Schwarz besetzt: Postkoloniale Planspiele im afrikanischen Film [1. Aufl.] 9783839421420

Am Tag nach der Wahl von Barack Obama hieß es, dass man James Bond jetzt mit einem Schwarzen besetzen wolle. In Afrika i

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Schwarz besetzt: Postkoloniale Planspiele im afrikanischen Film [1. Aufl.]
 9783839421420

Table of contents :
Inhalt
Dank
Vorbemerkung
Einleitung
I DIE BESETZUNG SOZIALER WEISSER ROLLEN
1. Perspektivwechsel
1.1 LES MAÎTRES FOUS
1.2 XALA
1.3 Diagnosen
2. Peau noire, masques blancs
2.1 ET LA NEIGE N’ÉTAIT PLUS
2.2 BOUBOU CRAVATE
2.3 Rückbesinnung?
3. Of Mimicry and Man
3.1 MOI ET MON BLANC
3.2 OSUOFIA IN LONDON
3.3 Kontinuitäten und Brüche
4. Blurred Genres
II DIE BESETZUNG WEISSER THEATERROLLEN
5. Differenzen?
5.1 LAMBAAYE
5.2 HYÈNES
5.3 A WALK IN THE NIGHT
5.4 Konvergenzen
6. Lokalisierungen
6.1 KARMEN GEÏ
6.2 U-CARMEN EKHAYELITSHA
6.3 Ikonisierungen
7. Spielräume
III DIE BESETZUNG WEISSER FILMROLLEN
8. Schwarze Cowboys
8.1 Mambétys Western
8.2 Kouyatés Western
8.3 Sissakos Western
8.4 Gewaltverzicht
9. Remakes
9.1 Ein Remake von PREDATOR
9.2 Ein Remake von TITANIC
9.3 Lebendige Medien
10. Umkämpfte Medienlandschaften
10.1 LE COMPLOT D’ARISTOTE
10.2 IBRO SADDAM
10.3 Werbestrategien
11. Sichtbarkeit
Schluss
Literatur
Konferenzen und Seminare
Visuelle Medien

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Cassis Kilian Schwarz besetzt

Postcolonial Studies | Band 14

Cassis Kilian (Dr. phil.) lehrt Ethnologie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Afrikanischer Film und Darstellende Kunst.

Cassis Kilian

Schwarz besetzt Postkoloniale Planspiele im afrikanischen Film

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: tosini / photocase.com Lektorat: Cassis Kilian Korrektorat: Marc Niemeyer Satz: Sarah Neumann Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-2142-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Dank | 7 Vorbemerkung | 9 Einleitung | 13

I DIE BESETZUNG SOZIALER WEISSER ROLLEN 1.

Perspektivwechsel | 35

1.1 LES MAÎTRES FOUS | 36 1.2 XALA | 57 1.3 Diagnosen | 77 2.

Peau noire, masques blancs | 81

2.1 ET LA NEIGE N’ÉTAIT PLUS | 83 2.2 BOUBOU CRAVATE | 93 2.3 Rückbesinnung? | 103 Of Mimicry and Man | 105 3.1 MOI ET MON BLANC | 108 3.2 OSUOFIA IN LONDON | 118 3.3 Kontinuitäten und Brüche | 133 3.

4.

Blurred Genres | 137

II DIE BESETZUNG WEISSER T HEATERROLLEN 5.

Differenzen? | 151

5.1 5.2 5.3 5.4

LAMBAAYE | 153 HYÈNES | 175 A WALK IN THE NIGHT | 196 Konvergenzen | 210

Lokalisierungen | 213 6.1 KARMEN GEÏ | 218 6.2 U-CARMEN EKHAYELITSHA | 227 6.3 Ikonisierungen | 234 6.

7.

Spielräume | 239

III DIE BESETZUNG WEISSER F ILMROLLEN 8.

Schwarze Cowboys | 253

8.1 8.2 8.3 8.4

Mambétys Western | 265 Kouyatés Western | 275 Sissakos Western | 284 Gewaltverzicht | 290

9.

Remakes | 297

9.1 Ein Remake von PREDATOR | 302 9.2 Ein Remake von TITANIC | 314 9.3 Lebendige Medien | 327 10. Umkämpfte Medienlandschaften | 331

10.1 LE COMPLOT D’ARISTOTE | 333 10.2 IBRO SADDAM | 347 10.3 Werbestrategien | 357 11. Sichtbarkeit | 363 Schluss | 365 Literatur | 373 Konferenzen und Seminare | 391 Visuelle Medien | 393

Dank

Den Druck dieses Buches hat die inneruniversitäre Forschungsförderung der Universität Mainz unterstützt. Das Zentrum für Interkulturelle Studien (ZIS), der Forschungsfonds der Johannes Gutenberg-Universität und das Forschungszentrum für Sozial- und Kulturwissenschaften Mainz (SoCuM) haben mich gefördert, obwohl ich als spät berufene Wissenschaftlerin nicht geradlinig auf eine Promotion zumarschiert bin, sondern den Umweg über das Theater genommen habe. Herzlichen Dank! Ohne das Vertrauen, das mein Doktorvater Matthias Krings in mein Projekt hatte, ohne seine engagierte, kluge Betreuung wäre ich allerdings gar nicht so weit gekommen. In den vielen Gesprächen, die ich mit ihm zu Trance, Video und anderen für meine Arbeit relevanten Themen führte, hat er mich mit seiner Begeisterungsfähigkeit angesteckt, und so habe ich tatsächlich immer gerne am Schreibtisch gesessen. Ute Fendler hat den afrikanischen Film und seine Regisseurinnen und Regisseure ins verschneite Bayreuth geholt. Ich danke ihr, dass sie sich trotz ihrer vielen Verpflichtungen spontan bereit erklärt hat, meine Zweitgutachterin zu werden. Die thematische und methodische Vielfalt am Institut für Ethnologie und Afrikastudien in Mainz war für mich sehr inspirierend. Ein besseres Umfeld hätte ich mir nicht wünschen können: Anna-Maria Brandstetter brachte mich durch einen Dschungel von Studienordnungen schnell auf den richtigen Weg. Carola Lentz und Thomas Bierschenk hatten, obwohl beide andere Felder bearbeiten, immer großes Interesse an meiner Forschung. Oft beflügelten mich die Gespräche mit Jan Beek, Claudia Böhme, Nora Brandecker, Jan Budniok, Hauke Dorsch, Sarah Fichtner, Tine Fricke, Mirko Göpfert, Godwin Kornes, Manfred Loimeier, Andrea Noll und Anja Oed. Sehr anregend waren die immer geistreichen, oft lustigen Kommentare von Eva Spies. Danken möchte ich insbesondere den afrikanischen Gästen und Doktoranden des Instituts: Onookome Okome, Melvice Asohsi, Papa Oumar Fall, Gabin .RUEpogo und Clarisse Tama, ihr vor allem für ihre interessanten Anmerkungen zu den Themen „Frauen“ und „Bildung“.

8 | S CHWARZ BESETZT

Außerdem waren mir einige Wissenschaftler anderer Fachbereiche eine große Hilfe: Mein Dank gilt Marie-Hélène Gutberlet, Thomas Klein, Friedemann Kreuder, Maren Lickhardt, Véronique Porra, Brigitte Schultze, Johannes Ullmaier und einem meiner wichtigsten Gesprächspartner: Abbé Beterbanfo Modeste Somé. In der interdisziplinären Doktorandengruppe von SoCuM konnte ich zentrale Thesen zur Diskussion stellen. Mein Übersetzer Ekililou Godje hat mir wichtige Impulse bei der Analyse der nordnigerianischen Videos gegeben. Von einer ganz anderen Warte konnte ich mein Thema mit Schauspielern und Regisseuren betrachten: Dank an Nisma Cherrat, Elke Czischek, Rainer Furch, Susanne Hake, Susanne Schwarz, Erika Skrotzki und Christiane Zerda. Die Regisseure Jean-Pierre Bekolo, Joseph Gaï Ramaka und Moussa Seydi haben mir Material zur Verfügung gestellt, das ich mir allein kaum hätte beschaffen können. Ich bin sehr froh, noch mit einem der Pioniere des afrikanischen Films, dem mittlerweile verstorbenen Mahama Johnson Traoré, gesprochen zu haben. Jaenick le Naour und Véronique Joo’Aisenberg haben mir das Filmarchiv von Culturesfrance erschlossen. Sarah Neumann und Marc Niemeyer haben dankenswerterweise einen kritischen Blick auf die Formalia geworfen. Seit Langem begleitet mich meine Freundin Christina Schreiber. Ihr und meinem Mann Ulrich Namislow verdanke ich viel: Sie hat mir außerhalb der Universität einige Steine aus dem Weg geräumt, er hat mir beigebracht, konzeptuell zu denken, und mich gelegentlich vom Schreiben abgehalten.

Vorbemerkung Man besetzt die Rollen falsch und gedankenlos. Als ob alle Köche dick, alle Bauern ohne Nerven, alle Staatsmänner stattlich wären. Als ob alle, die lieben, und alle, die geliebt werden, schön wären! BERTOLT BRECHT: DER MESSINGKAUF1

Das Thema dieser Untersuchung beschäftigte mich schon lange, bevor mir der Gedanke kam, eine Doktorarbeit zu schreiben. Ich war damals noch hauptberuflich Schauspielerin. In den Casting-Agenturen, die ich seinerzeit frequentierte, saß ich meist netten Frauen2 gegenüber, die genauso gut oder noch besser als ich wussten, dass die Besetzung von Fernsehserien nach zweifelhaften Kriterien verläuft – dies zu ändern stand nicht in ihrer Macht. Es blieb den Casterinnen wie den meisten, die mit Fernsehen ihr Geld verdienen, nichts anderes übrig, als permanent an der Reproduktion von Klischees mitzuarbeiten – mir selbst ging es nicht anders. Meine Beraterin bei der zentralen Bühnen-, Film und Fernsehvermittlung des Arbeitsamtes, kurz ZBF genannt, ging die Sache pragmatisch an. Ich war bereits im schwierigen Besetzungsalter, das bei Frauen mit 30 beginnt und (wenn überhaupt) mit 60 endet. Mit einer Leibeslänge von 1,77 war ich für die kleineren Männer, von denen es unter Schauspielern viele gibt, zu groß. Frauen sollen vor der Kamera auch heute noch kleiner sein als der Mann, dem sie gegenüberstehen.3 „Die Welt will belogen werden“, bemerkte meine Beraterin von der ZBF trocken und treffend, und so

1

Brecht [1937-1951] 1994: S. 856.

2

Die meisten Casterinnen sind weiblich.

3

Im Theater bestimmt diese Konvention die Besetzungsentscheidung in noch größerem Maße. Als ich für meine Magisterarbeit die sehr große und sehr erfolgreiche Wiebke Puls interviewt habe, sagte sie mir, dass weder sie selbst noch ihre Schauspiellehrer geglaubt hätten, dass sie jemals als Schauspielerin arbeiten könnte. Sie hatte zunächst eine Karriere als Performerin und Sängerin im Auge.

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machte sie mich für ihre Kartei sieben Jahre jünger und zwei Zentimeter kürzer. Da ich eine „Mannequinfigur“ und ausgeprägte Backenknochen habe, tauge ich im deutschen Fernsehen weder zur Mutter noch zur Putzfrau. Meine Lippen sind zu voll, als dass ich als Anwältin, Lehrerin oder Ärztin durchgehen könnte. Zu sinnlichen Lippen passen in Vorabendserien auch keine Partnerprobleme. Wie es das Klischee will, gehört zu einer dicken Lippe eine stattliche Oberweite. Mit Körbchengröße A habe ich diesbezüglich leider wenig anzubieten, also wurde mein BH mit Nylonstrümpfen gefüllt. Besetzt wurde ich in dieser Zeit meist als Edelschlampe, daher war ich auf den Demobändern, mit denen ich mich bewarb, auch fast ausschließlich in dieser Rolle zu sehen. Oft waren die Regisseure4 allerdings enttäuscht, wenn ich ungeschminkt und mit Zopf erschien – so viel Phantasie, sich vorzustellen, wie ich aussehen würde, wenn ich aufgedonnert und ausgestopft aus den Händen der Kostüm- und Maskenbildnerinnen komme, hatten sie offensichtlich nicht. Keine Regel ohne Ausnahmen, doch im Großen und Ganzen hatte ich mich weit von dem Motiv entfernt, das mich seinerzeit bewogen hatte, mich an einer Schauspielschule zu bewerben. Wie die meisten, die diesen Beruf anstreben, hatte mich die Überschreitung vermeintlicher Grenzen gereizt, die ich mir von der Übernahme möglichst unterschiedlicher Rollen erhoffte. Gerade hatte ich im Besetzungsbüro von Grundy UFA wieder einmal meine Haut zu Markte getragen und schlenderte schlechter Laune durch Babelsberg, als ich im Glaskasten der dortigen Filmhochschule die Ankündigung eines Blockseminars mit dem Ethnologen Jean Rouch sah. Ich hatte vor meiner Schauspielausbildung zwar ein paar Semester Ethnologie im Nebenfach studiert, aber der Name sagte mir nichts. Doch weil ich mit Wehmut an die Uni zurückdachte, entschloss ich mich kurzerhand, an diesem Seminar teilzunehmen.5 Als mir jemand zutuschelte, „da kommt auch Schlöndorff“, dämmerte mir zwar, dass es sich bei diesem filmenden Ethnologen wohl um eine renommierte Persönlichkeit handeln musste, ansonsten war ich völlig unvorbereitet. In dieser Verfassung sah ich zum ersten Mal den Film LES MAÎTRES FOUS aus dem Jahre 1955.6 Ich erinnere mich zwar weder an Rouchs Einführung noch an die anschließende Diskussion, aber sehr gut an meine Gefühle während des Films: Noch nie hatte mich eine Performanz auf einer Leinwand so beeindruckt wie die der nigrischen Wanderarbeiter, die sich dort in Trance den Geistern ihrer weißen Kolonialherren als Medien zur Verfügung stellten. Während meiner Schauspielausbildung und in der freien Arbeit hatte ich mich mit Fas-

4 5

Fernsehregisseure sind meist männlich. „Werkstattkurs. Das Lebenswerk Jean Rouchs“ [in Anwesenheit Jean Rouchs], 29.30.06.2000, Hochschule für Film und Fernsehen (HFF) „Konrad Wolf“ PotsdamBabelsberg. Ich verdanke meine Teilnahme der Vermittlung von Susanne Hake.

6

LES MAÎTRES FOUS, Frankreich/Ghana 1955, R.: Jean Rouch.

V ORBEMERKUNG

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zination und Angst weit in Grenzbereiche vorgewagt. Vor diesem Hintergrund nötigte mir die mentale und körperliche Disponibilität der Medien, die da als britischer Kommandant, als Lokomotive und als Frau eines Arztes agierten, tiefe Bewunderung ab. Seither fasziniert mich die Dekonstruktion westlicher Besetzungskriterien in Afrika: Keine mir bekannte Casterin, kein mir bekannter Regisseur wäre je auf die Idee verfallen, einen schwarzen Mann eine europäische Arztgattin spielen zu lassen. Die Performanz der Medien war für mich richtungweisend, weil mir die Grenzüberschreitung der nigrischen Wanderarbeiter ein Paradigma für das dem Menschen Mögliche zu sein schien. Man kann die erste Begegnung mit dem Thema meiner Doktorarbeit als produktives Missverständnis qualifizieren – der sich mir aufdrängende Vergleich zwischen dem Tranceritual der afrikanischen Arbeitsmigranten und meiner Arbeit in Fernsehserien war unzulässig. Aber mein wissenschaftlicher Blick auf die Performanzen meiner afrikanischen Kolleginnen und Kollegen ist immer noch maßgeblich von meinen eigenen Erfahrungen als Schauspielerin geprägt.

Einleitung Der Kinematograph ist eine Maschine, die, auf ihre Art, lebendigen und konkreten Internationalismus schafft: die einzige und gemeinsame Psyche des weißen Menschen. Und mehr noch. Indem der Film ein einheitliches Schönheitsideal als allgemeines Ziel der Zuchtwahl suggeriert, wird er einen einheitlichen Typus der weißen Rasse bewirken. BÉLA BALÁZS: DER SICHTBARE MENSCH ODER DIE KULTUR DES FILMS. 19241

Rollen, die in Europa und den USA nur mit weißen Darstellern besetzt werden, heißen in der Filmbranche „white roles“ – weiße Rollen.2 Kaum einen Tag nach der Wahl von Obama zum Präsidenten der USA kam im Deutschland-Funk die Meldung, dass man jetzt in Erwägung ziehe, James Bond mit einem schwarzen Schauspieler zu besetzen.3 In Afrika war man da schon weiter: Seit Anfang der 1960erJahre gibt es afrikanische Filme, und seither übernehmen schwarze Darsteller in Afrika weiße Rollen. Die Schauspieler dekonstruieren damit eine Besetzungskategorie, die auf einer Signifizierung der Hautfarbe gründet,4 und die afrikanischen Regisseure nutzen diese weißen Rollen als eine Verhandlungsplattform, auf der sie den Umgang mit postkolonialen Gegebenheiten erproben. Aber lohnt es sich wirklich, diesem Phänomen eine Untersuchung von mehr als 300 Seiten zu widmen? Wenn eine schwarze Besetzung von James Bond nur denkbar ist, weil Obama zum Präsidenten gewählt wurde, dann heißt das doch, dass die Realität in die Medien hineinwirkt und nicht die Medien in die Realität? Ein Gegenbeispiel, ebenfalls aus

1

Balázs [1924] 2001: S. 22 [Hervorhebung im Original].

2

Hondo 1986: 48/49.

3

Deutschland-Funk: „Kultur nach drei“, 06.11.2008.

4

Vgl. Wiegman 1998: S. 158ff.

14 | S CHWARZ BESETZT

der amerikanischen Politik: Wäre Schwarzenegger je Gouverneur geworden, wenn er sich den kalifornischen Wählern nicht vorher als Actionikone empfohlen hätte? Just dieser Schwarzenegger wird gleich in mehreren afrikanischen Filmen umbesetzt, natürlich mit schwarzen Schauspielern ... Die Übernahme weißer Rollen im afrikanischen Film – so die zentrale These dieser Untersuchung – destabilisiert westliche Definitionshegemonien und entfaltet eine wirklichkeitskonstituierende Wirkung, weil schwarze Akteure neue Handlungsspielräume erkunden können: Die weiße Rolle wird zum Imaginationsraum, der die Inszenierung von Planspielen ermöglicht, die sich wie ein roter Faden durch die Geschichte des afrikanischen Films ziehen. Weiße Rollen Der dem Filmjargon entlehnte heuristische Begriff der weißen Rolle bezeichnet im Rahmen dieser Untersuchung ein Differenzkonzept. Die Besetzung weißer Rollen mit schwarzen Darstellern schafft als eine evidente Entdifferenzierung neue Realitäten und kann damit als performativer Akt gelten. Gerade Wissenschaftler, die sich mit Alteritätskonstrukten beschäftigen, tun gut daran, die verwendete Begrifflichkeit kritisch zu hinterfragen. Ein problematisches Unterfangen: Wer über Rassismus schreibt, muss die Gruppe der Betroffenen bezeichnen. Man gerät aber damit in den Verdacht, das Konstrukt festzuschreiben, das man dekonstruieren will.5 So ist die ausgiebige Verwendung der Adjektive „schwarz“ und „weiß“ in dieser Untersuchung durchaus kritisierbar, da sie letztlich auf das „one drop“-Konzept rekurriert, das in den USA die Klassifizierung Schwarzer bestimmt hat.6 Das Problem stellte sich auch für den Filmwissenschaftler Richard Dyer, als er die Konstruktion der weißen Normen im amerikanischen Film untersuchte: Er sieht keinen Ausweg aus diesem Dilemma.7 Kaum weniger problematisch sind die Adjektive „afrikanisch“ und „westlich“, ohne die ich aber genauso wenig auskomme: Durch die Verwendung dieser Adjektive ist die Gefahr gegeben, essentialisierende Vorstellungen von Kultur zu evozieren.8 Alle hier

5

Viele Autoren relativieren problematische Begriffe durch Anführungszeichen oder akzentuieren sie im Gegenteil durch Großschreibung (z.B. Cherrat 2005). Das erschwert die Lesbarkeit und wirkt auf die Dauer ermüdend, aus diesem Grund habe ich vollständig auf derartige Hervorhebungen verzichtet.

6

Differenziertere Unterteilungen von Hautfarben sind nicht weniger rassistisch. Vgl.

7

Vgl. Dyer 1995: S. 152/153.

dazu: Dyer 1995: S. 151. 8

Der Gebrauch der Adjektive „afrikanisch“ und „westlich“ schreibt Konzepte kultureller Differenz fest. Die Problematik, die mit dem inflationären Gebrauch des Begriffs Kultur

E INLEITUNG

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verwendeten kritisierbaren Begriffe zu diskutieren hieße, dass ich in eine Terminologiedebatte einsteigen müsste, die mir weniger Raum für die Betrachtung der Filme ließe. Mit Verweis auf Patrice Nganang möchte ich im Rahmen dieser Untersuchung darauf verzichten: Nganang schreibt im Vorwort seiner Dissertation zum Thema „Interkulturelle Bearbeitung“: „Die eigentliche Diskussion [liegt] nicht auf der Ebene der Wörter, sondern der Beziehungen und Bewegungen, die sie ausdrücken.“9 Eben diese Bewegungen und Beziehungen sind Gegenstand der hier untersuchten Inszenierungen von Übernahmen weißer Rollen, denn die afrikanischen Filmschaffenden verhandeln die problematischen Konzepte, die hinter den kritisierbaren Begriffen stehen, in ihren Filmen. Vor diesem Hintergrund schien es mir sinnvoll, meinen Akzent auf die Filmanalyse zu legen und die Terminologiedebatten, die viele Wissenschaftler im Rahmen der Postcolonial Studies führen, in den Hintergrund treten zu lassen. Zur Situation schwarzer Schauspieler „L’acteur noir américain lui est mort le 20 janvier 2009 avec l’élection de Barack Obama“, behauptet der kamerunische Regisseur Jean-Pierre Bekolo.10 Er verweist damit auf ein wichtiges Moment bei der Konstitution rassistischer Besetzungskonventionen: Sie gründen auf einer durch spezifische Machtverhältnisse bestimmten Exklusion. Eine Besetzungskategorie wie die weiße Rolle ist also nicht ontologisch zu bestimmen, es handelt sich um eine operative Kategorie, die sich in einem steten Wandel befindet. Es bleibt abzuwarten, ob und wie sich Obamas Präsidentschaft auf die Besetzungskonventionen in westlichen Filmen niederschlägt. Der Schauspieler Sylvestre Amoussou hat nur bis 2006 durchgehalten, dann hat er den Beruf gewechselt: „Né le 31 décembre 1964 au Bénin, Sylvestre Amoussou, vivant en France depuis une vingtaine d’années, décide de se tourner vers le métier de réalisateur après avoir été comédien. En effet, le manque de rôles intéressants proposés aux noirs en France et la très forte envie d’exprimer certaines de ses idées ne lui laisse pas d’autres choix que d’aller derrière la caméra.“11

einhergeht (insbesondere mit der Verwendung des Plurals „Kulturen“), hat Carola Lentz (2009) analysiert, sie plädiert dafür das Wort nur noch im Singular zu gebrauchen. 9

Nganang 1998: S. 9, Fußnote 1.

10

Bekolo Obama 2009: S. 139.

11

Es handelt sich hier um eine Selbstdarstellung auf der offiziellen Webseite des Films AFRICA PARADIS [Internetquelle].

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Amoussou ist kein Einzelfall, Olivier Barlet nennt zahlreiche afrikanische Schauspieler, die aufgrund des Mangels an interessanten Rollen auf die andere Seite der Kamera gewechselt sind und selbst Regie führen.12 Auch das ist eine Möglichkeit, die Machtverhältnisse zu ändern – Amoussou konnte die bestehenden Hierarchien in seinem ersten Film einfach auf den Kopf stellen: Die Situation im Westen ist katastrophal. Immer mehr hoch qualifizierte Europäer wollen nach Afrika fliehen, obwohl sie dort nur als Taxifahrer, Hausangestellte oder Hilfsarbeiter arbeiten können, aber die Lebensbedingungen sind trotzdem ungleich besser. In AFRICA PARADIS13 besetzen Afrikaner die Führungsrollen. Im Westen dagegen seien schwarze Schauspieler auf die Rollen Subalterner festgelegt, schreibt Olivier Barlet,14 meist blieben nur Nebenrollen für sie übrig. Der Schauspieler Gérard Essomba fasst es so: „L’Occident fait appel à nous plus pour la couleur que pour le talent“15 Die Problematik, die mit der Fixierung auf das Kriterium der Hautfarbe einhergeht, beherrscht bis heute die akademische Diskussion um die Besetzung schwarzer Schauspieler in westlichen Filmen.16 Zahlreiche Wissenschaftler haben insbesondere in Genrefilmen hautfarbenbezogene Konstruktionen von Alterität nachgewiesen: In Verquickung mit den Kategorien „Gut“ und „Böse“ schlagen sie sich in ideologisierten Menschenbildern nieder, die zur Rechtfertigung ökonomischer und politischer Hierarchien dienen.17 Unter Filmschaffenden, Filmwissenschaftlern und Theaterwissenschaftlern herrscht Konsens, dass die Besetzung schwarzer Schauspieler bis heute auf einer Signifizierung der Hautfarbe gründet.18 Ich war deswegen überrascht, dass mein Thema bei Vorträgen, die ich in einem interdisziplinären Rahmen hielt, immer heftige Kontroversen auslöste, denn viele Historiker, Soziologen und Ethnologen mochten kaum glauben, dass schwarze Schauspieler immer noch diskriminiert werden. Meist führten die Wissenschaftler schwarze Stars an, die es, wie sie meinten geschafft hätten, den Rahmen rassistischer Besetzungskonventionen zu sprengen. Eine Historikerin erwähnte beispielsweise den 1898 geborenen US-amerikanischen Schauspieler Paul Robeson. Der Filmwissenschaftler Richard Dyer hat sich ebenfalls die Frage gestellt, wie es Robeson geschafft hat, zum ersten schwarzen Filmstar zu avancieren: „What were the qualities this black person could be taken to embody, that could catch on in a society where there had never been a black star of his magnitude?“ Das Ergebnis ist ernüchternd: „[Robeson] was a

12

Vgl. Barlet 1996: S. 223.

13

AFRICA PARADIS, Benin 2006. R: Sylvestre Amoussou.

14

Vgl. Barlet 1996: S. 223.

15

Gérard Essomba zitiert nach Barlet 1996: S. 223.

16

Vgl. Wiegman 1998: S. 98.

17

Vgl. Ferguson 1998.

18

Vgl. z.B. Dyer 1995.

E INLEITUNG

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cross-over star because (and as long as) he so hugely em-body-ed, in-corpo-rated [the] historical functioning of black people in Western representations and economy.“19 Robeson hatte es also nicht geschafft, das Rollensegment zu erobern, das weißen Schauspielern vorbehalten war. Es ist Dyers großer Verdienst, kundig belegt zu haben, dass der Film als Medium zur Visualisierung innerer Vorgänge auf Weiße zugeschnitten ist: Rassismus (auch der sogenannte positive) schlägt sich in der westlichen Filmindustrie nicht nur in Besetzungspraktiken und narrativen Strukturen nieder, sondern auch in filmtechnischen und filmästhetischen Konventionen, die seit der Stummfilmzeit darauf ausgerichtet sind, Weiße ins rechte Licht zu setzen.20 Wenn die Kamera in RISING SUN21 Wesley Snipes und Sean Connery gemeinsam in den Blick nimmt, favorisiert die Lichtführung Letzteren.22 Diese Strategien des Othering und die damit einhergehende Konstitution weißer Rollen sind für „Fachfremde“ kaum als solche zu erkennen, doch von einigen Wissenschaftlern kam noch ein anderer Einwand: Die Besetzung schwarzer Darsteller sei in vielen Rollen unrealistisch und deshalb unpassend. Dazu an dieser Stelle nur eine pointierte Entgegnung: Erwiesenermaßen gab es im amerikanischen Westen realiter viele schwarze Cowboys,23 im Hollywood-Western allerdings nicht, denn hier ging es nicht um eine realistische Darstellung eines Berufsbildes, sondern um die Inszenierung eines rassistischen Gründungsmythos. Zum afrikanischen Film Schon zur Kolonialzeit setzten sich Intellektuelle wie Frantz Fanon mit der Wirkung des von Weißen dominierten Mediums Film auf schwarze Zuschauer auseinander.24 Cowboys und andere weiße Helden des westlichen Kinos waren schon kurz nach der Erfindung des Kinematographen auf dem afrikanischen Kontinent präsent, aber die Kolonialmächte behielten sich das Monopol der bewegten Bilder vor: In den englischen Kolonien gab es strenge Auflagen von Zensurbehörden, die französische Kolonialbehörden verboten Afrikanern mit dem Décret Laval ganz explizit, selbst Filme in Afrika zu drehen. Kurz nach den Unabhängigkeitserklärungen der

19

Dyer [1986] 1992: S. 69 und S. 139 [Sperrungen im Original].

20

Dyer 1995: S. 151-170.

21

RISING SUN, USA 1993, R.: Philip Kaufman.

22

Vgl. Dyer 1995: S. 157/158. In seinem Buch White (1997), einer weiteren Veröffentlichung zu der hier behandelten Problematik, lenkt Dyer den Blick auf die Kategorie „Whiteness“, die sich zwar in Abgrenzung zur Kategorie „Blackness“ definiert, aber lange nicht im Zentrum einer kritischen Analyse gesellschaftlicher Normen stand.

23

Vgl. Massey (Hg.) 2000.

24

Vgl. Fanon [1952] 2007: Im vorliegenden Kontext ist insbesondere S. 118f lesenswert.

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afrikanischen Staaten traten die Pioniere des afrikanischen Films dann unter der Devise „décolonisez les écrans“ an, die Leinwände Afrikas zu erobern. Seither reißen die hitzig geführten Debatten um den afrikanischen Film nicht ab. Meist entzünden sie sich an dem Versuch einer Definition: Kann man die Filme so unterschiedlicher Länder wie Südafrika und Senegal unter dem Titel „afrikanischer Film“ zusammenführen?25 Lässt sich dieses Medium überhaupt geographisch lokalisieren? Der senegalesische Regisseur Joseph Gaï Ramaka ist einer von vielen afrikanischen Regisseuren, die ihre Ausbildung in Paris absolviert haben, und wie viele von ihnen hält er sich oft außerhalb von Afrika auf. Die Kulturwissenschaftlerin Mari Maasilta möchte ihn deshalb nicht als afrikanischen Regisseur bezeichnen, sondern als „transnational diasporic filmmaker“.26 Einen fundamentalen Unterschied zwischen westlichem und afrikanischem Filmschaffen behauptet wiederum der Filmwissenschaftler Teshome H. Gabriel. Er verortet afrikanischen Film im Rahmen des Third Cinema: Das politische Bewusstsein der Regisseure und die antiimperialistische Stoßrichtung ihrer Filme seien kennzeichnend für das afrikanische Kino.27 Jonathan Haynes beleuchtet diese Definition kritisch: Die meisten Filme der politisch ambitionierten Regisseure seien von der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich subventioniert, außerdem hätten sie (im Unterschied zu den populären Videofilmen) nur sehr wenige Zuschauer in Afrika erreicht.28 Die Debatte um den afrikanischen Film hat seit dem Boom der Videoindustrie Mitte der 1990er-Jahre eine neue Wendung bekommen. Die in der Produktion teuren Zelluloidfilme werden dem afrikanischen Autorenkino zugerechnet, und fast alle Wissenschaftler stellen die Unterschiede zwischen den Autorenfilmen und den kostengünstig produzierten Videofilmen heraus, die sie unter dem Schlagwort populäre Kultur behandeln. Eigentlich könnten nur die Videofilme als afrikanische Filme gelten, meinen manche, weil sie ohne westliche Subventionen auskommen und ein breites afrikanisches Publikum gefunden haben.29 Das Bestreben, den Begriff des afrikanischen Films zu schärfen, hat vielfach zu exkludierenden Definitionen mit präskriptivem Beigeschmack geführt, die den afrikanischen Film über Gebühr problematisiert haben. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sich der Versuch, den afrikanischen Film ontologisch zu definieren, als fruchtlos und simplifizierend erweist – auch der europäische oder der asiatische Film lässt sich schwerlich über konstitutive Merkmale bestimmen. Warum also nicht ganz auf den problematischen Begriff „afrikanischer Film“ verzichten? Für

25

Vgl. dazu Dovey 2009: S. 2-4.

26

Vgl. Maasilta 2007: S. 155ff.

27

Vgl. Gabriel 1982: 2.

28

Vgl. Haynes 1999: S. 21-25.

29

Vgl. z.B. McCall 2004: S. 98.

E INLEITUNG

| 19

das afrikanische Publikum, auf Festivals, in Filmkritiken und in dieser Untersuchung hat diese unscharfe Kategorie als operativer Begriff insofern eine Bedeutung, als man kaum ohne sie auskommt, wenn man die Pluralität der filmischen Performanzen im globalen Machtgefüge herausstellen will – ein legitimes Anliegen, das die Künstler der afrikanischen Videoindustrie ebenso wie die des afrikanischen Autorenfilms berechtigterweise für sich reklamieren können. Zu Vorgehensweise und Forschungsstand Für diese Untersuchung sind Inszenierungen von Übernahmen weißer Rollen im Autorenfilm und im Videofilm gleichermaßen interessant. Das wichtigste Kriterium bei der Auswahl der Filme war, dass sie einen Eindruck von der Diversität der Übernahmen weißer Rollen vermitteln. Bei den ersten Sichtungen drängten sich drei Arbeitshypothesen auf, die schließlich die Auswahl der Filme und die dreigliedrige Struktur der Arbeit bestimmt haben: 1.

2.

3.

Es gibt eine große Gruppe von afrikanischen Filmen, die Auseinandersetzungen mit den Normen der Weißen behandeln. Normenkonflikte entstehen insbesondere bei der Übernahme von sozialen Rollen, die Afrikanern während der Kolonialzeit verwehrt waren. Viele afrikanische Regisseure haben den Fundus der europäischen Theaterliteratur durchforstet und sich aus Gründen, die es zu erforschen gilt, für Stücke interessiert, die gemäß westlicher Theaterkonventionen nicht mit schwarzen Schauspielern besetzt werden. (Die Ausnahme Carmen bestätigt die Regel insofern, als Mérimées Novelle eine schwarze Besetzung explizit ausschließt.) Afrikanische Filmschaffende haben sich immer wieder mit der Omnipräsenz westlicher Medien auseinandergesetzt und die filmischen Performanzen der weißen Filmstars analysiert, deren Rollen dann schließlich schwarze Schauspieler übernommen haben.

Die drei Teile dieser Untersuchung sind jeweils einer Kategorie dieser Rollenübernahmen gewidmet, nämlich: der Besetzung sozialer weißer Rollen, der Besetzung weißer Theaterrollen und der Besetzung weißer Filmrollen. Schon ganz am Anfang formte sich eine weitere Arbeitshypothese: Obwohl sich zahlreiche Kontinuitäten nachweisen lassen, haben sich die Modi der Inszenierung von Übernahmen weißer Rollen in der Geschichte des afrikanischen Film gewandelt. In diesem Kontext lässt sich dann auch ein Wandel der Debatten um weiße Rollen und den afrikanischen Film nachweisen. Auch diese Annahme hat die Auswahl der Filme und die Struktur der Untersuchung bestimmt: Ich habe zwei Filmbeispiele aus der Kolonialzeit

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ausgewählt und Filme, die vor der Folie historischer Bruchlinien wie etwa dem Mai ’68 und dem 11. September 2001 als besonders signifikant gelten können. Die verschiedenen Übernahmen der weißen Rollen analysiere ich zunächst im Kontext des jeweiligen Films, und ich vergleiche die Beispiele dann innerhalb bestimmter thematischer Kategorien diachron. Daher sind die Analysen der Filme (mit einer Ausnahme)30 innerhalb der drei Teile der Doktorabeit jeweils nach deren Erscheinungsdatum sortiert. Das Applikationspotential verschiedener Theorieoptionen überprüfe ich immer an einzelnen Filmbeispielen. Deswegen vorab nur ein kurzer Abriss zum Forschungsstand, den ich an gegebener Stelle ausführlicher referieren werde. Obwohl es noch keine Untersuchung zu Übernahmen weißer Rollen im afrikanischen Film gibt, bieten sich doch eine ganze Reihe von Theorieoptionen an. Da die Übernahmen weißer Rollen im afrikanischen Film als performativer Akt gelten können, sind diesbezügliche Überlegungen von Judith Butler31 und Erika FischerLichte32 relevant. Die interdisziplinäre Verwendung des Begriffs Rolle verweist auf den Inszenierungscharakter von Identität im sozialen Kontext. Forscher wie Helmuth Plessner,33 Erving Goffman,34 Victor Turner35 und Clifford Geertz36 haben zur Betrachtung sozialer Phänomene Diskurselemente aus dem Theater fruchtbar gemacht. Frantz Fanon37 und Homi Bhabha38 haben Theorien vorgelegt, die Selbstinszenierungen im kolonialen beziehungsweise postkolonialen Kontext in den Blick nehmen. Es wäre zu fragen, ob ihre Konzepte zur kulturellen Mimikry bei der Analyse von Übernahmen sozialer weißer Rollen im afrikanischen Film hilfreich sind. Hinsichtlich von Übernahmen weißer Theaterrollen im afrikanischen Film ist eine sorgfältige Analyse der Dramaturgie der Stücke nötig, weil diese die Konstitution der Rollen bestimmt. Da ich ausnahmslos Übernahmen von berühmten Theaterrollen diskutiere, steht mir eine umfangreiche Sekundärliteratur aus der Literatur-

30

Da ich zwei sehr unterschiedliche Modi der Performanz und die Positionen eines berühmten Streitgesprächs zwischen Jean Rouch und Ousmane Sembène anhand der Filme LES MAÎTRES FOUS (Frankreich/Ghana 1955) und XALA (Senegal/Frankreich 1974) erläutern wollte, habe ich die Analyse von XALA vorgezogen.

31

Vgl. Butler 1990 und Butler [1990] 1999.

32

Vgl. Fischer-Lichte 2004.

33

Vgl. Plessner [1948] 1982.

34

Vgl. Goffman [1961] 1973.

35

Vgl. Turner 1964.

36

Vgl. Geertz [1983] 1993.

37

Vgl. Fanon [1952] 2007.

38

Vgl. Bhabha 1984.

E INLEITUNG

| 21

und Theaterwissenschaft zur Verfügung. Filmische Bearbeitungen von Literatur sind darüber hinaus Gegenstand zahlreicher Untersuchungen zur Intermedialität gewesen. Alexie Tcheuyap stellt die Anwendbarkeit der diesbezüglichen Konzepte im Hinblick auf die filmischen Bearbeitungen von europäischer Literatur im postkolonialen Kontext allerdings infrage und macht sich stattdessen für das Konzept der „réécriture“ stark.39 Zuvor hatten bereits Bill Ashcroft, Gareth Griffiths und Helen Tiffin die Rezeption des europäischen Literaturkanons im postkolonialen Kontext unter dem Aspekt des „writing back“ betrachtet.40 Im Hinblick auf die Inszenierung weißer Rollen im afrikanischen Film stellt sich also die Frage, ob die Regisseure die dramaturgischen Modelle der europäischen Autoren subvertiert haben oder nicht. Dass filmische Performanzen im 20. Jahrhundert immer wieder in Bezug auf ihre ideologischen Implikationen und ihre Wirkmächtigkeit hin betrachtet wurden, belegt ein Buchtitel wie Von Caligari zu Hitler.41 Adorno stand dem Film als Medium per se kritisch gegenüber,42 aber seine kulturkritischen Konzepte, die in den 1960er- und 1970er-Jahren sehr einflussreich waren, gerieten im Zuge des postmodernen Paradigmenwechsels immer mehr in die Kritik. Afrikanische Intellektuelle debattierten den Film zunächst eingedenk der Tatsache, dass die Kolonialmächte das neue Medium monopolisierten, mithin die Produktion und die Distribution kontrollierten.43 Die Rezeption westlicher Filme im kolonialen Afrika ist Gegenstand umfangreicher Untersuchungen gewesen.44 Die medienkritische Debatte ist angesichts der andauernden Hegemonie westlicher Medien in Afrika bis heute nicht abgerissen. Dabei ist ein Thema zentral, das die Debatte um westliche Filme in Afrika immer noch beherrscht, nämlich die Identifikation afrikanischer Jugendlicher mit westlichen Kinohelden. Hierzu gibt es mittlerweile interessante Theorien zur Performativität von Bildern.45 Prüfen möchte ich außerdem, ob sich die westlichen Forschungen zum Thema Remake für die Analyse von Rollenübernahmen in afrikanischen Remakes US-amerikanischer Blockbuster eignen. Der Schwerpunkt der Arbeit liegt auf der Analyse der Planspiele – ein Begriff, der hier als eine Metapher zu verstehen ist, mit der ich den Realitätsbezug und den auf die Zukunft gerichteten Impetus der diversen Inszenierungen von Übernahmen

39

Vgl. Tcheuyap 2005: S. 26ff.

40

Ashcroft/Griffiths/Tiffin 1989.

41

Kracauer [1947] 1993.

42

Vgl. Adorno [1951] 1969: S. 21.

43

Vgl. Goerg 2009: S. 202/203.

44

Z.B.: Ambler 2001 und Burns 2002.

45

Z.B.: Belting 2005.

22 | S CHWARZ BESETZT

weißer Rollen im afrikanischen Film herausstellen will.46 Im Zentrum der Untersuchung steht also eine genaue Betrachtung des jeweiligen Films. Damit entspreche ich einem Forschungsdesiderat: In ihrer 2009 erschienenen Dissertation betont Lindiwe Dovey, dass jede detaillierte Untersuchung einzelner afrikanischer Filme Lücken schließt. Sie verweist in diesem Kontext auf Manthia Diawara, einen der Pioniere in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit afrikanischem Film: „[Diawara] said what has been lacking within African film studies is a serious and profound consideration of the films themselves.“47 Ganz ähnlich äußert sich Jonathan Haynes: „We need much deeper readings of the films, approaching them as works of art with adequate interpretative sophistication.“48 Während zumindest zu einigen Zelluloidfilmen Einzeluntersuchungen vorliegen, fehlen diese, wie mir Jonathan Haynes und Onookome Okome im Gespräch bestätigten, für Videofilme völlig. Die Feststellungen von Dovey, Haynes und Okome mögen insofern überraschen, als es unzählige Publikationen zum Autorenfilm und zur Videoindustrie in Afrika gibt. Wie passt das zusammen? Viele Autoren widmen ihre Aufmerksamkeit den Produktions- und Distributionsbedingungen. Sie analysieren die postkolonialen Verstrickungen und die diesbezüglichen Theorien, sie konzentrieren sich auf die Rezeption der Filme und vergleichen den Anspruch der Regisseure mit der tatsächlichen Wirkung. Es mangelt auch nicht an profunden Analysen der regionalen kulturellen und politischen Gegebenheiten oder an ausführlichen Darstellungen von historischen Entwicklungen in Afrika. Ohne diese wertvolle Forschungsarbeit herabwürdigen zu wollen, lässt sich doch festhalten, dass die Betrachtung der Filme dabei oft in den Hintergrund getreten ist. Dovey fasst die Situation folgendermaßen zusammen: „Africa is currently producing extraordinarily sophisticated, complex works of art – that merit discussions not only in terms of their contexts but also their discourses and aesthetics.“49 Dovey bemerkt zudem, dass es Probleme in sich birgt, afrikanische Filme als Resultate der regionalen und historischen Gegebenheiten wahrzunehmen.50 Im Hinblick auf das hier behandelte Thema wäre es geradezu kontraproduktiv, die afrikanischen Filmschaffenden nicht als Akteure zu begreifen, sondern als Produkte einer Situation. Insbesondere deshalb, weil ich die Inszenierungen von Übernahmen weißer Rollen im afrikanischen Film weniger als

46

Mit Planspielen eruieren die Teilnehmer Handlungsmöglichkeiten in einem Modell, dessen konstitutive Elemente auf jene Aspekte der Realität Bezug nehmen, mit denen der Umgang erprobt werden soll. Vgl. dazu auch Bierschenk/Sauer/Schafft 1989.

47

Dovey 2009: S. xii. Dovey bezieht sich hier auf ein Gespräch, das sie mit Diawara geführt hat.

48

Haynes [1997] 2000: S. xvii.

49

Dovey 2009: S. xiv.

50

Vgl. Dovey 2009: S. xiv.

E INLEITUNG

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Rückverweis auf eine reale Situation verstehen will, sondern eher als ein Planspiel in einem Imaginationsraum. Diese Betrachtungsweise hatte Konsequenzen für die Auswahl der verwendeten Literatur. Ich verweise vergleichsweise selten auf einschlägige Werke zum afrikanischen Film und beziehe mich häufig auf Autoren, die sich nicht (oder nicht explizit) mit Afrika oder dem afrikanischen Film beschäftigt haben. Richtungweisend war für mich eine Untersuchung von Ute Fendler zu Abderrahmane Sissakos Filmen LA VIE SUR TERRE51 und HEREMAKANO.52 Fendler zieht „Analysen zu Aspekten der Ästhetik im quebekischen Kino“53 heran, obwohl sich weder nennenswerte Verbindungen zwischen den beiden Kinematograhien nachweisen lassen noch eine Beziehung zwischen Sissako und Kanada. Ihre Textauswahl, die auf den ersten Blick beliebig erscheinen mag, begründet Fendler mit der vergeblichen Suche nach tauglichen Parametern in der einschlägigen Literatur.54 Auch wenn sich kein Kausalzusammenhang ausmachen lässt, bemerkt Fendler Analogien zwischen afrikanischem und kanadischem Kino.55 Die Untersuchung wird an anderer Stelle ausführlicher behandelt,56 deswegen hier nur so viel: Dadurch, dass Fendler Konzepte zur Untersuchung des kanadischen Kinos für die Analyse der Filme Sissakos nutzt, gelingt es ihr, die tautologischen Kreisläufe zu durchbrechen, in denen sich Autoren bei der Betrachtung afrikanischer Filme häufig verfangen. Die Beschränkung auf die einschlägige Literatur birgt nämlich die Gefahr in sich, Einschätzungen zu reproduzieren, ohne sie am konkreten Filmbeispiel zu hinterfragen.57 Paradoxerweise bleibt dadurch, dass viele Autoren die untersuchten Filme in den Diskursen zum afrikanischen Film verorten, häufig das Spezifische eines Films auf der Strecke. Mir ging es bei der Auswahl der Literatur darum, Folien zu finden, die das Besondere einer kreativen Strategie anschaulich hervortreten lassen. Aus diesem Grund ziehe ich auch oft Vergleiche mit den Werken westlicher Künstler heran, ohne dass ich intertextuelle oder intermediale Bezüge nachweisen könnte oder wollte.58 Ich verweise zudem häufig auf Pressehefte zum Film oder auf Internetauf-

51

VIE SUR TERRE (LA), Mali 1998, R.: Abderrahmane Sissako.

52

HEREMAKANO, Mauretanien/Frankreich 2002, R.: Abderrahmane Sissako.

53

Fendler 2005: S. 167.

54

Fendler 2005: S. 171.

55

Fendler 2005: S. 171. Die Autorin schreibt, dass es sich in beiden Fällen um ein „cinéma mineur“ handelt, vgl. Fendler 2005: S. 171ff.

56

Vgl. Teil III, Kap. 8.3, S. 284-290.

57

Im Rahmen dieser Untersuchung werde ich einige Beispiele solcher Zirkelschlüsse

58

Was die hier vorgestellte Methode bringt, lässt sich in der Kürze am besten anhand

behandeln. Vgl. z.B. Teil III, Kap. 8, S. 261. einer Untersuchung zeigen, die Johannes Ullmaier zu den Tagebüchern vorlegte, die der

24 | S CHWARZ BESETZT

tritte der Regisseure. Dies war mir wichtig, um herauszufinden, welche Zusatzinformationen die Regisseure und die Verleihfirmen oder die Vertreiber von DVDs ihren Rezipienten bereitstellen. Darüber lässt sich ermitteln, wie die Multiplikatoren ihre Kritiker „briefen“ und in welchen Diskursen ein Regisseur seinen Film verortet haben will. Dovey fasst die problematische Suche nach einem geeigneten Instrumentarium zur Analyse afrikanischer Filme wie folgt zusammen: „While conventional film theory has not a means for successfully analyzing the heterogeneous genre of African screen media, nor have history and anthropology provided conclusive methodologies for doing so. It will only be through an interdisciplinary fusion of discourses [...] that we might begin to develop adequate tools for this task.“59

Dass sich die filmwissenschaftlichen Instrumente zur Analyse von schauspielerischen Performanzen bei der Analyse von Übernahmen weißer Rollen im afrikanischen Film oft als ungeeignet erweisen, zeigt der Blick in ein Standardwerk der deutschen Filmwissenschaft. Was Hickethier unter „Grundprinzipien des filmischen Darstellens“60 fasst, ist in Bezug auf den afrikanischen Film unbrauchbar: Die Konvention, dass sich der Schauspieler vor der Kamera unbeobachtet gibt (weswegen er nicht direkt in die Kamera schauen soll), wird in vielen afrikanischen Videofilmen während der Song-and-Dance-Einlagen gebrochen.61 Die für den Film häufig erhobene Forderung nach Intensität statt Extensität der Darstellung62 bezieht sich auf die

Anarchist Erich Mühsam im Gefängnis verfasste. Um die Mehrfachadressierungen, die er in den Aufzeichnungen nachweisen kann, theoretisch zu fassen, zieht er die sonst auf die Bibel bezogene Lehre vom vierfachen Schriftsinn heran. Mühsam und Bibel mögen ideologisch inkompatibel erscheinen, das Verfahren macht Sinn, denn Ullmaier kann vier Modi der Adressierung in den Tagebüchern nachweisen: 1) Dokumente einer persönlichen Chronik (sensus litteralis/Literalsinn), 2) Botschaft an die anarchistische Gemeinde (sensus allegoricus/dogmatischer Sinn), 3) Selbsterforschung (sensus tropologicus/moralischer Sinn) 4) Botschaften an die Nachwelt, die Mühsam als fiktive Gerechtigkeitsinstanz adressiert (sensus anagogicus/eschatologischer Sinn). Vgl. Ullmaier 2008, S. 30-56. 59

Dovey: 2009: S. xiv.

60

Hickethier [1993] 2001: S. 175. Die von Hickethier erwähnten Parameter werden immer wieder zur Beurteilung der schauspielerischen Leistung afrikanischer Darsteller herangezogen. Differenzierter äußert sich McDonald 1998: S. 33f.

61

Die Gesangs- und Tanzeinlagen sind dem indischen Film entlehnt und in Teil III, Kap. 9.1, S. 305 und Teil III, Kap. 9.2, S. 318 und S. 322 ausführlich behandelt.

62

Vgl. Hickethier [1993] 2001: S. 175.

E INLEITUNG

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Möglichkeit, das Gesicht eines Schauspielers auf der Leinwand um ein Vielfaches vergrößern zu können. Das unbewegte Gesicht auf der Leinwand ist dennoch nicht als universelles Ausdrucksideal zu werten: Auch das sogenannte „Nicht-Spielen“ und das „Unterspielen“ sind Darstellungskonventionen, die mit spezifischen Vorstellungen vom Glaubwürdigen und Realistischen verknüpft sind.63 Sie dürfen deshalb nicht zu normativen Parametern der Analyse gemacht werden. Da es bei der Analyse von Übernahmen weißer Rollen im afrikanischen Film um die Untersuchung von kulturellen Praktiken geht, ist die Frage nach den dabei eingesetzten Techniken von besonderem Interesse: Das Spektrum reicht hier von der Trance über chargierendes oder gestisches Spiel und Clownerie bis zum sogenannten Wegspielen. Als Schauspielerin, die vom Theater kommt, bin ich mit sehr unterschiedlichen Modi der Darstellung vertraut, die in Deutschland zwar auf der Bühne zur Anwendung kommen, aber nur sehr selten vor der Kamera.64 Ich kann also meine eigenen beruflichen Erfahrungen fruchtbar machen und Überlegungen von Theaterregisseuren und Schauspielpädagogen zur Analyse heranziehen. Die Begriffe, die diesbezüglich im Theater zur Anwendung kommen, bewahren meiner Ansicht nach eine profunde Analyse der darstellerischen Vorgänge. Es stellt sich allerdings die Frage, ob es sich dabei um emische oder etische Begriffe handelt. Eine Vermischung deutet nicht selten auf methodische Fehler hin: Wer als Wissenschaftler die Begrifflichkeit eines Offenbacher Hip Hoppers übernimmt, ohne sie zu analysieren, läuft Gefahr, Selbstdarstellungen zu reproduzieren, statt sie zu untersuchen. Allerdings beraubt man sich durch eine zu rigorose Unterscheidung oft der Möglichkeit, den untersuchten Gegenstand adäquat zu beschreiben, denn die gebrauchten Termini und Redewendungen sind häufig sehr anschaulich und treffend. Der Linguist Werner H. Veith beschreibt die Qualitäten eines Fachjargons so: „Er ist situationsbezogen, hat emotional orientierte Wörter und Wendungen und ist zugleich präzise in der Vorgangsbeschreibung.“65 Im Verweis auf Veith erlaube ich mir, Ausdrücke und Redewendungen des Film- und Theaterjargons als etische Begriffe zu verwenden, denn es geht mir um eine genaue Beschreibung der Vorgänge bei Übernahmen von weißen Rollen. Meine vielen Verweise auf das Theater sind außerdem insofern begründet, als die Darstellungspraktiken in Videofilmen häufig aus lokalen Theatertraditionen kommen,66 und Olivier Barlet konstatiert, dass es in Afrika enge Ver-

63

Vgl. McDonald 1998: S. 34.

64

Mein Schauspiellehrer Rüdiger Hacker begründete seine Aversion gegen die Arbeit bei Film und Fernsehen einmal nicht gerade fein, aber doch treffend damit, dass er keine Lust habe, immer nur seine „Fresse entspannt in die Kamera zu halten“.

65

Veith 2002: S. 84.

66

Vgl. Barber 2000b: S. 240-264.

26 | S CHWARZ BESETZT

bindungen zwischen dem Autorenfilm und dem Theater gibt.67 Diop Djibril Mambéty, Daniel Kamwa und Dani Kouyaté, drei der Regisseure, deren Filme Gegenstand meiner Untersuchung sind, waren erfolgreiche Bühnenschauspieler. In dieser Arbeit sind die Begriffe „Figur“, „Rolle“, und „Schauspieler“ zentral, deswegen dazu abschließend noch einige Anmerkungen. Im Französischen ist die Unterscheidung zwischen „personnage“ und „rôle“ eine genaue, die diesem Begriffspaar entsprechenden deutschen Ausdrücke „Figur“ und „Rolle“ werden häufig vermischt. Die Figur ist das, was im Film nach der Übernahme einer weißen Rolle zu sehen ist. Der Begriff der „Rolle“ wird oft mehr oder weniger bewusst mit dem der „Textgrundlage“ gleichgesetzt, dabei wird außer Acht gelassen, dass zum Beispiel auch Darstellungskonventionen das Konstrukt „Rolle“ bestimmen. In afrikanischen Videoproduktionen gibt es zudem meist kein Textbuch, viele Darsteller improvisieren. Die nigerianischen Schauspieler der hier untersuchten Remakes haben nicht das Drehbuch konsultiert, sondern sich die Hollywood-Filme angesehen, deren Rollen sie übernehmen. Der Theaterwissenschaftler Friedemann Kreuder schlug mir vor, die Rolle als einen Vorentwurf aufzufassen, der einen Verhandlungsspielraum eröffnet und somit eine vermittelnde Ebene in einer Kommunikationssituation konstituiert.68 Diese Bestimmung des Begriffs der Rolle hat sich insbesondere bei der Untersuchung von Übernahmen sozialer weißer Rollen als brauchbar erwiesen. Darüber hinaus ist diese Auffassung der Rolle im Hinblick auf die Betrachtung der Rollenübernahmen als Planspiel hilfreich. Olivier Barlet weist (als einer von vielen) darauf hin, dass es sich bei den Darstellern in afrikanischen Filmen meist nicht um Schauspieler, sondern um Laien handelt.69 Ich halte diese Unterscheidung für fragwürdig und irrelevant. Wenn man nur die Darsteller als Schauspieler bezeichnen wollte, die eine formale Ausbildung auf einer Schauspielschule durchlaufen haben, müsste man viele verdiente westliche Film- und Theaterschauspieler ebenfalls als Laien bezeichnen. Während dieser Untersuchung bin ich zudem auf zahllose afrikanische Talentschmieden gestoßen. Viele nordnigerianische Darsteller beherrschen die Improvisationstechnik des Camama-Theaters, viele senegalesische Darsteller standen mit dem Theater Daniel Sorano in Dakar in Verbindung. In Gesprächen mit afrikanischen Kollegen vermittelte sich mir zudem der Eindruck, dass in zahlreichen afrikanischen Schulen ein beeindruckend vielfältiges Theaterrepertoire zur Aufführung kommt. Besondere Erwähnung verdient auch die Tradition der Griots und Griottes. Die Vermutung,

67

Vgl. Barlet 1996: S. 223.

68

„Bei operativ-analytischem Begriffsgebrauch“ unterscheidet Kreuder (2005: S. 823) Rolle, Figur und Schauspieler als abgrenzbare Ebenen zur Untersuchung von Darstellungen. Vgl. dazu auch Kreuder 2005: S. 286.

69

Vgl. Barlet 1996: S. 224/225.

E INLEITUNG

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dass sich derartige Kulturtechniken nicht für Auftritte vor der Kamera eignen, lässt sich mit dem Verweis auf die beeindruckende Performanz von Zegué Bamba im Film BAMAKO70 entkräften. Außerdem lassen sich alle Praktiken der Performanz nuancenreich modifizieren, so dass man kaum per se behaupten kann, eine sei kameratauglich, die andere nicht. Leider lässt sich oft nur wenig oder gar nichts zur Biographie der Schauspieler sagen. Während die Lebensläufe der Regisseure des Autorenfilms recht gut dokumentiert sind, gibt es nur spärliche Informationen zu den Schauspielern. Häufig lässt sich nicht einmal ermitteln, wer welche Rolle gespielt hat, weil im Abspann nur die Namen der Schauspieler aufgeführt werden. Alle diesbezüglichen Lücken zu schließen hätte den Rahmen der Untersuchung gesprengt. Vereinfachend kann man sagen, dass bei der Vermarktung der Zelluloidfilme die Regisseure in den Vordergrund gestellt werden, bei der Vermarktung der Videofilme die Schauspieler.71 Im Hinblick auf die Analyse der Übernahmen weißer Rollen im afrikanischen Film sind beide gleichermaßen bedeutsam. Zunächst habe ich Standbilder aus verschiedenen Filmen gesammelt, um meine Ausführungen zu belegen, da ich davon ausgehen muss, dass die Leser die oft schwer zugänglichen Filme nicht kennen oder nicht mehr präsent haben. Immer wieder konsultierte ich meine umfangreiche Sammlung, allerdings mit einem wachsenden Unbehagen. Es drängte sich mir zunehmend der Eindruck auf, dass sich die Übernahmen der weißen Rollen nicht auf diese Weise abbilden lassen, da sie sich in bewegten Bildern vollziehen. Eine treffende Formulierung meines Misstrauens gegenüber dem Standbild fand ich in einer Sammlung von Aphorismen des Regisseurs Robert Bresson. Er schreibt: „Si une image, regardée à part, exprime nettement quelque chose, si elle comporte une interprétation, elle ne se transformera pas au contact d’autres images. Les autres images n’auront aucun pouvoir sur elle, et elle n’aura aucun pouvoir sur les autres images. Ni action ni réaction. Elle est définitive et inutilisable dans le système du cinématographe.“72

Ich habe schließlich ganz auf Standbilder verzichtet, stattdessen habe ich mich darauf konzentriert, die Filme so zu präsentieren, dass sich der Leser ein Bild machen kann, um meine Argumentation vor diesem Hintergrund nachzuvollziehen.

70 71

BAMAKO, Mali (2006), R.: Abderrahmane Sissako. Barlet 1996: S. 224, behauptet, dass die Regisseure des afrikanischen Autorenfilms die Schauspieler weggedrängt hätten. Ich teile diese Einschätzung nicht. Verantwortlich sind meiner Meinung nach eher die Filmkritiker und Wissenschaftler, die sich zwar für die Regisseure des afrikanischen Autorenkinos interessieren, aber nicht für die „Laienschauspieler“, die in ihren Filmen spielen.

72

Bresson [1975] 1988: S. 23.

Teil I Die Besetzung sozialer weißer Rollen

Im Jahre 1952 erschien Frantz Fanons Publikation Peau noire, masques blancs.1 Das Buch hatte im spätkolonialen Kontext eine große Resonanz, und es ist für den afrikanischen Film vielleicht wichtiger als jedes andere. Zunächst mag man sich fragen, wie Fanon den Begriff der Maske versteht, denn Masken sind in der afrikanischen und der europäischen Kulturgeschichte zwar gleichermaßen bedeutsam, aber doch in unterschiedlicher Weise. Fanon geht jedoch nicht näher auf eine bestimmte kulturelle Praktik ein, in der die Maske von Bedeutung ist, er verwendet den Begriff als Metapher, und diese bezieht sich auf die Eigenschaft der Maske, das Gesicht ihres Trägers zu verbergen. Anders als es der Titel suggeriert, steht nicht die Differenz der Hautfarben im Mittelpunkt seines Interesses, sondern die zwischen „Unterdrückern“ und „Unterdrückten“.2 Fanon will den Zusammenhang zwischen der sozialen Position Schwarzer in den Kolonien und deren psychischer Disposition offenlegen. Dabei macht er allerdings eine Einschränkung: „Le ‚sauvage de la brousse‘ n’est pas envisagé ici. C’est que, pour lui, certains éléments n’ont pas encore de poids.“3 Fanons Untersuchung bezieht sich auf diejenigen Bewohner der Kolonien, die mit den Normen der weißen Machthaber konfrontiert sind. Der Soziologe Heinz-Günther Vester konstatiert, dass das Phänomen der Norm untrennbar mit dem der sozialen Rolle verknüpft ist.4 Man könnte Fanons Begriff der weißen Maske also durch den Begriff der sozialen weißen Rolle ersetzen und dies damit begründen, dass der antillische Psychologe die Psychogenese seiner Patienten analysiert. Er zeigt nämlich die Probleme von Schwarzen auf, die einen Teil ihrer Sozialisation in den Institutionen der Weißen durchlaufen haben. Anders ausgedrückt: Fanon analysiert die Übernahmen sozialer weißer Rollen im kolonialen Machtgefüge. Dabei ist für ihn eine Frage zentral, die insbesondere Wissenschaftler marxistischer Orientierung beschäftigt hat, die sich mit dem Phänomen der sozialen Rollen auseinandergesetzt haben. Sie wollten wissen „in welchem Maß das Rollenspiel vorbestimmt und fremdbestimmt ist, inwieweit Macht und Herrschaftsverhältnisse bis in die jeweiligen Rollendefinitionen hineinreichen“.5

1

Fanon [1952] 2007.

2

Mathieu 2009: S. 23.

3

Fanon [1952] 2007: S. 9.

4

Vester 2009: S. 56.

5

Peuckert 2010: S. 246.

32 | S CHWARZ BESETZT

In Grundbegriffe der Soziologie definiert Rüdiger Peuckert die soziale Rolle als „ein Bündel normativer Verhaltenserwartungen, die von einer Bezugsgruppe oder mehreren Bezugsgruppen an Inhaber bestimmter sozialer Positionen herangetragen werden“.6 Die Auseinandersetzung mit den Normen der Weißen war während der Kolonialzeit aber nicht nur für die relevant, deren soziale Position, sei es als Schüler oder als Angestellte, direkt von Weißen bestimmt war. Auch Konsumenten westlicher Medien und alle, die in Kontakt mit kolonialen Institutionen kamen, waren mit der dort etablierten Gültigkeit weißer Normen konfrontiert. Im Rahmen der asymmetrischen Machtverhältnisse in den Kolonien entwickelten Fanons Patienten den Anspruch, diese Normen zu erfüllen, da sie sich nur so eine bessere soziale Position verschaffen konnten. Fanon diagnostiziert, dass sie sich damit jedoch in eine schizophrene Situation manövrierten, weil sie trotz ihrer Bemühungen aufgrund ihrer Hautfarbe per se als minderwertig galten: Je eifriger sie weißen Normen genügten, desto mehr litten sie unter Minderwertigkeitskomplexen. Als die Mitglieder der afrikanischen Elite nach der Unabhängigkeit die Positionen der Kolonialherren einnahmen, stellte sich dann ein anderes Problem: Welche Normen sollten nun angesichts der veränderten Machtverhältnisse für diejenigen sozialen Rollen gelten, die Afrikanern zuvor vorenthalten waren? Die Komplexität der Verhältnisse wirft die Frage auf, an welchen Merkmalen sich die Übernahme einer sozialen weißen Rolle konkret festmachen lässt. Ist der afrikanische Student einer Pariser Hochschule auch dann als Träger einer weißen Rolle zu bezeichnen, wenn er zwar den von der Kolonialmacht etablierten Sprachnormen genügt, sich aber kraft seiner Eloquenz für die Unabhängigkeit der Kolonien engagieren kann? Wie verhält es sich mit der jungen Afrikanerin, die ihre Haare glättet und ihre Haut bleicht, aber die Rolle der zweiten Frau in einer polygamen Ehe akzeptiert? „Streng genommen“ handele es sich bei der sozialen Rolle nicht um eine Elementarkategorie, sondern um eine spezifische „Verknüpfung grundlegender Phänomene der sozialen Differenzierung und der sozialen Normierung,“ schreibt Peuckert. „Trotz seiner Unschärfe“ sei der Begriff der sozialen Rolle aber bis heute „eine zentrale Kategorie der Soziologie“.7 Der Unterbegriff der sozialen weißen Rolle ist nicht weniger unscharf als der Oberbegriff. Aber man kann diesen Begriff als heuristische Kategorie verwenden, um Phänomene zu bezeichnen, die im kolonialen, respektive postkolonialen Machtgefüge Gegenstand leidenschaftlicher Debatten sind. Dass die Auseinandersetzung mit sozialen weißen Rollen in Afrika relevant ist, belegt nicht nur der große Erfolg von Peau noire, masques blancs, in afrikanischen Filmen war und ist das Thema bis heute zentral. Dabei visualisieren die Darsteller nicht selten Konzepte, für die Soziologen analyti-

6

Peuckert 2010: S. 243.

7

Peuckert 2010: S. 244.

D IE B ESETZUNG

SOZIALER WEISSER

R OLLEN

| 33

sche Kategorien entwickelt haben: etwa die Kategorie der Sozialisationsinstanzen. Damit bezeichnet die Soziologie jene „funktionalen Einheiten, in denen sich wichtige Sozialisationsprozesse abspielen, also Institutionen wie Familie, Schule, Hochschule und Militär“.8 In den afrikanischen Filmen sind diese Sozialisationsinstanzen jeweils durch Figuren repräsentiert, deren Interaktionen mit dem Protagonisten des jeweiligen Films dem Zuschauer ein Bild davon vermitteln, wer „wo durch wen mit welchen Mitteln sozialisiert [wird]“. Der Soziologe Heinz-Günther Vester vertritt die Ansicht, dass diese Frage nur mithilfe empirischer Untersuchungen zu beantworten sei.9 Die afrikanischen Regisseure bedienen sich einer nicht weniger interessanten Methode, sie inszenieren Modellversuche. Ihre Probanden sind die Schauspieler. Sie erkunden Dimensionen, die laut Vester „in der Sozialisationstheorie vergleichsweise weniger thematisiert sind“,10 nämlich die motorische und die affektive. „Dass sich die philosophische Anthropologie einmal mit dem Schauspieler beschäftigt, mag auf den ersten Blick befremden“, notierte der Soziologe und Philosoph Helmuth Plessner bereits 1948, befremdlicher sei aber noch, dass sie das bisher vernachlässigt habe, denn der Schauspieler stelle Menschen dar: „Nirgends sonst wird uns das gezeigt.“11 Methodisch sei dies „von unschätzbarem Wert“, schreibt Plessner weiter, denn durch den Vorgang des Spielens werde die menschliche Existenz transparent.12 Der Schauspieler versinnbildlicht für Plessner eine conditio humana, nämlich die „Abständigkeit des Menschen zu sich“ selbst,13 jene exzentrische Position, die Plessner zufolge seine Verfasstheit bestimmt: „Man vergisst, dass die ‚Selbstbeherrschung‘, welche das tägliche Leben vom Menschen fordert, die Beherrschung der Rolle, die er in ihm spielt, die Verwandlungs- und Verstellungsfähigkeit, welche Umgang und Beruf einem mehr oder weniger aufzwingen, [...] auf das Bild gerichtet sind, das er für den Zuschauer sein will.“14

Dass aber gerade Schauspieler häufig vergessen, dass sich Menschen im täglichen Leben in den allermeisten Situationen beherrschen müssen, belegt eine alte Theaterweisheit: „Nur Schauspieler wollen weinen, richtige Menschen müssen weinen“, heißt es, wenn das Bemühen, intensive Gefühle darzustellen, allzu offensichtlich ist. Die Kreuzung der Perspektiven ist verwirrend: Theater- und Filmschaffende

8

Vester 2009: S. 65.

9

Vester 2009: S. 65.

10

Vester 2009: S. 66.

11

Plessner [1948] 1982: S. 403.

12

Plessner [1948] 1982: S. 404.

13

Plessner [1948] 1982: S. 407.

14

Plessner [1948] 1982: S. 407 [Hervorhebung im Original].

34 | S CHWARZ BESETZT

analysieren ihre Darstellungen mit Parametern aus dem „wirklichen Leben“. Plessner und viele andere Wissenschaftler sezieren die Wirklichkeit mithilfe einer für Theatervorgänge geprägten Begrifflichkeit. Der Gegenstand der Untersuchung freilich ist der gleiche ...

1.

Perspektivwechsel

Am 15. Mai 2009 kam es auf der Konferenz „Nollywood und Beyond“1 für die Veranstalter Matthias Krings und Onookome Okome völlig unerwartet zu einem Eklat. Stein des Anstoßes war der Dokumentarfilm NOLLYWOOD ABROAD2 der belgischen Regisseurin Saartje Geerts: Sie zeigte, wie ein Nigerianer in Antwerpen einen Nollywood-Film dreht. Die schärfste Attacke formulierte Nwachukwu Frank Ukadike, einer der bekanntesten unter den Wissenschaftlern, die sich mit dem afrikanischen Film auseinandergesetzt haben. Ukadike verglich die Perspektive der Regisseurin mit der des Ethnologen und Dokumentarfilmers Jean Rouch. Die Zuhörer verstanden das ohne jede weitere Erklärung seitens Ukadikes als eine radikale Ablehnung des Films und der Vorgehensweise von Saartje Geerts. Ohne dass es Ukadike ausgesprochen hätte, stand nämlich mit der Evokation des französischen Ethnlogen ein häufig zitierter Vorwurf im Raum, den Ousmane Sembène 1965 an die Adresse Jean Rouchs gerichtet hatte. Er hatte ihm vorgehalten: „Du schaust uns an wie Insekten.“3 Sembène gilt als Vater des afrikanischen Films, weil er 1963 mit BOROM SARRET4 den ersten Spielfilm in die Kinos brachte, den ein afrikanischer Regisseur auf dem afrikanischen Kontinent gedreht hatte. Das Streitgespräch zwischen Sembène und Rouch, auf das Ukadike rekurrierte, lässt

1

„Nollywood and Beyond. Transnational Dimensions of an African Video Film Industry“, Internationales Symposium, 13.-16.05.2009, Johannes Gutenberg-Universität Mainz.

2

NOLLYWOOD ABROAD, Belgien 2008, R.: Saartje Geerts.

3

„Tu nous regardes comme des insectes.“ Der Vorwurf wird meist in dieser Form verkürzt kolportiert. Die ausführlichste Transkription der Begegnung zwischen Rouch und Sembène kann man bei Cervoni ([1965] 2005: S. 79-86) nachlesen. Auf Rouchs Frage, warum Sembène seine ethnographischen Filme nicht möge, antwortet Sembène: „Ce que je leur reproche, comme je le reproche aux africanistes, c’est de nous regarder comme des insectes.“ Cervoni [1965] 2005: S. 81.

4

BOROM SARRET, Senegal/Frankreich (1963), R.: Ousmane Sembène.

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sich insofern als Urknall des afrikanischen Film betrachten, als Sembène hier einen Perspektivwechsel einfordert, indem er die Filme über Afrika den Filmen aus Afrika gegenüberstellt.5 Noch heute gilt Rouch vielen, die über Filme aus Afrika schreiben, als Persona non grata. Wie der Vorfall auf der Konferenz zeigt, herrscht bezüglich dieses Verdikts Konsens, obwohl die Afrikaner, die in Rouchs Filmen zu sehen sind, häufig maßgeblich an der Konzeption seiner Filme beteiligt waren und Rouch seine Mitarbeiter ermutigte, selbst Filme zu drehen.6 Doch auch Rouchs ehemaliger Kontrahent Sembène muss mittlerweile oft als Buhmann herhalten. Als der wichtigste Exponent des politisch engagierten und didaktisch motivierten afrikanischen Autorenkinos ist er im Gefolge der Aufwertung populärer Kultur in die Kritik geraten. Deren Apologeten behaupten, dass Sembènes Filme genau das Publikum verfehlt haben, dass sie erreichen sollten.7 Im Folgenden stehen nun zwei Filme im Zentrum, in denen Rouch und Sembène die Auseinandersetzung von Afrikanern mit sozialen weißen Rollen thematisieren. In beiden Fällen möchte ich mich insbesondere mit den Modi dieser Auseinandersetzung beschäftigen. Das heißt, dass ich zum einen das Spezifische der Vorgehensweise der beiden Regisseure analysiere und zum anderen die differenten Körpertechniken der Akteure betrachte, die bei den jeweiligen Performanzen der sozialen weißen Rollen zum Tragen kommen.

1.1 L ES M AÎTRES F OUS Dass ausgerechnet ein Film, der auf die vehemente Ablehnung des afrikanischen Publikums stößt, an exponierter Stelle, nämlich am Anfang einer Untersuchung zum afrikanischen Film steht, will begründet sein: LES MAÎTRES FOUS ist in der Kolonialzeit entstanden und bewahrt damit Aspekte der Vorgeschichte des afrikanischen Films. Gerade weil der Film leidenschaftliche Zurückweisung erfuhr, eignet er sich als eine Kontrastfolie zur Betrachtung der Filme, die nach der Unabhängigkeit der Kolonien entstanden sind.

5

Gutberlet/Metzler 1997: S. 6.

6

In Black African Cinema kritisiert Ukadike (1994: S. 50/51), dass Rouch Afrikaner als Wilde präsentiere. In dem Dokumentarfilm AL’ÈÈSSI (Niger 2004, R.: Rahmatou Keïta) kommen auch andere Stimmen zu Wort, die insbesondere Rouchs Verdienste um den nigrischen Film herausstellen. Ein wesentlich differenzierteres Bild von Rouch und LES MAÎTRES FOUS zeichnet auch Dovey (2009: S. 186-189).

7

Jean-Pierre Bekolo hat diese Kontroverse in seinem Film LE COMPLOT D’ARISTOTE (Zimbabwe/Frankreich/U.K. 1996) thematisiert. Siehe Teil III, Kap. 10.1, S. 333-347.

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Üblicherweise ist der Prozess einer Rollenübernahme bereits vollzogen, bevor der Regisseur das Kommando „Kamera läuft ... und bitte“ gibt. Der Ethnologe Rouch geht anders vor. Er zeigt seine Akteure, die Angehörigen des Geheimbundes der Hauka, zunächst im Alltag. Als Wanderarbeiter aus dem Niger leben sie in Accra, im heutigen Ghana, das damals noch Gold Coast hieß und eine britische Kolonie war. Aber die Hauka haben sich einen Freiraum erschlossen: In regelmäßigen Abständen verlassen sie die Stadt, um sich an einem dafür bestimmten Ort in Trance den Geistern ihrer britischen Kolonialherren zur Verfügung zu stellen. Im Zustand der Besessenheit sind sie ermächtigt, die Tabus, die ihren Alltag bestimmen, zu brechen. Die Medien liefern zunächst einen sichtbaren Beweis ihres Ausnahmezustandes, indem sie sich mit brennenden Fackeln ihre Körper abfahren. Als Komandan Mougou, Kaporal Gardi und Madame Locotoro schneiden sie alsbald einem Hund die Kehle durch und schlürfen sein warmes Blut. Guerba, ein Angestellter des Wasserwerks, gibt hier vom Geist westlicher Technik besessen die Lokomotive. Vor laufender Kamera leckt er sich mit sichtlichem Genuss das Blut von den Lippen. Das Tier soll gekocht und verzehrt werden. Den Besessenen tropft der Geifer vom Mund. Mit bloßen Händen angelt sich einer den Kopf des Hundes aus dem kochenden Wasser und beißt gierig hinein. Dann ist alles zu Ende, und auf einem Geländer hängen nur noch die schmutzigen Kleider der Maîtres fous. Am nächsten Tag zeigt Rouch die Hauka noch einmal in den sozialen Rollen, die sie im Alltag einnehmen. Zur Autorschaft Die Stimmung nach der Uraufführung dieses Films schildert Rouch so: „Meinen afrikanischen Freunden stand die Wut im Gesicht und sie sagten mir, der Film müsste sofort zerstört werden. Marcel Griaule hatte ebenfalls einen roten Kopf und sagte mir, dass der Film sofort vernichtet werden müsste.“8 Auch im bereits erwähnten Streitgespräch mit Sembène berichtet Rouch von Reaktionen auf LES MAÎTRES FOUS: „Il y a aussi le cas de ‚Maîtres fous‘, un de mes films qui a été l’objet de discussions acharnées avec mes camarades africains. Pour moi, c’est un témoignage sur la manière spontanée dont ces africains […] se débarrassent de cette ambiance européenne, industrielle, citadine, en la jouant, en s’en donnant la représentation. Je crois que des problèmes de diffusion se posent effectivement. J’ai montré le film un jour à Philadelphia, à un congrès d’anthropologie. Une dame est venue me trouver et m’a dit: ‚Est-ce que je peux avoir une copie?‘ Je lui ai demandé pourquoi. Elle m’a répondu qu’elle était des Etats du Sud et ...

8

Rouch 1983: S. 82.

38 | S CHWARZ BESETZT qu’elle voulait montrer ... ce film pour montrer que ... les noirs étaient bien ... des sauvages! J’ai refusé. [...] En accord avec les producteurs, la diffusion de ‚Maîtres fous‘ a été réservée à des cinémas d’art et d’essai, et à des ciné-clubs. Je crois, en effet, qu’il ne faut pas apporter de tels films à un public trop large, non informé, sans présentation, sans explication.“9

Rouch übernimmt hier die Verantwortung für den Film. Das scheint insofern angemessen, als er gemeinhin als dessen Autor gilt. Der Begriff „Autor“ ist postmodernen Theoretikern verdächtig, doch ihre Vorbehalte sollen hier weniger interessieren als die Betrachtungsweise, die James Clifford in seinem berühmten Essai „On ethnographic authority“ vorschlägt.10 Beim genauen Studium eines Fotos, das Malinowski auf den Trobriand-Inseln gemacht hatte, fiel Clifford die selbstbewusste Haltung eines Trobrianders auf, der seinen Blick direkt in die Kamera richtete. Clifford verstand diesen Blick als eine an Malinowski gerichtete Botschaft: „You are there, because I was there.“11 Auf den Film LES MAÎTRES FOUS angewendet, hieße das: Wäre die dort gezeigte kulturelle Praktik, deren Autoren die Hauka12 sind, nicht so beeindruckend, hätte sie wohl kaum je das Interesse des französischen Ethnologen erregt. Im Blick auf den hier untersuchten Film könnte man zudem behaupten: Nicht der Ethnograph hat sich seine Akteure erkoren, die Akteure haben sich einen Ethnographen gesucht. Im Vorspann hat Rouch eine Schrifttafel eingefügt, auf der steht, dass der Film auf Wunsch der Hauka-Priester Mountyeba und Moukayla gedreht worden sei. Aber auch wenn man LES MAÎTRES FOUS pointiert als Auftragsarbeit bezeichnen könnte, lässt sich nicht bestreiten, dass Rouchs Repräsentation die Wahrnehmung des Zuschauers steuert. Sein Off-Text, die Montage und einige Kameraeinstellungen lassen ein Konzept der filmischen Argumentation erkennen, deren Rhetorik Erhard Schüttpelz minutiös analysiert hat:13 Wenn Rouch mit der Kamera den Ort des Rituals erkundet, zeigt er am Altar der Hauka ein Kinoprogramm mit einer Ankündigung von DAS ZEICHEN DES ZORRO.14 Dann nimmt er die „Sakristei“15 in den Blick, in der zentrale Utensilien des Rituals aufbewahrt sind. Mit dem Verweis auf Zorro drückt Rouch dem Zuschauer gewissermaßen das

9

Rouch zitiert nach Cervoni [1965] 2005: S. 82. In einer Fußnote bemerkt Cervoni zu seiner Transkription des Interviews: „Nous avons cherché à représenter avec des points de suspension les interruptions du discours de Jean Rouch par le rire que déclenchait le souvenir de cette sollicitation trop intéressée.“

10

Clifford 1983: S. 118-146.

11

Clifford 1983: S. 118.

12

Hauka ist im Hausa die Bezeichnung für verrückt.

13

Vgl. Schüttpelz 2002: S. 248-276.

14

ZEICHEN DES ZORRO (DAS) [THE MARK OF ZORRO], USA 1920, R.: Fred Niblo.

15

Schüttpelz 2002: S. 250.

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Programm der bevorstehenden Performanz in die Hand: Er bereitet den Zuschauer darauf vor, dass er einem Racheakt der Enterbten beiwohnen wird. Doch obwohl Rouch die Aufmerksamkeit des Publikums streckenweise sehr dezidiert leitet, könnte man seine Autorschaft auch deswegen hinterfragen, weil er insbesondere bei der Repräsentation des Trancerituals nicht als Regisseur agiert, sondern als Kameramann auf die Hauka reagiert. Zur Vorgehensweise Rouchs Rouchs Filmschaffen scheint insbesondere von eigenen Rezeptionserfahrungen geprägt zu sein. In einem Interview mit Alain Nicolas beschreibt Rouch seine erste Begegnung mit dem Medium Film so: „Le premier film que j’ai vu était Nanook of the North,16 j’avais sept ans. Le souvenir que j’en ai, c’est que j’avais tout de suite compris ces images-là, sans avoir buté sur quoi que ce soit.“17 Ob es sich hier um eine anekdotische Fiktionalisierung der eigenen Biographie handelt, sei einmal dahingestellt. Festzuhalten bleibt, dass Rouchs Glaube an die Möglichkeit, durch Filme intuitives Verstehen zu evozieren, bestimmend für sein Interesse an diesem Medium ist. An anderer Stelle versucht er zu eruieren, welche Filme ihm einen spontanen Zugang zu den gezeigten Menschen ermöglichen. Da seine Ausführungen auch im Hinblick auf die später behandelten Videofilme von Interesse sind, seien sie hier fast vollständig zitiert: „Quels sont ces films, quel nom barbare les distingue-t-il des autres? Existent-ils? Je n’en sais rien encore, mais je sais qu’il y a certains instants très rares où le spectateur comprend soudain une langue inconnue sans le truchement d’aucun sous-titre, participe à des cérémonies étrangères, circule dans les villes ou à travers des paysages qu’il na jamais vus, mais qu’il reconnaît parfaitement [...] Ce miracle-là, seul le cinéma peut le produire, mais sans qu’aucune esthétique particulière puisse en donner le mécanisme, sans qu’aucune technique spéciale puisse le provoquer: ni le contrepoint savant d’un découpage, ni l’emploi de quelque cinérama stéréophant, ne causent de tels prodiges. Le plus souvent, au milieu du film le plus banal, au milieu du sauvage hachis des actualités, dans les méandres du cinéma d’amateur, un contact mystérieux s’établit: le gros plan d’un sourire africain, un clin d’œil mexicain à la caméra, un geste européen si banal que personne n’avait songé à le filmer, forcent ainsi le visage bouleversant de la réalité. C’est comme s’il n’y avait plus de prise de vue, plus d’enregistreur de son, plus de cellule photo-électrique, plus de cette foule d’accessoires et de techniciens qui forment le grand rituel du cinéma classique. Mais les faiseurs de films d’aujourd’hui préfèrent ne pas s’aventurer sur

16

NANOOK OF THE NORTH, [gedreht in Québec] 1922, R.: Robert J. Flaherty.

17

Rouch zitiert nach Nicolas 1992: S. 296.

40 | S CHWARZ BESETZT ces voies dangereuses; et seuls les maîtres, les fous et les enfants osent appuyer sur des boutons interdits.“18

Rouch schreibt hier der Inspiration des Kameramanns ein quasi magisches Potential zu: Wer in der Lage sei, seine Intuition zu nutzen, könne Bilder produzieren, die dem Betrachter einen unmittelbaren Zugang zu den gezeigten Menschen ermöglichen. Bemerkenswert ist sein Hinweis, dass der Verzicht auf aufwendige Technik nicht nur das spontane Vorgehen des Filmenden begünstigt, sondern auch das intuitive Verstehen dieser mit einfachen Mitteln produzierten Bilder. Die bahnbrechende Innovation, die Filmwissenschaftler meist mit dem Namen Rouch in Verbindung bringen, ist der Gebrauch der Handkamera. Er selbst schreibt diesbezüglich: „Pour moi, donc, la seule manière de filmer est de marcher avec la caméra, de la conduire là où elle est le plus efficace, et d’improviser pour elle un autre type de ballet où la caméra devient aussi vivante que les hommes qu’elle filme. [...] Cette improvisation dynamique – que je compare souvent à l’improvisation du torero devant le toro – ici, comme là, rien n’est donné d’avance [...] le caméraman réalisateur pénètre réellement son sujet, précède ou suit le danseur, le prêtre ou l’artisan, il n’est plus lui-même mais un ,œil mécanique‘ accompagné d’une ,oreille électronique‘. C’est cet état bizarre de transformation de la personne du cinéaste que j’ai appelé, par analogie avec les phénomènes de possession, la ,ciné-transe‘.“19

Rouch zufolge sind es im Idealfall die Akteure, welche die Kameraführung bestimmen. Der Kameramann ist dann eher ein Reagierender als ein Agierender. Der von ihm im Kontext mit seiner eigenen Kameraarbeit verwendete Begriff der „cinétranse“ dient nicht der Selbststilisierung, sondern der Beschreibung. Bei der von ihm vorgeschlagenen Technik der Kameraführung erfährt sich der Kameramann als Bewegter. Es kommt jener „inverse Aspekt des Handelns“ zum Tragen, den Krings als Merkmal des Erlebens von Trancezuständen ansieht.20 Mit dem Begriff „ciné-

18

Rouch (1979: S. 59), zitiert hier aus einem Artikel, den er selbst 1955 in der Filmzeitung Positif veröffentlicht hatte. Interessanterweise beruft er sich hier auf diesen Text noch einmal, lange nachdem er die Erfahrung machen musste, dass seine eigenen Filme eben nicht wie von ihm intendiert verstanden worden waren.

19

Rouch 1979: S. 63.

20

Krings 1997: S. 32. Krings bezieht sich hier auf Überlegungen zum Begriff „Passiones“ die Lienhardt (1961: S. 151ff) angestellt hat. Vgl. dazu auch Kramer 1984: S. 297-313. Ihre Erklärungen zu den Passiones (dem Erleiden) erscheinen mir gleichermaßen überfrachtet und diffus. Krings Ausführungen zum inversen Aspekt des Handels sind wesentlich konkreter und anschlussfähiger.

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transe“ beschreibt Rouch aber nicht nur die Veränderung des Kameramanns, sondern auch die von Menschen, die wissen, dass sie gefilmt werden. Rouch war dem Phänomen bei der Arbeit an seinem Film CHRONIQUE D’UN ÉTÉ21 auf die Spur gekommen. 1960 hatte er zusammen mit Edgar Morin versucht, sein unmittelbares Pariser Umfeld zu ethnographieren. Dabei überraschte ihn die Beobachtung, dass Menschen vor der Kamera oft viel mehr von sich preisgeben als sonst. Rouch und Morin zeigen auch die ersten Zuschauerreaktionen auf das entstandene Material: Die Selbstentblößungen wirkten auf die Zuschauer eher unangenehm. Am Ende von CHRONIQUE D’UN ÉTÉ analysieren Rouch und Morin ihre Forschung und stellen fest, dass ihr Experiment gescheitert ist, denn es ist ihnen nicht gelungen, die gezeigten Menschen zu schützen, weder vor sich selbst noch vor den Zuschauern. Man darf dem französischen Ethnologen zugutehalten, dass er sich intensiv mit den Möglichkeiten und Risiken, die der Umgang mit dem Medium Film in sich birgt, auseinandergesetzt hat. Insbesondere bei einer vergleichenden Betrachtung seiner Filme scheint die Selbstreflexivität auf, derer Rouch fähig ist, denn er hat seine Vorgehensweise beständig hinterfragt und modifiziert.22 Wie schon Clifford treffend bemerkte, lässt sich das Verhältnis zwischen einer gezeigten Person und dem, der sie zeigt, also dem, der die Kamera in der Hand hat, besonders gut analysieren, wenn der Gezeigte in die Kamera schaut.23 Der Betrachter des entstanden Fotos oder Films kann durch eine Analyse des Blicks des Gezeigten indirekt auf die Position des Zeigenden schließen.24 In LES MAÎTRES FOUS lassen sich zwei Qualitäten des Blicks in die Kamera unterscheiden. Die Exposition des Films hat die Aufgabe, die kulturelle Praktik der Hauka zu kontextualisieren. Rouch will dem Zuschauer einen Einblick in ihre Lebenssituation vermitteln. Interessant ist hier eine Einstellung, die eine Gruppe Arbeiter zeigt, die in einen Schacht hinunterfahren. Mit einem Blick in die Kamera etabliert einer der Arbeiter einen direkten Kontakt mit Rouch, quasi eine Dialogsituation, in der Rouch als Person insofern präsent ist, als ihn der Arbeiter via Kamera mit einem Lächeln adressiert. Wie Schüttpelz richtig bemerkt, richteten die Hauka den Blick auch im Zustand der Besessenheit in die Kamera,25 etwa wenn die Lokomotive ankündigt, dass

21 22

CHRONIQUE D’UN ÉTÉ, Frankreich 1961, R.: Jean Rouch und Edgar Morin. Schon lange vor dem Streitgespräch mit Sembène waren Afrikaner in Rouchs Filmen zunehmend als Koautoren in Erscheinung getreten. Davon, dass er sich intensiv mit Sembènes Vorwurf auseinandergesetzt hat, zeugt sein hier vielfach zitierter, sehr lesenswerter Artikel „La caméra et les hommes“ (Rouch 1979).

23

Vgl. Clifford 1983: S. 118.

24

Auch in dem Film SANS SOLEIL (Frankreich 1983) von Chris Marker hat der Blick in die Kamera eine zentrale Bedeutung.

25

Schüttpelz 2002: S. 270.

42 | S CHWARZ BESETZT

das Ritual im nächsten Jahr doppelt so oft stattfinden soll. Aber der Blick ist hier nicht mehr auf die Person Rouchs gerichtet, hier findet kein Dialog statt. Für die Besessenen ist die Person Rouch irrelevant, er ist nur noch ein aufzeichnendes Medium, durch das sie hindurchschauen wie durch eine Fensterscheibe – Filmschauspieler bezeichnen die unterschiedlichen Qualitäten des Blicks als „Blick in die Kamera“ und „Blick durch die Kamera“. Wenn Rouch die Akteure des Rituals am nächsten Tag bei der Arbeit zeigt, schauen sie wieder durch die Kamera auf ihn. Jetzt treten sie wieder in Dialog mit Rouch. Die antizipierten, aber letztlich fiktiven Kinozuschauer, die Rouch mit seinem Off-Text adressiert, bestimmen wiederum die Verfasstheit seines Kommentars. Bei der Uraufführung im Musée de l’Homme hatte er noch live aus der Vorführerkabine kommentiert. Inwieweit sich die improvisierte Fassung von der endgültigen Fassung unterschied, lässt sich im Rahmen dieser Untersuchung nicht klären. Allerdings ist es nicht unwahrscheinlich, dass sich die Erinnerung an den Skandal bei der Uraufführung von LES MAÎTRES FOUS in dem Kommentar niedergeschlagen hat, der heute den Film begleitet. Auffällig ist jedenfalls, dass Rouch auf weite Strecken im Duktus einer um Rechtfertigung bemühten Erklärung spricht. Es will scheinen, als habe er an der intuitiven Verstehbarkeit seiner Bilder gezweifelt, an jener Prämisse also, die sein Vorgehen als Kameramann bestimmt hat. Wenn Rouch als Kommentator um Verständnis wirbt, klafft ein Hiatus zwischen der Haltung des Kameramanns und der des Kommentators auf. Der Zuschauer erlebt Rouch in zwei Rollen: einmal indirekt als filmenden Feldforscher und dann direkt als einen auf Vermittlung bedachten Wissenschaftler. Da der dadurch bedingte Perspektivwechsel Rouchs deutlich wahrnehmbar ist, kann das Publikum die verschiedenen Phasen der Produktion nachvollziehen. Auf den heutigen Betrachter wirken die Bilder allerdings wesentlich avantgardistischer als der Kommentar. Das mag daran liegen, dass Rouchs Versuch, funktionalistisch anmutende Erklärungen des Rituals zu liefern, dem heutigen Zuhörer manchmal anmaßend erscheint. Während des Rituals bezieht sich Rouchs Kommentar auf die Ausführungen des Priesters Moukayla. Wie Schüttpelz notiert, wären ohne dessen Hilfe viele Details der Performanz der Hauka für Rouch unverständlich geblieben: „Moukayla hat Rouch bei der Herstellung des Films beraten und ihm die Glossolalie der Besessenen übersetzt. Der Kommentar ist daher im Zentrum des Films ,eine Art Drehbuch‘, das einem Experten nachgesprochen ist, der auch das noch durchschaute, was kein Laie sehen oder hören konnte.“26 Die Passagen des Kommentars, die das Ritual beschreiben, korrespondieren direkter mit den Bildern und scheinen noch etwas von Rouchs Befindlichkeit während des Rituals zu bewahren. Das mag daran liegen, dass er sich auch hier

26

Schüttpelz 2002: S. 249/250.

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leiten lässt, diesmal von dem Priester Moukayla – Rouch ist auch hier nur ein Medium. Zur Deutung des Rituals Das Unterfangen, den Forschungsstand zu LES MAÎTRES FOUS aufzuarbeiten, wäre aussichtslos, zu keinem anderen Film, der hier Gegenstand der Untersuchung ist, haben so viele Wissenschaftler gearbeitet wie zu diesem. Obwohl viele Autoren LES MAÎTRES FOUS unter der Überschrift „ethnologischer Dokumentarfilm“ rezipiert haben, lässt sich doch oft eine spezifische Vorgehensweise im Umgang mit afrikanischen Performanzen nachweisen, die sich auch bei der Rezeption der hier behandelten Spielfilme erkennen lässt. Einige dieser Forschungsansätze sollen deshalb im Folgenden problematisiert werden. Paul Stoller stellt seine Auseinandersetzung mit Rouchs filmischer Repräsentation des Besessenheitsrituals in den Rahmen eigener Erkundungen im Feld. Auf den Spuren Rouchs tritt er den Weg zurück an, dahin, wo LES MAÎTRES FOUS entstanden ist. Sein Buch The cinematic griot. The ethnography of Jean Rouch ist ganz von der Wertschätzung dieses Ethnologen und Regisseurs getragen.27 Dem Film LES MAÎTRES FOUS allerdings steht Stoller kritisch gegenüber: „One of the problems with Les maîtres fous is that it depicts only a limited aspect of colonial history in West Africa.“28 An anderer Stelle schreibt er: „These contextualizing issues are missing in Les maîtres fous.“29 Stoller geht von der Prämisse aus, dass die Performanz der Hauka nicht für sich selbst stehen kann, und ergänzt in seinen eigenen Ausführungen die seiner Meinung nach lückenhafte Kontextualisierung Rouchs. Dabei drängt sich gelegentlich der Eindruck auf, dass sich Stoller genötigt sieht, eine als schockierend empfundene Praxis zu rechtfertigen, womit er die Hauka quasi entmündigt. Viele Autoren haben die Deutung des Rituals am Verzehr des Hundes festgemacht. Fritz Kramer zum Beispiel deutet die Mahlzeit als Ausstieg aus dem Normenkanon der Kolonialherren, als einen ritualisierten Tabubruch, mit dem die Angehörigen des Geheimbundes das Trauma wiederholt erlebter Tabubrüche im kolonialen Machtgefüge verarbeiten.30 Im Rahmen dieser Untersuchungen ist es wichtig festzuhalten, dass mit dem Verzehr des Hundes ganz offensichtlich eine Kollision

27

Vgl. Stoller 1992: S. 6.

28

Stoller 1992: S. 156.

29

Stoller 1992: S. 156.

30

Diese Interpretation legt Rouch durch seinen Kommentar nahe. Kramer meint, dass das Anderssein der europäischen Kolonialherren durch den Bruch von deren Normen gleichermaßen gedoppelt werde. Vgl. Kramer 1987: S. 136.

44 | S CHWARZ BESETZT

von afrikanischen und europäischen Normen zur Darstellung kommt: Sie wird auch bei den im Folgenden untersuchten Übernahmen sozialer weißer Rollen von zentraler Bedeutung sein. Forschungsansätze, welche die Bedeutung des kolonialen Kontextes der Perfomanz der Hauka herausstellen, könnte man mit Krings folgendermaßen resümieren: „Alle [diese] Ansätze nehmen im weitesten Sinne auf die Korrelation zwischen soziokulturellem Wandel und dem ‚Auftreten‘ einer Kategorie von ‚Fremdgeistern‘ Bezug, die mit den Agenten des Wandels identifiziert wird.“31 Das Anliegen, damit eine Erklärung für die Besessenheit von Europäergeistern zu finden, birgt allerdings die Gefahr in sich, dass der Kausalnexus zu eng geknüpft wird, fast als wäre der Zusammenhang zwischen Kolonialisierung und Besessenheitsritual ein mechanischer. Das kann dazu verleiten, die Performanz der Hauka als Symptom wahrzunehmen, nicht als kulturelle Leistung. Fritz Kramer hat es sich zur Aufgabe gemacht, dem kreativen Aspekt kultureller Praktiken nachzuspüren, in denen Fremdgeister im Zentrum stehen. Er will sie mit den Werkzeugen der Hermeneutik untersuchen, genauer mit Theorien aus Kunstund Literaturwissenschaft. Kramer wählt deswegen den Terminus „Mimesis“ als zentralen Begriff seiner Untersuchung: „Ich möchte [...] in der europäischen Tradition zurückgehen, auf den Begriff der Mimesis, als einen Inbegriff des ‚Irrationalen‘, in dem sich kein Widerspruch zwischen ‚Kreativität‘ und ‚Besessenheit‘ einstellt.“32 Mit Mimesis beschreibt er eine Bewältigungsstrategie, die er als Reaktion auf eine „Überwältigung“33 durch das Fremde, den Anderen erklärt. Nach Kramer entsteht Mimesis bevorzugt, „wo die Kulturen sich mischen“.34 „Es entsteht eine Gestalt, die den Anderen durch Mimesis interpretiert.“35 Aber mit dieser engen Verknüpfung von Ursache und Wirkung läuft Kramer selbst wieder Gefahr, der kulturellen Praktik „Besessenheit“ nur den Status eines Symptoms zuzubilligen. Dass er einen Automatismus postuliert, läuft seinem ursprünglichen Anliegen, der Kreativität auf die Spur zu kommen, zuwider. Da Kramer die mimetische Auseinandersetzung mit dem Anderen als „Zwang“ bezeichnet,36 leistet er einem Alteritätskonstrukt Vorschub: Er macht damit nämlich hinsichtlich des Produktionsanlasses einen Unterschied zwischen der traditionellerweise von der Literatur- und

31

Krings 1997: S. 131. Krings referiert hier die Literatur, die sich mit dem Auftreten der Besessenheit von Fremdgeistern im Allgemeinen auseinandersetzt. Was er hier konstatiert, lässt sich aber auch auf die Literatur beziehen, die sich dem Film LES MAÎTRES FOUS widmet.

32

Kramer 1987: S. 240.

33

Kramer 1987: S. 243.

34

Kramer 1987: S. 243.

35

Kramer 1987: S. 243.

36

Kramer 1987: S. 233, 243 und 244.

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Kunstwissenschaft untersuchten Kreativität und den von ihm untersuchten Praktiken.37 Die Aussagen der Wanderarbeiter in LES MAÎTRES FOUS scheinen dieser Betrachtungsweise Vorschub zu leisten. Denn alles deutet darauf hin, dass es ein Leidensdruck war, der sie bewog, dem Geheimbund der Hauka beizutreten, um sich den Fremdgeistern als Medien zur Verfügung zu stellen. Im Rahmen seiner Feldforschung bei den Hausa in Nigeria konstatiert Krings nach umfangreichen Befragungen zum Thema Bessenheit ebenfalls, dass Personen, die als potentielle Medien gelten, „Krankheit und Leid zugleich als Strafe und Vokation durch die Geister“ ansehen.38 Das Wissen um die psychische Verfasstheit potentieller Medien sollte allerdings nicht dazu verführen, eine Alterität des Produktionsanlasses zu konstruieren, der eine Trennung zwischen Hauka und westlichen Künstlern evoziert. Dass derartige Differenzierungen per se völlig unhaltbar sind, befand zum Beispiel Christoph Schlingensief, als er 2003 anlässlich der Ausstellung „Zeige deine Wunde – Befreiende Kunst. Psychiatrieerfahrene stellen aus“39 als Mitglied einer Jury berufen wurde, die drei Preisträger bestimmen sollte. Schlingensief lehnte mit der Begründung ab, dass ein in diesem Rahmen ausgezeichneter Künstler „nicht als Künstler, sondern als Behinderter, bestenfalls als behinderter Künstler wahrgenommen [wird]. Während in der Kunstszene sehr viele herumtoben, die froh sind, Kunst zu schaffen, um nicht in der Psychiatrie zu landen.“40 Schlingensief weiß, dass die vorgegebene Rahmung ein Alteritätskonstrukt begünstigt, das zum einen nicht mit realen Unterschieden korrespondiert und zum anderen verhindert, dass die Werke so gewürdigt werden wie in der offiziellen Kunstszene. In einer exklusiv für Künstler mit Psychiatrieerfahrung konzipierten Ausstellung wird Kreativität zum Krankheitsbild, Schlingensief rät den als „psychiatrieerfahren“ etikettierten Künstlern deshalb, „Raus aus dem Ghetto“,41 und schlägt vor, die Bilder im Gropius-Bau auszustellen. Einige der jüngeren afrikanischen Regisseure empfinden auch die Kategorie „afrikanischer Film“ als ein Ghetto.42 In dieser Kategorie werden ihre

37

Krings (1997 S. 52) verweist darauf, dass Kramer seine diesbezüglichen Feststellungen an anderer Stelle wieder relativiert hat.

38

Krings 1997: S. 37.

39

Der Titel rekurriert auf die berühmte Installation „Zeige deine Wunde“ von Joseph Beuys (1974/75 heute im Lenbachhaus München). Beuys hat sich intensiv mit dem heilenden Potential von Kunst auseinandergesetzt.

40

Schlingensief 2003: S. 16.

41

Vgl. Schlingensief 2003: S. 17.

42

Dass die Etikettierung „afrikanischer Film“ zur Marginalisierung der Filme beiträgt, thematisiert z.B. Jean-Pierre Bekolo in seinem Film LE COMPLOT D’ARISTOTE, vgl. Teil III, Kap. 10.1, S. 333-347. Vgl. dazu auch Seye [1996] 1997: S. 236 und Gutberlet 2004a: S. 120.

46 | S CHWARZ BESETZT

Filme meist mithilfe des Interpretationsschemas „Verweis auf ein spezifisch afrikanisches Problem“ betrachtet. Womit auch bei der Untersuchung afrikanischer Spielfilme wieder der „symptomatische“ Aspekt in den Vordergrund tritt, denn die Filme gelten dann in erster Linie als Beleg und Bestätigung dafür, dass der Kontinent krankt. Wer je eine Diskussion im Rahmen afrikanischer Filmreihen moderiert hat, weiß, zu welch paternalistischen Exzessen diese Perspektive westliche Zuschauer verleitet: Sie grenzen sich als „nicht betroffen“ ab und gerieren sich in Diskussionen, die kaum noch etwas mit dem gezeigten Film zu tun haben, als Überlegene. Abwehrreaktionen und das Bedürfnis, sich abzugrenzen, lassen sich insbesondere im Rahmen von Diskussionen im Anschluss an Vorführungen von LES MAÎTRES FOUS beobachten. So auch auf einer Tagung der Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt.43 Die Ethnologin Ute Röschenthaler hatte einführend die rituelle Praktik der Besessenheit von Fremdgeistern behandelt. Eben dieses Thema griff das Publikum nach dem Film auf. Das Ritual der Hauka steht als Manifestation eines „fremden Blicks“44 auf die westliche Kolonialmacht im Zentrum des wissenschaftlichen Interesses. Paradoxerweise drängt sich aber der Eindruck auf, dass Afrikaner westlichen Wissenschaftlern gerade dann besonders fremd erscheinen, wenn sie in Trance von einem Europäergeist besessen sind, so auch in der nun folgenden Diskussion. Was das akademische Publikum besonders befremdet hatte, war der Umstand, dass die Hauka anscheinend jede Kontrolle über ihr Selbst verloren hatten. Röschenthaler wies darauf hin, dass es wohl auch bei westlichen Schauspielern weitreichende Kontrollverluste geben könne. Ihnen sei nämlich früher, wenn sie nach einer Premiere einen Mord begingen, der „Idiotenparagraph“ zugestanden worden, denn sie hätten als unzurechnungsfähig gegolten.45 Ein Zuschauer wandte ein, die Tatsache, dass die Hauka brennenden Fackeln und kochendem Wasser gegenüber unempfindlich seien, ließe doch darauf schließen, dass hier etwas substantiell anderes vor sich ginge als bei westlichen Performanzen. Hier gab ich zu be-

43

„Mimikry/Mimese. Gefährlicher Luxus zwischen Natur und Kultur“, Tagung des Graduiertenkollegs „Zeiterfahrung und ästhetische Wahrnehmung“, 29.09.-01.10.2005, Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main.

44

Auch Kramer behandelt Besessenheit von Europäergeistern unter dem Thema des „fremden Blicks“. Vgl. Kramer 1987: S. 7f.

45

Vom Idiotenparagraphen, der für Schauspieler nach Premieren gegolten haben soll, ist auch mir am Theater wiederholt berichtet worden. Ob es sich hierbei um eine Mythenbildung handelt oder ob sich diese Rechtsprechung tatsächlich nachweisen lässt, konnte ich leider nicht ermitteln. Wie dem auch sei: Es ist aufschlussreich, dass diese Geschichte immer wieder kolportiert wird, denn auch, wenn es vielleicht nie eine juristische Sonderbehandlung von Schauspielern gegeben hat, erzählt das zählebige Gerücht doch einiges über den Zustand von Schauspielern nach Premieren.

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denken, dass zahlreiche Schauspieler von einer rätselhaften Unempfindlichkeit gegen Schmerzen während einer Theateraufführung berichten.46 Eva Horn bezeichnete meinen Einwand als eurozentrisch, sie sei der Ansicht, dass sich westliche Schauspieler in ihre Rolle versenken würden, und das sei nicht mit der Trance der Hauka vergleichbar.47 Doch der Vergleich zwischen Schauspiel und Besessenheit ist durchaus fruchtbar. Nicht nur um das Konstrukt der Alterität afrikanischer Besessenheitskulte zu destabilisieren, sondern auch, weil sich so Überlegungen zur schauspielerischen Inspiration anstellen lassen, was im Hinblick auf die Analyse von Übernahmen weißer Rollen von besonderem Interesse ist. Zu Praktiken der Performanz Wie die Hauka für ihr Ritual benötigen auch Schauspieler für ihre Rollenübernahme einen formalisierten Rahmen: Dazu gehören in beiden Fällen ein geschützter Raum, eine spezielle Kleidung und Requisiten. Sowohl bei der Rollenübernahme wie auch bei Besessenheit kommt einer externen, also einer nicht an der eigentlichen Performanz beteiligten Instanz eine wichtige Funktion zu. Bei der Rollenübernahme entscheidet der Regisseur, ob und wie ein Schauspieler eine Rolle übernimmt, beim Besessenheitsritual der Hauka entscheiden die Priester, ob ein Adept zum Ritual zugelassen wird. Die Priester sind es auch, die über die ordnungsgemäße Durchführung des Rituals wachen.48 Es stellt sich aber die Frage, ob die Kategorien Schauspieler, Rolle und Figur zur Analyse der Performanz der Hauka taugen, denn die Hauka selbst differenzieren zwischen Hauka, Fremdgeist und Medium. Mit dem Begriff Hauka sind die Angehörigen des Geheimbundes bezeichnet, Fremdgeister sind zum Beispiel der Komandan Mougou oder die Lokomotive, und als Medien gelten diejenigen Hauka, die sich im Zustand der Besessenheit von einem Fremdgeist befinden. Festhalten lässt sich, dass es sich in beiden Fällen um eine Trias handelt. Die Trias Schauspieler, Rolle und Figur dient dazu, den

46

Ich selbst wurde als Gräfin Almaviva während einer Aufführung von Der tolle Tag (Beaumarchais) von einem falsch installierten Feuerwerkskörper unter dem Kinn getroffen. Ich bin noch nicht einmal erschrocken und habe den Unfall erst realisiert, als mich meine entsetzten Kollegen in der Garderobe in Empfang nahmen. Von ähnlichen Ereignissen können viele Schauspieler berichten.

47

Eva Horn hat im Rahmen der Tagung ebenfalls einen Vortrag gehalten. Leider hatte ich keine Gelegenheit nachzufragen, was sie in diesem Zusammenhang unter Versenkung versteht.

48

Zu den Ausführungen des Priesters Moukayla während des Rituals schreibt Schüttpelz signifikanterweise: „Die Fremdbestimmtheit der Trancen, ihre Unkontrollierbarkeit, wird als Regieanweisung im Idiom der Kontrolle verbalisiert.“ Schüttpelz 2002: S. 250.

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Prozess der Rollenübernahme zu beschreiben, die Trias Hauka, Fremdgeist und Medium49 findet Verwendung, um die Vorgänge im Rahmen eines Besessenheitsrituals zu schildern. Im Zentrum dieser Untersuchung stehen Figuren, die dadurch entstanden sind, dass schwarze Schauspieler weiße Rollen übernommen haben. Die Hauka werden jedoch nach eigener Aussage von Fremdgeistern besessen. Der größte Unterschied zwischen Rollenübernahme und Besessenheit scheint also darin zu bestehen, dass die Rollenübernahme als aktive Handlung gilt, die Teilnehmer von Besessenheitsritualen jedoch berichten, dass sie sich nur als Medien zur Verfügung stellen, während ein Geist die Führung übernimmt. Anschaulich sind hier die emischen Kategorien, die Krings referiert; einige der potentiellen Medien bezeichnen sich selbst als Rösser und ihre Geister als Reiter: „Die Beziehung zwischen Medien und Geistern wird in der Metaphorik von ‚Ross und Reiter‘ ausgedrückt.“ Die „rituelle Repräsentation“ wird mit einem Ritt verglichen.50 Die Hauka legen vor ihrem Eintritt in die Trance eine Beichte ab. Unzureichende Körperpflege und der Beischlaf mit der Frau eines Kameraden gelten als Pflichtverletzung. Ein Beichtender gibt zu, die Existenz der Europäergeister bezweifelt zu haben, in den Augen der Hauka ist dies ein besonders gravierendes Vergehen. Da sich die Hauka einem Europäergeist als Medium zur Verfügung stellen wollen, darf keine kritische Distanz bewahrt werden, denn der vorbehaltslose Glauben an die Geister ist die Voraussetzung für den unbedingten Gehorsam, der den Geistern zu leisten ist. Die Hauka sind also vor dem Ritual aufgerufen, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen. Die Konfrontation mit sich selbst und den sozialen Rollen des Alltags ist nach Meinung zahlreicher Schauspielpädagogen auch für Schauspieler unabdingbar. Sie müssen sich mit Angewohnheiten und Blockaden auseinandersetzen, die ihnen bei Rollenübernahmen im Weg stehen könnten. Bezeichnenderweise heißt der erste Band einer als Trilogie geplanten Lehrbuchreihe

49

Krings wies mich daraufhin, dass genau genommen nicht die Adepten des Kultes Hauka heißen, sondern die Geister, von denen die Medien im Ritual besessen sind. Allerdings bezeichnet Rouch selbst die Adepten des Kultes in seinem Film als Hauka und die große Mehrheit der Wissenschaftler ebenfalls. Damit meine Ausführungen anschlussfähig bleiben, behalte auch ich die allgemein gebräuchliche Bezeichnung bei. Trägt man der genauen Bezeichnung von Krings Rechnung, ergäben sich folgende Entsprechungen in der jeweiligen Trias. Dem Begriff „Schauspieler“ entspräche der Begriff „Adept des Kultes“, dem Begriff „Rolle“ entspräche der Begriff „Hauka“ (also die kollektive Vorstellung vom Geist), dem Begriff „Figur“ entspräche der Begriff „Medium (im Zustand der Besessenheit von einem Hauka) während des Rituals“.

50

Krings 1997: S. 36. In einer Fußnote bemerkt Krings, dass diese Metapher gelegentlich invertiert wird, was auf die ambivalente Beziehung zwischen den Adepten des Kultes und den Geistern hinweise.

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für Schauspieler von Konstantin Stanislawski: „Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst“.51 Erst der zweite Band heißt „Die Arbeit des Schauspielers an der Rolle“.52 Die Methode von Stanislawskis Kollegen Lee Strasberg war und ist (heute jedoch meist in modifizierter Form) in Hollywood besonders erfolgreich. Strasberg ist ebenfalls von der Notwendigkeit einer Selbstrevision vor dem Einstieg in eine Rolle überzeugt. Im Vorwort zur deutschen Ausgabe eines Lehrbuchs für Schauspieler, das Strasberg verfasst hat, schreibt George Tabori, ein Anhänger der sogenannten Strasberg-Methode: „Wenn das beste aller Klaviere nicht gestimmt ist, wird es scheußlich klingen, selbst wenn Horowitz Chopin spielt. Der Schauspieler ist sein eigenes Klavier. [...] Ein gestimmtes Klavier kann Bach spielen oder Charlie Parker. Wonach Strasberg suchte, waren die Mittel, anhand derer der Schauspieler tun kann, was immer das Stück und der Regisseur von ihm verlangen, ohne dass er verrückt wird, wenn er in dem schwarzen Loch zwischen sich und der Rolle verschwindet.“53

Taboris Metapher vom Schauspieler als Klavier ist der vom Ross, das von einem Geist bestiegen wird, nicht unähnlich. In LES MAÎTRES FOUS kann der Zuschauer die Hauka beim Einstig in die Trance beobachten und kommt so kaum umhin, festzustellen, dass dies eine kulturelle Praktik mit besonders weitreichender körperlicher und psychischer Implikation ist. Die schwarzen Löcher, die Tabori erwähnt, lassen sich in Hollywood-Filmen kaum noch ausmachen, denn die meisten Regisseure präsentieren den Zuschauern nur die fertige Figur. Die Performanz der Hauka unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht von Performanzen in Hollywood-Filmen, schon weil die Ästhetik eine ganz andere ist. Aber auch im Westen gibt es Darstellungspraktiken, deren Ästhetik sich deutlich von der des Hollywood-Kinos unterscheidet, man denke nur an die Theaterexperimente des 20. Jahrhunderts. Die häufig beschworene Differenz zwischen der kulturellen Praktik der Hauka und westlichen Darstellungspraktiken erscheint Theaterschaffenden wie Peter Brook denn auch weniger als fundamentale, sondern eher als relative.54 Es bleibt allerdings die Frage, ob sich die Kategorien Geist und Rolle vergleichen lassen. Krings widmete der emischen Perspektive potentieller Medien während seiner Feldforschung in Nigeria viel Aufmerksamkeit. Sie schilderten ihm Begegnun-

51

[Stanislawski] Stanislavskij [1948] 1996. Die Transkription „Stanislawski“ ist üblicher als die vom Verlag gewählte und wird hier deshalb im Text beibehalten.

52

Stanislawski [1948] 1988.

53

Tabori 1988: S. 16/17.

54

Peter Brook und seine Schauspieler haben den Film LES MAÎTRES FOUS während ihrer Arbeit an der Inszenierung von Peter Weiss’ Theaterstück Marat/Sade genutzt.

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gen mit dem Geist, der dann im Ritual von ihnen Besitz ergreift.55 Westlichen Schauspielpädagogen ist daran gelegen, Möglichkeiten der Inspiration zu erkunden, dabei ist ebenfalls vom Geist einer Rolle die Rede. Stanislawski bedient sich einer Metaphorik, die signifikante Ähnlichkeit mit der Schilderung der Hauka aufweist, er spricht von einer ersten „Bekanntschaft mit der Rolle“.56 Interessant sind auch die Betrachtungen des Schauspielpädagogen Michail A. Cechov zur ersten Annäherung des Schauspielers an seine Rolle.57 Er spricht von einem aktiven „Erwarten“ der Rolle. Dies soll folgendermaßen vonstattengehen: „Was können Sie während der Wartezeit tun? Befragen Sie die Gestalten, die zu Ihnen kommen, genauso, wie Sie Ihre Freunde befragen. [...] Mit ihren Fragen wollen Sie zugleich sehen, was Sie erfragen. Sie schauen hin und warten [Hervorhebung im Original].“58 Die Rolle kann so für Schauspieler an Realität gewinnen. Wie Krings berichtet, werden auch neue Fremdgeister (also solche die noch nicht in Erscheinung getreten sind) befragt, um zu ermitteln, ob dieser Geist wirklich existiert.59 Erst wenn der Geist einer solchen Befragung standgehalten hat, darf er sich im Ritual manifestieren. Es geht hier nicht darum zu behaupten, dass sich alle Schauspieler im Zuge einer Rollenübernahme okkulten Praktiken ergeben. (Es sei allerdings angemerkt, dass während der Schauspielausbildung und in Workshops nicht selten Praktiken angewandt werden, die aus ethnologischer Sicht als okkult zu qualifizieren wären, und dass sehr viele Schauspieler esoterischen Strömungen zugeneigt sind.) Es gilt auch nicht zu beweisen, dass die Hauka einer Täuschung erliegen und in Wirklichkeit agieren, anstatt bewegt zu werden. Im Kontext der Untersuchung von Übernahmen weißer Rollen ist es vielmehr wichtig, darauf hinzuweisen, dass die schauspielerische Arbeit häufig nichts mit bewusster Aktion, sondern eher etwas mit passivem „sich überlassen“ zu tun hat. Das ist für die Untersuchung der anderen Filme insofern relevant, als daraus zu folgern ist, dass bei Übernahme von weißen Rollen nicht nur Intendiertes zum Tragen kommt, sondern auch Unbewusstes. Aufschlussreich sind hier die Aussagen eines der wenigen Verfechter einer bewusst kontrollierten Methode der Rollenübernahme. Bertolt Brecht kritisiert das bürgerliche Theater bezeichnenderweise so: „Diese Berauschungen sind von denen, der von uns mit Befremden Belauschten, die sich durch tanzen in Trance versetzen, nicht artmäßig

55

Die Berichte von der Begegnung mit dem Geist hat mir Matthias Krings in einem der

56

Eine der Kapitelüberschriften Stanislawskis heißt: „Die erste Bekanntschaft mit der

vielen Gespräche geschildert, die wir über Besessenheitsrituale geführt haben. Rolle“. Stanislawski [1948] 1988: S. 12-26. 57

Cechov verhandelt hier die erste Auseinandersetzung mit der zu spielenden Rolle unter dem großen Überthema „Konzentration und Imagination“. Vgl. Cechov 1990: S. 13.

58

Cechov 1990: S. 16.

59

Vgl. Krings 1997: S. 48/49.

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verschieden.“60 Das ist mehr als Polemik, denn der kundige Theaterpraktiker Brecht bemerkt zu Recht, dass es Schauspieltechniken gibt, die darauf zielen, dass der Schauspieler die Kontrolle aufgibt.61 Allerdings lässt sich von Seiten der Wissenschaft eine verständliche Scheu diagnostizieren, die diesbezüglichen Vorgänge zu analysieren. Jens Roselt schlägt zur Untersuchung der schauspielerischen Abläufe folgende Frage vor: „In welcher Weise werden die Körper der Schauspieler eingesetzt?“62 Aber wer setzt sie ein? Die Schauspieler, der Regisseur? Wenn ein Schauspieler Körper oder Stimme bewusst einsetzt, bekommt er nicht selten folgende Kritik zu hören: „Du machst da gerade was, lass es lieber einfach kommen.“ Bei den meisten Rollenübernahmen kommt das zum Tragen, was Krings den „inverse[n] Aspekt des Handelns“63 nennt, um das Erleben des Bewegtwerdens im Zustand der Besessenheit wissenschaftlich fassen zu können. Je nach Methode und Disposition des Schauspielers fühlt sich dieser mehr oder weniger bewegt. Die diesbezüglichen Techniken können Fähigkeiten freisetzen, über die der Schauspieler im Alltag nicht verfügt. Dies ist auch ein wichtiger Aspekt bei Besessenheitsritualen. Denn der Sonderstatus von Besessenen ist dadurch legitimiert, dass sie „übernatürliche“ Fähigkeiten entwickeln.64 Alle in diesem Abschnitt zitierten Theoretiker des Schauspiels sind „Klassiker“ der westlichen Schauspielausbildung, aber man braucht keine formale Schauspielausbildung, um die Facetten zwischen mehr oder weniger kontrollierter Performanz auszuloten. Dass nur die wenigsten Darsteller, die in afrikanischen Filmen mitspielen, auf einer Schauspielschule waren, heißt nicht, dass sie nicht in der Lage wären, sich mit den komplexen Vorgängen auseinandersetzen, die bei einer Rollenübernahme zum Tragen kommen. Ob diese Vorgänge immer bewusst reflektiert werden, lässt sich allerdings schwer ermitteln, nicht nur bei afrikanischen „Laien“, sondern auch bei europäischen „Profis“.

60

Brecht [1937-1951] 1994: S. 788.

61

Das ist ein zentrales Thema in Brechts Theatertheorie. Brecht gebraucht in diesem Zusammenhang sehr häufig den Begriff „Trance“, z.B.: Brecht [1937-1951] 1994: S. 812 und Brecht [1948] 1994: S. 40.

62

Roselt 2005: S.105.

63

Krings 1997: S. 32.

64

In LES MAÎTRES FOUS sieht man, wie bereits erwähnt, dass sich die Medien mit brennenden Fackeln den Körper abfahren. Matthias Krings hat mir von Sprüngen aus großer Höhe und Ähnlichem berichtet.

52 | S CHWARZ BESETZT

Zur Performanz der Hauka Die Spannungsverhältnisse im Körper der Hauka verändern sich beim Einstieg in die Trance radikal. Dies manifestiert sich zunächst durch ein Zucken in den Beinen. Ein Medium erhebt sich. Seine Kniegelenke scheinen versteift. Auch die Bewegungen der anderen Medien scheinen durch eine partielle Immobilität bestimmt – Resultat einer extrem hohen Muskelspannung, die sich auch dadurch zeigt, dass immer wieder Spasmen die Glieder bewegen. Schaum tritt aus dem Mund. Auch Blick, Stimme, Sprachduktus und Bewegungsabfolge sind von dieser körperlichen Verfasstheit bestimmt. Die Bewegungen gehen nicht mehr fließend ineinander über, die Übergänge scheinen abrupt, was einen Eindruck des Ferngesteuerten, des Maschinellen vermittelt. Häufig verharren die Medien auch in einer äußeren Immobilität, aber gerade dann vermittelt sich ihr intensives Erleben innerer Vorgänge. Hickethier hat die Adjektive extensiv und intensiv gebraucht, um Mimik und Gestik von Theater- und Filmschauspielern zu unterscheiden.65 Die Performanz der Hauka ist beides – intensiv und extensiv – in einem für den Betrachter fast unerträglichen Ausmaß. Dies erklärt die Faszination, die LES MAÎTRES FOUS bis heute ausübt, und die aufgeregten Debatten, die dieser Film immer noch auslöst. Erst nach und nach zeigt sich, welches Medium von welchem Fremdgeist besessen ist. Für die Zuschauer treten am deutlichsten Kaporal Gardi, Madame Locotoro, Kommandan Mougou, und die Lokomotive in Erscheinung. Wichtige Anhaltspunkte bieten dabei Kleidungsstücke und benutzte Gegenstände. Madame Locotoro trägt ein langes weißes Gewand. Die Militärs erkennt man an den Versatzstücken von Uniformen. Immer wieder tauchen Holzgewehre auf. Die Auswahl der Accessoires wirkt nicht beliebig, vielmehr eignet ihnen eine große Prägnanz, hinter der man die Signifikanz innerhalb eines unbekannten Systems zu ahnen glaubt. Das Prinzip der Ausstattung ließe sich als pars pro toto fassen. Sie ist durch Weglassungen gekennzeichnet, wodurch der Blick auf das Detail gelenkt wird. Kramer glaubt, hier etwas zu entdecken, das für den „fremden Blick“ auf die westliche Kultur spezifisch sei:66 „Der Blick von außen heftet sich an die Oberfläche der Erscheinungen, an die Außenhaut der Dinge, ohne sich um die Ordnung zu kümmern, die sie in sich selbst haben; er isoliert das Detail, das sich unter diesem Blick zum suggestiven Bild, ja sogar zur eigenständigen Macht steigert. Statt der Ordnung, der Struktur oder des Systems offenbart sich hier die Gewalt des

65

Hickethier [1993] 2001: S. 175.

66

Vgl. Kramer 1987: S. 234.

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Sichtbaren, der Einzelheit. Meist sind es kleine unscheinbare Dinge in der von außen wahrgenommenen Wirklichkeit, die den fremden Beobachter besessen machen.“67

Allerdings lassen sich die von Kramer in den Blick genommenen Phänomene nicht nur beobachten, wenn Fremde auf die westliche Kultur blicken. Erika FischerLichte konstatiert in ihrer Untersuchung zur „Ästhetik des Performativen“ ganz allgemein, dass der Blick auf die Oberfläche von Dingen als Sinnesreiz eine starke Reaktion auslösen kann: „Mit dem Begriff Sphären der Anwesenheit ist offenbar ein spezifischer Modus von Gegenwärtigkeit von Dingen gemeint. [Gernot] Böhme erläutert ihn näher als ‚Ekstase der Dinge‘, als die Art und Weise, auf die ein Ding dem Wahrnehmenden in besonderer Weise als gegenwärtig erscheint. Dabei sind nicht nur die Farben, Gerüche oder wie ein Ding tönt, als Ekstasen gedacht, also die sogenannten sekundären Qualitäten eines Dings, sondern auch seine primären Qualitäten wie die Form. ‚Die Form eines Dinges wirkt [...] auch nach außen. Sie strahlt gewissermaßen in die Umgebung hinein, nimmt dem Raum um das Ding seine Homogenität, erfüllt ihn mit Spannungen und Bewegungssuggestion‘.“68

Diese „Ekstase der Dinge“, ihr Potential, Räume mit Spannungen und Bewegungssuggestionen zu füllen, nutzen auch Schauspieler, um sich bei der Übernahme von Rollen inspirieren zu lassen. Bei der Analyse von Übernahmen weißer Rollen wird deshalb der Betrachtung von Gegenständen besondere Aufmerksamkeit zu widmen sein. Das gilt insbesondere bezüglich der gewählten Kleidungsstücke, da diese in besonderem Maße Bewegung suggerieren, manchmal – man denke nur an Stöckelschuhe – auch erzwingen. Die Auswahl von Gegenständen setzt große Sensibilität voraus. Regisseur, Ausstatter, Kostümbildner oder der Schauspieler selbst müssen solche auswählen, die starke Emotionen evozieren, die sich dann quasi ohne eigenes Zutun im Körper manifestieren können. In diesem Kontext sind auch Schüttpelz’ Betrachtungen zur Bedeutung der Fahne in LES MAÎTRES FOUS interessant. Mitten im Ritual steigt Rouch gewissermaßen aus und zeigt dem Kinopublikum eine Zeremonie des britischen Militärs, bei der zahlreiche Zuschauer zugegen sind. Unter ihnen seien auch Hauka, berichtet Rouch im Kommentar. Die der britischen Fahne gewidmete Zeremonie heißt „Trooping the colour“. Schüttpelz hat unter diesem Stichwort in der Chamber’s Encyclopaedia aus dem Jahre 1964 nachgeschlagen: Die Soldaten zögen an der Fahne vorüber, „so that every man shall see

67

Kramer 1987: S. 10.

68

Fischer-Lichte 2004: S. 202. Sie zitiert Gernot Böhme 1995: Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt am Main: S. 80.

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it and thus be able to recognize it“.69 Der Artikel beschreibt die Zeremonie als „a wonderful performance of precision of marching“.70 Performanzen jenes akzentuierten „slow march“ lassen sich immer wieder im Ritual der Hauka erkennen, genauso wie das militärische Salutieren, das in der britischen Fahnenzeremonie von zentraler Bedeutung ist. Schüttpelz konstatiert, dass sich Drill und Trance zwar bezüglich der psychosomatischen Bedingungen und der sozialen Organisationsformen unterschieden, die jene unterschiedlichen Körpertechniken hervorgebracht haben, nichtsdestotrotz seien signifikante Analogien feststellbar: „Wenn man noch weiter gehen will, könnte man sogar sagen, dass hier eine bestimmte Möglichkeit der ‚Fremdsteuerung‘ – Trance – eine ganz anders ausgerichtete ‚Fremdsteuerung‘ erscheinen lässt, die Herstellung uniformer Personen, deren Bewegungsabläufe von fremden Stimmen (den Kommandos) und äußeren Bildern (den Formationen) vorgezeichnet werden, so dass auch die Bewegungen des Militärs weniger Handlungen sind als die Effekte fremder Handlungen, ‚Befehlsnotstand‘. Was man in der Trance zu sehen bekommt, sind keine Handlungen, sondern nur die Effekte von Handlungen, die Äußerlichkeit eines Bewegtwerdens oder Folgeleistens.“71

Die meisten Hauka sind von militärischen Fremdgeistern besessen. Doch Guerba ist als Lokomotive vom Geist der Technik beseelt, ihn haben die Bewegungen der Kolben und Räder inspiriert. Die Körpersprache der Trance erschließt sich bei mehrmaliger Sichtung von LES MAÎTRES FOUS zunehmend, einiges freilich ist ohne die Erklärungen Rouchs kaum zu verstehen, und trotz eingehender Beschäftigung mit dem Film bleibt ein hermetischer Rest: Der Performanz der Medien eignet etwas Autonomes, das sich zwar gegen eine Dechiffrierung im engen Sinne sperrt, aber dennoch Assoziationen wachruft. Die Bewegungen der Hauka sind immer prägnant, und sie wirken nie beliebig, aber es will scheinen, als ob nicht jede Geste zu entschlüsseln sei. Dem Theaterwissenschaftler Alexander Kuba zufolge lassen sich Gesten als reproduzierbare Haltungen und Bewegungen des menschlichen Körpers, seiner Glieder und des Gesichts bestimmen, denen, um als solche wahrgenommen werden zu können, das Merkmal signifikant zukommen muss.72 Im konkreten Fall bewegt man sich aber häufig in einer Grauzone, denn die Signifikanz der wichtigsten Gesten ist, auch wenn es sich um westliche Performanzen handelt, oft eher erahnt, denn gewusst. Strasberg beschreibt die Gesten der be-

69

Schüttpelz 2002: S. 261.

70

Schüttpelz 2002: S. 260.

71

Schüttpelz 2002: S. 252.

72

Kuba 2005: S. 129.

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rühmten Schauspielerin Eleonora Duse in Ibsens Stück Die Frau vom Meer folgendermaßen: „[...] und plötzlich tritt ihr die ganze verdrängte Vergangenheit vor Augen. Es war, als würden Wellen über die Bühne schwappen und die Duse in diesem Augenblick unter sich begraben. Ihre Arme flogen plötzlich hoch als würde die Wand auf sie stürzen. Aber die Hände fuchtelten hoffnungslos in der Luft herum, als bestünde die Wand aus lauter Spinnweben, die an ihren Fingern klebten und sie umwickelten. Es sah aus als wolle sie sich mit aller Kraft davon befreien. In ihren Gesten war die Duse nicht nur wirklich, in ihnen offenbarte sie auch das Thema eines Stückes.“73

In einer Fußnote zur Gestik der Duse setzt Strasberg hinzu: „Sie hatte keine Manierismen an sich. Sie war bloß Medium für die Idee des Stückes.“74 Strasberg beschreibt die Gesten der Duse als Reaktion auf ihre Inspiration. Er hat sie nicht dechiffriert, sondern nur vage deutend umschrieben, aber laut Strasberg war durch ihre Bewegungen, oder besser ihr Bewegtsein, etwas erfahrbar geworden: die jenseits des Verbalisierbaren sich auftuende Dimension des Stücks. Das Ritual der Hauka bleibt auf weite Strecken enigmatisch, aber der Geist des Kolonialismus hat sich kaum je beeindruckender manifestiert. Warum hebt das Medium mit dem Tropenhelm den Kopf gen Himmel, worauf richtet es seine Augen? Warum öffnet es den Mund zu einem lautlosen Schrei. Was bewegt Madame Locotoro? Im weißen Gewand steht sie verloren zwischen den Militärs, halb Engel, halb kokettes Weibchen, vielleicht aber auch etwas ganz anderes. Bei der Betrachtung von Tranceritualen machte Kramer eine bedeutsame Feststellung: „[...] stets empfanden die Besessenen den Zwang, ein ,Anderes‘, und damit ihr eigenes Anderssein, darzustellen und im Ritual anzuerkennen.“75 Bedauerlicherweise gebraucht Kramer die inadäquaten Begriffe „stets“ und „Zwang“, aber es gelingt ihm, ein bemerkenswertes Paradox zu formulieren: Insbesondere diejenigen Performanzen, die von der Öffnung für anscheinend völlig Fremdes bestimmt sind, bieten die Möglichkeit, tiefe Schichten der eigenen Persönlichkeit freizulegen. In LES MAÎTRES FOUS kann der Zuschauer das von Kramer Gemeinte anhand der Betrachtung des männlichen Mediums von Madame Locotoro nachvollziehen: Madame Locotoro ist der Geist einer Arztgattin, und der Begriff des Mediums offenbart hier insofern seine ganze Bedeutung, als die für den Zuschauer in Erscheinung tretende Madame Locotoro in diesem Ritual wohl die fragilste und transparenteste Figur ist. Rouch zeigt den Hauka am Tag nach dem Ritual an seinem Arbeitsplatz

73

Strasberg 1988: S. 42.

74

Strasberg 1988: S. 42 [Fußnote].

75

Kramer 1987: S. 233.

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in seiner sozialen Rolle. Er ist Verkäufer und steht in einem weißen Kittel und sorgfältig mit Brillantine frisierten Haaren neben dem Eingang seines Ladens. Seine feminin anmutende Erscheinung korrespondiert unverkennbar mit der von Madame Locotoro. Im Zustand der Besessenheit erfährt dieses Medium offensichtlich eine Verstärkung bestimmter Aspekte seiner spezifischen Disposition, die in seinem sozialen Umfeld nicht in Erscheinung treten dürfen. Kramer eruiert zwei Pole, zwischen denen die Manifestation von Fremdgeistern oszilliert, das „Andere“ und das „Eigene“. In jeweils unterschiedlicher Gewichtung sind auch die Rollenübernahmen von Schauspielern zwischen diesen beiden Polen angesiedelt. Je nach Rollenanforderung, Methode, Regisseur und Persönlichkeit des Schauspielers kann es sein, dass mehr Externes in die Darstellung einfließt oder dass sich der Schauspieler mehr auf seine eigene Disposition verlässt. Marilyn Monroe hat für die Erarbeitung der Rolle von Roselyn in MISFITS76 ihre eigene Biographie genutzt. Marlon Brando hat die Rolle des Kowalski in A STREETCAR NAMED DESIRE77 erarbeitet, indem er Gorillas studierte. Beide waren sie Schüler an Strasbergs Actors Studio.78 Festzuhalten ist, dass die Begegnung mit dem „Anderen“ stets ein wichtiger Katalysator für den Darsteller ist, ob er es nun in sich selbst lokalisiert oder außerhalb. Die Hauka hatten Rouch um eine Aufzeichnung des Rituals gebeten, weil diese ihnen als Quelle der Inspiration für weitere Performanzen dienen sollte. Sie selbst haben LES MAÎTRES FOUS nie gesehen, weil die britische Kolonialregierung Aufführungen des Films untersagte.79 Im Gespräch mit Sembène sagt Rouch „Je crois […] que les gens des maîtres fous peuvent apporter avec leur cérémonial si particulier une addition primordiale à la culture mondiale.“80 Anstelle der Hauka haben westliche Künstler die filmische Dokumentation des Trancerituals als Inspirationsquelle genutzt. Peter Brook ließ sich bei seiner Inszenierung von Marat/-Sade81 von dem Film inspirieren. Genet schrieb daraufhin sein Stück Les Nègres.82 Es ist davon auszugehen, dass die Hauka auch der westlichen Performance-Kunst wichtige Impulse gegeben haben, aber eine umfassende wissenschaftliche Aufarbeitung der

76

MISFITS, USA 1961, R.: John Houston.

77

STREETCAR NAMED DESIRE (A), USA 1961, R.: Elia Kazan.

78

In einem Workshop, an dem ich teilgenommen habe, erläuterte Walter Lott, (der selbst noch Strasberg-Schüler war und später Mitarbeiter von George Tabori wurde) die differenzierte Arbeitsweise Strasbergs an diesen Beispielen. „Method-Acting“, StrasbergWorkshop mit Walter Lott, [um 1994] Rote Fabrik, Zürich.

