Schiller und die höfische Welt

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Schiller und die höfische Welt

Table of contents :
i-iv
Pages: i–iv
Inhalt
Pages: v–viii
Vorwort
Pages: ix–x
Abkürzungen und Siglen
Pages: xi–xii
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DIE KÜNSTE AN DER KARLSSCHULE – SCHILLERS LEHRJAHRE
Einführung
Friedrich Strack
Pages: 3–5
Schiller und die Fürsten
Eike Wolgast
Pages: 6–30
Die bildenden Künste an der Hohen Carlsschule in Theorie und Praxis
Johannes Zahlten
Pages: 31–46
Die Karlsschüler bei höfischen Festen
Gerhard Friedl
Pages: 47–76
»Die Bilderschrift der Empfindungen«. Jean-Georges Noverres Lettres sur la Danse, et sur les Ballets und Friedrich Schillers Abhandlung Über Anmut und Würde
Gabriele Brandstetter
Pages: 77–93
Rhetorische Elemente in den Reden der Karlsschüler auf Franziska von Hohenheim (1779)
Martina Eicheldinger
Pages: 94–110
Schillers Festreden
Friedrich Strack
Pages: 111–126
Heimliche Lektüre der Karlsschüler
Wolfgang Friedrichs
Pages: 127–133
Der Medicus Schiller und das Konzept seiner Heilkunde
Heinrich Schipperges
Pages: 134–147
Was ist eine lyrische Operette? Anmerkungen zu Schillers »Semele«
Ludwig Finscher
Pages: 148–155
Formbegriff und Ausdruckspinzip in Schillers Musikästhetik
Carl Dahlhaus
Pages: 156–167
Die Verkündigung des »ästhetischen Staats« im höfischen Theater. Zu Schillers lyrischem Spiel Die Huldigung der Künste
Gerhard vom Hofe
Pages: 168–184
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SCHILLERS VERHÄLTNIS ZUR LITERARISCHEN TRADITION UND ZUR MODERNE
Einführung
Achim Aurnhammer
Pages: 187–190
Schillers Übersetzung des »Sturms auf dem Tyrrhener Meer« (Vergil, Aen. 1, 34–156)
Werner Schubert
Pages: 191–212
Lohensteins und Schillers »Agrippina«
Friedrich Gaede
Pages: 213–222
Der politische Himmel. Zum astrologischen Motiv in Schillers »Wallenstein«
Maria Wolf
Pages: 223–232
»Schuldige Unschuld«: Schillers Maria Stuart vor dem Hintergrund barocker Dramatisierungen des Stoffes
Thomas Diecks
Pages: 233–246
Nachdichtung oder Übersetzung? Diderots Mme-de-la-Pommeraye-Episode in der Bearbeitung Schillers
Stefan Buck
Pages: 247–253
Engagiertes Erzählen: »Der Verbrecher aus verlorener Ehre«
Achim Aurnhammer
Pages: 254–270
Schillers Zusammenarbeit mit Goethe auf dem Weimarer Hoftheater
Walter Hinck
Pages: 271–281
Poetische Legitimität und legitimierte Poesie: Betrachtungen zu Schillers Ballade Der Graf von Habsburg und ihrem literarischen Umkreis
Wilhelm Kühlmann
Pages: 282–298
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SCHILLERS POLITISCHE HELDEN
Einführung
Klaus Manger
Pages: 301–306
Politische Helden Schillers
Dolf Sternberger
Pages: 307–317
Machiavellische Spuren in Schillers Dramatik
Kurt Wölfel
Pages: 318–340
Schillers Fiesko: Freiheitsheld und Tyrann
Peter Michelsen
Pages: 341–358
Staatsraison und Moralität. Die Prinzipien höfischen Lebens im Don Carlos
Karen Beyer
Pages: 359–377
Höfische Intrige für die gute Sache. Marquis Posa und Octavio Piccolomini
Wolfgang Wittkowski
Pages: 378–397
Wie Schiller Königinnen reden läßt. Zur Szene III, 4 in der Maria Stuart
Arthur Henkel
Pages: 398–406
König René oder die Geschichte. Zu Schillers Jungfrau von Orleans
Peter Pfaff
Pages: 407–421
Verschwörungen und Rebellionen in Schillers Dramen
Walter Müller-Seidel
Pages: 422–446
Schillers Marina – Tyrannin aus Lust
Klaus Manger
Pages: 447–459
»Der ganze Mensch ist wie ein versiegelter Brief« – Schillers Kritik und Apologie der »Hofkunst«
Dieter Borchmeyer
Pages: 460–476
Register
Pages: 477–488
Verzeichnis der Beiträger
Pages: 489–500

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SCHILLER und die höfische Welt

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Hinterglasmalerei von Christian Wilhelm Ketterlinus (1766-1803). 22,3 Χ 30 cm. Im Besitz des Schiller-Nationalmuseums, Marbach am Neckar. Reproduktionsvorlage: Schiller-Nationalmuseum, Marbach am Neckar. Schiller und ein Mitschüler imitieren das herzogliche Paar. Der nicht identifizierte Eleve an Schillers Seite erscheint in der Kostümierung der Franziska, Reichsgräfin von Hohenheim. Der Besen in der Hand des Schülers ist möglicherweise als pervertiertes Herrschaftszeichen zu deuten. Das Bild hält den Augenblick fest, als die Karlsschüler vom eintretenden herzoglichen Paar überrascht werden.

SCHILLER und die höfische Welt Herausgegeben von Achim Aurnhammer · Klaus Manger • Friedrich Strack

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1990

Gedruckt mit Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Schiller und die höfische Welt / hrsg von Achim Aurnhammer... — Tübingen : Niemeyer, 1990 NE: Aurnhammer, Achim [Hrsg.] ISBN 3-484-10649-2 © Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1990 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Satz und Druck: Allgäuer Zeitungsverlag GmbH, Kempten Buchbindearbeiten: Heinrich Koch, Tübingen

Inhalt

Vorwort

IX

Abkürzungen und Siglen

XI

I . D I E K Ü N S T E AN DER KARLSSCHULE — SCHILLERS L E H R J A H R E

Friedrich Strack Einführung

3

Eike Wolgast Schiller und die Fürsten

6

Johannes Zahlten Die bildenden Künste an der Hohen Carlsschule in Theorie und Praxis

31

Gerhard Friedl Die Karlsschüler bei höfischen Festen

47

Gabriele Brandstetter »Die Bilderschrift der Empfindungen« — Jean-Georges Noverres Lettres sur la Danse, et sur les Ballets und Friedrich Schillers Abhandlung Uber Anmut und Würde

77

Martina Eicheldinger Rhetorische Elemente in den Reden der Karlsschüler auf Franziska von Hohenheim (1779)

94

Friedrich Strack Schillers Festreden

111

Wolfgang Friedrichs Heimliche Lektüre der Karlsschüler

127

Heinrich Schipperges Der Medicus Schiller und das Konzept seiner Heilkunde

134

VI

Inhalt

Ludwig Finscher Was ist eine lyrische Operette? Anmerkungen zu Schillers Semele

148

Carl Dahlhaus Formbegriff und Ausdrucksprinzip in Schillers Musikästhetik . . .

156

Gerhard vom Hofe Die Verkündigung des »ästhetischen Staats« im höfischen Theater. Zu Schillers lyrischem Spiel Die Huldigung der Künste

168

I I . SCHILLERS VERHÄLTNIS ZUR LITERARISCHEN TRADITION UND ZUR M O D E R N E

Achim Aurnhammer Einführung

187

Werner Schubert Schillers Ubersetzung des Sturms auf dem Tyrrhener Meer (Vergil, Aen. 1, 34—156)

191

Friedrich Gaede Lohensteins und Schillers Agrippina

213

Maria Wolf Der politische Himmel. Zum astrologischen Motiv in Schillers Wallenstein

223

Thomas Diecks »Schuldige Unschuld«: Schillers Maria Stuart vor dem Hintergrund barocker Dramatisierungen des Stoffes

233

Stefan Buck Nachdichtung oder Ubersetzung? Diderots Mme-de-la-Pommeraye-Episode in der Bearbeitung Schillers

247

Achim Aurnhammer Engagiertes Erzählen: Der Verbrecher aus verlorener Ehre

254

Walter Hinck Schillers Zusammenarbeit mit Goethe auf dem Weimarer Hoftheater

271

Wilhelm Kühlmann Poetische Legitimität und legitimierte Poesie: Betrachtungen zu Schillers Ballade Der Graf von Habsburg und ihrem literarischen Umkreis

282

Inhalt

VII

I I I . SCHILLERS POLITISCHE H E L D E N

Klaus Manger Einführung

301

Dolf Sternberger Politische Helden Schillers

307

Kurt Wölfel Machiavellische Spuren in Schillers Dramatik

318

Peter Michelsen Schillers Fiesko: Freiheitsheld und Tyrann

341

Karen Beyer Staatsraison und Moralität. Die Prinzipien höfischen Lebens im Don Carlos

359

Wolfgang Wittkowski Höfische Intrige für die gute Sache. Marquis Posa und Octavio Piccolomini

378

Arthur Henkel Wie Schiller Königinnen reden läßt. Zur Szene 111,4 in der Maria Stuart

398

Peter Pfaff König Rene oder die Geschichte. Zu Schillers Jungfrau Orleans

407

von

Walter Müller-Seidel Verschwörungen und Rebellionen in Schillers Dramen

422

Klaus Manger Schillers Marina — Tyrannin aus Lust. Mit einem Postscriptum: Schiller und Büchner

447

Dieter Borchmeyer »Der ganze Mensch ist wie ein versiegelter Brief« — Schillers Kritik und Apologie der »Hofkunst« 460 Register

477

Verzeichnis der Beiträger

489

Vorwort

Schillers zwiespältiges Verhältnis zur höfischen Welt zu erörtern, war das Vorhaben eines interdisziplinären Colloquiums, das vom 13. bis 15. April 1988 im Internationalen Wissenschaftsforum Heidelberg stattfand. Immer noch sieht man in Schiller vor allem den bürgerlichen Revolutionär und verkennt, wie sehr sein Leben und sein Werk von der höfischen Kultur geprägt sind. Bereits der Karlsschüler orientiert sich an der Repräsentationskunst am Stuttgarter Hof Karl Eugens und erprobt in panegyrischen Reden und Festspielen barock-höfischen Stils seine rhetorische und dichterische Begabung. Selbst in dem Entschluß des freien Schriftstellers, »keinem Fürsten« mehr dienen zu wollen und nur das Publikum als »Souverain« anzuerkennen, ist der höfische Einfluß noch spürbar. Auch am Weimarer Musenhof sucht Schiller die große Welt der Höfe in seinen Dramen auf und inszeniert deren Zeremoniell und politisches Kalkül mit rhetorischem Aufwand und gestischem Pathos. Maßgebend für sein Dramenschaffen bleibt das Ideal des ganzen Menschen, dessen feierliche Grazie, die dem Edelmann in die Wiege gelegt ist, vom Bürger Schiller bewundert und erstrebt wird. Was könnte den höfisch-bürgerlichen Antagonismus, in dem Schiller zeitlebens befangen war, treffender charakterisieren als das Paradox, daß der Citoyen frangais von 1792 sich im November 1802 in den Adelsstand erheben ließ? »Schiller und die höfische Welt«: die vielfältigen Aspekte dieser spannungsreichen Beziehung, die während des Colloquiums zur Sprache kamen, erwiesen sich als fruchtbar und aufschlußreich für Leben und Werk des Dichters. Die Beiträge der Teilnehmer sind in vorliegendem Band versammelt. In seiner Gliederung spiegelt er die Gesichtspunkte wider, unter denen die drei Tage des Colloquiums standen: »Die Künste an der Karlsschule«, »Schillers Verhältnis zur literarischen Tradition und zur Moderne« sowie »Schillers politische Helden«. Die Herausgeber nahmen den 65. Geburtstag von Peter Michelsen am 17. Januar 1988 zum Anlaß, ihm zu Ehren dieses Colloquium zu veranstalten. Mit dem Thema »Schiller und die höfische Welt« wollten sie an die richtungweisenden Schiller-Studien des Jubi-

χ

Vorwort

lars anknüpfen. Carl Dahlhaus trug seinen Beitrag als Festrede anläßlich einer Feierstunde am 16. Januar 1988 in der Aula der Alten Universität Heidelberg vor und schlug damit die Brücke zum Colloquium. Er und Dolf Sternberger haben das Erscheinen des Bandes nicht mehr erlebt. Ihnen und allen, die an dem Colloquium teilgenommen oder zu diesem Band beigetragen haben, sei herzlich gedankt. Danken möchten wir auch der Fritz Thyssen Stiftung in Köln, die Colloquium und Publikation großzügig gefördert hat, sowie dem Internationalen Wissenschaftsforum der Universität Heidelberg, dessen gastfreundliche Tagungsstätte zum guten Gelingen beitrug. Heidelberg, den 11. September 1989

Achim Aurnhammer Klaus Manger Friedrich Strack

Abkürzungen und Siglen

ADB DRs DU DVjs GJb GLL GRM HStA JDSG JFDH Jonas MGS NA NDB Neophil. WA WB WW ZfdPh

Allgemeine Deutsche Biographie Deutsche Rundschau Der Deutschunterricht Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft Goethe-Jahrbuch German Life and Letters Germanisch-Romanische Monatsschrift Hauptstaatsarchiv Stuttgart Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts Schillers Briefe. H g v. F. Jonas. Kritische Gesamtausgabe. 7 Bde. Stuttgart [usw.] 1892-1896 Michigan Germanic Studies Schillers Werke. Nationalausgabe. Hg. v. J. Petersen u.a. Weimar 1943ff. Neue Deutsche Biographie Neophilologus Goethes Werke. Hg. im Auftrag der Großherzogin Sophie von Sachsen. 4 Abt. 133 Bde. Weimar 1887-1919 Weimarer Beiträge Wirkendes Wort Zeitschrift für deutsche Philologie

D I E KÜNSTE AN DER KARLSSCHULE — SCHILLERS L E H R J A H R E

Friedrich Strack

Einführung

Aus historischer Sicht untersucht Eike Wolgast in seinem einleitenden Beitrag Schillers Verhältnis zu deutschen Fürsten. Die lebensgeschichtliche, nicht die politische Perspektive ist dabei maßgebend. Schillers Werben um höfische Anerkennung bleibt bestimmt vom Ringen um eine bürgerliche Dichterexistenz, die ohne mäzenatische Unterstützung zu jener Zeit nicht gewährleistet war. Schillers Schicksal wird zum Exempel für die soziale Situation des Schriftstellers zu Ausgang des 18. Jahrhunderts. Ihm fehlte die »allerhöchste Gunst« eines Fürsten, die seine poetische Produktivität heilsam gesteigert hätte, wie Goethe im Rückblick bemerkt. Die folgenden Beiträge suchen die kulturelle Welt des Stuttgarter Hofes und der Karlsschule vor Augen zu führen. Johannes Zahlten behandelt die herausragende Stellung, die dem Kunstunterricht unter der Leitung Nicolas Guibals zukam. Er verweist auf die wichtige Rolle des Mythologieunterrichts, der »zum Nutzen der Schönen Künste und der Künstler« betrieben wurde. Das bunte Göttergewimmel in Schillers Dichtung dürfte hier angeregt worden sein. Aber auch Ansätze zu einer antihöfischen Geschmacksbildung im Zeichen von Lessings Laokoon werden bereits spürbar. Joseph Anton Kochs Karikatur aus dem Kunstleben der jungen Maler ist dafür ein Beleg. Sie führt das Atelier der Karlsschule als Zuchthaus vor Augen und zeigt den dort herrschenden Geschmack als strafenden Zuchtmeister. Wie bei der »heimlichen Lektüre der Karlsschüler«, die Wolfgang Friedrichs anhand überlieferter »Visitationslisten« vorstellt, werden auch im Bereich der bildenden Kunst erste oppositionelle Bestrebungen gegenüber tradierten Geschmacksrichtungen erkennbar. Insbesondere an den Jahrestagen der Akademie und den fürstlichen Geburtstagen waren die Eleven an der höfischen Festgestaltung beteiligt. Ballette, Singspiele und panegyrische Reden wurden weitgehend von den Akademisten bestritten. In welch prunkvollem Rahmen sie stattfanden und wie sie auf die Schüler wirkten, beschreibt Gerhard Friedl in seinem Beitrag, der sich an den überlieferten Festbeschreibungen Joseph Uriots orientiert. Daß Schiller hiervon manche Anregung aufnahm, läßt die verbreitete Festmoti-

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Friedrich Strack

vik in seiner Dichtung vermuten. Vom »gekrönten Laster« brauchte er sie nur »umzuleiten« auf seine eigene Feier von Tugend und Güte. So konnten die Götter in Schillers Werk einziehen als »Manifestationen eines veredelten Menschseins«. Wie nachhaltig die höfischen Feste Karl Eugens von der theatralischen Seite her auf Schiller gewirkt haben müssen, weist Gabriele Brandstetter in ihrem Beitrag über die »Bilderschrift der Empfindung« nach, in dem sie Jean-Georges Noverres Ballettkunst und deren Bedeutung am Stuttgarter Hof untersucht. Sie kann wahrscheinlich machen, daß Noverres Tanzkunst und seine Ausdruckslehre Schillers Überlegungen zur >Anmut< beeinflußt haben. Das Rätsel einer >sittlichen< Ausdruckslehre, mit der Schiller Kant übertrumpfen wollte, wäre unter diesen Umständen auf verblüffend einfache Weise gelöst. Nicht weniger nachdrücklich muß der Rhetorikunterricht in der Karlsschule auf Schiller gewirkt haben. An den panegyrischen Reden auf Franziska von Hohenheim, die Karl Eugen seinen Eleven 1779 und 1780 abforderte, arbeitet Martina Eicheldinger die rhetorischen Bauelemente heraus. Das humanistische Bildungsprogramm der Karlsschule tritt dabei ebenso in den Blick wie die Tatsache, daß Schiller seine Mitschüler an Ausdruckskraft und Wirkungsintention weit übertrifft. Sein ungewöhnliches Redetalent, das Adam Müller später noch rühmt, bildet die Grundlage der großen pathetischen Dichtung Schillers, die dem höfischen Anspruch Karl Eugens verpflichtet bleibt. Schillers medizinische Studien behandelt der Beitrag von Heinrich Schipperges. Das Leib-Seele-Problem, das alle medizinischen Schriften Schillers bestimmt, erweist sich als Konvergenzpunkt seiner ästhetischen, moralischen, theologischen und medizinischen Interessen. Einer »Kultur der Affekte« sucht Schiller auf allen Gebieten Vorschub zu leisten. Seine medizinische Wirksamkeit reicht bis zum Entwurf einer »Diätetik für Schauspieler« durch den Mannheimer Hofmedikus Franz Anton Mai, der die »Sklaven unseres Vergnügens« durch seine Kunst zu bewahren hofft. Um die Macht der Affekte geht es auch in Schillers musikästhetischen Bemühungen. Die »lyrische Operette« Semele, so zeigt Ludwig Finscher, ist im Formenbestand des deutschen Singspiels nicht unterzubringen. Schillers Text zielt weniger auf eine »zu komponierende lyrische Operette« als auf eine »aus Worten komponierte Oper« in der die Affektbewegung vorherrscht. Finscher sieht Schillers Jugendwerk als »Versuch, mit Worten und Versen nicht nur Musik, sondern ein ganzes musikalisches Drama zu komponieren«. Es handelt sich um einen Sonderfall, den Schiller nicht weiter

Einführung

5

verfolgt hat, der aber in den sprachmusikalischen Versuchen der Romantiker Resonanz findet. Mit der Theorie der Musik hat Schiller sich erst im Zusammenhang seiner späteren ästhetischen Studien befaßt. Seine wenigen Reflexionen, die Gottfried Körner verpflichtet sind, gelangen nicht zur Selbständigkeit. Dennoch hat Schiller im 22. der Briefe über die ästhetische Erziehung eine »ästhetische Utopie« der Musik entworfen, die Carl Dahlhaus als Vorstufe der klassischen Musikästhetik und der Theorie Eduard Hanslicks interpretiert. Sogar Schellings Überlegungen zum Rhythmus spielen dabei eine Rolle. Schillers musikästhetische Reflexionen lassen sich von der Karlsschule her kaum mehr begründen. Bedenkt man jedoch, daß sie seinen Überlegungen zur >bewegten Gestalt< analog sind und diese den >ganzen Menschen< betrifft, wie er ihn schon in seiner Schulzeit postulierte, so ist es nicht abwegig, den Bogen von der Karlsakademie ins klassische Weimar zu schlagen. Viele der frühen Gedankenansätze werden hier weiter entwickelt. Das beweist noch die letzte dramatische Arbeit Schillers, Die Huldigung der Künste, die er 1804 aus festlichem Anlaß entworfen hat. Formen des Singspiels, das er in Stuttgart kennengelernt und erprobt hatte, werden hier modifiziert wieder aufgenommen. Gerhard vom Hofe deutet die Huldigung zu Ehren Maria Paulownas als Schillers Inszenierung des ästhetischen Staates< auf dem Hoftheater in Weimar. Schiller propagiert demnach sein Staatsideal vor höfischem Publikum und appelliert an den Adel, es einzulösen. So führt in der Tat ein Weg von Stuttgart nach Weimar; ein Weg allerdings durch Abgründe, der den Protest gegen das Höfische und schließlich dessen >Vermenschlichung< einschließt.

Eike Wolgast

Schiller und die Fürsten

»Meine Bekanntschaften sind auch die Geschichte meines Lebens.« »Bey einem Prinzen fällt mir immer zuerst ein, ob er nicht zu etwas gut sey.« 1

Schillers Beziehungen zu deutschen Fürsten sind lebensgeschichtlicher, nicht politischer Art. Zwei Fürsten haben in besonderer Weise auf sein Leben eingewirkt, Karl Eugen von Württemberg und Carl August von Sachsen-Weimar. Auf Karl von Dalberg hat Schiller lange Zeit große Hoffnungen gesetzt, während Friedrich Christian von Holstein-SonderburgAugustenburg nur einige Jahre hindurch Bedeutung für ihn gewann. Friedrich Wilhelm III. von Preußen eröffnete Schiller wenige Monate vor dessen Tod Perspektiven, die sein Leben noch einmal hätten tiefgreifend verändern können, wenn er ihnen gefolgt wäre. 2

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2

N A 30, 213, 4f. (an Charlotte von Schimmelmann, 23. Nov. 1800); N A 28, 113, 30f. (an Goethe, 29. Nov. 1795). Als Hauptquelle für die folgende Studie ist der Briefwechsel Schillers ausgewertet worden; soweit er in der Nationalausgabe vorliegt, wird danach zitiert. Für die hier fehlenden Briefe Schillers (April 1785—Dez. 1787 sowie März 1790—Mai 1794) wurde auf die Ausgabe von Fritz Jonas (im Folgenden: Jonas) zurückgegriffen. Von den Briefen an Schiller fehlen in der NA die Jahre bis Mai 1794 sowie 1801 — 1802; hier gibt es Substitutionsmöglichkeiten u.a. beim Briefwechsel mit Körner, Goethe und Humboldt. Die Sammlung von Max Hecker—Julius Petersen, Schillers Persönlichkeit. Urtheile der Zeitgenossen und Documente (3 Bde. Weimar 1904—1909) wurde ebenso herangezogen wie andere Quellenwerke zur Weimarer Geschichte und Geistesgeschichte. Die Widerspiegelung von Schillers Stellung zu Fürstentum und Fürsten in seiner Dichtung bleibt im Folgenden grundsätzlich ausgeklammert. Die vorhandene Literatur wurde nach Möglichkeit berücksichtigt; sie ist überraschend spärlich. Eine zusammenfassende Darstellung größeren Umfangs hat offenbar lediglich W. Steffen, Schillers Stellung zum Fürstentum. In: Preußische Jahrbücher 124 (1906), S. 485ff. geliefert, der im Vollgefühl des Wilhelminismus Schillers unnationale Haltung denunzierte. — Für Hilfe bei der Materialzusammenstellung habe ich Frau Petra Schaffrodt und Herrn Stefan Wilderotter zu danken.

Schiller und die Fürsten

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1. Karl Eugen von Württemberg Die Qualität der Beziehungen Schillers zu Karl Eugen von Württemberg 3 ist stark umstritten; gegen die zumeist negativen Urteile der Biographen Schillers steht das häufig regionalpatriotisch bestimmte Lob des württembergischen Herzogs und seiner Hohen Schule. 4 Schillers Beziehungen zu Karl Eugen sind auf jeden Fall sehr eindeutiger Natur gewesen: Der Landesfürst bestimmte das Geschick seines Untertanen, der die herrschaftliche Verfügung über seinen Lebensplan geschehen lassen mußte, ohne Widerstand leisten zu können, es sei denn um den Preis der Ungnade oder des Exils. Kein Fürst hat so entscheidend und charakterbildend in Schillers Leben eingegriffen wie Karl Eugen. Schiller wurde Opfer der Erziehungslust und -sucht eines absolut regierenden, aufgeklärten Fürsten, der sich das Recht nahm, Untertanen für viele Jahre einzusperren, um sie moralisch zu bessern, und Menschen nach seinen persönlichen Vorstellungen zu bilden und zu formen. 5 Insbesondere auf ihn ist denn auch zweifellos die Kritik Schillers an dem erziehungsbegierigen Jahrhundert gemünzt: »Der gegenwärtig herrschende Kitzel, mit Gottes Geschöpfen Christmarkt zu spielen, diese berühmte Raserei, Menschen zu drechseln und es Deukalion gleichzutun (mit dem Unterschied freilich, daß man aus Menschen nunmehr Steine macht, wie jener aus Steinen Menschen), verdiente es mehr als jede andere Ausschweifung der Vernunft, die Geißel der Satire zu fühlen.« 6 Die Furcht vor der Ungnade des Fürsten steht am Anfang von Schillers bewußtem Leben. Die schüchternen Einwände der bestürzten Eltern gegen die Einreihung des vierzehnjährigen einzigen Sohnes in die Begabtenauslese für die neue Schöpfung des Herzogs blieben folgenlos, da der Vater als herzoglicher Beamter den fürstlichen Zorn nicht riskieren konnte. Immerhin vollzog sich die Verpflichtung Schillers in vergleichsweise moderater Form, wenn man sie mit den rüden Rekrutierungsmethoden vergleicht, die

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4

5

6

Über ihn vgl. zuletzt zusammenfassend G. Storz, in: 900 Jahre Haus Württemberg. Hg. v. R. Uhland. Stuttgart usw. 1984, S. 237ff. Vgl. R. Uhland: Geschichte der Hohen Karlsschule in Stuttgart. Stuttgart 1953. Sowie zuletzt: Baden und Württemberg im Zeitalter Napoleons (Ausstellungskatalog) Bd. l/II. Stuttgart 1987, S. 934ff. Karl Eugen ließ sein ius educandi subditos auch theoretisch absichern; vgl. die Rede des Tübinger Staatsrechtlers Gottfried Daniel Hoffmann »Von denen Ober-Landesherrlichen Befugnissen über die Jugend eines Staats, sonderlich in Rücksicht auf die Erziehung derselben, als derselben größte und nötigste Wohltat«; zit. R. Buchwald: Schiller. 4. A u f l . Wiesbaden 1959, S. 124. Rede über die Schaubühne (1784); zit. nach ebd. S. 245.

δ

Eike

Wolgast

der Herzog sonst gelegentlich anwandte. Die Aufnahme Schillers in die Karlsschule zerstörte aber den Berufswunsch des Heranwachsenden, so wie der die Erziehung lenkende Machtanspruch des Herzogs die Freigabe des Studienfachs — außer der von Schiller bevorzugten Theologie — nach einem Jahr annullierte: Schiller mußte von der Jurisprudenz zur Medizin übergehen. Die streng reglementierte, nahezu militärische Erziehung an der Karlsschule sollte die Zöglinge ganz nach dem Willen des Fürsten formen; die Allgegenwart des »Vaters« prägte das Leben der »Söhne«, lenkte es in die gewünschte Bahn, versprach aber auch gesichertes Unterkommen im Staatsdienst. Uber eine offene Opposition Schillers gegen den »Vater«-Herzog während seines Aufenthalts in der Karlsschule ist nichts bekannt; umgekehrt ist es fraglos verfehlt, Äußerungen Schillers aus jener Zeit für ein positives Urteil über den Landesherrn in Anschlag zu bringen. Durch die dichten Hüllen devoter Schmeicheleien und Kurialien zu einem verborgenen Kern der wahren Meinung des Karlsschülers hindurchdringen zu wollen, verspricht wenig Erfolg. Es läßt sich nichts ableiten aus den Formeln der höfisch-subalternen Sprache: »Der beste Fürst«, »die Gegenwart des heiligen Fürsten«, »der so erhabene Ruf meines Fürsten, der mir ein Heiligtum sein muß«, der Fürst, »der die wahre Weisheit kennt«, »das edle Herz meines gnädigsten Fürsten«, »dieser Vater, welcher mich glücklich machen will, ist und muß mir weit schätzbarer als Eltern sein«. 7 Immerhin machte der Eleve selbst in diesem von Devotion durchtränkten Bericht doch deutlich, daß Karl Eugen ihn seinem eigentlichen Berufswunsch entzogen hatte, wenn er dieser Äußerung eines von der fürstlichen Bestimmung abweichenden eigenen Willens auch sofort durch die tiefe Verbeugung des Untertanen vor der höheren Einsicht der Obrigkeit die Spitze nahm: »Jedoch hierin unterwerfe ich mich dem Willen meines weisesten Fürsten, bei dem mein ganzes Glück, alle meine Zufriedenheit steht.« 8 Nach der gegen den Willen Schillers erfolgten Berufslenkung bewirkte das Festhalten im Zwang der Karlsschule nach dem Studienabschluß offenbar die erste große Enttäuschung über die versprochene Fürsorge des »Vater«-Herzögs. Durch den einjährigen Aufenthalt sollte nach Karl Eugens Reskript Schillers »Feuer noch ein wenig gedämpft werden f...], so daß er alsdann einmal, wenn er fleißig zu sein fortfährt, gewiß ein recht großes

7 8

N A 22, 3ff. (Konduitebericht von 1774). N A 22, 15, 29ff.

Schiller und die Fürsten

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Subjektum werden kann« 9 — in Wahrheit mußte über die Zukunft des ersten Jahrgangs der an der Karlsschule ausgebildeten Mediziner erst in Verhandlungen mit den Landesbehörden Klarheit geschaffen werden. Der Leerlauf des Jahres 1780 hat in Schiller nach plausibel begründeter Vermutung den Geist des Protests gegen die fürstliche Willkür beim Verteilen von Lebenschancen geweckt. Die Enttäuschung mußte sich vertiefen, als die Versicherung guter Versorgung, die der Familie vor Ubergabe ihres Sohnes an die Karlsschule gemacht worden war, sich lediglich in einer Anstellung als Regimentsmedicus materialisierte, militärische Disziplin und Subordination damit weiterhin in Geltung blieben. Immerhin zeigte selbst die unbefriedigende Unterbringung das Wohlwollen des Herzogs für seinen Zögling, denn von den fünf Jahrgangsabsolventen wurde nur Schiller mit Gehalt angestellt. Die Flucht nach Mannheim befreite Schiller von dem Zwang, den Karl Eugen als Landesherr und oberster militärischer Vorgesetzter ausgeübt hatte, und von den unter Strafandrohung gemachten Auflagen; sie bedeutete aber zugleich den Bruch mit dem Fürsten und das Exil. Die devotioneile Verbeugung vor dem „Urheber meiner Bildung", 1 0 dem der auswärtige Ruhm seines Zöglings zum eigenen gereichte, 11 sowie der Appell an »meinen Fürsten und Vater« und »meinen gnädigsten Erzieher« 12 diente vor allem dem Schutz der Familie 13 und verdeckte nur knapp das Selbstbewußtsein des Petenten, der die Erfüllung von drei Forderungen zur Bedingung seiner Rückkehr machte: Erlaubnis zu schreiben, Erlaubnis zu reisen, Erlaubnis zu ziviler Kleidung. Schillers wahre Meinung von Karl Eugen kam vermittelt in seinem Gedicht Die schlimmen Monarchen14 und unverhohlen in der Ankündigung der Rheinischen Thalia zum Ausdruck. In dieser Darlegung seiner geistigen Entwicklung fehlte es zwar wiederum nicht an der üblichen Devotion, 1 5 daneben aber formulierte Schiller deutlich

9 10 11

12 13

Zit. nach Buchwald: Schiller, S. 216. N A 23, 39, 24 (an Karl Eugen, 1. Sept. 1782). Vgl. dieselbe Argumentation im Ratschlag an Dalberg für dessen Schreiben an Karl Eugen; N A 23, 36, 16ff.; vgl. auch N A 23, 40, lOff. N A 23, 42, 1.13 (an Karl Eugen, 24. Sept. 1782). Vgl. N A 23, 46, 6ff. (an Chr. F. Jacobi, 6. N o v . 1782); dieselbe Absicht steht vermutlich wenigstens teilweise auch hinter dem Henriette von Wolzogen mitgeteilten Entschluß: »Mein W o r t haben Sie, daß ich den H e r z o g von Wirtemberg niemals verkleinern will« (8. Jan. 1 7 8 3 ; N A 23, 60, 29f.).

14

Vgl. N A 1, 12ff.

15

Vgl. die Versicherung N A 22, 94, 30ff., er wollte sich nicht gegen denjenigen stellen, »der bis dahin mein Vater war. Mein Beispiel wird kein Blatt aus dem Lorbeerkranz dieses Fürsten reißen, den die Ewigkeit nennen wird.«

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Eike Wolgast

den Protest gegen das »regelmäßige Tempo der herrschenden Ordnung« und gegen die »Verhältnisse«, die ihm zur »Folter« wurden. Auch das Erziehungsideal der Karlsschule, demzufolge die Zöglinge »ein einziges Geschöpf, der getreue Abguß eines und eben dieses Modells« waren, wurde als naturwidrig und damit als der Herrscherlaune eines sich absolut setzenden Individuums entspringend verworfen. 16 Seinen Vorsatz, vor einer Rückkehr in die Heimat erst zu beweisen, »daß ich den Herzog von Wirtemberg nicht mehr brauche«, und bürgerliche Reputation, einen »Karakter und dauernde Versorgung« zu erwerben, 17 hatte Schiller verwirklicht, als er Mitte 1793 nach Schwaben reiste. Schon zuvor war ihm daran gelegen gewesen, Eindruck auf den Herzog zu machen, der erfahren sollte, daß sein früherer Zögling und militärischer Deserteur anderwärts etwas geworden war. 18 Obwohl die — im Wortlaut unbekannte — Bitte an Karl Eugen, seinen Aufenthalt in Ludwigsburg nehmen zu dürfen, unbeantwortet blieb, hielt Schiller ein Zusammentreffen mit seinem früheren Landesherrn offenbar nicht für gänzlich ausgeschlossen. 19 Daß der »Schwabenkönig« 20 auf seine Anwesenheit aber so gar nicht reagierte, fügte dem Selbstwertgefühl des Jenaer Professors anscheinend eine leise Kränkung zu: »Der Herzog sucht etwas darinn, mich zu ignorieren.« 21 Vielleicht hatte Schiller doch eine Art Anerkennung seiner Leistungen durch den Herzog erwartet, was dessen indirektem Eingeständnis gleichgekommen wäre, sich seinerzeit geirrt zu haben, als er versucht hatte, seinem Untertan das Schreiben nichtmedizinischer Texte zu verbieten und ihn auf den Lebensweg eines subalternen Militärarztes zu fixieren. Möglicherweise hatte Schiller an seine Reise auch den Wunsch geknüpft, in seiner Heimat eine auskömmliche Anstellung zu finden, und dies ging naturgemäß nur über den Herzog. Schiller erlebte in Stuttgart den Tod Karl Eugens. Wieweit die fast ein halbes Jahrhundert später formulierten Erinnerungen seines Jugendfreundes von Hoven Glauben verdienen, mag dahingestellt bleiben; ihnen zufol16

Vgl. N A 22, 93, 15ff. N A 23, 124, 5ff. (an Chr. Schiller, 1. Jan. 1784). 18 Vgl. Jonas 3, 126: »Eine Reputation in historischem Fach ist mir des Herzogs wegen nicht gleichgültig« (an seinen Vater, 29. Dez. 1790). " Vgl. ebd. S. 344: »Den Herzog von Württemberg sehe ich schwerlich« (an Körner, 17. Juli 1793). Eine gewisse Einschränkung der Unmöglichkeit klingt in dieser Formulierung durch. 20 Ebd. S. 351 (an dens., 27. Aug. 1793). 21 Ebd. S. 359 (an dens., 4. Okt. 1793); dem widerspricht nicht, daß Schiller am 15. Sept. 1793 an Körner schrieb, der Herzog wolle ihn anscheinend ignorieren, »und das ist mir gerade recht« (ebd. S. 354); vgl. auch ebd. S. 355. 17

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ge äußerte sich Schiller anerkennend über die Regenteneigenschaften des Fürsten, bei aller Kritik an seinen großen Fehlern als Fürst und den größeren als Mensch. 22 Dagegen bezeichnete er Körner gegenüber Karl Eugen unumwunden als »alten Herodes«,23 das heißt als denjenigen, der seine Kindheit gemordet hatte. Wenn er dessen Nachfolger im Kontrast dazu als einen »Menschen« charakterisierte, sprach er damit zugleich dem Fürsten, der ihm »Wachsthum und Vollendung«24 verweigert hatte, diese Eigenschaft ab. Seine großen Vorbehalte gegenüber Karl Eugen behielt Schiller bei. Sie schlugen sich öffentlich nieder in seiner Würdigung des vom Herzog angelegten Hohenheimer Schloßgartens als eines »symbolischen Charaktergemälde[s] ihres so merkwürdigen Urhebers [...], der nicht in seinen Gärten allein Wasserwerke von der Natur zu erzwingen wußte, wo sich kaum eine Quelle fand«.25 Damit faßte Schiller sein Urteil über seinen ehemaligen Landesherrn zusammen: gleichzeitig Respekt und Widerwillen vor der durch Despotie erzwungenen Leistung sowie Kritik an der Herrscherattitüde, die sich anmaßte, Natur und Mensch dem subjektiven Willen zu unterwerfen und nach den eigenen Vorstellungen zu formen. Ein Verdienst hatten die Beziehungen des jungen Schiller zu Karl Eugen in jedem Fall gehabt: Sie weckten in ihm das Bewußtsein der gefährdeten und bedrohten Freiheit.

2. Carl August von Sachsen-Weimar Zwei Jahre nach seinem durch die Flucht vollzogenen Austritt aus dem württembergischen Untertanenverband proklamierte sich Schiller in der Ankündigung zur Rheinischen Thalia als »Weltbürger, der keinem Fürsten dient. Frühe verlor ich mein Vaterland, um es gegen die große Welt auszutauschen. [...] Das Publikum ist mir jetzt alles [...], mein Souverain, mein Vertrauter.[...] Etwas Großes wandelt mich an bei der Vorstellung, keine andere Fessel zu tragen als den Ausspruch der Welt — an keinen anderen Thron mehr zu appellieren als an die menschliche Seele.«26 Allerdings hatte der Verfasser dieser hochgestimmten kosmopolitischen Sätze schon zuvor die Verbindung zu Herzog Carl August geknüpft, nachdem sein Plan, sich Vgl. N A 42, 176f.; eine psychologische Deutung des von Hoven überlieferten Zeugnisses versucht Buchwald: Schiller, S. 247. 23 Jonas 3, 4 1 5 ( 1 0 . Dez. 1793). 24 N A 23, 43, 29 (an Dalberg, 6. Okt. 1782). 25 N A 22, 291, 25ff. (Rezension des Gartenkalenders 1795 in der ALZ). 26 N A 22, 93, 15f.; 94, 35ff. 22

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als Mannheimer Theaterdichter eine bürgerliche Existenz aufzubauen, gescheitert war. Gesellschaftliches Ansehen, gesicherte Etablierung und ökonomische Versorgung konnte im Deutschland des 18. Jahrhundert nur die Obrigkeit gewährleisten — Schiller suchte daher den Fürsten als moralischsozialen und als materiellen Mäzen. Die, wie sich freilich erst langsam zeigen sollte, für Schillers Leben entscheidende Begegnung fand im Dezember 1784 in Darmstadt statt, als er — durch Vermittlung seiner Mannheimer Protektorin Charlotte von Kalb — am hessischen Hof auf Veranlassung Carl Augusts den ersten Akt des Don Carlos vorlas und der Herzog ihm auf seine Bitte »eine öffentliche Anerkennung seines außerordentlichen Geistes« 27 gewährte: »Mit vielem Vergnügen« erteilte Carl August seinem »lieben Herrn Doktor Schiller [...] den Charakter als Rat in meinen Diensten«. 28 Schillers nicht erhaltenen Dankbrief beantwortete der Fürst mit leutselig-unverbindlicher Freundlichkeit: »Geben Sie mir zuweilen von Ihnen Nachrichten und von demjenigen, was in der literarischen und mimischen Welt, welche Sie bewohnen, vorgeht.« 29 Der Titel eines herzoglich-weimarischen Rates gab dem Deserteur aus württembergischem Militärdienst die bürgerliche Ehre zurück und fixierte ihn, wenn auch nicht eben an eindrucksvoller Position, in der Gesellschaft. Ein Titel markierte die Stellung des Bedachten im sozialen Gefüge, die Titelvergabe war zudem eine Art Uberrest früherer Bemühungen hochadliger Hoheitsträger, sich eine Klientel zu schaffen, die durch äußere Kennzeichen und innere Loyalitätspflichten an die fürstliche Person gebunden war. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts — und so verstand Carl August seine Handlungsweise 30 — war die Titelvergabe allerdings eher einer Art bloßer Ordensverleihung gleichzusetzen. Ein bloßer Ratstitel bedeutete daher sehr wenig; er schloß von seiten des Verleihenden keinerlei Verpflichtungen ein, und der mit der Würde Belie-

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So Streicher; vgl. N A 42, 85, 9f. H . W a h l (Hg.), Carl August von Weimar. Ein Leben in Briefen (Weimar 1928), 41 (27. Dez. 1784); die Ernennung meldete - sicher auf Veranlassung Schillers bzw. seiner Freunde - die »Berliner Staats- und Gelehrten-Zeitung« am 11. Jan. 1785; vgl. Hecker/ Petersen: Persönlichkeit, Bd. 2, S. 93. Über die Beziehungen Schillers zu Carl August vgl. die Materialsammlung von O . Linn-Linsenbarth, Schiller und der Herzog Karl August von Weimar. 2 Teile (Kreuznacher Gymnasialprogramme) Kreuznach 1901/1902. G. Nerjes: Schiller und Carl August von Weimar. In: Monatshefte. Α Journal Devoted to the Study of German Language and Literature 56 (1964) S. 273ff.; ders.: Ein unbekannter Schiller. Berlin 1965, S. 67ff. Wahl: Carl August, S. 41 (9. Febr. 1785). Vgl. ebd. S. 41 (27. Dez. 1784): »ich wünsche Ihnen dadurch ein Zeichen meiner Achtung geben zu können.«

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hene konnte aus ihm außer der Respektierung der dadurch geknüpften Loyalitätsbeziehungen gleichfalls keine Pflichten, aber vor allem auch keine Rechte herleiten. Der primäre Wert des Titels bestand für Schiller daher darin, daß er ihn in den Augen seiner Umwelt rehabilitierte. Der sächsischweimarische Rat hatte bewiesen, daß er den Württemberger Herzog nicht brauchte; seine literarische Arbeit, die ihm in Stuttgart Verbot und Strafe eingetragen hatte, war anerkannt und ausgezeichnet worden. Die Titelverleihung wäre folgenlos geblieben, wenn Schiller nicht etwas daraus gemacht hätte. Zunächst scheint er von einer festen gegenseitigen Bindung von Fürst und Rat ausgegangen zu sein. In schwungvoller Uberhöhung, in der sich höfischer Devotionsstil mit Enthusiasmus und vermutlich doch auch Berechnung verbanden, schlug sich seine Auffassung nieder in der Widmung des Heftes der Rheinischen Thalia, in dem der erste Akt Don Carlos abgedruckt war: »Wie theuer ist mir zugleich der jezige Augenblick, wo ich es laut und öffentlich sagen darf, dass Karl August, der edelste von Deutschlands Fürsten und der gefühlvolle Freund der Musen, jezt auch der meinige seyn will, dass Er mir erlaubt hat, Ihm anzugehören, dass ich Denjenigen, den ich schon lange als den edelsten Menschen schäzte, als meinen Fürsten jetzt auch lieben darf.« 31 Schon vor dieser Widmung hatte Schiller den neuen Freund Körner wissen lassen, seine »gegenwärtige Connexion mit dem guten Herzog von Weimar« 32 verlange, diesen aufzusuchen und die neuen Beziehungen zu verdichten. So sollte Carl August ihm helfen, seine medizinische Ausbildung mit der Doktorwürde abzuschließen. 33 Eine höchst extensive Auslegung der Bindung durch den Ratstitel könnte der Bericht Streichers nahelegen, die Freunde hätten sich beim Abschied von Mannheim versprochen, einander nicht eher zu schreiben, als bis sie Karriere gemacht hätten, wobei Schiller »eine ehrenvolle Anstellung bei einem der kleinen sächsischen Höfe so nahe« erschien, daß er erst als Minister wieder mit Streicher in Verbindung treten wollte. 34 Aus dieser scherzhaften Ubertreibung ließe sich bei dem Gewicht, das Schiller seinem Titel beimaß, durchaus ein Stück realer Erwartung herausdeuten. Die entmutigende Reaktion Carl Augusts, der auf die Widmung gar nicht reagierte, hat auf Schiller offensichtlich nicht abschreckend gewirkt, denn er gab den Anspruch auf den Herzog, der ihn seiner Meinung nach in seine Klientel aufgenommen hatte, auch in der Folgezeit nicht auf; so schickte er

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Zit. nach Nerjes: Unbekannter Schiller, S. 67 (14. März 1785). N A 23, 176, 34 (10. Febr. 1785). »Persönlich für mich negotiiere«; N A 23, 176, 35. N A 42, 90, 14ff.

