsches Selbst. Der versehrte Vater stand als männliches Vorbild und Identifikationsobjekt vordergründig nicht zur Verfügung. Autonomiebestrebungen des Patienten wurden unterbunden oder endeten in einer Katastrophe. Erst mit der Bundeswehrzeit, als er von einer höheren Macht aus der Familie herausgenommen wurde, konnte er ansatzweise Autonomie entwickeln. Erotische Spannung und sexuelle Aktivität wurden von ihm mit Autonomie und Selbsterleben gekoppelt. Als ich an der Ausarbeitung dieses Beitrages saß, fragte ich mich, ob der Vater die Abwesenheit von der Familie während der Woche ebenfalls für Frauenbeziehungen genutzt habe und der Patient den Vater in seiner Symptomatik doch unbewusst als männliches Vorbild und Identifikationsobjekt nutzen konnte. Gegenüber Frauen verhielt er sich

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immer scheinbar zugewandt und fürsorglich, eigene Interessen setzte er im Konflikt nicht offen durch. Seiner Ehefrau wandte er sich – in Wiederholung des alten Musters – hilfreich, verständnisvoll und stützend zu und adoptierte deren Sohn. Eigene Kinder forderte er nicht ein. Er übernahm scheinbar die Verantwortung und lebte wieder in einem falschen Selbst. Er nahm sich als Mann völlig zurück und setzte die innere Emigration fort. Das Internet ermöglichte ihm, unter Vermeidung von Konflikten mit seiner Frau, eine andere Identität anzunehmen. Dort konnte er eine Sprache für seine Gefühle finden und hatte die Rolle des charmanten Verführers. Aus dem Alltag des selbstlosen Ernährers der Familie konnte er in die Welt des Risikos und der Eroberung, des erotischen Reizes ausweichen und darüber sich selbst wieder spüren. Die Ehefrau entwickelte zeitgleich eine generalisierte Angststörung und band den Patienten immer enger an sich. Es kann angenommen werden, dass sie damit auf die unterschwellig in der Beziehung wahrgenommenen Aktivitäten des Patienten im Internet reagierte, ohne Worte dafür zu haben. Der Patient konnte dies wiederum nur ertragen, indem er in die Welt des Internets auswich und dort Beziehungen lebte, die über das Medium Nähe und Distanz regelten. Als die Ehefrau an Brustkrebs erkrankte und etwa zeitgleich sich trennen wollte, könnte sich biographisch das Erlebnis mit dem Freund, der nach der Reise starb, wiederholt haben. Die Autonomiewünsche des Patienten werden mit dem Tod eines anderen Menschen bestraft. Der drohende Objektverlust führte zu Aggression, die er in Depressivität und Suizidalität gegen sich selbst richtete. Die Selbstaufgabe eskalierte in Selbstvernichtung. Weiterhin gab es durchaus eine tiefe emotionale Bindung an die Ehefrau. Für diese war jedoch weder eine Sprache noch das Werkzeug der angemessenen Beziehungsgestaltung vorhanden. Es war verboten, anders zu sein, Bedürfnisse zu haben, die sich von denen der Ehefrau unterschieden und das Streben nach männlicher Selbstverwirklichung und die Sehnsucht nach Männerfreundschaft und gemeinsamen männlichen Aktivitäten umfassten. Der einfache Zugang zum Internet ließ Herrn W. eine Fiktion seiner Selbst leben. Das Internet stand als spiegelndes und containendes Selbstobjekt Tag und Nacht zur Verfügung. Diese Kompensation lebte er intensiv zwanzig Jahre lang! Erst als eine der betroffenen Frauen von ihm nachdrücklich Verbindlichkeit

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einforderte, die Fiktion sprengte und seine Ehefrau davon erfuhr und darauf wütend und enttäuscht reagierte, konnte er beginnen, echte, tiefe Beziehungen zu leben. Therapieverlauf: Im Fokus der Behandlung stand die Konfrontation mit dem Leben in der Realität und die Aufgabe der Fiktion. Der Umgang mit Aggression, die Verantwortungsübernahme für sich selbst und das eigene Wohlergehen wurden thematisiert. Es wurde an der Bewältigung des Geschehenen gearbeitet. Eine Verbesserung im Gebrauch struktureller Fähigkeiten und die Hebung des Strukturniveaus wurden angestrebt. Das Bindungsbedürfnis wurde als zentrale konflikthafte Motivation identifiziert. Es entwickelte sich schnell eine positive Mutterübertragung. Die Deculpierung, die der Patient durch mich erfuhr – indem ich äußerte, ich hätte große Zweifel daran, dass er an der Krebserkrankung seiner Frau schuld sein könne –, trug dazu bei, dass er Lebendigkeit wagen konnte. In der Gegenübertragung erfreute ich mich an seiner Entwicklung. Ich hatte und habe großen Respekt vor der intra- und extrapsychischen Leistung, die der Patient in der Zeit der Behandlung vollbrachte. Der Patient konnte die fehlenden frühkindlichen Entwicklungsschritte mit Unterstützung der Therapeutin nachholen. In der haltenden therapeutischen Beziehung konnte er die Annahme und Spiegelung seiner Emotionen erleben. Er konnte eigene Bedürfnisse wahrnehmen und benennen. Dadurch fand er Worte, um seine Gefühle auszudrücken, zum Beispiel die Eifersucht auf den chronisch kranken Hund der Familie, der mehr Aufmerksamkeit und Fürsorge erhalten habe als er. Es kam zu heftigsten Auseinandersetzungen der Partner, weil der Patient zunehmend Eigenes wollte – zum Beispiel lieber zum Griechen statt zum Italiener gehen. Er kündigte seine Funktion als emotionales Regulativ der dependenten Ehefrau und forderte von ihr emotionale Selbstverantwortung. Er hingegen übernahm die Verantwortung für sein Befinden. Dieser Prozess forderte ihn vor dem Hintergrund sehr, dass einerseits ein heftiger Partnerschaftskonflikt ausgetragen wurde, er andererseits seine Frau bei der Bewältigung ihrer Erkrankung unterstützen wollte. Er erlebte Grenzen seiner Belastbarkeit und konnte sie gegenüber seiner Frau benennen: »Ich kann die OP-Geschichten nicht mehr hören.« Er stieg aus der Symbiose mit seiner Ehefrau aus und wehrte sich gegen die Idealisierung seiner selbst als perfektem Part-

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ner. »Meine Frau wollte, nachdem wir uns so gestritten haben, mit mir schlafen. Das ging für mich nicht!« Selbst-, Objekt- und Nähe-DistanzRegulierung wurden möglich: »Es gibt nicht nur ein Wir-Gefühl, ich habe auch ein Ich-Gefühl!« Der Patient entwickelte eine realistische Objektwahrnehmung, sah seine Ehefrau mehr in ihren Stärken und Schwächen, auch die inzwischen zunehmend gebrechlichen Eltern, sein Selbst- und Körperbild wurden realistischer. Das Körpererleben wurde aus der Sexualisierung gelöst. Der Patient nahm mit 59 Jahren ein intensives körperliches Training auf. Dies ermöglichte ihm, männlich progressive Impulse lustvoll zu erleben. Aufgrund der erworbenen Fitness war es ihm möglich, die im Jugendalter blockierte Entwicklung männlicher Selbstverwirklichung durch Motorradfahren nachzuholen. Die Auseinandersetzung mit dem Alter(n) der Eltern und dem eigenen Altern half ihm, die Fähigkeit der antizipierten Loslösung von den Objekten zu entwickeln. Er organisierte nach einem kleinen Unfall des Vaters die Übersiedlung der Eltern in ein Altenheim. Die positiven Aspekte des Alterns konnten in der begeisterten Übernahme der Rolle als Großvater angenommen werden. Der Umgang mit dem Internet wurde in kritischer Distanz wieder möglich. Er baute seine Sammlung der Musik seiner Jugend und Adoleszenz aus und nutzte dieses Hobby für die Herstellung einer lustvollen, abenteuerlichen Realität. Der Patient hatte im Internet Fahrradpartner für die nach dem Renteneintritt geplanten Fahrradtouren kreuz und quer durch Deutschland gefunden. Diese wurden mit viel Vergnügen bereits umgesetzt. Das Strukturniveau hat sich von mäßig bis gering integriert zu gut integriert mit Symptomfreiheit entwickelt. Der Patient plante bei Ende der Behandlung im folgenden Jahr in Rente zu gehen. Er meldete sich dann noch einmal mit zwei Postkarten: einmal zur Berentung und einmal zur Geburt seiner Enkelin. Das echte Leben ist aufregend und bunt.

Unser gemeinsames Fazit (C. F. und B. J.) –– Als Teil des Lebensstils im 21. Jahrhundert muss der Umgang mit dem Internet im Alltag der Patientinnen und Patienten in den psychotherapeutischen Behandlungen berücksichtigt werden. –– Wir Analytikerinnen und Analytiker teilen den Alltag der neuen

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Medien mit unseren Patientinnen und Patienten und nutzen die neuen Medien auch. –– Bei allen Möglichkeiten, die das Internet bietet, müssen wir auch die Beschränkungen in der Authentizität der Beziehungsgestaltung berücksichtigen. –– Die Möglichkeiten, die das Internet bietet, können eine Funktion zur Kompensation der Psychopathologie bekommen. Der Gebrauch des Internets kann Teil des Symptoms werden. –– Wir haben den Eindruck bekommen, dass viel mehr Therapie über das Internet durchgeführt wird, als offiziell berichtet wird. Dafür sind mit den Krankenkassen Abrechnungsmöglichkeiten zu fordern.

Literatur Dettbarn, I. (2013). Skype, das unheimliche Dritte und Psychoanalyse. Psyche, 67, 649–664. International Psychoanalytic University (2014). Forschungsprojekte der IPU. Die klinische Praxis und die Forschung. Evaluation of Skype-based psychodynamic psychodynamic psychotherapie training in China. 2012– 2013. Zugriff am 10. 05. 2014 unter http://www.ipu-berlin.de/hochschule/ forschung/projekt/evaluation-of-skype-based-psychodynamic-psychotherapy-training-in-china.html Kächele, H. (2011). Psychotherapie in 5, 10 und 20 Jahren: Wie viel Entwicklung ist voraussagbar und wie könnte sie aussehen? – Perspektive eines Psychodynamikers. Editorial der Zeitschrift PPmP (Psychotherapie, Psychosomatik, medizinische Psychologie). Zugriff am 15. 09. 2013 unter http:// www.lpk-bw.de/fachportal/fachbeitraege/lptage_pdf/lpt2011/110709_vortrag_kaechele_lpt2011.pdf Rudolf, G. (2004). Strukturbezogene Psychotherapie. Leitfaden zur psychodynamischen Therapie struktureller Störungen. Stuttgart: Schattauer. Rudolf, G. (2010). Psychodynamische Psychotherapie. Die Arbeit an Konflikt, Struktur und Trauma. Stuttgart: Schattauer.

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Brauchen die Alfred-Adler-Institute Forschung für ihre zukünftige Entwicklung?

Is the Alfred-Adler-Institute dependent on research for its future development? Focussing only on the education the schools of psychotherapy neglect important fields of research. A more active participation in up-to-date core research such as clinical testing of drug efficacy and psychotherapeutic process research are essential for a scientifically established way of education along current standards of quality.   Therefore there should be an encouragement for a modernisation including a greater focus on scientific orientation and everyday networking with other professions. Zusammenfassung Mit ihrer Fokussierung auf die Ausbildung vernachlässigen die Institute wichtige wissenschaftliche Untersuchungsfelder. Eine aktive Beteiligung an aktuellen Forschungsschwerpunkten, zum Beispiel Wirksamkeitsstudien, psychotherapeutische Prozessforschung, ist jedoch im Interesse einer wissenschaftlichen Fundierung und eines hohen Qualitätsstandards in der Wissensvermittlung dringend notwendig. Es wird eine Modernisierung und Neuausrichtung der Institute angeregt, die eine verstärkte, wissenschaftliche Orientierung und Vernetzung mit anderen Disziplinen zum Ziel haben sollte.

Auf die im Titel dieses Beitrags formulierte Frage kann es nur eine Antwort geben: Ohne eine wissenschaftliche Vernetzung und Teilhabe an der aktuellen psychotherapeutischen Forschungslandschaft werden die Ausbildungsinstitute an Bedeutung und innovativer Kraft deutlich verlieren. Warum dies so ist, haben Fonagy und Target (2003/2006) überzeugend begründet: Eine psychoanalytische Wissenschaft sollte als eine 1

Für die Fachgruppe Wissenschaft.

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integrative Disziplin verstanden werden, die sich die Erkenntnisse möglichst zahlreicher Disziplinen und anderer Informationsquellen zu Nutze macht und sich auf die Schwierigkeiten konzentriert, mit denen subjektive Erfahrungsaspekte das Individuum im Laufe der adaptiven und fehlangepassten Entwicklung konfrontieren (S. 420). Bereits 1994 hatten Grawe, Donati und Bernauer in ihrem Buch »Psychotherapie im Wandel. Von der Konfession zur Profession« die Defizite, aber auch die Perspektiven psychoanalytischer Therapie kritisch benannt: Sie bemängeln die geringe Zahl an Wirksamkeitsuntersuchungen und konstatieren, dass trotz dieser nicht gerade rosigen Evaluationsbilanz der psychoanalytischen Therapie dennoch der Status eines wissenschaftlich fundierten Therapieverfahrens eingeräumt werden muss – »dies liegt vor allem daran, dass der Bereich empirischer Untersuchungen zur psychoanalytischen Therapie weit über den kontrollierter Wirksamkeitsstudien hinausgeht. Der psychoanalytische Ansatz hat sehr viele Fragestellungen angeregt, die auch mit empirischen Forschungsmethoden angegangen wurden und zu einer großen Fülle empirischer Ergebnisse führten. Auf psychoanalytische Autoren geht ein großer Anteil innovativer Ansätze in der psychotherapeutischen Prozessforschung zurück (Dahl, Kächele und Thomä, 1988). Psychoanalytische Autoren, wie Luborsky und Strupp, haben einen ganz maßgeblichen Einfluss auf die Psychotherapieforschung genommen« (Grawe, 1994, S. 730). Dies klingt ermutigend und beruhigend, sollte die psychoanalytische Community jedoch nicht in Sicherheit wiegen. Denn zu gewaltig sind die Herausforderungen sowohl in der Ausbildung als auch in der wissenschaftlichen Fundierung. Thomä und Kächele (1985) plädieren dafür, »die psychoanalytische Praxis sowohl als das Herzstück der Therapie als auch als wesentlichen Bestandteil des Forschungsprozesses der Psychoanalyse zu betrachten. Sie ist das Feld, auf dem sich sowohl der Heilungsprozess als auch die Gewinnung heuristisch wertvoller Erkenntnisse vollziehen können. Bei Prüfung dieser Erkenntnisse, seien sie grundlagen- oder anwendungswissenschaftlicher Art, ist die Einbeziehung unbeteiligter Dritter unerlässlich und entscheidend. Die im Junktim angesprochene Forschung der Psychoanalyse müssen wir dahingehend eingrenzen, dass mit ihr nur die Entwicklung und die Gewinnung von vorläufigen Hypothesen erreicht werden kann,

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nicht aber deren Prüfung. Der Analytiker, der im therapeutischen Alltag steht, muss sich fragen, ob seine Behandlungstechnik sowohl für die Aufstellung neuer Hypothesen und die Vertiefung des psychoanalytischen Wissens als auch für die Förderung des Heilungsprozesses geeignet ist« (1985, S. 383). Doch wie lässt sich dieser hohe methodische Anspruch, den die psychoanalytische Forschung zu erfüllen hat, in der Praxis umsetzen? Wie lässt sich die »Psychotherapie als Profession« (Buchholz, 1999) vermitteln und lernen? Die psychoanalytischen Institute verstehen ihre Hauptaufgabe in der Ausbildung von Therapeuten, wobei auf systematische Forschung weitgehend verzichtet wird. Wenn sie erfolgt, dann in enger Kooperation mit universitären Abteilungen (siehe die vergleichende Wirksamkeitsstudie zur psychoanalytischen und kognitiv-verhaltenstherapeutischen Langzeittherapie bei chronischer Depression (LAC): Leuzinger-Bohleber, 2013; Bahrke et al., 2013). Mit ihrer Fokussierung auf die Lehre gleichen die Institute jedoch in ihrer Struktur und Funktion nach Kernberg (1984) eher Berufsschulen und theologischen Seminaren als wissenschaftlichen Hochschulen. Diese Orientierung hat ihren Preis und ist mit gravierenden Mängeln und Folgen verbunden. Ausgehend von einem Unbehagen an dem »geschlossenen Ausbildungssystem« der Institute formulierte Cremerius (1987): »Soll die psychoanalytische Ausbildung psychoanalytisch reorganisiert werden, muss die Selbstverantwortung bei Lernenden und Lehrenden an die Stelle von Reglementierung, muss Freiheit in Forschung und Lehre an die Stelle von Chorgeist treten« (S. 1067). Der Lösungsvorschlag von Cremerius (1987) besteht ebenfalls darin, »aus dem Berufsschul- und Facharztausbildungssystem auszusteigen und uns mehr wie Universitäten zu organisieren – nicht wie sie sind, sondern wie sie gedacht sind –, dann müsste sich das Klima in der Institution verändern. […] Wir müssten erklären, dass wir als Institution einen Raum schaffen wollen, in dem Psychoanalyse in ihrer Konflikthaftigkeit und Widersprüchlichkeit vermittelt und erfahren werden kann, dass die Institution nicht dazu da ist, die Psychoanalyse zu verwalten, sondern dazu, den nie abschließenden Prozess zu fördern, der Wissen stets aufs neue erzeugt« (S. 1093 f.). Auch wenn Höhfeld (1998) die Zukunft der Psychoanalyse als ausreichend gesichert sieht, drohen ihr andererseits zwei Gefahren, an

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deren einem Ende Häresie und Dogmatisierung und am anderen Ende gefällige Anpassung stehen. Die Psychoanalyse befindet sich also im Dilemma aller Ordnungen: Auf der einen Seite droht die Erstarrung, auf der anderen Seite droht der Zerfall aller Strukturen und das Chaos. Eine Modernisierung und Neuausrichtung der Institute hat sich also diesen Gefahren zu stellen, die unseres Erachtens nur dann bewältigt werden können, wenn eine wissenschaftliche Orientierung und Vernetzung mit anderen Disziplinen gelingt. Hierbei stellt nach Brockmann et al. (2013) die Organisation von Forschungsprojekten ein vorrangiges Ziel dar und sollte – wenn immer möglich – als gemeinsame Projekte mit Universitäten, Fachhochschulen oder anderen Institutionen geplant und durchgeführt werden. Wenn das methodische Know-how zur Planung und Durchführung von Forschung in Instituten bereits verloren gegangen ist, müssen Wissenschaftler von außen hinzugezogen werden. Kandidaten und Dozenten, die wichtige Forschungsarbeiten durchführen, sollten institutionelle Anerkennung in der DGIP finden, unterstützt, gefördert und für den Dozentenstamm gewonnen werden. Ziel ist es, psychoanalytische Theorie und Praxis professionell weiterzuentwickeln und künftig wissenschaftliche Laufbahnen zu unterstützen. Die Zulassung wissenschaftlich aktiver und interessierter Ausbildungskandidaten sollte Vorrang haben (siehe Kernberg, 2012). Dieser Nachholbedarf bei Themen der wissenschaftlichen Fundierung verlangt die Durchführung spezieller Veranstaltungen zur Vermittlung von wissenschaftlichen Evaluationsmethoden, zur Einzelfallforschung und zum Anleiten entsprechender Studien. Hierzu gehört auch, Ergebnisse kritisch interpretieren zu können, unter anderem hinsichtlich ihrer methodischen Sorgfalt und der damit verbundenen Limitationen (Lehmkuhl, 2013). Und so fordert auch Kernberg (2012), dass das Leben der Institute forschungsorientiert sein müsse. Dies gilt umso mehr, da die Ergebnisse verschiedener Forschungsbereiche, zum Beispiel der Psychotherapieprozessforschung, der Säuglings- und Hirnforschung, bisherige wichtige Grundannahmen der traditionellen psychoanalytischen Theorie in Frage stellen und verändern (Lehmkuhl, 2010). So ist nach Eagle (1988) völlig ungewiss, »was von der traditionellen psychoanalytischen Theorie übrig bleibt, wenn man den Umfang der Neuformulierungen genau betrachtet (S. 3). Er plädiert dafür, den Ansturm neuer Ideen und Begriffsbildungen einer systematischen Prüfung zu unterzie-

