Schlüsselwerke der Systemtheorie [3. exp. ed.] 9783658306328, 9783658306335

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Schlüsselwerke der Systemtheorie [3. exp. ed.]
 9783658306328, 9783658306335

Table of contents :
Vorwort zur dritten Auflage
Vorwort zur zweiten Auflage
Inhaltsverzeichnis
Herausgeber- und Autorenverzeichnis
Einleitung
Literatur
Kybernetik
Automaten
Literatur
Die Umwelt als Element des Systems
Literatur
Lernen ist Interaktion
1 Hintergrund
2 Diskussion
3 Zum Schluss
Literatur
Gehirnmaschinen
1 Worin besteht Wissen?
2 Eine Physiologie des Wissens
3 Theorie logischer Formen
Literatur
Strategies Beyond Systems
1 Introduction
2 General System Theory
2.1 Academic Position
2.2 Knowledge and the Concept of Closure
3 One Puzzle and two Solutions
3.1 First Solution: The System Concept
3.2 Second Solution: The Concept of Strategy
4 Discussion
4.1 On the First Solution
4.2 On the Second Solution
4.3 On the two Solutions
5 Conclusion
References
Eine kybernetische Systemtheorie
1 Leben und Werk
2 Was ist eine „Ökologie des Geistes“?
3 Eine Wissenschaft von Geist und Ordnung
Literatur
Ganzheit und Teile – Paradoxie oder Dialektik?
Literatur
Die Beobachtung der Kybernetik
1 Die Beobachtung und ihre Bedingungen
2 Rekursiv arbeitende Systeme
3 Verantwortung für die eigene Systemreferenz
Literatur
Selbstbeobachtung
1 Einleitung
2 Über Ranulph Glanville
3 Über Gleichgesinnte und Mentoren
4 Wie Objekte entstanden ist
5 Glanvilles Theorie der Objekte
6 Glanvilles Bezugs- und Ausgangspunkte in der Entwicklung der Theorie der Objekte
7 Themen in Objekte
8 Abschließende Bemerkungen
Literatur
Kommunikation
Im Netzwerk der Kommunikation
1 Vorbemerkung
2 Paradigmenwechsel
3 Die Autoren
4 Soziale Matrix
5 Zirkuläre Prozessmuster als Werte
6 Intrapersonale und interpersonale Kommunikation
7 Der kulturelle Kontext
8 Kybernetik 2. Ordnung und Radikaler Konstruktivismus
9 US-Amerikanische Werte
10 Amerikanische Perspektiven
11 Das System der Checks and Balances
12 Information und Codifikation
13 Ein epistemologischer Ansatz des psychiatrischen Denkens
14 Individuum, Gruppe und Kultur
15 Nachbemerkung
Literatur
Kommunikation als Selektion
Literatur
Auf der Spur der Double Binds
1 Imaginär/Symbolisch
2 Digital/Analog
3 Psychoanalytische Kommunikationstheorie
Literatur
Das Selbst als Phantasma
Literatur
Kopplungen und ihre Folgen
1 Einleitung
2 Von der Erkenntnis über das Soziale zur Psyche
3 Pragmatik auf hohem Theorieniveau
4 Die Kunst der Irritation: Systemdenken im Tractatus-Stil
Literatur
Selbstorganisation und Autopoiesis
Die Einheit als Unterschied
1 Eine komplexe Betrachtung der Komplexität
2 Offenheit unter der Voraussetzung der Schließung
3 Referenzpunkt Individuum
Literatur
Die In-formation der Autopoiesis
1 Autopoiesis und die Notwendigkeit eines konstruktiven Informationsbegriffes
2 Die Formalisierung des Konzeptes in-formierender Autopoiesis
2.1 Die Notwendigkeit komplementärer Beschreibungsformen
2.2 Die Formalisierung der Distinktionsgeneratoren
2.3 Konstruktiver Abbildungsbegriff
Literatur
Komplexität durch Rauschen
1 Der Finalismus in der biologischen Evolutionstheorie und die Analogie des Computerprogramms
2 Die organisationelle Komplexität durch Rauschen
3 Deterministische und quasi-deterministische Repräsentationen
4 Komplexitätssteigernde Selbstorganisation des Bewusstseins und des Willens
5 Die Kritik von René Thom
6 Henri Atlan kritisiert durch Henri Atlan
Literatur
Das Prinzip der Autopoiesis
Literatur
Kognition, heterodox
Literatur
Unmittelbares Handeln und die Sensomotorik der Situation
1 Hintergründe
2 Figuren
3 Gestalten
Literatur
Lynn Margulis, Autopoietic Gaia, and the Novacene
References
Mathematik und Logik
Die Mathematik und andere Kurzsprachen
1 Einleitung
2 Der Computer
3 Das Gehirn
4 Speicher und Funktionen höherer Ordnung
5 Berechnung, Kommunikation und Steuerung
Literatur
Das Prinzip der Unterscheidung
1 Einleitung
2 Gesetze der Form
3 Paradoxie
4 Elementare Logik
Literatur
Menschliche Problemlöser und programmierte Computer: zwei Spezies der derselben Gattung?
1 Vorbemerkung
2 Aufbau des Buches
3 Theoretische Präliminarien
4 Empirie
5 Theorie menschlichen Problemlösens
6 Kritische Nachbemerkung
Literatur
Dynamics in Terms of Differential Equations and Recursions
References
Mit dem Weltgeist rechnen
1 Nicht-aristotelische Logik – transklassische Rationalität
2 Gotthard Günther (1900–1984)
3 Eine neue Rationalität für eine veränderte Gesellschaft
4 Durchbruch transklassischer Problemstellungen bei Hegel
5 Die beschränkten Potenzen der zweiwertigen Logik
6 Beitrag zu einer operationsfähigen Dialektik
7 Sozialität als transklassisches Phänomen
8 Von der mehrwertigen Logik zur Kenogrammatik
9 Offene Vermittlung und proemiale Relation
10 Über Aristoteles hinaus zu Platon zurück
11 Der achsenzeitliche Umbruch im antiken Griechenland
12 Platon – kulturelle Restabilisierung im Medium der Zahl
13 An der Schwelle zu einem zweiten kulturellen Umbruch – Günthers Wiederholung von Platons mathematischer Aufklärung
14 Rechnen als Pharmakon
15 Luhmanns Antwort auf Husserl mit Güntherschen Instrumenten
16 Komplizierte und komplexe Gesellschaften
17 Kontexturen – die vervielfältigte Einheit des Seins
18 Die logische Form des „sinnvoll“ Erlebbaren
19 Die bewusstseinstheoretische Rekonstruktion der Axiome der klassischen Logik
Literatur
Complex Systems, Nonlinear Dynamics, and Local Activity Principle
1 Forrester’s System Dynamics: From Engineering Management to Urban and World Models
2 Foundations of Complex Systems, Nonlinear Dynamics, and Local Activity Principle
3 Sociodynamics and Local Activity Principle
References
Management und Design
Bausteine zu einer Designwissenschaft
1 Das Artifizielle
2 Umwelt innere/äußere
3 Design
4 Bounded Rationality
5 Satisficing
6 Dekomponierbarkeit
7 Organisation
8 Informationsverarbeitende Systeme
9 Memory
10 Problemlösung
11 Computer
12 Simulation
Literatur
Forschende Systeme
1 Paradigmen und ihre Grenzen
2 Das Streben nach Verbesserung
3 Historische Entwürfe für forschende Systeme
4 Das Problem des Garanten: Unterwegs zu einer Theorie der Täuschung
5 Die Suche nach Ganzheitlichkeit und die „heroische Einstellung“
6 Persönliche Würdigung
7 Ausblick auf die „Feinde“
Literatur
Bauplan für komplexe Organisationen
1 Eine Basisinnovation im Management
2 Einordnung von Brain of the Firm in die Bibliographie Beers
3 Das Modell lebensfähiger Systeme
3.1 Grundlagen des Modells
3.2 Das Modell lebensfähiger Systeme
3.2.1 Die Komponenten des Modells im Einzelnen
3.2.2 Das grundlegende Bauprinzip lebensfähiger Systeme
3.3 Die Anwendung des Modells am Beispiel der chilenischen Volkswirtschaft
4 Ein Werk, dessen Zeit gekommen ist
Literatur
Komplexität verlangt Übung
1 Der St. Galler Management Ansatz – seine Entstehungsgeschichte
2 Wesentliche Grundannahmen und die dafür herangezogenen Theorieressourcen
3 Das Modell lebensfähiger Systeme und seine Managementimplikationen
4 Das evolutionäre Problemlösungsparadigma
5 Ausblick
Literatur
Soft, not Vague
1 Why Me?
2 Preface
3 Who Is Checkland?
4 Introduction to Systems Thinking Systems Practice
5 Exploring the Text
6 STSP—The Original Text
7 30 Year Retrospective
8 Concluding Remarks
References
Das größere Ganze
1 Der Autor
2 Inhaltliches Spektrum der Werkausgabe
3 Von der Betriebswirtschaftslehre zur Managementlehre
4 Konzeptioneller Beitrag
5 Wirkungen
6 Ausblick
Literatur
Literatur und Künste
Startschuss einer systemtheoretischen Literaturwissenschaft
1 Potenzierte Beobachtung
2 Der Freibrief der Literatur
3 Funktion und Code
Literatur
Die Leidener Schule der literaturwissenschaftlichen Systemtheorie
1 Eröffnung einer Diskussion
2 Textanalyse als Theoriereflexion
3 Diskursive Spannung
4 Hermeneutisches Potenzial
5 Textanalyse
Literatur
Schrift als Supplement von Kommunikation – und umgekehrt
Literatur
Die Entdeckung der Humanmedien
1 Widerspenstige Kunst
2 Ein Interesse an der anderen Seite
3 Acht Sinnsysteme
Literatur
A Mellow Synthesis
1 Stories Within Stories
2 Cultural Articulation
References
Soziologie (und Politikwissenschaft)
Handlung ist System
Literatur
Die Intelligenzfunktion der Politik
1 Systemtheorie als politische Theorie
2 Deutsch und die Systemtheorien in der Politikwissenschaft
3 The Nerves of Government als „internationale Theorie“
Literatur
Die Zentralität des Paradoxen
1 Das Grundparadox
2 Paradox und Widerspruch
3 Redundanz
4 System und Element
5 Aktualität, Potenzialität, Selbstreproduktion
6 Paradoxe Strategien und Steuerung
Literatur
Komplexität als Formprinzip
1 Exposition
2 Ein neues Paradigma
3 Komplexitätsbegriff und Formbildung sozialer Systeme
4 Ausblick
Literatur
Telescopes and Microscopes
Appendix – Differential Equations and Causal Loop Diagrams
References
Doppelte Synthese
1 Exposition
2 Grundlinien
3 Einschätzung
The Meaning of Society
1 Overview of the Oeuvre
2 The Design of Die Gesellschaft der Gesellschaft
3 The Spinozean Puzzle
4 The Endogenous Restlessness of Meaning Phenomena
5 Where Next?
Literature
Observing Cultures
Literatur
Creatio ex nihilo
Literatur:
Erfahrung und Unbestimmtheit
Literatur

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Dirk Baecker Hrsg.

Schlüsselwerke der Systemtheorie 3. Auflage

Schlüsselwerke der Systemtheorie

Dirk Baecker (Hrsg.)

Schlüsselwerke der Systemtheorie 3., durchgesehene und erweiterte Auflage

Hrsg. Dirk Baecker Universität Witten/Herdecke Witten, Deutschland

ISBN 978-3-658-30632-8 ISBN 978-3-658-30633-5  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-30633-5 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2005, 2016, 2021 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Cori Antonia Mackrodt Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Vorwort zur dritten Auflage

Der Anlass zu dieser dritten Auflage der Schlüsselwerke der Systemtheorie ist die Korrektur eines Druckfehlers, auf den mich Malte Jessen aufmerksam gemacht hat. Ausgerechnet in die Übersetzung des „law of calling“ in Louis H. Kauffmans Beitrag über George Spencer-Browns Laws of Form hatte sich ein „nicht“ zu viel hineingeschmuggelt. Der Wert einer nochmaligen Nennung ist nicht nicht der Wert der Nennung, sondern er ist der Wert der Nennung. Inwieweit dies tatsächlich gilt oder auch möglicherweise nicht gilt, kann man auch an der Systemtheorie und ihren Schlüsselwerken studieren. Mit jeder erneuten Nennung der Systemtheorie ändert sich ihr Wert, da der Kontext ein anderer ist, in dem sie aufgerufen wird, eine Erinnerung an ihre sich laufend ergänzende Geschichte mitläuft und die Erwartungen sich ändern, die sich an sie richten. Andererseits jedoch handelt es sich noch immer um die Systemtheorie, deren Ausgangspunkt einer Unterscheidung von System und Umwelt nicht zur Disposition steht. Insofern ändert sich der Wert ihrer Nennung nicht. Im „law of calling“ steckt daher eins der Hauptprobleme, mit denen sich die Systemtheorie beschäftigt. Wie kann sich ein System als dieses System erhalten, wenn es sich von Ereignis zu Ereignis mit einer Umwelt auseinandersetzt, die sich laufend ändert? Welchen Status hat eine Identität, die auf einer ­Nicht-Identität beruht? Man kann es sich einfach machen und immer dann von „Identität“ sprechen, wenn Kontinuität aus Diskontinuität gewonnen wird. Eine Identität wäre dann eine Generalisierungsleistung, die durch die spezifische Differenz der Situationen, über die sie sich hinwegsetzt, nicht widerlegt, sondern herausgefordert und bestätigt wird. Man hat das Problem dann jedoch nur mithilfe einer Definition gelöst und hätte die eigentliche Arbeit, diese Generalisierungsleistung im Gegenstand aufzuzeigen, noch vor sich.

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Vorwort zur dritten Auflage

Aber genau das ist der wissenschaftliche Status einer Theorie. Man wirft begriffliche Probleme auf, um im Gegenstand nach deren Lösung zu suchen. Genau so versteht die Systemtheorie ihre empirische Arbeit. Ich habe diese dritte Auflage genutzt, um die für die zweite Auflage gefundene Gliederung zum einen zu bestätigen und zum anderen zu ergänzen. Der eine oder andere Titel ist hinzugekommen, weil er nach dem Erscheinen der zweiten Auflage erschienen ist. Das gilt für Fritz B. Simons Buch über Formen (2018), das als maximaler Test auf die Frage verstanden werden kann, welche Identitäten sich in den grundlegenden Aussagen der Systemtheorie festlegen lassen. Und es gilt für James Lovelocks Buch über das Novacene (2019), in dem die Identitätsfrage wiederum anders gelöst wird, nämlich mithilfe eines Verweises auf den Superorganismus Erde, genannt Gaia, für den sich die Reproduktionsfrage schon deswegen nicht stellt, weil er bereits 4 Mrd. Jahre alt ist. Stattdessen stellt sich die Frage, ob das Universum in jener Menschheit, in der es bisher zum Bewusstsein seiner selbst gekommen ist, bereits zu einem hinreichenden Bewusstsein gekommen ist. Möglicherweise bewährt sich die Erde als dynamisches System erst darin, dass sie eine künstliche Intelligenz hervorbringt, die in der Lage ist, den wegen seiner zu großen Nähe zur Sonne überhitzten und sich mit menschlicher Hilfe immer mehr überhitzenden Planeten auch weiterhin hinreichend zu kühlen. Darüber hinaus habe ich die Gelegenheit genutzt, einige Lücken in den bisherigen Abschnitten zu füllen (Allen Newell und Herbert A. Simon, Human Problem Solving), wichtige soziologische beziehungsweise sozialwissenschaftliche Texte zu ergänzen (George P. Richardson, Feedback Thought in Social Science and Systems Theory; Kenneth D. Bailey, Sociology and the New Systems Theory; Stephan Fuchs, Against Essentialism; Helmut Willke, Symbolische Systeme; und Richard Jung, Experience and Action) und einen neuen Abschnitt zu den Künsten und zu den Literaturwissenschaften aufzunehmen (Niels Werber, Literatur als System; Matthias Prangl und Henk de Berg, Kommunikation und Differenz; Natalie Binczek, Im Medium der Schrift; Harry Lehmann, Flüchtige Wahrheit der Kunst; und Bruce Clarke, Neocybernetics and Narrative). Nach wie vor gilt das Prinzip, die jeweiligen Schlüsselwerke zu würdigen, aber auch die Forschungsperspektiven der jeweiligen Kommentatoren zu ihrem Recht kommen zu lassen. Nach wie vor handelt es sich um Schlüsselwerke nicht nur der Systemtheorie, sondern mehr noch für bestimmte Autoren, die nach wie vor in der Systemtheorie grundlegende Ansätze und offene Fragen sehen. Der gemeinsame Nenner dieser Ergänzungen ist ein Interesse an Formalisierung. Newell und Simons Versuch der Programmierung eines General Problem Solver

Vorwort zur dritten Auflage

VII

auf der Grundlage von Überlegungen zur künstlichen Intelligenz in den 1970er Jahren hat in der Systemtheorie seither keine Nachfolge gefunden. Aber keines der Schlüsselwerke ist frei von Versuchen, Grundgedanken („Identitäten“ oder auch „Invarianzen“) festzuhalten, die sich in der Analyse von Systemen aller Art bewähren. Mit Richardson wäre das der Gedanke der Rückkopplung, mit Bailey die Konzepte der Negentropie und Autopoiesis, mit Stephan Fuchs die Rekursivität der Selbstbeobachtung, mit Willke die in Prozessen der Symbolisierung festgehaltene Differenz lebender, psychischer und sozialer Systeme und mit Jung das Prinzip einer maximal möglichen Reduktion von Uneigentlichkeit. So auch das künstlerische und literaturwissenschaftliche Interesse an der Systemtheorie. Hier geht es durchaus nicht nur darum, der Systemtheorie den Einwand einer Nichtmodellierbarkeit hermeneutischer Prozesse des Verstehens entgegenzusetzen. Sondern es geht ganz im Gegenteil um Prozesse der Bewährung, Gestaltung und Veränderung von Identitäten unter nicht nur widrigen, sondern kreativproduktiven Bedingungen. Wenn Niklas Luhmann in einer seiner radikalsten Formulierungen schreibt, dass Kommunikation keine Inhalte, sondern Differenzen kommuniziert (zum Beispiel die Differenz zwischen Form und Medium, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1997, S. 195, aber das gilt auch für die Differenzen von Kommunikation und Bewusstsein, Variation und Selektion, Komplexität und Selbstbeschreibung oder auch analogen und digitalen Anschlüssen), dann ist dies für Fragen nach den Spezifika ästhetischer Wahrnehmung zwar möglicherweise besonders einleuchtend, aber für Fragen der Reproduktion von Funktionssystemen oder organisierten Systemen nicht minder gültig. Insofern schult sich im Umgang mit den Künsten eine Wahrnehmung, die auch andernorts ihren Platz hat – und nicht etwa die Künste gegenüber anderen Systemen der Gesellschaft privilegiert. Das gemeinsame Interesse an einer über ein differentielles Verständnis von Identitäten laufenden Formalisierung ist jedoch genau das, ein Interesse. Es findet in der Mathematik rekursiver Funktionen von Heinz von Foerster, in der Kybernetik der Polykontexturalität von Gotthard Günther und im Indikationenkalkül von George Spencer-Brown zwar weiterhin anregende Anhaltspunkte, aber auch nicht mehr als das. Die Zeiten, in denen Ludwig von Bertalanffy sich die Systemtheorie als ein System von Differentialgleichungen vorstellen konnte, sind vorbei. Fortschritte im Maschinenlernen verdanken sich dem Einsatz raffinierter statistischer Methoden, wenn nicht sogar dem expliziten Verzicht auf systemtheoretische Modelle, wie man es etwa an der Systembiologie studieren kann. Die Entwicklung der Systemtheorie verharrt an der Schwelle zur Modellierung von Selbstreferenz.

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Vorwort zur dritten Auflage

Nicht zuletzt ist darauf hinzuweisen, dass es zu den vornehmsten Eigenschaften der Systemtheorie gehört, auch und gerade in ihrer Arbeit an den Grundbegriffen Raum für Ausbruchsversuche zu haben, so als sei kein System vollständig, wenn es nicht seine eigene Negation, seine eigene Unvollständigkeit enthält. Im Formbegriff von George Spencer-Brown wird das explizit, doch es kennzeichnet so frühe Auseinandersetzungen wie jene von Ludwig von Bertalanffy, der, wie Gerard de Zeeuw in seinem komplett neu gefassten Beitrag zeigt, den Begriff des Systems nur für die zweitbeste möglicher Lösungen im Umgang mit dem viel grundsätzlicheren Problem der Modellierung strategischen Handelns gesehen hat, wie so späte Auseinandersetzungen wie jene von Stephan Fuchs, der, wie Maren Lehmann in ihrem Beitrag zeigt, den Begriff der Kultur gegen jenen der Gesellschaft ausspielt und dem Systembegriff nur eine Chance gibt, wenn es ihm gelingt, sich auch anhand von Phänomenen durchzusetzen, die möglicherweise eher mit dem Netzwerkbegriff abgebildet werden können. Dirk Baecker

Vorwort zur zweiten Auflage

Zehn Jahre sind seit der ersten Auflage der vorliegenden Kommentare zu Schlüsselwerken der Systemtheorie vergangen. Für den langen Atem der Systemtheorie ist dies keine nennenswerte Zeit. Und doch stellt sich die Systemtheorie in den Varianten, in denen sie hier verhandelt wird, zum gegenwärtigen Zeitpunkt in meinen Augen anders dar als vor zehn Jahren. Nach wie vor konzentriert sich die Diskussion auf den deutschsprachigen Raum. Und nach wie vor sind es vor allem die Anwendungsfelder der Soziologie, der Managementlehre und der Therapie und Beratung, in denen die meisten Aktivitäten zu verzeichnen sind. Bahnbrechende neue Systemmodelle sind nicht zu verzeichnen. Und doch schälen sich einige Schwerpunkte der Arbeit an und mit der Systemtheorie deutlicher und, wenn ich das so sagen darf, unaufgeregter heraus als noch vor zehn Jahren. Das gilt zum einen für die bereits von Niklas Luhmann formulierte Vermutung, dass die Systemtheorie dank ihrer Rezeption der Laws of Form von George Spencer-Brown eine noch allgemeinere Analyseebene erreicht, auf der die System/Umwelt-Unterscheidung nur ein Fall jener „nur einseitig verwendbaren Zweiseitenformen“ ist, für die es auch andere Fälle gibt, etwa die Unterscheidungen von Zeichen und Bezeichnetem oder von Ding und Medium (Luhmann 2002, S. 76). Luhmanns Buch Die Gesellschaft der Gesellschaft, dem Lars Qvortrup in der vorliegenden Auflage einen Kommentar widmet, ist dafür das nach wie vor wegweisende Beispiel. Die Systemtheorie kann nur gewinnen, wenn sie „Komplexität als Formprinzip“ (Helmut Willke, in diesem Band) ernst nimmt und mit anderen Strängen der Komplexitätsforschung sowie anderen Formen von Differenztheorien in Verbindung setzt. Zum anderen hat nicht zuletzt die nach wie vor intensive Auseinandersetzung der Managementlehre und Organisationswissenschaft mit der Systemtheorie (siehe nur Wimmer/Meissner/Wolf 2009) dazu geführt, dass zumindest

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Vorwort zur zweiten Auflage

die hier vertretenen Versionen der Systemtheorie eher noch vorsichtiger in ihrem Anspruch geworden sind, Systeme modellieren und simulieren zu können. Die Systemtheorie ist immer noch genug Kybernetik, um nach wie vor davon fasziniert zu sein, Systeme auch bauen und auch zum Laufen bringen zu können. Und sie ist genug Kybernetik zweiter Ordnung, um sich immer wieder auf die Position zurückzunehmen, dass den untersuchten Systemen ihre Selbstorganisation und Autopoiesis wesentlich besser gelingt, als es je ein Beobachter wird nachzeichnen können. Man will die Systeme rechnen sehen, wenn man ein Systemtheoretiker ist. Und doch ist die gegenwärtige Stimmung der Systemtheorie eher dadurch gekennzeichnet, dass man den eigenen Rechnungen, nicht zuletzt jenen im Medium des Texts, auf die Spur kommen möchte, um sie als Paradigma formulieren zu können, das es erlaubt, Systeme nicht zu modellieren und zu simulieren, sondern zu ihnen und in ihnen hinreichend komplexe Beobachterpositionen aufbauen zu können. Nach wie vor ist es die konstituierende Paradoxie der Systemtheorie in den hier vorliegenden Fassungen, die Selbstreferenz des Gegenstands zu postulieren. Aber auch hier ist man vorsichtiger geworden. Das Axiom Luhmanns, dessen „Überlegungen“ in Soziale Systeme: Grundriß einer allgemeinen Theorie davon ausgingen, „dass es Systeme gibt“ (1984, S. 30) und dass zu diesen nicht nur soziale, sondern auch selbstreferentiell soziale Systeme gehören, wird in der empirischen Arbeit der soziologischen Systemtheorie nach wie vor verfolgt, doch treten daneben andere Versionen der Selbstreferenz, die nicht darauf warten, irgendwann im Gegenstand auf den Beobachter zu stoßen, der diesen Gegenstand untersucht (so die Empfehlung Luhmanns ebd., S. 30 f.), sondern den Beobachter von Anfang an nicht aus dem Blick lassen. „The self is the whole space including the mark and the observer. But the mark points, in the first place, to its own location, and in this process becomes a locus of reference. The mark refers to itself. The whole refers to itself through the mark,“ schreibt Louis H. Kauffman (1987, S. 53). Es sind daher auch hier, wie in der Managementlehre, die Markierungen, die der Beobachter selber setzt, an denen alle weiteren Beobachtungen ansetzen. Was also ist der Gegenstand einer Systemtheorie, die die Selbstreferenz als Referenz des Ganzen anhand einer Markierung auf sich selbst zu denken und dann auch zu beobachten sucht? Vielleicht lohnt es sich hier, nicht paradox, sondern dialektisch weiterzudenken. Wesentliche Anregungen dazu verdanken sich interessanterweise nicht der russischen (oder soll man sagen: sowjetischen?) Rezeption der Systemtheorie (siehe den Kommentar von Günter Ropohl in diesem Band zur Systems Theory von Igor V. Blauberg, Vadim N. Sadovsky und Erik G. Yudin), sondern den Arbeiten zu einer mehrwertigen

Vorwort zur zweiten Auflage

XI

Logik von Gotthard Günther, die von einer unter dem kollektiven Pseudonym „Kurt Klagenfurt“ publizierenden Gruppe von Wissenschaftlern aufgenommen worden sind. Selbstreferenz, so schlägt Günther unter dem Titel „Subjektivität“ vor, ist formal-logisch nichts anderes als die Rejektion beliebiger Wertalternativen (Günther 1976, S. 230), die in dem Moment, in dem sie sich reproduzieren will, nichts anderes als ein neues System, eine neue Kontextur, werden kann. Das aber heißt, dass Selbstreferenz zum Grundbegriff einer Differenz und damit Verteiltheit von Systemen wird, die in sich logisch zweiwertig, jedoch unter sich nur logisch mehrwertig formuliert werden können. Das führt zur Logik einer Polykontexturalität und zur Modellierung heterarchischer Bezüge in und zwischen Systemen. Ein System ist dann in der Tat nicht mehr als positives Subjekt, sondern nur noch als „negative Objektivität“ zu verstehen, wie es Theodor W. Adorno (1973, S. 31) vorgeschlagen hat. Das Selbst der Selbstreferenz ist die Voraussetzung und das Resultat einer Bezugnahme auf etwas im Kontext der Ablehnung von etwas anderem. Nicht mehr und nicht weniger; Husserls Intention, Günthers Subjektivität. In diesem Sinne bemüht sich die vorliegende 2. Auflage der Schlüsselwerke der Systemtheorie um eine weitere Schließung auf höherem Niveau, nämlich um eine Öffnung gegenüber der Mathematik (siehe den Beitrag von Louis H. Kauffman zur mengentheoretischen Formalisierung der Systemtheorie durch Mihajlo D. Mesarovic und Yasuhiko Takahara und den Beitrag von Klaus Mainzer zu Entwicklungen von Ideen zur Dynamik komplexer Systeme im Anschluss an Jay W. Forrester), den Kognitionswissenschaften (siehe Maren Lehmann und Athanasios Karafillidis zu zwei Büchern von Francisco J. Varela) und der Managementlehre (siehe die Beiträge von Werner Ulrich, Stefan Hetzler, Markus Schwaninger, Rudi Wimmer und Frank Stowell zu Schlüsselwerken von C. West Churchman, Stafford Beer, Hans Ulrich, Fredmund Malik und Peter Checkland). Letztere, um dies zu wiederholen, ist weit davon entfernt, eine bloße „Anwendung“ systemtheoretischer Einsichten zu sein. Vielmehr führt sie diese Einsichten laufend an die Grenze ihrer eigenen Möglichkeiten und ist damit ein unverzichtbares Moment der Erprobung und Bestätigung des Systembegriffs als eines Reflexionsbegriffs im Sinne Kants. Der Gegenstand der Systemtheorie ist eine Heterarchie verteilter und vermittelter Operationen in und zwischen Systemen. Jeder Begriff der Systemtheorie ist eine Reflexion im Medium der Sprache, des Denkens und der Beobachtung auf eine prälogische und mathematisch anspruchsvolle Ebene der Vernetzung selbstreferentieller Operationen.

XII

Vorwort zur zweiten Auflage

Der Fokus auf dem Problembegriff der Selbstreferenz, dem auch diese zweite Auflage der Schlüsselwerke der Systemtheorie treu bleibt, bedeutet damit erneut, dass zahlreiche Varianten einer eher ingenieurwissenschaftlichen und elektrotechnischen Systemtheorie ebenso ausgeblendet bleiben wie Ansätze zu systemtheoretischen Modellierungen und Simulationen. Diese Ausblendung ist zum einen ein Eingeständnis des Umstands der Sprachlosigkeit zwischen Varianten der Systemtheorie, die in einem unterschiedlichen Ausmaß auf die Selbstreferenz der Beobachtung reflektieren, und zum anderen Absicht: die Absicht einer Rejektion, die eine künftige Transjunktion zwischen diesen Varianten nicht etwa ausschließt, sondern einschließt. Ebenso bleiben zahlreiche Schlüsselwerte ausgeblendet, die man in eher therapeutischen Arbeiten mit der Systemtheorie finden könnte. Auch das ist Absicht. Paul Watzlawicks, Janet H. Beavins und Don D. Jacksons (1969, S. 66 f.) Hinweis darauf, dass Analogiekommunikation (im Gegensatz zur Digitalkommunikation) Kommunikation im Medium von Widersprüchen ist, hat zwar das Systemverständnis von Therapeuten nachhaltig prägen können, wartet jedoch in der allgemeinen und soziologischen Systemtheorie (von der ingenieurwissenschaftlichen zu schweigen) nach wie vor auf eine angemessene Konzeptionalisierung (siehe jedoch die Beiträge von Fritz B. Simon, Urs Stäheli und Jean Clam in diesem Band). Die vorliegende zweite Auflage der Schlüsselwerke der Systemtheorie bemüht sich somit darum, einige, aber längst nicht alle Lücken zu schließen, die die erste Auflage aufwies. Vielleicht jedoch gelingt es dieser zweiten Auflage, die Lücken auffälliger und somit für weiterführende Anschlüsse attraktiv zu machen. Demselben Zweck dient der Versuch, die strikt chronologische Ordnung der Beiträge in der ersten Auflage um eine eher systematische Ordnung zu ergänzen. Die Wurzeln der Systemtheorie in der Kybernetik, die Herausforderung durch den Begriff der Kommunikation, die wegweisenden Ideen der Selbstorganisation und Autopoiesis, die Arbeit an den mathematischen und logischen Grundlagen der Systemtheorie und die beiden wichtigsten Anwendungsfelder im Management (und Design) und in der Soziologie (und Politikwissenschaft) sind nun deutlich voneinander unterschieden und können somit in ihrem Bezug aufeinander besser studiert werden. Für die Anregung zu dieser zweiten Auflage der Schlüsselwerke der Systemtheorie danke ich Dr. Cori Antonia Mackrodt im Lektorat von VS Springer und für eine Liste zahlreicher Druckfehler in der ersten Auflage Rudi Sander. Gewidmet ist dieser Band all denen, die sich von den hier versammelten Kommentaren dazu anregen lassen, ihr eigenes Systemmodell zu formulieren. Dirk Baecker

Vorwort zur zweiten Auflage

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Literatur Adorno, Theodor W. (1976): Negative Dialektik. Gesammelte Schriften, Bd. 6, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Günther, Gotthard (1976): Das metaphysische Problem einer Formalisierung der transzendental-dialektischen Logik: Unter besonderer Berücksichtigung der Logik Hegels, in: ders., Beiträge zur Grundlegung einer operationsfähigen Dialektik, Bd. 1, Hamburg: Meiner, S. 189–247. Kauffman, Louis H. (1987): Self-Reference and Recursive Forms, in: Journal of Social and Biological Structures: Studies in Human Sociobiology 10, Heft 1, S. 53–72. Luhmann, Niklas (1984): Soziale Systeme: Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Luhmann, Niklas (2002): Einführung in die Systemtheorie, Heidelberg: Carl Auer. Watzlawick, Paul, Janet H. Beavin und Don D. Jackson (1969): Menschliche Kommunikation: Formen, Störungen, Paradoxien, Bern: Huber. Wimmer, Rudolf, Jens O. Meissner, Patricia Wolf (Hrsg.) (2009): Praktische Organisationswissenschaft: Lehrbuch für Studium und Beruf, 2. überarb. und erw. Aufl., 2014.

Inhaltsverzeichnis

Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Dirk Baecker Kybernetik Automaten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Rudolf Stichweh Die Umwelt als Element des Systems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Dirk Baecker Lernen ist Interaktion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 Ranulph Glanville Gehirnmaschinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 Dirk Rustemeyer Strategies Beyond Systems. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 Gerard de Zeeuw Eine kybernetische Systemtheorie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 Wolfram Lutterer Ganzheit und Teile – Paradoxie oder Dialektik?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 Günter Ropohl Die Beobachtung der Kybernetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 Elena Esposito Selbstbeobachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Bernard Scott XV

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Inhaltsverzeichnis

Kommunikation Im Netzwerk der Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Fritz B. Simon Kommunikation als Selektion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Dirk Baecker Auf der Spur der Double Binds. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Urs Stäheli Das Selbst als Phantasma. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Werner Vogd Kopplungen und ihre Folgen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Torsten Groth Selbstorganisation und Autopoiesis Die Einheit als Unterschied . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Giancarlo Corsi Die In-formation der Autopoiesis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 Christina Weiss Komplexität durch Rauschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 Jacques Miermont Das Prinzip der Autopoiesis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Wolfgang Krohn und Holk Cruse Kognition, heterodox . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 Maren Lehmann Unmittelbares Handeln und die Sensomotorik der Situation. . . . . . . . . . . 241 Athanasios Karafillidis Lynn Margulis, Autopoietic Gaia, and the Novacene . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 Bruce Clarke Mathematik und Logik Die Mathematik und andere Kurzsprachen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 Loet Leydesdorff

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Das Prinzip der Unterscheidung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 Louis H. Kauffman Menschliche Problemlöser und programmierte Computer: zwei Spezies der derselben Gattung?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 Fritz B. Simon Dynamics in Terms of Differential Equations and Recursions. . . . . . . . . . 321 Louis H. Kauffman Mit dem Weltgeist rechnen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 David Köpf Complex Systems, Nonlinear Dynamics, and Local Activity Principle. . . . 339 Klaus Mainzer Management und Design Bausteine zu einer Designwissenschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 Norbert Bolz Forschende Systeme. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371 Werner Ulrich Bauplan für komplexe Organisationen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379 Sebastian Hetzler Komplexität verlangt Übung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397 Rudolf Wimmer Soft, not Vague. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411 Frank Stowell Das größere Ganze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 441 Markus Schwaninger Literatur und Künste Startschuss einer systemtheoretischen Literaturwissenschaft. . . . . . . . . . 455 Christine Magerski Die Leidener Schule der literaturwissenschaftlichen Systemtheorie. . . . . 465 Natalie Binczek

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Schrift als Supplement von Kommunikation – und umgekehrt. . . . . . . . . 475 Claus-Michael Ort Die Entdeckung der Humanmedien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 489 Michael Hutter A Mellow Synthesis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 497 Henry Sussman Soziologie (und Politikwissenschaft) Handlung ist System. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 517 Stephan Fuchs Die Intelligenzfunktion der Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 521 Mathias Albert und Jochen Walter Die Zentralität des Paradoxen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 533 Jean Clam Komplexität als Formprinzip. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 545 Helmut Willke Telescopes and Microscopes. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 565 Stan Rifkin Doppelte Synthese. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 573 Helmut Willke The Meaning of Society . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 581 Lars Qvortrup Observing Cultures. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 599 Maren Lehmann Creatio ex nihilo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 609 Dirk Baecker Erfahrung und Unbestimmtheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 615 Dirk Baecker

Herausgeber- und Autorenverzeichnis

Über die Herausgeber Dirk Baecker, Professor für Kulturtheorie und Management an der Universität Witten/Herdecke. Arbeitsschwerpunkte: allgemeine Soziologie, soziologische Theorie, Kulturtheorie, Organisationsforschung und Managementlehre. Jüngere Veröffentlichungen: Kulturkalkül (2014), Wozu Theorie? Aufsätze (2016), Produktkalkül (2017), 4.0 oder Die Lücke die der Rechner lässt (2018), Intelligenz, künstlich und komplex (2019).

Autorenverzeichnis Mathias Albert  Bielefeld, Deutschland, E-Mail: [email protected] Dirk Baecker  Dresden, Deutschland, E-Mail: [email protected] Natalie Binczek  Köln, Deutschland, E-Mail: [email protected] Norbert Bolz  Berlin, Deutschland, E-Mail: [email protected] Jean Clam  Paris, Frankreich, E-Mail: [email protected] Bruce Clarke  Lubbock, TX, USA, E-Mail: [email protected] Giancarlo Corsi  Reggio Emilia, Italien, E-Mail: [email protected] Holk Cruse  Bielefeld, Deutschland, E-Mail: [email protected] XIX

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Gerard de Zeeuw  Lincoln, UK, E-Mail: [email protected] Elena Esposito  Bielefeld, Deutschland, E-Mail: [email protected] Stephan Fuchs  Charlottesville, VA, USA, E-Mail: [email protected] Ranulph Glanville  London, Großbritannien Torsten Groth  Münster, Deutschland, E-Mail: [email protected] Sebastian Hetzler  Bensheim, Deutschland, E-Mail: [email protected] Michael Hutter  Berlin, Deutschland, E-Mail: [email protected] Athanasios Karafillidis Helmut-Schmidt-Universität, Hamburg, Deutschland, E-Mail: [email protected] Louis H. Kauffman  Chicago, IL, Vereinigte Staaten von Amerika, E-Mail: [email protected] Wolfgang Krohn  Bielefeld, Deutschland, E-Mail: [email protected] David Köpf  München, Deutschland, E-Mail: [email protected] Maren Lehmann  Friedrichshafen, Deutschland, E-Mail: [email protected] Loet Leydesdorff  Amsterdam, Niederlande, E-Mail: [email protected] Wolfram Lutterer  Luzern, Schweiz, E-Mail: [email protected] Christine Magerski  Zagreb, Kroatien, E-Mail: [email protected] Klaus Mainzer  Munich, Germany, E-Mail: [email protected] Jacques Miermont  Paris, Frankreich Claus-Michael Ort  Kiel, Deutschland, E-Mail: [email protected] Lars Qvortrup  Copenhagen, Dänemark, E-Mail: [email protected] Stan Rifkin  Reston, VA, USA, E-Mail: [email protected] Günter Ropohl  Karlsruhe, Deutschland, E-Mail: [email protected] Dirk Rustemeyer  Trier, Deutschland, E-Mail: [email protected] Markus Schwaninger  St. Gallen, Schweiz, E-Mail: [email protected]

Herausgeber- und Autorenverzeichnis

Bernard Scott  Lincolnshire, Großbritannien, E-Mail: [email protected] Fritz B. Simon  Berlin, Deutschland, E-Mail: [email protected] Rudolf Stichweh  Bonn, Deutschland, E-Mail: [email protected] Urs Stäheli  Hamburg, Deutschland, E-Mail: [email protected] Frank Stowell  Portsmouth, UK, E-Mail: [email protected] Henry Sussman  New York, USA, E-Mail: [email protected] Werner Ulrich  Bern, Schweiz, E-Mail: [email protected] Werner Vogd  Witten, Deutschland, E-Mail: [email protected] Jochen Walter  Bielefeld, Deutschland Christina Weiss  Darmstadt, Deutschland, E-Mail: [email protected] Helmut Willke  Pulheim, Deutschland, E-Mail: [email protected] Rudolf Wimmer  Wien, Österreich, E-Mail: [email protected]

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Einleitung Dirk Baecker

Zuweilen hat man den Eindruck, dass sich die Systemtheorie im deutschsprachigen Wissenschaftsraum nach wie vor eines gewissen Zuspruchs erfreut, außerhalb dieses Raumes jedoch zunehmend in Vergessenheit gerät. Einen Systemtheoretiker kann das nicht wirklich erschüttern, weil er um die von Peter Fuchs in seinem Buch Die Metapher des Systems (2001) wieder nachgewiesene jahrhundertealte Untergründigkeit systemtheoretischen Denkens weiß. Seit Hippokrates versucht man, die Produktion und Variation von Ordnung in Pflanzen, Tieren, Göttern und Menschen als eine Form der Auseinandersetzung mit einer Umwelt zu lesen, die ihrerseits nicht determiniert, welche Ordnung möglich ist, sondern Probleme stellt, die vom „Organismus“, wie man dann bald sagen wird, immer wieder neu, prekär und vorläufig zu lösen sind. Mit dieser Denkfigur hat sich die Systemtheorie oder das, was man ihr zurechnen kann, jedoch von Anfang an zwischen alle Stühle gesetzt. Weder ist sie bereit, das rationalisierende Programm einer Wissenschaft zu unterschreiben, die bald nur noch Fragestellungen gelten lässt, die ein Phänomen auf seine Ursachen und Wirkungen hin beschreiben, noch teilt sie die Vorlieben der Magie, die mit Göttern und Geistern verkehrt, ohne sich um die Beschreibung von Mechanismen zu kümmern, die diesem Verkehr zugrunde liegen. Trotzdem ist sie Wissenschaft, rationalisierende Unterscheidung von Problemstellung und Problemlösung, und Magie zugleich, nämlich eine Praxis, die davon ausgeht, dass man nicht wissen kann, was man wissen müsste, wenn man sich auf sie, die Praxis, einlässt. Damit ist die Systemtheorie Wissenschaft genau dort, wo diese erkenntnistheoretisch über sich aufgeklärt ist, aber nicht dort, wo diese behauptet, über D. Baecker (*)  Dresden, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 D. Baecker (Hrsg.), Schlüsselwerke der Systemtheorie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30633-5_1

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einen privilegierten Zugang zum Wissen zu verfügen, der anderen verschlossen ist. Die Systemtheorie eignet sich nicht dazu, anderen das Wort zu verbieten. Im Gegenteil, sie ist auf nichts neugieriger als auf das Wort der anderen. Alfred North Whitehead hat in seinen Vorlesungen über Process and Reality (1929) die europäische Philosophie seit Platon als eine „Philosophie des Organismus“ beschrieben, die sich um die Frage dreht, wie das, was der Organismus nicht ist (seine „Umwelt“, wie man allerdings erst seit dem 19. Jahrhundert sagt), an dem teilhat, was er ist. Seit Platon wurde diese Frage in der Terminologie des Aktuellen und des Potentiellen gestellt. Die Systemtheorie oder das, was man ihr zurechnen kann, hat der Versuchung, an dieser Stelle Götter, Geister und andere Transzendenzen (Natur, Schicksal, Geschichte, Fortschritt, Dekadenz) ins Spiel zu bringen, immer widerstanden. Sie fragt stattdessen danach, wie sich das, was etwas ist, von dem abgrenzen lässt, was es nicht ist, und fragt danach, wie Grenzen funktionieren können müssen, wenn sie auf diese Art und Weise undurchlässig und durchlässig zugleich sein müssen, um es einem Organismus zu ermöglichen, sich zu reproduzieren, ohne sich in seiner Umwelt zu verlieren. Für sie gibt es kein Drittes, auf das man sich berufen könnte, damit getrennt bleibt, was getrennt ist. Der Organismus muss für sich selber sorgen. Aber er kann das nur, indem er sich auf eine Welt verlässt, von der er nichts wissen kann. Für die Systemtheorie steckt die ganze Magie im Organismus selber. Sie verwandelt die Welt und ihren Beobachter in eine Black Box, nur um keine Chance auszulassen, den Mechanismen dieses Organismus auf die Spur zu kommen. Die Welt der Ursachen, Kräfte und Wirkungen gilt ihr demgegenüber als ein bloßes Schattenreich, auf das sich beschränkt, wer vom Wunder nichts ahnt und nichts wissen will. Sie spricht von Systemen, Umwelten, Rückkopplungen, Selbstreferenzen, Tautologien und Paradoxien, nur um die Anzahl der Denkfiguren zu erhöhen, in denen sich jene Ereignisse verfangen, auf die es ankommt, wenn man wissen will, was man nicht wissen kann, nämlich wie sich immer wieder erneuert, was unsere Welt ausmacht. Ihr gilt die Magie, daran erinnerte Heinz von Foerster immer wieder (siehe nur von Foerster 1999), als der radikale Versuch, immer wieder den Rückschluss auf den Magier zu erzwingen und so über beide etwas zu lernen, über die Welt, die er verändert, und über die Techniken, die er dazu verwendet. Das muss den rationalen Wissenschaftler stören, dem es als Ehrensache gilt, sich herauszuhalten und die Welt von sich aus zum Sprechen zu bringen, als hätte nicht auch Immanuel Kant darauf hingewiesen, dass die Natur nur die Fragen beantwortet, die wir ihr stellen. Deswegen taucht die Systemtheorie nur ab und an auf, und zieht es meist bald schon wieder vor sich zurückzuziehen. Sie beobachtet den Punkt der Differenz zwischen Beobachter und Welt, und das hält man nicht lange durch.

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Der vorliegende Band hat es mit dem Glücksfall zu tun, dass zwischen den 40er und 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts dieser Typ von Systemtheorie außerordentlich fruchtbar wurde. Es erschien eine ganze Reihe von „Schlüsselwerken“, in denen man für einen Moment den Eindruck haben konnte, dass die Systemtheorie zum theoretischen und methodischen Zentrum eines neuen Typs von Wissenschaft werden konnte, die vom ungeahnten Erfolg der Neurophysiologie ebenso profitierte wie vom Schock des 2. Weltkriegs, vom Auftauchen des Computers und vom geistigen Klima der 1960er Jahre. Das ist inzwischen wieder vorbei, die Systemtheorie hat die Konkurrenz um Lehrstühle, Forschungsmittel und Verlagsprogramme gegen die Kognitionswissenschaften, an deren Grundlegung sie mitgearbeitet hatte, weitgehend verloren, aber noch sind ihre Spuren nicht alle getilgt. Wie kam es zu dieser immerhin vierzigjährigen Erfolgsgeschichte, die in ihren wesentlichen Konzepten und Ideen eine Vorgeschichte hat, die bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts, bis in die Forschungen des französischen Physiologen und Arztes Claude Bernard („milieu interne“) und des deutschen Physiologen Johannes Peter Müller („Gesetz von der spezifischen Energie der Sinnessubstanzen“), zurückreicht? Sicherlich spielen weltanschauliche Motive eine große Rolle. In den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts, darüber berichtet Klaus Müller in seiner Allgemeinen Systemtheorie (1996), bot das systemtheoretische Denken in der Auseinandersetzung mit der Biologie inklusive Charles Darwins Evolutionstheorie eine willkommene Möglichkeit, dem aus der Kontrolle geratenen Rationalisierungsprozess der Moderne etwas entgegenzusetzen. Und in den 30er und 40er Jahren desselben Jahrhunderts war die Systemtheorie die einzige Theorie, die sowohl mit den neuen Technologien der Informationsverarbeitung (neue Rechenkapazitäten) als auch mit der Katastrophe des politischen Totalitarismus (Eigendynamik sozialer Systeme) umgehen zu können schien. Beides zusammen, inklusive eines mit seinem Sieg über den Faschismus für einen Moment hoffähig gewordenen Sozialismus (als optimistisches, an Vernunftreligionen anknüpfendes Programm der Gestaltung von Gesellschaft), begünstigte den Erfolg systemtheoretischer Forschungsprogramme, die in den Jahren zwischen 1940 und 1970 eine faszinierende Idee nach der nächsten hervorbrachten. Aber als Edgar Morin und Niklas Luhmann begannen, diese Ideen auch in den Sozialwissenschaften fruchtbar zu machen, um so nicht zuletzt das Werk von Talcott Parsons fortzuführen, war es schon fast wieder vorbei. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt gibt es weltweit eine riesige Szene „systemischer“ Therapie und Beratung und an einigen Universitäten kleine Zirkel unverdrossener Systemtheoretiker, doch spielt die Systemtheorie wissenschaftlich kaum noch eine Rolle. Biologische und soziologische Forschungsergebnisse,

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die im Rahmen systemtheoretischer Arbeiten gewonnen worden sind, werden aus ihrem theoretischen Rahmen herausgelöst und in andere Forschungsprogramme aufgenommen, soweit man glaubt, sie brauchen zu können. Die Erkenntnistheorie wird vergessen, der Versuch der Formulierung einer allgemeinen Systemtheorie, die mit den Erkenntnissen der Einzelwissenschaften Schritt hält und sich aus diesen immer wieder aufs Neue nährt, mit wenigen Ausnahmen, die typischerweise in der Mathematik liegen (Kunihiko Kaneko in Japan, Louis H. Kauffman in den USA), aufgegeben. Es wird still um die Systemtheorie. Die vorliegende Sammlung von Kommentaren zu einigen Schlüsselwerken der Systemtheorie kann und will diese Situation nicht korrigieren. Eine solche Korrektur ist nicht Sache von Publikationen. Der Wind müsste sich drehen, und davon ist gegenwärtig nichts zu spüren. Im Moment kann ein Buch wie das vorliegende nur eine archivarische Rolle spielen. Es versammelt einige Werke, die zwischen 1948 und 1988 zu den kanonischen Werken der Systemtheorie zählten. Und es versammelt Autoren mit ihren Kommentaren zu diesen Werken, die die Hoffnung noch nicht aufgegeben haben und mit ihrer eigenen systemtheoretischen Arbeit das evolutionäre Potential der Wissenschaft bereichern. Studiert man diese Schlüsseltexte und die Kommentare zu ihnen, so fallen einige Kernfragen und Grundideen auf, die immer wieder eine Rolle spielen, wenn systemtheoretisches Denken formuliert wird. Wir greifen diese Kernfragen und Grundideen hier für das Archiv noch einmal der Reihe nach und unvollständig auf: Hierbei handelt es sich erstens um die Idee der Kommunikation: Wie wäre es, so fragen Systemtheoretiker, wenn wir dem Begriff der Kommunikation einen ähnlichen Grundlagenstatus einräumen wie dem Begriff der Kausalität und dementsprechend davon ausgehen, dass Phänomene aller Art nicht nur als Relation von Ursache und Wirkung bestimmt, sondern auch als Relation von Unbestimmtheit und Bestimmtheit beschrieben werden können, so wie eine Kommunikation sagt, was sie sagt, und dabei offen lässt, was anschließend gesagt wird? Es handelt sich zweitens um die Idee, dass Natur und Gesellschaft mehr miteinander gemeinsam haben, als sogar der Begriff des Geistes sich hat träumen lassen: Wie wäre es, so fragen Systemtheoretiker, wenn wir beginnen würden, uns eine Sozialtheorie der Physik, Chemie, Biologie, vielleicht sogar Mathematik vorzustellen und gleichzeitig an einer Naturwissenschaft des Bewusstseins und der Gesellschaft arbeiten würden? Francisco J. Varela war auf dieser Spur am weitesten gekommen, bevor er sich, aber vielleicht gehörte das dazu, auf seine Gespräche mit dem Dalai Lama einließ und bevor er viel zu früh starb. Auf dieser Spur jedenfalls setzt die Systemtheorie die größten Kränkungen des Menschen frei, insofern sie nicht daran denkt, den Subjektstatus, den die Philosophie dem

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(transzendental verankerten) Bewusstsein des Menschen reserviert, anderen Objekten: Tieren, Pflanzen, Maschinen und Aschenbechern, vorzuenthalten. Es handelt sich drittens um die Idee der Differenz, die von Gregory Bateson und dann von George Spencer-Brown, und mit deutlichem Anklang an buddhistische Ideen, als Zusammenhang des Unterschiedenen formuliert wird: Wie wäre es, so fragen Systemtheoretiker, wenn wir beginnen würden, womit wir praktisch immer schon begonnen haben, nämlich jeden Einschluss zugleich als Ausschluss und damit als Wiedereinschluss des Ausgeschlossenen zu denken? Ist das nicht eine Denkfigur, die sich dabei bewähren könnte, die Arbeit eines Immunsystems, die Dynamik einer Ehe oder die Architektur einer Theorie besser zu verstehen, als wenn man von der Bauklötzchenwelt mit sich identischer und dann nur noch zu addierender und miteinander zu integrierender Elemente ausgeht? Sollte man nicht, um unsere Welt zu verstehen und zu beschreiben, eher von einer Logik der Kontamination und Infektion, von einer Logik des Parasitären, Vernetzten und Verschränkten ausgehen als von einer Logik einer sauberen linearen und kategorialen Ordnung? Viertens handelt es sich um den insbesondere von Heinz von Foerster ausgearbeiteten, aber auch für andere Systemtheoretiker paradigmatischen Versuch, ein Denken in Kategorien der Ontologie, der Seinskunde, durch ein Denken in Kategorien der Ontogenetik, des Entstehens von Seiendem, zu ergänzen, wenn nicht zu ersetzen. Das führt zurück auf Optionen, die von Aristoteles bis Hegel und darüber hinaus im abendländischen Denken angelegt sind, gleichzeitig jedoch Kontakt aufnehmen mit asiatischen Philosophien ebenso wie mit einem letztlich demokratischen Denken, das weltweit eher auf die Öffnung von Entwicklungsoptionen als auf den Abschluss einer so und nicht anders vorzunehmenden Beschreibung zielt. Wie wäre es, so fragen Systemtheoretiker, wenn wir beginnen würden, jedes Phänomen weniger im Hinblick auf seinen Ursprung und sein Wesen festzunageln als vielmehr im Hinblick auf die offene Frage zu begleiten, wie es bleibt, was es ist, indem es wird, was es noch nicht ist? Fünftens handelt es sich um die Einführung einer Figur, für die wiederum niemand verantwortlicher zu machen ist als Heinz von Foerster, nämlich die Figur des Beobachters, von der die bisherige Wissenschaft kaum sprach, obwohl es ohne diese Figur nie eine Wissenschaft gegeben hätte. Humberto R. Maturana hat diese Figur in die Form eines Theorems gebracht: „Alles was gesagt wird, wird von einem Beobachter gesagt.“ Und von Foerster hat ergänzt: „Alles was gesagt wird, wird zu einem Beobachter gesagt.“ Interessanterweise wird diese Figur in demselben Moment entdeckt und entwickelt, in dem das Problem der Komplexität unabweisbar wird: Es gibt Sachverhalte, so beschreibt dies Warren Weaver in seinem Aufsatz „Science and Complexity“ (1948), die sich weder einer

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kausalen noch einer statistischen Beschreibung fügen, weil sie weder aus einer sehr kleinen Zahl (drei bis vier) von Variablen noch aus einer Vielzahl homogener Elemente, sondern aus einer größeren Zahl heterogener Elemente bestehen. In diesem Fall entdeckt sich der Beobachter als überfordert und führt die Idee der Selbstorganisation ein, die einen Ausgangspunkt dafür liefert, der Art und Weise auf die Spur zu kommen, wie sich das Phänomen unter Umständen selbst versteht, auch wenn es der Beobachter nicht versteht. Im selben Moment,in dem der Beobachter sich entdeckt und sich seine Grenzen und blinden Flecken eingesteht, wird Beobachtung zum Gegenstandsbegriff, mig denselben Einschränkungen. Beobachtung wird zum Komplement einer komplexen, sich selbst organisierenden Welt. Für sie gilt ebenfalls, was sie über die Welt entdeckt: sie ist komplex, das heißt außerstande, sich selbst zu durchschauen, und organisiert auf dieser Grundlage sich selbst. Sechstens handelt es sich um die Idee der Temporalisierung, an der Niklas Luhmann gearbeitet hat und die zum einen eine Konsequenz aus vielen anderen systemtheoretischen Ideen, insbesondere der Idee der Komplexität ist, zum anderen jedoch Überlegungen aufgreift, die von Aristoteles über Hegel und Husserl bis zu Heidegger die Philosophie beschäftigt haben, nämlich die Frage einer möglichen Austauschbarkeit der Grundkategorie des Seins durch die Grundkategorie der Zeit. Bereits W. Ross Ashby hat in seinem für fast alles andere grundlegenden Aufsatz „Requisite Variety and Its Implications for the Control of Complex Systems“ (1958) gezeigt, dass komplexe Systeme durch einen Beobachter nur zu kontrollieren sind, wenn dieser nicht versucht, das System zu verstehen, sondern sich auf einen laufenden Vergleich erwarteter mit tatsächlichen Zuständen konzentriert und auf Abweichungen mit Korrekturen seiner Erwartungen (inklusive ihrer normativen Festschreibung) reagiert. Ashby nennt das „Kontrolle“. Kontrolle wird hier zur Arbeit am eigenen Gedächtnis. Luhmann zieht daraus die Konsequenz, dass Beobachtern angesichts komplexer Systeme nichts anderes übrig bleibt, als sich vorübergehend an vorübergehende Lagen anzupassen. Das jedoch setzt voraus, die Systeme dieser Welt und ihre Beobachter als verzeitlichte Systeme und Beobachter zu denken, die sich auf Ereignisse stützen, während sie sich aus Ereignissen reproduzieren. Das hat, wie man aus der Musik weiß, den doppelten Vorteil, dass sich einerseits hochgradig komplexe Ereignisarchitekturen vorstellen lassen, die andererseits immer wieder auf ein, gerade jetzt stattfindendes Ereignis angewiesen sind, aus dem heraus sie sich vorstellen lassen. Die Schrift einer sich rekursiv und iterativ verändernden Welt, von der Jacques Derrida spricht, nimmt eine Temporalisierung in Anspruch, ohne die es weder eine Sprache gäbe noch der Andere erreichbar wäre. Die Zeit, von der Luhmann spricht, ist keine Zeit, die immer schon (ewig) gegeben ist und uns mit

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ihrer Flüchtigkeit die Chance sowohl gibt als auch wieder entzieht, den Dingen auf die Spur zu kommen, sondern sie ist eine Zeit, die von unseren organischen, psychischen und sozialen Operationen erst als das hervorgebracht wird, was es uns erlaubt, miteinander in Beziehung zu setzen, was keinen anderen Zusammenhang hat als den, dass es gleichzeitig passiert. Siebtens handelt es sich um eine Idee der Kritik, die so nicht mehr formuliert werden kann, weil der Systemtheoretiker gegenüber einem modernen Kritikverständnis skeptisch ist, das es dem Kritiker erlaubt, sich besser zu fühlen, und immer so tut, als gäbe es einen Adressaten der Kritik, der für die kritisierten Missstände verantwortlich ist und sie auch noch abstellen kann, wenn man ihn nur ordentlich zur Verantwortung zieht. Das erscheint dem Systemtheoretiker naiv. Für ihn ist eher das Kritikverständnis Immanuel Kants maßgebend, das Kritik als die anspruchsvolle, Theorie und Methode erfordernde Fähigkeit begriff, sich selbst, dem eigenen Verstand, der eigenen Vernunft, der eigenen Praxis, auf die Spur zu kommen. Wie wäre es, so fragen Systemtheoretiker, wenn wir unser Tun und Handeln, unser Lesen und Schreiben, unser Schauen und Hören, unseren Tanz und unseren Schlaf als Formen der Reflexion begreifen würden, in denen wir uns mit uns bekannt machen und uns ausweichen, die Augen vor uns verschließen zugleich? Wie wäre es, so fragen Systemtheoretiker, wenn wir aus allen anderen Ideen der Systemtheorie die Konsequenz ziehen würden, dass Systeme ein „Medium der Aufklärung“ (Luhmann 1970, S. 76) sind, in dem wir herausfinden, dass wir uns nur auf die Spur kommen können, indem wir ernst nehmen, dass wir über die Umwelt, mit der wir uns auseinandersetzen, nichts wissen? Kritik ist dann die Wiederhineinspiegelung der Differenz von System und Umwelt in das System, das sich dadurch in genau dem Maße zum unbegreifbaren Phänomen wird, in dem es tagtäglich wieder neu zu (re-) produzieren ist (und das „re“ ist hier nur eine Rückversicherung, die Rekursionen ins Spiel bringt, die es auszuhalten erlauben, dass die Zukunft unbekannt ist)? Achtens schließlich handelt es sich um die Idee der Kognition, die in der Systemtheorie zu einem Begriff wird, der es erlaubt, den abstrakten Ausgangspunkt der Beobachtung von Operationen der Unterscheidung (wie ihn niemand radikaler formuliert hat als George Spencer-Brown) in unterschiedlichen Phänomenbereichen zu erproben. Bis heute ist umstritten, was der Systemtheorie hier gelungen ist und was nicht. Interessanterweise behauptet sich der Kognitionsbegriff noch am ehesten dort, wo er wie weiland in Friedrich Nietzsches Aufsatz „Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne“ (1873) die systemtheoretisch eigentlich zu trennenden Bereiche überspringt, das heißt Leistungen behauptet, die jeweils die Differenz des organischen und des psychischen oder des psychischen und des sozialen Systems in Anspruch nehmen.

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Gerhard Roth (2001) und Wolf Singer (2002) zum Beispiel betreiben Kognitionsforschung, indem sie neurophysiologische Leistungen für die Beschreibung psychischer oder gar sozialer Ereignisse in Anspruch nehmen, ohne die Möglichkeit zu testen, Psychisches aus Psychischem oder Soziales aus Sozialem heraus zu erklären. Kognitionsforschung kommt offensichtlich nicht darum herum, systemtheoretische Prämissen umso mehr zu lockern, je ernster sie genommen werden. Es ist das alte Rätsel des Organismus. Man entdeckt Verbindungen und hält diese zurecht für konstitutiv, wo es doch zugleich darum ginge, das Konstituierte, etwa ein Bewusstsein oder eine Kommunikation, auch in ihrem Eigensinn, in ihrer Selbstreferenz, in ihrer Rekursivität und Reflexivität ernst zu nehmen. An dieser Stelle deutet sich an, warum es um die Systemtheorie ausgerechnet dort still geworden ist, wo sie einst ihre wichtigsten Forschungsfelder hatte. Das Paradigma gerät dort an seine Grenzen, wo es dazu zwingt, Unterschiede operativ so genau zu beobachten, dass auffällt, dass die Grenzen, die von Unterscheidungen gezogen werden, zwei Seiten haben Das „Draußen“ ist ein Ergebnis von Operationen, die „drinnen“ stattfinden, auch wenn diese Information anschließend gelöscht werden muss, um das „Draußen“ ernst nehmen zu können. Denn zugleich gäbe es kein „Drinnen“, wenn es kein „Draußen“ gäbe. Dieser Gedanke der Koproduktion von Systemund Umwelt ist für jede genauere Untersuchung des Zusammenhangs von Fühlen, Denken und Handeln höchst instruktiv, vor dem Hintergrund eines ontologischen Denkens aber auch höchst irritierend. Hier liegen neue Forschungsperspektiven der Kognitionswissenschaften, von denen viele von der Forschergruppe unter der Leitung von Heinz von Foerster am Biological Computer Laboratory der University of Illinois, Urbana, zwischen 1956 und 1972 schon einmal aufgegriffen worden sind und die wir heute wiederentdecken sollten, um uns davor zu hüten, allzu schnell zugunsten des Gehirns oder der Sprache oder der Gesellschaft zu asymmetrisieren, was nur gemeinsam den Knoten schnürt, in dem wir stecken. Wenn im vorliegenden Band die Schlüsselwerke der Systemtheorie vorgestellt werden, so handelt es sich dabei um eine selektive und sicherlich auch idiosynkratische Auswahl. Andere Herausgeber hätten eine andere Auswahl getroffen. Das beginnt schon damit, dass es die Systemtheorie nicht gibt, sondern nur viele Systemtheorien, die in der Mathematik, in der Informatik, in der Biologie oder in der Soziologie nicht nur in ihren Anwendungen, sondern auch in ihrer Grundbegrifflichkeit und in ihrer Theoriearchitektur sehr unterschiedlich akzentuiert und formuliert werden. Davon kann man sich rasch überzeugen, wenn man etwa die beiden Bücher Einführung in die Systemtheorie von Niklas Luhmann (2002) und Einführung in die Systemtheorie: Signale und Systeme in der Elektrotechnik

Einleitung

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und Informationstechnik von Bernd Girod, Rudolf Rabenstein und Alexander Stenger (2002) miteinander vergleicht. Im vorliegenden Band geht es um eine Systemtheorie, die darin konsequent ist, dass sie zwischen erkenntnistheoretischen Überlegungen, das heißt der Arbeit an der Theorie, auf der einen Seite, und Beschreibungen komplexer Systeme, das heißt der Arbeit an der Sache, unterscheiden und hin und her wechseln kann zugleich. Das ist zugleich der einzige Grund, warum es legitim ist, dass wir uns hier auf Bücher beschränkt haben, obwohl die Systemtheorie vor allem von Artikeln in einschlägigen und weniger einschlägigen Zeitschriften geprägt worden ist. Denn Bücher zeigen, dass es eine der großen Stärken der Systemtheorie ist, an sich selbst zu arbeiten, während sie zugleich an der Sache, und das heißt hier: an unterschiedlichen Sachen, arbeitet. Wieners Automaten, Ashbys Gehirne, Simons Design, von Foersters Beobachter, Maturanas Organismen, Deutschs Regierung, Varelas Immunsysteme, Luhmanns Gesellschaft oder Glanvilles Objekte sind eben nicht bloß Gegenstände der Systemtheorie, sondern zugleich ihre Autoren, die den jeweiligen Schreiber, wie es bei J.M. Coetzee (2003, S. 199) heißt, zu ihrem Sekretär machen, zum Sekretär des Unsichtbaren. Die vorliegende Auswahl konzentriert sich deswegen auf Bücher, die möglichst präzise ihre eigenen theoretischen Grundlagen herausstellen. Das führt dazu, dass die Theorie selbstreferentieller, autopoietischer Systeme und die Kybernetik zweiter Ordnung im Mittelpunkt stehen, weil andere Systemtheorien die Theorie nicht weiterentwickeln, um sie auf ihre Gegenstände anzuwenden, sondern einschränken. Einschränkungen jedoch führen nicht zu Schlüsselwerken. Um Schlüsselwerke handelt es sich bei allen Büchern, die hier vorgestellt werden, da ausgehend von jedem einzelnen von ihnen eine Systemtheorie entworfen werden kann, die mit allen anderen punktuell inkompatibel ist. Ich danke allen Kommentatoren, die sich für diesen Band bereitgefunden haben, eines der Schlüsselwerke zu kommentieren. Jeden einzelnen habe ich gebeten, sowohl herauszustellen, inwiefern ihr Schlüsselwerk einen Unterschied in einer Systemtheorie macht, die dennoch als gemeinsamer Rahmen verstanden wird, als auch anzudeuten, welche eigenen Forschungsperspektiven sie mit den entsprechenden Anregungen verbinden. Ich überlasse es dem Leser, zu beurteilen, welch ein Gesamtbild der Systemtheorie daraus entsteht, und lade nur dazu ein, jeden theoretischen Ansatz, der hier verhandelt wird, auf die ihm zugrunde liegende und aus ihm möglicherweise resultierende Praxis hin zu beobachten, und dabei nicht aus den Augen zu verlieren, dass die Systemtheorie in ihren besten Momenten ebenso Wissenschaft ist wie Magie, ebenso sehr Lehre wie Forschung und ebenso sehr Dogma wie Kunst.

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Literatur Ashby, W. Ross (1958): Requisite Variety and Its Implications for the Control of Complex Systems, in: Cybernetica 1, Heft 2, S. 83–99. Coetzee, J. M. (2003): Elizabeth Costello: Eight Lessons, London: Vintage. Fuchs, Peter (2001): Die Metapher des Systems: Studien zur allgemein leitenden Frage, wie sich der Tänzer vom Tanz unterscheiden lasse, Weilerswist: Velbrück. Girod, Bernd, Rudolf Rabenstein und Alexander Stenger (2002): Einführung in die Systemtheorie: Signale und Systeme in der Elektrotechnik und Informationstechnik, 2., korr. u. aktual. Aufl., Stuttgart: Teubner. Luhmann, Niklas (1970): Soziologische Aufklärung, in: ders., Soziologische Aufklärung 1: Aufsätze zur Theorie sozialer Systeme, Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 66–91. Luhmann, Niklas (2002): Einführung in die Systemtheorie, hrsg. von Dirk Baecker, Heidelberg: Carl Auer. Müller, Klaus (1996): Allgemeine Systemtheorie: Geschichte, Methodologie und sozialwissenschaftliche Heuristik eines Wissenschaftsprogramms, Opladen: Westdeutscher Verlag. Nietzsche, Friedrich (1873): Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne. Werke III, hrsg. von Karl Schlechta, 6., durchges. Aufl., Frankfurt am Main: Ullstein, S. 309– 322. Roth, Gerhard (2001): Fühlen, Denken, Handeln: Wie das Gehirn unser Verhalten steuert, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Singer, Wolf (2002): Der Beobachter im Gehirn: Essays zur Hirnforschung, Frankfurt am Main: Suhrkamp. von Foerster, Heinz (1999): Über Bewusstsein, Gedächtnis, Sprache, Magie und andere unbegreifliche Alltäglichkeiten, auf: ders., 2 x 2 = grün, 2 CDs, hrsg. von Klaus Sander, CD 2, Köln: supposé Verlag. Weaver, Warren (1948): Science and Complexity, in: American Scientist 36, Heft 4, S. 536–544. Whitehead, Alfred North (1929): Process and Reality: An Essay in Cosmology, korr. Aufl., hrsg. von David Ray Griffin und Donald W. Sherburne, New York: Free Press, 1979.

Dirk Baecker, Professor für Kulturtheorie und Management an der Universität Witten/ Herdecke. Arbeitsschwerpunkte: allgemeine Soziologie, soziologische Theorie, Kulturtheorie, Organisationsforschung und Managementlehre. Jüngere Veröffentlichungen: Kulturkalkül (2014), Wozu Theorie? Aufsätze (2016), Produktkalkül (2017), 4.0 oder Die Lücke die der Rechner lässt (2018), Intelligenz, künstlich und komplex (2019) Wozu Wirtschaft? (2020).

Kybernetik

Automaten Über Norbert Wiener, Cybernetics or Control and Communication in the Animal and the Machine (1948) Rudolf Stichweh Die im Jahr 2001 erschienene International Encyclopedia of the Social & Behavioral Sciences weist auf ihren 16.695 Seiten keinen Artikel über Norbert Wiener auf und – fast noch erstaunlicher – auch einen Artikel über die Kybernetik wird man dort vergeblich suchen (es gibt den Artikel „Cyborg“, aber keinen Artikel „Cybernetics“; in Band 21 schließlich findet man „Sociocybernetics“, ein Artikel, der sich auf die Second-order Cybernetics der Jahre nach 1970 beschränkt: Geyer 2001). Das deutet darauf hin, wie sehr das Buch und die Forschungstradition, die hier der Gegenstand unserer Beobachtung sind, bereits historisch geworden sind, oder, so könnte man den Befund zugespitzt auch lesen, wie sehr sie nicht einmal Teil jener Geschichte sind, die eine repräsentative Enzyklopädie der Sozialwissenschaften glaubt vergegenwärtigen zu müssen. Die Lektüre des Buches von Norbert Wiener bestätigt dieses implizite Urteil nicht. Wieners Buch ist weder eine programmatische noch eine systematische Darstellung der Kybernetik, von der er eingangs sagt, er wolle sie als eine existierende Wissenschaft vorstellen, nicht als etwas, das erst in einer Zukunft entsteht. Das Buch ist eher eine lose organisierte Sammlung von Abhandlungen zu Themen, die in Wieners Forschungsagenda eine Rolle gespielt haben. Man lernt Kybernetik also auch nicht als eine Theorie kennen, die in einer bestimmten Zahl von Lehrsätzen ausgeführt werden könnte. Kybernetik erscheint vielmehr als etwas, das operativ beobachtet werden kann, als Weise des Umgangs mit bestimmten Forschungszusammenhängen. R. Stichweh (*)  Bonn, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 D. Baecker (Hrsg.), Schlüsselwerke der Systemtheorie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30633-5_2

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Einige der Leitbegriffe und Leitthemen aus Wieners Buch werde ich im Folgenden kurz vorstellen und diskutieren. Dies ist ein Versuch, die Hinsichten herauszuarbeiten, in denen mir das Buch Norbert Wieners auch heute noch als Text faszinierend und in manchen Hinsichten erneut anschlussfähig zu sein scheint. Ich benutze die auch gegenwärtig im Handel erhältliche erweiterte Ausgabe von 1961, die seit 1965 als Paperback verfügbar ist. Ein erstes Leitthema betrifft den Zusammenhang und die Vergleichbarkeit von Mensch und Maschine. Der Begriff des Menschen meint hier immer biologische Systeme oder Organismen und die Sinneswahrnehmungen und intellektuellen Leistungen, deren sie fähig sind. Maschinen oder mechano-elektrische Systeme, wie sie Wiener auch nennt, werden unter dem Gesichtspunkt beobachtet, welche dieser biologischen Leistungen sie zu übernehmen imstande sind und wie sie ein möglicherweise ähnliches Resultat auf ganz verschiedenen Wegen verwirklichen können. So wird auf die viel kleinere Größenordnung verwiesen, die lebende Systeme im Vergleich zu mechanischen Realisierungen zu erreichen imstande sind (S. 134). Und es wird im Gegenzug betont, dass die Nutzung elektrischer Techniken künstlichen gegenüber organischen Systemen einen erheblichen Schnelligkeitsvorteil verschafft. Prothesen sind eines der Phänomene an der Grenzfläche von organischen und mechanischen Systemen, die Wiener immer wieder erörtert. Künstliche Ersatzorgane für amputierte Glieder oder akustische Hilfen, die gedruckte Texte für Blinde akustisch verfügbar machen, sind Systeme, die davon abhängen, dass sie die Leistungen organischer Systeme – z. B. die Vielfalt von Sinneswahrnehmungen – zu rekonstruieren imstande sind. Zugleich zeigt sich in der Prominenz dieser Anwendungen in dem Buch von 1948 ein enormer Stimmungswechsel gegenüber Norbert Wieners Arbeitssituation wenige Jahre zuvor. Während Wiener in den Kriegsjahren intensiv an einem sogenannten AA-Prädiktor (antiaircraft predictor) gearbeitet hatte, der für Luftabwehrraketen den antizipierten Flugweg der von ihnen zu treffenden Flugzeuge ausrechnen sollte (siehe dazu ausführlich, aber meinem Eindruck nach zu reduktiv, Galison 2001), wird das Buch von 1948 durch einen antimilitärischen Gestus bestimmt, der offensichtlich auf die Erfahrung der Atombombenabwürfe in Hiroshima und Nagasaki reagiert. Zur sozialen Situierung der neuen Wissenschaft der Kybernetik heißt es zum Beispiel: „We can only hand it over into the world that exists about us, and this is the world of Belsen and Hiroshima“ (S. 28). Wiener empfiehlt jetzt ausdrücklich, sich auf Anwendungen in Physiologie und Psychologie zu konzentrieren, die von Krieg und Exploitation des Menschen gleich weit entfernt sind (S. 28 f.). Peter Galison versucht die Kybernetik in seinem Aufsatz „Die Ontologie des Feindes“ (Galison 2001) gewissermaßen auf die militärischen Arbeiten der ersten Hälfte der vierziger Jahre zurückzuführen und vernachlässigt

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dabei das völlig andere Sozialklima der zweiten Hälfte der vierziger Jahre, in denen die kybernetische Bewegung sich zum Beispiel in der Form der MacyKonferenzen eigentlich erst als Gruppenzusammenhang formiert (siehe dazu gut Heims 1991). Die wichtigste unter den Anwendungen an der Grenzfläche von Mensch (richtiger ist eigentlich Tier, wie es auch der Titel des Buches sagt) und Maschine ist natürlich der Computer. Nervenzellen und Netzwerke von Nervenzellen eignen sich als Paradigma für die strukturelle Organisation eines Computers (S. 4, S. 116 ff.). Wiener legt großes Gewicht auf die Hypothese von McCulloch und Pitts, die in einem Papier von 1943 postuliert haben, dass Nervenzellen nach einem alles-oder-nichts-Prinzip funktionieren (McCulloch/Pitts 1943). Nervenzellen kennen danach nur zwei Aktivitätszustände. Sie befinden sich entweder in einem Zustand der Ruhe oder alternativ in dem Zustand, in dem sie einen Impuls aussenden (firing). Eine solche streng binäre Strukturierung an jedem einzelnen Verzweigungspunkt erscheint als die einfachste Form, ein Netzwerk für die Durchführung langer Ketten numerischer Operationen zu nutzen. Auf diese Weise kann das Vorkommen von Fehlern minimiert werden. Weiterhin müssen um der Geschwindigkeit willen die Verschaltungen elektrisch funktionieren, und es ist schließlich wichtig, dass in einer langen Kette von Operationen nie die Intervention eines Menschen erforderlich wird, dass dieser vielmehr nur für Input und Output zuständig ist. Das ist ein interessantes, gleichsam deduktiv entwickeltes Modell eines Computers, das aus der Analogie zu Nervensystemen heraus skizziert wird. Der abschließende Punkt in der Analyse des Computers betrifft den Speicher, den Norbert Wiener ein Gedächtnis (memory) nennt. Immer wieder betont er die Eigenschaften eines solchen Speichers: er muss schnell aufzeichnen, schnell gelesen werden können und auch schnell wieder gelöscht werden. Dagegen profiliert sich die Eigentümlichkeit des menschlichen Gedächtnisses, das sich dadurch auszeichnet, dass es niemals vollständig gelöscht werden kann. Vielleicht der wichtigste und auch interessanteste Punkt aber ist die These, dass ein Gedächtnis so funktionieren muss, dass die Elemente des Systems, die bei Speichervorgängen verändert werden, zu jenen Elementen gehören sollen, die das laufende Operieren des Systems beeinflussen. Gedächtnis wird also nicht als eine Art Archiv verstanden, auf das man nur in den seltenen Fällen zugreift, in denen einem die retrospektive Klärung eines vergangenen Geschehens wichtig erscheint. Es wird vielmehr als ein operativ unablässig angesprochener Hintergrund allen operativen Geschehens aufgefasst und erweist sich insofern in diesem Verständnis als ein anderer Begriff für das, was andere Wissenschaftler die Struktur eines Systems nennen. Nur ist dies eben eine Struktur, mit Blick auf

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die die Akte des Einlagerns in das Gedächtnis, der Zugriff auf die vorhandenen Abspeicherungen und schließlich die Vorgänge der Löschung deutlicher vor Augen treten als dies üblicherweise in einer Analyse der Fall ist, die sich als Strukturanalyse versteht. Diese Auffassung von Gedächtnis verbindet sich mit dem methodologischen Selbstverständnis von Wiener, der das eigene Vorgehen gern unter den Titel des Behaviorismus subsumiert hat, aber mit Behaviorismus eine Zugangsweise meinte, die das zukünftige Verhalten eines Organismus nicht auf der Basis seiner Struktur zu erforschen versucht, vielmehr früheres Verhalten als Grundlage des Studiums benutzt (vgl. auch Galison 2001, S. 449). Damit wird die Forschung über Gedächtnis für jede Wissenschaft von Systemen zentral, weil sie die Frage betrifft, wie früheres Verhalten in einem Gedächtnis so gespeichert wird, dass es in einer jeweiligen Gegenwart als die entscheidende Verhaltensdeterminante fungieren kann. Die Frage des Gedächtnisses verknüpft sich mit der Theorie der Zeit. Ein System, das gedächtnisgesteuert operiert, konstituiert auf diese Weise eine irreversible Zeit, die nur in eine Richtung gelesen werden kann. Damit unterscheidet es sich von der Newtonischen Situation der vollständigen Reversibilität der Zeit, die uns Wiener wiederholt vor Augen führt und die er an einer Stelle mit Blick auf das astronomische Modell in die schöne Formel kleidet: „The music of the spheres is a palindrome …“ (S. 31). Dies ist aber nur der historische Ausgangspunkt, den Wiener wählt. An einer Reihe von Disziplinen und an einer Pluralität von Systemen führt er in der Folge vor, dass die Newtonischen Prämissen einer Zeit, die indifferent gegenüber der Richtung ist, in die sie gelesen wird, für diese Disziplinen und Systeme nicht zutrifft. Wiener beginnt mit einem Vergleich von Astronomie und Meteorologie als Disziplinen mit konträren epistemologischen Prämissen (S. 30 ff.) und fügt danach zwischen diesen Extremen liegende Beispiele hinzu, wie beispielsweise die strukturelle Kopplung, die die Erde und ihren Mond auf der Basis der Gezeiten miteinander verbindet und die in die Bewegung beider Himmelskörper irreversible Veränderungen ihrer Bahnen einschreibt (S. 35 f.). Evolution und Entropie (Thermodynamik) erweisen sich dann als die beiden Theorien der Mitte des 19. Jahrhunderts, die erstmals verständlich machen, warum die meisten Systeme, mit denen Wissenschaft zu tun hat, nicht-Newtonische Systeme sind. Zu diesen nicht-Newtonischen Systemen zählen selbstverständlich auch Systeme der Kommunikation. Norbert Wiener hat wiederholt das Gedankenexperiment durchgespielt, wie sich zwei intelligente Beobachter zueinander verhalten würden, die sich in der Zeit in entgegengesetzten Richtungen bewegen (S. 34 f.). Zu Recht notiert er, dass die von einem dieser Beobachter ausgesendeten Signale den zweiten Beobachter erst erreichen, wenn dieser die

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logischen Schlussfolgerungen, die der erste Beobachter aus seinen Äußerungen zieht, schon kennt. Der zweite Beobachter würde diese Schlussfolgerungen als Antezedenzbedingungen des beobachteten kommunikativen Signals identifizieren und würde deshalb den ganzen Vorgang als einen natürlichen Verlauf deuten, der im Augenblick der kommunikativen Äußerung plötzlich und unerwartet abbricht. Nichts würde den zweiten Beobachter auf die Idee hinführen, dass der Verursacher des von ihm beobachteten Geschehens intelligent ist und Gleiches gilt für die Deutung, die der erste Beobachter dem Vorgang gibt. Also ist Kommunikation unter diesen Voraussetzungen unmöglich und im Umkehrschluss folgt zwingend: „Within any world with which we can communicate, the direction of time is uniform“ (S. 35). Einwenden könnte man hier nur, dass wir nicht mit einer Welt kommunizieren, dass vielmehr die Uniformität der Zeit eine Welt konstituiert, in der wir und alle anderen verankert sind, die an Kommunikation partizipieren. Eine zweite wichtige Frage betrifft die Materialität von Information und Kommunikation. Wiener beharrt hier auf einer prinzipiellen Unterscheidung von Materie/Energie einerseits und Information andererseits: „Information is information, not matter or energy. No materialism which does not admit this can survive at the present day“ (S. 132). Dies ist eine hierarchische, asymmetrische Unterscheidung, in der der Begriff der Materie zweifach vorkommt und zwar zunächst als jener übergreifende Begriff der Materie, der etwas meint, das sich in zweiter Instanz selbst von Information als seinem Gegenbegriff unterscheidet. Diese Leitunterscheidung von Energie/Materie und Information wendet Wiener so, dass er Systeme vorsieht, die sich durch hohe Energie, aber geringen Informationsgehalt auszeichnen und diesen Typus von Systemen einer zweiten Entität gegenüberstellt (messages), für die es kaum Energie braucht, die aber sehr viel Information enthalten (siehe Wiener 1948a, S. 207 f.). Messages in diesem Sinn eignen sich, um hochenergetische Systeme zu steuern. Talcott Parsons (1968) brauchte diesen Gedanken kaum noch zu verändern, um auf dieser Basis seine kybernetische Hierarchie zu definieren, die er schließlich mit der funktionalen Klassifikation von Subsystemen des Gesellschaftssystems fusionierte und auf diese Weise ganze Sozialsysteme postulierte, die entweder informationsreich oder energiereich sind und die untereinander in Beziehungen der Steuerung mittels Information (control) oder der Ermöglichung durch Ressourcenzuführung (z. B. Energie) stehen. Information und Kommunikation sind die beiden Leitbegriffe, die Wiener der Theorie des Sozialsystems zugrunde legt. Vielleicht ist dies die Hinsicht, in der er unseren gegenwärtigen theoretischen Interessen am nächsten kommt. Information wird zunächst in jenem Verständnis eingeführt, das Wiener mit R.

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A. Fisher und Claude Shannon teilt und für das er zusammen mit diesen beiden die Urheberschaft beansprucht: Die Übermittlung von Information ist nur als die Übermittlung von Alternativen möglich (S. 10). Dort, wo es nur eine einzige Möglichkeit gibt, wäre es klüger, die Mitteilung des erneuten Eintritts dieser einzigen Möglichkeit zu unterlassen, weil diese Mitteilung keinerlei Informationsgehalt besitzt. Die Einheit der Information ist eine einzelne Entscheidung, die zwischen zwei gleichwahrscheinlichen Alternativen wählt. Mit dieser einfachen Bestimmung ist der Weg für die quantitative Behandlung von Informationen bereitet. Der Begriff der Kommunikation wird von Wiener nicht explizit von dem der Information unterschieden. Offensichtlich ist von Kommunikation immer dort die Rede, wo wir nicht einzelne Akte des Informationstransfers beobachten, es sich vielmehr um ein System der Kommunikation handelt (S. 24). Alle Sozialsysteme sind in diesem Sinne Systeme der Kommunikation und umgekehrt bestehen Sozialsysteme nur aus Kommunikation und aus nichts anderem. Wiener schließt in diesen Kommunikationsbegriff auch die Beobachtung der Emotionen und der Interessen des anderen ein, die auch dort schon möglich ist, wo kein sprachliches Medium der Verständigung verfügbar ist, die aber auch in Abwesenheit eines solchen sprachlichen Mediums die Koordination von Verhalten ermöglicht (S. 39). Aber es ist zugleich deutlich, dass der Begriff der Kommunikation in keiner Weise auf technisch ermöglichte Kommunikation eingeschränkt ist, vielmehr alles einschließt, was in einem Sozialsystem geschieht. Dieser Begriff der Kommunikation dehumanisiert – ähnlich wie später bei Luhmann – das, was man sich unter einem Sozialsystem vorstellt und zwar in einem zweifachen Sinn. Da der Begriff der Kommunikation unabhängig von dem des Menschen definiert wird, ist es selbstverständlich denkbar, dass auch anderen Spezies als Menschen die Fähigkeit zur Kommunikation zugeschrieben wird: „(…) the social sciences are the study of the means of communication between man and man or, more generally, in a community of any sort of being“ (Wiener 1948a, S. 202). Und zweitens geht alles, was nicht zu kommunikativen Aktivitäten führt, die das Verhalten eines anderen verändern, nicht in den Informationspool einer Spezies ein und bleibt deshalb privat und sozial irrelevant (S. 157). Wiener erläutert dies am Beispiel des Konzepts der Identität, das im Fall des Menschen etwas bezeichnet, das kommunikativ konstituiert und reproduziert wird („which belong(s) … to the social stock in trade“; so Wiener 1948a, S. 217), während im Fall der Ameise ungeachtet des aufwendigen Informationsaustauschs in dieser Spezies eine eventuell vorhandene Identität der einzelnen Ameise in keiner Weise in das Sozialsystem eintreten könnte.

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Systeme der Kommunikation sind Monaden (S. 41) – an dieser Stelle kommt der erhebliche Einfluss ins Spiel, den der wissenschaftliche Universalismus eines Gottfried Wilhelm Leibniz auf Wiener gehabt hat – und als solche sind sie zugleich Automaten (S. 42 f.), die im Unterschied zu den Automaten im dominanten wissenschaftlichen Paradigma des 19. Jahrhunderts, die über Energiefluss und Stoffwechsel mit ihrer Umwelt verbunden waren, durch andere Kopplungsformen ausgezeichnet sind. Für diese Automaten des 20. Jahrhunderts läuft die Kopplung über Impressionen, eingehende und ausgehende Botschaften und die Performanz von Handlungen, und dies ist der Grund, warum Wiener von einem Zeitalter der Kommunikation und der Kontrolle spricht und diese beiden Leitbegriffe in den Titel seines Buches rückt. Welche Formen der Beobachtung sieht die kybernetische Auffassung Wieners vor? Eines der zentralen Konzepte Wieners seit der ersten Hälfte der vierziger Jahre war das der Zweckgerichtetheit (vgl. zu den folgenden Überlegungen Galison 2001, S. 451 ff.). Zweckgerichtetheit entsteht auf der Basis früheren Verhaltens des Organismus, das den Organismus auf bestimmte Zielverfolgungen festgelegt hat. Gedächtnis ist diejenige Form, die man auch als Form der Selbstbeobachtung auffassen kann, die die früheren Verhaltenserfahrungen in die Aktivitäten des Organismus immer neu eingibt. An dieser Stelle kann man auch den Begriff des feed back einführen. Zweckgerichtetes Verhalten kann in der Form stattfinden, dass es während des Ablaufs der zielgerichteten Handlung Rückkopplungen ausschließt. Es kann aber auch so organisiert sein, dass die Handlungen bewusst Informationen sammeln, um sich im Handlungsverlauf noch mit deren Unterstützung korrigieren zu können (S. 6 f.). Damit ist feedback eine Form der Selbstbeobachtung, die für die Zielerreichung des Systems eingesetzt wird. Insgesamt sind dies aber Aspekte, die in dem hier behandelten Buch nicht umfangreich behandelt werden. Eine zweite Form der Beobachtung als Selbstbeobachtung tritt in dem Buch Cybernetics prominenter hervor. Norbert Wiener versucht den epistemischen Status der Naturwissenschaften im Unterschied zu den Sozialwissenschaften zu klären. Das auffälligste Konzept ist dabei überraschenderweise das des loose coupling. Ein loose coupling zwischen dem Beobachter und den von ihm untersuchten Phänomenen scheint Wiener die entscheidende Bedingung des Erfolgs einiger Naturwissenschaften. Und andererseits ist diese Minimierung der Kopplung in den Sozialwissenschaften nicht zu erreichen, wie er am Beispiel der Ethnologie illustriert: „With all respect to the intelligence, skill and honesty of purpose of my anthropological friends, I cannot think that any community which they have investigated will ever be quite the same afterward“ (S. 163). Die Anfälligkeit von Sozialsystemen für Wandel – unabhängig davon, ob dieser durch

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den Beobachter induziert wird – erscheint auch in anderen Passagen des Buches als zentrale epistemische Schwierigkeit der Wissenschaften, die sich mit Sozialsystemen befassen. Dabei geht es um die statistische Behandlung von Daten und die These, dass eine solche statistische Behandlung lange Datenreihen unter konstanten Bedingungen verlange (S. 24 f.). Wenn man abschließend noch einmal fragt, was jenseits der einzelnen begrifflichen Diskussionen an dem Buch Wieners bis heute attraktiv ist, drängt sich unmittelbar eines auf. Es ist die Selbstverständlichkeit des Hinüberwechselns aus naturwissenschaftlichen in sozialwissenschaftliche Anwendungen und zurück. Die Analogie von Mensch und Maschine, von Organismus, Automaten und Sozialsystemen hat sich als intellektuell sehr produktiv erwiesen. Im Vergleich dazu haben wir es heute oft mit einer Reduktion der intellektuellen Neugierde, bei formal festgehaltenem Bekenntnis zur Interdisziplinarität zu tun. Selbst in der Systemtheorie gibt es die Tendenz, die Naturwissenschaften als einen abzuwehrenden Aggressor zu sehen. Und – um zum Ausgangspunkt zurückkehren – die Repräsentation des hier diskutierten Gegenstandes in der derzeit führenden Enzyklopädie der Sozialwissenschaften durch einen Artikel über Sociocybernetics verrät auch eine Reduktion des intellektuellen Horizonts, und es ist kein Wunder, dass von dieser Wissenschaft der Soziokybernetik außerhalb ihres kleinen Kreises kaum jemand etwas weiß.

Literatur Galison, Peter (2001): Die Ontologie des Feindes: Norbert Wiener und die Vision der Kybernetik, in: Michael Hagner (Hrsg.), Ansichten der Wissenschaftsgeschichte, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, S. 433–485. Geyer, Felix (2001): Sociocybernetics, in: Neil J. Smelser und Paul B. Baltes (Hrsg.), International Encyclopedia of the Social & Behavioral Sciences, Amsterdam: Elsevier, S. 14549–14554. Heims, Steve Joshua (1991): The Cybernetics Group, Cambridge, MA: MIT Press. McCulloch, Warren, und Walter Pitts (1943): A Logical Calculus of the Ideas Immanent in Nervous Activity, in: Bulletin of Mathematical Biophysics 5, S. 115–133. Parsons, Talcott (1968): Social Systems. Wiederabdruck in: ders., Social Systems and the Evolution of Action Theory, New York: Free Press, 1977, S. 177–203. Wiener, Norbert (1948): Cybernetics or Control and Communication in the Animal and the Machine, 2. Aufl., Cambridge, MA: MIT-Press, 1961. Wiener, Norbert (1948a): Time, Communication, and the Nervous Systems, in: Annals of the New York Academy of Sciences 50, S. 197–220.

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Rudolf Stichweh, Dahrendorf Professor für ‚Theorie der modernen Gesellschaft‘ und Direktor des ‚Forum Internationale Wissenschaft‘, Universität Bonn; Ständiger Gastprofessor Universität Luzern; Mitglied der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste. Arbeitsschwerpunkte: Systemtheorie und soziologische Theorie, Theorie der Weltgesellschaft, Politische Soziologie, insb. vergleichendes Studium demokratischer und autoritärer politischer Systeme, Soziologie des Fremden, Soziologie der Wissenschaft und der Universitäten, Soziokulturelle Evolution. Veröffentlichungen: Die Weltgesellschaft (2000), Der Fremde: Studien zu Soziologie und Sozialgeschichte (2010), Wissenschaft, Universität, Professionen (2. Aufl. 2013), Inklusion und Exklusion: Studien zur Gesellschaftstheorie (2. Aufl. 2015).