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Mitte 1786 »meinem Herzog von Weimar« ein Heft der Thalia?5 Daß er dem Ratstitel sogar eine förmliche Bindung beilegte, erhellt aus einem Brief an den Hamburger Theaterdirektor Schröder, dem er seine Absicht, dorthin überzusiedeln, ankündigte. Allerdings müsse er »doch der Form wegen mit dem Herzog von Weimar darüber übereingekommen seyn, weil mein Aufenthalt in Hamburg ein Engagement ist« 36 — fraglos angesichts des Desinteresses Carl Augusts ein fast groteskes Mißverständnis, das sich nur durch Schillers Beharrlichkeit schließlich doch in die erstrebte Bindung verwandelte, denn Schiller blieb bekanntlich in Weimar und gab die weitere Reise nach Hamburg auf. Schröder teilte er im September 1787 mit, daß seine »jetzigen Verbindungen in Weimar« 3 7 gegenwärtig die Weiterreise nicht zuließen. E r entschied sich damit gegen ein Leben als freier Schriftsteller in Dresden oder als Theaterdichter in Hamburg oder auch gegen die Beendigung seiner medizinischen Studien. Durch seinen Aufenthalt in Weimar 1787/88 trat Schiller erstmals mit dem dortigen H o f in Verbindung. Damit begann eine neue Stufe seiner Beziehungen zu Carl August bzw. zur fürstlichen Familie und ihrer Umgebung. Er gewann allerdings nur Zutritt zu den Hofkreisen, nicht zum H o f , zu dem nur zugelassen wurde, wer »hoffähig« war — Schiller wurde dies erst 1802. A m H o f — und das galt keineswegs nur für Sachsen-Weimar 3 8 — war auch gegen Ende des 18. Jahrhunderts die Ständegesellschaft noch intakt, trotz des sozialen Wandels der Umwelt. 3 9 Zu Hofe gehen zu dürfen, war Privileg der höheren Stände, verlangte aber auch die Unterwerfung

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Vgl. Jonas 1, 306 (an Göschen, 2. Juni 1786); vgl. ebd. S. 280. Ebd. S. 320 (18. Dez. 1786). Ebd. S. 4 1 6 ( 2 5 . Sept. 1787). Zum Weimarer H o f vgl. E . Vehse: Geschichte der deutschen Höfe seit der Reformation. Bd. 28, Hamburg 1854, S. 59ff.; K. Frhr. v. Lyncker: A m Weimarischen H o f e unter Amalien und Karl August. Berlin 1912; W . H . Bruford: Kultur und Gesellschaft im klassischen Weimar 1 7 7 5 - 1 8 0 6 . Göttingen 1966, S. 19ff. Zur Bedeutung des Hofes vgl. grundlegend N . Elias: Die höfische Gesellschaft. Neuwied und Berlin 1969. Sowie J. Frhr. v. Kruedener: Die Rolle des Hofes im Absolutismus. Stuttgart 1973; vgl. ferner W . H . Bruford: Deutsche Kultur der Goethezeit. Konstanz 1965; J . Lampe: Aristokratie, Hofadel und Staatspatriziat in Kurhannover. Bd. 1, Göttingen 1963, S. 93ff.; H . C h . Ehalt: Ausdrucksformen absolutistischer Herrschaft. Der Wiener H o f im 17. und 18. Jahrhundert. München 1980. Vgl. außerdem W . Zorn, in: H . AubinW . Zorn (Hg.), Handbuch der deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Bd. 1, Stuttgart 1971, S. 574ff. sowie D . Willoweit, in: K. G. A . Jeserich (u.a. Hg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte. Bd. 1, Stuttgart 1983, S. 300ff. Vgl. auch allgemein W . Ruppert: Bürgerlicher Wandel. Studien zur Herausbildung einer nationalen deutschen Kultur im 18. Jahrhundert. Frankfurt und N e w Y o r k 1981.

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unter ein Konformitätsdruck erzeugendes Zeremonialwesen, das seit weit über einem Jahrhundert eingeschliffen war. 40 Zwar läßt sich die Bedeutung des Hofes und des dort herrschenden Protokolls gegen Ende des 18. Jahrhunderts nicht mehr vergleichen mit der Zeit des Barocks, aber der H o f bestimmte doch immer noch die sozialen Normen, die, von ihm ausgehend, auch nach unten Wirksamkeit entfalteten. Dies traf selbst für große Staaten und Residenzstädte zu, wenngleich es hier zur Bildung von Neben-, ja sogar Gegengesellschaften zur Hofgesellschaft kommen konnte, die eigene Normensetzungen verbindlich machten. J e kleiner der Staat und seine Hauptstadt waren, desto stärker dominierte der Hof, besaß Vorbildcharakter, verteilte Chancen, wies Rollen zu und wirkte prägend für das geistige und kulturelle Leben. Im Mittelpunkt jedes Hofes stand der Fürst, auch wenn statt seiner ein allmächtiger Minister regierte. Säkularisierung und Rationalisierung des Aufklärungsjahrhunderts hatten allerdings das Zeremoniell, das Funktion und Person des Fürsten ins Quasi-Sakrale steigerte, allmählich abgebaut, so daß der Fürst zum Menschen unter Menschen geworden war mit informeller Geselligkeit — wie Friedrich der Große in seiner Tafelrunde, Anna Amalia am Teetisch oder Carl August auf seinem Zimmer. Dennoch blieb ein bedeutender Rest höfischen Zeremoniells als »Ranganzeiger« 41 des jeweiligen Platzes in der Gesellschaft bestehen, selbst wenn sich etwa Fürst und Hofgesellschaft dem Zeremoniell wegen seiner Mühsal nur noch widerwillig fügten. 42 Für das Herzogtum Sachsen-Weimar 43 und seine Hauptstadt besaß der H o f überragende Bedeutung, da eine nennenswerte Nebengesellschaft nur um die Universität Jena herum bestand. Schillers Stellung in den H o f kreisen gestaltete sich allerdings von vornherein schief. Ein selbstbewußter junger Mann, der kraft eigener Leistung respektiert und anerkannt zu werden wünschte, wurde über zwei Damen der Hofaristokratie, Charlotte von Kalb und Charlotte von Lengefeld, in die entsprechenden Kreise introduziert. Frau von Kalb führte Schiller offensichtlich als ihren Liebhaber in die in diesem Punkt tolerante höfische Gesellschaft ein, und als solcher wurde

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Vgl. insbes. die »Einleitung zur Ceremoniel-Wissenschaft der Privat-Personen (Berlin 1728) bzw. »[...] der grossen Herren« (ebd. 1729) von Julius Bernhard v. Rohr. So Ehalt: Ausdrucksformen, S. 116. Vgl. für Frankreich Elias: Gesellschaft, S. 132ff. Zum politisch-administrativen und sozialen Hintergrund Sachsen-Weimars vgl. F. Härtung: Das Großherzogtum Sachsen unter der Regierung Karl Augusts. Weimar 1923; H. Eberhardt: Goethes Umwelt. Forschungen zur gesellschaftlichen Struktur Thüringens. Weimar 1951; W. Vulpius: Goethe in Thüringen, 3. Aufl. Rudolstadt 1968.

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er akzeptiert.44 Er bemühte sich um Anpassung an die Gepflogenheiten 45 und versuchte, einflußreiche Persönlichkeiten wie Knebel und Voigt für sich einzunehmen.46 Schwierigkeiten mit der Etikette hatte er offenbar nicht.47 Daß seine Hoffnungen auf Weimar und den Hof allerdings allzu optimistisch waren, diagnostizierte Körner sehr bald: Er habe sich vielleicht »anfangs mit zu großen Erwartungen und mit Leidenschaft in die Gesellschaft gestürzt.« 48 Die Enttäuschung blieb nicht aus, und entsprechend schroff fiel Schillers Urteil über die Fürstinnen aus 49 — insgesamt erkannte er bald, daß »ich für diese Welt gar nicht gemacht bin, da ich als ein unbedeutender bürgerlicher Mensch unter dem Adel doch eine sehr prekaire Rolle spielen müßte, die meinem Stolze weh thun würd.« 50 Schiller war zu einem ungünstigen Zeitpunkt nach Weimar gekommen, da der Herzog, auf den er seine Hoffnungen setzte, abwesend war. 51 Allerdings machte er auch während der vorübergehenden Anwesenheit Carl Augusts keine ernsthaften Anstrengungen, zu ihm vorzudringen; kurz vor dessen bevorstehender Rückkehr war er sogar entschlossen gewesen abzureisen, »weil ich doch nichts an ihn zu suchen habe.« 52 Bei der Bitte um Audienz ließ er den vielbeschäftigten Fürsten zugleich wissen, daß er eigentlich kein Anliegen habe,53 so daß es fast scheint, als habe er die Audienzbitte als Probe benutzt, um festzustellen, wie eng sich der Herzog ihm verbunden fühle. Da dieser ihn nicht empfing, war somit nach der resonanzlosen Widmung der Rheinischen Thalia der zweite Anlauf gescheitert, die durch die Titelverleihung geknüpfte Beziehung zu verdichten. Schiller

Vgl. Schiller an Körner, 28. Juli 1787: »Mein Verhältniß mit Charlotten fängt an, hier ziemlich laut zu werden, und wird mit sehr viel Achtung für uns beide behandelt. Selbst die Herzogin hat die Galanterie, uns heute zusammen zu bitten«; Jonas 1, 362f.; vgl. ebd. S. 382.389. 45 So gab er Karten ab bzw. machte Besuche (vgl. ebd. S. 367) und machte »in großer adlicher Gesellschaft einen höchst langweiligen Spaziergang« (ebd. S. 383). 46 Vgl. ebd. S. 381.384 (an Körner, 12. Aug. 1787); vgl. auch ebd. S. 389 (an dens., 18. Aug. 1787). 47 Uber seine Zufriedenheit mit seinen Manieren vgl. ebd. S. 362 (an Körner, 28. Juli 1787); über einen von Charlotte von Kalb gerügten Verstoß gegen die Etikette vgl. ebd. S. 363 (an dens., 29. Juli 1787). 48 Körner an Schiller, 24. Aug. 1787; Schillers Briefwechsel mit Körner. Hg. v. K. Goedeke. Bd. 1, 2. Aufl. Leipzig 1874, S. 102. 49 Vgl. Nerjes: Unbekannter Schiller, S. 68ff. 76ff. 50 Jonas 1, 413 (an Huber, 14. Sept. 1787); vgl. auch ebd. S. 391 (an Körner, 18. Aug. 1787). 51 Schiller verfehlte ihn auf der Naumburger Post um eine Stunde. »Was hätte ich nicht um diesen glücklichen Zufall gegeben« (ebd. S. 352; an Körner, 23. Juli 1787). 52 Ebd. S. 385 (an H . von Wolzogen, Mitte August 1787). 53 Ebd. S. 419 (an Körner, 6. Okt. 1787). 44

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hatte diesmal nicht den Förderer der Musen erlebt, sondern den passionierten Soldaten. T r o t z der Enttäuschung blieb Schiller in Weimar. Die durch seinen G ö n ner Voigt angeregte Ernennung zum außerordentlichen Professor in J e n a 1789 bedeutete freilich nur eine Verdoppelung der Titulierung von 1784, denn wiederum erhielt er lediglich eine Ehrung, die den Verleihenden nichts kostete. 5 4 Schiller akzeptierte die Jenaer Professur aus demselben Grund, wie er sich 1784 um den Ratstitel beworben hatte: U m »in eine gewisse Rechtlichkeit und Bürgerliche Verbindung einzutreten.« 5 5 Auch wenn er rasch unzufrieden war, verdankte er im Alter von dreißig Jahren erneut Carl August die Einordnung in die ständische Gesellschaft, und diesmal an einem nicht unvorteilhaften Platz. D i e von Schiller seit 1784 erstrebten intensiveren Beziehungen zum W e i marer H e r z o g kamen jedoch erst über seine Einheirat in den thüringischen Adel zustande, da Carl August am Schicksal der Tochter des Schwarzburger Oberforstmeisters, die zur Hofdame seiner Frau bestimmt gewesen war, lebhaften Anteil nahm; 5 6 er bezeichnete sie gelegentlich recht vertraulich als »Lottchen«. 5 7 »Durch Frauen- und Familienverhältnisse« war Schiller seither nach Goethes Urteil »mehr in die Sozietät verflochten« als er selbst. 5 8 Bedeutende ökonomische Verbesserungen aus Anlaß seiner Heirat erwartete Schiller von vornherein nicht, da er »keinen großen Glauben an die Generosite meines Herzogs« hatte. 5 9 Aber auf sein Gesuch hin ließ Carl August ihn Ende 1789 zu sich rufen und setzte ihm als Zeichen seiner Wertschätzung, wenn auch »mit gesenkter Stimme und einem verlegenen Gesicht«, ein Jahresgehalt von 200 Reichstalern aus. 60 D i e Summe war selbst für einen verschuldeten Staat wie Sachsen-Weimar nicht gerade hoch, so daß Schiller leicht spöttisch kommentierte: »Die schöne Art, womit er mir dieselbe [ = die Pension] gab, muß ihren Werth bey mir erhöhen.« 6 1 Carl August fühlte sich seither offenbar als Heiratsstifter. 6 2

Vgl. F. Schneider/F. Stier: Friedrich Schiller und die Universität Jena. In: Wiss. Zs. der Friedrich-Schiller-Universität Jena 5 ( 1 9 5 5 - 1 9 5 6 ) , Ges. u. sprachwiss. Reihe, Heft 1, S. 21ff. Goethe hob in seinem Promemoria ausdrücklich hervor, daß »diese Acquisition ohne Aufwand zu machen ist«; Goethes Amtliche Schriften Bd. 2/1, Weimar 1968, S. 140. 55 Jonas 2, 189 (an Körner, 25. Dez. 1788). 56 Vgl. N A 25, 373, l l f . : »Der Lengefeld ist er sehr gut« (an Körner, 24. Dez. 1789). 57 Vgl. etwa Wahl: Carl August, S. 69f. 58 N A 42, 338, 8f. (Tag- und Jahreshefte 1802). 59 N A 25, 354, 14f. (an Körner, 13. Dez. 1789). 60 Vgl. N A 25, 380f. (an dens., 6. Jan. 1790). 61 N A 25, 382, 16f. (an den Vater, 7. Jan. 1790). 62 Vgl. N A 25, 381, 7f. (an Körner, 6. Jan. 1790). 54

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Auch die Rangerhöhung zum Hofrat verdankte Schiller indirekt dem Interesse des Herzogs an seiner Heirat. D a es in Weimar zu viele Anwärter auf diesen Titel gab, wandte sich Schiller offenbar auf einen Wink von oben hin zunächst an den Erbprinzen von Sachsen-Coburg, dann an Georg von Sachsen-Meiningen: »Da mir die Güte der Mutter und die Liebe der Tochter das Opfer des Adels bringt, [ . . . ] so wünschte ich, ihr dieses Opfer durch einen anständigen Rang in etwas zu ersetzen oder weniger fühlbar zu machen.« 6 3 Die Verbindungen zum Herzog wurden bis zur Mitte der neunziger Jahre vor allem durch gelegentliche Buchsendungen 64 und durch Besuche in Weimar aufrechterhalten. Den — seltenen — Schreiben fehlt von beiden Seiten jeder persönliche T o n ; sie spiegeln die Beziehungen zwischen Landesfürsten und distinguiertem Untertan wider; Schiller wurde als »werter Herr Hofrat« angeredet, als Grußformel »Des Herrn Hofrats sehr wohlwollender Freund« verwendet. 65 Schiller seinerseits beachtete peinlich genau die jeweils erforderlichen Kurialien. Trotz dieser Distanz spürte er aber »die günstige Stimmung des Weimarschen Hofes« für sich. 66 An Schillers schwerer Erkrankung 1791 nahm der Herzog Anteil, indem er sechs Flaschen Madeira-Wein schickte 67 und ihm erlaubte, die Vorlesungen für ein Jahr auszusetzen. Als allerdings Schiller auf Rat Dalbergs um eine Gehaltserhöhung bat, bewilligte Carl August dem »lieben Lottchen« nur eine einmalige Beihilfe von 250 Reichstalern, um den Ausfall der Einnahmen aus literarischer Produktion für ein Jahr zu ersetzen. Danach werde man weitersehen. »Verzeihen Sie, daß ich mich alleweile auf die bestimmte Erhöhung der Pension H . Schillers nicht einlassen kann« 6 8 — offenbar nicht zuletzt, um keinen Präzedenzfall für Jenaer Kollegen Schillers zu schaffen. Anscheinend ohne das für ihn Peinliche der Situation zu spüren, beglückwünschte der Herzog Schiller Anfang 1792 zu »so tätigen Freunden«, die ihm eine Pension ausgesetzt hatten, und nahm Schillers Versicherung, nicht an dauernde Ubersiedlung nach Kopenhagen zu denken, mit der unverbindlichen Zusage entgegen: »Ich werde gern beitragen, Ihnen den Vorsatz

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N A 25, 372, 17ff. (22. Dez. 1789); vgl. N A 25, 367, 27f. und 738 (zu 357, 34). Dabei gedachte Schiller den H e r z o g als Propagandisten für seine Arbeiten zu benutzen; so wollte er seinen »Historischen Kalender für Damen« 1791 Carl August ins schlesische Feldlager schicken: »Der H e r z o g trommelt es überall herum und erweckt alsdann Nachfrage in jenen Gegenden« (an G. Göschen, 12. Sept. 1790; Jonas 3, 98). Vgl. z . B . N A 35, 2 3 7 ; 38/1, 156f.; Wahl: Carl August, S. 76. Jonas 3 , 1 3 5 (an Körner, 22. Febr. 1791); vgl. auch ebd. S. 155 (an dens., 6. Sept. 1791): »Ich weiß, daß der ganze H o f gut für mich gesinnt ist.« Vgl. ebd. S. 134. Wahl: Carl August, S. 70.

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angenehm zu machen, der Universität Jena durch Ihre Gegenwart aufzuhelfen.« 6 9 Auf die Bitte Schillers um Urlaub zur Reise in seine Heimat versicherte ihn Carl August seiner »unverbrüchlichsten Freundschaft« 70 und gratulierte zur Geburt des Sohnes: »Ich nehme wirklich zu aufrichtigen Anteil an Ihrem Schicksal, als daß ich mich nicht über jedes Sie betreffende frohe Ereignis mit Ihnen freuen sollte.« 71 Die Herzogin wurde Taufpatin, so wie Schiller 1804 die Prinzessin Caroline als Patin für seine Tochter Emilie gewann. 72 Vermutlich galt aber diese Auszeichnung 1793 nicht so sehr Schiller als vielmehr der geborenen von Lengefeld. Daß Schiller trotz seiner früheren Weimarer Erfahrungen nichts Prinzipielles gegen den H o f einzuwenden hatte, erhellt aus seiner Überlegung 1793, Erzieher des Erbprinzen Karl Friedrich zu werden. »Ich hätte dann in Weimar eine sehr erträgliche Existenz«; Schwierigkeiten fürchtete er nicht, »da ich bei dem Herzog und auch bei der Herzogin sehr gut stehe«. 73 Lediglich aus Gesundheitsgründen verzichtete er auf den Plan. Als er 1795 einen Ruf nach Tübingen erhielt, erwies sich die Bindung an Jena und Weimar als stärker, obwohl Carl August eine Gehaltsaufbesserung nur für den Fall zunehmender Kränklichkeit zusagte. Schiller sah aber schon in dieser konditionalen und eher kärglichen Bewilligung »Beweise von einer uneigennützigen Achtung« des »Weimarischen Hofes« 7 4 — ein Zeichen, wie bescheidene Ansprüche er stellte. Allerdings ist in Rechnung zu stellen, daß das Gehalt einem Professor bezahlt wurde, der schon seit Jahren keine Gegenleistung mehr erbrachte. Wenn auch die Rücksichtnahme auf seine Frau einen nicht geringen Anteil an der Entscheidung für Thüringen gehabt haben mag, 75 wird doch aus Anlaß der Berufung nach Tübingen eine angesichts der bisherigen Beziehungen fast überraschende Anhänglichkeit Schillers an Carl August sichtbar: Er mochte sich »keinen beßern Herrn wünschen«, und Voigt, über den die Verhandlungen liefen, sollte dem Herzog sagen, »daß er zwar tausend brauchbarere Diener hat als mich, aber gewiß keinen dankbarem und kei-

" E b d . S. 71. 70 Linn-Linsenbarth: Schiller, Teil 1, S. 29. 71 Wahl: Carl August, S. 76. 72 Vgl. N A 32, 159; 40/1, 241. 73

Jonas 3, 361 (an Körner, 4. O k t . 1793). - Offenbar hatte Schiller das Beispiel Wielands vor Augen.

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N A 27, 169, 29f. (an J . F. Abel, 3. Apr. 1795). Ebenso wie 1804 zum Entschluß, nicht nach Berlin zu gehen, die Abneigung Charlottes gegen eine solche Ortsveränderung beigetragen haben mag; vgl. N A 32, 471 (Ch. v. Schiller an F. v. Stein, 9. D e z . 1804).

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ner, der herzlicher an ihm hängt als ich«.76 Carl August tat denn auch ein Übriges und betrieb bei den Con-Nutritoren der Universität Jena Schillers Ernennung zum ordentlichen Honorarprofessor, die allerdings wegen der Säumigkeit der Coburger Kanzlei fast drei Jahre auf sich warten ließ.77 Da zur gleichen Zeit wie die materiell nichts eintragende Beförderung der französische Ehrenbürgerbrief eintraf, berichtete Schiller Goethe: »So sehe ich mich in kurzer Zeit mit mehreren Würden bekleidet, von denen ich nur wünschte, daß sie mich wärmer hielten.« 78 Die Verbindungen zu Hof und Landesfürst wurden erst seit 1795 enger, befördert durch die Freundschaft mit Goethe und durch die neuen Dichtungen Schillers, aus denen er gelegentlich in Weimar vorlas oder durch seinen Freund vorlesen ließ.79 Auch privat verkehrte er jetzt öfter als früher persönlich mit dem Herzog. 80 Im Frühjahr 1799 gab Carl August ihm seinen Wunsch zu erkennen, er möge öfter nach Weimar kommen und länger bleiben. 81 In einem mit allen erforderlichen Kurialien versehenen Schreiben bat Schiller daraufhin um eine Gehaltserhöhung für diesen Aufenthalt. »Es ist der Wunsch der mich antreibt, I h n e n S e l b s t , gnädigster Herr, und den durchlauchtigsten Herzoginnen näher zu seyn und mich durch das lebhafte Streben nach Ihrem Beyfall in meiner Kunst selbst vollkommener zu machen, ja vielleicht etwas weniges zu Ihrer eigenen Erheiterung beizutragen.« 82 Der Herzog verdoppelte Schillers Besoldung auf 400 Reichstaler und unterstützte, als sich der Plan einer zeitweisen doppelten Haushaltsführung in eine definitive Ubersiedlung nach Weimar umgewandelt hatte, den Umzug durch Stellung des Transportgespanns. 83 76

N A 27, 166, 18f. 167, 27ff. (an Chr. G. Voigt, 26. März 1795). Vgl. Schneider/Stier: Schiller, S. 31f. 78 N A 29, 216, 28ff. (an Goethe, 6. März 1798); den Ehrenbürgerbrief überließ Schiller dem Herzog auf dessen Bitte; vgl. Goethes Amtliche Schriften Bd. 2/II, Weimar 1970, S. 564f. Noch Jahre später sorgte dieses Dokument in Weimar für Aufregung, als Schiller im H o f und Adreßkalender für 1803 als »Bürger von Frankreich« eingetragen war und der für die Redaktion Verantwortliche sich darauf berief, »daß Herr Hofrat Schiller seinen Titul also selbst eingegeben habe« (Voigt an Goethe, 13. Jan. 1803). Vgl. Goethes Briefwechsel mit Christian Gottlob Voigt. Hg. v. H . Tümmler. Bd. 2, Weimar 1951, S. 322. Zur Genugtuung über die Honorarprofessur vgl. N A 29, 220, 15ff.; 221f. 79 Die Herzogin schenkte ihm für den »Wallenstein« ein silbernes Kaffeeservice; vgl. N A 30, 98, 9f. (an Körner, 26. Sept. 1799). 80 Z.B. berichtete Schiller am 26. Jan. 1799 Fichte, er habe in den letzten Tagen »mehrere Male« mit dem Herzog über seine Sache gesprochen; N A 30, 26, 9. Bei seinem Aufenthalt in Weimar Jan./Febr. 1799 wohnte Schiller im Schloß und war bei Carl August auch zu Tisch eingeladen. Versicherungen wie: »Ich stehe sehr gut beim Herzog und der Herzogin« begegnen mehrfach in dieser Zeit; vgl. N A 30, 83, 36f.; 101, 21f. 81 Vgl. N A 30, 83, 29ff. (an Goethe, 12. Aug. 1799). 82 N A 30, 94, 9ff. (an Carl August, 1. Sept. 1799). 83 Vgl. Tümmler: Briefwechsel, S. 205ff. 77

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Auch wenn seit Ende 1799 der informelle Verkehr mit den Fürstlichkeiten zunahm, trat — anscheinend gegen seine Erwartung — in Schillers gesellschaftlichem Status keine Veränderung ein, so daß er im Februar 1802 — offenbar in Reaktion auf den Wunsch der Herzogin, er möge öfter bei Hofe erscheinen — Frau von Stein als Mittelsperson wissen ließ: »Da ich nun zwey Jahre hier wohne, ohne nach Hofe eingeladen worden zu seyn [...], so wünschte ich auch fürs künftige, wegen meiner Kränklichkeit, davon ausgeschloßen zu bleiben.« 84 Das änderte sich nach der Nobilitierung, die Carl August in Wien betrieb und zu deren Begründung Voigt auf Schillers Gelehrsamkeit, seine »schönen Dichtertalente«, »verschiedne auf die Sozietät, worin er lebt, sich beziehende Rücksichten« sowie auf seine Verdienste um das Vaterland verwies.85 Carl August ließ sich die Sache mehr als 400 Gulden kosten. Als Motive des Herzogs erkannte Schiller nicht nur, daß dieser ihm »etwas angenehmes erzeigen und meine Frau, welche bisher nicht nach Hofe gehen konnte, auf einen gleichern Fuß mit meiner Schwägerin setzen« wollte, sondern auch das Verlangen, Herder zu ärgern, der sich als Demokrat aufspiele und sich doch den Pfälzer Adel verschafft habe, und schließlich den Wunsch, dem Einfluß Kotzebues bei Hofe ein Gegengewicht zu schaffen. 86 Daß Schiller für seine Person »die Sache ziemlich gleichgültig«87 war, mochte Carl August gespürt haben, wenn er ihm gratulierte und dabei hoffte, daß die Nobilitierung ihm »einen angenehmen Augenblick« verschaffe.88 Auf die mit der Standeserhöhung und dem dadurch neu gewonnenen Platz in der Gesellschaft verbundenen Kurialien und anderen Zeremonialvorzüge legte Schiller allerdings Wert. 89 Als Adliger erschien er erstmals am 30. Januar 1803 am Hof und in der Folgezeit häufiger bei den offiziellen Sonntagsempfängen, 1804 und 1805 Monate hindurch sogar ziemlich regelmäßig. 90 In seiner Hofuniform hielt ihn Madame de Stael zuerst für »le commandant des forces du Due de Weimar«. 91

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N A 31, 96, Iff. Vgl. N A 31, 521. 5 2 6 ; Abbildung des Adelsdiploms bei Bruford: Goethezeit, S. 73. N A 31, 176, 15ff. (an Cotta, 27. N o v . 1802); vgl. auch 177, Iff. (an Körner, 29. N o v . 1802) sowie 32, 13, Iff. (an Humboldt, 17. Febr. 1803). N A 31, 176, 23f.; vgl. auch 177, 2 9 : »Für mich freilich ist nicht viel dadurch gewonnen.« Vgl. Wahl: Carl August, S. 97. Vgl. N A 32, 28 (an das Geheime Consilium, 31. März 1803); vgl. auch N A 31, 177, 29ff.: »In einer kleinen Stadt indeßen, wie Weimar, ist es immer ein Vortheil, daß man von nichts ausgeschloßen ist, denn das fühlt sich hier doch zuweilen unangenehm« (an Körner, 29. N o v . 1802). 1804 je zwei Sonntage im Juni und November sowie drei im Oktober, 1805 im März vier und im April drei Sonntage; vgl. Schillers Calender. H g . v. E. Müller, Stuttgart 1 8 9 3 ; G. v. Wilpert: Schiller-Chronik. Stuttgart 1958. Hecker/Petersen: Persönlichkeit, Bd. 3, S. 212.

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Seit Schiller nach seinen historischen und philosophischen Studien wieder dichterisch tätig war, begleitete der Herzog seine Produktion mit Kritik und Skepsis; nahezu jedes Drama verfiel der Ablehnung aus ästhetischen — Carl August bevorzugte das französische Schauspiel — oder aus subjektivpersönlichen Gründen. 1799 hatte er Schillers Entschluß, den Winter in Weimar zuzubringen, mit der Hoffnung begrüßt: »Ihre Arbeiten können vielleicht Ihnen erleichtert werden, wenn sie den hiesigen Theaterliebhabern etwas Zutrauen schenken und sie durch Mitteilung der noch im Werden seienden Stücke beehren wollen«, 92 womit Carl August fraglos in erster Linie sich selbst meinte. Dieser Wunsch, Schiller zu seinen Kunstnormen zu erziehen, blieb freilich unerfüllt, so daß der Herzog zwei Jahre später Schillers Schwägerin verärgert wissen ließ: »So oft und dringend bat ich Schillern, ehe er Theaterstücke unternähme, mir oder sonst jemandem, der das Theater einigermaßen kennt, die Gegenstände bekannt zu machen, die er behandeln wollte. So gerne hätte ich alsdann solche Materien mit ihm abgehandelt, und es würde ihm nützlich gewesen sein; aber alle mein Bitten war vergebens.« 9 3 Schiller ließ Carl Augusts Tadel und Erziehungsbemühungen geduldig über sich ergehen, ohne den höfisch-verbindlichen Ton aufzugeben. Das wurde dadurch erleichtert, daß der Herzog offensichtlich — entgegen seinem Brief an Caroline von Wolzogen — die unmittelbare Konfrontation zumeist vermied und den Weg der indirekten Kritik bevorzugte, indem er Mittelspersonen wie Goethe oder Schillers Schwägerin in Anspruch nahm. Allerdings scheute er sich auch nicht, Schiller notfalls selbst sein kritisches Urteil mündlich oder schriftlich zu unterbreiten. 94 Die Reihe der Interventionen begann 1800 bei Maria Stuart. Goethe sollte »poetische Auswüchse« verhindern, da Carl August der »prudentia mimica externa Schilleri« nicht traute und »die göttliche Unverschämtheit oder die unverschämte Göttlichkeit« des Dichters fürchtete. 95 Den Plan

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94

95

Wahl: Carl August, S. 90. N A 31, 265; vgl. 42, 305. Zur Resignation Carl Augusts gegenüber Schillers Unzugänglichkeit vgl. seinen Brief an Goethe, 11. Febr. 1803; Briefwechsel des Herzogs-Großherzogs Carl August mit Goethe. H g . v. H . Wahl, Bd. 1, Berlin 1915, S. 307f. So kritisierte er 1795 den Inhalt der »Hören«, allerdings ging es dabei um Goethes »Römische Elegien«; vgl. N A 35, 237f. (an Schiller, 9. Juli 1795); zur Kritik des Herzogs vgl. Humboldt an Schiller, 4. Aug. 1795 ( N A 35, 272). Vgl. auch Carl August an Goethe, 11. Febr. 1803, anläßlich der »Braut von Messina«: »Das Zugleichreden [...] habe ich schon gesucht Schillern auszureden«; Wahl: Briefwechsel, S. 308. Vgl. ebd. S. 288f. (Carl August an Goethe, 11. Juni 1800). Zur gereizten Reaktion Schillers vgl. N A 42, 298. Schon den »Wallenstein« hatte Carl August abgelehnt; vgl. Wahl: Briefwechsel, S. 271 (an Goethe, 31. Jan. 1799).

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Schillers, Lessings Nathan in einer Bearbeitung auf die Weimarer Bühne zu bringen, lehnte der Herzog ab; 9 6 ebenso untersagte er die von Schiller mitgeplante Säkularfeier Ende 1800, bei deren Vorbereitung die Rivalitäten in der Weimarer Gesellschaft offen ausbrachen. 97 Den massivsten Druck übte Carl August anläßlich der Jungfrau von Orleans aus. Er hielt schon das Sujet für »äußerst scabrös« 98 und forderte über Caroline von Wolzogen den Text ein. Seine ästhetischen Bedenken waren jedoch offensichtlich weitgehend lediglich vorgeschoben; in Wahrheit wollte er verhindern, daß seine Geliebte Caroline Jagemann von ihrem Theaterfach her die Jeanne d'Arc spielen mußte oder aber wegen ihres Verhältnisses zu Carl August nicht spielen konnte. Deutlich übte er Caroline von Wolzogen gegenüber Kritik an der geistigen Unabhängigkeit und Unbeugsamkeit Schillers: »Die Herren Poeten und Autoren sind freilich schreckliche Tyrannen. . . . Schiller macht aber vielleicht eine Ausnahme und schenkt einmal ein geneigtes Ohr seinem Verehrer, 99 indem er auf ein Weilchen seine Bitten und Wünsche erfüllt.« 100 Daß sein Vorgehen unangemessen war, fühlte Carl August selbst, indem er von einer »sehr gewagten Zuschrift« sprach; die Bereitwilligkeit Schillers, die Jungfrau von Orleans nicht in Weimar zur Aufführung zu bringen, nahm er daher mit sichtbarer Erleichterung auf: »Schillers Werth erhöht sich durch seine beispiellose Gefälligkeit sehr in meinem Herzen.« 1 0 1 Auch Die Braut von Messina mißfiel Carl August; allerdings intervenierte er nicht gegen die Aufführung, sondern ließ nur Goethe seine Kritik wissen und hoffte auf einen Durchfall des Stückes, um Schiller eine Lehre zu erteilen. Außerdem gab er Empfehlungen für eine Revision der Verse, die Schiller auch befolgte. 102 Während Carl August den Schauspielen Schillers sehr kritisch gegenüberstand, bemühte er sich mehrfach, ihn zu Dramen nach seinem Geschmack anzuregen, und schlug ihm lohnende Themen zur Bearbeitung vor. 103 Schil96 97

98 99 100

Vgl. Linn-Linsenbarth: Schiller, Teil 2, S. 6f. Vgl. N A 30, 222, lOff. (Schiller an Goethe, 18. Dez. 1800); Tümmler: S. 247ff. N A 31, 264 (an C . von Wolzogen, Mitte Apr. 1801). Was er nach Carl Augusts Meinung sonst offenbar nicht tat. N A 31, 2 6 6 (an dies., 2 6 7 2 8 . Apr. 1801).

Briefwechsel,

101

N A 31, 2 6 7 (an dies., kurz darauf). Schiller durchschaute den Herzog, wenn er Friederike Unzelmann schrieb: »Hier in Weimar haben Privatverhältniße noch immer die Aufführung der Jungfrau verhindert« (17. N o v . 1801; N A 31, 73, 15f.). Erst 1802 wollte Carl August eine Aufführung in Lauchstädt erlauben; vgl. Wahl: Briefwechsel, S. 301.

102

Vgl. Wahl: Briefwechsel, S. 307f.; N A 32, 261 (zu 9, 16). Zu Carl Augusts Urteil vgl. N A 32, 20, 4ff. (an Körner, 10. März 1803).

105

Vgl. etwa N A 38/1, 165 (Goethe an Schiller, 19. O k t . 1799); 32, 6, 5ff. (an Goethe, 26. Jan. 1803).

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ler teilte die Vorlieben des Herzogs nicht; 104 immerhin übersetzte und bearbeitete er auf seinen Wunsch einige französische Stücke, wobei er bezeichnenderweise für die Ubersetzung von Racines Phaedra von Carl August so viel Lob erhielt wie niemals auch nur annähernd für eines seiner eigenen Werke. 105 Hatte sich Carl August 1791 durch die dänische Pension für Schiller nicht beunruhigen lassen, so sah er sich 1804 durch das großzügige Berliner Angebot herausgefordert. Vermutlich war ihm auch nicht unbekannt geblieben, daß Schiller nicht mehr mit Weimar zufrieden war: »Es gefällt mir hier mit jedem Tage schlechter, und ich bin nicht Willens, in Weimar zu sterben. Nur in der Wahl des Orts, wo ich mich hinbegeben will, kann ich mit mir noch nicht einig werden. [...] Es ist überall beßer als hier.« 106 Anscheinend erkannte der Herzog durch die preußische Werbung, was er an Schiller besaß, ebenso wie umgekehrt Schiller aus Berlin mit dem Eindruck zurückkehrte: »Hier in Weimar bin ich [...] absolut frey und im eigentlichsten Sinn zu Hause«; »nicht bloß die Pflichten der Dankbarkeit, auch Neigung und freundschaftliche Bande feßeln mich an Weimar.« 107 Schiller schlug Carl August daher ein Geschäft vor: Er würde in Weimar bleiben, wenn der Herzog ihm das Äquivalent eines Drittels seiner literarischen Jahreseinkünfte gäbe, damit er dieses Geld für seine Kinder zurücklegen könne. 108 Carl Augusts Briefe an den »werthesten Freund« im Zusammenhang mit Berlin sind erstmals sehr persönlich gehalten: »Ich freue mich unendlich, Sie für immer den Unsrigen nennen zu können.« 109 Das Gehalt Schillers wurde verdoppelt mit der Zusage, es bei nächster Gelegenheit auf 1000 Reichstaler zu steigern. Schiller sollte unterdessen versuchen, »die Berliner um eine tüchtige Pension [zu] prellen.« 110 Den Ton der ungezwunVgl. die offene Ablehnung eines v o m H e r z o g zur Aufführung empfohlenen Stückes N A 31, 116, 30ff. (an Goethe, 17. März 1802). 1 0 5 Vgl. N A 40/1, 2 8 1 : »Mit dem grösten Vergnügen und mit lebhaftem Gefühle« gelesen, »Bewunderung über Ihr meister werck«, »ein sehr verdienstliches Werck [ . . . ] , dem teutschen Sinne das Vorbild der Vortreflichsten Französischen Dichtung begreiflich zu machen«, »noch mahls meinen Wärmsten Danck«. Die Liste seiner Verbesserungsvorschläge erwies Carl August als sachkundigen Kritiker; vgl. N A 40/1, 283ff. Diese Mitarbeit an der »Phaedra« blieb ihm in Erinnerung; noch 1828 erzählte er dem Kanzler v. Müller davon. Vgl. Kanzler Friedrich von Müller, Unterhaltungen mit Goethe. H g . v. R. Grumach, Weimar 1982, S. 177. 106 N A 32, 116, 19ff. (an W . v. Wolzogen, 20. März 1804); vgl. schon N A 32, 12, 18ff. (an Humboldt, 17. Febr. 1803), verbunden mit Enttäuschung über Goethes dichterische Passivität. 107 N A 32, 133, 25ff. (an Körner, 28. Mai 1804); 137, 18ff. (an Carl August, 4. Juni 1804). 108 Vgl. N A 32, 137, 33ff.; 138, 22ff. 1 0 ' V g l . N A 40/1, 214f.; 215 (6. und 8. Juni 1804). 1 1 0 N A 32, 480f. (Carl August an Voigt, 6 . / 7 . Juni 1804). 104

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genen Herzlichkeit nahm Schiller in seinem Dankschreiben auf, in dem er erstmals auf die üblichen Kurialien und Devotionsformeln verzichtete und versicherte: »Ihre Großmuth, gnädigster Herr, fixiert nun auf immer meinen Lebensplan.« Er erinnerte in diesem Zusammenhang an die erste Begegnung in Darmstadt: »Damals empfieng ich den ersten Beweis Ihrer Gnade, die sich bis auf den heutigen Tag nie gegen mich verläugnet hat.« 111 Mithin trat Schiller erst durch das preußische Zwischenspiel in nahezu freundschaftliche Beziehungen zum Herzog, mit der Huldigung der Künste Ende 1804 war auch seine letzte größere Arbeit einem Ereignis der fürstlichen Familie gewidmet. Von der neuen Erbprinzessin Maria Pawlowna, die er sehr schätzte, erhoffte er sich, »daß sie etwas für die Künste thun 112

möge«. Schiller verdankte Carl August materiell die längste Zeit seines Lebens in Thüringen nicht eben viel; dennoch ist die Verbindung zu ihm für sein Schicksal entscheidend wichtig geworden, denn erst die Verankerung im Herzogtum ermöglichte die Begegnung und Freundschaft mit Goethe. Schillers Bedeutung erkannte schließlich auch Carl August an, als er 1827 entschied, seine Gebeine in der Fürstengruft beisetzen zu lassen. 113

3. Friedrich Wilhelm III. von Preußen Die Beziehungen zum preußischen Hof stellten offenbar vorübergehend eine ernsthafte Versuchung für Schiller dar, Wohnort und Wirkungskreis zu verändern, um den engen Verhältnissen zu entkommen und seine ökonomische Lage zu verbessern. Ihn zog die große Stadt mit ihren Anregungen an, nicht der preußische Staat. Zwar hatte er schon 1788 Friedrich den Großen als den »größten Mann seines Jahrhunderts« 1 1 4 bewundert, aber die Anregung, ihn zum Gegenstand eines Nationalgedichts zu machen, abgewiesen: »Ich kann diesen Karakter nicht lieb gewinnen, er begeistert mich nicht genug, die Riesenarbeit der Idealisirung an ihm vorzunehmen.« 1 1 5 111

N A 32, 139, lOf. 26ff. (an Carl August, 8. Juni 1804). N A 32,170,16f. (an Körner, 22. Nov. 1804); vgl. auch 167,17ff. (an Cotta, 21. Nov. 1804). 113 Allerdings mit der Einschränkung: »bis daß Schillers Familie einmal ein anderes darüber disponiert«; vgl. Wahl: Carl August, S. 137 (an Goethe, 24. Sept. 1827). 114 Säkular-Ausgabe Bd. 13, 290 (Rezension in der Allg. Literaturzeitung). 115 Im Gegensatz zu Gustav Adolf; Jonas 3, 170 (an Körner, 28. Nov. 1791). 1789 hatte er allerdings auf Anregung Körners an eine »Fridericiade« gedacht, um in diesem Gedicht »sein ganzes Leben, und sein Jahrhundert [...] anschauen [zu] laßen«; N A 25, 225, 35f. (an Körner, 10./12. März 1789). Vgl. auch 120, 31ff. und 222, 28 (an dens., 20. Okt. 1788 und 9. März 1789). 112

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Erste Kontakte zum Königspaar ergaben sich 1799 bei dessen Besuch in Weimar. Schillers Eindruck war günstig: »Die Königin ist sehr graziös und von dem verbindlichsten Betragen«116 — sie hatte Schiller schon 1784 in Darmstadt bei der Vorlesung aus dem Don Carlos erlebt. Nachdem sich 1800/01 Reisepläne nicht verwirklicht hatten,117 entschloß Schiller sich 1804 so geheim zur Fahrt nach Preußen, daß selbst Goethe vorher nichts davon erfuhr.118 Er erhielt eine Audienz bei Friedrich Wilhelm III. und der Königin Luise und verkehrte mit Louis Ferdinand sowie mit Angehörigen der Hofgesellschaft. Dabei ließ er offensichtlich eine Neigung erkennen, in Berlin zu leben, und bot sich sogar an, anstelle Johannes von Müllers den Geschichtsunterricht beim Kronprinzen zu übernehmen.119 Daraufhin erhielt er die Zusage eines Jahresgehalts von 3000 Reichstalern und freien Gebrauchs einer Hofequipage.120 Bei der völlig prosaischen Natur Friedrich Wilhelms III. — eine Äußerung Schillers über ihn fehlt — ist das Bemühen um Schiller fraglos nicht von ihm, sondern vermutlich von der Königin und von Hofkreisen ausgegangen, als Mittelsmann diente der Kabinettsrat Beyme. Nachdem Schiller sich entschlossen hatte, in Weimar zu bleiben, hat er für seinen Teil Carl Augusts Aufforderung, die Berliner »um eine tüchtige Pension [zu] prellen«, befolgt, indem er von Beyme 2000 Reichstaler Gehalt erbat; dafür wollte er einen Teil des Jahres in Berlin zubringen und das dortige Theaterleben fördern sowie »ein Bürger des Staats [...] seyn, den die ruhmvolle Regierung des vortreflichen Königs beglückt«121 — mehr als eine höfische Floskel ist diese Bemerkung gewiß nicht. Ob er bei einem erneuten Aufenthalt Friedrich Wilhelms III. in Weimar Ende Juni 1804 nochmals mit diesem gesprochen hat, ist unbekannt. Sein Brief an Beyme blieb jedenfalls ohne Antwort. 4. Karl von Dalberg Wenn auch nicht einer Dynastie angehörig, besaß Karl von Dalberg doch als Koadjutor des Erzbischofs von Mainz die Expektanz auf die vornehmste 116

N A 30, 80, 2 0 (an Körner, 9. Aug. 1799).