79

Vgl. Schüttpelz 2002: S. 249.

80

Rouch zitiert nach Cervoni [1965] 2005: S. 82.

81

Die Premiere von Marat/Sade (Text: Peter Weiss) fand 1964 statt.

82

Genet [1958] 2002: S. 470-570.

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transkulturellen Wirkung der grandiosen kulturellen Leistung der Hauka steht noch aus. Im Bereich der bildenden Kunst ist man da schon weiter: Die Fondation Beyeler in Riehen bei Basel stellt die Plastiken bis heute anonym gebliebener Afrikaner direkt neben berühmte Werke der klassischen Moderne. Es lässt sich in den meisten Fällen zwar kaum mehr exakt bestimmen, welcher Maler von welcher Plastik inspiriert war, aber dass sie es waren, daran besteht kein Zweifel mehr.

1.2 X ALA Ousmane Sembène hatte Vorbehalte gegen Jean Rouchs ethnographische Filme: Rouch:

„Je voudrais que tu me dises pourquoi tu n’aimes pas mes films purement ethnographiques, ceux dans lesquels on montre, par exemple, la vie traditionnelle?“

Sembène:

„Parce qu’on y montre, on y campe une réalité sans en voir l’évolution.“83

Der senegalesische Regisseur geht anders vor als der französische Ethnologe: Er fasst im Prolog von XALA Entwicklungen prägnant zusammen, indem er zeigt, wie kurz nach der Unabhängigkeit die Weichen für die postkoloniale Zukunft des Senegal gestellt wurden. Der Prolog bildet die Folie des Vorher, vor der die Ereignisse des Nachher zu betrachten sind. Mit Brecht könnte man sagen: „Das Feld muss in seiner historischen Relativität gekennzeichnet werden können. [...] Die ,historischen Bedingungen‘ darf man sich freilich nicht denken [...] als dunkle Mächte [...], sondern sie sind von Menschen geschaffen und aufrechterhalten (und werden geändert von ihnen).“84 Über eine politische Affinität hinaus könnte noch eine Koinzidenz Sembènes Interesse an Brechts Theorien geweckt haben: Um seine Theorie vom epischen Theater zu entwickeln, hat Brecht neben außereuropäischen Theaterformen auch den einst in Europa populären Bänkelsang studiert, der Analogien zu den Performanzen der Griots aufweist.85 Sembène hat in Zusammenhang mit seinem Film MANDABI86 explizit auf Brecht verwiesen.87 Wie David Murphy feststellt, erweisen sich Brechts Theorien aber auch im Hinblick auf XALA als geeignete Werkzeuge der Untersuchung.88 Hilfreich sind sie insbesondere bei der Analyse sei-

83

Rouch und Sembène zitiert nach Cervoni [1965] 2005: S. 81.

84

Brecht [1948] 1994: S. 38/39.

85

Die Bezugnahme auf den Bänkelsang ist etwa in der berühmten Moritat von Mackie

86

MANDABI [LE MANDAT], Senegal 1968, R.: Ousmane Sembène.

87

Vgl. Murphy 2000: S. 109.

88

Murphy bezeichnet Sembène als „African Brecht“ (Murphy 2002).

Messer aus der Dreigroschenoper nachweisbar.

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ner Schauspielerführung. Statt wie Noureddine Ghali und Murphy von einem satirisch karikierenden Darstellungsstil der Schauspieler zu sprechen,89 wäre der Stil ihrer Darstellung besser mit Brechts Begriff „gestisch“ beschrieben. Der Verweis auf die Realität hat in der gestischen Darstellung eine andere Qualität als in der Karikatur, die meist auf eine einfache Überzeichnung setzt. Sembène hingegen destilliert reale Komik, wie von Brecht vorgeschlagen,90 in einer komplexen Geste. Brecht schreibt zum Gestischen: „Den Bereich der Haltungen, welche die Figuren zueinander einnehmen, nennen wir den gestischen Bereich. Körperhaltungen, Tonfall und Gesichtsausdruck sind von einem gesellschaftlichen Gestus bestimmt [...] Zu den Haltungen, eingenommen von Menschen zu Menschen, gehören selbst die anscheinend ganz privaten, wie die Äußerungen des Schmerzes in der Krankheit oder die religiösen. Diese gestischen Äußerungen sind meist recht kompliziert und widerspruchsvoll, so dass sie sich mit einem einzigen Wort nicht mehr wiedergeben lassen, und der Schauspieler muss achtgeben, dass er bei der notwendigerweise verstärkten Abbildung da nichts verliert, sondern den ganzen Komplex verstärkt.“91

Der gestische Darstellungsstil ist, anders als der satirisch karikierende, nicht auf die Darstellung des Komischen beschränkt. Das ist in Bezug auf XALA insofern wichtig, als der Film auf weite Strecken ganz und gar nicht komisch ist. Sembène ist nicht an der Psychologie seiner Figuren interessiert. Er will sie in ihrem Verhalten zeigen, ohne dabei eine illusionistische Wiedergabe der außerfilmischen Realität anzustreben. Der gestische Spielstil setzt eine Analyse der Beobachtung voraus, zielt aber nicht auf die Reproduktion von Gesehenem. Genau diese Vorgehensweise entspricht dem Rouch gegenüber formulierten Anliegen Sembènes: „Tu dis voir. Mais dans le domaine du cinéma, il ne suffit pas de voir, il faut analyser.“92 Der Prolog Der Film XALA beginnt mit einem Happy End, dem Ende der Kolonialherrschaft. Die erste Einstellung wird von lautem Trommeln dominiert. Sembéne inszeniert die Eroberung des Chambre de Commerce in Dakar als festliche Demonstration afrikanischer Kultur. Eine Frau tanzt, den nackten Oberköper mit Schnüren von Kaurimuscheln verziert. Eine bunte Gruppe von Afrikanern kreist das klassizistische Gebäude der Handelskammer immer mehr ein. Die meisten Frauen und Männer tragen

89

Vgl. Ghali 1976: S. 95 und Murphy 2000: S. 114.

90

Vgl. Brecht 1994: „Das gesellschaftlich Komische“, S. 62/63.

91

Brecht [1948] 1994: S. 46 [meine Hervorhebungen].

92

Sembène zitiert nach Cervoni [1965] 2005: S. 80.

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einen Boubou. Von den Franzosen eingesetzte Afrikaner in Polizeiuniform versuchen, die Demonstranten von dem Gebäude der Handelskammer fernzuhalten. Sembène arbeitet mit eindeutigen Zeichen: Der scharfe Kontrast der Kostüme erlaubt es dem Zuschauer, auf den ersten Blick zu identifizieren, wer von den Afrikanern auf der „richtigen“ Seite steht. Aus der Gruppe der Aufständischen lösen sich acht Männer und erklimmen die Stufen des Ministeriums. Die Kamera präsentiert sie als Heroen: „The first scenes on the steps of the Chamber are shot from a low angle. This is an ‚heroic‘ moment and the crowd, whose viewpoint the camera adopts, looks up at its leaders in respect and admiration.“93 Eine Off-Stimme referiert die Ereignisse im Kampf um die Unabhängigkeit. Die Bilder kommentieren das Gesagte. Die Aktion auf der Bildebene ist keine Illustration, sondern ein Kontrapunkt zu den pathetischen Ausführungen auf der Tonebene. Die Schauspieler sprechen nicht, sie zeigen durch leicht verständliche Gesten, was hier gespielt wird. Im Innern des Gebäudes steht die afrikanische Delegation dann einem Terzett von französischen Machthabern gegenüber. Die Herren aus Frankreich wahren die Contenance, räumen ihre Plätze allzu höflich: So überlassen Mafiabosse ihren Gegnern das Feld, um dann im Hintergrund umso wirkungsvoller die Drähte zu ziehen.94 Dass dieser Machtwechsel so ganz ohne offene Auseinandersetzung vonstatten geht, stimmt misstrauisch. Dann greift Sembène in die Klamottenkiste der „Grande Nation“ und fördert symbolträchtige Requisiten zutage: Auf der großen Freitreppe vor dem Chambre de Commerce landen unter dem Jubel der Menge mehrere Büsten der Marianne, schwere Schnürstiefel und alle möglichen Kopfbedeckungen – die Franzosen müssen ihren Hut nehmen. Ein Schnitt, und die Widerstandskämpfer sind übergangslos in die Rolle der ehemaligen Kolonialherren geschlüpft. Die neue senegalesische Führungsriege erscheint erneut, nun mit Smoking angetan, im Sitzungssaal des Chambre de Commerce. Die Übernahme der sozialen weißen Rolle gemahnt hier an Rollentauschund Verkleidungsszenen aus der Stummfilmära. Was Prachtentfaltung und gravitätisches Gebaren anlangt, übertreffen die neuen Herren die alten. Die Off-Stimme

93

Murphy 2000: S. 110.

94

Zwei der Franzosen werden als stumme Rollen auch im weiteren Verlauf des Films präsent sein. Der eine stellt sich diskret als Handlanger und Chauffeur zur Verfügung. Gerade seine ausgestellte Servilität und seine Teilnahmslosigkeit suggerieren dem Zuschauer, dass diesem Manne nichts entgeht. Er steht als Polizeichef für Jean Collin, den Minister des Inneren, der nach der Unabhängigkeit die senegalesische Staatsangehörigkeit angenommen hatte. Dies wird Murphy zufolge dadurch belegt, dass die betreffenden Szenen im Senegal herausgeschnitten wurden. Vgl. Murphy 2000: S.110. Der Franzose trägt im Film bezeichnenderweise den Doppelnamen „Dupand-Durand“ (deutsch etwa „Ewiger Betrüger“).

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konterkariert das Geschehen auf der Bildebene: „Nous optons pour le socialisme, le seul vrai socialisme, la voie africaine du socialisme, le socialisme à hauteur d’homme. Notre indépendance est complète.“ – Eine Parodie auf „Senghor’s notion of ‚African Socialism‘.“95 Das Terzett der ehemaligen Kolonialherren erscheint jetzt auch wieder auf der Bildfläche, und zwar nicht mit leeren Händen ... Vor jedem der gerade zu Amt und Würden Gekommenen wird ein Diplomatenkoffer platziert. Während dieser Szene herrscht absolute Stille. Die Off-Stimme schweigt. Die Trommel ist schon lange verstummt. Man hört nur das Aufschnappen der Kofferschlösser. Jeder der Herren im Smoking riskiert einen verstohlenen Blick – damit ist die Chance verspielt: Der Übergang von der Kolonie zum abhängigen Staat ist besiegelt. Die nominelle Unabhängigkeit bleibt bestehen, die faktische Abhängigkeit wird untermauert, die neue Elite ist etabliert. Sembène beschließt diese Bestechungsszene, die das Ende des Prologs markiert, mit einer Pointe. Der Präsident ergreift das Wort: „Monsieur le ministre, Messieurs les députés, honorables collègues! Notre action révolutionnaire n’a pas été vaine.“ Mit dem Switch von der Off-Stimme zur Figurenrede ist der Übergang zum Hauptteil vollzogen. Der Präsident fährt fort: „Pour fêter cette date mémorable, nous sommes conviés au mariage de notre cher collègue El Hadji Abdou Kader Beye qui prend aujourd’hui sa troisième épouse. La modernité ne va pas nous faire perdre notre africanité.“96 Tosender Applaus. El Hadji erhebt sich, bekräftigt die Einladung. Damit ist der Protagonist innerhalb der Gruppe der neuen Machthaber profiliert. Who’s who in Senegal Sembène setzt die Figuren, die soziale weiße Rollen übernehmen, in ein antagonistisches Verhältnis zu den übrigen. Um die filmische Rhetorik der Inzenierung zu analysieren, ist es wichtig festzustellen, wo sich das Profil der jeweiligen Rollen schärft.97 Die Betrachtung der Kostüme ist dabei von herausragender Bedeutung. So

95

Murphy 2000: S. 112.

96

Gugler/Diop 1998: S. 151 bemerken hier treffend: „[Sembène] ridicules the ideas of negritude so closely linked to Senghor [...]. The members of the Chamber of Commerce boast about their „africanité“ as they congratulate El Hadji on his third marriage.“

97

Diese Untersuchung bezieht sich ausschließlich auf das Material, das der Film XALA bereithält. Françoise Pfaffs Ausführungen zu XALA (Pfaff 1984) vermitteln ein schiefes Bild, weil sie Film und Roman vermischt. Doch Sembène hat einschneidende Akzentverschiebungen vorgenommen: Vereinfachend könnte man behaupten, dass der Film die postkoloniale, der Roman die polygame Problematik ins Zentrum stellt. Vgl. dazu

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setzt Sembène den maßgeschneiderten Anzug El Hadjis in einen harten Kontrast zu dem Boubou von Adja Astou, seiner ersten Ehefrau. Er benutzt das Kostüm, um die verschiedenen Möglichkeiten der Selbstinszenierung aufscheinen zu lassen, die innerhalb der veränderten politischen Rahmenbedingungen möglich wurden. Freiheit bei der Wahl der Kleidung besteht für den Einzelnen aber nur innerhalb seiner materiellen Möglichkeiten und der Grenzen sozialer Normen. Damit sind die zwei zentralen Themen des Films angesprochen: die an Schärfe zunehmende Differenzierung zwischen mittellosen und besitzenden Afrikanern und der Wandel gesellschaftlicher Konventionen. Bei der Untersuchung der Rollenübernahmen ist außerdem zwischen der übergeordneten, durch einen Namen bezeichneten Rolle einer Figur und den verschiedenen sozialen Rollen zu unterscheiden, die diese Figur innerhalb der übergeordneten Rolle übernimmt. Besonders dezidiert spielt Sembène diese Differenzierung anhand der Figur des Protagonisten durch. Da es Sembène darum geht, Handlungsspielräume auszuleuchten, soll dabei die Differenz zwischen Mensch und Rolle sichtbar bleiben. Sembène benutzt die sozialen weißen Rollen dramaturgisch, um Konflikte zu konstruieren, welche die Entfremdung des Individuums als Resultat der Abhängigkeit Senegals von Frankreich ausweisen. Mit dem Verweis auf die Differenz zwischen Rolle und Mensch gelingt es Sembène, dem Einzelnen Eigenverantwortung zuzuschreiben, denn wie bei der Wahl der Kleidung bleibt jedem auch bei der Gestaltung seiner sozialen Rollen ein Spielraum relativer Freiheit. Wenn es um das Recht auf polygame Eheschließung geht, schlüpfen die männlichen Mitglieder der neuen senegalesischen Elite, ohne den Smoking abzulegen, in die Rolle des afrikanischen Patriarchen und pochen auf ihre kulturelle Identität. Sembène problematisiert damit die traditionellen Genderrollen. Den Männern im Film steht die Möglichkeit offen, zwischen mehreren Rollen hin- und herzuswitchen. Die Rollen, die sie jeweils übernehmen, sind in sich relativ statisch und werden auch von den Figuren selbst nicht reflektiert.98 Demgegenüber sind die Frauen im Film auf eine soziale Rolle festgelegt, aber die weiblichen Figuren reflektieren ihre Rollen, deren Instabilität Sembène in bestimmten Situationen deutlich aufscheinen lässt.

auch Gugler/Diop 1998: S. 150. Gugler und Diop analysieren die Signifikanz der Unterschiede zwischen Film und Roman. Auch Murphy bemerkt treffend: „Sometimes we are presented with the same scene, with virtually the same dialogue, in both film and novel but the effects achieved are radically different.“ Murphy 2000: S. 99. 98

Erst ganz am Schluss wird El Hadji seine soziale weiße Rolle und die der anderen reflektieren.

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Die Rollen des El Hadji Abdou Kader Beye Der Protagonist tritt im Prolog im Verband mit anderen auf. Nachdem er seinen bunten Überwurf abgelegt und eine weiße Rolle übernommen hat, unterscheidet ihn äußerlich nichts mehr von den anderen Mitgliedern der Führungsriege. Sembène arbeitet im Prolog mit einer chorischen Schauspielerführung. Der Protagonist, das legt diese Einführung nahe, ist kein Einzelfall – der Regisseur will ein Exempel statuieren. Erst im Hauptteil setzt er seinen Protagonisten von den anderen ab, um ihn in verschiedenen Situationen auf die Probe zu stellen. Murphy bemerkt: „Much of the comedy of Xala lies in the vast and finely differentiated range of characters through which El Hadji’s fall will be played out.“99 Dabei stellt sich die Frage, ob sich unter seinen Gegenspielern ein zentraler Antagonist ausmachen lässt, womit auch die Frage nach der Konstruktion des Plots aufgeworfen ist. Hier kommt der im Prolog angekündigten dritten Hochzeit des Protagonisten eine entscheidende dramaturgische Funktion zu. Tote Hose lautet der Befund nach El Hadjis Hochzeitsnacht. Der Xala hat ihn geschlagen. Aber wer steckt dahinter? Sembène wandelt die Frage nach dem Warum der Impotenz sofort in die dramaturgisch brauchbare Krimifrage „Whodunit?“ um, denn für jede der im Film auftretenden Figuren steht außer Frage, dass die plötzliche Unpässlichkeit durch einen Fluch ausgelöst wurde. Sembène legt falsche Fährten. Er arbeitet mit dem retardierenden Moment – hier eine vorübergehende Heilung – und präsentiert am Schluss eine Lösung des Falles. Allerdings gibt es keinen Detektiv: Das Opfer, nämlich El Hadji, muss selbst Ursachenforschung betreiben, und der Täter ist gemäß der Argumentation des Films auch nicht der Schuldige, sondern das Opfer selbst, also El Hadji. Hier kommt das zum Tragen, was Murphy als „[Sembènes] Brechtian fusion of uncompromising social stance with radical explorations of popular form [...]“100 fasst. Die Rollen des öffentlichen Lebens El Hadjis Rollen als Politiker und Geschäftsmann sind dadurch bestimmt, dass sie von ihm nicht in der erforderlichen Weise voneinander abgegrenzt werden. Der Marxist Sembène nutzt dies, um auf reale Verstrickungen zwischen Politik und Kapital zu verweisen. Erst nach und nach erschließt sich dem Zuschauer, inwieweit die Rollen des öffentlichen Lebens mit El Hadjis Rollen als Privatmann verwoben sind.

99

Murphy 2002: S. 122.

100 Murphy 2002: S. 128.

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Der Mann des politischen Lebens Nicht nur im Epilog, auch im Hauptteil drängt sich immer wieder die Vermutung auf, dass das Chambre de Commerce stellvertretend für die Regierung des postkolonialen Senegals steht. Sembène kann so einen Präsidenten auftreten lassen, ohne Senghor beim Namen zu nennen.101 Gugler und Diop schreiben dazu: „Subtly the film takes the viewer a couple of steps further into a critique of the political regime. Repeated references to the President become ambiguous.“102 El Hadjis politische Karriere ist im Prolog umrissen worden, auch die wichtigsten Merkmale seiner Rolle als Politiker liegen von Anfang an offen: El Hadji ist bestechlich. Statt den Kontakt zur Bevölkerung zu suchen und deren Interessen zu vertreten, sind er und seine Kollegen bemüht, sich von der Masse abzusetzen – und das, obwohl man sich den Sozialismus auf die Fahne geschrieben hat. El Hadjis genaue Position innerhalb der Führungsriege bleibt ebenso unklar wie sein Aufgabenbereich. Der Zuschauer wird bezüglich der Handelskammer nur mit bruchstückhaften, undurchsichtigen Informationen versorgt. Sembène ist daran gelegen zu vermitteln, dass es eben diese Obskurität ist, welche die postkoloniale Politik im Senegal charakterisiert: Zuschauer und Volk tappen im Dunkeln. Nur durch Schlaglichter, die der Regisseur hier und da auf das politische Geschehen wirft, setzt sich allmählich ein Bild zusammen. Sembène inszeniert die Hochzeit des Protagonisten pompös als weiße Sozialisation der senegalesischen Elite und schafft so einen Raum, in dem er die neue Führungsriege vorführen kann. Da wollen sich zwei Würdenträger an Höflichkeit übertreffen, indem sie sich gegenseitig den Vortritt lassen: „Après vous, vous êtes le ministre.“ „Après vous, vous représentez le peuple.“ Die Potentaten führen keine politischen Debatten. Man scheint sich allzu einig: Eine Hand wäscht die andere ... Die Herren sind vollauf damit beschäftigt, sich die Umgangsformen der europäischen Elite anzueignen. Nur einmal sieht man Hadji konkret „politisch“ handeln, bezeichnenderweise von seinem Handelskontor aus. Gegenüber hat sich eine Gruppe von Bettlern zusammengerottet. Das nervt ihn, verschreckt die Geschäftspartner. Ein Anruf beim Präsidenten: Bettler schaden dem Tourismus, dem Bild vom neuen Senegal, und schon erscheint die Polizei. Die Gruppe der Bettler, die in diesem Film die verarmte Landbevölkerung repräsentiert, wird aus dem Weg geschafft. El Hadji hat 30 Tonnen Reis unterschlagen, die eben dieser unter der Dürre leidenden Landbevölkerung zugute kommen sollten, um sich eine dritte Frau zu kaufen und eine glanzvolle Hochzeit auszurichten. El Hadjis Rolle als Politiker ist für die anderen Rollen deshalb konstitutiv, weil sie es ihm ermöglicht, sich zu be-

101 Murphy (2002: S. 122) weist darauf hin, dass der Präsident der Handelskammer so klein sei wie Senghor. 102 Gugler/Diop 1998: S. 150.

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reichern. Diese Rolle ist von Anfang als soziale weiße Rolle konzipiert, übernehmen konnte sie El Hadji allerdings nur in seiner Eigenschaft als Afrikaner im unabhängigen Senegal. Der Geschäftsmann El Hadjis Rolle als Geschäftsmann scheint nur indirekt auf, denn in seinem Handelskontor sucht er vor allem nach Möglichkeiten, seine Impotenz loszuwerden. Ist er, was häufig vorkommt, abwesend, lässt er sich von einer Mitarbeiterin vertreten. Ihre Aufgabe ist es, die üblen Gerüche zu beseitigen, die von außen hereindringen. Draußen ist das Volk, da kippen Hausfrauen dreckiges Wasser in den Gully. Außerdem muss die Mitarbeiterin den immer desolateren Zustand des Unternehmens kaschieren. Sie vertröstet einen potentiellen Kunden, und dabei erfährt man en passant, dass das Lager schon lange leer ist. Der Zuschauer muss sukzessive Puzzlestücke zusammensetzen – auch hier gelingt es Sembène so, die Undurchsichtigkeit der Verhältnisse in Szene zu setzen. Die Höhe von El Hadjis Lebenshaltungskosten kann der Zuschauer allerdings mühelos überschlagen: Seine häufigste Geste ist der Griff zur Brieftasche. Als die leer ist, stellt er ungedeckte Schecks aus. Die Pleite wird absehbar. Am Schluss des Films arbeitet Sembène wieder mit plakativen Bildern: Im Zuge der Zwangsvollstreckung bekommt der Geschäftsmann El Hadji buchstäblich seinen Stuhl vor die Türe gesetzt. Die Kamera zeigt ihn jetzt auf einer Ebene mit den zurückgekehrten Bettlern. Auf dem Höhepunkt seiner Macht hat er (und mit ihm, aus einer subjektiven Kameraposition, der Zuschauer) eben diese Bettler durch das Fenster des Büros, im wahrsten Sinne des Wortes von oben herab, betrachtet. Wie als Politiker spricht El Hadji als Geschäftsmann ausschließlich Französisch. Auch als Geschäftsmann legt er Wert auf europäisches Flair. Er prahlt mit seinen westeuropäischen Handelspartnern und seiner europäischen Produktpalette. Die Aufzählung ausschließlich westlicher Handelspartner ist als politische Aussage zu werten: Der Kapitalist El Hadji stabilisiert die Hegemonie des Westens. Wie die Rolle des Politikers ist auch die des Geschäftsmannes eindeutig als weiße Rolle zu bezeichnen. Drei Frauenrollen – drei Gattenrollen „Den König spielen die anderen.“103 Angewandt auf die Gattenrollen von El Hadji besagt diese Schauspielerweisheit: Welche Rolle er als Ehemann spielen kann,

103 Wie bei vielen Redensarten, die am Theater zirkulieren, ist auch bei dieser schwer zu ermitteln, wer sie in die Welt gesetzt hat. Diese wird vor allem von ostdeutschen Theaterschaffenden im Munde geführt.

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hängt von seiner Ehefrau ab.104 Der Umstand, dass er in allen drei Haushalten auch Wolof spricht, zeigt an, dass die Rollen, die er hier spielt, nur bedingt als weiße Rollen zu bezeichnen sind. Zwar hat El Hadji als Ehemann nominell und faktisch die Machtposition inne, aber alle drei Gattinnen werden sich, jede auf ihre Weise, als stärker erweisen als er. Der Haustyrann In ihrer ganzen Erscheinung verweist die erste Frau El Hadjis auf einen Lebensabschnitt des Protagonisten, der lange vor dem Beginn des Filmes anzusiedeln ist. Adja Astou trägt einen fein gemusterten gelben Boubou und ein Kopftuch. Dieses Kostüm bildet den optischen Rahmen ihrer traditionellen Frauenrolle. Ihr gegenüber kann El Hadji die traditionelle Männerrolle einnehmen. Seine Frau hat zu akzeptieren, dass er sich mit genau der gleichen Selbstverständlichkeit eine dritte Frau nimmt, mit der er sich bereits eine zweite genommen hat. Um den guten Ton zu wahren, muss Adja Astou sogar bei seiner Hochzeit zugegen sein. Rama, ihre älteste Tochter, macht die Mutter auf den Handlungsspielraum innerhalb ihrer Rolle aufmerksam und stellt ihr die Frage, warum sie sich nicht scheiden lasse. Rama akzeptiert nicht, dass sich El Hadji in diesem Haushalt als Patriarch geriert, sie lehnt sich offen gegen ihren Vater auf. Das zeugt im Hinblick auf die traditionelle Familienhierarchie von großem Mut. Auf ihre Bemerkung, alle polygamen Männer seien verlogene Schweine, wird sie denn auch brutal geohrfeigt. Von ihrer Mutter kann Rama weder Schutz noch Trost erwarten. Einerseits sucht diese Mutter Rat bei ihrer Tochter, andererseits verweist sie Rama harsch in ihre Grenzen. Die Tochter muss sich ohne Unterstützung und in Abgrenzung von Mutter und Vater eine neue Frauenrolle konstruieren. Die Rolle, die El Hadji hier spielt, ist nicht als soziale weiße Rolle zu bezeichnen, denn für diese Rolle wurde er in einer Vergangenheit, die vor der Filmhandlung anzusiedeln ist, sozialisiert. In Adjas Haushalt tritt er als merkwürdiges Zwitterwesen auf. Seinen Anzug und sein geschäftsmännisches Gebaren legt er auch hier nicht ab. Mit seiner Tochter spricht er Französisch, mit seiner Frau Wolof. Er wirkt in Adjas Wohnung anfangs wie ein Fremdkörper, erst am Ende des Films zeigt sich, dass hier sein eigentliches Zuhause ist. Fast will es scheinen, dass die

104 Pfaff schreibt: „In Xala, Sembène has schematized his female protagonists.“ Pfaff 1984: S. 155. Aber Sembène lässt sich wie bei der Konzeption seiner Männerrollen auch bei der Konzeption der Frauenrollen vom Prinzip gestischer Figurenzeichnung leiten, was in beiden Fällen nicht mit einer Schematisierung zu verwechseln ist. In diesem Zusammenhang sei noch vermerkt, dass Sembène den Frauen in seinem Œuvre einen großen und exponierten Raum widmet. Vgl. dazu Murphy 2000: S. 124ff.

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erste Frau El Hadjis für das vorkoloniale Afrika steht. Das ist zwar innerhalb der hier postulierten Filmrealität rein rechnerisch unmöglich, aber eben dieser scheint Adja auf merkwürdige Weise enthoben. Häufig schweigt sie, lässt Gesprochenes nachwirken, sie nimmt sich Zeit, bevor sie zu sprechen anhebt. Ihr Rhythmus ist dem der Bettler näher als dem anderer Figuren im Film. Die Kamera schenkt ihr viel Aufmerksamkeit, verweilt lange auf ihrem klaren, ruhigen Gesicht. Zwar wird Adjas Rolle aus der Sicht der Tochter und aus der Perspektive des Films durchaus problematisiert, es scheint aber, als wolle Sembène dieser Figur Reverenz erweisen. Ihrer würdevollen Haltung eignet etwas Monumentales, was hier nicht leblos, sondern zeitlos meint.105 El Hadji wirkt klein und fahrig neben seiner ersten Frau, und das, obwohl sie sich ihm doch scheinbar völlig unterordnet. Aber Adja Astou ordnet sich nicht ihrem Mann unter, sondern ihrer traditionellen Rolle als erster Ehefrau eines muslimischen Gatten.106 Dies führt dazu, dass dieser gelegentlich auf Granit beißt – etwa, wenn er sie bittet, mit ihr in die Wohnung seiner zweiten Frau Oumi zu gehen, denn Adja Astou verweist ihn darauf, dass sie als erste Ehefrau nicht dazu verpflichtet ist. Der Goldesel Sembène setzt El Hadjis Auftritt im Haushalt seiner zweiten Frau Oumi in einen scharfen Kontrast zu dem im Haushalt seiner ersten Frau. Beide Sequenzen verbindet eine komplementäre Relation. Schon durch Oumis Erscheinungsbild ist ein antipodisches Verhältnis zur ersten Frau etabliert. Ihre Aufmachung weist die zweite Ehefrau als weibliches Pendant zu El Hadjis sozialer weißer Rolle aus.107 Oumi folgt der europäischen Mode der siebziger Jahre. Die betonte Freizügigkeit ihres Abendkleides steht in scharfem Gegensatz zu der verhüllenden Kleidung Adjas. Oumi fasst ihren Mann an. Sie zieht ihn, schiebt ihn, fordert ihn auf allen Ebenen und will vor allem immer eins von ihm: Geld. Ihr Sohn steht ihr da in nichts nach und bittet den Vater, kaum dass er das Haus betreten hat, zur Kasse. Der Hausty-

105 Murphy beschreibt Adja zu eindimensional als „simple, passive“ und „devout Muslim“ (Murphy 2000: S. 116). Gugler und Diop hingegen fokussieren die positiven Aspekte der Figur Adjas, vernachlässigen dabei aber, dass sie aus der Perspektive des Films durchaus auch kritisiert wird (Gugler/Diop 1998: S. 148). 106 Mushengyezi (2004: S. 49) schreibt dazu: „But for all her apparent subservience, Adja Awa is not El Hadji’s doormat either. She talks to him as equal, and asserts as the elder wife, who must be respected.“ Von Gleichstellung kann hier freilich kaum die Rede sein, wie auch Ramas Kritik am Verhalten ihres Vaters ihrer Mutter gegenüber belegt. 107 Gugler/Diop (1998: S. 148) schreiben dazu: „[...] El Hadji’s second wife Oumi N’Doye, serves to project the image of a ‚modern‘ Westernized couple.“

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rann von Familie eins kuscht in Familie zwei. Er zieht die Börse um des lieben Friedens willen, denn hier ist man ihm an Skrupellosigkeit ebenbürtig, wenn nicht gar überlegen. Die straffe Figur El Hadjis scheint in diesem Raum aufzuweichen, an Kontur zu verlieren.108 Die Kamera schenkt Oumis Gesicht weit weniger Aufmerksamkeit als dem von Adja. Sie bleibt Oumi gegenüber auf Distanz und nähert sich ihr häufig nicht frontal, sondern ertappt Oumi von hinten oder in sehr schrägen Winkeln. Sembène führt die Figur der Oumi ein, indem er zeigt, wie sie sich selbst vor einem Spiegel in Szene setzt: In Inszenierungen von sozialen weißen Rollen taucht der Spiegel, vor dem das Erscheinungsbild korrigiert wird, immer dann auf, wenn die Regisseure Risse zwischen einer Figur und ihrer sozialen Rolle sichtbar machen wollen.109 Oumi, El Hadjis zweite Frau, konnte bisher sexuell mehr Macht über ihn ausüben als seine erste Frau, aber die dritte Hochzeit El Hadjis destabilisiert die Rolle Oumis: Sie muss sich rückversichern, ihre Afro-Krause unter einer Lockenperücke verstecken. Obwohl Oumi eine weiße Rolle übernommen hat, muss auch sie sich mit ihrer traditionellen Rolle als muslimische Ehefrau auseinandersetzen, denn sie kann die dritte Heirat ihres Mannes nicht verhindern, aber ohne verbale Attacken kommt der Bräutigam hier nicht davon. Wie ihr männliches Pendant El Hadji weist auch die Figur von Oumi Risse auf. Sie entstehen aus der Reibung von traditioneller und weißer Rolle. Als Oumi auf El Hadjis Hochzeit mit ihrer traditionellen Frauenrolle konfrontiert ist, versucht sie, sich hinter ihrer weißen Rolle zu verstecken, und verbirgt sich hinter einer exklusiven Sonnenbrille. Wie häufig arbeitet Sembène auch hier mit scharfen Kontrasten: Er setzt die beiden komplementären Ehefrauen Oumi und Adja nebeneinander auf ein Sofa. Adja löst das antipodische Verhältnis auf, indem sie Oumi zunächst auffordert, ihre Sonnenbrille abzunehmen. Adja weiß, wovor Oumi Angst hat: Sie wird der dritten Frau gegenüber in genau der gleichen Position sein, in der Adja einst Oumi gegenüber war. Nun sind sie beide die alten Frauen, und ihnen gegenüber wird eine neue, eine jüngere Frau auftreten. Im Zusammenhang mit der El Hadjis Impotenz betreffenden Krimifrage „Whodunit?“ ist noch der Gegensatz von Adjas heller und Oumis dunkler Kleidung signifikant. Dies soll den Zuschauer verleiten zu glauben, dass Oumi die dramaturgische Position des Vamps besetzt und als Täterin infrage kommt. Auf der Hochzeit ihres Mannes stiehlt Oumi das kleine Brautpaar aus Plastik, welches sich auf der Hochzeitstorte befindet. Dem Zuschauer schwant nichts Gutes, denn dass sich diese Frau

108 Mushengyezi rekurriert auf recht fragliche Kriterien zu Bestimmung von Weiblichkeit, wenn er zu Oumi schreibt: „She relates to El Hadji on more than equal terms; in fact, he is the ‚weaker sex‘ before her! She is a ‚masculine‘ female.“ Mushengyezi 2004: S. 49. 109 Vgl. Teil I, Kap. 2.1 ET LA NEIGE N’ÉTAIT PLUS, S. 89, Teil I, Kap. 2.2 BOUBOU CRAVATE, S. 95 und Teil I, Kap. 3.1 MOI ET MON BLANC, S. 116.

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okkulter Praktiken bedient, scheint im Bereich des Möglichen zu liegen. Diese ganz kurze Szene hat eine dramaturgische Funktion: Hier wird eine falsche Fährte gelegt. Diese wird zwar im Film nicht weiter verfolgt, wohl aber vom Zuschauer, wenn der nämlich gemeinsam mit El Hadji nach dem Verursacher des Xala fahndet. Ein Versager Zunächst lassen die kurzen Großaufnahmen das hübsche Gesicht der dritten Frau El Hadjis hinter dem Schleier nur erahnen, aber als er ihn beim Hochzeitstanz zurückschlägt, entdeckt er keine strahlende Braut. Ngoné schenkt ihm kaum einen Blick. Sie wirkt abwesend, fast abweisend. Die Figur der Ngoné entzieht sich nicht nur El Hadji, sondern auch dem Zuschauer. Sie hat die Funktion eines Katalysators, der den Protagonisten in der Rolle des Versagers in Erscheinung treten lässt. Sembène zeigt Ngoné nur in flüchtigen Einstellungen aus der Perspektive des Protagonisten,110 der zu der schönen jungen Frau keine Beziehung entwickeln kann: Für ihn bleibt sie ein Objekt. Verstärkt wird dieser Eindruck durch ein großes Foto, einen Rückenakt von Ngoné, der an der Wand des Brautgemachs hängt.111 Dort zeigt Sembène das Paar nach der Hochzeitsnacht: Die junge Schöne liegt zusammengekauert im Baby-Doll-Nachthemd auf dem Bett, der gebrochene El Hadji sitzt den Kopf in die Hände gestützt auf der Bettkante. Für den Zuschauer kommt das nicht unerwartet, denn Badiene, die Ngoné als ihre Tochter bezeichnet,112 hatte El Hadji auf dem Weg ins Ehebett gewarnt: Wer sich in seinem Alter darauf kapriziere, einer so jungen Frau beizuwohnen, solle sich nicht nur auf seine eigene Kraft verlassen. Besser zuvor einen Mörser besteigen und einen großen Stößel zwischen die Beine klemmen, die Hilfe paganer Mächte sei in dieser Angelegenheit durchaus nicht zu verschmähen. Aber Badiene spielt hier nicht nur die „komische Alte“, diese Rolle trägt auch Züge des „hellsichtigen alten Weibes“, denn Sembène legt ihr einen

110 Mushengyezi fragwürdige Kriterien bei der Analyse von Frauenrollen kommen auch in folgender Passage zu Tragen: „It thus becomes clear that N’Goné is too pure for the decadent El Hadji [...] he never gets to possess her.“ Mushengyezi 2004: S. 56. 111 Vgl. Murphy 2000: S. 117. 112 Badiene ist die Vaterschwester Ngonés. Dass im Film nicht erlärt wird, welche Konsequenzen diese Verwandtschaftsbeziehung für die Position Badienes hat, ist für Gugler und Diop einer von vielen Belegen dafür, dass Sembène im Film (anders als im Roman) vor allem das senegalesische Publikum adressiert. Vgl. Gugler/Diop 1998: S. 149. Zwar wird auch im Film angedeutet, dass Badiene diese Ehe gestiftet hat, und zwar vor allem aus finanziellen Interessen. Aber während El Hadji im Roman als Opfer der Kupplerin erscheint, hat er im Film eine wesentlich aktivere Rolle inne, Sembène führt ihn dort gnadenlos als geilen alten Bock vor.

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Schlüsselsatz in den Mund, der sich, häufig wiederholt, wie ein Leitmotiv durch den ganzen Film ziehen wird: „Ihr seid keine Europäer, ihr seid weder Fleisch noch Fisch.“113 Der Plural, den Badiene verwendet, überhöht die Aussage, lässt sie gewissermaßen über die Handlung des Films hinausragen, gemeint ist hier nicht nur El Hadji, sondern alle Afrikaner, die sich gerieren wie Europäer. Der Bock als Gärtner – Brunst und Statusdenken machen El Hadji zu einem Antihelden, der seiner ihm übertragenen Verantwortung nicht gerecht wird, weil er seine Macht missbraucht. Doch dann kommt ihm der Xala in die Quere. Sembène benutzt das Motiv der Impotenz auf vielfältige Weise:114Auf der metaphorischen Ebene verweist die Impotenz auf die Unfähigkeit der senegalesischen Elite, unabhängig von Frankreich eine verantwortungsbewusste Führung zu übernehmen. Marxistisch formuliert, ist die Zeugungsunfähigkeit eine Metapher für die Unproduktivität einer parasitären Klasse.115 Dramaturgisch gesprochen, wird die Impotenz zum Fall: Sie hat eine ähnliche Funktion wie die Leiche im Krimi. Um die Lösung des Falles herum hat Sembène verschiedene Handlungsstränge konstruiert, innerhalb derer er andere Themen verhandeln kann. Einerseits ist die Impotenz ein Krankheitssymptom, unter dem speziell Träger sozialer weißer Rollen leiden, denn gerade sie scheinen sich der Geister einer fernen Vergangenheit nicht erwehren zu können. Andererseits verweist die Impotenz auf die Notwenigkeit, traditionelle Genderrollen zu überdenken. Mit Blick auf die sexuell umtriebige Oumi116 und die junge bildhübsche Ngoné stellt sich die Frage, ob ein Mann tatsächlich in der Lage ist, drei Frauen – in jeder Hinsicht – ausreichend zu versorgen. Sembène präsentiert die polygame Ehe als überkommenes Familienmodell, denn auch in seiner Vaterrolle erweist sich El Hadji als Versager. Die Impotenz wird aus der Perspektive des Films offenkundig als Strafe gewertet. Damit eröffnet sich dem Pädagogen Sembène die Möglichkeit, sein Publikum zu belehren: Was El Hadji falsch gemacht hat, soll der Zuschauer besser machen.

113 Da dieser Text in Wolof gesprochen wird, wurde hier der deutsche Untertitel zitiert. 114 Es ist Sembène nicht daran gelegen, die Psyche seines Protagonisten auszuleuchten. Er setzt sein soziales Verhalten in Szene (ganz im Sinne der von Brecht vorgeschlagenen Akzentverschiebung). Deswegen lasse ich die von Murphy (2000: S. 101ff) ausführlich diskutierte psychologische Dimension der Impotenz außer Acht. 115 Vgl. dazu auch Murphy 2000: S. 105 und Gugler/Diop 1998: S. 148. 116 Auf der Hochzeit wird Oumi mit dem eindeutig zweideutigen Hinweis, dass man eine so schöne Frau nicht alleine lassen dürfe, auf die Tanzfläche entführt. Sie lässt sich nicht lange bitten.

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Der Patient El Hadji und seine Kollegen tragen Maßanzüge. Sie sprechen Französisch. Sie bewegen sich nur noch in klimatisierten Räumen. Sie verbringen ihren Urlaub in der Schweiz, weil man in Spanien „trop de nègres“ trifft. Doch wenn es um das Recht zur polygamen Eheschließung geht, bekennen sich die Mitglieder der neuen Elite mit Verve zu ihrer afrikanischen Identität: In Sachen Männlichkeit glaubt man sich den Europäern überlegen. Mit Herrenwitzen wird die polygame Virilität als gemeinschaftsstiftende kulturelle Errungenschaft beschworen, aber der Spötter Sembène zeigt, dass diese Männer vor allem eins verbindet – die Angst zu versagen. Jeder will dem Bräutigam vor der Hochzeitsnacht, „avant le combat“, noch schnell die selbst erprobte, sichere Pille zustecken. Der gewünschte Effekt bleibt aus ... Sembène führt den sexuellen Versager als gebrochenen Mann vor. Der ehemals so selbstsichere El Hadji schleicht zögerlich mit gebeugten Schultern und gesenktem Kopf den Gartenweg entlang. Sein Blick ist unsicher. Seine Sprache tastet sich nur noch gedämpft zum Gegenüber. Vorübergehend genesen, scheint El Hadji förmlich zu wachsen: Der Brustkorb wölbt sich, der Blick hebt sich – das Männchen ist wieder bereit zur Konfrontation. Als er dann erneut von dem verhassten Leiden befallen wird, ändert der Schauspieler seine Spielweise117 so offenkundig, dass der Zuschauer auf den ersten Blick diagnostizieren kann: Der Xala hat wieder zugeschlagen. Bezeichnenderweise wird der Verlust der Manneskraft von allen (auch von den ansonsten nur Französisch sprechenden Mitgliedern der Führungsriege) durchgängig als Xala bezeichnet. Mit Impotenz ist dieser Begriff aus dem Wolof wohl nur unzureichend übersetzt, scheint er doch eine okkulte Dimension einzuschließen: Niemand, nicht einmal Rama, die intellektuelle Tochter El Hadjis, bezweifelt, dass ein Fluch Ursache dieser Malaise sein muss. Allerdings wäre es falsch anzunehmen, dass Sembène hier die Wirkmächtigkeit afrikanischer Magie in Szene setzen will. Das Magische wird hier in Dienst der Dramaturgie gestellt, genauso wie die drei Götter, die Brecht vom Himmel herabsteigen lässt, um den guten Menschen von Sezuan zu suchen. Der Xala hat die Funktion, die soziale weiße Rolle des Protagonisten zu destabilisieren. Der Präsident der Handelskammer bekundet unter vier Augen die Ansicht, dass nur ein Marabout El Hadji heilen könne. Man fährt in aller Verschwiegenheit aufs Land, man setzt sich mit Anzughosen auf den Boden, man verfolgt besorgt, wie die Kaurimuscheln in den Korb fallen, man lauscht ergeben den Anweisungen. El Hadji zahlt jeden Preis. Er muss sich mit einer trüben Flüssigkeit einreiben, einen Fetisch aus Kaurimuscheln zwischen die Zähne nehmen und so präpariert auf allen vieren zum Bett der Jungfrau kriechen. Diese erschrickt und

117 Besonders in dieser Passage ist der gestische Spielstil des Protagonisten deutlich zu erkennen.

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schreit so laut, dass Badiene glaubt, die Ehe sei endlich vollzogen, aber El Hadji hat das wilde Tier nur gemimt. Erst ein zweiter, von seinem Chauffeur vermittelter Marabout bringt Linderung. Sembène inszeniert die Fahrt zum zweiten Heiler Serigne Mada als Reise in die Vergangenheit. Der Chauffeur bahnt dem Protagonisten den Weg. Er wird vom Befehlsempfänger zum Führer.118 El Hadji hat sein Jackett abgelegt. Verschwitzt sitzt er auf dem Rücksitz seines Mercedes, er ist ein Fremdkörper in den unermesslichen Weiten der Landschaft, die draußen vorüberzieht. Die Fahrt muss schließlich auf einem Karren fortgesetzt werden. Angekommen, soll sich der Patient zunächst seiner Kleider und damit seiner sozialen weißen Rolle entledigen.119 Nun integriert er sich optisch in den Hof Sérigne Madas, verschmilzt gleichsam mit dem Hintergrund. Sembène legt diesem Marabout einen zweiten Schlüsselsatz des Films in den Mund: „Was eine Hand genommen hat, kann sie wieder zurückgeben.“120 Sembène akzentuiert hier also nicht den magischen Aspekt der Heilung, er verweist vielmehr darauf, dass sich Hadji unrechtmäßig bereichert hat und nur geheilt werden wird, wenn er den Schaden wiedergutmacht. Wie die Wahrsagung der Badiene wird auch die des Marabouts immer wieder aufgegriffen. Damit gibt Sembène dem Zuschauer auch einen ersten Hinweis auf den Täter, denn als Ursache der Impotenz wird sich ganz am Schluss der Fluch eines blinden Bettlers namens Gorgui erweisen. Der Bettler ist ein Verwandter von El Hadji, den dieser vor seiner ersten Hochzeit um sein Erbteil betrogen hat. Gorguis Rache gilt diesem Vergehen. Mit dem Handlungsstrang um die Bettler setzt Sembène aber ein anderes, für seine didaktische Argumentation wichtigeres Vergehen El Hadjis in Szene: Er hat die unter den Folgen der Dürre leidende Landbevölkerung um den Reis betrogen, der ihr zugestanden hätte. Die Schar der Bettler begleitet El Hadji durch

118 Die Rolle des Chauffeurs weist zahlreiche Ähnlichkeiten zu den Dienerrollen des europäischen Theaters auf: Sie haben oft die Funktion eines Mittlers zwischen scharf getrennten Lebensräumen, zwischen gesellschaftlichen Schichten. Diener müssen ihren launischen Herren zwar gehorchen, in Zeiten höchster Not nehmen diese ihren Rat jedoch demütig an. Obwohl diese Diener häufig Befehle ausführen, die aus der Perspektive des Dramas negativ bewertet werden, wird ihre moralische Integrität meist nur mit einem Augenzwinkern zur Debatte gestellt. Der Chauffeur in XALA putzt das Auto mit importiertem Evian-Wasser. Er scheint die Chauffeursuniform mit Stolz zu tragen und sich in seiner gehobenen Stellung als Angestellter eines mächtigen Chefs zu sonnen, aber er vermittelt zwischen den beiden Lebensabschnitten El Hadjis. Wie andere Diener ist auch er ein armer Teufel, der im Grunde immer auf der richtigen Seite steht und so möglicherweise auch seinen Herren auf den rechten Weg führen kann. 119 Auch Murphy stellt fest, dass El Hadjis Kur bei Sérigne Mada maßgeblich durch das Ablegen westlicher Statussymbole bestimmt wird. Vgl. Murphy 2000: S. 117. 120 Da dieser Text in Wolof gesprochen wird, wurde hier der deutsche Untertitel zitiert.

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den ganzen Film. Sie wird der senegalesischen Elite antithetisch gegenübergestellt. Die neuen Herren gerieren sich als Städter, die Bettler kommen vom Land. Zögern die Mitglieder der Führungsriege keine Sekunde, ein nicht mehr finanzkräftiges Mitglied aus ihren Reihen zu verbannen, helfen sich die körperlich teils schwer behinderten Bettler untereinander. Sembène präsentiert diese Solidargemeinschaft als kommunistische Utopie.121 Viel Aufmerksamkeit widmet er in diesem Zusammenhang der Inszenierung der Mahlzeit der Bettler, die Betonung hier liegt auf der gemeinschaftsstiftenden Bedeutung des Teilens beim Essen.122 Während Sembène die Mitglieder der Elite als Epigonen der Europäer vorführt, pflegen die Bettler die traditionelle afrikanische Kultur. Die Klänge einer Kora und der Gesang von Gorgui durchziehen den ganzen Film.123 Sein Singen ist auch dann hörbar, wenn die Bettler nicht zu sehen sind. Wann immer El Hadji nach dem Urheber seines Xala sucht, wird seine Aufmerksamkeit auf die Bettler gelenkt. Gleichzeitig tarnt Sembène die Hinweise auf die Lösung des Falles: In bester Krimitradition steht der Täter gut sichtbar an der Peripherie der Handlung, ein idealer Platz – nicht zu sehr im Vordergrund, nicht zu weit im Hintergrund. So bleibt der Täter stets präsent und ist dennoch unauffällig.124 Une autre Afrique est possible: eine Lektion in Wolof Rama besucht die Universität. Sie arbeitet als Übersetzerin und engagiert sich für den Gebrauch des Wolof. Sie zögert nicht, sich ihrem Vater gegenüber als Frauenrechtlerin aufzuführen. Sembène zeigt die junge Intellektuelle hinter einem mit Büchern bepackten Schreibtisch, auch als sie am Ende des Films ihren Vater in seinem Büro aufsucht, schleppt sie einen Packen Bücher mit sich herum. Kein Zweifel, dass Sembène in dieser Szene die besitzende Klasse mit der intellektuellen Elite konfrontiert. Der Regisseur positioniert Rama ihrem Vater gegenüber. El Hadji hat er vor eine Karte gesetzt, auf der Afrika in die Nationen aufgeteilt ist, die aus den ehemaligen Kolonien hervorgegangen sind. Rama sitzt vor einer Zeichnung, die einen afrikanischen Kontinent ohne Grenzen zeigt. Die fünffarbigen Umrisslinien

121 Vgl. Sembène [1976] in: EZEF 1998: S. 3. 122 Vgl. Murphy 2000: S. 121/122. 123 Vgl. Gugler/Diop 1998: S. 155. Die Autoren behaupten, dass außer dem berühmten Griot Douta Seck, der den Gorgui spielt, alle anderen Schauspieler Laien seien. Aber auch Makhourédia Guèye, der den Präsidenten spielt, war, als XALA erschien, schon ein bekannter Schauspieler. Von ihm wird im Folgenden noch ausführlicher die Rede sein. Vgl. Teil II, Kap. 5.1, S. 175/176 und Teil II, Kap. 5.2, S. 181/182. 124 Haas 1971: S. 116/117.

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des Kontinents wiederholen sich im Streifenmuster von Ramas Überwurf.125 Das vom Vater angebotene Evian lehnt sie ab. Rama trinkt kein importiertes Wasser. Damit hat sie einen Stab über den Importhandel ihres Vaters gebrochen und ein Bekenntnis zur Unterstützung der Binnenwirtschaft abgelegt. Sie weigert sich, ihrem Vater auf Französisch zu antworten. Mit ihrem Bekenntnis zum Wolof spricht sie ein Verdikt über die soziale weiße Rolle ihres Vaters aus. Das Bild des Verräters schärft sich in der Auseinandersetzung mit dieser Verfechterin einer panafrikanischen Utopie. Der Protagonist von Xala ist ein Anti-Held. Die Heldin des Films heißt Rama. Aber nicht nur ihr Vater, auch einige Forscher haben mit dieser Vertreterin der jungen Generation ihre Probleme, denn Rama geriert sich ihrer Meinung nach nicht typisch afrikanisch.126 Mushengyezi bezeichnet sie sogar als „masculine female“. Rama trägt Jeans, was ihrer Erscheinung tatsächlich androgyne127 Züge verleiht. Problematisch ist aber, dass Mushengyezi das Adjektiv „männlich“ hier eindeutig mit einer negativen Konnotation gebraucht. Er stellt Rama als emanzipierte moderne Frau in eine Reihe mit Oumi, die er ebenfalls als „masculine female“ qualifiziert.128 Murphy findet Ramas Kleidung ebenfalls erklärungsbedürftig und vertritt die dubiose These, dass viele Afrikaner Jeans und TShirts tragen würden, weil das billiger sei als afrikanische Kleidung.129 Er stellt darüber hinaus fest, dass im Zimmer der eigensinnigen jungen Dame ein großes Plakat von Charly Chaplin als Tramp an der Tür prangt. Murphy findet es bemerkenswert, dass die schwarze Hoffnungsträgerin Rama einem Weißen einen Platz in Ihrem Zimmer reserviert.130 Chaplin war Kommunist, der Tramp höchstens ein „petit blanc“, kein Gegner also, sondern ein Verbündeter. Doch die Verunsicherung der Autoren, die sich mit der Figur Rama auseinandergesetzt haben, wirft die Frage auf, wie die Rolle der Rama zu verorten ist. An dieser Stelle möchte ich darauf hinweisen, dass der Begriff der weißen Rolle in dieser Untersuchung einem erkenntnistheoretischen Interesse dient. Daraus zu folgern, dass der weißen Rolle antithetisch eine schwarze Rolle gegenüberstehen müsste, wäre absurd. Mit dem

125 Diese signifikante Positionierung ist als Plädoyer für den Panafrikanismus zu werten. Vgl. dazu auch Gugler/Diop 1998: S. 151. 126 Vgl. z.B. Pfaff 1984: S. 158. 127 Zahlreiche Protagonistinnen afrikanischer Spielfilme sind Studentinnen mit einem auffällig androgynen Erscheinungsbild. Die bekannteste ist wohl Anta aus TOUKI BOUKI (Senegal 1973, R.: Djibril Diop Mambéty), die übrigens wie Rama von der Schauspielerin Miriam Niang gespielt wird. 128 Mushengyezi 2004: S. 49/50. 129 Vgl. Murphy 2000: S. 116. 130 Vgl. Murphy 2000: S. 105. Murphy konstatiert hier treffend, dass die Position Sembènes von der puristischen der Négritude abzugrenzen sei.

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heuristischen Begriff „weiße Rolle“ sollen nicht neue Kategorien konstruiert, sondern obsolete demontiert werden. Wie der Schüler in Brechts Das Leben des Galilei verweist die Rolle der Rama auf eine Zukunft jenseits der konstruierten Handlung: Gugler und Diop konstatieren treffend: „Rama [...] embodies the future, reborn Africa.“131 Nach dem Gespräch zwischen El Hadji und Rama führt Sembène den Zuschauer zurück in den Sitzungssaal der Handelskammer. Die Karriere des Protagonisten endet dort, wo sie begann. Den Mitgliedern der Handelskammer wird das Betriebskapital verweigert. Wegen der ungedeckten Schecks El Hadjis sind auch alle anderen in Misskredit geraten. Als El Hadjis finanzielle Mittel erschöpft sind, wird aus augenzwinkerndem Einverständnis moralische Entrüstung: Im Mittelpunkt der Anklage steht die Finanzierung der Heirat mit seiner dritten Frau, die Hochzeit also, auf der auch die Übernahme der Handelskammer gefeiert wurde – mit Geldern aus dem illegalen Verkauf von Hilfsgütern. El Hadjis Verteidigungsrede bezieht sich denn auch zunächst auf den Umstand, dass man mit seinem Ausschluss ein Bauernopfer bringen will: „Mes chers collègues et amis! Je veux savoir ce que dans mon attitude choque tant.“ Aber er holt noch weiter aus und thematisiert die Funktion der Institutionen im neuen Staat. Die Mitglieder der neuen afrikanischen Elite seien nicht mehr als „des minables commissionaires, moins que des sous-traitants [...] Nous sommes tous des culs-terreux dans le monde des affaires.“ Seine Kollegen reagieren heftig, El Hadji glaube sich wohl noch in der Kolonialzeit. Als der Angeklagte seine Verteidigung auf Wolof fortsetzen will, stößt er auf erbitterten Widerstand: „En français [...] raciste, réactionnaire.“ „De la civilisation, de la civilisation, même les insultes dans la bonne tradition de la francophonie“, fordern die aufgebrachten Kollegen. „Chacun de nous est un salaud!“ ruft El Hadji ihnen zu, alle hätten sie ungedeckte Schecks ausgestellt, sich Armee und Polizei durch Bestechung gefügig gemacht. Aber das Faktische hinter dem Nominellen zu verbergen ist oberstes Prinzip im postkolonialen Senegal. Damit, dass El Hadji sein Handeln als gängige Praxis der Führungsriege offenlegt, besiegelt er seinen Untergang, denn diese Politik braucht Diskretion. Er wird mit einstimmigem Votum ausgeschlossen. Was kann El Hadjis plötzliche Läuterung bewirkt haben? Die vorübergehende Heilung vom Xala, sein Gespräch mit der Tochter, die Ausweglosigkeit? Sembène begründet die Motivation seines Protagonisten nicht psychologisch. Für die Läuterung seines Protagonisten interessiert er sich nicht, er will sein Publikum belehren. Die Rede El Hadjis vor dem Tribunal hat eine dramaturgische Funktion. Sembène nimmt den Faden des Prologs wieder auf: El Hadji muss die Parabel zu Ende erzählen und zusammenfassen, was aus der Unabhängigkeitsbewegung geworden ist.

131 Gugler/Diop 1998: S. 148.

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Der Epilog Wie den Prolog hat Sembène auch den Epilog, die finale Abstrafung des Protagonisten, deutlich vom Hauptteil des Films abgesetzt. Allerdings fehlt jetzt jedes komödiantische Element. Die letzte Sequenz setzt sich zwar aus mehreren Szenen zusammen, dennoch scheinen sich diese Einzelszenen zu einem großen Bild zu kristallisieren. Aus den verschiedenen Kameraeinstellungen entsteht so etwas wie ein Schlusstableau. Die Bettler haben die Wohnung von Adja besetzt, in die sich El Hadji, von den beiden anderen Frauen verlassen, zurückgezogen hat. Der Aufzug der Bettler erinnert einerseits an eine Zusammenkunft auf einem Dorfplatz, wie man sie aus dem ethnologischen Film kennt, andererseits an den Auftritt des Chors in der griechischen Tragödie. Die Schar der Bettler hat im Halbkreis Stellung bezogen. Dem blinden Gorgui kommt die Rolle des Sprechers zu. Unterstrichen wird seine exponierte Stellung durch einen Stock, den er benutzt, um seine Rede zu skandieren. Wie ein dem Schnürboden entstiegener Deus ex Machina132 präsentiert er die Lösung des Falles und das Urteil über El Hadji: Wenn er wieder zum Manne werden wolle, müsse er sich ausziehen, damit ihn alle Bettler anspucken könnten. Adja erhebt Einspruch, vergebens. Zur Untätigkeit gezwungen, müssen sie und Rama weinend zusehen, wie dem Angeklagten der Brautkranz seiner dritten Frau wie eine Dornenkrone auf den Kopf gesetzt wird, aber El Hadji ist kein Märtyrer, sondern ein Verräter. Man hört die Bettler noch spucken, als das Bild schon eingefroren ist. Es zeigt einen Protagonisten, an dessen nacktem Oberkörper der Speichel hinunterläuft: Seiner weißen Rolle entledigt ist El Hadji nun ganz auf seine kreatürliche Existenz reduziert. Ein harter Schlussstrich: „The freeze frame that concludes the film is not easily forgotten“, schreiben Gugler und Diop.133 Warum dieser bittere Schluss? Das Bespucken der Bettler habe eine purifizierende Wirkung; mit dem Bestrafungsritual werde die Wiedergeburt des Helden nach dem Film eingeleitet, meint Françoise Pfaff.134 Gegen ihre These spricht, dass das Bild auf dem Höhepunkt der Demütigung angehalten wird, und dass ein solches Ritual für den Senegal nicht belegt ist.135 Zudem ist eines festzuhalten: Sembène war kein Esoteriker, sondern Marxist. Sein Protagonist agiert nicht in einer Tragödie, sondern in einer Parabel, und so wird er denn auch nicht für eine Hybris abge-

132 Vgl. Murphy 2000: S. 118. 133 Gugler/Diop 1998: S. 149. 134 Vgl. Pfaff 1984: S. 161. Pfaff und Mushengyezi weisen Adja hier die Rolle einer Geburtshelferin zu. Mushengyezi (2004: S. 58) betont in diesem Kontext, dass Awa, der Vorname Adjas, Eva (Lebensgeberin) bedeute. Dies scheint etwas weit hergeholt, denn Adja hat hier kaum mehr als eine Statistenrolle. 135 Murphy 2000: S. 123.

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straft, sondern für Fehlverhalten. El Hadji ist nicht als Identifikationsfigur konzipiert. Eine Identifikation mit dem Helden ist jedoch Voraussetzung, wenn der Zuschauer mittels Furcht und Mitleid jene Läuterung erfahren soll, die Aristoteles Katharsis nannte. Forscher, die im Zusammenhang mit XALA den Begriff „Katharsis“136 verwenden, lassen außer Acht, dass Sembène nicht auf Mitleid setzt. Brecht schreibt: „[wenn] wir die Empfindungen, Einblicke und Impulse der Hauptpersonen aufgezwungen bekommen, bekommen wir in Bezug auf die Gesellschaft nicht mehr, als das ‚Milieu‘ gibt.“137 Sembène wollte die gesellschaftlichen Verhältnisse im postkolonialen Senegal offenlegen, deswegen hat er seinen Protagonisten so konzipiert, dass der Zuschauer El Hadji gegenüber so viel Distanz wahrt, dass er ihn kritisch beobachten kann. Im Gespräch mit Rouch hatte Sembène gesagt: „Ce qui me déplaît dans l’ethnographie, excuse moi, c’est qu’il ne suffit pas de dire qu’un homme que l’on voit marche, il faut savoir d’où il vient, où il va.“138 Wohin El Hadji geht, lässt der Film offen. Für dieses Schlusstableau gilt in ganz besonderem Maße, was Murphy im Hinblick auf Sembènes gesamtes filmisches Œuvre bemerkt: „There is no dogmatic closure in Sembènes work: elements of didacticism are undermined by the revelation of fresh complexities, endings are characteristically freeze frame, the final outcome still unsure.“139 Mit Brecht könnte man sagen: „Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen Den Vorhang zu und alle Fragen offen. [...] Verehrtes Publikum, los, such dir selbst den Schluss! Es muss ein guter da sein, muss, muss, muss!“140

Im Mittelpunkt von XALA steht die Erziehung zur Eigenverantwortung. In diesem Sinne ist es dem Regisseur daran gelegen, immer wieder Handlungsspielräume herauszustellen. Sieht man einmal von der Nebenrolle der Rama ab, werden in diesem Film keine Identifikationsangebote gemacht. Die distanzierte, gestische Spielweise der Figuren hält den Zuschauer auf Abstand. Im Sinne Brechts soll dadurch erreicht werden, dass der Zuschauer die Notwendigkeit des gezeigten Verhaltens in Frage stellen kann. Die Figuren mussten nicht so handeln, sie hätten auch anders

136 Vgl. z.B. Mushengyezi 2004: S. 56. 137 Brecht [1948] 1994: S. 37. 138 Sembène zitiert nach Cervoni [1965] 2005: S. 80. 139 Murphy 2002: S. 117. 140 Epilog aus Der gute Mensch von Sezuan. Brecht [1953] 1964: S. 144.

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handeln können.141 Wie, das wollte Sembène mit seinem Publikum diskutieren: „Als ich Xala herausbrachte, hatte ich jeden Abend mindestens dreihundert Personen im Publikum, mit denen ich in kleinen Gruppen diskutierte. Der Film diente uns in Wirklichkeit bloß als Hintergrund, auf dem wir gemeinsam nachdenken konnten.“142 Der revolutionäre Feuereifer Sembènes mag dem abgeklärten heutigen Betrachter vielleicht nur noch ein nachsichtiges Lächeln entlocken, dennoch wird er zugeben müssen, dass dieser Regisseur erreicht hat, was er wollte: Seinem Film XALA war auf dem afrikanischen Kontinent ein sensationeller Erfolg beschert. Murphy berichtet: „One of the most interesting facts about Sembene’s satirical film Xala is that it managed to achieve that which is so elusive for most African films, that is, popular box-office success within Africa. It finished second in the 1975 Senegalese ratings behind a film featuring the formidable Bruce Lee, the most successful of the Kung Fu kings who still dominate the screens of African cinemas today.“143

1.3 D IAGNOSEN Es lassen sich einige bemerkenswerte Analogien zwischen LES MAÎTRES FOUS und XALA konstatieren: Beide Filme zeigen afrikanische Performanzen sozialer weißer Rollen.144 Der Zuschauer kann beobachten, wie die Hauka in Trance fallen und dann von den Geistern ihrer Kolonialherren besessen werden. Er kann verfolgen, wie die Widerstandskämpfer nach der Eroberung des Chambre de Commerce zu Neokolonialisten mutieren. Die damit einhergehende Veränderung der Individuen ist in beiden Fällen deutlich zu erkennen. Rouch und Sembène repräsentieren den Abstand zwischen Vorher und Nachher durch einen Weg: Rouch zeigt, wie die Hauka zu einem entlegenen Platz fahren, um sich von dem hektischen Getriebe in Accra abzusetzen. Dort angekommen laufen sie gegen den Uhrzeigersinn, kreisförmig in die Trance, um sich den Geistern ihrer Kolonialherren als Medien zur Verfügung zu stellen. In XALA lösen sich die Mitglieder der zukünftigen Elite aus

141 Vgl. Brecht [1937-1951] 1994: S. 734ff; und ders. [1948] 1994: S. 37ff. 142 Sembène [1976], zitiert nach EZEF 1998: S. 2. 143 Murphy 2000: S. 98. 144 Klaus-Peter Köpping plante für die DGV-Tagung 2009 zu den hier thematisierten Filmen einen Vortrag mit dem Titel „Contamination and the Abduction of Agency as Forms of Subversion of Hegemony. The films of Jean Rouch and Ousmane Sembene“. Er musste ihn bedauerlicherweise absagen, und auch seine angekündigte Publikation ist bisher leider noch nicht erschienen.

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einer großen Gruppe demonstrierender Senegalesen. Sie ersteigen eine Treppe und begeben sich in den Sitzungssaal der Handelskammer, wo sie kurz darauf in ihren sozialen weißen Rollen auftreten. Aus der Perspektive der Hauka und aus der von Sembène konstruierten Perspektive des Films XALA bleiben Europäergeister und weiße Rollen vom eigentlichen Selbst unterschieden. Die Besessenheit von den Europäergeistern ist nur temporär, und auch El Hadji wird seine weiße Rolle wieder ablegen. Das Ende des Rituals und der Ausstieg aus der sozialen weißen Rolle in XALA erscheinen jeweils als eine Wiederherstellung des Normalzustands. In beiden Filmen ist die Auseinandersetzung mit sozialen weißen Rollen mit Krankheit korreliert. Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung ist insbesondere die Betrachtung der Unterschiede zwischen LES MAÎTRES FOUS und XALA aufschlussreich: Zwischen den Uraufführungen der beiden Filme liegen ungefähr 20 Jahre. LES MAÎTRES FOUS ist in einem kolonialen Machtgefüge entstanden, als Afrikaner noch keine eigenen Filme drehen konnten. Mangels eigener Produktionsmittel haben die Hauka einen französischen Regisseur gebeten, ihr Ritual aufzuzeichnen. Da Rouch die Performanz der Hauka durch Kameraführung, Montage und Kommentar strukturiert hat, gilt er als Autor von LES MAÎTRES FOUS. Der Film wurde als ethnologischer Dokumentarfilm präsentiert und rezipiert. Das hat dazu geführt, dass LES MAÎTRES FOUS, obwohl er auf Initiative der Hauka entstanden war, als Film über Afrika, nicht als Film aus Afrika wahrgenommen wurde. XALA ist im postkolonialen Kontext entstanden. Sembène hat seinen Film als Autor von XALA in den Dienst seiner politischen Argumentation gestellt. Der Perspektivwechsel ist vollzogen: XALA wurde als Film aus Afrika wahrgenommen. Bei dem Besessenheitsritual der Hauka und im Film XALA stehen jeweils andere soziale weiße Rollen im Zentrum: In der britischen Kolonie Goldküste waren die Hauka insbesondere mit der Macht des weißen Militärs konfrontiert. Die Europäergeister, die von den Hauka Besitz ergreifen, sind mehrheitlich hochrangige Militärs. Sie manifestieren sich durch spezifische Performanzen der weißen Körpertechnik Drill, die als konstitutives Merkmal der Europäergeister in Erscheinung tritt: Emblematisch sind hier der „slow march“, das militärische Salutieren, abgehackte Bewegungen und das Sprechen im Modus des Stakkato. Im postkolonialen Senegal manifestiert sich die Macht der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich in einer ökonomischen Abhängigkeit. In XALA übernehmen die senegalesischen Mitglieder der Handelskammer die Rollen weißer Geschäftsleute und damit das Gebaren der europäischen Bourgeoisie. Emblematisch sind hier afrikanische Performanzen des französischen Savoir vivre: etwa das zeremonielle Öffnen einer Champagnerflasche und das Anstoßen auf El Hadjis Hochzeit. Die Epigonen der Weißen schreiten gravitätisch. Sie unterhalten sich in gedämpften Konversationston. Bei den jeweiligen Performanzen der ungleichen weißen Körperlichkeiten kommen unterschiedliche Techniken zum Tragen. Die Hauka erfahren sich als von

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den Europäergeistern bewegte Medien, die im Zustand der Trance die Kontrolle über sich selbst aufgeben. Sembène dagegen betont mit seiner Entscheidung für einen dezidiert kontrollierten Darstellungsmodus die Freiräume bei der Gestaltung der sozialen Rollen, Handlungsspielräume also, die die Hauka noch gar nicht hatten. Im Zustand der Trance wird die Distanz zu den Geistern der Europäer aufgehoben – die gestische Spielweise in XALA akzentuiert die Distanz zur sozialen weißen Rolle. Während sich die Gesten der Hauka nur partiell dechiffrieren lassen, setzt die gestische Spielweise, die in XALA zur Anwendung kommt, auf komplexe, aber verständliche Zeichen. Die Wirkung der Performanz der Hauka besteht darin, dass Vorgänge jenseits des Verbalisierbaren in Erscheinung treten können. Die Deutung ihrer Performanz bleibt letztlich Spekulation. Sembène will mit seiner Inszenierung soziale Vorgänge offenlegen und so den Zuschauer zum Denken und Verbalisieren seiner Gedanken animieren. Die Stoßrichtung seiner filmischen Argumentation ist deutlich erkennbar. Die unterschiedlichen Modi der Performanzen in LES MAÎTRES FOUS und XALA korrespondieren also mit den jeweiligen Rahmenbedingungen und der jeweiligen Zielsetzung. Die Besessenheit von Fremdgeistern sollte eine heilende Wirkung bei den Teilnehmern des Rituals entfalten, diese bleibt im Rahmen von LES MAÎTRES FOUS auf Individuen beschränkt – gesellschaftliche Veränderungen zu projektieren wäre zur Kolonialzeit unrealistisch gewesen. Der Modus der Performanz der Hauka, nämlich das Reagieren auf Fremdgeister, die Erfahrung der Passivität, korrespondiert mit ihrer Alltagssituation, denn ihr Aktionsradius war im kolonialen Machtgefüge beschränkt. Anders im postkolonialen Kontext: Sembène setzt den Entscheidungsspielraum der Akteure in Szene. In XALA schafft sich die Elite die Situation, in der sie agiert, selbst. Der Regisseur stellt seine Inszenierung der Übernahmen von sozialen weißen Rollen in den Dienst einer Argumentation, die gesamtgesellschaftliche Veränderungen anvisiert. Die Krankheit, der XALA, ist das Symptom eines gesellschaftlichen Missstands. Aber die Heilung des Individuums ist in diesem Film nur eine Voraussetzung, um das Übel an der Wurzel zu packen: Es gilt, die krankmachende Struktur zu ändern, und dabei kommt dem einzelnen Akteur viel Verantwortung zu.

2.

Peau noire, masques blancs

In ihrem Artikel zu XALA schreiben Josef Gugler und Oumar Cherif Diop: „Sembènes portrayal of the beggars echoes Fanon’s faith in the revolutionary potential of the Lumpenproletariat.“1 Weiter heißt es: „If the wretched of the earth, to use a phrase coined by Fanon, can curse and cleanse, are they a political force to be reckoned with?“2 Marx habe dem Lumpenproletariat eher reserviert gegenübergestanden, bemerken die Autoren: Der Umstand, dass Sembène die Bettler in seinem Film exponiere, weise darauf hin, dass sich Sembènes Sichtweise sukzessive von einer marxistischen zu einer an Fanon orientierten entwickele.3 Dass die Autoren in Bezug auf Sembènes Film wiederholt auf Fanons Les damnés de la terre4 verweisen, nicht aber auf sein 1952 erschienenes Werk Peau noire, masques blancs, 5 hat seine Berechtigung: In die Konzeption von XALA ist Fanons Analyse der ökonomischen Verhältnisse im kolonialen Machtgefüge eingeflossen, die in Les damnés de la terre im Mittelpunkt steht, nicht aber seine psychoanalytische Betrachtung von individuellen Schicksalen in Peau noire, masques blancs. Fanon stellte zwar auch in Peau noire, masques blancs die Bedeutung wirtschaftlicher Fragen heraus,6 und er analysiert in Les damnés de la terre die Psychogenese von Intellektuellen aus kolonisierten Ländern. Gleichwohl lässt sich in der 1961 (also fast zehn Jahre später) erschienenen Publikation eine deutliche Politisierung Fanons nachweisen. Die psychoanalytische Perspektive auf einzelne Individuen, die Fanon in Peau noire, masques blancs entwickelt, wird aber bei der nun folgenden Betrachtung zweier Filme fruchtbar sein, die vor XALA in die Kinos kamen: ET LA NEIGE

1

Gugler/Diop 1998: S.149.

2

Gugler/Diop 1998: S.151.

3

Gugler/Diop 1998: Fußnote, S. 155.

4

Fanon [1961] 2007.

5

Fanon [1952] 2007.

6

Vgl. Fanon [1952] 2007: S. 8.

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erschien bereits 1965, BOUBOU CRAVATE8 1972. Die Protagonisten dieser Filme gehören ebenfalls der afrikanischen Elite an, doch anders als El Hadji haben sie ein Studium in Frankreich absolviert. 1952 hatte Fanon bemerkt, dass der Aufenthalt im Land der Kolonialherren gravierende Folgen habe: „Le noir, qui pendant quelque temps a vécu en France, revient radicalement transformé.“9 In Peau noire, masques blancs geht es zwar nicht nur um Heimkehrer, aber Fanon kommt immer wieder auf sie zurück, insbesondere in den Kapiteln „Le noir et le langage“ und „L’homme de couleur et la femme blanche.“10 Die psychische Disposition der Heimkehrer, die Fanon als eine Entfremdung vom eigentlichen Selbst diagnostiziert, sei dadurch bestimmt, dass sie sich lange in einem von Weißen dominierten Umfeld bewegt hätten. Obwohl sich Fanon von essentialisierenden Positionen der Négritude distanziert,11 verweist er in diesem Zusammenhang auf Aimé Césaire, einen der wichtigsten Vertreter dieser Strömung, und auf Césaires im Jahre 1939 erstmals publiziertes Cahier d’un retour au pays natal.12 Um seinem Leser die von ihm untersuchte Psychopathologie, mithin die Zerrissenheit seiner Patienten plastisch vor Augen zu führen, verwendet Fanon häufig literarische Texte. Zur Einführung in den Film ET LA NEIGE N’ÉTAIT PLUS sei hier ein in Peau noire, masques blancs abgedrucktes Gedicht von David Diop zitiert: N’ÉTAIT PLUS

7

Le Renégat Mon frère aux dents qui brillent sous le compliment hypocrite Mon frère aux lunettes d’or Sur tes yeux rendus bleu par la parole du Maître Mon pauvre frère au smoking à revers de soie Piaillant et susurrant et plastronnant dans les salons de la Condescendance Tu nous fais pitié Le soleil de ton pays n’est plus qu’une ombre Sur ton front serein de civilisé Et la case de ta grand-mère Fait rougir un visage blanchi par des années d’humiliation et de Mea Culpa Mais lorsque repu de mots sonores et vides

7

ET LA NEIGE N’ÉTAIT PLUS, Senegal 1965, R.: Ababacar Samb Makharam.

8

BOUBOU CRAVATE, Kamerun 1972, R.: Daniel Kamwa.

9

Fanon [1952] 2007: S. 15.

10

Fanon [1952] 2007: „Le noir et le langage“: S. 13-32, „L’homme de couleur et la

11

Vgl. Fanon [1952] 2007: S. 187: „Il ne faut pas fixer l’homme, puisque son destin est

12

Césaire [1939] 1988. Vgl. Fanon [1952] 2007: S. 17.

femme blanche“: S. 51-66. d’être lâché.“

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Comme la caisse qui surmonte tes épaules Tu fouleras la terre amère et rouge d’Afrique Ces mots angoissés rythmeront alors ta marche inquiète Je me sens si seul, si seul ici!13

2.1 E T

LA NEIGE N ’ ÉTAIT PLUS

Wer den Film ET LA NEIGE N’ÉTAIT PLUS sehen will, muss sich in das Archiv von Culturesfrance bemühen.14 Dort hat ihn auch Lindiwe Dovey gesehen. Sie erwähnt die Sichtung dieses Films, um die eigentümliche Atmosphäre in diesem Archiv zu beschreiben: Mitten in Paris liegen viele afrikanische Film-Experimente in einem Dornröschenschlaf, Culturesfrance bewahrt die größte Sammlung afrikanischer Zelluloidfilme.15 Der senegalesische Regisseur Ababacar Samb Makharam hat seinen ersten Film ET LA NEIGE N’ÉTAIT PLUS nach einer Ausbildung am Centre d’Art dramatique in Paris und einem Studium an der renommierten Filmhochschule Centro sperimentale in Rom fertiggestellt. Vielleicht werden Plattformen wie YouTube in Zukunft gewährleisten, dass die ambitionierten Kurzfilme von Filmhochschulabsolventen nicht mehr in Archiven verstauben, nachdem sie den Parcours der Festivals durchlaufen haben. Das wäre wünschenswert, denn gerade diese Filme zeichnen sich auf vielerlei Weise aus: Im Schutzraum „Filmhochschule“ wird die Entfaltung der Persönlichkeit gefördert, später im Kampf um Gelder sind Zugeständnisse erforderlich. Gerade die jungen Regisseure setzen sich mit der kinematographischen Avantgarde ihrer Zeit auseinander, und gerade sie greifen mit Verve aktuelle gesellschaftliche Problematiken auf, so auch Samb Makharam in seinem nur 22 Minuten langen Schwarzweißfilm. Die ästhetische Qualität, die ET LA NEIGE N’ÉTAIT PLUS von der ersten Kameraeinstellung an auszeichnet, ließe sich auf YouTube allerdings kaum erahnen. Yannick Le Naour von Culturesfrance konstatiert, dass selbst die sorgfältig restaurierte digitalisierte Fassung gegenüber dem Zelluloidfilm Defizite bezüglich der fein differenzierten Grauwerte aufweist.16 Insbeson-

13

Diop: „Le Renégat“, zitiert nach Fanon [1952] 2007: S. 111 [Hervorhebung im

14

Im Kino ist er nur selten zu sehen. 2008 lief er im Institut Léopold Sédar Senghor von

15

Vgl. Dovey 2009: S. 177.

16

Yannick Le Naour, die in den Danksagungen unzähliger Doktorarbeiten zum afrika-

Original]. Dakar, aber auch ich habe ihn im Archiv von Culturesfrance gesehen.

nischen Film erwähnt wird, ist mittlerweile im Ruhestand. Ich hatte kurz vor ihrer Verabschiedung im Januar 2010 noch einmal Gelegenheit zu einem ausführlichen Gespräch mit ihr.

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dere aus einer historisch interessierten Perspektive erweist sich die Betrachtung des vergessenen Kleinods von Samb Makharam als sehr aufschlussreich. ET LA NEIGE N’ÉTAIT PLUS erschien 1965 nur zwei Jahre nach BOROM SARRET, dem ersten Spielfilm von Sembène.17 Wollte man den Unterschied zwischen den beiden Kurzfilmen18 mithilfe einer Opposition umschreiben, könnte man behaupten, BOROM SARRET sei episch, ET LA NEIGE N’ÉTAIT PLUS lyrisch. Samb Makharams Protagonist versucht, die widersprüchlichen Gefühle, die sich seiner nach einem Studium in Paris bei der Rückkehr in den Senegal bemächtigen, in Worte zu fassen. Sein Monolog zeugt nicht nur von Samb Makharams intensiver Beschäftigung mit afrikanischer Lyrik, sondern auch von seinem ausgeprägten Interesse an psychologischen Vorgängen. ET LA NEIGE N’ÉTAIT PLUS ist ein poetisches Psychogramm: Die Kameraeinstellungen zeigen die Stationen der Rückkehr häufig aus der Perspektive des Heimkehrenden, er kommentiert sie aus dem Off. In anderen Einstellungen ist der Protagonist selbst zu sehen, hier ist der Off-Text von einer quasi psychoanalytischen Distanz gekennzeichnet, mit der sich der Ankommende selbst beobachtet. Die Ankunft Der Regisseur bereitet die Ankunft seines Protagonisten vor. Er zeigt einen älteren Afrikaner im weißen Überwurf im hellen nüchternen Wartesaal eines Flughafens. Die Figur strahlt würdevolle Gelassenheit aus, aber die Kamera entdeckt die wippende Spitze seines Babouches,19 die gespannte Nervosität verrät. Der Lautsprecher kündigt die Ankunft einer Maschine aus Paris an. Dann zeigt eine totale Einstellung ein Rollfeld im gleißenden Sonnenlicht. Die Passagiere entsteigen dem gerade gelandeten Flugzeug. Die Kamera bleibt auf Distanz und fokussiert einen großen, schlanken Afrikaner im Herrenanzug. Er und der Mann, der eben noch gewartet hatte, umarmen sich. Vater und Sohn sind sich nach langer Zeit zum ersten Mal wieder begegnet. In XALA wirkten die Darsteller in ihren steifen Jacketts verkleidet und linkisch. Der Ankömmling in ET LA NEIGE N’ÉTAIT PLUS versteht es, sich in seinem Anzug souverän zu bewegen. Aber nun setzt der innere Monolog ein und relativiert das selbstsichere Erscheinungsbild des jungen Mannes: „Pourquoi tu as peur?“ Eine kurze Bewegungssequenz nimmt auf diese Frage Bezug: Der gerade Angekommene entledigt sich kurz seiner Sonnenbrille, um sie sogleich wieder aufzusetzen – wird

17

Vgl. Teil I, Kap. 1, S. 35.

18

Im französischen Sprachraum werden die beiden Filme meist mit der in Deutschland nicht gebräuchlichen Kategorie „moyen métrage“ klassifiziert.

19

Als Babouches bezeichnet man die Schuhe, die Männer traditionellerweise zum Boubou tragen.

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er das helle Licht ertragen? In XALA hatten die Mitglieder des Chambre de Commerce bekundet, in der Hitze von Dakar nicht mehr ohne Ventilator auszukommen.20 Auch der Protagonist im Film vom Samb Makharam scheint die Gegebenheiten in Afrika nicht mehr ohne Hilfsmittel aus dem Westen zu ertragen, aber er beobachtet die Veränderung seiner Wahrnehmung selbstkritisch. Er erinnert sich, dass seine Sehnsucht in Europa nur auf ein fernes Ziel gerichtet war: „L’Afrique regrettée dans le froid et la neige [...] L’Afrique embellie par ton absence“, aber nun hat er dieses Ziel erreicht:„Qu’éprouves-tu? Inquiète!“ lautet die Frage, die ihn während es ganzen Films begleiten wird. Die senegalesischen Mitglieder des Chambre de commerce hatten ihre sozialen weißen Rollen bewusst übernommen, um sich von anderen Afrikanern zu distanzieren und ihre Zugehörigkeit zur besitzenden Klasse zu demonstrieren. Anders der Protagonist in ET LA NEIGE N’ÉTAIT PLUS: Erst in Afrika wird ihm bewusst, dass er sich im Ausland verändert hat, und er konstatiert die Resultate seiner „weißen Sozialisation“ mit Beunruhigung: „Qu’es-tu devenu? As-tu changé?“ fragt er sich verunsichert, während er in ein bereitstehendes Auto steigt. Die während der Autofahrt eingefangenen Bilder wechseln in schnellem Rhythmus. Der Ankömmling beobachtet im Vorüberfahren Menschen, die vor ihren Hütten ihren alltäglichen Beschäftigungen nachgehen. Zwei Frauen stampfen gemeinsam Hirse. Bei diesem Anblick konstatiert der Ankömmling, dass ihm der westliche Komfort zur Gewohnheit geworden ist, und er überlegt, ob es nicht angebrachter wäre, zunächst in einem Hotel abzusteigen. Ein Besuch bei der Familie Das Auto hat mittlerweile ein Stadtviertel erreicht, in dem Bäume die Straße säumen. Der Wagen kommt schließlich vor einer hohen Steinmauer zum Stehen. Die Kamera greift vor: In einem von eben dieser Mauer eingefassten Hof nimmt eine füllige ältere Frau hinter einer großen weißen Schale Platz. Nicht nur ihre langsamen Bewegungen auch die Reduktion der gezeigten Gegenstände verleihen dieser Einstellung einen fast meditativen Charakter. Mehrere jüngere Frauen kommen dazu. Aus dem Off imaginiert der Ankömmling bereits, was ihn jenseits der Mauer erwarten wird. Er stellt fest, dass ihn der Gedanke an seine Familie mit Schrecken erfüllt. „Et ta famille, ta nombreuse famille africaine. Y auras-tu la place qui te

20

Der Ventilator taucht in den in dieser Untersuchung behandelten Filmen immer dann auf, wenn die zunehmende Abhängigkeit von westlichen Konsumgütern thematisiert wird. Die afrikanischen Konsumenten bekunden dann mit einem gewissen Stolz, dass sie die lokalen Gegebenheiten nicht mehr ertragen, so als sei diese Sensibilisierung ein Ausweis einer „Zivilisierung“. Vgl. dazu auch Teil II, Kap. 5.2 HYÈNES, S. 184.

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convient? Sais-tu maintenant où est ton nécessaire, où ton superflu.“ Ein Schnitt: Zwei grazile Mädchen sind auf den Ankömmling zugelaufen. Die Angehörigen umringen ihn. Die Muster der afrikanischen Stoffe ihrer Kleider entfalteten in dem Schwarzweißfilm eine besondere Wirkung durch die rhythmische Anordnung der Grautöne – Der Ankömmling wirkt in seinem monochrom dunklen Anzug wie ein Gast, nicht wie ein Familienmitglied. Er beobachtet sich nicht nur selbst, er reflektiert auch den Modus seines Nachdenkens: „Tu dis ,ils‘, comme si tu n’étais pas un des leurs.“ Während er noch überlegt, ob er sich wirklich wieder in die Gesellschaft integrieren kann, in die er sich eigentlich gerne als nützliches Mitglied einfügen will, zieht er sein Jackett aus und hängt es an den Ast eines Baumes – ein erster zögerlicher Versuch anzukommen. Das Jackett wird sachte vom Wind bewegt, jetzt ist es kein Fremdkörper mehr, es hat sich in den Rhythmus des Hofes eingefügt. Der Vater des Protagonisten streift seine Babouches ab, bevor er sich zum Essen setzt. Der Sohn behält seine schwarzen Herrenschuhe an. Sie wirken auf dem feinen hellen Sand des Hofes deplatziert, fast unhöflich. Schuhe sind in diesem Film Metaphern für Standpunkte. Häufig sind Füße im Bild, sie verraten die Befindlichkeit der Figuren. Hier deuten die zögerlichen Schritte des Heimkehrers seine innere Zerrissenheit an. Die Begrüßung war herzlich, aber als ihm eine seiner Cousinen unaufgefordert einen Löffel reicht, verstärkt sich die Scheidelinie zwischen den Daheimgebliebenen und dem Heimgekehrer: „La cuillère, la nouvelle formule de la distance.“ Der Blick der Kamera – hier die Subjektive des Protagonisten – streift die anderen, die ruhig mit der Hand essen, er bleibt an einer sehr alten Frau hängen, die während des Essens ihren Blick in das Weite richtet. „Calme-toi play-boy, jeune taureau, regarde ta grand-mère, elle n’a pas besoin d’une cuillère.“ Die alte Frau wisse, dass der Fortschritt nicht durch die Einführung von Löffeln vorangetrieben würde. Der Begriff „progrès“ fließt häufig in seine Überlegungen ein, mal mit einer positiven, mal mit einer negativen Konnotation – allerdings ohne dass er je konkretisiert würde, doch der Gedanke an die Notwendigkeit von Fortschritt kommt auch in dem geschlossenen, scheinbar funktionierenden System des Hofes auf. „Deviens l’éclaireur de ta famille!“ Der Heimkehrer scheint zu glauben, dass ihm eine Mission aufgetragen sei. Einen Satz später stellt er seine Berufung aber auch schon wieder in Frage: „Faut-il?“ In Europa hatten ihn nie Selbstzweifel befallen: „Tu ne doutais pas de toi en Europe, faut-il en arriver à ton retour?“ Er beobachtet, wie sich sein Cousin mit Hilfe eines kleinen Wasserkessels die Füße wäscht, dabei kommt in ihm die Frage auf, ob sein Studium in Paris sinnvoll war. Er ist weggegangen, der Cousin ist geblieben, „Le cousin qui protégeait toute la famille.“ Das scheinbar selbstgenügsame Gefüge im Hof scheint also doch des Schutzes zu bedürfen, und obwohl der Akademiker seinen Auslandsaufenthalt über ein Stipendium finanzieren konnte, scheint er in der Schuld zu stehen. Eine kurze Einstellung beleuchtet die Sinnfrage noch einmal aus einer anderen Perspektive. Seine erwachsenen Cousinen sind ganz in ein Spiel versunken. Nichts

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hat Wichtigkeit außer der Anordnung von einigen Kieselsteinen in die dafür vorgesehene Holzschale. Ein Zeitvertreib, eine Zeitverschwendung? Die Off-Stimme kommentiert das Verhältnis der jungen Frauen zu ihrer Lebenszeit so: „Elles savent où elles vont, elles sont calmes.“ „Croire, croire, croire, c’est l’essentiel“, suggeriert die Off-Stimme beschwörend, kurz darauf stellt sie die Frage, ob es noch ausreicht, an einen Gott zu glauben. Der Sohn sieht seinen Vater gewissenhaft die Bewegungsabläufe eines muslimischen Gebetes ausführen, sich selbst wirft er vor, ein Tourist „en mal d’exotisme“ zu sein, einer der nur ankommt, um wieder abzufahren. Nach dem Essen hat er sich eine Zigarette angezündet, rauchend an einen Baum gelehnt stellt er fest, dass sich nun jenseits der von hohen Mauern eingefassten Familienidylle moderne Betonbauten auftürmen. Der Mikrokosmos Familie wird in dieser Kameraeinstellung als Teil eines größeren im Wandel begriffenen Systems gezeigt. Der Protagonist wird noch einmal aufbrechen müssen, um endgültig anzukommen. Vater und Sohn verlassen den Hof gemeinsam, aber nicht über den Eingang, durch den sie angekommen sind, nach der anderen Seite öffnet sich die Bleibe der Familie in das moderne großstädtische Dakar. Irrlichter Wieder wechselt der Rhythmus im Film: der Vater verabschiedet den Sohn auf einem breiten, stark befahrenen Boulevard. Er wird zum Ausgangspunkt seiner Odyssee durch das moderne Afrika. Ein Schnitt, und von einer Bergeshöhe öffnet sich der Blick auf eine Bucht, einige Yachten liegen vor Anker – fast glaubt man sich an der französischen Mittelmeerküste, die einsetzende Jazzmusik verstärkt diesen Eindruck. Der Protagonist, nun im hellen Anzug, steigt federnden Schrittes eine Holztreppe hinab. Sie führt zu einem Café, das sich auf einem breiten Anlegesteg befindet. Unter den Sonnenschirmen mit der Aufschrift „motta gelati“ sitzen elegante Afrikaner in westlicher Kleidung. Der Ankömmling hat sie bereits kritisch in den Blick genommen, auch in ihm ist das Bild eines anderen Kontinents aufgekommen. Er erinnert sich an Europa „avec ses meilleures traditions“. Hier entdeckt er nur „plaisirs éphémères“ und Imitationen des westlichen Luxus: „[des noirs] singeant la vie des blancs.“ Zunächst glaubt man die Gäste der Hochzeitsgesellschaft von XALA wiederzuerkennen, aber Samb Makharam zeigt keine Geschäftsleute, in diesem Café sitzt die junge intellektuelle Elite. Im Hintergrund sieht man ein paar Weiße. Ein Afrikaner im schwarzen Anzug schüttelt dem Ankömmling freudig die Hand, aber die Off-Stimme fragt besorgt: „Ton appel a-t-il un effet chez eux?“ Den Inhalt seiner Sendung präzisiert der Heimkehrer aber genauso wenig wie seine Mission im Hof seiner Familie. Der Protagonist unterscheidet sich in diesem Café, was seine äußerliche Aufmachung angeht, nicht von den anderen, doch im Off grenzt er sich von den „blancs à peau noire“ ab. Anders als El Hadji und seine Kollegen, dis-

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kutieren die jungen Afrikaner Begriffe wie „progrès, socialisme et éducation“, aber die Frauen tragen Perücken wie Oumi, die Männer Krawatten wie die Mitglieder des Chambre de commerce. Die Off-Stimme stellt Betrachtungen über den Duktus der an den Tischen geführten Debatten an: „Cette violence verbale dans toute discussion, n’est-elle pas l’expression d’un désarroi intérieur?“ Ein Schnitt: Wieder tritt die Jazzmusik in den Vordergrund, und wieder zeigt die Kamera von einer Anhöhe eine Szenerie, die man in Südfrankreich verorten könnte. Diesmal richtet sie den Blick von einer breiten, weißen Treppe hinab auf eine Uferpromenade. Im Gegenschnitt sieht man eine junge Afrikanerin mit Sonnenhut und gestreifter Hose. Mit der Geschmeidigkeit eines Raubtiers kommt sie die Treppe hinab. Gekonnt lässt sie ihre Hüllen fallen und präsentiert sich im Bikini. Wie Photomodelle in den sechziger Jahren am Strand von Saint-Tropez räkelt sie sich lasziv auf ihrem Badehandtuch. Die Off-Stimme stellt der jungen Dame einem anderen Frauentyp gegenüber: „la mère africaine dont parlent les poètes.“ Poesie generöser afrikanischer Mütterlichkeit hier – berechnende Koketterie da. Samb Makharam akzentuiert die Polarisierung, indem er in der nächsten Einstellung die Modezeitschriften zeigt, welche die junge Frau mitgebracht hat. Eine heißt „Fascination“, auf dem Titelbild ist eine Frau mit blonder Dauerwelle abgebildet. Der Protagonist liegt neben der modebewussten Afrikanerin auf einer Luftmatratze und konstatiert, „un manque de simplicité, elle est sophistiquée, elle t’appelle son petit noir“. Es könnte sich der Verdacht aufdrängen, dass ihr ein Weißer lieber wäre. Fanon hat dieser sexuellen Präferenz ein Kapitel von Peau noire, masques blancs gewidmet: In „La femme de couleur et le blanc“21 schreibt er: „Le grand rêve qui les hante est celui d’être épousées par un blanc d’Europe. On pourrait dire que tous leurs efforts tendent vers ce but [...]. Leur besoin de gesticulation, leur amour de parade ridicule, leurs attitudes calculées, théâtrales, écœurantes, sont autant d’effets d’une même manie des grandeurs, il leur faut un homme blanc, tout blanc, et rien que cela.“22

Die Bikinischönheit beginnt, ihre Perücke zu frisieren. Ein Schnitt auf eine weiße Frau, auch sie kämmt glatte Haare, allerdings ihre eigenen. Die Afrikanerin ist ins Wasser gegangen. Sie winkt dem Protagonisten, ihr zu folgen, aber der widersteht dem Ruf der Sirene und wendet sich zum Gehen. Die nächste Einstellung zeigt eine Landstraße, wieder kommt dem Protagonisten eine junge Frau entgegen. Diese trägt eine große Zinkwanne auf dem Kopf. Zunächst säumen hohe Bäume die Straße, dann sieht man die Frau vor einer Zeile mit

21 22

Fanon [1952] 2007: S. 33-50. Fanon [1952] 2007: S. 46. Fanon glaubt, dass insbesondere gebildete Frauen darauf fixiert seien, einen Weißen zu heiraten. Vgl. Fanon [1952] 2007: S. 47.

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Neubauten. Die Kameraführung suggeriert, dass auch eine traditionsbewusste Afrikanerin ihren Weg in die Moderne finden kann. Die Frau kommt jetzt frontal auf den Protagonisten zu und die Kamera fokussiert ihren prallen schwangeren Bauch, der schließlich die ganze Bildfläche ausfüllt, und zum ersten Mal scheint sich für den Heimkehrer eine Zukunftsperspektive aufzutun. Aber noch ist er auf der Suche. Ein großes Z aus Stahl zerschneidet den abendlichen Himmel. Man entdeckt den Protagonisten jetzt im Dunkel einer Bar. Er hat seine Arme auf einen Tisch gestützt, sein Kopf hängt nach unten, vor ihm stehen zwei Gläser und eine Flasche Bier. Schwankend steht er auf und nähert sich einer Frau. Als er nach ihren Haaren fasst, wehrt sie ab: „Les marchands de perruques sont riches, les acheteurs aussi“, bemerkt die Off-Stimme. An der Bar hat die Jeunesse dorée von Dakar Platz genommen: „Les perruques blondes, c’est pour les grandes occasions.“ Die Frauen tragen exzentrische Hochfrisuren, wie sie Anfang der sechziger Jahre in Europa Mode waren: Eine Frau schminkt sich vor einem Spiegel: „Et oui, ils ont le mal de leur peau“, lautet der Kommentar aus dem Off. Als Samb Makharam von 1958 bis 1962 Student am Centro Sperimentale di Cinematografia war, unterrichtete auch Michelangelo Antonioni an dieser Filmhochschule.23 Die folgende Sequenz ruft die Erinnerung an Antonionis 1961 erschienenen Film LA NOTTE auf.24 Der Protagonist von ET LA NEIGE N’ÉTAIT PLUS findet sich in einer exklusiven Nachtbar wieder. Indirektes weiches Licht fließt über afrikanische Stoffe und kreiert eine gedämpfte Atmosphäre. Ähnlich wie in LA NOTTE steht das gepflegte Ambiente des Interieurs im scharfen Kontrast zur Befindlichkeit des Protagonisten. In Antonionis Film fühlt sich Lidia Pontano (gespielt von Jeanne Moreau) isoliert: Inmitten einer Party der italienischen High Society lässt sie der Gedanke an einen todkranken Freund nicht los. Samb Makharam hat den Innenraum der senegalesischen Bar mit afrikanischen Masken und Statuen ausgestattet, aber zum Einrichtungsgegenstand degradiert scheinen sie die gleiche Kälte auszustrahlen wie die Designermöbel in der Wohnung des reichen Gastgebers aus LA NOTTE. „Les dieux noirs sont voués au plaisir de l’oubli“, stellt der Heimkehrer fest. Dieser Kommentar evoziert wiederum einen Film von Alain Resnais und Chris Marker aus dem Jahre 1953. In LES STATUES MEURENT AUSSI25 sind die afrikanischen Götter zum Tode verurteilt, weil sie in einem europäischen Museum ausgestellt sind, wie in der Bar von Dakar sind sie damit ihres Kontextes beraubt. „Les dieux noirs ne crient plus“, heißt es in ET LA NEIGE N’ÉTAIT PLUS.

23

Centro Sperimentale di Cinematografia 2008. [Internetquelle]

24

NOTTE (LA), Italien/Frankreich 1961, R.: Michelangelo Antonioni.

25

STATUES MEURENT AUSSI (LES), Frankreich 1953, R.: Chris Marker und Alain Resnais.

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Die Entscheidung Es dämmert bereits. Der Protagonist verlässt die Bar. Zum ersten Mal in diesem Film steigt er eine Treppe hinauf, nicht herunter – er hat die Talsohle überwunden. Sein Weg führt ihn vorbei an Einfamilienhäusern der 1930er-Jahre, wie man sie auch aus nordfranzösischen Kleinstädten kennt, aber hier bereitet eine Frau am Straßenrand auf einer provisorischen Kochstelle eine Mahlzeit zu. Der innere Monolog wird wieder aufgenommen, doch die Sprechhaltung hat sich verändert. Aus einer eher reagierenden Reflexion ist nun ein auf künftiges Agieren gerichtetes Nachdenken geworden: „Décide-toi de retourner dans l’Europe du faux luxe, mais décide-toi!“ Nun geht er an Häusern vorbei, deren Architektur an die Le Corbusiers erinnert. Die Straße ist menschenleer. Vor einem jener kleinen Hotels, wie man sie auch in der Bretagne findet und das hier bezeichnenderweise den Namen „L’Atlantique“ trägt, hat ein Auto geparkt. Ein schwarzer Boy mit Schürze trägt einen Koffer heraus. Ein dicker Afrikaner steigt ein. Der Wagen startet. Samb Makharam kontrastiert diese Abfahrt mit einer Ankunft. Der Protagonist ist in den Hof seiner Familie zurückgekehrt. Hier kümmert sich jetzt keiner mehr um ihn. Der Vater wäscht sich und trinkt Wasser, das er aus einem großen Krug geschöpft hat. Der Heimkehrer raucht und blickt auf seine Großmutter. Eine definitive Entscheidung ist noch nicht gefallen. „Pourquoi revenir? Qu’est-ce que tu crois leur apporter?“ Die Großmutter hat sich an die Wand gelehnt. Im Monolog wird das Bild der Mauer aufgenommen: „Tu ne bâtiras rien de solide dans l’incertitude et le désarroi.“ Sie, die Großmutter, war misstrauisch gewesen, als er damals auf die Schule der Weißen gegangen war: „Elle craignait que tu sois mangé par l’Europe comme beaucoup d’autres.“ Jetzt hat er sich entschieden. Er geht nur mit einem leichten Anzug angetan, einen kleinen Wasserkessel in der Hand zum Waschen: „Elle avait raison, la grand-mère. C’est à partir d’ici que tu retrouveras ton équilibre et la force de ta vie.“ Wie häufig in diesem Film nimmt die Kamera wieder die Füße in den Blick. Jetzt steht er sicher, die engen Herrenschuhe hat er abgelegt. Ein gemusterter Rock kommt ins Bild. Man sieht von hinten, wie er eine Frau in den Arm nimmt. Sie gehen durch ein lichtes Wäldchen. Er will sie küssen. Sie reißt sich los, läuft ihm weg und führt ihn so auf einen hellen breiten Weg. Der Blick der Kamera richtet sich nach oben in die von Licht durchfluteten Bäume und zum ersten Mal in diesem Film richtet der Protagonist seine Stimme an ein Gegenüber: „J’ai mis beaucoup de temps pour te revoir, et le moment où je t’attends le moins, je te retrouve.“ Das Haar der Frau ist in kleine Zöpfe geflochten. Ihr Kleid ist aus afrikanischem Stoff, der Schnitt ist modern. Ihr Blick ist offen und staunend. Er erzählt ihr vom Winter und vom Schnee. „La neige, oh je ne l’ai jamais vue, elle est blanche. Pourquoi il n’y a pas de neige noire?“ zwitschert sie. Und er macht ihr ein Angebot: „S’il t’en faudrait vraiment, j’en fabriquerais pour toi.“

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„L’émotion est nègre“ Anders als in XALA wird Intelligenz in ET LA NEIGE N’ÉTAIT PLUS als unweiblich klassifiziert: Der Protagonist wirft der Bikinischönheit einen Mangel an Schlichtheit vor, ihre Raffinesse stößt ihn ab. Seine Wahl fällt schließlich auf eine Personifikation „unverbildeter“ Naivität. Diese Frau ist es, die den Protagonisten auf einen gangbaren, den gemäß der filmischen Argumentation richtigen Weg führt. Von hier aus kann sich sein Blick nach oben auf „Höheres“ richten, und dabei tritt er wieder mit seinen Mitmenschen in Verbindung. Der in Peau noire, masques blancs entwickelten Theorie folgend könnte man die Diagnose stellen, dass er seine Entfremdung überwunden hat. Gemäß seiner dezidiert politischen Stoßrichtung zeigt Sembène in XALA vor allem Männer in sozialen weißen Rollen, denn sie waren im Senegal der 1970erJahre die Entscheidungsträger. Beurteilt werden sie allerdings von einer Frau: Die Studentin Rama legt den Zusammenhang zwischen der Übernahme einer sozialen weißen Rolle und der postkolonialen Abhängigkeit des Senegal offen. In Samb Makharams Film stehen vor allem Frauen, die soziale weiße Rollen übernommen haben, im Zentrum der Kritik, und der Protagonist – ein Mann – richtet über sie. Doch letztlich sind es Frauen, die ihm den „richtigen“ Weg weisen, und nicht von ungefähr erwähnt er auf dem Weg in die Zukunft die Vergangenheit: Er ist wieder mit verschüttet geglaubten Emotionen in Kontakt gekommen. Auf den heutigen Betrachter wirkt Samb Makharams filmisches Psychogramm ET LA NEIGE N’ÉTAIT PLUS wie ein etwas verspätetes melancholisches Poem im Geiste der Négritude. Die Figur der Großmutter ist im Rahmen der von Samb Makharam inszenierten Selbstfindung von zentraler Bedeutung und sie steht europäischem Intellekt entschieden ablehnend gegenüber. Der Zuschauer fühlt sich an einen von Léopold Sédar Senghor formulierten Antagonismus erinnert, der spätere Staatspräsident hatte sich 1939 folgendermaßen geäußert: „L’émotion est nègre, comme la raison est hellène.“26 Standpunkte Anders als in XALA steht die Politik von Senghor in ET LA NEIGE N’ÉTAIT PLUS nicht zur Debatte. Die Intellektuellen, die sich im Eiscafé versammelt haben, scheinen oppositionelle Standpunkte zu vertreten, doch der Protagonist diskreditiert sie als „blancs à peau noire.“ Seine prononcierte Ablehnung ihrer Debatten deutet darauf hin, dass er sich selbst nicht der Opposition zurechnet, aber anders als Sembène bezieht Samb Makharam keine klare politische Position. Der Regisseur setzt hier Leerstellen: Der Protagonist spricht von Fortschritt, aber was er darunter versteht,

26

Senghor, Léopold Sédar 1939: S. 295.

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bleibt unklar. Er glaubt, eine Sendung zu haben, was sie beinhaltet, präzisiert er nicht. Auch 1971, in einer Zeit heftiger politischer Kontroversen, äußert sich Samb Makharam gegenüber Guy Hennebelle diesbezüglich zurückhaltend: „Que nous choisissions pour nous développer la voie capitaliste ou la voie socialiste, il est indispensable que nous résolvions nos problèmes culturels (au sens large du terme).“27 Im Gespräch mit Samb Makharam greift Hennebelle eine häufig zitierte Theorie aus Les damnés de la terre auf. Fanon zufolge vollzieht sich die Entwicklung eines Intellektuellen aus den Kolonien in drei Stufen: Zunächst versucht sich der Intellektuelle der Kultur der Kolonialherren anzupassen, da er von diesen nur Ablehnung erfährt, wirft er sich auf seine eigene Kultur und versucht, auch deren negative Aspekte anzunehmen, schließlich gelingt ihm eine Synthese, und er wird zum Mittler zwischen Tradition und Moderne.28 Die Aufgabe eines Intellektuellen im dritten Entwicklungsstadium formuliert Samb Makharam im Dialog mit Hennebelle so: „Il se transforme alors en ‚réveilleur du peuple‘.“29 Ähnlich pathetisch hatte auch der Protagonist in ET LA NEIGE N’ÉTAIT PLUS seine nicht spezifizierte Mission formuliert. Doch Hennebelle zufolge befindet sich dieser Protagonist dessen ungeachtet noch im ersten Stadium der drei von Fanon postulierten Entwicklungsstadien.30 Hennebelles Einschätzung ist aber insofern zu widersprechen, als sich der Protagonist von Anfang an kritisch mit der sozialen weißen Rolle auseinandersetzt, die er in Europa übernommen hat. Nach Fanons Theorie wäre er also mental schon auf der zweiten Entwicklungsstufe angelangt, auch wenn er erst nach und nach die diesbezüglichen Konsequenzen zieht: Er entschließt sich zu bleiben, und er sucht sich die passende Frau. Wollte man das Erscheinungsbild des Paars in der letzten Einstellung des Films mit Fanons Kategorien beschreiben, wäre die Synthese des dritten Stadiums bereits erkennbar, denn in der Kleidung von Mann und Frau deutet sich der Brückenschlag zwischen Tradition und Moderne an. Die Grundmelodie von ET LA NEIGE N’ÉTAIT PLUS ist freilich eine andere, Samb Makharam besingt hier die Rückkehr in den Schoß afrikanischer Traditionen. 1971 pflichtet er Hennebelle bei, als dieser behauptet, er selbst, Samb Makharam, habe sich, als er seinen ersten Film drehte, noch im zweiten der von Fanon postulierten Entwicklungsstadien befunden. Er habe als Regisseur erst mit seinem zweiten Film KODOU31 das dritte Stadium der Synthese von Tradition und Moderne erreicht.

27

Hennebelle 1971. [Internetquelle]

28

Vgl. Hennebelle 1971 [Internetquelle], Fanon [1961] 2007.

29

Hennebelle 1971. [Internetquelle]

30

Hennebelle 1971. [Internetquelle] „Il m’a semblé que le héros de ,Et la neige n’était plus‘ appartenait à la première catégorie, que vous-même à l’époque du tournage de ce film releviez de la seconde catégorie.“

31

KODOU, Senegal 1971, R.: Ababacar Samb Makharam.

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Samb Makharam betrachtet seinen ersten Film im Rückblick sehr kritisch, er sei schulmeisterhaft geraten: „Je n’ai pas voulu ‚prêcher‘ dans ‚Kodou‘ (ce que j'avais fait dans mon court métrage).“32 Aus einer postmodernen Perspektive ist insbesondere der Rekurs auf essentialistische Konzepte in ET LA NEIGE N’ÉTAIT PLUS kritisierbar, allerdings wird man anerkennen müssen, dass Samb Makharam, was den Umgang mit dem Medium Film angeht, seiner Zeit voraus war. Erwähnenswert ist hier sein virtuoses Spiel mit kontrastierenden Rhythmen, das sich als Gestaltungsprinzip durch den ganzen Film zieht: Es bestimmt den Wechsel von traditioneller Musik zu Jazz, die Montage, die Wahl von Kostümen und Ausstattung und nicht zuletzt die Führung der Darsteller. Wie bei der Betrachtung des 1983 erschienenen Filmessays SANS SOLEIL33 von Chris Marker werden für den Kinozuschauer durch den Einsatz unterschiedlicher Rhythmen kulturell bedingte Wahrnehmungen von Zeit erfahrbar. Um mit Fanon zu sprechen, hatte Samb Makharam in puncto Filmästhetik das dritte Entwicklungsstadium erreicht, als er ET LA NEIGE N’ÉTAIT PLUS drehte. Der Regisseur kannte die avantgardistischen Gestaltungsmöglichkeiten des europäischen Films, und er hat sie in der Auseinandersetzung mit traditioneller Kunst und afrikanischer Lyrik weiterentwickelt. Der 1952 geborene senegalesische Regisseur Joseph Gaï Ramaka gehört bereits einer späteren Generation afrikanischer Filmschaffender an. Ihn fasziniert die Selbstreflexivität, die sich im Lebenswerk von Samb Makharam manifestiert: „Ababacar n’était pas un cinéaste qui faisait des films en dehors de son propre mouvement, de sa propre quête. A chaque étape de sa vie de manière parfaitement sincère, il a traité une question qui existenciellement l’interpellait en tant qu’individu. C’est assez singulier même dans le cinéma en général. C’est un exemple extrêmement fort et je trouve magnifique qu’un cinéaste se confonde dans son œuvre avec ses préoccupations les plus intimes. C’est ça que j’admire chez Pasolini, par exemple, et que j’aime également chez Ababacar même si ce sont des cinéastes qui ont vécu dans des sociétés différentes.“34

2.2 B OUBOU C RAVATE Wie ET LA NEIGE N’ÉTAIT PLUS ist auch der 1972 angelaufene Farbfilm BOUBOU CRAVATE35 von Daniel Kamwa ein Debütfilm. Kamwa kam aus Kamerun nach Paris, wo er eine Schauspielschule besuchte. Anders als Samb Makharam war er nie

32

Hennebelle 1971. [Internetquelle]

33

SANS SOLEIL, Frankreich 1983, R.: Chris Marker.

34

Ramaka [2010]. [Internetquelle]

35

BOUBOU CRAVATE, Kamerun 1972, R.: Daniel Kamwa.

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auf einer Filmhochschule, aber er hatte schon als Schauspieler Karriere gemacht und unter der Regie von Peter Brook Theater gespielt: „Daniel Kamwa est un acteur polyglotte et grand voyageur. Très apprécié par Peter Brook, le célèbre metteur en scène anglais, il a participé au festival de théâtre de Shiraz en Iran. Il a été Darius le Grand dans ,Les Perses‘ d’Eschyle. Dans ce rôle, il parlait le grec ancien avec autant d’aisance que s’il s’était exprimé dans sa langue maternelle.“36

Im Unterschied zu ET LA NEIGE N’ÉTAIT PLUS zeichnet sich Kamwas Film nicht durch eine avancierte Filmästhetik aus, sondern durch eine interessante, teilweise sehr komödiantische Schauspielerführung. BOUBOU CRAVATE dauert 29 Minuten. Schon der Titel weist darauf hin, dass es auch in diesem Film um Identitätskonstruktionen geht. Der Film erschien sieben Jahre nach ET LA NEIGE N’ÉTAIT PLUS, jenseits der historischen Bruchlinie Mai ’68 also, entlang der sich an verschiedenen Orten der Welt Gräben zwischen den Generationen auftaten: Soziale Rollen waren jetzt ein viel diskutiertes Thema, denn die herkömmlichen Rollenmodelle waren fragwürdig geworden. Schlips, Herrenanzug und Haarspray waren nun nicht nur in Afrika verdächtig, sondern auch in Europa und den USA, denn auch dort war man auf der Suche nach „Authentizität“. Die heterogene Jugendbewegung, die mit der Jahreszahl 1968 identifiziert wird, verstand sich als international. Im Vorspann seines Films zitiert Kamwa ein Idol dieser Generation, auf schwarzem Grund erscheint in roten Großbuchstaben ein Text von Mahatma Gandhi: Je ne veux pas / Que ma maison / Soit murée / De tous les côtés Je ne veux pas / Que mes fenêtres / Soient fermées Je veux / Qu’y pénètrent / Les cultures / De tous les pays Mais je leur / Refuse le droit / de me déraciner! /

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Nouvelle Agence de Presse 1972.

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Gandhi benutzt hier den Begriff der Entwurzelung, um die spezifische Problematik von Identitätskonstruktionen vor dem Hintergrund einer traumatischen Kolonialgeschichte zu formulieren. Der Begriff der Entwurzelung ist aus postmoderner Sicht genauso problematisch wie der Begriff der Authentizität, denn beide beziehen sich auf Vorstellungen von einem Wesenskern. Doch in den sechziger und siebziger Jahren fassten viele Linke mit diesen Begriffen das, was man durch den weltweiten Vormarsch des imperialistisch ambitionierten Kapitalismus verschüttet glaubte. Sie knüpften damit an das marxistische Konzept der Entfremdung an. Nutznießer des verhassten Kapitalismus war das Bürgertum, dessen Konventionen man als verklemmt und reaktionär verwarf. Auf der Suche nach alternativen Werten verehrte man Lichtgestalten wie Jesus Christus, Buddha und Gandhi. Indien war zum gelobten Land geworden, und die Kinder der ehemaligen Kolonialherren unterwarfen sich in Ashrams dem strengen Regiment ihrer Gurus, doch gleichzeitig waren auch weniger friedliebende Heroen wie Che Guevara und Malcolm X en vogue. Die Air du Temps, die den Film BOUBOU CRAVATE durchweht, ist geschwängert von Schlagworten und Widersprüchen.37 Die gelegentlich daraus resultierende Komik blitzt in diesem Film immer wieder auf. Schwarze Dame – weißes Luder In BOUBOU CRAVATE gibt es zwei Frauen, eine schwarze und eine weiße. Angèle, die Schwarze, gibt sich sogar unbeobachtet auf dem Sofa ihres Salons distinguiert und distanziert. Halb liegend blättert sie in einer jener Modezeitschriften, die schon in ET LA NEIGE N’ÉTAIT PLUS zu sehen waren.38 Wie die Bikinischönheit im Film von Samb Makharam und wie Oumi in XALA orientiert sie sich an einem europäischen Schönheitsideal, dem sie nicht entspricht. Der Zuschauer sieht Angèle wie Oumi in der Konfrontation mit ihrem eigenen Spiegelbild, aber anders als Oumi trägt sie keine Perücke: Verzweifelt bemüht sich die nervös wirkende Frau, ihre Haare zu glätten. Kamwa stellt diesem Frauenporträt ein anderes gegenüber: Irène, die Weiße, ist eine französische Manifestation des in den siebziger Jahren als besonders attraktiv geltenden Typs „sexy Schwedenmädchen“. Mit lustbetonter Nachlässigkeit fährt sie mit dem Kamm durch ihr glattes flachsblondes Haar. Ihr Blick in den Spiegel lässt die autoerotische Note ihrer Morgentoilette aufscheinen. Irène streichelt grundsätzlich alles, was ihr in die Finger kommt. Ob sie an einem

37

Es geht mir hier nicht darum, die Epoche wissenschaftlich korrekt einzugrenzen, sondern ich will eine Folie für die Betrachtung von Kamwas Film schaffen. Ein wichtiges Zeitzeugnis ist z.B. ZABRISKIE POINT, USA 1970, R.: Michelangelo Antonioni.

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Sembène zeigt in XALA ebenfalls Modejournale: Während sich Oumi vor dem Spiegel zurechtmacht, blättert El Hadji in einer Frauenzeitschrift.

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Türrahmen hin und her rutscht, ob sie mit Schmollmund an einer Zigarette zieht oder einen Kaffeelöffel in den Mund steckt, die Laszivität ihrer Gesten suggeriert, dass ihr eigentliches Interesse nur einem Thema gilt ... Angèle dagegen ist bemüht, dem zu genügen, was in damaliger Diktion als bürgerliche Norm bezeichnet wurde. Während sie in ihrer damenhaften Erscheinung noch in die fünfziger Jahre zu gehören scheint, ist der Habitus von Irène der eines sexuell befreiten Hippiemädchens. Ihr permanent verhangener Blick legt den Verdacht nahe, dass sie den Tag mit einem Joint beginnt und anderen bewusstseinserweiternden Substanzen ebenfalls nicht abgeneigt ist. Angèle ist von Beruf Ehefrau und in dieser Eigenschaft hauptsächlich damit beschäftigt, sich selbst und ihren Hausstand zu inszenieren. Sie hört klassische Musik, bevorzugt Harfe. Ihrem Koch gegenüber wahrt sie nicht nur herablassende Distanz, sie zeigt sich ihm gegenüber streng und unnachgiebig. Es hat den Anschein, als kompensiere sie die Verunsicherung bezüglich ihrer äußeren Erscheinung, durch eine betont herrschaftliche Haushaltsführung. Mehr als leidenschaftslose Anerkennung ihres Mannes erhält sie allerdings nicht. Gilbert, der Herr im Hause, ist Diplomat und hat in Europa studiert. Der Zuschauer sieht ihn zum ersten Mal auf einer Fotografie. Sie zeigt einen gut gebauten Afrikaner im Anzug. In dieser Einstellung sind die Blickrichtungen signifikant: Angèle schaut lächelnd zu der erhöht stehenden Fotografie ihres Mannes auf. Ihr Blick ist so nach links oben gerichtet. Der Blick ihres Mannes ist entschlossen, fast trutzig. Auch er richtet sich nach oben, allerdings folgt er einer nach rechts gerichteten Diagonale. Es ergibt eine nach oben orientierte Zickzacklinie der Blickrichtungen, die eine Hierarchie abbildet. Der Blick der Frau ist an dem ihres Mannes orientiert, aber dieser scheint von ihr wegzustreben. Eine kurze Einstellung zeigt eine dunkle Hand, die durch flachsblondes Haar fährt, kurz darauf fährt die Hand durch das glatt gezogene schwarze Haar Angèles. Der Ehegatte versucht es mit einem Kompliment: „Tu commences à avoir de beaux cheveux, tu sais.“ Angèle lächelt ihn an. Eine richtige Annäherung war das nicht, denn Gilbert ist in Gedanken nicht bei ihr. Er ist Irène verfallen, und diese wiederum ist seine Sekretärin. Die Rolle des Gilbert spielt der Regisseur selbst. Der Koch Im Abspann von BOUBOU CRAVATE erscheint folgender Hinweis: „d’après une nouvelle de Francis Bebey (Jimmy et l’égalité).“39 Der vielseitige Kameruner Bebey hat auch die Musik zu dem Film konzipiert.40 Die Novelle erzählt Bebey aus

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Bebey 1968.

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Dazu die Nouvelle Agence de Presse 1972: „La partition musicale est de Francis Bebey. Le compositeur camerounais joue humoristiquement de l’alternance de la musique

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der Perspektive eines vor Kurzem aus Europa zurückgekehrten Afrikaners. Dieser Erzähler beginnt folgendermaßen: „Je ne me suis pas mis un doigt dans la bouche depuis longtemps. Je crois que vous êtes comme moi. Jimmy, lui, ne peut pas en dire autant. Ce midi, je l’ai vu se nettoyer la bouche avec l’index droit.“ Jimmy, von Beruf Koch, puhlt im Mund nach Essensresten. Der Erzähler, sieht sich zwar genötigt, Distanz zu bekunden, aber er beobachtet den Rüpel mit einem quasi ethnologischen Erkenntnisinteresse, und dieses motiviert ihn schließlich, den merkwürdigen Koch gleich nach seiner Ankunft auf dem afrikanischen Kontinent in seine Dienste zu nehmen. Jimmy hat seinen Herren in der Kategorie „Europäer“ verortet, und er lässt ihn wissen, dass alles an ihm außer seiner Hautfarbe europäisch sei. Er, der Koch heißt zwar Jimmy Smart, ein Name der jenseits des Atlantiks gebräuchlicher sein dürfte als südlich der Sahara, aber er definiert sich als Afrikaner. Er scheint allerdings weniger auf afrikanische Tradition zu halten als auf Unkonventionalität, die in dieser Novelle aber als genuin afrikanisch behauptet wird. Der Autor kontrastiert Jimmys dezidiert schlechtes Benehmen mit dem europäischen Kanon des comme il faut, der – so die These des Textes – als koloniale Erblast letztlich nur dazu dient, Hierarchien zu etablieren. Dieser Regelkanon hindert Jimmys Arbeitgeber, die Prinzipien der Solidarität und Egalität glaubhaft zu vertreten und zu leben, die er beständig im Munde führt. Bei dem Koch handelt es sich um ein besonders unverschämtes Exemplar der von Literaten kreierten Spezies des „überlegenen Dieners“.41 Der Arbeitgeber gehört zu jener Kategorie „Herr“, die zwar gelegentlich mit revolutionären Ideen liebäugelt, es aber ablehnt, die institutionalisierten Herrschaftsverhältnisse zu ändern.42 In der Novelle von Bebey ist der Antagonismus zwischen dem Koch und seinem Arbeitgeber zentral, wobei deren Konflikte aus der Perspektive des Letzteren erzählt werden. In Kamwas Film besetzen vier Personen unterschiedliche dramaturgische Positionen, und es gibt keine Erzählerperspektive.43 Durch die veränderte Konstellation und die Multiperspektivität verschiebt sich die von Bebey entworfene Opposition zwischen Herr und Diener. Gilbert, An-

classique européenne et de la musique africaine. C’est un virtuose à l’aise sur tous les registres.“ 41

Insbesondere in der Theaterliteratur gibt es zahlreiche überlegene Diener. Da die afrikanischen Regisseure mit der Inszenierung von Übernahmen weißer Rollen oft das Thema „soziale Ungleichheit“ verhandeln, taucht der „überlegene Diener“ in einigen der hier behandelten Filme auf. Diese Rollenkategorie wird an anderer Stelle noch ausführlicher behandelt. Vgl. dazu Teil II, Kap. 5.1 LAMBAAYE, S. 168/169.

42

Wie etwa Dom Juan aus der gleichnamigen Komödie von Molière oder Herr Puntila aus Herr Puntila und sein Knecht Matti von Brecht.

43

Da Bebey die Musik zu BOUBOU CRAVATE konzipiert hat, ist es wahrscheinlich, dass er auch an der Drehbuchbearbeitung seiner Novelle beteiligt war.

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gèles Mann, ähnelt dem Dienstherrn aus Bebeys Novelle nur noch in den Konturen, doch die Konzeption der Rolle des Kochs ist weitgehend von der Figurenskizze in der Novelle inspiriert. Wie der Erzähler der Novelle die Aufmerksamkeit des Lesers gleich am Anfang auf Jimmy richtet, zeigt auch Kamwa, den Koch gleich in der ersten Einstellung. Ein unvoreingenommener Betrachter würde die gezeigte Figur nicht unbedingt auf dem afrikanischen Kontinent verorten, denn der Koch sieht aus, als habe er sich das letzte Wochenende in Woodstock um die Ohren gehauen. Wer den Film kennt, der dieses legendäre Festival dokumentiert,44 weiß, dass die meisten Besucher dort weder Messer und noch Gabel bei sich führten. Sie aßen mit der Hand wie die Familie in ET LA NEIGE N’ÉTAIT PLUS, allerdings sah es dort etwas anders aus. Auch der Koch isst mit der Hand – er bevorzugt die Woodstocker Variante. Kamwa zeigt ihn beim Verzehr einer Mango: Der Koch isst mit Genuss, aber wie ein Schwein. Im Film heißt der Koch zwar nicht Jimmy, sondern Joseph, aber seine Aufmachung und sein Habitus weisen auffallende Ähnlichkeit zu jenem afroamerikanischen E-Gitarren-Virtuosen auf, der in Woodstock aus Protest gegen den Vietnam Krieg die US-amerikanische Nationalhymne zertrümmerte. Gugler und Diop haben den E-Gitarristen übrigens auch in XALA erspäht: „And in the hallway a poster of Jimi Hendrix reminds us of the African diaspora’s impact on Western music.“45 Reafrikanisierung I: Black Brotherhood Die Ausstattung der Wohnung von Angèle und Gilbert wäre wohl am treffendsten mit dem Adjektiv großbürgerlich zu beschreiben. Im Salon steht ein überdimensional langer Esstisch. Das Ehepaar hat an den jeweils gegenüberliegenden Enden Platz genommen. Schweigend versuchen sie, eine Mango zu verzehren. Messer und Gabel folgen einer komplizierten, für solche Zwecke erdachten Choreographie – Joseph war besser mit der sperrigen Frucht zurechtgekommen. Der Koch schaut der Inszenierung bourgeoiser Honorigkeit eine Weile zu, aber dann greift er ein: „Vous, les blancs, mangez tous de la même façon.“ „De qui parlez-vous?“ fragt Gilbert. „De vous, Monsieur“, gibt der Diener dezidiert provokant zurück. Nun schaltet sich Dame des Hauses ein: „Ta place est dans la cuisine. Cela fait plusieurs fois que je te le dis.“ Während die Gattin Gehorsam einfordert, ist der Gatte an einer Diskussion mit seinem Diener interessiert. Er legt Angèle nicht eben freundlich nahe, sie solle sich beruhigen. Sie aber besteht auf der hierarchischen Rollenverteilung: „Il n’a pas de réflexions à te faire. Il n’est pas payé pour ça.“ Doch ihr Mann wendet sich neugierig dem Koch zu, den er bezeichnenderweise jetzt duzt. Da sich Gilbert dem

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WOODSTOCK, USA 1970, R.: Michael Wadleigh.

45

Gugler/Diop 1998: S. 156.

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Vorwurf der Europäisierung ausgesetzt sieht, verteidigt er sich mit Hinweis, er habe eine Frau aus seiner Ethnie geheiratet: „Joseph, je suis donc un blanc pour toi. Nous avons pourtant la même couleur de peau et j’ai épousé une fille de ma tribu africaine.“46 Bemerkenswerterweise gebraucht Gilbert das in diesem Kontext völlig überflüssige Adjektiv „afrikanisch“, aber er sagt nicht, welcher Ethnie er und seine Frau angehören. Man könnte daraus ableiten, dass Kamwa diese Formulierung im Hinblick auf das westliche Publikum gewählt hat. Es ist jedoch auffällig, dass Kamwa in diesem Film überhaupt keine Hinweise gibt, wo die Handlung zu lokalisieren sei.47 Dass derlei Präzisierungen weitgehend außen vor bleiben, ist gerade in den Filmen der 1960er- und 1970er-Jahre durchaus programmatisch zu verstehen: Die Avantgarde des afrikanischen Films verfocht die Idee des Panafrikanismus. In diesem Kontext ist bemerkenswert, dass eine für den afrikanischen Film wichtige Institution im Jahre 1972 (also genau in dem Jahr, in dem BOUBOU CRAVATE anlief) ihren Namen geändert hat: Aus der 1969 gegründeten „Semaine du cinéma africain“ ging das FESPACO hervor. Die Abkürzung steht für „Festival panafricain du cinéma et de la télévision“. Die panafrikanische Idee ist besonders in Filmen präsent, in denen Übernahmen sozialer weißer Rollen zu sehen sind, denn diese Filme thematisieren meist den schwierigen Umgang mit dem kolonialen Erbe auf dem gesamten Kontinent. In BOUBOU CRAVATE muss sich Gilbert von Joseph vorwerfen lassen, dass er seiner Ehefrau eben diese Erblast aufbürdet: „Vous êtes allés en Europe et vous avez marié une fille de votre tribu. Ça, c’est bien, mais depuis que vous êtes revenus, vous lui apprenez que les manières des blancs.“ Wie der Protagonist in ET LA NEIGE N’ÉTAIT PLUS vertreten Koch und Arbeitgeber die Ansicht, dass ein Afrikaner eine möglichst „unverbildete“ Afrikanerin heiraten soll. Wie Joseph betont, erwächst daraus aber die Verpflichtung, diesen Zustand zu bewahren. Es ist nicht ganz schlüssig, dass nur Gilbert für die Europäisierung seiner Ehefrau verantwortlich sein soll, denn Gilbert definiert sich als Schwarzer, wohingegen Angèle sich völlig mit ihrer sozialen weißen Rolle identifiziert. Wie XALA ist BOUBOU CRAVATE als Parabel konzipiert, Kamwa benutzt die Figurenkonstellation als Modell, in dem er ein Exempel der Reafrikanisierung statuiert. Joseph schlägt dem zu bekehrenden Gilbert gegenüber den forschen Ton einer längst überfälligen Zurechtweisung an. Sie gipfelt in dem Vorwurf: „Vraiment, il n’y a que la couleur de peau qui ne soit pas la même que celle de vos frères européens.“ Das will sein Arbeitgeber nicht auf sich sitzen lassen: „Joseph, mon frère,

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Das französische Wort „tribu“ ist weniger negativ konnotiert als der deutsche Begriff „Stamm“ und war damals durchaus gebräuchlich. Jüngere Franzosen verwenden „tribu“ oft scherzhaft, um die Gruppe zu bezeichnen, der sie sich selbst zugehörig empfinden.

47

Im Unterschied zu Kamwa konkretisiert Bebey den Ort der Handlung in der Novelle. Er hat sie in Accra lokalisiert.

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c’est toi.“ Diese Replik bezeichnet den Hiatus zwischen Gilberts Geisteshaltung und seiner Lebensführung.48 Gilbert, der junge Diplomat, scheint sozialistischen Ideen anzuhängen, aber er setzt sie in seinem eigenen Haushalt nicht um: Er will, dass sein Koch ihn als Mitglied einer schwarzen Solidargemeinschaft ansieht, aber er soll nichtsdestotrotz Gilberts Schuhe putzen. Die in den 1960er- und 70er-Jahren oft beschworene schwarze Solidarität war ein fragiles Konstrukt, da man sich nicht nur bei der Frage, welche Probleme vorrangig seien, uneins war, sondern auch in Bezug auf die Wahl der Strategie. Welches Gewicht Fragen der sozialen Gerechtigkeit im Kampf gegen Rassendiskriminierung haben sollten, war damals auch in den USA Gegenstand kontroverser Debatten. Als paradigmatisch für die Radikalisierung bestimmter Gruppierungen ab Mitte der 1960er-Jahre lässt sich die Entwicklung des Black Panthers Stokely Carmichael betrachten. Carmichael grenzte sich zunehmend von den moderaten schwarzen Bürgerrechtlern ab, denen er vorwarf, die Interessen der Weißen zu betreiben.49 Diese kontroversen Diskurse in den USA bilden sich wiederum in Kamwas Film ab: Während das vorangestellte Zitat von Gandhi darauf hinzuweisen scheint, dass Kamwa die Methode des gewaltlosen Widerstands favorisiert,50 erinnert die Rhetorik und die auf Provokation bedachte Unverschämtheit des Kochs an die legendären Auftritte von Malcolm X. Reafrikanisierung II: Sous les pavés, la plage Das nächtliche Gespräch hat seine Wirkung gezeitigt, als Joseph seinem Dienstherrn am nächsten Morgen das Jackett reichen will, verlangt dieser einen Boubou. Der Diplomat sitzt nun im hellblauen Boubou hinter dem gediegenen Schreibtisch seines Büros. Hier sieht man ihn zum ersten Mal mit Irène. Gilbert bittet seine Sekretärin um eine Zigarette. Ob er nicht aufgehört habe zu rauchen, fragt Irène. „Je ne peux résister aux blondes“, gibt er vieldeutig zurück. Irène zieht noch einmal an ihrer Zigarette und reicht sie ihm dann, woraus relativ eindeutig hervorgeht, dass die beiden etwas miteinander gehabt haben – in unzähligen Filmen der Nouvelle Vague werden nach vollzogenem Beischlaf brennende Zigaretten weitergereicht. Gilbert will wissen, was Irène von seinem neuen Outfit hält. Sie beanstandet, dass

48

Wie Sembène und Samb Makharam greift Kamwa hier die Debatte um den Sozialismus afrikanischer Prägung auf. Der Präsident der Handelskammer in XALA drischt ebenfalls sozialistische Phrasen, und in dem Strandcafé in ET LA NEIGE N’ÉTAIT PLUS vertreten die „Européens à peau noire“ ebenfalls linke Positionen. Vgl. Teil I, Kap. 1.2, S. 60 und Teil I, Kap. 2.1, S. 87/88.

49 50

Vgl. Carmichael/Hamilton 1967: Black Power. The Politics of Liberation in America. Nach der Ermordung Martin Luther Kings im Jahre 1968 wurde das Prinzip der Gewaltfreiheit für viele politisch engagierte Schwarze fragwürdig.

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er noch immer eine Krawatte unter dem Boubou trägt: „Je crois qu’il te reste à achever ta métamorphose. [...] Si tu veux vraiment mon avis, il me semble qu’il n’est pas facile d’être moitié boubou, moitié cravate.“ Wie zwei Jahre später in XALA steht die Kleiderwahl hier für eine Entscheidung bezüglich der politischen Haltung im postkolonialen Afrika. Aber wenn Irène bekundet „A la limite, je préférerais un homme libre à un monsieur esclave de sa cravate“, beschränkt sich ihre Ablehnung des „Kulturknotens“ nicht auf den afrikanischen Kontinent: Schlips und Selbstbefreiung galten ihrer Generation prinzipiell als unvereinbar. Gilbert hat den Paradigmenwechsel, der sich im Westen von einer Generation zur anderen vollzogen hatte, noch nicht realisiert, aber seine Sekretärin hat sich vorgenommen, ihn zu therapieren: Irène findet, dass es spätestens nach seiner Rückkehr nach Afrika für Gilbert an der Zeit sei, sich von seinen Zwängen zu befreien. Ohne seine Krawatte, fühle er sich herabgesetzt, erwidert Gilbert. Die attraktive Blondine rät ihm, sich zu entspannen: „Non, sois libre, sois relax, Gilbert, et ne reste pas comme ça à mi-chemin. Ce que tu es en train de dissimuler, c’est peut-être ce qu’il y a de meilleur en toi.“ Auf den heutigen Betrachter wirkt dieser Dialog in seiner Phrasenhaftigkeit unfreiwillig komisch, aber die blonde Apologetin der Black Pride referiert nur, welche Konzepte damals im Zusammenhang mit dem Thema Identitätsfindung im Schwange waren: Schlagworte wie „black is beautiful“, „sexuelle Befreiung“, „Guerillataktik“, „antiautoritäre Erziehung“, und „antiimperialistisch“ bestimmten die zeitgenössischen Diskurse. Dass Sekretärin und Koch in BOUBOU CRAVATE als Advokaten einer „Back to the roots“-Bewegung an einem Strang ziehen, wird besonders am Schluss des Films deutlich. Dann treffen die vier zentralen Figuren des Films (Angèle, Gilbert, Irène und Joseph) bei einem Empfang im Hause des Diplomaten zusammen. Doch zuvor betritt noch ein elegant gekleideter graumelierter Franzose Gilberts Büro. Es folgt eine kurze Unterhaltung, die darauf schließen lässt, dass es sich hier um einen hochrangigen Angehörigen des diplomatischen Corps handelt. Der Franzose kommentiert die äußerliche Veränderung des afrikanischen Kollegen positiv: „Gilbert, vous le portez très bien, votre boubou.“ Diese kurze Szene verdient deshalb Erwähnung, weil hier einmal mehr deutlich wird, dass es Kamwa nicht darum geht, einen Antagonismus zwischen Schwarzen und Weißen in Szene zu setzen. Hier ist ein anderer Konflikt zentral, nämlich der zwischen dem, was der Film als Authentizität postuliert, und dem, was die filmische Argumentation als komplexbeladen und zwanghaft behauptet. Gilberts Befürchtung, ohne Schlips die soziale Anerkennung zu verlieren, erweist sich zunehmend als gegenstandslos; als er wieder allein ist, lockert er den Knoten des emblematischen Bandes, das ihm den Hals abschnürt, zumindest schon mal.

