Südamerika zwischen US-Amerikanischer Hegemonie und brasilianischem Führungsanspruch: Konkurrenz und Kongruenz der Integrationsprozesse in den Amerikas 9783964567673

Bestandsaufnahme und Bewertung der Intentionen und Positionen der brasilianischen und anderer Regierungen des Kontinents

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Südamerika zwischen US-Amerikanischer Hegemonie und brasilianischem Führungsanspruch: Konkurrenz und Kongruenz der Integrationsprozesse in den Amerikas
 9783964567673

Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Editorial
Wächst Südamerika unter brasilianischer Führung zusammen oder schwächt der ALCA-Prozess die südamerikanischen Integrationsbestrebungen?
Stand und Perspektiven der Integration Südamerikas: Wirtschaftliche Ausgangslage und Aussichten
Optionen für die monetäre Kooperation im Mercosur
Perspektiven der politischen Integration in Südamerika: Herausforderungen und Handlungsspielräume
Neuausrichtung der brasilianischen Außenpolitik?
Die Beziehungen zwischen Brasilien und seinen Nachbarländern (I)
Die Beziehungen zwischen Brasilien und seinen Nachbarländern (II)
Zwischen Mercosur und ALCA: Die Position Argentiniens gegenüber Brasilien und der gesamtamerikanischen Freihandelszone
Die regionale Dimension der externen Strategie Chiles
Die Beziehungen zwischen Venezuela und Brasilien
Die Außenpolitik Venezuelas
Von der qualifizierten Kongruenz zum „mexikanischen Dilemma": Mexiko zwischen NAFTA und ALCA
Macht, Interessen und Ideen in der US-Politik gegenüber Brasilien
Brasilien und seine Rolle im ALCA-Prozess: Wahrnehmungen und Nicht-Wahrnehmung durch die Europäische Union
Die Wahrnehmung der neuen Rolle Brasiliens in Südamerika aus parlamentarischer Perspektive
Brasilien aus der Sicht der deutschen Privatwirtschaft
Autorverzeichnis
Institut für Iberoamerika-Kunde, Schriftenreihe

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Gilberte Calcagnotto / Detlef Noite (Hrsg.) Südamerika zwischen US-amerikanischer Hegemonie und brasilianischem Führungsanspruch Konkurrenz und Kongruenz der Integrationsprozesse in den Amerikas

Schriftenreihe des Instituts für Iberoamerika-Kunde • Hamburg Band 56

Gilberto Calcagnolo / Detlef Nolte

Südamerika zwischen US-amerikanischer Hegemonie und brasilianischem Führungsanspruch Konkurrenz und Kongruenz der Integrationsprozesse in den Amerikas

Vervuert Verlag • Frankfurt am Main 2002

Institut für Iberoamerika-Kunde - Hamburg

IIK Verbund Stiftung Deutsches Übersee-Institut Das Institut für Iberoamerika-Kunde bildet zusammen mit dem Institut für Allgemeine Überseeforschung, dem Institut für Asienkunde, dem Institut für Afrika-Kunde und dem Deutschen Orient-Institut den Verbund der Stiftung Deutsches Übersee-Institut in Hamburg. Aufgabe des Instituts für Iberoamerika-Kunde ist die gegenwartsbezogene Beobachtung und wissenschaftliche Untersuchung der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen in Lateinamerika. Das Institut für Iberoamerika-Kunde ist bemüht, in seinen Publikationen verschiedene Meinungen zu Wort kommen zu lassen, die jedoch grundsätzlich die Auffassung des jeweiligen Autors und nicht unbedingt die des Instituts darstellen.

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Gilberto Calcagnotto / Detlef Nolte: Südamerika zwischen US-amerikanischer Hegemonie und brasilianischem Führungsanspruch. Konkurrenz und Kongruenz der Integrationsprozesse in den Amerikas / Gilberto Calcagnotto / Detlef Nolte. [Institut für Iberoamerika-Kunde, Hamburg; Verbund Stiftung Deutsches Übersee-Institut]. - Frankfurt am Main: Vervuert, 2002 (Schriftenreihe des Instituts für Iberoamerika-Kunde. Hamburg; Band 56) ISBN 3-89354-604-9 Depósito legal: SE-3704-2002

© Vervuert Verlag, Frankfurt am Main 2002 Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: Konstantin Buchholz gedruckt auf säure- und chlorfrei gebleichtem, alterungsbeständigen Papier Printed in Spain by Publicaciones Digitales, S. A. www.publidisa.com - (+34) 95.458.34.25.

Inhaltsverzeichnis Gilberto Calcagnotto / Detlef Nolte Vorwort Detlef Nolte Wächst Südamerika unter brasilianischer Führung zusammen oder schwächt der ALCA-Prozess die südamerikanischen Integrationsbestrebungen? Hartmut Sangmeister Stand und Perspektiven der Integration Südamerikas: Wirtschaftliche Ausgangslage und Aussichten Manfred Nitsch Optionen für die monetäre Kooperation im Mercosur Wolf Grabendorff Perspektiven der politischen Integration in Südamerika: Herausforderungen und Handlungsspielräume Gilberto Calcagnotto Neu3usrichtung der brasilianischen Außenpolitik? Wilhelm Hofmeister Die Beziehungen zwischen Brasilien und seinen Nachbarländern (I) Christian Lohbauer Die Beziehungen zwischen Brasilien und seinen Nackbarländern (II) Petei Birle Zwischen Mercosur und ALCA: Die Position Argentiniens gegenüber Brasilien und der gesamtamerikanischen Freihandelszone

Harald Barrios Die regionale Dimension der externen Strategie Chiles

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Nikolaus Werz Die Beziehungen zwischen Venezuela und Brasilien

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Andreas Boeckh Die Außenpolitik Venezuelas

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Günther Maihold Von der qualifizierten Kongruenz zum „mexikanischen Dilemma" Mexiko zwischen NAFTA und ALCA

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Stefan A. Schirm Macht, Interessen und Ideen in der US-Politik gegenüber Brasilien

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Franklin Trein Brasilien und seine Rolle im ALCA-Prozess: Wahrnehmungen und Nicht-Wahrnehmung durch die Europäische Union

260

Lothar Mark Die Wahrnehmung der neuen Rolle Brasiliens in Südamerika aus parlamentarischer Perspektive

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Peter Rösler Brasilien aus der Sicht der deutschen Privatwirtschaft

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Autorenverzeichnis

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Gilberto Calcagnolo / Detlef Nolte

Editorial Auch wenn sich nur bedingt behaupten lässt, in Nord- und Südamerika sei das Freihandelsfieber ausgebrochen, so zeigen sich jedoch Symptome für ein Freihandelsverhandlungsfieber, das möglicherweise mit dem Näherrücken der magischen Jahreszahl 2005 noch weiter ansteigen wird. Bis zu diesem Jahr wollen die USA und ihre Partner auf dem amerikanischen Kontinent eine Freihandelszone ALCA (Area de Libre Comercio de las Americas) oder FTAA (Free Trade Area of the Americas)' schaffen. Und auch die EU und der Mercado Conit'in del Sur (Mercosur)2, zu dem sich Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay zusammengeschlossen haben, wollen in etwa bis zu diesem Zeitpunkt ein Freihandelsabkommen abschließen; separate Verhandlungen werden zwischen der EU und Chile geführt. Je näher die heiße Phase der Verhandlungen rückt, desto mehr nimmt die Notwendigkeit für alle beteiligten Regierungen zu, die nationalen Interessenlagen und Positionen abzuklären und strategische Allianzen zur Interessendurchsetzung zu schmieden. Dabei zeigt sich, wie nicht anders zu erwarten, dass nicht allen Akteuren das gleiche Gewicht zukommt und somit auch ihre Bedeutung als potentieller Kooperationspartner variiert. Als wichtigste Akteure und in einigen Aspekten auch Gegenspieler haben sich die USA und Brasilien im ALCAProzess profiliert. Zukünftig könnte möglicherweise Mexiko als Mittler zwischen Nord- und Südamerika eine zunehmend wichtigere Rolle spielen und in eine gewisse Konkurrenz mit Brasilien als strategischer Kooperationspartner südamerikanischer Länder treten. Neben den lateinamerikanischen Regierungen, Kanada, den Karibikstaaten und den USA, als zentralem Baustein einer gesamtamerikanischen Freihandelszone, ist auch die EU, als wichtigster Handelspartner des Mercosur, ein Mitspie-

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Im vorliegenden Band werden wahlweise und abwechselnd die englischen und spanischen Begriffe und Abkürzungen verwendet. Die portugiesische Abkürzung lautet Mercosul (Mercado Comiim do Stil). Im Text wird durchgehend die geläufigere spanische Abkürzung verwendet. Auch bei anderen lateinamerikanischen Institutionen wird in der Regel die spanische Abkürzung bevorzugt.

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ler im amerikanischen Integrationsprozess. Geringeres Gewicht kommt zur Zeit den asiatischen Ländern zu, obwohl einige lateinamerikanische Länder als Mitglied der APEC in den vergangenen Jahren ihre Beziehungen in diese Region ausgebaut haben. Es ist insofern nicht auszuschließen, dass bei wechselnder Konjunkturlage im asiatischen Raum, vor allem in Japan, bzw. einem weiteren Bedeutungszuwachs Chinas im weiteren Verlauf der Dekade die Zahl der relevanten externen Mitspieler auf dem amerikanischen Kontinent zunimmt. In Südamerika ist Brasilien auf Grund seiner Bevölkerungszahl und seines ökonomischen Gewichts der bei weitem wichtigste Akteur. Mit dem ersten südamerikanischen Präsidententreffen, zu dem Präsident Cardoso seine Amtskollegen am 31. August und 1. September 2000 nach Brasilia eingeladen hatte, hat Brasilien seinen Führungsanspruch auch nach außen artikuliert. Hinsichtlich ihres Gewichts folgen in Südamerika mit deutlichem Abstand Argentinien - als zweitstärkste Volkswirtschaft und mit dem höchsten BIP pro Kopf (bis zur Abwertung des argentinischen Peso) - und Chile aufgrund seiner wirtschaftlichen Erfolge. Die Andenländer - Bolivien, Ekuador, Kolumbien, Peru und Venezuela sind in der Andengemeinschaft (Comunidad Andina - CAN) zusammengeschlossen - werden von außen zur Zeit eher unter der Perspektive ihres Drohund Chaospotenzials wahrgenommen, z.B. hinsichtlich des Drogenhandels. Allerdings weist Kolumbien auch ein großes Marktpotential auf, das zur Zeit aber durch die Drogenproblematik und den Bürgerkrieg überlagert wird. Venezuelas Bedeutung liegt im Erdölsektor. Unter seinem exzentrischen Präsidenten Chávez wird es in den USA allerdings auch als Störfaktor in den hemisphärischen Beziehungen wahrgenommen. Weniger Gewicht kommt für die südamerikanische Position im ALCA-Prozess den kleineren Volkswirtschaften wie Paraguay, Ekuador, Bolivien (Mitglied der Andengemeinschaft und mit dem Mercosur assoziiert) und Uruguay zu. Der ALCA-Prozess fangt nicht beim Nullpunkt an. sondern betrifft eine Region, in der in den 90er Jahren eine Vielzahl von bilateralen und multilateralen Handels- und wirtschaftlichen Integrationsabkommen abgeschlossen und umgesetzt wurden. Die wichtigsten Wirtschaftszusammenschlüsse sind die Nordamerikanische Freihandelszone (NAFTA), der die USA, Kanada und Mexiko angehören, und der Mercosur, dessen Überleben bzw. zukünftige Struktur entscheidend vom Verlauf des ALCA-Prozesses beeinflusst wird. Von geringerer Bedeutung sind die Andengemeinschaft - der mögliche Partner des Mercosur für eine südamerikanische Freihandelszone - , die Gemeinschaft der Karibischen Staaten (CARICOM) und der Gemeinsame Zentralamerikanisch Markt (MCCA - Mercado Común Centroamericano). Den beiden letztgenannten Zusammenschlüssen gilt aus südamerikanischer Perspektive nur ein geringes Interesse. Mit der „Gruppe der Drei", zu der Mexiko, Kolumbien und Venezuela gehören, besteht außerdem ein Kooperationsrahmen, der die Spaltung zwischen Nord- und Südamerika überbrückt. Als Einzelakteur muss Chile erwähnt werden, das zwar nach seinem wirtschaftlichen Gewicht deutlich hinter den größeren lateinameri8

kanischen Volkswirtschaften liegt, aber konsequent und mit Erfolg eine alternative Strategie einseitiger Zollsenkungen und bilateraler Freihandelsabkommen mit fast allen lateinamerikanischen Ländern sowie mit Kanada und aktuell mit den USA verfolgt hat. Seit dem südamerikanischen Präsidentengipfel in Brasilia haben die Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen auf dem amerikanischen Kontinent an Dynamik gewonnen, die im vorliegenden Band dokumentiert wird. Auf dem Gipfel war das Ziel vorgegeben worden, bis zum Jahr 2002 ein Freihandelsabkommen zwischen der Andengemeinschaft und dem Mercosur abzuschließen. Seit Dezember 2000 verhandeln Chile und die USA über ein Freihandelsabkommen. Gegenüber Argentinien und Uruguay hatten die USA gleichfalls mit dem Angebot aufgewartet, in bilaterale Verhandlungen einzutreten. Auf dem III. Gipfel der Amerikas in Quebec (April 2001) wurde das Ziel, die Vertragsverhandlungen über die Schaffung einer ALCA bis Anfang 2005 abzuschließen, bestätigt. Im Juli 2001 wurde ein Vertragsentwurf für die zukünftige ALCA der Öffentlichkeit zugänglich macht, der allerdings vor allem die Vielzahl der strittigen und noch zu entscheidenden Fragen dokumentiert. Gleichfalls im Juli 2001 wartete die EU mit einem ersten konkreten Angebot für den Abbau der Handelsbeschränkungen mit dem Mercosur auf, und seit September verhandeln der Mercosur und die USA in den sogenannten 4+1-Gesprächen direkt über ein bilaterales Freihandelsabkommen. Diese und weitere Verhandlungen - etwa zwischen der EU und Chile, Mexiko und dem Mercosur etc. - , wie auch die aktuelle Verhandlungsrunde in der WTO stehen in einer Wechselbeziehung zum ALCAProzess, der gewissermaßen den Gesamtrahmen für Handelsliberalisierungen in den Amerikas abgibt. Präsident Bush hatte auf dem Gipfel der Amerikas in Quebec angekündigt, sich in Fortfuhrung der traditionellen Automation für die Gewährung - bis spätestens zum Jahresende 2001 - einer Trade Promotion Authority (TPA) durch den Kongress einzusetzen. Bis zur Sommerpause lagen bereits drei Gesetzesinitiativen vor. Am 6. Dezember 2001 stimmte das Repräsentantenhaus schließlich mit der äußerst knappen Mehrheit von 215 zu 214 einem entsprechenden Gesetzentwurf zu, der nachfolgend an den Senat weitergeleitet wurde und dessen Inhalt in Südamerika - vor allem in Brasilien - überwiegend auf Kritik stieß. Der vorliegende Band versucht eine Bestandsaufnahme und Bewertung der Intentionen der brasilianischen und anderer wichtiger südamerikanischer Regierungen im Hinblick auf die ALCA/FTAA-Verhandlungen, bevor diese in ihre entscheidende Phase treten. Welche Politik und Strategie verfolgt Brasilien gegenüber den anderen südamerikanischen Ländern? Wie reagieren diese auf den neuen brasilianischen Führungsanspruch? Welche Position beziehen die USA und Mexiko gegenüber den brasilianischen Initiativen? Welche Konsequenzen und Konflikte ergeben sich daraus? Welche sind die Folgen und möglichen Szenarien für den ALCA-Prozess? 9

Ausgangspunkt für den Band war eine Tagung, die im März 2001 am Institut für Ibeoramerika-Kunde in Hamburg zum Thema „Wächst Südamerika unter brasilianischer Führung zusammen?" durchgeführt wurde. Auf der Tagung wurde eine Bewertung des ersten südamerikanischen Präsidententreffens in Brasilia vom 31.8. bis 1.9.2000 vor dem Hintergrund des im April 2001 anstehenden ALCA-Gipfels in Quebec vorgenommen. Die Mehrzahl der Vorträge, die auf der Tagung gehalten wurden, sind im vorliegenden Band abgedruckt - gegebenenfalls aktualisiert durch die Ergebnisse von Quebec oder andere wichtige nachfolgende Ereignisse. Die Herausgeber danken an dieser Stelle der FritzThyssen-Stiftung, die durch einen finanziellen Zuschuss die Tagung erst ermöglicht hatte. Während der redaktionellen Arbeiten am vorliegenden Band ereigneten sich die schrecklichen Anschläge auf das World Trade Center in New York und das Pentagon in Washington, die in ihren Folgen für die internationalen Beziehungen und die Weltwirtschaft auch auf die Integrationsprozesse in den Amerikas zurückwirken werden. Einerseits besteht das Risiko, dass Lateinamerika noch mehr an Bedeutung auf der politischen Agenda der USA verlieren oder noch stärker unter Sicherheitsgesichtspunkten wahrgenommen wird. Andererseits könnte vor dem Hintergrund der aktuellen Krise der US-Präsident leichter vom Kongress die Trade Promotion Authority für den Abschluss von Handelsverträgen erhalten. Zur Wiederbelebung der Weltkonjunktur könnten sich neue Chancen für ein stärkeres Eintreten der USA für eine weitergehende Liberalisierung des Welthandels und die stärkere Öffnung des US-Marktes für verbündete Länder eröffnen. Die deutliche Abkühlung der US-Konjunktur hat allerdings auch protektionistische Strömungen verstärkt - Ende 2002 stehen in den USA Kongresswahlen an - , und die Wirtschaftkrise, die im Januar 2002 zur Aufgabe der Dollarbindung (im Verhältnis 1:1) und Abwertung des argentinischen Peso führte, haben das Panorama für Südamerika weiter eingetrübt. Erst nach den USKongresswahlen und den brasilianischen Präsidentschaftswahlen im Spätjahr 2002 sind wieder größere Impulse und Richtungsentscheidungen im ALCAProzess zu erwarten.

Hamburg, im Januar 2002

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Detlef Nolte

Wächst Südamerika unter brasilianischer Führung zusammen oder schwächt der ALCA-Prozess die südamerikanischen Integrationsbestrebungen? What 's in it for us? For the F. T.A.A. to advance there has to be an understanding between Brazil and the United Stales. All negotiations are based on reciprocity. If the American position in the light of fast track' is going to be extremely restrictive in relation to Brazilian products that are competitive for export, the Brazilian counteroffer will be equally restrictive (so die Ausführungen des brasilianischen Außenministers Celso Lafer in einem Gespräch mit ausländischen Journalisten am 18. Dezember 2001, zitiert in: New York Times, 19. Dezember 2001).

Der Prozess zur Schaffung einer gesamtamerikanischen Freihandelszone von Alaska bis Feuerland, die der ehemalige Präsident George Bush mit seiner Enterprise for the Americas Initiative (EAI) Anfang der 90er Jahre angeregt hatte und die unter seinem Nachfolger Bill Clinton auf dem ersten „Gipfel der Amerikas" in Miami 1994 erstmals Form angenommen hatte, tritt jetzt unter seinem Sohn George W. Bush in seine entscheidende Phase.1 Nach Miami und Santiago

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Der vorliegende Artikel basiert in Teilen auf früheren Veröffentlichungen, die überarbeitet, aktualisiert und ergänzt wurden. Siehe Detlef Nolte (in Zusammenarbeit mit Gilberto Calcagnotto): „Der III. „Gipfel der Amerikas" in Quebec. Viel Lärm um nichts?", in: Brennpunkt Lateinamerika Nr. 92001; Detlef Nolte: „Bye-bye Brazil, hello Uncle Sam? Südamerika zwischen Mercosur und ALCA", in: Brennpunkt Lateinamerika Kurzinfo Nr. VIII, 2.1.2001; Gilberto Calcagnotto / Detlef Nolte: „Das Treffen der südamerikanischen Präsidenten in Brasilia: Markstein der Integration oder

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de Chile (1998) trafen vom 20. bis 22. April 2001 in Quebec/Kanada zum dritten Mal alle Staats- und Regierungschefs Lateinamerikas, der USA, Kanadas und der Karibik - mit Ausnahme Kubas - zu einem Gipfeltreffen zusammen, auf dem erneut die Schaffung einer ALCA (Area de Libre Comercio de las Americas) bzw. FTAA (Free Trade Area of the Americas) im Mittelpunkt der Diskussionen stand. Bis Anfang 2005 sollen die Vertragsverhandlungen abgeschlossen sein, die 2003 und 2004 in ihre entscheidende Phase treten werden. Im Juli 2001 wurde ein erster Vertragsentwurf im Internet der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, der die Vielzahl der noch offenen Fragen aufzeigt und die Komplexität der zukünftigen Verhandlungen erahnen lässt (www.fitaa-alca.org/ alcae.asp). Mit dem Näherrücken des vereinbarten Datums für einen Vertragsabschluss sind die unterschiedlichen Interessenlagen der beteiligten Länder deutlicher zutage getreten. Dabei haben sich die USA und Brasilien als die beiden großen Gegenspieler im ALCA-Prozess profiliert, die zur Interessendurchsetzung andere der beteiligten Länder enger an sich binden wollen. Acht Monate vor dem Gipfeltreffen in Quebec, am 31. August und 1. September 2000, lud der brasilianische Präsident Cardoso seine Amtskollegen zum ersten südamerikanischen Gipfel nach Brasilia ein und schien seine Kollegen auf eine gemeinsame Verhandlungsstrategie im ALCA-Prozess festlegen zu können. Die USA reagierten mit dem Vorschlag, den ALCA-Prozess um zwei Jahre auf 2003 zu verkürzen, und der Einladung an Chile, Verhandlungen über ein bilaterales Freihandelsabkommen einzuleiten. Nachfolgend soll die Dynamik des Wechselspiels zwischen den brasilianischen und US-amerikanischen Bestrebungen im Vorfeld des III. Gipfels der Amerikas nachgezeichnet und interpretiert werden, um danach die Ergebnisse von Quebec zu bewerten und einen Ausblick auf den weiteren Verlauf des ALCA-Prozesses zu geben.

1. Der erste südamerikanische Gipfel in Brasilia „Ein erster Schritt eines neuen Kontinents" titulierte das „Jornal do Brasil" (31.8.2000) einen Bericht über das erste südamerikanische Präsidententreffen in der Geschichte des Halbkontinents. Noch plakativer hatte sich der venezolanische Präsident, Hugo Chavez, im Vorfeld des Zusammentreffens geäußert: „Die Integration hat nichts mit der Globalisierungsmode zu tun, es geht um Leben oder Tod". Das Gipfeltreffen, zu dem Präsident Fernando Henrique Cardoso vor dem Hintergrund der 500-Jahrfeiern der Entdeckung Brasiliens seine südamerikanischen Amtskollegen in die Hauptstadt Brasilia eingeladen hatte, war ein Signal, dass Brasilien sich anschickt, eine aktivere Rolle in Lateinamerika und in Show-Veranstaltung einer aufkommenden Regionalmacht?", in: Brennpunkt Lateinamerika Nr. 172000.

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der internationalen Politik zu spielen. Zwar wies die brasilianische Regierung Presseberichte über ein Vormachtstreben oder einen Führungsanspruch auf dem Kontinent entschieden zurück. Allerdings sei Brasilien bereit, so der brasilianische Außenminister Luiz Felipe Lampreia, eine Rolle zu spielen, die mit der Größe seiner Wirtschaft und seines Territoriums kompatibel sei.2 Für einen Moment sah es so aus, als wären die südamerikanischen Länder zu Anfang des 21. Jahrhunderts bereit, Brasilien eine Führungsrolle zuzugestehen. Zum einen gibt es in Südamerika kein Land mit einem vergleichbaren politischen und wirtschaftlichen Gewicht. Zum anderen hatten die südamerikanischen Länder in den 90er Jahren mehrfach die Erfahrung großer Verwundbarkeit gegenüber von außen induzierten Krisen gemacht. Dies begründet ein Interesse an einer engeren politischen Abstimmung in internationalen Foren, wenn es um die Bestimmung der Grundparameter der zukünftigen Weltwirtschaftsordnung geht, und an einer engeren wirtschaftlichen Integration, um als Wirtschaftsblock mehr Gewicht innerhalb des internationalen Wirtschaftssystems zu erlangen und als Markt beziehungsweise Investitionsstandort mit 340 Mio. Einwohnern an Attraktivität zu gewinnen. De facto nahm Brasilien in der jüngsten Vergangenheit eine Führungsrolle im wirtschaftlichen Integrationsprozess sowohl gegenüber seinen südamerikanischen Nachbarn als auch gegenüber den USA ein, die seit 1994 mit Kanada und Mexiko in der nordamerikanischen Freihandelszone (NAFTA) zusammengeschlossen sind. Gewissermaßen als Widerpart der US-Amerikaner, die lange Zeit auf eine schnelle Handelsliberalisierung und auf die Anpassung der lateinamerikanischen Volkswirtschaften an US-amerikanische Standards und Wirtschaftsinteressen drängten, vertritt die brasilianische Regierung zusammen mit den Mercosur-Ländem eine Position, erst die subregionale Integration voranzutreiben, die über eine Handelsliberalisierung hinausgeht, um danach in einer späteren Phase die gesamtamerikanische Freihandelszone zu verwirklichen. Aus dieser Perspektive versucht Brasilien, ausgehend vom Mercosur, der außerdem Argentinien, Paraguay und Uruguay sowie als assoziierte Mitglieder Bolivien und Chile umfasst, einerseits bilateral die Kooperation mit den anderen Nachbarländern (zum Beispiel mit Venezuela) zu verstärken, andererseits multilateral ein Freihandelsabkommen mit dem anderen südamerikanischen Integrationsbündnis, der Andengemeinschaft, der Venezuela, Kolumbien, Ekuador, Peru und Bolivien angehören, abzuschließen. Chile hat mit den Ländern der Andengemeinschaft bereits bilaterale Freihandelsabkommen vereinbart. Schon 1998 war ein Rahmenabkommen zwischen dem Mercosur und der Andengemeinschaft unterzeichnet worden, ohne dass die Verhandlungen über dessen inhaltliche Ausfüllung wesentliche Fortschritte erzielt hätten. In der „Erklärung von Brasilia" vom 1. September 2000 bekundeten die zwölf südamerikani-

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Interview mit der Zeitung Folha de Säo Paulo vom 28. August 2000, siehe Homepage des brasilianischen Außenministeriums (www.mre.gov.br).

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sehen Präsidenten ihre Absicht, spätestens bis Januar 2002 eine Freihandelszone zwischen dem Mercosur und der Andengemeinschaft verwirklichen und auch Surinam und Guayana in den Integrationsprozess einbeziehen zu wollen. Präsident Cardoso hatte in einem vor dem Gipfeltreffen veröffentlichten Aufsatz 3 ein derartiges Freihandelsabkommen als Rückgrat eines „erweiterten südamerikanischen Wirtschaftsraums" bezeichnet. Bei Einhaltung des Zeitplans wäre eine südamerikanische Freihandelszone drei Jahre vor dem geplanten Abschluss des FTAA-Verhandlungsprozesses Wirklichkeit geworden und Brasilien hätte seine Vorstellungen durchgesetzt und zur gemeinsamen südamerikanischen Position gemacht, erst die subregionalen Integrationsbestrebungen voranzutreiben und zu konsolidieren, bevor die Verhandlungen mit den USA über die gesamtamerikanische Freihandelszone abgeschlossen werden. Im Hinblick auf den Fortgang der FTAA-Verhandlungen forderten die südamerikanischen Präsidenten mehr Reziprozität angesichts der bereits gemachten einseitigen Zugeständnisse und Marktöffnung, wie auch eine stärkere Berücksichtigung des unterschiedlichen wirtschaftlichen Entwicklungsniveaus und der unterschiedlichen Größe der Volkswirtschaften der Verhandlungspartner. Ähnlich wie in den Vertragswerken und Übereinkommen des Mercosur und des Andenpaktes wurde in die gemeinsame Erklärung der südamerikanischen Staaten eine „Demokratieklausel" aufgenommen. Demnach sind die Aufrechterhaltung eines Rechtsstaats und die volle Respektierung der demokratischen Ordnung in jedem der zwölf Länder nicht nur ein gemeinsames Ziel und eine gemeinsame Verpflichtung, sondern darüber hinaus eine notwendige Bedingung für die Teilnahme an zukünftigen südamerikanischen Präsidententreffen. Im Falle einer Bedrohung der demokratischen Ordnung in Südamerika sind politische Konsultationen vorgesehen. Die Tatsache, dass der damalige Präsident Fujimori die Erklärung mitunterzeichnet hatte, und die wenig überzeugende Rolle, welche die Mehrzahl der südamerikanischen Regierungen im Umfeld der umstrittenen peruanischen Wahlen im Mai 2000 (beispielsweise in den Beratungen der OAS) gespielt hatten, geben Anlass zu berechtigten Zweifeln an der Wirksamkeit dieses Instruments zur Sicherung der Demokratie im südlichen Lateinamerika. Nach brasilianischer Sichtweise soll der von den zwölf Präsidenten verabschiedete ,Aktionsplan" zum „Integrations-Leitplan" werden, der durch die Festlegung prioritärer Verkehrs- und Infrastrukturprojekte (Transport, Energie, Telekommunikation) in einem Zeitraum von zehn Jahren die Erweiterung und Modernisierung der physischen Infrastruktur aller südamerikanischen Länder vorantreiben soll. Damit soll die Bildung von so genannten „sozialen und ökonomischen Integrations- und Entwicklungsachsen" für den zukünftigen erweiterten südamerikanischen Wirtschaftsraum gefordert werden. Zu den Infrastrukturprojekten gehört zum Beispiel die engere Vernetzung der nationalen Stromnetze

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„O Brasil e urna nova America do Sul", in: Vclor Económico, 30.8.2000, zu finden auf der Homepage des brasilianischen Außenministeriums (www.mre.gov.br).

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und der Gas- und Erdölpipelines. Zu den Verkehrsprojekten zählen insbesondere solche zur Schaffung von so genannten „bi-ozeanischen" Verbindungsachsen durch den Kontinent, welche die Atlantikküste mit dem Pazifik verknüpfen. Damit hatten die südamerikanischen Präsidenten ein zentrales Hemmnis für eine stärkere Integration ihrer Volkswirtschaften identifiziert: die unzureichende Infrastruktur fiir den Warenaustausch (Straßen, Eisenbahnlinien, Häfen etc.), die nicht zuletzt in der vielerorts schwierigen Topographie des südamerikanischen Halbkontinents begründet ist.

2. Der Problemfall: Kolumbien Unmittelbar vor dem südamerikanischen Gipfel hatte US-Präsident Clinton Kolumbien besucht, nachdem die USA bereits zuvor umfassende Militärhilfe zur Bekämpfung des Drogenhandels bewilligt hatten. Kolumbien sah die Militärhilfe als Teilkomponente eines umfangreicheren Plan Colombia. Viele südamerikanische Regierungen befürchteten demgegenüber, dadurch könnte der Bürgerkrieg angeheizt werden und auf die Nachbarländer übergreifen, sei es durch die zu erwartenden Flüchtlingsströme, die Verlagerung des Drogenanbaus in andere Länder oder das Ausweichen von Guerillagruppen über die nur schwer kontrollierbaren Grenzen. Durch die zeitliche Nähe des Besuchs von US-Präsident Clinton in Cartagena und die Verschärfung der militärischen Auseinandersetzungen hatte sich die Situation in Kolumbien auf die Tagesordnung der Beratungen der zwölf südamerikanischen Präsidenten gedrängt. Den versammelten lateinamerikanischen Präsidenten gelang der Spagat, ihrem Amtskollegen Andrés Pastrana den Rücken zu stärken und sich zugleich indirekt gegenüber der US-Politik abzugrenzen. So verabschiedeten die Präsidenten eine besondere Erklärung zum Friedensprozess in Kolumbien, in dem zwar die mutigen Maßnahmen begrüßt wurden, die der kolumbianische Präsident ergriffen habe. Die Erklärung bezog sich jedoch nur auf den Friedensprozess, den die südamerikanischen Präsidenten entschieden unterstützten. Sie nahm weder Bezug auf die Bekämpfung des Drogenhandels noch auf die Politik der USA. In einer Pressekonferenz zum Abschluss des Gipfeltreffens hat Präsident Cardoso explizit auf diese unterschiedliche Akzentsetzung hingewiesen. Besonders kritisch zum Plan Colombia äußerten sich auch der venezolanische Präsident Chávez, der vor der Gefahr einer „Vietnamisierung" des kolumbianischen Konfliktes unter anderem durch das Ausgreifen auf Drittländer warnte, und der peruanische Präsident Fujimori, der sich beklagte, dass die Drogenkonsumentenländer den Erzeugerländern unilaterale Lösungen aufzwängen. In der gemeinsamen Erklärung der südamerikanischen Präsidenten wurde deshalb auch auf die Multidimensionalität des Drogenproblems hingewiesen, das sowohl in den Konsumenten- und Transitländern als auch in den Erzeugerländern angegangen werden müsse. Folgerichtig sprachen sich die Präsidenten 15

auch für multilaterale statt unilateraler Zertifizierungsmechanismen im Hinblick auf die von den betroffenen Ländern unternommenen Maßnahmen zur Drogenbekämpfung aus. Vereinbart wurde eine engere Zusammenarbeit beim Austausch von polizeilichen Informationen, bei der Kontrolle von für die Drogenherstellung notwendigen Chemikalien und bei der Geldwäsche. Trotz der am Rande der Konferenz immer wieder geäußerten Kritik an den USA und den Befürchtungen hinsichtlich eines Übergreifens des kolumbianischen Konfliktes auf die Nachbarländer haben die versammelten südamerikanischen Präsidenten kein Gegenkonzept zur Eindämmung und Einhegung der kolumbianischen Krise entwickelt. Dem US-amerikanischen Versuch, Brasilien zu einer direkten Einmischung in den kolumbianischen Bürgerkrieg zu bewegen, erteilten die brasilianischen Diplomaten und Militärs eine deutliche Abfuhr: Weder würden Truppen in Kolumbien eingesetzt, noch stelle Brasilien die eigenen Militäreinrichtungen für fremde Truppen zur Verfügung. Vielmehr würden die brasilianischen Truppen an der Grenze zu Kolumbien verstärkt, um ein Übergreifen des Konflikts zu verhindern.

3. Das Empire schlägt zurück Es waren zwei der engsten und wichtigsten südamerikanischen Partner, die der brasilianischen Diplomatie nach dem erfolgreichen Südamerika-Gipfel Kopfzerbrechen bereiteten. Am 29. November 2000 kündigte der chilenische Präsident Lagos überraschend an, auch ohne Fast-Track-Autorisierung4 des US-amerikanischen Präsidenten ein Freihandelsabkommen mit den USA aushandeln zu wollen. Die Verhandlungen wurden offiziell am 6. Dezember aufgenommen. Zugleich unterstützte die chilenische Regierung den Vorschlag der USA, den Verhandlungszeitplan für die ALCA vom ursprünglich vorgesehenen Datum 2005 auf 2003 zu verkürzen. Parallel dazu wurden in der argentinischen Regierung - vor allem aus dem Wirtschaftsministerium - Stimmen laut, möglicherweise in ähnliche Verhandlungen mit den USA eintreten zu wollen. Der argentinische Wirtschaftsminister, José Luis Machinea, äußerte, man müsse Chile zu den Verhandlungen mit den USA beglückwünschen (Clarm, 12.12.2000). Er sah in einer Annäherung an die USA und einer Beschleunigung der ALCA-Verhandlungen ein Instrument, zu einer schnelleren Absenkung des Außenzolls des Mercosur zu gelangen. Dies würde auch eine Wiederannäherung an Chile erleichtem. Die Finanznöte der argentinischen Regierung und die aus einer solchen Maßnahme resultierenden Mindereinnahmen sprachen allerdings gegen eine all zu schnelle Absenkung der 4

Danach kann der Kongress über einen vom Präsidenten vorgelegten Handelsvertrag nur noch in seiner Gesamtheit abstimmen, jedoch nicht mehr das Verhandlungspaket aufschnüren oder ergänzen. Aus lateinamerikanischer Sicht macht es wenig Sinn, in langwierige Verhandlungen Uber ein Freihandelsabkommen einzutreten, dass dann im Kongress quasi noch einmal neu verhandelt und gegebenenfalls modifiziert wird.

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Zölle. Im Gegensatz zum Wirtschaftsminister versuchte der argentinische Außenminister, Adalberto Rodríguez Giavarini, einen Konflikt mit Brasilien zu vermeiden. Da Argentinien zum damaligen Zeitpunkt die Präsidentschaft pro tempore bei den ALCA-Verhandlungen inne hatte, schlug er als Kompromissvorschlag vor, die Verhandlungen bis 2004 abschließen zu wollen. Der brasilianische Außenminister Lampreia bekräftigte demgegenüber noch einmal nachdrücklich das Datum 2005. Diplomatische Kreise vermuteten deshalb, dass die heftige Reaktion Brasiliens auf die chilenische „Untreue" auf Argentinien abzielte, um die dortige Regierung von vergleichbaren Alleingängen abzuhalten. Ein Ausscheren Argentiniens aus der gemeinsamen Verhandlungsfront des Mercosur würde dem Führungsanspruch Brasiliens in Südamerika einen deutlichen Dämpfer versetzen und die brasilianische Verhandlungsposition gegenüber den USA schwächen. Es ist sicherlich kein Zufall, dass die US-Regierung parallel Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen mit Chile aufgenommen hat, die ALCA-Verhandlungen zu beschleunigen trachtete und mit Avancen gegenüber Argentinien aufwartete. Es handelte sich um eine handelspolitische Schlussinitiative der scheidenden US-Regierung, die auch vor dem Hintergrund der brasilianischen Bemühungen um eine gemeinsame südamerikanische Position und den im April 2001 anstehenden nächsten ALCA-Gipfel in Quebec gesehen werden muss. Die Handelsbeauftragte der US-Regierung, Charlene Barshefsky, sprach in einer Pressekonferenz am 12. Dezember 2000 ganz offen davon, dass die Aufnahme der Verhandlungen mit Chile dem „strategischen Ziel" der USA diene, die Verhandlungen über die ALCA zu beschleunigen (La Nación, 13.12.2000). Vor diesem Hintergrund kamen der US-Regierung die Schwierigkeiten in den Verhandlungen zwischen dem Mercosur und Chile sowie die kontinuierlich wiederkehrenden Konflikte zwischen Argentinien und Brasilien im Mercosur entgegen.

5. Der chilenische Sonderweg Die positive Reaktion der chilenischen Regierung auf die Initiative der USA, Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen aufzunehmen, kam nicht unerwartet. Schon seit Anfang der 90er Jahre verfolgte Chile eine Politik der bilateralen Handelsabkommen. Die Freihandelsabkommen mit Mexiko und Kanada und das Assoziierungsabkommen mit dem Mercosur gehören zu den wichtigsten Übereinkommen. Auch mit der EU verhandelte Chile unabhängig vom Mercosur. Die USA hatten bereits 1994 Chile als zukünftiges Mitglied der NAFTA annonciert. Mangels Fast-7>w£-Autorisierung durch den US-Kongress hatten sich die Verhandlungen jedoch nicht konkretisiert. Nach dem Abschluss von Freihandelsabkommen mit den beiden Partnerländern der USA in der NAFTA, Kanada und Mexiko, konnten die Verhandlungen Chiles mit den USA nicht überraschen, zumal in den Verhandlungen mit Kanada wichtige Erfahrungen gesammelt wurden. Allerdings war auch die Verstimmung in einigen Mercosur17

Ländern verständlich, hatte doch Präsident Lagos nach seinem Amtsantritt im März 2000 die weitere Annäherung an den Mercosur zu einer seiner außenpolitischen Prioritäten erklärt. Die brasilianische Regierung reagierte äußert harsch auf die chilenischen Ankündigung, mit den USA ein Freihandelsabkommen aushandeln zu wollen. Besondere Verstimmung herrschte darüber, dass Chile seine Verhandlungspartner im Mercosur nicht zuvor über die anstehenden Verhandlungen mit den USA informiert hatte. Präsident Cardoso und Außenminister Lampreia erklärten am 2. Dezember unisono, dass ein Freihandelsabkommen mit den USA inkompatibel mit der Vollmitgliedschaft im Mercosur sei. Der brasilianische Botschafter beim Mercosur, José Botafogo Gonijalves, formulierte die Position seiner Regierung in Anspielung auf den Fußball wie folgt: „Die Chilenen müssen entscheiden, in welchem Club sie spielen wollen" (Clarín, 8.12.2000). Die chilenische Regierung wies die Kritik von Seiten des Mercosur zurück, interpretierte dies als Ergebnis von Missverständnissen und gab den schwarzen Peter an den Mercosur zurück. Nach Aussagen des damaligen chilenischen Vizeaußenministers Heraldo Muñoz würden die Grundlagen für eine Vertiefung der Handelsabkommen mit südamerikanischen Ländern fehlen. Zudem dürfe Chile die Gelegenheit nicht verpassen, mit den USA in Verhandlungen einzutreten (La Tercera, 4.12.2000; 10.12.2000). Allerdings würden die Chilenen gerne die enge politische Kooperation - u.a. in internationalen Foren - mit dem Mercosur fortsetzen, sie sähen darin auch einen qualitativen Unterschied zu einem Freihandelsabkommen mit den USA. Haupthindernis für die Verhandlungen mit dem Mercosur war und ist aus chilenischer Perspektive die unterschiedliche Höhe des Außenzolls von durchschnittlich 9% im Falle Chiles, der bis 2003 auf 6% abgesenkt werden soll, und von 14% (bzw. 13,5% ab Januar 2001 und 12,5% ab Januar 2002) im Mercosur. Während die Chilenen auf eine schnelle Angleichung der Außenzölle nach unten, d.h. auf das chilenische Niveau, drängten, forderten die Mercosur-Länder als Gegenleistung für einen Zeitplan zur Zollangleichung einen Verzicht der chilenischen Regierung darauf, unabhängig Handelsabkommen mit Dritten abzuschließen. Bereits gewährte Handelsvergünstigungen sollten auslaufen. Diese Forderungen lehnte die chilenische Regierung kategorisch ab. Damit trug sie der Position großer Sektoren der chilenischen Unternehmerschaft Rechnung, vor allem der Exporteure, die von jeher stärker für eine eigenständige Handelspolitik eingetreten waren und die Annäherung an den Mercosur mit Misstrauen beäugt hatten. In der chilenischen Bevölkerung waren die Meinungen geteilt. Nach einer Umfrage der Fundación Futuro vom Dezember 2000 präferierten jeweils 40% der Befragten ein Abkommen mit dem Mercosur oder mit den USA. Zugleich waren 80% der Befragten damit einverstanden, dass Verhandlungen mit den USA aufgenommen wurden (weil'. CNNenEspanol.com, 15.12.2000). Vertreter der zukünftigen Bush-Administration hatten zunächst eher verhalten auf den Vorstoß zum Abschluss eines Freihandelsabkommens mit Chile reagiert. 18

Republikanische Abgeordnete erhoben die Forderung, die Verhandlungen zu stornieren, um den Handlungsspielraum der zukünftigen Regierung nicht einzuschränken. Einzelne Berater von Bush befürchteten darüber hinaus, dass die Initiative gegenüber Chile vom ALCA-Prozess ablenken könne. Und die konservative Heritage-Foundation hatte in einem Strategie-Papier (Executive Memorandum, Nr. 706) vom 19. Dezember der chilenischen Regierung abgeraten, ein Freihandelsabkommen abzuschließen, das US-amerikanischen Arbeits- und Umweltstandards Rechnung trägt, da sich daraus Nachteile für die chilenische Wirtschaft ergeben würden. Zugleich wurde an die zukünftige US-Regierung die wenig realistische Forderung gestellt, auf derartige Standards gänzlich zu verzichten (siehe www.heritage.org/library/execmemo/em706.html).

6. Der Mercosur-Gipfel von Florianópolis Die Querelen zwischen Brasilien und Chile sowie die uneinheitliche Haltung der argentinischen Regierung in dieser Frage und zum Zeitplan des ALCA-Prozesses ließen das 19. Gipfeltreffen der Regierungschefs des Mercosur, das am 14. und 15. Dezember 2000 unter Beteiligung der beiden assoziierten Länder - Bolivien und Chile - in Florianópolis (Brasilien) stattfand, unter einem ungünstigen Vorzeichen beginnen. Die chilenische Regierung musste ihren Partnern Abbitte leisten und erklären, warum im Vorfeld nicht über die anstehenden Verhandlungen mit den USA informiert worden war. Die Chilenen schoben dies auf Indiskretionen auf USamerikanischer Seite, die eine vorherige Information der Partner im Mercosur verhindert habe. Der chilenische Präsident verwies einmal mehr darauf, dass den Beziehungen zum Mercosur Vorrang zukomme, da sie über Handelsbeziehungen hinausgingen. Aus chilenischer Sicht stünden die Verhandlungen mit den USA in keinem Widerspruch zur Anbindung an den Mercosur, schließlich habe Chile in der Vergangenheit auch mit anderen Ländern Freihandelsabkommen abgeschlossen. Zugleich kritisierte die chilenische Regierung erneut den nach ihrer Meinung zu hohen Außenzoll des Mercosur, der einer weiteren Annäherung entgegenstünde. Brasilien nahm die chilenischen Erklärungen zur Kenntnis, eine all zu heftige Kritik am chilenischen Vorgehen blieb zumindest in der Öffentlichkeit aus. Gleichwohl waren die Verhandlungen über einen vollen Beitritt Chiles zum Mercosur aus brasilianischer Sicht zunächst einmal eingefroren. Chile ist zwar weiterhin assoziiertes Mitglied des Mercosur und nimmt an den politischen Konsultationen sowie an Beratungen in den Bereichen Gesundheit, Bildung, Kultur etc. teil, wird aber nicht in die Entscheidungsmechanismen des Mercosur eingebunden, die sich mit der weiteren Ausgestaltung der Handelsbeziehungen und der Entwicklung des Binnenmarktes befassen. Brasilien gelang es, seine Partner im Mercosur - einschließlich Argentinien erneut auf das Datum 2005 für den Abschluss der ALCA-Verhandlungen einzu19

schwören und darauf, dass der Mercosur nur als Block über die Modalitäten eines Beitritts zur ALCA verhandeln wird. Darüber hinaus machte aus brasilianischer Sicht die Diskussion über eine Beschleunigung des ALCA-Prozesses keinen Sinn, solange keine Informationen über die handelspolitischen Zugeständnisse der USA vorlägen. Die brasilianische Regierung versuchte außerdem, Skepsis bei ihren Partnern hinsichtlich eines Freihandelsabkommens mit den USA ohne Fast-Track-Autorisierung zu verbreiten, indem sie eine verbale Offensive gegen den Protektionismus der USA - vor allem bei Anti-DumpingRegelungen und nichttarifaren Handelshemmnissen, aber auch bei den Agrarsubventionen - startete, der aus ihrer Sicht die Verhandlungen über die ALCA belastete und durch einen größeren Einfluss des US-Kongresses auf die amerikanische Verhandlungsposition nur schwer zu überwinden sein würde. Der Mercosur dürfe - so der brasilianische Präsident Cardoso - nicht mit der Mentalität einer Kolonie über die ALCA verhandeln. Es gehe nicht um Almosen und Geschenke, sondern um Geschäftsbeziehungen, und dabei müssten die Vor- und Nachteile von Vereinbarungen gegeneinander abgewogen und diskutiert werden. Der Mercosur müsse deshalb ein Gesamtpaket für die Verhandlungen schnüren, um das Risiko zu vermeiden, dass die USA wie bei einem Schinken Stück für Stück herauslösten, bis nur noch der Knochen übrig bliebe (El Pols, 17.12.2000). Die brasilianische Regierung erreichte darüber hinaus, dass die ursprünglich für 2001 vorgesehene Absenkung des durchschnittlichen Außenzolls von 14% auf 11% hinausgeschoben wurde. Der Zoll war 1997 in der Folge der AsienKrise - auf drei Jahre befristet - um 3%-Punkte erhöht worden. Sie fand dabei einen Verbündeten in der argentinischen Regierung, die auf Grund der angespannten Lage der Staatsfuianzen die Einnahmeausfälle aus dem verringerten Zollsatz möglichst gering halten wollte. Der Außenzoll wurde deshalb ab Januar 2001 nur um 0,5%-Punkte abgesenkt, für die weitere Absenkung um 2,5%Punkte sollte noch ein Zeitplan festgelegt werden. Neben diesen eher defensiven Maßnahmen gingen vom Mercosur-Gipfel in Florianöpolis auch positive Impulse aus. Wichtig war die Festlegung gemeinsamer makroökonomischer Zieldaten für den Mercosur und die beiden assoziierten Länder - das „kleine Maastricht" nach Präsident Cardoso - im Hinblick auf Inflation, Staatsverschuldung und Haushaltsdefizit, die mit Übergangsfristen ab 2002 gelten sollen. Für die ferne Zukunft wird außerdem eine gemeinsame Währung angepeilt. In den Jahren 2002 bis 2005 soll demnach die jährliche Inflationsrate in den Mercosur-Ländern nicht über 5% liegen, danach gilt der Richtwert 4%. Der staatliche Ausgabenüberschuss soll ab 2002 (Brasilien darf 2002 und 2003 um 0,5% abweichen) 3% des BIP nicht überschreiten, die Staatsschuldenquote soll sich ab 2010 auf weniger als 40% des BIP (zur Zeit sind es im Durchschnitt des Mercosur 52%) belaufen. Eine Einigung wurde für den Automobilsektor erreicht, hinsichtlich dessen Ausgestaltung es immer wieder zu Konflikten zwischen Argentinien und Brasi20

lien gekommen war und der fur fast ein Viertel des Handels im Mercosur verantwortlich ist. Die Regelung basierte auf einem Übereinkommen, das Brasilien und Argentinien bereits im Juni ausgehandelt hatten, das aber erst im November in Kraft getreten war. Der gemeinsame Außenzoll fur Automobileinfuhren wurde auf 35% festgelegt. Mindestens 30% der Einzelbauteile oder 44% der Teilkomponenten fur PKWs (bzw. 25% / 37% bei LKWs) müssen fur Autos ,jttade in Mercosut" aus dem Mercosur-Land stammen, in dem die Endmontage stattfindet. Die Übergangsfrist beträgt zwei Jahre fïir PKWs und drei Jahre fiir LKWs. Außerdem wird ein Schlichtungsorgan fur den Automobilsektor, das Comité Automotor deI Mercosur geschaffen. Nach außen zeigte sich der Mercosur als attraktiver Wirtschaftsblock. Mit Südafrika, dessen Präsident als Gast am Mercosur-Gipfel teilnahm, wurde ein Rahmenvertrag fur ein zukünftiges Freihandelsabkommen unterzeichnet. Zugleich betonte die neue mexikanische Regierung ihr Interesse, erneut in Sondierungsgespräche mit dem Mercosur über ein Freihandelsabkommen einzutreten, wie es zwischen Mexiko und Chile bereits besteht.