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hen und deutlich zu machen, »inwiefern die psychoanalytische Theorie überholt worden ist, was von ihr bleibt und welche Gestalt die neuen psychoanalytischen Begriffe der Persönlichkeitsentwicklung, der Psychopathologie und der Conditio humana angenommen haben« (S. 5). Doch wie ist dies alles zu bewältigen? Es lässt sich nicht leugnen, dass diese gesteigerten Anforderungen an Ausbildung und an empirisch wissenschaftlicher Orientierung der Institute mit einem höheren Standard an die Dozenten und Curricula verbunden sind. Es geht aber auch um die Konkurrenzfähigkeit der Institute, wie das Psychotherapiegutachten (Strauss et al., 2009) zeigt. In der Befragung von Ausbildungsstätten und -teilnehmern über ihre Einschätzung der Wissensvermittlung und Ausbildungssituation bestand unabhängig von der theoretischen Grundausrichtung der Wunsch nach einer verstärkten Vermittlung von sowohl übergreifenden als auch störungsspezifischen Kenntnissen, dabei wurde der Psychotherapieforschung ein hoher Stellenwert eingeräumt. Die generelle Position sollte deshalb lauten: Um für die Zukunftsaufgaben gerüstet zu sein und den aktuellen Anforderungen der Versorgungslandschaft gerecht zu werden, hilft nur der Blick nach vorne. Hierbei sollten folgende Aspekte eine besondere Berücksichtigung finden: –– Die individualpsychologischen Institute sind primär Ausbildungsinstitute. Als solche stehen sie in Konkurrenz mit anderen, insbesondere auch universitären Ausbildungsgängen. Um sich zu behaupten, benötigen sie stärker denn je eine wissenschaftliche Fundierung. –– Eine Überarbeitung und Aktualisierung der Curricula ist überfällig. Der Wissenszuwachs und die verstärkte Differenzierung theoretischer Konzepte und praxeologischer Methoden sollte von den Instituten als stetige Herausforderung angenommen werden. Um dies auf hohem Niveau zu gewährleisten, sollte eine Anbindung an Forschungs- bzw. universitäre Strukturen angestrebt werden. –– Gelingt es in der Weiterbildung nicht, die Teilnehmer mit neurowissenschaftlichen Grundlagen, Ergebnissen der empirischen Therapieforschung, neuen diagnostischen und therapeutischen Strategien und Methoden in Berührung zu bringen, dann fehlen auf Dauer Basis und Grundlage, um in der aktuellen Psychotherapielandschaft zu bestehen. –– Im Interesse einer individualpsychologischen Identität der Institute

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müssen die zentralen Begriffe der Adler’schen interpersonalen Terminologie verbunden werden mit den Begriffen, die in der heutigen wissenschaftlichen Diskussion stehen. Nur dadurch kann es gelingen, theoretische und praktische Bedeutung zu behalten und zu erweitern. –– Eine stärkere Orientierung nach außen bedeutet eine intensivere Vernetzung. Sie sollte dazu beitragen, aktuelle Forschungsergebnisse in die psychoanalytische Theorie und Therapie zu integrieren. Dabei soll nach Kernberg (2012) das Interesse an der Lehre, der Forschungsmethodik und der Förderung von Forschungsaktivitäten des Instituts gefördert und unterstützt werden, unter Einbeziehung von Vertretern der Nachbardisziplinen. Wir wollten dazu anregen, individualpsychologische Konzepte mit neuen Ansätzen zu verbinden, und auf die Notwendigkeit einer wissenschaftlichen Fundierung hinweisen, da nur eine intensive Verknüpfung von Behandlungspraxis und Versorgungsaufgaben mit wissenschaftlichen, evidenzbasierten und empirischen Methoden langfristig Perspektiven hat. In seinen Überlegungen zur Akademisierung der Psychotherapie am Beispiel der Sigmund-Freud-Privatuniversität Wien betont Rieken (2013) die Verbindung von Profession und Wissenschaft als einen wesentlichen Vorteil gegenüber den bisherigen Ausbildungsangeboten. Darüber hinaus würden der von vielen bemängelte Dogmatismus und die restriktive Atmosphäre, wie sie in vielen Ausbildungsvereinen dominiert, reduziert. Auf diese Entwicklung und die zunehmende Etablierung der Psychotherapieausbildung an Universitäten müssen die Institute eine schlüssige Antwort finden. Die individualpsychologischen Institute sind dabei, sich diesen neuen Themen zu öffnen. Hierbei könnte es hilfreich sein, eine Task-Force-Gruppe zu bilden, in der Konzepte und Strategien gemeinsam überlegt, geplant und umgesetzt werden.

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Brauchen die Alfred-Adler-Institute Forschung?251

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Gerd Lehmkuhl und Holger Kirsch

Strauss, B., Barnow, S., Brähler, E., Fegert, J. M., Fliegel, S., Freyberger, H. J., Glaesmer, H., Goldbeck, L., Spröber, N., Leuzinger-Bohleber, M., MichelsLucht, F., Sonntag, A., Lebinger-Vogel, J., Willutski, U., Kohl, S. (2009). Angebot und Nachfrage. Ausbildung zum psychologischen Psychotherapeuten. Psychotherapeut, 54 (6), 446–468. Thomä, H., Kächele, H. (1985). Lehrbuch der psychoanalytischen Therapie. Bd. 1: Grundlagen. Berlin u. a.: Springer.

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Jürgen Hardt

Psychotherapie unter Herrschaft des Man – Subjekt und Beziehung in der Internettherapie

Psychotherapy under rule of the »One« (Man) – subject and relations in internet therapy The difference between everyday-psychotherapy and professional psychotherapy is substantiated by their relation to every-day-understanding of the »Man« (M. Heidegger). Because of the internet being ruled – as an indiscrete und commercial medium – by the »Man« Internet Psychotherapy cannot do anything other than offer counseling to the every-day-psychology. Psychotherapy of the Self deconstructing the »Man« requires a private and »zwischenleibliche« (inter-corporeal) encounter. The net cannot offer this. Close reciprocal connection between media and culture process is shown in a culture-historical sketch, a process having its actual climax in a cyber-mysticism with accompanying fears of catastrophe and promises of redemption. Zusammenfassung Der Unterschied zwischen Alltagspsychotherapie und professioneller Psychotherapie wird im Verhältnis zum Alltagsverstehen des »Man« (M. Heidegger) begründet. Weil das Internet als indiskretes und kommerzielles Medium vom Man beherrscht wird, kann Internettherapie nur eine Beratung – als Aufrüstung und Wieder-in-Gang-Setzen – der Alltagspsychotherapie bieten. Eine Psychotherapie des Selbst, die das Man in seinem Selbst-Verstehen befragt, bedarf einer »privaten« zwischenleiblichen Begegnung, die das Netz nicht bieten kann.   In einer kulturgeschichtlichen Skizze der Medienwechsel wird das enge Zusammenwirken von Leitmedien und Kulturprozess aufgezeigt, der aktuell in einer Cybermystik mit überzogenen Katastrophenbefürchtungen und Heilserwartungen gipfelt.

Vorbemerkungen Zwei Definitionen vorweg: Unter Internettherapie verstehe ich psychotherapeutische Behandlung, die im Internet angeboten wird und sich des Netzes als Medium bedient. Ich bin 2009 in meiner Funktion als Präsident der Psychotherapeu-

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tenkammer Hessen auf Internettherapie aufmerksam geworden. Darüber habe ich 2012 im Tagungsband der Deutschen Gesellschaft für Psychoanalyse, Psychotherapie, Psychosomatik und Tiefenpsychologie (DGPT) »Nutzt Psychoanalyse?!« berichtet (Hardt, 2012a). Damals ging es um Berufsrechtsfragen, weil nach der Berufsordnung für Psychologische Psychotherapeuten sowie Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten Fernbehandlungen untersagt sind (vgl. Hardt u. Ochs, 2011). Später habe ich mich tiefer in die Thematik eingearbeitet und mich mit der kulturellen Bedeutung der Virtualität befasst (Hardt, 2012b). Mit Internettherapie meine ich nicht die Nutzung elektronischer Wege zur Aufklärung und Beratung, Überbrückung von Abwesenheit und Distanz in »regulären« (Face-to-Face-)Therapien. Hier geht es um Internettherapie, die als gleichberechtigte oder gar überlegene Alternative zur herkömmlichen Psychotherapie im Netz auftritt. Ob die kulturpsychologischen Grundprobleme für Beratungs- und subsidiäre Beziehungen gelten, muss untersucht und gewertet werden. Bisher muss jeder selbst verantworten, welchen Gebrauch er oder sie in der therapeutischen Praxis von den digitalen Medien macht, wie Chancen und Risiken bewertet werden und inwieweit die therapeutische Praxis im kulturellen Mainstream mitschwimmt oder kritische Distanz dazu einnimmt. Das Konzept des »Man« nimmt einerseits eine alltägliche Redeweise auf, folgt zugleich aber der existenzialen Interpretation Martin Heideggers in »Sein und Zeit« (1927/1963). Die Rezeption seiner Analyse ist aber tendenziös verstellt, weil das Man einseitig als Uneigentlichkeit aufgefasst worden ist. Maurice Merleau-Ponty hat das Man aus dieser minderen Position wieder in die angemessene Stellung als Existenzial jeden Da-Seins erhoben, wie es ursprünglich bei Heidegger gedacht war.

Teil 1 Man sucht Therapie, wenn man nicht mehr mit sich zurechtkommt und sich nicht mehr zu helfen weiß. Weil man nicht mehr so ist, wie man üblicherweise zu sein hat. Früher, sagen Patienten, war alles gut, man kam gut zurecht. Und überhaupt war alles in Ordnung, solange Man

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war, wie man gewohnt war zu sein (vgl. Alltagsverstehen und Kunst des Verstehens in Hardt, 2013, S. 161–171). Im alltäglichen Reden – das wir als Therapeuten oft ungeduldig unterbrechen – zeigt sich, dass das Selbstsein als Man – das ManSelbst – ein mächtiges Regulativ des Alltags ist. Man weiß, was sich gehört und was man zu tun hat. Wir wissen, wie man sich helfen kann, wenn man nicht gut drauf ist. Und wir wissen, was man vom Leben zu erwarten hat und wo man besser Verzicht leistet. Wenn nicht mehr gelingt, was man alltäglich tut, ist das alltägliche Wissen und Können am Ende. Dann, wenn die Alltagspsychologie und Alltagspsychotherapie des Man mit ihren Rezepten für das Leben nicht mehr ausreichen, wird Fachlichkeit nachgefragt. Im Scheitern des Man setzt die fachliche Psychotherapie ein; sie nimmt die alltägliche Sicht zur Kenntnis und löst sich von dem, was man zu wissen und zu können glaubt, oder sie bietet als Beratung bruchlos eine Wieder-Aufrüstung des Man. Die aufklärende Psychotherapie stellt die Alltagspsychotherapie des Man radikal in Frage und transformiert sie, um sie verändert wieder zu errichten. Die beratende Psychotherapie setzt das Man unbefragt wieder in Gang. Viele suchen, bevor sie sich in Therapie begeben, Ratschlag, und zwar zuerst im vertrauten Umfeld des Man, dort wo man sich kennt. Wenn das nicht ausreicht, dann gehen sie auf den Beratungsmarkt und dort gibt es eine Fülle von Angeboten. Es gibt Bücher, in denen man liest, wie man mit Krisen umgehen kann. Es gibt Bücher, in denen zu erfahren ist, wie man es macht, auf gute Gedanken zu kommen und nicht in sich zu kreisen. Es gibt Bücher, die helfen, zurechtzukommen und wieder zu sein, wie man eben ist: mal gut drauf, mal schlecht drauf, aber nicht immer in düsteren Gedanken versunken und am Ende seines Wissens. Solcher Rat ist hilfreich und kostbar in einer lebensfernen Kultur, in einer, in der das Wissen vom Leben nicht mehr erzählend tradiert wird. Solche Art Beratung gibt es als Massenware im derzeit verbreiteten und virulenten Kommunikationsbereich, dem Internet. Dort tummeln sich Ratgeber für jede verfahrene Lebenssituation. Dieser Rat ist bequem, anonym und höchstpersönlich. Der Ratgeber ist keiner und jeder, eben ein Man. Dort bieten Man-Experten an zu helfen, wenn man nicht mehr weiter weiß, überall, sofort, immer, schnell und angenehm.

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Dort wird man wieder aufgerichtet, dort wird man auf andere Gedanken gebracht und sogar fachlich angeleitet, mit genügender Übung, mit dem Leben wieder zurechtzukommen. Das nennt man dann Internettherapie. Auf diesem Prinzip beruht die erwiesen erfolgreiche Internettherapie von Angststörung und Depression. Wie die ihr zugrunde liegende Kognitive Verhaltenstherapie (CBT) hat sie die Grenze zwischen der Beratung des Man und der Therapie des Selbst geschleift und leistet als Beratung für das Man förderliche Dienste. Das Internet bietet die aktuellste Form der Kommunikation, sagt man, warum sollte darin nicht auch psychotherapeutische Hilfe angeboten werden? Eine hilfreiche neue Form der therapeutischen Fern-Beziehung. Aber, was ist das für eine neue Form der Beziehung? Es ist eine bequeme Form des Datenaustausches oder des Austausches von Informationen, das heißt, es stiftet Konnektivität – und das ist etwas anderes als Beziehungsstiftung. Was spricht dagegen, psychotherapeutische Hilfe auch in diesem Medium anzubieten? Besonders, weil sich bestimmte Formen der Psychotherapie ohne Mühe ins Medium Internet transportieren lassen. Wissenschaftlich erwiesen ist, dass CBT Internettherapie bei Depressionen und Angststörungen mindestens genauso gut, wenn nicht sogar besser und nachhaltiger wirkt als herkömmliche CBT-Psychotherapie. Ist es nicht angebracht zu fragen, was es mit der CBT auf sich hat (genauer dazu: Hardt, 2012a)? Von der Gleichwertigkeit der Internettherapie war in den letzten Jahren auffällig oft zu lesen. Unter Bezug auf eine Studie aus Zürich. Bei genauerer Lektüre des Untersuchungsberichtes erscheint die öffentliche Aufmachung wie eine arge Vergröberung und Übertreibung, so, wie es sich für den Werbemarkt gehört. Besonders das Versprechen der Kostensenkung durch Internettherapie scheint die Befunde interessant zu machen. In der Studie werden die Ergebnisse von modularisierten CBT-Interventionen dargestellt, die im gleichen Schema, nur in unterschiedlichen Formen, Face to Face versus virtuell, appliziert wurden. Die Züricher Gruppe schreibt von »internet-based-intervention« (Wagner, Horn u. Maercker., 2013) und vermeidet den Titel Psychotherapie. In der publizistischen Rezeption fällt diese Zurückhaltung weg: Dort ist von Internettherapie die Rede, die der Face-to-Face-Therapie überlegen sei (Ärztliche Praxis, Neurologie, Psychiatrie, 2013; Ärzte-

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zeitung, 2013; Der Nervenarzt, 2009). Die deutschen Anbieter zum Beispiel von Deprexis sind vorsichtiger (geworden), möglicherweise nicht aus Einsicht, sondern wegen der Einsprüche der Kammern, dort ist von Beratung oder Hilfsmittel die Rede, die keine Therapie ersetzen können, hauptsächlich, wenn ernste Komplikationen drohen – wie zum Beispiel drohende Suizidalität –, wird immer wieder auf die Grenzen der »Beratung« hingewiesen. Ich will die Untersuchung zur Effektivität von Internetinterventionen nicht im Einzelnen diskutieren. Das bringt nicht viel. Wesentlich bleibt die Frage – und die wurde schon oft gestellt –, welche Patienten reagieren und profitieren von diesen Angeboten und, was noch wichtiger ist, handelt es sich hier um Psychotherapie oder nicht doch um eine Form der Beratung, die sehr hilfreich sein kann? Beratung, die hilft, wenn sich Menschen verstanden und nicht in Frage gestellt fühlen. Wenn sie solche Beratung nachvollziehen und annehmen können, weil sie verstehen, was geschieht, und daran mitwirken können. Der Horizont des alltäglichen Man wird nicht überschritten; das nenne ich Beratung. Ich weiß natürlich, dass die Grenze zwischen Beratung und Therapie nicht undurchlässig ist. Es gibt Übergänge und Zwischenzonen, je nach therapeutischer Strategie unterschiedlich betont und bewertet. Wenn allerdings, wie ich das tue, die oft hilfreiche und ausreichende Alltagspsychotherapie des Man von der methodisch ausgewiesenen fachlichen Psychotherapie des Selbst unterschieden wird, dann wird die zu befragende Bindung an das Man zur Markierung einer Grenze.

Teil 2 Psychotherapie hat ihre Zeit. Sie ist eng mit ihrer Zeit verbunden, denn sie ist das Produkt der Kultur, in der sie nötig wird. Insofern ist Psychotherapie eine Kulturtechnik. Sie beschäftigt sich mit psychischen Erkrankungen in bestimmten kulturellen Kontexten und sie wirkt entweder dem Kulturprozess entgegen oder versucht ihn zu befördern. Selten bemüht sie sich, auf den Kulturprozess einzuwirken. Weil die Psychotherapie eine Kulturtechnik ist, war es folgerichtig, dass sowohl Sigmund Freud als auch Alfred Adler sich neben der Behandlung von individuellem Leiden mit der Pathologie von Kultur-

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prozessen beschäftigt haben. In diesem Zusammenhang haben sie zur kulturellen Situation – Adler entschieden politischer als Freud – Stellung bezogen. Sie haben kulturelle Fehlentwicklungen herausgestellt und benannt (Freud vorsichtig in: »Die ›kulturelle‹ Sexualmoral und die moderne Nervosität«, 1908, »Zeitgemäßes über Krieg und Tod«, 1915, sowie die kulturpsychologischen Schriften ab 1921 – siehe Freud, 2014). Adler entschieden polemisch unter anderem in: »Die andere Seite – eine massenpsychologische Studie über die Schuld des Volkes« (1919, eine brillante Schrift). Dass Psychotherapie eine Kulturtechnik ist, zeigt sich auch darin, dass das Verständnis der psychotherapeutischen Aufgabe je nach kultureller Situation verschieden ist. So sah Freud am Ende des 19. Jahrhunderts die kulturelle Sexualmoral als ausschlaggebend für die neurotischen Bildungen an und entwickelte eine Therapie, die durch die Behandlung der Verformungen sexueller Bedürfnisse unter dem Druck der Zeit bestimmt war. Wir haben in der Entwicklung der Psychoanalyse lernen müssen, dass in Zeiten, in denen die Entfaltung des Ich ganz im Vordergrund stand, eher Pathologien der Ich-Entwicklung leidensbestimmend waren. Schon der Schritt zum Selbst war eine wesentliche Veränderung. Die neoliberale Wettbewerbskultur erfordert psychotherapeutische Überlegungen zum erschöpften Selbst, das aktuell im Vordergrund steht. Dort zeigt sich, dass in anderem kulturellen Kontext gelungene Lebensformen mit großem individuellem Leiden verbunden sein können, weil Grundanforderungen seelischen Lebens nicht erfüllt werden. Grundstörungen gab es schon zu Beginn der Entwicklung der Psychoanalyse, sie traten aber nicht als Leiden in den Blick; die veränderte kulturelle Situation haben sie zum Vorschein gebracht. Im Zentrum steht heute: Durch die Virtualisierung der Welt ist die pathologisch und pathogenetisch bedeutsame Grenze zwischen Realität und Phantasie gefährdet sowie die Feste eines Subjektkerns verflüssigt: eine Kernschmelze des virtualisierten Subjekts, das dem manipulierbaren Man den Raum gibt. Wenn Psychotherapie eine Kulturtechnik ist, dann muss sie sich auch mit dem Kulturprozess befassen, in dem sie ihre Aufgabe zu erfüllen hat.