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Reafrikanisierung III: Selbstfindung in Trance Langsam finden sich die Gäste zu dem Empfang in Gilberts Wohnung ein. Der Hausherr trägt nun konventionelle, europäische Abendgarderobe. Die dritte entscheidende Etappe seiner Therapie steht noch bevor. Im Salon läuft gedämpft klassische Musik, sie vermischt sich mit dem diskreten Smalltalk der Gäste. Aber in der Küche kommt ein Happening ganz anderer Art in Gang, denn hier trommeln sich vier junge Afrikaner in Ekstase. Die Trommeln sind zunehmend im Salon hörbar, und es entsteht eine absonderliche Klangkollage – die Gäste bemühen sich, ihre Irritation zu verbergen, doch auf Irène haben die Trommeln erwartungsgemäß eine erotisierende Wirkung: Ihr Blick wird noch verschleierter als sonst, und sie saugt an ihrem Kaffeelöffel als wäre es ein Schnuller oder etwas anderes. Der Hausherr sieht sich genötigt einzuschreiten und beauftragt einen Angestellten, das Trommeln in der Küche zu unterbinden. Doch Joseph weigert sich, dem Befehl Folge zu leisten, und stellt klar, dass Gilbert seine Machtbefugnisse überschreitet, denn in der Küche habe er nichts zu melden: „Ici, c’est moi le chef. Lui est chef là-bas. Moi, je suis chef ici.“ Die nächste Einstellung ist von einer merkwürdigen Dissonanz bestimmt: Im gedämpften großbürgerlichen Ambiente des Salons geben jetzt die Trommeln den Ton an. Die Gäste wirken desorientiert, aber Irène fühlt sich unwiderstehlich zu den Trommlern hingezogen. In der Küche gefällt es ihr besser, hier unter den vier jungen Afrikanern ist sie ganz in ihrem Element und gibt sich tanzend dem Rhythmus der Trommeln hin. Aber da erscheint auch schon die zeternde Hausherrin. Erstaunt entdeckt Angèle die mittlerweile völlig entrückte Irène. Im Salon herrscht nun endgültig Verwirrung. Da ertönt ein Schrei, ein Zug afrikanischer Masken kommt aus der Küche, die Gäste räumen das Feld, und die Masken okkupieren das Terrain, auch Irène hat sich verzogen. Der Koch hat die Leitung eines bizarren Rituals übernommen, das Gilbert endgültig reafrikanisieren und die entfremdeten Eheleute wieder zusammenführen soll. Die nun folgende Sequenz hat eine gewisse Ähnlichkeit mit der Abstrafung El Hadjis durch die Bettler, die Sembène zwei Jahre später am Ende von XALA in Szene setzen wird: Die Trommeln beherrschen die Szene. Gilbert steht wie von einer Starre gebannt, eine der Masken nähert sich ihm, sie entfernt seine Krawatte, Gilbert wird wie El Hadji sukzessive seiner europäischen Kleidung beraubt, bis er am Ende mit nacktem Oberkörper dasteht. Dann sieht er sich mit einer Maske konfrontiert, die ihm genau vor das Gesicht gehalten wird. Nun nähert sich Angèle. Sie trägt nun ein afrikanisches Gewand. Eine Kette mit einem Amulett wird zwischen das Paar gehalten und schließlich Gilbert um den Hals gelegt. Die Gesichter von Gilbert und Angèle sind nun im Profil zu sehen. Gemeinsam sinken sie zu Boden. Black – der Film ist aus.

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Offene Fragen Es ist einigermaßen erstaunlich, dass Angèle, ohne dass Kamwa eine derartige Entwicklung vorbereitet, an einem von ihrem Koch initiierten Ritual zur Reafrikanisierung teilnimmt. Genauso merkwürdig ist es, dass sich dieser rotzfreche Koch so engagiert für eine Dienstherrin einsetzt, die ihn den ganzen Film genervt hat. In Kamwas erstem Film gibt es viel Ungereimtes, doch gerade deswegen ist dieser Film interessant. Die Figuren sind genauso widersprüchlich wie die filmische Argumentation. Teilweise greift Kamwa bei der Inszenierung der sozialen weißen Rollen noch wie Samb Makharam in ET LA NEIGE N’ÉTAIT PLUS auf essentialistische Vorstellungen von afrikanischer und europäischer Kultur zurück. Teilweise scheinen hier neue Diskurse auf, die solche Konzepte destabilisieren. Das Konzept der kulturellen Differenz, das Irène und Joseph in ihrer Argumentation verwenden, konterkarieren die Figuren selbst: Sie mögen die gleiche Musik, sie ziehen sich ähnlich an, sie argumentieren gleich und sie verfolgen dasselbe Ziel. Joseph und Irène nehmen Gilbert in seiner sozialen weißen Rolle, als reaktionären Bourgeois war. In der Diktion der 1970er-Jahre wären der Koch und die Sekretärin, gleichgültig ob aus Afrika oder aus Europa, als Progressive zu bezeichnen. Freilich war das, was sich heute insbesondere aus neokonservativer Perspektive als homogene Gruppe der 68er darstellt, in viele einzelne Gruppierungen zerplittert, die sich in teilweise heftigen Kontroversen gegenseitig zerfleischten. Wie Murphy berichtet sah sich auch Kamwa heftigen Attacken ausgesetzt: „More than most other Francophone African national cinemas, Cameroon had developed a brand of popular comic films, which were part-funded by the government. Two of the bestknown directors were Daniel Kamwa – who made Boubou Cravate [...] and Pierre DikonguePipa [...]. Although critics have generally been kinder to Dikongue-Pipa than to Kamwa, there has been an overwhelming critical consensus that their films are primarily escapist comic melodramas that act as ‚opium to the masses‘ neglecting the political radicalism necessary to African cinema.“51

2.3 R ÜCKBESINNUNG ? In Bebeys Novelle, der Textgrundlage des Films BOUBOU CRAVATE, referiert der afrikanische Dienstherr, wie sein Koch ihn sieht: „Pour lui, j’étais un Européen, un nègre blanc.“52 Mit dem in den 1960er- und 1970er-Jahren häufig verwendeten Be-

51

Vgl. Murphy/Williams 2007: S. 193.

52

Bebey 1968: S. 53.

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griff „Nègres blancs“ kann man die Kategorie jener sozialen weißen Rollen bezeichnen, die Sembène, Samb Makharam und Kamwa in ihren Filmen zur kritischen Betrachtung vorführten. Die diesbezüglichen Diskurse sind untrennbar mit dem Namen Frantz Fanon verbunden. Die Angehörigen der afrikanischen Oberschicht, die in den Filmen dieser afrikanischen Regisseure als Epigonen der ehemaligen Kolonialherren auftreten, erkennt man schon an ihrer Kleidung: Die männlichen Nègres blancs tragen einen Schlips, ein weißes Hemd und einen Herrenanzug, die weiblichen legen Wert auf glatte Haare, und sie orientieren sich an westlichen Modezeitschriften. In den 1960er- und frühen 1970er-Jahren stand insbesondere der in der „Metropole“ ausgebildete afrikanische Intellektuelle im Zentrum des Nachdenkens über die Verantwortlichkeit im postkolonialen Machtgefüge. Hinter der Frage nach der kulturellen Identität steht bei genauerer Betrachtung immer die Frage nach den Erwartungen an die neue afrikanische Elite. Taugt das, was die Intellektuellen an europäischen Universitäten gelernt haben, um die Führung in den unabhängigen afrikanischen Staaten zu übernehmen? Oder schreiben sich durch die weiße Sozialisation die Strukturen des Kolonialismus fort, weil sich die Akademiker in ihrer Abwesenheit von den Daheimgebliebenen distanziert haben? Festzuhalten bleibt, dass die Stoßrichtung der filmischen Argumentation, die bei der Inszenierung der Reintegration der Nègres blancs zum Tragen kommt, in ET LA NEIGE N’ÉTAIT PLUS und BOUBOU CRAVATE bedeutsam differiert. Samb Makharam greift in seiner psychoanalytischen Studie differenzverstärkende Diskurse aus dem Umfeld der Négritude auf. Dem Heimkehrer steht seine traditionell lebende Familie gegenüber, deren Normen und Werte er schließlich zum Maßstab seines Handelns macht. Dasselbe Thema stellt sich in dem wesentlich humorvolleren Sittengemälde Kamwas anders dar. Dem in Frankreich ausgebildeten Diplomaten stehen zwei junge Rebellen gegenüber, denen zwar der Schlips verdächtig ist, nicht aber die Jeans. Samb Makharam konzentriert sich in ET LA NEIGE N’ÉTAIT PLUS ganz auf die Untersuchung der Sozialisation eines Individuums, übergeordnete Entwicklungen evoziert er nur flüchtig, etwa wenn die Kamera die Neubauten von Dakar streift. Anders in dem Film von Kamwa: Man könnte die These wagen, dass in BOUBOU CRAVATE ein postkolonialer Globalisierungsschub aufscheint. Kamwa trägt diesem Wandel der Diskurse Rechnung, von afrikanischen Traditionen ist in seinem Film eigentlich nur noch der Boubou übrig geblieben, aber gewandelt haben sich nicht nur die ehemals Kolonisierten, sondern auch die ehemaligen Kolonialherren. Hier ist keine Inszenierung einer fundamentalen Differenz von Europäern und Afrikanern mehr zu erkennen, nur noch eine differente Haltung Einzelner angesichts global geführter Debatten, der Nègre blanc ist in BOUBOU CRAVATE ein Überbleibsel der Kolonialzeit: Dass diese Relikte europäischer Hegemonie überwunden werden müssen, hat nicht nur der schwarze Koch Joseph begriffen, sondern auch Gilberts weiße Sekretärin Irène.

3.

Of Mimicry and Man

Auch nach der Welle der Unabhängigkeitserklärungen Anfang der 1960er-Jahre stand immer noch jenes Phänomen zur Debatte, das Fanon schon 1952 unter dem Titel Peau noire, masques blancs problematisiert hatte und das viele Autoren als kulturelle Mimikry bezeichnen.1 Fanons zentrale These war, dass die europäisierte afrikanische Elite dem Kolonialismus zuarbeitet. Homi Bhabha hat in den 1980erJahren mit seiner Revision des Konzepts der kulturellen Mimikry eine Fanon diametral entgegengesetzte Perspektive auf dieses Phänomen entwickelt: Er versteht kulturelle Mimikry als eine Strategie der Aneignung, die eine multikulturelle Kompetenz gewährleistet, welche den Akteuren subversives Handeln ermöglicht. Bhabhas vielbeachtetem Artikel „Of Mimicry and Man. The Ambivalence of Colonial Discourse“ ist ein Zitat des Psychoanalytikers Jacques Lacan vorangestellt: „Mimicry reveals something in so far as it is distinct from what might be called an itself that is behind. The effect of mimicry is camouflage ... It is not a question of harmonizing with the background, but against a mottled background, of becoming mottled – exactly like the technique of camouflage practised in human warfare.“2

Auf den ersten Blick scheint Lacans Verständnis von der Mimikry als einer Verteidigungsstrategie zur Schilderung eines „zum Mythos geworden Ereignisse[s] im Gefängnis von Niamey“3 zu passen: Die Kolonialregierung hielt dort zahlreiche Mitglieder des Geheimbundes der Hauka gefangen. Ein gewisser Croccichia, der dortige Commandant de cercle, hatte die potentiellen Geistmedien einsperren lassen, um die immer größer werdende Gruppe der Hauka zu zerschlagen. Sein Ziel war es, den Hauka zu beweisen, dass es keine Geister gibt. Aber im Gefängnis trat ein neuer Geist in Erscheinung, Corsasi, der böse Hauptmann, der Geist eben jenes

1

Vgl. Becker [u.a.] (Hg.) 2008.

2

Lacan: „The Line and Light. Of the Gaze“ zitiert nach Bhabha 1984: S. 125.

3

Krings 1997: S. 62.

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Croccichia. Einer der Hauka war jetzt vom mächtigen Geist des Gegners besessen „I’m Corsasi, I’m stronger than all the other Hauka, we have to break out of jail.“4 Die mit ihm gefangenen Hauka waren gestärkt, denn die Existenz der Geister hatte sich einmal mehr manifestiert, und es gelang allen, aus dem Gefängnis auszubrechen.5 Wenn man die Besessenheit der Hauka als Mimikry auffassen will, könnte man im Sinne Lacans argumentieren und die Manifestation des Geistes von Croccichia als aggressive Camouflage betrachten. Dadurch, dass einer der Hauka dem „bösen Hauptmann“ ähnlich wurde, war es den Hauka möglich, ihren Gegner zu überwinden. Allerdings bleibt bei der Applikation des von Bhabha zitierten Mimikry-Begriffs Lacans ein gewisses Unbehagen: Wer eine Strategie einsetzt, handelt aktiv. Die Hauka erleben sich aber als passiv, würde man ihnen strategisches Handeln unterstellen, hieße das, die Aktivität der Geister leugnen, und damit würde man den emischen Standpunkt der Geistmedien übergehen. Wollte man die Übernahmen der sozialen weißen Rollen in XALA, ET LA NEIGE N’ÉTAIT PLUS und BOUBOU CRAVATE als soziale Mimikry klassifizieren, wäre damit in allen diesen Fällen sicher keine Verteidigungsstrategie bezeichnet. Die Übernahme der sozialen weißen Rollen schwächt in diesen Filmen die Position der Afrikaner. Fanon hatte genauso argumentiert, Bhabha dagegen versteht Mimikry als einen ironischen Kompromiss:6 „Mimicry emerges as the representation of a difference that is itself a process of disavowal. Mimicry is, thus, the sign of a double articulation; a complex strategy of reform, regulation and discipline, which ,appropriates‘ the Other as it visualizes power.“7 Dass sich Bhabha mit seiner Argumentation vor allem gegen essentialistische Festschreibungen wendet, wird deutlich, wenn er schreibt: „Mimicry conceals no presence or identity behind its mask: it is not what Césaire describes as ,colonization-thingification‘ behind which there stands the essence of the présence Africaine.“8 Konzeptionen von abgrenzbaren und territorial lokalisierbaren Kulturen, wie sie die Vertreter der Négritude formulierten, sind mittlerweile von neueren kulturtheoretischen Konzepten abgelöst worden. Begriffe wie Kreolisierung, Synkretismus und Hybridität beherrschen seit Längerem die wissenschaftlichen Debatten.9 Dieses

4

Eine Transkription Rouchs zitiert nach Krings 1997: S. 63.

5

Als Komandan Mougou manifestiert sich der Geist von Croccichia auch in dem Ritual,

6

Vgl. Bhabha 1984: S. 126.

7

Bhabha 1984: S. 126.

8

Bhabha 1984: S. 129 [Hervorhebung im Text]. In einer Fußnote verweist Bhabha auf

das in LES MAÎTRES FOUS zu sehen ist.

Césaires „Discours sur le colonialisme“. Césaire ([1950] 2010: S. 23) konstatiert: „colonisation=chosification.“ 9

Z.B.: García Canclini [1990] 1997 und Nghi Ha 2005.

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Umdenken ist im Rahmen postmoderner Diskurse zu verorten, deren Verhältnis zum Postkolonialismus Bhabha in seinem häufig zitierten Werk „The Location of Culture“ untersucht hat. Eine Kapitelüberschrift darin heißt bezeichnenderweise: „The postcolonial and the postmodern. The question of agency.“10 Bhabha fokussiert in seiner theoretischen Bestimmung kultureller Differenzen die Aushandlungsprozesse, die ihm zufolge in einem „Third Space of enunciation“ stattfinden, den er so beschreibt: „It is that Third Space, though unrepresentable in itself, which constitutes the discursive conditions of enunciation that ensure that the meaning and symbols of culture have no primordial unity or fixity; that even the same signs can be appropriated, translated, rehistoricized and read anew.“11 Der geschilderte Paradigmenwechsel lässt sich auch in der Diskussion um den afrikanischen Film nachweisen: Die diesbezügliche französische Subventionspolitik ist in die Kritik geraten, weil sie unter Verdacht steht, die Fortschreibung rückwärtsgewandter essentialistischer Diskurse zu befördern.12 Haynes lastete dies 1999 auch zahlreichen Autoren an, die über afrikanische Filme schreiben: „Syncretism is an old story in Africa, but the processes of globalization accelerate, deepen and widen it. Postcolonial criticism in several disciplines has the virtue of having taken it up with the seriousness it deserves. African film criticism might do well to follow suit.“13 Haynes war einer der Ersten, die auf die Bedeutung der afrikanischen Videoindustrie aufmerksam gemacht haben,14 doch er beschränkt sich nicht darauf, die Notwendigkeit einer akademischen Beschäftigung mit dem populären Videofilm herauszustellen. Auch bezüglich der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem afrikanischen Autorenkino forderte Haynes 1999 ein Umdenken. Er kritisiert insbesondere die Autoren, die afrikanische Regisseure immer noch mit dem Maßstab der „three-stages progression of the consciousness of the colonized writer in ‚The Wretched of the Earth‘ [Fanon 1961]“ vermessen15 und fordern, dass die Regisseure ihre Arbeit in den Dienst einer politischen Erziehung stellen: „Even if we arrive at ,post-colonialism‘ through painful historical defeats, and even if so much what marches under its banner is irresponsible and politically evasive, we do no service to African Film by a theoretical paradigm which has become in some ways antiquated: we need to be, if possible, ahead of the game. The textualizing turn is dangerous, but necessary in

10

Bhabha [1994] 2010: S. 245 [Überschrift von Kapitel 9].

11

Bhabha [1994] 2010: S. 55.

12

Vgl. Dovey 2009: S. 191. Dovey selbst allerdings relativiert die Kritik an der franzö-

13

Haynes 1999: S. 25/26.

sischen Subventionspolitik. 14

Vgl. Haynes [1997] 2000.

15

Haynes 1999: S. 24/25.

108 | S CHWARZ BESETZT developing an adequate cultural theory. Theories of African post-coloniality offer alternative approaches to thinking about African film productions which warrant investigation [...].“16

Haynes kritisiert die Abwertung des Populären, die lange Zeit die Sicht von Autoren, die über afrikanische Filme schrieben, eingeengt hat. Mittlerweile scheint das Pendel freilich in die andere Richtung ausgeschlagen zu haben: Im Zuge der postmodernen Aufwertung der Populärkultur, die auch das breite wissenschaftliche Interesse am nigerianischen Videofilm beförderte, sind die afrikanischen Autorenfilme mit dezidiert politischem Anspruch in Misskredit geraten. Im Folgenden stehen zwei Komödien im Zentrum: MOI ET MON BLANC,17 ein Film des frankophonen Autorenkinos aus dem Jahre 2004, bei dem S. Pierre Yaméogo aus Burkina Faso Regie geführt hat, und der zweiteilige nigerianische Videofilm OSUOFIA IN LONDON18 des Regisseurs Kingsley Ogoro. Der erste Teil dieser Videokomödie erschien 2003, der zweite 2004. Der Autorenfilm und der Videofilm weisen Gemeinsamkeiten auf: Die Regisseure Yaméogo und Ogoro zeigen ihre Protagonisten in den Hauptstädten der europäischen Länder, die vormals ihre Heimatländer kolonisiert hatten, und später ihre Rückkehr nach Afrika. Beide Regisseure thematisieren die Auseinandersetzung mit sozialen weißen Rollen. Für mich stellt sich die Frage, ob der postmoderne Paradigmenwechsel, der in Bhabhas Neubewertung des Phänomens der kulturellen Mimikry zum Tragen kommt, in rezenteren Inszenierungen von Übernahmen der sozialen weißen Rolle nachweisbar ist. Darüber hinaus bietet sich hier die Gelegenheit, eine vergleichende Untersuchung von frankophonem Autorenfilm und anglophonem Videofilm anzustellen.

3.1 M OI

ET MON BLANC

Die Filmkomödie MOI ET MON BLANC wurde 2003 mit dem Publikumspreis des FESPACO ausgezeichnet. Regisseur S. Pierre Yaméogo hat den Film in 15 afrikanischen Ländern vorgestellt und berichtet: „Er läuft jetzt, im Februar 2004, immer noch. Er gefällt dem Publikum sehr.“19 Das Erfolgsrezept seiner Komödie ließe sich folgendermaßen beschreiben: Man nehme ein Blatt, das zur Hälfte rosa und zur Hälfte beige grundiert ist, und knicke es so, dass die jeweiligen Hälften scharf voneinander getrennt sind. Dann male man mit gut deckenden Wasserfarben ein schwarzes und ein weißes Männchen auf die rosa Fläche. Anschließend falte man

16

Haynes 1999: S. 25/26.

17

MOI ET MON BLANC, Burkina Faso 2004, R.: S. Pierre Yaméogo.

18

OSUOFIA IN LONDON, Nigeria, Part I (2003), Part II (2004), R.: Kingsley Ogoro.

19

Yaméogo/Girsberger [2004]. [Internetquelle]

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das Blatt entlang der Knickkante und presse die mit Wasserfarben bemalte rosa Fläche auf die noch unbemalte beige. Man kann das Blatt nun entfalten und anschließend das schwarze und das weiße Männchen jeweils in einer anderen Umgebung betrachten. Die dramaturgische Architektur von MOI ET MON BLANC folgt dem beschriebenen Prinzip: Der erste Teil des Films zeigt den Burkiner Mamadi und den Franzosen Franck in Paris, im zweiten Teil sieht man die beiden in Ouagadougou. So wie Mamadi in Frankreich „ein Schwarzer“ war, wird Franck in Burkina Faso auf einmal „ein Weißer“. „Der Film erzählt eine Geschichte, die den Blickwinkel der Weißen demjenigen der Schwarzen gegenüberstellt“,20 erklärt Yaméogo: Er habe nach einer Möglichkeit gesucht, Stereotype betreffend der Wahrnehmung des jeweilig anderen darzustellen; gleichzeitig habe er zeigen wollen, dass sich Mamadi und Franck trotz ihres unterschiedlichen kulturellen Hintergrundes verstehen.21 Yaméogo zeigt einen Franzosen, der nach Afrika fliehen muss, und damit stellte sich für ihn das Problem, dass er eine Asymmetrie in der spiegelsymmetrischen Konstruktion ausgleichen musste, denn dass ein Europäer nach Afrika flieht, ist unwahrscheinlich. Immer wieder haben Autoren versucht, Inversionen sozialer Rollen zu konzipieren, um asymmetrische Machtverhältnisse, als kritisierbar vorzuführen.22 Die entsprechenden dramaturgischen Konstruktionen sind notwendigerweise kompliziert. Yaméogo hat es folgendermaßen versucht: Mamadi steht kurz vor der Verteidigung seiner Doktorarbeit. Er wartet vergeblich auf die Überweisung seines Stipendiums und bleibt deswegen die Miete schuldig. Seine Vermieterin setzt ihn auf die Straße. Ein Verwandter, der Doktor Souleymane, hilft ihm aus der Klemme, indem er ihm einen Job im Parkhaus verschafft. Dort führt ihn der Gelegenheitsjobber und Kiffer Franck in die Arbeit ein: Die vier Ebenen des Parkhauses sind zu überwachen. Auf dem dafür vorgesehenen Bildschirm wechseln alle 15 Sekunden die Einstellungen der diversen Überwachungskameras. Sollten Unregelmäßigkeiten auffallen, kann der Wachhabende eine Einstellung fixieren. Nach 60 Sekunden löst dies jedoch automatisch einen Großalarm aus. Falscher Alarm ist unbedingt zu vermeiden, aber auf einem Bildschirm sieht Mamadi wie eine hübsche Prostituierte einen Freier bedient. Er kann sich nicht losreißen und löst einen Großalarm aus. Nun waren aber

20

Yaméogo/Girsberger [2004]. [Internetquelle]

21

Vgl. Yaméogo/Girsberger [2004]. [Internetquelle]

22

Eines von vielen Beispielen wäre Marivaux’ 1725 erstmals aufgeführte Komödie L’île des esclaves. Wie bereits in der Einleitung (S. 16) erwähnt, zeigt auch der beninische Regisseur Amoussou in AFRICA PARADIS Europäer, die nach Afrika fliehen, weil sich die Lebensbedingungen in Europa drastisch verschlechtert haben. Da in diesem Film aber Weiße im Zentrum stehen, die soziale Rollen Schwarzer übernehmen, behandele ich AFRICA PARADIS im Rahmen dieser Untersuchung nicht ausführlicher.

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just in diesem Augenblick auch zwei Dealer im Parkhaus, und Mamadi beobachtet auf dem Bildschirm, wie sie einen großen Umschlag deponieren. Als der wegen des falschen Alarms aufgebrachte Chef erscheint, behält Mamadi diese Beobachtung für sich und bemächtigt sich des Umschlags. Als Franck kommt, um ihn abzulösen, befragt ihn Mamadi wegen eines weißen Pulvers, das sich nebst viel Bargeld in diesem Umschlag befindet. Franck überredet ihn, den Umschlag an sich zu nehmen. Jetzt sind sie reich, haben aber zwei Dealer auf dem Hals. Zunächst tauchen sie bei Francks Eltern unter. Mamadi verteidigt noch geschwind seine Doktorarbeit, und dann fliehen sie auch schon vor den Dealern nach Burkina Faso. Mamadi wollte ohnehin zurückkehren. Franck hat keine andere Möglichkeit, und er wird sich auf einen längeren Aufenthalt einrichten müssen. Er freundet sich mit einer Prostituierten an und mietet einen heruntergekommen Gebäudekomplex, um eine Bar einzurichten, aber dann wird ihnen ihr Geld gestohlen. Doch glücklicherweise hat Francks Freundin einen Videorecorder und eine große Filmsammlung, und so können sie ohne großen Aufwand ein kleines Freilichtkino aufmachen. Der Plot ist nicht ganz schlüssig, denn es will kaum einleuchten, warum sich der pflichtbewusste Mamadi zwei Tage vor der Verteidigung seiner Doktorarbeit für einen dubiosen Briefumschlag interessiert. Es ist auch nicht einsichtig, warum er sich von Franck überreden lässt, Kokain und Geld zu behalten, denn es ist für ihn absehbar, dass er sich damit Schwierigkeiten einhandelt. Aber mit dieser etwas wackligen Konstruktion hat Yaméogo ein Gerüst geschaffen, indem er Spiegelungen analoger Situationen inszenieren kann. Gespiegelte Szenarien Mamadis Mutter schreibt ihrem Sohn in Paris, Francks Mutter ihrem Sohn in Ouagadougou. Die Briefe sind jeweils als von den Müttern gesprochener Off-Text zu hören, während der Zuschauer sieht, in welcher Situation sich ihre Söhne gerade befinden: Mamadis Mutter berichtet von den Schwierigkeiten in Burkina Faso, ihren Sohn vermutet sie im Schlaraffenland. Doch weil ihn seine Vermieterin an die Luft gesetzt hat, schleppt Mamadi gerade eine schwere Tasche mit all seinem Hab und Gut durch das graue Paris. Nach dem Willen seiner Mutter soll sich Mamadi aber demnächst noch um einen Verwandten kümmern, der nach Paris kommen will, weil er glaubt, dass das Leben in Europa leichter ist. Francks Mutter dagegen ist besorgt, denn sie hat die Bilder vom Genozid in Ruanda gesehen. Wo Ouagadougou liegt, weiß sie zwar nicht genau, doch sie glaubt, ihrem Sohn mitteilen zu müssen, dass Médecins Sans Frontières Lebensmittel und Medikamente über Ruanda abwerfen. Der Filius allerdings schlendert gerade frohgemut durch sein neu eröffnetes Freilichtkino in Burkina Faso.

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Beide Mütter glauben zu wissen, wie es ihren Söhnen geht, und sie fühlen sich daher berufen, ihnen per Brief Handlungsanweisungen zu geben. Ihre Ratschläge konterkarieren in beiden Fällen die reale Situation der Söhne, von der sich die Mütter aus der Distanz ein falsches Bild gemacht haben. Ihre Vorstellungen sind jeweils von Fernsehbildern bestimmt. Da im Westen meist Katastrophenberichte gesendet werden, stelle sich die Situation in Afrika als kontinentales Horrorszenario dar, dagegen sei der afrikanische Blick auf Europa ein verklärter,23 meint Yaméogo: „Europa kennt man in Afrika vor allem aus TV-Serien.“24 Auch die Nachbarn von Francks Eltern in Paris und die Nachbarn von Mamadis Eltern in Ouagadougou verhandeln das Bild vom anderen (dem ihnen jeweils unbekannten) Kontinent. Die Wohnung von Franks Eltern befindet sich in einem Pariser Neubaublock. Hier wohnen zwei alte Damen, deren Balkons nur durch eine schmale Wand getrennt sind. Allabendlich treffen sie sich dort im Negligé zum Tratschen: Da sei ja jetzt ein Afrikaner bei Francks Eltern eingezogen. Ein Student, hoffentlich ein zukünftiger Mediziner – bei den vielen Aidskranken. Weil es in Afrika kein Wasser gäbe, würde es dort überall stinken. Der Schwarze würde jetzt mit einer Französin ausgehen. Der arme Vater! Doch das werde ihn lehren, besser auf seine Tochter aufzupassen. Auf der Straße vor dem Hof von Mamadis Familie haben zwei alte Männer Posten bezogen. Sie haben Francks Ankunft beobachtet und sinnieren nun über die Verhältnisse in Frankreich: Die Afrikaner müssten dort Leichen waschen. Als Franck mit seiner burkinischen Freundin auftaucht, erklärt der eine kategorisch, dass er seiner Tochter untersagen würde, sich mit einem Weißen einzulassen. Die Nachbarn verhandeln in beiden Fällen gemutmaßte Differenzen zwischen Afrikanern und Europäern, doch just dadurch scheinen Ähnlichkeiten auf, denn die Argumentationslogik ist in beiden Fällen die von rassistischen Hetzkampagnen: Zunächst behaupten die Alten die Unreinheit der jeweils anderen, um daran anschließend sexuelle „Reinheitsgebote“ zu formulieren. Um Sexualität geht es auch als Mamadi in Paris und Franck in Ouagadougou bei den jeweiligen Familien zum Essen eingeladen sind. Mamadi hat zehn Geschwister. Als diese Auskunft bei den Eltern von Franck für Überraschung sorgt, setzt Mamadi erklärend hinzu, dass sein Vater ja auch drei Frauen habe. Das Thema Polygamie erregt die Phantasie von Francks Vater: Ob sie denn alle im selben Bett schliefen, die Vielweiberei fände er ja gar nicht so übel. Er habe ja schon genügend Probleme, eine einzige Frau zu befriedigen, bemerkt Francks Mutter trocken.

23

Yaméogo/Girsberger [2004]. [Internetquelle]

24

Yaméogo/Girsberger [2004]. [Internetquelle]

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In Ouagadougou wundert man sich darüber, dass in Europa auch Homosexuelle heiraten dürfen und dass Franck keine Geschwister hat. Auf Francks Auskunft, dass seine Mutter keine weiteren Kinder gewollt habe, fragt Mamadis Vater süffisant, ob in Europa denn die Frauen das Sagen hätten. Analog ist hier nicht nur das Interesse an dem Sexualverhalten der jeweils anderen, die Mahlzeit im Kreise der Familie ist in beiden Fällen alles andere als entspannt. Normenkonflikte sind eben nicht nur kulturell bedingt, auch das, was die verschiedenen Generationen jeweils als gutes Benehmen definieren, kann erheblich differieren. Die Bemerkungen der Eltern wirken in den Ohren der jüngeren Generation deplatziert. Am unbehaglichsten befinden sich die Söhne der jeweiligen Familie, denn sie fühlen sich nicht nur für das verantwortlich, was geäußert wird, sondern auch dafür, dass der Freund, den sie mitgebracht haben, zum Repräsentanten eines ganzen Kontinents gemacht wird. Im Unterschied zu Mamadi kann Franck jedoch offen bekunden, dass ihm die Verlautbarungen seiner Eltern missfallen – Mamadi schuldet seinen Eltern Respekt: „Les parents sont sacrés.“ Mamadi und Frank haben beide gelegentlich Schwierigkeiten damit, dass ihr Freund die Gepflogenheit ihres Heimatlandes nicht kennt: Mamadi muss Franck darauf hinweisen, dass man keinesfalls mit der linken Hand essen darf. Auch in Frankreich gibt es Regeln für den Umgang mit Nahrungsmitteln. Der Doktortitel soll gefeiert werden. Zwei hübsche Pariserinnen sind mit von der Partie. Franck hat ein feines Restaurant ausgesucht und ein „Plateau de fruits de mer“ bestellt. Ob die Austern roh seien, will Mamadi wissen. Er weigert sich, irgend etwas von dem merkwürdigen Getier auf der großen, mit Algen belegten Schale anzurühren. Die anderen empfinden Mamadis prononcierte Ablehnung als höchst unpassend, denn wer sich weigert, etwas zu essen, was nach französischen Verständnis als Spezialität gilt, verrät „un manque de savoir vivre“. Da naht auch schon ein Hohepriester französischer Esskultur in Gestalt eines Oberkellners. Es ist den anderen einigermaßen peinlich, einzugestehen, dass ihr afrikanischer Freund die vom Kellner servierte Meisterleistung der „haute cuisine“ nicht zu würdigen weiß. Der Kellner hebt diskret, aber akzentuiert die Nase und atmet bedeutungsvoll ein. Dann bietet er, den afrikanischen Gast taxierend, eine Boulette mit Pommes und Senf an. Die anderen versinken vor Scham, aber Mamadi geht freudig auf das Angebot ein, zu allem Überfluss sagt er auch noch, dass er nur gut durchgebratenes Fleisch essen will, und bittet den Kellner um viel Senf. Statusumkehr In den bisher untersuchten Filmen waren die Übernahmen von sozialen weißen Rollen mit einer Anpassung an europäische Normen einhergegangen. Aber anders

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als etwa die Gäste der Hochzeitsgesellschaft in XALA25 weigert sich Mamadi im Restaurant, den französischen Normen zu genügen. Yaméogo hat seinen Protagonisten nicht als Nègre blanc konzipiert. Die Übernahme der sozialen weißen Rolle stellt sich in diesem Film als Statusumkehr dar. Der Filmtitel „Moi et mon blanc“ evoziert das Herr-Knecht-Verhältnis von Weißen und Schwarzen während der Kolonialzeit, aber er suggeriert, dass die Machtverhältnisse zugunsten der Schwarzen verkehrt sind. Wenn Burkina Faso zum Schauplatz der Handlung wird, hört man zwar tatsächlich manchmal „Mamadi et son blanc“, aber Machtfragen sind zwischen Franck und Mamadi irrelevant. Als die Dealer den beiden auf den Fersen sind, greift Franck zu einem schwarzen Motorradhelm und bietet Mamadi den weißen an und gemeinsam brausen sie auf einer Vespa davon.26 Die Statusumkehr dient in diesem Film dazu, rassistische und ethnifizierende Rollenzuweisungen zu demontieren und den Wandel europäischer und afrikanischer Normen in den Blick zu rücken. In XALA war der Schlips ein emblematisches Kleidungsstück, das diejenigen markierte, die den neokolonialistischen Bestrebungen Frankreichs zuarbeiteten. Auch Mamadi trägt einen Schlips: Zur Verteidigung seiner Doktorarbeit an der renommierten Sorbonne erscheint er im Anzug, aber er verteidigt dort afrikanische Interessen. Sein Doktorvater hatte ihn zwar darauf hingewiesen, dass der den Internationalen Währungsfonds betreffende Abschnitt seiner Dissertation „un peu gauchiste“ geraten sei, doch es hat nicht den Anschein, dass Mamadi seine Ausführungen revidiert hat. Trotzdem erhält der Doktorand aus Afrika seinen Titel mit summa cum laude. Mamadi bewegt sich sicher und selbstbewusst auf dem akademischen Parkett. Er ist intelligent und fleißig. Franck dagegen geht das Leben locker an, eigentlich hängt er nur rum: Er feiert gern, er kifft, und wenn er kann, kokst er auch. Sein ganzer Habitus verrät, dass er wohl kaum in der Lage wäre, sich in einem akademischen Umfeld zu behaupten. Im Parkhaus muss er zwar eine Uniform tragen, aber ansonsten zieht er sich ausgesprochen schlampig an: irgendwelche T-Shirts, irgendwelche Hosen. In Francks Ohr stecken zwei Ohrringe. Der Schlips galt einst als Markenzeichen des „zivilisierten“ Europäers – Schmuck, der eine mehrfache Durchlochung des männlichen Trägers voraussetzt, galt einst als Emblem des „primitiven“ Afrikaners. In MOI ET MON BLANC ist es umgekehrt, Franck ist hier der „Wilde“ und Mamadi der „Gebildete“ ... So hanebüchen der Plot dieses Films auch sein mag, so glaubwürdig ist die Konzeption der beiden männlichen Hauptrollen. Franck hat die Schule abgebrochen, weil er von zu Hause ausziehen wollte. Seither nimmt er wahllos irgendwelche Jobs an, aber wenn es brenzlig wird, kann er jeder-

25 26

Vgl. Teil I, Kap. 1.2, S. 63. Trigon-Film hat sich entschlossen, dieses Motiv, als Versinnbildlichung einer Rolleninversion, auf die Hülle der DVD von MOI ET MON BLANC zu setzen.

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zeit bei seinen Eltern unterschlüpfen. Sein Zimmer dort ist immer noch mit Szenen aus Tim und Struppi tapeziert, und wenn man Reife als Kapazität und Bereitschaft definiert, Verantwortung zu übernehmen, ist Franck wirklich noch nicht erwachsen. Mamadi hingegen kann sich keine verlängerte Kindheit leisten, er steht unter Erfolgsdruck, weil er Verantwortung übernehmen muss. Kaum ist er in Burkina Faso angekommen, erscheint auch schon sein kranker Onkel mit einem Rezept, und selbstverständlich wird Mamadi dafür aufkommen müssen. In dem Paris, das Yaméogo zeigt, gibt es nur intelligente Afrikaner, aber jede Menge dummer Franzosen. Man mag diese Darstellung als revanchistisch empfinden, ganz unrealistisch ist sie nicht. Marie-Hélène Gutberlet bemerkt treffend: Die Komik der Szenen erfasst „die Wirklichkeit in ihrer drögen Plumpheit“.27 Kaum einer schafft es, sich Mamadis Namen zu behalten, alle nennen sie ihn Mamadou. Im Parkhaus begegnet man ihm als Afrikaner zumeist mit dummen Sprüchen. Auch Franck ist erstaunt, als er bei Mamadi kein Cannabis kaufen kann: „Un Black qui ne fume pas?!“ Mamadi trinkt höchstens mal ein Bier, und im Parkhaus nutzt er jede freie Minute, um sich auf die Verteidigung seiner Doktorarbeit vorzubereiten. Raoul, ein älterer Angestellter, der Mamadi immer ablöst, kennt das schon: „Les Africains sont tous étudiants.“ Raoul, ein dumpfer Spießer, liest selbst nur die Regenbogenpresse, auch auf dem Schreibtisch des Chefs der Wachmänner sieht man nur Boulevardblätter. In den Zimmern der afrikanischen Studenten dagegen stapeln sich anspruchsvolle Druckerzeugnisse. Der Schulversager Franck fasst den Hiatus zwischen der Qualifikation afrikanischer Akademiker und der Lebenssituation in Afrika so: „Avec tous les diplômes qu’il y a, je ne comprends pas pourquoi ça ne marche pas en Afrique.“ Mamadi erwidert darauf: „Personne ne le comprend.“ Yaméogo legt seinem Publikum hier eine Frage vor, aber er hat auch eine Antwort parat: Es gibt keinen Fortschritt, weil die Intellektuellen in Afrika nicht zum Zug kommen. Resignierte Intellektuelle Die Schwierigkeiten im Umgang mit dem kolonialen Erbe erscheinen in ET LA und BOUBOU CRAVATE nicht als unüberwindbar. Sembène zeigt den Weg in die faktische Unabhängigkeit der ehemaligen Kolonien in XALA zwar als einen schwierigen, aber als einen gangbaren. Die Aufbruchsstimmung nach der Unabhängigkeit der Kolonien, von der alle diese Filme getragen sind, dürfte auch Mamadis väterlicher Freund und Verwandter, der Doktor Souleymane, noch miterlebt haben. Heute arbeitet Souleymane in Paris als Wachmann. Er bessert sein Gehalt auf, indem er ältere Damen beglückt. Aber auch in der Tiefgarage und im Café NEIGE N’ÉTAIT PLUS

27

Gutberlet 2004b.

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lässt er sich stets mit seinem Doktortitel anreden. „In meinen Filmen gibt es immer etwas zu lachen. Auch wenn der Humor im ersten Moment etwas zähneknirschend wirkt, muss man lachen“,28 gibt Yaméogo diesbezüglich zu Protokoll. Der Regisseur gönnt seinen Zuschauern die kleine Pointe – er hat seine Botschaft appetitlich verpackt: Begegnen sie dem schwarzen Nachtportier mit Hochachtung! Es könnte sich nämlich um einen Professor der Philosophie handeln, denn in jeder europäischen Großstadt jobben unzählige hoch qualifizierte Afrikaner. Im Zimmer Doktor Souleymanes hängen Porträts von Kwame Nkrumah und Patrice Lumumba – Thomas Sankara, der umstrittene burkinische Hoffnungsträger, fehlt. Sein Name fällt in diesem Film genauso wenig wie der von Blaise Compaoré. An den Wänden sieht man auch unzählige Diplome und Auszeichnungen. Auf ihnen steht der vollständige Name von Mamadis burkinischem Freund zu lesen: Docteur Zongo Souleymane – die erste von vielen Anspielungen auf Norbert Zongo, aber auch der 1998 ermordete Journalist wird in diesem Film nicht explizit erwähnt. Zongo hatte 1993 die viel gelesene Wochenzeitung „L’Indépendant“ gegründet und sich um die Aufklärung zahlreicher Affären bemüht. Sein gewaltsamer Tod wurde in Burkina Faso mit Bestürzung aufgenommen. Man vermutet eine Verstrickung des Bruders von Staatspräsident Compaoré, denn Zongo hatte sich zuletzt mit einer Recherche zum rätselhaften Tod von dessen Chauffeur befasst.29 Von ungefähr kommt es also nicht, wenn Doktor Zongo Souleymane der Ansicht ist, er als Intellektueller könne nicht nach Burkina Faso zurückkehren, denn wenn er dort sagen würde, was er wüsste, wäre er ein toter Mann: „Pour lutter, il faut être vivant. Et tous de bonne volonté, ils reposent aux cimetières du pays. Tu sais de quoi je parle.“ Sein Adressat Mamadi wird ihn verstehen. Souleymane spielt nicht nur auf den gewaltsamen Tod Zongos an, sondern auch auf den Sankaras. Hier sind außerdem Bezüge zur Biographie des Regisseurs erkennbar: Yaméogo hatte in Paris Kommunikationswissenschaft und Fotografie studiert, denn er strebte zunächst eine Laufbahn als Journalist an. Seinen Entschluss, als Regisseur zu arbeiten, begründet er folgendermaßen: „En fait, c’était le seul moyen pour moi de pouvoir dire des choses sur l’Afrique que je ne pouvais pas exprimer à travers la presse africaine, la presse vraiment libre étant en partie inexistante sur ce continent. J’ai donc choisi le cinéma pour pouvoir m’exprimer en toute liberté.“30 Trotz der Schwierigkeiten, mit denen sich afrikanische Intellektuelle konfrontiert sehen, lässt der Regisseur seinen Protagonisten bei der Disputation seiner Dissertation für mehr Bildung plädieren. Mamadi vertritt die These, dass die

28 29

Yaméogo/Girsberger [2004]. [Internetquelle] Leicht ist es nicht, die widersprüchlichen Darstellungen der jüngeren burkinischen Geschichte einzuordnen, hilfreich waren für mich hier insbesondere zahlreiche Gespräche mit verschiedenen burkinischen Wissenschaftlern und Filmschaffenden.

30

Yaméogo 2005. [Internetquelle]

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afrikanischen Staaten in die Ausbildung investieren müssten, wenn sich für die nächste Generation bessere Zukunftsaussichten auftun sollen. In einem 2005 aufgezeichneten Interview argumentiert der Regisseur genauso wie Mamadi: „Si l’Afrique veut émerger du marasme actuel [...], elle n’a donc d’autre issue que de mettre l’accent sur la formation et l’éducation pour se développer de manière autonome, à condition que les gouvernants veuillent bien jouer le jeu.“31 Die Heimkehrerthematik Der Protagonist von ET LA NEIGE N’ÉTAIT PLUS hatte nach dem Abschluss seines Studiums in Paris zunächst Probleme, sich wieder im Senegal zurechtzufinden. Aber als er gelernt hatte, das, was die Argumentation dieses Films als afrikanisches Wertesystem postulierte, als Rahmung seiner in Paris erworbenen Kenntnisse zu begreifen, stand ihm der Weg in die Zukunft offen. Er war, gemäß der Rhetorik des Films, zum nützlichen Mitglied der senegalesischen Gesellschaft geworden. Nicht die Politik des Senegal stand in diesem Film zur Debatte, nur die kulturelle Orientierung einzelner Akteure. Anders in MOI ET MON BLANC: Mit seinem brillanten Abschluss könnte Mamadi zwar sofort, wie vom Vater gewünscht, in den Staatsdienst eintreten, im Ministère de la fonction publique legt man ihm allerdings nahe, in die regierende Partei einzutreten. Die Partei Compaorés hat sich in den Augen vieler Intellektueller diskreditiert, aber ohne Zugeständnisse kommen Akademiker nicht in Schlüsselpositionen. Mamadis Vater versucht, die Skrupel seines Sohnes zu zerstreuen: „Tu n’es pas obligé de faire comme eux, on peut fermer les yeux à quelqu’un, mais on ne peut pas l’obliger à dormir.“ Yaméogo gibt der Inszenierung von Mamadis Gewissenskonflikt viel Raum. Er bedient sich dabei eines in diesem Kontext häufig verwendeten Motivs, der Konfrontation mit dem eigenen Spiegelbild. Mamadi betrachtet sich selbst in seinem roten Jackett. Plötzlich zieht er die Jacke aus, und siehe da – sie lässt sich wenden – Mamadi könnte auch ein schwarzes Jackett überziehen. Die französische Redewendung „retourner sa veste“ lässt sich wohl am besten mit „sein Fähnchen nach dem Wind hängen“ übersetzen. Mamadi begibt sich noch einmal zum Ministère de la fonction publique. Unterwegs stößt er zufällig auf einen Demonstrationszug. Auf den Transparenten kann der Zuschauer einen Blick auf die Losung „La vérité et la justice pour les crimes impunis“ erhaschen. Wieder eine Anspielung, diesmal auf das „Collectif contre l’impunité“, das es sich zur Aufgabe gemacht hat, auf eine Aufklärung der Umstände des Todes von Norbert Zongo zu dringen und eine Bestrafung der Täter zu fordern. Diesem Zusammenschluss gehörte neben anderen renommierten Intellektuellen auch der

31

Yaméogo 2005. [Internetquelle]

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Historiker Joseph Ki-Zerbo an. Die Demonstration der aufrechten Menschen Burkina Fasos32 gibt den Ausschlag – Mamadi wird kein Staatsdiener werden. Damit das alles nicht zu traurig gerät, endet der Film zumindest für Franck mit einem Happy End. Er hatte die Idee gehabt, mit dem Videorecorder und den Filmen seiner burkinischen Freundin ein Freilichtkino zu eröffnen. So hat er sich den für ihn idealen Beruf geschaffen. Er ist nicht der einzige Kinobetreiber in der burkinischen Hauptstadt: „[Solche Kinos] gibt es in Ouagadougou in jedem Quartier. Ich habe die Szene auch an solch einem Ort gefilmt“,33 berichtet Yaméogo. Franck sitzt wohlgemut mit seiner Freundin an der Kinokasse, daneben kündigt eine Tafel in Schreibschrift den Film des Abends an: TEXAS ADIOS.34 Das ist durchaus beziehungsreich, denn Franck hat sich ohne Bedauern vom Westen verabschiedet. Er fühlt sich in Ouagadougou wie zu Hause, und ein afrikanisches Käppchen hat er auch schon auf dem Kopf. Am Ende des Films hört man aus dem Off den bereits erwähnten Brief seiner besorgten Mutter. Die überbordende Vorfreude des jugendlichen Kinopublikums konterkariert die weinerliche Off-Stimme der Mutter und das düstere Bild, das sie von Afrika zeichnet. Die Zuschauer sind außer Rand und Band: Sie lachen, aus vorgestreckten Zeigefingern werden Revolver, einer teilt dem anderen seine Beobachtungen mit. Über dem Bild des freudig bewegten Zuschauerraums laufen die Credits ab. Fanon oder Bhabha? Der Film ist zu Ende: Franck hat seinen Platz gefunden, Mamadi nicht. So richtig wohl scheint er sich nirgends zu fühlen, nicht in der Tiefgarage, nicht am Esstisch von Francks Eltern, nicht im Pariser Nobelrestaurant und nicht im Kreise seiner Familie. Nur als er die zentrale These seiner Doktorarbeit, sein Programm für eine bessere Zukunft, darstellen kann, ist er ganz in seinem Element. An seinem Platz ist er auch hier noch nicht, denn er möchte seine Erkenntnisse nicht nur dem wissenschaftlichem Publikum der Sorbonne, sondern auch den Entscheidungsträgern in Burkina Faso vortragen. In Mamadis Zimmer in Paris hängen zwei Plakate an der Wand, Malcolm X und Che Guevara – aber im Jahre 2003 interessiert sich kaum noch jemand für das, was die Heroen der 68er verkörperten: den radikalen Kampf

32

Burkina Faso heißt auf Deutsch „Land der aufrechten Menschen“. Diesen Namen hatte Thomas Sankara dem ehemaligen Obervolta gegeben.

33

Yaméogo/Girsberger [2004]. [Internetquelle]

34

TEXAS ADIOS, Italien 1966, R.: Ferdinando Baldi. Yaméogo hat diesen SpaghettiWestern offensichtlich seines Titels wegen gewählt. Western (auch ältere) sind in Burkina Faso auch heute noch sehr beliebt. Vgl. Korbéogo 1998/99: S. 60ff. Siehe dazu auch Teil III, Kap. 8.2, S. 278, Fußnote 94.

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für eine gerechtere Welt. Mamadi ist kein gewaltbereiter Partisanenkämpfer, eher das, was man im frankophonen Sprachraum als „intellectuel militant“ bezeichnet. Yaméogos filmische Rhetorik ließe sich so fassen: Er kreiert einen aus Raum und Zeit gefallenen Helden, der überall deplatziert wirkt, gerade dadurch wird deutlich, dass dieser Protagonist ein Betätigungsfeld bräuchte, wo er sein Potential entfalten kann. Anders als Samb Makharam, Kamwa und Sembène kritisiert Yaméogo nicht seinen Protagonisten, sondern die Welt, die ihn umgibt. Der burkinische Regisseur thematisiert den Umgang mit verschiedenen sozialen Rollen, doch der Verweis auf die Theorien aus Peau noire, masques blancs macht hier wenig Sinn. Lässt sich die soziale Rolle, die Mamadi in der Sorbonne übernimmt, aber möglicherweise als eine Form der kulturellen Mimikry beschreiben, wie Bhabha sie verstanden haben will? Wählt Mamadi seinen Anzug als ironischen Kompromiss? Kommt bei der Verteidigung seiner Doktorarbeit jene subversive Strategie zum Tragen, die Bhabha als „double articulation“ bezeichnet?35 Yaméogo gewichtet in seiner Analyse anders als Bhabha, er zeigt wie wenig Spielraum sein Protagonist angesichts der postkolonialen Gegebenheiten hat, Bhabha stellt heraus, wie viel Spielraum den einzelnen Akteuren bleibt. Vor der Folie von MOI ET MON BLANC erscheint Bhabhas Konzept der kulturellen Mimikry als ein theoretisches Konstrukt, mit dem sich die Problematik junger afrikanischer Akademiker nicht differenziert genug fassen lässt: In den Machstrukturen, in denen Mamadi sich bewegt, wird er trotz seiner multikulturellen Kompetenz kaum subversiv handeln können.

3.2 O SUOFIA IN L ONDON Der erste Teil des nigerianischen Videofilms OSUOFIA IN LONDON erschien 2003, der zweite 2004, also 40 Jahre nach ET LA NEIGE N’ÉTAIT PLUS. Der Protagonist des senegalesischen Films hatte erst, nachdem er im Ausland gewesen war, Schwierigkeiten in seiner Heimat. Osuofia, die Titelfigur von Kingsley Ogoros Videokomödie, hat schon Probleme mit den Gegebenheiten in seinem Heimatdorf, bevor er es verlässt. Der afrikanische Jäger, der mit Pfeil und Bogen die Subsistenz seiner Familie sichert, galt Generationen von Ethnologen als Sinnbild des vorkolonialen Afrika. Auch Osuofia versucht, seine Familie durch die Jagd zu ernähren, er erinnert aber eher an einen europäischen Großwildjäger auf Safari. Osuofia lässt sich von seinen Töchtern zum Jagen tragen. Der Zuschauer sieht ihn zum ersten Mal in Männerunterhemd und khakifarbenen Kniehosen. Er trägt grüne Gummistiefel, auf seinem Kopf sitzt ein Strohhut, und in den Händen hält er ein altes Jagdgewehr. Die Jagd

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Bhabha 1984: S. 126.

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ist eine Männerdomäne, aber hier müssen die Töchter ihren Vater in die Höhe stemmen, damit der zielen kann. Osuofia drückt ab und verfehlt. Die Gruppe kracht zusammen, und der blamierte Vater schimpft die Töchter aus. Eine der Töchter, die dickste, guckt ihn vorwurfsvoll an – es wird wieder mal kein Fleisch zu essen geben. Wie bei einem Karpfen die Luftblasen, blubbern aus ihrem Mund die Worte: „Big big meat, big big meat.“ Der Vater äfft sie nach, in dem er durch eine explizite Betonung des bilabialen Konsonanten „B“ ihren lokalspezifischen Akzent betont. ET LA NEIGE N’ÉTAIT PLUS war eine Eloge auf die afrikanische Großfamilie, Samb Makharam hatte sie als Hort afrikanischer Tugend in Szene gesetzt. Sinnbild hierfür war eine füllige Mutter, die ihre Familie hinter einer großen Schüssel mit Nahrung erwartet.36 Im afrikanischen Autorenfilm sind immer wieder korpulente Mütter zu sehen, aber keine ist so voluminös wie die Ehefrau von Osuofia. Uri bewegt sich nicht mehr als absolut nötig, aber die kleinste Bewegung ist ähnlich bedrohlich wie die eines Sumo-Ringers. Ihr Ehemann wirkt neben ihr wie ein hyperaktiver Hampelmann. In der nigerianischen Videokomödie hängt der Haussegen gleich am Anfang des Films schief. Osuofia ist zu Hause mit einer massiven Frauenfront konfrontiert, aber er glaubt, Anspruch auf absoluten Gehorsam zu haben. Uri beschimpft ihren Mann als faulen Jäger. Osuofia verlangt schreiend sein Essen: „Don’t tell me you don’t have already prepared the soup.“ Er legt noch nach: „Look at your waist! What happened?“ Uri sei so dick, weil sie ihm alles wegesse – und da war im Westen doch einmal die Mär gegangen, dass dralle Frauen in Afrika als schön gelten. Der familiäre Nukleus ist Teil einer Dorfgemeinschaft, und diese hat eine Delegation geschickt. Osuofia soll dem Gemeinwesen seinen Tribut zollen und sich an den Kosten für ein Begräbnis beteiligen. Er fühlt sich zu Unrecht belangt: „Did I kill anyone from your place? Why do I pay anything for burial?“ Die Abgesandten schicken sich daraufhin an, sein Haus zu plündern. Osuofia gehorcht nur dem Gesetz, dass er sich selbst gegeben hat, und greift zu seinem Jagdgewehr. Ogoro setzt ihn hier als individualistischen Einzelkämpfer in Szene und zitiert dabei bezeichnenderweise Kameraeinstellungen des US-amerikanischen Actionfilms. Die Delegation sucht ihr Heil in der Flucht. Uri hat ihrem Mann schließlich doch noch etwas zu essen gebracht, aber da hört Osuofia schon einen alten Bekannten. „He smells food“, stellt er wütend fest, schließt hastig die Töpfe und gibt vor, gerade mit dem Essen fertig zu sein. Fanon und Césaire hatten einst von „vieilles civilisations courtoises“ gesprochen, die sich insbesondere durch Gastfreundschaft auszeichne-

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Das Bild der Mutter, die Nahrung austeilt, ist ein beliebtes Motiv im afrikanischen Film. Vgl.Teil III, Kap. 8.2, S. 276.

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ten37 – Osuofia empfindet Gastrecht als Teilzwang. Aber der unwillkommene Kostgänger hat noch eine Mitteilung für ihn: Osuofia muss vor dem Ältestenrat erscheinen. Dort findet er sich in seinem nicht mehr ganz sauberen Männerunterhemd ein, seine Figur steht in scharfem Kontrast zur traditionellen zeremoniellen Mise en scène der Hierarchie im Dorf. Den Vorsitz im Rat führt ein mit zahlreichen Ketten behängter Würdenträger ganz in Rot. Links und rechts von ihm sind ebenfalls rot gewandete Mitglieder des hohen Rates angeordnet. Der Vorsitzende beschuldigt Osuofia, seine Verpflichtungen gegenüber der Gemeinschaft verletzt zu haben: „You have to pay this money within a month or you face the consequences. We use it for the maintenance of the community.“ „You are maintaining yourself, not the community“, gibt Osuofia zurück. Seiner Ansicht nach bemäntelt der Verweis auf die traditionelle Solidargemeinschaft nur die Raffgier derjenigen, die auf sie pochen. In ET LA NEIGE N’ÉTAIT PLUS, BOUBOU CRAVATE und XALA plädierten die Regisseure mit ihrer filmischen Argumentation dafür, dass die Solidarität zwischen Afrikanern der zentrale Wert und die Richtschnur des Handelns im postkolonialen Afrika sein solle. Zentrale Bedeutung kam hier der Inszenierung von Mahlzeiten zu: Die differenten Tischsitten von Europäern und Afrikanern standen dabei stellvertretend für die Behauptung eines Antagonismus von traditioneller afrikanischer Solidarität und europäischem Individualismus. Als man ihm einen Löffel reichte, fiel dem Heimkehrer aus ET LA NEIGE N’ÉTAIT PLUS auf, dass er nicht mehr zu der Gemeinschaft derer gehörte, die sich mit ihren Händen aus derselben Schüssel bedienen. Kamwa zeigte in BOUBOU CRAVATE, wie ein durch einen langen Tisch getrenntes, entfremdetes Ehepaar nach europäischer Sitte mit Messer und Gabel hantierte. In XALA hatte die Mahlzeit der Bettler eine zentrale Bedeutung: Sie teilten, was sie hatten, und sammelten anschließend sogar noch für einen der ihren, dem Geld gestohlen worden war. Osuofia bekundet lauthals, dass er solchen Solidaritätsbekundungen38 zutiefst misstraut – er will weder sein Essen noch sein Geld teilen. Doch der Ältestenrat ist ermächtigt, Sanktionen zu verhängen, und zunächst sieht es so aus, als ob Osoufia für sein unbotmäßiges Verhalten abgestraft würde: Seine Töchter dürfen nicht mehr zur Schule gehen. Das behagt insbesondere seiner wissbegierigen Tochter Nkechi nicht, doch Osuofia reagiert cholerisch, seine

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Fanon [1952] 2007: S. 80. Die Gastfreundschaft sei in Afrika so bedeutsam, dass fatalerweise sogar die Europäer mit offenen Armen empfangen worden seien, schreibt Fanon und zitiert Césaire, der 1950 in seinem „Discours sur le Colonialisme“ gesagt hatte: „nos vieilles civilisations nègres: c’étaient des civilisations courtoises.“ Césaire [1950] 2010: S. 35.

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Yaméogo zeigt in MOI ET MON BLANC, wie schwer das familiäre Solidaritätsgebot auf Mamadi lastet, aber er zahlt, ohne sich aufzulehnen.

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Töchter seien alt genug zum Heiraten: „You want to have your breast on the ground before you know that you are mature.“ Die Mädchen trollen sich ins Haus. Ousofia fällt kurz in sich zusammen, bläst sich aber sogleich wieder auf, denn es naht der Dorflehrer in Begleitung eines großstädtisch aussehenden Herrn. Osuofia lässt seine Gäste kaum zu Wort kommen, da er sich schon im Voraus gegen mögliche Forderungen zur Wehr setzen will. Nur mit Mühe können ihm die Besucher vermitteln, dass sie in einer seinen Bruder Donat betreffenden Angelegenheit gekommen sind. Doch damit kommen sie Osuofia gerade recht: „Anyway, Donat is not anyone I want to hear about.“ Die Besucher versuchen einigermaßen konsterniert, seinen wenig pietätvollen Redeschwall einzudämmen, denn sie haben ihm mitzuteilen, dass besagter Bruder in London verstorben ist. Aber Osuofia schimpft munter weiter, da er befürchtet, dass er nun für die Begräbniskosten aufkommen soll: „The family had already declared him dead.“ Der Begleiter des Dorflehrers, ein Herr aus Lagos, versucht vergeblich, dem Hinterbliebenen einen Umschlag mit dem Testament und den Verfügungen des Verstorbenen auszuhändigen. Osuofia fürchtet, hinterlassene Schulden begleichen zu müssen, und wirft den Briefumschlag von sich. Der Lehrer entnimmt dem Umschlag schließlich ein Flugticket nach London und ein generöses Testament zugunsten Osuofias. Endlich begreift er und fällt in Ohnmacht. Frau und Töchter eilen herbei. Osuofia erwacht und wechselt sogleich das Register. Schnell klemmt er sich den Briefumschlag unter den Arm, und so lautstark, wie er eben noch den Bruder schmähte, so markerschütternd beklagt er ihn jetzt. Die übrige Familie zeigt sich zunächst wenig gerührt, aber Osuofia glaubt den Überbringern des Testamentes etwas bieten zu müssen: „It is tradition!“ Er schickt sich an, eine lärmende Trauerbekundung zu orchestrieren: „It is your uncle! Cry!!!“ Die Ad-hoc-Wendung zur ekstatischen Schmerzensbekundung ist rasend komisch: Mit den Armen animiert Osuofia die Frauen, wie in unerträglicher Verzweiflung immer höher zu springen. Man rauft sich die Haare, man krümmt sich, man heult und kreischt. Am Schluss des Films XALA stand ein Strafgericht: Die Bettler sanktionierten El Hadjis unsolidarisches Verhalten. Osuofia hat sich ebenfalls an der Gemeinschaft vergangen, aber er wird nicht abgestraft, im Gegenteil: Er ist nicht nur mit einem Schlag steinreich geworden, es bietet sich ihm auch noch die Möglichkeit, den beengenden lokalen Verhältnissen zu entfliehen. Sir Osuofia Osuofia war schon immer von sich überzeugt, aber nun sind es auch die anderen. Am Tag seiner Abreise zeigt er sich den begeisterten Dorfbewohnern als britischer Gentleman: Nobel lehnt er sich auf einen Stock, wodurch sein Körper jenen Halbmond beschreibt, der auch die Silhouette der Filmikone Charlie Chaplin kennzeich-

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net. Seine graue Herrenhose hat Osuofia in die Kniestümpfe gesteckt. Passend zu den improvisierten Knickerbockern trägt er ein kariertes Jackett, darunter ein türkises Polohemd mit Schlips, darunter noch ein weiteres Hemd und darunter noch ein Kapuzen-Sweatshirt, auf dem Kopf hat er eine rote Wollmütze. Es steht zu befürchten, dass ihn gleich der Hitzschlag trifft. Aber Osuofia beruhigt die besorgten Dorfbewohner auf seine Weise: „You talk like bushmen. They have what they call winter.“ Außerdem solle sich keiner wundern, wenn er jetzt anders gehe: „Please my movements have changed. I don’t have to shock you now. I move now according to the London. You walk like this in London. You become block.“ Gestützt auf seinen Stock schreitet er aus. Bei jedem Schritt pendelt sein Kopf von rechts nach links, und Osuofia erteilt sich selbst Kommandos: „Shake it! Shake it! Shake it!“ Als er die britischen Grußformeln aufzählt, sieht sich der Lehrer genötigt, korrigierend einzugreifen: „You say: ‚Good morning, Sir‘.“ Osuofia probt noch einige Male ein hochgestochenes „Sir“, dann nimmt er huldvoll Abschied. Samb Makharam, Kamwa und Sembène hatten die Übernahmen der sozialen weißen Rollen als Akt der Unterwerfung in Szene gesetzt. Zielscheibe des Spottes waren in diesen Filmen weniger die Europäer als vielmehr die Afrikaner, die bestrebt waren, europäischen Normen zu entsprechen. Die Nègres blancs, die sich in diesem fruchtlosen Bemühen demütigten, waren durchweg Mitglieder der Oberschicht. Osuofia ist ein Provinzler, aber an Selbstbewusstsein mangelt es ihm nicht. Er zweifelt keine Sekunde daran, dass er in der neuen Rolle glänzen wird. In diesem Film wird nicht ein Afrikaner der Lächerlichkeit preisgegeben – Osuofia führt die Briten vor. Als Sir Osuofia fühlt er sich ihnen nicht nur ebenbürtig, sondern haushoch überlegen. Szenenwechsel – Rollenwechsel Auf dem Flughafen in London Heathrow wirkt Osuofias Patchwork-Landlord-Outfit wie das eines Penners. Eine große karierte Plastiktasche, die er mit sich herumschleppt komplettiert das Bild vom obdachlosen Sozialhilfeempfänger mit Migrationshintergrund. Keiner nimmt Notiz von ihm, aber Osuofia fühlt sich wie der britische Thronfolger. Der Chauffeur seines verstorbenen Bruders ist gekommen, um ihn abzuholen. Wie in solchen Fällen üblich, hält er ein Papierschild mit seinem Namen in der Hand. Osuofia kann nicht lesen und geht an ihm vorüber. Als der Chauffeur ihn anspricht, überspielt er seinen Analphabetismus geistesgegenwärtig und kehrt sogleich den Chef heraus. Er steigt in die bereitstehende Limousine und gibt sich dabei wieder eine Regieanweisung: „I’m going to enter with style.“ Durch das Autofenster winkt er gnädig den Passanten zu und kommentiert seine Ankunft in London folgendermaßen: „I come, I saw, I conquer“, das ist zwar grammatisch falsch, klingt aber durchaus glaubwürdig. Zunächst gibt sich Osuofia noch als

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Gentleman. Er schlägt ein Bein über das andere und ruft sich mit „I’m not willing to lose my prestige“ zur Ordnung, aber er ist das anstrengende Spiel bald leid und lockert den Schlips: Vor den bewundernden Dorfbewohnern hatte es ihm Spaß gemacht, als Sir Osuofia aufzutreten, in London findet er in dieser Rolle kein Publikum, und deswegen wird er im Folgenden nicht mehr die geringste Anstrengung unternehmen, sich den Landessitten anzupassen. Im Unterschied zu den Übernahmen der sozialen weißen Rollen in ET LA NEIGE N’ÉTAIT PLUS, BOUBOU CRAVATE und XALA war diese hier ein lustiges, zeitlich begrenztes Spiel mit Möglichkeiten der Selbstinszenierung. Osuofia bei den Briten Auf dem weißen Lederpolster der Limousine seines Bruders ist Osuofia erstmals mit seinem Reichtum konfrontiert, und er ergreift sogleich polternd von seinem Erbe Besitz. Die Legitimation seines rüden Tons leitet Osuofia direkt aus der faktischen Hierarchie ab: „It’s my brother’s car.“ Er schlägt dem distinguierten Chauffeur gegenüber den gleichen unverschämten Ton an, mit dem er schon zu Hause Frau und Töchter herumkommandierte, aber anders als diese blafft der Fahrer nicht zurück, sondern er reagiert mit jener stoischen Gelassenheit, die in Filmkomödien als typisch britisch gilt.39 Als der Chauffeur erklärt, dass er tanken muss, argwöhnt Osuofia zwar, dass sein Fahrer – wie in Nigeria nicht unüblich – eine Erdölleitung anzapfen will, aber er lässt ihn gewähren. Der Fahrer verlässt den Wagen, und Osuofia sieht einen Schwarzen. Er vermutet in ihm einen alten Bekannten und rennt ihm bis auf das Oberdeck eines Doppelstockbusses nach. Der vermeintliche Bekannte ist wenig gewillt, sich mit ihm auseinanderzusetzen, und so findet sich Osuofia mutterseelenallein und hungrig in der britischen Metropole wieder. Doch in einem Londoner Park ist dem Jäger aus Nigeria mehr Erfolg beschert als zu Hause: Er fängt eine weiße Taube und wird prompt festgenommen. Erwartungsgemäß weigert er sich, seine Beute freizugeben. Die beiden Beamten, die ihn auf der Polizeistation verhören, verhalten sich zunächst mit mustergültiger Höflichkeit, aber weil Osuofia die Polizisten mit der ihm eigenen Unbotmäßigkeit provoziert, verlieren sie schließlich die Nerven und wenden Gewalt an. Doch da zieht der Mann aus Afrika einen Fetisch hervor, dessen Wirkung Ogoro wie die Regisseure nigerianischer Horrorvideos mithilfe von computergenerierten Spezialeffekten in Szene setzt. Eine Aura um das magische Objekt suggeriert, dass es unter Strom steht.40 Aber dann

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Ein Beispiel hierfür wäre der in Deutschland alljährlich zu Silvester gezeigt Kurzfilm

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Heike Behrend spricht in diesem Kontext von einer „Ikonographie der Elektrizität“.

DINNER FOR ONE, Deutschland 1963, R.: Freddie Frinton und Heinz Dunkhase. Behrend 2008. [Internetquelle]

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fällt der Fetisch auf den Boden, und die okkulte Macht ist gebrochen. Damit persifliert Ogoro nicht nur besagte Horrorvideos, sondern auch okkulte Praktiken, denn erst ein Telefonanruf kann Osuofia aus seiner misslichen Lage befreien. Die Polizeibeamten wissen nun, wo sie den Delinquenten loswerden können. Das Auto von Scotland Yard hält vor dem schmiedeeisernen Tor einer feudalen Villa mit weitläufigem Garten. Dort steht schon ein Butler bereit, um den neuen Arbeitgeber in Empfang zu nehmen. Auf der Wiese aalt sich eine überschlanke Britin mit milchweißem Teint, langen rötlichen Locken, aristokratisch schmaler Nase und fein geschwungenen Lippen – Samantha, das Gegenbild zu Osuofias dicker Gattin, ist die Verlobte seines verstorbenen Bruders. Wie alles andere nimmt Osuofia auch sie gleich in Beschlag. Er fischt Grünzeug aus seiner Tasche und schickt sie in die Küche, damit sie ihm eine Suppe koche. Doch Samantha erklärt mit diplomatischen Lächeln: „I don’t cook. I don’t have to cook“, und greift zum Telefon, um Osuofias Auftrag an das Personal weiterzuleiten. Doch der kann schier nicht fassen, was ihm gerade zu Ohren gekommen ist: „What did my brother do with you? Were you his toy?“ Diese Szene konstituiert den Ausgangspunkt des Konflikts zwischen Osuofia und Samantha, denn als Osuofia mit der Bemerkung „I can divorce from you without paying the bride price“ seine Macht ausspielt, wird Samantha klar, dass sie mit ihm nicht über Geldangelegenheiten diskutieren kann. Osuofia ist ebenfalls alarmiert: Wenn diese Frau sich weigert zu kochen, kann sein Bruder nur hungers gestorben sein. Sein Verdacht erhärtet sich, als ihm der Butler eine Mahlzeit aufträgt. Die englische Küche steht zwar nicht im besten Ruf, aber Osuofia wittert sogleich einen Mordanschlag: „You people can’t starve me!“ poltert er noch und verlässt wütend das Haus. In MOI ET MON BLANC war der französische Oberkellner Mamadi mit herablassender Arroganz begegnet, als er sich weigerte, Austern zu essen. Mamadi war in Paris mit dem latenten Rassismus der Nachkommen der ehemaligen Kolonialherren konfrontiert. Osuofia begegnet man in London mit ausgesuchter Höflichkeit, mehr noch: Die Briten sind so in ihren Konventionen befangen, dass sie sich kaum gegen den Rüpel aus Afrika zur Wehr setzen können. Osuofia hat das schnell begriffen: Hier gibt es keine lokalen Autoritäten, denen er sich beugen müsste; die afrikanischen Spielregeln des Miteinanders gelten hier nicht, andere respektiert er schon gar nicht, und so kann er sich endlich als das geben, was er ist: ein fauler Genussmensch, ein rücksichtsloser Egoist. Ogoro inszeniert wie Yaméogo eine Statusumkehr: War Mamadi der Protagonist von MOI ET MON BLANC gebildeter als alle Franzosen, mit denen er konfrontiert war, so ist Osuofia reicher als alle Briten, denen er sich gegenübersieht. Der Chauffeur und der Butler identifizieren sich so sehr mit ihren Rollen, dass sie ihrem merkwürdigen Arbeitgeber durchweg mit Hochachtung begegnen. Sie bleiben korrekt, weil sie nicht anders können, denn Osuofia hat mit dem Erbe seines Bruders auch die Zugehörigkeit zur Upper-Class erworben – zumindest Regisseure von

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Filmkomödien halten an der Behauptung fest, dass man in Großbritannien noch mehr im Klassendenken verhaftet ist als anderswo, schon wegen der schönen Standardsituationen, die nur in einer extrem stratifizierten Gesellschaft vorstellbar sind.41 Osuofia steht der britischen Metropole mit der ignoranten Borniertheit eines Provinzlers gegenüber. Dass er in seiner engstirnigen Überheblichkeit nicht unsympathisch wirkt, liegt daran, dass sich hier ein plötzlich zu Reichtum gekommener Nigerianer als ruppiger König geriert, und damit die auf tadellose Manieren bedachten Erben des British Empire schachmatt setzt. Das Publikum lacht schadenfroh. Osuofia hat sofort gemerkt, dass er in London unter der Flagge des „kulturell fremden Afrikaners“ schneller seinen Zielen entgegensegeln kann als unter der des um Anpassung bemühten Migranten. Dass sich seine Strategie bewährt, zeigt sich in der Konfrontation mit dem Mann, der das Geld seines verstorbenen Bruders verwaltet. Der Nègre blanc im Dienst der New Economy Bevor Osuofia in London gelandet war, hatte eine weibliche Stimme den Rechtsanwalt seines verstorbenen Bruders telefonisch in Kenntnis gesetzt: „The man from Africa is on his way.“ Der Angesprochene ist ein schwarzer Brite nigerianischer Herkunft. Seine Reaktion war knapp und zynisch: „As you see we are making progress.“ Als Osuofia dann leibhaftig in seinem Büro erscheint, ist er erstmalig in traditioneller afrikanischer Kleidung zu sehen: Er trägt nun ein rotes Gewand wie die Mitglieder des Ältestenrates seines Dorfes. In der rechten Hand hält er einen jener Wedel, mit denen die Griots ihre Rede gestisch unterstreichen.42 Die Erscheinung des Rechtsanwaltes ist von distinguierter Eleganz. Er spricht mit geschliffenem Understatement: „I’m so sorry that yesterday I couldn’t come. I had to make sure that your papers are ready for the signature.“ Osuofia reagiert prompt. Er guckt hinter sich und fragt launig: „Are you talking to me? You are talking like Queen Eliza?“ Der Rechtsanwalt sei doch ein Schwarzer wie er, also solle er auch reden wie ein Schwarzer: „My brother, I know that you try to pretend. Speak that I can understand!“ Osuofias laute kehlige Stimme schlägt in diesem aseptischen Büro ein wie eine Bombe. Der nigerianische Videoexperte Onookome Okome hat Osuofias

41

Auch in DINNER FOR ONE entstehen die komischen Situationen vor allem deshalb, weil

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Mit einem solchen Wedel unterstreicht auch der Griot Zegué Bamba seine Zeugen-

James in der Rolle des britischen Butlers gefangen ist. aussage im Film BAMAKO.

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Sprache pointiert als Busch-Englisch bezeichnet,43 aber Osuofia dreht den Spieß einfach um: Er erklärt seine Sprechweise zur Norm und qualifiziert die britische Artikulationsweise ab. Wie Biodun Jeyifo treffend bemerkte, ist Osuofia eine Tricksterfigur: Er kehrt das Unterste nach oben und erhebt sein Englisch zur Standardsprache.44 Osuofias Haltung hat etwas Raumgreifendes: Er sitzt mit übereinandergeschlagenen Beinen seitlich auf seinem Stuhl, da er so seinen Oberkörper in Richtung Kamera öffnen kann, wirkt er präsenter als der Anwalt. Mit seinen weit ausholenden Armbewegungen beherrscht er die Szene. Der Anwalt hat die Unterarme auf den Schreibtisch gelegt. Er bedient sich gemessener Gesten und spricht wesentlich leiser als Osuofia. Wie bei einschlägigen Schulungen empfohlen, will er Softskills nutzen, um die eigenen Interessen desto rücksichtsloser durchsetzen zu können. Also entschließt er sich, Osuofia auf halbem Wege entgegenzukommen: „My Name is Ben Okafor.“ Aber Osuofia fühlt sich zum Logopäden berufen: „Open your mouth and pronounce your name.“ Der Anwalt probiert es noch einmal. Osuofia lacht lauthals, und der andere versucht einzustimmen. Diese Sequenz weist eine frappierende Ähnlichkeit mit der Szene in XALA auf, in der Rama ihrem Vater in dessen Büro gegenübersitzt:45 Sembène und Ogoro konfrontieren einen Nègre blanc mit einem selbstbewussten Afrikaner: Beide thematisieren die identitätskonstituierende Funktion von Sprache, und beide benutzen das Kostüm, um verschiedene Möglichkeiten der Selbstinszenierung zu kontrastieren,46 wobei sie auch noch ökonomische Fragen erörtern. Virtuelle Geldgeschäfte Was nun folgt, lässt sich als vergnügliche Einführung in die Wirtschaftsethnologie rezipieren, denn in der Konfrontation von Osuofia und Okafor prallen zwei ökonomische Systeme aufeinander. Vor seiner Abreise bewegte sich Osuofia in einem informellen Wirtschaftssystem mit mündlichen Absprachen: Es gab Umverteilungsregeln wie Gastrecht und Abgabepflicht. Monetäre Transaktionen waren in bar zu leisten. Nun findet sich Osuofia im Reich der schriftlichen Verträge und virtuellen Geldgeschäfte wieder. Okafor versucht ihm nahezulegen, dass er auf seine kompe-

43

Okome ist in seinem Vortrag „The Language of Nollywood“, den er 2009 auf dem bereits erwähnten Symposium „Nollywood and Beyond“ hielt, ausführlich auf Osuofia in London eingegangen. Anschließend habe ich mich mit ihm über den Film unterhalten. Diesem Gespräch verdanke ich viele hilfreiche Informationen.

44

Biodun Jeyifo in der Diskussion nach dem in der vorherigen Fußnote erwähnten Vortrag von Okome.

45

Vgl. Teil I, Kap. 1.2, S. 72ff.

46

Auf Analogien zwischen XALA und OSUOFIA IN LONDON verweist auch McCain 2009.

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tente Führung nicht verzichten könne, aber die Notwendigkeit eines Finanzberaters will Osuofia nicht einleuchten. Doch der Anwalt will sich seines Erbes bemächtigen, und dazu braucht er Osuofias Unterschrift, also schlägt er den sonoren Ton eines Versicherungsmaklers an. Aber er beißt auf Granit, denn Osuofia will Bares sehen. Der Anwalt versucht, ihn mit Fachterminologie zu überrollen. Auch das misslingt, Osoufia lacht wie ein Ganove, der einem anderen stecken will, dass er diesen Trick immer selbst anwendet. Okafor repräsentiert hier ein Wirtschaftssystem, in dem Geld eine virtuelle Größe ist. Zur Behandlung derselben steht eine für Außenstehende kaum zu dechiffrierende Terminologie zur Verfügung – die Transaktionen, die man mit dieser Fiktion durchführen kann, sind schwer nachvollziehbar, und so bieten sich allenthalben Berater an. Okafor ist einer von ihnen. Der Strategie, die er anwendet, ist häufig Erfolg beschieden. Er führt Osuofia dessen Unkenntnis des Systems vor, um seine eigene Kompetenz herauszustellen und sich damit unentbehrlich zumachen. Aber Osuofia ist sich seiner Sache sicher – dass sein Misstrauen gegenüber Okafors Ausführungen durchaus seine Berechtigung hat, beweist die jüngste Finanzkrise. Über den pointierten Vergleich zwischen Geldgeschäften westlichen Zuschnitts und lokalen Formen afrikanischen Wirtschaftens hinaus lässt sich hier noch eine weitere Bedeutungsebene ausmachen. Die Szene spielt im Ausland, meint aber nigerianische Verhältnisse. Hier steht das Verhalten der afrikanischen Elite gegenüber der Landbevölkerung zur Debatte und dieses Sujet hatte auch Sembène in XALA verhandelt. Die beschriebene Sequenz aus OSUOFIA IN LONDON ist politisch nicht weniger brisant als die Analyse, die Sembène in seiner Parabel XALA bezüglich der Verhältnisse im postkolonialen Senegal vorgelegt hat. Die Lektion Nicht nur bei Sembène, dem Didakten des afrikanischen Kinos, lassen sich erzieherische Ambitionen nachweisen, sondern auch bei dem Meister der Videokomödie, Kingsley Ogoro. Osuofia hat den Nègre blanc der New Economy so verunsichert, dass sich Okafor seiner Präsenz zunächst einmal entziehen muss: „You’ve got a minute? I just want to take a minute.“ Auf der Toilette stützt er sich erschöpft auf den Rand des Waschbeckens und rekapituliert seine britische Sozialisation: „I struggled to give me an English accent. I’m cultivated. English natural accent. And I start to speak like my father and I don’t like it.“ Okafor fürchtet, dass Osuofias Gegenwart eine okkulte Macht auf ihn ausübt, die ihn kontaminiert und in eine frühere Lebensphase zurückwirft. Die gleiche Befürchtung hatte auch Gilbert in BOUBOU CRAVATE geäußert, als ihn Irène aufgefordert hatte, seinen Schlips abzulegen. Okafor schaut in den Spiegel. In dieser Einstellung heißt das, dass er direkt in die Kamera schaut. Das hebt die Fiktionalisierung insofern auf, als sich Okafor

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nicht mehr unbeobachtet gibt. Ogoro hat hier eine direkte Publikumsadresse eingefügt: „You are laughing at me?“, die Frage, die Okafor an die Kinozuschauer richtet, ist signifikant, denn die Antizipation des Urteils der anderen ist eine wichtige Konstituente bei der Konstruktion von Identität.47 Okafor wendet sich wieder vom Kinozuschauer ab und aktiviert nun eine innere Instanz, von der aus er den eigenen Zustand analysiert und sich gezielt Anweisungen gibt, um sein fragmentiertes Selbst wieder in den Griff zu bekommen. „Calm down!“ lautet der erste Befehl, den er an sich selbst richtet. Der nächste Befehl ist in zweierlei Hinsicht bedeutsam. Mit „Stiff up the lip!“ exorziert Okafor die Sprechweise, die Osuofia von ihm gefordert hatte. Hinter der Order steht eine Geisteshaltung: Der Anweisung „Keep stiff upper lip“ kam im Erziehungssystem des British Empire eine leitmotivische Bedeutung zu. In diesem Geiste wurden die Militärs der kolonialen Ära gedrillt, denn angesichts des Gegners sollten sie emotionslose Entschlossenheit bewahren.48 Zum Abschluss dieser bizarren Resozialisationstherapie versichert sich der schwarze Brite noch einmal seiner Identität, indem er seinen Namen „Ben Okafor“ mit dezidiert britischem Akzent ausspricht. Dann probt er die nächste Attacke auf Osuofia: „How can I help you?“ Man könnte den eklatanten Hiatus zwischen Kommunikationsinhalt und Kommunikationsabsicht als Metapher auf die postkoloniale Entwicklungspolitik deuten: Die Hilfsangebote bemänteln nur notdürftig neokoloniale Interessen. Sembène hatte die europäisierte senegalesische Elite als Handlanger der ehemaligen Kolonialmacht vorgeführt. Nichts anderes intendiert Ogoro, wenn er dem Nègre blanc der New Economy noch ein: „God save the Queen“ in den Mund legt. Der Zuschauer begegnet Okafor im zweiten Teil des Films noch einmal: Auf Anraten des Rechtsanwaltes verführt Samantha Osuofia. Dem erotischen Angebot kann er nicht widerstehen und signiert die fraglichen Papiere mit einem Daumenabdruck. Aber als Okafor 90 Prozent Beteiligung von Samantha fordert, setzt sie sich mit Osuofia ins Auto und braust zum Flughafen, um die nächste Maschine nach Nigeria zu erreichen. Von stoischer Gelassenheit britischen Zuschnitts zeugt Okafors Reaktion nicht gerade: „I will show you what African man I am.“ Er nimmt die Verfolgung auf und rast mit Übergeschwindigkeit durch London. Aber da ist ihm schon die Polizei auf den Fersen, und der Anwalt, der so viel Mühe darauf verwendet hatte, britischen Normen zu entsprechen, wird bei einem Gesetzesbruch gestellt. Während die Polizisten ihre stiff upper lip bewahren, verliert Okafor die Beherrschung und macht sich dabei weiterer Rechtsbrüche schuldig. Fazit: Verdacht auf Trunkenheit am Steuer, Beamtenbeleidigung, Angriff gegen die Staatsgewalt. Der Nègre blanc der New Economy ist aus der Rolle gefallen – wie El Hadji, als er am

47

Vgl. die Ausführungen zu „Looking glass self“ in: Teil I, Kap. 4, S. 137/138.

48

Vgl. Phrases, sayings, idioms and expressions at The Phrase Finder. [Internetquelle]

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Schluss von XALA bei seiner Verteidigung vor den Kollegen im Chambre de Commerce die Kontrolle über sich verlor.49 Nkem Owoh und Charlie Chaplin Nkem Owoh, der Darsteller des Osuofia, spricht fast durchgängig im Brustton der Überzeugung – und viel zu laut für ein Mikrofon, aber nur, wenn man die normativen Vorgaben, die Camera-Acting-Lessons vermitteln, als Maßstab gelten lässt. Dort wird einem das sogenannte Wegsprechen vermittelt. Der Schauspieler sondert seinen Text ab, ohne die prononcierte Artikulation und die dezidierte Betonung, auf die früher bei der Ausbildung von Bühnenschauspielern besonders viel Wert gelegt wurde. Fast drängt sich der Eindruck auf, dass die stiff upper lip mittlerweile als universelles Ausdrucksideal gilt, dem schleudert Osuofia durchgängig sein „Open your mouth“ entgegen. Aus heuristischen Gründen könnte man dies als Attacke gegen die Hegemonie des Illusions-Kinos Hollywoodscher Prägung werten, denn dort pflegt man das sogenannte Unterspielen oder Nicht-Spielen,50 demgegenüber setzt Owoh auf extensives Mienenspiel und expressive Gesten. Bezeichnenderweise zitiert der nigerianische Komiker häufig Chaplin. Dieser in Afrika sehr populäre britische Schauspieler hat anders gespielt als Darsteller, die vermeintlich realitätsnahen Darstellungskonventionen anhängen. Das lag nicht nur daran, dass ihm anfänglich noch kein Ton zur Verfügung stand, Chaplin wollte Verhaltensweisen vorführen, denn er haderte mit der kapitalistischen Zivilisation,51 und so überrascht es nicht, dass sein Konterfei auch in XALA auftaucht. Rama hat ein großes Plakat von Charlie Chaplin in ihrem Zimmer hängen. Chaplin war mit Brecht befreundet. Sie standen sich nicht nur politisch nahe, beiden war daran gelegen, Darstellungsmodi zu finden, die es ermöglichen, spezifische Verhaltensweisen aufzuzeigen, um so Strategien von Machtausübung sichtbar zu machen. Wie die Spielweise in XALA könnte man auch die in OSUOFIA IN LONDON auf weite Strecken als eine gestische bezeichnen: So spielen etwa Osuofia und seine Familie die Trauer um den Tod des Bruders mit dem Gestus des Zeigens.52 Ogoro arbeitet mit Adressen ans Publikum,53 und indem der nigerianische Regisseur immer wieder das Augenmerk darauf richtet, wie sich die Akteure selbst

49

Vgl. XALA, Teil I, Kap. 1.2, S. 74.

50

Vgl. McDonald 1998: S. 33f.

51

Am offensichtlichsten zeigt sich das in Chaplins Film MODERN TIMES, USA 1936, R.: Charles Chaplin.

52

Zum Gestus des Zeigens vgl.: Brecht [1937-1951] 1994: S. 740 und S. 857.

53

Zur direkten Ansprache des Publikums vgl.: Brecht [1937-1951] 1994: S. 802.

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inszenieren, macht er den Aufführungscharakter des täglichen Lebens transparent.54 Dass Ogoro die Theorien Brechts zurate gezogen hat, ist unwahrscheinlich, aber seine Schauspielerführung lässt sich gut mit Brechts Begrifflichkeit beschreiben. Das hat folgenden Grund: Die deskriptive Terminologie des deutschen Theatertheoretikers ist darauf ausgerichtet, jene außereuropäischen Darstellungsformen zu erfassen, die er als vorbildlich erachtete. Im Blick auf den nigerianischen Videofilm ist aber noch etwas anderes bedeutsam: Brecht hat seine Theaterlaufbahn bei Karl Valentin begonnen und zeitlebens auf diesen großen Volksschauspieler verwiesen.55 Hier schließt sich der Kreis: Karin Barber hat aufgezeigt, dass die populäre Theatertradition der Yorùbá in nigerianischen Videofilmen fruchtbar gemacht wird.56 Vieles was dieses „Popular Theater from the Ground Up“57 auszeichnet, weist zwar Analogien zu Brechtschen Konzepten auf, aber es scheinen zahlreiche Unterschiede zu dem in Hollywood vorherrschenden Spielmodus auf. Ogoros Schauspielerführung und Nkem Owohs virtuoses Spiel mit der Kamera beweisen einmal mehr, dass die Normen des Hollywood-Kinos nicht zu Parametern der Bewertung von Performanzen im afrikanischen Film gemacht werden dürfen. Gespiegelte Szenarien Kaum in sein Dorf zurückgekehrt, spielt Osuofia wieder den Briten. Die Reverenz an Chaplin ist nicht zu übersehen: Er trägt nun eine Melone, den Spazierstock hat er nonchalant über den Unterarm gehängt, am anderen Arm führt er seine Braut Samantha. Die Dorfbewohner sehen die Britin zum ersten Mal in einem weißen Hochzeitskleid mit weitem ausgestelltem Rock. Alle lachen, aber der Bräutigam beruhigt die verunsicherte Braut: Dies sei in Afrika ein Zeichen der Bewunderung. Diese Konfliktlösungsstrategie wird er beibehalten: Immer wenn sich Konflikte anbahnen, übersetzt er falsch. Abends am Feuer berichtet er von seiner Reise. Er schneidet tüchtig auf, wobei er den lokalen Publikumsgeschmack berücksichtigt,

54 55

Zur Inszenierung im Alltag vgl.: Brecht [1937-1951] 1994: S. 791. Brecht schrieb über seinen Werdegang in der dritten Person: „[...] am meisten lernte er vom Clown Valentin, der in einer Bierhalle auftrat. Er spielte in kurzen Skizzen renitente Angestellte, Orchestermusiker oder Fotografen, die ihren Unternehmer hassten und lächerlich machten. Den Unternehmer spielte seine Assistentin, eine Volkskomikerin [Liesl Karlstadt], die sich einen Bauch umschnallte und mit tiefer Stimme sprach.“ Brecht [1937-1951] 1994: S. 722 [Hervorhebung im Original]. Hier sei noch angemerkt, dass die Spielweise des nordnigerianischen Schauspielers Kulu sehr an die von Karl Valentin erinnert. Vgl. Teil III, Kap. 10.2, S. 355.

56

Barber 2000a: S. 1-17 und Barber 2000b: S. 240-264.

57

Barber 2000a: S. 1.

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denn er stellt die Verwandtschaftsbeziehungen seiner Frau heraus: Sie sei mit dem Premierminister und der Königin verbandelt. Ihn, Osuofia, habe die Queen persönlich empfangen, und die britischen Kinder hätten immerzu „London bridge is falling down, falling down, O-su-of-ia“ gesungen. Während die Brücke der ehemaligen Kolonialmacht zusammenstürzt, triumphiert der Mann aus Nigeria.58 Wie dem Franzosen Franck war Samantha nur die Flucht nach Afrika geblieben. Die Konstruktion des Plots ist wie in MOI ET MON BLANC spiegelsymmetrisch angelegt, sodass es Ogoro wie Yaméogo möglich ist, die gleiche Situation aus zwei Perspektiven zu beleuchten. Jeder Mensch muss gelegentlich Wasser abschlagen. Die Dringlichkeit dieses Bedürfnisses weckt Gefühle, die man als universell bezeichnen darf. Bei der Betrachtung von Örtlichkeiten zur Verrichtung der Notdurft lassen sich allerdings kulturspezifische Differenzen nachweisen. Osuofia fragt seinen livrierten Butler: „Where is the latrine?“ Dienstbeflissen, aber vergeblich versucht dieser zu verstehen, was sein neuer Dienstherr von ihm will. Der greift auf konkretere Begriffe zurück, „Where is the hole?“ Die Toilette steht hier aber nicht auf dem Boden, sie ragt aus der Wand. Der Butler öffnet mit einer diskreten Geste den Deckel: „This is where you do your business.“ Er sei kein Geschäftsmann, lässt ihn Osuofia wissen, und weil er befürchtet, dass die Schüssel aus der Wand bricht, zieht er einen Busch im Garten vor. Ähnlich und doch anders ergeht es der frisch vermählten Samantha in Nigeria: Während ihr Mann in der Hochzeitnacht schnarchend vom Trafalgar Square träumt, erhöht sich ihr Blasendruck. Der Gatte übergibt sie schläfrig grummelnd der Obhut seiner Tochter Nkechi. Sie führt Samantha, die in dieser Szene eine Nachthaube trägt wie dazumal die britischen Gouvernanten, in einen unheimlichen verwinkelten Hof. Samantha muss sich in einer dunklen Ecke über ein Loch hocken, was ihr nicht nur widerlich ist, sie hat Angst. Ständig versichert sie sich, ob Nkechi noch auf sie wartet. Ogoro erweist hier dem Horrorfilm seine Reverenz. Er setzt blaues Licht und bedient sich genrespezifischer Kameraeinstellungen. Die Probleme sind vorprogrammiert: Osuofias erste Frau Uri befürchtet, dass es Samantha nur auf das Geld ihres Gatten abgesehen hat. Sie fordert ihre Töchter auf, die neue Frau zu schneiden. Nur Nkechi hält sich nicht daran und wird prompt von ihren Schwestern verprügelt. Das Schlitzohr Osoufia weiß aber, dass Samantha über kurz oder lang von den anderen Familienmitgliedern akzeptiert wird, wenn sie sich an der Hausarbeit beteiligt, weil sich so eine Gemeinschaft etabliert. Er rät Samantha, kochen zu lernen, denn nur wenn er äße, was sie für ihn gekocht habe, würden die Dorfbewohner glauben, dass er seine zweite Frau liebe. Samantha zieht sich daraufhin an wie die anderen Frauen im Dorf und stampft Hirse. Osuofia bringt nicht nur Ben Okafor zur Raison, er verführt auch eine emanzipierte Britin, in die

58

Diesen Hinweis verdanke ich Okome.

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traditionelle Rolle der afrikanischen Ehefrau zu schlüpfen. „Er domestiziert die ehemalige Kolonialmacht“, konstatiert Okome.59 Die heimliche Heroine Samantha versucht mit allen Mitteln, an Osuofias Scheckbuch heranzukommen. Nkechi beobachtet, wie sie schließlich Gift in Osuofias Essen träufelt, und alarmiert die Familie, die sich dann auf eine List verlegt. Erst als sich Samantha überführt sieht, kann sie sich erklären: Sie hatte dem Bruder Osuofias viel Geld geliehen und bezweifelte, dass Osuofia ihr glauben würde. Daraufhin erstattet ihr Osuofia ohne zu zögern die fragliche Summe. Es kommt es zu einem Finale mit viel Sentiment: Samantha bezichtigt sich, Osuofia und die Seinen verkannt zu haben, und hält einen Monolog über die Schädlichkeit von Vorurteilen, der in einem Lobpreis der Afrikaner im Allgemeinen und Osuofias Familie im Besonderen gipfelt. Beim Abschied liegen sich alle in den Armen. Diese brillante Komödie hätte eine böse Pointe verdient, aber Ogoro kennt sein Publikum, und der Erfolg gibt ihm recht.60 Samantha ist abgefahren, und Osuofia findet sich im Kreise seiner Familie wieder, aber er hat eine Entwicklung durchlaufen: Der aufbrausende Egozentriker musste einsehen, dass es nicht leicht ist, mit ihm auszukommen. In London hat er gelernt, die lokalen Verhältnisse zu schätzen, und er verwendet sein Erbe generös zum Wohle der Dorfgemeinschaft. Er weiß nun, was er an seiner Frau und seinen Töchtern hat – die letzte Einstellung zeigt Osuofia von hinten, wie er den Arm um seine dicke Uri legt. Ogoro veralbert das Patriarchat genauso wie Sembène, beide zeigen sie Haustyrannen, die sich viel auf ihre Manneswürde zugutehalten, aber der eine versagt im Bett, der andere kann nicht jagen. In XALA steht die Polygamie explizit in der Kritik, in OSUOFIA IN LONDON implizit: Wie El Hadjis zweite Frau will auch Samantha nur eins von Osuofia: Geld. Als El Hadji verarmt, bleibt nur die erste Frau bei ihm. Samantha verlässt Osuofia ebenfalls, wenn auch im Guten. Zurück bleiben in beiden Filmen geläuterte Familienväter. El Hadjis Tochter Rama tritt als Kritikerin der Polygamie auf. Nkechi erzieht ihren Vater ebenfalls: Sie rettet ihm das Leben und macht ihm bewusst, dass er sich Uri gegenüber schofel verhalten hat. Osuofia ist auf Nkechis Hilfe angewiesen, denn sie kann rechnen und schreiben, er nicht. Wenn Samantha von ihm Geld verlangt, muss Nkechi den Betrag von Pfund in Naira umrechnen, sie ist es auch, die für ihren Vater Schecks ausstellt. Nkechi mault, als sie nicht mehr zu Schule darf, und gibt Osuofia deutlich zu verstehen, dass sie es auf

59

Okome im Mai 2009 auf dem Symposium „Nollywood and Beyond“.

60

Sembène freilich hatte dem Publikumsgeschmack in XALA keine Zugeständnisse gemacht und sich, obwohl er einen bitteren Schluss setzte, die Gunst des Publikums erworben.

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eine gute Ausbildung abgesehen hat, nicht auf einen Mann. Wie Rama in XALA ist Nkechi gebildeter als ihr Vater, aber nicht nur die Intelligenz, auch die Liebe zu Büchern hat Osuofias Tochter mit der aufrührerischen Studentin aus Dakar gemeinsam: Während ihre Schwestern möchten, dass ihr Vater ihnen Kosmetik, ein Minikleid und Pancake aus London mitbringt, wünscht sich Nkechi nur Bücher – das beeindruckt sogar Osoufia. Wie Rama hat Nkechi ihren eigenen Kopf. Trotz des Verbots ihrer Mutter begegnet sie Samantha unvoreingenommen und wird prompt verprügelt, genauso wie Rama, als sie sich ihrem Vater widersetzt. Wie Rama setzt sich Nkechi für den Gebrauch afrikanischer Sprachen ein: Sie bringt Samantha ein Lied der Igbo bei und unterrichtet sie in der richtigen Aussprache. Nkechi nimmt so einer Angehörigen der ehemaligen Kolonialmacht gegenüber die Rolle der Lehrerin ein. Die beiden jungen Afrikanerinnen beschreiten neue Wege und verwirklichen damit im Rahmen der Fiktion eine Utopie, die über den Film hinausweist.

3.3 K ONTINUITÄTEN

UND

B RÜCHE

Derzeit stellen fast alle Wissenschaftler die Differenz zwischen den meist frankophonen Autorenfilmen und den meist anglophonen Videofilmen heraus.61 Die Fokussierung auf die jeweiligen Produktionsbedingungen hat die Konstruktion eines Antagonismus zwischen Autorenfilm und Videofilm begünstigt. Die Videofilmindustrie kommt seit Mitte der 1990er-Jahre ohne westliche Subventionen aus, und sie hat mittels einer unkomplizierten Distribution ein breites afrikanisches Publikum erschlossen, aber von Anfang an bemäkelten Kritiker die angeblich mindere Qualität der neuen Filme. Der Regisseur Jean-Marie Teno ist einer von vielen, der die sogenannten Nollywood-Filme allesamt als uninteressant abtut, es sei schon unmöglich, sich die Titel der Filme zu merken.62 „Schlimmer als Hollywood“ lautet das Urteil seines Kollegen Kwah Ansah,63 der sich Sorgen um das jugendliche Publikum in Afrika macht, aber genau diese Zuschauer habe das afrikanische Autorenkino aus dem Blick verloren, konstatierte Haynes bereits 1999.64 Seither haben

61

Haynes und Krings begrüßen mein Vorhaben, diesen Konsens kritisch zu hinterfragen. Dovey und McCain verfolgen das gleiche Anliegen wie ich. Auf meine Nachfrage sagte mir Dovey, dass sie leider noch nichts zu diesem Thema publiziert hat. McCain hat einen Artikel mit dem Titel „Breaking down the divisions between cinema and video film“ ins Internet gestellt. Vgl. McCain 2009.

62

So äußerte sich Jean-Marie Teno, als er am 12.11.2009 in Bayreuth seinen Film LIEUX

63

Ansah 2005. [Internetquelle]

64

Haynes 1999: S. 26/27.

SAINTS (Burkina Faso/Kamerun/Frankreich 2009) vorstellte.

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sich die Stimmen gemehrt, die den didaktischen Anspruch des Autorenkinos bekrittelten65 und behaupten, dass diese Filme für die europäischen Geldgeber und das westliche Festivalpublikum konzipiert seien, aber die afrikanischen Zuschauer nicht erreichen würden. Im Blick auf die erfolgreichste nigerianische Videokomödie OSUOFIA IN LONDON lässt sich die Behauptung einer grundlegenden Differenz zwischen Videofilm und Autorenkino nicht aufrechterhalten. Beim Vergleich von MOI ET MON BLANC und OSUOFIA IN LONDON scheinen Analogien bezüglich der spiegelsymmetrischen Konstruktion des Plots und der Inszenierung einer Statusumkehr auf.66 Wie in den anderen Filmen, die bisher Gegenstand der Untersuchung waren, stellt Ogoro in seinem Videofilm die Verantwortung des Einzelnen im postkolonialen Machtgefüge heraus, ein Überthema, das er wie die Regisseure des Autorenkinos anhand der Unterthemen „Werte“, „Selbstinszenierung“ und „Sprache“ durchdekliniert. Der Plot von OSUOFIA IN LONDON weist eindeutig die Züge einer Parabel auf: Drei Figuren, nämlich Okafor, Samantha und Osoufia, erfahren eine Belehrung, aus der sich jeweils eine Moral deduzieren lässt. In diesem Zusammenhang verhandelt Ogoro viele Themen, die auch Sembène, der wichtigste Vertreter des didaktischen Autorenkinos, in seiner Parabel XALA aufgreift – als da wären: das Patriarchat, die Polygamie, das Verhältnis der Elite zur Landbevölkerung und die Konsequenzen verschiedener Formen des Wirtschaftens. Dabei schlägt Ogoro wie Sembène unüberhörbar kapitalismuskritische Töne an. Zahlreiche Ähnlichkeiten lassen sich auch in Bezug auf den Inszenierungsstil und den Spielmodus nachweisen. McCain konstatiert: „Although video filmmakers are often seen as the antithesis of African cinema as embodied by the ,Father of African cinema‘ Sembene Ousmane, the satirical social commentary [...][Osuofia in London provides], reminds me of the mockery Ousmane makes of the impotent El Hadj in Xala. If looked at closely, therefore, the dichotomy between the political ,high art‘ of African cinema and the low popular art of the video film breaks down.“ 67

65

In Teil III, Kap. 8.2, S. 281ff werden die Aussagen von Wissenschaftlern, die diese Einschätzung vertreten, ausführlicher untersucht.

66

Es ist aufschlussreich, dass auch Stefan Sereda (2010: S. 194-208) und Lindsey GreenSimms (2010: S. 209-224) im Rahmen eines Vergleichs von Autoren- und Videofilm auf XALA verweisen. Sembènes Film scheint für viele Wissenschaftler geradezu paradigmatisch für das politisch engagierte afrikanische Autorenkino zu stehen.

67

McCain 2009. [Internetquelle]

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„Kontinuitäten und Brüche“:68 Bei einem diachronen Vergleich der bisher behandelten Filme lassen sich zahlreiche Übereinstimmungen feststellen, andererseits lassen sich einige Differenzen zwischen älteren und neueren Filmen aufzeigen. Im Unterschied zu den Filmen ET LA NEIGE N’ÉTAIT PLUS, BOUBOU CRAVATE und XALA sind Herrenanzug und Schlips in MOI ET MON BLANC und OSUOFIA IN LONDON nicht mehr per se negativ konnotiert. Mamadi trägt einen Schlips bei der Verteidigung seiner Doktorarbeit, Osuofia trägt einen Schlips, als er sich den Dorfbewohnern vor seiner Abreise als Sir Osuofia präsentiert. In beiden Fällen wahren die Protagonisten den ehemaligen Kolonialmächten gegenüber eine kritische Distanz, ihre Rollen sind nicht als Nègres blancs konzipiert. Das scheint zunächst darauf hinzudeuten, dass kulturelle Mimikry in diesen Filmen nicht mehr negativ gewertet wird. Aber lässt sich hier wirklich jener Paradigmenwechsel deduzieren, den auch Homi Bhabha mit seiner Revision der Theorien Fanons vorgeschlagen hat?69 Bhabha hatte insbesondere Übersetzer im Blick, als er sein Konzept der kulturellen Mimikry entwickelte, gut ausgebildete Vermittler, denen es gelingt, westliche Übergriffe bei Bedarf auszutricksen.70 All das trifft auf Osuofias Tochter zu. Nkechi ist eine hervorragende Schülerin, und sie fungiert in dem nigerianischen Videofilm als Übersetzerin, die zwischen der nigerianischen Familie Osuofias und der Britin Samantha vermittelt. Aber als die Tochter merkt, dass die Britin es nur auf das Geld ihres Vaters abgesehen hat, zettelt sie eine List an. Bei der Analyse von OSUOFIA IN LONDON kann man aber auch genausogut auf Fanons Konzept der kulturellen Mimikry verweisen, denn man kann den schwarzen Rechtsanwalt Okafor zweifelsohne als Nègre blanc der New Economy betrachten. Bei der Applikation des Begriffs „kulturelle Mimikry“ stellt sich das Problem, dass in OSUOFIA IN LONDON zwei einander widersprechende Konzepte dieses Begriffs auftauchen – und der britische Gentlemen, den Osuofia kurz vor seiner Abreise und bei seiner Rückkehr spielt, passt in keins von beiden: Der Schauspieler Nkem Owoh erweist hier seinem Kollegen Charlie Chaplin seine Reverenz. Chaplin ist kein Gegner, auch er stand der Ökonomie und der Politik des Westens kritisch gegenüber.

68

Der Titel dieses Unterkapitels ist von dem einer Konferenz inspiriert: „Kontinuitäten und Brüche. 50 Jahre Unabhängigkeit in Afrika“, Tagung der Vereinigung für Afrikawissenschaften (VAD e.V.) 7.-11.04.2010, Johannes Gutenberg-Universität Mainz.

69

Was den Film MOI ET MON BLANC angeht, habe ich meine Vorbehalte bezüglich der Applikation von Bhabhas Theorien bereits dargelegt. Vgl. Teil I, Kap. 3.1, S. 118. Im Folgenden geht es um OSUOFIA IN LONDON.

70

Vgl. Bhabha 1984: S. 125-133.

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Das aus der Biologie rückentlehnte Konzept71 der kulturellen Mimikry wirft bei der Betrachtung von Übernahmen weißer Rollen im afrikanischen Film Probleme auf. Dovey hat Adornos Mimesis-Konzept angewendet, um die Auseinandersetzung afrikanischer Regisseure mit kanonisierten westlichen Texten zu untersuchen.72 Doch im Blick auf die Übernahmen weißer Rollen im afrikanischen Film ist der auf Aristoteles zurückgehende Begriff Mimesis nicht weniger problematisch als der Begriff Mimikry. Die Theaterwissenschaft verwendet den Begriff Mimesis seit Langem nur noch unter Vorbehalt und in sehr spezifischen Zusammenhängen.73 Bei der Untersuchung von Übernahmen weißer Rollen im afrikanischen Film ist die Anwendung der überfrachteten und problematischen Begriffe Mimikry und Mimese unfruchtbar, weil sie den Blick auf die Performanzen der Schauspieler eher verstellen als erhellen. Die Verwendung der Termini „Mimikry“ und „Mimese“ widerstrebt mir aber noch aus einem anderen Grund: Diese Begriffe werden wesentlich häufiger auf afrikanische Performanzen angewandt als auf europäische, bei denen sich ihr Gebrauch ebenfalls rechtfertigen ließe.

71

Die Biologie differenziert folgendermaßen zwischen Mimese und Mimikry: Mimese dient einigen Lebewesen als Schutz, sie verschmelzen gleichsam mit dem Hintergrund und sind so nicht mehr als Beutetier zu erkennen. Davon unterscheidet sich die Mimikry insofern, als hier ein Jäger die Gestalt einer Beute annimmt. Die Naturwissenschaft entlehnt hier Begriffe aus der Geisteswissenschaft, die diese wiederum angereichert mit der Bildlichkeit der Biologie rückentlehnt. Die Beiträge des Sammelbands Mimikry. Gefährlicher Luxus zwischen Natur und Kultur beleuchten die Prozesse des Konzepttransfers aus unterschiedlichen Perspektiven. Vgl. Becker [u.a.] (Hg) 2008.

72

Vgl. Dovey 2009: S. 12.

73

Vgl. Girshausen 2005: S. 201-208.

4.

Blurred Genres

In einem Aufsatz von Clifford Geertz, der den beziehungsreichen Titel „Blurred genres“ trägt, konstatiert der amerikanische Ethnologe einen „steadily broadening stream of social analyses in which the drama analogy is, in one form or another, governing.“1 Wenn Konzepte aus der darstellenden Kunst für die Analysen sozialer Phänomene fruchtbar gemacht werden, könnte man umgekehrt fragen, ob sich das analytische Instrumentarium der Sozialwissenschaften bei der Betrachtung von filmischen Inszenierungen dieser Phänomene anwenden lässt. Da die afrikanischen Filmschaffenden verschiedene Möglichkeiten des Umgangs mit sozialen Rollen durchexerziert haben, könnte man ihre Filme quasi als Versuchsanordnungen betrachten.2 Hinter den diversen Inszenierungen von Übernahmen sozialer weißer Rollen stehen notwendigerweise Vorstellungen von den Prämissen und Auswirkungen sozialen Handelns. Im Folgenden will ich deshalb der Frage nachgehen, ob sich die Konzepte der Künstler mit denen von Wissenschaftlern decken, die versucht haben, soziale Inszenierungen zu ergründen. „Looking glass self“ Im Theater ist der Spiegel der Bühne quasi vorgeschaltet, denn für den Schauspieler ist er von zentraler Bedeutung: Bevor er auftritt, muss er sein Erscheinungsbild überprüfen. Im Alltag ist das kaum anders: Vor einem wichtigen sozialen Ereignis prüfen Menschen gemeinhin vor dem Spiegel, ob ihre äußere Erscheinung den Erwartungen genügt, die an sie als Träger einer bestimmten sozialen Rolle gestellt werden. In den Filmen, die hier Gegenstand der Untersuchung waren, gibt es zahl-

1

Geertz [1983] 1993: S. 30.

2

Da auf der Bühne Vorgänge des menschlichen Zusammenlebens gezeigt werden, wollte beispielsweise Brecht seine Theaterstücke als Modelle verstanden wissen, in denen Versuche möglich seien, denen er den Rang eines wissenschaftlichen Experiments zuschrieb. Vgl. Brecht [1948] 1994: S. 25-54.

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reiche Szenen, in denen Figuren ihr Selbstbild objektivieren: Bevor sich El Hadji in der Hochzeitsnacht zu seiner jungen Braut begibt, will er sich im Spiegel seiner selbst vergewissern: Er entdeckt einen alten Mann. Angèle glättet ihre Haare vor einem Spiegel – Oumi versteckt sie unter einer Perücke. Der Raum, in dem sich Schauspieler vor einem Spiegel für ihren Auftritt schminken und frisieren lassen, heißt in der Theatersprache „die Maske“. In OSUOFIA IN LONDON nutzt der Rechtsanwalt Okafor eine Herrentoilette als Maske, um sich dort für einen neuen Auftritt in seiner sozialen weißen Rolle vorzubereiten. „Um ein Selbst zu haben, muss man sich zunächst zum Objekt machen“, schreibt Vester und verweist auf den 1864 geborenen Soziologen Charles Horton Cooley, der sich mit dem Spiegelbildeffekt beschäftigt hat. Cooley hatte von „looking glass self“ gesprochen und herausgestellt „dass andere Menschen wie ein Spiegel fungieren“3 und dass durch das soziale Miteinander Selbstkonzepte entstehen. Eben diese Konfrontation mit dem Gegenüber steht im Zentrum der Inszenierungen von Übernahmen sozialer weißer Rollen. Die Wirkung auf andere wird insbesondere mit der Kleiderwahl antizipiert. Selbstinszenierung Tropenhelme und Uniformjacken der britischen Armee sind signifikante Bestandteile des Rituals in LES MAÎTRES FOUS. Die europäische Bekleidung unterstützt die Manifestation der Geister, die von den Medien Besitz ergreifen. Aus der Perspektive der Hauka kann hier nicht von einer aktiven Kleiderwahl die Rede sein: Der Geist sucht sich sein Medium und nicht das Medium den Geist. Ganz anders präsentiert sich das Verhältnis zu europäischer Kleidung in den Filmen, die nach der Unabhängigkeit der Kolonien entstanden sind. Das Motiv der Kleiderwahl steht hier paradigmatisch für den Entscheidungsspielraum des Individuums im postkolonialen Afrika. Laut Plessner entspringt das Bedürfnis, seinen Körper zu bedecken, in erster Linie der Notwendigkeit der Selbstdarstellung: „Gehört das Kleid nicht zu den Mitteln der Darstellung, in der sich der Mensch, einem Bildentwurf folgend, verkörpern muss? Kann er solcher Darstellung, solchen Figurierens entraten, da er doch nur als ‚jemand‘ existieren, nur in einer Rolle zu leben vermag?“4 Westliche Phantasien haben sich oft an der Vorstellung von nackten Afrikanern entzündet. Doch wo Europäer ursprüngliche Natur vermuteten, hatten die Menschen ebenfalls Bildentwürfe auf ihre Körper projiziert, sei es durch kleine Artefakte, durch Körperbemalung oder Skarifikationen. Kamwa und Sembène präsentieren die Protagonisten von BOUBOU CRAVATE und XALA am Ende ihrer Filme jedoch tatsächlich als Nackte. Der Präsentation der Blöße gehen Entkleidungsszenen voraus, die in beiden

3

Vester 2009: S. 60.

4

Plessner [1948] 1982: S. 413.

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Filmen als soziale Sanktion inszeniert sind. Obwohl de facto nur die Oberkörper von Gilbert und El Hadji unbekleidet sind, suggerieren die Regisseure, dass in diesem Moment kein Bildentwurf mehr ihre soziale Rolle bestimmt: Sie sind niemand mehr. „Sich seiner Nacktheit schämen weist auf die Komplementärfunktion des Kleides hin, das den Menschen erst zum Menschen, zum Träger einer Rolle macht. Wer sein Kleid verliert, verliert sein Gesicht, seine Würde, sein Selbst“, konstatiert Plessner.5 Soziales Drama Mit Victor Turner könnte man die Nacktheit von El Hadji und Gilbert als Merkmal einer liminalen Phase bezeichnen, in der sich die beiden Protagonisten befinden – „Betwixt and between“.6 Als Nègres blancs haben beide gemäß der filmischen Argumentation von Kamwa und Sembène einen Bruch mit der afrikanischen Gemeinschaft vollzogen. Der Konflikt mit den afrikanischen Werten mündet in eine Krise. An diesem Wendepunkt machte die afrikanische Gemeinschaft ihre Rechte geltend. Die Regisseure präsentierten die verhängte Sanktion als Konfliktlösungsstrategie. In BOUBOU CRAVATE und XALA durchlaufen die Protagonisten mit dem Bruch, der Krise und dem Wendepunkt zumindest die ersten drei der vier Entwicklungsphasen, die Turner in seinem Konzept vom sozialen Drama unterschieden hat. Turner zufolge ist die von ihm skizzierte Entwicklung eine notwendige: „Ich bin der Auffassung, dass die Form des sozialen Dramas auf allen Ebenen der Sozialorganisation, vom Staat bis zur Familie, zu finden ist.“7 Bachmann-Medick merkt jedoch kritisch an, dass sich Turners Modell auf die geschlossene Form des aristotelischen Entwurfs beziehe und dass er außer Acht lasse, dass soziale Vorgänge realiter oft eben nicht abgeschlossen seien.8 Nach Turner kommt es in der vierten und letzten Phase des sozialen Dramas nämlich entweder zum endgültigen Bruch oder zur Reintegration. In BOUBOU CRAVATE deutet sich an, dass die Reintegration des Protagonisten gelingt. Sembène dagegen sprengt die geschlossene Form: Er entlässt seine Zuschauer, ohne anzudeuten, ob und wie El Hadjis Reintegration gelingen kann.

5

Plessner [1948] 1982: S. 413.

6

Turner 1964: S. 4-20.

7

Turner 1989: S. 144.

8

Bachmann-Medick 2009: S. 120.

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Intrarollenkonflikt/Interrollenkonflikt Gilbert kann in BOUBOU CRAVATE auch als Diplomat einen Boubou tragen. Den Entscheidungsspielraum, den ihm seine soziale Rolle lässt, haben die Soziologen Michel Crozier und Erhard Friedberg 1977 in „L’acteur et le système“ so formuliert: „La conduite humaine ne saurait être assimilée en aucun cas au produit mécanique de l’obéissance ou de la pression des données structurelles. Elle est toujours l’expression et la mise en œuvre d’une liberté, si minime soit-elle.“9 Gilberts Konflikt zwischen Boubou und Krawatte würde man in der Soziologie als Intrarollenkonflikt bezeichnen, dieser entsteht, wenn unterschiedliche Erwartungen an eine soziale Rolle geknüpft sind, die in „Widerspruch oder Konkurrenz“ geraten.10 Die konkurrierenden Erwartungen werden in BOUBOU CRAVATE durch Angèle, Irène und den Koch repräsentiert. Gemäß Sembènes filmischer Argumentation in XALA ist es ausgeschlossen, dass sich El Hadji in der sozialen Rolle des Geschäftsmanns in die panafrikanische kommunistische Gemeinschaft integrieren kann, die der Regisseur als ideale propagiert. El Hadji hat aber auch als Staatsbürger, Politiker, Vater und Ehemann versagt. „Mit den unterschiedlichen [sozialen] Rollen verbinden sich unterschiedliche ‚Skripts‘, Erwartungen, Normen und Werte“, schreibt der Soziologe Vester.11 In XALA sind sie nicht zu vereinen. Sembène inszeniert einen Konflikt, den Soziologen als Interrollenkonflikt bezeichnen würden. Sie tragen damit dem Umstand Rechnung, dass Menschen nicht nur Inhaber einer, sondern mehrerer sozialer Rollen sind, die Soziologie spricht in diesem Zusammenhang von der Rollenkonfiguration eines Individuums.12 Rollenkonfigurationen sind in MOI ET MON BLANC ebenfalls zentral. Mamadi genügt ganz unterschiedlichen Rollen-Skripts. Die Fähigkeit zum schnellen Rollenwechsel erscheint in diesem Film als distinktives Merkmal hoch qualifizierter junger Afrikaner. Diese Generation unterscheidet sich von der Elterngeneration insofern, als diese auf eine Konfiguration sozialer Rollen festgelegt ist, deren verschiedene „Skripts“ nicht so große Differenzen aufweisen wie die Rollenkonfigurationen der jüngeren. Eine soziale Rolle freilich schließt Mamadi für sich aus, die des Staatsdieners, denn dann müsste er in eine Partei eintreten, die er ablehnt.

9

Crozier/Friedberg 1977: S. 45.

10

Vester 2009: S. 56.

11

Vester 2009: S. 56.

12

Vgl. Vester 2009: S. 56.

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Strukturfunktionalistisches oder interaktionistisches Rollenkonzept Bei der Betrachtung der verschieden Inszenierungen der sozialen weißen Rolle im afrikanischen Film stellt sich eine grundlegende Frage: Beleuchten die Regisseure verschiedene Aspekte des Phänomens soziale Rolle, oder scheinen in ihren Filmen unterschiedliche Konzepte davon auf, was eine soziale Rolle sein könnte? In ET LA NEIGE N’ÉTAIT PLUS leidet der Protagonist, weil er sich mit der europäischen Prägung, die er während seiner Ausbildung erfahren hat, in Afrika als Fremder fühlt. Die Soziologie bezeichnet Vorgänge gesellschaftlicher Prägung als Sozialisation. Unter dem entsprechen Lemma heißt es bei Vester: „Von Sozialisation ist oft – auch in der Soziologie – die Rede, als handle es sich hierbei um einen Vorgang, in dem die Gesellschaft die Individuen sozusagen einfängt und ihnen das Brandmal der Gesellschaftlichkeit einbrennt. Oft ist auch die Rede von der Internalisierung von Werten und Normen.“13 Genau diese Vorstellung von Sozialisation referiert der Protagonist in ET LA NEIGE N’ÉTAIT PLUS, wenn er berichtet, dass seine Großmutter bereits Befürchtungen hatte, ihr Enkel würde der Familie entfremdet, als er als Kind die Schule der Weißen im Senegal besuchte. Dahinter steht ein Konzept, das die soziale Rolle „als vorgegebenes und von gesellschaftlichen Bedingungen abhängiges Orientierungs- und Verhaltensmuster [erscheinen lässt]. In dieser Sichtweise ist dann soziales Handeln von Rollen bestimmt, die ihrerseits in ein Gefüge gesellschaftlicher Strukturen und Funktionen eingebunden sind.“14 Doch mit diesem strukturfunktionalistischen15 Konzept der sozialen Rolle lässt sich zum Beispiel die Tochterrolle der Rama in XALA nicht fassen, denn sie erfindet sich ihre soziale Rolle neu. In der Soziologie gibt es aber noch eine andere theoretische Strömung, die ein flexibleres und dynamischeres Konzept der sozialen Rolle vorschlägt, das hier besser passt. In der interaktionistischen Rollentheorie steht der Akteur im Mittelpunkt, der die sozialen Rollen durch seine Handlungen überhaupt erst realisiert. Aus dieser Perspektive treten die Handlungsspielräume, die Akteure in verschiedenen sozialen Situationen haben, deutlicher hervor und damit ihre Möglichkeiten, soziale Rollen zu gestalten.16 George Herbert Mead gilt als bedeutendster Vertreter dieses interaktionistischen Rollenkonzepts. Erving Goffman hat Meads Überlegungen aufgenommen, weiterentwickelt und im Zuge dessen den

13

Vester 2009: S. 59.

14

Vester 2009: S. 54/55.

15

Das strukturfunktionalistische Rollenkonzept war in den USA in der Soziologie der 1950er- und 1960er-Jahre dominierend. Vgl. Vester 2009: S. 54/55.

16

Vgl. Vester 2009: S. 54/55 und S. 57.

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Begriff der Rollendistanz geprägt.17 Er passt wie kein anderer auf den Umgang, den Osoufia mit seinen diversen sozialen Rollen pflegt. Ob er sich als rüpelhafter Ehemann, trauernder Bruder, reicher Lord oder als Hinterwäldler präsentiert, Osuofia wahrt immer einen Abstand zu seiner jeweiligen Rolle und diese Distanz verschafft ihm „Manövrierfähigkeit“.18 Damit ist er Okafor überlegen, während Osuofia souverän mit unterschiedlichen Rollenerwartungen spielt, versucht der Rechtsanwalt aus Nigeria krampfhaft, sich an britischen Normen zu orientieren, er will ganz mit der Rolle des perfekt integrierten Afrikaners identifiziert werden. Es könnte sich die Schlussfolgerung aufdrängen, dass das interaktionistische Rollenkonzept prinzipiell dem strukturfunktionalistischen vorzuziehen sei.19 Peuckert hält aber fest, dass je nach zu betrachtendem Kontext beide Konzepte der sozialen Rolle ihre Berechtigung haben können: „Das herkömmliche Rollenkonzept ist dann am fruchtbarsten, wenn es sich um in hohem Maße institutionalisierte und formalisierte Situationen handelt, so dass für die Entfaltung der interpretativen Komponenten des Rollenhandelns wenig Raum bleibt. Der interpretative [interaktionistische] Ansatz verspricht den höchsten Erkenntniswert in relativ offenen, d.h. wenig strukturierten und vordefinierten Situationen.“20

Peuckerts Feststellung, dass je nach Kontext sowohl das strukturfunktionalistische als auch das interaktionistische Konzept der sozialen Rolle seine Berechtigung haben kann, ist auf die Betrachtung der verschiedenen Inszenierungen von Übernahmen sozialer weißer Rollen im afrikanischen Film übertragbar. Es ist nachvollziehbar, dass Samb Makharams Vorstellung davon, was eine soziale Rolle sei, eher dem strukturfunktionalistischen Konzept ähnelt. In den 1960er- und 1970er-Jahren mussten viele Afrikaner noch auf eine rigide Sozialisation in den Schulen der Kolonialmacht zurückblicken. In diesen Institutionen blieb den Schülern wenig Spielraum. Vor diesem Hintergrund ist die Problematisierung der Übernahme der sozialen weißen Rolle in ET LA NEIGE N’ÉTAIT PLUS durchaus adäquat. Aus heutiger Sicht scheint das interaktionistische Konzept der sozialen Rolle zwar brauchbarer, aber es hat durchaus problematische Implikationen. „Indem die interaktionistische Rollentheorie den Akzent sehr stark auf die aktiven Beiträge legt, die ein Subjekt bei der Definition und beim Spiel von Rollen zu leisten hat, wird leicht der Eindruck erweckt, als seien die beteiligten Partner mehr oder weniger gleichberechtigt.“ In MOI

17

Vgl. Goffman [1961] 1973: S. 93-171.

18

Goffman [1961] 1973: S. 149.

19

Vesters diesbezügliche Ausführungen legen diesen Schluss nahe. Vgl. Vester 2009: S. 54-57. Peuckert äußert sich differenzierter. Vgl. Peuckert 2010: S. 246.

20

Peuckert 2010: S. 246.

B LURRED G ENRES

| 143

tritt Mamadi vor den Spiegel, um sich Klarheit darüber zu verschaffen, ob er in den Staatsdienst eintreten soll oder nicht. Er trägt ein rotes Jackett. Mit Plessner könnte man sagen, dass dieses Kostüm ein Mittel zur Darstellung des Bildes ist, das Mamadi vor sich selbst und anderen präsentieren will. Aber eben dieses Selbstbild wird er im Staatsdienst nicht aufrechterhalten können, denn in diesem Machtgefüge hat er keine Gestaltungsmöglichkeiten. Er wendet die Jacke und betrachtet sich jetzt in einem schwarzen Jackett. Sein Spiegelbild gefällt ihm nicht: Er wird die soziale Rolle, die ihm angeboten wurde, ablehnen. Wenn man die afrikanischen Inszenierungen von Übernahmen sozialer weißer Rollen vor dem Hintergrund wissenschaftlicher Überlegungen zu den verhandelten Themen betrachtet, zeigt sich, wie vielfältig und differenziert die Darstellungen gesellschaftlicher Vorgänge in den jeweiligen Filmen sind. Aufgrund der Heterogenität der Filme wäre es inadäquat, ein einziges der sozialwissenschaftlichen Konzepte zu favorisieren. Alle Filme bewahren Analysen der jeweils zeitgenössischen Verhältnisse, zum einen differiert also die Situation, zum anderen die Perspektive der Regisseure. Bei allen Unterschieden zwischen den behandelten Filmen lassen sich bei der vergleichenden Betrachtung der Inszenierungen von Übernahmen sozialer weißer Rollen doch einige wiederkehrende Themen und Motive eruieren. Im nächsten Teil dieser Untersuchung steht die Übernahme weißer Theaterrollen auf dem Programm. Ich will dann herausfinden, ob diese Themen und Motive in Filmen, in denen sich afrikanische Regisseure mit europäischen Theaterstücken auseinandersetzen, ebenfalls auftauchen. ET MON BLANC

Teil II Die Besetzung weißer Theaterrollen

Afrikanische Regisseure haben sich immer wieder im Fundus europäischer Dramen bedient, wie aber bezeichnet man die entstandenen Filme? Der Begriff der Literaturverfilmung ist aus zwei Gründen in die Kritik geraten: Erstens unterstellt er eine Autorität des Vorgängigen dem Nachfolgenden gegenüber. Zweitens impliziert er eine größere Dignität der Literatur und wertet den Film als sekundäres Medium ab.1 „Von ‚Literaturverfilmung‘ zu reden, heißt, den ersten Schritt in die falsche Richtung zu tun, denn im Begriff Verfilmung steckt bereits die erlittene Verformung des Kunstwerks [...]“, notierte Hickethier 1989.2 Heute spricht man meist von filmischer Bearbeitung und untersucht die mediale Differenz zwischen dem literarischen Stoff und dem Film, der den Text bearbeitet.3 Da hier europäische Dramen zur Debatte stehen und diese literarische Gattung ohnehin darauf ausgelegt ist, bearbeitet – in diesem Fall inszeniert – zu werden, könnte man den Begriff der filmischen Inszenierung verwenden. Doch sofern es sich um afrikanische Bearbeitungen kanonisierter europäischer Literatur handelt, fordern die meisten Autoren eine spezifische Sicht auf die Bearbeitung: Gerade hier sei es wichtig, herauszustellen, dass es sich nicht um eine Nachahmung eines europäischen Originals handelt.4 Bill Ashcroft, Gareth Griffiths und Helen Tiffin haben 1989 den Begriff des „writing back“ aufgebracht5 – ein Schlagwort, mit dem schon der Modus der Bearbeitung, nämlich die Subversion, bezeichnet ist. Dieses einflussreiche Konzept ist im postkolonialen

1

Vgl. Hickethier 1989: S. 183/184.

2

Hickethier 1989: S. 183 [Hervorhebung im Original]. Es handelt sich um den ersten Satz des häufig zitierten Artikels.

3

Im Rahmen seiner Untersuchung De l’écrit à l’écran. Les réécritures filmiques du roman africain francophone bezweifelt Alexie Tcheuyap allerdings, dass sich die Erkenntnisse der westlichen Intermedialitätsdebatte zur Untersuchung afrikanischer Bearbeitungen von Literatur eignen, er macht den Begriff „réécriture“ fruchtbar. Vgl. Tcheuyap 2005: S. 25ff.

4

Vgl. Dovey 2009: S.11/12.

5

Ashcroft/Griffiths/Tiffin 1989.

148 | S CHWARZ BESETZT

Diskurs prägend für die Betrachtung von Filmen aus den ehemaligen Kolonien, deren Regisseure sich mit europäischer Literatur auseinandergesetzt haben.6 Dass es nicht unproblematisch ist, afrikanischen Regisseuren per se eine bestimmte Haltung dem europäischen Stoff gegenüber zu unterstellen, mag das folgende Beispiel belegen: Die Kolonialmächte hatten nicht zuletzt deswegen an Boden verloren, weil sich die angeblich so zivilisierten Weißen im Zweiten Weltkrieg gründlich disqualifiziert hatten. Das sahen auch viele europäische Intellektuelle so. Friedrich Dürrenmatt schrieb 1954: „[...] in der Wurstelei unseres Jahrhunderts, in diesem Kehraus der weißen Rasse, gibt es keine Schuldigen und auch keine Verantwortlichen mehr.“ Die Tragödie sei obsolet, denn die setze „Schuld, Not, Maß, Übersicht, Verantwortung voraus“.7 Kurz darauf wurde Dürrenmatt mit seiner „tragischen Komödie“ Der Besuch der alten Dame weltberühmt.8 Auch Hollywood bekundete Interesse an dem Stück, allerdings nicht ohne Auflagen: Ingrid Bergman sollte die Hauptrolle spielen, und der Produzent von 20th Century Fox wollte dem amerikanischen Publikum den Tod der männlichen Hauptfigur nicht zumuten. Der Regisseur Bernhard Wicki akzeptierte diese Vorgaben.9 Dürrenmatt war machtlos, weil er die Rechte für sein Stück verkauft hatte, ohne die Rechtslage studiert zu haben,10 aber er war weder mit dem Happy End einverstanden noch mit Ingrid Bergmann. Er hätte sich Bette Davis in der Rolle der alten Dame gewünscht. Entsprechend harsch fiel sein Urteil über den Film11 aus: „Wicki hat mein Stück überhaupt nicht verstanden.“12 Der Literaturwissenschaftler Jan Knopf attestiert dem Autor ohnehin eine gewisse Kratzbürstigkeit: Er hatte sich auf einem Berg am Waldesrand verbarrikadiert und hielt einen Hund, um „unliebsame Besucher“13 abzuschrecken. Mit diesem Hund machte auch der eigens aus dem Senegal angereiste Regisseur Diop Djibril Mambéty Bekanntschaft, als er nach beschwerlichem Aufstieg endlich vor Dürrenmatts Gartenzaun stand. Im Gepäck hatte er eine Bearbeitung von Der Besuch der alten Dame. Das Drehbuch trug den Titel „Hyänen“. Dürrenmatt fand das lustig. Er hatte mit Mambétys Bearbeitung weniger Probleme als mit der Drehbuchfassung Hollywoods, und er gab dem eigenwilligen Projekt seinen

6

Vgl. dazu Dovey 2009: S. 12 und Porra 2009: S. 206. Wie Dovey konstatiert auch Porra (sie allerdings für den frankophonen Raum) die Omnipräsenz dieser Betrachtungsweise, die beide jedoch kritisch hinterfragen.

7

Dürrenmatt [1954] 1991: S. 59.

8

Dürrenmatt [1956] 1998.

9

Vgl. Bollinger/Buchmüller (Hg.) 1996: S. 83. [Bernhard Wicki]

10

Vgl. Dürrenmatt, in: Bollinger/Buchmüller (Hg) 1996: S. 86.

11

VISIT (THE), USA/Frankreich/BRD/Italien 1964, R.: Bernhard Wicki.

12

Dürrenmatt, in: Bollinger/Buchmüller (Hg) 1996: S. 88.

13

Knopf 1988: S. 68.

D IE B ESETZUNG WEISSER T HEATERROLLEN

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Segen. Mit einer kleinen Zeichnung und der Widmung „An Djibril mit besten Wünschen zur Alten Dame im Senegal“ konnte Mambéty den Rückweg antreten. 14 Im Abspann des Films HYÈNES15 steht zu lesen: „Nous d’Afrique dédions cette ballade au grand Friedrich.“ Dürrenmatt selbst hat Mambétys filmische Bearbeitung seines Theaterstücks leider nicht mehr gesehen, er war schon 1990 gestorben. Aber wie verfallen afrikanische Regisseure auf europäische Theaterstücke? Mambéty schildert die Entdeckung von Dürrenmatts Stück als Wiederbegegnung. Die Titelfigur, die alte Dame, habe ihn an eine Prostituierte aus seiner Nachbarschaft erinnert, die in den Kreisen der Hochfinanz agierte.16 Außerdem fand er Dürrenmatts Aufarbeitung der ökonomischen Situation im Nachkriegseuropa sehr brauchbar, weil er sie auf die Situation im postkolonialen Senegal übertragen konnte. Die Stadt Güllen verschuldet sich nämlich zunehmend bei einer alten Dame, von der es bei Dürrenmatt heißt, dass sie reicher sei als die Weltbank. Alternativ zum Konzept des „writing back“ ließe sich folgende These zum Interesse afrikanischer Regisseure an europäischen Dramen formulieren: Die europäischen Kolonialherren und ihre neokolonialen Nachfolger haben den afrikanischen Kontinent strukturell geprägt. Was liegt da näher, als auf erprobte Instrumente zur Kritik an diesen Strukturen zurückzugreifen? Es bietet sich an, mit denjenigen europäischen Intellektuellen zu fraternisieren, die der Ökonomie, der Politik und der Lebensart ihrer Herkunftsländer ebenfalls kritisch gegenüberstehen. Aber wenn nicht von einem Interessengegensatz zwischen europäischen Autoren und afrikanischen Filmschaffenden auszugehen ist, warum soll man dann auch die Rollen europäischer Dramen als weiße Rollen bezeichnen? Dürrenmatt hatte ja einer schwarzen Besetzung ausdrücklich zugestimmt. Bei der Besetzung des Hollywood-Films hatte er aber zum Beispiel gar kein Mitspracherecht. Mambéty hat zwar Analogien zwischen einer schwarzen Prostituierten und der Rolle der alten Dame konstatiert – 20th Century Fox hätte da vermutlich nur Differenzen gesehen –, undenkbar, dass diese Rolle 1964 in Hollywood mit einer schwarzen Schauspielerin besetzt worden wäre. Wenn nicht anders vermerkt, gehen Caster und Produzenten „automatisch von weißen Besetzungen“ aus.17 Anders ausgedrückt: Die Hautfarbe ist das wich-

14

Ein Faksimile dieses Blattes findet sich in Bollinger/Buchmüller (Hg.) 1996: S. 92.