Die Umwelt als Element des Systems Über W. Ross Ashby, A Design for a Brain: The Origin of Adaptive Behavior (1952) Dirk Baecker Der englische Kybernetiker W. Ross Ashby (1903–1972), stellt sich in seinem 1952 in einer ersten und 1960 in einer überarbeiteten, zweiten Auflage erschienenen Buch Design for a Brain nur eine einzige Frage, diese allerdings mit einer beispielhaften Schärfe und Genauigkeit: Wie kann sich ein Nervensystem unter der Voraussetzung seiner Betrachtung als „Maschine“ sowohl mechanistisch, also festgelegt, wie auch adaptiv, also wandelbar, verhalten? Der Ausgangspunkt der Betrachtung des Nervensystems als „Maschine“ bedeutet hier, dass nur Antworten überzeugen, denen es gelingt, beobachtbare Verhaltensweisen als Ergebnis konkreter, nachvollziehbarer Operationen nachzuweisen. Die Beobachtung von etwas als kybernetische Maschine soll nicht herausfinden, was aus welchen Gründen geschieht, sondern soll beschreiben, wie etwas geschieht und damit möglich ist. Das Modell der Maschine isoliert das zu untersuchende Phänomen gegenüber ontologischen, essentialistischen und kausalistischen Beschreibungen und zwingt, stattdessen eine operative und genetische Beschreibung zu entwickeln. Ashby sucht nach dieser operativen und genetischen Beschreibung des Gehirns, weil es ihm darum geht, das sowohl mechanistische als auch adaptive Verhalten des Nervensystems als Bedingung der Möglichkeit eines Verhaltens zu beschreiben, das er „Lernen“ nennt. In der Dekomposition des komplexen Vorgangs „Lernen“ in Operationen und Mechanismen, deren Zusammenspiel das gesuchte Phänomen hervorbringt, besteht die methodische Meisterleistung dieses Buches. Selbst wenn man die Ergebnisse nicht teilt beziehungsweise wegen neuer neurophysiologischer Erkenntnisse in der präsentierten Form nicht übernehmen kann, sollte man sich D. Baecker (*)  Dresden, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 D. Baecker (Hrsg.), Schlüsselwerke der Systemtheorie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30633-5_3

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mit diesem Buch auseinandersetzen, weil es eine eindrucksvolle Schulung in wissenschaftlichem Denken darstellt. Die eigentliche Herausforderung des Buches für den heutigen Stand des systemtheoretischen Denkens jedoch liegt in seinem Systembegriff. Ein System, und zwar ein zustandsdeterminiertes System, so definiert Ashby (S. 36), ist eine Menge von Variablen, die, „with sufficient accuracy“, einen freilebenden Organismus und seine Umwelt, „taken together“, repräsentieren. Das bedeutet nicht, wie zuweilen angenommen wird, dass wir es mit einem „offenen“ System zu tun haben. Bei Ashby gilt ebenso wie in der allgemeinen Systemtheorie von Ludwig von Bertalanffy und in der Kybernetik Heinz von Foersters, dass die Systeme, die er betrachtet, als offen für Energiedurchflüsse, aber als geschlossen für Information, Regelung und Steuerung konzipiert werden. Kybernetik zu treiben, bedeutet, so Ashby in seinem Buch An Introduction to Cybernetics (1956, dt. 1974), davon auszugehen, dass die betrachteten Systeme „informationsdicht“ (1974, S. 19) sind. Dieser Ausgangspunkt, das sei noch einmal festgehalten, beruht auf einer neurophysiologisch, das heißt am unwahrscheinlichsten Fall, plausibilisierten Entscheidung, nicht auf einer für alle betrachteten Systeme empirisch abgesicherten Wahrheit. Man vergisst das immer wieder. Weder für die Kybernetik noch für das Paradigma der Autopoiesis gilt, dass sie mit empirisch bestätigten Hypothesen starten. Sie starten mit Annahmen und schauen sich an, wie weit man in der Beschreibung komplexer Phänomene kommt, wenn man diese Annahmen gegen alle Wahrscheinlichkeit des Augenscheins und in diesem Sinne „theoretisch“ durchhält. Mit anderen Worten, Ashby geht es darum, die allgemeinen Phänomene der Information, Regelung und Steuerung und das besondere Phänomen des Lernens am Fall des Gehirns mithilfe eines Systembegriffs zu untersuchen, der annimmt, dass ein System aus einer vom Beobachter bestimmten Menge von Variablen besteht, die sich auf den Organismus und seine Umwelt verteilen. Man würde wiederum zu rasch urteilen, wenn man diesen Systembegriff bei aller Akzentuierung der Rolle des Beobachters – Ashby spricht vom „experimenter“ – für einen bloß analytischen Begriff halten würde, mit dem ein Beobachter, orientiert an seinen Interessen, sich seine Ordnung der Welt herstellt. So sehr dieser analytische Begriff richtig ist, so sehr gilt doch, dass es sich zugleich um einen empirischen Begriff handelt, weil das, was der Beobachter („experimenter“) hier über sich selber aussagt, auch für seinen Gegenstand gilt. Auch der Organismus, mit dem der Beobachter experimentiert, wird als Beobachter seiner Umwelt konzipiert. Jede Frage an den Gegenstand wird daher kontrolliert, aber auch angeregt durch Fragen, die der Beobachter an sich selber stellen kann. In dieser wechselseitigen Zuspitzung von Forschung und Erkenntnistheorie, von

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Forschung als Erkenntnistheorie und Erkenntnistheorie als Forschung, besteht die Pointe des Konstruktivismus. Am Leitfaden des Konstruktivismus entdeckt der Beobachter eine Welt, in der Beobachter ihre Welt entdecken. In dieser Welt stößt er irgendwann auf sich selbst als auf einen Beobachter, der seine Welt entdeckt. Mit „Erfindung“ in einem irgendwie subjektiven, fiktionalen und arbiträren Sinn hat das bei allen (begrenzten) Freiheitsspielräumen nichts, dafür jedoch sehr viel mit einer Konstruktion der Wirklichkeit zu tun. Ashbys Design for a Brain, nicht etwa: „Design of a Brain“, erprobt in diesem Sinne einen Mechanismus und eine Maschine – Ashbys berühmten Homöostat, der eine innere Umwelt stabil hält, um sich an eine äußere Umwelt anzupassen –, die es erlauben, Formen der Auseinandersetzung eines Organismus mit seiner Umwelt nachzuvollziehen, die als diese Formen auf den Organismus und nicht etwa auf seine Umwelt zugerechnet werden. Das ist die Grundsatzentscheidung der Systemtheorie: Es wird eine Schließung beschrieben, die eine Öffnung ermöglicht. Diese zwischen System und Umwelt asymmetrisierende Zurechnung auf eine Systemreferenz steht im Gegensatz zu Theorien, die ein Weltkontinuum annehmen und tendenziell symmetrische Abhängigkeiten zwischen Variablen untersuchen, die von bestimmten Faktoren bestimmt werden. Die Definition eines Systems als eine auf den Organismus und seine Umwelt asymmetrisch verteilte Menge von Variablen erlaubt es Ashby, eine Reihe von Hypothesen zu entwickeln, wie der Mechanismus des Lernens, der dem Gehirn zuzurechnen wäre, tatsächlich jedoch ein Produkt der Auseinandersetzung des Organismus mit seiner Umwelt ist, funktionieren könnte. Ich nenne im Folgenden drei Hypothesen, die ich aus dem Buch herausgreife, um zu zeigen, welche seiner Fragen meines Erachtens heute genauso Beachtung verdienen wie seinerzeit. Die erste Hypothese postuliert, dass das Verhalten eines Systems nicht nur von Variablen, sondern auch von Parametern abhängt. Parameter sind Variable, die nicht Teil des Systems sind, sondern die das „Feld“ definieren, in dem sich das System um Stabilität bemüht. Eine Änderung der Parameter bedingt eine neue Stabilitätsbedingung. Mit dieser Hypothese wird nicht nur zwischen Variablen und Parametern, sondern auch zwischen System und Feld unterschieden. Die Hypothese lautet dementsprechend, dass ein außerhalb des Einflussbereiches des Systems definiertes Feld bestimmt, worin die Stabilitätsbedingungen des Systems bestehen und von welchen Parametern diese Stabilitätsbedingungen jeweils abhängen und variiert werden können. Diese Hypothese kann nur von einem externen Beobachter formuliert werden, der hier beobachtet, was das System nur voraussetzen kann. Die Hypothese zielt auf unverfügbare und gleichwohl, aber nicht vom System, variierbare Bedingungen des Systems.

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Diese erste Hypothese erlaubt es Ashby, von sogenannten „essential variables“ zu sprechen, die in jedem Fall eingehalten werden müssen, wenn das System als anpassungsfähig beschrieben werden soll. Anpassung heißt, die Operationen des Systems so zu selegieren, dass die wesentlichen Variablen innerhalb der physiologisch gegebenen Grenzen gehalten werden können. Der Organismus ist daher in der unangenehmen Lage, sich mit einer Umwelt auseinandersetzen zu müssen, die ihm unbekannt ist, die jedoch definiert, welche wesentlichen Variablen einzuhalten sind. Ashby (S. 82) macht den Zusammenhang mit folgendem, das System insgesamt abbildenden Diagramm deutlich:

Die Umwelt ist – als Teil desselben Systems! – black box für den Organismus. Der Organismus kann und muss mithilfe seiner reaktionsfähigen Teile R herausfinden, welches Verhalten dazu führt, dass die wesentlichen Variablen eingehalten und damit das gesamte System stabil bleibt, und welches nicht. Dieser reacting part R konstituiert die Asymmetrie zwischen Organismus und Umwelt. Der Systembegriff formuliert hier insofern die Bestandsvoraussetzungen des Organismus, als er die Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit einer Umwelt unter der Bedingung der Unbekanntheit dieser Umwelt formuliert. Der Beobachter, der in einem fortgeschrittenen Stadium auch der sich selbst beobachtende Organismus sein kann, postuliert einen systemischen Zusammenhang zwischen Variablen des Organismus und Variablen der Umwelt, der exploriert, aber nicht vollständig beschrieben werden kann. Die zweite Hypothese postuliert eine lose Kopplung unter den Variablen der Umwelt. Leben sei unter den komplexen Bedingungen auf der Erde nur möglich, so vermutet Ashby (S. 192 ff.), weil die Zustände jeder Variablen nicht von den Zuständen aller anderen Variablen abhängen, sondern die meisten Variablen nur geringen Einfluss auf die anderen Variablen haben. Organismen überleben und lernen als sogenannte „iterierte Systeme“, die sich nacheinander mit den Problemen der Umwelt auseinandersetzen können und nicht etwa für alle Probleme gleichzeitig Lösungen parat haben müssen. Diesen Gedanken hat Ashby in seinem Aufsatz über die erforderliche Varietät („requisite variety“) eines Organismus in der Auseinandersetzung mit einem komplexen System (in dem er selbst ein Bestandteil ist) auf den Begriff des „operational research“ gebracht (Ashby 1958, S. 97 f.). Ein Organismus, der sich nach den gleichsam lebensklugen Regeln des operational research verhält, verzichtet auf ein angesichts von

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Komplexität (definiert als Überforderung des Beobachters!) sowieso nicht mögliches Verstehen und probiert es statt dessen mit Kontrolle, wobei „Kontrolle“ hier nichts anderes bedeutet, als die jeweils erreichten Zustände des Systems mit den möglicherweise gewünschten Zuständen des Systems zu vergleichen und mithilfe einer Manipulation entweder der Variablen der Umwelt oder der Variablen des Organismus eine Korrektur zu versuchen. Die Hypothese der losen Kopplung der Variablen der Umwelt ist eine Hypothese des Nutzens eingeschränkter Kommunikation. Würden alle Variablen der Umwelt mit allen Variablen der Umwelt kommunizieren, so wären Experimente und wäre Lernen unmöglich, weil man weder sortieren noch sequentialisieren und damit auch nicht temporalisieren könnte. Alles fände, wie in der Wirklichkeit, gleichzeitig statt, ohne dass man ausprobieren könnte, mit Unterscheidungen Erfahrungen zu sammeln. Bemerkenswert ist, dass Ashby diese Hypothese vom Nutzen eingeschränkter Kommunikation dann auch auf den Organismus anwendet, allerdings mit einer anderen Akzentuierung. Auch für den Organismus gelte, so stellt er mit Blick auf gängige Annahmen fest, dass man in der Regel mehr Kommunikation für sinnvoller hält als weniger Kommunikation. Wenn schon alle Teile des Organismus für das Überleben des Organismus in bestimmten Zuständen sein müssten, mache es dementsprechend auch Sinn, dass sich diese Zustände des Organismus untereinander koordinierten. Ashby wendet gegen diese Annahme ein (S. 219 ff.), dass der Zielwert des Systems nicht die Koordination der Teile des Organismus, sondern das Überleben des Organismus im System, das heißt in der Auseinandersetzung mit seiner Umwelt sei. Dieser jedoch sei vor allem dadurch gedient, dass die Teile des Organismus mit der Umwelt direkt und dementsprechend untereinander allenfalls indirekt kommunizierten. Wenn alle Zustände der Variablen des Organismus mit Zuständen der Variablen der Umwelt koordiniert sind, ergibt sich daraus das Überleben des Systems. Direkte Kommunikation innerhalb des Organismus sei daher nur dort erforderlich, wo es die indirekte nicht gibt. Aus dieser Ausweitung der Hypothese folgt, dass auch der Organismus von einem bestimmten Maß der losen Kopplung seiner Variablen nur profitieren kann. Auch hier definiert die lose Kopplung der Variablen Spielräume, die Kontrolle ermöglichen, wo Verstehen angesichts von Komplexität ausgeschlossen ist. Die dritte und letzte Hypothese, die ich für bemerkenswert halte, ist eine Hypothese, die die Inkongruenz der Perspektive, die Ashby einzunehmen versucht, besonders eindrucksvoll zu unterstreichen vermag. Diese Hypothese postuliert, dass eine wiederholt im System auf das System angewandte einwertige Operation (gleichzusetzen mit dem „Gesetz“ des Systems) dazu tendiert, innerhalb des Systems Formen zu selegieren, die gegenüber dieser Operation in dem Sinne

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immun sind, als sie jeder Änderung widerstehen, die diese Operation induzieren könnte (S. 233). Das System wird immun gegenüber eigenen Handlungen, wenn diese die Zustände des Systems gefährden.Es wird unabhängig von sich selber. Man mag darüber streiten, ob es sich bei dieser Hypothese um eine wissenschaftliche Forschungshypothese oder um ein buddhistisches Rätsel, ein koan, handelt. Ich darf versichern, dass ein Beobachter, der sich mit dieser Hypothese ausrüstet, in Bezug sowohl auf beobachtete Phänomene als auch auf Zustände der Selbstbeobachtung in die merkwürdigsten Zustände versetzt wird. Immerhin ergänzt Ashby, dass diese Eigenschaft der Systeme, gegenüber der eigenen Operation unempfindlich zu werden, für die Entstehung und den Erhalt der Vielfalt des Lebens verantwortlich zu machen sei: „The development of life on earth must not be seen as something remarkable. On the contrary, it was inevitable. It was inevitable in the sense that if a system as large as the surface of the earth, basically polystable, is kept gently simmering dynamically for five millions years, then nothing short of a miracle could keep the system away from those states in which the variables are aggregated into intensely self-preserving forms“ (S. 233). Wir überlassen es dem Leser, diese Einsicht an seinem Lieblingsgegenstand (der auch er selbst sein kann) auszuprobieren, und kommen stattdessen noch einmal auf die Definition eines Systems zu sprechen, die Ashby anbietet. Denn ein System ist nicht nur definiert als Menge von über den Organismus und seine Umwelt verteilten und vom Beobachter ausgewählten Variablen, sondern zugleich als ein Zustand, in dem sich diese Variablen zu einem gegebenen Zeitpunkt befinden. Als Operation, genauer beziehungsweise vorsichtiger: als „primary operation“ (S. 18), wird jeder Übergang von einem Zustand in einen anderen bezeichnet, sodass man das System beobachten kann, indem man beobachtet, in welcher Sequenz von Zuständen („line of behavior“) es sich bewegt. In der Konsequenz kann man auf die Beobachtung der in der Regel so oder so komplexen Zustände sogar verzichten und sich ganz auf die Operationen des Übergangs zwischen den Zuständen konzentrieren. Systeme wären dann weniger für die Zustände des Systems als vielmehr für das Delta (∆) zwischen diesen Zuständen verantwortlich zu machen. Im Anschluss an diese Definition von Operation ist es möglich, Mechanismen und Funktionen zu bestimmen, die das Verhalten eines Systems regeln (S. 86 ff.): Vollfunktionen beschreiben die durchgängige Abhängigkeit zweier Variablen voneinander, Teilfunktionen die Abhängigkeit zweiter Variablen innerhalb eines bestimmten Intervalls ihrer Werte, Nullfunktionen die Unabhängigkeit zweier Variablen und Treppenfunktionen endliche Intervalle der Abhängigkeit voneinander, die durch Sprünge voneinander getrennt sind. Letztere ermöglichen es darüber hinaus, kritische Werte zu bestimmen, an denen der Zustandswechsel

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eines Systems die normalerweise akzeptablen Werte der Variablen überschreitet. Der Sinn dieser Beschreibung von Mechanismen und Funktionen liegt darin, die Bedingungen der Stabilität und Ultrastabilität eines Systems zu erforschen, wobei letztere eine doppelte Rückkopplung voraussetzt, die nicht nur Sensorik und Motorik koppelt (einfache Rückkopplung), sondern darüber hinaus und sehr viel langsamer das Verhalten von Treppenfunktionen an die Werte bestimmter kontinuierlicher Variablen bindet, die ihrerseits auf Umweltvariablen reagieren. Mithilfe der doppelten Rückkopplung – Heinz von Foerster (2003, S. 225 f.) wird von „doppelter Schließung“ sprechen – gewinnt das System die Möglichkeit nicht nur der Fortsetzung der eigenen Operationen, sondern auch der Regulation dieser Operationen. Schritt für Schritt entfaltet Ashby auf diese Art und Weise eine auf die Beschreibung verschiedener Formen von Zustandswechsel Bezug nehmende Begrifflichkeit, die über die Bestimmung von Stabilität, Akkumulation, Unabhängigkeit, Iteration und Gleichgewicht das Phänomen des Lernens, verstanden als Anpassung, in zunehmendem Maße einkreist. Dabei kommt es immer wieder zu überraschenden Einzeleinsichten – wie etwa jener, dass ein System, das zwischen verschiedenen Zuständen hin und her wechseln können will, zunächst und gleichzeitig das Problem lösen muss, den jeweils anderen Zustand konstant halten zu können, während es sich nicht in ihm befindet (S. 167). Wie macht es das? Ich gehe nicht auf die Neurophysiologie ein, an der Ashby seine Problemstellungen phänomenologisch kontrolliert. Am meisten beeindruckt mich das Beispiel des Lernens eines Kätzchens, auf das Ashby immer wieder zurückkommt. Es erlaubt ihm, das Ergebnis seiner Überlegungen wie folgt zu formulieren: Ein Kätzchen lernt nicht etwa, weil dies in seinen Genen (Parametern) bereits festgelegt ist, sondern weil diese Gene es darauf festlegen, seine eigenen Anpassungszustände zu suchen und festzulegen, „guided in detail by the environment“ (S. 234). Denn das, woran es sich anzupassen gilt, dauert jeweils nicht lange genug, um den Genen eine Chance zu geben, die passenden Muster auszubilden. Wir haben es mit einer Anpassung und mit einem Lernen auf dem Umweg über indirekte Regulierung zu tun und damit mit einer enormen Erweiterung des Verhaltensspektrums („requisite variety“) des Organismus, weil variierende Umwelten einen Einfluss ausüben, ohne dass dieser Einfluss den Organismus für eine zu lange Zeit festlegt. Lernende Organismen sind Organismen, denen eine Umwelt beigebracht hat, gegen die Umwelt zu agieren und in der Auseinandersetzung mit der Umwelt eine interne Koordination der Teile auszubilden, die gegen Störungen resistent ist. Ich sehe mich nicht in der Lage, abschließend zu beurteilen, welche Zukunft dem Ashby-Paradigma eines geschlossenen Systems aus Variablen des

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­ rganismus und Variablen der Umwelt vergönnt sein wird. Er selbst, so liest O man im Nachruf, den Roger Conant für das International Journal of Systems (Bd 1, 1974) geschrieben hatte und den Conant der von ihm unter dem Titel „Mechanisms of Intelligence“ (1981) herausgegebenen maßgebenden Sammlung der Aufsätze von Ashby vorangestellt hat, empfahl im Umgang mit seinen Ideen, sie lieber zu vergessen und mithilfe eigener Überlegungen neu zu entdecken, als sie getreulich zu sammeln und nachzubuchstabieren. Das ist nur konsequent, wenn man die Idee der indirekten Regulation zum Maßstab nimmt, die uns eher die Auseinandersetzung mit unserer heutigen Umwelt zu suchen empfiehlt, als nahelegt, wir könnten auf dem aufbauen, was die Gründungsväter der Kybernetik uns vorgedacht haben.

Literatur Ashby, W. Ross (1956): An Introduction to Cybernetics, London: Wiley. Ashby, W. Ross (1958): Requisite Variety and Its Implications for the Control of Complex Systems, in: Cybernetica 1, S. 83–99. Ashby, W. Ross (1960): Design for a Brain: The Origin of Adapted Behavior, 2., rev. Aufl., New York: Wiley. Ashby, W. Ross (1981): Mechanisms of Intelligence: Ross Ashby’s Writings on Cybernetics, hrsg. von Roger Conant, Seaside, Cal.: Intersystems. von Foerster, Heinz (2003): Understanding Understanding: Essays on Cybernetics and Cognition, New York: Springer.

Dirk Baecker, Professor für Kulturtheorie und Management an der Universität Witten/ Herdecke. Arbeitsschwerpunkte: allgemeine Soziologie, soziologische Theorie, Kulturtheorie, Organisationsforschung und Managementlehre. Jüngere Veröffentlichungen: Kulturkalkül (2014), Wozu Theorie? Aufsätze (2016), Produktkalkül (2017), 4.0 oder Die Lücke die der Rechner lässt (2018), Intelligenz, künstlich und komplex (2019), Wozu Wirtschaft? (2020).

Lernen ist Interaktion Über Gordon Pask, An Approach to Cybernetics (1961) Ranulph Glanville

1 Hintergrund Gordon Pasks (1928–1996) An Approach to Cybernetics ist 1961 veröffentlicht worden (Pask 1961). Es ist ein dünnes Bändchen von 128 Seiten. Vorangestellt ist ein sehr lesenswertes, gelehrtes Vorwort von Warren McCulloch. Der Haupttext (102 Seiten lang) besteht aus 8 Kapiteln. Im Einzelnen sind es: 1. The background of cybernetics 2. Learning, observation and prediction 3. The state determined behaviour 4. Control systems 5. Biological controllers 6. Teaching machines 7. The evolution and reproduction of machines 8. Industrial cybernetics Das Buch ist das Achte der Reihe Science Today, die von Methuen (Harpers in den USA) veröffentlicht wurde als „eine neue Reihe von Wissenschaftsmonographien, die alle jeweils einem bestimmten wissenschaftlichen Fachgebiet gewidmet sind, von dem die Verleger glauben, dass es vollständig und dennoch kurz und bündig auf 128 Seiten abgehandelt werden kann, und die jeweils von einem anerkannten Spezialisten verfasst werden (…).“

R. Glanville (*)  London, Großbritannien © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 D. Baecker (Hrsg.), Schlüsselwerke der Systemtheorie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30633-5_4

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Das Buch erfüllt wahrscheinlich diese Bedingung, obwohl es eigentlich eher schwierig einzuordnen ist. Es könnte fast ein Lehrbuch sein, aber dafür ist es zu dicht und es finden sich keine Übungen. Es könnte ein Grundlagenbuch sein, aber für wen wäre es grundlegend? Es ist ein fordernder Text, und zwar nicht, weil er unpräzise oder schlecht geschrieben ist, sondern aus beinahe gegenteiligen Gründen. Die Exaktheit und Verdichtung, ohne viele benutzerfreundliche Wiederholungen oder Merksätze und mit wenig Raum für ausgiebige Erklärungen oder Beispiele, machen es zu einem ausgesprochen prägnanten Buch. Es zu lesen ist anspruchsvoll. Als jemand, der sich seit 35 Jahren mit dieser Thematik auseinandersetzt, das Buch zum ersten Mal bereits vor vielen Jahren gelesen hat und ein Schüler von Pask war, fand ich trotz allem, dass es große Aufmerksamkeit und Konzentration einforderte und ich es in kurzen Abschnitten lesen musste. Wenn ich das Buch auf diese Art und Weise beschreibe, mag ich ablehnend klingen. Nichts könnte meinen Absichten jedoch ferner liegen. Diejenigen, die Pasks drei später zur Konversationstheorie in rapider Abfolge verfassten Bücher kennen (Pask 1975a, 1975b, 1976) wären überrascht, wenn ich mich beschweren würde. Diese späteren Bücher sind umfangreich und schwierig zu verstehen, zum einen aufgrund der Komplexität dessen, was Pask zu vermitteln versucht, zum anderen wegen seiner Strategie der „global adumbration“ (ein Lieblingswort von Pask, das vom lateinischen Wort für Schatten abgeleitet ist), womit gemeint ist, dass er zur Unterstützung seines Arguments so viele Punkte wie möglich mit einbezieht und es auf diese Weise, wenn nötig, überflutet. Diese späteren Bücher sind zudem irgendwie beladen mit formalen Aussagen und sehr komplexen Diagrammen, die für das allgemeine Verständnis nur wenig hilfreich sind. Im Vergleich dazu ist „An Approach“ ein schlichtes und direktes Buch, aber es stellt Ansprüche, behandelt den Leser nicht gönnerhaft und ist doch lange nicht so einfach, wie das viel populärere Micro Man (mit Susan Curran – Pask und Curran 1982) und Calculator Saturnalia (mit Mike Robinson und mir – Pask, Glanville und Robinson 1980). Worin genau besteht also der Wert dieses kleinen Buches? Warum setze ich mich unter den mehr als 250 Veröffentlichungen Pasks genau dafür als kanonischen Text der Kybernetik ein? Die Gründe, weshalb ich diesen Text ausgewählt habe, lassen sich auf drei Faktoren zurückführen: seinen Autor, seine Zeit und seine Prägnanz. 1961 war Pask bereits seit einem Jahrzehnt als bedeutende Figur der Kybernetik etabliert, vielleicht sogar ihre führende junge Hoffnung. Er hatte noch mehr als dreißig Jahre zu leben und das Magnum Opus, für das er wahrscheinlich auch am besten bekannt ist („Conversation Theory“), war noch ein Jahrzehnt entfernt. Für die Kybernetik stellt das Jahr 1961 eine wichtige Zeit dar, denn das

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Fach war sowohl etabliert als auch finanziell gut gefördert. Nach der anfänglichen Aufregung der Macy Konferenzen und der Veröffentlichung von Wieners Buch hat Ashby das Fach konsolidiert. An Approach to Cybernetics hätte, wie Pask zugibt, nicht vor Ashbys Design for a Brain (Ashby 1952) und An Introduction to Cybernetics (Ashby 1956) geschrieben werden können. So war die Zeit reif, und zwar sowohl für das Fach als auch für den Autor. Nicht zuletzt der Umfang des Buchs lässt auf seine Prägnanz schließen und beansprucht zudem eine Präzision, Dichte und Sparsamkeit, die sich später in so vielen von Pasks allerbesten Arbeiten wiederfinden lässt und die mitunter sein Denken charakterisierte, als ich ihn ungefähr fünf Jahre später zum ersten Mal traf. Diese Faktoren führen zu diesem Buch und tragen zu seinem Wert bei – ein Buch von destillierter Überzeugungskraft und Klarheit, die ein starkes (obwohl idiosynkratisches) Argument für die Kybernetik und für das sind, was die Kybernetik erreichen könnte. Es gibt einen letzten Punkt, den ich ansprechen muss, bevor ich in die detaillierte Diskussion von An Approach einsteige. Ich glaube, dass viele Gelehrte und begeisterte Anhänger von Pask meine Wahl merkwürdig finden werden. Betrachtet man die umfangreiche Struktur, die Pask in Conversation Theory geschaffen hat (ein Werk, das schrecklich unterbewertet, vielfach missverstanden und heutzutage häufig auf deutlich niedrigerem Niveau von schlechtinformierten sogenannten „Experten“ wiederaufgegriffen wird), scheint es für eine Repräsentation von Pasks Werk sinnvoll, eine Schrift auszuwählen, die sich explizit mit diesem Bereich auseinandersetzt. Schließlich gibt es auch noch die drei Bücher, die ich bereits erwähnt habe (alle vergriffen, genauso wie An Approach). Doch ist eine der häufig gegen Pask vorgebrachten Kritiken, dass er unglaublich schwierig zu verstehen ist. Oftmals scheint sein Schreiben unnötigerweise kompliziert und sein genereller Wunsch, in seiner Arbeit so viel es geht, anzudeuten (adumbrate), kann zu ungerechtfertigten Behauptungen führen, die die Studierenden dann von irgendwie langen und komplexen – entmutigenden – Texten abschrecken. (Als Pask-Student während der Entwicklung seiner Arbeit habe ich einen privilegierten – und wohl auch leichteren – Zugang.) An Approach to Cybernetics widerlegt die Allgemeingültigkeit dieser Behauptungen. Pasks Kürze, Intensität und Klarheit im Umgang mit dem Destillat der Kybernetik ist so ziemlich das Gegenteil von dem, was oftmals für seinen Stil gehalten wird. Diese Arbeit befasst sich mit den wohlbekannten grundlegenden Begriffen der Kybernetik, wie man es von einem 1961 veröffentlichten Text erwartet, in einer Prägnanz, die viele überraschen dürfte. Aber sie tut mehr als das. Sie liefert eine Einführung in Pasks eigenes Werk und seine eigene Welt: wie er Dinge zu sehen pflegt und was seine Interessen und Einschätzungen

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sind. Und dann (im Hauptbereich der Diskussion, die den Rest dieses Texts ausmacht) offenbart er uns die Zukunft. Schaut man nach über vierzig Jahren der Entwicklung auf diesen Text zurück, ist leicht zu erkennen, wie Pask sowohl Entwicklungen in diesem Forschungsfeld als auch, und das ganz besonders, Entwicklungen seines eigenen Werks vorhersagt. Dieser Text ist deshalb beides, eine meisterliche Zusammenfassung dessen, wo die Kybernetik 1961 stand und eine Vorbereitung auf das, was noch kommen sollte. Es ist bedauerlich, dass der Umfang eines Texts wie diesem das Weben des komplexen Netzes von Verbindungen verhindert, an denen Pask teilhatte, aber das Lesen dieses Büchleins sollte denjenigen helfen, die den Hintergrund zur Entwicklung der Kybernetik zweiter Ordnung im Allgemeinen und der Konversationstheorie im Besonderen besser verstehen wollen.

2 Diskussion Um die vorausschauende Natur von An Approach vor Augen zu führen, habe ich eine Sammlung von Zitaten angefertigt. Beim erneuten Lesen des Buches kam mir in den Sinn, dass ich durch eine Präsentation der Zitate unter einer Anzahl von Überschriften zeigen könnte, ja wie bemerkenswert Pasks kleines Buch ist, wie es nicht nur ein deutliches Licht wirft auf die Kybernetik wie sie war und, prinzipiell, bleibt, sondern auch Entwicklungen sowohl im Forschungsfeld wie auch in Pasks eigenem Werk erahnen lässt. (Ich hoffe dadurch das Verständnis von Pasks späterem Werk irgendwie einfacher zu machen.) Ich bin bestrebt, Pask mit der unmittelbaren Klarheit und Einfachheit sprechen zu lassen, von der viele fälschlicherweise glauben, dass sie ihm fremd war. In Folge dessen besteht daher meine kritische Diskussion des Buches im Auswählen und Anordnen von Zitaten unter selbstgewählten Überschriften, plus einige wenige kommentierende Worte. Dass diese Überschriften nicht von Pask selbst verwendet wurden, ist ein Beweis dafür, wie weit vorausblickend An Approach ist. Ich verwende die folgenden drei Konventionen. Am Beginn jedes Zitats nenne ich die Seite, der das Zitat entnommen wurde: wo es mehr als ein Zitat von einer Seite gibt, ist dahinter ein Buchstabe angefügt, um ein Zitat vom anderen unterscheiden zu können. Worte in eckigen Klammern [] innerhalb der Zitate stammen von mir. Dass Textmaterial zitiert wird, ist auch durch Einrücken und Gebrauch eines anderen Schriftformats gekennzeichnet.

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Kybernetik Beginnen wir am Anfang mit Pasks Betrachtung der Kybernetik, wie sie in „An Approach“ dargestellt wird. Im Jahre 1961 ist Pasks Betrachtung im Wesentlichen auf einer Linie mit der transdisziplinären, klassischen Betrachtung von zirkulärer Kausalität und Kommunikation und Kontrolle in Tier und Maschine, die von den ursprünglichen, frühen Kybernetikern vorgeschlagen wurde: 015. The cybernetician has a well specified, though gigantic, field of interest. His object of study is a system, either constructed, or so abstracted from a physical assembly, that it exhibits interaction between the parts, whereby one controls another, unclouded by the physical character of the parts themselves. 011b. Cybernetics…like applied mathematics, cuts across the entrenched departments of natural science; the sky, the earth, the animals and the plants. Its interdisciplinary character emerges when it considers economy not as an economist, biology not as a biologist, engines not as an engineer. In each case its theme remains the same, namely, how systems regulate themselves, reproduce themselves, evolve and learn. Its high spot is the question of how they organize themselves.

Er fokussiert unseren Blick auf die transdisziplinäre Natur des neuen Fachgebiets in einer Art und Weise, an der man schon ablesen kann, wie sie zu seiner späteren Beschreibung der Kybernetik als „the art of the defensible metaphor“ führt. Wissenschaft Pasks spätere, metaphorische Beschreibung kann man so verstehen, dass sie den bereits in „An Approach“ gepflegten Standpunkt gegenüber Wissenschaft und Beobachtung aufnimmt. Überlegt man, wann das Buch veröffentlicht wurde, so muss man Pask eine entwickelte, mittlerweile fortschrittlich erscheinende, Haltung zur Wissenschaft und zur Beziehung von Kybernetik und Wissenschaft bescheinigen. Ich werde mich mit seinem Standpunkt mittels dreier Unterpunkte befassen. Energie oder Information Obwohl Kybernetik sich primär mit Information befasst, beharrte Wiener darauf, dass ihre Systeme Newtons Gesetzen der Thermodynamik gehorchen sollten. (Ich glaube Wiener selbst hat nie wirklich aufgehört, Kybernetik irgendwie als einen Teil der Physik zu denken. Mit Sicherheit betrachtete er jedenfalls kybernetische Systeme als den Gesetzen der Physik unterworfen [Wiener 1948].) Überlegungen in Bezug auf Energie einen ungerechtfertigten Vorrang zu gewähren, verdeckt oftmals die Zirkularität kybernetischer Systeme und sogar ihre kybernetische Natur selbst, indem zum Beispiel die Rollen von Kontrollierendem und

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Kontrolliertem getrennt werden, so dass das Kontrollierende mehr „Macht“ und Bedeutung erhält (Herr/Knecht). Pask hingegen hat die Wichtigkeit der Energetik bereits im Jahre 1961 heruntergespielt: 018a. Although the energetics do not immediately concern us, the assembly embodies one or many more or less regular modes of dissipating the energy…as a result of which it produces an unlimited supply of observable events. 031. …the behaviour in a phase space is an account of observable events and makes no direct comment upon the energetic aspects of the assembly. 012. The signalling arrangement is independent of energetic considerations, and it is legitimate to envisage the governor as a device which feeds back information in order to effect speed control.

Es ist keinesfalls so, dass Pask die Signifikanz der Physik bestreitet (beispielsweise die Notwendigkeit eines Energietransfers beim Vollziehen einer Beobachtung), vielmehr begreift er eine informationale Sicht nicht als dieselbe wie eine energetische, hält sie aber für genauso berechtigt. Der (stets) gegenwärtige Beobachter Pask war sich der Intentionalität und der aktiven Involvierung des Beobachters sehr bewusst. Seine frühesten Maschinen (SAKI, Musicolour – Pask 1962, 1982) waren genuin interaktiv in einer Art, wie es sogar heutzutage nur wenige Systeme sind, so dass er damit die unumgänglich aktive Natur der Beobachtung für das Stattfinden von Interaktion in Rechnung stellte. Natürlich war die Wichtigkeit der Rolle des Beobachters (zum Beispiel) in der Teilchenphysik bereits zugestanden. Aber die generelle Notwendigkeit, die Signifikanz des Beobachters anzuerkennen, war noch nicht wirklich akzeptiert. Pasks Einstellung zum Beobachter geht der Entwicklung der Kybernetik zweiter Ordnung (von Foersters Kybernetik beobachtender Systeme [von Foerster 1979]) um mehr als ein Jahrzehnt voraus. Die Vorstellung vom Beobachter-als-Lernendem ist sowohl für sich selbst betrachtet leistungsfähig als auch epistemologisch tiefgründig. 021. [footnote]. We take it, as a matter of belief, that the world is such and we are such that we see some order in the world. As Rashevsky puts it, this much must be admitted in order to make science possible. 018b. Observers are men, animals, or machines able to learn about their environment and impelled to reduce the uncertainty about the events which occur in it, by dint of learning

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047–8. … the phrase „self-organizing system“, entails a relation between an observer and an assembly. It also entails the observer’s objective (an assembly may be a self-organizing system for one observer but not another, or for one objective but not another). 102–3. An evolving hybrid is a self-organizing system…in terms of its relation to an observer, for an observer must continually change his reference frame to make sense of it. But, in this context, to „change our reference frame“ only means that we perform different conceptual experiments, try to make sense of unitary actions, sequences of actions and so on, in short, that we „converse“. 019. … we do not make predictions about a piece of the real world, an „assembly“ as such, which is unknowable in detail. Rather, we make predictions about some simplified abstraction from the real world – some incomplete image – of which we can become certain … 035c. … most observers are not content to watch and wait. They act upon the assembly and induce the system to change states in a satisfying manner. … Notice, they need have no more knowledge of what they are doing than they have of what they are measuring. But we know omnisciently. The logical position is that an observer of this kind, a so-called participant observer, is provided with a set of … possible actions, and he is told, at least, that each action induces some cogent change of state in the system.

Man nehme zur Kenntnis, dass Pask durch sein Interesse am Beobachter Selbstorganisation, Referenzrahmen, die Parteilichkeit des Blicks und den Drang zu handeln mit einschließt. Die Parteilichkeit des Blicks scheint eine besondere Voreingenommenheit zu sein. Ich glaube, dass Pask einen starken Wunsch hat, die Vorstellung von einer wirklichen Welt aufrechtzuerhalten und, gleichgültig wie sehr er Unterschiede verschiedener Blickwinkel anerkannt hat, er doch annehmen musste, dass sie alle derselben Art sind. Nichtsdestotrotz antizipiert er in 019. vieles von Ernst von Glasersfelds Radikalem Konstruktivismus (von Glasersfeld 1990). Als er von Pasks Tod erfuhr erzählte mir von Glasersfeld, dass er sehr viel von ihm gelernt habe und ihm einiges schulde, vielleicht eine Referenz mit Bezug auf diese oder andere, ähnliche Verlegenheiten. Allwissenheit Wie auch immer, Pasks Ansatz war nicht der des radikalen Konstruktivisten. Der allwissende Beobachter bleibt, so glaube ich, im gesamten Werk Pasks implizit bestehen und liefert einen prinzipiellen Zugang zu einem vollständigen und

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korrekten Verständnis, im Lichte dessen dann unsere individuell-fehlerhaften Beobachtungen betrachtet werden können. 035a. … speaking omnisciently … 037. … the whole concept of a subsystem is „arbitrary“, in the sense that it depends not only upon the „regularities“ in the assembly which, from omniscience, we know to exist but also upon those the observer chooses to recognize. 022. Individuals circumvent their imperfections by forming a simplified abstraction of the real world, through learning and concept formation (as a result of which, amongst other things, they learn to recognize new percepts). This abstraction, of course, is a private image, but it allows them to deal with and decide about their environment. On the other hand, just because of our human limitations there is advantage to be gained if a group of observers, anxious to make the same sort of predictions, communicate with one another and in place of many private images, build up one commonly understood abstraction (such as the hypothetico-deductive structure of science). This will be a public image of the world within which all observations are assimilable and in terms of which behavioural predictions are made. An observer who subscribes to the plan, must limit himself to observations that are mutually intelligible and which can be assimilated. Again, the rules of deduction which apply in the abstract structure (and on the basis of which these predictions are made) must be rules which have met with public approval.

Für mich ist dieses Postulat der Allwissenheit (obwohl es auch zu einigen interessanten Punkten führt) eine Limitierung in Pasks Denken, wie es schon die Vorrangstellung der Physik bei Wiener gewesen ist. Ich begreife diese hier von Pask Ausdruck verliehene Auffassung von Wissenschaft als ein Stadium, von dem er glaubte, dass es sich auf einem guten Weg hin zur Allwissenheit befand. Wie auch immer, Pask hat sich dazu entschlossen, mit der Anerkennung von Allwissenheit zu leben und ist in seinem späteren Leben in die römisch-katholische Kirche eingetreten. Strukturmuster, Ungewissheit und menschliche Beschränkungen Ein Teil von Pasks Sicht auf den Beobachter entstammt einer Einschätzung der Beschränkungen des Menschen, die sich in Ashbys Ansicht von Varietät und den durch Bremermanns „transcomputability limit“ ans Licht gebrachten Restriktionen widerspiegelt (Ashby 1964, Bremermann 1962). Sie erzählen uns etwas über Begrenzungen von Informationsverarbeitungskapazitäten. Sein Standpunkt, dass wir aufgrund dieser Beschränkungen sämtliche Systeme im Wesentlichen als statistisch behandeln können, ist einfallsreich und interessant, aber ich

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widerrufe ihn später, wenn ich von den Gefahren eines „phony statisticising“ spreche. 021b. From the whole gamut of orders that appear in the world we can recognize only a few and these we can only assimilate at a limited rate… 043. Since inductive procedures do not lead to complete certainty it is, perhaps, better to say that all systems are statistical. „Determinate“ is the name we give to a system with particularly „consistent“ statistics. 038–40. There is no guarantee that an observer … will achieve a state determined system …. In this case the observer may either: (i) Examine a system of greater detail and diversity … (ii) Resort to statistical observation. 066–7. As indicated … any level of the system will learn those regularities which enable it, as a whole, to keep in equilibrium with its environment, and receive a reward. 086–7. When it comes to making cognitive „pattern recognizers“ there is argument over the merits of „pre-programmed“ and „learning“ machines. A wholly inflexible device has little practical value for even printed characters come mutilated or displaced from their reference position. The most stereotyped but still useful machines…work at frog level [a reference to „What the Frog’s Eye tells the Frog’s Brain“: Lettvin, Maturana, McCulloch and Pitts’ 1959 classic paper]. At the other extreme, Frank Rosenblatt has a particularly malleable network, the „Perceptron“, that can be trained (essentially by operant conditioning) to recognize characters. Facilitated paths in the trained network determine the attribute filters. By comparison with a structured automaton the Perceptron learns slowly. However, this is no real criticism…and the device would come into its own if we did not know exactly how or what to recognize at the outset. 021c. Whilst the ultimate restriction is imposed by our own capabilities, we are commonly up against other and artificial difficulties. Because of these the object of the study appears to be enclosed in a container, the so called „Black Box“, to which we, as observers, have incomplete access. 021a. A „Black Box“ situation gives rise to either structural or metrical uncertainty or both

Es ist interessant zu sehen, wie hier die Würdigung der Wertigkeit (sogar der Notwendigkeit) des Nichtwissens durch die Vorrichtung der Black Box, die Diskussion von Mustererkennung und die Vorstellung des unvollständigen Bildes

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vorangebracht wird. Es ist für Lernen unerlässlich, den Wert des Nichtwissens anzuerkennen. Stabilität und Schließung Pasks Betrachtungen zu Stabilität sind besonders klar und präzise. Stabilität ist entscheidend für Beschreibungsfähigkeit, doch Pask schlägt ein fortgeschrittenes Verständnis vor: Stabilität als Dynamik und Invarianz als Prozess. 011a. The crux of organization is stability, for „that which is stable“ can be described; either as the organization itself, or some characteristic which the organization preserves intact 011–2. Jim Jones is in dynamic equilibrium with his environment. He is not energetically isolated and his constituent material is being continually built up and broken down and interchanged. When we say „Jim Jones is stable“, we mean the form, the organization that we recognize as Jim Jones, is invariant. 018c. The behaviour of a statue is a special case [of the observed], for the statue is immobile, or to use an equivalent formalism, it changes at each instant of time into itself 029. … a state determined behaviour must either converge … to a fixed state called the „equilibrium point“, or enter a behavioural cycle …

Insbesondere die letzten beiden Zitate sind bemerkenswert. Das erste bewegt sich sehr nah an einer Formulierung von „Autopoiesis“ einige Jahre vor Varela, Maturana und Uribe (1974) und das zweite ist ein Vorläufer dessen, was ich „Verhalten von Objekten“ genannt habe (Glanville 1975) und von Foerster EigenObjekte benannt hat (1976). Autopoiesis ist charakterisiert als eine Organisation, die ihre Organisation erzeugt und dann aufrechterhält; von Foersters EigenObjekte nähern sich stabilen Werten an und behalten diese dann bei; mein „Verhalten“ kann man als das Durchschnittlichmachen der Sammlung aller Beobachtungen von Objekten betrachten, das immer umfassender und letztlich stabil wird. (In Calculator Saturnalia entwickeln Pask, Robinson und ich Rechenspiele, die diese Konzepte untersuchen. Louis Kauffman (2003) hat die Natur der Rekursion, wie sie zu einer Erzeugung von Eigen-Objekten tendiert, untersucht.) Konversation Konversation, ihre sorgfältige Analyse und Formulierung und ihre Einführung als ein ernstzunehmendes Mittel der Kommunikation, ist wahrscheinlich Pasks bedeutendster Beitrag zur Kybernetik und zum Verständnis menschlichen Verhaltens. Jedenfalls ist es mit einiger Sicherheit der am besten bekannte.

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Konversation ist eine Partikularisierung von Interaktion. (Pask hat später unter dem Titel einer „Interaction of Actors Theory“ an der Generalisierung von Konversation gearbeitet, genauso wie Einstein an der Allgemeinen Relativitätstheorie erst nach der Speziellen gearbeitet hat.) Hier, in An Approach, stellt Pask über das gesamte Buch verteilt Begriff und Mechanismus der Konversation vor. Der Begriff ist in einigen zuvor von mir zitierten Abschnitten bereits aufgetaucht. Hier sind einige besonders fokussierte Passagen: 102. … it is possible for an observer to make sense of what goes on – to adopt a good rewarding procedure – providing he „converses“ like the student in a teaching system. But, as a result of this close coupled interaction he fashions the system in his own image. 035b. If two people are in conversation, for example, their discourse takes place in an object language and we make comments about the conversation in a metalanguage, possibly in terms of psychology 047. Man, for example, may be specified anatomically…, or alternatively as a decision maker…. In conversation, when trying to control a man, to persuade him to do something, how do I define him? Manifestly I do not, at least, I continually change my specification in such a way that he appears to me as a self-organizing system. 093–4. The „conversation“ that leads up to this state entails two formally distinct activities: 1. … must „keep the student’s attention“ … 2. Problems must be matched to the student. … This is not the whole story. Problems are not appreciated as unitary entities, and their sequential ordering is equally part of the matching process. … To summarize; in conversation a controller is aiming: 1. To keep the student’s attention. This action is competitive … 2. To adapt the object language, which is a largely co-operative affair. In a skill like fault detection we cannot practically separate 1 and 2. But these functions are separable when there is a well-defined method of stage-by-stage learning.

Die Betrachtung der wechselnden Bestimmung, die ein Konversationspartner für den jeweils anderen erzeugt (047.), scheint mir die in der Konversationstheorie bestehende Vorstellung des psychologischen Individuums vorwegzunehmen, von

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dem in Pasks Konzeption viele in einem mechanischen Individuum (d. h. Körper) koexistieren können. Das Buch Conversation Theory macht ebenfalls Gebrauch von einer Objekt- und Meta-Sprache (035b.), obwohl Pask und ich später über den Bedarf einer dritten, der Substrat-Sprache, diskutiert haben. Kontrolle Kontrolle ist einer der zentralen anfänglichen Begriffe der Kybernetik. Daher ist es nicht überraschend, dass er in diesem Buch eine ausgiebige Rolle spielt. Interessant ist jedoch, wie Pask Kontrolle bereits in seine mehr persönlichen Begriffe, wie Konversation, point of view, Lernen und biologische Zirkularität integriert. 075. … if the environment is another man (in conversation), or an adaptive machine …, where does one control system end and the other begin? That depends upon how and why you are looking at it. 082–3. … we have seen that some controllers „learn“ how to „solve problems“ and the change of words brings us to the crux of this learning process. For it is not remarkable to find a system has responsive characteristics altered by past events. Given appropriate stimuli this is true of a chunk of iron or a slab of gelatine, certainly of any system with richly coupled subsystems and multiple equilibria. 071. It does not alter the identity between control systems to point out that most biological controllers are quite unmechanical. Often it is impossible to say „that is the controller“, or, „that is the input“. But in biology we must be more than ordinarily careful to think of systems, not things.

Die Macy Konferenzen haben sich insbesondere mit „Circular Causal, and Feedback Mechanisms in Biological and Social Systems“ befasst (von Foerster, Mead und Teuber 1950). Pask erinnert uns hier an die unumgänglich zirkuläre Vorstellung von Kontrolle. (Wieners Enthusiasmus für Newton hat viele ermutigt, dieses Verständnis zu ignorieren oder zu verstecken.) An dieser Stelle behauptet er fast schon das, was in der Kybernetik zweiter Ordnung zum Standpunkt der unverzichtbaren und rekursiven Zirkularität der Kontrolle werden sollte. Lernen und Lehren Die Konversationstheorie ist entwickelt worden, um Lernen, insbesondere computergestütztes Lernen, zu unterstützen. Pasks allerersten Maschinen waren für einen besonderen Zweck konstruierte Lehr- und Lernmaschinen von enormer Kultiviertheit. (Später kam er dazu, sie als Lernumwelten zu denken und begann

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die Vorstellung von lehrenden Maschinen und die meisten Umsetzungen solcher Maschinen zu verabscheuen, wie er in Anti-Hodmanship geschrieben hat – Pask 1972.) Pasks frühe Maschinen vom Anfang der 1950er Jahre bleiben sogar in Bezug auf heutige Standards fortschrittlich. Pasks Ansatz gründete sich schon immer auf Interaktion. Er erkannte die für menschliches Verhalten typische Sorte Flexibilität und die Fähigkeit „umzuschalten“ und zu „springen“ und arbeitete daran, sie in die Umwelt hineinzubekommen. Seine in An Approach vorgebrachten Kritiken gegen das, was damals ein naiver erzieherischer Standpunkt war (und, tragischerweise, immer noch viel zu oft ist) und gegen die Bereitwilligkeit den (menschlichen) Lernenden auf die Annehmlichkeiten der Maschine zurechtzubiegen, waren sowohl naheliegend als auch einfach, aber dennoch radikal. Seine Unterscheidung zwischen dem (verlernenden) Gehirn und dem im Gehirn entwickelten System, das lernt, ist scharf und heute noch genauso kritisch und auf tragische Weise missverstanden wie bereits 1961. 046b. When primates are learning to solve problems, their behaviour, though not strictly stationary, remains approximately so; the learning curves can be extrapolated with confidence, and the behaviour is predictable. Then, rather suddenly, the creature learns a new concept and subsequently deals with problems in a different way which it sticks to for a further appreciable interval. Once again, the learning curves can be extrapolated and a different kind of behaviour becomes predictable. But in between the two behavioural modes there is a discontinuity and prediction of the subsequent mode, given the initial mode, is impossible unless we make use of averages over an ensemble of animals. 089a. There is plenty of evidence that teaching machines work passably well. But because of the fixed programme which embodies it, the method can only be best for an average student – for those aspects of behaviour which are stationary when averaged over an ensemble of individuals (by definition, the student who learns is non-stationary. What the programmer assumes is an invariant sequence of stationary states, that characterizes optimum learning of the skill). Now this puts the onus for adaptation upon the student. He must accept the probably laudable dogma of the machine – and he does. In contrast, a real life private instructor, although he knows what he wants to achieve, has few preconceptions about how to achieve it – and he continually adapts his teaching method to the changeful quirks of each individual. Like the fixed programme machine he observes the student’s response. Unlike it, he changes his decision rule, even his syllabus, and the interaction has the logical status of a conversation, which entails compromise between the participants at each stage. The private instructor is at least an adaptive controller and there is reason to believe that, for some skills, he is more efficient than a fixed programme device.

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R. Glanville 092–3. To make sense of the process [the student entering into a conversation with the teaching machine] we must talk about systems. A brain is modified by its history, but, like any other evolutionary network, it does not learn. The student who does learn is a system developed in the brain. When the system as a whole is stable the two subsystems, man and machine, are indistinguishable and the student uses bits of machine like bits of his brain in solving a problem. 092. … [in conventional teaching machines it is not too difficult to find a measure, but it] takes no account of information derived from mistaken responses (since we do not know the significance of mistakes) and is descriptive if and only if a correct response occurs within the allowed interval.

Dieses letzte Zitat bietet eine tiefgreifende kybernetische Einsicht – dass Irrtum nicht per se schlecht ist. Ich habe seitdem oft behauptet, dass Kybernetik das erste Fach ist, das Irrtum sowohl ohne Missbilligung als auch als Faktum des Lebens akzeptiert.

3 Zum Schluss Andrew Gordon Speedie Pask Beim Lesen von An Approach to Cybernetics bin ich dem Gordon Pask, den ich das erste Mal getroffen und mit dem ich später geforscht habe, so nah, wie ich ihm seitdem immer geblieben bin. Die Präzision des Denkens, die Prägnanz der Präsentation, die Klarheit und der Fragestil leuchten für mich in diesem Buch fort und ich hoffe, dass die obigen Zitate dies auch für diejenigen ausstrahlen werden, die sich nicht so glücklich schätzen können wie ich, Pask auf diese Weise kennengelernt zu haben. All das gilt auch für seine erstaunlich vorausblickende Weitsicht. Das ist es auch, was mich dazu veranlasst, diese Arbeit als kanonisch zu bezeichnen, und zwar sowohl im Hinblick auf Pasks Werk als auch in Bezug auf Pasks Stellung innerhalb der Kybernetik. Als ich ihm bei unserem ersten Treffen in sehr verwirrender Weise von einem von mir übernommenen studentischen Projekt erzählte, ist es dieser Pask gewesen, der das, was ich so bemüht und in solcher Länge versucht habe zu sagen (und dabei gescheitert bin), mit einem Verständnis und einer diamantgleichen Schärfe und Einsicht zusammenfasste, die mir zuvor noch nie begegnet ist, und die mich zur Kybernetik verführt hat und vermutlich auch dazu, einer seiner Schüler zu werden.

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Aus meiner Sicht erscheint das Entmutigende oftmals weniger als solches, wenn eine angemessene Einweisung und eine vorbereitende Einführung in das vorausgehende Denken, den Begriffsspielraum und die Art und Weise des Erklärens erfolgt. Ich hoffe, dass andere die Qualitäten dieses kleinen Buches teilen können und dass dieses Teilen seiner Qualitäten die Tür öffnet für die von Pask später in seinem Leben geschaffenen großen Welten, denn in diesem Buch erzählt er uns im Voraus bereits einiges über diese Welten. Vielleicht werden die gewaltigen Bände zur Konversationstheorie einen einfacheren und klareren Sinn machen, nachdem An Approach im Lichte der vorliegenden Diskussion gelesen worden ist. Pask war ein erstaunlicher Mann, der erstaunliche Arbeit geleistet hat. Seine Arbeit und sein Denken werden oben dargestellt. Ich möchte mit einigen Zitaten aus An Approach to Cybernetics schließen, die etwas mehr Persönliches der Qualitäten dieses Mannes und seines visionären Charakters zeigen. 110a. … management cannot be efficient as well as authoritarian. It is an issue of persuasion, compromise and catalysis. He [Stafford Beer] always knew that men and machines were cussed. Cybernetics offers a scientific approach to the cussedness of organisms, suggests how their behaviours can be catalysed and the mystique and rule of thumb banished. 112a. You cannot add wisdom by adding heads on a committee. That is the fallacy of team research (you cannot buy a research team. With luck it grows, making its own common language and thriving on personal interplay which has nothing to do with research). 110b. Amongst the next batch of computers there will be some that are chunks of polymer, made to exist inside reaction vessels, and catalyse reactions with which they are in contact. The sensing and computing will not be distinct and maybe the effectors will also form part of the same thing. [footnote]. A further possibility, amusing in its own way, is an animal computer, which could be valuable for slow speed, essentially parallel data processing. Skinner once used pretrained pigeons as pattern recognizing automata in a guidance mechanism, and they have also been used in industry. Working along somewhat different lines Beer and I [Pask] have experimented with responsive unicellulars as basic computing elements which are automatically reproducing and available in quantity. 100. The Von Neuman machine and its environment are commonly represented by the states of a computer, but if, as I do, you like a mechanical analogy for the logical prerequisites of reproduction, you should read…

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R. Glanville 053. Do not despize the machines even if you cannot spare my childish wonderment. I have seen a kind of pianola made in 1920, which includes a fourth order non-linear servo system, and the most elaborate code transformation from the input music roll. These beautiful machines reached a peak of ingenuity years ago and, for all the talk, automation, in the classical sense, is a hoary old art. 111. …it is both distasteful and dangerous to regard man as a cheap substitute for an automaton – dangerous because there is a vicious circle and ultimately man will lose. Aus dem Englischen von Athanasios Karafillidis

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Pask, G., Glanville, R. und Robinson, M. (1980): Calculator Saturnalia, London: Wildwood House. Varela, F., Maturana, H. und Uribe, R. (1974): Autopoiesis, in: BioSystems, Bd 5. Von Foerster, H. (1976): Objects: Tokens for (Eigen-)Behaviours, in: Cybernetics Forum 8. Von Foerster, H. (1979): Cybernetics of Cybernetics, in: Krippendorf, K. (ed.), Communication and Control. New York: Gordon and Breach. Von Foerster, H., Mead, M. und Teuber, H. (eds.) (1950): Cybernetics: Transactions of the Sixth Conference, New York: Josiah Macy, Jr. Foundation. Von Glasersfeld, E. (1990): An Exposition of Constructivism: Why Some like it Radical, in: Davis, R., Maher, C. und Noddings N. (eds.), Constructivist Views on the Teaching and Learning of Mathematics, Reston, VA, National Council of Teachers of Mathematics. Wiener, N. (1948): Cybernetics, Cambridge, MA: MIT Press.

Ranulph Glanville  (†Dezember 2014), war „visiting and freelance professor of odd jobs“ am University College, London, an der University of Canberra, Australien, und der University of Western Australia, Perth. Forschungsschwerpunkte waren die Architektur, die elektronische Musik, die Kybernetik und menschliches Lernen. Zahlreiche Publikationen, darunter Objekte (1987, übersetzt und herausgegeben von Dirk Baecker) und regelmäßige Beiträge in der Zeitschrift Cybernetics and Human Knowing. In der Edition Echoraum (Wien) erscheint eine dreibändige Ausgabe seiner Werke: The Black Boox, Bd 1: Cybernetic Circles (2012), Bd 2: All Thoughts of Things (2014), Bd 3: 39 Steps (2009).

Gehirnmaschinen Über Warren S. McCulloch, Embodiments of Mind (1965) Dirk Rustemeyer

1 Worin besteht Wissen? Worin besteht Wissen? Wo existiert es, und in welcher Form kommt es vor? Gehört Wissen zu den Sachverhalten in der Welt, auf die es sich richtet? Muss es in sich selber repräsentiert sein? Wie lässt sich sicherstellen, dass seine Ordnung nicht zufällig ist, wenn doch die Ordnung des Gewussten erst über die Ordnung des Wissens sichtbar wird und Wissen die Differenz zu seinem Gegenstand ebenso konstituiert wie es diesen repräsentiert? – Fragen wie diese beschäftigen die Epistemologie seit ihren Anfängen. Universalität, Intelligibilität und zeitenthobene Identität gehören, bei allen Unterschieden der Antwortversuche, zu den bleibenden Merkmalen, die dem „Wissen“ zugesprochen werden, um seine Nichtkontingenz zu sichern. Zwischen den Formen der Welt und den Formen des Wissens existiert demnach eine Homologie, die sich im Denken symbolisch realisiert. Formen des Seins erscheinen in begrifflich-logischer Gestalt als Formen ihrer denkenden Bestimmung. „Erkennen“, in diesem Sinne einer Repräsentation von Formen, behandelt ihre Gegenstände als unterschiedene Bestimmtheiten, nicht als Produkte eigener Unterscheidungen. Aus der Intelligibilität der Formen, die mit deren Nichtzeitlichkeit zusammenhängt, scheint die Differenz zum Stoff der Bestimmtheit, der Sinnlichkeit der Wahrnehmung und dem Wandel der Phänomene zu folgen. Die Form des Wissens, über die etwas als etwas bestimmt wird, soll von dem Stoff, an dem

D. Rustemeyer (*)  Trier, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 D. Baecker (Hrsg.), Schlüsselwerke der Systemtheorie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30633-5_5

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sie sich zeigt, unterschieden, aber mit der Form des seienden Gewussten homolog sein. Die Figur des „Wissens“ erhält paradoxe Züge, weil sie die Identität einer Differenz beschreibt. Aus dieser begrifflichen Disposition resultiert ein Hiatus zwischen den – differenten – Relata der – identitätsverbürgenden – Relation: Form und Materie, Denken und Sein, Subjekt und Objekt. Idealistische oder materialistische Überbrückungsversuche dieses Hiatus stellen jeweils komplementäre, aber komplementär reduktionistische Möglichkeiten der Einziehung der Differenz dar. Die Idee von Wissen als Einheit der Differenz von Denken und Gedachtem korreliert mit einem Modell der Repräsentation, das die Homologie zwischen Form und Materie zum Rätsel werden lässt. Damit ist ein Paradigma des Erkennens skizziert, das unter dem Titel der Ontologie die abendländische Tradition prägt. Form und Stoff, Gott und Welt bezeichnen darin komplementäre Werte einer bestimmten Unbestimmtheit, die im Zusammenspiel die Bestimmtheit des Seienden ermöglichen. Weder höchste Bestimmtheit noch größte Unbestimmtheit sind als solche repräsentierbar. Sie können lediglich negativ als Ursprung der Formen oder als Möglichkeit des Wandels der Formen markiert werden. Das Nichtrepräsentierbare der Repräsentation fällt aus der Zeit, weil es Bedingung der Möglichkeit von Zeit als eines Auseinandertretens von Formdifferenzen ist. Das Schema der Repräsentation, der Zeit und des Seins ist paradox. Nichtzeitlichkeit und Zeit, simultane Einheit und prozessuale Unterschiedenheit gewinnen ihre Form erst indirekt über die Ordnung der Unterscheidungen, in denen sich „Wissen“ von Seiendem als Bestimmtem entfaltet und als rekursive Differenzierung von Formen Form gewinnt. Das Andere der wissenden Bezeichnung bleibt aus der Ordnung der Repräsentation des Wissens als absoluter Referent ausgeschlossen. Diese Ordnung der Repräsentation konstituiert demnach die Differenz, die aufzulösen sie verspricht. Hegels Modell eines absoluten Geistes versucht das Paradox des Wissens durch eine zirkuläre Selbstrepräsentation der Formen zu lösen, die auf eine finale simultane Repräsentation der Gesamtheit aller Unterscheidungen setzt, die als Einheit aller Unterschiede zugleich zeitlich und nichtzeitlich wäre und die ihre sukzessive Herausbildung in der Linearität einer „Erzählung“ darstellt, in der Subjekt und Objekt der Erzählung, Wissen und Gewusstes, Form und Inhalt koinzidieren. „Totalität“ ist der Titel für eine Figur absoluter, ihre Zeit- und Formdifferenzen in simultaner Transparenz aufhebende Selbstreferenz, die noch die Form der Form, etwas von anderem zu unterscheiden, negiert. Diese Selbstreferenz ohne Außen bleibt dabei ein Selbes, das als absoluter Referent und als Subjekt-Objekt aller Wissens-Repräsentationen fungiert und sich doch nur intern von sich selbst unterscheiden kann, um sich zu bestimmen. Hegels Dialektik versammelt die theorielogischen Möglichkeiten eines Denkens des Wissens und der Repräsentation,

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wie sie die abendländische Tradition entfaltet hat, in einem Modell konsequenter Zirkularität, das die Paradoxie der Form der Unterscheidung zur absoluten Form erklärt. Die Grenze dieses Modells der Erkenntnis liegt in der Vorstellung einer Repräsentation, die auf der Differenz zwischen Intelligiblem und Sinnlichem basiert. Ist jedoch eine Repräsentation möglich, die die Differenz zwischen Sinnlichem und Intelligiblem unterläuft, weil sie zugleich materiell und intelligibel, aber nicht das Absolute selber ist, in der die Differenz verschwindet? Ist eine Form der Selbstreferenz denkbar, die die Differenz zwischen Denken und Sein hinfällig machen könnte? Die Arbeiten Warren S. McCullochs setzen an diesem strategischen Problem abendländischer Epistemologie an (2.). Sie werfen die Frage auf, ob Phänomene der Sinnbildung kognitionstheoretisch angemessen zu beschreiben sind (3.).

2 Eine Physiologie des Wissens Der neuzeitliche Siegeszug der empirischen und angewandten Wissenschaften treibt Versuche einer philosophischen Begründung des Wissens aus einem selbstreflexiven, seine Unterscheidungen aus sich generierenden Denken in die Defensive. Sinnwissenschaften, die auf eine „hermeneutische“ Explikation der Kultur – als eines auf materielle Prozesse irreduziblen Bedeutungszusammenhangs – zielen, verlieren gegenüber den Verheißungen einer Wissenschaft an Boden, die alle, mithin auch „mentale“ Phänomene aus materiellen Voraussetzungen erklären möchte. Der Traum einer Einheitswissenschaft und einer universellen Sprache, die jedwede mentale Repräsentation in einem formalen Kalkül logischer Relationen abzubilden imstande ist, löst die Idee eines sich selbst transparenten Kosmos oder Geistes ab. Die rationalistische Vorstellung einer characteristica universalis erlebt auf diesem Wege eine empiristische Reformulierung. Droht dieser Traum zunächst an der Schwierigkeit zu scheitern, Empfindungen oder Erlebnisse in die Struktur von Sätzen verlustfrei umzuformen, so scheint dieses Problem in dem Augenblick überwindbar zu sein, in dem Empfindungen und Sprache, Körper- und Denkprozesse der gleichen Struktur unterliegen: Wenn materielle und mentale Phänomene derselben, genuin logischen Ordnung gehorchen, löst sich der Hiatus zwischen Denken und Sein ebenso auf wie das Paradox der Repräsentation, an dem ein „ontologisches“ Modell des Wissens laboriert. Die Zirkularität des sich auf sich selbst beziehenden Denkens verwandelt sich in die Rekursivität sowohl materiell identifizierbarer als auch bedeutungsgenerierende Unterschiede ermöglichender Ereignisse.

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Die Arbeiten des amerikanischen Neurophysiologen, Psychiaters und Kybernetikers Warren S. McCulloch (1898–1972) markieren wissenschaftsgeschichtlich eine Schwelle, an der diese Idee einer Einheitswissenschaft in Gestalt einer Physiologie des Wissens theoretisch wie experimentell vor einem Durchbruch steht. Das als logischer Prozess verstandene Denken wird in den Strukturen der lebendigen Materie angesiedelt und die Logik in eine Neuro-Logie auf empirischer Basis verwandelt, um das Projekt der Philosophie mit naturwissenschaftlichen Mitteln zu vollenden. Neuronale Netze wie das Gehirn weisen demnach die Struktur von „computing machines“ auf, die im Prinzip beliebig reproduzierbar sind. Mit dem Wechsel des Bezugspunktes vom „Geist“ zum maschinal aufgefassten „Gehirn“ verbindet sich der Wechsel von der Philosophie oder Psychologie zur Neurologie und Informationstheorie als Referenzwissenschaften. Diese sollen zwei entscheidende Fragen beantworten: Wie können wir überhaupt etwas über die Welt – und damit über unser Wissen – wissen, und wie können wir als lebende Systeme etwas – sei es physisch, sei es mental – wollen (S. 307)? Damit gibt McCulloch Theoriefiguren und Motive vor, die aus einem breiten interdisziplinären Forschungszusammenhang entstanden und die Debatten über „konstruktivistische“ Theorien bis heute prägen. „Konstruktivistische“ Überlegungen im Umkreis der Informationstheorie (von Foerster), der Biologie der Kognition (Maturana, Varela, Roth) oder der Soziologie (Luhmann, Baecker) wurzeln u. a. in einem Denken der Unterscheidungsoperationen, wie McCulloch es in den 40er und 50er Jahren des 20. Jahrhunderts auf experimenteller Basis in Angriff nimmt und in wegweisenden Thesen formuliert. Alan Turings Erfindung einer „computing machine“ und die Entdeckung neuronaler Impulse bilden die Voraussetzungen für ein weit ausgreifendes Forschungsprogramm, das von der Philosophie über die Psychologie, die Physiologie des Nervensystems und die Logik zur Neurologie und experimentellen Epistemologie bis hin zu einer Theorie des Gehirns führt, die die Turing-Maschine in Begriffen neuronaler Netze beschreibt. Neuronale Netze prozessieren Ereignis-Einheiten – „psychons“ – in festen Voraussetzungen und Konsequenzen, sodass sie als Zeichenkonfigurationen beschrieben werden können (S.  8  f.). „Psychons“ markieren kleinste Einheiten, die, analog zu Atomen oder Genen, weniger letzte feste Objekte als vielmehr differenzermöglichende Ereignisse markieren, die materiell und informatorisch signifikante Unterschiede machen (S. 392). Unter Rückgriff auf die Arbeiten von Charles S. Peirce glaubt McCulloch, damit die aristotelische Logik und die ihr korrespondierende Ontologie überwinden zu können: Formen sind keine (über)zeitlichen Invarianten, sondern Resultate materiell-zeitlicher Verknüpfungen zwischen Ereignis-Elementen. Referenten von Formen entstehen über differenzerzeugende Operationen; sie sind Resultate von Unterscheidungen

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und keine zu unterscheidenden Entitäten, deren externe Unterschiedenheit durch interne Unterscheidungen repräsentierbar wäre. Objekte und Ideen konstituieren sich als Produkte von Transformationsgruppen (S. 10). Dabei entstehende Figuren lösen die Vorstellung der „Gestalt“ ab, wie sie Wertheimer und Köhler auf wahrnehmungstheoretischer Basis formulierten (S. 46 f. und 56). Werden Gedanken und Wahrnehmungen als Invarianzen beschrieben, die dem Modell einer LogikMaschine folgen, lässt sich das Wissen über die Welt wie ein Sachverhalt in der Welt behandeln. Physikalische Erklärungen finden eine neurophysiologische Grundlage (S. 72 f.). Neuronale Zustände stellt McCulloch als rekursiv verknüpfte Netze logischer Relationen dar, die auf materiellen Ereignissen als zeitlichen Verkettungen beruhen und allgemeine Eigenschaften aufweisen (S. 19 ff.). Kausalität im Sinne einer beobachtbaren Verknüpfung sukzessiver eindeutiger Zustände erhält den materiellen und informationstheoretischen Sinn errechenbarer irreversibler Zustandsfolgen (S. 35). Da Nervenimpulse atomistische Signale liefern, die einem binären Schema aktiver oder passiver Zustände unterliegen, existieren neuronal repräsentierte Formen nur so lange, wie sie im Netz Widerhall finden. Das „Gedächtnis“ des neuronalen Systems hängt von den Anschlussoperationen elementarer Ereignisse ab (S. 77). Vorstellungen und Ideen bilden folglich keine besonderen Entitäten, sondern operative Figuren von Transformationsaktivitäten im Gehirn. Angesichts der Endlichkeit der Zeit des Gehirns ist die Zahl der möglichen Transformationsgruppen ebenfalls endlich und die Zahl der „Ideen“ begrenzt (S. 83). In dem Moment, da das Resultat einer Transformationsoperation zum Ausgangspunkt einer weiteren wird, kommt ein Prozess der Abstraktion in Gang, der sich immer weiter von der ursprünglichen Rezeptivität der sinnlichen Wahrnehmungsimpulse löst und ein „Bewusstsein“ im Sinne der Tradition erzeugt, das Formen über Formen bildet. Solche Formen unterscheiden sich von empiristischen „Ideen“, weil sie keine Etikette primärer Sensationen sind, die in einem zweiten Schritt erkennend geordnet und verknüpft werden. In letzter Instanz bleiben jedoch solche aufgestuften Transformationen an eine unterste Ebene atomistischer neuronaler Ereignisse gebunden (S. 84). Solche Impulse fungieren als qualitätslose und zunächst bedeutungsfreie Stimulatoren synaptisch-logischer Verschaltungen, in deren Vollzug sich allmählich relativ invariante Formen kristallisieren, deren Entstehen nicht von der Übertragung durch ein Medium der Vermittlung – sei es der Wahrnehmung, sei es des Denkens – abhängt. Der Begriff des Geistes verwandelt sich zu der Vorstellung einer komplex verknüpften neuronalen Logikmaschine. Mentale Zustände von „Erkenntnis“ besitzen keinen Ewigkeitswert, da sie nur als prozessuale Phänomene existieren und jeweils eine netzspezifische Vergangenheit

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repräsentieren (S. 142 ff.). Welt und Denken erscheinen in Form eines ständigen Übergangs, der auf quantitativen Signalen basiert, die entweder stattfinden oder nicht stattfinden. „Qualität“ kann deshalb auf quantitative Zustände zurückgeführt werden. Computer und Gehirne sind Varianten von logischen Maschinen. In diesem Lichte verliert das Problem der primären Wahrnehmung an Bedeutung. Gegen Whitehead argumentiert McCulloch, dass Formen der Wahrnehmung und des Denkens in Mustern auftreten, die in vergangenen Verknüpfungen angebahnt werden, aber unabhängig von ihren Ursprüngen existieren. Darin findet sich ein kognitionstheoretisches Äquivalent zur „Zeitlosigkeit“ der Form: Formen sind zeitliche, weil in rekursiven Transformationen stabilisierte Phänomene, die aber nicht auf Ursprünge zurückzuführen sind (S. 150). Das Problem des Ersten, des Ursprungs oder des Telos löst sich in dem Modell rekursiv kontrollierter Invarianzen auf. Auch Präferenzen – in traditioneller Terminologie: Werte – verlieren den Charakter feststehender, in Hierarchien abzubildender Größen und erweisen sich als zirkuläre Phänomene relativer Bevorzugung (S. 43). Damit verändert sich die Bedeutung „ethischen“ Verhaltens. Anstatt die Befolgung feststehender Regeln und Maximen zu bezeichnen, vermögen „ethische“ Maschinen ihr Verhalten lernend zu organisieren, indem sie induktiv die Regeln eines „Spiels“ erschließen und feldspezifische Muster der Präferenz entwickeln (S. 198 f.). In der Wissenschaft der Zeichen findet McCulloch folgerichtig die Brücke, um die Differenz zwischen Geist und Materie zu überwinden und alte Gegensätze der Erkenntnistheorie oder der Moralphilosophie hinter sich zu lassen. Zeichen nämlich haben einen genuin doppelten Status: Sie sind physikalische Ereignisse in der Welt, und sie ermöglichen mentale Repräsentationen – Ideen – ebenso wie die Unterscheidung von wahr und falsch oder von Alternativen wählbarer Zustände (S. 373). Vernunft in ihrer Definition als Fähigkeit kognitiv-erkennender und wollend-freier Unterscheidungen erscheint als emergentes Phänomen netzartiger Verknüpfungen materieller Zustände.

3 Theorie logischer Formen McCullochs experimentell begründete Überlegungen liefern das Modell einer Neubeschreibung philosophischer Problemstellungen und zielen auf eine form- bzw. logik- und informationstheoretische Einebnung klassischer Differenzierungen zwischen Geist und Materie, Subjekt und Objekt, die traditionelle Disziplingrenzen hinfällig erscheinen lässt. Welch aufschließendes Theoriepotential dieser Vorschlag entfaltet, zeigt sich rückblickend etwa an systemtheoretischen Beschreibungen von Sinnordnungen, die „Gesellschaft“

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als differenzierte Ordnung gesteigerter Unwahrscheinlichkeiten, als komplexes Sinngewebe ohne Ursprung, Zentrum oder Ziel auffassen, das die Eigenlogik systemrelativer Unterscheidungsoperationen beobachtet, ohne sie im Blick auf die Einheit einer Vernunft von vornherein zu nivellieren. Darin kommt die theoretische wie die empirische Leistungsfähigkeit eines Denkens der Differenz zum Ausdruck, das Zirkularität nicht mit Selbsttransparenz verwechselt und die das Ganze nicht als Einheit der Differenzen substantialisiert oder totalisiert. Selbstreferenz kann vielmehr als empirisch nachweisbare Rekursivität temporaler Operationen beschrieben und von der Vorstellung einer reflexiven Aufhebung der Zeit wie der zeitlich auseinandertretenden Formen der Bestimmung des Seienden befreit werden. Wissen erscheint so als einerseits empirisches, sich von kontingenten Impulsen zu stabilen Ordnungen aufbauendes, andererseits in der Logizität seiner Formen nichtkontingentes Phänomen. Dennoch provoziert die Lektüre der Arbeiten McCullochs die Frage, welche Kosten diese Theorie auf der Ebene der Phänomenbeschreibung mit sich bringt. Seine interdisziplinäre Kraft entfaltet dieser Blick, indem er unterschiedliche Objekte einer formalen Beschreibung unterwirft. Diese Beschreibung entdeckt ein universales Muster logischer Verkettungen, deren materielles Substrat hingegen austauschbar ist: Gehirne sind Maschinen neben anderen. Die „Form“ des Netzes ist interessanter als dessen „Stoff“. Gegenüber derartigen Gemeinsamkeiten tritt die Spezifität der formvermittelten Information in den Hintergrund. Auch wenn die logische Form neuronaler und elektronischer Netze gleich sein mag, bleibt die Frage, ob die derart prozessierten Zeichen auf logische Relationen und deren zeitliche Verschaltung reduzierbar sind, ohne dass diejenige Qualität unsichtbar würde, die sie zu Zeichen, also zu bedeutungsgenerativen Formen, macht. McCullochs Interesse richtet sich auf eine Theorie der logischen, weniger der sinnhaften Formen. Das Verhältnis logischer und sinnhafter Bestimmungen wird zugunsten ersterer entproblematisiert. In diesem Zusammenhang ist es instruktiv, dass McCullochs Wertschätzung vor allem dem Logiker, weniger dem Semiotiker Peirce gilt. Dessen Theorie der Relationen ist das Fundament semiotischer Sinnbildungen, die in der Relation das entscheidende Moment der Formbildung erkennt, über das Qualitäten sui generis entstehen. Peirce’ naturphilosophisches Interesse führt ihn dazu, die Kontinuität relationaler, rekursiv durch Gewohnheitsbildungen stabilisierter Identitäten so zu interpretieren, dass die Differenz zwischen Geist und Materie eingezogen wird – allerdings im Sinne einer neuen Theorie des Geistes. Aus der evolutionären Entstehung gewohnheitsmäßig fundierter Gesetzlichkeiten, die als „Natur“ beobachtet, berechnet und behandelt werden, folgert Peirce die Hypothese einer Identität von Sein und Geist. Physikalische Phänomene gewinnen

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nämlich nur als sinnhafte Form. Der Ausdruck des Geistes beschreibt eine nicht personale Ordnung kontinuierlicher, durch rekursive Anschlussoperationen semiotischer Bestimmungen erzeugter Regelmäßigkeiten (Peirce 1991, S. 133 und 138 f.). „Denken“ gilt als Zustand der Erinnerung von Aufmerksamkeit bei der Verknüpfung von Objekten (Peirce 1991, S. 317 f.). Es gründet in einer zunächst bedeutungsfreien „Erstheit“ – einem Quale-Bewusstsein –, das mithilfe habitualisierter Verknüpfungen zu bedeutungsvollen Relationen synthetisiert wird, deren symbolische Stabilisierung mithilfe replizierbarer Zeichen „Existenz“ generiert. Ähnlich wie bei McCulloch verwandeln sich die aristotelischen oder kantianischen Kategorien in zufallsbasierte kontinuierliche Formen; anders als die Hegelsche Dialektik rechnet ein solches Denken nicht mit einer zirkulär sich selbst transparenten und im Modus der bestimmten Negation logisch zusammengeschlossenen Ganzheit, die sich in sich selbst repräsentiert, um ihre internen Formdifferenzen aufzuheben. Peirce reformuliert mit semiotischen Mittel das klassische Theorem einer Identität von Geist und Sein naturphilosophisch, dessen „ontologische“ Implikationen McCulloch neuro-logisch hinter sich lassen möchte, während beide hinsichtlich einer zufallsinduzierten, rekursiv stabilisierten Theorie der Formbildung übereinstimmen. In diesem Lichte erscheint McCullochs Physiologie des Wissens als eine Variante desjenigen Paradigmas, das zu sprengen sie sich anschickt. Während Peirce dies zugestehen kann, weil für ihn die Identität von Geist und Sein letztlich semiotisch begründet wird, möchte McCulloch solche Konsequenzen vermeiden, weil er in logischen Relationen ein objektives Fundament für die Unterscheidung und Aufhebung der Differenz von Geist und Materie erblickt. Logische Relationen und ihre neurophysiologischen Voraussetzungen schöpfen jedoch das Phänomen der Sinnbildung nicht aus. Es stellt sich insofern die Frage, inwiefern eine Physiologie des Wissens im Anschluss an McCulloch tatsächlich über Phänomene spricht. Sie neigt zu einer Reduzierung von Bedeutung, die eine Beziehung des etwas-als-etwas bezeichnet, auf qualitativ identische physiologische Ereignisse. Die Umformung solcher Ereignisse zu sinnhaften Strukturen, wie sie in Wahrnehmungsvollzügen und Kommunikation zu wiederum eigenlogischen Ordnungen aufgebaut und prozessiert werden, geht in ihrer logischen Repräsentation nicht restlos auf. Richtet sich das Augenmerk hingegen auf die Komplexität sinnhafter Verweisungen innerhalb einer leiblich situierten Wahrnehmung, melden sich Zweifel an der Reichweite ihrer logischen Repräsentationsfähigkeit. Hier erscheinen Formen als zeitlich, sozial, symbolisch und kulturell geführte Bestimmungen, die sich zu Erfahrungsfeldern figurieren und mehrdimensionale Umformungen eröffnen (Merleau-Ponty 1966). Eben diese Offenheit und Perspektivität konstituiert „Sinn“, der sich zwar auch, aber

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nicht nur logisch formiert (Rustemeyer 2001). Zu jeder Bestimmtheit gehört eine konstitutive Abwesenheit, die als konkrete Spur von Möglichkeiten und als konkreter Horizont weiterer Bestimmungen fungiert. Diese prägnante Abwesenheit eröffnet kulturphilosophische Anschlussmöglichkeiten (Bermes 2005). Während der Begriff des Geistes bei Peirce eine kulturtheoretische Revision anbietet, die den naturmetaphysischen Fluchtpunkt habituell ausbestimmter Zeichen-Formen in das Modell unabschließbar offener, multiperspektivischer, in Wahrnehmung und Kommunikation dynamisch oszillierender Bedeutungsbildungen transformiert (Eco 2000, Rustemeyer 2003a), tendiert McCullochs Physiologie des Wissens zu einer eindimensionalen Beobachtungssprache. Diese Option erschwert die Anschlussfähigkeit einer Neuro-Logik für eine Theorie der Kultur, die sich für simultane Möglichkeiten der Bestimmung, für abweichende Muster der Bedeutung oder für Strukturbrüche wie Strukturtypiken der Erfahrung bzw. unterschiedlichen Möglichkeiten der symbolischen Repräsentation interessiert. In diesem Lichte erscheint es nicht als zufällig, dass systemtheoretische Weiterführungen kognitionstheoretischer Überlegungen weniger auf eine Physiologie des Wissens setzen, sondern an zentraler Stelle auf die Kategorie des Sinns zurückgreifen. Luhmanns Theorie der Gesellschaft nutzt phänomenologische Einsichten in den Horizontcharakter aller Bestimmungen, um sie zugleich kommunikationstheoretisch auszubauen. Sinn ist demnach das „allgemeine“ Medium, an dem Bewusstseins- und Kommunikationsvollzüge auf der Basis sprachlicher Formen partizipieren (Luhmann 1997, S. 199). Ohne in eine Hermeneutik des Sinns oder in eine Theorie der Verständigung zurückzuführen, in der die systemrelative Eigenlogik von Formbildungen abgeblendet würde, gewinnt hier doch die Vergleichbarkeit unterschiedlicher Sinnbildungsmöglichkeiten ein leitendes Interesse. Dieses Interesse eröffnet Perspektiven für eine Theorie der Kultur (Baecker 2001). Deren empirische Fruchtbarkeit setzt die Sensibilität für Sinnordnungen im Plural voraus. Auch „Wissen“ erhält vor diesem Hintergrund eine Signatur, die sich kontextspezifisch als Zusammenspiel mehrdimensionaler Bestimmungen entfaltet und differentielle Profile des Verhältnisses von Wissen und Nichtwissen ausprägt (Rustemeyer 2003b). McCullochs Modell einer Physiologie des Wissens liefert zentrale Hinweise auf die Eigenlogik von Formbestimmungen, aber es stellt seinerseits nur eine Möglichkeit der Beschreibung von „Wissen“ bereit. Wird es absolut gesetzt, mündet es in eine Metaphysik der Form in der Variante einer Neuro-Logik zurück, deren Revision es sich zum Ziel setzt. Eine sinntheoretische Weiterführung der formtheoretischen Einsichten McCullochs hingegen eröffnet Perspektiven einer Beschreibung kultureller Räume möglicher Bestimmungen, die im dynamischen

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Zusammenspiel von Wahrnehmung und Kommunikation Ordnungsstrukturen der modernen Gesellschaft konstituieren. Diese Ordnungsstrukturen entfalten sich über differentielle Ordnungen der semiotischen Repräsentation von Bedeutung, die auch logisch sein können, aber in (Neuro)Logik nicht aufgehen.

Literatur Baecker, Dirk (2001): Wozu Kultur? 2. Aufl., Berlin. Bermes, Chr. (2005): Kanal, Zeichen, Spur: Die Funktion der Medien, in: E. W. Orth (Hrsg.), Medien und Kultur, Würzburg. Eco, Umberto (2000): Kant und das Schnabeltier, München. Luhmann, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Merleau-Ponty, Maurrice (1966): Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin. Peirce, Charles Sanders (1991): Naturordnung und Zeichenprozeß, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Rustemeyer, Dirk (2001): Sinnformen, Hamburg. Rustemeyer, Dirk (2003a): Geschichtssemiotik, in: St. Goch und F.-J. Jelich (Hrsg.), Geschichte als Last und Chance, Essen, S. 27–43. Rustemeyer, Dirk (2003b): Wer weiß? In: D. Nittel, W. Seitter (Hrsg.), Die Bildung des Erwachsenen, Bielefeld, S. 35–52.

Dirk Rustemeyer,  Professor für Allgemeine Pädagogik an der Universität Trier und für Philosophie an der Universität Witten/Herdecke. Arbeitsschwerpunkte: Kulturphilosophie, Ästhetik, Theorie der Sinnbildung, Wissenstheorie, Sozialphilosophie, Semiotik. Literaturauswahl: Sinnformen: Konstellationen von Sinn, Subjekt, Zeit und Moral (Hamburg 2001), Oszillationen: Kultursemiotische Perspektiven (Würzburg 2006), Diagramme: Dissonante Resonanzen: Kunstsemiotik als Kulturphilosophie (Weilerswist 2009), Darstellung: Philosophie des Kinos (Weilerswist 2013), Ordnungen des Wirklichen: Weisen des Unterscheidens in Philosophie, Künsten und Wissenschaften (Freiburg, München 2017).

Strategies Beyond Systems On Ludwig von Bertalanffy, General System Theory (1968) Gerard de Zeeuw In 1968 Ludwig von Bertalanffy (1901–1972) reviewed his roughly 40 years of research experience, partly reported previously as journal articles, and published the result in a book, entitled General System Theory. It focused on the difficulties he had experienced when applying the traditional scientific method. His suggestions sparked a wave of enthusiasm and even feelings of liberation, as many authors had spent effort to deal with the same issues but were failing. Today the concept of system has permeated most academic disciplines as well as everyday life. Unfortunately, possibly due to the enthusiasm, it was scarcely noticed that von Bertalanffy had provided two extensions to the scientific method—and that the one that became popular might be the lesser of the two. The purpose of the present paper is to try and disentangle the two extensions and thereby allow a clearer picture of their advantages and disadvantages. It may reverse the balance of their popularity.

1 Introduction Although the concept of system was already in use in the 17th century (e.g. Galilei, 1632), it did not play a special role in research until the 20th century. The decisive stimulus was von Bertalanffy’s publication of 19681. It led to various 1References

in this paper are to the revised edition, 1969.

G. de Zeeuw (*)  Lincoln, UK E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 D. Baecker (Hrsg.), Schlüsselwerke der Systemtheorie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30633-5_6

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organisational activities such as the establishment of the International Society for Systems Studies (ISSS), the Systeemgroep Nederland, the Austrian Study Society for Cybernetics and several other groups in Greece, Spain and Argentina. These and similar organizations came together in 1980 in the International Federation for Systems Research. Its founding fathers were the Dutch System Group, the Austrian Study Society for Cybernetics and the ISSS. The origin of these developments may be traced back to von Bertalanffy being “puzzled” in the early phase of his career, a puzzle he would engage with during the next 40 years (von Bertalanffy 1968, p. 12). It followed from his observation that traditional scientific research of organisms and their interactions did not have the success one would have expected given its achievements in the natural sciences. One of the difficulties he encountered was acquiring knowledge of the (then and perhaps still) mystical phenomenon of purposive behavior. His original therapy (from the 1940s) was quite drastic. A “new world view” (p. vii) and a corresponding science were necessary. He later softened his stance. A completely new method was not necessary. This change may explain why von Bertalanffy was puzzled. Not only did he have to find the resources to solve one or more problems, but also identify the appropriate objective, i.e. new or a bit new. The book summarising the results of his work is entitled General System Theory. It is comprehensive—but not highly philosophical, as noted by Bertalanffy himself. Nevertheless, it made the concept of system remarkably popular and even initiated the development of a “systems movement” (p. 10). Those involved tried to deal with difficulties that went far beyond the—at that moment—mainly technical uses of the term system. Discussions concerning this extra started early and were both intense and emotional. Some focussed on the methodological status of the approaches that aimed to clarify or solve von Bertalanffy’s puzzle—as did the conferences of the Dutch system group between 1979 and 2001 under the title “Problems of …”. These and other discussions have been published in conference proceedings and magazines such as the Journal for Systems Research and Behavioral Science, published by the International Federation for Systems Research (IFSR), and in Systemica, published by the Andean Society for Systems Research and in a journal with the same name, published by the Systeemgroep Nederland. The euphoria of the first decade did not continue as it had started. Bertalanffy’s puzzle and the various problems that derived from it encountered resistance, e.g. from practitioners of traditional science. There were also other ways to deal with the puzzle (1994, 1997; Waldrop 1992). This led to critical assessments such as the comment of François (1997, p. 155) that the general system theory was not what it was supposed to be. Even so the system movement

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has proved far from futile. A large number of authors enjoy the wide-ranging type of thinking that still drives the movement. The description of the early developments presented above might not do them full justice. It should suffice here, however. More information about later developments is easy to find in libraries and on the Internet. The focus of the present paper is on what von Bertalanffy contributed in 1968. It is meant as a tribute to his efforts, but also as a discerning comment on what he unleashed. In the following section (§ 2) the main ideas of the General System Theory are summarised. This should help clarify why this theory was considered important and useful. The next section (§ 3) provides a summary of the problems that Bertalanffy faced as well as of the main features of the two approaches he proposed to deal with them. Section 4 contains a discussion of their advantages and disadvantages. Section 5 concludes the present contribution.

2 General System Theory Von Bertalanffy’s book offers a rich and quite general report of his efforts to solve his puzzle. It contains a large number of detailed arguments and topics. This makes it necessary for the purpose of this paper to emphasise certain aspects rather than others. These include the scientific quality of systems research, its subject area, the problems that emerged as well as von Bertalanffy’s two solutions.

2.1 Academic Position Von Bertalanffy starts his book with an overview in which he proudly notes that his previous publications had already helped the study of general systems become a “recognized discipline, with university courses, texts, books of readings, journals, meetings, working groups, centers, and other accoutrements of an academic field of teaching and research” (p. xvii; his italics). In later chapters he underpins this claim with examples from various disciplines, ranging from physics to psychology, sociology and history to anthropology. One of von Bertalanffy’s claims is that his system theory refers to deep questions concerning human nature. This is the extra that establishes systems research as a (partly) new “paradigm” (pp. xvii, xxi, 18, 201). He explains: “System theory […] is a reorientation that has become necessary in science in general” (p. vii). He comments that this reorientation exceeds the boundaries of specialization and heralds a “new worldview of remarkable impact” (p. vii). He

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quotes Robert Rosen who had reviewed his work positively and had noted that the book contains “surprisingly few anachronisms in need of correction (…)” (p. xviii). As befits any important development, von Bertalanffy lists a number of areas where further research can be expected to be successful. He elaborates a system epistemology to justify his expectations. It includes considerations of its consequences, such as the humanistic effects of system knowledge. It also contains arguments about the relationship between what one knows and what one can know as well as his doubts that the concept of reality is the sole justification of research—as it was for the Galilean approach. According to him “perception is not a reflection of ‘real things’ (…)” and knowledge is not a “simple approximation to ‘truth’ or ‘reality’” (p. xxii). These considerations suggest that instead of just looking for observational regularities that one can interpret as the behaviour of mechanisms, one should explore the internal perspectives of single members of a “great organization” (p. xxi). This notion refers to the world in which humans live, i.e. to the social and national organization that helps them to survive (Warfield 1990; Checkland 1981). It serves as a constraint on what its members do that does not fully determine what they will do. This means that a constraint cannot model what it constrains: it is part of the actions it allows.

2.2 Knowledge and the Concept of Closure Von Bertalanffy repeatedly points to a difficulty that traditional science faces. Unlike peanut butter, one cannot cut cows into parts that are cows themselves. Obviously, this is not a problem in daily life, in which ‘things’ or entities can be easily distinguished. But it is a big problem in the context of scientific research. Since the seventeenth century, researchers partition or split sets of observations and represent the result as variables. Although variables only order observations, they are taken to correspond to properties of the ‘things’ observed, e.g. of cowlike entities. This criterion (that it is possible to partition) was formulated at the end of a millennia long search for ways to effectively categorise people’s experiences. The breakthrough came when Galilei (1632) preferred sets of observations that could be partitioned such that the underlying entities were the same in terms of their place and time, mass and speed. Each set could be mapped therefore onto an exclusive name, e.g. ‘theory’ (or ‘statement concerning variables’, or attributes, etc.)—and is called closed under that mapping. It is also known as a study’s scientific object.

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The notion of closure was crucial to the activity that in due course came to be called the systematic acquisition of knowledge or scientific research. For the first time one could test a mapping against a precise criterion: that it would “exhaust” the set to be mapped (using von Bertalanffy’s term; p. 94). Von Bertalanffy notes a second (often preferred) criterion, as a consequence of the previous one. Searching for closed sets (under a mapping) “de-anthropomorphises” or un-biases the observations involved (pp. 242 ff.). That is to say, these observations should not be traceable back to their originators—but only to something external to the method, i.e. to ‘reality’. Over time alternative forms of testing have been identified such as that of prediction. As one cannot test against future observations one must test indirectly. First one derives future observations from a possible mapping—assuming closure. Second, when these observations eventually turn out not to correspond to actual observations that are part of the set, the mapping is deemed logically incorrect or falsified (Popper, 1959). When they do correspond to such observations, confidence that the mapping is exhaustive may (but logically need not) increase.

3 One Puzzle and two Solutions Due to its many successes in disciplines such as physics and astronomy and to incisive philosophical debates concerning its nature, it became widely believed that the scientific method would be successful in all areas of life, i.e. lead to knowledge. This belief was seriously challenged when, at the beginning of the 20th century, the method ran into difficulties when studying certain phenomena. This led to an extension of physics that eventually was labelled quantum mechanics and included a method suited to that area. This is also what happened when von Bertalanffy started to study organisms. He proved unable to close his set of observations under any mapping: each attempt would lead to a new observation that had to be added to the set. Such observations constituted what Kuhn (1962) calls anomalies: any attempt to close the set (under a mapping) would keep it open. To deal with this difficulty he needed to extend the scientific method so the anomalies could be dealt with and thereby disappear. Von Bertalanffy suggested two types of extensions to solve his puzzle. The first adds some special observations to the set of the traditional method. This solution has become highly popular; it fuelled the systems movement. The word ‘system’ refers to the entities that can be assumed to provide the observations in the set. Closure is achieved when these entities self-organise and become sufficiently stable to be observed as such.

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While trying to justify this solution he recognised the need for a more general extension. Researchers are advised to add experiences other than observations (such as emotions and preferences; Rosenblueth/Wiener/Bigelow 1943) and to order these experiences via the concept of strategies. This extension did not become as popular as the first. But it is perhaps the more important of the two. Both extensions are explored in more detail below. They are referred to as the two solutions to von Bertalanffy’s puzzle.

3.1 First Solution: The System Concept Von Bertalanffy proposed that researchers restrict their observations to the same well-defined ‘thing’. This would enable them to distinguish between observations on that thing (inside the set) and other observations (outside the set) and hence on closure. While this (first) solution would thus extend the set, results would not be tested in the way the traditional method requires. His examples confirm this: “a galaxy, a dog, a cell and an atom are real systems” (pp. xxi, 28, 29; Miller 1978). Von Bertalanffy judges that these objects exist “independently of an observer” (p. xxi)—whereas such independence should be the result of scientific testing rather than of a personal judgement (p. 180). Even so von Bertalanffy expected that this (his first) solution would not be controversial and hence that it might be “readily agreed” (p. xxi) that a system is a “set of elements standing in interrelation” (p. 38). However, he seemed aware of the sloppiness of this definition. He quotes Szent-György (p. 5), who is surprised that electrons are expected to “know exactly” how to behave in a multi-body system, whereas “all the wise men of Princeton” do not—as they are not known to be able to self-organise into a single stable system (Jantsch 1980). This awareness may explain why von Bertalanffy preferred to focus on systems that one may observe to be stable on the collective level, even when not on the individual level. They allow partitioning and hence the formulation of variables that can be modelled, particularly as differential equations (but also by using set theory, graph theory and network theory [p. 21], and Turing theory [p. 27]). This way the biasing effects of a personal choice in his first solution might be minimised. Among the variables he explores is equifinality (p. 41): “The same final state may be reached from different initial conditions and in different ways” (p. 40). Communication between elements of a system ensures equifinality. It allows members to make mistakes as well as to deviate creatively (p. 89 ff.), making “organized complexity” a property of the system (p. 34). A second variable

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is “progressive mechanization”, which occurs when interaction between the elements of a system decreases (p. 69) and fragmentation and “impoverishment” occur (pp. 70, 107). A third variable is part of the allometric equation, which shows growth patterns, for example of individual organs that contribute to the survival of an organism (p. 65). The first solution’s proposal to consider only systems that can be observed at the moment of study does not imply that one cannot acquire general system knowledge—as von Bertalanffy notes next. He asserts that “[i]ndependently of each other (…) similar problems and conceptions have evolved in widely different fields” (p. 30). He considers these “isomorphisms” (p. 149) to be due to an underlying system concept, that of a “generalized system” (pp. 32, 38). Such systems are described as open. Somewhat curiously, given the lengthy explanations, his notion of open seems to deviate considerably from that used to define the scientific method. Here the term is used to describe sets for which no mapping can be found. In contrast, von Bertalanffy refers to open systems as entities that accept inputs of energy and matter even when they are closed in the scientific sense (and can be modelled and quantified). The meaning of same term in both cases differs substantially.