7. Der III. Gipfel der Amerikas in Quebec Ein in Lateinamerika weit verbreitetes Sprichwort lautet „mucho ruido, pocas nueces", das in etwa dem deutschen Sprichwort „viel Lärm um nichts" entspricht. Betrachtet man den Verlauf und die Begleitumstände des III. Gipfels der Amerikas, so kann schnell der Eindruck entstehen, das Sprichwort treffe auch auf dieses Ereignis zu. In Quebec wurde nichts neu beschlossen, was nicht bereits vorher schon entschieden worden war. Aber auch die Tatsache, dass Entscheidungen bestätigt wurden, hatte politische Implikationen. Soweit Entscheidungen bestätigt oder präzisiert wurden, sind diese so ausgefallen, dass ihre Ausgestaltung noch als weitgehend offen betrachtet werden muss. Die Aussage des brasilianischen Außenministers Celso Lafer, dass die ALCA im Gegensatz zum Mercosur eine Option, aber keine Notwendigkeit sei5, gilt letztlich für alle beteiligten Länder. Quebec war die dritte große Station auf dem Weg zu einer gesamtamerikanischen Freihandelszone, einer Initiative, die zunächst Anfang der 90er Jahre von George Bush Senior in die Diskussion und unter seinem Nachfolger Bill Clinton auf dem ersten „Gipfel der Amerikas" in Miami (1994) auf den Weg gebracht 5

„Tenho dito que o MERCOSUL constituí destino para o Brasil e näo urna op?äo ... A ALCA, em contraste, é urna opfSo. Se as negociafSes em curso resultarem na elaborado de um texto de acordo para o estabelecimento de urna área de livre comércio ñas Américas, o Brasil poderá, em seu momento, decidir voluntariamente, a partir de sua própria avalia;3o do interesse nacional, se lhe convém ou näo participar no esquema de livre comércio hemisférico. Ao mesmo tempo, esta liberdade implica também a necessidade de escolher e, por conseguinte, de assumir as conseqtténcias da opfäo que vier a ser feita." (Rede im Memorial da América Latina: „ALCA: futuro" 4. April 2001, wiedergegeben auf der Homepage des brasilianischen Außenministeriums, www.mre.gov.br).

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worden war. Mit einem weiteren Gipfeltreffen (1998) in Santiago de Chile, der Einrichtung von Arbeitsgruppen zu einzelnen Themenbereichen und regelmäßigen Treffen der Handelsminister - zuletzt im April 2001 in Buenos Aires - wurde der Verhandlungsprozess vorangetrieben, der Anfang 2005 abgeschlossen sein soll, damit das Freihandelsabkommen Ende 2005 in Kraft treten kann. Bis dahin steht den daran beteiligten Ländern allerdings noch ein dorniger Weg bevor, der als nächste Zwischenstation ein Gipfeltreffen in Buenos Aires (2003) vorsieht. Erst jetzt werden die Streitfragen angegangen. Offen bleibt zudem, mit wie viel Ausnahmeklauseln und Übergangsregelungen ein zukünftiges Freihandelsabkommen ausgestattet sein wird. Wichtige Vorentscheidungen für das Treffen der Regierungschefs in Quebec waren bereits am 7. April 2001 in Buenos Aires auf dem Treffen der Handelsminister der am ALCA-Prozess beteiligten Länder gefallen. Auf der Konferenz wurde äußerst kontrovers diskutiert und trafen die Standpunkte der USA und Brasiliens hart aufeinander. In der Abschlusserklärung (www.ftaa-alca.org/ ministerials/BAmine.asp) wurde u.a. festgehalten: • • • • •

• • •

dass die Entscheidungen im ALCA-Prozess nach dem Konsensprinzip gefallt werden; dass die Ergebnisse des ALCA-Prozesses ein Gesamtpaket darstellen, in dem wechselseitige Rechte und Pflichten festgelegt sind; dass die ALCA bilaterale und subregionale Abkommen in den Amerikas nicht ausschließt, sondern mit diesen koexistieren kann; dass deshalb die voranschreitenden Integrationsprozesse in der Hemisphäre als wichtig erachtet werden; dass bei der Schaffung der ALCA die unterschiedlichen Entwicklungsniveaus und die Größenunterschiede der beteiligten Länder berücksichtigt werden müssen; dass der erste Rohentwurf eines ALCA-Abkommens der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden soll - dies ist eine wichtige Neuerung - ; dass die Verhandlungen über den Marktzugang und den Abbau von Handelshemmnissen und Zöllen spätestens am 15. Mai 2002 beginnen sollen; dass die Verhandlungen über die Schaffung einer ALCA bis spätestens Januar 2005 abgeschlossen werden sollen und das entsprechende Abkommen bis spätestens Dezember 2005 in Kraft treten soll.

Durch die Erklärung der Handelsminister wurden in Buenos Aires die wesentlichen Entscheidungen des vierten Handelsministertreffens noch einmal bestätigt, das im März 1998 in San José, Costa Rica, stattgefunden hatte (www.ftaaalca.org/ministerials/costa_e.asp). Damals waren die heute noch gültigen Grundprinzipien des Verhandlungsprozesses festgelegt worden. Die Entscheidungen der Handelsminister in Buenos Aires gingen nachfolgend in die Erklärung der

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Regierungschefs in Quebec ein (www.summit-americas.org), die insofern keine Neuerungen brachte. Auch die in der Abschlusserklärung enthaltene Feststellung, dass der ALCAProzess und die Teilnahme an den Gipfeltreffen nur demokratisch legitimierten Regierungen offen stehe, ist genau genommen kein Novum. Auch bisher war Kuba, vor allem auf US-amerikanischen Druck, von den Gipfeltreffen ausgeschlossen worden. Die ambivalente Haltung vieler lateinamerikanischer Regierungen gegenüber den Machenschaften Fujimoris in Peru lassen gewisse Zweifel am Nutzen der Demokratieklausel aufkommen, zumal auch die USA in der Vergangenheit in Lateinamerika häufig ein sehr ambivalentes Demokratieverständnis aufgewiesen haben.

8. Fortgang und Problemfelder des ALCA-Prozesses Aufgrund der Beschlüsse der Handelsministerkonferenz von San José (1998) waren neun Verhandlungsgruppen eingesetzt worden, um den ALCA-Prozess in Teilgebieten voranzutreiben: Marktzugang, Investitionen, Dienstleistungen, Regierungsaufträge, Streitschlichtung, Landwirtschaft, geistiges Eigentum, Subventionen, Anti-Dumping-Maßnahmen und Wettbewerbspolitik. In einigen dieser Bereiche wird parallel im Rahmen der Welthandelsorganisation (WTO) verhandelt bzw. bestehen Konflikte zwischen einzelnen am ALCA-Prozess beteiligten Ländern. Zwischen der bilateralen Konfliktbeilegung, den Verhandlungen innerhalb der WTO und dem ALCA-Prozess gibt es Wechselbeziehungen. Die Verhandlungsgruppen haben seit 1998 regelmäßig getagt (www.ftaaalca.org/ngroup_e.asp). Die dort behandelten Themen bergen ein unterschiedliches Konfliktpotential und haben eine unterschiedliche Priorität für die beteiligten Länder. Für die USA ist beispielsweise die Frage des geistigen Eigentums ein wichtiger Verhandlungsgegenstand. So waren zum Zeitpunkt des ALCAGipfels in Quebec die USA und Brasilien in einen Konflikt vor der WTO verstrickt, nachdem Brasilien nationalen Unternehmen die Produktion billigerer Arzneimittel gegen AIDS erlaubt hatte, auch wenn diese durch US-amerikanische Patente geschützt waren. Demgegenüber ist ftir ein Land wie Chile das Thema Anti-Dumping von hoher Priorität, waren in der Vergangenheit doch mehrfach Frucht- und Lachsexporte Gegenstand von Anti-Dumping-Verfahren in den USA gewesen. Die Kompromisse, die in den Arbeitsgruppen vorbereitet werden und nachfolgend auf ministerieller und gegebenenfalls präsidentieller Ebene verabschiedet werden müssen, entscheiden über den Erfolg und Umfang einer amerikanischen Freihandelszone. Abkommen über eine Handelsliberalisierung sind keine akademischen Übungen, mit denen übergreifenden ökonomischen Gesetzmäßigkeiten Rechnung getragen werden soll, sondern es handelt sich um Abkommen, mit denen die beteiligten Staaten ihre wirtschaftlichen Interessen durchsetzen wollen, mit dem Ziel, 23

den Wohlstand im eigenen Land zu mehren. Je nach Ausgangslage werden diese Interessen unterschiedlich definiert. Aus der Interessenkonvergenz oder den Interessenunterschieden ergeben sich Konflikte wie auch die Möglichkeiten für eine Kooperation. Der brasilianische Außenminister Celso Lafer hatte im Umfeld des QuebecGipfels explizit darauf hingewiesen, dass Brasilien im Vergleich zu den USA über höhere Zölle verfuge, deshalb das Thema Zollsenkungen flir sein Land nicht eine so hohe Priorität habe, demgegenüber aber die Subventionen an die US-Landwirtschaft und die Anti-Dumping-Gesetzgebung als Handelshemmnisse angesehen werden, über die man gerne verhandle und dann auch seinerseits zu Zugeständnissen bereit wäre. Ahnlich kann auch die Interessenlage anderer am ALCA-Prozess beteiligter Länder - einschließlich der USA - aufgeschlüsselt werden. Für die Mehrzahl der lateinamerikanischen Länder sind nicht die US-amerikanischen Einfuhrzölle das Hauptthema im ALCA-Prozess, da diese im Durchschnitt bereits niedrig sind. Die lateinamerikanischen Regierungen beklagen eher die nicht-tarifören Handelshemmnisse (z.B. Quoten, „freiwillige" Beschränkungen, Veterinäre Standards, technische Normen etc.), Schutzmaßnamen fiir bestimmte Branchen oder Unternehmensgruppen in den USA (Stahl, Schuhe, Zucker, Textilien, Tabak, Orangensaft etc.), Subventionen der US-Regierung an Sektoren (z.B. in der Landwirtschaft), in denen die Lateinamerikaner konkurrenzfähig sind, und den fehlenden Schutz gegenüber unilateralen Maßnahmen der US-Regierung (z.B. in der Anti-Dumping-Gesetzgebung). Zugleich erhoffen sie sich durch ein Freihandelsabkommen mit den USA eine Art wirtschaftliches Gütesiegel zu erhalten und damit für ausländische Investoren attraktiver zu werden. Diese positiven Erwartungen kontrastieren mit der Angst, nach einer weiteren wirtschaftlichen Öffnung von US-amerikanischen Waren überschwemmt zu werden, mit der Folge, dass nationale Unternehmen schließen müssen. Derartige Befürchtungen werden vor allem in Ländern geäußert, die noch über eine nennenswerte nationale Industrie verfugen (wie etwa Brasilien) und die deshalb sorgfältig den Nutzen und die Kosten eines Freihandelsabkommens abwägen. Diese Vorbehalte gelten weniger fiir Länder, die vor allem Produkte des Primärsektors oder lohnveredelte Industrieprodukte in die USA exportieren, in denen die billige Arbeitskraft einen Wettbewerbsvorteil gegenüber den USA darstellt und die deshalb nur bedingt die nordamerikanische Konkurrenz fürchten müssen. Die Interessenlagen im ALCA-Prozess sind also variabel. Auch Brasilien ist nicht grundsätzlich gegen ein bilaterales Abkommen mit den USA oder gegen die ALCA, ist aber außerdem weiterhin an einem Schutz seiner Industrie im Wettbewerb mit US-amerikanischen Unternehmen, dem privilegierten Zugriff auf die Märkte der Mercosur-Länder und einem verbesserten Zugang seiner Produkte auf dem US-Markt interessiert. Ein wichtiger Verbündeter Brasiliens ist neuerdings Venezuela, dessen exzentrischer Präsident, Hugo Chävez, sich 24

durch eine enge Anlehnung an die brasilianische Position von den USA abgrenzen will und zugleich Rückendeckung für seine Eskapaden in Brasilia sucht, falls die USA darauf all zu heftig reagieren sollten.

9. Die Politik der Bush-Aministration im ALCA-Prozess Verhandlungen, die für die wirtschaftliche Integration in den Amerikas von Bedeutung sind, verlaufen zur Zeit parallel auf mehreren Ebenen. Sie finden im Rahmen der WTO statt. Fortschritte, die dort erreicht werden, fließen automatisch in den ALCA-Prozess ein. Stagnieren die Verhandlungen in der WTO, so kann gegebenenfalls über Erfolge und Fortschritte im ALCA-Prozess Druck auf die Partner in der WTO ausgeübt werden. Verläuft der ALCA-Prozess nicht nach den Vorstellungen der USA, so kann zu bilateralen Verhandlungen mit einzelnen lateinamerikanischen Ländern übergegangen werden. Insofern könnte dem Verhandlungsverlauf mit Chile Modellcharakter zukommen. Falls die USA der Meinung sind, dass sie bilateral mehr erreichen können als im ALCAProzess und sich genügend lateinamerikanische Länder auf bilaterale Verhandlungen einlassen, könnten diese aus US-amerikanischer Sicht die zentralen Verhandlungen werden. Die ALCA wäre dann nur noch Rahmen oder der kleinste gemeinsame Nenner für ein Netzwerk unterschiedlichster bilateraler und subregionaler Handels- und Integrationsabkommen auf dem amerikanischen Kontinent. Eine noch radikalere, globale Lösung schlägt die Heritage Foundation der Bush-Regierung vor. Diese solle einseitig eine Global Free Trade Association (GFTA) ins Leben rufen, der dann alle Länder, die deren Kriterien Rechnung tragen, beitreten können.6 So radikal ist die Bush-Administration in ihren Vorschlägen noch nicht, allerdings lässt auch sie - dies gilt nicht nur bei Handelsfragen - ein Selbstverständnis erkennen, nach dem die USA einseitig die Standards und politischen Vorgaben setzen (bzw. verändern), denen dann die anderen Länder nach Belieben folgen können oder außen vor bleiben. Der Vater des jetzigen US-Präsidenten kann in gewisser Weise mit seiner Enterprise for the Americas Initiative die geistige Vaterschaft des ALCA-Prozesses für sich in Anspruch nehmen, der jetzige Präsident knüpft an diese Initiative an. Allerdings hatte auch die Clinton-Administration eine aktive Handelspolitik betrieben. Ohne den persönlichen Einsatz von Präsident Clinton wäre der noch unter seinem Vorgänger ausgehandelte NAFTA-Vertrag nicht vom Kongress ver6

Siehe Denise Froning/Gerald P O'Driscoll Jr.: "Free Trade: Why Think Local When You Can Go Global?", 19. April 2001 (www.heritage.org/views/2001/ed041901.html); Ana I. Hiras: "Advancing Free Trade in Latin America at The Quebec Summit of the Americas", in: The Heritage Foundation Backgrounder, No. 1430, 12. April 2001 (www.heritage.org/library/backgrounder/bgl430.html). Die Kriterien sind: (1) eine liberale Handelspolitik mit durchschnittlichen Außenzöllen unter 9%; (2) die Förderung von Privatinvestitionen und ausländischen Investitionen; (3) der Schutz des Privateigentums und ein Rechtssystem, das zur Einhaltung von Vertragen zwingt; und (4) eine geringe Regulierung der Wirtschaft.

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abschiedet worden. Seine republikanischen Gegner werfen ihm aber vor, dass danach der Freihandelselan erlahmt sei, auch weil Clinton innenpolitisch zu viel Rücksicht auf Gewerkschaftsinteressen und Umweltbelange in Handelsfragen genommen habe. In der Tat war es Präsident Clinton nicht gelungen, wie seine Amtsvorgänger vom Kongress eine „fast /racA-Autorisation" in Handelsfragen zu erhalten, nach dem diese 1994 ausgelaufen war (1997 und 1998 scheiterten zwei Versuche vor allem an der mangelnden Unterstützung der demokratischen Partei.7 wodurch die US-Verhandlungsposition gegenüber den lateinamerikanischen Staaten im ALCA-Prozess geschwächt wurde. Nicht einmal mit Chile, dem die Clinton-Administration 1994 auf dem ersten „Gipfel der Amerikas" die Aufnahme in die NAFTA versprochen hatte, wurde ein Freihandelsabkommen abgeschlossen. Allerdings gehörte es zu den letzten Amtshandlungen der scheidenden Administration, Verhandlungen mit Chile über ein bilaterales Freihandelsabkommen einzuleiten, eine Initiative, die nach anfanglichem Zögern von der Bush-Administration im Rahmen ihrer Gesamtstrategie gegenüber Lateinamerika gerne vorangetrieben wurde. Bis Januar 2002 hatten bereits zehn Verhandlungsrunden stattgefunden. Die Verhandlungen wurden dadurch belastet, dass die US-Seite nicht eindeutig Position bezog, inwieweit die Verhandlungen innerhalb oder außerhalb der vom US-Kongress erst noch zu gewährenden trade promotion authority abgeschlossen werden sollten. Die neue Regierung hatte zunächst den Freihandel auf ihre Fahnen geschrieben. Ziel der Bush-Administration ist es, weltweit die Liberalisierung des Handels zum besseren Absatz US-amerikanischer Waren und Dienstleistungen voranzutreiben und die politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen für Investitionen US-amerikanischer Unternehmen zu verbessern. Lateinamerika ist ein zunehmend wichtiger Handelspartner der USA. In den 90er Jahren ist der Anteil Lateinamerikas an den US-Exporten auf über 20% (2000: 22%) angewachsen. Kanada ist traditionell der stärkste Handelspartner der USA. Mittlerweile wikkeln die USA deshalb rund 40% ihres Außenhandels - bei den Exporten sogar 45% - im ALCA-Raum ab. Gleichwohl kam die Bush-Administration in ihrer Lateinamerika-Politik trotz anfänglich großer Ankündigungen und der gewachsenen Bedeutung der Hispano-Amerikaner als Wähler - nicht so richtig aus den Startlöchern. Die Ernennung des Vizeaußenministers für die westliche Hemisphäre - ernannt wurde der auf Grund seiner Verstrickung in die Iran-Contra-Affäre umstrittene USKubaner Otto Reich - war lange Zeit im Senat blockiert. Kritische Beobachter fragten sich überdies, ob für den Texaner Bush Lateinamerika nicht an der mexikanischen Südgrenze aufhört.8 Während der erste Staatsbesuch von Bush ihn noch symbolträchtig nach Mexiko führte, machten sich nachfolgend führende '

Vgl. Calvin M. Dooley: "A Pragmatic Trade Agenda", in: Heritage Lectures, No. 713, 30. Juli 2001, S. 2. (www.heritage.org/library/lecture/hl713.html). * Siehe Andrés Oppenheimer: "Bush debería mirar más allá de México", in: El Nuevo Herald, 6. September 2001.

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Regierungsmitglieder in Lateinamerika eher rar. Und die lateinamerikanische politische Elite nahm durchaus wahr, dass an der Amtseinführung des peruanischen Präsidenten Toledo - mit dem nach dem Sturz von Fujimori ein demokratischer Neubeginn vollzogen wurde - weder der US-Präsident, noch sein Vizepräsident, noch die First Lady noch der Außenminister, sondern der Handelsbeauftragte Zoellick als offizieller Vertreter der USA teilnahm. Die Bestrebungen der USA zielten im ersten Halbjahr 2001 allem Anschein nach darauf ab, Absprachen zwischen den lateinamerikanischen Ländern im ALCA-Prozess aufzubrechen und den Verhandlungsprozess zu bilateralisieren. Diese Strategie richtet sich vor allem gegen den Mercosur, dessen Mitgliedsländer gemeinsam verhandeln wollten, und gegen Brasilien, das versucht hatte, sich als südamerikanische Führungsmacht im ALCA-Prozess zu profilieren und diesen gegebenenfalls zu blockieren. Die US-Regierung ließ somit eine Doppelstrategie erkennen: zum einen, eine gemeinsame südamerikanische oder MercosurVerhandlungsposition bei den ALCA-Verhandlungen zu unterminieren und Brasilien zu isolieren, zum anderen parallel zum ALCA-Prozess eine Vielzahl bilateraler Verhandlungen zu führen und diese bei einem aus US-Sicht unbefriedigenden Verlauf der multilateralen Verhandlungen zu privilegieren. Anfang Mai 2001 wurde bekannt, dass die USA mehrfach - zuletzt im Vorfeld des ALCA-Gipfels in Quebec durch Präsident Bush an Präsident de la Rúa - der argentinischen Regierung angeboten haben, in bilaterale Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen einzutreten. Dieses Angebot wurde nachfolgend voi US-amerikanischer Seite zu einer informellen Anfrage uminterpretiert. Wihrend Außenminister Rodríguez und Präsident de la Rúa auf der Grundlage dei offiziellen Linie der argentinischen Regierung das US-amerikanische Angebot ablehnten und ihre Präferenz für ein gesamtamerikanisches Freihandelsabkoaimen mit einer gemeinsamen Verhandlungsposition der Mercosur-Staaten bekräftigten9 - andere Quellen sprechen davon, dass die Antwort auf die Anfrage in Abhängigkeit von der weiteren Entwicklung im Mercosur und im ALCAPrtzess zunächst einmal offen gelassen wurde (La Nación, 15.5.2001, S. 8; wv»w.lanacion.com.ar/01/05/15/dp_305265.asp) - , wollte Wirtschaftsminister Ca/allo bilaterale Verhandlungen nicht gänzlich ausschließen, ließ sogar eine gevisse Vorliebe dafür erkennen. Den Mercosur hätte Cavallo lieber von einer ZoJunion (mit einem gemeinsamen Außenzoll) zu einer subregionalen Freihandelszone (ohne Binnenzoll) zurückgestuft. Auf US-amerikanischer Seite war es

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Nach einer nationalen Gallup-Umfrage vom April 2001 konnten gerade 43% der befragten Argentnier mit dem Begriff ALCA etwas anfangen (Mercosur 85%). Von diesen war wiederum knapp de Hälfte (49%) der Meinung, die ALCA bringe gar keinen oder nur wenig Nutzen für die einheinische Wirtschaft (Mercosur 51%), viel oder ziemlichen Nutzen sahen 24% (Mercosur 31%), der lest hatte keine Meinung (siehe La Nación, 14.5.2001, S. 7; www.lanacion.com.ar/01/05/14/ utzen von Integrationsprozessen, die sich ja nicht auf die Währungskooperation allein reduzieren lassen, ungleich zwischen Partnern, Regionen, Branchen und Kassen verteilt sind, ist eine solche starke gemeinsame Anstrengung, wie sie ein; Unterbewertungsstrategie bei Entschuldung verlangen würde, unwahrschenlich, solange es nicht - wie in Europa - Transfermechanismen gibt, die polarisitrende Marktprozesse wenigstens bis zu einem gewissen Grade zu konterkarierei versprechen. Da Transfers ausgesprochen anfallig für Korruption und Mezz)giorno-Effekte sind, soll ihnen hier auch nicht unbedingt das Wort geredet, aber auf der analytischen Ebene muss darauf hingewiesen werden, dass die Regieringen oder auch generell die politischen Eliten von Weichwährungsländern nur schwer auf ihre Handlungsspielräume verzichten werden, wenn sie sich dadurch .veder Transfers, noch ein deutlich niedrigeres Zinsniveau einhandeln können. Die währungspolitische Kooperation, wenn nicht Gaucho-Integration, vürde dem einzelnen Land ebenfalls weitgehend die Autonomie der Geld- und Währungspolitik rauben - Brasilien als dem bei weitem wichtigsten Wirtschafspartner noch am wenigsten: aber der ins Auge gefasste Gemeinsame Markt vürde andere Ausgleichsmechanismen als mit dem Dollar-Raum der USA bereitstellen, neben Transfers, die bisher allerdings nicht vorgesehen sind, vor alltm die Migration von Arbeitnehmern. Eine gemeinsame, konzertierte Strategie, wie etwa mit dem Pequeiio Maostricht beim Gipfel in Florianöpolis Anfang Dezember 2000 ins Auge gefasst, zielt bisher allerdings allenfalls auf Stabilität;ziele, während eine Entwicklungsstrategie durch Unterbewertung der gemeimamen Währung und forcierte Exportanstrengungen nicht zu erkennen ist. Die Efebatte hält jedoch an, und so erscheint es nicht sehr wahrscheinlich, aber duthaus möglich, dass die Währungspolitik des Mercosur in diese Richtung geh. Die ersten Studien über die Auswirkungen der Voll-Dollarisierung in Ekuador(Marconi 2001) und die anhaltenden Krisen und Probleme in Argentinien in Hinblick auf den Verlust an fiskalpolitischer und lohnpolitischer Autonomie sowie an Wettbewerbsfähigkeit der einheimischen Banken wegen des Verluss der Zentralbank als ihres lender-of-last-resort lassen erwarten, dass die krtische Auseinandersetzung mit der Dollarisierung und auch mit dem hard peg n Gestalt eines Currency Board politisch wie akademisch weitergehen wird. Schließlich sollte auch als viertes das pessimistische Szenario nicht igioriert werden, nach dem man sich zwar koordiniert und vor allem Lohndiszipln übt, aber über eine laxe Fiskal- und Geldpolitik das Vertrauen der ökonomschen Souveräne ebenso verspielt wie das der Wähler, so dass politisch Autoritaismus 70

und/oder Populismus und ökonomisch eine weitere Verarmung der arbeitenden Bevölkerung die Folge wären. Wenn Geld nur als Tauschmittel fungieren würde, wäre die Voll-Dollarisierung wohl die überzeugendste Lösung in einer sich mehr und mehr globalisierenden Weltwirtschaft. Geld ist jedoch ein Steuerungsmittel, welches die Realwirtschaft dominiert und nicht ihr Diener ist. Das gilt national wie international. Die Weltwährungsordnung ist ein Multiwährungssystem, in welchem hierarchische Verhältnisse herrschen und pyramid-clmbmg bzw. die Verteidigung der Härte der eigenen Währung die Voraussetzung für günstige Zinssätze, für ein funktionsfähiges lokales Bankwesen und für sonstige Akkumulationsbedingungen darstellt. Selbst wenn die USA bereit wären, die zusätzliche Seignorage, also die unmittelbaren Erträge aus der Differenz zwischen den Kosten der Banknoten und dem Nennwert, zu teilen, wie das im US-Senat bereits diskutiert wird, wäre die Übernahme des US-Dollars als gesetzliches Zahlungsmittel nur scheinbar ein leichter Ausweg aus den wirtschaftlichen Schwierigkeiten lateinamerikanischer Länder.

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Wolf Grabendorff

Perspektiven der politischen Integration in Südamerika: Herausforderungen und Handlungsspielräume Mit der Konferenz der südamerikanischen Präsidenten im September 2000 in Brasilia (Calcagnotto/Nolte 2000) ist ein erster Schritt zu einer wirtschañs- und integrationspolitischen Teilung der westlichen Hemisphäre vollzogen worden. Die Diskussion innerhalb Südamerikas um die identitätsstiftende Rolle eines neuen Regionalkonzeptes hat gerade erst begonnen. Die wirtschaftlichen und politischen Auswirkungen eines solchen Konzepts auf das Binnenverhältnis und die Außenbeziehungen der südamerikanischen Staaten sind bisher bestenfalls nur angedacht worden und variieren auf Grund der heterogenen nationalen Interessen dieser Staaten erheblich (Peña 2000). Im Mittelpunkt der derzeitigen Diskussion steht die Konvergenz von zwei nach wirtschaftlichem Gewicht und institutioneller Erfahrung sehr unterschiedlichen Integrationsprozessen, dem Mercosur und der Andengemeinschaft (CAN). Im Hintergrund aller Überlegungen steht zusätzlich die Frage nach einer keineswegs unumstrittenen Führungsrolle Brasiliens innerhalb Südamerikas und seiner damit verbundenen möglichen Sprecherrolle für die Region nach außen (Hofmeister 2001: 30). Für Lateinamerika insgesamt ist die Vision von der Patria Grande durchgehend ein prägender Leitgedanke für alle Integrationsanstrengungen gewesen. Dabei hat die Hoffnung einer Einigung von kulturell und historisch eng verbundenen Staaten immer im Zusammenhang mit der Vorstellung einer wichtigeren Rolle in der Welt und einer besseren Verhandlungsposition gegenüber dem „Koloss im Norden" gestanden (González Urrutia 2000: 38). Insofern ist die jetzt eingetretene Rückbesinnung auf das Konzept Südamerika (Perón 1982: IX) auch eine Reaktion auf die Herausbildung eines Nordamerikakonzepts durch die Bildung der NAFTA und die damit verbundene Einbindung Mexikos und Anbindung Zentralamerikas und der Karibik an dieses geostrategische Konzept.

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1. Veränderte Ausgangsbedingungen für die Integration in Südamerika Es kann kein Zweifel darüber bestehen, dass die Notwendigkeit zu verstärkter Integration in den 90er Jahren durch die Globalisierung in allen ihren Aaswirkungen erheblich zugenommen hat. Dabei ist es relativ nebensächlich, «b die neu geschaffenen oder erneuerten Integrationsprozesse in Lateinameriki vornehmlich zur Verbesserung der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit oder aber als Verteidigungsmechanismen gegen die negativen Effekte der Globaliserung interpretiert werden. In fast allen Mitgliedsstaaten der Integrationsblöcke ist jedoch eine weitgehende Dissonanz zwischen den wirtschaftlichen und politschen Leitvorstellungen der Integration zu erkennen. Das gilt nicht nur für den Mercosur und die Andengemeinschaft, sondern auch und gerade für die NAFTA und die Caribbean Community (CARICOM) und das Sistema de Integración de América Central (SICA). Denn obwohl die NAFTA ausschließlich als Freihandelszone konzipiert und etabliert worden ist, beginnt ein politischer Trend, daraus langfristig einen Gemeinsamen Markt werden zu lassen nicht nur in tvexiko an Bedeutung zu gewinnen, sondern auch in den USA Befürworter zu Inden (Pastor 2001). Interessengegensätze zwischen den Anhängern einer politischen und einer ausschließlich wirtschaftlich orientierten Integration werden immer dann besonders offensichtlich, wenn ein vermeintlicher oder tatsächlicher Souveränititsverlust zu drohen scheint. Dabei handelt es sich häufig keineswegs um einen möglichen Einfluss- und Steuerungsverlust des Staates, sondern vielmehr um de Befürchtung einheimischer Interessengruppen, ihren politischen und wirtschaftlichen Einfluss auf staatliche Entscheidungen zu verlieren und dadurch ihre eigenen Position zu verschlechtern. Obwohl es weitgehend ungeklärt ist, inwieweit Integrationsprozesse zu einer Demokratisierung der Entscheidungsstructuren beitragen, so lässt sich doch feststellen, dass die Integration einer Verbreiterung, Umschichtung und Transnationalisierung von wirtschaftlichen Entscheidungsstrukturen Vorschub leistet. Gerade dort wo - wie in Lateinamerika - wenig Einsicht in die notwendige Akzeptanz von ungleichen Integrationsergebiissen, sowohl innerhalb als vor allem auch zwischen den jeweiligen Mitgliedssaaten, besteht, ist ein deutlicher Mangel an internem und Intra-Block Konsens über das cui bono der Integration auszumachen. Da aber in allen amerikanischen Iitegrationsmodellen keine Bereitschaft zu Ausgleichszahlungen bei offensichtichen Integrationsverlusten - etwa analog zur europäischen Praxis - erkennbar geworden ist (Giacalone 1998: 148-149), sondern vielmehr gegen eine solche 'olitik eine ausgesprochene Abneigung zu bestehen scheint, setzt bei nicht rasch genug eintretenden sektoralen oder nationalen Integrationserfolgen in vielen Lindern regelmäßig eine Integrationsmüdigkeit bzw. sogar eine Ablehnung aller Iitegrationsanstrengungen ein. Die jüngsten Entwicklungen im Mercosur sind dafür, zumindest teilweise, ein gutes Beispiel. 74

Das Bewusstsein um die notwendigen Kosten eines jeden Integrationsprozesses ist in Südamerika offensichtlich erst in den letzten Jahren entwickelt worden, vor allem vor dem Hintergrund, dass der Globalisierungsprozess wenig Spielraum für langwierige Verhandlungsrunden lässt (Vacchino 2001: 49) und vielmehr auf transparenten und rasch umsetzbaren Regulierungen besteht. Die Notwendigkeit, auf jeden Fall zumindest kurz- wenn nicht gar mittelfristige Kosten innerhalb der eigenen Wirtschaft in Kauf zu nehmen, um langfristig eine Besserstellung des regionalen Wirtschaftsraumes zu erreichen, hat bei vielen Politikern, aber auch Wirtschaftsführem in der Region zu einer integrationsskeptischen Haltung geführt. Für sie ist das Denken in Kategorien wie „Nationalwirtschaft" und „nationales Projekt" noch eher repräsentativ, was angesichts der Tatsache, dass solche Kategorien in der öffentlichen Diskussion leichter vermittelbar sind, auch kaum verwundern kann. Freilich sind dadurch innenpolitische Ausgangsbedingungen gegeben, die zukünftige und über den bisher vornehmlich wirtschaftlichen Rahmen hinausgehende Integrationsanstrengungen in Südamerika außerordentlich erschweren. Insofern scheinen die externen Faktoren, trotz der konkurrierenden gesamthemisphärischen Integrationskonzepte wie der FTAA, einer südamerikanischen Integration weniger Probleme zu bereiten, als das bei den internen Ausgangsbedingungen angenommen werden muss. Um diese Ausgangsbedingungen jedoch klarer zu erkennen und damit eine zuverlässigere Einschätzung der südamerikanischen Integrationsperspektiven vornehmen zu können, sollen hier vier zentrale Voraussetzungen für einen möglichen Integrationserfolg untersucht werden: die Kapazität der politischen Führung, die finanzielle und technologische Managementkapazität, die Funktion des politischen Wettbewerbs und die Rolle externer Akteure. 1.1. Die Kapazität der politischen Führung Sowohl der Mercosur wie die Andengemeinschaft sind im Gegensatz zur NAFTA als Integrationsmodelle, ähnlich wie die EU, policy driven und nicht market driven (Serra 1997: 7). Der Mercosur ist ohne Zweifel auf Grund politischer Einsichten der brasilianischen und argentinischen Führungsschichten entstanden und wird im Wesentlichen politisch von Brasiliens Interessenlage bestimmt. Das gilt sowohl im positiven wie im negativen Sinne. Positiv, weil Brasilien sich als regionale Integrationsmacht versteht und den Mercosur nicht nur als wichtiges Instrument seiner eigenen Außen- und Wirtschaftspolitik ansieht. Und negativ, weil es dabei gerade seine Rolle als Führungsmacht der Integration nur unzureichend ausfullt und seine wirtschaftlich und politisch schwächeren Partner nicht ausreichend konsultiert (Methol Ferré 2001: 45) oder auch nur bereit wäre, für seine regionale Führungsrolle bestimmte Nachteile in einigen Wirtschaftssektoren in Kauf zu nehmen, weil hier die privatwirtschaftlichen Interessen den außenpolitischen Spielraum des Landes einzuschränken scheinen. Dieser Mangel an weitsichtiger Führungskapazität Brasiliens hat innerhalb des Mercosur immer wieder zu Unstimmigkeiten und Frustrationen geführt, die 75

sich nicht immer durch die für diese Integrationsform charakteristische Präsidentialdiplomatie haben ausräumen lassen. Insofern ist der Mangel an politischer Führung auch ein wichtiger Bestandteil der institutionellen Krise des Mercosur, deren wirtschaftliche Gründe eher Ausdruck als Ursache eben dieser Krise sind. Gerade weil Brasilien sich noch stärker als die anderen MercosurMitglieder gegen einen supranationalen Ausbau des Integrationsprozesses gesträubt hat, ist dieser Mangel an Führungskapazität bisher auch nicht durch unabhängige Institutionen auszugleichen gewesen. Hinzu kommt die Unsicherheit des Ausgangs der brasilianischen Wahlen 2002, die durchaus einen grundsätzlichen Wandel des außenpolitischen Profils des Landes mit sich bringen könnten, so dass Brasilien in Zukunft - ganz im Gegensatz zu der Periode der Präsidentschaft Cardosos - stärker nach innen ausgerichtet sein könnte. Obwohl an dem brasilianischen Führungswillen hinsichtlich einer südamerikanischen Integrationsoption kein Zweifel bestehen kann - schließlich sind die ersten Konzepte einer südamerikanischen Freihandelszone bereits im Oktober 1993, also noch vor dem offiziellen Inkrafttreten der NAFTA bekannt geworden - , ist die Gefahr einer innenpolitisch motivierten Reduzierung seines Integrationswillens nicht zuletzt angesichts der Größe und der strukturellen Probleme des Landes nicht auszuschließen. Für Brasilien dürfte eine Integration Südamerikas und die Möglichkeit, dadurch zum akzeptierten Sprecher des Halbkontinents zu werden, zwar eine erhebliche Aufwertung seines internationalen Status mit sich bringen, aber gleichzeitig eine Verringerung der Durchsetzungskapazität bei der Verfolgung seiner nationalen Interessen aus notwendiger Rücksichtnahme gegenüber den Interessen seiner Nachbarn innerhalb der Region bedeuten. Insofern könnte Brasiliens Konzept einer südamerikanischen Integration auch als zweite bzw. parallele Agenda (Klom 2000: 14) zum Mercosur interpretiert werden, um dabei den politischen gegenüber den wirtschaftlichen Zielvorstellungen den Vorrang einzuräumen. Die Andengemeinschaft war zur Zeit ihrer Gründung ausschließlich staatlich gesteuert und brauchte auf die Interessen der Privatwirtschaft nicht im nennenswerten Umfang Rücksicht zu nehmen. Dies hat sich im letzten Jahrzehnt angesichts der allgemeinen Bedeutungszunahme auch der politischen Rolle der Privatwirtschaft durchaus verändert, ohne dass sich die Marktkräfte angesichts der Heterogenität der Volkswirtschaften innerhalb der CAN hätten ähnlich durchsetzen können, wie dies im Mercosur oder gar in Chile der Fall gewesen ist. Die CAN hat darüber hinaus auf keine klare Führungsdominanz eines Mitgliedsstaates zählen können, was wahrscheinlich auch zu der eher schwachen internationalen Position des Integrationsprozesses beigetragen hat, zumal die institutionell zwar starken, aber realpolitisch außerordentlich schwachen Gemeinschaftsinstitutionen der CAN eine gewisse Führungslosigkeit selbst im Binnenverhältnis nicht auszugleichen vermochten. Mit dem derzeitigen Präsidenten Chävez hat Venezuela jetzt eine gewisse Führungsrolle in der CAN übernommen, ohne das diese bereits von allen Mit76

gliedern anerkannt würde. In Anbetracht der bilateralen Schwierigkeiten, die seine Regierung sowohl mit Kolumbien wie mit Peru ausgetragen hat, hat dieser Führungsanspruch im Intra-Block-Verhalten eher negative Reaktionen gezeitigt. Hinsichtlich einer südamerikanischen Integration hat der außenpolitische Aktivismus von Chávez jedoch den Vorteil, dass Venezuela seine Interessen an einer engeren Beziehung mit Brasilien jetzt im Rahmen einer Konvergenz von Mercosur und der Andengemeinschaft stärker promovieren kann. Der erste Schritt in diese Richtung ist im Juni 2001 beim Mercosur-Gipfel in Asunción mit der Bitte um Aufnahme als assoziiertes Mitglied im Mercosur gemacht worden. Dies war umso bemerkenswerter, als mehrere Mercosur-Mitglieder auf dem derzeitigen Höhepunkt der Mercosur-Krise kaum mehr mit einer solchen Initiative Venezuelas gerechnet hatten, zumal etwa Chile kurz zuvor von seiner Absicht, Vollmitglied im Mercosur zu werden. Abstand genommen hatte. Falls sich trotz aller wirtschafts- und integrationspolitischer Unterschiede - nicht zuletzt auf Grund gemeinsamer außenpolitischer und wirtschaftlicher bilateraler Interessen - eine doppelte Führungsstruktur mit Brasilien für den Mercosur und Venezuela für die CAN herauskristallisieren sollte, wäre dies wahrscheinlich keine schlechte Voraussetzung fiir einen auf regionale Autonomie bedachten südamerikanischen Integrationsprozess, obwohl die Akzeptanz einer, wenn auch begrenzten Führungsrolle Venezuelas insbesondere von Seiten Argentiniens und Chiles, denen die Autonomievorstellungen Brasiliens und Venezuelas ohnehin zu weitgehend erscheinen, keineswegs als sicher angenommen werden kann. Inwieweit allerdings - anders aber nicht unähnlich wie in Brasilien - die innenpolitischen Voraussetzungen für eine solche Führungsrolle von Venezuela gegeben sein dürften, gehört ohne Zweifel zu den größten Unsicherheitsfaktoren hinsichtlich der zu erwartenden politischen Führungskapazität für die Integration Südamerikas. 1.2. Die finanzielle und technologische Managementkapazität Moderne Integrationsprozesse sind geprägt von der Kapazität ihrer Führungseliten, große wirtschaftliche und spätere Rechtseinheiten zu transformieren, zu regulieren, zu harmonisieren und insgesamt verantwortungsvoll zu managen. Gerade im Bereich der Regulierungskapazität hat der lateinamerikanische Staat generell und haben auch die Integrationsprozesse in Südamerika erhebliche Defizite aufzuweisen. Eine solche Kapazität ist jedoch von zentraler Bedeutung für den Integrationserfolg. Weder der Mercosur noch die CAN haben bisher ausreichende Managementkapazitäten für die notwendigen Reform- und Harmonisierungsprozesse in der Region erkennen lassen. Dafür gibt es eine ganze Reihe von innenpolitischen Gründen, vornehmlich dürfte es aber mit dem Modell der intergouvernementalen Kooperation zusammenhängen, dass keine ausreichende Möglichkeit einer kontinuierlichen Ausweitung der für den Integrationsfortschritt notwendigen Entscheidungsprozesse bestanden hat bzw. dass den politischen Erklärungen und den auf jedem Präsidententreffen feierlich erklärten Ab77

sichten keine ausreichenden rechtlichen und verwaltungstechnischen Maßnahmen gefolgt sind. Angesichts der bisher nur in Ansätzen erkennbaren Bemühungen, innerhalb des Mercosur eine makroökonomische Abstimmung zu erreichen, und der Erfolglosigkeit der CAN bei der Verwirklichung der beschlossenen Infrastrukturmaßnahmen ist nicht zu erkennen, inwieweit die Integrationsprozesse in Südamerika über ausreichende Ressourcen von finanzieller und technologischer Managementkapazität verfugen. Dieser Mangel dürfte eines der Haupthindernisse für eine Konvergenz der beiden so unterschiedlich strukturierten Integrationsprozesse bilden, da gerade eine Verschmelzung von Mercosur und CAN sowie die zusätzliche Einbeziehung von Chile, einerseits, und von Guyana und Surinam, andererseits, eine erhebliche Ausweitung dieser Managementkajazitäten notwendig machen würde. Während die finanzielle und technologische Managementkapazität in der Region zweifelsohne im Privatsektor - und dort vor allem bei den multinationalen Unternehmen - vorhanden ist und durchaus auch in verschiedenen Staaten auf der Regierungsebene zugenommen hat, ist der notwendige Einsatz dieser - für den Integrationserfolg unverzichtbaren - Kapazität in der intergouvernementalen Zusammenarbeit ausgeblieben. Ohne eine klare Prioritätenverlagerung auch in diesem Bereich dürften die notwerdigen Ausgangsbedingungen für eine neue Integrationsdynamik in Südamerika wohl kaum gegeben sein. 1.3. Die Funktion des politischen Wettbewerbs Das Wettbewerbsprinzip prägt nicht nur das Marktverhalten, sondern ha: auch einen wesentlichen Anteil am Funktionieren der Demokratie auf Grurd des Wettbewerbs zwischen den politischen Parteien um die Wählergunst. So ist auch der Wettbewerb innerhalb und zwischen den verschiedenen Integrationsnechanismen ein entscheidendes Element bei der Bewertung von Integratioisfortschritten. Die Attraktivität des Mercosur gegenüber der CAN lag in den ruunziger Jahren gerade darin, dass solche Integrationsfortschritte auf verschiedenen Ebenen erkennbar waren. Die Assoziierungsbemühungen von Chile und Bolivien waren ein deutlicher Beweis für diese Attraktivität des Mercosur. Es scheint daher unumgänglich, den Harmonisierungsdruck innerhalb des Integratioisprozesses nicht nur aufrecht zu erhalten, sondern immer wieder zu beschleuiigen, um die gewünschten Integrationsergebnisse zu erzielen (Azambuja 200(: 21). Neben der Vertiefung ist auch die Erweiterung ein entscheidendes Instnment innerhalb des politischen Wettbewerbs zwischen verschiedenen Integratioismodellen. Dabei muss keineswegs nur die wirtschaftliche Attraktivität eine; Integrationsprozesses im Vordergrund stehen. Angesichts der schwerwiegende politischen Probleme bei einigen Mitgliedern der CAN dürfte auch der demikratische Stabilitätsbonus im Mercosur - ebenso wie die dort so erfolgreiche nilitärische Kooperation - einen Vorbildcharakter für eine südamerikanische Iitegration darstellen. Insofern enthält die „Erklärung von Brasilia" durchaus auch 78

Elemente der politischen Konditionierung, die auf Grund der zunehmenden Integrationsbereitschaft in der Region von strategischer Bedeutung sein könnten. Das Bemühen einzelner Staaten, in einen erfolgreichen Integrationsprozess aufgenommen zu werden, könnte so einen Graduierungseffekt vor allem bei jenen Ländern auslösen, deren interne Mechanismen nicht den Erwartungen der übrigen Integrationsmitglieder entsprechen. Eine solche Entwicklung - wie sie auch bei den Erweiterungen der EU teilweise zu erkennen war - birgt freilich eine ganze Reihe von innenpolitischen Gefahren in sich, da es erfahrungsgemäß wesentlich leichter fällt, sich angesichts des Globalisierungsdruckes wirtschaftlichen Konditionen zu beugen, als dies bei politischen Vorbedingungen zur Aufnahme in einen Integrationsprozess der Fall ist. Andererseits sind ähnliche politische Konditionierungen auch parallel zu den FTAA-Verhandlungen im gesamthemisphärischen Zusammenhang akzeptiert worden, so dass der politische Wettbewerb mehr und mehr zum Regelfall für integrationswillige Staaten wird, zumal der „Preis" für eine Außenseiterrolle - ähnlich wie bei Handelsvereinbarungen - ständig zunehmen dürfte. Die Attraktivität eines Integrationsmodelis liegt daher auch in seiner Fähigkeit, interne Stabilität und demokratisch korrektes Verhalten bei seinen Mitgliedern nicht nur zu fordern, sondern - soweit möglich - sogar zu garantieren. Die Durchsetzungskraft des Mercosur gegenüber Paraguay in einer innenpolitischen Krisensituation kontrastiert daher auffallig mit dem Mangel an Einflussmöglichkeiten der CAN im Falle der verschiedenen innenpolitischen Krisensituationen in Peru. Die Betonung in der „Erklärung von Brasilia" einer gemeinschaftlich verstandenen Verantwortung für die demokratische Ordnung in der Region und die Forderung, die politische Stabilität auch in außenpolitischem Sinne durch eine südamerikanische Friedenszone abzusichern, haben hier klare Ausgangsbedingungen für die südamerikanische Integration im politischen Wettbewerb mit anderen Integrationskonzepten geschaffen. 1.4. Die Rolle der externen Akteure Zu den zentralen Faktoren der Ausgangsbedingungen für eine politische Integration Südamerikas gehören zweifelsohne die externen Akteure (Zimmerling 1991: 65), zu denen keineswegs ausschließlich Einzelstaaten gezählt werden sollten, sondern zunehmend auch andere, nicht notwendigerweise geographisch nahegelegene Integrationsblöcke, wobei sowohl auf deren Mitgliedschaft wie auf das Leitmotiv dieser Integrationskonzepte besonders zu achten ist. So sind zwar die USA der zentrale externe Akteur für die Staaten Südamerikas geblieber, sie sind es aber hinsichtlich des angestrebten Integrationsprozesses in Südamerika vornehmlich durch ihre Rolle innerhalb der NAFTA und der FTAA. Gerade ihre Kapazität als Zentralmacht eines konkurrierenden Integrationsprozesses wie der FTAA, der darüber hinaus noch andere Zielvorgaben und eine unterschiedliche Instrumentalität beinhaltet, die die gesamte Integrationsdynamik in der Westlichen Hemisphäre prägt, machen die USA heute zum externen 79

Akteur par excellence. Die Möglichkeit, einerseits auf jetzige oder potentielle Mitglieder des Mercosur bzw. einer South American Free Trade Association (SAFTA) direkt einzuwirken und ihnen Vor- und Nachteile ihrer möglichen Entscheidungen zu veranschaulichen und andererseits im Rahmen der NAFTA zusammen mit Kanada und vor allem Mexiko die Vorteile eines anderen Integrationsmodus zu demonstrieren, sollten nicht unterschätzt werden. Die interne Diskussion um die „bestmögliche" Einbindung ist in fast allen Staaten Südamerikas voll entbrannt, wobei vor allem Chile, aber auch Argentinien und Kolumbien Präferenzen für eine Orientierung in Richtung FTAA erkennen lassen (Herrera Vegas 2001: 63). Auch Mexikos Perzeption einer möglichen Südamerikalösung sollte keinesfalls unbeachtet bleiben, da es einerseits als zweitwichtigstes lateinamerikanisches Land bei einer integrationspolitischen „Neuordnung" Lateinamerikas nicht isoliert bzw. ausschließlich als nordamerikanisches Land angesehen werden möchte und andererseits - auf Grund seiner Integrationserfahrungen mit dem USA - gern eine Brückenfunktion zwischen dem Norden und dem Süden der Hemisphäre wahrnehmen möchte. Neben den hemisphärischen externen bzw. internen Akteuren spielt hinsichtlich der Integrationsflnalität auch die EU eine nicht zu vernachlässigende Rolle, nicht nur weil sie den ältesten Integrationsprozess darstellt und auch aus ihrer Präferenz für Integrationsprozesse als außen- und wirtschaftspolitische Partner im internationalen System nie ein Hehl gemacht hat, sondern auch, weil die Interdependenz von Integrationsdynamik zwischen Europa und der westlichen Hemisphäre ganz deutlich nachvollziehbar ist. So folgte auf die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) der Gemeinsame Zentralamerikanische Markt und der Andenpakt, auf den Binnenmarktprozess der EU die NAFTA und auf die NAFTA der Mercosur, ebenso wie die Assoziierungsverhandlungen der EU mit Mexiko, dem Mercosur und Chile der NAFTA folgten, und wiederum die FTAA als Reaktion auf den Mercosur verstanden werden kann. Dabei sollte freilich die EU keineswegs als Maßstab für die jeweilige Integrationsdynamik innerhalb der westlichen Hemisphäre angesehen werden, aber es ist schwer denkbar, sich diese Integrationsentwicklungen ohne das europäische Beispiel vorzustellen. Welche Interessen dürften die bestehenden Integrationsmechanismen gegenüber einer Integration Südamerikas verfolgen? Hinsichtlich der NAFTAMitglieder scheint eine klare Präferenz für die FTAA zu bestehen - obwohl Mexiko als einziges lateinamerikanisches Land bei deren Verwirklichung mit einer Verringerung seiner bisherigen Marktzugangsvorteile in den USA rechen muss - , ohne dass sich vorher eine SAFTA mit anders ausgerichteter Integrationsflnalität konstituiert. Angesichts der mehr versteckten als offenen Schwierigkeiten der NAFTA-Staaten im Umgang mit dem Mercosur dürft eine Ausweitung des Integrationskonzeptes des Mercosur auf ganz Südanerika keineswegs im Interesse der NAFTA-Staaten sein, obwohl sowohl Kanada als auch Mexiko sich bereits um ein Freihandelsabkommen mit dem Mecosur bemüht haben. 80

Aus Sicht des Mercosur wäre die Konstituierung einer Südamerikanischen Integrationszone eine wichtige Voraussetzung für die FTAA-Verhandlungen, weil damit eine größere Verhandlungsmacht gegenüber den USA gegeben wäre und die FTAA schließlich das Dach über NAFTA und SAFTA bilden könnte, ohne dadurch die unterschiedlichen Integrationsmodelle über Gebühr zu beeinflussen. Auf Seiten der CAN sind die Ansichten darüber gespalten, welche Vorteile eine südamerikanische Integration gegenüber der gesamthemisphärischen zu bieten hätte. Aus Sicht der EU schließlich würde einem Nebeneinander von NAFTA und SAFTA in der westlichen Hemisphäre wohl der Vorzug gegeben, weil eine FTAA-Lösung vermutlich eine Verschlechterung der biregionalen Wirtschaftsbeziehungen mit sich bringen würde, während andererseits EU-Assoziierungsverhandlungen mit dem Mercosur und Chile auch noch die Möglichkeit einer Ausdehnung auf die SAFTA bieten könnten und damit eine gute Ausgangsposition fiir eine strategische Partnerschaft (Grabendorff 2000: 47-50) mit einer Südamerikanischen Union (SU) gewährleistet wäre.