15

HYÈNES, Senegal/Frankreich/Schweiz 1992, R.: Djibril Diop-Mambéty.

16

Vgl. Mambéty, in: Bollinger/Buchmüller (Hg.) 1996: S. 92.

17

Cherrat 2005: S. 206 [Hervorhebung im Original]. Die afrodeutsche Schauspielerin Nisma Cherrat hat ihrem Unmut über Besetzungspraktiken nach über zehn Jahren im Beruf Luft gemacht. In dem Artikel „Mätresse – Wahnsinnige – Hure: Schwarze SchauspielerInnen am deutschsprachigen Theater“ referiert sie, welche Rollen man ihr übrig gelassen hat. Cherrat 2005: S. 206-220.

150 | S CHWARZ BESETZT

tigste Besetzungskriterium. Diese Besetzungspraxis ist ohne Relativierung als rassistisch zu qualifizieren, denn „Hautfarbe [wird] per se als Statement angesehen“.18 Mambéty hat die Titelrolle des Besuchs der alten Dame mit Ami Diakhaté besetzt. Der senegalesische Regisseur habe „eine Darstellerin [...] von einschneidender Ruhe gefunden“, sie sei von einer „abgründigen Melancholie“, schreibt der Filmkritiker Martin Walder: Ihn habe diese Schauspielerin an Bette Davis erinnert,19 und die wäre wiederum für Dürrenmatt die Idealbesetzung gewesen. So kompliziert sind Besetzungsfragen!

18

Cherrat 2005: S. 219.

19

Walder, in: Bollinger/Buchmüller (Hg.) 1996: S. 95.

5.

Differenzen?

Das tunesische Dörfchen El Malaga ist in hellem Aufruhr: Ein deutsches Fernsehteam hat sich angekündigt. Jeder fürchtet das erbarmungslose Kameraauge, denn alle haben sie etwas zu verbergen. Der Müll wird beseitigt, jetzt drückt man auch beim Alkohol mal ein Auge zu, und die Frauenrechtlerin vor Ort wittert Morgenluft. Die tunesische Provinz inszeniert sich weltoffenen, modern und traditionsbewusst zugleich. Das deutsche Fernsehteam kommt endlich an – aber nur um eine sehr seltene Skorpionart vor die Linse zu nehmen. Der Film LA TÉLÉ ARRIVE1 sorgte 2007 auf dem Festival Cinémas d’Afrique in Angers für allgemeine Heiterkeit, und Regisseur Moncef Dhouib erntete viel Lob für das Drehbuch. Er habe sich, wie schon viele vor ihm, des dramaturgischen Modells von Gogols Der Revisor2 bedient, sagte Dhouib, kein anderes Theaterstück sei im afrikanischen Kontext so relevant wie dieses. Der Revisor erfreut sich auch südlich der Sahara großer Beliebtheit: Es gibt eine sehr erfolgreiche nigerianische Bearbeitung des Stücks.3 Die Kritikerin Anne W. Manyara schrieb 2009 anlässlich einer Aufführung in Kenia: „The play is set in the Russia of the tsars, but it fits Kenyan society like a glove.“4 Bereits 1965 hatte Maurice Sonar Senghor eine senegalesische Bühnenfassung vorgelegt, und 1971 hat sich dann der Filmregisseur Mahama Johnson Traoré des Stoffes angenommen.5 „Postcolonial theory, which often sees African rewritings of canonical texts as a form of opposition, resistance or appropriation, cannot explain the non adversarial

1

TÉLÉ ARRIVE (LA), Tunesien 2006, R.: Moncef Dhouib.

2

Gogol [1836] 1996.

3

Diesen Hinweis verdanke ich Biodun Jeyifo, der selbst Theaterregisseur war, bevor er Wissenschaftler wurde. Leider habe ich bis jetzt weder den Titel noch den Autor ermitteln können.

4

Manyara 2009. [Internetquelle]

5

LAMBAAYE [TRUANDERIE], Senegal 1971/72, R.: Mahama Johnson Traoré.

152 | S CHWARZ BESETZT

way in which the West African directors […] deal with canonical texts“,6 schreibt Dovey, gleichwohl glaubt sie, dass afrikanische Bearbeitungen von kanonisierter europäischer Literatur einer Sonderbehandlung bedürfen: „In displaying radical infidelity rather than fidelity to their sources African adaptations require a broadening of the scope of adaption theory.“7 Selbstverständlich weiß Dovey, dass viele europäische Regisseure ebenfalls sehr frei mit kanonisierten Texten umgehen, aber sie glaubt, dass trotzdem ein fundamentaler Unterschied zu afrikanischen Modi der Bearbeitung besteht: „African film adaptations [...] employ radical infidelity not as a splendid auteurism (in the manner of the Nouvelle Vague adaptations8), but as part of a social project.“9 Aus dieser Behauptung ergeben sich problematische Zuordnungen: Europäische Bearbeitungen wären als Kunst zu betrachten, afrikanische als Teil eines sozialen Projekts. Doveys Unterscheidung korrespondiert zudem nicht mit realen Divergenzen: Bei Mambéty lässt sich ebenfalls ein „splendid auteurism“ nachweisen, und die Nouvelle Vague lässt sich durchaus als „social project“ betrachten (einmal ganz davon abgesehen, dass das eine das andere nicht ausschließt). Afrikanische Inszenierungen europäischer Theaterstücke lassen sich aus zwei verschiedenen Perspektiven betrachten. Man kann seine Aufmerksamkeit den Modifikationen widmen, die afrikanische Regisseure vornehmen, und damit Differenzen zur europäischen Vorlage fokussieren. Diese Perspektive rückt die Unterschiede zwischen „afrikanischem“ und „europäischem“ in den Vordergrund. Wissenschaftler, die über afrikanische Bearbeitungen europäischer Literatur schreiben, nehmen durchweg diese Perspektive ein.10 Ihr Anliegen ist respektabel, zeugt es doch von dem Bemühen, die spezifische kreative Leistung der afrikanischen Filmschaffenden herauszustellen.11 Eine wesentliche Frage bleibt dabei allerdings unbeantwortet: Was zeichnet die europäischen Theaterstücke aus, die afrikanische Regisseure einer filmischen Bearbeitung für würdig erachten? Wer sich nur für die Abweichung von der Vorlage interessiert, wird kaum eine befriedigende Antwort auf die Frage finden, warum ein Regisseur ein bestimmtes Stück ausgesucht hat und

6

Dovey 2009: S. 12.

7

Dovey 2009: S. 11/12.

8

Dovey verweist hier auf: Horton/Magretta (Hg.) 1981: Modern European Filmmakers and the Art of Adaptation. New York.

9 10

Dovey 2009: 12. Afrikanische Filmkritiker stellen dagegen manchmal heraus, wie gut ein europäisches Stück auf afrikanische Verhältnisse passt. Vgl. dazu z.B.: Manyara 2009: „From Russia But Fits Like a Glove“.

11

Stellvertretend für viele andere Autoren, die den spezifisch afrikanischen Aspekten filmischer Bearbeitung europäischer Literatur nachspüren, seien hier nur Dovey 2009 und Porra 2009 genannt.

D IFFERENZEN ?

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kein anderes. Gelegentlich verraten die Untersuchungen zudem, dass die (meist westlichen) Autoren den europäischen Text kaum kennen und so „afrikanische“ Modifikationen konstatieren, wo es keine gibt, weil die Vorlage eben diese Inszenierungsweise nahelegt. Eine alternative Sicht ergibt sich, wenn man zunächst feststellt, wo der Regisseur dem Text folgt. Der Regisseur hat sich notwendigerweise intensiv mit dem Theaterstück auseinandergesetzt, auch (und manchmal gerade) wenn er es signifikant modifiziert, also muss auch der Wissenschaftler den Text gut kennen. Nur auf der Grundlage einer intensiven Auseinandersetzung mit dem Stück lässt sich die Differenz zwischen der Inszenierung des Textes und den Erfindungen des Regisseurs bestimmen. Nur so kann man signifikante Striche ermitteln. Gestrichene Textpassagen sind mindestens genauso aufschlussreich wie Einfügungen. Die Textfassung, die der Regisseur verwendet, gibt Aufschlüsse darüber, wie der Regisseur das Stück interpretiert, was er als wichtig erachtet, was als zweitrangig oder uninteressant. Nur aufgrund eines detaillierten Vergleichs zwischen Text und Film lässt sich ermitteln, was einen Regisseur an einem Stück interessiert hat. Eine adäquate Analyse einer Inszenierung muss den Text im Auge behalten. Die Würdigung einer afrikanischen Regiearbeit muss sich nicht darauf beschränken festzustellen, wie weit sich ein Regisseur von der europäischen Vorlage entfernt – es lohnt sich zu betrachten, wie er den Text behandelt. Gerade auf diese Weise lässt sich eine intelligente Regiearbeit anerkennen. Die spezifische Ästhetik einer Inszenierung lässt sich besonders am Umgang mit dem Text festmachen. Mittels eines detaillierten Vergleichs zwischen europäischem Text und afrikanischer Bearbeitung lassen sich dann auch Modifikationen besser verstehen.

5.1 L AMBAAYE Maurice Sonar Senghor, der Neffe des Staatspräsidenten Léopold Sédar Senghor, war Direktor des Théâtre National Daniel Sorano in Dakar.12 Für dieses Theater hat er eine überaus erfolgreiche Bearbeitung von Gogols Der Revisor verfasst, die 1965 Premiere hatte. Das Stück trägt den Titel Pots-de-vin et consorts,13 wie viele andere Theaterstücke wurde es nie verlegt und liegt nur in einer ziemlich ramponierten Fassung am Théâtre National Daniel Sorano in Dakar vor.14 Auf dem Deckblatt steht zu lesen: „D’après Gogol, ‚sénégalisé‘ par Maurice Sonar Senghor.“ Der se-

12

Vgl. Senghor, M. 2004 [keine Seitenzahl angegeben]. Als eine Talentschmiede war das

13

Das Stück wird meist unter dem Titel Pots-de-vin geführt.

Theater Daniel Sorano in Dakar für den afrikanischen Film von großer Bedeutung. 14

Der Regisseur Moussa Seydi hat mir mit viel Mühe eine lückenhafte Kopie des Theaterstücks besorgt.

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negalesische Regisseur Mahama Johnson Traoré hat dieses Theaterstück gemeinsam mit Pathé Diagne für das Drehbuch zu seinem Film LAMBAAYE abermals umgeschrieben,15 wobei die Autoren des Drehbuchs gelegentlich Details der Komödie Gogols aufgegriffen haben, die M. Senghor gestrichen hatte. Der Film lief 1972 an und hatte im Senegal großen Erfolg.16 Von einem cineastischen Standpunkt aus betrachtet, erscheint dieser Film zunächst recht einfallslos. Man könnte meinen, Traoré habe das Theaterstück notdürftig an gemutmaßte Erfordernisse des Mediums Film angepasst. Es entsteht der Eindruck, die Schauspieler hätten eben noch auf der Bühne geprobt und sich dann geschwind an eilig gewählte Drehorte begeben, um die entsprechende Szene nochmals durchzuspielen. Es sieht aus, als habe die Zeit oder die Kompetenz gefehlt, das Licht richtig zu setzen, und als sei das Filmmaterial so knapp gewesen, dass die Szenen schon nach dem ersten Take im Kasten sein mussten. Kameraführung und Schnitt erinnern an die ersten filmischen Versuche hoch motivierter Autodidakten. LAMBAAYE steht in einer mittelmäßigen Kopie im Archiv von Culturesfrance zur Verfügung. Wegen der beschriebenen Mängel wird heute wohl niemand mehr diesen Film einem Fernseh- oder Festivalpublikum zumuten wollen. Das ist insofern bedauerlich, als das leidenschaftliche Engagement, das den frühen afrikanischen Film getragen hat, gerade in LAMBAAYE aufscheint. Für einen wohlwollenden Zuschauer entfaltet der Film einen ganz eigenen Charme. Die Verve, mit der die senegalesischen Intellektuellen und Kreativen in diesem noch so jungen, aber doch schon maroden Staat gegen den Defätismus ankämpften, ist immer noch spürbar. Wer mit dem Revisor von Gogol vertraut ist, kann zudem das Raffinement bestaunen, mit dem Traoré diesen Stoff für seine Zwecke genutzt hat. Der Regisseur versucht, die Situation in der senegalesischen Provinz durch Dialoge zu vermitteln, Bilder sind hier zweitrangig. In LAMBAAYE wird weit häufiger als in anderen Filmen dieser Zeit Wolof gesprochen.17 Traoré adressiert seine senegalesischen Zuschauer, ohne Zugeständnisse an das europäische Festivalpublikum: „Der Film mag einem europäischen Zuschauer redselig erscheinen; aber der europäische Zuschauer muss wissen, dass die afrikanische Geschichte ausschließlich auf der mündlichen Überlieferung basierte, bevor auch in Afrika das Zeitalter des Bildes begann [...], aber dieses Publikum ist trotzdem immer noch der mündlichen Überlieferung verpflichtet.“18

15

Vgl. Jung 1997: S. 65/66. Der Titel des Films verweist laut Jung auf einen senegalesischen Mythos: In Lambaaye lebt man wie im Schlaraffenland. Mahama Johnson Traoré bestätigte mir dies in einem Telefoninterview, das ich am 02.12.2008 mit ihm geführt habe.

16

Vgl. L’Association des Trois Mondes 1991: S. 314.

17

Alle Dialoge in Wolof werden gemäß der französischen Untertitelung wiedergegeben.

18

Traoré zitiert nach Jung 1997: S. 66.

D IFFERENZEN ?

| 155

Der Unruhestifter Die zentrale Idee von Gogols Komödie Der Revisor lässt sich in einem Satz zusammenfassen: Chlestakow, ein junger Taugenichts, bekommt aufgrund einer Verwechslung in einer Kleinstadt den Status einer Kontrollinstanz zugesprochen, und die Bewohner hofieren den mutmaßlichen Revisor mit schlechtem Gewissen und vorauseilendem Gehorsam. Gogol beschreibt den Unruhestifter folgendermaßen: „Chlestakow ist ein junger Mann von etwa 23 Jahren, schlank, ja schmächtig [...]. Er spricht und handelt ohne jede Überlegung [...], die Worte kommen ihm wie zufällig über die Lippen. Je mehr Treuherzigkeit und Naivität der Schauspieler in die Rolle legt, desto besser ist es. Chestlakow ist nach der neusten Mode gekleidet.“19

Chlestakow ist kein Spielmacher im eigentlichen Sinn. Aus einem Monolog seines Dieners geht zwar hervor, dass er ein Tagedieb mit Hang zum Glücksspiel ist, der nun auf dem ländlichen Gut seines Vaters wieder an die Kandare genommen werden soll, aber zum Betrüger großen Stils wird er von den anderen gemacht.20 Chlestakow ist nur ein Katalysator, den Gogol benutzt, um die Funktionsweise des betrügerischen Systems offenzulegen, das sich in der russischen Provinz installiert hat. M. Senghor hat Chlestakow umbenannt. In der senegalesischen Bearbeitung heißt er Badou. Das senegalesische Publikum assoziiert hier das englische Adjektiv „bad“ – auch Badou Boy, der Protagonist des gleichnamigen Films von Diop Djibril Mambéty, ist ein Bad Boy.21 Die dramaturgische Funktion der Rolle des Chlestakow bleibt in Traorés Film erhalten, aber das Erscheinungsbild und das Auftreten des Hochstaplers entsprechen nicht Gogols Vorgaben. Der senegalesische Revisor22 ist hochgewachsen und athletisch. Er spielt die Rolle offensiver als von Gogol gefordert. Dadurch ist es Traoré möglich, den desolaten Zustand der öffentlichen Institutionen noch expliziter zu verhandeln. Wie sein russisches Pendant folgt

19

Gogol [1836] 1996: S. 9.

20

Vgl. Gogol [1836] 1996: S. 29-31. Brigitte Schultze spricht hier von einer leeren Rolle, der Revisor werde „von den übrigen Figuren erzeugt“. Schultze 2000: S. 252.

21

Vgl. Teil III, Kap. 8.1, S. 266.

22

Der Betrüger wird in LAMBAAYE meist „fonctionnaire“ genannt. Um die Leser nicht zu verwirren, bezeichne ich diese Figur hier durchgängig als Revisor. Die übrigen Personen werden, da vor allem ihre sozialen Rollen relevant sind, im Film meist mit ihren Berufsbezeichnungen angeredet. Im Abspann von LAMBAAYE wird zwar die Besetzung angegeben, aber es bleibt unklar, wer wen spielt. Auch das Telefongespräch mit Traoré konnte nicht alle diesbezüglichen Fragen klären. Immerhin lagen die Dreharbeiten schon über 40 Jahre zurück.

156 | S CHWARZ BESETZT

der senegalesische Revisor der neuesten Mode. Die Gewandtheit, mit der er sich sein Jackett anzieht, verrät den mit allen Wassern gewaschenen Lebemann. Chlestakow und Badou lieben das gute Essen, doch während der Russe Braten will und Geflügel verschmäht,23 ist für den Senegalesen ein gebratenes Huhn der Inbegriff des kulinarischen Genusses – Yassa Poulet gilt im Senegal als Spezialität. Wie Chlestakow nutzt Badou die Komplexe der Provinzler, um sich effektvoll als weltläufigen Großstädter in Szene zu setzen. Beide bedienen sich dabei freigiebig französischer Floskeln. Beide fühlen sich zum Homme de Lettres24 berufen. In diesem Zusammenhang fallen Namen von literarischen Werken und Schriftstellern. Der senegalesische Revisor sagt, er strebe nach Höherem und wolle schreiben wie Léopold Sédar Senghor.25 Dass sich der Betrüger den dichtenden Staatspräsidenten zum Vorbild erkoren hat, spricht für sich selbst. „Mit Puschkin bin ich eng befreundet“,26 brüstet sich der russische Revisor. Eine autobiographische Anspielung, denn Gogol war mit Alexander Puschkin bekannt und hat stets behauptet: „Die Idee zum Revisor stammt von Puschkin.“27 Gogol hatte sich 1835 mit der Bitte um „ein Sujet [...], irgendeine komische oder nicht komische, aber echt russische Anekdote“28 an Puschkin gewandt. Ob dieser auf seine Anfrage geantwortet hat, weiß man bis heute nicht. Sicher ist jedenfalls, dass Puschkin, als er in Orenburg Recherchen zur Geschichte des Pugatschow-Aufstands betrieb, Gegenstand einer ähnlichen Verwechslung war wie Gogols Chlestakow.29 Wie der Anteil Puschkins an Gogols Komödie auch zu bewerten ist, Gogol würdigt den Ideentransfer in der schreibenden Zunft: Chlestakow teilt einem Freund brieflich mit, dass er seine Erlebnisse in der Provinzstadt literarisch weiterverarbeiten könne.30 Vor dem Hintergrund, dass Der Revisor auf dem afrikanischen Kontinent Karriere gemacht hat, soll hier eine anekdotische Koinzidenz nicht verschwiegen werden: Puschkin hat sich selbst häufig kokett als Afrikaner bezeichnet.31 In der Tat war er der Urenkel des aus

23

Vgl. Gogol [1836] 1996: S. 36.

24

Vgl. Gogol [1836] 1996: S. 52.

25

Dieser Name fällt nur im Film, im Theaterstück von M. Senghor werden andere

26

Gogol [1836] 1996: S. 56.

Autoren genannt, u.a Léon Damas. 27

Gogol zitiert nach Zelinsky [Nachwort], in: Gogol [1836] 1996: S. 171.

28

Aus einem Brief Gogols an Puschkin, in Gogol [1836] 1996: [Anhang] S. 171.

29

Vgl. hierzu W. A. Graf Sologub: Erinnerungen, in: Gogol [1836] 1996: [Anhang] S. 141, und Zelinsky [Nachwort], in: Gogol [1836] 1996: S. 175.

30 31

Vgl. Gogol [1836] 1996: S. 107. Vgl. z.B. Puschkin [1833] 1972: S. 27. Der Erzähler des Eugen Onegin wünscht sich eine Zeit der Freiheit, in der er sich „unter dem Himmel seines Afrika“ nach Russland sehnen wird. Vgl. auch: Borowsky [Anm.], in: Puschkin [1833] 1972: S. 243.

D IFFERENZEN ?

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Äthiopien stammenden General-en-chef Ibrahim Hannibal, dem er mit seinem sehr lesenswerten Fragment Der Mohr Peters des Großen32 ein Denkmal gesetzt hat. Puschkins Versroman Eugen Onegin gilt Belinskij, dem ersten wichtigen Literaturkritiker Russlands, als eine „Enzyklopädie des russischen Lebens“.33 In dieser Qualität soll dieses Werk auch im Rahmen dieser Untersuchung herangezogen werden, denn es steht außer Frage dass sich M. Senghor der Autor der senegalischen Bühnenfassung des Revisor intensiv mit Puschkins Roman auseinandergesetzt hat. Im Bericht von einer 1966 unternommenen Russlandreise verweist M. Senghor zunächst auf Puschkin und berichtet, dass er quasi über Puschkin auf den Revisor gekommen sei.34 Puschkin verhandelt in Eugen Onegin viele Fragen, die auch im Revisor von Bedeutung sind, andere Themen, die er behandelt, greift Gogol zwar nicht explizit auf, aber sie bilden den Humus, auf dem seine Komödie gedeiht.35 Um M. Senghors lebhaftes Interesse an russischer Literatur zu verstehen, lohnt es sich, zu betrachten, mit welchen Themen sich Puschkin und Gogol auseinandergesetzt haben. Das imperialistische Zarenreich und der postkoloniale Senegal Die zentraleuropäische Vorstellung von der vorsowjetischen russischen Provinz ist von pittoresken Bildern überlagert: Schnee, melancholischer Adel im Pelz, Schlittenfahrten, Ikonen hinter flackernden Kerzen, ein Samowar, den ein armes, aber tiefgläubiges Großmütterchen in Gang hält – auf den ersten Blick scheint es erstaunlich, dass ausgerechnet Der Revisor, ein Stück, das in der russischen Provinz und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts spielt, in Afrika Erfolge verzeichnen konnte. In einer Vorbemerkung zur senegalesischen Bearbeitung des Revisors verweist M. Senghor auf den universellen Charakter von Gogols Komödie: „[L’auteur] a recherché dans les œuvres à caractère universel une pièce qui était susceptible d’atteindre le public en parlant de ses problèmes, de l’émouvoir en s’adressant à lui avec des mots simples. Car quoi de plus universel que ... des pots-de-vin! Il s’agit là d’un problème

32

[Puschkin] Puskin [1827] 1999: S. 179-227. Die Transkription „Puschkin“ ist üblicher als die vom Verlag gewählte und wird hier deshalb im Text beibehalten.

33

Borowsky [Nachwort], in: Puschkin [1833] 1972: S. 267.

34

Senghor, M. 2004: S. 101.

35

Borowsky [Nachwort], in: Puschkin [1833] 1972: S. 267. Man darf davon ausgehen, dass der Revisor im 19. Jh. vor der Folie des Eugen Onegin rezipiert wurde und umgekehrt. Nicht nur Gogol verweist im Revisor auf Puschkin, auch Puschkin verweist auf Gogol. Puschkin [1833] 1972: S. 179. Vgl. dazu auch Borowsky [Anm], in: Puschkin [1833] 1972: S. 255.

158 | S CHWARZ BESETZT vieux comme le monde, qui n’est pas spécifique au Sénégal, mais qui n’en demeure pas moins une préoccupation sénégalaise.“36

M. Sengor verweist auf die Ubiquität der im Revisor thematisierten Bestechung, aber dieses Thema steht in Gogols Komödie in einem ganz spezifischen Kontext, der auf die Situation im zaristischen Russland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts verweist. Nach der Lektüre von Puschkins Eugen Onegin und Gogols Revisor drängt sich der Eindruck auf, dass die Verhältnisse in der vorrevolutionären russischen Provinz denen in der postkolonialen afrikanischen Provinz in den 1960erund 1970er-Jahren nicht unähnlich waren. Einige signifikante Analogien verdienen hier Aufmerksamkeit. Peter der Große hatte sein Reich als „rückständig“ eingestuft und mit allen dazugehörigen Komplikationen „von oben“ modernisiert. Die kolonialen Machthaber hatten Afrika als „unzivilisiert“ qualifiziert und versucht, den Kontinent in ihrem Sinne und zu ihren Zwecken zu „zivilisieren“. In beiden Fällen orientierte man sich am europäischen Westen. Das zaristische Russland und das postkoloniale Afrika wurden, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, aus zentraleuropäischer Perspektive als Peripherie wahrgenommen, was nicht ohne Auswirkungen auf die jeweilige Selbsteinschätzung blieb. Der Peripherie-Zentrums-Diskurs wiederholte sich sowohl im zaristischen Russland als auch im postkolonialen Senegal im Verhältnis zwischen Hauptstadt und Provinz quasi innerstaatlich. In beiden Fällen galt die Provinz im Vergleich zur Hauptstadt als rückständig. Die mit Komplexen beladene Provinzelite kopierte den hauptstädtischen Lebensstil. Nur weil der Revisor aus der Hauptstadt kommt, kann es zur Verwechslung kommen, nur deswegen erlaubt man ihm, das Unterste nach oben zu kehren. Die Eliten in der „Peripherie“ kompensierten ihre Minderwertigkeitsgefühle mit europäischen Luxusgütern. Russische Autoren und afrikanische Regisseure haben die diesbezüglichen Bemühungen in unzähligen Variationen geschildert.37 Das schwache Geschlecht scheint in diesen Darstellungen insbesondere durch exzessive Lektüre gefährdet: Die Damen in Russland lesen dem Seelenheil abträgliche ausländische Romane,38 in Afrika blätterten sie in nicht minder gefährlichen Modezeitschriften.39 Jedoch nicht jede Lektüre wurde von russischen Autoren und afrikanischen Regisseuren als bedenklich eingestuft: Tatjana, die Heldin des Eugen Onegin, und El Hadjis Tochter Rama lesen auch unentwegt, aber eben die „richtigen“ Bücher. Im zaristischen Russland

36

Senghor, M. 1965: Vorbemerkung [keine Seitenzahl].

37

So auch in ET LA NEIGE N’ÉTAIT PLUS, BOUBOU CRAVATE und XALA.

38

Puschkin [1833] 1972: S. 15-17.

39

Vgl. Teil I, Kap. 2.1 ET LA NEIGE N’ÉTAIT PLUS, S. 88 und Teil I, Kap. 2.2 BOUBOU CRAVATE, S. 95.

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und im postkolonialen Senegal wurden die Rechte der Frauen leidenschaftlich diskutiert,40 denn hier wie dort war es durchaus üblich, dass die Eltern die Ehepartner ihrer Kinder bestimmten. Im Senegal wurde in diesem Kontext auch die Frage der Polygamie verhandelt. Sowohl im russischen Imperium als auch auf dem afrikanischen Kontinent hatte sich ein kompliziertes Verhältnis zur französischen Sprache herausgebildet. In Russland sprach der Adel fast ausschließlich französisch.41 Es gab aber Initiativen, die sich für den Gebrauch der russischen Sprache starkmachten. Puschkin hat im Eugen Onegin für derartige Bestrebungen nur Hohn und Spott übrig. Er entschuldigt sich für den Gebrauch französischer Wörter und versichert den Sprachhütern, er habe zwar im Akademie-Wörterbuch nachgeschlagen, aber das betreffende Wort gäbe es leider im Russischen nicht.42 Französisch blieb im Senegal auch nach der Unabhängigkeit Amts- und Universitätssprache. Der amtierende Präsident Léopold Sédar Senghor verwendete sich für die Francophonie. Ein gutes Französisch galt als Ausweis höherer Bildung, mithin als Sprache der Elite, aber die Rolle des Französischen war nicht unangefochten, gerade Intellektuelle setzten sich für eine bessere Reputation des Wolof ein. Allerdings fehlten auch hier häufig Wörter, die durch französische ersetzt wurden. Sowohl im zaristischen Russland als auch im postkolonialen Senegal waren die unteren Schichten arm, und die meisten Armen waren Analphabeten. Die arme Landbevölkerung galt als abergläubisch, denn sie pflegte Bräuche, die von der Provinz- und Hauptstadtelite nur im Geheimen praktiziert wurden.43 Sowohl in Russland als auch im Senegal lässt sich ein schizophrenes Verhältnis zur Kultur des „einfachen Volkes“ nachweisen. Einige Vertreter der russischen Oberschicht schätzten das Kunsthandwerk, die lebendige orale Tradition und die Spiritualität der Landbevölkerung: Sie meinten, Russland solle sich nicht am Westen orientieren, die eigentliche Erneuerung käme aus der Provinz, vom Volk, und sie glaubten, gerade auf dem Lande manifestiere sich die viel beschworene russische Seele in ihrer reinsten Form. Teilweise schwang man sich zu flammenden Elogen der „ursprünglichen“ Kultur auf und pries die gemutmaßte Seelentiefe der

40

Puschkins Haltung war hier ambivalent, allzu gebildete Frauenzimmer waren ihm suspekt, dennoch hat er oft die Benachteiligung von Frauen thematisiert. Vgl. z.B. Borowsky [Anm.], in: Puschkin [1833] 1972: S. 245.

41

Vgl. Puschkin [1833] 1972: S. 66. Tatjana (Eugen Onegin) ist nicht in der Lage, fehlerfrei russisch zu sprechen.

42

Vgl. Puschkin [1833] 1972: S. 16.

43

Vgl. Puschkin [1833] 1972: S. 105f. Tatjana (Eugen Onegin) lässt sich von ihrer Kinderfrau in magische Praktiken einweisen.

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dazugehörigen „Kulturträger“.44 Die Analogien zu der von afrikanischen Intellektuellen propagierten Négritude springen hier geradezu ins Auge – Léopold Sédar Senghor ging von ähnlichen Prämissen aus. In XALA steht der Präsident der Handelskammer für den Staatspräsidenten Senghor: Er hat eine afrikanische Maske in seinem Büro, er verachtet die Landbevölkerung und rät El Hadji dennoch zu einem Marabout in die Provinz zu fahren ... Um 1970 schien die Sklavenhaltung im zentraleuropäischen Bewusstsein schon einer fernen Vergangenheit anzugehören, aber in den jungen, gerade unabhängigen Staaten Afrikas wirkte das Trauma der Sklaverei nach. Im Russland Gogols war das Thema aktuell, denn als er den Revisor verfasste, gab es dort noch Leibeigene. Die russischen Gutsbesitzer standen den Plantagenbesitzern der amerikanischen Südstaaten in Bezug auf Willkür und Grausamkeit im Umgang mit den ihnen rechtlos ausgelieferten Menschen in nichts nach. Die in ihrer Struktur seit der Kolonialzeit kaum modifizierten zentralistischen Institutionen des postkolonialen Senegal sind in der Provinz mit der Renitenz lokaler Autoritäten konfrontiert, die bestrebt sind, ihre Pfründe zu sichern. Zunächst scheint hier keine Analogie zum Russland Gogols und Puschkins zu bestehen, denn dieses war nie eine Kolonie.45 Doch der Schein trügt, denn das russische Imperium war ein nur von der Klammer der Zarenherrschaft mehr oder minder erfolgreich zusammengehaltener multiethnischer Staat mit allen diesbezüglichen problematischen Implikationen. Immer wieder kam es zu vereinzelten Aufständen, und immer wieder wurden Kriege geführt, um die russische Dominanz durchzusetzen.46 Die Hauptstadtelite stand der Provinzelite misstrauisch gegenüber, weil sich diese zur Wahrung eigener Interessen und zur Sicherung althergebrachter Privilegien auf jede erdenkliche Weise der hauptstädtischen Kontrolle entzog. Genau hier setzt die Komödie von Gogol ein. Um welche Provinz es in seinem Stück geht, verrät er freilich nicht.47 Gogol, der selbst aus einer ukrainischen Gutsbesitzerfamilie stammt, kam erst mit 19 Jahren nach Petersburg. Er wird heute mal als ukrainischer, mal als russischer Schriftsteller bezeichnet. Ob er sich als Ukrainer oder als Russe definiert hätte, ist allerdings fraglich. Die imperiale Politik des Zaren hat er im Revisor je-

44

Puschkin [1833] 1972: S. 33 „o rus ...!“ und Borowsky [Anm.], in: Puschkin [1833] 1972: S. 243.

45

Puschkin schreibt stolz: „Vergeblich hatte Napoleon, berauscht von der Höhe seines Glücks, auf Moskaus Kniefall und die Schlüssel des alten Kreml gewartet.“ Puschkin [1833] 1972: S. 66.

46

In Die Hauptmannstochter thematisiert Puschkin beispielsweise den Pugatschow-Aufstand.

47

In LAMBAAYE wird diese Provinz lokalisiert, es handelt sich um das Département Sédhiou in der Region Kolda.

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denfalls nicht kritisiert. 1836 schrieb er aus Petersburg: „Wenn sich der Zar nicht für mich eingesetzt hätte, wäre mein Stück nie auf die Bühne gekommen, und es fanden sich schon Menschen, die sein Verbot forderten.“48 Nicht die Machtbefugnisse der zaristischen Zentralregierung hatte Gogol infrage gestellt,49 er attackierte nur die Machenschaften und den Lebensstil der Provinzelite. In seinem Stück funktioniert das System zwar nicht so, wie es sollte, aber der Fehler liegt nicht beim Zaren. Der vermeintliche Revisor ist zwar ein bestechlicher Betrüger, aber dass die Provinzelite der Kontrolle bedarf, steht bei Gogol außer Frage. Seine Komödie ist insofern systemkonform, als sie den Absichten von Nikolaus I. durchaus entgegenkommt. Die Systemkritik vermisste Jacques Binet auch in Traorés Film LAMBAAYE. 1979 bemängelte er in einer Rezension, dass nur das Fehlverhalten von eigenmächtigen Provinzpotentaten zur Debatte stünde, darüber würden aber die eigentlichen Probleme des Landes vergessen.50 Die senegalesische Regierung hat Traorés Film jedoch wohl weniger erfreut aufgenommen als seinerzeit der russische Zar die Komödie Gogols. Laut Jung durfte LAMBAAYE in Dakar nur sechs Wochen gezeigt werden, in dem Département Sédhiou in der Region Kolda, in dem die Handlung von LAMBAAYE angesiedelt ist, war der Film ohnehin verboten.51 Möglicherweise hat die senegalesische Zensurbehörde aufmerksamer hingeschaut als Binet, denn die Kritik an der postkolonialen Politik senghorscher Prägung ist in diesem Film doch sehr offensichtlich. Traorés filmische Bearbeitung ist hier stellenweise expliziter als das Theaterstück des Neffen von Staatspräsident Léopold Sédar Senghor.52 In LAMBAAYE wirken einige Schauspieler des Théâtre National Daniel Sorano mit,

48

Auszug aus einem Brief Gogols an M. S. Schtschepkin, in: Gogol [1836] 1996: [Anhang] S. 151.

49

Ob sich Gogol aus Angst vor der Zensur im Revisor zurückhielt, muss hier offen bleiben. Grund zur Kritik hätte es gegeben, denn Nikolaus I. hatte ein rigides Polizeiregime eingeführt. Vgl. Borowsky [Nachwort], in Puschkin [1833] 1972: S. 269. Dass Puschkin seine Kritik an dem herrschenden System deutlicher formulierte als Gogol, zeigt sich schon daran, dass er mit der Zensurbehörde in Konflikt geriet. Vgl. Borowsky [Nachwort], in Puschkin [1833] 1972: S. 274. Puschkin musste das 10. Kapitel des Eugen Onegin verbrennen.

50

Binet 1979: S. 1091.

51

Vgl. Jung 1997: S. 66.

52

Ousmane Diakhaté, der heutige Direktor des Théâtre National Daniel Sorano in Dakar, betonte mir gegenüber in einem Telefonat vom 03.12.2008, dass die Aufführung des Stückes Pots-de-vin im Senegal nie untersagt war. Ein Vergleich zwischen Theaterstück und Film wäre lohnend, er ist aber im Rahmen dieser Untersuchung nicht zu leisten. Ich werde mich darauf beschränken, in Fußnoten auf prägnante Unterschiede hinzuweisen.

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und Traoré betont, dass dessen Direktor Maurice Sonar Senghor die filmische Bearbeitung seines Stückes sehr geschätzt habe.53 In seiner Autobiographie äußert sich M. Senghor positiv über Traorés Film und schreibt: „Au Sénégal, la liberté de la création a toujours été une réalité.“54 Die Richtigkeit dieser Aussage könnte freilich aufgrund der widersprüchlichen Informationen in Zweifel gezogen werden. Die Exposition Der Film LAMBAAYE beginnt mit einer Kamerafahrt durch die Straße einer Provinzstadt, vorbei an einer Esso-Tankstelle, vorbei an ärmlichen Hütten kleiner Händler. Die Handlung ist damit von Anfang an vor den Hintergrund ökonomischer Abhängigkeiten im postkolonialen Senegal gestellt. Ein Schnitt auf ein prächtiges weißes Gebäude mit der Aufschrift „Gouvernance“. Auf der Treppe verhandelt ein Kommandant in Uniform mit einem Mann im weißen Boubou. Dass hier gemauschelt wird, verrät schon die Körperhaltung der Beteiligten: Kommandant:

„Il faudra mobiliser les paysans pendant deux semaines pour cultiver

Mann in Weiß:

„Il faudrait des engrais.“

Kommandant:

„Mon champ d’abord! Nous avons du riz. Un don des américains. Pour

mon champ.“

éviter des jaloux, je ne pourrai pas faire la distribution. Va voir les commerçants, nous leurs cèderons la marchandise. Tu auras ton intérêt.“

Hier fällt zum ersten Mal eine signifikante Analogie zum zwei Jahre später erschienenen Film XALA ins Auge, auch in LAMBAAYE unterschlägt ein Amtsinhaber Hilfsgüter, die der notleidenden Landbevölkerung zugutekommen sollten. Ein Schnitt, und die Kamera zeigt einen dicken Bauch, der zu einem gewählten Volksvertreter gehört. Dieser verkündet im Kreis seiner Vertrauten „La politique, c’est l’art de la ruse et de l’hypocrisie.“ Eine Devise, die sich wie ein Leitmotiv durch den Film ziehen wird. Angetan ist dieser Abgeordnete mit einem hellblauen Boubou, die übrigen Anwesenden tragen Hose und Hemd. Es drängt sich die Vermutung auf, dass der Abgeordnete in diesem Film die politische Kaste unter der Regierung von Léopold Sédar Senghor repräsentiert. In dieser Szene stehen wie in XALA insbesondere die engen Beziehungen zu Frankreich zur Debatte. Der Abgeordnete will Decken, die er in Frankreich erhalten hat, zur Bestechung verwenden, um wie

53

Gespräch mit Traoré am 02.12.2008.

54

Senghor, M. 2004: S. 101. Maurice Sonar Senghor äußert sich hier positiv über seinen Onkel, allerdings kritisiert er seine mangelnde Dialogbereitschaft als Staatspräsident. Vgl. Senghor, M. 2004: S. 16.

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üblich mit einer überwältigenden Mehrheit von 99,99 Prozent wiedergewählt zu werden. In Gogols Revisor geht es gleich mit dem ersten Satz des Stückes in medias res55: [Anwesend sind der Stadthauptmann, der Kurator der Armenanstalten, der Schulinspektor, der Richter, der Arzt und zwei Polizisten] Stadthauptmann:

„Ich habe Sie hergebeten, meine Herren, um Ihnen eine äußerst unerfreuliche Mitteilung zu machen: Ein Revisor kommt in unsere Stadt.“56

Während Gogol nur mit dem Adjektiv „unerfreulich“ andeutet, dass es in der russischen Provinz etwas zu verbergen gibt, wird Traoré explizit. Er zeigt noch vor der Ankündigung des Revisors, was es in der senegalesischen Provinz zu bemänteln gäbe. Bei Gogol gibt der Stadthauptmann Anweisungen, wie die desolaten Verhältnisse in den Institutionen zu kaschieren seien: Die Kranken liefen herum wie die Schornsteinfeger, saubere Nachtmützen müssten her, und über jedem Bett seien die jeweiligen Krankheiten in Latein „oder einer anderen Sprache“57zu verzeichnen. Traoré veranschlagt eine ganze Szene, um Missstände im Gesundheitssystem aufzuzeigen. Wie häufig in diesem Film bedient er sich dabei einer Plansequenz. Weil Dialoge in Hollywood-Filmen meist im Schuss-Gegenschuss-Verfahren zu sehen sind, besteht die Tendenz, ein in einer Plansequenz präsentiertes Gespräch als Indiz für einen dilettantisch gemachten Film zu werten. Aber gerade Regisseure, die sich durch einen innovativen Umgang mit dem Medium Film auszeichnen, haben auf die Plansequenz zurückgegriffen, weil sich so Machtverhältnisse in einer Figurenkonstellation verdeutlichen lassen.58 Traoré zeigt den beschränkten Aktionsradius einer Patientin zwischen Krankenhausangestellten: Rechts steht ein Arzt, links eine Krankenschwester, sodass die Kranke in ihrem Boubou gewissermaßen von weißen Kitteln in die Enge getrieben wird. Die Patientin bleibt im Hintergrund und bekommt kaum Licht. Ihr sei so heiß, klagt sie. Der Arzt diagnostiziert Malaria und verordnet ihr ein Medikament. Sie habe kein Geld, sagt die Frau.59 Der Arzt wendet sich daraufhin ab, als trage er für alles weitere keine Verantwortung mehr. Ob man ihr keinen Kredit einräumen kann, will die Patientin noch wissen. „Les temps sont

55

Die Bühnenfassung folgt hier Gogol. Die Kritik der Verhältnisse ist demgemäß nicht so

56

Gogol [1836] 1996: S. 11.

prägnant wie im Film. 57

Gogol [1836] 1996: S. 13.

58

Der brasilianische Regisseur Glauber Rocha arbeitet häufig mit Plansequenzen. Auch

59

Traoré zeigt hier einen illegalen Medikamentenverkauf. Vgl. Jung 1997: S. 66.

im nigerianischen Video sieht man sie häufig. Vgl. z.B. Teil III, Kap. 10.2, S. 349.

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durs. L’hôpital ne fait pas de crédit“, erwidert die Krankenschwester nur, dem falschen Revisor wird man später überall Kredit gewähren ... Über einen Patienten, der mit seiner dreckigen Nachtmütze an einen Schornsteinfeger gemahnt, kann man lachen, über eine Malariakranke, die ohne Geld kein Recht auf medizinische Versorgung hat, jedoch nicht. Traoré hat viele komödiantische Standardsituationen fast wörtlich von Gogol übernommen, aber er wechselt das Register sofort, wenn es um Armut, Krankheit und Hunger geht. Die betrogenen Betrüger Analog der ersten Szene bei Gogol liest der Kommandant nach der geschilderten Exposition einen Brief vor, in dem vor der Ankunft eines Revisors gewarnt wird. Wie sein russischer Amtskollege hat er aus diesem Anlass die „administrativen Säulen“60 des Städtchens um sich versammelt. Unter ihnen befindet sich auch ein Richter ganz in Schwarz mit Jabot. Der Brief beginnt mit einer französischen Anrede, dann geht es auf Wolof weiter. Dieser Wechsel zwischen den Sprachen zieht sich durch den ganzen Film. Vereinzelt sind französische Fachbegriffe zu hören, häufiger aber französische Floskeln, mit denen die Sprecher ihr savoir vivre unter Beweis stellen wollen. Hier folgen M. Senghor und Traoré der Vorlage: Wie bei russischen Autoren des 19. Jahrhunderts üblich, finden sich auch bei Gogol zahlreiche französische Einsprengsel. Im Revisor sind die französischen Wörter jedoch häufig entstellt, um die gezierten aber unbeholfenen Umgangsformen der Provinzelite zu parodieren. 61 Die russische Gesellschaft war in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts streng nach einem komplexen Rangsystem geordnet. Im Zuge der restriktiven Restaurationspolitik62 unter Nikolaus I. wurde sie zudem zunehmend von einem mächtigen Polizeiapparat kontrolliert. Die Konflikte und der Neid gären bei Gogol im ersten Akt63 nur unter der Oberfläche. Hier entsteht zunächst eine Notgemeinschaft unter der Leitung des Ranghöchsten, des Stadthauptmanns. Auch im Senegal gilt es angesichts der drohenden Revision den Schein zu wahren, aber die Elite muss sich hier bemühen, das Bild einer funktionierenden Demokratie aufrechtzuerhalten. Anders als in Russland muss die Hierarchie zumindest nominell immer wieder von den „Unteren“ legitimiert werden. Die Gewalten sind qua Gesetz geteilt. Traoré hat hier, um den differenten Verhältnissen Rechnung zu tragen, in die gogolsche Dra-

60 61

Schultze 2000: S. 246. Vgl. Zelinsky [Anm.], in: Gogol [1836] 1996: S. 157: „chantré“ statt „châtain“, „voyagieren“ etc.

62

Vgl. Zelinsky [Anm.], in: Gogol [1836] 1996: S. 153.

63

Vgl. Gogol [1836] 1996: S. 11-28.

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maturgie eingegriffen. So uneingeschränkt wie im zaristischen Russland sind die Machtbefugnisse des Kommandanten im Senegal nicht. Hier kann es sich der Richter schon mal erlauben, dem Kommandanten ein „enterrement de première classe“ vorauszusagen. Der Kampf zwischen den verschiedenen Amtsinhabern wird offener ausgetragen. Dies ermöglicht es Traoré, die desolaten Verhältnisse in der Provinz pointierter in Szene zu setzen. In dem russischen Stück gibt es ein komisches Duo: Die Gutsbesitzer Pjotr Iwanowitsch Bobtschinskij und Pjotr Iwanowitsch Dobtschinskij treten nur gemeinsam auf. Sie wollen zwar immer das Gleiche sagen, aber sie fallen sich stets ins Wort, denn das unzertrennliche Paar, die beiden „elenden Plappermühlen“64 stehen in Konkurrenz zueinander. Sie sind es, die verbreiten, dass der angekündigte Revisor bereits im Hotel des Ortes abgestiegen sei. Keiner verifiziert die Aussage, und so nimmt das Unglück seinen Lauf. In LAMBAAYE sind diese Rollen gestrichen, und die Rolle des Stadthauptmanns65 ist quasi geteilt. Aus gutem Grund: Ein Stadthauptmann hatte im zaristischen Russland annähernd uneingeschränkte Machtbefugnisse: Er hatte die Kontrolle über alle Institutionen.66 In LAMBAAYE müssen sich der Kommandant und der Abgeordnete die Macht teilen – Traoré verweist damit auf die latente Gefahr eines Militärputsches. Der Senegal war diesbezüglich zwar weniger gefährdet als andere afrikanische Staaten, doch die Gefährdung von Demokratien durch die Machtübernahme von Militärs wurde in den 1960er- und 1970er-Jahren weltweit diskutiert.67 Der Kommandant und der Abgeordnete beginnen einen Wettlauf um die Gunst des mutmaßlichen Revisors. Sie bekleiden unterschiedliche Positionen, der eine trägt eine Uniform, der andere einen Boubou, aber in Bezug auf Machthunger und Skrupellosigkeit stehen sich beide in nichts nach. „Maintenant, c’est chacun pour soi“, sagt der Kommandant, aber zunächst gehen er und der Abgeordnete noch eine Notallianz ein. Politik und Militär wollen dem Revisor Seite an Seite einen ersten Besuch abstatten. Vorher treffen beide allerdings noch Vorkehrungen, um sich einen Vorsprung vor dem anderen zu sichern. Der Postchef soll alle Briefe öffnen, um den Kommandanten im Falle eines Komplotts zu warnen: „Les paysans m’inquiètent un peu. Ils disent que je les écorche, si je les ai démunis, c’est l’intérêt de la nation pour alimenter les caisses de l’Etat.“68 Wohl

64

Gogol [1836] 1996: S. 112.

65

M. Senghor bezeichnet die Rolle, die bei Gogol als Stadthauptmann aufgeführt ist, als Kommandant.

66

Vgl. Zelinsky [Anm.], in: Gogol [1836] 1996: S. 153.

67

Interessanterweise ist die Figur, die in Sembènes Le Dernier de l’Empire (1981) für L. S. Senghor steht, ebenfalls durch einen Putsch bedroht.

68

Während der russische Stadthauptmann argwöhnt, von den Händlern angeschwärzt zu werden, fürchtet der Kommandant im Senegal vor allem die Landarbeiter.

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ahnend, dass ihm der Kommandant zuvorgekommen sei, wendet sich der Abgeordnete ebenfalls an den Postchef: Er, der gewählte Volksvertreter, müsse vor dem Kommandanten auf dem Laufenden sein. Dem Postchef – er ist wie bei Gogol schlichten Gemütes – leuchtet das ein: Er wird den Abgeordneten zuerst informieren, weil der die Interessen der Region vertritt. Wenn der Kommandant und der Abgeordnete dem Revisor ihre Aufwartung machen, inszeniert Traoré Komödie. Der Schauspieler Makhourédia Guèye, der zwei Jahre später in XALA die Rolle des Präsidenten der Handelskammer spielen wird, brilliert hier in der Rolle des Kommandanten. Er steht gehorsam vor dem vermeintlichen Revisor stramm und ist sichtlich bemüht, sich durch Haltung dem Gardemaß von Badou anzunähern, aber da dieser ihn um einen Kopf überragt, kann er nur ehrfürchtig die Augen erheben. Badou lebt schon seit zwei Wochen auf Kredit. Der Wirt des Hotels, in dem er abgestiegen ist, will ihm nichts mehr zu essen geben. Der zahlungsunfähige Gast befürchtet also zunächst, dass der Kommandant und der Abgeordnete gekommen sind, um ihn zu verhaften. Als ihm dämmert, dass sie glauben, eine hochgestellte Persönlichkeit vor sich zu haben, spielt er den Mann von Welt. Der Kommandant verteidigt sich, ohne dass ihm der Revisor dazu Anlass gegeben hätte, gegen gemutmaßte Vorwürfe bezüglich seiner Amtsführung. Das zentrale Argument dieser Rechtfertigungen, „Les temps ont changé“, legt nahe, dass er bereits im Dienst der Kolonialregierung gestanden hat. Als ihn der Revisor um Geld bittet, zögert er nicht, ihm eine große Summe zu überreichen, und bietet ihm an, in seinem Hause Quartier zu beziehen. Der Revisor nimmt gerne an: „On est mieux en famille.“ Bezeichnenderweise wird hier nur französisch gesprochen. Die Allianz zwischen Kommandant und Abgeordnetem zerbricht nach dieser Szene. Der Abgeordnete hatte die ganze Zeit schweigend abseits gesessen. Nun will er den Revisor alleine sprechen. Der falsche Revisor wählt eine raffinierte Strategie, um auch noch den Volksvertreter zu melken. Zunächst bemerkt er, dass ein Abgeordneter ja wohl recht gut verdienen müsse. Der Angesprochene tappt in die Falle und stimmt ein Klagelied an: die Familie, die laufenden Kosten „et si on veut être réélu, il faut donner des sous“.69 Jetzt hat ihn der Hochstapler da, wo er ihn haben will: Ob er mit dem Regime unzufrieden sei, fragt er jovial lächelnd. Der Abgeordnete rudert sofort zurück, das habe er doch nur so dahingesagt. Der Revisor begnügt sich damit, schweigend Pfeife zu rauchen und zu warten, bis der Abgeordnete einen Packen Geldscheine fallen lässt. Badou versteht es auch, aus der Unzufriedenheit

69

Im zaristischen Russland war Bestechung allgegenwärtig. Lt. Zelinsky haben die Beamten so wenig verdient, dass sie quasi auf Bestechung angewiesen waren. Vgl. Zelinsky [Anm.], in: Gogol [1836] 1996: S. 159. Inwieweit diese bezüglich der Korruption immer wieder vorgebrachte Rechtfertigung stichhaltig ist, sei hier dahingestellt.

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der Geschäftsleute Profit zu schlagen.70 Bei Gogol beschweren sich die Kaufleute, sie müssten den Stadthauptmann nicht nur an seinem Namenstag, dem des heiligen Antonius, beschenken, er habe auch noch den Tag des heiligen Onuphrius zu seinem Namenstag erklärt.71 In LAMBAAYE beklagen sich die Kaufleute, sie müssten den Kommandanten nicht nur an christlichen, sondern auch an muslimischen Feiertagen beschenken. Badou bietet sich als Schutzpatron an und kassiert seinerseits. Zunächst sieht es so aus, als sei das Wettrennen zwischen dem Abgeordneten und dem Kommandanten zugunsten des Letzteren entschieden. Der Kommandant hat dem Revisor sogar noch seine Tochter versprochen und wähnt sich schon auf dem Gipfel einer militärischen Karriere in der Hauptstadt Dakar. Da auch alle anderen in ihm bereits jetzt den Mann von großem Einfluss sehen, tragen sie ihm ihre Anliegen vor. Bei Gogol blockt die Ehefrau des Stadtkommandanten solche Ansinnen kategorisch ab: „[...] Man erweist nicht jeder Null seine Protektion.“72 Traoré inszeniert an dieser Stelle die Vetternwirtschaft im postkolonialen Senegal. Der Kommandant hält auf einem roten Sofa sitzend Hof und verspricht allen das Blaue vom Himmel: „Les bonnes relations font de grands hommes.“ Die Kamera zeigt ihn bis zur Brust. Das Rot des Sofas umrahmt das Bild einer vorweggenommenen Inthronisierung, aber erwartungsgemäß folgt auf seine Hybris der Höllensturz. Traoré leitet die Auflösung Gogol folgend mit einem Brief ein. Der Revisor hat einem Freund von der Verwechslung berichtet und geschrieben, dass er fürchte, die Sache werde bald auffliegen, und dass er deswegen seine Abreise plane.73 Der Postchef hat den Brief aufgemacht. Alle Würdenträger sind zugegen, als der Brief verlesen wird. Alle müssen sie sich eingestehen, dass sie betrogene Betrüger sind. Doch damit nicht genug! Bei Gogol folgt nun die Meldung von der Ankunft eines „echten“ Revisors. Laut Regieanweisung verharrt die gesamte Gruppe daraufhin über eine Minute in Schockstarre. Anders bei Traoré: Hier erwischt es nur den Kommandanten. Der Zuschauer sieht ihn zum letzten Mal in Handschellen. Gogol gewährt den Zuschauern zumindest die vage Hoffung, dass nun aufgeräumt werde, Traoré nicht. Jetzt sitzt der Abgeordnete auf dem roten Sofa und kommentiert den Abgang seines Konkurrenten mit seinem Standardsatz: „La politique, c’est l’art de la ruse et de l’hypocrisie.“

70

Dem Interessengegensatz Adel/Kaufleute widmet Gogol große Aufmerksamkeit. Vgl. hierzu Gogol [1836] 1996: S. 97-99. Im Senegal fürchtet der Kommandant vor allem die Landarbeiter.

71

Vgl. Gogol [1836] 1996: S. 82.

72

Gogol [1836] 1996: S. 105.

73

Bei Gogol schwant dem Stadtkommandanten zudem, dass ihn ein „Federfuchser und Tintenkleckser“ zur Komödienfigur machen wird. Gogol [1836] 1996: S. 111.

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Die unteren Schichten Ossip, der Diener des russischen Revisors, ist ein Leibeigener.74 Gogol beschreibt ihn als „Räsoneur“75 im vorgerückten Alter: „Er ist klüger als sein Herr und durchschaut daher alles schneller. Indessen redet er nicht gern, hinter seinem Schweigen aber verbirgt sich ein schlauer Schelm.“76 In der Theatergeschichte wimmelt es nur so von überlegenen Dienern. Figaro, wohl der bekannteste unter ihnen, fragt sich, warum sein Herr so viel Macht über andere habe. Die Antwort darauf findet er selbst: Sein Herr habe sich die Mühe gegeben, in den Adelsstand hineingeboren zu werden.77 Dass er, Figaro, mehr geleistet habe, steht für ihn außer Frage. Am Ende renkt sich zwar alles gerade noch mal ein, aber es geht die Mär, dieses Stück habe die französische Revolution ausgelöst. Der betrügerische Revisor von Gogol gibt sich als Verfasser von Figaros Hochzeit aus.78 Unbedacht ist die Erwähnung eines solchen Stückes sicher nicht, auch wenn dessen revolutionärer Impetus in Gogols Komödie fehlt. Ossip, der Diener des Revisors, taugt nicht zum Revolutionär. Er hält „sich gern selbst die für seinen Herrn bestimmten Moralpredigten“.79 Einige Diener der Weltliteratur fürchten, dass die Rache des Himmels ihre Herren ereilt.80 Vor dem himmlischen Gericht graut es Ossip nicht, nur vor der Polizei und wütenden Wirten. Nur wenn er diesbezüglich Gefahr wittert, versucht er, seinen Herren auf den Pfad der Tugend zu führen. Ossip ist ein gewiegter Pragmatiker, der es versteht, im Fahrwasser seines Herrn zu rudern, um wie er aus der Verwechslung Profit zu schlagen.81 Die Konzeption von Dienerrollen verdient deswegen Aufmerksamkeit, weil die Diener als Repräsentanten der unteren Schichten politisches Argumentieren ermöglichen. Da es Traoré ein Anliegen ist, soziale Ungerechtigkeiten im postkolonialen Senegal zu thematisieren, hat er die Rolle des Dieners

74

Gogol [1836] 1996: S. 64.

75

Gogol [1836] 1996: S. 9. Gogol ist einer der Dramatiker, die Regisseure mit akribischen Regieanweisungen überschütten, z.B. Gogol [1836] 1996: S. 113 und genaue Vorstellungen bezüglich der Besetzung angeben, vgl. Gogol [1836] 1996: S. 7-10.

76

Gogol [1836] 1996: S. 9.

77

Beaumarchais: Le Mariage de Figaro.

78

Gogol [1836] 1996: S. 56.

79

Gogol [1836] 1996: S. 9.

80

Daniel etwa, der rechtschaffene Hausknecht der Gebrüder Moor (Schiller: Die Räuber)

81

Er überredet seinen Herren sogar, nicht nur Geld, sondern auch Geschenke von den

oder Sganarelle, der nicht ganz so makellose Diener Dom Juans (Molière: Dom Juan). Händlern anzunehmen, sie könnten auf der Flucht vonnöten sein, Gogol [1836] 1996: S. 62f.

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umkonzipiert.82 In LAMBAAYE ist der Diener jünger als sein Herr. Er trägt zu seinen ausgestellten Jeans einen auffälligen neongrünen Überwurf. Der Russe Ossip reagiert nur mit einem lakonischen „Naja“, wenn sein Herr ihn einen Dummkopf nennt,83 sein senegalesischer Kollege echauffiert sich. Traoré stellt diese Figur in die gleichen komischen Situationen wie Ossip – sein Herr ertappt ihn im Bett. Er muss wie Ossip versuchen, ihm auf Kredit Mahlzeiten zu verschaffen – aber alle Passagen, in denen der Diener im Windschatten seines Herrn von dessen Betrug profitiert, sind gestrichen. Wie Ossip ist der senegalesische Diener bei seinem ersten Auftritt hungrig,84 aber Traoré streift das Thema Hunger nicht nur, er behandelt es ausführlich und verlässt dabei (wie schon in der Krankenhausszene) das Genre der Komödie.85 Wie bei Gogol treffen der Diener des Revisors und der Diener des Kommandanten zusammen. Ossip treibt die Hochstapelei seines Herrn weiter, um sich möglichst gute Bissen zu sichern.86 Traoré inszeniert an dieser Stelle die Solidarität der arbeitenden Klasse: Ob er im Haus des Kommandanten glücklich sei, fragt der Diener des Revisors seinen Kollegen. „Je mange bien à ma faim“, antwortet dieser, er müsse nicht in der Küche arbeiten und habe keinen Abwasch, denn die Familie des Kommandanten würde das Essen aus dem Krankenhaus serviert bekommen. Der Kommandant lebe auf Kosten der anderen. Auch das Bankett für den Revisor werde vom Krankenhaus geliefert. Glücklich sei, wer etwas zu essen habe, stellen die Diener übereinstimmend fest. Der Diener ist nicht der einzige Repräsentant der Unterschicht. Immer wieder flicht Traoré kurze Einstellungen ein, in denen er einfache Leute zeigt: eine Mutter mit ihren Kindern, einen Handwerker auf einer Strohmatte, einen Mann, der einen Karren mit Gemüse schiebt. Die Kamera fährt an ärmlichen Hütten vorbei und nimmt Menschen, die ihren diversen mühevollen Beschäftigungen nachgehen, in den Blick. Kontrastierend zu dieser Kamerafahrt montiert Traoré einen pompös inszenierten Aufmarsch der Provinzprominenz. Die Crème des Städtchens wird an

82

M. Senghor lehnt sich in seiner Bühnenfassung an Gogol an.

83

Gogol [1836] 1996: S. 31f.

84

Gogol [1836] 1996: S. 30. Zum Motiv des hungrigen Dieners vgl. z.B. Molières Dom Juan und Goldonis Diener zweier Herren.

85

Auch Gogol sprengt häufig den Rahmen der Komödie, etwa im IV. Akt, wenn er das Leben der Unterprivilegierten zur Darstellung bringt. In den Berichten der Schlossersfrau und der Unteroffiziersfrau scheint die Brutalität des Provinzdespotismus auf. Gogol [1836] 1996: S. 83-85. Männer konnten z.B. willkürlich zu 25 Jahren Militärdienst eingezogen werden. Vgl. Zelinsky [Anm.], in: Gogol [1836] 1996: S. 161 und Borowsky [Anm.], in: Puschkin [1833] 1972: S. 245. Das Auspeitschen war eine weit verbreitete Sanktion.

86

Vgl. Gogol [1836] 1996: S. 50.

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einem Fest zu Ehren des Revisors teilnehmen. Diese Sequenz fällt aus dem übrigen Film heraus und nimmt in der zweiten Hälfte des Films sehr viel Raum ein. Traoré inszeniert hier ein Spektakel, wie man es aus dem Cinema of Attractions oder dem Hindi-Film kennt. Er lässt Tänzer und Sänger auftreten, unter ihnen ist der senegalesische Star Aminata Fall. Die Lieder sind nicht untertitelt. Der Regisseur adressiert das senegalesische Publikum, nun allerdings nicht um der politischen Aufklärung willen, sondern vielmehr, um zu unterhalten.87 Die höheren Mächte In der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts finden sich zahlreiche Beschreibungen okkulter Praktiken. Die Bewertung dieses Rekurses auf geheime Mächte bleibt insbesondere bei Puschkin und Gogol merkwürdig ambivalent. Mal machen sie sich aus der Perspektive des aufgeklärten Kosmopoliten über den Aberglauben lustig,88 mal ergehen sie sich in poetischen Beschreibungen althergebrachter Bräuche,89 mal versuchen sie die Gefahren magischer Praktiken offenzulegen.90 Sie schildern oft etwas lächerliche, leicht versponnene, aber sehr sympathische Erdenbewohner, die sich einem schicksalsgläubigen Fatalismus ergeben.91 Ähnlich mehrdeutig ist die Rolle des Marabouts in LAMBAAYE. In der russischen Komödie gibt es kein Pendant zu dieser Rolle, M. Senghor hat sie in das dramaturgische Gerüst von Gogol eingefügt. Die Rolle ist nicht handlungstragend. Alle Szenen mit dem Marabout wären verzichtbar, aber M. Senghor hat diese Szenen so konzipiert, dass der Zuschauer im Zweifel bleibt, ob nicht der Marabout hinter allen Verwicklungen steckt. Dies zeugt von einer überaus profunden und luziden Auseinandersetzung mit Gogols Komödie. Gogol hat den Glauben an Übernatürliches immer wieder anders

87

Traoré bestritt dies mir gegenüber und sagte, es sei ihm bei der Inszenierung des Fests einzig darum gegangen zu zeigen, wie die Mächtigen zulasten der Armen Geld verschleudern. Interessant ist, dass er sich nicht bemüht, „unverfälschte“ afrikanische Kultur vorzuführen. Das Publikum sitzt auf eigens installierten ansteigenden Sitzreihen. Die Tänzer und Sänger tragen zwar traditionelle afrikanische Kleidung, aber sie singen in ein Mikrofon. Die Technik wird nicht versteckt, man sieht Kabel und Lautsprecherboxen.

88

Etwa Puschkins Titelfigur, der Spötter Eugen Onegin.

89

Vgl. Puschkin [1833] 1972: S. 103ff. Tatjana lässt sich von ihrer Amme in magische Praktiken einführen.

90

In Puschkins Pique Dame treibt eine Frau einen Glücksspieler noch über das Grab

91

In Gogols Die Heirat will Agafja das Schicksal entscheiden lassen, wen sie heiraten

hinaus in den Wahnsinn. soll, und zieht darum Lose.

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thematisiert, doch zunächst will es scheinen, dass er dieses Thema im Revisor ausnahmsweise einmal nicht aufgreift. Brigitte Schultze kann aber zeigen, dass die metaphysische Ebene in dieser Komödie als Basis aller Interaktionen zu betrachten ist.92 In ihrem Aufsatz „Die sichtbare und die verdeckte Komödie“ legt sie dar, dass sich Gogol die von ihm intendierte moralische Besserung seines russischen Publikums93 nur als eine Hinwendung zur Orthodoxie vorstellen kann. Gogol deutet zwar an, dass der Leibhaftige der eigentliche Verursacher aller Verwicklungen und Verwerfungen im Revisor ist,94 aber ein Teufel tritt in seiner Komödie nicht auf. M. Senghor hat diese dramaturgische „Leerstelle“ ausfindig gemacht und aufgefüllt, denn er hat die Rolle des Marabout so konzipiert, dass man ihn für den Strippenzieher halten könnte. Damit hat er eine Rolle geschaffen, in der die verborgene Dimension von Gogols Komödie kulminiert. Gleich nach der Ankündigung des Revisors schickt der Kommandant einen Sekretär zu seiner Mutter aufs Dorf, denn dort residiert der Marabout „qui m’avait tiré de l’affaire des billets de banque multipliés“. Hier gibt es offensichtliche Analogien zwischen LAMBAAYE und XALA: In beiden Filmen versuchen die Antihelden, die sich anbahnende Katastrophe mittels Magie abzuwenden. Der Kommandant will seinen Vorsprung vor dem Abgeordneten nicht verlieren. Im Zuge dieser Verwicklungen wirken die Zwischenschnitte auf das Innere der Hütte des Marabouts als retardierendes Moment, dadurch verstärkt sich der Eindruck, dass der Marabout im Hintergrund die Fäden zieht. Er hantiert mit Ketten und absonderlichen Objekten und kassiert dafür viel Geld. Der Umstand, dass sich der Kommandant immer dann an den Marabout wendet, wenn es gilt, Amtsmissbräuche zu decken, scheint den Schluss nahezulegen, dass hier filmisch gegen die Anwendung magischer Praktiken argumentiert wird. Doch wie Sembène in XALA setzt auch Traoré in LAMBAAYE mithilfe der Konfrontation von Amtsinhaber und Marabout die Schizophrenie der Elite im postkolonialen Senegal in Szene. Makhourédia Guèye, der später in der Rolle des Präsidenten der Handelskammer an der Seite El Hadjis ebenfalls zu einem Marabout fahren wird, gibt hier in der Rolle des Kommandanten wieder eine Probe seines komischen Talents. Dieser Kommandant geht nicht, er paradiert gemessenen Schrittes. Mit jeder seiner Bewegungen will der Uniformträger unter Beweis stellen, dass er die harte Schule des Drills absolviert hat. Bei dem Marabout muss der Kommandant allerdings auf einem niedrigen Bänkchen Platz nehmen. Er sieht nun aus wie ein kleiner Junge, der auf dem dazu bestimmten Gefäß ein großes Geschäft

92

Schultze 2000: S. 241-264.

93

Vgl. Schultze 2000: S. 243. Berücksichtigt man die Tatsache, dass die Religiosität Gogols einen ausgeprägt sektiererischen Charakter hatte, eröffnet sich eine interessante Perspektive auf den Revisor.

94

Vgl. hier insbesondere Schultze 2000: S. 256f.

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verrichtet. Die imposante, aber für einen vorgewölbten Brustkorb geschneiderte Uniform kommt hier leider nicht zur Geltung. Der Marabout weiß, was der Kommandant von ihm hören will, und sagt ihm eine glänzende Zukunft voraus: „Je vois une haute personnalité qui va faire ton bonheur. Tu seras un grand chef à Dakar.“ Eine Hochzeit stehe ins Haus, käme sie zustande, wäre der Kommandant ein gemachter Mann. Allerdings schließt der Marabout seine Prophezeiung mit einer Wahrsagung, die sich erfüllen wird: „Tu seras convoqué.“95 Wie der zweite Marabout in XALA nimmt er damit den Ausgang des Films vorweg.96 Der Kommandant glaubt, er werde zwecks Beförderung nach Dakar berufen. In Wirklichkeit geht es ins Gefängnis. Sibyllinische Weissagungen lassen sich dramaturgisch nutzen, um Spannung aufzubauen: Der Zuschauer ahnt, dass dem Protagonisten sein Untergang prophezeit wird, während dieser nur die Glücksverheißung versteht. Das schöne Geschlecht Dem Duo Abgeordneter/Kommandant steht das Duo ihrer jeweiligen Gattinnen gegenüber. Beide sind groß und schmal, beide tragen elegante Boubous, und wie ihre Gatten versuchen beide, sich gegenseitig zu überbieten. Ihre Männer brauchen Geld, um ihre Macht zu sichern, die Frauen brauchen Geld, um ihren gesellschaftlichen Rang zu inszenieren. Wenn der Abgeordnete verkündet, „Grâce à moi, la région s’en tire“, setzt Traoré den Schmuck seiner Frau ins Bild.97 Gogol beschreibt die Ehefrau des Kommandanten als Provinzkokette mittleren Alters: Sie bezieht „ihre Bildung aus Romanen und Poesiealben [...]. Im Verlauf des Stückes wechselt sie viermal ihre Kleider.“98 Diese ausgesprochen lüsterne Dame steht zu ihrer Tochter in einem Konkurrenzverhältnis. Der Revisor ist der lachende Dritte. An seinen Freund schreibt er: „Und jetzt wohne ich beim Stadthauptmann und lasse es mir gut gehen und mache abwechselnd seiner Frau und seiner Tochter den Hof. Ich weiß nur noch nicht mit welcher ich beginnen soll, ich denke aber, eher mit der Mutter, denn sie scheint mir jetzt zu allem bereit zu sein ...“99 M. Senghor hat die Rolle der Frau des Kommandanten ähnlich wie Gogol angelegt. Auch sie ist eitel. Auch sie

95

Das französische Verb „convoquer“ ist doppeldeutiger als das deutsche Verb „berufen“,

96

Auch in XALA spricht der zweite Marabout, den El Hadji konsultiert, doppeldeutig,

es heißt auch „vor jemanden zitiert werden“. Der Marabout spricht ansonsten Wolof. wenn er sagt: „Was eine Hand genommen hat, kann sie wieder zurückgeben.“ Vgl. Teil I, Kap. 1.2, S. 71. 97

Dass dieser Mann seiner Frau imponieren muss, zeigt sich, wenn er ihr aufschneiderisch von seinem ersten Besuch mit dem Kommandanten beim Revisor erzählt.

98

Gogol [1836] 1996: S. 8.

99

Gogol [1836] 1996: S. 107.

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träumt von einem Leben in der Hauptstadt. Auch sie ist darum bemüht, Eindruck auf den Revisor zu machen, hier allerdings nicht um der Bestätigung ihrer sexuellen Attraktivität willen, dieser Frau geht es einzig um gesellschaftliche Anerkennung. Der Revisor ergeht sich auch hier in Höflichkeiten an die Adresse der Mutter, in Traorés Inszenierung allerdings ohne Anzüglichkeiten. Gogol hat die Rolle der Tochter in seinen „Bemerkungen für Schauspieler“100 nicht eigens erwähnt. Ganz der Komödie verpflichtet, führt er ein neugieriges und naives Dämchen vor. Ihr Seelenleben scheint maßgeblich von der Romanlektüre geprägt zu sein.101 Marja Antonowna ist zwar genauso eitel wie ihre Mutter, aber zu zimperlich, um auf erotische Abenteuer aus zu sein. Sie stellt allenfalls fest, dass der Revisor ein „hübsches Näschen“102 habe. Marja streitet häufig mit ihrer Mutter. Die Auseinandersetzungen bleiben im Rahmen komödiantischer Zänkereien, ein grundstürzender Generationenkonflikt wird hier nicht ausgetragen. In LAMBAAYE ist der Konflikt zwischen Mutter und Tochter anders gelagert, denn M. Senghor hat die Rolle der Tochter des Kommandanten radikal umgeschrieben. Beri, so heißt die Tochter hier, hat große Ähnlichkeit mit Rama, der Tochter El Hadjis aus XALA.103 Wie Rama ist Beri eine ernste junge Intellektuelle. Nie sieht man sie ohne Buch. Jede freie Minute verwendet sie auf die Lektüre. Auch Beri besucht die Universität. Sie ist kleiner als Rama und wirkt zurückhaltend, fast schüchtern. Beri lebt in ihrer eigenen Welt. Dem Treiben im Haus des Kommandanten scheint sie völlig enthoben. Der Zuschauer sieht sie häufig durch Gärten streifen. Beris Widerstand scheint zunächst defensiver als der von Rama, aber auch sie scheut die offene Auseinandersetzung mit ihrer Mutter nicht. In einer zentralen Szene, die zahlreiche Ähnlichkeiten mit der zwischen El Hadji und Rama am Ende von XALA aufweist, scheint ein Generationenkonflikt auf, in dem Beri als Sprachrohr Traorés fungiert. Die Tochter tritt von hinten auf die Veranda am Haus des Kommandanten, wo ihre Mutter wie hingegossen in einem Lehnstuhl ruht. Beri trägt weiße Hosen und ein blaues kurzärmliges T-Shirt, die Haare hat sie streng zurückgekämmt, und wie immer trägt sie ein Buch in der Hand. Sie nimmt leicht versetzt hinter der Mutter Platz und beginnt zu lesen. Im Gegensatz zu ihrer Mutter sitzt sie kerzengerade. Traoré zeigt die Figurenkonstellation auch diesmal in einer Plansequenz: hier dekadente Passivität, dort

100 Gogol [1836] 1996: S. 8-10. 101 Vgl. Gogol [1836] 1996: S. 57. Auch Puschkin behandelt dieses Thema ausgiebig. Vgl. Puschkin [1833] 1972. 102 Gogol [1836] 1996: S. 64. 103 XALA und LAMBAAYE weisen zahlreiche Ähnlichkeiten auf. Traoré glaubt jedoch nicht, dass Sembène auf seinen Film Bezug genommen habe. Er sagte mir, wenn man aus heutiger Sicht Entsprechungen feststellen könne, läge das wohl daran, dass beide Filme in derselben „air du temps“ entstanden seien.

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aufrechte Aktivität. Die Haltung der Figuren bezeichnet ihre Lebenseinstellung, ihre Anordnung deutet auf ein distanziertes Verhältnis hin. Es entspinnt sich ein Gespräch darüber, welche Auswirkungen eine Überprüfung der Verhältnisse vor Ort für die Familie haben könnte. Da die betrügerischen Praktiken nun aufgedeckt würden, sei wohl mit Festnahmen zu rechnen, meint die Tochter. „C’est ton souhait?“ fragt die Mutter aggressiv. „Il faut savoir qu’il n’y a pas de place pour les véreux“, erwidert die Tochter und wendet sich wieder ihrer Lektüre zu. Ob das auf ihren Vater gemünzt sei, fragt die Mutter mit drohend erhobenem Zeigefinger und fügt hinzu: „Depuis que tu vas à l’université, tu ne cesses de prôner des idées subversives.“ „Il faut assainir, essuyer cette poussière sur le pays“, erwidert die Tochter. Die Ankunft des Abgeordneten unterbricht das Gespräch. Der später im Haus des Kommandanten einquartierte Revisor kann nur die Mutter beeindrucken. Die Tochter merkt, dass hier keiner gekommen ist, der aufräumen wird, sondern einer, der vom korrupten System profitieren will. So verwundert es nicht, dass Beri für die Avancen des falschen Revisors unempfänglich bleibt. Aber angeheizt durch die diesbezüglichen Prophezeiungen des Marabouts wollen ihre Eltern sie mit Badou verheiraten. Der Handlungsstrang um Beri endet mit ihrer entschiedenen Weigerung. In Gogols Stück „gibt es nur negative Exemplare der species Mensch. Keine einzige Rollenfigur ist autorisiert, ethische Normen anzumahnen“,104 schreibt Schultze. Traoré hat also auch hier in das dramaturgische Konzept Gogols eingegriffen. Man könnte es aber auch anders formulieren und behaupten, dass Traoré das Konzept von Gogols Komödie konsequent weitergesponnen hat: Er stellt dem teuflischen Marabout einen Engel, eine Heilsverkünderin, gegenüber und legt damit die dramaturgische Struktur offen, die als „verdeckte Komödie“ unter Gogols Revisor verborgen ist. Nègres blancs in LAMBAAYE ? Intellektuelle aller Länder vereinigt euch! Beri, die Tochter des Stadtkommandanten, ist angezogen wie amerikanische oder europäische Twens der siebziger Jahre, zwischen ihnen und ihr besteht kein Interessensgegensatz. Unter Gleichgesinnten war die Color line obsolet. Mit dem Tragen von Jeans wurde nicht die Übernahme einer sozialen weißen Rolle markiert, sondern die Zugehörigkeit zu einer Generation, die rassistische Vorurteile verabscheute – in den USA war der Afro-Look in Mode gekommen. Zu dieser Generation gehört nicht nur Beri, sondern auch der Diener von Badou, Rama, der Koch aus BOUBOU CRAVATE und Irène. Anders als in ET LA NEIGE N’ÉTAIT PLUS, BOUBOU CRAVATE und XALA ist afrikanische Kleidung

104 Schultze 2000: S. 249 [Hervorhebung im Original].

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in LAMBAAYE nicht per se positiver konnotiert als westliche. Die schlimmsten Heuchler stecken hier im traditionellen afrikanischen Gewand – die Gattinnen der Provinzpotentaten und der Abgeordnete tragen Boubous. Der Umstand, dass sich hier ein Politiker demonstrativ auf seine „Africanicité“ beruft, legt die Vermutung nahe, dass Traoré in seiner Inszenierung die Négritude und ihren namhaften Vertreter Léopold Sédar Senghor anvisiert. Nein, das habe er nicht im Sinn gehabt, sagt Traoré, Zielscheibe seiner Kritik sei der Nègre blanc gewesen.105 Traoré hat das dramaturgische Gerüst von Gogol benutzt, um zu zeigen, wie sich die Provinzelite auf Kosten der armen Landbevölkerung bereichert. Dasselbe werden später auch Sembène und Ogoro den Nègres blancs in ihren Filmen XALA und OSUOFIA IN LONDON vorwerfen. Aber anders als El Hadji und Okafor ist der Abgeordnete nicht durch sein Kostüm als Nègre blanc ausgewiesen, er sichert seinen Status als Volksvertreter durch die Unterstützung aus dem Ausland. Den Kommandanten jedoch erkennt man schon an seiner Kleidung als Nègre blanc. Makhourédia Guèyes Körper ist in dieser Rolle ganz Uniform. Der Schauspieler führt das Militär als koloniale Erblast vor: Der Kommandant wurde gedrillt, jetzt will er selbst drillen. Wie ein fünfjähriger Bub genießt er die eigene Wichtigkeit, wie ein kleines Kind zittert er vor den Strafen der Großen. Als er befürchtet, vom Revisor gemaßregelt zu werden, hofft er, mit einem bedauernden „Les temps ont changé“ um Verständnis werben zu können. Hier zeigt sich die Kunst dieses Schauspielers: Auf einmal steht da ein alter Mann, einer, der einer vergangenen Zeit nachtrauert, als der Senegal noch Kolonie war, als er nur auf den Vorgesetzten zu hören hatte und mit allen anderen umspringen konnte, wie er wollte. Sembène hat diesen virtuosen Darsteller mit der Rolle des Präsidenten in XALA besetzt, und auch in Mambétys Film HYÈNES begegnet man Guèye wieder, er spielt hier einen Bürgermeister.

5.2 H YÈNES Djibril Diop Mambèty wurde 1945 in Colobane geboren. Bevor er sich dem Film zuwandte, war er Schauspieler am bereits erwähnten Théâtre National Daniel Sorano in Dakar.106 Kein anderer afrikanischer Regisseur ist so sagenumwoben wie Mambéty, kein anderer hat seine Kollegen so inspiriert wie er. In dem Film

105 Ich bezweifle, dass das, was mir Traoré zu Protokoll gegeben hat, seine damalige Position referiert. Hinzuzufügen wäre außerdem, dass Léopold Sédar Senghor wegen seiner Verbindungen zu Frankreich von seinen Kritikern als „Français noir“ oder „Nègre blanc“ bezeichnet wurde. 106 Die Kleinstadt Colobane ist zunehmend mit der Hauptstadt Dakar zusammengewachsen.

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MAMBÉTY FOR EVER von Aïssatou Bah107 berichten namhafte Vertreter des afrikanischen Kinos wie Mahamat-Saleh Haroun, Abderrahmane Sissako und Mahama Johnson Traoré von Mambéty. Mit LA GRAMMAIRE DE MA GRAND-MÈRE108 hat Jean-Pierre Bekolo dem genialen Kollegen ein Denkmal gesetzt. NINKI NANKA, ein weiterer Film über Mambéty von Laurence Gavron trägt den Untertitel „Le Prince de Colobane“.109 Gavron überrascht Mambéty hier mit einer alten Schwarz-WeißFotografie, einem Foto, das während einer Theateraufführung aufgenommen wurde. Die Kamera fährt so nah heran, dass man Mambéty im Talar eines Richters erkennt. „Où est-ce que t’as déniché ça?“ fragt Mambéty verblüfft, das sei ja er selbst, damals 1979 in Pots-de-vin, der Bearbeitung des Revisors von Gogol.110 Sein eigener Film HYÈNES ist eine Bearbeitung von Dürrenmatts Der Besuch der alten Dame,111 auch hier spielt Mambéty einen Richter, doch Dürrenmatts Theaterstück und Der Revisor haben mehr gemeinsam, als dass in beiden Stücken ein Richter auftritt. Wieder geht es um eine kleine Stadt, und wieder werden die Repräsentanten der Institutionen vor schwierige Aufgaben gestellt, denn auch hier kommt jemand aus der großen weiten Welt, der alles durcheinanderbringt, diesmal allerdings eine alte Dame. Die Stadt Güllen und ihre Bewohner kennt sie nur zu gut, denn sie hat ihre Jugend hier verbracht. Wie in Gogols Komödie gibt es in Dürrenmatts Stück zwei Plappermühlen, die sich ähneln wie Zwillinge und immer das gleiche sagen. Koby und Loby richten wie Dobtschinskij und Bobtschinskij Unheil an, weil sie falsche Aussagen verbreiten. Aber die beiden Russen haben geglaubt, was sie sagten, Koby und Loby haben wissentlich die Unwahrheit gesagt. Sie wussten, dass Alfred Ill die hübsche rothaarige Kläri Wäscher geschwängert hatte. Aber da Ill die Besitzerin eines Gemischtwarenladens heiraten wollte, hat er Koby und Loby bestochen, damit sie vor Gericht aussagen, sie hätten Kläri gemeinsam in andere Umstände gebracht. Die Bürger der Kleinstadt straften die Zügellose daraufhin mit Verachtung. Kläri verließ Güllen und prostituierte sich, um zu überleben. Aber aus Kläri wurde Claire, und diese heiratete den Milliardär Zachanassian. Der starb, und Claire wurde steinreich. Als alte Dame kehrt sie schließlich ins mittler-

107 MAMBÉTY FOR EVER, Frankreich 2008, R.: Aïssatou Bah. 108 GRAMMAIRE DE MA GRAND-MÈRE (LA), Frankreich/Senegal 1996, R.: Jean-Pierre Bekolo. 109 NINKI NANKA: LE PRINCE DE COLOBANE, Senegal 1991, R.: Laurence Gavron. Der Film wurde während der Dreharbeiten zu HYÈNES gedreht. 110 Mambéty erzählt in NINKI NANKA, dass auch Makhourédia Guèye damals mitgewirkt hat, daraus lässt sich mit ziemlicher Sicherheit schließen, dass Mambéty damals unter der Regie von M. Senghor gespielt hat und möglicherweise auch bei der Uraufführung des Stückes dabei war. 111 Dürrenmatt [1956] 1998.

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weile verarmte Güllen zurück. Die Stadt hatte nicht vom Wirtschaftsaufschwung profitieren können. Die Industrie liegt darnieder, und die Güllner hoffen nun auf die Großmut der ehemals Geschmähten und begrüßen sie mit Sentiment und gemischtem Chor. Aber Claire wendet den Empfang zum Tribunal. Der Richter, der Ill damals aufgrund falscher Zeugenaussagen aus der Verantwortung entlassen hat, ist mittlerweile ihr Butler, und Claire unterbreitet der Stadt ein Angebot: „Eine Milliarde für Güllen, wenn jemand Alfred Ill tötet.“112 Im Revisor offenbart sich die Verwerflichkeit der schuldbewussten Kleinstädter, weil sich alle freiwillig den gemutmaßten Anforderungen der Revision unterwerfen und den Ankömmling bestechen, um einer Strafe zu entgehen. Anders in dem Stück von Dürrenmatt, hier versucht die Heimkehrerin, die Güllner zu bestechen. Zwar haben auch diese Kleinstädter ein schlechtes Gewissen, aber angesichts des Bestechungsversuchs fühlen sie sich der alten Dame gegenüber zunächst moralisch überlegen. Doch die Rechnung der alten Dame wird aufgehen, denn die Güllner erweisen sich als käuflich. Trotz dieser Differenz weisen die zentralen Konflikte von Der Revisor und Der Besuch der alten Dame eine signifikante Analogie auf: In beiden Stücken stehen Moral und Geld in einem antagonistischen Verhältnis. Helvetische Schullektüre – senegalesisches Vexierspiel In den Spielzeiten 1956 und 1957 war Der Besuch der alten Dame das am häufigsten gespielte Theaterstück auf deutschen Bühnen. Kurz danach setzte der internationale Erfolg ein: Giogio Strehler hat das Stück am renommierten Piccolo Teatro in Mailand aufgeführt. Peter Brook hat das Stück gleich dreimal inszeniert: 1957/58 in Stratford-upon-Avon, 1958 in New York und 1960 in London.113 Wer wie ich in der Schule mit dem Besuch der alten Dame in die Literaturwissenschaft initiiert wurde, kann Brooks Interesse an Dürrenmatts Stück kaum nachvollziehen, denn es scheint eine Fundgrube für Oberstudienräte zu sein. Thema Ironie: „Platz-an-der-SonneHütte“,114 Schlüsselsätze, die Vorwegnahmen markieren: „Klara liebte die Gerechtigkeit“,115 mäßig originelle Klassenarbeitsthemen: „Dürrenmatt hat das Theaterstück Der Besuch der alten Dame in einer Kleinstadt namens Güllen angesiedelt. Erläutern Sie, warum.“ Der Literaturwissenschaftler Jan Knopf fasst es so: Dürrenmatts Besuch der alten Dame hatte rasch einen „sicheren Platz im Lektürekanon von Schule und Hochschule“ 116 erobert, und es sah bald so aus, als sei dieses Stück

112 Dürrenmatt [1956] 1998: S. 49. 113 Zu diesen Angaben vgl. „Nachweis“, in: Dürrenmatt [1956] 1998: S. 153/154. 114 Dürrenmatt [1956] 1998: S. 14. 115 Dürrenmatt [1956] 1998: S. 19. 116 Knopf 1988: S. 7.

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damit zu „durchschlagender Wirkungslosigkeit“117 verurteilt. Der Besuch der alten Dame ist mittlerweile von den internationalen Bühnen verschwunden, und auch im deutschsprachigen Raum setzt man das Stück nur noch auf den Spielplan, um Schulklassen ins Theater zu locken.118 Mambétys Film HYÈNES hingegen war Ende der 1990er-Jahre ein internationaler Erfolg beschieden. Es stellt sich mithin die Frage, wie es dem senegalesischen Regisseur gelungen ist, die alte Dame aus ihrem Dornröschenschlaf zu wecken. Die meisten Untersuchungen zu HYÈNES begnügen sich damit, festzustellen, dass es sich bei Mambétys Inszenierung um eine sehr freie Bearbeitung des Theaterstücks handelt. Sie beschränken sich auf eine kurze Inhaltsangabe von Dürrenmatts Stück, um sich dann ganz auf das vermeintlich spezifisch Afrikanische der filmischen Bearbeitung119 zu konzentrieren. Aber unter dieser Prämisse lässt sich das komplizierte Verhältnis zwischen Text und Inszenierung kaum adäquat betrachten, denn Mambéty hat den Theatertext, den man im Westen ad acta gelegt hat, sehr sorgfältig gelesen und ein Theaterstück entdeckt, in dem im Grunde schon eine Globalisierungskritik im Zentrum steht. So hatte er mit einigen intelligenten Strichen ein für seine Zwecke brauchbares Gerüst. Der Vergleich zwischen dem Revisor von Gogol und der filmischen Bearbeitung von Traoré ließ deutliche Abweichungen vom Ausgangstext erkennen. Mambéty hat auf einige Rollen, die Dürrenmatt aufführt, verzichtet. Presseleute sind nicht zu sehen. Mambéty zeigt auch Ills Kinder nicht. Die Leibwächter der Milliardärin sind gestrichen, die drei Ehemänner, die Claire Zachanassian während ihres Aufenthaltes in Güllen der Reihe nach heiratet, ebenfalls. Doch Mambéty hält sich wesentlich enger an den Text Dürrenmatts als Traoré an den Gogols. Mambéty ist einer der raffiniertesten und phantasievollsten Eklektizisten der Filmgeschichte, ein Virtuose widersprüchlicher und polysemer Bilder. Er hat nur wenig umgeschrieben, aber viele Sequenzen eingefügt, die nahezu ohne Text auskommen. Dürrenmatts Text scheint hinter Mambétys Bildern zu verschwinden – paradoxerweise auch und gerade dann, wenn die Bilder durch den Text inspiriert sind.120

117 Knopf zitiert in diesem Kontext eine Befürchtung, die Max Frisch seinem Kollegen Bertolt Brecht gegenüber betreffs der Kanonisierung von Literatur geäußert hatte. Knopf 1988: S. 7. 118 Mit der Finanzkrise 2010 ist das Stück auch in Deutschland wiederentdeckt worden. 119 Vgl. z.B. Porra 2009: S. 205-221 und Oscherwitz 2008: S. 223-238. 120 Porra (2009: S. 213) spricht von einem „nouveau système allégorique qui fonctionne conformément à la structure de la pièce de Dürrenmatt, mais ce charge des signifiants africains.“ Das ist nur teilweise korrekt, denn die Bilder, die Mambéty findet, sind bei genauerer Betrachtung aufs Engste mit dem Text verbunden und (wie sich im Folgenden zeigen wird) nur bedingt als „afrikanisch“ zu bezeichnen.

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Das Pendant zu Alfred Ill heißt in seinem Film Draman Drameh. Er und Ill sterben auf die gleiche Weise: Die Gemeinschaft, die sie ausgestoßen hat, nimmt sie noch einmal in ihre Mitte und umzingelt sie immer enger. Was genau passiert, sieht der Zuschauer nicht, aber auf einmal gehen alle auseinander. Bei Dürrenmatt liegt jetzt eine Leiche auf der Bühne, bei Mambéty nur noch ein Mantel. Zum Verbleib der Leiche äußert sich der Regisseur folgendermaßen: „Draman Drameh, l’homme qui va peut-être mourir au bout de ce film, vous salue. Il saura pour pourquoi il meurt, mais pas comment. Toi, tu ne le sauras non plus. Le seul qui sait sera la magie. Si tu veux à tout prix savoir, tu casses la magie. Le cinéma est de la magie.“121 Mambéty klärt nicht auf. Seine Statements sind zur Analyse seiner Werke nur bedingt nutzbar, denn sie erweisen sich häufig als Irrlichter, meist zeugen sie von dem Bemühen, die „Magie“ nicht durch nachträgliche Erklärungen zu entzaubern. Damit argumentiert er im Sinne Dürrenmatts, denn auch der verwahrt sich in seinen Anmerkungen zum Stück mit ebenso enigmatischen wie possenhaften Erklärungen gegen Dechiffrierungen und verweist auf „sein immanente[s] Vertrauen zum Theater“.122 In dem Theaterstück führt Claire Zachanassian einen schwarzen Panther bei sich. Er ist eine Art Doppelgänger von Ill, den Claire seinerzeit „ihren schwarzen Panther“ genannt hatte. Als das Tier ausbricht, bewaffnen sich die Güllner, ein Hinweis darauf, dass die Jagd auf Ill begonnen hat. Mambéty akzentuiert die Metapher Dürrenmatts: In Colobane kommt Linguère Ramatou (so heißt die alte Dame hier) ohne Panther an, stattdessen wird ein schwarzer Stier geschlachtet – die Gemeinschaft wird Draman opfern. Es scheint zunächst, als ließe sich Mambétys Inszenierungsmodus mit dem Schlagwort „Lokalisierung“ fassen. Aber er zeigt zwar Elefanten, Zebras und natürlich auch Hyänen, doch er selbst sagt diesbezüglich, er habe mit seinem Film Grenzen überschreiten wollen: Die Elefanten seien aus Kenya, die Hyänen aus Uganda, außerdem sei auch eine Asiatin zu sehen.123 Dürrenmatt erwähnt ebenfalls immer wieder Tiere, aber in Mambétys Film schieben sich die Bilder der Tiere wie eine zweite Folie über die der Menschen: Der Effekt ist kolossal. Die Tiere lassen sich manchmal einer Rolle zuordnen, manchmal nicht:124 Ein kleiner Affe verbindet sich mit der Welt der Menschen. Mal schläft der Affe auf der Achse eines Wagens, mal zerreißt er eine zerschlissene Flagge, dann wieder tanzt er, wenn die Menschen tanzen. Manchmal wirft der Regisseur den Zuschauern

121 Barlet [2002]: [Internetquelle]. Barlet berichtet, dass Mambéty diese Erklärung auf einem Filmfestival von seinem Sohn vorlesen ließ. 122 Dürrenmatt [1956] 1998: S.142 [Anmerkung Dürrenmatts]. Vgl. dazu auch Dürrenmatt [1956] 1998: S. 137ff [Randnotizen und Anmerkung Dürrenmatts]. 123 Mambéty im Interview mit N. Frank Ukadike. Ukadike: 1998. [Internetquelle] 124 Der Maler von Colobane heißt Hibou, und mehrmals ist eine Eule im Bild.

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Anhaltspunkte zu einer Interpretation hin, etwa wenn er eine Hyäne durchs Bild laufen lässt.125 Bevor die Kamera die Bewohner der Stadt in den Blick nimmt, zieht eine Elefantenherde durch das Bild. Auch in der allerletzten Einstellung ist wieder eine Elefantenherde zu sehen. Auch hier wartet der Regisseur mit einem Rätsel auf: „You have elephants going away with the wind. They are the time. They are the life going on, and between the elephants at the beginning and the elephants at the end, you have the kingdom of Hyenas. Hyenas are not the time, elephants are the time and during that time Hyenas like you and I will try to survive.“126

Die Tierbilder in HYÈNES entfalten vielleicht gerade dann Wirkung, wenn man sich nicht darauf kapriziert, sie zu entschlüsseln. Eines freilich ist auffällig: Mambéty hat die Tiere wie Wissende gezeigt, als aufmerksame Beobachter der Vorgänge zwischen den Menschen. In HYÈNES finden sich zahlreiche Verweise auf das Filmgenre Western, sie scheinen sich wie eine weitere Folie über den Text von Dürrenmatt zu legen. Dabei treten die Übernahmen weißer Rollen dann manchmal als Übernahmen von Westernrollen in Erscheinung. Weil ich in dieser Untersuchung zwischen der Übernahme von Filmrollen und Theaterrollen unterscheide, sollen diese Aspekte aber erst in Kapitel 8.1 untersucht werden.127 Mambéty hat die Handlung von Dürrenmatts Theaterstück in Colobane angesiedelt. Colobane lässt sich im Gegensatz zu Güllen zwar lokalisieren, aber die Stadt im Film gleicht dem realen Colobane nicht.128 Mambéty verschlüsselt Hinweise auf Reales. Der Bürgermeister zeigt sich manchmal mit einer schwarz-weißroten Schärpe. Diese Farben rücken auch auf der quer gestreiften Flagge von Colobane immer wieder ins Bild. Die grün-gold-rote Fahne des Senegal ist längs gestreift. In ihrer Mitte prangt ein grüner Stern. Auf der Fahne von Colobane ist der Kopf eines Löwen zu sehen, das Wappentier des Senegal.

125 Mambéty schreibt zur Metapher der Hyäne: „Die Hyäne ist ein Tier aus Afrika. [...] Sie versteht es, die Krankheiten der anderen zu riechen [...] Von da an folgt sie dem kranken Löwen, wenn es sein muss eine ganze Jahreszeit lang.“ Mambéty 1984: [lyrisch verfasster Text für das Dossier zur Vorproduktion des Films Hyènes], in: Bollinger/Buchmüller (Hg.) 1996: S. 92. 126 Rawlins [1993]: „Interview with Djibril Diop Mambety“. [Internetquelle] 127 Vgl. Teil III, Kap. 8.1, S. 269-274. 128 Mit Mambétys Heimatstadt hat die Filmlocation kaum mehr gemein als den Namen. Mambéty hat nicht in Colobane gedreht, sondern an wechselnden Orten in der näheren Umgebung.

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Ein Nègre blanc im Rentenalter? Gesetzt, Spielfilme wären als Rückverweis auf die Realität zu betrachten, dann ließe sich aus einer vergleichenden Betrachtung der Expositionen von LAMBAAYE, XALA und HYÈNES folgender Schluss ziehen: Seit den 1970er-Jahren hat sich die Situation im Senegal verschlechtert. Der Zustand der Institutionen ist noch desolater als damals, und es zeigt sich, dass die Akteure schon machtlos waren, als sie noch glaubten, unabhängig zu sein. Der Schauspieler Makhourédia Guèye129 hatte schon in LAMBAAYE und XALA Entscheidungsträger gespielt. In LAMBAAYE hatte er als Kommandant der Kolonialzeit nachgetrauert. Als erster senegalesischer Präsident der Handelskammer hatte er in XALA der neokolonialen Inbesitznahme des gerade unabhängigen Senegal zugearbeitet. In HYÈNES ist Guèye als müder, alter Bürgermeister zu sehen. Sein Rathaus wird gepfändet. Seine Frau hat ihn vor die Tür gesetzt. Damals als Senghor mit der englischen Königin Colobane besuchte, als Yandé Codou Sène hier ihre schönsten Lieder sang, damals hatte er seine große Zeit gehabt. Jetzt ist er bereit abzutreten. Der Zuschauer sieht ihn zunächst in einem abgeschabten alten Anzug. Véronique Porra schreibt dazu: „A l’instar de tous les notables maladroitement déguisés à l’européenne, le personnage paraît ridicule dans un contexte sinon très marqué par son africanicité.“130 Aber Mambéty zeigt den Bürgermeister nicht von Anfang an als lächerlichen Epigonen der Europäer, denn in der Konfrontation mit der alten Dame behauptet er zunächst seine Unabhängigkeit. Als die alte Dame 100 Milliarden Franc CFA verspricht, wenn sich jemand findet, der Draman Drameh tötet, erwidert der Bürgermeister: „Linguère Ramatou, nous sommes en Afrique, même la sécheresse n’a pas fait de nous des sauvages, au nom de tout le village, au nom de l’humanité, Linguère, je refuse votre offre. Sachez que nous préférons mourir de faim plutôt que de nous couvrir de sang.“131 Seine gesetzte Redeweise, seine aufrechte Haltung, seine würdige Bestimmtheit, all das wirkt auf liebenswerte Weise anachronistisch. Das Gesicht von Guèye ist den Kennern des afrikanischen Films vertraut, und verschiedentlich wurde eine Ähnlichkeit zwischen dem Schau-

129 Im Abspann von HYÈNES wird der Schauspieler unter dem Namen Mamadou Mahouredia Guyé geführt, da sein Name jedoch meist wie oben geschrieben wird, habe ich diese Schreibung gewählt. 130 Porra 2009: S. 215. 131 Bei Dürrenmatt heißt es: „Bürgermeister: [...] Noch sind wir in Europa, noch sind wir keine Heiden [...].“ Dürrenmatt [1956] 1998: S. 50. Der Film wurde ursprünglich in Wolof gedreht. Hier werden alle Dialoge gemäß der französisch synchronisierten Fassung zitiert.

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spieler und dem ersten Staatspräsidenten des unabhängigen Senegal festgestellt.132 Der sichtbar gealterte Guèye repräsentiert hier als Bürgermeister noch einmal die Ära Senghor, aber Mambèty betrachtet diese Epoche rückblickend milder als seinerzeit Traoré und Sembène. Der Bürgermeister wird schließlich der Versuchung erliegen, doch Mambèty zeigt dieses Scheitern in einem melancholischen Licht. Der Abstieg Die Bürger Colobanes hatten dem Bürgermeister zunächst zugejubelt und damit ihre Solidarität mit Draman bekundet, aber es dauert nicht lange, bis sie sich dem Luxus auf Kredit ergeben. Draman fürchtet um sein Leben und sucht vergeblich Hilfe bei der bereits korrumpierten Polizei. Dann wendet er sich an den Bürgermeister, doch auch der ist von seinen hehren Idealen abgefallen und plant den Bau eines neuen Rathauses. Er geleitet Draman hinaus und weist ihm eine Treppe, die hinab ins Dunkel führt: „C’est le chemin du paradis.“ Orgelklänge und sphärisch anmutende Vokalisen von Frauenstimmen begleiten seinen Abstieg,133 und Draman findet sich in einer schmucklosen leeren Kirche wieder. Während er auf einer der abgesessenen Kirchenbänke Platz nimmt, setzen Trommeln ein. Ihm gegenüber zeigt ein nagelneuer Fernsehbildschirm von Sony Bilder der Armut: eine schier endlose Reihe hungriger Menschen, eine Mutter, die ein Kind trägt, das an ihrer ausgetrockneten Brust saugt. Das Bild im Bild ist in zweierlei Hinsicht signifikant. Draman sieht sich mit seiner Schuld konfrontiert, denn sein Verrat hatte die schwangere Linguère Ramatou ins Elend gestürzt. Gleichzeitig öffnet sich mitten in der Fiktion die Sicht auf die reale Situation des afrikanischen Kontinents. Mambéty hat die dokumentarischen Bilder in einen irrealen Rahmen gestellt und ermöglicht dadurch eine neue Sicht auf die allzu bekannten Dokumente. Mit dem Paradox, dass hier avancierte Technik archaisches Elend kommuniziert, formuliert er darüber hinaus eine Paraphrase auf den Zustand der globalisierten Welt. Der technische Fortschritt hat die Probleme der Menschen nicht gelöst, sondern nur die Unterschiede zwischen ihnen verschärft. Dramans Blick streift eine schwarze Muttergottes, neben ihr surrt ein funkelnagelneuer Ventilator. Dann hört man Schritte, und erst jetzt setzt wieder der Text von Dürrenmatt ein. Der Pfarrer sieht aus wie Tutanchamun „reloaded“. Er steht zwar auf der Kanzel einer Kirche wie andere Hirten der Christenheit, seine Kopfbedeckung ist aber die eines Faschings-Pharaos. Was soll das sein? Eine Persiflage auf Cheik Anta Diop oder ein Prediger in der Wüste? Der Pfarrer wirft Dramans Klage über die wankel-

132 Vgl. Murphy 2002: S. 122. 133 Für die Filmmusik zeichnet Wasis Diop der Bruder Mambétys verantwortlich. Der renommierte Musiker ist vor allem durch Kompositionen für Filme bekannt geworden.

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mütigen Bewohner des Dorfes auf ihn selbst zurück, nicht die Menschen solle der Schuldige fürchten, sondern Gott.134 Doch anders als die anderen Bewohner Colobanes gesteht der Pfarrer seine eigene Verführbarkeit ein und rät dem bedrohten Draman zu fliehen, bevor es zu spät ist. Als dieser die Kirche verlässt, wird dort ein Lüster aus funkelndem Kristall montiert. Die Verführung Linguère Ramatou ist Senegalesin, doch sie fordert nicht von ehemaligen Kolonialherren oder postkolonialen Spekulanten Gerechtigkeit, sondern von den verarmten Bürgern Colobanes. Kenneth W. Harrow schreibt: „She understands them as she is one of them; and she speaks as one born to the language, not as one who learned it as foreign tongue. Her smile and assurance are not those of a foreign conqueror, but of a homegrown native speaker – and seducer.“135 Daraus ließe sich schließen, dass Mambétys filmische Argumentation die Verantwortung für die afrikanische Misere weniger dem Westen als vielmehr den Senegalesen selbst zuweist. Porra schreibt: „Hyènes présente une situation qui se détruit de l'intérieur.“136 Dem wäre entgegenzuhalten, dass Ramatou die meiste Zeit ihres Lebens im Ausland zugebracht hat. Sie ist im Westen reich geworden und macht sich ihre Heimatstadt mit kapitalistischen Strategien gefügig. Damit unterscheidet sich Mambétys filmische Argumentation im Grunde kaum von der jener afrikanischer Regisseure, die den Nègre blanc als Ursache der wirtschaftlichen Abhängigkeit postkolonialer Staaten in Szene setzten. Allerdings findet er differenziertere Bilder dafür als die Regisseure der 1960er- und 1970er-Jahre. Zunächst sieht es fast so aus, als habe Mambéty ganz bewusst vermeiden wollen, einen Widerstreit zwischen afrikanischer und westlicher Kultur zu inszenieren. Zwar erscheinen auch mal eine Pepsi-Reklame, eine CamelPackung und ein Tuborg-Bier im Bild, aber das erste sichtbare Zeichen des Wohlstands auf Pump sind gelbe Stiefel aus Burkina Faso. Die Frauen greifen nicht zum Kostüm von Chanel, ihre Boubous sind zunehmend mit glänzenden Fäden durchwirkt. Doch auch in HYÈNES fungieren westliche Konsumgüter als emblematische Statussymbole, die schuldig Gewordene bezeichnen. Am Anfang des Films begegnen die Frauen von Colobane der sengenden Hitze mit der ruhigen Bewegung ihres Fächers – eine vollendete Geste, die Gelassenheit und Würde ausstrahlt. Mit der Aussicht auf Reichtum unternehmen sie das Unmögliche, sie wollen das Klima ändern. Allenthalben surren seit der Ankunft von Linguère Ramatou Ventilato-

134 Mambéty folgt hier und an vielen anderen Stellen fast wörtlich dem Text Dürrenmatts. Vgl. dazu Dürrenmatt [1956] 1998: S. 74. 135 Harrow 2007b: S. 180. 136 Porra 2009: S. 214.

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ren.137 Die Frauen reißen sich jetzt um Kühltruhen und Kühlschränke. Mambèty inszeniert den Konsumirrsinn als wahnwitzige Verkaufsshow: Auf dem Gipfel des Kaufrauschs erstürmt Dramans Frau die Bühne und deutet auf eine riesige Wand verschlossener Kartons: „J’achète tout, tout, tout ...“ Der Tanz ums goldene Kalb mündet in einem orgiastischen Jahrmarkt mit Achterbahn und Feuerwerk.138 Im Interview mit N. Frank Ukadike sagt der Regisseur: „We borrowed […] carnival scenes from the annual Carnival of Humanity of the French Communist Party in Paris.“ Porra spricht von einer „carnavalisation bakhtinienne“,139 in der sie den gewichtigsten Unterschied zum Theaterstück Dürrenmatts sieht. Doch der schweizerische Autor findet Gefallen am Grotesken,140 und von da bis zum Karnevalesken ist es nicht weit. Der Jahrmarkt, den Mambéty inszeniert, ist grotesk: In einem der Fahrgeschäfte schaukelt die Schnitzerei eines Mohren mit aufwendiger Pumphose und prächtigem Turban, als Emblem des Abfalls vom Ideal eines bescheidenen Lebens in Unabhängigkeit. Immer wieder lässt Mambéty seine Zuschauer über Verweise stolpern, aber wohin sie führen, ist nicht mit letzter Gewissheit zu klären. Am Strand von Colobane leuchtet ein elektrischer Weihnachtsstern. Drei Dienerinnen141 von Linguère Ramatou sind mit prunkvollen Kostümen afrikanischer Provenienz angetan. Aber ist diese Ausstattung wirklich einer bestimmten Ethnie zuzuordnen, oder wird hier vielmehr afrikanische Prachtentfaltung hyperreal ins Bild gesetzt? Die Ästhetik Mambétys ist opulent und dissonant zugleich: In der Rolle des ehemaligen Richters von Colobane, der jetzt zum Lakaien der alten Dame degaradiert ist, trägt der Regisseur meist ein Pagenkostüm, das aus dem Fundus eines Operettentheaters zu stammen scheint, aber er geht immer am Stock. Mambéty hat ein komplexes System visueller Koordinaten konstruiert, in die er den Text von Dürrenmatt einspannt und ein Modell142 globaler Machtverhältnisse entwickelt, das differenzierte Einblicke in gesellschaftliche Vorgänge und mensch-

137 In XALA hatten die Mitglieder der senegalesischen Oberschicht ebenfalls bekundet, nicht mehr ohne Ventilatoren auskommen zu können, auch da surren sie allenthalben in den Büros. 138 Die Verkaufsshow und der Jahrmarkt finden bei Dürrenmatt nicht statt. Die Bewohner Güllens frönen dem Konsum unter dem Deckmantel bürgerlicher Wohlanständigkeit: hier ein Pelzmantel, dort ein Volkswagen. 139 Porra 2009: S. 215. 140 Der Begriff des Grotesken ist in der Dürrenmatt-Forschung zentral. Vgl. dazu Knopf 1988: S. 84ff. 141 Dürrenmatt führt drei Zofen auf. Mambéty bezeichnet die drei Dienerinnen im Abspann als Amazonen. 142 Knopf zufolge sind Dürrenmatts Stücke „anrempelnde Modelle der Wirklichkeit“. Knopf 1988: S. 85.

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liches Verhalten ermöglicht. Porra verweist auf die zahlreichen Referenzen, mit denen die Globalisierung nach US-amerikanischem Modell kritisch beleuchtet wird.143 Doch Colobane mutiert nicht zum Disneypark. Kostüme und Ausstattung stammen nicht nur aus unterschiedlichen Teilen der Welt, sondern sie stammen auch aus unterschiedlichen Epochen. Die Mehrheit der Bewohner von Colobane trägt sackleinerne Überwürfe und merkwürdige Helme, irgendetwas zwischen Stahlhelm und Tropenhelm, nachdem der Wohlstand eingekehrt ist, sind die Helme golden. Ein „episches“144 Kostüm, mit dem Mambéty die Vorgeschichte der im Film behandelten Situation erzählt und Kontinuitäten behauptet, denn der Regisseur zeigt die Bewohner Colobanes als Sklaven. Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang auch, dass allenthalben die phrygische Mütze der Jakobiner auftaucht: Schülerinnen tragen weiße phrygische Mützen, als sie ein Lied von der Freiheit lernen, Ramatou trägt eine schwarze phrygische Mütze, als sie von den Bewohnern Colobanes Gerechtigkeit fordert.145 Die Jakobiner hatten diese Mütze für sich erkoren, weil sie glaubten, auch die befreiten Sklaven des alten Griechenlands hätten sie einst getragen – ein Irrtum, doch die Mütze ist zum Sinnbild der Freiheit geworden, weshalb die symbolträchtige Mütze in den Wappen von Kuba, Nicaragua, Argentinien und Bolivien abgebildet ist. Als Frankreich 1794 die Sklaverei abgeschafft hatte, stellten viele französische Künstler Afrikaner mit phrygischer Mütze dar.146 Die Attitüde der Befreiten erinnerte an die antiker Heroen. Dies entsprach der Mode der Zeit – auch das Volk von Paris wurde in klassische Posen gezwängt. Der Traum von der Freiheit währte jedoch nicht lange, denn schon 1802 führte Napoleon die Sklaverei wieder ein. Die junge französische Demokratie war zudem unter der Regierung der Jakobiner zu einem Terrorregime mutiert, und so sind denn auch die Verweise auf die phrygische Mütze in Mambétys Film ambivalent. In HYÈNES steht die traditionsreiche Mütze nicht als Symbol für Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, sondern für enttäuschte Hoffnung, Terrorherrschaft und Etikettenschwindel: Die ausgelassenen jungen Männer, die auf dem Jahrmarkt singend und tanzend den Reichtum feiern,

143 Porra 2009: S. 213. 144 Viele Elemente in Dürrenmatts Stück rekurrieren auf die Dramaturgie des epischen Theaters Brechts. 145 Porra (2009: S.219) schreibt: „[Hyènes] présente donc la particularité de contourner intégralement la sphère référentielle française.“ Wie sich hier und an anderen Stellen zeigt, ist das nicht ganz zutreffend. 146 Zwei Beispiele für Darstellungen von Afrikanern mit phrygischer Mütze sind: „L’abolition de l’esclavage par la Convention, le 16 pluviôse an II / 4 février 1794“, Gouache von Nicolas-André Monsiau (1794), Musée Carnavalet (Paris) und „Moi libre aussi“, zwei Stiche von Louis Darcis (1794) nach Simon-Louis Boizot, Bibliothèque nationale de France (Paris).

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tragen silberne phrygische Mützen, noch glauben sie, dass Wohlstand auch Freiheit bedeutet. Strategiespiele Der Arzt von Colobane trägt einen Tropenhelm und khakifarbene knielange Hosen. So könnte auch der Arzt einer Missionsstation angezogen sein, aber Mambéty hat den alten Herren nicht als Nègre blanc inszeniert, sondern als Repräsentanten unzeitgemäßer Ideale. Er und der Lehrer von Colobane unternehmen einen letzten Versuch, die Ehre der Kleinstadt zu retten. Mambéty inszeniert diese Sequenz als Audienz bei einem „Lever du roi“ in der Nachfolge Louis’ XIV. Das Arrangement der Figuren zeigt deutlich, dass Mambéty beim Theater angefangen hat und in der Lage ist, das dort Gelernte für den Film fruchtbar zu machen. Ramatou residiert auf einem hohen Betonpodest, einer Mischung aus Thron und Himmelbett. Dunkelblaue Tücher schirmen sie ab, nur der Blick auf das Meer ist nicht verhängt. Während sich die alte Dame frisieren lässt, stehen Lehrer und Arzt in der Hoffnung empfangen zu werden unten im Sand. Sie dürfen das Podest ersteigen und auf einer der oberen Stufen Platz nehmen. Eine erniedrigende Position, denn Arzt und Lehrer sind nun gezwungen, zu Linguère Ramatou aufzuschauen. Um die alte Dame zu exponieren, bedient sich Mambéty eines sehr alten Theatertricks, der in der Redewendung „jemanden an die Wand spielen“ seinen Niederschlag findet.147 Um einen anderen Schauspieler an die Wand zu spielen, muss man sich hinter ihm positionieren. Auf diese Weise kann man seinen Dialogpartner dazu zwingen, sich umzudrehen, und dazu muss dieser sein Gesicht vom Publikum abwenden. Von hinten kann man nun bequem nach vorne sprechen. Man bleibt für das Publikum präsent und wirkt stärker, obwohl man weiter vom Publikum entfernt ist. Der ausgetrickste Kollege muss „an die Wand spielen“, während man selbst zum Publikum spielt. Mambéty hat die alte Dame hinter dem Lehrer und dem Arzt platziert. Ramatou kann gelassen nach vorne aufs Meer schauen und über die Köpfe der beiden vorne Sitzenden hinwegsprechen – Lehrer und Pfarrer müssen sich im wahrsten Sinn des Wortes nach ihr richten. Ramatou vermutet zunächst, dass der Lehrer und der Arzt gekommen sind, um Dramans Tod zu melden. Sie unterschätze die Bewohner Colobanes, entgegnet der Arzt. Doch Ramatou zwingt ihn mit der Frage, was sie denn dann von ihr wollten, in die Defensive, denn nun müssen sich Arzt und Lehrer als Bittsteller zu erkennen geben und einräumen, dass die Bewohner Colobanes verschuldet seien. Der Lehrer

147 Hier wird die ursprüngliche Bedeutung dieser Redewendung erklärt. Heute wird sie meist gebraucht, um auszudrücken, dass ein Schauspieler neben seinem Kollegen, der ihn an die Wand spielt (will sagen eindrucksvoller spielt), verblasst.

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packt die Stäbe weg, mit denen er zuvor das Lied von der Freiheit dirigiert hatte, aber noch gibt er nicht auf: Sie seien nicht gekommen, um zu betteln, sondern um ihr ein Angebot zu unterbreiten. Colobane sei im Grunde sehr reich, denn in der Erde lägen Öl und Phosphat. Alles was die Stadt benötige, seien ein Kredit, Vertrauen und Aufträge. Statt 100 Milliarden Franc CFA für Dramans Kopf zu bieten, könne Ramatou die stillgelegten Fabriken erwerben und damit den Menschen Arbeit geben. Es sei unmöglich, etwas zu kaufen, was man schon besitze, erwidert Linguère Ramatou aus dem Hintergrund, die Stadt und ihre Industrie habe sie schon lange vor ihrer Ankunft aufgekauft. Die Menschen von Colobane waren schon verraten und verkauft, als sie sich noch redlich abmühten: „Votre espoir est fou, votre ténacité absurde, cette attente d’une vie entière n’a servi à rien“, bemerkt die Heimkehrerin zynisch. Jetzt, da die Bewohner Colobanes noch durch ein Wohlleben auf Kredit verschuldet sind, haben sie ihr Recht auf Selbstbestimmung verwirkt. Ramatou konstatiert: „Vous avez des dettes à rembourser. Vous êtes entrés dans la danse, alors vous avez à respecter les règles.“ Colobane sitzt in der Schuldenfalle. „Linguère Ramatou est plus riche que la banque mondiale.“ sagen die Bewohner von Colobane.148 Dieser Satz steht schon in Dürrenmatts Theaterstück, doch die meisten Autoren, die über den Film HYÈNES schreiben, wissen das nicht.149 Mambéty hat den Satz zum Angelpunkt einer Parabel über die neokoloniale Inbesitznahme des Senegal gemacht und damit Dürrenmatt als ersten Globalisierungskritiker der Literaturgeschichte gewürdigt. Dürrenmatts Protagonistin, die alte Dame, ist eine weltweit operierende Finanzstrategin. Trotzdem warnt Dürrenmatt davor, die Figur vorschnell zu entschlüsseln. Claire Zachanassian stelle weder die Gerechtigkeit dar noch den Marshallplan, „sie sei nur das was sie ist, die reichste Frau der Welt“.150 Damit verwahrt sich Dürrenmatt zwar gegen eine eindimensionale Deutung der Figur, er bestätigt aber gleichzeitig, dass es in seinem Stück um wirtschaftliche Verstrickungen geht. Güllen läge „irgendwo in Mitteleuropa“,151 schreibt Dürrenmatt, und diese Region sollte aus strategischen Gründen als Wirtschaftsmacht und Handelspartner der USA aufgebaut werden, denn die Welt war unmittelbar nach dem Krieg in zwei Blöcke zerfallen. Schon im Dezember 1945 waren

148 Dürrenmatt erwähnt nur einmal, dass die alte Dame so reich ist wie die Weltbank. In der Exposition von HYÈNES ist häufig zu hören, dass Linguère Ramatou reicher als die Weltbank ist. 149 Vgl. z.B. Porra 2009: S. 213. 150 Anmerkung [von Dürrenmatt], in Dürrenmatt: [1956] 1998: S. 142. Die alte Dame heißt bei Dürrenmatt Claire Zachanassian. Mitte der 1950er-Jahre war mit dem Nachnamen, den die Protagonistin nach ihrer Heirat mit dem Multimilliardär trägt, die Assoziation „Onassis“ aufgerufen. 151 Anmerkung [von Dürrenmatt], in Dürrenmatt: [1956] 1998: S. 141.

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Weltbank und internationaler Währungsfonds gegründet worden. Die Rechnung ging auf, und die Schweiz profitierte von dieser wirtschaftspolitischen Strategie. Sie erlebte vor 1949 einen Konjunkturaufschwung, „der durch die umfangreichen Kredite der USA an die westlichen Länder, vor allem die Westzonen in Deutschland, ermöglicht“152 wurde. Ursprünglich sollte der Besuch der alten Dame „Komödie der Hochkonjunktur“153 heißen. Als solche ließe sich das Stück freilich kaum im afrikanischen Kontext inszenieren, denn da können die Ergebnisse, welche die Interventionen der Weltbank zeitigten, schwerlich unter dem Schlagwort „Hochkonjunktur“ verbucht werden. Aber da Dürrenmatt die Vorgehensweise der Protagonistin als kapitalistisches Kalkül konzipiert hat, lässt sich das Stück mit geringfügigen Änderungen als Parabel einer neokolonialen Inbesitznahme inszenieren. Die wirtschaftspolitische Strategie der USA im Europa der Nachkriegszeit weist nämlich gewisse Analogien zum Versuch der Einflussnahme im postkolonialen Afrika auf. Richard Porton schreibt: „The film’s allegorical structure is directly mediated by the suffering imposed on African countries by ‚structural adjustment‘, the World Bank’s attempt to control the internal policies of debtor nations by coercing them to increase exports and seriously curtail social spending, thus insuring misery for the poor.“154

Gemäß ihrer Statuten hat die Weltbank kein politisches Mandat. Doch als Robert McNamara 1968 Präsident der Weltbank wurde, war die Bekämpfung der absoluten Armut in seiner Amtszeit eng mit dem Anliegen verknüpft, den Einfluss des Kommunismus auf dem afrikanischen Kontinent zu beschränken. Die Weltbank vergab zu diesem Zweck generöse Kredite an die Staaten Afrikas, was zur Folge hatte, dass sich diese so hoch verschuldeten wie noch nie zuvor. Daraufhin wurden ab dem Ende der 1970er-Jahre sogenannte Strukturanpassungsprogramme entwickelt. Die Statuten der Weltbank waren damit insofern aufgeweicht, als die Weltbank seither den betroffenen Staaten Veränderungen ihrer internen Strukturen vorschrieb. Mambéty zeigt die beschriebenen Vorgehensweisen als Verführung und Unterwerfung der Bürger Colobanes.

152 Knopf 1988: S. 31. Der Politikwissenschaftler und Ethnologe Jan Budniok verwies mich darauf, dass Knopfs Darstellung nicht ganz korrekt sei, da z.B. Frankreich mehr Geld erhalten habe als Deutschland. Es ist aber davon auszugehen, dass Dürrenmatt die Finanztransaktionen wie von Knopf geschildert wahrgenommen hat. 153 Knopf 1988: S. 94. 154 Porton [1995] 1998: S. 576.

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Ideal und Alkohol Der Lehrer von Colobane ist ein Verfechter unzeitgemäßer Ideen. Nie sieht man den großen, schmalen Mann ohne seine Kladde, manchmal sucht er etwas darin, fast als seien in dieser Kladde das kulturelle Erbe und die Geschichte Colobanes bewahrt. Der Lehrer trägt ein grünes Jackett, eine Baskenmütze und eine Nickelbrille. Das Kostüm ruft ambivalente Assoziationen auf: Einerseits sieht er aus wie ein altmodischer Pauker, andererseits wie ein Intellektueller, der in den 1970er-Jahren in Paris studiert hat. Anta, die neugierige und aufrührerische Studentin aus Mambétys Film TOUKI BOUKI hatte ebenfalls Hut, Jackett und Nickelbrille getragen, als sie das Schiff nach Paris bestieg, um dort ihren Traum vom besseren Leben zu verwirklichen. TOUKI BOUKI erschien 1973 als erster Film einer unvollendeten Trilogie über „Macht und Wahnsinn“.155 In HYÈNES, dem zweiten Film der Trilogie taucht nun, 19 Jahre später, ein männlicher Intellektueller auf. Er ist kein Student mehr, sondern ein Lehrer. Seine Schülerinnen wohnen in einem weißen Haus, das mit einem roten Kreuz und der Aufschrift „Dispensaire“156 bemalt ist, vielleicht sind es Patientinnen, vielleicht sind es Krankenschwestern. Die jungen Mädchen tragen weiße, hinten geschlitzte Gewänder und weiße phrygische Mützen. Sie werden nicht als widerspenstige Wissbegierige gezeigt, wie die Studentinnen in den senegalesischen Filmen der 1970er-Jahre. Sie hören aufmerksam zu, wenn der Lehrer spricht, ob sie den Sinn erfassen, bleibt ungewiss. Der Lehrer will seinen Schülerinnen ein Lied über die Freiheit beibringen. Von Vögeln, die auffliegen, singen die Mädchen. Die beiden Taktstöcke des Lehrers weisen himmelwärts, die Kamera folgt der Bewegung und entdeckt einen grauen Vogel am Himmel, ein Schnitt, und man erkennt Geier, die sich abwartend niedergelassen haben. Das Lied von der Freiheit ist später noch einmal zu hören: Dramans Frau singt es vor sich hin, als sie die Lieferung ihrer neuen Elektrogeräte inspiziert. Als Anta 1973 nach Paris aufbrach, hatte sie eine andere Vision von Freiheit gehabt. Der Lehrer des schweizerischen Theaterstücks scheint von den scheiternden Protagonisten der existentialistischen Literatur inspiriert.157 Macht hat er nur über

155 Ukadike (1998) erwähnt die Trilogie wie viele andere ohne genauere Angaben zu deren Konzeptualisierung. Wahrscheinlich hielt sich Mambéty diesbezüglich bedeckt. Vgl. Ukadike 1998. [Internetquelle] 156 Ein Dispensaire ist eine allgemeinmedizinische Einrichtung in ländlichen Gebieten, meist ein kleines Krankenhaus mit Ambulanz. 157 In seinen Randnotizen verwahrt sich Dürrenmatt ([1956] 1998: S. 137) dagegen, sein Stück als Dramatisierung existentialistischer Philosophie zu verstehen. dessen ungeachtet lässt sich deren Einfluss an vielen Stellen nachweisen. Ähnlichkeiten und Divergenzen zwischen den Existentialisten und Dürrenmatt fasst Knopf so: „Dürrenmatts

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den gemischten Chor von Güllen. Der Schulmeister agiert als grotesker Sisyphos. Als Literaturhinweis auf zwei Beinen bemüht er ständig klassische Autoren und stellt mit seiner Besserwisserei doch nur die eigene Mittelmäßigkeit unter Beweis. Er zwängt die Welt in die Kategorien seiner humanistischen Bildung, aber diese befähigt ihn immerhin, mehr zu sehen als seine Mitbürger. Der Lehrer weiß von Anfang an, dass die „Medea“158 der Kleinstadt ihre Vorstellung von Gerechtigkeit durchsetzen wird. Er hält Ill zwar am längsten die Treue, sieht aber voraus, dass er ihn schließlich doch verraten wird: „Ich fühle, wie ich langsam zum Mörder werde. Mein Glaube an die Humanität ist machtlos.“159 Als Wissender ist er sich der Absurdität seiner Existenz bewusst und ergibt sich mehr und mehr dem Alkohol. Er beginnt mit den alten Griechen und endet beim Steinhäger – Dürrenmatt wollte sein Stück als tragische Komödie160 verstanden wissen: Er lässt die groteske Hybris des Schulmeisters in eine possenhafte Katastrophe münden. Der Lehrer von Colobane versucht sich wie sein schweizerisches Pendant angesichts des Ausverkaufs menschlicher Grundrechte in Colobane als Held und scheitert an den ökonomischen Machtverhältnissen, um schließlich als rhetorisch geschickter Pharisäer zu enden. Mambétys Inszenierung der Lehrerrolle weicht allerdings insofern signifikant von Dürrenmatts Konzeption dieser Rolle ab, als er den Lehrer von Colobane nicht als lächerliche Figur zeigt, sein Scheitern ist tragisch. Dieser Lehrer schaut nicht aus dem griechischen Olymp auf die Kleinstadt herunter, er hängt den Idealen der Studentenbewegung nach. Porton schreibt diesbezüglich: „The desolate town of Colobane encapsulates many of the contradictions of Senegalese society as both revolutionary hopes and traditional bonds of solidarity erode.“161 Die große Rede, die der Lehrer angesichts seines nicht mehr abzuwendenden Zusammenbruchs hält, hat Mambéty zwar weitgehend von Dürrenmatt übernommen, aber er inszeniert sie nicht als Groteske. Im Laden von Draman gibt es Tische und eine Bar. Hier kann man trinken, und die Männer von Colobane trinken viel. Mambétys Lehrer trinkt nicht, er säuft, und der Zuschauer denkt an üblen Geruch, Leberzirrhose und Magendurchbruch. Der Lehrer braucht immer viel Alkohohl, aber er dosiert ihn so, dass er die Zustände seines Körpers und seiner Psyche steuern kann. Als er Draman und die Bewohner von Colobane mit der

Menschen sind nicht wie die Sartres auf ihre Existenz, die sie nicht loslässt, verpflichtet, sie sind vielmehr den Einfällen von Unvorhergesehenem, Inkommensurablen ausgesetzt, an dem sie ihre Menschlichkeit bewähren können, aber meist scheitern.“ Knopf 1988: S. 36. 158 Dürrenmatt [1956] 1998: S. 90. 159 Dürrenmatt [1956] 1998: S. 103. 160 Das Theaterstück trägt den Untertitel „Tragische Komödie“. 161 Porton [1995] 1998: S. 576.

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Wahrheit konfrontieren will, ist er kurz vorm Filmriss – es reicht gerade noch, um den anderen ihre Verlogenheit vorzuwerfen, und dazu postiert er sich auf einem Berg von prall gefüllten Säcken: „Je réclame la vérité et tant pis pour la misère.“ Diese Wahrheit können sich die Menschen von Colobane nicht leisten. „Tu veux qu’on grève de faim, salaud“, schreit einer, und selbst Draman versucht, ihn zum Schweigen zu bringen. Der Lehrer kann schließlich nur noch seinen Selbstekel auskotzen: „Le cœur de lion en moi s’est arrêté. Le règne de l’hyène a commencé.“ Abgehend singt er ein Lied auf Wolof: „Hört die gute Nachricht. Die Affen lächeln. Die Hyänen grinsen. Der rote Löwe ist tot.“162 Eine Anspielung auf die senegalesische Nationalhymne. Dort heißt es: „Pincez tous vos coras, frappez vos balafons Le lion rouge a rugi. Le dompteur de la brousse D’un bond s’est élancé, dissipant les ténèbres Soleil sur nos terreurs, soleil sur notre espoir.“163

Der Text der Hymne stammt von Senghor, und der Löwe verweist auf die vorkoloniale Geschichte. Er soll die Kardinaltugenden des senegalesischen Volkes repräsentieren, den Mut und die Loyalität.164 Der Lehrer hatte ein Löwenherz, und gebrüllt hat er auch, freilich ohne Wirkung.165 Er verlässt die Bar mit der Flasche in der Hand – ein ausgebrannter Freiheitskämpfer, der sich selbst kaltstellen wird. Mambéty war Sohn eines Imams, und Mambéty war Alkoholiker.166 1989, als auf dem Festival in Cannes der 200-jährige Geburtstag der französischen Revolution zelebriert wurde, versammelten sich die Regisseure des frankophonen Afrika. Mitten in dieser Zusammenkunft stand Mambéty auf und rief: „Soyons francs!

162 Dieser Text wurde gemäß den deutschen Untertiteln zitiert. In der französischen Version gibt es keine Untertitelung dieses Liedes. 163 Gouvernement du Sénégal: Symbolique nationale. [offizielle Webseite der senegalesischen Regierung] 164 Vgl. Gouvernement du Sénégal: Symbolique nationale. [offizielle Webseite der senegalesischen Regierung] 165 „Gut gebrüllt, Löwe“, heißt es, wenn sich einer lautstark zu Wort gemeldet hat, sein Ausbruch aber folgenlos bleibt. Es handelt sich um ein Zitat aus dem Sommernachtstraum von Shakespeare (Handwerkerszene). In Theaterkreisen hört man dieses Zitat häufig. Mambéty hat es mit Sicherheit gekannt. 166 Diesen Normenkonflikt thematisiert Mambéty schon in seinem ersten Film CONTRAS’ CITY (Senegal 1968): Er kommentiert eine Bar, die sich direkt gegenüber einer Moschee befindet. In diesem sehr sehenswerten Kurzfilm sieht man auch das bereits erwähnte Théâtre Daniel Sorano.

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Francs! Francs!“ Wie Balufu Bakupa-Kanyinda berichtet, setzte er sich anschließend wieder, um mit inquisitorischem Blick die ernüchternde Wirkung seines Ausfalls abzuschätzen.167 Mambéty liebte Wortspiele mit dem französischen Wort „franc“, und so hat er seinem letzten abgründig komischen Film den Titel „Le Franc“168 gegeben. Macht Geld frei? Der Lehrer beschreibt das Dilemma von Colobane mit folgenden Worten: „La tentation est trop forte, et notre misère trop amère.“ Der Satz stammt von Dürrenmatt,169 und er ist in Mambétys Inszenierung zentral. Über das Altwerden Durch das Theaterstück Dürrenmatts ziehen sich zwei miteinander verwobene Stränge der Handlung: Knopf unterscheidet zwischen dem „kollektiven, fortschreitenden der Güllner Gesellschaft“ und dem „privaten, analytischen des Ill“.170 Daraus resultieren zwei gegenläufige Bewegungen, die sich auch in Mambétys Film nachweisen lassen, denn er inszeniert einen Kampf und eine Annäherung. Ramatou besteht nur noch aus Prothesen, die sie ostentativ zur Schau stellt. Sie will ihr Geld nicht verschwenden, um sich die Jugend zurückzukaufen, sie will die Zeit abschaffen und erkauft mit der Leiche Dramans ihr verlorenes Glück zurück. In seinen Anmerkungen beschreibt Dürrenmatt die alte Dame als „dichterische Erscheinung“171, auch ihr Gefolge sei nicht realistisch zu inszenieren. Mambèty folgt diesem Rat, obwohl er Ramatou anderes Personal an die Seite stellt: Sieht man von dem Butler ab, ist Ramatou, anders als ihr schweizerisches Pendant, nur von Frauen umgeben. Die Dienerinnen sind mit liebevoller Fürsorglichkeit um die gebrechliche alte Dame bemüht. Dadurch erfährt ihr gefährdeter alter Körper eine Aufwertung, denn er erscheint wie ein zerbrechliches Kleinod. Eine sehr junge, sehr schöne, sehr hellhäutige Asiatin zeichnet sich durch besondere Devotion aus. Am Anfang trägt sie eine Uniform, an deren Gürtel Handschellen hängen. Wenn sich Ramatou mit Draman unterhält, liest sie die amerikanische Zeitung Herald Tribune, doch immer wieder schaut sie auf. Die Dienerin hält sich stets in der hinteren Bildhälfte, aber sie lässt ihre Gebieterin nie ganz aus den Augen und erscheint damit immer als achtsame Herrin der Lage. Wie Ramatou kontrolliert die Asiatin die Situation aus dem Hintergrund, allerdings steht sie noch hinter der alten Dame. Mambéty zeigt den weiblichen Bodyguard nicht nur als Repräsentantin eines aufstrebenden Kontinents,

167 Bakupa-Kanyinda [2005] 2007. [Internetquelle] 168 FRANC (LE), Senegal, 1994 R.: Diop Djibril Mambéty. 169 Siehe Dürrenmatt [1956] 1998: S. 103. 170 Knopf 1988: S. 94. 171 Dürrenmatt [1956] 1998: S. 143 [Anmerkung Dürrenmatts].

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er hat die Dienerin auch als Alter Ego Ramatous konzipiert. Am Anfang betont er die Differenz zwischen den Figuren – am Ende hebt er Analogien hervor. Es ist geradezu verblüffend, wie er es schafft, dass diese beiden optisch so verschiedenen Figuren einander ähnlich werden. Es ist, als würde die Oberfläche immer transparenter, sodass schließlich das Wesentliche aufscheinen kann. Nicht mehr die Hautfarbe, nicht mehr die Kultur und nicht mehr die soziale Position bestimmen am Ende diese beiden Menschen. Ramatou ist in ihr afrikanisches Tuch gehüllt, die Dienerin in einen Kimono. Die bis dahin stumme Dienerin liest ihrer Herrin Gedichte in japanischer Sprache vor.172 Zum ersten und letzten Mal in diesem Film hört Linguère Ramatou nur zu. Vor der Kulisse des Meeres, im leichten Wind verschmelzen beide Figuren zu einer. Ein schöneres Bild zur Dekonstruktion von Differenzkonzepten lässt sich kaum finden, und so gilt Diop Djibril Mambéty wohl zurecht als der große Magier des afrikanischen Kinos. Ramatous erstes Kostüm ist ambivalent, es könnte scheinen, als käme sie als Braut nach Colobane. Sie ist in gedecktes Weiß gekleidet, und ihr Hut ist mit einem weißen Schleier umwunden, doch ihr Kostüm im Stil des Fin de siècle könnte auch das einer Europäerin sein, die ihren Gatten auf der Großwildjagd in Afrika begleitet. Wenn Ramatou den Bürgern Colobanes ihre Forderung unterbreitet, erscheint sie in braun-schwarz changierender Seide als Rächerin. Ganz am Schluss ist sie nur noch in ein afrikanisches Tuch gehüllt. So steigt sie von ihrem Aussichtspunkt am Meer173 eine ins Dunkle führende Treppe hinab.174 Ramatou geht den Weg, den sie sich selbst vorgezeichnet hat, ohne sich davon abbringen zu lassen. Die Figur durchläuft keine Entwicklung. Mambéty hat die alte Dame als ein der Realität enthobenes Monument inszeniert und folgt damit Dürrenmatts Vorstellungen, der zu

172 Die Gedichte sind im Film nicht untertitelt. Man weiß also nicht, was sie liest. Im Interview mit Ukadike sagt Mambéty: „The point is not that she is Asian. The point is that everyone [...] everywhere lives within a system of power [...] she reads of the vanity of life, the vanity of vengeance; that is totally universal.“ Ukadike 1998. [Internetquelle] 173 Porra (2009: S. 205-221) verweist auf die Bedeutung des Raums in Mambétys Filmen TOUKI BOUKI und HYÈNES. Das Podest, auf dem der Arzt und der Lehrer mit Ramatou gesprochen hatten, lag weiter vom Wasser entfernt. Ramatou nähert sich im Verlauf des Films immer mehr dem Meer, jenem Kap, auf dem Mambéty schon einmal gedreht hatte. 174 Wahrscheinlich hat sich Mambéty hier von einem Regieeinfall Dürrenmatts inspirieren lassen. Wegen der Gegebenheiten der Bühne des Ateliertheaters in Bern hatte Dürrenmatt die alte Dame aus einer Unterführung auftreten lassen und nicht wie sonst am Bahnsteig. Vgl. Dürrenmatt [1956] 1998: S. 144 [Anmerkung Dürrenmatts]. Dies belegt einmal mehr, wie intensiv sich Mambéty mit dem Stück und Dürrenmatts Anmerkungen auseinandergesetzt hat.