3.2 Second Solution: The Concept of Strategy Although it took Bertalanffy many pages to present his first solution, he also stressed that people should not be imprisoned by their membership of a stable system. He complained about the “dominance of mass man and the suppression of the individual”, “the breakdown of the traditional system of values” and “the decay of creativity” (p. 203). To support people’s resistance to such imprisonment he strove to include personal experiences other than observations. To help increase their contribution one might include these experiences in the set of observations of the scientific method. However, simply adding them would not be sufficient. The set will still be difficult to close, as people are free to escape observation and thereby add new observations. Alternatively one might re-define observations to consist of a combination of individual experiences. One candidate for such a combination would be strategies, referring to the way people ‘know how to live’ (p. 98) and intentionally structure their next events rather than unintentionally, as a machine would. Strategies help people design their future by indicating what they might do next, rather than predict what will happen (Galison 2003).

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Strategies appear to reflect the way people organise their daily life. When they ‘know how to’ eat, for example, they are able to constrain their experiences by choosing their food such that what remains un-constrained is enjoyment and nourishment. When they know ‘how to climb’ a mountain they similarly choose their constraints (slopes, trees, brooks and ravines) as well as what is to be experienced in the future (fresh air, loneliness, broken bones and the feelings of beauty and bodily engagement). People may have different strategies—to go to a preferred cuisine or favoured mountain. As strategies are highly popular there are many names for them: plans, models for, stories, proposals, blueprints, designs, schemes, instructions, etc. Interestingly, while one might expect the concept of system to be in this list as well, this is not common practice—even though the concept is linked to strategy (via the term systematic). Some strategies turn out to be disadvantageous and to make us ill; some are seen as evidence of human wisdom and as making us happy (Ulrich 1983). Strategies are also deeply embedded in human culture. The words of a poem are intended to avoid certain experiences and enhance others, preferably those of wonder and beauty. The acts of the police are intended to immobilize thieves but also serve to have them seek their escape and gain freedom. The opposite applies as well: the reader constrains the poet, the thief the police—and going up the ladder, even the judge and the minister. Freedom and constraint are complementary. As noted, neither is a model of the other. Von Bertalanffy does not mention football, but it might serve as an example, being well known. Its rules and constraints provide a framework. This summarises the intentions players may have as part of the game as well as via what strategies they may be realised—and for the implementation of which they are responsible (p. 221). Von Bertalanffy mentions a number of such frameworks, for example the strategies embedded in decision theory (pp. 22, 28, 188). These and other strategies do not have fixed interpretations. They play a role similar to that of the mapping rather than of the set in the scientific method. They identify or carve out which experiences should be constrained and which left free. One may partition the exploration of strategies into a small number of steps— to facilitate its progress. First, one introduces a framework that includes some individual strategies. Next, one challenges a number of (selected) individuals to extend these strategies or develop new ones that remain within the constraint of the framework. Third, one tests which strategies appear to help individuals move to the future within the framework. These steps are repeated as often as possible—i.e. until the strategies exhaust the framework. A final step is to identify

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whether a new framework is needed, i.e. whether the previous framework generates anomalies. Two conclusions follow from the above. Firstly, the replacement of (reported) observations by (reported) strategies extends the traditional scientific method; it now includes those experiences that originally made it fail. Secondly, the extended method tests both the old and the new experiences. No experiences from outside of the method are necessary. One type of test involves ensuring that each strategy helps to recognise what in a local situation facilitates its implementation; the other ensuring that one searches for strategies that exhaust the framework. The link between a framework and a set of strategies is typical for formalised languages (Rorty 1967). Von Bertalanffy mentions examples such as cybernetics and game theory (pp. 194, 225, 245). Each link serves to help move a person from his or her present situation to a future preferred one, without calling for specifications that are not within that person’s local experiences—as these change quickly (pp. 21, 114). The body is as important as what is outside the body. Without it there is no football, no game, no decision and ultimately no knowing (Axelrod 1984, 1997)—but there might be knowledge. Another example is the method of traditional scientific research. Von Bertalanffy does not discuss it explicitly, but it permeates his publication. Both his solutions depend on it: they should be effective where that method is not (as Ashby [1958] notes; p. 95). It is moreover a strategy in the sense discussed above. It identifies a series of steps (collecting experiences, mapping, testing for closure, etc.) that is of sufficient quality to move one into a future where people share some experiences in the form of knowledge—and it is part of a framework (see below).

4 Discussion To detail the second solution a bit more it is attempted to reconstruct the development of the scientific method, as suggested in the last paragraph of the previous section. The method can be shown to be the result of applying the second solution. This may help to argue that it is preferable to the first solution. The origin of the scientific method may be the need to systematically treat as the same whatever differs—as a basic human strategy (an Ur-strategy, using Goethe’s term). Its framework is classification. Eventually the method was extended. Some of the extensions “prove[d] their mettle” (using Popper’s terminology 1999; p. 21), hence survived and eventually coalesced into the scientific method.

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One of the early extensions of the Ur-strategy was to include the experiences of more than one individual. It allows for the generalisation of personal experiences to collective experiences as well as for its restriction to shared experiences. It still helped to classify and hence remained one of the strategies in the original framework. Next it was realised that some classifications are preferable to others and hence that quality criteria can be included. Aristotle (384–322 BC) suggested that classifications should be precisely demarcated, its elements mutually exclusive and exhaustive (Barnes  2000). In addition, it proved difficult to classify all experiences of the previous step—so only those were included that could be classified (Arrow 1950). This restricted the extension to observations. Both extensions (adding other people’s experiences and limiting them to observations) introduced testing. They still led to classifications and hence remained part of the framework. A fourth extension arose as a way to deal with future observations. It involved deriving possible future observations from mappings that had been identified already. They could be compared to observations that would become available in the future. If both corresponded they confirmed the mapping. This strategy would still classify observations and thus continue to be part of the framework. There were further extensions—too many to be summarised in full. An example is the idea of an experimental set-up to help observe what eventually may form part of the set of observations. It is a strategy to select observations that one wishes to classify. This suggests that the set resulting from this selection is not a passive receptacle, but an active identifier. It again remains part of the original framework. These extensions of the Ur-strategy were introduced at different moments in time—but they all survived, collectively as the scientific method as well as individually. Each strengthens that method, but also identifies a weakness. One creates anomalies (or failures) when one still applies the method in case one cannot generalise, cannot check on quality, cannot restrict oneself to observations, cannot predict and cannot design an experimental set-up. Given the above it is no surprise that von Bertalanffy focussed on one of these failures, i.e. the restriction to observations, and that he tried to ensure that his extensions would stay within the same framework as the scientific method. The latter attempt may have been intended to help his work become acceptable to those who prefer the advantages of the scientific method, but also to those who had become aware of its failures. In the next sections it is attempted to compare the two solutions as to whether they are part of the same framework as the scientific method, that of classification.

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4.1 On the First Solution If von Bertalanffy had not wanted his first solution to remain within the same framework as the scientific method, he would not have resolved his original puzzle. He would just have added another method, in particular his first solution—and would have had to start its exploration anew. However his solution only appears to extend the scientific method by calling on an outside authority (what everybody accepts is a system) to close what he wishes to classify (p. 19). This means he does not test this addition inside his framework. His extension is indeed just another method, as indicated (Edelman 1989). This does not mean that he could not have conceived his first solution as a strategy in the scientific framework—even though he did not. Systems in von Bertalanffy’s sense are open to their environment. This means that one has a choice as to what the term system points to: his atom might refer to a mapping of observations onto the concept of an atom as well as of a mapping onto the actions needed to make an atom visible. The experimental set-up (included in the scientific method) might have helped to test which mapping supports closure. Von Bertalanffy does not refer to this type of testing. However he does attempt to include a (weak) form by suggesting that what is at stake is people’s “perspective view” (p.  239). People may consider different perspectives simultaneously but also switch between them (pp. xxii; 53, 107; Huizer 1997). For example, Napoleon may be described as a “brutal tyrant”, but also as a “wise planner of a unified Europe” (p. 111). One may test which perspective leads to closure. Another possibility to keep the first solution within the scientific framework would be to focus on the (human) members of a system and their interactions— rather than on the system as a stable entity. These members need not behave like the mechanisms to which Galilei restricted his method. They may choose to contribute in different ways and still contribute to the realisation of the system— and to equifinality. One might wish to test which choice could be sufficient to achieve closure. These three possibilities of keeping the first solution within the scientific framework did not escape the attention of authors like Beer (1979), Bateson (1973), Pask (1975, 1992), Churchman (1971) and von Foerster (1970). However, the popular route has been to forget that the systems approach might require a reasoned and justifiable choice of which mapping might best lead to closure. This meant that the notion of testing was loosened. That could be considered a disadvantage, but also an advantage—in that it allowed increasing numbers of people to engage in the new form of research (de Zeeuw 2003, 2004).

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That this loosening did indeed take place may be illustrated by the widely popular work of Capra (1997). He asserts that systems theory aims to replace the criterion of truth with the criterion of approximation, something von Bertalanffy had rejected (p. xxii). “In the new [system] paradigm, all scientific concepts and theories are only seen as limited and approximate (…)” (p. 41). What he is saying is that a less strict form of testing is characteristic of the (first) solution and indeed an advantage. That von Bertalanffy might have been unhappy about this type of difference with Capra may be gleaned from his curiously ambiguous stance concerning the nature of reality, as already mentioned. On the one hand he refers to systems as stable parts of reality—by claiming that they can be recognised without further testing or argument, i.e. not as approximations. On the other he denies that reality plays a part in his first solution (p. xxii).

4.2 On the Second Solution The second solution introduces a different type of extension, i.e. it removes the scientific method’s focus on observations. It advises to collect any type of (reported) experience, such as (reports of) feelings like beauty, love and despair as well as of personal preferences. The resulting set is mapped onto strategies using two forms of testing, as indicated above. Both tests are self-correcting and neither depends on an external (e.g. a researcher’s) choice. The extension is thus part of the same frame as the scientific method. No additional test procedures are needed. This justifies the second solution as an extension of the scientific method. It extends as it includes any type of experience rather than only observations. And like that method testing does not require a reference to outside authority or untested experience. This means it is part of the same framework and can indeed be called scientific—even though the extension implies a revolutionary change of “paradigm” (pp. xxi, 18). That the second solution might be the next in line in the development of the scientific method is supported by the reconstruction reported above. It made use of the second solution to explore what strategies might be part of the same framework as the scientific method—and might have contributed to its development and survival. While both approaches thus belong to the same framework, they differ in that the scientific method supports acquiring theories (and knowledge) while the second solution supports developing strategies (and knowing).

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That the scientific method has led to most of the changes in our environment and daily life is well known—from space travels to travels inside the human body. What seems less well known is that the second solution has also transformed our environment. This gap in our awareness may be due to the ease with which people can apply that solution. More or less anyone can do so, although there are considerable differences in skill. Euclidean geometry provides an example. Its strategies are widely in use— often implicitly. They require local specifications in daily life, i.e. a local pencil, local ruler and local compass. Without them one cannot draw or demonstrate anything. There are many similar collections—like analysis, where one explores strategies that take the form of differential equations. This may explain why von Bertalanffy refers to the study of systems as “pre-eminently a mathematical field” (p. vii; Prigogine 1950; Thom 1989; Takens 1981). Unfortunately he is not quite specific and alternates between the descriptive and constructive roles of mathematics. Alternatively, there are many situations where strategies appear to play an important role, but haven’t been explored yet to the point of a (nearly) exhaustive frame-strategy combination. One may think of hallucinations, which one may interpret as a fixation on some strategy (and its framework)—rather than to a disease. The opposite obviously constitutes an example as well. It is prudent for individuals to fixate on some strategy temporarily. Communication may also lead to highly stimulating collective fixations such as those of the Enlightenment. The second solution has other consequences. It relates two tendencies. One is that individuals strive to constrain what they do in their future, the other that they choose what to do within the constraints. While initially either tendency may lag behind the other, both interact and hence eventually will act at the same time—like body and mind, organism and mechanism (pp. 6, 39, 66). This appears to explain the self-referential nature of life. Paradoxes may therefore occur, e.g. when individual actions impact negatively on collective constraints and vice versa (Hardin, 1968).

4.3 On the two Solutions The relation between the two tendencies is not fixed. The two may balance (this is when paradoxes occur) or one may dominate. The scientific method dominated for a long time—as a procedure fixated on reducing or removing any personal freedom as bias. The first solution had a loosening and liberating effect on this fixation (making testing less fixed on reducing bias), as mentioned. The second

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solution may have a similar effect, when more widely adopted—even on the first solution. It focuses on helping individuals to ‘know how to live’ and make use of local opportunities. The two solutions also differ. Even if testing is made part of the first solution, as described, one may continue to study one system after another—up to the galaxy (p. xxi). This does not happen with the second solution. It is intended to identify a framework as well as the strategies in it. This means that one may exhaust a framework, as noted already. Once exhaustion is achieved one can but study other combinations of frames and strategies. This suggests a punctuated history. There are many combinations—from the Parmenidean notion of flow to the Darwinian notion of survival. Each combination shows its strength in a particular environment. This difference suggests an analogy between the second solution and the method of evolution (Knudsen 2003). Individuals who prefer a framework (and act within it) can be compared to a species, and its strategies to its individual organisms. The latter may interact and hence develop additional species—such as police, railways, lawyers and the army. Each depends on its contributors but also changes them (Glanville 1998). As in evolution there is no direction in what survives. Similar structures make it possible to improve individual feelings, such as those of beauty. The first solution apparently came at the right moment, at the right time and in the right (academic) place. The second solution seems to be what von Bertalanffy was searching for, however: a way to get out of the box imposed by the traditional scientific method, even though staying within its frame. Its time may still come— possibly under cover of other developments.

5 Conclusion It has been claimed that the concept of system dates from the time just before and during World War II and hence that it is relatively new. However, Galilei already used the term, albeit mainly in the sense of a classification. Alternatively, Bogdanov (1980) anticipated many contributions at the beginning of the 20th century. Von Bertalanffy also recognised the previous uses of the term, but linked them to engineering. He intended to change the situation—and he did, at the right time. His first solution stimulated great enthusiasm and made the concept of system popular. Such success is often considered luck, but luck has to be earned. The aim of the present paper was to clarify von Bertalanffy’s contribution. He did not just introduce a new term. He cut through to a number of difficulties that

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had been puzzling him as well as many others. The difficulties could be linked to the scientific method not being as successful as its highly revered status had led everybody to expect. This proved especially upsetting during World War II. This war increased the need for systematic prediction (and hence for traditional knowledge—the ‘what’), but also for systematic anticipation and preparation (and hence for strategies—the ‘how’). There was no method to fulfil the latter need. There were of course attempts to find such a method—before and after the war. There was, for example, Arrow’s proof (1950) that preferences could not be dealt with as if they were observations (and hence could not be mapped—so sets of preferences would be open under any mapping). Preferences remained individual or were imposed from outside—like the objectives of 1790 of the French revolution ‘liberty, equality, fraternity’ (often followed by ‘or death’). Only the second solution seems to support people to better ‘know how to live’ rather than to have better ‘knowledge of the world’. It was shown that this involves finding ways to constrain oneself while allowing an amount of freedom sufficient to make choices as well as the right choices. There is an increasing need for this kind of knowing—in almost all areas in which people have to shape or design their future but do not wish to rely only on patterns of the past. One may think of politicians, doctors, teachers, lawyers, crooks, etc. They and all other people together constitute a large (bio) mass of humans implementing strategies. They seek methods to adapt to each other to create viable futures.

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Gerard de Zeeuw is Professor Emeritus of the University of Amsterdam (Chair for Mathematical Modeling of Complex Social Systems and Innovation) and currently Temporary Professor of Research at the Free University of Brussels (BE), while still hosting seminars at the Universities of Lincoln (UK) and Amsterdam (NL). He is Cofounder of the International Federation for Systems Research and of the Systeemgroep Nederland. Correspondence address: Glebe Farm, Brattleby LN1 2SQ, United Kingdom. Email: [email protected].

Eine kybernetische Systemtheorie Über Gregory Bateson, Steps to an Ecology of Mind (1972) Wolfram Lutterer Wenn der Begriff eines „Werks“ oder gar eines „Schlüsselwerks“ so etwas wie eine sichtbare inhaltliche Geschlossenheit und eine eindeutig erkennbare zentrale Aussage des referierten Werks voraussetzt, so wird man mit Gregory Batesons Ökologie des Geistes vermutlich gewisse Mühe haben. Das Buch ist weder aus einem Guss geschrieben, noch kulminiert es in einer zentralen und für die Forschungsgeschichte wegweisenden These. Vielmehr besteht es aus einer Sammlung von fünfunddreißig Aufsätzen, die nicht nur eine von 1935 bis 1972 reichende Veröffentlichungsperiode abdecken, sondern auch den verschiedensten Veröffentlichungsbereichen zuzuordnen sind. Halbliterarische „Metaloge“ stehen neben ethnologischen Schriften, und diese neben Studien zu Pathologien in der Kommunikation, zur Delphinforschung, zu kybernetischer Theorie und anderem mehr. Und doch, wenn man von dem eigentlichen Aufsatzschreiber Gregory Bateson eine einzige Veröffentlichung als seine wichtigste bezeichnen wollte, dann die Ökologie des Geistes. Doch, wer ist Bateson und was macht seine Bedeutung für systemtheoretisches Denken aus? Noch bevor ich auf die Ökologie des Geistes näher eingehe, seien einige wenige Bemerkungen zu Batesons Biographie und Gesamtwerk vorausgeschickt. Diese vermögen einerseits den Autoren selbst etwas schärfer zu konturieren, andererseits aber auch die Ökologie des Geistes besser innerhalb seiner gesamten Veröffentlichungstätigkeit, die von 1925 bis 1980 reicht, zu verorten.

W. Lutterer (*)  Luzern, Schweiz E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 D. Baecker (Hrsg.), Schlüsselwerke der Systemtheorie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30633-5_7

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1 Leben und Werk Bateson wurde 1904 in Grantchester bei Cambridge in England geboren, siedelte 1939 in die USA über, lebte dort überwiegend in Kalifornien und starb im Jahre 1980. Soweit ein kürzestmöglicher Überblick über seine Lebensdaten (vgl. Lutterer 2000, 2002a). Batesons wissenschaftliche Anfänge bestanden in der Biologie und der Ethnologie, seine späteren Arbeiten lassen jedoch keine eindeutige fachliche Einordnung mehr zu. Er war Teil jener nahezu legendären Cybernetics Group (Heims 1991), die nach dem zweiten Weltkrieg in insgesamt zehn interdisziplinären Konferenzen (1946–53) das kybernetische Denken entwickelte und ihm zum Durchbruch verhalf. Die Kybernetik hat zusammen mit der Informationstheorie Claude Shannons, der Spieltheorie John von Neumanns sowie der Typentheorie Bertrand Russells Batesons Denken tief greifend geprägt. Die Radikalität von Batesons Kybernetik – auch im Vergleich zu Norbert Wiener selbst – offenbart sich beispielsweise darin, dass er schon 1951 die durch Heinz von Foerster in den 1970er Jahren postulierte Kybernetik zweiter Ordnung in wesentlichen Aspekten vorwegnimmt (vgl. Simon 1995, S. 315). Die gemeinsam mit dem Schweizer Psychiater Jürgen Ruesch veröffentlichte Kommunikationstheorie ist sichtbares Zeichen einer sich entwickelnden reflexiven Theorie (Ruesch/Bateson 1951). Bateson publizierte seine Gedanken meist in Aufsätzen, selten in Buchform. Trotz einer fünfeinhalb Jahrzehnte währenden Veröffentlichungstätigkeit hat er nur sechs Bücher veröffentlicht und davon sind auch noch zwei in Koautorschaft erschienen. Neben der bereits erwähnten Kommunikationstheorie zusammen mit Juergen Ruesch handelt es sich des weiteren um eine gemeinsam mit seiner damaligen Ehefrau Margaret Mead veröffentlichte ethnographische Analyse, Balinese Character (Mead/Bateson 1942), die mittlerweile als Klassiker der qualitativen Sozialforschung gilt (vgl. Wolff 1991). Ein weiteres Buch – eben die Ökologie des Geistes – stellt eine bloße Aufsatzsammlung dar und noch eines wird erst posthum durch seine Tochter Mary Catherine aus Fragmenten und Versatzstücken zusammengestellt (Bateson/Bateson 1987). Verbleiben somit nur zwei Bücher, die als solches von ihm auch als Ganzes geschrieben und vollendet wurden, sein erstes und sein letztes: Die ethnologische Studie Naven (1936) sowie Mind and Nature (1979). Ein weiteres Buch, A Sacred Unity (1991), herausgegeben durch den Bateson-Schüler Rodney Donaldson, war als solches seitens Bateson gar nicht geplant. Es versammelt eine Reihe von Aufsätzen vor allem aus den 70er Jahren und stellt somit eine wertvolle Ergänzung der anderen späten Veröffentlichungen dar.

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Die Ökologie des Geistes markiert in dieser Reihe einen wichtigen Höheund Wendepunkt: So entwickelte Bateson im Jahre 1936 bereits in Naven mit seinem Konzept der Schismogenese eine erste vorkybernetische Regeltheorie, in der bereits positive Rückkopplungsprozesse vorweg gedacht wurden. In Communication entfaltet sich 1951 seine einflussreiche und weithin rezipierte konstruktivistische und kybernetische Theorie der Kommunikation, die über zahlreiche Transformationen u. a. in die Schriften Paul Watzlawicks, dem „Neurolinguistischen Programmieren“ von Richard Bandler und John Grinder sowie auch in die Systemtheorie Niklas Luhmanns eingeflossen ist. Die Ökologie des Geistes versammelt dann 1972 in systematisch-chronologischer Ordnung die wichtigsten Aufsätze Batesons, wobei die meisten Texte aus den 1960er Jahren datieren. Damals verdichteten sich Batesons zuweilen recht disparat erscheinenden Veröffentlichungen zusehends zu einem Ganzen und kulminieren insbesondere im zentralen Vortrag „Form, Substanz und Differenz“ aus dem Jahre 1969 (S. 576 ff.). Die beiden nachfolgenden Bände, Mind and Nature und Angels Fear, erweitern und vervollständigen sein Denken weiter in Richtung auf eine kybernetisch angelegte Theorie des Geistes und damit auf ein unabgeschlossenes Projekt, das man vielleicht mit einer intendierten „Naturgeschichte des belebten Geistes“ (vgl. Lutterer 2000, S. 195) umschreiben könnte. Bateson ist während der Niederschrift zu Angels Fear (es handelt sich um die Kurzformel eines Verses von William Blake: „Where angels fear to tread, fools rush in“), seines „Testaments“ (so M. C. Bateson in Bateson/Bateson 1987, S. 12), gestorben. Dies alles sei insbesondere aus dem Grund vorweggeschickt, weil die Rezeption Batesons häufig dadurch belastet ist, dass nur Teilaspekte seines Denkens rezipiert wurden und dadurch dessen spezifischer theoretischer Gehalt und die damit ermöglichten Einsichten verlorengingen. Ich werde im Nachfolgenden näher auf das Spezifische einzugehen versuchen, was die Ökologie des Geistes ausmacht und damit vielleicht auch als ein Schlüsselwerk der Systemtheorie qualifiziert.

2 Was ist eine „Ökologie des Geistes“? Den Gesamtumfang eines Buches von weit über 600 Seiten Länge im Rahmen eines kurzen Aufsatzes erfassen zu wollen, wäre gewiss vermessen. Zudem ist Bateson ein Autor mit einer sehr hohen „Theoriedichte“. Seine Leser sehen sich mit einer großen Vielzahl von Thesen, Gedanken, Theorien und Reflexionen konfrontiert, die sich eher zu einem Netz oder zu einem komplexen Muster verbinden, als zu einem festgefügten Ganzen.

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Ich werde meine Erläuterungen zur Ökologie des Geistes daher insbesondere darauf beschränken, zu klären, was es mit einer solchen „Ökologie des Geistes“ überhaupt auf sich hat. Hierbei sei vor allem auf den bereits erwähnten zentralen Aufsatz des Buches, „Form, Substanz und Differenz“, verwiesen. Batesons Ökologie des Geistes wird dann mitsamt der darin initiierten „Wissenschaft von Geist und Ordnung“ dazu dienen, seinem Systembegriff näher zu kommen. Zunächst einige Anmerkungen zum Titel des Buches. Dieser ist in seiner deutschen Übersetzung aus mehreren Gründen irreführend. Zum einen meint das englische Mind nicht ganz dasselbe wie der deutsche Geist; zudem gebraucht Bateson diesen Begriff aber auch in einer ganz spezifischen Weise. Des weiteren hat zudem der deutsche Verlag einen Teil des amerikanischen Originaltitels weggestrichen, ebenso wie die Einleitung durch den Bateson-Studenten Mark Engel, die durch eine Einleitung des deutschen Familientherapeuten Helm Stierlin ersetzt wurde. Lesenswert sind gewiss beide. Der Originaltitel des Buches lautet Steps to an Ecology of Mind und die im Titel angesprochenen „Schritte“ sind sehr wörtlich gemeint: Bateson stellt keine ausgearbeitete „Ökologie des Geistes“ vor – was auch immer diese sein mag – sondern er liefert nur erste Schritte für eine solche und überlässt es somit seinem Leser, selber weitere Schritte zu machen. Dazu gibt es einen einleitenden Essay und dann eine lockere Bündelung von Aufsatzgruppen, welche systematischen und chronologischen Kriterien gehorcht. Die Aufsätze sind in insgesamt sechs Gruppen unterteilt: I. Metaloge, II. Form und Muster in der Anthropologie, III. Form und Pathologie in der Beziehung, IV. Biologie und Evolution, V. Erkenntnistheorie und Ökologie sowie VI. Krisen in der „Ökologie des Geistes“. Was nun aber ist „Ökologie“, was ist „Geist“? Beide Begriffe scheinen Allerweltsbegriffe zu sein, und die ökologische Krise, von der Bateson zu Beginn der 1970er Jahre spricht, ist durchaus natürlich in wesentlichen Zügen dieselbe ökologische Krise von heute. Batesons Definition des Ökologiebegriffs unterscheidet sich allerdings vom allgemein üblichen, da er auf die Kybernetik aufbaut. Auch Batesons Systembegriff folgt der Kybernetik und somit dem kybernetisch gesicherten Wissen um Stabilität und Veränderung. Als strenge Wissenschaft verfolgt die Kybernetik Kausalprozesse und interessiert sich für deren Zirkularität. Ihr Schlüsselwort lautet „Rückkoppelung“, und ihr wichtigster Begriff ist – so zumindest W. Ross Ashby – der Unterschied (Ashby 1956, S. 47). Der kybernetische Systembegriff erfasst also Phänomene als systemhaft, insofern sie kausal miteinander verknüpft und rückgebunden sind. Kybernetische Systeme interessieren sich somit nicht für Körpergrenzen, was Bateson anhand seines berühmten Beispiels des Blinden mit seinem Stock illustriert:

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„Stellen Sie sich vor, ich sei blind, und ich benutze einen Stock. Ich mache tap, tap, tap. Wo fange ich an? Ist mein geistiges System an dem Griff des Stocks zu Ende? Ist es durch meine Haut begrenzt? Fängt es in der Mitte des Stocks an? Oder beginnt es an der Spitze des Stocks? Aber das sind alles unsinnige Fragen. Der Stock ist ein Weg, auf dem Umwandlungen von Unterschieden übertragen werden. Die richtige Weise, das System abzugrenzen, besteht darin, die Grenzlinie so zu ziehen, dass man keinen dieser Wege in einer Weise durchschneidet, die die Dinge unerklärbar macht“ (Bateson 1972, S. 590).

Vielleicht wesentlich zum Verständnis dieser Sichtweise von Systemen mag der Nachsatz sein, den Bateson dazu macht: „Wenn der Blinde sich aber hinsetzt, um zu essen, werden sein Stock und dessen Nachrichten nicht mehr relevant sein – sofern es das Essen ist, was man verstehen möchte“ (S. 590). Festzuhalten bleibt damit, dass kybernetische Systeme im Sinne Batesons in einem zweifachen Sinne nicht „sind“: Sie sind es zum einen nicht, weil sie nicht fortdauern müssen, sondern schlichtweg nur das Resultat eines mehr oder minder zielgerichteten Handelns sind; zum anderen aber, weil sie Resultate von Beschreibungen und von Beschreibungsinteressen sind: Welches System interessiert mich? Welches ist die richtige Weise, dieses System abzugrenzen, ohne wichtige Kausalzusammenhänge auszuschließen? Ohne Kausalitätsannahmen und -diskurse macht eine kybernetische Systemtheorie wie wohl jede andere wissenschaftliche Theorie kaum Sinn. Ein kybernetischer Systembegriff liegt auch Batesons Definition von Ökologie zu Grunde. Für diese gilt es zwei Aspekte zu unterscheiden: erstens die Bioenergetik, das heißt die „Ökonomie der Energie und der Materialien“ (S. 591) und zweitens eine Ökonomie der Information. Während ersterer Aspekt für gewöhnlich in der klassisch biologisch orientierten Ökologieforschung untersucht wird, interessiert sich Bateson für den zweiten – und dieser ist es, der seinen Systembegriff so bedeutsam macht. Während nämlich die Bioenergetik die Grenzen irgendwelcher Einheiten in Gestalt von Zellmembranen, Haut oder auch der Menge artverwandter Individuen ansetzt, beschäftigt sich die „informatorische oder entropische Ökologie mit der Planung von Bahnen und der Wahrscheinlichkeit“ (S. 592). Bateson gebraucht in diesem Zusammenhang auch den Begriff einer „Ökologie von Ideen“. Sein kybernetisches Verständnis der Ökologie beschränkt sich somit nicht auf Pflanzen, Tiere und deren Ökosysteme, sondern hat anderes im Sinn: einen umfassenden systemischen Ansatz, der die Interdependenz sozialer, psychischer und ökologischer Phänomene zu begreifen sucht. Eine derartige Perspektive, wie sie Bateson hier einnimmt, führt zu deutlichen Verschiebungen in der Beschreibung von Phänomenen. So verändert die radikale Orientierung an kausaler Vernetzung informatorischer Phänomene

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beispielsweise die Bedeutung von „Überleben“: Die stofflichen Grenzen spielen nunmehr eine untergeordnete Rolle und somit entsprechend auch das beispielsweise durch die Haut Begrenzte. In den Mittelpunkt des Interesses rückt stattdessen das „Überleben des Systems von Ideen in einem Kreislauf “ (S. 592). Ein Beispiel: „Sokrates ist als ein bioenergetisches Individuum tot. Aber vieles von ihm lebt noch immer weiter als ein Bestandteil in der zeitgenössischen Ökologie von Ideen“ (S. 592). Damit wird zugleich die bisher vor allem als innerpsychisch verstandene Sichtweise von „Geist“ nach außen hin erweitert: „Der individuelle Geist ist immanent, aber nicht nur dem Körper. Er ist auch den Bahnen und Mitteilungen außerhalb des Körpers immanent; und es gibt einen größeren Geist, von dem der individuelle Geist nur ein Subsystem ist. Der größere Geist lässt sich mit Gott vergleichen, und er ist vielleicht das, was einige Menschen mit ‚Gott‘ meinen, aber er ist doch dem gesamten in Wechselbeziehung stehenden sozialen System und der planetaren Ökologie immanent“ (S. 593). Nachdem Batesons zuweilen sehr dichte Argumentationsweise immer wieder Missverständnisse produzierte, sei an dieser Stelle allerdings betont, dass er mit dem Gebrauch des Wortes „Gott“ nun eben genau nicht beabsichtigt, eine christliche oder sonst wie geartete Theologie in seine Theorie mit einzuführen. Er liefert hier nicht mehr als ein Beispiel und ein Übersetzungsangebot: Der – noch weiter zu spezifizierende – „größere Geist“, von dem er an dieser Stelle spricht, steht für eine ökologische Komplexität, die – da den Menschen mit umfassend – diesen notwendig übersteigt und als Ganzes daher auch nicht mehr zu erfassen ist. Ob man diesen größeren Geist nun Gott, Gesamtgeist, Gaia oder größtmöglicher Geist nennen möchte, ist nicht die interessierende Frage. Wesentlich für Systeme ist ja schließlich eine Teil-Ganzes-Relation, und das „Ganze“ des Systems ist je nach Interpretation mehr bzw. besser noch etwas Anderes als die bloße Summe seiner Teile. Aber was ist nun „Geist“? Für Bateson erhalten bereits recht einfache Phänomene das Attribut „geistig“. In dem Aufsatz „Form, Substanz und Differenz“ definiert er die Begriffe Geist und Idee in folgender Weise: „Das elementare kybernetische System mit seinen Nachrichten in Kreisläufen ist in der Tat die einfachste Einheit des Geistes; und die Umwandlung eines Unterschiedes, der sich in einem Kreislauf fortpflanzt, ist die elementare Idee. Bei komplizierteren Systemen ist es vielleicht eher angezeigt, sie geistige Systeme zu nennen, aber im wesentlichen ist es das, worüber wir sprechen. Die Einheit, welche das Merkmal von Versuch und Irrtum zeigt, wird zu Recht als ein geistiges System bezeichnet“ (S. 589 f.). Damit wird der Begriff des Geists eines jeglichen potentiellen spiritualistischen Beiklangs entledigt. Geist ist ein universelles Phänomen,

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das überall dort vorliegt, wo Information verarbeitet bzw. aus Irrtümern gelernt wird. Nach Bateson verfügt bereits eine Amöbe über Geist: Sie vermag sich zielgerichtet zu bewegen. Phänomene wie Bewusstsein oder gar Selbstbewusstsein bauen in komplexerer Gestalt auf einfacheren geistigen Prozessen auf. Batesons Geistbegriff mag zwar recht ungewohnt erscheinen, er bietet jedoch deutliche Vorzüge, denn mit ihm wird konsequent der Übergang zwischen der Welt der Materie und der Energie und der Welt der Information und des Geistes markiert, werden rein physikalische von informatorischen Prozessen unterschieden. Die Ökologie des Geistes steht damit für eine andere Weise, über Ideen und „Aggregate von Ideen“ (S. 15) nachzudenken. Bateson interessieren hierbei insbesondere drei Systembereiche mitsamt deren Interaktion: Das menschliche Individuum (psychisch wie physisch), die Gesellschaft, in der das Individuum lebt und schließlich das Ökosystem, die „natürlichen biologischen Umgebungen dieser menschlichen Tiere“ (S. 553). Ebenso wie etwa Jean Piaget oder Norbert Elias interessiert er sich besonders für die Verwobenheit menschlichen Denkens und Erkennens mit seinem sozialen Kontext. Bateson begreift seinen Entwurf als eine Absetzung von der Freudschen Psychologie und damit als eine Erweiterung des Geistes nach außen (S. 593), was sein Denken für soziologische Systemansätze bedeutsam macht. Und ebenso wie „Denken“ nunmehr beispielsweise auf das System „Mensch plus Computer plus Umgebung“ (S. 620) anwendbar wird, so können auch evolutorische Prozesse systemhaft gedeutet werden: Die Evolution des Pferdes wird nicht mehr – wie etwa im Alltagsdarwinismus – als eine „einseitige Anpassung an das Leben auf grasbewachsenen Ebenen“ gedeutet. Stattdessen zeigt Bateson, dass sich auch die „Grasebenen ihrerseits pari passu mit der Evolution der Zähne und Hufe der Pferde und anderer Huftiere“ entwickelten (S. 215). Ko-Evolution ist damit genauso ein Stichwort dieser „Ökologie des Geistes“ wie die zu berücksichtigende Kreislaufstruktur oder Vernetztheit sozialer und kognitiver Phänomene. Dabei warnt Bateson vor einer Ignoranz der systemischen Natur von Mensch, Kultur wie auch Natur, denn ein Teil kann „niemals das Ganze kontrollieren“ (S. 563). Batesons Systemtheorie ist eine systemische Theorie (vgl. Lutterer 2002b).

3 Eine Wissenschaft von Geist und Ordnung Erklärtes Ziel der Ökologie des Geistes ist eine neu zu erarbeitende Wissenschaft, die Bateson als die „Wissenschaft von Geist und Ordnung“ bezeichnet (S. 15). Er liefert hier allerdings, wie bereits angesprochen, in erster Linie Steps, das heißt eine Sammlung erster Schritte und beispielhafter Analysen. Dies mag

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Batesons Buch vielleicht bei dem einen Leser einen neuen Horizont eröffnen für eine wissenschaftlich fundiertere Art zu denken, wird andere Leser hingegen ratlos zurücklassen, weil statt der einen These viele ineinander verknüpfte Thesen vorgestellt werden und eine direkte Anwendbarkeit dieser Ideen zwar auf der Hand zu liegen scheint, sich zugleich jedoch einer direkten Umsetzung entzieht: Bateson schrieb weder Handbuch noch Lehrbuch. Das zentrale Thema des Buches ist Erkenntnistheorie, das heißt unsere Weise zu erkennen und damit Wissenschaft zu betreiben. Bateson macht klar, dass die vielfältigen Reduktionismen, die wir wissenschaftlich zu betreiben gewohnt sind, oft genug Ausdruck einer spezifisch menschlichen Hybris sind. Die von ihm damit geäußerte Wissenschaftskritik ist vehement und hat wohl nicht zufällig in den 1970er Jahren dazu geführt, seine Gedanken als New-Age-Denken zu verfemen und somit wissenschaftlich zu neutralisieren. Bateson kritisiert in diesem Zusammenhang insbesondere „einschläfernde Hypothesen“ in der Wissenschaft, das heißt Hypothesen, durch welche die kritische Instanz innerhalb des Wissenschaftlers selbst gewissermaßen zum Einschlafen gebracht wird: „Molière beschrieb vor langer Zeit ein mündliches Doktorexamen, bei dem die gelehrten Doktoren nach ‚Ursache und Grund‘ fragen, warum Opium die Menschen in Schlaf versinken lässt. Der Kandidat antwortet triumphierend im Küchenlatein: ‚Weil eine einschläfernde Kraft darin wirkt (vis dormativa)‘“ (S. 21). In einem seiner Metaloge – halb fiktive Gespräche mit Tochter Mary Catherine – zeigt er ein weiteres Beispiel für derartige Hypothesen: Die Tochter fragt: „Was ist ein Instinkt?“ – Der Vater: „Ein Instinkt, meine Liebe, ist ein Erklärungsprinzip.“ Die Tochter hakt nach: „Aber was erklärt es?“ – Der Vater: „Alles – fast alles. Alles, was man damit erklären will“ (S. 73). In diesem Sinne aber könnte man gleichwohl auch Systembegriffe charakterisieren. Die Frage, die Bateson uns daher bis heute mitgibt, lautet: Was ist ein System? Wozu dient diese zentrale Metapher? Insgesamt markiert die Ökologie des Geistes also einen Höhe- und Wendepunkt in Batesons fünfzigjähriger wissenschaftlicher Veröffentlichungstätigkeit. In diesem Buch verdichtet er verschiedene, nur scheinbar lose verknüpfte Fäden früherer Publikationen. Die darin vorgestellte kybernetische Erkenntnistheorie eröffnet in der Folgezeit zunehmende Einsichten in die systemhafte Natur unserer ökologischen, sozialen und psychischen Lebenswelt. Batesons großes Thema während all dieser Zeit sind Kommunikation und Erkennen. In insgesamt vier großen Entwicklungsschüben analysiert er pathogene Kommunikationsmuster und die darin ersichtliche Verknüpfung von Verhalten mit innerer Haltung (ausführlicher: Lutterer 2000). In den 1930er Jahren werden mit dem Konzept der Schismogenese eskalierende Verhaltensweisen

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analysiert, so wie sie in sich gegenseitig aufschaukelnden Konkurrenz- und Streitsituationen aller Art vorliegen (Naven, vgl. in der Ökologie des Geistes, S. 99 ff.). In den 1950er Jahren bezieht er Fragen des Verhaltens auf den Aufbau innerer Haltungen und entdeckt mit der Double-Bind-Theorie einen kommunikationstheoretischen Schlüssel zum Verständnis von schizophrener und paradoxer Kommunikation (S. 270 ff.). In den frühen 70er Jahren, auf der Höhe der Veröffentlichung der Ökologie des Geistes erkennt er dann in einer weiteren Wendung nach „innen“ die Problematik einer nur zweckorientierten Rationalität und dem daraus folgenden Mythos möglicher Kontrolle sowie wirkender Macht (S. 566 ff. und 614 ff., u. a.). Eine letzte Wendung schließlich umreißt in Wo Engel zögern (Angels Fear) das Problem pathogener Kommunikation im Sinne einer notwendigen Nicht-Kommunikation – wobei nicht zu vergessen sein sollte, dass es Bateson ist, der zusammen mit Ruesch in den 1950er Jahren den Gedanken eines „Wir können niemals nicht kommunizieren“ entwickelte und somit Kommunikation zur „sozialen Matrix“ erklärte. Die Ökologie des Geistes nimmt nun also in diesem Lebenswerk eine mittlere Rolle ein, das heißt seine Theorie ist zwar noch nicht vollständig entwickelt, doch schon hinreichend gereift. Das Buch bietet damit eine Mittlerrolle an, die ihrem Leser die Gelegenheit bietet, in ein systemisches Denken einzusteigen, das bis heute und dies durchaus mit Notwendigkeit Entwurf bleibt, also ein Versprechen und eine uneingelöste Hoffnung zugleich.

Literatur Ashby, W. Ross (1956): Eine Einführung in die Kybernetik, Frankfurt: Suhrkamp, dt. 1985. Bateson, Gregory (1936): Naven, A Survey of the Problems suggested by a Composite Picture of the Culture of a New Guinea Tribe drawn from Three Points of View, Cambridge: Cambridge Univ. Press. Bateson, Gregory u. Mead, Margaret (1942): Balinese Character: A Photographic Analysis, New York: The Academy. Bateson, Gregory (1972): Ökologie des Geistes: Anthropologische, psychologische, biologische und epistemologische Perspektiven, Frankfurt, Suhrkamp, dt. 1985. Bateson, Gregory (1979): Geist und Natur: Eine notwendige Einheit, Frankfurt: Suhrkamp, dt. 1982. Bateson, Gregory u. Bateson Mary Catherine (1987): Wo Engel zögern: Unterwegs zu einer Epistemologie des Heiligen, Frankfurt: Suhrkamp, dt. 1993. Bateson, Gregory (1991): A Sacred Unity: Further Steps to an Ecology of Mind (Hg. Rodney E. Donaldson), San Francisco: HarperCollins. Heims, Steve (1991): The Cybernetics Group, Cambridge, MIT Press.

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Lutterer, Wolfram (2000): Auf den Spuren ökologischen Bewußtseins: Eine Analyse des Gesamtwerks von Gregory Bateson, Norderstedt: Libri BoD. Lutterer, Wolfram (2002a): Gregory Bateson: Eine Einführung in sein Denken, Heidelberg: Carl-Auer-Systeme. Lutterer, Wolfram (2002b): Die Ordnung des Beobachters: Die Luhmannsche Systemtheorie aus der Perspektive systemischer Theorie, in: Sociologia Internationalis, 40. Jg., H. 1, S. 5–33 Ruesch, Jürgen u. Bateson, Gregory (1951): Kommunikation: Die soziale Matrix der Psychiatrie, Heidelberg: Carl-Auer-Systeme, 1995. Simon, Fritz B. (1995): Nachwort zu deutschen Ausgabe, in: Ruesch/Bateson, Kommunikation. Die soziale Matrix der Psychiatrie, S. 315–318. Wolff, Stephan (1991): Gregory Bateson & Margaret Mead: Balinese Character (1942) – Qualitative Forschung als disziplinierte Subjektivität, in: Uwe Flick (Hg.): Handbuch Qualitative Sozialforschung, München: Psychologie Verlags Union, S. 135–141.

Wolfram Lutterer, freier Wissenschaftsautor und Standortleiter Uni/PH-Bibliothek an der Zentral- und Hochschulbibliothek Luzern. Arbeitsschwerpunkte: Bildungstheorie, systemische Theorie, Pathologien in der Kommunikation. Ausgewählte Publikationen: Der Prozess des Lernens (2011), Gregory Bateson: Eine Einführung in sein Denken (2009), Auf den Spuren ökologischen Bewusstseins (2000). Homepage: www.lutterer.de.

Ganzheit und Teile – Paradoxie oder Dialektik? Über I.V. Blauberg, V. N. Sadovsky und E. G. Yudin, Systems Theory, Philosophical and Methodological Problems (1977) Günter Ropohl Igor Viktorowich Blauberg (1929–1990), Vadim Nikolayewich Sadovsky (1934– 2012) und Erik Grigoryevich Yudin (1930–1976) haben am Institut für Geschichte der Wissenschaft und Technik der Russischen (damals Sowjetischen) Akademie der Wissenschaften in Moskau gearbeitet. Sie griffen die systemtheoretischen Ansätze auf, die sich seinerzeit im „westlichen“ Denken verbreiteten, und verdichteten diese Ansätze zu einer bemerkenswert übersichtlichen und reflektierten Darstellung, die damals von keinem anderen Buch übertroffen wurde. Ein Vierteljahrhundert lang, teilweise sogar länger, war es strittig, wie sich die Kybernetik (Norbert Wiener) und die Systemtheorie (Ludwig von Bertalanffy) zueinander verhalten (Lenk/Ropohl 1978). Dieses Buch tendiert zu der Ansicht Bertalanffys, dass die Kybernetik „nur ein Teil der allgemeinen Systemtheorie“ ist (Von Bertalanffy 1968, S. 17). Diese Auffassung gewann seit den 1960er Jahren immer mehr Anhänger. Beispielsweise erhielt ein polnisches Buch, dessen englische Übersetzung 1960 unter dem Titel Cybernetics Without Mathematics erschienen war, in der deutschen Übersetzung sechs Jahre später den Titel Kybernetische Systemtheorie ohne Mathematik (Greniewski/Kempisty 1966). So stellen denn Blauberg, Sadovsky und Yudin fest, „dass die kybernetische

Übersetzungen der Zitate aus dem Englischen vom Verfasser. G. Ropohl (*)  Karlsruhe, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 D. Baecker (Hrsg.), Schlüsselwerke der Systemtheorie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30633-5_8

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Blütezeit ihren Höhepunkt überschritten hat“ (S. 285). Auch in den Wissenschaften kommen und gehen die Moden… Was freilich jenseits aller Modeströmungen liegt und der Kybernetik wie der Systemtheorie gemeinsam ist (S. 291), ist das seit langem bekannte Unbehagen mit der immer weitergehenden Spezialisierung der Wissenschaften, die vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sehen, die, im Klartext, die Vielfalt der Einzelfragen, die sie minutiös erforschen, nicht mehr in einen sinnvollen Gesamtzusammenhang zu stellen vermögen. Im ersten Kapitel betrachten die Autoren den Systemansatz als eine Reaktion auf die ihrer Ansicht nach problematischen Forschungsstrategien der herkömmlichen Wissenschaft, die bestimmte Erkenntniswege verstellten: den „Elementalismus“ und den „Mechanismus“ (sic!, S. 16). Der Elementarismus – andere Systemtheoretiker sprechen auch vom „Atomismus“ – verkürzt die Erkenntnisperspektive auf immer engere Ausschnitte bis hin zu den kleinsten Teilen und ist darum komplexen Gegenständen nicht gewachsen. Der Mechanizismus reduziert alle Zusammenhänge auf einfache, eindeutig determinierte Ursache-Wirkungs-Beziehungen und verfehlt multifaktorielle und stochastische Beeinflussungsverhältnisse. Am Rande sei beklagt, dass auch die Arbeiten zu Kybernetik und Systemtheorie, die solchen programmatischen Äußerungen zufolge die Sektoralisierung der Erkenntnis überwinden sollten, der Zersplitterung in konkurrierende Lehrmeinungen und Schulen nicht entgehen konnten. Oder könnte sich jemand anheischig machen, in der vorliegenden Sammlung von „Schlüsselwerken“ einen gemeinsamen archimedischen Punkt zu identifizieren? Die Vertreter des radikalen Konstruktivismus jedenfalls, die hier nicht fehlen, würden schon dieser Frage jeden Sinn absprechen. Gewiss sind auch Blauberg, Sadovsky und Yudin keineswegs einem unkritischen Realismus verfallen, den man dem Materialismus gerne vorwirft, und betonen „das allgemeine philosophische Prinzip der Relativität der Wahrheit“ (S. 282), doch scheinen sie keinen Zweifel daran zu lassen, dass die Gegenstände, von denen sich die Systemtheorie Bilder macht, nicht bloß eine menschliche Illusion sind; ausdrücklich erwähnen sie den Kritizismus von Immanuel Kant (S. 19). Die Verfasser betrachten als wesentliche Strömungen des Systemdenkens die strukturfunktionalistische Theorie in der Soziologie, den Strukturalismus in Ethnologie und Linguistik sowie den systemtheoretischen Ansatz im engeren Sinn. In diesen Strömungen, so unterschiedlich sie auch sind, glauben Blauberg, Sadovsky und Yudin eine Reihe von Gemeinsamkeiten erkennen zu können, wobei allerdings das systemtheoretische Denken den kategorialen Hintergrund abzugeben scheint. Dazu zählen 1) die Idee der Ganzheit, die einer Umgebung gegenüber steht und sich aus Elementen zusammensetzt; 2) der, wenn auch

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manchmal unbestimmte, Begriff der Verknüpfung zwischen den Elementen; 3) das Konzept der Struktur und Organisation des Systems als Gesamtheit der Verknüpfungen; 4) die Annahme einer Hierarchie verschiedener Ebenen eines Systems, das nicht nur aus verknüpften Teilen besteht, sondern auch mit anderen Teilen eines größeren Ganzen verknüpft ist; 5) das Problem der Steuerung und, damit zusammenhängend, 6) die Frage der Ziele, an denen sich Steuerung orientiert, sowie 7) der Selbstorganisation und 8) der Entwicklung (S. 37–40). Luhmann-Anhänger seien ausdrücklich darauf hingewiesen, dass dieser Übersicht zufolge die Differenz von System und Umgebung keineswegs das alleinige oder hervorstechende Charakteristikum des Systemdenkens ist, zumal die Umgebung leicht als höherstufiges „Supersystem“ zu modellieren ist. Nach diesem allgemeinen Überblick wenden sich die Autoren im zweiten Kapitel Ludwig von Bertalanffy zu, den sie wohl zu Recht als den geistigen Vater der Allgemeinen Systemtheorie ansehen. Sie schildern Bertalanffys Denkweg, der von Problemen der theoretischen Biologie ausging und schließlich in seiner klassischen Publikation von 1968 gipfelte (worüber in vorliegendem Buch an anderer Stelle ausführlich berichtet wird). Interessant sind Hinweise darauf, dass dieser Weg nicht immer geradlinig verlief. Beispielsweise hatte Bertalanffy, der in frühen Jahren dem neopositivistischen „Wiener Kreis“ nahegestanden hatte, ursprünglich gehofft, mit der Systemtheorie das Leibnizsche Programm einer „mathesis universalis“, einer allumfassenden „Einheitswissenschaft“, einlösen zu können, das vor dem Zweiten Weltkrieg Rudolf Carnap und andere Mitglieder jenes Kreises verfolgt hatten. Später hat er diese Erwartung mit deutlichen Worten aufgegeben (S. 66). An anderer Stelle des Buches werden weitere Inkonsistenzen in Bertalanffys Ideen (S. 189 ff.) besprochen. Das dritte Kapitel beschließt den ersten, historischen Teil der Untersuchung mit einer knappen Skizze der systemtheoretischen Entwicklung zwischen 1950 und 1970, die durch etliche, meist von Bertalanffy und voneinander unabhängige und miteinander konkurrierende Entwürfe gekennzeichnet ist. Auf die höchst detailreiche und informative Aufzählung von Namen und Organisationen braucht hier nicht näher eingegangen zu werden (obwohl bemerkenswerte Autoren wie z. B. der ostdeutsche Georg Klaus fehlen; Klaus 1967). Es ist auffällig, wie viele russische Quellen dabei genannt werden; ob das die wirkliche Forschungslage widerspiegelt oder eher nationale Rücksichtnahmen, ist in sprachlicher Unkenntnis der russischen Belege nicht zu entscheiden. Richtig ist, dass die Vielfalt heterogener Ansätze bis heute – also auch fast 40 Jahre nach Erscheinen des Buches, in dem das für die nahe Zukunft erwartet worden war (S. 71) – keine Synthese gefunden hat, der alle Systemforscher zustimmen würden. Es sei dahingestellt, ob das in der „Natur der Sache“ liegt oder vielmehr in der „Natur der

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Forscher“, denen abgrenzende Selbstprofilierung – aus naheliegenden wissenschaftssoziologischen Gründen – offenbar wichtiger scheint als die vereinende Selbstanwendung des Systemdenkens auf die „Gemeinschaft“ der Forschenden. Der zweite Teil des Buches wendet sich systematischen Problemen des Systemansatzes zu, der im vierten Kapitel noch einmal zusammengefasst wird. Dann erörtern die Verfasser Gesichtspunkte, die sie als philosophische Fragen apostrophieren. Dieses fünfte Kapitel ist in jener unverbindlichen Allgemeinheit gehalten, die in philosophischen Texten der Sowjetunion jener Zeit verbreitet war und offenbar allzu dezidierte Aussagen darum vermied, weil man der herrschenden Orthodoxie keine Angriffspunkte bieten wollte. So vermisst man in diesem Teil, auch wenn vom „Systembild der Welt“ gesprochen wird (S. 94 ff.), eine klare Stellungnahme zu der sonst im dialektischen Materialismus immer wieder betonten „Grundfrage der Philosophie“, in diesem Fall der Frage, ob „Systeme“ in der materiellen Wirklichkeit als solche existieren oder ob sie als ideelle Gedankenvorstellungen aufzufassen sind, die sich Modellkonstrukteure von realen Ganzheiten machen (dazu Ropohl 2012, S. 51 ff.). Später allerdings deuten Blauberg, Sadovsky und Yudin vorsichtig an, dass sie wohl der zweiten Auffassung nahestehen (S. 118 ff.). Auch gehen die Verfasser nicht auf mögliche Geltungskriterien ein, mit denen systemtheoretische Forschungsergebnisse zu beurteilen wären, zumal manche Wissenschaftsphilosophen behaupten, dass jedenfalls das Kriterium der empirischen Prüfung gar nicht sinnvoll anzuwenden wäre. Pflichtschuldigst erklären schließlich die Autoren, dass der Systemansatz mit dem dialektischen Materialismus verträglich wäre, ohne allerdings diesen Anspruch im Einzelnen zu belegen. Nach diesen „weltanschaulichen“ Unschlüssigkeiten wenden sich die folgenden Kapitel wieder den Grundbegriffen des Systemansatzes zu, geben informative Überblicke über die zahlreichen Definitionsversuche und diskutieren deren Gemeinsamkeiten und Unterschiede mit beträchtlicher Präzision (von der noch heute manche Systemdenker lernen könnten). Jede Systemforschung muss sich dem methodischen Wechselspiel von Analyse und Synthese stellen. Man verfiele der Mystifikation, wenn man Ganzheiten nicht hinsichtlich ihrer Teile analysieren würde, doch man verlöre die holistische Perspektive, wenn man nicht auch die Synthese der Teile zur Ganzheit thematisieren würde. Es verwundert, dass dieses Nebeneinander der unterschiedlichen Sichtweisen später (S. 268 ff.) als „Paradoxie“ eingestuft wird; dass Analyse und Synthese u. U. in mehrfachen aufeinander bezogenen Iterationsschritten verfeinert werden können, mag man durchaus als eine „dialektische“ Methode bezeichnen. Dann wenden sich die Verfasser dem Systembegriff selbst zu, der in der Literatur in etlichen Varianten definiert wird. Allen mehr oder weniger

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gemeinsam ist die Vorstellung, dass ein System eine Menge von Elementen darstellt, die durch Verknüpfungen zu einer Ganzheit verbunden sind. Das ist übrigens, was hier nicht erwähnt wird, das klassische Konzept der Ganzheit, das schon Aristoteles eingeführt hat (vgl. Ropohl 2012, S. 25 f.). Im Übrigen werden als typische, aber nicht immer relevante Merkmale gewisse Charakteristika aus dem ersten Kapitel wiederholt, nämlich Verbindungen mit einer Umgebung sowie die Stellung des Systems in einer Hierarchie (S. 126 f.). In dieser Passage, aber auch an anderen Stellen, zeigt sich eine gewisse Redundanz der Abhandlung, die wohl damit zu erklären ist, dass die Teile des Buches jeweils nur von einem oder von zweien der drei Autoren verfasst worden sind. Dabei werden manchmal auch unterschiedliche Akzente gesetzt. Während im fünften Kapitel der Modellcharakter des Systembegriffs unbestimmt blieb, wird er jetzt ausdrücklich als „Erkenntniswerkzeug“ bezeichnet, „das darauf abzielt, einen bestimmten idealen Gegenstand zu beschreiben“ (S. 128; Hervorhebung im Original). In diesem sechsten Kapitel versuchen sich die Verfasser mit einer eigenen mengenalgebraischen Systemdefinition (S. 133). Sie bestimmen ein System S als Klasse der Mengen {Msi}, {Lsj} und {Ksh}:

S = {Msi , Lsj , Ksh } Darin bedeutet {Msi} die Teilklasse der Mengen i, welche die Elemente des Systems enthalten, {Lsj} die Teilklasse der Mengen j, die Teile der Elemente enthalten, und {Ksh} steht für die Teilklasse der Mengen h, in denen das betrachtete System als Element auftritt. Damit soll das System als hierarchisches Gefüge von Subsystemen und Sub-Subsystemen sowie seinerseits als Subsystem eines Supersystems gefasst werden. Diese Definition hebt einseitig auf die Systemhierarchie ab und hat den Schönheitsfehler, dass das Definiendum S zugleich als Definiens in {Ksh} auftritt; möglicherweise sehen die Autoren darin eine ihrer „Paradoxien“, auf die später noch zurückzukommen ist. Jedenfalls scheint diese Bestimmung nicht besonders befriedigend. Einerseits reicht sie nicht aus, um Systemmerkmale abzudecken, die in folgenden Abschnitten besprochen werden, und andererseits ist ihre Relevanz nicht einzusehen, wenn später das formale Konzept von Mihajlo D. Mesarović als „eine der fortschrittlichsten Entwicklungen in diesem Forschungsfeld“ bezeichnet wird (S.  178). Bei der Diskussion von Systemmerkmalen wie „Element“, „Ganzheit“, „Verknüpfung“ „Offenheit“, „Geschlossenheit“, usw. verfallen die Autoren einerseits in eine wenig systematische Aufzählung verschiedener, aber eigentlich ähnlicher Auffassungen und unterscheiden andererseits nicht immer zwischen formalen und substanziellen Ansätzen. Im Konflikt zwischen referierender Beschreibung und eigenständiger Rekonstruktion überwiegt meist

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der unreflektierte Bericht. Auch werden zwei für die Systemtheorie zentrale Begriffe nicht hinreichend thematisiert: die „Funktion“ als Transformation von Inputs, Zuständen und Outputs sowie die „Struktur“ als Menge der Verknüpfungen zwischen den Elementen, zwei Begriffe, die man beide leicht aus dem mengenalgebraischen Relationengebilde à la Mesarović ableiten kann (vgl. Ropohl 2012, S. 77). Das siebte Kapitel, „Allgemeine Systemtheorie“ überschrieben, wiederholt wiederum Manches aus den vorausgegangenen Kapiteln, die sich bereits mit den Bausteinen der Theorie befasst hatten, trägt allerdings einige interessante Themen nach, so insbesondere die Konkurrenz formaler Ansätze wie der infinitesimal mathematischen Definition Bertalanffys und der mengenalgebraischen Definition von Mesarović. Auch verdient der Gedanke Beachtung, ob die Systemtheorie als Theorie über Gegenstände oder als Metatheorie über die Bildung und den Aufbau von Theorien zu betrachten ist. Aus metatheoretischer Perspektive stellen die Verfasser fest, dass in systemtheoretischen Ansätzen etliche Vorstellungen und Fragen auftreten, die in den konventionellen Wissenschaften unbekannt sind (S. 201 f.); doch das war, wie eingangs erwähnt, von Anfang an eine leitende Idee der Protagonisten. Der dritte Teil des Buches widmet sich großenteils den Anwendungen des Systemdenkens in verschiedenen Wissenschaftsgebieten, so in der Biologie, der Psychologie, den Sozialwissenschaften und den Planungswissenschaften. Was in diesen sehr kursorisch gehaltenen Kapiteln berichtet wird, ist wohl meist nur noch von historischem Interesse und gibt nur wenige Anhaltspunkte dafür, wie spezifisch systemtheoretische Konzepte in den jeweiligen Anwendungsgebieten interpretiert werden. Zu Recht erwähnen sie, dass die Ökologie auf dem Wege ist, sich zu einer regelrechten Systemwissenschaft zu entwickeln. Das elfte, umfangreichste Kapitel über die Gesellschaftswissenschaften beschränkt sich auf eine allgemeine Betrachtung zum Verhältnis von „Historismus“ und „Strukturalismus“. Man hätte erwarten können, dass hier beispielsweise die strukturfunktionalistische Theorie von Talcott Parsons mithilfe der zuvor eingeführten Systemkategorien umformuliert worden wäre: Was sind darin die „Elemente“? Wie sind sie zur „Ganzheit“ der Gesellschaft verknüpft? Was bedeuten in diesem Zusammenhang die „Funktionen“? Antworten auf solche Fragen sucht man vergebens; es fehlt, ähnlich wie in den anderen Anwendungskapiteln, eine schlüssige Exemplifizierung der im Hauptteil des Buches vorgestellten systemtheoretischen Begriffe. Allerdings finden sich in diesem Kapitel gesellschaftstheoretische Bemerkungen zum Sinn des Wertpluralismus, der wegen der Verschiedenheit der Individuen nicht in einem Einheitsmodell des „zukünftigen Menschen“ überwunden werden könne.

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„Die Erfahrung mit totalitären Herrschaftsformen zeigt, dass solche Modelle geschichtlich nicht gangbar sind“ (S. 253). Ob diese zutreffende Feststellung als spezifisch systemtheoretisch einzustufen ist, sei dahingestellt. Als politische Äußerung aus den Mittsiebziger Jahren der Sowjetunion aber enthält sie eine beträchtliche Sprengkraft, die, gemeinsam mit vielen anderen, damals unterschätzten kritischen Stimmen, das pseudosozialistische Herrschaftssystem zu unterminieren begann. Das dreizehnte Kapitel kündigt an, „Paradoxien des Systemdenkens“ aufzudecken (S. 268 ff.). Eine solche „Paradoxie“ sehen die Autoren im Hierarchietheorem, demzufolge ein bestimmtes System nur als Teil eines höherrangigen Systems verstanden werden kann, dieses aber nicht zu begreifen ist, wenn man nicht seine Teile, also auch das erst noch zu untersuchende System erfasst hat. Das ist natürlich nicht, wie im Text behauptet, ein logischer Widerspruch, sondern nur eine wechselseitige Abhängigkeit unterschiedlicher Erkenntnisperspektiven, der man, wie später im Text auch angedeutet, mit iterativen Prozeduren beikommen kann. In einem ersten Schritt berücksichtigt man lediglich, dass ein betrachtetes System auch von externen Bedingungen abhängig ist, im zweiten Schritt untersucht man den Ursprung dieser externen Bedingungen, findet sie in einem höherstufigen System, fragt nach dessen Zusammenhang mit dem betrachteten System und gewinnt daraus weitere Einsichten darüber. Es verhält sich ganz ähnlich wie mit den Beziehungen zwischen Theorie und Empirie: Ohne bestimmte Sachverhalte zu kennen, kann man keine Theorie aufstellen, doch weitere relevante Sachverhalte entdeckt man häufig erst im Lichte der Theorie. Merkwürdigerweise behaupten Autoren, die sich ausdrücklich zu den „Prinzipien des dialektischen Materialismus“ bekennen (S. 8), logische Widersprüche, wo es tatsächlich um „dialektische“ Wechselbeziehungen geht. Das gilt auch für die weiteren „Paradoxien“, die teilweise recht bemüht wirken. Zum Schluss diskutieren die Verfasser die Zukunftsaussichten des Systemansatzes, was aus heutiger Sicht, fast 40 Jahre später, natürlich besonders interessant ist. Dass eine Allgemeine Systemtheorie zur dominierenden Kraft in den Wissenschaften werden könnte, beurteilen sie recht skeptisch – eine Einschätzung, die Dirk Baecker in der Einleitung zum vorliegenden Buch bekräftigt. Ihre Skepsis begründen die Autoren zum einen mit der Vielfalt heterogener Systemansätze, für die eine Vereinheitlichung noch nicht in Sicht sei, zum anderen mit der mangelnden Neigung der Wissenschaften zu interdisziplinärer Zusammenarbeit. Einen gewissen Hoffnungsschimmer sehen sie darin, dass sich Systemideen sozusagen unter der Hand in einigen Disziplinen, so der Ökologie und den Technikwissenschaften, verbreiten und ganz allgemein den Stil wissenschaftlichen Denkens ändern könnten. Diese Erwartung hat sich in

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gewissem Umfang bestätigt, vor allem, wenn man sich vor Augen führt, dass systemtheoretische Begriffe – Funktion, Struktur, Input, Output, Komplexität, Information usw. –, selbst wenn sie teilweise unscharf oder mehrdeutig verwendet werden, längst zu Vokabeln einer allgemeinen Wissenschaftssprache geworden sind. Gewisse Schwächen dieses Buches sind hier und dort angeklungen. Seine Stärke jedoch, die es tatsächlich zu einem Schlüsselwerk macht, liegt darin, aus kritisch-beobachtender Perspektive – immerhin waren die russischen Autoren in die „westlichen“ Debatten nicht wirklich eingebunden – einen umfassenden Überblick über den damaligen Stand einer Forschung gegeben zu haben, der es, fern jeder mystifizierenden Spekulation, auch heute noch um die rationale Aufklärung von Phänomenen der Ganzheit und Entwicklung geht.

Literatur Bertalanffy, Ludwig von (1968): General Systems Theory. Foundations, Development, Applications, New York: Braziller Blauberg, Igor Viktorowich, Vadim Nikolayewich Sadovsky, und Erik Grigoryevich Yudin, (1977): Systems Theory, Philosophical and Methodological Problems, Moskau: Progress Greniewski, Henryk, und Maria Kempisty (1966): Kybernetische Systemtheorie ohne Mathematik, aus dem Polnischen hrsg. v. Georg Klaus, Berlin: Dietz Klaus, Georg (Hrsg.) (1967): Wörterbuch der Kybernetik, Berlin: Dietz Lenk, Hans, und Günter Ropohl (Hrsg.) (1978): Systemtheorie als Wissenschaftsprogramm, Königstein: Athenäum Ropohl, Günter (2012): Allgemeine Systemtheorie: Einführung in transdisziplinäres Denken, Berlin: edition sigma

Günter Ropohl,  bis 2004 Professor für Allgemeine Technologie an der Johann-WolfgangGoethe-Universität in Frankfurt am Main. Arbeitsschwerpunkte: Systemtheorie, Philosophie und Soziologie der Technik, Technikethik und Technikbewertung. Jüngere Veröffentlichungen: Allgemeine Technologie – Eine Systemtheorie der Technik (3. Aufl. 2009), Signaturen der technischen Welt – Neue Beitrage zur Technikphilosophie (2009), Allgemeine Systemtheorie – Einführung in transdisziplinäres Denken (2012), Besorgnisgesellschaft – Hintergründe der Tabakbekämpfung (2014), Das Wesen der Wirtschaft: Und das Unwesen der Ökonomen, Baden-Baden: edition sigma (2015).

Die Beobachtung der Kybernetik Über Heinz von Foerster, Observing Systems (1981) Elena Esposito

1 Die Beobachtung und ihre Bedingungen Für seine vielen Bewunderer ist die Arbeit des in Wien geborenen Physikers, Kybernetikers und Philosophen Heinz von Foerster (1911–2002) nicht nur interessant, sondern faszinierend. Die von ihm erfundene Begrifflichkeit und die Brillanz seines Redens und Schreibens können das nur zum Teil erklären. Er gilt als weise. Man bezeichnet ihn, ich weiß nicht, wer dies aufgebracht hat, als „Sokrates des kybernetischen Denken“. Worin besteht das Sokratische an Heinz von Foerster, das über zwei Jahrtausende hinweg einen derartigen Vergleich seiner Interessen und Einstellungen mit denen des Sokrates rechtfertigt? Oberflächlich gesehen handelt es sich in beiden Fällen um ein Denken, das begrifflich auf die Einführung eines neuen Mediums der Kommunikation reagiert. Sokrates reagiert auf die Einführung der Schrift, Heinz von Foerster, im Kontext der Kybernetik, auf die Einführung des Computers. In beiden Fällen handelt es sich um Medien, die zunächst als Technologien auftreten, aber schon bald eine Revision der Einstellung zur Welt erzwingen. Auf einer suggestiveren Ebene haben die beiden jedoch darüber hinaus gemeinsam, dass sie feine und technische Begriffe mit der scheinbaren Leichtigkeit von Parabeln darstellen, die das Problem indirekt angehen, es fast zufällig entfalten, dann aber zu Schlussfolgerungen kommen, die einen größeren Tiefgang haben, als es der Gegenstand der Überlegungen zunächst hätte erahnen lassen. Mit anderen Worten, in beiden Fällen hat man den Eindruck, es mit einem Denken zu tun zu haben, das so, wie es spricht, das Unsagbare fast etwas hofiert und in den Falten seines Diskurses E. Esposito (*)  Bielefeld, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 D. Baecker (Hrsg.), Schlüsselwerke der Systemtheorie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30633-5_9

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gelegentlich auch sehen lässt. Hierin liegt die vielleicht wichtigste thematische Affinität zwischen den beiden Autoren. Beide setzen sich implizit mit der Ontologie und mit grundlegenden metaphysischen Fragen auseinander – denn nach Heinz von Foerster (1993, S. 350) hat man es mit Metaphysik zu tun, wenn man Fragen entscheidet, die im Prinzip unentscheidbar sind und deshalb unbestimmt bleiben müssen. Das Problem der Ontologie ist selbstverständlich keine exklusive Domäne von von Foerster. Die ontologische Frage, nunmehr in der Form des Abschieds von der Ontologie, ist inzwischen so verbreitet, dass sie eine Art Gemeinplatz ist und als solcher nicht mehr informativ ist. In der etwas selbstzufriedenen Form der Krise der Sicherheiten und des Verlusts stabiler Bezugspunkte wird die Frage bei von Foerster allerdings nirgendwo gestellt. Über dieses bestimmte und relativ geheimnislose Thema gibt es nicht viel zu sagen. Das echte Problem der Ontologie – das Problem der Unentscheidbarkeit und der Unbestimmtheit – findet sich in seiner Arbeit wieder in dem strikt operativen Problem der Verfügbarkeit angemessener Begriffe in einer Lage, in der auf unabhängige Bezugspunkte verzichtet wird. Es findet sich in dem Bewusstsein davon, wie bindend (und schwierig) es ist, auf externe Bindungen zu verzichten. Es findet sich in der Suche nach „operationsfähigen“ Begriffen für ontologische Probleme, eine Fragestellung, die Heinz von Foersters Ansatz mit dem zu gleicher Zeit entwickelten Vorhaben Gotthard Günthers (1976– 1980) gemeinsam hat. Die Operativität nimmt – wie wir sehen werden – funktional gesehen die Stelle ein, die einst die Ontologie inne hatte: „If you desire to see, learn how to act“, heißt es in dem Buch Observing Systems (S. 308), der 1981 von Francisco J. Varela herausgegebene ersten maßgebenden Sammlung der Aufsätze von Heinz von Foerster, die längst vergriffen ist. Ich zitiere im folgenden aus diesem Buch und aus der nach seinem Tod von seinem Sohn Tom betreuten neuen Aufsatzsammlung Understanding Understanding: Essays on Cybernetics and Cognition (2003) sowie aus der von S. J. Schmidt herausgegebenen deutschen Übersetzung einiger der wichtigsten Arbeiten Heinz von Foersters (1993). In Platos Entourage ebenso wie in von Foersters Umgebung neigt das Problem der Ontologie dazu, die Form des Relativismus anzunehmen: Wenn ich die Sicherheit einer objektiv gegebenen, externen Welt hinter mir lasse, ist die Welt dann so, wie sie mir erscheint, wahr oder falsch? Und wie kann ich es wissen? Ist die Formel „anything goes“ korrekt? Wie Plato, obwohl auf ganz andere Weise, löst von Foerster die Frage durch eine Verschiebung des Problems: Das von Gordon Pask für von Foerster angefertigte Bild des Herrn mit Melone, in dessen Imagination weitere Personen mit demselben Anspruch auftreten, einen Realitätsbezug zu haben (Abb. 1), stellt nur scheinbar das alte Problem des Relativismus und des Fehlens eines privilegierten Bezugspunkts dar.

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Abb. 1   Der Herr mit Melone (von Foerster 2003, S. 5)

Von Foerster kennt die jahrhundertealten, mit dem Thema verbundenen philosophischen Fragen, aber mit einer Leichtigkeit, die sich nur jemand leisten kann, der „Wittgensteins Neffe“ (tatsächlich ist Wittgenstein sein „Nennonkel“) ist, ignoriert er diese alten Fragen und lenkt die Aufmerksamkeit auf einen anderen Aspekt: Ihm geht es nicht um die Realität der Welt, sondern um die Reflexivität der Beobachtung. Das Problem ist für ihn nicht so sehr, dass auch die Anderen die Welt (auf ihre je eigene Weise) beobachten, und auch nicht, was mit der Welt geschieht, sondern eher, dass die Anderen den Beobachter beobachten, der sich in der Beobachtung der Anderen dann auch selbst beobachtet. Indem er die Welt beobachtet, entdeckt der Beobachter, dass er sich selbst beobachtet. Das Problem verlagert sich damit auf das Hauptthema und den Leitfaden des ganzen Denkens von Foersters, auf die Frage des Beobachters und des Beobachters zweiter Ordnung (Beobachter von Beobachtern), die letztlich miteinander identisch sind. Bezugspunkt ist nicht die Welt, sondern eine Beobachtung der Welt, die die Welt entstehen lässt. Das primär Gegebene sind nicht die Daten, sondern die Beobachtung, die die Daten entstehen lässt. Deswegen besteht in Abb. 1 das Problem nicht darin, dass die verschiedenen Herren jeder eine eigene Welt haben, sondern dass diese Welt in jedem anderen Herrn (also in jedem anderen Beobachter) wieder auftaucht und somit jeder Herr zugleich Subjekt in seiner eigenen Welt und Objekt in der der anderen ist – Beobachter und Beobachteter. Deshalb stimmen schließlich Beobachtung und Beobachtung zweiter Ordnung

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überein: weil man sich nicht ernsthaft das Problem der Beobachtung stellen kann, ohne sich mit dem Problem der Beobachtung zweiter Ordnung auseinanderzusetzen. Der Versuch, diese Verwicklung zu vermeiden, ist die Schwäche aller mehr oder minder naiven Formen des Relativismus. Wenn ich den Beobachter erforsche, muss ich sein Verhältnis zur Welt erforschen – eine Welt, die andere Beobachter einschließt. In der Behandlung des Beobachters komme ich nicht umhin, die Beobachtung von Beobachtern zu behandeln. Zu diesen beobachteten Beobachtern gehöre ich jedoch auch selber: in der Beobachtung der Welt und der anderen Beobachter beobachte ich also auch mich selbst – und beobachte, dass dies unvermeidlich auch für die anderen Beobachter gilt. Dieser Wirrwarr von Perspektiven und Bindungen ist – wie es mir scheint – die wichtigste Voraussetzung von Foersters Denken, und dies auch dort, wo es nicht explizit um Beobachtung geht, und auch dann, wenn er technische Begriffe für den Umgang mit Maschinen, mit Kognition, mit dem Nervensystems oder mit der Zeit einführt. Im Zentrum von Heinz von Foersters Arbeit steht eine Zirkularität (oder besser: eine doppelte Zirkularität), die nicht mit der unvermeidlichen, aber zu einfachen Entdeckung von Paradoxien bereits aufhört, sondern die weiter in die Untersuchung jener Bindungen und Einschränkungen vordringt, die aus dem Spiel der in sich selbst reflektierten Kontingenzen entstehen. Die Kontingenz ist keine bloße Möglichkeit, sondern eine verwirklichte Möglichkeit, welche gerade deshalb anders sein könnte: Sie bindet sich selbst in dem Moment, in dem sie alternative Möglichkeiten generiert. Das ist es, was von Foerster erforscht, und deshalb ist der etwas geheimnisvolle Titel der „Kybernetik zweiter Ordnung“ zutreffend, der seine Theorie bezeichnet: nicht wegen des damit einhergehenden Verweises auf den Computer, sondern wegen des Bezugs auf die für die Kybernetik ursprüngliche Frage der Kontrolle (Wiener 1961). Denn hier geht es um eine Kontrolle zweiter Ordnung, um eine Kontrolle der Kontrolle, die von nichts außerhalb ihrer selbst gesteuert wird, sondern in ihrer eigenen Realisierung die Bindungen generiert, an die sie sich dann hält. Die Kontingenz kontrolliert sich selbst; deshalb braucht sie die Beobachtung. Die sich daraus ergebenden Bindungen sind keine a priori gegebenen Daten, sondern a posteriori erschlossene Folgen: Es handelt sich paradoxerweise um kontingente Notwendigkeiten, die unvemeidlich einen Rest an Unbestimmtheit wahren – eine Unbestimmtheit, die von der Frage der Ontologie untrennbar ist. In seiner Untersuchung der Beobachtung und ihrer Bedingungen stellt von Foerster die dar, wie im Zeitalter der Kybernetik noch von Ontologie die Rede sein kann.

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2 Rekursiv arbeitende Systeme Von Foerster hat sich seine Themen auf eine sehr eklektische Weise gesucht. Er hat sich in so unterschiedlichen Disziplinen wie der Neurophysiologie, der Mathematik, der Epistemologie und der Organisationstheorie bewegt und hier jeweils Begriffe vorgeschlagen, die neue Standards gesetzt haben. Wie kann sich hinter einer solchen Verschiedenheit die substantielle Einheit einer einzigen Grundfrage verbergen? Handelt es sich tatsächlich um Variationen derselben Frage nach der Beobachtung zweiter Ordnung? Wir müssen unsere Behauptung jetzt belegen, gehen dabei allerdings davon aus, dass eine solche Einheitlichkeit weniger Anlass zur Kritik als vielmehr Hinweis auf die Stärke eines Ansatzes wäre, der es sich leisten kann, über die neue und enthusiastisch begrüßte „Disziplin“ der Transdisziplinarität (1993, S. 285) nur zu lachen und sich stattdessen mit den Grundlagen der Logik zu beschäftigen. Einer der bekanntesten und suggestivsten Begriffe von Foersters ist der des „blinden Flecks“ (S. 288; 2003, S. 212), der (wie so oft bei von Foerster) im Anschluss an ein Phänomen der Wahrnehmung erläutert wird. Das Sehfeld jeden Auges enthält dort, wo der Sehnerv gebündelt wird, eine „Zone der Blindheit“, in der keine Objekte wahrgenommen werden können, weil es in ihr keine Nervenzellen gibt, die auf Lichtstrahlen reagieren könnten. Was kann man aus dieser Tatsache folgern? Zunächst können wir folgern, dass die Bedingung, unter der wir sehen können (die Bündelung des Sehnervs), zugleich eine spezifische Unsichtbarkeit bedingt, vor allem jedoch, dass diese Blindheit nicht wahrgenommen wird. Man sieht keine dunkle Zone, sondern hat es mit einem jederzeit vollständigen Sehfeld zu tun. Es ist also nicht nur nötig, etwas nicht zu sehen, damit man sehen kann, sondern darüber hinaus sieht man nicht, dass man nicht sieht. Und doch reden wir hier von diesem Umstand, wir sprechen von einem „blinden Fleck“! Wie ist das möglich? An dieser Stelle kommt die Unterscheidung der Beobachter ins Spiel. Jeder Beobachter kann die eigene Blindheit nicht sehen, aber er kann die Blindheit der anderen sehen und trifft so auf ein Phänomen, das ihn selbst auch betrifft. Dank der Beobachtung zweiter Ordnung kann er die eigene Blindheit sehen und bis zu einem gewissen Punkt auch sehen, dass er nicht sieht. Aber nur bis zu einem gewissen Punkt, weil die neue Beobachtungsperspektive notwendigerweise ihrerseits einen spezifischen blinden Fleck mit sich bringt, der nur aus einer weiteren und anderen Perspektive gesehen werden kann, und so weiter. Mit der Vermehrung der Beobachtungsebenen ändern sich die Möglichkeiten der darunter liegenden Ebenen; das erhöht die Komplexität, führt aber nicht dazu, dass jemals Einheit (Perfektion) erreicht wird.

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Eine weitere Folge ist jedoch, dass die Beobachtungsbedingungen die Welt ändern. Je nachdem wie und wie komplex man beobachtet, ändern sich die blinden Flecken und die Formen des Sehens. Der Beobachter ist nie von der Welt getrennt, so als würde er sie von einem nicht zur Welt gehörenden locus observandi aus beobachten. Sondern der Beobachter ist Teil der Welt, die er beobachtet – und nicht nur das: er modifiziert sie mit dem, was er tut, und das, was er tut, lässt die Welt anders erscheinen (vgl. zur biographischen Erfahrung dieser Einsicht und zu ihren ethischen Konsequenzen auch Foerster/Bröcker 2002). Der Beobachter ist die Welt; in seiner Beobachtung beobachtet er sich selbst: „In jedem Augenblick kann ich entscheiden, wer ich bin“ (Heinz von Foerster in Pörksen 2001, S. 28). Die Welt selbst, könnte man sagen, hat einen blinden Fleck, der mit dem Beobachter übereinstimmt. Wenn dies die Grundbedingung ist und wenn uns beziehungsweise von Foerster nicht die Phänomenologie, sondern die Operativität der Beobachtungen interessiert, stellt sich die Frage, wie es der Beobachtung gelingt, sich selbst zu binden und stabile Formen zu bilden, die Bezugspunkte und Orientierungen enthalten, von denen man ausgehen kann. Oder anders, aber das ist dasselbe: Wie gelingt es der Welt, sich selbst zu binden und mit Formen in Bezug auf den Beobachter auszustatten? Das ist das Thema der „Rekursivität“, das von Foerster von mathematischen Funktionen bis zu operational geschlossenen Systemen, von der Zirkularität der Kausalität bis zum Verhältnis von Information und Komputation und damit in einer Vielzahl von Einzelthemen verfolgt, für die er jeweils einleuchtende Begriffe entwickelt hat, die jedoch allesamt auf die Problemstellung eines Beobachters zurückgeführt werden können, der nur mit dem operieren kann, worüber er verfügt: mit sich selbst, und dies dank einer Autonomie, die ihn zwingt, sich mit der Welt, mit seiner Welt, auseinanderzusetzen. Die heute bereits modische Bedingung der Schließung eines Systems als Grundlage seiner Selbststeuerung und Selbstorganisation stellt sich hier, wenn sie ernst genommen wird, als „double closure“, als doppelte Schließung (S. 305, 2003, S. 225), dar, dank derer ein System, das seine Beobachtung der Welt beobachtet, sich selbst steuert. Heinz von Foersters Studien zur Rekursivität zeigen jeweils, wie das geschieht. In diesen Studien kann man mehrere Kapitel unterscheiden. In der mathematischen Forschung geht es um rekursive Funktionen, in der die Variablen als Ergebnis der rekursiven Anwendung einer Funktion bestimmte Werte annehmen – das formalisierte Korrelat der Problemstellung eines geschlossenen Systems. Wenn die Operation der Anwendung dieser Funktion unbestimmt oft wiederholt wird, bilden sich unabhängig vom Anfangswert der Funktion stabile Werte, die von Foerster „Eigenwerte“ („eigen-values“) nennt (S. 273 ff.; 2003, S. 261 ff.).

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Auf diese Eigenwerte kommt von Foerster immer wieder zurück, weil er dank der mathematischen Formalisierung zeigen kann, wie sich in der Welt als stabile Bezugspunkte jene Objekte und sonstigen Identitäten bilden, mit denen der Beobachter es zu tun hat. Damit eine Entität Identität annimmt, das heißt zu verschiedenen Gelegenheiten und aus verschiedenen Perspektiven stabil ist, ist es nicht erforderlich, dass sie ein gegebenes Datum ist, sondern nur, dass ausreichend viele Operationen (Beobachtungen) eines rekursiv arbeitenden Systems stattgefunden haben. Die Ordnung der Welt muss nicht auf ein überlegenes Schema oder eine unsichtbare Hand zurückgeführt werden, sondern nur auf die Identität eines operierenden Systems: Ohne Entwurf und ohne Kenntnis der Umwelt genügt die Rekursivität der Operationen, um organisierte Konstellationen hervorzubringen – streng nach dem Prinzip des „order from noise“ (S. 17; 2003, S. 13), demgemäß die Umwelt nur die Aufgabe hat, Störung, Lärm, Zufall beizusteuern. Aus diesen Betrachtungen ergeben sich die ontologische Überlegungen, in denen von Foerster die Eigenschaften der Objekte diskutiert und in denen er argumentiert, dass die sie kennzeichnenden Unterscheidungen, ihre Qualitäten und Eigenschaften, keine Eigenschaften der Dinge sind, sondern Eigenschaften ihrer Beschreibung, die der Beobachter, indem er mit ihnen umgeht, von ihnen anfertigt. Von Foerster bedient sich dabei auch der Ergebnisse der Neurophysiologie, vor allem des „Prinzips der undifferenzierte Codierung“ (S. 292; 2003, S. 214 f.), demzufolge die Nervenzellen nicht die Qualität, sondern nur die Quantität ankommender Reize codieren: nicht das Licht, die Farbe oder den Laut, sondern elektrische Variationen. Auf der Grundlage seiner eigenen Geschichte konstruiert das Empfangssystem autonom die Varietät der Eigenschaften, die es externen Gegenständen zuschreibt. Die Kognition oder Komputation einer Realität („einer“ Realität, weil es viele erkennende Beobachter gibt) ist Komputation der eigenen Beschreibung der Realität, die aufgrund anderer Beschreibungen vorgenommen wird, bis schließlich Kognition nur noch Komputation von Komputationen ist, also Komputation ihrer selbst (S. 293 ff.; 2003, S. 215 ff.). Unterscheidungen – wie allgemein die aus der Welt gewonnenen Informationen – entstammen nicht der Welt, sondern den Fähigkeiten und Operationen des Beobachters: „The environment contains no information. The environment is as it is“ (S. 269; 2003, S. 252). Dementsprechend sollte man mehr Respekt vor der Autonomie der Beobachter haben, die nicht nur die Stabilität der Welt, sondern auch ihre eigene Unvorhersehbarkeit generieren. Ohne irgendeine Form von Transzendenz ins Spiel bringen zu müssen, ist die Welt unvorhersehbar und eine ständige Quelle von Überraschungen – und dies deswegen, weil in ihr Systeme tätig sind, die „nichttriviale Maschinen“ sind, das heißt Entitäten, deren Verhalten mit der Variation der sich herausbildenden Bedingungen variiert. Das Verhalten einer solchen Maschine

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(ihr „Output“) hängt nicht nur vom „Input“, sondern auch vom eigenen inneren Zustand ab – ein Zustand, der sich infolge der früheren Operationen ändern kann. Diese etwas esoterische Definition ist nichts anderes als die Beschreibung des Verhaltens jeden Beobachters, zum Beispiel eines lernenden Kindes, das seine Reaktionen im Spiel ändert. Wer den Anspruch erhebt, Verhalten voraussehen zu können, macht damit den Versuch, Maschinen zu „trivialisieren“, die nicht trivial sind, zum Beispiel wenn man meint, Schüler müssten grundsätzlich dieselbe Antwort (die einzige korrekte Antwort) auf die Frage des Lehrers, „Wann wurde Napoleon geboren?“, geben (S. 200; 2003, S. 209).

3 Verantwortung für die eigene Systemreferenz Wir haben uns in den beiden ersten Teilen dieses Kommentars verschiedene Argumente angesehen, auf die die Kybernetik zweiter Ordnung zurückgreift, um die Autonomie des Beobachters und ihre Konsequenzen zu betonen, und dabei eine Art negative Ontologie entwickelt, die die Emergenz stabiler Objekte mit der Einsicht in die Kontingenz ihrer Bezugspunkte kombiniert. Man könnte diesen Weg weiter verfolgen; es fehlt nicht an Material. Vielleicht ist es jedoch interessanter, einen anderen Aspekt dieses Versuchs aufzugreifen, Kontingenz und NichtBeliebigkeit, Zufall und Bindung miteinander zu kombinieren. Der Beobachter ist autonom in dem Sinn, dass er die die Welt ordnenden Unterscheidungen trifft. Jedoch bedeutet dies nicht, dass er isoliert ist: Zur Anwendung seiner Kategorien ist er auf eine Umwelt angewiesen, die wenigstens in der Lage ist, Lärm zu liefern; darüber hinaus braucht er Zeit – letztere sehr schlank als minimale Bedingung der Möglichkeit einer Fortsetzung verstanden, das heißt der Möglichkeit, mithilfe eigener Operationen an vorherige Operationen anzuschließen. Wenn von Foerster von Zeit spricht, meint er nicht die chronologische Zeit als festes Schema, in dem Ereignisse eindeutig lokalisiert werden können; seiner Ansicht nach ist diese Art von Zeit nicht primär – und auch nicht notwendig. Es handelt sich hierbei um eine pragmatische Konstruktion von Beobachtern, die die Synchronizität von Ereignissen beschreibt, die zu unterschiedlichen Sequenzen gehören. Das könnte man auch mit einer einfachen vom Fall zu Fall arbeitenden Koordination anhand der Unterscheidung von Vorher und Nachher erreichen (S. 139 ff.). Was dagegen vom Beobachter nicht konstruiert werden kann, ist Zeit im Sinne George Spencer-Browns (1997) – eine Zeit, die beim Auftreten einer Paradoxie entsteht und die es dem Beobachter erlaubt, nicht endlos zwischen einer und der anderen Seite der Unterscheidung zu oszillieren (von Foerster 1969). Diese Zeit ist die Bedingung eines Wiedereintritts (Spencer-Browns „re-entry“)

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der Unterscheidung in die Unterscheidung, das heißt der Anwendung einer Unterscheidung auf sich selbst in einem Moment, der sich von dem Moment unterscheidet, in dem sie getroffen wird. Dieser Wiedereintritt ist die Bedingung dafür, dass die Unterscheidung zugleich mit sich identisch und von sich verschieden sein kann. Die Formen, die diese Zeit in den Konstruktionen des Beobachters annimmt, können unbestimmt bleiben, nicht aber das Datum der Fortsetzung der Operation. Problematischer und umstrittener ist allerdings eine weitere Dimension der externen Referenz eines autonomen Systems: der Bezug auf andere Beobachter. Von Foerster verwirft eine mono-logische Einstellung und optiert explizit für eine dia-logische Haltung, welche die Existenz anderer Beobachter und einer gemeinsamen Sprache anerkennt: „Alles, was gesagt wird, wird zu einem Beobachter gesagt“ (von Foerster 2001, S. 32). Wie die philosophische Tradition stellt auch von Foerster, aber ebenso Humberto R. Maturana (in diesem Punkt von Foerster sehr nah), angesichts von Sprache die Unvermeidlichkeit der Gesellschaft fest. Wittgensteins Haltung im Tractatus umkehrend behauptet von Foerster nicht nur, dass die Sprache ein Werkzeug ist, das unsere Gedanken und Erfahrungen bestimmt (S. 195; 2003, S. 202), sondern darüber hinaus, dass „die Welt ein Abbild der Sprache ist“ (von Foerster/Pörksen 2001, S. 130). Diese Sprache wird zwar von jedem Beobachter neu konstruiert und wiederentdeckt, ist jedoch allen Beobachtern gemeinsam und steht für eine Reihe von Bindungen, die nicht auf das Operieren eines isolierten Beobachters zurückgeführt werden können. Andere – insbesondere Niklas Luhmann – postulieren deshalb die Existenz eines autonomen, zu eigenen Beobachtungen fähigen Gesellschaftssystems. So jedoch nicht von Foerster: Für ihn bleibt das Individuum der Bezugspunkt; Sozialität verwirklicht sich in der Form von Zweiheit, als Dialog, als Tanz, die das Individuum voraussetzen und von ihm ausgehen, um Formen der Koordination zu realisieren (von Foerster 2001, S. 31). So liest man zum Beispiel (von Foerster 2001, S. 39): „Ich möchte nur darauf hinweisen, dass auch die Gesellschaft eine bestimmte Relationsstruktur ist, ein Rahmen, in dem man denken kann, aber nicht muss. In meinen Arbeiten sind dagegen das Ich und das Individuum zentrale Größen und immer schon da.“ Diese Entscheidung, die von Maturana und von der Mehrheit der Konstruktivisten geteilt wird, hat natürlich Folgen. Sehr konsequent schließt von Foerster daraus auf die strenge Notwendigkeit, auf über-individuelle Voraussetzungen aller Art zu verzichten: Es ist nie erlaubt, „So ist es!“, zu sagen, sondern immer nur, Sätze zu formulieren, die mehr oder minder explizit mit einem „Ich finde, dass…“ anfangen (von Foerster 2001, S. 26). Die für jeden systemischen Ansatz wesentliche Anforderung, jeweils eine Systemreferenz anzugeben, drückt sich in diesem Fall in der Anforderung aus, jeweils eine psychische

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Referenz anzugeben. Das in der Sachdimension eindrücklich widerlegte Prinzip des „anything goes“ taucht ohne große Einschränkungen in der Sozialdimension wieder auf, als ein Relativismus zweiter Ordnung, der die Verhältnisse zwischen Beobachtern betrifft. Natürlich möchte man auch für diesen Relativismus einige Bindungen angeben können. Hierfür hat die Anlage der Kybernetik zweiter Ordnung jedoch wenig zu bieten. Um auch diese weitere Unbestimmtheit zu kontrollieren, bräuchte man ein zusätzliches Argument. Bei Heinz von Foerster wie auch bei vielen anderen unter ähnlichen Bedingungen nimmt dieses Argument die Form des Verweises auf „Ethik“ an – auf eine Ethik allerdings, die, wie man weiß, rational nicht gerechtfertigt werden kann und nicht gerechtfertigt werden muss. Das System, dem in konstruktivistischer Einstellung alle Unterscheidungen zugeschrieben werden, muss als Individuum die „Verantwortung“ für diese Unterscheidungen übernehmen. Die ontologische Verantwortung soll eine ethische Verantwortung implizieren – wenigstens in der (im Hinblick auf den Wertbezug) etwas unbestimmten Form des „ethischen Imperativs“ von von Foerster: „Act always so as to increase the number of choices“ (S. 308; 2003, S. 227). Aus soziologischer Sicht kann die Frage leicht trivialisiert in folgender Form gestellt werden: „Alles was ich sage und tue, ist relativ auf meine Systemreferenz; allerdings weiss ich, dass es andere Systeme gibt: wie kann ich dies berücksichtigen?“ Von Foersters Antwort auf diese Frage ist die einzig mögliche, wenn man nur über den Systembezug der Individualität verfügt: „Entscheide dich, so wenig wie möglich zu entscheiden und allen anderen so viele Optionen wie möglich für ihre Entscheidungen zu bieten.“ Das System berücksichtigt (ist verantwortlich für) die eigene Systemreferenz, indem es die eigene Systemreferenz nach Möglichkeit einklammert. Ob diese Lösung unter den Umständen der Hyperkomplexität und des extremen Selektionsbedarfs angemessen (verantwortlich) ist, kann mit den Mitteln der Kybernetik zweiter Ordnung noch nicht einmal als Problem gestellt werden.

Literatur Günther, Gotthard (1976–1980): Beiträge zur Grundlegung einer operationsfähigen Dialektik, 3 Bde, Hamburg: Meiner. Spencer-Brown, George (1997): Gesetze der Form: Laws of Form, Lübeck: Bohmeier. von Foerster, Heinz (1969): Rezension von G. Spencer Brown, Laws of Form, in: Whole Earth Catalogue. Palo Alto, Frühling 1969, S. 14 (dt. in: Dirk Baecker, Hrsg., Kalkül der Form, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1993, S. 9–11). von Foerster, Heinz (1993): Wissen und Gewissen: Versuch einer Brücke, hrsg. S. J. Schmidt, Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

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von Foerster, Heinz (1981): Observing Systems, Seaside, CA: Intersystems Publications. von Foerster, Heinz (2001): „In jedem Augenblick kann ich entscheiden, wer ich bin“, in: Bernhard Pörksen, Abschied vom Absoluten: Gespräche zum Konstruktivismus, Heidelberg: Carl-Auer-Systeme, S. 19–45. von Foerster, Heinz (2003): Understanding Understanding: Essays on Cybernetics and Cognition, New York: Springer. von Foerster, Heinz, und Monika Bröcker (2002): Teil der Welt: Fraktale einer Ethik – Ein Drama in drei Akten, Heidelberg: Carl-Auer-Systeme. von Foerster, Heinz, und Bernhard Pörksen (2001): Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners: Gespräche für Skeptiker, Heidelberg: Carl-Auer-Systeme. Wiener, Norbert (1961): Cybernetics, or Control and Communication in the Animal and the Machine, 2. Aufl., Cambridge, MA: MIT Press.

Elena Esposito  is Professor of Sociology at the University Bielefeld and the University of Bologna. She published many works on the theory of social systems, media theory, memory theory and sociology of financial markets. Her current research on algorithmic prediction is supported by a five-year Advanced Grant from the European Research Council.