2. Herausforderungen für die Bildung einer Südamerikanischen Union Die Herausforderungen, die mit einer politischen Integration Südamerikas verbunden sind, lassen sich in ihrer Vielfältigkeit und Interdependenz am besten an Hand eines Rasters von strukturellen und konjunkturellen, verbunden mit internen und externen Faktoren veranschaulichen. Die Komplexität, die mit einer langsamen Konvergenz von zwei so unterschiedlichen Integrationsprozessen wie dem Mercosur und der CAN, von denen beide weder intern gefestigt noch wirtschaftlich konsolidiert sind, verbunden ist, wird durch die beabsichtigte Einbeziehung von Chile, Guyana und Surinam noch erhöht. Angesichts der gleichzeitigen Wettbewerbssituation mit der FTAA sind die Herausforderungen nicht nur im wirtschaftlichen Bereich, sondern auch im politisch-strategischen Bereich von einer Dimension, die zahlreiche Akteure in den südamerikanischen Staaten zu überfordern scheint. 2.1. Die externen-strukturellen Faktoren Der historisch gewachsene und wirtschaftlich wie sicherheitspolitisch überwältigende Einfluss der USA in der westlichen Hemisphäre ist mit Abstand der strukturell am wenigsten anfallige Faktor, selbst wenn die inter-amerikanischen Beziehungen in ihrer Auswirkung auf Südamerika keineswegs immer eine Konstante gebildet haben. Die Veränderungen des internationalen Systems nach dem Ende des Kaltes Krieges haben die USA darüber hinaus von einer regionalen und partiell globalen Führungsposition in die Position der alleinigen globalen Führungsmacht katapultiert. Daraus ergibt sich zwangsläufig für Südamerika, dass das Ergebnis einer Auseinandersetzung oder aber einer Kooperation mit 81

den USA nicht mehr allein über seine Rolle in der westlichen Hemisphäre, sondern in der Welt überhaupt entscheiden dürfte. Eine völlig neuartige Form von Anpassungs- bzw. Allianzverhalten ist dadurch für die südamerikanischen Staaten notwendig geworden, die auf Grund des allgemeinen Globalisierungsdrucks noch krasser zum Ausdruck kommt und nicht ohne Rückwirkungen auf die innenpolitische Diskussion in verschiedenen Staaten der Region, insbesondere in Brasilien, geblieben ist. Aus der Sicht zahlreicher südamerikanischer Politiker versteht sich der Integrationsprozess der Region daher auch als ein Beitrag zur Auseinandersetzung zwischen unipolarer und multipolarer Weltordnung (Methol Ferré 2001: 49). Mit Blick auf das Interesse Südamerikas, eine wichtigere Rolle im internationalen System zu spielen, sind die Zielvorstellungen der politischen Integration auch auf eine verbesserte Positionierung hinsichtlich der externen strukturellen Faktoren ausgerichtet. Aus südamerikanischer Sicht könnten diese Ziee nur durch seine Mitgliedschaft in einer erweiterten G-7 bzw. einer ständigen Mitgliedschaft im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen verwirklicht werden. Zu den weiteren externen strukturellen Faktoren gehört auch die Konkirrenzsituation mit einem im weiteren Sinne durchaus auch politischen Integritionsmechanismus wie der G-3, die auf Grund der Mitgliedschaft von Kolunbien, Mexiko und Venezuela eine Klammer zwischen Süd- und Nordamerika bildet und die aus geographischen und wirtschaftlichen Gründen strukturell stärker auf die USA ausgerichtet ist. Aus Sicht der USA könnte die Interessenlage d• la Educación) aus UCR (Unión Cívica Radical; Radikale Bürgerunion) und Frepaso (Frente País Solidario; Front für ein solidarisches Land) wurden auch Stimmen laut, die eine kritischere Haltung gegenüber den USA und mehr außenpolitische Koordination mit den südamerikanischen Nachbarländern forderten, beispielsweise im Hinblick auf die Kubapolitik. Unter Menem schlug Argentinien einen betont kritischen Kurs gegenüber Kuba ein. Bei den jährlichen Abstimmungen vor dem Menschenrechtsausschuss der Vereinten Nationen in Genf stimmte die peronistische Regierung regelmäßig mit den USA gegen Kuba - anders als Brasilien und die meisten anderen lateinamerikanischen Länder, die sich in dieser Frage traditionell enthielten. Auch die Regierung De la Rúa votierte in den Jahren 2000 und 2001 gegen Kuba, was vor allem im ersten Regierungsjahr zu heftigen Auseinandersetzungen innerhalb des Regierungsbündnisses führte. Grundsätzlich bleibt festzuhalten, dass sich die politischen Beziehungen zwischen Argentinien und Brasilien in den vergangenen zwei Jahrzehnten deutlich verbessert haben und gegenwärtig frei von größeren Belastungen sind. Die bilaterale Zusammenarbeit in einer Vielzahl von Politikfeldern wurde deutlich ausgebaut. Unterschiedlich entwickelt haben sich die Visionen beider Länder hinsichtlich ihrer jeweiligen Einbindung in das internationale System. Während 174

Brasilien mit dem Anspruch auftritt, als südamerikanische Regionalmacht einen wachsenden Beitrag zur Gestaltung seiner regionalen und internationalen Umwelt zu leisten, schlug Argentinien während der Präsidentschaft von Carlos Menem einen außenpolitischen Kurs ein, der sich explizit auf die Verfolgung nationaler Interessen beschränkt und ansonsten um Konfliktvermeidung bemüht ist. Ein weiterer Unterschied zwischen beiden Ländern betrifft die Wahrnehmung der USA und die Haltung gegenüber der US-Politik. Während Brasilien auf die Bewahrung nationaler Autonomie Wert legt und zur offenen Formulierung eigener, auch mit denen der USA konfligierender Interessen bereit ist, sucht ein großer Teil des außenpolitischen Establishments in Argentinien unter Präsident De la Rua weiterhin die Nähe zu den USA und ist darum bemüht, auch bei Interessendivergenzen so diskret wie möglich gegenüber Washington aufzutreten.

3. Zwischen Mercosur und ALCA Die Beziehungen zwischen Argentinien und Brasilien wurden seit der Gründung des Mercosur stark durch den jeweiligen Zustand des Integrationsprozesses geprägt. Nach erfolgreichen ersten Jahren machte sich innerhalb des Bündnisses in der zweiten Hälfte der 90er Jahre Krisenstimmung breit. Seit der starken Abwertung der brasilianischen Landeswährung Real zu Beginn des Jahres 1999 nahmen die Probleme weiter zu, ein Handelskonflikt jagte den anderen. Trotz der aus argentinischer Perspektive positiven Handelsbilanz mit Brasilien protestierten einzelne Sektoren der argentinischen Wirtschaft wiederholt, weil sie sich der Last des Wettbewerbs nicht gewachsen sahen oder Eintrittsbarrieren von Seiten des brasilianischen Marktes anprangerten. Mal ging es um Schuhe, ein anderes Mal um Zucker, Papier, Textilien oder Milch. Auf Grund des Fehlens funktionierender Streitschlichtungsmechanismen mussten sich die politischen Führungen der beiden Länder immer wieder persönlich um die Beilegung der Streitfalle bemühen. Solange der politische Wille zur Fortfuhrung des Integrationsprozesses vorhanden war, gelang dies auch. Aber je mehr sich die Krisen innerhalb des Mercosur häuften, desto deutlicher wurde auch, dass die wechselseitige Eliminierung der Zölle in der ersten Hälfte der 90er Jahre zwar ein erfolgreiches Instrument zur Steigerung des regionalen Handels war, aber mit Integration nur ansatzweise etwas zu tun hatte. Die Integrationsdefizite - vor allem das Fehlen von Gemeinschaftsinstitutionen mit angemessenen Kompetenzen und die Stagnation hinsichtlich der Harmonisierung von Sektorpolitiken sowie bei der Vereinheitlichung der wirtschaftlichen, sozialen und arbeitsrechtlichen Rahmenbedingungen in den einzelnen Ländern - wurden um so gravierender, j e mehr der politische Enthusiasmus für den Mercosur nachließ. Alle vier Mitgliedsländer zeigten in den vergangenen Jahren wachsende Bereitschaft, gegen Geist und Buchstaben der vertraglich eingegangenen Verpflichtungen zu verstoßen, wenn sie sich dadurch Vorteile für die eigene Position erhofften. 175

Die Allianz-Regierung versprach in ihrem Wahlprogramm Ei Gran Cambio (www.ipa.org.ar/nuevo/plataforma.htm) eine Vertiefung des Integrationsprozesses im Rahmen des Mercosur. Dieser sei nicht nur ein Sprungbrett zum Weltmarkt, sondern eine wahrhafte Gemeinschaft von Nationen, die ihr Schicksal gemeinsam in die Hand nehmen wollten. Der Mercosur müsse weiter konsolidiert und schrittweise um andere Länder erweitert werden. Dabei gehe es nicht um einen simplen Markt, sondern um eine südamerikanische Gemeinschaft mit gemeinsamen Gesetzen und Institutionen. Besonderes Augenmerk wollte die Allianz-Regierung der Harmonisierung der Steuer-, Geld- und Wechselkurspolitiken innerhalb des Mercosur widmen. Kaum etwas von diesen Plänen konnte in den ersten beiden Regierungsjahren verwirklicht werden, auch wenn Präsident De la Rüa und Außenminister Rodriguez Giavarini in offiziellen Stellungnahmen regelmäßig auf die Bedeutung des Mercosur für Argentinien hinwiesen, sich um ein gutes Verhältnis zum wichtigsten Mercosur-Partner Brasilien bemühten und dafür plädierten, nicht so sehr die unterschiedlichen taktischen Vorgehensweisen der Mercosur-Partner zu betonen, sondern stärker auf die tiefgreifenden strategischen Gemeinsamkeiten hinzuweisen und die politische, strategische, kulturelle, wirtschaftliche und handelspolitische Integration im Rahmen des Mercosur zu vertiefen {Clarin, 6.12. 2000). Nicht alle Mitglieder des Kabinetts teilten diese Position. Bereits der erste Wirtschaftsminister der Allianz-Regierung, José Luis Machinea, galt nicht unbedingt als Freund des Mercosur. Machinea wollte Brasilien dazu zwingen, die Zölle stärker zu senken. Der durchschnittliche Außenzoll des Mercosur von gegenwärtig ca. 14% müsse deutlich gesenkt werden, innerhalb der kommenden drei Jahre auf höchstens 10%. Machineas nur zwei Wochen amtierender Nachfolger Ricardo Lopez Murphy warnte davor, sich allzu sehr von Brasilien vereinnahmen zu lassen und dessen Strategie einer Vertiefung und Erweiterung des Mercosur bedingungslos zu folgen. Noch kritischer wurde die Position des Wirtschaftsministeriums gegenüber dem Mercosur ab März 2001 mit der erneuten Übernahme dieses Amtes durch Domingo Cavallo, der das Ministerium bereits unter Präsident Menem in der ersten Hälfte der 90er Jahre geleitet hatte. Cavallo traf unmittelbar nach seinem Amtsantritt eine Reihe von unilateralen und nicht mit den Mercosur-Partnern abgestimmten Entscheidungen, die sich negativ auf deren Zugangsmöglichkeiten zum argentinischen Binnenmarkt auswirkten. Auch verbal warnte der mit seinen Worten nicht eben zimperliche Cavallo wiederholt davor, der Mercosur dürfe sich nicht in eine Zwangsjacke verwandeln, die die einzelnen Länder daran hindere, die für ihre Entwicklung notwendigen handelspolitischen Maßnahmen zu treffen. Im Zentrum seiner Kritik stand wiederholt der gemeinsame Außenzoll des Mercosur. So wie das Bündnis gegenwärtig funktioniere, helfe es der argentinischen Wirtschaft nicht. Man brauche eine Freihandelszone, aber keine Zollunion. Bis 1994 habe der Mercosur gut funktioniert, aber dann habe man in Ouro Preto den Fehler begangen, sich auf 176

die Errichtung einer Zollunion einzulassen. Argentinien verfuge jedoch über eine ganz andere Industriestruktur als Brasilien, deshalb sei eine einheitliche Zollstruktur nicht hilfreich. Vorbild für Argentinien müsse vielmehr der chilenische Weg sein, möglichst viele bilaterale Freihandelsabkommen auszuhandeln (La Nación Online, 6.5.2001). Derartige Ansichten äußerte Cavallo zwar nicht als Wirtschañsminister, sondern explizit als Intellektueller, beispielsweise im Gespräch mit Harvard-Studenten oder in seinem neuesten Buch, aber selbstverständlich stießen auch die „privaten" Ansichten des „Superministers" Cavallo auf ein breites Echo. Auch in offiziellen Äußerungen verstand es Cavallo wiederholt, vor allem den großen Nachbarn Brasilien zu erzürnen. Auf einem Mercosur-Treffen in Buenos Aires im Mai 2001 sprach er - ohne Brasilien direkt zu erwähnen - davon, abzuwerten bedeute, den Nachbarn zu berauben (devaluar es robarle a! vecino). Nur wenige Wochen zuvor hatte er brasilianischen Spekulanten vorgeworfen, für die Instabilität der argentinischen Märkte und Staatstitel verantwortlich zu sein. Derartige Äußerungen Cavallos führten sogar dazu, dass der brasilianische Staatspräsident Cardoso einen für das Frühjahr 2001 vorgesehenen Staatsbesuch in Argentinien verärgert absagte (La Nación Online, 27.4.2001). Aufgrund der herausgehobenen Stellung Cavallos innerhalb des Kabinetts von Präsident De la Rúa ist kaum damit zu rechnen, dass unter einem Wirtschañsminister Cavallo von argentinischer Seite große Anstrengungen im Hinblick auf eine wirksame Vertiefung des Integrationsprozesses im Rahmen des Mercosur unternommen werden. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass Präsident und Außenminister offiziell eine andere Position vertreten und Außenminister Rodríguez Giavarini vor dem Quebec-Gipfel betonte, Argentinien sei in einer völlig anderen Situation als Mexiko, denn es verfuge nicht über eine gemeinsame Grenze mit den USA. Direkte Nachbarn und wichtigste Partner Argentiniens seien Brasilien, Chile, Uruguay und Paraguay (darin, 6.2.2001). Die Position Argentiniens gegenüber der ALCA muss im Zusammenhang mit der Krise des Mercosur und mit der Wahrnehmung dieser Krise sowie der Rolle Brasiliens durch die argentinische Politik gesehen werden. Eine gemeinsame Haltung Argentiniens und Brasiliens gegenüber dem ALCA-Prozess wird grundsätzlich dadurch erschwert, dass die Asymmetrien zwischen beiden Ländern in den vergangenen Jahren weiter zugenommen haben. Insbesondere die Industrie und die sie repräsentierenden Interessengruppen verfugen in der brasilianischen Wirtschaft und Politik über ein weitaus größeres Gewicht als die entsprechenden Sektoren in dem inzwischen stark deindustrialisierten Argentinien. Ähnliche Interessen verfolgen beide Länder im Bereich der agroindustriellen Produktion, wo die gegenwärtigen Zölle, Quoten und Anti-Dumping-Bestimmungen den Export in die USA erheblich erschweren. In diesem Bereich gibt es ein gemeinsames Interesse Argentiniens und Brasiliens an einer Senkung der US-Subventionen und einem Abbau der nichttarifären Handelshemmnisse. Auch die Positionen der beiden Länder hinsichtlich der von der US-Regierung und 177

vielen nordamerikanischen NGOs geforderten Berücksichtigung von arbeitsrechtlichen und Umweltstandards im Rahmen eines möglichen Freihandelsabkommens sind ähnlich (ablehnend). Divergierende Interessen bestehen bei Dienstleistungen und beim öffentlichen Beschaffungswesen. In beiden Bereichen ist Argentinien eher zu einer Öffnung bereit als Brasilien. Im Hinblick auf das Procedere der ALCA-Verhandlungen besteht in zweierlei Hinsicht Einigkeit zwischen Argentinien und Brasilien: Beide Länder lehnen eine simple Ausdehnung der NAFTA nach Süden ab, und beide Regierungen treten dafür ein, dass für die Verhandlungen das Prinzip des Single undertaking zu gelten habe. Mit dieser Position - dass erst dann ein Abkommen unterzeichnet werden kann, wenn in allen Punkten Übereinstimmung erzielt wurde - setzten sie sich bei dem ALCA-Ministertreffen in Belo Horizonte 1997 gegenüber den USA durch, die sich für Verhandlungen nach dem Prinzip des early hcirxest ausgesprochen hatten. Darüber hinaus besteht aber auch eine Reihe von Meinungsunterschieden hinsichtlich des ALCA-Prozesses. Für argentinische Außenpolitiker waren und sind die Freihandelsangebote aus dein Norden (ALCA, EU-Mercosur) sowie die Vertiefung und Erweiterung des Mercosur komplementäre Prozesse, die es parallel voranzutreiben gelte. Argentinien hatte von Ende 1999 bis April 2001 die Präsidentschaft pro tempore der ALCA-Verhandlungen inne und war im Vorfeld des Quebec-Gipfels darum bemüht, die in den vergangenen Jahren erzielten Verhandlungsfortschritte zu unterstreichen. Außenminister Rodriguez Giavarini vertrat Anfang Februar 2001 die Ansicht, man habe alle technischen Voraussetzungen dafür geschaffen, dass die ALCA vor dem ursprünglich geplanten Termin beginnen könne. Die argentinische Regierung sei fiir ein Vorrücken der Termine, wenn die inhaltliche Qualität der Abkommen nicht darunter leide ( d a r i n , 4.2.2001). Derartige Äußerungen wurden im Vorfeld des Quebec-Gipfels als Zustimmung zu den Plänen der US-Regierung gewertet, den ursprünglich für das Jahr 2005 geplanten Abschluss der Freihandelsverhandlungen auf 2004 oder sogar 2003 vorzuziehen. Dagegen lehnte die brasilianische Regierung ein Vorziehen des Termins stets ab und konnte sich mit dieser Position auch in Quebec durchsetzen. Politische und ökonomische Gründe sind dafür verantwortlich, dass Brasilien keine Eile mit dem Projekt ALCA hat. In politischer Hinsicht konkurriert eine rasche Einordnung in das von den USA initiierte und von der Regierung George W. Bush zum Kernpunkt ihrer Lateinamerikastrategie erklärte Projekt einer gesamtamerikanischen Freihandelszone mit der angestrebten Regionalmachtrolle Brasiliens, wie sie zuletzt in der brasilianischen Einladung zu einem Treffen der südamerikanischen Präsidenten in Brasilia, Ende August 2000, zum Ausdruck kam (Calcagnotto/Nolte 2000). In ökonomischer Hinsicht steht für Brasilien bei ALCA mehr auf dem Spiel als für alle anderen südamerikanischen Länder, denn es verfugt über die mit Abstand größte, am stärksten industrialisierte und diversifizierte Volkswirtschaft Lateinamerikas. Anders als Länder wie Argentinien, Kolum178

bien und Venezuela verlief die wirtschaftliche Entwicklung Brasiliens in den vergangenen Jahren trotz Problemen insgesamt erfolgreich und stabil. Ein gesamtamerikanisches Freihandelsabkommen würde von Brasilien einen deutlichen Abbau der nach wie vor hohen Schutzzölle für den Manufaktursektor und die ///gA-7ec7»-Industrie verlangen. Man wehrt sich gegen „überstürzte" Zollsenkungen, durch die diese Industrien in ihrer Existenz gefährdet werden könnten. Umgekehrt fordert Brasilien, das wie kaum ein anderes Land von den USamerikanischen Agrarsubventionen und den Anti-Dumping-Maßnahmen der USA bei Produkten wie Zucker, Zitrusfrüchten oder Stahl betroffen ist, einen verbesserten Marktzugang für eigene Produkte in den USA. Gleichzeitig ist Brasilien weniger auf einen Zugang zum US-Markt angewiesen als viele andere lateinamerikanische Länder, denn es konnte seinen Außenhandel auch in geographischer Hinsicht stark diversifizieren: jeweils etwa ein Viertel des Außenhandels wurde 1999 mit der Europäischen Union, Südamerika und der NAFTA abgewickelt, ca. 12% entfielen auf Asien. Die brasilianische Delegation legte in Quebec großen Wert auf die Feststellung, dass man nicht gegen die ALCA sei, aber einer Vertiefung und Erweiterung des Mercosur eindeutig Priorität einräume. Der Mercosur sei das Schicksal seines Landes, ALCA dagegen lediglich eine Option, meinte der brasilianische Staatspräsident Cardoso. Diese Position ist insofern konsequent, als Brasilien den Vertrag von Asunción und die Gründung des Mercosur stets als ersten Schritt auf dem Weg zu einer Südamerikanischen Freihandelszone (ALCSA) betrachtet hatte. Das US-amerikanische Angebot einer Gesamtamerikanischen Freihandelszone bewertet man dagegen in seiner bisher absehbaren Ausrichtung nicht nur als einseitig zum Vorteil der USA konzipiert, man sieht sich dadurch auch mit einem Zeitdruck konfrontiert, den man nicht zu akzeptieren bereit ist. Fernando Henrique Cardoso machte daher in Quebec deutlich, dass man die ALCA nur dann als sinnvoll erachte, wenn alle Beteiligten davon profitierten. Nur wenn die USA zu ernsthaften Zugeständnissen bei den Themen Agrarsubventionen, Quoten und nichttarifare Handelshemmnisse bereit seien, sei ein erfolgreicher Abschluss der Verhandlungen möglich. Innerhalb des Mercosur machte sich die brasilianische Regierung stets dafür stark, dass die vier Mitgliedsländer bei den ALCA-Verhandlungen mit einer Stimme sprechen. Die prozeduralen Voraussetzungen dafür wurden bei dem ALCA-Ministertreffen in Belo Horizonte 1997 geschaffen, als man sich darauf einigte, dass alle beteiligten Länder sowohl einzeln als auch als Gruppe an den Verhandlungen teilnehmen können. Auf dem Mercosur-Gipfeltreffen in Florianópolis im Dezember 2000 stimmten alle vier Länder einer Vorlage zu, die eine einheitliche Verhandlungsposition des Mercosur im Rahmen des ALCA-Prozesses vorschreibt. Darüber hinaus einigte man sich darauf, dass ab Juli 2001 kein Mercosur-Mitglied bilaterale Freihandelsverhandlungen mit einem anderen Land beginnen dürfe. Hintergrund dieser Beschlüsse war die kurz vor dem Gipfeltreffen bekannt gewordene Entscheidung Chiles, sich auf das US-amerika179

nische Angebot zur Aufnahme bilateraler Freihandelsgespräche einzulassen. Das mit dem Mercosur assoziierte Chile zog sich mit diesem überraschenden Schritt nicht nur den Zom der Mercosur-Mitglieder, vor allem Brasiliens, zu und erteilte einer vollständigen Integration in den Mercosur zunächst eine Absage, es gab damit auch Spekulationen neue Nahrung, dass Argentinien sich für einen ähnlichen Weg entscheiden und damit aus der gemeinsamen Verhandlungsfront des Mercosur ausscheiden könnte. Im argentinischen Außenministerium bemühte man sich zwar darum, entsprechenden brasilianischen Befürchtungen entgegen zu treten, aber die Gerüchteküche brodelte immer wieder hoch. Die damalige US-Handelsbeauftragte Charlene Barshefsky hatte im Dezember 2000 nicht ausgeschlossen, dass die USA mit Argentinien ein ähnliches bilaterales Freihandelsabkommen wie mit Chile aushandeln könnten (darin, 13.12.2000). Die argentinische Regierung äußerte sich dazu ablehnend und betonte, man werde nur als Mercosur-Mitglied verhandeln. Diese Position vertrat Außenminister Rodríguez Giavarini auch bei einem Treffen mit seinem US-amerikanischen Amtskollegen Powell Anfang Februar 2001. Nach dem Quebec-Gipfel war dann jedoch erneut von einem Angebot der US-Regierung zur Aufnahme bilateraler Freihandelsgespräche an die Adresse Argentiniens die Rede. Erneut sprach sich die argentinische Regierung gegen ein derartiges Angebot aus, wobei der neue Wirtschaftsminister Cavallo durchblicken ließ, dass er bilaterale Verhandlungen für den richtigen Weg halte. Nach der von den argentinischen Medien groß aufgemachten und als eine Entscheidung im Sinne der nationalen Souveränität dargestellten Absage an die Adresse Washingtons folgte von dort das Dementi auf dem Fuß: Die US-Regierung ließ verlauten, dass es nie ein entsprechendes Angebot gegeben habe. Die Regierung George W. Bush habe keinem lateinamerikanischen Land ein bilaterales Freihandelsabkommen vorgeschlagen. Zwar werde mit Chile über einen derartigen Vertrag verhandelt, aber der Vorschlag dazu stamme noch von der Regierung Clinton (La Nación Online, 9.5.2001 und 10.5.2001). Das Spiel der USA mit Angeboten, Rückziehern und Dementis dürfte letztendlich Teil einer Strategie sein, bei der es insbesondere darum geht, das ALCA-kritische Brasilien unter Druck zu setzen und eine einheitliche Verhandlungsfront des Mercosur so weit wie möglich aufzuweichen. Möglich werden derartige Manöver jedoch nicht zuletzt deshalb immer wieder, weil die argentinische Haltung gegenüber ALCA und Mercosur alles andere als eindeutig ist. Eine weitere Verhandlungsvariante, die zu einer Ergänzung, aber auch zu einer Konkurrenz für den ALCA-Prozess werden könnte, gewann ab Mai 2001 an Bedeutung. Dabei geht es um nach der Formel „vier plus eins" organisierte direkte Freihandelsgespräche zwischen dem Mercosur und den USA, ohne Beteiligung anderer NAFTA-Mitglieder oder anderer lateinamerikanischer Länder. Die Vertreter der vier Mercosur-Länder einigten sich anlässlich des 20. Treffens der Mercosur-Staatschefs in Paraguay im Juni 2001 darauf, eine derartige Variante ernsthaft zu verfolgen und bei entsprechenden Verhandlungen mit einem gemeinsamen Unterhändler aufzutreten. Eine derartige Vorgehensweise könnte 180

für alle Beteiligten ein akzeptabler Weg sein, allerdings lassen sich Argentinien und Brasilien auch dabei von unterschiedlichen Vorstellungen hinsichtlich des Zeithorizonts solcher Gespräche leiten. Während Argentinien sie so schnell wie möglich anstrebt, da es sie als möglichen Ausweg aus der gegenwärtigen nationalen und subregionalen Krise betrachtet, sieht Brasilien darin eher eine mittelbis langfristige strategische Option. Zudem ist gegenwärtig nicht klar, ob die USA dazu bereit sind, sich auf eine derartige Verhandlungsvariante einzulassen {La Nación Online, 25.5.2001 und 22.6.2001).

4. Perspektiven Zum Zeitpunkt der Abfassung des vorliegenden Beitrags (Juli 2001) ist es alles andere als einfach, Szenarien hinsichtlich der zukünftigen Entwicklung Argentiniens zu entwerfen. Die wirtschaftliche, soziale und politische Krise des Landes hat sich in den vergangenen Wochen und Monaten derart zugespitzt, dass kaum jemand zu prognostizieren wagt, welche Überraschungen am kommenden Tag drohen, ganz zu schweigen von Aussagen über die mittel- bis langfristige Entwicklungsperspektiven. Die argentinische Wirtschaft befindet sich seit drei Jahren in einer tiefgreifenden Rezession, die Arbeitslosenquote stieg im Frühjahr 2001 nach einer vorübergehenden Erholung wieder auf über 16%, in- und ausländische Anleger haben das Vertrauen in die Politik der Regierung De la Rúa weitgehend verloren. Auch dem als „Retter" im März 2001 ins Kabinett geholten und mit weitreichenden Sondervollmachten ausgestatteten Wirtschaftsminister Domingo Cavallo gelang es im ersten Vierteljahr seiner Amtszeit nicht, die Wirtschaft wieder auf Kurs zu bringen. Cavallo initiierte eine Flexibilisierung der seit 1991 geltenden Peso-Dollar-Konvertibilität und führte einen gesplitteten Wechselkurs ein, der die argentinische Exportwirtschaft konkurrenzfähiger machen und den Import von Konsumgütern verteuern sollte. Hintergrund dieser Entscheidung war nicht zuletzt die Tatsache, dass der brasilianische Real allein im ersten Halbjahr 2001 fast ein Viertel seines Wertes eingebüßt hatte und auch die Landeswährungen der Mercosur-Partner Paraguay und Uruguay wiederholt abgewertet worden waren. Trotz eines durch den IWF geschnürten finanziellen Hilfspaketes in Höhe von fast US$ 40 Mrd. und wiederholter Umschuldungsaktionen bewegte sich das stark überschuldete Argentinien seit Anfang des Jahres 2001 ständig am Rande der Zahlungsunfähigkeit. Ihren vorläufigen Höhepunkt erreichte die Krise im Juli 2001, als sich die Regierung De la Rúa zum siebten Mal seit ihrem Amtsantritt dazu veranlasst sah, ein wirtschaftspolitisches Maßnahmenbündel anzukündigen. Im Rahmen einer Strategie des „Nulldefizits" werde der Staat in Zukunft nur noch so viel ausgeben, wie er einzunehmen vermag, wozu unter anderem eine Kürzung aller vom Staat zu zahlenden Gehälter und Renten um zunächst 13% monatlich als notwendig erachtet wurde. Trotz dieser drastischen Sparmaßnahmen sanken die Aktienkurse an der Börse von Buenos Aires zunächst 181

weiter, und das Länderrisiko - ein wichtiger Gradmesser für das Vertrauen bzw. Misstrauen der internationalen Finanzwelt in ein Land - stieg auf mehr als 1.600 Punkte, womit Argentinien hinter Nigeria als weltweit risikoreichstes Anlageziel eingestuft wurde. Die Probleme der Regierung De la Rúa sind jedoch nicht nur ökonomischer und sozialer, sondern nicht zuletzt auch politischer Natur. Es handelt sich um die erste Koalitionsregierung überhaupt in der argentinischen Geschichte. Sie verfügte von Anfang an nur über eine knappe Mehrheit im Abgeordnetenhaus und sah sich mit einer oppositionellen Mehrheit im Senat sowie mit von der Opposition gestellten Gouverneuren in den meisten Provinzen konfrontiert. Zudem stellte sich sehr schnell heraus, dass der interne Zusammenhalt des Regierungsbündnisses äußerst schwach und kaum belastbar war. Zu allem Übel erwies sich Fernando De la Rúa als entscheidungsunwilliger, misstrauischer und schwacher Präsident, der nicht einmal auf die Unterstützung seiner eigenen Partei zählen konnte. Der Kolumnist der Tageszeitung „La Nación", Joaquín Morales Sola, beschrieb den Präsidenten in einem mit „Der unsichtbare Präsident" betitelten Gastbeitrag fiir die spanische Tageszeitung El País unter anderem mit den Worten, De la Rúa kultiviere einen unbestimmten Sprachstil, der gespickt sei mit Phrasen. Man wisse bei ihm nie, ob er wirklich das sage, was er denke, ob es sich lediglich um die halbe Wahrheit handle, oder ob man bewusst in die Irre geführt werden solle (El País, 15.7.2001). Diese Ambivalenz des präsidialen Stils hat sich auch auf die Außenwirtschaftspolitik übertragen und mit dafür gesorgt, dass es schwer ist. Aussagen über die zukünftige Haltung Argentiniens gegenüber Mercosur und ALCA zu treffen. Grundsätzlich will man sich beide Optionen offen halten. Einerseits spricht man von der Notwendigkeit, den Mercosur zu stärken, gleichzeitig ist man einer Beschleunigung des ALCA-Prozesses nicht abgeneigt. Man bemüht sich, ein Gleichgewicht zu halten zwischen der Allianz Pro-Mercosur mit Brasilien und einer Allianz Pro-ALCA mit den USA. Dies wurde auch beim ersten Besuch des neu ernannten brasilianischen Außenministers Celso Lafer in Buenos Aires Anfang Februar 2001 deutlich, als man alles tat, um Einigkeit zu demonstrieren und Konflikte herunterzuspielen. Je mehr es jedoch im Zuge des ALCA-Prozesses zu Konflikten zwischen Brasilien und den USA kommt, desto mehr wird auch Argentinien eine eindeutigere Position beziehen müssen. Gegenwärtig erklärt die Regierung in offiziellen Stellungnahmen ihre Verbundenheit gegenüber dem Mercosur und lässt gleichzeitig zu, dass die Handlungen und Aussagen von Wirtschaftsminister Cavallo immer wieder zu Unsicherheit und Verärgerung bei den Mercosur-Partnern führen. Auf die Dauer kann eine derartige Position dazu führen, dass sich Argentinien zwischen alle Stühle manövriert. Die argentinische Haltung gegenüber Mercosur und ALCA ist auch durch die allgemeinere Diskussion darüber geprägt, wie der wachsende politische und wirtschaftliche Einfluss Brasiliens in Südamerika grundsätzlich zu beurteilen ist 182

und wie man darauf reagieren sollte. Eine Sichtweise betrachtet den Machtzuwachs Brasiliens in der Region als ein Positivsummenspiel, von dem auch Argentinien profitiere. Verfechter einer derartigen Position weisen daraufhin, dass das bilaterale Verhältnis zwischen Argentinien und Brasilien durch die Ernennung Celso Lafers zum brasilianischen Außenminister im Frühjahr 2001 einen positiven Schub erhalten habe. Lafer gilt als argentinienfreundlich, schon 1973 veröffentliche er zusammen mit dem argentinischen Sozialwissenschaftler Felix Peña das Buch Argentina y Brasil en el sistema de ¡as relaciones internacionales, in dem beide die Notwendigkeit einer Integration zwischen beiden Ländern betonten. Lafer, so der argentinische Politologe Torcuato di Telia, sei nicht nur einer der angesehensten Intellektuellen Brasiliens, sondern auch ein hervorragendes Mitglied jener politischen Elite Brasiliens, die man in Argentinien aus gutem Grund nicht ohne Neid betrachte. Die brasilianischen Interessen seien mit denen Argentiniens durchaus kompatibel, denn Brasilien könne im internationalen Kontext nicht allein agieren. Es brauche Partner, und um diese bei der Stange zu halten, müsse es zu Konzessionen bereit sein. Da Brasilien in Südamerika einen „geopolitischen Raum" schaffen wolle, müsse und werde es weitreichende Zugeständnisse machen, um die Zustimmung seiner Nachbarn zu erhalten (Clarín, 4.2.2001). Es gibt aber auch Stimmen, die vor einer wachsenden Abhängigkeit Argentiniens von Brasilien warnen und sich dafür aussprechen, den Schulterschluss mit den USA fortzusetzen und die ALCA-Verhandlungen oder gar ein bilaterales Freihandelsabkommen mit den USA zügig voranzutreiben. Prominentester, aber nicht einziger Befürworter einer derartigen Position ist der amtierende Wirtschaftsminister Cavallo. Demgegenüber vertrat der ehemalige SELA-GeneralSekretär Carlos Moneta vor kurzem die Ansicht, dass alle internationalen Optionen Argentiniens von der Mitgliedschaft im Mercosur abhängen. Es nutze Argentinien kaum etwas, die „Hände frei zu haben" fiir die Aushandlung von Freihandelsabkommen, denn wenn es nur für sich allein spreche, fehle ihm auf der internationalen Bühne das notwendige Gewicht. Moneta warnte davor, den Mercosur vorzeitig abzuschreiben und auf „magische Lösungen" zu hoffen (www. mercosur.com, 6.6.2001). „Chile hat uns eine Lektion erteilt", schrieb der argentinische Ökonom Roberto Bouzas nach der Ankündigung von Freihandelsverhandlungen zwischen den USA und Chile im Dezember 2000. Bouzas bezog sich dabei nicht auf die Frage, in welche Richtung sein eigenes Land marschieren solle, sondern darauf, wie dies geschehen müsse. Er plädierte für eine konsistente Politik, die auf einer realistischen Einschätzung der eigenen Möglichkeiten und Grenzen basiere. Innerhalb des Mercosur müsse man sich nicht nur endlich darüber einigen, in welche Richtung sich der Prozess mittel- bis langfristig bewegen solle, es müsse auch eine Kraft geben, die dabei eine Führungsrolle übernehme. Brasilien falle aufgrund seiner Größe eine besondere Verantwortung zu. Allerdings müsse Argentinien auch wesentlich stärker als in der Vergangenheit dazu bereit sein, eine 183

Führungsrolle Brasiliens zu akzeptieren (Clarín, 21.12.2000). Die Bereitschaft dazu scheint zumindest gegenwärtig in Argentinien nicht besonders weit verbreitet zu sein.

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Harald Barrios

Die regionale Dimension der externen Strategie Chiles 1. Außenpolitik im Interesse des chilenischen Entwicklungspfades Die chilenische Außenpolitik zeichnet sich seit der Rückkehr des Landes zur Demokratie durch eine bemerkenswerte Konsistenz aus (vgl. ausfuhrlich Barrios 1994; 1999a).* Es lässt sich zeigen, dass sie über das vergangene Jahrzehnt hinweg zielgerichtet, absichtsvoll und folgerichtig zur externen Abstützung und Absicherung des eingeschlagenen Entwicklungsweges eingesetzt worden ist. Damit soll keineswegs behauptet werden, dass die entwicklungsstrategische Orientierung die einzige Quelle der chilenischen Außenpolitik sei. Vielmehr nährt sich diese auch aus einer langen Tradition starker Institutionalisierung und wird u.a. bestimmt durch historische Bindungen und langfristige Restriktionen, beispielsweise durch die besonderen geographischen Gegebenheiten (van Klaveren 1989; Fermandois 1990; Heine 1993; Barrios 1999a). Dass ausgerechnet die chilenische Außenpolitik eine grand strategy aufweist, erklärt sich jedoch dadurch, dass die heutige, von einem breiten gesellschaftlichen Konsens getragene Entwicklungsstrategie Chiles eine dominante externe Dimension besitzt (García/Rivera/Vega 1994; Messner/Scholz 1996). Die fortwährende Steigerung chilenischer Ausfuhren ist Voraussetzung eines für die Entwicklung des Landes unabdingbaren, längerfristigen Wachstumsprozesses. Eine dauerhafte Abschwächung des exportgestützten Wachstums würde den erwähnten entwicklungsstrategischen Konsens nicht unberührt lassen. Dieser hat sich erst nach einer jahrzehntelangen ideologischen Konfrontation, die mit hohen Opfern verbunden war, finden lassen (Nohlen 1973; Nohlen/Nolte 1995). Seine innere Logik und Kohärenz erlauben es heute kaum, tiefgreifende Änderungen vorzunehmen, ohne zugleich die Fundamente des politischen Ausgleichs, der Mäßigung und des Konsenses anzutasten, die für das postautoritäre Chile Ich danke meinen Mitarbeitern Michael Rösch und Dana de la Fontaine fiir wertvolle Hinweise.

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konstitutiv sind. Insofern kommt den externen Politiken, die hier unter dem Begriff der „Außenpolitik" subsummiert werden (den ich andernorts definiert habe, vgl. Barrios 1999a: 28ff.), im chilenischen Fall eine Schlüsselstellung bezüglich des Entwicklungserfolges und der Demokratiestabilisierung zu. Lassen Sie uns in aller Kürze die essentiellen Bestandteile der chilenischen Entwicklungsstrategie rekapitulieren: • • • • • • •



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unilaterale Öffnung der Volkswirtschaft nach außen - ein Prozess, der die interne Wirtschaftsstruktur tiefgehend transformiert hat; Entwicklung über die Transnationalisierung der chilenischen Wirtschaft und die Einbindung in den Weltmarkt.; exportgeleitetes Wachstum; zielgerichtetes Aufspüren von Weltmarktnischen und deren konsequente Nutzung; Diversifizierung des Außenhandels nach Partnern und Produkten; direkte Inwertsetzung natürlicher Ressourcen (z.B. Wälder, Anbaufläche); Streben nach einer „zweiten Exportphase" mit einem steigenden Anteil verarbeiteter Produkte, um durch höhere Wertschöpfung die Exportstrategie nachhaltiger zu gestalten (Bisher exportierte man in die Industrieländer und in den asiatisch-pazifischen Raum vorwiegend Primärgüter, in Lateinamerika suchte man Märkte zum Absatz von Gütern einer höheren Verarbeitungsstufe sowie für Direktinvestitionen und den Dienstleistungsexport.); hoher externer Kapitalzufluss, vor allem in Form von Direktinvestitionen zum Ausbau der Infrastruktur und zum Import von neuen Technologien (Produkt- und Prozessinnovationen); anhaltend hohe Wachstumsraten und makroökonomische Stabilität als Mittel der weiteren Modernisierung des Landes; Entschärfung sozialer und politischer Konfliktpotentiale durch annähernden Konsens über die Entwicklungsstrategie.

Die chilenischen externen Politiken tragen diesen genannten Charakteristika auf verschiedenen Ebenen Rechnung: Zum einen setzt Chile seinen Weg der unilateralen Öffnung fort. 1991 wurde der einheitliche Zoll von 15 auf 11 Prozent gesenkt. Bis 2003 soll er auf 6 Prozent (2001: 8 Prozent) reduziert werden (vgl. DIRECON 2001). Auf globaler Ebene, die institutionell von der WTO repräsentiert wird, drängt Chile aktiv auf verbesserte Mechanismen zur Sicherstellung allgemeiner Liberalisierung und auf entsprechende Regeleinhaltung aller Beteiligten. Zwischen diesen beiden Ebenen, der unilateralen und der globalen, sind die bilateralen und multilateralen Handelsabkommen angesiedelt. Deren Ziele sind: 1. dort für Marktöffnung zu sorgen, wo keine oder kaum unilaterale Liberalisierung stattfindet und die globalen Mechanismen (noch) nicht greifen; 2. die Transaktionskosten (z.B. unvollständige Information über fremde Märkte, unvorhergesehenes Akteursverhalten) zu senken, die eine volle Nutzung der unilateralen Öffnung beeinträchtigen (vgl. Säez/Valdes 1999). 186

Bezüglich der regionalen Integrationsbestrebungen favorisiert Chile einen „offenen Regionalismus" (CEPAL 1994), der nicht zu einer kontinentalen Blockbildung führt, sondern ein Mittel der Weltmarkteinbindung darstellt. Regional erweiterte Binnenmärkte dienen gewissermaßen als Spielwiese, d.h. als Testfeld zur Entwicklung von economies of scale, zu verbesserten Kostenstrukturen der Unternehmen, um diese fit für die scharfe Konkurrenz auf dem Weltmarkt zu machen (vgl. u.a. Sangmeister 1999: 36). Wohlgemerkt: Chile sieht dies als wünschenswert für die Nachbarländer in Lateinamerika an. Man selber, so die Einschätzung, muss an dieser Phase der Entwicklung von Wettbewerbsfähigkeit deswegen nicht teilnehmen, weil die eigene Wirtschaft ja bereits in hohem Maße weltwirtschaftlich integriert ist; zwar bisher nicht auf einem hohen industriellen und technologischen Niveau, aber in einer Form, die nicht ohne weiteres revidierbar ist, denn die jetzige optimale Nutzung der bestehenden komparativen Vorteile und Weltmarktnischen bedeutet, dass jede Kursänderung kurzfristig mit empfindlichen Einbußen an externen Zuflüssen bezahlt werden müsste. Es liegt auf der Hand, dass die Dauer des Erfolges auf diesem Entwicklungsweg nicht nur von Chile abhängt, sondern auch von den Mitspielern auf dem internationalen Spielfeld. Entsprechend versuchen die chilenischen policy-maker der Verwundbarkeit des chilenischen Wachstumskurses (die Exportchancen sind beispielsweise stark von den Preisentwicklungen auf den externen Märkten beeinflusst) entgegenzuwirken, u.a. dadurch, dass sie eine Verfeinerung der bereits erreichten Diversifizierung nach Exportmärkten und Produktpaletten fordern. Die Konsequenz, mit der die sich ergebenden opportunities genutzt werden, erklärt sich auch daraus, dass Chile auf dem einmal eingeschlagenen Entwicklungspfad bereits ein gutes Stück vorangegangen ist. Eine Umkehr ist, wie gesagt, nicht ohne gewaltige Kosten möglich. Möglich scheint aber eine Weiterentwicklung des Modells, die kritische Analysen im Hinblick auf eine nachhaltigere Entwicklung fiir dringend geboten halten (Messner/Scholz 1996). Die chilenischen Prioritäten in der Handelspolitik, gleich ob in bilateralen oder multilateralen Verhandlungskonstruktionen, sind daher: 1. die Bewahrung der Offenheit seiner externen Märkte; 2. möglichst eine Optimierung des eigenen Zugangs zu diesen Märkten und 3. die Öffnung neuer Märkte, die bisher chilenischen Ausfuhren verschlossen waren. Hieraus ergibt sich, zunächst einmal nur generell und abstrakt gesprochen, dass Chile kein Interesse an solchen regionalen Vereinbarungen haben kann, die zu einer Reduzierung des Handelsaustausches mit anderen Weltregionen bzw. zu einer Erhöhung des Protektionsniveaus gegenüber extraregionalen Partnern fuhren. Deshalb wurde eine Rückkehr in die Andengemeinschaft, den früheren Andenpakt, den Chile 1976 verlassen hatte, auch nie in Erwägung gezogen (vgl. Barrios 1999a). Als einziger Beweggrund zur Teilnahme an einer Integrations187

Vereinbarung mit Abschließungseffekten käme in Frage, dass sonst ein bedeutender Markt verloren ginge, Chile also wählen müsste zwischen einer regionalen und einer globalen Option. Eine solche Entscheidungsnot ist jedoch momentan nicht gegeben und im Schema der gesamtamerikanischen Verhandlungen bisher auch nicht angelegt, trotz der US-amerikanisch/brasilianischen Divergenzen.