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dieser Figur schrieb: „Da sie sich außerhalb der menschlichen Ordnung bewegt, ist sie etwas Unabänderliches, Starres geworden, ohne Entwicklung mehr, es sei denn die, zu versteinern, ein Götzenbild zu werden.“175 Die alte Dame ist der Felsen, an dem die Bewohner der Kleinstadt scheitern, die unveränderliche Größe in Dürrenmatts dramaturgischer Konstruktion. Der Dramatiker hat ihr eine männliche Rolle gegenübergestellt, die sich im Verlauf des Stücks entwickeln wird. Mambéty folgt den vom Autor vorgegebenen Stationen der Entwicklung, doch er führt die Figur anders ein: Der Filmzuschauer sieht Draman zum ersten Mal hinter dem Tresen seiner Bar, wo er sich mit einem Gast auf Kosten einer schwangeren Frau amüsiert. Die beiden alten Gockel fallen nicht mehr übereinander her, sie müssen einander bestätigen, und so verdächtigen sie sich gegenseitig, Ursache des prallen Leibes zu sein. Doch der anscheinend harmlose Herrenwitz ist eine Vorwegnahme, eine Mise en Abyme von Dramans schuldhafter Verstrickung. Der trinkfeste Draman ist allgemein beliebt: Er tanzt mit seinen Gästen und nimmt es mit der Bezahlung nicht so genau wie seine Frau, aber er hat sich durch sein Leben gemogelt und war nie bereit, Verantwortung für sein Handeln zu übernehmen. Nun baut er auf das schlechte Gedächtnis seiner Jugendliebe. Doch der in die Jahre gekommene Kleinstadt-Casanova überschätzt seinen Charme, wenn er die anderen glauben macht, es sei für ihn ein Leichtes, Ramatou zum Wohle Colobanes auszunehmen. Seine begeisterten Mitbürgern wollen ihn zum Bürgermeister machen, als er ihnen verspricht: „Elle crachera ses millions.“ Da weiß er allerdings noch nicht, dass er ihnen nur durch seinen Tod zu Reichtum verhelfen kann. Doch durch die Unerbittlichkeit der gedemütigten Milliardärin gelangt Draman zur Einsicht, und in einem Gespräch mit dem Lehrer legt er Rechenschaft ab: Er selbst habe Ramatou zu dem gemacht, was sie heute sei. Mansour Diouf, der Schauspieler des Draman, reduziert sein Spiel im Verlauf des Films immer mehr, und die Kamera kommt ihm immer näher. War sie bei der anfänglichen Alberei in Dramans Bar noch auf Distanz geblieben, werden die nahen Einstellungen gegen Ende des Films immer häufiger. Angesichts der zunehmenden Bedrohung scheint Draman zu altern, aber sein nachdenkliches Gesicht wirkt immer wahrhaftiger. Als er am Ende des Films von seinen Wünschen und seinem Leben Abschied nimmt, entwickelt Diouf ein inneres Lächeln.176 Draman akzeptiert seinen Tod, und so hat die letzte Begegnung mit Ramatou etwas Versöhnliches. „La vie est terrible“, sagt er zu seiner alten Freundin und verabschiedet

175 Dürrenmatt [1956] 1998: S.143 [Anmerkung Dürrenmatts]. 176 Mansour Diouf nimmt sich immer mehr zurück. Häufig wird hier die Technik der inneren Bilder angewandt. Der Schauspieler stellt sich ein Lächeln vor, ohne de facto zu lächeln. Die fast unmerklichen Veränderungen im Gesicht entfalten in nahen Kameraeinstellungen eine große Wirkung. Bemerkenswert ist hier, dass Diouf in der Rolle des Draman zum ersten Mal vor der Kamera gestanden hat.

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sich mit dem Satz „Maintenant, je m’en vais en paix“ endgültig von seiner Jugendliebe.177 Draman wusste, dass ihm nicht mehr viel Zeit bleibt, aber kurz vor seinem Tod hatte es ihn noch einmal zu Ramatou gezogen. Mit der Inszenierung des Abschieds Dramans von Ramatou thematisiert Mambéty die Notwendigkeit einer Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit. Und auch der Regisseur selbst blickt zurück: Auf dem Weg zu Ramatou war Draman Mambéty begegnet. Letzterer trug einen prächtigen rotem Umhang und stützte sich wieder auf seinen Stock, aber er erschien nun nicht mehr wie ein Lakai, sondern wie ein mächtiger Richter. Doch Mambéty tritt in dieser Szene auch als Regisseur und Richter über sich selbst auf. Er sieht Draman nach und schließt hier offenkundig an seinen Film TOUKI BOUKI an, denn er hat Ramatou mit Sicht auf das Kap positioniert, auf dem sich damals vor 19 Jahren in seinem ersten abendfüllenden Spielfilm Anta und ihr Freund Mori geliebt hatten.178 TOUKI BOUKI trug den enigmatischen Untertitel „Die Reise der Hyäne“. Er habe Anta, die Protagonistin von damals, in dem Stück von Dürrenmatt wiederentdeckt, sagt Mambéty.179 Allerdings ist Anta nicht nach Paris gegangen, weil sie musste, sondern weil sie wollte, und schwanger war sie auch nicht. Man wird HYÈNES nur mit Mühe als Fortsetzung von TOUKI BOUKI ansehen können, denn die beiden Filme sind so verschieden wie ihre Protagonistinnen. Dennoch lassen sich TOUKI BOUKI und HYÈNES in Beziehung setzen, aber diese Relation wird durch den Regisseur selbst hergestellt. Wie Draman ist Mambéty ein alter Mann geworden, viel älter als damals als er das erste Mal an dieser Küste gedreht hat. Die Kamera zeigt die grauen Haare in seinem Bart. Mambéty zieht Bilanz: Sein erster abendfüllender Spielfilm war ein jugendlicher Geniestrich, der zweite ist ein durchdachtes Alterswerk. Während der Dreharbeiten zu HYÈNES wusste der Regisseur bereits, dass er todkrank war.180

177 Auch bei Dürrenmatt ist die Annäherung angelegt. Dieser Satz allerdings fehlt, wiewohl er im Subtext (also implizit) auffindbar wäre. 178 Wie Porra differenziert belegen kann, ist die Repräsentation des Raums in Mambétys Filmen signifikativ. Vgl. Porra 2009: S. 205-221. 179 Im Interview mit Ukadike sagt Mambéty: „I found her in a play called the visit.“ Ukadike 1998. [Internetquelle] 180 Vgl. dazu Bakupa-Kanyinda [2005] 2007. [Internetquelle] Bakupa-Kanyinda berichtet von einem Spaziergang, den er während der Dreharbeiten mit Mambéty unternommen hat: „Assis sur un muret, dominant l’Atlantique étendu qui écumait à nos pieds, il me fit part de la gravité de son état de santé …“ Bakupa-Kanyinda [2005] 2007. [Internetquelle]

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Das Todesurteil Die letzte Sequenz des Films beginnt mit einer totalen Einstellung. Die Bürger Colobanes gehen am Rand einer Klippe entlang langsam und schleppend zum Richtplatz. Sie sind noch zerlumpter als am Anfang des Films – ein Zug müder Sklaven. Dieser Eindruck verstärkt sich, wenn die Kamera die Bewohner Colobanes von hinten in den Blick nimmt. Es sieht aus, als seien ihnen die Hände gebunden. Auch der Bürgermeister ist jetzt nur noch mit einem Reissack bekleidet. Von den anderen unterscheidet er sich nur noch durch die Schärpe, die er auch damals bei der Begrüßung Ramatous umgebunden hatte. Mambéty zeigt hier Schöffen wider Willen. Sie tragen merkwürdige Perücken aus einem hanfähnlichen Material. Ihr Geraune bestätigt nicht nur das Todesurteil über Draman, es scheint gleichzeitig eine Affirmation ihrer eigenen Versklavung zu sein. Die Kamera fährt näher heran und fixiert verstaubte Gesichter – Porträts gedemütigter und geknechteter Menschen, archaisch anmutende Bilder des Elends. Mambéty setzt Dramans Aburteilung in den Rahmen eines neokolonialen Machtverhältnisses, das Formen moderner Sklaverei zeitigt. Hier schließt sich der Kreis: Von Dakar und der nahe gelegen Insel Gorée, auf der Mambéty gedreht hat, wurden massenhaft Sklaven in die neue Welt verschifft.181 Ein Schnitt, und ein Bagger schiebt Erde weg. Das alte Colobane ist eingeebnet. Mitten im planierten Bauland steht noch ein isolierter Baobab.182 Am Horizont sieht man die Silhouette einer futuristisch anmutenden Metropole, die Hauptstadt des Senegal.

5.3 A W ALK

IN THE

N IGHT

Auf der bereits erwähnten Konferenz „Nollywood and Beyond“ stellte Jonathan Haynes eine bemerkenswerte Analogie zwischen den Videofilmen HOME & ABROAD,183 MISTER IBU IN LONDON184 und OSUOFIA IN LONDON heraus:185 In allen

181 Die Frage nach der „tatsächlichen“ historischen Bedeutung Gorées und des dort befindlichen Maison d’Esclaves steht hier nicht zur Diskussion. Nach einem ausführlichen Gespräch zu diesem Thema mit dem senegalesischen Linguisten Papa Oumar Fall, möchte ich die Insel wie dieser als Erinnerungsort bezeichnen. 182 Neben dem Löwen ist auch ein Baobab im Wappen des Senegal abgebildet. Das Thema der wuchernden Neubebauung ist auch bei Dürrenmatt zentral. Knopf verweist darauf im Abschnitt „Bauen als Zerstörung“. Vgl. Knopf 1988: S. 91ff. 183 HOME & ABROAD, Nigeria 2004, R.: Lancelot Oduwa Imasuen. 184 MR. IBU IN LONDON, Nigeria 2004, R.: Adim Williams. 185 Haynes Vortrag trug den Titel „The Nollywood Diaspora. A Nigerian Video-Genre“.

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drei Filmen wird die triumphale Heimkehr eines „Been to“ in sein Heimatdorf gezeigt. Ein triumphaler Empfang wird aber nicht nur Osuofia bereitet, sondern auch Linguère Ramatou. In fast allen bisher untersuchten Filmen spielt ein „Been to“ eine zentrale Rolle: Kamwa zeigt Gilberts Rückkehr in BOUBOU CRAVATE zwar nicht, und Yaméogo inszeniert Mamadous Heimkehr in MOI ET MON BLANC nicht als Triumph, doch auch Gilbert und Mamadou sind „Been tos“, genauso wie der Protagonist aus ET LA NEIGE N’ÉTAIT PLUS. Letzterer hatte einen Hang zur Introspektion. In seinem langen Monolog fragt sich der aus Paris zurückgekehrte Akademiker: „Sais-tu maintenant où est ton nécessaire, où ton superflu?“ Den jungen Senegalesen treibt die Frage um, welche Verantwortung er gegenüber seiner Familie und gegenüber dem postkolonialen Senegal hat. Von quälenden Fragen bezüglich seiner Verantwortung wird auch Hamlet geplagt – mit dem senegalesischen Akademiker verbindet den Dänenprinz der Hang zu exzessiver Selbsterforschung. Auch der Dänenprinz ist ein „Been to“: Wie viele Dänen seiner Zeit hat er in Wittenberg studiert. Den Theaterzuschauern der Shakespeare-Zeit war die deutsche Stadt nicht nur bekannt, weil Dr. Faustus aus Christopher Marlowes gleichnamiger Tragödie dort gewirkt hat. Die 1502 daselbst gegründete Universität war mit dem Namen Martin Luther verbunden und galt als Zentrum des Humanismus, woraus der Anglist Norbert Greiner folgert, dass Hamlet schon durch die Wahl seines Studienortes „als Repräsentant modernen Denkens ausgewiesen“ ist.186 Hamlet, Prince of Denmark Da die verwickelten Vorgänge und Beziehungen in Shakespeares Tragödie Hamlet im Folgenden relevant sein werden, sei hier kurz an sie erinnert: Nach Dänemark zurückgekehrt sieht sich Hamlet mit dem Geist seines Vaters konfrontiert. Dieser behauptet, unerlöst im Fegefeuer zu harren, weil ihn sein Bruder Claudius, der jetzige König, ermordet hat, bevor er die Beichte ablegen konnte. Doch Claudius hat sich nicht nur seiner Königskrone bemächtigt, sondern auch seiner Frau (also Hamlets Mutter), die er gleich nach dem Mord geehelicht hat. Beides soll der junge Intellektuelle nun rächen, doch er zögert bis zum Ende des Stücks. „Hamlet responds at first as if he believes the Ghost to be the authentic spirit of his father returned from the dead, but he subsequently expresses serious doubts“, schreibt Stephen Greenblatt,187 denn nach protestantischer Auffassung gab es kein Fegefeuer, und Ahnengeister galten als Manifestationen des Teufels, die Menschen zur Sünde verführen. Nach seinem Aufenthalt in der Lutherstadt Wittenberg steht Hamlet aber nicht nur dem katholischen Glauben seiner Väter mit Distanz gegen-

186 Greiner, in: Shakespeare [ca. 1602] 2006: S. 110, Anm. 75. 187 Greenblatt [1997]. [Internetquelle]

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über. Von seinem Freund und Studienkollegen Horatio bezüglich der Tradition exzessiver Festgelage in Dänemark befragt, antwortet er: „[...] obwohl ich hier aufgewachsen bin und mir diese Art [sozusagen] von Geburt an eingegeben [ist], ist es ein Brauch, den man besser durch Vernachlässigung würdigt als durch Beachtung. Dieses stumpfsinnige Feiern bringt uns bei allen Ländern in Ost und West in Verruf.“188 Hamlet ist aber nicht nur zum Beobachter geworden, sondern er ist auch Gegenstand der Beobachtung. Ophelia, die Hamlet liebt, aber an ihm irre wird, beschreibt ihn als „Th’observed of all observers“.189 Darin gleicht Hamlet dem mutmaßlichen Revisor in der Komödie Gogols, und deswegen hat der Regisseur Moncef Dhouib die dramaturgische Position des Revisors in seinem Film LA TÉLÉ ARRIVE durch ein Fernsehteam ersetzen können. Die Antizipation des Blicks des Fernsehteams versetzt das tunesische Dorf in Aufruhr. In Shakespeares Tragödie bringt die Beobachtung der Beobachtung, also nicht eine Aktion Hamlets, sondern seine bloße „beunruhigende Präsenz am Hof von Dänemark“,190 eine Lawine von Gewalttaten ins Rollen. Hamlet stellt sich verrückt, um sich Freiräume zu schaffen. Er tötet aus Versehen Polonius, den Vater Ophelias, der sich als Lauscher versteckt hatte. Daraufhin geht Ophelia, die Hamlet schon zuvor durch sein bizarres Verhalten brüskiert hatte, ins Wasser. Ophelias Bruder Laertes fordert Hamlet heraus und fällt im Duell. Hamlets Mutter trinkt aus einem für Hamlet bestimmten Giftbecher, und erst kurz bevor er selbst stirbt, tötet Hamlet Claudius. Der Film A WALK IN THE NIGHT,191 der erste Film des südafrikanische Regisseurs Mickey Madoda Dube, erschien 1998. Er beginnt am späten Nachmittag und endet in der ersten Morgendämmerung des folgenden Tages. Der Titel ruft die Erinnerung an Hamlet, erster Akt, Szene fünf auf. Dort stellt sich ein Geist dem Protagonisten folgendermaßen vor: „I am thy father’s spirit, / Doomed for a certain term to walk the night.“192 Im Unterschied zu LAMBAAYE und HYÈNES ist A WALK IN THE NIGHT nicht als afrikanische Inszenierung eines europäischen Theaterstücks zu betrachten, doch der verwickelte Plot des Films ist in ein dichtes Netz von Verweisen auf Shakespeares Hamlet eingebettet. Dube hat seinen Film im zeitgenössischen Johannesburg angesiedelt. Der Protagonist Mikey wäre gemäß der Nomenklatur des

188 Hamlet I. 4, 14-18 (Zeilenzählung im Folgenden gemäß Complete Pelican Shakespeare) Shakespeare [ca. 1602] 2006: [Übersetzung Greiner]. 189 Hamlet III.1, 156. 190 Müller, in: Shakespeare [ca. 1602] 2006: S. 41. 191 A WALK IN THE NIGHT, Südafrika 1998, R.: Mickey Madoda Dube. 192 Hamlet I.5, 9-10.

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Apartheid-Systems als Coloured193 einzustufen. Dubes Anliegen ist es zu zeigen, dass die Kategorien des Apartheid-Systems auch heute noch in Südafrika relevant sind und dass ihre Anwendung in eine Spirale der Gewalt führt. Mikey arbeitet in einer Stahlfabrik. Als er während der Arbeitszeit austreten muss, gerät er in Konflikt mit seinem weißen Vorgesetzten, der ihn nicht auf Toilette lassen will und ihn als „kaffir“194 beschimpft. Als er sich wehrt, wird er entlassen. Auf der Straße ertappt Mikey dann Joey, den Bruder seiner Freundin Zelda, bei dem Versuch, sich zu prostituieren. Er habe Hunger gehabt, verteidigt sich Joey. Mikey lädt den Jugendlichen in eine Bar zum Essen ein. Als die Bedienung, ein schwarzer Immigrant, Mickey auf Englisch anspricht, antwortet er dezidiert auf Afrikaans.195 Mikey, der sich selbst als „real Coloured“ definiert, hasst Schwarze aus anderen afrikanischen Staaten. Joey kann gerade noch verhindern, dass Mikey mit dem Messer auf den Angestellten losgeht. Dann betritt eine Bande Krimineller die Bar. Der Eindruck, dass Gewalt in dieser Stadt omnipräsent ist, verstärkt sich – Mikey versucht, wenigstens Joey von kriminellen Verwicklungen fernzuhalten. Wieder auf der Straße macht er ihm Vorhaltungen bezüglich seines Lebenswandels. Ein vorbeifahrendes Polizeiauto drosselt das Tempo, um zu beobachten, was dort vor sich geht. Mikey sieht sich hier erstmals mit zwei weißen Polizisten konfrontiert, die in diesem Film noch wichtig sein werden. Doch die beiden Polizisten bleiben im Auto sitzen, denn Doughty, ein alter versoffener irischer Schauspieler, erscheint auf der Bildfläche. Doughty begrüßt Mikey mit pathetischem Überschwang und nimmt so dem sich anbahnenden Konflikt die Spitze. Anschließend lernt der Zuschauer noch Mikeys Freundin Zelda kennen. Zelda teilt dem gerade arbeitslos gewordenen Mikey mit, dass sie schwanger ist, doch Mikey kann sich weder freuen noch mitteilen – Zelda setzt ihn vor die Tür. Mikey ist wieder auf der Straße. Wie oft in diesem Film richtet sich sein Blick auf die Kinder, die hier leben, sich um einen Zigarettenstummel prügeln oder schnüffeln. Das Geschäft mit den Drogen ist eine lukrative Einkommensmöglichkeit für die „darkies“, deren Arbeitslosenquote in die-

193 Regisseur Dube ist selbst ein Coloured. Vgl. Dovey 2009: S. 121. Dovey (2009: S. 283) schreibt: „The term Coloured was applied by the apartheid government to people of mixed race.“ Dovey (die selbst Südafrikanerin ist) verwendet den Begriff Coloured ohne Anführungszeichen. Ich folge ihrem Beispiel. 194 Dieser Ausdruck ist heute in Südafrika verboten. Lt. California Newsreel ist er das südafrikanische Äquivalent zum Begriff „Nigger“, der ursprünglich auf die schwarze Bevölkerung angewendet wurde, die Nachfahren von Sprechern der verschiedenen Bantu-Sprachen waren. California Newsreel[b]: „A Walk in the Night. Notes for Viewing the Film“. [Internetquelle] 195 Viele Coloured sprechen Afrikaans. Mikey spricht im Film beide Sprachen, wenn er sich hier weigert, Englisch zu sprechen, ist dies als bewusste Abgrenzung zu verstehen.

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ser Stadt 40 Prozent beträgt.196 Mittlerweile ist es dunkel geworden, und Mikey ist auf dem Weg nach Hause, als wieder das Polizeiauto, das der Zuschauer bereits kennt, neben ihm hält. Jetzt steigen die Polizisten aus. Brown, der ältere der beiden weißen Polizisten, schlägt Mikey grundlos zusammen und zwingt den Coloured, ihn als „baas“ anzureden – sein jüngerer Kollege fühlt sich angesichts dieses rassistischen Übergriffs sichtlich unbehaglich. In der bereits gezeigten Bar, sitzen nun der irische Schauspieler Doughty und ein weißer Penner namens Green am Tresen. Green äußert sich abfällig über Mikey, doch Doughty verteidigt „little Mikey“, den er von klein auf kennt. Doughty selbst war früher mit einer Coloured verheiratet, und möglicherweise (es wird nur angedeutet) hatte er eine Affäre mit Mikeys Mutter. Nun betritt Mikey die Bar, und es findet sich noch ein Freund von ihm ein, der ebenfalls Coloured ist. Zwischen Mikey und seinem Freund entspinnt sich eine Diskussion über Zusammenhänge zwischen Kapitalismus und Rassismus, bis Green sich mit der Forderung einschaltet, „to cut politics out“. Der versoffene Green provoziert Mikey derart, dass dieser dem Penner sein Messer an die Kehle setzt. Der Barkeeper stellt ein gefülltes Glas vor Mikey ab und verhindert damit eine Eskalation. Doch die Situation kippt wieder, als Doughty den Freund von Mikey mit „my boy“ anredet. Als sich dieser daraufhin echauffiert, meint Doughty begütigend, „it’s manner to speak“, und alle ertränken ihren Kummer im Alkohol. Dougthy und Mikey, die beide mit Coloured, Schwarzen, Asiaten und Juden zusammen in einer heruntergekommen Mietskaserne wohnen, wanken schließlich stockbesoffen nach Hause. Mikey stößt Doughty zu Boden und uriniert ihm lachend ins Gesicht – es war ein Weißer, der ihm in der Fabrik verboten hatte, sich zu entleeren. Doughty verzeiht ihm. Zu Hause angekommen steuert Mikey auf sein Zimmer zu, doch er hat noch eine halbvolle Flasche in der Hand, und deshalb bittet ihn Doughty, noch mit in sein Zimmer zu kommen. Aber als er den jungen Mann mit pathetischer Emphase „my boy“ nennt, rastet Mikey aus und schlägt ihm mit der Flasche auf den Kopf. Als er entsetzt feststellen muss, dass er Doughty getötet hat, verschanzt er sich in seinem eigenen Zimmer. Joey kommt und klopft vergeblich an Mikeys Tür, dann wendet er sich Dougthys Tür zu, die halb offen steht. Er sieht den blutverschmierten Doughty und ergreift die Flucht, wobei er einen Mieter anrempelt, dem er zuvor Feuer gegeben hatte. Dieser Mieter entdeckt nun ebenfalls den Leichnam und schlägt Alarm. Jetzt steht Joey unter Verdacht, Doughty ermordet zu haben. Die beiden dem Zuschauer bekannten Polizisten kommen. Inzwischen haben sich die Hausbewohner vor Doughtys Tür versammelt. Brown, der ältere Polizist, provoziert sie mit rassistischen Bemerkungen. Sein jüngerer Kollege ist bemüht, eine Eskalation zu verhindern. Mikey hat jetzt begriffen, dass Joey in Gefahr ist. Die Polizisten haben seine Verfolgung auf-

196 Lt. California Newsreel[a]: „A Walk in the Night“. [Internetquelle]

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genommen, Mikey will ihnen zuvorkommen, doch die Polizei ist schneller. Brown erschießt den Jungen vor den Augen der Hausgemeinschaft, die mittlerweile ebenfalls dazugekommen ist. Dann richtet er seine Waffe auf Mikey, doch bevor Brown abdrücken kann, ist ein weiterer Schuss gefallen. Der jüngere Polizist hat seinen Kollegen erschossen. Die Geister der Vergangenheit Dube hat eine 1962 erschienene Novelle von Alex La Guma bearbeitet,197 und die Handlung, die La Guma in den 1950er-Jahren angesiedelt hatte, aktualisiert. California Newsreel schreibt dazu auf dem Cover der DVD: „The fact that this story could be so convincingly updated to the present indicates how little racial power dynamics in South Africa have changed.“ Dovey untersucht in einem Kapitel ihrer Dissertation differenziert und mit profunder Kenntnis der südafrikanischen Geschichte, welche Kontinuitäten Dube im Zuge seiner Aktualisierung behauptet und welchen Entwicklungen in Südafrika er in der filmischen Bearbeitung der Novelle Rechnung trägt.198 Ihrer diesbezüglichen Analyse ist nichts hinzuzufügen, aber es bleibt das System der Shakespeare-Referenzen zu untersuchen, das Dovey eher am Rande behandelt. Auch La Guma verweist auf Hamlet, aber Dube hat diese Bezugnahmen in seinem Film akzentuiert.199 In der filmischen Bearbeitung ergeben sich gegenüber der Novelle zudem ganz neue Möglichkeiten der Umsetzung der Hamlet-Referenzen, da das Theaterstück ja für eine Inszenierung konzipiert ist. Dube konnte davon ausgehen, dass das südafrikanische Publikum die Bezugnahmen auf Hamlet versteht. Dovey bemerkt: „It should be noted, however, that South Africans of all colors, who have been fortunate enough to receive a secondary education, would be familiar with certain of Shakespeare’s plays and in particular the tragedies.“200 Doch das Netz der Shakespeare-Referenzen in A WALK IN THE NIGHT birgt Fallstricke, die den Zuschauer straucheln lassen. Das ist Teil einer Strategie, die Dubes filmischer Argumentation dient. So erweist sich das Bemühen, die Rollen

197 La Guma [1962] 1991: S. 1-96. Co-Autoren des Drehbuchs von A WALK IN THE NIGHT waren Molefi Moleli und Mandla Langa, letzterer ist ein Anti-Apartheidsaktivist. Vgl. Dovey 2009: S. 122. 198 Dovey 2009: S. 119-144. „From Black and White to ,Coloured‘. Racial Identity in the 1950s and 1990s South Africa in Two Versions of A Walk in the Night“. 199 Vgl. dazu auch Dovey 2009: S. 135. 200 Dovey 2009: S. 135. Weiter schreibt sie: „One of the members of the New African Movement, H. I. E. Dhlomo, extolled Shakespeare’s plays (and, in particular, Hamlet) and encouraged black South Africans to take inspiration from Shakespeare for the development of their culture.“

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der Shakespearschen Tragödie mit denen des Films zu identifizieren als problematisches Unterfangen. Der Schauspieler Doughty bringt wiederholt die berühmten Worte des Geistes zu Gehör: „I am thy father’s spirit; Doom’d for a certain term to walk the night, And for the day confined to fast in fires, Till the foul crimes done in my days of nature Are burnt and purged away.“201

Mal sieht man nur Doughtys untere Gesichtshälfte, dann wieder erscheint er auf einer leeren Bühne im Lichtkegel eines Scheinwerfers. Er folgt dezidiert dem Versmaß des Textes und erweist sich damit als ein ausgebildeter Bühnenschauspieler, der wohl schon bessere Zeiten gesehen hat. Doughty trägt hier eine Krone aus rotem Seidenpapier, wie Kinder sie basteln – Doughty hat mit Mikey, als er noch klein war, Shakespeare gespielt. Diese Referenzen veranlassen Dovey, die These aufzustellen, der Mord an Doughty sei als Vatermord zu betrachten,202 was insofern gerechtfertigt scheint, als sich der alte Säufer väterlich um Mikey bemüht. Demzufolge wäre Doughtys Rolle als Pendant zur Rolle des Geists von Hamlets Vater konzipiert. Allerdings könnten Mikeys Kollegen, die dunkelhäutigen Arbeiter der Stahlfabrik, ebenfalls als Manifestationen des Geists von Hamlets Vater gelten, denn sie tragen Schutzmasken, die an Helme mittelalterlicher Rüstungen erinnern – ein eindeutiger Verweis auf den Geist von Hamlets Vater, den die dänischen Wachen anhand seiner Rüstung als den ermordeten König erkennen. Die Stahlfabrik gleicht einem Fegefeuer: „the flashing sparks of the steel mill where Mikey worked evoke the Hell from which the ghost seeks release through his son’s revenge“,203 schreibt California Newsreel. Mikey arbeitet in dieser Vorhölle, und auch er trägt eine helmartige Schutzmaske. Als ihn der Vorarbeiter entlässt, zitiert Doughty aus dem Off die Klage des Geists von Hamlets Vater „most, oh most horrible murder“.204 Doughty spricht sie als Kommentar, denn nicht seine eigene, sondern Mikeys soziale Existenz ist mit der Entlassung vernichtet. California Newsreel vermutet, die Figur des Dougthy weise Parallelen zu Hamlets Onkel Claudius auf: „even down to having had an affair with Mike’s late

201 Hamlet I.5, 9-13. 202 Vgl. Dovey 2009: S. 127-128, S. 130, S. 138. 203 California Newsreel[a]: „A Walk in the Night“. [Internetquelle] 204 Dube folgt hier nicht ganz dem Wortlaut Shakespeares. Vgl. Hamlet I.5, 25, 26, 27.

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mother“.205 Auch wenn Letzteres eher Mutmaßung bleibt, spricht für diese These, dass sich Doughty selbst durchgängig als „uncle“ bezeichnet. California Newsreel bemerkt allerdings: „On the other hand, Mike’s attack on Uncle Doughty sets nothing right and results only in the old man’s unintentional death.“206 Der Umstand, dass Mikey Doughty scheinbar unbeabsichtigt tötet und damit auch Joeys Tod verursacht, könnte wiederum Anlass zu der Annahme geben, dass Doughty die dramaturgische Position des Polonius besetzt. Alle erwähnten Thesen bezüglich der Rolle Doughtys haben etwas für sich, doch keine überzeugt wirklich – am ehesten vielleicht diese: Doughty ist Schauspieler, und in Shakespeares Tragödie treten ebenfalls Schauspieler auf. Hamlet beauftragt sie, den Mord an seinem Vater, so wie ihn der Geist geschildert hat, vor König Claudius nachzuspielen. Hamlet hofft, dass sich Claudius mit seiner Reaktion auf das Schauspiel als Mörder entlarvt – Reenactment207 zur Wahrheitsfindung also. Das gleiche Anliegen verfolgt der südafrikanische Regisseur mit dem Reenactment von Shakespeares Tragödie Hamlet in A WALK IN THE NIGHT. Pflicht zur Rache/Recht auf Rache Zur Thematisierung der Rache in Hamlet schreibt Wolfgang G. Müller: „Die Rache war ein wichtiges und sehr umstrittenes zeitgenössisches Thema, in dessen Diskussion sich konkurrierende Weltbilder manifestierten. Tötung aus Rache wurde juristisch als Mord verfolgt, christlicher Betrachtung gemäß war das Rächen Gott vorbehalten (Römerbrief XII.17 und 19). Dem gegenüber stand das allgemeine Rechtsempfinden, das Privatrache, etwa aus Loyalität gegenüber der Familie, akzeptierte, im Fall eines Mordes in der Familie sogar zur moralischen Verpflichtung machte.“208

Dem Umstand, dass die Uraufführung von Hamlet zwischen 1599 und 1600 zu datieren ist, weist Müller bezüglich dieser widersprüchlichen Diskurse eine symbolische Bedeutung zu, da sich in diesem Stück eine Zeitenwende, ein kultureller Umbruch ausdrücke: „Intensiver als jedes andere literarische Werk der elisabetha-

205 California Newsreel[b]: „A Walk in the Night. Notes for Viewing the Film“. [Internetquelle] 206 California Newsreel[b]: „A Walk in the Night. Notes for Viewing the Film“. [Internetquelle] 207 Im Rahmen avantgardistischer Theaterproduktionen etwa von Schlingensief oder der Gruppe Rimini Protokoll findet der Begriff „Reenactment“ Anwendung, wenn es sich um das Nachspielen von Filmszenen oder realen Ereignissen handelt. 208 Müller, in: Shakespeare [ca. 1602] 2006: S. 37.

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nischen Epoche reflektiert es die geistigen und kulturellen Spannungen und Konflikte seiner Zeit.“209 Zufall oder nicht: Dubes Film kam kurz vor der Jahrtausendwende ins Kino. „Something is rotten in the state of Denmark“, heißt es bei Shakespeare210 – eine Diagnose, die Dube auf den Zustand der Rainbow-Nation überträgt. Doch Dube will zeigen, dass Gewaltanwendung an diesem Tatbestand nichts ändert. Diese Sicht ist in gewisser Weise schon in Shakespeares Tragödie angelegt, denn der alte König war kriegerischer als Claudius, mithin stellt sich die Frage, ob Hamlet dem Staat Dänemark einen Dienst erweist, wenn er seinen Onkel auf Anraten des Geistes tötet.211 Das aus Hamlets prinzipieller Bereitschaft zur Rache resultierende Gemetzel kommentiert Brecht so: „In diesen Vorgängen sieht man den jungen, aber schon etwas beleibten Menschen die neue Vernunft, die er auf der Universität in Wittenberg bezogen hat, recht unzulänglich anwenden.“212 Dubes filmische Rhetorik ist sehr geschickt: Er vermeidet es, dem Protagonisten einen Antagonisten gegenüberzustellen. Uncle Doughty ist nicht als Thronräuber konzipiert, er tritt Mikey nicht als machthungriger Rassist gegenüber. Mikey tötet einen harmlosen, versoffenen Iren, er vertut sich im Gegner. Obwohl die Relikte des Apartheid-Staates allgegenwärtig sind, bleibt der Antagonist dieses Films eine Schimäre. Der Polizist Brown mag noch am ehesten als Personifikation des rassistischen Systems gelten, aber auch sein Tod wird die Not der Straßenkinder nicht lindern, nur Mikey wird gerettet: „Mike does not die heroically but has to live on with the consequences of his acts.“213 Hamlet stirbt mit den vielzitierten Worten „the rest is silence“214 – Mikey hingegen kniet schweigend vor der Leiche seines Schützlings Joey. Der sterbende Hamlet trägt seinem Freund Horatio auf, Fortinbras, dem zukünftigen König Dänemarks, die Entwicklungen zu schildern, die zu dem tragischen Ende führten. In A WALK IN THE NIGHT gibt es keinen exponierten Hoffnungsträger, aber die Hausgemeinschaft der Mietskaserne hat der finalen Gewalteskalation beigewohnt. Dieser multiethnische Mikrokosmos steht hier für die Rainbow-Nation an der Pforte zum neuen Jahrtausend. Die letzte Einstellung zeigt, wie die Mieter des heruntergekommen Hauses eine Straße entlang auf die Kamera zu-

209 Vgl. Müller, in: Shakespeare [ca. 1602] 2006: S. 23, Zitat S. 15. 210 Hamlet I.1, 1. 211 Die häufig vorgenommene Klassifikation von Hamlet als Rachetragödie ist problematisch. Vgl. Müller, in: Shakespeare [ca. 1602] 2006: S. 37-41. 212 Brecht [1948] 1994: S. 51. 213 California Newsreel[b]: „A Walk in the Night. Notes for Viewing the Film“. [Internetquelle] 214 Hamlet V.2, 347.

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gehen. Noch ist es dunkel, aber die längste Strecke des „walk in the night“ liegt hinter ihnen – es dämmert bereits, und der Geist, der zur Rache rief, muss abtreten. Prinzen Hamlet ist kein Familiendrama, denn die handlungstragenden Figuren lenken die Geschicke des Staates Dänemark. Das Bewusstsein, dass sein Handeln eine politische Dimension haben wird, schreckt den Protagonisten: „The time is out of joint, O cursèd spite, / That ever I was born to set it right!“215 Der Protagonist von A WALK IN THE NIGHT ist kein Prinz, mithin kaum imstande, eine durch die Zeitläufte aus den Fugen geratene Welt wieder einzurichten.216 „Mikey is no Hamlet“,217 bemerkt California Newsreel, aber Dube hat Mikey durchgängig als eine Figur inszeniert, deren Haltung und Blick an die eines Prinzen erinnern. Dadurch akzentuiert der Regisseur die Demütigungen, die sein Protagonist im Verlauf des Films ertragen muss, und deshalb lässt sich Greenblatts Schilderung der seelischen Verfasstheit Hamlets durchaus auf Mikey übertragen: „There was a time, the play implies, when Hamlet embodied all the hopes and aspirations of his age and his own vision of human possibility was unbounded – ,What a piece of work is a man!‘ – but that vision has given way to bitter disillusionment: ,And yet to me what is this quintessence of dust?‘“218

„Put a smile on your face“, rät ein Taxifahrer Mikey, als er ihn nach dessen Auseinandersetzung mit dem weißen Vorarbeiter auf der Straße sieht. „Dark clouds in your eye again“, diagnostiziert Doughty, als er Mikey begegnet – Gleiches bemerkt auch Claudius, als Hamlet das erste Mal die Bühne betritt.219 Obwohl die sozialen Rollen von Hamlet und Mikey unterschiedlicher kaum sein könnten (der eine ist Prinz, der andere ein arbeitsloser Stahlarbeiter), konstatiert California Newsreel: „The central character, Mikey, is clearly intended to have parallels with

215 Hamlet I.5, 188-189. Vgl. dazu auch Müller, in: Shakespeare [ca. 1602] 2006: S. 56. 216 August Wilhelm Schlegel übersetzt die oben zitierten Verse so: „Die Zeit ist aus den Fugen. Schmach und Gram, / Daß ich zur Welt, sie einzurichten, kam.“ 217 California Newsreel[a]: „A Walk in the Night.“ [Internetquelle] 218 Greenblatt [1997]. [Internetquelle]. Greenblatt zitiert hier Hamlet II.2, 301 und Hamlet II.2, 304/305. 219 Hamlet: I.2, 66. Das könnte dazu verleiten, Doughty als Pendant zu König Claudius zu interpretieren. Allerdings verabschiedet sich Doughty in dieser Szene von Mikey mit „Adieu, adieu, adieu“. Mit denselben Worten verlässt auch der Geist von Hamlets Vater seinen Sohn, nachdem er ihm zum ersten Mal erschienen ist. Vgl. Hamlet I.5, 91.

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Hamlet. His patrimony has also been unjustly usurped, in this case, by South Africa’s white supremacist regime.“220 Doch das System, von dem hier die Rede ist, war 1998 bereits entmachtet. Der Gegner ist zwar abgetreten, aber die Lebensbedingungen der einst völlig Entrechteten haben sich nicht substantiell verbessert, und so baut sich in dem „enterbten Prinzen“ immer mehr Wut auf. Das Netz der Shakespeare-Verweise bestimmt auch die Kameraeinstellungen. Hamlet sagt: „Denmark’s a prison“,221 und Dube hat dieses Motiv aufgegriffen und zum Gestaltungsprinzip gemacht. „Mikey has no easy outlet for his rage and the spectator is encouraged to feel his claustrophobia from the framing throughout the film“, konstatiert Dovey. 222 Wie viele andere Denker hat sich auch der Philosoph Hegel mit der Rolle des Hamlet auseinandergesetzt. Er spricht in seinen Vorlesungen zur Ästhetik despektierlich von Hamlets „Quatschlichkeit“, um dessen Eloquenz als wichtigen Zug der Rolle herauszustellen.223 Mikey ist weniger beredt, aber Dube zeigt ihn immer wieder im Close up.224 Hamlet tritt auf der Bühne durch Redegewandtheit in den Vordergrund, Dube dagegen verschafft seinem Protagonisten durch nahe Kameraeinstellungen Präsenz. Während Hamlet die Beschränkungen seiner Existenz mit Worten beschreibt, wird Mikey von der Kamera in die Zange genommen und durch die Kadrierungen eingeengt. Er spricht in diesem Film nur ein einziges Mal einen Text von Hamlet. Dube hat ihn in dieser Szene am Tresen der Bar platziert, zwischen den weißen Alkoholikern Green und Doughty. Mikey will, dass ihm Doughty den Anfang des berühmten Hamlet-Monologs souffliert. „This was your favorite“, sagt der alte Schauspieler noch, da ist Mikey schon über die Rezitation des Texts immer mehr ins Spielen gekommen. Dube hat die Kneipe „weggeleuchtet“. 225 Vor einem tiefschwarzen Hintergrund hebt sich nur noch Mikeys Gesicht ab, wodurch eine bühnenähnliche Monologsituation entsteht. Mikey ist mit sich und dem Text allein: „To be, or not to be, that is the question: Whether ’tis nobler in the mind to suffer

220 California Newsreel[a]: „A Walk in the Night.“ [Internetquelle] 221 Hamlet II.2, 241. 222 Dovey 2009: S.131. 223 Hegel: Vorlesungen zur Ästhetik, zitiert nach Müller, in: Shakespeare [ca. 1602] 2006: S. 47/48. 224 Es ist zwar üblich, Hauptfiguren häufiger in nahen Einstellungen zu zeigen als Nebenfiguren, aber Mikey ist ungewöhnlich oft im Close up zu sehen. 225 Mit diesem Oxymoron bezeichnet man in der Theatersprache die Möglichkeit, einen Gegenstand oder einen Schauspieler dadurch „verschwinden“ zu lassen, dass man ihn nicht mehr beleuchtet.

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The slings and arrows of outrageous fortune, Or to take arms against a sea of troubles, And, by opposing, end them. To die, to sleep – No more, [...] For who would bear the whips and scorns of time. Th’ oppressor’s wrong ... 226

[...]“

Die Schuldfrage Traditionellerweise erscheint Hamlet in diesem Monolog als schwarz gekleideter Intellektueller. In der Hand trägt er ein Buch (vorzugsweise Montaigne).227 Dube hat Shakespeare anders gelesen: Er zeigt „seinen“ Hamlet Mikey als reizbaren, gewaltbereiten Heißsporn. Das ist ebenfalls in Shakespeares Tragödie angelegt, denn Hamlet neigt zu unberechenbarer Brutalität. Müller schreibt, der Protagonist sehe sich angesichts der gestörten Ordnung der Welt von widersprüchlichen Impulsen gedrängt, Hamlet sei außerstande zu planen, er könne nur aus dem Affekt heraus handeln.228 Der Literaturwissenschaftler verweist in diesem Kontext auf die beiden konstitutiven Pole des Dramas: „Immer wieder wird die Vernunftfähigkeit des Menschen mit seiner potentiellen Bestialität aufgewogen.“229 Die Figuren des Films A WALK IN THE NIGHT agieren ebenfalls in diesem Spannungsfeld. Als Mikey dem betrunken Doughty ins Gesicht uriniert, fragt dieser: „How could you do such a thing to your uncle?“ Doughty verzeiht Mikey, aber als der junge Mann später in sein Zimmer kommt, tritt er auch dort mit bedrohlicher Aggressivität auf. Doughty bietet ihm an, sich ihm anzuvertrauen: „You’re in a bad mood. [...] Tell your uncle Doughty! Tell me what’s the trouble!“ Doch gerade dadurch fühlt sich Mikey provoziert: „You are not my uncle. I got no white uncles.“ Der alte Säufer wimmert: „What has white got to do with it?“ Auf dem zerwühlten Bett in seinem heruntergekommen Zimmer, an dessen Wand nur noch ein Tennisschläger von einstigem Wohlstand kündet, fragt er seinen Aggressor noch: „Has being white helped me?“ Kurz darauf schlägt ihm Mikey eine Flasche auf den Kopf. Dovey interpretiert Mikeys Mord an Doughty nicht als Unfall, sondern als unbewusste Absicht, eine kul-

226 Hamlet III.1, 56-90. Die Auslassungen bezeichnen Dubes Striche im Hamletmonolog. 227 Vgl. dazu Kott [1965] 1970: S. 81. So wie geschildert tritt Hamlet auch in unzähligen Parodien auf, z.B. in SEIN ODER NICHT SEIN von Ernst Lubitsch (USA 1942). 228 Vgl. Müller, in: Shakespeare [ca. 1602] 2006: S. 48 und S. 38. 229 Müller, in: Shakespeare [ca. 1602] 2006: S. 114.

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turelle Identität zu etablieren.230 California Newsreel will die Verantwortung für den Tod des irischen Schauspielers nicht allein dem Coloured aufbürden, sondern weist Doughty eine Mitschuld zu: „Like many well-meaning white people Uncle Doughty fails to recognize the radical gap between what they experience and the disrespect a black man encounters every day.“231 Dubes filmische Argumentation widerspricht einer solchen Interpretation: Doughtys ganzes Trachten ist darauf gerichtet, seinem geliebten Wahlneffen Ärger zu ersparen, deshalb greift er in jeden Konflikt ein, in den er den reizbaren Mikey hineinschlittern sieht. Dies kann kaum als Ignoranz gegenüber den Erfahrungen schwarzer Südafrikaner ausgelegt werden. Nicht Doughtys Versuch, Brücken zu bauen, wird aus der Perspektive des Films als rassistisch dargestellt, sondern Mikeys Bemühen, sich als „real Coloured“ von seinen Mitmenschen abzugrenzen. Dube hat den Rassismus seines Protagonisten Mikey unmissverständlich in Szene gesetzt, als dieser in der Bar die Bedienung, einen schwarzen Arbeitsmigranten, attackiert, trotzdem hat California Newsreel in A WALK IN THE NIGHT nur weiße Rassisten gesehen. Die renommierte Institution stellt auf einer offensichtlich für Lehrende bestimmten Internetseite Fragen zum Film bereit. Ein Kostprobe: „Uncle Doughty does not feel he is a racist – which may in fact be true subjectively. But, even after having been married to a Coloured woman, he is still insensitive to the cumulative effect of the experience of racism on people like Mike. What does Doughty mean when he calls Mike ‚my boy‘ and says he is his ‚uncle?‘ Does ‚color blindness‘ inevitably mean ignoring the differences in experiences of racial groups? What to Uncle Doughty is just ‚force of habit‘, a ‚manner of speech‘, is for Mike the culmination of a night, a life of humiliation. Note that Mike’s firing and Uncle Doughty’s murder are both caused by a ‚racist‘ remark. Do you think Mike would have taken exception to being called ‚my boy‘ by Uncle Doughty if he had not already been treated as one by the cop and his boss?“232

Die suggestive Fragestellung legt den Verdacht nahe, dass der Autor dieser Frage den Film nicht zu Ende gesehen hat.233 Als Joey, der ebenfalls ein Coloured ist, an

230 Vgl. Dovey 2009: S. 129 und 135. 231 California Newsreel[a]: „A Walk in the Night.“ [Internetquelle] 232 California Newsreel[b]: „A Walk in the Night. Notes for Viewing the Film.“ [Internetquelle] 233 Nicht weniger suggestiv ist Frage 6: „Do you think it credible that the young cop would kill the older one?“ California Newsreel[b]: „A Walk in the Night. Notes for Viewing the Film“. [Internetquelle] Dass ein weißer Polizist einen anderen weißen Polizisten erschießt, um einen rassistischen Mord zu verhindern, scheint dem Autor kaum vorstellbar.

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die Tür des Schauspielers klopft, fragt er: „Oom Doughty?“ (Onkel Doughty). Als die multiethnische Hausgemeinschaft dann bestürzt feststellt, dass der versoffene Ire erschlagen wurde, geht die Nachricht vom Tod „uncle“ Doughtys durch das ganze Haus – jeder hat den alten Säufer „Onkel“ genannt –, aber der hilflose Versuch des abgewrackten Schauspielers, einem verzweifelten jungen Mann mit einem pathetischen „my boy“ so etwas wie familiäre Geborgenheit anzubieten, ist Onkel Doughty zum tödlichen Verhängnis geworden. Multiple Identitäten Als der weiße Säufer Green von Mikey fordert „to cut out politics“, zieht der das Messer. Auch hier lassen sich Bezüge zu Shakespeares Theaterstück erkennen. Greenblatt schreibt: „Hamlet hides within himself a spirit of political resistance, a subversive challenge to a corrupt, illegitimate regime shored up by lies, spies, and treachery.“234 Doch bezüglich der Inszenierung des politischen Handelns des Protagonisten von A WALK IN THE NIGHT bemerkt Dovey treffend: „Mikey’s anger, politics, and colour consciousness are shown to be anachronistic.“235 Mikey agiert gemäß der Kategorien des Apartheid-Systems: Er beurteilt Menschen nicht nach ihren Handlungen, sondern nach ihrer Hautfarbe. Shakespeares Tragödie beginnt mit einer Frage: „Who’s there?“236 fragt die Wache Barnardo den ankommenden Francisco – nur die zweifelsfreie Identifikation erlaubt es zu bestimmen, wer Freund, wer Feind ist. Aber die falsche Klassifikation von Freunden und Feinden wird den Figuren dieses Stücks oft zum Verhängnis. „Hamlet, as one critic has wittily remarked, is ‚the tragedy of an audience that cannot make up its mind‘“,237 notiert Greenblatt. Die Unsicherheit der Figuren in Shakespeares Stück betrifft die Frage nach Identität. Sie treibt insbesondere Hamlet um, aber er ist außerstande, sie zu klären. „Die intensive Introspektion des Protagonisten dieser Tragödie [...] führt nicht zu einer Selbstvergewisserung, der Erkenntnis des Ichs als einer einheitlichen Gegebenheit, sondern zum Bewusstsein der Multiplizität und der Brüchigkeit des Ichs“,238 bemerkt Müller. Mikey definiert seine Identität über eine dubiose Kategorie, er besteht darauf, als „real Coloured“ angesehen zu werden. Aber bei Nacht sind alle Katzen grau – Dubes raffinierte Lichtregie lässt die Brüchigkeit des Selbstkonzepts des Protagonisten aufscheinen: Der Zuschauer sieht Mikey am Anfang des Films im halbdunklen Innenraum der

234 Greenblatt [1997]. [Internetquelle] 235 Dovey 2009, S. 138. 236 Hamlet I.4, 90. 237 Greenblatt [1997]. [Internetquelle] 238 Müller, in: Shakespeare [ca. 1602] 2006: S. 16.

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Fabrik. Alternierend dazu hat Dube Einstellungen eingefügt, die zunächst nur Doughtys sprechenden Mund, später sein ganzes Gesicht zeigen. Aber der Weiße ist so schwach ausgeleuchtet, dass Doughtys Hautfarbe mit der Mikeys identisch ist. Ganz am Ende des Films gehen die Bewohner der Mietskaserne (Schwarze, Weiße und Coloureds) eine Straße hinab auf die Kamera zu. Der Regisseur setzt kein zusätzliches Licht, und so nivelliert die gerade einsetzende Dämmerung die Differenz der Hautfarben. Die Quintessenz von Dubes filmischer Argumentation ließe sich so fassen: Nur wenn es gelingt, die im Apartheid-Staat aufgebauten Frontstellungen aufzugeben, ist der Weg in eine bessere Zukunft frei.

5.4 K ONVERGENZEN Der Bildentwurf für die soziale Rolle, in der ein Mensch figuriere, werde durch Konstituenten, in die er hineingeboren sei, vorgegeben, bemerkt Plessner: „Trotzdem müssen wir, als virtuelle Zuschauer unserer selbst und der Welt, die Welt als Szene sehen. Der Dichter tut es, der Philosoph, der Historiker, der Soziologe und wer immer sich mit dem Menschen als Phänomen auseinandersetzt.“239 Eine der Konstituenten, die soziale Rollen in bestimmten Machtgefügen bestimmen, ist die Hautfarbe. Sie sei der sichtbarste aller Fetische, schreibt Bhabha, die entscheidende Markierung einer Differenzierung in dem Drama, das in kolonialen Gesellschaften tagtäglich aufgeführt werde: „Skin, as the key signifier of cultural and racial difference in the stereotype, is the most visible of fetishes, recognized as ‚common knowledge‘ in a range of cultural, political and historical discourses, and plays a public part in the racial drama that is enacted every day in colonial societies.“240

Bhabha bemüht hier ebenfalls das Bild der Bühne, um einen Abstand zu der Machtkonstellation zu schaffen, die er betrachten will. Das koloniale Drama war nach der Unabhängigkeit zu Ende, das postkoloniale begann. Um mit Abstand auf die postkolonialen Machtkonstellationen zu schauen, haben Traoré, Mambéty und Dube europäische Theaterstücke ausgewählt. Traoré hat die Rollen der Würdenträger und den Revisor der Gogolschen Komödie mit schwarzen Schauspielern besetzt. Dies korrespondierte mit realen Veränderungen: Die Akteure waren nun andere. Die Besetzung der sozialen Rollen war nicht mehr durch die Hautfarbe bestimmt. Hinter der Besetzung des russischen Theaterstücks mit Afrikanern steht die

239 Plessner [1948] 1982: S. 411. 240 Bhabha [1994] 2010: S. 112.

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Behauptung, dass Menschen ungeachtet einer differenten Hautfarbe oder eines differenten kulturellen Hintergrundes in vergleichbaren Situationen ähnlich reagieren. Man könnte hier auf die etymologische Verwandtschaft von Theorie und Theater verweisen, beide Begriffe leiten sich vom griechischen Verb für „betrachten“ ab. Shakespeare, Gogol und Dürrenmatt nehmen auf ganz bestimmte wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Gegebenheiten in Europa Bezug. Sie stellen Wirkungszusammenhänge im Modell dar. In den afrikanischen Bearbeitungen der Stücke dieser europäischen Dramatiker treten angeblich spezifisch afrikanische Problematiken als Ergebnisse bestimmter Machtkonstellationen in Erscheinung. Dadurch destabilisieren die afrikanischen Regisseur Konstrukte einer vermeintlich fundamentalen Differenz. Traoré, Mambéty und Dube haben Probleme in Afrika verhandelt, aber sie erscheinen in ihren Filmen nicht als spezifisch afrikanische Fatalität. Mit der Entscheidung für ein europäisches Theaterstück behaupten die Regisseure Analogien jenseits kultureller und ethnischer Differenz. Der Text entfaltet dabei die Funktion eines Katalysators. Die Filme LAMBAAYE, HYÈNES und A WALK IN THE NIGHT zeugen von einer profunden Auseinandersetzung der Regisseure mit der europäischen Vorlage. Häufig entdecken Traoré, Mambéty und Dube in den kanonisierten Theaterstücken Facetten, die in der westlichen Rezeption weniger scharf akzentuiert werden, etwa die metaphysische Dimension im Revisor oder die Globalisierungskritik im Besuch der alten Dame. Dadurch ermöglichen die afrikanischen Regisseure einen neuen Blick auf Stücke, die im Westen (vielleicht zu unrecht) von den Theaterbühnen verschwunden sind. Gogol hat seiner Komödie ein signifikantes Sprichwort vorangestellt: „Schimpf nicht auf den Spiegel, wenn du in eine Fratze blickst.“241 Nicht nur der Revisor, auch die alte Dame fungiert als Spiegel, ihr ehemaliger Geliebter muss sich seiner Vergangenheit stellen, und Hamlets Mutter sagt: „O Hamlet, sprich nicht mehr! / Du kehrst die Augen recht ins Innre mir: / Da seh’ ich Flecke, tief und schwarz gefärbt, / Die nicht von Farbe lassen.“242 Alle Protagonisten der Theaterstücke, die Traoré, Mambéty und Dube ausgewählt haben, sind unerbittliche Beobachter. Der Revisor, die alte Dame und Hamlet schauen mit Abstand auf die gesellschaftliche Konstellation, die sich durch ihre Präsenz verändert. Eines freilich unterscheidet Hamlet von dem Revisor und der alten Dame: Er beobachtet nicht nur die anderen, sondern auch sich selbst. Hamlet spricht seine Monologe von einer exzentrischen Position aus, ihm eignet in ganz besonderem Maße jene „Abständigkeit des Menschen zu sich selbst“, die Helmuth Plessner als „anthropologische Konstante“ ansieht.243 Aber Hamlet wird bei seinen Selbstbetrachtungen nicht fündig. Greenblatt

241 Gogol [1836] 1996: S. 5. 242 Hamlet, III,4, 40-41. Hier in der Übersetzung von August Wilhelm Schlegel. 243 Plessner [1948] 1982: S. 407.

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weist dieser Rolle deswegen eine Sonderstellung innerhalb der Theatergeschichte zu: „Hamlet at once invites and resists interrogation.“244 Vielleicht hat gerade das Hamlets Popularität befördert. „Sein Name bedeutet selbst denen etwas, die Shakespeare nie gelesen haben“, bemerkt Jan Kott,245 in Afrika und überall sonst auf der Welt ...

244 Greenblatt [1997]. [Internetquelle] 245 Kott [1965] 1970: S. 72. Kott war einer der wenigen Literaturwissenschaftler, die auch von Theaterleuten gelesen und diskutiert wurden. Heute ist es still um Kott geworden. Greiner und Müller (in: Shakespeare [ca. 1602] 2006) erwähnen Kotts einflussreiches Werk Shakespeare heute nicht einmal.

6.

Lokalisierungen

„Über keinen leibhaftigen Dänen ist so viel geschrieben worden wie über Hamlet. Dieser Shakespearsche Prinz ist ganz gewiss der berühmteste aller Dänen“,1 konstatiert Kott. Das Gleiche ließe sich über Carmen, die berühmteste aller Spanierinnen, sagen. Kein literarischer Stoff hat das Bild von Spanien so nachhaltig geprägt wie Carmen. Die Novelle verfasste der Franzose Prosper Mérimée, und die Wirkungsgeschichte des Carmen-Stoffs ist untrennbar mit der musikalischen Bearbeitung seines Landmanns George Bizet verbunden. Die Musik der Oper klingt ungefähr so spanisch wie Mozarts berühmter Marsch, Köchel-Verzeichnis 331, türkisch. Carmen, das Emblem Spaniens, gehört einer häufig als Zigeuner2 bezeichneten ethnischen Minderheit an. Die Titelheldin der meistgespielten Oper der Welt ist eine nicht für Integrationsmaßnahmen geeignete Romni mit einem beachtlichen Strafregister. 2010 konnte das in Paris anlässlich einer pompösen Inszenierung von Carmen auch die konservative Stammwählerschaft zu Bravo-Rufen hinreißen.3 Im Blick auf eben diese Wählergruppe hatte Staatspräsident Nicolas Sarkozy kurz zuvor die ethnische Minderheit, der Carmen nach dem Willen ihres Autors angehört, zum Sündenbock gemacht. „C’est une véritable guerre que nous allons livrer aux trafiquants et aux délinquants“, verlautete es aus dem Elysée-Palast.4

1 2

Kott [1965] 1970: S. 72. Insbesondere wegen der Verwendung des Begriffs „Zigeuner“ im Dritten Reich ziehen viele die Eigenbezeichnungen Roma und Sinti vor. Es gibt aber auch Gegenstimmen, die auf die Dignität des Begriffs „Zigeuner“ hinweisen. In diesem Kontext sei insbesondere auf Bernhard Streck und das Forum für tsiganologische Forschung der Universität Leipzig verwiesen.

3

Carmen (Oper), Production Akouna, L’Hôtel National des Invalides (7.-14. September

4

Elysée. Présidence de la République. 2010. [Internetquelle]

2010).

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Carmen ist ein „Rasseweib“5 für Fremdenhasser, denn paradox waren die Begleitumstände der Inszenierungen dieses Stoffes schon immer. 1938 hatte die Ufa mit Andalusische Nächte6 eine filmische Bearbeitung der Novelle in die Kinos gebracht, und während die Nazis Roma und Sinti in Vernichtungslagern internierten, dirigierte Karl Böhm 1942 eine gefeierte Carmen an der Semperoper in Dresden. Die Oper war bei der Uraufführung 1875 in Paris durchgefallen, aber die filmische Bearbeitung CARMEN JONES,7 die Otto Preminger 1954 in die Kinos brachte, durfte zwanzig Jahre lang nicht in Frankreich gezeigt werden, denn Preminger hatte die Oper, die man mittlerweile als „monument historique“ betrachtete, amerikanisiert.8 Die Rezeptionsgeschichte des Carmen-Stoffs lässt sich paradigmatisch für den schizophrenen Umgang mit dem vermeintlich „Anderen“ betrachten. In Orientalism hat Edward Said 1978 offengelegt, dass sich die Romantisierung des Orients und westliche Hegemonialansprüche gegenseitig bedingen.9 Ganz ähnliche Dynamiken lassen sich im Umgang mit dem Carmen-Stoff erkennen.10 Die Romantisierung der Zigeuner hat zur Konstruktion einer Alterität beigetragen, die gleichermaßen eine Projektionsfläche für Ablehnung und Bewunderung bietet. In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, dass schon Mérimée das Thema „Projektion“ in seiner Novelle aufgreift. Carmen erschien 1845 erstmalig in der französischen Zeitschrift „La Revue des deux mondes“. Neben Mérimée publizierten dort auch Victor Hugo und Heinrich Heine. Das Blatt trug einen langen komplizierten Untertitel, in dem das Programm der Zeitschrift bewahrt ist: „Journal des voyages, de l’administration et des mœurs, etc., chez les différens peuples du globe ou archives géographiques et historiques du XIXème siècle; rédigée par une société de savans, de voyageurs et de littérateurs français et étrangers.“11 Der Rahmen der Erstveröffentlichung ist insofern bedeutsam, als Mérimée den wissenschaftlichen Blick auf die „différens peuples du globe“ reflektiert. Es gibt in seiner Novelle zwei Erzähler: Einer erzählt die Rahmenhandlung, der andere die Binnenhandlung. Ihre beiden Berichte sind insofern miteinander verschränkt, als sich die Figuren, die darin vorkommen, begeg-

5

Mérimée ergeht sich häufig in Beschreibungen von „Rassen“, was im Folgenden noch Gegenstand der Untersuchung sein soll. Vgl. z.B. Mérimée [1845] 1947: S. 104-105.

6

ANDALUSISCHE NÄCHTE, Deutschland 1938, R.: Herbert Maisch.

7

CARMEN JONES, USA 1954, R.: Otto Preminger.

8

Vgl. La Rochelle 2002: S. 46/47.

9

Said [1978] 1994.

10

Vgl. Colmeiro 2003: S. 57-83.

11

Diese Zeitschrift existiert heute noch unter dem Namen „Revue des Deux Mondes“. Die bewegte Geschichte lässt sich auf Internetseite des Journals nachlesen. Revue des Deux Mondes. [Internetquelle]

L OKALISIERUNGEN

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nen. Die Rahmenhandlung erzählt ein Forschungsreisender.12 Sein Interesse gilt zunächst der Lokalisierung der Schlacht von Munda, die das Ende der römischen Republik besiegelte. Mérimée treibt hier ein augenzwinkerndes Spiel mit dem Leser: Er lenkt das Interesse seines Forschungsreisenden von einem langweiligen auf einen spannenden Gegenstand, wobei der Erzähler das Gegenteil behauptet: „En attendant que ma dissertation résolve enfin le problème géographique qui tient toute l’Europe savante en suspens, je veux vous raconter une petite histoire; elle ne préjuge rien sur l’intéressante question de l’emplacement de Munda.“13 Das historische Interesse des Reisenden wird zunehmend von einem quasi-ethnologischen überlagert. Es gilt zunächst dem aus dem Baskenland stammenden Kriminellen José, wobei die distanzierte Forscherperspektive dieses Interesse scheinbar legitimiert: „D’ailleurs, j’étais bien aise de savoir ce que c’est qu’ un brigand. On n’en voit pas tous les jours, et il y a un certain charme à se trouver auprès d’un être dangereux, surtout lorsqu’on le sent doux et apprivoisé.“14 Den Zusammenhang von distanzierter Beobachtung und Projektion verhandelt Mérimée auch, wenn er den Blick seines Forschers von verstaubten Dokumenten auf nackte Frauen lenkt. Der Forscher begibt sich nach Córdoba in eine Bibliothek des Dominikaner-Ordens, wo er Dokumente zu dem antiken Munda zu finden hofft. Aber damit langweilt er die Leser nicht weiter, er berichtet vielmehr, wie er mit den Männern von Córdoba einem Spektakel beiwohnt, das man von der Quaimauer der Stadt aus beobachten kann. Mit Einbruch der Dämmerung versammeln sich am Ufer des Guadalquivir viele Frauen. Beim letzten Glockenschlag des Angelusläutens lassen sie ihre Hüllen fallen und gehen baden. Viel ist nicht zu sehen, aber gerade das erhöht den Reiz der Beobachtung, weil die Phantasie des Beobachters lebendig wird: „Alors ce sont des cris, des rires, un tapage infernal. Du haut du quai, les hommes contemplent les baigneuses, écarquillent les yeux, et ne voient pas grand chose. Cependant, ces formes blanches et incertaines qui se dessinent sur le sombre azur du fleuve, font travailler les esprits poétiques et, avec un peu d’imagination, il n’est pas difficile de se représenter Diane et ses nymphes au bain, sans avoir à craindre le sort d’Actéon.“15

Der Forschungsreisende begegnet schließlich Carmen. Wie bei der Beschreibung der Begegnung mit José stellt der Erzähler die Differenz zwischen sich und seinem

12

Die Binnenhandlung, die Carmengeschichte, die Grundlage des Opernlibrettos wurde, erzählt in der Novelle Don José. Er ist Carmen verfallen, und er wird sie schließlich ermorden.

13

Vgl. Mérimée [1845] 1947: S. 84.

14

Mérimée [1845] 1947: S. 90.

15

Mérimée [1845] 1947: S. 102/103.

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Gegenüber heraus. Der Leser allerdings muss diese Behauptung in Zweifel ziehen: Angeblich lässt sich der Wissenschaftler von Carmen nur zum Spaß wahrsagen. Er berichtet aber auch, dass er sich selbst ehedem okkulten Praktiken ergeben hat.16 Bemerkenswert ist außerdem, dass der Forscher Carmen und José, die „Objekte“ seines Interesses, nicht, wie er müsste, bei der Polizei anzeigt. Damit wird er in gewisser Hinsicht zum Komplizen, ohne freilich je die komfortable Position zu riskieren, die ihm seine Rolle des Wissenschaftlers gewährleistet. Preminger war der Erste, der einen Hollywood-Film ausschließlich mit schwarzen Darstellern besetzte.17 CARMEN JONES darf als einer der wichtigsten antirassistischen Beiträge zur Filmgeschichte gelten. Es stellt sich mithin die Frage, ob die Zigeunerin Carmen überhaupt als weiße Rolle zu bezeichnen ist, denn als Einzige der hier betrachteten Theaterrollen wird Carmen häufig mit schwarzen Darstellerinnen besetzt. Andererseits ist festzuhalten, dass Mérimées Text eine schwarze Besetzung der Carmen ausschließt. Carmens Schönheit wurde nachdem die Figur ein von der Novelle immer unabhängigeres Eigenleben entwickelt hatte, häufig mit dem Schlagwort „exotisch“ belegt. Nach konventionellen Besetzungskriterien wären also gerade dunkelhäutige Darstellerinnen besonders geeignet für diese Rolle, doch in der Novelle wird dunkle Haut explizit als hässlich bezeichnet. So heißt es von Carmens Ehemann „c’était le plus vilain monstre que la bohême [meint hier die Zigeuner] ait nourri: noir de peau et plus noir d’âme.“18 Carmens Hautfarbe ist nicht so dunkel wie die ihres Ehemanns. „Sa peau [...] approchait fort de la teinte du cuivre“,19 berichtet der Forschungsreisende und hält in diesem Kontext fest, dass Carmen nicht etwa wegen, sondern trotz ihrer dunklen Hautfarbe schön sei. Das wichtigste Alleinstellungsmerkmal der Figur ist aber nicht ihre Schönheit, sondern ihr unbedingter Hang zur Selbstbestimmung. Carmens Freiheitsliebe erklärt sich José so: „Pour les gens de sa race, la liberté est tout, et ils mettraient le feu à une ville pour s’épargner un jour de prison.“20 Glaubt man der Carmen der Novelle, unterscheidet sich die „Rasse“ der Zigeuner diesbezüglich signifikant von der „schwarzen Rasse“. Als José das Signal hört, das ihn zum Appell in die Kaserne ruft, beschimpft ihn die freiheitsliebende Zigeunerin als einen zur Versklavung geborenen Schwarzen: „ – Il faut que j’aille au quartier pour l’appel, lui dis-je [José]. – Au

16

Unter französischen Intellektuellen war dies durchaus keine Seltenheit. Victor Hugo zum Beispiel wollte nach dem Tod seiner Tochter im Rahmen von Séancen mit ihr in Kontakt treten.

17

In diesem Kontext ist zu erwähnen, dass Otto Preminger als österreichischer Jude vor

18

Mérimée [1845] 1947: S. 140.

19

Mérimée [1845] 1947: S. 105.

20

Mérimée [1845] 1947: S. 123/124.

den Nazis in die USA geflüchtet war.

L OKALISIERUNGEN

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quartier? dit-elle [Carmen] d’un air de mépris; tu es donc un nègre, pour te laisser mener à la baguette?“21 Im Folgenden stehen zwei afrikanische Bearbeitungen des Carmen-Stoffs im Zentrum des Interesses. Joseph Gaï Ramaka hat seinen 2001 erschienenen Film KARMEN22 im Senegal angesiedelt. Mark Dornford-May lokalisierte seinen Film UCARMEN23 2005 in Khayelitsha, einer südafrikanischen Township. Beide Regisseure verweisen explizit auf ihre Auseinandersetzung mit Mérimées Novelle,24 ohne auf die problematischen Aspekte des Textes einzugehen – im Gegenteil, die Regisseure rühmen die Vielschichtigkeit der Mériméeschen Vorlage.25 Wissenschaftler müssen Mérimées essentialistischen Kulturbegriff und seine ausgiebige Verwendung des Begriffs „Rasse“ analysieren, GenderforscherInnen sollten sein Frauenbild kritisch befragen26 – Ramaka und Dornford-May können ganz einfach von einem Vorrecht ihres Berufsstandes Gebrauch machen. Sie dürfen streichen, was sie nicht brauchen können, und einfügen, was ihnen fehlt. Ramaka hat in Paris visuelle Anthropologie studiert. Dornford-May ist Brite. Beide blicken also mit einer gewissen Distanz auf das Land, in dem sie den Carmen-Stoff lokalisieren. Man könnte die Position der Regisseure vor diesem Hintergrund mit der des Forschungsreisenden aus Mérimées Novelle vergleichen. Interessanterweise gibt es zwar in beiden Filmen keine Rolle, die als Pendant zum Forschungsreisenden konzipiert ist, aber in den Expositionen der Filme schauen einige Figuren gewissermaßen gemeinsam mit dem Zuschauer auf Carmen. Aber anders als man es vielleicht erwarten möchte, bleiben die Themen „postkoloniale Abhängigkeit“ und „Rassismus“ in diesen Filmen (fast ganz) außen vor. Was Dovey so treffend bezüglich der Intentionen Ramakas festhält, lässt sich auch auf die von Dornford-May anwenden: „If this had been his agenda, he would have been more likely to have a black Carmen confront the white historians, ethnographers, and critics who have attempted to explain and circumscribe her.“27 Weiße jedoch treten in beiden Filmen nur ganz am Rande auf. Aufgrund des Um-

21

Mérimée [1845] 1947: S. 130.

22

KARMEN, Senegal/Frankreich 2001, R.: Joseph Gaï Ramaka. Ursprünglich hieß der

23

Meist wird der Film unter dem langen Titel U-CARMEN EKHAYELITSHA geführt. U-

24

Ramaka stellt im Interview mit La Rochelle seine Wertschätzung der Novelle heraus.

Film KARMEN GEÏ. CARMEN EKHAYE-LITSHA, Südafrika 2004, R.: Mark Dornford-May. Vgl. La Rochelle 2002: S. 48. Dornford-May äußert sich ähnlich in einem Interview auf der DVD zu seinem Film. 25

Auch diese Bearbeitungen sind keine Subversion kanonisierter europäischer Literatur. Dovey teilt meine Einschätzung. Vgl. Dovey 2009: S. 219.

26

Vgl. dazu Dovey 2009: S. 219.

27

Dovey 2009: S. 219.

218 | S CHWARZ BESETZT

stands, dass Carmen der ethnischen Minderheit der Zigeuner angehört, wäre auch eine Thematisierung ethnischer Konflikte denkbar gewesen, doch diese unterbleibt ebenfalls. Es stellt sich also die Frage, warum gleich zwei Regisseure den CarmenStoff in Afrika lokalisieren, obwohl sie zentrale, in Afrika relevante Themen, die diese Vorlage bereithält, umgehen.

6.1 K ARMEN G EȲ Ramaka hat meist nachts gedreht, „à l’heure où le corps et les âmes se libèrent de la contrainte diurne“.28 Dunkel ist es auch, als die Kamera eine Reihe singender Afrikanerinnen in traditionellen Kleidern in den Blick nimmt. Sie bleibt auf Distanz und fokussiert eine wunderschöne schmale Frau in einem schwarz-roten Gewand: stolze Haltung, ein herausfordernder Blick, verbunden mit einem unwiderstehlichem Lächeln. Carmen? Nein, Karmen! Das „K“ im Anlaut ist als Differenzmarker zu betrachten. Die junge Frau öffnet ihre Beine und schließt sie, sie öffnet die Beine wieder und schließt sie. Die untrennbar mit dieser Rolle verbundene offensive Erotik wird hier mit Elementen aus dem afrikanischen Tanz in Szene gesetzt.29 Gleichzeitig evoziert der Regisseur das Bild einer spanischen Arena, denn die Szene ist vom massiven Halbrund einer alten Steinmauer eingerahmt. Karmen löst sich aus der Gruppe der Frauen und tanzt auf die Kamera zu. Aber zwischen ihr und dem Kinopublikum hat der Regisseur noch eine beobachtende Instanz platziert: eine Frau von herber Schönheit in einem sandfarbenen Kleid, dessen strenger Schnitt an die Uniform von Kolonialbeamten erinnert. Ein kalkuliertes Irritationsmoment, denn diese nicht mehr ganz junge Frau raucht wie die Carmen der Novelle, als ihr der Forschungsreisende zum ersten Mal begegnet. Auch diese Frau ist eine Afrikanerin, aber ihr streng zurückgenommenes Haar, die entschiedenen Linien ihres schönen Munds und ihr scharfer Blick evozieren das Bild einer Spanierin. Aufgestachelt von den anderen Frauen, fordert Karmen ihr Gegenüber zu einem Tanz auf, der sich zu einer Corrida der Verführung entwickelt. Ein Schnitt – die nächste Irritation, denn nun treiben Uniformierte die Frauen in eine mit Eisenstäben vergitterte Zelle hinein. Was zunächst als Arena erschien, entpuppt sich als Hof einer Gefängnisfestung am Meer. In den Zinnen der wehrhaften Mauern stehen Kanonen, und bewaffnete Männer schauen auf die Frauen herab, wie die schaulustigen Männer in Mérimées Novelle auf die Badenden im Fluss.

28

Ramaka 1999: „Note d’intention de Joseph Gaï Ramaka“. Ramaka hat mir freundlicherweise eine Kopie seines Films und Material zu KARMEN zugesendet. Dieses teilweise unveröffentlichte Material erlaube ich mir hier zu zitieren.

29

Für die Choreographie war Oumi Samb zuständig.

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Eine Bedienstete holt Karmen aus der Zelle. Die rauchende Frau in Uniform ist die Direktorin des Gefängnisses, und Karmens Charme hat sie bezwungen. In der Begegnung der beiden nackten Körper scheint eine Ähnlichkeit zwischen den beiden Frauen auf. Karmen verlässt die Schlafende und ist frei. Die Gefängnisdirektorin bleibt in den Mauern der Festung zurück, aber nach der Nacht mit Karmen hat sie nicht nur ihre Uniform abgelegt, sondern auch einen Namen bekommen: Angélique tritt nur noch als Gefangene ihrer Leidenschaft für Karmen auf. Ramaka hat den Anfang des Films in das Kastell Kumba auf der Insel Gorée verlegt. Wie Mérimées Forschungsreisender zu Beginn der Novelle die Geschichte Spaniens referiert, so verweist Ramaka auf die Geschichte des Senegal. Er evoziert mit der Lokalisierung der Exposition auf der Insel Gorée den Sklavenhandel,30 allerdings wird er diesen Faden nur sehr lose weiterspinnen. Das vergitterte Verlies wirkt mittelalterlich, aber Angélique raucht eine Filterzigarette. Dieses verstörende Nebeneinander historischer Epochen in einer Handlung, die gleichzeitig Zeitgenossenschaft behauptet, ist in diesem Film Gestaltungsprinzip. Zwar wird in KARMEN auch einmal das Jahr 2000 erwähnt, aber der Zuschauer schwebt in einem artifiziellen Nirgendwann. Ob man Ramakas Strategie der filmischen Bearbeitung des Carmen-Stoffes wie Dovey als „Updating“ klassifizieren sollte, ist fraglich.31 Ramaka wird seinen Akteuren zwar schnurlose Telefone in die Hand geben, er wird sie Auto fahren lassen, aber das Dakar, das er zeigt, wirkt der Zeit enthoben, und das nicht nur, weil die Akteure immer wieder auf historische Ereignisse verweisen. Die Kamera richtet sich nicht auf Schnellstraßen und Hochhäuser, sondern auf kleine Wege und alte Gebäude, immer wieder ist das Meer zu sehen. Ihm persönlich habe das Meer geholfen, die Härten des Lebens in Dakar zu ertragen, bekennt Ramaka in einem Gespräch mit Olivier Barlet.32 Er weigert sich, seine Assoziationen durch logische Brücken zu verbinden. Im Mainstream-Kino sei ein Regisseur gehalten, bestimmte Regeln der Narration zu respektieren, schreibt Mari Maasilta, doch Ramaka verwirre seine Zuschauer so sehr, dass ein Kritiker bekannt habe, „only a press kit could tell me what happened“.33 Lose aneinander gereihte Sequenzen werfen beständig neue Fragen auf, und enigmatische Bilder führen dem Zuschauer immer wieder vor Augen, dass er nie alles verstehen kann, was er sieht.

30

Wie in HYÈNES verweist die Ile de Gorée hier auf den Sklavenhandel. Vgl. Teil II, Kap.

31

Dovey 2009: S. 10.

32

Vgl. Barlet [2001]. [Internetquelle]

33

Maasilta 2007: S. 233.

5.2, S. 196.

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Die Rollenkonstellation Die Durchhalteparole „es gibt keine schlechten Rollen, nur schlechte Schauspieler“ ist für Darsteller erfunden worden, die Rollen spielen müssen, die den farblosen Hintergrund zur Profilierung von Protagonisten abgeben. Eine solche Rolle ist die des Don José in der Oper Carmen. In der Novelle hat diese Figur viele Facetten,34 aber die Librettisten André Meilhac und Ludovic Halévy haben José nur als Subalternen in einer Armee konzipiert, die in Sevilla als Polizei fungiert. In dieser Funktion muss er sich von der Protagonistin publikumswirksam an der Nase herumführen lassen, und der geplagte Darsteller dieser undankbaren Rolle muss am nächsten Morgen in der Zeitung lesen, wie farblos er im Vergleich zu der grandiosen Carmen geblieben sei.35 So ist es auch Magaye Niang ergangen, den Ramaka als Lamine besetzt hat, denn bei der Konzeption der Rolle, die in seinem Film das Pendant zu José ist, hat sich der Regisseur am Entwurf von Meilhac und Halévy orientiert. Ein Kritiker schrieb: „[...] Mister Niang isn’t quite up to the goddess charisma of Ms Gai, though it’s hard to say if this lack comes from the actor or the clumpish constraints of his role; even Harry Belafonte couldn’t do much more than smooth his shirt over his impossibly flat dogface’s stomach in 1954’s Carmen Jones.“36 Wie im Libretto ist Lamine eine Verlobte zur Seite gestellt.37 Der Zuschauer sieht Lamine zum ersten Mal als Bräutigam. In weißer Uniform sitzt er neben seiner Braut. Zahlreiche Trommler haben sich ihm gegenüber positioniert. Ramaka hat hierfür den Meister und Erneuerer der Sabar-Tradition Doudou N’Diaye Rose engagiert.38 Karmen tritt als Tänzerin auf und tanzt in der Rolle des Geists von Kastell Kumba vor der Hochzeitsgesellschaft, die größtenteils aus uniformierten Staatsbeamten besteht. Sie provoziert Lamine: „Vous avez avalé notre pays – on vous bouffera vos tripes.“ Das ist insofern doppeldeutig, als der umgangssprachliche Ausdruck „avoir quelqu’un dans les tripes“ sexuelle Hörigkeit bezeichnet. Der Bräutigam ist Karmens nächstes Opfer. Wie Angélique attackiert sie Lamine, indem sie mit herausforderndem Eros vor ihm tanzt. Doch anders als die Verlobte der Oper ist

34

In der Novelle begegnet der Leser der Figur José als Räuber und erfährt, dass der baskische Hitzkopf sich auf einen Zweikampf eingelassen hatte, der für seinen Gegner tödlich ausging, weshalb José nach Andalusien zur Armee musste.

35

Als Donna Elvira oblag es mir selbst vor langer Zeit, die graue Folie weiblicher Kon-

36

Mitchell 2002, zitiert nach Maasilta 2007: S. 236.

ventionalität abzugeben, vor welcher der Libertin Don Juan brillieren konnte. 37

Diese Figur fehlt in der Novelle, die Librettisten haben dem Mezzosopran Carmen noch einen Sopran an die Seite gestellt.

38

N’Diaye Rose hat nicht nur mit Maurice Béjart und den Rolling Stones zusammengearbeitet, sondern auch die senegalesische Nationalhymne komponiert.

L OKALISIERUNGEN

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Lamines Braut kein tugendsames Schaf: Sie lässt sich mit Karmen auf einen Konkurrenzkampf ein und fordert sie ihrerseits mit einem Tanz heraus. Die Konfrontation endet damit, dass sich Karmen auf die Braut wirft und der Konkurrentin das Gesicht zerschneidet.39 Lamine ist aufgefordert, die Aggressorin zu sanktionieren, und damit steigt Ramaka in die Handlung des Carmen-Stoffs ein. Seine Konzeption der Rolle des Lamine ist nicht eindeutig zu dechiffrieren. Fast scheint es, als spiele Ramaka hier auf die ambivalente Position von Staatsdienern während der Kolonialzeit an, Lamine wäre dann als Handlanger der ehemaligen Kolonialmacht zu betrachten, und Karmen wäre als Führerin einer Räuberbande in der Opposition. Allerdings hat Ramaka die Figur nicht als politisch ambitionierte Widerstandskämpferin in Szene gesetzt wie seinerzeit Godard, der Carmen zum Mitglied einer terroristischen Gruppe machte.40 Mit der Gegenüberstellung von Uniformträger und Karmen konfrontiert der Regisseur Konformismus und Nonkonformismus, Ordnung und Anarchie.41 Lamine soll Karmen ins Gefängnis bringen, aber sie verdreht ihm den Kopf, und Lamine landet schließlich selbst im Gefängnis. Nach einer spektakulären Befreiungssequenz, die Karmens Bande in Aktion zeigt, findet er sich schließlich an der Seite der Protagonistin in einer großen Bar wieder, dieses „Clando“42 gehört Karmens Mutter Ma Penda. Sie ist das dramaturgische Pendant zu Lillas, dem Besitzer der „Pastia“, in der sich Carmen mit José trifft, sowohl in der Novelle als auch in der Oper bleibt Lillas eine Randfigur. Anders Ma Penda: Ramaka zeigt die alte Frau im Rollstuhl, doch wie Angélique trägt Ma Penda unverkennbar die Züge einer Carmen. Im afrikanischen Film sieht man viele Mütter. Wie in XALA und LAMBAAYE ist ihr Verhältnis zu ihren Töchtern häufig dadurch belastet, dass die Mütter ihre Töchter in die traditionelle Frauenrolle pressen wollen. Implizit sind die Mütter damit auch Verfechterinnen einer restriktiven Sexualmoral.43 Anders Ma Penda: Sie weiß genau, was ihre Tochter mit Lamine vorhat, und überlässt Karmen

39

Ramaka hat hier zwei Rollen zusammengelegt: Sowohl in der Novelle als auch in der Oper ist es eine Angestellte der Zigarettenfabrik, in der Carmen arbeitet, die Carmen provoziert – mit gleichem Resultat. José soll sie daraufhin ins Gefängnis bringen.

40

PRÉNOM CARMEN, Frankreich 1983, R.: Jean-Luc Godard.

41

Anders als viele andere afrikanische Regisseure konkretisiert Ramaka seine politische Argumentation nicht. California Newsreel stellt die anarchistischen Züge von Karmen heraus und beschreibt diese Figur als „destroyer of every order“. California Newsreel[c]: „Karmen Gei“. [Internetquelle]

42 43

Anspielung auf „clandestine“, dt. „heimlich“. Einige hier nicht behandelte Filme wie TOUKI BOUKI und QUARTIER MOZART (Letzterer: Kamerun/Frankreich 1992, R.: Jean-Pierre Bekolo) thematisieren die weibliche Sexualität wesentlich expliziter.

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ihr Schlafzimmer.44 Nach vollzogenem Akt erscheint die Polizei, um Lamine gefangen zu nehmen, doch Ma Penda widersetzt sich einer Hausdurchsuchung mit unerhörter Drastik: Dem Ordnungshüter, der sich vor ihr aufgebaut hat, sagt sie, der Nabel des Polizisten sei zwar größer als sein Arschloch, dennoch könne er nicht damit scheißen. Unterstützung erhält Ma Penda von dem Sänger Massigi. Er besetzt in diesem Film die dramaturgische Position des Toreros Escamillo. Der Torero verweist in der Oper auf die alte spanische Tradition des Stierkampfs, er steht als todesmutiger Einzelkämpfer in einem kontrapunktischen Verhältnis zum ehemaligen Armeemitglied und Befehlsempfänger José. Massigi, das senegalesische Pendant zum Torero, verweist auf die Tradition der Griots und spielt auf ein historisches Ereignis an, das im Senegal zur viel zitierten Metapher des Widerstands geworden ist. Massigi heizt die Stimmung der Gäste gegen die Polizei auf, in dem er die Auflehnung von Ma Penda in die Tradition der Frauen von Nder stellt, die er als „héroïnes de Walo“ besingt. Die Bewohnerinnen des zum Königreich Walo gehörigen Dorfes Nder im Norden des heutigen Senegal begingen 181945 kollektiven Selbstmord, um maurischen Sklavenhändlern zu entgehen. Wie die Figur der Carmen stehen die Frauen von Nder für den bedingungslosen Willen zur Freiheit – auch ihnen ging es um sexuelle Selbstbestimmung, denn sie befürchteten, in einen Harem verschleppt zu werden. Massigi evoziert mit seinem Gesang eine Revolte und steht damit in einem antipodischen Verhältnis zu Lamine, der als Mitglied einer autoritären Institution den Unterdrückern zugerechnet wird. Dass Karmens Gunst jetzt erst einmal dem Sänger gehört, weiß der Zuschauer, weil sie ihm, wie zuvor Angélique und Lamine, ein Tuch ihres Gewandes überreicht hat. Als Lamine dazwischengehen will, bekommt er von Ma Penda gesagt, er habe seinen Zweck erfüllt und könne gehen. Im turbulenten Geschehen fällt auch der Name Aline Sitoé Diata. Nach ihr ist heute ein Stadtviertel in der Nähe der Universität Cheik Anta Diop benannt, weil sie sich auf verschiedenste Weise für die Unabhängigkeit des Senegal eingesetzt hat. Dovey zieht daraus den Schluss, dass Ramaka die Titelfigur seines Films „nationalisiert“ habe46, ein Begriff der insofern unglücklich gewählt ist, als Karmen alle staatlichen Institutionen ablehnt, und sich damit auch der Kategorie „national“ entzieht.

44

Auch hier hat Ramaka zwei Rollen zusammengefasst: Mérimée erwähnt eine alte Zi-

45

Hier kursieren unterschiedliche Daten: Dovey (2009: S. 248) gibt den 5. März 1820 an.

46

Vgl. Dovey 2009: S. 248.

geunerin, die Carmen ihr Zimmer überlässt. Vgl. Mérimée [1845]1947: S. 129.

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Eros und Thanatos Lamine, Massigi, Angélique und Karmen sind in die Irrungen und Wirrungen des Lebens verstrickt. Ma Penda sieht weiter: Sie weiß, was Angélique treibt, nach Karmen zu suchen, und sie weiß, dass es zwecklos ist. Als Angélique zu ihr kommt, deutet Ma Penda auf eine alte blinde Frau, die jeden Tag an den Strand kommt und das Meer ansingt, das sie nicht sieht. Die Blinde spürt nur den Wind im Gesicht und erhält nur das Meeresrauschen zur Antwort, aber sie hält dem geliebten Meer die Treue. Der Zuschauer sieht wenig später, wie Angélique ins Wasser geht, um im Meer den Tod zu suchen. Nach dieser Einstellung stellt Ramaka die Affinität von Angélique und Karmen heraus. Ein Schnitt, und der Zuschauer sieht, wie sich Karmen völlig durchnässt auf ein Sofa in Massigis Wohnung fallen lässt. Als sie von dem Selbstmord Angéliques erfahren hat, will sie nur noch eins, „dormir, juste dormir“. Diese Szene markiert einen Wendepunkt. Die Carmen der Oper legt sich die Karten und erfährt, dass ihr Tod unmittelbar bevorsteht. Ramaka folgt auch hier dem Libretto: Er zeigt, wie Karmen in einem tiefen dunklen Schacht mit ihrer Bande Karten spielt. Der Blick auf eine der Spielkarten löst in ihr eine Todesvision aus: Vor den Wänden niedriger Häuser sieht sie Menschen sitzen, deren hell geschminkte Gesichter an Totenschädel erinnern, die Bewegungen der Kamera evozieren den angstvollen Schwindel der Betrachterin. Ramaka sagt bezüglich der Vorahnung seiner Protagonistin Karmen: „Elle a du mal à saisir l’énonciation que lui indique son corps. Elle n’est pas dans l’opposition corps-esprit; son corps est vivant, son esprit se confond avec les mouvements de son corps. Lorsque les signes annonciateurs de sa mort prochaine se déclarent, elle ne comprend plus très bien. Elle n’a pas perdu le sens de sa quête, mais elle ne saisit pas le sens de son corps.“47

Man kann diese verrätselte Erklärung getrost unkommentiert stehen lassen und feststellen, dass Ramaka weniger an einer politischen Diskursivierung des CarmenStoffs interessiert ist, als an einer Poetisierung. Festzuhalten wäre allerdings eine signifikante Modifikation. Anders als die Carmen der Oper und der Novelle akzeptiert Ramakas Protagonistin den Tod nicht, weil sie ein vorherbestimmtes Schicksal annimmt – diese Karmen ist ihres Lebens müde. Ramaka setzt Angéliques Beerdigung als Negativspiegelung der Anfangssequenz in Szene. So wie Angélique im Gefängnishof den singenden Frauen gegenübersaß, sitzt Karmen nun zusammengekauert den Trauergästen gegenüber hinter dem Altar in der Sakristei. War Karmen am Anfang des Films tanzend auf Angélique zugekommen, so sieht sie nun wie der

47

Ramaka im Gespräch mit Barlet. Vgl. Barlet [2001]. [Internetquelle]

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Sarg mit Angéliques Leiche von ihr weggetragen wird – auch das ist eine Verführung: Angélique geht Karmen voraus. Auch in der senegalesischen Bearbeitung des Carmen-Stoffs ist die Rede von der Liebe, die einen verfolgt, wenn man sie flieht, und die flieht, wenn man sie sucht. Ramaka zitiert hier wörtlich die wohl bekannteste Arie der Carmen, für ein prominentes Motiv der Arie hat er ein anderes Bild gefunden. Hieß es in der Oper: „L’amour est un oiseau rebelle, que nul ne peut apprivoiser“, so heißt es nun bei Ramaka: „Le vent déracine le baobab, mais il n’empêche pas l’oiseau de s’envoler.“ Aber Ma Penda relativiert die Verklärung der Freiheit als sich Karmen vor Ekel an der Welt zu ihr flüchtet: „Tu es trop seule, trop libre. Le vent pousse la feuille dans le trou, mais ne la resort pas.“ Damit hat sie die Verfassung der von allen begehrten Karmen treffend umschrieben, denn nach dem Tod von Angélique fühlt sie sich allein. Dem alten Samba gesteht Karmen, dass sie Massigi für einen Gockel hält. Der Leuchtturmwächter Samba besetzt hier eine ähnliche Position wie der Ehemann Carmens in der Novelle Mérimées. Er gehört zu der Bande von Räubern und Schmugglern, für die Karmen vor jeder Aktion das Terrain erkundet. Samba war Karmens erster Liebhaber, aber das ist lange her. Nun sind sie (anders als in der Novelle) Freunde.48 Karmen tanzt für Samba, während er im Takt die Scherben schlägt, diesmal ist Karmens Tanz aber keine erotische Attacke, sondern ihre letzte Hommage an das Leben. Wie sein Pendant Don José beteiligt sich Lamine schließlich an den kriminellen Aktionen von Karmens Bande – zum Anarchisten wird er dadurch nicht. Als einer der Bande ihn vor einem Überfall auffordert, seine Uniform abzulegen, fragt Lamine erstaunt, was er damit meine, denn er trägt schon lange keine Uniform mehr. Da antwortet der Gefragte: „Die Uniform in deinem Kopf.“ Lamine hat sein Leben an das von Karmen gebunden, doch sie entzieht sich seiner Kontrolle. Lamine verfolgt sie, obwohl ihm Samba rät, sich von Karmen fernzuhalten. Der alte Mann sieht die Katastrophe voraus: „Tu l’aimes trop. Tu l’aimes mal.“ Doch Lamine will das, was er als sein Recht erachtet, mit Gewalt einfordern, aber Karmen weigert sich, ihm zu gehorchen. Lamine ermordet sie daraufhin, nicht als Krimineller, sondern als Polizist. Den Mord hat Ramaka, ohne diesen logischen Bruch zu erklären, in die Soffitten des Théâtre Daniel Sorano verlegt. Auf der Bühne singt unterdessen Yandé Codou Sène,49 die wohl bekannteste Sängerin des Senegal. Ramaka hat sie als Darstellerin der blinden Frau am Meer gewinnen können. Am Ende des Films steht sie als Star vor einem großen Publikum, und wie immer trägt sie ihre dunkle Brille.

48

In der Novelle fällt der Ehemann José zum Opfer. Carmen heiratet José kurz darauf.

49

Als Ikone des Senegal findet Yandé Codou Sène auch in HYÈNES Erwähnung. Vgl. Teil II, Kap. 5.2, S. 181.

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Karmen ist tot. Der alte Samba trägt ihre nur in ein Tuch eingenähte Leiche zwischen weißen Holzkreuzen hindurch einen Berg hinauf. Ramaka hat die Figur des alten Leuchtturmwächters mit Thierno Ndiaye Dos besetzt, man kennt diesen Veteranen des afrikanischen Kinos aus unzähligen Filmen – Sembène hat den Schauspieler gleich dreimal besetzt.50 Als Samba ist er stets in Bluse und Schiffermütze zu sehen, die Arbeitskleidung eines Dockarbeiters, und Samba raucht Pfeife – fast glaubt man, Ousmane Sembène persönlich vor sich zu haben. Ramaka provoziert diese Assoziation, denn auch die Namen Sembène und Samba weisen eine gewisse Ähnlichkeit auf. Man kann dies als Hommage an den großen „Frauenrechtler“ des afrikanischen Films verstehen. In seinen „notes d’intention“ schreibt Ramaka, Karmen sei für ihn ein Mythos; als Leser der Novelle und als Zuschauer der zahlreichen filmischen Bearbeitungen des Stoffes habe ihn immer wieder die Komplexität und die Stärke der Carmen-Figur fasziniert:51 „Elle prend en main la liberté d’assumer l’amour sans limite, homosexuel comme hétérosexuel. J’ai tenté de fixer un caractère et une capacité d’aimer rencontrés chez les femmes au Sénégal et ailleurs.“52 Auf Massigis Bemerkung, sie sei „une drôle de femme“ erwidert Karmen „Pas plus que les autres, seulement elles ne le montrent pas pour ne pas faire trop de vagues.“ Anders als Mérimée und die Librettisten Bizets hat Ramaka Karmens bedingungslosen Einsatz für ihre persönliche Freiheit nicht als Alleinstellungsmerkmal konzipiert. Man könnte so weit gehen, zu behaupten, das alle Frauen in seinem Film, sogar die blinde Sängerin, verschiedene Facetten des Carmen-Mythos aufscheinen lassen. Angélique (die übrigens öfter im Close up zu sehen ist als Karmen),53 Ma Penda, ja selbst Lamines Braut, sie alle können als Manifestationen der Carmen-Figur gelten, denn alle treten dafür ein, dass Frauen ihre Sexualität so leben können, wie es ihnen passt. Im Gespräch mit Olivier Barlet formuliert Ramaka seine Motivation, sich mit dem Carmen-Stoff auseinanderzusetzen, so: „C’est un sujet traité dans toutes les langues et je pourrais dire pourquoi pas dans ma culture et dans la langue. Mais la véritable raison est que j’ai grandi à St. Louis entouré de femmes: mes grands-mères, mes tantes, mes cousines qui avaient un port que je retrouve dans le texte de Mérimée. Cette femme espagnole extrêmement forte et libre, avec un sens de la liberté poussé jusqu’à l’extrême, je l’ai souvent retrouvée chez les femmes qui m’ont entouré et m’entourent encore. Je n’ai donc pas eu le sentiment d’aller chercher ailleurs. Quand j’ai vu les différentes versions de Carmen, comme celle de Godard, ou celle de Carmen Jones, je

50

Er spielt nicht nur in XALA, sondern auch in CAMP DE THIAROYE (Senegal 1988,

51

Ramaka 1999. [unveröffentlicht]

R.: Ousmane Sembène) und GUELWAAR (Senegal 1992, R.: Ousmane Sembène). 52

Ramaka [2006]. [Internetquelle]

53

Vgl. dazu Maasilta 2007: S. 180.

226 | S CHWARZ BESETZT retrouvais des Carmen que je connaissais déjà. Je voulais ainsi m’exprimer par rapport à une matière émotionnelle connue lorsque j’ai grandi et que j’ai essayé de traduire avec les sonorités et les gestuelles qui me sont restées ou que j’ai découvertes entre temps.“54

Der zweite Mord an Karmen Liebhaber afrikanischer Musik sehen in dem Film KARMEN die Crème de la Crème senegalesischer Tonkunst versammelt, Bizets Partitur bleibt außen vor: Ramaka hat renommierte Musiker wie Doudou N’Diaye, Julien Jogat und den amerikanischen Saxophonisten David Murray engagiert. Die scheinbar untrennbar mit dem Stoff verbundenen Melodien Bizets sind dadurch verzichtbar. Ramaka zitiert in seinem Film Trauerrituale, er zeigt Tätowierungen, bunte Boubous und einen Tuchmarkt – KARMEN ist ein „schöner Film“ aus Afrika. Ein Film für Europäer „en mal d’exotisme?“ In Karmen wird Wolof und Französisch gesprochen. Ramaka hat sich für eine sparsame Untertitelung entschieden. Was es mit Kumba Castle, der Insel Gorée und den Frauen von Nder auf sich hat, werden nur wenige der Zuschauer gewusst haben, die Gelegenheit hatten, den Film in Cannes55 oder auf Arte zu sehen – Ramaka verzichtet auf diesbezügliche Erklärungen. Ein Film für Senegalesen also? Bereits 1998 hatte Ramaka in Dakar „L’Espace Bel’Arte“ eröffnet, den ersten mit „Dolby numérique“ ausgestatteten Kinosaal. Hier wollte er einem größeren Publikum afrikanische Autorenfilme zugänglich machen, und hier hatte sein Film KARMEN am 22. Juli 2001 Afrika-Premiere. Viele weitere Aufführungen sollten folgen, doch Ende August erschien im Wochenblatt Mœurs ein Artikel, in dem Ramaka der Blasphemie bezichtigt wurde. Am 7. September 2001 war sein Film Gegenstand einer Radiosendung:56 Einen Tag später versammelten sich 300 bewaffnete Anhänger der islamischen Bruderschaft der Muriden, um weitere Aufführungen von Karmen zu verhindern. Ramakas Darstellung der lesbischen Liebe hatte Anstoß erregt und den aufgebrachten Gegnern des Film war etwas aufgefallen, was kaum ein westlicher Zuschauer bemerkt haben dürfte: Bei der christlichen Beerdigung von Angélique wird ein muslimisches Gedicht des berühmten Serigne Touba gesungen. Die Protestierenden drohten, das Kino samt Regisseur und Hauptdarstellerin niederzubrennen.57 Die Polizei unternahm keine nennenswerten Anstrengungen, um die gewaltbereite Menge zu beruhigen. Am Tag darauf wurde der Film offiziell ver-

54

Ramaka zitiert nach Barlet [2001]. [Internetquelle]

55

Der Film lief 2001 in Cannes im Rahmen der „Quinzaine des Réalisateurs“. Es handelt

56

Vgl. Maasilta 2007: S. 185.

sich hier um eine Auswahl besonders bemerkenswerter Filme. 57

Ramaka und seine Frau, die Hauptdarstellerin Djeïnaba Diop Gaï, waren nicht anwesend.

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boten. Das Außenhandelsministerium blockierte den Vertrieb für den gesamten afrikanischen Kontinent, und Ramaka erhielt Drohbriefe mit dem Tenor: „Tu risques de perdre ta vie pour rien. Tu sais que le fatwa te poursuit“, „Va en Europe.“58 Die Gegner von Ramakas Film hatten erkannt, dass der Rolle „Carmen“ auch heute noch (oder in bestimmten Kontexten wieder) ein subversives Potential eignet. Mari Maasilta hat der in allen einflussreichen Medien des Senegal geführten Debatte um den Film ihre Dissertation gewidmet. Das Thema ist gut gewählt: „Karmen was the first film to be banned due to the demands of a religious pressure group.“59

6.2 U-C ARMEN E K HAYELITSHA U-CARMEN EKHAYELITSHA sei sowohl für den südafrikanischen als auch für den internationalen Markt konzipiert, heißt es auf der Internetseite zum Film.60 Die Uraufführung fand am dritten März 2005 in der Oliver Tambo Hall in der Township Kayelitsha statt, und die Eintrittskarten sollten auch für die Bewohner am Rande der Metropole Kapstadt erschwinglich sein.61 Auf der Gästeliste stand Staatspräsident Thabo Mbeki,62 und der Hauptsponsor Nando’s, seines Zeichens Hersteller von „the best tasting flame-grilled peri-peri chicken in the world“,63 stellte die nationale Bedeutung des bevorstehenden Ereignisses heraus: „We are massively proud to be involved with this extraordinary South African production. It is also appropriate that, as we celebrate 10 years of democracy, Nando’s is able to celebrate its own South African born and bred roots by funding this unique project, allowing us to showcase South African talent and resourcefulness and illustrating our very real commitment to making this country the best it can be.“64

58

Zitiert nach La Rochelle 2002: S. 46.

59

Maasilta 2007: S. 28.

60

U-Carmen eKhayelitsha. [Internetseite zum Film].

61

Dovey stellt heraus, dass die Produzenten des Films sehr bemüht waren, alternative Distributionswege aufzutun, um einem breiteren Publikum den Besuch dieses Films zu ermöglichen. Vgl. Dovey 2009: S. 59.

62

Vgl. Walker 2005a. Öffentliche Unterstützung war dem Film schon zuvor durch Minister Mandisi Mpahlwa zuteilgeworden.

63

Mit diesem Slogan hatte der Konzern bei Erscheinen des Films auf seiner Internetseite geworben.

64

Zitiert nach The Callsheet 2004.

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Die südafrikanische Presse zitierte dieses Bekenntnis ebenso häufig wie ein Statement von Charles Hazlewood. Ihm oblag bei U-CARMEN E KAYELITSHA die musikalische Leitung, und Hazlewood hatte bekundet: „Xhosa, like Italian is a wonderful singing language.“65 Alle bekannten Arien Bizets waren in Xhosa übersetzt worden,66 Südafrika hatte jetzt auch eine Operndiva, und die Klatschblätter diskutierten die Märchenkarriere der Carmen-Darstellerin Pauline Malefane.67 Gemeinsam mit dem Regisseur Mark Dornford-May und Andiswa Kedama zeichnet Malefane auch für das Drehbuch verantwortlich. Dem Film vorangegangen war eine langjährige Zusammenarbeit in der von Dornford-May und Hazlewood gegründeten Theaterkompanie Dimpho Di-Kopane, die bereits eine sehr erfolgreiche Bühnenversion des Carmen-Stoffes herausgebracht hatte. Bei dem Film haben nicht weniger als 1000 Statisten aus der Township Khayelitsha mitgewirkt. Die Popularität der Oper habe ihn gereizt, sagt Dornford-May in einem auf der DVD zum Film veröffentlichten Interview, jeder habe eine Beziehung zu dieser Musik, und an diese Beziehung habe das Team anknüpfen wollen. Die Rechnung ist aufgegangen. Der Film wurde auf den internationalen Filmfestspielen 2005 in Berlin mit dem goldenen Bären ausgezeichnet. Dass der Regisseur des Films ein Brite ist und ein nicht unbeträchtlicher Teil des Stabes aus Europa kam, störte keinen – mit Genugtuung verfolgte die südafrikanische Presse den internationalen Erfolg ihrer „local version of ‚Carmen‘“68 und übertönte den südafrikanischen Kultusminister, der Zweifel daran aufkommen ließ, dass U-Carmen eKhayelitsha ein „originär“ südafrikanischer Film sei.69 Außer ihm störte sich keiner daran, dass der Autor der Novelle und der Komponist der Oper Franzosen waren – Beteiligte wie Kritiker verwiesen auf die Universalität des Stoffes. Die Exposition Dornford-May konfrontiert sein Publikum zunächst mit einer schwarzen Leinwand, auf der in Lettern, die zu brennen scheinen, der Titel des Films erscheint. Der Zu-

65

Zitiert nach Chisholm 2004.

66

Die betreffenden Zitate werden hier der Novelle bzw. dem Libretto folgend in Französisch wiedergegeben.

67

Auf der Internetseite zum Film kann man sich diesbezügliche Artikel aus Glamour (Januar 2005), The Oprah Magazine (Dezember 2004) und Cosmopolitan (Dezember 2004) herunterlanden. Siehe U-Carmen eKhayelitsha. [Internetseite zum Film].

68

Walker (2005b) titelt beispielsweise: „Local version of Carmen to be released in town-

69

Pallo Jordan hatte angemerkt, dass afrikanische Textquellen europäischen vorzuziehen

ships first.“ seien. Vgl. Dazu Dovey 2009: S. 199.

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schauer hört Wind und undefinierbare Geräusche von Metall. Ein Schnitt: Nun evozieren wehende blutrote Bänder die Bewegung von Flammen. Eine ruhige, weiche Männerstimme setzt ein und zitiert auf Xhosa eine Passage aus der Novelle Mérimées, jene, da der Forschungsreisende Carmen zum ersten Mal begegnet ist und nun ihre Erscheinung mit den Schablonen des spanischen Schönheitsideals vermisst. Carmen entspricht diesen Anforderungen allerdings nicht: „Pour qu’une femme soit belle, il faut, disent les Espagnols, [...] qu’on puisse la définir au moyen de dix adjectifs applicables chacun à trois parties de sa personne. Par exemple, elle doit avoir trois choses noires: les yeux, les paupières, et les sourcils; trois fines, les doigts, les lèvres, les cheveux, etc. [...]. Ma bohémienne ne pouvait prétendre à tant de perfections.“70

Hinter dem wehenden Band wird jetzt die Halbfigur einer schwarzen Frau im rotschwarzen Kleid sichtbar. Ihr ruhiger Blick ist direkt in die Kamera gerichtet. Nur die unwillkürliche Bewegung ihrer Augenlider verrät, dass es sich hier nicht um ein Bild handelt. Die Kamera kommt immer näher, bis nur noch die Augen im Bild sind, und der Sprecher erklärt, auch hier mit einem Zitat aus Mérimées Novelle, warum Carmens Schönheit unwiderstehlich sei, obwohl sie keines der erwähnten Kriterien erfülle: „Ses yeux surtout avaient une expression à la fois voluptueuse et farouche que je n’ai trouvée depuis à aucun regard humain.“71 Die senegalesische Carmen-Darstellerin entspricht westlichen Vorstellungen von einer afrikanischen Schönheit, diese hier ist zweifelsohne zu füllig: So dicke Frauen dürfen im Westen nur noch auf Opernbühnen tragische Rollen spielen, wenn sie, was selten genug vorkommt, auf einer Kinoleinwand zu sehen sind, dann nur in komischen Rollen. Die südafrikanische Carmen sprengt das schmale Format, das im Westen als Voraussetzung für sexuelle Attraktivität gilt, aber Dietrich Kuhlbrodt von der TAZ Berlin hat sich von ihr verführen lassen. Er bemerkt: „Hüften schaukeln in mordsengen Jeans: U-Carmen eKhayelitsha [...] In dem neuen südafrikanischen Film wird klar, wie reguliert, reduziert, weginszeniert meine Carmens bislang waren, on diet die Sängerinnen, gar die Darbietung insgesamt. Jetzt mache ich auf meine alten Tage die neue Erfahrung, dass ich auf üppige Frauen und dicke Männer stehe. Den lieben langen Film hindurch Mordshüften, Superschenkel, Bäuche, jawohl.“72

Die nächste Einstellung zeigt ein Fotostudio, in dem Carmen in ihrem rotschwarzen Flamenco-Kleid vor einer Fototapete Platz genommen hat. Wie Ramaka

70

Mérimée [1845]1947: S. 105.

71

Mérimée [1845]1947: S. 106.

72

Kuhlbrodt 2005.

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hat Dornford-May in seiner Exposition zwischen Carmen und dem Kinopublikum noch einen anderen Beobachter platziert, hier ist es ein Fotograf, von dem der Kinozuschauer nur den Rücken sieht. Dornford-May eröffnet damit ein Spiel mit verschiedenen Perspektiven auf die Hauptfigur. Doch zunächst lokalisiert die Kamera das Fotostudio, in dem Carmen sitzt. Sie fährt rückwärts aus dem Innenraum heraus und nimmt in einer totaleren Einstellung die Umgebung in den Blick. Begleitet wird dieser Establishing-Shot im Rückwärtsgang vom Stimmen der Orchesterinstrumente. Die eingefangenen Bilder bekommt der Zuschauer dann im Zeitraffer zu sehen. Keiner, der die Township kenne, solle sagen können, das, was er in diesem Film zeige, sei nicht Khayelitsha, bekundete Dornford-May in einem Interview.73 Im Presseheft erklärt der südafrikanische Kameramann Giulio Biccari, dass er und der Regisseur sich für eine fast dokumentarische Kameraarbeit entschieden hätten.74 Anders als die gleichsam zeitlose Inszenierung Ramakas akzentuiert die von Dornford-May die Zeitgenossenschaft. Aber Biccaris Handkamera streift das Leben in der Township nur, und die Klänge der Ouvertüre überlagern die Bilder im Newsreel-Stil. Hazelwood berichtet, dass Bizets Musik während der Dreharbeiten über große Lautsprecher wiedergegeben worden sei, sodass sich die Darsteller ihrer Wirkung kaum entziehen konnten.75 Auf der Tonspur des fertigen Produkts durften dann wieder die Geräusche Khayelitshas mehr in den Vordergrund treten.76 Spielebenen Weil Dornford-May die Musik Bizets verwendet und dem Zuschauer keine der bekannten Arien vorenthalten will, zieht er eine zweite Spielebene ein. Dies erlaubt ihm, den Handlungsstrang um den Torero ohne logische Brüche in der Township anzusiedeln. Plötzlich schweigen die Instrumente, die eben noch die Kamerafahrt durch Khayelitsha begleitet haben. Carmen geht in Jeans und T-Shirt einen Plattenweg entlang, einzig ihre großen Kreolohrringe und die um die Hüften gewickelte rote Sportjacke zitieren das Carmen-Kostüm. Sie ist unterwegs zu einer Chorprobe. In Khayelitsha wird eine Aufführung der Oper Carmen vorbereitet. Stargast wird Lumalile Nkomo, ein in Khayelitsha geborener Opernsänger, sein. Er ist ein international gefeierter Interpret des Toreros Escamillo, aber noch probt der Chor ohne ihn. Die Transformation vom Torero zum Sänger bietet sich deswegen an, weil die

73

Interview mit Dornford-May auf der DVD zum Film.

74

Biccari, in: MFA + FilmDistribution 2005: S. 10.

75

Hazelwood, in: MFA + FilmDistribution 2005: S. 9.

76

So sind im finalen Duett mit Chor („C’est toi? C’est moi!“) die Geräusche der nahen Autobahn zu hören. Häufig erklingt auch südafrikanische Musik.

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Konstellation Arena/Torero Analogien zur Konstellation Bühne/Sänger aufweist.77 In dem Arbeitsraum der Zigarettenfabrik, in der Carmen arbeitet, steht ein Fernseher. Aus Anlass der Ankunft des Opernsängers Lumalile in Südafrika wird eine Aufzeichnung der berühmten Arie des Toreros ausgestrahlt. Escamillo steht in voller Montur auf einer Opernbühne. Mit diesem Kniff kann Dornford-May alle Ingredienzien zitieren, die für das Faszinosum Oper konstitutiv sind: Die große Bühne, der tosende Applaus, die tiefe Verbeugung. Das Motiv vom Töten des Stiers platziert Dornford-May jedoch auf der Spielebene, die der Film als Realität postuliert. Dadurch, dass der Regisseur die dramaturgische Position des Toreros mit einem international agierenden Opernstar besetzt hat, kann er das Thema Migration streifen: Weil er häufig von seinem verstorbenen Vater geträumt hat, will der Opernsänger zu seinem Andenken in Khayelitsha einen Stier opfern. Auf der Fahrt in die Township tauchen vor Lumaliles innerem Auge Bilder aus seiner frühen Kindheit auf. Mit diesen Rückblenden öffnet sich eine Perspektive auf die Geschichte Südafrikas, die Dornford-May aber nur durch Bruchstücke evoziert: Schwarze Polizisten haben den Vater und die Mutter von Lumalile getötet. Sein Großvater legt dem kleinen Jungen noch eine Perlenkette um den Hals, dann wird er der Obhut eines weißen Pfarrers übergeben. Der Zuschauer erkennt ihn als Student einer Musikhochschule in New York wieder, weil er nun die Kette seines Großvaters am Handgelenk trägt. Dornford-May kommt vom Theater, und er versteht es, mit verschiedenen Spielmodi zu jonglieren. Er arrangiert ein Terzett dreier Militärs in Opernmanier und steigert so die Komik einer musikalischen Einlage, in der er die Schönheit eines wohlgeformten Frauenpopos besingen lässt – die Librettisten der Oper hatten Ähnliches gemeint, sich aber dezenter ausgedrückt. Wenn die Arbeiterinnen die XhosaVersion von „La cloche a sonné“ singen, überführt Dornford-May das Arrangement des Chors gleitend von einem operntypischen Tableau in einen afrikanischen Tanz. Immer wieder gelingt es ihm, im Alltag von Khayelitsha große Gesten aufzuspüren, etwa wenn die Alten den heimkehrenden Opernsänger begrüßen und die ganze Last südafrikanischer Geschichte dabei mitschwingt. Zwischen drei Stühlen Da sich Dornford-May für die Musik Bizets entschieden hat, muss er sich innerhalb der Koordinaten bewegen, die das Libretto vorgibt, dennoch schafft er es, die farblose Rolle des José zu profilieren. Wie Ramaka inszeniert er einen Antagonismus

77

Preminger hat aus dem Torero einen Boxer gemacht. Hier ersetzt der Boxring die Arena. Sowohl einen Boxer als auch einen Opernstar kann man kamerawirksam als attraktiven Konkurrenten inszenieren.

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von Kontrolle und Freiheitsliebe, aber darüber hinaus macht Dornford-May einen Konflikt fruchtbar, der nur in der Novelle angelegt ist: Mérimée betont immer wieder, dass der aus dem Baskenland stammende José in Andalusien ein Fremder ist, und Dornford-May akzentuiert die Herkunft seines Pendants zu José ebenfalls. Jongikhaya kommt vom Land. Damit eröffnet sich für Dornford-May die Möglichkeit, eine Reihe von Themen anzureißen, die im südafrikanischen Kontext relevant sind. Jongikhaya muss drei nicht kompatiblen Wertesystemen genügen: dem seiner provinziellen Familie, dem des Militärs und dem subkulturellen, in dem sich Carmen bewegt – aus den Räubern sind hier Dealer geworden.78 Einer der Dealer lässt locker einige Pillen auf einen Billardtisch rollen. Die Umstehenden, unter ihnen Carmen, stürzen sich gierig darauf. Jongikhayas streng christliche Erziehung steht in hartem Kontrast zur Freizügigkeit Carmens, aber gerade deswegen ist diese Frau für ihn so attraktiv. Wie der José der Novelle ist Jongikhaya schon vor seiner Begegnung mit Carmen in Konflikt mit dem Gesetz geraten. Eine kurze Einstellung zeigt einen Pfarrer, der den Ehebruch als Sünde brandmarkt, und dann erfährt der Zuschauer, warum Jongikhaya zur Armee musste: Er hatte sich der Frau seines Bruders in unerlaubter Weise genähert, und als es zum Streit gekommen war, hatte er den Bruder ins Wasser gestoßen. Der Mord sieht zwar wie ein Unfall aus, aber Jongikhayas Mutter weiß um die Schuld ihres Sohnes und schickt ihn weg. Kurz vor ihrem Tod verzeiht sie ihm und bestimmt, dass er die Witwe seines Bruders heiraten soll. Jongikhaya kehrt zurück und sieht sich mit der Leiche der Frau konfrontiert, der er Gehorsam schuldet, daneben sitzt die Frau, mit der er nun sein Leben verbringen soll, weil er für sie verantwortlich ist. Die Hühner gackern, und die Fliegen surren ... Jongikhayas Obsession für Carmen erscheint in der südafrikanischen Bearbeitung des Stoffes nicht zuletzt als eine Flucht aus der Enge seines Heimatdorfes. Jongikhaya geht zurück in die Stadt und beraubt damit seine Verlobte Nomakhaya jeglicher Perspektive. Dornford-May zeigt Nomakhaya als eine etwas linkische Frau im weißen Rollkragenpullover. Doch die Rolle der Verlobten bekommt eine tragische Dimension, wenn die völlig unbedarfte junge Frau aus der Provinz in der nächtlichen Township vergeblich nach Jongikhaya sucht. Der Hiatus zwischen Stadt und Land tritt in dieser Szene in aller Schärfe hervor. Beim Militär sieht sich Jongikhaya ebenfalls in einer strikten hierarchischen Struktur gefangen. Sein Vorgesetzter Kapitän Gantana (das Pendant zum Leutnant Zuniga der Oper) scheut sich nicht, seine Macht zu missbrauchen, um Carmen sexuell gefügig zu machen. Dem Darsteller Zamile Christopher Gantana gelingt es, die verschiedenen Facetten dieses Machtmissbrauchs eindrucksvoll aufzufächern.

78

Es ist bemerkenswert, dass die Drogenproblematik in allen Filmen, die hier Gegenstand der Untersuchung sind, außen vor bleibt, nur in den beiden südafrikanischen Filmen nicht. In A WALK IN THE NIGHT wird zudem noch der Alkoholismus thematisiert.

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Der Vorgesetzte erscheint in seiner Darstellung erst als ein sich für omnipotent haltender Machtmensch, dann als ein gedemütigter Sadist. Die Bassstimme der Bizetschen Komposition, die eigentlich als Nebenrolle an der Peripherie steht, gewinnt in dieser Inszenierung Kontur. Jongikhaya erschießt Kapitän Gantana und katapultiert sich damit endgültig in die Illegalität. Doch auch unter den Dealern bleibt er ein Fremder. Jongikhayas Frustration entlädt sich an Carmen, die er eifersüchtig überwacht und die er schlägt, als er merkt, dass sie sich ihm immer mehr entzieht. Der Carmen-Kosmos Carmen sei eine „popular female icon“, konstatiert Dornford-May, bei der Inszenierung dieser Frauenrolle habe ihn aber weniger interessiert, was Carmen den Männern antut, als was diese ihr antun, in dem sie ihre Phantasien auf sie projizieren.79 In einer Szene hat er diese Sicht auf die Rolle besonders deutlich in Szene gesetzt. An den vergitterten Fenstern der Zigarettenfabrik hängt eine Männermeute, die im Chor ihr Verlangen nach Carmen besingt, aber die so Umworbene trinkt ihren Café, ohne auf die Männer zu achten. Eine psychologische Studie: Carmen weiß um den Hiatus zwischen ihrer Befindlichkeit und dem Bild, das sich die Männer von ihr machen. Trotz der auf sie gerichteten Begehrlichkeit ist sie isoliert. Jongikhaya hingegen reizt Carmen, weil er in der Bibel liest, statt sich für sie zu interessieren. Mit einer Rose zielt sie wie mit einem Speer auf ihr Opfer, den jungen Mann vom Land. Eine große theatrale Geste, die Dornford-May durch den Einsatz von Zeitlupe der Realität entrückt, aber er konterkariert das Artifizielle dieser Passage mit einem trockenen Verweis auf ein reales Problem. Eine neidische Arbeiterin überreicht Jongikhaya ein Kondom: „Wenn du sie willst, nimm lieber das!“ Die Interpretation der Titelrolle zeichnet sich in der südafrikanischen Bearbeitung des Carmen-Stoffs durch virtuoses Changieren zwischen verschiedenen Modi der Darstellung aus. Von einem Schnitt zum anderen wechselt Pauline Malefane das Register. Sie agiert gleichermaßen als Bewohnerin einer Township und als Operndiva. In der ersten Kameraeinstellung stellt sie ihr Gesicht als unbewegte Projektionsfläche zur Verfügung. Ein Purismus der Darstellung, der auf die mythische Dimension der Carmen-Rolle verweist. Dann wieder ist sie eine auf das Maß der Alltäglichkeit reduzierte Arbeiterin einer Zigarettenfabrik, die sich wütend auf eine Kollegin wirft. Manchmal gehen Alltäglichkeit und opernhafte Überhöhung fließend ineinander über, manchmal stehen sie in scharfem Kontrast: Die Kamera zeigt das Eingangstor zum Vergnügungspark Monwabisi, es ist Nacht. Ein Auto kommt an. Die Dealer steigen aus, und Carmen erscheint in einer Gruppe von

79

Interview mit Dornford-May auf der DVD zum Film.

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Freundinnen. Was der hellsichtige Sangoma zu ihren Aussichten in Sachen Liebe gesagt habe, wollen die anderen von ihr wissen, aber Carmen löst sich aus der Gruppe. Ihr Blick ist nach innen gerichtet. Es folgt eine Rückblende: Carmen sitzt mit dem Sangoma am Boden einer Hütte. Sie reicht ihm einen Ring, den ihr Jongikhaya geschenkt hat. Der Sangoma wirft die Knochen und reicht Carmen einen Spiegel. Carmen blickt sich selbst in die Augen und ist plötzlich mit ihrer eigenen Vergänglichkeit konfrontiert. Nun spielt Dornford-May die sogenannte Kartenarie ein, in der Carmen ihre Todesahnung formuliert. Malefane gibt nicht vor, „on“ zu singen, aber auf ihrem Gesicht zeichnet sich der Nachvollzug der verschieden Phrasen der Arie ab. Pathos ist heute nur noch auf Opernbühnen erlaubt. Dort wird die emotionale Höhe, auf der sich die Akteure bewegen, von der Musik getragen. Dornford-May verlegt die „große Oper“ in eine Wellblechhütte und behauptet damit die Universalität „großer Gefühle“. Ein Schnitt: Carmen ist wieder bei ihren Freundinnen und geht in strammen Jeans auf Männerfang. Die Frauen sollen die Küstenwache ablenken, damit die Dealer freie Bahn haben. Jongikhaya passt das Leben nicht, das Carmen führt, und er lauert ihr auf. Am Ende des Films wechselt Dornford-May wieder von der ersten zur zweiten Spielebene. Das erlaubt ihm, die wesentlichen Elemente des Opernfinales beizubehalten. Trotz aller Warnungen besteht Carmen darauf, bei der bevorstehenden Premiere an der Seite des Opernstars Lumalile mitzusingen. In einer großen Halle wartet bereits das Publikum von Khayelitsha. Carmen erscheint in dem Kostüm, das sie bereits am Anfang des Films im Fotostudio getragen hatte. Kurz vor ihrem Auftritt bemerkt sie Jongikhaya, der ihr im Publikum auflauert. Die Stierkämpfer treten auf. Die Oper zeigt die Corrida nicht, sie zitiert nur einzelne Elemente, aber die Evokation des blutigen Stierkampfes ist das virtuose Vorspiel zum dramatischen Finale, das Bizet bis zum Ende grandios „durchorchestriert“ hat. Jongikhaya ersticht Carmen. Jetzt flattert wie am Anfang ein rotes Band über die Leinwand. Die Kamera fährt zurück, und der Zuschauer erkennt, dass mit diesem Band schon der Tatort abgesperrt wurde, Carmens Leiche ist bereits mit einer roten Plastikplane bedeckt. Die Oper ist zu Ende, nur noch Wind und Geräusche von Wasser sind hörbar, und die Kamera nimmt die Township Khayelitsha aus der Vogelperspektive in den Blick.

6.3 I KONISIERUNGEN Im Jahre 2005 erschien bei L’ Harmattan ein Buch mit dem Titel „Afrique 50. Singularités d’un cinéma au pluriel“.80 Die Behauptung, dass afrikanische Filme einer-

80

Ruelle (Hg.) 2005.

L OKALISIERUNGEN

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seits sehr verschieden sind und andererseits bestimmte Alleinstellungsmerkmale aufweisen, lässt sich im Blick auf KARMEN und U-CARMEN EKHAYELITSHA einmal mehr belegen. Bei einer vergleichenden Betrachtung fallen zunächst einmal die Unterschiede ins Auge. Polemisierend könnte man die Differenz zwischen KARMEN und U-CARMEN so fassen: Der senegalesische Film steht in der Tradition hermetischer, filmästhetisch anspruchsvoller, französischer Autorenfilme; der südafrikanische Film ist ein Musical-Film in der Tradition von CARMEN JONES und WEST SIDE STORY.81 Besteht die Gemeinsamkeit dieser beiden Filme also darin, dass sie gar keine afrikanischen Filme sind? Maasilta klassifiziert KARMEN als „transnational diasporic cinema“82 und verweist auf die „deterritorialized location of the filmmaker.“83 Ramaka hat seine Ausbildung in Europa absolviert und bewegt sich seither immer wieder zwischen den Kontinenten. Ein großer Teil des Teams von UCARMEN EKHAYELITSHA kommt aus Europa, also wäre auch dieser Film in der Kategorie „transnational cinema“ zu verorten. Wie der Blick in die südafrikanischen Kritiken gezeigt hat, stellen aber viele Rezensenten die nationale Bedeutung dieser Bearbeitung des Carmen-Stoffs heraus.84 Soll man den südafrikanischen Fans „ihren“ Film wegnehmen? Einige senegalesische Kritiker von Ramakas filmischer Bearbeitung wiederum geben dem Regisseur den Rat, in den Westen zu gehen, und stigmatisieren KARMEN als fremd.85 Dovey ist anderer Meinung. Sie schreibt, dass Ramaka den Carmen-Stoff nationalisiert habe und geht so weit zu behaupten, dass sogar die Körper der weiblichen Darstellerinnen durch den „senegalesischen“ Tanz „nationalisiert“ würden.86 Mit welchem Adjektiv soll man die beiden Carmen-Bearbeitungen versehen? Südafrikanisch, senegalesisch, einfach nur afrikanisch oder transnational? Der Versuch, hier terminologische Klarheit zu schaffen ist unfruchtbar. Festzuhalten bleibt, dass sich wie in vielen afrikanischen Filmen auch hier eine doppelte Adressierung nachweisen lässt und dass diese Strategie als eine der vielen „Singularités“ des afrikanischen Kinos gelten kann. Ramaka und Dornford-May haben sich intensiv bemüht, einen Kontext zu schaffen, in dem ihre Filme ein möglichst großes afrikanisches Publikum erreichen können. Gleichzeitig lässt sich an-

81

WEST SIDE STORY, USA 1961, R.: Robert Wise und Jerome Robbins.

82

Maasilta 2007: S. 83ff.

83

Maasilta 2007: S. 25.

84

Vgl. Teil II, Kap. 6.2, S. 227f.

85

Vgl. La Rochelle 2002: S. 46. Maasilta (2007) thematisiert diese Problematik sehr ausführlich.

86

Dovey (2009: S. 24) schreibt: „If one takes into account that the dance performed in the opening sequence, in which the women move their pelvises in a provocative way [...] is a specific and typical Senegalese dance, the sequence takes on a new significance. The bodies, in this reading, become nationalized [...].“

236 | S CHWARZ BESETZT

hand der Konzeption ihrer Filme nachweisen, dass sie mit ihren Versionen der Carmen nicht nur die afrikanischen Zuschauer „verführen“ wollen, sondern auch das westliche Festivalpublikum. Die beiden Filme erschienen relativ kurz hintereinander. Es stellt sich mithin die Frage, warum derselbe Stoff gleich zwei Regisseuren geeignet erschien, um eine doppelte Adressierung zu konzeptualisieren. Ramaka und Dornford-May zeigen das Land, in dem sie gedreht haben, als eines, das all das zu bieten hat, was das Spanien, das Mérimée seinen Lesern präsentierte, so attraktiv „anders“ gemacht hatte: buntes Ambiente, erotisierender Tanz, geheimnisvolle Rituale. Beide Filme lenken den Blick auf Lokalspezifisches, das in den Repräsentationen als im positiven Sinne „besonders“ erscheint. Die doppelte Adressierung lässt sich insbesondere an der Konzeption der Carmen-Figur erkennen: Die Regisseure setzen ihre Musikalität und ihre Sinnlichkeit in Szene. Diese positiv konnotierten Eigenschaften werden sowohl Zigeunern als auch Afrikanern zugeschrieben. Nicht die Probleme, die ein Differenzkonstrukt mit sich bringt, stehen hier im Vordergrund, sondern das verführerische Potential, das die Behauptung von Differenz haben kann. Die Aufwertung der behaupteten Differenz soll Nicht-Afrikaner und Afrikaner gleichermaßen überzeugen. Die einen sollen Carmen bewundern, die anderen stolz auf sie sein. So ganz ist das nicht gelungen. Die senegalesische Zeitschrift Le Matin notiert: „Et c’est là où il est déplacé de parler d’hommage à la femme africaine, car celle-ci ne saurait se réduire à des paires des fesses, des gorges passablement flétries et à des jambes interminables et toujours écartées.“87 Auch die südafrikanische Carmen schwenkt ausgiebig ihren Hintern, und tatsächlich könnte sich der Verdacht aufdrängen, dass Ramaka und Dornford-May den „positiven“ Rassismus in Mérimées Vorlage nicht dekonstruieren, sondern nur umwidmen. Auf der Internetseite zum Film KARMEN steht ein Text zur Darstellerin der Titelfigur: „Elle est jeune, belle, grande, élégante, et d’une noirceur naturelle recherchée. Jeïnaba Diop Gaï, tel est son nom, est une vraie sirène. Ses yeux sont brillants, son nez est magnifiquement sculpté comme une statue africaine. Il fallait bien une gazelle comme Jeïnaba Diop Gaï pour bien faire ressortir le caractère de Karmen dans le film.“88

Man mag diese sterotypisierende Beschreibung der Vorzüge von Jeïnaba Diop Gaï kritisch betrachten. Fakt ist aber, dass auch heute noch viele Afrikanerinnen ein Problem mit ihrer „noirceur naturelle“ haben, und das treibt sie dazu, zu gesundheitsschädlichen Aufhellern zu greifen. Das Anliegen, die Schönheit schwarzer

87

Le Matin, 23.7.2001, zitiert nach Maasilta 2007: S. 247.

88

Karmen [Internetseite zum Film]. Da sich dieser Text auch in dem Material befindet, das mir Ramaka freundlicherweise zugesandt hat, gehe ich nicht davon aus, dass er sich von dieser Beschreibung distanziert.

L OKALISIERUNGEN

| 237

Frauen mit allen zu Gebote stehenden Mitteln herauszustellen, ist also durchaus nachvollziehbar und respektabel. Mithilfe von Kamera, Beleuchtung und Kadrierung konterkarieren Ramaka und Dornford-May die Behauptung von Mérimée, dass schwarze Haut hässlich sei. Außerdem erkunden die beiden afrikanischen Hauptdarstellerinnen ein Gefühlspektrum, das die Carmen der Novelle Schwarzen generell abgesprochen hatte, ein sich über alle Restriktionen erhebendes Bedürfnis nach Freiheit. Wenn ein Regisseur eine Darstellerin als Carmen besetzt, behauptet er zweierlei: Diese Frau ist attraktiv, und sie hat das Zeug zum Star. Das afrikanische Autorenkino hatte zuvor nicht auf Stars gesetzt.89 Eine Konzession an den Mainstream? Der Versuch, das afrikanische Autorenkino populärer zu machen? Fest steht, dass sich die Vermarktungsstrategie dieser beiden Filme signifikant von der anderer afrikanischer Autorenfilme unterscheidet. Dornford-May und Ramaka haben von den Werbestrategen Hollywoods gelernt. Der Name der Hauptdarstellerinnen steht exponiert auf dem Plakaten, auf dem senegalesischen ist auch ein Beauty-Shot90 von Jeïnaba Diop Gaï zu sehen. Mit ihren filmischen Bearbeitungen des Carmen-Stoffs etablieren Ramaka und Dornford-May eine Senegalesin und eine Südafrikanerin als Heldinnen. So klare Identifikationsangebote gibt es im afrikanischen Autorenfilm eher selten. Dornford-May hat Carmen treffend als „popular female icon“ bezeichnet. Carmen ist eine Frauenrolle, die sich wie kaum eine andere zur Ikonifizierung einer Darstellerin eignet.

89

Vgl. Barlet 1996: S. 223-228. Die Nollywood-Produzenten dagegen setzen auf Stars. Ihre Filme werden gekauft, weil ein bestimmter Darsteller mitspielt. Vgl. Teil III, Kap. 10.2 IBRO SADDAM, S. 350.

90

Abbildungen, die äußerliche Vorzüge eines Darstellers herausstellen, heißen in der Branche Beauty-Shots.

7.

Spielräume

Wenn sich Schauspieler zuzischeln: „Unbewältigtes wird gestrichen“, meinen sie damit, dass der Regisseur sich nicht gründlich genug mit einem Stück auseinandergesetzt hat und Veränderungen vornimmt, ohne zu wissen, was er tut. Der Witz kommuniziert, dass eine intensive Beschäftigung mit dem Stoff Voraussetzung für eine überzeugende Modifikation ist. Schaut man sich ältere Fotos von Theateraufführungen des Othello an, so sieht man meist einen schwarz geschminkten Weißen, der sich mit grimmigem Gesicht auf eine ätherische Blonde stürzt, die so weiß ist, als habe man sie mit Weizenmehl abgepudert. Der nigerianische Regisseur Tunde Kelani hat die Verwicklungen um den Mohr von Venedig aufgegriffen, aber die Konfrontation von Schwarz und Weiß fehlt in seinem im Jahre 2000 erschienenen Videofilm THUNDERBOLT.1 Kelani konfrontiert Yoruba und Igbo, der ethnische Konflikt schien ihm im aktuellen nigerianischen Kontext der relevantere zu sein. Den Vorwurf, dass er Unbewältigtes gestrichen habe, kann man Kelani nicht machen, im Gegenteil. Es ist völlig überflüssig, Othello mit schwarzer Farbe zu bepinseln, denn es geht in diesem Stück nicht um Hautfarben, sondern um Machtkonstellationen. Deswegen bemerkte der Theaterwissenschaftler Friedemann Kreuder treffend, dass die Behauptung, nur ein schwarzer Schauspieler könne Othello spielen, rassistisch sei.2 Wie Traoré und Mambéty geht Kelani mit seiner Entscheidung für das Stück von der Prämisse aus, dass die Situation, auf die sich Shakespeare be-

1

THUNDERBOLT, Nigeria 2000, R.: Tunde Kelani. Die Entscheidung gegen eine ausführliche Analyse dieses Films fiel mir schwer. LAMBAAYE und HYÈNES erschienen mir wegen des diachronen Vergleichs unverzichtbar. Lange habe ich überlegt, ob ich einen der beiden Carmen-Filme weglasse, aber dann hätte ich nicht zwei afrikanische Bearbeitungen desselben Stoffs vergleichen können. Auch A WALK IN THE NIGHT wollte ich auf jeden Fall behandeln, weil sonst außer U-CARMEN EKHAYELITSHA nur westafrikanische Filme Gegenstand der Analyse gewesen wären.

2

Kreuder 2010 in einer Diskussion im Anschluss an eine Präsentation des Themas meiner Dissertation.