Selbstbeobachtung Über Ranulph Glanville, Objekte (1988) Bernard Scott

1 Einleitung Meine Auseinandersetzung mit Ranulph Glanvilles Buch Objekte verläuft folgendermaßen: Zuerst sage ich etwas über Ranulph Glanville, wie ich ihn kenne, als Freund und Kybernetik-Kollegen. Anschließend werde ich in einem Abschnitt mit dem Titel „Über Gleichgesinnte und Mentoren“ erläutern, wo ich Glanvilles Beiträge inmitten der Arbeit anderer Persönlichkeiten der Kybernetik stehen sehe. Danach sage ich etwas darüber, wie Objekte entstanden ist. Ich hatte die Gelegenheit, Ranulph danach zu fragen und stellte dabei fest, dass das, was er zu sagen hatte, sowohl als Beschreibung einer persönlichen Odyssee der Ideenfindung und Kreativität als auch als interessante Fallstudie darüber, wie Kybernetiker im Betreiben einer Kybernetik der Kybernetik scheitern oder auch Erfolg haben – wie sie also die Disziplin fördern, die sie fördert – aufschlussreich ist. Dann werfe ich einen kurzen Blick auf die in Objekte anzutreffenden Hauptthemen. Natürlich ist das eine persönliche Auswahl. Ich hoffe jedoch, in diesem Kapitel insgesamt hinreichend viel über das Buch Objekte zu sagen, so dass der Leser selbst dazu inspiriert wird, sich nicht nur Objekte, sondern auch Glanvilles zahlreiche andere Schriften über Kybernetik und darauf bezogene Themen anzusehen. Zuletzt werde ich einige abschließende Bemerkungen machen. Sie sollen Begeisterung wecken für das, was die Kybernetik zum Mainstream des philosophischen und wissenschaftlichen Denkens noch immer beitragen kann. Als

B. Scott (*)  Lincolnshire, Großbritannien © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 D. Baecker (Hrsg.), Schlüsselwerke der Systemtheorie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30633-5_10

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Teil meiner Polemik bringe ich Glanvilles Œuvre als einen zentralen, begrifflich klaren und reichhaltigen Beitrag zum kybernetischen Unternehmen in Stellung.

2 Über Ranulph Glanville Ranulph Glanville ist meines Alters und mein Freund, eine Freundschaft, die dank Glanvilles Enthusiasmus und Großzügigkeit immer reifer geworden ist. Wir haben als Zeitgenossen, die in den späten 1960er und 70er Jahren ihren PhD in Kybernetik bei Gordon Pask an der Brunel University in West London, Großbritannien, gemacht haben, vieles gemein – geteilte Interessen, geteilte Erfahrungen – und haben uns in vielerlei Hinsicht gegenseitig beeinflusst: als Rollenmodelle, Gegenrollenmodelle, Ideenquelle und Wertschätzer von Ideen. Doch sind auch nach mehr als 30 Jahren immer noch blinde Flecken vorhanden. Vieles wissen wir voneinander nicht, weil unser Gefühl der Vertrautheit, unser Gefühl, einander zu kennen, dazu beiträgt, dass wir übersehen, was wir alles nicht wissen. Man sucht nicht, wovon man nicht weiß, dass es existiert. Was für ein aufregendes Leben Glanville in seinen intellektuellen und geographischen Reisen geführt hat! Sein Bekenntnis zur Kybernetik und sein diesbezüglicher Enthusiasmus zeigen sich in seiner Bereitschaft, dafür persönliche Opfer auf sich zu nehmen, denn er ist ein größtenteils selbstfinanzierter, unabhängiger Akademiker. Er legt Wert darauf, Konferenzen zu besuchen und ein Bote für die Kybernetik zu sein, und er tut dies, ohne die Unterstützung einer akademischen Institution oder einer anderen Quelle, so gut er kann. Außerdem ist er überaus produktiv als Autor einer Vielzahl von Schriften über die Kybernetik und eine große Bandbreite von Themen, die er von einer kybernetischen Perspektive aus beleuchtet, einschließlich Erziehung, Sprache und Kommunikation, Design und Innovation (siehe zum Beispiel seine Kolumne „Cybernetic Musings“ in der Zeitschrift Cybernetics and Human Knowing). Nachdem ich die in Objekte versammelten Aufsätze gelesen beziehungsweise wiedergelesen hatte, stellte ich fest, dass sie viele Bereiche beleuchten, mit denen ich nicht vertraut war. Seine Ausführungen lassen eine große Breite und Tiefe erkennen. Glanvilles Werk kann Seite an Seite mit denen von Gordon Pask, Heinz von Foerster, Humberto Maturana und Francisco Varela stehen, die generell besser bekannt sind und zu denen Glanville enge persönliche und berufliche Beziehungen pflegte. Glanville stand zudem mit den Ideen von Ernst von Glasersfeld über den radikalen Konstruktivismus mit denen von Niklas Luhmann zu sozialen Systemen in enger Verbindung.

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In seinen zahlreichen Kommentaren zu den Arbeiten anderer erläutert Glanville ihre einzelnen Positionen und arbeitet Ähnlichkeiten und Differenzen heraus. Auch hat er hart an seiner eigenen Perspektive gearbeitet. Vielleicht ist es seine Akzeptanz der Einzigartigkeit eines jeden bestimmten selbstreferentiellen Systems (ein „Glanville-Objekt“, wie es im Buch Objekte ausführlich erklärt wird), die ihn in besonderer Weise tolerant gegenüber der Vielfältigkeit persönlicher Ansichten macht und ihn erkennen lässt, dass sie nicht notwendigerweise in Konkurrenz zueinander stehen. Immerhin kann man ja zuweilen den Eindruck haben, als stünden die metaphysischen Bauwerke eines Maturana, Luhmann oder Pask in Konkurrenz zueinander. Gotthard Günther (1972) meint, „Kybernetik ist auf der Suche nach einer Thematik, die verborgen ist.“ Für Glanville sind die vielen Variationen zu dieser verborgenen Thematik Widerspiegelungen der unvermeidlichen Tatsache unserer zueinander bestehenden Differenzen. Wie wir noch sehen werden, ist sein eigenes metaphysisches Bauwerk eine Darlegung der Form unseres Suchens nach jeglicher Thematik, verborgen oder nicht, und weniger ein Versuch, die verborgene Thematik zu enthüllen. Ein Verständnis dieser Form kann anschließend reflexiv und pragmatisch als die von uns gesuchte Lösung begriffen werden. Oder wie Warren McCulloch (1965) gerne sagte (und wie schon viele weise Menschen vor ihm gesagt haben): „Schau nicht auf meinen Finger, schau wohin er zeigt.“ Obwohl Glanville für die Kybernetik und insbesondere für die Arbeit seiner Mentoren wirbt, wirbt er nicht für sich selbst, zumindest nicht in demselben Ausmaß. Er ist bescheiden, vielleicht weil es ihm nicht gelungen ist, vom allzu engstirnigen, erstarrten Mainstream anerkannt zu werden. Sein ihm eigener Sinn für persönliche Würde und Integrität verbot es ihm, sich Aufmerksamkeit zu erkämpfen. Wenn die eigene Gruppe Talente, Leidenschaft und Engagement, die einem eigen sind, nicht erkennt, kann man entmutigt werden und aufgeben oder man kann stoisch, beharrlich und tatkräftig weitermachen. Glanville hat letzteres bevorzugt. Wie bereits erwähnt, ist Glanville in seinem Engagement für die Kybernetik mit über 250 veröffentlichten Aufsätzen überaus produktiv gewesen. Außerdem hat er noch Zeit gefunden, Künstler, Musiker und kreativer Erzieher zu sein. Glanville ist Anglo-Ire, aber im gleichen Sinne ist er Kybernetiker. Betrachtet man den allgemein prekären Zustand und die mangelnde Wertschätzung der Kybernetik in Großbritannien und in einem Großteil der englischsprachigen Welt, ist es wohl keine Überraschung festzustellen, dass er in Europa und insbesondere in Deutschland und Österreich viel bekannter ist als andernorts. In diesen zuletzt genannten Ländern gibt es ein viel größeres Interesse an selbstreferentiellen

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und autopoietischen Prozessen als anderswo. Glanvilles sorgfältig formulierten logischen Gedichte sind dort als die scharfsinnigen Perlen erkannt worden, die sie sind. Ich meine, dass er Herz und Verstand außerdem durch die Leidenschaft und Verpflichtung für sich gewonnen hat, die kybernetischen ethischen Ideale, für die er eintritt, auch vorzuleben. Er übernimmt Verantwortung für das, was er sagt und tut, denn es hat Auswirkungen auf die Welt um ihn herum. Er strebt es an und bemüht sich, mit einer Großzügigkeit und Höflichkeit zu handeln, von der er glaubt, dass sie ein selbstreferentielles Objekt dem jeweils anderen gewähren sollte. Er wäre hingegen auch der erste, der zugestehen würde, kein Heiliger zu sein. Mir ist aufgefallen, dass er Geschwätz nicht toleriert und ungeduldig wird, wenn andere aufdringlich oder auch weniger aufdringlich versuchen, ihre persönliche Agenda durchzudrücken; er zieht ein Argument einer Behauptung und intellektuellem Gerede vor und er bevorzugt Klarheit und Einfachheit gegenüber Aufblähung und Verschleierung. Für Glanville sind Leben und Arbeit untrennbar. Leben heißt gewissenhaft zu arbeiten. In dieser Hinsicht konkurriert Glanville ausschließlich mit sich selbst. Sein Leben ist selbst ein Werk, ein Abenteuer, eine Kreation, ein Ausleben der Kunst des Lebens. Er reist, er erzählt, er betreibt Kunst, Musik und Design, er pflegt ein Netzwerk von Beziehungen – nicht nur professionell und universitär, sondern auch ein erweitertes Netzwerk von Familie und Freunden, von allen, an denen er Spaß hat.

3 Über Gleichgesinnte und Mentoren An dieser Stelle würde ich gerne etwas über die Art und Weise sagen, in der Mentoren und Schüler und Gleichgesinnte innerhalb eines Feldes interagieren. Ich sage dies mit der Gewissheit, dass Pasks Konversationstheorie (Pask, Scott und Kallikourdis 1973; Pask 1975) – die sowohl auf mich als auch auf Glanville einen großen Einfluss gehabt hat (und gewiss sind wir beide der Ansicht, zur Entwicklung dieser Theorie beigetragen zu haben) – viel darüber aussagt, wie professionelle Beziehungen und Institutionen sich entwickeln. Es gibt in einem Feld einen expliziten Diskurs zwischen Professoren und ihren Schülern und zwischen Gruppen, der in Vorlesungsmitschriften, publizierten Aufsätzen und so weiter dokumentiert ist. Es gibt aber auch einen impliziten und größtenteils unbewussten, jedoch potenziell bewusst ablaufenden Diskurs. Wenn man zwei oder drei Personen durch ihre über einen bestimmten Zeitraum verfassten Schriften gut kennt und zudem weiß, dass sie während dieser Zeit aufgrund ihrer gemeinsamen Interessen interagiert haben, ist es möglich, zumindest hypothetisch, die Konversationen zu konstruieren, durch die der eine Akteur,

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durch Lesen der Arbeit des anderen, die Ideen des anderen in seine eigene Arbeit aufgenommen hat. Diese Aufnahmen, diese Verbindungen werden, so glaube ich, ob nun in Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung, oftmals ohne direkten Bezug gemacht, und zwar nicht aufgrund irgendeiner Täuschungsabsicht, sondern weil wir Ideen einfach im Vorbeigehen voneinander aufnehmen, ohne notwendigerweise zu realisieren, dass dies passiert. Daher kann man in Glanville jemanden sehen, der in seinen Schriften, in vielen Wendungen und Rekursionen, die Ideen seiner Mentoren neu fasst und ausarbeitet. Jedoch ist es gleichermaßen der Fall, dass man in diesen über die Zeit stattfindenden Interaktionen auch ein Neufassen von Glanvilles Schriften durch seine Mentoren beobachten kann. In der Entfaltung dieses Prozesses wird das Eigentum von Konzepten zu einem strittigen, schließlich zu einem irrelevanten Punkt. Pask hat sich auf Arbeiten gestützt und bezogen, die ohne Schwierigkeiten in sein eigenes theoretisches Bauwerk, die Konversationstheorie, eingegliedert oder durch sie demonstriert werden konnten. Glanvilles Abstraktion war dafür nicht geeignet. Weder von Foerster noch (insbesondere) Maturana waren es gewohnt, sich auf die Arbeit von Kollegen und Gleichgesinnten zu beziehen. Es scheint fast so, als ob sie ihre Ideen in einer ursprünglichen, reinen Form dargestellt sehen wollten, ungetrübt von Erfordernissen wissenschaftlicher Feinheiten. In früheren Fassungen dieses Kapitels habe ich mich daran versucht, Beispiele für das Zusammenspiel zwischen Glanville und von Foerster und zwischen Glanville und Pask zu geben. Letztendlich habe ich mich entschieden, dass ich dafür nicht hinreichend stichhaltiges Material hatte, um das mit Zuversicht machen zu können. Einen Überblick über die Entwicklung der Kybernetik zweiter Ordnung habe ich an anderer Stelle gegeben (Scott 2004), wo kurz dargestellt wird, wie ich das akademische Zusammenspiel innerhalb der kybernetischen Gemeinschaft zu jener Zeit wahrgenommen habe.

4 Wie Objekte entstanden ist Glanville ist ausgebildeter Architekt. Die anfängliche Motivation für seine Promotion war ein Interesse an artifiziell konstruierten Umwelten, die interaktive Objekte enthalten. Man sollte nicht vergessen, dass dies in den 1960er und frühen 1970er Jahren gewesen ist, als viele Visionäre, nicht zuletzt Pask, eine Welt interaktiver kybernetischer Artefakte antizipiert haben. In der Architektur reichte dies von der eher weltlichen Idee sich selbst in Stand haltender Eigenheime bis hin zu autonomen Dienstrobotern, die menschliche Bedürfnisse interpretieren und antizipieren. Glanvilles Untersuchungen

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führten ihn zum Design von Artefakten und dem Bau von Verkehrswegen. Den Antrieb, die Dissertation zu schreiben, die er schließlich geschrieben hat, gewann er indes daraus, zuallererst den Bedarf nach der Formulierung einer Frage wecken zu müssen, die von ihm eine Antwort verlangte, um anschließend auf diese Frage eine Antwort zu finden. Ich habe ihn vor kurzem nach dieser Phase seiner Arbeit gefragt. Er erzählte mir, dass er „schrieb, um sowohl eine Frage als auch eine Antwort zu finden“, indem er über einige Monate einer täglichen Schreibdisziplin folgte und zahlreiche Fassungen produzierte. Ich betrachte dies als eine Fallstudie in Kreativität. Das Schreiben war weniger ein automatisches, als vielmehr ein in Freiheit fließendes. Ich würde dies als ein Zulassen des Entstehens multipler Betrachtungsweisen charakterisieren, vergleichbar in Konversation verstrickten multiplen Stimmen. Erst dann kam eine Phase, in der Glanville das von ihm Geschriebene durchlas und zu verstehen versuchte. Glanville kämpfte damit, sprachlich zu präsentieren, was bislang noch nicht ausgesprochen worden war: etwas, was die Sprache als ein Werkzeug oder Medium vor unserem Bewusstsein versteckt hält. Diese kreative Periode kam an einem bestimmten Tag zum Abschluss, als Frage und Antwort sich komplett herauskristallisiert hatten. In einem fünfzehnstündigen Schreibpensum verfasste Glanville das Herz, den Kern seiner Dissertation. Und das war die Frage, die formuliert und anschließend beantwortet werden musste: Wie kann es sein, dass Beobachter, die allesamt unterschiedlich beobachten und unterschiedliches Wissen haben, zu der Vorstellung kommen, dass sie dieselbe Sache beobachten und sich so verhalten, als ob dies der Fall ist? Und dies die Antwort: Er erkannte, dass jede Entität, um die Stabilität zu besitzen, die sie als Entität konstituiert, sich ihrer selbst erinnern muss, um sich selbst als sich selbst zu rekonstruieren. Gedächtnis ist der Prozess, der sich als Produkt hervorbringt. Mit einem Schlag verankert Glanville Zirkularität und Selbstreferenz tief im Herzen einer abstrakten kybernetischen Algebra. In späterer Terminologie ausgedrückt, entwickelt Glanville eine Kybernetik zweiter Ordnung und stellt zugleich fest, dass in alle Formen erster Ordnung (beobachtete Systeme) intrinsisch Erwägungen zweiter Ordnung eingebaut sind (alle beobachteten Systeme sind beobachtende Systeme; alle Systeme sind, wechselseitig, selbstbeobachtend). Glanvilles Denken hatte zu diesem Zeitpunkt entdeckt, dass das Wort „Objekt“ einst die Konnotation besaß, die wir heutzutage dem Wort „Subjekt“ beimessen. In einer launischen, auf diesen historischen Bedeutungswandel bezogenen Wendung nennt Glanville, wie oben bereits angedeutet, seine selbstbeobachtenden Entitäten, die für sich selbst sowohl Subjekt als auch Objekt sind, „Objekte“ (mit einem auch im Englischen groß geschriebenen Anfangsbuchstaben).

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Am Ende der mündlichen Prüfung zu seiner Dissertation wurde er durch seinen externen Gutachter Heinz von Foerster gefragt, was er als nächstes zu tun gedenke. Glanville hatte noch nicht so weit gedacht. Von Foerster schlug vor, dass er seine Dissertation entweder in Buchform bringen oder aber eine Reihe von kürzeren Aufsätzen schreiben könne, in denen die Kernideen seiner Dissertation ausgearbeitet und angewendet werden würden. Glanville hat sich für Letzteres entschieden. Objekte ist eine Sammlung einiger der ersten Aufsätze aus dieser Reihe. Objekte ist aufgrund einer Anregung des Soziologen und Theoretikers sozialer Systeme Niklas Luhmann entstanden. Luhmann hatte mehrere Aufsätze von Glanville gelesen und schlug vor, sie in Buchform zu veröffentlichen. Einer seiner Schüler, Dirk Baecker, fand einen Verlag und erarbeitete eine Übersetzung, obwohl Glanville seine Aufsätze für unübersetzbar hielt. Erst der Verweis auf die Mehrsprachigkeit im Werk von Samuel Beckett (den Glanville so sehr verehrte, dass er ihn sogar in Paris aufsuchte) und Ludwig Wittgenstein half dabei, seine Zustimmung zu gewinnen. Ich finde es ziemlich treffend, dass es unter allen großen Theoretikern der Kybernetik gerade Luhmann gewesen ist, der die Wichtigkeit von Glanvilles Arbeit am deutlichsten erkannt hat, denn Luhmann war jemand, der eine entwickelte und klare Auffassungsgabe für die abstrakten, philosophischen Fragen hatte, die mit Konzepten der Selbstreferenz einhergehen (siehe insbesondere Luhmann 1984, Kap. 12).

5 Glanvilles Theorie der Objekte Damit meine Bemühungen beim Zusammenfassen von Glanvilles Arbeit nicht die Überzeugungskraft und Klarheit des Meisters entbehren, werde ich an dieser Stelle ausführlich aus einem Aufsatz zitieren, der gut zwanzig Jahre nach der Veröffentlichung von Objekte geschrieben worden ist und in dem Glanville als Teil eines längeren Essays über Begriff und Entwicklung der Kybernetik zweiter Ordnung, seinen eigenen Beitrag dazu darstellt (Glanville 2002): „Man könnte sich meine Arbeit als eine Generalisierung der Arbeit der anderen denken. Mein anfängliches Hauptanliegen bestand darin, eine Reihe von Konzepten auszuarbeiten, die erklären können, wie wir, obwohl wir alle unterschiedlich beobachten und unterschiedliche Kenntnisse haben, uns so verhalten können, als ob wir dieselbe Sache beobachten. Welche Struktur könnte das unterstützen?“ Man beachte, dass es Glanville wichtig ist, den Beitrag von Gleichgesinnten und Mentoren anzuerkennen. Später nennt er als Schlüsselfiguren Pask, von Foerster, Maturana und Varela. Er fährt fort: „Mein Beitrag war eine Struktur, die in der Lage ist, Beobachtung und Differenz aufeinander abzustimmen. Das wurde erreicht durch

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das Konstatieren von Wechselseitigkeit, hier als ‚die reziproke Anordnung, durch die das, was für den einen der Fall sein kann, auch für den anderen der Fall sein kann‘ glossiert. Beim Treffen einer Unterscheidung muss das, was für die eine Seite behauptet werden kann, für die andere Seite zumindest prinzipiell ebenfalls möglich sein. Das habe ich das ‚Prinzip der wechselseitigen Reziprozität‘ genannt.“. Ich glaube, dass hierin die Schlüsselidee steckt, die Einsichten der Kybernetik über die Arbeit der anderen hinaus generalisiert. Der Leser sollte anerkennen, dass das Prinzip wechselseitiger Reziprozität prä-ontologisch ist. Bis zu diesem Zeitpunkt findet sich noch kein Bekenntnis zu einer bestimmten geteilten Realität. Wenn ein „Ich“ ein „Du“ unterscheidet, ist das, was dem einen erlaubt ist, auch dem anderen erlaubt. Wenn ein „Ich“ ein „mein“ und ein „er“, „sie“ oder „es“ unterscheidet, ist das, was dem einen erlaubt ist, auch dem anderen erlaubt. Glanville fährt fort: „In einem durch Individualität und Differenz des Beobachtens bestimmten Diskursuniversum nimmt man für beobachtende Entitäten an, dass sie sich selbst beobachten: sie sind selbstreferentiell. Auf diese Weise gewinnen sie Identität und Autonomie. (Beobachtung sollte nicht mit Sehen verwechselt werden: Beobachtung wird hier als formale Qualität begriffen.) Daher muss man für beobachtete Entitäten davon ausgehen, dass sie über die Möglichkeit verfügen, sich selbst zu beobachten.“ Hier bewegen wir uns immer noch im prä-ontologischen Bereich, aber wir sind durch das Prinzip wechselseitiger Reziprozität dazu verpflichtet, für das Beobachtete etwas einzugestehen, was wir dem Beobachter bereits zugestanden haben: das Vermögen der Selbstbeobachtung, das Identität und Autonomie verleiht. Glanville nennt diese Klasse selbstbeobachtender Entitäten „Objekte“, so wie im folgenden Auszug: „Es gilt als unvorstellbar, dass solche Entitäten (‚Objekte‘ genannt) zugleich sowohl selbstbeobachtend als auch selbstbeobachtet sind. Man nimmt daher an, dass sie diese Rollen wechseln. Das generiert Zeit (und macht Zeit zu einem zentralen und fest eingebauten Begriff der Kybernetik zweiter Ordnung), erlaubt die Beobachtung durch ein anderes Objekt und baut Beobachtungszeit als eine Art des Relationierens der Beobachtungen anderer Objekte auf, was dem Ganzen eine relationale Logik gibt. Objekte werden als zwischen diesen beiden Rollen oszillierend aufgefasst und diese Oszillation erlaubt die Kontinuität der Beobachtung des Selbst; und die Beobachtung Anderer in der Zeit, so dass Beziehungen entstehen. Objekte generieren Prozesse, genauso wie sie durch Prozesse generiert werden: eine weitere kybernetische Zirkularität. Solange Beobachtung auf diese Weise stattfinden kann, wird angenommen, dass andere Aktivitäten ebenfalls vorkommen können.“ Hier hat Glanville ein weiteres zentrales prä-ontologisches Prinzip vorausgesetzt, das man zum Beispiel das Prinzip des Ausschlusses von Beobachten

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und Beobachtetwerden nennen könnte. Dies gilt zunächst für das „ich“ und das zugeordnete „mich“ eines einzelnen Objekts und wird dann ausgeweitet auf den Fall sich einander beobachtender Objekte. Das Ausschließungsprinzip erzeugt den Begriff der Zeit als Differenz zwischen Beobachten und Beobachtetwerden und erzeugt den Begriff des Prozesses: der Tatsache, dass etwas passiert. Ein Objekt wird als eine Entität aufgefasst, die sich als Prozess selbst als sich selbst konstituiert. Es ist das Gedächtnis seiner selbst. Das ist der Auftakt von Glanvilles Darstellung. Daran schließen Ausarbeitungen an, die die vollständige Struktur der Entstehung von Selbstreflexion höherer Ordnungen und der Entstehung von temporär synchronisierten sozialen Gruppen und Koalitionen offen legen. Es sollte noch einmal betont werden, dass diese Struktur prä-ontologisch ist. Bislang wurden keine „Gesetze der Physik“ postuliert, gibt es keine Formen, die als „lebendig“ oder „nicht-lebendig“ bezeichnet werden, gibt es keinen „Anfang“ und kein „Ende“. Glanville fasst zusammen: „Um eine Metapher zu bemühen: meine Arbeit ist die Kreation von Spielfeldern: andere kreieren die auf diesen Feldern spielbaren Spiele und wieder andere spielen sie. Einige sind bloße Zuschauer. Der Punkt an einer andere zulassenden Darstellung ist nicht, dass sie richtig ist, sondern dass sie generell ist (und generös). Kybernetik wird oftmals als ein Metafeld begriffen. Die Kybernetik der Kybernetik ist folglich ein Meta-Metafeld. Meine Arbeit ist also ein Meta-Meta-Metafeld.“ Was hat Glanville damit erreicht? Seine Struktur erlaubt es uns zu spielen, zu beobachten und beobachtet zu werden, Landkarten und Modelle zu konstruieren und nach Herzenslust zu ontologisieren. Sie erinnert uns auch daran, dass diese Form, die Form des Spielens, tatsächlich prä-ontologisch ist und uns auferlegt, uns entsprechend zueinander zu verhalten. In seinen Philosophischen Untersuchungen charakterisiert Wittgenstein (1953) Philosophie als eine Grundlagen klärende Übung. Durch eine Übung in abstrakter kybernetischer Algebra hat Glanville die Urgrundlagen geklärt.

6 Glanvilles Bezugs- und Ausgangspunkte in der Entwicklung der Theorie der Objekte Was waren die spezifischen Wurzeln, die Quellen, die Stimmen, die in der Reifezeit von Glanvilles Ideen zusammenkamen? Vor kurzem habe ich ihn das gefragt. Er denkt folgendermaßen daran zurück: Zunächst erwähnt er das ausgiebige Studium und die Bewunderung der Arbeit von W. Ross Ashby, insbesondere seiner Einführung in die Kybernetik (Ashby 1956). Es könnte sein,

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dass dem Leser dies nicht unmittelbar als fruchtbare Quelle für leitende Ideen einer Kybernetik zweiter Ordnung bewusst ist, aber ich möchte daran erinnern, dass Querverweise in Ashbys Buch deutlich machen, dass er Kybernetik als „die Wissenschaft aller möglichen Maschinen“ definiert; dass er anmerkt, dass für ihn die Begriffe „Maschine“ und „System“ synonym sind und dass „ein System das ist, was fortdauert“; und dass er anmerkt, dass die Kybernetik vornehmlich an Systemen interessiert ist, die „offen für Energie, aber geschlossen für Information und Kontrolle“ sind – die „informationsdicht“ sind. Glanville hat Ashby insbesondere für seine „Klarheit, Prägnanz und Präzision“ bewundert. Zu jener Zeit hat Glanvilles Doktorvater, Gordon Pask, über seine im Entstehen begriffene kybernetische Theorie der Konversationen gelehrt und geschrieben. Pask war besonders enthusiastisch und inspiriert durch Lars Loefgrens Aufsatz „An Axiomatic Explanation of Complete Self-Reproduction“ (1968). Darin zeigt Loefgren, dass man eine formal konsistente Mengentheorie konstruieren kann, in der man a priori die Existenz selbstreproduzierender Entitäten annimmt. Pask begriff dies als Grundlage einer wissenschaftliche Theoriebildung, die Darstellungen und Modelle selbstreproduzierender Entitäten mit einschließt. In seiner eigenen Theoriebildung hielt Pask es für nützlich, zwei Typen einer derartigen Entität zu unterscheiden: mechanische (oder m-) Individuen und psychologische (oder p-) Individuen. Letztere sind kohärente, selbstreproduzierende Begriffssysteme oder auch Systeme von Überzeugungen. Erstere sind biologische oder vorhandene mechanische Systeme, die bestimmte p-Individuen verkörpern. Pask hatte verschiedene Motive, die p-/m- Unterscheidung zu treffen, zentral aber war sein Interesse an den Prozessen, durch die Beobachter in Konversation und Interaktion dazu gelangen, sich gegenseitig kennen zu lernen und zu verstehen. Zur gleichen Zeit (späte 1960er, frühe 1970er Jahre) hat Humberto Maturana sein zukunftsweisendes Prosagedicht „Neurophysiology of Cognition“ geschrieben, das den zentralen Kern seiner These über autopoietische Systeme ausführt (der Begriff „Autopoiesis“, der „selbsterzeugend“ bedeutet, wurde erst später geprägt). Glanville hatte Zugang zu diesen Essays (Maturana 1970, Maturana und Varela 1980). Zudem hat er 1972 eine Vorlesung gehört, die Maturana an der Brunel University gehalten hat. Der Kern von Maturanas Argumentation ist, dass das Eigentümliche an lebenden Systemen als organisational geschlossenen Systemen darin besteht, dass sie sich, was auch immer sie sonst noch tun mögen, von Moment zu Moment als Strukturen selbst reproduzieren, die wiederum eine Verkörperung der Mittel sind, die es ihnen erlauben, sich selbst als Strukturen zu reproduzieren. Diese akkurate Konzeption eines selbstreproduzierenden Systems als eines geschlossenen Systems von

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Operationen war ein wesentlicher begrifflicher Beitrag zur Weiterentwicklung von John von Neumanns früheren Konzeptionen von Automaten, die Replikate ihrer selbst bauen, über Ashbys Vorstellung eines „informationsdichten“ Systems und Stafford Beers Begriff eines „viablen Systems“ hin zu den Darstellungen der Selbstorganisation bei von Foerster, Pask und anderen. Von Foerster war als Mitglied des akademischen Kollegiums, das er am Biological Computer Laboratory an der Universität Illinois gefördert hat, selbst eine zentrale Figur in der Entwicklung des kybernetischen Denkens. (In der Tat ist er es gewesen, der 1974 die Unterscheidung zwischen einer Kybernetik erster und zweiter Ordnung formal artikuliert hat.) Eine spezielle Quelle für Glanvilles sich entwickelnden Gedanken über „selbstbeobachtende Objekte“ sind von Foersters „Bemerkungen zu einer Epistemologie des Lebendigen“ gewesen (von Foerster 1974). Darin finden wir die Bemerkung: „Ein Organismus ist für sich selbst das letztgültige Objekt“ (von Foerster 1974, S. 128). Glanville erzählt mir, dass er erst nach Vollendung seiner Dissertation Spencer-Browns Laws of Form (1969) besondere Aufmerksamkeit geschenkt hat, obwohl ihm die Verbreitung und der Einfluss des Buches zu jener Zeit bekannt war, nicht zuletzt durch die Arbeit von Maturanas Kollege Francisco Varela. Glanville erzählt mir auch, dass er Wittgensteins Tractatus (1922) damals noch nicht gelesen hatte, sondern dies erst später nachgeholt hat. Nur rückblickend ist ihm bewusst, dass er damals eine abstrakte philosophische Dissertation schrieb.

7 Themen in  Objekte Das Inhaltsverzeichnis von Glanvilles Buch Objekte (Glanville 1988) listet elf Aufsätze auf, die in vier Abschnitten organisiert sind: I. Objekte, II. Black Boxes, III. Distinktionen und IV. Kybernetik. In Abschnitt I finden sich vier Aufsätze. Der erste, mit dem Titel „Was ist und wie kann sich ein Gedächtnis erinnern, was es ist?“, ist eine prägnante Rekapitulation der Theorie der Objekte, wie sie zuerst in Glanvilles Dissertation vorgestellt worden ist (Glanville 1975). Der zweite heißt „Die Natur des Fundamentalen, angewendet auf die Fundamente der Natur“. Darin baut Glanville auf Gregory Chaitins Idee auf, dass nur das Zufällige fundamental ist, weil nur das Zufällige nicht weiter reduziert werden kann (etwa Chaitin 1975). Glanville wendet dieses Konzept auf seine eigenen Objekte an. Objekte können als einzigartige Entitäten nicht auf eine Beschreibung oder Regel reduziert werden. Glanville reflektiert anschließend über Jacques Monods (1972) Diskussion der Rollen von „Zufall“ und „Notwendigkeit“ in der biologischen Evolution

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und generalisiert sie derart, dass sie auf seine Objekte anwendbar sind. Zufall produziert eine Vielfalt von Objekten, von denen jedes einzelne einzigartig ist. (Pask greift in seinen späteren Schriften diese Idee mit dem Aphorismus „There are no doppelgangers“ auf.) Notwendigkeit bezieht sich auf die obligatorische Anforderung, dass Objekte sich selbst erinnern (reproduzieren) müssen, was auch immer sie sonst noch tun mögen. Der dritte Aufsatz trägt den Titel „Dasselbe ist anders“. Er weist darauf hin, dass in einer Welt, in der die fundamentalen Entitäten einzigartige Objekte sind, jede Vorstellung von Selbigkeit eine Eigenschaft der Beobachtung und nicht der beobachteten Objekte ist. Als Beobachter synchronisieren wir Objekte als Elemente von Klassen und Klassenhierarchien miteinander. Wir führen Ordnung, Hierarchie, Voraussagbarkeit und Verbindung ein. Wir differenzieren eine Ontologie aus, ein Universum sich gesetzmäßig verhaltender Entitäten. Der vierte Aufsatz in Abschnitt I heißt „Bewusstsein: und so weiter“. Darin generalisiert Glanville vom Thema des vorherigen Aufsatzes auf denjenigen Fall, in dem wir, als Beobachter, zur Unterscheidung einer Welt von Objekten gelangen, die uns zu einer Kenntnis voneinander und der von uns bewohnten Universen befähigen kann. Der erste Schritt in dieser Konstruktion besteht darin, eine triadische Relation zu bilden, in der für einen Beobachter ein Objekt als Zeichen für ein anderes Objekt dient. In ihrer Interaktion können Beobachter daraufhin Systeme der Übereinkunft etablieren, in denen Zeichen geteilte Bedeutung haben. Glanville merkt an, dass es diese Konstruktion des Teilens von Bedeutung mit einem anderen ist, die ein Objekt dazu befähigt, mit sich selbst Bedeutungen zu teilen und sich selbst seines Selbsts bewusst zu sein. Glanville folgt Warren McCulloch, einem der Begründer der Kybernetik, in seinem Bestehen darauf, dass „Bewusstsein“ viel mehr impliziert als nur einen undifferenzierten Zustand der Bewusstheit. Es impliziert, wie das Lateinische „conscire“, ein „miteinander wissen“. Die Wichtigkeit triadischer Relationen als erforderliches Minimum für die Bildung einer Zeichentheorie wurde zuerst von Charles S. Pierce betont. George H. Mead, ein Anhänger von Pierce, hat für die Idee, dass ein bestimmtes Zeichen ähnliche Reaktionen sowohl beim Sender als auch beim Empfänger hervorrufen kann, den Begriff „signifikantes Symbol“ geprägt. Glanvilles eigene Quellen für Konzepte des Bezeichnens waren Ferdinand de Saussure und Gottlieb Frege. Glanville entfaltet diese Formen jedoch in einer eleganten, prägnanten Einfachheit vom fundamentalen Ausgangspunkt seiner Objekte her. Abschnitt II von Objekte – Black Boxes – besteht aus nur zwei Aufsätzen. Der erste Aufsatz „Die Form der Kybernetik: Interaktionen in der Black Box“ diskutiert die Beziehung zwischen Kybernetik erster und zweiter Ordnung. Glanville merkt an, dass „die Kybernetik das Studium nicht nur der Form von Kontrolle

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und Kommunikation [ist], sondern, weil Kommunikation und Kontrolle letztlich nichts als Interpretationen aller unserer Erfahrungen und Aktionen sind, ein Studium der Form selbst. Darum sprechen wir von der Kybernetik der Form (und natürlich von der Form der Kybernetik)“ (S. 100). Die Form der Kybernetik ist die des Beobachters und des Beobachteten. Während die Kybernetik erster Ordnung sich auf das Beobachtete konzentriert – wie in der klassischen BlackBox-Theorie, in der das Beobachtete eine Black Box ist, die der Beobachter „aufzuklären“ versucht, indem er sie manipuliert und daraus die Regeln deduziert, die ihr Verhalten leiten – lehrt uns die Kybernetik zweiter Ordnung, dass die Relation Beobachter-Beobachtetes selbst ein System ist, eine Black Box, die beobachtet und verstanden werden muss. Dieses Studium zweiter Ordnung ist reflexiv, wie der Ausdruck „Kybernetik der Kybernetik“ zeigt. So gesehen wird deutlich, dass es sich bei der Vorstellung eines das Beobachtete kontrollierenden Beobachters um eine Zuschreibung von Rollen auf die beiden Teile des Systems handelt. Aus anderer Perspektive können die Rollen vertauscht erscheinen: man kann die Laborratte als Kontrollinstanz des Verhaltenspsychologen betrachten; man kann die Heizquelle als das Kontrollierende des Thermostats betrachten. Der zweite Aufsatz dieses Abschnitts entwickelt eine komplexe Argumentation, in der die Aussage „In jeder White Box warten zwei Black Boxes, die herauswollen“ (das ist der Titel des Aufsatzes) als eine fundamentale Form etabliert wird, die gleichsam als verschachtelte Hierarchie rekursiv ausgeführt werden kann. Die Grundlage der Rekursion ist ein Glanville Objekt mit seinen beiden untrennbaren Rollen Selbstbeobachter und Selbstbeobachtetes. Formen höherer Ordnung entsprechen einem sozial konstruierten Wissensschatz und Verhaltensnormen, in denen Beobachtungen von Relationen zwischen Beobachter und Beobachtetem als Tatsachen oder Überzeugungen etabliert werden. In den Naturwissenschaften wird dies (um einen Begriff von Suppe 1977 zu verwenden) ein System „begründeter wahrer Überzeugungen“ genannt. Glanville verdeutlicht, dass diese Konstruktion eine grundsätzlich soziale Bestrebung ist, die die Existenz einer stabilen geteilten Realität voraussetzt und die gerade durch ihr Operieren eine solche stabile geteilte Realität aufbaut und geltend macht. Jede derartige Konstruktion ist natürlich der Infragestellung ihrer Stabilität und logischer Kritik ausgesetzt, die Inkonsistenzen oder fehlende Kohärenz einer auf diese Wiese etablierten konzeptuellen Struktur offenbaren. Glanville merkt weiterhin an, dass es ein Attribut menschlicher – im Unterschied zu maschineller – Intelligenz ist, dass wir „Ebenen transzendieren“ können. Wir können über formale Strukturen nachsinnen und, um einen Begriff von Peirce zu benutzen, durch Abduktion neue Formen erzeugen.

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Abschnitt III, Distinktionen, weist vier Beiträge auf. Der erste trägt den Titel „Jenseits der Grenzen“. Der Leser sei eingeladen, sich diesen Beitrag selbst anzuschauen. Seinen Stellenwert werden diejenigen am ehesten zu schätzen wissen, die mit George Spencer-Browns Laws of Form (1969) bereits vertraut sind. Ich kann hier nur eine knappe Zusammenfassung von Glanvilles Argument liefern. Spencer-Brown beginnt mit „der Form entnommenen Formen“, zum Beispiel einem Blatt Papier, und macht in dieser Form Unterscheidungen als Beispiele für „perfect continence“, beispielsweise einen Kreis. Die Laws of Form werden von diesem Punkt aus entwickelt. Glanville bringt einen Kritikpunkt an, indem er vorschlägt, dass wir mit der Form selbst beginnen sollten. Das ist der Bereich von Glanvilles Objekten. Spencer-Brown hat mit seinem Verdikt, dass „die Form der Bezeichnung selbst nicht bezeichnet werden kann“, ein Gesetz entworfen, das dagegenspricht. Glanville argumentiert hingegen, dass seine Objekte die Form der Bezeichnung sind; sie sind Selbstbezeichner. Er fährt mit dem Vorschlag fort, sie durch ein Möbiusband zu repräsentieren, das heißt durch eine Grenze, die Innen und Außen nicht unterscheidet. (Um ein Möbiusband zu konstruieren, nimmt man einen Streifen Papier, dreht ihn einmal und fügt dann die Enden aneinander; der Streifen hat jetzt nur eine Kante und nur eine Seite.). Der zweite Aufsatz von Abschnitt III heißt „Your Inside is Out and Your Outside is In“. Er wurde zusammen mit Francisco Varela verfasst. Zu jener Zeit wurde Varela als bedeutender Kybernetiker der aufkommenden nächsten Generation gepriesen. Glanville hatte Varela eingeladen, um mit ihm an einem gemeinsamen Aufsatz zu arbeiten und sich und die jeweilige Arbeit kennen zu lernen. Die Thematik einer Grenze, die Innen und Außen nicht unterscheidet, wird noch einmal untersucht. Dieses Mal wird dieses Konstrukt verwendet, um sowohl das Konzept elementarer Einheiten (wie in der Quantenphysik) als auch Vorstellungen des Universellen, Ganzheitlichen, Allumfassenden (wie in der Kosmologie) in Frage zu stellen. Glanville und Varela zeigen, dass durch gesetzmäßig konstruierte Formen im Sinne von Spencer-Brown keines von beiden bezeichnet werden kann, da eine Spencer-Brown’sche Unterscheidung immer mindestens eine weitere Unterscheidung impliziert: die Unterscheidung zwischen einer Form (die Markierung der Unterscheidung) und ihrem Inhalt (dem Wert, der der unterschiedenen Form zugeordnet wird). Sie zeigen, dass beide Konzepte, das Elementare und das Universelle, als Form einer Selbstbezeichnung ineinander kollabieren: in ein Glanville-Objekt, dargestellt (wie schon zuvor) durch ein Möbiusband. Der Aufsatz ist kurz und meine Darstellung noch kürzer. Und wieder rate ich dem Leser, ihn selbst zu lesen. Insbesondere mag ich den vorletzten Absatz: „Dinge entstehen aus nichts durch das Treffen von Unterscheidungen, die auf Grenzen bestehen. Dass diese, soweit wir als externe

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Beobachter sagen können, Illusionen sind, macht sie um keinen Deut weniger wirklich oder notwendig. Das Illusionäre – die Flüchtigkeit –, eine ungreifbar schimmernde Qualität, vergessen wir oft, vor allem dann, wenn wir Gesetze aufstellen, die der Imagination Grenzen setzen“ (S. 173). Der dritte Aufsatz in Abschnitt III heißt „Distinguierte und exakte Lügen“. Hier ist das Argument, dass alles, was wir in einer Welt tun können, in der das Einzigartige nicht beschrieben und kommuniziert werden kann, die Provokation eines geteilten Verständnisses durch den Austausch „distinguierter und exakter Lügen“ ist. Der vierte Aufsatz in Abschnitt III trägt den Titel „Leere“. Der vorherige Aufsatz leitet ihn ein. Dort heißt es: „Wir leben in einer Welt der Interaktion, in der wir distinguierte und exakte Lügen erzählen und nichts anderes erzählen können. Was wir jedoch tun können, wenn wir dieses Argument nicht akzeptieren, erkunde ich in einem zweiten Artikel unter dem Titel „LEERE“, der sich unmittelbar anschließt.“ (S. 192). Der Aufsatz „Leere“ ist eine unbedruckte Seite. Um den Stellenwert der Aufsätze in Abschnitt III einzuschätzen, könnte es für den Leser hilfreich sein, sich zu erinnern, dass Glanville Objekte prä-ontologisch sind. Ein Universum von Objekten ist bislang noch nicht entstanden. Die Leerheit der Leere hat der leeren Fülle einer Welt der Unterscheidungen noch nicht den Weg gebahnt. Dieser einleitende Nicht-Ort kann zwar nicht beschrieben, aber erfahren werden. Glanville und Varela sprechen von einer „ungreifbar schimmernden Qualität“. Einen weiteren Vorstoß in diesen NichtOrt hinein und aus ihm heraus nimmt kürzlich Louis Kauffmans Gedicht „Void Selecta“ vor (Kauffman 2004). Ein klassischer Text, in dem das Möbiusband als metaphysische Metapher Verwendung findet, ist Alan Watts zen-buddhistisch orientierter Kommentar (Watts 1967). Einen aktuellen, dieselbe metaphysische Metapher verwendenden Essay zum Thema „Kybernetik als universelles Wissen“ hat Bowker (2004) verfasst. Abschnitt IV von Objekte enthält nur einen Aufsatz mit dem Titel „Die Frage der Kybernetik“. Darin fasst Glanville kurz die Argumentation zusammen, die deutlich macht, dass wir mit der Kybernetik zweiter Ordnung den Status des „Wissens“ und was es überhaupt heißt „zu wissen“ problematisiert haben. Er vertritt die Auffassung, dass „(…) wir unsere Konzepte von Wissen, Naturgesetzen, Realität, Kausalität usw. radikal ändern [müssen]“ (S. 215). Anschließend stellt er „Die Frage der Kybernetik“: „Wie kann diese Änderung unserer Konzepte oder unserer selbst vollzogen werden; wie kann man darauf vertrauen, dass die Änderung produktiv sein wird; und was wird die Änderung für uns als kognitive Wesen bedeuten?“.

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Dieser Aufsatz kann innerhalb Glanvilles Werk als Plateau und Ausstiegspunkt betrachtet werden. Obwohl er weiterhin über Epistemologie und Kommunikation geschrieben hat, so hat er sich auch ethischen Belangen gewidmet, wie Verantwortung, Vertrauen, Erziehung und Großzügigkeit – ein Interesse, das er mit Pask, von Foerster und Maturana auf ihren unterschiedlichen Wegen teilt. Wie es in seiner eigenen Darstellung zu ihrer Entwicklung klar und deutlich genug herausgestellt worden ist (Glanville 2002; siehe inzwischen auch Glanville 2012, 2014 und 2009), hat Glanville zusammen mit seinen Mentoren und Gleichgesinnten der Kybernetik zweiter Ordnung Tiefe, Reife und Autorität verliehen.

8 Abschließende Bemerkungen Die Aufsätze der Sammlung Objekte sind ein Ausdruck ihrer Zeit, aber wie bereits viele vorhergehende Meditationen zu Aspekten zweiter Ordnung in Kybernetik, Systemtheorie und Naturwissenschaften waren sie auch ihrer Zeit voraus. Die von ihnen konstatierten prä-ontologischen formalen Wahrheiten sind zeitlos. Sie stehen Seite an Seite mit anderen großen, formalen Wahrheiten der Kybernetik und besitzen Gültigkeit und Relevanz für alle Generationen. In den 1970er Jahren haben innerhalb der Kybernetik- und Systembewegung viele die ‚neue Kybernetik‘ und das neue Paradigma zweiter Ordnung angekündigt, jedoch blieb diese Ankündigung in anderen Kreisen völlig unbeachtet. Die „cognitive science“ hat die kognitive Psychologie und die Forschung zur künstlichen Intelligenz – besonders mit dem Konzept des „physischen Symbolsystems“ – fest in ihren Griff genommen und behalten. Die sogenannte konnektionistische, sub-symbolische Revolution hat bloß noch deutlicher hervortreten lassen, wie begriffsarm die „cognitive science“ begonnen hatte. Grob vereinfachte Vorstellungen selbstorganisierender Netzwerke wurden wiedererfunden, um etwas über Lernen sagen zu können – wenn auch nur in Form trivialer Anpassung. Darstellungen der Emergenz symbolischen Prozessierens aus einem subsymbolischem Prozessieren heraus waren genauso konfus, wie die Ideen zu „Symbolen“, die sie zu ersetzen versuchten. Es wurde sogar (von Steven Harnad 1990 und anderen) das sogenannte „symbol grounding“-Problem formuliert, das grob gesagt darin besteht zu fragen, wie Symbolsysteme in irgendeiner Art Ontologie gegründet beziehungsweise mit ihr verbunden sind. Die beiden großen Auslassungen des „cognitive science“-Paradigmas waren die beiden aufeinander bezogenen Konzepte 1) der organisationalen Schließung und 2) der sozialen Basis der Kommunikation, die die Illusion erzeugt, dass „Sprache“ die Form eines symbolischen Codes hat.

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Insbesondere die kybernetische Gemeinschaft war es, die über mehrere Jahrzehnte systematisch die Aufmerksamkeit auf diese Auslassungen gelenkt hat. Es ist nicht ohne Ironie, dass der Begriff der organisationalen Schließung eine passende Erklärung dafür anbietet, warum er als zentraler Begriff vom Mainstream der Physik, Biologie, „cognitive science“und Soziologie ignoriert worden ist. Wissenschaftliche Forschungsprogramme stützen sich wie andere Begriffssysteme auch auf grundlegende Behauptungen, die, was auch immer kommen mag, nicht in Frage gestellt werden dürfen, damit das System selbst nicht versagt. Die Systeme sind organisational geschlossen. Sie zeigen Immunreaktionen gegenüber Ideen, die sie untergraben würden. Alternative Systeme werden ignoriert oder verteufelt. Demnach hat sich der Mainstream nicht mit Kybernetik und Kybernetik zweiter Ordnung auseinandergesetzt. Ich denke, dieser Zustand ändert sich gerade. Einige Stimmen aus dem Mainstream registrieren die Existenz eines alternativen Paradigmas. Es könnte noch eine Weile dauern bevor der Mainstream erkennt, dass diese Alternative nicht einfach die Antithese zu ihm als These ist. Vielmehr wird eine Synthese angeboten, eine Perspektive höherer Ordnung, in der das Problem von Symbol und Bedeutung als Pseudoproblem innerhalb des breiteren Kontexts einer Pragmatik der Kommunikation und Interaktion zwischen organisational geschlossenen Systemen betrachtet wird. Glanvilles selbstreferentielle Objekte bieten mit ihrem Zusammentreffen und ihrer Evolution von Möglichkeiten, Einsichten zu teilen eine umfassende, prägnante und elegante Darstellung dieser höheren Ebene. Sie bestehen den Vergleich mit anderen Versuchen von Synthesen höherer Ordnung, sind aber ihrer Intention nach philosophisch reiner. Maturanas Synthese, die um den Begriff der Autopoiesis herum gebaut ist, weist eine ontologische Orientierung an der Biologie auf. Von Foersters Synthese, die sich um das Konzept dreht, was es für einen Beobachter bedeutet, ‚Objekte‘ zu errechnen, weist eine ontologische Orientierung an der physikalischen Welt auf, auch wenn es eine physikalische Welt ist, die, vor aller Beobachtung, keine Information enthält, sondern ist, wie sie ist (von Foerster 1974, S. 123 und 133; vgl. von Foerster 1970). Pask wiederum war alles in allem ein „Philosoph-Mechaniker“. Seine Theorie war in Artefakten verkörpert und durch sie inspiriert. Seine konzeptuellen Systeme (p-Individuen) erfordern ein Medium für ihre Verkörperung (m-Individuen) (siehe Glanville in diesem Band und Scott 1980 und 1982). Luhmann schließlich ontologisiert soziale Systeme ohne Zögern neben biologischen und psychischen als Entitäten eigener Art. Glanville jedoch beschenkt uns mit abstrakten Formen und lädt uns ein, uns zu erinnern, dass wir Formen sind, die Formen hervorbringen. Wir sind die Form des Hervorbringens. Aus dem Englischen von Athanasios Karafillidis.

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Selbstbeobachtung

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Bernard Scott,  Dr., Psychologe, Kybernetiker (PhD Brunel University), Senior Lecturer in Electronically-Enhanced Learning, Cranfield University, Royal Military College of Science, Uk Defence Academy, Shrivenham, Wilts. Bernard Scott arbeitete mit Gordon Pask bei der System Research Ltd (1967–1978) und entwickelte die conversation theory und computer-based systems theory für Zwecke der Lehre, Curriculumgestaltung und Wissensfindung. Seine Arbeitsgebiete sind Theorien des Lehrens und Lehrens, individuelle Unterschiede im Lernen und Lehren, Prinzipien der Kursgestaltung, adaptive Tutorien, organisationale Einführung von Informations- und Kommunikationstechnologien und organisationaler Wandel. Jüngste Buchveröffentlichung: Explorations in Second-Order Cybernetics: Reflections on Cybernetics, Psychology and Education, Wien: edition echoraum. Internet: https://www.bernardcescott.co.uk.

Kommunikation

Im Netzwerk der Kommunikation Über Juergen Ruesch und Gregory Bateson, Communication: The Social Matrix of Psychiatry (1951) Fritz B. Simon 1 Vorbemerkung Woran erkennt man, dass ein Text revolutionär ist? An seinem Inhalt? An seiner Rezeption? – zur Zeit seines Erscheinens? – in der Folge? – heute? Können Revolutionen stattfinden, ohne dass die Öffentlichkeit es merkt? Das sind Fragen, die sich zwangsläufig ergeben, wenn man das Buch von Juergen Ruesch und Gregory Bateson heute liest. Es ist von einer geradezu unglaublichen Aktualität. Viele der formalen Konzepte, die in späteren Jahren die Entwicklung von Kybernetik und Systemtheorie bestimmten, sind bereits thematisiert – manchmal nur angerissen, in anderen Fällen weitgehend ausgearbeitet. Ja, sogar Fragen und Konflikte, die in letzter Zeit auf der politischen Bühne diskutiert und ausgefochten wurden – der Unterschied zwischen den im „alten“ Europa und in den „jungen“ USA handlungsleitenden Werten – werden in einer seither unerreichten Klarheit beschrieben und analysiert.

2 Paradigmenwechsel Revolutionär ist aus heutiger Sicht, dass in den unterschiedlichen Kapiteln dieses Buches (Ruesch und Bateson 1951) ein radikaler Paradigmenwechsel vorgenommen wird. Vordergründig gilt dies der Psychiatrie, wie der Untertitel verspricht, hintergründig wird ein die traditionellen Grenzen der Disziplinen überschreitendes Modell der Humanwissenschaften entwickelt, durch das die F. B. Simon (*)  Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 D. Baecker (Hrsg.), Schlüsselwerke der Systemtheorie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30633-5_11

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Unterscheidung zwischen „zwei Kulturen“, d. h. Geistes- und Sozialwissenschaften auf der einen Seite und Naturwissenschaften auf der anderen Seite, aufgehoben wird. Sie werden als unterschiedliche Konkretisierungsformen eines weit abstrakteren Paradigmas – der Kommunikationstheorie – angesehen. Was physische, psychische und soziale Prozesse miteinander verbindet, ist, dass sie als Kommunikationsprozesse beobachtet und erklärt werden können. Geist und Natur erweisen sich so als „notwendige Einheit“ – wie Gregory Bateson 28 Jahre später sein letztes Buch denn auch explizit und programmatisch benennen sollte. In Communication werden die dafür grundlegenden erkenntnistheoretischen und philosophischen Überlegungen bereits entwickelt, wenn auch nicht als Paradigmawechsel gekennzeichnet.

3 Die Autoren Das Buch ist das Ergebnis einer zweijährigen Zusammenarbeit (von 1948 bis 1950) eines klinisch arbeitenden und forschenden Psychiaters und eines Anthropologen, der lange Jahre Feldforschung in Neuguinea und Bali betrieben hatte. Die unterschiedliche professionelle Sozialisation der beiden Autoren dürfte für die Transdisziplinarität ihres Ansatzes mitverantwortlich gewesen sein; dass sie sich auch der Frage nach den Unterschieden zwischen der europäischen und US-amerikanischen Kultur widmeten, hat vermutlich nicht nur mit der Tatsache zu tun, dass Bateson den überwiegenden Teil seines aktiven Berufslebens bis dahin als Kulturanthropologe verbracht hatte, sondern auch mit dem Umstand, dass hier zwei Europäer, die in Amerika lebten und arbeiteten, eine verbindende Perspektive finden konnten. Juergen Ruesch, geboren 1909 in der Schweiz, lehrte als Professor für Psychiatrie an der California School of Medicine und leitete als Direktor die Sozialpsychiatrische Sektion des Langley Porter Neuropsychiatric Institute in San Francisco. Er starb 1995. Gregory Bateson, geboren 1904 in England, in Cambridge zum Zoologen ausgebildet, hatte 1936 eine der einflussreichsten Studien der anthropologischen Feldforschung publiziert. In seinem Buch Naven über ein Ritual der Iatmul, eines kopfjagenden Stammes in Neuguinea, hatte er analysiert, wie das Verhalten und die Beziehungsmuster zwischen Individuen wie auch zwischen soziale Einheiten (z. B. Dorfgemeinschaften) durch den kulturellen Kontext geregelt wird. Neben der sorgfältigen Deskription lieferte Bateson dabei wichtige Bausteine für die Theorieentwicklung, indem er Strukturbildung und Funktion sozialer Prozesse konsequent aufeinander bezog. Das Konzept der „Schismogenese“,

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das später zentral für die Kommunikationstheorie wurde, um generell soziale Differenzierungsprozesse zu erklären, wurde hier erstmals entwickelt. Nach dem Zweiten Weltkrieg war Bateson einer der Akteure bei den multidisziplinären Macy Konferenzen zur Kybernetik (1946–1953), die – wissenschaftsgeschichtlich betrachtet – der Entwicklung von System-, Informations- und Kommunikationstheorie entscheidende Anstöße vermittelten. Er starb 1980.

4 Soziale Matrix Für den ersten Teil des Buches zeichnet Juergen Ruesch verantwortlich. Er legt in seinem Einführungskapitel die Programmatik des gemeinsamen Projektes dar: In der Vergangenheit beschäftigten sich Persönlichkeitstheorien mit einem einzigen Individuum, während es „heutzutage“ (d. h. 1950/1951) deutlich sei, dass dies wenig Nutzen bringe. Notwendig sei es, den Einzelnen in seiner sozialen Situation zu sehen. Es bedürfe einer einheitlichen Kommunikationstheorie, die Ereignisse erfasst, die das Individuum mit einem anderen Individuum verbinden, mit der Gruppe, mit der Kultur und schließlich mit Ereignissen von weltweiter Bedeutung. Abgeleitet ist diese Fragestellung aus der Praxis des Psychotherapeuten (was damals offenbar von Ruesch und Bateson mit „Psychiater“ gleichgesetzt wurde, aber heute, nach der biologischen Wende der akademischen Psychiatrie keineswegs dem Main-Stream des psychiatrischen Selbstverständnisses entspricht – nicht mehr und noch nicht wieder). In der Psychotherapie treffen zwei Personen aufeinander, die beide „Teile“ eines größeren „Ganzen“ sind: eines übergeordneten sozialen Systems. Mit dem Begriff der „sozialen Matrix“ beziehen sich die Autoren auf diesen sozialen Kontext oder Rahmen, der es Beobachtern überhaupt erst ermöglicht, den Ereignissen Bedeutungen zu geben. Um die unterschiedlichen Aspekte menschlichen Verhaltens zu verstehen, schlagen sie den Interpretationsrahmen Kommunikation vor, weil er das einzige wissenschaftliches Modell sei, das sowohl physische wie interpersonelle als auch kulturelle Ereignisse in ein einziges, konsistentes theoretisches System zu integrieren erlaubt. Die Phänomene, die von der traditionellen Psychopathologie beschrieben werden, lassen sich so als Kommunikationsstörungen erklären. Was als Störung definiert ist, ist von der Kultur abhängig, in der das jeweilige „gestörte“ Verhalten gezeigt wird. Da das zeitgenössische psychiatrische Denken (der 40er/50er Jahre) aus Europa nach Amerika importiert wurde, muss es modifiziert werden, um dem amerikanischen System der Kommunikation und seinen Folgen für die psychiatrische Praxis und Theorie gerecht zu werden.

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5 Zirkuläre Prozessmuster als Werte Um dieses Vorhaben durchführen zu können, erweitern die Autoren zunächst unter Missachtung aller akademischen Disziplingrenzen ihren Beobachtungsrahmen über das Individuum hinaus und „in“ es hinein. Sie interpretieren nicht nur das Verhalten eines Individuums als Element von Kommunikation, sondern sie erklären darüber hinaus seine Psychodynamik sowie die biologischen Prozesse des Organismus als Netzwerke von Kommunikationen. Was diese Bereiche und die Ereignisse, die ihnen zugeordnet werden können, miteinander verbindet, sind abstrakte Prozessmuster, die zirkulär organisiert sind, sich wiederholen und sich so stabilisieren. Die traditionelle Unterscheidung zwischen Reiz und Reaktion, durch die der Beobachter traditionellerweise solche zirkulären Prozesse in die Form einer geradlinigen Kausalität bringt, kann bei der Untersuchung von Kommunikationsmustern nicht vollzogen werden. Daher betrachten Ruesch und Bateson die Einheit aus Reiz und Reaktion und nennen sie „Wert“. Werte sind für sie daher, sehr umfassend, bevorzugte Weisen der Kommunikation und des Bezogenseins. In diesem Sinne können nun Kulturen auf ihre Werte hin verglichen werden, Gruppen oder andere soziale Systeme, aber auch Individuen, d. h. ihre intraindividuellen Kommunikationsmuster, seien sie nun biologisch definiert als neuronale Aktivitäten oder psychisch als Kommunikation zwischen verschiedenen Elementen der Psyche.

6 Intrapersonale und interpersonale Kommunikation In ihrer Konzeption psychischer Prozesse als intrapersonale Kommunikation (wobei „Person“ mit „Psyche“ gleich gesetzt wird) zeigt sich eine weitgehende Orientierung der beiden Autoren an originär psychoanalytischen Modellen. Allerdings verlassen sie, und das ist der entscheidende Schritt, in ihren Erklärungen die traditionellen energetischen Modelle und wenden sich konsequent einem kommunikationstheoretischen Ansatz zu. Intrapersonale Kommunikation wird so zum Spezialfall der interpersonalen Kommunikation, nur dass nicht zwischen konkreten, aktuell beobachtbaren Menschen kommuniziert wird, sondern zwischen imaginären Entitäten, die den kondensierten Niederschlag früherer Erfahrungen in zwischenmenschlichen Beziehungen und Interaktionen bilden: internalisierte Repräsentanten von Kommunikationsteilnehmern bzw. den Mustern der Kommunikation zwischen ihnen.

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7 Der kulturelle Kontext Der Erfahrungsbereich der Psychotherapie bietet sich als Zugang zu interdisziplinären Fragestellungen an, da sich die symptomatischen Verhaltensweisen von Patienten letztlich immer biologisch, psychologisch oder auch soziologisch erklären lassen. Das Verhalten eines Individuums ist stets von körperlichen, psychischen und sozialen Prozessen bestimmt und es lässt sich auf Muster in diesen drei Phänomenbereichen hin beobachten. Dass Ruesch und Bateson zu ihrer Form der Zusammenarbeit finden konnten, hat wohl damit zu tun, dass Psychiater und Anthropologen, die Feldforschung in fremden Kulturen betreiben, dem selben Untersuchungsmuster folgen. Sie beobachten und beschreiben von den gewohnten Erwartungen abweichendes Verhalten: einmal das von Individuen, das andere Mal das von sozialen Einheiten. Abweichend ist es natürlich immer nur, wenn man es an dem stillschweigend als „normal“ vorausgesetzten Verhalten misst, und das ist in beiden Fällen das der eigenen Kultur. Psychiatrische Patienten zeigen ein überraschendes, in seiner Sinnhaftigkeit für den durchschnittlichen Europäer oder Amerikaner nicht auf den ersten Blick oder auch gar nicht verstehbares Verhalten, und ähnlich unverstehbar verhalten sich die Stämme von Kopfjägern in Neuguinea. Erst die Abweichung von der Erwartung und das Nicht-Verstehen eröffnet in beiden Fällen die reflexive Einsicht, dass ein „selbstverständlich erwartetes“ und „verstandenes“ Verhalten sich nicht von selbst versteht und der Erklärung bedarf. So eröffnet die Frage nach den Entstehungsbedingungen von Verrücktheit erst die Frage nach denen der „Normalität“, und die Frage nach den Entstehungsbedingungen fremder Kulturen lenkt den Blick auf die eigene Kultur.

8 Kybernetik 2. Ordnung und Radikaler Konstruktivismus Unter den konzeptuellen Neuerungen, die bereits von Ruesch und Bateson ausformuliert wurden, war die Problematisierung der Rolle des Beobachters. Es ist ein Thema, das erst später in den Fokus der Aufmerksamkeit einer größeren Öffentlichkeit kam und heute mit den Namen anderer Autoren verbunden wird, die allerdings meist – wie z. B. Heinz von Foerster – ebenfalls Teilnehmer der Macy-Konferenzen waren. Was einmal unter den Etiketten Kybernetik 2. Ordnung und Radikaler Konstruktivismus gehandelt werden sollte, ist hier bereits angesprochen und klar formuliert. Dass der Beobachter in zwischenmensch-

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lichen Beziehungen keinerlei Zugang zu den intrapsychischen Prozessen anderer Menschen hat, dass alles, was er über sie sagen kann, nur seine Interpretationen und Folgerungen aus dessen Verhalten sind, dass er durch seine Beobachtung das verändert und beeinflusst, was er beobachtet usw. Wenn man dies alles berücksichtigt, so die Argumentation, dann ist die Rolle des Beobachters in der Psychiatrie, speziell in der Psychiatrie-Theorie, nur unzureichend reflektiert. Auch der Psychiater kann seine Patienten immer nur von außen beobachten. Was immer er über den Patienten sagt, ist eigentlich immer eine Aussage über die Kommunikation zwischen ihm und seinem Patienten, und die ist weitgehend vom sozialen Kontext bestimmt. Eines der Probleme der Psychiatrie ist darüber hinaus, dass dieselben Phänomene mit einer Vielzahl von Namen belegt werden und sie bzw. ihre Vertreter ständig die Abstraktions- und Systemebene wechseln, wenn sie über ihre Patienten sprechen. Dasselbe kann über die jeweils konstruierten Erklärungen für die beobachtbaren Phänomene gesagt werden. Sie bilden gewissermaßen eine Art anthropologisches Museum historischer philosophischer, wissenschaftlicher und religiöser Weltbilder. Daraus ergibt sich für die Autoren die Notwendigkeit einer „vereinheitlichten Feldtheorie“, die es ermöglicht, ein die verschiedenen wissenschaftlichen Universen vereinigendes Begriffssystem zu erstellen. Gesundheitsund Krankheitskonzepte sowie die daraus abgeleiteten therapeutischen Methoden beschäftigen sich dann in erster Linie mit den funktionellen Beziehungen eines „Systems von Ereignissen“ und dem Feld, in dem sie sich ereignen. Die grundlegenden Anforderungen, die sie an die „Konstruktion“ einer psychiatrischen Theorie stellen, sind: „… that it be circular, that it have the characteristics of self-correction, that it satisfactorily solve the problem of part and whole function, and that it clearly define the position of the observer and therefore state the influence of the observer upon that which ist observed and vice versa“ (S. 79). Psychopathologie ist dann als Kommunikationsphänomen zu erklären. Ein Ansatz, der auch heute – wissenschaftstheoretisch gesehen – nichts von seiner Gültigkeit verloren hat.

9 US-Amerikanische Werte Dreh- und Angelpunkt, um den sich das amerikanische Leben und die alltägliche Kommunikation organisiert, sind Werte, die sich aus der Geschichte der Immigration und der Besiedlung, die immer auch eine Emigration war, ergeben haben. Ihre vielfältigen Prämissen sind puritanisch und von Pioniergeist geprägt. Die meisten Einwanderer hatten entweder ein politisches System oder

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eine Familie verlassen, in der sie unterdrückt wurden. Daher wird das Prinzip der „Gleichheit“ zu einem hohen Wert. Das führt zu Widersprüchen und Paradoxien. Aufgelöst werden sie wie beispielhaft beim Geschworenengericht, indem einer Gruppe von Gleichen eine funktionelle Autorität gegeben wird. Ganz allgemein scheint dies ein durchgängiges Prinzip: Gremien und Steuergruppen wird Autorität zugewiesen, was zum einen dem Prinzip der Gleichheit der Individuen Rechnung trägt, zum anderen aber die Funktionalität von Autorität nutzbar macht. Dass in den USA die größten denkbaren Unterschiede und Ungleichheiten im Blick auf Wohlstand, Position und Macht zu beobachten sind (wohlgemerkt: schon 1950 – aber heute noch in weit stärkerem Maße, wenn man den Statistiken glauben darf), ohne dass es zu öffentlichen Unruhen kommt, lässt sich nach Ansicht der Autoren damit erklären, dass Gleichheit immer nur als Gleichheit der Möglichkeiten verstanden wird (was, aus heutiger Sicht und von außen betrachtet, ein Mythos ist, wenn er das nicht immer schon war). Der hohe Wert, der Gleichheit zugemessen wird, führt aber auch dazu, dass intellektuelle oder künstlerische Leistungen vom Durchschnittsamerikaner mit Misstrauen betrachtet werden: „Thinking as well as artistic expression is only tolerated along conventional lines. Original and new contributions are either flouted or totally ignored“ (S. 104). Dasselbe gilt für die politische Arena, wo Denker und Theoretiker, auch wenn sie herausragende Wissenschaftler sind, verdächtigt werden, subversiv tätig zu sein (diese Feststellung bezieht sich auf die Kommunistenhatz zu Beginn der 50er Jahre, das geschilderte Misstrauen hat aber im Rahmen der allgemeinen Terrorangst nach dem 11. September 2001 an Aktualität gewonnen und zu ungeahnten staatlichen Überwachungs- und Kontrollmaßnahmen geführt), und seit Donald Trump mit populistischen Parolen den Präsdentschaftswahlkampf 2016 gewonnen hat, ist das Mißtrauen Experten gegenüber – welcher Fachrichtung auch immer – zur Leitlinie der offiziellen US-Regierungspolitik geworden. Den zweiten zentralen Wert nennen Ruesch und Bateson „Sociality“ und sie bezeichnen damit die Tendenz, Gruppen zu bilden, „Geselligkeit“ als Relikt des „Herdeninstinkts“. Mit anderen zusammen zu sein, ist Selbstzweck und bedarf keiner weiteren Begründung. Während in Europa Individuen oft wie Objekte betrachtet und behandelt werden, wird in den USA der Einzelne unabhängig von seinem Job oder seiner hierarchischen Stellung als unverwechselbares Individuum behandelt, das eine Familie hat, das leben will und bestimmte Bedürfnisse hat, die befriedigt werden müssen. Deswegen wird auch keine Mühe gescheut, wenn es darum geht, Notfalldienste einzurichten, Lebensretter an öffentlichen Stränden zu postieren oder im Kriegsfall medizinische Dienste von unvergleichlich hoher Qualität zu installieren.

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Jede Person ist Repräsentant der Gruppe, zu der er gehört, und wer ihn beleidigt, beleidigt die Gruppe. Beide haben wechselseitig füreinander Verantwortung. Der Amerikaner akzeptiert die Gruppenentscheidung und ihre Autorität. Von früher Kindheit an hat er trainiert, sich in Sportteams oder die Organisation anderer Gruppen einzufügen. Daher genügt es ihm nicht, wie in einem patriarchalen System, sich mit dem jeweiligen Oberhaupt gut zu stellen, sondern er muss im System der Gleichen vielen gefallen. Dies erzeugt einen hohen Konformitätsdruck. Doch der ist eher auf oberflächliche, freundliche Anpassung geringer emotionaler Intensität gerichtet, tiefes Engagement wird vermieden, und die Bereitschaft, sich aus solchen Beziehungen auch wieder zu lösen, ist groß. Dieser freundlich-zugewandte Kommunikationsstil wird von NichtAmerikanern oft als persönliches Interesse missverstanden, obwohl sie nur als Einladung gemeint sind, sich frei an einem Zusammentreffen zu beteiligen. Auf der Gegenseite wird die Zurückhaltung des Ausländers, nicht gleichermaßen freundliche Signale zu senden, von Amerikanern oft als Arroganz gedeutet. Das Zusammentreffen von Amerikanern und Europäern ist also von gegenseitigem Nicht-Verstehen geprägt. Das bezieht sich auch auf die Beziehung des Einzelnen zur Gruppe: Der Amerikaner ist sich seines Status innerhalb einer Gruppe sehr bewusst und nimmt den Status seiner Gruppe im Verhältnis zu anderen Gruppen weniger wahr, beim Europäer ist es umgekehrt. Da der Amerikaner die Gruppe bei Bedarf wechseln kann, steht für ihn sein individueller Status im Vordergrund. Wenn er die Spitze erreicht hat, kann er sich einen mit mehr Prestige versehenen Bezugsrahmen suchen. Das ist es, was „soziale Mobilität“ genannt wird. Der dritte zentrale Wert ist „Erfolg“. Wer Erfolg hat, wird von seinen Mitbürgern anerkannt und respektiert, d. h. er hat auch das Recht, sich selbst zu respektieren und wertvoll zu fühlen. Erfolg ist die Grundlage des sozialen Status, und er wird quantitativ definiert. Da die Herkunft der Einwanderer so verschieden war, blieb nur die quantitative Bewertung als gemeinsamer Nenner: der in Geld messbare, ökonomische Erfolg. Das Prestige eines Individuums steigt mit seinen Einkünften. Dabei nährt der Erfolg den Erfolg – ein selbstverstärkender Prozess. Diese zwanghafte Orientierung an quantifizierbaren Maßstäben führt dazu, dass Maximierung in den USA ein höherer Wert als Optimierung zu sein scheint. Die Notwendigkeit der Maximierung prägt bereits die Kindheit, da amerikanische Eltern von ihren Kindern verlangen, „heavier, bigger, stronger, and smarter than other babies“ zu sein. Liebe und Zuneigung wird davon abhängig gemacht.

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Der vierte, die amerikanische Kultur prägende Wert ist „Wandel“. Veränderung wird stillschweigend mit Fortschritt gleich gesetzt. Die Frage „Warum?“ stellt sich daher für diese Kultur der Ingenieure nicht, sondern nur die Frage „Wie?“ Angewandte Wissenschaft triumphiert über Grundlagenwissenschaft und Kunst, und Handeln ist höher bewertet als Denken und Fühlen.

10 Amerikanische Perspektiven Die Konstruktion von Raum und Zeit im Weltbild der Durchschnittsamerikaner weisen Besonderheiten auf, die in einen engen Zusammenhang mit den skizzierten Werten gebracht werden können. „In America, things are big“ (S. 136). Das amerikanische Bedürfnis nach Ausdehnung zeigt sich nicht nur in der Dimension der Hochhäuser, sondern auch in der Gestaltung der Objekte des täglichen Gebrauchs: von den Kühlschränken bis zu den Autos, die oft überdimensioniert erscheinen. Doch dieses Bedürfnis gerät offensichtlich mit einem anderen Bedürfnis in Konflikt: dem Bestreben, ökonomischen Prinzipien gerecht zu werden. Das führt dann dazu, dass beispielsweise die Zimmer in den riesigen Häusern sich als kleine Verschläge erweisen. Man hat einen Rasen vor dem Haus, eine Terrasse, aber keinen Blick und keine Fernsicht. Irgendwie scheint der weite Blick als bedrohlich erlebt zu werden. Wenn man ein Haus betritt, so steht man gleich im Wohnzimmer, weil eine Eingangshalle als Verschwendung erscheint. Generell scheinen in der Architektur die Übergänge abrupt, wie dies auch im Verhalten des Einzelnen zu beobachten ist. Man wechselt den Job oder den Wohnort von einem Moment zum anderen, ohne Vorankündigung, oder man verlässt nach einem langen Gespräch unvermittelt das gemeinsame Essen und murmelt lediglich „Please excuse me“. Die zeitliche Orientierung ist auf die Zukunft gerichtet, und die Zukunft, so die allgemeine Überzeugung, wird besser sein als die Gegenwart. Die Vergangenheit ist nicht von Interesse, weil sie sowieso nicht mehr zu ändern ist. Nur die Zukunft ist noch zu beeinflussen. Daher fühlen Amerikaner keinerlei Verpflichtungen, irgendwelche aus der Vergangenheit stammenden Aufgaben zu erfüllen oder Traditionen zu wahren. Jede Generation ist frei zu tun, was ihr richtig erscheint. Dies hat sicher mit der Geschichte der Einwanderung zu tun, die ja für alle mit einem Bruch von Traditionen verbunden war, der in der Regel als Akt der Befreiung verstanden wurde. Und die Konzentration auf Gegenwart und Zukunft war überlebenswichtig. „Time is money“ und die Orientierung an der Zukunft gilt auch für die Psychotherapie. Der Gegensatz zu Europa, wo der Beschäftigung mit der Vergangenheit stets eine hohe Bedeutung zugemessen wurde, ist offensichtlich.

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Was die Denkstrukturen der Amerikaner betrifft, so fällt auf, dass sie sich eher mit konkreten Fragestellungen als mit Abstraktionen beschäftigen. Daher lieben sie es zu messen. Um dies tun zu können, müssen kleine Details, kleine „Gestalten“ isoliert werden. Nur im Blick auf die Zukunft bevorzugen sie große Gestalten. Das, was existiert, wird in kleine Stücke zerbrochen, das, was noch nicht existiert, wird großzügig und überdimensioniert dargestellt. Grundlagenprobleme werden in den Wissenschaften vernachlässigt, während Fragen der konkreten Anwendung im Vordergrund stehen. Während in Europa komplexe Denkgebäude existieren können, ohne jemals einem Realitätstest unterzogen zu werden, geht es in Amerika immer um Handlungskonsequenzen. Damit verbunden ist in der Fokussierung der Aufmerksamkeit eine klare Präferenz für Prozesse im Gegensatz zu Strukturen zu beobachten. Was die unterschiedliche Emotionalität in den USA und Europa angeht, so herrscht in Amerika ein konstanter Alarmzustand: „… anxiety becomes almost institutionalized“ (S. 145). Da Wandel vorausgesetzt und erwartet wird, ist es auch angemessen, ständig bereit zu Kampf und Aktion zu sein. Das ist in Europa anders, da die Strukturen als zuverlässig erlebt werden und nicht ständig „action“ nötig ist. Ziel ist hier nicht die ständige Veränderung, sondern die Verfeinerung des bereits Existierenden. Der Europäer hat daher ein komplexeres inneres Leben, sowohl was sein Fühlen als auch was sein Denken betrifft, und Angst als Motivator spielt eine weit geringere Rolle. Die Auswirkungen des kulturellen Kontextes auf die Therapie lassen sich auf eine einfache Formel bringen: „Things have to be done fast in America, and therefore therapy has to be ‚brief‘“ (S. 148).

11 Das System der Checks and Balances Die Organisation von Konflikten ist ein anderes Beispiel für die Unterschiede zwischen den USA und Europa. Dies zeigt sich am deutlichsten am Parteiensystem. Zu der Zeit, als Ruesch und Bateson ihr Buch schrieben gab es einen gravierenden Unterschied zwischen dem amerikanischen und dem europäischen Parteiensystem, der sich heute – angesichts der Entwicklungen der letzten 40 Jahre – sicher etwas anders darstellt. Damals galt: Während in Europa in der Regel innerhalb der Parteien die Differenzen (zumindest die nach außen kommunizierten) klein gehalten wurden bzw. werden und sich die Parteien als Oppositionen in Schach halten, war in den USA der Unterschied zwischen den Parteien oft kaum wahrnehmbar. Stattdessen wurden innerhalb der Parteien unterschiedliche Positionen eingenommen. An die Stelle des Konfliktes zwischen den

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sich jeweils ambivalenzfrei zeigenden politischen Einheiten tritt der Konflikt innerhalb der jeweiligen Einheiten. Dass das heute, nach zwei Impeachment-Verfahren gegen Präsidenten, die jeweils von der Nicht-Regierungspartei eingeleitet wurden, und die meisten Abstimmungen im Kongress entlang der Parteilinien erfolgen, anders ist, steht außer Zweifel. In Amerika wurde in den 50er Jahren jede Partei von einem Team geleitet, das die verschiedenen Pressure-Groups sowie Interessenvertreter der relevanten Akteure in der Umwelt repräsentiert. In ihrer Auseinandersetzung kam es zu einem ständigen System der Checks and Balances, d. h. man war sich der Spannungen bewusst, lebte mit dem Risiko des Auseinanderbrechens und versuchte zu einem Interessensausgleich zu kommen. Die so gefundenen Entscheidungen waren in der Regel tragfähig und hatten große Erfolgschancen. Wenn es zu keiner Entscheidung kam, so mussten die zugrunde liegenden Koalitionen neu bedacht und geformt werden. Auch wenn die Öffentlichkeit den offiziellen Vorsitzenden solcher Gremien ein hohes Maß an Macht zuschrieb, beruhte das Konstruktionsprinzip darauf, dass eine Gruppe Gleicher sich in ihrer individuellen Macht limitierte und balancierte. Im europäischen System stand und steht sich eine Zahl gleicher organisatorischer Einheiten gegenüber, die sich gegenseitig formen und in ihrer Macht begrenzen. Die Führung in solchen Organisationen kann sich darauf verlassen, dass die Mitglieder mehr oder weniger geschlossen hinter ihr stehen. Das führt meist zu einem hierarchisch geordneten System. Doch es braucht die Opposition, um sich intern zu definieren und die Homogenität intern zu wahren. (Inzwischen hat sich das Parteiensystem in den USA radikal verändert. Vor allem in der Republikanischen Partei haben, unterstützt durch finanzstarke Lobbygruppen eher fundamentalistische Gruppen (Stichworte: Tea-Party, Evangelikale Christen…) an Einfluss gewonnen, denen es fern liegt, innerparteiliche Ambivalenzen zuzulassen. Der Kontrast zu dem von Ruesch und Bateson geschilderten innerparteilichen Umgangs mit Konflikten ist deutlich. Und die immer wieder praktizierte Fundamentalopposition führt zeitweise zur Einschränkung der Handlungsfähigkeit der Regierung.) Ähnliche Organisationsprinzipien, wie sie von den Autoren für die Parteien der 50er Jahre geschildert wurden, waren auch auf der Ebene der Persönlichkeitsstruktur zu beobachten. Amerikaner waren eher dazu bereit, widersprüchliche Elemente innerhalb ihrer eigenen Persönlichkeit zu akzeptieren als Europäer. Ohne dadurch in Identitätskrisen zu stürzen, erlaubten sie sich das Wechseln von Meinungen, Wohnorten, Ehepartnern, Berufen usw. All dies wurde unter der Überschrift „gute Anpassung“ zusammengefasst (Es wäre sicher eine Untersuchung wert, ob sich während der letzten Jahrzehnte in den Persönlichkeits-

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strukturen des durchschnittlichen Amerikaners ein analoger Wandel wie in den Strukturen der Parteien vollzogen hat.). Aus amerikanischer Sicht müssen Konflikte gelöst werden, und das geht durch die Suche nach Alternativen, Kompromissen und Veränderung. Handlung und Umsetzung sind hoch bewertet, d. h., wie die Autoren es in psychoanalytischer Terminologie ausdrücken, das „Ich“ übernimmt die Führung in den psychischen Prozessen. Ganz anders stellte sich den Autoren der Europäer dar: Er schaut fatalistisch in die Welt, fügt sich ins Unvermeidliche und glaubte nicht so sehr ans Agieren. Er ist daher sehr viel mehr mit dem „Es“ und dem „Über-Ich“ beschäftigt. Und er versucht, die widersprüchlichen Tendenzen seines Erlebens, Fühlens, Wünschens in seiner Persönlichkeitsstruktur zu integrieren. Unterschiede sind zwischen Personen akzeptiert, aber nicht innerhalb einer Person. Ambivalenzen quälen ihn und er versucht sie los zu werden. Die Prinzipien, die sich im einen Bereich der Wirklichkeit bewährt haben, werden auf andere übertragen. Man strebt nach Ganzheit und Universalität, was aber nur um den Preis der Selbsteinschränkung möglich ist. Außerdem wird dadurch die Bereitschaft zu Veränderung behindert. (Die Charakterisierung der amerikanischen Persönlichkeitsstruktur als toleranter gegenüber Ambiguitäten und Ambivalenzen dürfte heute nur noch begrenzt gültig sein, da in den letzten dreißig bis vierzig Jahren die politische Auseinandersetzung in den USA durch eine Tendenz zu scheinbar eindeutigen Gut-böse- bzw. Freund-Feind-Unterscheidungen bestimmt ist.) Interessant ist allemal die Analogie zwischen der Organisation sozialer Systeme und der Organisation psychischer Systeme. Zumindest zur Zeit der Entstehung des Buches war der kulturelle Unterschied auf beiden Ebenen derselbe. Interne Konflikte wurden im einen Fall zur Entscheidungsfindung genutzt (USA), was die externen Konflikte reduzierte, während im anderen Fall (Europa) interne Konflikte reduziert wurden, was die externen Konflikte verstärkte. Die Konflikte bleiben inhaltlich im Prinzip dieselben, die Organisationsformen ihrer Bewältigung sind jedoch sehr verschieden. Dies sind Mechanismen, die auch heute noch die Externalisierung oder Internalisierung von Konflikten bestimmt. Dass es zu solch einer Isomorphie zwischen politischen und psychischen Strukturen kommen kann, lässt sich am ehesten dadurch erklären, dass die auf der politischen Ebene feststellbaren, kulturspezifischen Prinzipien auch für die innerfamiliäre Kommunikation oder die Interaktion in Gruppen gelten.

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12 Information und Codifikation Ebenenwechsel: Vom relativ Konkreten zum Abstrakten, von der amerikanischen Kultur zu den Grundlagen menschlicher Kommunikation. Bei den nun folgenden Kapiteln war Bateson federführend. Und er beginnt bei dem, was alle psychologischen Theorien verbindet: dem Unterschied zwischen intrapersonalen (d. h. intrapsychischen) Prozessen und den Ereignissen in der Außenwelt bzw. dem, was sie verbindet – der Codifikation. Sie wird von Ingenieuren als „substitution of one type of event for another, such that the event substituted shall in some sense stand for the other“ definiert (S. 169). Um diese Funktion erfüllen zu können, muss Codifikation systematisch sein, d. h. es muss eine systematische Beziehung zwischen inneren und äußeren Ereignissen bestehen. Ist diese Beziehung nicht systematisch, so wirkt sie als „Rauschen“ („noise“), das nicht dekodiert werden kann. In der menschlichen Wahrnehmung und seinen kognitiven Prozessen kommt es zu einer Abfolge von Codifikationen. Was nach Batesons Ansicht bei diesen vielfältigen Umformungen – Transformationen im mathematischen Sinn – konstant bleibt, sind Beziehungsmuster. Wie von den Ingenieuren vorgegeben unterscheidet Bateson auch in der menschlichen Kommunikation zwischen digitaler und analoger Codifikation, wobei er es für möglich hält, dass nicht nur das Nervensystem in diese Prozesse einbezogen ist, sondern dass „the whole moving body may be used as an analogic component. It is probable, for example, that some people empathize the emotions of others by kinethetic imitation. In this type of thinking, the body would be an experimental analogue, a model, which copies changes in the other person …“ (S. 171). Als dritte Form der Codifikation führt Bateson Gestalten an. Dabei geht es um die Identifikation formaler Beziehungen zwischen Objekten und/oder Ereignissen und ihre Klassifizierung aufgrund formaler Kategorien. Dies ökonomisiert nicht nur jede Art der Kommunikation, sondern bildet die Grundlage dafür, so etwas wie „Objekte“ zu konstruieren. Vor der Wahrnehmung eines „Dings“ erfolgt die Registrierung von Relationen. Und um eine genauere Kenntnis von Gegenständen in der Außenwelt zu erhalten, verändern Menschen immer ihre Beziehung zu ihnen. Wir streichen mit der Hand über Oberflächen, um genauer zu spüren, wie sie sind, verändern unseren Blickwinkel, um ein vollständigeres Bild zu gewinnen usw. „In this sense, our initial sensory data are always ‚first derivatives‘, statements about differences which exist among external objects or statements about changes which occur either in them or in our relationship to them“ (S. 173).

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Bei der Figur-Grund-Unterscheidung scheint es so, dass der Empfänger die Tatsache nutzt, dass bestimmt sensorische Endorgane nicht stimuliert sind oder gar inhibiert werden, um ein größeres Verständnis für die Areale, die stimuliert sind, zu gewinnen. Es ist ein Charakteristikum der Codifikation, dass Information immer „multiplikativ“ ist. „Every piece of information has the characteristic that it makes a positive assertion and at the same time makes a denial of the opposite of that assertion … […] … always the elementary unit of information must contain at least this double aspect of asserting one truth and denying some often undefined opposite“ (S. 175). Eine analoge Struktur zum System der Codifikation weist das System der Werte auf. „The value system, as organized in terms of preference, constitutes a network in which certain items are selected and others passed over or rejected, and this network embraces everything in life“ (S. 176). Was beide Systeme ebenfalls miteinander verbindet, ist die Tatsache, dass die negierte Klasse undefiniert bleibt oder bleiben kann. Man sagt, beispielsweise, man möge dies oder jenes, ohne dass man gleichzeitig definieren muss, was man alles nicht mag (oder auch umgekehrt). Dies entspricht der Thematisierung der Gestalt, ohne den Grund zu erwähnen, oder umgekehrt, der Fokussierung der Aufmerksamkeit auf den Grund ohne auf die Gestalt zu achten. „People will say that the figure has ‚meaning‘ for them …“ (S. 176). Was den Autoren als die zentrale philosophische Einsicht erscheint, die den größten Umschwung in der Geschichte des menschlichen Denkens seit Aristoteles und Plato zur Folge hat, ist die von Norbert Wiener ins Blickfeld gerückte Beziehung zwischen Information und Negentropie, der beide Begriffe als Synonyme betrachtet. Hier sehen sie die Chance, die Körper-Geist-Dichotomie aufzulösen. Es geht um Ordnung und ihre Auflösung, und beides sind Beobachterphänomene. Wenn der Beobachter in die Aussagen über das beobachtete System einbezogen wird, so wird die Ähnlichkeit deutlich: „Negative entropy, value, and information, are in fact alike in so far as the system to which these notions refer is the man plus environment, and in so far as, both in seeking information and in seeking values, the man is trying to establish an otherwise improbable congruence between ideas and events“ (S. 179). Wenn Wert und Information so ähnlich sind, so stellt sich die Frage, wie das eine ins andere übersetzt werden kann. Diese Frage versuchen die Autoren damit zu beantworten, dass jede Botschaft, sei es ein neuronaler Impuls oder die Worte in einer Konversation, zwei „Bedeutungen“ habe. „On the one hand, the message is a statement or report about events at a previous moment, and on the other hand it is a command – a cause or stimulus for events at a later moment“ (S. 179).

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Jede Kommunikation weist diese Dualität (report vs. command) auf. Doch die Sachlage ist noch weit komplexer, denn Kommunikation kann sich auch auf Kommunikation beziehen (Meta-Kommunikation), die Beziehung zwischen den Kommunikationsteilnehmern, ihre Komplementarität oder Symmetrie.

13 Ein epistemologischer Ansatz des psychiatrischen Denkens Sucht man nach dem gemeinsamen Nenner der Überlegungen, die Ruesch und Bateson in ihrem Werk präsentieren, so kann man als integratives Prinzip eine epistemologische Konzeptualisierung der gesamten Psychiatrie finden. Ihre Argumentation folgt konsequent und konsistent der Linie, dass die Untersuchung von Wissen und Information untrennbar an die Untersuchung von Kommunikation gebunden ist: an das Studium der Prinzipien der Codifikation, an Zwecke und Werte, die der Beobachter setzt. Wenn sie von Epistemologie sprechen, so meinen sie damit das System der Prämissen, die dem Denken und Sprechen zugrunde liegen, d. h. im gegebenen Fall der Psychiatrie. Und so wie Informationen erst durch Unterschiede gewonnen werden können, treten auch solche Prämissen erst ins Bewusstsein, wenn sie mit abweichenden Vorannahmen konfrontiert werden. Die Psychiatrie hat sich als Studium der Psychopathologie entwickelt. Ihre Aufmerksamkeit ist auf Abweichungen, Unerwünschtes und Abnormität gerichtet, die jeweiligen Gegenbegriffe sind ihr nicht verfügbar, und der durchschnittliche Psychiater ist nur wenig mit „normaler“ Psychologie vertraut. Was Diagnose genannt wird, enthält eine Unmenge von Informationen auf unterschiedlichen Abstraktionsebenen über das System der Codifikation des Patienten wie des Psychiaters. Von zentraler Bedeutung für die Psychiatrie ist dabei zu realisieren „that the observer and even the theorist must be included within the systems discussed“ (S. 253). Ihre Aussagen sind „human constructions and can only be understood as products as an interaction between the data and the human scientist, living in a given epoch in a given culture“ (S. 253). Die Frage, die sich daraus für die Psychiatrie ergibt, ist, ob sie sich als reflexive Wissenschaft versteht, die ihre eigenen Prämissen, Theorien und Praktiken zum Gegenstand ihrer eigenen Untersuchungen macht. Der Theoretiker gestaltet seine Theorien heute immer aufgrund dessen, was der Praktiker gestern getan hat, und morgen wird der Praktiker etwas anderes tun, aufgrund gerade dieser Theorien.

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14 Individuum, Gruppe und Kultur Es gibt für Menschen keine direkte Möglichkeit herauszufinden, ob ihr Bild der Welt, ihre Annahmen und Wahrnehmungen, der Realität entsprechen. Die einzige Methode, die Existenz der Welt zu überprüfen besteht darin, als Beobachter die eigene Sichtweise mit der anderer Beobachter zu vergleichen. Sollten sich dabei Diskrepanzen ergeben, so ist niemand in der Lage, zu entscheiden, was die Wahrheit ist. Dennoch ist es nützlich, auch von der Annahme einer unabhängigen Realität in der Kommunikation auszugehen, als ob sie von einem außen stehenden, „übermenschlichen“ Beobachter erfasst würde. Dann nämlich kann er seine Aufmerksamkeit auf die verschiedenen Positionen der Kommunikationsteilnehmer richten und ihre Wechselbeziehungen analysieren. Das ist es, was beispielsweise der Psychiater in der Kommunikation mit seinem Patienten tun kann und muss. Er folgert aus dem Verhalten in der Kommunikation auf intrapsychische Prozesse seines Gegenübers und muss dabei unterschiedliche Kontexte in seine Interpretationen und Deutungen einbeziehen. Als erstes ist hier die soziale Situation bzw. der unmittelbare Kontext der Kommunikation zu nennen. Sie wird von jedem der Beteiligten unterschiedlich etikettiert, was davon abhängt, wie jeder die Wahrnehmung des anderen wahrnimmt. Aus welcher Position heraus wird beobachtet? Welche Spielregeln werden als gültig betrachtet? Welche Rollen werden übernommen bzw. zugewiesen? Als nächstes treten die unterschiedlichen Kommunikationsnetzwerke ins Blickfeld. Sie existieren allesamt gleichzeitig, wenn sie auch den unterschiedlichen Beobachtern nur selektiv zugänglich sind und von ihnen jeweils unterschiedlich als metakommunikativer Rahmen genutzt werden. Das intrapersonale (d. h. intrapsychische und intraorganismische) Netzwerk ist dadurch charakterisiert, dass der Selbstbeobachter immer in seiner Totalität an der Kommunikation teilnimmt. „Both the place of origin and the destination of messages are located within the sphere of one organism“ (S. 278). Daher kann das individuelle System der Codifikation nicht selbst überprüft werden, es gibt keine Außenposition. Das interpersonale Netzwerk der Kommunikation ist u. a. dadurch gekennzeichnet, dass die Teilnehmer immer Sender und Empfänger von Signalen sind, was eine prinzipielle Gleichheit zwischen ihnen etabliert. Allerdings kann jeder nur begrenzt beobachten, was geschieht. Er kann seine Aufmerksamkeit nicht gleichermaßen und gleichzeitig auf seine propriozeptive Körperwahrnehmung in Beziehung zu anderen wie auf die Wahrnehmung anderer oder seinen und ihren sozialen Status richten.

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Beim Gruppennetzwerk (ein Begriff, der von den Autoren synonym mit Organisation verwendet wird) kann eine Spezialisierung und Restriktion von Funktionen und die Entstehung von Ungleichheit hinsichtlich des Sendens und Empfangens beobachtet werden. Typisch sind dabei Muster des „one person to many“ und „many persons to one“. Dies sind Merkmale von Organisationsprozessen, die einen gerichteten Informationsfluss und die Einordnung des Individuums und seiner Handlungen in eine übergeordnete soziale Einheit ermöglichen. Im kulturellen Netzwerk werden Botschaften von vielen Personen zu vielen anderen Personen gesandt. Die Absender sind nicht identifizierbar, und die Empfänger sind sich in der Regel nicht bewusst, dass sie derartige Botschaften erhalten: „Rather the message seems to be an unstated description of their way of living“ (S. 282). Sie werden nicht irgendwelchen menschlichen Schöpfern zugeschrieben, sondern als selbstverständlich vorausgesetzt. Beispiele dafür sind Botschaften über die Sprache, linguistische Systeme, ethische Prämissen, Theorien über die Beziehung des Menschen zum Universum usw. Sie sind in den Regeln des Alltags implizit, werden aber auch schriftlich durch mythische oder historische Dokumente und Monumente tradiert. In all diesen größeren Netzwerken ist Information und Wissen nicht im Individuum allein lokalisiert, sondern in den Kommunikationswegen. Das soziale System als Ganzes ist in der Lage, seine Erfahrungen zu wiederholen, es ist Träger des Wissens. Es ist durch die Interaktion mehrerer Teilnehmer entstanden. Da sie individuell zu selbstkorrigierendem Verhalten fähig sind, ist das Verhalten der größeren sozialen Einheit stets in gewissem Maße unvorhersehbar. Das macht die Zukunft solcher Systeme immer unkalkulierbar.