2. Chiles Verhältnis zum Mercosur Was bedeutet nun diese klare Interessenlage im Hinblick auf die chilenische Haltung gegenüber dem Mercosur? Auch nach dem Abschluss der Zollunion, die für Brasilien in den meisten Bereichen mit einer substantiellen Absenkung des Protektionsniveaus verbunden war, liegt der gemeinsame (nach Sektoren gestaffelte) Außenzoll des Mercosur deutlich höher als derjenige Chiles. Dies reflektiert die unterschiedlichen Entwicklungssituationen Brasiliens und Chiles. Während Brasilien versucht, eine gewisse industrielle Basis zu bewahren bzw. die Ergebnisse seines schnellen Industrialisierungsprozesses der 50er bis 80er Jahre auch unter stark gewandelten globalen Bedingungen teilweise zu retten, basiert der chilenische Entwicklungsweg, wie wir gesehen haben, auf der möglichst weiten unilateralen Öffnung seiner Wirtschaft nach außen, kombiniert mit einer Politik, die auf eine durch entsprechende Abkommen vereinbarte Marktöffnung anderer zielt. Während Brasilien versucht, einen gewissen, wenn auch niedrigen, Restschutz für seinen Kapitalgütersektor zu bewahren, ist Chile an einem kontinuierlichen Import von Kapitalgütern und Technologie interessiert. Eine Vollmitgliedschaft in der Zollunion des Mercosur wäre für Chile also mit einer Erhöhung der Zölle verbunden. Dies würde der Logik des chilenischen Entwicklungsprozesses zuwiderlaufen. Ferner verfügt der Mercosur über ein abgestuftes, d.h. nach Branchen unterscheidendes Zollregime. Chile dagegen hat ein einheitliches Niveau bei den nicht-präferentiell geregelten Zöllen. Mit anderen Worten: Chile müsste bei einem Vollbeitritt zur Zollunion des Mercosur mit erheblichem bürokratischen Aufwand sein gesamtes Zollregime ändern, was international unweigerlich als ein Schritt weg von der Liberalisierung gesehen würde. Chiles bislang lupenreiner Nimbus als vorbildlicher Fürsprecher der weltweiten Liberalisierung würde sich trüben. In bilateralen Freihandelsgesprächen ginge der eigene Vorsprung an Offenheit als Verhandlungsfaustpfand verloren. Zugleich aber sah es bis Mitte der 90er Jahre so aus, als könnte auch ein Nichtbeitritt zum Mercosur den chilenischen Interessen entgegenstehen. Beim Abschluss der Mercosur-Zollunion drohten die alles andere als unattraktiven Exportmärkte in unmittelbarer Nachbarschaft verloren zu gehen. Geographische Nähe jedoch ist weiterhin ein wichtiger Faktor beim Ausbau des Handels (Säez/ Valdes 1999). In diesem Fall wog dies um so schwerer, als Chile den Export in die lateinamerikanischen Nachbarländer zu nutzen versuchte, um den Anteil von verarbeiteten Produkten am Gesamtexport zu steigern. Darüber hinaus führte die 188

Erweiterung der Binnenmärkte durch den Zusammenschluss im Mercosur zu kostensenkenden economies of scale und verbesserten Absatzchancen der dort ansässigen Unternehmen, was verstärkt ausländische Direktinvestitionen anzuziehen versprach. Bei einer signifikanten und längerfristigen Steigerung des Intra-Handels im Mercosur war zudem mit einem erheblichen Bedarf an Investitionen zur Modernisierung der regionalen Infrastruktur zu rechnen. Aus chilenischer Sicht konnte man daher durchaus eine gewisse Umlenkung der ausländischen Direktinvestitionsströme zu Gunsten der Mercosur-Länder befürchten. Die chilenische Politik gegenüber dem Mercosur sah sich also in einem Dilemma: Einerseits lag und liegt eine Vollmitgliedschaft nicht im eigenen Interesse. Andererseits musste die chilenische Exportwirtschaft mit der Errichtung der Zollunion zum Jahresbeginn 1995 die genannten Abschließungseffekte fürchten. Eine Mercosur-Abstinenz Chiles drohte überdies Potentiale im Bereich des Exports von verarbeiteten Gütern und Dienstleistungen zu verschenken. Des Weiteren galt es, das Anfang der 90er Jahre begonnene Zusammenwachsen mit Argentinien (neue Grenzübergänge und Straßenverbindungen, chilenische Direktinvestitionen, argentinische Erdgaslieferungen) zu bewahren und fortzusetzen, was im übrigen auch dem argentinischen Interesse entsprach (vgl. Orrego Vicuna 1989; Bardos 1999a). Diese dilemmatische Phase konnte 1996 mit dem Assoziierungsabkommen zwischen Chile und dem Mercosur so abgeschlossen werden, dass den chilenischen Interessen optimal gedient war: Chile erhielt einen privilegierten Zugang zum Mercosur, ohne die mit der Zollunion verbundenen Verpflichtungen übernehmen zu müssen. Dies deckt sich mit der chilenischen Interessenlage und beendete vorerst die Dilemma-Situation. Dass Chile unter der Regierung von Lagos versucht, in die politischen Stukturen des Mercosur als volles Mitglied aufgenommen zu werden - möglichst ohne Verpflichtung, den gemeinsamen Außenzoll übernehmen zu müssen - folgt dieser Linie (DIRECON 2001). Ferner ließ das Assoziierungsabkommen Chile für ausländische Direktinvestitionen, die in erster Linie auf den erweiterten Binnenmarkt des Mercosur zielen, attraktiv werden. Das Abkommen Chiles mit dem Mercosur fügt sich somit in die Logik der Sicherung und des möglichen Ausbaus von Marktzugängen ein, welche der Strategie der Regierungen Aylwin und Frei (und nun auch der Regierung Lagos; vgl. Interview mit dem chilenischen Präsidenten in: Der Spiegel, 6/2001, 151153) zu Grunde lag.

3. Das Netz bilateraler Abkommen Im Laufe der 90er Jahre ist es den demokratischen Regierungen Chiles gelungen, ein komplexes Netz bilateraler Abkommen auszuhandeln, vornehmlich mit lateinamerikanischen Ländern. Zu Jahresbeginn 2001 bestanden Abkommen wechselseitiger wirtschaftlicher Komplementierung (Acuerdos de Complementaciön, ACE) mit Argentinien (unterzeichnet 1991, in Kraft seit 1992), Mexiko 189

(1991, 1992), Bolivien (1993), Venezuela (1993), Kolumbien (1993, 1994), Ekuador (1994, 1995) und Peru (1998). Weitreichende Freihandelsabkommen (Tratados de Libre Comercio, TLC) wurden mit den NAFTA-Mitgliedern Kanada (1996, 1997) und Mexiko (1999) abgeschlossen. Das mit Kuba 1998 vereinbarte Abkommen ist begrenzter Reichweite (Acuerdo de Alcance Parcial). Mit der EU wurde 1999 eine allgemeine Absichtserklärung für eine wechselseitige Liberalisierung unter Beachtung „sensibler Produkte" unterzeichnet. Verhandlungen werden momentan mit Südkorea, Kuba, der Gemeinschaft der zentralamerikanischen Republiken sowie seit Anfang des Jahres 2001 mit den USA geführt. Darüber hinaus bestehen mit einer weit größeren Zahl von Ländern Vereinbarungen über den Investitionsschutz sowie über die Vermeidung von Doppelbesteuerung (Originaltexte der Abkommen vgl. DIRECON 2001). Die ACE und TLC sind keineswegs standardisiert, sondern werden von Fall zu Fall flexibel den jeweiligen Verhandlungsspielräumen angepasst. Sie umfassen unterschiedliche Regelungen der Zollsenkung, differenziert nach Produktgattungen. Teilweise werden darüber hinaus auch Ursprungs-Bestimmungen sowie die Eliminierung einzelner nicht-tarifarer Handelshemmnisse vereinbart. Hin und wieder übernimmt man im Rahmen von ALALC/ALADI erreichte Arrangements, teilweise werden diese durch Neuregelungen ersetzt. Aus chilenischer Perspektive repräsentieren diese bilateralen Abkommen das Erreichbare. Sie sind aber sicherlich suboptimal, wenn sie an den weitreichenden Zielsetzungen des chilenischen Liberalisierungsstrebens gemessen werden und wenn man den relativ hohen Aufwand dieser inkrementalistischen Verfahrensweise in Rechnung stellt. Mangels Alternative bzw. mangels eines ganz Lateinamerika oder zumindest Südamerika umfassenden multilateralen Liberalisierungsprozesses während des vergangenen Jahrzehnts (die eigentliche Verhandlungsphase des ALCA/FTAA-Prozesses hat ja erst 1998 begonnen) sah sich Chile aber auf dieses Vorgehen verwiesen.

4. Die bilateralen Verhandlungen mit den USA Am 6. Dezember 2000 nahmen die USA und Chile offiziell bilaterale Verhandlungen über den Abschluss eines Freihandelsabkommens auf, nachdem am Rande des zweiten Amerika-Gipfels 1998 in Santiago de Chile eine bilaterale Kommission zu Handels- und Investitionsfragen gebildet worden war. Noch vor dem gesamtamerikanischen Gipfeltreffen in Quebec im April 2001 konnten drei Verhandlungsrunden abgeschlossen werden. Eine bilaterale Vereinbarung mit den USA zu erreichen, stellt ein von den chilenischen Regierungen seit längerem verfolgtes Projekt dar (vgl. ausführlich Bardos 1994). Bereits Anfang der 90er Jahre startete man eine entsprechende Initiative. In der Folge wurde Chile beim ersten Amerika-Gipfel in Miami 1994 eingeladen, dem NAFTA-Abkommen beizutreten. Da Präsident Clinton aber danach die Erneuerung der abgelaufenen Fast-Track-Autorität seitens des US-Kongresses verweigert wurde, erfolg190

ten keine weiteren Fortschritte in diese Richtung. Auch der neue Anlauf steht unter dem Vorbehalt, dass seitens der USA die Weichen möglicherweise nicht so gestellt werden (können), dass ein Abkommen tatsächlich zustande kommt (vgl. The Economist, 21.6. 2001). Zwar hat Präsident George W. Bush angekündigt, sich um die Autorisierung durch den Kongress bemühen zu wollen, die er aus taktischen Erwägungen als Trade Promotion Authority (TPA) bezeichnet. Angesichts der noch undeutlichen Mehrheitsverhältnisse im Kongress (der Gegensatz zwischen eher protektionistischen und eher freihändlerischen Kräften verläuft in den USA ja bekanntlich nicht entlang der Parteigrenzen) ist es jedoch alles andere als sicher, dass er sie auch tatsächlich erhalten wird. Die chilenische Delegation ließ mittlerweile verlauten, ein Abschluss mit den USA sei auch ohne Fast Track möglich. Dies trifft zwar zu, das Risiko, dass ein bereits ausgehandeltes Abkommen an Detailfragen im US-Kongress hernach doch noch scheitert, ist ohne exekutive Fast-Track-Vollmachten freilich kaum kalkulierbar. Die Bemerkung der chilenischen Verhandlungsfuhrung ist wohl ein Indiz dafür, dass man die Aussichten für Bush bezüglich Fast Track nicht allzu günstig einschätzt - trotz der betont optimistischen Einschätzung der chilenischen Unterhändler, man könne möglicherweise noch vor Jahresende zu einem Abschluss kommen. Anscheinend hofft man auf chilenischer Seite, dass die mit den NAFTA-Partnern Kanada und Mexiko 1997 und 1999 in Kraft getretenen weitreichenden Freihandelsabkommen einen forderlichen Einfluss auf die Meinungsbildung im Kongress haben (vgl. DIRECON 2001; The Economist, 21.6. 2001; Heritage Foundation 2001; Nolte/Calcagnotto 2001). Fest steht in diesem Zusammenhang bislang allein das chilenische Interesse an einer Freihandelsvereinbarung mit den USA. Dies ist über die Jahre weitgehend unverändert geblieben (vgl. Barrios 1994), auch wenn sich zwischenzeitlich für Chile weitere Optionen marktöffnender Vereinbarungen mit anderen Partnern ergeben haben, und auch wenn es in den USA während der 90er Jahre zu Verzögerungen kam, mit denen man in Chile zunächst nicht gerechnet hatte. Die USA sind der größte Handelspartner und der wichtigste ausländische Direktinvestor Chiles. Zwischen 1991 und 1999 stiegen die chilenischen Exporte in die USA um 93,5 Prozent, d.h. stärker als der Gesamtexport des Landes (DIRECON 2001). Als einziger präferentieller Marktzugang in die USA steht den chilenischen Exporten bislang das System Generalisierter Präferenzen offen, das Entwicklungsländern im Handelsaustausch entgegenkommen soll. Diese Präferenzen verfallen jedoch jeweils binnen Jahresfrist und müssen dann neu vergeben werden. Übersteigt ein Produkt aus einem Land 50 Prozent der gesamten Importe dieses Gutes in die USA, so verliert es die Präferenz. Zwar wurde jüngst Chile eine Verlängerung seiner Ende 1999 gewährten Präferenzen bis zum 30. September 2001 zugestanden. Das gesamte Verfahren birgt jedoch erhebliche Unsicherheiten (vgl. DIRECON 2001). Auch nicht-tarifare Handelshemmnisse sowie die arbiträre Anwendung zoo- und phytosanitärer Standards drohen immer wie191

der die chilenischen Exportmöglichkeiten einzuschränken. Eine Institutionalisierung und garantierte Offenhaltung des US-Marktes liegt hier klar im chilenischen Interesse. Jede Beschränkung der Absatzmöglichkeiten für chilenische Produkte in den USA trifft die chilenische Exportwirtschaft empfindlich. Dies wiederum hat, wie gesagt, Auswirkungen auf die gesamte Wirtschaft, deren Wachstum auf kontinuierliche Exportsteigerungen angewiesen ist.

5. Chiles Rolle im ALCA/FTAA-Prozess Im Verhandlungsprozess der ALCA/FTAA, dessen Vorbereitungen 1994 begannen, um 1998 in die „heiße Phase" einzutreten, und der - dem gemeinsamen Planungsstand von Anfang 2001 gemäß - spätestens 2005 abgeschlossen sein soll, versucht Chile, in Richtung auf eine umfassende Liberalisierung zu wirken und eine Eindämmung oder sogar Abschaffung von handelseinschränkenden Praktiken jenseits der offiziellen tarifaren Maßnahmen zu erreichen. Im Grunde ähnelt diese Agenda also derjenigen, die Chile auch in seine bilateralen Verhandlungen einbringt. Obwohl der Versuch der US-Unterhändler gescheitert ist, mit chilenischer Unterstützung eine Verkürzung des Fahrplans zur gesamtamerikanischen Freihandelszone durchzusetzen (als Termin war zeitweise Ende 2003 im Gespräch), kann Chile sich nach dem Amerika-Gipfel von Quebec in seiner Position insofern gestärkt sehen, als bilaterale und multilaterale Verhandlungen nun offenbar auch seitens Brasiliens nicht mehr als sich notwendigerweise wechselseitig ausschließend aufgefasst werden (The Economist, 21.4. 2001). Darüber noch hinausgehend sehen die chilenischen policy-maker aber in den multilateralen Verhandlungen der 34 amerikanischen Staaten die Chance, möglichst viele Themen und Bereiche der Handelspolitik anzusprechen, beispielsweise die Abschaffung aller Agrarsubventionen oder die Regulierung des Handels mit Iiiformationstechnologie. Mit Blick auf den Dienstleistungssektor fordert Chile Liberalisierungsmaßnahmen, die noch über die WTO-Vorschriften hinausgehen, wie z.B. den Investitionsschutz für im Ausland angesiedelte Dienstleistungsunternehmen, was den Interessen der chilenischen Investoren in Lateinamerika entgegenkäme. Insgesamt dringt Chile darauf, die Regelungen des Investitionsschutzes auf die Direktinvestitionen zu beschränken, was den Entwicklungserfahrungen des Landes entspricht. Außerdem sucht Chile die Auflagen zu eliminieren, welche die Beschaffungsmaßnahmen des öffentlichen Sektors eines Landes an heimische Produzenten binden (DIRECON 2001). Was erhofft sich Chile hinsichtlich seiner Gesamtstrategie der Weltmarkteinbindung von der ALCA/FTAA? Nun, zum einen könnte eine Harmonisierung der Regelungen, etwa bei den sanitären Standards, aber auch im Bereich des Schutzes geistigen Eigentums oder zur Liberalisierung der grenzüberschreitenden Dienstleistungen, zu einer Garantie gegen voluntaristische, einseitige Maßnahmen fuhren, die in der Vergangenheit den Freihandel immer wieder od hoc einzuschränken drohten. Die Vereinheitlichung dient zudem der Berechenbar192

keit, die natürlich den exportorientierten Produzenten entgegenkommt. Freilich ist auch mit Versuchen der Durchsetzung arbeitsrechtlicher und ökologischer Standards zu rechnen, die in der internen Diskussion der USA eine Rolle spielen und Kosten für die chilenischen Produzenten verursachen würden. Dies wird jedoch dadurch aufgewogen, dass die Einbettung des komplexen Netzes bilateraler Handels- und Investitionsabkommen in einen weiten hemisphärischen Rahmen verschiedene Vorteile bringt: •

Wird in den ALCA/FTAA-Verhandlungen eine weitreichende Liberalisierung erreicht, so wirkt dies im chilenischen Interesse gegenüber Handelspartnern, die sich in reziproken Abkommen kaum neue Zugeständnisse abringen ließen. • Die gesamtamerikanische Regelbindung wird möglicherweise einen noch stärker verpflichtenden Charakter besitzen als die WTO-Regelungen und könnte daher eine zusätzliche Sicherung gegen Rückschritte bei der Etablierung des Freihandels in der westlichen Hemisphäre bieten. Oder anders ausgedrückt: Scheitert eine ALCA/FTAA-Vereinbarung, müsste die chilenische Exportwirtschaft weiterhin unter dem Damokles-Schwert im Einzelfall kaum vorhersehbarer protektionistischer Maßnahmen leben, gerade auch seitens der USA, die angesichts der dortigen internen Diskussion über Handelsfragen alles andere als unwahrscheinlich sind.



Eine fuhrende Rolle Brasiliens im ALCA/FTAA-Prozess (vgl. dazu Calcagnotto/Nolte 2000) stößt auf chilenischer Seite dann nicht auf größere Bedenken, wenn sie nicht zu einer signifikanten Abbremsung des allgemeinen Liberalisierungstrends innerhalb des amerikanischen Doppelkontinents fuhrt. Eine Sprecherrolle für Südamerika konnte Brasilien auch in Quebec nur in sehr eingeschränktem Maße spielen. Nicht zuletzt die mangelnde Repräsentativität der brasilianischen Interessenlage für das gesamte Südamerika (oder gar Gesamt-Lateinamerika) erschwert dies. Zu einer politisch dominanten Rolle Brasiliens innerhalb Südamerikas (also nicht im Verhältnis zu den USA) verhält sich Chile auffällig indifferent. Solange hier keine essentiellen chilenischen Interessen berührt werden, ist meines Erachtens nicht mit grundsätzlichen Einwänden zu rechnen.

6. Zur Legitimierung chilenischer Außenpolitik Ein besonderes Thema stellt die interne und externe Legitimierung der hier skizzierten außenpolitischen Strategie dar. Intern ist diese erfolgreich, indem das Exportwachstum und das internationale Ansehen Chiles in den Vordergrund der Außendarstellung der Regierung gerückt werden. Die Kontroversen über den Fall Pinochet (Ambos 1999; IRELA 1998) und die Asien-Krise weckten zwar vorübergehend Zweifel, im Großen und Ganzen aber gelingt die interne Legitimierung der Außenpolitik recht gut.

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Die externe Legitimierung erweist sich als etwas schwieriger: Hier sucht Chile zum einen an die früher (d.h. vor dem Militärregime) eingenommene Rolle eines konstruktiven und im Kreis demokratischer Nationen respektierten Mitglieds der internationalen Gemeinschaft anzuknüpfen. Dies zeigte sich etwa beim Weltsozialgipfel in Kopenhagen 1995 sowie permanent in der OAS oder in der WTO. Die Rückkehr zur Demokratie erwies sich hierbei als wichtige Legitimierungsressource. Gegenüber den OECD-Ländern sucht man den Ruf als (möglicherweise einziges) wirtschaftlich solides und verlässliches Land in Lateinamerika zu bewahren oder - wenn möglich - noch zu stärken. Hinsichtlich der Beurteilungskriterien von IWF, Weltbank und WTO kann Chile sich als „Musterknabe" sehen und erhält in den genannten Institutionen auch entsprechendes Lob (siehe etwa die Rede des WTO-Präsidenten in Santiago de Chile, 2000; DIRECON 2001). All dies ist bedeutsam für die Einschätzung des country-risk durch die Rating-Agenturen, welche letztlich mit über den Zustrom von Investitionskapital entscheiden. Man ist sich aber zugleich deutlich bewusst, dass diese Rolle des „Strebers" bei den lateinamerikanischen Partnern nicht allzu gut ankommt (vgl. Nolte 2001; Nolte/Calcagnotto 2001). Deswegen ist die chilenische Außenpolitik darauf bedacht, Übertreibungen zu vermeiden. So versichert man immer wieder, man halte an der traditionellen vocación latinoamericanista fest (vgl. dazu ausfuhrlich Barrios 1999a). Im Gegensatz zu Mexiko ist Chile nicht Mitglied der OECD und bislang nicht aus der Organisation der Blockfreien ausgetreten - anders als Argentinien, das den Blockfreien 1991 den Rücken kehrte. Ein zu starkes symbolisches Ausscheren Chiles aus der (freilich immer weniger konkret bestehenden) Gemeinschaft lateinamerikanischer Staaten vertrüge sich auch nicht mit den chilenischen Interessen an Direktinvestitionen in den Nachbarländern sowie am Export höher verarbeiteter Güter, der dringend erhöht werden muss, um die Primärgüterlastigkeit des Gesamtexports zu vermindern. Eine Blockbildung in Lateinamerika unter Ausschluss Chiles wäre daher bedrohlich für den chilenischen Entwicklungspfad. Nicht dass eine solche Konstellation als wahrscheinlich gelten müsste - das Gegenteil ist der Fall. Aber die Möglichkeit, damit zu drohen, falls Chile sich zu weit in Richtung Industrieländer verabschiedet, ist immerhin denkbar. Im Hinblick auf die lateinamerikanischen Nachbarn ist die chilenische Politik also durch eine außerordentliche Vorsicht gekennzeichnet. Nachdem die USA mehr oder weniger informell auch Argentinien und Uruguay zu bilateralen Verhandlungen eingeladen haben und die Regierungen dieser beiden Länder diesen Vorschlag zumindest nicht rundheraus ablehnten (vgl. The Economist, 21.4. 2001), hat das chilenische Werben um Verständnis bei den lateinamerikanischen Partnern an Überzeugungskraft gewonnen. Symbolische Bekundungen der Freundschaft und Solidarität ist man bereit abzuleisten, solange diese nicht viel kosten. Provokationen sind somit seitens Chiles nicht zu erwarten. Hinsichtlich dieses Spagats der externen Legitimierung könnte ein erfolgreicher Abschluss 194

des ALCA/FTAA-Prozesses eine gewisse Entlastung bringen: Die Nordorientierung Chiles könnte mit seiner Politik der guten Nachbarschaft in Lateinamerika in einem allgemeinen Liberalisierungsrahmen versöhnt werden.

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Nikolaus Werz

Die Beziehungen zwischen Venezuela und Brasilien Die außenpolitische Rolle, die Venezuela in Lateinamerika spielen kann, resultiert aus seiner Geschichte, d.h. der frühen Unabhängigkeit unter Simón Bolívar und dessen gesamtlateinamerikanischen Anliegen sowie dem Ölreichtum des Landes. Seit Anfang der 90er Jahre lässt sich ein deutlicher Aufschwung in den Beziehungen zwischen Venezuela und Brasilien konstatieren.

1. Grundlagen der venezolanischen Außenpolitik Unmittelbar nach dem Erfolg der Unabhängigkeitsbewegung vom 19. April 1810 unternahm die venezolanische Regierung den Versuch, diplomatische Beziehungen zum Ausland aufzunehmen. Die ersten Delegationen wurden 1810 mit Simón Bolívar an der Spitze nach England und 1815 unter Pedro Gual in die USA entsandt. Nachdem im Dezember 1819 der Kongress von Angostura die Republik Groß-Kolumbien postuliert und zum 12. Juli 1821 Venezuela und Neu-Granada, d.h. das heutige Kolumbien, Panama und Ekuador zusammengeführt wurden, lässt sich bis zu deren Auseinanderfallen im Jahr 1830 nicht mehr von einer eigenen Außenpolitik sprechen. Der Venezolaner Don Pedro Gual wurde erster Außenminister Groß-Kolumbiens. Nach 1830 ging es zunächst um die Anerkennung durch Spanien (1845) sowie die ebenso komplizierte wie langwierige Grenzziehung mit Neu-Granada und Guayana. Unter der langen Herrschaft von Antonio Guzmán Blanco (187088), dem sogenannten Gicmanato, lag die Hauptaktivität auf der inneren Politik: Die Gründung einer Schule fiir die Ausbildung von Diplomaten, wie es der etwa zeitgleich in Brasilien regierende Rio Branco getan hatte, erfolgte nicht (Picón 1999: 135). In dem Fehlen von geeignetem Personal sehen venezolanische Autoren einen der Gründe für das schlechte Abschneiden des eigenen Landes beim 1897 erfolgten Schiedsgerichtsvertrag zwischen Großbritannien und Venezuela um Guayana sowie dem Eingreifen europäischer Mächte Anfang des 20. Jahr200

hunderts 1901 kam es aufgrund der Unterstützung, die Präsident Cipriano Castro (1899-1908) den Liberalen im Nachbarland während des sogenannten Bürgerkrieges der „1000 Tage" gewährt hatte, zur militärischen Intervention Kolumbiens in Venezuela und anschließend zur venezolanischen Invasion in die kolumbianische Guajira. Erst mit dem Beginn der massiven Erdölförderung in den 30er Jahren begann Venezuela langsam in eine außenpolitische Rolle hineinzuwachsen. Zu den historischen Legaten gehört dabei der Rekurs auf den Vater des Vaterlandes, Simón Bolívar. Mit seiner Befreiung eines erheblichen Teils Südamerikas von der spanischen Kolonialherrschaft habe er eine Vorbildfunktion für den Kontinent gewonnen und prädestiniere Venezuela für höhere Aufgaben in Lateinamerika. Aus diesem Grunde wird auch von einem ,jieobolivarianischen Konsens" (Boersner 1987: 1) und einem idealistischen Grundzug in der venezolanischen Außenpolitik gesprochen (Martz 1977: 159). Es dauerte allerdings bis 1958, d.h. bis zum Übergang von der Diktatur zur Demokratie, bevor diese Ausrichtung effektiv zum Tragen kam. Neben den gestiegenen Öleinnahnien waren die Auswirkungen der Kubanischen Revolution 1959 und der Kalte Krieg dafür verantwortlich: Nach dem Sturz von General Pérez Jiménez am 23. Januar 1958 hatten es sich die Partei der Demokratischen Aktion (Acción Democrática = AD) und der neue Präsident und Parteivorsitzende Rómulo Betancourt (1959-64) zum Ziel gesetzt, auch andere lateinamerikanische Länder von Diktaturen zu befreien. Die später als Betancourt-Doktrin bezeichnete Konzeption beinhaltete den Abbruch diplomatischer Beziehungen zu Staaten, in denen nicht gewählte Präsidenten an die Macht gelangt waren. Betancourts Überlegungen hatten mit eigenen politischen Erfahrungen zu tun: Zum einen musste er in seinem politischen Leben, zu dem auch die kurzfristige Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei Costa Ricas gehört, selbst ins Exil gehen, zum anderen sah sich die junge venezolanische Demokratie nach 1958 zunächst durch Angriffe rechter Militärs und Diktatoren, ab 1961 von einer Guerilla mit castristischer Unterstützung herausgefordert. Präsident Betancourt avancierte damals zum engen Verbündeten der USA und des Westens; in der internationalen Presse wurde er als demokratischer Revolutionär dargestellt, u.a. in einer Titelgeschichte in der Zeitschrift „Der Spiegel" am 17. Dezember 1958. Neben dieser pro-demokratischen Grundausrichtung der venezolanischen Diplomatie in den 60er Jahren bestimmte der Wunsch nach einer Ausweitung des nationalen Anteils an der Ölförderung zumindest bis zur Verstaatlichung 1975 auch die Außenbeziehungen. An der Gründung der OPEC 1960 war Venezuela beteiligt. Die 2. Konferenz der OPEC, bei der die Statuten erarbeitet wurden, fand 1961 in Caracas statt. Venezuela geriet dadurch in dreifacher Hinsicht in eine Mittlerposition: im Verhältnis zu anderen Öl exportierenden Staaten, gegenüber den Industrienationen und mit Blick auf die Länder der Dritten Welt, die kein Erdöl produzieren (Escovar Salom 1980). Nach der Nationalisierung 201

der Öl- und Eisenerzindustrien 1975/76 unter Präsident Carlos Andrés Pérez nahm das potenzielle außenpolitische Gewicht Venezuelas zu, gleichzeitig entstand die Notwendigkeit, eine neue mittelfristige Ölpolitik zu entwerfen. Unter geopolitischen und geoökonomischen Gesichtspunkten ist Venezuela sowohl dem andinen als auch dem karibischen Raum zuzuordnen, als südamerikanischer Flächenstaat umfasst es Teile des Amazonas. Es ist gleichzeitig „ein westliches Land mit repräsentativer Demokratie, ein ölexportierendes Land, ein Land der Dritten Welt, ein Schuldner- und ein Geberland...Aus diesen Charakteristika", schrieb Eva Josko de Guerón 1984, „ergeben sich die großen Themen und Orientierungen Venezuelas" (zit. nach Romero 1992: 240). Wirtschaftlich orientiert sich das Land traditionell in Richtung Norden, zumal der Löwenanteil der Ölexporte via Karibik in die USA geht. Weniger intensiv ist der offizielle Handelsaustausch mit Kolumbien, wobei die Umschreibung comercio no registrado darauf verweist, dass der Schmuggel im Grenzverkehr eine Rolle spielt. Im Verhältnis zur Karibik traten in den 70er- und frühen 80er-Jahren gewisse Reibungen auf, zumal einzelne Autoren damals vermuteten, Venezuela könne eine subimperialistische Funktion einnehmen (Lanza 1980). In den 60er-Jahren durchlief die venezolanische Außenpolitik, nach den von Havanna unterstützten Destabilisierungsversuchen, eine stark anti-castristische und damit pro-nordamerikanische Phase. Gegen Ende der Präsidentschaft von Raúl Leoni (1964-69) setzte ein Wandel ein. Der Christdemokrat Rafael Caldera (1969-74) hob die Betancourt-Doktrin praktisch auf und trat für „ideologischen Pluralismus" und „pluralistische Solidarität" ein. Er nahm Beziehungen mit sozialistischen Staaten in Osteuropa auf und bereitete die Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen zu Kuba vor. Während der ersten Präsidentschaft von Carlos Andrés Pérez (1974-79) erreichte die internationale Präsenz Venezuelas vor dem Hintergrund der Vervierfachung des Ölpreises auf dem Weltmarkt einen vorläufigen Höhepunkt. Vorübergehend galt das Land neben Argentinien, Brasilien und Mexiko als einer von vier regionalen Entwicklungspolen Lateinamerikas (GrabendorfT 1979). Venezuela präsentierte sich u.a. als Fürsprecher von Dritte-Welt-Positionen. Auf der Nord-Süd-Konferenz in Paris im Winter 1975/76 war der venezolanische Minister Manuel Pérez Guerrero, im Lande gerne „Vater der OPEC" genannt, Ko-Präsident. 1976 startete die Sozialistische Internationale (SI) mit der „Konferenz von Caracas" den Versuch einer Ausdehnung nach Lateinamerika und in die so genannten Dritten Welt - ein Hinweis auf die damalige Bedeutung Venezuelas. Unter dem christdemokratischen Amtsnachfolger Luis Herrera Campins (1979-84) nahm die venezolanische Außenpolitik dann eine Abwehrhaltung gegenüber der Machtübernahme durch Guerilla- und Befreiungsbewegungen in Zentralamerika ein. Im Ergebnis haben aber sowohl die SI als auch die Organisation Amerikanischer Christdemokraten (ODCA), die ihren Sitz lange Zeit in Caracas hatte, eine Mittlerftinktion im zentralamerikanischen Konflikt eingenommen.

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Nach den Friedensschlüssen in Mittelamerika, den Auswirkungen des Endes des Kalten Krieges und angesichts fallender Ölpreise auf dem Weltmarkt verlor Venezuela in der Folgezeit an außenpolitischem Gewicht. Als Folgeerscheinung der Abwertung der Landeswährung Bolívar 1983, der Tag wird in Venezuela als „schwarzer Freitag" bezeichnet, und der Putschversuche des Jahres 1992 geriet der Ölstaat während der zweiten Amtsperioden von Carlos Andrés Pérez (198993, Amtsenthebung) und Rafael Caldera (1994-99) in eine innenpolitische Krise. Der Wahlsieg von Hugo Chávez Frías 1998 und der von ihm ab 1999 zielstrebig umgesetzte Umbau des politischen Systems leitete dann eine neue Phase in der Innen- und Außenpolitik ein, deren Ausgang ungewiss ist (Welsch/Werz 1999).

2. Die Beziehungen zwischen Venezuela und Brasilien 1980 stellte der ehemalige Außenminister Ramón Escovar Salom in einem Artikel die rhetorische Frage: „Wie viele venezolanische Sozialwissenschaftler sprechen portugiesisch? Die Antwort kann Auskunft über unsere Beziehungen zu Brasilien geben." Weder die Diplomatie noch die politische Führung Venezuelas seien ausreichend auf die Beziehungen zu Brasilien vorbereitet. Dagegen begreife sich Brasilien als kontinentale Macht, unterhalte enge Kontakte nach Afrika und Asien, habe ausgezeichnete Anthropologen, Politikwissenschaftler und Ökonomen und darüber hinaus als einziges lateinamerikanisches Land den Versuch unternommen, seine Diplomatie gut zu organisieren. „Brasilien", schrieb er damals, „fuhrt seine Außenpolitik mit Realismus und Pragmatismus, versteht es, sich neuen Situationen anzupassen und setzt mehr auf Taten als auf Rhetorik. Dagegen meinen wir, das Wort sei das wichtigste Regierungsinstrument" (Escovar Salom 1980). Diese kritische Bestandsaufnahme und die hohe Einschätzung der brasilianischen Diplomatie, die von anderen venezolanischen Autoren geteilt wird (Picón 1999: 152), erfolgte zu einem Zeitpunkt, als Venezuela bereits eine gewisse internationale Präsenz zugefallen war. Für die Geschichte der Beziehungen haben die Unterschiede in der Größe und in der Wirtschaftskraft sowie die räumliche Distanz zwischen den beiden Staaten eine wichtige Rolle gespielt. Ein weiteres und positives Merkmal ist, dass die diplomatischen Kontakte zwischen Venezuela und Brasilien problemlos waren und sind. Dies gilt vor allem im Vergleich zu den häufig angespannten Beziehungen zu Kolumbien und Guayana. Zur Geschichte dieser Beziehungen: Groß-Kolumbien nahm 1826 diplomatische Beziehungen mit dem Kaiserreich Brasilien auf. Eine Einladung Bolivars zum Kongress von Panama hatte Brasilien allerdings nicht angenommen. In der Folgezeit waren die Kontakte aufgrund der enormen räumlichen Distanz, dem damals so gut wie undurchdringlichen Urwald und der bereits erwähnten Schwäche der venezolanischen Diplomatie nicht sehr intensiv. Zur Grenzziehung am Alto Orinoco 1879 soll die Regierung Venezuelas erst mit einjähriger Verspätung eine Kommission entsandt haben (Picón 1999: 154). 203

Die Blüte der Amazonas-Region ging 1912 mit der Entwendung und dem heimlichen Transport von Kautschuk-Samen nach Asien zu Ende. Venezuela orientierte sich während der Diktatur von Juan Vicente Gómez (1908-35) weitgehend nach Norden, wohin die Ölexporte gingen. Allerdings war Gómez im Rahmen der von ihm geforderten Erschließung des venezolanischen Territoriums bestrebt, Straßen in Richtung Brasilien zu bauen. 1932 besuchte der brasilianische Außenminister Meló Franco Venezuela; 1934 unterschrieb Gómez ein Dekret, das den Bau einer Straße von Ciudad Bolívar nach Brasilien anordnete. 1938 folgte unter López Contreras (1936-41) ein Vertrag zur friedlichen Regelung von Konflikten mit dem Nachbarland. Im Unterschied zu Brasilien, wo die Weltwirtschaftskrise 1929 zum Niedergang der „alten Republik aus Milchkaffee" führte1, nahmen in Venezuela die staatlichen Einnahmen zu. 1926 hatte Venezuela 3.026.928 Einwohner und entwickelte sich rasant zu einem Ölland. Zum hundertsten Todestag von Bolívar 1930 bezahlte Gómez auf einen Schlag die gesamte Auslandsschuld. Brasilien war damals der weltgrößte Kaffeeproduzent und hatte 37.625.436 Einwohner (Mendible Zuritas 1998: 98). Während des Zweiten Weltkrieges kam es zu einer Intensivierung der Besuchsdiplomatie zwischen den beiden Ländern. Außenminister Parra Pérez besuchte 1942 Brasilien, das sich damals jedoch noch stärker in Richtung des Rio de la Plata orientierte. In den 60er Jahren wurden die Beziehungen zwischen Venezuela und Brasilien wegen der Anwendung der Betancourt-Doktrin kurzfristig belastet. Nach dem Staatsstreich 1964 in Brasilien brach der damalige venezolanische Präsident Leoni vorübergehend die Beziehungen ab, 1966 wurden sie wieder aufgenommen. Brasilien vertrat in den Jahren 1966-70 eine sog. panamazonische Ausrichtung. Unter der ersten Präsidentschaft von Carlos Andrés Pérez (1974-79), der als erstes venezolanisches Staatsoberhaupt Brasilien besuchte, wurden die Beziehungen zu Brasilien intensiviert, 1978 unterschrieb Simón Alberto Consalvi den Amazonas-Pakt. Ihm gehören acht Staaten an: Bolivien, Brasilien, Ekuador, Guyana, Kolumbien, Peru, Surinam und Venezuela. Während der Regierung von Jaime Lusinchi (1984-89) führte das neue Goldfieber zu einer Welle von garimpeiros (Goldwäscher), die vom Roraima in die Südstaaten Venezuelas Bolívar und Amazonas übergriff. Gleichzeitig wurden durch den Ausbau von Industrien in der venezolanischen Guayana jedoch die Voraussetzungen für vielversprechende grenzüberschreitende wirtschaftliche Beziehungen geschaffen. Die zweite Amtsperiode von Rafael Caldera (1994-99) markierte den Beginn eines Aufschwungs in den venezolanisch-brasilianischen Beziehungen. Dreimal besuchte der venezolanische Präsident den Nachbarstaat, wobei besonders der Staatsbesuch 1996 auf einem hohen protokollarischem Niveau erfolgte {El Universal (EU), 2.1.1997). Die grenznahen Projekte zu Brasilien erhielten eine neue 1

So wurde die Allianz zwischen der Kaffeeoligarchie in Säo Paulo und den Grundbesitzern aus Minas Gerais genannt, die zwischen 1889 und 1930 ein Machtbündnis geschlossen hatten.

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Bedeutung. Dazu gehörten die hydroelektrische Verbindung Gurí - Boa Vista Manaos sowie eine stärkere Zusammenarbeit zwischen den Ölgesellschaften PDVSA und Petrobras. In einem Pressekommentar zum Jahresende wurde sogar vor einer zu schnellen Annäherung an den Mercosur gewarnt, die nur zu Lasten alter Freunde im Andenraum erfolgen könne (Noeul 1996). Im September 1997 kam es zur Unterzeichnung eines Vertrages zur Energieversorgung von Santa Elena nach Roraima (Boa Vista), der zunächst erhebliche brasilianische Investitionen und später venezolanische Stromlieferungen beinhaltete (El Universal (EU), 1.9.1997). Seit dem Treffen zwischen Itamar Franco und Rafael Caldera 1994 in La Guzmania wurden verschiedene Koordinationsmechanismen eingeführt. Dazu zählen: • • . •

regelmäßige Treffen auf Präsidentenebene; seit 1994 eine Comisión Binacional de Alto Nivel Brasil-Venezuela (COBAN), die sich bereits sieben Mal getroffen hat; ein Mechanismus gegenseitiger Konsultation, der von den Vize-Außenministern koordiniert wird; insgesamt 13 Arbeitsgruppen u.a. zu Energie- und Ölfragen, Kulturbeziehungen, Umweltfragen etc.

Die ohnehin geringen Probleme zwischen Venezuela und Brasilien, die aus den Übergriffen der garimpeiros u.a. auf die Ureinwohner - die Yanomamis - resultierten, haben abgenommen. Brasilien präsentierte sich als Fürsprecher einer venezolanischen Mitgliedschaft im Mercosur. Der Norden Brasiliens soll bereits einen größeren Handelsaustausch mit Venezuela als mit dem Mercosur haben. Der seit 1999 amtierende Präsident Chávez hat diese Entwicklung aufgegriffen und versucht sie zu verstärken. Venezuela liefert elektrischen Strom aus dem Staudamm Gurí bis nach Manaos. Dank der mittlerweile asphaltierten Straßenverbindung zwischen den beiden Flusshäfen Manaos und Ciudad Bolívar hat der Austausch zugenommen. Im Norden Brasiliens liegt damit ein potenzieller Expansionsraum für Venezuela, zumal allein der brasilianische Staat Amazonas die zweifache Größe des Öllandes umfasst. Das venezolanische Interesse an Brasilien manifestiert sich in dreifacher Hinsicht: 1. Venezuela ist der Andenstaat, der am stärksten an ökonomischen Beziehungen zu Brasilien interessiert ist. 2. Brasilien könnte zu einem wichtigen Markt für die orimulsión, d.h. einem in Venezuela entwickelten Verfahren zur Nutzbarmachung von Schweröl werden. 3. Angesichts der brasilianischen Nachfrage nach Elektrizität könnte Venezuela zum wichtigsten Energie- und Ölversorger Brasiliens heranwachsen. Neue Hochspannungsleitungen für die Stromversorgung wurden im August 2001 in Anwesenheit der beiden Präsidenten eingeweiht. Venezuela könnte seinerseits zu einem wichtigen Anlageland für brasilianische Investitionen werden. Die Brauerei Brahma beliefert z.B. von ihrer Fabrik 205

im Staat Lara/Venezuela den wichtigen nordöstlichen Markt Brasiliens. Bereits im Februar 1998 hatten Unternehmerkreise im Nordosten Brasiliens eine Aufnahme Venezuelas in den Mercosur vorgeschlagen (EU, 18.2.1998), im Juni 2001 hat Venezuela die Aufnahme als assoziiertes Land des Mercosur beantragt. Damit nimmt Venezuela eine Art Scharnierfunktion zwischen den verschiedenen Formen regionaler Integration ein. Brasilianische Unternehmer könnten von der Freihandelszone Venezuelas mit Mexiko, der Zollunion innerhalb der Andengemeinschaft und dem Präferenzsystem der EU für Venezuela profitieren. Venezuela könnte seinerseits Güter und Dienstleistungen nach Manaos liefern und von dort aus in den gesainten Norden und Nordosten Brasiliens. Der gegenseitige Handelsaustausch ist ungleich verteilt: Brasilien exportiert zur Hälfte agrarische und halb verarbeitete Produkte, die andere Hälfte besteht aus Manufakturprodukten. Venezuela exportiert zu 70% Petroleum, zu 10% Bergbauprodukte und zu 20% nicht-traditionelle Exportprodukte. Noch vor seinem Amtsantritt hatte Chävez Ende 1998 von der Notwendigkeit einer Beschleunigung der Integrationsprozesse gesprochen und eine „gewisse Präferenz für den Samba" erkennen lassen, was innerhalb der Andenregion schnell als eine Hinwendung zum Mercosur gewertet wurde. Präsident Chävez hat dann auf seiner ersten Auslandsreise im Mai 1999 Brasilien besucht. Er trat vor allem für eine stärkere Zusammenarbeit zwischen Petrobras und PDVSA ein. Der Handelsaustausch zwischen den beiden Ländern machte 1998 fast US$ 1,5 Mrd. aus und soll in den vorangegangenen sechs Jahren um 130% zugenommen haben (EU, 14.5.1999). Venezuela erzielte dabei aufgrund der Ölausfuhren (80% seiner Exporte) einen Handelsüberschuss von US$ 85 Mio. Derzeit werden die Straße Manaos-Boa Vista-Santa Elena de Uairen, in Brasilien Br174 genannt, und die Flussverbindung Orinoco-Amazonas ausgebaut. Bereits im September 1999 fand ein erneuter Besuch des venezolanische Präsidenten statt, dieses Mal in Manaos. Bei dieser Gelegenheit erklärte er, sowohl Cardoso als auch er wollten „neoliberale Wirtschaftspolitiken" aufgeben. Bei dieser Gelegenheit in der Presse veröffentlichte Schätzungen gingen von einem Handelsaustausch von bis zu US$ 2,8 Mrd. für das Jahr 1999 aus (EU, 4.9.1999). Fernando Henrique Cardoso hat im April 2000 einen zweitägigen Staatsbesuch in Caracas absolviert. Die beiden Präsidenten kündigten den Bau einer Brücke über den Orinoco an, die das venezolanisch-brasilianische AmazonasGebiet mit der karibischen See und dem Atlantik verbinden solle. Der Baupreis soll bei US $ 430 Mio. liegen. Noch in den 80er Jahren erklärten venezolanische Unternehmer bei einer Reise mit dem venezolanischen Präsidenten nach Brasilien, sie seien stärker an dem Austausch mit den USA interessiert. In dieser Hinsicht hat es ein Umdenken gegeben (Manzur 1999: 45). 1997 wurde ein brasilianisch-venezolanischer Wirtschaftsrat ins Leben gerufen. Zur Zeit dient die Zusammenarbeit mit Brasilien vor allem der Entwicklungsforderung in den beiden Grenzregionen und weniger hochgesteckten politischen Zielen (Vicentini 1996: 137). 206

Die Beziehungen zwischen Venezuela und Brasilien haben sich im Verlaufe der 80er und vor allem in den 90er Jahren also erheblich intensiviert. Es wird davon ausgegangen, dass das venezolanische Erdöl sich in kurzer Zeit in die wichtigste Energiequelle für Brasilien verwandeln wird (Manzur 1999: 27). Dagegen schrumpfte nach Angaben des statistischen Amtes in Kolumbien DANE {Departamento de Administración Nacional de Estadística de Colombia) das bilaterale Handelsvolumen zwischen Venezuela und Kolumbien 1999 um 43% von US$ 2,499 Mrd. auf US$ 1,750 Mrd., nachdem es 1997 mit US$ 2,614 Mrd. seinen vorläufigen Höchststand erreicht hatte. Ausschlaggebend waren politische und wirtschaftliche Entwicklungen auf beiden Seiten der Grenze. Erzielte Venezuela im bilateralen Handel mit Kolumbien 1997 und 1998 noch Überschüsse in Höhe von jeweils US$ 636 Mio. bzw. US$ 207 Mio., so ergab sich fiir 1999 für das Land ein Defizit in Höhe von US$ 80 Mio. (Wirtschaftsnachrichten Venezuela, 16.5.2000).

з. Zum Aufbau des auswärtigen Dienstes in Venezuela Fast jeder neue venezolanische Präsident kündigt eine Reform des auswärtigen Dienstes an. Ein Merkmal Venezuelas ist der vergleichsweise häufige Wechsel der Außenminister: Von 1900 bis 1988 hatte das Land 45 Außenminister, d.h. sie amtierten im Schnitt unter zwei Jahre. Wahrscheinlich ist es kein Zufall, dass zu den bekannteren venezolanischen Diplomaten auch die Außenminister gehören, die etwas länger im Amt waren. Hierzu zählen Caracciolo Parra Pérez (1941-45), Arístides Calvani (1976-79) und Simón Alberto Consalvi, der 197679 und dann wieder von 1984-88 Außenminister war. Trotz der zeitweilig doch sehr ausgeprägten Reisetätigkeit der Venezolaner und eines großangelegten Stipendienprogramms unter Carlos Andrés Pérez ist die Zahl der Experten fiir internationale Politik und für Ölfragen gering. Zu den im Lande erhobenen Vorwürfen gehört der eines zu geringen Anteils an Karrierediplomaten. Nach einer 1989 vom „Diario de Caracas" durchgeführten Untersuchung sollen damals nur 15,6% der Beschäftigten Berufsdiplomaten gewesen sein, die anderen wurden и.a. auf Betreiben von Politikern und Parteien eingestellt (zit. in Picón 1999: 269). Bei anderen Autoren liegen die Angaben zur Zahl der Karrierediplomaten höher (Urrutia 1992: 180). Unabhängig davon hat die Klage über die mangelnde Professionalisierung des Außendienstes Tradition. Zwar brachte die Escuela de Estudios Internacionales bereits 1955 ihren ersten Jahrgang hervor, allerdings erfolgte wohl erst 1965 eine öffentliche Ausschreibung auf Grundlage eines 1962 verabschiedeten Gesetzes, welches ein entsprechendes Vorgängergesetz von 1923 ablöste. 1977 rief Außenminister Consalvi das Instituto de Asuntos Internacionales ins Leben. In Aufsätzen zum Aufbau der venezolanischen Außenpolitik wird das Instituto de Rio Branco als Vorbild genannt (Taylhardat 1992: 191). Im Lande besteht die Academia Pedro Gual, wo die Bewerber nach einem entsprechenden Aufnah207

meexamen eine zweijährige Schulung durchlaufen, die mit einem Examen endet. Nur 17% der Amtsträger im Ausland sollen beim Amtsantritt von Chävez 1999 Karrierediplomaten gewesen sein. Von den 83 diplomatischen Vertretungen Venezuelas waren Anfang 2000 ganze 47 nicht mit einem Botschafter besetzt, sondern einem Geschäftsträger. Der damalige Außenminister Jose Vicente Rangel legte Präsident Chävez eine entsprechende Liste zur Neubesetzung vor. Die Hälfte der 83% Nicht-Karriere-Diplomaten sollen aufgrund bisheriger Verdienste übernommen worden sein, die übrigen wurden offenbar neu eingestellt und zwar wiederum die Hälfte Karrierediplomaten (EU, 2.2.2000). Die Kritik in der venezolanischen Presse an dem Außendienst hält an (Faündez Ledesina 2001). Inwiefern die offenbar Anfang 2001 verabschiedete Ley del Sen'icio Exterior, die an die Stelle des Ley del Personal del Sen'icio Exterior treten soll, Abhilfe schaffen kann, wird erst die Zukunft zeigen.