117

Vgl. N A 30, 178, 5ff. 191, 9ff.; 31, 30, 3ff. Zur Berlinreise vgl. die N A 32, 4 8 7 angeführte Literatur. Vgl. N A 32, 4 7 9 (Iffland an Beyme, 16. Mai 1804). Vgl. N A 42, 389f. N A 32, 144, 6f. (an Beyme, 18. Juni 1804). Über die Gründe gegen einen Daueraufenthalt in Berlin vgl. zusammenfassend N A 32, 207, 36ff. (an Humboldt, 2. Apr. 1805); vgl. auch 152, l l f f . (an Hufeland, 16. Juli 1804).

118 119 120 121

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Würde des Reichsfürstenstandes, die er 1802 mitten im Zusammenbruch des Alten Reiches auch noch erlangte. 122 Die Verbindung Schillers zu ihm, der damals als erzbischöflicher Statthalter in Erfurt residierte, stellte über den Schwiegervater Humboldts die Familie von Lengefeld her. Mithin nahm Dalberg wie der Weimarer Herzog Schiller zunächst vor allem als Mann seiner Frau wahr; er wollte auch ihre Hochzeit in Erfurt ausrichten. 123 Als Schiller dem Koadjutor Ende 1789 den Wunsch nach einer Mainzer Versorgung aussprach, 124 verwies Dalberg ihn an Kurfürst Karl Joseph von Erthal, 125 wurde aber in der Folgezeit zum vorbehaltlosen Bewunderer des Dichters, auf dessen Arbeiten er jedesmal mit langen Lobsprüchen reagierte. 126 Schiller besuchte ihn 1790/91 in Erfurt und faßte zu dem geistreichen Mann soviel Zutrauen, daß er ihm sogar die Frage vorlegte, ob er sich für die Historiographie oder die Poesie entscheiden solle. 127 Andererseits wußte er die dilettierende Begabung des Koadjutors nüchtern zu bewerten. Wenn Dalberg für ihn auch »ein überaus interessanter Mensch für den Umgang« war, »mit dem man einen herrlichen Ideen Wechsel hat«, urteilte er doch schonungslos über dessen für die Hören eingesandten »unendlich elenden Aufsatz«. 128 Dalberg seinerseits kargte nicht mit Versprechungen für eine sorgenfreie Zukunft in Mainz oder Aschaffenburg, 129 und Schiller erwartete viel von ihm. 130 Allerdings stand es um die Finanzen des Koadjutors so schlecht, daß er den Dichter nur auf den Tod des Erzbischofs vertrösten konnte und es vermied, sich verpflichtend zu binden. Zwar übernahm er die Patenschaft für den nach ihm benannten Sohn und akzeptierte die Widmung der Erstausgabe von Uber Anmut und Würde, lehnte aber als Kurfürst 1804 die ihm zugedachte gedruckte Widmung des Wilhelm Teil in

Über Dalberg vgl. N D B Bd. 3, 489f. sowie zuletzt Κ. M. Färber, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 49 (1986), S. 695ff. Uber sein Verhältnis zu Schiller vgl. K. Frhr. von Beaulieu-Marconnay: Karl von Dalberg und seine Zeit. Bd. 1, Weimar 1879, S. 171ff. A . Overmann, in: Mitteldeutsche Lebensbilder Bd. 3, Magdeburg 1928, S. 187ff. 123 Vgl. N A 25, 405, 34ff. (an Körner, 1. Febr. 1790). 124 Vgl. N A 25, 316, 34ff. Schillers Briefe an Dalberg sind mit einer Ausnahme ( N A 32, 9) verloren. 125 Vgl. Beaulieu-Marconnay: Dalberg, S. 172. 126 Vgl. N A 36/1, 17.84. 130. 276f. 375f. 427f.; 37/1, 175; 38/1, 6.349f.; 40/1, 30. 126.214. 127 Vgl. Dalbergs Antwort bei Beaulieu-Marconnay: Dalberg, S. 174f. 128 Jonas 3, 56 (an Körner, 1. März 1790); N A 27, 170, 24 (an dens., 5. Apr. 1795). 129 Vgl. N A 42, 127f. (1790); Beaulieu-Marconnay: Dalberg, S. 179 (1792); N A 35, 263 (1795). 130 Vgl. schon Ende 1789: »Meine einzige Hofnung ist auf den Coadjutor gesetzt«; N A 25, 321, 17ff. Die Hoffnung auf eine Versorgung in Mainz begegnet immer wieder bei Schiller; vgl. auch N A 42, 179. 122

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einem gegenüber seinen sonstigen Briefen sehr kühlen und unverbindlichen Ton ab. 131 Durch Dalberg wurde Schiller unmittelbar zum Betroffenen der politischen Ereignisse. Nachdem er seine Aussichten auf eine Mainzer Versorgung schon 1792/93 durch die französischen Revolutionstruppen gefährdet sah, 132 war bei Übernahme des Erzstuhls durch Dalberg die materielle Grundlage für eine Realisierung der großen Versprechungen weitgehend zerstört. Schiller erwartete daher »mit Sehnsucht die Abschließung der Entschädigungssache in Regenspurg, wovon auch meine Finanzen künftig abhängen werden.« 133 Jedoch erfüllten sich Dalbergs Hoffnungen, Schiller bald »das zu werden, was ich von ganzer Seele wünsche«, 134 nicht in der von jenem erwarteten Weise. Zwar schenkte er 1803 und 1804 dreimal namhafte Geldsummen — »die Actien stehen also nicht schlecht«, kommentierte Schiller daher im Oktober 1803 — , 135 eine regelmäßige Unterstützung erfolgte dagegen nicht. Um sich Klarheit über seine Aussichten zu verschaffen, plante Schiller nach seiner Rückkehr aus Berlin, Dalberg in Aschaffenburg aufzusuchen. Der Kurfürst winkte jedoch ab, und die Reise unterblieb. 136 Schiller ist seinem Gönner in dessen neuer Würde nie begegnet.

5. Friedrich Christian von Holstein-Sonderburg-Augustenburg und andere Fürsten Für eine kurze, aber für Schillers geistige Entwicklung wichtige Zeit war der Herzog aus der Sonderburger Linie des dänischen Königshauses der wichtigste Mäzen Schillers. 137 Ein Verehrer des Dichters, ermöglichte er ihm 1791 durch die aus seinen Privatmitteln zusammen mit dem Grafen Schimmelmann ausgesetzte Dreijahrespension von je 1000 Reichstalern »die längst gewünschte Unabhängigkeit des Geistes. [...] Ich habe endlich einmal Muße, zu lernen und zu sammeln und für die Ewigkeit zu arbeiten«. 138 Vgl. Beaulieu-Marconnay: Dalberg, S. 179f. N A 10, 468; 40/1, 222. Schiller mußte sich mit der handschriftlichen Dedikation in einem Prachtexemplar begnügen. 132 Vgl. dazu Jonas 3, 231. 289f. (an Körner, 26. Nov. 1792 und 28. Febr. 1793). 133 N A 31, 172, 22ff. (an Körner, 15. Nov. 1802); vgl. auch 169, 18ff. 178, 16ff. 134 Beaulieu-Marconnay: Dalberg, S. 188. 135 N A 32, 81, 25. Schiller erhielt insgesamt über 1800 Gulden vom Koadjutor. Erst die Hinterbliebenen wurden mit einer Jahrespension bedacht; vgl. Beaulieu-Marconnay: Dalberg, S. 190. 136 Hecker/Petersen: Persönlichkeit, Bd. 3, S. 230f. 137 Uber die Beziehungen des Herzogs zu Schiller vgl. H. Schulz: Friedrich Christian, Herzog zu Schleswig-Holstein. Stuttgart und Leipzig 1910, S. 123ff. 138 Jonas 3, 174f. (an Körner, 13. Dez. 1791). 131

Schiller und die Fürsten

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Der Schenkungsbrief der »zwei Freunde, durch Weltbürgersinn miteinander verbunden«, machte Schiller außerdem nach Wiederherstellung seiner Gesundheit Aussicht auf eine Anstellung im dänischen Staatsdienst, ohne daß die Pension an eine Wohnsitznahme in Kopenhagen geknüpft worden wäre, denn: »Der Menschheit wünschen wir einen ihrer Lehrer zu erhalten.« 139 Schillers Erleichterung zeigte sich in einem enthusiastischen Dankesbrief für die »sittlich schöne Handlung«, die »Handlung eines großdenkenden Herzens«. 1 4 0 In den Briefen an den Augustenburger, in denen die kurialen Höflichkeitsformeln stets peinlich genau beachtet wurden, entwikkelte er seine neugewonnene Ästhetik auf kantischer Grundlage; der Briefwechsel endete 1796 mit dem Auslaufen der um zwei Jahre verlängerten Pension, 141 zumal der Herzog über die Angriffe auf Nicolai verärgert war: »Schiller hat wirklich beinahe meine ganze Achtung durch seine Xenien verloren.« 142 Von den übrigen Reichsfürsten kannte Schiller nur wenige, so Georg von Meiningen, der ihm den Hofratstitel verliehen hatte und dem als seinem »Dienstherrn« er 1803 aus der Braut von Messina vorlas; nach seinem Tode im folgenden Jahr widmete er ihm den Nachruf: »Ich hatte ihn in den lezten Zeiten wahrhaft lieb gewonnen und er verdiente auch als ein guter Mensch Achtung und Liebe.« 143 Dem Herzog von Mecklenburg-Strelitz empfahl Schiller 1796 eine Beschwerde seines Kollegen Niethammer gegen den N e u strelitzer Buchdrucker Michaelis, der auch Verleger seines eigenen Musenalmanachs war. Wenn er diese Gelegenheit ergriff, »Einem Fürsten, für den ich längst schon die aufrichtigste Verehrung hege, mich schriftlich zu nähern und meine Gesinnungen gegen Ihn auszusprechen«, 144 so war dies fraglos nicht mehr als eine reine Höflichkeitsfloskel ohne Aussagekraft. Mehrfach getroffen hat Schiller wegen der Verbindungen der Familie Lengefeld zu dem dortigen Hof den Erbprinzen bzw. Fürsten Ludwig Friedrich von Schwarzburg-Rudolstadt, 1 4 5 mit Eugen von Württemberg war er 1803 in Lauchstädt zusammen; der Prinz besuchte ihn auch in Weimar. 146 Von ausländischen Fürsten lernte Schiller 1802 die Herzogin Anna Charlotte Dorothea von Kurland und 1803 Gustav IV. von Schweden kennen, der 139

Schulz: Friedrich Christian, S. 140f. Jonas 3, 178 (an J. Baggesen, 16. Dez. 1791); vgl. auch ebd. 182ff. (an die Geldgeber, 19. Dez. 1791). 141 Vgl. N A 29, 324 (zu 14, 19). 142 Schulz: Friedrich Christian, S. 210. 143 N A 32, 7, 2ff. (an Goethe, 4. Febr. 1803); 98, 3f. (an W. u. Chr. Reinwald, 5. Jan. 1804). 144 N A 28, 265, 29ff. 145 Vgl. Wilpert: Schiller-Chronik, S. 330 s.v. 146 Vgl. N A 32, 47, 13ff. 48, 21ff. 66, 12ff. 140

30

Eike Wolgast

Schiller wegen seines Dreißigjährigen Krieges einen Brillantring zum Geschenk machte; Schiller sorgte dafür, daß dies durch Cottas Allgemeine Leitung bekanntgemacht wurde. 147

Schillers Beziehungen zu den deutschen Fürsten, gesucht im Wunsch nach einem Mäzen, blieben lange Zeit ohne größeren materiellen Nutzen. Carl August konnte ihn erst sehr spät einigermaßen ausreichend besolden, der Koadjutor-Kurfürst begnügte sich — gleichfalls spät — mit unregelmäßigen Geldsendungen. Schiller blieb mithin die längste Zeit seines Lebens auf seine Arbeitskraft als freischaffender Schriftsteller mit wenig üppigen staatlichen Einkünften angewiesen. Diese mangelhafte Unterstützung machte noch 1829 Goethe den deutschen Fürsten zum Vorwurf: »Durch allerhöchste Gunst wäre sein [= Schillers] Dasein durchaus erleichtert, häusliche Sorgen entfernt, seine Umgebung erweitert, derselbe auch wohl in ein heilsameres Klima versetzt worden, seine Arbeiten hätte man dadurch belebt und beschleunigt gesehen, dem höchsten Gönner selbst zu fortwährender Freude und der Welt zu dauernder Erbauung.« 148

147 148

Vgl. N A 32, 67, 27ff.; vgl. auch 65, 24ff. 68, 13ff. In der Widmungsvorrede seines Briefwechsels mit Schiller an Ludwig I. von Bayern; vgl. WA Abt. 4 Bd. 46, 106. Durch Goethes Kritik fühlte sich Beyme herausgefordert, öffentlich auf das Berliner Angebot von 1804 hinzuweisen; vgl. N A 42, 390.

Johannes Zahlten

Die bildenden Künste an der Hohen Carlsschule in Theorie und Praxis

Als im Jahr 1782 die H o h e Carlsschule zur Universität umgewandelt wurde, faßte man den dortigen Kunstunterricht in der Fakultät der Künste zusammen und stellte ihn — höchst ungebräuchlich für das 18. Jahrhundert — den wissenschaftlichen, ökonomischen und militärischen Fächern gleich. 1 Diese bemerkenswerte Position der Künste charakterisierte Werner Fleischhauer in treffender Weise so: »Die Verbindung der künstlerischen Schulung mit dem um philosophische Fächer konzentrierten Lehrsystem der Anstalt war einzigartig. Die für die Zeit ganz ungewöhnliche Allgemeinbildung der Kunstschüler der Carlsschule wurde allgemein bestaunt; sie bot die günstige Voraussetzung für die Ideenkunst des neuhumanistischen Idealismus.« 2 So blieb es nicht aus, daß durch die Pflege der klassizistischen Kunst »Stuttgart fast plötzlich zu einer der fortschrittlichsten und bemerkenswertesten Kunststätten des deutschen Sprachgebietes« wurde. 3 Anzumerken ist jedoch, daß auch der Kunstunterricht jene bekannten, von militärischer Zucht und Ordnung geprägten Erziehungsmethoden der Hohen Carlsschule aufwies, die Künstler wie der Maler Joseph Anton Koch verhement ablehnten oder in Karikaturen anprangerten (Abb. 12); Koch floh schließlich aus diesem »Zuchthaus«. 4 1

Zur Geschichte der H o h e n Carlsschule grundlegend: Robert Uhland: Geschichte der H o hen Karlsschule. (Darstellungen aus der Württembergischen Geschichte 37) Stuttgart 1953; Katalog der Ausstellung >Die H o h e CarlsschuleHohe Carlsschule 0 Fürstin der Heimath! Glükliches StutgardDie H o h e CarlsschuleBaden und Württemberg im Zeitalter NapoleonsTheorieund-Praxis-Bezug< und >Allgemeinbildung< sind sie zu umschreiben. Zur letzteren gehörte auch, daß in den unteren Unterrichtsstufen der Carlsschule Zeichnen Pflichtfach für sämtliche Eleven war. Ein zeitgenössisches Gemälde (Abb. 1) zeigt den Akademisten von der Lühe, wie er im Beisein von zwei Mitschülern ein Bildnis Herzog Carl Eugens abzeichnet. Die hier dargestellte, in der Tradition der Ritterakademien des 17./18. Jahrhunderts stehende, nun allgemeinverbindliche Neuerung sollte unter anderem dazu dienen, das Interesse an den bildenden Künsten zu fördern. 5 Auf das erstgenannte Stichwort weist das breite Spektrum der angebotenen Lehrfächer hin, die in den unterschiedlichsten Studienrichtungen miteinander verknüpft wurden. Exemplarisch möchte ich dies im Bereich der bildenden Künste aufzeigen, wo die künstlerisch praktische Arbeit verbunden mit den kunsttheoretischen Fächern gelehrt wurde, unter denen der Mythologie, wie wir sehen werden, eine besondere Aufgabe zukam.

Daten zur Geschichte der Hohen Carsschule Nützlichkeitserwägungen hatten bereits 1761 Herzog Carl Eugen dazu bewogen, in Stuttgart eine >Academie des Arts< zu gründen.6 Landeskinder sollten für die künstlerischen Unternehmungen des Hofes ausgebildet werden, um Kosten für teuere, ausländische Künstler zu sparen. Zu Lehrern dieser Schule wurden die herzoglichen Hofkünstler ernannt: N. Guibal, I. Colomba, A. Bittio, G. Scotti, A. Harper, F. W. Beyer und P. F. Lejeune. Als Carl Eugen 1764 im Streit mit der Landeshauptstadt Stuttgart verließ, folgte ihm die Akademie nach Ludwigsburg, wo sie beinahe zehn Jahre blieb. Inzwischen hatte der Herzog am 5. Februar 1770 im Bereich des Schlosses Solitude vierzehn Soldatenkinder untergebracht,7 die zu Gärtnern und Stukkateuren ausgebildet werden sollten. Bereits im Dezember des gleichen

5 6

7

Fleischhauer: Kunst, S. 62f. Vgl. auch Johannes Zahlten: >Die Kunstanstalten zur Staats- und Nationalsache gemacht.. .< Die Stuttgarter Kunstakademie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. (Beiträge zur Geschichte der Staatlichen Akademie der bildenden Künste Stuttgart 2) Stuttgart 1980. Hier S. 6f. Eine knappe Zusammenfassung der Geschichte der Carlsschule: Robert Uhland: Geschichte der Hohen Carlsschule. In: Katalog >Die Hohe CarlsschuleMilitärische Pflanzschule< geführt wurde. Der ursprünglich im Vordergrund stehende soziale Aspekt der Fürsorge für Soldatenwaisen blieb zwar noch erhalten, doch die neue Aufgabe war jetzt die Auslese von Begabten, die der Herzog meist selbst vornahm. In den folgenden Jahren wurden Cavaliers- und Offizierssöhne zugelassen, die, wie eine Programmschrift verkündet, zu »künfftigen Ministerial-, H o f - und Kriegsdiensten gebildet werden sollen«. 8 Die Anforderungen in den Sprachen und Naturwissenschaften stiegen, Geschichte und Philosophie kamen als zentrale Fächer hinzu, Preismedaillen und akademische Orden wurden eingeführt. U m die inzwischen erreichte führende Rolle der Schule im Lande zu unterstreichen, verlieh ihr der Herzog am 11. März 1773 die Bezeichnung >MilitärakademieAcademie des ArtsEcole des Demoiselles< fand Unterkunft im benachbarten Alten Schloß. Kaiser Joseph II. verlieh im Dezember 1781 der Akademie den Universitätsrang. Neben den drei Universitätsfakultäten Jura, Medizin und Philosophie gehörten ihr die ökonomische, militärische und die Fakultät der freien Künste an. Künftig hieß sie >Carls-Hohe-SchuleAcademia Carlonia< oder >Hohe CarlsschuleReglemens< für das Jahr 1775. Ebd. S. 247—250. 22 Uhland: Geschichte, S. 242. 23 Zum Mythologie-Unterricht in Stuttgart und zur dort verwendeten Literatur vgl. auch den hier zu Grunde gelegten und erweiterten Beitrag des Verfassers: Johannes Zahlten: Der >Göttersaal des Capitolium (Stadtschloß) in Stuttgardt< nach einer Beschreibung aus dem Jahre 1850, mit Bemerkungen zur Neubewertung der Mythologie. In: Jahrbuch der Staatlichen Kunstsammlungen in Baden-Württemberg 20 (1983), S. 19—32. Hier vor allem S. 2 5 - 3 2 . 20

40

Johannes Zahlten

Eschenburgs Handbuch erweist sich als unentbehrliche Quelle, wenn es darum geht zu erfahren, welche Werke zur Mythologie am Ende des 18. Jahrhunderts zur Verfügung standen. Sein Teil III listet die wichtigsten Nachschlagewerke und Wörterbücher jener Literaturgattung auf, beginnend in der ersten Rubrik mit den Götterhandbüchern des 16. Jahrhunderts über Abbe Baniers La Mythologie et les fables expliquees par l'histoire (1735/40) bis hin zu zeitgenössischen Neuerscheinungen. Dies zeigt, daß man an der Hohen Carlsschule sehr genau über die mythologische Fachliteratur informiert war, die sich übrigens noch heute fast vollständig in der Württembergischen Landesbibliothek, der Nachfolgerin der herzoglichen Büchersammlung, befindet. Es kann nicht Absicht dieses Beitrages sein, die Inhalte der zahlreichen Werke hier vorzustellen und zu charakterisieren. Jedoch lassen sich aus ihnen einige Hinweise entnehmen, die Ziele und Absichten des Mythologie-Unterrichts an der Hohen Carlsschule deutlich machen. Balthasar Haug 24 warnt in seiner Schrift zunächst vor der Gefahr, die von der »heydnischen Götterlehre« der religiösen Erziehung der Jugend drohe, wenn diese sich zu früh und unvorbereitet mit ihr befasse. Unter richtiger Anleitung jedoch würde sie »wider die Absicht ihrer Erfinder, nur die Beweiße vor die Wahrheit unserer Religion bestärken helfen.« Den wirklichen Nutzen des mythologischen Unterrichts sieht er in einem anderen Bereich, denn er schreibt: W e n n die Alten vornehmlich die Mittel sind, unseren Geschmack zu bilden, diese aber ohne die Kenntniß der Mythologie, es mögen hernach Poeten, Redner oder Antiken seyn, ewig unverständlich bleiben, wie ich schon oben gemeldet habe; so nimmt sie in den Wissenschaften schon einen Platz ein, der ihr Ehre macht. Aber auch das gemeine Leben und der tägliche U m g a n g macht dieses Studium, oder wenigstens einige Kenntniß davon unentbehrlich. Ich rede hier nicht nur von Leuten, die studirt haben wollen; sondern ich meyne vornämlich die von Stande [ . . . ] W e r aber auch nur von weitem zur schönen oder großen Welt gehören will, er mag Officier, oder am H o f e , oder sogar auch auf dem Lande seyn; er wird ohne einige Tinktur von dieser Wissenschaft eine traurige Figur machen. Diese A r t Galanterie zu versäumen, ist unverzeyhlich. Man mag hinkommen, w o man will; so trift man hier und da Gemähide, Tapeten, Statuen, Medaillen, Inscriptionen, Monumente, Antiken, ganze Cabineter und Gallerien, Gesellschaften, und Gespräche von dieser Gattung an. Jedes Haus oder Schloß, jedes Zimmer, jeder Garten, jedes Schauspiel legt so viel Räzel v o r ; als es mythologische Vorstellungen hat, wenn man fremde in der Fabellehre ist. Fast kein Buch ist leer von solchen Anspielungen; wer auch nur Romanen, Calender oder Zeitungen lesen will; ist nicht sicher, auf eine Stelle zu stoßen, die ihn erschreckt. 2 5 24 25

H a u g : Tabellen, S. 21, 9. E b d . S. 9f.

Bildende

Künste an der

Carlsschule

41

Kenntnis der Mythologie als Allgemeinbildung für Leute »vom Stande« läßt sich Haugs Position knapp umschreiben, die er allerdings auch auf den bürgerlichen Bereich übertragen sehen möchte. Den Absichten Haugs vergleichbar ist das 13 Jahre später entstandene Werk David Christoph Seybolds, Einleitung in die griechische und römische Mythologie der alten Schriftsteller, für Jünglinge, mit antiken Kupfern (Leipzig 1784). Als Lehrer, »dem die Bildung der Jugend anvertraut ist«, will er dafür sorgen, »daß die Mythologie in Schulen und Gymnasien nicht übergangen werden darf«. Ohne ihre Kenntnis könne der junge Künstler die Werke der alten Meister nicht verstehen und richtig studieren, sei das Verständnis der alten Schriftsteller nicht möglich: 26 »Die Mythologie giebt dem Jüngling, der nun anfängt zu denken, viele Gelegenheit, darüber zu philosophieren... Hierin ersieht man, daß die Mythologie für den Künstler, für jeden Gelehrten, für den Menschen und für den Philosophen ein nützliches Studium ist [...].« Zum Aspekt der Allgemeinbildung kommt bei Seybold hier der Nutzen der Mythologie für das fachbezogene Studium hinzu. Dem entspricht die Aussage von Karl Friedrich Ramlers Kurzgefaßte Mythologie oder Lehre von den fabelhaften Göttern, Halbgöttern und Helden des Alterthums (Berlin 1790), der schreibt: »Am brauchbarsten ist also die Mythologie für diejenigen, deren Zweck die Belustigung der Einbildungskraft ist, für die Dichter nehmlich und die bildenden Künstler, und für diejenigen, die sich an den Werken derselben vergnügen wollen.«27 Mit diesen Texten haben wir bereits die wichtigsten der von Eschenburg in der zweiten Gruppe zusammengestellten >Kürzeren Handbücher der Mythologie< kennengelernt. Seine eigene Definition lautete:28 U n t e r dem W o r t e Mythologie (von μύθος, Fabel) versteht man gewöhnlich den Inbegriff derjenigen, aus Wahrheit und Erdichtung zusammengesetzten E r z ä h lungen, welche die Gottheiten und Halbgottheiten des griechischen und römischen Alterthums, ihre Abkunft, ihre Handlungen und Begebenheiten, ihre N a men, ihre Attribute, ihre gottesdienstliche Verehrung und bildliche Vorstellung betreffen. D a dieser Vortrag der Fabellehre durchgängig erzählend ist; so wird sie auch oft Fabellehre genannt [ . . . ]

Im Sinn dieser Definition sah er den »vornehmstefn] Nutzen, den man sich von Erlernung der Mythologie versprechen kann, ausser der richtigem Beurtheilung der ältesten Philosophie und Völkergeschichte«, im »besserefn] Verständniß der griechischen und römischen Schriftsteller und der Arbeiten

26 27 28

Seybold: Einleitung, S. 3f. Ramler: Kurzgefaßte Mythologie, S. X I I . Eschenburg: Handbuch, S. 291 und 296.

42

Johannes

Zahlten

ihrer Künstler«. Diesem Nutzen sollte das Mythologie-Kapitel seines Handbuchs dienen, dessen wichtigste Schriften der beiden ersten Rubriken kurz skizziert wurden. Eine dritte Gruppe umfaßt >Die vornehmsten Wörterbücher über die mythologischen Personen, ihre Geschichte, Abbildungen und Attribute^ die vor allem der praktischen Anwendung dienen können: Benjamin Hederichs Gründliches Lexicon Mythologicum (Leipzig 1724) beschließt seinen langen Titel: »Alles aber zum Nutzen und Gebrauch nicht nur der Studirenden, sondern auch vornehmlich vieler Künstler und anderer politen Leute zugänglich als deutlich zusammengebracht.« Einer ähnlichen Intention entspricht die vierte Rubrik >Kupferwerke, welche die Abbildungen mythologischer Denkmäler, nebst ihren Erklärungen enthaltene Seinen Zweck gibt die 1757 erschienene deutsche Ausgabe von Bernard de Montfaucons Kupferstichwerk L'Antiquite expliquee et representee en figures (Paris 1719) schon im Titel an: »Nicht nur den Studierenden zu Gefallen, sondern auch den Mahlern, Bildhauern, Kupferstechern, Gold- und Silber-Schmieden, wie auch andern dergleichen Künstlern, zu einem nützlichen Gebrauch [...].« Es gleicht in dieser Absicht Joachim von Sandrarts aufgeführtem Werk Iconologia Deorum oder Abbildung der Götter, welche von den Alten verehrt worden [...] (Nürnberg 1680), das der Autor »durch unsere erfahrenste Virtuosen« illustrieren ließ, »damit unsere Teutsche Academie um so viel mehr zu diesem edlen Studio erhoben, und desto nützlicher gebraucht werden möchte«. Eschenburgs fünfte und letzte Gruppe ist überschrieben >Sehr brauchbar für den mythologischen Unterricht sind auch die Abdrücke antiker Gemmen, auf welchen Subjekte dieser Art vorkommen^ Wie die beiden zuvor besprochenen Rubriken dienten auch die hier angezeigten Werke vor allem »Zum Nutzen der Schönen Künste und Künstler«, wie es im erweiterten Titel von Ph. D. Lipperts Dactyliothec (Leipzig 1767) heißt, die 2000 Abdrücke publiziert. Ausgehend von Eschenburgs Bibliographie zur Mythologie, aus der die wichtigsten Veröffentlichungen genannt wurden, welche mit hoher Wahrscheinlichkeit im Mythologie-Unterricht Haugs an der Hohen Carlsschule Verwendung fanden, lassen sich in diesen Texten folgende Tendenzen beobachten: Neben der immer wieder betonten praktischen Verwertbarkeit mythologischer Kenntnisse in der künstlerischen Arbeit von Maler, Bildhauer, Zeichner oder Kunsthandwerker ist es vor allem der Aspekt der Allgemeinbildung der Kunstschüler, den schon Fleischhauer als Charakteristikum für die Ausbildung an der Carlsschule beobachtet hatte. Die Bildungsvorstellungen des Adels sollten einer breiteren bürgerlichen Schicht

Bildende

Künste an der

Carlsschule

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zugute kommen. Weiter wurde die Mythologie als wichtig für das Verständnis von Theologie, Geschichte und klassischer Literatur angesehen, oder als Anregung, sich mit philosophischen Fragen auseinanderzusetzen. Nicht zu vergessen ist der erzieherische Vorbildcharakter ihrer Helden für die auszubildende Jugend Schließen wir unsere Überlegungen zum theoretischen Kunstunterricht an der Hohen Carlsschule mit einem Blick auf die allegorischen Handbücher, nicht zuletzt deshalb, weil die Preismedaillen mit allegorischen und symbolischen Darstellungen geschmückt waren. Das Standardwerk dieser Gattung war immer noch Cesare Ripas Iconologia von 1593, das 1764/1767 seine letzte Neuauflage erlebte. Auf ihm fußt Jean Baptist Boudards Iconologie tiree de divers Auteurs (Parma 1759). Das in Stuttgart erhaltene Exemplar (Abb. 10) ist mit dem Exlibris Nicolas Guibals (Abb. 11) gekennzeichnet. Wir haben damit jene Ausgabe vor uns, die ihm zur Gestaltung der höfischen Aufträge diente und die er auch in seinem kunsttheoretischen Unterricht verwendete.29 In den Vorschriften zum Wettbewerb des Jahres 1775 an der Hohen Carlsschule wurden Ripa und Boudard explizit als Grundlage für die allegorischen Darstellungen angeführt.30 Obwohl in der vom Klassizismus geprägten Diskussion über das Problem der Allegorie die barocken Ikonologien als »unwürdige und ungeeignete Hilfsmittel für den Maler« abgelehnt wurden, war doch kein besserer Ersatz vorhanden. Johann Joachim Winckelmann tat sich in dieser Diskussion besonders hervor. So schrieb er 1755 zur Verwendung der Allegorie: D e r Künstler befindet sich hier in einer Einöde. Die Sprachen der wilden Indianer [ . . . ] sind nicht leerer von solchen Zeichen, als es die Mahlerey zu unseren Zeiten ist. Derjenige Mahler, der weiter dencket als seine Palette reichet, wünschet einen gelehrten Vorrath zu haben, wohin er gehen, und bedeutende und sinnlich gemachte Zeichen von Dingen, die nicht sinnlich sind, nehmen könte. Ein vollständig W e r c k in dieser A r t ist noch nicht vorhanden; die bisherigen Versuche sind nicht beträchtlich genug, und reichen nicht bis an diese grosse Absichten. D e r Künstler wird wissen, wie weit ihm des Ripa Iconologie, die Denck-Bilder der alten Völcker von van H o o g h e Genüge thun werden [ . . . ] Dieses ist die Ursach, daß der Künstler, dem man seine Willkühr überläßt, aus Mangel allegorischer Bilder oft Vorwürfe wählet, die mehr zur Satire, als zur E h r e desjenigen, dem er seine Kunst weihet, gereichen müssen [ . . . ]

29

30

Vgl. den Hinweis bei Johannes Zahlten: Stuttgarter Magisterarbeiten zur Kunstgeschichte Württembergs. In: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte 45 (1986), S. 377. Dort heißt es: »4°. Les eleves sculteurs ne seront pas pardonnes pour les fautes commises contre L'ychonologie qu'il doivent consulter avec grand soin soit dans Cesare Ripa: ou dans Boudart son imitateur et surtout ils reliront attentivement Celles des lemons sur la theorie de la composition article: Allegorie.« Zitiert nach Uhlig (1981): Guibal, S. 248.

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Johannes

Zahlten

Der Pinsel, den der Künstler führet, soll im Verstand getunckt seyn, wie jemand von dem Schreibe-Griffel des Aristoteles gesaget hat: Er soll mehr zu dencken hinterlassen, als was er dem Auge gezeiget, und dieses wird der Künstler erhalten, wenn er seine Gedancken in Allegorien nicht zu verstecken, sondern einzukleiden gelernet hat [.. .]31

Doch auch Winckelmanns Absicht, ein solches Werk zu schaffen, war von keinem Erfolg gekrönt. Hatte er dem Verleger Walther angekündigt: »Ich schreibe von Dingen, die zur Erleuchtung unserer Nation und zum guten Geschmack beytragen, und nicht Sachen, die bloß Gelehrsamkeit betreffen...«, 3 2 so wurde seine zwischen 1759 und 1763 verfaßte Abhandlung Versuch einer Allegorie, besonders für die Kunst (Dresden 1766) schon von Zeitgenossen für mißglückt gehalten. 33 Einen breiten Raum nimmt darin die Auseinandersetzung mit den vorhandenen allegorischen Schriften ein. Er schreibt: »Die drey Helden in dieser Wissenschaft sind Pierius Valerianus, Cäsar Ripa und Joh. Bapt. Boudard, welche beyden letztern insbesondere für Künstler arbeiten wollen, und ihre Werke sind Iconologien betittelt.« 34 Vor allem über Ripas Handbuch ergießt sich sein besonderer Spott: Man könnte viele Einfalle desselben nicht lächerlicher erdenken, und ich glaube wenn ihm ζ. E. das welsche Sprichwort, in ein Sieb pissen, das ist, vergebliche Dinge thun, eingefallen wäre, er würde auch dieses figürlich gemachet haben. Boudard ist ein Franzos und Bildhauer des Infanten und Herzogs zu Parma, und dessen Iconologie verdienet kein geneigter Urtheil; denn es ist dieselbe von eben dem Schlage. Dieses Werk ist im Jahr 1759 [...] an das Licht getreten. 35

Winckelmann hatte schnell auf diese Neuerscheinung reagiert, doch sein Versuch von neuen Allegorien aus dem Alterthum brachte keinen Erfolg. Selbst in der als fortschrittlichst geltenden Hohen Carlsschule in Stuttgart wurde weiter als offizielles Lehrbuch Boudards Iconologie benutzt, sogar von Nicolas Guibal. Kritik an Kunstpraxis und -theorie, die sich auch gegen den disziplinarischen Druck ihrer Erziehungsmethoden wandte, kam aber in den letzten 31

32

33 34 35

Johann Joachim Winckelmann: Kleine Schriften, Vorreden, Entwürfe. Hg. v. Walther Rehm. Berlin 1968, S. 56, 58, 59. - Vgl. auch Elisabeth Schröter: Die Villa Albani als Imago mundi. Das unbekannte Fresken- und Antikenprogramm im Piano Nobile der Villa Albani zu Rom. In: Forschungen zur Villa Albani. Antike Kunst und die Epoche der Aufklärung. Hg. v. Herbert Beck und Peter C. Bol. Berlin 1982, S. 189 A n m . 3; desgl. Curt Müller: Die geschichtlichen Voraussetzungen des Symbolbegriffs in Goethes Kunstanschauung (Palaestra 2 1 1 ) Leipzig 1937, S. 8 0 - 8 3 . Dazu Helmut Sichtermann in der Einleitung zu Winckelmanns Kleinen Schriften (1968), S. XVII. Wilhelm Mrazek: Ikonologie der barocken Deckenmalerei. Wien 1953, S. 66f. Winckelmann: Versuch, S. 23. Ebd. S. 23f.

Bildende

Künste an der

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Carlsschule

Jahren der Hohen Carlsschule aus den Reihen der eigenen Schüler. Eine um 1791 entstandene Karikatur Joseph Anton Kochs auf das Regime an der Anstalt bringt sie deutlich zur Anschauung. 3 6 Die aquarellierte Federzeichnung stellt eine Scene aus dem Kunstleben

der jungen

Maler dar und spielt

in einem Atelier der Carlsschule (Abb. 12). Intendant Seeger stürzt sich mit erhobenem Stock auf einen Zögling, der mit geballten Händen die Bestrafung erwartet, vermutlich Koch selbst. Währenddessen macht eine Gestalt vor der Staffelei auf den wahren Schuldigen aufmerksam, der durch eine Fackel mit der Aufschrift >Prometheus< gekennzeichnet ist. Zu Füßen Seegers liegt Lessings Schrift Laokoon Poesie,

oder Über die Grenzen

der Malerei

und

1766 erschienen und für die Kunsttheorie des Klassizismus von

großer Bedeutung. Uber der Hauptszene herrscht in den Wolken — hier taucht das Wort »Zuchthaus« auf — die Personifikation des barock geprägten Geschmacks (»geschmack heis ich«). Sie tritt eine antike Apolloskulptur mit Füßen. Daneben ist ein Eleve in den Strafblock eingespannt und ein >Zuchtmeister< zwingt die klassisch gewandete Allegorie der Malerei, an einem barocken Ornament weiterzuarbeiten. Eine Tagebuchäußerung Kochs kann den Inhalt der Szene noch deutlicher machen. In ihr läßt der Maler die Allegorie des an der Hohen Carlsschule vertretenen Geschmacks sagen: Ich hasse das Einfache, G r o ß e und gar das Zweckmäßige; baß behagt mir Menge und Mannigfaltigkeit. Ich brauche nicht die Vernunft, noch gebildete Seelenkräfte, die den Magen leer lassen, ich brauche nur die Faust, um Künstler zu machen. Das schöne Wissen nebst Allem, was man Theorie heißt, braucht der Künstler nicht zu seinem F a c h . 3 7

Koch kritisiert in seiner Karikatur nicht nur den Zwang und die Einengung der jungen Maler an der Carlsschule, die oft zu Dekorations- und Theatermalereien als billige Kräfte herangezogen wurden, zu »Quarkarbeit«, wie er schrieb, sondern auch das in Theorie und Praxis an der Schule vertretene Konzept. Von den revolutionären Ereignissen in Frankreich und den Ideen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit begeistert, hatte Koch zusammen mit Dannecker, Pfaff und anderen einen politischen Klub gegründet,

36

57

Dazu Otto R. von Lutterotti: Joseph Anton Koch 1768-1839. Leben und Werk mit vollständigem Werkverzeichnis. Wien 1985, S. 26f; auch Pfeiffer, Die bildenden Künste, S. 746— 748; Fehle: Karikatur, S. 940; Christian von Holst: Joseph Anton Koch. 1 7 6 8 - 1 8 3 9 . Ansichten der Natur. Ausstellungskatalog Stuttgart 1989, S. 2 8 - 3 6 , 1 1 4 - 1 1 6 . Zitiert nach Fehle, Karikatur, S. 940, die auf Ernst Förster: Ein Tagebuch von Josef Anton Koch zurückgreift. In: Deutsches Kunstblatt 6 (1885), S. 3ff und 45ff.

46

Johannes

Zahlten

der Beziehungen zu den Jakobinern anknüpfte. 38 U m der drohenden Haft auf dem Hohenasperg zu entgehen, floh er im Dezember 1791 über den Rhein nach Straßburg. Nach seinen eigenen Worten sagte er sich in einer symbolischen Handlung vom Stuttgarter »Zuchthaus« und den dort vertretenen Kunstbestrebungen los: »[...] in der ersten Freiheit und Freude schnitt ich mir — noch auf der Brücke — den statutenmäßigen Haarzopf ab und schickte ihn durch die Post an die Akademie.« 39 Drei Jahre später wurde die Hohe Carlsschule aufgelöst. Damit hatte Württemberg auch sein einziges Institut zur Pflege der Künste verloren, ein Zustand, der bis 1829 anhielt. 40

38

39 40

Zu den Einflüssen von Ideen der Französischen Revolution auf die Hohe Carlsschule erschien soeben eine Untersuchung von Axel Kuhn: Revolutionsbegeisterung an der Hohen Carlsschule. Stuttgart 1989. Zitiert nach Fehle: Karikatur, S. 940. Dazu ausführlicher Zahlten: Kunstanstalten, und Johannes Zahlten: Zwischen Dürer und Kepler. Die Anfänge der Polytechnischen Schule und die Künste. In: Festschrift zum 150jährigen Bestehen der Universität Stuttgart. Beiträge zur Geschichte der Universität. Hg. v. Johannes H. Voigt. Stuttgart 1979, S. 4 0 4 - 4 3 7 .

Für kollegiale und freundschaftliche Unterstützung danke ich: Frau Dr. Ulrike Gauss (Stuttgart), Herrn Dr. Dr. Dietrich Kerlen (Stuttgart), Herrn Dr. Ulrich Klein (Stuttgart), Herrn Prof. Dr. Axel Kuhn (Stuttgart) und Herrn Dr. Klaus Merten (Stuttgart).

Gerhard Friedl

Die Karlsschüler bei höfischen Festen

- eine solche Anstalt, möchte man erwarten, sollte die reinem Begriffe von Glückseligkeit und Elend u m so nachdrücklicher in die Seele prägen, als die sinnliche Anschauung lebendiger ist, denn nur Tradizion und Sentenzen. Ueber das gegenwärtige ter. 1782

teutscbe

Thea-

Obwohl für Schiller die Wirkung der Bühne ganz eng mit der lebendigen sinnlichen Anschauung verbunden ist, wird diese in der Aufführungspraxis der Theater und in der Literaturwissenschaft oft vernachlässigt und nur das gesprochene Wort in den Vordergrund gestellt. Ebenso stiefmütterlich behandelt man den Bereich der sinnlichen Anschauung, wenn die auf den jungen Schiller wirkenden Einflüsse untersucht werden. Auf die Karlsschulzeit gehen dann vor allem seine Kenntnisse in Philosophie, Psychologie und Medizin, geschriebene oder gedruckte »Tradizion und Sentenzen« also, und die Bekanntschaft mit der zeitgenössischen deutschen Literatur und mit Shakespeare zurück. Nur als Episoden finden die höfischen Feste, die doch Höhepunkte des Lebens am herzoglichen Hof und in der Residenzstadt waren, in den Schiller-Büchern Beachtung. Nur wenn Hoffeste als Anregung und Hintergrund unübersehbar sind wie bei der »lyrischefn] Operette« Semele oder wenn Schiller diese Feste — den Lobpreis der »Erdengötter« im Lied, das Spektakel auf den Theatern, »des Volkes wilde V i v a t « und die Jagden — zum Angriffsziel seiner Dichtung macht wie in dem Gedicht Die schlimmen Monarchen, wecken sie Interesse.1 Aber wo sollte der junge Dichter die prägende Kraft der lebendigen sinnlichen An-

1

Vgl. N A 5, 245, und Christa Vaerst-Pfarr: Semele - Die Huldigung der Künste. In: Schillers Dramen. Neue Interpretationen. Hg. v. Walter Hinderer. 2., durchgesehene und bibliographisch erneuerte Auflage. Stuttgart 1983, S. 294-315. Hier S. 296.

48

Gerhard

Friedl

schauung bis 1782 kennengelernt haben, wenn nicht bei den Prachtentfaltungen an den höfischen Festtagen mit erlesenen Speisen und Weinen auf den Tafeln, in Konzerten, Opern, Balletten, Festspielen und im Theater? Schiller nahm als Karlsschüler an diesen Festen teil, er verfaßte für Hoffeste zu Ehren Franziskas von Hohenheim außer den beiden Festreden Aufschriften für Supraporten, wahrscheinlich für den Saal der Akademie, und die Gedichte Empfindungen der Dankbarkeit. In dem ersten Dankgedicht Von der Akademie wird Franziska zur göttlichen Gestalt verklärt: Ihr Anblik seegenvoll — wie Sonnenblik den Fluren, Wie wenn vom Himmel Frühling niederströmt, Belebend Feuer füllt die jauchzende Naturen, Und alles wird mit Stralen überschwemmt, So lächelt alle Welt — So schimmern die Gefilde Wenn Sie, wie Göttinn, unter Menschen geht, Von Ihr fließt Seegen aus, und himmelvolle Milde Auf jeden den Ihr sanffter Blik erspäht.