15 Nachbemerkung Diese kurze Skizze des Inhalts des Buches von Juergen Ruesch und Gregory Bateson kann die Lektüre und das Studium des Textes nicht ersetzen. Es sollte nur deutlich machen, dass die angeschnittenen Themen eine Exposition für die nächsten 50 Jahre der Entwicklung der Systemtheorie, zumindest im Bereich der Psychiatrie und der Sozialwissenschaften, darstellte. Die Positionen des radikalen Konstruktivismus, der Kybernetik der Kybernetik mit ihrer Einbeziehung des Beobachters, die Grundlagen von Spencer-Browns Laws of Form, ja sogar das Konzept der operationellen Geschlossenheit psychischer Systeme sind bereits entworfen. Dass die Ideen der beiden Autoren wegweisend waren, erwies sich vor

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allem im Bereich der Psychiatrie, speziell in der Entwicklung der sogenannten „systemischen Therapie“. Sie hat das epistemologische Verständnis der Psychiatrie als reflexiver Wissenschaft und Praxis ernst genommen und in Form spezifischer Methoden operationalisiert. Dem Leser stellt sich die Frage, wie die heutige Praxis sich durch diese (oder andere) Theorieansätze verändert hat. Einer neuerlichen theoretischen Reflexion bedarf sie auf jeden Fall …

Literatur Ruesch, Juergen, und Gregory Bateson (1951): Communication: The Social Matrix of Psychiatry, New York: W. W. Norton, Reprints 1967 und 1987, deutsche Übersetzung von Christel Rech-Simon: Kommunikation: Die soziale Matrix der Psychiatrie, Heidelberg: Carl-Auer-Verlag, 1995.

Fritz B. Simon, Dr. med., Psychiater, Psychoanalytiker, systemischer Therapeut und Organisationsberater. Professor für Führung und Organisation (Universität Witten/ Herdecke). Arbeitsschwerpunkte: Organisations- und Desorganisationsforschung, d. h. Psychoseforschung, Managementlehre und Konfliktforschung. Publikationen: 32 Bücher und ca. 300 Fachartikel und Buchbeiträge, zuletzt: Formen: Zur Kopplung von Organismus, Psyche und sozialen Systemen (2018), Anleitung zum Populismus oder: Ergreifen Sie die Macht! (2019).

Kommunikation als Selektion Über Donald M. MacKay, Information, Mechanism and Meaning (1969) Dirk Baecker Das Missverständnis, dass es sich bei der mathematischen Kommunikationstheorie von Claude E. Shannon trotz ihres Namens nicht um eine Kommunikationstheorie handelt, lag von Anfang an auf der Hand. Shannon selbst hat es geteilt. Seine Theorie behandele die Frage, wie am Endpunkt der Übertragung von Signalen, beim Empfänger, ein Signal rekonstruiert werden könne, das am Ausgangspunkt der Übertragung, beim Sender, unter Verwendung eines möglicherweise gestörten Kanals ausgesendet worden ist. Das empfangene Signal, E, so Shannon (1963, S. 65), sei eine Funktion des übertragenen Signals, S, und des Rauschens („noise“), N:

E = f (S, N). Die Beschreibung dieser Funktion sei eine rein ingenieurwissenschaftliche Aufgabenstellung, die im wesentlichen darauf ziele, Techniken bereitzustellen, mit deren Hilfe man zwischen S und N unterscheiden könne, um S rekonstruieren zu können, und habe nichts mit Fragen der Bedeutung, des Sinns oder der Semantik der übertragenen Signale zu tun (1963, S. 31), ziele also nicht auf eine Theorie der Kommunikation. Warum ist dann jedoch von einer „Kommunikationstheorie“ die Rede? Warum sprach Shannon nicht von vorneherein von einer „Signaltheorie“? Diese Frage wurde oft gestellt und, wenn ich recht sehe, nie beantwortet. Das Missverständnis war vermutlich nicht gewollt; aber offensichtlich waren die Gründe, es bei dem Missverständnis zu belassen, besser als die Gründe, es durch einen Wechsel des Namens der Theorie aufzuklären und aus der Welt zu schaffen. D. Baecker (*)  Dresden, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 D. Baecker (Hrsg.), Schlüsselwerke der Systemtheorie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30633-5_12

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Nur wenige wissenschaftliche Innovationen des 20. Jahrhunderts waren so erfolgreich wie diese Kommunikationstheorie, die keine sein wollte und sich dennoch so nannte. Die euphorischen Reaktionen in den 1950er und frühen 1960er Jahren, die zum Beispiel hierzulande bis zu Bemühungen reichten, die Betriebswirtschaftslehre (Erich Gutenberg) oder die Ästhetik (Max Bense) auf informationstheoretischer Grundlage neu zu formulieren, waren ebenso ein Produkt dieses Missverständnisses wie die kritischen Reaktionen in den späten 1960er und in den 1970er Jahren, die zu Bemühungen führten, sozialwissenschaftliche Kommunikationstheorien zu formulieren, die zwischen Syntax, Semantik und Pragmatik des Sinns nicht nur unterscheiden, sondern sie auch aufeinander als Elemente ein und derselben Kommunikation beziehen (Michel Serres, Jürgen Habermas, Niklas Luhmann). Das hier vorzustellende Buch des englischen Physikers und Kybernetikers Donald M. MacKay (1922–1987) gehört zu den wenigen Auseinandersetzungen mit Shannons Kommunikationstheorie, die davon ausgingen, dass es sich bei dieser tatsächlich um eine Kommunikationstheorie handelt und dass das eigene Missverständnis vielleicht produktiv, jedoch keinesfalls gerechtfertigt ist. In der Aufregung erst der Euphorie und dann der Kritik, die Shannons Theorie ausgelöst hatte, erfuhr dieses Buch jedoch ebenso wenig die ihm gebührende Aufmerksamkeit wie der ähnlich gelagerte Versuch von Jürgen Ruesch und Gregory Bateson in ihrem Buch Communication: The Social Matrix of Psychiatry (1987). Wo Ruesch und Bateson jedoch den Kommunikationsbegriff so weit verallgemeinern, dass er körperliche, psychische und soziale Vorgänge der Codierung und Übertragung von Botschaften gleichermaßen beschreibt, interessiert sich MacKay für den Mechanismus, der dieser Kommunikation zugrunde liegt. Anders auch als Paul Watzlawick, Janet H. Beavin und Don D. Jackson, die sich in ihrem Buch über die Pragmatics of Human Communication (1967) auf den praktische Probleme (Pathologien) produzierenden Umgang mit den Übersetzungsproblemen der menschlichen Kommunikation konzentrieren, ist MacKay immer auch an der Arbeit an einer allgemeinen, Vergleiche anregenden Begrifflichkeit interessiert. Seine Faszination gilt einer Theorie der Kommunikation, die in der Lage ist, Information als etwas zu verstehen, was Handlungen in Systemen auslöst, denen ein freier Wille zu unterstellen ist (siehe auch MacKay 1960 und 1967). Worin besteht der Mechanismus einer Kommunikation, die zu Bestimmtheit führen, dabei aber Unbestimmtheit voraussetzen kann? Donald M. MacKay näherte sich einer Antwort auf diese Frage, in dem er sich noch einmal genauer anschaut, wie Shannon sein zentrales Problem, die Konstruktion des Signals E aus der Rekonstruktion des Signals S, gelöst hat.

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Shannon war eine bestimmte Implikation seiner eigenen Lösung nicht aufgefallen, weil er wie alle seine Leser und Kritiker davon ausgegangen war, dass es zwischen E und S eine prinzipielle Identität gibt, die als solche durch Kommunikation „übertragen“ wird. Erst Niklas Luhmann (2002, S. 288 ff.) sollte darauf hinweisen, wie problematisch diese Identitätsprämisse ist. Denn diese Identität kann nur entweder vom Sender oder vom Empfänger oder von einem externen Beobachter festgestellt werden, die sich jedoch in ihrer Perspektive voneinander unterscheiden, also nur eine Identität feststellen können, die in der Kommunikation gleich anschließend wieder auf dem Spiel steht. Shannons Lösung des Problems funktioniert tatsächlich jedoch ohne die Voraussetzung der Identität der beiden Signale E und S. Er formuliert die Reproduktion des Signals S durch das Signal E als eine Reproduktion der Auswahl des Signals S aus einer Menge möglicher Nachrichten, die vom Empfänger des Signals E zur Interpretation des Signals E als Signal S dem Sender der Nachricht unterstellt wird. Mit anderen Worten, die Identitätsprämisse wird zur Prämisse der Interpretation einer Nachricht durch ihren Empfänger und muss sich als diese Prämisse in der Kommunikation immer wieder neu bewähren. Shannon löst das Problem, ohne es auch nur zu bemerken, verschiebt dabei jedoch den Aussagebereich der Kommunikationstheorie aus der Ontologie in die Ontogenetik. Die ursprüngliche Einsicht Shannons besteht darin, jedes Signal immer dann, wenn es zu einer Nachricht wird, als Selektion aus einem Auswahlbereich möglicher Signale zu konzipieren: „the significant aspect is that the actual message is one selected from a set of possible messages“ (Shannon 1963, S. 31, Hervorhebung im Original). Der entscheidende theoriestrategische Zug besteht darin, das Kommunikationsproblem nicht mehr vor dem Hintergrund von Ideen der klassischen Mechanik (Newton) zu betrachten, also nach Ursachen, Wirkungen und Kräften zu fragen, sondern vor dem Hintergrund von Ideen aus der statistischen Mechanik (Gibbs), die Wahrscheinlichkeitsverteilungen von Ereignissen beobachtet. Diesen Zug teilt die Kommunikationstheorie mit der Kybernetik (Wiener 1961), die danach fragt, welche Rückkopplungsprozesse zwischen Verhalten auf der einen Seite und Beobachtung auf der anderen Seite der Konstruktion solcher Wahrscheinlichkeitsverteilungen zugrunde liegen, und mit der Systemtheorie (von Bertalanffy, 1968), die diese Rückkopplungsprozesse als Korrelat der Unterscheidung von System und Umwelt beschreibt. Kommunikation kann vor diesem Hintergrund, wie auch Gregory Bateson (1972, S. 406 f.) unterstrichen hat, nur als Produktion von Redundanz, aber eben: als selektive und damit variierbare Produktion von Redundanz, verstanden werden.

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Man sieht, warum Shannon nicht mehr nur von „Signalen“, sondern zusätzlich von „Nachrichten“ und dann auch von „Kommunikation“ spricht. Die zusätzlich eingeführten Begriffe sind das Ergebnis einer impliziten Reflexion auf a) die Differenz von Sender und Empfänger („Nachricht“) und b) die diese Differenz voraussetzende Konstruktion der Identität der gesendeten und empfangenen Nachricht („Kommunikation“). Die beiden zusätzlich eingeführten Begriffe verdecken damit jedoch das eigentliche Problem, das darin besteht, dass die als identisch konstruierte („reproduzierte“) Nachricht vom Empfänger als Selektion aus einem Auswahlbereich konstruiert wird, der mit dem Auswahlbereich, der vom Sender zugrunde gelegt wird, nicht identisch sein muss. Shannon bestand deswegen letztlich wiederum zu Recht darauf, dass es sich bei seiner Kommunikationstheorie um eine ingenieurwissenschaftliche handelt. Denn mit einem nur technisch vorliegenden Problem hat es jede Kommunikation zu tun, in der – wie etwa im Fall des Alphabets – der Auswahlbereich möglicher Nachrichten technisch festgelegt ist. Der Buchstabe „a“ ist als Nachricht reproduzierbar, weil auch im Fall rauschender Kanäle, das heißt einer verzerrten Übertragung des Buchstaben, die Wahrscheinlichkeit des Auftretens dieser Nachricht dem Sender und dem Empfänger identisch bekannt ist. Beide berufen sich auf denselben Auswahlbereich, das Alphabet, und können sich daher ganz auf die Aufgabe konzentrieren, das Signal S aus dem Signal E durch das Herausfiltern eventueller Störgeräusche N zu reproduzieren. Shannon spricht deswegen auch zurecht von einer „Reproduktion“ des Signals S durch das Signal E und nicht etwa von seiner „Rekonstruktion“ oder gar „Konstruktion“. In der Folge interessiert sich Shannon (etwa 1949) dann auch konsequenterweise für „secrecy systems“, die als Problem ihrer „kryptoanalytischen“ Entzifferung die Bestimmung des vom Sender verwendeten Auswahlbereichs und der Wahrscheinlichkeitsverteilung jeder einzelnen Nachricht durch den Empfänger aufwerfen, um im Anschluss daran eine einzelne Nachricht „reproduzieren“ zu können. Eine allgemeine Kommunikationstheorie beginnt dort, wo der Fall einer technischen Lösung des Kommunikationsproblems als ein Spezialfall verstanden wird. Die Festlegung des Auswahlbereichs möglicher Nachrichten ist ein Spezialfall einer Kommunikation, die auch dann möglich ist, wenn der Auswahlbereich nicht vorab festgelegt ist, sondern durch die Kommunikation allererst bestimmt werden muss. Im allgemeinen Fall muss die Kommunikation beides leisten, die Kommunikation einer Nachricht und die Kommunikation des Auswahlbereichs, vor dessen Hintergrund diese Nachricht gelesen werden kann. Das Problem der Kommunikation wird jetzt zu einem rekursiven Problem der Interpretation einer Nachricht vor dem Hintergrund der Interpretation ihres Auswahlbereichs. Um

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das rekursive Problem lösen zu können, das heißt Nachricht und Auswahlbereich bestimmen zu können, müssen beide, die Nachricht und der Auswahlbereich, als unbestimmt vorausgesetzt werden. Nur dann kommt Kommunikation als Bestimmung des Unbestimmten zustande. Wir sprechen deswegen davon, dass das allgemeine Kommunikationsproblem nur eine soziale, aber keine technische Lösung hat. Es erfordert die Anerkennung von Unbestimmtheit als Voraussetzung jeder Bestimmung. Die von Shannon formulierte Gleichung – E = f (S, N) – gilt daher für den speziellen Fall einer technischen Kommunikation, in der f definiert ist. Für den allgemeinen Fall sozialer Kommunikation kann man die Gleichung

E=k(S, N) aufstellen, in der k keine exogene Funktion mehr ist, sondern die Kommunikation selber bezeichnet, dank derer in der Auseinandersetzung mit N eine Identität von E und S konstruiert wird:

k=k(E, S, N). Man sieht, welche Rolle in diesem allgemeinen Verständnis von Kommunikation ein produktiver Zugriff auf das Rauschen N spielen kann, der es erlaubt, die Identität von S und E aufzuschieben und so lange zu variieren, bis die Beteiligten kommunikativ damit leben können (Serres, 1968; Black, 1986; Rasch, 1992). Kommunikation ist nach all dem nicht mehr als Übertragung zu verstehen, sondern als Selektion, und zwar als eine doppelte Selektion von a) Nachrichten aus b) einem Auswahlbereich möglicher Nachrichten, die sich als diese doppelte Selektion durch Verweis der einen Selektion auf die andere Selektion bestimmt. Mit dieser Einsicht in die Selektivität jeder Information startet MacKay seine Lektüre der mathematischen Kommunikationstheorie von Shannon. Ihn fasziniert die Absicht, analog zu Max Plancks quantum of action (Energie × Zeit) nach einem quantum of information zu suchen (1969, S. 1 f.). Er entdeckt jedoch, dass es mindestens zwei Quanten der Information gibt, ein strukturelles Quantum, das auf die „Freiheitsgrade“ der Information verweist, und ein metrisches Quantum, das die Anzahl der „atomaren Fakten“ angibt, die die Information enthält. Mit Bezug auf das strukturelle Quantum spricht MacKay auch von der „logischen“ Dimension der Information. Eine Informationseinheit ist dann dadurch bestimmt, dass strukturelle und metrische Einheiten miteinander in Beziehung gesetzt und durch die Erhöhung oder Minderung der strukturellen Freiheitsgrade und durch die Addition oder Subtraktion der atomaren Fakten variiert werden kann. In dieser Doppelung der Quanten steckt die Unterscheidung des Auswahlbereichs (Anzahl der Freiheitsgrade) und der ausgewählten Nachricht (Fakten),

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die nur dank ihres wechselseitigen Verweises aufeinander gelesen und verstanden, also als Nachricht reproduziert werden können. MacKay lässt die Idee einer Quantentheorie der Information in den folgenden Kapiteln des Buches jedoch auf sich beruhen, um sich stattdessen mit der Frage zu beschäftigen, welchen „computing mechanism“ man im Gehirn unterstellen muss, um zu verstehen, wie der Umgang mit Information möglich ist. Der Informationsbegriff wird hier im übrigen als der allgemeinste Begriff dieser Kommunikationstheorie formuliert, indem jedem Signal ein „amount of information“ zugewiesen wird, das im Sinne Shannons als Wahrscheinlichkeit des Auftretens dieses bestimmten Signals im Verhältnis zum Auswahlbereich der Nachrichten bestimmt wird. Seine Antwort auf die Frage nach dem „computing mechanism“ läuft darauf hinaus, einem Organismus oder auch einer Maschine einen „state of conditional readiness“ für eine bestimmte Menge von Verhaltensmöglichkeiten zuzurechnen (S. 19 ff.). Mit Blick auf diesen Zustand macht jede Information (eine gesendete oder eine empfangene) einen Unterschied, die den Zustand verändert. Die Information führt jedoch nicht unbedingt zu einem anderen Verhalten, weil der Zustand nur die „conditional readiness“, die bedingte Bereitschaft bestimmt, nicht das tatsächliche Verhalten. In dieser Beschreibung schwingt Batesons (1972, S. 315 u. ö.) Definition der Information als „difference that makes a difference“ mit. Nicht jeder Unterschied macht einen Unterschied, sondern nur derjenige, der als Information den Zustand der bedingten Bereitschaft verändert. Der Begriff des Sinns („meaning“) deckt jene Phänomene ab, in denen der jeweilige Auswahlbereich möglicher Nachrichten betrachtet wird, auf den hin eine bestimmte Nachricht gelesen wird. Die Frage danach, ob eine bestimmte Nachricht nicht möglicherweise einen anderen Sinn als den zunächst interpretierten hat, ist die Frage danach, ob nicht der Auswahlbereich zu variieren ist, vor dessen Hintergrund die Nachricht zu lesen ist. Daraus leitet MacKay eine Definition des „object of communication“ (S. 28 f.) ab, die darauf abstellt, dass Sender und Empfänger versuchen, wechselseitig ihre jeweiligen Zustände der bedingten Bereitschaft zu ändern. Das kann durch eine ein bestimmtes Verhalten auslösende Information ebenso geschehen wie durch eine Interpretationsarbeit an der Relation einer Nachricht zu dem unterstellten Auswahlbereich möglicher Nachrichten. Dazu lassen sich die Kommunikationsteilnehmer auf Sprachspiele ein, in denen an einzelnen Worten ebenso wie an Wortkombinationen, Sinnversatzstücken und Redeweisen gearbeitet wird. Von hier aus wären der Sprachspielbegriff von Ludwig Wittgenstein, der auf die Konventionalisierung des Sprachgebrauchs im Sinne einer Konventionalisierung des unterstellten Auswahlbereichs möglicher Nachrichten abstellt, die Konversationsanalyse von

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Harvey Sacks, die sich dafür interessiert, wie Kommunikation die Vermeidung unerwünschter Rückfragen steuert, oder die Diskurstheorie von Michael Silverstein, die kulturelle Praktiken der Indexikalisierung in wechselseitiger Abhängigkeit von Kontexten untersucht, neu zu erschließen. Donald M. MacKay bleibt in seinen Untersuchungen physikalisch bei der Sache. Als Teilnehmer an den frühen Kybernetikkonferenzen in London (siehe Holland/Husbands, 2011), als Freund des Kybernetikers Warren McCulloch und dessen Kreises und als Freund des Neuroanatomen J. Szentágothai, der in Ungarn die Kybernetik aufbaut, weiß er, wie sehr es in den Diskussionen der 1950er und 1960er Jahre darauf ankommt, Begriffe und Theorien zu formulieren sowie Daten zu präsentieren, die sich im interdisziplinären Gespräch zwischen den an der Kybernetik, an der Informatik und an der Systemtheorie beteiligten Einzelwissenschaften bewähren können. Seit 1960 ist er überdies Professor für Kommunikation an der Keele University im britischen Staffordshire an dem von ihm gegründeten Department for Communication and Neuroscience, wo Fragen nach dem Mechanismus der Kommunikation für ihn zentral bleiben. 1986 hält er an der Universität von Glasgow die Gifford Lectures über die Frage, was die Gehirnwissenschaften über die menschliche Natur zu sagen haben (MacKay 1991). Nach seinem Tod 1987 wird sein Department 1998 in MacKay Institute of Communication and Neuroscience umbenannt und in die School of Life Sciences integriert. Das Problem der doppelten Selektion ist der rote Faden durch die verschiedenen Kapitel des Buches von MacKay, die als Vortragsmanuskripte und Aufsätze in den Jahren zwischen 1950 und 1968 entstanden sind. So widmet er ein Kapitel seines Buches der Frage, was eine Frage ist, nämlich ein Austausch von Weltkarten, auf denen das eine oder andere noch eingetragen werden muss, um Verhalten selegieren zu können (S. 31 ff.), ein weiteres Kapitel dem Zusammenhang von Fragen und Befehlen als Formen der Kovariation von Zuständen konditionierter Bereitschaft (S. 94 ff.), wiederum ein anderes der Frage, welchen Informationswert das Rauschen hat (S. 132 ff.), und ein weiteres Kapitel schließlich der Frage, welche Topologien der Kommunikation in großen Gruppen entstehen, wenn diese sich mit der Koordination unterschiedlicher zielsuchender Systeme beschäftigen müssen (S. 105 ff.). Zur Beschreibung von Kommunikation, so stellt er fest, braucht man vor dem Hintergrund der Kommunikationstheorie Shannons wenig mehr als die Annahme, dass kommunizierende Systeme zielsuchende Systeme sind, die auf andere zielsuchende Systeme stoßen und versuchen, deren Ziele, Mittel und Verhaltensweisen unter Einschluss der Veränderung der eigenen Ziele, Mittel und Verhaltensweisen zu verändern. Man konfrontiert sich gegenseitig mit

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Repräsentationen, die Weltsachverhalte zu replizieren beanspruchen, um damit Übergangswahrscheinlichkeiten zwischen Zuständen und Verhaltensweisen zu modifizieren (S. 41 ff. und 56 ff.). Und damit schließt sich der kybernetische Kreis der Überlegungen, indem der Ausgangspunkt der Beobachtung von Wahrscheinlichkeitsverteilungen von Ereignissen mit dem Endpunkt der Modifikation dieser Wahrscheinlichkeitsverteilungen durch die Auswahl eigener Ereignisse (Produktion kommunizierter Ereignisse) kurzgeschlossen wird. Kommunikation, verstanden als Selektion, ist, so kann man zusammenfassen, die Produktion jener Redundanz von Ereignissen, die man voraussetzen können muss, um dieselben Ereignisse entsprechend eigener Orientierungen und Zielsetzungen zu variieren. Für MacKay, der seine Forschung nicht zuletzt aus einer christlichen Motivation heraus betrieb (MacKay, 1974, 1978, 1979, 1982), war es wichtig, immer wieder darauf hinzuweisen, dass diese Kommunikation die Freiheit selber produziert, die sie voraussetzt. Freiheit und freier Wille sind in seiner Kommunikationstheorie kein Wert, an den in der Auseinandersetzung mit einer deterministischen und mechanistischen Naturwissenschaft zu erinnern ist, sondern ein Faktum, das in Rechnung gestellt werden muss, wenn man Kommunikation beschreiben und erklären will (MacKay, 1969, S. 146 ff., und 1967). Ob man für diese Kommunikation eine eigene Systemreferenz annehmen sollte, wie es Niklas Luhmann (1984) vorgeschlagen hat, ist für MacKay von sekundärer Bedeutung. Entscheidend ist für ihn wie auch für Luhmann die Frage, wie die Kommunikation jene Unbestimmtheit sicherstellen kann, ohne die Menschen für einander keine Informationsquellen sein und daher auch nicht miteinander kommunizieren können. Diese Unbestimmtheit beginnt genau dort, wo aus der Wahrscheinlichkeitsverteilung beobachteter Ereignisse abgeleitet werden kann, dass die Zukunft ungewiss ist. Nur unter dieser Voraussetzung ist Kommunikation als laufend neu ausgehandelte Kovariation von Bestimmtheit und Unbestimmtheit zugleich unwahrscheinlich und möglich und nötig.

Literatur Bateson, Gregory (1972): Steps to an Ecology of Mind: Collected Essays in Anthropology, Psychiatry, Evolution and Epistemology, San Francisco: Chandler. Bertalanffy, Ludwig von (1968): General Systems Theory: Foundations, Developments, Applications, überarb. Aufl., New York: Braziller. Black, Fischer (1986): Noise, in: Journal of Finance 41, S. 529–543. Holland, Owen, und Phil Husbands (2011): The Origins of British Cybernetics: The Ratio Club, in: Kybernetes 40, Heft 1/2, S. 110–123.

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Dirk Baecker, Professor für Kulturtheorie und Management an der Universität Witten/ Herdecke. Arbeitsschwerpunkte: allgemeine Soziologie, soziologische Theorie, Kulturtheorie, Organisationsforschung und Managementlehre. Jüngere Veröffentlichungen: Kulturkalkül (2014), Wozu Theorie? Aufsätze (2016), Produktkalkül (2017), 4.0 oder Die Lücke die der Rechner lässt (2018), Intelligenz, künstlich und komplex (2019) Wozu Wirtschaft? (2020).

Auf der Spur der Double Binds Über Anthony Wilden, System and Structure: Essays in Communication and Exchange (1972) Urs Stäheli Programmatisch lässt Anthony Wilden (*1935) seine Anthologie System and Structure mit einem Aufsatz über Lacan beginnen. Dass es dabei nicht einfach um die Verbreitung der korrekten Lacanschen Lehre in den USA geht, unterstreicht bereits das Motto des Aufsatzes. Wilden zitiert Gregory Bateson mit der einfachen und vielleicht gerade deshalb so radikalen Wendung: „All behavior is communication“ (Wilden 1972, S. 1; vgl. Bateson 1972, S. 282). In Wildens Arbeiten verbinden sich auf manchmal unübersichtliche, aber doch immer wieder instruktive Weise Psychoanalyse und Kommunikationstheorie. Dabei kommt Wilden zu Gute, dass er in beiden Denktraditionen bestens verankert ist. Als Schüler von Bateson hat er sich schon früh für die Paradoxien der Kommunikation interessiert und als Übersetzer von Jacques Lacan hat er sich bereits in den sechziger Jahren um die amerikanische Rezeption der strukturalen Psychoanalyse verdient gemacht (Lacan 1968). Das soll jedoch nicht heißen, dass sich Wildens Arbeit auf die Verbindung dieser beiden Denktraditionen reduzieren lässt, auch wenn der vorliegende Aufsatz diese Verbindung fokussiert. Weitere wichtige ‚Einflüsse‘ sind der Marxismus, die Hegelsche Dialektik, die Peircesche Semiotik, der Strukturalismus, die Proto-Logik Spencer Browns sowie die Systemtheorie. Wenn also Wilden seinen Aufsatz über das Imaginäre, Symbolische und Realemit dem Verweis auf Kommunikation beginnen lässt, dann kündigt sich damit auch eine spezifische Lektüre der Psychoanalyse an. Ausgehend von Lacans Losung „zur Hölle mit der Linguistik“, versucht Wilden die strukturale Psychoanalyse aus den Klauen des sprachlichen Reduktionismus zu befreien. Die U. Stäheli (*)  Hamburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 D. Baecker (Hrsg.), Schlüsselwerke der Systemtheorie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30633-5_13

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Herausforderung besteht darin, durch die Kritik an der Linguistik nicht hinter die differenztheoretischen Errungenschaften des Strukturalismus zurückzufallen, sondern vielmehr diese so weiterzudenken, dass das Signifikationsgeschehen von seinem sprachlichen bias abgelöst wird. Batesons Kommunikationstheorie wird für Wilden nützlich, weil diese Kommunikation nicht auf ihre linguistische Strukturen reduziert. Mit einem solchen Kommunikationsbegriff wird eine allgemeine Perspektive möglich – eine Perspektive auch, die sich gegenüber den formalistischen Denkweisen des frühen Strukturalismus soweit resistent zeigt, dass sie die Sozialität und Historizität ihres Gegenstandsbereichs nicht vergisst. Wilden hebt hervor, dass es ihm um die Etablierung eines transdisziplinären theoretischen Rahmens geht: „A primary aim of these pages is to begin to set up a theoretical vocabulary and syntax which is not dependent on any particular science or discipline for its representative metaphors, nor on any specific jargon for its models of information and transformation, relationship and change“ (S. xix). Freud und Lacan werden für Wilden nicht etwa interessant, weil sie wie auch immer zu bestimmende psychischen Dynamiken hinter oder jenseits von Kommunikation theoretisieren, sondern weil die Psychoanalyse selbst Elemente einer leistungsstarken Kommunikationstheorie bereitstellt. Wilden macht daher auch schnell deutlich, welcher Freud ihn interessiert: Es ist der Freud der Traumdeutung, der sich für die diskursive und rhetorische Logik von Träumen interessiert – jener „andere“ Freud also, der erst durch Lacans „Rückkehr zu Freud“ (Weber 1991) wieder lesbar geworden ist. Um beobachten zu können, wie Wilden Psychoanalyse und Kommunikationstheorie miteinander verhängt, möchte ich zwei unterschiedlichen Leitunterscheidungen nachgehen, die beide für Wildens Werk von zentraler Bedeutung sind: einerseits der psychoanalytischen Unterscheidung zwischen dem Symbolischen und dem Imaginären, andererseits jener zwischen analoger und digitaler Kommunikation. Die Kreuzung dieser beiden Unterscheidungen wird zum Fundament für Wildens Projekt einer kritischen Kommunikationsund Systemtheorie. Wenn hier von Systemtheorie gesprochen wird, dann im Sinne Wildens von einer kommunikationstheoretisch orientierten Systemtheorie. Wilden wendet sich mit scharfen Worten gegen jene Theorien von Kommunikationssystemen in den USA, „where a new technocracy of mind managers, word processors, information movers, and people pacifiers is arising like Dracula out of the coffins of Management Science“ (S. xxxviii).

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1 Imaginär/Symbolisch Lacans Diktum, dass das Unbewusste wie eine Sprache strukturiert ist, bildet einen der zentralen Ausgangspunkte für Wildens Lacan-Lektüre. Hätte Lacan nicht Lévi-Strauss und Saussure gelesen, dann wäre dieser, so Wilden, nie über eine phänomenologische Psychologie hinausgekommen. Nur mit Hilfe des Strukturalismus konnte das Unbewusste als Ort der Signifikation konzipiert werden – und nicht als dunkler Ort verdrängter und nie ausgelebter Triebe (S. 15). Mit Lacan müssen das Symbolische und das Imaginäre als zwei unterschiedliche Register der Signifikation unterschieden werden. Das Reale, welches insbesondere in der an Slavoj Žižek (1989) anschließenden Diskussion eine zentrale Rolle spielen sollte, wird von Wilden allerdings vereinfachend mit der Begründung ausgeklammert, dass es das sei, was für Menschen real ist (S. 20). Die Gegenüberstellung des Symbolischen und des Imaginären ist der Kern von Wildens Interesse an der Psychoanalyse, da sich hier zwei unterschiedliche Formen des Unterscheidens begegnen. – Angemerkt sei, dass Wilden hier den Begriff des Realen mit dem der Realität verwechselt. Dies führt auch zu einer Hypostasierung des Symbolischen, dessen Struktur mit jener eines „goal-seeking system“ verglichen wird. Damit kann Wilden zwar die Unabschließbarkeit des Symbolischen konzipieren, er verpasst aber so auch, das Reale als Mangel auf das Symbolische zu beziehen. Das Imaginäre macht Wilden mit Lacan am Spiegelstadium fest. Im Spiegelstadium ereignet sich ein Totalisierungseffekt: Im plötzlichen Wiedererkennen von sich selbst im eigenen Spiegelbild findet ein jubilatorischer Akt der Selbstkonstitution statt. Was zuvor grenzenlose physiologische und affektive Ströme waren, wird nun zu einer imaginären Identität. Allerdings handelt es sich hier stets um ein konstitutives Verkennen, da sich die Einheit des Subjekts nur außerhalb seiner Selbst findet. Auf diese Weise entsteht die Illusion eines autonomen Subjektes, das sich selbst mit seiner Spiegelung verwechselt. Für Wilden wird so eine Logik der Differenz (difference) in eine Logik der Unterscheidung (distinction) überführt. Die Unterscheidung (?) von diesen beiden Logiken ist für Wilden von größter Bedeutung, da diese ihm ermöglicht, eine genetische Perspektive auf die Entstehung von Unterscheidungen zu entwickeln, welche im Blick behält, dass Unterscheidungen sich nie vollständig von den ihnen zu Grunde liegenden Differenzströmen loslösen lassen. Im Imaginären wird eine

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Opposition zwischen dem Selbst und dem Anderen eingeführt – eine digitale Unterscheidung, welche auf einer imaginären Grenzziehung beruht. Wilden betont, in Anknüpfung an ideologietheoretische Lektüren der Psychoanalyse, den illusionären, doch aber äußerst wirkmächtigen Charakter des Imaginären und beklagt dies als Entfremdung. Auch wenn man in diese Kritik nicht einstimmen möchte, so ist doch festzuhalten, dass Wilden am Imaginären die Konstitution von Unterscheidungen als (häufig antagonistische) Oppositionen und darauf aufbauende Identitäten untersucht. Daher pocht er auch auf eine präzise Verwendung des Oppositionsbegriffs. Gegen den Strukturalismus hält er fest, dass häufig vorschnell auf den Oppositionsbegriff zurückgegriffen wird, wodurch die Unterscheidung zwischen Differenzen und Distinktionen verwischt wird. Deswegen wendet sich Wilden gegen eine Verallgemeinerung von ‚Lévi-Strauss‘ Begriff der binären Oppositionen, da so Differenzen, Unterscheidungen und Negationen miteinander vermischt werden. Für Wilden können nur Unterscheidungen als Oppositionen fungieren – und der Raum der Oppositionen ist jener des Imaginären, da nur dort eine illusionäre Identität durch Oppositionsbeziehungen abgegrenzt wird. Wenn also das Imaginäre jener Bereich ist, innerhalb dessen Unterscheidungen als Oppositionen funktionieren, wie verhält sich dann das Symbolische dazu? Ebenfalls an Lacan anknüpfend bestimmt Wilden das Symbolische als jenes Register, das durch den großen Anderen strukturiert wird. Auch wenn das Symbolische für Wilden in der Moderne durch kapitalistische und patriarchale Strukturen geprägt ist, so bedeutet dies nicht, dass das Symbolische an sich eine unterdrückende Funktion innehat (S. 260). Ganz im Gegenteil – während das Imaginäre notwendigerweise einer oppositionellen Logik verhaftet bleibt, öffnet sich das Symbolische einer anderen Logik. Das Symbolische wird durch die Möglichkeit des Tausches und der Zirkulation von Signifikanten charakterisiert, die auf historisch unterschiedliche Weise abgesichert wird – wie etwa durch das Inzest-Tabu bei Lévi-Strauss. Obgleich diese historisch kontingente Fundierung des Symbolischen stets in Machtverhältnisse eingelassen ist, so wird das Symbolische nicht a priori von einer oppositionellen Exklusionslogik beherrscht. Stattdessen zeichnet sich für Wilden das Symbolische durch seine Relationalität aus – und zwar durch eine nicht notwendig antagonistische Relationalität. Das Symbolisch hat eine phatische Funktion und ist daher jenes Register, das soziale Beziehungen herstellt und aufrechterhält – und nicht nur zwischen Ego und Alter, zwischen dem Eigenen und dem Fremden unterscheidet, um diese als Oppositionen zu behandeln (S. 255). Wildens emphatische Verteidigung des symbolischen Tausches erinnert an Jean Baudrillards (1982) Arbeiten – wobei er im Gegensatz zu Baudrillard nicht nostalgisch dem Verlust des symbolischen

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Tausches nachtrauert, sondern diesem auch eine konstitutive Rolle für gegenwärtige Gesellschaften zuschreibt. Ähnlich wie Baudrillard gewinnt jedoch Wilden seine kritische Perspektive durch ein idealisiertes Bild des auf Reziprozität und reiner Zirkulation beruhenden symbolischen Tausches.

2 Digital/Analog Verlassen wir nun die Psychoanalyse, um auf die Unterscheidung zwischen dem Digitalen und Analogen zu sprechen zu kommen. Die an Bateson angelehnte Unterscheidung zwischen digitaler analoger Kommunikation fungiert als eines der „unifying concepts“ (S. 272) in Wildens theoretischem Projekt. Die prominente Stellung dieser Unterscheidung ist keineswegs selbstverständlich, da sich bis Anfang der achtziger Jahre meist nur informationstechnische Verwendungen von digital/analog nachweisen lassen. Bemerkenswert ist, dass als isolierte Begriffe sowohl analog wie auch digital über eine weit zurückreichende Geschichte verfügen. Als Unterscheidung tauchen diese aber erstmals in medien- und informationstechnischen Arbeiten der 1930er Jahre auf und zum ersten Mal prominent in der Macy-Konferenz von 1946 (vgl. Schröter 2004). Exemplarisch unterscheidet Wilden zwischen dem analogen und digitalen Computer. Der analoge Computer basiert auf Kontinuitäten und folgt damit einer Logik des „more or less“ (S. 156). In einem derartigen System kann es keine Lücken geben: „continuous linear quantities to represent other quantities, there are no significant ‚gaps‘ in the system“ (S. 161). Ein typisches Beispiel für einen analogen Computer ist ein Thermometer oder das Gaspedal, da beide Maschinen kontinuierlich Veränderungen repräsentieren. Es gibt daher in analogen Systemen auch keine ‚Atome‘ oder andere Kleinsteinheiten, die sich nicht mehr weiter unterteilen lassen. Vielmehr ist die Punktierung des Analogen letztlich stets arbiträr, da sie nicht durch Elementarteilchen vorgegeben wird. Aus dieser buchstäblich lückenlosen Kontinuität folgt eine für die Verbindung mit der Psychoanalyse wichtige These: Genauso wie im Traum sind in analogen Systemen keine Negationen möglich, da kein analoger Rechner über die für Negationen notwendige Syntax verfügt. Dessen einziges Ordnungsprinzip ist die reine Sequentialität des analogen Geschehens, die auf Differenzen, aber keineswegs Distinktionen beruht. Daher muss Wilden auch immer wieder betonen, dass es sich bei der Differenz zwischen Präsenz und Abwesenheit, die in Freuds Diskussion des fort/da-Spiels impliziert ist, nicht um eine Negation handelt, sondern um Differenzen der analogen Kommunikation. Aus diesem Grund kritisiert Wilden auch Lacans Vermischung von „null“ mit der „0“ des digitalen

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Computers: „Any supposed opposition between presence and absence is thus not only a confusion between the digital and the analog, but also (at this level) a confusion of logical types“ (S. 149). Dieser Welt des kontinuierlichen Fließens werden nun digitale Computer gegenübergestellt: „The digital, as the domain of the discrete element, precisely maps the notions of distinction, identity, and opposition – all dependent on opposition“ (S. 272). Die Kontinuität des Analogen wird durch eine radikale Diskontinuität ersetzt: digitale Maschinen prozessieren einzelne, klar voneinander unterscheidbare Einheiten – und zwischen diesen Einheiten gibt es Lücken, da das Digitale selbst über keine immer schon gegebene Kontinuität verfügt. Entsprechend verändert sich auch die das Digitale steuernde Logik: Der weichen Logik des „more or less“ steht nun die klare binäre Unterscheidung zwischen „on/off“ entgegen. Erst im Digitalen wird die Markierung von klaren Grenzen deutlich – erst hier kann entschieden werden, wer inkludiert und wer exkludiert ist, wer zum Eigenen und Fremden gehört. Nun kann mit großer Präzision unterschieden – und nicht nur eine Differenz markiert werden. Hatte der Bereich des Analogen Negation ausgeschlossen, so wird das Digitale zum Raum, der immer schon die Möglichkeit des Neins bereithält. Es ist diese konstitutive Negierbarkeit, welche in die digitale Kommunikation auch die Möglichkeit der Meta-Kommunikation einlässt. Denn das Nein erfordert immer einen Bezug auf eine vorhergehende Aussage, welche verneint werden soll. Dies kann, wie bereits kurz angedeutet, durch die bloße Sequentialität der analogen Kommunikation nicht geleistet werden. Bereits diese erste Exposition der Unterscheidung zwischen digitaler und analoger Kommunikation macht deutlich, dass es keine Kommunikationssysteme gibt, die ausschließlich digital oder analog funktionieren, sondern dass beide Kommunikationsweisen immer aufeinander verwiesen sind. So kann auch die Logik des „more or less“ mit einer digitalen Logik gekoppelt werden, indem z. B. Grenzwerte angegeben werden, innerhalb derer sich analoge Kommunikation bewegt. Die beiden Kommunikationstypen sind aber nicht nur untereinander kombinierbar, sondern sie befinden sich auch in einem wechselseitigen Verweisungszusammenhang. Denn das Digitale kann seinen Bezug auf das Analoge niemals vollständig aufgeben: „for the digital computer involves a code, and any code considered in its totality is an analog of something“ (S. 157). Man könnte hier einwenden, dass Wilden die Bedeutung des Analogiebegriffs verschiebt, indem er nun von analogen Beziehungen zweier unterschiedlicher Felder spricht. Eine derartige Verwendung ist aber Wildens Analogiebegriff nicht fremd, da dieser im Rahmen einer Repräsentationslogik eingeführt wird. Die Analogie stellt nicht-beliebige Repräsentationsbeziehungen her: Sie ist eine „ICONIC representation of the behavior it maps“ (S. 162).

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Digitale Maschinenprozesse beispielsweise verhalten sich analog zu mathematischen Formeln. Mit dieser keineswegs unproblematischen, dennoch aber für Wildens weiteres Argument ertragreichen Annahme wird das Digitale fest im Analogen verankert. Selbst die Umwandlung analoger in digitale Kommunikation kann nicht verhindern, dass die digitale Kommunikation selbst zur Analogie des von ihr Umgewandelten wird. Wilden nimmt hier ein Re-entry der Unterscheidung analog/digital auf der Seite des Analogen vor, wodurch diese zum Fundament des Digitalen wird. Auf diese Weise erst wird analysierbar, was Wilden, wie bereits auch schon Bateson, interessiert: die Punktierung analoger Prozesse durch das Digitale. Die Beziehung der beiden Kommunikationstypen wird nun beobachtungstheoretisch reformuliert: Da das Analoge selbst keine diskreten Einheiten vorgibt, bedarf es immer eines Beobachters, der diese in den Fluss analoger Kommunikation einschreibt. Es findet also eine ständige Digitalisierung des Analogen statt – wobei wichtig hervorzuheben ist, dass das Analoge dabei nicht auf eine außerkommunikative Instanz wie etwa Bewusstsein reduziert wird, sondern selbst als Kommunikation gefasst wird. Wofür Wilden sich bei dem Prozess der Digitalisierung interessiert, ist, ebenfalls wieder in Anlehnung an Bateson, die Entstehung von „double binds“. In einem „double bind“ wird ein Befehl ausgegeben, der wegen seiner Widersprüchlichkeit nicht befolgt werden kann (z. B. „Ignorieren Sie diesen Befehl!“). Zudem ist der Ausweg in Metakommunikation verboten – was übrig bleibt, ist das Oszillieren zwischen diesen beiden Möglichkeiten. Wilden spricht hier von einer „existentiellen Paradoxie“ (S. 105), um hervorzuheben, dass es sich nicht nur um eine logische Paradoxie handelt, sondern dass existentielle Paradoxien immer durch einen sozialen Kontext geschaffen werden. Die Entstehung einer solchen Paradoxie hängt mit einer spezifischen sozialen Digitalisierung des Analogen zusammen, welche erst zu dieser „no-win“ Situation führt. Eine Analyse von Digitalisierungsprozessen muss sich für die spezifischen Paradoxien interessieren, die auf diese Weise erzeugt werden. Auch in dieser Hinsicht unterscheidet sich das Digitale vom Analogen: Paradoxien benötigen diskrete Einheiten und Negation, während das Analoge von kontiguen Beziehungen beherrscht wird. – Bei Luhmann (1997, S. 91) findet man übrigens eine ganz ähnliche Problemformulierung, wenn er betont, dass Paradoxien immer die Paradoxien eines Beobachters sind. Für Luhmann gibt es auf der operativen Ebene keine Paradoxien, sondern hier ereignet sich ein blindes Anschlussgeschehen. Auch in der Luhmannschen Systemtheorie wird die Unterscheidung zwischen Differenz und Distinktion notwendig, sobald man sich für die Genese von Unterscheidungen interessiert. Peter Fuchs (1995, S. 25 f.) hat in diesem Zusammenhang von einem Herantragen von Distinktionen an Differenzen gesprochen (vgl. auch Stäheli 2000, S. 124).

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Wilden umreißt hier die Konturen einer Sozialtheorie, die sich mit dem Funktionieren derartiger existentieller Paradoxien beschäftigt. Er wendet sich gegen einen rein logischen Begriff der Paradoxie, der diese aus vorsozialen Strukturen ableitet. Eine Paradoxie kommt nur dann zustande, wenn innerhalb eines bestimmten sozialen Kontexts selbstwidersprüchliche Injunktionen formuliert werden. Damit ist auch einer der Einsatzpunkte für Wildens Kritik an der Lacanschen Psychoanalyse benannt: Zwar wir diese für ihn interessant, weil sie ebenfalls mit der Analyse von ‚double bind‘-Situationen beschäftigt ist, sie reduziert diese aber mit der Annahme eines Wiederholungstriebs auf das endlose Oszillieren zwischen den beiden Werten. Die Psychoanalyse akzeptiert damit die „existentielle Paradoxie“ als eine mit der Form des Subjekts gegebene Paradoxie, ohne diese auf ihre soziale Konstitution und ihren Kontext hin zu befragen – und ohne die Möglichkeit einer Meta-Kommunikation anzudeuten. Es ist gerade diese A-Historizität der Psychoanalyse, die in der gegenwärtigen Debatte zwischen Judith Butler und Slavoj Žižek im Vordergrund steht (Butler/Laclau/Žižek 2000). Wilden sieht in Lacans Verweigerung der Kontextualisierung die Strategie eines „passed master in the art of the double bind.“ Wilden versteht die Paradoxie als Ausdruck gesellschaftlicher Verhältnisse, weshalb Kommunikation immer kontextuell analysiert und ihre systemische Funktion verstanden werden muss (S. 436). Die psychoanalytische Reduktion von Kommunikation auf Sprache verpasst gerade, dass Paradoxien nicht durch immer schon gegebene linguistische Invarianten entstehen, sondern durch gesellschaftliche Machtverhältnisse, die sich an der Organisationsweise von sozialen Systemen ablesen lassen. Dies führt Wilden schließlich zu einer ideologiekritischen Bewertung der gesellschaftlichen Erzeugung von „double binds“, da diese nicht neue Möglichkeiten eröffnen, sondern zur Verschleierung imaginärer Werte führen. „Double binds“ sind „one of the most powerful weapons used against the individual members of our society to prevent metacommunication about its Imaginary values“ (S. 108). So wichtig Wildens Kritik am linguistischen Reduktionismus der Psychoanalyse ist, so problematisch erscheint seine rationalistische Hoffnung auf eine Metakommunikation, welche dazu in der Lage wäre, die imaginären Werte einer Gesellschaft zu durchschauen. In den Annotationen zur Neuauflage des Buches weist Wilden allerdings (S. lix) darauf hin, dass es keinen Meta-Kommentar geben kann, der nicht selbst auch wieder zu Paradoxien führt.

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3 Psychoanalytische Kommunikationstheorie Damit sind wir wieder bei der psychoanalytischen Unterscheidung zwischen dem Symbolischen und dem Imaginären angelangt. Durch „double binds“ wird für Wilden die Metakommunikation über imaginäre Werte unterbunden, da das kritische Subjekt in der Oszillation zum Wahn getrieben wird. Wie verhalten sich also das Analoge und das Digitale zu den beiden Lacanschen Registern (vom Realen sieht Wilden, wie bereits erwähnt, ab)? Lacans (1955) kurzer Flirt mit der Kybernetik hat insbesondere in der deutschen Diskussion zu einer euphorischen Beschreibung des Symbolischen als Ort des Digitalen geführt, da hier die beliebige Austauschbarkeit und Zirkulation von Zeichen ermöglicht werde. Nun besteht aber die Pointe von Wildens Verbindung zwischen Psychoanalyse und Kommunikationstheorie darin, nicht einfach eine Zuordnung des Digitalen zum Symbolischen (bzw. des Analogen zum Imaginären) vorzunehmen, sondern deren komplexe Beziehung darzulegen. Dies bewahrt ihn vor jedem medientechnischen Determinismus, da die Unterscheidung digital/analog immer in kommunikativen Kontexten stattfindet und nicht die Eigenschaft spezifischer Medien bezeichnet. Wilden ist so auch vor einer euphorischen Überschätzung des Computers als neues Universalmedium oder der Konstatierung eines epochalen Medienumbruchs durch die Einführung des Computers gefeit. Welche Konsequenzen hat Wildens Versuch, die beiden psychoanalytischen Register auf die beiden Kommunikationsmodi zu beziehen, ohne sie aber fest zuzuordnen? Zunächst einmal wird das Imaginäre zum Raum des Digitalen, da dieses, wie wir gesehen haben, durch eine „entweder-oder“-Logik beherrscht wird, welche das Eigene vom Anderen abgrenzt. Wilden betont die potenziell antagonistische Natur des Digitalen, da dort Differenzen in Oppositionen umgewandelt werden (S. 260). Freilich arbeitet auch das Symbolische mit diskreten Einheiten, die voneinander abgrenzbar sein müssen – also findet auch hier digitale Kommunikation statt. Allerdings unterscheidet Wilden zwischen unterschiedlichen Funktionen des Digitalen. Erst über diesen Umweg etabliert er eine Beziehung zwischen dem Symbolischen und dem Analogen. Das Symbolische „uses digital information for analog ends“ (S. 257). Unter analogen Zielen versteht Wilden die relationale Struktur des symbolischen Tausches – das Symbolische ist damit eine Instanz, welche soziale Beziehungen aufrechterhält. Die Systemtheorie als eine Theorie der Beziehung von Beziehungen wäre dann genau jene Theorie, welche diese analoge Funktion des Symbolischen zu sehen in der Lage ist – welche sich nicht von der Digitalität der „bits“ täuschen lässt, sondern stets deren analoge Funktion mitbedenkt: „The Symbolic is the category

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of displaced reciprocity and similar relationships; the Imaginary that of the mirror-relationships, specialization in symmetry or pseudo-symmetry, duality, complementarity, and short circuits. (…) The being of the Imaginary is either/or; the being of the Symbolic is both-and“ (S. 265). Dies bringt uns zur Rolle von „double binds“ und „existentiellen Paradoxien“ zurück: Ganz im Gegensatz zu einer dekonstruktiven Lektüre von Paradoxien in Systemen (Stäheli 2000) werden diese hier zu ‚Agenten‘ des Imaginären im Symbolischen: Durch seine Selbstbeschleunigung im Oszillieren verliert das Symbolische genau jene Eigenschaften, die es seine analoge Funktion erfüllen lässt – nämlich die Etablierung von Relationalität. Dies führt Wilden letztlich zur kulturkritischen Diagnose einer zunehmenden Vorherrschaft des Digitalen, da in westlichen Gesellschaften das Analoge nur noch Instrument des Digitalen sei (S. 194). Für Wilden muss die Tyrannei der Opposition überwunden werden durch eine Möglichkeit, Differenzen und Ähnlichkeiten (also die Logiken des Analogen) in soziale Systeme einzuführen (S. 109). Auch wenn die Bestimmung des Analogen als Funktionswert und seine Hypostasierung des Tausches nicht unproblematisch sind, so markiert Wilden auch für die aktuelle kommunikationstheoretische Diskussion wichtige Positionen: Einerseits demonstriert Wilden, dass sich das Digitale und das Analoge nicht auf spezifische soziale Bereiche oder bestimmte Medien wie den Computer reduzieren lassen. Vielmehr kann nur eine Analyse von Kommunikationssystemen die wechselseitige Bedingung der beiden Kommunikationstypen aufzeigen. Gleichzeitig aber verweist Wilden auch auf eine medientheoretische Bestimmung des Analogen, welche durch seine Reduktion und Trennung der drei psychoanalytischen Register wohl eher verdeckt wird. Interessant wird die Diskussion analoger Kommunikation, wenn diese nicht nur emphatisch als reine Relationalität oder als Tausch um des Tausches willen beschrieben wird, sondern wenn deren Effekte in Kommunikationssystemen bedacht werden. Dies wird vielleicht dort am deutlichsten, wo Wilden über die Rolle von Lärm für Kommunikationssysteme spricht. Die Beziehung zwischen dem Analogen und dem Digitalen lässt sich also nicht auf zwei Bereiche reduzieren – auch nicht auf zwei Kommunikationstypen, die etwa per Analog/Digital-Umwandler ineinander überführt werden können. Vielmehr braucht eine Kommunikationstheorie, welche das Analoge zu denken vermag, einen Begriff für den Einschreibeprozess der Kommunikation; kurz, einen Begriff für die Spur der Kommunikation. Wilden beruft sich hier auf Derridas Arbeiten zur Schrift und weist auf die kommunikationstheoretische Bedeutung eines solchen Mitbedenkens der medialen Spur von Kommunikation hin. Batesons Bestimmung von Information als „difference which makes a

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difference“ ergänzt er durch die Wendung „the difference which leaves a postscript after-the-event“ (S. 398). So gelingt Wilden ein Hinweis auf die Medialität von Kommunikation, die sich nicht auf das Rauschen des Kanals beschränkt, sondern die Lärmigkeit des Einschreibeprozesses von Informationen zu denken versucht. Der Lärm wird damit ein Nebenprodukt der In-Formation digitaler Formen: „Differance is the IN-FORMATION of form“ (S. 399). Das heißt aber auch, dass sich digitale Formen nicht von ihrem analogen Medium ablösen lassen, dass das Medium keineswegs nur ein Trägermedium ist, sondern sich stets auch als analoges äußert. Ganz ähnlich formuliert Jörgen Schäfer (2004, S. 152) den Zusammenhang zwischen dem Digitalen und Analogen: „Lassen sich die Distinktionen, welche digitale Codierungen überhaupt erst ermöglichen und damit diskrete Zeichen hervorbringen, nicht verstehen, ohne als ihre andere Seite das analoge Kontinuum eines Mediums mitzudenken, so können diese Zeichen umgekehrt auch nicht externalisiert bzw. kommuniziert werden, ohne wiederum in einen analogen medialen Träger ‚eingeschrieben‘ zu werden.“ Auch hier wird deutlich, dass sich die euphorische These eines „digitalen Zeitalters“, welches das „analoge Zeitalter“ ablöst, nur dann vertreten lässt, wenn man eine kommunikationstheoretische Perspektive aufgibt. In Anlehnung an Thomas Sebeok, der seinerseits Mandelbrot zitiert, unterstreicht Wilden diesen notwendigen Zusammenhang von analoger und digitaler Kommunikation: „The discrete character of the signifier follows from its continuous substratum: the signifier is ‚carried‘ by continuous sounds, discreteness is thus never sufficiently established, and the system changes“ (S.  169). Eine vollständige Digitalisierung würde also eine ‚substratfreie‘ Kommunikation erfordern – eine vollständig selbstgenügsame Kommunikation, die auch keiner Energie mehr bedürfte. Wildens Konzeption von digitaler und analoger Kommunikation erweist sich als wohltuend resistent gegenüber derartigen digitalen Utopien. Dies hängt damit zusammen, dass er von Anfang an das Analoge und das Digitale nicht an einem spezifischen Medium wie dem Film oder dem Computer festmacht, sondern diese als systemtheoretische Kategorien einführt – d. h. als spezifische Kommunikationsweisen, die in Systemen auf je unterschiedliche Weise aufeinander bezogen werden. Wildens Konzeption offener Systeme – oder genauer, von „ecosystems“, die hier nicht ausreichend gewürdigt werden konnte – beruht auf diesem Denken des Analogen und Digitalen. Die Schließung eines Systems erfordert stets binäre Unterscheidungen – nur so lassen sich klare Grenzen bestimmen. Gleichzeitig aber wird über die analoge Kommunikation immer auch ein Bezug zur Umwelt hergestellt, da sich das Kontinuum der analogen Kommunikation nicht vollständig von den digitalisierten Grenzen kontrollieren

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lässt. Zwar vermag kein System ausschließlich analog zu kommunizieren, aber es kann, wie wir gesehen haben, das Digitale für analoge Zwecke verwendet werden: „use of digital information to cross boundaries between different systems (…) in order to link them together in an ecosystemic relationship“ (S. 257). Dieser Gebrauch bleibt der digitalen Kommunikation nicht äußerlich – was vielleicht die etwas unglückliche Zweck-Mittel-Begrifflichkeit implizieren mag. Vielmehr findet sich das Analoge immer schon im Digitalen, wie der von Derrida übernommene Begriff der Spur und der In-Formation gezeigt hat. Das Digitale steht damit in einem Verhältnis der Nachträglichkeit zur analogen Inskription (S. 397 f.). Der psychoanalytische Begriff der Nachträglichkeit bietet sich für die Relationierung von analoger und digitaler Kommunikation geradezu an, da so eine einfache kausale oder gar geschichtsphilosophische Beziehung vermieden wird: Genauso wenig wie das Digitale aus dem Analogen abgeleitet werden kann, kündigt das Digitale ein neues Zeitalter ein. Anstelle großmundiger Medienutopien finden wird bei Wilden eine Sensibilisierung für den Lärm, der sich in und durch die Beziehung zwischen dem Digitalen und Analogen ergibt.

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Urs Stäheli, geb. 1966, Studium der Soziologie, Germanistik und Geschichte in Basel und Berlin; Promotion an der University of Essex, UK; von 1998 bis 2003 wiss. Assistent an der Universität Bielefeld; seit 2003 SNF-Förderungsprofessor am Institut für Soziologie, Universität Bern; 2005–2010 Ordinarius für Soziologie am Institut für Soziologie, Universität Basel; seit 2010 Professor für Allgemeine Soziologie, Universität Hamburg. Arbeitsgebiete: neuere soziologische Theorie (Systemtheorie und poststrukturalistische Theorie); Medien- und Kultursoziologie; Wirtschaftssoziologie. Jüngere Veröffentlichungen: Sinnzusammenbruche: Eine dekonstruktive Lektüre von Niklas Luhmanns Systemtheorie (2000), Poststrukturalistische Soziologien (2003), Spektakuläre Spekulation: Das Populäre der Ökonomie (2007), Soziologie der Entnetzung (2020).

Das Selbst als Phantasma Über Peter Fuchs, Das System SELBST: Eine Studie zu der Frage: Wer liebt wen, wenn jemand sagt: „Ich liebe Dich!“? (2010) Werner Vogd Supertheorien zeichnen sich unter anderem dadurch aus, dass sie in dem Gegenstand, den sie beschreiben, selber vorkommen. So beschreibt die Quantentheorie seit von Neumann (1932) ihre fundamentalen Prinzipien als beobachterabhängig, womit sie zugleich zeigt, dass der Beobachter selbst wiederum quantentheoretisch zu beschreiben ist, dass er als Entität also nicht außerhalb der zu untersuchenden Prozesse steht. Der Beobachter steht vielmehr als Symbol für jenen infiniten Prozess, in dem in einer endlosen Kette von Bestimmtheit und Unbestimmtheit jeweils ein weiteres Glied der Bestimmtheit und Unbestimmtheit entsteht (Vogd 2014). Humberto R. Maturana und Francisco J. Varela formulieren in ihrer Theorie der Autopoiesis, wie sich biologische Organismen als Prozessstrukturen über die strukturelle Koppelung neuronaler Systeme selbst als Handelnde und damit zugleich als Erkennende hervorbringen (s. Krohn und Kruse in diesem Band). Homolog erklärt Niklas Luhmanns Theorie der Gesellschaft, wie die soziologische Beschreibung der Gesellschaft als Kommunikation aus eben dieser Gesellschaft erwächst und wieder in sie eintritt (s. Qvortrup in diesem Band). Wir begegnen hier kommunikativen, biologischen und quantenphysikalischen Prozessen, die sich als Kommunikation, Biologie und Quantenphysik reproduzieren und sich dementsprechend zugleich als Beobachter hervorbringen. Allerdings darf der hier aufscheinende Beobachter nicht mit der für den Menschen typischen Selbstbeobachtung verwechselt werden. Denn genauso wie der Mensch aus Perspektive der soziologischen Systemtheorie außerhalb W. Vogd (*)  Witten, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 D. Baecker (Hrsg.), Schlüsselwerke der Systemtheorie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30633-5_14

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der Gesellschaft zu sehen ist (nur die Kommunikation kommuniziert), ist das menschliche Selbst ebenso wenig in den neurologischen oder physikalischen Prozessen zu verorten. Ein sich selbst orchestrierendes Feuern von Nervenaktivitäten darf nicht mit jener psychischen Selbstreferenz verwechselt werden, die wir üblicherweise als personale Identität behandeln und empfinden. Gleiches gilt für die Kommunikation und die soziale Konstruktion der Wirklichkeit: Auch hier lässt sich bei näherem Hinschauen kein Subjekt finden. Wenn wir aber nach der Einheit eben dieser dem Menschen so intim vertrauten Erfahrung fragen, stoßen wir – wie Fuchs in seinen Büchern nicht müde wird zu betonen – auf das Problem der konditionierten Koproduktion. Konditionierte Koproduktion heißt aber in der Sprache des Kalküls der Form (s. Kauffmann in diesem Band), dass die Form – hier die Form des psychischen Selbst – zugleich mit dem identisch zu sehen ist, was sie nicht ist. Das SELBST ist gleichermaßen ein physikalischer und psychologischer Prozess, ist neurobiologische Aktivität und kommunikative Verweisungsstruktur – und ist es zugleich auch nicht. Es versammelt all dies im Sinne einer Einheit, ohne dabei jedoch die Unterscheidung zwischen den Domänen verschwinden zu lassen, da deren Differenz als unabdingbare Voraussetzung der Koproduktion anzusehen ist. Das SELBST ist also ebenso keine Einheit. Aus solch einer epistemischen Perspektive können wir der Selbstevidenz des personalen Selbst nicht mehr naiv begegnen – auch nicht mit dem Verweis auf die unhintergehbare Qualität des phänomenalen Erlebens, denn gerade dieses ist nicht in der Lage, die Bedingungen der eigenen Operativität wahrzunehmen. Anstelle in den poststrukturalistischen Abgesang auf das Subjekt einzustimmen – und damit die Härte der eigenen Selbsterfahrung zu negieren –, versucht Fuchs mit den Mitteln der systemtheoretischen Reflexion eine entsprechend strukturreiche Theorie des Selbst zu entwickeln. Dabei ist seine Abhandlung neben dem „Prolog“ und dem „Epilog“ in die drei Teile „Die Operation der Beobachtung“, „Das SELBST psychisch“ und „Das SELBST modern“ aufgeteilt. Im ersten Teil werden die systemtheoretischen Einsichten reformuliert, auf denen die weiteren Analysen aufbauen. Dabei gilt es zunächst zu begreifen, dass Systeme positivsprachlich nicht zu fassen sind. „Der Ausdruck ‚System‘“ bezeichnet „die Einheit der Differenz von System und Umwelt, also genau nicht: eine Dingförmigkeit“ (S. 22). Systeme dürfen dementsprechend nicht als „Einheiten“ missverstanden werden, die eine „Raumstelle besetzen könnte[n]“. „System, als Differenz genommen, ist kein Behältnis, kein Hohlraum, kein Gefäß und keine Blase. Systeme sind gerade nicht ‚Be-Inhalter‘“ (S. 23). Auch der Beobachter ist kein Ding, das sich im Sinne der ontologischen Tradition dem Sein zurechnen ließe, und ist dementsprechend in Anführungsstriche zu setzen: Er ist „kein ER, keine SIE […], sondern zunächst vor allem:

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System.“ Der „‚Beobachter‘ ist prima facie ein Ausdruck für Sinnsysteme, die Beobachtungsoperationen durchführen“ (S. 52) und diese lassen sich eben nur als „retrograde Metamorphose“ verstehen, oder um es noch stärker zu pointieren als „herstellerlose Herstellung“ eines Differenzierungsprozesses, der nur als Differenz zu jener Einheit kommt, die nicht zu fassen ist (S. 28, hier wie in den anderen Zitaten; Hervorhebung im Original). Auf dieser Basis gelangen wir zum zweiten Teil der Abhandlung: Auch das „SELBST – psychisch“ kann aus dieser Perspektive nicht mehr im Sinne des Common Sense als eine Ganzheit verstanden werden, welche das Verhältnis eines Menschen zu seiner Umwelt regelt. Das Gegenteil scheint vielmehr der Fall zu sein: Die „Selbstbeobachtung“ – denn das Selbst erscheint hier als besondere Form einer Beobachtungsoperation – stellt keineswegs „die Beobachtung des Gesamtsystems durch sich selbst dar“, sondern delegiert diese Aufgabe an „ein Subsystem, das die Funktion der Selbstbeobachtung übernimmt, aber als System eben in eigener Strukturalität und Selektivität, in der das ‚Restsystem‘ als Umwelt behandelt wird“ (S. 63). Wie jedes System tritt auch das SELBST als Ergebnis einer konditionierten Koproduktion auf, die beide Seiten – nämlich das, was es ist, und das, was es nicht ist – als Differenz der Einheit einer Differenz verwebt. Dementsprechend darf das SELBST nicht mit den Inhalten verwechselt werden, welche durch die propositionale Struktur der Sprache suggeriert werden. Es erscheint gerade nicht als ein Ich oder Subjekt, das handelnd oder erlebend seiner Umwelt entgegentritt. Vielmehr lässt es sich als eine besondere Form systemischer Prozessualität begreifen. Worin besteht nun aber die Form des SELBST? Fuchs kommt zu dem Ergebnis, dass das System SELBST eine besondere Form der „Organisation ‚sinndurchtränkter‘ Wahrnehmungen“ darstellt (S. 67), die darauf beruht, dass das „Medium Sprache“ narrativ „supercodiert“ wird (S.  70), sich hierbei also soziolinguistische und neurophänomenologische Perspektiven in besonderer Weise verschränken. Wir haben es dabei mit einem zweistufigen Prozess der konditionierten Koproduktion zu tun, als dessen Folge das SELBST als Handelnder und Erlebender wieder in sich selbst eintritt. Zunächst erscheint dabei das „psychische System“ per se immer schon als „soziale Interpretation von Hirnleistungen“ (S. 81). Im Sinne von Maturana und Varela (1987) stellt es nämlich nichts anderes dar, als das Ergebnis einer schon immer dem Erleben vorgelagerten sozialen Koordination von Wahrnehmungen und Verhalten. Auf diesen Prozessen reitet wiederum die ‚Erzählung‘ als eine besondere Form der Koordination. Die Erzählung verzahnt rekursiv, gleichsam als ein Hypertext, Wahrnehmungen und Texte: „Narrative“ liefern „je historisch konditionierte Muster für die Interpretierbarkeit von

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Wahrnehmungszusammenhängen als Erlebnisse. A fortiori: Narrative stiften die (erzählbaren) Zusammenhänge etwa in der Weise, in der ein Film zum Film wird durch die Belichtung und die nachgetragene ‚Entwicklung‘. […] Die Idee ist, auf den Punkt gebracht, daß Selbsterzählungen im Blick auf die Disparatheit dessen, womit ein psychisches System im Laufe seiner Existenz konfrontiert wird, die Funktion der Integration ausüben“ (S. 81). Der spannende Punkt an dieser Stelle ist – gerade auch im Unterschied zur Sozialphänomenologie im Anschluss an Alfred Schütz –, dass es nicht mehr die einzelnen Worte sind (weder die Begriffe noch die hiermit verbundenen Typisierungen), welche das Selbst repräsentieren, sondern erst der Bogen der Erzählung als übergreifender Prozessvollzug. Oder anders herum gesagt: Wir gewinnen unser Selbst nicht dadurch, dass wir ‚Ich‘ zu uns sagen oder signifikante Andere uns mit unserem Namen ansprechen, sondern weil wir in Erzählungen von uns leben, in denen wir jeweils in spezifischen Skripten und den hiermit verbundenen Dramatisierungen gleichsam in und mit uns selbst voranschreiten. Nur in Form von Geschichten kann das sich Verändernde in einer Weise als konstant behandelt werden, durch die Wesenheiten gewissermaßen als Geister ausflaggen können, die auch dann als identisch mit sich erscheinen, wenn sie offensichtlich nicht mehr die gleichen sind. So ist Odysseus nach seiner Heldenreise offensichtlich nicht mehr derselbe, doch über seine Geschichte tritt seine Veränderung in einer Weise in ihn selbst ein, dass ein Verlauf entstehen kann, der selbst in der Variation der Erzählung – jede erneute Schilderung ist allein schon aufgrund des veränderten Kontextes eine eigene – das gleiche narrative Selbst erscheinen lässt. Worte und Eigennamen allein können dies nicht leisten. Benötigt werden vielmehr eine Bewegung aus einem Spannungsbogen und Personalitäten, die sich in der rekursiven Verbindung von Anfang und Ende als Identität reproduzieren. Im Sinne der konditionierten Koproduktion funktioniert all dies nur deshalb, weil Geschichten – und damit auch die Narrative des Selbst – in unserem Körper buchstäblich lebendig werden. Hiermit beginnen allerdings auch die leiblichen Innen- und Außengrenzen zu verwischen. Einerseits „schnappen“ die Dramen, welche die Worte spinnen, in den „Körper hinein“, ohne dass sich ein Selbst dagegen erwehren könnte (Merleau-Ponty 1974, S. 275). Andererseits werden im „Innen-Sprechen“, also im inneren Dialog des Denkens, die gleichen neurologischen und psychomotorischen Pfade benutzt wie in den Vollzügen der menschlichen Interaktion. Zusammengenommen generiert sich hiermit eine „Symbiotik des Selbst“, entsprechend der „alle

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registrablen Körperzustände“ sowie die hiermit einhergehenden „Sinnesmodalitäten“ in den Erzählungen „mitlaufen“ (S. 103). Die Verschränkung von Kommunikation und Psyche (bzw. Erzählung und leiblicher Dramaturgie im System SELBST) mündet in eine zwingende, allerdings in hohem Maße kontraintuitive Konsequenz: „Das psychische System, das SELBST einbegriffen, ist nicht eine Intimität, sondern randlose Extimität, in der durch Sozialisation unter unendlich vielem anderen auch die Selbstbeschreibung als Intimität verfügbar wird, das Erleben eines Körpers etwa, in dem das Psychische, repräsentiert durch das SELBST, schaltet und waltet“ (S. 304). Erst auf diese Weise kann sich das Erleben in einer „fungierenden Ontologie“ einrichten, die als Bewusstsein einer Welt erscheint, „in der es Innen und Außen gibt und das Innen Moment ebendieser Welt ist“. Doch aus Perspektive der systemtheoretischen Reflexion ist das Innen im Sinne einer Möbius-Schleife selbst wiederum als „eine Externität, eine Ek-sistenz, ein Ek-stase“ zu sehen (S. 130). In diesen Ekstasen erscheint das SELBST gewissermaßen als die Simulation jener temporalen Einheit, die man früher als Seele betrachtet hat (gerade die ganzheitliche Seelenvorstellung der Romantik trifft diesen Sachverhalt recht gut). Hiermit kommen wir zum letzten Teil der Fuchsschen Abhandlung: „Das SELBST – modern“. Wenn das Selbst seiner Form nach als eine Extimität zu sehen ist, die der konditionierten Koproduktion mit dem Sozialen unterliegt, dann ist dieses Selbst auch den gesellschaftlichen Wandlungen unterworfen. Mit Blick auf die Moderne begegnen wir hier zunächst den „Symptomen der De-Individualisierung“ (S. 185) und den hiermit einhergehenden Zurechnungsproblemen, insbesondere aber auch der Frage der Kompossibilität, also dem Problem, dass die Zersplitterung des Selbst in der modernen Gesellschaft möglich und sogar wahrscheinlich ist, dabei jedoch in sozialer Hinsicht mit nicht-trivialen Folgeproblemen einhergeht. Da das System SELBST im Medium der Narrativität operiert – „es ist dieses Operieren selbst und: nichts dahinter“ (S. 246) –, ist unter modernen Verhältnissen neben dem personalen Akteur noch ein weiteres Zentrum der Erzählung denkbar, nämlich die Organisation. Auch Organisationen können vor diesem Hintergrund ein SELBST entwickeln, das allerdings unter den gegebenen Verhältnissen wie schon das menschliche SELBST als gebrochen und gespalten erscheinen muss. Da das SELBST in seinen Geschichten gefangen ist, stehen sowohl der Mensch als auch die Organisation vor dem Problem, den auf diese Weise selbst herbeigerufenen Gespenstern vertrauen zu müssen und zugleich immer mehr

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um deren Kontingenz und Bedingtheit zu wissen. Einerseits erscheinen die Produkte der immer auch leiblich repräsentierten Narrativität unmittelbar evident, andererseits weiß man – insbesondere in Anbetracht der Spiegelungen innerhalb literarischer und künstlerischer Fiktionen – um die Dilemmata zeitgenössischer Selbstkonstruktion. Die prekäre Grenze zwischen Fiktion und Realität – die zwischen normalen und verrückten (etwa psychotischen) Weltzugängen unterscheiden lässt – kann dabei üblicherweise ihre Rückversicherung in den Widerständen einer ebenso sozial wie physisch verhärteten Wirklichkeit finden. Nicht jedes Selbstmodell, nicht jeder narrativ stabilisierte Selbstbezug funktioniert. Zu gewagte Konstruktionen scheitern an der Materialität bzw. den Institutionen der Gesellschaft. Peter Fuchs vermutet jedoch eine Neukonfiguration der Selbstverhältnisse durch die Möglichkeiten multimediafähiger Computer und des World Wide Web. Hierdurch werde es nämlich möglich, das SELBST in einer „Parallel- und reentry-Welt“ zu sozialisieren, in der die stabilisierende „Differenzerfahrung zwischen ‚wilder‘ Kontingenz und robuster, durch Unaustauschbarkeit gekennzeichneter Realität“ verflüssigt wird. Infolge könnte es möglicherweise zu einer „in der Tiefe Null wirksamen Sozialisation“ kommen – gemeint ist die Ebene der konditionierten Koproduktion selbst. Das SELBST würde auf diese Weise gewissermaßen den Bedingungen seiner eigenen Produktion begegnen und diese als „Verschwimmung“ des Verhältnisses von „Realität und Virtualität“ wahrnehmen (S. 266.). Die so auch auf phänomenaler Ebene erfahrene Unschärfe und Uneindeutigkeit bzw. der Übergang zwischen den unterschiedlichen Sphären könnte als Indiz für den Prozess der Genese des Selbst genommen werden. Es könnte dann offenbar werden, dass die vermeintliche Gewissheit der Welterfahrung auf einer fungierenden, selbst produzierten Ontologie beruht, dass das SELBST – einschließlich der Phänomenalisierung der Subjekt-Objekt-Unterscheidung – also epistemisch leer ist. Fassen wir an diese Stelle die Ergebnisse zusammen: Das SELBST ist nach Fuchs nicht auf einen „irreduziblen Kern“ zurückzuführen, erscheint darüber hinaus nicht „intim, sondern: extim“ und kann seine Operationen zudem nur im „Medium sozial vorgegebener Narrative und Narrationen“ orientieren (S. 288, Hervorhebung im Original; W. V.), die allerdings mit dem WWW in Hinblick auf die institutionellen Konditionierungen der Moderne ihre Härte verlieren. Übrig bleibt, die verschiedenen Varianten einer „Coda Speculativa“ (S. 287 ff.) als Versuch, den hiermit immer schon problematischen Selbstbezug zu thematisieren, zu heilen oder zu transzendieren. Dem SELBST bleibt zunächst nur, Authentizität anzustreben, also seine eigene Form als Individuum zu finden, wenngleich diese Bewegung auf einer sozialen Phantasmatik – also auf einer Illusion – beruht und

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dementsprechend ihr eigenes Scheitern mitführt. Die Psychotherapie kommt nicht umhin, sich der hiermit verbundenen Komplexität zu stellen. Die Philosophie kann sich demgegenüber nicht so recht auf die kontingenten Erzählungen des SELBST einlassen, da sie immer noch auf Begriffe setzt, mit denen sie die Natur des Selbst grundsätzlich zu klären versucht. Sie hat zwar langsam gelernt, den Essentialismus zu überwinden und damit zu arbeiten, dass Begriffe nur dann mit sich identisch sind, wenn sie sich im Text verschieben, also nicht mehr mit sich identisch sind. Aber Texte sind noch keine Geschichte. Und Geschichten kann der Philosoph aus prinzipiellen Gründen nicht trauen, denn sie beruhen auf der Entwicklung von Metaphern und auf solchen Unschärfen lässt sich begrifflich nicht bauen. Da die Systemtheorie und die Soziologie in der Lage sind, sich empirisch rückzubinden und zu versichern, können sie es sich erlauben, metaphorische Unschärfen beizubehalten, zumal diese in den von ihnen untersuchten Gegenständen auftreten. Geschichten zu produzieren erscheint hier nicht als ein Manko, sondern als eine Tugend, ja als Voraussetzung, um zu verstehen und um in der Gesellschaft verstanden zu werden und wirken zu können. An dieser Stelle ergibt sich, wie Peter Fuchs aufzeigt, eine prekäre Nähe zur Theologie, als letztem von ihm aufgezählten spekulativen Code. Die Theologie weiß um die Macht des Wortes, da sie selbst an mythologische Erzählungen rückgebunden ist. Die vorgelegte Theorie des SELBST durchschaut diesen Trick, jedoch ohne dabei die transzendente Bewegung selbst negieren zu können. Aus einem wissenschaftlichen Blickwinkel könnte man auch sagen: sie rehabilitiert die Metaphysik. Die Sinnsysteme, von denen die Systemtheorie spricht, sind „ortlos“ konzipiert und überschreiten raumzeitliche Grenzen. Sie sind „metà tà physikà“ und im gleichen Sinne ist das SELBST – so wie die Seele oder Gott – ein „Unjekt“, also ein Nichts (S. 301). Alles verdampft, wenn der Erzähler verschwindet. Da die Systemtheorie jedoch – wie schon die negative Theologie – auf die strukturreichere Negativsprache verweisen kann, für die das Nichts nicht nur nichts ist, fallen die Hochabstraktionen der systemtheoretischen Rekonstruktion des Systems SELBST mit den mystischen Figuren der einschlägigen spirituellen Traditionen zusammen. „Spitzenprobleme der Mystik sind von der Anlage und vom Argumentationsduktus her auch Spitzenprobleme der Theorie, die ihr zustoßen, wenn sie ihre Grundbegriffe nur hinreichend radikal reflektiert“, formuliert Fuchs entsprechend an anderer Stelle (Fuchs 2008, S. 56). Die im Untertitel der Fuchsschen Abhandlung angekündigte Frage „Wer liebt wen, wenn jemand sagt: ‚Ich liebe Dich!‘“ führt hier also zu einer Antwort, die allerdings aus guten Gründen implizit bleiben muss. In diesem Sinne verwundert

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es nicht, dass der Ausdruck ‚Liebe‘ in der eigentlichen Untersuchung nicht vorkommt. Wenn das SELBST und damit auch das ‚Ich‘ nur ein Phantasma darstellt, das gemeinsam mit der Narration emergiert, dann erscheint Liebe erst aus Perspektive der konditionierten Koproduktion als ALLES, nämlich als jene Einheit, die sich nur als Differenz zum Ausdruck bringen kann. Konsequenterweise darf erst im Epilog wieder von Liebe die Rede sein: „Das SELBST“ kann „nicht lieben“ ohne den „Kontakt mit der Sinnwelt“, welche erst das Modell der „Poesie der Liebe“ anliefert, um „sogar Körperzustände als je passende Gefühle [mit]beobachten“ zu können (S. 306), heißt es dementsprechend. Anders herum gesagt: Ich kann nur lieben, wenn und weil ich nicht ‚Ich-Selbst‘ bin. Peter Fuchs gelingt hier eine religio, die auf den ersten Blick der von Maturana und Varela (1987) im „Baum der Erkenntnis“ vollzogenen Bewegung ähnelt. Er sitzt dabei jedoch nicht dem Pathos auf, Liebe selbst als Grundlage des Menschen essentialisieren zu müssen. Peter Fuchs zieht vielmehr am Ende eine Grenze – und entscheidet sich dazu, als Wissenschaftler und nicht als Mystiker oder Poet zu sprechen. Dies – so das abschließende Resümee – wird allerdings auch den „wissenschaftlichen Beobachter“ nicht daran hindern, in eine entsprechende „Ontologie“ einzurasten, wenn „für ihn Liebe auf dem Tagesplan“ steht, denn sein „psychisches System kann einfach surfen“, da es in der Regel „auf den identitären Zusammenhang seiner Operationen nicht angewiesen ist“ (S. 307). Ob und wann das SELBST in eine solche fungierende Ontologie einrastet, bleibt eine empirische Frage. Doch auch für Peter Fuchs gilt: „Alles Gesagte wird von jemandem gesagt“ (Maturana/Varela 1987, S. 37). Bereits 1989 beginnt er in „Reden und Schweigen“, mit seiner ersten, gemeinsam mit Luhmann formulierten Monografie, das Grenzgebiet zwischen einer kybernetisch informierten Kommunikationstheorie und der mystischen Tradition auszuloten. Sein „System des SELBST“ kann in diesem Sinne als Meisterwerk angesehen werden, mit dem die bereits lange Zeit vorher eröffnete Bewegung (fast) zum Abschluss kommt. Fuchs traut sich allerdings noch nicht, das SELBST im Kontext seiner Annihilation und der hiermit einhergehenden paradoxen Erfahrung seiner NichtErfahrung zu formulieren, also die Möglichkeit einer Ruptur zu benennen (bzw. zu bekennen), in der das SELBST temporär verschwindet, und wo als Krisensymptom dieses Risses die Geschichten, welche das SELBST konstituieren, einfach aufhören bzw. ihre Kraft verlieren. Übrig bleibt nur noch ein Grauen ohne Worte oder – um es soteriologisch zu wenden – das Wissen um die Leere. Genau

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dies wird Peter Fuchs (2015) in einer weiteren Monografie mit ebenso trockenem Geist formulieren. Wie auch immer, Peter Fuchs kommt in seinem Text, der damit mehr ist als ein Text, vor. ‚Alles = Nichts‘ ist die Form der Koproduktion. Erzählungen sind die Form des (menschlichen) Lebens.

Literatur Fuchs, Peter (2008): Die Modernität der Mystik und die Modernität der Theorie: Anmerkungen zu einer überaus seltsamen Affinität, in: Ingo Berensmeyer (Hrsg.), Mystik und Medien. München: Wilhelm Fink Verlag, S. 55–76. Fuchs, Peter (2010): Das System SELBST, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft. Fuchs, Peter (2015): DAS Sinnsystem: Prospekt einer sehr allgemeinen Theorie, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft. Maturana, Humberto R., und Francisco J. Varela (1987): Der Baum der Erkenntnis: Die biologischen Wurzeln des menschlichen Erkennens, Bern, München: Bertelsmann. Merleau-Ponty, Maurice (1974): Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin: Walter de Gruyter. Neumann, John von (1932): Mathematische Grundlagen der Quantentheorie, Heidelberg, Berlin: Springer. Vogd, Werner (2014): Von der Physik zur Metaphysik: Eine soziologische Rekonstruktion des Deutungsproblems der Quantentheorie, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft.

Werner Vogd, Professor für Soziologie an der Universität Witten/Herdecke. Arbeitsschwerpunkte: Allgemeine Soziologie, rekonstruktive Sozialforschung, Organisationsforschung, Religionssoziologie, Medizinsoziologie, Erkenntnistheorie. Jüngere Veröffentlichungen: Selbst- und Weltverhältnisse: Leiblichkeit, Polykontexturalität und implizite Ethik (2018), Die Praxis der Leere: Zur Verkörperung buddhistischer Lehren in Erleben, Reflexion und Lehrer-Schüler-Beziehung (zusammen mit J. Harth, 2015), Von der Physik zur Metaphysik – eine soziologische Rekonstruktion des Deutungsproblems der Quantentheorie (2014), Welten ohne Grund: Buddhismus, Sinn und Konstruktion (2014), Zur Soziologie der organisierten Krankenbehandlung (2011). Systemtheorie und rekonstruktive Sozialforschung – Versuch einer Brücke (2010), Gehirn und Gesellschaft (2010), Selbst- und Weltverhältnisse: Leiblichkeit, Polykontexturalität und implizite Ethik (2018).

Kopplungen und ihre Folgen Über Fritz B. Simon, Formen: Zur Kopplung von Organismus, Psyche und sozialen Systemen (2018) Torsten Groth

1 Einleitung Mit seinem Buch Formen legt Fritz B. Simon ein Buch vor, das in mindestens dreifacher Hinsicht als außergewöhnlich bezeichnet werden kann. Zunächst sticht der thematische Umfang der Fragestellung hervor. Viele ursprünglich bahnbrechenden Erkenntnisse prägender Kybernetiker und Systemtheoretiker kondensiert Simon auf gut 300 Seiten um die Frage der Wechselbeziehung biologischer, psychischer und sozialer Prozesse. In einer transdisziplinären Sicht geht es um nicht weniger als die Frage, wie sich im Zusammenwirken dieser drei Systemtypen funktionale und dysfunktionale Muster des Überlebens ausbilden. Für die hierzu notwendige Selektion und Zusammenführung dieser Erkenntnisse greift Simon, dies als zweite Besonderheit, auf seine professionellen Erfahrungen als Mediziner, Psychologe, Familientherapeut sowie Organisationsforscher zurück. Insofern fasst das Buch auch das über Jahrzehnte währende Wirken von Fritz B. Simon als Systemtheoretiker zusammen. Drittens, und hierauf soll hier ein besonderes Augenmerk gelegt werden, ist der Schreibstil hervorzuheben. Das Buch ist durchgehend formuliert im Stil des Tractatus von Ludwig Wittgenstein. In der Tat muss man sie mögen, diese Form, in der Fritz B. Simon den Lesern sein Buch Formen vorgelegt hat. – Im Vorwort weist Simon selbst auf Lese-Zumutungen hin, wenn sich ein Autor einem ursprünglich in der Mathematik üblichen Stil unterwirft und formal streng, hoch kondensiert und zugleich thematisch umfänglich Überlegungen anstellt zur „Kopplung T. Groth (*)  Münster, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 D. Baecker (Hrsg.), Schlüsselwerke der Systemtheorie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30633-5_15

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von Organismus, Psyche und sozialen Systemen“, so der Untertitel. Kein wissenschaftlicher Text im klassischen Sinne mit einer Fragestellung, mit Übersichten zum Stand der Forschung, mit Argumentationsketten unter Hinzuziehung von Quellen und Zitaten oder auch Zusammenfassungen jeweils zum Ende einzelner Kapitel. Nein, hier wird die Leserschaft nicht durch das Buch geführt, hier führen kurze, durchnummerierte, oftmals abstrakte Definitionen systemtheoretischer Grundbegriffe in ihrer Verkettung Regie. Diese Form der Verdichtung ermöglicht es dem Autor sowohl in die Tiefe kybernetischer und systemtheoretischer Grundlagen und Grundbegriffe einzusteigen, als auch eine thematische Bandbreite abzudecken, für die im klassischen Schreibstil sicher mehrere tausend Seiten notwendig wären. Um es gleich vorweg zu sagen, auf diese Form und diesen Stil und damit auch auf die Anforderungen eines fortwährenden Wechsels von Anregung und Ablehnung (hervorgerufen durch die Knappheit der Formulierungen) muss man sich einlassen. Und dann ist es wie mit allen Irritationen. Wenn Form und Stil verfangen, wenn also die Irritation – als Eigenleistung eines Beobachters – zur Intervention wird, kann dieses Buch mannigfaltige Erkenntnisse erzeugen und Formen annehmen: Es wird zur Einführung in die Grundlagen der Kybernetik, der Systemtheorie und auch der Formtheorie; es führt Satz-für-Satz, Nummerauf-Nummer, Begriff-für Begriff vor, wie systemtheoretisches Denken funktioniert; es bietet eine Art lexikalische Lesemöglichkeit, in der man jeweils mit einem der 85 Grundbegriffe starten kann; es bietet transdisziplinäre Vertiefungsmöglichkeiten gerade zu vielen unterbelichteten Kopplungsfragen und es gibt für mehr handlungspraktisch orientierte Leser gerade in der zweiten Hälfte Hinweise für ein systemtheoretisches Verständnis von Organisationen, Teams, Familien, für Konfliktmuster und auch für das Entstehen psychischer Erkrankungen. Das Buch Formen ist insofern kein Buch im klassischen Sinn, und es lässt sich schwerlich über die Inhalte zusammenfassen, eher über dessen Aufbau und das, was es bewirken kann.

2 Von der Erkenntnis über das Soziale zur Psyche Wie entsteht Erkenntnis, wie entsteht Leben, wie Denken, wie Kommunikation? – … und wie ist alles miteinander gekoppelt? Ganz ähnlich den frühen Kybernetikern Wiener, Ashby, McCulloch oder auch Bateson sind es die großen Fragen, die Simon angeht. Er nutzt hierzu Konstruktivismus und Systemtheorie als transdisziplinäres „Rüstzeug“ (S. 9) und entfaltet dieses zugleich. Wie mit dem Titel Formen schon mehr als deutlich bezeichnet und überdem noch unter-

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stützt durch das Cross auf der Titelseite nimmt in all seinen Formulierungen Georg Spencer-Brown eine Sonderstellung ein. Simon nutzt dessen Laws of Form mit den Zentralbegriffen der „Distinction“ und „Indication“ (vgl. Spencer-Brown 1997), um konsequent eine unterscheidungstheoretische Beobachterperspektive beizubehalten. Die Kernfrage des Buchs könnte lauten: „Was passiert, wenn Systeme sich und andere Beobachter beim Beobachten beobachten“? Mit insgesamt 85 Begriffen, die jeweils in Haupt- und Untersätzen definiert und entfaltet werden, zeigt Simon in einer prozesstheoretischen Sicht, wie alles mit der Autopoiese der Erkenntnis beginnt, wie sich damit und daraus Leben, Soziales und Bewusstsein entfalten und wann und wie alles endet. Folglich startet das Buch mit dem „Beobachter“ und endet mit dem „Tod“. Spannend ist natürlich das Dazwischen. Um überhaupt einen Eindruck von der Fülle an Theorie und Themen zu bekommen, hier der Versuch einer Clusterung: • • • • • • • • • •

Beobachtungs- und Formtheorie Musterbildung und deren Veränderung Systemtypen und deren Kopplung Spracherwerb und Konstruktion der Wirklichkeit Kommunikation und Handlung Systemdifferenzierung und spezielle Systemtypen Gesellschaft und deren Differenzierungsformen Konflikte und deren Muster Abweichendes Verhalten und Intervention Psychische Krankheiten und der Tod

Herausgreifen möchte ich vor allem die theoretische Grundanlage der Argumentation. Sicher nicht zufällig startet Simon erkenntnistheoretisch unter 1.1 mit: „Alles was gesagt wird, wird von einem Beobachter zu einem Beobachter (der er selbst sein kann) gesagt.“ Schon mit dieser kleinen, aber entscheidenden Ergänzung des Maturana-Zitats (ders. 1982, S. 34) um die Formulierung: „zu einem Beobachter“, die er von Heinz von Foerster (1993, S. 87 f.) übernimmt, legt Simon eine Spur, die sich durch das gesamte Buch zieht. Erkenntnis- und Sozialtheorie werden immerfort verknüpft. Er stellt keineswegs, wie man es oftmals vorfindet, grundlegende konstruktivistische Ideen als allgemein zu geltende Prämissen voran, sondern zeigt in einer evolutionären Prozessperspektive auf, wie – vereinfacht gesprochen – biologische, soziale und psychische Systeme aus Erkenntnisprozessen in Relation zueinander entstehen. All dies geschieht ohne Angabe von Quellen, ohne Zitate und damit ohne Verweise auf Vorarbeiten, die helfen, das Gesagte in den verwendeten Theorie-

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kontext zu stellen. Wirkung wird stattdessen allein über die Schlüssigkeit der Sätze erzeugt. Zur Erläuterung dieses Vorgehens platziert Simon im Vorwort – stimmigerweise nicht als ein solches gekennzeichnet – ein abgewandeltes Wittgenstein Zitat. Während letzterer schreibt: „Wieweit meine Bestrebungen mit denen anderer Philosophen zusammenfallen, will ich nicht beurteilen … “ (Wittgenstein 1963, Vorwort), startet Simon diesen Satz mit: „Dass diese Bestrebungen zu einem großen Teil mit denen anderer Autoren zusammenfallen, will ich hier ausdrücklich betonten …“ (S. 10), um dann gleichlautend wie Wittgenstein fortzusetzen: „Ja, was ich hier geschrieben habe, macht im Einzelnen überhaupt nicht den Anspruch auf Neuheit; und darum gebe ich auch keine Quellen an, weil es mir gleichgültig ist, ob das, was ich gedacht habe, vor mir schon ein anderer gedacht hat“ (Simon, a.a.O.). Was sind dennoch die Quellen, die Simon verwendet? Zumindest im Vorwort zählt Simon die sein Denken prägenden Theoretiker auf: Neben dem erwähnten George Spencer-Brown verweist Simon auf die Werke von Gregory Bateson, Humberto Maturana, Francisco Varela, Jean Piaget, Ernst von Glasersfeld, um hier nur einige prägenden Persönlichkeiten der Systemtheorie zu nennen, auf Sigmund Freud, Jon Elster, Charles Osgood und natürlich Ludwig Wittgenstein. Eine Sonderstellung nimmt sicherlich die Theorie Niklas Luhmanns ein; zumindest lassen sich in der Grundanlage des Buches, z. B. mit der Definition der drei Systemtypen, mit dem Rückgriff auf Spencer-Brown, mit der Ereignisbasierung, mit einem funktionalen Problembegriff und vielem mehr große Parallelen und Beeinflussungen erkennen. Es würde dem Buch und dem Denken Simons jedoch nicht gerecht werden, seine Theorieverdichtung zu eng an Luhmann zu koppeln. Wahrscheinlich würde er sich vehement gegen eine solche Vereinnahmung wehren. Vor allem im letzten Schritt, in der Frage, welche typischen Muster sich in der Kommunikation ausbilden und welche Auswirkungen diese auf die Psyche haben, geht Simon weit über das hinaus, was in der soziologischen Systemtheorie zu finden ist. Hier greift er auf eigene, grundlegende Forschungen seiner Heidelberger Zeit zurück, in der er als Teil einer Forschergruppe um Helm Stierlin zunächst zur theoretischen Fundierung und später durch sein vielfältiges Wirken als Mitgründer von Fachzeitschriften, Verbänden, des auf die Systemtheorie fokussierten Carl Auer Verlags sowie als Seminarleiter oder auch Redner maßgeblich zur Verbreitung der systemischen Familientherapie (vgl. Simon/Stierlin 1984, Simon 1993, Simon/ Rech-Simon 1999) und auch zur systemischen Sicht auf Organisationen und deren Beratung (vgl. Simon/Conecta 1992, Simon 2004, 2013) im deutschsprachigen Raum beigetragen hat.

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Wie schon erwähnt, macht das „Wie“ der Verknüpfung der Themenbereiche das Besondere des Buches aus. Über die erwähnte formtheoretische Setzung, dass Erkenntnis durch den Gebrauch von Unterscheidungen zustande kommt, entwickelt Simon zunächst eine Theorie zur Ontogenese der Erkenntnis. Von hier aus zeigt er, wie sich menschliche Organismen selbst in Relation zu ihrer physischen und psychischen Umwelt beobachten und entwickeln (S.  57). Für viele sicherlich überraschend, setzt er dann nicht mit der Ausbildung der Psyche, sondern mit der Bildung sozialer Systeme fort. Er wählt also den soziologischen Argumentationspfad und sieht, ganz wie Parsons, in der Bearbeitung des Problems der doppelten Kontingenz den stärksten Mechanismus für die Entstehung von allem Sozialen. Hier bietet er zwei Definitionen an, zum einen eine Definition, nach der soziale Systeme aus der Kopplung des Verhaltens von einzelnen Mitgliedern bestehen, und zum anderen eine, nach der sie aus der Kopplung von Kommunikation als deren Elemente bestehen. Simon entzieht sich hier einer Diskussion, die prominent und scharf geführt wurde zwischen Maturana und Luhmann (vgl. Krüll et al. 1987) und die insgesamt die systemische Szene in Luhmannianer und Nicht-Luhmannianer teil. Statt sich festzulegen, stellt er beide Ansätze pragmatisch nebeneinander. Er nutzt die an Maturana orientierte Denkweise, um auf personenorientierte Systeme aufmerksam zu machen, in denen die einzelnen Mitglieder nichtaustauschbar sind, während deren Koordinationsformen und -muster variieren können. Und er nutzt die an Luhmann orientierte Sicht, um auf sachorientierte Sozialsysteme hinzuweisen, in denen sich die Kommunikationsmuster verfestigen und die Mitglieder austauschbar sind. Es ist, so Simon „eine prinzipielle, vom Erkenntnisinteresse abhängige Entscheidung, ob man soziale Systeme generell aufgrund ihrer Mitglieder oder ihrer Spielregeln definieren will“ (S. 59). Sowohl der Organismus wie auch das soziale System – in welcher Definition auch immer – bilden für Simon relevante Umwelten, in denen sich das Bewusstsein entwickelt: „Das Bewusstsein eines Menschen fungiert als Beobachter (= Beobachtung 2. Ordnung) der Interaktion des eigenen Organismus (= Beobachtung 1. Ordnung) mit dem sozialen System, dessen Teilnehmer er aktuell ist, sowie der physischen Umwelt (= ökologische Nische), in welcher der Organismus aktuell sein Leben fristet“ (S. 60.). Man sieht, Simon bringt immerfort die drei Systeme zueinander in Beziehung, und aus ihren jeweils selbsterzeugten Umweltbeobachtungen entwickeln sie sich co-evolutionär weiter und bilden spezifische Kopplungsmuster aus, so dass ein emergentes „Drittes“ entsteht.