4. Die Außenpolitik unter Hugo Chävez Frias Bereits im ersten Amtsjahr hat Präsident Chävez eine fieberhafte Reisetätigkeit entfaltet. Zu internationalen Kontroversen haben vor allem die Annäherung an Kuba und sein überraschender Besuch im Irak Mitte 2000 geführt. Mit Blick auf Lateinamerika und Brasilien kündigte Präsident Chävez an, er wolle die „geopolitische Vision Bolivars" im Sinne der lateinamerikanischen Integration nutzen. Dabei solle diese Integration zur „ökonomischen und sozialen Entwicklung" fuhren (El Pais, 30.10.2000). Eine klare Linie ist nicht erkennbar. In einer Bestandsaufnahme zum ersten Regierungsjahr heißt es mit Blick auf die Außenbeziehungen: „Priorität besitzen für diese Regierung folgende Gebiete: die Anden, der Amazonas, der Atlantik und die Karibik. Als Länder sind Kolumbien. Brasilien, die USA und Kuba zu nennen" (EU, 2.7.2000). Chävez strebt eine kontinentale Ausstrahlung an, wahrscheinlich um dadurch die aus seiner Sicht „demokratische Revolution" abzusichern. Venezuelas Energieressourcen sollen zum Ausbau eines integrationsforderlichen Beziehungsgeflechts dienen, wozu auch ein 2000 geschlossener Rahmenvertrag mit Kuba gehören soll (Welsch/Carrasquero 2001: 18). Nach dem Vertrag wird Venezuela an Kuba 30.000 Barrels täglich liefern, die Bezahlung soll teilweise in Form von ärztlichen und anderen Dienstleistungen erfolgen. Anhang 1 des Abkommens lautet: „Diese Waren und Dienstleistungen (d.h. die aus Kuba) werden von der bolivarischen Republik Venezuela mit Erdöl und seinen Derivaten bezahlt, wobei ihr jeweiliger Wert auf dem Weltmarkt zur Anwendung gelangt" (Wirtschaftsnachrichten Venezuela, 6.11.2000, Nr. 22). Die Äußerungen von Chävez zu Energiefragen sind vielfaltig und teilweise widersprüchlich: So kündigte er an, eine Ölfirma mit dem Namen Petroamerica gründen zu wollen, an der Brasilien, Mexiko, Kolumbien und Venezuela beteiligt sein sollen (EU, 30.5.1999). 208

Zwei Monate später regte er die Gründung einer Art NATO für die Karibik und den Südatlantik an (EU, 11.7.1999). Chávez' Außenpolitik ist nach dem mehrtägigen Besuch von Fidel Castro im Oktober 2000 und der neuen Protagonistenrolle Venezuelas in der OPEC seit Herbst 2000 ins Gerede gekommen. In der nordamerikanischen Presse sind Vorwürfe laut geworden, die Chávez vorhalten, er würde die Aufstandsbewegungen in Ekuador und Bolivien finanziell fordern und somit eine parallele Außenpolitik betreiben. Ein entsprechendes Dementi der nordamerikanischen Regierung fiel verhalten aus. Es ist zu vermuten, dass unter der neuen nordamerikanischen Administration von George Bush jr. weitere Spannungen aufkommen könnten. So schreibt Juan Gabriel Tokatlian in einem Meinungsartikel in El Pais unter dem Titel ,Xo revolución andina": „Im ersten Trimester 2001 werden der nächste Präsident der USA und die Staatsoberhäupter Südamerikas gezwungenermaßen auf die Andenregion blicken müssen, wo das revolutionäre Feuer symbolisch brennt" (El Pais, 19.12.2000). In eine ähnliche Richtung weist ein Meinungsartikel von Tad Szulc mit dem Titel Castro, Saddam and Chave: pose challenge to Bush, der in The International Herald Tribune vom 29.12.2000 abgedruckt wurde. Dort heißt es unverblümt: „The Castro-Hussein-Chávez connection is anti-American and anti-capitalistic, but not in an ideological way. What matters to the three is domestic power built upon a base of nationalism that they believe legitimises their policies." Und: "Mr. Chávez is the most intriguing new leader to emerge in Latin America since Mr. Castro". Am 17.2.2001 hat Ex-Präsident Bush im Rahmen eines privaten Ferienaufenthaltes in Venezuela einen einstündigen Besuch bei Chávez absolviert und danach eher vage von seiner charismatischen Persönlichkeit gesprochen. Der Ex-Außenminister Rangel, der seit Februar 2001 als Verteidigungsminister amtiert, hat Gerüchte über nordamerikanische Destabilisierungsversuche der Regierung Chávez als Träumereien und die Ernennung des vormaligen nordamerikanischen Botschafters John Maisto zum neuen Direktor für Lateinamerika beim Sicherheitsrat des Weißen Hauses als gutes Zeichen fur Venezuela bezeichnet (El Nacional (EN), 1.2.2001). Gleichwohl geht die Annäherung an Kuba und Fidel Castro, dessen dritter Besuch innerhalb von drei Jahren im August 2001 mit seinem 75. Geburtstag zusammenfiel, zumindest im symbolischen Bereich einher mit einer Distanzierung von den USA. So kündigte Rangel als venezolanischer Verteidigungsminister im August 2001 an, die nordamerikanische Militännission solle sich von dem Gelände des Stadtflughafens Fuerte Tiuna zurückziehen. In einem dazu erschienenen Kommentar in der Tagespresse war davon die Rede, dass die venezolanisch-nordamerikanischen Beziehungen einen Tiefpunkt erreicht hätten (so Ochoa Antich in EU, 12.8.2001). In den USA und im Ausland ist das Bild von der aktuellen venezolanischen Politik eher negativ. Neben den kritischen Stimmen zu Chávez in der internationalen Presse (Werz 2001) steht eine kleinere Gruppe von Lateinamerika-Beobachtern, die ihn in der Tradition des lateinamerikanischen Nationalismus und 209

Antiimperialismus verorten möchte (Gott 2000). Sie sehen Chävez mit Manuel Marulanda von der kolumbianischen FARC und dem Subcoimndante Marcos von den Zapatisten in der politischen Tradition des „magischen Realismus" Lateinamerikas (Dieterich 2001: 5). Bei der Vereidigung des neuen Außenministers Luis Alfonso Dävila. der bislang Innen- und Justizminister war, erklärte Chävez: „Meine erste Regierung wird von 2001 bis 2007 sein, aber wir könnten bis 2013 bleiben, wenn wir weiter die Unterstützung des Volkes haben" (El Pais, 16.2.2001). Zu den neuen Maßnahmen in der Außenpolitik gehört die angekündigte Schaffung von Handelsvertretungen zur Förderung von Exporten, die nicht aus dem Ölsektor stammen. Auch in Brasilien ist die Einrichtung eines solchen Büros geplant (EN, 13.1.2001).

5. Zusammenfassung und Ausblick Die Beziehungen zwischen Venezuela und Brasilien sind traditionell ausgezeichnet. Seit Ende der 80er Jahre hat eine substanzielle Zunahme des Handelsaustausches stattgefunden, die Beziehungen wurden auch auf Regierungsebene verstärkt. Der brasilianische Präsident Cardoso hat bei verschiedenen Gelegenheiten offenbar versucht, einen mildernden Einfluss auf die gesamtlateinamerikanischen Pläne von Chävez auszuüben. Inwieweit es sich bei den außenpolitischen Absichtserklärungen von Chävez um bloße Rhetorik handelt oder ob er tatsächlich weitergehende gesamtlateinamerikanische Absichten verfolgt, die möglicherweise auch zur Unterstützung von Rebellengruppen fuhren, wird erst die Zukunft zeigen. Die Beziehungen zu Brasilien dürften sich weitgehend unabhängig von den hochgespannten Absichtserklärungen von Hugo Chävez entwickeln.

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Andreas Boeckh

Die Außenpolitik Venezuelas 1. Einleitende Bemerkungen In einer außenpolitischen Grundsatzerklärung des venezolanischen Präsidenten vom August 2000, die ungewöhnlich strukturiert war und offensichtlich nicht aus dem Stegreif gehalten wurde, wurden den Beziehungen zu Brasilien aus einem Gesamtumfang von zwölf Seiten sieben Zeilen gewidmet, die kaum mehr als Gemeinplätze enthielten (Chävez 2001): Wie man es drehen und wenden mag, dass Brasilien eine besondere Bedeutung für die venezolanischen Außenbeziehungen habe, lässt sich daraus nicht ableiten. Dennoch sind die Beziehungen zwischen beiden Ländern dichter, als es die kurze Anmerkung in der Grundsatzerklärung vermuten lässt. Seit längerem gibt es regelmäßige politische Konsultationen zwischen beiden Ländern in gemeinsamen Arbeitsgruppen und auf ministerieller Ebene, in denen anstehende Probleme besprochen werden. In diesem Rahmen wurde auch das Problem der brasilianischen Goldsucher angesprochen, welche immer wieder über die schlecht zu überwachende Grenze auf venezolanisches Gebiet vorgedrungen waren, die mit ihren Schürfaktivitäten dort zum Teil erhebliche Umweltschäden angerichtet haben und die eine Bedrohung für die indigene Bevölkerung darstellten. Die venezolanische Regierung hat mehrfach versucht, die garinipeiros mit Hilfe von Militäreinsätzen los zu werden. Die Gespräche resultierten letztendlich in einem koordinierten Vorgehen beider Länder gegen die illegalen Goldgräber (El Universal, 28.5.1997). Seitdem gibt es zwischen beiden Ländern kaum noch Konfliktpunkte. Zugleich hat sich zwischen ihnen eine Reihe von ökonomischen Kooperationsfeldern herausgebildet, die im Laufe der 90er Jahre u.a. zu einer energiepolitischen Verklammerung des venezolanischen Südens mit dem brasilianischen Norden geführt haben.1 In der letzten Zeit wurden die brasilianisch-venezolanischen Kontakte vor allem von integrationspolitischen Themen beherrscht. Die anstehende Verklam' Zu Einzelheiten siehe die Beiträge von Werz und Hoffmeister im vorliegenden Band.

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merung des Andenpakts mit dem Mercosur, die venezolanische Absicht, dem Mercosur beizutreten, und die brasilianischen Bemühungen, im Zusammenhang mit dem III. Gipfeltreffen der Amerikas in Quebec eine gemeinsame lateinamerikanische Position im Hinblick auf den ALCA-Prozess aufzubauen, haben die Kooperation zwischen beiden Ländern verstärkt. Davon wird später noch die Rede sein. Zunächst sollen in einem ersten Schritt die Parameter der venezolanischen Außenpolitik skizziert werden, die sich auf der einen Seite aus historisch vererbten Problemen und auf der anderen aus der Tatsache ergeben, dass es sich bei Venezuela um einen Ölstaat handelt, der von einer Rente lebt. Dabei sollen die Aspekte im Vordergrund stehen, die mit dem Öl zu tun haben, während die historischen Legate wie die Konflikte mit Guyana und Kolumbien ausgeklammert werden, da sie mit der Fragestellung der Tagung nichts zu tun haben. Abschließend wird es darum gehen, die Folgen der politischen Transformationen in Venezuela für die Außenpolitik des Landes und für die Beziehungen zu Brasilien zu skizzieren.

2. Die Parameter der venezolanischen Außenpolitik Nach der Auflösung von Gran Colombia im Jahre 1830 hat das Land lange Zeit über keine kohärente Außenpolitik verfugt. Der Zusammenbruch der Hegemonie der „Konservativen Oligarchie" im Laufe der 40er Jahre des 19. Jahrhunderts stürzte das Land in eine „permanente Krise" (Morón 1979: 218), die auch durch den Sieg der Liberalen in den Föderalistenkriegen im Jahre 1863 nicht behoben werden konnte. Allein zwischen 1858 und 1899 wurden 418 bewaffnete Auseinandersetzungen größeren Umfangs gezählt (Córdova 1979: 178). Das Land entsprach genau dem, was man heute als „Quasi-Staat" bezeichnen würde (Jackson 1990): Ein Staat, der seine Existenz vor allem seiner völkerrechtlichen Anerkennung verdankte, aber bestimmt nicht einer irgendwie gearteten Regulierungsleistung nach innen oder außen. Noch unter General Gómez (1908-36) bewegte sich die Außenpolitik des Landes in einem institutionell und organisatorisch beschränkten Rahmen. 1926 hatte das Land mit 19 Staaten diplomatische Beziehungen, und das diplomatische Korps umfasste gerade einmal 49 Mitglieder, zu denen noch 47 Konsuln kamen (Ewell 1984: 70). Die wichtigste Aufgabe der Diplomaten bestand damals immer noch darin, die Bewegungen der im Exil befindlichen Regimegegner zu beobachten (Kornblith 1985: 157). Vor der Machtübernahme durch Gómez war es ein zentrales Anliegen der venezolanischen Außenpolitik, von vornherein nicht bedienbare Staatsanleihen auf internationalen Finanzmärkten zu platzieren und bei der anschließenden Zahlungsunfähigkeit das Land vor dem

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Zorn der getäuschten Anleger zu schützen.2 Dass dies nicht immer gelang, zeigte die deutsch-britisch-italienische Flottenblockade von 1902/03, die für das Land insofern glimpflich ausging, als es sich - wie schon zuvor bei der GuyanaKrise von 1895 - auf das Schutzschild der Monroe-Doktrin verlassen konnte. Es war bezeichnend für den Zustand der venezolanischen Außenpolitik, dass man die Vertretung der venezolanischen Interessen bei den Verhandlungen nach der Flottenintervention dem amerikanischen Botschafter überließ.3 Die Konsolidierung des Staates unter General Gómez war die Voraussetzung dafür, dass auch die Außenpolitik eine gewisse Kontinuität und Kohärenz bekam. Dank der Öleinnahmen konnte das Land seine gesamten Auslandsschulden zurückzahlen, was die wichtigste Belastung der venezolanischen Außenpolitik aus der Vergangenheit mit einem Schlag beseitigte (Malavé Mata 1979: 165). Die im Vergleich zu früher auffällige Korrektheit in Fragen der internationalen Verpflichtungen kann man als Reaktion auf die Erfahrungen von 1902/03 sehen. Mit der pünktlichen Bedienung externer Verpflichtungen sollten dem Land außenpolitische Freiräume verschafft werden. Der Vorgänger von General Gómez, Cipriano Castro, hatte sich mit seinen Versuchen, das in Venezuela operierende US-amerikanische Kapital zur Einhaltung von Konzessionsverträgen zu zwingen, und mit seiner nach wie vor lässigen Art des Umgangs mit dem Schuldenproblem den Zorn der US-Regierung eingehandelt, die zeitweise sogar eine militärische Intervention in Erwägung zog, und die ihn daran hinderte, nach dem Putsch von General Gómez ins Land zurückzukehren (Rabe 1982: 8-13). Da Gómez im Gegensatz zu seinem Vorgänger sehr wohl wusste, wen er sich als Feind leisten konnte, betrieb seine Regierung gegenüber dem US-amerikanischen Kapital eine regelrechte Appease«;ew/-Politik, was dessen Operationsbedingungen und die Nicht-Sanktionierung von dessen dauernden Rechtsübertretungen anging. Damit sollten immer vermutete, aber nie nachgewiesene und wahrscheinlich auch gar nicht existente amerikanische Bestrebungen unterlaufen werden, den Bundesstaat Zulia mit seinen Ölvorkommen nach dem Muster Panamas aus dem venezolanischen Staatsverbund herauszutrennen. 2

Die Anleihe von 1864 war die erste in einer langen Reihe von Krediten, deren Platzierung von der Regierung anscheinend von vornherein als Gaunerstück inszeniert worden war, da keine der in Aussicht gestellten Sicherheiten wirklich existierte. Die Erkenntnis, dass es sich bei dem venezolanischen Staat um ein Gebilde handele, das sich europäischen Maßstäben entziehe und dass dieser Staat keinerlei kapitalistische Regeln und Rücksichten kenne, wurde besonders eindrucksvoll von dem Beauftragten der Londoner Bank beschrieben, welche die venezolanische Anleihe vermittelt hatte, und die ihn nach Venezuela geschickt hatte, um die von der venezolanischen Regierung zugesagten Sicherheiten vor Ort pro forma zu überprüfen (Eastwick 1959, '1868). Unter der Ägide des Präsidenten Guzmän Blanco, der 1863/64 als Außenminister bei der Aushandlung der damaligen Staatsanleihen erste Erfahrungen mit den Auslandskrediten als Instrument der Selbstbereicherung hat sammeln können, wurde diese Methode verfeinert. „Guzmän Blanco was the first Venezuelan leader to see the connection between foreign contacts and loans, national government resources, the suppression of local revolts and personal wealth" (Lombardi 1982: 192).

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Aus venezolanischer Sicht: Rodriguez Campos (1977).

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Zugleich aber war man bemüht, keine ausschließlichen Abhängigkeiten im Ölsektor aufkommen zu lassen. Die Ölforderrechte wurden nach 1918 trotz massiven Drucks der amerikanischen Regierung zwischen amerikanischen und anglo-holländischen Konzernen ausbalanciert, und sehr zum Ärger der USA versuchte die Regierung 1924, wenn auch vergeblich, den deutschen StinnesKonzern ins Land zu holen (McBeth 1983: 99-101). Darüber hinaus wurde die Bedeutung des Öls für die Entwicklung des Landes und der Staatseinnahmen von Mitgliedern der politischen Elite schon früh erkannt. Der damalige Präsident des Banco de Venezuela, Vicente Lecuña, hat die Interessen des künftigen Rentierstaates schon 1918 sehr deutlich formuliert: Angesichts der Unterentwicklung des Landes könne man das Öl nicht als Rohstoff im Lande selbst nutzen, da hierfür keine Nachfrage existiere, und es seien aus dem selben Grund auch keine Linkage-Effekte des Ölsektors mit dem Rest der Ökonomie zu erwarten. Es sei daher unvermeidlich, das Öl zu exportieren. Folglich lasse sich das Land allein über ein Renteneinkommen4 am Ölreichtum beteiligen, und dieses solle möglichst hoch ausfallen, denn anders als in den USA, wo das Erdöl im Lande selbst genutzt werde, liege ein niedriger Preis nicht im Interesse Venezuelas. Fortan ging es um die Rente (zunächst um die Differenzialrente) und ihre Aufteilung zwischen dem Staat als dem Grundeigentümer und den Ölgesellschaften als dem Pächterkapital. Damit war ein Dauerkonflikt mit den ausländischen Ölgesellschaften vorprogrammiert, der sich nach dein Tode des Diktators Gómez (1936) zu entfalten begann und zunehmend an Schärfe gewann (hierzu ausfuhrlich Baptista/Mommer 1987; Mommer 1983). Angesichts der hohen und rasch steigenden Abhängigkeit des venezolanischen Staates von den Öleinnahmen musste es für die venezolanische Außenpolitik darauf ankommen, das internationale Umfeld so zu beeinflussen, dass es den venezolanischen Bestrebungen nach einer Rentenmaximierung nicht im Wege stand. Dies bedeutete zweierlei: •



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Die wichtigsten Adressaten venezolanischer Außenpolitik waren die Staaten, in denen die in Venezuela operierenden Firmen ansässig waren, und die das venezolanische Öl abnahmen. Sieht man von den ererbten Territorialkonflikten mit zwei Nachbarländern ab (Britisch-Guyana und Kolumbien), waren lateinamerikanische Staaten für die venezolanische Außenpolitik von geringer Bedeutung. Es musste sowohl darauf ankommen, die Regierungen der Länder, in denen die Ölmultis beheimatet waren, davon abzuhalten, im venezolanischen Dauerkonflikt mit den Ölfirmen immer und automatisch die Partei der Ölfirmen zu ergreifen, wie auch die Märkte in den Abnehmerländern offen zu Der Begriff „Rente" war in der venezolanischen Debatte um die Einnahmen aus dem Ölsektor allerdings lange Zeit tabuisiert. Man bediente sich allerlei begrifflicher Verrenkungen („natürliches Kapital" etc.), bis dann die Krise des Rentenmodells Anfang der 80er Jahre einen Umschwung brachte (Boeckh 1997).

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halten. Dies bedeutete, dass die venezolanische Seite vor allem in den USA versuchte, auf allen Ebenen des sehr komplexen Entscheidungsgefiiges in der Öl- und Außenpolitik durch Lobbyarbeit präsent zu sein. Natürlich überstieg es die damaligen Möglichkeiten der venezolanischen Außenpolitik, das internationale Umfeld aktiv zu beeinflussen. Wohl aber konnte man auf Chancen reagieren, die sich aus den Veränderungen in diesem Umfeld ergaben. Eine solche Chance war der Zweite Weltkrieg, als die Alliierten auf zuverlässige Öllieferungen aus Venezuela angewiesen waren. 1943 gelang es der venezolanischen Regierung, das in den frühen Konzessionsverträgen festgelegte Besteuerungsverbot der Ölfirmen gegen deren erbitterten Widerstand zu durchbrechen, wobei das amerikanische Außenministerium diesmal den Ölfirmen eine größere Konzessionsbereitschaft nahe legte. Der Anteil Venezuelas schnellte mit der Ausdehnung der Steuerhoheit auf den Ölsektor von ca. 19% am gesamten Gewinn der Konzerne auf 60% hoch, um sich dann für die nächsten 15 Jahre bei 50% einzupendeln (Boeckh/Hörmann 1992: 517). Nach der Ausdehnung der Steuerhoheit auf den Ölsektor hing die Höhe der Besteuerung der Ölfirmen im Prinzip von der Entwicklung des internationalen Ölmarkts ab, d.h. von der Fähigkeit der Ölkonzerne, bei zu hohen Rentenforderungen eines Produzentenlandes auf andere Förderregionen auszuweichen. Zwei miteinander verschränkte Entwicklungen veränderten im Laufe der 50er Jahre den internationalen Ölmarkt in einer fiir Venezuela bedrohlichen Weise und zwangen das Land zu außenpolitischen Aktivitäten, die den bisherigen Rahmen sprengten. Der Verfall des Kartells der führenden Ölkonzerne im Laufe der 50er Jahre zog einen Verfall der Ölpreise nach sich, und die zunehmende Verquickung der protektionistischen Interessen der unabhängigen Ölproduzenten in den USA mit nationalen Sicherheitsinteressen (Lübken 1995: Kap. 3) bedrohte den freien Zugang zum amerikanischen Markt. In Staaten, die sich vor allem über die Rente finanzieren, ist die Legitimierung von Herrschaft zum großen Teil eine Funktion der Höhe der Renteneinnahmen von außen und der Rentenverteilung nach innen (Pawelka 1997). Die fallenden Ölpreise und damit die fallenden Staatseinnahmen aus dem Ölsektor stellten das junge demokratische Regime nach 1958 mit seiner ohnehin prekären Legitimation vor die Herausforderung, das internationale Umfeld in einer Weise zu beeinflussen, dass sich die Öleinnahmen wieder stabilisieren und langfristig erhöhen ließen. Die Gründung der OPEC im Jahre 1960 ging nicht zufällig auf eine venezolanische Initiative zurück, denn Venezuela verfugte über die längsten Erfahrungen als Erdölland. Zugleich versuchte die Regierung Betancourt, ihre Außenpolitik auch noch auf andere Weise in den Dienst der Regimestabilisierung zu stellen. Bedroht durch massive Destabilisierungsversuche sowohl durch das Regime in Kuba wie auch durch Rafael Trujillo in der Dominikanischen Republik, verschrieb sich die Regierung einer Isolierung diktatorischer Regime durch deren Nicht-Anerkennung (Betancourt-Doktrin). Damit befand sie sich durchaus im Trend der Zeit, 216

da die Kennedy-Administration damals ebenfalls auf eine Stützung demokratischer und reformbereiter Regierungen zur Abwehr der kommunistischen Bedrohung setzte. Beginnend mit dem Militärputsch in Brasilien im Jahre 1964 setzte jedoch in Lateinamerika mit der offenen oder stillschweigenden Unterstützung der USA eine autoritäre Regression ein. Ein Festhalten an der BetancourtDoktrin hätte unter diesen Bedingungen die Selbstisolierung des Landes bedeutet, weshalb diese Doktrin aufgegeben wurde (siehe auch den Beitrag von Werz). Gleichwohl blieb es lange Zeit ein Anliegen venezolanischer Außenpolitik, Demokratisierungsprozesse im näheren und weiteren Umfeld des Landes zu fördern. Das venezolanische Engagement im Contadora-Prozess der 80er Jahre und bei den zeitgleichen Demokratisierungsbemühungen in Zentralamerika standen somit durchaus in der Tradition der venezolanischen Außenpolitik. Die Gründung des Erdölproduzentenkartells war sicherlich einer der größten Erfolge der venezolanischen Außenpolitik, zumal es gelang, den Widerstand der Regierungen der Industrieländer gegen diese Maßnahme gering zu halten. Dies fiel insofern leicht, als man dort dem Kartell einiger rückständiger Entwicklungsländer nicht viel zutraute (Rabe 1982: 157-162), und da es den OPECLändern gelang, ihre Öleinnahmen zu stabilisieren und z.T. auch leicht anzuheben, ohne damit zunächst den Weltmarktpreis des Öls zu beeinflussen. Das Potenzial dieses Kartells wurde erst sehr viel später sichtbar, als sich von 1973 auf 1974 die Ölpreise vervierfachten. Mit der Explosion der Öleinnahmen änderte sich auch das außenpolitische Verhalten des Landes. Die venezolanische Regierung betrachtete ihr Land nun als Mittelmacht5, die ihren Ölreichtum zur Beeinflussung der angrenzenden Länder zu nutzen versuchte. Venezuela trat nach 1974 in der Region als Kreditgeber auf und lieferte Öl unter dem Weltmarktpreis an einige Länder Zentralamerikas und der Karibik (Josko de Guerón 1992: 52f.). Es gab damals sogar Äußerungen venezolanischer Politiker, die das Land in Zentralamerika in einer Hegemonialkonkurrenz zu den USA sahen. Die Politik der kompensatorischen Transfers an einige Länder der Dritten Welt in der unmittelbaren Umgebung empfahl sich auch schon deshalb, da sonst die tercer-mundistische Rhetorik, die man Mitte der 70er Jahre pflegte, kaum glaubwürdig gewesen wäre. Bei der Gründung des Sistema Económico Latinoamericano (SELA), dessen Gründungsdokument ebenfalls stark durch tercermundistische Positionen geprägt war (http://lanic.utexas.edu/project/seIa/engdocs/panconv.htm), spielte der damalige Präsident Carlos Andrés Pérez eine führende Rolle. Der tercernnmdismo war ein Vehikel, um die Durchsetzung der hohen Ölpreise als einen Sieg der Dritten Welt zu präsentieren, dem noch weitere Siege dieser Art durch andere Rohstoffkartelle folgen könnten, eine Hoffnung bzw. Befürchtung, die in der damaligen Zeit mit ihren neo-malthusianischen Vi5

Zur Debatte um den Charakter des Landes als regionale Mittelmacht bzw. als „subimperialistische" Macht, siehe Cardozo de Da Silva (1987).

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sionen von Entwicklungs- und Industrieländern gleichermaßen geteilt wuide. Mit der angestrebten Durchsetzung einer „Neuen Weltwirtschaftsordnung" sollten hohe Rohstoffpreise, und damit natürlich auch die hohen Ölpreise, politisch in der internationalen Politik abgesichert werden. Die Krise des rentengestützten Entwicklungsmodells zu einem Zeitpunkt, als sich der Ölpreis auf seinem historischen Höhepunkt befand (ab 1980) und der nachfolgende Verfall der Ölpreise sowie die Schuldenkrise, die 1983 auch Venezuela erfasste, bereiteten den Mittelmachtambitionen des Landes ein vorläufiges Ende.

3. Präsident Chävez und der Bolivarianismo Der rapide Zerfall des politischen Paktes (Karl 1987), auf dem sich die demokratische Stabilität seit 1958 gründete, führte das politische System des Puntofijisino in die Krise6, und die Wahl des ehemaligen Putschisten Chävez zum Präsidenten war gewissermaßen sein Gnadenstoß. Dem Amtseid auf die „moribunde Verfassung" durch den neugewählten Präsidenten folgte eine rasche und gründliche Umgestaltung der politischen Strukturen, die dem Land eine politische Regression und alle Merkmale einer „delegativen" bzw. „defekten" Demokratie verliehen (Boeckh 2000/01). Was bedeuten die politischen Transformationen für die venezolanische Außenpolitik? Von der chavistischen Fundamentalkritik an den Institutionen des alten Regimes blieb auch der Auswärtige Dienst nicht verschont, und wie bei der Kritik an den anderen Institutionen auch, traf sie ins Schwarze. Dem Außenminiserium fehlt es an professionellem Sachverstand, und das Personal des diplomatischen Dienstes wurde laut Angaben des Außenministeriums nur zu 35% mit Karrierebeamten besetzt. Von den Missionschefs haben gerade einmal 18% eine professionelle Laufbahn hinter sich (http://www.mre.gov.ve/temas/temasl.htm). Eine Evaluierung des Auswärtigen Dienstes scheint laut dem ehemaligen Direktor der dem Außenministerium angegliederten Diplomatenschule verheerend ausgefallen zu sein (El Universal, 9.5.2001). Allerdings scheint hier die Kritik ebenso wie in den anderen Politikfeldern keine Reformen des Staatsapparites einzuleiten, sondern lediglich darauf hinauszulaufen, das bisherige Personal gegen eigene Anhänger auszutauschen, die sich keineswegs durch ein höheres Maß an professioneller Kompetenz auszeichnen (Pradera 2001: 3). Gleichwohl hat die venezolanische Außenpolitik seit Chävez neue Züge bekommen. Man kann zweifellos einen markanten Stilwandel in der venezolanischen Außenpolitik feststellen. Während sie sich früher weitgehend im Sti len abspielte, ist sie heute Teil der spektakulären Politikinszenierung des Regimes, in deren Mittelpunkt die Person des Präsidenten steht. Dies äußert sich einmal in einem enormen Reisepensum des Präsidenten, wobei die Auswahl der Reiseziele 6

So benannt nach der Finca „Punto Fijo" von Rafael Caldera, auf welcher der Pakt besiegelt wurce.

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zum Teil nur dann einen Sinn ergibt, wenn sie als gezielte Provokation der USA interpretiert wird. Die Provokation ist inzwischen geradezu zum Merkmal der präsidentiellen Außenpolitik geworden: Die Liebesaffare mit Fidel Castro und der Besuch bei und die gemeinsame Stadtrundfahrt mit Saddam Hussein zielen genauso wie die gelegentliche anti-imperialistische Rhetorik auf die USA. Das Abstimmungsverhalten Venezuelas bei Menschenrechtsfragen und die offene Opposition gegen die Verurteilung der VR China und Kubas haben ebenfalls für Irritationen in den USA gesorgt. Aber auch in Lateinamerika lässt der Präsident kaum ein Fass ungeöffnet: Welchen Nutzen hat Venezuela davon, sich für einen freien Zugang Boliviens zum Meer einzusetzen (O Estado de Säo Paulo, 29.8. 2000)? Es wird in Venezuela, aber auch anderswo, darüber gerätselt, wie dieser neue Politikstil zu interpretieren sei. Eine Erklärung sieht in dem außenpolitischen Spektakel ein Manöver, um von der äußerst dürftigen wirtschaftlichen und sozialen Bilanz des Regimes abzulenken.7 Nachdem die Verfassung verabschiedet und die V. Republik etabliert ist, und nachdem keine neuen Wahlen anstehen, sei die Außenpolitik das Forum für die präsidentiellen Inszenierungen geworden. Zumindest die Brüskierungen der USA kann man in der Tradition populistischer Regime sehen, welche ihre Beziehungen zu Kuba gerne als symbolischen Ausweis ihrer Souveränität und Eigenständigkeit gegenüber den USA instrumentalisierten. Diese Politik hatte in der Vergangenheit und vermutlich auch heute im Falle von Chävez zwei Adressaten: Außenpolitisch sollte die lateinamerikanische Solidarität bzw. die Solidarität mit der Dritten Welt postuliert werden. Während in den 70er Jahren der verbale tercermundismo angesichts der damaligen Bestrebungen, die Regeln des internationalen Handels zugunsten der Dritten Welt zu verändern, durchaus Sinn machte, zumal sich Venezuela mit seiner Ölkartellpolitik als Wegbereiter einer neuen Strategie der rohstoffexportierenden Länder präsentieren konnte, ist heute diese Rhetorik ohne reale Basis. Der zweite Adressat sind Teile des heimischen Publikums, die von den Rempeleien mit dem ungeliebten Hegemon beeindruckt werden sollen. Wir haben es hier mit politischem Machismo zu tun, der nach innen gerichtet ist, und der die tatsächlichen Kräfteverhältnisse nicht berührt. Die Clinton-Regierung schien das ähnlich zu sehen. Trotz ungehaltener Äußerungen aus dem Kongress und wichtiger Zeitungen wie der New York Times und der Washington Post, die Chävez als lateinamerikanischen Unruhestifter und verkappten Linksradikalen einschätzten, hat sie sich auffallig gelassen verhalten, wobei die Toleranz wohl auch dem Sachverhalt geschuldet ist, dass die USA auf verlässliche Erdöllieferungen aus Venezuela angewiesen sind. Die Bush-Administration scheint jedoch 1

Laut der statistischen Behörde des Landes hat der Anteil der als arm einzuschätzenden Bevölkerung zwischen 1999 und 2000 von 80 auf 90% zugenommen (El Nacional, 7.2.2001), und der Anteil der in extremer Armut lebenden Bevölkerung ist zwischen 1999 und 2000 von 33,8 auf 44,6% gestiegen (El Nacional, 5.4.2001).

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über weniger Toleranzreserven zu verfugen. Gegenüber seinem brasilianischen Kollegen Cardoso hat Präsident Bush sehr deutlich seine Bedenken gegenüber der Außenpolitik Venezuelas zu erkennen gegeben (El National, 3.4.2001). Der Bolivarianismo, den das Regime als integrative Ideologie nach innen zu propagieren versucht, findet seinen Niederschlag auch in der Außenpolitik. Ähnlich wie Simon Bolivar, der einen lateinamerikanischen Großstaat propagierte, um so Lateinamerika gegen spanische Rückeroberungsgelüste, aber auch gegen die expansive Dynamik der USA wappnen zu können, fordert die Regierung Chävez eine Forcierung des lateinamerikanischen Integrationsprozesses, und dies mit einer ausgeprägt anti-imperialistischen Rhetorik. Die Vorstellungen gehen weit über eine ökonomische Integration hinaus, die - so der ehemalige Außenminister Rangel - als formal und rituell abqualifiziert wird (Rangel 1999): „Der bolivarianische Traum, eine große Konföderation der mestizischen Nationen zu gründen, ist nach wie vor aktuell. Er ist keine Utopie" (Chävez 2001: 8). Die Idee eines Staatenbundes verbindet sich mit der Forderung nach einem gemeinsamen lateinamerikanischen (El National, 31.8.2000) oder wenigstens nach einem venezolanisch-brasilianischen Verteidigungsbündnis als Vorstufe zu einem die gesamte Region umspannenden Gegenstück zur NATO (O Estado de Säo Paulo, 31.8.2000). Ob sich hinter diesem grandiosen Entwurf wirklich ein lateinamerikanischer Führungsanspruch von Hugo Chävez verbirgt, wie man in der „New York Times" (24.9.2000) spekuliert, oder ob dies nur rhetorische Gesten sind, die das heimische Publikum zum Adressaten haben, sei dahingestellt. Trotz der ins Gigantische gehenden Integrationsvisionen gibt sich die venezolanische Regierung auch mit weniger zufrieden. Das Freihandelsabkommen zwischen dem Mercosur und dem Andenpakt hat Präsident Chävez als temporärer Vorsitzender der Andengruppe unterzeichnet, und die auf der Konferenz von Rio im September 2000 versammelten zwölf Regierungschefs wurden mit dem ihm eigenen rhetorischen Bombast als "die zwölf Apostel der Integration" gefeiert (http://www.quepasa.html).8 Mit der erneuten Hinwendung zu Zentralamerika und der Karibik, deren Länder (Kuba eingeschlossen) präferentielle Ölpreise zugesichert bekamen, knüpft die venezolanische Außenpolitik an den Tendenzen der 70er Jahre an, Venezuela in der Region als Mittelmacht zu etablieren. Diese Politik wird rhetorisch in den Kontext der lateinamerikanischen Integration gestellt, dürfte aber eher dem Ziel dienen, dem Land in der Region eine herausragende Stellung zu verleihen und ihm ein wohl gesonnenes Umfeld zu verschaffen. Ob dies sich auszahlen wird, muss sich noch zeigen. In den siebziger Jahren jedenfalls hat man sich mit dieser Politik nicht nur Freunde gemacht (Lanza 1980). Was nun die Integration in und die Assoziierung von immer mehr lateinamerikanischen Staaten an den Mercosur angeht, berühren sich die Zielsetzungen 8

Zur Einbindung Venezuelas in die verschiedenen Integrationsschemata der Region siehe Giacalone (1997).

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Venezuelas und Brasiliens. Sowohl die venezolanische wie auch die brasilianische Regierung geben zunächst einmal einer Vergrößerung des südamerikanischen Integrationsraums den Vorrang. Im Vorfeld der Konferenz in Quebec waren sich beide Länder einig, dass die von einigen Teilnehmern favorisierte Vorverlegung der ALCA von 2005 auf 2003 abzulehnen sei, und auch bezüglich der Einrichtung der ALCA im Jahre 2005 wurden Bedenken artikuliert. Präsident Cardoso thematisierte in seiner Rede in Quebec die amerikanische Neigung, zu nicht-tarifaren Handelshemmnissen zu greifen, was eine Einigung bei den Zolltarifen entwerte, und Präsident Chävez verwies auf die äußerst geringe Konkurrenzfähigkeit des Landes bei all jenen Wirtschaftszweigen, die nichts mit dem Erdöl zu tun haben.9 Angesichts dieser Voraussetzung brauche das Land Zeit, da sonst die Integration in die ALCA eine Desintegration der venezolanischen Wirtschaft nach sich ziehen könne (El Nacional. 23.4.2001). Der Versuch, einen lateinamerikanischen Integrationsraum zu schaffen, um die eigene Verhandlungsposition zu verbessern, musste jedoch daran scheitern, dass immer mehr Länder in Lateinamerika ihre Präferenz bei der NAFTA und nicht im Mercosur sehen. Die Tatsache, dass ausgerechnet der argentinische Wirtschaftsminister Cavallo bei jeder sich bietenden Gelegenheit und gerade zu Beginn der Konferenz in Quebec den Mercosur für Argentinien als "zweite Wahl" und die chilenische Annäherung an die NAFTA als vorbildlich bezeichnete (El Universal, 20.4.2001, El darin, 6.5.2001), und die zunehmende Dollarisierung in Lateinamerika machen deutlich, dass eine South American Free Trade Association (SAFTA) als Vorstufe zur FTAA keine Chance hat, und dass entsprechende brasilianische und venezolanische Bemühungen ins Leere laufen. Solange die amerikanische Regierung für die FTAA-Verhandlungen noch keine fast /racA-Genehmigung des Kongresses bekommen hat, braucht man sich in Brasilien und Venezuela noch keine allzu großen Sorgen zu machen. Gleichwohl kann das brasilianische Gegenprojekt als gescheitert gelten. Viel wahrscheinlicher ist es, dass nun verschiedene lateinamerikanische Länder dem Beispiel Chiles folgen und einem bilateralen Verhandlungsansatz den Vorzug geben werden. Inwieweit sich Venezuela angesichts der anti-imperialistischen Rhetorik der gegenwärtigen Regierung überhaupt auf den ALCA-Prozess einlassen will, muß sich noch zeigen. Um einer völligen Isolierung auf dem Gipfel von Quebec zu entgehen, hat die Regierung dem weiteren Zeitplan und Aktionsprogramm zugestimmt, allerdings mit dem Vorbehalt, dass der Beitritt zur ALCA die Mehrheit bei einer Volksabstimmung bekommen müsse. Die außenwirtschaftliche Situation des Landes legt einen solchen Schritt nicht unbedingt nahe. Das Land ist außenwirtschaftlich ohnehin stark mit den USA verflochten, und es ist

® Bei den industriellen Gutem ist Venezuela nach Ekuador das Land mit der geringsten Konkurrenzfähigkeit in Lateinamerika. Es hat zudem noch zwischen 1996 und 2000 an relativer Konkurrenzfähigkeit verloren (El Universal. 4.4.2001).

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nicht zu sehen, wie die ALCA die venezolanische Position verbessern könne.10 Das venezolanische Erdöl lässt sich auch ohne ALCA in den USA absetzen. Auch die an den Ölsektor angelagerten Industrien (Chemie, Kunststoffe äc.) haben in den USA jetzt schon ihren größten Markt. Im Jahre 2000 gingen 36.7% der "nicht-traditionellen" Exporte dorthin (http://www.ocei.gov.ve/estatistca. index.htm). Sofern sich mit ALCA die US-amerikanische Neigung, bei Bedarf zu nicht-tarifaren Handelshemmnissen zu greifen, reduzieren ließe, eine 7endenz, von der auch venezolanische Exporte wiederholt betroffen waren, körnte sich auch für Venezuela eine Verbesserung ergeben. Wie schon angedeutet, liegt jedoch das eigentliche Problem für Venezueli in der geringen Konkurrenzfähigkeit all jener Industrien und Wirtschaftszwege, die nichts mit dem Öl zu tun haben. Diese hat verschiedene Ursachen, die iber allesamt nicht leicht zu beheben sind. Die chronische Überbewertung der Landeswährung ist aus politischen Gründen nur schwer veränderbar. Angesichts der hohen Importabhängigkeit des Landes, auch im Bereich der Grundnahruigsmittel, würde eine Abwertung die soziale Bilanz des Regimes bei den Amen des Landes noch schlechter ausfallen lassen, als sie ohnehin schon ist. Die Armen sind aber genau die Bevölkerungsschicht, bei welcher die Popularität des Regimes noch ungebrochen ist. Dies stellt all jene Wirtschaftszweige, die anders als das Erdöl und die chemische Industrie nicht über enorme komparative Vorteile verfugen, vor Probleme. Hinzu kommt, dass der alarmierende Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung" die Sicherheitskosten für die Unternehmen auf ca. 15% der Betriebskosten hochgetrieben haben (El Universal, 5.3.2001) jnd wichtige ausländische Firmen zur Abwanderung aus Venezuela veranlasst hat. Was die Transparenz wirtschaftspolitischer Entscheidungen und deren Regel/erlässlichkeit angeht, belegt Venezuela zusammen mit Guatemala und Ekuador die letzten Plätze in Lateinamerika (http://www.opacityindex.com/ind_theindex. html). Bei der Risikoeinschätzung hatte Venezuela zum Zeitpunkt des ALCAGipfels angesichts der drohenden Abwertung in Argentinien und eines nicht auszuschließenden Wahlsiegs von Alan Garcia in Peru die rote Laterne abgegeben und lag auf dem drittletzten Platz in Lateinamerika (El National, 24.4.2001), was aber kaum als Empfehlung gelten kann. Kurzum, die verteilungspolitischen Rahmenbedingungen der Wirtschaftspolitik, der imere Zerfall des Landes und nicht zuletzt der Charakter des Regimes selbst bieten denkbar schlechte Voraussetzungen dafür, dass die Wirtschaft rasch an Konkurrenzfähigkeit gewinnt und das Land bis zum Jahr 2005 integrationsflhig wird. Auch hinsichtlich der Einschätzung der kolumbianischen Probleme ergeben sich zwischen der venezolanischen und brasilianischen Regiening bei oberflich10

1998 kamen 42,1% der venezolanischen Importe aus den USA, und 47,8% der venezolanischen Exporte gingen dorthin (http://www.infoexport.gc.ca). " Die Anzahl der Morde hat sich zwischen 1998 und 2000 knapp verdoppelt und seit 1990 knapp vervierfacht (ElNacional, 27.4.2001).

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licher Betrachtung Übereinstimmungen. Die Befürchtung, dass die militärischen Elemente des Plan Colombia die ganze Region destabilisieren könnten, wird von beiden geteilt, wenngleich Präsident Chävez auf der Konferenz in Quebec überraschend von seiner strikten Ablehnung des Plans abgerückt ist. Gleichwohl ist die venezolanische Politik gegenüber Kolumbien anders als die brasilianische wenig dazu angetan, zur Stabilität der Region beizutragen. Die Beschimpfungen der kolumbianischen „Oligarchie", die Geste der Neutralität, welche die kolumbianische Regierung mit den Rebellen auf eine Stufe stellt, und die nie ganz geklärten Kontakte zu den Rebellen selbst haben nicht nur in Kolumbien den Eindruck erweckt, dass die venezolanische Regierung in diesem Konflikt zugleich den Brandstifter und den Feuerwehrmann spielt. Dass nun von Sprechern der FARC der Bolivarianismo chavistischer Prägung als Politikmodell auch für Kolumbien angepriesen wird, lässt Schlimmes erahnen. Die erhöhten Aktivitäten des Landes im Rahmen der OPEC sind angesichts der verzweifelten wirtschaftlichen und sozialen Situation des Landes auf Anhieb verständlich. Mit der Rückkehr zu einer Politik der Quoteneinhaltung und der Stärkung der OPEC hat das Land wohl seinen größten außenpolitischen Erfolg errungen, der sich bisher in steigenden Öleinnahmen niedergeschlagen hat. Zur Erreichung dieses Ziels war es jedoch notwendig, erst einmal die staatliche Ölgesellschaft unter die Kontrolle des Regimes zu bekommen, die bislang ganz offen die Förderquoten der OPEC ignoriert und zudem durch Transferpreise dem Staat seit 1983 massiv Steuern entzogen hat (Mommer 2001). Die Regierung setzt nun wieder ganz auf eine Rentenmaximierung, um sich so verteilungspolitische Spielräume zu verschaffen. Damit löst sie zwar kein einziges der wirtschaftlichen Strukturprobleme des Landes, im Gegenteil: Die Rente ist schon längst zum Entwicklungsproblem geworden (Boeckh 1997). Sie kann sich damit aber politische Legitimität erkaufen, wobei sie die früher von Parteien und Verbänden und zunehmend auch von regionalen Politikgrößen gesteuerten Klientelnetze mit dem Plan Bolivar zentralisiert und gewissermaßen verstaatlicht. Der Ölpreis wird damit für die Popularität und Legitimität des Regimes gerade bei der armen Bevölkerung zu einem wesentlichen Element, womit zugleich auch die besondere Verletzlichkeit des Regimes markiert ist.

4. Abschließende Bemerkungen Man muss Venezuela heute als ein politisch instabiles Land einschätzen. Seine Außenpolitik, die ohnehin schon wenig berechenbar und irrlichternd ist, kann in Zukunft noch deutlicher die inneren Probleme des Landes reflektieren. Trotz gegenteiliger Beteuerungen gewinnt man den Eindruck, dass Chävez seinem caudillistischen Politikmodell für die Region Vorbildcharakter zubilligt. Inwieweit seine Regierung bei einer Verschärfung der inneren Krise bereit sein wird, den demokratischen Konsens in Lateinamerika aufzukündigen, wird sich zeigen müssen. 223

Der Ölreichtum allein reicht nicht, u m d e m Land die angestrebte außenpolitis c h e R o l l e z u v e r s c h a f f e n . D a s außenpolitische G e w i c h t e i n e s Landes hängt w e i t g e h e n d d a v o n ab, o b e s s i c h als konsolidiertes S t a a t s w e s e n präsentieren kann, d e s s e n Z i e l k o n f l i k t e auf der M e t a e b e n e g e l ö s t sind. D a v o n ist das Land w e i t entfernt. D i e bisherigen politischen R e g r e s s i o n e n , die chronischen wirts c h a f t l i c h e n P r o b l e m e und das administrative C h a o s bieten n a c h außen ein verh e e r e n d e s B i l d und lassen d a s Land als Q u e l l e politischer Instabilität in der R e g i o n erscheinen.

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GUnther Maihold

Von der qualifizierten Kongruenz zum „mexikanischen Dilemma": Mexiko zwischen NAFTA und ALCA Mit Amtsübernahme der Regierung von Präsident Vicente Fox Quesada am 1. Dezember 2000 hat sich auch die Orientierung der mexikanischen Außenpolitik verändert. Außenpolitik soll jetzt auch Außenwirtschaftspolitik und Investitionsforderung bedeuten, Aufgaben, die sich mit dem Prozess der außenwirtschaftlichen Öffnung der Einwirkung des Außenministeriums entzogen hatten. Mit der Abspaltung der wirtschaftlichen Außenvertretung vom traditionellen Strang der Außenpolitik konnte diese eine große Kontinuität nachweisen, die weithin an Traditionsbeständen der doktrinären Entwicklung in der Theorie der Außenpolitik des Landes wie der Estrada-Doktrin ausgerichtet war. Nunmehr soll sie sich über die Verteidigung der Souveränität und der nationalen Sicherheit als Leitwerten hinaus auch auf die Förderung der sozioökonomischen Entwicklung des Landes erstrecken.' Damit vollzieht das mexikanische Außenministerium einen Prozess institutionell nach, der seit der Verabschiedung des NAFTA-Abkommens bereits politische Realität geworden war; allerdings hatte sich diese außerhalb der bestehenden Strukturen des Außenministeriums über das Ministerium für Handel und Wirtschaftsförderung (SECOFI) sowie andere Ministerien vollzogen, so dass der neue Minister nunmehr nach 15 Jahren die Rückkehr der Subsecretario de Relaciones Económicas Internacionales als eines vierten Vize-Ministeriums in sein Amt feiern konnte, das die neuen Aufgaben in Koordination mit den anderen Fachministerien gestalten soll.

So fühlte der mexikanische Außenminister bei seiner Amtsübernahme am 2. Dezember 2000 aus: „[...] la Diplomacia Mexicana del nuevo milenio ya no debe ser sólo un instrumento central en la preservación de la soberanía y de la seguridad nacional, sino que debe convertirse en una palanca para promover y apuntalar el desarrollo socioeconómico de México" (www.sre.gob.mx/comunicados/ prensa/dgcs/2000/dic/B-383.htm).