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Teil 3 Kultur kennzeichnet das Verhältnis der Menschen zur umgebenden Natur und zugleich das Verhältnis der Menschen zueinander. Dabei hat Kultur Prozesscharakter, sie ändert sich und strebt auf ein Ziel zu. Weil Kultur zwischen den Menschen geschieht, ist sie auf Mitteilung angewiesen und diese geschieht auf unterschiedliche Weise. Deswegen ist der Kulturprozess wesentlich durch die Medien mitbestimmt, mit denen sich die Menschen untereinander verständigen und ihr gemeinsames Leben miteinander abstimmen. Im letzten Jahrhundert ist deutlich geworden, welchen enormen Einfluss Medien auf das menschliche Miteinander sowie auf den Umgang der Menschen mit der Welt, dem Wissen und mit sich selbst haben. Medien haben einen großen Einfluss auf die kulturelle Entwicklung, obwohl sie Kulturkrisen nicht bewirken, wie oft befürchtet wird, entfalten sie ihre Wirkung in bestimmten kulturellen Situationen und wirken auf diese mit ein. (Nancy Baym, 2010, spricht vom Zusammenwirken des Kulturprozesses und der Medien, damit berichtigt sie die einseitigen Schuldzuschreibungen, die sich darin erschöpfen, böse Medien für den kulturellen Verfall anzuprangern; eine Deutungsfigur, die immer wieder aufgegriffen wird.) Aus diesem Grunde ist es, um den jeweiligen Mediengebrauch zu verstehen, notwendig, sich in einem Abriss der Medienwechsel deutlich zu machen, was Medienwechsel kulturell bewirkten, welche Chancen und welche Grenzen sie mit sich brachten. Medienwechsel waren immer mit Heilserwartungen und Untergangsphantasien verbunden. Die Untersuchungen von Walter Ong (1982) haben gezeigt, wie der Schritt von der Oralität – von der sprachlichen – zur Literarität – der schriftlichen Mitteilung – wesentliche kulturelle Änderungen bewirkte. Die Nähe und die direkte Gebundenheit an die geteilte Situation der sprachlichen Kommunikation wurden durch ein unlebendiges Produkt abgelöst, das außerhalb der gegenwärtigen Beziehung besteht und die momentane Beziehung überdauert. Die Schrift hat Auswirkungen auf das Denken und das Selbstverständnis der Menschen; schon Platon hat Sokrates darauf hinweisen lassen. Interessanterweise wird von Sokrates aber schriftlich berichtet, er selbst habe sich nie schriftlich geäußert. Platon, Schüler von Sokrates,

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schreibt darüber. Platons Werk ist aber ohne Verschriftlichung nicht denkbar, es lebt in und von der Schrift. Im Dialog Phaidros (um 370 v. Chr./1993, S. 60–65) finden sich die Reflektionen des Sokrates über den Übergang von der Sprache zur Schrift. Sokrates weist darauf hin, dass durch die Schrift das Gedächtnis entäußert wird und dass so das Erinnerungsvermögen geschwächt und verändert wird. Es ist nicht mehr notwendig, in der sprachlichen Wiederholung weiterzusagen, um zu erinnern, sondern das Geschriebene überdauert und übernimmt als beziehungsneutrales Produkt die Funktion der geteilten Erinnerung. Des Weiteren muss nicht mehr geordnet und wiederholt werden, was behalten werden soll: Reim, Rhythmus und Metaphorik verlieren ihre mnestische Funktion. Schon Sokrates bemerkt, dass der Wert des Aufgeschriebenen unbestimmt ist, alles kann aufgeschrieben werden. Was dagegen erinnernd wiederholt wird, hat Wert, sonst würde es nicht weitergesagt, – die Schrift bleibt auch so bestehen. In der Lehre bringt die Schriftlichkeit eine weitere Veränderung mit sich. Sprechende und Hörende sind an eine Situation gebunden, der Schreiber kann sich dem Leser in der Abwesenheit mitteilen. Das ist einerseits ein Gewinn an Breite. Der Verlust besteht darin, dass der schriftliche Text zu einem toten Text wird, der auf Nachfragen nicht reagieren kann. Der Schreiber kann sich nicht unmittelbar überzeugen, ob sein Wort angekommen oder aufgenommen worden ist. Missverstehen kann nicht augenblicklich behandelt werden. So entsteht die einsame Lesesituation als Vermittlung anstelle des Zwiegesprächs. Auch die Position der Alten als Träger der Tradition und des Wissens vom Leben verändert sich, das jeweils Aktuelle tritt aus der Zeit. In der Vorgeschichte unseres heutigen Medienwechsels zur Digitalisierung wird als nächster Schritt die Erfindung des Buchdruckes angeführt. Damit wurde das einmalige, kostbare Manuskript, das keine große Verbreitung hatte und nur in Abschriften am Leben erhalten wurde – und damit ständiger Veränderung unterlag –, zum Typoskript. Durch den Buchdruck konnten unendlich viele identische Exemplare hergestellt werden, die unendliche Verbreitung erreichten. Allerdings erst auf einem Markt der Bücher, im Zusammenspiel mit neuen Institutionen, wie der Verlegerschaft, dem Buchhandel, den Druckereien. Erst dann konnte das Typoskript zu einer neuen Form der Kommunikation werden, die einige

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hundert Jahre dominant blieb und große kulturelle Wirkung entfaltete: Ohne das gedruckte Buch wäre die Reformation nicht in Gang gekommen und der Beginn von Moderne und Aufklärung ist ohne das neue Medium nicht denkbar. In der katholischen Kirche sah man die Gefahr, die Bibel als das Buch der Bücher trete in eine unendliche Reihe von Büchern. Die beginnende Alphabetisierung brach schließlich die Macht des lesenden Klerus; man befürchtete das Schlimmste und wollte den Buchhandel unterbinden. Trotzdem setzte sich das neue Medium durch. McLuhan (1962/2002, 1968) sprach von der Gutenberg-Galaxis. Das Typoskript setzte sich aber nicht einfach durch, sondern es bedurfte einer bestimmten kulturellen Situation, die gleichzeitig von ihm mit bewirkt wurde: die Renaissance und schließlich der Beginn der Moderne. An diesem Medienwechsel könnte man noch sehr viel mehr verstehen. Ich komme kurz auf einen weiteren Medienwechsel Mitte des 19. Jahrhunderts. John Stuart Mill hat seine Auswirkungen beschrieben. In dieser Zeit kam der Massendruck auf den Markt. Nicht mehr einzelne, sorgsam verlegte Bücher, sondern die Massenpresse brachte unübersehbare Massenpublikationen. Das beunruhigte John Stuart Mill, den belesenen und etwas elitären Mann. Er stellte fest, dass durch die Massenproduktion von Publikationen sowie ihre Logik des Vermarktens das Verschriftete entwertet wird, weil jeder alles schreiben könne und jeder alles zu lesen vermöge, womit das geschriebene und gedruckte Wort seine besondere Stellung verliere (Mill, 1977, S. 134, Fußnote). Von ihm stammt die Bemerkung, dass in Zeiten der Massenproduktion von Druckware niemand mehr ein erlesenes, kostbares Buch mehrfach liest und damit dem, der das Buch geschrieben hat, die notwendige Referenz erweist. Denn ein Buch schreibt sich nicht einfach hin, sondern es bedarf langer Überlegung und vielfacher Überarbeitung und ist von daher wert, mehrfach gelesen zu werden, will man sich nicht anmaßen, im Überfliegen die Gedanken des Autors schon erfasst zu haben. Aber auch das war nur ein weiterer Schritt zu dem Medienwechsel, den wir zur Zeit der Massenkommunikation, die sich vom Druck löste, zu beobachten haben. Weitere Schritte waren Radio und Fernsehen. Wiederum Medienwechsel, die wie immer mit hohen Erwartungen, Heilsversprechungen und katastrophalen Befürchtungen verbunden wurden. Immer befürchtete man, dass das wertvoll zu Papier

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Gebrachte, das sorgfältig Verlegte und Vertriebene an Wert verliere und in der Masse der Information untergehe. Eine Verflachung wurde befürchtet. Die Schrift verlor wieder an Bedeutung, was zur Überlegung führte, dass in der Fernkommunikation die Oralität wieder entsteht: das globale Dorf, in dem jeder mit jedem immerfort schwätzen kann. Und tatsächlich sind Momente der Oralität in den neuen Medien zu beobachten: der informelle Stil der Ur-Mails, die Talks und das zwitschernde Geschwätz. Die Leichtigkeit der Vermittlung führt zu einer Entdifferenzierung der Information, sowie zu einer Reemotionalisierung. Die Schrift wird mit Chiffren (Emoticons) angereichert, um Gefühle zu transportieren. Mit dem Computer und zuerst den E-Mails kam ein neues Medium auf den Markt, das enorme kulturelle Auswirkungen hat. Jetzt ist es möglich, sich schnell und komplikationslos mit vielen Leuten in Verbindung zu setzen. Zuerst von einem Sender zu vielen Empfängern, dann kommt es im zweiten Schritt der Digitalisierung, dem Web 2.0, zu einem umfassenden Austausch, in dem Sender und Empfänger scheinbar gleichberechtigt nebeneinander stehen und sich gegenseitig durchdringen.

Teil 4 Mit der Einführung des neuen Mediums Web 2.0 stellen sich neue Fragen. Die Beziehungen zwischen den Menschen ändern sich. Mitteilung wird zur bloßen Information in einer nur scheinbar geteilten Situation, die durch Virtualisierung – einer Mischung von Wirklichkeit und Phantasie – und dem Verlust der Zwischenleiblichkeit gekennzeichnet ist. Entscheidend ist, dass mit der beliebigen Entfernung ein weiterer Schritt der Entleiblichung von Beziehungen getan wird. Schon im Übergang von der Sprache zur Schrift ging die körperliche Präsenz in der Mitteilung verloren, in den weiteren Schritten nahm die Ferne zu, über den Telefonkontakt und die Mailverbindung. Heute im Internet gibt es darüber hinaus die Phantasie des virtuellen Zusammenseins, ohne die Situation körperlich zu teilen. In der Oralität war die Verständigung nur im direkten Beisammen-

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sein möglich. Menschen mussten in Hörweite sein, um miteinander sprechen und aufeinander hören zu können. Wenn man sich die Entwicklung der Sprache genauer ansieht, zeigt sich, dass schon die Entwicklung der Sprachlichkeit einen medialen Wechsel in sich birgt. Etwas, das Medienwissenschaftler bisher nicht bedacht haben, aber für Psychotherapeuten eine große Bedeutung hat. Es handelt sich um den Übergang von der Privatsprache, die im körperlichen Umgang mit dem Kind gelebt wird – oft zwischen Mutter und Kind –, zum Erwerb einer Sprache, die von einem Dritten verstanden wird. Wir nennen das normalerweise die triangulierte Sprache, also eine Sprache, die sich später in die Hochsprache umsetzt und zu einer Sprache wird, die in einer Sprachgemeinschaft allgemeine Geltung hat, jenseits der geteilten Situation. Wir alle wissen, was dieser Entwicklungsschritt bedeutet, kennen die Gewinne und Verluste, die damit verbunden sind. (Die Hochsprache hat eine enge Verbindung zur Schrift. In Österreich sagt man nicht, dass jemand hochdeutsch spricht, sondern er spricht nach der Schrift.)

Teil 5 Sehen wir uns jetzt das Internet als Medium genauer an, dann müssen wir anerkennen, dass im Internet essenzielle Momente der psychotherapeutischen Situation nicht gewährleistet sind. Zum Beispiel ist die Diskretion nicht sicher zu gewährleisten. Der Austausch im Internet ist grundsätzlich das Betreten einer Öffentlichkeit, in der niemand absoluten Schutz verlangen und zusagen kann. Das Internet ist eine Öffentlichkeit, in der kein identifizierbarer Beobachter im Mittelpunkt steht, sondern die Beobachtung ist neutral, meist ist es ein Algorithmus, der beobachtet und beurteilt. Damit ist die Internetöffentlichkeit ein noch perfekteres Panoptikum, als Bentham (1787/2013) und Foucault (1975/1994) sich ausmalen konnten. Ein Panoptikum, das seine Disziplinierungsaufgaben in einer stillen automatischen Weise erfüllt. Nur durch Internalisierung der Beobachtung und durch Selbstdisziplinierung als Man lässt sich diese Situation ertragen. Netzspezialisten raten uns zurzeit wegen der Datenunsicherheit selbst zu Verschlüsselungsfachleuten zu werden, um unsere privaten Daten zu sichern.

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Zusätzlich hat das globale Internet die Charakteristika eines Bannoptikums, also des Ausschließens vom Man, etwas, auf das David Lyon im Gespräch mit Zygmunt Bauman (Bauman u. Lyon, 2013) jüngst hingewiesen hat. Durch den grenzenlosen Gebrauch von Kreditkarten ist jeder kontrollierbar, wenn jemand keinen Kredit hat, seine Karte verliert oder sie aus einem Versehen heraus gesperrt wird, ist er aus der Alltagswelt ausgeschlossen. Deutlich zu beobachten ist das daran, dass in der exquisiten Einkaufsmeile von Miami Beach Parkuhren nur noch mit Kreditkarte zu bedienen sind. Wer keinen Kredit hat, hat dort nichts zu suchen. Die Funktion des Bannoptikums wird unter Umständen beim Gebrauch von Internettherapie zur Behandlung von Depressionen eine Rolle spielen. Die Versicherungswirtschaft ist darauf aus, ihre Leistungen zu individualisieren, das heißt Risiken zu personalisieren. Und sie nützt dazu jede Information, derer sie habhaft werden kann. So verbindet sie die Diagnose einer Depression mit einem höheren Risiko für Berufsunfähigkeits- und Lebensversicherungen und verlangt eine höhere Prämie oder gewährt keinen Versicherungsschutz. Die Frage wird sein, ob die Nutzung, vielleicht schon das probeweise Schnuppern an einer Internettherapie als Risikoindikator angesehen werden wird. Alle, die sich kritisch mit der Wahrung von Privatheit oder deren Gefährdung im Internet auseinandersetzen, weisen darauf hin, dass das Internet auch bei noch so guter Fachkenntnis keine absolute Sicherheit der Privatheit gewährleisten kann. Das Internet ist grundsätzlich öffentlich zugänglich. Jemand, der dies wirklich beurteilen kann, Göttrik Wewer, Vice-President E-Government, Deutsche Post Consult GmbH, schreibt 2013, schon vor den Snowden-Enthüllungen: »Private Daten (jedenfalls), die ins Internet gestellt werden, sind im Prinzip öffentlich, weil man nicht sicher sein kann, wer alles Zugriff darauf hat, und weil man die weitere Verwendung im Netz nicht kontrollieren kann: Was im Netz ist, ist in der Welt. Das Netz stellt eine neue, nämlich die digitale Öffentlichkeit dar. Das führt zu der Frage, was in dieser Sphäre das ›Schützen privater Daten‹ praktisch noch bedeuten kann« (zit. nach Ackermann, 2013, S. 53). Es gibt verschiedene Strategien, mit der totalen Transparenz umzugehen. Eine ist die offensichtlich von der Internetwirtschaft gesponserte und proklamierte Ideologie der Post-Privacy: Wir brauchen keine

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Privatheit, sie ist von gestern und wir können auf sie verzichten! Die aggressive Post-Privacy (Heller, 2011) ist mit einer Aufhebung des Subjektes verbunden und setzt sich im Transhumanismus bruchlos fort – der Mensch ist ein überflüssiges Geschöpf, wegen seiner unzuverlässigen Datenverarbeitung sollte seine Wetware (das ist der lebendige Leib) technisch abgelöst werden. Hier gibt es keine Menschen mehr, die geworden sind, Menschen, die ein Selbstsein haben, das geschützt oder entdeckt werden muss, hier gibt es nur noch Rollen und Programme, die gespielt werden, die nach Belieben angenommen und gewechselt werden und die von aller leiblichen Beschränkung befreit wählbar sind. Die totale Transparenz macht angeblich alle gleich, sagt man, nur die Eigner des Netzes stehen im Dunkel. Das Internet bietet nicht nur eine ungeheure Möglichkeit der Entfaltung und Erfindung, sondern ist zugleich durchsetzt von wirtschaftlichen Interessen, die deutlich auszumachen sind, aber meist hinter dem Angebot verschwinden und in Kauf genommen werden. Die wirtschaftlichen Interessen wirken auf die Kommunikation ein. Zusammen mit der unausweichlichen Transparenz führt das dazu, dass die Nutzer des Internets sich normgerecht verhalten. Wobei von ihnen nicht auszumachen ist, was die Norm ist und wer sie verantwortet. Es sind nicht die Normen der rigiden Gesellschaft, wie sie Jeremy Bentham (1787/2013) im Panoptikum für verbindlich hielt, sondern es sind flüssige Normen (Zygmunt Bauman, 2013) eines Konsumerismus (Ben Barber, 2007). In diesen Strukturen von Werbung und Konsum setzt sich ein gesteuertes Man durch, dessen Gesetze außerhalb der Tradition liegen und das einer bestimmten Ideologie und Sicht des Menschen und der Welt folgt. Es ist das ökonomistische Man des potenten Kunden. Philipp Aumann beschreibt das so: »Das Individuum (im Internet) befindet sich in einer ökonomisch motivierten, selbstverschuldeten Unmündigkeit und ist als reiner Kunde verfasst. Er ist Teil einer gesamtgesellschaftlichen Ökonomisierung, eines Prozesses, bei dem die Macht zur Lenkung von Menschen von staatlichen und politischen Instanzen zu unternehmerischen Instanzen übergeht und bei dem die Strukturen einer Gesellschaft nach dem Ideal der Gewinnmaximierung aufgebaut werden« (zit. nach Ackermann, 2013, S. 137). Das ist das Ende der Aufklärung! Nun könnte man meinen, meine Gedanken über die Psychotherapie und die Herrschaft des Man seien eine nostalgische Verklärung und ein

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Appell an die Eigentlichkeit des Menschen und die eigentliche Aufgabe der Psychotherapie. Das ist einerseits richtig, weil ich davon ausgehe, dass Psychotherapie die Aufgabe hat, den Menschen zu seiner selbstbestimmten Mündigkeit zu führen und aus den Verstrickungen eines fremdbestimmten Man herauszulösen. Nicht dass er es ablegt, sondern dass er es als einen notwendigen Bestand seines Selbst anerkennt und damit umgehen lernt, ohne sich von ihm völlig bestimmen zu lassen. Dieses Man ist immer traditionell und kulturell gebunden. Es gibt kein Man jenseits einer Kultur und eines kulturellen Kontextes. Jetzt stellt sich die Frage, wenn die Psychotherapie ins Netz geht – sich also eines Mediums bedient, das von mächtigen Kräften instand gehalten, bewegt und kontrolliert wird –, ob sie sich damit einem Man unterwirft, dem ihre Aufgabe zutiefst widerstrebt. Das Netz ist allgewaltig und transparent, es ist von ökonomischen Interessen bestimmt, die der Logik des Marktes folgen. Kluge User wissen das und richten sich danach, wie im Panoptikum, in dem ein unsichtbarer Beobachter regiert, internalisieren sie die Normen, die von ihnen erwartet werden, sie unterwerfen sich freiwillig und um nicht ausgeschlossen zu werden, der Norm des Man. (Eine Studentin sagt mir nach einem Vortrag: Ich weiß, dass die meine Daten einsehen, speichern und verwenden, dafür bekomme ich alle diese attraktiven Dienste kostenlos, das ist doch ein faires Geschäft.) Paulina Borsook (2001) hat als ehemalige Insiderin in »Schöne neue Cyberwelt« die neoliberal geprägte, elitäre Welt des Hightech beschrieben als »schillernd und bunt wie ein Paradiesvogel, doch ignorant gegenüber kulturellen und humanitären Werten und voller gefährlicher Mythen und Ideologien« (Klappentext). Die hasserfüllten und diffamierenden Kommentare führender neoliberaler Intellektueller sehe ich als Bestätigung. In der digitalen Welt haben sich die Vorhersagen von Jean-François Lyotard (1979, 1982) in einer erschreckenden Weise erfüllt. Die Bildung ist verschwunden, die Menschen sind reine Datenträger (Datensäcke anstelle von Luthers Madensäcken), die demokratischen Institutionen sind machtlos gegenüber einem entfesselten Markt der Datenindustrie. Erschreckend darüber hinaus, dass die Wissenschaft ihre sinnstiftende Aufgabe, die sie in der Aufklärung hatte, an das System abgegeben hat. Sie folgt nur noch der funktionalen Logik der Effizienz, wie sich an den

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Untersuchungen zur Internettherapie zeigt. Das ist ein endgültiger Sieg des Systems über die Lebenswelt (vgl. Habermas, 1981). Das Man ist ein wichtiges Regulativ des alltäglichen Lebens, wie anfänglich betont. Wir sagen dem Kind: »Das macht man nicht.« Und damit geschieht etwas sehr Wesentliches, denn wir sagen nicht: »Ich will nicht, dass du das machst«, sondern wir beziehen uns auf eine Instanz, das Man, das außerhalb der Situation, also überall und immerfort Geltung beansprucht. Im Namen der Gemeinschaft sprechen wir mit dem »das macht man nicht« eine Norm aus, die für jeden und alle gilt, insofern ist das Man gemeinschaftsbildend. Das Man ist jeder und keiner und hat somit apodiktische Funktion. Im Man verbirgt sich der ödipale Vater, wie er in der Psychoanalyse gedacht wird.