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Mit dieser Theorieanlage, also der besonderen Kopplung biologischer, sozialer und psychischer Systeme mitsamt ihren wechselseitigen Beobachtungen, geht es sodann, man könnte auch angesichts der Dichte und des Tempos der Formulierungen sagen, „Schlag-auf Schlag“ weiter. Von der Geburt über Sprach- und Kindheitsentwicklung hin zur Identitätsbildung; von Personen über Paarbeziehungen und Familien hin zu Interaktion, Organisation und Gesellschaft; von Konflikten über Muster, zu abweichendem Verhalten bis hin zu psychischen Störungen. Dieser zugegeben umfangreiche Argumentationsbogen macht das Buch aus, und zugleich macht es den Autor Simon angreifbar. Doch wer traut sich heutzutage noch, einen solchen „großen Entwurf“ zu formulieren und Erkenntnisse aus mittlerweile 100 Jahren Systemforschung transdisziplinär zusammenzufassen? Es würde dem Buch und dem Autor sicher nicht gerecht werden, hier jeweils Detaildiskussionen zu führen1. Auch wenn das Buch gut 300 Seiten umfasst, so bleiben für viele großen Fragen nur kurze Abschnitte. Beispielhaft hervorzuheben ist die Simonsche Darstellung der historischen Entwicklung der Gesellschaft entlang der dominanten Differenzierungsform „Segmentierung“, „Schichtung“, „funktionale Gliederung“ (vgl. Luhmann 1997) bis hin zu den Konturen einer „nächsten Gesellschaft“ (Baecker 2007). Hierfür müssen sechs Oberbegriffe auf knapp 20 Seiten reichen, in denen in der Kürze der Formulierungen allein nur das Prinzip der Differenzierung erklärt wird, nicht aber, wie es beispielsweise Luhmann zusätzlich gemacht hat, eine weitere Unterteilung vorgenommen wird in gesellschaftliche Funktionssysteme mit ihren Codes und Programmen, oder das Wechselspiel beschrieben wird von immerfort neuen Entwicklungen und einer verspätet nachlaufenden Semantik, oder auch eine medientheoretische Betrachtung der Gesellschaft. – Ähnlich könnten jetzt Biologen, Erziehungswissenschaftler, Organisations- und Konfliktforscher, Mediziner und Therapeuten die ihr Fachgebiet betreffenden Begriffe heraussuchen, um auf zu starke Verkürzungen hinzuweisen. Sie allesamt hätten aber das Buch nicht verstanden, in dem nach Maßgabe autobiographischer Erfahrungen eine bewusste Fokussierung auf eine alle Systemtypen und alle Lebensfragen umspannende Theorie der Kopplung entworfen wird. Man kann den Eindruck gewinnen, Simon überträgt die bekannte Suchfrage nach den Mustern, die verbinden (vgl. Bateson, 1982,

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arbeitet seit Veröffentlichung des Buches an einer Online-Kommentierung aller verwendeten Sätze (https://www.carl-auer.de/magazin/formen-collage). Dort verweist er auf verwendete Quellen, stellt weitere Materialien zur Verfügung und lädt zur kritischen Kommentierung ein.

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S. 15), auf die Suche nach Verbindungen aller Systemtypen, um mit abstrakter Theorie und ebensolchen Formulierungen auf konkrete praktische Fragen wirksamer Intervention zu stoßen.

3 Pragmatik auf hohem Theorieniveau Ein für das Verständnis der Denk- und Herangehensweise Simons hilfreicher Abschnitt ist der über „problemdeterminierte Systeme“ (S. 153). Simon fasst hierunter alle sozialen Systeme, die „(geplant oder ungeplant) sich um Probleme herum bilden, wodurch ihre Struktur bestimmt wird“ (ebd.). Systeme stellen in ihrer jeweils einzigartigen Ausprägung immerfort Lösungen für selbstkonstruierte Problemdefinitionen dar und sehen sich sodann mit Lösungsproblemen konfrontiert. Dieser funktional-strukturelle Zugang lässt sich unschwer als einer erkennen, der ein typisch systemtheoretischer ist und von Luhmann gerade in seiner kritischen Auseinandersetzung mit dem frühen Funktionalismus oder auch dem Strukturfunktionalismus von Parsons entwickelt wurde (vgl. Luhmann 1970). Simon vertieft hier aber nicht wissenschaftstheoretisch, sondern wendet alles abermals pragmatisch und zeigt auf, wie Chronifizierungsmuster entstehen oder auch, wie unterschiedlich Lösungsversuche aussehen werden in Abhängigkeit von der Frage, ob man es mit personen- oder sachorientierten Systemen zu tun hat. Personenorientierte Systeme müssen, dies wurde weiter oben im Text schon angedeutet, Rücksicht nehmen auf das Problem der sich schnell wechselnden Befindlichkeiten ihrer Mitglieder, was hohe Anforderungen an deren strukturelle Flexibilität stellt. Anders sieht es in sachorientierten Systemen aus, die diese Flexibilität von ihren Mitgliedern verlangen (S. 154 ff.). Die Art und Weise, wie Simon die Unterscheidung Sach- vs. Personenorientierung (siehe hierzu auch Goolishian/Anderson 1988) verwendet, zeigt exemplarisch, worin die Verdichtungsleistung besteht. Simon bietet immerfort Beobachtungsunterscheidungen an, aus denen recht klare Handlungsanweisungen abzuleiten sind. Gerade in der zweiten Hälfte des Buches nimmt diese Praxisorientierung zu. Geht es anfangs noch um viele Grundfragen der Erkenntnis, um Grundlagen der Differenzierung und Kopplung, die allesamt viele erläuternde, begriffsklärende Unterpunkte bedürfen, so finden vor allem beraterisch interessierte Personen im weiteren Verlauf so gut wie alle Konzepte wieder, für die Simon in der systemischen Szene bekannt ist, bzw. die er in und mit seinen zahlreichen Publikationen bekannt gemacht hat. Hervorzuheben ist die erkenntnispragmatische Vereinfachung, dass die Wirklichkeitskonstruktion als ein heterarchisches Zusammenspiel von Beschreiben, Erklären, Bewerten ­anzusehen

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ist (S. 115). Diese Verdichtung gibt jedem Praktiker sogleich ein Tool an die Hand gibt, um zu erkennen, wie ein Gegenüber zu seiner Weltsicht kommt, und wie man durch kleine Änderungen nur einer Komponente Wirkung erzielen kann. Hervorzuheben sind weiter vielfältige Anwendungen des Konzepts der pragmatischen Paradoxie, zahlreiche Hinweise zum Konfliktmanagement, zur Interventionsstrategie (mit der wichtigen Unterscheidung von Plus- und MinusSymptomatiken), eine Zusammenfassung seiner Psychose-Forschungen oder auch die Unterscheidung der drei Kommunikationsmuster „Pseudo-Konsens“, „Splitting“ und „Chaos“, mit denen man vor allem auf Familien und Teams blicken kann.

4 Die Kunst der Irritation: Systemdenken im Tractatus-Stil In einer abschließenden Würdigung sollte nochmals der prägenden Schreibstil zur Sprache kommen. Womöglich funktioniert dieses Buch nur mit und aufgrund des Tractatus-Stils. Wie auch bei Wittgenstein oder wie auch in mathematischen Abhandlungen üblich, nutzt Simon die Struktur einer mehrfach verschachtelten Nummerierung, um Begriffsklärungen in jeweils von ihm für notwendig erachteter Tiefe vorzunehmen Er hat, so eine pointierte Bemerkung im Vorwort „ … gearbeitet, wie ein begeisterter Kleingärtner seinen Rasen mäht (…). Das hat im besten Fall zwar zu einer gewissen Präzision von Formulierungen geführt (hoffe ich), im schlechtesten zu überflüssigen Redundanzen und kleinkarierter Betonung von Unterschieden, über die man im Alltagsdiskurs ohne Weiteres hinweggehen kann“ (S. 11 f.). Wer den Autor kennt, wird schon vermuten können, dass die im Zitat angebotene Ambivalenz mehr als ein Trick zu verstehen ist, die Präzision zu würdigen und den Verdacht der Kleinkariertheit von Vornherein zu unterbinden. Es ist diese Verbindung von lockerem und strengem Denken, von Wildheit und Formalismus, die schon Bateson als „das wertvollste Werkzeug der Wissenschaft“ (Bateson, 1981, S. 117) bezeichnet hat, und die im Simonschen Tractatus-Stil ihre Umsetzung findet. Während sich beispielsweise Luhmann durch die Verweisungsstruktur seines Zettelkastens leiten ließ, die, so eines seiner Bonmots dazu führte, dass sich seine Bücher wie von selbst schreiben (Luhmann 1984, S. 14), so hangelt Simon sich von Definition zu Definition und damit auch von einem (Formulierungs-)Problem zu einer Lösung, die wiederum Folgeprobleme auslöst, bis es irgendwann abbricht und das Formulierungsspiel mit dem nächsten Begriff von vorne beginnt. Die notwendige Unterkomplexität jeden Satzes

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bringt den Autor Simon, so mein Eindruck, in die „Notlage“, seine gesammelten Erkenntnisse, die er als Systemtheoretiker, Psychiater und Organisationsberater gewonnen hat, zu reaktualisieren und kreativ zu Papier zu bringen. Dem Leser, der dieser Problemlösungsabfolge beiwohnt, ermöglicht dies eine eigene Gedankenreise, auf die er alleine sicher nicht gekommen wäre. Beim Lesen entsteht eine doppelte Spannung aus einerseits Neugierde über die Fortsetzung und andererseits Verwunderung, warum so und nicht anders fortgesetzt wurde. Einen weiteren Reiz und auch Forderungscharakter erfährt das Buch durch das Zusammenspiel vom Satz mit der Lücke, die dieser hinterlässt. Auch Peter Fuchs, der im ähnlichen Tractatus-Stil begriffliche Untersuchungen zum „Sinn der Beobachtung“ vorgenommen hat, sieht in der „Ab-Sicht“ (Fuchs, 2004, S. 7) den Gewinn in der asketischen Formulierung. Hier wie auch sonst in der in der Unterscheidungstheorie gilt: die nicht markierte Seite informiert. Erst im Re-entry des von Simon Nicht-Gesagten, in der Resonanz mit dem Leser und seinen Erkenntnisfragen und Alltagsproblemen findet das Formen-Buch seine Form. Wittgenstein schreibt im Vorwort des Tractatus: „Dieses Buch wird vielleicht nur der verstehen, der die Gedanken, die darin ausgedrückt sind – oder doch ähnliche Gedanken – schon selbst einmal gedacht hat“ (Wittgenstein, Vorwort). – …wie gut, dass es hier anders ist.

Literatur Baecker, Dirk (2007). Studien zur nächsten Gesellschaft, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Bateson, Gregory (1981): Ökologie des Geistes, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Bateson, Gregory (1982): Geist und Natur. Eine notwendige die Einheit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Fuchs, Peter (2004): Der Sinn der Beobachtung: Begriffliche Untersuchungen, Weilerswist: Velbrück. Goolishian, Harold A., und Hanne Anderson (1988): Menschliche Systeme: Vor welche Probleme sie uns stellen und wie wir mit ihnen arbeiten, in: Ludwig Reiter, Ewald Johannes Brunner, Stella Reiter-Theil (Hrsg.), Von der Familientherapie zu systemischen Perspektive. Heidelberg: Springer. Krüll, Marianne, Niklas Luhmann und Humberto R. Maturana (1987): Grundkonzepte der Theorie autopoietischer Systeme: Neun Fragen an Niklas Luhmann und Humberto Maturana und ihre Antworten, in: Zeitschrift für Systemische Therapie 5(1): 4–25. Luhmann, Niklas (1970): Funktionale Methode und Systemtheorie, in. ders., Soziologische Aufklärung 1. Aufsätze zur Theorie sozialer Systeme, Opladen: Westdt. Verlag, S. 31–53. Luhmann, Niklas (1984): Soziale Systeme: Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

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Luhmann, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft (2 Bände), Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Maturana, Humberto R. (1982): Erkennen: Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit, Braunschweig: Vieweg. Simon, Fritz B. (1993): Unterschiede, die Unterschiede machen: Klinische Epidemiologie: Grundlage einer systemischen Psychiatrie und Psychosomatik, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Simon, Fritz B. (2004): Gemeinsam sind wir blöd: Die Intelligenz von Unternehmen, Managern und Märkten, Heidelberg: Carl Auer. Simon, Fritz B. (2013): Wenn Rechts links ist und links rechts: Paradoxiemanagement in Familie, Wirtschaft und Politik, Heidelberg: Carl Auer. Fritz, B. Simon (2018): Formen: Zur Kopplung von Organismus, Psyche und sozialen Systemen, Heidelberg: Carl Auer. Simon, Fritz B., und Conecta (1992): „Radikale“ Marktwirtschaft: Grundlagen des systemischen Managements, Heidelberg: Carl Auer. Simon, Fritz B., und Christel Rech-Simon (1999): Zirkuläres Fragen: Systematische Therapie in Fallbeispielen: Ein Lehrbuch, Heidelberg: Carl Auer. Simon, Fritz B., und Helm Stierlin (1984): Die Sprache der Familientherapie: Ein Vokabular, Stuttgart: Klett-Cotta. Spencer-Brown, Georg (1997): Gesetze der Form, Lübeck: Bohmeier. von Foerster, Heinz (1993): KybernEthik, Berlin: Merve. Wittgenstein, Ludwig (1963): Tractatus-logico-philosophicus: Logisch-philosophische Abhandlung, Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Torsten Groth, Soziologe und Organisationsberater, ist Referent und Trainer zu Anwendungsfragen der Systemtheorie in Management und Beratung (hauptsächlich für Simon, Weber and Friends). Es ist Initiator und Gastgeber des „Club Systemtheorie“, sowie systemischer Berater mit dem Schwerpunkt Führung und Organisation von Familienunternehmen. Zahlreiche Veröffentlichungen zu den Besonderheiten von Familienunternehmen und zur soziologischen Systemtheorie, zuletzt: 66 Gebote systemischen Denkens und Handelns in Management und Beratung, Heidelberg: Carl-Auer 2017. Internet: www. torsten-groth.org.

Selbstorganisation und Autopoiesis

Die Einheit als Unterschied Über Edgar Morin, La Méthode (1977–2001) Giancarlo Corsi

1 Eine komplexe Betrachtung der Komplexität Die siebziger und achtziger Jahren haben viele der bedeutendsten Innovationen der modernen Systemtheorie vorbereitet, die in Büchern und Aufsätzen von heute wohlbekannten Autoren zum Ausdruck gekommen sind, wie Maturana, Varela, von Foerster, Luhmann, Spencer-Brown (damals „wiederentdeckt“) und vielen anderen. Die französische Forschung im Bereich der Sozial- bzw. Humanwissenschaften hat sich gerade in dieser Zeit sehr fruchtbar erwiesen, obwohl die entsprechenden Beiträge heute in der aktuellen theoretischen Produktion etwas vergessen oder mindestens wenig zitiert sind. Merkmale jener Forschung waren (und sind immer noch) eine erhebliche Neigung zur Abstraktion und eine gewisse Unvoreingenommenheit beim Vergleichen von verschiedenen Themen, Ansätzen, Disziplinen: Anthropologie, Physik, Mathematik, Logik, Soziologie, Philosophie usw. Es ging um eine durchweg anregende Lektüre: Man kann z. B. die Versuche erwähnen, die Zeitdimension in die Beschreibungen der biologischen und sozialen Wirklichkeit grundsätzlich einzuführen, vor allem in ihrer schwierigen und deutlich paradoxen Form des Ereignisses (siehe die transdisziplinären Beiträge in Heft 18 [1972] der Zeitschrift „Communication“); oder die verschiedenen Veröffentlichungen zur Abstraktionsfähigkeit der Wissenschaften und zur damit zusammenhängenden transdisziplinären Verwendbarkeit des Wissens (Atlan 1979, Morin/Piattelli-Palmarini 1974). Der französische Soziologe Edgar Morin (* 1921) war einer der ersten und aktivsten in der Suche nach einem Zusammenhang beziehungsweise einer G. Corsi (*)  Reggio Emilia, Italien E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 D. Baecker (Hrsg.), Schlüsselwerke der Systemtheorie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30633-5_16

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Verbindung von sehr abstrakten theoretischen Beiträgen und dem Versuch, sie am Forschungsfeld der Sozialwissenschaften zu testen. La Méthode stellt in diesem Sinne eine sehr anspruchsvolle und systematische Bemühung dar: Das Werk ist als eine Art Summa des wissenschaftlichen Wissens konzipiert, die von den Naturwissenschaften ausgeht und bis in die „humanen“ bzw. Geisteswissenschaften reicht. Der Auftakt war 1977 das Buch Die Natur der Natur (dt. 2010), 1980 folgt Das Leben des Lebens, 1986 Die Erkenntnis der Erkenntnis, 1991 Die Ideen und 2001 Die Menschheit der Menschheit: Die menschliche Identität. Seinen Abschluss fand es 2004 mit dem Band Ethik. Auch die parallele Textproduktion bestätigt den Anspruch, ein Panoptikon modernen Wissens anzubieten – eine „komplexe Betrachtung der Komplexität“, die es nicht nur ermöglicht, über die heutige Gesellschaft mehr zu wissen, sondern auch denjenigen operative Verschreibungen zu liefern, die in den verschiedenen Bereichen (Erziehung, Kultur, Politik und so weiter) praktisch handeln. Dass Absichten dieser Art viele Gefahren enthalten, denen sich zu entziehen Morin nicht immer gelingt, liegt auf der Hand. Darauf kommen wir später zurück. Interessant ist es, einige Einsichten und einige Formulierungen hervorzuheben, die einen breiten Konsens und eine weite Verbreitung gefunden haben. In dieser Hinsicht sind die ersten zwei Bänden besonders relevant, und das auch wegen ihrer historischen Stellung, die sie unter verschiedenen Gesichtspunkten als Vorläufer der aktuellen soziologischen Systemtheorie erscheinen lässt. Als besonders interessant gelten vor allem die Beiträge zu den folgenden Problemstellungen: • die in den achtziger Jahren umstrittene Frage der operativen Schließung der Systeme und ihrer autopoietischen Reproduktion, wie Maturana formulieren wird (Maturana/Varela 1980); • die Frage der Zirkularität der Erkenntnis – und zwar jeder Erkenntnis, nicht nur der wissenschaftlichen – und der Selbstreferenz des Beobachters; • die Frage der Fähigkeit und der unauflösbaren Bindung des Beobachters, der nur unterscheiden kann und nur durch Unterscheiden eine Realität bezeichnen kann; • die Frage des Verhältnisses von System und seiner Umwelt. Wie man sehen kann, geht es um Themen, die heute in vielen Disziplinen, besonders natürlich in der Soziologie, zum weitgehend akzeptierten Wissen geworden sind und der Systemtheorie zugrunde liegen.

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2 Offenheit unter der Voraussetzung der Schließung Zunächst übernimmt La Méthode bedenkenlos die seinerzeit (1977–1980) noch unklare und wenig bekannte Vorstellung, dass ein System ein solches nur ist, wenn man darauf verzichten kann, es aufgrund externer Kriterien zu beschreiben. Unter Bedingungen der Fremdregulierung oder von außen kommender Anweisungen (Inputs) liegt kein System vor. Ein System ist immer „production-de-soi“ – mit der Ausnahme künstlicher Maschinen: „toutes les machines (physiques, biologiques, sociales) … à l’exception des machines artificielles, sont dotées de vertus génératives e régénératives internes: elles sont productrices-de-soi, organisatrices-de-soi, réorganisatrices-de-soi, leur poïesis s’identifie en premier lieu à la production permanente de leur propre être“ (Bd 1, S. 180). Man kann dabei eine Formulierung des Autopoiesis-Begriffs ante litteram ziemlich deutlich erkennen, obwohl der Text von Maturana und Varela Autopoiesis and Cognition (1980) in den späteren Bänden bemerkenswerterweise nicht zitiert wird. Die Figur der Zirkularität ist andererseits in den Titeln der verschiedenen Bänden explizit, wo bereits auf der Notwendigkeit bestanden wird, eine natürliche Begrifflichkeit zur Beschreibung der Natur, eine biologische zur Beschreibung des Lebens usw. anzuwenden. Etwas kann nur durch sich selbst beschrieben werden – so könnte man zusammenfassen – und nur so ist es möglich, seine Besonderheit zu begreifen. Und das nicht nur analytisch, sondern empirisch – aber vielleicht gehen wir damit über die Absichten des Autors hinaus. Morin weist ferner darauf hin, dass es nicht um eine statische oder feste Zirkularität geht, im Gegenteil: Das System muss sich ständig „regenerieren“, soll es weiter das sein, was es ist. Mit vielen Verweisungen unter anderem auch auf die Theorie der Katastrophen schreibt Morin, dass ein reproduktionsfähiges System nur dann existieren kann, wenn es sich ebenso laufend zerstört: Desintegration und Genese zeichnen die operative Schließung bzw. die Autopoiesis aus. In eine modernere systemtheoretische Sprache übersetzt, heißt das, dass Systeme wie Bewusstsein oder soziale Systeme, da sie aus ereignishaften Elementen bestehen, auf der operativen Ebene grundsätzlich extrem instabil sind: Sie müssen sich laufend reproduzieren, und das sichert auch die Möglichkeit (und das Risiko), die Strukturen zu ändern. La Méthode geht nicht so weit, aber die Vorstellung, dass Erkenntnis, Ideen und Identitäten solche nur sind, weil sie kontingent und instabil sind, taucht immer wieder auf – obwohl wir noch nicht wissen, wie sich der letzte Band zur Ethik dazu verhalten wird …

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Daraus folgt unvermeidlich die Feststellung, dass Schließung und Offenheit der Systeme keinen Widerspruch darstellen, im Gegenteil: Was auch immer „Kognition“ heißt (in Morins Lieblingsformel: computation), es liegt auf der Hand, dass sie nur dann vorliegen kann, wenn das kognitions- und beobachtungsfähige System über sich selbst disponiert, und zwar auf der operativen (Komputation von Komputationen) sowie strukturellen (Selbstorganisation, „organisation de soi“) Ebene: Bedingung der Möglichkeit der Kognition ist dann die Schleife (la boucle), die auch als Zeichen benutzt wird, um die Unterscheidungen zu markieren: „Ouverture et fermeture“ sind jeweils Bedingung des jeweils anderen: „l’ouvert s’appuie sur le fermée“ (Bd 1, S. 201). Alles andere wird dieser doppelten existentiellen Bindung untergeordnet, und das impliziert auch den Verzicht auf jede Externalisierung der Bedingungen der Möglichkeit der Existenz von Systemen überhaupt. Finalität ist dann keine sachangemessene Beschreibung, sei es der Natur, des Lebens oder der Erkenntnis, sondern nur eine der vielen Wege zur Erklärung dessen, was man beobachten kann. Daraus folgt – und zwar parallel zu Überlegungen, die in der aktuellen Forschung geläufig geworden sind – dass jede Form von kognitiver Offenheit die Schließung des Systems voraussetzt und es keine unmittelbare Entsprechung von Erkenntnis und Wirklichkeit geben kann: Das Reale, was auch immer es ist, bleibt verdeckt und unbekannt. Dieser Punkt, der vor allem in den Bänden 4 und 5 ausgebaut wird, wurde von Morin viele Jahre vorher erörtert, als er in einer Reihe von Sammelbänden zur interdisziplinären Diskussion über das Thema „Mensch“ verschiedene Beiträge „konstruktivistischer“ Orientierung herausgab, unter ihnen die „Notes pour une épistémologie des objects vivants“ von Heinz von Foerster (in Morin/Piattelli-Palmarini 1974, Bd 1), ein Manifest des gegenwärtigen Konstruktivismus. Morin übernimmt diese Anstöße und spricht von verschiedenen Formen von Ungewissheit, die er durch eine „unauflösbare Paradoxie“ zusammenfasst: Man kämpft gegen fragmentarische und vorläufige Ideen, muss dazu jedoch auf ebenso fragmentarische und vorläufige Ideen zurückgreifen (Bd 4). Schon in den ersten Bänden taucht die Idee auf, jede Komputation könne nur gegen andere Komputationen gespielt werden, und das sei die einzige Art und Weise, Kognition herzustellen. Diese Einsicht wurde auch von Luhmann in seinen letzten Forschungsjahren benutzt, wenn auch hier ohne Verweis auf die Arbeiten Morins. Wir müssen heute bedauern, dass diese Einsicht nicht weiterverfolgt worden ist – etwa in Richtung einer Soziologie des Imaginären oder der Freiheit als Kognitionserweiterung, Themen, die Morin auch später noch interessiert haben. Das Gespür Morins für „heiße Themen“ kann man auch an einer anderen Stelle erkennen. Es geht um die Stellung des beobachtenden Systems in Bezug

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auf sich selbst und auf die Welt, die es konstruiert. Schlagwort: Selbstreferenz. „La référence-à-soi signifie que l’individu-sujet se réfère, en chacun de ses computations et décisions, non seulement aux donnés ‚objectives‘, intérieurs et extérieurs à sa machine organisationelle, mais à lui-même précisément comme centre de référence“ (Bd 2, 165). Das System als Referenzzentrum – hier kommt das selbstreferentielle Argument zu Ehren, das die Systemtheorie dann in verschiedene Richtungen entwickeln wird, nicht zuletzt in die von der Spencer Browns Logik vorgeschlagene Richtung. Morin erkennt dieses Potential und zitiert explizit den Ausdruck „Self-indication“, mit Hinweise auf Varela (1975) und Spencer-Brown (1969) (Bd 1, S. 212 f.). Der Kalkül von Spencer-Brown, der auf die Gleichzeitigkeit von Unterscheidung und Bezeichnung gegründet ist, wird von Morin nicht systematisch übernommen; dass es aber bei seiner Idee von computation um ähnliche Probleme geht wie im Kalkül von Spencer Brown, fällt auf: Das Dasein des Beobachters, wenn man so sagen darf, impliziert eine Zäsur in der Welt – noch radikaler: Die Welt kann nur als diese deutlich paradoxe Spaltung existieren. Mit den Worten von Morin, die den Sprachgebrauch der Zeit reflektieren: „L’acte de distinction est de fait un acte de disjonction ontologique qui sépare l’univers en deux sphères: l’une centrale, de l’auto-affirmation du Soi comme Unité, Totalité, Finalité; l’autre potentiellement négative … extérieure et périphérique, de l’incertain, du danger, du ‚bruit‘“ (Bd 2, S. 158). Interessant ist hier die Einsicht, dass die Unterscheidungen, die ein Beobachter sich selbst zugrunde legt, keine objektiven Daten sind, sondern gleichsam Leistungen dieses Beobachters – und dass „Komplexität“ nur als Steigerung beider Seiten der verwendeten Unterscheidung zu beobachten ist. Auch in den folgenden Bänden kehrt Morin zu diesem Punkt zurück, etwa wenn er die Form der Unvollständigkeit (Blindheit) jedes Beobachtens analysiert (Bd 4, Teil 3, mit Verweis auf Gödel, Tarsky und andere Logiker), obwohl er eine Art Metalogik annimmt, die die Paradoxie versteckt. Aber dieses „arrière-pensée“ (Bd 4) bleibt eine Art Hintergedanke oder Hintergrundwissen und ist vielleicht bedeutsamer und wegweisender, als der Autor glaubt. Ferner lohnt es sich, ein weiteres Thema erwähnen, das das Verhältnis von System und Umwelt betrifft. Morin, hier wie in anderen Werken, besteht auf der Wichtigkeit eines „ökologisierten Denkens“. Zum Teil ist damit einfach das Bewusstsein von Umweltproblemen und -chancen, wie die vielen typisch „ökumenischen“ Formeln zeigen, die überall in La Méthode zu finden sind. Zum Teil denkt er an das System/Umwelt-Verhältnis: „l’idée alpha de tout pensée ecologisée: l’indépendance d’un être vivant nécessite sa dépendance à l’égard de son environnement“ (Bd 1, S. 204, siehe auch Bd 5, S. 249). Man könnte sagen, dass Morin hier als ein Resonanzboden für Forschungen fungiert, die schon in

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den sechziger Jahren davon ausgehen, dass man auf deterministische beziehungsweise quasi-deterministische Ansätze zu verzichten hat, wie zum Beispiel auf das Input/Output-Modell oder auf den Anspruch, Systeme von außen steuern zu können. Dasselbe gilt auch in der Gegenrichtung: Ein Individuum-Akteur, der in der Lage ist, Absicht und reale Verläufe, Wille und Welt, Denken und Sein übereinstimmen zu lassen, ist undenkbar. Morin geht in dieser Hinsicht bis zu einer „Kritik“ bestimmter Annahmen der Handlungstheorie: „l’action se déracine de l’acteur“ (Bd 2, S. 82). Eine Stellungnahme, die aus einem soziologischen Gesichtspunkt immer noch ein gewisses Interesse verdient. Nebenbei findet man dann die Behauptung einer Irreduzidibilität des Individuums, einer „azentrische Zentralität des Subjekts“, der Notwendigkeit, Ideen mit Wirklichkeit nicht zu verwechseln (so in Band 4), und der Ungewissheit in Bezug auf die Zukunft der modernen Gesellschaft (Band 5). Und auch das immer wieder bestätigte Erfordernis eines komplexen Denkens, dessen „difficulté profonde est donc de concevoir l’unité du multiple, la multiplicité de l’un“ (Bd 5, S. 60). Man gewinnt hier aber auch eine Einsicht in eine andere Schwierigkeit, nämlich diejenige, die Komplexität eines komplexen Denkens unter Kontrolle zu halten (wie Morin festhält), indem man das eigene Projekt angesichts der zahlreichen Unterscheidungen, die man zu treffen hat, aus den Augen verliert. Und damit kommen wir zu einigen „kritischen“ Kommentaren.

3 Referenzpunkt Individuum Obwohl die Bücher La Méthode viele frühzeitige und vielleicht auch im vorzeitige Einsichten enthalten, haben wir es mit einem unzureichend kontrollierten und gewissermaßen überfließenden Werk zu tun. Es gilt auch hier, was so häufig für die französische Literatur gilt, die einerseits sehr resonanzfähig und aufmerksam darauf ist, was in jeder Disziplin passiert, andererseits aber immer wieder versucht, das Neue in eine Kosmologie des Wissens einzubauen, die dann wenig überzeugend ist. Kein Wunder, wenn das in den späteren Werken Morins in einer Art neuem Humanismus mündet, der für einen globalen Reformismus und für eine Umwandlung von Unsicherheit in Hoffnung plädiert (Morin 2007, 2011a, b). Mit einem Ausdruck von Luhmann könnte man mit Bezug auf die französische (also nicht nur bei Morin zu findende) Anthropo-Sozio-Philosophie von einer gewissen „gepflegten Ungenauigkeit“ sprechen. Worin besteht die Ungenauigkeit von La Méthode? Zunächst besteht sie in der thematischen Gliederung eines so anspruchsvollen Werkes: Natur/Leben/Erkenntnis/Ideen/Menschheit/Ethik – worin jeweils die

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Kriterien der Unterscheidung und Selektion bestehen, ist schwer zu erkennen. Das Problem wiederholt sich innerhalb der einzelnen Bände: Neben einer gewissen, in den ersten zwei Bänden sichtbaren Fähigkeit, „clare et distincte“ zu unterscheiden, findet man erhebliche Schwierigkeiten in der Argumentation, sobald es darum geht, Individuen beziehungsweise soziale Systeme zu analysieren. Es fällt auf, dass das Bewusstsein und der Körper immer privilegierte Bezugspunkt zu sein scheinen; ganz selten geht es um die Sozialdimension der Realität: Wenn Morin von Gehirn, Geist, Sprache, Kultur spricht (Bd 5, S. 29 ff.) oder von Individuen, société, espèce (Bd 5), ist der Referenzpunkt fast durchweg das Individuum. Das hängt vermutlich damit zusammen, dass die wissenschaftlichen Disziplinen, auf die sich die ersten zwei Bände beziehen, nämlich vor allem Physik und Biologie, vergleichsweise schon gut strukturiert und forschungsfähig sind – damit kann die soziologische Argumentation (noch?) nicht konkurrieren. Das Problem liegt aber wahrscheinlich nicht an dem Autor, sondern an der Disziplin Soziologie, und das vor allem in einem Land, in dem amerikanische oder deutsche Beiträge immer noch zu wenig berücksichtigt werden. In diesem Sinne ist die Schwierigkeit bemerkenswert (und erwartbar), die theoretische Tragweite der Argumentation unter Kontrolle zu halten. Man hat den Eindruck, um eine alte Unterscheidung zu benutzen, dass das Werk eher analytisch zu lesen ist als empirisch. Mit dem Autor sind wir darin einig, dass das Problem in den „soziologischen Bedingungen der Wahrheit der Ideen“ liegt (so in der Einführung zum Band 4) – aber vielleicht ist es eben das, was dem Leser fehlt. Es ist kein Zufall, dass das Werk den Titel „Die Methode“ und nicht „Die Theorie“ trägt. Gleichsam Selbstreferenz ohne Fremdbezug und deswegen ohne Wiedereintritt des Beobachters ins Werk. Aber das ändert nichts daran, dass La Méthode eines der ersten Forschungsprojekte gewesen ist, die versucht haben, in jeder Einheit einen Unterschied zu sehen und umgekehrt. Dass die Folgen dieses Gedankens dann andere ziehen, ist kein großes Problem – zumindest nicht in der Wissenschaft.

Literatur Atlan, Henri (1979): Entre le cristal et la fumée, Paris: Seuil. Maturana, Humberto R., und Francisco J. Varela (1980): Autopoesis and Cognition: The Realization of the Living, Dordrecht: Reidel. Morin, Edgar (1977): La méthode, Bd 1: La nature de la nature, Paris: Seuil, dt. Wien: Turia + Kant, 2010.

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G. Corsi

Morin, Edgar (1980): La méthode, Bd 2: La vie de la vie, Paris: Seuil. Morin, Edgar (1986): La méthode, Bd 3: La connaissance la connaissance, Paris: Seuil. Morin, Edgar (1991): La méthode, Bd 4: Les idées: Leur habitat, leur vie, leurs mœurs, Paris: Seuil. Morin, Edgar (2001): La méthode, Bd 5: L’humanité de l’humanité – L’identité humaine. Paris: Seuil. Morin, Edgar (2004): La méthode, Bd 6: Éthique, Paris: Seuil. Morin, Edgar (2007): Où va le monde? Paris: L’Herne. Morin, Edgar (20011a): La Voie. Pour l’avenir de l’humanité, Paris: Fayard. Morin, Edgar (2011b): Le chemin de l’espérance (zusammen mit Stéphane Hessel), Paris: Fayard. Morin, Edgar, und Massimo Piattelli-Palmarini (1974): L’unité de l’homme, 3 Bde, Paris: Seuil. Spencer-Brown, G. (1969): Laws of Form, London: Allen & Unwin. Varela, Francisco J. (1975): A Calculus for Self-Reference, in: International Journal of General Systems 2, S. 5–24.

Giancarlo Corsi,  Soziologe, lehrt am Department für Kommunikation und Wirtschaft der Universität Modena-Reggio Emilia. Aktuelle Schwerpunkte: öffentliche Meinung, Unterscheidung Medium/Form, moderne Inklusionsformen (Karriere), Verfassungssoziologie. Veröffentlichungen u. a.: Sociology of Constitutions: A Paradoxical Perspective, Routledge, Oxford-New York (Hrsg. mit Alberto Febbrajo), 2016; Niklas Luhmann: Education as a Social System, Springer, Berlin-New York (mit Claudio Baraldi), 2017; Can the Public Sphere be Transparent? On the Reality of (Dis)Information, Sociologia e politiche sociali 21(3), 2018: 25–45; „Education has no end“: reconciling past and future through reforms in the education system, Educational Philosophy and Theory 2020; Whose Life is it Anyway? The life course as an observational medium in the education system, European Educational Research Journal in press.

Die In-formation der Autopoiesis Über Francisco Varela, Principles of Biological Autonomy (1979) Christina Weiss Zu den Sachen selbst (E. Husserl)

In mindestens zweifacher Weise verkörpern die 1979 erschienenen Principles of Biological Autonomy des chilenischen Neurobiologen Francisco J. Varela (1946–2001) eine In-formation des einige Jahre zuvor von Varela gemeinsam mit Humberto R. Maturana entwickelten Autopoiesisbegriffes (siehe hierzu Maturana/Varela, 1980). Einerseits explizieren die Principles den Zusammenhang, die notwendige Gebundenheit von Systembegriff und Informationsbegriff, andererseits führen sie eine beeindruckende Formalisierung des Konzeptes der Autopoiesis vor, die der Form nach dem Gegenstand gegenüber nicht arbiträr ist, sondern diesen, getreu einer konstruktiven Methodologie, zu (re-)konstruieren sich bemüht. Analog zu der beschriebenen Prozessdynamik eines sich informierenden autopoietischen Systems führen sie In-formation in der Form einer Thematisierung des Verhältnisses von Gegenstand und Beobachtung auch auf der Ebene der beschreibenden Theorie vor. Beide Aspekte, die Varelasche Engführung von System- und Informationsbegriff, sowie die kontinuierlich mitgeführte Reflexion auf die Grundlagen der (wissenschaftlichen) Beschreibung als solcher sollen im Folgenden dargestellt werden.

C. Weiss (*)  Darmstadt, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 D. Baecker (Hrsg.), Schlüsselwerke der Systemtheorie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30633-5_17

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1 Autopoiesis und die Notwendigkeit eines konstruktiven Informationsbegriffes „Two themes, in counterpoint, are the motif of this book. The first one is the autonomy exhibited by systems in nature. The second one is their cognitive, informational abilities. These two themes stand in relation to one another as the inside and the outside of a circle drawn in a plane, inseparably distinct, yet bridged by the hand that draws them“ (Varela 1979 , S. XII).

Dass mit der Revision des Konzeptes eines biologischen Systems, weg vom klassisch kybernetischen Paradigma eines Umweltinformation repräsentierenden, computationalen Steuerungsmechanismus, hin zum Konzept eines autopoietischen, selbstreproduktiven Systems eine Revision des Informationsbegriffes einhergehen muss, begründet Varela durch folgende, beobachtungstheoretische Reflexion. Die Art und Weise der Modellierung eines Gegenstandes impliziert zugleich eine durch diese bedingte Konzeption von Information beziehungsweise Informationsverarbeitung: „The way a system is identified and specified through our interactions with it is not separable from the way its cognitive performance is understood. The control characterization is intimately tied up with an understanding of information as instruction and representation. Accordingly, to explore the way in which a system specifies its own identity is also to explore what its informational actions can possibly mean. Thus, by discussing autonomy, we are led to a reexamination of the notion of information itself: away from instruction, to the way in which information is constructed; away from representation, to the way in which adequate behavior reflects viability in the system’s functioning rather than a correspondence with a given state of affairs“ (Varela 1979, S. XII). Zentral für die Konzeption eines autopoietischen Systems ist, dass es sowohl seine systemkonstitutiven Bestandteile als auch die Funktionalisierung beziehungsweise Relationierung dieser eigendeterminiert produziert und bestimmt. Autopoietische Systeme werden als selbstreferentielle Netzwerke von Prozessen der Produktion von Elementen, welche selbst wiederum diese Netzwerke von Prozessen der Produktion von Elementen realisieren, vorgestellt. Varela definiert: „An autopoietic system is organized (defined as a unity) as a network of processes of production (transformation and destruction) of components that produces the components that: (1) through their interactions and transformations continuously regenerate and realize the network of processes (relations) that produced them; and (2) constitute it (the machine) as a concrete unity in the space in which they exist by specifying the topological domain of its realization as such a network“

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(Varela 1979, S. 13). Dieses selbstreferentielle Zusammenspiel von, informa tionstheoretisch formuliert, Netzwerksyntax und -semantik, wird hierbei allein von dem Primat der Erhaltung der autopoietischen Organisationsform gesteuert; jegliche Systemoperativitäten sind daher als Ausdruck und Verwirklichung dieser autopoietischen, selbst(re-)produktiven Organisationsform anzusehen. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass Struktur (Syntax) und Funktionalisierung (Semantik) der selbstreferentiellen Elementproduktion voneinander nicht zu trennen sind: Jegliche Strukturveränderung bedingt eine Funktionsveränderung, jegliche Funktionsveränderung artikuliert sich für das System als Strukturveränderung. Insofern aktuale Strukturen und damit auch der Übergang von einer aktualen Struktur in eine andere innerhalb des Konzeptes autopoietischer Systeme als verschiedene Realisationen der autopoietischen Organisationsform angesehen werden müssen, ergibt es – jedenfalls für das Verständnis der Systemoperativitäten als solche – keinen Sinn, davon zu sprechen, das System repräsentiere oder verarbeite Information aus der Außenwelt. „Thus, when we switch from a control to an autonomy perspective, what we call information differs from the computer gestalt in important ways. Every bit of information is relative to the maintenance of a system’s identity, and can only be described in reference to it, for there is no designer. In this sense information is never picked up or transferred, nor is there any difference whatsoever between informational and noninformation entities in a system’s ambient“ (Varela 1979, S. XIV). Information wird nicht aufgenommen oder übertragen, sondern von autopoietischen Systemen als Form der Realisation des sie als solche identifizierenden autopoietischen Netzwerkes erzeugt. Der Begriff der Information muss daher im Kontext autopoietischer Systeme in die konstruktive, an die Form der Systemgenese und -erhaltung gebundene Fassung der In-formation, der internen Ausdifferenzierung eines Produktionsnetzwerkes überführt werden. „I am claiming that information together with all of its closely related notions has to be reinterpreted as codependent or constructive, in contradistinction to representational or instructive. This means, in other words, a shift from questions about semantic correspondence to questions about structural patterns“ (Varela 1979, S. XV). Diese De-ontologisierung des Informationsbegriffes ist in diesem Zusammenhang Korrelat einer De-ontologisierung des Systembegriffes als solchen. Autopoie tische Systeme sind nicht durch irgendwelche spezifischen Eigenschaften oder Kräfte als autopoietische Systeme charakterisiert. „Autopoiesis“ bezeichnet vielmehr eine spezifische selbstreferentielle Systembildungsform.

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„In-formation“ bezeichnet diesbezüglich die Realisation dieser Systembildungsform als deren jeweilig selektive Aktualisierung, Ausdifferenzierung in konkrete und, soll die komplementäre Beschreibung mittels der Differenzeinheit „Organisationsform/Struktur“ einen Erklärungsgehalt besitzen, kontingente Netzwerkstrukturen (zum Konzept komplementärer Beschreibung siehe Abschn. 2.1).

2 Die Formalisierung des Konzeptes in-formierender Autopoiesis Eine der zentralen Leistungen der Principles of Biological Autonomy besteht darin, die Konzeption eines sich in-formierenden autopoietischen Systems zugleich in eine Theorie einer generellen, formalen Beschreibung von Autopoiesis zu übersetzen beziehungsweise eine solche Beschreibung zu entwickeln. Diese allgemeine, formalisierte Theorie autopoietischer Systeme bewegt sich hierbei auf dem metatheoretischen Niveau einer Theorie der Beschreibung von Systemen. Dass und inwiefern gerade diese reflexive Form einer Theorie der Theorie genau die Theorieform ist, welche die Sache selbst, das Konzept eines autopoietischen Systems am besten darzustellen imstande ist, soll im Folgenden verdeutlicht werden.

2.1 Die Notwendigkeit komplementärer Beschreibungsformen Unter Punkt 1 wurde dargestellt, inwiefern Varela die Engführung von „System“ und „Information“ über eine wissenschaftstheoretische Reflexion auf die Modellierung des Systembegriffes als solchen legitimiert. Mit jedem spezifischen Systemmodell korreliert konstitutiv ein spezifisches Informationsmodell. Ein autopoietisches System impliziert hierbei einen konstruktiven, systemreferentiellen Informationsbegriff. Analog zu diesem reflexiven Vorgehen hinsichtlich des Zusammenhanges von System- und Informationstheorie verfährt Varela im Kontext der allgemeinen Diskussion der (formalen) Beschreibbarkeit autopoietischer Systeme. Zunächst stellt er die Frage nach der allgemeinen Form, dem generischen Charakteristikum jeder Beschreibung. Die typisch konstruktivistische Antwort lautet: Beschreibungen konstituieren distinkte Gegenstände als Korrelat von unter spezifischen Hinsichten getroffenen Distinktionen (siehe hierzu Varela

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1979, Kap. 10). Das allgemeine Charakteristikum der Beschreibung als solcher ist darum dasjenige der Distinktion als solcher. Eine allgemeine Theorie der Beschreibung muss daher mit einer allgemeinen Theorie der Distinktion beziehungsweise des Distinguierens anheben. Das generische Kennzeichen des Distinguierens sieht Varela nun, in Anlehnung an die Distinktionslogik George Spencer-Browns (1969; vgl. den Beitrag von Louis H. Kauffman in diesem Band und Kauffman 1987), in der Errichtung zweier unterschiedener, zueinander komplementärer Seiten. Inhaltliche Beispiele dieser grundsätzlichen Zweiseitigkeit von Distinktionen, die bei Spencer-Brown in der semiotischen Form von markierter/unmarkierter Seite des Unterscheidens konstruktiv eingeführt werden, sind in den Principles etwa Struktur/Prozess, Umwelt/System, heterarchisches Netzwerk/hierarchischer Baum (siehe hierzu Varela 1979, Kap. 10). Varela betont bezüglich der Zweiseitigkeit von Distinktionen wie Netzwerk/ Baum oder Struktur/Prozess deren offenkundige Komplementarität gegenüber ihrer vermeintlichen, ‚dialektischen‘ Oppositionalität. Komplementärrelationen unterschieden sich insofern von dualen Oppositionen wie A/Nicht-A, als sie nicht symmetrische Gegensatzpaare (Hund/Nicht-Hund), sondern asymmetrische Bedingungsverhältnisse wie Objekt/objektkonstituierender Prozess darstellten. An die Stelle einer Gegensatzlogik trete somit die Logik selbstreferentieller Systeme (siehe hierzu ebd., S. 100 f.). Der Präzision halber ist an dieser Stelle darauf zu verweisen, dass die Hegelsche Logik eine ebensolche selbstreferentielle Konstruktionsform und keineswegs lediglich eine dualistische Strukturtheorie von Oppositionen darstellt. Varelas Ablehnung des Begriffes „Dialektik“ zur Charakterisierung seiner epistemologischen Grundkonzeption, „System als Grenzbegriff“, erscheint daher vorschnell und wenig überzeugend, sich möglicherweise eher an allgemeine Vorverurteilungen Hegels im Anschluss an umstrittene Abschlussfiguren wie „absoluter Geist“ anschließend, als auf profunden Untersuchungen beruhend. Hierfür spricht auch, dass es in dem Unterkapitel 10.6 zur Dialektik keinen einzigen Textbeleg zu Hegels behauptetem, dualistischen Denken gibt (siehe hierzu demgegenüber die durchgängig selbstbezügliche Konstruktionsform in Hegel 1990). Autopoietische Systeme erfordern nun nach Varela konstitutiv ein solches komplementäres Beschreibungsformat. Als selbstreferentielle Netzwerke von Prozessen der Produktion von Elementen sind sie inhärent als Generatoren komplementärer Strukturen der Form „it/process leading to it“ (Varela 1979, S. 100) bestimmt. Dieses soll kurz erläutert werden. Der Begriff eines Netzwerkes von Prozessen der Produktion von das Netzwerk wiederum realisierenden Elementen bedeutet ja nichts anderes als ein sich selbst reproduzierendes Netzwerk von Prozessen. Die

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Eigenheit eines solchen selbstreproduktiven Netzwerkes von Prozessen besteht nun darin, dass es komplementäre Seiten der Form Struktur/Genese, Element/ Relation, Netz/Baum dynamisch integriert reproduziert. Die Struktur eines selbstreferentiellen Reproduktionsnetzwerkes ist diejenige der Reproduktionsgenese, diese Reproduktionsgenese artikuliert sich wiederum als Realisation einer Reproduktionsstruktur. Gleiches gilt für die Dichotomie Element/ Relation. Dasjenige, worauf operiert wird (Operanden) und dasjenige, was operiert (Operatoren) ist identisch: ein Netzwerk der Produktion von Prozessen. Die Netz/ Baum-Distinktion hat ein autopoietisches Netzwerk ebenfalls von vornherein dynamisch integriert. Die relationale Struktur eines autopoietischen Systems ist die eines Netzwerkes von Prozessen der Produktion, die Realisierung dieses Netzwerkes erfolgt sequentiell in der Form eines sich ausdifferenzierenden Baumes (siehe hierzu 1979, Kap. 10). Autopoietische Systeme verkörpern demnach eine integrative Form der Distinktionsgenese. Die Herausforderung für die Theorie autopoietischer Systeme liegt demzufolge in der Darstellung dieser integrativen Form von Distinktionsgenese.

2.2 Die Formalisierung der Distinktionsgeneratoren Zur Formalisierung autopoietischer Distinktionsgeneratoren greift Varela auf zwei Theorien zurück. Hierbei handelt es sich einerseits um die mathematische Kategorientheorie, andererseits um die konstruktive Distinktionslogik George Spencer-Browns. Die mathematische Kategorientheorie lässt sich als (Meta-)Theorie des mathematischen Funktionsbegriffes beschreiben: „What we are probably seeking is a ‚purer‘ view of functions: a theory of functions in themselves, not a theory of functions derived from sets. What, then, is a pure theory of functions? Answer: category theory“ (Scott 1980, S. 406). Die Kategorientheorie stellt, analog zur Mengentheorie, eine allgemeine formale Grundlagentheorie dar, die nicht auf ein spezifisches mathematisches Gebiet begrenzt werden kann, sondern vielmehr die allgemeine Form der Beziehungen innerhalb und zwischen mathematischen Gebieten zum Gegenstand hat. Die Kategorientheorie unterscheidet sich hierbei, wie von Dana Scott ausgeführt, durch die Wahl ihres Grundbegriffes, dem der Abbildung oder Funktion, von der Mengentheorie mit ihren Grundbegriffen Menge und Element. Auf die technischen Details der Kategorientheorie kann hier nicht näher eingegangen werden. Nur soviel sei gesagt: Kategorien bestehen im wesentlichen

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aus Objekten und Morphismen zwischen diesen Objekten. Beispiele für Kategorien wären etwa die Kategorie MENGE mit strukturierten Mengen als ihren Objekten und (totalen) Funktionen als Morphismen, die Kategorie VEKT mit Vektorräumen als ihren Objekten und linearen Transformationen als Morphismen (siehe etwa Pierce 1991, Kap. 1). Hinsichtlich der Formalisierung komplementärer autopoietischer Systeme macht sich Varela nun folgenden Umstand zunutze. Analog zur Bildung von Mengen von Mengen in der Mengenlehre können innerhalb der Kategorientheorie Kategorien von Kategorien gebildet werden. „Since categories themselves constitute a mathematical domain, it makes sense to ask whether there is a category of categories. In fact, there is: its objects are categories and its arrows are certain structure-preserving maps between categories, called functors“ (Pierce 1991, S. 36). Mit dem Begriff Funktor werden Abbildungen zwischen Kategorien bezeichnet. Den Begriff adjunkte Funktoren verwendet man, wenn eine Abbildung von einer Kategorie A zu einer Kategorie B zugleich eine Abbildung von der Kategorie B zur Kategorie A determiniert (Pierce 1991, Kap. 2, und Varela 1979, S. 96 ff.). Dieses Konzept adjunkter Funktoren zieht Varela nun zur Formalisierung autopoietischer Komplementarität heran. Er zeigt diesbezüglich auf, dass es sich bei der für autopoietische Systeme charakteristischen Netz/BaumKomplementarität um ein typisches Beispiel adjunkter Funktoren handelt. Relationierungsmöglichkeiten zwischen Knotenpunkten eines Netzwerkes lassen sich in der Form sequentieller Bäume entfalten, diese wiederum lassen sich als Realisatoren einer abstrakten Netzwerkstruktur auf diese rückübertragen (siehe hierzu 1979, S. 91 ff.).

2.3 Konstruktiver Abbildungsbegriff Gewissermaßen analog zur Forderung eines konstruktiven Informationsbegriffes entwickelt Varela auf der Ebene der formalisierten Beschreibung autopoietischer Systeme einen konstruktiven Abbildungsbegriff. Er bietet also auch auf der Ebene der Reflexion der Beschreibung autopoietischer Systeme, getreu dem Komplementaritätsprinzip, eine gegenüber der funktionalen, kategorientheoretischen Darstellung konstruktive Fassung an (siehe zu einem konstruktiven Abbildungsbegriff ausführlich Weiss 2006, Kap. 3). Dass man komplementäre Verhältnisse mit Hilfe adjunkter Funktoren abstrakt beschreiben kann, sagt ja schließlich auch noch nichts über den dynamischen, selbstreferentiellen Distinktionsgenesevorgang selbst aus. „Previously (Kap. 10) we have used trees

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and nets to describe the connection properties of systems. But such a view does not take account of the operational capabilities of the components that are so interconnected. One step in this direction is to label each mode with a function that describes the operation of the associated component“ (1979, S. 175). Zur Modellierung dieses selbstreferentiellen Distinktionsgenesevorgangs rekurriert Varela auf die Spencer-Brownsche Distinktionslogik. Die Grundidee dieser liegt bekanntlich in einer konstruktiven, auf der Operation des Unterscheidens und Bezeichnens basierenden Einführung binärer Strukturen (gemeinhin als Boolesche Algebren bezeichnet). Im Kontext dieser distinktionsbasierten Einführung binärer Strukturen expliziert Spencer-Brown das Konzept selbstreferentieller, sogenannter Re-entry-Funktionen, die als in ihren eigenen Raum eintretende Funktionen charakterisiert werden (siehe hierzu Spencer-Brown 1969, Kap. 11). Re-entry-Funktionen lassen sich in diesem Zusammenhang auch als auf sich selbst operierende Operatoren konzeptualisieren (siehe hierzu Kauffman/Varela 1980). Die Idee auf sich selbst operierender Operatoren greift Varela nun zur Modellierung autopoietischer Distinktionsgenese auf (siehe hierzu Varela 1979, Kap. 12). Es kann an dieser Stelle nicht auf die Einzelheiten der äußerst detaillierten Varelaschen Ausführungen hinsichtlich Operator-Algebren eingegangen werden. Es sei hier lediglich folgender Aspekt herausgestellt: Re-entry-Funktionen der Form

gedeutet als selbstreferentielle Operatoren, verkörpern jenes konstruktive Komplement, welches Varela zur Komplettierung seines funktorialen Komplementaritätsbegriffes benötigt. Über die temporale Deutung von Re-entry-Funktionen als selbstreferentieller Strukturbildungsmuster der Form

ist eine konstruktive Darstellung des kontinuierlichen Übergangs von Operanden in Operatoren, Elementen in Relationen, Netzwerken in sequentielle Bäume innerhalb eines selbstreferentiellen Distinktionsgeneseprozesses erreicht (siehe hierzu auch Weiss 2006).

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Wie von Varela gefordert, sind innerhalb eines solchen selbstreferentiellen Strukturbildungsprozesses, Operatoren und Operanden, Elemente und Relationen, Netzwerke und sequentielle Bäume dynamisch integriert. Dasjenige, worauf operiert wird und dasjenige, was operiert, ist identisch beziehungsweise nur als Aspekte einer einheitlichen Operativität unterschieden. „Further precision of these ideas hinges upon the construction of appropriate calculi, where elements or operands are on the same descriptive level with operators or processes, and where the products of processes become effectively interrelated with the processes that generate them“ (1979, S. 192). Elemente gehen in Strukturen über, Strukturen realisieren fortwährend strukturbildende Elemente. Hiermit wird nun genau diejenige selbstreferentielle Dynamik auch auf der Ebene einer formalisierten Beschreibung abgebildet, welche Varela mit dem Begriff einer konstruktiven In-formation autopoietischer Systeme bezeichnet hat. Das Konzept selbstreferentieller Operatoren beziehungsweise Strukturbildungsmuster stellt eine konstruktive In-formation des Komplementaritätsbegriffes dar und bildet damit in (re-)konstruktiver Form genau dasjenige ab, was es vollzieht – die In-formation der Autopoiesis.

Literatur Hegel, G. W. F. (1990): Wissenschaft der Logik. Bd. 1, Hamburg: Meiner. Kauffman, Louis H. (1987): Self-reference and recursive forms, in: Journal of Social and Biological Structures 10, S. 53–72. Kauffman, Louis H. und Varela, Francisco J. (1980): Form Dynamics, in: Journal of Social and Biological Structures 3, S. 171–206. Maturana, Humberto und Varela, Francisco (1980): Autopoiesis and Cognition. The Realization of the Living, Dordrecht: Reidel. Pierce, Benjamin C. (1991): Basic Category Theory for Computer Scientists, Cambridge, MA: MIT Press. Scott, Dana (1980): Relating Theories of the λ-calculus, in: Hindley Seldin (Hrsg.): To H. B. Curry: Essays on Combinatory Logic, Lambda Calculus and Formalism, London: Academic Press, S. 403–450. Spencer-Brown, George (1969): Laws of Form, London: Allen & Unwin. Varela, Francisco J. (1979): Principles of Biological Autonomy, New York: North Holland. Weiss, Christina (2006): Form und In-formation. Zur Logik selbstreferentieller Strukturgenese, Würzburg: Königshausen & Neumann.

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Christina Weiss, Philosophin, Lehrbeauftragte am Institut für Philosophie der TU Darmstadt. Forschungsschwerpunkte: Hegels Begriff des Logischen, dialektische und konstruktive Logik, Logik und Phänomenologie, Spencer-Browns Laws of Form, Systemtheorie. Publikationen: Constructive Semantics: Meaning in between Phenomenology and Constructivism (2019); Form und In-formation: Zur Logik selbstreferentieller Strukturgenese (2006).

Komplexität durch Rauschen Über Henri Atlan, Entre le cristal et la fumée: Essai sur l’organisation du vivant (1979) Jacques Miermont Henri Atlan (* 1931) ist nicht nur Gelehrter, Mediziner und Biologe, sondern zudem Kybernetiker, Epistemologe und außerdem Ausleger jüdischen Denkens. Diese Vorzüge sind in dem dichten und vielgestaltigen Buch, als das Entre le cristal et la fumée – „Zwischen Kristall und Rauch“ – gesehen werden muss, zugegen; mit einigen bemerkenswerten Nuancen entwickeln sie sich in seinen späteren Arbeiten weiter.

1 Der Finalismus in der biologischen Evolutionstheorie und die Analogie des Computerprogramms Gerade indem sich das wissenschaftliche Verständnis der Evolutionsbiologie dagegen verwehrt, scheint es schwerlich dem Finalismus entgehen zu können: „Die Teleologie – die Argumentation anhand finaler Ursachen – ist wie eine Frau, ohne die der Biologe nicht leben kann, mit der er sich aber schämt, in der Öffentlichkeit gesehen zu werden“ (Ernst Brücke, Wiener Physiologe, 1864, zit. nach Atlan 1979, S. 14). Jacques Monod hat vorgeschlagen, das Konzept der Teleologie durch das Konzept der Teleonomie zu ersetzen. Obgleich ein teleonomischer Prozess kraft finaler Ursachen zu funktionieren scheint, ist er in Wirklichkeit von der Durchführung eines Programms bestimmt, das die Durchführung von Sequenzen aufeinander folgender Zustände festlegt. Dieses Programm, das an

J. Miermont (*)  Paris, Frankreich E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 D. Baecker (Hrsg.), Schlüsselwerke der Systemtheorie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30633-5_18

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die Charakteristika des Genoms jeder einzelnen Art gebunden ist, erscheint als das Ergebnis biologischer Evolution, indem es sich unter dem Druck natürlicher Selektion durch Anpassung und Wechselwirkung mit den Umweltbedingungen durch Mutationen verändert. Für Henri Atlan wird durch diese Erklärung das Problem nur verschoben (1979, S. 14). Der genetische Code scheint universal für alle Lebewesen zu sein, denn er erlaubt die Durchführung eines „Programms“ von Informationen und Befehlen, das insbesondere die zellulären Aktivitäten des Aufbaus der Proteine und der Architektur des Lebendigen lenkt. Dieses „zentrale Dogma“ der Molekularbiologie verwendet die Konzepte des Programms, des Codes, der Information und des Befehls als Metaphern, die aus Analogien mit der Funktionsweise des Computers hervorgegangen sind. Man wird feststellen, dass einer der radikalen Unterschiede zwischen dem Lebendigen und dem Computer darin besteht, dass im ersten Fall das Programm zugleich an der Organisation und der Konstruktion der Architektur der Organismen beteiligt ist, während das Programm im zweiten Fall lediglich Symbole ausführt und ordnet, ohne die Architektur des Computers zu verändern. Für Henri Atlan impliziert die Analogie eines Programms als Befehlssequenz die Hypothese, dass eine Zelle ihr eigenes Programm ist, das sich im Zuge ihrer Entwicklung auf dieselbe Art selbst gestaltet, wie sich ein Computer selbst gestalten würde. Die Frage der Kybernetik als Metapher führt dazu, völlig neue Fragen zu stellen. Diese bestehen nicht darin, das Lebendige auf eine physikalisch-chemische Welt zu reduzieren, sondern es ganz im Gegenteil „zu einer Biophysik der organisierten Systeme auszuweiten, die zugleich auf künstliche und natürliche Maschinen anwendbar ist“ (1979, S. 24). Damit gibt diese Metapher, wenn es sich um eine solche handelt, für Atlan eine zutiefst heuristische Kraft zu erkennen: Die Leistungen lebender Organismen zeigen sich als das Resultat besonderer kybernetischer Prinzipien, die mit den allgemeinen Prinzipien der selbstorganisierenden und selbstreproduzierenden Automaten, seien sie nun natürlich oder künstlich, im Zusammenhang stehen. Es ergeben sich daraus zwei Konsequenzen: • die Spezifik lebender Organismen hängt von Prinzipien der Organisation statt vom Wesen des Lebendigen ab; • wenn diese Prinzipien einmal bekannt sind, würde es möglich, sie auf künstliche Automaten anzuwenden, deren Leistungen dann also den Leistungen des Lebendigen ähnlich würden.

Komplexität durch Rauschen

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2 Die organisationelle Komplexität durch Rauschen Für Shannon (1949) dient die Wahrscheinlichkeit des Auftretens eines Zeichens in einer Nachricht dazu, die Menge an Information – ohne Bedeutung – zu messen, die von einem Zeichen übertragen wird: Je unwahrscheinlicher das Auftreten eines bestimmten Zeichens im Vorhinein ist, desto informativer ist sein Auftreten im Nachhinein. Umgekehrt gilt, dass, je sicherer das Auftreten eines Zeichens in einer Nachricht im Vorhinein ist, es umso weniger zusätzliche Information im Nachhinein beiträgt. Nun ist aber eine Nachricht ohne Bedeutung belanglos und beinahe inexistent. Die Shannonsche Untersuchung der Information ist von strikt operativer Natur. Wird sie auf das Verständnis natürlicher Prozesse angewendet, so blendet eine solche Sichtweise die Bedeutung, die der Beobachter mehr oder weniger in das beobachtete Phänomen hineinprojiziert, aus. Das Anliegen Atlans ist es, genau der Bedeutung der Nachrichten Rechnung zu tragen – sowohl für das beobachtete System, als auch für das des Beobachters und sogar für die Operation, die beide vereinigt. Hinzu kommt, dass der entscheidende Unterschied zwischen natürlichen und künstlichen Systemen die Art ist, wie sie es erreichen, das Rauschen zu integrieren. John von Neumann (1958) hatte betont, wie sehr lebende Organismen nicht nur in der Lage seien, Fehler zu kompensieren, sondern wie wesentlich sie sogar auf diese Fähigkeit angewiesen zu sein schienen. Computer dagegen scheinen aufgrund ihrer Konzeptionsprinzipien von vornherein fundamental darin begrenzt zu sein, auch nur den geringsten Reproduktionsfehler des geringsten digits zu bewältigen. Die Erforschung der Konstruktion künstlicher Rechenmaschinen basierte auf dem Versuch, sich Systeme vorzustellen, deren Funktionszuverlässigkeit durch die Redundanz ihrer Bestandteile – Funktionen, Komplexitätssteigerung und Entlokalisierung – größer wird, als die dieser Bestandteile selbst. Ein Kompromiss zwischen Determinismus und Indeterminismus, der es einem künstlichen System ab einem bestimmten Komplexitätsniveau erlaubt, Rauschen zu bewältigen, konnte so ins Auge gefasst werden. In der Natur sind die am meisten organisierten Objekte die Kristalle; ihre Struktur zeigt sich als vollkommen symmetrisch und periodisch. Der Mikrophysiker Erwin Schrödinger hat in seinem Aufsatz „What is Life“ (1945), der Watson und Crick bei ihrer Entdeckung der Doppelhelix der DNA beeinflusst hatte, die Hypothese vorgeschlagen, nach der die Struktur des Lebendigen auf der Anordnung aperiodischer Kristalle beruhe, ausgehend vom Prinzip der

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Ordnung von der Ordnung auszugehen. Heinz von Foerster hat diese Untersuchungen fortgesetzt, indem er das Prinzip gewissermaßen umgedreht hat und dasjenige der Ordnung ausgehend vom Rauschen vorschlug. Atlan nahm diese Formulierung wieder auf, ging dabei aber von einer anderen Konzeption von Ordnung aus: Statt diese als eine wiederholte Produktion zu begreifen, betrachtete er sie als Produktion von Unterschiedlichkeit, von Diversifikation von Komplexitätssteigerung. Von dort wird er so zu der Hypothese der Komplexität durch Rauschen gelangen, deren Messung gerade durch die Funktion von C. E. Shannon ermöglicht sein wird. Shannon hat ein Theorem entdeckt, das besagt, dass die Menge an Information in einer Nachricht, die auf einem durch Rauschen gestörten Kommunikationsweg übermittelt wird, im selben Maße abnimmt, wie die durch dieses Rauschen zwischen Eingang und Ausgang des Weges hervorgerufene Ambiguität. Es ist natürlich möglich, Fehlerkorrekturcodes zu verarbeiten, die eine gewisse Redundanz in die zu übermittelnden Nachrichten einführen. Aber diese Verminderung von Ambiguität kann höchstens zu einer Menge an übermittelter Information führen, die gleich der Menge der übertragenen Information ist; in keinem Falle kann sie höher sein. Atlan konnte zeigen, dass die durch dieses Theorem auferlegte Beschränkung nur für die Übermittlung von Information in einem einzigen Kanal zutreffend sei. Sie sei nicht mehr haltbar, sobald man hierarchische oder selbstorganisierte Systeme berücksichtige. Die Menge an Information eines Systems bemisst den Grad an Unwahrscheinlichkeit, dass die Zusammensetzung der verschiedenen Bestandteile ein zufälliges Ergebnis ist. Je größer die Anzahl verschiedener Elemente ist, aus denen sich ein System zusammengesetzt, desto größer ist die in ihm enthaltene Menge an Information; denn umso unwahrscheinlicher ist es dann, dass es sich durch zufälligen Zusammenbau seiner Bestandteile genauso bildet, wie es ist. In diesem Sinne ist das Maß der Komplexität eines Systems das Maß der Verschiedenartigkeit der Elemente, die es bilden. Das Theorem der algorithmischen Inkompressibilität von Chaitin formuliert, dass eine Folge von Symbolen umso komplexer ist, je weniger es einen algorithmischen Reproduktionsprozess dieser Folge gibt, der es erlaubt, den Reproduktionsprozess zu vereinfachen: Die Komplexität ist deshalb maximal, wenn es notwendig ist, jedes Symbol Term für Term noch einmal abzuschreiben. Die Ambiguität, die durch die Faktoren des Rauschens in den Kommunikationsweg im Inneren eines Systems eingeführt wird, hat eine unterschiedliche Bedeutung, je nachdem, ob man den Weg selbst oder das System als Ganzes betrachtet. In dem letzten Fall entspricht die Menge an Information, die scheinbar auf dem betrachteten Weg verloren gegangen ist, einer ­Verringerung der

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Redundanz im Gesamtsystem. Tatsächlich erlebt man, wenn man dies in einem hierarchischen System berücksichtigt, einen Wechsel der Symbole zwischen den verschiedenen Niveaus der Organisation mit: In der Zelltätigkeit führt die Kombination der vier Nucleotid-Basen in Tripels zu einer Synthese der zwanzig Aminosäuren sowie zu einer enormen makromolekularen Vielfalt; in der Sprache führt die Anordnung von zwanzig bis dreißig Phonemen zu mehreren zehntausend Monemen, deren syntaktische Anordnung zur Verwirklichung einer Unendlichkeit verschiedener Sätze führt; ebenso gestaltet der binäre Code der Informatik verschiedene Programmiersprachen, die es erlauben, dass ein Benutzer auf seinem Computerbildschirm eine außergewöhnliche Vielfalt von ihm direkt verständlichen symbolischen Operationen verarbeitet. Für Atlan ist der Wechsel des Alphabets mit Erhöhung der Anzahl der unterscheidenden Zeichen beim Übergang von einem Untersystem zu einem anderen mittels eines Kommunikationsweges zwischen den beiden eine hinreichende Bedingung dafür, dass die Ambiguitätsautonomie, die Quelle der Komplexitätssteigerung, die zerstörerische Ambiguität kompensiert (1979, S. 49; vgl. Atlan 1972). Das Phänomen der Selbstorganisation wird also als ein Prozess der Vergrößerung von zugleich struktureller und funktioneller Komplexität verstanden, das aus der Wiederherstellung von Ordnung folgt, an deren Stelle die Wiederherstellung einer größeren Vielfalt und einer niedrigeren Redundanz auf höherem Niveau tritt. Der Autor hat angestrebt, die Zusammenhänge zwischen der Informationsmenge H einer Nachricht in Abhängigkeit von der maximalen Informationsmenge Hmax, die keinerlei Redundanz aufweist, und dem Redundanzgrad R mathematisch zu formulieren. Die Variationskurve der Informationsmenge H verändert sich im Zeitverlauf: Zu Beginn steigt sie an, erreicht zu einer Zeit tm ein Maximum und nimmt danach ab. H. Atlan bemüht sich, diesen Formalismus auf den Wachstums- und Reifungsprozess, zuerst mit adaptivem Lernen, dann mit Altern und Tod des lebenden Mechanismus, anzuwenden. Atlan reinterpretiert das von Heinz von Foerster (1960) vorgeschlagene Modell, nach dem sich magnetisierte Würfel, wenn sie geschüttelt werden, in zunehmend geordneten Formen anordnen. Obwohl man den Mechanismus des Zustandekommens von Formen, die durch die Magnetisierung von Würfeln erreicht werden, nicht kennt, verwandelt sich die ungeordnete Anhäufung in unvorhersagbarer Weise in eine geordnete Form, die komplexer ist als die der ursprünglichen Anhäufung (1979, S. 85). In hierarchischen Systemen entspricht das Prinzip der Komplexität durch Rauschen einer Erhöhung der Komplexität während des Übergangs von einem niedrigeren zu einem höheren Zustand. Was in dem Anfangszustand wie Rauschen erscheint, wird in dem globaleren Zustand zu einer komplexeren Information. Aber zugleich gilt, dass das Wissen, das der

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Beobachter über den Übergang von einem Zustand zum anderen hat, einem Informationsdefizit bezüglich der Funktionsweise der niedrigeren Zustände entspricht. Unzugänglich ist diejenige Information, die das System über sich selbst, über seine Elementarzustände und deren Gestaltung auf höherem Niveau hat. Die Bedeutung der Information ist die Wirkung, den das Erhalten dieser Information auf den Empfänger hat. Die Bedeutung einer genetischen Information hinsichtlich des Systems der Proteinsynthese ist so die Wirkung, den das Erhalten der Codons-Signale auf die Struktur der Proteine und aufgrund dessen auf deren Funktionszustand im zellulären Stoffwechsel hat. Ebenso sei die Bedeutung einer Information, die von unserem kognitiven System wahrgenommen wird, die Wirkung des Erhaltens der Information auf den Zustand oder die Erzeugungen dieses Systems. Daraus resultierende Kenntnisse könnten so gerade wegen des Umstandes ermöglicht werden, dass das darunterliegende System der Informationsverarbeitung unserem Bewusstsein unzugänglich bleibt (1979, S. 86–87). Krisensituationen in menschlichen Systemen seien nicht mit Auswirkungen von Rauschen auf die Organisation verknüpft, sondern mit einer Produktion von Rauschen durch die Information selbst. Im Inneren des Systems werden die verschiedenen Organisationsniveaus bis zu dem Punkt mit Information gesättigt, an dem sie sich nicht mehr verstehen können. In Krisensituationen funktioniert dieses Prinzip der Komplexität durch Rauschen gewissermaßen umgekehrt. Die in einem Zustand produzierte Information wird in einem anderen Zustand als Rauschen wahrgenommen, ohne dass eine Möglichkeit der Dekodierung oder der Transkodierung bestünde. Atlan schlägt daher ausgehend vom Prinzip der Komplexität durch Rauschen eine kybernetische Erklärung der Psychoanalyse vor: Ob es sich nun um Todestrieb, um unbewusst entstehenden Sinn, wo bewusst nur Rauschen wahrgenommen wird, oder um die sich in einer symbolischen Ordnung selbsterzeugende sinnvolle Reihe geht – jedes Mal stellt man fest, dass das auf einem Organisationsniveau beobachtbare Rauschen auf einem anderen Niveau Sinn erzeugt (1994, S. 94–97).

3 Deterministische und quasi-deterministische Repräsentationen Indem die Wahrscheinlichkeitsmethoden der Informationstheorie und der statistischen Thermodynamik die Abbildung natürlicher Systeme, über die in den Details unvollständiges Wissen vorliegt, erlauben, wird es zunehmend

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möglich, deterministische Methoden anzuwenden, die das Detail der physikalisch-chemischen Wechselwirkungen zu fassen erlauben. Atlan legt eine Serie von sehr technischen Arbeiten vor, über die Kopplungen von Reaktionen mit Transporten (1979, S. 101), über die Netze chemischer Strahlungen, über Phänomene der „Ordnung durch Fluktuationen“ (Ilya Prigogine; vgl. Atlan 1979, S. 104–107), die Theorie der dynamischen Systeme – in deren Bereich die Bifurkations- und Katastrophentheorien – (René Thom; vgl. Atlan 1979, S. 219–229) und die Thermodynamik in Netzen (S. 107–128). Er wünscht sich eine Synthese von deterministischer Theorie und Wahrscheinlichkeitstheorie der Selbstorganisation (S. 128–130).

4 Komplexitätssteigernde Selbstorganisation des Bewusstseins und des Willens Ausgehend von diesem Instrumentarium erweitert Atlan sein Forschungsfeld, indem er die Prozesse des Bewusstseins und der Triebe in selbstorganisierenden Systemen, die Konstruktion der zeitlichen Einheit, die es erlaubt, das Vergangene und das Zukünftige zu verbinden, und die Fragen der zeitlichen Umkehrbarkeit und Unumkehrbarkeit in Physik, Biologie und Philosophie neu betrachtet (Atlan 1986, 2002; Fogelman 1991). Die Theorie der vom Rauschen ausgehenden komplexitätssteigernden Selbstorganisation erlaubt es, der Ansicht zu sein, dass das unmittelbar Gegebene, das wir durch unsere Autonomie als bewusstseinsbegabte und mit einem Willen ausgestattete Wesen wahrnehmen, weder pure Täuschungen, noch unbedingte Wirklichkeiten sind, sondern eine Realität. Atlan stellt die Hypothese der zwei selbstorganisierten Systeme auf: Wenn die Prozesse der Speicherung und der Vergegenwärtigung der Vergangenheit für die Autonomie unseres Bewusstseins essenziell erscheinen, so scheinen die unbewusste Selbstorganisation gemeinsam mit der Schaffung von Komplexität entscheidend für die Mechanismen des Willens, die sich auf die Zukunft richten. Für Atlan ist es die unmittelbare und quasi automatische Verbindung von unserem Bewusstsein und unserem Willen, der das Gefühl von bewusstem Willen erzeugt, das aber illusorisch ist. Einerseits sind die Dinge, die uns begegnen, selten diejenigen, die wir haben wollten. Andererseits betrifft das Bewusstsein vor allem die Vergangenheit. Es sind die Wechselwirkungen zwischen dem Gedächtnis, das die Vergangenheit präsent macht, sowie der Fähigkeit der Selbstorganisation, die die Zukunft konstruiert, die jene Hybrid- und Sekundärphänomene erzeugen, die einerseits freiwillig bewusst sind und andererseits das Unbewusstsein offenbaren (1979, S. 138–141).

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Diese Selbstorganisationsprozesse erfordern immer entwickeltere und leistungsfähigere subkortikale Erinnerungsleistungen, je mehr es sich um komplexere Organismen handelt. Diese Speicherungen erfolgen hauptsächlich unbewusst, und sie sind umso wirksamer, je weniger sie das Bewusstsein erreichen. Die unbewussten Phänomene (das von Freud beschriebene Unbewusste), die Gegenstand einer Verdrängung durch bewusste Streichung sind, wären so nichts weiter als ein Teil der Gesamtheit der unbewussten Speicherungen (diese Letzteren gehen bis zu den Reaktionen des Immunsystems auf Antigenangriffe des Organismus). Wenn die Schichten des unbewussten Gedächtnisses das Feld des Bewusstseins überschwemmen, wie etwa bei schizophrenen Störungen, sind die Selbstorganisationsprozesse gelähmt oder blockiert. Das menschliche Delirium hinge weniger mit der Projektion des Eingebildeten auf das Reale zusammen, was in der normalen kognitiven Aktivität des Menschen ebenso vorkommt wie im wissenschaftlichen Vorgehen, sondern mit Blockaden der Selbsterhaltung, die das Wiedererkennen von Ereignissen oder neuen Phänomenen verhindert und durch Feedback zulässt, dass den aus der Offenlegung des unbewussten Gedächtnisses hervorgegangenen Ansichten eine andere Richtung gegeben wird (1979, S. 147). Die Deliriumsfähigkeit des Homo Sapiens sei an die beachtliche Ausweitung der Gedächtniskapazitäten durch Schaffung von Redundanz präexistenter Strukturen gebunden, von denen auch die symbolische Sprache ein Ausdruck ist. Diese Letztere sei so ein mächtiges Werkzeug der Speicherung, der Bewusstwerdung, der Neigung zur Projektion des Imaginären auf das Reale und des möglicherweise delirierenden Ausdrucks.

5 Die Kritik von René Thom Die Frage, ob die Theorie der selbstorganisationellen Komplexitätssteigerung durch das Rauschen zur Erklärung der belebten Welt ausreichend ist, war Gegenstand teilweise lebhafter und leidenschaftlicher Kontroversen, deren bedeutsamste von dem Mathematiker René Thom begonnen wurde. Zufall und Rauschen allein schienen schwerlich in der Lage zu sein, den emergenten Eigenschaften, die auf jedem Organisationsniveau komplexer Systeme plötzlich auftauchen, Rechnung zu tragen. Die Übergangsunordnung eines Systems kann natürlich zu einer Umgestaltung seiner Untersysteme nach einem zu einem bestimmten Zeitpunkt unvorhersehbaren Aufbau führen. Aber diese Anordnungen können nicht anders ermöglicht werden als aufgrund der strukturellen, formellen und interaktionellen Eigenschaften der Subsysteme. Mehr noch, hat man einmal das neue System berücksichtigt, so scheinen seine Eigenschaften nicht mehr auf

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die formellen Möglichkeiten der Untersysteme reduzierbar zu sein, die sich bei seiner Entstehung aktualisiert haben. Eine solche Frage betrifft die Morphogenese mineralischer und organischer Systeme, welche nach topologischen Überlegungen verlangt, die dem Mechanismus entgehen. René Thom betont, dass in Systemen, die verschiedene Hierarchiestufen von Organisation aufweisen, die Frage der Ordnung relativ für ein bestimmtes Organisationsniveau gilt und nicht als absolut betrachtet werden sollte. Die in molekularer Hinsicht perfekte Unordnung kann in makroskopischer Hinsicht als perfekte Ordnung gesehen werden, weil alle Punkte des Systems dieselben beobachtbaren Eigenschaften haben. „Es ist diese Ambivalenz der Ordnungsvorstellung, auf die Atlan anspielt, um sein Prinzip der ‚Ordnung durch Rauschen‘ zu rechtfertigen. Es handelt sich da um eine richtige Idee, aber in ihrer Fruchtbarkeit, eine spezifische Morphogenese zu erklären, scheint sie doch einigermaßen beschränkt zu sein …“ (1990, S. 72).

6 Henri Atlan kritisiert durch Henri Atlan In Les étincelles de hasard, Bd. 1, Connaissance spermatique (1999, S. 40–42), betrachtet Atlan die Informatik-Metaphern der Kybernetik noch einmal neu, indem er erwägt, dass ihre wörtliche Verwendung dazu führt, einen Vitalismus beizubehalten, den die zeitgenössische Wissenschaft seiner Meinung nach endgültig beseitigt habe. Die Physiologie, die Embryologie und die Genetik haben eine physikalisch-chemische Wissenschaft geschaffen, die von vitalistischen Prinzipien völlig frei ist, wobei die verwendeten Konzepte (Homeostase, inneres Milieu, innere Ausscheidungen in der Physiologie von Claude Bernard; des weiteren Code, Information, Transkription, Übersetzung, Programm, Lektüre, Zeichensetzung, Sinn und Nicht-Sinn in der Molekularbiologie) die Illusion einer Sprache vom Leben sowie einer Logik des Lebendigen beibehalten haben, und dabei eine aristotelische oder hegelianische Vorahnung einer spezifischen Identität des Lebenskonzeptes bewahren. Entsprechend wurden François Jacob, Georges Canguilhem, Konrad Lorenz und Karl Popper kritisiert. Und im Namen des physikalisch-chemischen Reduktionismus und des Prinzips der Ordnung aus Rauschen, führt Atlan die Vorstellung der spontanen Schöpfung, die von Pasteur aufgegeben worden war, wieder zu ihrem Recht, indem er die Ansicht vertrat, dass diese die einzige Möglichkeit sei, den Vitalismus, also den vollkommenen Bruch zwischen dem Belebten und dem Unbelebten, zu vermeiden (Atlan & Bousquet 1994, S. 36). Die Frage ist: Hätte Pasteur die Aktivität der Mikroben im Namen solcher Prinzipien entdecken können?

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Man sieht, dass Atlan, indem er die Ansicht vertritt, dass die Frage des Sinns von einem wissenschaftlichen Standpunkt her (abgesehen von streng physikalisch-chemischen Überlegungen) inhaltsleer ist, die Absicht seines Werkes Entre le cristal et la fumée zugleich radikalisiert und kritisiert. „Tatsächlich hat das, was wir Nachricht oder genetische Sprache nennen, außerhalb der molekularen Strukturen, die wir beobachten, keinerlei Sinn: Sie sind keine Signifikanten, weil sie nichts außer sich selbst bedeuten. Die Natur der Organismen besagt nicht mehr als die anderer chemischer Körper. Die Molekularbiologie ist in Wirklichkeit nichts weiter als eine Physik-Chemie der Makromoleküle, der die Metaphern der Informatik globales Beschreiben erlauben, wobei sie die Mechanismen, durch welche die Funktionen, die zu einem Organismus gehören (Phänotyp), ausgehend von den Strukturen und dem Statischen der Makromoleküle (Genotyp) hergestellt werden, ignorieren“ (1999, S. 42). Man könnte zwei Punkte anmerken: Einerseits sind die Vorstellungen des Genotyps und des Phänotyps selbst idealistische Vorstellungen, die zum Vitalismus führen können; und andererseits müssten aus dieser Perspektive alle Humanwissenschaften, außer dem materialistischen und eliministischen Kognitivismus (der ein Behaviorismus des Geistes ist), auf ein Spiel der Makromoleküle reduziert werden können. Es handelt sich hier selbstverständlich um eine mögliche Alternative, aber diese Möglichkeit ist ebenso eine Glaubensfrage, wie die alternativen Möglichkeiten. Hinzu kommt, dass sie im Widerspruch mit dem Werk zu stehen scheint, das der frühe Atlan mit seiner Informationstheorie der Biologie verwirklicht hatte. Und warum sollte man bei den Makromolekülen verharren, statt auch die zellulären und höheren Ebenen als Selbstorganisationen emergenter Formen zu betrachten? Schließlich und endlich: Wie ist die Aktivität der zentralen Stimuli zu erklären, die eine ganze Serie von instinktiven Aktivitäten in der tierischen und menschlichen Welt auslösen, so wie auch die Prägnanz der Symbolbewegung, die sich in den phylogenetischen und kulturgenetischen Ritualisierungen manifestieren (Miermont 1993)? So kann man schwerlich darauf verzichten, auf eine Naturgeschichte des Wissens entlang der komparativen Studie der Formen des Verhaltens und des Erlernens einzugehen, die in der Evolution der Arten beobachtet werden kann (Lorenz 1973). Die Auswirkungen der Morphogenese des Verhaltens und des Erkenntnisvermögens sind nicht auf das mechanische Aufeinanderstoßen von Makromolekülen zu reduzieren. Und auch wenn eine Information niemals unabhängig von Stoff- und Energieaustausch existiert, so entsteht sie aus einer formellen Differenz, die an den Energiehaushalt gebunden ist und von den Enzymen während der Katalyse realisiert wird.

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Diese „ästhetische“ Eleganz der Morphogenese des Lebenden erkennt Henri Atlan schließlich nur darin an, dass er die Fünfte Symphonie von Beethoven oder die Symphonie Fantastique von Berlioz heranzieht, um zu betonen, dass derartige Einzigartigkeiten von der wissenschaftlichen Methode nicht fassbar sind (Atlan/Bousquet 1994, S. 52). Die Kluft zwischen der ästhetischen Ausführung des Spinnennetzes oder des Pfauenrads und den künstlerischen Zeugnissen der Menschheit scheint unermesslich, wenn man sich, abgesehen vom biologischen Mechanismus, an diesem Punkt jegliche wissenschaftliche Nachforschung verbietet, zu der auch die theoretische Erforschung der Evolution der lebenden Formen und ihres Verhaltens gehört. Von noch größerer Bedeutung ist diese Kluft aus der aktuellen Perspektive Atlans, weil er sich ja im Namen eines angenommenen „Vitalismus“ der Ethologie freiwillig nicht mit den vergleichenden Studien des tierischen und menschlichen Verhaltens befasst, sich aber dennoch auf die Darwinsche Evolutionstheorie beruft. Dieses Verbot, das sich Atlan auferlegt, scheint mehr an eine „mystische“ Entscheidung als an wissenschaftliche Anforderungen gebunden zu sein. Diese Entscheidung besteht darin, zu überlegen, dass symbolisches Handeln vor allem in den Bereich des Mystischen fällt. Tatsächlich überlegt er, dass „die Vorstellung selbst des Wortes oder der offenbarten Heiligen Schrift nur verstanden werden kann, wenn sie atheistisch verstanden wird, das heißt, wenn ihr Inhalt von einem vorab vorhandenen Wissen über die Persönlichkeit des Autors und dessen, was zu tun oder zu sagen er ‚gewollt‘ haben mag, als er eine Natur oder eine Heilige Schrift geschaffen hatte, distanziert wird“ (2003, S. 9). Auch wenn diese Position vollkommen achtbar und viel diskutiert ist – könnte sie nicht die Tür für einen aufgeklärten Agnostizismus, ja sogar für monotheistische und polytheistische Glaubensüberzeugungen, offen lassen, die nicht weniger mit den Fragen, die von dem aktuellen Zustand der Wissenschaften unbeantwortet geblieben sind, kompatibel sind (Miermont 1993, 1995)? Atlan nährt sich so aus zwei radikalen Entscheidungen: Was die Epistemologie angeht, ist er Anhänger des physikalisch-chemischen Reduktionismus; was das Mythische angeht, hängt er der atheistischen Fassung der jüdischen Tradition an. Die Fruchtbarkeit seines Werkes taucht plötzlich aus dieser „Zwiesprache von Wissenschaft und Mythos“ auf, in dem sich der freie Wille in eine freie Notwendigkeit verwandelt, unterworfen unter die komplexitätssteigernden Zufälligkeiten des Determinismus, des Schicksals und des Rauschens. Aus dem Französischen von Anna Stöber

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Literatur Atlan, Henri (1972): L’Organisation biologique et la Théorie de l’information, Paris: Hermann. Atlan, Henri (1979): Entre le cristal et la fumée: Essai sur l’organisation du vivant, Paris: Seuil. Atlan, Henri (1986): À tort et à raison: Intercritique de la science et du mythe, Paris: Seuil. Atlan, Henri (1999a): La fin du „tout génétique“? Vers de nouveaux paradigmes en biologie, Paris: INRA Éditions. Atlan, Henri (1999b): Les étincelles de hasard. Bd. 1: Connaissance spermatique, Paris: Seuil. Atlan, Henri (2002): La science est-elle inhumaine? Essai sur la libre nécessité, Paris: Bayard. Atlan, Henri (2003): Les étincelles de hasard. Bd. 2: Athéisme de l’écriture, Paris: Seuil. Atlan, Henri & Bousquet, Catherine (1994): Questions de vie: Entre le savoir et l’opinion, Paris: Seuil. Fogelman, Soulié Françoise (Hrsg.) (1991): Les théories de la complexité: Autour de l’œuvre d’Henri Atlan. Colloque de Cerisy, Paris: Seuil. Lorenz, Konrad (1973): Die Rückseite des Spiegels, München: Pieper. Miermont, Jacques (1993): Écologie des liens. Paris: ESF. Miermont, Jacques (1995): L’Homme autonome, Paris: Hermès. Schrödinger, Erwin (1945): What is Life? Cambridge: Cambridge University Press. Shannon, Claude E. (1949): The Mathematical Theory of Communication, Board of Trustees of the University of Illinois. Thom, René (1990): Halte au hasard, silence au bruit, in: Le débat: La querelle du déterminisme, Paris: Gallimard, S. 61–78. von Foerster, Heinz (1960): On Self-Organizing Systems and their Environments, in: M. C. Yovits und S. Cameron (Hrsg.), Self-Organizing Systems, London: Pergamon Press, S. 31–50. von Neumann, John (1958): The Computer and the Brain, Reprint New Haven & London: Yale University Press, 1979.

Jacques Miermont, Psychiater, Koordinator der Fédération de Services en Thérapie Familiale, Centre Hospitalier Paul Guiraud (Villejuif, France), Präsident der Société Française de thérapie familiale. Forschungsschwerpunkte: Psychosen und Familientherapie, Verbindungen zwischen Kommunikation, Kognition und Autonomie, Ökoethoanthropologie. Veröffentlichungen: Psychothérapies contemporaines, Paris: l’Harmattan, 2000; Les ruses de l’esprit, ou les arcanes de la complexité, Paris: l’Harmattan, 2000; Dictionnaire des thérapies familiales, 2. Aufl., Paris: Payot, 2001; Psychiatrie et thérapie familiale, Paris: Doin, 2004; Ecologie des liens, Paris: Editions l’Harmattan, 2005.