1. Neue Positionen in der mexikanischen Außenpolitik der Regierung Fox Um Elemente der Neupositionierung in der jüngsten Außenpolitik Mexikos identifizieren zu können, sollen in einem ersten Zugang ihre Traditionselemente kurz angesprochen werden, die sich seit der Spätrevolution herausgebildet haben. Dabei müssen insbesondere jene Charakteristika hervorgehoben werden, die sich aus der spezifischen Beziehung zwischen Innen- und Außenpolitik (Maihold 1987) sowie den Systemimperativen des politischen Herrschaftsapparates des PRI ergeben. Zudem gilt es in einem weiteren Schritt, die sich nicht zuletzt mit der Globalisierung wandelnden geopolitischen Dimensionen der Nähe zu den USA sowie die daraus gewonnenen historischen Erfahrungen zu berücksichtigen, die bis heute das Land prägen. In einem zweiten Schritt sollen dann die neuen Ansätze in der Außenpolitik, die teilweise nur in der Form von Absichtserklärungen der neuen Regierung erkennbar sind, gegenübergestellt werden. 1.1. Traditionselemente der mexikanischen Außenpolitik: Legalistische Passivität und aktivistischer Reformismus Die mexikanische Außenpolitik hatte sich bislang durch ein Schwanken zwischen zwei Extremen ausgezeichnet: legalistische Passivität einerseits und aktivistischer Reformismus andererseits (Poitras 1985: 103). Dieser Strategiewechsel folgte dabei den grundlegenden Imperativen, die für die mexikanische Außenpolitik in den vergangenen Jahrzehnten maßgeblich waren: Zunächst die „strukturelle Schwäche" (Chabat 2000: 77) des Landes, eine direkte Konfrontation mit dem nördlichen Nachbarn vermeiden zu müssen, da die Abhängigkeit Mexikos von der wirtschaftlichen Konjunktur im Norden unverkennbar war und zudem eine lange Geschichte militärischer Interventionen die Nähe zu den USA leidvoll erfahrbar gemacht hatte. Zum anderen musste auch die Außenpolitik sich in den Dienst des Erhalts politischer Legitimität und Stabilität im Inneren unter der Hegemonie des PRI stellen. Dies bedeutete in zentraler Weise die Unterordnung unter die (national-)revolutionären Postúlate, wie sie der PRI als einzige authentische Verkörperung der Revolution von 1910/11 für sich reklamierte. Mit diesen beiden Maximen für die mexikanische Außenpolitik war eine Art Doktrin definiert, deren konkrete Umsetzung je nach Einschätzung der internationalen Lage durch den jeweiligen Präsidenten zwischen legalistischer Passivität oder aktivistischem Reformismus variierte. Dabei gelang es Mexiko erfolgreich, auch in bestimmten Politikfeldern beide Strategien gleichzeitig zu verfolgen und damit gerade den innenpolitischen Bedürfnissen in besonderem Maße gerecht zu werden. Bis in die 70er Jahre hinein wurde nationales Interesse vor allem in doktrinären und normativen Termini definiert, die Außenpolitik beschränkte sich überwiegend auf ihre politische, rechtliche und institutionelle Umgebung (González 1989: 25). Mexiko verstand sich als ein „nach innen blickendes Land" mit einer 227

defensiven Außenpolitik (González 1989: 28) isolationistischer Tendenz, das sich von folgenden Grundpositionen leiten ließ: • • • •

Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten, Betonung des Rechtes auf nationale Selbstbestimmung, Friedliche Konfliktlösung, Rechtliche Gleichheit der Nationen.

Mit der Regierung Echeverría (1970-76) begann eine neue Ära der mexikanischen Außenpolitik: Unter dem Gindruck des „mexikanischen Wunders*', jener wirtschaftlichen Bonanza der 70er Jahre auf der Basis der Erdölvorkommen des Landes, die die Expansion der Mittelschichten, umfassende Infrastrukturinvestitionen sowie den Ausbau des Erziehungswesens ermöglichte, suchte Mexiko eine stärkere Präsenz im internationalen Rahmen. Dabei galt es gleichzeitig, interne Demokratiedefizite durch eine starke Artikulation progressiver Inhalte auf internationalem Niveau zu kompensieren. Der tercermimdismo, d.h. die Übernahme einer Sprecherrolle Mexikos für die Interessen der Länder der Dritten Welt, die Suche nach Diversifizierung der Außenbeziehungen, die Hinwendung zu globalen und multilateralen Fragen und die Identifizierung mit den revolutionären Bewegungen im Kontext der Krise in der zentralamerikanischen Nachbarschaft charakterisierten diesen außenpolitischen Aufbruch des Landes. Dabei blieb man jedoch dem Grundprinzip der eigenen, unantastbaren nationalen Souveränität streng verhaftet und wehrte sich massiv gegen jegliche Einmischung von außen. Mit dem wirtschaftlichen Einbruch im Jahre 1982, der den Startschuss für die internationale Verschuldungskrise gab, ließ sich jedoch auch diese Position nicht mehr halten: Mexiko entfernte sich von der multilateralen Ausrichtung seiner Außenpolitik, betonte seine Eigeninteressen in der Schuldenpolitik und musste sich zunehmend - wenn auch noch nicht im nationalen Rahmen sichtbar - von der Position einer extremen Souveränitätsrhetorik verabschieden. Es erfolgte jedoch kein Rückfall in eine isolationistische Position, vielmehr begann das Land den Übergang von einer „Abhängigkeits- zu einer Interdependenzbeziehung" zu den USA vorsichtig auszuloten. Nach Vereinbarungen mit der Weltbank und dem IWF wurde während der Regierungen De la Madrid und Salinas de Gortari eine intensive Privatisierungspolitik vorangetrieben, die Deregulierung für Auslandsinvestitionen verstärkt und die wirtschaftliche Einbindung des Landes in die Weltwirtschaft betrieben. Mexiko öffnete sich auch in der Außenpolitik nach außen, der schließlich doch erfolgreiche GATT-Eintritt im Jahre 1986 nach massiven internen Auseinandersetzungen markierte in dieser Hinsicht den Wendepunkt. Zunehmend erhielten die ökonomischen Interessen für die Außenbeziehungen des Landes eine zentralere Rolle, die stark politisch definierten Positionen mussten diesen neuen Prioritäten untergeordnet werden. So wurde das „Abenteuer" in 228

Zentralamerika beendet und die stark profilierte Rolle des Landes im internationalen Kontext zurückgenommen. Die aktive Interdependenzpolitik, die Mexiko nicht zuletzt im Kontext des NAFTA und einer Fülle regionaler Konzertationsarenen (Gründung der G 3-Gruppe zusammen mit Kolumbien und Venezuela, Freihandelsabkommen mit Chile, Zentralamerika, Kolumbien und Venezuela, Beitritt zur APEC und zur OECD) betrieb, geriet zunehmend in Gegensatz zum nationalistischen Souveränitätsdiskurs, der erst mit dem Ende der Regierung Salmas aufgeweicht wurde (Chabat 2000: 92). Gleichzeitig erfolgte - weithin unbemerkt von der Öffentlichkeit - eine Neuverteilung der politischen Gewichte: Die traditionelle außenpolitische Elite und damit auch das Außenministerium wurden in dem Maße marginalisiert wie sich eine Dominanz technokratischer Gruppen in den Entscheidungszentralen der Ministerien ausbildete, die jenseits der Strukturen des Außenministeriums eigene internationale Verbindungen besaßen. Diese Überwindung der traditionellen Begrenzung der Außenpolitik auf formale diplomatische Beziehungen mit staatlichen und internationalen Einrichtungen erweiterte die Partner in der Außenpolitik, zunehmend wurden Kontakte zu anderen Akteuren aufgebaut und überspielten die gegebenen Strukturen. Es bildeten sich epistemic communities mit den USA heraus, andere Autoren nennen es einen isomorßsmo inteleclual bei den Technokraten in Regierungsverantwortung, angefangen von Präsident Sahnas de Gortari, seinen Finanzminister Pedro Aspe und seinem Minister für Handel und Wirtschaftsforderung, Jaime Serra Puche; Gleiches gilt auch für die Regierungszeit von Präsident Ernesto Zedillo (Centeno 1994: 23/119). Besonders sichtbar wird dies beim Abschluss des NAFTA-Abkommens, für den Mexiko und seine politische Elite massiv auf die US-amerikanische Öffentlichkeit durch die Verknüpfung mit und Einschaltung von think tanks in den USA Einfluss zu nehmen verstand (Velasco 2000). Die zwischenstaatlichen Beziehungen wurden durch transnationale Netzwerke ergänzt, die dem Konzept der Interdependenz in der Außenpolitik und vor allem der Außenwirtschaftsbeziehungen eine neue Qualität verliehen. Spürbar wurde diese neue Dimension bei der Bewältigung der Wirtschaftskrise im Dezember 1994/Januar 1995, als die USA vermittelt durch den IWF und die Weltbank durch eine massive Stützung der mexikanischen Wirtschaft ein Ausweiten der Tequila-Krise zu einer politischen Stabilitätskrise sowie einer Übertragung auf weitere Teile Lateinamerikas zu verhindern wussten. Nationales Interesse und nationale Sicherheit wurden nunmehr neu definiert und insbesondere im gewandelten Kontext der verstärkten Hinwendung auf die bilateralen Beziehungen zu den USA verortet. Dies galt nicht zuletzt auch für die unmittelbare Nachbarschaft im Süden, die insbesondere als Folge der Krise in Zentralamerika durch Migrationsströme nach Mexiko spürbar wurde und an der Nord- und Südgrenze des Landes zu diplomatischen und territorialen Verwicklungen führte. Die zapatistische Guerilla des EZLN, die gleichzeitig mit dem Inkrafttreten des NAFTA-Abkommens 1994 an die Öffentlichkeit trat, ent229

spricht in der außenpolitischen Wahrnehmung dem Muster der Krisenhaftigkeit der Südgrenze des Landes, während die nördlichen borderlcmds sich zur Vorzeigeregion des modernisierten Mexikos entwickelten. Mit dem Wechsel des mexikanischen Wirtschaftsmodells von einer geschlossenen, auf Importsubstitutionsindustrialisierung beruhenden Wirtschaft zu einer Offenmarktpolitik mit Weltmarktintegration wuchsen die Chancen für eine stärkere Interessenkongruenz zwischen den USA und Mexiko (Kaufmann Purcell 1998: 105). Dies war nicht zuletzt auch mit der Etablierung einer neuen ökonomischen und politischen Elite verbunden, die nicht mehr in den alten Leitwerten der mexikanischen Revolution erstarrt ist. 1.2. Paradigmenwechsel, außenpolitische Transition oder Kontinuität im Wandel - außenpolitische Positionen der Regierung Fox Gerade die Dominanz eines technokratischen Politikzuschnitts schien die neue Regierung Fox zu kennzeichnen, die sich aus dem Leitbild des Coca-ColaManagers Vicente Fox und dessen unkonventionellen politischen Stil nährt. Allerdings ist nach den ersten acht Monaten der Regierung diese Einschätzung nicht notwendigerweise von den ersten Erfahrungen gedeckt. Insbesondere ist zu klären, inwieweit die neue Regierung sich einem grundsätzlich anderen Verständnis des außenpolitischen Handelns verschrieben hat oder in den Kontinuitäten der bisherigen Positionen verharrt. Zunächst muss es auffallig erscheinen, in wie hohem Maße die neue Regierung eine ethische Grundlage für ihre Außenpolitik nutzbar machen will. Der neue Außenminister Jorge Castañeda hat dies als die „Kapitalisierung des Demokratiebonus"2 bezeichnet, der nach den Wahlen vom 2. Juli 2000 einen positiven Imagewechsel für Mexiko in der Welt mit sich gebracht habe. Die Förderung von Menschenrechten und Demokratie sind daher die Zentralwerte der mexikanischen Außenpolitik nach dem Regierungswechsel, wobei man gerade auch die früheren Positionen der Außenpolitik in Sachen Nichteinmischung aufgegeben hat. Der Präsident selbst hat dies in aller Deutlichkeit hervorgehoben: N o hay que olvidar el 2 de julio: México hoy es un país democrático, con legitimidad democrática, con autoridad moral. Y hoy podemos hablar de tú a tú con cualquier país del mundo. Por esto hemos cambiado nuestra política exterior; por esto vamos a extraditar a todos los narcotraficantes que sean reclamados por la justicia americana; por esto hoy queremos participar en el Consejo de Seguridad de Naciones Unidas; por esto hoy hemos eliminado cualquier requisito extraordinario para que nos visite cualquier persona o cualquier organización no gubernamental al país: por estos nos hemos abierto par en par; en México no hay absolutamente nada que esconder ante nadie. Pero también esto nos da la autoridad moral y el derecho de, en el mundo entero, promover el respeto a los derechos huma-

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Jorge G. Castañeda: Primer Informe de Labores del Secretario de Relaciones Exteriores, Tlatelolco, D.F. 14. Juni 2001, S. 3 (http://www.sre.gob.mx/comunicados/prensa/dgcs/2001/jun/Discursos/D02-06.htm).

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nos; promover el espacio y el respeto a la participación de las mujeres; promover la conservación de la naturaleza; promover, en suma, a la democracia alrededor de todo el Mundo. 3

Allerdings vollzieht sich mit dem Antritt der neuen Regierung nicht nur eine neue ethische Begründung der auswärtigen Gewalt in Mexiko. Auch die Prioritäten der Außenpolitik sollen neuen Koordinaten angepasst werden. So heißt es im neuen Plan de Desarrollo 2000-2006, dass sich Mexiko intensiv um die Förderung der Demokratie und die Verwirklichung der Menschenrechte als Basis des neuen internationalen Systems bemühen werde, sich verstärkt dem Schutz der Rechte aller Mexikaner im Ausland zuwenden möchte sowie die Beteiligung und den Einfluss Mexikos in multilateralen Foren auszuweiten gedenkt, um eine aktive Rolle bei der Gestaltung einer neuen internationalen Architektur zu spielen. Zudem sollen regionale Konzertationsmechanismen genutzt werden, um die außenpolitische Agenda des Landes gleichgewichtig zu entwickeln und neue Handlungsspielräume zu erschließen und in langfristige Dimensionen der Förderung des Bildes Mexikos in wirtschaftlicher und kultureller Hinsicht münden zu lassen.4 Die Sorge um das internationale Bild Mexikos beruht gerade auf der kritischen Behandlung des Chiapas-Konfliktes in der internationalen Presse während der Regierung Zedillo, die nach der Annäherung zwischen der Regierung Fox und dem EZLN im Kontext der ZAPATOUR im Frühjahr 2001 einer positiven Darstellung gewichen ist. Dieses Bild wünscht Mexiko getragen von seiner neuen demokratischen Qualität in die Zukunft zu verlängern und damit Anwalt von Menschenrechten und Demokratie weltweit zu werden. Daraus folgt eine aktive Außenpolitik, die neben den Beziehungen zu den USA in besonderem Maße multilaterale Foren in den Vordergrund ihres Interesses stellen will. Das Land betreibt daher eine breite internationale Initiative zur Unterstützung seiner Kandidatur für den UN-Sicherheitsrat in der Phase 2002/3, wird Ausrichter der internationalen Konferenz über Entwicklungsfinanzierung und des Gipfels über Wirtschaftskooperation im Rahmen der APEC im Jahre 2002 sein und als Gastgeber des Gipfels zwischen der Europäischen Union und Lateinamerika sowie der Karibik im Jahre 2004 sowie des kontinentalen Gipfels der ALCA im Jahre 2005 fungieren. 1.3. Mexikos neue subregionale Initiativen und die „Lateinamerikanisierung der Außenpolitik" Diese aktive internationale Rolle des Landes soll auch für den amerikanischen Kontinent gelten. Mexiko möchte auch gegenüber Lateinamerika stärker initia3

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Declaraciones del Presidente de México en el Rancho San Cristóbal, 11. Februar 2001 (Sistema Internet de la Presidencia - www.presidencia.gob.mx). Vgl. das Kapitel „Política exterior" des Plan Nacional de Desarrollo 2001-2006 (http://pnd. presidencia.gob.mx/pnd/cfm/tplDocumento.cf?Id=PND-6-8).

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tiv werden, die bestehenden Koordinationsmechanismen stärken, eine Achse der politischen Verständigung mit Brasilien begründen und sich auch aktiv in den Friedensprozess in Kolumbien einbringen.5 Als weitere Komponente dieser angestrebten aktiven Rolle Mexikos ist der Plan Puebla-Panamá anzuführen, der schon in Grundzügen vom gewählten Präsidenten Fox noch vor seinem Amtsantritt am 11. September 2000 in Guatemala verkündet wurde.6 Mit diesem Entwicklungsprogramm7 soll die wirtschaftliche Entwicklung in neun Staaten des Südens und Südostens Mexikos und der sieben zentralamerikanischen Länder vorangetrieben werden. Damit entdeckt Mexiko erstmals wieder die Süddimension seines Territoriums, die unter der Dynamik der wirtschaftlichen Entwicklung an der Nordgrenze zu den USA verschüttet worden war. Zugleich erfahrt damit auch die Beziehung zu Zentralamerika eine neue Bedeutung, die zwar durch den Abschluss verschiedener Freihandelsabkommen nicht völlig aus dem Blickfeld geraten war, nunmehr jedoch auch emeut - nicht zuletzt im Sinne einer mexikanischen Führungsrolle - politisches Gewicht erhält. Bei dieser Entscheidung spielen offensichtlich verschiedene Dimensionen entwicklungs- und sicherheitspolitischer Art ineinander: Zum einen ist für die neue mexikanische Regierung erkennbar geworden, dass eine Lösung des Chiapas-Konfliktes und der dahinter stehenden Konfliktlagen nicht ohne die Einbeziehung der zentralamerikanischen Nachbarn möglich sein wird; zum anderen ist der Migrationsdruck aus Zentralamerika auf die mexikanische Nordgrenze und die illegale Einwanderung in die USA zu einem Konfliktpunkt mit dem nördlichen Nachbarn geworden, der neutralisiert werden soll. Schließlich ist die zentralamerikanische Region zu einem Operationsfeld des internationalen Drogenhandels geworden und steht unter dem Druck des Konfliktes in Kolumbien, so dass seitens der USA auch eine nachhaltigere Rolle Mexikos eingefordert wurde, um mit der Förderung der Wirtschafisentwicklung auch einen Beitrag zur Stabilisierung der Institutionen in Zentralamerika zu leisten. Im Rahmen des Planes sollen Investitionen in die physische und soziale Infrastruktur dieses 65 Mio. Personen umfassenden Entwicklungskorridors vorgenommen werden, die mit einem Zeithorizont von 25 Jahren die Ansiedlung neuer Unternehmen sowie eine Stärkung der politischen Institutionen sichern soll. Strategische Linien der Anstrengungen sollen Projekte der nachhaltigen Entwicklung, der Prävention von Naturkatastrophen, die Förderung des Tourismus und des Handelsaustausches, die Verknüpfung der Elektrizitätsnetze, die Integration der Telekommunikationsdienste und der Ausbau eines Straßennetzes sein. Damit soll eine andere Integrationsdynamik gewonnen werden angesichts

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Jorge G. Castañeda: Primer Informe de Labores del Secretario de Relaciones Exteriores, Hatelolco, D.F. 14. Juni 2001, S. 6. Der Plan wurde vom Vize-Finanzminister Santiago Levy der Regierung Zedillo unter dem Titel „El Sur también existe, un ensayo sobre el desanollo regional de México" als Auftragsstudie für die Inter-Amerikanische Entwicklungsbank erstellt. Vgl. den Text des Plan Puebla-Panamá unter http://ppp.presidencia.gob.mx).

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der weiterhin stark auf institutionelle Entwicklung abhebende Dimension des zentralamerikanischen Integrationsprozesses des SICA (Sistema de Integración Centroamericano). Gleichzeitig ist es der Regierung Fox mit diesem Vorschlag gelungen, die internationalen Geber auf ein neues Projektkonzept zu verpflichten, das sowohl die Entwicklung des mexikanischen Südens wie auch der zentralamerikanischen Länder einbezieht. Zentral soll nach dieser Vorstellung als operatives Prinzip die Verbindung von privaten und öffentlichen Initiativen nach dem Muster des private-piibüc-partnership sein. Diese neue multilaterale und regionale Dimension der mexikanischen Außenpolitik kann als Gegengewicht zur Neugestaltung der bilateralen Beziehung zu den USA verstanden werden: Mexiko wünscht das Thema Migration und Arbeitsmarkt neu zu regeln, um die Rechte der Migranten zu schützen und die Zahl befristeter Arbeitsvisa zu erhöhen. Während des Besuches des amerikanischen Präsidenten George Bush Jr. in Mexiko am 16. Februar 2001 (als dessen erste Auslandsreise) wurde die Partnership for Prosperity verkündet, die die gegenseitigen Beziehungen auf eine neue Ebene stellen soll. Mexiko erhofft sich vom „texanischen Präsidenten" ein besseres Verständnis für seine politischen Interessen und eine Behandlung „auf gleicher Augenhöhe" auch bei für die USA kritischen Fragestellungen. Allerdings muss die neue Regierung auch deutliche Einschränkungen ihrer Gestaltungsfreiheit berücksichtigen: Sie ist eine Regierung ohne klare Mehrheit im Kongress, d.h. das Parlament - insbesondere der Senat - wird auch bei außenpolitischen Themen eine stärkere Rolle übernehmen wollen und damit als zusätzlicher Akteur im außenpolitischen Handlungsfeld tätig werden. Zum anderen bedrückt die Angst vor dem Abflauen der Konjunktur in den USA: Alte Wachstumsängste als Folge der hohen wirtschaftlichen Abhängigkeit vom nördlichen Nachbarn gehen um und beleben die bislang nicht erfolgreiche Dynamisierung der Diversifizierungsbemühungen des Landes. Insbesondere möchte die Regierung die Beziehungen zu Europa auf der Basis des am 1. Juli 2000 in Kraft getretenen Freihandelsabkommens mit der Europäischen Union ausbauen und diese Region als zweiten, deutlich gestärkten Pfeiler der Außenwirtschaft etablieren. Aus der Position des „México ya no tiene nada por lo cual avergonzarse" heraus versucht die Regierung Fox, eine neue Begründung für ihre Außenpolitik darzustellen. Sie bewegt sich dabei auf einer ethischen Basis, die jedoch mittelfristig nicht tragfahig sein wird, da das neue demokratische Image des Landes sehr schnell einer Veralltäglichung unterworfen sein dürfte. Damit wird die postulierte Neubegründung der Außenpolitik des Landes zurückgeworfen auf die Aktivierung mexikanischer Präsenz in den internationalen Foren und den verschiedenen Dimensionen des regionalen Raumes. Ein Paradigmenwechsel ist damit nicht mehr auszumachen. Die Reflektierung der demokratischen Transition im außenpolitischen Handeln bewirkt die Überwindung früherer isolationistischer bzw. antiinterventionistischer Tendenzen, die dem politischen Imperativ 233

des PRI-Systems geschuldet waren, und die Suche nach neuer internationaler Präsenz bleibt durchaus in den Bahnen, die auch für die aktive Außenpolitik der Regierungen Echeverría und López Portillo charakteristisch waren (Ojeda 1986: 61 ff.). Die Schlagzeile der mexikanischen Tageszeitung La Jornada vom 1. Februar 2001 „Teme Washington inviabilidad de la política exterior mexicana presentada por Castañeda" spiegelt die Befürchtungen wider, die mit dem breiten internationalen Engagement Mexikos beim nördlichen Nachbarn ausgelöst werden. Insofern ist zu prüfen, ob die Außenpolitik der Regierung Fox angesichts ihrer Einbindung in die NAFTA und der Herausforderungen des ALCA-Prozesses hinreichende Substanz besitzt, um in diesem neuen internationalen Umfeld bestehen zu können.

2. Mexikos Beziehungen zu den USA im Rahmen des NAFTA: Wie weit trägt die qualifizierte Kongruenz? Die geopolitische Lage Mexikos hat für sein außenpolitisches Handlungsfeld maßgebliche Bedeutung. Zunächst wurde dies vor allem unter dem Gesichtspunkt der Begrenzung und der Abhängigkeit verstanden, zunehmend wird jedoch - nicht zuletzt durch den Abschluss des NAFTA-Abkommens - auch die Chance der Interdependenz im Sinne eines privilegierten Zuganges zum nordamerikanischen Markt gesehen. Die Interessen der USA an einer stabilen politischen Situation und wirtschaftlichen Lage im Nachbarland haben sich insbesondere bei der Wirtschaftskrise des Jahres 1994 als ein wichtiger Rettungsanker fiir die massiv auf externe Devisenzuflüsse angewiesene Wirtschaft Mexikos erwiesen. Gleichwohl hat sich insbesondere die Situation an der Grenze in den vergangenen Jahren spürbar verändert: Die Intensivierung des Austausches lässt sich in einer Fülle von Dimensionen nachweisen. Zehn mexikanische Städte sind als Zwillingsstädte quasi mit zehn Städten in den USA zusammengewachsen, SO km nördlich und südlich der Grenze leben ca. 11 Millionen Personen, über die Trennungslinie vollziehen sich ca. 35 Millionen Grenzüberschreitungen pro Jahr und der Handel hat ein Volumen von US$ 230 Mrd. erreicht. Zur Vertretung ihrer Interessen betreibt die mexikanische Regierung über das Außenministerium 47 Konsulate in den USA mit ca. 500 Funktionären, die 8,5 Millionen Personen, die in den USA leben und in Mexiko geboren wurden, betreuen. Besondere Aufmerksamkeit gilt den ca. 3 Millionen Mexikanern, die sich illegal in den USA aufhalten, zumal die USA pro Jahr fiir Grenzkontrolle US$ 1,5-2 Mrd. ausgeben, um weitere unkontrollierte Migration aus dem mexikanischen Grenzbereich zu unterbinden.

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2.1. Perspektiven der Regierung Fox für das Verhältnis zu den USA Gegenwärtig sieht die politische Agenda eine Vertiefung der Beziehungen auf bislang nicht einbezogene Sektoren vor, wie etwa einen mexikanischen Beitrag zur Energieversorgung in Kalifornien, das durch die Stromabschaltungen erheblich betroffen ist. Dabei steht nicht nur die Belieferung mit mexikanischem Öl im Vordergrund sondern auch der Aufbau gemeinsamer Leitungen, um die Stromversorgung zu stabilisieren. Im Rahmen des Paktes für Prosperität (Partnership for Prosperity), der beim Besuch des amerikanischen Präsidenten George Bush Jr. in Mexiko vereinbart wurde, soll auch die Migrationsproblematik auf eine neue Grundlage gestellt werden. Die ca. 400 Toten, die im Rahmen der Migration im Jahre 2000 an der Grenze zu beklagen waren und sowohl durch eigenes Verschulden wie auch die in Arizona berüchtigte Privatpolizei der Ranch Rescue verursacht wurden, haben das Thema der geordneten Migration und einer Amnestie für Migranten in den USA erneut auf die Tagesordnung gebracht. Hinzu kommt die Drogenproblematik als bilaterales Konfliktfeld, das aber durch die Aufhebung der einseitigen Zertifizierung der jeweiligen nationalen Anstrengungen in der Drogenpolitik durch die USA und die Privilegierung multilateraler Evaluierungen in ein weniger konfliktträchtiges Fahrwasser gebracht werden konnte. 2.2. Die Ausbildung der „qualifizierten Kongruenz" Jenseits der Vielschichtigkeit der aktuellen Situation lässt sich seit 1980 eine neue Relevanz Mexikos für die USA ausmachen, die eine Phase niedrigen Profils (1950-1970) ablöste. Dieser Bedeutungszuwachs Mexikos wurde erleichtert durch den Übergang des Landes zu einem neuen Entwicklungsmodell, d.h. die Abkehr von der staatszentrierten, geschlossenen und an der Importsubstitution ausgerichteten Konzeption, die mit den Vorstellungen der USA weithin nicht kompatibel war. Damit wurde ein neues Kapitel eröffnet: Die Beziehungen Mexikos zu den USA folgten nunmehr einem Konzept der „qualifizierten Kongruenz" zwischen den Außenpolitiken beider Länder, die sich stärker aus gemeinsamen Erfahrungen als aus einer direkten Imitation ableiten lässt (Knight 2000: 37). „Qualifiziert" erscheint diese Kongruenz dadurch, dass sie natürlich auch wichtige Unterschiede im Einzelfall auswies, jedoch von fundamentalen Ähnlichkeiten in der Grundausrichtung geprägt war. Insofern handelt es sich um keine Kopie in Mexiko der politischen Entscheidungen und Maximen der Politik der USA, sondern um die Tatsache, dass beide Länder für gemeinschaftliche Probleme ähnliche Lösungen suchten, ohne dass eine identische Politik betrieben würde. Es wurden mehr oder minder gemeinsame Antworten in beiden Ländern auf eigene Probleme gefunden. „Die geographische Nähe, die kulturelle Osmose durch die Grenze, die Anziehungskraft einer mächtigen und reichen Gesellschaft, die sowohl kollektive Modelle wie auch individuelle Vorteile anzubieten hat" (Knight 2000: 43), beschreiben einen Teil jener Elemente, die die Grundlage für die Ausbildung der „qualifizierten Kongruenz" aufzeigen. Ein 235

zweiter Teil ist in der begrenzten Fähigkeit Mexikos zu sehen, andere internationale Rollen wahrzunehmen, die - wie etwa in der Regierungszeit von Echeverría und López Portillo - meist bald einem Realismus der eigenen Handlungsmöglichkeiten geopfert werden mussten.8 2.3. Die Folgen des NAFTA-Abkommens für die mexikanische Außenpolitik Als Folge des NAFTA-Abkommens und der mexikanischen politischen Öffnung haben sich die Bedingungen für außenpolitisches Handeln und die Beziehungen zu den USA gewandelt: Mit der Erweiterung demokratischer Spielräume in Mexiko und die Abschwächung der durch die PRI-Herrschaft begründeten Legitimitätsimperative werden die bilateralen Beziehungen zu den USA komplizierter; zudem sind auf beiden Seiten die Grenzen zwischen Innen- und Außenpolitik immer weniger deutlich zu ziehen (Kaufman Purcell 1998: 101). Die Zahl und Vielgestaltigkeit der Akteure, die sich im traditionellen Feld der Außenpolitik tummeln, ist im Wachsen begriffen. Dies insbesondere in Mexiko, wo auch der Anspruch des traditionellen Präsidentialismus, es müsse „mit einer Stimme gesprochen werden", politisch nicht mehr durchsetzbar ist. Die größere Machtinterdependenz zwischen den USA und Mexiko im Kontext des NAFTA hat in Mexiko die Konzentration der präsidentiellen Macht unterminiert und für die Außenpolitik nicht mehr einsetzbar gemacht. Außenpolitische Fragen erhalten damit eine stärkere Koppelung an staatliche und nicht-staatliche domestic players. Dies bedeutet, dass eine Dezentralisierung der Beziehungen zu den USA nicht nur auf staatlicher Ebene stattgefunden hat: Das Außenministerium wurde durch die SECOFI (Domínguez 2000: 314) sowie andere staatliche und parastaatliche Akteure in seiner politischen Rolle abgelöst. Das Kennzeichen der Außenpolitik zu den USA unter der PRI-Ägide war die starke innenpolitische Funktionalisierung außenpolitischen Handelns. Dieser Legimitätsimperativ könnte heute - unter der Regierung Fox - wegfallen, und daraus könnten neue Spielräume gerade auch für Politikoptionen gewonnen werden, die sich jenseits des traditionellen Nationalismus- und Souveränitätsdiskurses ausbilden. Die NAFTA-Verhandlungen boten für Mexiko in dieser Hinsicht ohnedies neue außenpolitische Chancen, da die USA seitdem nicht mehr, wie in der Vergangenheit üblich, verschiedene außenpolitische issties miteinander verbanden, sondern vorsätzlich deren de-linkage betrieben (Kaufman Purcell 1998: 108). Dies eröffnete für Mexiko größere Handlungsmöglichkeiten und stärkte die Interdependenz-Beziehung zwischen beiden Ländern. Damit sind die USA in ihrem Verhalten bezüglich eines isstie (etwa der Drogenproblematik) durch ihre Einbindung in ein umfassendes Beziehungsgeflecht zwischen beiden Staaten eingeschränkt. 8

Bereits nach zwei Jahren der Regierungszeit von Präsident Miguel de la Madrid spricht Mario Ojeda bei seiner Bewertung der „aktiven Außenpolitik Mexikos" schon von einem „größeren politischen Pragmatismus und einer diskreten Diplomatie" (Ojeda 1986: 218).

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Perspektivisch bedeutet dies, dass die Beziehungen zu den USA mit ihren starken bilateralen Dimensionen die Qualitäten einer intermestic policy annehmen und auch die Koordinationsrolle des Außenministeriums stärker unter Druck gerät. Außenpolitische Entscheidungen im Kontext der NAFTA werden damit immer weniger von den politischen Instanzen kontrolliert werden, der Einfluss von nationalen, internationalen und transnationalen Interessengruppen, sozialen Bewegungen, Medien und Kommunikationsprozessen auf das außenpolitische setting wird weiter wachsen. Das früher von exklusiven high politics dominierte Außenverhältnis zu den USA verwandelt sich in ein gesellschaftlich stärker kontrolliertes Austausch- und Binnenverhältnis und entzieht sich zunehmend in seiner Steuerungsfahigkeit den traditionellen Instrumenten der Außenpolitik. Der Politikprozess (politics) gewinnt steigenden Einfluss auf die Politikergebnisse (policies), so dass die „qualifizierte Kongruenz" für die Zukunft auf beiden Seiten der Grenze durch die Differenzierung der Interessengruppen sehr viel schwieriger herzustellen sein wird. Trotz der Konvergenz zwischen den politischen Eliten beider Länder, die nicht zuletzt durch ihre technokratische Ausrichtung begünstigt wurde (Maihold 1999), werden Gefahren eines zwischenstaatlichen Konfliktes durch Auseinandersetzungen zwischen privaten Akteuren und das Konfliktniveau auf zivilgesellschaftlicher Ebene befurchtet (Domínguez 2000: 322). Dies ist jedoch eine nur empirisch zu beantwortende Frage, die sich sehr differenziert in den verschiedenen Themenbereichen mit ihren unterschiedlichen Konfliktlinien jenseits der nationalen Grenzen artikulieren wird. Die Konzertation der Interessen verwandelt sich in dieser Hinsicht zu einer herausragenden Moderationsleistung der Regierungen der USA und Mexikos als mögliche „Interdependenzmanager"'. Es nimmt insofern nicht Wunder, dass die neue mexikanische Regierung ihre Initiative gegenüber der Europäischen Union und den Staaten Lateinamerikas durch eine starke politisch orientierte Akzentsetzung zu betreiben gedenkt, die ihr im bilateralen Verhältnis zu den USA versagt ist. Die angestrebte leadershipRolle Mexikos soll sich in den high politics-Fragen auf multilateraler Ebene und in der Lateinamerikanisierung der Außenpolitik niederschlagen.

3. Das mexikanische Dilemma: Die Frage der Kompatibilität von NAFTA und ALCA Zum gegenwärtigen Zeitpunkt bestehen über 50 bilaterale und subregionale Freihandelsabkommen auf dem lateinamerikanischen Subkontinent, die im Rahmen von ALCA kompatibilisiert werden müssten. Daher stellt sich die Frage nach der Vereinbarkeit von NAFTA und Mercosur als einfacher zu handhabende regionale Blöcke. Der Mercosur repräsentiert 65% des südamerikanischen Marktes und zusammen mit NAFTA 95% des kontinentalen Marktes. Mit dem Abschluss des NAFTA-Abkommens haben die USA ihre Position der Privilegierung eines multilateralen Ansatzes in der Welthandelspolitik verlassen. NAFTA 237

brachte für die Länder Lateinamerikas und der Karibik je nach ihrer Positionierung im Zugang zum US-Markt und der Struktur ihres Außenhandels heterogene positive Anreize, defensive Anreize sowie die Neigung zur Umsetzung einseitiger Vorleistungen zum Erwerb einer „Eintrittskarte" für die NAFTAErweiterung mit sich (Bouzas 1996: 96ff.). 3.1. Die mexikanische Position gegenüber ALCA Die Formulierung der Amerika-Initiative im Jahre 1990 mit der Zielperspektive einer gesamtamerikanischen Freihandelszone ALCA als Konzept wurde auf dem gesamtamerikanischen Gipfel in Miami im Dezember 1994 mit der Perspektive seiner Vollendung für das Jahr 2005 verabschiedet, ein terminlicher Horizont, der auf der jüngsten Gipfelkonferenz erneut bestätigt wurde. Mexiko reagierte zunächst sehr reserviert bis ablehnend, da ihm sein strategischer Vorteil genommen würde. Der mexikanische Handelsminister Jaime Serra Puche erklärte im Jahre 1994 (zit. in: Gonzälez/Chabat 1996: 49): „Es kann nicht eine Regel geben, die jedem den Beitritt erlaubt. Einige Länder würden wegen ihres Entwicklungsstandes nicht dazu passen." Zunehmend scheint diese anfangliche Haltung jedoch der Einsicht gewichen zu sein, dass ein Abschluss bilateraler Abkommen der USA mit einzelnen Ländern Lateinamerikas gleichfalls negative Folgen für die mexikanischen Interessen haben könnte. Die mexikanische Regierung legte daher ihre Handlungsmaxiinen auf zwei Ebenen: •



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Angesichts der Unmöglichkeit, den ALCA-Prozess zu verhindern, galt es, aktiv in der Verteidigung der eigenen Interessen an den Verhandlungsprozessen teilzunehmen. Dabei verfolgte man eine Politik des niedrigen Profils, das die möglichen Kontroversen mit den USA gering hielt, zu denen man als Juniorpartner im NAFTA-Verbund nicht in Widerspruch geraten wollte. Dies bedeutete auch, dass die Länder Lateinamerikas - insbesondere der Mercosur - von Mexiko keine Unterstützung zu erwarten hatten. Andererseits entfaltete Mexiko einen ausgeprägten Aktivismus im Abschluss von Freihandelsverträgen mit den Ländern Lateinamerikas und der Karibik. Dabei verfolgte Mexiko eine Strategie der Anwendung von NAFTA-Prinzipien auf die Fülle der Freihandelsabkommen unter Einschluss der Themen Investitionen, geistiges Eigentum und Vergabe von Regierungsaufträgen. Mexiko scheint mit diesem Verfahren seine eigene Vorbereitung auf einen möglichen ALCA-Abschluss zu betreiben und sich einen privilegierten Zugang zu den bislang für seine eigene Außenhandelsbilanz eher marginalen Märkten in Lateinamerika zu sichern. Aufgrund seiner herausgehobenen Rolle als Inhaber eines Freihandelsabkommens, das erstmals zwischen zwei Ländern des Nordens und einem Land des Südens geschlossen wurde, mit seinem präferentiellen Zugang zum US-Markt, konnte das Land eine hub-ond-spokes-Position aufbauen, die es durch die Fülle von 28 bilateralen Freihandelsabkommen mit anderen Ländern und subregionalen

Verbünden in Lateinamerika (Blanco 2000: 87) erfolgreich umsetzen konnte. Gleichzeitig erfüllte es damit die Regelungen des Art. 44 der ALADI, der vorsieht, dass alle Mitgliedsstaaten dieselben Präferenzen einzuräumen sind, wie dies für extraregionale Partner gilt. Allerdings sind die Verhandlungen zwischen Mexiko und dem Mercosur zum Abschluss eines Freihandelsabkommens nicht erfolgreich verlaufen, so dass Mexiko seit 1998 mit den einzelnen Mitgliedsstaaten des Mercosur bilateral verhandelte. Im Juni 2000 haben die Mitgliedsländer des Mercosur in Buenos Aires beschlossen, erneut Verhandlungen mit Mexiko mit dem Ziel eines Freihandelsabkommens aufzunehmen und bis zum Dezember 2001 abzuschließen (Green 2000: 83). Die neue mexikanische Regierung unter Präsident Fox hat sich dem ethischen Fundament ihrer Außenpolitik entsprechend vor allem um die Durchsetzung einer Demokratieklausel als Teil der ALCA-Grundsätze bemüht. Gleichzeitig legte sie besonderen Wert auf die Ginbeziehung von Umweltfragen und der Rechte der Arbeitnehmer im Abschlussprotokoll des Gipfels in Quebec, der auch Ausgangspunkt einer aktiveren Rolle des Landes in den Verhandlungen sein soll. Weiterhin schlug Mexiko die Bildung einer Serie von Kohäsionsfonds vor, die unter den Kriterien von Konvergenz und harmonischer bzw. nachhaltiger Entwicklung zu größerer Wettbewerbsfähigkeit und zur Entwicklung marginalisierter Bevölkerungsgruppen beitragen sollen. Finanziert werden sollen diese Fonds aus einem Prozentanteil der Verteidigungshaushalte der Teilnehmer des Gipfels. Dieser Vorschlag fand bei Venezuelas Staatspräsident Hugo Chävez unmittelbaren Rückhalt, so dass er 5% des Verteidigungshaushaltes seines Landes bereit stellte." Aus diesen Initiativen wird erkennbar, dass Mexiko unter seiner neuen Regierung eine Expansion der Agenda von ALCA auf Themen betreibt, die sich unter der Perspektive einer Einigung der 34 beteiligten Staaten als sehr komplex darstellen könnten. Zum eigentlichen wirtschaftlichen Verhandlungsprozess brachte Mexiko keine erkennbaren Initiativen ein, sondern hielt sich am Rande der spürbaren Konfliktkonstellation zwischen den USA einerseits und Brasilien andererseits (Nolte 2001). Mexiko hat sich auf diese Weise noch alle Optionen offen gehalten, die sich aus der Gegenüberstellung unterschiedlicher integrationspolitischer Positionen ergeben könnten. 3.2. Das mexikanischen Dilemma - Wo liegen die Optionen des Landes? Art. 2204 des NAFTA-Abkommens stipuliert die Möglichkeit neuer Mitglieder zur Teilnahme am nordamerikanischen Freihandelsabkommen, eine Beitritts'

Pressekonferenz der Regierungssprecherin Martha Sahagún am 23. April 2001, (Sistema Internet de la Presidencia).

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klausel, die Mexiko zur Verteidigung seiner Position gegenüber den brasilianischen Vorhaltungen einer Verletzung des Art. 44 der ALADI einsetzte (Rosas 1995: 102). Mit dem sich aus dieser Situation heraus entwickelnden Netz an Freihandelsabkommen ohne koordinierende Funktion auf der Grundlage dieser hub-and-spokes-Position sind jedoch Ineffizienzen verbunden, die nur durch eine zunehmende Erweiterung von NAFTA oder eine graduelle Konvergenz der Abkommen (Plurilateralisierung) zur Handelsliberalisierung etwa im Rahmen einer südamerikanischen Freihandelszone (SAFTA) aufgefangen werden könnten. Hierfür sind jedoch nach wie vor die internen Voraussetzungen im Mercosur selbst noch sehr hoch und die Handelsvolumina zwischen den Ländern und Ländergruppen Südamerikas (Mercosur, Andine Gemeinschaft und Chile) noch zu gering (Bouzas 1996: 106). Die aktuelle Lage in Argentinien („TangoKrise") lassen diesen Weg gegenwärtig als sehr schwierig erscheinen, so dass dem ALCA-Prozess aus dieser Perspektive größeres Gewicht zukommen könnte. Allerdings hat der Fortschritt der bisherigen Verhandlungen erwiesen, dass es sich beim ALCA-Prozess nicht um eine einfache Erweiterung des NAFTA nach Süden handeln wird, sondern substanzielle Regelungen erwartet werden, etwa zur Frage, wie polarisierende Effekte der Handelsliberalisierung innerhalb des ALCA vermieden werden können; ein Thema, dem bekanntlich die Regierung in Washington wenig Interesse bzw. nur Ablehnung entgegen bringt. Die beiden konfligierenden Prinzipien der ALCA-Verhandlungen im Sinne eines Single untertaking einerseits und der early harvest andererseits werden noch zusätzlich kompliziert durch die weiterhin offene Frage der Gewährung eines fast-track-Verfahrens durch den US-Kongress und gleichzeitige bilaterale Verhandlungen mit Chile, die den Weg einseitiger Vorleistungen als Eintrittskarte für NAFTA erneut als politisch gangbar erscheinen lassen (Bouzas 2000: 170). Dahinter steht jedoch eine grundsätzliche Differenz zwischen der mexikanischen Sichtweise der Handelsliberalisierung im Kontext des NAFTA und der Position Brasiliens, die flir diese Zwecke mit der des Mercosur identifiziert werden soll. Beide Typen von Integrationsvereinbarungen können nicht kombiniert werden ohne ihre fundamentalen Ziele zu opfern: Der Mercosur ist eine unvollständige Zollunion mit einem pragmatischen und flexiblen Ansatz regionaler Integration, der de facto auch protektionistische und kompensatorische Maßnahmen gestattet. Demgegenüber stellt NAFTA ein Freihandelsabkommen auf der Grundlage eines legalistischeren Ansatzes dar, der auf detaillierten Vertragsverpflichtungen beruht und rigide Kontrollen über das Verhalten der Mitglieder sowie rules of origin und Konfliktlösungsmechanismen vorsieht. Als Indikator dafür können die 24 Artikel der Vertrags von Asunciön und die über 2000 Artikel des NAFTA-Abkommens gelten. Insofern müsste ein ALCA-Abkommen wie auch in Quebec festgehalten - die Respektierung bisheriger subregionaler Zusammenschlüsse beinhalten.

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Für die Weiterentwicklung der ALCA-Verhandlungen sind in dieser Hinsicht drei Szenarien denkbar (Carranza 2000: 193fT.): • Eine Polarisierung zwischen NAFTA und Mercosur: In diesem Szenarium würde sich der MERCOSUR in den harten Kern einer Südamerikanischen Freihandelszone (SAFTA) verwandeln, die sich als Gegengewicht zu NAFTA etablieren und damit die Verhandlungen einer ALCA-Vereinbarung nachhaltig stören könnte. Eine erwartbare Expansion von NAFTA auf Zentralamerika und die Karibik hätte starke polarisierende Wirkung auf die Handelsströme der Region, wobei für eine SAFTA auch die Zusammenarbeit mit der EU eine starke Option darstellt. Die Länder der Andengemeinschaft könnten damit einer Zerreißprobe unterworfen werden hinsichtlich ihrer Orientierung auf den nördlichen oder südlichen Entwicklungspol des Kontinents. Allerdings sind die Chancen dieses Szenariums gegenwärtig sehr beschränkt, da die interne Situation des MERCOSUR im Kontext der „Tango-Krise", die Befürchtungen Argentiniens vor einer Dominanz Brasiliens, die Schwäche der Kooperation mit der Comtmidad Andina und die Anfälligkeit der Ökonomien Südamerikas für internationale Krisen die für die Konsolidierung der SAFTA notwendige Kohärenz vermissen lassen. •

Ein schneller Fortschritt der ALCA-Verhandlungen unter der Dominanz der USA: Angesichts der finanziellen Krisen in der südamerikanischen Region und den argentinisch-brasilianischen Spannungen könnte sich ein dynamischer Prozess der Verhandlungen ergeben, der jedoch in besonderem Maße unter dem Problem der Asymmetrien innerhalb des Integrationsraumes zu leiden hätte. Die Frage der Reziprozität ist bei einigen Ländern sehr schwer ohne Kompensationsmechanismen zu lösen. Zudem müsste eine Regelung für die Behandlung der bisherigen Integrationszusammenschlüsse gefunden werden. Weiterhin wäre die Kompatibilität von NAFTA und Mercosur zu klären, die insbesondere bei bestimmten Produktgruppen und Dienstleistungssektoren nur sehr schwierig herzustellen ist. Dahinter stehen grundsätzliche Konflikte über das Verständnis des „offenen Regionalismus", der in den USA als Vorstufe einer NAFTA-Integration begriffen wird, während beispielsweise Brasilien damit die Einbindung regionaler Ökonomien in die Weltwirtschaft unter Bewahrung ihrer nationalen und regionalen Identitäten meint. In der Tat verbindet Brasilien mit seinem SAFTA-Projekt auch geopolitische Intentionen, die nicht notwendigerweise Teil eines ALCA-Abkommens bilden müssten. Inwieweit dieses Projekt mit einer kontinentalen Freihandelszone kompatibel ist, wird entscheidend davon abhängen, welche Margen die USA ihren lateinamerikanischen Partnern in Sachen Marktöffnung einzuräumen bereit sind. Letztlich dürften die Möglichkeiten und Grenzen eines solchen Szenarios vor allem in den innenpolitischen Machtverhältnissen und Interessengegensätzen der USA begründet liegen. 241



SAFTA als Alternative zur Vertiefung des Mercosur: Als ausgreifendes regionales Modell, auch unter Einbeziehung Zentralamerikas und der Karibik, könnte sich eine SAFTA jenseits der Differenzen zwischen Argentinien und Brasilien hinsichtlich der Vertiefung des MERCOSUR zu einem Gegenpol zu den USA entwickeln, wenn diese Freihandel nicht in akzeptablen Termini fiir Lateinamerika anbieten können oder wollen. Damit würde auf eine „tiefe Integration" in Richtung eines gemeinsamen Außenzolls verzichtet und die nur auch Freihandel bezogene Qualität in den Vordergrund gestellt. Dies würde jedoch seitens der südamerikanischen Staaten eine Verpflichtung auf regionale Politikdefinitionen voraussetzen. Als Handelsblock mit starker Süd-Süd-Komponente könnte SAFTA bei einem Scheitern der FTTA-Verhandlungen die Auffangposition fiir eine Fülle von Ländern Lateinamerika werden.

Betrachtet man die entwickelten Szenarien unter dem Gesichtspunkt der Position Mexikos, so wird schnell deutlich, dass Mexiko eine wichtige Scharnierfunktion zuwachsen könnte. Mexiko ist zur obligatorischen Brücke zwischen Lateinamerika und den USA geworden; eine solche Position würde durch einen FTTA-Abschluss verändert werden, da es dann zu einem player unter vielen würde. Weiterhin steht es jedoch vor der Frage, inwieweit es sich aus seiner Dilemma-Situation lösen kann: Mexikos Ausscheren aus der „lateinamerikanischen Familie" hatte, so Mario Esteban Carranza (2000: 200), einen paradoxen Effekt für Lateinamerika: Zum einen wurde dadurch die lateinamerikanische Position geschwächt, der Mercosur als subregionale „Kleinlösung" angelegt und einige Länder mit hohen defensiven Anreizen gegenüber der NAFTA versehen; zum anderen wurden die Länder Südamerikas allein gelassen, damit SAFTA als Option erst möglich gemacht und das Aufkommen neuer wirtschaftlicher Allianzen induziert. Inwieweit Mexiko in dieser Konstellation weiterhin seine hub-and-spokesPosition wird erhalten können, erscheint sehr fraglich. Entscheidend fiir die Beziehungen zwischen den USA und Lateinamerika wird sein, ob und wie sich die neue Regierung zu diesem Dilemma stellen wird: Sucht sie weiterhin eine enge Abstimmung mit den USA im Sinne einer noch stärkeren Integration in die USWirtschaft in Erweiterung der „qualifizierten Kongruenz"? Ist der Weg einer Diversifizierung der mexikanischen Wirtschaft in Bezug auf Europa und Lateinamerika ein realistisches und politisch nachdrücklich verfolgtes Ziel, oder versucht die Regierung Fox durch eine Erweiterung der ALCA-Agenda die Freihandelseffekte für die nationale Position gering zu halten? Bislang gewinnt Mexiko noch davon, wenn es andere lateinamerikanische Nationen von der NAFTA-Mitgliedschaft ausschließt, da es durch zwei Optionen Vorteile fiir sich sichern kann: Zum einen den zwar zeitlich begrenzten ausschließlichen Zugang zum US-Markt und zu anderen die Vorteile bilateraler Freihandelsabkommen mit einzelnen südamerikanischen Ländern. Dieses Kal242

kül könnte jedoch schnell an seine Grenzen geraten, wenn die U S A etwa mit Chile ein bilaterales Freihandelsabkommen schließen sollten; die entscheidende Frage für die neue Regierung Fox wird sein, ob sie die strategische Allianz mit den U S A i m Rahmen von N A F T A in den Vordergrund stellt oder ob Mexiko bereit sein wird, eine politische Kooperation mit dem Mercosur einzugehen. Die Erfahrung der mexikanischen Außenpolitik weist recht deutlich in Richtung der ersten Option, zumal die innenpolitischen Legitimationsimperative als Motiv einer „aktiven Außenpolitik" mit der Vertiefung der Demokratie obsolet geworden sind.