Zwar handelt es sich um Gelegenheitsdichtung, die unter dem Zwang der Militär-Akademie entstanden ist und Schillers wahre Ansichten eher verbirgt als zutage fördert — »Jede Tugend findet bei uns ihren Lobredner, und wir scheinen sie über ihrer Bewunderung zu vergessen«, schreibt er in dem Aufsatz Ueber das gegenwärtige teutsche Theater —, aber bald werden anstelle Franziskas andere Personen feierlich und religiös erhöht, welche die Liebe, die Tugenden oder die Kunst verkörpern und Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Dichtung nicht mehr zulassen. In dem Hochzeitgedicht für Henriette Sturm, die Pflegetochter Frau von Wolzogens, wird die »Muttergüte« gepriesen, um die sich das zweite Dankgedicht an Franziska Von der Ecole des Demoiselles dreht, und Braut und Mutter sind es, die durch religiöse Bilder und Vergleiche mit der Sonne und ihren wohltuenden und wachstumsfördernden Strahlen herausgehoben werden. Die Braut wird »mit heiterem Gesichte/Erquikend, gleich dem Sonnenlichte,/Durch seines [des Mannes] Grames Nebel sehn« und »mit e i n e m holden Lächeln/Erfrischung ihm entgegenfächeln«, wenn er »unter drükenden Gewichten/Des Kummers und der Bürgerpflichten« zusammengebrochen ist. Im Prolog für die Aufführung eines Kindertheaterstückes an einem Geburtstagsfest in Meiningen ist es die Schauspielkunst in Gestalt ihrer Muse Thalia, die den von diesen Gewichten erdrückten Mann »Durch edle Spiele neubelebt«, »mit sanfterm Lächeln« erscheint und das »Wiegenfest« schmückt wie Franziskas Name das Fest der Natur.

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Feste sind für Schiller jedoch nicht nur Anlässe zu Gelegenheitslyrik, sondern vor allem Gegenstand in Gedichten der vorklassischen und klassischen Zeit. Anstelle einzelner Göttinnen verschönern alle »Götter Griechenlandes« das menschliche Dasein; ihr Herrschaftsbereich ist viel größer als der Theatersaal, die Ehe oder ein Herzogtum, denn sie regieren »die schöne Welt« und führen »glücklichere Menschenalter« »an der Freude leichtem Gängelband«. Obwohl die Freude hier ganz andere Gründe hat als in den Gelegenheitsgedichten, tut sie sich in Bildern von Göttern und Festen kund und zeigt ähnliche Wirkungen: Wie durch Franziskas Anblick die Gefilde schimmern und der zum Vergleich verwendete »Sonnenblik« die Natur belebt, geben die »schönefn] Wesen aus dem Fabelland« der Natur »höhern Adel« und bewirkt die »Dichtkunst«, daß »Durch die Schöpfung« »Lebensfülle« fließt. Es wird nicht mehr ein Mensch mit einer »Göttinn« verglichen, die »unter Menschen geht«, sondern »Alles wies den eingeweyhten Blicken/alles eines Gottes Spur«. Die »schöne Seele« Franziskas — die Dankgedichte an sie stehen unter diesem Leitbegriff, den Schiller zwar nicht für ihre Person, wohl aber in anderen frühen Gedichten mehrfach verwendet — hat sich zur »schöne[n] Welt« der »Götter Griechenlandes« erweitert. Feierlichkeiten und festliche Motive tragen wesentlich zur Schönheit dieser Welt bei, auf Tempel und um Altäre konzentrieren sie sich: Die Tempel der Venus wurden bekränzt, und bei den Isthmischen Spielen, die später den prächtigen Hintergrund für die Ballade Die Kraniche des Ibycus bilden, wurden die Götter nicht nur durch »Heldenspiel« und Wagenrennen verherrlicht, sondern auch durch »Schön geschlungne seelenvolle Tänze [...] um den prangenden Altar«. Die Götter waren mit »Siegeskränze[n]« geschmückt, und der Jubel »muntrer Thyrsusschwinger,/und der Panther prächtiges Gespann/meldeten den großen Freudebringer« als Mittelpunkt des dionysischen Festzugs. Götter und Menschen kamen sich durch Gaben und Genuß, Geschenke und Gastlichkeit, Vergnügen und »Freudetaumel« näher. Und während Franziskas Anblick wie der vom Himmel niederströmende Frühling und wie »Belebend Feuer« wirkt, das »jauchzende Naturen« füllt, sind bei den griechischen Festen alle Künste daran beteiligt, auf der Erde »das Feuer« zu verbreiten, das »Himmlisch und unsterblich war«, »in Pindars stolzen Hymnen flöß,/niederströmte in Arions Leier,/in den Stein des Phidias sich goß«. Mit dem »Gesetz der Schwere« und den »Stralen«, die »darnieder schlagen«, sind aber auch hier Gegenkräfte am Werk. Im Unterschied zu den Frauengestalten und ihrer göttlichen Ausstrahlung, die die Menschen von ihren Nöten befreien, können alle »Götter Griechenlandes« diese Gegenkräfte jedoch nicht bezwingen, sondern die »schöne Welt« fällt diesen selbst zum Opfer. So endet die

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erste Fassung des Gedichts mit einem schmerzhaften Aufschrei nach der »sanft'refn] Schwester« jener »ernstefn] strenge[n] Göttin«, »die den Spiegel blendend vor mir hält«. Das Gedicht Das Eleusiscbe Fest1 steht wie Das Siegesfest schon durch die Uberschrift im Zeichen festlicher Ereignisse. Es ist von zwei festlichen Strophen eingerahmt, deren daktylisches Versmaß sie von den anderen unterscheidet und in denen dazu aufgerufen wird, goldene Ährenkränze mit blauen Cyanen zu flechten: »Freude soll jedes Auge verklären,/Denn die Königin ziehet ein«. Die Schlußverse erinnern immer noch an die Gedichte auf Franziska: »Unser Gesang soll sie festlich erheben,/Die beglückende Mutter der Welt.« Wie die Göttin der frühen panegyrischen Lyrik wandelt auch Ceres unter den Menschen, entfesselt die Wachstumskräfte in der Natur und spendet den Segen. Sie erscheint als »Götterbild« bei dem »Siegesmahle«, einem barbarischen Fest, und nachdem Zeus das Opfer auf dem Altar unter Blitz und Donner entzündet und die Menschenmenge sich »gerührt zu der Herrscherin Füßen« geworfen hat, überläßt Ceres die Szene »Allefn] Himmlischen«, die »von ihren Thronen steigen« und in einem »Reigen« auf der Erde erscheinen. Dort verrichten sie zum Teil sehr anstrengende Arbeiten mit spielerischer Leichtigkeit und bauen den Menschen unter den Saitenklängen Apolls und bei dem Gesang der Musen eine Stadt: Schnell durch rasche Götterhände Ist der Wunderbau vollbracht, U n d der Tempel heitre Wände Glänzen schon in Festes Pracht.

Die Feierlichkeiten erreichen ihren Höhepunkt mit einer Hochzeit, dem Einzug der Götter und Bürger »In das gastlich ofne Thor« und der Versammlung um den Altar. Zu dem Hochzeitsfest naht die »Götterkönigin« »mit einem Kranz von Myrten«, Venus und Amor schmücken das Hirtenpaar und »Alle Götter« beschenken es. Bei der Hochzeit handelt es sich um ein wiederkehrendes festliches Motiv in Schillers Werk; es ist noch zusätzlich dadurch herausgehoben, daß der Dichter in der geplanten Idylle, mit der die »sentimentalische [] Poesie über die naive« triumphieren sollte, die »Vermählung des Herkules mit der Hebe« darstellen wollte. 3 Aber auch die anderen festlichen Elemente — Tempel, Altäre, Heiligtümer, Götter, Lor-

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3

Unter diesem Titel nimmt es Schiller in seine Gedichtsammlung auf, im Musenalmanach für das Jahr 1799 veröffentlichte er es unter der Uberschrift »Bürgerlied;. Brief Schillers an Wilhelm von Humboldt vom 29. [und 30.] November 1795. N A 28, 119.

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beer und Kränze, Nektar, Kelche und Pokale, Gastlichkeit und Bewirtung und vor allem die Sänger — kommen einzeln oder in mancherlei Formen verbunden vielfach vor, so daß Fest und Feierlichkeit als besondere Merkmale von Schillers Lyrik gelten müssen. Festliche Szenerien sind jedoch nicht nur ein wichtiger Bestandteil von Schillers lyrischer Phantasie, sondern der Dichter nutzt deren prägende Kraft auch auf dem Theater. Maria Stuart erscheint im Schlußakt »weiß und festlich gekleidet« in einem Zimmer, dessen Hintergrund vorher mit »goldne[n] und silberne[n] Gefäße[n], Spiegelfn], Gemälde[n] und andere[n] Kostbarkeiten« angefüllt worden ist. In der Braut von Messina kommt der Chor des Don Manuel »in festlichem Aufzug, mit Kränzen geschmückt«, in den Garten und begleitet die Brautgeschenke für Beatrice; im Fiesko, in den Piccolomini und in der Jungfrau von Orleans spielt das Geschehen zum Teil in festlich erleuchteten oder geschmückten Sälen; in Szene IV/6 der Jungfrau zieht der Krönungszug in die Kathedralkirche, ohne daß ein Wort gesprochen wird, 4 und im 10. Auftritt dieses Aktes tritt der König im Krönungsornat aus der Kirche. Im Demetrius wollte Schiller noch einmal einen Festzug, den Einzug in Moskau, als »Hauptscene des Stücks in Rücksicht auf stoffartiges Intereße« darstellen, und obwohl diese Szene düsterer und kriegerischer sein sollte als der Krönungszug in der Jungfrau, sind ihre wesentlichen Elemente doch »öffentliche Freude« und die Pracht goldener Kuppeln, eines Triumphbogens und reichgeschmückter Pferde (Szenar. N A 11, 219f.). Benno von Wiese geht sogar so weit, die klassische Tragödie Schillers unter dem Begriff des Festspiels abzuhandeln. 5 Auf die Vorstellung des Dichters vom Theatersaal, wie dieser sie im Prolog zum Wallenstein äußert, könnte er sich durchaus berufen. Den Saal hat nämlich Die Kunst zum heitern Tempel ausgeschmückt, U n d ein harmonisch hoher Geist spricht uns Aus dieser edeln Säulenordnung an, U n d regt den Sinn zu festlichen Gefühlen.

Daß der Einfluß der höfischen Feste auf das Werk Schillers unterschätzt wird, liegt zum einen an dessen bissigen Urteilen über die Zeit auf der Karlsschule und ihren Spiritus rector, denen aber auch wohlwollende Ein-

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»Stillschweigen« kündigt mehrmals herausragende Szenen in Schillers Dramen an, etwa die jeweils vorletzten Auftritte in >Kabale und Liebe< und >Don Karlos< mit dem Tod Luises und dem Gespräch zwischen dem Großinquisitor und Philipp II. Die Wirkungen des »Stillschweigens« erläutert Schiller auch in seinem Aufsatz >Vom Erhabenen< (vgl. N A 20, 189). Das 24. Kapitel seines Schiller-Buches trägt die Überschrift >Tragödie und Festspiel< (Benno von Wiese: Friedrich Schiller. Stuttgart 1959, S. 711-776).

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Schätzungen gegenüberstehen,6 und zum anderen an Erinnerungen an die häßlichen Seiten dieser Festlichkeiten. So schreibt er am 25. Mai 1783 an seinen ehemaligen Mitschüler Wilhelm von Wolzogen, für dessen Mutter er sich zum Geburtstagsfest in Bauerbach »selbst etwas auszudenken« gewünscht hat: »Man denkt sich dabei so gern gewise Festivitaeten, die Sie so gut kennen als ich, und welche alle ihnen ähnliche für die Zukunft durch eine garstige Assoziazion angestekt haben.« (NA 23, 90) In dem Hochzeitgedicht an Henriette klagt er: »Oft weint die Tugend an den Festen,/Die das gekrönte Laster hält«. Und er zieht die Konsequenz: »Ich fliege Pracht und Hof vorüber [...]« Aber in dem Satz aus dem Brief an Wolzogen schwingt neben der offenkundigen Ablehnung der höfischen »Festivitaeten« auch Bedauern mit, daß sie »alle ihnen ähnliche [...] angestekt haben«. Grundsätzlich unbrauchbar sind »ihnen ähnliche« Festlichkeiten also nicht. Ihre große Anziehung auf Schiller zeigt sich vielmehr gerade darin, daß sie trotz der »garstigefn] Assoziazion« ein wichtiges Gestaltungsmittel seiner Dichtung geworden sind. Auch daß die Tugend weint und »das gekrönte Laster« die Feste feiert, entwertet diese nicht in ihrem Kern, sondern wegen ihres Anlasses und wegen der fehlenden moralischen Substanz, die für den Dichter später — im Aufsatz Ueber das Pathetische — aber gar nicht mehr ausschlaggebend ist, denn »Laster, welche von Willensstärke zeugen«, stellen eine größere ästhetische Kraft dar als »Tugenden, die eine Stütze von der Neigung entlehnen« (NA 20, 220f.). Die ästhetische Kraft der höfischen Festlichkeiten mußte Schiller nur von den vergöttlichten Fürsten und ihrem verherrlichten Wirken auf seine eigenen Ideen lenken, er mußte »eine einzige Umkehrung der Maximen« vornehmen, von der die ästhetische Kraft unberührt bleibt und die mit derjenigen des »consequenten Bösewicht[s]« verglichen werden kann, durch die er den schlimmen Charakter auf der Bühne rechtfertigt (NA 20, 221). Freilich darf man nicht so weit gehen, die höfische Welt mit dem Laster gleichzusetzen und die dort empfangenen lebendigen Sinneseindrücke nur im Gegensatz zu dem humanistischen Engagement des Dichters zu sehen, denn feiert er am Ende des Mannheimer Vortrags über die Wirkung der Schaubühne nicht die von seinem Jugendfreund Friedrich Wilhelm von Hoven in den Lebenserinnerungen beschriebene »Geistesstimmung, welche sie [die Zöglinge] aus der Akademie in das gesellige Leben mitbrachten«, die darin bestand, daß »sie keine Idee von privilegierten Ständen [hatten]« und

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Vgl. die Ankündigung der >Rheinischen Thalia< ( N A 22, 93ff.) und die Briefe Schillers an Körner v o m 10. Dezember 1793 und 17. März 1794 während der Reise nach Württemberg (Jonas 3, 4 1 5 und 426f.).

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»zu Weltbürgern erzogen [waren]«, und die dazu führte, daß sie überall »zur Vertilgung des damals herrschenden Kastengeistes beigetragen« und »ihre weltbürgerlichen Grundsätze geltend gemacht« haben? 7 Bei Schiller heißt es: »Und dann endlich — welch ein Triumph für dich, Natur — [...] — wenn Menschen aus allen Kraisen und Zonen und Ständen, [...] ihrer selbst und der Welt vergessen, und ihrem himmlischen Ursprung sich nähern« (NA 20, 100). Sollten die für ihre Zeit erstaunliche »Geistesstimmung« der Akademie und die Feste, wo sich die Stände in einem repräsentativen Rahmen begegneten, auf Schiller keinen Eindruck gemacht haben, wenn er es als unbezweifelbares Verdienst der Schaubühne bezeichnet, »unter allen Erfindungen des Luxus, und allen Anstalten zur gesellschaftlichen Ergözlichkeit den Vorzug« zu verdienen, sie als diejenige Einrichtung hinstellt, wo gegensätzliche Interessen und unterschiedliche Kräfte sowohl im einzelnen Menschen als auch in der Gesellschaft harmonisch zusammenfinden, und schließlich die » E i n e [ ] Empfindung« feiert, »ein M e n s c h zu seyn«, mit der das große Thema seines Dichtens und Denkens angeschlagen ist? Wie sich die Umkehrung der höfisch-festlichen Motive vollzieht, wie Schiller sie vom »gekrönte[n] Laster« löst und mit der Tugend in Verbindung bringt, läßt sich an dem Hochzeitgedicht an Henriette verfolgen: Auch hier sind »Jubeltage« der Anlaß für das Gedicht, aber die Leier des Dichters muß nicht mehr zum befohlenen Preis der »schlimmen Monarchen« erklingen, sondern sie begleitet »warme Lieder« für die Braut, die »Vom Herzen strömen« und deren Weisheit »aus Deines Freundes Brust« kommt; nicht mehr falsche »Erdengötter« oder eine göttergleiche Franziska werden besungen, sondern die göttlichen Züge sind in Mutter und Tochter angedeutet; die Liebe der Mutter zum Kind ist stärker als der Wille, »Die Herrscherin der Welt zu scheinen«; die »jauchzende[] Gebärde« gilt dem Kind, »Die Krone wirft sie auf die Erde«; an die Stelle von »Ziererey«, »Rang und Ahnen«, wie sie der Hof kennt, wo für Natürlichkeit kein Raum bleibt, setzt Schiller den Adel des »reine[n] Herzfens]« und »Ahnen«, die dem Menschen »die Empfindung« gegeben hat; der »Adelbrief« ist nun ein »schönes Leben«, gekennzeichnet von Tugend und Güte. Diese Wendung vom äußeren Glanz zur inneren Schönheit der Seele findet in dem Festgedicht Die Priesterinnen der Sonne tatsächlich statt: »Der Sonne Dienst« hört auf, »Altar und Tempel stürzen ein«, die Fackeln werden gelöscht, aber alles wird wieder erneuert, als die Wohnung der Gottheit gefunden ist: in den »schönen Seelen« zweier — »Fürsten-Töchter«.

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Friedrich Wilhelm von Hoven: Lebenserinnerungen. Textrev. u. Anm. von Hans-Günther Thalheim und Evelyn Laufer. Berlin 1984, S. 76f.

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Auch die bekannten Gedichte Schillers enthalten Spuren, die in die höfische Welt und zu ihren Festen zurückführen. So ist in den Göttern Griechenlandes von der »stillefn] Majestät« des Helios und »seine[m] goldnen Wagen« die Rede, von Palästen, denen die Tempel der Götter gleichen, von Kronen, die deren »duftend Haar« schmücken, und von dem »umgestürzte[n] Thron« des Saturn; im Eleusischen Fest vom Einzug und von der »göttliche[n] Lehre« der Königin, vom »Königsitze« des Menschen, von Zeus als dem Herrscher »über alle/Götter«, vom »Götterheer«, das Minerva anführt und dem sie auch Befehle erteilt, von den »Herrscherschritte[n]« dieser Göttin, schließlich von der »Götterkönigin« und vom »Reigen« der »Himmlischen«, die »von ihren Thronen steigen«. Diese festliche Atmosphäre, in der Schiller die griechische Mythologie darbietet, muß allerdings nicht allein durch die höfische Tradition vermittelt worden sein. So bezeichnet Winckelmann den griechischen Himmel als den »Quell der Fröhlichkeit in diesem Lande, und diese erfand Feste und Spiele, und beide gaben der Kunst Nahrung [...]«. 8 Aber die Feste und Spiele der Griechen waren auch ein beliebter Gegenstand für die Opern- und Ballettaufführungen am württembergischen Hof. Das Ballett Der Tod des Herkules etwa, das am 10.1.1779, dem Geburtstag Franziskas, aufgeführt wurde und das Schiller folglich gesehen hat, 9 beginnt nach Uriots Beschreibung der Feyerlichkeiten anläßlich des herzoglichen Geburtstags 1763 mit einem Fest, »bey welchem Herkules selbst die Preiße vor die Kämpfer und Tänzer aussezet« und den Sieger mit dem gewonnenen Preis bekrönt. 10 Diese Entree sei »so schön« nach den Kenntnissen über Gymnastik und Ringkampf im antiken Griechenland eingerichtet gewesen, »daß man würklich glaubte, jene beruffene Athleten vor sich zu sehen, welche bey den Olympischen Spielen um den Preiß kämpften«. Das im weiteren Verlauf des Balletts folgende Schauspiel des Opferzuges zum heiligen Hain habe »jenen Pomp und jene Majestät« geboten, »mit welcher die grossen Opferfeste des alten Griechenlandes begleitet waren«. 11

8

Johann [Joachim] Winckelmann: Geschichte der Kunst des Altertums. 4. Buch, 1. Kap., § 5. In: J. J. Winckelmanns sämtliche Werke. Hg. von Joseph Eiselein. Donauöschingen 1825. Bd. 4, S. 9. ' Vgl. Peter Michelsen: Der Bruch mit der Vater-Welt. Studien zu Schillers »Räubern«. (16. Beiheft zum Euphorion) Heidelberg 1979, S. 30f., und Rudolf Krauß: Das Stuttgarter Hoftheater von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart. Stuttgart 1908, S. 81. 10 Joseph Uriot: Beschreibung der Feyerlichkeiten welche bey Gelegenheit des Geburtsfestes Sr. Herzogl. Durchlaucht des regierenden Herrn Herzogs zu Würtenberg und Teck, etc., etc. den I l t e n und folgende Tage des Hornungs 1763 angestellet worden. Stutgard 1763, S. 67. 11 Ebd. S. 72.

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Glanzpunkte setzten die griechischen Götter an dem besonders aufwendigen und prunkvollen Fest, das der Herzog am siebten Tag der Feierlichkeiten anläßlich seines Geburtstags 1763 in Ludwigsburg veranstalten ließ. 12 Abziehende Wolken gaben den Blick auf den Olymp frei, der die Mitte des im Schloßhof aufgebauten »Palast[es] der Pracht« bildete. Diesen 8 0 x 8 0 Meter großen, mehrstöckigen, raffiniert angelegten und ausgestatteten, mit Gold und Marmor bemalten Palast mit Säulengängen und tempelartigen Räumen, »den Apoll in dem nehmlichen Augenblike mit dem glänzenden Feuer seiner Strahlen erfüllete«, schmückten Medaillons der Tugenden, Festons, mit Blumen dekorierte und bekränzte Vasen und andere Zieraten, mehrere hunderttausend Kerzen oder Lampen erleuchteten ihn und gedeckte Tafeln erwarteten die Gäste. Auf den oberen Wolken des Olymps waren Jupiter, der das Fest zu Ehren des Herzogs veranstaltete und dessen Macht den Palast geschaffen hatte, Apoll, der in den Palast einlud, und Merkur zu sehen, etwas tiefer Saturn, Neptun und Pluto und auf den Felsen die Gottheiten der Erde, Ceres, Pan, die Faunen und die Waldgötter. Sie waren verkleidete Sänger, »und Herr Guibal hatte allen Einsichten seiner Kunst aufgebothen, sowohl sie, als die Elementen und Jahreszeiten auf das genaueste nach der Uebereinstimmung mit der Fabellehre und dem Alterthume zu kleiden«. Das Feuer stellten Zyklopen dar, deren Aussehen und deren Hammerschläge auf dem Amboß »das Andenken jener Werkstätte des Vulkans [erwekten], so die Poeten in die Gegenden des Berges Aethna verlegt hatten«; später begleiteten die Zyklopen, brennende Fackeln in den Händen tragend, den unter »gewaltige[m] Lermen« herbeieilenden Vulkan, der seinen Beitrag zu dem Fest mit einem großen Feuerwerk leistete. Als Höhepunkt, während des Gesanges der Götter, »erhob sich die Venus, mit sechszehn Liebesgöttern umringet, unter welchen ihr Sohn vorzüglich kenntbar war, mitten auf der Tafel, durch Hülfe einer Maschine [...]« Die Göttin besingt »[d]ie Macht der Schönheit«, bezeichnet sich selbst als »die Seele der Welt« und fragt rhetorisch: »Was ist es, das Götter und Helden bezwinget? Was Übertrift selbst die Macht der Unsterblichen, als die Schönheit?« Diese sogar die Götter überwältigende Macht der Schönheit beschreibt Schiller in dem Gedicht Nänie mit fast den gleichen Worten: »das Schöne« ist es, »[d]as Menschen und Götter bezwinget«, aber es muß sterben, und seine Macht über die Unsterblichen äußert sich dadurch, daß alle Götter und Göttinnen um es weinen. Das Anthologie-Gedicht Der Triumf

12

Ebd. S. 89ff. Vgl. auch Albert Pfister: Hof und Hoffeste. In: Herzog Karl Eugen von Württemberg und seine Zeit. Hg. vom Württ. Geschichts- und Altertums-Verein, Bd. 1, Eßlingen 1907, S. 1 0 4 - 1 0 8 .

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der Liebe durchzieht dagegen festliche Hochstimmung; es setzt sich aus einer Reihe von mythologischen Bildern zusammen, die in Verbindung mit dem Schauspiel der Natur, den Elementen und der Jahreszeit des Frühlings einen Eindruck von den künstlichen Welten vermitteln können, die dem sinnlichen Vergnügen der Hofgesellschaft dienen sollten. Venus und »Gott Amor Ueberwinder« beleben in dem Schillerschen Gedicht Herz, Seele und Empfindungsvermögen der Menschen, die Liebe beherrscht auch hier Menschen und Götter und macht sie dadurch einander gleich. Die Macht der Liebe und des Gottes Amor wurde auf dem Höhepunkt des Ludwigsburger Festes deutlich genug unter Beweis gestellt: Der Knabe schoß einen Pfeil gegen die Mauer des »Palastfes] der Pracht«, worauf sich der Vorhang eines Schauspielsaales öffnete, in dem das Schäferspiel Der Sieg des Amors nach dem Text des Hofdichters Tagliazucci und mit der Musik Jomellis zu sehen und zu hören war, eingeleitet von einem »galanten Ballett« von Noverre und beendet mit Reihentänzen der Schäfer und Schäferinnen Cyperns. Dieses Spiel wurde am 13. Tag der Geburtstagsfeierlichkeiten auf der Stuttgarter Opernbühne wiederholt. Uriot erwähnt es unter einem anderen Titel: — der Triumph der Liebe. Obwohl die Feste Karl Eugens in den 70er Jahren, als Schiller auf der Karlsschule war, nicht mehr so verschwenderisch gefeiert wurden wie im vorangegangenen Jahrzehnt und meistens auch aus anderen Anlässen, nicht zuletzt deshalb, weil der Herzog mit der Schule eine neue Einrichtung geschaffen hatte, in der sich seine Größe und sein Ruhm spiegeln konnten, obwohl die bekanntesten Künstler Stuttgart verlassen hatten und Zöglinge seiner Schule an ihre Stelle treten sollten, besteht eine Kontinuität, sowohl personell als auch durch die aufgeführten Werke und die Mittel der sinnlichen Veranschaulichung. Uriot und der Hofmaler Guibal unterrichteten als Lehrer an der Karlsschule, hatten sich aber auch weiterhin um die Festlichkeiten zu kümmern, festliche Aufführungen auszudenken oder Texte dafür zu schreiben. Der Tänzer Balletti, den Uriot in der Beschreibung von 1763 mehrfach lobend erwähnt, wirkte später bis zu seinem Tod 1775 als Ballettmeister und Choreograph, und der bedeutende Theatermaler Scotti, der zur Zeit der großen Feste und des glanzvollen Musiktheaters am württembergischen Hof mit dem Theaterarchitekten Colomba zusammengearbeitet hatte, dessen »fruchtbarefr] Künstlerphantasie [...] die herrlichen Ausstattungen der Opern Jomellis und der Ballette Noverres fast ausschließlich entsprungen [sind]«,13 entwarf noch 1775 die Dekorationen für zwei festliche 13

Rudolf Krauß: Das Theater. In: Herzog Karl Eugen von Württemberg und seine Zeit, Bd. 1, S. 515.

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Ballett- und Opernaufführungen durch Schüler der Militär-Akademie. Wie das Ballett Der Tod des Herkules zeigt, blieben die Werke Noverres lange im Repertoire, sie waren sehr beliebt, die besten unter ihnen wurden häufig wiederholt, »und man griff auch noch auf sie zurück, nachdem ihr Erfinder längst abgegangen war«.14 Entsprechendes gilt für die Opern. Außerdem konnten die ausführlichen Festbeschreibungen Uriots die denkwürdigen Ereignisse auch denen vermitteln, die sie nicht gesehen haben — 1763 bezeichnet er dies als »einzige Absicht« seines Buches. Und wenn die Karlsschüler 1779 Vorschläge anfertigen mußten, wie der Geburtstag des Herzogs in der Akademie feierlich zu begehen sei,15 so werden diese wohl kaum ohne einen Blick auf frühere Feste und ohne die Kenntnis von Uriots einschlägigen Texten geschrieben worden sein. Beispiele dafür, daß die 1763 inszenierten Werke des Musiktheaters noch eineinhalb Jahrzehnte später aktuell waren, sind die Oper Die verlassene Dido von Jomelli nach dem Text Metastasios und die den einzelnen Akten folgenden Ballette von Noverre, für die dieser selbst Programme verfaßt hat, die Uriot mehrfach rühmt. Zwei dieser Ballette, Medea und Jaso nach der Musik von Rudolph und Orpheus und Eurydice nach derjenigen Dellers, hängen mit der Oper gar nicht zusammen, so daß sie später ganz anderen Werken zugeordnet wurden: das eine am 10.1.1779 der Oper Calliroe, das andere am 10.1.1778 der Oper Demofoonte.Xb In dem Ballett Orpheus und Eurydice stellten 18 Tänzer und Tänzerinnen die »glüklichen Schatten« dar, zwölf andere den Hof des Pluto; am Ende erschienen, über die mythologische Tradition hinausgehend und von Noverre erfunden, Bacchus und Amor mit einem »Trup Dryaden oder Bacchantinnen und eine[r] gleichefn] Anzahl Faunen oder Waldgötter, alle mit Tambourins in der Hand«, und vereinigten sich mit den vorher eingezogenen Schäfern: »Ein Chor zusammen, welches das Fest der Bacchanalien der Alten in seinem ganzen Pompe darstellte.«17 Den Abschluß der Oper, deren Dekorationen von Colomba unter anderem den Tempel Neptuns und die Paläste der Dido und des Kreon zeigten, bildete das dritte Ballett Der Sieg des Neptuns, das »in gewisser Art mit der Oper selbst zusammen [hieng]«. Es tanzten »alle[] Gottheiten des Meeres und der Flüsse«, »die sich auf den

14 15

16 17

Ebd. S. 512. Unter den Akten der Hohen Carlsschule, die im Hauptstaatsarchiv in Stuttgart (im folgenden: HStA) aufbewahrt werden, befinden sich 167 handschriftliche Vorschläge von Kavalierssöhnen und Eleven (Signatur A 272 Büschel 14). Vgl. Krauß: Das Theater, S. 538f., und Krauß: Stuttgarter Hoftheater, S. 81. Uriot: Beschreibung, S. 49f. Vgl. auch Hermann Abert: Die dramatische Musik. In: Herzog Karl Eugen von Württemberg und seine Zeit, Bd. 1, S. 583ff.

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Befehl Neptuns beeifern, die Feyerlichkeiten dieses grossen Tages durch ihre Reihen zu krönen«. 1 8 V o r h e r brennen jedoch Karthago und der Palast der D i d o , die sich in die Flammen stürzt; das durch einen Sturm angefachte Feuer kämpft mit den »wütend« heranrollenden Wellen des aufgepeitschten Meers, »und dieser tobende Streit der zwey fürchterlichsten Elementen unterhält den Zuschauer in einem bebenden Schrecken«. Diesen Affekt erzeugt das Bild der beiden Elemente auch in Schillers Ballade Der

Taucher,

w o es in den berühmten Versen wiederholt heißt: Und es wallet und siedet und brauset und zischt, Wie wenn Wasser mit Feuer sich mengt, Bis zum Himmel sprützet der dampfende Gischt, Und Flut auf Flut sich ohn Ende drängt. N a c h diesem Schauspiel heiterte sich der Opernhimmel auf, »die Sonne erleuchtet die Gegend mit ihren Strahlen«, und man sah den Palast des Neptun aus den Wellen emporsteigen, dessen G r ö ß e und Pracht Erstaunen erregte. Neptun selbst erschien »auf seiner von Meerwundern gezogenen glänzenden Muschel«, »und sein Hofstaat, der aus verschiedenen C h ö r e n von Meergöttern, Nereiden und Syrenen bestand, alle nach ihrer Art auf das Glänzendste gekleidet, gab diesem Schauspiele vollends eine pompreiche Majestät«. D e r G o t t befahl »denen seiner Bothmäsigkeit unterworffenen Gottheiten, sich zu einem Feste zu vereinigen«, so daß »der Zuschauer das Schiksal der unglücklichen Königinn von Karthago vergaß, und sich seiner Entzükung ganz überließ«. D i e O p e r Dido

wurde 1777 zum Geburtstag

Franziskas mit Eleven neu einstudiert und am 8. April dieses Jahres sogar vor Kaiser J o s e p h II. aufgeführt; dieses herausragende Ereignis am Stuttgarter H o f hat gewiß auch in der Karlsschule Furore gemacht, zumal dem Kaiser die Vorstellung so gut gefallen haben soll, daß er um eine Abschrift der Partitur bat, worauf ihm der H e r z o g das Originalmanuskript Jomellis schenkte. 1 9 D e n Abschluß der Geburtstagsvorstellung bildete aber nicht mehr das Ballett Der Sieg des Neptuns,

sondern eine Fete allegorique

aus

gesprochenen Texten, Arien, Chören und Balletten, mit einer Reihe von G ö t t e r n , den Allegorien der Zeit und des Schicksals und dem V o l k als Akteuren und vor allem mit beeindruckenden Dekorationen: alles sollte Franziska verherrlichen. Das bei C o t t a zweisprachig in Französisch und Italienisch gedruckte kleine Festspiel mit dem vollständigen Titel Fete

gorique pour celebrer le jour de naissance de Son Excellence Madame

18 19

Uriot: Beschreibung, S. 40 und S. 54ff. Krauß: Das Theater, S. 538f., und Krauß: Stuttgarter Hoftheater, S. 81.

alle-

la

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Comtesse de Hohenheim, executee sur le grand theatre de Stoutgard, a la suite de I'opera de Didon, par les eleves musiciens et danseurs de l'Academie Ducale-Militaire et de l'Institut d'Education. Le 10. Janvier 1777. Par ordre de Son Altesse Serenissime Monseigneur Le Due Regnant de Wurtemberg, et Teck etc. etc. hat Uriot verfaßt, die Musik stammt von dem Kapellmeister Boroni und die Tänze entwarf der Ballettmeister Saunier. Auch diese Fete allegorique verbreitet nach Unglück und Verzweiflung Freude und Vergnügen; den Kontrast zu den verzehrenden Flammen, in die sich Dido gestürzt hat, erzeugt hier eine entzückende Landschaft mit den Göttinnen Flora und Pomona und beider Gefolge. Den drastischen Umschlag der Szenerien und Gefühle veranlaßt Iris, die auf einem Regenbogen aus den Lüften herabsteigt, als Botin der Götter. In der zweiten Szene teilt der herbeigeeilte Merkur den Bewohnern dieser Gefilde den Auftrag Apollons mit, daß der Tag des Glücks mit dem glänzendsten Gepränge zu feiern sei und daß Freude in allen Augen leuchten solle. Der Götterbote besingt die Liebe als Ursprung des unermeßlichen Entzückens, und alle folgen ihm und Iris zu den Klängen eines Marsches, der die lebhafteste Begeisterung ausdrückt. In der nächsten Szene verwandelt sich das Theater in den Palast des Apollon, der auf seinem Thron sitzt und dann herabsteigt, wenn Iris und Merkur das Volk in den Palast geführt haben. Die Allegorien der Zeit und des Schicksals sowie Aurora und die Hören, die vorher auf den Stufen des Throns postiert waren, gehen dem Gott voran. Er stellt sich am Rand des Theaters zwischen die Allegorien und schickt sie, nachdem Aurora und die Hören ein Ballett getanzt haben, als seine treuen Freunde mit dem Auftrag weg, den Eifer der Schönen Künste zu entfachen, damit jede für sich Ehre einlege bei der Verwirklichung seines Projekts. Im nächsten Augenblick erhebt sich ein prächtiger Tempel, der beim ganzen Volk Erstaunen und Bewunderung erregt. Mit einer Arie widmet Apollon diesen Tempel in seinem Palast der schönen Seele (»belle Arne«) der geschätzten Sterblichen, damit deren außerordentliche Güte, die sie mit der Geburt erhalten habe, allen Menschen als Beispiel diene. Um die Reinheit Franziskas zu ehren, entzünden die Zephire auf dem Altar des Tempels das schöne Feuer der Liebe und der Freundschaft. Es lodert als glänzende Flamme aus einer Vase auf einem antiken Dreifuß, den die Zephire durch die Lüfte herbeigetragen und auf den Altar gestellt haben. Auf der Vase sind im Tiefrelief ein Schaf, ein Hund und zwei Tauben als Symbole der Sanftheit, der Treue und der Liebe dargestellt. Der Chor bringt die übergroße Freude aller mit seinem Gesang zum Ausdruck und feiert das würdige Objekt von Apollons Liebe. Nach einem Ballett fordern Iris und Flora, im Duett singend, zuerst die Hören auf, für die Geehrte alle Lieblichkeiten der lebendigen und aufrichtigen Freund-

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schaft zusammenzutragen, und dann das Schicksal, ein so kostbares Leben zu erhalten und alles zu tun, daß in der Seele Franziskas Freude und Glück beständig regieren. Das Schicksal nimmt die Binde von den Augen, zieht aus seiner Urne ein Papierbündel und zeigt es Apollon, der es an sich nimmt und dabei Iris und Flora ein Zeichen gibt, es zum Altar zu bringen. Dort ist im selben Moment eine Inschrift zu lesen: Auf daß sie sich der Gunstbezeigungen des Schicksals allzeit erfreuen möge. Das Volk, das diese Inschrift sieht, bezeugt durch Freudengesten, daß es denselben Wunsch hegt, und die Zeit bricht ihre Sense entzwei und wirft sie weg. Der Schlußchor trägt die von den Göttern eigentlich schon erfüllten Wünsche noch einmal vor, und das abschließende »Ballet general« endet mit der Wiederholung dieses Chores, der gesungen und getanzt wird. Diese Fete allegorique, ein eindrucksvolles Erlebnis für Augen und Ohren, dient zwar dazu, die schöne Seele Franziskas und die Zuneigung und Begeisterung des Volks in übertriebener Weise darzustellen, aber zu diesem panegyrischen Zweck werden Mittel der sinnlichen Anschauung aufgeboten, die von großer Eindringlichkeit sind und allein deshalb, jenseits aller Fragen nach Wahrheit und Moral, auf den jungen Schiller anziehend gewirkt haben müssen. Die Götter sind auch in seiner Lyrik, auch in derjenigen der klassischen Zeit, nicht in erster Linie dazu da, als Vollkommenheit — wenn nicht religiös-moralisch, so doch ästhetisch — vom Menschen verherrlicht zu werden, sondern, gerade umgekehrt, dazu, ihrerseits den Menschen zu feiern, Sterbliche auszuzeichnen und prächtige Bauwerke für ihn zu errichten. Durch »Götterhände« entsteht im Eleusischen Fest die Stadt, und die Götter schmücken und beschenken das Hochzeitspaar; in dem Gedicht Das Glück bezeigen die Götter ihre Gunst einem Menschen, den sie lieben, »um den sterblichen Mann [beweget sich] der große Olimp«; Der Besuch der Götter gilt dem Dichter, den Hebe aus der Nektarschale trinken läßt, wodurch er zum Olymp emporgehoben, in die Götterrunde aufgenommen und der »Freude« in »Jupiters Saale« teilhaftig wird; nach der Theilung der Erde hält Zeus dem Dichter seinen Himmel offen. Freude und Begeisterung sind Antriebskräfte oder Wirkungen auch in vielen von Schillers Gedichten, Erstaunen und Bewunderung werden auch in ihnen erregt. Paläste, Tempel und Altäre gehören ebenso zu den Bildern, die Schiller gern verwendet, wie die tanzenden Hören. Allegorische oder poetische Attribute und sinnfällig-bedeutsame Gesten, zu denen sich große Ereignisse verdichten, sind ein wichtiges Ausdrucksmittel seiner Lyrik. So bricht in dem Gedicht Gruppe aus dem Tartarus die Ewigkeit die Sense des Saturn entzwei, die in der Fete die Allegorie der Zeit, von einem Mann dargestellt, bei sich hatte, und in dem Gedicht Vorwurf — an Laura stellt sich das lyrische

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Ich vor, »Daß dereinst an meinem Monumente/ [...] Chronos Sense splitternd niederfiel —«. Eine ganze Reihe eindringlicher Gesten enthält der zweite Teil des Gedichts Poesie des Lebens, an dessen Ende »Cytherens Sohn«, Amor, »die zauberische Binde« »Von seinen Augen nimmt«, so daß »die Liebe« »in ihrem Götterkinde« nur noch »Den Sterblichen« sieht, »erschrickt und flieht«. Amor erscheint hier nicht wie in dem AnthologieGedicht Der Triumf der Liebe als »Ueberwinder«, der den Stein belebt, sondern ohne »zauberische Binde« sieht er sich von einer Welt des Todes umgeben, aus der die Schönheit gewichen ist. Das Ende der schönen Welt bringen Bilder vom Ende eines Festes zum Ausdruck: D e r M u s e n Spiel v e r s t u m m t , es r u h n der H ö r e n T ä n z e , Still t r a u r e n d n e h m e n ihre K r ä n z e D i e Schwester Göttinnen [ H ö r e n und Grazien] v o m schön gelockten H a a r , A p o l l z e r b r i c h t die g o l d n e L e y e r , U n d H e r m e s seinen W u n d e r s t a b .

Die Feste, bei denen die Karlsschüler selbst neben dem Herzog im Mittelpunkt standen, waren die Jahresfeiern der Militär-Akademie, die jeweils am 14. Dezember, dem Stiftungstag, begangen wurden. Uber den Ablauf dieser Jahrestage, die als feierliche Höhepunkte die Prüfungen abschlossen, informieren gedruckte Beschreibungen aus den Jahren 1773 —1782,20 die, wie Uhland erwähnt, Nast verfaßt hat.21 Neben einem Bericht über den Prüfungsverlauf und die Feierlichkeiten enthalten sie den Prüfungsplan, die Liste der Preisträger, die Jahrestagspredigten und die Reden der Lehrer und des Herzogs, der seine eigene nicht am festlichen Stiftungstag hielt, sondern vorher, zu Beginn oder am Ende der eigentlichen Prüfungstage. Die Beschreibungen haben immer denselben Aufbau und sind zum Teil bis in den Wortlaut hinein gleich, das Programm der Jahrestagsfeiern änderte sich kaum: Am Vormittag fuhr Karl Eugen, begleitet von Beamten, Offizieren, Gardisten zu Pferd und zu Fuß, Edelknaben und Hofdienern, in einem achtspännigen Staatswagen vom Neuen Schloß zum Akademiegebäude, wo ihn der Intendant Seeger, die Offiziere, Prüfer und Professoren empfingen. In der Akademiekirche feierte er dann mit den versammelten Karlsschülern einen Gottesdienst, der mit »Trompeten- und Paucken-Schall« und »mit musikalischer Absingung des Te Deum« begann. Nach dem Gottesdienst 20

21

Diese Beschreibungen befinden sich in der Württ. Landesbibliothek in Stuttgart und bei den Akten der Hohen Carlsschule im Hauptstaatsarchiv. Den folgenden Ausführungen liegen die Beschreibung des Siebenten [Neunten, Zehenden] Jahrs=Tags der Herzoglichen Militär=Akademie zu Stuttgard, den 14ten December 1777 [1779, 1780].< zugrunde. Robert Uhland: Geschichte der Hohen Karlsschule in Stuttgart. (Darstellungen aus der Württembergischen Geschichte 37) Stuttgart 1953, S. 175.