240 | S CHWARZ BESETZT

zieht, Analogien zu der lokalen Situation aufweist, in der er seinen Film ansiedeln will. Kelani setzt das „Gesellschaftsmodell“, das Shakespeare entworfen hat, in Nigeria in Szene, weil er der Ansicht ist, dass er die im Othello vorgeschlagenen Machtspiele auch dort glaubwürdig durchspielen kann. Die Möglichkeiten der Inszenierung von Machtkonstellation sind unbegrenzt, und Kelani hat sich entschieden, lediglich einige Konstituenten der dramaturgischen Konstruktion Shakespeares zu übernehmen. Dube hat die Konflikte des Hamlet nur zitiert – Traoré und Mambéty haben den Revisor und den Besuch der alten Dame inszeniert. Biodun Jeyifo ist heute in Harvard Professor am Department of African and African American Studies. Früher hat er in Nigeria Regie geführt. Da sich Jeyifo wie ich für Brecht begeistern kann, kamen wir auf den Erfolg dieses Autors in Afrika zu sprechen.3 Jeyifo selbst hatte vor vielen Jahren Brechts Herr Puntila und sein Knecht Matti inszeniert. Als ich Mutmaßungen darüber anstellte, warum er ausgerechnet dieses Stück gewählt habe, lachte er mich aus und sagte: „Its a good play! The roles are great! That’s all!“ Ganz ähnlich argumentiert Maurice Sonar Senghor in der Vorbemerkung zu Pots-de-vin. Noch bevor er auf die Relevanz des Revisor im afrikanischen Kontext zu sprechen kommt,4 begründet er seine Entscheidung, die Gogolsche Komödie für die senegalesische Bühne zu bearbeiten, folgendermaßen: „L’auteur [...] présente ici une tentative d’essai destinée à fournir à l’acteur avide de jouer la matière indispensable à l’accomplissement de son art.“5 Die in Theaterkreisen häufig geäußerte flapsige Bemerkung „das Stück ist nicht totzukriegen“ bezieht sich auf Theatertexte, die quasi in jeder Inszenierung eine Wirkung entfalten. Man könnte die Redewendung auch auf Stücke beziehen, die sich auf sehr verschiedene Kontexte übertragen lassen und immer wieder aufs Neue faszinieren. Hamlet ist so ein Stück. Was Kott über die Tragödie schreibt, kann als Paraphrase formuliert, auch zur Beschreibung der Hamlet-Rolle dienen: Hamlet ist wie ein Schwamm, eine Rolle, die jede Gegenwart in sich aufsaugt, die wegen ihrer Porosität und offenen Stellen fast jede Freiheit lässt.6 Aber nur fast jede Freiheit, denn es scheint auf den ersten Blick zwingend, dass ein Mann die Rolle des Hamlet spielt. Müller bemerkt: „Ein vor allem in feministischen Beiträgen vieldiskutierter Aspekt der Darstellung Hamlets ist dessen mehrmals massiv hervortretende Misogynie [...]“, denn Hamlet generalisiere „Schwäche, Treulosigkeit und Triebhaftig-

3

Wie viele andere Gespräche, auf die ich verweise, führte ich auch dieses auf der bereits

4

Vgl.: Teil II, Kap. 5.1, S. 158.

erwähnten Konferenz „Nollywood and Beyond“. 5

Senghor M. 1965: [Keine Seitenzahl].

6

Vgl. Kott [1965] 1970: S. 78.

S PIELRÄUME

| 241

keit zu distinktiven Merkmalen aller Frauen“.7 Hamlets Ausruf „Schwachheit, dein Nam’ ist Weib“8 ist zwar sprichwörtlich geworden, aber viele namhafte Schauspielerinnen haben das Gegenteil bewiesen. Sie haben sich dieser berühmtesten aller Theaterrollen bemächtigt: Immer wieder haben Frauen Hamlet gespielt. Wissenschaftler wie Tony Howard und Thomas Koebner haben diesem Phänomen Studien gewidmet,9 und es verdient auch hier einige Aufmerksamkeit, denn es handelt sich wie bei der Übernahme weißer Rollen im afrikanischen Film um die Dekonstruktion einer Besetzungskonvention. Auch Kuhlbrodt schildert eine solche Transgression, wenn er konstatiert, dass Dornford-May ausschließlich dicke Darsteller besetzt habe: Zunächst hatte der Filmkritiker gestutzt, dann war er begeistert.10 Ich war ebenfalls verblüfft, als ich vor etwa 20 Jahren Ursula Höpfner als Hamlet in einer Inszenierung von George Tabori gesehen habe. Nachhaltigen Eindruck hat auf mich die Szene gemacht, in der Hamlet seine Mutter mit ihrer Treulosigkeit konfrontiert.11 Höpfner spielte mit nacktem Oberkörper, aber ich hätte dem deutlich sichtbaren sekundären Geschlechtsmerkmal „Busen“ in dieser Szene wohl kaum das Adjektiv „weiblich“ zugeordnet, wohl aber das Adjektiv „erotisch“. Tatsächlich werden in der Konfrontation zwischen Hamlet und seiner Mutter auch unterschwellige inzestuöse Verstrickungen verhandelt,12 aber die Erotik war in der Inszenierung von Tabori nicht mehr an Genderrollen gekoppelt, denn auch das Adjektiv „lesbisch“ war mir nicht in den Sinn gekommen. Man kann die weiblichen Darstellungen der Hamlet-Figur als Subversionen der „frauenfeindlichen“ Äußerungen Hamlets betrachten. Die Frage, was die Schauspielerinnen veranlasst hat, diese Rolle zu übernehmen, ist damit allerdings nur unzureichend beantwortet. In der ersten filmischen Bearbeitung der Shakespeareschen Tragödie spielte Sarah Bernhardt die Rolle des Hamlet.13 Die große Schauspielerin konnte hier einmal mehr ihr Können unter Beweis stellen, denn die Rolle weist Facetten auf, die im Repertoire der Frauenrollen fehlen. Es gibt Rollen, die Schauspieler herausfordern, umso mehr ärgert es sie, wenn sie dann durch obsolete Restriktionen daran gehindert werden, diese Rollen zu spielen.

7

Müller, in: Shakespeare [ca. 1602] 2006: S. 49. Die Genderproblematik stellt sich in Hamlet weit differenzierter dar, als ich es hier auszuführen vermag. Vgl. dazu: Müller, in: Shakespeare [ca. 1602] 2006: S. 49-56.

8

„frailty, thy name is woman“ Hamlet I.2, 146.

9

Howard 2007; Koebner 1997b: S.125-132.

10

Kuhlbrodt 2005.

11

Hamlet I.2.

12

Zumindest ist diese Interpretation in jüngerer Zeit wiederholt inszeniert worden, so

13

DUEL DE HAMLET (LE), Frankreich 1900, R: Clément Maurice.

auch von Tabori.

242 | S CHWARZ BESETZT

Auch Dorothy Dandridge hat sich geärgert, denn wie bereits erwähnt, durfte CARMEN JONES, der Film, in dem sie die Hauptrolle spielt, nicht in Frankreich gezeigt werden. Er war mithin 1955 auch nicht bei den Filmfestspielen in Cannes zugelassen. Der renommierte Filmkritiker François Chalais berichtet im Rahmen eines Fernsehbeitrags von besagtem Festival.14 Die Kamera verweilt kurz bei Berühmtheiten wie Bernard Blier, Jean Gabin und Stanley Kramer. Doch dann verkündet Chalais, dass vor dem Palais de Festival eine Bombe explodiert sei. Vor dem Gebäude steht aber nur eine attraktive schwarze Frau. Ein Close-Up: Die Schöne wirft mit trotzigem Stolz den Kopf zurück und geht gelassen hinunter zum Meer – Dorothy Dandridge hat sich drei Minuten des kaum sechs Minuten langen Fernsehberichts erobert. Die Produzenten dieses Beitrags haben sich zwar entschieden, Dandridges Auftritt in Cannes mit Jazz-Musik zu unterlegen, aber die Unverschämtheit ihres Auftretens, ihre Gesten und ihre provozierend ausgestellte Erotik evozieren das Bild einer Carmen. Dandridges beeindruckende Performanz hat eine klare Botschaft: Ich darf hier zwar nicht zeigen, wie ich Carmen gespielt habe, aber ich beweise Euch, dass ich Carmen spielen kann. Der Filmkritiker Chalais hat mitgespielt, er hat sich von Dandridge verführen lassen. Hamlet sei einer „der wenigen literarischen Helden [...], die unabhängig vom Text, unabhängig vom Theater leben“, bemerkt Kott.15 Es genügt, die beiden Wörter „Sein oder ...“ in den Raum zu stellen, schon ist Hamlet evoziert. Ganz ähnlich verhält es sich mit Carmen. Der Coup von Dandridge konnte nur deshalb gelingen, weil die Carmen-Rolle so bekannt ist, dass wenige Konstituenten genügen, um sie neu zu kontextualisieren. Die schwarze Darstellerin hat den Rahmen der Carmen-Rolle benutzt, um sich als Star in Szene zu setzen, und das konnte ihr wegen der großen Bekanntheit dieser Rolle mit einigen wenigen Andeutungen auch auf der Treppe des Festivalpalasts gelingen. CARMEN JONES ist eine Hollywood-Produktion, aber Carmen bekam etwas gewährt, was die Hollywood-Produzenten dem Protagonisten von Dürrenmatts Der Besuch der alten Dame versagt haben: Carmen durfte sterben, er nicht. „Le Happy End s’impose“, hat der Regisseur Jean-Pierre Bekolo einmal sarkastisch bemerkt.16 Recht hat er: In Hollywood hat sogar Dürrenmatts Ill den Besuch der alten Dame überlebt. Die Helden Hollywoods sind (meist) nicht nur als Identifikationsfiguren konzipiert, sondern auch als Sieger. Bei der nun folgenden Untersuchung von Übernahmen weißer Filmrollen stehen also Rollen im Zentrum des Interesses, die sich nicht nur deswegen von den Theaterrollen unterscheiden, weil sie von andern

14

Derniers Moments du Festival 1955. Reflets de Cannes, [Fernsehbericht] von François Chalais, 11.05.1955.

15

Kott [1965] 1970: S. 72.

16

Bekolo als Off-Stimme in LE COMPLOT D’ARISTOTE.

S PIELRÄUME

| 243

Medien vermittelt wurden, auch die Konzeption dieser Rollen weist signifikante Differenzen zu den bisher behandelten auf.

Teil III Die Besetzung weißer Filmrollen

In Le Cinéma et ses merveilles schrieb Roland Villiers 1930: „Parti modestement de la salle en sous-sol du Grand Café, le cinéma a conquis le monde.“1 Das war im Jahre 1895 in Paris – kurz darauf fanden die ersten Filmvorführungen in Afrika statt. „Le cinéma est arrivé en Afrique occidentale vers 1900“, schreibt Ousmane Sembène: „Pour les ,colons‘ de cette époque-là, c’est de la fascination. Une fête foraine. Pour les africains, une diablerie ... puissance de l’homme blanc.“2 Das neue Medium ist eine neue Macht, so weit sind sich beide Autoren einig, aber Villiers feiert die bewegten Bilder als Fortschritt, wohingegen Sembène problematisiert, dass die technische Innovation in den Händen der Kolonialherren ist. Er selbst verdankt seine erste Begegnung mit dem Medium Film guten Schulnoten: „Fin des années 1920, début 1930. A peine sorti de l’Ecole Coranique – Le Daara, le hasard a fait que les habitations de mes parents se situaient toujours à côté d’une salle de cinéma à ciel ouvert. C’était l’époque des films muets. [...] Mon assitude au cinéma est due à mon père. A chaque bonne note scolaire [...] il me récompensait: ,Prends! Et va au cinéma.‘“3

Die bahnbrechende Erfindung der Gebrüder Lumière sorgte allenthalben für hitzige Diskussionen, denn nicht jeder begrüßte den Siegeszug des neuen Mediums so enthusiastisch wie Villiers. Der um die Jahrhundertwende in Mali geborene Schriftsteller und Ethnologe Amadou Hampâté Bâ erzählt, dass 1908 ein Weißer in sein Heimatdorf gekommen sei, um dort einen Film vorzuführen. Der französische Kommandant erschien auf dem Dorfplatz, doch obwohl es zur Kolonialzeit nicht leicht gewesen sei, „de gâter une affaire de ‚blanc‘“,4 waren die Dorfbewohner der Veranstaltung ferngeblieben. Der oberste Imam hatte zum Boykott der Veranstaltung aufgerufen und dies nach Rücksprache mit anderen religiösen Würdenträgern folgendermaßen begründet: „Nous avons conclu que l’attraction qu’on nous propose ne peut-être qu’une séduction satanique. Si elle n’en n’était pas une, on n’aurait pas choisi la nuit noire pour la présenter. Or, selon le dire du grand com-

1

Villiers [1930]: S. 123.

2

Sembène 2002: S. 44.

3

Sembène 2002: S. 44/45.

4

Hampâté Bâ [1967] 2005: S. 23. Ich habe diesen Bericht nicht als Schilderung einer realen Begebenheit, sondern als Statement zum Medium Film gelesen.

248 | S CHWARZ BESETZT

mandant, le spectacle se déroulera toutes lumières éteintes.“5 Die bewegten Bilder seien demzufolge Trugbilder, Irrlichter, welche die Gottesfürchtigen vom rechten Weg abbringen würden. Die Einschätzung des Imams blieb für Hampâté Bâs Mutter maßgeblich. Noch 1934 versuchte der Sohn vergeblich, sie zu einem Kinobesuch zu überreden, obwohl mittlerweile der Islamgelehrte Tierno Bokar in Erscheinung getreten war, der verkündet hatte, die Weisheit gebiete es, alles zu kennen, denn nur so sei man imstande, das Gute vom Schlechten zu unterscheiden.6 Es gelang Hampâté Bâ nur mittels einer List, seine Mutter ins Kino zu bekommen, doch danach bedankte sie sich bei ihm, weil er ihr ein tieferes Verständnis der Worte von Tierno Bokar ermöglicht hatte: „J’ai senti combien il est mauvais de refuser de voir, ne serait-ce que pour s’informer.“7 Die Darstellung der gegensätzlichen Positionen der beiden Imame, die Hampâté Bâ in seinem Bericht referiert, mag westlichen Lesern überspitzt erscheinen, aber der malische Ethnologe deduziert die beiden Pole, zwischen denen sich die Diskussion um das populäre Medium Film bewegt: Den der prinzipiellen Ablehnung und den der prinzipiellen Billigung. Auch im Westen lassen sich diesbezüglich extreme Standpunkte eruieren: Wie der Imam, der zum Boykott aufruft, steht Adorno den bewegten Bildern grundsätzlich ablehnend gegenüber. 1951 formuliert er in Minima Moralia den viel zitierten Satz: „Aus jedem Besuch des Kinos komme ich bei aller Wachsamkeit dümmer und schlechter wieder heraus“.8 In seinen „Reflexionen aus dem beschädigten Leben“9 konstatiert Adorno angesichts der Verführung durch die potentielle „Fülle der Konsumgüter“, zu denen er auch die Massenmedien zählt: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“10 Der Medientheoretiker Norbert Bolz vertritt eine Gegenposition: „Seit der Revolution der Pop Art kann man wissen: Gefühle haben ihre wahre Intensität nicht im Leben, sondern in den Medien und im Konsum.“11 Im Vergleich mit der Position des Imams Tierno Bokar ist hier eindeutig eine Radikalisierung feststellbar, denn Bolz schwebt ein „Imagineering“ im Sinne der Disney-Parks als Paradigma einer lebenswerten Welt vor.12 Auf der Rückseite des Umschlags seines Konsumistischen Manifest schreibt Bolz 2002:

5

Hampâté Bâ [1967] 2005: S. 23.

6

Vgl. Hampâté Bâ [1967] 2005: S. 27.

7

Hampâté Bâ [1967] 2005: S. 27.

8

Adorno [1951] 1969: S. 21.

9

Untertitel von Adornos Minima Moralia ([1951] 1969).

10

Adorno [1951] 1969: S. 42.

11

Bolz 2002: S. 108.

12

Bolz 2002: S. 109.

D IE B ESETZUNG WEISSER F ILMROLLEN

| 249

„Der Konsumismus ist das Immunsystem der Weltgesellschaft gegen den Virus der fanatischen Religionen.“13 Dass beide, Adorno und Bolz, das Schlagwort Konsum aufbringen und marktwirtschaftliche Fragen mit der Betrachtung der Wirkmächtigkeit von Bildern verknüpfen, kommt nicht von ungefähr: Bei der Produktion und Distribution von bewegten Bildern kommen wirtschaftliche Machtverhältnisse zum Tragen. Die ökonomische Hegemonie des Westens schlägt sich nicht zuletzt in einer Omnipräsenz weißer Helden in den bildgebenden Medien nieder. Dass damit auch eine Mediatisierung ideologischer Konstrukte verbunden ist, formulierte der Regisseur Abderramahne Sissako 2006 so: „Tarzan war nie ein Schwarzer. Das Bild wird immer in den Dienst des Stärksten gestellt.“14 Schon 1952 konstatierte Fanon in Peau noire, masques blancs: „Le jeune noir s’identifie de facto à Tarzan contre les nègres. [...] Le nègre sent qu’il n’est pas noir impunément.“15 Das Thema der Identifikation ist in der Debatte um den Film zentral – eine Antwort auf die Frage, warum es oft so hitzig diskutiert wird, findet Arjun Appadurai, wenn er in Modernity at Large. Cultural Dimensions of Globalization schreibt: „More persons in more parts of the world consider a wider set of possible lives than they ever did before. One important source of this change is the mass media, which present a rich everchanging store of possible lives some of which enter the lived imaginations of ordinary people more successfully than others.“16

Das Phänomen, das Appadurai beschreibt, ist älter als der Begriff der Globalisierung. Seit der Erfindung des Kinematographen vermittelt das Medium Film überall auf der Welt Vorstellungen von einem möglichen anderen Leben. „De Zanzibar à Brazzaville, de Johannesburg à Dakar, les premiers spectacles cinématographiques sont un succès“,17 notiert die Historikerin Odile Goerg. Die Rezeptionsbedingungen im kolonialen Afrika sind besonders im Hinblick auf den frühen afrikanischen Film von Interesse, denn bevor die Regisseure selbst Filme drehen konnten, waren sie

13

Diese abstruse These lässt sich schon mit dem Verweis auf den exzessiven Konsum von islamistischen Filmen, Devotionalien und Konsumgütern entkräften, auf denen das Konterfei von Bin Laden abgedruckt ist. Vgl. Krings 2009a: S. 31-55.

14

Sissako zitiert nach Ruggle 2006: S. 24. Matthias Krings verwies mich in diesem Zusammenhang auf den afrikanischen Tarzan „Fearless Fang“, den Helden eines Fotoromans, den die legendären Drum Publications in den 1960er-Jahren auf den Markt brachten.

15

Fanon [1952] 2007: S. 124, Fußnote 15 [Hervorhebung im Original].

16

Appadurai 1998: S. 53.

17

Goerg 2009: S. 202.

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mit der Filmauswahl ihrer Kolonialherren konfrontiert. In der Perspektive auf eine erzieherische Aufgabe, die das Kino erfüllen könnte, hatte man in den britischen Kolonien Afrikas zwar schon früh über eine speziell auf das afrikanische Publikum zugeschnittene Filmproduktion nachgedacht,18 aber ohne Resonanz: Das Bantu Educational Cinema Experiment produzierte von 1935 bis 1937 Filme über Hygiene und Landwirtschaft. Wesentlich mehr Anklang fanden allerdings Western und Chaplin-Filme, die ebenfalls gezeigt wurden.19 Die Anthropologin Hortense Powdermaker war die Erste, die sich für die Westernbegeisterung in den afrikanischen Kolonien interessierte. In Copper Town. Changing Africa untersucht sie die Rezeption des „amerikanischen Kinos par excellence“20 in Rhodesien.21 Die prägnante Alliteration „Copperbelt Cowboy“ steht heute für ein Rezeptionsphänomen in den afrikanischen Kolonien: die Identifikation der afrikanischen Zuschauer mit den weißen Westernhelden. Ambler ergänzt: „During the 1940s and 1950s, no visitor to the copper mining cities of colonial Northern Rhodesia (Zambia) in central Africa could escape the visible marks of the impact of American films.“22 Die britischen Zensoren präsentierten den afrikanischen Zuschauern allerdings häufig bis zur Unkenntlichkeit entstellte Filme. Während nämlich einige der kolonialen Potentaten den Filmkonsum als „healthy amusement“23 der städtischen Arbeiter ansahen, betrachteten andere ihn mit großer Sorge. In den britischen Kolonien gab es strenge Auflagen von Zensurbehörden. Der französischen Kolonialmacht gelang es nie, eine systematische Zensur zu etablieren.24 Doch nicht nur die Kolonialherren waren der Ansicht, dass die Identifikation mit weißen Kinohelden zu sozialen Verwerfungen führen könnte. Goerg weist darauf hin, dass die afrikanische Elite die Rezeption westlicher Filme in der Perspektive auf eine mögliche unmittelbar bevorstehende Unabhängigkeit ebenfalls sehr kontrovers diskutierte. Quezzin Coulibaly, der Vizepräsident des Conseil du Gouvernement de Haute-Volta, bekundet 1958:

18

Ambler (2001: S. 91) schreibt bezüglich solcher Pläne: „As early as 1932, the report of an investigation of conditions on the Copperbelt sponsored by the International Missionary Council waxed rapturous on the possibilities that Soviet media campaigns had demonstrated for Christian education and development through film.“

19 20

Burns 2002: S. 103-117; Ambler 2001: S. 81-105. Bazin [1953] 2004: S. 255. „Der Western – oder: Das amerikanische Kino par excellence“. Bazin [1953] 2004: S. 255-266.

21

Powdermaker 1962.

22

Ambler 2001: S. 81.

23

Ambler 2001: S. 91.

24

Goerg 2009: S. 201-221.

D IE B ESETZUNG WEISSER F ILMROLLEN

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„[…] la majorité [des films] sont des victoires du gangstérisme, du brigandage, des leçons de viol, d’assassinat et d’immoralité. Voilà ce qu’on montre à un public qui croit encore ce qu’il voit. Quel est le but d’un tel film dans un pays comme le nôtre? … sinon d’intoxiquer les consciences, de perturber la moralité.“25

Coulibaly geht von einem unmündigen Publikum aus, das es zu erziehen gelte. Wie er haben sich auch viele afrikanische Regisseure für das Rezeptionsverhalten afrikanischer Zuschauer interessiert. Es stellt sich die Frage, ob in ihren Filmen ein medienpädagogisches Anliegen nachweisbar ist. Da in den Kolonien insbesondere Western populär waren, setzten sich die Regisseure zunächst vor allem mit Cowboyrollen auseinander, zunehmend dann auch mit den Rollen amerikanischer Actionfilme und anderer Hollywood-Blockbuster. Die Inszenierungen ideologischer Konstrukte in westlichen Nachrichtensendungen sind ebenfalls Gegenstand ihrer Untersuchungen, und so sieht man im afrikanischen Film außer einem schwarzen Tony Blair auch einen schwarzen George W. Bush.

25

Zitiert nach Goerg 2009: S. 202.

8.

Schwarze Cowboys

Godards 1965 erschienener Film ALPHAVILLE1 hat Kultstatus, darüber ist beinahe in Vergessenheit geraten, dass nicht er die Figur des Lemmy Caution erfunden hat, sondern der britische Autor Peter Cheyney. Eddie Constantine, der zuvor in zahlreichen Filmen als Lemmy Caution aufgetreten war,2 ließ sich auf Godards Experiment ein und dekonstruierte eine Figur, die er zuvor selbst ikonisiert hatte.3 Wer den Film MOI, UN NOIR4 kennt, weiß, dass das Konzept von ALPHAVILLE, nämlich Lemmy Caution anders zu kontextualisieren und damit zu subvertieren, auf eine Idee afrikanischer Jugendlicher zurückgeht. Chris Darke notiert: „Godard was familiar with Constantine’s persona from his days as a film critic. He had observed with delight, how in Jean Rouch’s MOI, UN NOIR (1958), Lemmy Caution was revealed as a character available to be lifted and interpreted by others.“5 Im Vorspann zu diesem Film berichtet der Ethnologe Rouch, wie er bei den Dreharbeiten vorgegangen ist: „Pendant six semaines, j’ai suivi un petit groupe de jeunes immigrés nigériens à Treichville, un faubourg d’Abidjan [Côte d’Ivoire]. Je leur ai proposé de faire un film où ils joueraient leur propre rôle, où ils auraient le droit de tout faire et de tout dire. C’est ainsi que nous avons improvisé ce film.“

1

ALPHAVILLE, Frankreich 1965, R.: Jean-Luc Godard.

2

MÔME VERT-DE-GRIS (LA), Frankreich 1952, R.: Bernard Borderie; FEMMES S’EN BALANCENT REUX,

(LES), Frankreich 1953, R.: Bernard Borderie; CET HOMME EST DANGE-

Frankreich 1953, R.: Jean Sacha; VOUS PIGEZ, Frankreich 1956, R.: Pierre

Chevalier. 3

Vgl. Darke 2005: S. 19-22.

4

MOI, UN NOIR, Frankreich/Côte d’ Ivoire (1958), R.: Jean Rouch.

5

Darke 2005: S. 21.

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Die Jugendlichen hatten die Idee in MOI, UN NOIR nur ihre Spitznamen preiszugeben. Sie agieren als Edward G. Robinson, Tarzan, Elite, Facteur, Petit Jules und Eddie Constantine. Im Verlauf der Dreharbeiten identifiziert sich der schwarze Eddie Constantine so sehr mit der Rolle des Agenten Lemmy Caution, dass er die ortsansässige Polizei provoziert und prompt ins Gefängnis kommt. Noch ist die Côte d’Ivoire Teil der französischen Staatengemeinschaft, noch sind die kolonialen Strukturen allgegenwärtig und noch ist es Afrikanern per Décret Laval verwehrt, selbst Filme zu drehen – aber nicht, Filme zu sehen ... Der Psychologe Fanon hatte zwar beunruhigt bemerkt, dass es keine schwarzen Helden gäbe, mit denen sich die Jugendlichen in den Kolonien identifizieren könnten.6 Dem afrikanischen Edward G. Robinson, der die Zuschauer als Erzähler durch den Film MOI, UN NOIR führt, ist das egal: Er berichtet, dass seine Freunde der Ansicht seien, dass er dem amerikanischen Filmstar, dessen Namen er trägt, ähnlich sieht. Tatsächlich hat der afrikanische Robinson einen ebenso markanten breiten Kopf, den er wie der amerikanische Robinson gerne etwas schräg hält, um aus leicht zusammengekniffenen Augen skeptisch auf die Welt zu schauen. MOI, UN NOIR beginnt mit einer Lokalisierung der Filmhandlung auf einem Stadtplan: Edward G. Robinson demonstriert den Zuschauern mit einem Lineal, welches Konzept die Konstruktion von Treichville bestimmt hat. Das Stadtviertel ist in gleich große rechtwinklige Häuserblöcke unterteilt, zwischen denen zwei Kategorien von Straßen verlaufen: die Avenue und die Rue: Die Avenuen liegen jeweils quer zu den als Rue bezeichneten Straßen. Die futuristische Stadt Alphaville, in der Godard einige Jahre später die Figur Lemmy Caution gegen das Computersystem Alpha 60 antreten lässt, ist nach dem gleichen Prinzip strukturiert.7 Die Bewohner von Treichville wehren sich ebenfalls, sie allerdings gegen die Monotonie, die ihnen das Kolonialsystem durch die Planung ihres Stadtviertels auferlegt hat – mit so viel administrativer Nüchternheit wollen sie sich nicht abfinden und damit, dass sie in Treichville leben müssen, auch nicht. Die phantasievolle Bemalung der Häuser bildet ihren „rêve d’ailleurs“ ab. Es gibt eine „Cordonnerie Chicago“, ein Café heißt „Pigalle“ und ein Frisiersalon „Hollywood“. Auf einem Haus steht „voici un Bar“, daneben ist ein schwarzer Cowboy abgebildet. Plötzlich fallen

6

Fanon [1952] 2007: Im vorliegenden Kontext ist S. 118f. lesenswert: Fanon berichtet hier, dass die Kinderspiele in den Kolonien durch den Konsum westlicher Medien geprägt sind. Er geht dabei insbesondere auf Tarzan und den Western ein.

7

Das afrikanische Treichville ist das Vorbild für Alphaville gewesen – die brasilianische Stadt Alphaville gibt es erst seit 1970. Die Analogien zwischen Alphaville und Treichville fallen nur deswegen nicht sofort ins Auge, weil ALPHAVILLE ein Schwarz-WeißFilm ist und sich das bunte Treichville dadurch von der Dystopie Alphaville unterscheidet.

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Schüsse. Ein Pferd bäumt sich auf. Ein Cowboy schießt, aber Pferd und Cowboy bewegen sich nicht – beide sind nur gemalt. Nun wechseln in schnellem Rhythmus Ansichten von Filmplakaten, auf einem kann der Zuschauer den Schriftzug „Far West“ erhaschen.8 Der afrikanische Edward G. Robinson schleppt Säcke, Eddie Constantine versucht, Stoffe zu verkaufen, Tarzan ist Taxifahrer. Er hat es besser als Elite, der als Dockarbeiter im Hafenbecken auf glitschigen Baumstämmen balanciert, um das Verladen der in Europa begehrten tropischen Hölzer zu überwachen. Beim Dirigieren der Lasten darf er sich nicht den kleinsten Fehler erlauben – er riskiert täglich sein Leben. Der Alltag der nigrischen Wanderarbeiter, die sich in der Hauptstadt der Côte d’Ivoire durchschlagen, ist hart, aber am Sonntag haben sie frei. Alle gehören der 1936 in Treichville gegründeten Jugendorganisation Goumbé9 an, deren Mitglieder schon nachmittags in Scharen zusammengeströmt sind. Robinson kommentiert den Auftritt der ersten Tänzer: „Ils s’habillent en cowboy pour se différencier des autres.“ Doch anders als in Western-Saloons hört man weder Fiddle noch Banjo, hier geben Trommeln einen schwindelerregend schnellen Rhythmus vor – sie fordern die Tänzer heraus, ihre Präzision unter Beweis zu stellen. Nun setzen Trompeten ein, und ein Kind – ebenfalls im Westernkostüm – probiert die ersten Schritte zu einer Musik, die jetzt in eine Art Marsch übergeht. Dann räumen die Tänzer den Platz für die Fahrradakrobaten, deren Kleidung ebenfalls markante Westernelemente aufweist. Fransenbordüren säumen die Schulterlinien. Einer der Radfahrer sieht aus wie ein Kavallerist. Seine dunkelblaue Hose ist seitlich mit einem weißen Streifen abgesetzt. Robinson kündigt die nächste Nummer an: „C’est la danse à vélo maintenant, et pour les cowboys de la Goumbé, c’est la bicyclette qui est le cheval“, und tatsächlich: Die Fahrradpferde stehen still, und der FahrradCowboy bleibt in stolzer Haltung im Sattel sitzen, ohne dass seine Füße den Boden

8

In dem Artikel „Une nouvelle vague. African Western Transformations“ (Kilian 2012: S. 149-162) habe ich die Auseinandersetzungen mit dem Genre „Western“ in Afrika vor und unmittelbar nach der Unabhängigkeit in englischer Sprache dargelegt. Ich betrachte sie dort ebenfalls als paradigmatisch für den einfallsreichen Umgang mit westlichen Medien und verweise darauf, dass die kreativen Strategien der afrikanischen Jugendlichen Jean-Luc Godard und damit die französische Nouvelle Vague maßgeblich inspiriert haben.

9

Der Name der einflussreichen Jugend-Organisation Goumbé verweist auf einen damals sehr populären Tanz. Die Organisation ist hierarchisch gegliedert, und ihre Statuten müssen (wie Edward G. Robinson erklärt) strikt befolgt werden. Vgl. Bauer 2007: S. 527 und Miran 2006: S. 94. Rouch hat 1967 einen Dokumentarfilm über diese Organisation gedreht: GOUMBÉ DES JEUNES NOCEURS (LA), Frankreich/Côte d’ Ivoire 1967, R.: Jean Rouch.

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berühren müssten, aber da bäumen sich die Fahrradpferde auch schon auf, mal ist das Vorderrad, mal das Hinterrad oben: „Tu vois comme il fait! Comme les cowboys au Texas avec leurs chevaux. C’est la même chose!“ konstatiert Robinson – die Helden des Fahrrad-Rodeos erhalten ihr wohlverdientes Preisgeld. Anders als im Western kommen die Cowboys der Goumbé ohne Colt aus, aber Edward G. Robinson hat schon viele Waffen in der Hand gehabt. Als er mit seinem Freund Petit Jules an einer stillen Lagune entlang durchs hohe Gras geht, erfährt der Zuschauer, warum: „Tu sais, Petit Jules, que j’ai fait la guerre. J’ai fait la guerre d’Indochine. J’ai tiré à la mitraillette, au couteau, avec tout, à la grenade.“ Im Gehen hat er einen schweren Stein aufgehoben: „Et voilà, on prend une grenade, on la lance, et on se plaque à la terre.“ Er hat den Stein weggeworfen, und sich auf den Boden gepresst. Der Krieg, den er hier evoziert, will nicht recht in die friedliche Umgebung passen, aber eines wird klar: Die Erlebnisse in Indochina haben den jungen Mann traumatisiert, sie verfolgen ihn bis ans Ufer der Lagune von Abidjan. Er habe viel Blut gesehen, erzählt er, und er habe gesehen wie seine Freunde zwei Meter neben ihm krepiert seien, damals sei er so neben ihnen gelaufen, wie er jetzt neben Petit Jules laufe. „Au feu! Couché! Debout!“ Robinson demonstriert den Bewegungsablauf. Dann zieht er ein imaginäres Messer und sticht zu: „Et baff, baff, tu le fous par terre.“ Die Lebensrealität Jugendlicher und das Reenactment von Filmszenen im Alltag haben viele afrikanische Regisseure beschäftigt, als sie nach der Unabhängigkeit der Kolonien endlich selbst Filme drehen durften. Da die meisten von ihnen als Westernzuschauer zum ersten Mal mit dem Medium Film in Berührung gekommen sind, war die Auseinandersetzung mit dem Western dabei zentral.10 Edward G. Robinson hat später unter dem Namen Oumarou Ganda Regie geführt. Noch ein weiterer nigrischer Mitarbeiter Rouchs ist Regisseur geworden: Der 1942 geborene Moustapha Alassane.11 Nach der Unabhängigkeit Alassanes Film LE RETOUR D’UN AVENTURIER12 dauert nur 34 Minuten. 1966 hat er damit, kaum 24 Jahre alt, einen Film vorgelegt, der oft etwas irreführend als erster afrikanischer Western bezeichnet wird.13 Der Regisseur zeigt zunächst ein Dorf im

10

Vgl. Mambéty 1994 und Sissako 2003. Beide Regisseure berichten in Interviews über ihre ersten Rezeptionserfahrungen.

11

Oft auch Mustapha Alassane geschrieben.

12

RETOUR D’UN AVENTURIER (LE), Niger/Frankreich 1965/66, R.: Moustapha Alassane.

13

So bezeichnet z.B. die Journalistin Paule Arlette I. Hien diesen Film in ihrem Artikel „La bravoure des pionniers du cinéma africain“. Hien 2008.

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Niger: Im hellen Sand stehen niedrige Strohhütten, die Dorfbewohner tragen lange bunte Gewänder. Es könnte alles so friedlich sein, würde nicht eine lärmende Gruppe Jugendlicher versuchen, mit einem alten Gefäß Fußball zu spielen. Prompt ruft ein Alter sie zur Ordnung. Die Jungen maulen, aber dann besinnen sie sich auf Wichtigeres: Morgen wird ihr Freund Jimi aus den USA zurückkommen, und sie müssen etwas aushecken, um ihn würdig zu empfangen. Ein Schnitt: Auf einem Stein sitzt ein kleiner Hirte und spielt auf seiner Flöte. Alassane zeigt die pastorale Idylle im Gegenlicht. Doch da schleichen sich zwei der dem Zuschauer bereits bekannten Rabauken von hinten an den kleinen Flötenspieler heran – ein Schlag mit der Faust auf seinen Kopf, er kippt von seinem Sitz und bleibt wie tot am Boden liegen. Die Halunken ziehen mit seiner Ziege davon. Der Kleine hebt den Kopf und blinzelt ihnen nach. Wieder ein Schnitt, Alassane greift jetzt ein Thema auf, das viele afrikanische Regisseure beschäftigt hat, die Rückkehr nach Afrika nach einem Aufenthalt im Westen.14 Während die Credits ablaufen, landet ein Flugzeug, die Passagiere kommen die Gangway hinab, und die Kamera fokussiert einen jungen Mann im Anzug – Jimi. Der Heimkehrer setzt sich in einen bereitstehenden Wagen. Während der Fahrt durch die Stadt nimmt die Kamera aus seiner Perspektive Betonneubauten in den Blick, und der Ankömmling bemerkt zahlreiche Veränderungen. Dann wechselt er das Fahrzeug, denn es geht aufs Land zu den Hausa. Jimi sitzt jetzt zwischen anderen auf der Ladefläche eines Lasters und wirkt in seinem schnieken Anzug leicht overdressed. In seinem Heimatdorf hat ihn jemand seit Langem sehnsüchtig erwartet, aber das schmale junge Mädchen im traditionellen langen Rock gibt sich bei der Begrüßung kühl. In der nächsten Einstellung zeigt Alassane den ersten Cowboyhut: Die Bande sitzt mit Jimi an einem langen Tisch. Auch das junge Mädchen ist mit von der Partie. „Et voilà ce que je vous ai emmené“, sagt Jimi und packt die aus unzähligen Western bekannten Kostüme und Requisiten aus. Hurtig ziehen sich alle um. Nur Jimi behält seinen Namen, die anderen Jugendlichen suchen sich neue aus: Ibrahim, der Gary-Cooper-Fan, nennt sich Black Cooper.15 Die anderen Jungs hören jetzt auf die Namen John Kelly, Casse tout und Billy Walter – Das Mädchen wird zur Reine Christine (Königin Christine) gekürt. Schon rauchen die Colts bei der

14

Ein Jahr zuvor hatte z.B. Samb Makharam dieses Thema in ET LA NEIGE N’ÉTAIT PLUS aufgegriffen. Die Inszenierung der Ankunft gleicht in auffälliger Weise der in L E RETOUR D’UN AVENTURIER.

15

Vgl. Teil I, Kap. 2.1, S. 84f.

Serge-Henri Moati hat einen Dokumentarfilm über die Dreharbeiten von LE RETOUR D’UN AVENTURIER

gedreht: COWBOYS SONT NOIRS (LES), Frankreich, 1966. Hier be-

richten die Jugendlichen, warum sie sich ihre jeweiligen Namen ausgesucht haben. Darüber hinaus wird deutlich, dass sie mit ihren Ideen an dem Konzept von LE RETOUR D’UN AVENTURIER

mitgewirkt haben.

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ersten Schießübung, und es folgt eine Mahlzeit im Westernstil. Die frischgebackenen Cowboys nagen vergnügt die Knochen der gestohlenen Ziege ab. Doch da erscheint der kleine Hirte mit seinem empörten Vater – er wird mit einem Faustschlag niedergestreckt. Die Gruppe debattiert das Vorgehen kontrovers. Ein Schema, das sich durch den ganzen Film ziehen wird: Einzelne, meist Jimi oder Reine Christine, reflektieren die Regeln des Cowboyspiels, aber der Gruppenzwang wird sich zunächst als stärker erweisen. Als man die Tunichtgute vor den Ältestenrat zitiert, beweisen die Cowboys Einigkeit. Zwecks Herstellung von „Law and order“ hat der Chef des Dorfes allen Pomp aufgefahren, der ihm zur Inszenierung seiner Macht zur Verfügung steht. Er trägt einen roten Hut mit Fransen, der von Ferne an den Hut eines Sheriffs gemahnt. Ihm zur Seite steht ein wohl choreographierter Stab von Würdenträgern mit prächtigen Gewändern und traditionellen Waffen. Auf die Cowboys wirkt die Demonstration des keifenden Tattergreises weniger überzeugend, als vielmehr provozierend. „Il faut que ça cesse. Il faut que le village retrouve son calme. S’il y a un chef comme moi“, gebietet der Alte. Da können die Cowboys nur lachen: „S’il y a un chef comme toi.“ Einer bemächtigt sich seines Fransenhutes: „Pour un cowboy comme moi, c’est pas mal ...“ Die Jungendlichen stellen die Machtverhältnisse im Dorf auf den Kopf und drohen ihrerseits: „Tu nous a vus“, schnarrt einer der Cowboys markig „maintenant réserve-nous une place dans ton emploi du temps.“ Alassane greift hier einen wohlbekannten Westernantagonismus auf: Der Dorfälteste hat die dramaturgische Position eines Sheriffs inne, die Jugendlichen gerieren sich als Outlaws. Sie entfernen sich durch ihre Handlungen immer weiter von einer Gesellschaft, deren Regeln sie nicht mehr akzeptieren.16 Die Opposition schweißt sie immer enger zusammen – Loyalität ist unter Outlaws oberstes Gesetz. Alassane beweist Sinn für Humor, denn er verkehrt den behaupteten Antagonismus von zivilisiertem Westen und unzivilisiertem Afrika ins Gegenteil: Die muslimische Dorfgemeinschaft der Hausa hält hier auf Ruhe und Ordnung – die Epigonen der USamerikanischen Cowboys gebärden sich wie die Wilden – zum Beispiel in einer Saloonszene: Im Regal über der Bar steht Hochprozentiges.17 Zunächst spielen die Cowboys noch friedlich Karten, aber dann sieht sich der Wirt ohne ersichtlichen Grund am Kragen gepackt. Ein Barhocker fliegt in die Flaschen, und schon ist die schönste Keilerei im Gange. Die Cowboys ziehen weiter. Immer wieder erklingt in diesem Film eine gut gelaunte Westernmelodie, eine, die den Trab eines Pferdes begleiten könnte. Zwei sitzen schon hoch zu Ross. Die

16 17

Vgl. dazu: Grob/Kiefer 2003: S. 22. In LES COWBOYS SONT NOIRS sieht man, dass die Cowboys während der Dreharbeiten nur Wasser aus ihren Whiskey-Gläsern tranken – den Alten des Dorfes, in dem Alassane gedreht hat, war auch das suspekt.

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anderen müssen sich noch mit Schusters Rappen begnügen – kein Zustand für einen Cowboy, also müssen Pferde her. Aber woher nehmen, wenn nicht stehlen? Die Rangen zögern nicht lange. Doch unter den gestohlenen Pferden erkennt einer der Cowboys das Pferd seines Vaters. Wie im Wilden Westen werden nun aus Freunden Feinde.18 Der Sohn des Geschädigten zieht den Colt. In einem flachen Gewässer wird der Konflikt ausgeschossen. Der Pferdedieb bleibt stehen, der Rächer sinkt auf einem Stein zusammen, und im Hintergrund setzen beunruhigende Tierstimmen ein. War das eine Platzpatrone, oder liegt hier wirklich eine Leiche? Eine vereinzelte kritische Stimme ist schnell verstummt. „Kelly est devenu un tueur redoutable“, stellt ein anderer fest, dabei bleibt es – emotionales Understatement ist Genrekonvention, doch ab jetzt geht ein Riss durch die Gruppe. Die Outlaws werden die Diskussionen um Erlaubtes und Verbotenes nur noch unter sich führen. In einer Einstellung zeigt Alassane einen der Cowboys im Close-Up. Die Kamera kommt ihm so nahe, dass der respektheischende Hut nicht mehr im Bild ist und entdeckt ein betrübtes, sensibles Kindergesicht. Einer der Cowboys formuliert den Wunsch, aus der Rolle auszusteigen: „J’en ai marre, je rentre à la maison.“ Aber dann steigen die Cowboys wieder auf. Wie immer, wenn Pferde ins Bild kommen, kadriert Alassane die nigrischen Geröllhügel, Wasserläufe und Ebenen so, dass der Eindruck entsteht, als würden sich die Folien wohlbekannter Westernlandschaften über die nigrische Savanne schieben. Einer der nigrischen Cowboys führt sein Pferd durch eine schmale Furt, und Santa Fe scheint nicht mehr weit. Die Cowboys reiten mittlerweile mit einer großen Rinderherde durch die „Prärie“. Die Illusion wäre perfekt, würden sie nicht mit ihren wilden Schüssen Giraffen aufschrecken ... Um die Gruppe der Outlaws zu spalten, haben sich die Alten auf eine List verlegt:19 Sie hinterbringen den Cowboys, dass Kelly beim Raub des Pferdes auch dessen Besitzer (also den Vater eines der Cowboys) getötet habe – als Beweis dient dessen grüner Kaftan. Alassane bedient sich eines genretypischen Loyalitätskonfliktes,20 der es ihm erlaubt, den Western aufzulösen, um in die Rahmenhandlung zurückzufinden. Der nun folgende Dialog zeigt, wie rasant in diesem Film die Spielebenen wechseln. Zunächst verhandeln die Cowboys den Vatermord noch in Westernmanier:

18 19

Vgl. dazu: Grob/Kiefer 2003: S. 28. In diesem Film sind alle für das Verständnis der Handlung wichtigen Passagen Französisch. Nur wenige Passagen sind Hausa, etwa wenn sich die Alten beraten, wie sie den Jungen beikommen können.

20

Vgl. dazu: Grob/Kiefer 2003: S. 28.

260 | S CHWARZ BESETZT Jimi:

„Hey Kelly, assassin, tu as tué mon père.“

Kelly: „Hey Jimi, tu nous as trahis.“

Doch schon mit dem nächsten Satz steigt Jimi aus seiner Cowboyrolle aus: „Non, je ne vous ai pas trahis. J’ai apporté des choses pour s’amuser, et vous avez fait que des bêtises.“ Aber noch ist der Western nicht zu Ende, denn Alassane will seine Zuschauer nicht um den Showdown bringen. Es kommt zu einer finalen Schießerei zwischen den Geröllhügeln. Reine Christine und Jimi finden im Kugelhagel zueinander und tauschen den ersten Kuss. Ein Cowboy trägt seinen Hut auf einem Stock hinter dem Kamm eines Hügels entlang. Der Gegner verfeuert seine wertvolle Munition, und die Attrappe verschwindet hinter der Hügellinie. Schließlich steht Mann gegen Mann, und nur noch die Fäuste sprechen. Allerdings wollen Ton und Bild nicht recht zueinander passen. Man hört die illustren dumpfen Schläge von Hollywood-Schlägereien,21 aber hier prügeln sich keine harten Männer, sondern nur zwei dünne Jungs. LE RETOUR D’UN AVENTURIER wurde nachträglich synchronisiert. Olivia Marsaud findet das Ergebnis „épouvantable“, attestiert dem Film jedoch trotz seiner technischen Mängel einen gewissen Charme.22 Aber dieser Film ist nicht trotz, sondern wegen seiner Fehler reizvoll. Wenn André Bazin den Western „amerikanische[s] Kino par excellence“23 nennt, meint das auch, dass die Regisseure Hollywoods vorführen, was Filmtechnik vermag, wenn die entsprechenden Mittel zur Verfügung stehen. LE RETOUR D’UN AVENTURIER ist ein Low-BudgetFilm. Alassanes Mittel reichen gerade hin, um ein Westernambiente herzustellen, aber das, was dieser Film als Realität behauptet, scheint immer wieder durch. So zerbricht die Illusion des Hollywoodkinos an der Dürftigkeit der Mittel. Wenn die Alten das Gerücht vom Tod des Vaters in die Welt setzen, demonstrieren sie den Jugendlichen, dass aus Spiel Ernst werden kann. Gleichwohl lässt sich keine eindeutige filmische Argumentation erkennen, denn die Sympathie des Regisseurs scheint eher seinen widerspenstigen Westernhelden zu gelten als den Tugendwächtern des Dorfes. Der Film beginnt mit einem zentralen Westernmotiv, dem Viehraub, aber da hat das Westernspiel noch gar nicht begonnen. Unruhestifter sind die Jugendlichen also schon vor der Übernahme der Cowboyrollen. Moralisch einwandfrei ist ihre Methode der Nahrungsmittelbeschaffung zwar nicht, aber Alassane hat keinen brutalen Überfall inszeniert, eher eine Art Max-und-Moritz-Streich. Selbst die finale Schießerei am Schluss des Films ist höchst amüsant, eher eine ge-

21

In der Comicsprache werden diese Schläge meist mit einem kurzen „Pow“ wiedergegeben, so auch auf dem berühmten Poster „Sweet dreams Baby“ von Roy Lichtenstein (1965).

22

Marsaud 2000.

23

Bazin [1953] 2004: S. 255.

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lungene Persiflage eines Showdowns als eine Warnung vor einer durch Medien inspirierten Gewalteskalation. Mark Cousins bemerkte 2007 verwundert: „Moustapha Alassane’s Le retour d’un aventurier (1966) was more playful than I had expected.“24 Wahrscheinlich war seine Erwartungshaltung durch Diskurse zum frühen afrikanischen Film bestimmt, die in vielen Publikationen unhinterfragt reproduziert werden. Diese Dynamik ist in der Geschichte des afrikanischen Films begründet. Anfang der 1960erJahre war die Avantgarde des afrikanischen Kinos unter der Devise „décolonisez les écrans“ angetreten, die Leinwände in Afrika zu erobern. Dieser Anspruch gab dann die Parameter vor, mit denen afrikanische Filme vermessen wurden. Rezensenten stellten deshalb meist nur die politischen Ambitionen der Regisseure heraus. In einer Zusammenstellung von Kurzinhaltsangaben afrikanischer Filme, die dazu bestimmt ist, diese Filme bei einschlägigen Institutionen unterzubringen, schrieb Fernand Jung zu LE RETOUR D’UN AVENTURIER: „Die Western-Parodie, [...], wendet sich gegen die Flucht in die Bilder der Gewalt und gegen die drittklassigen Actionfilme aus den USA, die die afrikanischen Kinos überschwemmen. [...] An dieser Verführung übt der Film teils scharfe Kritik [...].“25 Jung konnte sich auf zahlreiche Autoren berufen, die pädagogische Medienkritik als ein zentrales Anliegen der Pioniere des afrikanischen Films betrachteten. Zum Beispiel auf den 1975 erschienenen „Guide des films anti-impérialistes“ von Guy Hennebelle.26 Aber wie verhält es sich tatsächlich mit der Kritik am populären Genre Western in LE RETOUR D’UN AVENTURIER? Am Ende des Films setzt eine Off-Stimme ein. Sie rekapituliert die Ereignisse und zieht Bilanz: „J’ai bien fait de me défendre. Kelly a tué Billy Walter.“ Waren es also doch keine Platzpatronen, ist das Spiel blutig ausgegangen? Der Wechsel zwischen den verschiedenen Realitätsebenen ist schwindelerregend. Ständig fragt sich der Zuschauer: „Ist er nun tot oder nicht? Und wenn er tot ist, für wen ist er dann tot, nur für die Cowboys, also nur auf der Ebene des Westernspiels, oder „wirklich“?“ Ein raffiniertes Vexierspiel, denn letzte Gewissheit gönnt Alassane seinen Zuschauern nicht. Die Off-Stimme fährt fort: „pour nous, le jeu est fini“ – aber Jimi und Reine Christine zögen neuen Abenteuern entgegen. Wenn die Rollenübernahme für die beiden Hauptfiguren des Films zum Happy End mit Kuss und zum erwünschten Ausstieg aus beengten Verhältnissen geführt hat, liegt die Vermutung nahe, dass Alassane dem Western ein subversives Potential mit emanzipatorischer Wirkung zugesteht. Ist der Film mithin als Eloge an den Western zu verstehen, ein Pastiche,

24

Cousins 2007: S. 507/508.

25

Jung 1997: S. 92.

26

Hennebelle 1975.

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wie Cousins27 vermutet? Nur sehr bedingt, denn nicht Jimi, sondern Moussa alias Black Cooper berichtet vom Ende des Westernspiels und vom Verbleib der Jugendlichen. Im Grunde erzählt er die Geschichte vom Erwachsenwerden. Er selbst hat den Entschluss gefasst, wieder im nigrischen Alltag anzukommen: „Je redeviens Moussa, Black Cooper n’existe plus.“ Alassane zeigt den Western als ein Genre für pubertierende Helden. Der Cowboy ist so megalomanisch, einsam und unverstanden wie ein 14-Jähriger, mithin auch Opfer von nagenden Selbstzweifeln und tiefer Melancholie. Das letzte Wort im Film hat ein Pferd: „Adieu Cowboy.“ Nun darf elegische Trauer um den auf immer verlorenen Wilden Westen aufkommen, denn der Eintritt in die Welt der Erwachsenen ist besiegelt, und man verabschiedet sich nie ohne Bedauern von den Torheiten seiner Jugend. Mit dem Begriff Maskerade sind die Rollenübernahmen in LE RETOUR D’UN AVENTURIER nur unzureichend beschrieben, denn damit wäre das Verbergen einer „wirklichen“ Identität bezeichnet. Im Blick auf die Übernahme der Cowboyrollen scheint jedoch Bhabhas Kritik an Fanons dichotomem Konzept von schwarzer Identität und weißer Maske angebracht.28 Wie Fanon thematisiert Alassane die Wirkung von westlichen Filmen auf afrikanische Jugendliche, heute würde man sagen: Beide untersuchen die Performativität der Rezeptionserfahrungen, aber anders als Fanon bewertet Alassane diese performative Wirkung nicht nur negativ, denn besonders das Mädchen in seinem Film profitiert eindeutig von der Übernahme der Cowboyrolle. Zur Betrachtung der Entwicklung der Figur, die die Darstellerin Zalika Souley29 in LE RETOUR D’UN AVENTURIER spielt, könnte man Judith Butlers Überlegungen zur Performativität30 fruchtbar machen. Zunächst tritt die spätere Reine Christine dem Heimkehrer Jimi in traditioneller, afrikanischer Kleidung gegenüber. Wer nun aber geglaubt hat, dass das Mädchen den „Entfremdeten“ zurück in den Schoß einer an traditionellen Werten orientierten Gemeinschaft führt, wie in anderen afrikanischen Filmen, in denen die Heimkehrerthematik im Zentrum steht,31 sieht sich getäuscht – Souley wird mit den Jungs Cowboy spielen. Schon der Name „Reine Christine“ ist bezeichnend. Die gleichnamige im Jahre 1626 geborene schwedische Königin wurde als Junge erzogen und zeichnete sich zeitlebens durch ausgeprägten Eigensinn aus. Der Western hält einen großen Fundus von Frauen-

27 28

Cousins 2007: S. 508. Vgl. Teil I, Kap. 3, S. 105f und Bhabha 1984: S. 129. Auch Mary Ann Doanes Überlegungen zur „Masquerade“ lassen sich kaum fruchtbar machen, weil sie auf Fragestellungen zugeschnitten sind, die im westlichen Kontext relevanter sind als in Afrika. Vgl. Doane 1982: S. 74-87.

29

Im Vorspann des Films wird B. Zulika als Name der Darstellerin genannt.

30

Vgl. Butler 1990: S. 270-282.

31

Wie zum Beispiel in ET LA NEIGE N’ÉTAIT PLUS. Vgl.Teil I, Kap. 2.1, S. 90f.

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kostümen bereit: das tief dekolletierte Can-Can-Kleid für die Barschlampe, das hochgeschlossene mit Kragen für die tugendsame Methodistin, die karierte Bluse für das patente Landmädel, das taillierte Kostüm für die vornehme Dame und ein kurzes Röckchen für das kokette Cowgirl – aber Reine Christine sieht aus wie ein Junge: Gender Trouble32 bei den Hausa! Butler hatte die These aufgestellt, dass Identität nicht auf etwas biologisch Vorgegebenes verweise, sondern „through a stylized repetition of acts“33 hervorgebracht würde. Diese performativen Akte würden Teile aus einem Fundus der Möglichkeiten reaktivieren und damit körperliche und soziale Wirklichkeiten schaffen. Die Bedingungen dieses Prozesses, den Butler Verkörperung nennt, vergleicht sie mit den Bedingungen einer Theateraufführung, die Wahl der Möglichkeiten sei weder völlig frei, also ganz dem Individuum überlassen, noch ganz von der Gesellschaft determiniert. Der individuelle Spielraum, den die Akteure nutzen könnten, würde es ermöglichen, Dichotomien wie männlich/weiblich oder schwarz/weiß zu destabilisieren.34 Genau das gelingt Souley als Reine Christine. Die performative Wirkung der Cowboyrolle blieb übrigens nicht auf die Konstitution ihrer Filmidentität beschränkt: 2004 erschien AL’ÈÈSSI35 ein Dokumentarfilm, der Souley gewidmet ist, weil sie die erste afrikanische Filmschauspielerin war. Souley erzählt hier, dass sie nach der Übernahme der Cowboyrolle auch aus der ihr zugedachten Frauenrolle ausgebrochen sei. Souley hat gegen den Willen ihrer Eltern in zahllosen Filmen mitgespielt – zum Beispiel in CABASCO unter der Regie von Oumarou Ganda, dem ehemaligen Edward G. Robinson.36 Halbwahrheiten Ein Thema ist in MOI, UN NOIR und LE RETOUR D’UN AVENTURIER zentral: das Verhältnis von Realität und Fiktion. Die Jugendlichen, die Alassane und Rouch zeigen, haben noch nie zuvor vor einer Kamera gestanden. Sie nehmen Namen von Filmstars an und formulieren damit ihre Sehnsüchte. In MOI, UN NOIR steht der Hiatus zwischen Traum und Wirklichkeit im Vordergrund. Gleichzeitig ist die Grenze zwischen Realität und Fiktion insofern aufgehoben, als die Rezeptionserfahrungen der Jugendlichen in die Inszenierung ihres Alltags hineinwirken. In LE RETOUR D’UN AVENTURIER bleiben die realen Probleme der Jugendlichen im Hintergrund, aber sie sammeln als Cowboys Erfahrungen und werden sich innerhalb ihrer Rollen darüber

32

Gender Trouble ist der Titel einer überaus erfolgreichen Publikation von Judith Butler [1990] 1999.

33

Butler 1990: S. 270 [Hervorhebung im Original].

34

Vgl. dazu auch Fischer-Lichte 2005: S. 234-242.

35

AL’ÈÈSSI, Niger 2004, R.: Rahmatou Keïta.

36

CABASCO, Niger 1969, R.: Oumarou Ganda.

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klar, was sie wirklich vom Leben wollen. Darüber hinaus bewahren MOI, UN NOIR und LE RETOUR D’UN AVENTURIER profunde Reflexionen über die bewegten Bilder als Medien. In frühen Kulturen hätten Bilder die Funktion gehabt, den Platz von Toten einzunehmen, wozu sie jeweils Medien der Verkörperung benötigten, schreibt Hans Belting: Die Bilder der Toten seien gleichermaßen eine Anerkennung und eine Transgression der Grenze zwischen Leben und Tod gewesen. 37 Eben diese Grenze ist auch in den Filmen MOI, UN NOIR und LE RETOUR D’UN AVENTURIER von Bedeutung – Alassane zeigt, dass das Medium Film den Zuschauer insofern entmündigt, als er nicht mehr nachprüfen kann, was Realität ist und was Fiktion. Der Zuschauer muss sich auf die stillschweigende Abmachung verlassen, dass der Tod nur gespielt ist – sicher weiß er es nicht. Edward G. Robinson wirft einen Stein und behauptet, dass es eine Granate sei. Er sticht mit einem imaginären Messer in die Luft und evoziert damit einen realen Tod. Robinsons Darstellung ist beklemmend präzise, doch illusionistisch ist sie nicht, diesmal spielt er keine Filmszene nach, sondern sein eigenes Leben. „Ihr Künstler, die ihr Theater macht [...], sucht zuweilen jenes Theater auf, das auf der Straße sich abspielt. Das alltägliche, tausendfache und ruhmlose“,38 hat Brecht seinen Schauspielern geraten. Er berichtet von einem Mann, der an einer Straßenecke durch seine Darstellung vermitteln muss, wie es zu einem Unfall gekommen ist: Der Mann zeigt nur so viel, „dass der Unfall verständlich wird“39 und doch genug, dass ein Bild des Ereignisses vor den Augen der Zuschauer erscheint. Brecht hat außerdem beobachtet, dass auf der Straße allenthalben Filmszenen nachgespielt werden: „Der Shawlverkäufer setzt sich den steifen runden Hut des Herzensbezwingers auf, hakt einen Stock ein, ja klebt sich ein Bärtchen unter die Nase und geht hinter seinem Stand ein paar wiegende Schritte.“40 Godard teilt Brechts Ansicht zum Verhältnis von Realität, Alltagsinszenierung und Darstellung. In dem Artikel „Jean-Luc Godard’s Half-Truth“ schreibt Louis Marcorelles „Godard fears like the plague the traps of realism. He likes to cite Brecht himself: ‚Realism does not consist in reproducing reality, but in showing how things really are.‘“41 Den afrikanischen Darstellern gelang das, obwohl sie keine Zeile von Brechts theoreti-

37

Belting 2001: S. 143-188.

38

Brecht [1937-1951] 1994: S. 857. Brecht hat die hier zitierten Überlegungen in dem Gedicht „Über alltägliches Theater“ formuliert, die von Brecht vorgesehene Zeilenaufteilung ist hier nicht gewahrt.

39

Brecht [1937-1951] 1994: S. 858.

40

Brecht [1937-1951] 1994: S. 860.

41

Marcorelles 1964: S. 5. Übersetzt hat diesen Artikel der illustre Filmwissenschaftler Ernest Callenbach.

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schen Ausführungen gelesen hatten. Die Darstellungsweise der Jugendlichen und ihre Improvisationen beeindruckten Godard zutiefst,42 und der Film MOI, UN NOIR war für ihn vorbildlich – „A bout de souffle43 is a little Moi, un blanc“, schrieb Luc Moullet 1960 in den legendären Cahiers du Cinéma. Godard hat ihm diese Bemerkung sicher nicht verübelt – Barbet Schroeder berichtet, dass Godard seinem Film ursprünglich selbst diesen Titel hatte geben wollen.44 Bereits 1959 hatte Godard in den Cahiers du Cinéma einen richtungweisenden Artikel publiziert, in dem er darüber nachdachte, wie das französische Kino zu retten sei. Der Text trug die Überschrift „L’Afrique vous parle de la fin et des moyens.“45 – Afrika berichtet euch vom Zweck und den einzusetzenden Mitteln ... Die Nouvelle Vague hat den afrikanischen Cowboys viel zu verdanken. Sie haben Filmgeschichte geschrieben! Anders als etwa in Südamerika hat sich in Afrika im Zuge der Auseinandersetzung mit dem Western kein Genre herausgebildet.46 Die afrikanischen Westerntransformationen sind vielmehr eine paradigmatische Auseinandersetzung mit westlichen Medien, die schon lange vor der Unabhängigkeit der afrikanischen Kolonien eingesetzt hatte und die wiederum für den französischen Film richtungweisend war. Bei der Betrachtung von MOI, UN NOIR und LE RETOUR D’UN AVENTURIER scheint eine Ambivalenz auf, die für den Umgang mit dem Western im afrikanischen Film kennzeichnend sein wird: Regisseure wie Diop Djibril Mambéty, Dani Kouyaté und Abderrahmane Sissako thematisieren mit ihren Westerntransformationen zwar die Hegemonie westlicher Medien auf dem afrikanischen Kontinent, aber sie bearbeiten das populäre Genre mit offensichtlichem Vergnügen am Westernspiel.

8.1 M AMBÉTYS W ESTERN Franz Kafka hat seinen „Wunsch, Indianer zu werden“ in eine einprägsame und verstörende Miniatur gefasst: „Wenn man doch ein Indianer wäre, gleich bereit, und auf dem rennenden Pferde, schief in der Luft, immer wieder kurz erzitterte über dem zitternden Boden, bis man die Sporen ließ,

42

Vgl. Marcorelles 1964: S. 5 und S. 7.

43

A BOUT DE SOUFFLE, Frankreich (1960), R.: Jean-Luc Godard.

44

Moullet [1960] 2005: S. 35-48.

45

Godard 1959: S. 19-22.

46

Im Rahmen der Konferenz „Western Intercultural Perspectives“ hat Peter W. Schulze in seinem Vortrag „Representations of the Shoot-Out in the Cinema of the South“ auf diesen signifikanten Unterschied hingewiesen.

266 | S CHWARZ BESETZT denn es gab keine Sporen, bis man die Zügel wegwarf, denn es gab keine Zügel, und kaum das Land vor sich als glattgemähte Heide sah, schon ohne Pferdehals und Pferdekopf.“47

Einprägsam und verstörend ist auch der 1970 erschienene Film BADOU BOY48 von Diop Djibril Mambéty. Das Kafkasche Universum ist gemeinhin mit der Farbe grau assoziiert – Mambétys Film ist bunt, aber wie Viviane Azarian treffend bemerkt, lässt Mambéty dem Rezipienten große Freiheiten, und deswegen kann man den Film auch vor der Folie der Texte Kafkas betrachten.49 BADOU BOY beginnt mit den Vorbereitungen zu den Dreharbeiten. Dann zeigt die Kamera einen von hohen Betonpfeilern eingefassten schmalen Weg, auf dem sich Badou Boy, der Protagonist dieses Films, mit einer Kora auf dem Rücken langsam vom Team entfernt. Ein hoher Maschendrahtzaun kommt ins Bild. Ein fetter Polizist drückt den schmächtigen Badou Boy mit seinem breiten Körper dagegen. Von dem Jungen sind fast nur noch die dünnen Arme zu sehen. Seine Hände klammern sich in die Maschen des Drahtes, fast als wollte er einen heftigen Schmerz durch einen noch heftigeren narkotisieren. Der Uniformierte stößt rhythmisch seine Hüften nach vorn, bis er schließlich von Badou Boy ablässt, der vor dem Zaun zusammenbricht. Eine Vergewaltigung? Eine Stimme aus dem Off, die dem Vorgesetzten des Polizisten gehört, bezeichnet Badou Boy als Delinquenten – aber was ihm zur Last gelegt wird, bleibt unklar so wie in Kafkas Roman Der Prozess.50 Der Polizist, der als „Gardien de la Paix Al“ mit der Matrikelnummer 1324273 angesprochen wird, bleibt ihm auf den Fersen. Es beginnt eine Verfolgungsjagd durch Dakar, in der sich Badou als findiger Überlebenskünstler erweist. Anders als Kafkas Protagonisten ist Badou Boy51 ein Bad Boy, der lügt, verrät und stiehlt. Anders als der Landvermesser K. in

47

Kafka [1913] 1994: S. 30.

48

BADOU BOY, Sénégal 1970, R.: Djibril Diop Mambéty.

49

Azarian hat mir ihren Artikel „La figure du policier dans Badou Boy de Djibril Diop Mambety: un grotesque visuel“ freundlicherweise vorab zugeschickt. Auf den Sammelband, in dem er erschienen ist, warten Azarian und ich seither vergeblich. In Absprache mit der Autorin werde ich es bei der Angabe „Azarian [2008]“ belassen (Genauere Angaben zum Sammelband finden sich in der Literaturliste). Auch Azarian betrachtet den Film BADOU BOY vor der Folie assoziativ gewählter Texte. Ein Gespräch mit dem Soziologen Gabin Korbéogo, bestärkte mich in dem Vorhaben hier Bezug auf Kafkas Texte zu nehmen, denn das Kafkasche Universum ist in Afrika präsenter als man zunächst annehmen würde, z.B. in dem Roman La carte d’identité von Jean-Marie Adiaffi aus dem Jahre 1980. Vgl. dazu auch Vetinde 2002: S. 870.

50 51

Kafka [1925] 1994. Badou (Bad) hieß der auch Revisor im Film LAMBAAYE von Traoré. Vgl. Teil II, Kap. 5.1, S. 155.

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dem Romanfragment Das Schloss52 liefert sich Badou Boy nicht selbst einer Institution aus, er flieht sie. Aber auch dieser Protagonist bewegt sich in einem kafkaesken Universum, in dem seine Autonomie durch eine undurchsichtige Bürokratie und durch institutionelle Willkür brutal bedroht ist.53 Der Film dauert nur 59 Minuten. Gegen Ende sieht der Zuschauer auf einmal eine applaudierende Menschenmenge. Mambéty zeigt jetzt zum zweiten Mal, wie Badou Boy mit der Kora auf dem Rücken einen von hohen Betonpfeilern eingefassten schmalen Weg entlanggeht, und er zeigt noch einmal, wie der Polizist den Jungen gegen den Maschendrahtzaun drückt. Man könnte die beiden Szenen der Anfangssequenz nun im Nachhinein als Rückblenden betrachten. Dann würde das Klatschen der Menge vielleicht dem Protagonisten gelten, weil er es geschafft hat, dem Polizisten ein Schnippchen zu schlagen. So wie in Kafkas berühmter Parabel „Auf der Galerie“,54 in der eine Kunstreiterin erst als gehetztes Geschöpf, dann als umhegte Artistin erscheint, wäre es plötzlich denkbar, dass sich der Zuschauer anfangs getäuscht hat: Möglicherweise war Badou Boy gar nicht bedroht, vielleicht ist er ein Glückskind, das immer im Zentrum bewundernder Aufmerksamkeit gestanden hat. Mambéty setzt seine Zuschauer nicht instand, eine schlüssige Narration zu deduzieren, er verwirrt sie. Wie Kafkas Texte sind Mambétys Bilder gleichermaßen enigmatisch und überdeutlich. Azarian bemerkt, dass der Regisseur Anhaltspunkte für mögliche Interpretationen immer wieder konterkariert.55 Nur eines lässt sich mit Sicherheit konstatieren: die zirkuläre Konstruktion des Films. Mambéty hat in Dakar gedreht, hauptsächlich im Stadtteil Colobane. Hier kennt sich sein Protagonist aus, hier kann er zwischen den Hütten Haken schlagen, auf einen Bus springen, sich hinter einem prallen Sack verstecken und sogar auch mal ganz entspannt mit anderen Jungs Radio hören: „La vie n’est pas faite que de Bossa Nova“, warnt der Moderator der Musiksendung – vergebens, denn Badou Boy entzieht sich der Realität, die in Gestalt des Polizisten von ihm Besitz ergreifen will, immer wieder, manchmal durch Fluchten in den Wilden Westen. Seine inneren Welten sind so fragil wie die bunten Heißluftballons, die immer wieder ins Bild kommen, aber Badou Boy kann nur Kraft seiner Phantasie überleben. Noch die räudigste Schindmähre von Dakar kann in ihm den Traum von der großen Freiheit evozieren. Die Westernmusik aus dem Off trägt noch weiter ... Ein Fuhrmann spannt seine Gäule vor einen Karren. „Ça va?“ fragt der Mann ins Leere, denn der angesprochene Badou Boy ist hinter einem der Pferde ver-

52

Kafka [1926] 1994.

53

Offenkundig sadistische Züge trägt die institutionelle Willkür etwa in Kafkas Erzählung

54

Kafka [1919] 1994a.

55

Vgl. Azarian [2008].

„In der Strafkolonie“ ([1919] 1994b).

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schwunden. Aber nun taucht er auf und antwortet: „Très bien“ – ebenfalls ins Leere, denn nun ist der Fuhrmann hinter einem Pferd verschwunden. Er richtet sich aber wieder auf, um Badou erneut zu fragen „Ça va?“, aber nun ist der wieder weg, dann erscheint Badou wieder hinter dem Pferd, um noch mal „Très bien“ zu erwidern, doch da ist der andere schon wieder abgetaucht. Das Spiel wiederholt sich noch einige Male und dann sitzen die beiden nebeneinander auf dem Bock des Pferdekarrens. Ein blinder Bettler spielt Kora,56 und ein Schimmel kommt ins Bild. Plötzlich fallen Schüsse. Der Koraspieler hält sich die Ohren zu. Westernmusik und Indianergeheul setzen ein. Die beiden auf dem Pferdekarren bewegen sich, als führen sie in scharfem Galopp über unwegsames Gelände – aber der Boden ist eben, und die Gäule kommen im dichten Verkehr von Dakar kaum voran, doch Badou Boy und der andere wähnen sich in der Prärie, auf einem von Indianern verfolgten Planwagen. Ein Autobus kommt ins Bild, und vor einer roten Ampel kommt der Pferdewagen endgültig zum Stehen. In einem Interview hat Mambéty seinen Weg zur darstellenden Kunst so geschildert: „Es ist das Gefühl, die größenwahnsinnige Ader, die einen dahin bringt. Es geht dann darum, Schauspieler zu sein, ein Held, ob das als Cowboy ist oder als Bandit.“57 Alles habe als Kinderspiel begonnen, erzählt der Regisseur, und das Spiel war von dem Wunsch bestimmt, eine von Zahlen und Rechnungen bestimmte Wirklichkeit hinter sich zu lassen: „Ich kann dir erzählen, dass wir als Kinder das Bedürfnis nach Bildern hatten, weil es in der Nähe ein Kino gab, in das wir nicht hinein konnten. Wir waren zehn Jahre alt und es war die Zeit des Western, ich liebe den Western. Wir wussten, dass dort etwas anderes passierte als in den Abrechnungen von Großmutter, und wir begannen zu desertieren. Wir haben im Dunkeln eine Kerze angezündet, einen weißen Hintergrund gesucht, Zuschauer gehabt und aus Pappe Pferde, Cowboys und Banditen ausgeschnitten, um sie in Bewegung zu bringen. Wir waren sozusagen genau am Ursprung des Kinos, als es bei uns ankam.“58

Azarian stellt die anarchistische Vitalität von Badou Boy heraus. Sie beschreibt ihn als einen fragilen Einzelgänger, dem es gelingt, die Machtverhältnisse umzukehren und den Polizisten an der Nase herum durch Dakar zu führen.59 Betrachtet man den Film von dieser Warte, springt der ingeniöse Humor ins Auge, mit dem Mambéty

56

Am Schluss des Films gibt Badou Boy dem Koraspieler all sein Geld. Es stellt sich heraus, dass er gar nicht blind ist. Er läuft erfreut mit dem Geld weg und überlässt Badou Boy seine Kora.

57

Mambéty 1994. [Internetquelle]

58

Mambéty 1994. [Internetquelle]

59

Vgl. Azarian [2008].

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die Verfolgungsjagd in Szene setzt. Wenn man den brutalen Übergriff des Polizisten am Anfang des Films als Vergewaltigung betrachtet, rückt jedoch die existentielle Notwendigkeit der Überlebensstrategien des Jugendlichen in den Blick.60 Dann tun sich die Abgründe hinter Badou Boys Tagträumen auf. Eine Einstellung, die zeigt, wie der Polizist mit der Matrikelnummer 1324273 eine Blume zwischen den Zähnen zermalmt, bekommt dann eine sinistre Bedrohlichkeit. Am Ende des Films sieht es fast aus, als gäbe es eine Perspektive: Der Bettler hat Badou Boy seine Kora überlassen. Der in Amerika „verschollene“ Karl aus Kafkas erstem Roman61 findet in einem Theater einen Broterwerb, vielleicht hätte daraus ein Happy End werden können, Kafka deutet das in einer Tagebuchnotiz zwar an, aber er hat den Roman nicht vollendet. Eine Anstellung im Theater verspricht mehr Geborgenheit als Kafkas Ritt auf einem Pferd ohne Hals, eine Kora ist realer als ein Traum vom wilden Westen – aber ist das ein Happy End, wenn der Film wieder da endet, wo er anfing? Auch Kafkas Parabel „Auf der Galerie“ ist zirkulär konstruiert, denn der Zuschauer verfolgt den Ritt der Kunstreiterin aus zwei Perspektiven. Am Ende heißt es: „da dies so ist, legt der Galeriebesucher das Gesicht auf die Brüstung und, im Schlussmarsch wie in einem schweren Traum versinkend, weint er, ohne es zu wissen.“62 In Mambétys filmischer Bearbeitung von Dürrenmatts Der Besuch der alten Dame stolpert der Zuschauer ebenfalls über Westernreferenzen: Der Regisseur hat den Film HYÈNES zwar auch in Colobane lokalisiert, aber gedreht hat er nicht dort, sondern in Yoff und Rufisque und auf der Insel Gorée.63 Anders als in BADOU BOY zeigt Mambéty seinen Zuschauern hier nicht das reale Colobane, sondern ein imaginiertes. Das Colobane von HYÈNES scheint „in the middle of nowhere“ zu liegen. Mambéty hat seine Location entrückt: Da er häufig westerntypische Cadragen wählt, entsteht ein Vexierbild, denn manchmal erinnert dieses Colobane an ein heruntergekommenes Nest im Wilden Westen, dann wieder an eine afrikanische Kleinstadt, letztlich hängt wieder alles vom Blickwinkel des Zuschauers ab. Mambéty setzt zahlreiche aufmerksamkeitssteuernde Signale, aber sie bleiben fast immer ambivalent. Da ist zunächst das Rathaus von Colobane, ein leichtes Holzhaus mit durchlaufender Veranda – eine erste Verunsicherung. Wer kann schon die westafrikanische Holzbauweise der Kolonialzeit von der im amerikanischen Westen unter-

60

Ein Anhaltspunkt für diese Sichtweise findet sich in Mambétys Film TOUKI BOUKI. Auch hier thematisiert der Regisseur sexuelle Gewalt: Ein dicker reicher Homosexueller, der sich an Mori (der männlichen Hauptfigur) rächen will, hetzt ihm die Polizei auf den Hals.

61

Kafka [1927] 1994: Der Verschollene [auch bekannt unter dem Titel Amerika].

62

Vgl. Kafka [1919] 1994a: S. 208.

63

Vgl. Oscherwitz 2008: S. 237 [Fußnote 10].

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scheiden? Der Bürgermeister sitzt auf einer Pferdedroschke. Mambéty provoziert hier ein Déjà-vu: Gab es nicht irgendeinen Western, in dem einem abgehalfterten Bürgermeister sein Rathaus gepfändet wurde? Hielt er die Zügel nicht genauso schlaff wie Makhourédia Guèye, tanzte seine Reitgerte nicht genauso traurig durch die Luft? Wer hat damals den Bürgermeister gespielt? War das Robert Mitchum oder ein anderer Schauspieler? Wurde da nicht auch ein Tisch über die Veranda hinabgelassen? Colobane erscheint zunächst als geschlossener Kosmos, aber dann kündigt sich eine steinreiche alte Dame an, die in dieser Stadt ihre Jugend verbracht hat. Man hofft, dass sie Geld in der Stadt lässt. Jetzt häufen sich die Westernzitate: Die Bewohner Colobanes postieren sich vor der Stadt, jenseits eines hohen notdürftig zusammengezimmerten Wachturms mit Schlagbaum. Gemäß den Regeln der Bildsprache des Westerns ist Colobane damit eindeutig verortet, und zwar als verarmte Kleinstadt „on the frontier“. Im wilden Westen Amerikas liegt hinter der Grenze ein „unbefriedetes“ Gebiet, das erobert werden will.64 Jenseits des Schlagbaums von Colobane öffnet sich der Blick in eine schier endlose Weite, nichts als Sand, kein Areal, auf dem man sich florierende Farmen vorstellen könnte, jenseits der Grenze droht Hunger. Zur offiziellen Begrüßung des hohen Besuchs hat der Bürgermeister seinen schäbigen schwarzen Anzug abgelegt. Er trägt nun eine Art Frack mit Afro-Muster. Sein Hut ist aus dem gleichen Stoff, der Form nach aber unverkennbar ein Cowboyhut. Wenn der Wohlstand einkehrt und der Bürgermeister von seinen moralischen Prinzipien abfällt, ist er im gepflegten Outfit eines reichen Texaners zu sehen. Er trägt einen hellen Cowboyhut, einen gediegenen Dreiteiler und eine weiche rötliche Schleife über dem Hemd. Aus heuristischen Gründen könnte man jetzt das Reclam-Bändchen Filmgenres: Western65 zur Hand nehmen, um zentrale Motive und Standardsituationen nachzuschlagen. Man könnte auf die Rücklauftaste des DVD-Players drücken und HYÈNES nicht als Bearbeitung von Dürrenmatts Theaterstück Der Besuch der alten Dame, sondern als Western betrachten. Unter dieser Prämisse erscheint Dramans Bar als Saloon, in dem alle zusammenkommen, um zu trinken und sich zu prügeln, Draman selbst erscheint als ein „eigentlich müde gewordener Held, der noch einmal über sich hinauswachsen muss“66, weil die reiche Heimkehrerin ein Kopfgeld auf ihn aussetzen wird. Wie Kane in HIGH NOON67 ist Draman „nicht von Natur aus einsam, er wird es durch einen sozialen Akt“, wie Kane „hat er nicht die Chance eines fairen Kampfes; er wird gejagt“.68 Konflikte kreisen im Western häufig darum, dass einer

64

Vgl. Grob/Kiefer 2003: S.15f.

65

Grob, Kiefer und Stiglegger (Hg.) 2003.

66

Grob/Kiefer 2003: S. 158.

67

HIGH NOON, USA 1952, R.: Fred Zinnemann.

68

Grob/Kiefer 2003: S. 158.

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das durchsetzen will, was ihm als rechtmäßig erscheint. In Colobane ist es Linguère Ramatou, eine reiche alte Dame, die erlittenes Unrecht rächen will.69 Man könnte diese alte Dame als eine Legierung mehrerer Frauenrollen betrachten, die für den Western typisch sind: Linguère Ramatou ist gleichzeitig eine vornehme Dame von weit her, eine ehemalige Hure und eine betrogene Geliebte.70 Draman, der Schuldige, sieht sich mit einer Situation konfrontiert, die für den Spätwestern typisch ist: Er muss sich „mit seiner Vergangenheit, mit seinen nicht bewältigten Missetaten [...] und neuen ‚Dämonen‘“ auseinandersetzen.71 Dayna L. Oscherwitz hat sich die Requisiten in HYÈNES genau angeschaut: Die elektrische Schreibmaschine, die der Bürgermeister geliefert bekommt, als der Wohlstand auf Pump in Colobane Einzug erhält, heißt Remington, wie jenes legendäre Gewehr, das nicht nur in zahllosen Western auftaucht, sondern auch in Mambétys Film.72 In ihrem Artikel „Of Cowboys and Elephants: Africa, Globalization and the Nouveau Western in Djibril Diop Mambety’s Hyenas“73 betont Oscherwitz eine bemerkenswerte Koinzidenz: „[…] the peak years of production of the Hollywood western coincide almost exactly with the period Lazarus74 identifies as the height push toward globalization.“75 Oscherwitz betrachtet Mambétys Westernreferenzen vor diesem Hintergrund durchgängig als filmische Kritik an der westlichen Hegemonie auf dem afrikanischen Kontinent, dabei läuft sie allerdings manchmal Gefahr, andere Bedeutungsebenen auszublenden. Informativ ist Oscherwitz detaillierte Analyse der Westernreferenzen in HYÈNES allemal, aber für eine adäquate Untersuchung des Films erweist sich eine Zusammenschau mehrer Perspektiven am fruchtbarsten. Ein Beispiel: Zur Deutung der Eisenbahn in HYÈNES bezieht sich Oscherwitz auf John Fords Film THE IRON HORSE76 aus dem Jahre 1942: „THE IRON HORSE recounts the construction of a transcontinental railway and presents the train as an embodiment of Western (as in American) technical and cultural superiority.“77 Im Western steht die Eisenbahn oft für das Vordringen der westlichen Zivilisation, aber nicht in Dürrenmatts Theaterstück Der Besuch der alten Dame, das Mambety filmisch bearbeitet hat. Deswegen lässt sich der Umstand, dass Linguère Ramatou mit dem Zug in Colobane ankommt, nur schwerlich als Kritik am Vormarsch westlicher Technik auf

69

Vgl. Grob/Kiefer 2003: S. 24f.

70

Vgl. Grob/Kiefer 2003: S. 28.

71

Grob/Kiefer 2003: S. 37.

72

Vgl. Oscherwitz 2008: S. 231.

73

Vgl. Oscherwitz 2008: S. 223-238.

74

Oscherwitz meint hier Neil Lazarus, gibt aber keinen Quellennachweis.

75

Oscherwitz 2008: S. 235.

76

IRON HORSE (THE), USA 1924, R.: John Ford.

77

Oscherwitz 2008: S. 227.

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dem afrikanischen Kontinent deuten. Der Zug, mit dem die alte Dame ankommt, hält im Theaterstück und in Mambétys Film nur deshalb in Colobane, weil Ramatou die Notbremse zieht. Die Kleinstädter fühlen sich nicht vom Vormarsch der Technik bedroht, sie haben vielmehr das Problem, dass Colobane vom Zugverkehr abgeschnitten ist. 1992, als Mambéty HYÈNES drehte, war die Eisenbahn schon lange überlebenswichtiger Bestandteil der senegalesischen Infrastruktur. Der Senegal und andere afrikanische Staaten sahen sich mit dem Problem konfrontiert, dass das Schienennetz im Kontext der von der Weltbank geforderten Strukturanpassungsmaßnahmen privatisiert beziehungsweise teilweise stillgelegt werden sollte.78 Als Draman um sein Leben fürchtet, wendet er sich an die Polizei. Neben der Tür sind wie am Haus eines Sheriffs Pferde festgebunden. Mambéty zeigt die nun folgende Sequenz in westerntypischen Kameraeinstellungen: Draman klopft an der Tür. Plötzlich richten sich Gewehrläufe auf ihn. Die Ausstattung der Männer, die auf Draman angelegt haben, ähnelt der von Kavalleristen. Oscherwitz glaubt, dass es sich hier um eine Anspielung auf die Kavallerie der US-amerikanischen Armee handelt, und folgert, dass Mambéty hier den Autoritätsanspruch der westlichen Zivilisation kritisiere.79 Aber das Zitat ist doppeldeutig, denn bei genauerem Hinsehen bleibt ein Irritationsmoment: Die Männer tragen knallrote Oberteile und königsblaue Hosen mit auffälligen weißen Bordüren. Mambéty zitiert hier die Uniformen der traditionsreichen Garde Rouge. Diese senegalesische Einheit beruft sich auf Amurat, einen ottomanischen Prinzen des 14. Jahrhunderts, der in der Mittelmeerregion eine Elitetruppe gegründet hatte. Die französische Armee stellte diese Kavallerie später in ihre Dienste und zog eine Schwadron ab, die in der Nähe von Saint-Louis stationiert wurde, um ethnische Konflikte zu kontrollieren.80 Von 1928 bis 1960 hieß besagte Einheit „Garde coloniale“. Nach der Unabhängigkeit wurde die repräsentative Truppe mit den prächtigen Uniformen als „Garde présidentielle“ beibehalten.81 Mambéty präsentiert seinen Zuschauern eine janusköpfige Referenz,

78

Welche Katastrophe dies für die ländlichen Gebiete in Afrika bedeutete, stellt eine Zeugin im Film BAMAKO dar. Vgl. Teil III, Kap. 8.3, S. 284-290. Gegen die Annahme, dass Mambéty technische Errungenschaften und hegemoniale Ansprüche des Westens in eins setzt, spricht zudem, dass zwei integre Figuren des Films, nämlich der Lehrer und der Arzt, die alte Dame bitten, in die brachliegende ortsansässige Industrie zu investieren, was diese verweigert.

79

Oscherwitz (2008: 231) schreibt weiter: „Dramaan seeks the police, who are the physical embodiment of the law in the Western civilization. [...] the law claims its authority from Western civilization, cast as superior to indigenous civilizations by the logic of the westward expansion.“

80

Au Senegal. [Internetquelle]

81

Sénégal Présidence de la République. [offizielle Internetseite]

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denn eines haben die US-amerikanische Kavallerie und die Garde Rouge gemeinsam: Beide hatten seinerzeit die Aufgabe, indigene Bevölkerungsgruppen im Dienste einer kolonialen Usurpation zu kontrollieren. Schließlich erscheint der Polizeichef und befiehlt seinen Leuten, die auf Draman gerichteten Waffen zu senken. In seinem Office angekommen, legt der senegalesische Sheriff seine Füße auf den Schreibtisch und kaut auf einem Stöckchen. Doch diese westerntypische Demonstration von Souveränität wird jäh durch das Klingeln eines Telefons unterbrochen. Der Polizist springt auf und steht stramm. Der eben noch coole Sheriff gibt sich als das zu erkennen, was er ist: ein obrigkeitshöriger Befehlsempfänger. Die alte Dame hat ein Wagenkonvoi mit Konsumgütern geordert, und die Polizei soll die wertvolle Ware eskortieren. Nun setzt Westernmusik ein. Zum hektischen Rhythmus der Banjos trappeln nervöse Pferdehufe durch das Bild. Dann zeigt eine totale Kameraeinstellung wieder den Wachturm von Colobane, und wieder öffnen sich jenseits des Schlagbaums die unendlichen Weiten der Wüste, aber nun rollen in einer Sandwolke riesenhafte Trucks mit Luxusgütern an. Die Männer, die eben noch auf Draman gezielt hatten, sitzen jetzt hoch zu Ross und sind zudem noch durch die auffälligen hohen Hüte der Garde Rouge überhöht. Der Schlagbaum geht hoch, und der Konsumwahn erhält Einzug. Die Atmosphäre abgehalfterter Kleinstädte im Wilden Westen Hollywoods beschreiben Grob und Kiefer so: „Die alten wilden Zeiten sind noch nicht ganz vorbei. Es gilt zwar, die Konflikte friedlicher zu lösen, aber noch sind die Häuser aus Holz (nicht aus Stein) [...].“82 In vielen Western müssen nicht mehr ganz junge Cowboys ihre Gewohnheitsrechte gegen einen neuzugezogenen übermächtigen Viehbesitzer aus dem Osten verteidigen, der das weite Land mit Zäunen durchteilen will. Diese Konstellation greift Mambéty hier auf. Anfangs war Colobane ein heruntergekommenes, aber liebenswertes, verschlafenes Nest mit einem Saloon, in dem sich die trinkfesten Gäste zwar manchmal rauften, aber eben auch gemeinsam feierten und tanzten. Doch nun künden die Lastwagen von einer neuen Zeit. Die Bürger Colobanes werden sich zukünftig durch Besitz definieren und mit Geld voneinander abgrenzen. In dem Theaterstück Der Besuch der alten Dame finden sich zahlreiche Verweise auf die griechische Tragödie. Mambéty habe diese Verweise durch Westernzitate ersetzt, schreibt Oscherwitz.83 Allerdings landet man auch damit wieder bei

82

Grob/Kiefer 2003: S. 24.

83

Oscherwitz (2008: S. 228) führt dies folgendermaßen aus: „[...] and the effect of this substitution is the suggestion that materialism and imperialism are not a distortion of Western values. Rather, they are the natural consequence of those values. Mambety suggests, moreover, that those values have been consciously exported throughout the

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Dürrenmatt, denn schon der schweizerische Autor hatte Hollywood im Blick: In Güllen, jener Kleinstadt in der er sein Theaterstück angesiedelt hat, ist das Kino ein Multiplikator der Wunschbilder vom American Way of Life,84 eine Propagandamaschine kapitalistischer Ideologie. Oscherwitz glaubt, große Ähnlichkeiten zwischen Draman und den selbstsüchtigen Helden Sergio Leones feststellen zu können, aber alle Merkmale, die sie aufzählt, um dies zu belegen,85 weist auch Ill, der Protagonist von Der Besuch der alten Dame, auf. Hat Dürrenmatt zu viele Western gesehen? Der Grund für diese merkwürdige Koinzidenz ist bei den alten Griechen zu suchen. Viele dramaturgische Modelle und zahlreiche literarische Motive lassen sich bis in die Antike zurückverfolgen, nicht zuletzt das beliebte Motiv des Meisterschützen, der mit einem Schuss die Weltordnung wiederherstellt. Aber wer wollte behaupten, dass Odysseus eigentlich ein Cowboy gewesen sei? Dürrenmatt hatte sein Theaterstück als tragische Komödie bezeichnet, und just seine wiederholten Verweise auf die alten Griechen rechtfertigen diese Bezeichnung. Eigentlich ist die sukzessive Verfemung der männlichen Hauptfigur tragisch, aber da Dürrenmatt die Güllner ihre kleinkrämerischen Begründungen des Urteils gegen ihren Mitbürger Ill im hohen Ton der griechischen Tragödie vortragen lässt, wird der Schluss des Stücks komisch. Tragisch ist die allmähliche Exklusion des männlichen Protagonisten auch bei Mambéty, aber gegen Ende des Films flattert ein Steckbrief mit dem Konterfei Dramans am Wachturm von Colobane, darunter prangt in Western-Lettern der Schriftzug „Wanted 100 million francs!“ Ein Sinnbild für die Käuflichkeit von Menschenleben im Kapitalismus? Richard Porton will das nicht ganz so bierernst sehen, er glaubt, dass in HYÈNES immer wieder jener „tragicomic tone“86 anklingt, der alle Filme Mambétys durchzieht. Wenn Dürrenmatt am Schluss seines Theaterstücks einen griechischen Chor auftreten lässt, rückt er die Spielhandlung auf eine andere Ebene und schafft so Abstand. Wenn Mambéty bei der Inszenierung eines im Senegal angesiedelten Plots auf Westernmotive zurückgreift, verfremdet er im wahrsten Sinne des Wortes und schafft ebenfalls Distanz. Mit dem Verweis auf die griechische Tragödie einerseits und den Western anderseits thematisieren Dürrenmatt und Mambéty die Medien, derer sie sich selbst bedienen – das Theater und den Film und mit diesem selbstreferentiellen, anti-illusionistischen Spiel erscheint das Theater als Schmiere, das Kino als Kintopp.

world, particularly by cinema itself.“ Oscherwitz unterschlägt die Ambivalenz der Westernreferenzen und lässt außer Acht, dass Mambéty selbst ein Westernfan war. 84

Vgl. z.B. Dürrenmatt [1956] 1998: S. 112.

85

Vgl. Oscherwitz 2008: S. 233.

86

Porton [1995] 1998: S. 576.

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8.2 K OUYATÉS W ESTERN Er habe die Astrid-Lindgren-Leser nicht verärgern wollen, meinte der ehemalige Finanzminister Peer Steinbrück, deshalb habe er die Steueroase Schweiz nicht mit Taka-Tuka-Land verglichen, sondern mit Ouagadougou – lautmalerisch sei dieser Name nicht zu überbieten.87 Wer sich entschließt, einen Film aus Afrika anzuschauen, weiß meist, dass Ouagadougou kein Land ist, wie Steinbrücks Vergleich nahelegt, sondern die Hauptstadt von Burkina Faso, vielleicht sogar, dass diese Stadt oft kurz Ouaga genannt wird. Auch wer kaum etwas von Afrika weiß, hat sich ein Bild gemacht, und weil westliche Medien selten Erfreuliches berichten, wird dabei die Vorstellung von Elend im Vordergrund stehen. Was im Fernsehen von Afrika gezeigt wird, gibt sich meist dokumentarisch. Der Titel des 2005 erschienenen Spielfilms OUAGA SAGA88 verheißt Sagenhaftes. Dass die mündliche Überlieferung in Afrika wichtig war, weiß man, einige Zuschauer wissen vielleicht auch, dass es gerade in Westafrika eine große Tradition des Erzählens gibt und dass Dani Kouyaté, der Regisseur der OUAGA SAGA, ihr in besonderer Weise verbunden ist. Experten für orale Tradition können das bereits aufgrund seines Familiennamens vermuten, denn Nachnamen bezeichnen häufig die Zugehörigkeit zu einer GriotFamilie. Die Vermutung, dass Kouyaté die Zuschauer mit seiner OUAGA SAGA in die Vergangenheit entführen will, konterkariert schon das Filmplakat, auf dem frohgemute Jugendliche mit Jeans und T-Shirts abgebildet sind. Das Drehbuch zu OUAGA SAGA haben zwei Franzosen geschrieben: Jean-Denis Berenbaum und Michel Mifsud. Sie hatten sich 35 Jahre zuvor in Burkina Faso kennengelernt. Mifsud war damals als Attaché der französischen Botschaft für den Bereich Kultur zuständig, Berenbaum leistete seinen Militärdienst ab.89 Der Film versteht sich als Hommage an die Stadt Ouagadougou und an ihre jugendlichen Bewohner, als eine Gegendarstellung zu dem von westlichen Medien produzierten negativen Afrika-Bild. Dokumentarisch anmutende Kameraeinstellungen zeigen zunächst Straßen, Plätze und Kreuzungen. Die einführende Sequenz ist mit einem munteren Lied unterlegt, und weil Musik in die Wahrnehmung von Bildern hineinwirkt, ist der erste Eindruck von Ouagadougou ein positiver. „Ce n’est pas du tout réaliste“, sagt Kouyaté in einem Interview, „Qui connaît l’ambiance sonore de la ville de Ouaga sait qu’on est à côté de la plaque.“90 Wenn es in Deutschland weihnachtet, schauen von den Plakatwänden meist auffällig hagere Afrikaner auf Fußgänger und Autofahrer herab. Der junge Afrikaner,

87

Vgl. Steinbrück 2009.

88

OUAGA SAGA, Burkina Faso 2005, R.: Dani Kouyaté.

89

Vgl. Cookson 2003.

90

Kouyaté zitiert nach Barlet 2004a. [Internetquelle]

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den die Kamera unter den Passanten entdeckt, ist dick, und er tut alles dafür, um es zu bleiben. Er stopft sich in den Mund, was er zu fassen kriegt. Bouffe Tout (deutsch: Allesfresser) gehört zu der munteren Gruppe, die der Zuschauer vom Filmplakat kennt: Kadou, der Kleinste, ist der Schlauste, Pélé ist Fußballfan, ein anderer spielt Gitarre, und einer trägt einen Cowboyhut aus Stroh. Seine Freunde nennen ihn Shérif: „Son vrai nom, c’est Coulibaly, nous, on l’appelle Shérif parce qu’il connaît toutes les histoires des films cowboys.“ Shérif ist der Längste und Dünnste der Gruppe. Einen idealtypischen Sheriff stellt man sich anders vor: kräftig, entschlossen, mit einem Gesicht wie aus Holz geschnitzt. Dieser hier ist ein Träumer mit scheuen, sensiblen Augen. Er erinnert an Cervantes berühmten Ritter von der traurigen Gestalt – auch Don Quichotte lebte gewissermaßen in seinem eigenen Film – er hatte zu viele Ritterromane gelesen. Der Rest der Gruppe ist quirlig, wach und vital – die Rolle des Shérif ist als melancholischer Kontrapunkt konzipiert. Auch Bouremah steht etwas außerhalb der Gruppe: Er wirkt reifer als die anderen und fabriziert in mühevoller Handarbeit Trommeln. Ferner gibt es noch eine stattliche, energische Mutter, die ständig mit der Vorbereitung von Mahlzeiten beschäftigt ist und den Jungs Moralpredigten hält. Sie kennt die Männer – schließlich hat sie schon einige gehabt, aber die haben sich alle aus dem Staube gemacht, „Les hommes veulent toujours faire toc toc, mais jamais bla bla“, ihre Söhne seien nicht besser. Wen sie von den Rackern, die immer bei ihr essen, geboren hat, ist nicht leicht auszumachen, es scheint für sie von untergeordneter Wichtigkeit zu sein: „Vous êtes tous mes fils.“ Zwei Töchter hat sie obendrein, eine auffallend hübsche und eine, die gut singen kann. Der Zuschauer ist mittlerweile im Quartier Bobo angekommen – einem der ärmeren Stadtviertel von Ouagadougou. Dort trägt sich Folgendes zu: Die Jugendlichen klauen ein Moped, denn alle haben sie Träume, aber kein Geld, sie zu realisieren. Doch erst mal machen sie sich einen schönen Abend bei Reis, Hühnchen und Spaghetti. Der pflichtbewusste Bouremah betrachtet das Treiben der anderen skeptisch – und richtig, schon hat ein neugieriger Nachbar beim Blick über die Mauer ebenfalls registriert, dass da etwas nicht stimmen kann. Er hetzt den Jungs die Polizei auf den Hals. Alle bis auf Bouremah wandern ins Gefängnis. Bouremah flieht mit dem Geld. Die tatkräftige Mutter mobilisiert die Frauen des Viertels, und Westernmusik kündigt einen bevorstehenden Showdown mit den Ordnungshütern an. Aber der entscheidende Coup gelingt ihrer Tochter Faustine: Sie erlaubt dem Kommissar tiefe Einblicke ins Dekolleté, und die Gruppe kommt frei. Der bis dahin unbescholtene Bouremah hat sich inzwischen dazu hinreißen lassen, das ihm anvertraute Geld auf Pferde zu setzen. Zwar sieht es zunächst so aus, als habe er sich

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vom Betreiber des Wettlokals und dessen Cousin, einem Féticheur,91 hereinlegen lassen, aber dann erweist sich, dass eines der Pferde, auf das Bouremah gesetzt hatte, siegreich durchs Ziel kam. Nun sind alle reich, aber im Quartier Bobo steht noch ein entscheidendes Ereignis an – ein Fußballspiel gegen das Quartier Mission. Pélé erzielt das ausschlaggebende Tor, doch auch dabei ging nicht alles mit rechten Dingen zu, denn der Schiedsrichter hat sich im entscheidenden Moment von den reizenden Mädels des Quartier Bobo ablenken lassen. Diese unterstützen ihre Mannschaft als Cheerleader und wissen wie die Fußballer genau, wann Beinarbeit gefordert ist – dagegen ist der Féticheur der gegnerischen Mannschaft machtlos. Wie in LE RETOUR D’UN AVENTURIER ergreift gen Ende des Films ein Esel das Wort, auf ihm reitet Shérif in voller Westernmontur auf das neue Multiplex-Kino des Quartier Bobo zu. Der Regisseur selbst tritt auch kurz auf, und zwar als amerikanischer Tourist mit Stars-and-Stripes-Kopftuch. Die Überlebensstrategie der Helden der OUAGA SAGA heißt „système-D“. D steht hier für „débrouiller“. Kadou fasst die Philosophie der Truppe als Absage an den Fatalismus zusammen: „C’est Dieu qui décide, mais ça nous empêche pas d’avoir des idées.“ Kouyaté weiß aber, dass er den pessimistischen Anteilen der Jugendlichen Raum geben muss, wenn er keine afrikanische Version einer lauten, aufgekratzten Teenager-Komödie drehen will. Es lohnt sich, noch einmal an den Anfang des Films zurückzugehen, um zu betrachten, wie Kouyaté die Jugendlichen einführt. Es ist dunkel geworden. Die Gruppe findet sich nach und nach an ihrem Treffpunkt ein. Pélé kommt als Letzter und setzt sich zu den andern auf eine Bank, die zusammenkracht, weil schon der dicke Bouffe Tout darauf sitzt – kurzes Lachen, dann Schweigen. Bouffe Tout solle sich mehr bewegen, er sei wirklich zu dick, meint Pélé. Dann führt er ein paar akrobatische Kunststücke vor, aber es will keine rechte Stimmung aufkommen. Doch Pélé gibt nicht auf: „Mais c’est comme ça qu’il a commencé, Zidane, dans l’équipe de son quartier.“ Einer sieht ihn kurz an und schaut dann vor sich auf den Boden – eine schöne Geschichte. Wieder Schweigen, bis einer fragt: „Personne veut me passer une cigarette.“ Einer hat noch einen Stummel. Wieder schweigen sie. Es ist Bouffe Tout, dem es gelingt, die Gruppe aus der Lethargie zu reißen: „Mais les gars, qu’est-ce qu’on fait?“ Ein Schnitt, und die Leuchtschrift „Cinéma“ blinkt verheißungsvoll aus der Ferne. Shérif reiht sich als Einziger in die Schlange an der Kinokasse ein. Die anderen postieren sich am Hinterausgang, denn dort steht die Tür einen kleinen Spalt offen. Shérif hat gerade noch Zeit, über die Bänke des Open-Air-Kinos zu steigen, da er-

91

Ich habe den Film mit Gabin Korbéogo, der selbst ein Ouagalais ist, gesichtet und verdanke ihm viele wertvolle Informationen. Er unterrichtete mich z.B., dass man in Burkina Faso oft den Begriff „Féticheur“ verwendet, da der Begriff „Marabout“ denjenigen vorbehalten sei, die sich auf den Islam berufen.

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tönt auch schon Westernmusik, und vor dem Hintergrund einer westerntypischen Landschaft erscheint das Emblem der mächtigen Produktionsfirma „Warner Bros.“ Schwarze Streifen auf der Kopie verweisen auf die Vergänglichkeit des Mediums „Zelluloidfilm“. Dann wird der Name der Western-Ikone John Wayne eingeblendet, und im Zuschauerraum bricht Jubel aus: Heute flimmert RIO BRAVO92 von Howard Hawks über die Leinwand. Die Kamera zeigt die Gesichter der Zuschauer. Die Emphase mündet sukzessive ins Mitspielen. Was im Zuschauerraum passiert, ist mindestens genauso wichtig wie das Geschehen auf der Leinwand. Daselbst reiten jetzt zwei mit Cowboyhüten ein, zwischen ihnen hängt ein Dritter gekrümmt in seinem Sattel. Es habe unterwegs Schwierigkeiten gegeben, er sei vom Pferd gefallen, berichten die beiden anderen. Ein Schnitt, und eine amerikanische Einstellung93 präsentiert John Wayne. Ihm kann man nichts vormachen, er hört sich zwar an, was die Männer zu berichten haben, aber sein Gesicht verrät, dass er ahnt, was jetzt kommt. Richtig, schon blitzen die Colts, ohne dass man recht weiß, wozu und warum. Ein Schnitt auf den Zuschauerraum: Shérif wirkt auf einmal präsent und aufmerksam. Er reitet, schießt und boxt, man erkennt ihn kaum wieder, aber dann ist der Film aus.94 Das Publikum applaudiert und schickt sich an zu gehen, nur Shérifs Augen bleiben noch an der Leinwand hängen, aber auch er muss schließlich wieder im Quartier Bobo von Ouagadougou ankommen. Draußen erwarten ihn schon die andern, sie haben nur wenig mitbekommen und wollen hören, wer gewonnen hat. Der Sheriff Wallace habe gewonnen, berichtet Shérif. Bei ihm würde immer der Sheriff gewinnen, beschwert sich einer. „Si t’es pas content, t’as qu’à écrire une lettre à Hollywood“, erwidert Shérif, und alles lacht. Nun soll er den andern von seinem Kinoerlebnis berichten. Aus dem Off kommt unterstützende Westernmusik, aber leicht ist es nicht, diesen Western zu erzählen, denn der Plot gibt wenig her. Der renommierte Filmkritiker Michael Alten verzichtet deshalb in seinem Artikel zu RIO BRAVO auf eine Inhaltsangabe und schreibt lapidar: „Das Hin und Her kann man sich schenken.“95 Doch die Jungs des Quartier Bobo sitzen im Halbkreis und schauen Shérif erwartungsvoll an. Der Griot vom Rio Bravo erlaubt sich einige

92

RIO BRAVO, USA 1959, Howard Hawks.

93

Diese Einstellung ist für den Western typisch, weil noch die Waffe im Bild ist.

94

Meiner Vermutung, dass die Zitate aus RIO BRAVO eher europäische Programmkinobetreiber in nostalgisches Schwärmen versetzen können als burkinische Teenies, widersprach der burkinische Soziologe Korbéogo: In der burkinischen Hauptstadt würden sich viele als Großstadt-Cowboys fühlen. Er selbst habe im Rahmen einer empirischen Untersuchung herausgefunden, dass sich das Westerngenre gerade bei Jugendlichen großer Beliebtheit erfreue und dass auch ältere Western immer noch Zulauf hätten. Vgl. Korbéogo 1998/99: S. 60ff.

95

Alten 2003: S. 230.

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Freiheiten, der Sheriff heißt bei ihm Wallace, nicht Chance, sein Bruder, der Säufer, Willis. Als Zwischenfragen den Elan des Erzählers hemmen, ist plötzlich ein vertrautes Geräusch zu hören, es klingt, als würde eine Filmrolle angehalten. Dieser Spezialeffekt bricht die Illusion, aber gerade die muss im Western perfekt sein. Der Erzähler nimmt einen neuen Anlauf und erklärt geduldig, dass hinter den Lattenzäunen im Wilden Westen keine Ziegen, sondern Kühe stehen. Man hört sogar ein bestätigendes Muhen aus dem Off. Wieder eine Zwischenfrage: Ob es auch Ochsen gäbe. Die Zuhörer diskutieren die Frage. Unterdessen hat die Westernmusik wieder ausgesetzt. Als Shérif den Faden seiner Erzählung erneut aufnimmt, bleiben die Zuhörer skeptisch. Auf der Kinoleinwand kommt ein Western mit einem „Minimum an Psychologie, Plausibilität und Realismus“96 aus, aber ein Western ohne Bilder ist unvollkommen und albern. Kadou, der Kleine, will aber doch noch wissen, wie es weitergeht. Die Musik setzt wieder ein. Der Erzähler hat kaum Atem geholt, da unterbricht schon wieder einer. So recht sind sie nicht bei der Sache. Bouremah nimmt sich schließlich ein Herz und fragt, ob der Film noch lange dauert. Ob sie nicht weiterhören wollten, fragt Shérif enttäuscht – die Zuhörer lehnen höflich ab. Man könnte nun nach Entsprechungen zwischen RIO BRAVO und OUAGA SAGA suchen, sehr ergiebig wäre das allerdings nicht. Nur bei einem, nämlich bei Coulibaly alias Shérif wirkt der Western in die Inszenierung des Alltags hinein. Die performative Wirkung des Genres beschränkt sich bei ihm nicht darauf, dass er einen Cowboyhut trägt. Shérif ist es, der dem Nachbarn eins überzieht, als der mal wieder neugierig über die Mauer schaut. Wenn Bouremah erzählt, wie er den Betreiber des Wettbüros niedergestreckt hat, imitiert Shérif den Faustschlag und würdigt die auch in zahlreichen Western angewandte Konfliktlösungsstrategie anerkennend mit einem „Bien joué!“ Diese französische Redewendung wäre normalerweise mit „Gut gemacht!“ zu übersetzen, hier bleibt sie doppeldeutig, denn Kouyaté zeigt die Rauflust Shérifs eher als eine verspielte, denn als eine brutale. Wenn die Polizisten kommen und mit Richter und Gefängnis drohen, setzt er sich auf sein imaginiertes Pferd und johlt: „Comme au Texas.“ Mit Mambéty könnte man sagen: Coulibaly ist einer der vielen jungen Afrikaner, die aus dem Alltag desertieren.97 Eigentlich ist Coulibaly der introvertierteste der Gruppe, doch wenn im burkinischen Alltag eine Situation entsteht, die an eine Westernszene erinnert, blüht er auf, aber er will nicht Sheriff werden, sondern Schauspieler.

96

Böhringer 1998: S. 41. Böhringer bezieht sich hier auf MY DARLING CLEMENTINE (USA 1946, R.: John Ford). Seine Aussage lässt sich aber auf das Filmgenre Western im Allgemeinen anwenden.

97

Vgl. Teil III, Kap. 8.1, S. 268.

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Kouyaté, der Griot des afrikanischen Kinos,98 nimmt seine eigene Situation mit einem ironischen Augenzwinkern in den Blick, wenn er Shérif beim Erzählen des Westerns scheitern lässt. Der burkinische Sheriff hat weder Pferd noch Pistole und schon gar keine Leinwand, und so kommt dem mittellosen Western-Griot sein Publikum abhanden – eine Metapher auf die Situation des afrikanischen Kinos? Von Alfred Tiendrébéogo zu Problemen im Kontext der Produktion von OUAGA SAGA befragt, sagt Kouyaté: „Les problèmes sont toujours les mêmes: le financement des films. Ils sont financés par les subventions, par l’argent public, par le ministère des affaires étrangères en France ou par tel ou tel gouvernement. Or, l’argent public est aléatoire, donc le cinéma l’est aussi.“99 Diese Ansicht vertritt Kouyaté auch im Gespräch mit Rich Cookson, der am Drehort von OUAGA SAGA zugegen war.100 Cookson hat seine Eindrücke von den Dreharbeiten im Guardian unter dem Titel „Who calls the shots?“ (deutsch etwa: Wer hat das Sagen?) veröffentlicht. Weil zwei Franzosen, ein ehemaliger Militär und ein Attaché der Botschaft, Autoren des Drehbuchs sind, zögert Cookson nicht zu behaupten, dass dieser Film ein Resultat französischer Kolonialpolitik sei, was sich auch auf die Stimmung bei den Dreharbeiten niederschlage: „The French are very convivial but there’s something slightly troubling about their relationship with the Burkinabé crew. Perhaps it’s because the French are holed up in Ouaga’s top hotel, the luxury Sofitel Silmandé, whose tennis courts, pool, nightclub and boutiques are a world away from the realities Ouaga Saga is portraying.“101

Kouyaté hat Cooksons Bericht von den Dreharbeiten zwar auf seiner offiziellen Homepage102 veröffentlicht, er selbst spricht jedoch durchgängig von einer fruchtbaren Zusammenarbeit mit dem französischen Teil des Teams.103 Wie diese tatsächlich verlaufen ist, ist kaum zu klären, da sich negative Statements auf das Standing des Regisseurs auswirken könnten, sind alle diesbezüglichen Verlautbarungen

98

Kouyaté hat auch als Schauspieler und Erzähler gearbeitet. Im Interview mit Barlet sagt Kouyaté, dass er diesen Film so nur als Sohn eines Griots habe drehen können: „Je considère que ce film est un conte de griot [...]. La métaphore, c’est l’art du griot, et c’est l’art du cinéma. Les deux se rencontrent.“ zitiert nach Barlet 2004a. [Internetquelle]

99

Kouyaté zitiert nach Tiendrébéogo [2003]. [Internetquelle]

100 Vgl. Cookson 2003. 101 Cookson 2003. 102 Kouyaté [2010] [Internetquelle]. Hier finden sich auch zahlreiche andere Rezensionen zum Film. 103 Z.B. im Interview mit Olivier Barlet. Vgl. Barlet 2004a. [Internetquelle]

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Kouyatés zu relativieren. Dennoch wäre es falsch, die französisch-burkinische Kollaboration per se zu problematisieren, denn Filmregisseure müssen das Wünschenswerte immer in den Rahmen des Machbaren zwängen. Im Gespräch mit Tiendrébéogo stellt Kouyaté heraus, dass sich die Probleme afrikanischer Filmschaffender diesbezüglich nicht substantiell von denen anderer Filmschaffender unterscheiden: „Le problème du cinéma ne se pose pas en termes de cinéma africain, mais en termes de cinéma tout court. Quand on va en Europe, en Amérique, en Asie, c’est la loi de la jungle.“104 Wegen versiegender öffentlicher Subventionen suchen Produzenten allenthalben Unterstützung aus der freien Wirtschaft, dies hat unter anderem so unerfreuliche Konsequenzen wie das Product Placement. Im Blick auf OUAGA SAGA bemerkt der Kritiker Cyr Payim Ouédraogo: „On note que le réalisateur ne s’est pas empêché de mettre en valeur certains de ses partenaires, tels que la Loterie nationale burkinabé, la société de transport STMB.“105 1969 wurde das FESPACO gegründet, und seither lässt sich Ouagadougou alle zwei Jahre als Hauptstadt des afrikanischen Kinos feiern. Seit es den afrikanischen Film gibt, suchen Filmemacher, Rezensenten und Wissenschaftler nach einem Rezept, um dieser Kinematographie zum Durchbruch zu verhelfen. OUAGA SAGA sei unterhaltsamer und fröhlicher als andere afrikanische Filme, meint Carina Yervasi. Sie unterstellt Kouyaté, dass er gegen die didaktische Tradition im afrikanischen Film angetreten sei: „Working against the didactic tradition of African Film, Kouyaté sets his sights on making an accessible, popular film that encompasses his love of the city, youth, and cinema, which he proudly shares with the public.“106 Yervasi glaubt, dass ein Film wie OUAGA SAGA angetan sei, Hoffnung zu stiften.107 Ein Widerspruch, denn einerseits missbilligt Yervasi den didaktischen Impetus des Autorenkinos, andererseits schätzt sie, dass ein populärer Film positives Denken vermitteln könne. Ob diese Hoffnung realistischer ist als die der viel geschmähten Kinodidakten der 1960er- und 1970er-Jahre, sei einmal dahingestellt. Anders als Yervasi sind viele afrikanische Rezensenten durchaus der Ansicht, dass sich Regisseure ihrer pädagogischen Verantwortung bewusst sein sollten: Ouédraogo von den FESPACO News befürchtet, dass die Autoren von OUAGA SAGA die jungen Kinogänger glauben machen, dass man Milliardär werden kann, wenn man gestohlenes Geld verwettet.108 Y. Sangaré, Journalist einer Zeitung der Côte d’Ivoire, teilt die Bedenken seines Kollegen:

104 Kouyaté zitiert nach Tiendrébéogo [2003]. [Internetquelle] 105 Ouédraogo 2005. 106 Yervasi 2008: S. 43. 107 Vgl. Yervasi 2008: S. 42. 108 Ouédraogo 2005.

282 | S CHWARZ BESETZT „Reste que le réalisateur fait fi, par moments, de la morale quand l’un de ses héros (Bouremah) devient millionnaire en jouant à la loterie (au PMU) avec de l’argent volé. Ou encore il montre, à travers une héroïne, que le charme et la beauté de la femme comme un moyen sûr et efficace de parvenir à ses fins.“109

Zahlreiche Spezialeffekte rücken das Unwahrscheinliche dieser Großstadtgeschichte in die Nähe des Märchenhaften. Bouremah kann im Wasserbecken des Féticheurs eine Life-Übertragung eines Pferderennens in Paris Auteuil verfolgen. Aus den Fußballschuhen von Pélé stäuben beim Laufen goldene Sterne auf. Sternchen blitzen in diesem Film immer dann, wenn die Jugendlichen ganz nah dran sind, ihre Träume zu verwirklichen. Dies alles hat Yervasi veranlasst, OUAGA SAGA „through the lense of magical realism“110 zu betrachten. Sie bezieht sich dabei auf Wendy B. Faris und schreibt: „The magical realism of which Faris speaks works at ,dismantling the imported code of realism […]‘ and functions as a ,revitalizing force that comes from a peripheral region‘.”111 Vor dem Hintergrund, dass der märchenhafte Plot der OUAGA SAGA von zwei Franzosen erdacht wurde und dass die Idee, die Spezialeffekte einzusetzen, um das Phantastische zu akzentuieren, von der französischen Produzentin Agnès Datin stammt,112 scheint das Zitat nicht gut gewählt. Problematisch ist ferner Yervasis Verweis auf Stephen Slemon: „Slemon identifies magical realism as ‚a form of postcolonial discourse‘ which is in opposition to European realist traditions.“113 Die Anwendung der dualistischen Kategorisierung von Slemon auf den Film OUAGA SAGA ist umso fragwürdiger, als der afrikanische Regisseur des Films sich selbst als „ziemlich rational“ bezeichnet. Von Olivier Barlet bezüglich des Märchenhaften der Geschichte befragt, antwortet Kouyaté: „C’est assez loin de mon univers habituel. D’habitude, je suis assez rationnel.“114 Barlet findet wie Yervasi Gefallen an den Special Effects: Die Jungs haben eine merkwürdige Sparbüchse, eine alte Banania-Blechdose. Sie zeigt einen putzigen Mohr mit rotem Fez, der immer dann freudig die Augen rollt und lacht, wenn wieder Geld in die Dose kommt. Schon Léopold Senghor kannte das Emblem des Getränkepulvers Banania und schrieb voll Zorn in seinem Poème liminaire: „Je

109 Sangaré 2005. 110 Yervasi 2008: S. 43. 111 Faris 1995, in: Zamora/Faris (Hg.): „Magical Realism. Theory, History, Community“, S. 165, hier zitiert nach Yervasi 2008: S. 47. 112 Vgl. dazu Barlet 2004a. [Internetquelle] 113 Slemon 1995, in: Zamora/Faris (Hg.): „Magical Realism. Theory, History, Community“, S. 422, hier zitiert nach: Yervasi 2008: S. 47. 114 Dazu Barlet 2004a. [Internetquelle]

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déchirerai les rires Banania sur tous les murs de France.“115 Diese revanchistische Haltung sei für Kouyaté passé, glaubt Barlet: „Dani n’a plus cette ambition [nämlich die von Senghor]: Banania est là, on fait avec et on assume le présent en le prenant avec humour, ce qui ne veut pas dire qu’on y perde en conscience, mais c’est que l’identité de ces jeunes est composite, même si les esprits des tirailleurs Banania continuent de tourmenter ceux qui n’ont pas vécu la colonie.“116

Ist die französische Kolonialgeschichte aufgearbeitet, ist die Wut auf die daraus resultierenden asymmetrischen Machtverhältnissen heute verraucht? In einer Szene zeigt Kouyaté zwei der Jungs aus dem Quartier Bobo auf einem Empfang beim „Patron Peugeot“, einem der wichtigsten Arbeitgeber Burkina Fasos. Sie haben mal wieder einen Job angenommen, diesmal als Lakaien des Geldadels von Ouagadougou. Kadou, der Kleinste der Gruppe, fungiert in einem viel zu großen weißen Kellnerjackett als „Petit Boy“. Er hat sich ein raffiniertes System ausgedacht, wie er die Verschwendung der reichen Weißen ins Quartier Bobo umleiten könnte. Unter einem Tisch hat er eine ausgeklügelte Konstruktion von Wasserflaschen und Schläuchen installiert, in die er heimlich alles, was in den Gläsern geblieben ist, hineinschüttet. Yervasi glaubt, dass sich hier wieder zeigt, dass diese flotten Jungs in der Lage sind, aus allem das Beste zu machen.117 Ein Zwischenfall beim Empfang des „Patron Peugeot“ zeigt aber, dass positives Denken soziale Hierarchien nicht aushebeln kann. Eine der von Kadou heimlich unter dem Tisch platzierten Flaschen läuft über, direkt vor die Füße eines Gastes.118 In einer kurzen Konfrontation zwischen burkinischem „Diener“ und französischen „Herrn“ scheint das historisch gewachsene Machtgefälle auf. Der Gast fixiert den kleinen Kadou mit einer Verachtung, hinter der mehr steht als ein flüchtiger Ärger über einen Fehler des Servicepersonals. „Est-ce que tu ne peux pas pisser ailleurs?“ zischt er den kleinen schwarzen Niemand an. Der schweigt, und die Kamera verweilt auf seinem Gesicht. Sein Blick verrät das Ausmaß der Demütigung, der er hilflos ausgesetzt ist. Eine schauspielerische Meisterleistung, aber weder Yervasi noch Barlet haben ihr Beachtung gezollt. Ein Schnitt, Kadou ist wieder im Quartier Bobo. Er pinkelt gegen eine Wand – eine Rache, die ihr Ziel nur verfehlen kann.

115 Senghor, L. 1948: S. 7-9. 116 Dazu Barlet 2004b. [Internetquelle] 117 Vgl. Yervasi 2008: S. 51. 118 Hier stehen sich das erste und einzige Mal in diesem Film ein Burkiner und ein Franzose frontal gegenüber. Die wenigen anderen Weißen in OUAGA SAGA sind als etwas tumbe, aber durchaus gutmütige Touristen inszeniert, die sich für das Land, die Menschen und das Kunsthandwerk interessieren.

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Kouyaté hat viele Möglichkeiten aufgetan, das burkinische Publikum zu adressieren: Der bekannte Fußballkommentator Alexis Konkonbo wirbt aus einem AlloTaxi via Megaphon für das Fußballspiel im Quartier Bobo. Der Politiker, der anschließend den Siegerpokal überreicht und den Helden des Films die Hand schüttelt, ist ein populärer Fernsehmoderator. Amidou Bonsa, der Darsteller des Bouremah, ist in Burkina Faso als Musiker bekannt.119 Im Ouagadougou des Films herrscht eine heitere Atmosphäre des Laissez faire. Cookson musste jedoch feststellen, dass jenseits der Absperrung des Drehortes ein anderer Wind wehte: Zehn Polizisten waren beauftragt, die Dreharbeiten gegen Störungen abzuschirmen, aber irgendwie war doch ein Motorroller durchgerutscht. Die übereifrigen Ordnungshüter stoppten das Zweirad und gaben dem Fahrer, einem Teenager, eine brutale Ohrfeige, bevor sie ihn minutenlang anschrien.120 Das Leben der Jugendlichen in afrikanischen Großstädten hat Licht- und Schattenseiten. Filmkomödien haben deswegen genauso ihre Berechtigung wie Problemfilme. Letztere werden wohl immer auf Subventionen angewiesen bleiben – das ist in Afrika nicht anders als überall sonst auf der Welt. Daran, dass Geldgeber heute eher leichte Kost bevorzugen, ist der Hype der Populärkultur in Feuilleton und Wissenschaft wohl nicht ganz unschuldig.

8.3 S ISSAKOS W ESTERN Im Jahre 2006 kam Abdrerrahmane Sissakos Film BAMAKO121 in die Kinos. Ursprünglich sollte er „La cour“ heißen, 122 denn Sissako hatte für die Dauer der Dreharbeiten eine Behauptung aufgestellt, die für das Konzept dieses Films konstitutiv war: Der Hof seines Großvaters, in dem er selbst aufgewachsen ist, war während des Drehs ein Gerichtshof. Angeklagt waren Weltbank und internationaler Währungsfonds. Es wurde getan „als ob“ wie in anderen Filmen, aber die Anwälte waren nicht auf der Schauspielschule, sie haben tatsächlich Jura studiert, und die Zeugen beglaubigten reale Missstände, zum Beispiel Aminata Traoré, die ehemalige Ministerin für Kultur und Tourismus der Republik Mali. In den Zeugenstand traten aber auch Afrikaner, die zuvor noch nicht öffentlich in Erscheinung getreten waren. Das französische Wort „Cour“ bezeichnet sowohl den Hof als auch den Gerichtshof, aber Sissako hat auf das Spiel mit der Doppeldeutigkeit des Wortes ver-

119 Die diesbezüglichen Hinweise verdanke ich Gabin Korbéogo. 120 Vgl. Cookson 2003. 121 BAMAKO, Mali 2006, R.: Abderrahmane Sissako. 122 Vgl. Sissako interviewt von Ruggle 2006: S. 17.

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zichtet – dies sei kein französisch-afrikanischer Film123 –, er hat den Namen der Hauptstadt Malis als Filmtitel gewählt, denn der Hof, in dem er gedreht hat, befindet sich in Bamako. Obwohl sich die Zeugen auf Lokales beziehen, sprechen sie (manchmal sogar sehr explizit) von und für ganz Afrika. Als afrikanischer Regisseur werde er quasi automatisch zum Sprecher eines ganzen Kontinents gemacht, sagt Sissako im Interview mit Walter Ruggle.124 Doch dieser Regisseur versteht es, sich seiner exponierten Stellung klug zu bedienen – mit BAMAKO wollte er ein „Dispositiv“125 schaffen, in dem Afrikaner der Weltbank und dem IWF den Prozess machen konnten. Sissako hat „nur“ einen Rahmen bereitgestellt, in dem die Juristen und die Zeugen dann acht Tage lang diskutierten. Diese Vorgehensweise ist der von Aktionskünstlern wie The Atlas Group, The Yes Men oder Hans Bernhard nicht unähnlich. Deren Strategie lässt sich mit dem Schlagwort „Fake-Kunst“ fassen.126 Die Künstler arbeiten zum Beispiel mit gefälschten Dokumenten, welche die jüngere Vergangenheit im Libanon irreführend mediatisieren. Sie geben falsche Pressemeldungen heraus, in denen Konzerne generöse Entschädigungen versprechen. Sie stiften als falsche Experten auf großen Konferenzen Verwirrung. Solche Aktionen dienen dem Zweck, öffentliche Debatten anzustoßen. Der Gerichtshof in Bamako ist ebenfalls eine ausgeklügelte Fälschung. Sissako hat eine Diskussionsplattform geschaffen: Die filmische Behauptung, dass im Hof seines Großvaters Weltbank und IWF vor Gericht stehen, dient als heuristisches Modell, und die Prämisse des Films ragt als provozierende Hypothese in die Realität hinein. Im Rahmen eines Seminars an der Johannes GutenbergUniversität Mainz127 hat Gayatri Chakravorty Spivak die Strategie Sissakos mit der von Ignacio Ramonet verglichen. Dieser hatte 1997 auf der ersten Seite von Le Monde diplomatique dazu aufgerufen, einen Verein zu gründen, der sich dafür einsetzen sollte, dass alle Transaktionen auf den Devisenmärkten mit einem Satz von 0,1 Prozent besteuert werden.128 Dass seiner Forderung stattgegeben würde, habe Ramonet nicht geglaubt, meinte Spivak, und genauso wenig halte es Sissako für

123 Vgl. Sissako interviewt von Ruggle 2006: S. 17. 124 Vgl. Sissako interviewt von Ruggle 2006: S. 17. 125 Sissako interviewt von Ruggle 2006: S. 18. 126 Vgl. Doll 2008: S. 245-258. Die Strategie Sissakos unterscheidet sich von der dieser Künstler insofern, als diese oft mit „Überaffirmationen“ arbeiten. Sie rufen z.B. zum Handel mit Wählerstimmen auf, um dem Kapitalismus zum endgültigen Durchbruch zu verhelfen, sie fordern die Wiedereinführung der Sklaverei, um dem Imperativ des freien Marktes genüge zu tun etc. 127 Gayatri Chakravorty Spivak. „Interdisciplinary Seminar“, 07.-17.01.2008, Johannes Gutenberg-Universität Mainz (ZIS-Gastprofessur). 128 Ramonet 1997: S. 1.

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möglich, dass Afrika eines Tages in der Lage sei, die Weltbank zu verklagen. Aber Ramonet und Sissako hätten mit einer Hypothese, beziehungsweise mit einem „Als ob“, eine Utopie mit pädagogischem Potential entworfen. Vor der Folie einer (immerhin nicht unmöglichen) Perspektive könne sich der Ist-Zustand mit aller Schärfe abheben. Der Artikel Ramonets hatte die Gründung von ATTAC zur Folge. Sissako hat ein Forum129 geschaffen. Immer wieder, wenn ich mit Afrikanern sprach, die noch keine Gelegenheit hatten, den Film BAMAKO zu sehen, vermittelte sich mir der Eindruck, dass Sissako mit seiner Idee, Weltbank und IWF in einem afrikanischen Hof vor Gericht zu stellen, offensichtlich einen Nerv getroffen hat. Viele meiner Gesprächspartner haben die Idee ad hoc weiterentwickelt und eigene Anklagepunkte formuliert.130 „Je cherche à communiquer, pas à imposer une idée“, antwortete Sissako, als ihn Frédéric Bonnaud vom Sender France Inter bezüglich seiner Intention befragte.131 Parallel zur Gerichtsverhandlung laufen konstruierte Handlungsstränge. In diesem Film geht eine Ehe in die Brüche, es wird geheiratet, eine Pistole verschwindet, jemand ist krank. Vom Tod eines anderen wird nur berichtet. Auf die Frage, was er gehabt habe, folgt nur ein knappes „Nichts“, mehr braucht es nicht, man weiß Bescheid: Er ist an Aids gestorben. Sissako reißt Themen an, die in vielen afrikanischen Filmen aufgebracht werden: die Landflucht, den Konflikt zwischen Tradition und Moderne, die Migration; die Liste ließe sich fortsetzen. Der Regisseur komprimiert das Leben der Hofbewohner in kleinen fiktiven Episoden, die immer in Bezug zu dem stehen, was Gegenstand des Prozesses ist – die neokolonialen Strukturen, die vor Gericht verhandelt werden, sind im Leben der Hofbewohner wirksam. Was Ute Fendler im Hinblick auf Sissakos Filme LA VIE SUR TERRE und HEREMAKONO bemerkt, gilt in gewisser Weise auch für BAMAKO: Die „aneinander gereihten Eindrücke und Momentaufnahmen aus dem Alltag“132 wirken beinahe wie die eines Dokumentarfilms, aber letztlich ist BAMAKO keiner bestimmten Gattung zuzuordnen, denn Sissako verschränkt Deskriptives und Essayistisches mit Referenzen an

129 Auch der Begriff „Forum“ ist von dem Wort „Hof“ abgeleitet. 130 Eine solche Diskussion kam z.B. nach Geschäftsschluss in einem senegalesischen Restaurant in Paris auf. Ich habe BAMAKO schon fünfmal in den unterschiedlichsten Kontexten vorgestellt, und dabei machte ich erstaunliche Beobachtungen. Unter anderem die, dass der Film oft die Zuschauer ansprach, von denen ich es am wenigsten erwartet hätte. Obwohl die langwierigen Gerichtsverhandlungen auf Französisch geführt werden und der Film auch eine längere nicht untertitelte Passage auf Bambara enthält, kommt der Film bei deutschen Schülern sehr gut an. 131 Sissako zu Gast bei: La Bande à Bonnaud, France Inter am 16.10.2006. Auf der DVD zum Film. 132 Fendler 2005: S. 170.

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Melodram, Krimi und Western. Auch Fendlers Feststellung, die Struktur des Films HEREMAKONO ähnele einer Partitur,133 lässt sich auf Bamako übertragen, denn Sissako spielt die Themen, die während der Gerichtsverhandlung anklingen, in verschiedenen Variationen durch. Mitten in der Gerichtsverhandlung hört man das Quietschen einer kleinen Gummiente – ein Kontrapunkt. Während die Erwachsenen im Rahmen der Gerichtsverhandlung die Zukunft Afrikas debattieren, richtet sich die Kamera auf die Kinder, die diese Zukunft erleben werden. Die kleinen Bewohner des Hofes sind dem, was ihnen vorgesetzt wird, noch hilfloser ausgeliefert als die großen, und deswegen ist Sissako daran gelegen, die Wirkmächtigkeit von Medien zu thematisieren: Es dunkelt bereits. Ein anstrengender Gerichtstag ist zu Ende, und zwei Männer tragen einen Fernseher in den Hof. Die Zuschauer haben schon auf diversen Sitzgelegenheiten Platz genommen. Eine charmante Nachrichtenssprecherin überspielt eine technische Panne mit einem diplomatischen Lächeln. Noch ist das Medium als solches wahrzunehmen, denn die Kamera nimmt das ganze Fernsehgerät in den Blick, aber der Western, der an diesem Abend auf dem Programm steht, wird dann die gesamte Bildfläche füllen – wenn der abendliche Spielfilm beginnt, tritt das reale Leben im Hof in den Hintergrund. Sissako unterbricht den Film im Film nur noch, um die Gesichter der zuschauenden Kinder zu zeigen. Die Augen eines kleinen Jungen starren gebannt auf den Bildschirm, sein Mund steht offen. Ein Cowboy hat offensichtlich zwei Menschen niedergeschossen, aber er lacht darüber, und die anderen Cowboys lachen auch, also lachen die Kinder mit. Doch so richtig behaglich scheinen sich die beiden kleinen Mädchen, die Sissako jetzt zeigt, nicht zu fühlen: Es ist kein fröhliches Lachen, eher ein ohnmächtiges. Die Kamera versteht es, die Kinder so zu porträtieren, dass deutlich wird, dass ihnen die Filter fehlen, um die Sinneseindrücke zu kanalisieren. Die kleinen Zuschauer spielen nicht mit wie das Kinopublikum in OUAGA SAGA, sie sind überwältigt und bleiben deswegen passiv. Während der Western im Kino von Ouagadougou als gemeinschaftliches Erlebnis zelebriert wird, wirken die Kinder in Bamako isoliert. Die Erwachsenen lassen sie mit ihrer Rezeptionserfahrung allein. Im Hof hat normalerweise immer einer von den Großen ein fürsorgliches Auge oder ein wohlwollendes Lächeln für die Kleinen übrig, aber wenn der Fernseher läuft, kümmert sich keiner mehr um die Kinder. Sie sind ja mucksmäuschenstill, und die Erwachsenen sind selbst von dem absorbiert, was sich auf dem Bildschirm abspielt. Er habe den Hof früher als Ort konstruktiver Debatten erlebt, erinnert sich Sissako, aber seit dort ein Fernseher stehe, würde dieser die Hofbewohner fesseln:134

133 Fendler 2005: S. 176. 134 Vgl. Sissako interviewt von Ruggle 2006: S. 17 und S. 25.

288 | S CHWARZ BESETZT „Das Bild ist etwas sehr Wichtiges und kann sehr gefährlich werden [...] wenn du dein Kind einfach so vor den Fernseher setzt und schauen lässt, was da den ganzen Tag hindurch ausgestrahlt wird, dann wirst du ihm mit Sicherheit keinen guten Dienst erweisen. Aber schlimmer noch ist das in Afrika, denn das Kind hier kann sich in diesen Geschichten nicht wiedererkennen. Es verliert sich noch viel stärker und erfährt eine Dekulturisation [...]. Ich bin beunruhigt, denn wenn Afrika für seine eigene Bevölkerung seine eigenen Bilder nicht produzieren kann, wird sich der Komplex gegenüber dem Bildlichen noch verstärken.“135

Sissakos Gedankengang weist eine frappante Ähnlichkeit mit den Überlegungen auf, die der Psychoanalytiker Frantz Fanon in Peau noire, masques blancs angestellt hatte.136 Frank N. Ukadike schreibt zu Bamako: „The film may appear overtly didactic [...]“,137 aber dann relativiert er sofort wieder, Sissakos Film sei gar nicht so didaktisch. Doch die pädagogischen Ambitionen des Regisseurs lassen sich kaum wegdiskutieren. Bezeichnenderweise tritt auch ein Lehrer in den Zeugenstand, und es wird in BAMAKO sehr oft von Erziehung und Bildung geredet. Der Western ist eine filmische Diskursivierung neokolonialer Strategien auf einer zweiten Spielebene. Sissako greift hier ebenfalls das Thema Bildung auf. „Do you like John Henri?“ fragt einer der Cowboys einen anderen. „I like this guy, he did a good job in Bangladesh“, fügt er noch hinzu.138 Die nächste Einstellung zeigt, wie dieser John Henri seine Jobs erledigt. Er, der einzige weiße Cowboy, gibt einem schwarzen Cowboy eine präzise Anweisung: Zwei Lehrer seien zu viel, aber die Kinder solle er schonen. Der schwarze Cowboy setzt die von der Weltbank vorgegebenen Sparmaßnahmen zur Strukturanpassung mit einem gezielten Schuss in die Tat um. Der klassische Western legitimiert die brutale Eroberung des amerikanischen „wilden“ Westens nicht nur, er glorifiziert die weißen „Helden“ als Vorhut der Zivilisation. Sissako subvertiert die ideologischen Implikationen des Westerns, indem er sie aktualisiert und damit ganz plakativ Kontinuitäten behauptet: Die von den reichen Ländern angeordneten Strukturanpassungsmaßnahmen sind eine mörderische neokoloniale Inbesitznahme. Der in der Öffentlichkeit immer wieder in den Vordergrund gerückte Anspruch, Kinder schützen zu wollen, erweist sich vor dem Hintergrund der geforderten Einsparungen im Bildungssektor als zynisch. So wie während der Gerichtsverhandlung immer wieder betont wird, dass die Ausführenden der Anordnungen von Weltbank und IWF meist Afrikaner sind, so schießen in Sissakos Western meist schwarze Cowboys. Damit habe er deutlich machen wollen,

135 Sissako interviewt von Ruggle 2006: S. 24. 136 Vgl. Teil III, S. 223. 137 Ukadike 2007: S. 39. 138 Beizeichnenderweise ist nur hier amerikanisches Englisch zu hören, ansonsten wird in dem Western nur Französisch gesprochen.