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Stefan A. Schirm

Macht, Interessen und Ideen in der US-Politik gegenüber Brasilien 1. US-amerikanische Ambivalenzen und analytischer Ansatz Betrachtet man die US-amerikanische Lateinamerikapolitik, insbesondere die Politik gegenüber Brasilien, so gewinnt man leicht den Eindruck, Washingtons Strategie sei durch mangelhafte Eindeutigkeit geprägt.* Einerseits folgen die USA ihrer traditionellen Freihandelsrhetorik, initiieren Verhandlungen über eine Free Trade Area of the Americas (FTAA) und verlangen von anderen Ländern die schnelle Öffnung ihrer Märkte für Produkte aus den USA. Andererseits haben die Vereinigten Staaten seit den 80er Jahren zunehmend protektionistische Maßnahmen zum Schutz eigener Hersteller ergriffen. Präsident Clinton scheiterte außerdem im Kongress mit seinem Versuch, eine fast track authority1 für Freihandelsverhandlungen zu erhalten. Angesicht dieser Widersprüche hält eine der renommiertesten Handelsexpertinnen (seit 2001 ChefÖkonomin des IWF), Anne O. Krueger (1995: 6), die US-Handelspolitik für „schizophren" und schreibt von einer Tragedy in the Making. Die Ambivalenzen im außenwirtschaftlichen Bereich finden in der Außenpolitik ihre Entsprechung: Hier verkündet Washington einerseits, dass es Brasilien als Führungsmacht Südamerikas anerkenne, Zusammenarbeit im Sinne einer Partnership in Leadership für möglich hält und die Amerikas gegenüber anderen Regionen wie Europa stärker integrieren wolle (Harrington 2000: 1). Auf der Für Anregungen und Kritik danke ich den Teilnehmern und Teilnehmerinnen der Tagung „Wachst Südamerika unter brasilianischer Führung zusammen?" am Institut für Iberoamerika-Kunde, Hamburg 19.-20.2.2001. Die fasMrack-aulhority sieht vor, dass der Kongress ein von der Regierung verhandeltes Wirtschaftsabkommen nur in toto befürworten oder ablehnen kann, d.h. keine Veränderungen (amendments]) vornehmen darf. Ohne fast-track würden der Einschluss von Einzelinteressen und internationale Nachveihandlungen den Abschluss von multilateralen Abkommen praktisch unmöglich machen. Bush nahm 2001 eine Umbenennung in trade-promotion-authority vor.

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anderen Seite beobachten die USA mit Misstrauen, dass Brasilien durch die Erweiterung des Mercosur und die Durchsetzung eigener Positionen gegen lateinamerikanische Nachbarn tatsächlich eine Regionalmachtsrolle einzunehmen versucht (Perry 2000: 412). Insgesamt scheint keine klare Strategie Washingtons gegenüber Brasilien erkennbar. Offene Rivalität zwischen dem amerikanischen Hegemon und dem aufstrebenden Regionalmachtsaspiranten" erscheint für die Zukunft ebenso plausibel wie harte aber kooperative Verhandlungen über eine neue politische und außenwirtschaftliche Architektur in den Amerikas. Als Ergebnis der mangelnden Eindeutigkeit in der amerikanischen Außen- und Außenwirtschaftspolitik haben die USA ein internationales Glaubwürdigkeitsproblem und können nur eingeschränkt eine politische Führungsrolle ausüben. Wie sind die Ambivalenzen in der US-Politik zu erklären? Lassen sich im widersprüchlichen Gesamtbild US-amerikanischer Außenpolitik Strategien und Strukturen in Einzelbereichen finden? Können wir die künftige Entwicklung US-amerikanischer Politik prognostizieren? Zur Beantwortung dieser forschungsleitenden Fragen werden im Folgenden drei große Theorierichtungen internationaler Beziehungen herangezogen. Der Zugriff auf die Empirie sowohl mit machtzentrierten wie auch mit interessen- und ideenorientierten Interpretationsmodellen bietet die Chance, das ambivalente Gesamtbild US-amerikanischer Politik zu erklären und Prognosefahigkeit zu erlangen. Dieser dreifache Zugriff erscheint notwendig, weil ein Ansatz für sich genommen das ambivalente Bild bei näherer Betrachtung nicht zu erklären vermag. So können machtorientierte Argumente des Neorealismus die kooperativ-multilateralen Elemente amerikanischer Politik ebenso wenig erfassen wie den ambivalenten Charakter des Gesamtbildes der Politik. Der Fokus auf innenpolitische Interessengruppen wiederum scheint ergänzungsbedürftig, weil er Veränderungen des internationalen Systems, wie die Beendigung des Ost-West-Konfliktes und die postulierte Konkurrenz gegenüber Europa und Ostasien, außer Acht lässt. Die konstruktivistische Untersuchung außenpolitisch prägender Ideen erscheint insofern wichtig, als verbindende Wertemuster wie Demokratie und Marktwirtschaft in der letzten Dekade als Kern der Legitimation US-amerikanischer Außenpolitik gegenüber Lateinamerika verwendet wurden. Die zentrale These dieses Beitrags ist auf das Gesamtbild der US-Brasilienpolitik und die drei Theorieansätze zugeschnitten: Wenn Außenpolitik widersprüchliche Elemente vereinigt, dann sind konkurrierende Motivationen zwischen oder innerhalb der driving forces Macht, Interessen und Ideen für außenpolitisches Verhalten handlungsleitend. Die Einschätzung künftiger Entwicklungen muss daher auf der Evaluierung möglicher Gewichtsverlagerungen zwischen einzelnen Motivationselementen beruhen. Neben der Einschätzung empirischer Ursachen und Wirkungen US-amerikanischer Brasilienpolitik verfolgt dieser Beitrag das Ziel, die Relevanz der drei Theorien zu testen. Die These lautet hier: Wenn :

Zur Entwicklung Brasiliens als Regionalmacht vgl. Schirm (1990; 1998 und 2001).

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Außenpolitik keine eindeutige Strategie zu verfolgen scheint, dann müssen zu ihrer Erklärung alle drei theoretischen Dimensionen internationaler Politik herangezogen werden. Zwei grundlegende Vorbemerkungen zur Politik der USA gegenüber Brasilien scheinen wichtig. Erstens existiert keine spezifische „Brasilienpolitik" der USA. Die Beziehungen zu Brasilien sind vielmehr Teil der gesamten Außenpolitik bzw. Außenhandelspolitik, die nur hinsichtlich Lateinamerikas teilweise strategisch definiert sind (Schirm 1994; 1997; 2000). Zweitens konzentriert sich die Wahrnehmung Lateinamerikas aus US-Sicht im Wesentlichen auf Mexiko, das für die USA in wirtschaftlicher, kultureller und sicherheitspolitischer Hinsicht wichtiger ist als alle anderen lateinamerikanischen Staaten zusammen (Schirm 1999b: 10). Brasilien ist kein erstrangiges Ziel der US-Außenpolitik. Die folgende Untersuchung gliedert sich in vier Schritte: Zunächst werden machtorientierte Argumente des Neorealismus präsentiert und anhand der empirischen Entwicklung US-brasilianischer (bzw. US-lateinamerikanischer) Beziehungen überprüft (Punkt 2.). Anschließend soll mit Argumenten interessenorientierter Ansätze die Rolle innenpolitischer Faktoren für die Politik der USA evaluiert werden (Punkt 3.). Im dritten Teil schließlich erfolgt die Betrachtung der empirischen Entwicklung aus konstruktivistischer Perspektive (Punkt 4.). Der vierte und letzte Teil des Beitrags ist dem Fazit gewidmet und wagt eine Prognose zur Politik der neuen Administration von Präsident Bush.

2. Macht in den US-brasilianischen Beziehungen Neorealistische Argumente konzentrieren sich auf die Machtverteilung zwischen Staaten und auf das internationale System.3 Die Interessen und Motivationen außenpolitischen Handelns sind hier exogen gegeben und von der Struktur des internationalen Systems sowie der relativen Position des Landes in diesem System geprägt. Die Wahrnehmung anderer Staaten orientiert sich daher an deren relativer Macht und ihrem möglichen Bestreben, die internationale Machtverteilung zu verändern. Da Macht im internationalen System als Nullsummenspiel verteilt ist und dem Neorealismus zufolge per se Misstrauen über die Absichten anderer besteht, werden anti-status quo Staaten (wie zum Beispiel aufstrebende Regionalmächte) als Bedrohung wahrgenommen. Allianzen sind nur möglich, wenn einer gemeinsamen Bedrohung begegnet (balance of threat), der Einfluss eines Hegemons ausgeglichen werden soll (balance of power) oder wenn ein Hegemon die Kosten von Kollektivgütern wie Sicherheit und Freihandel übernimmt (hegemonic stability). Entscheidender Erklärungsfaktor für die amerikanische Lateinamerikapolitik - wie für die US-Außenpolitik insgesamt - der letzten Dekade wäre demnach 3

Zum Neorealismus vgl. u.a. Keohane (1986): Legro/Moravcsik (1999): Link (1998) und Waltz (1979).

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das Ende des Ost-West-Konflikts sowie die Stärkung bzw. Entstehung konkurrierender Wirtschaftsblöcke wie der Europäischen Union und des Mercosur. Empirisch lässt sich klar zeigen, dass diese Faktoren die Politik Washingtons beeinflusst haben. Die Angst vor der Fortress Europe und Versuche einer Blockbildung in Südostasien (ASEAN Free Trade Agreement) können als Motivationen der USA zur Schaffung der NAFTA und zur Initiierung des FTAAProzesses (wie ihres Vorläufers, der Enterprise for the Americas Initiative EAI) identifiziert werden.4 In den Dekaden nach 1945 hatten die USA die Bildung regionaler Wirtschaftsblöcke zugunsten des Ziels weltweiten Freihandels fiir die eigene Region konsequent abgelehnt und nur in anderen Regionen als Teil des Ost-West-Konflikts unterstützt. Parallel zur Stärkung der Motivation für eine engere ökonomische Anbindung an Lateinamerika sank allerdings durch das Ende des Ost-West-Konflikts die sicherheitspolitische Bedeutung Lateinamerikas für die USA. Dies erklärt, warum die USA einerseits die FTAA initiiert haben, sich aber andererseits auf Mexiko konzentrieren und dem Rest Lateinamerikas nur sekundäre Relevanz beimessen.s Insofern kann diese scheinbare Widersprüchlichkeit mit der Abnahme sicherheitspolitischer Machtkonflikte bei gleichzeitiger Zunahme ökonomischer Rivalitäten im internationalen System erklärt werden. In den spezifischen Beziehungen zu Brasilien ist eine ähnliche Ambivalenz zu beobachten: Einerseits sehen die USA die Relevanz Südamerikas nach dem OstWest-Konflikt als reduziert an und sind daher bereit, eine Regionalmachtsrolle Brasiliens zu akzeptieren oder sogar zu fordern, da Brasilien den USA die politischen und materiellen Kosten der Stabilisierung des Subkontinents abnehmen könnte (Hakim/Menezes 2001: 1; Harrington 2000; Buckley 2000: A20). Hier kann eine neue Tendenz ausgemacht werden, nach der ein starkes Engagement nur bei direkter Bedrohung gerechtfertigt scheint, und in anderen Fällen regionale Stabilität auch entfernten Verbündeten überlassen werden kann. Diese Politik des delegativen low profile oder der shared responsibility ist aber nicht eindeutig, weil die brasilianischen Dominanzansprüche auf dem südamerikanischen Kontinent in Washington - und nach der neorealistischen Nullsummen-These auf Kosten des US-Einflusses in der Region gehen (Perry 2000: 412; Nolte 2001). Da in Teilen des brasilianischen Establishments in den letzten Jahren wieder Elemente der Geopolitik-Schule mit dem Ziel auflebten, einen südamerikanischen „Gegenblock" zu den USA zu bilden, ist davon auszugehen, dass Regionalmacht-Aspirationen in Washington mit Misstrauen wahrgenommen werden. Vor allem der Versuch Brasiliens, der geopolitischen Erweiterung des Mercosur um den Andenpakt den Vorzug vor einer ökonomisch sinnvolleren Vertiefung J

Siehe den Aufsatz des damaligen Undersecretary (1992: 1).

5

Eine Ausnahme von der sicherheitspolitisch sekundären Rolle Lateinamerikas ist wegen der Drogenproblematik Kolumbien.

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ofState for Economic Affairs Robert B. Zoellick

des Mercosur und vor der FTAA zu geben, deutet auf machtpolitische Motivationen Brasiliens hin (Schirm 1998: 88-92; Calcagnotto/Nolte 2000). Zusammen mit seinem anti-amerikanischen Bias erzeugt dieser Teilbereich brasilianischer Politik Ablehnung in Washington. Insofern sind die Vereinigten Staaten einerseits zufrieden darüber, dass Brasilien hier Führungsaufgaben abnimmt, und sind andererseits besorgt darüber, dass Brasilien einen südamerikanischen Block gegen die USA bildet. Aus der Sicht Washingtons wäre diese Situation am besten geklärt, wenn Brasilien im Sinne einer Partnership in Leadership Südamerika nach US-amerikanischen Vorstellungen dominieren würde - nicht aber mit divergierenden Zielsetzungen. Die Zunahme nationalistischer Töne in Brasilien zeigt möglicherweise eine neue Tendenz, da sich das Land Ende der 80er und Anfang der 90er Jahre sehr kooperativ gegenüber Washington verhalten hatte und mit der „Positiven Agenda" von Präsident Collor eine aktive Beseitigung bilateraler Konflikte betrieben hatte (Schirm 1994: 171-175). Diese „pragmatische Unterordnung"6 scheint im Zuge der Bewältigung der Verschuldungskrise seit einigen Jahren durch Autonomiewünsche eingeschränkt zu werden. Jüngste Entwicklungen wie die Entlassung des Präsidenten des „Forschungsinstituts" des brasilianischen Außenministeriums IPRI, Samuel Pinheiro Guimaraes, durch Außenminister Celso Lafer zeigen aber, dass aggressiver Nationalismus - anders als das Beharren auf gleichgewichtigen Konzessionen bei Verhandlungen (Lafer) - von der Regierung Cardoso nicht akzeptiert werden. Guimaraes hatte als Diplomat im Botschafterrang öffentlich erklärt, das Projekt einer Freihandelszone der Amerikas (FTAA/ALCA) sei ein Instrument zur Aufrechterhaltung der „Hegemonie der Industrieländer" (Nolte/Calcagnotto 2001: 100). Allerdings ist die „Besorgnis" Washingtons über den wiederauflebenden Nationalismus in Brasilien weit entfernt davon, in „Aufregung" umzuschlagen: Erstens gehört Brasilien weder politisch noch wirtschaftlich zu den besonders wichtigen Ländern (wie etwa Mexiko oder die EU und Russland) noch zu den wichtigen Ländern (wie etwa China oder Kuba), sondern erst zur dritten Kategorie in der Relevanzskala der USA. Zweitens werden die neuen nationalistischen Positionen nur von einem Teil des brasilianischen Establishments getragen, während andere Teile (etwa die Wirtschaftsministerien) nach wie vor auf kooperative Beziehungen setzen und primär auf die wirtschaftlichen Vorteile einer pragmatischen Zusammenarbeit mit Washington setzen. Drittens ist in Washington die Meinung verbreitet, dass Konflikte um Zollschranken, um die Bekämpfung des Drogenhandels und außenpolitische Positionen zur Normalität internationaler Beziehungen gehören (Larson 2000: 1-3) und beispielsweise auch Bestandteil der Beziehungen zur EU sind - ohne dass dies die positive Zusammenarbeit nachhaltig verschlechtern würde. 6

Zum Konzept der indirekten Macht der USA in den US-brasilianischen Beziehungen und der pragmatischen Unterordnung Brasiliens vgl. Schirm (1994: 216-229).

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3. Interessen in den US-brasilianischen Beziehungen Interessenorientierte Ansätze gehen von der These aus, dass außenpolitisches Handeln durch innenpolitische Einflüsse und ökonomische Interdependenz geprägt wird. Nationale Interessen sind also nicht wie im Neorealismus rein exogen durch das internationale System definiert, sondern auch endogen determiniert. Im Fokus stehen hier die Lobbyarbeit von Interessenverbänden, innenpolitische Koalitionen, die öffentliche Meinung und das politische System des jeweiligen Landes. Diese gesellschaftsorientierten Erklärungsansätze werden unter der Rubrik liberale Theorien internationaler Beziehungen zusammengefasst.7 Wie im Neorealismus werden Staaten auch hier als rationale Nutzenmaximierer gesehen. Sie folgen im liberalen Ansatz aber in erster Linie dem Ziel, ökonomischen Wohlstand zu mehren, und reagieren auch in der Außenpolitik auf Interessen gesellschaftlicher Gruppen. Untersucht man die Außenpolitik der USA unter dem Aspekt ihrer Beeinflussung durch innenpolitische Interessenkonstellationen, so betrifft dies im wesentlichen ökonomische Bereiche, da Sicherheitspolitik nur im Ausnahmefall gesellschaftliches Engagement hervorruft. Gerade bei der für die Wahrnehmung Brasliens entscheidenden Handelspolitik können in den letzten zehn Jahren erhebliche Veränderungen festgestellt werden. Mit dem Omnibus Trade and Competitiveness Act von 1988 schwächten die USA ihre traditionelle Strategie des multilateral verfolgten free trade ab und betreiben seitdem zunehmend eine Außenhandelspolitik nach dem Prinzip des fair trade. Zu Kernelementen der Außenhandelspolitik der 90er Jahre avancierten sowohl Strategien der Reziprozität (eigene Marktliberalisierung nur bei ebenbürtiger Liberalisierung auf Seiten der Partnerländer) wie auch der aggressiven Öffnung von Zielmärkten durch Sanktionen. Beispiele für das neue Instrumentarium sind die Verschärfung der Section 301 zur Verhängung von Strafzöllen und die Nutzung der Klagemöglichkeiten vor der WTO gegen „unfaires Verhalten" anderer Staaten.8 Ursachen fiir diese Trendwende waren vor allem drei interne und transnationale Entwicklungen: •

Erstens wuchs die Lobbytätigkeit von Interessengruppen seit den 80er Jahren in dem Maß, in dem die US-Wirtschaft im Zuge wachsender Globalisierung Wettbewerbsprobleme im eigenen Land erfuhr (Schirm 1999a: 183-189).9 So stellte die Konkurrenz mit ausländischen Wettbewerbern auf dem eigenen Markt noch in den 60er Jahren ein „marginales Phänomen" Zur interessenorientierten, in der Forschung als "liberal" bezeichneten Theorie internationaler Beziehungen vgl. Moravcsik (1997), Keohane/Nye (1977), Kohler-Koch (1990) und Rosecrance (1986).

8

Zur Entwicklung und den Ursachen der Außenhandelspolitik der USA sowie ihren multilateralen, bilateralen und regionalen Strategien vgl. Schirm (2000: 247-268).

"

Exporte plus Importe als Prozentsatz des Bruttoinlandsproduktes der USA stiegen von 12% (1970) über 21% (1980) auf 25% (1997) (UNCTAD 1997: 294; The Economisl, 30.1.1999:67).

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dar, bildete aber zwei Dekaden später bereits den Regelfall: Ende der 80er Jahre befanden sich 80% aller US-Produkte im Wettbewerb mit Gütern ausländischer Produzenten (Cohen 1991: 74-86). Das lobbying von Importen betroffener Sektoren für Schutz vor ausländischen Konkurrenten und von Exportbranchen für politische Öffnung von Zielmärkten blieb auch in den letzten Boom-Jahren konstant. •



Zweitens wurde die Rolle des Kongresses bei der Formulierung der Handelspolitik zu Lasten der Exekutive wichtiger. Dies ist sowohl Ergebnis zunehmender Lobbytätigkeit wie auch Resultat kongressinterner Veränderungen wie der Aufgabe des Senioritätsprinzips bei der Besetzung von Ausschüssen und dem Generationswechsel bei den Abgeordneten. Jüngere, außenpolitisch unerfahrenere Politiker mit kurzfristiger Perspektive rückten oftmals an die Stelle erfahrener Kollegen, die früher kurzfristige Vorteile von fair trade zugunsten langfristiger Vorteile weltweiten Freihandels zurückgestellt hatten. Die dritte innenpolitisch motivierte Neuerung in der Handelspolitik ist der heute fast schon verpflichtende Einschluss von Umwelt- und Sozialstandards in Handelsverträge. Diese Konditionen sind das Ergebnis der Lobbytätigkeit von Unternehmen, Gewerkschaften und Umweltgruppen, die Sozialdumping aus Entwicklungs- und Schwellenländern befürchten und Arbeitsplätze, Gewinne sowie den Umweltschutz bedroht sehen. Die WTORunde in Seattle und das FTAA-Treffen in Quebec 2001 zeigten, dass Entwicklungs- und Schwellenländer solche Umwelt- und Sozialklauseln in Handelsverträgen als Wettbewerbshemmnisse ablehnen.

Brasilien wird in den USA als Problemfali wahrgenommen, da es sowohl hohe Durchschnittszölle aufrecht erhält (14% gegenüber 3% im Fall der USA) als auch einigen Branchen erhebliche Exportsubventionen bezahlt. Die Handelskonflikte der 90er Jahre sowie die Verhängung von Strafzöllen gegen Brasilien (etwa für Stahl) sind bereits Legende (Barbosa 2001). Wichtig ist hier, dass diese Strafmaßnahmen von betroffenen Firmen in den USA durch eine Klage beim United States Trade Representative (USTR) initiiert werden und somit das direkte Ergebnis des Engagements von privatwirtschaftlichen Interessengruppen darstellen. Brasilien wird von den USA aber nicht nur aufgrund seiner hohen tarifaren bzw. nicht-tarifären Handelshemmnisse und mangelnder Rechtssicherheit für geistiges Eigentum (Patente) als Problemfall angesehen. Vielmehr ist der brasilianische Versuch, seine Nachbarländer zu ähnlich hohen Handelsbarrieren zu zwingen, für die USA ein Fall von Regionalmachtpolitik gegen USInteressen. Die brasilianischen Bestrebungen, das eigene ökonomische und diplomatische Gewicht zu nutzen, um etwa Argentinien und Chile dazu zu zwingen, ihre niedrigeren Zölle heraufzusetzen, lassen das südamerikanische Land

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für Washington als Blockierer einer Freihandelszone der Amerikas erscheinen.10 Allerdings ist auch hier die Aufregung auf brasilianischer Seite erheblich größer als auf US-amerikanischer, da Lateinamerika, wie gesagt, im Vergleich zu Mexiko keinen prioritären Handelspartner darstellt: Das Volumen des bilateralen Handels mit Brasilien beträgt nur ein Zehntel des Handelsvolumens mit Mexiko. Hinsichtlich der für Gewerkschaften, Umweltschutzgruppen (und vom Freihandel bedrohten Unternehmer) sowie deren Vertreter im Kongress wichtigen Umwelt- und Sozialstandards gehört Brasilien zu den Gegenspielern, seit das Land sich zusammen mit Indien auf der WTO-Konferenz im Dezember 1999 in Seattle als Sprecher der Opposition gegen die Vereinbarung solcher Mindeststandards profiliert hat. Während von brasilianischer Seite hinter diesen Forderungen versteckter Protektionismus der USA vermutet wird, ist in Washington die Meinung verbreitet, Länder wie Brasilien wollten durch niedrige Sozialstandards und durch Umweltverschmutzung unlauteren Wettbewerb auf dem USMarkt betreiben (Handelmann 2001: 6). Die brasilianische Bevorzugung einer wenig liberalen „Südamerikanischen Freihandelszone" (ALCSA) gegenüber einer FTAA wird von US-Interessengruppen daher als doppelte Gefahr gesehen: Der Zugang von US-Exporten zu südamerikanischen Märkten wäre erschwert, wenn Brasilien seine Nachbarländer auf relativ hohe Barrieren festlegen könnte, und Umwelt- wie Sozialdumping wären stimuliert, wenn Brasilien seine Nachbarländer davon abhalten würde, multilateralen Mindeststandards zuzustimmen. Für Washington verhindert eine Koalition aus rent-seekersu und Nationalisten weitergehende wirtschaftspolitische Reformen und Freihandel in Brasilien. Allerdings sind auch positive Aspekte in den ökonomischen Beziehungen zwischen den USA und Brasilien hervorzuheben: So kann die Einschätzung Brasiliens durch US-amerikanische Firmen in Anbetracht eines Bestands von 35 Mrd. Dollar Investitionen im Jahr 2000 so schlecht nicht sein. Auch der Außenhandel wuchs erheblich - um 14% auf 26 Mrd. Dollar - an (Harrington 26.1.2001). Gerade der Anstieg US-amerikanischer Direktinvestitionen verdeutlicht, dass das Argument vom custo brasil, d.h. der Verweis auf ein hohes Steuer* und Regulierungsniveau sowie Korruption und Rechtsunsicherheit, zumindest teilweise von Gewinnerwartungen der privaten Investoren neutralisiert wird. Wie in Brasilien selber stehen sich auch in den USA zwei „Lager" innenpolitischer Interessengruppen gegenüber: Für weitere Kooperation etwa im Rahmen 10

Vgl. Cason (2000: 30-35), Nolte (2001), Nolte/Calcagnotto (2001), Stausberg (2001), The Economisl, 21.4.2001: 19-22.

"

Rent-seekers sind Wiitschaftsakteure (etwa Unternehmer, Gewerkschaften, Arbeitnehmer), die Vorteile („Renten") aus staatlicher Protektion (Zollschranken gegen Wettbewerber, Monopole, Subventionen etc.) erhalten. In Brasilien gehören dazu neben Staatsfirmen und nationaler Produzenten auch die ausländischen Konzerne der Automobilbranche. Handelsliberalisierungen und Wettbewerb stellen für rent-seekers in der Regel eine ökonomische Bedrohung dar, da sie Jire Privilegien gegenüber anderen Herstellern verlieren würden.

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der FTAA engagieren sich die Exportindustrie, transnationale Investoren und diejenigen Gruppen, die Kenntnis von der wachstumsfördernden Wirkung von Handelsliberalisierungen haben. Gegen eine solche Öffnung wenden sich bisher durch tarifare und nicht-tarifare Hemmnisse geschützte Sektoren und die mit ihnen verbundenen Unternehmen, wie Gewerkschaften und Umweltschutzgruppen. Diese gesellschaftliche „Spaltung" spiegelt sich in der Politik Washingtons wider und stimuliert das ambivalente Gesamtbild US-amerikanischer Außenwirtschaftspolitik gegenüber Lateinamerika und Brasilien.

4. Ideen in den US-brasilianischen Beziehungen Mit der Betonung von Ideen im Sinne von politischen Wertvorstellungen und Identitäten in der internationalen Politik unterscheiden sich konstruktivistische Ansätze deutlich von den vorangegangenen Theorien, die außenpolitisches Handeln als eine von materiellen Umständen (Macht, Wohlstand etc.) abhängige Variable ansehen. Dem Konstruktivismus zufolge ist alle Realität sozial konstruiert und durch intersubjektiven Austausch, d.h. Lernprozesse, wandelbar. Akteure der internationalen Beziehungen agieren entsprechend ihrer jeweiligen Identität und erlernten Rollenmuster. Diese Rollenmuster folgen kulturellen Prägungen, historischen Legaten und ideellen Überzeugungen stärker als materiellen Handlungsbedingungen und Gewinnerwartungen. Auch hier sind Motive endogen bestimmt, sie spiegeln allerdings von außen induzierte Erwartungsmuster wider.12 Die amerikanische Politik gegenüber Lateinamerika - auch gegenüber Brasilien - wurde seit der Monroe-Doktrin bis heute von zwei rivalisierenden Wertevorstellungen geprägt. Hemispherism betont die gemeinsamen historischen Erfahrungen der Länder Nord-, Mittel- und Südamerikas im Kampf um die Unabhängigkeit von den monarchistisch verfassten europäischen Kolonialmächten sowie gemeinsame Traditionen wie die republikanische Verfassung der politischen Systeme und ein historisch gesehen junges nation-building.13 Antihemispherism wurde erstmals unter Präsident Quincy Adam virulent und zielt auf die Unterschiede zwischen Nord- und Lateinamerika: Während der Norden politisch ein Ergebnis der Aufklärung ist, auf Bürgerrechten basiert und eine starke Kontrolle der Regierung durch die Gesellschaft ebenso vorsieht wie individuelle Freiheiten und marktwirtschaftliche Prinzipien, ist Lateinamerika traditionell von feudalen Gesellschaftsstrukturen, dem Obrigkeitsprinzip und staatlichem Interventionismus geprägt.

12

Zur Rolle von Werten und Normen im Konstruktivismus vgl. Hopf (1998), Risse (1999), Wendt (1992).

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Zu den beiden ideellen Denkmustem hemispherism und ami-hemispherism (1999).

vgl. Conales/Feinberg

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Aus der Sicht des cmti-hemispherism ist Lateinamerika aufgrund dieser divergierenden Traditionen sowie von Korruption, Ineffizienz, Instabilität und mangelhafter sozialer Integration für eine engere Zusammenarbeit uninteressant. Diese no-beneßt-DoVXnn beeinflusste in jüngster Vergangenheit beispielsweise die Lateinamerikapolitik während der 70er Jahre sowie die Argumentation der NAFTA-Gegner während der Ratifizierungsdebatte (1992/93) und der MexikoKrise (1994/95) und schwingt in der Debatte um eine Freihandelszone der Amerikas mit. Die „ideelle Distanz" zur NAFTA - trotz materieller Vorteile - in den USA beklagte auf deutliche Weise einer der stärksten Befürworter des Freihandels in der westlichen Hemisphäre, C. Fred Bergsten (1997: 28): „NAFTA has in fact become a dirty word in Washington". Wie groß die „ideelle Distanz" zu Lateinamerika in den USA ist, wird in den häufigen Belehrungen USamerikanischer Diplomaten über good governance gegenüber Lateinamerika deutlich. Beispielsweise erklärte der stellvertretende Außenminister Peter Romero (2001: 3) zu den Grundsätzen der Lateinamerikapolitik von George W. Bush: „ [...] democracy is not just about elections [...] It's about the capacity to run a clean govemment and root out corruption [...]". Der Verweis auf „poverty and insufficient job creation" und darauf, dass „Latin America still has the most skewed distribution of income and wealth" (Romero 2001: 3) ist sachlich korrekt, verdeutlicht aus dem Munde eines Diplomaten (!) aber auch das Gewicht der negativen Seiten des Lateinamerika-Bildes Washingtons. Positiver hemispherism prägte dagegen die 50er und 60er Jahre und lebte in den 90er Jahren auf, als sich Lateinamerika nach Dekaden autoritärer Regime und staatlichen Interventionismus in Richtung Demokratie und Marktwirtschaft reformierte. Die neue Kompatibilität politischer und wirtschaftlicher Vorstellungen zwischen den USA und Lateinamerika war die Voraussetzung nicht nur für die NAFTA, sondern auch für die FTAA-Verhandlungen (Schirm 1997: OSHS). Brasilien wird in der Wahrnehmung der US-Öffentlichkeit und des politischen Establishments in Washington als ein Land gesehen, das hinsichtlich marktwirtschaftlicher Reformen nicht so schnell wie Mexiko und Argentinien ist, mit Cardoso jedoch über einen kompetenten Präsidenten verfügt, der mit Clinton nach dem „Dritten Weg" suchte, aber intern nach wie vor von Klientelismus, Massenarmut und Ineffizienz geprägt ist. Trotz einiger problematischer Aspekte figuriert Brasilien für die USA unter den ernstzunehmenden Ländern Lateinamerikas - weit entfernt vom dumpfen Populismus wie etwa in Venezuela unter Chävez und vom Drogensumpf Kolumbiens (vgl. u.a. Buckley 2000: A20; Perry 2000; Schirm 1994: 121-199; Harrington 26.1.2001). Selbstverständlich können die - positiven wie negativen - Wahrnehmungen Lateinamerikas und Brasiliens in den USA sowie die damit verbundenen ideellen Muster auch vorgeschobene Argumentationslinien darstellen, die zugrundeliegende materielle Interessen (Protektionismus wie Freihandel) befördern sollen. Gleiches gilt natürlich auch für den Anti-Amerikanismus in vielen lateinamerikanischen Ländern. Das Ausmaß, in dem eine solche Argumentation in 254

einer Gesellschaft relevant wird, zeugt aber wiederum von tatsächlich vorhandenen Rollenmustern und Werten und untermauert somit die Bedeutung ideeller Faktoren als Motivationselemente außenpolitischer Entscheidungen der Regierungen.

5. Fazit, Prognose und der Quebec-Gipfel Die US-amerikanische Wahrnehmung und Politik gegenüber Brasilien ist facettenreich und ambivalent. Diese Ambivalenz spiegelt deutlich machtpolitische Konstellationen im internationalen System, den Einfluss materieller Interessen auf den Entscheidungsprozeß in Washington, aber auch Gemeinsamkeiten wie Divergenzen hinsichtlich ordnungspolitischer Wertvorstellungen. Die drei theoretischen Zugriffe können das Gesamtbild der US-Politik erklären und verdeutlichen, dass hier keiner übergeordneten Strategie gefolgt wird und dass Politik in einem demokratischen System vielfaltigen Einflüssen und Motivationen unterliegen kann. Im Ergebnis zeigen sich ähnliche Ambivalenzen, wie sie die USPolitik etwa gegenüber Europa aufweist. Dies impliziert, dass die US-brasilianischen Beziehungen offenbar ganz „normale" internationale Beziehungen zwischen einer industrialisierten, demokratischen Hegemonialmacht und einem zunehmend machtbewussten, sozial wie ökonomisch zerrissenen Schwellenland sind. Auch harte Verhandlungen gehören zu kooperativen Beziehungen. Für die FTAA-Verhandlungen ist aber insofern Skepsis angebracht, als die USA weder ein ungeteiltes machtpolitisches Interesse mitbringen, noch eine eindeutige innenpolitische Unterstützung und gewichtige ideelle Motive. Vor allem im Kongress, der jedem Außenwirtschaftsabkommen zustimmen muss, ist der Wunsch nach einer FTAA keineswegs dominant handlungsleitend: „The principal obstacle to a hemispheric free-trade area comes from Capitol Hill" resümiert Perry (2000: 412). Zusammen mit der brasilianischen Obstruktionspolitik lassen diese Bedingungsfaktoren der US-Politik nur einen FTAA-Torso für 2005 erwarten. Welche konkreten Veränderungen der Politik Washingtons gegenüber Brasilien sind aber von der neuen Administration von Präsident Bush zu erwarten? •

Im machtpolitischen Bereich, d.h. im internationalen System ist kein kurzfristiger Wandel erkennbar: Die USA dürften auf absehbare Zeit die einzige verbliebene Supermacht sowohl hinsichtlich ihrer militärischen Kapazitäten wie auch hinsichtlich ihrer Wirtschaftskraft bleiben. Daher dürfte sich hier wenig an den genannten Ursachen fiir die außen(wirtschafts-politische Ambivalenz gegenüber Lateinamerika ändern. Nur eine Verschärfung der Handelsstreitigkeiten mit der EU, ein neuer Kalter Krieg etwa gegenüber China oder die Entwicklung Venezuelas zu einem sogenannten „Schurkenstaat" ä la Irak könnten hier eine Veränderung bewirken und neue sicherheitspolitische Allianzen oder wirtschaftspolitische Strategien bedingen. Da 255

es keine Anzeichen für eine Reduzierung der ökonomischen Konkurrenz zwischen den Wirtschaftsblöcken gibt, ist aber auch davon auszugehen, dass die Motivation der USA bestehen bleibt, durch die Ausweitungihres" Blockes in den Amerikas bessere Wettbewerbschancen innerhalb und außerhalb der westlichen Hemisphäre zu erlangen. • Hinsichtlich interner Interessenlagen verlieren Umweltschutzgruppen und Gewerkschaften durch die gestärkten Republikaner im Kongress und den neuen Präsidenten an Einfluss, während big business an Gewicht gewinnt. Dies legt einen stärkeren Aktivismus der Bush-Administration für eine erfolgreiche und zügige Beendigung der FTAA-Verhandlungen nahe, um den Interessen der Exportindustrie und großer Investoren zu genügen. Mit Robert Zoeltick wurde außerdem ein strategischer Denker zum United States Trade Representative (USTR) berufen, der schon die NAFTA und die Enterprise for the Aniericas Initiative (EAI) mitgestaltet hat. Diese Entwicklungen lassen eine Überwindung noch unter Clinton blockierender Einzelinteressen möglich erscheinen. • Aus der Perspektive politischer Werte müsste sich Bushs erklärte Affinität zu Lateinamerika positiv auf den FTAA-Prozess auswirken. Allerdings könnte sich auch herausstellen, dass Bush in Wirklichkeit nur Mexiko und damit die NAFTA gemeint hat, nicht aber den Rest Lateinamerikas. Liest man seine Reden genauer, so bestehen präzisere Vorstellungen und Kenntnisse nur gegenüber Mexiko. Auch ist nicht zu erkennen, dass sich das Lateinamerikabild in den USA kurzfristig wesentlich verbessern wird und somit die Vertreter der no-benefit-Doktrin schwächen würde. Langfristig ist aber mit einer ideellen Annäherung der USA an Lateinamerika zu rechnen, da mit dem steigenden Latino-Anteil an der US-amerikanischen Bevölkerung (und Wählerschaft!) eine Annäherung von Identitäten und Wertemustern denkbar ist. Das FTAA/ALCA-Gipfeltreffen in Quebec im April 2001 scheint diese Prognosen zu bestätigen: Bush zeigte mehr Engagement als Clinton und versprach, vom Kongress noch 2001 die fast-trackJtrade-promotion authority zu erhalten. Damit ging er insofern ein Wagnis ein, da er nun in kürzester Zeit einen Teil der Demokraten zur Modifizierung ihrer (von den Lateinamerikanern abgelehnten) Forderung nach strikten Umwelt-, Arbeits- und Sozialstandards im FTAA-Vertrag bewegen muss (The Economist, 28.4.2001: 57). Dies plant die Bush-Administration u.a. durch die Schaffung eines Programms zur direkten Unterstützung (retraining) eigener, durch Freihandel arbeitslos gewordener Arbeiter anstelle der Verankerung von Labour-Standards für alle Länder der Amerikas. Zur Begründung seines Engagements für die FTAA gab Bush auf der abschließenden Pressekonferenz ein „neorealistisch-liberales" Argument, in dem ökonomische Interessen wie machtpolitisches Blockdenken verschmelzen: „We have a choice to make. We can combine in a common market so we can compete in the long term 256

with the Far East and Europe, or we can go on our own. I submit that going on our own is not the right way" (aus: Pellegrini 2001: 2 und Bazinet 2001: 1). Ingesamt brachte der Gipfel von Quebec aber wenig mehr als schöne Worte. Konkrete Verhandlungsfortschritte waren schon im Vorfeld an divergierenden Interessen gescheitert, vor allem der USA und Brasiliens: Während die USA versuchten, Umwelt- und Sozialstandards durchzusetzen und weniger Zugeständnisse bei Handelsliberalisierungen (nicht-tarifare Hemmnisse und Subventionen) zu machen, als sie von lateinamerikanischer Seite gefordert wurden, sah die brasilianische Regierung ihre Führungsrolle in Südamerika durch die FTAA grundsätzlich gefährdet und fürchtete um ihre staatlich geschützten und wenig wettbewerbsfähigen Industriesektoren. Auch Quebec bestätigte damit die Erwartung, dass es bis 2005 intensive Verhandlungen um nationale Vorteile geben wird und danach nur einen FTAA-Torso. In Anbetracht der ebenfalls langwierigen Geschichte Europäischer Integration ist dies der Nonnalfall beim Zusammenschluss einer Staatengruppe. Und in Anbetracht der Wachstumsimpulse, die von Handelserleichterungen ausgehen, wäre auch ein FTAA-Torso ein deutlicher Fortschritt. Diese Wohlfahrtsgewinne müssten aber innerhalb der lateinamerikanischen Gesellschaften besser verteilt werden als bisher, um nicht wieder gesamtwirtschaftliches Wachstum am Großteil der Bevölkerung vorbei gehen zu lassen.

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Franklin Trein

Brasilien und seine Rolle im ALCA-Prozess: Wahrnehmungen und Nicht-Wahrnehmung durch die Europäische Union Die Geschichte der Beziehungen zwischen Westeuropa und Lateinamerika spiegelt eine vielfaltige Realität wider. Hierzu trug die Tatsache, dass weder die :ine noch die andere Seite eine wirkliche Einheit bildet, nicht unwesentlich bei So finden wir auf beiden Seiten eine Heterogenität von Akteuren und Situaticnen vor, die die Beziehungen zwischen den Ländern untereinander ebenso prägt wie das Verhältnis zwischen den beiden Regionen. Bekanntlich stehen die Mitgliedstaaten der Europäischen Union Lateinanerika und den Ländern in der Region mit sehr unterschiedlichen Interessen und Wahrnehmungen gegenüber. In Deutschland weckt die lateinamerikanische Realität breites akademisches Interesse, in Spanien steht das politische und nunnehr auch das wirtschaftliche Interesse im Vordergrund. Anders verhält es sich mit Dänemark und Griechenland, die sich Lateinamerika gegenüber eher gleichgültig verhalten. Frankreich und Großbritannien - zwei Länder, die in der Europäischen Union eine herausragende Rolle spielen - , haben sich seit einiger ieit sehr von der lateinamerikanischen Realität entfernt, was sich unter anderen in der geringen Bedeutung Lateinamerikas in der Außenpolitik beider Länder niederschlägt. Anders die Niederlande: Obwohl deren Initiativen in Lateinamerika, durch das politische und wirtschaftliche Gewicht des Landes bedingt, nienals eine hervorragende Position einnehmen, trifft das relative Desinteresse wiederum nicht auf dieses Land zu. Dies sind nur einige Beispiele aus der gesamten Palette bilateraler Bezielungen, die EU-Mitgliedstaaten zu den lateinamerikanischen Ländern unterhaten. Eine Analyse der bilateralen Beziehungen der EU-Länder zu Lateinamerila die hier aufgrund ihres Umfangs und ihrer Komplexität nicht erbracht weiden kann - würde zu folgendem Ergebnis kommen: Die Beziehungen der Europäischen Union zu den lateinamerikanischen Ländern sind nicht nur die Summe der bilateralen Beziehungen zwischen den lateinamerikanischen und den EU-vlit-

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gliedsstaaten; vielmehr besitzen Rat. Europäische Kommission und Europäisches Parlament aufgrund ihrer supranationalen Kompetenzen eine eigene Machtstruktur und Autonomie, die es der EU ermöglicht, eigenständige Beziehungen zu Drittländern aufzubauen.

1. Brasilien in der (Nicht-)Wahrnehmung der Europäischen Union Misst man das Interesse, mit dem die brasilianische Realität von der EU wahrgenommen wird, an der Anzahl einschlägiger Veröffentlichungen ihrer Organe, besonders der Europäischen Kommission, so kommt man nicht umhin, festzustellen, dass Brasilien in Brüssel wahrlich keine Spitzenposition einnimmt. Die brasilianische Gesellschaft und Kultur verschwinden quasi in einem Amalgam, das vom argentinischen Feuerland bis hin zum Rio Grande oder (nach dem EUMexiko-Vertrag) zur Halbinsel Yucatán reicht. Chile wird beispielsweise viel häufiger erwähnt als Brasilien. Qualitativ gesehen nimmt Brasilien jedoch in Brüssel eine etwas bessere Position ein. Weil das Land zu den zehn größten Volkswirtschañen der Welt zählt, wird Brasilien von der EU als interessante aufsteigende Wirtschaftsmacht wahrgenommen. Brasilien wird aber auch mit Begriffen wie Auslandsverschuldung, Haushaltsdefizit, technologische Abhängigkeit oder ungerechte Einkommensverteilung assoziiert. Berücksichtigt werden auch die kontinentalen Ausmaße des brasilianischen Territoriums, zu dem das Amazonasgebiet mit seiner Biodiversität ebenso zählt wie die ausgedehnten kultivierbaren Gebiete und die kürzlich entdeckten großen Süßwasservorkommen im Süden und Nordosten des Landes. Abgesehen von diesen allgemeinen Informationen, die man in den wenigen offiziellen Dokumenten der EU zu Brasilien findet, überwiegt die Nicht-Wahrnehmung Brasiliens durch die Europäische Union. Obwohl Brasilien als größtes Land Lateinamerikas eine relativ große Bedeutung für die Europäische Union haben sollte, werden die politischen Beziehungen kaum angesprochen. Dabei wird sowohl in Brüssel als auch in Strassburg die aktive Rolle Brasiliens bei den Vereinten Nationen und in anderen internationalen Organisationen durchaus wahrgenommen. Als sich Brasilien im Zusammenhang mit der angestrebten Reform der Vereinten Nationen um einen permanenten Sitz im Weltsicherheitsrat bewerben wollte, führte dies zu dezidierten Stellungnahmen seitens wichtiger Persönlichkeiten in der EU. In den 80er Jahren konzentrierten sich die politischen Diskussionen über Brasilien in Europa auf das Thema der Auslandsverschuldung. Zu Beginn der folgenden Dekade - nach dem Umbruch in Europa im Jahr 1989 - war Lateinamerika und somit auch Brasilien kein Gesprächsthema für die EU. Erst durch die UN-Umweltkonferenz in Rio de Janeiro 1992 stand Brasilien in Brüssel wieder auf der politischen Tagesordnung. 261

Die 90er Jahre brachten neue Themen auf die Agenda der Beziehungen zwischen der Europäischen Union und Brasilien. Dazu zählte die Frage des Umweltschutzes als eines der wichtigsten Themen, wobei die EU von Brasilien fordert, die Umweltzerstörung durch Maßnahmen aufzuhalten, die von den entwikkelten Ländern selbst - weil sie der Fortfuhrung ihres eigenen Entwicklungsmodells entgegenstünden - bisher weder eingehalten noch akzeptiert worden sind. Ein anderes wichtiges Thema waren die Menschenrechte. Um der Forderung nach Abschaffung der Kinderarbeit und höheren Löhnen für brasilianische Arbeitnehmer Nachdruck zu verleihen, drohte die EU Handelsrestriktionen an. Als Erbe der 80er Jahre standen Fragen der Demokratieentwicklung und der Sicherheitspolitik bei den Treffen zwischen der EU und Lateinamerika auch weiterhin auf der Tagesordnung. Brasilien hat es vor allem der Rio-Gruppe zu verdanken, dass sein politischer Beitrag in Europa Anerkennung fand. Ein weiteres permanentes Thema auf der interregionalen Agenda ist die Bekämpfung des Drogenhandels, das Brasilien allenfalls als Transitland betrifft. Da das brasilianische Territorium aufgrund seiner günstigen geographischen Lage aber zusehends fiir den Transport von Drogen in Richtung nördliche Hemisphäre benutzt wird, fordern die Europäer von den brasilianischen Behörden eine deutlichere Antidrogenpolitik. Nach Unterzeichnung des Vertrages von Asunción am 26. März 1991 durch Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay, mit dem die Gründung des Gemeinsamen Marktes des Südens (Mercosur) besiegelt wurde, gewann der südliche Teil Lateinamerikas sowohl in der internationalen Gemeinschaft als auch bei der Europäischen Union einen neuen Stellenwert. Für die Südamerikaner war die Anerkennung des Mercosur als Partner der EU in den internationalen Beziehungen von größter politischer Bedeutung. Brasilien beteiligte sich aktiv an der verstärkten Zusammenarbeit zwischen beiden Regionen. Dies gilt sowohl für die Unterzeichnung des Interregionalen Kooperationsrahmenabkommens im Dezember 1995 als auch für das Treffen der Staats- und Regierungschefs des Mercosur und Chiles mit der Europäischen Union im Juni 1999 und die im November desselben Jahres begonnenen Verhandlungen über ein Assoziationsabkommen. Bei den Verhandlungen mit der Europäischen Union war Brasilien zu keinem Zeitpunkt daran gelegen einseitige Vorteile für sich zu erzielen, sei es durch ein gezieltes Vorgehen oder durch bewusste Zurückhaltung. Vielmehr zeichnete sich der brasilianische Verhandlungsstil durch Solidarität mit den Partnern aus. Man sollte daher aus der Tatsache, dass die Gipfelkonferenz im Jahre 1999 in Rio de Janeiro stattfand, keine falschen Schlüsse ziehen. Die Standortwahl Rio de Janeiro ist auf die persönliche diplomatische Initiative des brasilianischen Präsidenten Fernando Henrique Cardoso zurückzufuhren, der mit seinem Anliegen ein offenes Ohr beim französischen Präsidenten Jacques Chirac fand und mit dessen persönlicher Unterstützung rechnen konnte. Zwar sind die offiziellen und offiziösen Kontakte der Europäischen Union und ihrer Mitgliedstaaten mit den Ländern Lateinamerikas und der Karibik so262

wie mit den entsprechenden regionalen Integrationsinstitutionen sehr intensiv. Im Kontrast dazu steht jedoch der offizielle Diskurs, in dem die historische, soziale und kulturelle Nähe zwischen Europa und Lateinamerika sowie der Karibik kaum Erwähnung findet. Es ist in Vergessenheit geraten, dass während der letzten zwei Jahrhunderte mehr als 60 Millionen Europäer ohne Hoffnung auf eine bessere Zukunft Hunger und Not zurückließen, um in diesen Ländern Amerikas eine neue Heimat zu finden. Sie flohen vor den napoleonischen Kriegen, vor Bauernrevolutionen, dem französisch-preußischen Krieg, vor zwei Weltkriegen und vor der Rezession der 30er Jahre. In Brasilien ließen sich über zwei Millionen Portugiesen und Spanier sowie Menschen anderer Nationalitäten nieder. Hunderttausende von Italienern und Deutschen wanderten nach Brasilien aus und fanden vor allem im Süden des Landes eine neue Heimat. Sie halfen beim Aufbau der Städte Säo Paulo, Novo Hamburgo und Nova Brecia. Auch Europäer aus anderen Ländern wanderten nach Brasilien aus. Die Holländer gründeten Nova Holambra, die Schweizer Nova Friburgo, die Finnländer Penedo, die Polen Santa Rosa, die Weißrussen Quatro Irmäos und die Ukrainer Castro. Es waren jedoch nicht nur Menschen, die Europa verließen, um in Brasilien eine vielversprechende Zukunft zu finden. Auch Kapital wurde investiert. Die junge brasilianische Republik erhielt in den ersten Jahren ihres Bestehens seit 1889 vor allem europäisches Kapital, ein Großteil davon aus Schweden, das besonders in die Eisen- und Stahlindustrie sowie in die Metall- und Kapitalgüterindustrie investierte. Für Schweden, das seine Präsenz seit Beginn des 20. Jahrhunderts noch verstärkte, war Brasilien in den 50er Jahren der zweitgrößte Investitionsstandort im Ausland. Jahrzehntelang stammten jedoch das meiste in Brasilien investierte europäische Kapital aus Deutschland. Die deutsch-brasilianische Handels- und Industriekammer von Säo Paulo weist immer wieder darauf hin, dass Säo Paulo die größte deutsche Industriestadt sei. Inzwischen hat Deutschland seinen ersten Rang auf der Liste der europäischen Direktinvestoren allerdings an Spanien abgetreten. Zur Zeit ist Spanien das Land, das nach den Vereinigten Staaten am meisten in Brasilien investiert. Auch andere europäische Länder wie Frankreich, Holland, Portugal, Italien, Großbritannien, Belgien und auch die Schweiz sind bedeutende Investoren in Brasilien. Während des gesamten 20. Jahrhunderts - sogar während der „verlorenen Dekade4' der 80er Jahre - wurde kaum europäisches Kapital aus der brasilianischen Wirtschaft abgezogen. Es war hauptsächlich spekulatives Kapital, das zurückging, während die Investitionen in produktiven Sektoren keinen auffalligen Rückgang zu verzeichnen hatten. Die Investitionen in Brasilien erzielten in der Regel nicht nur eine positive Rendite, was einer etwaigen Kapitalflucht entgegenwirkte, sondern oft war diese zudem höher als bei Tochtergesellschaften europäischer Unternehmen in anderen Regionen. Durch seine wirtschaftliche Größe ist Brasilien Europas wichtigster Handelspartner und Kapitalstandort in Lateinamerika. Die engen Wirtschaftsbeziehungen spiegeln sich jedoch nicht im akademischen Austausch oder der wissen263

schaftlichen und technischen Zusammenarbeit wider. Die wissenschaftlichen und technischen Beziehungen zwischen Brasilien und den Mitgliedstaaten der EU sind quantitativ und qualitativ sehr beschränkt. Selbst Deutschland, mit dem die engste Zusammenarbeit besteht, ist weit davon entfernt, den brasilianischen Erwartungen gerecht zu werden. Wenn heute eine Gruppe von fast fünfzig hochqualifizierten deutschen Forschern an brasilianischen Universitäten arbeitet, so ist dies auf ein Sonderprogramm zurückzufuhren, das von Brasilien finanziert wird. Im Gegensatz zu Mexiko hat Brasilien kein Freihandelsabkommen mit der EU. Bekanntlich verlaufen die Verhandlungen zwischen der EU und dem Mercosur langsam und gestalten sich vor allem im Hinblick auf den Zollabbau schwierig. Hindernisse und Fortschritte hängen im wesentlichen von der europäischen Agrarpolitik ab. Zum Schutz der eigenen wirtschaftlichen, soziokulturellen und nun auch ökologischen Interessen verhindern die Europäer die Öffnung des EU-Marktes für Agrarprodukte aus dem Mercosur. Dabei wird die brasilianische bzw. lateinamerikanische Agrarproduktion mit anderem Maß gemessen als die europäische. So kritisiert Europa verständlicherweise die ungerechte Einkommensverteilung und fordert von Brasilien mehr soziale Gerechtigkeit, trifft aber einseitige Entscheidungen und handelt autonom, wenn in den Sektoren, die nachhaltig zu einer Verbesserung der Einkommensverteilung beitragen könnten - wie etwa die Agrarpolitik - , eigene Interessen betroffen sind.