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besichtigte er mit dem Hof und fremden Besuchern die Schlaf- und Lehrsäle der Schule, wobei in den Kunstsälen die mit einem Preis ausgezeichneten Arbeiten der jungen Künstler »zu bewundern« waren. Der Inspektionszug endete im großen Speisesaal der Akademie, wo die Schüler vor dem Herzog, dem Hof und vielen Zuschauern, »aus allen Ständen« heißt es 1777, »in der schönsten Ordnung« aufzogen. Im Jahr 1780, als Schiller entlassen wurde, fand der »neue[] prächtige Speissaal« besondere Aufmerksamkeit, weil er »dismal noch besonders mit einigen neuen Platfond-Gemälden prangte, die theils von der Hand des berühmten Gallerie-Directors Guibal, theils von der Hand zweier akademischer Künstler und Schüler dieses Manns verfertiget waren«. Diese beiden Künstler waren Hetsch und Heideloff, die mit Schiller die Karlsschule verließen, die zu seinem Freundeskreis gehörten und die ihn auch gemalt haben. 22 Nach dem Mittagessen der Eleven wurde die herzogliche Tafel in dem Examinationssaal gehalten, anschließend zog Karl Eugen mit seinem Hof in den Weißen Saal des Neuen Schlosses, wo sich erneut die Akademie mit Vorgesetzten und Lehrern und eine große Menge von Gästen versammelt hatte. Am Anfang des eigentlichen Festaktes hielt einer der Professoren eine Rede, dann teilte der Herzog die Preismedaillen aus und verlieh die akademischen Orden. Es folgte die Bekanntgabe von Beförderungen, und am Ende »dieser feyerlichen Handlung« gab einer der Chevaliers für sich und seine »Mitbrüder« den »Empfindungen der tiefsten Ehrfurcht und Dankbarkeit« Ausdruck, wie Schiller in seinen Festgedichten für Franziska. Nach den nötigen Vorbereitungen fand im Weißen Saal ein »grosses Concert« der Eleven statt, und zum Abschluß des festlichen Tages hielt der Herzog wieder im Speisesaal der Akademie Nachttafel mit den Schülern, Vorgesetzten, Lehrern und Vätern »der Chevaliers und Cavaliers-Söhne«. Uber das Fest am Stiftungstag 1779, das »abermals eine unzählbare Menge frölicher Zeugen, fremder und einheimischer, lebhaft und glänzend machte«, schreibt der Chronist, daß es »jeder vernünftige Zuschauer [...] höher schätzte, als alle Königliche Feste, welche der Wiz der Menschen zur Belustigung der Sinne erfinden kan«. Der Grund für diese hohe Wertschät12

Von Heideloff stammt die Handskizze »Schiller, 1778 im Bopserwald seinen Freunden die >Räuber< vorlesend« (vgl. Gustav Wais: Die Schiller-Stadt Stuttgart. Eine Darstellung der Schiller-Stätten in Stuttgart. Stuttgart 1955, Abb. 33), von Hetsch ein Schiller-Porträt von 1781 oder 1782 (vgl. Gero von Wilpert: Schiller-Chronik. Sein Leben und Schaffen. (Kröners Taschenausgabe 281) Stuttgart 1958, S. 45, und Friedrich Burschell: Friedrich Schiller in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, (rowohlts bildmonographien 14) Hamburg 1958, S. 37). Auch die Zeichnung »Schiller und Laura« wird Hetsch zugeschrieben (vgl. Bertold Pfeiffer: Die bildenden Künste unter Herzog Karl Eugen. In: Herzog Karl Eugen von Württemberg und seine Zeit, Bd. 1, S. 741).

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zung liegt auf der Hand: Der Herzog hatte sich einer »vernünftigen« Aufgabe zugewandt, und die höfischen Prachtentfaltungen erzeugten nicht mehr einen nur kurzlebigen Sinnenrausch, sondern feierten die pädagogische Einrichtung, die erzieherischen Ideen ihres Stifters und die dadurch bewirkten Fortschritte von Kunst und Wissenschaft. Der Berichterstatter bezeichnet das Institut im Jahre 1777, das der Besuch Kaiser Josephs II. »zur glänzendsten Epoche« der Militär-Akademie machen werde, als »in seiner Art einzig« und schließt »aus glücklichen Vorbedeutungen«, daß es »das Muster künftiger Erziehungsanstalten seyn wird«. Die jährlichen Prüfungen seien, wie die Jahrestagsbeschreibungen mehrfach erklären, »Denkmale des glücklichsten Fortgangs in Wissenschaften und Künsten«. Aber Muster und Denkmale sollen doch vor allem den Herzog verherrlichen, denn »diese grosse Anstalt« sei es, »die allein den Namen Ihres Stifters unsterblich machen kann«. Durch seine »unermüdete eifrige Bemühungen« »eilte« die Schule »der Vollkommenheit entgegen«, sie erlangte Größe, Ruhm und Bewunderung und damit auch ihr Gründer. Die Apotheose des Herzogs war also mit der Entwicklung der Karlsschule untrennbar und auf das engste verbunden. Das Institut war nicht irgendeine Einrichtung des württembergischen Hofes neben anderen, sondern dessen wichtigster Teil, und von diesem außerordentlichen Rang muß man ausgehen, wenn man die Schule und ihre prägende Kraft, der die Schüler ausgesetzt waren, richtig einschätzen will. Die herausragende Stellung der Akademie zeigt sich in vielem: Der Herzog machte sie zu seiner persönlichen Angelegenheit, kümmerte sich sowohl um die großen Leitlinien der Erziehung als auch um kleine, alltägliche Dinge und besuchte die Schule oft, nicht nur während der Prüfungen und am Stiftungsfest; er betrachtete sich als Vater der Zöglinge und sprach sie als seine Söhne an; die Schüler nahmen an den Festen teil, gestalteten sie mit, gaben Konzerte und führten Theaterstücke, Opern und Ballette auf. Dadurch wurden sie in den 70er Jahren zu den eigentlichen Trägern der höfischen Kultur. V o r allem und am deutlichsten tritt der einzigartige Rang der Karlsschule aber in jenen festlichen Stücken des musikalischen und gesprochenen Theaters zutage, die aus Anlässen, die nichts mit der Akademie zu tun haben, verfaßt worden sind und die gleichwohl dieses Institut, die dort verwirklichten pädagogischen Ideen und die Schüler zum Gegenstand haben. Eines dieser Festspiele, das Ballett Le Temple de la Bienfaisance,2i 23

führ-

Le Temple de la Bienfaisance. Ballet, donne par l'Academie-Militaire de la Solitude a l'occasion du retour de S.A.S. Monseigneur le Due Regnant de Wirtemberg et Teck etc. etc. et execute par les eleves de l'Academie, et de l'Institut d'Education. Le 8.me Mars M D C C L X X V . [Stuttgart 1775], (HStA A 272 Büschel 11/Nr. 21).

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ten die Eleven der Akademie und des Erziehungsinstituts am 8. März 1775 bei der Rückkehr des Herzogs im Theater auf der Solitude auf, wo sich damals auch noch die Schule befand. Die Idee und der französische Text dieses Balletts stammen von Uriot, die Musik komponierte Boroni, die Tänze entwarf Bailed und die Dekorationen Scotti. Im Prolog stellt die Bühne einen Platz vor den Akademie-Gebäuden dar, der Tag, an dem der Herzog zurückerwartet wird, bricht an, durch die Ouvertüre effektvoll unterstrichen, und in gesprochenen oder gesungenen Versen werden die Eleven geweckt und an die große Aufgabe erinnert, Fest und Huldigung zur Ankunft ihres Herrn vorzubereiten. Künste, Wissenschaften und Talente sollen zu diesem Zweck ihre Anstrengungen vereinen und die 28 Zöglinge, die das Orchester bilden, sich als würdige Nachkommen des Gottes der Harmonie selbst, Apollons also, erweisen. Nach einer Symphonie, die der Eleve Diether komponiert hat, sind auf der verwandelten Bühne die Gärten der Solitude gegenüber dem Lorbeersaal zu sehen. In deren Mitte erhebt sich ein Tempel, in dem die Statue des Herzogs aufgestellt ist, der eine brennende Fackel und mehrere Lorbeerkränze in den Händen hält. Auf dem Altar vor der Statue sind eine Menge entflammter Herzen aufgeschichtet, die in sonderbarer, aber einprägsamer Weise veranschaulichen, daß die Schüler ihrem Wohltäter Liebe und Dankbarkeit entgegenbringen. Diese Gefühle bekunden sie auch durch ihre Haltung, die sie in mehreren Gruppen auf beiden Seiten des Tempels einnehmen. Wenn eine Inschrift auf dem Altartisch verkündet: »Ii nous eclaire,/et nous anime«, so geschieht dieses vor allem durch die Erziehung und den Unterricht in der Akademie. Durch den Herzog, »Digne O b j e t de l'amour de ses heureux Sujets!«, sind Ruhm und Gelehrsamkeit vereint; »Par Lui s'anime le Genie. Les Arts & les Talents Lui doivent leurs progres«. U m der besseren sinnlichen Anschaulichkeit willen sind Wissenschaft und Künste als allegorische Figuren dargestellt, und zwar auf den vier Pilastern zweier Balustraden, die sich seitlich an den Sockel des Tempels anschließen. Die Allegorien der Geschichte, der Malerei, der Musik und des Tanzes verdeutlichen durch ihre Attribute, mit denen sie zu sehen sind, oder durch Gesten, daß sie für den Herzog, seine Tugenden — »Les Vertus regnent dans son Arne«, heißt es später —, seine Unsterblichkeit, seinen Unterricht und sein Vergnügen tätig sind. Das unterstreichen zusätzlich noch Inschriften auf den Postamenten. Die Figuren repräsentieren die Künste, die bei der Aufführung des Balletts selbst am Werk sind, die Anwesenheit der Geschichte ist dadurch begründet, daß es das süßeste Vergnügen des Herzogs sei, Titus, den wohltätigen römischen Kaiser, den die Römer als »amor et deliciae humani generis« bezeichneten, nachzuahmen. Die Wohltaten und der Ruhm werden in denselben Worten

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von Einzelstimmen, im Duett oder vom Chor, der durch gleichzeitige Tänze mehrmals eine zusätzliche Steigerung erfährt, immer wieder besungen. Zwischen den Gesängen tanzen Solisten oder das Ballettensemble, und in der Schluß-Entree weihen fünf Solotänzer, begleitet von zwölf Statisten, die Blumengirlanden tragen, im Tempel, zu Füßen der Statue des Herzogs, die verschiedenen Attribute derjenigen Wissenschaften und Künste, die in der Akademie unterrichtet werden. Nicht direkt auf die Karlsschule bezogen, aber deutlicher in der Begründung dieses Projekts bietet sich das als »Opera-Ballet allegorique« bezeichnete festliche Stück L'Amour fraternel dar, das im Juni 1775 anläßlich der Ankunft des Prinzen Friedrich Eugen und seiner Gemahlin auf der Solitude von den Schülern beider Institute aufgeführt wurde 24 und das wiederum Uriot, Boroni und Scotti ausgedacht und realisiert haben — Balleti war im April gestorben. Die Oper ist durch zwei Akte mit je sieben Szenen gegliedert, der erste spielt im H o f des Schlosses von Monrose, eines Gutsherrn, der zum Empfang seines Bruders Dorval und dessen Gattin Hortence ein Fest veranstalten will, das eine Gruppe junger Leute, um deren Erziehung er sich kümmert, vorbereitet. Constance, die Dame eines benachbarten, von düsteren Felsen und Wald umgebenen Schlosses, lobt »le plan ingenieux« von Monrose und wie er verwirklicht wird: »J'admire avec quel art, quel goüt, & quelle adresse/Vous employez ces jeunes Gens [...]« Monrose und Constance, die er bittet, ihm beim Empfang von Dorval und Hortence zu helfen, preisen sich gegenseitig und ihre Gäste; die Kammerzofe von C o n stance, Louison, singt davon, daß sie und ihre Kolleginnen von der »belle ame« ihrer Herrin bezaubert seien und »une Mere« gefunden hätten, »Qui nous cherit, qui nous eclaire«. Der Schauplatz des zweiten Aktes sind die Gärten des Schlosses, im Hintergrund ist ein Triumphbogen zu sehen, der aus drei Säulenhallen besteht und als Inschrift den Titel des aufgeführten Gesangs- und Tanzstückes trägt. Die brüderliche Liebe und die Gäste werden durch Gebärden, Gesänge und Tänze mit allen Möglichkeiten der Steigerung gefeiert, sogar ein Denkmal mit Monrose, der Dorval und Hortence in seinen Armen hält, ist der »amour fraternel« errichtet worden; Constance, mehrere Schüler und die Solotänzer behängen es mit Blumengirlanden. Bereits in seinen ersten Worten nennt Monrose den Genuß, im Frieden mit sich selbst zu leben, in einem Atemzug mit dem Glück, das er einer

24

L'Amour Fraternel. Opera-Ballet allegorique ä l'arrivee de S.A.S. Monseigneur le Prince Frederic de Wirtemberg et de S.A.R. Madame la Princesse Son Epouse, ä la Solitude, execute et represente par les eleves de l'Academie-Ducale-Militaire, et de l'Institut d'Education. Le Juin M D C C L X X V . [Stuttgart 1775],

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Schar junger Menschen befestige, die er liebe. Später, als Hortence fragt, wie er »dans cette Solitude« diese erstaunliche Menge an Wissenschaften, Künsten und Talenten zugleich vereinigen konnte, von der sie glaube, daß man sie in Königspalästen vergeblich suchen würde, gibt Monrose eine Antwort, in der das Verfahren, wie Karl Eugen seine Zöglinge auswählte, das pädagogische Credo des Herzogs und seine Wunschvorstellung, wie sich das Verhältnis zu seinen Schülern gestalten sollte, unverkennbar sind: D e s jeunes gens nes dans mon voisinage J ' a i pris les plus laborieux, Choisi les plus industrieux, Selon leur genie 8c leur age. Utilement j'occupe leur loisir; E t c'est toujours sous l'attrait du plaisir Q u e mon amour pour eux leur presente l'ouvrage Iis m'aiment, & me plaire est leur plus eher desir.

Ein Schüler bestätigt die Wohltaten des Monrose, die dieser sie genießen lasse, lebhaft gegenüber Hortence und Dorval und ergänzt: »Par lui tous nos jours sont des fetes;/Toutes nos fetes sont des jeux.« Das bekannteste unter den Stücken, welche die Karlsschüler und die Demoiselles des Erziehungs-Instituts aufführten, wurde Der Preiß der Tugend, in ländlichen Unterredungen und allegorischen Bildern von Göttern und Menschen zum Geburtstag Franziskas am 10. Januar 1779, 25 weil Schiller damals die kleine Rolle des Bauern Görge zu spielen hatte. Der Hinweis auf dem Titelblatt, daß das Stück auf Befehl Karl Eugens »durch Eleven der Herzoglichen Militär-Akademie auf und in Musik gesezt« worden sei, spricht dafür, daß es sich um eine »literarisch-kompositorische[] Gemeinschaftsarbeit« der Karlsschüler handelt, wie von Wilpert behauptet, wobei »Schillers Anteil am Textbuch ungeklärt« sei. 26 Derartige Gemeinschaftsarbeiten sind, wie sich an einem anderen Beispiel im weiteren Verlauf dieser Ausführungen zeigen läßt, tatsächlich angefertigt worden. Daß Balthasar H a u g der Verfasser sei, wie Bertold Pfeiffer annimmt, 27 ist auch deshalb 25

26 27

Der Preiß der Tugend, in ländlichen Unterredungen und allegorischen Bildern von Göttern und Menschen, zur Ehre der besten Frau, an Ihrem Geburts-Tag, Frau Francisca, ReichsGräfin von Hohenheim, gewidmet, auf gnädigsten Befehl Sr. Herzoglichen Durchlaucht durch Eleven der Herzoglichen Militär-Akademie auf und in Musik gesezt, und von ihnen nebst einigen Demoiselles des Erziehungs-Instituts dargestellt. Stuttgard, den 10. Januar 1779. [Stuttgart 1779], (HStA A 272 Büschel 11/Nr. 29). Von Wilpert: Schiller-Chronik, S. 29. Bertold Pfeiffer: Schiller in der Karlsschule. In: Marbacher Schillerbuch. Zur hundertsten Wiederkehr von Schillers Todestag, hg. vom Schwäbischen Schillerverein (Veröffentlichungen des Schwäb. Schillervereins. Im Auftrage des Vorstands hg. von Otto Güntter 1). Stuttgart und Berlin 1905, S. 2 1 3 - 2 3 5 . Hier S. 229.

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unwahrscheinlich, weil dessen Name wohl kaum ungenannt geblieben wäre. Der Preiß der Tugend knüpft an das zum letzten Geburtstag aufgeführte Huldigungsstück an und steigert und überbietet diese Vorlage, die den Titel Denkmal des besten Herzens. Eine Unterredung zwischen Personen vom Lande und von der Stadt trägt, »von dem Concert-Meister Poli in Musik gesezt« und von einigen Eleven und Demoiselles »Bey dem Anbruch des Geburts-Tags« aufgeführt wurde.28 Einen Hinweis auf den Verfasser des Textes gibt es hier überhaupt nicht. Aufführungsort waren in beiden Jahren wahrscheinlich die Räume der Akademie. Der Gegenstand beider Unterredungen in gereimten Versen sind die Vorbereitungen und Huldigungen zum Geburtstag Franziskas, die handelnden Personen repräsentieren die unterschiedlichsten Stufen — Bauern, Akademisten und Götter — und die Vertreter des ländlichen Bereichs im ersten Stück wirken auch ein Jahr später wieder mit. Während diese Franziska und das Fest in Hohenheim erwarten, tragen sie sich gegenseitig ihre einfältigen Geburtstagsglückwünsche in ungelenken Reimversen vor, die andere für sie gedichtet haben, oder kaufen sich solche noch, so daß den ersten Teil jeweils eine Spur von Komik durchzieht, die aber die Echtheit der Gefühle nicht schmälern soll. Die Wahrheit der Empfindungen schätzen die Akademisten ausdrücklich höher ein als die Qualität des Lieds: »[...] wo sich die Triebe lauter finden,/ Da ist auch selbst die Einfalt schön.« Die Schüler der Militär-Akademie treten zum großen Teil unter Namen auf, die aus dem Altertum bekannt sind: Adrast, Cleanth, Heraclit erinnern an die berühmten Philosophen, Geront, Frontin, Melanth, Arist, Croton, Gelon, Medon an andere Personen, Namen oder Bezeichnungen. Bei Erast handelt es sich um eine Anspielung auf den Professor der Medizin und Rektor der Heidelberger Universität in der Zeit der Renaissance. Nach kurz aufflammenden, philosophisch angehauchten Streitgesprächen, ob Prosa oder ein Gedicht vorzuziehen, ob die Dichtkunst oder die Rhetorik älter sei, einigen sie sich, daß der Verfasser »Sein Lied am besten lesen kann« und es »feuervoll und laut« vortragen solle. Geront, »der älteste« und der Wortführer der Gruppe — der Name soll wohl auf die Geronten, die Ältesten und Berater des Königs insbeson-

28

Denkmal des besten Herzens. Eine Unterredung zwischen Personen vom Lande und von der Stadt. Bey dem Anbruch des Geburts-Tags der besten Frau, Frau Francisca, ReichsGräfin von Hohenheim, Auf gnädigsten Befehl Sr. Herzoglichen Durchlaucht, von dem Concert-Meister Poli in Musik gesezt, und von einigen Eleven der Herzoglichen MilitärAkademie, ingleichem von einigen Demoiselles des Erziehungs-Instituts aufgeführt. Stuttgard, den 10. Jenner 1778 [Stuttgart 1778], (HStA A 272 Büschel 11/Nr. 24). Neben der gedruckten Fassung befindet sich bei den Akten der Hohen Carlsschule auch ein handschriftliches Exemplar dieses Stücks (HStA A 272 Büschel 13/Nr. 17).

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dere in Sparta, verweisen — singt das Lied »sehr pathetisch«, dessen erste Strophe Fruchtbarkeit, Handwerk und Künste eines Landes preist, das die Götter durch ihre Anwesenheit auszeichnen: Hier, w o O p s und Ceres wohnen, W o der H i m m e l Seegen thaut: Hier, w o Pan und Flora thronen, W o Minerva Wunder baut: H i e r findt auch der Musen-Schaar R a u m zum Tempel und Altar.

Die Akademisten sind für die Bauern Herren, mit denen in gepflegter Weise zu sprechen ist und denen sie im Spiel des nächsten Jahres »tiefe Complimenten« machen. Dort nennen sich die Karlsschüler in ihrem Huldigungsgedicht »Musensöhne«, und ihre Verse bezeichnen sie als »Weihrauch« aus »CARLS Athen«. Gleichwohl sehen sie sich am Festtag Franziskas »in einem Bande« mit den Bauern und ziehen mit ihnen in den Schloßgarten, wo Handwerker und Künstler im Auftrag eines »Chorfes] von Tugenden und Wissenschaften« eine Ehrensäule für Franziska errichten. Phidias, den Dannecker darstellte, und Apell versehen das Denkmal mit Wahlsprüchen der Allegorien der Rechtschaffenheit, der Sanftmut, der Freigebigkeit und des Mitleids, die vorher Calliope, die Muse der Dichtkunst, um Beistand angerufen haben und vom »Gott der Künste« erhört worden sind. Die Allegorie der Zeit legt Sense und Uhr vor der Säule nieder, die »wie Aeonen« dauern soll »Troz dem Zahn der Zeit«. Diese barocken Ewigkeitsbeschwörungen lassen sich aber kaum augenfälliger entlarven als dadurch, daß ein Jahr später beim Preiß der Tugend »der Rest von jener Säule niederfliegt],/Die einst die Treu für Sie gebaut«, und ein Beamter anregt, ein neues Ehrenmal zu errichten, nachdem ihm die unaufhörliche Folge bäuerlicher Gaben, darunter ein Kalb und ein Lamm, jeweils geschmückt, zu viel geworden war. Die Götter verhindern jedoch durch ihre übernatürlichen Kräfte, daß die Arbeit der Handwerker gelingt, denn, so verkündet Merkur, »Es muß ein Preiß der Götter seyn:/Die Pyramiden sind zu klein!« Schon allein die ungeheure Zahl von 70 Göttinnen und Göttern — dennoch machen sie nur ein Drittel der mitwirkenden Personen aus, so daß die ländlichen Frauengestalten mit Zöglingen besetzt werden mußten - verdeutlicht den Wert der von den Unsterblichen Verehrten. Zunächst huldigen die ländlichen Gottheiten, »die die reizendste und fruchtbarste Gegend von Wiesen, Feldern, Weinbergen und Wäldern bewohnen« und die Geburtstagsgesellschaft im oberen Saal empfangen. Deren Aufstieg hatten die Titanen verhindern wollen, doch wurden sie vom Blitz erschlagen und liegen »links und rechts unter Felsen«. Die ländlichen Götter weihen und opfern

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ihre Gaben, darunter Nektar und Ambrosia von Aristäus, dem Bienen- und Haushaltungsgott, und die Traube, »Wovon nur Zeus an Juno Fest geneußt«, von Bacchus, einer Sterblichen, die vergöttert wird. Die Aufnahme unter die Götter muß aber Jupiter vornehmen, der, indem sich die Wolken »in einiger Entfernung« allmählich verteilen, »mit allen Gottheiten und ihrem Gefolge auf dem Berge Olympus sichtbar wird: »Komm, Sterbliche, den Göttern gleich,/Hier sey Dein Platz in meinem Reich!« Bei diesen Worten Jupiters lassen sich Assoziationen zu den Apotheosen in Schillers Gedichten kaum vermeiden, allerdings vollziehen sie sich dort verhaltener oder es gehen ihnen erhebliche Beschwernisse, Widerstände oder Einsätze an Kraft und Energie voraus. Links neben den Göttern auf dem Olymp zeigen sich Apoll und die neun Musen, »wie die obige mit ihren unterscheidenden Kennzeichen«, auf dem Parnaß, dahinter »neben dem Bach Hippocrene Pegasus auf einem Hügel, zur Rechten aber ist vorwärts die Stadt Olympia, mit deren Trümmern sich viele Künstler beschäftigen, und weiter rükwärts die Werkstätte des Vulkans, vor dem Olymp aber ein kleiner fruchtbarer Hügel in der Mitte des Saals«, auf dem Jupiter einen Tempel für Franziska errichten läßt. Apolls Aufruf zu diesem Projekt an die Musen und Vulkan leiten diese an die Künstler Athens und die Zyklopen weiter, doch vor Beginn der Arbeit überwältigt Herkules den Neid, »der allerhand feindseelige Bewegungen [macht]«, und legt ihn in Ketten. Den Bau des Tempels begleiten Gesänge einzelner oder mehrerer Götter und Chöre, wobei das Prinzip der Steigerung maßgeblich ist. Die Verehrung im Gesang ist im Preiß der Tugend nur den Göttern vorbehalten, während im Festspiel des Vorjahrs alle Huldigungsgedichte, auch die der Bauern und Akademisten, gesungen worden sind. Das festliche Theaterstück endet damit, daß die Grazien den Tempel zieren, Genien das Haupt des Standbildes von Franziska mit Lorbeer umwinden und die Landgötter während des letzten Chores einen Reigen um den Tempel tanzen, zu dem Terpsichore, die Muse des Tanzes, aufgefordert hat. Hält man sich nur an die sinnlichen Eindrükke, so liegen die Parallelen zwischen dieser »Götterfeyer« und einem Schillerschen Gedicht wie dem des Eleusischen Festes auf der Hand: Mehrfach ist dort vom »Chor« der Götter die Rede; sie erscheinen ebenfalls in unüberschaubar großer Zahl und in einem »Reigen« auf der Erde; ein »Wunderbau« wird errichtet, zwar kein einzelner Tempel, sondern eine ganze Stadt, sogar von den Göttern selbst, aber in dieser Stadt gibt es festlich geschmückte Tempel; während des Bauens ertönt auch hier Gesang, den die Musen anstimmen und der dem Saitenspiel Apolls folgt. Vor dem Hintergrund der musikalischen Elemente in den Festspielen am württembergischen Hof bekommt sogar die Aussage über die Monde, die »still gemessen

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schreiten/Im melodischen Gesang«, einen neuen Akzent. Die festliche Atmosphäre des Schillerschen Gedichts eröffnet die Möglichkeit, es als komprimiertes Festspiel auf der Basis höfischer Sinneseindrücke zu bezeichnen.

Das Spiel Vorzüge der Einsamkeit.

Eine festliche

Unterredung auf den

10. Jenner 1780, 2 9 den Geburtstag Franziskas, verdient sowohl wegen der kritisch-satirischen Haltung gegenüber dem Leben am Hof und den Höflingen als auch wegen der Räumlichkeiten und ihrer dekorativen Ausgestaltung und der Umstände der Entstehung besonderes Interesse. Der Text der gedruckten Fassung setzt sich über weite Strecken aus Teilstücken von fünf unterschiedlichen handschriftlichen Entwürfen zusammen, die sich bei den Akten der Hohen Carlsschule im Hauptstaatsarchiv Stuttgart befinden. 30 Bei diesen Entwürfen liegt auch eine Szenenbeschreibung, nach der jene möglicherweise ausgeführt worden sind. Sie enthält keine Angabe über ihren Verfasser, trägt die Uberschrift Idee de la Fete du jour de Naissance de S. Ex. Μde. la Comtesse de Hohenheim31 und deutet den Inhalt der Gespräche an. Von den fünf Entwürfen sind nur zwei auf der Frontseite mit Anlaß oder Bezug und Verfasser versehen: Auf der einen steht in der Mitte »Das Geburts-Fest Seiner Excellenz der Frau Reichs-Gräfin von Hohenheim, durch den Dank und die Freude der Armen gefügt, am 10. Juar [?] des Jahrs 1780« und rechts unten »v. Hoven der ältere«, auf der anderen in gleicher Weise »Unterthänigste Ausführung des Guibaldischen Plans« und »Pfeiffer«. Sicher handelt es sich wie bei den Handschriften Pfeiffers und des älteren von Hoven, Friedrich Wilhelms also, des langjährigen Freundes von Schiller, auch bei den anderen um Arbeiten von Karlsschülern, die sie vermutlich nach Ideen der Lehrer anfertigen mußten. Guibal hat für dieses Ereignis im Januar 1780 ebenfalls einige kurze Dialoge unter der Überschrift »Scenes qui se passent dans le Salles [?] qui precedent la Gallerie de Communication et [?] dans cette Gallerie meme« aufgeschrieben. 32 Sie sind schwer lesbar und lassen wenig vom Geschehen der gedruckten Fassung ahnen, während es die andere Szenenbeschreibung von unbekannter Hand in groben Linien vorzeichnet. Hauptsächlich in den ländlichen Gefilden spiegelt sich die Güte Franziskas, die die Bewohner des Landes glücklich und zufrieden macht und Gärten und Felder gedeihen läßt; Wissenschaften und Künste nehmen an der Verehrung dieses Jahres keinen Anteil. Die

29

30 31 32

Vorzüge der Einsamkeit. Eine festliche Unterredung auf den 10. Jenner 1780 als das Geburts-Fest der Hochgebohrnen Frau Francisca, Reichs-Gräfin von Hohenheim, Auf Höchsten Befehl Sr. Herzoglichen Durchlaucht, dem Druck überlassen. Stuttgard [1780], HStA A 272 Büschel 15/Nr. 2 - 5 und 7. Ebd. Nr. 6 Ebd. Nr. 1

Die Karlsschüler

bei höfischen

Festen

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»festliche Unterredung« beginnt beim Eintreffen des Herzogs im Vestibül des südwestlichen Flügels der Akademie, 3 3 das eine Einöde darstellt, in der ein Eremit »[w]ahre Glükseeligkeit« gefunden hat, die er »unter den Vergnügungen der Welt« und »in der Gröse« vergeblich suchte. Er lädt die Gesellschaft in seine Hütte ein, die sich in der Bibliothek »unter einer Masse von Felsen« befindet und auf einem engen und unbequemen Weg über die Treppe zu erreichen ist. Bauern, die der Eremit bei ihrer Arbeit anleitet und deren Kinder er unterrichtet, bringen ihm Speise, danach besucht die Gesellschaft einen Blumen-, einen Wurz- und einen Baumgarten, die, so kann man aus der handschriftlichen Szenenbeschreibung schließen, ebenso in den oberen Sälen eingerichtet waren wie die folgenden Schauplätze: »Eine Wiese, welche ein Bach zwischen Bäumen durchfließt« und auf der Knaben und Mädchen Schafe weiden, »Fruchtfelder, die man eben schneidet, und Weinberge, worin Weingärtner arbeiten«. Dem Glück des Eremiten, der Gärtner, Bauern, Winzer und ihrer Kinder, das auch in Liedern zum Ausdruck kommt, stehen drei Hofkavaliere verständnislos gegenüber. Sie kommentieren die »festliche Unterredung« mit »spöttisch[en]«, »[h]öhnisch[en]«, »nachäffendfen]«, »bei Seite« oder »ins Ohr« gesprochenen, also dem offenen Gespräch sich entziehenden Bemerkungen, durch die sie sich aber nur selber bloßstellen, vermissen in der Einöde »Belustigungen«, »Bälle«, »Spiele«, »Gesellschaft« — Vergnügungen, die für den weisen Eremiten »auf schmerzenden Taumel« hinauslaufen, und wollen am H o f bleiben. Während sie Unbequemlichkeiten meiden und Abstand zu der arbeitenden Bevölkerung halten, überwinden die Bauern beim Anblick Franziskas ihre Scheu und Furcht vor der Hofgesellschaft und zeigen, daß Menschlichkeit und Takt auf ihrer Seite sind. Mädchen überbringen ihr, von der die Bauern gelernt haben, »[gjutthätig zu seyn«, Gaben, und sie beweist ihre Güte auch am Geburtstag. Denn der Eremit führt die Gesellschaft schließlich durch eine Allee, die sich auf der Gallerie de Communication befand und nach der Vorgabe der Szenenbeschreibung von einer Jasmin- und Rosenlaube überwölbt sein sollte, in den neuen Saal, wo 200 Arme, 15 neu vermählte Ehepaare und 4 Paare, die ihr Ehejubiläum feiern, alle vom Herzog neu gekleidet, an Tafeln sitzen und gespeist werden. In diesem Saal finden die in der Szenenbeschreibung dem Eremiten in den Mund gelegten Worte, daß es »sa coutume soit d'exercer sa charite dans l'ombre du mystere«, ihr krasses

33

Vgl. das Tagbuch der Gräfin Franziska von Hohenheim, späteren Herzogin von Württemberg. Im Auftrag des Württemberg. Geschichts- und Altertumsvereins hg. von A. Osterberg. Stuttgart 1913, Anm. 16 (S. 488). Der Tagebucheintrag vom 10. Januar 1780 (S. 14ff.) vermittelt einen Eindruck vom Ablauf des Geburtstagsfestes, an dem Schiller seine Rede >Die Tugend in ihren Folgen betrachten im Examinationssaal gehalten hat.

72

Gerhard

Friedl

Gegenbild, denn über den Tafeln der Armen und der Neuvermählten hängen Gemälde mit den Aufschriften »Saat für die Ewigkeit« und »So dient Gutthätigkeit der Liebe«, wobei die Guttätigkeit als Allegorie dargestellt wird, »die ein brennendes Herz in der Hand hält, an welchem Hymen seine Fakel anzündet«. Beim Eintreten der Geburtstagsgesellschaft erklang eine Symphonie, und in Arie und Chor wurden der »Tag der Feyer«, Glück und Freude, die Tränen zum Fließen bringt, und die »schöne Seele« Franziskas besungen. Es ist eine aufschlußreiche Fügung, daß Schiller das letzte Werk vor seinem Tod für ein höfisches Ereignis geschrieben hat: das festliche Spiel Die Huldigung der Künste, das »[b]ey der Ankunft der Grossfürstin Maria Pawlowna auf dem Weimarschen Theater vorgestellt« wurde.34 Einerseits leben darin die sinnlichen Eindrücke, die er als Karlsschüler bei den Aufführungen im Theater auf der Solitude und in der Akademie empfangen hat, noch einmal auf, andererseits enthält es viele für seine Lyrik typische Bilder und Gedanken. Nicht nur die Künste, die als Göttinnen erscheinen, huldigen der Fürstin, sondern auch die Landleute feiern deren Ankunft: Das Festspiel findet also auf zwei unterschiedlichen Ebenen statt, die vom Denkmal des besten Herzens und vom Preiß der Tugend her bekannt sind. Die Landleute pflanzen einen geschmückten Orangenbaum als symbolischen Ausdruck des Wunsches, daß die »aus fernem Land« Kommende sich »An das neue Vaterland« gewöhnen möge. Sie rufen den »Hohe[n] Flurgott«, »Vater Pan«, die »zärtliche[n] Dryaden« und »freyen Oreaden« an, ihn zu pflegen. Die ländlichen Gottheiten treten jedoch nicht mehr wie im Preiß der Tugend persönlich auf, sondern sie sind Teil einer bildreichen poetischen Sprache geworden. Diese Erscheinung, daß bei den Inszenierungen am württembergischen Hof auf der Bühne oder in der Dekoration wirklich Präsentes bei Schiller zum poetischen Bild wird, ist in diesem kurzen festlichen Theaterstück noch öfter zu beobachten: an den »duftgen Kränzen«, mit denen die Landleute die Fremde an sich binden wollen, an den »Marmorhallen« und dem »goldnen Saal der Pracht«, aus denen sie die Mutter unter den Landleuten auf die »freyen Auen« der ländlichen Gegend heraustreten sieht, an dem »Pallast« und dem »Altar«, die der Genius und die Göttinnen der Künste schmücken wollen, an der »heil'gefn] Opferflamme«, an »Zephyr's Flügel« und an »der Iris schönefm] Farbenbild«. Diese Umwandlung eines anschaulichen und lebendigen Theaterbildes in ein Bild

34

Die Huldigung der Künste. Bey der Ankunft der Grossfürstin Maria Pawlowna auf dem Weimarschen Theater vorgestellt. Schillers Schwanengesang. St. Petersburg 1805.

Die Karlsschüler bei höfischen

Festen

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der poetischen Sprache ist weit über dieses Stück hinaus ein eigentümlicher Zug zumindest der lyrischen Gestaltungsweise Schillers. Nachdem die Landleute »in einem bunten Reihen« zur Musik des Orchesters um den Baum getanzt sind — ein Tanz der Bauern um einen Baum findet auch im Preiß der Tugend statt — und »der schaffende Genius des Schönen« »mit den sieben Göttinnen«, Allegorien der Architektur, der Skulptur, der Malerei, der Poesie, der Musik, des Tanzes und der Schauspielkunst, herabgestiegen ist, erläutern ihnen die Landleute, daß das Fest »Unsrer Königin zu Ehren« gefeiert werde, »Der Erhabnen, Gütigen,/Die in unser stilles Thal/Niederstieg, uns zu beglücken,/Aus dem hohen Kaisersaal« und »die alle Reize schmücken,/Gütig wie der Sonne Strahl«. Diese Eigenschaften und dieses Verhalten verdichten sich zum Erscheinungsbild einer Göttin und stehen auch im Mittelpunkt der Verehrung Franziskas, die, wie die Bauern im Denkmal des besten Herzens berichten, oft unter ihnen weilt. »Oft lachte sie, da war ihr Angesicht,/Wie wenn die Sonn durch Morgen-Wolken bricht«, und Marxens Weib sah sie in Stuttgart, als »jedes Haar am Kopf war, wie ein Sonnenstrahl«. Die Landleute, die bei dem Genius Rat suchen, wie die Fürstin an das neue Vaterland zu binden sei, erfahren von ihm, daß er »das zarte Band« schon gefunden habe, das sie mit der alten Heimat verbindet: Er selbst und sein Gefolge seien ihr bekannt. Nacheinander stellen sich der Genius und die Göttinnen der Künste vor; sie vereinigen sich am Ende in der Bereitschaft, »o Fürstin, Dir zu dienen«. Dieser Dienst besteht aber nicht mehr in der aufwendigen Verehrung einer Sterblichen wie in Stuttgart, sondern »auf dein Geheiß« »Entfaltet sich Dir eine Welt des Schönen«, deren Kennzeichen Lebendigkeit ist. Nur bei der Vorstellung der Architektur und der Skulptur überwiegen die Bezüge zum bisherigen Lebenskreis derjenigen, der sie huldigen, die anderen Künste beschreiben ihr Wesen ganz allgemein und in einer Weise, die viel über Schillers Auffassung von der Dicht- und Schauspielkunst, der Malerei, der Musik und des Tanzes besagt. So verkündet etwa die Poesie an vierter Stelle und damit in der Mitte der Vorstellungsreihe: »Mich hält kein Band, mich fesselt keine Schranke,/Frey schwing ich mich durch alle Räume fort.« Und mit ihren SchlußWorten deutet sie eine Apotheose an, die sich aber ganz anders vollzieht als in den festlichen Stücken am württembergischen Hof: »Die Phantasie auf ihren mächt'gen Flügeln/[soll] Dich zaubern in das himmlische Gefild.« Nicht mehr die prunkvolle Ausstattung bringt diese Erhöhung zur sinnlichen Anschauung, sondern die Kraft der Phantasie. Hervorzuheben ist zum einen, daß die Göttinnen nicht einzeln am Werk sind, sondern gemeinsam als »der Künste Schaar« unter der Führung des »schaffendefn] Genius des Schönen«. »[M]it schön vereintem Stre-

74

Gerhard Friedl

ben« wollen sie »Dir, Herrliche, den Lebensteppich weben«. So beschreibt die Allegorie der Malerei am Ende die Aufgabe der Künste, und sie vergleicht dieses Zusammenwirken mit dem Regenbogen, der »Sich glänzend aufbaut aus der Sonne Strahlen«. »Alle Künste« begründen — »sich anfassend« — in den Schlußversen ihr Zusammenwirken: »Denn aus der Kräfte schön vereintem Streben/Erhebt sich, wirkend, erst das wahre Leben.« Obwohl die Göttinnen in diesem Moment für die Fürstin persönlich tätig werden wollen und sie bei ihren Huldigungen selbstverständlich auch persönlich ansprechen, handelt es sich bei ihrer Begründung doch, und das gilt es zum andern hervorzuheben, um eine allgemeine Sentenz. Schon vorher hat der Genius angedeutet, daß die Künste eigentlich für die gesamte Menschheit da sind: »Wir sind's, die alle Menschenwerke krönen«. Diese Tendenz zur Verallgemeinerung, welche die persönliche Huldigung durchzieht, zeigt sich auch an den grundlegenden und für Schiller charakteristischen Gedanken, die er in diesem festlichen Spiel noch einmal ausspricht. So findet die Poesie ihren wertvollsten Gegenstand in der »schönefn] Seele«. Der Genius erklärt den einfachen Landleuten auch, die sich wegen der Umstellung der fremden Fürstin Sorgen machen: »Wisset, ein erhabner Sinn/Legt das Große in das Leben/Und er s u c h t es nicht darin.« Und der »Chor der Künste« schließlich besteht aus Wanderern zwischen Räumen und Zeiten, sie »kommen von fern her« und suchen ein bleibendes Haus. Als solch ein Fremdling oder weitgereister Wanderer erscheint der Sänger in den Gedichten Die Macht des Gesanges und Die vier Weltalter oder der Künstler im 9. Brief Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen. In einem feierlichen Rahmen gesprochen, werden die Verse und die in ihnen geäußerten Gedanken selbst vom Glanz der Festlichkeit erfaßt. Es hieße die außerordentliche Bedeutung der vielfältigen sinnlichen Eindrücke, die Schiller während seiner Zeit auf der Karlsschule, vor allem bei den höfischen Festen, empfangen hat, gewaltig unterschätzen, sähe man sie nur dort weiterwirken, wo das Leben am Hof und das Regiment und das Selbstverständnis der Fürsten ausdrücklich oder indirekt zur Sprache kommen. Diese Sinneseindrücke entfalten ihre poetische Kraft vielmehr erst dann, wenn sie Schiller mit Gedanken und Ideen, die ganz anderen Regionen, bürgerlichen, philosophischen, anthropologischen oder ästhetischen, entstammen, verschmilzt, um diese durch »sinnliche Anschauung« lebendiger und einprägsamer zu machen. Dabei werden die hohen, durch das formelhafte Verehrungsritual aber entleerten Worte ihrerseits wieder mit Substanz erfüllt, die für den Augenblick geschaffenen Verkleidungen und Dekorationen mit Dauerhaftem verbunden. Die Distanz zwischen Mensch und Gott wird nicht mehr leichtfüßig und spielerisch überwunden, sondern

Die Karlsschüler bei höfischen Festen

75

von Schiller leidvoll erfahren und für ihn zum Dreh- und Angelpunkt existentieller Probleme. Die Spannung zwischen Mensch und Gott löst sich nicht mehr in der Person eines absolutistischen Fürsten auf, sondern sie entsteht aus dem Wissen des Menschen um Vollkommenheit und aus der Frage nach seinem göttlichen Teil. Die gefeierten und in der Apotheose verklärten Eigenschaften und Verhaltensweisen sind nicht mehr angeboren wie etwa in der Fete allegorique bei Franziska, für deren »rare Bonte que tu as re9ue en naissant« Apollo einen Tempel bauen läßt, sondern durch »Veredlung« erworben, in Kämpfen bewährt und durch Taten bewiesen. Aber wie in den Festspielen am Hof erscheinen die Götter auch in Schillers Lyrik im »Chor« und in großer Zahl, selten allein, auf der Erde, um für den Menschen tätig zu sein, ein Vorbild zu verherrlichen und bei festlichen Ereignissen Freude und Schönheit in der Welt zu verbreiten. Sie feiern bei Schiller nicht mehr einen Herzog oder eine Gräfin wegen irgendeiner Tugend, die »ihren Lobredner« gefunden hat, hinter dessen Bewunderungsformeln sie selbst jedoch in Vergessenheit gerät, sondern Manifestationen eines veredelten Menschseins: moralische Ideale, Verbesserungen der Sitten oder erfüllte Augenblicke. Sie versammeln sich um »schönef] Seelefn]«, bezeugen »erhabenefn] Gesinnungfen]« ihre Gunst und verkörpern selbst »Anmuth« und »Würde«, in denen diese sittlichen Ideale zum Ausdruck kommen. Wenn Franziska in den Stuttgarter Festspielen mehrfach als »schönef] Seele« charakterisiert und verehrt wird und Schiller dieses Wort nicht erst für seinen berühmten Aufsatz Ueber Anmuth und Würde entdeckt, sondern in den frühen Gedichten bis hin zu den Künstlern öfters verwendet, so zeigt sich daran, daß sogar zentrale Begriffe seiner philosophischen Schriften in die Welt der höfischen Feste zurückweisen, obwohl er diese Begriffe neu erklärt und dem Geflecht seiner eigenen Überlegungen einverleibt. Anregend und einprägsam mußten für Schiller auch die Szenerien und Bilder sein, die die Fruchtbarkeit des Landes feiern und vor allem die festlichen Unterredungen durchziehen, die in der Akademie zum Geburtstag Franziskas, mitten im Winter also, aufgeführt wurden. Im Preiß der Tugend wird die Filderlandschaft um Hohenheim sogar zu einem »Tempe«, dem fruchtbaren Peneustal nahe dem Olymp. Bei Schiller kommen derartige Wachstums- und Fruchtbarkeitsbilder, die bei aller Üppigkeit künstlich wirken und sich von Goethes Darstellungen der Natur gewaltig unterscheiden, vielfach vor: sowohl in Verbindung mit der Fruchtbarkeitsgöttin Ceres, die sich in zwei Gedichten ausnahmsweise von dem himmlischen Chor löst und als Einzelperson Statur gewinnt, als auch in einer metaphernreichen Sprache, die sich bis auf eigentlich unpoetische Texte wie die Einlei-

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Gerhard Friedl

tung zur Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von der spanischen Regierung erstreckt. Letztlich tragen auch Wachsen, Blühen und Reifen in der Natur wie Sonne, Götter, Tempel, Altäre, Apotheosen, Kränze und festlich geschmückte Säle dazu bei, ein großartiges Fest zu inszenieren, durch das nicht mehr eine einzelne Person verherrlicht werden soll, sondern die »Menschheit«. Diese anschaulichen Bilder bringen bei Schiller jedoch ebenso das Gegenteil zum Ausdruck: die Bedrohung und den Verlust der Humanität.