Das Prinzip der Autopoiesis Über Humberto R. Maturana und Francisco J. Varela, Autopoiesis and Cognition (1980) Wolfgang Krohn und Holk Cruse Es begann mit kleinen Unstimmigkeiten in experimentellen Befunden und führte zu einer neuen Theorie des Lebens. Diese ist wohl die einzige gegenwärtige Theorie, die die Gratwanderung zwischen reduktionistischen Erklärungen und holistischen Postulaten bewältigt. Während der Reduktionismus (vorschnell) die Spezifität des Lebendigen durch die Addition von chemischen Reaktionsmodellen für erklärt hält, sucht die holistische Tradition das Leben durch eine basale oder emergente Eigenschaft zu charakterisieren, die sich jedoch der experimentellen Operationalisierung entzieht. Der schmale aber verheißungsvolle Grat zwischen den Alternativen ist die Theorie der selbstreferentiellen Autopoiesis, die in den 1970er Jahren entstand und durchaus als ein Forschungsprogramm für das 21. Jahrhundert bezeichnet werden kann. Die schöne Geschichte mit den kleinen experimentellen Unstimmigkeiten erzählt der chilenische Biologe Humberto R. Maturana (* 1928) in der Einleitung der Ausgabe von 1980, die sein erster Versuch einer autobiographischen (oder autopoietischen) Darstellung seines Lebenswerkes ist. Es ging um Forschungen zur Farbwahrnehmung bei Tauben. Maturana und seinen Kollegen Samy Frenk und Gabriela Uribe gelang es nicht, eine zufriedenstellend genaue Korrelation zwischen den Wirkungen einer Farbquelle auf die Netzhaut (die retinalen Ganglienzellen) und den physischen Eigenschaften der Farbquellen (den Spektralfarben) zu finden. Die Versuchsanordnung entsprach dem herrschenden Paradigma

W. Krohn (*) · H. Cruse  Bielefeld, Deutschland E-Mail: [email protected] H. Cruse E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 D. Baecker (Hrsg.), Schlüsselwerke der Systemtheorie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30633-5_19

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der sinnlichen Wahrnehmung: Die Nervenenden der Sinnesapparaturen nehmen selektiv Information von Objekten auf, Nervenbahnen übertragen sie in die Gehirnzellen, die sie verarbeiten, um daraus Impulse für die motorische Reaktion zu gewinnen. Dieses Paradigma war einfach und klar; man schien nur die nötige Zeit zu brauchen, um das weite Feld seiner empirischen Einlösungen zu bearbeiten. Normalerweise werden schwierige Befunde dabei als nicht aussagekräftig beiseite gelegt – oder sie führen zu völlig neuen Sichtweisen, einem Paradigmenwechsel. Der revolutionäre Funke, der in der Arbeitsgruppe Frenk/Maturane/ Uribe zündete, bestand in dem Versuch, nicht länger von der Korrelation zwischen physischer Farbquelle und Reaktion auf der Retina auszugehen, sondern von einer ganz anderen Korrelation, nämlich der zwischen Retina und der subjektiven Farbwahrnehmung, für deren Aktivierung die externe Quelle nur eine Art Auslöser ist. Die Struktur der subjektiven Farbwahrnehmung stabilisiert das Sehen von Farben unter verschiedensten objektiven Bedingungen bis hin zu deutlichen Abweichungen zwischen wahrgenommener und ‚gesendeter‘ Farbe in sogenannten Täuschungsexperimenten. Nach Maturanas biographischer Skizze ging das Spiel auf: 1968 kam es zur „Veröffentlichung“ eines Artikels, der die experimentellen Befunde in dem neuen Modell interpretierte: „That was a very fundamental result that we published in a very unknown article“ (S. xv). Zwei Jahre später lag eine komplett ausgearbeitete neue Biologie der Kognition (1970) vor, die sich nicht scheute, auch die Kategorien des Lebens, der Umwelt und der Evolution einzubeziehen. Der revolutionäre Gedanke hatte nicht nur die Unstimmigkeiten in den Wahrnehmungsexperimenten an Tauben beseitigt, sondern zur Formulierung eines neuen Paradigmas geführt, das heute bekannt ist als die Theorie der autopoietischen Systeme. Der Name Autopoiesis findet sich allerdings erst in der drei Jahre später mit Francisco J. Varela (1946–2001) verfassten Arbeit, die 1980 in englischer Fassung unter diesem Titel erschien (ursprünglich spanisch: De Maquinas y Seres Vivos, Über Maschinen und Lebewesen). 1970 spricht Maturana noch von zirkulärer und selbstreferentieller Organisation lebender Systeme. Darin wird das „fundamentale Resultat“, dass sich die Farbwahrnehmung ausschließlich der Koordination zwischen Nervenarealen im Gehirn und solchen auf der Retina verdankt, zu dem theoretischen Kerngedanken ausgebaut, dass das Nervensystem ein geschlossenes System ist, das nicht in der Lage ist, Information aus der Wirklichkeit aufzunehmen, sondern bereit ist, aus gegebenem Anlass seine Wirklichkeit zu entwerfen. In diesem Paradigma wird das, was als objektive Erfahrung gilt, zu einer subjektiven oder systemischen Konstruktion. – In dieser Formulierung verliert das Paradigma seine Harmlosigkeit und wird zu einer Herausforderung für tradierte Denkmuster der Biologie und der Erkenntnistheorie. Der Herausforderung war sich Maturana bewusst: „when I wrote the essay I decided not to make any

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concession to existing notions … even if this seemed to make the text particularly obscure“, schrieb er in der Einleitung von 1980 (S. xviii). Die Biologie der Kognition soll nun in ihren Grundzügen vorgestellt werden. Der für empirische Forschung ganz ungewöhnliche Ausgangspunkt ist die epistemologische Frage nach dem Status des forschenden Beobachters. Er ist wie sein Objekt ein lebendes kognitives System. Was immer er über die Kognition lebender System zu sagen hat, handelt von ihm selbst. In direkter Konsequenz bedeutet dies für die vermeintlich objektive Erkenntnis der Wissenschaft, dass sie niemals mehr als der Wirklichkeitsentwurf sein kann, der der subjektiven Kognition und den Wahrnehmungsbildern des beobachtenden Wissenschaftlers entspringt. In indirekter Konsequenz folgt, dass auch die Kommunikation zwischen Autor und Leser darauf beruht, dass das kommunizierte Wissen autonom im Leser generiert wird, wozu der Text nur Anreiz sein kann. Was beobachtet der Beobachter des Kognitiven? Er beobachtet zwei Dinge gleichzeitig, und dies ist die Quelle der Verwirrungen in der ‚üblichen‘ Biologie: zum einen die Entität des lebenden Systems, zum andern das in einem Medium überlebende System. Für Maturana ist es alles entscheidend, diese Differenz begriff‌lich zu berücksichtigen. Während die Beobachtung der Beziehungen zwischen System und Medium zu einer funktionalistischen Sprache führt, in der es um Anpassung, Lernen und Kontrolle geht, führt die Systembeobachtung auf die Analyse der inneren zirkulär organisierten Prozesse, die die Einheit des Organismus formen. Alle Komponenten des Systems müssen ständig reproduziert werden einschließlich derjenigen, die externe Überraschungen und interne Kopierfehler registrieren. In einer für Maturana typischen kondensierten Sprechweise heißt es: „Die zirkuläre Organisation, in der die sie definierenden Komponenten diejenigen sind, deren Synthese oder Aufrechterhaltung sie (i. e. die Organisation) so sichert, dass das Produkt ihres (i. e. der Komponenten) Funktionierens derselbe funktionierende Organismus ist, der sie produziert, ist der lebende Organismus“ (S. 9). Wenn man sorgfältig liest, erkennt man, warum der Begriff der „Selbstherstellung“ (Autopoiesis) so passend ist. Der Begriff „Funktion“ ist hier allein dafür verwendet, die innere Strukturdynamik auf die Aufrechterhaltung der Einheit des Lebewesens, also seine Organisation zu beziehen. Das Schlüsselproblem ist nun, dass alle Wechselwirkungen, die der Beobachter zwischen System und Medium beobachtet, vollständig in die Sprache dieser inneren Strukturdynamik übersetzt werden müssen. Die System-Medium Beobachtung des externen Beobachters ist durchaus notwendig, um zu registrieren, dass ein System Energie und Stoffe aufnimmt, Gegenstände wahrnimmt und behandelt, gestische Äußerungen vollführt und bemerkt. Jedoch in der Systembeobachtung muss jeder dieser Vorgänge vollständig rekonstruiert werden in der Sprache der inneren zirkulären Geschlossen-

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heit des Systems. Diese Sprache muss so aufgebaut sein, dass der Beobachter ebenso wenig wie das beobachtete System Bezug nimmt auf objektive Gegebenheiten. Das beobachtete System kann dies gar nicht, da sein Bezug immer bei der Irritation der Sinneszellen endet; seine Sicht der Dinge ist zwangsläufig blind. Der Beobachter weiß zwar durch die System-Umwelt Beobachtung, was er erklären will (die Wahrnehmung eines Objekts oder eine Handlung gegenüber einem Objekt), darf in seiner Erklärungsstrategie jedoch – zunächst – auch nur die „Sicht“ des Systems benützen, die in nichts anderem als dem selbstreferentiellen Prozedieren der eigenen Strukturen besteht. Konzentriert man sich ganz darauf, alles Geschehen aus der Autopoiesis eines Systems heraus zu betrachten, dann ergeben sich Konsequenzen für die Beobachtersprache. Z. B. operiert ein System immer nur in der Gegenwart (S. 24). Es kennt keine Vergangenheit und keine Zukunft. Alles, was für ein System überhaupt geschehen kann, ist die Gesamtklasse der jetzt ablaufenden Zustandsänderungen. Wenn der Beobachter sein Privileg nutzt, nichtgegenwärtige Systemzustände mit dem gegenwärtigen zu verknüpfen, kann er beispielsweise die Begriffe des Lernens (aus Erfahrung) oder des Planens (einer zukünftigen Handlung) einführen; jedoch ein System kann beides nicht in dem Sinne, dass es einen bereits vergangenen Zustand mit einem gegenwärtigen oder noch zukünftigen verknüpft. Lernen und Planen kann daher nur in der Sprache des Beobachters auftreten, in der er vergangene und zukünftige Sequenzen der Systementwicklung über seine Zeitmodi zusammenführt. Das System besitzt auch kein Gedächtnis, auf das es nach Bedarf zugreifen könnte. Die Beobachtung, dass sich ein System erinnert, um sein Verhalten einer Situation anzupassen, ist wiederum nur in der Sprache des Beobachters zu formulieren. In der neurophysiologischen Operationsweise kann diese Funktion des Erinnerns nicht auftreten, da es noch nicht einmal eine Möglichkeit gibt, eine vergangene Situation mit einer gegenwärtigen zu vergleichen. Ein System kann nur die in seine rekursive Reproduktion aufgenommene Reizverarbeitung aus einer vergangenen Situation bei der Verarbeitung eines gegenwärtigen Reizes einsetzen. Der Grundgedanke hinter der Aufkündigung unserer Sprechgewohnheiten ist letztlich einfach. Allgemein gelten zwei Annahmen: a) Alles was in einem System geschieht, geschieht dadurch, dass in einer unendlichen (genauer: lebenslangen) Schleife alle Zustandsänderungen des Systems Input der nächsten Zustandsänderungen sind. Diese rekursive Prozessdynamik ist die notwendige Bedingung für die Aufrechterhaltung der Existenz des Systems. Ist diese gegeben, kann das System durch Reaktion auf Irritationen seinen Strukturwandel betreiben (Prinzip der Selbstreferenz). b) Nichts kann in einem System geschehen, das nicht eingebettet ist und Anteil hat an der aktualen Reproduktion des Systems (Prinzip

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der Kontiguität). Für die Forschung sind durch dieses Paradigma keine Aufgaben gelöst, aber alle neu formuliert: Es fordert den Beobachter auf, alle Themen, die ihn am lebenden System interessieren, als interne Strukturbildung des Systems begriff‌lich zu rekonstruieren und empirisch zu erfassen. Genau diese begriffliche Rekonstruktion führt Maturana dann vor – bis endlich der dieses System beobachtende und kommunizierende biologische Forscher am Ende des Essays über die Biologie der Kognition selbst erscheint. Die Schritte der Rekonstruktion umfassen die Themen „Repräsentation“, „Beschreibung“, „Denken“, „natürliche Sprache“, „Gedächtnis und Lernen“, „der Beobachter“. So wird am Ende die eingeführte basale Differenz zwischen der Funktionsweise des Systems, das seine Umwelt nicht beobachten kann, und der Funktionsweise seines Beobachters, der das System in seiner Umwelt/seinem Medium beobachtet, überbrückt. Die Differenz kann und darf allerdings nicht aufgelöst werden, da die Sichtweisen (oder wie Maturana sagt: die Interaktionsdomänen) eines operierenden Systems und die ein solches System in seinem Medium beobachtenden Systems komplementär zueinander sind. Die Reflexivität des Menschen erlaubt, von sich selbst beide Beschreibungen anzufertigen: er beobachtet sich als ein operierendes System, das sich beobachten kann. Das führt in heillose paradoxe Verwirrungen (die die Geschichte der Erkenntnistheorie pflastern) und zu einer Biologie der Kognition, für die Maturana zumindest eine Sprache anbietet, mit der man sich darin zurechtfinden kann (vgl. S. 55 f.). Kommen wir auf die Wirkungsgeschichte, oder besser die Wirkungsgeschichten seines Paradigmas zu sprechen (wobei die späteren Ausarbeitungen und Ergänzungen durch die Zusammenarbeit mit Varela hier unberücksichtigt bleibt). Auf sein engeres Fachgebiet konnte Maturana, so scheint es, keinen Einfluss ausüben, auf mögliche Impulse weisen wir unten hin. Vielleicht war seine Sprache zu esoterisch und sein Denkmodell zu geschlossen („It is a cosmology and as such it is complete“ – heißt es in der Einleitung von 1980, S. xviii). Es mag auch begriff‌liche Rezeptionsprobleme gegeben haben. So war von Anfang die Koordination der Begriffe Kognition und Leben nicht klar. Maturana scheint sie als koextensiv, aber nicht identisch einzuführen: „Lebende System sind kognitive Systeme, und Leben als Prozess ist ein Prozess der Kognition“ (S. 13). Konsequenterweise wäre dann schon die Wirklichkeit eines Einzellers durch Kognition gekennzeichnet ebenso wie jeder von allen Nerven beliebig entfernte Reproduktionsprozess etwa der Blutkörper oder des Knochenmarks ein kognitiver wäre. Demgegenüber hat man es in der biologischen Kognitionsforschung bevorzugt, den Begriff der Kognition für spezifische Klassen von Aktivitäten (Kategorienbildung, Aufbau innerer Weltmodelle, Handlungsplanung) zu reservieren. Der Kognitionsforscher Gerhard Roth (1988), dessen Arbeit ursprünglich stark

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von Maturana beeinflusst wurde, hat sogar grundsätzlich Widerspruch erhoben gegen die Gleichsetzung von Leben und Kognition. Roth hat dargelegt, dass das Nervensystem zwar selbst-referentiell, aber nicht autopoietisch sei, und genau durch diese Trennung dem autopoietischen System das Potenzial zur Selbststeuerung verschaffe. Aus Sicht der heutigen Forschungspraxis ist dieser Einwand stichhaltig. Jedenfalls bewährt es sich, die kognitiven Leistungen der Lebewesen zwar im engen Zusammenhang mit der organischen Ausstattung für Wahrnehmung, Empfindung und Motorik zu sehen, aber getrennt von dem Gesamtkomplex der Reproduktion des Lebens zu untersuchen. Ein weiterer wichtiger Problemkreis, der durch die Theorie Maturanas eröffnet wird, betrifft die ontologische Sonderstellung des Lebendigen. In der Unterscheidung einerseits zur technischen Maschine und andererseits zum Sozialen wird das Modell der Autopoiesis allein durch die spezifische Daseinsform des Lebendigen realisiert. Zur Abgrenzung gegen das Maschinelle hat ihm die frühe Diskussion über Künstliche Intelligenz Anlass gegeben. Er hat, nachdem er 1958/1959 an der KI-Hochburg MIT gearbeitet hatte, geradezu ein Anti-Paradigma gegen die Ansätze der KI aufgestellt. Ihn störte nicht so sehr die offensichtliche Differenz in der Komplexität, als vielmehr, dass prinzipiell der Aufbau der programmgesteuerten Maschinerie nichts mit der Simulation der lebendigen Kognition zu tun hat, sondern wiederum nur mit der Simulation der Beschreibung eines Beobachters. Im Sinne des oben Diskutierten hat die KI-Forschung also die Differenz zwischen dem Prinzip der Autopoiesis und der Konstruktion eines zwar automatischen aber allopoietischen Programms nicht begriffen – was ja auch nicht möglich war, bevor Maturana ihnen sein Gegenmodell anbot. Aus heutiger Sicht wären die folgenden Bemerkungen zu machen: Trotz der grundsätzlichen Unterschiede zwischen der gegenwärtigen Computer-Architektur und der Struktur des Lebens sind keine Grenzen absehbar, die einer Simulation autopoietischer Modelle unüberwindlich entgegenstehen. Später hat Varela (1975) Schritte in Richtung einer formalen Beschreibung der Autopoiesis unternommen. Die moderne künstliche Kognitionsforschung bemüht sich insbesondere dort, wo sie sich mit der Robotik trifft, die Programme aus der Innensicht des agierenden Systems, und nicht aus der des externen Beobachters zu entwerfen. Einen Schritt weiter in der technischen Umsetzung des Autopoiesis Konzeptes geht die Artificial Life Forschung. Vielleicht ist es das Verdienst Maturanas, die Größe der Aufgabe, das lebende System so zu erklären, dass man es im Prinzip auch konstruieren kann, vor Augen gestellt zu haben. Immerhin ist zu beobachten, dass in der gegenwärtigen Forschung einzelne Impulse des Autopoiesis-Modells wirksam geworden sind, auf die wir hier hinweisen wollen. Maturanas These, dass, was immer der Beobachter über die

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Kognition lebender Systeme zu sagen hat, von ihm selbst handelt (S. 283), wird durch neuere verhaltensphysiologische und neurophysiologische Befunde unterstützt. Menschen, und vermutlich viele Tiere, besitzen ein internes Körpermodell, das zunächst für die Kontrolle der eigenen Körperbewegungen verwendet wird. Darüber hinaus geht man heute davon aus, dass das Körpermodell im Laufe der evolutionären Entwicklung auch zur Beobachtung und Interpretation der Tätigkeit eines Partners ausgebaut wird. Dabei werden die registrierten Daten (z. B. beobachtete Bewegungen des Partners) auf das eigene Körpermodell abgebildet. Die dadurch ausgelöste Bewegung des eigenen Körpermodells ruft in Verbindung mit den entsprechenden Gedächtniselementen die zugehörigen (eigenen) Empfindungen hervor, die dann dem beobachteten Partner zugeschrieben werden. Eine Erweiterung dieser Modellstruktur (Cruse/Schilling 2015) würde es dem System erlauben, die innere Welt des Partners zu simulieren, sich also in ‚den Partner hineinzuversetzen‘. Die Person wäre damit in der Lage, die inneren Zustände des Partners abzuschätzen und der eigenen Handlungsplanung einzufügen. Damit wäre erwiesen, dass das autopoietische Modell keine solipsistische Verengung, sondern kognitive Basis des Erlebens von Sozialität ist. Weiterhin wurde die Hypothese formuliert, dass Menschen ab einem gewissen Alter fähig sind, ein internes „Wir-Modell“ aufzubauen (Tomasello 2010). Dieses Modell repräsentiert den eigenen Körper sowie den eines Partners. Es erlaubt, Handlungen für beide zu planen und durchzuführen. Diese Strukturen, einmal evolutionär eingeführt, könnten damit die Basis für den Aufbau sozialer Strukturen wie gemeinsamer Zielplanung und die Fähigkeit zu altruistischem Verhalten, das über die Förderung gemeinsamer Gene hinausgeht, bilden. Sie könnten also ein operationales Äquivalent zu Maturanas „experience of love“ (S. xxix) darstellen, zu der ein autopoietisches System fähig ist. Wie genau ‚Körpermodell‘ und ‚WirModell‘ aufeinander bezogen sind, ist in der aktuellen Forschung offen, aber es ist ersichtlich, dass in ihnen Anregungen des Autopoiesis-Projekts fortwirken. Die Modelle besitzen gegenüber den abstrakten Formulierungen Maturanas den großen Vorteil, in präzisen Computersimulationen aufgebaut werden zu können und damit experimentellen Tests zugänglich zu sein. Ob Maturana und Varela einer solchen computergestützten Weiterführung ihrer Konzeption zustimmen würden, ist unerheblich. Spannend für den Fortschritt der Forschung ist, dass sich die zunächst hypothetische und konzeptualistische Konstruktion der Autopoiesis als eine Herausforderung zu einer komplexeren Modellierung der kognitiven Existenz des Organismus in seiner Umwelt verstehen lässt. Einen außerordentlich starken Einfluss hatte das Autopoiesis-Modell auf die soziologische Theorie der Selbstorganisation von Niklas Luhmann. Jedoch war Maturana mit dieser Übertragung von Beginn an nicht einverstanden.

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Sein Einwand ist einfach: Kein soziales System (von der Familie bis zum Funktionssystem) ist in der Lage, den materiellen Prozess der autopoietischen Reproduktion seiner Komponenten zu leisten. Wer dies behaupte, verwechsle wiederum die Operationsebene des Systems mit der Beschreibungsebene eines Beobachters. Maturana selbst hat vielfach seine Ansichten zur Entstehung selbstorganisierter (aber nicht autopoietischer) sozialer Systeme durch Kooperation und Kommunikation interagierender autopoietischer (i. e. lebender) Systeme dargelegt. In der Soziologie ist die Haltung gespalten. Während in der Systemtheorie von und nach Luhmann die Autopoiesis sozialer Systeme allein den kommunikativen Operationen aufgelastet und alles Kognitive sowie Lebendige zur Umwelt geschlagen wird, sehen Kritiker in der daraus folgenden permanenten Parallelität von materieller, kognitiver und kommunikativer Reproduktion die Überlastung eines theoretischen Hilfsbegriffs, dem der strukturellen Kopplung. Wir lassen diese Kontroverse hier auf sich beruhen. Ein letzter Punkt ist zu machen: Maturana hat in der Entwicklung seines theoretischen Modells immer auch die Verantwortung des Wissenschaftlers für die Folgen seines Handelns gesehen. Genauer gesagt, entwirft sein Modell auch eine Ethik, die im Postskript angesprochen wird und seitdem sein ständiges Thema geblieben ist. Diese Ethik umfasst zunächst Grundsätze, die aus dem erkenntnistheoretischen Relativismus folgen: • Es kann kein absolutes System von Werten und Wissen geben, da die Basis der persönlichen Erfahrung niemals verlassen werden kann. • Die Überzeugung eines Anderen kann niemals anders gelingen als dadurch, dass dieser sein eigenes Überzeugungssystem fortentwickelt. • Der Mensch ist als ein Wesen, das zur Beobachtung seines eigenen kognitiven Tuns befähigt ist und daher von der Relativität seines ihm gültig erscheinenden Wissens wissen kann, vor die Aufgabe gestellt, sein eigenes Wertesystem zu wählen und zu verantworten (vgl. S. 57 f.). In der Einleitung von 1980 hat Maturana die Implikationen seines Modells für die Theorie der Ethik und der Gesellschaft ausführlicher dargestellt, vor allem auch deshalb, weil diese Gedanken wegen Nichtübereinstimmung mit Varela keinen Eingang in den 1973 Aufsatz zur Autopoiesis fanden. Hier wie später gewinnt der Begriff der „Liebe“ eine provokative theoretische Zentralität: „(…) der basale Stabilitätsfaktor in der Konstitution eines sozialen Systems ist das Phänomen der Liebe“ (S. xxvi). Die Anerkennung anderer als Partner ergibt die ethische Verpflichtung, Autonomie und Individualität zu schützen. Für Maturana bedeutet dieser Grundsatz mehr als nur die Organisierung privater Beziehungen. Er hat

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mit der Gestaltung der Arbeitsverhältnisse, der gesellschaftlichen Öffentlichkeit und der politischen Struktur der Gesellschaft zu tun. In diesem Sinne steht sein theoretisches Denken in einem engen Zusammenhang mit der Aufbruchsstimmung der 1970er Jahre und den bitteren Erfahrungen in seinem Heimatland Chile nach dem Sturz Allendes 1973. Dank: Wir danken dem Center for Interactive Intelligence (CITEC) der Universität Bielefeld für Unterstützung.

Literatur Cruse, Holk, und Malte Schilling (2015): Mental States as Emergent Properties: From Walking to Consciousness, in: Thomas Metzinger und Jennifer M. Windt (Hrsg.): Open Mind 9 (C), Frankfurt/M.: MIND Group, S. 1–39 (doi: https://doi. org/10.15502/9783958570436). Maturana, Humberto R., und Francisco J. Varela (1980): Autopoiesis and Cognition: The Realization of the Living, Dordrecht: Reidel. Roth, Gerhard (1988): Autopoiese und Kognition: Die Theorie H. R. Maturanas und die Notwendigkeit ihrer Weiterentwicklung, in: S. J. Schmidt (Hrsg.), Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 256–286. Tomasello, Michael (2010): Warum wir kooperieren, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Varela, Francisco J. (1975): A Calculus of Self-Reference, in: International Journal of General Systems 2, S. 5–24.

Wolfgang Krohn, Professor i.  R. für sozialwissenschaftliche Wissenschafts- und Technikforschung an der Universität Bielefeld. Er hat Philosophie und Sozialwissenschaften studiert. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören historische Arbeiten zu den sozialen Ursprüngen der neuzeitlichen Wissenschaft, insbesondere zu Francis Bacon, Untersuchungen zur Entstehung und Struktur des Paradigmas der Selbstorganisation und techniksoziologische Projekte zur Innovationsforschung. Gegenwärtig befasst er sich im Zusammenhang mit der Theorie der Wissensgesellschaft mit dem Phänomen gesellschaftlicher und ökologischer Realexperimente. Siehe zu seinen Veröffentlichungen http://www. uni-bielefeld.de/iwt/gk/profs/krohn/publikationen.html. Holk Cruse, Professor emeritus für biologische Kybernetik und theoretische Biologie an der Universität Bielefeld. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Kontrolle der Motorik bei Insekten und beim Menschen, wobei verhaltensphysiologische Methoden und Simulationen eingesetzt werden. Seine neueren Forschungen erstrecken sich auf die Beziehungen zwischen reaktiven und kognitiven Systemen, insbesondere die Steuerung der Motorik durch interne Weltmodelle. Die Liste der Publikationen findet sich in http://www. uni-bielefeld.de/biologie/Kybernetik.

Kognition, heterodox Über Francisco J. Varela, Kognitionswissenschaft – Kognitionstechnik: Eine Skizze aktueller Perspektiven (1990) Maren Lehmann

Der Versuch, Varelas Skizze (er nennt es einleitend einen Überblick oder einen Leitfaden oder einen Forschungsbericht, beiläufig auch einmal eine Karikatur) als Schlüsselwerk darzustellen, wäre von ihm selbst nicht zurückgewiesen worden, im Gegenteil. Denn das Buch hat zwar den Zweck, einen „tiefverwurzelten Glauben an Heterodoxie [zu bekennen]“ und dem „Bedürfnis“ nachzugeben, „Mannigfaltigkeit zu kultivieren“ (20). Aber es ist offenbar von einem souveränen Standpunkt aus und in orientierender Perspektive geschrieben. Man hat es zwar mit einem zugleich exegetischen (‚aufschließenden‘, ‚auslegenden‘) und konfessionellen (‚bekennenden‘) Werk zu tun. Aber das Bekenntnis gilt der Heterodoxie, mithin der Abweichung, der Varianz, der Häresie – die dargestellte Skizze bietet daher nichts Geringeres als eine Dogmatik dieser Häresie. Kritische Lektüre wird dadurch zwar herausgefordert (Sei häretisch!), aber nicht erleichtert. Genügt dafür die eigenwillige messianische Passion, die Varela in zahlreichen seiner Texte als Leitmotiv herausstellt? „Ich bin heute einzig und allein aus der leidenschaftlichen Überzeugung heraus hierher gekommen, dass …“, „ich möchte Ihnen heute … vorrangig meine Vision … vermitteln“, „Jahre der Forschung haben in mir den Glauben wachsen lassen, dass …“, heißt es etwa (Varela 1997: 52). Der vorliegende Text nimmt das Messianische zwar zurück, das Häretische aber nicht. Die messianische Rolle nimmt „das schöpferische Zusammenspiel von Forschung, Technik und Öffentlichkeit“ ein, das zu einem M. Lehmann (*)  Friedrichshafen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 D. Baecker (Hrsg.), Schlüsselwerke der Systemtheorie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30633-5_20

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„Wandel des menschlichen Bewusstseins“ geführt habe (18). Dieser Wandel ermutige die Häresie, und diese wiederum erfordert dann die Selbstbindung, die Konfession. Es handelt sich weniger um ein Schlüsselwerk als um eine Kampfschrift, eine Kampfansage. Gefordert wird „eine klare Perspektive, am besten die eines interessierten Beteiligten“, so dass „eine Position der Neutralität aus[geschlossen]“ sei (15) und „eine Darstellung“ ermöglicht werde, die sich „unbekümmert von der herrschenden Kognitionswissenschaft absetzt und sich eingehend mit abweichenden Alternativen beschäftigt“ (21). Weder das Häretische noch das Messianische sind in der Systemtheorie gleich welcher Spielart je bestimmend gewesen, so dass es zweifelhaft ist, dies für Schlüsseleigenschaften des Textes zu halten. Im Gegenteil gab es in der Systemtheorie stets starke Bestrebungen, an Traditionen und Kanons (Alteuropa) anzuschließen, das eigene Argument historisch zu prüfen und das Veralten aller Begriffe – auch und, zumindest für Niklas Luhmann gilt das, sogar vor allem der eigenen – gerade in ihrer Orientierungs- und Ordnungsleistung für wahrscheinlich zu halten. Hier dagegen haben wir es mit einem selbstgewissen, sich der kommunizierenden Umgebung aussetzenden und deren Eigensinn zum eigenen Interesse machenden ‚Bewusstsein‘ zu tun. Hier stürzt sich einer in die Welt; die Umweltplatzierung, die Luhmann diesem Bewusstsein zugestanden hat, wird aufgegeben. Es gibt hier keine Umwelt mehr, und es gibt in diesem Sinne auch kein System mehr. Aufgegeben wird auch jede territoriale oder kontinentale Assoziation, die in der System/Umwelt-Differenz als einer Innen/Außen-Differenz womöglich gesehen werden könnte oder auch unterstellt worden war. Der Sturz, um den es geht und der für Varela buchstäblich alles ändert, ereignet sich als Differenz eines Beobachters („mind“) und einer Grundlosigkeit („world“ im Sinne einer „groundlessness“, Varela/Thompson/Rosch 1991: 217 ff.). Dieses Ereignis hat, wenn es (darauf kommt es dem ‚interessierten Beteiligten‘ Varela an) Erfahrung wird – Varela nennt diese Erfahrung Kognition –, die gesuchte Schlüsselqualität. In theoretischem Kontext käme es also darauf an, diese Erfahrung der sich ereignenden Differenz von Mind und World begriff‌lich auszuarbeiten, gegebenenfalls unter dem Namen Cognition. Dazu hat Varela in zahlreichen Aufsätzen und Büchern Entscheidendes ausgeführt; der vorliegende, hier zu diskutierende Text ist randständig und fügt jenen Arbeiten argumentativ nichts hinzu. Überdies folgt die Übersetzung einer im Impressum genannten Vorlage, die nicht auf‌findbar ist. Kritische Lektüre hätte sich daher eher an jene brief cartography zu halten, die Varela (1991) in seinem gemeinsam mit Dupuy verfassten Buch über das Ursprungsproblem oder (1992) in seinem gemeinsam mit Luhmann verfassten Buch über den Beobachterbegriff angeboten hat, und sie hätte dies überdies an grundlegenden Aufsätzen und Büchern zu prüfen (Varela 1975; Varela 1979; vgl. dazu Weiss in diesem

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Band; Goguen/Varela 1979; oder Varela/Thompson/Rosch 1991). Wir beschränken uns dennoch darauf, den vorliegend verschrifteten und übersetzten Vortrag zur Lage der Kognitionstechnik und der Kognitionswissenschaften vorzustellen (Varela nennt sie lapidar „KWT“, passim). Auffallend ist und bleibt, dass zwar die Systemtheorie Varelas Überlegungen suchend aufgegriffen und interessiert diskutiert hat, dass aber umgekehrt Varela ganz oder beinahe ohne systemtheoretische Referenzen ausgekommen ist. Schlüsselqualität für die Systemtheorie mag die Kognitionstheorie daher haben; Schlüsselqualität für die Kognitionstheorie hat die Systemtheorie jedenfalls aber nicht. Varela bevorzugt im vorliegenden Text ganz eindeutig den Begriff des Netzwerks gegenüber dem des Systems. Das Buch bietet eine Geschichte der Kognitionswissenschaft und der Kognitionstechnik (KWT) in Form einer Vier-Stadien-Lehre an. Die ersten beiden „Entwicklungsstadien oder Aufbauphasen“ (27) haben danach ein Paradigma entworfen und gesichert, das durch die letzten oder zumindest folgenden beiden Stadien geöffnet und verzweigt wurde. In dieser zweiten Phase der vier Stadien treten entsprechend die angekündigten Heterodoxien auf. Die dabei „sich abzeichnenden Entwicklungstendenzen“ (ebd.) stellt Varela in drastischer, ja alarmistischer Sprache als Alternativenraum dar, der um den Preis drohender „Unbeweglichkeit“ (29) durch wissenschaftliche oder politische oder ökonomische Entscheidungen laufend neu bestimmt werden muss. Kanonische Festlegungen verlieren in dieser Bewegung ihren Sinn. Entsprechend knapp fallen die ersten beiden Kapitel bzw. die Beschreibungen der – wenn man so will – Protophasen der KWT aus. Varela lokalisiert deren Beginn in den 1940er Jahren als „explorative“ Blindheit in einem „Nebel“, der sich allmählich unter dem Titel der „Epistemologie“ zu lichten begann (Varela setzt diesen Ausdruck selbst in Anführungszeichen, um sich von Bachelard und der französischen Wissenschaftsgeschichtsforschung abzusetzen, vgl. 31, nennt aber Piagets Konzept einer genetischen und Warren McCullochs Konzept einer evolutionären Epistemologie als wichtige Referenzen, vgl. 32). Die ersten, die in dieser Umgebung zu sehen begannen, sind die frühen Kybernetiker am M. I. T. und ihre Maschinenkonzeption des Gehirns als einer Verkörperung logischer Gesetze (vgl. 33). Dieses erste Stadium erfindet den Computer, die „digitale Rechenmaschine“ (ebd.), und entwindet dadurch der Philosophie und der Psychologie die Hoheit über das Gehirn als des Gebiets des (wie Varela mehrfach formuliert) „Denkens und Erkennens“ (33, 35). Das Gehirn fällt den Mathematikern in die Hände, und in deren Schatten operieren auch Systemtheoretiker, Regelungstechniker, Ökologen, Therapeuten, Manager, Spieltheoretiker und Kommunikationspraktiker aller Couleur an ihm herum. Aber der „Enthusiasmus“ dieser ersten Bastelphase sei, so Varela, schnell verflogen, die Protagonisten hätten sich zerstreut, ihre Energie sei erloschen (vgl. 36).

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Das zweite Stadium übernimmt den Versuch, „Denken und Erkennen als eine Art Logik, folglich als eine Art des Rechnens anzusehen“ (37), und erhebt diesen Versuch unter dem Namen der Intelligenz zur Forschungshypothese. Intelligent kann jedes „Rechnen mit symbolischen Repräsentationen“ bzw. mit „semantischen Werte[n]“ genannt werden (37), ganz gleich, ob es technologisch oder biologisch operiert, ganz gleich also, ob diese rechnende Operation in einer Maschine oder in einem Gehirn verkörpert ist. Für dieses verkörperte Rechnen mit symbolischen Repräsentationen bzw. für das „physikalisch … verwirklicht[e]“ Rechnen mit codierter „Intentionalität“ setzt diese zweite Phase der KWT den Begriff der Kognition ein (38 f.). Entscheidend sei eine „VielebenenKonzeption“ (42), die die operative Ebene (z. B. Maschine oder Gehirn) von der semantischen Ebene (z. B. Programmiersprache oder menschliche Sprache) unterscheidet und sich folglich vor allem für die Reintegration (die Codierung bzw. die Syntax) dieser Ebenen interessiert – denn diese ‚Kognition‘ erst ermöglicht den gesuchten Rechner. Varela würdigt die Erfolge dieser Konzeption, beispielsweise im Zusammenhang mit bedeutenden technischen Innovationen im Umkreis der ‚Künstlichen Intelligenz‘ (vgl. 46 f.), macht aber auch deutlich, dass die Konzeption ideologisch-dogmatisches Potential hat – sein Ausdruck „Kognitivismus“ (ebd.) markiert diesen Verdacht. Wenn das Problem der symbolischen Repräsentation, der Codierung von Intentionalität bzw. der syntaktischen Verrechnung semantischer Werte unter dem Schlagwort der ‚Informationsverarbeitung‘ zusammengefasst werde, sei es nicht annähernd, geschweige denn angemessen verstanden. Man habe zwar eine Waffe auf einem „wichtige[n] kommerzielle[n] und technische[n] Schlachtfeld“ entwickelt (47), zumal das kognitivistische Schlagwort der Informationsverarbeitung mit dem aktivistischen Schlagwort der Entscheidung wunderbar zusammenpasse – aber eben nur das. „Das Gehirn“ ist schließlich wie eine Organisation oder eine Maschine oder die Gesellschaft selbst „ein informationsverarbeitender Apparat (…), der selektiv auf Merkmale der Umwelt reagiert“ (52). Um das zu wissen, hätte es der Kognitionswissenschaft jedoch nicht bedurft; sie hat womöglich nichts erreicht als eine allgemeine Durchsetzung solcher Annahmen technischer Machbarkeit in allen Systemen oder Anordnungen, die der „Symbolverrechnung“ bzw. des Rechnens mit Repräsentationen mächtig sind (52). Es ist dieses allzu „wohldefinierte Forschungsprogramm“ (ebd.), von dem Varela häretisch-heterodox abzuweichen versucht bzw. von dem, seiner Schilderung nach, die beiden anschließenden Stadien selbst abweichen. Dem widmet er die beiden ausführlicheren Folgekapitel; er konzentriert sich dabei auf eine oder gar „die Alternative zur Symbolverrechnung“ (Stadium 3: Emergenz) und auf eine oder zahlreiche „Alternativen zur Repräsentation“ (Stadium 4: „Welterzeugung“, 88 ff., ein

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Ausdruck, der im Plural stehen müsste). Ganz offensichtlich liegt hier auch eine Abweichung von der Stadienlehre vor, denn Emergenz und Welterzeugung verhalten sich komplementär, sie folgen keineswegs zeitlich aufeinander. Emergenz kann, anders gesagt, nur in einer ‚grundlosen Welt‘ überhaupt vorkommen, in einer sich selbst unter der Bedingung von Gleichzeitigkeit (und nicht von Sequentialität) und unter der Bedingung von loser (und nicht von strikter) Kopplung organisierenden Welt (vgl. 54 ff., exemplarisch 56; überraschend ist es daher, dass Varela weder den Begriff der Kontingenz noch den Begriff der Komplexität in Anspruch nimmt – oder dies allenfalls beiläufig tut –, die unter Umständen weitere Alternativen geboten hätten). Wer die ersten beiden Stadien erfolgreich absolviert, durch den frühen kybernetischen Nebel gegangen und sich zum rechnenden Kognitivisten emporgearbeitet habe, könne eine solche Welt nur als fehlerhaft oder schlecht aufgeräumt betrachten, meint Varela und ergänzt pathetisch: „Es ist notwendig, die Position des Experten mit der des Kindes zu vertauschen, was die Rangfolge der Leistungen angeht“ (57). Die beiden späten Stadien der Emergenz und der Welterzeugung sind demnach ‚kindliche‘ Stadien, die die Expertenordnung hinter sich gelassen oder als eine mögliche unter anderen möglichen Ordnungen relativiert haben. Das Aufräumen der Welt bzw. das Errechnen großer Lösungen ist (jetzt) gegenüber dem tastenden Erfinden der Welt bzw. dem Ernstnehmen kleiner Probleme im Nachteil. Welt wird nicht (mehr) vorgefunden und ‚verarbeitet‘, sondern taucht auf und wird zum Bewegungsanlass bzw. zum Bewegungsraum. Und Intelligenz ist nicht (mehr) die Fähigkeit irgendeines Rechners, Vorgefundenes zu verstehen oder anzuwenden, sondern die Vernetzung dieser kleinen Probleme selbst – die „Konnektivität“ von Ereignissen, die ohne diese Verknüpfung nichts als „einfache, intelligenzlose Bestandteile“ ohne Eigenschaften sind (58). Darin liegt der Vorteil der angedeuteten ‚Kindlichkeit‘ gegenüber der Expertise. Genau wegen der ‚Intelligenzlosigkeit‘ ihrer basalen Ereignisse kann sich eine intelligente Struktur laufend „neu organisieren“ (59). Varela spricht ausdrücklich von lernenden „Netzwerken“ bzw. davon, dass jedes selbstorganisierende „System ein Netzwerk ist“ bzw. „sich“ als Netzwerk „ergibt“, also „emergiert“, (61), und erinnert daran, wie viel die „kognitivistische Systemarchitektonik“ des „Computerparadigma[s]“ vom Gehirn und von „winzigsten Insekten“ lernen könne (57). Letzteres lässt Varela im Folgenden außer acht, auf ersteres geht er – als „Quelle von Metaphern und Ideen“ (58) – ausführlich ein. Alles in allem erschöpft sich das Argument im Hinweis auf die bereits genannte ‚Konnektivität intelligenzloser Bestandteile‘ („Myriaden von Neuronen, die über das ganze Gehirn verteilt sind“, 70, „einfache Bestandteile“, 77). Die Intelligenz liegt in der Verknüpfung der Teile eines Netzes, nicht in den Teilen selbst, sobald „wir jeden seiner Knoten als sensorischen Endpunkt auffassen“,

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denn dann „kann sich das System durch Änderung seiner Verknüpfungen“ immer wieder „neu organisieren“; es kann lernen (59), und vor allem kann es lernen, Verschiebungen oder Variationen des Verknüpfungsmusters als solche zu identifizieren und das Muster auch im Störungsfall „wieder[zu]erkennen“ (60). Es kann lernen, „kontextsensitiv“ zu beobachten (71), mithin lernen, zu funktionieren (vgl. 77). Entscheidend ist der Hinweis, dass das Netzwerk aus Verknüpfungen bzw. aus Knoten, nicht aber aus den verknüpften Elementen besteht; Varela spricht daher von einem emergenten „Zusammenwirken“ der Elemente ohne jegliche „externe Einwirkung“ (61): ein Zusammenwirken, das „sich ergibt“ (ebd.) und in dem die Teile je nach ihrer aktuellen Verknüpfung „ebenso verschiedene wie wechselhafte“, eben ‚sich kontextsensitiv ergebende‘ Eigenschaften aufweisen (72). Für dieses Netzwerk mit „emergenten Eigenschaften“ schlägt Varela Bezeichnungen wie „Netzwerkdynamik“, „nichtlineare Netzwerke“, „komplexe Systeme“ oder „‚Synergetik‘“ vor (62). Entscheidend ist nicht diese Bezeichnung selbst, sondern das Auftreten des Bezeichneten in allen lebenden, psychischen, neuronalen, sozialen Systemen – die „Theorie emergenter Eigenschaften“ eignet sich daher als „Bindeglied“ all dieser System„phänomene“ (67). Entsprechend kann er dann auch vorschlagen, die fremdreferentielle, semantische Seite des Sichbeziehens auf diese Phänomene nicht mehr symbolisch zu konzipieren, sondern über „numerische Operationen“; die Frage der Bedeutungskonstitution könne so „wesentlich subtiler“ diskutiert werden (78), eben auf der „subsymbolischen Ebene“ der laufend sich ändernden Verknüpfungen (79). Diese sind das „Substrat (…), aus dem [die Symbole] hervorgehen“ (82) und von dem sie daher nicht unabhängig sind, sondern mit dem sie „in einer Art von Inklusionsbeziehung“ stehen (81, vgl. 83). Im Grunde haben wir es mit einer Zweitfassung des systemtheoretischen Begriffs der doppelten Schließung zu tun (Foerster 1981; Luhmann 1995), die Varela als Schließung auf der subsymbolischen und auf der symbolischen Ebene bestimmt. Als operative Funktion der Verknüpfung ‚intelligenzloser, einfacher‘ Elemente ist Kognition bestimmt als subsymbolische Ermöglichung emergenter Symbole. Damit ist auch gesagt, dass eine kognitionswissenschaftliche Perspektive – „Konnektionismus, Emergentismus, Selbstorganisation, Assoziationismus, Netzwerksdynamik“ (77) – immer dann ‚interdisziplinär‘ leistungsfähig ist, wenn sie auf die Darstellung bestimmter disziplinärer Aussagen mittels eines Blicks von außen verzichtet. Denn diese Darstellung würde Eigenschaften von Bestandteilen betrachten und über diese Eigenschaften in einer Konkurrenz des Blicks von innen mit dem Blick von außen feilschen, und sie würde für den Fall, dass dieses Feilschen unentschieden ausgeht, die Teile kurzerhand um alle perspektivisch hinzugezogenen Eigenschaften anreichern und einen Merkmalshaufen produzieren,

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aber keine distinkte Aussage mehr treffen können – was dann dazu führen dürfte, dass sich alle Beteiligten nach disziplinärer Klarheit sehnen. Stattdessen geht es darum, sich auf die Beobachtung der Verknüpfungen zu konzentrieren – man könnte sogar sagen: zu spezialisieren –, die sich zwischen den Perspektiven ergeben. Gleiches gilt für jede Form von Kooperation: sie gelingt, wenn sie darauf verzichtet, Eigenschaften der Beteiligten festzulegen und durchzusetzen, und stattdessen emergente, also kontextsensitiv wechselnde Eigenschaften der Beziehungen zwischen den Beteiligten sich ergeben lässt. Sie gelingt, wenn sie „viel stärker dem Stimmengewirr einer Cocktailparty [ähnelt] als einer Kette von Befehlen“ (75). Entsprechend empfiehlt Varela den Kognitionswissenschaften unter dem Namen des vierten Stadiums, der „Welterzeugung“ (88), dem „gesunden Menschenverstand“ (89) endlich zu vertrauen – eine sicherlich nicht unproblematische Formulierung (und sei dies nur wegen der normativen Implikation und den Gegenbegriffen, die sich aufdrängen), die aber hier einfach als Entsprechung des bereits genannten ‚kindlichen Verstandes‘ gemeint ist, des Verstandes des „völlig anspruchslose[n] Kind[es], das lernt, sich zu bewegen und zu sprechen“ (94). Ein solcher Verstand erzeugt die Probleme, die ihn betreffen, handelnd selbst, bringt sie handelnd selbst hervor – sie betreffen ihn also als eigene Probleme, als erhandelte Verknüpfungen mit seiner eigenen Welt oder kurz als seine Welt – und nicht als Spiegel oder Abbild einer allgemeinen, ihn ausschließenden oder sich durch seine Beobachtungen nicht verändernden Welt (vgl. 109). Dieses Betroffensein von den eigenen Kognitionen bezeichnet Varela als „totale Zirkularität von Handeln bzw. Verstehen“: als „Hervorbringen“ (91), später auch als „strukturelle Koppelung“ (110). Man könnte auch sagen, dass das Erleben (die Kontextsensitivität) für Varela eine Form des Handelns ist, was den Beobachter (oder hier: den Verstand) in ein symbiotisches (‚total zirkuläres‘) Verhältnis zu einer Welt bringt, die unausweichlich seine Welt ist. In einem Expertensystem ist ein solches Weltverhältnis problematisch, weil es nicht verallgemeinerbar ist und „keine scharfen Grenzen zu[lässt]“ (94), sondern „rasch in den grenzenlosen Hintergrund des Alltagswissens zerfließt“ (95). In einem kindlichen Erfahrungsraum dagegen erlaubt dieses Weltverhältnis den allmählichen, immer wieder variierbaren Aufbau von Verknüpfungen, die allmähliche Anreicherung des Selbst mit Weltbezügen, deren jeder auch wieder aufgegeben werden kann. „Die nicht beherrschbare Vieldeutigkeit des Hintergrundwissens, also des gesunden Menschenverstandes“ (96), ist hier die Verstehensbedingung schlechthin; die Welt versteht, wer sich handelnd auf sie einlässt. Dieses handelnde Sicheinlassen ist „Intelligenz“ (111). Beobachter und Welt „entstehen [gemeinsam]“ (98). Varela nennt das eine „Lebensgeschichte“ (110), die sich ergibt, wenn man einen „Mittelweg“ geht (und zwar buchstäblich geht) zwischen einer „Hennenposition“ – die Welt da draußen ist, wie sie ist, und das ist

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gut so – und einer „Eiposition“ – die Welt hier drin ist, wie sie ist, und das ist gut so –; denn klar sei ja, „dass – wie alle Bauern wissen – Henne und Ei einander definieren, aufeinander bezogen sind“ (102 f.). Man könnte mit Varelas Emergenzdefinition sagen: Wer sich handelnd der Welt ergibt, für den ergibt sich die Welt.

Literatur Goguen, Joseph A., und Francisco J. Varela (1979): Systems and Distinctions: Duality and Complementarity, in: International Journal of General Systems 5, S. 31–43. Luhmann, Niklas (1995): Probleme mit operativer Schließung, in: ders., Soziologische Aufklärung 6: Die Soziologie und der Mensch, Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 12–24. Varela, Francisco J. (1975): A Calculus for Self-Reference, in: International Journal of General Systems 2, S. 5–24. Varela, Francisco J. (1979): Principles of Biological Autonomy, New York/Oxford: North Holland. Varela, Francisco J. (1990): Kognitionswissenschaft – Kognitionstechnik: Eine Skizze aktueller Perspektiven, dt. von Wolfram Karl Köck, Frankfurt am Main: Suhrkamp (Original lt. Impressum: Cognitive Science: A Cartography of Current Ideas, 1988 [unauf‌findbar]). Varela, Francisco J. (1997): Erkenntnis und Leben, in: Fritz B. Simon (Hrsg.), Lebende Systeme: Wirklichkeitskonstruktionen in der systemischen Therapie, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 52–68. Varela, Francisco J. (1991): Whence Perceptual Meaning? A Cartography of Current Ideas, in: ders. und Jean-Pierre Dupuy (Hrsg.), Understanding Origins: Contemporary Ideas on the Origin of Life, Mind and Society, Boston: Kluwer, S. 235–265. Varela, Francisco J. (1992): On the Conceptual Skeleton of Current Cognitive Science, in: Niklas Luhmann, Humberto R. Maturana, Mikio Namiki, Volker Redder und Francisco J. Varela, Beobachter – Konvergenz der Erkenntnistheorien? München: Fink, S. 13–23. Varela, Francisco J., Evan Thompson und Eleanor Rosch (1991): The Embodied Mind: Cognitive Science and Human Experience, Paperback edition, 1993, Cambridge, MA, und London: The MIT Press. von Foerster, Heinz (1981): Observing Systems, Seaside, CA: Intersystems Publ.

Maren Lehmann, Inhaberin des Lehrstuhls für Soziologische Theorie, Zeppelin Universität Friedrichshafen. Jüngere Buchpublikationen: Mit Individualität rechnen: Karriere als Organisationsproblem, Weilerswist: Velbrück, 2011; Theorie in Skizzen, Berlin: Merve, 2011; Zwei oder drei, Kirche zwischen Organisation und Netzwerk, Leipzig 2018? Internet: www.zu.de/lehmann.

Unmittelbares Handeln und die Sensomotorik der Situation Über Francisco J. Varela, Ethical Know-How (1992) Athanasios Karafillidis Francisco J. Varelas Buch Ethical Know-How (dt. Ethisches Können) hat in der Systemtheorie keine nennenswerten Diskussionen angestoßen. Die Bezüge darauf sind spärlich. Vermutlich hat das Wort „Ethik“ im Titel dazu verführt zu glauben, dass es in diesem Buch um normative Ansprüche geht und nicht um Theoriearbeit. Bernhard Pörksen meint zum Beispiel, dass darin eine Wendung Varelas in „Richtung metaphysischer Spekulation“ erkennbar sei und unterstellt ihm die Proklamation eines letzten Fundaments (Pörksen 2011, S. 329) – und zwar obwohl Varela das deutlich bestreitet, als Pörksen ihn in einem Interview genau damit konfrontiert (Varela 2008, S. 136). Pörksens Einschätzung ist exemplarisch für den Typ von Beobachtung, der diese Veröffentlichung von Varela begleitet. Selbst wohlwollende Erwähnungen reduzieren das Buch darauf, dass es vor allem auf die ethischen Konsequenzen der Kognitionsforschung aufmerksam mache (Bopry/Brier 2002, S. 6). Sowohl die affirmative als auch die kritische Bezugnahme auf die angebliche Normativität dieses Texts von Varela haben einen Anteil daran, dass seine systemtheoretische Bedeutung bislang unberücksichtigt geblieben ist. Beide Perspektiven haben durchaus eine reale Deckung, das heißt es ist nicht vollkommen abwegig, Varelas Überlegungen so zu interpretieren und einzuordnen, wie es dort jeweils geschieht. Aber das ändert nichts daran, dass beide Perspektiven den Blick auf die Theorie versperren. So ist bis heute weitestgehend verborgen geblieben, dass dieses Buch in konzentrierter Form Francisco Varelas systemtheoretisches Vermächtnis enthält und darüber hinaus ein potentielles

A. Karafillidis (*)  Helmut-Schmidt-Universität, Hamburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 D. Baecker (Hrsg.), Schlüsselwerke der Systemtheorie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30633-5_21

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Forschungsprogramm andeutet, das die soziologische Dimension der allgemeinen Systemtheorie herausstellt.

1 Hintergründe Ein neues Problem Das Buch besteht aus drei Teilen: „Know-How and Know-What“, „On Ethical Expertise“ und „The Embodiment of Emptiness“. Es dokumentiert damit drei Vorlesungen, die Varela an drei aufeinanderfolgenden Tagen im Dezember 1991 auf Einladung der Universität Bologna gehalten hat. Die Vorträge sind auf Englisch gehalten worden, aber im darauf folgenden Jahr zuerst in italienischer Sprache erschienen. Zwei Jahre später folgte dann die deutsche Übersetzung aus dem Englischen beim Campus Verlag (Edition Pandora, 1994). Die deutsche Ausgabe ist um einen 28-seitigen Anhang erweitert, der einen Teil des von Varela gemeinsam mit Evan Thompson und Eleanor Rosch verfassten Buches The Embodied Mind von 1991 – dt. Der mittlere Weg der Erkenntnis, 1992 – wiederabdruckt. Sie ist aber schon länger vergriffen. Dafür ist die englische Fassung noch zugänglich, die 1999 bei Stanford University Press veröffentlicht worden ist. Es handelt sich dabei indes nicht um einen Abdruck von Varelas Vortragsmanuskript, falls ein solches überhaupt existiert hat, sondern den Angaben nach um eine Übersetzung aus dem Italienischen. Das Buch ist jedoch noch zu Lebzeiten Varelas erschienen und es ist deshalb davon auszugehen, dass es sich bei dieser Ausgabe um eine von ihm autorisierte Fassung handelt. Alle Seitenzahlen, die im Folgenden ohne Namen und Jahresangabe zu finden sind, beziehen sich auf diese letzte, englische Ausgabe von 1999. Der gegenständliche Fokus des Buchs liegt auf einer Auseinandersetzung mit Ethik, aber Varela formuliert darin auf insgesamt nur 80 Seiten auch einen Rahmen für die Weiterentwicklung der Theorie komplexer Systeme mit Hilfe der Kognitionswissenschaften. Dabei kommt keine Theorie des Gehirns oder des biologisch determinierten Verhaltens heraus. Vielmehr entstehen Grundzüge einer Handlungstheorie, die zugleich mit sensomotorischen Einheiten und sozialen Situationen zu rechnen versucht. Mit diesem Buch wird die Theorie komplexer Systeme als eine Theorie erkennbar, die sich nicht bloß auf innere Abläufe eines Organismus als System bezieht, sondern auch auf eine Bestimmung sozialer Komplexität abzielt. Das Problem ist folglich diejenige Komplexität, die sich aus dem für Kognition konstitutiven, verteilten Einhandeln von Welt ergibt. Das alte kognitionswissenschaftliche Problem, wie aus neuronaler Vernetzung Bewusstsein hervorgeht beziehungsweise in welcher konkreten Beziehung diese

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beiden zueinander stehen, versucht Varela nicht zu lösen. Allerdings liegt es ihm fern, Bewusstsein reduktionistisch als Effekt neurophysiologischer Prozesse zu verstehen. Das würde das Problem der Schließung ignorieren, auf das die Systemtheorie seit ihren Anfängen aufmerksam zu machen versucht. Stattdessen erweitert Varela das Problem, um es einzugrenzen, also behandelbar zu machen. Das Handeln und Erleben sensomotorischer Einheiten in Situationen wird an genau die Stelle gesetzt, an der sich dieses Problem der Differenz von Neurophysiologie und Bewusstsein bislang praktisch unlösbar festgesetzt hat. Das Bewusstsein eines Selbst als handelndem Zentrum wird dadurch als Interface mit zwei Referenzen beschrieben: Sensomotorik und soziale Situation. Damit gibt Varela das Postulat der Schließung als strukturelle Bedingung für Autonomie nicht auf, sondern untersucht ihre wesentliche Konsequenz: Vernetzungsfähigkeit. Schließung/Autonomie ist Bedingung der Möglichkeit der Entstehung und Beobachtung ökologischer Komplexe. Vernetzung verneint Grenzen nicht. Ganz im Gegenteil. Sie geschieht ausschließlich mit, an und durch Grenzen (Karafillidis 2010). Es ist also schon immer eine irreführende Verkürzung gewesen, die Systemtheorie auf den Unterschied zwischen System und Umwelt zu reduzieren. Seit den Entwicklungen der Systemtheorie in den 1970er Jahren, an denen Varela einen großen Anteil gehabt hat (Varela 1979), steht nämlich außer Frage, dass es nicht um einen kategorialen Unterschied, sondern um die Unterscheidung von System und Umwelt geht. Das bedeutet: Trennung und Verbindung von System und Umwelt. Varela präsentiert in diesem kleinen Buch eine Theorie komplexer Systeme, die, im Sinne des paradoxen Verständnisses von Komplexität als Einheit einer Vielheit (Luhmann 1997: 136 f.), verschiedene Operationsformen zugleich als getrennt und miteinander verschränkt beobachtet. Autonomie verweist eben nicht auf abstrakte Unabhängigkeit, sondern betrifft die Möglichkeit des konkreten Spiels mit der Unterscheidung von Abhängigkeit und Unabhängigkeit. Manchmal geben zunächst nicht erklärbare Phänomene oder Experimente Anlass für eine Reformulierung von Forschungsfragen und -positionen. Manchmal wiederum, wie in diesem Fall, ist es ein Auftrag oder eine Aufforderung, die eigenen Überlegungen, Theorien und Forschungsergebnisse auf ein Thema zu beziehen, auf das man sie bislang, ganz gleich aus welchen Gründen, noch nicht bezogen hat. Plötzlich lassen sich im Versuch, verschiedene Perspektiven zusammenzubringen, lose Stränge auf eine überraschende Art und Weise verknüpfen. Für Varela war es die an ihn gestellte Frage der Ethik, die diese Möglichkeiten hat sichtbar werden lassen. Es war für ihn sogar, wie es im Vorwort heißt, eine große Versuchung, diese Gelegenheit zu ergreifen. Jedoch warnt er die potentiellen Leser*innen in diesem kurzen Vorwort auch, dass er sich dem Thema aus kognitionswissenschaftlicher Richtung nähert und darüber

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hinaus nicht-westliche philosophische Traditionen mit einbezieht. Das ist nicht nur eine Warnung davor, dass womöglich philosophische Erwartungen enttäuscht werden könnten, sondern vor allem auch davor, dass normative und moralische Erwartungen enttäuscht werden. Varela macht sehr deutlich, dass er diese Annäherung an Ethik als ein wissenschaftliches Problem angeht. Allerdings ist „Ethik“ ein äußerst schillernder Begriff. Er saugt Aufmerksamkeit an und präformiert Konnotationen. Aus diesem Grund ist der Eindruck entstanden, dass die Ethik das eigentlich Neue ist, das Varela in diesem Buch zu bieten hat. Das ist selbstverständlich nicht ganz falsch. Die Fokussierung der Rezeption auf ethische Fragen hat es allerdings erschwert zu sehen, das Varela nicht einfach nur weiterhin und erneut die systemtheoretischen Register zieht, die von ihm erwartet werden (Begriffe wie Strukturdeterminiertheit oder Autopoiesis kommen zum Beispiel kein einziges Mal vor), sondern die Theorie komplexer Systeme ergänzt und weiterführt. Diese Einschätzung mindert keinesfalls die Attraktivität seines nicht-moralischen Begriffs von Ethik. Aber sie macht darauf aufmerksam, dass dieses Resultat das Produkt einer Arbeit ist, die sich seiner kognitionswissenschaftlich-systemtheoretischen Argumentation verdankt und nicht nur der Hinwendung zu einem neuen Gegenstand. Welterzeugung ist der Witz, Ethik nur eine Pointe Das Buch ist mittlerweile fast 25 Jahre alt, aber es ist in Bezug auf die wissenschaftlichen Probleme, die es formuliert und diskutiert hochaktuell – um nicht zu sagen: aktueller als es bei seiner Veröffentlichung gewesen ist. Themen wie Verkörperung, Situiertheit und Verteiltheit von kognitiven Prozessen sind in den letzten Jahren prominenter geworden, und zwar sowohl im Bereich der Kognitionswissenschaften (Anderson 2003; Clark 2011) als auch in den Sozialwissenschaften (Hutchins 1995, Malsch 1997, Rammert 2007, Suchman 2007). Ethical Know-How bietet keine ausführliche Einführung und Herleitung dieser Perspektive. Der Weg dorthin ist dagegen anschaulich in Varelas 1988 erstmals erschienenen Text Cognitive Science. A Cartography of Current Ideas dargestellt (dt. Kognitionswissenschaft – Kognitionstechnik, 1990; siehe dazu den Beitrag von Maren Lehmann in diesem Band). Seine Kartographie endet mit der Vorstellung eines damals (und eigentlich auch heute noch) neuen und in der Kognitionsforschung wissenschaftspolitisch noch immer marginalen Stadiums der Kognitionswissenschaften, das er im Gegensatz zum frühen Stadium des Kognitivismus und dem daran anschließenden Konnektionismus „Welterzeugung“ nennt. Dieses Stadium ist dadurch gekennzeichnet, dass es von der Idee der Repräsentation einer Außenwelt endgültig Abschied nimmt – allerdings ohne die materielle Welt zu verlieren, sondern indem die gleichzeitige Konstitution

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von Innen und Außen in den Mittelpunkt gerückt wird. Varela hält nichts von einer Opposition zwischen Konstruktivismus und Materialismus oder zwischen subjektiv-phänomenologischer und objektiv-realistischer Betrachtung. Das geht sogar so weit, dass er sich nicht als Konstruktivist betrachtet, weil damit zu häufig eine Leugnung der aktiven Widerständigkeit von Materialität mitschwingt, die er entschieden ablehnt (Varela 2008, S. 118 f.). Die Welt wird nicht nur innerhalb eines Organismus konstruiert. Ihre Beschaffenheit und wahrgenommenen Qualitäten spiegeln sich aber auch nicht nur im Organismus. Deshalb hat Varela immerzu betont, dass es um ein Dazwischen geht, um einen mittleren Weg. Was Varela nun in jenem abschließenden Kapitel seiner historischen Rekonstruktion der Kognitionswissenschaften skizziert hat, findet in Ethical Know-How seine Fortsetzung und erste Ausarbeitung. Eine wichtige Ressource dieser Ausarbeitung sind die asiatische Philosophie und entsprechende Weisheitstraditionen. Abgesehen davon, dass dieser Rückgriff heute alles andere als neu oder besonders außergewöhnlich erscheint, ist er doch noch immer mit einem großen Risiko verknüpft. Zum einen werden dadurch holistische Interpretationen angelockt, die es nicht immer auf wissenschaftliche Forschung abgesehen haben; und zum anderen macht es diese Orientierung leicht, sich gar nicht erst die Mühe einer Lektüre machen zu müssen, weil ihre Wissenschaftlichkeit aus ideologischen Gründen leicht in Zweifel gezogen werden kann. Varela war bereit, dieses Risiko einzugehen, und zwar aus Gründen wissenschaftlicher Erkenntnis. Die Nichtbeachtung von seit Jahrhunderten gepflegten und weiterentwickelten asiatischen Techniken und Reflexionen der Erforschung des Bewusstseins und der Entschlüsselung von Wahrnehmungsprozessen ist für ihn nicht zu rechtfertigen, solange in der Kognitionsforschung offensichtlich eine große Lücke zwischen den Beschreibungen neurophysiologischer Prozesse einerseits und individuellen Erfahrungswelten andererseits klafft, die deutlich problematisiert wird und bis heute unerklärt ist. Die asiatische Tradition geht diesen Fragen seit geraumer Zeit nach und verfügt über entsprechend feingliedrige Beschreibungsmöglichkeiten und Erste-Person-Methoden. Varelas Einschätzung nach ist es folglich kognitionswissenschaftlich geboten, sich bei dieser Tradition zu erkundigen und mit ihr zu experimentieren, um das Problem der Erklärungslücke zwischen Erster-Person-Erfahrung und Dritter-PersonWissenschaft anzugehen. Das persönliche Interesse Varelas und seine eigenen Erfahrungen mit dem Buddhismus haben ihm den Zugang und Umgang mit dieser Philosophie und Praxis ohne Zweifel erleichtert. Es wäre hingegen zu einfach und bisweilen falsch, darin die Ursache für seine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit ihnen zu sehen. Aber es gibt auch Leute, die Foucaults Homosexualität für den Grund halten, weshalb er an einer Geschichte der

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Sexualität gearbeitet hat; oder die Luhmanns anfängliche Tätigkeit als Jurist in der öffentlichen Verwaltung als Ursache für seinen Zuschnitt der Systemtheorie sehen. Das kann man für das Feuilleton natürlich so machen. Trotz allem liegt die Stärke des kleinen Buchs, um das es hier geht, nicht darin, dass es kognitionswissenschaftliche mit taoistischen, buddhistischen und konfuzianistischen Einsichten abgleicht und bereichert. In dieser Hinsicht ist Der mittlere Weg der Erkenntnis (Varela/Thompson/Rosch 1992, siehe dazu auch Weber 2015) viel ausführlicher, und zwar sowohl in Bezug auf die entsprechende Terminologie von Sanskritbegriffen als auch in Bezug auf die Diskussion der Phänomenologie von Husserl und Merleau-Ponty oder der ökologischen Psychologie eines J. J. Gibson. Wer sich eher für die philosophischen Zugänge interessiert, ist beim Mittleren Weg besser aufgehoben. Varelas Bologna-Vorträge profitieren von dieser unmittelbar vorausgehenden Veröffentlichung. Es gibt Überschneidungen. Aber es gibt ebenso eine Überschätzung dieser Überschneidungen. Das scheint ein weiterer, gewichtiger Grund dafür zu sein, weshalb Ethical Know-How systemtheoretisch kaum diskutiert und zitiert worden ist: es konnte aus dem Schatten von The Embodied Mind nicht heraustreten und wurde daher zu Unrecht wohl als eine Art als Spin-off oder Kurzversion betrachtet. Dabei findet sich tatsächlich nur in Ethical Know-How diese konsequente Orientierung an Situationen und ihren neurophysiologischen Korrelaten. Im Grunde liefert Varela mit auf Kognitionsprozesse referierenden Begriffen wie „Mikrowelt“, „Mikroidentität“ und „Zusammenbruch“ Grundlagen für eine kognitionswissenschaftliche Soziologie, die nicht darin besteht, sich um einen Typ von Systemen exklusiv zu kümmern (nämlich soziale Systeme), sondern Sozialität dort entdeckt und untersucht, wo die wechselseitigen Referenzen und Verwicklungen zwischen autonomen Systemen stattfinden. Genau dafür benötigt Varela im Übrigen auch eine Systemtheorie nicht-linearer Dynamiken. Nicht die Ethik, sondern diese von ihm nicht unbedingt explizit markierten, aber offensichtlichen Entwicklungen sind das systemtheoretisch Entscheidende und auch das Neue an diesem Buch. Im Folgenden werde ich mich daher ausschließlich darauf konzentrieren.

2 Figuren Eine Handlungstheorie der Kognition Ausgangspunkt für Varela ist die Unterscheidung zwischen einem Handeln, das spontan Gutes tut, und einem moralischen oder vernünftigen Handeln, das auf ein regelgeleitetes Urteil folgt (3 ff.). Mit ausdrücklichem Hinweis auf den

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Pragmatismus von John Dewey bezeichnet er das eine als Können (Know-How) und das andere als Wissen (Know-What) (19) oder spricht später im Text auch von selbstlosen/intentionslosen in Differenz zu selbst-bewussten/intentionalen Handlungen (35). Die Frage der Ethik verortet er nun gerade nicht im Bereich des moralischen Urteils oder der Vernunft, sondern auf Seiten des spontanen Handelns. Das ist nicht normativ gemeint. „Können“ ist also nicht besser oder wünschenswerter als „Wissen“ (18). Entscheidend ist ihre Unterscheidung – und diese kann nicht auf eine Seite reduziert werden, ohne die andere mitzuführen. Jedoch ist dem „Wissen“ sowohl in der Philosophie (Ethik, Moralphilosophie) als auch in den Kognitionswissenschaften (als interne Repräsentation äußerer Aspekte) bislang weitaus größere Aufmerksamkeit gewidmet worden. Sein Interesse gilt deshalb dem „Können“ und damit der Frage, wie ein gekonntes Handeln, das unmittelbar mit Wahrnehmung verbunden ist – mehr noch: mit ihr zusammenfällt, also keine bewusst erfahrbare Zeitdifferenz zwischen Sensorik und Motorik kennt – kognitionswissenschaftlich begriffen werden kann. Varela bricht mit zwei gängigen Vorstellungen: In Bezug auf Ethik kappt er die scheinbar selbstverständliche Kopplung zur Moral und entsprechenden Urteilen (wie sich das in ähnlicher Form auch bei Charles Taylor findet, den er dazu zitiert); und im Hinblick auf spontanes Handeln macht er deutlich, dass es kein reflexhafter Automatismus ist. Spontanes Handeln ist nicht identisch mit Routine. Es ist neurophysiologisch betrachtet auch kein bloßer Reflex auf äußere Umstände und fügt sich deshalb empirisch nicht dem Stimulus–ResponseSchema (5 f.). Die Unterscheidung zwischen spontanem und überlegtem Handeln funktioniert ohne jeden Bezug auf Ethik. Für Varela war die Frage der Ethik zwar der Anlass dafür, diese Unterscheidung zu treffen, aber es handelt sich nicht um eine ethische Unterscheidung. Sie taucht interessanterweise auch in aktuellen soziologischen Handlungs- und Kulturtheorien auf, die sich an der Kognitionsforschung orientieren, um unter anderem die Selektion von Handlungen zu erklären und um zu bestimmen, wie Kultur in individuelles Verhalten hineinspielt (DiMaggio 1997; Esser 2001, S. 259 ff.; Cerulo 2010). Varela nutzt diese Unterscheidung von spontanem und überlegtem Handeln nun für Überlegungen, die aus soziologischer Sicht zu einer Handlungstheorie führen, die ohne soziologische (sic!) Akteure auskommt – denn das Selbst, bis heute integraler Bestandteil und heimlich bis offen impliziertes Zentrum jedes soziologischen Verständnisses von Akteuren, löst sich aus kognitionswissenschaftlicher Perspektive auf. Das Angebot an eine soziologische Handlungstheorie lautet demnach, sie systemtheoretisch anzugehen, sofern es nicht nur darum gehen kann, bestimmtes Handeln zu erklären, sondern empirisch zu beschreiben und

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dadurch zu verstehen, wie es sich selbst erklärt. Eine Handlungstheorie systemtheoretisch anzugehen heißt allerdings nicht sogleich, sie wie Talcott Parsons oder Niklas Luhmann angehen zu müssen, wenn auch Luhmann sich zu Recht darüber gewundert hat, weshalb ein Graben zwischen System- und Handlungstheorie gesehen wird, wo tatsächlich keiner sei (Luhmann 1980). Grundlage und Ausgangspunkt für alle weiteren Überlegungen von Varela ist ein „enactive approach to cognition“, letztlich also eine Handlungstheorie der Kognition (8 ff.): Die Welt ist uns nicht gegeben, sondern sie ist das, was wir uns essend, atmend, berührend, bewegend einhandeln. Kognition ist in diesem Ansatz eine Aktivität des gesamten Organismus-in-einer-Situation. Sie ist also alles andere als verkopft und passiv empfangend. Wir bewegen uns stets in der Unmittelbarkeit einer Situation, die zugleich mit einer laufend reaktualisierten Handlungsbereitschaft (readiness-for-action) einhergeht. Bereits eine Veränderung der Körperhaltung verändert die Situation und die Form der Handlungsbereitschaft (von Foerster 1970). Es ist notwendig, das noch ein wenig pointierter zu formulieren. Nehmen wir die wahrnehmbare Veränderung einer Körperhaltung. Die übliche Auffassung, dass es sich dabei um eine Reaktion auf außen befindliche Elemente einer Situation handelt, ist nicht richtig. Eine Beobachtung dieses Vorgangs im Reiz/Reaktions-Schema oder Input/Output-Schema ist freilich möglich, verhüllt jedoch das Entscheidende, nämlich dass die Veränderung der Körperhaltung eine Veränderung der Situation ist. Die Welt wird nicht (organismusintern) konstruiert, sie liegt aber auch nicht einfach vor. Ihre Objektivität, also das Vorhandensein scheinbar unumstößlicher Tatsachen wie zum Beispiel, dass da drüben im Zimmer unzweifelhaft eine Tasche steht, der Tisch den Rechner und meine Arme stützt und Betonwände für Menschen und Tiere undurchlässig sind (sofern intakt), ist nicht auf gegebene Eigenschaften der Welt zurückzuführen, sondern das Resultat unserer handelnden, verkörperten Auseinandersetzung damit. Wir handeln uns die Welt ein (enactment). Das illustrieren die basic-level objects (Rosch 1978), auf die Varela in dieser Hinsicht verweist (16 f.). Die grundlegende Kategorisierung eines Dinges als mittelgroß (Tasche, Tisch, Rechner, Haustier etc.) erfolgt nicht, weil ihm dieser Platz in der Welt vorgegeben ist. Sie hängt vielmehr von den Relationen zur sensomotorischen Struktur unserer Körper ab. Mittelgroße Dinge sind nicht bloß konstruiert, sondern tatsächlich mittelgroß, aber sie sind es, weil eine bestimmte körperliche Relation sie dazu macht. Beobachter können sich die Welt nicht so zurechtlegen, wie sie wollen, und dennoch handelt es sich um eine konstruierte Welt, weil das, was als relevante Welt zählt, von der Struktur der handelnd Wahrnehmenden abhängt. Also: weder eine Repräsentation noch eine „bloße“ Konstruktion, sondern eine Erzeugung

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oder auch Inszenierung von Welt (Varela 1990, S. 88 ff.; Varela/Thompson/Rosch 1992, S. 205 ff.; Karafillidis 2018). „The antinomy between constructivism and realism does not exist“ (Bourdieu 1992, S. 46). Was Varela Inszenierung beziehungsweise Welterzeugung in Situationen nennt, wird auch in der Soziologie diskutiert, wenn auch in anderen Begriffen und selten aus dieser kognitionswissenschaftlichen Perspektive, aber mit einer Fülle von komplementären Überlegungen und empirischen Beschreibungen. Schon bei Georg Simmel finden sich erste Ansätze in diese Richtung, wenn er zum Beispiel das großstädtische Erleben und Handeln über eine Veränderung der Nervenreize erklärt (Simmel 1903). Bei George Herbert Mead wird der Bezug auf Neurophysiologie dann deutlicher, und zwar vor allem am behavioristischen Begriff der Haltung. Damit bezeichnet er eine Organisation verschiedener Teile des Nervensystems, die als organische Auslöser von Handlungen gelten, aber wiederum durch die Handlung als Ganzes bestimmt werden (Mead 1934, S. 49 f.). Soziologische Interaktionsstudien stellen zudem die Aufschlüsselung von Situationen in den Vordergrund, an denen Individuen beteiligt sind, aber nicht als Ursache vorausgesetzt werden (Goffman 1967, Garfinkel/Sacks 1976). Der Sozialpsychologe und Organisationstheoretiker Karl E. Weick, der seine soziologische Ausbildung bei Harold Garfinkel bekommen hat, spricht darüber hinaus bereits sehr früh und grundlegend von „enactment“ (Weick 1979) und bezeichnet damit die schemagetriebene Einklammerung von Ausschnitten einer laufend sich wandelnden Ökologie, die dann die weitere Wahrnehmung und Handlung leitet und für die entsprechenden Beobachter die reale Umwelt ausmacht. Ein allwissender Beobachter kann behaupten, dass es sich je nur um einen Ausschnitt der Umwelt handelt, aber das ist problematisch. Denn für lokales, robustes Handeln (Leifer 1991) existiert im jeweiligen Augenblick nur diese eingehandelte Umwelt. Nicht zuletzt reagieren auch der soziologische Begriff der Praxis und mit ihm die Unterscheidung von Habitus und Feld auf ähnliche Problemzusammenhänge (Bourdieu/Wacquant 1996: 147 ff.; Reckwitz 2003; Schäfer 2015). Diese Hinweise sind alles andere als erschöpfend, was sich allein schon daraus ergibt, dass das Handeln in Situationen eines der zentralen Forschungsgebiete der Soziologie ist. Der „enactive approach“ der Kognitionsforschung unterstützt diese soziologischen Positionen – und wird durch sie unterstützt. Während in der Soziologie eher versucht wird, an einer Kognitionstheorie des Handelns zu arbeiten, arbeitet die Kognitionsforschung an einer Handlungstheorie der Kognition. Eine Kombination liegt deshalb durchaus nahe. Sie könnte von der differenzierten soziologischen Betrachtung von Situationen und Institutionen, Netzwerken und Feldern, Sinn und Kultur profitieren, ebenso wie von der

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kognitionswissenschaftlichen Radikalität, die lineare Kausalmodelle unterläuft und allzu vereinfachende Abkürzungen verhindert. Die auf Repräsentationen abstellende Schematheorie, die sich in der kognitiven Soziologie großer Beliebtheit erfreut, müsste auf dieser Grundlage modifiziert werden. Das gilt auch für die manchmal latenten, manchmal offenkundigen Referenzen auf Inputs und Outputs, wie sie sich bei Karl Weick immer wieder finden oder auch für den Stellenwert des Akteurbegriffs. Der Kern des von Varela vorgestellten Ansatzes ist die unmittelbare Verschränkung von Sensorik und Motorik. Er besteht aus zwei grundlegenden, zirkulär verknüpften Annahmen, nämlich dass a) Wahrnehmung nichts anderes als wahrnehmungsgeleitetes Handeln ist; und dass b) kognitive Strukturen aus der Wiederholung sensomotorischer Muster hervorgehen, die wahrnehmungsgeleitete Handlungen ermöglichen (12 f.). Solche wiederholten Muster verdichten sich dann sehr früh in der Entwicklung des Organismus unter anderem zu jenen basic-level categories, von denen soeben die Rede war. Dieser Kern wird gestützt durch zwei mitlaufende strukturelle Bedingungen: Situiertheit und Verkörperung. Situiertheit bezieht sich darauf, dass Kognition sich immer auf die konkrete Aktivität des gesamten Organismus bezieht und dass das entsprechende Wissen nicht abstrakt-symbolisch abgespeichert wird, sondern ausschließlich konkret und situativ verfügbar ist. Verkörperung bedeutet wiederum zweierlei (11 f.): Kognition ist zum einen abhängig von Erfahrungen, die von dem Umstand herrühren, dass wir über einen Körper verfügen, der verschiedene sensomotorische Kapazitäten mitbringt; und zum zweiten sind diese Kapazitäten historisch entwickelt und demnach eingebettet in einen weiter umfassenden biologischen und kulturellen Kontext. Sensorische (Wahrnehmung) und motorische (Handlung) Prozesse sind untrennbar verbunden und darüber hinaus situiert und verkörpert. Wahrnehmung ist ohne Handlung unmöglich. Es existiert kein passives Empfangen von Signalen, die dann anschließend verarbeitet werden. Sensomotorische Strukturen sind Grundlage unserer Erfahrung und motivieren nicht zuletzt auch rationales oder konzeptuelles Denken (15 f.). Das heißt, dass das Umschalten von einem spontanen zu einem rationalen Handeln selbst spontan (und nicht überlegt) erfolgt. Das spontane In-der-Situation-sein ist die neurophysiologische Grundlage für überlegtes Handeln und zudem weder reflexartig noch trivial. Diese Unmittelbarkeit brauchte im Laufe der Evolution weitaus länger, um sich herauszubilden. Erst auf dieser Grundlage hat sich die Fähigkeit zu rationaler, intentionaler Analyse in vergleichsweise kurzer Zeit entwickeln können (18). Überlegtes Handeln ist deshalb nicht weniger wichtig. Es ist in praktischer Hinsicht sogar unverzichtbar. Aber es geht darum, dass unser gesamtes Erleben und Handeln sich auf diese Varietät des unmittelbaren

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Bewältigens von Situationen in Situationen gründet (19). Das bezeichnet Varela als seinen Hauptpunkt und setzt deshalb auf eine nicht-lineare, dynamische Systemtheorie, die mit der diskreten Emergenz solcher Muster und mit laufenden Zusammenbrüchen dieser Muster rechnen kann. Eine solche Systemtheorie wird jedoch nicht nur gebraucht, um körperinterne, sozio-kulturelle und bewusstseinsbezogene Vorgänge jeweils für sich beschreiben zu können, sondern weil es darum geht, das komplexe Zusammenspiel zwischen Gehirn, Körper und Welt – oder auch Bewusstsein, Organismus und Gesellschaft – zu beschreiben (Thompson/Varela 2001, S. 418). Situationen: Zusammenbrüche und Lücken In jedem Augenblick verfügen wir über eine bestimmte readiness-for-action, eine aktuelle, spontane Handlungsbereitschaft, die Varela Mikroidentität nennt. Die korrespondierende gelebte Situation bezeichnet er als Mikrowelt. Im Grunde trennt er diese beiden Begriffe jedoch nicht scharf voneinander. Wenn man so will, bezieht sich „Mikroidentität“ stärker auf die Sensomotorik des individuellen Organismus, während „Mikrowelt“ den Fokus auf die Situation und ihre Bedeutung verschiebt. Aber es gibt sie nur als Dual. Unsere Erfahrung setzt sich zusammen aus wiederkehrenden Übergängen von einer Mikrowelt in die nächste (10). Der Eindruck eines kontinuierlichen Erlebnisstroms entspricht nicht dem messbaren, diskontinuierlichen Auf- und Abbau von situativ verteilten Potenzialen. Bevor eine Mikrowelt durch eine andere abgelöst wird, bricht sie zusammen. Jede konkrete Erfahrung und Erinnerung entsteht aus solchen Zusammenbrüchen heraus. Welten brechen also nicht nur hin und wieder, sondern laufend zusammen. Diesen Aspekt des breakdown haben auch Terry Winograd und Fernando Flores (1986, S. 36 f.) ausführlich mit Bezug auf Heidegger diskutiert, um darauf hinzuweisen, dass erst durch Zusammenbrüche Eigenschaften und Objekte in der Welt verfügbar werden: erst wenn die Spitze des Bleistifts abbricht oder der Rechner hängengeblieben ist oder die Ablehnung eines Angebots kommt, wird ein Zusammenhang – das Schreiben, das Surfen, das Verhandeln – als Differenz von mehreren, einzeln identifizierbaren Einheiten sichtbar. Dieses strukturelle Moment interessiert auch Varela, aber seine Beobachtung ist höher aufgelöst und betont die Unumgänglichkeit an Stelle des Ausnahmecharakters von Zusammenbrüchen (vielleicht zitiert er deshalb nicht das relevante Buch von Winograd und Flores, bedankt sich aber für die Unterstützung von Flores unmittelbar bevor er seine entsprechenden Überlegungen aufnimmt). Gemeint ist, dass zum Beispiel das Schreiben nicht nur dann zusammenbricht, wenn die Mine des Bleistifts abbricht, das Papier reißt oder der Finger schmerzt. Es bricht auch zusammen, wenn ich für einen Moment

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aus dem Fenster schaue oder wenn es klingelt oder wenn ein Kind hereinkommt. Und es baut sich wieder auf, aber womöglich anders, wenn ich mich dem Blatt wieder zuwende. Varela geht es um einen neurophysiologischen Kognitionsprozess, der unbemerkt abläuft und von ihm als Quelle von Autonomie bestimmt wird, sofern Autonomie bedeutet, dass ein lebendes System aus eigenen Ressourcen heraus seinen Weg in den nächsten Moment finden kann (11). Winograd und Flores haben es dagegen auf Zusammenbrüche angesehen, die als solche auch bewusst erlebt werden, um Designentscheidungen daran anschließen zu können. Zusammenbrüche erzeugen eine hochdynamische Aktivität im Nervensystem und fungieren auf diese Weise als Scharniere, die aufeinander folgende Mikrowelten artikulieren. Das geschieht unbemerkt und kann auch unmöglich bemerkt werden, weil dafür eine Mikroidentität und ihre relevante Mikrowelt notwendig ist, die aber offensichtlich bereits aufgebaut sein muss, so dass der breakdown entweder gerade vorbei ist oder noch nicht begonnen hat. Die Konstitution einer nächsten Mikrowelt, die sich im Zusammenbruch abzeichnet, ist aber weder determiniert, noch folgt sie irgendeinem Plan (11). Mikrowelten tauchen auf und verschwinden wieder. Sie sind auch kein Bestandteil irgendeines Selbst, das die Kognitionsforschung ohnehin schon seit ihren Anfängen, als die ersten Computermodelle des Gehirns entstanden, bezweifelt – weil es nirgends auffindbar ist und für Kognition auch nicht gebraucht wird (35 f.). Das Selbst/das Ich ist mit anderen Worten auch nur eine Mikroidentität, die letztlich genauso entsteht wie die zahllosen anderen Kohärenzmuster, die unsere Welt ausmachen. Dass es auf diese Weise entsteht, sagt hingegen noch nichts darüber aus, welche Bedeutung es für kognitive Agenten und deren soziale Einbettung hat. Mikrowelten und -identitäten sind sensomotorische Kohärenzmuster, die Ensembles von vorübergehend korrelierten neuronalen Subnetzwerken vorübergehend überlagern. Diese Ensembles sind nicht nur Resultat sensorischer und motorischer Oberflächen, sondern zugleich ihre Quelle (45). Denn generell gilt das Gesetz der Reziprozität: Ist eine Hirnregion A verbunden mit einer anderen Region B, dann ist B auch mit A verbunden, allerdings über eine andere anatomische Route (46). Die Dynamik, die einer sensomotorischen Aufgabe zugrunde liegt, basiert also auf einem Zwei-Wege-System, einer FeedbackSchleife mit zahlreichen dichten Querverbindungen (McCulloch 1945). Das widerspricht jeder Vorstellung eines linearen, sukzessiven Abstrahierens von Information aus Wahrnehmungsdaten. Jedes Neuron operiert immer als Teil eines großen Ensembles von Neuronen, und die Reaktionen solcher Ensembles, an denen jeweils Millionen von Neuronen beteiligt sind, erweisen sich als höchst labil und kontextsensitiv. Nur in hoch simplifizierten Umwelten, zum Beispiel

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unter Betäubung, lassen sich bestimmte Reaktionen auf bestimmte Eigenschaften visueller Stimuli eindeutig beobachten und wiederholbar erwarten. Sonst sind die Reaktionen auf bestimmte Stimuli unbestimmt. Lange Zeit wurde das nicht beachtet, weil das Motorium immer nur als downstream verstanden wurde: sensorischer Reiz (Input) führt zu einer motorischen Reaktion (Output). Das hat sich jedoch als Irrtum herausgestellt. Es ignoriert das Gesetz der Reziprozität. Das Motorium steht in Resonanz mit dem Sensorium (von Foerster 1976). Wahrnehmung ist nie zentralisiert. Sie emergiert aus gleichzeitig operierenden neuronalen Subnetzwerken, zum Beispiel Netzwerken zur Beschaffenheit von Oberflächen, zur Orientierung im Raum oder zur Bewegung. Das Wahrnehmungsereignis – eine Mikrowelt – ist dann die momenthaft erzeugte Kohärenz, die aus diesem Vor und Zurück von Signalen heraus entsteht. Dieser Prozess – von der Oszillation zwischen Subnetzwerken bis hin zu einem globalen Kohärenzmuster – vollzieht sich in einem Zeitraum von 200 bis 500 ms. Das ist entsprechend die Jetztheit einer sensomotorischen Einheit (47 ff.). Unter Berufung auf andere Experimente verweist auch Brian Massumi (1995) auf diese „fehlende“ halbe Sekunde zwischen körperlicher Aktivität und bewusstem Ausdruck. Er schließt daraus auf die Autonomie (neurophysiologischer) Affekte, die in Auseinandersetzung des Körpers mit Umwelten entstehen und insofern autonom sind, als sie der bewussten Wahrnehmung vorausgehen. Varela sieht in der experimentellen Ermittlung dieses (affektiven) Jetzt-Zeitraums außerdem eine Bestätigung für die Diskontinuität handelnden Wahrnehmens: „Contrary to what seems to be the case from a cursory introspection, cognition does not flow seamlessly from one ‚state‘ to another, but rather consists in a punctuated succession of behavioral patterns that arise and subside in measurable time. This insight of recent neuroscience – and of cognitive science in general – is fundamental, for it relieves us from the tyranny of searching for a centralized, homuncular quality to account for a cognitive agent’s normal behavior.“ (49)

Und, so muss man hinzufügen, es verweist darauf, dass die pragmatistische Annahme eines Handlungsstroms, einer ongoing activity, phänomenal betrachtet zwar korrekt ist, aber neurophysiologisch durch eine Verknüpfung von unterscheidbaren Zuständen erzeugt wird. Die Dynamik der Lücke im Moment des durch einen Zusammenbruch artikulierten Übergangs von einer Mikrowelt/-identität in die nächste lässt sich genauer bestimmen. Die Lücke (gap) zwischen zwei solchen Mustern ist nicht

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leer und auch nicht statisch oder ruhig. Vielmehr ist sie „übervoll“, ein Überschuss von Möglichkeiten der aktuell durchgeführten Handlung und ihrer Zuschreibung von Bedeutung (Massumi 1995, S. 90). Aus dieser überschüssigen, inkohärenten, chaotischen Aktivität entstehen emergente Muster, und zwar durch schnelle Oszillation (mit einer Periode von 5 bis 10 ms). Oszillation ist das Mittel, durch das eine Menge von Neuronen selektiv zu einem vorübergehenden Aggregat gebunden wird. Diese Bindung bildet das Substrat für die konkrete sinnliche Wahrnehmung in einem bestimmten Moment (das Riechen einer Speise, das Sehen eines Hindernisses, das Fühlen einer Oberfläche, die Teilnahme an einem Gespräch etc.). Aus einem Substrat vieler potentieller Mikrowelten übernimmt eine die Führung, setzt sich für einen Moment durch, und bildet auf diese Weise ein kohärentes Muster, das die Wahrnehmungserfahrung in einer konkreten Situation prägt. Die Lücke ist somit die Bedingung für Autonomie und für die Vielfalt unterschiedlicher Verhaltensweisen. Die jeweilige Wahrnehmung/Handlung kann demgemäß keine Folge eines Abgleichs (match) von gespeicherten Modellen mit externen Ereignissen oder Reizen sein (so Esser 2001, S. 213 und passim). Es ist die kreative Erzeugung von Bedeutung auf Basis der verkörperten Geschichte des Organismus. Sie wird durch die Lücke zwischen einem Moment des Verhaltens und dem nächsten ermöglicht, und zwar über Oszillationen zwischen neuronalen Populationen. Innenwelt und Außenwelt entstehen parallel, und zwar im Vollzug des Handelns/ Erlebens. Ein Abgleich wäre dagegen nur möglich, wenn es eine zeitliche Differenz von Situation und Handlung sowie eine vorangehende Trennung von innen (Repräsentationen: Schemata, Skripts) und außen (Situation, Objekte) gäbe. Diese Unterschiede sind ohne Zweifel rückblickend immer da, werden aber mit Hilfe von Oszillation und Gedächtnis in jedem Moment neu produziert. Sie sind, so kann man vielleicht sagen, der Output der beschriebenen Konstellation, nicht ihr Input. Erstaunlich ist darüber hinaus, dass diese Dynamik sich permanent einstellt, ohne dass dafür sensorische Auslöser nötig sind. In verschiedenen Hirnregionen tauchen immer wieder Oszillationen auf und verschwinden schnell wieder. Sie sind stets eingebettet in und aktiviert durch die gegenwärtige Situation, aber nicht kausal durch sie ausgelöst. Es ist eher eine Art Wetteifern um einen kohärenten Rahmen, der eine Handlungsbereitschaft erzeugt und zugleich bestimmte Erwartungen und Emotionen motiviert. Das Resultat wird letztlich zum Erlebens- und Handlungsmodus des nächsten Moments: zu einer Mikrowelt (50 f.). Zusammenfassend zeichnet sich damit ein Begriff der Situation ab. Eine Situation entspricht einer momenthaft aktualisierten Genese und Verstrickung von sensomotorischen Strukturen, ihrer Artefakte, einer bestimmten M ­ aterialität

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und den an ihnen kondensierenden Erwartungen. Diese unterscheidbaren, wenn auch nicht trennbaren Komplexe, stehen jeweils in kommunikativen, also unbestimmten, aber bestimmbaren Relationen zueinander. Sie kontrollieren sich wechselseitig, und zwar heterarchisch, mit wechselnder, situationsabhängiger Führung. Deshalb sind Situationen stets sozial – und nicht einfach darum, weil auch mehrere Menschen daran beteiligt sein können. Varela betrachtet das Geschehen letzten Endes als Biologe, also vornehmlich aus der Sicht autonomer Organismen. Doch sowohl das empirische Arrangement, das er immer wieder beschreibt, als auch seine systemtheoretische Position, die eine Generalisierung ermöglicht, erlauben und forcieren einen Sichtwechsel. So heißt es bei Varela zum Beispiel, dass Oszillationen zwischen breakdowns Symptome einer äußerst rapiden Ko-Operation und eines Widerstreits zwischen unterscheidbaren Agentien sind (51; siehe zu Agentien Barad 2012; zum Widerstreit Baecker 2013, S. 148 ff.). Er bezieht sich dabei zugegeben auf situativ im Widerstreit stehende neuronale Subnetzwerke, aber sein eigener Anspruch der Formulierung des Zusammenspiels von Gehirn, Körper und Welt sowie seine theoretische Grundlage legen eine Generalisierung nahe, die überdies noch durch soziologische und ethnologische Entwicklungen zur Verteiltheit von Kognition und Handlungspotential gedeckt wird (Hutchins 1995; Latour 2007; Rammert 2007). Neurophysiologisch erzeugte Medialität: Sinn und Information Der handlungstheoretische Ansatz der Kognitionsforschung muss sich immer wieder gegen zwar kaum noch haltbare, aber fest etablierte und weit verbreitete kognitionswissenschaftliche Prämissen bewähren. Deswegen nehmen die Negativbestimmungen von Kognition, das heißt die Bestimmungen dessen, was sie nicht ist, in diesem Buch fast genauso viel Platz ein wie die positiven Formulierungen. Viele Vorstellungen, die sich weit über wissenschaftliche Kreise hinaus gesellschaftlich festgesetzt haben, gehen auf frühe Versuche zurück, Kognition als digitalen Rechenvorgang zur Lösung von Problemen zu begreifen. Auch diesem Computermodell des Geistes widerspricht Varela. Kognition als Prozess der Entstehung von Mikrowelten operiert nicht in Form von hierarchisch aufgebauten Algorithmen (54) und folgt auch nicht Optimierungs- oder Maximierungsgesichtspunkten (51). Es handelt sich um eine Bifurkation aus einer chaotischen Dynamik heraus, die nicht auf wenige, entscheidende Werte, beispielsweise von Kosten und Nutzen, zurückgerechnet werden kann (das gilt auch dann, wenn angenommen wird, dass Kosten und Nutzen nicht bewusst abgewogen werden, weil das voraussetzt, dass die entsprechenden Werte neuronal repräsentiert und abgespeichert werden; und es gilt überdies auch dann, wenn man „Kosten“ und „Nutzen“ in Anführungszeichen setzt, um auf ihre bloß

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metaphorische Verwendung hinzuweisen). Eine Bewertung findet laufend statt, aber sie ist Teil der Situation und nicht eines Subjekts, das mit einer objektiven Situation konfrontiert ist (Martin 2011, S. 191 ff.). Durch die Einschränkungen der Situation (erneut: gemeint sind nicht von außen auferlegte Einschränkungen, sondern Einschränkungen, die sich aus der kommunikativen Verschränkung selbst und der auf diese Weise gemeinsam erzeugten Welt ergeben) und das wiederholte Auftauchen der gelebten Geschichte wird aus einer Vielzahl möglicher Muster ein einzelnes ausgewählt (52). So entsteht ein Medium, dass allerdings sowohl für kognitionswissenschaftliche als auch für beteiligte Beobachtungseinheiten nur in Differenz zu dieser situationsabhängigen, vorübergehenden Selektion begreifbar wird. Dieses Medium, „a cradle of autonomous action“ (51), ist der gelebten Erfahrung nicht zugänglich. Im Augenblick der Konstitution einer Mikroidentität ist es bereits für immer verloren. Varelas Plädoyer für Erste-Person-Methoden (Varela 2008, S. 125 f.) wird vor diesem Hintergrund verständlich, weil diese Erfahrung zwar nicht bewusst erlebt werden kann, aber eben begreifbar und der Forschung anders zugänglich wird, sobald wissenschaftlich geschulte Beobachterinnen in der Lage sind, die typische Dritte-Person-Differenz zwischen Kognitionswissenschaft auf der einen und Partizipation in Situationen auf der anderen Seite durch Übung zu suspendieren. Die Unterscheidung zwischen einem sich durch Oszillation immer wieder neu konstituierenden Medium für Mikroidentitäten (Handlungs-/Wahrnehmungsverschränkungen) und der selektiven Bindung einer Menge von Neuronen, die immer wieder zusammenbricht, weist nicht nur eine Nähe zum Informationsbegriff der mathematischen Kommunikationstheorie (Shannon/Weaver 1949) und zum Formkalkül von Spencer-Brown (1994) auf. Dieser kognitionswissenschaftliche Befund bestätigt darüber hinaus etwas, das bereits mit Hilfe von rekursiven Funktionen gezeigt (von Foerster 1972) und auf diesen Grundlagen auch soziologisch herausgearbeitet worden ist (Baecker 2005): Information wird erzeugt, nicht verarbeitet. Die Selektion einer Möglichkeit aus einem laufend produzierten Überschuss ist eine Figur, die Luhmann beizeiten sogar für grundlegender hielt als Spencer-Browns Unterscheidung von Unterscheiden-und-Bezeichnen, die nur ein Anwendungsfall der ersteren sei (Luhmann 1990, S. 81). In dieser Form wird zudem Sinn bestimmbar, und zwar sowohl phänomenologisch, als Verweisungsüberschuss, wie auch formtheoretisch, als Möglichkeitsüberschuss (Luhmann 1997, S. 44 ff.). Und tatsächlich ist für Varela diese im Zusammenbruch durch Oszillation und Geschichte produzierte „surplus signification“ (56) entscheidend für die Erzeugung von Welt, die von der Umwelt einzelner Organismen unterschieden werden muss.

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Welt-Umwelt Wir befinden uns damit an derjenigen Stelle, an der Varela sein zentrales, generalisierungsfähiges Angebot an die Systemtheorie formuliert. Seine Darstellung gründet sich darauf, dass Umwelt und Welt unterschieden werden müssen (55 f.; siehe dazu auch Luhmann 1984, S. 283 ff.). Varela untersucht und diskutiert die genannten Mechanismen in erster Linie in Bezug auf die Autonomie sensomotorischer Einheiten; das kann leicht zu dem Eindruck führen, dass die Systemtheorie sich auf „Organismen als Systeme“ beschränkt (übrigens seien die bislang genannten Prozesse nicht nur bei Säugern, sondern auch bei den neuro-strukturell sehr verschiedenen Vögeln und auch bei wirbellosen Tieren beobachtet worden, so Varela). Organismen stehen hingegen in wechselseitigen System/Umwelt-Verhältnissen zueinander und interagieren über Kopplungen mit ihrer Umwelt. So lassen sich einzelne kognitive Agenten und ihre makrophysischen Interaktionen mit der Umwelt untersuchen. Diese Kopplungen mit der Umwelt sind nur möglich, weil Systeme nicht objektiv auf gegebene Außenbedingungen reagieren, sondern gerade weil sie unausweichlich immer eine Perspektive einnehmen. Das nötigt sie zu einer laufenden Neudefinition dessen, was in jedem Moment zu tun ist (vgl. Goffman 1974, S. 8 ff.). Auf diese Weise treten sie in eine Welt ein – eine Welt, die sie mitkonstituieren, über die sie aber nicht einfach bestimmen können. Bedingung dieses Einschlusses in die Welt (der, einfacher macht es uns die Systemtheorie nicht, zugleich ein Ausschluss aus einer Umwelt ist, weil sich sonst keine Autonomie beobachten ließe) ist die Erarbeitung von überschüssiger Bedeutung auf Grundlage der jeweils aktuellen Perspektive. Das geschieht nicht planvoll und auch nicht determiniert. Varela bevorzugt das Bild einer Jamsession, in der die eingehandelte Umwelt die neuronale „Musik“ inspiriert. Erst auf dieser Grundlage entwickeln sich dann auch Intentionen oder, wie Varela versucht ist zu sagen: Wünsche/Begehren („desires“: Deleuze wird es ihm danken) (56). Die Systemtheorie beobachtet nicht einzig Systeme-in-Umwelten, sondern, etwas holprig ausgedrückt, Systeme-in-Umwelten-Welten. Sie betrachtet die Emergenz von Regelmäßigkeiten, auf die jegliches Leben notwendig angewiesen ist. Das schließt Regelmäßigkeiten individueller Handlungsverläufe mit ein, aber wichtiger ist die Entstehung von Situationen, die dann auch individuell adressierbares Handeln und Gedächtnis motivieren. Das Vorkommen von wiederholten Situationen bedeutet allerdings nicht, dass die oben beschriebene Dynamik ruht, zumal es nie eine identische Wiederholung gibt. Insofern steht in jeder Situation etwas auf dem Spiel, auch wenn das nicht zwingend auffallen muss. „Jede konkrete Handlung ist die Lösung einer Situation“ (Thomas 1965: 84).