Teil 6 Wenn jemand mit dem Man-Sagen aufhört und von sich spricht, bedarf er des besonderen Schutzes, der im Internet grundsätzlich nicht gegeben ist. Alles und jedes kann gegen ihn verwendet werden. Wer klug ist, stellt sich deswegen unter den Schutzschirm des Man, wenn er sich im Internet äußert. Nur in der geteilten und diskreten Situation, die Thomas Fuchs (2008) in der Folge von Maurice Merleau-Ponty (1965) eine zwischenleibliche Situation nennt, ist es möglich, das Man aufzugeben und zu hinterfragen. Dort geschieht Sprache in statu nascendi, das nicht Mitteilbare und nicht Denkbare kann Sprache gewinnen. In der Verantwortung angesichts des anderen (Levinas, 2007) kann jemand beginnen, von sich zu sprechen, das, was das Man sich nicht zu sagen traut. In der Zwischenleiblichkeit fühlt sich das Gesprochene an, das Wort wird zu einem Inhalt, das ein Containment braucht. Die Intersubjektivität der Psychotherapie ist nur in der Zwischenleiblichkeit zu verantworten. Dort kann das Subjekt von sich sprechen lernen, da, wo die alltägliche Sprache des Man versagt. Es ist kein Zufall, dass wir, um Prozesse zu verstehen, in der wirkliche psychotherapeutische Veränderung geschieht, Metaphern von Körperlichkeit – besser wäre Leiblichkeit – verwenden. Wir sprechen in der Folge von Bion (1992) von Containing, Container, Containment und Contained und setzen damit die Sprache der Leiblichkeit fort, die

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mit Verinnerlichung, Introjektion und Internalisierung als Formen der Aneignung begann. Solche Metaphern verweisen auf die Zwischenleiblichkeit seelischer Prozesse, die nur in der diskreten und geteilten Situation möglich ist.

Teil 7 Nun könnte man wiederholt einwenden, das ist die Dystopie eines technikfernen alten Mannes, der an der Eigentlichkeit des Menschen festhält. Die Jungen, die Digital Natives, sehen das alles ganz anders, sie suchen vielleicht Beratung und werden ihr Bestes daraus machen. Belehrung durch die Alten, die sich anmaßen, Experten des Lebens zu sein, belächeln sie. Die Däumelinchen als digitale Geschöpfe sind, wie Michel Serres (2013) meint, eine neue Gattung Mensch, die zu bewundern und zu beneiden sei. Ihr Leben, ihre Welt, ihre Beziehungen untereinander haben sich gewandelt. Sie wissen alles, sind frei darin, sich immer wieder neu zu erfinden, denn sie haben sich von aller Last befreit. Ihr Kopf sitzt nicht mehr auf dem Hals und ruht nicht mehr auf den Schultern, sie haben keine Last mehr mit ihm, sie tragen ihn als Smartphone oder Laptop vor sich in der Hand, mit leichtem Schritt, wohin sie wollen. So wie einst Saint Dénis, der heilige Dionysios von Paris, nachdem er geköpft worden war, unbeirrt den Weg zu seinem Ort nahm. Das Mittelalter lässt grüßen (vgl. Di Blasi, 2006). Für jemanden, der von der Last des Selbstseins befreit ist, weil er sich jederzeit beliebig neu erschaffen kann, ist die Therapie des Man die Therapie der Wahl. Zudem ist die Internettherapie kompatibel mit der Welt, in der sie auftritt, dem globalen Markt des freien Wettbewerbs, in dem sich durch Algorithmen gelenkte Kapitalströme blitzschnell bewegen. Hier ist kein Ort für die Schwere des Selbstseins, hier ist die Leichtigkeit des Man gefragt. In der Zeit nach dem Menschen (Transhumanismus) hat die Psychotherapie als Aufklärung des Menschen über sich selbst ihren Sinn verloren. Beratung, Counselling, Consulting und Coaching rüsten das Man wieder auf und leisten ihren Teil. Psychotherapie im Netz steht unter der Herrschaft des Man und das ist gut so, denn es ist die einzige Form, in der sie zu verantworten ist. Don Quichote kämpfte gegen die Windmühlen seiner Einbildung

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und wollte doch eine Welt außer ihm retten, die ihm lebenswert schien. Die virtuellen Windmühlen sind nicht nur unsere Einbildung, sie sind objektiv gewordene Phantasie. Sie können Motoren des Fortschritts und der Fehlentwicklung sein. Psychotherapeuten haben meines Erachtens die Aufgabe, das menschliche Leben zu schützen, und dazu gehört, auf die Tatsachen des Lebens hinzuweisen und kulturelle Illusionen zu benennen, um die Chance zu eröffnen, Schlimmeres zu verhindern. Wir müssen sagen, was es mit der Psychotherapie im Netz auf sich hat, egal ob wissenschaftlich vergütet oder nicht.

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Anna Kirschnek und Sandra Vates und Schülerinnen und Schüler der Nymphenburger Schulen München1

Erleben von Jugendlichen, Eltern und Lehrern in und mit medialen Welten Ein Projekt der Q12 des Nymphenburger Gymnasiums

The experience of adolescents, parents and teachers in and with medial worlds. A project of the Q12-class of the Munich Nymphenburger Gymnasium The following presentation introduces questions, methodical procedures and results of a high school students’ project as to the significance of new virtual worlds. The project was conducted single-handedly by students and the results were presented at the annual meeting of the Individual Psychology Society. The following four issues were addressed: (1) parents, (2) rules, (3) medial addiction, and (4) responsibility towards own data. The according results and conclusions were presented. Zusammenfassung Der folgende »Schüler-Beitrag« stellt Fragestellungen, methodisches Vorgehen und Ergebnisse vor, die im Rahmen eines Unterrichtsprojekts zur Bedeutung neuer virtueller Welten in Eigenregie von Schülern und Schülerinnen des Nymphenburger Gymnasiums erarbeitet und während der Münchner Tagung präsentiert wurden. Insgesamt geht es um die vier Themenfelder (1) Eltern, (2) Regeln, (3) Medienabhängigkeit und (4) Verantwortung für Daten, deren Ergebnisse und daraus abgeleiteten Erkenntnisse hier kurz vorgestellt werden.

Virtuelle Welten als Thema eines Unterrichtsprojekts Im Frühjahr 2013 entstand im Zuge der Vorbereitung der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Individualpsychologie (DGIP) seitens der Tagungsorganisatoren und der Alfred-Adler-Akademie als Fortbildungseinrichtung der DGIP die Idee, einen Beitrag von Schülern und 1 Da die beteiligten Schüler und Schülerinnen wegen Abiturvorbereitungen diesen Beitrag nicht selbst ausformulieren konnten, sind hier auf der Grundlage der präsentierten Folien und des Vortrags die Ergebnisse von Insa Fooken zusammengestellt worden.

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Anna Kirschnek und Sandra Vates

Lehrern der Nymphenburger Schulen, dem diesjährigen Tagungsort, zum Tagungsthema anzuregen. Da in den Schulen drei Psychologen tätig sind, die auch Psychologiekurse in der Oberstufe durchführen, konnte das Vorhaben im Rahmen eines Unterrichtsprojekts umgesetzt werden. Anna Kirschnek und Sandra Vates haben im Frühjahr 2013 mit dem Psychologiekurs der damaligen Q11 begonnen, Fragebögen zum Thema zu entwerfen, die sich an Schüler, Eltern und Lehrer richteten. Dieses Material wurde ausgewertet und die Ergebnisse vor dem Kurs präsentiert. Im darauffolgenden Schuljahr lag dann ein breites Spektrum an bereits ermittelten Ergebnissen vor, mit denen der teilweise neu zusammengesetzte Psychologiekurs – inzwischen Q12 – arbeiten konnte. Sechs Schüler, die sich in den ersten Wochen des Schuljahres gezielt mit den erhobenen Daten auseinandersetzten, strukturierten die Untersuchungsergebnisse, arbeiteten eine Präsentation für die Tagung aus und trugen diese vor. Natürlich kann ein solches Projekt nicht alle strengen Ansprüche einer wissenschaftlichen empirischen Untersuchung erfüllen – die Ergebnisse sind trotzdem erhellend. So hat diese kleine Pilotstudie eine Reihe von Resultaten und Anregungen erbracht, die im Rahmen der Präsentation auf der Tagung im Zuhörerkreis den einen oder anderen Aha-Effekt erzeugten. Es wurde wieder einmal deutlich, dass Kinder und Jugendliche als so genannte Digital Natives im Umgang mit dem Themenkomplex neue Medien durchaus Experten für ihre eigenen Erfahrungen sind und älteren Digital Immigrants, die mit den neuen Medien weniger vertraut sind, viele Aspekte und neue Sichtweisen näherbringen können.

Die Untersuchung, ihre Methoden und Ergebnisse Im Rahmen des Projektes zur Bedeutung neuer virtueller Welten erarbeiteten die Schüler und Schülerinnen vier Themenfelder: (1) Eltern, (2) Regeln, (3) Medienabhängigkeit und (4) Verantwortung für Daten, die mit den dazu gehörenden Fragen, den ermittelten Ergebnissen und den daraus abgeleiteten Erkenntnissen und Schlussfolgerungen hier kurz vorgestellt werden.

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Erleben von Jugendlichen, Eltern und Lehrern 273

Was und wie viel wissen Eltern über den Medienkonsum ihrer Kinder? Im ersten Untersuchungsschritt wurde die Sicht von insgesamt dreißig Eltern auf das Medienverhalten ihrer Kinder erfragt. Verglichen wurde die Elternsicht mit dem real berichteten Verhalten der Kinder. Dabei wurde zunächst das Phänomen der Notlüge als ein sich oft zwangsläufig einstellendes Verhalten skizziert. Ein typisches Beispiel: Die Mutter fragt: »Hast du schon deine Hausaufgaben gemacht?«, das Kind ist primär am Zugang zum Computer interessiert, möchte der elterlichen Wahrnehmung aber entsprechen, greift zur Notlüge und sagt: »Ja, Mama! Natürlich habe ich die schon gemacht. Darf ich jetzt an den Computer?« Zwei weitere Beispiele verdeutlichen gleichfalls die häufig aus solchen Situationen entstehenden Abweichungen zwischen elterlicher Perspektive und kindlichem Verhalten: Elternsicht: »Meine Tochter war den ganzen Tag alleine zu Hause und hat fleißig für die Schule gelernt« versus Kinderverhalten: Die Tochter saß den ganzen Tag an der Spielkonsole. Oder: Elternsicht: »Mein Sohn nutzt sein iPhone nur, um uns im Notfall anrufen zu können« versus Kinderverhalten: Dem Sohn wurde dieses Schuljahr schon dreimal das Handy während des Unterrichts abgenommen. Die direkte Frage: »Kommt Ihr Kind notfalls auch mal einen Tag ohne Handy/soziale Netzwerke/elektronische Geräte aus?« wurde von 90 % der befragten Eltern bejaht und die Frage: »Kommuniziert Ihr Kind mehr via Internet/Handy als mit realen Kontakten?« wurde sogar von allen Eltern verneint. Von Seiten des Schüler-Projektteams wurden dagegen die elterlichen Meinungen als »geschönt« problematisiert. Mögliche Konsequenzen wurden zum einen in einer drohenden Entfremdung zwischen Eltern und Kindern gesehen, zum anderen – bedingt durch den »Stress der Notlügen« – in einer Erhöhung des Stresspegels bei den Kindern und schließlich in einem wachsenden Konfliktpotenzial im familiären Umfeld.

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Setzung und Einhaltung von Regeln im Umgang mit dem Internet Die Fragen zum Umgang mit Regeln fokussierten vor allem die zeitlichen Begrenzungen des Medienkonsums. Befragt wurden Schüler der Unterstufe (n = 10) und der Mittelstufe (n = 20) sowie Lehrer (n = 29).

Ergebnisse der Unterstufen-Befragung Auf die Frage: »Wie viel Zeit verbringst du pro Tag am Computer/ Smartphone?« kreuzten mehr als drei Viertel (78 %) »weniger als eine Stunde« an, 17 % gaben zwei bis drei Stunden an und nur ein Kind berichtete von mehr als drei Stunden Mediennutzung.

Ergebnisse der Mittelstufen-Befragung Auf die Frage: »Wie viele Stunden verbringst du pro Tag in sozialen Netzwerken?« gaben 60 % »weniger als eine Stunde« und 40 % ein bis zwei Stunden an. Die Zusatzfrage, ob die Eltern zeitliche Begrenzung bei der Nutzung des Computers vorgeben, wurde von der großen Mehrheit (85 %) der hier befragten Schüler verneint.

Ergebnisse der Befragung der Lehrenden Hier wurde unterschieden zwischen den drei Schulstufen. Deutlich wurde dabei, dass die Dauer des Medienkonsums in der Wahrnehmung der Lehrer mit dem Alter der Schüler erheblich ansteigt. In Bezug auf das Verhalten in der Unterstufen meinten gut die Hälfte der befragten Lehrer, dass die Kinder ein bis zwei Stunden im Netz verbringen, während knapp ein Drittel von einem einstündigen Konsum ausgeht und nur ein kleiner Teil zwei bis drei Stunden ansetzt. Für die Mittelstufe gehen knapp die Hälfte der Lehrer von zwei bis drei Stunden Medienkonsum aus, während der Rest entweder weniger, das heißt nur ein bis zwei, oder mehr, also eher drei bis vier Stunden vermutet. Am wenigsten ein-

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heitlich wird die Medien-Konsum-Dauer in der Oberstufe eingeschätzt. Die meisten Lehrer vermuteten allerdings, dass die Jugendlichen zwei bis drei oder sogar drei bis vier Stunden mit Medien verbringen. Interessant ist dabei das Ergebnis, dass Lehrer ihren Schülern tendenziell einen häufigeren Medienkonsum zuschreiben, als diese das für sich selbst einschätzen.

Fazit des Projektteams Das Fazit des Projetkteams aus den Ergebnissen ihrer Befragung zu den zeitlichen Regeln lautet: Eltern geben eher wenige Einschränkungen vor und sollten mehr auf die Jugendlichen achten bzw. diese über Risiken im Netz aufklären. Dementsprechend lautet die Botschaft an die eigenen Peers: Jugendliche verbringen zu viel Zeit im Internet und sollten den Zeitaufwand auf eine völlig ausreichende halbe Stunde am Tag reduzieren.

Medienabhängigkeit und Suchtgefahr? In einem ersten Schritt wurde zunächst vom Forschungsteam bestimmt, welches Verhalten als »kritischer Medienkonsum« zu definieren ist: –– Hobbys werden vernachlässigt, –– immer häufiger Diskussionen mit den Eltern über Nutzung, –– weniger reale Freunde, viel Kommunikation über soziale Netzwerke und Handy, –– Nervosität bei Nichtbenutzung, –– weniger Kreativität, sich bei Langeweile zu beschäftigen, –– ständiges Mitteilungsbedürfnis in sozialen Netzwerken wie Facebook. In einem zweiten Schritt wurden folgende, von den Eltern gesetzte Regeln und Einschränkungen ermittelt: –– abends Handy abgeben, –– Handykosten (Vertrag/Guthaben) selbst tragen, –– eine Stunde Medienkonsum pro Tag,

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Anna Kirschnek und Sandra Vates

–– Mediengebrauch nur in Absprache mit den Eltern, –– nur am Wochenende Medienkonsum, –– nur Informationsbeschaffung erlaubt. Die Frage, ob diese Regeln helfen, den Medienkonsum zu begrenzen, bzw. ob die zuvor genannten Regeln befolgt werden, bejahten 85 % der befragten (n = 30) Eltern, während nur 15 % dies verneinten. Die bei Regelverstößen gezogenen Konsequenzen verweisen beispielsweise auf ein generelles Nutzungsverbot, auf die Wegnahme des Geräts (Fernseher, Computer, Handy), auf eine generelle stärkere Kontrolle der Mediennutzung oder auf andere Strafen. Auch hier wurde die Sicht der Eltern mit der Einstellung der Jugendlichen zu den elterlichen Regeln kontrastiert durch die Frage: Wie stehen Jugendliche zu den Regeln der Eltern? Werden sie befolgt? Hier gaben die Jugendlichen folgende Einschätzungen: –– keine Kontrolle in der Schule, bei Hobbys, Freunden; –– heimliches Benutzen; –– ab Oberstufe keine Chance mehr, den Medienkonsum zu regulieren und Grenzen zu setzen; –– ab einem gewissen Alter geht es um Selbstkontrolle, man müsse eigene Grenzen finden. Schließlich wurden noch drei Alternativen zu der Setzung von Regeln entwickelt: –– Vorschläge machen für neue Hobbys, –– Medientagebuch führen, –– generelle Aufklärung über Gefahren im Internet.

Verantwortlichkeit für eigene Daten – eigenes Verhalten und Sicht der Lehrer Abschließend ging es um die Frage, wie verantwortungsvoll die Schüler mit ihren eigenen Daten umgehen. Am Beispiel des eigenen FacebookProfils wurde zunächst ein Überblick über Möglichkeiten von Angaben im Facebook-Profil gegeben sowie dann auch Fragen zu Sicherheit und Risiken angesprochen.