Gabriele Brandstetter

»Die Bilderschrift der Empfindungen« Jean-Georges Noverres Lettres sur la Danse, et sur les Ballets und Friedrich Schillers Abhandlung Uber Anmut und

Würde

»Der Tanz? Auch der Tanz erwartet noch einen Mann von Genie«, schreibt Diderot in den Unterredungen

über den Natürlichen

Sohn (1758); 1 und:

»Dem Tanz fehlt es nur noch an einem schönen Vorbild, an einem Manne von Genie«, 2 so bekräftigt Noverre Diderots Postulat. Dieser »Wiederher-

Zit. nach: Das Theater des Herrn Diderot. Aus dem Französischen übersetzt von Gotthold Ephraim Lessing. Hg. (mit Anmerkungen und Nachwort) v. Klaus-Detlef Müller. Stuttgart 1986, S. 166. 2 Jean-Georges Noverre: Briefe über die Tanzkunst und über die Ballette. Aus dem Französischen übersetzt von Gotthold Ephraim Lessing und J . J . C. Bode. Hamburg und Bremen 1769, Reprint. Hg. (mit Nachwort, Werk- und Schriftenverzeichnis und Bibliographie) v. Kurt Petermann (Documenta Choreologica. Studienbibliothek zur Geschichte der Tanzkunst. Hg. v. Kurt Petermann) München 1977, S. 144. Die Briefe Noverres werden im folgenden nach dieser Ausgabe im Text zitiert, mit der Sigle Ν und Seitenzahl. — Die deutsche Ubersetzung von Lessing und Bode folgt den 15 Briefen der französischen Erstausgabe ohne Kürzung; letztere ist nun in einem Nachdruck wieder zugänglich: JeanGeorges Noverre: Lettres sur la Danse, et sur les Ballets. Stuttgart 1760. Reprint: New York 1967. Weiterhin standen mir die drei mit einem Vorwort des anonymen Ubersetzers versehenen Bände der englischen Ausgabe zur Verfügung: The Works of Monsieur Noverre, London 1782—1783, Reprint: New York 1978 (Music and Theatre in France in the 17th and 18th centuries), deren III. Band die Vorworte und Szenarios der Ballette 'The Danaides', 'Rinaldo and Armida', 'Adela of Ponthieu', 'The Graces', 'The Horatii and Curiatii', 'Aqamemnon revenged', 'Apelles and Campaspe', 'The amours of Venus or Vulcan's revenge' und 'Alceste' enthält. — Eine Konkordanz aller verfügbaren Ausgaben von Noverres 'Lettres', sowie Nachweise sämtlicher (z.T. neu aufgefundener) Quellen (Szenarios, musikalische Quellen und ikonographisches Material) mit partieller Revision der (sehr verdienstvollen, bislang vollständigsten) Quellenangaben in Kurt Petermanns Edition bietet demnächst die mir leider nicht zugängliche Habilitationsschrift von Sibylle Dahms: JeanGeorges Noverre. »Ballet en action«. Theoretische Schriften und Werke (Publikationen des Instituts für Musikwissenschaft der Universität Salzburg, Derra de Moroda Dance Archives. Tanzforschungen 3). Im Druck. 1

Aus der Noverre-Sekundärliteratur (ausführliche Bibliographien bieten die Edition von K. Petermann und S. Dahms, s.o.) seien hier nur genannt: Manfred Krüger: Jean-Georges Noverre und das »Ballet d'action«. Jean-Georges Noverre und sein Einfluß auf die Ballett-

78

Gabriele Brandstetter

steller des wahren Tanzes, Verbesserer des falschen Geschmacks und fehlerhafter Gewohnheiten« zu sein, beansprucht er für sich selbst. Was er in den Lettres

sur la Danse,

et sur les Ballets

(zuerst 1760 in L y o n erschienen und

H e r z o g Karl Eugen gewidmet, dessen Theater in Stuttgart und Ludwigsburg er in der Zeit von 1760—1767 mit dem größten und glanzvollsten Ballett Europas berühmt machte) 3 entwarf, wurde zum Programm der Tanzkunst in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts (Abb. 1). Zwar war Noverre keineswegs der alleinige Schöpfer des ballet d'action — obwohl er sich selbst in dieser Rolle stilisierte — , 4 doch das pantomimisch-dramatische Ballett hat in ihm seinen eloquentesten und gebildetsten Theoretiker, den Choreographen von über 120 Ballettpantomimen, den Lehrer berühmter Tänzer und Ballettmeister einer wechselnd mit international bekannten Namen besetzten Truppe (darunter Jean Dauberval, Paolino Franchi, Carles Le Picq, Louis-Joseph Balletti, Monsieur Leger, Carl Philipp und Gottlieb Carl Rössler, Louisa Toscani, N a n c y Levier, Antonia Guidi, Elisabeth Dupetit und Catherine Kurz). Friedrich Schiller hat als Karlsschüler (denen der » O l y m p « des Stuttgarter Theaters reserviert war) 5 eine Reihe von NoverreBalletten gesehen, in der Wiederaufnahme durch Noverres Schüler und Nachfolger Louis Dauvigny {Jason Herkules, Briefe

u.a.).

6

und Medea,

Hypermestra,

Der Tod

Außerdem waren ihm höchstwahrscheinlich

des

Noverres

bekannt, vermittelt durch Joseph U r i o t , der nicht nur Chronist der

jährlichen Feste zur Zeit von Karl Eugens Geburtstag, der O p e r n - und Ballettaufführungen in der Karnevalszeit war, 7 sondern auch (ehemals)

gestaltung. (Die Schaubühne. Quellen und Forschungen zur Theatergeschichte. Hg. v. Carl Niessen, Bd. 61). Emsdetten/Westf. 1963. Deryk Lynham: The Chavalier Noverre. Father of Modern Ballet. London 1972. 3 Zum Hoftheater unter Carl Eugen vgl.: Josef Sittard: Zur Geschichte der Musik und des Theaters am Württembergischen Hofe. 2 Bde. Stuttgart 1890/91. Reprint: Hildesheim, New York 1970, Bd. 2 ( 1 7 3 3 - 1 7 9 3 ) , S. 5 1 - 2 1 3 . Rudolf Krauß: Herzog Karl Eugen von Württemberg und seine Zeit. 1. Bd. Eßlingen 1907, S. 4 8 5 - 5 5 0 . Ders.: Das Stuttgarter Hoftheater von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart. Stuttgart 1908, S. 3 9 - 9 8 . Robert Uhland: Geschichte der Hohen Karlsschule in Stuttgart. Stuttgart 1953, S. 65, S. 83, S. 171. Ders.: Geschichte der Hohen Carlsschule. In: Die Hohe Carlsschule. Ausstellung des Württembergischen Landesmuseums Stuttgart. Stuttgart 1960, S. 13—34. 4 Zu nennen wären (als Vorläufer und gleichzeitig schöpferische Reformatoren des Balletts) zumindest: John Weaver ( 1 6 7 3 - 1 7 6 0 ) , Marie Salle ( 1 7 0 7 - 1 7 5 6 ) , Franz Anton Christoph Hilverding ( 1 7 1 0 - 1 7 6 8 ) und Gasparo Angiolini ( 1 7 3 1 - 1 8 0 3 ) . Vgl. hierzu das grundlegende Werk von Marian Hannah Winter: The Pre-Romantic Ballet. London 1974. 5 Krauß. Herzog Karl Eugen, S. 540f. 6 Ebd. S. 512 und S. 534. 7 Joseph Uriot: Description des Fetes donnees pendant quatorze jours ä l'occasion du Jour de Naissance de Son Altesse Serenissime Monseigneur le Due Regnant de Wurtemberg et Teck & c. Stuttgart 1763.

Noverre und Schiller

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Schauspieler, Schauspiellehrer am Musik- und Mimikinstitut der herzoglichen Akademie und schließlich: Französischlehrer Schillers. Die Grundabsicht von Noverres Ballettreform (die als Phänomen des Epochenwandels analog zur Reformoper Glucks, zum Wandel im bürgerlichen Drama zu sehen ist) betrifft die Befreiung des Tanzes von den erstarrten und hohl gewordenen Relikten des barocken höfischen Balletts. Die Konzeption des »Ballet de Cour« zielte mit der Geometrisierung von Körper und Raum auf die Repräsentation des feudalen Staates. Die Darstellungsabsichten der höfischen Feste, des reglementierten, zur akademischen Disziplin erhobenen Balletts zur Zeit Ludwigs des XIV., Präsentation und Repräsentation der absolutistischen Staatsordnung, erschöpften sich zu Beginn des 18. Jahrhunderts. Die klassische Tanztechnik der danse d'ecole — orientiert am mechanistischen Welt- und Menschenbild Descartes' — erscheint nunmehr als zunehmend formalisiert; die funktionelle Ausrichtung des Balletts läßt das Defizit an Bedeutung immer stärker ins Bewußtsein treten. Hier setzt Noverres Reform an: Sie hat das Ziel, die mehrteiligen, aus unterschiedlichen Tänzen figurativ und ohne inneren dramatischen Zusammenhang komponierten Ballette, die verabsolutierten tänzerischen Bravourstücke der Entrees und Divertissements abzuschaffen, desgleichen die funktionslosen barocken Requisiten, die den Körper des Tänzers einschränken und verbergen und seine Ausdrucksmöglichkeiten reduzieren: die Masken, die Perücken, die schweren Kostüme, die Fischbeinkorsettagen. 8 Befleißiget euch einer edeln Pantomime, vergesset nie, daß sie die Seele eurer K u n s t ist; bringt Geist und Verstand in eure Pasdedeux; A n m u t h und Wollust bezeichne den G a n g desselben, und das Genie ordne jede seiner Stellungen; leget die frostigen Larven ab, diese unvollkommenen Kopien der N a t u r ; sie verbergen eure Gesichtszüge, sie verfinstern, so zu reden, eure Seele, und berauben euch desjenigen, was zu dem Ausdrucke das unentbehrlichste ist; werffet die großen gräßlichen Parruquen, die ungeheuren Aufsätze weg, die den K o p f um das gehörige Verhältniß bringen, welches er mit dem K ö r p e r haben muß; schaffet den Gebrauch des runden, steifen Fischbeinröcke ab, welche die A u s f ü h r u n g allen Reitzes berauben, den Stellungen ihre Zärtlichkeit benehmen, und die sanften Außenlinien verderben, welche die F o r m in allen verschiedenen Lagen haben muß. ( N , 45)

8

Ein als Phänomen vergleichbarer Vorgang ist der Aufbruch des neuen freien Tanzes zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Gegenbewegung zum als veräußerlicht und unzeitgemäß empfundenen klassisch-akademischen Ballett; und auch diese »Reform« ging mit einer Reform der Kleidung und der damit eng verknüpften Semiotik des tänzerischen Körpers einher: Die Rebellion Isadora Duncans und anderer Tänzerinnen gegen Tutu und Spitzenschuh.

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Gabriele

Brandstetter

Der Tanz, so Noverre, zähle zu den naturnachahmenden Künsten, er sei ein »Gedicht« (so formulierten auch Diderot sowie Louis de Cahusac in seiner Abhandlung La Danse Ancienne et Moderne ou Traite historique de la Danse);9 das »ballet en action« (oder ballet d'action), die dramatische Ballettpantomime ist deshalb die angemessene Form, Ballett (d.i. »technischen« Tanz) und Drama (d.h. stummes Schauspiel) zu verbinden. Die Absicht, mit dem Körper eine Geschichte zu erzählen, »durch Tanz zu reden« (N, 47), stellt den Ballettmeister vor eine doppelte Aufgabe. Er muß die Kunst der Gebärden, die Pantomime (als »antike« Kunst nach Lukian)10 wiederherstellen, und er muß die Kunst verstehen, ein dramatisches Ballett zu komponieren. Beide Aspekte sind dem Prinzip der Naturnachahmung unterstellt, freilich in der für die Mimesistheorie charakteristischen Spannung zwischen modellgetreuer Darstellung des Wirklichen und Darstellung einer Fiktion von Wirklichkeit. Schiller schreibt über diesen Zusammenhang an Körner (28. Feb. 1793): Das Kunstschöne nämlich ist nicht die N a t u r selbst, sondern nur eine N a c h a h mung derselben in einem M e d i u m , das von dem N a c h g e a h m t e n materialiter ganz verschieden ist. N a c h a h m u n g ist die formale Ähnlichkeit des Materialverschiedenen. 1 1

Noverres Postulat, der Pantomime habe einerseits alle Gebärden in beständiger Ubereinstimmung mit seiner Seele auszuführen und dieser das Spiel seiner Physiognomie anzupassen, um den wahren Ausdruck der Empfindungen zu zeigen, er müsse sich andererseits aber zugleich in alle Gestalten zu verwandeln wissen, spiegelt diese Spannung von Authentizität und »Imitation«. David Garrick, der große englische Shakespeare-Darsteller, den Noverre 1756 in London in den Rollen des Romeo, Macbeth, Lear, Richard III. 9

Das Theater des Herrn Diderot. 1986, S. 167: »Der Tanz ist ein Gedicht. Dieses Gedicht sollte also seine besondere Vorstellung haben. Es ist eine Nachahmung durch Bewegungen, welche die vereinigte Hilfe des Dichters, des Malers, des Musikus und des Pantomimen erfordert.« — Dazu auch: Louis de Cahusac: La Danse Ancienne et Moderne ou Traite historique de la Danse. 3 Bde. Paris 1754. Reprint: Genf 1971. - Auch Johann Jakob Engel: Ideen zu einer Mimik. 2 Teile. Berlin 1785/86. Reprint: Darmstadt 1968, bezieht sich sowohl auf Cahusac als auch auf Noverre in seinem 6. und in seinem 8. Brief in Bezug auf die Mimesisfrage in Analogie zum »Gemälde« und zum »Gedicht«.

Der Rekurs auf Lukian gehört zum argumentativen Repertoire der Schriften über den Tanz- von Cahusac, Noverre, Engel, über Johann Georg Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. I. Teil. 2. vermehrte Aufl., Leipzig 1792, S. 2 8 9 - 2 9 6 , bis zu Egon Vietta: Briefe über den Tanz. Bielefeld 1948, — wie auch die Montesquieus »Lettres persanes< nachgebildete Briefform der Abhandlung eine Tradition in der Geschichte der Schriften zum Tanz ausbildet. 11 Jonas 3, 292. 10

Noverre und Schiller

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gesehen hatte, verkörperte das Ideal eines dergestalt verstandenen pantomimischen Spiels. Er war Anreger und Vorbild Noverres — und in anderem Zusammenhang, vergleichbar jedoch, auch für Schiller der Prototyp des ausdrucksintensiven Schauspielers. In seiner medizinischen Abschlußschrift Versuch über den Zusammenhang der thierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen (1780) zitiert er Garricks Lear- und Othello-Darstellung als Beleg für die These, daß auch der imitierte Affekt (und ebenso die durch ihn bewirkten Zuschauerreaktionen) den Körper so beeinflusse, daß krankhafte Reaktionen zu beobachten seien. (NA 20, 61) — Geist und Körper, (Darstellungs-)Kunst und Natur sind durch die »Mittelkraft« der Affekte verbunden.12 Die Ausdrucksfähigkeit der Körpersprache wie auch die Komposition der durch den redenden Körper dargestellten Pantomime sind in je verschiedener Weise an das imitatio-Prinzip gekoppelt. War das höfische Ballett an der Repräsentation feudaler Ordnung orientiert, und ihm zugeordnet jene andere Kunstform politischer Repräsentation, die Architektur, so etabliert sich das ballet d'action als Kunstform des bürgerlichen Zeitalters in Analogie zur Malerei (Abb. 2). Noverre definiert, die aristotelische Mimesis-Prämisse »ut pictura [...]« auf den Tanz übertragend, das Ballett als Gemälde: Ein Ballett ist ein Gemähide: die Bühne ist das Tuch; die mechanischen Bewegungen der Figuranten sind die Farben; ihre Physiognomie ist, wenn ich mich so ausdrücken darf, der Pinsel; die Verknüpfung und die Lebhaftigkeit der Scenen, die Wahl der Musik, die Auszierung und das Kostüme, machen das Kolorit aus; und der Kompositeur ist der Mahler. (N, 2)

Und an anderer Stelle: Das Ballett ist das Abbild eines wohlgeordneten Gemähides, wenn es nicht vielmehr das Urbild desselben zu nennen [ . . . ] Gemähide verlangen eine Handlung [ . . . ] eine gewiße Anzahl Personen, deren Charaktere, Stellungen und Gebehrden eben so wahr und natürlich, als bedeutend und ausdrückend seyn müssen. (N, 36).

Gemälde und Tableau dienen Noverre als Modell derjenigen Elemente, die die Komposition einer Ballettpantomime bestimmen sollen: Bildaufteilung, nicht nach barocken Gesichtspunkten ornamentaler Symmetrie, sondern in natürlich-asymmetrischer Anordnung der Formen und Gruppen; Variabilität des Ablaufs, d.h. der »Leserichtung«; abgewogenes Verhältnis von Ein12

Vgl. Wolfgang Riedel: Die Anthropologie des jungen Schiller. Zur Ideengeschichte der medizinischen Schriften und der »Philosophischen Briefe«. (Epistemata. Würzburger wissenschaftliche Schriften. Reihe Literaturwissenschaft 17) Würzburg 1985, S. 9 3 - 1 4 2 .

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Gabriele

Brandstetter

zelnem und Gruppe, von Körper und Raum, Licht und Dunkel; sowie »naturnachahmende« perspektivische Illusion (etwa, indem die Gradation der »Taillen« in der Ferne durch Kinder perspektivisch vorgetäuscht wurde). Als Beispiel nennt Noverre die Alexanderschlacht von Charles Lebrun, dem berühmten Maler und Akademiemitglied zur Zeit Ludwigs XIV., der — und dies ist für den Zusammenhang zwischen Gebärdenkunst der Pantomime und Gebärdenanalyse der Physiognomik bedeutsam — Verfasser eines bekannten, viel übersetzten Werks über den Ausdruck der Affekte war (Expressions des Passions de l'Ame, 1727), in dem standardisierte Bilder der Affekte gezeichnet sind.13 Noverres Briefe, die Szenarios seiner Ballette und ihre Beschreibungen durch Zeitgenossen14 lassen erkennen, daß vielfach Tableauwirkungen die bedeutungsträchtigen Szenenabschnitte eines Ballet d'action stützen: Ich verlange sinnreiche Gruppen, kräftige Stellungen, nur daß sie auch natürlich sind; sie müssen so angeordnet sein, daß man nirgend die Mühe des Anordners merkt. (N, 13)

Das Tableau eroberte im 18. Jh. einen eigenständigen Rang als Genre, angesiedelt zwischen Statue und Tanz, Gemälde und Pantomime, Lyrik und Musiktheater. Als »Tableau vivant«, bekanntgemacht durch Lady Hamilton und Henriette Hendel-Schütz,15 erfreute es sich bald der Beliebtheit eines Gesellschaftsspieles in den Salons — noch in Goethes Wahlverwandtschaften spielen die lebenden Bilder eine zentrale Rolle. Als Melodrame, hervorgegangen aus dem auch im Ballett zu dieser Zeit sehr beliebten Motiv der »belebten Statue«16 wie in Rousseaus Pygmalion, markiert es den Beginn eines neuen Genres des Musiktheaters (Abb. 3).

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Vgl. Winter: The Pre-Romantic Ballet, S. 109 und S. 117. Vgl. die Einleitung und die Zitate in: Ausgewählte Ballette Stuttgarter Meister aus der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts (Florian Deller — Johann Joseph Rudolph). Hg. v. Hermann Abert. Neuaufl. krit. revidiert v. Hans Joachim Moser (Denkmäler deutscher Tonkunst. 1. Folge, 43 und 44) Wiesbaden und Graz 1958, S. X I I . Zu diesem Thema, an dem ich in weiterem Zusammenhang arbeite, folgende immer noch grundlegende Literatur: Kirsten Gram H o l m s t r ö m : Monodrama — Attitudes — Tableaux Vivants. Studies on Some Trends in Theatrical Fashion. 1770—1815. (Uppsala — Stockholm Studies in Theatrical History 1) Stockholm 1967. August Langen: Attitude und Tableau in der Goethezeit. In: IDSG, 12 (1968), S. 194ff. Rousseaus >Pygmalion< steht keineswegs am Anfang der Bearbeitung des Sujets für das Musiktheater; sein Werk markiert vielmehr den Ubergang vom Ballett über die »Zwischengattung« Tableau vivant (die durch das Motiv der »belebten Statue« gewissermaßen schon vorgegeben ist) zum Melodram und Monodram etwa eines Georg Benda (1779). E s erscheint folgerichtig (und wäre eine ausführliche Untersuchung wert), daß am Beginn der Darstellung des Pygmalion-Sujets auf dem Musiktheater das Thema der »Statue animee« im Ballett steht: Die seinerzeit berühmten Kreationen Marie Salles (>PygmalionFälleSätzen< oder Thesen, wie sie im damaligen Schulbetrieb bei Disputationsübungen verwendet wurden. 3 9 Bei der sprachlichen Ausarbeitung einer Rede besteht die Hauptaufgabe darin, ihren Gegenstand in angemessene Worte zu kleiden und ihm so zu größtmöglicher psychologischer Wirkung zu verhelfen. 40 In allen Phasen und Teilen seiner Arbeit muß der Redner die Präsentationsformen auf das Wirkziel des Vortrags abstimmen. Dieser Forderung entsprechend unterstützen die Karlsschüler die persuasive Intention ihrer Reden im allgemeinen durch maßvollen Gebrauch affektwirksamer sprachlicher Mittel und proömialer Topoi in der Einleitung ihrer Arbeiten. Die Beweisführung bedient sich einer vorwiegend rational schlußfolgernden Sprache, ohne jedoch auf den notwendigen ornatus zu verzichten. Häufig finden sich rhetorische Fragen, 41 anaphorische Ver-

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Bei Quintilian findet sich, soweit ich sehe, kein Äquivalent zur >AnwendungApplication< auf >SatzBeweis< und >ExempeI< (Ebd. S. 378). Z.B. Parrot, Bl. 51 v ; Jacobi, Bl. 193 r f.; Schiller, N A 20, 9. Petersen, Bl. 97 v -98 v ; Miller, Bl. 116'; Masson, Bl. 123r; Kapf, Bl. 206'. - Zu den Disputationen an der Karlsschule Näheres bei Robert Uhland: Geschichte der Hohen Karlsschule in Stuttgart. (Darstellungen aus der Württembergischen Geschichte 37) Stuttgart 1953, S. 279. Lausberg: Rhetorik, § 455. Besonders ausgeprägt in C. E. Wächters Arbeit; dort sind Aussagesätze gegenüber den rhetorischen Fragen in der Minderzahl.

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Martina

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knüpfung parallelgebauter Sätze und chiastische Verschränkungen, 42 gelegentlich auch Wortneubildungen und Periphrasen. 43 Im Hauptteil überwiegt hypotaktischer Satzbau; das Enthymem wird oft in Form einer konsekutiven >wenn-dannweisen< Regenten, der seine Untertanen mit väterlichem Wohlwollen zur Tugend erzieht und dadurch sein Volk zur Glückseligkeit leitet. Der Rhetorik als tradierter Bildungsmacht des Abendlandes kommt in diesem Konzept eine Schlüsselstellung zu. In der Hand des aufgeklärten Fürsten wird Beredsamkeit im Idealfall zum Instrument patriarchalischer Fürsorge, die in der Beförderung der allgemeinen Wohlfahrt< eine zentrale Herrscherpflicht erblickt.

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Ueding: Schiller, S. 23. Uhland: Karlsschule, S. 88. Vgl. zum Zusammenhang von Erziehung, Tugend und Glückseligkeit auch von Lützow, Bl. 66vf.; Jacobi, Bl. 193rf.; Plieninger, Bl. 199rf. Benno von Wiese: Friedrich Schiller. Stuttgart 1959, S. 22.

Rhetorische

Elemente

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Anhang: Die Themen der Karlsschulreden von 1779 und ihre Bearbeiter

( 1 ) J . F . von Schönfeld: Von der zu erwartenden Standhaftigkeit tugendsamer Frauen (Bl. 2 r - 1 0 r ) (2) J. B. C. von Breitschwert: Ist wahre unverfälschte Tugend eins mit Religion im engsten Verstand? (Bl. 10 r -16 v ) (3) U[lrich] Lfebrecht] von Mandelsloh: Beispiele von grossen Seelen des weiblichen Geschlechts (Bl. 18 r -24 r ) (4) C[arl] E[berhard] Wächter: Hat allzeit das, was wir Tugend nennen, Verdienste bey Gott? (Bl. 26 r -33 v ) (5) [Hans] 0[tto] von der Lühe d. Ä.: Was ist die Anlage des Schöpffers, in Betreff der Tugend? (Bl. 34 r -42 v ) (6) J[ohan] Lfeonhardt] Parrot: Von der Oberhand der Tugend, bey denen, menschlichen Augen nach, obschwebenden fehlerhaften Umständen (Bl. 44r—51v) (7) C. F. Pfeiflin: Kan Tugend Tugend seyn ohne geoffenbarte Religion? (Bl. 53r—60r) (8) I. F. von Lützow: Ob Tugend beim schönen Geschlecht eine Folge der Jahre oder der Erziehung seye (Bl. 6V—67") (9) H. C. F. von Lehsten: Giebt es erschaffene Wesen ohne Tugend? (Bl. 69r—75r) (10) Cfarl] Wfilhelm] von Marschall d.Ä.: Daß ungezwungene Bescheidenheit und Leutseligkeit das Sinbild der Tugend sey (Bl. 76r— 84v) (11) [Friedrich Ludwig] Liesching: Jst die Seele Tugend, oder wirkt Tugend auf die Seele? (Bl. 85 r -91 r ) (12) J[ohann] W[ilhelm] Petersen: Hat Gott alle mögliche Tugenden in sich, was bleibt dem jrrdischen Menschen übrig? (Bl. 92 r -98 r ) (13) Frid[rich] Wilh[elm] von Hoven: In wie weit hat Denken Einflus auf die praktische Tugend? (Bl. 99 r -107 r ) (14) F. Miller: Ob große Seelen des weiblichen Geschlechts die Standhaftigkeit des mänlichen erlangen können? (Bl. 108r— 116r) (15) [Peter Konrad] Masson: Si le Throne couronne la Vertu, le Peuple ne peu etre vertueuse (Bl. 117r—123r) (16) F[riedrich] Ph[ilipp] von Steinheil: Ob die Tugend vielfach sey auch ausser ihrer Ausübung (Bl. 124 r -129 v ) (17) K[arl] Lfudwig] Reichenbach: Ob Tugend warhaft Tugend seie, wenn NebenUmstände das Gegentheil eusserlich beweisen? (Bl. 131r—140v) (18) [Christian Friedrich] Kausler: Giebt es absolute Neigungen zur Tugend? (Bl. 14Γ—145v) (19) Joh[ann] Christfoph] Frid[rich] Schiller: Gehört allzuviel Güte, Leutseeligkeit und große Freygebigkeit im engsten Verstände zur Tugend? (Bl. 147r—154r) (20) Emanuel Elwert: Wo ist der Entscheidungs Puna der Tugend? (Bl. 155 r -162 r ) (21) L. F. I. Grub: Was größer sey? eine mänliche oder weibliche schöne Seele (Bl. 163r—169v) (22) Carl Fridrich Duttenhofer: Hat Tugend Verwandtschaft oder ist sie ein absolutes Individuum (Bl. 171 r -175 v )

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Martina Eicheldinger

(23) Johfann] Christfoph] Friedrich H a u g : Darf und kan ein warhafter, nach allen Theilen tugendsamer Christ seinen Zustand wegen seinen Verdiensten nicht noch glücklicher angeben als derjenige war, den Adam vor dem Sündenfall genoßt (Bl. 177 r -185 r ) (24) Christian Friedrich Jacobi: Sind Iare des Menschen genug, überzeugend Tugendsam genant zu werden (Bl. 186r—194") (25) Theodor Plieninger: Wo ist der eigentliche Mittelpunckt derTugend bey lebenden Geschöpfen f (Bl. 196 r -199 v ) (26) [Franz Josef] Kapf: Vom Vorzug tugendhafter Frauen Bei Of entliehen Anstalten (Bl. 201 r —206 v ) (27) Ferdinand Fridrich Pfeiffer: Jst alles lebende der Tugend fähig? im engsten oder weitesten Verstandf (Bl. 208 r -213 r ) (28) August Leopold Gegel d. A.: Ist es möglich zu beweisen, daß Tugend eine bloße Kunst sey (Bl. 214 r -220 r ) (29) de Bous: Si la femme Vertueuse est un Present du Ciel (Bl. 22Γ—225 r )

Friedrich Strack

Schillers Festreden

In seinen Zwölf Reden über die Beredsamkeit von 1812 klagt Adam Müller über den Verfall der Redekunst in Deutschland: K ö n n e n w i r D e u t s c h e v o n B e r e d s a m k e i t s p r e c h e n , n a c h d e m l ä n g s t aller h ö h e r e V e r k e h r b e i u n s s t u m m u n d s c h r i f t l i c h o d e r in einer a u s w ä r t i g e n S p r a c h e g e t r i e b e n w i r d ? — W e n n d i e g e s a m t e n S t a a t s g e s c h ä f t e einer N a t i o n m i t d e r F e d e r a b g e m a c h t w e r d e n ; w e n n alle g r ö ß e r e n G e i s t e r [ . . . ] statt d e r R e d n e r b ü h n e einen Schreibtisch bereitet finden [...], w o sollen die R e d n e r h e r k o m m e n ? [ . . . ] Wer ü b e r h a u p t lernt r e d e n a u s d e m P a p i e r , a u s d e r t o t e n S c h r i f t ? 1

Mit diesen Worten deutet Adam Müller auf eine Entwicklung, die sich seit dem 18. Jahrhundert abzeichnete: der Lesehunger und die damit verbundene Papierflut der Aufklärung hatten die lebendige Rede verdrängt. Nie zuvor war so extensiv geschrieben, nie so innig gelesen worden. In Briefen schüttete man seine Seele aus. Sie waren für mitfühlende Herzen bestimmt, nicht für die Öffentlichkeit. Und selbst wenn man sich öffentlich mitteilen wollte — in Literatur, Philosophie oder Wissenschaft — wählte man die Briefform. Intimität war Bedürfnis; lautes Reden dagegen verpönt.2 Unter diesen Umständen blieb für die Kunst der öffentlichen Rede nur wenig Spielraum. Sie verlor ihre einst herausragende Stellung. Lange Zeit war sie in Rhetorikbüchern tradiert und in Schulen gelehrt worden. Wer sie beherrschte, galt als Persönlichkeit von umfassender Bildung und sittlicher Verantwortung. Wegen ihrer ethischen Fundierung stand die Rhetorik in weit höherem Ansehen als die Fachwissenschaften.3 Sprache und Rede stiften Gemeinschaft; wissenschaftliche Forschung dagegen führt in die Ere1

2

3

A d a m Müller, Kritische, ästhetische und philosophische Schriften, Bd. 1. Hrsg. v. Walter Schroeder und Werner Siebert. Neuwied, Berlin 1967. S. 297ff. Man findet in der Literatur des ausgehenden 18. Jahrhunderts kaum eine große Rede, allenfalls in polemischer oder satirischer Absicht. Jean Paul läßt im >Siebenkäs< den »toten Christus vom Weltgebäude herab« reden, »daß kein Gott sei«. — N u r im Tierepos haben die Redner noch ihre großen Auftritte. Sie konnten sich auf ihre schlauen Vorfahren berufen. Vgl. Quintilian. U b e r Pädagogik und Rhetorik. Eine Auswahl aus der >Institutio oratoriavir bonusFrühlingsfeier< sind evident. 40 Vgl. NA 21, S. 113. - Auch hier bleibt Klopstocks Einfluß spürbar: der antiken Herrschergestalt muß eine aus dem nordischen Bezirk, »aus dem toden Schutt des barbarischen Heidenthums«, wie Schiller sich vor der höfischen Gesellschaft auszudrücken beliebt, entgegengestellt werden. 38

Schillers Festreden

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Erst in Franziskas Person also steht die »Tugend« leibhaftig vor Augen, ihr wird pathetisch gehuldigt, mehr noch von den »Armen in den Hütten«, die »Tränen der Dankbarkeit und Freude« vergießen, als »durch die Pracht dieser Versammlung«. Und Karl, der »Tugend belonet«, steht dieser Gestalt zur Seite, auch er wird vom Abglanz der Tugend überstrahlt; »beedes Nachahmung der Gotheit!« (9, 1 1 - 2 0 . ) — Darin vollendet sich die Apotheose des Herrscherpaares, die nur noch durch den vorweggenommenen Nachruhm ergänzt und gleichsam bestätigt wird. Visionär sieht der Redner die »Söhne der kommenden Jahre«, die »in den Grabmahlern ihrer Voreltern« suchen, um Karl und Franziska zu verherrlichen. (9, 21 - 2 6 . ) Damit wird zum Abschluß auch noch die Wirkung der »Tugend« ins Bild geiaßt. Karl und Franziska werden im Gedächtnis der Nachwelt nicht untergehen. Bei einem solchen Finale gerät das schulmäßige Thema des Vortrags in Vergessenheit. Im Rausch der affektbestimmten und klimatisch gesteigerten Rede, die durch Schillers gestischen Vortrag zweifellos unterstrichen wurde,41 verwandelt sich die stoisch trockene »Tugend«, die aus Kampf und Selbstüberwindung hervorgehen sollte, in eine göttliche Epiphanie. Wie im Nachspiel zur Oper Dido, die zu Franziskas Geburtstag 1780 aufgeführt wurde, am Ende »das Bildnis« der Gräfin »mitten unter den olympischen Gottheiten [...] unter dem Charakter der Tugend seinen Platz einfnimmt]«,42 so wird auch in Schillers Rede Franziska unter die Götter versetzt.43 Die festlichen Aufführungen zu ihrem Geburtstag ergänzen sich gegenseitig. Sie machen zusammen ein Universalkunstwerk aus, bei dem Karl Eugen Regie führt. Dazu gehört auch das abschließende Feuerwerk, das Vulkan »nach abgesungener Arie zündet« und in dem »der Name Ihrer Excellenz der Frau Reichsgräfin von Hohenheim« »brennt«.44 Mit Recht weist Otto Güntter

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Das »Uebermaß von Pathos in der Deklamation durch schreiende Stimme und forcierte Gesten« hebt Richard Weltrich unter Bezug auf Berichte von Schillers Freund Petersen hervor. Vgl. R. W . : Friedrich Schiller. Geschichte seines Lebens und Charakteristik seiner Werke. Stuttgart 1898. Bd. 1. S. 288. D a z u : Schillers Gespräche. Hrsg. v. Frh. von Biedermann. München o . J . , S. 36f. Peter Michelsen hat die Rolle des Gestischen in Schillers Jugenddramen herausgearbeitet und auf Joseph Uriots Deklamationskunst zurückgeführt (vgl. Anm. 32, S. 28ff.) Zu den Festgestaltungen an der Karlsschule vgl. Gerhard Friedl in diesem Band, S. 47ff.

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Vgl. dazu O t t o Güntter, Schiller zweite Rede (Anm. 17), S. 214. N a c h dem gleichen Prinzip verfährt Schiller noch zu Beginn seiner Abhandlung >Ueber Anmuth und WürdeBei H o f , bei Höllhöfische< Rhetorik aus. Vgl. Kant, Kritik der Urteilskraft, § 53, S. 216. Diese Rede hat Schiller tatsächlich vor einer Festversammlung vorgetragen, was von der früheren Rede nicht sicher bezeugt ist.

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Schillers Festreden

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Lebens ruhig zälen last«. (36, 2—6.) Schiller hat das Hantieren mit grellen Farben nicht verlernt; Weltgerichtsszenen gelingen ihm besonders eindrucksvoll. (Vgl. 36, 11 —20) Der Pastor, der er einst hatte werden wollen, steigt verspätet in ihm auf. Aber er zügelt sich immer wieder, überläßt sich nicht einfach dem Klopstockschen Geistesschwung wie in der früheren Rede. Er untergliedert seinen Vortrag in deutliche Abschnitte, betrachtet die »Folgen der Tugend auf das Ganze« (32, 14f.) sowie die »Folgen der Tugend auf den Tugendhaften selbst« (35, 3f.) und bestimmt deren Zweck im Rahmen seiner Glückseligkeits- und Vollkommenheitsphilosophie. Wie in seinen Philosophischen Briefen ist »Liebe« das »Band« in der Geisterwelt, das die Vollkommenheit des Ganzen und die Glückseligkeit des Einzelnen befördert (32, 15f.); und dafür steht auch hier ein Beispiel, das szenisch vergegenwärtigt und pathetisch gesteigert wird: Meine Freunde! Welche Scene rükt vor meine staunende Seele! Seh ich nicht ein Gewimmel von Menschengeschlechtern sich zu dem Grabmaal Eines Fürsten — (Ach eines Fürsten, den ich Vater nennen darf,) hinzudringen, seh ich sie nicht weinen, jauchzen, beten, über dem Grabmal des Herrlichen? (34, 4—9.)

Schiller greift das Schlußbild seiner früheren Rede auf, um Karl Eugen als »großen Menschenbilder«, als »Nachamer der Gottheit auf Erden« zu feiern (34, 19—22), um die »Folgen« der Tugend vor Augen zu stellen. Karl erscheint als das Werkzeug der Tugend, die ihrerseits personifiziert und hymnisch angerufen wird: Allmächtige Tugend, die du dich in den Busen des Fürsten niederließest, und von hieraus die Herzen der Menschen angelst, durch dieses Einzige Fürstenherz hast du dir eine Welt unterworffenü! - (34, 2 2 - 2 5 . )

So wird auch in dieser Rede der rhetorische Schwung letztlich nicht gebrochen. Anrufungen, Hyperbeln, Aposiopesen und Satzzeichen deuten auf eine affektisch gesteigerte Rede, die allerdings mehrfach zurückgeschraubt wird. Wiederum schließt sie mit der Erhöhung der »Erlauchte[n] Gräfin« zur Repräsentationsfigur, die hier aber nicht mehr zur Göttin gesteigert wird, sondern als ein Muster des empfindsamen Mitgefühls erscheint. Irrdische Belohnungen vergehen — — Sterbliche Kronen flattern dahin — die erhabenste Jubellieder verhallen über dem Sarge. - Aber diese Ruhe der Seele, Franziska, diese himmliche Heiterkeit, iezt ausgegossen über Ihr Angesicht, laut, laut, verkündet sie mir unendliche innere Belohnung der Tugend — Eine Einzige fallende Thräne der Wonne, Franziska, eine Einzige gleich einer Welt - Franziska verdient sie zu weinen! (36, 28—34.)

In drei sich überbietenden Wortkaskaden, auf deren Gipfel jeweils der Name der Gräfin wie ein Juwel erstrahlt, türmt sich das Lob, ehe es in den

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Friedrich Strack

»Thränen der Wonne« verströmt. Auch die zärtlichen Gefühlsergüsse in ihrer forcierten Tränenseligkeit sind Ausdruck der pathetischen Größe; mit ihnen wird die Gräfin in den Kreis der Menschen zurückgeholt. Sie ist nicht >nur< Göttin; sie bleibt den fühlenden Menschen verbunden. Und das bedeutet weit mehr als stilles Götterdasein, weil Liebe und Empfindung hinzukommen. In all diesen Einzelfällen variiert oder erweitert Schiller nur sein rhetorisches Repertoire. Aber er geht auch einen Schritt weiter als in der Rede von 1779. Uber die Versammlung hinweg tritt er in einen persönlichen Dialog mit dem Herzog ein. Dieser hatte im November 1779 über Schillers medizinische Dissertation verfügt, daß sie nicht gedruckt und daß Schiller selbst noch ein Jahr in der Akademie zubringen sollte. 49 Er hatte ihn gewissermaßen zum Sitzenbleiber erklärt, obschon mit der Einschränkung daß der junge Mensch viel schönes darinnen [in seiner Dissertation] gesagt — und besonders viel Feuer gezeigt hat. Eben deswegen aber und weilen solches wirklich noch zu stark ist, denke Ich, kann sie noch nicht öffentlich an die Welt ausgegeben werden. Dahero glaube Ich, wird es auch noch recht gut vor ihm seyn, wenn er noch Ein Jahr in der Akademie bleibt, w o inmittelst sein Feuer noch ein wenig gedämpft werden kann, so daß er alßdann einmal, wenn er fleißig zu seyn forfährt, gewiß ein recht großes Subjectum werden kann. 50

Auf diese wohlmeinende Kritik, die dem Verfasser gewiß nicht vorenthalten wurde, antwortet Schiller in seiner Rede, wenn er den »allgemeinen Geisterzusammenhang« durch ein Beispiel erläutert: So kann das Jugendliche Feuer eines brausenden Geists durch den bedachtsamem Ernst des reifern Manns milder und mäsiger werden. (33, 5—7.)51

Schiller nimmt das Urteil des Herzogs auf und akzeptiert damit dessen Zurechtweisung. Er bestätigt, daß eine Dämpfung seines rhetorischen »Feuers« ihm wohl anstehen mag; vielleicht hängt damit zusammen, daß seine zweite Rede weniger überschwenglich ausgefallen ist als die erste von 1779. Noch in einer weiteren Frage kommuniziert Schiller mit dem Herzog über die Köpfe seiner Zuhörer hinweg: Karl Eugen hatte seine Ansprache zum Abschluß der öffentlichen Prüfungen im Jahre 1779 mit den Worten beendet:

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Vgl. NA 21, S. 116ff. Nach Otto Güntter, Schillers zweite Rede (Anm. 17), S. 220. Zum Urteil der medizinischen Fachlehrer Schillers vgl. NA 21, S. 116ff. Darauf hat bereits Otto Güntter, Schillers zweite Rede (Anm. 17), S. 220 hingewiesen.

Schillers

Festreden

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Carl ist Euer zärtlicher Vatter, Ihr alle seyd Carls Söhne; soll meine Asche, nach dem Verfluß meiner vielleicht noch wenigen Tage, ruhig in Ihrer Bestimmung bleiben, ach! Liebste Söhne, decket sie immer mit Ausflüssen ausübender Tugend

Darauf antwortet Schiller mit der für eine Geburtstagsrede doch höchst befremdlichen Bemerkung: Thränen des D a n k s auf Ihre Asche, mein Vater; Thränen des D a n k s auf Ihre Asche, beste Freundin des Vaters! (35, 1—2.)

Vater und Sohn führen hier ein öffentliches Gespräch, wobei Schiller Vorstellungen Karl Eugens aufgreift und steigert. Die »Thränen des Danks« künftiger Geschlechter sind die »Folgen«, die »Ausflüsse ausübender Tugend«, an die der Herzog in seiner Akademierede gemahnt hatte. 53 Schiller gibt ihm zu verstehen, daß sein Werk Früchte tragen wird. Er tritt weder als Schmeichler noch als Rebell auf den Plan, sondern als selbstbewußter Gesprächspartner, der die höfischen Formen beherrscht und nach »wahrer Ueberzeugung« handelt, wie es Karl Eugen forderte. 54 Erst nach seiner sogenannten Flucht aus Stuttgart 1782, die ein frei gewähltes, mit großen Hoffnungen besetztes Abenteuer war, 55 gebärdet sich Schiller als »Weltbürger«, der »keinem Fürsten« mehr dienen, nur noch »das Publikum« als »Souverain« anerkennen will. 56 Seine Sprache verrät jedoch, wie sehr er dem höfischen Muster verhaftet bleibt. O b Fürst oder Publikum: den »Souverain« braucht Schiller, um sich vor ihm zu bewähren. Unter Karl Eugens Augen, den er als »Vater« verehrte, wie noch die Ankündigung zur Rheinischen Thalia bekennt (22, 94), übte er sich ein in die große pathetische Sprachgebärde, die auch später seine Dichtung beherrscht. Im höfischen Bezirk Karl Eugens und im Glanz feierlicher Präsentation entfaltete sich sein poetisches Vermögen, das dann auch antihöfisch instrumentiert werden konnte. 57 Adam Müller traf den Nagel wohl auf den

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Schwäbisches M a g a z i n v o n gelehrten Sachen auf das J a h r 1780, S. 65. Vgl. A n m . 52. — Vielleicht sind Schillers Worte auch als ein Widerruf von Schubarts G e d i c h t >Die Fürstengruft< z u verstehen, das die R ü h m u n g der Toten in satirischen H o h n verwandelt hatte und das gegen K a r l E u g e n gerichtet war. A u c h das ist in der R e d e des H e r z o g s v o m D e z e m b e r 1779 nachzulesen (vgl. A n m . 52). Schiller h o f f t e auf künftigen Theaterruhm. A n k ü n d i g u n g der .Rheinischen Thalia«. N A 22, S. 93ff. I m Brief an Henriette von W o l z o g e n v o m 13./14. N o v e m b e r 1783 schreibt Schiller von einer »öffentlichefn] poetischen R e d e [ . . . ] « , die ihm z u m N a m e n s t a g der K u r f ü r s t i n übertragen w o r d e n war und »welche in G e g e n w a r t der C u r f ü r s t i n und des Manheimer Publik u m s auf d e m Theater solte abgelegt w e r d e n « . — »Ich mache sie, und nach meiner verfluchten G e w o h n h e i t satyrisch u n d scharf. H e u t e schik ich sie D a l b e r g — er ist ganz davon

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Friedrich Strack

Kopf, als er Schiller den »größte[n] Redner der Deutschen« nannte, der »die dichterische F o r m nur wählte, weil er gehört werden wollte und weil die Poesie eine Art von Publikum in Deutschland hatte, die Beredsamkeit aber keines«. 58

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bezaubert und entzükt, aber kein Mensch kann sie brauchen, denn sie ist mehr ein Pasquill als Lobrede auf die beiden Curfürstlichen Personen. Weil es jezt zu spät ist, und man das Herz nicht hat, mir eine andere zuzumuten, wird das ganze Lumpenfete eingestellt. Dalberg aber thut es nicht anders. Er will meine Rede druken laßen.« (NA 23, 121.) Adam Müller, Reden über die Beredsamkeit. (Anm. 1), S. 302.