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dass nicht nur der Westen für die Probleme in Afrika verantwortlich sei, sagt der Regisseur: „Nous avons, nous aussi, notre part de responsabilité. C’est pour cela que le cowboy qui tire sur l’instituteur ¸en trop‘ est africain [...]. J’ai donc envisagé cette séquence de western comme la métaphore d’une mission de la Banque mondiale ou du FMI – puisque ces missions sont menées conjointement par des Européens et des Africains.“139

Sissakos Verhältnis zum Western ist ähnlich ambivalent wie das von Mambéty: Im Interview mit Kwame Anthony Appiah erzählt er von seiner ersten Begegnung mit dem Medium Film: Insbesondere die „Spaghetti-Western“ von Sergio Leone hätten damals seine Phantasie beflügelt.140 Das ist der launigen Western-Miniatur durchaus anzumerken: Sissako hat seine Medien- und Ideologiekritik nämlich höchst ansprechend verpackt. Die elegische Westernmusik scheint die Führung der Kamera und die Bewegungen der Akteure zu bestimmen – Filmmusik, die aus der Feder des legendären Ennio Morricone stammen könnte. Die erste Einstellung zeigt einen Fluss in der Abenddämmerung: Ein einsamer Cowboy führt sein müdes Pferd unter einen Baum, um bei einem Feuer Rast zu machen. Der in die Jahre gekommene Gunfighter lässt seinen Blick mit herb-melancholischem Pathos in die Ferne schweifen. Die Kamera ist näher gekommen und entdeckt ein wohlbekanntes Gesicht. Das Bild friert ein. Es wirkt in seiner Statik auf der großen Leinwand geradezu monumental. In westerntypischen Lettern wird der Name „Danny Glover“ eingeblendet. Der Film beginnt mit den für den Italo-Western typischen Nahaufnahmen. Sissako kombiniert sie mit totalen Einstellungen, die zeigen, wie Auftragskiller auf sandigen Wegen in eine Stadt mit malerischen Lehmbauten einreiten. Unter den Cowboyhüten verbergen sich Filmschaffende wie Zeka Laplaine, Jean Henry Roger, Elia Suleiman und Ferdinand Batsimba, und auch Sissako selbst hat eine Rolle als gedungener Killer übernommen. Er tritt in dieser Westernpersiflage als Dramane Bassaro auf. Gekonnt zieht Alt-Star Glover einige Patronen aus einem Gürtel und wiegt sie kundig in der Hand. Die Cowboys spielen ihre Rollen mit offensichtlichem Vergnügen an hemmungsloser Albernheit: markiges Understatement in den Dialogen, taxierende Blicke aus zusammengekniffenen Augen, präzise sparsame Bewegungen. Sie schießen auf alles, was sich bewegt. Glover hat sich (sein Gewehr im Anschlag) in einem verfallenen Haus verschanzt, um aus der Deckung das Treiben der von Weltbank und IWF bestallten Mörder beobachten zu können. Einer der „hired killer“ wird im Blutrausch von einem Lachkrampf geschüttelt. Da kann Glover nur den Kopf schütteln – er muss den durchgeknallten Berserker un-

139 Sissako 2008. [Internetquelle] 140 Sissako 2003. [Internetquelle]

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schädlich machen. Im Western sind die Guten verpflichtet zu töten, aber sie töten eben die Richtigen – die Bösen. Doch nicht nur im Wilden Westen führt diese Art der Konfliktlösung häufig zur Eskalation: Nun sind alle Dämme gebrochen, und es wird hemmungslos drauflosgeschossen. Pferde wiehern. Menschen flüchten. Sissako inszeniert ein anarchisches Finale: Die Desperados streben freudig ihrem genregemäßen Tod zu. Dann liegt nur noch ein einsamer Cowboyhut im Sand – Hannes Böhringer hat den Western einmal prägnant als „Tanzfest auf der Grabplatte des Helden“ beschrieben.141 An den Schluss setzt Sissako noch eine Pointe. Er blendet den Titel des Westerns ein: „Death in Timbuktu“ (einmal sieht man in diesem Western kurz die Djinger-Ber-Moschee, das Wahrzeichen der Stadt am Rande der Sahara). In westlichen Ohren klingt der Name der alten Oasenstadt gemeinhin nach Verbannung an einen Ort, der so entlegen ist, dass keiner freiwillig dorthin will – in dem Zeichenfilm ARISTOCATS142 prangt auf einem Koffer, in dem ein niederträchtiger Butler niedliche Kätzchen verschicken will, der Bestimmungsort „Timbuktu“. Der Western ist aus, aber die Westernmusik ist noch in der nächsten Einstellung zu hören: Der arbeitslose Chaka sitzt auf einer Bank im Hof. Er kann keinen Schlaf finden. Seine Frau singt in einer Bar. Dass die schöne Mélé auch anderen Männern gefallen will, ist offensichtlich. Während das Gericht tagt, zögert sie nicht, einen hübschen Jungen zu rufen, der ihr Kleid am Rücken mit einer Schleife schließen soll. Mélé will ein Leben führen, das nicht vom Verzicht bestimmt ist. Sie will ihren Mann verlassen. Chaka hat schon viel versucht, um nicht völlig zu verzweifeln. Er hat sogar fleißig Hebräisch gelernt, in der Hoffnung, dass er, falls in Bamako einmal eine israelische Botschaft eingerichtet würde, diese vielleicht bewachen könne, aber die anderen haben ihn nur ausgelacht. Auch in einer Pfingstkirche hatte er keinen Trost finden können, es war ihm unmöglich gewesen, die religiöse Ekstase der anderen zu teilen, auch hier war er allein geblieben. Chaka stellt noch den Ventilator an, der seine schlafende Tochter kühlen soll, dann verlässt er den Hof. Ein Schuss und erneut setzt die Westernmusik ein. In der Morgendämmerung nähert sich ein Hund Chakas Leiche, die im hohen Gras liegt. Der Film endet mit seiner Bestattung.

8.4 G EWALTVERZICHT Sissakos Miniaturwestern DEATH IN TIMBUKTU persifliert den Kampf von Gut gegen Böse und dekonstruiert damit die in unzähligen Western inszenierte Erneuerung

141 Böhringer (1998: S. 40) trifft diese Aussage in seiner Analyse von MY DARLING CLEMENTINE, aber auch viele andere Western sind damit prägnant beschrieben. 142 ARISTOCATS, USA 1970, R.: Wolfgang Reitherman.

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durch Gewalt.143 Der brasilianische Regisseur Glauber Rocha hing solch blutigen Träumen nach, und das schlägt sich in der dramaturgischen Konzeption seiner Filme nieder. Peter B. Schumann fasst Rochas Vorgehensweise so: „Machtgruppen oder Parteien werden personifiziert, um eine politische Konstellation übersichtlich und durchschaubar zu machen; erst stellen die Repräsentanten theoretisch ihre Interessen dar, dann geht der Kampf los; zuletzt überlebt oder siegt die revolutionäre Idee.“144 So einfach hat es sich Sissako nicht gemacht: In Bamako sitzt die institutionalisierte strukturelle Gewalt auf der Anklagebank, und die lässt sich nicht personifizieren. Die Zeugin Aminata Traoré legt die rhetorischen Strategien offen, mit denen globale Machtverhältnisse legitimiert werden, aber ihre Argumentation wird schwach, als sie George Bush als Personifikation der strukturellen Gewalt ausmachen will. Die globalen Machtverhältnisse verschieben sich eben nicht, wenn ein Präsident im Weißen Haus sitzt, der gerne darauf verweist, dass sein Vater in Kenia Ziegen gehütet hat. Die von Rocha favorisierte Dramaturgie funktioniert nicht mehr. Diesem Umstand tragen auch die Anwälte der Zivilparteien Rechnung. In seinem Plädoyer bezeichnet der Anwalt William Bourdon Paul Wolfowitz, den ehemaligen Chef der Weltbank, zwar als schuldig, aber er soll nicht in den Niger geworfen werden, „même les crocodiles ne veulent plus de lui“. Die Anwälte der Zivilparteien fordern eine andere Strafe: Weltbank und Internationaler Währungsfonds sollen lebenslänglich gemeinnützige Arbeit leisten. Diese Forderung zeugt insofern von Humor, als die Institutionen nach eigenem Bekunden ohnehin diesem Anspruch verpflichtet sind. Sissakos Dramaturgie unterscheidet sich signifikant von der aristotelischen, die den Antagonismus von Gut und Böse in das Zentrum rückt und eine Identifikation mit dem Helden evoziert. Auf den publikumswirksamen Schlagabtausch von Gut und Böse haben nicht nur die Westernregisseure Hollywoods gesetzt, sondern auch einer ihrer Antipoden, der Regisseur Rocha – mit dem Ziel, dass sich das Publikum mit einem Helden der Revolution identifiziert. Der Film BAMAKO kommt ohne Helden aus. „Organisiert euch! Schließt euch zusammen!“ ruft eine Frau im Zeugenstand. „Stell das ab“, meint ein Zuhörer genervt. Das Lautsprecherkabel wird herausgezogen. Was Fendler in Bezug auf Sissakos Film LA VIE SUR TERRE festgestellt hat, lässt sich auch auf BAMAKO übertragen: Der Film fesselt nicht durch „Identifikationsmuster“, Sissako bezieht mit BAMAKO zwar politisch Position, aber er zieht sein Publikum nicht in einen „Identifikationsstrudel“,145 sondern er erlaubt seinen Zuschauern eine polyperspektivische Sicht auf komplexe Sachverhalte. Hier

143 Grob und Kiefer sprechen in diesem Kontext vom „Mythos der regeneration through violence“. Vgl. Grob/Kiefer 2003: S. 15. 144 Schumann 1982: S. 153. 145 Fendler 2005: S. 175.

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fehlt die vereinfachende Konfrontation von Protagonist und Antagonist. Maître Rapport tritt in BAMAKO zwar als Anwalt von Weltbank und IWF auf, aber es könnte sich keiner die Sympathien des Publikums sichern, indem er diesen Strafverteidiger einfach abknallt. Insidergags zeichnen sich dadurch aus, dass sie nicht auf Verständlichkeit hin angelegt sind, sondern oft nur dem Amüsement der Beteiligten dienen.146 In Sissakos Low-Budget-Western-Klamotte DEATH IN TIMBUKTU spielen durchweg politisch engagierte Regisseure und Filmschaffende. Michael Sicinski zufolge147 veralbern Sissako und seine Cowboys das Third Cinema, Glauber Rochas Manifest „Die Ästhetik des Hungers“148 und seine Westerntransformation ANTONIO DAS MOR149 TES. Tatsächlich weisen DEATH IN TIMBUKTU und Rochas Film signifikante Ähnlichkeiten auf: Beide sind in bekanntermaßen kargen Regionen lokalisiert: ANTONIO DAS MORTES im Sertão, DEATH IN TIMBUKTU am Rande der Sahara. In beiden Filmen treten Lehrer auf. Dany Glover trägt einen ähnlichen Mantel wie Antonio das Mortes. Wie Rochas Protagonist ist er ein „hired killer“, der zwar ausgiebigen Gebrauch von der Schusswaffe macht, aber auf der richtigen Seite steht. Ein Unterschied allerdings fällt sofort ins Auge: Glover parodiert die wortkarge Melancholie und das Pathos des einsamen harten Mannes, das Antonio das Mortes von Anfang bis Ende des Films in Gesicht gemeißelt ist. 2008 fand in Berlin das Symposium „Glauber Rocha und das Kino des Südens“150 statt, das die Bedeutung der Theorien und Filme dieses brasilianischen Regisseurs thematisierte. Mein Vortrag hieß „Bamako von Abderrahmane Sissako – ein Film in der Tradition Glauber Rochas?“ Sicinskis Vermutung, dass Rocha in die Schusslinie der spottlustigen Cowboys von DEATH IN TIMBUKTU geraten sei, diente mir als heuristische These. Dabei ging es mir nicht darum, die Richtigkeit dieser These zu beweisen, ich nutzte Sicinskis Annahme vielmehr, um zwei unterschiedli-

146 Insidergags sind z.B. die sogenannten Dernièrengags – Streiche, die sich Schauspieler gegenseitig spielen, wenn eine Theaterproduktion das letzte Mal gespielt wird. Dann ist vielleicht in einer Flasche wirklich Whiskey, oder in einem Brief, den ein Schauspieler auf der Bühne lesen muss, steht etwas, was ihn zum Lachen bringen soll. Die Schauspieler müssen sich bemühen, dass die Zuschauer nichts merken, und darüber amüsieren sich die Schauspielerkollegen. 147 Vgl. Sicinski 2007: S. 16-19. 148 Vgl. Rocha 1965: S. 165-170. 149 ANTONIO DAS MORTES [O DRAGÃO DA MALDADE CONTRA O SANTO GUERREIRO], Brasilien 1969, R.: Glauber Rocha. 150 „Glauber Rocha und das Kino des Südens“, Internationales Symposium, 21.25.10.2008, Ibero-Amerikanisches Institut, Filmwissenschaft der Johannes GutenbergUniversität Mainz, Lateinamerika Institut der FU Berlin.

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che Strategien des politischen Engagements mit filmischen Mitteln zu analysieren. Mein abschließender Vergleich erbrachte das Resultat, dass Rochas Dramaturgie des Kampfes zwischen Gut und Böse überkommen und Sissakos Dramaturgie eines über den Film hinausragenden Diskussionsforums zukunftsweisend sei. Dass mein Vortrag heftig kritisiert wurde, war insofern nicht verwunderlich, als sich unter den Zuhörern nicht nur die Tochter Rochas, sondern auch einige Wissenschaftler und Filmkritiker befanden, die Rocha persönlich gekannt und seine Karriere in ihren jungen Jahren befördert hatten. Mein Vortrag war der letzte, und es wäre sicher diplomatischer gewesen, zum guten Schluss Rochas Einfluss auf das afrikanische Filmschaffen herauszustellen, aber genau diesbezüglich hatte ich Zweifel.151 Fernando Solanas und Octavio Getino haben 1969 die Kategorie des Third Cinema aufgebracht,152 neben den südamerikanischen Filmen des Cinema nôvo finden sich vor allem ältere afrikanische Filme in dieser Kategorie wieder. Teshome H. Gabriel schreibt: „[T]he principle characteristic of Third Cinema is really not so much where it is made, or even who makes it, but, rather, the ideology it espouses and the consciousness it displays. In one word we might not be far from the truth when we claim the Third Cinema (as) the cinema of the Third World which stands opposed to imperialism and class oppression in all their ramifications and manifestations.“153

Aufgrund der dezidiert politischen Ambitionen vieler afrikanischer Regisseure scheint die Kategorie des Third Cinema Analogien zum südamerikanischen Film adäquat abzubilden. Aber bei einem genaueren Vergleich zwischen südamerikanischen und afrikanischen Filmen kommen diesbezüglich Zweifel auf. Die Betrachtung der jeweils spezifischen Auseinandersetzung mit dem Western ist in diesem Kontext deswegen aufschlussreich, weil dabei unterschiedliche Diskursivierungen von Gewalt aufscheinen. Das ist insofern relevant, weil das Thema der Gewalt bei der Bestimmung der Kategorie „Third Cinema“ zentral ist. Paul Willemen schreibt zu den Prämissen des Begriffs „Third Cinema“:

151 Die Gegenüberstellung der Filme ANTONIO DAS MORTES und BAMAKO hat sich schlussendlich aber doch noch als fruchtbar erwiesen. Peter W. Schulze, einer der Organisatoren des Symposiums, hat das Thema 2009 auf der bereits erwähnten Konferenz „Western – Intercultural Perspectives“ aufgegriffen und einen Vortrag zu dem Thema „Representations of the Shoot-Out in the Cinema of the South“ gehalten. Schulze gehörte übrigens nicht zu den Kritikern des Vortrags, er hatte ihn vorher gelesen und sich sehr positiv geäußert. 152 Solanas/Getino [1969] 1976: S. 44-64. 153 Gabriel 1982: S. 2.

294 | S CHWARZ BESETZT „The notion of a Third Cinema was first advanced as a rallying cry in the late 60s in Latin America [...]. As an idea, its immediate inspiration was rooted in the Cuban Revolution (1959) and in Brazil’s Cinema Nôvo, where Glauber Rocha provided an impetus with the publication of a passionate polemic entitled ‚The Aesthetics of Hunger‘ […]“154

Da Rochas Manifest „Die Ästhetik des Hungers“ als programmatische Schrift des Third Cinema gilt, kann man die afrikanischen Filme genau genommen nicht in dieser Kategorie verorten, denn Rocha formuliert hier ein oft zitiertes Credo: Die Gewalt sei der authentische Ausdruck der „Ästhetik des Hungers.“ Auch wenn man dieses Statement weniger wörtlich als metaphorisch auffasst, taugt es kaum zu einer adäquaten Beschreibung der Ästhetik des afrikanischen Films. Zwar haben viele afrikanische Regisseure genauso wie Rocha eine Frontstellung zum omnipräsenten illusionistischen Kino Hollywoods bezogen, doch auch Gabriel stellt heraus, dass selbst Sembène den Film weniger als revolutionäres, sondern eher als politisches Instrument betrachtete.155 Glauber Rocha und Ousmane Sembène gelten zwar beide als stilbildende Pioniere der jeweiligen Kinematographien, allerdings fallen eher Unterschiede als Gemeinsamkeiten ins Auge. Dovey schreibt diesbezüglich: „Throughout his career, Sembène showed an interest in the conscious raising of his people, but not in inciting physical violence of any kind.“156 Eklatant sind außerdem die Differenzen bei der Konzeption von Frauenrollen: Bei Rocha treten Frauen entweder als Leidende im Dienst der Revolution auf oder als orgiastisch enthemmte Luder – etwas aber haben Rochas Frauenfiguren alle gemeinsam, sie hängen hingegeben an einem megalomanischen Revolutionär, dem Protagonisten des jeweiligen Films.157 Die Heldinnen Sembènes haben ihren eigenen Kopf. Der „Vater“ des afrikanischen Kinos problematisiert patriarchalische Strukturen und macht sich nicht nur in XALA ganz unverhohlen über viriles Imponiergehabe und Potenzprotzerei lustig. Eine programmatische Schrift des afrikanischen Kinos, die eine ähnliche Berühmtheit erlangt hätte wie Rochas Manifest, gibt es nicht. Doch Sembène formulierte in einem Interview eine Programmatik, die sich deutlich von der Rochas unterscheidet: Aufgabe des Künstlers sei es, gesellschaftliche Missstände aufzudecken, aber es stehe nicht in seiner Macht, Lösungen anzubieten.158 Ganz ähnlich hat sich Sissako im Gespräch mit Frédéric Bonnaud ausgedrückt: „Mon rôle n’est pas

154 Willemen 1989: S. 4. 155 Vgl. Gabriel 1982: S. 22. 156 Dovey 2009: S. 31. 157 Z.B. die Frauenfiguren in DEUS E O DIABO NA TERRA DO SOL (Brasilien 1964), TERRA EM TRANSE (Brasilien

1967) und ANTONIO DAS MORTES.

158 Gabriel (1982) zitiert dieses Interview auf S. 22.

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de proposer une solution, mon rôle est de rendre une certaine réalité visible.“159 Dovey ist wie ich der Ansicht, dass die Programmatik der südamerikanischen Regisseure keinen Einfluss auf das afrikanische Kino gehabt hat. Sie schreibt: „Instead of founding a cinema based on Fanon’s concept of revolutionary violence, as did many Latin American filmmakers, certain founded a cinema based on critique – and more than that, on self-critique, on what Barlet calls introspective criticism.“160 Die von Dovey umrissene Differenz scheint insbesondere bei der Konzeption von Rollen auf, bei denen sich die südamerikanischen beziehungsweise die afrikanischen Regisseure von Westernhelden inspirieren ließen. In zwei Filmen von Rocha, nämlich in DEUS E O DIABO NA TERRA DO SOL von 1963 und in O DRAGÃO DA MALDADE CONTRA O SANTO GUERREIRO161 von 1969 taucht die Figur des Antonio das Mortes auf. Beide Filme sind im Sertão angesiedelt. Hier attackierten einst Banden armer Landbewohner, die legendären Cangaceiros, Militärstützpunkte und Großgrundbesitzer. Antonio das Mortes ist ein Amalgam aus Cangaceiro und Western-Gunfighter. Peter W. Schulze hat verschiedentlich darauf hingewiesen, dass die Westernreferenzen bei Rocha mit einer Umkodierung einhergehen, die nicht nur zur Konstruktion eines differenten Geschichtsbildes, sondern auch zur Verhandlung zeitgenössischer Diskurse dient.162 Dieser Modus der Westerntransformation hat aber nicht nur in Brasilien, sondern auch in anderen südamerikanischen Ländern nationalspezifische Genres gezeitigt, bei denen die Fusion lokaler Heldenfiguren mit Westernhelden als konstitutiv gelten kann.163 Die afrikanischen Regisseure vollziehen diese Synthese zwischen lokalen Heroen und Western-Mythen nicht: Die afrikanischen Cowboys treten gleichsam als personifizierte Antithese vor der Folie eines afrikanischen Hintergrunds in Erscheinung. In Afrika hat die Auseinandersetzung mit dem Western kein eigenes Genre konstituiert – man könnte eher von afrikanischen Filmen mit Westernelementen sprechen, die Referenzen an das US-amerikanische Genre heben sich vom Rest des Films

159 Sissako zu Gast bei: La Bande à Bonnaud, France Inter am 16.10.2006. Auf der DVD zum Film. 160 Dovey 2009: S. 192. 161 Es handelt sich hier um den Originaltitel von ANTONIO DAS MORTES. Die Filme von Rocha werden häufig unter verschiedenen Titel geführt, DEUS E O DIABO NA TERRA DO SOL etwa unter dem Titel „Black God, White Devil“. 162 Vgl. z.B. Schulze 2005: S. 81-91. 163 Im Rahmen des DFG-Projektes „Western global – Interkulturelle Transformationen des amerikanischen Genres par excellence“ untersucht Thomas Klein derzeit den GauchoFilm in Argentinien und den Charro-Film in Mexiko, in denen ähnliche Transformationsstrategien wie in Rochas Filmen zum Tragen kommen. Vgl. Klein 2012. [Internetquelle]

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immer deutlich als solche ab. Die Regisseure machen dabei fast immer deutlich, dass die schwarzen Cowboys vormals Westernzuschauer waren, und thematisieren damit mal impliziter mal expliziter den Konsum westlicher Medien. Von den hier untersuchten Westerntransformationen ist nur DEATH IN TIMBUKTU ein in sich geschlossener Western – Sissako verhandelt das Thema Rezeption jedoch in der Rahmenhandlung. Wenn Western-Gunfighter in afrikanischen Filmen nicht als Handlanger westlicher Hegemonialbestrebungen auftreten, wie etwa in HYÈNES oder in DEATH IN TIMBUKTU, dann gerieren sie sich als pubertierende Aufschneider wie in LE RETOUR D’UN AVENTURIER oder als melancholische Großstadt-Cowboys wie in BADOU-BOY oder OUAGA SAGA. Der durch übermäßigen Westernkonsum ins Kraut geschossene Größenwahn wird durch die Realitäten des afrikanischen Alltags schnell wieder auf ein erträgliches Maß zurückgestutzt. In Rochas Filmen hingegen erfährt das Heldentum Antonio das Mortes keine Beschädigung. Schulze bemerkt zwar, dass die Verweise auf den Western auch hier ironisch gebrochen sind,164 aber der grundlegende Unterschied zur Ironisierung im afrikanischen Film lässt sich am Umgang mit der Figur des Gunfighters festmachen: Rocha dekonstruiert den Revolverhelden nicht wie die afrikanischen Regisseure – im Gegenteil: Durch die Verquickung mit dem Mythos des Cangaceiros legitimiert die filmische Argumentation den von Revolutionsgewissheit getragenen bewaffneten Kampf, und damit geht bei dem südamerikanischen Regisseur eine Glorifizierung von Männlichkeit einher. Auch wenn die afrikanischen Regisseure gewaltsame Konfliktlösungen im Rahmen der Westernreferenzen nicht immer explizit problematisieren, von einer Verherrlichung aggressiver Virilität kann keine Rede sein. In Rochas Filmen dagegen sieht sich der Zuschauer mit Orgien der Brutalität konfrontiert. Im Zentrum stehen hier durchweg Megalomanen, die ungerührt über hingebungsvolle Frauen und Leichenberge schreiten und nur gelegentlich in larmoyante Reflexionen verfallen, wie der guten Sache (der Revolution natürlich!) am besten zu dienen sei. In afrikanischen Westerntransformationen sucht man vergebens nach einem Antonio das Mortes. Glover zieht den „Hang zu einsamen Entscheidungen“ ins Lächerliche165 und demontiert den Mythos vom Töten zum Wohle der Gemeinschaft.

164 Vgl. Schulze 2005: S. 84. 165 Grob/Kiefer 2003: S. 15.

9.

Remakes

Wie die afrikanischen Westerntransformationen zeugen auch zwei nordnigerianische Remakes1 der Hollywood-Blockbuster PREDATOR2 und TITANIC3 von der Auseinandersetzung mit der westlichen Hegemonie in den Medien. Katrin Oltmann notiert, dass in der populären Filmkritik immer noch die Meinung vorherrsche, dass sich das Remake des Originalfilms parasitär bediene und künstlerisch defizitär sei.4 In den Geisteswissenschaften hat sich aber schon seit geraumer Zeit ein Paradigmenwechsel etabliert: Das Remake hat eine Aufwertung erfahren. Der Wandel der Betrachtungsweise war Teil eines akademischen Umdenkens, im Zuge dessen die vormals behauptete größere Dignität des Vorgängigen gegenüber dem Nachfolgenden fragwürdig geworden war. Schon Anfang der 1970er-Jahre hatte Derrida mit seinem berühmten Vortrag „Signatur Ereignis Kontext“ Rekontextualisierungen in den Blick genommen.5 Verfahren der Bearbeitungen und des Zitierens wurden in akademischen Zirkeln nun zunehmend im Hinblick auf die Produktion von Differenz als aufschlussreich erachtet. Außerdem rückten Strategien der Aufbereitung von global zirkulierenden Stoffen für neue Adressatengruppen ins Zentrum des wissenschaftlichen Interesses. Dass die diesbezüglichen Überlegungen im Hinblick auf die Untersuchung afrikanischer Remakes relevant sind, liegt auf der Hand. Aber trotz einer mittlerweile kaum noch zu bewältigenden Fülle an Studien zum Thema „Remake“ stellt sich die Frage, inwieweit sich die gewonnen Erkenntnisse für die Betrachtung nordnigerianischer Remakes von US-amerikanischen Blockbustern

1

TARZOMAR SHAHADA, Nigeria 2002, R.: Suleiman Sa’eed und MASOYIYATA/TITANIC, Nigeria 2003, R.: Farouk Ashu Brown.

2

PREDATOR, USA 1987, R.: John McTiernan.

3

TITANIC, USA 1997, R.: James Cameron.

4

Vgl. Oltmann 2005: S. 257.

5

Derrida 2001: S. 15-45. Derrida musste diesen Vortrag unterschrieben verschicken. In der gedruckten Version erscheint seine Unterschrift ebenfalls und veranschaulicht seine Ausführungen.

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fruchtbar machen lassen. Leo Braudy hatte das Remake 1998 in Play it Again, Sam: Retakes on Remakes treffend als Antwort in einem nicht abgeschlossenen kulturellen Dialog bezeichnet: „A remake is thus always concerned with what its makers and (they hope) its audiences consider to be unfinished cultural business, unrefinable and perhaps finally unassimilable material that remains part of the cultural dialogue – not until it is finally given definitive form, but until it is no longer compelling or interesting.“6

Bleibt man in dem von Braudy gewählten Bild, lässt sich zunächst eines konstatieren: Die Dialogsituation ist in den hier untersuchten Fällen durch eine eklatante Asymmetrie gekennzeichnet. Der Film PREDATOR kostete ungefähr 18 Millionen Dollar. Dem nordnigerianischen Regisseur Suleiman Sa’eed stand ein Budget von höchstens 4000 Dollar zu Verfügung. Noch eklatanter ist die Differenz bei dem Remake von TITANIC, denn dieser Blockbuster war bis 1998 der teuerste Film aller Zeiten. Heike Behrend bemerkt prägnant, dass James Cameron „den Gestus der Hybris“ wiederholte, der schon die Jungfernfahrt des Luxusliners gekennzeichnet hatte.7 Der Film verschlang ungefähr 200 Millionen Dollar. Die große Differenz zwischen dem Budget des bearbeiteten Films und dem des Remakes hat Konsequenzen für die Untersuchung: Es ist kaum sinnvoll, den Einsatz kostenintensiver Gestaltungsmittel zu untersuchen, denn das Ergebnis liegt auf der Hand – diesbezüglich lassen sich bei einer Gegenüberstellung nur Defizite des nigerianischen Remakes ermitteln. Aus einem heuristischen Interesse gilt es, eine Egalität zwischen den Dialogpartnern zu etablieren: Wie allen anderen Low-Budget-Produktionen gebührt den nordnigerianischen Remakes ein Bonus. Das hat nichts mit paternalistischer Nachsicht zu tun: Schon Rouch bemerkte, dass insbesondere billig produzierte Filme privilegierte Momente bewahren, die dem Zuschauer einen unmittelbaren Zugang zu den Gezeigten ermöglichen.8 Dovey konstatiert, dass die Debütfilme junger Regisseure trotz oder vielleicht gerade wegen ihrer angeblichen Mängel oft von einem innovativen Umgang mit dem Medium zeugen.9 Brian Larkin ist der spezifischen Ästhetik der kostengünstig produzierten nigerianischen Videos auf der Spur:10 „Degraded images, distorted sounds“11 – das alles scheint das Publikum wenig zu stören (vielleicht sogar im Gegenteil), denn anders lässt sich der Erfolg

6

Braudy 1998: S. 331.

7

Behrend 2005: S. 157.

8

Vgl. Rouch 1979: S. 59. Siehe dazu auch Teil I, Kap. 1.1, S. 39.

9

Vgl. Dovey 2009: S. 121/122.

10

Vgl. Larkin 2008: S. 168ff.

11

Es handelt sich hier um die Überschrift eines Kapitels. Larkin 2008: S. 217ff.

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von Nollywood-Filmen kaum erklären – Rouch zumindest war der Ansicht, dass sich gerade dann ein geheimnisvoller Kontakt zum Zuschauer etablieren könne, wenn die große Maschinerie des Kinos nicht zwischen Filmemacher und Zuschauer stehe.12 Wie dem auch sei, festzuhalten bleibt, dass viele afrikanische Zuschauer offensichtlich die Fähigkeit besitzen, das Interessante der Videofilme in den Vordergrund zu rücken, sie beherrschen die Kunst des Perlentauchens. Die Regisseure schaffen es also, ihre Zuschauer zu aktivieren, wie, das soll einführend eine Analyse der Strategie des Regisseurs Farouk Ashu Brown im Umgang mit dem exorbitant teuren Hollywood-Film TITANIC zeigen. Die Untersuchung der Vorgehensweise von Ashu Brown ist insofern gewinnbringend, als sich im Blick auf das Titanic-Remake bestimmte gestalterische Mittel besonders gut herauskristallisieren lassen. Sie kommen zwar auch bei anderen Videoproduktionen zum Einsatz, doch die Vergleichsfolie des Hollywood-Films ermöglicht es, sie profiliert herauszustellen. Ashu Brown, der Regisseur des 2003 erschienenen Remakes MASOYIYATA/ TITANIC (deutsch MEINE GELIEBTE/TITANIC) hat sich nicht darauf kapriziert, mit der filmtechnisch virtuosen Inszenierung des Untergangs von Cameron in Konkurrenz zu treten. Er hat seinem amerikanischen Kollegen viele totale Einstellungen, die aufwendigen Einstellungen nämlich, in denen das Schiff die Hauptrolle spielt, schlichtweg geraubt. Er hat sie kopiert und in sein Remake eingefügt. Dieses Verfahren, teure Locations mithilfe von Raubkopien zu etablieren, findet auch in vielen Videofilmen Anwendung, die ganz oder teilweise im Ausland spielen. Aus dem Internet heruntergeladene Einstellungen, die emblematische Orte westlicher Hauptstädte zeigen, fungieren häufig als Establishing Shots. Ashu Brown hat Einstellungen gewählt, in denen die Passagiere auf dem Deck der Titanic so weit von der Kamera entfernt sind, dass man ihre Hautfarbe nicht mehr bestimmen kann. Diese Auswahl ist zwingend, denn Ashu Brown hat alle handlungstragenden Rollen mit schwarzen Darstellern besetzt – bleiben durften nur die weißen Heizer und eine anmutige weiße Wasserleiche, die schwerelos in Salon der untergehenden Titanic schwebt. Wie Cameron bewegt sich auch Ashu Brown innerhalb der dramaturgischen Struktur, die durch das historische Ereignis des Schiffsuntergangs vorgegeben ist, mit einem gravierenden Unterschied: Cameron historisiert – Ashu Brown aktualisiert: Die Passagiere tragen zeitgenössische Kleidung, außerdem legt die Titanic im Remake in Lagos ab. Cameron schwelgt in einer Ausstattungsorgie: Er empfindet den morbiden Luxus einer vergangenen Epoche bis zum letzten Teelöffel nach, um schließlich alles zu zerstören. Das Geschirr fällt aus den Schränken, Mahagonitüren

12

Vgl. Rouch 1979: S. 59. Siehe dazu auch Teil I, Kap. 1.1, S. 39.

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bersten – Hollywood simuliert seinen Potlachkult13 mithilfe modernster Computertechnologie. Ein exorbitanter Mitarbeiterstab (unter ihnen Historiker und Meeresforscher) hatte die Aufgabe, den Drehort Titanic so originalgetreu wie nur möglich zu rekonstruieren.14 Groteskerweise gehört aber ausgerechnet TITANIC zu den Filmen mit den meisten Filmfehlern – 1912 gab es weder Filterzigaretten noch Kontaktlinsen.15 Ashu Brown dagegen ist kein einziger Fehler unterlaufen, denn er hat eine Vorgehensweise gewählt, die sich grundlegend von der Camerons unterscheidet: Der Hollywood-Regisseur setzt den Reichtum auf der Titanic illusionistisch in Szene. Ashu Brown arbeitet mit einer Dramaturgie der Behauptung. Die Behauptung ist ein Pakt mit dem Publikum, wie diese Abmachung funktioniert, kann man in Shakespeares Sommernachtstraum nachlesen: Eine Truppe von Handwerkern soll die tragische Liebesgeschichte von Pyramus und Thisbe zur Aufführung bringen. Die Liebenden dürfen sich nicht sehen, weil ihre Eltern verfeindet sind, und deswegen kommunizieren sie durch einen Spalt in der Wand zwischen ihren jeweiligen Elternhäusern. Die Handwerker haben aber keine Wand zur Verfügung, also stellt sich einer von ihnen zwischen die Darsteller von Pyramus und Thisbe und behauptet, er sei die Wand, den Spalt kann er mit den Fingern formen. Generell lassen sich also zwei Inszenierungsstile als antipodisch bestimmen:16 Die detaillierte Herstellung einer Illusion (der Zuschauer bleibt hier eher passiv) und die knappen Andeutungen, die in der Theatersprache Behauptungen genannt werden und an die Vorstellungskraft des Zuschauers appellieren.17 Weil Behauptungen Dis-

13

Bei dem sog. Potlachkult handelt sich um rituelle Feste, die indianische Häuptlinge an der Nordwestküste Amerikas veranstalteten und bei denen gelegentlich große Mengen sehr wertvoller Güter demonstrativ zerstört wurden. Vgl. Jonaitis (Hg.) 1991.

14

Es gibt zwei Bücher (Marsh [1997] 1998 und Parisi 1998), in denen die Dreharbeiten von TITANIC Gegenstand sind. Die Autoren, die man als „Hofberichterstatter“ Camerons bezeichnen darf, bemühen sich, dem Rekonstruktionsversuch den Rang einer wissenschaftlichen Recherche zuzuschreiben.

15

www.dieseher.de hat 74 Filmfehler gefunden.

16

Realiter findet man die beiden Inszenierungsstile, die meist implizit durch die Vorlage vorgegeben sind, in den unterschiedlichsten Abmischungen in allen filmischen und theatralen Inszenierungen wieder.

17

Die Theaterwissenschaft spricht hier auch von einem Konkretisieren bzw. Nichtkonkretisieren impliziter oder expliziter Regieanweisungen. Manfred Pfister weist darauf hin, dass das Konkretisieren nicht zwangsläufig die Bühnenwirkung steigere und im Gegenteil tendenziell von der Sprache ablenke. Pfisters Bemerkung ist im Hinblick auf die Untersuchung von afrikanischen Videofilmen interessant, denn hier ist der Dialog von großer Bedeutung. Vgl. Pfister 1988: S. 351. Pfister stellt hier die „Wortkulisse“ der optisch konkretisierten Kulisse gegenüber.

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tanz zum Gezeigten schaffen können, haben Regisseure der Avantgarde immer wieder damit experimentiert: In seinem Film DOGVILLE18 hat Lars von Trier die Straßen nur aufgemalt. Auch Kinder spielen so. Dann heißt es: „Das wär’ unser Haus. Du bist der Vater, und ich bin die Mutter ...“ Im Grunde ist jede Rollenübernahme eine Behauptung, denn der Zuschauer weiß um die Differenz zwischen Schauspieler und Rolle, aber er weiß nie, wie groß sie wirklich ist. Dem Illusionskino ist häufig daran gelegen, die Öffentlichkeit glauben zu machen, dass alles getan wurde, um die Distanz zu minimieren. Für den Film RAGING BULL19 hat sich Robert de Niro für die Rolle des Jake LaMotta einen Bauch von fast 30 Kilo „angefressen“ und erhielt prompt einen Oscar. Bezeichnenderweise heißt es in der Werbung zu Hollywood-Filmen auch häufig nicht „X spielt Y“, sondern „X ist Y“. Während Cameron sich bemüht, eine perfekte Illusion zu schaffen, öffnet Ashu Brown seinem Publikum einen Imaginationsraum. Der Reichtum der Passagiere wird im Dialog behauptet und nicht durch Kostüm und Maske illustriert. Die weibliche Protagonistin heißt bei Cameron Rose, im nigerianischen Video heißt sie Binta und ihr Verlobter heißt Zayyad. Nur wenige Kostümdetails müssen ausreichen, um dem Zuschauer zu vermitteln, dass Zayyad reicher ist als sein Nebenbuhler, ein armer Schlucker, der ihm seine Verlobte schließlich abspenstig machen wird. Aber Ashu Brown weist dem Rollenmerkmal „reich“ damit keine untergeordnete Bedeutung zu, im Gegenteil, er skizziert den Reichtum Zayyads so, dass er in der Vorstellung des Zuschauers geradezu sagenhafte Dimensionen annehmen kann: Während bei Cameron nur 500 Einladungskarten zur Verlobung verschickt wurden, sind es hier 5000 – Das kostet nichts, Zayyad muss es nur sagen ... In gleicher Weise wird im Remake Vergangenheit postuliert: Die weibliche Hauptfigur behauptet, dass die Ereignisse 50 Jahre zurückliegen. Was Ashu Brown dann im Rückblick zeigt, löst diese Aussage gemäß der Maßstäbe, die an illusionistisch konzipierte Filme anzulegen wären, nicht ein. Das Auto, mit dem Binta am Hafen ankommt, ist eindeutig nach 1970 gebaut worden, und die Ausstattung der Innenräume verweist genauso wenig auf die fünfziger Jahre wie die Kostüme. Der Verlobte wird sich wie im Hollywood-Film im Gefolge des Börsenkrachs von 1929 das Leben nehmen. Hier folgt Ashu Brown ausnahmsweise fast wortwörtlich dem Drehbuch Camerons. Ein Rechenfehler? Schlamperei? Vielleicht, aber es stört nicht, denn Ashu Brown geht nicht anders vor als Theaterregisseure im Westen – kein ernst zu nehmender Kritiker schreibt, es sei unlogisch, wenn Wallenstein seine Generäle mittels Powerpointpräsentation informiert und wenn in Wallensteins Lager Nazi-Parolen ausgegeben werden. Ein Theaterkritiker könnte allenfalls beanstanden, dass diese Mittel im Rahmen der Argumentation der Inszenierung nicht

18

DOGVILLE, Dänemark [u.a.] 2003, R.: Lars von Trier.

19

RAGING BULL, USA 1980, R.: Martin Scorsese.

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adäquat eingesetzt worden sind. Ashu Brown hat nicht den Anspruch, Historie zu rekonstruieren und kann somit durchweg Zeitgenossen inszenieren. Anders in dem Hollywood-Film: Kapitän Edward John Smith und Benjamin Guggenheim passen in den opulenten Rahmen von Camerons filmischer Rekonstruktion, Jack und Rose dagegen sind gemäß der filmimmanenten historisierenden Parameter viel zu modern. Cameron hat die beiden Hauptrollen im Hinblick auf die westlichen Teenies (seine Zielgruppe) konzipiert, es wirkt hier allerdings wie ein Stilbruch, wenn Rose mit erhobenem Mittelfinger „fuck off“ signalisiert. Den Regisseuren, deren Remakes im nächsten Kapitel im Zentrum stehen, waren aber nicht nur finanziell enge Grenzen gesetzt. Nach Einführung der Sharia im Norden Nigerias war die Produktion von Videos zunächst völlig verboten, nach Aufhebung des Verbots wurde eine Zensurbehörde eingerichtet: Ab 2001 durften sich Männer und Frauen vor der Kamera nicht mehr berühren, ab 2003 waren auch gemeinsame Tanzszenen unerwünscht.20 Die Kriterien der Sittenwächter sind undurchsichtig: Im TITANIC-Remake tanzen die Hauptdarsteller gemeinsam, außerdem lassen sich zaghafte Berührungen ausmachen.21 Allerdings präsentiert Ashu Brown alle Mitglieder des Filmteams als gläubige Muslime: Nachdem der Film zu Ende ist, zeigt er in einem Making-Of mit dem Titel „The Making/Sirrin Fim Din“, wie das Team gemeinsam betet, bevor mit den Dreh begonnen wird. Es ist nicht immer leicht zu eruieren, ob nordnigerianische Regisseure der Zensurbehörde Zugeständnisse machen oder ob die Verweise auf den Islam und islamische Praktiken die religiösen Überzeugungen des Regisseurs ausdrücken. Letzteres scheint für das Remake von PREDATOR zuzutreffen, das jetzt Gegenstand der Untersuchung ist.

9.1 E IN R EMAKE

VON

P REDATOR

In seiner Westernpersiflage DEATH IN TIMBUKTU verweist Sissako auf ein Filmgenre, das jugendlichen Zuschauern ebenso attraktive Identifikationsangebote macht wie der Western, gemeint ist der US-amerikanische Actionfilm. Die Cowboys sind eben in Timbuktu eingeritten, da zeigt die Kamera einen schmächtigen etwa sechsjährigen Jungen, der trotzig zu den Berittenen aufschaut. Er trägt ein T-Shirt mit dem Label von Nike, neben ihm steht sein verdrecktes Fahrrad mit dem Schriftzug „Rambo“. Actionfilme sind auf dem afrikanischen Kontinent billig zu haben. Nur 3000 Shillingi (etwa zwei Euro) hat die Medienanthropologin Claudia Böhme auf dem Markt von Dar es Salaam für die DVD „Schwarzenegger Classic Moives“ gezahlt. Natürlich müsste es „Classic Movies“ heißen, aber die Hersteller

20

Behrend 2005: S. 156.

21

Behrend 2005: S. 156.

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dieser Raubkopien-Kompilation, ein chinesisches Unternehmen, das sich auf dem Cover originellerweise als Alibaba bezeichnet, können sich nicht mit Korrekturlesen aufhalten. Die Käufer dürften sich an solchen Rechtschreibfehlern kaum stören, haben sie doch mit der Schwarzenegger-DVD 40 Filme der amerikanischen Actionikone par excellence erworben. Regisseur John McTiernan etabliert die Figur, die er mit dem ehemaligen Mister Universum besetzt hat, gleich am Anfang von PREDATOR als Superhelden. „You’re looking good“, sagt der General, als der Bodybuilder sein Büro betritt. Schwarzenegger heißt in dem Blockbuster „Dutch“ – so lebenstüchtig, blond und blauäugig hatten sich Rassenkundler einst die Nordländer gewünscht. Im Hintergrund (sic!) sitzt noch ein Schwarzer: Dillon von der CIA. Er wagt es tatsächlich, den Weißen herauszufordern. Ein Handschlag wird zum Kräftemessen. Der Sieger steht zwar von vorneherein fest, aber der Weg ist das Ziel: Schwarzenegger hat gleich am Anfang Gelegenheit, seine Muskeln spielen zu lassen.22 Laut Auftrag soll Dutch mit einer Spezialeinheit einen Minister befreien, der sich in einer Wildnis jenseits der US-amerikanischen Grenze in der Gewalt von Rebellen befindet. Die Sowjets haben die Aufständischen mit Waffen ausgestattet, also muss Dutch erst mal gegen den Kommunismus zu Felde ziehen, bis er und seine multiethnische Truppe schließlich dem grundbösen Predator gegenüberstehen. Das Monster, eine Mischung aus Urviech und High-Tech-Roboter, fungiert in diesem Film als Prüfstein für Lebenstüchtigkeit. Dillon ist nicht der einzige Afroamerikaner, in Dutchs Spezialeinheit gibt es noch Mac, eine Art Onkel Tom mit Schnellfeuerwaffe. Der Schlauste ist er nicht, aber er hat ein Herz aus Gold: Als sein weißer Freund stirbt, weiß er sich schier nicht zu fassen. Aber seine Empathie macht sich nicht bezahlt – mit dem schwarzen Mac und dem schwarzen Dillon hat der Predator leichtes Spiel. Die anderen können sich genrebedingt nicht damit aufhalten, Tote zu beklagen, Dutch am wenigsten – wo gehobelt wird, da fallen Späne. Den armen Billy erwischt es ebenfalls. Früher nannte man Leute seines Schlages „Halbblut“. Billy schwant einiges, wofür die Weißen keine Sensoren haben. Er schaut ahnungsvoll in die Baumwipfel. Er wickelt sich das Lederbändchen seines Amuletts um die Finger, aber der ganze Hokuspokus nützt ihm genauso wenig wie seinen indianischen Vorfahren. Das „Survival of the fittest“ überlebt nur das Alphamännchen Dutch und ein schönes wildes Weibchen namens Anna, ein Souvenir aus dem Rebellendorf. Die

22

Dyer (1997: S. 145-183) gibt einen historischen Abriss zur Inszenierung weißer Muskeln im amerikanischen Film. Das betreffende Kapitel seiner Publikation White trägt den Titel „The White Man’s Muscles“. In diesem Kontext erwähnt er auch den Film PREDATOR. Vgl. Dyer 1997: S. 156. Detaillierter widmet er sich allerdings dem Schwarzenegger-Film CONAN THE BARBARIAN (USA 1982, R.: John Milius), vgl. Dyer 1997: S. 149ff.

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„Ureinwohnerin“ hatte sich zunächst renitent gegeben, Fluchtversuche unternommen und Spanisch gesprochen. Aber als Anna ihre Integrationsbereitschaft bekundet und urplötzlich Amerikanisch spricht, durchtrennt Dutch ihre Handfesseln mit einem gezielten Schlag seiner Machete. Bei dieser symbolischen Kopulation muss es bleiben, denn Dutch hat keine Zeit für Galanterien. Dem Schwarzenegger-Film CONAN THE BARBARIAN ist ein Zitat vorangestellt, das auch als Motto von PREDATOR herhalten könnte: „That which does not kill us makes us harder“, darunter steht der Name Friedrich Nietzsche. TARZOMAR SHAHADA,23 das hausasprachige24 Videoremake von PREDATOR dagegen beginnt mit einer Widmung: Bevor der Film beginnt, zeigt Regisseur Suleiman Sa’eed ein Mädchen, das lächelnd in die Kamera schaut. Darunter steht, dass dieser Film dem Andenken Balaraba Muhammads gewidmet sei: „May her soul rest in perfect peace. Amen.“25 Wer sich entschließt, einen Actionfilm anzuschauen, weiß, dass er mehr als eine Leiche sehen wird, aber das Genre ist nicht darauf ausgelegt, den Zuschauer anzuregen, über die Vergänglichkeit des Menschen nachzudenken, im Actionfilm geht es um Sieger. Sa’eed hat mit seiner Vorbemerkung zu dem Remake von PREDATOR diesbezüglich eine Akzentverschiebung vorgenommen: Er erinnert an einen realen Tod. Anders als mit dem Nietzsche-Zitat wird hier nicht der Überlebende eines Kampfes in den Blick gerückt, Sa’eed verweist auf ein Leben nach dem Tod. Nietzsche, ein Apologet des Diesseits, hatte behauptet, dass Gott tot sei, Sa’eed bittet für Balaraba Muhammads unsterbliche Seele. Wie die meisten Actionhelden kommt Dutch aus dem Nichts. Der Zuschauer erfährt nichts über seinen Werdegang, nichts über Angehörige und auch im Film selbst geht er keine Bindung ein. Er widmet sich ganz dem Kampf, und diese Beziehungslosigkeit scheint Dutch zum Superhelden zu prädestinieren. Saa’ed hingegen stellt die nordnigerianischen Soldaten, die ausziehen werden, um den Predator zu bekämpfen, jeweils mit einem Angehörigen vor. Zunächst zeigt er einen Sohn: Der junge Soldat steht mit leicht gebeugtem Oberkörper neben seiner Mutter, der er Respekt schuldet. Die Frau steht aufrecht und hat ihre Augen über den Sohn hinausgerichtet. Sie verleiht ihrer Besorgnis wegen des bevorstehenden Kampfeinsatzes Ausdruck. Der Sohn gibt zu bedenken, dass die Familie auf das Geld, das er bei der Armee verdiene, angewiesen sei. Die nächste Einstellung zeigt einen anderen

23

Deutsch: Tödlicher Kampf.

24

Mein besonderer Dank gilt meinem Übersetzer M. Ekililou Godje, mit dem ich diesen Film gesichtet und diskutiert habe. Seine wertvollen Hinweise haben mir entscheidende Impulse bei der Abfassung dieses Kapitels gegeben.

25

Dort heißt es wörtlich „This film is dedicated to Late Balabra Muhaw / May her soul rest in perfect peace. Amen.“ Matthias Krings wies mich darauf hin, dass es sich hier zweifellos um eine falsche Schreibung des Namens Balaraba Muhammad handele.

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Soldaten mit seinem Vater, beide lehnen auf dem Geländer eines Balkons. Die Figuren sind zwar auf einer Ebene, aber der Vater führt das Gespräch. Sein Sohn steht ihm Rede und Antwort, bis er vom Vater schließlich den Segen für sein Vorhaben bekommt. Wieder ein anderer Soldat verabschiedet sich von seiner Verlobten. Er tröstet sie mit dem Versprechen, sie zu heiraten, sobald er wiederkäme. Dann stellt Sa’eed einen Soldat mittels einer Song-and-Dance-Einlage vor. Nach indischem Vorbild setzen nigerianische Regisseure diese Showstopper häufig ein, um Liebesbeziehungen zwischen noch unverheirateten Paaren in Szene zu setzen.26 Hier bewegen sich die Liebenden zwischen Bäumen. Ihre Gesten verweisen auf Liebkosungen, aber sie wahren den von der Zensur vorgeschriebenen Abstand. Wenn die beiden nicht zusammen im Bild sind, nehmen sie Haltungen ein, die Sehnsucht illustrieren. Wie im indischen Film wechseln die Darsteller häufig die Kostüme. Außerdem fügt Saa’ed computergenerierte Spezialeffekte ein, die Erotik suggerieren. Die Schauspieler laufen aufeinander zu – ein Schnitt, und bunte Farben bewegen sich wie in einem Strudel immer schneller auf ein Zentrum zu – Honi soit qui mal y pense. Der nächste Soldat ist älter als die anderen, und er ist verheiratet. Vergeblich versucht er, seine weinende Frau von der Notwendigkeit des bevorstehenden Abschieds zu überzeugen, sie bleibt untröstlich. Schwarzenegger spielt einen, der stur nach vorne schaut.27 Das deutsche Wort Rücksichtslosigkeit beschreibt die Figur des Dutch insofern treffend, als er seinen auf ein zukünftiges Ziel gerichteten Blick als absolut behauptet. Da er siegen wird, scheint es gerechtfertigt, wenn er sich über andere hinwegsetzt. Die anderen Figuren dienen nur dazu, eine Mise en Scène seiner Führungsqualitäten zu ermöglichen. Gleichzeitig macht der Film jedem Zuschauer das Angebot, sich mit der Ausnahmeerscheinung Dutch/Schwarzenegger zu identifizieren. Der Zuschauer leidet nicht mit dem Helden (der Lustgewinn im Actionfilm ist ein anderer als im Melodram) er siegt mit ihm: Wer sich auf die Perspektive des Actionhelden einlässt, braucht selbst vor gigantischen Bedrohungen keine Angst zu haben, denn Schwarzenegger ist omnipotent. Im Gegensatz zur Exposition des Hollywood-Films dient die des Remakes nicht dazu, einen einzelnen Protagonisten zu profilieren. Wenn Namen

26

Brian Larkin hat die Bedeutung der Bezugnahmen nigerianischer Regisseure auf indische Filme insbesondere bei der Inszenierung von Liebesverhältnissen nachgewiesen. Der diesbezügliche Artikel trägt den prägnanten Titel: „Indian Films and Nigerian Lovers“. Vgl. Larkin 1997: S. 406-440.

27

Joe Mathews hat seiner Untersuchung The People’s Machine. Governor Schwarzenegger and the Rise of Blockbuster Democracy ein Zitat aus CONAN THE BARBARIAN vorangestellt: „He did not care anymore. [...] Only the crowd would be there to greet him with howls of lust and fury. He began to realize his sense of worth he mattered.“ (Der Erzähler Wizard über Conan) Mathews 2006: [Vorblatt].

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genannt werden, dann beiläufig – die Individualität der verschiedenen Soldaten, die Sa’eed am Anfang zeigt, scheint nur durch ihre Bindungen auf. Während der Fokus in der amerikanischen Inszenierung von Anfang an auf Dutch gerichtet ist, stehen die Figuren im Remake häufig in Plansequenzen nebeneinander. Der Regisseur stellt sie auf eine Ebene und gibt damit nicht nur den Gefühlen der Soldaten Raum, sondern auch den Gefühlen ihrer Angehörigen. Da alle Figuren Identifikationsangebote machen, öffnet sich eine multiperspektivische Sicht auf die kommenden Ereignisse. Hier zieht keiner begeistert in den Kampf, denn immer kommt die bange Befürchtung auf, dass der Abschied ein endgültiger ist – Gefühle, die im US-amerikanischen Actionfilm kaum Platz haben, eher in einem anderen Genre, dem Kriegsfilm – in PREDATOR wird die Mission als Kampfeinsatz bezeichnet, im nordnigerianischen Remake ist durchgängig von Krieg die Rede. Omnipotent ist hier nur Gott. Bei jeder Trennung fällt der Name Allahs: Man fügt sich in seinen Willen, man erbittet seine Hilfe, man erteilt in seinem Namen den Segen. Im Norden Nigerias kommt der Stein ins Rollen, weil zwei reiche Städter Nutzungsrechte für ein Gebiet im Busch beantragen. Der Regierungsbeamte fordert Schmiergeld, und er weist die Interessenten darauf hin, dass sie das fragliche Gebiet nur nachts erkunden können.28 Anders als im amerikanischen Blockbuster veranlassen hier nicht Rebellen jenseits der Staatsgrenze eine Spezialeinheit, in die Wildnis zu ziehen, es ist die korrumpierte Elite im eigenen Land, die das Böse weckt. Die Amerikaner landen im Dschungel. Im Halbdunkel des Regenwalds akzeptiert der Zuschauer die Bedrohungen, die der Hollywood-Film postuliert: Die Soldaten glauben zunächst einer Sinnestäuschung aufzusitzen, aber dann kristallisiert sich das Monster nach und nach aus einer Luftspiegelung heraus zur sichtbaren Figur. Mit diesem Trick kann das Fabelwesen an Glaubwürdigkeit gewinnen, wie im Horrorfilm29 erweist sich die vermeintlich irreale Bedrohung schließlich als „real“. Sa’eed dagegen lässt eine Gruppe von Menschen in einer Nachteinstellung panisch in Richtung Kamera laufen. In der nächsten Einstellung präsentiert der Regisseur den Anlass der Flucht: eine kristalline Roboterfigur. Ein Schnitt: Nun liegen Leichen im Grass. Die Tricktechnik Hollywoods ermöglicht einen gleitenden Übergang von der kristallinen zur manifesten Erscheinungsform des Predators. Sa’eed

28

Es spricht für sich, dass das Gebiet im Busch nur nachts aufgesucht werden darf. Hier schließt Sa’eed an eine Konvention des afrikanischen Videofilms an: Der Pakt mit dem Bösen des Geldes wegen ist ein populäres Motiv. Vgl. dazu zu z.B:. Wendl 2001: S. 252-268.

29

Meiner Meinung nach ist der Film PREDATOR wegen der Besetzung und der Konzeption der Protagonistenrolle im Genre „Actionfilm“ zu verorten, insbesondere populäre Veröffentlichungen bezeichnen den Streifen allerdings häufig auch als Horror- oder Science-Fiction-Film.

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muss mit einfacheren Mitteln auskommen. Er zeigt das Monster in einem Fotonegativ und verweist so auf dunkle Mächte. Außerdem setzt er die Imagination des Zuschauers in Gang. Ein Fernsehsprecher wirbt mit ernstem Gesicht und belegter Stimme um die Unterstützung der Bevölkerung. Anschließend sieht der Zuschauer, wie verschiedene Gruppen den Nachrichten sichtlich betroffen lauschen. Damit etabliert Sa’eed die zentrale Behauptung des Films: Das Monster bedroht die Gemeinschaft. Weil der Predator hier im Landesinneren tobt, ist die Zahl der potentiellen Opfer größer als im Hollywood-Film, denn dort sind nur die Mitglieder der Spezialeinheit bedroht. Die nächste Einstellung des Remakes zeigt, wie Menschen dem Eingang einer großen Moschee zuströmen. Der Kampf gegen das Ungeheuer bekommt damit eine transzendente Dimension. Die Zuschauer des HollywoodFilms sollen sich auf Schwarzenegger verlassen, die des Remakes sollen auf Gott vertrauen. Dutchs Männer schleppen schweres Geschütz durch den Dschungel. Sa’eed kann seinen Darstellern nur ein paar Jagdgewehre zur Verfügung stellen, aber die Soldaten bedienen ihre Schrotflinten als wären es Schnellfeuerwaffen und vermitteln so glaubhaft, dass sie nicht auf Hasenjagd gehen, sondern gewichtigere Ziele anvisieren. Die Kamera zeigt die Männer der Truppe in Einstellungen, wie sie für den US-amerikanischen Actionfilm typisch sind und nimmt nur den Unterkörper in den Blick, wenn sie sich ihren Gürtel festschnallen. Wie die US-amerikanischen Soldaten tragen die nigerianischen Camouflage-Uniformen. Sa’eed choreographiert sie als Gruppe: Die Männer schnüren sich in einer Reihe sitzend synchron die Stiefel. Dass der Regisseur keinen von ihnen gesondert exponiert, belegt auch die nächste Einstellung, die zeigt, wie die Männer in das Flugzeug steigen, das sie zum Einsatzort bringen wird: Sa’eed positioniert die Kamera unter der Gangway und schaut aus der sogenannten heroischen Perspektive30 zu den Soldaten auf, die er so alle unterschiedslos als Helden etabliert. Im amerikanischen Hubschrauber dröhnt laute dynamische Musik. Während hartgesottene Kerle Maskulinität demonstrieren, indem sie sexistische Witze reißen, erörtert man im Cockpit mit markiger Professionalität die Position des Helikopters. Der Flug ist ein retardierendes Moment. Die wohlige Enge im Innenraum des Hubschraubers steht in scharfem Kontrast zur Bedrohlichkeit des riesigen Dschungels, den der Zuschauer aus der Perspektive der Männer im Cockpit sieht. Wenn die Musik im Helikopter abgestellt wird, erobert die Wildnis den Innenraum des Fliegers, aber den Männern steht der Kampfeswille ins Gesicht geschrieben. Sa’eed kann es sich nicht leisten, in einem fliegenden Hubschrauber zu drehen. Er zeigt die Soldaten im Inneren eines Frachtflugzeuges,

30

In DONBASS SINFONIE: ENTHUSIASMUS (UdSSR 1930, R.: Dziga Vertov) schaut die Kamera beispielsweise von unten zu den Arbeitern auf, die sie damit als Helden präsentiert.

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und die Darsteller müssen durch ihr Spiel vermitteln, dass diese Maschine in die Wildnis fliegt. Anders als im amerikanischen Hubschrauber ist die Musik hier getragen, die Stimmung ist gedrückt. Die Trennung steht im Raum, dazu kommt die Beklommenheit wegen des bevorstehenden Einsatzes. Im amerikanischen Film kommt es im Rebellendorf noch einmal zu einer Auseinandersetzung zwischen Dillon und Dutch, dabei stellt sich heraus, was der Zuschauer längst weiß: Dutch ist Dillon in jeder Hinsicht überlegen. Sa’eed hat die Konfrontation mit den Rebellen gestrichen, stattdessen zeigt er einen langen strapaziösen Marsch zum Einsatzort. Im Kampf gegen die Rebellen profiliert sich nur Dutch, im nigerianischen Remake marschieren alle, und damit erweist sich jeder als gleich verdienstvoll. Aber auch innerhalb der nigerianischen Truppe gibt es Konflikte. Erschöpfung mischt sich mit Angst vor dem bevorstehenden Einsatz. Die Soldaten haben zur Tarnung Laub in Kleidung und Haare gesteckt. Einer hat die Zweige zum Kranz gewunden. Er fängt an zu tanzen und singt dabei ein albernes Lied. Manche lachen, aber einem behagt diese Vorführung nicht, weil er befürchtet, dass solche Faxen die Moral der Truppe schwächen – es kommt zum Streit. Einige sind dafür, dass die beiden Kontrahenten ihren Konflikt handgreiflich austragen,31 aber andere meinen, man sei nicht hier, um zu streiten. Letztere behalten die Oberhand. Die Kontrahenten reichen sich die Hand, und die Truppe marschiert weiter, bis die Soldaten einer nach dem anderen über einen Graben springen müssen. Eine untersichtige Kameraperspektive vergrößert den Sprung, so kommt Action in den eintönigen Marsch. Es lässt sich nicht ausmachen, wer da gerade springt, und damit akzentuiert Sa’eed wieder die Gleichheit der Soldaten. McTiernan hat nach der Auseinandersetzung mit Dillon endgültig eine Hierarchie mit Dutch „on the top“ etabliert. Sa’eed stellt Konkurrenzkämpfe als kontraproduktiv dar und fokussiert die Gruppe als Ganzes. Anders als Ashu Brown fügt Sa’eed keine raubkopierten Einstellungen ein. Er bemächtigt sich der teuer produzierten Bilder aus PREDATOR indirekt, indem er gezielt Erinnerungen an den amerikanischen Blockbuster aufruft. Das ist nur ein zusätzliches Angebot, denn man versteht das nigerianische Remake auch, wenn man PREDATOR nicht gesehen hat. Ein Beispiel: Sa’eed zeigt einen Wasserfall und erinnert damit an die spektakuläre Szene, in der Dutch von einem Wasserfall in die Tiefe gerissen wird. Auf Unterwasseraufnahmen muss der nigerianische Regisseur verzichten. Ein Zitat muss genügen, um die Imagination des Zuschauers anzuregen. Der Wasserfall ist eine Koordinate, die das Terrain, in dem sich die nigerianischen Soldaten bewegen, als ein gefährliches markiert. Darüber hinaus evoziert der Regis-

31

Ekililou Godje wies mich darauf hin, dass Sa’eed hier auf eine gängige Konfliktlösungsstrategie anspielt, auch wenn es Spannungen zwischen Geschwistern gibt, würden diese nicht selten aufgefordert, sich zu prügeln, um die Angelegenheit zu bereinigen.

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seur den Ernst der Lage im Dialog. Über Handy kommt die Ansage von der Kommandozentrale, „Be brave! Try your best!“ – der Zuschauer ist gewarnt, die Bedrohung ist etabliert. Wie im Hollywood-Film schaut die Kamera im nordnigerianischen Busch häufig durch Laub auf die Soldaten und suggeriert dem Zuschauer damit, dass in der Wildnis etwas lauert. Die Soldaten ahnen noch nichts, aber der Zuschauer weiß, dass sie in das Fadenkreuz des Predators geraten sind. Wer den amerikanischen Blockbuster gesehen hat, fühlt sich an dieser Stelle unwillkürlich an die sensationellen Einstellungen auf infrarot empfindlichem Filmmaterial erinnert, die dort aus der subjektiven Perspektive des Monsters aufgenommen wurden.32 Wer sich nicht darauf versteift, Defizite zwischen Hollywood-Produktion und nigerianischem Remake zu konstatieren, kann die Erinnerung an die eindrucksvollen Einstellungen, die Sa’eed durch sein Zitat aufruft, ergänzen. Aus der Ferne ertönt durchdringendes Heulen – der Predator. Im amerikanischen Film agiert er völlig lautlos, hier kündigt er sich lautstark an. Sa’eeds Modifikation macht Sinn: In dem Dschungel, in dem sich die amerikanische Spezialeinheit bewegt, sieht man kaum Himmel. Auch der Zuschauer fühlt sich zwischen den Lianen und den gigantischen Bäumen gefangen, bis er plötzlich in schwindelnder Höhe die noch kristalline Erscheinung des Predators entdeckt. Das Fabelwesen ist im Licht, die Bedrohten in der Dämmerung des Dschungels. Von nun an schwebt der Predator (ob sichtbar oder unsichtbar) lautlos wie ein Damoklesschwert über den Häuptern der Soldaten. Diese Situation kann Sa’eed im Busch unmöglich herstellen. Die Bäume sind zu niedrig, das gleißende Sonnenlicht bricht durch das Laubwerk. Im Remake besetzt ein markerschütterndes Geheul das Terrain. Der Schrei des Predators suggeriert zunächst zwar nur die Gefährlichkeit eines wilden Tieres, aber schon zuckt in einer kurzen Einstellung ein gewaltiger Blitz über einen Nachthimmel, und der Zuschauer weiß, dass dunkle Mächte im Spiel sind. Nur in einer Szene tritt der Führer der nordnigerianischen Einheit aus der Gruppe der übrigen heraus: Nachdem die Basisstation mitgeteilt hat, dass sich die Truppe im Aktionsradius des Predators befindet, spricht der Kommandant zu seinen Soldaten. Danach herrscht große Betroffenheit. Einer erinnert sich an seine ferne Liebe. Es folgt eine Song-and-Dance-Einlage, die im Unterschied zur ersten im städtischen Raum angesiedelt ist. Das Paar tanzt nun um ein glänzend poliertes Auto herum.33 Als der Träumer wieder in der Realität ankommen muss, wischt er sich die Tränen weg. Er schämt sich seiner Regung nicht und lässt sich von einem einfühlsamen Kameraden trösten. Solche Gefühlsduseleien sind Dutch fremd. Er braucht keine Hilfe. Die nigerianischen Soldaten sind da weniger selbstgewiss – sie

32

Damit suggeriert McTiernan, dass der Predator nur infrarotes Licht wahrnimmt.

33

Im nigerianischen Film sind häufig auch dann funkelnagelneue Autos als schmückendes Beiwerk zu sehen, wenn sie in der Szene überhaupt keine Funktion haben.

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beten zu Allah. Der Großteil der Truppe richtet sich in einer Reihe gen Mekka aus, mit ihren Ellenbogen halten die Soldaten beim Beten Kontakt zum Nebenmann. Die Übrigen wachen, das Gewehr im Anschlag, um die Betenden zu schützen. Die Spannung ist jetzt auf dem Höhepunkt. Gleich muss es losgehen – da verweist Sa’eed mittels eines Werbeblocks auf andere Actionfilme, die er gedreht hat. Nach der Unterbrechung setzt der Regisseur in medias res ein und zeigt einen computergenerierten Kristallroboter. In der nächsten Einstellung manifestiert sich der Predator als Science-Fiction-Drachen-Homunculus. Er trägt einen mit Nieten besetzten Anzug aus schwarzem Leder, auf seinem kugelrunden schwarzen Kopf kleben zu grünen Dreiecken aufgestellte Haare, und das Monster schaut aus großen weißen Kugelaugen auf die Soldaten. Der Predator des amerikanischen Blockbusters ist aus einem Raumschiff geplumpst, aber er geriert sich so martialisch wie dazumal in Western die „Rothäute“ – die Reste seiner menschlichen Opfer sehen aus wie Überbleibsel finsterer Ritualmorde. Gleichzeitig evoziert der Unhold aus Hollywood diffuse Zukunftsängste, denn er verfügt über ein aus Science-FictionFilmen wohlbekanntes Waffenarsenal. Der Predator des Remakes begnügt sich damit, seine Opfer in den Busch zu zerren, er hängt sie nicht wie sein Kollege aus Hollywood gehäutet und kopfüber an Bäume, aber auch er tötet mit Hilfe computergenerierter Spezialeffekte: Aus den Augen entlädt sich todbringende Spannung, die via Leuchtkugel auf den Gegner trifft, vor der Brust zucken Blitze,34 und das Monster spuckt tödlichen grünen „Slime“. Bei der Inszenierung des Kampfs gibt Sa’eed durch dynamische Musik und rasch aufeinander fallende Schüsse einen schnellen Rythmus vor, aber er verlangsamt die Aktion durch Zeitlupe. So entsteht eine albtraumähnliche Dissonanz zwischen sich überstürzenden Befürchtungen und körperlicher Lähmung. Dieser wohlbekannte Effekt lässt sich auch mit bescheidenen filmtechnischen Mitteln herstellen. Der Soldat, der seiner Liebsten die Heirat versprochen hatte, stirbt – Sa’eed rückt seine trauernde Verlobte ins Bild. Auch der junge Mann, der am Anfang des Films mit seinem Vater zu sehen war, fällt – in der nächsten Einstellung zeigt der Regisseur den Vater. Die anderen Soldaten reden den Sterbenden zu. Dutch kümmert sich zwar darum, dass Verletzte geborgen werden, aber er hat keine Zeit, sich als Seelsorger zu gerieren, er muss seine Muskeln zeigen. Im Hollywood-Film sind die Soldaten zwar über Funk mit der Kommandozentrale in den USA verbunden, sie nehmen aber nur spärlich Verbindung auf – Dutchs einsame Größe tritt so deutlicher in Erscheinung. Anders im Remake: Die nigerianische Einheit steht durchgängig in Kontakt mit der Basis. Die Gesprächsteilnehmer sprechen dann (wie in der nigerianischen Armee üblich) meist englisch, aber sie verwenden bevorzugt Dialog-Versatzstücke aus dem US-amerikanischen

34

Zur der von Behrend sogenannten „Ikonografie der Elektrizität“ vgl. Teil I, Kap. 3.2, S. 123f und Behrend 2008. [Internetquelle]

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Actionfilm. In der nigerianischen Basisstation steht ein Mann, der den Kampf über Kopfhörer verfolgt. Er lauscht mit schockstarrem Gesicht, seine Augen sind in die Ferne gerichtet, so als sähe er ein Massaker ungeheuren Ausmaßes vor sich. Mit dem Wechsel vom Einsatzort zur Basisstation gelingt es Sa’eed, den Mangel an spektakulären Bildern auszugleichen: Weil der Zuschauer die Reaktionen auf die Informationen aus dem Busch sieht, kann er sich ein Bild von der Brutalität des Kampfes machen. Außerdem kommt damit eine gegenläufige Bewegung in den Film: Durch die Kontaktaufnahme wird einerseits deutlich, dass die Soldaten weit von zu Hause entfernt sind, andererseits kann so die Intensität der weiterbestehenden Bindung aufscheinen. Mental wird die Distanz überbrückt – die Soldaten sind damit in einen größeren Kontext eingebunden. Wie im Hollywood-Film kommt der Predator im Remake am Schluss über eine Brücke. Eine Standardsituation: Wenn der Antagonist auf einem schmalen Weg auf die Kamera zukommt, weiß der Zuschauer, dass der finale Showdown bevorsteht. Jetzt kommt über Handy die Anweisung, alles zu unternehmen, damit das Monster nicht an das andere Ufer kommt. Daraus muss der Zuschauer schließen, dass der Fluss die Grenze zwischen der Wildnis und dem von Menschen besiedelten Gebiet markiert, anders formuliert: die bedeutsame Unterscheidung von Natur und Kultur. Vielen Westafrikanern gilt der von „Heiden“ bewohnte Busch als Gegenstück zu dem geordneten „moralischen Universum“ des „kultivierten“ Gebiets.35 Der Soldat, der mit der Basisstation telefoniert, hat sich aus Angst hinter einem Brückenpfeiler versteckt, jetzt nimmt er seinen Mut zusammen und tritt dem Ungeheuer entgegen. Er fällt dem Monster zum Opfer. Nun betritt der letzte noch lebende Soldat die Brücke. Dutch besiegt den Predator mit Strategie und Muskelschmalz. Der Nordnigerianer ruft „Allah ist groß“ und feuert – bisher waren alle Schüsse an dem Monster abgeprallt, aber die Evokation Allahs bringt den Predator zu Fall. Im amerikanischen Film will das Monster nicht alleine in den Tod gehen und zündet im Sterben noch flugs ein paar Massenvernichtungswaffen. Doch schon naht der Helikopter, in dem Dutch neben Anna (der einzigen Frau in diesem Film) Platz nimmt. Die Kamera zeigt einen mit Schlamm beschmierten Sieger. Im Remake wird die Aufmerksamkeit des Zuschauers in der letzten Einstellung nicht auf den Überwinder des Predators gerichtet, sondern auf den Soldaten, der ihm zuletzt zum Opfer gefallen ist. Der letzte Überlebende der Truppe kniet von Trauer geschüttelt neben dem Toten und ruft ihn laut beim Namen. Damit tritt erstmals ein einzelner Soldat als ein dezidiert mit seinem Namen bezeichnetes Individuum in den Vordergrund. Suleiman hat den Predator zwar nicht besiegt, aber er ist (wie die anderen vor ihm) als Märtyrer gestorben. Auf schwarzem Grund erscheint in Großbuchstaben der Schriftzug „Alhamdulillah“, zum Lobe Gottes.

35

Vgl. dazu Krings 2009a: S. 46.

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Bei flüchtiger Sichtung könnte man das nordnigerianische Remake als Pastiche des US-amerikanischen Actionfilms klassifizieren, anders als bei den untersuchten afrikanischen Westerntransformationen scheint hier nichts auf eine Genrekritik hinzudeuten. Wie der Werbeblock in der Mitte von TARZOMAR SHAHADA belegt, hat sich Sa’eed auf Filme mit spektakulären Aktionen spezialisiert und ingeniöse Strategien entwickelt, um mit wenig Geld große Effekte zu erzielen. Die Ausstattung, die Kameraeinstellungen und die Standardsituationen, derer sich der Regisseur bedient, weisen darauf hin, dass er unzählige Actionfilme gesehen hat. Ist der nordnigerianische Regisseur also ein zwar mitteloser, aber geschickter Epigone Hollywoods? Sa’eed knüpft an Konventionen an, die sich im afrikanischen Videofilm etabliert haben. Er entlehnt Elemente aus dem indischen Film und präsentiert eine eigenwillige Legierung aus Actionfilm, Melodram und Kriegsfilm. Das Remake zeigt vieles, was der amerikanische Film ausspart: Beziehungen, Angst und Trauer. Damit gibt der Regisseur Situationen und Befindlichkeiten Raum, die nicht recht in das Actiongenre passen wollen, das die Inszenierung brutaler Gemetzel als Unterhaltung deklariert. Hier scheint unverkennbar Skepsis gegenüber dem Menschenbild auf, das der PREDATOR und die meisten anderen Actionfilme vermitteln. Sa’eed hat vieles modifiziert, um billiger produzieren zu können, aber die signifikantesten Veränderungen betreffen die Rollenkonzeption, und just die ist keiner materiellen Notwendigkeit unterworfen. Sa’eed hat sich explizit gegen eine Konstellation entschieden, in der sich ein Einzelner vor den anderen auszeichnen kann. Dieser Verzicht ist umso bemerkenswerter, als man meinen könnte, dass ein Schwarzenegger-Film nicht ohne einen zentralen Akteur auskommt. „Arnold has always built his movies around his body [...] somehow he convinces us that an extraordinarily body is necessary for each story to be plausible.“36 schreiben Michael Blitz und Louise Krasniewicz. Laut George Lakoff ist Schwarzenegger die Ikone der Ära Bush, und seine Filme sind Teil einer Infrastruktur zur Kommunikation konservativer Ideen: „The conservative worldview [...] assumes that the world is dangerous and difficult and that children are born bad and must be made good. [...] the big thing is discipline and moral authority, and punishment for those who do something wrong. That comes out very clearly in the Bush administration’s foreign and domestic policy.“37

Eine Actionikone reagiert nicht, sie agiert, aber interessanterweise ist bei der Analyse der Konzeption von PREDATOR das Bemühen erkennbar, das offensive Verhalten Dutchs als defensives darzustellen. Dass die US-Spezialeinheit außerhalb der

36

Blitz/Krasniewicz 2004: S. 125.

37

Lakoff 2003: [im Interview mit Bonnie Azab Powell]. [Internetquelle]

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USA agiert, wird damit begründet, dass der Helikopter eines Mitglieds der USRegierung jenseits der Grenze von Rebellen abgeschossen wurde. Den fraglichen Minister bekommt man zwar nie zu Gesicht, aber Dutch fühlt sich legitimiert, das ganze Rebellendorf niederzumetzeln. Diese Selbstgewissheit kennzeichne alle Rollen, die Schwarzenegger spiele, meint Lakoff: „He knows what’s right and wrong, and he’s going to take it to the people. He’s not going to ask permission, or have a discussion, he’s going to do what needs to be done, using force and authority.“ 38 Da sich in Schwarzeneggers gestähltem Körper der konservative Wert „Disziplin“ manifestiere, sei er die Chiffre einer Moral, deren Parameter im Verlauf der Filmhandlung exemplifiziert werden. Der nordnigerianische Regisseur folgt im Großen und Ganzen dem Gang der Ereignisse, der in PREDATOR vorgegeben ist, aber Sa’eed verzichtet darauf, einen Actionhelden zu exponieren, und das sicher nicht, weil er glaubt, keinen geeigneten Darsteller zu haben. Moral kann auch anders in Erscheinung treten, als im Körper eines Bodybuilders – Sa’eed hat eine andere Manifestation gewählt: Er rückt eine Gemeinschaft gläubiger Muslime ins Zentrum seines Films. Sie evozieren den eigentlichen Protagonisten von TARZOMAR SHAHADA, und der heißt Allah. PREDATOR erschien 1987, also zwei Jahre vor dem Amtsantritt von Bush senior. Das Remake erschien aber erst 2002, da war schon sein Sohn im Amt. Der Predator steht für das Böse schlechthin, und dem hatte nach dem 11. September 2001 auch Bush junior den Kampf angesagt. Im von ihm ausgerufenen „Krieg gegen den Terror“ war von einer „zivilisierten Welt“ jenseits einer „Achse des Bösen“ die Rede. Michael Blitz und Louise Krasniewicz glauben, dass so obskure Kategorien wie „das Böse“ bereits durch die Filme Schwarzeneggers wieder verstärkt in den zeitgenössischen Diskurs eingebracht worden waren: „If you were an anthropologist trying to understand contemporary America, you would do well to pick Arnold [Schwarzenegger] as your starting point.“39 Wie hoch man den Einfluss Schwarzeneggers auf die US-amerikanische Politik auch bewerten mag, eins ist sicher: Sa’eed hat den Film PREDATOR als Repräsentation der ideologischen Konstrukte der Bush-Ära wahrgenommen. Der Filmkritiker Roger Ebert hat mit der Konzeption der Predator-Rolle ein Problem: „Why would an alien species go to all the effort to send a creature to Earth, just so that it could swing from trees and skin American soldiers?“40 Tatsächlich wollen die Laserwaffen des Monsters nicht recht zu seinen archaisch anmutenden Häutungen passen, aber aus nordnigerianischer Perspektive mag sich das anders darstellen. Wie die Gräuel der kolonialen Ära und die Demütigungsrituale in irakischen Gefängnissen belegen, schließen sich avancierte Technologie und barba-

38

Lakoff 2003: [im Interview mit Bonnie Azab Powell]. [Internetquelle]

39

Blitz/Krasniewicz 2004: S. IX.

40

Ebert 1987. [Internetquelle]

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rischer Sadismus realiter nicht aus. In Anlehnung an den Hollywood-Film inszeniert Saa’ed den Kampf gegen den Predator als einen zwischen Gut und Böse, aber er nutzt die Gelegenheit, um Bushs Kategorisierung von Gut und Böse zu invertieren: Die moralisch integren Soldaten, die in seinem Film die „zivilisierte Welt“ repräsentieren, sind Muslime. Der Erste, der sich dem Predator entgegenstellt, trägt ein Palästinensertuch über der Uniform, und er stirbt als Märtyrer. Fast alle, die in diesem Film auftreten, führen Allah im Mund. Anders als im Hollywood-Film tobt der Kampf in TARZOMAR SHAHADA im Landesinnern, und das Böse wurde durch zwei Grundstückspekulanten und einen bestechlichen Regierungsbeamten geweckt. Bekanntermaßen schwelt in Nigeria ein Konflikt zwischen dem muslimischem Norden und dem christlichem Süden. Wie Krings bemerkt, bemäntelt der angeblich religiös gegründete Interessensgegensatz Verteilungskämpfe, denn der Norden ist ärmer als der Süden.41 2002 war Olusegun Obasanjo, ein Südnigerianer und Christ (wie Bush junior), Staatspräsident, und bereits im Oktober 2001 war Nigeria der Allianz gegen den Terror beigetreten.42 In TARZOMAR SHAHADA tritt keiner der Soldaten als glühender Vaterlandsverteidiger auf. Der Abschied von den Angehörigen fällt allen schwer, zwei begründen ihre Armeezugehörigkeit explizit mit materiellen Notwendigkeiten, doch die gläubigen Muslime besiegen den Feind im Landesinnern ...

9.2 E IN R EMAKE

VON

T ITANIC

Im Jahre 1816 erlitt Julien Schmaltz, der designierte Gouverneur des Senegal, vor der Küste Mauretaniens Schiffbruch, weil ein Kapitän verantwortungslos gehandelt hatte. Bekannter als das Schiff ist das sogenannte „Floß der Medusa“, das man nun mit etwa 150 Menschen zu Wasser ließ und auf dem Europäer zu Kannibalen wurden. Schmaltz befand sich zwar auf einem der wenigen Rettungsboote, mit denen das Floß zunächst vertäut war, aber weil man nicht schnell genug vorankam, kappte man einfach die Taue. Aus Sicht der Zeitgenossen war das kaum weniger verwerflich als der Kannibalismus auf dem Floß: Man diskutierte das Ereignis als Beleg für die Unmoral der Führungselite.43 Von den zahlreichen Bearbeitungen des Stoffes sei hier nur Géricaults berühmtes Gemälde „Le radeau de la Méduse“44 erwähnt. Peter Weiss hat das Bild zum Gegenstand seiner „Ästhetik des Widerstands“ ge-

41

Vgl. Krings 2004: S. 253f.

42

Vgl. Krings 2009a: S. 35.

43

Uta Schaffers hat zu dem Schiffbruch der Medusa und den daran anschließenden Diskursivierungen gearbeitet. Vgl. Schaffers 2007: S. 21-44.

44

Théodore Géricault 1819: Le radeau de la Méduse (Louvre).

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macht, weil Géricault die „Opfer des beginnenden Kolonialstaates und des weiter wirkenden Menschenverschleißes“45 darstelle. Seit 1912 ist allerdings ein anderes Schiff populärer als die Medusa – die Titanic. Der gesunkene Luxusliner ist zum Schiff schlechthin, sein Untergang zur Metapher geworden. Derek Boles notiert: „Trained historians sometimes condescendingly refer to Titanic as „popular history“ in which complex processes are ignored in favor of collecting facts and emotional vignettes. Academic historians generally believe the Titanic disaster was relatively insignificant in the historical scheme of things. They decry the attempts of amateur historians to invest social and political significance in the disaster. School history textbooks covering the era frequently don’t even mention the event.“46

Aus geschichtswissenschaftlicher Sicht mag dem Untergang der Medusa (zumal im afrikanischen Kontext) mehr Bedeutung beizumessen sein als dem Untergang der Titanic, afrikanische Bearbeitungen dieses Stoffes sind mir allerdings nicht bekannt. Die beiden Schiffbrüche weisen aber signifikante Analogien auf. Die Havarien wurden durch die Inkompetenz und Arroganz der Eliten an Bord heraufbeschworen. Die Mikrokosmen, die Schiffbruch erlitten, repräsentierten extrem stratifizierte Gesellschaften. Das Floß der Medusa war wie die Titanic ein Huis clos, alle Schiffbrüchigen saßen im wahrsten Sinne des Wortes in einem Boot. Da auf der Titanic Mangel an Rettungsboten herrschte und auf dem Floß der Medusa Mangel an Nahrungsmitteln, wurde die moralische Verfasstheit des Einzelnen auf die Probe gestellt. Beide Schiffe legten in Europa ab: Die Medusa fuhr zu einer neuen Kolonie: Die Franzosen waren beauftragt, die englischen Kolonialherren abzulösen. Die Passagiere der Titanic fuhren zu einer ehemaligen Kolonie, die sich aber aus europäischer Sicht als neue Welt darstellte. Camerons erfolgreicher Film hat in Afrika das Interesse am Untergang der Titanic geweckt,47 was sich in zahllosen Bearbeitungen des Stoffs niederschlägt: Captain Mukandala bietet dem tanzanischen Publikum eine mit swahilisprachigen

45

Weiss [1978] 2005: S. 431. Vgl. auch S. 425-432. Weiss (S. 427) bemerkt, dass die stehende Figur auf Géricaults Gemälde, die der rettenden Fregatte zuwinkt, ein Afrikaner ist. Weiss notiert: „[er] ließ den Gedanken aufkommen an die Befreiung aller Unterdrückten.“

46

Boles [2010]. [Internetquelle]

47

Krings stellt heraus, dass Camerons Film in einer langen Reihe von Bearbeitungen des Titanic-Stoffes steht und er weist darauf hin, dass afroamerikanische Künstler das Thema lange bevor Camerons Film erschien in Liedern aufgegriffen haben. In Afrika wurde das Sujet erst durch Camerons TITANIC populär. Vgl. Krings 2009b: S. 25-43.

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Kommentaren versehene Version des Hollywood-Films an.48 Krings hat noch weitere Bearbeitungen des Blockbusters ausfindig gemacht, ein Videoclip der kongolesischen Band BCBG etwa und eine Musikkassette einer tanzanischen AdventistenKirche.49 Mit Camerons Film haben die Bearbeitungen nicht mehr viel zu tun. Dass sich andere Folien vor den Hollywood-Film geschoben haben, lässt sich an einem prägnanten Beispiel zeigen: Die Religion kommt im amerikanischen Blockbuster nicht gut weg. Der Gottesdienst, der auf Camerons Titanic stattfindet, scheint den Passagieren der ersten Klasse vorbehalten zu sein. Als die VIPs baden gehen, unternimmt der Pfarrer einen lächerlichen Versuch, seine Schäfchen heil in die Gefilde einer besseren Welt zu führen. Warum also hat sich ausgerechnet eine AdventistenKirche mit Camerons Film befasst? Im religiösen Fundus liegt die Arche vor Anker. An Bord befinden sich der untadelige Noah und seine Frau, dazu von jedem Tier ein Paar. Noah hat ein gottgefälliges Leben geführt. Er wird errettet – die sündige Besatzung der Titanic geht unter. Die Titanic erscheint vor diesem Hintergrund als ein Negativbild der Arche. In der letzten Zeile eines Songs der tanzanischen Adventisten heißt es: „And now the world is just like the Titanic – about to sink [...] The world will sink and men will perish.“50 Mit dem Remake von Ashu Brown steht in dieser Untersuchung eine TITANIC-Bearbeitung im Zentrum, die vergleichsweise eng an Camerons Film anschließt, und doch einige prägnante Modifikationen aufweist. Das faktische Geschehen während der Jungfernfahrt der Titanic scheint bereits die Elemente diverser dramatischer Formen in sich zu bergen.51 Die Ereignisse lassen sich als Tragödie, als moralisch erbauliche Parabel und als kulturkritisches Lehrstück inszenieren. Wenn man die Rollenübernahmen in Camerons TITANIC mit denen des Remakes vergleichen will, sind zunächst drei Fragen zentral: Wie bedingt der Rahmen „Titanic“ die Rollenkonstellation? Wie setzt der Untergang die Mechanik des Melodramas in Gang? Für was steht die vermeintlich universelle Metapher „Schiffsuntergang“ im jeweiligen gesellschaftlichen Kontext? Behrend stellt fest, dass der Regisseur gleich am Anfang des Films an die Opfer des Sklavenhandels erinnert: „Kurz nach dem Vorspann erscheint ein Insert, eine Tafel, auf der in Haussa geschrieben steht, dass dieses Video allen Afrikanern gewidmet ist, die beim Untergang der Titanic im

48

Vgl. Groß 2010.

49

Vgl. Krings 2009b: S. 35ff.

50

Zitiert nach Krings 2009b: S. 39. Krings stellt die Bezugnahme der Adventisten auf die Verheißung des Propheten Daniel (9:14) heraus, auf die sich ihr Glaube an ein zweites Erscheinen Christi bezieht.

51

Boles [2010]. [Internetquelle]

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atlantischen Ozean starben. Diese Widmung ruft die Erinnerung an den transatlantischen Sklavenhandel und seine Opfer auf und rückt die Titanic in eine afrozentrische Perspektive. Tatsächlich kommt dem Schiff im afrozentrischen Diskurs eine zentrale Rolle zu. Der Terror des Regimes der Sklaverei verdichtet sich im Sklavenschiff, das den Raum zwischen Europa, Amerika und den karibischen Inseln verbindet und organisiert.“52

Festzuhalten ist außerdem, dass der Begriff „Schiff“ in Zusammenhang mit der Evokation des afrikanischen Kontinents die Bilder und Berichte von Flüchtlingsbooten aufruft, in denen unzählige Afrikaner in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft ihr Leben riskieren.53 Das Schiff ist ein Artefakt, das es dem Menschen ermöglicht, sich dort aufzuhalten, wo er nicht hingehört, doch sobald das Schiff untergeht, droht der Tod. Im Hinblick auf Rollenkonstellationen sind die dramaturgischen Prämissen, die sich aus dieser Ausnahmesituation ergeben, erwähnenswert: Die Menschen, die den sicheren Hafen verlassen, werden eine bestimmte Zeit zusammenbleiben. Vom Kapitän bis zum blinden Passagier hat jeder seine Rolle. Die Konventionen an Bord sind zwar zunächst noch im Regelwerk des Festlandes verankert, doch besonders angesichts drohender Gefahr können Regeln und Rollenverteilungen außer Kraft gesetzt werden. Uta Schaffers spricht in diesem Kontext von einer „Sprengung der labilen kulturellen Ordnung“.54 Das Schiff sei „das größte Imaginationsarsenal“ ein „Ort ohne Ort“, „die Heterotopie schlechthin“, schreibt Michel Foucault.55 Im Gegensatz zu Utopien, die er als „Platzierungen ohne wirklichen Ort“56 bezeichnet, definiert Foucault Heterotopien als „realisierte Utopien“, innerhalb derer „die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind“.57 Wie Cameron verquickt Ashu Brown eine „boy meets girl story“ mit einer „poor meets rich story“. Einige Rollen repräsentieren die Verhältnisse auf dem Festland, andere bestreiten sie, und der Untergang wird die Anfangskonstellation zumindest teilweise wenden. Cameron inszeniert drei aufeinander bezogene Geschichten: Auf einem Expeditionsschiff, das einen im Wrack der Titanic vermuteten Diamanten sucht, erzählt eine alte Frau, unter welchen Umständen ihr dieser Diamant kurz vor dem Schiff-

52

Behrend 2005: S. 259. Behrend verweist hier auf Gilroy 1993, dessen Gedanken zum „Black Atlantic“ in diesem Kontext in der Tat bemerkenswert sind. Siehe z.B. die Ausführungen zu „living memory“, Gilroy 1993: S. 187ff.

53

Krings (2009b: S. 42) berichtet, dass das größte Schiff, das je im Senegal gebaut wurde, Titanic hieß und dazu bestimmt war, Migranten in die USA zu befördern.

54

Schaffers 2007: S. 23.

55

Foucault [1967] 1992: S. 46.

56

Foucault [1967] 1992: S. 38.

57

Foucault [1967] 1992: S. 39.

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bruch von ihrem Verlobten geschenkt wurde (fiktive Rahmenhandlung). Die Titanic rammt einen Eisberg und sinkt (Inszenierung des historischen Ereignisses). Eine Verlobung, von der die alte Frau erzählt, geht wegen einer Liebesgeschichte, die sich an Bord der Titanic entspinnt, in die Brüche (fiktive Binnenhandlung). Cameron braucht mehr als drei Stunden, um diese Narrative durchzuführen. Das Remake dauert weniger als zwei Stunden. Ashu Brown hat radikal gekürzt58 und löst eines der drei Narrative, nämlich die Rahmenhandlung, nicht auf. Cameron zeigt wie die Erzählerin stirbt, der nigerianische Regisseur nicht: Der Film endet mit der Ankunft der Überlebenden auf dem Festland. Sofern ein Zuschauer Camerons Film gesehen hat, kann er den Schluss demgemäß ergänzen oder sich einen anderen Schluss ausdenken. Doch Ashu Browns Bearbeitung ist nicht nur durch Auslassungen gekennzeichnet, denn er fügt noch eine zweite Spielebene ein, die bei Cameron nicht angelegt ist. Wie im Remake von PREDATOR gibt es in MASOYIYATA/TITANIC mehrere Gesangs- und Tanzeinlagen. Ashu Brown eröffnet den Schauspielern damit einen illusionären Raum. Innerhalb der übergeordneten Rolle übernehmen die Darsteller andere Rollen, in denen sie die auf Liebe und Eros bezogenen Tagträume ihrer Figuren darstellen können.59 In dem Remake des Films TITANIC gewinnt insbesondere die weibliche Hauptfigur dadurch an Vielschichtigkeit: Während der Gesangseinlagen ist sie in diversen Rollen zu sehen, die Konflikte mit der sozialen Rolle aufscheinen lassen, die sie auf der Spielebene übernehmen muss, die der Film als Realität postuliert. Ashu Brown verwendet die Showstopper nicht nur, um die Auflagen der Zensurbehörde zu umgehen. Er zieht einen doppelten Boden in das von Cameron entworfene Melodram ein, auf dem er Probleme der Identität verhandelt und zeigt, was sich hinter sozialen Inszenierungen verbergen kann. Das Melodram entsprach einst dem Publikumsgeschmack eines aufstrebenden Bürgertums, das sich dem als dekadent empfundenen Adel moralisch überlegen fühlte, im Zentrum stand deswegen der Kampf zwischen dem Tadellosen und dem Verwerflichen. Zwingend brauchte es deshalb ausgemachte Bösewichte, an denen sich die seelische Vortrefflichkeit der Identifikationsfiguren beweisen konnte. Häufig griffen die Autoren auf das folgende, heute immer noch populäre, Schema zurück: Ein reines Herz lässt sich nicht vom Charme der Dekadenz verführen, sondern es gibt sich vorurteilsfrei einem anderen Herzen hin, das ihm an Vortrefflichkeit

58

Der Film dauert etwa eine Stunde und 20 Minuten. Behrend (2005: S. 257) schreibt, Ashu Brown habe „die Liebesgeschichte zwischen Jack und Rose mehr oder weniger Einstellung für Einstellung“ nachgedreht. Diese Behauptung ist unhaltbar: Ashu Brown übernimmt zwar einige der bekanntesten Szenen, etwa den Auftritt von Jack in der ersten Klasse, aber er löst sie mit ganz anderen Einstellungen auf.

59

Vgl. Behrend 2005: S. 259/260.

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ebenbürtig ist, auch wenn der Besitzer oder die Besitzerin (noch) arm ist.60 Die Liebe ist hier eine moralische Größe. Im Hollywood-Film erweisen sich nur die Protagonisten als liebesfähig. Im nordnigerianischen Remake lieben auch die Antagonisten, da sie jedoch unter Liebe etwas anderes verstehen als die Protagonisten, gibt es trotzdem Krach. Cameron erfüllt den Genrevertrag des Melodrams: Der Zuschauer weiß sofort, aus welcher Perspektive er auf das Geschehen blicken soll. Nicht aus der Cal Hockleys, denn der Verlobte von Rose ist der Böse. Schon mit dem ersten Satz outet er sich als Materialist der übelsten Sorte, und er wird später mit der Arroganz des Besitzenden dem Untergang der Besitzlosen zuschauen. Cal intrigiert und denunziert. Um in ein Rettungsboot zu kommen, besticht er das Personal, ja er schnappt sich sogar ein weinendes Kind, um einen Platz zu ergattern – kaum in Sicherheit, dreht er es irgendeiner x-beliebigen Frau an. Diese Rolle durchläuft keine Entwicklung: Von Anfang an ist klar, dass Cal seine Verlobte Rose nicht versteht, aber anstatt diesem Missstand im Blick auf eine gemeinsame Zukunft abzuhelfen, beschwert er sich über sie bei ihrer Mutter. Diese unkluge Taktik behält er bei: Er vertraut auf die Macht des Geldes – einen Diamanten bekommt Rose von ihm, aber Liebe?! Cal behält stets die Kontrolle über sich. Er lässt sich angesichts des Nebenbuhlers nur zu einer kalten Wut hinreißen. Seine Gesten sind so präzise, als hätte er sie zwei Sekunden vorher durchkalkuliert. Wenn die Mutter den Anblick ihrer rauchenden Tochter missbilligt, nimmt er ihr die Zigarette aus dem Mund. Rose ist schön – gut –, aber sonst missfällt Cal alles an ihr. Man mag sich wundern, warum er so sehr auf dieser Verlobung beharrt. Nach der Sichtung von so viel belastendem Material wird kein Zuschauer verlangen, dass Rose ihrem Verlobten die Treue hält. Im nigerianischen Remake heißt der Mann, den Bintas Eltern ihrer Tochter zum Ehemann bestimmt haben, Zayyad. Wie sein amerikanisches Pendant ist er reich, aber alle Szenen, in denen Cal als Fanatiker der Macht über Menschen und Materie auftritt, sind im Remake gestrichen. Was bleibt, sind die Szenen, in denen der Verlobte damit konfrontiert ist, dass die Liebe seiner Verlobten einem anderen Mann gehört. Vor diesem Hintergrund sind seine teils heftigen Reaktionen verständlich, aber Ashu Brown thematisiert gleichzeitig die gegen Frauen gerichtete Gewalt, was in dem nordnigerianischen Film eine andere Brisanz hat als in dem amerikanischen. Wie sein Pendant Cal schlägt Zayyad seine Verlobte, aber im Gegensatz zu ihm hat er die Kontrolle über sich verloren. Er tritt als eine Figur auf, die eher reagiert, als zu agieren. Er wirkt noch hilfloser als sonst. Der nigerianische Schauspieler kopiert den Amerikaner nicht, er versetzt sich in die Situation eines betrogenen Verlobten: Zayyad ist ein ungeliebter Mann, der eher Mitleid als Abscheu einflößt. Die Anlage

60

Meist entpuppen sich die Armen am Schluss als wohlhabend, oder es besteht (wie in Titanic) Aussicht auf Wohlstand.

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der Rolle und das Spiel des Darstellers eröffnen dem Zuschauer hier, anders als in der amerikanischen Version, eine multiperspektivische Sicht auf die gezeigten Vorgänge. Cameron hat die Rolle der Mutter von Rose ähnlich eindimensional konzipiert wie die des Verlobten. Ruth DeWitt Bukater stammt aus einer der renommiertesten Familien Philadelphias. Mit dem Adjektiv borniert ist diese Dame der großen Gesellschaft hinreichend beschrieben. Man könnte meinen, sie sei dem Wachsfigurenkabinett der Madame Tussaud entstiegen, denn sie betritt das Schiff genauso wie sie es drei Kinostunden später wieder verlassen wird. Zwischenzeitlich wacht sie mit eisigem Blick darüber, dass sich ihre Tochter „comme il faut“ benimmt. Laut Drehbuch zwar Amerikanerin, repräsentiert Ruth DeWitt Bukater eine Untugend, die man dem europäischen Adel nachgesagt hat: Ihre Anstandsregeln gründen nicht auf moralischen Werten, sie dienen lediglich dazu, sie als Passagierin der ersten Klasse auszuweisen. Wie es das Klischee will, ist alles sowieso nur Schein. Eine Szene zeigt, wie die Mutter ihrer Tochter das Korsett schnürt61 und ihr dabei die Leviten liest. Der Zuschauer erfährt bei dieser Gelegenheit, dass Ruth DeWitt Bukater hoch verschuldet ist und mit ihrem guten Namen wuchern will. Ihre hübsche Tochter soll reich heiraten, damit die Witwe weiter Geld verschwenden kann. Cameron schließt aus, dass der Zuschauer die Perspektive der Mutter einnimmt. Er inszeniert nur einen Scheinkonflikt, denn Rose schuldet ihrer Rabenmutter weder Gehorsam noch Liebe. Wenn sie geht, hat sie das Recht und die Zuschauersympathien auf ihrer Seite. Während Rose Halbwaise ist, hat ihr nigerianisches Pendant Binta die Seereise mit beiden Elternteilen angetreten. Bintas Eltern haben sich nicht verschuldet. Sie fühlen sich im Rahmen einer durch Tradition legitimierten Familienhierarchie berechtigt, über das Schicksal ihrer Tochter zu bestimmen, und maßregeln sie, weil sie offensichtlich gegen gesellschaftliche Konventionen und religiös fundierte Normen verstoßen hat: Binta sitzt in ihrem Zimmer. Die Mutter verbietet ihrer Tochter ohne weitere Begründung, den jungen Mann wiederzusehen, in den sie sich verliebt hat. Dabei beruft sie sich auf die Autorität des Vaters. Er erscheint und bestätigt das Verbot. Hier soll kein Gespräch stattfinden, die Eltern zeigen ihrer trotzigen Tochter harsch die Grenzen ihres Handlungsspielraums. Die Machtverhältnisse bilden sich im Arrangement der Figuren ab. Die scheltenden Eltern überragen Binta, die mit niedergeschlagenen Augen in der Ecke sitzt. Aber dabei bleibt es nicht: Wie bei

61

1912 trugen junge modebewusste Frauen wie Rose kein Korsett mehr. Der Regisseur sagt, er habe das Requisit gewählt, um zu zeigen, dass die Mutter ihre Tochter einengt. Vgl. dazu Cameron [1997] 1999: S. 63. Dass Rose in diesem Symbol des Zwangs höchst attraktiv aussieht, dürfte ihn ebenfalls dazu bewegt haben, in diesem Fall von dem Anspruch historisch korrekter Rekonstruktion Abstand zu nehmen.

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Cameron gibt es auch bei Ashu Brown eine Szene, in der ein Erziehungsberechtigter (hier der Vater) begründet, warum die Tochter den ihr zugedachten Verlobten heiraten soll. Binta sitzt weinend auf ihrem Bett. Da kommt ihr Vater noch einmal zu ihr und fragt: „What is happening to you?“ Anders als die amerikanische Mutter versucht der nigerianische Vater, seine Tochter zu verstehen. Er hat jetzt neben ihr Platz genommen, so als wolle er nicht mehr von oben herab befehlen, sondern eine gemeinsame Ebene herstellen. Der Vater versucht zunächst, seiner Tochter zu vermitteln, dass es ihm nicht um die Wahrung seiner, sondern um die Wahrung ihrer Interessen geht: „What I want you to know is that I and your mom love you. That’s why we want the best for you.“ Das Beste ist aus Sicht der Eltern, dass ihre Tochter einen reichen Mann heiratet. Dieser Vater ist kein Rabenvater, seine Perspektive ist für den Zuschauer nachvollziehbar, umso mehr, als seine eigenen Eltern ihm auch kein Mitspracherecht gewährten, als sie seine Ehe arrangierten – wie er heute weiß, war es zu seinem Besten: [Vater]: „Do you know that when my parents marry mum for me I never knew her. We were not in Love but we got married and live together happily. Have you ever seen I and your mother fighting?“ [Binta schüttelt den Kopf] [Vater]: „Have you ever seen us quarrelling?“ [Binta schüttelt den Kopf]

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Dieser Vater instrumentalisiert seine Tochter nicht, sondern er fühlt sich kraft seiner Erfahrung berufen, für sie die richtigen Entscheidungen zu treffen. Ashu Brown führt Bintas Vater nicht als unmoralischen Bösewicht vor und damit steht für die Zuschauer ein wirklicher Konflikt im Raum, denn die Perspektive des Vaters ist für den Zuschauer genauso nachvollziehbar wie die der Tochter. Rose ist so jung und schön, wie es sich für die weibliche Hauptfigur eines Blockbusters gehört. Aber da diese Merkmale allein kaum hinreichen, um eine Geschichte so zu verwickeln, dass sie das Kinopublikum drei Stunden in ihren Bann schlägt, braucht die Figur noch andere Eigenschaften. Cameron lässt Rose als verwöhntes, aber unglückliches Gör an Bord gehen. Sie darf ungestraft in sündhaft teuren Outfits erscheinen – sie wurde ja von ihrer bösen Mutter dazu erzogen und kann gleichzeitig feststellen, dass sie im goldenen Käfig sitzt. Der Zuschauer kann so den schwülen Luxus ihrer Garderobe goutieren und die „Arme“ gleichzeitig bemitleiden. Cameron hat so einen ansehnlichen Rahmen, in dem er etwas inszenieren kann, was so aussieht wie ein Konflikt. Um dem Brisanz zu verleihen, darf sich

62

In MASOYIYATA/TITANIC sprechen alle Figuren Hausa. Die Dialoge werden hier buchstabengetreu gemäß der englischen Untertitelung wiedergegeben.

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Rose sogar als Frauenrechtlerin gerieren. Das entsetzt die Bösewichter des Films, und es entzückt die Zielgruppe, dass diese Emanze so überaus reizend spucken kann. Nun verliebt sich Rose aber in einen Habenichts, und es wäre doch zu schade, wenn sie tatsächlich die soziale Leiter herabsteigen müsste. Bei solchen Zukunftsaussichten wäre der Tod von Jack vielleicht nicht ganz so tragisch. Aber Cameron hat auch das bedacht: Jack ist ein unentdecktes Genie, und Rose ist (man höre und staune) schon mit 17 eine unbestechliche Kunstkritikerin, die bereits Werke Picassos gekauft hat.63 Die Kriterien der nordnigerianischen Zensoren sind undurchsichtig, aber eins ist sicher: Der Spielraum, den Ashu Brown seiner weiblichen Hauptdarstellerin zumessen konnte, war beträchtlich kleiner als der von Kate Winslet. Die Nigerianerin muss sich auf weite Strecken damit begnügen, den Zuschauern ein schönes Bild anzubieten. Ihren Eltern darf Binta nicht widersprechen, und Abdul, dem nigerianischen Pendant zu Jack, darf sie ihre Liebe nur singend gestehen. Da wo es Rose erlaubt ist, draufloszuplappern, muss Binta sprachlos bleiben. Doch ihre Bewegungen sind beredt: Sie wendet sich leicht ab und entzieht sich so. Sie weicht den Blicken ihres Verlobten aus, den Blicken Abduls weicht sie zwar auch aus, hier jedoch offensichtlich nicht, um Abscheu zu bekunden. Wenn ihre Eltern sie schelten, verharrt Binta regungslos. Bei den Hausa ist es nicht geboten, einem Gegenüber von höherem Status in die Augen zu blicken. Häufig schließt Binta ihre Augen sogar. Die Darstellerin verzichtet dann auf das für westliche Filmschauspieler wichtigste Ausdrucksmittel – den Blick. Es geht auch ohne, denn Bintas passiver Widerstand stellt sich hier als Flucht nach innen dar. In den handlungstragenden Szenen kleidet sie sich eher schlicht, aber in den extradiegetischen Gesangseinlagen probiert Binta in aufwendigen Kostümen andere Möglichkeiten der Selbstinszenierung aus. Behrend schreibt: „Wie in indischen Filmen wechselt sie Umgebung und Kostüm: sie trägt mal enge Jeans, dann einen Sari und entwirft so verschiedene transkulturelle Selbstbilder, nicht nur als Nordnigerianerin, sondern auch als Kosmopolitin.“64 Einmal erscheint sie in einem T-Shirt, auf dem Boston steht. Wenn Binta singt, sieht es manchmal aus, als würde sie aufschreien, dann wieder scheint es, als wollte sie mit

63

Kate Winslets schauspielerische Leistung lässt sich insbesondere nach der Lektüre des Drehbuchs (Cameron [1997] 1999) ermessen. Was Cameron Rose zur Verteidigung der klassischen Moderne in den Mund legt, ist so peinlich wie die Zeichnungen, die er dem Maler Jack in die Hand drückt – kein Geringerer als der Regisseur selbst hat sie verfertigt ...

64

Behrend 2005: S. 260.

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den Armen etwas wegschieben – typische Sängergesten,65 die hier jedoch ganz eng mit ihrer Situation verknüpft sind. Bevor Binta ihren Verlobten verlässt, spuckt sie ihm völlig unerwartet ins Gesicht – ein Cameron-Zitat, das in dieser Inszenierung völlig isoliert als Chiffre des Widerstands stehen bleibt. Binta versucht ihren Verlobten von Anfang an auf Abstand zu halten. Einmal äußert sie sich auffallend scharf: „You are disturbing us English don’t you know you are in Nigeria.“ Damit bezeichnet Binta nicht zuletzt, was ihre Situation von der von Rose unterscheidet. Die Geschichte, die Cameron erzählt, lässt sich zwar im Jahre 1912 vorstellen, aber sie hat so gut wie nichts mit der Lebensrealität der Zielgruppe zu tun. In Nigeria arrangieren viele Eltern auch heute noch Ehen ihrer Kinder. Die Verwicklungen auf der nigerianischen Titanic haben mehr mit der Lebenssituation der adressierten Zuschauer zu tun als die in dem Hollywood-Film entwickelte Problematik mit den Nöten des westlichen Publikums. Bezüglich der Inszenierung des zentralen Konflikts ist eines bemerkenswert: Cameron suggeriert dem Publikum eine Wertung. Der Zuschauer muss sich nicht bemühen, er bekommt gezeigt, wer gut und wer böse ist. Ashu Brown öffnet einen polyperspektivischen Blick auf den Konflikt: Binta handelt gegen den Willen eines Vaters, der es gut mit ihr meint. Hier ist das Urteil des Zuschauers gefragt.66 Jack ist der männliche Protagonist einer „boy meets girl story“. Er schlägt sich mit Jobs durchs Leben und will nun, nach einem vergeblichen Versuch, in die Pariser Kunstszene einzusteigen, zurück nach Amerika. Cameron baut diese Figur als Teenie-Schwarm auf, die biographischen Eckdaten bleiben Beiwerk.67 Anders als Jack kehrt sein Pendant Abdul nicht nach Amerika zurück, er bricht auf. Ashu Brown hat überall radikal gekürzt, aber bei der Inszenierung dieses Aufbruchs lässt er sich mehr Zeit als Cameron. Er inszeniert hier den Traum von Millionen jungen

65

Wie man in der Oper beobachten kann, unterstützen die Gesten häufig die Tonproduktion. Dass man diese Gesten gut karikieren kann, beweist, dass sie häufig inadäquat (will sagen unrealistisch gemäß der Situation der Figur) erscheinen.

66

Es ist Ashu Brown nicht gelungen an den kommerziellen Erfolg Camerons anzuschließen. Das Remake wurde von der nigerianischen Kritik skeptisch aufgenommen. Vgl. Behrend 2005: S. 261f.

67

Leonardo di Caprio spielt einen, der älter ist, als er aussieht, und mehr erlebt hat, als sein Gesicht zu verraten bereit ist. Er verbindet eine offensive Offenheit im Blick mit einer klugen Reserve, die er nur in der Szene aufgibt, in der er nach dem Beischlaf mit Rose zu sehen ist. Nörgler (wie ich) können sich während der schier endlosen drei Stunden, die der Film dauert, zumindest auf die Auftritte dieses herausragenden Schauspielers freuen.

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Afrikanern: Als Abdul erfährt, dass er bei der Greencard-Lotterie der USA68 das große Los gezogen hat, kann er sich vor Freude kaum fassen: Nur raus, weg hier ... Abdul rennt jubelnd durch das Barackenviertel von Lagos. Vor was er wegläuft, muss Ashu Brown nicht erklären. Dieser Aufbruch ist ein Ausbruch. Wer Abdul zur Titanic rennen sieht, weiß, dass da einer läuft, der nicht an Rückkehr denkt. Abdul läuft, als würde die Erde brennen und lacht trotzdem. An Bord wirkt er nachdenklich. Wie Binta ist er verglichen mit seinem amerikanischen Pendant eher schweigsam. Auch diese Rolle entfaltet sich eigentlich erst auf der zweiten Spielebene, also während der Gesangs- und Tanzeinlagen. Anders als Jack tritt Abdul in der ersten Klasse selbstbewusst als professioneller Maler auf. Da aber auch er kein Geld hat, gerät er in die Defensive. In Camerons Inszenierung ist Jack als Passagier der dritten Klasse ein pittoreskes Element im luxuriösen Rahmen der ersten Klasse. Auf der nigerianischen Titanic ruft die Erwähnung von Mittellosigkeit keine romantischen Genrebilder auf, sondern die Erinnerung an die bittere Armut, die insbesondere im Norden Nigerias herrscht. Auf den ersten Blick sieht es fast so aus, als habe Cameron eine kapitalismuskritische Parabel auf Zelluloid gebannt: Der Untergang gleicht einer Versuchsanordnung. Das Schichtenmodell Titanic geht baden. Wie verhalten sich die Akteure? Die besitzende Klasse kämpft um den Erhalt ihrer Vorrechte und entrechtet die Besitzlosen. Weil die Rettungsboote knapp sind, werden die Passagiere der dritten Klasse unter Deck eingeschlossen, bis sie schließlich die vergitterten Türen aufbrechen. Ein Aufruf zur Revolution? Eine Ächtung der besitzenden Klasse? Immerhin führen Ruth DeWitt Bukater und Cal Hockley den amerikanischen Zuschauern vor, wie Geld den Charakter verdirbt. Aber ist das wirklich die Moral von der Geschichte? Nein! Denn Gott sei Dank ist auch das amerikanische Charity-Modell mit an Bord. Der Kapitalismus amerikanischer Prägung zeigt in dem Blockbuster nicht seine Fratze, sondern das sympathische Gesicht der dicken herzigen Molly Brown.69 Während die anderen Passagiere der ersten Klasse noch dem Savoir vivre des alten Kontinents huldigen, präsentiert sie sich als einzige waschechte Amerikanerin. Molly Browns Vermögen ist nicht ererbt, sondern erworben, von ihrem Mann zwar, aber das tut nichts zur Sache – dass sie als Neureiche im Kreise der alten Fa-

68

Es handelt sich hier zwar nur um eine vage Anspielung auf die von der amerikanischen Regierung alljährlich durchgeführte Green-Card-Lotterie, aber Eklilou Godje und zwei andere Afrikaner, mit denen ich mir den Film angesehen habe, haben diese Szene genauso interpretiert wie ich.

69

Kathy Bathes übernimmt hier eine der wenigen Rollen, die man Dicken im Film noch überlässt, sie spielt die gute Seele (gemäß westlicher Besetzungskonvention hausen solche nicht in magersüchtigen Körpern, sondern in runden). Sie bedient das Klischee gekonnt und setzt ihre Pointen trocken und direkt.

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milien nur naserümpfend geduldet wird, gereicht ihr gemäß der filmischen Argumentation zur Ehre. Cameron führt die Skrupellosigkeit der Elite europäischer Prägung vor (die ist ohnehin ein Auslaufmodell), und er inszeniert den Mythos vom amerikanischen Traum, denn Molly Brown hilft einem auf die Sprünge, der sich hocharbeiten will. Jack ist zwar in Paris gescheitert, aber was soll’s, so ein aufgeweckter Junge kann in Amerika sein Glück machen. Molly Brown kleidet ihren Kleinen fashionable zum Diner in der ersten Klasse, und sie souffliert ihm bei Bedarf. Tu Gutes und sprich darüber! Molly Brown nimmt da kein Blatt vor den Mund, lautstark will sie die Rettungsboote zum Umkehren bewegen. Geld ist zwar ein universelles Zahlungsmittel, doch auch als solches kulturspezifisch besetzt.70 Auf der nigerianischen Titanic gibt es keine Molly Brown. Eine unbedeutende Nebenfigur liefert die absolut unverzichtbaren Stichworte Mollys. Wie Behrend bemerkt, ist die „Kritik an dem unverschämten unverdienten Reichtum der Elite“ ein beliebtes Thema in afrikanischen Videofilmen.71 Forscher wie Birgit Meyer und Tobias Wendl haben wiederholt darauf hingewiesen, dass viele Videoregisseure den Erwerb von großen Geldsummen in Filmen wie BLOOD MONEY oder DIABOLO als Pakt mit okkulten Mächten in Szene setzen.72 Vor diesem Hintergrund bekommen die finanziellen Transaktionen im Remake von TITANIC eine sinistre Anmutung. Es klingt bedrohlich, wenn Zayyad seiner Verlobten versichert, dass er der reichste Mann von Nigeria sei, und ihr Herz mit einem Diamanten gewinnen will. Noch offensichtlicher knüpft eine andere Szene an die erwähnte Darstellungstradition an: Abdul bekommt ein dickes Bündel Geldscheine geboten, sollte er sich bereit finden, von Binta abzulassen. Im Hollywood-Film werden zu diesem Zweck nur zwei Dollarnoten gezückt, aber mit der Summe, die Abdul angeboten wird, könnte dieser ein neues Leben beginnen. Auf dem Gesicht des jungen Nigerianers malt sich erst ungläubiges Staunen, dann schieres Entsetzen. Er wirft das Geldscheinbündel von sich, als könnte es ihn kontaminieren. Der von Profitgier bestimmte Entschluss der Schiffsleitung, einen Geschwindigkeitsrekord zu brechen, bekommt auf der nigerianischen Titanic die Dimension eines Pakts mit dem Bösen – er wird zum Fanal einer Höllenfahrt. Behrend widmet ihre Analyse des nigerianischen Remakes von Camerons TITANIC „in freundschaftlicher, aber auch nicht ganz unkritischer Absicht“ dem Ethnologen Bernhard Streck. Ihre kritische Reserve bezieht sich auf Strecks Nähe

70

Gudeman 2001.

71

Behrend 2005: S. 259.

72

Zu sagenhaftem Reichtum kommt man in afrikanischen Videofilmen nicht, ohne Schaden an seiner Seele zu nehmen, denn meist sind Menschenopfer zu leisten. Nicht selten erscheinen diejenigen, die sich auf einen solchen Handel einlassen, allerdings als Opfer einer auswegslosen Situation. Vgl. Wendl 2001: S. 252-268 und Meyer 2003: S. 15-41.

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zur kulturmorphologischen Schule, für die „Untergang und Tod als Erneuerung und Erfüllung [...] ein Faszinosum“ sei und die das „Mysterium von Tod, Untergang und Wiedergeburt“ feiere. Dem will die Autorin die „nordnigerianische Videoversion eines Untergangs [entgegensetzen], die auf das Pathos der Erfüllung verzichtet und eine Katastrophe vor Augen führt, die den Tod als Ende setzt, ohne Wiederkehr oder Erneuerung, ohne den kleinsten Rest von Lebendigkeit“.73 Zum Tod der männlichen Protagonisten im Hollywood-Film und im Remake schreibt Behrend: „[…] beide Versionen [treffen sich] in der Thematisierung von leidenschaftlicher Liebe, die Klassenverhältnisse transzendiert und Armut und Exklusion aufhebt, gleichzeitig aber aufgrund der Übertretungen, die mit ihr einhergehen, nur mit dem Tod enden kann.“74 Man könnte hier einwenden, dass der tragische Schluss einer Liebesgeschichte verhindert, dass die großen Gefühle in den seichten Gewässern des Alltags verebben. An Pathos lassen es weder Cameron noch Ashu Brown fehlen, wenn sie den Tod des jugendlichen Liebhabers inszenieren, aber Behrend wertet Abduls Tod als Strafe: „Dass der Film [...] die Zensur passieren konnte, mag daran liegen, dass all die Übertretungen, all die unmoralischen Handlungen und die verbotenen Berührungen vor dem Hintergrund des Todes stattfinden. Denn die Strafe folgt prompt: Abdul stirbt im Eismeer.“75 Dem wäre entgegenzuhalten, dass Jack und Abdul nicht ums Überleben kämpfen, sondern ihren Herzensdamen den Platz auf der sicheren Planke überlassen. Sie werden nicht bestraft, sondern sie gehen willentlich in den Heldentod, und der garantiert Unsterblichkeit, nicht nur im Westen auch in muslimischen Ländern.76 Anders als Behrend vermutet, steht „kein Tod ohne Wiederkehr“ am Ende der beiden TITANIC-Versionen, sondern eine Apotheose. Cameron inszeniert sogar ein Leben nach dem Tod: Nachdem Rose hochbetagt gestorben ist, kehrt sie in Gestalt der jungen Rose auf die Titanic zurück, wo Jack sie lächelnd erwartet. Bei Ashu Brown fehlt diese Sequenz zwar, aber als Binta endlich auf dem sicheren Festland angekommen ist und nach ihrem Namen gefragt wird, antwortet sie „Binta Abdul“ – damit endet der Film, und das reicht, um Abdul unsterblich zu machen. Die auf dem historischen Ereignis basierenden Bearbeitungen greifen die Katastrophe als „larger than life situation“ auf. 77 Ähnliches ließe sich auch in Bezug auf die mediale Darstellung des Todes von

73

Behrend 2005: S. 251.

74

Behrend 2005: S. 259.

75

Behrend 2005: S. 260.

76

Ein muslimischer Zensor würde sich wohl kaum Behrends Argumentation anschließen wollen. Wie Krings (2005a und 2005b) gezeigt hat, kommt z.B. in muslimischen Bekehrungsvideos dem Heldentod, der hier sogar als Märtyrertod inszeniert ist, eine zentrale Bedeutung zu.

77

Boles [2010]. [Internetquelle]

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Prinzessin Diana oder Michael Jackson nachweisen: Sie verklärt den Tod als Verweis auf etwas, was alle Menschen verbindet. Auch die Erklärung, die Behrend bezüglich des großen Erfolgs von Camerons Film auf dem afrikanischen Kontinent anbietet, ist wenig überzeugend. Sie schreibt: „An der ostafrikanischen Küste in Kenia nahmen z.B. populäre Studiofotografen zur Jahrtausendwende das Thema des Films auf, indem sie auf ihre Fotokulissen Schiffe mit dem Namen „Titanic“ malen ließen. Sie brachten damit ein kritisches apokalyptisches Moment ins Spiel, das der eher pessimistischen Einstellung vieler Leute vor dem Hintergrund von AIDS und zunehmender Verarmung entspricht.“78

Behrends Annahme zufolge geben die afrikanischen Studiofotografen der bevorstehenden Apokalypse des afrikanischen Kontinents den Namen Titanic, um eine „Condition africaine“ zu bezeichnen. Aber warum kapriziert man sich dann ausgerechnet auf den Untergang eines Luxusliners, auf eine fremde Katastrophe? Vielleicht ist es der Verfremdungseffekt, der den Untergang der Titanic so attraktiv macht: Die Inszenierung einer westlichen Katastrophe verfolgt den Zweck, Katastrophen gerade nicht als „Condition africaine“ aufzufassen, sondern als etwas Fremdes. Aus der Distanz ist es dann wiederum möglich eigene Katastrophen, im Rahmen einer „larger than life situation“ zu verorten – Die „Condition africaine“ wird zur Condition humaine.

9.3 L EBENDIGE M EDIEN Die afrikanische Studiofotografie steht mittlerweile im Zentrum des Interesses der internationalen Kunstszene. Bemerkenswert ist insbesondere der Einsatz von Kulissen in der Porträtfotografie.79 Der Rahmen, den ostafrikanische Fotografen ihren Kunden anbieten, wenn sie eine Kulisse mit einem Schiff namens Titanic in ihr Studio stellen,80 ist in gewisser Hinsicht dem Oklad, dem silbernen Beschlag, vergleichbar, mit dem russische Ikonenmaler Mariengesichter eingerahmt haben. Die Kunden des Fotostudios können die Plätze einnehmen, die Cameron auf dem White Star Liner Jack und Rose zugedacht hatte, ob sie dabei einen Boubou oder Jeans tragen, ist von untergeordneter Bedeutung. Wie Rose trägt Binta bei ihrem ersten

78

Behrend 2005: S. 253.

79

Vgl. Wendl/Prussat 1998: S. 29-35. Siehe dazu auch die Fotos von Philip Kwame Apagya (S. 53-63) in: Behrend/Wendl (Hg.) 1998 und die Fotos der Likoni-Ferry-Fotografen (S. 127-135), auf diesen Fotos taucht immer wieder das Motiv „Schiff“ auf.

80

Vgl. Behrend 2005: S. 253.

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Auftritt im Remake einen Hut, der sieht zwar ganz anders aus als der, den die Amerikanerin getragen hatte, aber das Zitat funktioniert dennoch wie ein Rahmen. Ashu Brown hat nur einige Eckdaten von Camerons Inszenierung übernommen. Sie markieren die Situation und die zentralen Stationen der Entwicklung, innerhalb derer die Schauspieler ihre Rollen improvisieren,81 dabei orientieren sie sich mal mehr, mal weniger an der Hollywood-Vorlage. Ashu Brown zitiert aber genau die Einstellungen, die angetan sind, die Darsteller zu ikonifizieren: zum Beispiel jene berühmte, die Leonardo di Caprio alias Jack und Kate Winslet alias Rose am Bug des Schiffes zeigt. Di Caprio hält Winslet fest, und die Kamera nimmt sie aus der heroischen Perspektive in den Blick, sodass sie mit ausgebreiteten Armen wie eine Galionsfigur über dem Wasser schwebt. Dazu ertönt die Melodie des Titanic-Songs von Celine Dion. Man hört diese Melodie auch im Remake. Ashu Brown wählt ebenfalls eine untersichtige Kameraeinstellung, und die nigerianischen Schauspieler nehmen die gleiche Haltung ein wie ihre amerikanischen Kollegen. Der ikonisierende Rahmen unterscheidet sich hier von dem der Carmen-Rolle82 insofern, als ein Bild vorliegt, das ähnlich wie der reich geschmückte Rahmen einer russischen Ikone das Porträt der gezeigten Figuren passgenau einrahmt und entrückt. Ashu Brown nimmt im Remake den Platz von Billy Zane alias Cal ein, seiner Freundin hat er den Platz von Kate Winslet alias Rose zugedacht. Krings schreibt: „[Ashu Brown] probably also sought a possibility to symbolically ,inscribe‘ himself and his girlfriend into a myth that has attained global circulation, for it is his girlfriend Sadiya Abdu Rano who plays Binta and the director himself who appears as Binta’s fiancé.“83 Bei der Analyse von Rollenübernahmen im Remake ist es interessant, die körperlichen Vorgänge, die sich bei der Rollenübernahme abspielen, nachzuvollziehen. Auf diese Weise lassen sich nämlich performative Zusammenhänge zwischen Film und außerfilmischer Wirklichkeit betrachten, die nicht nur bei Darstellern von Remakes ihre Wirkmächtigkeit entfalten, sondern auch bei anderen Kinozuschauern. Ursula Stenger weist darauf hin, dass Bilder Angebote zu neuen Erfahrungen machen.84 Wie Dani Kouyaté beim Blick in den Zuschauerraum des Kinos von Ouagadougou zeigt,85 unterliegt dieser Prozess nicht unbedingt einer bewussten Steuerung: Wenn die Cowboys auf der Leinwand reiten, empfinden die Zuschauer ihre Bewegungen unwillkürlich nach und merken kaum, dass sie auf ihren Kinositzen

81

Insbesondere nordnigerianische Regisseure arbeiten kaum mit Textbüchern.

82

Vgl. Teil II, Kap. 6.3, S. 236f.

83

Krings 2009b: S. 33.

84

Vgl. Stenger 2005: S. 207.

85

Vgl. Teil III, Kap. 8.2, S. 278f.

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auf und ab federn.86 In seinem Artikel „Image, Medium, Body. A New Approach to Iconology“ schreibt Hans Belting: „The roles that have been assigned to image, medium, and body constantly varied, but their tight interaction continues up to the present day. The medium, despite its polysemantic character and polyvalent use, offers the easiest identification and is for this reason favored by contemporary theories. The body comes next, but it is all too often and all too neatly played out against current technologies and considered as their obverse. It therefore needs a new emphasis on bodies as living media, able to perceive, to remember, and to project images. The body, as owner and addressee of images, administered media as extensions of its own visual capacities. Bodies receive images by perceiving them, while media transmit them to bodies. With the help of masks, tattooing, clothing, and performance, bodies also produce images of themselves or, in the case of actors, images representing others – in which case they act as media in the fullest and most original sense. Their initial monopoly on mediating images allows us to speak of bodies as the archetype of all visual media.“87

Der Schauspielpädagoge Michail A. Cechov rät Schauspielern, die Figuren der Rollen, die sie darzustellen haben, zu imaginieren, sie könnten dann Phantasiegeschöpfe sehen, die sie bei der Rollenübernahme leiten würden.88 Bei der Rollenübernahme in einem Remake braucht sich der Schauspieler das Geschöpf, das er darstellen wird, nicht auszumalen, er hat es in einem Film gesehen und gehört. Nach Belting wäre er ein Medium, das seine Rezeptionserfahrung nutzen kann, um das Gesehene und Gehörte mit seinem Körper zu projizieren. Wie das vonstatten gehen kann, schildert wiederum Cechov: „Wenn Sie [...] das Leben Ihres Phantasiegeschöpfes konzentriert beobachten, fällt Ihnen auf, dass Ihr Körper unwillkürlich und kaum merklich in Bewegung gerät [...]. Je besser sie ihr Phantasiegebilde sehen und hören können, desto stärker wird die Reaktion Ihres Körpers und Ihrer Stimmbänder. Das zeugt von Ihrem Wunsch, dem Geschöpf der Phantasie Gestalt zu geben und weist Ihnen den Weg zu einer simplen [...] Technik der Gestaltgebung.“89

Schauspieler können sich die Wirkung von Filmbildern bei der Rollenübernahme im Remake zunutze machen. Das heißt aber nicht, dass die Darsteller das Gesehene imitieren müssen. An anderer Stelle führt Belting sein Konzept vom Körper als

86

Hier kommt wieder der inverse Aspekt des Handelns zum Tragen, den ich in Teil I,

87

Belting 2005: S. 315/316.

Kap. 1.1, S. 47-51 ausführlich untersucht habe. 88

Vgl. Cechov 1990: S. 13-17.

89

Cechov 1990: S. 97 [Hervorhebungen im Original].

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lebendem Medium genauer aus und schreibt: „In each case, bodies (that is, brains) serve as living medium that makes us perceive, project, or remember images and that also enables our imagination to transform them.“90 Bei der Analyse der nordnigerianischen Remakes ist das Oszillieren zwischen der Projektion (dem Reenactment) und der Transformation (der Modifikation) der Bilder der rezipierten Hollywood-Filme deutlich zu erkennen. Sowohl im Remake von PREDATOR als auch in dem von TITANIC gibt es markante Einstellungen, die das jeweilige Team übernommen hat. Man könnte sie als Eckpunkte eines ikonisierenden Rahmens auffassen, innerhalb dessen der Regisseur und die Schauspieler sehr frei mit den Vorlagen aus Hollywood umgehen. Mit Belting könnte man es so ausdrücken: Die schwarzen Schauspieler sind in der Lage, die Bilder weißer Stars wahrzunehmen, sie machen sich zu „Speichermedien“, die diese Bilder in ihrem Gedächtnis bewahren, projizieren und gegebenenfalls modifizieren können. Dass die von den nigerianischen Schauspielern beobachteten Hollywood-Stars weiß sind und die Schauspieler, die ihre Rollen übernehmen werden, schwarz sind, ist für den Vorgang der Rollenübernahme völlig irrelevant. Besser als der Regisseur Robert Bresson kann man kaum ausdrücken, wie die Wahrnehmung Relevantes von Irrelevantem unterscheiden kann. In seinen „Notes sur le cinématographe“ schreibt Bresson: „Deux personnes qui se regardent dans les yeux ne voient pas leurs yeux, mais leurs regards (Raison pour laquelle on se trompe sur la couleur des yeux?).“91

90

Belting 2005: S. 306.

91

Bresson [1975] 1988: S. 25.

10. Umkämpfte Medienlandschaften

„[M]edia afford powerful resources for counter modes of identity that youth can project against parental wishes or desires.“1 In der Perspektive auf das TITANIC-Remake lässt sich diese Feststellung von Arjun Appadurai einmal mehr belegen: Wie die Übernahme der Cowboyrollen ermöglicht die Übernahme der Rolle von Rose aus TITANIC Ausbruchsphantasien in einer als bedrückend empfundenen Situation: Wie Souley als sie den Cowboy „Reine Christine“ spielte, erprobt die Darstellerin der Binta (besonders in den Gesangseinlagen) transkulturelle Selbstinszenierungen jenseits familiärer oder kultureller Restriktionen. Schwarzeneggers Rolle des Dutch ist ebenfalls eine westliche Mediatisierung eines wünschenswerten Lebens,2 doch Sa’eed hat diese Rolle so gründlich dekonstruiert, dass nichts mehr von ihr übrig geblieben ist. Der nordnigerianische Regisseur nutzt sein Remake von PREDATOR als Plattform. Diese dient ihm dazu, Diskurse im Gefolge des 11. September 2001 aufzugreifen. Man könnte die gewagte These aufstellen, dass es sich hier ebenfalls um ein Remake der diesbezüglichen westlichen Berichterstattung handelt. Eines jedenfalls ist sicher: Sa’eed ist sich der Relevanz von Mediatisierungen politischer Ereignisse in einer globalisierten Welt bewusst. Gilles Lipovetsky und Jean Serroy haben den Begriff „L’écran global“ geprägt,3 um die Bedeutung der bildgebenden Medien im dritten Jahrtausend zu fassen: Die Kinoleinwand sei heute, ob als Fernseh- und Computerbildschirm oder Handy-Display, allgegenwärtig. Die projizierten Bilder stünden im Zeitalter der „Hypermoderne“ zwischen dem Betrachter und der Realität. Die Autoren sprechen in diesem

1

Appadurai 1998: S. 45.

2

Vgl. Appadurai 1998: S. 53.

3

Die 2007 erschienene Publikation von Lipovetsky und Serroy trägt den Titel: L’écran global. Culture-médias et cinéma à l’âge hypermoderne. Das Französische unterscheidet nicht zwischen Bildschirm und Leinwand. Die Kinoleinwand wird als „grand écran“ spezifiziert. Deswegen sind die französischen Formulierungen von Lipovetsky und Serroy prägnanter, als ich es hier auf Deutsch wiederzugeben vermag.

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Zusammenhang von einem „état écranique généralisé“: „Toute la vie, tous nos rapports avec le monde et avec les autres sont de plus en plus mediatisés par une multitude d’interfaces par lesquelles les écrans ne cessent de converger, de communiquer, de s’interconnecter.“4 Die bildgebenden Medien hätten zwar ihre Erscheinungsform gewechselt, doch mit der Präsentation unterhaltsamer Spektakel und dem Hype um Stars sei die Logik des Kinos allgegenwärtig. Sie durchdringe mittlerweile alle Lebensbereiche, mithin auch die Aufbereitung politischer Ereignisse. „The lines between the realistic and the fictional landscapes [the audiences] see are blurred“, konstatiert auch Appadurai. In Modernity at Large: Cultural Dimensions of Globalization5 behandelt er ein Thema, das auch bei der Übernahme weißer Rollen im afrikanischen Film immer wieder anders inszeniert wird: die Spannung zwischen kultureller Homogenisierung und kultureller Heterogenisierung.6 Übernahmen von Western- und Remake-Rollen lassen beides aufscheinen, Homogenisierungs- und Heterogenisierungstendenzen, zwei Aspekte der Globalisierung, die das Interesse zahlreicher Forscher auf den Plan gerufen haben.7 Die komplexen scheinbar paradoxen Veränderungen im Zuge der Globalisierung vollziehen sich nach Appadurai in fünf verschiedenen Dimensionen, in den „ethnoscapes“, den „mediascapes“, den „technoscapes“, den „financescapes“ und den „ideoscapes.“ Hier sind jeweils gegenläufige „cultural flows“ nachweisbar, die sich aus unterschiedlichen Perspektiven sehr verschieden ausnehmen können: „[…] the individual actor is the last locus of this perspectival set of landscapes.“8 Dabei macht Appadurai eine Feststellung, die sich auch anhand der Inszenierung weißer Filmrollen im afrikanischen Film belegen lässt: „[…] what I call mediascapes and ideoscapes [...] are closely related landscapes of images.“9 Die beiden Regisseure, deren Filme im Folgenden im Zentrum der Untersuchung stehen, thematisieren die Mediatisierung ideologischer Konstrukte ganz explizit – die Mediascape präsentiert sich in ihren Filmen als ein hart umkämpftes Terrain: Auf eine realistische Lokalisierung der Filmhandlung haben beide verzichtet, sie inszenieren die zentralen Konflikte auf einer Metaebene.

4

Lipovetsky/Serroy 2007: S. 23.

5

Appadurai 1998: S. 35.

6

Vgl. Appadurai 1998: S. 32.

7

Vgl. z.B.: Hannerz 1990: S. 237-251 und Robertson 1995: S. 25-44.

8

Appadurai 1998: S. 33.

9

Appadurai 1998: S. 35.