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Im Weiteren ging es dann um die Analyse von fünfzig FacebookProfilen der eigenen, so genannten »Freunde«, und um die Frage: »Für wen ist das Facebook-Profil sichtbar?« Hier zeigte sich, dass bei circa zwei Drittel (64 %) der analysierten Profile das eigene Profil nur für die eigenen »Freunde« sichtbar gemacht wird, bei etwa einem Viertel (24 %) auch die Freunde der Freunde Einblicke haben und bei den verbleibenden 12 % »alle« Einsicht in das Profil haben. Als noch wichtiger im Zusammenhang mit dem Thema der Datenverantwortung erweisen sich die Antworten auf die Frage: »Was wird im Internet an Daten über sich selbst preisgegeben?« Hier zeigt sich, dass alle »Persönliches« angeben, sehr viele (88 %) Vor- und Nachnamen nennen, knapp ein Drittel (32 %) die Adresse angibt und sich in zwei Profilen auch die Telefonnummern finden. In einem dritten Schritt wurden Lehrer und Lehrerinnen (n = 31) nach den Gefahren gefragt, die sie sehen, wenn Kinder und Jugendliche sich im Internet aufhalten. Hier wurden bei den Antworten folgende Häufigkeiten ermittelt: –– (Sich-)Verlieren in virtuellen Welten (90 %), –– Opfer von Perversen (39 %), –– extreme Gruppierungen (39 %), –– Verschuldung (23 %), –– Opfer von Cyberkriminalität (16 %). In der Interpretation dieser Daten wird zunächst ein Bewusstsein für den Umgang mit den eigenen Daten konstatiert, aber auch das Phänomen der verzerrten Wahrnehmung bestimmter Sachverhalte unterstrichen. So wird beispielsweise auf die Unterschätzung der möglichen Gefahren verwiesen, die auch in einer zunehmenden Abhängigkeit von virtuellen Welten bzw. Medien bestehen kann. In Bezug auf die Repräsentativität der vorliegenden Ergebnisse wird zudem auf mögliche Unterschiede zwischen den verschiedenen Bildungsschichten verwiesen. Der Appell des Projektteams für die Zukunft lautet: Mehr Aufklärung!

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»Wenn das Handy zweimal klingelt«

»The mobile always rings twice« Based on the experience that patients increasingly want to communicate with their therapist outside of their sessions by using modern media such as e-mail and mobile phones, the theoretical considerations of related risks and opportunities of such media-supported psychotherapy are presented, which are then illustrated by clinical case studies with adolescent patients. Zusammenfassung Ausgehend von der Erfahrung, dass Patienten zunehmend auch außerhalb der Sitzungen mit dem Therapeuten über moderne Medien wie E-Mail und Handy kommunizieren wollen, werden zunächst theoretische Überlegungen von Chancen und Risiken medial-unterstützter Psychotherapie vorgestellt, die anschließend mit Fallbeispielen aus der beruflichen Ausbildungspraxis mit jugendlichen Patienten illustriert werden.

Einleitung Die technologische Entwicklung, der Einsatz von Computern sowie Mobiltelefonen mit der Nutzung von E-Mails und SMS erfassen mittlerweile alle Bereiche des Lebens. Die Bezeichnung dieser medialen sozialen Netzwerke als neues kulturelles Phänomen ist insbesondere der heutigen Jugend überwiegend fremd und eine Kommunikation ohne Handy, Facebook etc. undenkbar. Die Jugend telefoniert, chattet, posted und simst pausenlos, zu jeder Tages- und Nachtzeit. Eine permanente Erreichbarkeit ist fester Bestandteil des normalen Alltagsgeschehens, was eine dauerhaft vernetzte Welt suggeriert. Diese mediale Welt macht auch vor den sorgsam geschützten therapeutischen Räumen keinen Halt, weshalb es notwendig ist, sich mit den Möglichkeiten und Grenzen einer virtuellen Behandlungsmethodik auseinanderzusetzen.

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Es stellt sich hierbei die Frage, wo der Therapeut im Zuge der technischen Entwicklung bleibt und welche Vor- und Nachteile die neuen Medien mit ihren rasanten Kommunikationsformen mit sich bringen.

Der Therapeut im Zeitalter medialer Kommunikation – theoretische Diskussion Im Gegensatz zu diesem (jugendlichen) Selbstverständnis stellt der Umgang mit den modernen Kommunikationswegen für die Psychotherapie eine neue Herausforderung dar, da die grundlegende Situation therapeutischer Tätigkeit bisher durch eine prägnante zeitliche und örtliche Beschränkung geprägt war.

Mögliche Vorteile und Chancen Horst Kächele (2012) betont in seinem Vortrag »Der Therapeut im Internet«, dass der Patient grundsätzlich mit dieser Begrenzung leben und daraus lernen müsse, seinen Gewinn zu ziehen, da die Funktionalität eines Therapeuten in der Verfügbarkeit eines symbolischen Objekts bestehe. Dennoch schränkt er diesen Grundsatz ein, indem er im Falle schwieriger therapeutischer Behandlungskonstellationen zusätzliche Kommunikationsmöglichkeiten als nützlich erachtet, um außergewöhnlichen Krisensituationen und möglichen eigenen Behandlungsfehlern zu begegnen. So beantwortete auch er Botschaften seiner Patienten, in denen diese ankündigten, nie mehr wiederkommen zu wollen, mit kurzen E-Mails oder Telefonanrufen, um die »Rupturen der therapeutischen Allianz« aufzufangen (S. 4). Einen anderen Aspekt wirft der Gebrauch von längeren E-Mails auf. Jonathan Cook und Carol Doyle (2002) sehen den E-Mail-Kontakt als eigenständige Ebene der therapeutischen Beziehung. Das schriftliche Medium diene als Träger von Botschaften, wenn die mündliche Mitteilung von interpersonellen und intrapsychischen Konflikten noch erschwert sei. Der Patient habe hierbei die Möglichkeit, Hemmungen zu überwinden und schwer aussprechbare belastende Themen anzusprechen.

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Kächele (2012) bezeichnet dies als moderne Abwandlung des altehrwürdigen Briefeschreibens an den Therapeuten. Auch er gibt, wie oben bereits erwähnt, an, die E-Mail-Kommunikation in seiner Praxis zu nutzen, und berichtet von einem chronisch schweigenden Patienten, der mit Hilfe von längeren E-Mails die Mitteilung von unangenehmen Gefühlszuständen ausprobierte. Hierbei betont der Psychoanalytiker, dass er die Entscheidung stets dem Patienten überlasse, ob das Material in der darauffolgenden Behandlungsstunde besprochen werden solle, da es dessen subjektiver Empfindung obliege, was sag- oder noch unsagbar sei (S. 5). Reinhard Lindner und Georg Fiedler (2002) verstehen E-Mail und SMS als virtuelle Objektbeziehung, welche insbesondere sozial ängstlichen Patienten einen geschützten Übergangsraum zur Verfügung stelle, sich dem Therapeuten aus sicherer Distanz anzunähern. Diese Bedeutung müsse dem Patienten allerdings in den Sitzungen bewusst gemacht und dahingehend bearbeitet werden, dass der virtuelle Schutzraum in der therapeutischen Beziehung überflüssig werden könne. Mit dieser Auffassung könne mediale Kommunikation auch psychodynamisch verwendet und in den Behandlungsprozess integriert werden (S. 78 ff.). Herbert Mück, Michael Mück-Weymann und Barbara Mück (2005) befragten innerhalb einer Forschungsarbeit 22 Patienten mit Depressionen und Angststörungen bezüglich ihrer Erfahrungen mit medial unterstützter Psychotherapie. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass es gerade für Patienten mit diesen Störungsbildern wichtig sei, Regulationshilfen und Hilfs-Ich-Funktionen durch E-Mails, kurze Telefonate oder SMS anzubieten. Auch würden aus therapeutischer Sicht diese Interventionsformen wieder entbehrlich, sobald gute innere Objekte nachgereift seien und sich die Betreffenden wieder selbst regulieren könnten. Um diesen innerpsychischen Zustand zu erreichen, seien vor allem zu Beginn der Behandlung bzw. in Krisenzeiten höher frequente Interventionen notwendig, um die schwachen Ich-Strukturen bei Bedarf kurzfristig stützen zu können. Diese Funktion könne ihrer Meinung nach ein rein traditionell ausgerichtetes Therapiesetting, in dem sich der therapeutische Kontakt nur auf die zeitlich begrenzten Sitzungen beziehe, nur schwer erfüllen. Der Patient sei »zwischendurch ganz auf sich verwiesen«, weshalb es bis zur nächsten Stunde nicht selten zu Rückfällen komme, welchen man mit Hilfe flexibler und kurzer E-Mailoder Telefonkontakte in vielen Fällen begegnen könne (S. 8).

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Mögliche Nachteile und Risiken Obgleich sich auch Kächele (2012) weitgehend positiv über den Einsatz medialer Kommunikation äußert, gibt er doch zu bedenken, dass E-Mails und vor allem SMS-Botschaften die bedeutungsvolle Rolle der überwiegend »physischen Nichtpräsenz« des Therapeuten entkräften. Durch die zeitlich und örtlich unbegrenzte Kontaktmöglichkeit werde das »Phantasma einer Omnipräsenz« widergespiegelt, was erhebliche Auswirkungen auf das therapeutische Arbeitsbündnis als wichtigster Methode psychodynamischer Therapieformen habe. Er sieht diese radikale Vereinfachung der Kontaktaufnahme als wahre Herausforderung, da bereits der Name Handy suggeriere, dass das Telefon permanent in der Hand gehalten werde und der Therapeut zu jeder Tages- und Nachtzeit erreichbar sei. Hierbei stelle sich zudem die Frage, wie man den spontanen Hilferuf eines Patienten zu deuten habe und in welchem Zeitraum oder in welcher Weise man angemessen darauf antworten solle (S. 3 ff.). Mit diesem Aspekt setzt sich auch Christiane Eichenberg (2008) auseinander und kommt zu dem Ergebnis, dass eine virtuelle Kommunikation auch eine Quelle für Missverständnisse sei, zumal schriftliche Formulierungen oftmals sehr viel dramatischer klingen könnten als beabsichtigt. Die Empfängersituation der Mail- oder SMS-Botschaften sei immer unklar, weshalb diese nicht, wie es im realen Therapiesetting möglich sei, aus dem Kontext heraus interpretiert werden könnten, zumal zudem wichtige mimische und gestische Merkmale fehlten (S. 520 ff.). Neben ihren vorwiegend genannten Vorteilen räumen auch Mück et al. (2005) ein, dass es auch so genannte »grenzenlose« Patienten gebe, die dem Therapeuten im Laufe der Behandlung bis zu tausend E-Mails oder Kurznachrichten schreiben würden, wobei es sich nicht selten um harmlose Alltagsangelegenheiten anstatt tatsächliche Notsituationen handele (S. 7). Lindner und Fiedler (2002) sprechen zudemdas Risiko einer möglichen Regressionsförderung und Abhängigkeit vom Behandler aus. Ein allzu regelmäßiger therapeutischer Kontakt per E-Mail oder SMS, in denen außerhalb des regulären Settings Konfliktsituationen besprochen würden, könne sich auch kontraproduktiv auf gewünschte Thera-

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pieziele, wie ausreichendes Selbstwirksamkeitserleben und Fähigkeit zur Selbstregulierung, auswirken (S. 78 ff.).

Nutzung der neuen Medien im psychotherapeutischen Praxisalltag Der Einsatz medialer Kommunikation in der psychotherapeutischen Praxis stellt folglich ein ambivalent besetztes und kontrovers diskutiertes Thema dar. Mobiltelefone und E-Mail-Kommunikation werden vergleichsweise immer noch als junge Medien angesehen, die sich im Therapeutenalltag als unterstützende Instrumente zwar noch nicht völlig etabliert haben, aber scheinbar zunehmend genutzt werden. Dies zeigt auch eine Studie von Christiane Eichenberg und Katharina Kienzle »Psychotherapeuten und Internet« aus dem Jahr 2011. Es wurden 234 niedergelassene Psychotherapeuten aus NordrheinWestfalen zur Integration eines modernen Medieneinsatzes in ihren Praxisalltag und nach ihrer diesbezüglichen Einstellung befragt. An der Befragung nahmen sowohl ärztliche und psychologische als auch Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten teil, wobei das Verhältnis zwischen verhaltenstherapeutisch und psychodynamisch orientierten Therapeuten relativ ausgewogen war. Die Studie ergab, dass 92,3 % der Befragten die Möglichkeit zur Kommunikation per E-Mail anbieten, wobei allerdings sichtbar wurde, dass diese Art des Kontakts hauptsächlich offeriert wird, um formale Angelegenheiten zu regeln. Je nach Fall werden E-Mails allerdings auch als unterstützender Kontakt zwischen den regulären Behandlungsstunden und zur Krisenbehandlung eingesetzt. Die Mehrheit der Therapeuten gab an, mit der internetbasierten Kommunikation nützliche Erfahrungen gemacht zu haben. Hierbei wurde allerdings der Nutzen von E-Mails für formale Absprachen etwas positiver als der Austausch von E-Mails mit behandlungsrelevanten Inhalten bewertet. Knapp zwei Drittel der befragten Psychotherapeuten hatten eine Mobilfunknummer an ihre Patienten weitergegeben. Hierbei wurde, neben Terminabsprachen, als Hauptgrund eine ergänzende, kurzfristige Interventionsmöglichkeit in besonders schwierigen Situationen angegeben, was sich weitgehend positiv bewährt habe.

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Die Hälfte der Behandler bietet zudem eine SMS-basierte Kommunikation an. Hier wird das Medium in erster Linie für formale Angelegenheiten genutzt. Der Gebrauch von SMS für behandlungsrelevante Inhalte wird allerdings nur von knapp 50 % der SMS-Kommunikation anbietenden Therapeuten als dienlich bewertet. Laut dieser Studie integriert folglich die Mehrheit der Befragten sowohl E-Mail-basierte als auch Handy- bzw. SMS-Kontakte als Ergänzung herkömmlicher Behandlungsmethoden in ihr Kontakt-Angebot, wobei zudem problematisiert wurde, dass Medien den persönlichen Kontakt zum Therapeuten nicht verdrängen dürften. Interessanterweise hat sich bei der Erhebung kein Zusammenhang zwischen der psychotherapeutischen Ausrichtung und der Einstellung zu medienunterstützter Psychotherapie ergeben. Der Haupteinflussfaktor auf die positiven Bewertungen war vorwiegend die bisherige eigene Medienerfahrung. So hat sich herausgestellt, dass diejenigen, die Computer, E-Mail und Mobiltelefon selten im Alltag nutzen, auch der therapeutischen Mediennutzung skeptischer gegenüberstehen. Bezüglich der Validität der Studie räumen Eichenberg und Kienzle ein, dass der Fragebogen lediglich im Internet präsentiert und zur Beantwortung bereitgestellt worden sei. Daher wäre es relativ naheliegend, dass die Befragungsteilnehmer eine gewisse Grundaffinität zu modernen Medien hätten und der neuen Mediennutzung grundsätzlich offener gegenüberstünden als die Nonresponder (S. 492). Demzufolge könnte die Einstellung gegenüber medialen Therapieinstrumenten positiver ausgefallen sein als es tatsächlich der Fall ist. Auch sollten die Ergebnisse aufgrund der relativ kleinen Stichprobe gegenüber der Grundgesamtheit nicht unbedingt repräsentativ, sondern eher »als Trend« verstanden werden. Allerdings liege bislang keine vergleichbare Studie in Deutschland vor (S. 492), was auch mir während meiner Recherche auffiel und meine Vermutung, dass der Medieneinsatz in ambulanter Psychotherapiepraxis noch ein gewisses »Neuland« darstelle, bestärkte.

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Kasuistik Seit nunmehr drei Jahren befinde ich mich im praktischen Teil meiner Ausbildung zur analytischen Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin. Ich arbeite vorwiegend mit Patienten im Alter von 14 bis 18 Jahren. Eine regelmäßige Kommunikation via Handy und E-Mails mit den Patienten dieser Altersgruppe gehört sozusagen zum Therapiealltag. Hierbei kam ich zu der Erkenntnis, dass sich die neuen Kommunikationsmittel durchaus positiv nutzen lassen. Ich wurde jedoch auch das ein oder andere Mal mit den Tücken dieser Medien konfrontiert, was mich sowohl therapeutisch als auch persönlich an Grenzen brachte. Im Folgenden werde ich von einzelnen Vignetten meiner analytischen Ausbildungsfälle berichten, in denen der Einsatz mediengestützter Kommunikation einerseits positive Auswirkungen auf den therapeutischen Prozess hatte, sich jedoch andererseits auch Probleme in der therapeutischen Arbeit und innerhalb des gemeinsamen Arbeitsbündnisses herauskristallisierten.

Fallgeschichte 1 Die analytische Jugendlichenpsychotherapie mit der damals 17-jährigen Lea1 begann im Januar 2011. Konsultationsgründe waren eine ausgeprägte depressive Symptomatik und soziale Ängste. In unserer therapeutischen Arbeit stand die Bearbeitung schuldhaft erlebter Autonomiewünsche im Zusammenhang mit ausgeprägten Objektverlustängsten im Vordergrund. Die Kindheit der Patientin war geprägt von enormen Trennungsängsten und ständigem Werben um die Liebe und Sicherheit ihrer depressiven Mutter. Vor dem Hintergrund dieser unsicheren Mutterbindung verinnerlichte Lea keine guten inneren Objekte, weshalb sie auch keine stabilen Selbstrepräsentanzen entwickeln konnte. In ihrem damaligen Freund fand die Jugendliche ein Übergangsobjekt, dem sie sich mit ihren regressiven symbiotischen Beziehungssehnsüchten zuwandte und stets das Gefühl äußerte, nicht ohne diesen existieren zu 1 Alle Patientennamen wurden geändert.