Wolfgang Friedrichs

Heimliche Lektüre der Karlsschüler

In der älteren Forschung finden sich vereinzelt Hinweise darauf, daß an der Karlsschule Listen mit den Titeln verbotener und deshalb von den Aufsehern konfiszierter Bücher geführt wurden.1 Da eine detaillierte Untersuchung dieser Dokumente bislang nicht vorliegt, schien es mir lohnenswert, der Frage nachzugehen, ob sie sich überhaupt unter den Aktenbeständen der Karlsschule, die im Stuttgarter Hauptstaatsarchiv aufbewahrt werden, erhalten haben und, wenn ja, inwieweit sie Aufschluß über heimliche Lektüregepflogenheiten der Karlsschüler geben. Als Resultat dieser Nachforschungen werden sich die folgenden Ausführungen im wesentlichen auf die Beschreibung des vorgefundenen Aktenmaterials, die Probleme seiner Auswertung und die Katalogisierung der inkriminierten Titel beschränken. Daß an der Karlsschule neben anderen unerlaubten Aktivitäten auch heimlich gelesen wurde, scheint auf der Hand zu liegen, bedenkt man die rigorose Disziplin, der sich die Eleven beugen mußten. Ihre Lern- und Lesebereitschaft überschritt zweifelsohne die lehrplankonformen Grenzen des offiziellen Lektürekanons, was motiviert gewesen sein mochte durch schlichte Lust am Verbotenen, durch intellektuelle Neugier oder auch durch die bewußte Abwehr der vom Herzog geforderten geistigen Uniformierung und Reglementierung. Auf diesen Sachverhalt macht Schiller in der Ankündigung der Rheinischen Thalia von 1784 aufmerksam: N e i g u n g f ü r Poesie beleidigte die Gesetze des Instituts, worin ich erzogen ward, und widersprach dem Plan seines Stifters. Acht Jahre rang mein Enthusiasmus mit der militärischen Regel; aber Leidenschaft für die Dichtkunst ist feurig und stark, wie die e r s t e Liebe. Was sie ersticken sollte, fachte sie an. Verhältnissen zu entfliehen, die mir zur Folter waren, schweifte mein H e r z in eine Idealenwelt aus — aber unbekannt mit der w i r k l i c h e n , von welcher mich eiserne Stäbe schieden — unbekannt mit den M e n s c h e n — denn die vierhunderte, die mich umgaben, waren ein e i n z i g e s Geschöpf, der getreue A b g u ß eines und eben dieses

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Vgl. Jakob Minor: Schiller. Sein Leben und sein Werk. Bd. 1. Berlin 1890, S. 168f„ und Heinrich Wagner: Geschichte der Hohen Carls-Schule. Bd. 1. Würzburg 1856, S. 75f.

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Wolfgang Friedrichs

Modells, von welchem die plastische N a t u r sich feierlich lossagte — unbekannt mit den Neigungen freier, sich selbst überlassener Wesen, denn h i e r k a m nur e i n e zur Reife, eine, die ich jetzo nicht nennen will; jede übrige Kraft des Willens erschlaffte, indem eine einzige sich konvulsivisch spannte; jede Eigenheit, jede Ausgelassenheit der tausendfach spielenden N a t u r ging in dem regelmäßigen T e m p o der herrschenden O r d n u n g verloren. 2

Nimmt man Schillers retrospektive Abrechnung mit seiner früheren Schule wörtlich, mag der Eindruck entstehen, daß der Herzog in den Eleven nur allzu fügsame Objekte seines pädagogischen Eifers und Unterwerfungswillens gefunden hat. Für eine solche Ansicht lassen sich auch Beispiele anführen: Von Cuvier etwa wird berichtet, daß er, auf Urlaub in seiner Mömpelgarder Heimat, ungeduldig die Rückkehr nach Stuttgart erwartete. Zu bedenken wäre in diesem Zusammenhang auch, daß viele Zöglinge aus bescheidenen Verhältnissen stammten, die Aufstiegschancen, die ihnen durch die Karlsschule geboten wurden, bewußt wahrnahmen und somit auch zu Wohlverhalten und Dankbarkeit gegenüber ihrem fürstlichen Gönner und Förderer neigten. So haben sich bis in die zwanziger Jahre des 19. Jahrhunderts ehemalige Karlsschüler regelmäßig am 11. Februar, dem Geburtstag des Herzogs, zusammengefunden, um ihres väterlichen Wohltäters zu gedenken. Nicht auszuschließen wäre also, daß sich viele Zöglinge dem Anstaltsreglement bereitwillig unterwarfen und ihre Lesegepflogenheiten konfliktvermeidend daran ausrichteten. Gegen diese Annahme spricht nun aber die aufschlußreiche Tatsache, daß in dem von mir durchgesehenen Archivmaterial die umfangreichste Erwähnung unerlaubter Lektüre sich mit dem Namen eines Eleven verknüpft, der keineswegs im Verdacht von Unbotmäßigkeit oder Insubordination stand. Ich meine Karl Friedrich Kielmeyer, der in späteren Jahren als Tübinger Professor Physiologie und vergleichende Anatomie lehrte und übrigens mit seinem früheren Mitschüler Cuvier zeitlebens in einem regen, wissenschaftlich sehr fruchtbaren Briefwechsel stand. In Bebenhausen als Sohn eines Werkzeugmachers geboren, war er 1773 im Alter von acht Jahren in die Karlsschule eingetreten, hatte zunächst den philosophischen Kursus durchlaufen, dann jedoch das Studium der Naturwissenschaften aufgenommen und den Beruf des Mediziners gewählt. 1786, nach Abschluß seiner Dissertation Uber den chemischen Gehalt einiger Mineralquellen erhielt er ein herzogliches Reisestipendium, das ihm einen zweijährigen Studienaufenthalt in Göttingen erlaubte. Nach Stuttgart zurückgekehrt, wurde er als Professor für Zoologie, Botanik und Chemie an die Karlsschule berufen, an 2

Friedrich Schiller: Ankündigung der Rheinischen Thalia. In: N A 22, S. 93-98. Hier 93f.

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der er bis zur Aufhebung der Anstalt (1794) unterrichtete und seine späteren bahnbrechenden Arbeiten über die Morphologie der Tiere vorbereitete. Bereits während seiner Schulzeit war er aufgrund hervorragender Kenntnisse damit beauftragt worden, Vorlesungen über Naturgeschichte und Botanik zu halten. Im Rufe eines Musterschülers stehend, zeichnete er sich durch Preise aus und gehörte zu denjenigen Eleven, die bei feierlichen offiziellen Anlässen die Karlsschule repräsentieren durften. U m so mehr überrascht es, daß sich bei einer der regelmäßig durchgeführten Schlafsaalkontrollen der Bücherschrank gerade dieses Zöglings mit unerlaubtem Lesegut besonders üppig bestückt fand, wie aus einer der Visitationslisten hervorgeht, die von Aufsehern und Professoren bei ihren Kontrollgängen angelegt wurden. Diese Aktenstücke liegen nun nicht komplett sondern nur aus den Monaten März und November 1778, Oktober 1779 und September 1781, 1783, 1784 vor. Die Schwierigkeit, die sie zunächst aufwerfen, besteht darin, daß sie außer der zumeist nur fragmentarischen Nennung der Titel keine näheren Angaben zu den beanstandeten Werken enthalten. Problematisch indessen wird ihre Auswertung dadurch, daß sie teilweise gänzlich unverdächtige Bücher wie Grammatiken, Lexika oder Atlanten verzeichnen, die wohl den Lerneifer der Schüler bezeugen, nicht aber auf deren subversive Gesinnung schließen lassen. In Anbetracht dieser Sachlage gewinnt die über den Eleven Kielmeyer angelegte Sonderakte ihren Aussagewert dadurch, daß sie nur Titel enthält, die ausdrücklich mit der Randbemerkung »wider Religion und gute Sitte« versehen sind. Im folgenden möchte ich diese Titel, nach Nationalliteraturen gruppiert, aufzählen, 3 wobei ergänzend auch die in den übrigen Visitationslisten erwähnten Bücher genannt werden sollen, von denen anzunehmen ist, daß sie von Schulleitung und Professoren mißbilligt wurden. Die deutsche Literatur war in Kielmeyers Bücherschrank nur sehr dürftig durch lediglich zwei Werke vertreten: — Christoph Martin Wieland: Geschichte des Agathon. Frankfurt und Leipzig 1766-1767. — Ders.: Komische Geschichten. Zürich 1766. — Kielmeyer las sie allerdings in der 1771 in Paris unter dem Titel Contes comiques erschienenen französischen Ubersetzung.

Auf den anderen Visitationslisten werden an deutscher Literatur außerdem erwähnt:

3

Die dabei genannten Jahreszahlen geben das Datum der Erstausgabe an, da aus den Visitationslisten nicht hervorgeht, in welcher Ausgabe das jeweilige Werk, sofern es mehrere Auflagen erlebte, gelesen wurde.

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— Johann Martin Miller: Siegwart. Eine Klostergeschichte. Leipzig 1776. — Ders.: Beitrag zur Geschichte der Zärtlichkeit. Aus den Briefen zweier Liebenden. Leipzig 1776. Aus der englischen Literatur ist nur ein Werk verzeichnet: — Aphra Behn: Oroonoko, or The Royal Slave. A True History. London 1688. — Aus der Angabe in Kielmeyers Akte geht jedoch nicht hervor, ob er diesen Roman im englischen Original, in der 1709 besorgten deutschen oder in der 1745 publizierten französischen Ubersetzung las. Anzunehmen ist, daß der Roman auf französisch gelesen wurde, da die französische Literatur in Kielmeyers Bücherschrank am umfangreichsten vertreten war: — Les Cent nouvelles nouvelles, von Boccaccio inspirierte, zwischen 1456 und 1467 für den burgundischen Hof gesammelte Novellen verschiedener unbekannter Autoren. — Jean Marie de Chateaugiron: La Bibliotheque des femmes, ouvrage moral, critique et philosophique. Paris 1759. — Jean Francois de Bastide: Contes de M. de Bastide. Paris 1763. — Louis de Laus de Boissy: Le Secretaire du Parnasse, ou recueil de nouvelles pieces fugitives, en vers et en prose, accompagnees de notes critiques et impartiales. Paris 1770. Boissy wie auch Bastide sind vor allem als Verfasser heute vergessener, zu ihrer Zeit jedoch vielgespielter Komödien hervorgetreten. — Lettres de M. de Voltaire. — Vermutlich handelt es sich hierbei um die sogenannten Lettres anglaises, die unter dem Titel Lettres ecrites de Londres sur les Anglais et autres sujets par Μ. de Voltaire 1733 in Basel und ein Jahr später als Lettres philosophiques par Μ. de Voltaire in Amsterdam veröffentlicht wurden. — Jean-Baptiste de Boy er, marquis d'Argens: Lettres juives, ou correspondance philosophique, historique et critique, entre un juif voyageur en differens endroits de l'Europe et ses correspondans en divers endroits. 6 Bde. Den Haag 1738. — Jean-Jacques Rousseau: Julie, ou la nouvelle Heloise. Amsterdam 1761. — Franfois de Salignac de La Mothe-Fenelon: Les Aventures de Telemaque, fils d'Ulysse, ou suite du quatrieme livre de l'Odyssee d'Homere. Den Haag 1699, als Fürstenspiegel für den Enkelsohn Ludwigs XIV, den Due de Bourgogne, verfaßt, dessen Erzieher Fenelon war. Das Werk findet sich fünfmal auf den anderen Listen erwähnt. In den übrigen Visitationslisten werden an französischer Literatur noch angeführt: — Dialogues des morts — Aus den Angaben ist nicht zu ersehen, ob damit die von Lukians Nekrikoi dialogoi angeregte, 1683 publizierte satirische Schrift Fontenelles oder das gleichnamige Werk Fenelons gemeint ist, das ebenfalls für den Due de Bourgogne geschrieben und 1712 veröffentlicht wurde. — Charles Louis de Secondat, baron de La Brede et de Montesquieu: Considerations sur les causes de la grandeur des Romains et de leur decadence. Amsterdam 1734.

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Abschließend sind noch drei italienische Titel zu nennen, die wiederum nur in der Akte Kielmeyer erwähnt werden und zu denen nähere bibliographische Angaben nicht zu ermitteln waren: — La beatrice principessa di Stria. — La beatrice principessa di Syria. — Giornale per le donne ο raccolta di storie galanti. Die an diese Aufstellung zunächst zu richtende Frage, ob sie repräsentativ genug ist, um generelle Aussagen über die Lektüregepflogenheiten der Karlsschüler zuzulassen, m u ß aufgrund der Lückenhaftigkeit des Datenmaterials offen bleiben. D o c h wird man annehmen dürfen, daß die Schüler nicht nur ihre Leseeindrücke sondern auch die entsprechenden Werke untereinander oder zumindest im engeren Freundeskreis ausgetauscht haben, was durch vereinzelte Notizen auf den Visitationslisten auch bestätigt wird. D a r ü b e r hinaus drängt sich wenigstens dem heutigen Leser als weitere Frage auf, was an den meisten der konfiszierten Bücher denn so verwerflich gewesen sein mochte, daß sie gegen Moral und gute Sitte verstießen. W a r u m hat ein Schüler, wenn er es schon riskierte, durch heimliche Lektüre das Mißfallen seiner Vorgesetzten zu erregen, sich nicht auf delikatere und gewagtere Lesegenüsse eingelassen, wie sie beispielsweise bei Diderot oder Crebillon fils zu finden gewesen wären? Indessen wird selbst harmloser Lesestoff, der allein durch seine Tabuisierung den Reiz des Verbotenen erhielt, auch für ansonsten fügsame und anpassungswillige Eleven wie Kielmeyer eine willkommene Möglichkeit geboten haben, die geistige und seelische Bevormundung, der sie ausgesetzt waren, zu kompensieren und die engen Schranken, die die Entwicklung ihres Selbst- und Weltverständnisses behinderten, zumindest potentiell zu durchbrechen. Auffallend an dieser verbotenen Bibliothek ist zunächst der starke Anteil an sogenannter galanter Literatur, in der das M o m e n t der Passion eine moralisierende, empfindsame Färbung erhält und, von den Cent nouvelles nouvelles abgesehen, die Einflüsterungen des Eros, der vor dem Geltungsanspruch der Tugend kapituliert, nur vereinzelt in Form zaghafter Zweideutigkeiten anklingen. Entschiedene Ansprüche in dieser Richtung werden Carl Eugens Zöglinge wohl auch kaum gestellt haben. In einer Welt lebend, in der, u m nochmals Schiller zu zitieren, Frauen nur Zutritt haben »ehe sie anfangen interessant zu werden, und wenn sie aufgehört haben es zu sein«, 4 mochte es ihnen genügen, das andere Geschlecht und die Verstrickungen der Liebe zunächst durch den Filter der Literatur wahrzunehmen. Dies gilt

4

Schiller: Ankündigung, S. 94.

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in globalerem Maßstab auch für ihre Kenntnis des gesellschaftlichen und politischen Lebens. Wer unter den Eleven kosmopolitische Neigungen in sich verspürte, konnte diese kultivieren durch die Lektüre der Lettres juives des Marquis d'Argens, der als Mitglied der Berliner Akademie der Wissenschaften das Vertrauen und die Freundschaft Friedrichs des Großen genoß. Seine von drei fiktiven jüdischen Korrespondenten in Paris, Rom und Konstantinopel abgefaßten Briefe geben ihm Gelegenheit, in Anlehnung an die Lettres persanes Montesquieus aus der Warte des unvoreingenommenen und natürlicherweise aufgeklärten Fremden sich mit den europäischen und insbesondere den französischen Zuständen, die wiederum auf Paris und Versailles fokussiert werden, kritisch, teilweise auch sehr polemisch auseinanderzusetzen, ohne jedoch jemals Zweifel an der Notwendigkeit der Monarchie und der ständestaatlichen Hierarchie aufkommen zu lassen. Schuld an allen politischen, gesellschaftlichen und moralischen Ubelständen tragen in letzter Instanz allein der Papst und dessen in sich zerstrittener Klerus, der aus deistischer Perspektive mit beißendem Spott bedacht und vehement attackiert wird. Um ihre antiklerikalen Invektiven philosophisch abzusichern, füllen die gelehrten Rabbiner des Marquis d'Argens einen beträchtlichen Teil ihrer Korrespondenz mit weitschweifigen, wortreichen Reflexionen über antike Metaphysik, scholastische Theologie und chinesische Weisheitslehren. Auf Abwechslung bedacht, versäumen sie jedoch auch nicht, Sittenbilder aus der Welt des einfachen Volkes, des Bürgertums und des Adels zu skizzieren. Die Unbeständigkeit und Gefallsucht der Frauen und die Tumbheit der Männer bieten ihnen Stoff für zahlreiche Anekdoten und Kolportagen ebenso wie die in den Pariser Salons und am Versailler Hof gesponnenen Intrigen. Gegenstand seriöserer Kommentare ist dagegen der Fortschritt in Wissenschaften und Künsten, deren tatkräftige Förderung durch den französischen König den Briefeschreibern Lob und Bewunderung entlockt. Der Leser dieser Korrespondenz hatte somit hinreichend Gelegenheit, sich in aufgeklärter Religionskritik zu üben und zumindest theoretisch ein gewisses Maß an Weitläufigkeit zu erlangen. Mehr politische Brisanz als die Briefesammlung des Marquis d'Argens besaßen hingegen Voltaires Lettres philosophiques, die ein Regierungssystem nach englischem Vorbild favorisieren, oder Montesquieus Considerations sur les causes de la grandeur des Romains et de leur decadence, die ein Hauptthema der das 18. Jahrhundert beherrschenden politischen und philosophischen Diskussion anschlagen, nämlich die Gegenüberstellung von republikanischer und monarchischer Verfassung. Daß Monarchien die Gefahr des Despotismus in sich bergen, konnten die Karlsschüler auch in Fenelons Telemaque nachlesen. Fenelon sieht ihn jedoch lediglich als eine vermeidbare Degenera-

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tionsform an, gegen die ein weiser, menschenfreundlicher König, zumal wenn ihm in seiner Jugend ein Erzieher vom Format Fenelons zur Seite stand, gefeit ist. Für Montesquieu hingegen sind Despotismus und Absolutismus nur graduell verschiedene, strukturell aber nahezu gleichwertige Herrschaftsformen. Den Status der Untertanen in einem despotischen Regime charakterisiert er durch die Termini »servitude« und »esclavage«, die einen Karlsschüler hellhörig machen mußten, konnte er sie doch auf seinen eigenen rechtlosen Status übertragen. Auch wenn er sich in Aphra Behns Roman Oroonoko vertiefte, konnte er die Uberzeugung gewinnen, auf einer Sklavenplantage, wie Schubart Carl Eugens militärische Pflanzschule einmal nennt,5 zu leben. Die gesellschaftspolitische Sprengkraft dieses Romans darf indessen nicht überschätzt werden, da die Autorin die Situation der westindischen Negersklaven anhand einer untypischen, heldenmütigen Einzelgestalt exemplifiziert, somit auch individualisiert und die Möglichkeit einer revolutionären Erhebung resignativ ausblendet. Der Leser mochte es dabei bewenden lassen, sich mit dem Helden Oroonoko, der zwar ein Schwarzer, immerhin aber ein Königssohn und mit den entsprechenden Qualitäten überreich ausgestattet ist, zu identifizieren und sein tragisches Scheitern zu betrauern. Uberhaupt wird man sich wohl vor der Annahme hüten müssen, daß sich die Leseeindrücke der Karlsschüler praxisstiftend auf das Leben in der Anstalt ausgewirkt haben könnten. Bereits ihre heimliche Lektüre mochte, wie bescheiden auch immer, für sie ein Akt der Auflehnung und des Widerstands sein. So konnten sie sich von dem psychischen Druck, dem sie ausgesetzt waren, entlasten und kleine, wenngleich illusionäre Fluchten in die Freiheit wagen, indem sie Werke konsultierten, die sie mit den literarischen, philosophischen und politischen Hauptströmungen ihres Jahrhunderts vertraut machten und ihnen Artikulationshilfen für die gedankliche Bewältigung ihrer Situation boten.

5

Minor: Schiller. Bd. 1, S. 85.

Heinrich Schipperges

Der Medicus Schiller und das Konzept seiner Heilkunde

Friedrich Schillers Konzept einer Heilkunde ist in der höfischen Welt um die Stuttgarter Karlsschule zu suchen. Im Jahre 1775 hatte Schiller dort zum Medizinstudium gewechselt; 1779 kam er zum akademischen Abschlußexamen ohne Promotion. In den letzten Jahren seiner Ausbildung hatte er drei medizinische Preise gewonnen, einen in der Arzneimittellehre, die anderen in der »inneren und äußeren Heilkunde«. 1780 legte Schiller eine Dissertation vor Uber den Unterschied zwischen den entzündlichen und fauligen Fiebern, wenig später seinen Versuch über den Zusammenhang der thierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen, ferner Acht Krankenberichte. Im Jahre 1780 wurde Friedrich Schiller Regimentsmedikus beim Stuttgarter Grenadierregiment des General Auge. Am 13. Januar 1782 kam es zur Aufführung der Räuber in Mannheim; Schiller erhielt 14 Tage Arrest durch Herzog Carl Eugen. Im Herbst 1782 gelang ihm die Flucht nach Mannheim. Die Laufbahn des Medikus Schiller war damit zu Ende. Nicht verschweigen darf man an dieser Stelle aber auch die ironische Selbstrezension der Räuber aus dem Jahre 1782, wo wir lesen: »Er soll ein Arzt bei einem Wirtembergischen Grenadier-Bataillon sein, und wenn das ist, so macht es dem Scharfsinn seines Landesherrn Ehre: So gewiß ich sein Werk verstehe, so muß er starke Dosen in Emeticis ebenso lieben als in Aestheticis, und ich möchte ihm lieber zehen Pferde als meine Frau zur Kur übergeben.« Die Spötter und Verächter des Medicus Schiller haben sich immer wieder dieses Passus bedient, nicht zuletzt auch Rudolf Virchow (1861), was uns nicht daran hindern soll, das höchst originelle Konzept seiner Heilkunde in Erinnerung zu rufen. Wir beschränken uns bei diesem Entwurf einer Heilkunde auf die drei klassischen Bereiche der älteren Medizin: die Physiologie, die Pathologie und die Therapeutik, wobei wir uns auch hier wieder auf Diätetik und Hygiene konzentrieren, unter Verzicht auf eine Darstellung der medikamentösen Maßnahmen oder gar der chirurgischen Eingriffe des Regimentsmedikus Schiller. Als Quellen dienen uns in erster Linie die drei — auch

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heute noch bemerkenswerten Fassungen seiner medizinischen Dissertationen.

1. Zum Entwurf einer Philosophie der Physiologie »Von allen Zweigen der so vieles umfassenden Gesundheitskunde war die Physiologie die anziehendste für ihn.« So schrieb Schillers Freund Petersen über die Neigung des jungen Medizinstudenten. Die Physiologie stand am Ausgang des 18. Jahrhunderts — in der Tradition von Haller, Stahl und Hufeland — in einer erregenden Auseinandersetzung. Ausgangspunkt war, was Schiller sofort erfaßte, das alte, leidige Leib-Seele-Problem. Abgelehnt wird bereits im ersten Versuch einer Dissertation der psycho-physische Dualismus; angenommen wird eine »Mittelstufe«, ein Welt wie Seele verbindender »Nervengeist«, der am ehesten noch mit unserem »Vegetativen System« zu vergleichen wäre. Schiller ist sich der Schwierigkeiten der Leib-Seele-Problematik wohl bewußt, wenn er schreibt: »Ich bin in einem Felde, wo schon mancher medizinische und metaphysische Don Quixote sich gewaltig herumgetummelt hat und noch jetzt herumtummelt.« Er findet es in dieser Situation angemessener, »Theorien umzustoßen, als neue schaffen zu wollen«. Petersen hat vermutlich die allzu spekulativen Bestrebungen des jungen Schiller sehr richtig beurteilt, wenn er schrieb: Statt den Gang der Natur mit Sorgfalt zu belauschen, die Erscheinungen prüfend zu vergleichen und mit Scharfsinn Folgerungen daraus zu ziehen, trug des Dichters Einbildungskraft Gesetze in die Schöpfung und Geschöpfe hinein. Er schrieb der Natur a priori Gesetze vor. Schiller war eine Zeitlang so ziemlich auf denselben Irrwegen, auf welchen unsere neueren Naturphilosophaster herumtaumeln.

Den Gang der Natur belauschen und verfolgen, das wäre die eigentliche Aufgabe eine Physiologie, die »logos« von »physis« sein sollte! Wesentlich genauer geht Schiller in seiner dritten Dissertation, dem Versuch über den Zusammenhang der thierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen (1780), den psycho-physischen Zusammenhängen im Bereich der drei großen Lebensbereiche nach: dem Seelenleben, der Ernährung und der Fortpflanzung. Während die »thierische Empfindung« bei den Lebewesen nur animalische Bedürfnisse weckt, unterhält und lenkt sie beim Menschen auch das geistige Leben. Ohne tierische Empfindungen können sich keine geistigen Triebe entwickeln. »Wir können keine Begriffe sezen ohne einen vorhergehenden Willen [...]; keinen Willen, ohne die Erfahrung

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Heinrich Schipperges

unsers durch diese Handlung verbesserten Zustands, ohne Empfindung.« Auf diese Weise hilft also die »thierische Empfindung das innere Uhrwerk des Geists, wenn ich so sagen darf, in den Gang zu bringen«. Ehe wir daher »die höheren moralischen Zwecke, die mit Beihilfe der thierischen Natur erreicht werden«, erforschen, sollten wir zunächst einmal die »physische Notwendigkeit« kennen lernen und uns über ihre Grundbegriffe einig werden. Schmerzhafte Empfindungen z.B. dienen als Anstoß, als »der erste Lichtstrahl in die Schlummernacht der Kräfte, tönender Goldklang auf die Laute der Natur. Jzt ist Empfindung da [...]« (§ 9). Alle Tätigkeit der Seele ist — so hat es den Anschein — gebunden an die Tätigkeit der Materie —: und dies »aus einer Nothwendigkeit, die ich noch nicht erkenne, und auf eine Art, die ich noch nicht begreiffe« (§ 2). Bei allem Tasten bleibt Schiller gebannt vor diesem Phänomen: Die Seele ist einfach »gewaltsam an den Organismus gefesselt«. Alles, aber auch alles erinnert uns angesichts der physischen Notwendigkeit daran, daß der Mensch nichts ist als »das unseelige Mittelding von Vieh und Engel« (§ 5). Schiller versucht in diesem existentiellen Dilemma, »den merkwürdigen Beitrag des Körpers zu den Aktionen der Seele, den grossen und reellen Einfluß des thierischen Empfindungssystemes auf das Geistige in ein helleres Licht zu sezen« (§ 1), und er kommt zu dem Ergebnis: Körper und Seele gleichen zwei gleichgestimmten Saiteninstrumenten, die nebeneinander gestellt sind. Wenn man eine Saite auf dem einen rühret und einen gewissen Ton angibt, so wird auf dem andern eben diese Saite freiwillig anschlagen, und eben diesen Ton nur etwas schwächer angeben. So wekt, vergleichungsweise zu reden, die fröhliche Saite des Körpers die fröhliche in der Seele, so der traurige Ton des ersten den traurigen in der zweiten.

Daraus der Schluß: »Diß ist die wunderbare und merkwürdige Symphatie, die die heterogenen Principien des Menschen gleichsam zu Einem Wesen macht, der Mensch ist nicht Seele und Körper, der Mensch ist die innigste Vermischung dieser beiden Substanzen« (§ 18). Man glaubt, hier schon Gedanken einer so modisch gewordenen »kulturellen Evolution« zu vernehmen, wenn man von der »Entwicklung aller Geistesfähigkeiten aus sinnlichen Trieben« hört, wenn von der »Evolution des einzelnen Menschen und des gesamten Geschlechts« die Rede ist. So reagiere auch das Kind zunächst nur auf unmittelbare sinnliche Reize, und erst mit zunehmender Abstraktion wird dann der erste Grund vergessen. Schiller ist sich bewußt, daß er diesen ersten tastenden Grundriß einer Physiologie nun auch auszuarbeiten noch nicht in der Lage ist, und es ist

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kein Zufall, daß sein Versuch schließt mit dem resignierenden Bekenntnis: »Wir legen izo manches Buch weg, das wir nicht verstehn, aber vielleicht verstehen wir es in einigen Jahren besser.«

2. Ansätze einer Theoretischen Pathologie Als Versuche sollten wir auch Schillers Ansätze zu einer Pathologie stehenlassen. Ende 1780 hatte der junge Eleve eine zweite Dissertation eingereicht mit dem Titel: Tractatio de discrimine febrium inflammatoriarum et putridarium. Er entschuldigt einleitend seinen Mangel an Krankenbett-Erfahrung, wie sie damals mit Boerhaave in Mode kam und allgemein gefordert wurde, und er beruft sich dafür auf die klassischen Fälle, wie sie seit des Hippokrates Zeiten in der Literatur dokumentiert wurden. Schiller versucht zunächst, die verschiedenen »Fieberarten« zu unterscheiden. Das inflammatorische Fieber stürzt sich »wie mit gezücktem Schwert auf kräftige Menschen, während sich das andere heimtückisch und unter dem Scheine der Gutartigkeit bei schon geschwächten Menschen einnistet.« Das letztere wäre demnach das »schleichende, dem Unterleib entspringende faulige Fieber«. Die Unterscheidung zwischen entzündlichen und fauligen Fiebern findet sich schon bei Galen, der quantitative Änderungen im Bereich der Säfte »Dyskrasien«, qualitative Veränderungen hingegen »Fäulnis der Faulfieber« genannt hatte. Die fauligen Fieber brechen bei einem schon geschwächten Körper aus; sie beginnen schleichend und maskieren sich nur zu gern; auch remittieren sie häufig und treten meist epidemisch auf. Alles in allem wird — in der Tradition von Boerhaave — der Krankheitsvorgang als rein mechanistisch betrachtet. Sydenhams mehr hippokratische Auffassung vom Fieber als eines Heilbestrebens zur Ausscheidung der »Materia peccans« kommt nur gelegentlich, bei Therapievorschlägen etwa, zum Ausdruck. Das Krankheitsgeschehen ist eher als eine Reaktion des Nervensystems aufzufassen. Was uns wichtiger erscheint als solche pathognomische Differenzierungen ist der Einblick des jungen Medizinstudenten in die Struktur und den Wandel der Pathogenese, wie sie uns vor allem bei chronischen Erkrankungen und bösartigen Leiden vor Augen tritt. Bösartige Erkrankungen, schreibt Schiller, zeigen eine gewisse Latenz. Alle Krankheiten von Bedeutung, diejenigen vorzüglich, die man die bösartige nennt, [ . . . ] kündigen sich mehr oder weniger mit einer sonderbaren Revolution im Karakter an. Daher die Morosität dieser Leute, davon niemand die Ursache

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weißt anzugeben, die Änderung ihrer Neigungen, der Ekel an allem, was ihnen sonst das liebste war.

Der Kranke ändert sein Verhalten, scheut soziale Bezüge, zieht sich in sich selbst zurück. »Unter diser heimtückischen Ruhe rüstet sich die Krankheit zum tödtlichen Ausbruch« (§ 19). Die Ursachen solcher Erkrankungen sind vielfältig und kaum genau zu erfassen. Man weiß nicht, ob sie »aus der Luft oder aus den Eingeweiden der Erde« stammen. Seelische Ursachen sind »alltägliche Seelenaffekte wie Unwillen oder Jähzorn, Trauer, Trübsinn, Kopfschmerz und Melancholie«. Die pathognomischen Veränderungen sind dementsprechend reichhaltig. »Mürrisch sind die vorher Lustigen, streitsüchtig die vorher Gefälligsten, und furchtsam suchen die die Einsamkeit, die vorher der Lärm der Städte ergötzt hat.« Als äußerst wichtiges Zeichen für den praktischen Arzt deutet Schiller die oft »ungewöhnliche Heiterkeit der tödtlich Kranken«. Gerade solche Heiterkeit hat ihre »physische Ursache«, und sie ist als äußerst »bösartig« anzusehen. Die Reize weichen von den absterbenden Nerven zurück, »und eine tödtliche Indolenz lügt baldige Genesung«. Die Seele ist jetzt schmerzensfrei, aber »nicht weil der Ton ihrer Werkzeuge wiederhergestellt ist, sondern weil sie den Mißton nicht mehr empfindet. Die Sympathie hört auf, so bald der Zusammenhang wegfällt« (§ 20). Geht man diesen gelösten Zusammenhängen freilich auf den Grund, so stößt man wiederum auf das alte leidige Problem: »Das genaue Band zwischen Körper und Seele macht es unendlich schwer, die erste Quelle des Übels ausfindig zu machen, ob es zuerst im Körper oder in der Seele zu suchen sei.« Besonders beeindruckt zeigte sich Schiller von einem Fall von »Schlaffieber«, wo einer also mit offenen Augen »Schlaf vortäuscht«. Entsetzt ruft er aus: »Eine so innige Verbindung besteht zwischen Körper und Geist, ein so tyrannischer Meister wohnt dem Menschen inne!« Es ist die damals modisch gewordene Sympathetik, von der sich der junge Student hinreißen läßt: »Wir Mediziner [schreibt Schiller 1785] sind darin übler daran als andere, weil unsre Furcht vor Krankheit mikroskopische Augen hat, weil wir tausend Wege mehr entdecken, die die Krankheit in unserm Leben ausfindig macht.« Es ist aber auch die wachsende Einsicht in die objektiven Zusammenhänge der Erkrankungen, die Schillers »Fieberschrift« beschließen läßt: »Hüten wir uns, unsere Dogmen mit der Natur der Krankheiten in Widerspruch zu setzen: ich wenigstens bin durch Labyrinthe von Irrtümern zur Überzeugung gekommen, daß in der Natur eine ganz andere Ordnung herrsche, als in unseren Kompendien.« Diese »ganz andere Ordnung« der Natur gilt es

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nunmehr zu suchen! Kein Geringerer als Thomas Mann (1955) glaubte empfunden zu haben, daß er — Friedrich Schiller — er, »der Herr seiner Krankheit«, nun auch »unserer kranken Zeit zum Seelenarzt werden könnte, wenn sie sich recht auf ihn besänne«.

3. Prinzipien der Therapeutik »Ein Arzt«, — schreibt Schiller in der Widmung zu seiner dritten Dissertation —, »dessen Horizont sich einzig und allein um die historische Kenntniß der Maschine dreht, der die gröbern Räder des seelenvollsten Uhrwerks nur terminologisch und örtlich weißt, kann vielleicht vor dem Krankenbette Wunder thun, und vom Pöbel vergöttert werden — «: ein Arzt ist er damit nicht! Zum Arztsein gehört ein durchaus philosophisches Element, das allein der ärztlichen Tätigkeit Rang und Richtung verleiht. Schiller rühmt daher die Tendenz seiner Karlsschule: »die Hippokratische Kunst aus der engen Sphäre einer mechanischen Brodwissenschaft in den höhern Rang einer philosophischen Lehre« zu erheben (1780): »Philosophie und Arzneiwissenschaft stehen unter sich in der vollkommensten Harmonie.« Vor allem Christoph Wilhelm Hufeland glaubte erfahren zu haben, »daß von allen geheilten Kranken der größte Teil zwar unter Beistand des Arztes, aber nur der bei weitestem kleinste Teil durch seinen Beistand allein geneset«. U n d noch einmal im Enchiridion: »Der Arzt soll nicht magister, sondern minister naturae sein, ihr Diener, oder vielmehr ihr Gehilfe, Alliierter, Freund. H a n d in H a n d mit ihr soll er gehen und das große Werk vollbringen, nie vergessend, daß nicht er, sondern sie es ist, die es tut, sie achtend, immer im Auge habend, und am wenigsten störend in sie eingreifen.« »Besonders in chronischen Krankheiten« — empfiehlt Hufeland dem jungen Arzt — »gewöhne dir Geduld an, und wisse die Zeit abzuwarten. Denn sie sind zu einer Zeit heilbar, zu einer anderen nicht, und hier wird durch Stürmen nichts ausgerichtet, ja oft gar viel geschadet; und die nicht gestörte N a t u r wirkt oft im Stillen unvermerkt fort und bewirkt Besserung, ja Heilung, oder verwandelt die Form der Krankheit in eine andere, die heilbar ist.« Auch Schiller geht von einer therapeutischen Grundregel aus, wenn er — anläßlich seiner Behandlung des Mitschülers Grammont — an seinen Intendanten schreibt: »Das Vertrauen eines Kranken kann nur dadurch erschlichen werden, wenn man seine eigene Sprache gebraucht, und diese Generalregel war auch die Richtschnur unserer Behandlung.« Dieser therapeutischen Richtschnur gilt es nunmehr zu folgen.

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Es ist sicherlich kein Zufall, daß Schillers Räuber von dem hippokratischen Motto getragen sind: »Was Arzneien nicht heilen, heilt das Eisen, was das Eisen nicht heilt, heilt das Feuer!« Ausgelassen wurde dabei freilich der einleitende, der das Ganze tragende Passus, der lautet: »Was das Wort nicht heilt, das heilen Arzneien [...]« Mit dem heilenden Wort aber sind wir bereits bei dem großen Gegenstand der Diätetik und Hygiene, zu dem auch Schiller überraschende Beiträge geliefert hat.

4. Ideen zur Diätetik und Hygiene Mit der Physiologie (res naturales) und über die Pathologie (res contra naturam) kommt auch der Medikus Schiller bei seiner Therapeutik zunächst auf den Topos der »res nonnaturales« zu sprechen: auf eine Natur des Menschen, die von Natur aus auf Kultur aus ist. Die Natur hält es mit dem Menschen zunächst so wie mit den anderen Kreaturen. So lesen wir im 3. Brief der Ästhetischen Erziehung, und weiter: Aber eben das macht ihn zum Menschen, daß er bey dem nicht stille steht, was die bloße Natur aus ihm machte, sondern die Fähigkeit besitzt, die Schritte, welche jene mit ihm anticipirte, durch Vernunft wieder rückwärts zu tun, das Werk der N o t h in ein Werk seiner freyen Wahl umzuschaffen, und die physische Nothwendigkeit zu einer moralischen zu erheben.

Im Jahre 1797 konnte Friedrich Schiller an Christian Gottfried Körner schreiben: »Es ist der nackte, schneidende Verstand, der die Natur, die immer unfaßlich und in allen ihren Punkten ehrwürdig und unergründlich ist, schamlos ausgemessen haben will und mit einer Frechheit, die ich nicht begreife, seine Formeln, die oft nur leere Worte und immer nur enge Begriffe sind, zu ihrem Maßstab macht« (6. August 1797). Vom »allgegenwärtigen Balsam allheilender Natur« hat Goethe noch schwärmen können, um dann — dem Kanzler von Müller gegenüber (25. April 1829) — ebenso trocken zu bemerken: »Die Natur ist eine Gans, man muß sie erst zu etwas machen.« »Wir waren Natur [schrieb 1921 mein Tübinger Lehrer Theodor Haering], und unsere Kultur soll uns auf dem Wege der Vernunft und der Freiheit zur Natur zurückführen.« Dabei gehört es freilich zu den wichtigsten Aufgaben der Kultur, »den Menschen auch schon in seinem bloß physischen Leben der Form zu unterwerfen«; man muß den Menschen »ästhetisch« machen, »weil nur aus dem ästhetischen, nicht aber aus dem physischen Zustande der moralische sich entwickeln kann« (23. Brief). Es sind — alles in allem — die physiologischen Grundbedürfnisse, die »res naturales«, die Punkt für Punkt stilisiert sein wollen zu den »res non-

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naturales«, den sechs Regelkreisen einer vernünftigen und sinnvollen Lebensführung. Gehen wir ihnen einmal im einzelnen nach: Denn nur so wird aus Natur die Kultur!

a) Klima und Zivilisation Seit des Hippokrates Zeiten stand der gebildete Umgang mit der Umwelt an der Spitze der diätetischen Lebensführung. Seinem Lehrer Abel mag Schiller die Bedeutung der Umwelt für den gesunden wie kranken Organismus entnommen haben. Dort hieß es: »Der Mensch ist eine Summe von Eltern und Amme, von Ort und Zeit, von Luft und Wetter, von Schall und Licht, von Kost und Kleidung.« In Schillers Dissertation (1780) lesen wir: Die Bewohner düsterer Gegenden trauren mit der sie umgebenden Natur; der Mensch verwildert in wilden stürmischen Zonen [...]. Nur unter dem feinen griechischen Himmel gab es einen Homer, einen Plato und Phidias [...]. Als unser Teutschland noch waldigt, rauh und sumpfigt war, war der Deutsche ein Jäger, roh wie das Wild, dessen Fell er um seine Schultern schlug. So bald die Arbeitsamkeit die Gestalt seines Vaterlands umänderte, fieng die Epoche seiner Sittlichkeit an.

Schiller will nicht so weit gehen, zu behaupten, »daß das Klima die einzige Quelle des Karakters sey«, aber bedeutende Einflüsse der Umwelt ließen sich nun einmal nicht verleugnen (§ 19). Mit dem »feineren Klima« verfeinert sich offensichtlich auch der Geist. »Daher die gute Laune, die Behaglichkeit bei heiterem und gesundem Wetter, die zwar einestheils auch in der Assoziation der Begriffe, mehrentheils aber in dem dadurch erleichterten Gang der natürlichen Aktionen ihren Grund hat« (§ 19).

b) Kultivierung der Lebensmittel Speise und Trank gehören seit jeher zu den elementaren Lebensbedürfnissen. »Hunger und Durst zu löschen« wird der Mensch unter Umständen wieder zum Kannibalen, »so heftig wirkt die tierische Führung auf den Geist, so wachsam hat der Schöpfer für die Erhaltung der Maschine gesorgt«. »Cibus et potus« erscheinen hier als Lebensmittel im eigentlichen Sinne. Um die Dauer auch und gerade des geistigen Lebens zu garantieren, mußte — meint Schiller — »ein neues System organischer Kräfte zu dem ersten gleichsam angereihet werden, das seine Konsumtionen ersetzt und seinen

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sinkenden Flor durch eine stetig aneinander hangende Kette neuer Schöpfungen erhält.« Dies System nennt Schiller den »Organismus der Ernährung«. Auf diesen »Organismus der Ernährung« hat ein gebildeter Mensch, hat der Arzt besonders zu achten: »Daher die Schwere, die Gedankenlosigkeit, das mürrische Wesen, auf Uberladungen des Magens, auf Exzesse in allen sinnlichen Lüsten; daher die wundertätigen Wirkungen des Weins bei denen, die ihn mit Mäßigkeit trinken« (§ 19).

c) Gleichgewicht von Bewegung und Ruhe Das Zeitalter der Aufklärung scheint ein besonderes Auge zu haben für das in der klassischen Hygiene so ausgewogene Gleichgewicht von Bewegung und Ruhe. »Motus et quies« erfordern ein Gleichgewicht, und dies gerade heute (1780), wo es unumgänglich ist, daß »manche, die nicht minder glücklich sein sollten, der allgemeinen Ordnung aufgeopfert würden«, während wieder andere »ihre Geistes- und Leibeskraft in rastloser Anstrengung foltern, damit die Ruhe des Ganzen erhalten werde«. Alles deutet hier auf eine innere Ordnung hin: Die Thätigkeiten des Körpers entsprechen den Thätigkeiten des Geistes; d.h. Jede Uberspannung von Geistestätigkeit hat jederzeit eine Überspannung gewisser körperlicher Aktionen zur Folge, so wie das Gleichgewicht der erstem oder die harmonische Thätigkeit der Geisteskräfte mit der vollkommensten Ubereinstimmung der letztern vergesellschaftet ist (§ 12).

D e r Körper wird Schiller auch hier wieder zum »ersten Sporn zur Thätigkeit«. Die Sinnlichkeit gilt ihm als »die erste Leiter zur Vollkommenheit«. Der Geisteszustand der meisten Menschen — heißt es in Über naive und sentimentalische Dichtung — »ist auf einer Seite anspannende und erschöpfende Arbeit, auf der andern erschlaffender Genuß«. Der geistige Mensch aber weiß, daß »vor allen Dingen erst die Natur befriedigt sein muß, ehe der Geist eine Forderung machen kann«. Alles kommt dabei auf die »Zusammenstimmung zwischen dem Geist und den Sinnen« an, auf ein harmonisch ausgewogenes Gleichgewicht, um den freien Gebrauch aller Kräfte zu empfinden. »Einen offenen Sinn, ein erweitertes Herz, einen frischen und ungeschwächten Geist muß man dazu mitbringen, seine ganze Natur muß man beisammen haben« und sich nicht durch »kleinliche Geschäftsformeln« einengen, durch »anstrengendes Aufmerken« ermatten lassen. Das Gemüt gleicherweise vor Überspannung zu schützen wie vor Erschlaffung sicher zu stellen, darin allein wäre die gelungene Vereinigung des »naiven« Charakters mit dem »sentimentalischen« zu sehen.