2. Brasiliens Rolle im ALCA-Prozess Mit dem I. Gipfel der Amerikas 1994 in Miami begann der Countdown zur Bildung der Freihandelszone ALCA in Gesamtamerika und der Karibik, ausgenommen Kuba. Das Ziel der ALCA ist der freie Waren- und Kapitalverkehr. Damit verbunden sind, wie die Europäer aus eigener Erfahrung wissen, erheblich variierende Produktionskosten. Darüber hinaus bestehen potenzielle Asymmetrien zwischen Volkswirtschaften mit außerordentlich ungleichen Größenordnungen, von denen die einen ihr Sozialprodukt in Milliarden US-Dollar bemessen, die andern nur in Millionen US-Dollar. Brasiliens ehemaliger Finanzminister Ernane Galveas stellte am 1. Dezember 2000 in Säo Paulo anlässlich einer nationalen Konferenz fest, dass die Zukunft der amerikanischen Staaten bereits entschieden sei: Die ALCA werde die Länder der Region dazu zwingen, die Dollarisierung ihrer Ökonomien zu akzeptieren. Diese Einschätzung teilt auch Lia Valls, Nationalökonomin der angesehenen Getülio-Vargas-Stiftung. Ein weiterer ehemaliger Finanzminister, Marcilio Marques Moreira, rief auf derselben Konferenz dazu auf, der Dollarisierung Widerstand zu leisten, da sie der Aufgabe eines nationalen Symbols und einer eigenständigen Wirtschaftspolitik gleich käme (Gazeta Mercantil, 2.12.2000, S. 17). 264

Es sei daran erinnert, dass Ekuador und El Salvador vor kurzem ihre Wirtschaft dollarisiert haben. Panama, wie viele andere Länder der Karibik, akzeptiert den Dollar schon seit langem als interne Währung. Argentinien befindet sich mit seinem System des festen Wechselkurses auf halbem Wege zur Dollarisierung. Dasselbe Rezept des currency board verschrieb Professor Rüdiger Dornbusch Mexiko im Dezember 2000 anlässlich eines Seminars über Währungssysteme und Wachstumseffekte in Brasilien. Der argentinische Finanzminister Domingo Cavallo war mit Dornbusch einer Meinung. Lediglich der dritte Referent, Delfim Netto, äußerte Zweifel, dass ein currency board für Mexiko vorteilhaft wäre. Angesichts der damit verbundenen Größenordnung würden diese Diskussionen dann überflüssig werden, wenn die brasilianische Wirtschaft den Dollar als eigene Währung einfuhren würde. Es sei daran erinnert, dass allein das Wirtschaftsvolumen des Bundesstaates Säo Paulo in etwa dem Bruttoinlandsprodukt von Argentinien entspricht. Im Bundesstaat Säo Paulo leben etwa genauso viele Menschen wie in Argentinien, aber Säo Paulos Pro-Kopf-Einkommen ist höher als das Argentiniens und zweieinhalb mal so hoch wie das der Mexikaner. Wird Brasilien Mitglied der ALCA, so wird kein anderes Land diesem Zusammenschluss fernbleiben können. Bleibt Brasilien jedoch außerhalb, so wäre dies ein schwerer Rückschlag für die nordamerikanischen Interessen, auch wenn Nixons Prophezeiung - „Wo Brasilien hingeht, geht auch Lateinamerika" - sich in diesem Fall mit großer Wahrscheinlichkeit nicht bewahrheiten würde. Jedenfalls wissen die Vereinigten Staaten besser als jedes andere Land, dass Brasilien in der Region eine äußerst wichtige Rolle spielt. Die Europäische Union hingegen hat bisher zu dieser Frage noch keine klare Stellung bezogen. Präsident Clinton hat gegenüber Lateinamerika eine Reihe von Initiativen ergriffen, die unter Präsident Bush weitergeführt werden. Der US-amerikanische Botschafter in Brasilien, Richard Fisher, teilte bereits vor seinem Amtsantritt mit, dass die ALCA in der Regierung Bush Vorrang haben und wichtiger sein werde als andere Abkommen, einschließlich solcher mit Europa oder Asien (iGazeta Mercantil, 14.12.2000, S. A-ll). Robert Zoellick, Handelsbeauftragter der Bush-Administration, bestätigte dies ausdrücklich. Um Überraschungen zu vermeiden, haben die Vereinigten Staaten schon seit längerem in Südamerika einen „Belagerungsring" um Brasilien gezogen. An erster Stelle ließe sich die US-amerikanische Annäherung an Argentinien unter Präsident Menem nennen, die den Mercosur zeitweilig belastete. Wenige Tage vor dem Gipfeltreffen des Mercosur Anfang Dezember 2000 in Florianöpolis nahm Chile bilaterale Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen mit den USA auf, obwohl das Land zuvor als Vollmitglied dem Mercosur beitreten wollte. Uruguays aktuelle Regierung unter Präsident Batlle spricht sich offen für die ALCA aus und ist kein verlässlicher Verbündeter Brasiliens. Paraguay ist wirtschaftlich und politisch schwach, wenn es, wie in der Vergangenheit mehrfach geschehen, unter Druck gesetzt wird; somit ist das Land kein Partner, mit dem 265

Brasilien in kritischen Situationen rechnen könnte. Auch das Peru in der Zeit post-Fujiniori ist ein fragwürdiger Alliierter Brasiliens. Während der Regierungskrise in Peru hat Brasilien das Prinzip der Nichteinmischung respektiert, wodurch latente antibrasilianische Kräfte Aufwind erhielten und damit eine „Beeinflussung durch nördliche Winde" überflüssig machten. Das brasilianische Verhältnis zu Kolumbien ist noch komplizierter. Der Plan Colombia überzeugt die brasilianische Regierung nicht, da er in Wahrheit wenig mit der Bekämpfung der Kokainproduktion zu tun hat, dagegen aber viel mit zwei anderen Anliegen Kolumbiens. Eine trefflichere Bezeichnung wäre „AntiGuerrilla-Plan" oder noch besser „Plan Amazonien". In der brasilianischen Perspektive stellt das kolumbianische Territorium heute einen Herd der Instabilität dar. Das Grenzgebiet zu Kolumbien ist eine permanente Konfliktregion, in der sogar bewaffnete Aktionen der brasilianischen Streitkräfte nicht ausgeschlossen werden können. Guayana und Surinam hingegen verfugen über eine sehr begrenzte Autonomie, und beide Kleinstaaten haben keinerlei politische Präsenz in der Region. So bleiben in Südamerika nur noch Bolivien und Venezuela als potenzielle Verbündete Brasiliens. Bolivien hat sich dem Mercosur angenähert und ist mittlerweile assoziiert; in der Vergangenheit ist das Land jedoch mehrmals mit der überraschenden Präsenz von US-amerikanischen marines auf seinem Gebiet konfrontiert worden. In Bezug auf das von Hugo Chävez regierte Venezuela fragt man sich in Washington: „¿Hasta cuando?". Außerhalb Südamerikas stehen das bereits zur NAFTA gehörende Mexiko und die zentralamerikanischen sowie karibischen Länder, ausgenommen Kuba, alle mehr oder weniger stark unter direktem oder - über Mexiko - indirektem US-amerikanischen Einfluss. Brasiliens Teilnahme am ALCA-Prozess löste in der politischen und wirtschaftlichen Elite intensive Verhandlungen und zahlreiche Auseinandersetzungen aus. Neben Befürwortern gibt es auch zurückhaltende oder völlig entgegengesetzte Stellungnahmen. Eine von Hélio Jaguaribe (2000) koordinierte Studie kommt zu dem Ergebnis, dass eine Teilnahme an der ALCA für die Volkswirtschaften der Mercosur-Länder extrem ungünstige Auswirkungen nach sich ziehen würde. Die gleiche Position vertrat der Brasilianische Verband der Möbelindustrie (Associagào Brasi/eira da Industria do Mobiliano, ABIMOVEL) mit mehr als 70.000 Mitgliedsbetrieben und über 500.000 Beschäftigten, als er am 12. Dezember 2000 die brasilianische Regierung aufforderte, die Verhandlungen mit der ALCA aufzugeben (Gazeta Mercanti/, 13.12.2000, S. A-4). Ohne so weit zu gehen, kündigte der Nationale Industrieverband (Confederando National da Industria, CNI) an, beim nächsten Treffen des Fòrum Empresarial das Américas im April 2001 in Buenos Aires den „Opportunismus" der USA aufdecken zu wollen, die für sich selbst bilaterale Verhandlungen bevorzugten und dadurch das Prinzip der Multilateralität gefährdeten. Unter den vielen Stellungnahmen zur ALCA in Brasilien ist die des Präsidenten von Ford do Brasil besonders bedeutsam: „Um mit der ALCA verhandeln zu 266

können, müssen wir der Konsolidierung des Mercosur absolute Priorität einräumen, um so im Block und nicht auf isolierte Weise zu handeln" (Gazeta Mercantil, 12.12.2000, S. A-7). Im gleichen Sinne äußerte sich der brasilianische Vizepräsident Marco Maciel im Dezember 2000. Seiner Meinung nach muss der südamerikanische Integrationsprozess in Richtung „Amercosul" beschleunigt werden, da so die brasilianischen Interessen in den ALCA-Verhandlungen besser vertreten werden könnten. In seiner Stellungnahme bezog sich Maciel auf das offizielle Abschlussdokument der Konferenz der Präsidenten von Südamerika in Brasilia, in dem es heißt: „Die Staatschefs beschließen, eine Freihandelszone zwischen dem Mercosur und der CAN zu gründen und dementsprechende Verhandlungen schnellstmöglichst, spätestens aber bis Januar 2002, aufzunehmen." Das Abschlussdokument enthält Hinweise auf weitere, für die regionale Integration Südamerikas wichtige Themen, darunter Energiewirtschaft, Kommunikationstechnologie und Transport. Die Konferenz der südamerikanischen Präsidenten in Brasilia im August/September 2000 war eine gewagte Initiative der brasilianischen Diplomatie, die mit einem beträchtlichen Risiko verbunden war, da weder die Reaktionen der Nachbarländer noch die der USA voraussehbar waren. Somit muss die nachfolgende Kooptation Chiles durch die USA als Gegenmaßnahme verstanden werden, der vermutlich noch andere folgen werden. Der Schritt Chiles war fiir viele überraschend, da noch in der Schlusserklärung des südamerikanischen Präsidentengipfels festgehalten wurde: „Die Präsidenten unterstreichen gemeinsam die große Bedeutung, die dem Prozess der Liberalisierung der südamerikanischen Märkte zukommt. Sie beobachten deshalb mit Zufriedenheit die Aufnahme von Verhandlungen über eine Vollmitgliedschaft Chiles im Mercosur".

3. Ausblick Die gegenwärtige EU-Außenpolitik stellt sich für andere Regionen und Länder als ein komplexer und schwer voraussehbarer Prozess dar, der überdies inhaltlichen und zeitlichen Schwankungen unterliegt. Da keiner der EU-Mitgliedsstaaten über außenpolitische Autonomie verfugt, werden diejenigen Länder, die an umfassenderen und besser strukturierten Beziehungen zu Lateinamerika interessiert sind, in ihren Handlungsmöglichkeiten eingeschränkt. Dies gilt sowohl für Deutschland als auch für Spanien. Fortschritte in den Beziehungen zwischen der EU und Brasilien einerseits, der EU und dem Mercosur andererseits, gestalten sich auch deshalb problematisch. Gleichzeitig darf man nicht vergessen, dass Europa seine Beziehungen zu den Vereinigten Staaten weiter ausbauen wird, auch wenn dies nicht heißt, dass sich damit auch automatisch die bestehenden Handelskonflikte reduzieren werden. In gleicher Weise werden die Länder Lateinamerikas die Verbesserung ihrer Beziehungen zum großen Land im Norden anstreben. Ein „atlantisches Dreieck" könnte die Entwicklungschancen Südamerikas und Brasiliens entscheidend ver267

bessern. Dazu müsste die Achse zu Europa Ausdruck einer gefestigten und intensiven Beziehung sein, die auf der gegenseitigen Kenntnis und auf gemeinsamen Interessen beruht. Angesichts der beiderseitigen Schwierigkeiten, gemeinsame Schnittpunkte für die Zukunft zu definieren, scheint dieses Ziel jedoch täglich weiter in die Ferne zu rücken.

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Lothar Mark

Die Wahrnehmung der neuen Rolle Brasiliens in Südamerika aus parlamentarischer Perspektive 1. Die Bedeutung Brasiliens für Deutschland Lateinamerika ist für Deutschland unter wirtschafts- und ordnungspolitischen Gesichtspunkten zwar keine prioritäre, aber bei weitem keine irrelevante Region. Dies schlägt sich in der veränderten, differenzierteren Wahrnehmung und Behandlung Lateinamerikas durch die Bundesregierung nieder. So werden beispielsweise in dieser Legislaturperiode vom Auswärtigen Amt fünf neue Strategiekonzepte für die einzelnen Subregionen in Lateinamerika erarbeitet, die das bisherige Lateinamerika-Konzept ablösen. Auch das Parlament soll seinen Blick wieder stärker auf diese wichtige, uns traditionell verbundene Region richten und verstärkte Aktivitäten entwickeln, um den Austausch mit Lateinamerika zu fordern. Brasilien ist dabei für Deutschland - neben Argentinien und Mexiko - schon lange einer der größten und wichtigsten Partner. Traditionell bestehen zwischen den beiden Ländern gute bilaterale politische und wirtschaftliche Beziehungen. Sie reichen zurück bis ins vorletzte Jahrhundert, als Deutsche nach Brasilien auswanderten, um dort aus verschiedenen Gründen eine neue Heimat zu finden. Brasilien ist für die deutsche Wirtschaft ein wichtiger Handelspartner, insbesondere aber ein bedeutender Investitionsstandort. Umgekehrt ist Deutschland zweitwichtigster Partner Brasiliens unter den westlichen Industrienationen nach den USA, was die Direktinvestitionen angeht, und drittwichtigster Handelspartner. Brasilien wird vielfach als „hochentwickeltes Entwicklungsland" (Wöhlcke 2000: 139) bezeichnet. Der Fortschritt in den modernen Sektoren geht hier mit zahlreichen akuten Krisen und Konflikten in vielen anderen gesellschaftlichen Bereichen einher. Die innere Stabilität ist durch eine große soziale Ungleichheit 270

und durch strukturelle Gewalt bedroht. Obwohl die brasilianische Demokratie als gefestigt gelten darf, zeigt sich anhand der aktuellen Korruptionsaffaren, die seit Wochen den parlamentarischen Betrieb lähmen und das Ansehen des gesamten Kongresses schwer beschädigt haben, die Instabilität des politischen Systems. Kurz: Das Land steht vor einer Vielzahl von inneren Herausforderungen, die natürlich seine Außenpolitik determinieren. Wenn sich Brasilien in Zukunft diesen Herausforderungen gewachsen zeigt, wird es sicherlich seine Rolle als zuverlässiger Partner für globale Themen ausbauen. Ein Blick in die jüngere Vergangenheit Brasiliens zeigt, warum das Land für Deutschland ein so wichtiger Verbündeter in Lateinamerika ist.

2. Außenpolitik der „Neuen Republik" Gemäß der Losung des ehemaligen brasilianischen Außenministers, Luiz Felipe Lampreia, Brasilien sei bereit, eine Rolle zu spielen, die mit der Größe seiner Wirtschaft und seines Territoriums kompatibel sei, verfolgte das Land seit der Rückkehr zur Demokratie eine zunehmend selbstbewusste Außenpolitik. Dabei setzte es auf Kooperation statt Konfrontation - insbesondere gegenüber den USA. Bereits in ihrem gemeinsamen Memorandum von 1976 sprachen die USA Brasilien eine „Führungsrolle" in Lateinamerika zu und bestätigten seine Stellung als „privilegierter Verbündeter" (Wöhlcke 1999: 13f.). Diese Bezeichnung täuschte nicht über die Tatsache hinweg, dass sich Brasilien nach wie vor in einer engen asymmetrischen Beziehung zu den USA befand und eine Erweiterung seines außenpolitischen Spielraums suchte. Einen Schritt dazu stellte die Aussöhnung mit dem „ewigen Rivalen" Argentinien dar. Ähnlich wie im Fall der „Erbfeinde" Frankreich und Deutschland durch den Prozess der europäischen Integration, gelang hier durch wirtschaftliche Zusammenarbeit und eine teilweise Einschränkung der nationalen Souveränität die Annäherung der beiden Staaten. Das Abkommen von Itaipú 1985 markierte den Beginn einer schrittweisen Verbesserung der argentinisch-brasilianischen Beziehungen. Durch den Vertrag von Asunción (1991) erhielt das Bemühen um regionale Zusammenarbeit und die Liberalisierung des bilateralen Handels neue Impulse, denn er gab den Startschuss für die Schaffung eines gemeinsamen Marktes des Südens (Mercosur). Demnach sollten bis Ende 1994 alle Zollschranken zwischen den Mitgliedstaaten Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay abgebaut, ein gemeinsamer Außenzolltarif festgesetzt sowie eine abgestimmte Außenpolitik gegenüber Drittstaaten formuliert werden (vgl. Bernecker 2000: 304). Wenngleich die Konsolidierung und Erweiterung von Mercosur absolute Priorität genießen, gehen die außenpolitischen Ambitionen Brasiliens darüber hinaus. Mit dem Inkrafttreten eines Assoziierungsabkommens zwischen Chile bzw. Bolivien und den Staaten des Mercosur 1996 wurde das Regionalbündnis im Hinblick auf eine Südamerikanische Freihandelszone (SAFTA) aufgewertet 271

(vgl. Bodemer 2000: 334). Chile weist als APEC-Mitglied (= Asia-Pocißc Economic Cooperation) in den pazifischen Raum, Bolivien ist Bindeglied zur Andengemeinschaft. Brasilien kann somit als Integrationspol auf dem südamerikanischen Subkontinent bezeichnet werden. Es übt eine Brückenfunktion zu den umliegenden Gemeinschaften, wie CARICOM (= Caribbean Community) (z.B. durch Belebung der bilateralen Beziehungen zum Nachbarn Guyana) oder der Andengemeinschaft aus (wie erwähnt, Assoziierung Boliviens mit dem Mercosur, Integrationsstrategie gegenüber Venezuela). Darüber hinaus ist es stets bemüht, weitere Initiativen zu ergreifen bzw. zu fordern, die eine regionale Kooperation in Süd- und Mittelamerika voranbringen (z.B. Gründung der Rio-Gruppe, Beteiligung am San José Dialog). So richten sich von deutscher Seite vor allen Dingen auch Hoffnungen auf Brasilien als Friedensstifter und Garant für Stabilität auf dem südamerikanischen Subkontinent. In der Vergangenheit hat sich bereits gezeigt, dass die brasilianische Außenpolitik sich ihrer Verantwortung als regionaler Ordnungsmacht bewußt ist und durch umsichtige Diplomatie zwischen verfeindeten Seiten zu vermitteln versteht (beispielsweise im Grenzkonflikt zwischen Ekuador und Peru). Durch sein zunehmendes internationales Engagement wird deutlich, dass Brasilien auf dein Weg ist, sich von einem,,global (rader zu einem global actor" zu entwickeln (Wöhlcke 1999: 17f.) und sich - zurecht - als „Aufsteiger" im internationalen System fühlt. Die Stimme Brasiliens wird zunehmend auch außerhalb des amerikanischen Kontinents gehört. Das Land verfolgt mit dem Ausbau überregionaler bilateraler und multilateraler Beziehungen, z.B. zur EU, Ostasien oder zur lusitanischen Gemeinschaft eine Diversifizierung seiner Außenpolitik und Außenwirtschaft. Deutschland ist dabei nicht der einzige, aber wohl der wichtigste Partner beim Ausbau der „europäischen Option". Mit ihm verbindet Brasilien eine Vielzahl gleichgerichteter Interessen, wie • • • • •

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die Präferenz für eine multipolare Weltordnung nach dem Ende des Kalten Krieges, ein damit verbundener Einsatz für die Aufwertung supranationaler Organisationen, die Befürwortung eines freien Welthandels und einer effizienten WTO (= World Trade Organisa(ion), der Wunsch nach einer Reform der Vereinten Nationen und mehr oder weniger ausgeprägtes Streben nach einem Sitz im VN-Sicherheitsrat, ein engagierter Einsatz für Umweltschutzziele, Menschenrechte und Demokratie.

3. Schlußfolgerungen aus Sicht eines Parlamentariers Angesichts der zunehmenden Anzahl und Brisanz globaler Probleme wird die Kooperation zwischen handlungsfähigen regionalen Gemeinschaften (wie z.B. zwischen der EU und dem Mercosur) künftig immer mehr an Bedeutung gewinnen. Solche handlungsfähigen Bündnisse gründen sich jedoch auf ein Geflecht enger bilateraler Beziehungen zwischen Einzelstaaten. Um gemeinsame Problemlösungen zu betreiben, ist es wichtig, gemeinsame Interessen zu definieren. Aus diesem Grund erscheint mir die in den vergangenen zehn Jahren festzustellende Intensivierung der bi- und multilateralen Beziehungen zu Brasilien durch zahlreiche Besuche auf Regierungsebene außerordentlich begrüßenswert. Deutschland muss Brasilien auch weiterhin eine enge Zusammenarbeit anbieten und diese pflegen, was künftig verstärkt auch auf parlamentarischer Ebene geschehen sollte, um den Bürgerwillen stärker in diesen Formulierungsprozess einzubeziehen. Wie der brasilianische Staatspräsident Cardoso betonte, wird es in der Zukunft darum gehen, der Globalisierung ein „menschliches Antlitz" zu verleihen. Wie kein anderer lateinamerikanischer Staatschef verkörpert der Soziologe Cardoso das Dilemma aus entsprechenden Gestaltungsnotwendigkeiten und Liberalisierungszwängen. Er präsentierte sich in jüngster Zeit als lautester Skeptiker und Bremser einer panamerikanischen Freihandelszone (FTAA = Free Trade Area of the Americas oder ALCA = Area de Libre Comercio de las Americas) nach den Spielregeln der USA. Es bleibt abzuwarten, ob es Brasilien in Zukunft gelingen wird, die „Front" der lateinamerikanischen Staaten zusammenzuhalten, um insgesamt von einer stärkeren Verhandlungsposition zu profitieren. Mit böswilliger Absicht könnte man den USA unterstellen, sie handelten im Hinblick auf ihre Lateinamerikapolitik nach dem Prinzip „teile und herrsche!". Ein mit vereinter Stimme auftretendes Lateinamerika, das auf gleichgewichtige Verhandlungen drängt, erscheint daher umso wichtiger. Aus deutscher bzw. europäischer Sicht ist die brasilianische Frage nach dem ctii bono des ALCA-Prozesses positiv zu bewerten. Die EU hat in den letzten Jahren relativ an Bedeutung als Handelspartner für Lateinamerika gegenüber Japan und den USA verloren, wenngleich viele lateinamerikanische Staaten ein großes Interesse am Ausbau der Handelsbeziehungen mit Europa bekunden. Die EU wäre gut beraten, wenn sie ihre agrarprotektionistische Haltung lockerte und beispielsweise in der anstehenden Verhandlungsrunde um ein interregionales Assoziationsabkommen mit den Mercosur-Staaten mit einem attraktiven Angebot aufwarten würde. Ein erster Schritt dazu wurde im Juli 2001 gemacht.

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Peter Rosier

Brasilien aus der Sicht der deutschen Privatwirtschaft Brasilien gehört neben China, Indien und Russland zur Gruppe der strategisch wichtigen Partnerstaaten der Industrieländer. Das BIP dieses Landes ist größer als das von Russland und Indien zusammen genommen. Von der Zahl der Einwohner her steht Brasilien mit 170 Mio. weltweit an fünfter Stelle und damit noch vor Russland. Brasilien ist also ein unverzichtbarer Markt für jedes weltweit tätige Unternehmen. Wer in diesem Land nicht präsent ist, kann sich nicht als global player bezeichnen. Darüber hinaus ist Brasilien ein Staat mit demokratischen Institutionen und einer funktionierenden Marktwirtschaft, was man nicht von allen Staaten dieser Gruppe sagen kann. Im Gegensatz zu China, Indien oder Russland hat Brasilien auf die Produktion eigener Atombomben verzichtet und bedroht keine Nachbarstaaten. Das größte Land Südamerikas gehört darüber hinaus zu den wichtigsten Industrienationen der Erde. Im Jahr 2000 nahm Brasilien mit einem Bruttoinlandsprodukt von US$ 584 Mrd. den 9. Platz im weltweiten Länderranking ein. Der Industriesektor war daran mit mehr als einem Drittel beteiligt. Im Mercosur ist Brasilien mit drei Vierteln der Bevölkerung und zwei Dritteln der Wirtschaftskraft das Schlüsselland. Allerdings hat Brasilien in der Vergangenheit wenig dazu beigetragen, der Welt seine wirkliche Bedeutung bewusst zu machen. Nicht einmal in Südamerika selbst hat Brasilien bisher sein Gewicht eingebracht. So wurden erstmalig im August 2000 die Staats- und Regierungsoberhäupter der 12 unabhängigen Länder Südamerikas nach Brasilia eingeladen. Auf der Tagesordnung standen sowohl außenpolitische Themen als auch die regionale Integration. Dies bedeutete zwar eine gewisse Wende in der brasilianischen Regierungspolitik, die traditionell - ähnlich wie in den USA - die Innenpolitik in den Mittelpunkt stellt und bei der bisher die Außenpolitik nur am Rande eine Rolle spielte. Allerdings kann auch dieses Gipfeltreffen nur als ein erstes zaghaftes Bewusstwerden der regionalen Führungsrolle gedeutet werden, die Brasilien aufgrund seines BIP und seiner Bevölkerung übernehmen könnte - und eigentlich auch müsste. 275

Nicht nur aufgrund seiner Wirtschaftskraft, seiner riesigen Naturschätze und seiner menschlichen Ressourcen ist Brasilien ein strategisch wichtiger Partner für Deutschland. Beide Länder unterstützen sich z.B. gegenseitig beim Anspruch auf einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat. Die Basis für die guten Beziehungen zwischen Deutschland und Brasilien stellt aber die Wirtschaftskooperation dar. Mit großem Abstand ist dieses Land wichtigster deutscher Handelspartner in Lateinamerika. 1999 gingen rund 32% aller Lateinamerika-Exporte nach Brasilien; gleichzeitig kamen von dort 38% der Importe aus der Region. Im Zeitraum 1990-1999 waren zwar die deutschen Ausfuhren nach Brasilien um mehr als das Dreifache von DM 2,9 Mrd. auf DM 9 Mrd. gestiegen, aber die deutschen Einfuhren aus Brasilien nur von DM 5,1 Mrd. auf DM 6,4 Mrd. Dadurch verwandelte sich der traditionelle Handelsbilanzüberschuss Brasiliens, der 1990 DM 2.2 Mrd. betrug, bis 1999 in ein kräftiges Defizit von DM 2,6 Mrd. Der Hauptgrund dafür ist die EU-Agrarpolitik, die Importe aus Brasilien behindert und darüber hinaus durch Subventionen die brasilianischen Exportchancen auf Drittmärkten beschneidet. Ende August 2000 hatte der brasilianische Außenminister Lampreia in der Tageszeitung O Estado de Sfio Paulo den Protektionismus der reichen Industrieländer mit folgenden Worten kritisiert: „Es ist unannehmbar, dass die reichen Länder, deren Volkswirtschaften auf der Industrie und den Dienstleistungen basieren, legal den Zugang von Agrarprodukten zu ihren Märkten einschränken dürfen, während sie gleichzeitig weltweit eine noch stärkere Öffnung für Produkte fordern, bei denen sie ohne Risiko und mit großer Überlegenheit wettbewerbsfähig sind." Außerdem schadeten die Subventionen in Höhe von mehreren Milliarden US$, die von den reichen Ländern für die Förderung ihrer Agrarexporte ausgegeben werden, den Exportnationen, die effizienter und wettbewerbsfähiger, aber gleichzeitig auch ärmer seien. Dieser Vorwurf richtet sich auch an Deutschland, das mitverantwortlich für die EU-Agrarpolitik ist. Nur 0,78% des deutschen Außenhandels (Einfuhren und Ausfuhren) wurde 2000 mit Brasilien realisiert. Dagegen ist Deutschland für Brasilien mit einem Anteil von insgesamt 7% immer noch ein wichtiger Außenhandelspartner, wenn auch mit abnehmender Tendenz. Noch 1938 war Deutschland mit einem Anteil von 25% Hauptlieferant Brasiliens gewesen. Diesen Platz nehmen inzwischen die USA ein, die 1999 Herkunftsland fiir 24% der brasilianischen Importe waren. Zweitwichtigstes Lieferland war Argentinien mit 12%. Erst dann folgte Deutschland mit 10%. Wichtigste deutsche Ausfuhrgüter sind Kraftfahrzeuge und Kfz-Teile, elektrotechnische Erzeugnisse, Maschinen, Pharmaprodukte und chemische Vorprodukte. Im übrigen sind auch am bilateralen Handel zwischen Argentinien und Brasilien zahlreiche deutsche Unternehmen über ihre dortigen Töchter beteiligt. Bei den Exporten Brasiliens lag Deutschland 1999 zwar auch auf dem 3. Platz. Hier war aber der Anteil von 5% deutlich niedriger als bei den brasilianischen Importen. Die ersten Plätze als Exportpartner Brasiliens nahinen wieder 276

die USA (23%) und Argentinien (11%) ein. Darüber hinaus musste sich Deutschland den dritten Platz mit den Niederlande teilen. Hierbei handelt es sich allerdings um offizielle Angaben der brasilianischen Zentralbank, die nur das direkte Bestimmungsland berücksichtigen. So ging ein großer Teil der Waren, die offiziell als Lieferungen in die Niederlande erfasst wurden, in Wirklichkeit über Rotterdam nach Deutschland. Mehr als die Hälfte der deutschen Importe aus Brasilien entfiel auf Bergbau- und Landwirtschaftsprodukte, wobei Eisenerz insgesamt mit fast einem Fünftel beteiligt war. Weitere wichtige Importprodukte waren Soja, Fruchtkonzentrate und -konserven. Fleisch, Rohtabak, Kaffee, Rohaluminium, Holzwaren, Maschinen sowie Kfz bzw. Kfz-Teile. Jeder Vergleich der Handelszahlen wäre unvollständig, wenn nicht auch die Produktion der deutschen Unternehmen vor Ort berücksichtigt wird. Obwohl 1999 die deutschen Exporte nach Brasilien bei DM 9 Mrd. lagen, betrugen sie nur ein Sechstel des Wertes der Produktion deutscher Tochterunternehmen in Brasilien. Deutsche Unternehmen leisten mit ihren produktiven Investitionen und dem umfangreichen Technologietransfer einen wichtigen Beitrag zur Wirtschaftsentwicklung dieses Landes. Mit einem jährlichen Gesamtproduktionswert von über US$ 30 Mrd. schaffen sie mehr als 5% des BIP Brasiliens. An der Wertschöpfung des brasilianischen Industriesektors sind sie mit rund 15% beteiligt. Insgesamt beschäftigen deutsche Firmen in Brasilien direkt 400.000 Mitarbeiter. Indirekt sind sie Verdienstquelle fiir weitere Millionen von Brasilianern. Der Großraum Säo Paulo hat sich inzwischen weltweit zum wichtigsten deutschen Industriestandort entwickelt. Dort sind 800 der insgesamt 1.100 deutschen Unternehmenstöchter in Brasilien konzentriert. Obwohl nur 2,4% aller deutschen Direktinvestitionen im Ausland auf Brasilien entfallen, ist dieser Staat im Bereich der Schwellen- und Entwicklungsländer mit Abstand wichtigstes deutsches Investitionsziel. Nach den USA, Großbritannien, Frankreich, Belgien, Luxemburg, Italien, den Niederlanden, der Schweiz, Spanien, Österreich und Italien nimmt Brasilien den 12. Platz in der Liste der Empfängerländer deutscher Investitionen ein. Die brasilianische „Gesellschaft für die Erforschung transnationaler Unternehmen und der wirtschaftlichen Globalisierung" (Sobeet) ermittelte bis Dezember 1999 einen ausländischen Direktinvestitionsbestand von fast US$ 117 Mrd. Für die wichtigsten Herkunftsländer ergab sich beim Gesamtbestand der Direktinvestitionen ausländischer Unternehmen in Brasilien folgende Rangliste: USA 27,2%, Spanien 8,91%, Niederlande 8,01%, Frankreich 6,21%, Deutschland 5,97%, Japan 5,24%, Portugal 4%, Schweiz 3,77%, Großbritannien 3,67% und Italien 2,46%. Deutschland rutschte damit nach der Sobeet-Untersuchung, die auf Zahlen der brasilianischen Zentralbank beruht, vom traditionellen 2. auf den 5. Platz ab. Nach Angaben der Abteilung für Auslandskapital und Geldwechsel (DECEC) in der brasilianischen Zentralbank gelang es Portugal im Jahr 2000, Deutschland in der Rangliste der Herkunftsländer für ausländische Direktinvestitionen vom 5. auf den 6. Platz zu verdrängen (s. Tabelle). 277

Allerdings berücksichtigt diese Analyse nicht die Reinvestitionen, die im Falle der deutschen Unternehmen aufgrund ihres jahrzehntelangen Engagements deutlich höher sein dürften, als z.B. die der meisten spanischen Firmen, die ihr Brasilien-Engagement erst in den letzten Jahren massiv ausgebaut haben. Nach Angaben der brasilianischen Zentralbank belaufen sich die Reinvestitionen der deutschen Tochterunternehmen auf mehr als US$ 3,5 Mrd, so dass der Gesamtbestand US$ 10,5 Mrd. überschreitet. Ausländische Direktinvestitionen in Brasilien (Banco Central do Brasil Departamento de Capitais Estrangeiros e Cambio - DECEC)

Land USA Spanien Niederlande Frankreich Portugal Deutschland Japan Schweiz Großbritannien Kanada Italien Belgien Schweden Steueroasen andere Länder / Beträge unter US$ 10 Mio. gesamt

Bestand Bestand Bestand 1980 1990 Dez. 1999 Mrd. USS Mrd. USS Mrd. US$

vorl. Bestand Dez. 2000 Mrd. US$

Anteil am Bestand 2000

2,4 1,7 1,8 1,1 0,6 0,5 0,6 0,4 1,2 1,0

10,4 0,1 0,9 2,0 0,1 5,6 3,8 3,5 2,5 2,2 1,2 1,1 0,6 1,8 1,5

30,0 12,2 9,0 8,0 5,2 7,1 3,7 3,6 3,4 2,7 2,4 1,8 1,5 17,8 19,2

35,4 21,8 11,2 9,9 7,7 7,5 4,1 3,9 3,8 2,9 2,9 2,2 2,1 21,7 23,8

22,0% 13,5% 7,0% 6,2% 4,8% 4,7% 2,5% 2,4% 2,4% 1,8% 1,8% 1,4% 1,3% 13,5% 14,7%

17,5

37,3

127,6

160,9

100,0%

5,0 0,1 0,4 0,7 -

Quelle: Eigene Bearbeitung nach Daten der brasilianischen Zentralbank/DECEC in: www.bcb.gov.br/htms/infecon/lngres ../Distribui9ao%Paises95-00.Htm vom 26.9.2001

Nach einer Umfrage des Ibero-Amerika Vereins unter den deutschen Auslandshandelskammern in Lateinamerika hatten 1998 die deutschen Direktinvestitionen in der Region einen Bestand von umgerechnet fast DM 52 Mrd. erreicht. Die Angaben der Auslandshandelskammern beruhten in den größeren Ländern auf Befragungen der deutschen Unternehmenstöchter vor Ort. Grundsätzlich handelt es sich bei diesen Zahlen um kumulierte Investitionsbeträge plus indirekte Investitionen über andere Länder plus Reinvestitionen minus Kapitalrücktransfer. Brasilien verfügte nach dieser Umfrage über einen Bestand von US$ 13,5 Mrd. Nach Zahlen der Bundesbank, die auf den Bilanzen der deutschen Tochterunternehmen basieren, erreichten die deutschen Direktinvestitionen in Brasilien 1998 eine Gesamtsumme von DM 14,9 Mrd. 278

Der heutige Bestand deutscher Investitionen geht in der Hauptsache auf den Kapitalzufluss bis in die Mitte der neunziger Jahre zurück. Bereits fünf Jahre nach dem Ende des 2. Weltkriegs nahmen deutsche Unternehmen die Produktion in Brasilien wieder auf. Der Höhepunkt bei den Kapitalzuflüssen aus Deutschland wurde in der zweiten Hälfte der sechziger und in den siebziger Jahren erreicht. In den achtziger Jahren stagnierten dagegen die deutschen Investitionen als Folge der Wirtschaftskrise des Subkontinents. Erst Anfang der neunziger Jahre war wieder ein Aufschwung festzustellen, der aber nicht lange anhielt. Die verarbeitende Industrie ist mit 88% Hauptziel der deutschen Direktinvestitionen in Brasilien. Es folgen die privaten Dienstleistungen mit 8,5% sowie Bergbau und Landwirtschaft mit knapp 2%. In zukunftsorientierten Bereichen wie Telekommunikation, Umwelttechnologie und auch im Dienstleistungssektor ist das deutsche Engagement unterrepräsentiert. Leider haben sich deutsche Unternehmen fast überhaupt nicht am umfangreichen Privatisierungsprogramm Brasiliens beteiligt. Zusammen mit den Erlösen aus Lizenzvergaben nahm die brasilianische Regierung in den letzten 10 Jahren mehr als US$ 100 Mrd. ein. Deutschland hinkt übrigens in dieser Beziehung deutlich hinter Brasilien her. Sektorale Schwerpunkte der deutschen Investitionen in der brasilianischen Industrie sind die Kfz-Branche (31,6%), Pharmazie und Chemie (19,3%), Maschinen- und Anlagenbau (13,7%), Metallurgie (8,2%) sowie Elektrotechnik und Elektronik (7,4%). In diesen Bereichen verfugen deutsche Unternehmen über beachtliche Positionen. So sind Mercedes Benz und VW Marktfuhrer für Nutzfahrzeuge und Pkw; an den gesamten Auslandsinvestitionen im Kfz-Sektor sind sie mit rund 46% beteiligt. Der Anteil deutscher Kfz-Teile-Hersteller an den Auslandsinvestitionen in der Branche beläuft sich sogar auf 65%. Im Pharmasektor und der Chemie sind deutsche Produzenten mit 35% an den Brancheninvestitionen aus dem Ausland beteiligt. Obwohl in keinem Land Lateinamerikas so viele kleinere und mittelständische deutsche Unternehmer engagiert sind wie in Brasilien, bleibt die Präsenz der deutschen Mittelständler in diesem Land immer noch weit hinter den Möglichkeiten zurück. Die Annahme, Osteuropa könne aus geschichtlichen Gründen wieder zum Hinterland der deutschen Wirtschaft werden, lässt oft übersehen, dass Deutschland in Brasilien ein viel höheres Ansehen genießt als in den meisten osteuropäischen Staaten. Schon in der Vergangenheit sind die Beziehungen zwischen Deutschland und Brasilien in der Regel immer gut gewesen. Seit Mitte des letzten Jahrhunderts haben außerdem viele Deutsche in Brasilien eine neue Heimat gefunden. Mit dem handwerklichen Know-how, das sie aus ihrer Heimat mitbrachten, leisteten sie einen beachtlichen Beitrag zur Wirtschaftsentwicklung Brasiliens. Das wird dem Besucher spätestens dann klar, wenn er in den Direktionsetagen brasilianischer Firmen auf die vielen deutschen Namen stößt. Heute gibt es rund fünf Mil279

Honen Brasilianer deutscher Herkunft. Den meisten deutschen Unternehmern ist die Existenz einer so großen Zahl deutschstämmiger Brasilianer nicht bewusst. Deutsche Direktinvestitionen nach Branchen (einschl. Reinvestitionen): Wirtschaftssektor / Branche

Anteil 0,2% 2,2%

Landwirtschaft / Viehzucht Bergbau verarbeitende Industrie darin enthalten: • • • •

Automobilbau Maschinen- und Anlagenbau Chemie Pharmazie

• •

Kfz-Teile Eisen/Stahl

• Elektro / Elektronik / Telekom • Lebensmittelverarbeitung öffentliche Versorgungsdienstleistungen / Transport Finanzsektor Handel sonstige Dienstleistungen andere Aktivitäten gesamt

88,2% 22,5% 13,7% 9,9% 9,4% 9,1% 8,2% 7,4% 2.5% 0,2% 2,7% 2,5% 3,3% 0,7% 100,0%

Quelle: brasilianische Zentralbank

Aber nicht nur der relativ hohe Anteil von Deutsch-Brasilianern in der Wirtschaft erleichtert deutsche Engagements in diesem Land. Die meisten Brasilianer treten deutschen Geschäftsleuten traditionell mit Herzlichkeit und einem hohen Goodwill-Vorschuss gegenüber. Den gilt es genauso zu nutzen, wie die Neuorientierung des Wirtschaftskurses in den letzten Jahren. Die fortschreitende regionale Integration, Festigung demokratischer Institutionen sowie Öffnung und Liberalisierung der Wirtschaft Brasiliens bieten gerade auch dem mittelständischen Investor neue Chancen.

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Autorverzeichnis:

Dr. Harald Barrios, Universität Tübingen Dr. Peter Birle, Ibero-Amerikanisches Institut PK Berlin Prof. Dr. Klaus Bodemer, Institut für Iberoamerika-Kunde, Hamburg Prof. Dr. Andreas Boeckh, Universität Tübingen Min. Dir. Dr. Georg Boomgarden, Lateinamerikabeauftragter der Bundesregierung, Auswärtiges Amt M.A. Gilberto Calcagnotto, Institut für Iberoamerika-Kunde, Hamburg Dr. WolfGrabendorff, langjähriger Direktor von IRELA, Madrid; Repräsentant der Friedrich-Ebert-Stiftung in Kolumbien Dr. Wilhelm Hoffmeister, Leiter des Büros der Konrad-Adenauer-Stiftung, Rio de Janeiro Dr. Christian Lohbauer, Instituto de Altos Estudos, Universidade de Säo Paulo Dr. Günther Maihold, Ibero-Amerikanisches Institut PK, Berlin MdB Lothar Mark, stellvertretender Vorsitzender der deutsch-brasilianischen Parlamentariergruppe Prof. Dr. Manfred Nitsch, FU Berlin Prof. Dr. Detlef Nolte, Institut für Iberoamerika-Kunde, Hamburg Prof. Dr. Hartmut Sangmeister, Universität Heidelberg Prof. Dr. Stefan Schirm, Universität Stuttgart Prof. Dr. Franklin Trein, UFRJ, Rio de Janeiro Prof. Dr. Nikolaus Werz, Universität Rostock

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Institut für Iberoamerika-Kunde, Schriftenreihe Bd. 38: B. Hoffmann (Hg.), Wirtschaftsreformen in Kuba. Konturen einer Debatte, 2. aktualisierte Aufl., 1996 Bd. 39: B. Töpper/ U. Müller-Plantenberg (Hg ), Transformationen im südlichen Lateinamerika. Chancen und Risiken einer aktiven Weltmarktintegration in Argentinien, Chile und Uruguay, 1994 Bd. 40: D. Kloss, Umweltschutz und Schuldentausch. Neue Wege der Umweltschutzfinanzierung am Beispiel lateinamerikanischer Tropenwälder, 1994 Bd. 41: R. Lessmann, Drogenökonomie und internationale Politik. Die Auswirkungen der Antidrogen-Politik der USA auf Bolivien und Kolumbien, 1996 Bd. 42: D. Nolte/ N. Werz (Hg.), Argentinien: Politik, Wirtschaft, Kultur und Außenbeziehungen, 1996 Bd. 43: G. Calcagnotto/ B. Fritz (Hg.), Inflation und Stabilisierung in Brasilien. Probleme einer Gesellschaft im Wandel, 1996 Bd. 44: D. Nolte (Hg.), Vergangenheitsbewältigung in Lateinamerika, 1996 Bd. 45: U. von Gleich (Hg.), Indigene Völker in Lateinamerika. Konfliktfaktor oder Entwicklungspotential?, 1997 Bd. 46: R. Dombois/ P. Imbusch/ H.-J. Lauth/ P. Thiery (Hg.), Neoliberalismus und Arbeitsbeziehungen in Lateinamerika, 1997 Bd. 47: I. Dietrich, Die Koka- und Kokainwirtschaft Perus. Auswirkungen auf Wirtschaft und Gesellschaft und entwicklungspolitische Ansatzpunkte zur Eindämmung, 1998 Bd. 48: H. Ahrens/ D. Nolte (Hg ), Rechtsreformen und Demokratieentwicklung in Lateinamerika, 1999 Bd. 49: S. Carreras, Die Rolle der Opposition im Demokratisierungsprozess Argentiniens. Der Peronismus 1983-1989,1999 Bd. 50: H. Nochteff/ M. Abeles, Economic Shocks without Vision. Neoliberalism in the Transition of Socio-Economic Systems. Lessons from the Argentine Case, 2000 Bd. 52: P. Thiery, Transformation in Chile. Institutioneller Wandel, Entwicklung und Demokratie 1973-1996, 2000 Bd. 53: J. Weller, Melonen für den Weltmarkt - Wohlstand für Campesinos? Nichttraditionelle Agrarexporte und die Entwicklung ländlicher Arbeitsmärkte in Zentralamerika, 2001 Bd. 54: S. Kurtenbach (Hg.), Kolumbien zwischen Gewalteskalation und Friedenssuche. Möglichkeiten und Grenzen der Einflussnahme externer Akteure, 2001 Bd. 55: R. Herzog/ B. Hoffmann/ M. Schulz, Internet und Politik in Lateinamerika. Regulierung und Nutzung der Neuen Informations- und Kommunikationstechnologien im Kontext der politischen und wirtschaftlichen Transformationen, 2002 Bd. 57: P. Bendel/ M. Krennerich (Hg.), Soziale Ungerechtigkeit. Analysen zu Lateinamerika, 2002 (in Vorbereitung) Vervuert Verlagsgesellschaft Wielandstr. 40 60318 Frankfurt am Main Tel.: (+49) 69-597 46 17 Fax: (+49) 69-597 87 43 [email protected] - www.ibero-americana.net