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können. Aufgrund ihrer unzureichenden Objektkonstanz konnte sie hier trennende Momente kaum aushalten, was sich in enorm klammerndem und vereinnahmendem Beziehungsverhalten äußerte. Als sich der Freund deshalb von Lea trennte und sämtliche Wiederannäherungsversuche ihrerseits verweigerte sowie den Kontakt zu ihr rigoros abbrach, geriet diese in eine massive Krise. Sie reagierte mit erhöhter körperlicher Symptombildung und enormer Antriebslosigkeit, so dass sie nicht einmal mehr in der Lage war, die Schule zu besuchen. Ihre ohnehin labile narzisstische Selbsthomöostase war so stark erschüttert, dass die Ich-Funktionen nahezu deaktiviert wirkten und sie den Verlust des Liebesobjekts auch nicht mit einer angemessenen Trauerreaktion ausgleichen konnte. Meine therapeutischen Interventionen und meine Versuche, ihre gesunden Ich-Funktionen zu reaktivieren, waren nur bedingt wirksam, was bedeutete, dass sich die Patientin immer nur kurzfristig innerhalb der Sitzungen stabilisieren ließ und spätestens am Tag darauf wieder einbrach. Um der akuten depressiven Dekompensation und dem drohendem Schulausschluss entgegenzuwirken, bot ich Lea deshalb an, mich im Notfall außerhalb der Sitzungen auf meinem Patientenhandy anrufen zu dürfen. Dies erwies sich zunächst als durchaus wirksame Interventionsmethode, führte jedoch dazu, dass die Jugendliche auch nach Überwindung der Krise begann, mich nahezu täglich anzurufen, wobei sie gewöhnliche Alltagsanforderungen als gravierende Probleme darstellte. Offensichtlich hatte sie ihr symbiotisches Beziehungsmuster auf mich übertragen und versuchte mich, ebenso wie ihren Ex-Freund, mit enormer Bedürftigkeit zu vereinnahmen. Zudem wurde ihre mangelnde Fähigkeit, Nähe und Distanz zu regulieren, deutlich, da Lea auch auf meine mehrfachen Erklärungen, dass das Angebot außerterminlicher Therapiegespräche nur für die akute Krise galt, kaum reagierte. Im Gegenteil, sie versuchte nun, sich mittels permanenter SMS-Botschaften wie: »ich halte das nicht aus« oder: »ich kann nicht mehr« meine Zuwendung zu sichern. Aufgrund der fehlenden Face-to-Face-Situation interpretierte ich ihre Botschaften zudem dramatischer, als sie tatsächlich waren, weshalb es lange dauerte, bis mir bewusst wurde, dass es sich hierbei um keine tatsächlichen Notsituationen handelte. Es bedurfte einiger Supervisionssitzungen, bis ich schließlich verstand, dass die Patientin auf-

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grund ihrer objektabhängigen Selbstwertregulation durch das Medium versuchte, einen permanenten Kontakt zu mir zu halten. Durch die virtuelle Erreichbarkeit wurde ich für sie zu einem vermeintlich allzeit verfügbaren Objekt, wobei sie mit Hilfe des Handys die schwer aushaltbaren Trennungen zwischen den Sitzungen kompensierte. Dies löste in der Gegenübertragung kaum aushaltbare Gefühle von Bedrängnis und Verfolgtwerden aus, bis hin zu meiner Phantasie, von Lea über mein Handy verschlungen zu werden – wodurch mir ihre frühe Störung mit einer oralen Fixierung noch bewusster wurde. Es war schließlich notwendig, der Jugendlichen ihre fusionäre Beziehungsgestaltung via Handy zu deuten und ihr ihre mangelnde Objektkonstanz bewusst zu machen. Um wieder ein adäquates therapeutisches Arbeitsbündnis zu erreichen, erschien es mir zudem dringend erforderlich, der Patientin die Notwendigkeit und den Gewinn einer zeitlich und örtlich begrenzten therapeutischen Beziehung nahezubringen. Hierbei wurde ihr auch verdeutlicht, dass der ambulante Therapierahmen grundsätzlich beinhaltet, auch Momente meiner physischen Nichtpräsenz aushalten zu müssen, um notwendige Selbstwirksamkeit und Selbstregulation erfahren zu können. Nach intensiver Bearbeitung ihres symbiotischen Verhaltensmusters und noch weiteren vereinzelten telefonischen Rückversicherungen ihrerseits, gelang es Lea schließlich, mich als Objekt insoweit zu internalisieren, dass sie meine Abwesenheit zwischen den Sitzungen wieder ertragen konnte.

Fallgeschichte 2 Annika befindet sich seit Oktober 2011 in analytischer Jugendlichenpsychotherapie bei mir. Zu Therapiebeginn war sie 18 Jahre alt und litt unter einer ausgeprägten Selbstwertproblematik, bei einem früh angelegten Konflikt zwischen Selbst- und Objektwert mit depressivem Verarbeitungsmodus. Die frühen emotionalen Erfahrungen der Patientin beliefen sich auf wenig empathische und starre Beziehungsgestaltungen mit einer rigiden und zwanghaften Mutter. Diese projizierte ihr eigenes negatives Selbstbild auf Annika, indem sie diese permanent abwertete und ihr

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suggerierte, ein Nichts zu sein. Bedingt durch die frühkindlichen Mangelerfahrungen von unzureichender narzisstischer Spiegelung introjizierte die Patientin, wertlos sowie unfähig zu sein, weshalb es in den Stunden hauptsächlich um ihre starken Minderwertigkeitsgefühle sowie ihr geringes Selbstwirksamkeitsempfinden ging. Dies äußerte sich vor allem in massiven Versagensängsten vor theoretischen und praktischen Anforderungen ihrer Ausbildung zur medizinischen Fachangestellten. Bei kritischen Äußerungen, insbesondere von Lehrern und Kollegen bezüglich ihrer Leistungen, wurden ihre traumatischen Kindheitserfahrungen wiederbelebt, was dazu führte, dass Annika in diesen Momenten Panikattacken bekam und teilweise sogar dissoziierte. Die schnelle Selbstfragmentierung ließ darauf schließen, dass sie die negativen mütterlichen Introjekte stets auf Mitmenschen ihres Berufsfeldes verlagerte und Kritik grundsätzlich destruktiv empfand. Innerhalb der Therapie benötigte sie mich stets als positiv spiegelndes Objekt zur Selbstwertregulation, was insbesondere in Lebenssituationen, in denen Leistungen abverlangt wurden, notwendig war. Es bedurfte stets eines intensiven Containings ihrer Insuffizienzgefühle und ihres schwachen Selbstbildes, um autonome Alltagsanforderungen, wie beispielsweise die Führerscheinprüfung, zu bestehen. Nachdem die Adoleszente die praktische Abschlussprüfung ihrer Ausbildung nicht bestand, verfiel sie in eine massive Krise, die mit depressiven Symptomen wie Somatisierungen und enormer Antriebslosigkeit einherging. Es dauerte lange, bis Annika diese regressive Phase, in der sie teilweise auch in den Sitzungen dissoziierte, überwand. Hierbei war es nun wichtig, die positiven Spiegelungen ihrer Fähigkeiten und bereits erreichten Reifungsschritte zu intensivieren, damit die Patientin ihr gesetztes Ziel (Wiederholung der Abschlussprüfung) wieder aufnehmen konnte. Als die Prüfung unmittelbar bevorstand, wurde allerdings deutlich, dass sie sich nicht ausreichend von ihren negativen inneren Objekten distanzieren konnte, was sich insbesondere darin äußerte, dass sie stets lobenden Zuspruch von mir brauchte, um nicht von panischen Versagensängsten und Selbstentwertungen überflutet zu werden. Da Annika meine Ich-stützenden Interventionen aber nur kurzzeitig halten und damit nicht nachhaltig integrieren konnte, wurde das Ausmaß ihrer Abhängigkeit von mir als dauerhaft anwesendem, gutem müt-

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terlichen Spiegel deutlich. Dies zeigte sich auch darin, dass die Adoleszente immer wieder den Wunsch äußerte, mich am liebsten während des Lernens an ihrer Seite haben zu wollen, da ihr meine zuversichtlichen Worte Mut machen und ihre panische Angst verdrängen würden. Um einer erneuten Regression sowie einem angstbedingten Ausbildungsabbruch vorzubeugen, bot ich der Patientin an, mich während der Lernphase auf meinem Patientenhandy anrufen zu dürfen, wenn sie von Panikattacken oder destruktiven Selbstzweifeln ergriffen werde. Annika rief allerdings nur selten an, sondern schrieb nun in Krisensituationen SMS-Botschaften, die ich lediglich mit kurzen wohlwollenden und Ich-stützenden Äußerungen bezüglich ihrer Fähigkeiten beantwortete. Das Medium verhalf der Patientin schließlich dazu, in der belasteten Prüfungsphase die Zeit meiner realen Abwesenheit in virtueller Form zu überbrücken, indem sie mittels mehrmaligem Durchlesen meiner bestärkenden SMS-Botschaften das Handy als eine Art Übergangsobjekt nutzen konnte. Annika absolvierte die Abschlussprüfung schließlich erstaunlich souverän, weshalb sich die Handy-Kommunikation als zusätzlich nützliche Interventionsmöglichkeit erwies, zumal es innerhalb des realen Settings weniger intensiven Containings ihres schwachen Selbstbildes bedurfte. Durch die erfolgreich bewältigte Leistungsanforderung machte die Patientin eine sehr wichtige Selbstwirksamkeitserfahrung und konnte auch meine Vorgabe einer zeitlichen Begrenzung des Handyeinsatzes zur Krisenbewältigung problemlos annehmen.

Fallgeschichte 3 In dieser Fallgeschichte handelt es sich um die grenzüberschreitende mediale Kommunikation mit einer hysterischen Mutter. Ihre 16-jährige Tochter Claudia befindet sich seit Mai 2012 aufgrund einer depressiven Symptomatik mit einhergehenden Schulproblemen in analytischer Psychotherapie bei mir. Frau F. reagierte auf altersentsprechende autonome Schritte ihrer Tochter, wie beispielsweise abendliches Ausgehen und gelegentlichen Alkoholkonsum, stets mit übertriebener Sorge und unangemessenen Sanktionen, weshalb Claudia unter massiven Schuldgefühlen

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litt und ihre autonomen Wünsche zu unterdrücken versuchte. Im Verlauf der Therapie konnte sich die Jugendliche jedoch zunehmend von den Ansprüchen der Mutter distanzieren und ihre eigenen Bedürfnisse abgegrenzt und selbstbehauptend vertreten. Im Zuge dessen kam es zu hochfrequenten telefonischen Kontaktaufnahmen seitens der Mutter, in welchen sie mir in dramatischer Weise die altersgemäßen Aktivitäten ihrer Tochter als »asozial« beschrieb und Claudia als verwahrloste Alkoholikerin darstellte. Trotz ihres permanenten Überschreitens des Therapierahmens wollte ich Frau F. zu diesem Zeitpunkt jedoch noch nicht in ihren übergriffigen Kontaktaufnahmen begrenzen, da ich die Hoffnung hatte, sie auf diese Weise beruhigen zu können und Claudia somit mehr Freiraum zu ermöglichen. Aufgrund dessen kam ich auch der Bitte der Mutter nach, ihr meine berufliche E-Mail-Adresse zu geben, da sie mir gelegentlich Korrespondenzen mit Claudias Schule weiterleiten wollte. Dies führte allerdings nicht zu dem gewünschten Ergebnis, da Frau F. nun noch kontrollierender wurde und begann, mir kontinuierlich E-Mails zu schicken, in denen sie sich über sämtliche »Untaten« ihrer Tochter beklagte, die sich allerdings als völlig harmlose, altersadäquate Verhaltensweisen herausstellten. Mir wurde schließlich bewusst, dass mein zusätzliches mediales Kommunikationsangebot nicht zur Entspannung der familiären Situation führte, sondern dass ich der Mutter vielmehr eine weitere Bühne für ihre dramatischen Inszenierungen zur Verfügung gestellt hatte. Ich konfrontierte die Mutter schließlich erstmals mit ihrem übertriebenen Verhalten und verdeutlichte dieser, dass ein gelegentliches Biertrinken auf Partys Claudia nicht zur Alkoholikerin mache und ihre Tochter ein durchaus verantwortungsbewusster Teenager sei. Meine Annahme, die hysterische Kommunikation mit diesen Aussagen unterbinden zu können, bewahrheitete sich nicht, stattdessen teilte die Mutter mir im nächsten Elterngespräch geheimnisvoll mit: »Sie trinken wohl auch gerne Bier, da wundert es mich nicht, dass sie die Exzesse meiner Tochter als normal betrachten.« Als ich verwundert nachfragte, wie sie zu dieser Aussage komme, antwortete die Mutter triumphierend, bei Facebook ein Foto von mir gefunden zu haben, auf dem ich beim Münchener Oktoberfest im Dirndl mit einer Maß Bier in der Hand zu sehen sei. Da ich mich aus beruflichen Abstinenzgründen

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nie bei Facebook angemeldet habe, war ich völlig irritiert und versuchte das ominöse Bild im Internet zu recherchieren. Hierfür brauchte ich über eine Stunde – und es stellte sich schließlich heraus, dass es sich bei dem Bild um ein gestelltes Foto handelte, welches eine Freundin zu Werbezwecken für ihre bayerische Cateringfirma aufgenommen und auf ihrer Facebook-Webseite veröffentlicht hatte. Da ich ihr damals zudem geholfen hatte, ihre Homepage mitzugestalten, wurde mein Name auch im Impressum erwähnt. Hierüber hatte Frau F. mich also gefunden. Obgleich es sich nur um ein harmloses Werbefoto handelte, das keinerlei Aufschluss über mein Privatleben gab, fühlte ich mich gewissermaßen von der Mutter gestalkt und sah zudem meine therapeutische Abstinenz gefährdet. Aufgrund dessen wurde es dringend notwendig, Frau F. zu begrenzen sowie ihr zu verdeutlichen, dass ihre permanenten E-Mails inzwischen den Rahmen der Elternarbeit überschritten, weshalb ich komplexe Thematiken künftig nur noch in den realen Elterngesprächen mit ihr besprechen werde. Da ich nun konsequent auf keine ihrer dramatisch inszenierten E-Mails mehr antwortete, diente ich der Mutter auch nicht mehr als bestätigendes Publikum, weshalb sich ihre virtuellen Kontaktversuche inzwischen nur noch auf formale Angelegenheiten beschränken. Dies bestätigte mir nochmals, dass mein Angebot der zusätzlichen medialen Kontaktaufnahme von Frau F. nicht als entlastende Unterstützung angesehen worden war, sondern ihr vielmehr eine weitere Plattform zur eigenen Neurosenkompensation geboten hatte.

Fallgeschichte 4 Tamika war zu Beginn der analytischen Jugendlichenpsychotherapie 18 Jahre alt und litt unter ständigen Kopfschmerzen sowie Ruhe- und Schlaflosigkeit. Sie war aufgrund ihrer Flucht aus Afrika zunächst in eine Traumaambulanz geschickt worden, in der ihr eine ambulante Psychotherapie zur Aufarbeitung ihrer schlimmen traumatischen Erlebnisse empfohlen worden war. Während ihrer zu Beginn der Therapie relativ affektlosen Darstellung der eigentlich dramatischen Biografie fiel auf, dass bei mir kaum Gegenübertragungsgefühle aufkamen, was ich zunächst auf mein eige-

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nes Abwehrverhalten zurückführte. Da sich die Patientin nach einiger Zeit zudem in Widersprüche verwickelte, kamen in mir erste Zweifel bezüglich der Glaubwürdigkeit ihrer Geschichte auf, was ich gegenüber Tamika allerdings nicht aussprach. Im Verlauf der weiteren Stunden schien die Jugendliche meine Unsicherheit jedoch zu spüren, was sich unter anderem darin äußerte, dass sie, in einer konkordanten Übertragung zu mir, immer wieder betonte, dass ihre Geschichte der Wahrheit entspreche. Es kam schließlich zu einem Anruf der Patientin, in dem sie weinend gestand, mich belogen zu haben, weshalb sie es nicht verdiene, dass die Behandlung fortgesetzt werde. Ich versuchte zunächst mittels telefonischer Krisenintervention, die Schuldgefühle der Patientin zu containen und sie so weit zu stabilisieren, dass sie sich auf ein weiteres persönliches Gespräch mit mir einlassen konnte. Hierbei war es vor allem nötig, Tamika von ihrer Strafangst zu entlasten und ihr zu vermitteln, dass es psychodynamische Gründe dafür geben kann, die Wahrheit nicht auszusprechen. Selbstanklagend berichtete sie nun in der folgenden Stunde, eine unzutreffende Biografie und gefälschte Gründe für ihre Flucht aus Afrika angegeben zu haben, da sie sich für ihre wahre Geschichte schäme und viel eigene Schuld auf sich geladen habe. Es wurde deutlich, dass die Patientin durch die Inszenierung einer anderen Identität einerseits tatsächliche traumatische Erlebnisse verleugnete, andererseits versuchte, die als böse erlebten Selbstanteile ungeschehen zu machen, um damit verbundene, unaushaltbare Schuldgefühle abzuwehren. Obgleich Tamika nun erleichtert war, mich als Mitwissende ihrer »wahren Persönlichkeit« zu haben, fiel es ihr dennoch schwer, mir im Face-to-Face-Setting weitere wirkliche Details ihrer Vergangenheit mitzuteilen, da dies mit zu großen Schamgefühlen einherging. Aufgrund dessen bot ich ihr zunächst an, das Unaussprechliche aufzuschreiben und mir zu den Stunden mitzubringen, wobei ich den Inhalt der Briefe erst nach den Stunden lesen und anschließend in einer Kiste aufbewahren würde. Hierauf erwiderte sie, nicht einmal ertragen zu können, die Wahrheit auf Papier bei sich zu Hause liegen zu haben, da sie sich dadurch zu intensiv mit ihren Traumata konfrontiert fühle. Wir vereinbarten daher, dass die Patientin ihre Biografie stattdessen in längeren E-Mails niederschreiben werde, die sie nach dem Versenden

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sofort wieder aus ihrem Account löschen könne und selbst entscheiden dürfe, wann sie die Themen in den realen Sitzungen ansprechen werde. Mit Hilfe dieses Mediums gelang es Tamika schließlich zunehmend, ihre Widerstände zu überwinden und sich mir durch regelmäßige E-Mail-Botschaften zu öffnen. Dies verhalf ihr zudem dazu, Zugang zu ihren verleugneten und teilweise abgespaltenen Anteilen ihrer Geschichte zu erhalten und die schwer aussprechbaren, belastenden Themen zunehmend auch in den Sitzungen ausdrücken zu können. Inzwischen ist die Patientin kaum noch auf dieses Medium angewiesen, wobei es dennoch vereinzelte Situationen gibt, in denen sie mir Gefühle und Gedanken lieber auf diesem Wege mitteilt, da die E-MailKommunikation für sie nach wie vor eine schützende Funktion hat.

Persönliche Schlussfolgerungen Im Umgang mit den neuen Medien machte ich die Erfahrung, dass die Nutzung einer virtuellen Kommunikation im Praxisalltag der therapeutischen Beziehung nicht zwingend im Weg stehen muss. Ich stellte jedoch fest, dass der Einsatz der technischen Kontaktmittel, insbesondere des Handys, die Abgrenzung von den Patienten oder auch ihren Eltern erschwert. Selbst wenn das Mobiltelefon ausgeschaltet ist, befindet es sich stets in unmittelbarer Reichweite und verführt dazu, auch außerhalb der Arbeitszeiten nachzusehen, ob man eine Nachricht empfangen hat. Hinzu kommt, dass man den Patienten – anders als bei der Erreichbarkeit über den klassischen Anrufbeantworter – signalisiert, immer zur Verfügung zu stehen. Aufgrund dessen ist es bei einer therapeutischen Handynutzung absolut notwendig, den Patienten klare zeitliche und inhaltliche Grenzen zu setzen, indem man verdeutlicht, dass sie nur zu den vereinbarten Zeiten eine Antwort erwarten können und der Einsatz ausschließlich zur Krisenintervention oder für formale Angelegenheiten genutzt werden soll. Allerdings zeigt der Fall Lea, dass es dennoch Patienten geben kann, die sich aufgrund ihres Strukturniveaus über diese Rahmenbedingungen hinwegsetzen und mit vermeintlichen Notfallanrufen einen dauerhaften Therapiekontakt erzwingen wollen. Dies erfordert eine erhöhte Abgrenzungsfähigkeit des Therapeuten, zumal – insbesondere bei den

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SMS-Botschaften – wichtige nonverbale Signale fehlen und die Gefahr

einer Fehlinterpretation der Situation besteht. Ähnlich verhielt es sich im Fall mit Frau F., die die Nutzung der virtuellen Medien ebenfalls »grenzenlos« einsetzte und darüber hinaus sogar versuchte, durch das Internet Informationen über mein Privatleben herauszubekommen. Aufgrund dieser Erfahrung kann ich nur empfehlen, sich als Therapeut weder bei Facebook noch bei anderen privaten sozialen Netzwerken anzumelden, noch persönliche Informationen über das Internet zu verbreiten, da auf diese Weise nicht nur der notwendige Schutz der Privatsphäre, sondern auch die therapeutische Abstinenz gefährdet wird. Im Gegensatz dazu erwies sich die ergänzende mediale Kommunikation sowohl im Fall von Annika als auch von Tamika als hilfreiche und unterstützende Behandlungsmethode. Mit Hilfe des Handys als Übergangsobjekt konnte Annika meine Regulationshilfen auch über die Sitzungen hinaus zum Ausgleich ihrer strukturellen Schwächen nutzen. Dies führte dazu, dass therapeutische Hilfs-Ich-Funktionen innerhalb des Face-to-Face-Settings wesentlich weniger Raum einnahmen – was sich zudem entlastend auf unser Arbeitsbündnis auswirkte. Auch zeigte sich, dass diese Patientin die außerterminliche Handy-Kommunikation als zeitlich begrenzte Interventionsform akzeptieren konnte, weshalb diese nach Überwindung der Krise wieder entbehrlich wurde und wir schließlich zur klassischen Behandlungsmethodik zurückkehren konnten. Für Tamika stellte die Kommunikation via E-Mail eine notwendige Schutzfunktion dar, da ihre Schuld- und Schamgefühle es unmöglich machten, in der realen therapeutischen Begegnung über ihr Trauma reden zu können. Das Unsagbare musste auf diese Weise nicht ausgesprochen, sondern konnte in schriftlicher Form ausgedrückt und vermittelt werden. Die Option, die E-Mail nach dem Versenden sofort löschen und in meinem Account deponieren zu können, bewirkte, dass sie sich den verleugneten traumatischen Erlebnissen ihrer Vergangenheit stellen und diese als Teil ihres Selbst annehmen konnte. Die in den E-Mails benannten Inhalte ihrer Geschichte konnten schließlich in den Behandlungsprozess integriert und bearbeitet werden, was vermutlich ohne die zusätzliche virtuelle Kommunikation nur schwer möglich gewesen wäre. Auch anhand meiner persönlichen Erfahrungen wird also deutlich, dass der Einsatz einer zusätzlichen medialen Behandlungsmethodik

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sowohl Vor- als auch Nachteile sowie Chancen und Risiken beinhaltet. Aufgrund dessen möchte ich weder ein eindeutiges Pro noch ein grundsätzliches Contra gegenüber einer therapeutischen Medien-Kommunikation aussprechen, zumal ich selbst stets von Fall zu Fall entscheide, wann und wie ich diese Medien in meiner therapeutischen Praxis einsetze. Zudem hat jeder Therapeut seine individuelle Einstellung gegenüber den modernen Kommunikationsformen und sollte auch dementsprechend für sich bestimmen, inwieweit er diese nutzen möchte. Es ist mir dennoch wichtig zu erwähnen, dass die Mediennutzung im Praxisalltag nicht gänzlich verurteilt werden sollte. Schon Freud (1930) sprach vom Menschen als »Prothesengott«, der durch Einsatz von Hilfsmitteln seine Unvollkommenheit auszugleichen versuche (S. 450 f.). Was zu Freuds Zeiten vermutlich Briefe und Tagebücher erfüllten, wird heutzutage zunehmend durch E-Mail, Facebook, Handy etc. ersetzt, weshalb mir eine gewisse Offenheit gegenüber diesen Medien auch im therapeutischen Raum durchaus notwendig erscheint.