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10.1 L E C OMPLOT D ’ARISTOTE Die Off-Stimme des Regisseurs führt die Zuschauer durch LE COMPLOT einen Essay-Film, den Jonathan Haynes als den formal radikalsten afrikanischen Film seit SOLEIL O und TOUKI BOUKI bezeichnet.10 1996, als sein Film erschien, hieß der Off-Sprecher noch Jean-Pierre Bekolo.11 Das British Film Institute habe Martin Scorsese, Jean-Luc Godard, Bernardo Bertolucci und ihm selbst (dem No-Name aus Kamerun) angeboten, einen Film zum 100-jährigen Geburtstag des Films zu drehen, berichtet Bekolo. Er gibt sich misstrauisch: Er argwöhne, dass es ein Anflug christlicher Wohltätigkeit oder das Bemühen um politische Korrektheit gewesen sei, das die renommierte britische Institution bewogen habe, auch ihn in den Kreis der Erlauchten zu bitten. Als Quotenafrikaner fühle er sich wie: „Bruce Willis dans un territoire colonial, si vous voyez ce que je veux dire.“12 Angesichts der Themenvorgabe des British Film Institutes könnte man vermuten, dass Bekolo die Geschichte des Mediums Film auf dem afrikanischen Kontinent erzählen wird – schließlich lief der erste Film in Afrika kurz nachdem die ersten Filme der Gebrüder Lumière im Grand Café in Paris gezeigt wurden.13 Aber wenn Bekolo von der Ankunft des ersten Films in Afrika erzählen würde, wäre er gezwungen, von der Hegemonie westlicher Medien zu berichten, und dazu hat er keine Lust, also geriert er sich als Enfant terrible. Der Regisseur verschmäht es, freundlich um sein Publikum zu werben, er spricht im Duktus der aggressiven Überlegenheit eines Malcolm X und brüskiert mit provozierender Arroganz. Warum die Sphinx im British Museum stehe, will er wissen. Die Erinnerung an die westliche Vereinahmung ägyptischer Kunst kommt nicht von ungefähr, schon einmal hatte ein Afrikaner versucht, das angeschlagene afrikanische Selbstbewusstsein durch den Verweis auf die vorhellenische „Hochkultur“ aufzumöbeln. Bekolo schlüpft in der Rolle eines Cheik Anta Diop der Medienwissenschaft: Er erzählt die Geschichte des Films genauso afrozentrisch, wie jener dazumal die Weltgeschichte: Das Kino sei im dritten Jahrhundert vor Christus in Afrika entstanden, in den Initiationsriten fänden sich doch schon alle Ingredienzien, die Aristoteles später zur Entwicklung seines dramaturgischen Modells verwendet habe. Der alte Grieche habe die performative Wirkung von Tragödien in den Dienst der Läuterung des D’ARISTOTE,

10

Haynes 1999: S. 34.

11

Jean-Pierre Bekolo nennt sich heute Jean-Pierre Bekolo Obama.

12

Die Version, die ich im Archiv von Culturesfrance gesehen habe, hat Bekolo französisch kommentiert, die Dialoge waren aber bis auf ganz wenige Ausnahmen englisch. Jonathan Haynes hat wahrscheinlich eine Version mit einem englischen Kommentar Bekolos gesehen, denn er zitiert den Off-Text auf Englisch.

13

Vgl. Teil III, S. 221.

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Publikums stellen wollen. Das sei gründlich schiefgegangen, meint Bekolo: Unbegabte Epigonen wie Syd Field14 hätten sein dramaturgisches Modell benutzt, und damit habe Aristoteles schlussendlich auch Filme wie RAMBO15 zu verantworten. Wenn man sich den Zustand der Welt betrachte, käme man kaum umhin festzustellen, dass die Aristotelische Dramaturgie Gangster, Fälscher, Illusionisten und korrupte Regierungen produziert habe. Es sieht aus, als stelle sich Bekolo mit seiner originellen Verschwörungstheorie in eine Reihe mit den afrikanischen Regisseuren, die mit ihrer Medienkritik westliche Filme fokussieren. Aber der Regisseur aus Kamerun nimmt auch die medienpädagogischen Ambitionen seiner afrikanischen Kollegen aufs Korn. Er zeigt nämlich, wie sich das afrikanische Publikum gegen solche Bevormundung wehrt. Bekolo beginnt mit einem Vorgriff auf das Ende des Films. Die zerstrittenen Hauptfiguren von LE COMPLOT D’ARISTOTE sind mit Handschellen aneinandergekettet: Cinéaste, ein afrikanischer Regisseur, repräsentiert hier das frankophone afrikanische Autorenkino. „African films are shit“, bemerkt sein Kontrahent. Cinema ist ein Hollywood-Fan, der sich zum Advokaten des jugendlichen Publikums der afrikanischen Großstädte macht.16 Ein Polizist hat die beiden Widersacher an Bahngleise geführt. Nun schaltet sich Kommentator Bekolo ein und bricht die Illusion, denn natürlich hat er diese Location gewählt, nicht der Ordnungshüter. Da er einen Film zum 100-jährigen Geburtstag eben dieses Mediums drehen soll, hat er seine Schauspieler da platziert, wo auch die Akteure des ersten Kinofilms gestanden haben, an Bahngleisen nämlich. Dort warteten sie auf die Ankunft eines Zuges in La Ciotat.17 LE COMPLOT D’ARISTOTE stehe zwar in der Tradition von Godards Auseinandersetzung mit kapitalistischer Massenkultur, aber das eigentliche Thema seines Films sei die Entfremdung afrikanischer Filmemacher von ihrem Publikum, schreibt Haynes.18 Immer noch würden an afrikanische Filme Maßstäbe angelegt,

14

Syd Field ist einer der einflussreichsten Drehbuchautoren Hollywoods. Er lehrte Drehbuch in Los Angeles und hat zu diesem Thema auch mehrere Bücher veröffentlicht. Vgl. z.B. Field 1991.

15

RAMBO [FIRST BLOOD], USA 1982, R.: Ted Kotcheff.

16

Der Begriff „Cinéaste“ ist um 1920 von Louis Delluc aufgebracht worden. Er stellt das künstlerische Kino dem „cinéma commercial“ gegenüber. Vgl. Delluc 1985: S. 186ff. Schon Delluc konfrontiert also Cinéma und Cinéaste. Es ist möglich, dass Bekolo mit seiner Namensgebung auch auf diesen Text anspielt.

17

L’ARRIVÉE D’UN TRAIN EN GARE DE LA CIOTAT, Frankreich 1895, R.: Gebrüder Lumière. Ob dies wirklich der erste Film war, den die Gebrüder Lumière gezeigt haben, ist umstritten. Doch diese Frage ist hier zweitrangig, denn dieser Film gilt einer breiten Öffentlichkeit als erster Film.

18

Haynes 1999: S. 34.

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die einst als programmatischer Anspruch an die Filme des Third Cinema herangetragen worden seien. Wissenschaftler und Filmkritiker würden immer noch meinen, dass der afrikanische Film eine politische Aufgabe zu erfüllen habe.19 Auch Bekolo scheint diesbezüglich skeptisch und fragt: „Pourquoi pose-t-on toujours des questions politiques aux cinéastes africains? Est-ce que Nelson Mandela peut faire un film?“ Haynes macht diese Frage zum Angelpunkt seiner Analyse und betrachtet LE COMPLOT D’ARISTOTE als „a polemic in favor of popular culture“.20 Das ist allerdings insofern problematisch, als es noch nie zuvor ein afrikanischer Regisseur gewagt hat, einen so unverschämt elitären Film zu drehen. Fast alle Regisseure des Autorenkinos (allen voran der von Apologeten der Populärkultur viel geschmähte Sembène) hatten ihre Filme ausdrücklich so konzipiert, dass auch Analphabeten sie erfassen konnten – um die Anspielungen in LE COMPLOT D’ARISTOTE zu verstehen, reicht kaum die allgemeine Hochschulreife. Bekolo adressiert die westlichen Akademiker, die seinen Film auseinandernehmen werden, und er bescheidet sie, dass Medientheorie seit jeher eine afrikanische Domäne gewesen sei. Er legt noch nach: „Mon grand-père n’avait rien à envier à votre Aristote ...“ Der Autorität seines Opas unterstellt sich der ambitionierte Regisseur von Anfang an, und er wird ihn im Verlauf des Films immer wieder als Kapazität zitieren. Das wirkt zwar selbstironisch und komödiantisch, aber dieser Großvater ist so etwas wie ein weiser Narr und ein afrikanischer Medienethnologe in Personalunion. Das dramaturgische Gerüst von LE COMPLOT D’ARISTOTE ist dem Kriminalfilm entlehnt. Die Rolle des Ermittlers übernimmt in diesem Film ein Polizist. Seinen Chef hat Bekolo auf einen jener hohen Stühle gesetzt, von denen aus Tennisschiedsrichter über den korrekten Ablauf des Schlagabtauschs wachen. Auf der Brust des Polizeichefs prangt eine überdimensionale goldene Kennungsmarke, und hinter ihm steht ein Käfig, in dem ein Weißer sitzt: „Je veux sortir d’ici. Je n’ai rien fait“, beteuert er, aber das nützt ihm wenig, denn er kann es nicht beweisen. Wie Kenneth Harrow treffend bemerkt, tauchen Polizisten in Bekolos Filmen stets als impotente und lächerliche Repräsentanten eines zwanghaften Patriarchats auf.21 Der Polizeichef von LE COMPLOT D’ARISTOTE hat ebenfalls eine Obsession: Er will den Dingen auf den Grund gehen – ein Philosoph in Uniform. Der Umstand, dass ein Mensch Cinema heißt, wirft für ihn die Frage nach dem Vorgängigen und dem Nachfolgenden auf: Wenn ein Boulevard „Thomas Sankara“ heiße, was sei dann zuerst da gewesen, der Mann oder der Boulevard? Der Mann natürlich. Im Fall von Cinema war es umgekehrt: Er trägt seinen Namen, weil er 10.000 Filme gesehen hat. Wollte man den Unterschied von Sankara und Cinema in grammatischen Kate-

19

Haynes 1999: S. 23ff.

20

Haynes 1999: S. 40.

21

Vgl. Harrow 2007a: S. 143.

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gorien fassen, wäre Sankara ein Agens, denn er hat etwas gemacht, Cinema dagegen ein Patiens, denn er wurde gemacht. Das Kino hat seine Identität konstituiert. Laut Bekolo steckt dahinter ein Scharlatan namens Aristoteles: „Quand on regarde tous ceux qui sont devenus ses disciples, on dirait que les gens ont la mémoire courte. N’était-ce pas le même Aristote qui disait que toutes les planètes tournaient autour de la terre?“ Das war nicht Aristoteles, sondern Ptolemäus, ein anderer Grieche – gleichviel: Kopernikus und Galilei haben später sein geozentrisches Modell falsifiziert, danach war es nicht mehr als eine auf Ptolemäus’ Behauptungen gegründete Fiktion. Aristoteles’ dramaturgisches Modell hingegen bezieht sich von vornherein auf die Konzeption von Fiktionen. Diese wiederum verweisen zwar auf die Realität, sie sind aber per se nicht real, und deswegen machen eine Falsifikation oder eine Verifikation in diesem Fall wenig Sinn. Doch der Polizeichef hat nun mal einen heuristischen Wahn – er will die kinematographischen Behauptungen verifizieren. Warum, fragt er sich, ist es möglich, dass einer, der in einem Film gestorben ist, in einem anderen Film wieder lebt. Aus der Krimifrage „Whodunit?“ wird in LE COMPLOT D’ARISTOTE ein „How do they?“ Der subalterne Polizist wird beauftragt, Licht ins Dunkel zu bringen. „It’s a one-man operation, top secret. I want pictures, pictures“, schnarrt der Polizeichef noch. Seine Forderung nach evidenten Beweisen ist tautologisch, denn wie will man mit Bildern beweisen, dass Bilder lügen, aber der mit der Lösung des Falls betraute Polizist tut sein Bestes. Wie weiland der Commissaire Maigret beginnt er seine Enquete in der nächsten Bar. Ob es hier irgendwelche Filmemacher gäbe, fragt er einen Barkeeper, den Bekolo selbst spielt. Der erwidert, dass er selbst einer sei und nur zum Geldverdienen hier arbeite. Der Polizist wundert sich, dass es auch afrikanische Regisseure gibt. Im Off konstatiert Bekolo, dass die Regierung mal wieder den größten Trottel mit der Recherche beauftragt habe. Der Ermittler kommt auf den Fall zu sprechen, den er zu lösen hat. Er will wissen, wieso im Film zwar Blut fließe, aber trotzdem niemand sterbe. Da fällt schon wieder der Name Sankara – aber das war doch ein realer Tod?! Gleichwohl: „Il y avait un scénario derrière.“ In Bezug auf Sankaras gewaltsamen Tod hatte es die Polizei mit der Wahrheitsfindung freilich weniger genau genommen ... Der Barkeeper gibt zu Protokoll, dass er in seinen Filmen höchstens einen oder zwei töte, und da sei eben Technik und Know-how dahinter. Keine erschöpfende Auskunft, der Polizist wird sich andere Informanten suchen müssen. Nun stellt Bekolo Cinéaste, den Protagonisten seines Films, vor. Um sein Innenleben nach außen zu kehren, greift er auf ein hier schon häufig erwähntes „Genre“ des afrikanischen Kinos zurück, den Heimkehrerfilm: Nach seiner Ausbildung im Ausland entdeckt der heimgekehrte Intellektuelle einen ihm fremd gewordenen Kontinent. Die Kamera beobachtet den Ankömmling bei der Fahrt durch eine moderne afrikanische Stadt. Wie in ET LA NEIGE N’ÉTAIT PLUS setzt eine OffStimme ein und analysiert die Befindlichkeit des Heimkehrers, aber hier spricht nicht die innere Stimme der gezeigten Figur, sondern der Regisseur. Weil der

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Heimkehrer im modernen Afrika ein „Alien“ ist, belegt er ihn mit dem Spitznamen E.T.: Die Regierung habe Cinéaste, nachdem er als studierter Mann aus Frankreich zurückgekehrt sei, erst mal ins Gefängnis gesteckt, um ihn nach seiner Entlassung für verrückt zu erklären. Doch Cinéaste sei ein Superhirn, genau so einen brauche Afrika, um Weltspitze zu werden. Man sieht den dubiosen Hoffnungsträger mit einem Einkaufswagen voller Filmrollen zwischen Hütten umherfahren – wie weiland Sembène versucht er, seine Filme auch in der Provinz an den Mann zu bringen. Dabei kommt er an einer Reihe von Gebrauchtwagen vorbei, neben denen auf Campingstühlen bärtige Weiße sitzen. Amerikanische Farmer, die ein abgenutztes Lebensgefühl verkaufen wollen? „Les histoires inventées avaient pris la place de la réalité“, diagnostiziert Bekolo – während sich die Protagonisten anderer Heimkehrerfilme im Kreise der Daheimgebliebenen bewähren müssen, ist Cinéaste mit den Veränderungen in der afrikanischen Medienlandschaft konfrontiert. Der Regisseur konkretisiert seine missliche Lage, indem er Cinéaste zum Besitzer eines Kinos macht, das sein Gegenspieler Cinema in seiner Abwesenheit mit einer Bande von Jugendlichen in Beschlag genommen hat. Die afrikanische Medienlandschaft stellt sich auf der weiß gekalkten Wand des fraglichen Kinos als ein hart umkämpftes Terrain dar. Neonröhren zeichnen noch die Umrisse des Kontinents nach, doch neben dem Schriftzug „Cinema Africa“ werden „action packed movies“ angekündigt, in diesem Kino laufen nur noch Filme US-amerikanischer Provenienz. Die Mitglieder von Cinemas Bande präsentieren sich vor der dunklen Kinoleinwand im Lichtkegel eines Verfolgers22 als Cobra, Schwarzenegger, Van Damme, Bruce Lee und Nikita. Wie Andy Warhol setzt Bekolo neben Filmstars aber auch Konsumgüter und Politiker als populäre Ikonen ins Bild: Es gibt nämlich noch einen Mister Nissan, einen Mazda und einen Saddam. Dann sitzt die Gruppe im Dunkel des Zuschauerraums. Auf den Gesichtern der Jugendlichen reflektiert sich das Geschehen auf der Leinwand in vagen Schemen – eine postmoderne Mise en scène von Platons Höhlengleichnis? Der Blick auf die Gruppe im Kino ruft eher die Erinnerung an einen Text von Felix Guattari auf. In „Die Couch des Armen“ behauptet Guattari, dass Psychoanalyse und Kino eine dem herrschenden System konforme Mikropolitik des Wunsches durchsetzen.23 Während sich aber der Einflussbereich der Psychoanalyse auf einen kleinen elitären Personenkreis beschränke, sei der Einfluss des Kinos in allen Bevölkerungsschichten bemerkbar:

22

Als Verfolger bezeichnet man einen sehr hellen Scheinwerfer, der eine einzelne Figur auf der dunklen Bühne verfolgt, die so als „besonders“ erscheint. Man kennt diese Lichtführung z.B. von Preisverleihungen im Showgeschäft.

23

Guattari 1977: S. 82-99.

338 | S CHWARZ BESETZT „[Das Kino] spricht statt Deiner, man hält Dir den Diskurs, von dem die Kinoindustrie sich einbildet, dass Du ihn gerne hören würdest. Eine Maschine behandelt dich wie eine Maschine, und wesentlich ist nicht das, was sie Dir sagt, sondern jene Art von Auflösungstaumel, den Dir die Tatsache verschafft, derart maschiniert zu werden.“24

Die kinematographische Performanz sei deswegen so wirkmächtig, weil das Erleben im Kino dem Erleben während des Träumens und unter dem Einfluss von Drogen vergleichbar sei. Da die eigenen Erinnerungen von denen des „kinematographischen Unterbewussten“ überlagert würden,25 bleibe der Kinobesuch nicht folgenlos. Die Figuren des Kinos siedelten sich im Unterbewussten an, und der Film wirke im Traum weiter. Er selbst, Guattari, „habe festgestellt, dass die Interaktion umso stärker war, wenn mir der Film weniger gut zu sein schien“.26 Aus dem Dialog der Mitglieder von Cinemas Bande erschließt sich, dass sie TERMINATOR II sehen.27 Keiner wendet den Blick von der Leinwand. Hier herrscht nicht das fröhliche kommunikative Ambiente, das Yaméogo und Kouyaté beim Blick in die Zuschauerräume afrikanischer Kinos gezeigt haben.28 Die Stimmung ist gereizt. Es scheint, als habe die Aggressivität des Blockbusters diese Jugendlichen infiziert. Auch wenn gerade mal kein Film läuft, leben diese Jugendlichen im Kino, eine andere Heimat scheinen sie nicht zu haben; hier reproduzieren sie gestisch und verbal Versatzstücke der gesehenen Filme, vor allem Actionfilme scheinen bei ihnen hoch im Kurs zu stehen. Guattari vermutet, dass insbesondere solche Filme angetan seien, die „perzeptiven und deiktischen Koordinaten“ von Kinozuschauern zu deterritorialisieren.29 Auf die Jugendlichen, die Bekolo in seinem Film zeigt, trifft das zu: Mit ihrer mentalen Karte sind sie außerstande, sich in der Wirklichkeit zurechtzufinden. Der Regisseur zeigt die Jugendlichen nicht nur im dunklen Raum der manipulierten Träume, er führt sie auch im grellen Tageslicht vor und postiert die desorientierten Möchtegern-Stars vor einem Autowrack – so haben sie keine Chance, voranzukommen ... Szenenwechsel: Der Regisseur verschafft seinen Zuschauern jetzt dokumentarisch anmutende Einblicke in ein afrikanisches Kultusministerium. Cinéaste wartet mit einem weiteren Bittsteller im Halbdunkel einer trostlosen Wartezone. Jump Cuts suggerieren eine schier endlose Wartezeit: Cinéaste steht in wechselnden Kostümen an unterschiedlichen Stellen des Raums. In diesem Ministerium tippt

24

Guattari 1977: S. 93.

25

Guattari 1977: S. 93/94.

26

Guattari 1977: S. 95.

27

TERMINATOR II: JUDGEMENT DAY, USA 1991, R.: James Cameron.

28

Vgl. Teil I, Kap. 3.1, S. 117 und Teil III, Kap. 8.2, S. 278.

29

Guattari 1977: S. 94.

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man noch mit der Schreibmaschine, aber der Stempel des Dokuments, das Cinéaste endlich in den Händen hält, ist desto pompöser. Er hat nun die Zusage, dass die Polizei sein Kino räumen wird. „Le cinéma africain peut-il se faire avoir?“ fragt Bekolo – Cinéaste konnte sein Kino nur für den afrikanischen Film zurückerobern, weil es ihm gelungen war, die Regierung zu überzeugen, dass er auf ihrer Seite stehe, und weil er den Kampf gegen den amerikanischen Film als Verbrechensbekämpfung deklariert hatte. Der ambitionierte Filmschaffende kooperiert jetzt also mit einer ominösen Regierung und verstrickt sich dabei zunehmend in Widersprüche: „Just as FESPACI has attempted to have the government regulate distributors who import foreign films“, bemerkt Carmen McCain.30 Schon an der Außenwand seines Kinos lässt sich ablesen, dass Cinéaste wieder Herr im Hause ist. Hier hängen jetzt die Plakate der Klassiker des afrikanischen Autorenkinos: YAABA,31 TOUKI-BOUKI ... Das Kino heißt nun „Cinéma Héritage“. In dem Raum, in dem der Filmprojektor steht, hängt eine von hinten beleuchtete afrikanische Maske. Doch das Publikum bleibt aus. Im Zuschauerraum sitzt nur ein einsamer weißbärtiger Afroamerikaner in orange-rot gestreiftem Kente – ein nach Afrika zurückgekehrtes Kindeskind der Sklaverei. Offensichtlich handelt es sich hier um einen in die Jahre gekommenen Akademiker, vielleicht einer, von denen, die jenseits des Atlantiks mit präskriptiven Artikeln definieren, was das afrikanische Kino leisten solle ... Cinema und seine Bande hatten die polizeiliche Räumung als Fortsetzung eines Actionfilms mit anderen Mitteln aufgefasst und das Kino den Genrekonventionen genügend mit hinter dem Kopf verschränkten Händen verlassen. Doch einen anderen Fixpunkt als das Kino gibt es in diesem Film nicht. Bekolo zeigt die Darsteller oft an Straßenrändern und an Gleisen, doch jetzt sitzen Cinema und seine Bande hintereinander aufgereiht wie in einem Kinozuschauerraum auf einem Hügel mitten in der Provinz. Cinema blickt betrübt in die Ferne. „This place is prehistoric Jurassic Park!“ bemerkt ein anderer trocken,32 das Hollywood-Double habe die Realität ersetzt, konstatiert Bekolo im Off. Auch die Kamera schaut in die Landschaft, was gemeinhin als Weite erscheint, wird aus der Perspektive der Vertriebenen zur Leere. In vielen afrikanischen Filmen tritt die Würde des Landlebens vor der majestätischen Kulisse einer afrikanischen Landschaft in Erscheinung, aber für die jungen Großstädter gibt es schlechterdings kein Leben ohne Kino. „No action! No action!“ lamentiert die Jugend Afrikas, in New York würden mehr Menschen getötet als hier, es gäbe einfach zu wenig Tote in der afrikanischen Provinz. Also spie-

30

McCain 2009. [Internetquelle]. Vgl. dazu auch Haynes 1999: S. 36.

31

YAABA, Burkina Faso/Schweiz/Frankreich 1989, R.: Idrissa Ouédraogo.

32

Diese Szene wirkt fast wie eine filmische Diskursivierung von Appadurais Festellung, dass die Grenzen zwischen fiktionalen und realen Landschaften aufgelöst seien. Vgl. Appadurai 1998: S. 35.

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len sie Filmszenen nach, aber wenn ein Eselskarren einen Ochsenwagen verfolgt, lässt sich der Kitzel einer Autoverfolgungsjagd kaum nachempfinden. „I show you some action“, ruft Cinema und fährt mit seinem Kleinbus auf einem Schotterplatz effektvolle Kurven. Es staubt zwar sehr kamerawirksam, aber der selbstberufene Action-Star dreht sich nur im Kreis, was durchaus metaphorisch zu verstehen ist. Aber dann geben sich alle einen Ruck: Die Bande wird kreativ und richtet in den Grundmauern eines verfallenen Gebäudes ein Open-Air-Kino ein, das den Namen „New Africa“ trägt; Cinema betrachtet das Werk und behauptet stolz: „That’s the real Africa.“ Der Zuschauerraum ist von einem hohen Gestänge eingefasst, von dem bunte Patchwork-Stoffbahnen herabhängen, eine ingeniöse Installation jener afrikanischen Bricolage-Ästhetik, die mittlerweile auch die Besucher der Documenta und der Biennale in Venedig erfreut. Doch das Wichtigste haben Cinema und seine Kumpane in der Stadt vergessen: Ihre Filme liegen noch im Cinéma Héritage. Schwer bewaffnet dringt die Bande in das Refugium von Cinéaste ein. Leises Hühnergackern und lautes Schnarchen ertönt aus dem Zuschauerraum, denn dort ist der afroamerikanische Akademiker während eines „Film de Village“ selig eingeschlummert. Als zwei Kumpane Cinemas den Mann im Kente-Gewand unsanft wecken, protestiert er schläfrig. „It doesn’t sound African“, stellt einer der Schurken fest. „Do you think you are more African like me? I studied Swahili“, protestiert sein Opfer beleidigt. „Why you are watching this shit?“ fragt ihn sein Aggressor ehrlich interessiert. „These are your roots man. If you don’t know where you’re coming from, how to know where we are going?“ belehrt ihn der amerikanische Akademiker. „We don’t need a direction from anyone“, lässt ihn der junge Afrikaner wissen. Doch so selbstbestimmt wie sie glauben, sind diese Konsumidioten nicht. Leider haben die Bösewichter nicht ihre eigenen Filme mitgenommen, sondern sich an der Sammlung von Cinéaste vergriffen. Nun muss im Kino „New Africa“ statt des neuesten Streifens mit Bruce Willis ein beschaulicher Kalebassen-Film über das Leben auf dem Dorf laufen. Vom Film zeigt Bekolo nichts, stattdessen ist wieder nur Hühnergegacker zu hören. „I can’t watch this! There is no action! Wear rags, walk slowly and do nothing. It’s an African movie“, schimpft einer. Aber hier sähe man, wie wirkliches Leben sei, meint ein anderer „Slow like chickens“, gibt Bruce Lee breit grinsend zurück. „Business is business“, bemerken zwei andere und schicken sich an, ihr Wasser abzuschlagen: „These movies you go out, take a piss, have a meal, they are still doing the same thing when you come back.“ Nach dem Film folgt eine hitzige Diskussion in einer Bar. Die Jugendlichen sind unverschämt und direkt,33 ihre Kritik an rückwärtsgewandter Kulturpolitik formulieren sie mit einer Prägnanz, die nichts zu wünschen lässt: „And they call that culture, African

33

Vgl. dazu auch Haynes 1999: S. 30.

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culture, African action, chickens chasing dogs and goats chasing chickens, with traditional music“, ereifert sich einer. Warum nur die Schwarzen Lanzen hätten, die Weißen aber Revolver, will einer wissen. Wir wollen Kriege und Revolutionen, schreien sie durcheinander, bis schließlich ein Konsens gefunden ist: „We want black stars. We want Whitney Houston. We want African films that kick ass!“ „Fucking“ Bekolo solle verschwinden, denn der wäre nicht besser als Cinéaste. Ein Schnitt: Die Leiche des Afroamerikaners liegt neben den Bahngleisen. Wer ist für den Tod verantwortlich, Cinema, Lumière oder Aristoteles? Für den Polizisten steht eines fest: „This was a cultural murder.“ Aber der Tote erhebt sich und geht wie ein schlecht geölter Roboter seiner Wege. Der Polizist verfeuert die gesamte Munition, um den Untoten zu stoppen. Vergeblich, denn auch LE COMPLOT D’ARISTOTE ist nur ein Film. Die Vorstellung von Zombies kam mit den afrikanischen Sklaven über Haiti nach Amerika, um von dort aus via Horror-Film wieder den Weg zurück nach Afrika zu finden,34 doch Cinemas bevorzugtes Genre ist der Actionfilm. Sein hellbrauner Ledermantel steht immer offen. Seine breite Brust ziert eine protzige Goldkette. Er steht breitbeinig auf der Erde – eine raumgreifende Figur. Cinema ist ein Substrat aller sympathischen Bad Guys des amerikanischen Films: Er ist sich seiner Kraft bewusst und kann es sich erlauben, so etwas wie Gutmütigkeit in sein breites Grinsen zu legen. Sein Kontrahent Cinéaste scheint stets drei Zentimeter über dem Boden zu schweben. „Il est un ange“, meint Kommentator Bekolo, aber mit seiner notorischen Unzufriedenheit strahlt der Repräsentant des afrikanischen Kinos eine latente Aggressivität aus. Der mickrige Intellektuelle mit dem eingefallenen Brustkorb und den vorgeschobenen Schultern gleicht das, was ihm Cinema an körperlicher Präsenz voraus hat, durch Arroganz aus. Er bewegt sich so fahrig wie der alte Godard in Cannes. Als er nach dem Überfall von Cinemas Bande sein Kino betritt, stolpert er erst mal über die Leiche des Filmvorführers, der mit durchgeschnittener Kehle am Boden liegt. Doch das Verbrechen ist nicht unbeobachtet geblieben. Die Augen der an der Wand hängenden afrikanischen Maske glühen bedrohlich rot. Ein polyphones Raunen setzt Cinéaste über den Tathergang in Kenntnis. Die Kamera fährt jetzt von unten an seiner Gestalt hoch und entdeckt, dass Cinéaste auf einmal eine frappante Ähnlichkeit mit Schwarzenegger alias T-800, dem Helden aus TERMINATOR II, aufweist.35 „Judgement Day“:36 Mit entschlossenem Blick und vorgeschobenem Unterkiefer schwingt sich Cinéaste im langen schwarzen Ledermantel mit einem Maschinengewehr auf eine Harley Davidson. „He is suddenly glamorous, powerful and sexy as he enters

34

Vgl. Wendl 2006: S. 275-289 und Krings 2005b: S. 194/195.

35

Vgl. Haynes 1999: S. 36.

36

Es handelt sich hier um den Untertitel des Actionfilms.

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in the realm of popular culture“, meint Haynes,37 aber Cinéaste wirkt eher albern als glamourös, und der Zuschauer gewinnt zunehmend den Eindruck, dass er in einem Film mitspielt, den er in seinem eigenen Kino nie zeigen würde. Das Kino wuchert immer mehr in das hinein, was dieser Film als Wirklichkeit postuliert. Wie Nikita in Bessons gleichnamigem Film38 droht ihre afrikanische Doppelgängerin Opfer ihrer neuen Identität zu werden – einer von Nikitas Kumpeln ist kurz davor, sie zu vergewaltigen. Doch dazu kommt es nicht, denn das Kino „New Africa“ ist von der Polizei umstellt, und über Megaphon kommt die Ansage: „Cinema it’s no use ... You come up, with your hands up! I give you thirty seconds ...“ Auf den bunten Stoffplanen, die das Cinema New Africa begrenzen, zeichnen sich jetzt die Schattenrisse von Maschinengewehren ab. Die Lichtführung ist virtuos: Maschendraht im Gegenlicht, dann lassen kleine Streifen von Helligkeit Menschen erahnen. Genaues ist nicht zu erkennen: diffuse Geräusche, Laufen, Schüsse und Hechelatmung erhöhen die Konfusion. Eine weggesprengte Tür fliegt durch die Luft. Nikita erscheint mit Schnellfeuerwaffe im kirschroten Ballkleid vor einer grünen Holzwand. „This is not a movie“, tönt es von der Barrikade. Die hyperrealen Farben strafen diese Aussage Lügen, aber der Zuschauer kann sich selbst dabei beobachten, wie die ausgestellte Künstlichkeit der filmischen Mittel der Wirkung der eingesetzten optischen und akustischen Signale keinen Abbruch tut. Der Puls erhöht sich, die Muskeln spannen sich an: Aristoteles hat es wieder einmal geschafft ... Die Polizei ist auf wunderbare Weise verschwunden, auf einmal steht die Sonne hoch am Himmel – High Noon. Cinéaste brüllt: „I want my films.“ Hol sie dir, lautet die lakonische Antwort, und dann stellen sich die Kontrahenten von LE COMPLOT D’ARISTOTE zu einem abstrusen Showdown auf. Auf der einen Seite haben sich die Mitglieder von Cinemas Gang hintereinander angestellt, um sich bei Cinéaste, der auf der anderen Seite steht, eine Tracht Prügel abzuholen. Es folgt eine irrwitzige Revue verschiedenster Kampfsportarten. Cinéaste geht zwar auch mal zu Boden, aber er steht immer wieder auf. Die Akteure wirken allesamt wie Marionetten einer virtuellen Welt. Sieben liegen bereits am Boden, als sich schließlich Protagonist Cinéaste und Antagonist Cinema gegenüberstehen. Wie beim finalen Faustkampf in LE RETOUR D’UN AVENTURIER wollen auch hier Ton und Bild nicht recht zusammenpassen:39 Der Schlagabtausch wird durch zu laute Toneinspielungen von festen Schlägen ins Irreale entrückt, wodurch die Szene die Anmutung eines B-Movies bekommt. Doch da erklingt auch schon eine Sirene. Der Polizist, den der Zuschauer vom Anfang des Films kennt, setzt die Streithähne auf die Ladefläche seines Polizeiautos. Der Ermittler steht unter Druck: Sein Chef hat ihm mit

37

Haynes 1999: S. 36.

38

NIKITA, Frankreich/Italien 1990, R.: Luc Besson.

39

Vgl. Teil III, Kap. 8, S. 260.

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Kündigung gedroht, wenn er nicht endlich aufklärt, warum die Toten eines Films im nächsten wieder leben. Da trifft es sich gut, dass er jetzt mit Cinéaste und Cinema zwei Gewährsmänner in Gewahrsam hat. Der Zuschauer ist wieder da gelandet, wo der Film begann, neben den Bahngleisen. „I didn’t kill anybody“, behauptet Cinema. „Just because there is no dead body, this doesn’t mean you are innocent“, gibt der Polizist zurück, und Cinéaste schreit: „You are guilty as hell.“ Da schaltet sich der Regisseur wieder ein und vermeldet aus dem Off, dass der Streit zwischen Cinema und Cinéaste zwar noch nicht beigelegt sei, aber nichtsdestotrotz rasch eine Auflösung her müsse: „Le Happy End s’impose!!!“ Also inszeniert Bekolo flugs eine Eheschließung. Der Polizist trennt die beiden Parteien und greift beherzt in den Fundus der Allgemeinplätze: „In life we must find answers to problems.“ Nun wird es melodramatisch. Die Kamera nimmt jetzt die ganze Dreiergruppe in den Blick. Der Polizist steht wie ein Pfarrer in der Mitte, rechts davon der übellaunige Cinema, links der ohnehin stets nörgelnde Cinéaste. Der Mensch habe einen Kopf und Hände, und diese müssten zusammenarbeiten, meint der Polizist, und weil der Film gut enden soll, fügt er die Hände von Cinéaste und Cinema zusammen. Wie für ein Hochzeitsfoto schauen nun alle drei frontal in die Kamera. Doch der Ordnungshüter will das frisch vermählte Paar nur freilassen, wenn sie seinen Bericht unterschreiben, und so setzen sie ihre Unterschriften unter eine Hochzeitsurkunde der besonderen Art. Der Polizist reicht seinen Bericht zusammen mit einer Filmrolle, auf der mit Filzstift der Titel „Dead or Alive“ geschrieben steht, hoch auf den Schiedsrichterstuhl, auf dem der Polizeichef thront. Es folgt ein dezidiert krauser Kurzfilm: DEAD OR ALIVE. Der Film im Film hat die Anmutung eines Amateurfilms. Die Akteure spielen ausgestellt laienhaft. Zwischen den einzelnen Einstellungen sind lange Schwarzblenden, sodass die Schnitte überdeutlich ins Auge fallen. In einem Liegestuhl schaut Cinéaste (nun mit Strohzylinder und Amerikaflagge als Uncle Sam verkleidet) traurig in die Ferne. Neben ihm steht ein Radio. Ein Nachrichtensprecher berichtet aus Hollywood: Seit 48 Stunden sei dort niemand mehr gestorben. Die nächste Einstellung zeigt eine Polizeistation: Die Polizisten lauschen der nämlichen Radiomeldung und brechen in Gelächter aus. Cinéaste grübelt ostentativ und fasst einen Entschluss. Schnitt: Die Kamera zeigt jetzt eine Straße aus der Vogelperspektive. Cinéaste läuft ins Bild und legt sich quer darüber. Uncle Sam hatte einst von Plakatwänden herunter Soldaten für die US-amerikanische Armee rekrutiert – sein afrikanisches Pendant demonstriert Todesmut am eigenen Leibe. Von links nähert sich eine amerikanische Limousine und stoppt abrupt vor dem Liegenden. Cinema (nunmehr im blauen Hawaiihemd) entsteigt dem Wagen und fragt: „Do you want to die?“ Cinéaste klärt ihn auf, dass dies platterdings unmöglich sei, weil in Hollywood keiner mehr sterbe. Der hinzugetretene Polizist bestätigt dies. Cinema will nun die Richtigkeit dieser Behauptung überprüfen, doch als er sich anschickt loszufahren, schreit der Polizist „keine falsche Bewegung“ und schießt. Eine urplötzlich herbeigeströmte Men-

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schenenge schlägt ihn nieder. Bilanz: drei Tote. Aber siehe da: Cinéaste, Cinema und der Polizist erheben sich wieder und schreiten in einer Reihe blutverschmiert auf die Kamera zu. Aber Kommentator Bekolo konstatiert, dass der Kameramann vor Schreck geflüchtet ist: Er wisse nicht, dass das alles nur ein Film sei: „On n’est pas les seuls à être aussi bêtes.“ Der Zuschauer sieht nur noch eine verwaiste Filmkamera. Diese Einstellung evoziert die Erinnerung an Dziga Vertovs DER MANN 40 MIT DER KAMERA. Man könnte Bekolos Film im Film, den Polizeibericht auf Zelluloid, als Anspielung auf Dziga Vertovs Kino-Prawda verstehen. Die Nachrichtenfilme des sowjetischen Filmpioniers gelten (nicht zu Unrecht) als Agitprop, aber in seinem medienreflexiven Film DER MANN MIT DER KAMERA zeigt Vertov, dass Filmbilder Wirklichkeit bewahren können und wie man diese Wirklichkeit mit dem Schnitt manipulieren kann. Bekolo aktiviert mit seinen Anspielungen so etwas wie eine innere Suchfunktion, gleichzeitig scheint er seinen Zuschauern spöttisch zuzurufen: „Ich weiß viel mehr über Kino als du.“ Haynes ist aber der Ansicht, dass die kinematographischen Vexierspiele des Regisseurs ins Leere laufen. Dem Off-Text Bekolos mag Haynes schon gar nicht vertrauen: „Bekolo’s verbal riffs on the soundtrack often follow a trajectory towards nonsense; so does the film as a whole, with its concluding dumb jokes about life and death in cinema, as if seeking to shed responsibilities by plunging into the ludic. Anxieties (perhaps) about the intellectual demands imposed by the British Film Institute and suspicions about the insertion of African cinema into world cinema find their ultimate horizon in the deep paranoia about the ultimate plots in Western civilization, those of Aristotle and of the Bible which Bekolo complains, condemns everyone for original sin, lays a curse on the Black man, and promises salvation only in the hereafter.“41

Sind Bekolos Anspielungen auf Bibel und Aristoteles wirklich nicht mehr als ein Versuch eines afrikanischen Regisseurs, sich die Anerkennung westlicher Intellektueller zu sichern? Sind seine Reflexionen über Leben und Tod bloß ein dummer Witz? Man kann diese Fragen nur beantworten, wenn man sich auf die Assoziationsketten des Regisseurs einlässt. Da wären zunächst die wiederholten Verweise auf die Weisheiten seines Großvaters. Im psalmodierenden Stil eines Senghor behauptet dieser eine Nähe von kinematographischen Performanzen und okkulten Ritualen. Eines hätten diese beiden kulturellen Praktiken gemeinsam: Sie könnten Realität und Fiktion dergestalt entgrenzen, dass der Tod zur konzeptuellen Entität werde. Es lohnt sich, dieser Behauptung nachzugehen: Das „Als ob“, also die filmi-

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MANN MIT DER KAMERA (DER), UdSSR 1929, R.: Dziga Vertov.

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Haynes 1999: S. 38.

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sche Behauptung des Todes, ist für den Zuschauer immerhin so real, dass er erschrickt, wenn ein Mensch auf der Leinwand erschossen wird. Der Kinozuschauer glaubt zwar, dass ein Schauspieler im Film nicht richtig stirbt, aber wie dem wirklich ist, kann er nicht wissen. Die Wiederauferstehung Christi wird mit dem Terminus Glaubenstatsache42 (sic!) bezeichnet. Wer daran glauben kann, dem wird das ewige Leben zuteil, der Tod verliert dadurch an Realität, denn für Gläubige bedeutet er nicht das Ende des Lebens. Bekolos Großvater drückt es anders aus: „La mort ne tue pas l’homme, c’est l’homme qui craint la mort.“ Diese Irrealisierung des Todes ist der von Theologen nicht unähnlich. Bekolo zitiert die Aussage seines Großvaters während einer Actionsequenz und verweist im gleichen Atemzug auf Aristoteles. Der Tod ist aber nicht nur im Christentum, sondern auch in der griechischen Tragödie zentral. Durch den Tod Christi wurde die Welt erlöst, durch den Tod des tragischen Helden wird die Weltordnung wiederhergestellt. Neues Testament und klassische Tragödie intendieren eine Läuterung der Rezipienten. Moderner formuliert: Aristoteles und die Evangelisten erhoffen sich eine performative Wirkung. Die Dramaturgie des US-amerikanischen Mainstream-Kinos steht zwar in der aristotelischen Tradition, aber während die Gewalt bei Aristoteles noch die Funktion hatte, durch Furcht und Mitleid die Achtung der Götter zu zeitigen, so ist sie in Actionfilmen nicht mehr als eine Herausforderung für den siegreichen Protagonisten. In der griechischen Tragödie stirbt der Held. Hollywood setzt aufs Happy End. Die Hamartia, der kleine Fehler, der griechische Heroen zu Fall brachte, ist abgeschafft. Eine Actionikone wie Schwarzenegger ist göttergleich, allgewaltig und allmächtig, er muss nicht gebessert werden, und seine Hybris wird nicht mehr bestraft, sondern belohnt. Der Tod erhöht im Actionfilm die Spannung, und das war’s. Haynes betrachtet LE COMPLOT D’ARISTOTE als programmatischen Brückenschlag zwischen Autorenkino und populärem Film: „[Bekolo] has given us a mordant and funny account of where things stand, and has pointed us in important directions: towards the popular audience which African film must reach, and towards the popular as form of African culture with its own form of participation in the globalized media environment. This focus in itself is not a political program to replace the original revolutionary project of African film, but it is an indispensable part of any movement forward.“43

Aber präsentiert der Regisseur das forcierte Happy End, die Filmhochzeit zwischen Cinéaste und Cinema, wirklich als Lösung der Probleme in der afrikanischen

42

Mit dem Begriff „Glaubenstatsachen“ hat sich auch der Philosoph und Aristoteles-For-

43

Haynes 1999: S. 40.

scher Rainer Marten (1976: S. 10f.) auseinandergesetzt.

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Medienlandschaft? In der letzten Einstellung von LE COMPLOT D’ARISTOTE greift Bekolo ein emblematisches Film-Motiv auf: Cinéaste braust auf einer Harley Davidson der untergehenden Sonne entgegen ... Der hagere Autorenfilmer bestimmt die Richtung, Cinema, der massige Apologet des Mainstream-Kinos, muss sich in den Beiwagen quetschen. So sind denn die realen Verhältnisse endlich einmal umgedreht. Im Off formuliert Bekolo abschließend noch ein ziemlich enigmatisches Manifest: „On n’a pas envie de sortir notre cinéma de la vie! C’est pour nous comme un accouchement difficile: la mère ou le bébé. La vie ou le cinéma! Ouais! Parce que dès que le cinéma va se passer en dehors de la tête, il est mort, vous êtes morts.“ Haynes will diese Äußerung nicht ernst nehmen.44 Man könnte Bekolos paradoxe Formulierung aber als Oxymoron stehen lassen und ihr eine leitmotivisch wiederkehrende Metapher an die Seite stellen. Immer wieder fällt der Name Thomas Sankara. Er starb als tragischer Held mit Hamartia – ein afrikanisches Trauerspiel, das allen Anforderungen von Aristoteles genügt, doch sein Tod war nicht fiktiv, sondern real. Wer nichts über Sankara weiß, wird in diesem Film weiter nichts über ihn erfahren, wie Haynes treffend bemerkt, verweigert Bekolo jegliche Konkretisierung: „The film hardly touches African ground and hardly attempts to do so. [...] This is of course a trick of the film’s framing. Bekolo is filming in a country not his own and appears to have little specific interest in Southern Africa. The film is set in a transnational mental space, the imaginary realm of cinema-in-Africa, where cinema wholly defines the identity of Cinema (the gangster) rather than being an element in the repertoire of a concrete historical human being in Africa, as in Rouch’s Moi, un noir, or, for that matter as in Quartier Mozart. For this reason in Aristotle’s Plot foreign influences are more apt to appear as alienation, rather than a healthy syncretism.“45

Es stellt sich allerdings die Frage, ob Konzepte wie „African ground“ und „healthy syncretism“ als geeignete Kategorien zur Analyse von LE COMPLOT D’ARISTOTE gelten können. Während die Kamera die schwarzen Jugendlichen in den Blick nimmt, behauptet Bekolo, dass die Natur aus ihnen weiße Helden gemacht hat: „Ces jeunes bâtards culturels ... si la nature [sic!] vous a fait un héro blanc, il y a peu de chances qu’elle vous fasse noir un jour [...] Ces jeunes bâtards culturels forcés au retours. Ces jeunes bâtards culturels comme ils existent de plus en plus dans ce monde. [...] La nature ne repasse jamais deux fois au même endroit. Si elle a fait de vous un blanc il y a peu de chances qu’elle vous refasse noir un jour ... too bad.“

44

Haynes 1999: S. 38/39.

45

Haynes 1999: S. 39.

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Bekolo geht hinter die 100-jährige Geschichte des Kinos zurück und erzählt eine Kulturgeschichte performativer Praktiken, dabei trifft er Aussagen über Identitätskonstruktionen. Filmkritik und Wissenschaft gestehen afrikanischen Regisseuren aber nicht zu, dass sie Allgemeingültiges formulieren, stattdessen versteift man sich darauf, das vermeintlich Afrikaspezifische ihrer Filme zu fokussieren. Doch Bekolo thematisiert den Zustand der Welt und stellt dabei berechtigterweise fest, dass transkulturelle Identitätskonstruktionen kein afrikanisches Spezifikum sind. Auf rheinhessischen Dorfplätzen begegnet man Gangster-Rappern, in niederländischen Kleinstadt-Cafés sitzen weiße Rastafaris, und weltpolitische Ereignisse präsentieren sich nicht nur Afrikanern in einem „transnational mental space“,46 in dem ein Saddam Hussein kaum realer ist als ein Bruce Lee, denn beide kennt man nur aus Filmen.

10.2 I BRO S ADDAM Dem französischen Produzenten Alain Brigand war es nach dem Attentat auf das World Trade Center in Manhattan ein Anliegen, „die Resonanz auf die Ereignisse in aller Welt zu dokumentieren“.47 Er bot elf Regisseuren unterschiedlicher Kontinente an, mit Kurzfilmen von elf Minuten, neun Sekunden und einem Frame, Stellung zu den Folgen des Anschlags zu nehmen. Auch Idrissa Ouédraogo aus Burkina Faso hatte das Angebot erhalten, einen Kurzfilm zu drehen. Als Brigands Filmprojekt „11’09’’01“48 am 28. November 2002 in die Kinos kam, stand die westliche Öffentlichkeit dem damals amtierenden Präsidenten Bush noch nicht so kritisch gegenüber wie heute. „Die freie Welt“ demonstrierte Geschlossenheit, als personifizierte Antithese „im Kampf gegen den Terrorismus“ bot sich Osama Bin Laden an. Doch die jugendlichen Helden in Ouédraogos Kurzfilm haben eine Bitte an den Feind „der westlichen Welt“: „Osama reviens, s’il te plaît. On a besoin de toi, ici.“ Bin Laden als Heilsbringer? Absurd! Aber Idrissa Ouédraogos Verkehrung des westlichen Konsens war unwiderstehlich komisch:49 Dass das World Trade Center Ziel eines terroristischen Anschlages geworden ist, erfährt man auf dem großen

46

Haynes 1999: S. 39.

47

Brigand 2002: S. 2.

48

11’09’’01, Frankreich 2002, R.: Idrissa Ouédraogo [u.a.].

49

Daniel Kothenschulte notiert: „Der erste Kinofilm über den Elften September ist überraschend geglückt. [...] Eine Liebesgeschichte durften wir erwarten. Aber wer hätte gedacht, dass es auch eine Komödie zum Septemberthema geben kann? Idrissa Ouédraogo aus Burkina Faso ist dieses Kunststück im schönsten Film des Programms gelungen.“ Kothenschulte [2002].

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Markt in Ouagadougou per Kofferradio. Aber nicht nur in New York hat man an diesem Tag Kummer. Adamu braucht Kugelschreiber für die Schule, und seine Mutter ist schwer krank. Es geht nicht anders: Er muss die Schule verlassen, um Geld zu verdienen. Also läuft er durch die Stadt und verkauft Zeitungen, dabei wirbt er mit der wichtigsten Nachricht des Tages: Auf Osama Bin Laden ist ein Kopfgeld von 25 Millionen Dollar ausgesetzt. Neben der Schlagzeile prangt das Foto des Gesuchten. Da bleibt Adamu auf einmal wie vom Donner gerührt stehen, denn in unmittelbarer Nähe steht ein Mann, der Bin Laden aufs Haar gleicht. Unglaublich, was Adamu und seine Freunde mit der Belohnung anfangen könnten, wenn es ihnen gelänge, Osama zu fangen! Aber der Mann, den Adamu entdeckt hat, fährt zum Flughafen besteigt eine Maschine, und weg ist er ... Da stehen die Jungs und können ihr Unglück kaum fassen: Der Traum vom großen Geld ist geplatzt. Ouédraogos Konzept ist raffiniert: Mittels einer Komödie lenkt er den Blick von einer Tragödie auf eine andere, und relativiert damit die erste, ohne sie zu verkleinern. Der Zuschauer kann kaum umhin, das Bedauern der Jungen zu verstehen, und er lacht, weil ihn Ouédraogo verführt hat, ihre Perspektive zu teilen. Der Film „11’09’’01“ richtet sich an die Weltöffentlichkeit, aber die Regisseure des Projekts mussten realistischerweise davon ausgehen, dass der Film vornehmlich im Westen gesehen würde.50 Nicht untertitelte hausasprachige Videoproduktionen sind auf den vergleichsweise kleinen Adressatenkreis zugeschnitten, dem diese Filme zugänglich sind, auf die muslimischen Hausa im Norden Nigerias. Die Verfasstheit dieses Publikums war nach dem Attentat auf das World Trade Center der des westlichen Publikums diametral entgegengesetzt. Matthias Krings beschreibt die Stimmung so: „Noch vor Beginn des Afghanistan-Krieges verkündeten Vertreter des Nigerianischen Rates Muslimischer Gelehrter in der nordnigerianischen Metropole Kano ihre uneingeschränkte Unterstützung für Bin Laden.“51 Das Konterfei Bin Ladens prangte auf Aufklebern, Anstecknadeln, Schlüsselanhängern und T-Shirts. Bin Laden wurde als „Sozialrebell“ angesehen und stand damit „stellvertretend für die exkludierten und verarmten Opfer von Imperialismus und Globalisierung“.52 In diesem Kontext erschien im Mai 2002 die nordnigerianische Videokomödie IBRO USAMA.53 Regie führte Malam Auwalu Dare. In seinem Film sind George W. Bush, Colin Powell und Tony Blair schwarz, denn sie werden von den Komikern Bosho, Yautai und Katakore gespielt. Sie gehören zu einer Komödiantentruppe, die eine in Nordnigeria sehr populäre Improvisationstechnik pflegt, das sogenannte Camama-Theater. Die-

50

Der Film ist heute zumindest in Teilen auf YouTube zugänglich.

51

Krings 2004: S. 255.

52

Krings 2004: S. 257.

53

IBRO USAMA, Nigeria 2002, R.: Malam Auwalu Dare.

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ses fand zunächst auf Dorfplätzen sein Publikum, später wurde die im CamamaTheater praktizierte Technik der Darstellung für Videokomödien fruchtbar gemacht.54 Man könnte die Besetzung weißer Politiker mit schwarzen Schauspielern als Notlösung interpretieren. Möglicherweise hätten weiße Darsteller den Part übernommen, wenn welche zur Verfügung gestanden hätten, vielleicht aber auch nicht, denn Bosho, Yautai und Katakore sind beim Publikum beliebt. Jenseits aller Mutmaßungen steht eines fest: Die Crew glaubte, auf die Opposition Schwarz/Weiß verzichten zu können. Bei der Besetzung war die Hautfarbe von untergeordneter Bedeutung, denn es ging darum, die Verhaltensweisen der westlichen Politiker darzustellen, und das können auch schwarze Schauspieler. Wie im Camama üblich gibt der Autor (hier Mato na Mato) nur einen Handlungsrahmen vor, in dem die aufeinander eingespielte Komiker-Truppe die Dialoge improvisiert. Die Kamera zeigt die Darsteller fast ausschließlich in Plansequenzen. Dabei wird durch das Arrangement der Figuren deutlich, in welchem Verhältnis sie zueinander stehen. Wie das TITANIC-Remake ist auch IBRO USAMA mit raubkopierten Sequenzen angereichert. Verwackelte Aufnahmen von Hubschraubereinsätzen und brennenden Häusern fungieren als Darstellungen von Attentaten. Der Zuschauer sieht auch die Videobotschaften eines Talibanführers – eine Persiflage ist hier nicht intendiert, im Gegenteil, das Gezeigte wirkt merkwürdig real: Die Einsprengsel sehen fast aus wie wirkliche Al-Qaida-Botschaften. Wie kann dieser Effekt entstehen? Bei der Repräsentation der weltpolitischen Situation nach dem 11. September kam Bildern eine entscheidende meinungsbildende Funktion zu. Es zirkulierten aber nicht nur die von US-amerikanischen Nachrichtensendern produzierten „teuren“ Bilder, sondern auch von Al-Qaida produzierte „billige“ Bilder. Im Rahmen westlicher Berichterstattung erhielten diese auch in europäischen Wohnzimmern Einzug. Einige Sequenzen von IBRO USAMA zeigen, wie sich die Taliban unter der Führung Bin Ladens im Traininglager auf ihre Einsätze vorbereiten. Auch diese Bilder wirken dokumentarisch, nur die Dialoge lassen erkennen, dass es sich um einen Spielfilm handelt, aber zu lachen gibt es hier nichts. Komödiantisches darf nur beim Manöver der US-amerikanischen Armee aufblitzen. Ein stämmiger Armeeangehöriger evoziert durch seine Haltung das Bild vom denkunfähigen Befehlsempfänger – er strahlt eine bizarre dumpfe Brutalität aus. Befehlshaber Colin Powell heißt hier Kolin Fols. Er trägt einen stattlichen Kaiser-Wilhelm-Bart und bellt seine Befehle in skandierendem Amerikanisch. Die Soldaten stehen stramm, aber die geometrische Aufstellung der Einheit wirkt in der hügeligen Buschlandschaft Nordnigerias ähnlich absurd wie die Formationen der römischen Armee im Gallien von Asterix und Obelix. Lustig ist auch eine Szene, die Kolin Fols in einem Wohnzimmer mit geblümter Tapete und

54

Für Auskünfte zu dieser Truppe und ihrem Improvisationsstil danke ich Matthias Krings.

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geblümten Sesseln zeigt. Fols bewegt sich, als sei er mitten im Manöver und schaut, als habe er immer einen weit entfernten Feind im Visier, sein Blick endet also nicht bei der nächsten Wand, sondern er geht weit darüber hinaus. Außerdem spricht er durchgängig in lautem Stakkato, ganz so, als müsse sich seine Stimme in einem Kreuzfeuer durchsetzen. Doch die wenigen Glanzpunkte, die IBRO USAMA aufzuweisen hat, reichen kaum hin, dass aus dem Film eine publikumswirksame Komödie wird. Die Reaktion auf diesen Film war durchweg kritisch. Streit hatte sich bereits im Vorfeld an der Besetzung der Rolle von Osama Bin Laden mit dem überaus populären Komiker Rabilu Musa Danlasan entzündet.55 Dieser Schauspieler ist ein Star im Norden Nigerias, und er tritt meist unter dem Namen Ibro auf. Im Titel von Videokomödien fungiert der Name „Ibro“ als Label. Am Zusatz können die Zuschauer erkennen, welchen „Ibro“ Rabilu Musa im jeweiligen Film spielt. Hier ließe sich das theaterwissenschaftliche Konzept der Spielfiguren fruchtbar machen. Als Spielfigur bezeichnet man eine Rolle, die den verschiedenen Rollen, die ein bestimmter Schauspieler übernimmt, quasi vorgeschaltet ist. Die Spielfigur steht also zwischen dem Schauspieler und der Rolle. Der vorgeschaltete Spielfigurenname verweist auf die Verwandlung, die nicht versteckt wird, sondern Teil der Performanz ist.56 Bevor sich Rabilu Musa als Ibro Usama präsentierte, war der Komiker als possenhafter Repräsentant unterschiedlicher regionaler Eigenarten in Erscheinung getreten. Nachdem er in einem Film lokale Korangelehrte und ihre synkretistischen Praktiken parodiert hatte, sah er sich allerdings massiven Anfeindungen ausgesetzt.57 Kein Wunder, dass man in Nordnigeria mutmaßte, dass Rabilu Musa auch Osama bin Laden verunglimpfen werde. Obwohl der Komiker verlautbaren ließ, dass er dies nicht beabsichtige, kam es schon bevor der Film anlief zu Verfluchungen und Gegenverfluchungen,58 IBRO USAMA war zwar gerade aufgrund dieser Skandalisierung zunächst ein Kassenschlager, aber das Einspielergebnis blieb weit hinter den Erwartungen zurück. Krings konstatiert, dass Rabilu Musa, der in seinen anderen Filmen mit witzigen Wortspielen brilliert hatte, in der Rolle des Osama Bin Laden „merkwürdig einsilbig“ wirkt.59 Der Film zeige, wie „ein vermeintlich abtrünniger Komiker durch öffentlichen Druck gezähmt und auf einen Mehrheitsdiskurs zurückgeholt wurde, der über die Attribution von Freund und Feind und deren adä-

55

Vgl. Krings 2004: S. 262.

56

Die Anregung hier auf den Begriff der Spielfigur zu verweisen, verdanke ich Friede-

57

Vgl. Krings 2004: S. 262.

58

Vgl. Krings 2004: S. 262.

59

Krings 2004: S. 262.

mann Kreuder.

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quate Repräsentation befindet“.60 Die Truppe um den Ibro-Darsteller Musa Danlasan war angetreten, eine komödiantische Gegendarstellung zur westlichen Berichterstattung in Szene zu setzen. Das Projekt ist gescheitert, weil man regionalen Empfindlichkeiten Rechnung tragen musste, was dazu führte, dass ausgerechnet der Star der Truppe sein Können nicht entfalten konnte. Immer wieder stellt sich die Frage, ob Tagespolitik Geschichte geworden sein muss, bis man einen Film darüber drehen kann.61 Es hat lange gedauert, bis Spielfilmregisseure anfingen, das Dritte Reich zu thematisieren. Charles Chaplin wagte es schon während der Zeit des Nazi-Terrors mit einer Komödie.62 Die Stummfilmikone Charlie erkennt man an seinem kleinen viereckigen Schnauzbärtchen, Hitler, die Ikone des staatlich organisierten Terrors, auch. Diese Entsprechung hat sich der britische Komiker zunutze gemacht: In der Rolle eines kleinen jüdischen Friseurs nutzte Chaplin in seinem Film DER GROSSE DIKTATOR63 seine Ähnlichkeit mit Hitler64 als Plattform, um einem Megalomanen entgegenzutreten, der gerade dabei war, seiner Ideologie weltweit Geltung zu verschaffen. Chaplin ist in einer Doppelrolle zu sehen: Als jüdischer Friseur wird er von den Nazis verfolgt, aber da er aussieht wie der Diktator Hynkel, den Chaplin ebenfalls spielt, erhält der Friseur aufgrund einer Verwechslung die Gelegenheit, anstelle des großen Diktators eine Rede zu halten. Der verfolgte Jude versucht, den scheinbar fatalen Lauf der Geschichte aufzuhalten und fordert in einem fulminanten Plädoyer Toleranz und Frieden. Chaplin benutzt eine Koinzidenz, nämlich den viereckigen Bart, als Aufhänger, um eine Statusumkehr in Szene zu setzen: Er ermächtigt einen Machtlosen, den jüdischen Friseur. Mit dieser Verkehrung der realen Verhältnisse hat Chaplin eine Situation geschaffen, die es ihm ermöglicht, eine Tragödie in eine Komödie zu wenden. Trotz der Querelen um IBRO USAMA entschloss sich nach Malam Auwalu Dare ein weiterer Regisseur, nämlich Kabeer Umar, den Antagonismus von Bush-Regierung und Islam in einer Videokomödie zu thematisieren. Rabilu Musa ist diesmal in

60 61

Krings 2004: S. 263f. Daher auch das Erstaunen des Rezensenten Daniel Kothenschulte, dass es mit dem Film 11’09’’01 geglückt war, ein tagespolitisches Thema aufzugreifen. Vgl. Kothenschulte [2002].

62

David Robinson notiert: „Das übrige Hollywood hatte diskret davon Abstand genommen, offen anti-faschistische Filme zu machen.“ Robinson 1989: S. 582.

63

GROßE DIKTATOR (DER) [THE GREAT DICTATOR], USA 1940, R.: Charles Chaplin.

64

Diese Ähnlichkeit und die Tatsache, dass der Geburtstag Chaplins und der Hitlers nur vier Tage auseinanderliegen, hat zu den wirrsten Mutmaßungen Anlass gegeben. Unter anderem ging das Gerücht um, Hitler habe Chaplins Bart kopiert. Vgl. Robinson 1989: S. 559.

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der Rolle von Saddam Hussein zu sehen. Doch bevor er auftritt, sieht der Zuschauer, wie hinter einem Steinhügel im nordnigerianischen Busch vorsichtig tastend ein schutzsuchender Mensch hervorkommt. Gespielt wird er vom Komiker Kulu. Seine Schminke erinnert an traditionelle afrikanische Bemalungen. Sparsame weiße Linien lenken die Aufmerksamkeit auf seine Augen, die durch die Schminke groß und offen erscheinen, wodurch sein Gesicht, ähnlich wie das eines Clowns, kindlich wirkt. Mit der Betonung der Augen ist dem Zuschauer die Signifikanz von Blick und Mimik signalisiert. Obwohl die Kamera die Gestalt eines großen Mannes in Jeans und Männerunterhemd zeigt, ist offensichtlich, dass Kulu hier ein Kleinkind spielt, das mit großen Augen furchtsam, in die Welt schaut. Allerdings zeichnet sich auf Kulus Gesicht auch jene trotzige Hinterlist ab, mit der die kleinsten Menschen ihre größten Wünsche durchsetzen. Der Dreikäsehoch kauert nun in einer Kuhle und präsentiert sich damit als Chiffre hilfloser Verletzlichkeit. Da naht auch schon Saddam Hussein. Er entdeckt den Kleinen, der nun zudem noch ganz erbärmlich schreit. Saddam ist kein Unmensch, und so nimmt er sich des Würmchens an. IBRO SADDAM65 ist eine Polit-Groteske, denn das wimmernde Kleinkind, diese personifizierte Bedürftigkeit, ist kein geringerer als George Bush junior, hier George Kulu Bush. Wie Chaplin setzt Regisseur Umar auf eine Inversion, um eine in Wirklichkeit ernste politische Situation ins Komische zu wenden. Chaplin hatte den viereckigen Bart zum Ausgangspunkt einer Statusumkehr gemacht, der nordnigerianische Regisseur benutzt ebenfalls eine Koinzidenz: Er nimmt den Namen des amerikanischen Präsidenten wörtlich – Bush kommt aus dem Busch. Damit verkehrt der nordnigerianische Regisseur Zuschreibungen „westlicher Nachrichtenmedien“ in ihr Gegenteil, denn, wie Krings treffend bemerkt, wird hier nicht Saddam Hussein „als verkörperte Antithese der zivilisierten Welt dargestellt, sondern dessen Gegenspieler George W. Bush“.66 Krings verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass Umar den Namen des amerikanischen Präsidenten bewusst „vor dem Hintergrund der westafrikanischen Kosmologie übersetzt“ habe:67 Der Busch ist von wilden Tieren und unzivilisierten Heiden bewohnt, mithin die räumliche Antithese zum Areal wohlgeordneter Verhältnisse. Außerdem gelingt Umar noch eine weitere komische Inversion: Westliche Kritiker des Irak-Kriegs haben immer wieder betont, dass die USA ihren späteren Gegner Saddam Hussein überhaupt erst groß gemacht hätten – hier päppelt Saddam seinen künftigen Feind auf. Geduldig bringt er seinem Zögling im Wohnzimmer Hausa bei. Dabei übt er viel Nachsicht, denn das Busch-Kind lümmelt sich ungebärdig auf dem Boden herum, und schon früh zeigt sich, dass der Bengel im Weißen Haus enden wird – wie einst John F.

65

IBRO SADDAM, Nigeria 2003, R.: Kabeer Umar.

66

Krings 2009a: S. 46.

67

Krings 2009a: S. 46.

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Kennedy legt er seine Füße am liebsten auf den Tisch. Vielleicht hätte Saddam strenger sein sollen, denn kaum herangewachsen, erweist sich der Lausbub als rechter Taugenichts, dem nichts Besseres einfällt, als mit seinem ebenfalls nichtsnutzigen Freund Unfug zu machen. Als den beiden Rabauken ein Blinder in den Weg kommt, beginnt Bush auf den Wehrlosen einzuschlagen, währenddessen behauptet sein Freund, dass er den Blinden gegen den Aggressor verteidigen wolle. Der Blinde wendet sich der vertrauenerweckenden Stimme zu und kassiert wieder Schläge. Die beiden Rabauken nutzen die Verwirrung des Blinden, um den armen Mann obendrein noch zu berauben. Aber nun ist selbst Saddams Langmut erschöpft, und er lässt Strenge obwalten: Das Busch-Kind muss in die USA. Das Budget der Camama-Truppe war zu klein, um in den Vereinigten Staaten zu drehen, also etablieren die Künstler die Behauptung, dass sich die gezeigten Straßen und Hinterhöfe in den USA befinden: Ein heruntergekommenes nordnigerianisches Stadtviertel erscheint unter dieser Prämisse als amerikanischer Slum, und just da rekrutiert Bush seine Mitstreiter – zunächst einen blutrünstigen Killer namens Donald Rumsfeld, der genau die Passanten abschießt, die besonders offen und freundlich wirken. Dafür muss der Amokläufer zwar ins Kittchen, aber wie zwei Wahlplakate zeigen, hat sich Saddams Zögling bereits um den Job des Präsidenten beworben, und Bush hat nun einmal ein Herz für Schwerverbrecher. Kaum im Amt, entlässt er Rumsfeld aus dem Knast und rekrutiert daselbst auch Colin Powell, der wegen Vergewaltigung einsitzt. Diesem Trio steht noch eine Dame zur Seite. Sie trägt ein blaues Kleid im Stile eines Complets, wie sie in Westafrika häufig zu sehen sind, aber das Kopftuch, mit dem sie ihre Haare verbirgt, ist mit Stars and Stripes bedruckt, und auf ihrer Stirn sind die Konturen Nordamerikas gemalt. Umar fügt eine kurze, vermutlich aus dem Internet heruntergeladene Einstellung ein, die das Sicherheitsbedürfnis der US-amerikanischen Führungsriege aufscheinen lässt: Die eskortierte kugelsichere Limousine des amerikanischen Präsidenten fährt durch die Häuserschlucht einer amerikanischen Großstadt.68 Ansonsten unternimmt Umar nicht die geringste Anstrengung, die Prachtentfaltung der US-amerikanischen Führungsriege zur Darstellung zu bringen. Im TITANIC-Remake hatten kleine Details den Reichtum der Elite angedeutet. In IBRO USAMA waren teure Autos und elegante Kleider zu sehen. Das Zeichensystem von Umar folgt einer anderen Grammatik: 69 Der Unterschied zwischen arm und reich ist für ihn von untergeordneter Relevanz. In IBRO SADDAM illustrieren die Kostüme Lebenshaltungen. Der arglose Pflegevater

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Chaplin stellt Hitlers Sicherheitsbedürfnis ebenfalls heraus: In einer Szene führt ein Professor dem Diktator eine kugelsichere Uniform vor: Hynkel schießt, und der Professor ist tot.

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Bei einem Vergleich zwischen IBRO USAMA und IBRO SADDAM fallen, sowohl was das Konzept als auch was die Filmästhetik angeht, gravierende Unterschiede ins Auge.

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Saddam trägt nur ein Unterhemd, und er geht barfuß durchs Haus – die amerikanischen Kriegstreiber kehren ihre Weltanschauung durch Cowboy-Hemden und nationalistische Embleme nach außen. Weil die Bush-Bande Zugang zu den Ölquellen des Irak will, sucht sie nach einem Vorwand, um Saddam anzugreifen, und entsendet Hans Blix, der im Irak nach Massenvernichtungswaffen suchen soll. Ausgestattet mit Stethoskop und Maßband durchstreift der Rüstungskontrolleur ein armes Land: Die Kamera zeigt halbverfallene Anlagen kleiner Industriebetriebe, Märkte, in denen es nichts anderes zu kaufen gibt, als das, was die Menschen in mühevoller Arbeit produziert haben, Mütter, die unter widrigen Umständen versuchen, Kinder aufzuziehen. Hans Blix (hier vom Komiker Ciroki gespielt) vermisst sie alle mit seinem Maßband. Der Chef der UN-Rüstungskontrollkommission geriert sich als durchgedrehter arbeitswütiger Anthropologe. Die unbelebte Materie auskultiert er mit seinem Stethoskop. Blix ist fix mit seiner Diagnose: Eine alte Gießkanne ist eine ABC-Waffe, ein schon lange stillgelegtes Förderband dient der Herstellung von Anthrax-Pulver, eine verrottete Mischmaschine ist eine Atomwaffe. Triumphierend setzt er schließlich seinen Fuß auf einen Stein: klarer Fall, Uran! Ihm zur Seite steht ein Mann mit einem Mikrofon, auf dem die Lettern BBC prangen – so wird Meinung gemacht! Und der Krieg kann beginnen. Die Camama-Komödianten zeigen, was viele im Westen damals noch nicht sehen wollten: Die Suche nach Massenvernichtungswaffen war eine Farce, die von CNN und anderen Medien publikumswirksam verpackt über die Bildschirme flimmerte, um einen Krieg zu rechtfertigen. Chaplins Hitler-Persiflage kulminiert in einer emblematischen Szene: Der Diktator ist aus Angst vor der eigenen Courage einen Vorhang hinaufgeklettert, aber schon rutscht er wieder herunter und kompensiert das Gefühl der eigenen Unzulänglichkeit mit einer Allmachtsphantasie: Er spielt mit der Welt. Chaplin tanzt mit clownesker Akkuratesse zu dem sphärischen Geigenvorspiel aus Wagners Lohengrin. Dabei bewegt er einen Globus, der sich, da er auf sanfte Stöße reagiert, als Luftballon erweist. Schließlich legt sich Hynkel sogar auf seinen Schreibtisch und gibt der Weltkugel mit seinem Hinterteil einen Stups. Aber plötzlich platzt sein Welt-Ballon mit einem großen Knall, und Hynkel heult. Ist es Chaplin gelungen, ein adäquates Psychogramm eines Despoten zu zeichnen, der den Tod von 60 Millionen Menschen zu verantworten hat? Wohl kaum! Doch die besagte Sequenz wird immer wieder zitiert: Auf YouTube ist George W. Bush gleich zweimal beim Spiel mit der Weltkugel zu sehen, und just der emporgestreckte Podex ist in beiden Versionen zentral.70 Warum wirkt Chaplins inadäquate Darstellung Hitlers so despek-

70

George Bush as Charlie Chaplin. (moveOn.org) . Bush, Chaplin, Hitler. .

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tierlich und eben deswegen so treffsicher vernichtend? Der Führer präsentierte der Kamera stets seine Vorderseite, diese zeigt meist nur sein Gesicht, und Hitler richtete seinen Blick gerne entschlossen über das Objekt der Kamera hinaus, so als hätte er ein fernes Ziel im Auge.71 Chaplins Metapher vom infantilen Allmachtstraum eines paranoiden Megalomanen bewahrt eine profunde Analyse: Er zeigt die Kehrseite der Medaille, die scheinbar nette Tanzszene ist eine aggressive Verunglimpfung, denn Übermenschen haben keinen A... Chaplin hat Hitler zum Kleinkind gemacht. Die Crew von IBRO SADDAM verfährt ähnlich wie Chaplin, sie stutzt den omnipotenten Bush auf das Format eines Krabbelkinds zusammen. Mit den Begriffen der westlichen Theatersprache würde man diese hochdiffizile Darstellungspraxis als clowneskes Verfahren bezeichnen. Viele Schauspielpädagogen und Regisseure sehen es als unabdingbar an, dass sich Schauspieler als Clown versuchen. In der Nachfolge des Bühnenkünstlers Jacques Lecoq suchen viele Darsteller „nach ihrem inneren Clown“. Man könnte die Technik auch als Suche nach dem verdrängten anarchistischen Kleinkind beschreiben.72 Bei guten Clowns sieht alles so mühelos verspielt aus wie bei guten Jongleuren, aber die Clownerie gehört zu den anspruchvollsten Techniken der darstellenden Kunst. Kulu, der Darsteller George W. Bushs, ist ein hervorragender Clown!73 Aber hält IBRO SADDAM den Vergleich mit dem GROSSEN DIKTATOR aus? Chaplin handelte als Überzeugungstäter. Er hatte aus eigener Tasche zwei Millionen Dollar in seine Hitler-Parodie investiert, und zunächst war es höchst unwahrscheinlich, dass der Film diese Investition einspielen würde.74 Der Artikel, in dem sich Krings mit den Videokomödien IBRO USAMA und IBRO SADDAM auseinandersetzt, trägt den Titel „Marke ‚Osama‘. Über Kommerz mit Bin-Laden-Bildern in Nigeria“. Krings zufolge greift die nordnigerianische Videoindustrie aktuelle Ereignisse und Ikonen des politischen Lebens gemäß einer profitorientierten kulturindustriellen Verwertungslogik auf.75 Demnach

71

Vgl. Fest/Hoffmann/von Lang 2005.

72

So bezeichnete meine Schauspiellehrerin Belle Schupp „Die Suche nach dem inneren Clown“. In Frankreich war diese Technik noch mehr en vogue. Einige meiner französischen Kollegen haben Workshops bei Lecoq absolviert. Der 1999 verstorbene Lecoq leitete eine internationale Theaterschule in Paris. Wie viele andere Schauspielpädagogen hat er seine Überlegungen zur Darstellungspraktik auch schriftlich niedergelegt. Vgl. Lecoq 2000: S. 199-210.

73

In IBRO USAMA spielt Kulu einen täppischen Dorfbewohner, der glaubt, dass auf ihn ein Anthrax-Attentat verübt worden sei, weil ihm ein Junge Mehl übergeschüttet hat. Seine „Clownerie“ ist auch in diesem Film virtuos.

74

Vgl. Robinson 1989: S. 579. De facto wurde der Film schließlich doch noch ein großer kommerzieller Erfolg.

75

Krings 2009a: S. 36.

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hätten vorrangig kommerzielle Interessen die Camama-Truppe motiviert, die Videos IBRO USAMA und IBRO SADDAM zu produzieren.76 Was IBRO USAMA angeht, ist Krings Einschätzung schlüssig, im Hinblick auf IBRO SADDAM bleiben allerdings Zweifel, denn das Unternehmen hatte wenig Aussicht auf kommerziellen Erfolg. IBRO USAMA hatte dem Team nur Ärger beschert. Es ist unwahrscheinlich, dass Umar das Wagnis seines Regiekollegen, einen islamischen Führer mit Rabilu Musa alias Ibro zu besetzen, noch einmal einging, um Profit aus einer politischen Auseinandersetzung zu schlagen. Vielleicht war er von der westlichen Berichterstattung bezüglich der Massenvernichtungswaffen so angewidert, dass es ihm ein Anliegen war, dieser kriegstreiberischen Demagogie eine demaskierende Komödie entgegenzusetzen. Grund genug hätte er gehabt, womit man wieder bei Chaplin wäre ... Chaplins Darstellung des Dritten Reichs, insbesondere seine verharmlosende Repräsentation des KZs, stand vielfach in der Kritik. Chaplin selbst sagte: „Hätte ich damals von dem tatsächlichen Schrecken der Konzentrationslager gewusst, hätte ich The Great Dictator nicht machen können.“77 Der Regisseur ging ein hohes Risiko ein, als er es auf sich nahm, ein aktuelles Thema aufzugreifen, dessen Komplexität er zu diesem Zeitpunkt noch nicht in allen Dimensionen erfassen konnte. Rudolf Arnheim will diese Entschuldigung nicht gelten lassen: „Ich finde es schwer zu verstehen, wie nach fünf Jahren Hitler-Terror [...] der sensible Schöpfer von The Gold Rush und Modern Times78 die Faschisten und den Faschismus immer noch als etwas nur Komisches ansehen konnte.“79 Mit dem Regisseur von IBRO SADDAM könnte man schärfer ins Gericht gehen: Der Staatspräsident des Irak war nicht das Unschuldslamm, als das ihn Umar in seinem Film präsentiert, sondern ein skrupelloser Machtpolitiker – ihn verteidigen, heißt Geschichte klittern. Die problematischen ideologischen Implikationen des nordnigerianischen Films sind nicht zu leugnen: Saddam Hussein wird in diesem Film verharmlost, die Rolle des Ibro Saddam hat mit dem ehemaligen Staatspräsidenten des Irak kaum mehr gemein als den Namen. Der Film baut, wie Krings es treffend formuliert hat, „auf einem Konsens nordnigerianischer Muslime“ auf.80 Doch dieser Konsens wird in Umars Film nicht wie gewünscht repräsentiert – der Film fiel durch. Krings vermutet, dass Saddam bei Erscheinen des Films nicht mehr zum Helden taugte, weil der Irak im September 2003 bereits besiegt war.81 Aber selbst wenn Saddam zu diesem Zeitpunkt noch

76

Vgl. Krings 2009a: S. 42.

77

Chaplin zitiert nach Robinson 1989: S. 559.

78

GOLD RUSH (THE), USA 1925, R.: Charles Chaplin; MODERN TIMES, USA 1936,

79

Arnheim zitiert nach Schnelle 1994: S. 97.

80

Vgl. Krings 2009a: S. 47.

81

Vgl. Krings 2009a: S. 47.

R.: Charles Chaplin.

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nicht als Verlierer dagestanden hätte, wäre Rabilu Musa nicht in der Lage gewesen, den Staatspräsidenten des Irak als Helden der islamischen Welt darzustellen – Rabilu Musa ist Komiker, und die taugen nicht zur ikonisierenden Repräsentation von „Übermenschen“. Wenn der Ibro-Darsteller Saddam spielt, schnurrt die Ikone auf ein allzu menschliches Maß zurück. Deswegen argumentieren die Kritiker des Komikers stringent, wenn sie behaupten, dass er die Helden des Islam herabwürdige. Wie sein Kollege Charlie Chaplin ist der überaus erfolgreiche Komiker Rabilu Musa selbst eine Ikone. Wenn Chaplin Hynkel spielt, denkt der Zuschauer alle anderen Rollen mit, in denen er Chaplin zuvor gesehen hat, damit ist Hitler per se demontiert. Dass Rabilu Musas Darstellung von Bin Laden oder Saddam einen ähnlichen Effekt zeitigt, liegt auf der Hand. Ein verärgerter Leser des nigerianischen Magazins Fim formuliert seine diesbezüglichen Befürchtungen so: „Was treibt Rabilu Musa (Dan Ibro) bloß dazu, dass er mit seiner Schamlosigkeit jetzt auch die Religion berührt? [...] Solche, die [...] sich völlig Gott, seinem Propheten und seiner Religion verschrieben haben, die sollen jetzt in einen Stoff für Hausa-Komödien verwandelt werden? [...] Bei Gott, wenn er weiterhin die Religion anrührt, dann werden wir Gott anflehen, dass er ihn ganz schnell verstößt!“82

Auch Chaplin hatte den Empfindlichkeiten seines Publikums Rechnung zu tragen. Die USA wahrten bei Erscheinen des GROSSEN DIKTATORS zumindest offiziell noch Neutralität. David Robinson schreibt: „Die unzähligen Drohbriefe, die Chaplin erhielt, belegen zudem, wie stark die pro-faschistische Stimmung in den USA war.“83 Der Komiker riskierte Kopf und Kragen. Rabilu Musa Danlasan alias Ibro wurde 2008 von der Zensurbehörde in Kano festgenommen – angeblich wegen anstößiger Tänze in den Filmen IBRO ALOKO und IBRO KAURANMATA.84 Der Komiker wurde zu zwei Monaten Gefängnis verurteilt.

10.3 W ERBESTRATEGIEN Die Grenzen zwischen sozialer Rolle, Theaterrolle und Filmrolle sind mit der zunehmenden Medialisierung von Personen des öffentlichen Lebens immer unschärfer geworden. Einer der Ersten, der die neuen Massenmedien wirkmächtig benutzt hat, war Adolf Hitler. Schon früh war er sich der Bedeutung publikumswirksamer

82

Zitiert nach Krings 2009a: S. 45.

83

Robinson 1989: S. 582.

84

Diese Information habe ich von Carmen McCain. Zu den erwähnten Filmen liegen mir leider keine näheren Angaben vor.

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Selbstinszenierung bewusst und ließ sich deshalb von einem Bühnenkünstler unterrichten. Nicht nur Theater- und Drehbuchautoren, auch Wissenschaftler haben dazu gearbeitet.85 Brecht reichte zu diesem Thema einen Artikel bei Reader’s Digest ein, den die Zeitschrift allerdings nie abgedruckt hat.86 Im April 1922 war Brecht dem späteren Diktator tatsächlich einmal begegnet, als er mit Lion Feuchtwanger und einigen Schauspielern im Hofgarten saß. Hitler, der zuvor im Circus Krone87 auf einer Großkundgebung als Agitator aufgetreten war, nahm mit einigen Gefolgsleuten am Nebentisch Platz. Einer von Brechts Kumpanen berichtete, dass Hitler derzeit Schauspielunterricht nehme: „Wir amüsierten uns ganz schön darüber, und es störte uns wenig, dass der Agitator am Nebentisch uns hören konnte.“88 Zur Überraschung aller ließ es sich Hitler aber trotzdem nicht nehmen, dem am Tisch von Brecht sitzenden Lion Feuchtwanger in den Mantel zu helfen: „Um den Witz des Vorfalls verstehen zu können, muss man wissen, dass Hitler in Künstlerkreisen verkehrte und wusste, dass Feuchtwanger Jude und Republikaner war. Allein seine Unsicherheit, gesellschaftliche Umgangsformen betreffend, und sein Drang, höflich zu erscheinen und ‚den Mann von Welt‘ zu spielen, hatten ihn veranlasst, seinem ,Feind‘ in den Mantel zu helfen. Seine Begleiter waren genauso überrascht wie wir.“89

Brecht folgert, dass Hitler noch nicht fähig gewesen sei, „24 Stunden am Tag den unerbittlichen antisemitischen ‚Führer‘ zu spielen“, dazu habe er dann noch ein paar Stunden Schauspielunterricht gebraucht.90 Das Lachen über den „Clown“ aus dem Circus Krone verging Brecht und seinen Freunden allerdings „als er, seine Rolle als ‚Führer‘ mit ständig wachsender Meisterschaft ausfüllend, Feuchtwanger und mich und unzählige andere ins Exil trieb und die ganze Welt in einen ungeheuerlichen

85

Der umstrittene Historiker Werner Maser hat die Tagebücher von Paul Devrient, der Hitler unterrichtete, herausgegeben. Vgl. Maser (Hg.) 2003. Brecht nimmt das Thema in seinem Stück Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui auf. Erwähnenswert ist auch der Film MEIN FÜHRER – DIE WIRKLICH WAHRSTE WAHRHEIT ÜBER ADOLF HITLER (BRD 2007, R.: Dani Levy), in dem Helge Schneider Hitler und Ulrich Mühe den Schauspieler spielt.

86

Der renommierte Brecht-Forscher Jan Knopf hat diesen wahrscheinlich 1942 verfassten Artikel in einem Archiv gefunden. Er erschien unter dem Titel „Ein fähiger Schauspieler, Begegnung mit Adolf Hitler“ erstmals in Der Spiegel (50/1996).

87

Es mutet geradezu irrwitzig an, aber Hitler ist tatsächlich im Circus Krone als Volksverhetzer aufgetreten.

88

Brecht [1942] 1996: S. 234.

89

Brecht [1942] 1996: S. 235.

90

Brecht [1942] 1996: S. 235.

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Krieg stürzte“.91 Dass Hitler die „Führerrolle“ nach und nach zu einer 24-StundenRolle ausbaute, lässt sich an der Inszenierung seines Privatlebens nachweisen. Neu war diese Strategie nicht: Schon Louis XIV. hatte der Rolle des Sonnenkönigs rund um die Uhr genügt – neu war aber, dass Hitler seine Selbstinszenierungen durch das Aufkommen der neuen Medien einem viel größeren Publikum zugänglich machen konnte und dass Medienpräsenz für Personen des öffentlichen Lebens immer wichtiger geworden war. Charles Chaplin standen bereits Wochenschauen zur Verfügung, anhand derer er Hitlers Auftritte in der Führerrolle studieren konnte.92 Daneben nahm Chaplin aber auch die Inszenierungen des „privaten Hitlers“ aufs Korn. In einer Szene zeigt er den großen Diktator beispielsweise mit Trachtenanzug und Gewehr in einem Boot auf einem Bergsee. Hitler verbrachte Urlaube in seinem Ferienhaus in Obersalzberg. Vor der kolossalen Alpenkulisse zwischen Watzmann und Königssee ließ sich seine Führerrolle grandios in Szene setzen – und fotografieren. Die medialen Inszenierungen dieser „Privaturlaube“ zitieren ganz offensichtlich die damals populären Bergfilme von Arnold Franck, Luis Trenker und Leni Riefenstahl.93 Umar zeigt in IBRO SADDAM, wie Bush schon als Kleinkind eine Pose von John F. Kennedy einnimmt. Das berühmte Foto, das Kennedy mit den Füßen auf dem Tisch zeigt, aktualisiert wiederum das Bild vom coolen Sheriff,94 womit der Western, der Gründungsmythos der USA, evoziert ist. Wenn Hans Blix in der nordnigerianischen Videokomödie seine Inspektionsreise durch den Irak im Cowboy-Hemd antritt, ist das ein ironischer Verweis auf die Apotheose einer Kolonialisierung im „amerikanischen Genre par excellence“.95 Möglicherweise hat Bush junior höchstselbst den nordnigerianischen Regisseur bei der Wahl der Kostüme inspiriert, denn der US-amerikanische Präsident hat sich den Fotografen auch schon mal mit weißem Cowboyhut präsentiert. Umar thematisiert mit seiner Inszenierung der Überschneidung von sozialer Rolle und Filmrolle in IBRO SADDAM jene Flows zwischen Ideoscape und Mediascape, die Appadurai theoretisch analysiert hat. Zum Politspektakel im dritten Jahrtausend schreibt der Kulturanthropologe: „Mediascapes, whether produced by private or state interests, tend to be image-centered, narrative-based accounts of strips of reality, and what they offer to those who experience and transform them is a series of elements (such as characters, plots and textual forms) out of

91

Brecht [1942] 1996: S. 235.

92

Vgl. Robinson 1989: S. 567.

93

Zu Bergfilmen siehe Kracauer [1947] 1993: S. 271-277.

94

Auch in HYÈNES legt ein Sheriff seine Füße auf den Tisch. Vgl. Teil III, Kap. 8.1, S. 273.

95

Bazin [1953] 2004: S. 255.

360 | S CHWARZ BESETZT which scripts can be formed of imagined lives, their own as well as those of others living in other places.“96

Heute stehen Personen des öffentlichen Lebens Medienberater zur Seite, die nicht nur die öffentliche Auftritte ihrer Klientel inszenieren, sondern auch deren „Privatleben“ medienwirksam aufbereiten. Auf solche Weise entstandene Medienfiguren werden manchmal Ikone, manchmal Idol genannt. Den Unterschied zwischen den beiden Begriffen könnte man vielleicht so fassen: Der Begriff „Ikone“ bezieht sich mehr auf das von Medien vermittelte Bild, der Begriff „Idol“ eher auf die Tatsache, dass durch mediale Vermittlung Figuren entstehen. Der Medienwissenschaftler Thomas Koebner schreibt: „Idole tragen einer doppelten Erwartung Rechnung, sie sind Bindeglied oder Mittler zwischen stilisierten ‚Selbstbildern‘ [...] und ‚Suchbildern‘ der Adressaten, die zwischen Angeboten auswählen.“97 Filmstars sind schon unabhängig von einer speziellen Rolle, die sie spielen, semiotisch aufgeladen. Sobald ein Star auf der Leinwand erscheint, werden Erinnerungen an andere Rollen, Liebesgeschichten und öffentliche Statements aufgerufen. Das Gleiche geschieht, wenn ein Politiker vor die Kamera tritt, zum Beispiel der charismatische Präsidentschaftskandidat Obama, einer, der es unerwartet (aber nicht unverdient) ganz nach oben geschafft hatte. Obama rief den potentiellen Wählern nicht etwa „Yes, I can“ zu, er machte seine Erfolgsgeschichte zum Exempel und seinen Wählern ein Identifikationsangebot, er rief: „Yes, we can.“ Das wünschenswerte Leben, von dem Appadurai spricht, rückte in greifbare Nähe.98 Bekolo greift den Begriff Idol in seinem Essay zum Medium Film ebenfalls auf und schreibt: „Le mot ,idole‘ vient du grec et signifie ,image‘, ,figure‘, ,représentation‘, mais aussi ,spectre‘, ,fantôme‘, ,vaine apparence‘. L’idole est un leurre, car elle détourne son serviteur de la réalité pour le cantonner dans le royaume des apparences.“99 Bekolo selbst hatte zu dieser Zeit schon den Namen des dunkelhäutigen Politidols an seinen eigenen gehängt.100 Sein Essay trägt den ambitionierten Titel „Africa for the Future“, und der Autor nennt sich Jean-Pierre Bekolo Obama – was Afrika noch nötiger brauche als Nahrung, sei eine schöne Geschichte, schreibt der Regisseur.101 Mit

96

Appadurai 1998: S. 35.

97

Koebner 1997a: S. 18.

98

Appadurai 1998: S. 53.

99

Bekolo Obama 2009: S. 72.

100 Wie mir Ute Fendler berichtete, habe Bekolo darauf verwiesen, dass „Obama“ ein gängiger Familienname sei und dass es auch in seiner Familie einen Obama gäbe. 101 Bekolo Obama 2009: S. 157. In diesem hier häufig zitierten Essay gibt es neben vielen brillanten Gedanken auch viel Widersprüchliches, Abstruses und Ärgerliches, z.B. die

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Koebner könnte man sagen, dass der Regisseur mit diesem stilisierten „Selbstbild“ den „Suchbildern“ seiner Adressaten entgegenkommen will. In LE COMPLOT D’ARISTOTE treten nicht nur das Politidol Saddam und das Filmidol Schwarzengger auf, es gibt auch einen Mister Nissan. Gerade Werbefilme versuchen, den Wunsch vom besseren Leben zu wecken, sie offerieren Traumrollen und verknüpfen ihre Identifikationsangebote mit dem Konsum der beworbenen Produkte. Für Bekolo ist der Werbefilm das beste Exempel zum Studium performativer Vorgänge: „C’est [...] le rapport que le cinéma entretient avec le réel qui est intéressant ici, parce qu’il est réel tout en étant virtuel. Ce n’est pas le fruit du hasard si c’est le média de prédilection des publicitaires qui se situent au cœur même de ce jeu de manipulations entre le réel et virtuel. Ceux-ci nous vendent, via le virtuel, des produits et services que nous achetons dans le réel, avec de l’argent réel, qui sera réellement crédité sur leur compte.“102

Ist die beworbene Hose gekauft, wird der Konsument selbst zum Werbeträger. Sissako zeigt in DEATH IN TIMBUKTU einen kleinen Jungen, der auf seinem T-Shirt das Nike-Label trägt – Markenklamotten besitzt man nicht nur, sie besetzen auch ihre Träger. Die etymologische Nähe zur Besessenheit ist hier mehr als zufällig. Appadurai fasst die performative Wirkung von Konsum weltweit zirkulierender Produkte so: „As for the fetishism of the consumer, I mean to indicate here that the consumer has been transformed through commodity flows (and the mediascape especially of advertising, that accompany them) into a sign, both in Baudrillard’s sense of a simulacrum that only asymptotically approaches the form of a real social agent, and in the sense of a mask for the real seat of agency which is not the consumer but the producer and the many forces that constitute production.“103

Neben dem Jungen, den Sissako in seinem Film zeigt, steht ein Fahrrad mit der Aufschrift „Rambo“. Mit der Anspielung auf den Actionfilm evoziert Sissako Konsumgüter, die in fast allen Filmen, die Übernahmen weißer Filmrollen in Szene setzen, zentral sind – das TITANIC-Remake ist der einzige Film, in dem keine Waffen zu sehen sind. Kein Wunder: Waffen gehören zu den wichtigsten Requisiten in Hollywood. In LE COMPLOT D’ARISTOTE fragt einer aus Cinemas Bande erbost, wa-

stereotypisierende Darstellung von angeblichen Nationalcharakteren, vgl. Bekolo Obama 2009: S. 27. 102 Bekolo Obama 2009: S. 56/57. 103 Appadurai 1998: S. 42 [Hervorhebung im Original].

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rum die Schwarzen in dem afrikanischen Film, den sie sich ansehen mussten, nur Lanzen gehabt hätten, die Weißen hätten immer Pistolen. Waffenbesitz wirkt in besonderer Weise auf den Besitzer zurück, er ermächtigt ihn.104 Appadurai schreibt zur Omnipräsenz von Waffen in der globalisierten Welt: „The worldwide spread of the AK-47 and the Uzi, in films, corporate and state security, in terror, and in police and military activity, is a reminder that apparently simple technical uniformities often conceal an increasingly complex set of loops, linking images of violence to aspirations of community in some imagined world.“105

In LES MAÎTRES FOUS hatte das zufällige Zusammenschlagen zweier Holzgewehre bei einigen Hauka eine verfrühte Trance ausgelöst. In LE RETOUR D’UN AVENTURIER und DEATH IN TIMBUKTU stellen Alassane und Sissako einen Zusammenhang zwischen Waffenbesitz und Kontrollverlust her. Die Medialisierung von Waffen ist mittlerweile so weiterentwickelt, dass der Konsument nicht länger Zuschauer bleiben muss, in Computerspielen darf er sich eine Spielfigur wählen und andere Spielfiguren töten, natürlich nur virtuell ...

104 2010 auf der Tagung „Kontinuitäten und Brüche. 50 Jahre Unabhängigkeit in Afrika“ an der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz hielt Patrice Nganang einen beeindruckenden Vortrag mit dem Titel „Was heißt (schon) Unabhängigkeit?“ Er wies darauf hin, dass sich ein unabhängiger Staat dadurch auszeichne, dass er das Recht zu töten habe. 105 Appadurai 1998: S. 41.

11. Sichtbarkeit

Als Balázs 1924 in der „Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films“ prognostizierte, dass der Kinematograph eine Maschine sei, die „lebendigen und konkreten Internationalismus schaffe“ und damit die „einzige und gemeinsame Psyche des weißen Menschen“ generiere, sollte er in gewisser Weise recht behalten.1 Aufgrund der Omnipräsenz westlicher Medien und den dort praktizierten Besetzungskonventionen blieben die Gefühle Schwarzer im Film unsichtbar. In den Vorstellungswelten afrikanischer Rezipienten eroberten die weißen Filmstars immer mehr Terrain, alle Gefühle waren im wahrsten Sinn des Wortes weiß besetzt, denn blonde „Sexbomben“ und Westernhelden füllten das emotionale Vakuum afrikanischer Kinozuschauer. Wenn das Böse im Remake von PREDATOR mit einem „Allah ist groß“ aus der Welt geschafft wird, ist das ein „Shooting back“ par excellence, denn Saa’ed ersetzt Schwarzenegger, das auch in Afrika präsente „Suchbild“2 US-amerikanischer Allmachtsphantasien. Die afrikanischen Regisseure invertieren westliche Diskurse, sie rekontextualisieren raubkopiertes Material, und sie dekonstruieren populäre Hollywood-Motive: Anders als bei der Übernahme weißer Theaterrollen kommen bei der Übernahme weißer Filmrollen fast durchweg subversive Strategien zum Tragen,3 denn es geht in erster Linie um die Erbeutung von Sichtbarkeit. Sa’eed zeigt am Anfang seines Remakes das Bild der verstorbenen Balaraba Muhammad. Die junge Schauspielerin war bei einem Autounfall ums Leben gekommen. „Dem Mimen flicht die Nachwelt keine Kränze“, hieß es einst bei Schiller.4 Heute ist das anders, die Filme, in denen Muhammad mitgewirkt hat, dokumentieren ihre schauspielerischen Leistungen. In frühen Kulturen hätten Bilder die

1

Balázs [1924] 2001: S. 22 [Hervorhebung im Original].

2

Koebner 1997a: S. 18.

3

Eine Ausnahme ist etwa die Chaplin-Performanz von Osuofia.

4

Aus dem Prolog zu Wallensteins Lager, den Friedrich Schiller für die Wiedereröffnung der Weimarer Schaubühne 1798 verfasst hatte.

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Funktion gehabt, den Platz von Toten einzunehmen, schreibt Hans Belting.5 Filme können Schauspieler aber nicht nur unsterblich, sondern auch omnipräsent machen. Dazu noch einmal Belting: „Images live from the paradox that they perform the presence of an absence or vice versa (which also applies to the telepresence of people in today’s media).“6 Diese allgegenwärtigen Performanzen faktischer Abwesenheit beschäftigen auch Bekolo Obama. Das Fernsehen suggeriere einer alten Frau aus seinem Heimatdorf die Anwesenheit eines gewissen Blake Carrington. Aber eines verstehe sie nicht, nämlich, wie der gleiche Mann in verschiedenen Fernsehern an unterschiedlichen Orten präsent sein könnte: „Elle s’écrie: „Qu’estce qu’il marche vite cet homme! Je l’ai laissé hier soir à Yaoundé et le voilà ici à Bafoussam. Pourtant, j’ai pris le premier bus.“7 Dass Bekolo Obama damit ausgerechnet die Omnipräsenz des Ölmagnaten Blake Carrington aus DYNASTY8 thematisiert, spricht für sich: In der US-amerikanischen Fernsehserie steht nicht mehr wie einst im Western die Eroberung von Weideland im Zentrum, sondern die von Marktanteilen. In TITANIC dagegen geht es um die Eroberung eines Herzens, aber die charmante Trägerin dieses gefühlsträchtigen Organs ist weiß. Da es im Film ungleich weniger schwarze Verkörperungen zarter Gefühle gibt als weiße könnte sich der Verdacht aufdrängen, dass Afrikaner gar kein Herz haben: In westlichen Medien sind finstere Autokraten und blutrünstige Bürgerkrieger präsenter als verliebte junge Afrikanerinnen – kaum, dass eine verzweifelte Mutter oder ein gepeinigter Kindersoldat eine Ahnung davon vermitteln dürfen, dass auch Afrikaner Empfindungen haben. Die Auseinandersetzung mit der westlich dominierten Medienwelt und die Umbesetzung weißer Filmrollen im afrikanischen Film ist als Eroberung okkupierter Gefühle zu verstehen.

5

Belting 2001: S. 143-188. Belting (2001: S. 143) schreibt, dass Bilder den verlorenen Körper ersetzt hätten.

6

Belting 2005: S. 312.

7

Bekolo Obama 2009: S. 18.

8

DYNASTY, (Fernsehserie) Januar 1981 bis Mai 1989, R.: Irving J. Moore [u.a.].

Schluss Vous venez de lire ces textes sur le cinéma africain. [...] Pour vous qui êtes simplement un esprit curieux, j’espère vous avoir suffisamment informé pour vous amener à votre tour à vous intéresser davantage au cinéma africain et à en favoriser une large diffusion. C’est ainsi qu’ensemble nous apporterons notre contribution à ce monument artistique que doit être, aussi, le cinéma africain, expression de nos angoisses, de nos joies. PAULIN SOUMANOU VIEYRA: RÉFLEXIONS D’UN CINÉASTE AFRICAIN

1

Der Philosoph und Soziologe Helmuth Plessner stellte sich so grundlegende Fragen wie die nach der Stellung des Menschen in der Welt, dabei interessierte er sich insbesondere für eine Berufsgruppe: „Enthüllt der Schauspieler nicht, wenn sein Darstellungsbereich der Möglichkeit nach unbegrenzt ist, jedenfalls in einer besonderen Hinsicht die menschliche Konfiguration?“2 Man könnte polemisch antworten: Ja, das kann ein Schauspieler, sofern er die Möglichkeit dazu erhält, ansonsten kann er nur Stereotype reproduzieren. Die hier thematisierten westlichen Besetzungskriterien basieren auf der Prämisse, dass sich die Konfiguration weißer Menschen substantiell von der schwarzer Menschen unterscheidet. Die Performanzen der afrikanischen Schauspieler, die ich untersucht habe, beweisen das Gegenteil. Die Übernahme weißer Rollen im afrikanischen Film ist ein performativer Akt, weil jede dieser Umbesetzungen die Signifizierung von Hautfarben, die sich im Westen in restriktiven Besetzungskategorien niederschlägt, evident widerlegt. Mit den hier untersuchten Planspielen tragen die schwarzen Darsteller zu jener Enthüllung von

1

Vieyra [postum] 1990: S. 205.

2

Plessner [1948] 1982: S. 410.

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Möglichkeiten des Handelns bei, die auch Plessner im Blick hatte. Er selbst hatte nach den Rassegesetzen der Nazis als Halbjude gegolten, weshalb ihm 1933 die Lehrbefugnis entzogen worden war. Das Anliegen, das Plessner 1948 in seinen Überlegungen „Zur Anthropologie des Schauspielers“ verfolgte, war kein geringeres, als die Handlungsspielräume, also die Freiheit des Menschen vor der Folie der schier unbegrenzten Möglichkeiten des Spiels aufscheinen zu lassen. Er schreibt: „An der Befreiung des Blicks auf den Menschen muss [...] der Philosophie alles gelegen sein, will sie der unbegrenzten Auslegungsfähigkeit seiner selbst, seiner Offenheit in der Welt zur Welt unter stets wieder überholtem geschichtlichen Aspekt gewachsen sein.“3 Die Devise „décolonisez les écrans“ belegt, dass afrikanische Regisseure, als sie nach der Unabhängigkeit der Kolonien endlich selbst Filme drehen konnten, ebenfalls an der Befreiung des Blicks interessiert waren. Machtkonstellationen, nicht Hautfarben determinieren den Handlungsspielraum von Akteuren. In den vielfältigen und vielschichtigen Inszenierungen von Umbesetzungen sozialer weißer Rollen im afrikanischen Film fällt das Differenzkonstrukt schwarz/weiß weg. Dadurch können die wirklich relevanten Differenzen aufscheinen: Etwa die zwischen arm und reich oder die zwischen städtischer Elite und Landbevölkerung. Je nach zeitgenössischer Situation waren ganz unterschiedliche Probleme relevant: LES MAÎTRES FOUS kam Mitte der 1950er-Jahre in die Kinos. Der Spielraum der Hauka ist innerhalb ihrer realen sozialen Rollen noch von den kolonialen Machtverhältnissen bestimmt. Nur im Zustand der Trance sind sie als Geistmedien ermächtigt, in den sozialen Rollen ihrer Kolonialherren zu agieren. Erst nach der Unabhängigkeit der Kolonien können afrikanische Regisseure bei der Inszenierung von Übernahmen sozialer weißer Rollen von der Prämisse individueller Freiheit bei der Gestaltung sozialer Rollen ausgehen und damit auch die Frage nach der Eigenverantwortung aufwerfen. Das zentrale Problem ist nun, wie die afrikanische Elite mit sozialen Rollen umgehen kann, die zuvor von Kolonialisten besetzt waren. In dem 1965 erschienenen Film ET LA NEIGE N’ÉTAIT PLUS thematisiert Samb Makharam die Sozialisation in europäischen Institutionen. Er rückt damit die Frage nach der kulturellen Identität der intellektuellen Elite in den Blick: Ein zunächst orientierungsloser Hochschulabsolvent distanziert sich vom europäischen Lebensstil und findet schließlich seinen Platz im postkolonialen Senegal. Kamwa thematisiert die Entscheidung für eine bestimmte kulturelle Orientierung 1972 (also sieben Jahre später) schon im Titel seines Films BOUBOU CRAVATE. Aber die Kleiderwahl steht hier letztlich für ein politisches Bekenntnis: Dass sich der Diplomat Gilbert den Boubou seines Dieners ausleiht und dass der Untertan seinem Herrn schließlich die Krawatte wegnimmt, spricht für sich. Die filmisch formulierte These von BOUBOU

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Plessner [1948] 1982: S. 418.

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CRAVATE ist freilich die gleiche wie die von ET LA NEIGE N’ÉTAIT PLUS: Mit der Übernahme sozialer weißer Rollen laufen Afrikaner Gefahr, die Normen und Verhaltensweisen der Kolonialherren zu reproduzieren, als Nègres blancs untergraben sie die afrikanische Unabhängigkeit. Sembène teilt die Auffassung seiner Kollegen, aber er setzt andere Akzente. 1974 läuft sein Film XALA an: Der Nègre blanc ist hier ein Geschäftsmann. Sembène will zeigen, dass neokoloniale Strukturen durch wirtschaftliches Handeln entstehen, und deswegen lässt er seinen Protagonisten vor der Folie einer panafrikanischen marxistischen Utopie als europäisierten Kapitalisten in Erscheinung treten. Wie in ET LA NEIGE N’ÉTAIT PLUS und BOUBOU CRAVATE steht auch am Schluss von XALA der Verzicht auf Jackett und Krawatte. Im Jahre 2004 ist westliche Kleidung dann im afrikanischen Film nicht mehr per se negativ konnotiert: Der Protagonist von MOI ET MON BLANC trägt bei der Disputation seiner Dissertation ebenfalls einen Anzug und einen Schlips, was ihn aber nicht hindert, wirtschafts- und bildungspolitische Interessen des afrikanischen Kontinents zu vertreten. Yaméogo, der Regisseur dieses Films, thematisiert andere Probleme als seine Vorgänger: Die mit der Unabhängigkeit der afrikanischen Staaten verknüpften Hoffnungen haben sich nicht realisiert. Yaméogo zeigt seinen Protagonisten als einen Intellektuellen, den alles für eine Führungsposition qualifizieren würde, aber Mamadi kriegt keine Chance: Ihm bleibt nichts anderes übrig, als seine Utopie in der Schlussfolgerung seiner Doktorarbeit niederzulegen. In der zeitgleich erschienenen Videokomödie OSUOFIA IN LONDON bekommt der Protagonist eine Chance, und er nutzt sie am Ende des Films, in dem er als reicher Mann seiner Verantwortung für seine Familie und sein Dorf nachkommt. Davor schlüpft Osuofia in die Rolle des Großwildjägers, des Actionhelden amerikanischen Zuschnitts, des britischen Landlords und des „kulturell fremden“ Afrikaners aus der Provinz. Ihm gegenüber steht sein Landsmann Okafor, der sich die aggressiven Strategien der Finanzwelt zu eigen gemacht hat und das Gebaren britischer Geschäftsleute imititiert. Er versucht, aus der vermeintlichen Inkompetenz Osuofias Profit zu ziehen. Aber da es Osuofia versteht, mit verschiedenen sozialen Rollen zu jonglieren, gelingt es ihm, den Nègre blanc der New Economy zu demaskieren. In der nigerianischen Videokomödie scheinen noch einmal wie in einem Panoptikum alle Konflikte im Spannungsfeld zwischen postkolonialen Gegebenheiten, sozialer Rolle und Identität auf. Bei einem diachronen Vergleich mit den anderen Übernahmen sozialer weißer Rollen lassen sich zahlreiche Kontinuitäten bei der Wahl und der Inszenierung relevanter Themen nachweisen. Eines freilich ist anders als in älteren afrikanischen Filmen, die Übernahmen sozialer weißer Rollen thematisieren: Das Selbstbewusstsein des Protagonisten ist durch nichts mehr zu erschüttern, ob er sich nun als Brite von Adel geriert oder als Rüpel aus der afrikanischen Provinz. Die Begriffe Theorie und Theater gehen auf das griechische Verb für anschauen zurück. Wenn man sie durch das synonyme Begriffspaar Betrachtung und Schauspiel ersetzt, wird deutlich, worum es in Theaterstücken und Theorien geht: um ein

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Anschauen von Wirkungszusammenhängen, die entweder auf der Bühne oder im Kopf durchgespielt werden. Afrikanische Regisseure greifen europäische Theaterstücke als Modelle spezifischer Machtkonstellationen auf. Damit behaupten sie Analogien, denn die Konsequenzen einer bestimmten Machtkonstellation erscheinen in der Versuchsanordnung des europäischen Theaterstücks nicht mehr als eine afrikanische Fatalität. Für die desolaten Verhältnisse in der Provinz, die Gogol in Der Revisor thematisiert, gibt es eine Erklärung: Die lokalen Institutionen im zaristischen Russland sind korrupt, statt der übertragenen Verantwortung gerecht zu werden, konzentrieren sich die Provinzpotentaten darauf, ihre Pfründe zu sichern. Die französische Kolonialmacht hat dem postkolonialen Senegal einen Verwaltungsapparat hinterlassen, der ähnliche Verhältnisse begünstigt. LAMBAAYE, die filmische Bearbeitung von Gogols Komödie, ist ein Appell, diese Zustände zu ändern. Dürrenmatts Theaterstück Der Besuch der alten Dame ist eine Aufarbeitung der ökonomischen Situation im Nachkriegs-Europa. Mambéty hat das Modell des schweizerischen Theaterautors in HYÈNES auf die Situation im postkolonialen Senegal übertragen: Die Stadt Colobane verschuldet sich zunehmend bei einer alten Dame, von der es bei Dürrenmatt hieß, dass sie reicher sei als die Weltbank. LAMBAAYE und HYÈNES sind afrikanische Inszenierungen europäischer Theaterstücke, in A WALK IN THE NIGHT hingegen dient Shakespeares Tragödie Hamlet lediglich als eine Folie. Auf dieser zeichnet Dube das Bild eines südafrikanischen Staates, in dem die Geister der Vergangenheit noch nach dem Fall des Apartheidsystems gegenwärtig sind. Der Regisseur lädt den Zuschauer mit dem Verweis auf Hamlet ein, den Konflikt seines Protagonisten Mikey mit dem des Dänenprinzen zu vergleichen. Anders als dieser hat Mikey seine Heimat nie verlassen, aber wie Hamlet (und viele andere Protagonisten des afrikanischen Films) blickt er mit einem inneren Abstand auf sich selbst und die Situation, die ihn umgibt. In KARMEN und U-CARMEN EKHAYELITSHA kommt noch ein anderer Modus des Umgangs mit einer Rolle der kanonisierten europäischen Literatur zum Tragen. Die senegalesische und die südafrikanische Übernahme der Carmen-Rolle, lassen sich nämlich als Subversionen von Mérimées Konzept dieser Figur betrachten: Die Carmen der Novelle qualifiziert Schwarze als geborene Sklaven ab, und der Erzähler, den Mérimée eingesetzt hat, behauptet, dass dunkle Haut hässlich sei. Die afrikanischen Bearbeitungen des Carmen-Stoffs sind Gegenentwürfe zu rassistischen Definitionen der Psyche und der äußeren Erscheinung Schwarzer: Die beiden schwarzen CarmenFiguren sind als schöne Embleme der Freiheitsliebe in Szene gesetzt. Mit der Übernahme weißer Filmrollen treten afrikanische Rezipienten aus der passiven Zuschauerhaltung heraus, die ihnen zunächst von den Kolonialmächten und dann durch die Hegemonie westlicher Medien zugemutet worden war. Sie setzen sich aktiv mit den weißen Leinwandhelden auseinander. Die Identifikation mit den Gunfightern Hollywoods hat positive und negative Aspekte: Die afrikanischen Cowboys in den Filmen Alassanes, Mambétys und Kouyatés erkunden in western-

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typischen Standardsituationen Spielräume jenseits traditioneller und familiärer Restriktionen, denn die Übernahme von Westernrollen schafft eine Distanz zu den Gegebenheiten in Afrika. Die Regisseure thematisieren damit die performative Wirkung US-amerikanischer Filme. Die afrikanischen Westerntransformationen sind aber durchgängig in einen anderen Handlungsstrang eingebettet, und diese dramaturgische Verschachtelung ermöglicht es den Regisseuren, eine selbstreflexive Distanz zum Medium Film einzunehmen: Obwohl sich alle Regisseure als Westernfans zu erkennen geben, sind die problematischen Aspekte des Genres in ihren Inszenierungen stets präsent. Mambéty und Sissako benutzen die Westernreferenzen zu filmischen Diskursivierungen neokolonialer Strategien und lassen damit die ideologisierte Instrumentalisierung des publikumswirksamen US-amerikanischen Gründungsmythos aufscheinen. Allerdings ist der Western zunehmend von einem anderen populären Genre abgelöst worden, dem Actionfilm. In PREDATOR kulminieren die ideologischen Implikationen des Blockbusters in der Rolle, die Schwarzenegger, die Actionikone der Ära Bush, besetzt. Der nordnigerianische Regissur Sa’eed hat den filmischen Diskurs invertiert: Nicht mehr Schwarzenegger rettet die zivilisierte Welt vor dem Bösen, sondern ein „Allah ist groß“. Der Regisseur Ashu Brown hat sich dagegen ein US-amerikanisches Melodram vorgenommen: Mit Blick auf die Übernahme der Rolle von Rose im Remake von TITANIC stellt sich die Frage nach der Bestimmung des performativen Prozesses, der sich hier vollzieht. Soll man die Schauspielerin Sadiya Abdu Rano, wie von Belting vorgeschlagen, als Medium auffassen, weil sie in der Lage ist, ihre Rezeptionserfahrungen zu speichern, zu reproduzieren und zu transformieren? Oder soll man sie als Akteurin bezeichnen, um ihr schauspielerisches Handeln damit dezidiert als Aktivität zu betrachten und so das Bewusste und das Spezifische ihrer Gestaltung der Rolle hervorheben? Die Kombination beider Perspektiven erbrachte hier (genauso wie bei der Betrachtung von anderen Übernahmen weißer Rollen) den größten Erkenntnisgewinn. In LE COMPLOT D’ARISTOTE und IBRO SADDAM schafft das Artifizielle der eingesetzten Mittel Distanz zu den im Film gezeigten Rollenübernahmen – Bekolo und Umar wollen zeigen, wie wichtig in einer globalisierten Welt die Machtverhältnisse im virtuellen Raum der medialen Repräsentationen sind. Mit dem medienkritischen Anliegen der Regisseure korrespondieren in beiden Fällen die Modi der Rollenübernahmen. Die jugendlichen Epigonen des US-amerikanischen Actionfilms agieren in LE COMPLOT D’ARISTOTE streckenweise wie Avatare. Die Gegenspieler Cinema und Cinéaste sind schon durch ihre Namen als Figuren ausgewiesen, die sich nicht auf dem Boden von Tatsachen, sondern auf einer Metaebene begegnen. In dem Low-Budget-Film IBRO SADDAM stehen schließlich die Konstrukte westlicher Nachrichtensender zur Debatte: Eine Truppe von CamamaClowns spielt das nach, was westliche Nachrichtensprecher ihren Hörern erzählen, und die Darsteller entlarven die westlichen Berichterstattung damit als groteske Inszenierung im Dienste einer Manipulation der Weltöffentlichkeit.

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Bekolo Obama konstatiert, dass die westliche Öffentlichkeit kaum Zukunftsprognosen von afrikanischer Seite erwartet: „S’il ne fait aucun doute pour personne que l’Afrique, c’est le passé, les origines de l’humanité … l’idée du futur semble incompatible avec l’Afrique.“4 Ein Trugschluss, denn afrikanische Regisseure haben nicht nur die Fehlentwicklungen im Gefolge des 11. September früher erkannt als ihre westlichen Kollegen, sie verhandeln schon seit den 1970er-Jahren wirtschaftspolitische Problematiken, die jetzt auch den Westen eingeholt haben. Wer hätte im Westen 2006, als der Film BAMAKO erschien, vermutet, dass es sich einige Jahre später anbieten würde, ein griechisches Remake dieses Films zu drehen? Auch westliche Staaten sitzen mittlerweile in der Schuldenfalle, und viele werden sich über kurz oder lang ebenfalls Strukturanpassungsmaßnahmen diktieren lassen müssen. „Intelligere est phantasma speculari – Penser, c’est spéculer avec des images“,5 schreibt Bekolo Obama, das Kino habe in diesem Sinne eine heuristische Funktion: „Le Cinéma est une étude comparée entre l’existant (le réel) et le possible (la fiction).“6 Genau das ist der Zweck von Planspielen: Sie sollen Möglichkeiten des Handelns aufzeigen. Auch der Regisseur aus Kamerun fasst das Kino ganz in diesem Sinne als Imaginationsraum auf: „Il paraît clairement que le cinéma comme lieu de spéculation est de nature à permettre aux Africains de se projeter dans un avenir qu’ils pourraient s’inventer.“7 Im Hinblick auf einen tragfähigen Entwurf für die Zukunft sei es aber erst einmal nötig, diejenigen Konzepte zu dekonstruieren, die sich in der Vergangenheit als hinderlich erwiesen hätten. Stereotype zum Beispiel, die sich in westlichen Filmen in der Konzeption von Rollen niedergeschlagen haben, die wiederum diesen blockierenden Konstrukten Evidenz verleihen. Bekolo Obama meint: „Il nous faut briser d’abord l’Afrique inventée par le savoir occidental, comme il nous faut briser l’Orient, la Femme, l’Enfant, etc.“8 Dass viele seiner afrikanischen Regiekollegen ähnliche Überlegungen angestellt haben wie er, zeigt sich an der Konzeption der Rollen der weiblichen Hoffnungsträgerinnen Reine Christine, Beri, Rama und Nkechi. In afrikanischen Filmen rebellieren so viele intelligente junge Frauen, dass Manthia Diawara das Motiv der „emancipation of the daughter“ sogar als einen zentralen Mythos des afrikanischen Films betrachtet: „Unlike the preceding myths, which are prevalent in oral tradition, this is a new story which is contemporaneous with the advent of the emergence of written litera-

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Bekolo Obama 2009: S. 159.

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Bekolo Obama 2009: S. 48.

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Bekolo Obama 2009: S. 48.

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Bekolo Obama 2009: S. 46.

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Bekolo Obama 2009: S. 128. Bekolo greift hier Gedanken aus Saids Orientalism ([1978] 1994) auf, ohne explizit darauf zu verweisen. Bei der Großschreibung der Substantive folge ich dem Autor.

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ture and film in Africa.“9 Meist sieht man die Töchter im afrikanischen Film als fleißige Studentinnen. Ihr äußeres Erscheinungsbild gleicht sich in auffallender Weise: Die trotzigen Töchter sind dünn und haben häufig ihre Haare abrasiert. Viele Autoren beschreiben die umtriebigen jungen Frauen als androgyn und qualifizieren ihre Kleidung als männlich.10 Die Suche nach westlichen Vorbildern, die bei der Konzeption dieser Frauenrollen hätten Pate stehen können, erweist sich als fruchtlos: Zwar gibt es seit der Stummfilmzeit Frauen in Männerkleidung und Stars mit dezidiert androgynem Image, aber nur höchst selten darf eine intellektuelle Heroine auf einer Leinwand in Erscheinung treten. Im Blick auf den US-amerikanischen Film konstatiert Richard Dyer, dass Rollen von Schwarzen und Rollen von Frauen ähnlich konzipiert seien: „It is no accident that there are similarities between how black men are represented and how women are depicted. Putting it at its broadest, it is common for oppressed groups to be represented in dominant discourses as non-active.“11 Die Filmwissenschaft zeigt großes Interesse an der Stereotypisierung und Transgression von Genderrollen im Hollywood-Film. In der zeitgenössischen Soziologie steht die Dekonstruktion von Genderkonzepten ebenfalls ganz oben auf der Agenda. Wie lange noch? Die fragwürdige Rezeption von Resultaten aus der Genforschung und die verzerrte Repräsentation neurowissenschaftlicher Erkenntnisse in den Massenmedien lassen befürchten, dass in nicht allzu ferner Zukunft wieder Konzepte Konjunktur haben werden, die von einer Determination des Menschen qua Veranlagung ausgehen. Damit wäre der Behauptung substantieller unabänderlicher Unterschiede zwischen den Menschen wieder Tür und Tor geöffnet. Jens Eder schreibt: „An die Menschenbilder, die uns ‚von innen‘ als mentale Vorstellungskomplexe gegeben sind, kommen wir nur ‚von außen‘ heran, über ihre wahrnehmbaren Manifestationen und medialen Darstellungen.“12 Die vielfältigen Umbesetzungen der weißen Rolle in der Geschichte des afrikanischen Films weisen weit über die Transgression einer rassistischen Besetzungskategorie hinaus: Sie öffnen nicht nur den Blick auf mögliche Formen des Umgangs mit postkolonialen Gegebenheiten, sondern sie bieten auch interessante Perspektiven auf soziale Dynamiken, Globalisierung und Mediatisierung an. Die Übernahme der weißen Rolle

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Diawara 1989: S. 203

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Vgl. z.B. Mushengyezi (2004: S. 49/50) zu Rama in XALA.

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Dyer [1986] 1992: S. 116. In dem Artikel „Glimmering Utopias. 50 Years of African Film“ (Kilian 2010: S. 147-159) betrachte ich die Geschichte des afrikanischen Films unter dem Aspekt der sich in den Filmen manifestierenden Zukunftsvisionen und stelle auch dort die Bedeutung der Konzeption weiblicher Rollen als Hoffnungsträgerinnen heraus.

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Eder 2008: S. 55.

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im afrikanischen Film ist ein vielfältiges und vielschichtiges Phänomen, das sich nicht über die Elle einer einzigen Theorieoption brechen lässt. Unter Anwendung ganz unterschiedlicher Techniken der Darstellung greifen die afrikanischen Filmschaffenden sehr disparate Diskurse zu den komplexen Zusammenhängen zwischen Rolle und Identität auf. Um eine Theorie zur Übernahme der weißen Rolle im afrikanischen Film vorzulegen, müsste man die zum Teil widersprüchlichen Konzepte zu den Themen Identität und Rolle zusammenführen, die in der Geschichte des afrikanischen Kinos filmisch diskursiviert wurden. Ohne das Kaleidoskop der unterschiedlichen Übernahmen der weißen Rollen seiner verschiedenen Farben zu berauben, ist das nicht zu leisten. Fruchtbarer scheint es da, die Dekonstruktion der restriktiven Besetzungskategorie „weiße Rolle“ als richtungweisendes Paradigma aufzufassen: Mit diesem performativen Akt haben die afrikanischen Filmschaffenden neue Handlungsspielräume erobert – nicht nur für sich, auch für die Weißen. Denn die Transgression lässt auch andere Besetzungskategorien fragwürdig erscheinen. Dicke sind nach dem zweiten Weltkrieg fast völlig von der Leinwand verbannt worden, was mit ihrer gesellschaftlichen Stigmatisierung korrespondiert. Sofern sie überhaupt noch vor die Kamera treten dürfen, ist qua Besetzungskonvention durch die Leibesfülle eine spezifische psychische Verfasstheit vorgegeben: Dicke sind gutmütig und lustig, was aufgrund der Diskriminierung, die sie im realen Leben erfahren, geradezu zynisch anmutet, denn realiter geht Übergewicht nicht selten mit Depressionen einher. Ähnlich paradoxe Wirkungszusammenhänge lassen sich bei der Besetzung alter Menschen konstatieren: Obwohl es in Westeuropa immer mehr Alte gibt, besetzt man sie in Theater, Film und Fernsehen nur spärlich und, insbesondere Frauen, meist nur in stereotypisierenden Rollen. 1923 trat die legendäre Schauspielerin Eleonora Duse, mittlerweile 63 Jahre alt, mit weißem Haar und faltiger Haut ohne jedes Make-up in der Rolle eines 23-jähigen Bauernmädchens auf. Eine begeisterte Zuschauerin schrieb: „Ein Wunder geschah, eines jener Wunder, die man niemals vergisst [...][Die Duse war] plötzlich ein junges Mädchen, von Leben durchblutet, schön und stark. Wie das vor sich ging, weiß ich nicht, ich wurde der Verwandlung erst bewusst, nachdem sie sich vollzogen hatte.“13 Im besten Fall durchbricht eine Rollenübernahme ein selbstverständlich gewordenes Differenzkonstrukt – so zu tun als ob kann ein Ausloten des scheinbar Unmöglichen sein.

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Signorelli 1962: S. 273.

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(Letzte Abfrage: 19.12.2010).

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390 | S CHWARZ BESETZT

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Konferenzen und Seminare

„Method-Acting“, Strasberg-Workshop mit Walter Lott [um 1994], Rote Fabrik, Zürich. „Werkstattkurs. Das Lebenswerk Jean Rouchs“ [in Anwesenheit Jean Rouchs], 29.-30.06.2000, Hochschule für Film und Fernsehen (HFF) „Konrad Wolf“ Potsdam-Babelsberg. „Mimikry/Mimese. Gefährlicher Luxus zwischen Natur und Kultur“, Tagung des Graduiertenkollegs „Zeiterfahrung und ästhetische Wahrnehmung“,29.09.01.10.2005, Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main. Gayatri Chakravorty Spivak. „Interdisciplinary Seminar“, 07.-17.01.2008, Johannes Gutenberg-Universität Mainz (ZIS-Gastprofessur). „Glauber Rocha und das Kino des Südens“, Internationales Symposium, 21.-25.10.2008, Ibero-Amerikanisches Institut, Filmwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Lateinamerika Institut der FU Berlin. „Nollywood and Beyond. Transnational Dimensions of an African Video Film Industry“, Internationales Symposium, 13.-16.05.2009, Johannes GutenbergUniversität Mainz. „Western – Intercultural Perspectives“, Symposium, 20.-21.11.2009, Johannes Gutenberg-Universität Mainz. „Kontinuitäten und Brüche. 50 Jahre Unabhängigkeit in Afrika“, Tagung der Vereinigung für Afrikawissenschaften (VAD e.V.), 7.-11.04.2010, Johannes Gutenberg-Universität Mainz.

Visuelle Medien

F ILME A BOUT DE SOUFFLE, Frankreich 1960, R.: Jean-Luc Godard. AFRICA PARADIS, Benin 2006, R: Sylvestre Amoussou. AL’ÈÈSSI, Niger 2004, R.: Rahmatou Keïta. ALPHAVILLE, Frankreich 1965, R.: Jean-Luc Godard. ANDALUSISCHE NÄCHTE, Deutschland 1938, R.: Herbert Maisch. ANTONIO DAS MORTES [O DRAGÃO DA MALDADE CONTRA O SANTO GUERREIRO], Brasilien 1969, R.: Glauber Rocha. ARISTOCATS, USA 1970, R.: Wolfgang Reitherman. ARRIVÉE D’UN TRAIN EN GARE DE LA CIOTAT (LA), Frankreich 1895, R.: Gebrüder Lumière. BADOU BOY, Senegal 1970, R.: Djibril Diop Mambéty. BAMAKO, Mali 2006, R.: Abderrahmane Sissako. BOROM SARRET, Senegal/Frankreich 1963, R.: Ousmane Sembène. BOUBOU CRAVATE, Kamerun 1972, R.: Daniel Kamwa. CABASCO, Niger 1969, R.: Oumarou Ganda. CAMP DE THIAROYE, Senegal 1988, R.: Ousmane Sembène. CARMEN JONES, USA 1954, R.: Otto Preminger. CET HOMME EST DANGEREUX, Frankreich 1953, R.: Jean Sacha. CHRONIQUE D’UN ÉTÉ, Frankreich 1961, R.: Jean Rouch/Edgar Morin. COMPLOT D’ARISTOTE (LE), Zimbabwe/Frankreich/U.K. 1996, R:. Jean-Pierre Bekolo. CONAN THE BARBARIAN, USA 1982, R.: John Milius. CONTRAS’ CITY, Senegal 1968, R.: Djibril Diop Mambéty. COWBOYS SONT NOIRS (LES), Frankreich 1966, R.: Serge-Henri Moati. DEUS E O DIABO NA TERRA DO SOL [BLACK GOD, WHITE DEVIL], Brasilien 1964, R.: Glauber Rocha. DINNER FOR ONE, BRD 1963, R.: Freddie Frinton und Heinz Dunkhase. DOGVILLE, Dänemark [u. a.] 2003, R.: Lars von Trier.

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DONBASS SINFONIE (DIE): ENTHUSIASMUS, UdSSR 1930, R.: Dziga Vertov. DUEL DE HAMLET (LE), Frankreich 1900, R: Clément Maurice. DYNASTY, (Fernsehserie) Januar 1981 bis Mai 1989, R.: Irving J. Moore [u. a.]. ET LA NEIGE N’ÉTAIT PLUS, Senegal 1965, R.: Ababacar Samb Makharam. FEMMES S’EN BALANCENT (LES), Frankreich 1953, R.: Bernard Borderie. FRANC (LE), Senegal, 1994 R.: Djibril Diop Mambéty. GOLD RUSH (THE), USA 1925, R.: Charles Chaplin. GOUMBÉ DES JEUNES NOCEURS (LA), Frankreich/Côte d’ Ivoire 1967, R.: Jean Rouch. GRAMMAIRE DE MA GRAND-MÈRE (LA), Frankreich/Senegal 1996, R.: Jean-Pierre Bekolo. GROSSE DIKTATOR (DER) [THE GREAT DICTATOR], USA 1940, R.: Charles Chaplin. GUELWAAR, Senegal 1992, R.: Ousmane Sembène. HEREMAKANO, Mauretanien/Frankreich 2002, R.: Abderrahmane Sissako. HIGH NOON, USA 1952, R.: Fred Zinnemann. HOME & ABROAD, Nigeria 2004, R.: Lancelot Oduwa Imasuen. HYÈNES, Senegal/Frankreich/Schweiz 1992, R.: Djibril Diop Mambéty. IBRO SADDAM, Nigeria 2003, R.: Kabeer Umar. IBRO USAMA, Nigeria 2002, R.: Malam Auwalu Dare. IRON HORSE (THE), USA 1924, R.: John Ford. KARMEN GEȲ [KARMEN], Senegal/Frankreich 2001, R.: Joseph Gaï Ramaka. KODOU, Senegal 1971, R.: Ababacar Samb Makharam. LAMBAAYE [TRUANDERIE], Senegal 1971/72, R.: Mahama Johnson Traoré. LIEUX SAINTS, Burkina Faso/Kamerun/Frankreich 2009, R.: Jean-Marie Teno. MAÎTRES FOUS (LES), Frankreich/Ghana 1955, R.: Jean Rouch. MAMBÉTY FOR EVER, Frankreich 2008, R.: Aïssatou Bah. MANDABI [LE MANDAT], Senegal 1968, R.: Ousmane Sembène. MANN MIT DER KAMERA (DER), UdSSR 1929, R.: Dziga Vertov. MASOYIYATA/TITANIC, Nigeria 2003, R.: Farouk Ashu Brown. MEIN FÜHRER – DIE WIRKLICH WAHRSTE WAHRHEIT ÜBER ADOLF HITLER, BRD 2007, R.: Dani Levy. MISFITS, USA 1961, R.: John Houston. MODERN TIMES, USA 1936, R.: Charles Chaplin. MOI ET MON BLANC, Burkina Faso 2004, R.: S. Pierre Yaméogo. MOI, UN NOIR, Frankreich/Côte d’ Ivoire 1958, R.: Jean Rouch. MÔME VERT-DE-GRIS (LA), Frankreich 1952, R.: Bernard Borderie. MR. IBU IN LONDON, Nigeria 2004, R.: Adim Williams. MY DARLING CLEMENTINE, USA 1946, R.: John Ford. NANOOK OF THE NORTH, [gedreht in Québec] 1922, R.: Robert J. Flaherty. NIKITA, Frankreich/Italien 1990, Regie: Luc Besson. NINKI NANKA: LE PRINCE DE COLOBANE, Senegal 1991, R.: Laurence Gavron. NOLLYWOOD ABROAD, Belgien 2008, R.: Saartje Geerts.

V ISUELLE M EDIEN

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NOTTE (LA), Italien/Frankreich 1961, R.: Michelangelo Antonioni. OSUOFIA IN LONDON, Nigeria, Part I (2003), Part II (2004), R.: Kingsley Ogoro. OUAGA SAGA, Burkina Faso 2005, R.: Dani Kouyaté. PREDATOR, USA 1987, R.: John McTiernan. PRÉNOM CARMEN, Frankreich 1983, R.: Jean-Luc Godard. QUARTIER MOZART, Kamerun/Frankreich 1992, R.: Jean-Pierre Bekolo. RAGING BULL, USA 1980, R.: Martin Scorsese. RAMBO [FIRST BLOOD], USA 1982, R.: Ted Kotcheff. RETOUR D’UN AVENTURIER (LE), Niger/Frankreich 1966, R.: Moustapha Alassane. RIO BRAVO, USA 1959, R.: Howard Hawks. RISING SUN, USA 1993, R.: Philip Kaufman. SANS SOLEIL, Frankreich 1983, R.: Chris Marker. SEIN ODER NICHT SEIN, USA 1942, R.: Ernst Lubitsch. STATUES MEURENT AUSSI (LES), Frankreich 1953, R.: Chris Marker und Alain Resnais. STREETCAR NAMED DESIRE (A), USA 1961, R.: Elia Kazan. TARZOMAR SHAHADA, Nigeria 2002, R.: Suleiman Sa’eed. TÉLÉ ARRIVE (LA), Tunesien 2006, R.: Moncef Dhouib. TERMINATOR II: JUDGEMENT DAY, USA 1991, R.: James Cameron. TERRA EM TRANSE, Brasilien 1967, R.: Glauber Rocha. TEXAS ADIOS, Italien 1966, R.: Ferdinando Baldi. THUNDERBOLT, Nigeria 2000, R.: Tunde Kelani. TITANIC, USA 1997, R.: James Cameron. TOUKI BOUKI, Senegal 1973, R.: Djibril Diop Mambéty. U-CARMEN EKHAYELITSHA, Südafrika 2004, R.: Mark Dornford-May. VIE SUR TERRE (LA), Mali 1998, R.: Abderrahmane Sissako. VISIT (THE), USA/Frkr./BRD/Italien 1964, R.: Bernhard Wicki. VOUS PIGEZ, Frankreich 1956, R.: Pierre Chevalier. WALK IN THE NIGHT (A), Südafrika 1998, R.: Mickey Madoda Dube. WEST SIDE STORY, USA 1961, R.: Robert Wise/Jerome Robbins. WOODSTOCK, USA 1970, R.: Michael Wadleigh. XALA, Senegal/Frankreich, 1974, R.: Ousmane Sembène. YAABA, Burkina Faso/Schweiz/Frankreich 1989, R.: Idrissa Ouédraogo. ZABRISKIE POINT, USA 1970, R.: Michelangelo Antonioni. ZEICHEN DES ZORRO (DAS) [THE MARK OF ZORRO], USA 1920, R.: Fred Niblo. 11’09’’01, Frankreich 2002, R.: Idrissa Ouédraogo [u. a.].

F ERNSEHBERICHTE

UND I NTERNETAUFTRITTE

Bush, Chaplin, Hitler (letzte Abfrage 15.01.2011).

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Derniers Moments du Festival 1955. Reflets de Cannes, [Fernsehbericht] von François Chalais, 11.05.1955. (letzte Abfrage 25.11.2010). George Bush as Charlie Chaplin (moveOn.org) (letzte Abfrage 15.01.2011).

Postcolonial Studies Anette Dietrich Weiße Weiblichkeiten Konstruktionen von »Rasse« und Geschlecht im deutschen Kolonialismus 2007, 430 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-807-0

Kien Nghi Ha Unrein und vermischt Postkoloniale Grenzgänge durch die Kulturgeschichte der Hybridität und der kolonialen »Rassenbastarde« 2010, 320 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1331-5

Wulf D. Hund (Hg.) Entfremdete Körper Rassismus als Leichenschändung 2009, 252 Seiten, kart., zahlr. Abb., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1151-9

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Postcolonial Studies Gesine Müller, Natascha Ueckmann (Hg.) Kreolisierung revisited Debatten um ein weltweites Kulturkonzept Dezember 2012, ca. 330 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2051-1

Julia Reuter, Paula-Irene Villa (Hg.) Postkoloniale Soziologie Empirische Befunde, theoretische Anschlüsse, politische Intervention 2009, 338 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-89942-906-0

Markus Schmitz Kulturkritik ohne Zentrum Edward W. Said und die Kontrapunkte kritischer Dekolonisation 2008, 434 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-89942-975-6

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Postcolonial Studies Eva Bischoff Kannibale-Werden Eine postkoloniale Geschichte deutscher Männlichkeit um 1900 2011, 382 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1469-5

Sérgio Costa Vom Nordatlantik zum »Black Atlantic« Postkoloniale Konfigurationen und Paradoxien transnationaler Politik 2007, 292 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-89942-702-8

Shadia Husseini de Araújo Jenseits vom »Kampf der Kulturen« Imaginative Geographien des Eigenen und des Anderen in arabischen Printmedien 2011, 330 Seiten, kart., zahlr. Abb., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1646-0

Patricia Purtschert, Barbara Lüthi, Francesca Falk (Hg.) Postkoloniale Schweiz Formen und Folgen eines Kolonialismus ohne Kolonien Juni 2012, 422 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1799-3

Burkhard Schnepel, Gunnar Brands, Hanne Schönig (Hg.) Orient – Orientalistik – Orientalismus Geschichte und Aktualität einer Debatte 2011, 312 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1293-6

Julia Verse Undoing Irishness Antirassistische Perspektiven in der Republik Irland Januar 2012, 412 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1682-8

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