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Situationen können scheitern. Sie können zusammenbrechen im Sinne von Winograd und Flores, also als Zusammenbruch erlebt werden. Das ist der Punkt, an dem ein Selbst und sein Bewusstsein emergieren und es zu überlegten, rationalen Handlungen kommen kann. Doch systemtheoretisch interessieren die Bedingungen der Möglichkeit rationalen Handelns. Diese Bedingungen liegen empirisch nicht in Nutzenerwartungen und in der Suche nach gespeicherten (!) Informationen (Esser 2001, S.  259  ff.), sondern in Improvisation und Informationserzeugung. Erst nachdem kognitive Operationen in Situationen sich zu wiederkehrenden, regelmäßigen kommunikativen Beziehungen (Varela spricht von: Kopplungen) verdichten, lässt sich vereinfachend von Repräsentationen sprechen (57) oder das Gehirn auf Grundlage einer veralteten Computermetapher als Speicher für Wissen und Information begreifen. Das macht eine Forschung, die erst an dieser Stelle einsetzt, nicht obsolet. Doch zu diesem Zeitpunkt ist „spontan“ bereits zu viel geschehen, als dass es wissenschaftlich gerechtfertigt werden könnte, sich damit zufrieden zu geben und immer erst bei Repräsentationen zu beginnen. Es ist unbestritten, dass sich mit einer Reduktion auf Repräsentation arbeiten lässt, und vor allem auch: dass sich damit leichter arbeiten lässt, weil es sich um eine Position handelt, die nicht mehr eigens legitimiert werden muss. Aber dann kann die Begründung für diesen Ansatzpunkt nicht auf empirische Prozesse verweisen, sondern nur auf den Versuch, bestimmten wissenschaftstheoretischen Ansprüchen zu genügen. Genau hier gehen die Interessen der Systemtheorie und aktueller Handlungstheorien auseinander. Während die Systemtheorie eher bereit ist, die klassische Wissenschaftstheorie (und ebenso ihre ursprüngliche technische Anwendbarkeit, wie in der frühen Kybernetik) zu opfern, um der Beobachtung empirischer Prozesse gerecht zu werden, kappt eine am vorherrschenden Kognitivismus der Kognitionsforschung ausgerichtete Handlungstheorie an einer gewissen Stelle den Bezug zur Empirie, um auch weiterhin einer bestimmten, ebenfalls vorherrschenden Idee von Erklärung gerecht werden zu können. Operative Emergenz Varela arbeitet bei seinem Versuch, kognitive Operationen als Entstehung und Zusammenbruch kohärenter Muster aus einer chaotischen Dynamik neuronaler Subnetzwerke zu erklären, noch immer mit der aus der Systemtheorie nicht wegzudenkenden Idee der Emergenz. „Aber ‚Emergenz‘ ist eher die Komponente einer Erzählung als ein Begriff, der zur Erklärung von Emergenz verwendet werden könnte“ wie Luhmann (1997: 134 f.) es auf den Punkt gebracht hat. Es bietet sich natürlich an, die Nervenzellen als materiell dauerhafte Elemente zu verstehen, aus deren Vernetzung emergente Phänomene, darunter: Bewusstsein,

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entstehen. Doch systemtheoretisch beobachtet Varela als Elemente nicht einzelne Neuronen, sondern Oszillationen in und zwischen Nervenpopulationen. Diese Beobachtung von Oszillationen, momenthaft einrastenden neuronalen Mustern (Mikrowelten und Mikroidentitäten) und laufenden Zusammenbrüchen orientiert sich an minimalen Zeiträumen, das heißt letzten Endes an Operationen und nicht an dauerhaften Bausteinen als Elementen von Systemen. Varela denkt also die ursprüngliche Idee einer Emergenz von unten (upward causation) zusammen mit einer Emergenz von oben (downward causation), wenn es darum geht, die nichtlinearen Konsequenzen der positiven und negativen Feedbackinteraktionen in großen Ensembles – in Netzwerken nicht-linearer Oszillatoren – zu beschreiben (Thompson/Varela 2001: 419). Das führt geradewegs in zirkuläre Figuren hinein, weil die neuronalen Interaktionen in dieser Betrachtung durch das determiniert werden, was sie determinieren. Emergenz ist demnach ein Begriff für diese Zirkularität und die dadurch in Gang gesetzte Selbstorganisation. Darüber hinaus kann sie, das wird bei der Lektüre von Ethical Know-How deutlich, in einem operativen Ansatz nur diskontinuierlich begriffen werden. Wir begegnen dieser Unterscheidung immer wieder, nun als Problem der Emergenz. Der Wahrnehmungsstrom wird von menschlichen Beobachterinnen als kontinuierlich erlebt, aber nur deshalb, weil sich seine Konstitution nicht mitbeobachten lässt (Fuchs 1999). Einzelne Wahrnehmungszustände, die sehr rasch aufeinander folgen, sind jeweils einzelne emergente Zustände, die über die Dynamik der breakdowns verknüpft werden. Emergenz ist kein einmal erreichter und dann dauerhafter Zustand, sondern laufende Unterbrechung und Neuaufbau von Komplexität (Luhmann 1984, S. 44). Es ist eine Bezeichnung für den Augenblick, der unmittelbar den nächsten Zusammenbruch ankündigt. Die übliche alltägliche Erfahrung eines Selbst, eines zentralen „Ich“, ist solch ein emergentes Phänomen (52 ff.). Entgegen gängiger Erzählungen und Selbstbeobachtungen handelt es sich noch nicht einmal beim Selbst, diesem scheinbar innerlichsten, festen Kern eines menschlichen Individuums, um einen dauerhaften, konstanten Begleiter. Kognitionswissenschaftlich hat es keine Substanz und auch keinen festen Ort im Organismus – nicht einmal im Gehirn (36 ff.). Wie jedes emergente Phänomen taucht es auf und verschwindet wieder. Derweil wird weiter gehandelt. Und das ist das Problem, das Varelas wissenschaftliche Aufmerksamkeit erregt. Ein solches koordinierendes Zentrum von Intentionen und Handlungsabsichten ist trotz allem Teil unserer gelebten Erfahrungen und grundlegend für das Verhalten eines menschlichen Organismus. Ein Spezifikum des Menschen ist ein Selbst hingegen nicht. Ameisenhaufen oder Bienenstöcke erscheinen ebenso als absichtsvoll handelndes Ganzes und auch dort kann kein koordinierendes

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Zentrum ausgemacht werden (52  f.). Menschenbesonderheitsverteidigungsinstanzen werden vermutlich einwenden, dass es externen Beobachtern eines Ameisenhaufens ja nur so erscheint, als ob dort eine Absicht vorhanden sei, während die einzelnen Ameisen selbst und ebenso der Haufen gar keine Absichten haben. Menschen hingegen können ihre Absichten setzen, verändern und erleben. Das wird hier nicht bestritten. Es lohnt sich aber, dieses kognitionswissenschaftliche Argument von Varela mit angemessener Genauigkeit zu betrachten. Zunächst einmal ist es wichtig zu erkennen, dass der Vergleich nicht auf der Ebene Mensch-Ameise läuft, sondern über: neuronales Subnetzwerk-Ameise. Das kohärente globale Muster eines bewussten Selbst, das aus der selektiven Verknüpfung neuronaler Subnetzwerke heraus entsteht, entspricht dem als Einheit beobachteten Ameisenhaufen. Nun benötigen allerdings sowohl das Selbst eines Menschen als auch das Selbst des Ameisenhaufens eine Beobachtungsinstanz, die sie als absichtsvoll beobachtet. Für das strukturelle Problem, um das es hier geht, ist es irrelevant, wo diese beobachtende Instanz lokalisiert wird, ob im Kopf oder vor dem Haufen. Die Erfahrung einer Absicht ist historisch betrachtet ohnehin nicht von innen nach außen, sondern eher von außen nach innen gewandert (siehe dieses Argument mit Bezug auf Symbole: Hutchins 1995, S. 353 ff.). Menschen haben nicht Absichten, weil ihre biologische Verfassung sie notwendig vorsieht, sondern weil die sozio-kulturelle Evolution sie hervorgebracht hat. Sie haben gelernt, Absichten zu entwickeln und zu haben. Das menschliche Selbst erfährt von externen Beobachtern (historisch: von Priestern und Erziehern, ontogenetisch: von Eltern und Erziehern; Hahn 1982, Sonntag 1999), dass es Absichten hat, weil ihm Absichten zugerechnet werden, die es dann auch tatsächlich hat und von denen es dann auch abweichen kann, indem es diesen Absichten andere Absichten entgegensetzt. Der Unterschied zum Ameisenhaufen ist freilich, dass wir wissen, dass das Bewusstsein sich mit seinen Absichten und Intentionen identifizieren und sie sich zu eigen machen kann. Doch diese Identifikation ist prekär. Sonst käme es nicht immer wieder zu einer Verwunderung darüber, was dieses Selbst ist und wie es etwas will, auch wenn es gute Gründe gibt, es nicht zu wollen. Deshalb wird das Selbst (oder auch: die Identität) gern gesucht und manchmal auch geliebt oder mithin verflucht. Das alles ist eine gewöhnliche Erfahrung im Alltagsleben und begleitet uns in den letzten Jahrzehnten mit steigernder gesellschaftlicher Aufmerksamkeit. Handeln ohne Akteur Es gibt kognitive Prozesse, derer man sich nicht bewusst ist und nicht bewusst sein kann. Das meint jedoch ein anderes Unbewusstes als das, was üblicherweise unter dem „Unbewussten“ verstanden wird (37). Diese kognitiven Prozesse

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können nicht durch Reflexion und auch nicht durch Therapiesitzungen bewusst gemacht werden. Wäre das der Fall, so würde die für Kognition konstitutive unmittelbare Kopplung von Sensorium und Motorium entfallen, weil bewusste Operationen zu langsam sind, um enacted cognition zu vollziehen. Dass das Bewusstsein ungünstig in derart verkörperte Praktiken interveniert (freilich ohne sie zu ersetzen oder zu zerstören), erfahren vor allem Sportlerinnen, deren Leistung darunter leiden kann, wenn sie, wie es manchmal heißt, „anfangen zu denken“. Das gilt selbst für Denksport. Professionelle Schachspieler verdanken ihr Geschick nicht ihrem rechnenden Bewusstsein, sondern dem Eintauchen in die Spielsituation, die sie sich gemeinsam einhandeln (Leifer 1991). Kognition funktioniert auch ohne Bewusstsein, das letztlich nur ein mentaler Vorgang neben anderen ist. Das ist auch der Ausgangspunkt einer radikalen Mikrosoziologie (Collins 1981), die den bewussten Akteur als Ausnahmefall betrachtet. Dieses Problem lässt sich nicht einfach durch ein weiteres Modell des Akteurs beheben, das den bereits vorhandenen Modellen hinzugefügt wird (Schimank 2007). Vielmehr stellt sich die Frage, ob eine Handlungstheorie sich nicht zu stark einschränkt, wenn sie von Akteuren ausgeht, weil sie so zwangsläufig auf ein Bewusstsein rekurriert, das als (bewusstes und unbewusstes) Kalkulationszentrum fungiert. Die kognitiven, also in Varelas Sinne unbewussten Prozesse bleiben dann unbeachtet. Eine Soziologie, die von Akteuren ausgeht, bekommt es damit, ob beabsichtigt oder nicht, zwangsläufig mit einem letztlich Freudianischen Verständnis des Unbewussten zu tun – inklusive aller damit erkauften Probleme und inklusive eines damit einhergehenden Verzichts auf Erste-Person-Erklärungen (Martin 2011, S. 74 ff.). Das heißt nicht, dass auf die Beobachtung von Akteuren verzichtet werden muss. Es ist mehr als zweifelhaft, ob überhaupt auf dieses Konzept verzichtet werden kann. Es heißt aber durchaus, dass eine Theorie des Handelns sich die Frage stellen muss, wie Akteure relational in Netzwerken, Institutionen oder Feldern entstehen (White 1992, S. 245 ff.; Abbott 1995, S. 863; Meyer/Jepperson 2000) und dann die SelbstWahrnehmung und Selbst-Beobachtung in der Sensomotorik von Situationen anund umleiten – anstatt grob vereinfachend die Theorie damit zu beginnen, dass Menschen per se Akteure sind und dass Akteure allen sozialen Prozessen vorangehen. Der Vollzug der meisten Handlungen im täglichen Leben braucht keinen Akteur im soziologischen Sinne, weil dafür kein Bewusstsein nötig ist. Aber das zwingt nicht zur Annahme, dass Akteure unbewusst handeln. Die Behauptung, dass Akteure meist unbewusst handeln, ist eine Verlegenheitslösung zur Rettung der Idee des Akteurs. Sobald etwas unbewusst handelt, kann es schon kein Akteur sein, sondern ist dann vielmehr ein Behandeltes, allenfalls irgendwie Mit-

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handelndes. Die Behauptung des Gegenteils zeigt nur, dass die Handlungstheorie einer substantialistischen und abstrakten Vorstellung von Akteuren anhängt, die irgendwie bereits da sind und handeln. Dass Akteure aus (Selbst-)Beschreibungen sozialer Prozesse nicht wegzudenken sind, hat andere Gründe. Sie gehören zu unserem sozio-kulturellen Repertoire, das wir erzählend aufgreifen und reproduzieren. Schließlich passiert es dauernd, dass wir für andere sprachlich verfasste Erzählungen anfertigen (60) und uns wie auch andere darin als Akteure präsentieren, inklusive Intentionen, Absichten und Motiven – was dazwischen passiert wird ignoriert. Da wir laufend solche Geschichten produzieren und in ihnen förmlich leben, interferiert Bewusstsein auch während des Handelns. Das ist jedoch nicht der kognitionswissenschaftlich relevante Prozess. Doch was hat das Bewusstsein dann hier verloren? Bewusstsein als Interface Bewusstsein ist einerseits nichts anderes als die Auflösung der Paradoxie der Emergenz, also ein Effekt des Umstands, dass lokale neuronale Ensembles „von unten“ eine globale Kohärenz (Handlungsbereitschaft) erzeugen, die dieses lokale Geschehen „von oben“ bestimmt (60 f.). Andererseits wird dieser Effekt ausschließlich im Zusammenhang mit sprachlich verfassten Erzählungen erzielt. Bewusstsein ist folglich kein rein mentales, körperinternes Produkt. Das Bewusstsein eines Selbst, das Ich, ist ein Interface zwischen dem materiellen Körper, den alle Lebewesen mit Nervensystemen haben, und den sozialen Dynamiken, in denen wir uns unausweichlich bewegen (62). Bewusstsein ist die relevante Grenze zwischen Nervensystem und Sozialsystem, entstanden und aktiviert in und durch Situationen (siehe auch Mead 1934, S. 56 ff.). Hier wagt Varela dann sogar den Schritt in soziologische Themen hinein, wenn er an dieser Stelle kurz davon spricht, dass es falsch sei, Regelmäßigkeiten wie Rollen, Werte oder Normen als externe Begebenheiten anzunehmen und ihnen dadurch eine substantielle Identität zu geben, die sie genauso wenig haben wie ein Ich und entsprechend genauso dekonstruiert werden können. Die Stellung des Bewusstseins wird dadurch weder auf- noch abgewertet. Aber die Perspektive ändert sich. Bewusstsein wird nun erkennbar als eine Instanz der Vernetzung. Das ist im Lichte der soziologischen Netzwerkforschung kaum verwunderlich. Dort wird seit geraumer Zeit beobachtet, dass Netzwerke sowohl ein Bewusstsein des Netzwerks als auch darüber hinausgehende Vernetzungsstrukturen einschließen und dass sich mit Bezug darauf Sprachstrukturen entwickelt haben (White 1995). Darüber hinaus wird eine Art Schicksal des Bewusstseins deutlich und erklärbar. Bewusstsein kann weder neurophysiologische noch sozio-kulturelle Prozesse unmittelbar erleben und behandeln. In

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Bezug auf die Beobachtung unserer Körper haben wir uns schon längst daran gewöhnt, dass dort am Bewusstsein vorbei, unbemerkt und nicht kontrollierbar körperinterne Vorgänge ablaufen oder Krankheiten ausbrechen. Spätestens seit Freud haben wir ferner angefangen zu akzeptieren, dass es viele individuelle Reaktionen, Verhaltensweisen und Handlungen gibt, auf die das Bewusstsein keinen Zugriff hat. In Bezug auf sozio-kulturelle Prozesse hält sich im Gegensatz dazu im Alltag noch immer die Vorstellung, dass die daran Beteiligten stets den Durchblick und die Kontrolle darüber haben könnten (oder müssten), wie sie sich zum aktuellen Geschehen verhalten. Doch soziale Ensembles oszillieren im Prinzip genauso schnell wie neuronale Ensembles. Die Illusion der Kontrolle sozialer Phänomene ist nur durch Ignoranz ihrer Dynamik und durch ihre Anpassung an die Langsamkeit eines denkenden und kalkulierenden Bewusstseins zu haben. Das Enttäuschungsrisiko ist entsprechend groß und deshalb gibt es immer Bedarf für psychische Coping-Strategien oder für sozial anerkannte Motive und für Rationalität. Ohne dieses Interface hätte sich weder die menschliche Sensomotorik in der Form entwickelt, wie wir sie heute kennen, noch wäre eine sozio-kulturelle Evolution möglich gewesen. Das Bewusstsein ist die Lösung des Problems der Verfügbarkeit einer doppelten Unverfügbarkeit der Welt. Die Quelle unserer Autonomie liegt für Varela in diesen bewusst nicht verfügbaren Prozessen. Ohne ein Interface würden sie jedoch ungenutzt bleiben. Mehr noch wäre es fraglich, ob es sie in dieser Form gäbe. Sofern es nun gelingt, das Bewusstsein als das kennenzulernen, was es ist, – nämlich leer, substanzlos, virtuell – stellt sich, so Varelas These, ethisches Know-How ein (63), weil es dann möglich wird zu bestimmen, ob und wie Bewusstsein in Situationen interferiert oder nicht.

3 Gestalten Und worauf läuft all das praktisch-empirisch hinaus? Auf Nicht-Tun: Wu-Wei. Das bezeichnet den Moment, an dem etwas getan wird, ohne es zu tun, weil jeder möglichen Überlegung Unmittelbarkeit vorausgeht (33 ff.). Das Handelnde kann während des Erlebens und Handelns nicht mehr von der Handlung unterschieden werden. Die Dualität von Akteur und Handlung verschwindet. Das ist keine Frage von Spiritualität, denn diese Erfahrung ist allgegenwärtig. Nur wird sie immer erst rückblickend erkennbar, und zwar als der Punkt, an dem man seinen „inneren Schweinehund“ überwunden hat oder im sogenannten Flow gewesen ist. Das sind immer wieder auftauchende Momente, in denen kein Rest von Selbst-Bewusstsein übrig bleibt, um damit die Handlung gleichsam von Außen betrachten zu

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können. Nichts zerstört das Tanzen effektiver als eine Selbstbeobachtung als Akteur. Die Erfahrung ist bekannt. Die asiatische Philosophietradition verweist darüber hinaus auf die Tatsache, dass es Methoden und Techniken gibt, deren Übung regelmäßig zu Wu-Wei führen kann (in der Antike waren im Übrigen ebenfalls geistige Techniken Bestandteil der Philosophie; Hadot 2002). Das Selbst zu vergessen, heißt vor allem zu realisieren, dass jede Eigenschaft, die man hat, jede Absicht, jedes Begehren, zugleich konditioniert und konditionierend ist. Sensomotorik der Situation: eingebettet und eingehandelt zwischen Verkörperung und Sozialität. Das Buch erschöpft sich nicht in den Aspekten, auf die ich mich hier konzentriert habe. Varelas Referenzen auf asiatische und europäische Philosophie im Zusammenhang mit der Diskussion ethischen Verhaltens tragen zu vielen weiteren erwähnenswerten Überlegungen bei. So erfährt man etwas über die Form der ethischen Kultivierung im Konfuzianismus und die Problematik von Regeln (26 ff.) oder die Entwicklung von mindfulness, die mit der Beobachtung von Rastlosigkeit beginnt und über eine positive Rahmung der anfänglich als Verlust erfahrenen Leere läuft (66 ff.). Das dürfte in einer entsprechend respezifizierten Form insbesondere für die Forschung zu high-reliability organizations interessant sein, die ihre Analysen ebenfalls auf einen Begriff der mindfulness gründet. Nicht zuletzt finden sich in diesem Buch verstreut immer wieder kleine Hinweise darauf, wie Anfang der 1990er Jahre damit begonnen wurde, neue kognitionswissenschaftliche Erkenntnisse zum Beispiel zur Verkörperung oder zur Problematik der Informationsverarbeitung in den Bereichen der Robotik, der Künstlichen Intelligenz oder der virtuellen Realität zum Einsatz zu bringen (siehe 58 f. und passim). Varela bietet der Systemtheorie in diesem Buch an, den Fokus von einzelnen Systemen auf die nicht-lineare Dynamik zwischen autonomen Einheiten zu richten. Er verschiebt damit den Blick auf Situationen, weil so zum einen die Interaktionen/Kopplungen zwischen Systemen und ihren Umwelten (und in diesen Umwelten zwischen Systemen) ins Zentrum rücken und zum anderen die Erzeugung von Welten beobachtet werden kann, die weder rein subjektiv noch rein objektiv sind. Obwohl Begriffe wie Mikrowelt, Mikroidentität und Zusammenbruch aus seiner Perspektive als Biologe formuliert werden, legt er sie systemtheoretisch zugleich so an, dass sie über individuelle Organismen hinausreichen. Es gelingt ihm nicht immer, seinem eigenen Anspruch gerecht zu werden und die Systemtheorie als Untersuchung der Relation von Gehirnen, Körpern und Welt erkennbar werden zu lassen. Dazu reicht ein Interesse an Philosophie, das bei Varela von Beginn an stark ausgeprägt war (Varela 1996), möglicherweise nicht aus. Deshalb verzerrt meine Diskussion seine Erkenntnisse und Ergeb-

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nisse in Richtung Soziologie. Aber das ist die wesentliche Neuerung, die Varela zu bieten hat und die, ohne dass es seine Absicht gewesen wäre, soziologische Vorstellungen des Handelns in Situationen bestätigt, aber auch verändert und mithin unterläuft. Varela hat die Systemtheorie auf eine Art zugeschnitten, die das Problem der Sozialität, das heißt die Frage nach der kommunikativen Abhängigkeit unabhängiger Elemente, als eines ihrer Grundprobleme herausstellt. Im Grunde kehrt er dadurch, wenn auch ausgestattet mit weiteren kognitionswissenschaftlichen Erkenntnissen, zu den Wurzeln der Kybernetik zweiter Ordnung zurück, die mit der Beobachtung von Beobachtern genau diese Orientierung eingeleitet hat.

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A. Karafillidis

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Athanasios Karafillidis, PD Dr. phil., vertritt seit Oktober 2019 die Professur für Allgemeine Soziologie an der Helmut-Schmidt-Universität in Hamburg. Promotion 2009 an der Universität Witten/Herdecke mit einer Arbeit zur Theorie sozialer Formen, Forschung und Lehre am Institut für Soziologie der RWTH Aachen (2007–2015), danach bis 2019 stellvertretender Nachwuchsgruppenleiter im BMBF-Projekt smartASSIST zur Entwicklung technischer Unterstützungssysteme am Laboratorium für Fertigungstechnik der Helmut-Schmidt-Universität in Hamburg. Habilitation: „Hybride Interfaces“ (Aachen, 2020). Weitere Forschungsinteressen: Netzwerke, Organisationen, Management, Grenzen/ Interfaces, System- und Formtheorie. Wichtige Veröffentlichungen: Soziale Formen, Bielefeld: transcript, 2010; Socializing a Calculus: The Emergence of a Theory of Social Forms and a Sociological Notation, Cybernetics & Human Knowing 20 (3–4) (2013), S. 108–141; Formale Bedingungen von Hybridität und nicht-moderne Beobachter, in: Thomas Kron (Hrsg.), Soziale Hybridität – hybride Sozialität, Weilerswist: Velbrück, 2015, S. 17–47; Relationsmustererkennung. Relationale Soziologie und die Genese von Identitäten, Berliner Debatte Initial 29 (4) (2018), S. 105–125.

Lynn Margulis, Autopoietic Gaia, and the Novacene Über James Lovelock, Novacene: The Coming Age of Hyperintelligence (2019) Bruce Clarke

In “The Independent Practice of Science,” James Lovelock describes his earlier professional milieu as a salaried researcher at the National Institute for Medical Research (NIMR) in London in 1961, prior to his emancipation as an independent scientist. It was then that NASA sent him “an invitation to be an experimenter on the first lunar Surveyor mission. It was well known at the NIMR that I regarded science as a way of life in which science fiction was reduced to practice” (Lovelock 1980, 24). In United States patent law, reduction to practice technically means to move an invention beyond the initial stage of conception to the testing and application of a prototype. Lovelock speaks at the end of the 1970s as the inventor who engineered the Gaia hypothesis. Single-handedly and in collaboration with the American microbiologist Lynn Margulis, Lovelock would bring the Gaia concept forward as applied systems science. His Gaia discourse is the speculative practice of a systems engineer steeped in the technological imaginary of cybernetics and information theory. In Novacene: The Coming Age of Hyperintelligence, Lovelock admits that “I have never really been a pure scientist, I have been an engineer” (Lovelock 2019, 24). Since Gaia’s arrival in the early 1970s, Lovelock has steadily ascribed his derivation of that concept to an application of the cybernetics of physiological homeostasis to the planetary atmosphere. He wrote in his first published article to place “Gaia” in the title: “The presence of a biological cybernetic system able to homeostat the planet for an optimum physical and chemical state appropriate B. Clarke (*)  Lubbock, TX, USA © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 D. Baecker (Hrsg.), Schlüsselwerke der Systemtheorie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30633-5_22

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to its current biosphere becomes a possibility” (Lovelock 1972, 579). His books and papers have regularly devoted discussion to the cybernetic status of feedback cycles and other non-linear operations: “The over-long delay in the understanding of cybernetics is perhaps another unhappy consequence of our inheritance of classical thought processes. In cybernetics, cause and effect no longer apply; it is impossible to tell which comes first, and indeed the question has no relevance” (Lovelock 1979, 52). Lovelock has consistently set Gaia forward as a control system or a self-regulating system persisting over geological time by maintaining a viable homeostasis of climatic conditions through the inter-modulation of the biota and their evolving environment: “Through Gaia theory, I see the Earth and the life it bears as a system, a system that has the capacity to regulate the temperature and the composition of the Earth’s surface and to keep it comfortable for living organisms. The self-regulation of the system is an active process driven by the free energy available from sunlight” (Lovelock 1988, 30). Nevertheless, the treatment of cybernetics in his first book looks beyond the horizon of living systems in a way that we can now read as anticipating the post-biotic destination of his last book: “The only difference between non–living and living systems is in the scale of their intricacy, a distinction which fades all the time as the complexity and capacity of automated systems continue to evolve. Whether we have artificial intelligence now or must wait a little longer is open to debate” (Lovelock 1979, 62). Novacene purveys a more abstract register of systems discourse. Explicit reference to cybernetics occurs in this text only when Lovelock expounds the origin of the term cyborg. He presses this well-worn cybernetic trope back into service for the imminent rise of “electronic life.” Just as the notion of the Anthropocene – the time of humanity as a planet-altering force – has taken popular hold, Lovelock declares the coming demise of the Anthropocene with the rise of the Novacene – the closely approaching time of the cyborgs, the new epoch of digital life uniquely sprung from our machines and taking over the business of knowing the cosmos. “Live cyborgs will emerge from the womb of the Anthropocene. We can be almost certain that an electronic life form such as a cyborg could never emerge by chance from the inorganic components of the Earth before the Anthropocene” (Lovelock 2019, 85). Whether or not one finds Lovelock’s futurism cogent, his speculative practice at this moment marks a resurgence of twentieth-century science-fiction figures. The cyborg imaginary that arises so fully formed in this text inverts Lovelock’s prior creative template of reducing science fiction to practice. Technoscientific practice is now returning to science fiction. Novacene submits both biotic systems, living organisms, and metabiotic ecosystems, of which Gaia is the final iteration, to an AI-fueled transhumanist imaginary. The anticipatory sublimities of contemporary digital reality are now giving the future its marching orders.

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The author of Novacene imbibed cybernetics during its long original moment, as it was being deeply mapped onto ideas of technological progress through the attenuation of the organic sphere. At the end of a career famed for developing the Gaia hypothesis, that rush of cybernetic intuition now reappears as the Novacene – the machinic obverse of Gaia’s metabiotic cybernetics. Thanks to Novacene, the informatic component of Lovelock’s Gaia stands out more distinctly, throwing Gaia’s relation to the technosphere into sharper relief. But Lovelock had placed Gaia under Claude Shannon’s informatic repurposing of Ludwig Boltzmann’s entropy equation from the start. For instance, in the chapter “Cybernetics” in his first book, Lovelock writes a parallel equation between technological, social, and ecological systems: “whether we are considering a simple electric oven, a chain of retail shops monitored by a computer, a sleeping cat, an ecosystem, or Gaia herself, so long as we are considering something which is adaptive, capable of harvesting information and of storing experience and knowledge, then its study is a matter of cybernetics and what is studied can be called a ‘system’” (Lovelock 1979, 61–62). The informationtheoretical framing of Lovelock’s Gaia primes his consideration of technology in relation to the Earth system. Both Lovelock and Margulis insist at first on placing the technosphere within the field of Gaia’s operations. Yet even in this early treatment, for Lovelock, human technology is on the verge of departing from the “natural scene”: “(…) in a Gaian world our species with its technology is simply an inevitable part of the natural scene. Yet our relationship with our technology releases ever–increasing amounts of energy and provides us with a similarly increasing capacity to channel and process information. Cybernetics tells us that we might safely pass through these turbulent times if our skills in handling information develop faster than our capacity to produce more energy” (Lovelock 1979, 127).

In the first cybernetic synthesis of Wiener’s circular operations with Shannon’s calculus of information, the thermodynamics of energy flow pass into the informatics of data flow. Entropy turns into noise and is rethought as de-creative force. Lovelock invests throughout Novacene in a fully cosmic treatment of information as a fundamental constituent of the universe. Reading information as substance rather than pattern indulges information theory’s tendency to hypostatize its primary entity. Information is given universal ontological status on a par with energy and matter. Novacene takes the informatic component of Lovelock’s Gaian cybernetics to its logical conclusion: “I can’t help wondering whether, when the cyborgs are the dominant species (…) they will discover a proof of my own view that the bit is the fundamental particle from which the universe is formed” (89).

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I consider it a somber note that, in this long informatic pilgrimage, Lovelock ultimately abandons the biotic aspects of the Gaian system, and with them, any remaining vestiges of connection to the autopoietic Gaia concept that Lynn Margulis independently explored in some speculative writings of her own. The great interest in the way that Margulis developed Gaia’s cybernetics concerns what I have called a neocybernetics of Gaia (Clarke 2020). Through a series of personal encounters with Erich Jantsch (1980), and Humberto Maturana and Francisco Varela (1980), Margulis gradually articulated Gaia through the concept of autopoiesis. In her book Microcosmos (1986) co-authored with her son Dorion Sagan, even as Margulis joined Lovelock’s critique of linear thinking, she also noted the persistence of linearity in the mechanistic paradigms shaping the computational use of information theory. Take, for instance, the fashionable application of what Margulis and Sagan deemed “computer-age analogies” to the reproductive operations of living systems: “amino acids are a form of ‘input,’ RNA is ‘data-processing,’ and organisms are the ‘output,’ the ‘hard copy’ controlled by that ‘master program,’ that ‘reproducing software,’ the genes” (1986, 264). Margulis and Sagan gravitate to the concept of autopoiesis precisely to rebut such equivocal bioinformatics: “we have held to a somewhat different and more abstract view. (…) Life, a watery, carbon-based macromolecular system, is reproducing autopoiesis. The autopoietic view of life is circular” (264). Margulis and Sagan develop this neocybernetic, recursive view of Life in distinction to the linear transmission model that splinters life into bits, rendering its systemic integrities, its biological autonomies (Varela 1979), into informatic packets. Their aim is to conceive of the Gaian consortium as coupling the technosphere together with the biosphere. With an implicit allusion to Lovelock’s critical involvement with NASA landers in the early days of Gaia, Margulis and Sagan envision a multiply-coupled autopoietic Gaia that crosses over between biotic and metabiotic systematics. Their article “Gaia and the Evolution of Machines” notes that while humans are now entrained parts of the technosphere, that machinic network itself is a metabiotic yet non-autopoietic part of Gaia in its tentative cosmic extension by means of the technosphere to the Martian surface: “The Viking Lander on the surface of Mars does not maintain its own structure or actively preserve its boundaries. Alone, lacking communication, it is no longer autopoietic. But from 1975 to 1982, when all of its communication with the Earth was halted, even the Viking Lander was part of an autopoietic system. Machines, by themselves on Mars, are not autopoietic. Machines tended by their workers form part of the autopoietic systems of their makers” (Sagan and Margulis 1987, 19).

Lovelock’s Novacene scenario imagines an entirely informatic planet moving at warp speed away from Margulis’s neocybernetic scheme for the radicalization

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of Gaia as the symbiotic planet. Novacene predicts that the biotic components of Gaia will persist only until the cyborgs take control of the technosphere and bring Gaia’s biosphere under their coding regime: “The appearance of abundant information as part of the Earth system has had a profound effect. The future world I now envisage is one where the code of life is no longer written solely in RNA (ribonucleic acid) and DNA, but also in other codes, including those based on digital electronics and instructions that we have not yet invented. In this future period, the great Earth system that I call Gaia might then be run jointly by what we see as life and by new life, the descendants of our inventions” (Lovelock 2019, 88).

At the dawn of the Novacene, the organic and electronic realms will share mutual interests in the other’s prosperity: “For a while at least, the new electronic life might prefer to collaborate with the organic life which has done (and still does) so much to keep the planet habitable” (105). But the evolutionary dynamics of this scenario clearly predict the eventual obsolescence or dire marginalization of organic life as cyborg agency fashions a new post-Gaian planet according to its own standards of viability: “When the Novacene is fully grown and is regulating chemical and physical conditions to keep the Earth habitable for cyborgs, Gaia will be wearing a new inorganic coat. As it evolves to counter the ever-increasing output of the Sun, the Novacene system may grow hotter or colder than organic life can bear” (111). The creator of Gaia now lays his own brainchild down to rest in its deathbed: “Eventually, organic Gaia will probably die” (111). This cyborg scenario seems to determine that the biotic constituents of autopoietic Gaia will die sooner rather than later. And yet, had human agency held the technosphere under a more constrained biopolitical order, had the biosphere not been submitted to total infection by abiotic bits without autopoietic contingencies, Gaia’s biota could well persevere as vital factors in the planetary order. Relative to the dying Gaia of the Novacene, even the stressed-out Gaia of the Anthropocene is granted a longer lease on planetary functionality. If one would rather retain Gaia’s processes as an extant metabiotic Earth system banking its maintenance in operation on the persistence of the biota, then one may prefer to consult Margulis’s Gaia instead. Ever scrupulous in deflecting credit for the development of Gaia to Lovelock and honoring his priority in its invention, nevertheless, as we have already begun to note, Margulis gradually developed her own manner of defining Gaia and expounding its wider implications. While Lovelock largely left these contributions unremarked, Margulis immersed her exposition of Gaia in the theory of autopoiesis. From our current vantage, it seems likely that she did so in order to keep Gaia’s biotic feet on the ground during the 1980s, just as Lovelock was embarking on the

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construction of Daisyworld, a model biosphere and “cybernetic proof” of Gaian homeostasis initially run on a home computer (see Lovelock 1988, 42–64). Now that, decades later, Lovelock has pulled the veritable Gaia entirely up into the aether of informatic bits, we may see more clearly what drove Margulis’s insistence on an autopoietic description. Writing with Dorion Sagan, she observed the arrival of a “Gaian style of thought (…) in which perception is seen as a participatory phenomenon, and with which we become more aware of the sum of organisms within the biosphere. (…) Traditional human ideas are in contrast with Gaian perceptions that link people inextricably, and in subordinate fashion, to the biota, that is, to the sum of plant, animal, and microbial life. (…) In it, human beings and technology may be seen as environments in the biosphere” (Sagan and Margulis 1987, 16). By the beginning of the 1990s, Margulis had fully formulated the constructivist version of scientific epistemology implicit in the concept of autopoiesis and launched this style of Gaian thought against her immediate nemeses within the Anglo-American biological academy, the Neo-Darwinists, who also formed the staunchest bastion against the Gaia hypothesis: “A world philosophy based on the recognition of the autopoietic and nonmechanical nature of life must upset the believers in the fundamental myths of our technological civilization.... In the autopoietic framework, everything is observed by an embedded observer; in the mechanical world, the observer is objective and stands apart from the observed” (Margulis 1990, 226–27).

The positivistic observer in putative scientific detachment from their object will also take the biosphere to be a dispensable environment from which the technosphere may separate itself, against which it may be sealed. All this misses what Margulis and Sagan call the consortial nature of systems based, directly or circuitously, on the dynamics of living organization: “The consortial quality of the individual preempts the notion of independence… Gaia is the same sort of consortial entity but she is far more complex. Consortia, associations, partnerships, symbioses, and competitions in the interaction between organisms extend to the global scale. Living and nonliving matter, self and environment are inextricably interconnected” (Sagan and Margulis 1987, 16).

Margulis recognized and expounded the link between Gaian thought and autopoietic systems theory. In her symbiotic or consortial theorization, humility, community, and mutuality are as profoundly systemic as are the principles of biological autonomy that ensure that differential living operations always occur

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within a higher-order medium that either binds them into metabiotic consortia or leaves them aside as de-creative environmental noise. Lovelock’s Novacene may be read as an ironic last twist on a career of systems thinking that closes up shop by deconstructing its own greatest creation.

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Bruce Clarke,  Paul Whitfield Horn Distinguished Professor of Literature and Science in the Department of English at Texas Tech University. He was the 2019 Baruch S. Blumberg NASA/Library of Congress Chair in Astrobiology. His research focuses on systems theory, narrative theory, and ecology. He is the author of Neocybernetics and Narrative (Minnesota 2014). His co-edited collections include The Cambridge Companion to Literature and the Posthuman (Cambridge 2017), with Manuela Rossini; and Emergence and Embodiment: New Essays in Second-Order Systems Theory (Duke 2009), with Mark B. N. Hansen. Clarke co-edits the book series Meaning Systems, published by Fordham University Press, and the website Gaian Systems (www.gaian.systems).

Mathematik und Logik

Die Mathematik und andere Kurzsprachen Über John von Neumann, The Computer and the Brain (1958) Loet Leydesdorff

1 Einleitung Das Buch The Computer and the Brain (1958, dt. 1991; im Folgenden wird nach der deutschen Übersetzung zitiert) ist die gedruckte Version der Silliman Lectures, die zu halten John von Neumann 1956 nach Yale eingeladen worden war. Obwohl sie bis zum März 1956 vorbereitet waren, wurden sie nie gehalten, da von Neumann zu dieser Zeit bereits zu krank war, um nach New Haven zu reisen. Der 1903 in Budapest geborene Autor arbeitete bis zu seinem Tod am 8. Februar 1957 an dem Manuskript, dennoch blieb es unvollendet, wie die Witwe Klara von Neumann in ihrem Vorwort der posthumen Edition erklärt. Dennoch kann das Bändchen als vollständiger Aufsatz gelesen werden. Der 77 Seiten lange Aufsatz gliedert sich in zwei Teile. Der erste Teil befasst sich mit dem Computer: seiner Arbeitsweise, Kontrollmechanismen und anderen Charakteristika. Der zweite Teil konzentriert sich auf das Gehirn. Das Nervensystem wird nach dem damals aktuellsten Stand der Informatik systematisch mit dem Computer verglichen. In einem wie die Grundlage eines dritten Teils wirkenden Abschnitt – der allerdings nicht als eigener Teil organisiert ist – zieht von Neumann aus dem Vergleich verschiedene Schlüsse hinsichtlich der Rolle von Code und Sprache. Diese Schlussfolgerungen sind vielleicht der L. Leydesdorff (*)  Amsterdam, Niederlande E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 D. Baecker (Hrsg.), Schlüsselwerke der Systemtheorie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30633-5_23

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faszinierendste Teil des Buches, da von Neumann reflexive Themen anspricht, die zuvor in der kybernetischen Tradition noch nicht behandelt worden waren. (Corning 2001; vgl. Wiener 1948).

2 Der Computer Im Anschluss an die Feststellung, dass er selbst weder Neurologe noch Psychiater, sondern Mathematiker sei, beginnt von Neumann den ersten Teil seines Aufsatzes, indem er die Komponenten des Computers in der Sprache eines Informatikers erklärt. Zunächst wird der Unterschied zwischen analogen und digitalen Computern erläutert. Diese Unterscheidung wird einige Bedeutung für die Erörterung des Gehirns erlangen, da – wie im zweiten Teil festgestellt – das Gehirn prima facie wie ein digitaler Computer angesehen werden kann. Dennoch werden bei näherer Betrachtung einige Elemente analoger Verrechnung für das Verständnis der Funktionsweise des Gehirns relevant. Aus ähnlichen Gründen führt von Neumann die Unterscheidung zwischen serieller und paralleler Verarbeitung ein (auf S. 19). Wie wir wissen, ist der Großteil der Hirntätigkeit von Parallelverarbeitung bestimmt, wobei bestimmte Elemente serieller Verarbeitung nicht in Parallelverarbeitung umgesetzt werden können. Im zweiten Teil wird der Autor darlegen, dass diese Überlegungen deshalb wesentlich für unser Verständnis der Funktionsweise des Gehirns sein können. Eine dritte Unterscheidung dieser Art ist die zwischen Steckverbindungen und Lochstreifen zur Steuerung der Rechenoperationen. In Analogrechnern steuern elektromagnetische Relais die Operationen auf der physikalischen Ebene, während eine logische Steuerung über Lochstreifen dieser Steuerung durch feste Verbindungen übergeordnet werden kann. Dies ermöglicht eine größere Bandbreite der Steuerung, da die logische Lochkartensteuerung als unabhängig von der zugrundeliegenden Struktur angesehen werden kann. Digitalrechner können für jede Grundoperation Bausteine rekombinieren, während Analogrechner im Prinzip für jede Grundoperation einen eigenen Baustein, abhängig von dem zu lösenden Problem, benötigen. Der verbleibende Abschnitt von Teil Eins widmet sich dieser höheren Schicht von Kontrollmechanismen digitaler Rechner. Zwei Typen werden unterschieden: die sequenzielle Steuerung über „Sequenzpunkte“ (sequenziell geschaltete Unterbrecherkontakte) und die „speicherbasierte Steuerung“. Ein Gabelungspunkt ist typisch für eine sequenzielle Steuerung. So kann das System zum Beispiel so konstruiert sein, dass unterschiedliche Folgeoperationen ausgelöst werden,

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abhängig davon ob ein positiver oder ein negativer Wert empfangen wird. Die Schaltung kann zunehmend komplex werden. Bereits zu von Neumanns Zeit war die sequenzielle Steuerung weitgehend durch die speicherbasierte ersetzt worden. Waren die „Sequenzpunkte“ physikalische Objekte, so handelte es sich bei den Befehlen der speicherbasierten Steuerung um abstrakte Größen, die einem bestimmten Abschnitt des Speichers zugeordnet sind. Obwohl von Neumann davon ausgeht, dass dies die Richtung der Computerentwicklung sein wird, erörtert er diesen Unterschied, da auch das Gehirn eine physikalische Dimension hat, so dass man eine gemischte Steuerung für den Fall der Natur erwarten kann. Einige der Funktionen können vollständig durch Boolesche Operatoren ausgedrückt werden, allerdings könnten Vorteile darin liegen, Zwischenschritte analog zu vollziehen. Zum Beispiel könnte die Dichte von Impulsen analog ausgewertet und dann für logische Steuerung genutzt werden. In jedem Fall wird der größte Vorteil digitaler Rechenprozesse deutlich, wenn man die Präzision der Berechnung bedenkt. Im zweiten Teil des Aufsatzes schätzt von Neumann, dass der Computer des Jahres 1956 das natürliche System des Gehirns, die Präzision betreffend, bereits um ein vielfaches überrundet hat.

3 Das Gehirn Der zweite Teil des Aufsatzes beginnt mit einer Beschreibung des Gehirns und des Neurons in einer Weise, die es erlaubt, sinnvolle Vergleiche mit dem Computer (wie in Teil Eins beschrieben) anzustellen. Die Perspektive des Informatikers ist an dieser Stelle bewusst reduktionistisch. So erwähnt von Neumann beispielsweise an keiner Stelle die Organisation des Gehirns im Sinne kortikaler und subkortikaler Funktionen, obwohl diese Unterscheidung wesentlich älteren Datums ist. Zunächst beschreibt von Neumann die essenziell digitale Operation eines Neurons: Entweder es feuert oder es feuert nicht, abhängig davon, ob es ausreichend stimuliert wurde. Die Booleschen Operatoren UND, ODER und NICHT können entsprechend konstruiert werden. Der Autor betont jedoch, dass diese prima facie Beurteilung der Operation zu simpel sei. Andere Faktoren bringen Elemente ein, die nicht digital, sondern im biologischen Material und der chemischen Zusammensetzung der Zelle begründet sind. Zum Beispiel ist die Zelle nicht in der Lage, permanent zu feuern, da sie eine kurze Erholungsphase benötigt. Nach dem Feuern kann man die Zelle als „erschöpft“ ansehen. Während die Reaktionszeit eines Neurons irgendwo

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zwischen 10−4 und 10−2  s liegt, stellt von Neumann fest, dass „in großen logischen Maschinen moderne Vakuumröhren und Transistoren mit Reaktionszeiten zwischen 10−6 und 10−7 Sekunden verwendet“ werden können. (…) Das bedeutet, dass unsere Artefakte um Faktoren 104 bis 105 schneller als die Bausteine der Natur sind“ (S. 50). Dies macht dem Autor zufolge Vergleiche zwischen Computer und Gehirn bedeutsam, nach dem 1955 aktuellsten Stand der Forschung. Die technologischen Fortschritte im Computerbau haben sich seit dieser Zeit um ein Vielfaches beschleunigt (zum Beispiel Forester 1980). Wenn von Neumann in einem späteren Abschnitt bemerkt, dass das natürliche System des Gehirns Computersystemen in anderer Hinsicht, wie der Größe, überlegen ist, wissen wir, dass dieses Verhältnis sich ebenfalls inzwischen umgekehrt hat. Die entscheidende Schlussfolgerung ist jedoch, dass der Unterschied nicht in den technischen Charakteristika von Computern gegenüber Gehirnen zu finden ist. Ebenso müssen Unterschiede in der Architektur und in der Funktionsweise der Elemente berücksichtigt werden. Obwohl die Neuronen als die logischen Organe des Verrechnungssystems im Gehirn gelten können, ergeben sich aus seiner Architektur kompliziertere Erregungskriterien. Neuronen werden nicht nur durch die Kumulation (einer Anzahl) von Nervenimpulsen stimuliert, „sondern auch dadurch, dass die erregten Synapsen bestimmten räumlichen Bezirken auf dem Neuron (…) angehören, (und) dass diese Bezirke in bestimmten räumlichen Beziehungen zueinander stehen (…)“ (S. 56). Beispielsweise können die Impulse korreliert sein, dies würde eine nichtlineare Dynamik bedeuten. In diesem Zusammenhang bemerkt von Neumann, dass das Konzept des Schwellenwertes („wenn mindestens eine bestimmte Minimalanzahl von Eingängen des betreffenden Neurons (gleichzeitig) erregt wird“) eine nicht gesicherte Annahme ist: „es kann sich um weit kompliziertere Beziehungen als das Erreichen eines Schwellenwertes handeln“ (S. 56). Des Weiteren können einfache (lineare) Annahmen wie „Summierung“ und „Simultanität“ komplexere Mechanismen der zeitlichen Dimension verbergen, die es verdienten, experimentell untersucht zu werden. Von Neumann fügt hinzu, dass in einigen Fällen nicht die Größe des Stimulus selbst, sondern die Größe seiner ersten Ableitung (der Veränderung) als Erregungskriterium dient. Seine Schlussfolgerung liest sich wie folgt: „Es sei jedoch bemerkt, dass alle Komplikationen dieser Art im Sinne der Abzählung aktiver Grundelemente, wie wir sie bisher praktiziert haben, beinhalten, dass eine Nervenzelle mehr ist als ein einziges aktives Grundelement und dass diese Tatsache bei jedem Versuch einer Abzählung beachtet werden muss. (…) Alle hier erwähnten Komplexitäten

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können irrelevant sein. Sie können aber dem System auch einen teilweise analogen Charakter verleihen“ (S. 60). Somit stellt von Neumann den nichtlinearen Charakter der Hirntätigkeit fest, fährt allerdings nicht damit fort, die Integrationsebenen zu erörtern, wie wir dies aus der Biologie jener Zeit kennen. Er zieht es vor, die Nicht-Linearität als Kombination von digitaler und analoger Konstruktion des Mechanismus zu beschreiben, so dass die Computermetapher voll ausgeschöpft werden kann.

4 Speicher und Funktionen höherer Ordnung Der letzte Teil des Aufsatzes (S. 61–77) kann beinahe als ein eigener Teil angesehen werden, wie erwähnt hat von Neumann ihn jedoch nicht vom zweiten Teil, der auf das Gehirn fokussiert ist, getrennt. In diesem Teil wendet sich der Autor zunächst der Erinnerungs- bzw. Speicherfunktion des Gehirns zu. Zu seiner Zeit war diese seiner Ansicht nach völlig ungeklärt: „Wir wissen nur, dass es sich um einen Speicher ziemlich großer Kapazität handeln muss, und dass es schwer ist, sich vorzustellen, wie ein komplizierter Automat wie das menschliche Nervensystem ohne einen Speicher auskommen sollte“ (S. 61). Der Autor schätzt schließlich (nach eigenen Berechnungen) die Größe des benötigten Speichers im Gehirn auf 2,8*1020 bit. Sogar noch im Vergleich zu heutigen Computern wäre das ein sehr großer Speicher. Die Diskussion hält sich dann daran auf, wo sich dieser Speicher befindet und welcher Art er sein könnte. Umfasst die Speicherfunktion des Gehirns die Möglichkeit des Vergessens? In anderen Worten: Werden Speicherzellen ohne vorherige Anpassung wieder für neue Operationen verfügbar? Auch ich bin kein Hirnforscher und ich weiß nicht, ob und in welchem Umfang diese Fragen in den vergangenen Jahrzehnten angesprochen wurden. Lassen Sie mich in diesem Kontext von Neumanns Schlussfolgerung (S. 66) aufgreifen, dass zu erwarten steht, dass die „im Gedächtnis verwendete Apparatur von derjenigen, die den aktiven Organen zugrunde liegt, vollkommen verschieden sein könnte.“ Wie zuvor bemerkt, wurde diese Feststellung durch den Hinweis auf die Möglichkeit, dass das Gehirn ein „gemischtes“ Steuerungssystem verwenden könnte, vorbereitet. Diese Schlussfolgerung veranlasst von Neumann zu einer abschließenden Betrachtung der Rolle von Programmen und Sprachen in den verschiedenen Feldern der Verrechnung. Hier ist ein Verweis auf die Arbeit des englischen Logikers Alan M. Turing zu finden. Turing (1947) hatte gezeigt, dass es möglich ist, Kurzsprachen zu entwickeln. Diese Befehlssysteme veranlassen eine Rechenmaschine, sich wie eine

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vollständig programmierte andere Rechenmaschine zu verhalten. Kurzsprachen wurden aus dem Wunsch heraus weiter entwickelt, in kürzerer Form für eine Maschine zu programmieren, als es ihr eigenes Befehlssystem erlaubte, „indem man sie wie eine andere Maschine mit einem bequemeren, umfassenderen Befehlssystem behandelte, das eine einfachere, weniger umständliche und direktere Programmiersprache gestattete“ (S. 70). Die nachahmende Maschine vertritt die nachgeahmte Maschine in ihrem eigenen Funktionsbereich. Bei der Entwicklung seines Arguments, dass die aus der Informatik bekannten Konzepte angemessen bei der Diskussion des Gehirns seien, stellt von Neumann die Hypothese auf, dass die logischen Strukturen des letzteren anders sein könnten als die üblicherweise in der Logik oder Informatik verwendeten Logiken. „Sie sind durch geringere logische und arithmetische Tiefe gekennzeichnet, als wir es unter sonst gleichen Umständen gewöhnt sind. Wenn man deshalb Logik und Mathematik innerhalb des Zentralnervensystems als Sprachen ansieht, müssen sie strukturell wesentlich von den Sprachen, auf die sich unsere allgemeine Erfahrung bezieht, verschieden sein“ (S. 77). Die Sprache des Gehirns kann dann als Kurzsprache verstanden werden. Erwartbar ist, dass andere statistische Eigenschaften als Impulsketten längs der Neuronen auf eine, wie wir heute sagen würden, nicht-lineare Weise zur Informationsübertragung beitragen. Diese zusätzlichen Kanäle ermöglichen die Umgehung vieler Berechnungen (vgl. Rumelhart et al. 1986). Von Neumann bemerkt, dass „(…) jedoch (…) – um welches System es sich auch handeln mag – dieses gewiss stark abweicht von dem, was wir bewusst und ausdrücklich als Mathematik bezeichnen“ (S. 77). Diese abschließende Schlussfolgerung von Neumanns führt den Fokus zurück auf die Mathematik. Die Analogie zwischen dem Gehirn und dem Computer konnte nicht in technischen Charakteristika oder strukturellen Eigenschaften formuliert werden. Die beiden zur Diskussion stehenden Systeme vollziehen Rechenoperationen, indem sie unterschiedliche Mittel verwenden, da sie in unterschiedlichen Substanzen operieren. Auf der formalen Seite können diese unterschiedlichen Substanzen („hardware“ und „wetware“) sich aus evolutionären Gründen innerhalb ihrer eigenen Gebiete, das heißt leistungsmäßig, entwickeln. Die formale Theoriebildung umfasst die Gegenstandsbereiche und ihre jeweiligen Sprachen und Programme als abstrakte Prinzipien. Man kann annehmen, dass diese Strukturierung mit den materiellen Dimensionen der untersuchten Systeme koevoluiert.

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5 Berechnung, Kommunikation und Steuerung In den vier Dekaden, die verstrichen sind, seit von Neumann diese Vorträge geschrieben hat, haben alle bedeutsamen Felder von Wissenschaft und Technologie spektakuläre Entwicklungen erfahren. Im Rückblick hat der hier besprochene Aufsatz primär historischen Wert. Er lässt unter anderem das vorsichtige Zögern eines großen Informatikers erkennen, zu schnell in einen anderen Diskurs einzusteigen, besonders einen biologischen. Während der Biologe versucht, eine Stufe der Integration (z. B. die Zelle) durch die zugrunde liegenden Mechanismen zu erklären, hat der Mathematiker ein anderes Programm: Wenn wir die Mechanismen verstehen, in welchem Ausmaß können wir dann ein natürliches System rekonstruieren ? Welche Parameter sind entscheidend für die Rekonstruktion? Die Theorie autopoeitischer Systeme (Maturana, 1978; Maturana & Varela, 1980; Varela & Goguen, 1978) hat uns seit 1956 mit einem konzeptionellen Apparat konsensueller, semantischer und linguistischer Gebiete versorgt, der operational geschlossen sein kann. In dieser Tradition ist die Entwicklung von Programm und Sprache endogener Bestandteil einer Systemebene. Die selbstorganisierende Zelle muss beispielsweise eine „Sprache“ entwickeln, in der Moleküle mit biologischer Bedeutung aufgeladen werden können. Die folgende Programmstufe wählt aus den vorangegangenen aus und kann als relativ ruhig angesehen werden. In anderen Worten, sie kann als „kürzere“ Sprache angesehen werden, die auf einen Funktionsbereich mit längeren Programmen in potenziell anderen Sprachen verweist (zum Beispiel durch Funktionsabruf) (Simon 1969, 1973). Jede Substanz kommuniziert, was sie kommuniziert. Dies bringt Vielfalt hervor. Reflexionen erfordern zunächst eine eingebettete Sprache, die die Organisation des Systems aufrechterhält. Auf der Metaebene wird eine reflexive (das heißt menschliche) Sprache benötigt, um herauszufinden, wie die Vielfalt organisiert oder selbstorganisiert werden kann, um einen höheren Organisationsgrad zu erreichen. In diesem Aufsatz untersucht von Neumann, ob und wie diese grundlegenden Prinzipien von Operationen für die Computersprache spezifiziert werden können. Die abstrakten Mechanismen (wie die Boolesche Algebra) liefern eine analytische Dimension, die verwendet werden kann, um die Prozesse in den untersuchten materiellen Gebieten rekonstruieren zu können. Wie die beiden Ebenen (materielle und formelle) zueinander passen, bleibt empirisch zu untersuchen. Von Neumann betont das Wort „experimentell“ in diesem Zusammenhang. Folgerichtig müsste man fragen: Welches ist das

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relevante Labor? „Give me a laboratory and I will raise the world“ lautet Latours (1983) programmatischer Titel mit einer Anspielung auf Pasteurs mikrobiologische Revolution im Frankreich des 19. Jahrhunderts. Die Mathematik versorgt uns mit den abstrakten Konzepten von Operatoren und der Computer mit einem Funktionsbereich, um diese Operatoren im Prinzip zu untersuchen. Aber die untersuchten Substanzen sind ebenso spezifisch. Zusätzlich zu einer mathematischen Theorie (zum Beispiel Shannons (1948) mathematische Kommunikationstheorie; vgl. Leydesdorff 1995), benötigt man stichhaltige Theorien, die die spezifischen Dynamiken der beobachteten Systeme beschreiben. Die mathematischen Prinzipien abstrahieren von den Substanzen und ermöglichen es uns deshalb, hin und wieder Analogien zu ziehen. Die mathematisch formulierte Analogie kann deshalb als eine Kurzsprache oder ein Überweg angesehen werden, um von einem Theoriegebiet zu einem anderen wechseln zu können. Von Neumann stellt fest, dass die Mechanismen der Verwendung von Kurzsprachen möglicherweise auch in der entgegen gesetzten Richtung funktionieren: Die materielle Substanz kann Mechanismen enthalten, die sich von unseren gebräuchlichen Mathematiken unterscheiden, die aber in der Lage sind, Probleme durch Kurzsprachen zu lösen. Diese Voraussage hat sich als wahr herausgestellt. Beispielsweise kann das sogenannte „Handlungsreisendenproblem“, das praktisch unmöglich zu lösen ist, wenn man normale Rechenoperationen verwendet (weil es NP-vollständig ist), dank der Beschaffenheit von DNS-Strängen gelöst werden, wenn man diese unter Laborbedingungen verwendet (Adleman 1994; Liu et al. 2000; vgl. Ball 2000). Die Biochemie des Systems muss zusätzlich zum mathematischen Problem verstanden werden. Die Rekombination von formalen und materiellen Erkenntnissen versorgt uns des Weiteren mit neuen Mechanismen für die Berechnung komplexer Probleme. Auf diese Weise kann die Mathematik als eine formelle Brücke zwischen den speziellen Theorien fungieren, die ansonsten spezifisch blieben. Reflexiv informiert uns das Beispiel auch über die Dynamik der Wissenschaft. Während die wissenschaftlichen Diskurse selbst paradigmatisch kodifiziert sind, erhält die nächsthöhere Kodifizierung in der formalen Sprache der Mathematik die Kodifizierung selbst (Kuhn 1977). Die Wissenschaften kodifizieren ihre Forschungsgegenstände, und diese Rückkopplung erhält die Selbstorganisation der historischen Phänomene in einer wissensbasierten Ordnung (Leydesdorff 2001). Aus dem Englischen von Alexandra Dinter.

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Literatur Adleman, L. M. (1994): Molecular Computation of Solution to Combinatorial Problems, in: Science 266, Nr. 11, S. 1021–1024. Ball, P. (2000): DNA computer helps travelling salesman, at https://www.nature.com/ nsu/000113/000113-10.html. Corning, P. A. (2001): „Control Information“: The Missing Element in Norbert Wiener’s Cybernetic Paradigm? In: Kybernetes 30, Nr. 9/10, S. 1272–1288. Forester, T. (Hrsg.) (1980): The Microelectronics Revolution, Oxford: Basil Blackwell. Kuhn, T. S. (1977): A Function for Thought Experiments, in: ders., The Essential Tension: Selected Studies in Scientific Tradition and Change, Chicago: Chicago University Press, S. 240–265. Latour, B. (1983). Give Me a Laboratory and I Will Raise the World, in: K. D. KnorrCetina und M. J. Mulkay (Hrsg.), Science Observed, London: Sage, S. 141–170. Leydesdorff, L. (1995): The Challenge of Scientometrics: the Development, Measurement, and Self-Organization of Scientific Communications, Leiden: DSWO/Leiden University; at https://www.universal-publishers.com/book.php?method=ISBN&b ook=1581126816. Leydesdorff, L. (2001): A Sociological Theory of Communication: The Self-Organization of the Knowledge-Based Society. Parkland, FL: Universal Publishers; at https://www. universal-publishers.com/book.php?method=ISBN&book=1581126956. Liu, Q., Wang, L., Frutos, A. G., Condon, A. E., Corn, R. M. & Smith, L. M. (2000): DNA computing on surfaces, in: Nature 403, 175. Maturana, H. R. (1978): Biology of Language: The Epistemology of Reality, in G. A. Miller & E. Lenneberg (Eds.), Psychology and Biology of Language and Thought. Essays in Honor of Eric Lenneberg, New York: Academic Press, S. 27–63. Maturana, H. R., & F. J. Varela. (1980): Autopoiesis and Cognition: The Realization of the Living, Dordrecht, etc.: Reidel. Rumelhart, D. E., J. L. McClelland, & the PDP Research Group (1986): Parallel Distributed Processing, Cambridge, MA/London: MIT Press. Shannon, C. E. (1948): A Mathematical Theory of Communication, in: Bell System Technical Journal 27, S. 379–423 und S. 623–356. Simon, H. A. (1969): The Sciences of the Artificial, Cambridge, MA/London: MIT Press. Simon, H. A. (1973): The Organization of Complex Systems, in Howard H. Pattee (Ed.), Hierarchy Theory: The Challenge of Complex Systems, New York: George Braziller Inc., S. 1–27. Varela, F. J. & J. A. Goguen (1978): The Arithmetic of Closure, in: Journal of Cybernetics 8, S. 291–324. Von Neumann, J. (1958): The Computer and the Brain, New Haven und London: Yale University Press, dt. Übersetzung von Charlotte und Heinz Gumin: Die Rechenmaschine und das Gehirn, München: Oldenbourg, 6. Aufl. 1991. Wiener, N. (1948): Cybernetics: Or Control and Communication in the Animal and the Machine, Cambridge, MA: MIT Press.

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Loet Leydesdorff,  emeritierter Professor an der Amsterdam School of Communications Research (ASCoR) der University of Amsterdam. Er war Honorary Professor der Science and Technology Policy Research Unit (SPRU) an der University of Sussex, Visiting Professor am Institute of Scientific and Technical Information of China (ISTIC) in Peking, Gastprofessor an der Zhejiang University in Hangzhou und Visiting Professor an der School of Management, Birkbeck, University of London. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Systemtheorie, sozialen Netzwerkanalyse, Szientometrie und Soziologie der Innovation (siehe http://www.leydesdorff.net/list.htm). Siehe auch: Leydesdorff, L. (in preparation). The Evolutionary Dynamics of Discursive Knowledge: Communication-Theoretical Perspectives on an Empirical Philosophy of Science. Cham, Switzerland: Springer.

Das Prinzip der Unterscheidung Über George Spencer-Brown, Laws of Form (1969) Louis H. Kauffman

1 Einleitung Das Buch Gesetze der Form von George Spencer-Brown (* 1923) ist ein Ansatz zur Mathematik und Epistemologie, der mit der Idee einer Unterscheidung beginnt und endet. Nichts könnte einfacher sein. Eine Unterscheidung wird als Spaltung eines Bereichs verstanden. Eine Unterscheidung „macht“ eine Unterscheidung. Bei Spencer-Brown heißt es: „We take the form of distinction for the form.“ Es steckt eine Zirkularität darin, etwas in Worte zu fassen, was ohne sie ziemlich klar ist. Und dennoch ist es dieses In-Worte-fassen, durch das Mathematik artikuliert wird und Diskursuniversen entstehen. Der schwer fassbare Beginn, noch bevor eine Differenz existierte, ist das Auge des Sturms, das stille Zentrum, aus dem diese Grübeleien entspringen. In diesem kurzen Beitrag habe ich mich dazu entschlossen, über die Grundlagen der Gesetze der Form, ihren Beziehungen zur Paradoxie und imaginären booleschen Werten und ihre Anwendung auf die elementare Logik zu sprechen. Das Thema ist in all seinen Verzweigungen ziemlich umfangreich, allerdings sollten diese Elemente eine Einführung in die Ideen und, so hoffe ich, eine Einführung in Spencer-Browns originelles Buch liefern können. Ich kann sein Buch gar nicht genug empfehlen, da ich es immer und immer wieder gelesen habe, seitdem ich 1974 zum ersten Mal darauf gestoßen bin.

L. H. Kauffman (*)  Chicago, IL, Vereinigte Staaten von Amerika E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 D. Baecker (Hrsg.), Schlüsselwerke der Systemtheorie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30633-5_24

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2 Gesetze der Form „Gesetze der Form“ ist ein klares Buch mit einer topologischen Notation, die auf einem einzigen Symbol basiert, der Markierung (mark):

Dieses einzelne Symbol ist dazu da, eine Unterscheidung zwischen seiner Innenund seiner Außenseite darzustellen:

Wie das obige Schaubild zeigt, muss die Markierung als Kurzform eines auf eine Ebene gezeichneten Rechtecks betrachtet werden, das die Ebene in die Bereiche innerhalb und außerhalb des Rechtecks aufteilt. In dieser Notation ist die Vorstellung von einer Unterscheidung realisiert als einer von der Markierung in der Ebene gemachten Unterscheidung. Muster von sich nicht schneidenden Markierungen (das heißt von sich nicht schneidenden Rechtecken) werden Ausdrücke (expressions) genannt. Zum Beispiel,

In diesem Beispiel habe ich sowohl die Rechteck- als auch die Markierungsversion des Ausdrucks illustriert. Über jegliche zwei Markierungen eines Ausdrucks kann man definitiv sagen, ob sich die eine innerhalb der anderen befindet oder nicht. Die Beziehung zwischen zwei Markierungen besteht entweder darin, dass sich die eine innerhalb der anderen befindet oder dass sich keine von beiden in der jeweils anderen befindet. Diese beiden Bedingungen entsprechen den beiden untenstehenden elementaren Ausdrücken.

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Die Mathematik in Gesetze der Form beginnt mit zwei Transformationsgesetzen zu diesen zwei grundlegenden Ausdrücken. In Symbole gefasst lauten diese Gesetze:

In der ersten dieser beiden Gleichungen, dem law of calling, kondensieren zwei angrenzende Markierungen (keine von beiden steckt innerhalb der jeweils anderen) zu einer einzigen Markierung; oder eine einzelne Markierung expandiert, um zwei angrenzende Markierungen entstehen zu lassen. In der zweiten Gleichung, dem law of crossing, verschwinden zwei Markierungen, von denen die eine innerhalb der anderen enthalten ist, um den unmarkierten Zustand (unmarked state) entstehen zu lassen, der durch überhaupt nichts bezeichnet ist. Alternativ kann der unmarkierte Zustand zwei verschachtelte Markierungen hervorbringen. Mit diesen Gleichungen ist ein Kalkül geboren und die Mathematik kann beginnen. Zuvor allerdings ein wenig Epistemologie: Zuerst erläutern wir ein Prinzip der Unterscheidung, das den Gebrauch der Markierung beschreibt. Prinzip der Unterscheidung Der Zustand, der durch die Außenseite der Markierung bezeichnet wird ist nicht der Zustand der durch seine Innenseite bezeichnet wird. Der Zustand, der auf der Außenseite einer Markierung bezeichnet wird ist also der Zustand, den man durch Kreuzen vom auf der Innenseite bezeichneten Zustand erhält.

Aus dem Prinzip der Unterscheidung folgt, dass die Außenseite einer leeren Markierung den markierten Zustand (marked state) bezeichnet (schließlich ist

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seine Innenseite unmarkiert). Aus diesem Prinzip der Unterscheidung folgt ebenfalls, dass die Außenseite einer Markierung, die eine weitere Markierung in sich eingeschrieben hat, den unmarkierten Zustand bezeichnet.

Man beachte, dass die Form, die durch eine Beschreibung erzeugt wird, nicht die Eigenschaften der Form aufweisen muss, die beschrieben wird. Zum Beispiel ist der innere Raum einer leeren Markierung leer, aber wir beschreiben ihn, indem wir das Wort „unmarkiert“ dort einfügen, wodurch der Raum in der Beschreibung nicht mehr leer ist. Worte verschleiern also die Form, verdeutlichen aber zugleich auch das durch die Form Dargestellte. Bevor er diese Notation einführt, beginnt Spencer-Brown sein Buch mit einem Kapitel über den Begriff einer Unterscheidung (S. 1): „Wir nehmen die Idee der Unterscheidung und die Idee der Bezeichnung als gegeben an, und dass wir keine Bezeichnung vornehmen können, ohne eine Unterscheidung zu treffen. Wir nehmen daher die Form der Unterscheidung für die Form.“ Von hier aus erläutert er zwei Gesetze: 1. „Der Wert einer nochmaligen Nennung ist der Wert der Nennung.“ 2. „Der Wert eines nochmaligen Kreuzens ist nicht der Wert des Kreuzens.“ Die beiden obigen symbolischen Gleichungen entsprechen diesen Gesetzen. Die Art und Weise ihrer Entsprechung ist eine Diskussion wert. Man schaue zunächst auf das law of calling. Es besagt, dass der Wert eines wiederholten Namens der Wert des Namens ist. In der Gleichung

kann man jede Markierung als den Namen des durch die Außenseite der jeweils anderen Markierung bezeichneten Zustands betrachten. In der anderen Gleichung

ist der Zustand, der durch die Außenseite einer Markierung bezeichnet wird derjenige Zustand, den man erhält, wenn man vom auf der Innenseite bezeichneten

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Zustand der Markierung kreuzt. Da auf der Innenseite der markierte Zustand bezeichnet wird, muss die Außenseite den unmarkierten Zustand bezeichnen. Das Law of Crossing zeigt, wie entgegengesetzte Formen ineinander passen können und in die Leere verschwinden oder auch wie die Leere entgegengesetzte und distinkte Formen erzeugen kann, die wie angegossen zu einander passen. Es gibt eine Interpretation des Law of Crossing in Begriffen einer Bewegung über eine Grenze hinweg. In diesem Fall konnotiert eine über eine Form platzierte Markierung das Kreuzen der Grenze vom Bereich, der durch diese Form bezeichnet wird, zum Bereich, der ihr entgegengesetzt ist. In der obigen Doppelmarkierung ist die Konnotation also das Kreuzen von der einzelnen Markierung auf der Innenseite. Die einzelne Markierung auf der Innenseite steht für den markierten Zustand. Durch Platzierung eines Kreuzes (cross) darüber, gehen wir in den unmarkierten Zustand über. Daher das Verschwinden in die Leere auf der rechten Seite der Gleichung. Der Wert eines nochmaligen Kreuzens ist nicht der Wert des Kreuzens. Die gleiche Interpretation liefert die Gleichung,

in der die linke Seite als eine Anweisung vom unmarkierten Zustand aus zu kreuzen und die rechte Seite als ein Indikator des markierten Zustands betrachtet wird. Die Markierung ist Träger einer doppelten Bedeutung. Sie kann als ein Operator betrachtet werden, der den Zustand auf seiner Innenseite in einen unterschiedlichen Zustand auf seiner Außenseite transformiert und sie kann als Name des markierten Zustands gesehen werden. Diese Kombination von Bedeutungen ist in dieser Interpretation kompatibel. Wir sehen in diesem Indikationenkalkül eine präzise Erläuterung der Art und Weise, in der Markiertheit und Unmarkiertheit in der Sprache gebraucht werden. Sprachlich sagen wir, dass man dann, wenn man vom markierten Zustand aus kreuzt, anschließend unmarkiert ist. Im Reich der Worte ist diese Unterscheidung unzweideutig. Nicht markiert ist unmarkiert. In diesem Kalkül der Markierung sind diese Strukturen in einer einfachen und nicht-trivialen Mathematik eingefangen, der Mathematik der Gesetze der Form. Von den Bezeichnungen und ihrem Kalkül bewegen wir uns nun zur Algebra, wo man davon ausgeht, dass eine Variable die vermutete Anwesenheit oder Abwesenheit eines Operators (Markierung) ist. Daher steht

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für die beiden Möglichkeiten.

Für alle Fälle des Operators A erhalten wir

So beginnt die Algebra in Bezug auf diese nicht-numerische Arithmetik der Formen. Die hervortretende primäre Algebra ist ein subtiler Vorläufer zur Booleschen Algebra. Man könnte sie irrtümlich für die Boolesche Algebra halten, aber der Unterschied besteht im Anfang, im Gebrauch der Markierung. Die Form

verwirklicht die Negation von A, jedoch ist die Markierung, die dies leistet, ebenfalls einer der Werte in der Arithmetik. Der Kontext des Formalismus trennt die Rollen von Operator und Operand. In der gängigen Booleschen Algebra ist diese Trennung absolut. Andere Beispiele algebraischer Regeln sind folgende:

Jede einzelne dieser Regeln ist aus Sicht der Arithmetik der Markierung einfach zu verstehen. Man muss sich selbst nur fragen, was man herausbekommt, wenn man die Werte von a und b in der Gleichung ersetzt. Wenn in der letzten Gleichung zum Beispiel a markiert und b unmarkiert ist, dann erhält man die Gleichung

die nach dem law of calling gewiss wahr ist.

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Mit der Algebra kann man Gleichungen lösen und Spencer-Brown hat darauf hingewiesen, dass man Gleichungen höheren Grades in der primären Algebra einfach so betrachten sollte, wie man es in der elementaren Algebra tut. Solche Gleichungen können Selbstreferenz mit sich bringen. Schauen wir für einen Moment auf die gewöhnliche Algebra.

x2 = ax + b ist eine quadratische Gleichung mit einer wohlbekannten Lösung und es ist ebenso gut bekannt, dass die Lösung manchmal imaginär in dem Sinne ist, dass sie komplexe Zahlen der Form R + Si mit i2 =  − 1 verwendet. Man kann die Gleichung umstellen als

x = a + b/x. In dieser Form ist sie tatsächlich selbstreferentiell, mit einem auf der rechten Seite in die Gleichung wiedereintretenden x. Wir könnten sie durch einen infiniten Wiedereintritt (reentry) oder einen infinit fortgesetzten Bruch „lösen“:

x = a + b/(a + b/(a + b/(a + b/(a + b/(a + ...))))). In diesem infiniten Formalismus ist es buchstäblich der Fall, dass x = a + b/x und wir können schreiben

um zu zeigen, wie diese Form in ihren eigenen Bezeichnungsraum wiedereintritt. Diese formale Lösung für die quadratische Gleichung konvergiert in eine reale Lösung, wenn die quadratische Gleichung reale Grundlagen hat. Wenn, zum Beispiel, a = 1 = b, dann konvergiert

in die positive Lösung x2 = x + 1, die der goldene Schnitt ist, nämlich die Hälfte von eins plus Quadratwurzel aus fünf. Andererseits kann die quadratische Gleichung imaginäre Grundlagen haben. (Das passiert, wenn a + 4b kleiner als Null ist.) Unter diesen Umständen stellt die formale Lösung keine reale Zahl dar. Wenn i beispielsweise die Quadratwurzel aus minus eins bezeichnet, dann könnten wir schreiben

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um eine formale Zahl mit der Eigenschaft zu bezeichnen, dass

i = −1/i Spencer-Brown legt Wert darauf, dass man der Analogie des Einführens imaginärer Zahlen in die gewöhnliche Algebra folgen kann, um imaginäre boolesche Werte in die Arithmetik der Logik einzuführen. Eine offensichtlich paradoxe Gleichung wie

kann analog zum quadratischen x = −1/x gesehen werden und als Lösungen wird man Werte erhalten, die über markiert und unmarkiert, über wahr und falsch, hinausgehen.

3 Paradoxie In Kap. 11 der „Gesetze der Form“ macht Spencer-Brown deutlich, dass ein Zustand, der im Raum widersprüchlich erscheinen mag, in Raum und Zeit paradoxielos erscheinen kann. Das gilt auch für so berühmte Paradoxien wie jene der Russell-Menge aller Mengen, die sich selbst nicht als Element enthalten. Das sind Strukturen, deren bloße Definition sie in die Produktion neuer Entitäten vorantreibt, die sie in sich selbst mit einschließen müssen. Sie sind paradox in einer ewigen Welt und generativ in einer Welt der Zeit. Der einfachste Fall einer solch offensichtlichen Paradoxie ist die Gleichung

betrachtet im Kontext der Gesetze der Form. Wenn nämlich J gleich der Markierung ist, dann impliziert die Gleichung, dass J gleich dem unmarkierten Zustand ist und wenn J gleich dem unmarkierten Zustand ist, dann impliziert die Gleichung, dass es gleich dem markierten Zustand ist.

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Manchmal schreibt man

oder

um zu zeigen, dass diese Form in ihren eigenen Bezeichnungsraum wieder eintritt. In den Gesetzen der Form haben wir die Gleichung

bei der das Nichts auf der rechten Seite des Gleichheitszeichens buchstäblich nichts bedeutet. Wenn wir uns in diesem Kontext bewegen sehen wir, dass die endlichen Annäherungen an die wiedereintretende Markierung zwischen den Werten markiert und unmarkiert oszillieren werden:

Das bedeutet, dass wir nun zwei Sichtweisen von der wiedereintretenden Markierung haben, die eine ist rein räumlich – ein unendliches Nest von Beinhaltungen. Die andere ist rein zeitlich – ein alternierendes Muster von markierten und unmarkierten Zuständen. Zwischen diesen beiden Extremen können alle Arten von Dynamiken auftreten, was das Thema des Aufsatzes „Form Dynamics“ (Kauffman/Varela 1980) gewesen ist.

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Wenn man J als in der Zeit oszillierend betrachtet, gibt es keine Paradoxie. Mit der Form der wiedereintretenden Markierung J ist ein neuer Zustand aufgetaucht. Auf dieser Ebene würde die wiedereintretende Markierung Autonomie oder Autopoiesis darstellen (Varela 1975). Sie führt den Begriff eines Systems vor Augen, dessen Struktur durch Selbstproduktion seiner eigenen Struktur aufrechterhalten wird. Diese Idee eines selbstreferentiellen Kalküls und die Produktion eines Symbols für den fundamentalen Begriff des Feedbacks auf der Ebene einer Kybernetik zweiter Ordnung hat die Vorstellungskraft vieler Menschen in ihren Bann gezogen und sie tut es auch heute noch! Hier ist das uralte mythologische Symbol des Wurms Ouroboros, eingebettet in einen mathematischen, nichtnumerischen Kalkül. Die Schlange steckt nun im Fundament und der gesamte Weg hinab ist voller Schlangen. In unserer Arbeit über Form Dynamics (Kauffman/Varela 1980) weisen wir der wiedereintretenden Markierung wieder den Platz eines temporalen Konstrukts zu. In der Biologie könnte man autonome Organismen als grundlegend betrachten und man könnte sich anschauen, wie sie durch das physische Substrat generiert werden. Das ist ein Mysterium, mit dem wir unmittelbar konfrontiert sind. Die uns bekannte Welt ist die Welt unseres Organismus. Biologische Kosmologie ist die primäre Kosmologie und die Welt ist fundamental zirkulär. Beim Schreiben dieses mit Varela erarbeiteten Aufsatzes war ich fasziniert von der Vorstellung imaginärer boolescher Werte und dem Gedanken, dass die wiedereintretende Markierung und ihre Verwandten, die komplexen Zahlen, als solche Werte aufgefasst werden können. Die Idee besteht darin, dass es „logische Werte“ jenseits von wahr und falsch gibt und dass diese Werte dazu benutzt werden können, Theoreme in Bereichen zu beweisen, die die gewöhnliche Logik nicht erreichen kann. Letztendlich kam ich zu der Einsicht, dass dies die kreative Funktion allen mathematischen Denkens ist. Die wiedereintretende Markierung hat einen Wert, der zu keiner Zeit entweder markiert oder unmarkiert ist. Denn sobald sie markiert ist, wendet sich die Markiertheit auf sich selbst an und wird unmarkiert. „Es“ verschwindet von selbst. Sobald der Wert allerdings unmarkiert ist, „handelt“ die Unmarkiertheit, um eine Markierung zu erzeugen. Man kann nun sehr wohl fragen, wie Unmarkiertheit „handeln“ kann, um Markiertheit zu produzieren. Wie können wir aus nichts etwas erhalten? Die Antwort in „Gesetze der Form“ ist subtil. Es ist eine Antwort, die sich selbst zerstört. Die Antwort lautet, dass. Jedes gegebene „Ding“ mit dem identisch ist, was es nicht ist.

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Deshalb ist Markiertheit mit Unmarkiertheit identisch. Licht ist identisch mit Dunkelheit. Alles ist identisch mit nichts. Verstehen ist identisch mit Nicht-Verstehen. Jegliche Dualität ist ihrer Konfusion in die Vereinigung identisch. Eine irrationale geistige Verfassung ist einer rationalen geistigen Verfassung identisch. In der Logik des Tibetanischen Buddhismus gibt es Existenz, Nichtexistenz und das, was weder existiert noch nicht existiert (Stcherbatsky 1958). Hier liegt der Bereich des imaginären Werts. Die Beschaffenheit des Wiedereintritts (reentry), übertragen in die Zeit, offenbart eine abwechselnde Reihe von Zuständen, die markiert oder unmarkiert sind. Diese ursprüngliche Wellenform kann betrachtet werden als Markiert, Unmarkiert, Markiert, Unmarkiert, … oder als Unmarkiert, Markiert, Unmarkiert, Markiert, … Ich habe mich dazu entschlossen, diese zwei vollkommen zeitlichen Zustände als Vertreter der wiedereintretenden Markierung zu untersuchen und habe sie I beziehungsweise J genannt (Kauffman 1978). Diese beiden imaginären Werte füllen eine Welt der Möglichkeit aus, die senkrecht zur Welt von wahr und falsch steht.

In meinem Aufsatz über DeMorgan Algebras (Kauffman 1978) wird gezeigt, wie I und J für den Beweis eines Vollständigkeitstheorems einer vierwertigen Logik benutzt werden können, die auf Wahr, Falsch, I und J basiert. Das ist die „wellenförmige Arithmetik“, die mit den Form Dynamics in Verbindung steht. In dieser Theorie partizipieren die imaginären Werte I und J an dem Beweis, dass ihre eigene Algebra unvollständig ist. Das ist ein Gebrauch des imaginären Werts in einem Prozess der Beweisführung, der ohne ihn viel schwieriger (wenn nicht sogar unmöglich) wäre.

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Nichtsdestotrotz ist es nicht wirklich notwendig, eine neue Algebra und Arithmetik zu konstruieren um Paradoxien zu vermeiden. Eine Alternative ist die Flagg’sche Resolution, die von James Flagg um 1980 herum entdeckt worden ist (siehe Kauffman 1999 zur Entstehung dieser Perspektive). Jede Lösung unserer Paradoxie verlangt von uns etwas aufzugeben. Die Flagg’sche Resolution verlangt von uns, die gemeinhin angenommene Lokalität eines algebraischen Elements aufzugeben. In der Flagg’schen Resolution ist die wiedereintretende Markierung im Text nicht-lokalisiert. Hier ist die Flagg’sche Resolution:

Wenn diese Gleichung in einem gegebenen Text angewendet wird, dann muss sie überall in diesem Text angewendet werden. Es existiert nur eine wiedereintretende Markierung und alle Bezüge darauf sind relational. Insbesondere kann man schreiben

und dadurch beide Markierungen im Text ändern

aber es ist verboten, nur eine von ihnen zu ändern. Mit dieser Resolution in der Hand existiert keine Paradoxie. Sie kann nie vorkommen. Jeder Text muss als eigenständig angenommen werden. Die wiedereintretende Markierung hat eine selbst-kreuzende Eigenschaft, jedoch stört das in der Gleichung nicht ihre Relation zu sich selbst.

Wenn man nun auf die wellenförmige Beschreibung zurückblickt sieht man, dass es in der obigen Gleichung tatsächlich Unsinn ist, jemandem zu erlauben, nur die eine wiedereintretende Markierung zu ändern, aber nicht die andere. Der ganze Witz der Gleichung besteht darin, dass innerhalb der Gleichung die beiden Wellenformen verschoben werden und sich überlagern, um den markierten Zustand zu erzeugen. Die Flagg’sche Resolution löst die Paradoxie auf, indem Zeitlichkeit in textliche Nicht-Lokalität umgeformt wird.

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4 Elementare Logik Im Folgenden wird zu sehen sein, wie wir die elementare Logik durch Verwendung der Gesetze der Form modellieren wollen. Wir werden annehmen, dass der markierte Zustand der Wert für W (wahr) und der unmarkierte Zustand der Wert für F (falsch) ist. Wir nehmen an, dass NICHT die Operation des Eingeschlossenseins durch eine Markierung ist.

Wir nehmen an, dass A ODER B der Nebeneinanderstellung AB in der primären Algebra entspricht. Man beachte, dass das law of calling besagt, dass dies als ein Modell des ODER funktioniert, wo A ODER B „A oder B oder beide“ bedeutet. Durch Hinzufügen von UND und WENN, DANN werden wir das Vokabular der elementaren Logik zur Verfügung haben. Zunächst erzeugen wir UND:

Der Leser sollte keine Schwierigkeiten haben zu verifizieren, dass dieser Ausdruck für A und B markiert ist, wenn und nur wenn sowohl A als auch B markiert sind. Er ist daher wahr, wenn und nur wenn A wahr ist und B wahr ist. Man beachte zudem, dass diese Definition des und das DeMorgan’sche Gesetz verkörpert: A und B = Nicht (Nicht A oder nicht B). Der nächste Punkt ist die Folgerung. Die standardgemäße logische Definition von wenn A, dann B ist wenn A, dann B = (Nicht A) oder B. Daher

Das Ergebnis unserer Bemühungen ist ein gelungener bildhafter Ausdruck für die Folgerung, die manchmal auch Implikation genannt wird. Man beachte, dass

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der Ausdruck der Folgerung nur falsch (unmarkiert) ist, wenn A markiert und B unmarkiert ist. Das ist das Kennzeichen dieser Operation. Wenn A, dann B ist nur falsch, wenn A wahr ist und B falsch. Wir verfügen nun über das Vokabular der elementaren Logik und sind darauf vorbereitet, Syllogismen und Tautologien zu analysieren. Der klassische Syllogismus hat beispielsweise die Form wenn ((wenn A, dann B) und (wenn B, dann C)), dann (wenn A, dann C), der die Form hat:

Die tautologische Natur dieses Ausdrucks, ist von der primären Algebra aus gesehen sofort offensichtlich. In der untenstehenden Ableitung verwenden wir wiederholt die folgende algebraische Tatsache.

Man beachte, dass diese Gleichung (in „Gesetze der Form“ Generation genannt) mit Sicherheit richtig ist, da beide Seiten markiert sind, falls B markiert ist und beide Seiten gleich sind, falls B unmarkiert ist.

Dieser Formalismus macht es sehr einfach, Probleme in der elementaren Logik zu navigieren und er macht es einfach, die Struktur vieler Aspekte der elementaren

Das Prinzip der Unterscheidung

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Logik zu verstehen. Hier ist ein Beispiel. Man beachte, dass wir den Syllogismus im Evaluieren unmittelbar auf die Form reduziert haben

wo die Prämissen wenn A, dann B und wenn B, dann C in Markierungen eingeschlossen sind, während die Konklusion wenn A, dann C nicht in eine Markierung eingeschlossen ist. Wir können diese syllogistische Form neu arrangieren, indem wir nur Reflexion

(und implizite Kommutativität) benutzen, ohne ihren Wert zu verändern. Nenne die Algebra, die ausschließlich durch Reflexion generiert wird, die Reflexionsalgebra. Durch Anwendung der Reflexionsalgebra auf diese Form des Syllogismus können wir ihn nicht auf einen markierten Zustand reduzieren, aber wir können abwechselnd gültige Formen der Beweisführung erhalten. Aus dieser einen Form erhalten wir dann eine Vielzahl von anderen gültigen Syllogismen. Zum Beispiel,

Mit dieser Neuanordnung erhalten wir die neuen Prämissen wenn A, dann B

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und nicht (wenn A, dann C) mit der Konklusion nicht (wenn B, dann C). Das ist in der Tat ein gültiger Syllogismus, was jedoch am interessantesten ist, ist das Ergebnis des Aufgreifens einer der Interpretationen der Folgerung. Nehmen wir an wenn A, dann B bedeute Alle A sind B. Nicht (wenn A, dann C) bedeutet dann nicht (alle A sind C). Aber wir können letzteres interpretieren als Nicht (alle A sind C) = einige A sind nicht C. Mit dieser Interpretation haben wir einen neu angeordneten Syllogismus mit den Prämissen Alle A sind B. und Einige A sind nicht C. mit der Konklusion Einige B sind nicht C. Das ist ein korrekter Syllogismus und es zeigt sich, dass es genau 24 gültige Syllogismen gibt, die „einige“, „alle“ und „nicht“ mit einbeziehen. Man kann jeden einzelnen davon durch Neuanordnung der basalen Form des Syllogismus (wie oben gezeigt) erhalten, und zwar in Kombination mit dem Ersetzen einiger oder aller Variable durch ihre gekreuzten Formen. Die 24 gültigen Syllogismen sind genau diejenigen, die man durch diesen Neuanordnungsprozess erhalten kann. Diese Tatsache hat Spencer-Brown in seinem Abschn. 2 zu „Gesetze der

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Form“ festgestellt. Es ist eine bemerkenswerte Beobachtung. Die elementare logische Form, der wir nachgegangen sind, „weiß“ eigentlich nichts von Vielfältigkeit. Ohne jegliche Formalisierung der Quantifizierung für logische Variable bekommen wir dennoch eine Struktur, die den grundlegenden Beweisführungen über Sammlungen (collections) standhält. Das ist ein Thema für die Struktur der Logik und Linguistik und verdient weitergehende Forschung. Aus dem Amerikanischen von Athanasios Karafillidis

Literatur Kauffman, L. H. (1978): DeMorgan Algebras – Completeness and Recursion, in: Proceedings of the Eighth International Conference on Multiple Valued Logic), IEEE Computer Society Press, S. 82–86. Kauffman, L. H., und F. Varela (1980): Form Dynamics, in: Journal of Social and Biological Structures 3, S. 171–206. Kauffman, L. H. (1999): Virtual Logic – The Flagg Resolution, in: Cybernetics and Human Knowing 6, Heft 1 , S. 87–96. Spencer-Brown, G. (1969): Laws of Form. London: Allen and Unwin., dt. Übersetzung von Thomas Wolf, Gesetze der Form, Lübeck: Bohmeier Verlag, 1997. Stcherbatsky, T. (1958): Buddhist Logic. S’Gravenhage: Mouton de Gruyter. Varela, F. J. (1975): A calculus for self-reference, in: Int. J. Gen. Systems 2, S. 5–24.

Louis H. Kauffman,  geboren in Potsdam, New York, am 3. Februar 1945, aufgewachsen in Norfolk, New York, B. S. in Mathematik am Massachusetts Institute of Technology, Ph. D. in Mathematik an der Princeton University. Seit 1971 lehrt und erforscht er die Mathematik an der University of Illinois in Chicago. Autor zahlreicher Bücher und Artikel zur Knotentheorie und zum Studium der mathematischen Form. Gründer und Herausgeber des Journal of Knot Theory and its Ramifications (World Scientific Pub. Co.) und Herausgeber der Reihe Series on Knots and Everything (World Scientific Pub. Co.). 1993 erhielt er den Warren McCulloch Preis der American Society for Cybernetics und 1996 den Preis der Alternative Natural Philosophy Association. Er schreibt eine Kolumne über Virtual Logic für die Zeitschrift Cybernetics and Human Knowing.

Menschliche Problemlöser und programmierte Computer: zwei Spezies der derselben Gattung? Über Allen Newell und Herbert A. Simon, Human Problem Solving (1972) Fritz B. Simon

1 Vorbemerkung Dies ist ein schweres Buch (1,8 kg), das auch nicht leicht zu lesen ist (mehr als 900 Seiten, die zu einem guten Teil komplexe Programme und detaillierte WortProtokolle empirischer Studien wiedergeben). Dem physischen Eindruck entspricht das ideelle Gewicht, das dieses Werk für die Entwicklung der sogenannten Künstlichen Intelligenz gewonnen hat. Seine Auswirkungen sind in unzähligen Bereichen der Gegenwartsgesellschaft zu beobachten. Es ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Schlüsselwerk, weil es Türen zu bis dato unbekannten, weil nicht existenten, Räumen der Datenerfassung und Kontrolle eröffnet hat. Ob es – davon abgesehen – dem im Titel formulierten Anspruch gerecht wird, „menschliches Problemlösen“ zu erfassen („… perhaps the most important book on the scientific study of human thinking in the 20th century“ wird auf dem Cover verkündet), kann trotzdem mit einem Fragezeichen versehen werden. Die beiden Autoren, Allen Newell und Herbert A. Simon, gehörten zu den Pionieren der Kognitionswissenschaften und können zu den Ur-Vätern der „Künstlichen Intelligenz“/„Artificial Intelligence“ (KI/AI) gerechnet werden. Herbert Simon beschäftigte sich seit Ende der 40er Jahre des vorigen Jahrhunderts zunächst mit Fragen rationaler Entscheidungsfindung, speziell in Organisationen. F. B. Simon (*)  Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 D. Baecker (Hrsg.), Schlüsselwerke der Systemtheorie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30633-5_25

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Für diese Arbeiten erhielt er 1978 den Nobel-(Gedächtnis-)Preis für Wirtschaftswissenschaften. Seit Mitte der 50er Jahre arbeitete er zusammen mit Allen Newell an der Computersimulation komplexer Entscheidungsprozesse und der Erforschung menschlicher Problemlösestrategien. Aus der Historie der gemeinsamen Forschung ergibt sich auch die Logik des kognitivistischen Paradigmas, dem sie in ihrer Arbeit folgen: Sie versuchten zunächst, menschliches Problemlösen durch Computer simulieren zu lassen, d. h. es wurden Programme geschrieben, deren Zweck es war, ganz generell Probleme zu lösen ( z. B. ein Programm mit dem Namen „General Problem Solver“/ GPS). Um solche Programme schreiben (lassen) zu können, mussten sie Hypothesen über die Art, wie Menschen Probleme lösen, entwickeln. Nachdem ihnen gelungen war, mithilfe solcher Programme die von ihnen gewählten Aufgaben zu lösen, legten sie die Computer-Metapher ihren empirischen Studien des tatsächlichen Problemlösens von Menschen zugrunde. Sie postulierten, dass der Mensch – analog zu datenverarbeitenden Maschinen – ein informationsverarbeitendes System („Information Processing System“/IPS) ist, und stellten ihre Versuchspersonen vor die Aufgabe, dieselben Probleme zu lösen, die in den Simulationen erfolgreich von Maschinen gelöst wurden. Aus dem Vergleich der gewählten Lösungsstrategien von Mensch und Maschine leiteten sie ihre Theorie menschlichen Problemlösens ab.

2 Aufbau des Buches Das Buch „Human Problem Solving“ erschien ursprünglich im Jahre 1972 (Neuauflage 2019) und fasst die Ergebnisse der gemeinsamen Forschung der Autoren, die sich über einen Zeitraum von 17 Jahren erstreckte, zusammen. Es ist in fünf Abschnitte gegliedert. Im ersten werden die „Präliminarien“ dargestellt: theoretische Vorannahmen, Hypothesen, der Fokus der Beobachtung. In den Abschnitten zwei bis vier werden dann empirische Studien dargestellt, in denen die Lösungsmuster von Versuchspersonen für drei unterschiedliche Typen von Problemen untersucht wurden. Was die wissenschaftliche Transparenz erhöht, aber das Lesevergnügen limitiert, sind ausführlich referierte Programme sowie Protokolle von Sitzungen mit einzelnen Versuchspersonen. Im fünften und letzten Abschnitt wird dann versucht, eine Theorie menschlichen Problemlösens zu formulieren, die sich aus den empirischen Studien ableiten lässt bzw. als Bestätigung oder Modifikation der zugrunde gelegten Thesen verstanden werden kann.

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3 Theoretische Präliminarien Die theoretischen Grundlagen, die von den Autoren ausführlich (auf 140 Seiten) dargelegt werden, lassen sich hier nur stichwortartig skizzieren. Aber auch diese – sicher unangemessene – Verkürzung dürfte das Modell, dem die Studie folgt, deutlich machen. Basale Prämisse ist, dass menschliche Kognition bzw. das kognitive System, das der Mensch darstellt, als „Information Processing System“/IPS funktioniert (da in dem Buch viel mit solchen Abkürzungen gearbeitet wird, wird das auch hier so gehandhabt; und die von den Autoren kreierten Fachausdrücke werden zwar jeweils erklärt, aber wie im Original beibehalten und nicht ins Deutsche übersetzt). Die verwendete Definition eines IPS ist abstrakt, d. h. es wird nicht problematisiert, wie es technisch oder – im Falle des Menschen – biologisch realisiert wird. Ein IPS besteht im Prinzip aus fünf Arten von Komponenten: 1) dem Gedächtnis, das 2) Symbolstrukturen enthält, 3) einem Prozessor, 4) Effektoren und 5) Rezeptoren. Die Prämisse ist – ohne hier näher auf die aus der Architektur von Computerprogrammen abgeleitete abstrakte Konstruktion des IPS einzugehen –, dass das Prozessieren von Informationen einem Input-Output-Muster entspricht, d. h. dass dessen interne Symbolstruktur Objekte der Außenwelt repräsentiert und die internen Methoden der Problemlösung auch als Lösungen in der Außenwelt geeignet sind. Bei der Informationsverarbeitung – und damit der Problemlösung – werden Muster von Symbolstrukturen manipuliert und jeweils sequentiell die nächsten prozeduralen Schritte nach binären Kriterien, die sich aus der zweiwertigen Logik ergeben, entschieden. Auf diese Weise werden Listen von zu beantwortenden Fragen abgearbeitet, bis schließlich die ursprüngliche Input-Symbolstruktur in eine Output-Symbolstruktur transformiert ist. Was die internen Prozesse des IPS angeht, so folgen die Hypothesen der Autoren der Logik von Programmiersprachen. Von speziellem Interesse sind dabei die sogenannten „Production Systems“, Konditionalprogramme, die festlegen, unter welchen Bedingungen welche Aktionen zu erfolgen haben. Zur Erklärung des Begriffs verweisen sie auf das vertraute Beispiel des Thermostats zur Regelung der Raumtemperatur bzw. der Operationen einer thermostatgesteuerten Heizung: „Thermostat: temperature > 70° and temperature