Literatur Cook, J., Doyle, C. (2002). Working alliance in online therapy as compared to face-to-face therapy. Preliminary results. Cyber Psychology & Behavior, 5, S. 95–105. Zugriff am 12. 05. 2014 unter http://www.biomedcentral. com/1471–244X/11/189 Eichenberg, C. (2008). Bedeutung der Medien für klinisch-psychologische Interventionen. In B. Batinic, M. Appel, Medienpsychologie (S. 503–530). Berlin u. a.: Springer. Eichenberg, C. (2011). Internet und E-Patienten: Potenzielle Auswirkungen auf die Autonomie der Patienten und die Behandler-Patient-Beziehung. In H. W. Hoefert, C. Klotter, Wandel der Patientenrolle. Neue Interaktionsformen im Gesundheitswesen (S. 67–100). Göttingen: Hogrefe. Eichenberg, C., Kienzle, K. (2011). Psychotherapeuten und Internet. Einstellung und Nutzung von therapeutischen Onlineangeboten im Behandlungsalltag. Psychotherapeut, 58 (5), 485–493. Freud, S. (1930). Das Unbehagen in der Kultur. Wien: Internationaler Psychoanalytischer Verlag. Kächele, H. (2012). Internetbasierte Interventionen. Der Therapeut im Internet? Vortrag im Rahmen der 62. Lindauer Therapiewochen 2012. Zugriff am 12. 05. 2014 unter http://szondi.ch/wp-content/uploads/kaechele_horst.pdf Lindner, H., Fiedler, G. (2002). Neue Beziehungsformen im Internet. Virtuelle Objektbeziehungen in der Psychotherapie. Der Nervenarzt, 1, 78–84. Mück, H., Mück-Weymann, M., Mück, B. (2005). Internetgestützte Psycho-

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»Wenn das Handy zweimal klingelt«295 therapie. Erfahrungen von 22 Patienten. In H. Mück (Hrsg.), Elektronische Zeitschrift für Forschung, Weiterbildung und Qualitätssicherung in der psychotherapeutischen und ärztlichen Praxis. Zugriff am 13. 05. 14 unter http:// www.praxisforschung.de/2005/Internettherapie_Einleitung.htm

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Die Autorinnen und Autoren

Dirk Alfer, Dr. med., Diplom- Psychologe, ist seit 2011 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters der Universität zu Köln. Rasa Bieliauskaite, Prof. Dr. phil., Psychologin, ist Dozentin an der Universität Vilnius (Litauen) und Direktorin des Vilnius Institut für Individualpsychologie. Gitta Binder-Klinsing, Dr. med., ist Ärztin für Allgemeinmedizin, Ärztin für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie/Psychoanalyse sowie in privater Praxis und als Dozentin, Supervisorin und Lehranalytikerin (DGIP, DGPT) am Alfred-Adler-Institut (AAI) in Mainz tätig. Jan Frölich, Priv.-Doz. Dr. med. Dr. paed., Facharzt für Kinderheilkunde sowie Kinder- und Jugendpsychiatrie, ist in einer kinder- und jugendpsychiatrischen Praxis in Stuttgart tätig. Carola Furck, Dr. med., Fachärztin für Psychiatrie und Psychoanalytikerin (DGIP, DGPT), ist in eigener Praxis in Dreieich und als Dozentin am Alfred-Adler-Institut Mainz tätig. Gisela Gandras, Diplom-Psychologin, ist als Psychoanalytikerin in eigener Praxis in Bad Schwartau tätig. Sie ist Dozentin, Supervisorin und Lehranalytikerin (DGIP, DGPT) am Alfred-Adler-Institut-Nord und an anderen Instituten. Annegret Garschagen, Diplom-Pädagogin, ist als Individualpsychologische Beraterin und Supervisorin (DGIP), Personalentwicklerin und

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Die Autorinnen und Autoren297

Coach in Selbständigkeit sowie als Studienberaterin der zentralen Studienberatung an der Fachhochschule Münster tätig. Manfred Gehringer, Diplom-Psychologe, ist als Psychoanalytiker in eigener Praxis in München und als Dozent, Supervisor, Lehranalysebeauftragter und Vorsitzender des Vorstands am Alfred-Adler-Institut München tätig. Jürgen Hardt, Diplom-Psychologe, Psychologischer Psychotherapeut, Lehr- und Kontrollanalytiker der DPV, ist in privater Praxis in Wetzlar tätig. Langjährige Funktionen in der DPV, Gründungspräsident der Psychotherapeutenkammer Hessen. Andrea Heyder, Diplom-Psychologin, ist als Psychoanalytikerin (DGIP, DGPT) in eigener Praxis in Leverkusen tätig. Sie ist Vorsitzende des Ethikkomitees der DGIP und als Dozentin, Supervisorin und Lehranalytikerin am Alfred-Adler-Institut Düsseldorf tätig. Barbara Jaeger, Dr. med., Fachärztin für Psychotherapie (DGPM) und Psychoanalytikerin (DGIP, DGPT), ist in eigener Praxis in Offenbach und als Dozentin und Supervisorin am Alfred-Adler-Institut Mainz tätig. Holger Kirsch, Dr. med., Arzt für Psychosomatische Medizin, ist Professor für Sozialmedizin an der Evangelischen Hochschule Darmstadt und als Psychoanalytiker und Lehranalytiker (DGIP/DGPT) am AlfredAdler-Institut Mainz tätig. Anna Kirschnek ist Schulpsychologin und Lateinlehrerin an den Nymphenburger Schulen. Dort ist sie seit zehn Jahren im Bereich der Beratung und des Unterrichts tätig. Christiane Kürschner, cand. med., ist Studentin an der Universität zu Köln. Gerd Lehmkuhl, Univ.-Prof. Dr. med., Diplom-Psychologe, ist als Leiter der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie der Universität zu Köln sowie als Lehranalytiker (DGIP, DGPT, DAGG) am

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Die Autorinnen und Autoren

Alfred-Adler-Institut Aachen-Köln tätig und verantwortlicher Redakteur der »Zeitschrift für Individualpsychologie«. Petra Neu, Analytische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin (DGIP, VAKJP), Sandspieltherapeutin und Selbsterfahrungsleiterin (DGST, ISST) sowie Therapeutin für Intrapsychische Systemarbeit (nach M. Schneeweiß), ist in eigener Praxis in München tätig. Sie ist Dozentin und Kontrollanalytikerin am Alfred-Adler-Institut in München und am Institut für Individualpsychologie in Vilnius/Litauen. Anna Peter, Diplom-Psychologin, ist als Psychoanalytikerin (DGIP, DGPT) und analytische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin (DGIP) in eigener Praxis in München tätig. Reinhard Plassmann, Prof. Dr. med., Arzt für Neurologie und Psychiatrie, Arzt für psychotherapeutische Medizin, Lehr- und Kontrollanalytiker (DPV) und EMDR-Therapeut, leitet als ärztlicher Direktor das psychotherapeutische Zentrum Bad Mergentheim und ist Professor an der Universität Kassel. Damaris Sander, Diplom-Psychologin, hat ihre Ausbildung zur Psychoanalytikerin (DGIP) 2013 am Alfred-Adler-Institut Aachen-Köln abgeschlossen und ist in eigener Praxis in Köln tätig. Sandra Vates unterrichtet seit zehn Jahren an den Nymphenburger Schulen das Fach Mathematik und ist als Schulpsychologin im beraterischen Bereich und für das Fach Psychologie in der Oberstufe zuständig. Anna Zeller-Breitling, Diplom-Sozialpädagogin, befindet sich derzeit in der Ausbildung zur Kinder- und Jugendlichenpsychoanalytikerin am Alfred-Adler-Institut Aachen-Köln.

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Personenverzeichnis

A Ackermann, U. 264 f., 269 Adler, A. 88, 90 f., 101, 105, 107, 114, 116, 120–123, 141, 150, 209, 223, 249 f. Aldarondo, F. 224 Alfer, D. 58 Allen, W. 163, 178 Altmeyer, M. 85, 101 f., 181, 191 f., 194 Amendt, G. 159, 178 Ammerschläger, M. 45, 58 Anderson, C. A. 21, 31 Anderson, C. R. 224 Antoch, R. F. 91, 101, 105, 109, 114, 123 Appel, M. 294 Armfield, N. R. 201, 215, 223 Atwood, G. E. 85, 102 Auch-Dorsch, E. 209, 222 f. Aumann, P. 265 Austin, D. 224 B Bahnsen, U. 157 f., 178 Bahrke, U. 247, 251 Baker, S. 57 Balint, M. 91 f., 98, 100 f. Bamford, H. 32 Barber, B. 265, 269 Barnow, S. 252 Batinic, M. 294 Batthyany, D. 56 f. Bauer, C. 32 Bauer, J. 110, 123

Bauman, Z. 264 f., 269 Bayles, M. 202 f., 216 f., 223 Baym, N. 259 Baym, N. K. 269 Beck, S. 153, 178 f. Benker, F. 56 f. Bentham, J. 263, 265 Berkel, I. 153, 168, 178–180 Bernauer, F. 246, 251 Beutel, M. E. 45, 47, 58 f., 251 Bion, W. R. 28, 31, 85, 90, 92, 95, 101, 131, 141, 150, 206 Blake, L. 170, 179 Böhler, E. 32 Böhme, G. 206, 220, 223 Bollas, C. 89–91, 95, 101 Bonacci, A. M. 23, 31 Borchers, M. 22 f., 32 Borsook, P. 266, 269 Bott Spillius, E. 131, 150 Bowlby, J. 26, 31, 132, 150 Brandchaft, B. 85, 102 Brand Frank, Z. 166, 174, 178 Britton, R. 129, 150 Brockmann, J. 248, 251 Brown, L. 152 Brunner, R. 57, 101 Bruns, T. 23, 31 Buchholz, M. B. 247, 251 Buchter, H. 55 f. Bück, U. 90 Burton, D. 224 Bushmann, B. 23, 31

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300Personenverzeichnis C Cadenbach, C. 164, 178 Carcioppo, J. 190 Carli, V. 57 Carr, N. 62, 81 Casey, P. 170, 179 Chodorow, N. J. 203, 217, 223 Christakis, D. A. 20, 23, 31 Ciechomski, L. 224 Consigny, A. 195 Cook, J. 279, 294 Cremerius, J. 247, 251 D Dahl, H. 246, 251 Darwin, C. 110 Dettbarn, I. 226, 244 Di Blasi, L. 268 f. DiGiuseppe, D. L. 20, 31 Dill, K. E. 21, 31 Donati, R. 246, 251 Don Quichote 268 Döpfner, M. 52, 57 Dornes, M. 155, 169, 176–178 Doyle, C. 279, 294 Dreikurs, R. 106, 108 f., 116, 119, 121, 123 Durkee, T. 57 Dworak, M. 23, 31 Dyck, K. G. 201, 215, 223 E Eagle, M. N. 248, 251 Edwards, B. 152 Eichenberg, C. 281–283, 294 Eife, G. 109, 123 f. Eisenhauer, R. 32 Ende, M. 19, 31 Ennemoser, M. 23, 31 Essers, H. 91, 102 F Fedrowitz, J. 270 Fegert, J. M. 252 Feierabend, S. 20, 32 Feldman, M. 129, 150 Ferenczi, S. 91 Ferro, A. 85

Fiedler, G. 251, 280 f., 294 Fischer, G. 50, 57 Fischer, P. 223 Fissabre, U. 224 Fliegel, S. 252 Fonagy, P. 25 f., 32, 131, 150 Foucault, M. 263, 269 Frank, C. 32 Franklin, S. 153, 178 Freeman, T. 167, 179 Frees, B. 20, 33, 59 Freiberger, E. 223 Freisleder, F. J. 45, 58 Freud, S. 91, 191, 202, 224, 257, 269, 294 Freyberger, H. J. 252 Frölich, J. 18, 22 f., 32, 46, 51 f., 55, 57 f. Fuchs-Brüninghoff, E. 251 Fuchs, T. 32, 267, 269 Furck, C. 226, 237 Furtmüller, C. 150 G Gelernter, D. 38, 40, 57 Gentile, D. A. 21, 23, 32, 45, 57 Gergely, G. 25, 32, 130 f., 150 Glaesmer, H. 252 Goldbeck, L. 252 Golombok, S. 167, 170, 178 Grawe, K. 246, 251 Gray, L. C. 223 Griffiths, F. 201, 215, 224 Grunert, J. 93, 101 Grüsser, S. M. 44, 57 Guignard, F. 24 f., 32, 53, 57 H Haas, A. 251 Habermas, J. 267, 269 Haller, K. 116, 124 Han, B.-C. 183, 190, 194 f. Hancox, R. J. 23, 32 Handrich, M. 224 Häntzschel, O. 23 Hardt, J. 255 f., 269 f. Hardy, C. 201, 215, 223 Harth, K. 32

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Personenverzeichnis301 Hasanovic, M. 201, 216, 223 Hautzinger, M. 251 Heick, G. 223 Heidegger, M. 253 f., 270 Heinen, F. 38, 57 Heins, E. 30, 32 Heisterkamp, G. 94, 102, 206, 220, 223 Heller, C. 265, 270 Hermann, G. 223 Hermanns, L. M. 32 Hillenkamp, S. 181–184, 189, 195 Hoefert, H. W. 294 Höhfeld, K. 247, 251 Hontschik, B. 32 Horn, A. B. 256, 270 Huber, J. C. 164, 179 Hüsing, B. 158

Klingler, W. 20, 32 Klotter, C. 294 Klotz, M. 153, 178 f. Klug, K. 57 Knecht, M. 153, 155, 165, 169 f., 178 f. Koch, C. 56 f. Kohl, S. 252 Kohut, H. 89 Konrad, M. 154, 179 Kramer, W. 167, 179 Kravic, N. 201, 223 Kruttke-Rüping, M. 63 Krutzenbichler, H. S. 91, 102 Kumar, A. 32 Kunze, R. 80 f. Kürschner, C. 57 f. Kyrios, M. 224

I Illouz, E. 188 f., 195 Inhorn, M. C. 162, 179

L Laude, B. 173, 179 Lazar, R. A. 102, 208, 223 Lebinger-Vogel, J. 252 Lee, S. J. 224 Lehmkuhl, G. 18, 22 f., 32, 46, 51, 55, 57 f., 248, 251 Lehmkuhl, U. 123, 251 Letzel, S. 32 Leuzinger-Bohleber, M. 247, 251 f. Levinas, E. 267, 270 Linder, J. R. 21, 32 Lindner, H. 281, 294 Lindner, R. 280 Löchel, E. 32 Lovink, G. 55, 58 Luborsky, H. H. 246 Ludwig-Körner, C. 209, 222 f. Luhmann, N. 154, 178 f. Lukesch, H. 32 Luther, M. 266 Lynch, P. J. 21, 32 Lyon, D. 264, 269 Lyotard, J.-F. 266, 270

J Jadva, V. 167, 170, 179 Jaeger, B. 237 Janta, B. 270 Jörg, S. 35, 57 Jurist, E. L. 25, 32, 131, 150 K Kächele, H. 227, 244, 246, 251 f., 279–281, 294 Kaess, M. 57 Kaiser, G. 270 Kalff, D. 207, 221 Kalff, M. 207, 221, 223 Kallenbach, W. 251 Keller, M. 251 Kernberg, O. F. 247 f., 250 f. Kienzle, K. 282 f., 294 Kirkpatrick, D. 116, 124 Kirsch, H. 251 Kirschnek, A. 14, 272 Kleimann, M. 58 f. Klein, B. 224 Klein, M. 88 f., 150 Klein, S. 56 f.

M Maercker, A. 256, 270 Maio, G. 160, 175, 179, 183, 195 Marquard, O. 193, 195

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302Personenverzeichnis Marx, H. 251 Matejovski, D. 270 McCarty, C. A. 20, 31 McLuhan, H. M. 261, 270 McMullen, E. 201, 215, 224 Meheula, L. 32 Mentzos, S. 142, 150 Merleau-Ponty, M. 254, 267, 270 Mersch, D. 207, 224 Mertens, W. 102 Michels-Lucht, F. 252 Miller, G. 39, 58 Miller, T. W. 224 Mill, J. S. 261 Milne, B. R. 23, 32 Mittelstraß, J. 56, 58 Moravec, H. 270 Morgan, S. 201, 223 Morgenthaler, F. 93, 102 Mößle, T. 58 f. Mück, B. 294 Mück, H. 280 f., 294 Mück-Weymann, M. 294 Müller, K. W. 45, 56–59 Müller-Lissner, A. 40, 58 Müller, M. 224 Münch, K. 270 Murray, G. 224 N Nagell, W. 206, 219, 224 Nahman, M. 166, 179 Nass, C. 32 Nass, M. 32 Negele, A. 250 f. Neu, P. 204 f., 223 O Ochs, M. 254, 270 Ogden, T. H. 85, 87, 89 f., 102, 206, 224 Ong, W. 259, 270 O’Shaughnessy, E. 129, 150 Osnos, E. 201, 216, 224 P Pajevic, I. 201, 223 Parzer, P. 57

Pea, R. 21, 32 Petersen, K. U. 58 f. Pfeiffer, C. 51, 59 Pflichthofer, D. 207, 220, 224 Plassmann, R. 15, 52, 59 Platon 259, 270 Pohlmann, W. 92, 102 Postman, N. 35, 59 Poulton, R. 23 R Rabenstein, S. 110, 124 Racker, H. 90, 102 Rance, M. 32 Rauber, J. 251 Rauchfuß, K. 32 Reese, R. J. 201, 215, 224 Rehbein, F. 22 f., 32, 58 f. Reiche, R. 176, 179 Reik, T. 86, 102 Resch, F. 57 Revermann,C. 158 Richards, S. E. 157, 179 Ridder, C.-M. 20, 33 Rieken, B. 124, 250 f. Rogers, C. 78 Roman, G. 170, 179 Rudolf, G. 230, 235, 237, 240, 244 Rüger, B. 251 S Saint Dénis 268 Salber, W. 94, 102 Sandler, J. 89, 95, 102 Sauer-Schiffer, U. 251 Saul, L. J. 202, 216, 224 Scharff, J. S. 203 f., 217 f., 224 Schelb, Y. 58 f. Schierl, T. 23, 31 Schiller, F. 192, 195 Schmidt, R. 106, 124 Schnabel, U. 55, 59 Schneider, I. 32 Schött, M. 251 Schumacher, K. 223 Schüz, J. 32 Seiffge-Krenke, I. 251 Seitz, C. 32

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Personenverzeichnis303 Serres, M. 268, 270 Shandley, K. 201, 215, 224 Shin, N. 23, 33 Simha, A. 32 Smith, A. C. 223 Snowden, E. 264 Sokrates 259 Sonntag, A. 252 Spiewak, M. 164, 179 Spitzer, M. 21–24, 29 f., 33, 38 f., 59, 62 f. Springer, A. 269 Spröber, N. 252 Steinberg, B. 216, 224 Steinmetzer, L. 224 Steptoe, P. 152 Stern, D. N. 209, 223 f. Stern, D. W. 33, 222 Stillermann, B. 32 Stolorow, R. D. 85, 102 Stolz, M. 23, 33 Strassmann, B. 55 f. Strathern, M. 153 Strauss, B. 251 f. Strüder, H. K. 23, 31 Strupp, L. 246 T Taeger, A. 58 Target, M. 25, 32, 131, 150 Taubner, S. 227 Tausk, V. 17, 33 Tenbrink, D. 89, 94, 102 Terranova, T. 270 Thalemann, R. 44, 57 Thiel, R. 58 f. Thiery, H. 120, 124 Thomä, D. 175, 180 Thomä, H. 85, 101 f., 246, 251 f. Thomasius, R. 58 f. Thorn, P. 159, 180 Titze, M. 101

Tort, M. 156, 180 Toschke, A. M. 32 Turkle, S. 270 V van Eimeren, B. 20, 33, 59 van Rüth, V. 123 f. Vates, S. 272 Villacèque, A. 184, 195 Vonderlin, E.-M. 57 von Hentig, H. 55, 59 von Kleist, H. 191 Vorspohl, E. 150 W Wagner, B. 256, 270 Waldvogel, B. 102 Walsh, D. A. 21, 32 Wasserman, D. 57 Watson, J. 130, 150 Weber, C. 190, 195 Weizenbaum, J. 78, 81 Wellendorf, F. 224 Westhoff, R. 193, 195 Wewer, G. 264 Weymann, N. 58 f. White, K. 140, 150 Willutski, U. 252 Winnicott, D. W. 9, 82, 84, 87–89, 102, 147, 150 Witte, K.-H. 108 Woessmann, L. 32 Wölfling, K. 45, 56–59 Wright, J. 201, 215, 224 Y Yang, S. 32 Z Zhou, M. 32 Zimmerman, F. J. 20, 31 Zubiene, E. 224 Zuckerberg, M. 110

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Stichwortverzeichnis

A Abstinenz 9, 82, 84 f., 90, 93, 96, 100 f., 202, 237, 293 Abstinenzgebot 91 Abwehr 95, 136 hypomane 126 hypomanische 140, 144 interpersonelle 139 Abwehrmuster 90 Abwehrstruktur zyklothyme 138 Abwehrverhalten 291 Adoleszenskonflikt 230 Affektdifferenzierung 133, 149 Affektregulation 149 Affektwahrnehmung 133 Alltagspsychotherapie 253, 255 Als-ob-Verfassung 96 Amour Fou 192 Analyse, mutuelle 91 analytische Haltung 96 Arbeitsbündnis 284, 286 therapeutisches 281 Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom (ADS) 20 Aufmerksamkeitsstress 55 Autarkiebedürfnis 142 Autarkiebestrebungen 131, 146 autistisch-berührende Position 89 autistischer Rückzug 52 Autonomie therapeutische 137 Autonomieentwicklung 231 f., 237 Autonomieillusion 79

Autonomiewunsch 79 Autonomiewünsche 241, 284 B Babybeobachtung 208 Baltischer Weg 198 Bannoptikum 264 Bedürfniswelten, archaische 98 Behandlungskrise 134, 136 Behandlungs-Raum 82, 84 Beziehungserfahrung 78 Beziehungsmanagement 37 Bildschirmmedien digitale 17 elektronische 15 invasive 22 virtuelle 17 Bildschirmtraumatisierung 28, 31 Bindung unsicher ambivalent 133 unsicher vermeidend 132, 147 Bindungsbedürfnis 242 Bindung, sichere 22 Bindungslosigkeit, narzisstische 186 Bindungsstil 132 Bindungsstörung 26 mediogene 19, 27 sekundäre mediogene 27 transgenerationale 27 Bindungssystem 16, 26 Bindungstheorie 125, 202 Binge Viewing 22 Biotechnologie 155, 167 bipersonales Feld 85 Blog 36, 112

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Stichwortverzeichnis305 C Chat 98, 121 Chatpartner 77 Chatsprechstunde 117 complete mother 154 Computerspielabhängigkeit 23 Computerspielsucht 46, 50 Computersucht 38, 44 Container 267 Containing 90, 267, 287 f. Containment 95, 141, 267 Coup de Foudre 188, 192 f. Couples-Satisfaction-Index (CSI) 190 Cyberkriminalität 277 Cybermobbing 112 Cybermystik 253 Cyberpsychology 116 Cyberwelt 40 schöne neue 266 D das analytische Dritte 88 Datenverantwortung 277 Datingportal 185, 194 depressive Position 89 Designerbaby 169 Desymbolisierung 175 Deutung übertragungsfokussierte 137 Deutung, Art und Weise der 99 Deutungsangebot 138 digitale Demenz 24, 38 digitale Medien 10, 34 digitale Netzwerke 19 digitale Öffentlichkeit 264 digitaler Dialog 75 digitale Revolution 181 Digital Immigrants 63, 104 f., 272 Digital Natives 10, 34, 63, 103–105, 113, 123, 268, 272 drittes Ohr 86 E eDarling 186 Einzelfallforschung 248 Eizellspende 160–162, 164, 166 f., 169 f., 172, 174 f., 177

Elternschaft, verteilte 169 E-Mail-Kommunikation 280, 292 Embryonenschutzgesetz 157 Embryonenselektion 158 Embryotransfer 162 Emoticon 262 Emotionsregulation 16, 24, 26 Empathie 78, 88 Empathieverlust 51 empathische Einfühlung 79 Enthaltsamkeit 96 Entleiblichung 262 Erotisierung der Kindheit 25 von Kinderkleidung 25 E-Supervision 201 F Facebook 18, 21, 38, 41–44, 48, 67 f., 83, 104, 110–112, 116 f., 120, 122, 192, 225, 275, 278, 289, 293 f. Facebook-Beratung 119 Facebook-Profil 111, 276 Face-to-Face-Supervision 200 Fanpage 117 Fernanalyse 202 Fernsehkonsum 39 Fiktion 242 Finalität 110 Foren 112 Formtrieb 192 G Gametenspende 162 Gametenspender 154 Gegenübertragung 9, 82 f., 86, 89–92, 97, 100 f., 125 f., 131 f., 134–136, 140, 142, 147 f., 204 f. komplementäre 90, 140, 145 konkordante 90 wechselnde 95 Gegenübertragungsbereitschaft 89, 95 Gegenübertragungserleben 125 Gegenübertragungsgefühl 290 Gegenübertragungsgeschehen 207 Geltungsstreben 114 Gemeinschaftsfähigkeit 115, 121

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306Stichwortverzeichnis Gemeinschaftsgefühl 88, 103, 105– 111, 113–115, 119, 121 f., 174 als individualpsychologisches Grundkonstrukt 122 Generationengrenze 156 Generation Web 2.0 105, 121 Geschlechtsidentität 156 Gesichtsbuch 113 gestational carrier 154, 171, 173 Gewaltkonsum 51 H Handynutzung, therapeutische 292 Hashtag 119 Hilfs-Ich-Funktion 280 Hirnforschung 248 Homepage 120 Hypomanie 146 I Ich-Autonomie 52 Ich-Struktur 280 Identifikationsobjekt 229, 240 Identität, fragile 230, 235 Identitätsbildung 170 Identitätsentwicklung 10, 34, 167–169 Identitätskonflikt 230, 240 narzisstischer 240 Identitätswechsel 16 Individualpsychologie 103, 105, 121, 197 Insemination 167 Insemination, donogene 168 Insemination, heterologe 162, 164, 167 Instagram 111 Insuffizienzgefühl 287 intermediärer Raum 85 Internalisierung 268 internet-based-intervention 256 internetbasierte Kommunikation 282 Internetdating 188 Internetkommunikation 200 Internetkonsum 63 Internetmobbing 42 Internetpaar 190 Internetplattform 37

Internetselbst 188 Internetsucht 22, 46, 50 f., 238 Internettherapie 253 f., 256, 264, 267 f. Internetzeitalter 62 intersubjektives Feld 85 intersubjektive Wende 85, 91 Intersubjektivität 92 f., 202, 267 intrazytoplasmatische Spermien­ injektion (ICSI) 152, 162 Introjektion 268 Introjekt, mütterliches 287 In-vitro-Fertilisation (IVF) 152 Inzesttabu 24 iPad 29 iPhone 41, 273 iSpielzeug 40 K Kindheitserinnerungen 77 Kommunikationskultur 37 Konsumerismus 265 Körper als fremdes Objekt 16 Körperrepräsentanz 26 Körperselbst 229 Krankheitseinsicht 53 L Laptop 268 Lebensstil 90, 95 Leiblichkeit 267 Leihmutterschaft 166, 171 Lernstörungen, mediogene 23 Liebesfreiheit 184 Likefunktion 114 LinkedIn 111 Live-Supervision 206, 208 M Machtgefälle 65 Machtkampf 78 Machtmissbrauch 166 Machtstreben 114 Magersucht 238 Man-Experten 255 Mangelerfahrungen frühe 95 frühkindliche 287

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Stichwortverzeichnis307 Mangellage 94, 101 Man-Selbst 255 Matchingpoints 194 Matching-Score 187 mediale soziale Netzwerke 278 Medialisierung 54, 56 Medien digitale invasive 18, 28 digitale nichtinvasive 18 invasive 15 nichtinvasive 15 Medienabhängigkeit 272, 275 Medienanamnese 30, 52 Medien, elektronische 8, 225 Medienerfahrung 283 Medienforschung 19 mediengestützte Kommunikation 284 Mediengewalt 23, 51 Medienkompetenz 55 f. Medienkonsum 19, 23, 27, 34 f., 44, 47, 51 f., 54, 274, 276 kritischer 275 Mediennutzung 49, 274 Mediennutzungsregeln 46 Medienpädagogik 55 f. Medienschäden 30 Medientagebuch 276 Medienverhalten 273 Medienwechsel 259, 261 zur Digitalisierung 260 Mehrelternschaft 155 f. Mentalisieren von Emotionen 16 Mentalisierung 28, 52, 125, 147 Mentalisierungsfähigkeit 130, 148 Mentalisierungsprozess 27 Mentalisierungsstörung 27, 129, 140 Minderwertigkeitserfahrung 90 Minderwertigkeitsgefühl 287 Mit-Bewegung 94, 96 Möglichkeitsraum 85, 97 Mutterbindung, unsichere 284 Mutterschaft, gespaltene 160 Mutterübertragung 235, 242

N Nähewunsch 136 Narzissmus 155 narzisstische Bedürfnisse 104 narzisstische Größenideen 52 narzisstische Verwundbarkeit 147 Nerd 19 neue Medien 35, 37, 40, 61 f., 64, 77, 84, 97, 225, 237, 244, 272 Neutralität der Gegenübertragung 91 Newsgroup 36 Notebook 29 Notlüge 161, 273 O Objekt negatives inneres 287 objektives 95 omnipotentes 100 omnipotent kontrollierbares 98 omnipräsentes 100 subjektives 88 f., 94 symbolisches 279 Objektbeziehung, virtuelle 280 Objektkonstanz 285 f. Objektrepräsentanz 234 Objektverlust 241 Objektverlustangst 284 Objektverwendung 88 Objektwahrnehmung 131 Objektwert 286 Ödipuskomplex Überwindung des 24 Offlinepaar 190 Ohnmachtsgefühl 52 Omnipotenzillusion 88 Omnipräsenz 101, 281 Onlineberatung 117, 120 Onlinemedien, soziale 21 Onlinenetzwerke 18, 21, 29 soziale 18 Onlinewelt 42 Organsprache 141 P paranoid-schizoide Position 89

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308Stichwortverzeichnis Partnerbörse 189 im Internet 184, 188 Partnersuche im Internet 181, 188, 190 Partnervermittlung im Internet 182 Patchworkfamilie 155 Petrischale 152 Posting 113, 117 Post-privacy, Ideologie der 264 Posttraumatische Belastungs­störung 230 potenzieller Raum 85 Präimplantationsdiagnostik (PID) 166 Projektionen 89 archaische 98 projektive Identifikation 89, 136 f. projektive Identifizierung 28 Prozessforschung, psycho­ therapeutische 245 Pseudobindungen, virtuelle 26 Psychotherapieforschung 249 Psychotherapie, medial unter­stützte 278, 280 Psychotherapieprozessforschung 248 Q queer family 170 R Regenbogenfamilie 155, 170 Regression 93, 133, 136, 148 maligne 98 Regressionsförderung 281 Regressionstoleranz 90 Reizüberflutung 55 Reproduktionsmedizin 151, 154–159, 162, 165, 168, 171, 173, 175, 177 Resonanzerfahrung, soziale 192 Retortenbaby 158 Reverie 90, 206 S Samenspende 161, 166, 170 Samenspende, heterologe 160, 162 Säuglingsforschung 192, 248

Schnörkelspiel 87 Schöpfungskraft 88 Schutzraum, virtueller 280 Selbst Emanzipation des 183 erschöpftes 258 falsches 240 f. konstruiertes 187 Manipulation des 185 Selbstaufgabe 241 Selbstberuhigung 229, 234 Selbst-Bewegung 95 f. Selbstbild 135, 167, 288 Selbstdarstellung 36 Selbstentwertung 287 Selbst-Entwicklung 95 Selbstfragmentierung 287 Selbstgefühl Kern des 88 Selbstheilungsversuch 52 Selbsthomöostase, narzisstische 285 Selbstklassifikation 187 Selbstobjekt 89 containendes 241 Verwendung als 148 Selbstobjektbedürfnis 90 Selbst-Objekt-Differenzierung 229 Selbstobjektverwendung 148 Selbstoffenbarung 189 Selbstregulation 16, 26, 202, 286 Selbstregulierung, Fähigkeit zur 282 Selbstrepräsentanz 234, 284 Selbstsein 265 Last des 268 Schwere des 268 Selbstvernichtung 241 Selbst, verunsichertes 191 Selbstverwirklichung, Streben nach 241 Selbstwahrnehmung 131 Selbstwert 148, 229 Selbstwertgefühl 149, 235 brüchiges 142 mangelndes 120 Selbstwertkonflikt 240 Selbstwertproblematik 147 f. Selbstwertregulation 71, 147 f.

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Stichwortverzeichnis309 Selbstwertstabilisierung 148 Selbstwirksamkeit 69, 286 Selbstwirksamkeitsempfinden 287 Selbstwirksamkeitserfahrung 288 Selbstwirksamkeitserleben 282 Selbst, zeitgenössisches 191 Selbstzweifel 288 Share Economy 112 Sicherungsbedürfnis 90, 95 Skype 117, 199–205, 226 f., 232 f., 236 Skype-Supervision 200 f., 204, 206, 208–210 Smartphone 10, 27, 34 f., 37, 40, 47, 61, 84, 97, 112, 268, 274 SMS-basierte Kommunikation 283 Snapchat 111 Social Freezing 157, 164, 171 Social Media 182 Social Network 41 Social Web 112, 114 Somatisierung 137, 149 soziale Netzwerke 38, 41–43, 47, 67, 103, 114, 274 Spannungsraum 97 Spenderkind 167 Spendersamenkind 173 Spendervater 167 Spiegelung, narzisstische 287 Spiel 87 Spielphantasie 16 Spieltrieb 192 Squiggle 87 Strafangst 291 strukturbezogene Psycho­therapie 240 Strukturniveau 242 Subjekt virtualisiertes 258 Subjektkern 258 Subjekt-Objekt-Trennung 88 Suchterkrankungsrisiko 22 Suchtpotenz 22 Symptomträger 231 T Tablet 35, 38 f.

Teleanalyse 202–204 Telefonanalyse 202 Telefonberatung 120 Telekommunikation 203 f. Telesupervision 202 Therapieforschung, empirische 249 Traffic 118 Trennungsangst 284 triangulierte Sprache 263 Triangulierung 80, 136 Triebwünsche 131 Tumblr 111 Twitter 41, 43, 83, 192 U Übergangsobjekt 80, 88, 96, 284 Handy als 98, 288, 293 Übergangsraum 9, 82, 84, 87–89, 94, 96, 99–101, 280 Übergangszustand 210 Über-Ich 140 Über-Ich-Forderung 91 Übertragung 9, 82 f., 87, 90, 97, 100, 125, 134, 204–206 konkordante 291 Übertragungsanalyse 148 Übertragungsangebot 128, 132 Übertragungsbeziehung 135, 143 Übertragungsdynamik 84 Übertragungsgeschehen 207 Übertragungstraum 141 Übertragungswünsche, Abspaltung von 99 Ur-Mails 262 V Vater symbolischer 156 Vaterschaft, heterologe 168 vegetativer Erregungssturm 26 Verschmelzungswünsche 98 Versorgungswunsch 131, 136, 142, 146 Verwandlungsobjekt 89 Vigilanzfunktionen, verminderte 40 Virtualisierung 24, 262 der Objektwelt 17 der Persönlichkeit 25

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310Stichwortverzeichnis Virtualität 153 virtuelle Behandlungsmethodik 278 virtuelle Gesprächspartner 73 virtuelle Kommunikation 54 virtuelle Objekte 16, 25 virtuelle Realität 18 virtueller Raum 93, 100 virtuelle Supervisionsbeziehung 206 virtuelle Welt 53, 80, 82, 84, 165, 205, 238, 271 f., 277 virtuelle Welten 85 virtuelle Wesen, Therapeuten als 80 virtuelle Wirklichkeit des Behandlungsraums 92 Vitrifizierung 164 W Web 2.0 36, 104, 112, 116, 262

Webshops 112 WeChat 111 Wetware 265 WhatsApp 111 Wille zur Macht 106, 114 Wirksamkeitsstudie 245–247 Wirkungseinheit 94 World of Warcraft (WOW) 18, 22 Y Youtube 42, 192 Z Zwischenleiblichkeit 267 f. Verlust der 262 Zwitterwesen, Therapeuten als 80 Zyklothymie Logik der 142

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