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d) Der Rhythmus von Schlafen und Wachen Der Schlaf mit seiner periodischen »totalen Relaxation« raubt uns auf der einen Seite »wenigstens den dritten Teil unseres Daseins«; auf der anderen Seite ist er aber auch als der große Spargang der Natur aufzufassen; Schlaf gilt als das heilsame Medium der Nacht. »Unter dem Schlaf ordnen sich die Lebensgeister wiederum in jenes heilsame Gleichgewicht, das die Fortdauer unseres Daseyns so sehr verlangt«. Der Schlaf ist gleichsam »die Geburt von jedes Tages Leben«. Und selbst »jene krampfichten Ideen, die uns den Tag durch gepeinigt haben, werden izo in der allgemeinen Erschlaffung des Sensoriums aufgelöst, die Harmonie der Seelenwirkungen wird wiederum hergestellt, und ruhiger grüßt der neuerwachte Mensch den kommenden Morgen« (§ 26). In der Regel aber ist es so, daß »die Saiten des Denkorganes erschlaffen, wenn sie kaum ein wenig angestrengt worden«. Kaum haben wir uns »auf den geraden offenen Pfade zur Wahrheit« begeben, da wird auch schon dem »Gang der Gedanken« Halt auferlegt. »Der Körper verläßt uns, wo wir Sein am meisten bedürfen.« Schiller fragt sich, welche erstaunlichen Schritte der Mensch wohl machen könnte, wenn er »in einem Zustand ununterbrochener Intensität« fortdenken würde. »Wie würde er jede Idee in ihre letzten Elemente zerfasern, wie würde er jede Erscheinung bis zu ihren verhohlensten Quellen verfolgen, wenn er sie unaufhörlich vor seiner Seele festhalten könnte?« Schiller versteht es, in der Folge ausführlich darzulegen, warum »der übertriebene Vigor der physischen Aktionen« Krankheit und Tod nach sich ziehen muß. In allem Lebendigen muß etwas vorhanden sein, das sein Wachstum beschränkt. »Eben dieses Hinsinken, dieses Erschlaffen der Organe, worüber die Denker so klagen, verhindert, daß uns unsere eigene Kraft nicht in kurzer Zeit aufreibt, und läßt es nicht zu, daß unsere Affekten in immer steigenden Geraden zu unserm Verderben fortwachsen« (§ 26). Alles in allem aber können wir Wert und Wichtigkeit dieses »Nachlasses« der Vitalkräfte nicht genug bewundern, wie uns dies vor allem der Rhythmus von Schlafen und Wachen Tag für Tag demonstriert. Der Schlaf versiegelt gleichsam das Auge des Kummers, nimmt dem Fürsten und Staatsmann die schwehre Bürde der Regierung ab, giest Lebenskraft in die Adern des Kranken und Ruhe in seine zerrissene Seele; auch der Taglöhner hört die Stimme des Drängers nicht mehr, und das mißhandelte Vieh entflieht den Tyranneien des Menschen. Alle Sorgen und Lasten der Geschöpfe begräbt der Schlaf, setzt alles ins Gleichgewicht, rüstet jeden mit neugebohrnen Kräften aus, die Freuden und Leiden des folgenden Tages zu ertragen (§ 26).

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e) Zum Haushalt des Stoffwechsels Es spricht für die Systematik des therapeutischen Entwurfs, daß Schiller das zu seiner Zeit als ein heikles Kapitel angesehene Gebiet der »Ausscheidungen und Absonderungen« (excreta et secreta) nicht ausspart, ja daß er ihm eine besondere Rolle zuspielt, zumal im Bereich der seelischen Störungen. So wird der Wahnsinn gedeutet als »Despotie des Unterleibs über den Geist«. Bei der Betrachtung der bösartigen Krankheiten war bereits davon die Rede, daß diese Leiden aus der »Ökonomie des Unterleibs« hervorgehen, daß sie sich widerspiegeln in einer »sonderbaren Revolution im Charakter«. Daher muß einem Arzt an der Ökonomisierung des Stoffwechselhaushaltes in erster Linie gelegen sein. Exkretion und Sekretion bilden nun einmal einen in sich harmonisch abzustimmenden Haushalt. Bei heftiger Bewegung erhalten alle Teile einen »höhern Grad harmonischer Tätigkeit«: »das Herz wird frei, lebhaft und gleichförmig schlagen, das Blut wird ungehemmt, mild oder feurig rasch, je nachdem der Affekt von der sanften oder heftigen Art ist, durch die weichen Kanäle fliessen, Koktion, Sekretion und Exkretion wird frei und ungehindert von statten gehen, die reizbaren Fasern werden im milden Dampfbad geschmeidig spielen [...]« (§ 13). »Darum ist der Zustand der grösten augenblicklichen Seelenlust augenblicklich auch der Zustand des grösten körperlichen Wohls.«

f) Kultur der Affekte Es sind nicht von ungefähr die »tierischen Empfindungen«, die unser ganzes geistiges Leben begleiten. »Geistiges Vergnügen« fördert das Wohl des Organismus, »geistiger Schmerz« untergräbt es. »Wahr ist es, daß die Freude das Nervensystem in lebhaftere Wirksamkeit sezen kann, als alle Herzstärkungen, die man aus den Apotheken holt.« Besonders »tiefe chronische Seelenschmerzen [...], worunter ich vorzüglich denjenigen schleichenden Zorn, den man Indignation heißt, rechne, nagen gleichsam an den Grundfesten des Körpers [...]. Furcht, Unruh, Gewissensangst, Verzweiflung wirken nicht viel weniger als die hizigsten Fieber.« Ein Grundsatz dieser diätetischen Hygiene lautet: daß »jeder angenehme Affekt« zugleich auch die »Quelle unzähliger körperlicher Lüste« sei. Dafür werden nun zahlreiche Beispiele aufgeführt: Wen das »fürchterliche Heimweh« bis zum Skelett verdorren ließ, der wird sich in seinem Vater-

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land »in blühender Gesundheit verjüngen«. Gefangene werden bei Befreiung gestärkt, gestrandete Seefahrer zum Leben ermutigt. Kranke werden durch Freude kuriert, Geliebte von ihrem Schmachten erlöst und geheilt (§ 13). »Es ist keine Kunst«, — schreibt Schiller in Hinblick auf Kant —, »über Gefühle Meister zu werden, die nur die Oberfläche der Seele leicht und flüchtig bestreichen, aber in einem Sturm, der die ganze sinnliche Natur aufregt, seine Gemüthsfreyheit zu behalten, dazu gehört ein Vermögen des Widerstandes, das über alle Naturmacht unendlich erhaben ist« ( U b e r das Pathetische). Es ist in allem der psychosoziale Streß, der sich steigern kann bis zum psychophysischen Schock, der sich äußert als »Erstarrung der Seele unter dem Schrecken, dem Erstaunen«. Ist also nicht — fragt Schiller — »derjenige, der mit der bösen Laune geplagt ist, und aus allen Situationen des Lebens Gift und Galle zieht«, der größte Feind seiner Gesundheit? »Sollte das Laster noch nicht genug abschrekendes haben, wenn es mit der Glükseeligkeit auch die Gesundheit zernichtet?« (§ 15). »Die allgemeine Empfindung thierischer Harmonie, der freien Tätigkeit der Organe ist die Quelle geistiger Lust; die Stimmungen des Geistes folgen den Stimmungen des Körpers.« Schiller spricht bei dieser Parallelität gleichsam — und sicherlich im Nachklang zu Leibniz' »prästabilierter Harmonie« — von einer »Resonanz von zwei gleichgestimmten Saiteninstrumenten«. Aus allem ergibt sich der schon in physiologischer Sicht konzipierte leiblich-seelische Einheitsgedanke, wenn Schiller schließt: »Der Mensch ist nicht Seele und Körper, der Mensch ist die innigste Vermischung dieser beiden Substanzen.« Zur Affektenlehre gehört seit alters auch die Physiognomik, auf die Schiller ausführlicher eingeht, ohne allerdings seine Skepsis — vor allem Lavater gegenüber — aufzugeben. Daß es die Seele ist, welche den Körper bildet, läßt sich am ehesten noch am Antlitz ablesen. Eine unthätige und schwache Seele, die niemal in Leidenschaften überwallt, hat gar keine Physiognomie, wenn nicht eben der Mangel derselben die Physiognomie der Simpel ist. Die Grundzüge, die die Natur ihnen anerschuf und die Nutrition vollendete, dauern unangetastet fort. Das Gesicht ist glatt, denn keine Seele hat darauf gespielt. Die Augbrauen behalten einen vollkommenen Bogen, denn kein wilder Affekt hat sie zerrissen. Die ganze Bildung behält eine Ründe, denn das Fett hat Ruhe in seinen Zellen; das Gesicht ist regelmäßig, vielleicht auch so gar schön, aber ich bedaure die Seele (§ 22). Q u o d erat demonstrandum!

Von einer Physiognomik organischer Einzelteile aber solle man tunlichst Abstand nehmen. So etwas sei einfach unmöglich, »wenn auch Lavater

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noch durch zehen Quartbände schwärmen sollte«. Daraus der Schluß: »Wer die launichten Spiele der Natur, die Bildungen, mit denen sie stiefmütterlich bestraft und mütterlich beschenkt hat, unter Klassen bringen wollte, würde mehr wagen als Linne, und dürfte sich sehr in Acht nehmen, daß er über der ungeheuren kurzweiligen Mannigfaltigkeit der ihm vorkommenden Originale nicht selbst eines werde« (§ 22). Abschließend sollte ein therapeutisches Programm nicht verschwiegen werden, das in Schillers Räubern

seinen Anlaß fand und das uns kein Ge-

ringerer vorgestellt hat als der Mannheimer Hofmedikus Franz Anton Mai. Als Franz Anton Mai, weiland Theaterarzt am Mannheimer Nationaltheater, von der Aufführung der Räuber

des jungen Regimentsarztes Schiller

zurückkam, schrieb er: Soeben, mein Bester!, komme ich voll Wehmut von der Bühne, wo die innersten Falten des leidenschaftlichen Menschenherzens zur Besserung der Sitten, zum Vergnügen und Erbauung der Mitbürger wöchentlich dreimal zergliedert werden. Man stellte das schauerliche Meisterstück, die Räuber, vor, ein Stück, mein Freund, wobei das Menschenblut erfrieren, und die Nerven so beim Schauspieler wie Zuschauer, erstarren müssen, wenn ihre Urahnen nicht von Pantoffelholz nicht gewesen sind.

Mai entwirft eine Diätetik für Schauspieler, für jene wahren Schauspieler, welche immer »Schlachtopfer ihrer Kunst« wie auch »Sklaven unseres Vergnügens« sein müßten. E r hält es für seine ärztliche Pflicht, darüber nachzudenken, »wie sich diese Nervenmartirer verhalten müssen, um bei ihrer harten Lebensarbeit bei den von ihrem Beruf unzertrennlichen Entkräftigungen gesund zu bleiben«. Nach dem Schema der traditionellen Diätetik (sex res nonnaturales) stellt Mai 16 prophylaktische Empfehlungen auf, die den Schauspielern helfen sollten, die »zu Seelengeschäften so nötige Gesundheit zu erhalten«. Franz Anton Mai war es auch, der Schiller damals den dringenden Rat gab, um seiner finanziellen Sicherheit willen zur Medizin zurückzukehren, ein Rat, den Friedrich Schiller — wie er an Dalberg schrieb — mit Dank honorierte: »Dasjenige, was Ewr. Exzellenz mir gestern durch Hrn. H o f rath Mai haben sagen lassen, erfüllt mich aufs Neuste mit der wärmsten und innigsten Achtung gegen den vortrefflichen Mann, der so großmüthigen Anteil an meinem Schicksal nimmt.« Der Rat des Mannheimer Hofmedikus sollte freilich nicht zum Zuge kommen; der Regimentsarzt Schiller hatte bereits einen anderen Weg genommen. Soweit zu Physiologie, Pathologie und Therapie, und damit auch zu Diätetik und Hygiene, die uns — als ein geschlossenes System der Heilkun-

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de — ein höchst lebendiges Spiel des Lebens vor Augen stellen. Und doch scheint es — wie Schiller schließt —, als habe die göttliche Weisheit bei der Gründung unserer physischen Natur eine merkwürdige Sparsamkeit bewiesen, eine Ökonomie, die darin besteht, daß ungeachtet ständiger Kompensation letztlich doch die Konsumtion das Ubergewicht behält. »Tempus est causa corruptionis«. Und so entwickelt sich gleichsam der Tod aus dem Keime des Lebens. Die Materie zerfährt in ihre letzte Elemente wieder, die nun in andern Formen und Verhältnissen durch die Reiche der Natur wandern, andern Absichten zu dienen. Die Seele fähret fort, in anderen Kreisen ihre Denkkraft zu üben, und das Universum von andern Seiten zu beschauen. Man kann freilich sagen, daß sie diese Sphäre im geringsten noch nicht erschöpft hat, daß sie solche vollkommener hätte verlassen können, aber weiß man dann, daß diese Sphäre für sie verloren ist?

(§27). Schillers Versuch endet mit dieser Frage, und er schließt: »Wir legen izo manches Buch weg, das wir nicht verstehn, aber vielleicht verstehn wir es in einigen Jahren besser.« In wenigen Jahren schon, ganz gewiß! —: aber das ist nicht mehr unser Thema!

Ludwig Finscher

W a s ist eine lyrische O p e r e t t e ? Anmerkungen zu Schillers »Semele«

Die Bedeutung von Oper und Ballett für Schillers Entwicklung als Dramatiker ist seit Peter Michelsens bahnbrechendem Aufsatz1 bekannt und unbestritten. In dieser forschungsgeschichtlichen Situation muß es als seltsam erscheinen, daß Schillers einziger Versuch, ein veritables Opern-Libretto zu schreiben und zugleich sein erster dramatischer Versuch überhaupt — Semele. Eine lyrische Operette von zwo Szenen (1782)2 — in der Literaturwissenschaft wenig Aufmerksamkeit gefunden hat. Aber die Seltsamkeit wird verständlich, sobald man sich auf das Stück etwas genauer einläßt: dem, was wir von musiktheatralischen Texten des 18. Jahrhunderts gewohnt sind, entspricht es in einem verwirrend geringen Maße; die Bezeichnung Operette scheint einen gattungsgeschichtlichen Zusammenhang mit dem deutschen Singspiel zu suggerieren, der die Verwirrung nur steigern kann. Zu den musiktheatralischen Erfahrungen, die der junge Schiller am Hofe Karl Eugens von Württemberg sammeln konnte und ausweislich der Räuber gesammelt und verarbeitet hat, steht Semele in einem scheinbar krassen Mißverhältnis Der Terminus »Operette« als Synonym für »Singspiel« taucht in der Blütezeit des deutschen Singspiels — 1766 bis etwa zum Ende des Jahrhunderts — häufig auf, allerdings in Konkurrenz zu mehr als einem Dutzend anderer Termini; statistisch überwiegt weder »Operette« noch »Singspiel«,

1 2

Peter Michelsen: Studien zu Schillers »Räubern«. Erster Teil. In: J D S G 8 (1964), S. 5 7 - 1 1 1 . Zugrundegelegt wird der Text der N A 5, 111 — 136 und 2 4 5 - 2 5 3 . Die Herausgeber Heinz O t t o Burger und Walter Höllerer weisen im Kommentar nachdrücklich auf die Beziehungen des Stückes einerseits zu den »französischen Opern und Ausstattungsballetts« am Württembergischen Hofe, andererseits zur deutschen »Operette« (dem deutschen Singspiel) hin. Die Problematik dieser Hinweise wird uns sogleich beschäftigen. S. 245 ist ein Druckfehler zu berichtigen: Daniel Schiebelers Einakter Die Muse wird 1767 von Johann A d a m Hiller vertont und 1770 in Schiebelers Sammlung Musikalische Gedichte gedruckt. Das Stück heißt bei Schiebeier »Comödie«, bei Hiller (Klavierauszug Leipzig 1771) »Nachspiel« und »Singstück«, in der einzigen erhaltenen handschriftlichen Partiturkopie »Singspiel«. Vgl. die Nachweise bei Thomas Bauman: N o r t h German Opera in the Age of Goethe. Cambridge University Press 1985.

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sondern »Komische Oper«. 3 Schillers Bezeichnung »lyrische Operette« tritt hirgendwo sonst auf, und auch eine »mythologische Operette« ist nicht zu finden. Der Opern-Typus, den alle diese Termini benennen, ist jedoch genau definiert: eine Oper in deutscher Sprache mit gesprochenem Dialog und gesungenen Liedern, Arien, (seltener) Ensembles und (seit den achtziger Jahren) Finali in der Art eines >opera buffaopera comiquecomedie melee d'ariettescomedie larmoyantetragedie lyrique< orientiertes) Drama mit Dialogen, die zur Vertonung als Rezitative, nicht als gesprochene Dialoge gedacht waren — so, wie sie dann auch von Anton Schweitzer 1773, Friedrich Benda 1786 und Ernst Wilhelm Wolf 1786 vertont wurden. Was Wieland mit diesem Text und mit seiner Zusammenarbeit mit Schweitzer wollte, hat er in seinen bekannten theoretischen Schriften unmißverständlich — und in unmißverständlicher Abgrenzung gegen das deutsche Singspiel nach der Art Hillers — dargestellt, vor allem im Versuch

über das deutsche Singspiel und einige dahin einschlagende

Gegenstände

1775: eine neue Art der ernsten Oper, auf dem Niveau der französischen und italienischen, aber ohne deren nur von großen Höfen zu bestreitenden Aufwand, ein »öffentliches Vergnügen von der edelsten Art« durch die »blosse jeden theatralischen Aufwand vermeidende Vereinigung der Poesie, Musik und Akzion«. D e r — mit Ausnahme der Akteinteilung — grundsätz-

Bauman: North German Opera, S. 9 - 1 4 . Vgl. die für Nord- und Mitteldeutschland vollständigen Verzeichnisse bei Bauman: North German Opera, S. 325—415. 5 Von »der mythologischen Operette« so zu sprechen, als sei dies eine deutlich wahrnehmbare und abgrenzbare Teilgattung, wie Burger und Höllerer es in der Nationalausgabe tun, ist ebenso irreführend wie die Nennung von Wielands Alceste in diesem Zusammenhang.

3 4

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lichen Orientierung Wielands am >opera seriaendecasillabi< Metastasios entsprechen; Ariosi formal ähnlich, aber in Gestalt großer Monologe ( I I I / l ) , die teils — wie bei Metastasio — von einer Arie gefolgt werden (IV/1, IV/2); Arien in gereimten Kurzzeilen, die deutlich nach dem Muster des >settenarioda capoda caposettenario< oder vierhebige Trochäen) schon in der sechsten Zeile in Unordnung: Nicht nur die Silbenzahl variiert zunehmend, auch das Versmaß wechselt unregelmäßig ( z . T . Daktylen); ab Vers 13 wird die Reimbindung aufgegeben; deutlich abgehobene Formteile stehen neben Abschnitten mit fließenden Übergängen. Alles dies ist von den klaren und einfachen Formen des deutschen Singspiel-Librettos so weit entfernt wie nur möglich. Wenn aber die »lyrische Operette« kein deutsches Singspiel ist, was ist sie dann? Hat sie überhaupt etwas mit Traditionen, Formen und Gattungen des Musiktheaters zu tun? War sie in ihrer Zeit komponierbar — wenn sie denn für die Komposition ursprünglich gedacht war? Zunächst ist zu be-

6

Rudolf Krauß: Das Theater. In: Herzog Karl Eugen von Württemberg und seine Zeit. Hg. v. Württembergischen Geschichts- und Altertums-Verein, Erster Band, Eßlingen 1907, S. 533.

Zu Schillers Semele

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denken, daß »Operette« zwar deutsches Singspiel, aber auch ganz einfach »kleine Oper« bedeuten kann. D e r sächsische Gesandte am H o f Karl Theodors von der Pfalz, Graf von Riancour, berichtete am 27. Juli aus Schwetzingen nach Dresden: Letzten Samstag, am Namenstag der Prinzessin Christine, fand große Gala in Oggersheim statt. D e r Kurfürst begab sich gegen 11 U h r dorthin, um sie zu beglückwünschen. [ . . . ] Nachmittags führte man die Operette »Endymion« unter allgemeinem Beifall auf«. 7

Da Graf Riaucour schon am 20. Juli von »>Endymion< mit der Musik des berühmten Jomelli« geschrieben hatte, ist klar, daß es sich um Jommellis L'Endimione handelt — Libretto nach Metastasio von einem unbekannten Librettisten —, der 1759 in Stuttgart uraufgeführt worden war und zu den am weitesten verbreiteten Werken des Stuttgarter Hofkomponisten gehörte. Die Bezeichnung »Operette« erklärt sich daraus, daß es sich nicht um eine ausgewachsene >opera< (sc. seria) handelt, sondern um eine »Serenata« (so die Bezeichnung bei Metastasio), das heißt ein höfisches Fest- und Huldigungsspiel mythologisch-allegorischen oder phantastisch-allegorischen Inhalts, meist in einem Akt und zwei Szenen oder zwei kurzen Akten ohne Wechsel des Schauplatzes, in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts mit Kostümen und aufwendigen Dekorationen, aber ohne Aktion aufgeführt, später und in Schillers Zeit häufiger mit Aktion, womit die Grenzen zur >azione teatrale< zu verschwimmen begannen. 8 Daß »Serenata« und »Operette« nicht nur von einem vielleicht nicht sehr musikkundigen Diplomaten, sondern auch von Librettisten und Komponisten synonym gebraucht wurden, zeigen — wiederum aus Schillers weiterem Umkreis — sehr schön die Produktionen des Karlsruher Hofkapellmeisters Joseph Aloys Schmittbauer: L'isola disabitata (Text Metastasio, ein Akt, 1762, serenata); Herkules auf dem Oeta (Text Johann Benjamin Michaelis, ein Akt, 1772, operetta); Endymion (Text anonym nach Metastasio, ein Akt, 1774, operetta) — aber Lindor und Ismene (Text Friedrich Julius Soden von Sassanfort, drei Akte, 1771, Singspiel). 7

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Anonym [Friedrich Walter?]: Aus Oggersheims glanzvollen Tagen. In: Mannheimer Geschichtsblätter 13 (1912), Nr. 3, Sp. 6 2 - 6 5 . Hier Sp. 64. Die Anmerkung des anonymen Verfassers, es handele sich vielleicht um eine Verwechslung mit Johann Christian Bachs L'Endimione, die im Januar 1774 in Mannheim aufgeführt wurde, ist irreführend. Den Originalbericht des Grafen von Riancour (doch wohl in französischer Sprache?) konnte ich nicht ermitteln. Vgl. die ausführliche und mit Quellentexten gut belegte Darstellung von Christoph von Blumröder: Serenata/Serenade. In: Handwörterbuch der musikalischen Terminologie. Hg. v. Hans Heinrich Eggebrecht. Wiesbaden 1972ff. (der hier genannte Artikel 1986).

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E s s p r i c h t also einiges dafür, d a ß hinter Schillers B e z e i c h n u n g » O p e r e t te« eher die G a t t u n g s t r a d i t i o n der höfischen >serenata< als die des d e u t s c h e n Singspiels steht. D a ß d e r Stoff sich für ein höfisches F e s t nicht gerade aufdrängt, will w e n i g besagen — schlechterdings jeder m y t h o l o g i s c h e Stoff k o n n t e den h ö f i s c h e n O p e r n g a t t u n g e n des 18. J a h r h u n d e r t s a n g e p a ß t w e r den, u n d a u c h der Semele-Stoff ist, w e n n a u c h selten, k o m p o n i e r t w o r d e n . 9 V o r a u s s e t z u n g w a r allerdings der glückliche A u s g a n g , das >lieto finelieto fine< fehlt bei Schiller. D a s führt z u der F r a g e , o b diese » O p e r e t t e « nicht d o c h etwas anderes sein soll als ein k o m p o n i e r b a r e r T e x t in m e h r o d e r m i n d e r enger A n l e h n u n g an die metastasianische >serenataserenata< verweisen, so ist d o c h offenkundig, daß Schillers T e x t im D e t a i l m i t metastasianischen F o r m e n ( o d e r a u c h F o r m e n der >tragedie lyriqueopera comiquetragedie lyrique< Semele von Antoine Houdar de Lamotte gekannt haben, die von Marin Marais in Paris 1709 komponiert worden war; der Text wurde im 9. Band von Ballards Recueil general des Operas (reprint Minkoff 1971) und in Houdar de Lamottes CEuvres completes 1754 gedruckt. Werke von ihm müssen am Stuttgarter Hof bekannt gewesen sein, vgl. Rudolf Krauß: Das Theater, S. 488-489. Entfernt möglich ist auch eine Bekanntschaft mit dem von Hermann Friedrich Raupach in Petersburg 1774 komponierten Ballett Jupiter et Semele, das offenbar sehr schnell an den Darmstädter Hof gelangte (wo die einzigen nachweisbaren Exemplare, Libretto und Partitur, im Zweiten Weltkrieg verbrannten); vgl. Ralph-Aloys Mooser: Annales de la musique et des musiciens en Russie au XVIIIme siecle. Genf 1948-1951, Bd. 2, S. 122-124. In einen anderen Gattungszusammenhang gehören dagegen die französischen Semele-Kammerkantaten von Andre Cardinal Destouches (1719), Nicolas Renier (1719), Elisabeth Claude Jacquet de La Guerre (vor 1729) und Jean-Baptiste Cappus (1732); vgl. Gene E. Vollen: The French Cantata. A Survey and Thematic Catalog. (Studies in Musicology 51) Ann Arbor 1982. — Die Suche nach möglichen Vorbildern ist deshalb nicht ganz müßig, weil Christa Vaerst-Pfarr: Semele - Die Huldigung der Künste, S. 295, besonderes Gewicht darauflegt, daß Schiller (im Gegensatz zu Ovid, seiner primären Quelle) Semele die Möglichkeit gibt, ihren todbringenden Wunsch zurückzunehmen, ja sogar Jupiter Semele beschwören läßt, dies zu tun: eben diese Szene - für einen effektsicheren Dramatiker wohl ohnehin eine naheliegende Steigerung der Spannung — füllt bei Houdar de Lamotte fast einen ganzen Akt und ist auch bei Congreve eindrucksvoll ausgeführt.

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ehern mag.10 Die Distanz zu allen musiktheatralischen Gattungen und Formen, die Schiller am Hof Karl Eugens kennen gelernt hatte oder kennen konnte, ist radikal — so radikal wie der Gegensatz zu den an die Gattungstradition angepaßten Singspielen Goethes, die der Karlsschüler durch die Truppe Schikaneders kennen lernte. Das sprachliche Niveau jedenfalls weiter Strecken des Textes und die wenig spätere eminent schöpferische Umsetzung gerade musiktheatralischer Anregungen in den Räubern machen es andererseits sehr unwahrscheinlich, daß Semele ein formal mißglückter Versuch zu einem »echten« Opernlibretto sein könnte — so mißglückt, daß kein Komponist der Zeit die sprachlichen und metrischen Kaskaden dieses Textes hätte komponieren können. Nicht ganz so unwahrscheinlich ist aber vielleicht, daß Schiller hier einen — verwegenen — Versuch gemacht hat, die sinnliche Macht der Musik in Worte und Verse umzusetzen — jene Macht also, für die er offenbar ganz ungewöhnlich empfänglich war, und die er deshalb in seiner späteren musikästhetischen Diskussion mit Körner und in der bekannten Stelle in Uber das Pathetische, Eduard Hanslicks Kampf gegen den »pathologischen Kunstgenuß« vorwegnehmend (und wohl inspirierend), durch Form zu bändigen für dringlich hielt: »ohne Form würde sie [die Musik] über uns blind gebieten, ihre Form rettet unsere Freiheit«. Semele also nicht eine zu komponierende »lyrische Operette«, sondern eine aus Worten komponierte Oper. Wie das zu verstehen ist, kann ein Blick auf den Anfang des Stückes zeigen.11 Junos erste Zeilen Hinweg den geflügelten Wagen, Pfauen Junos! Erwartet mich Auf Zythärons wolkichtem Gipfel!

sind formal ein Auftritts-Rezitativ, und zwar eher ein >seccoaccompagnatoaccompagnatoaccompagnatoda caposettenarii< und >ottonarii< und durch Endreime gekennzeichnet, aber die letzte Zeile wird gestört durch eine metrische Irritation, die schon auf den Affekt-Umschlag zur zweiten Strophe und den Ausruf »Weh mir!« an deren Beginn vorbereitet. 12 Die zweite Strophe ist als solche noch erkennbar durch dieselbe Reimstellung wie in der ersten Strophe, aber metrisch — unter dem Ansturm der Erinnerungen — aufgebrochen, in ganz sinnfälliger Darstellung der letzten 12

In den Änderungen, die Schiller in sein Exemplar des Frankfurter Raubdruckes von 1800 eintrug, ist die Form konventionalisiert: die zweite Strophe ist gestrichen, die letzte Zeile der ersten metrisch normalisiert. In der Fassung von 1807 sind die beiden je sechszeiligen Strophen zu einer einzigen, elfzeiligen Strophe zusammengefaßt, in der aber die Entwicklung von fester Form zu sich auflösender Form ähnlich wie in der Urfassung ist. Vgl. die Lesarten in der Nationalausgabe.

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Zeile: »Und dahin auf ewig meine Ruh!« und am drastischsten in den wiederum ganz direkt textgezeugten Daktylen der dritten Zeile: »Götter gestrudelt der Zauberin zu«. Den endgültigen Umschwung von der strophischen Anlage zu den freien und reimlosen Versen eines aufs Höchste erregten >quasi-accompagnato< signalisiert die Vortragsbezeichnung »heftig entschlossen« ; auch in diesem Abschnitt ist die Steigerung der monologischen Erregung meisterhaft »auskomponiert«, von den »heftig entschlossenen« fünfhebigen Trochäen des Anfangs über die weit ausgreifenden rhetorischen Fragen der daktylischen Langzeilen, vermischt mit metrisch isolierten Ausrufen, bis zur letzten Kulmination in den sich gleichsam drängenden, jagenden Kurzzeilen des Schlusses, die keiner traditionellen Arienstrophik entsprechen, aber doch eine arienhafte Verdichtung suggerieren. Ganz am Schluß stehen zwei Zeilen, die auf merkwürdige Weise an die Schluß-Sentenzen so vieler metastasianischer Arien und damit noch einmal an die Tradition erinnern, die aber zugleich noch einmal diese Tradition durch ihre Wortmusik überformen — durch einen krassen metrischen Gegensatz, der den Inhalt der letzten Zeile gleichsam herauspreßt: Kann die Liebe mit dem Stiere grasen, Was darf die Rache nicht?

Es wäre ohne große Mühe und ohne interpretatorische Uberanstrengung möglich, die ganze Semele auf diese Weise als Wort-Oper darzustellen; das Angedeutete muß hier genügen. Das Werk erscheint so als ein Versuch, mit Worten und Versen nicht nur Musik, sondern ein ganzes musikalisches Drama zu komponieren. So erklärt sich auch die Akzentuierung der Gattungsbezeichnung als »lyrische« Operette: lyrisch verweist auf die >tragedie lyriqueSemele< [...] die lange vor der Prosa-Emphatik der >drei gewaltigen Erstlinge< die Verssprache des >Don Carlos< vorwegnimmt [...] meine erste literarische Liebe«.

Carl Dahlhaus

Formbegriff und Ausdruckspinzip in Schillers Musikästhetik

1 Die Ästhetik der Musik ist unpopulär, weil es Musikliebhabern in der Regel schwer fällt, zwischen den mathematischen Implikationen der Theorie, von denen sie sich übertriebene Vorstellungen machen, und den Gefühlswirkungen, deren Ubermaß sie an der Wahrnehmung von Formstrukturen hindert, eine Vermittlung zu finden. Schiller, der keineswegs arm an musikalischen Erfahrungen war, begann sich für die Theorie der Musik erst zu interessieren, als er zu der Uberzeugung kam, daß er sie in dem ästhetischen System, das er zu entwerfen versuchte, berücksichtigen mußte. An Christian Gottfried Körner, in dessen musikalische Kenntnisse er ein nicht ganz berechtigtes Vertrauen setzte, schrieb er am 11. Januar 1793: »An musikalischen Einsichten verzweifle ich, denn mein Ohr ist schon zu alt; doch bin ich gar nicht bange, daß meine Theorie der Schönheit an der Tonkunst scheitern werde«. 1 Und am 20. Juni desselben Jahres heißt es, wiederum in einem Brief an Körner: »Und dann möchte ich auch durch Dich mit musikalischen Ideen bekannt werden, weil ich diese Kunst nicht zurücklassen kann und will«. 2 Schiller erwähnt auch, daß er seine Ideen »an der Musik geprüft« habe, soweit er »mit Sulzer und Kirnberger kommen konnte«. 3 Johann George Sulzers Allgemeine Theorie der Schönen Künste gehörte zu den Lehrbüchern der Karlsschule; daß aber Schiller Johann Philipp Kirnbergers Kunst des reinen Satzes kannte, eine pedantisch esoterische, für Liebhaber kaum zugängliche Kompositionslehre, ist wenig wahrscheinlich; vielmehr wußte er vermutlich, daß das Material zu Sulzers Artikeln über Musik von Kirnberger stammte. Die wenigen musikästhetischen Reflexionen, die sich verstreut in Schillers Schriften finden, stehen nicht für sich, sondern sind in Argumentatio1 2 3

Schillers Briefwechsel mit Körner, Teil III, Berlin 1847, S. 2. Ebd. S. 111. Ebd. S. 102.

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nen verflochten, deren Ziele weit von der Musik entfernt liegen. In der Rezension von Matthissons Gedichten, die im Wesentlichen eine Abhandlung über Landschaftsmalerei und Landschaftsdichtung darstellt, ist der musikästhetische Exkurs eher trivial, und er darf es sein, weil er zu nichts anderem als zu einem Vergleich dient, der die Landschaftsmalerei vor dem Vorwurf, einfache Nachahmung der Natur zu sein, bewahren soll: Schiller glaubt, die Analogie zwischen Gefühlsbewegung und »tönend bewegter Form«, die ein durch Jahrtausende überlieferter Topos der Musiktheorie ist, in der Landschaftsmalerei, hinter deren Außenseite sich gleichfalls Reflexe menschlicher Affekte abzeichnen, wiederzuentdecken.4 Die Stelle aus dem Zusammenhang herauszubrechen, um sie als Zeugnis über Schillers Musikästhetik zu präsentieren, wäre kaum weniger verfehlt, als wenn man die Rede einer Roman- oder Dramenfigur mit der Uberzeugung des Autors gleichsetzen würde. Auch der 22. Brief über die ästhetische Erziehung des Menschen, die zentrale Äußerung über Musik in Schillers Schriften, legt eine Interpretation, die dem Kontext gerecht zu werden versucht, einige Hindernisse in den Weg. Schiller postuliert eine Annäherung der Künste untereinander, indem er, nicht anders als bei der Bestimmung des Verhältnisses zwischen Individuum und allgemein Menschlichem, von dem Vorurteil ausgeht, daß das Ideal der Kunst einzig durch die Preisgabe von Besonderheiten der einzelnen Künste zu erreichen sei. Das Spezifische erscheint als Einseitigkeit, die aufgehoben werden soll: Die Ursache ist, weil auch die geistreichste Musik durch ihre Materie noch immer in einer größern Affinität zu den Sinnen steht, als die wahre ästhetische Freiheit duldet, weil auch das glücklichste Gedicht von dem willkürlichen und zufälligen Spiele der Imagination, als seines Mediums, noch immer mehr partizipiert, als die innere Notwendigkeit des wahrhaft Schönen verstattet, weil auch das trefflichste Bildwerk, und dieses vielleicht am meisten, durch die Bestimmtheit seines Begriffs an die ernste Wissenschaft grenzt.

Schiller, der sich durch Musik »gefesselt« und in seiner inneren Freiheit bedroht fühlte, entwarf eine ästhetische Utopie, in der die Musik nicht bloß tönende Bewegung ist, die Seelenbewegungen ausdrückt und hervorruft, sondern als »Gestalt« erscheint, und zwar in dem emphatischen Sinne, den Schiller in den Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen mit dem Wort verband. »Die Musik in ihrer höchsten Veredlung muß Gestalt

4

F. Schiller: Sämtliche Werke. Hg. v. G. Fricke und G. Göpfert. München 1967, Bd. 5, S. 999.

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werden und mit der ruhigen Macht der Antike auf uns wirken«. 5 Der Stoff soll »durch die Form vertilgt werden«. Schillers Formbegriff aber, der ohne Rückgriff auf Kants Kritik der Urteilskraft — das Fundament von Schillers ästhetischen Schriften — nicht zu verstehen ist, setzt einer Interpretation, die sich um Eindeutigkeit bemüht, statt sich durch Ambiguitäten befriedigt zu fühlen, einen nicht geringen Widerstand entgegen. In Paragraph 53 der Kritik der Urteilskraft wird die Musik »als Spiel der Empfindungen« beschrieben, dem eine »proportionierte Stimmung« zugrundeliegt. Durch die Doppeldeutigkeit des Ausdrucks »Empfindung« aber, der sich einerseits auf Gefühle oder Affekte und andererseits auf Sinneseindrücke bezieht, gerät Kants Argumentation in Verwirrung. Die Tonkunst wird zunächst als »Sprache der Affekte« apostrophiert; dann aber ist von einer »mathematischen Form« der »Empfindungen« die Rede, und gemeint sind zweifellos die hinter den Intervallen — als akustischen Sinneseindrücken — stehenden Zahlenproportionen. Das mathematische Moment bildet nach Kant die Form, durch die sich die Musik als schöne — und nicht bloß angenehme — Kunst konstituiert. »An dieser mathematischen Form, obgleich nicht durch bestimmte Begriffe vorgestellt, hängt allein das Wohlgefallen, welches die bloße Reflexion über eine solche Menge einander begleitender oder folgender Empfindungen mit diesem Spiele derselben als für jedermann gültige Bedingung seiner Schönheit verknüpft«. In dem ästhetischen Eindruck aber, der von Musik ausgeht, ist die mathematische Struktur, die als solche nicht wahrgenommen werden kann, sondern sich ausschließlich in der größeren oder geringeren Verschmelzung von Konsonanzen oder Dissonanzen manifestiert, ein verschwindendes Moment. »Aber an dem Reize und der Gemütsbewegung, welche die Musik hervorbringt, hat die Mathematik sicherlich nicht den mindesten Anteil, sondern sie ist n u r die unumgängliche Bedingung (conditio sine qua non) derjenigen Proportion der Eindrücke in ihrer Verbindung sowohl als ihrem Wechsel, wodurch es möglich wird, sie zusammenzufassen«. 6 Die mathematische Form begründet den Rang der Musik als schöne Kunst, fällt aber in der ästhetischen Realität einer Affektwirkung zum Opfer, die das stoffliche Moment darstellt, das nach Schillers Forderung durch die Form vertilt werden soll, während nach Kant gerade das Umgekehrte, eine Vertilgung der Form durch den Stoff, geschieht.

5 6

Ebd. S. 639. 1. Kant: Kritik der Urteilskraft, 1790, § 53.

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2 Mit dem Begriff der »mathematischen Form«, den Kant aus der Tradition der Musiktheorie übernahm, ließ sich das Problem, das Schiller beschäftigte: die Errichtung einer Gegeninstanz zur Affektwirkung der Musik, nicht lösen. Und es war Körner, Schillers musikalischer Mentor, der in einem Aufsatz Über Charakterdarstellung in der Musik, den er 1795 für die Hören schrieb, einen Versuch unternahm, aus dem von Kant beschriebenen Dilemma, daß gerade der die Schönheit der Musik begründende Wesenszug in der ästhetischen Wirkung untergeht, einen Ausweg zu finden. Dem Ausdruck von Affekten, der in der gesamten Ästehtik des 18. Jahrhunderts, auch bei Kant, als Inhalt der Musik galt, setzte er die Darstellung von Charakteren entgegen. »Wir unterscheiden in dem, was wir Seele nennen, etwas Beharrliches und etwas Vorübergehendes, das Gemüt und die Gemütsbewegungen, den Charakter — Ethos - und den leidenschaftlichen Zustand — Pathos —. Ist es gleichgültig, welches von beiden der Musiker darzustellen sucht?« 7 Körners Abhängigkeit von Schillers 11. Brief über die ästhetische Erziehung des Menschen, den er, wie die Korrespondenz zeigt, bereits kannte, als er seine Abhandlung schrieb, ist unverkennbar. Was Körner »Charakter« nennt, heißt bei Schiller »Person«. »Wenn die Abstraktion so hoch, als sie immer kann, hinaufsteigt, so gelangt sie zu zwei letzten Begriffen, bei denen sie stille stehen und ihre Grenzen bekennen muß. Sie unterscheidet in dem Menschen etwas, das bleibt, und etwas, das sich unaufhörlich verändert. Das Bleibende nennt sie seine Person, das Wechselnde seinen Zustand«. 8 Die Entgegensetzung von Affekt und Charakter widersprach der Gewohnheit früherer Musikästhetiker wie Mattheson und Marpurg, die Begriffe synonym zu gebrauchen. Außerdem verwickelt sich Körner bei dem Versuch, den Charakterbegriff musikästhetisch zu präzisieren, in einen Widerspruch, der unauflösbar ist. Einerseits behauptet er, durchaus in Ubereinstimmung mit der Tradition, daß Gefühle oder Affekte das einzige seien, was Musik unmittelbar darstellen kann; der Charakter, der die innere Einheit in der Mannigfaltigkeit der Empfindungen verbürgt, müsse indirekt aus der Konfiguration der geschilderten Affekte erschlossen werden. »Wenn es der Musik nicht an deutlichen Zeichen fehlt, um einen bestimmten Zustand zu versinnlichen, so ist ihr dadurch auch die Möglichkeit der Charakterdar-

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W. Seifert: Christian Gottfried Körner. Ein Musikästhetiker der deutschen Klassik. Regensburg I960, S. 147. Schiller: Sämtliche Werke, Bd. 5, S. 601.

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Stellung gegeben. Was wir Charakter nennen, können wir überhaupt weder in der wirklichen Welt, noch in irgend einem Kunstwerke unmittelbar wahrnehmen, sondern nur aus demjenigen folgern, was in den Merkmalen einzelner Zustände enthalten ist«. 9 Andererseits identifiziert Körner den Charakter, um ihn musikalisch greifbar zu machen, mit dem Grundrhythmus, der in einem Stück herrscht. »Das Regelmäßige in der Abwechselung von Tonlängen — Rhythmus — bezeichnet die Selbständigkeit der Bewegung. Was wir in dieser Regel wahrnehmen, ist das Beharrliche in dem lebenden Wesen, das bei allen äußern Veränderungen seine Unabhängigkeit behauptet«. Dem Rhythmus, der das Ethos, das Bleibende repräsentiert, stellt Körner die Melodie gegenüber, in der sich das Pathos, der leidenschaftliche Zustand, äußert. »Was durch die Melodie unmittelbar dargestellt wird, ist der Zustand, das Vorübergehende im Gegensatz des Beharrlichen, der Grad des Lebens in dem einzelnen Momente«. 10 Körner drückt, wenn er das Lebendige und das Beharrliche ineinandergreifen läßt, mit etwas anderen Worten, aber kaum verhüllt, eine Idee aus, die von Schiller im 15. Brief über die ästhetische Erziehung des Menschen in den paradoxen Begriff der »lebenden Gestalt, der das »Leben« als »Gegenstand des sinnlichen Triebes« ebenso einschließt wie die »Gestalt« als »Gegenstand des Formtriebes«, gefaßt worden war.11 Von »Gestalt« in der Musik ist bei Körner nicht die Rede, wohl aber dann in Schillers 22. Brief, den Körner noch nicht kannte, als er seine Abhandlung schrieb. Was Körner mit dem Rhythmus meint, der einem musikalischen Werk innere Einheit gibt, steht nicht unmißverständlich fest. Das »Regelmäßige in der Abwechselung von Tonlängen« kann der Takt, aber auch das Metrum sein, das von Johann Mattheson 1739 »Klangfuß« genannt wurde: 12 eine Konfiguration von Längen und Kürzen, die unverändert oder mit Modifikationen, die das Grundmuster durchscheinen lassen, in einem Satz dominiert. Der Takt ist später von Hegel als Moment der inneren Einheit in der Musik und, nicht anders als bei Körner, als Ausdruck der Person aufgefaßt worden: In dieser E i n f ö r m i g k e i t findet das Selbstbewußtsein sich selber als Einheit wieder, insofern es teils seine eigene Gleichheit als O r d n u n g der willkürlichen M a n -

Seifert: Körner, S. 155. Ebd. S. 157. 11 Schiller: Sämtliche Werke, Bd. 5, S. 614. 12 J. Mattheson: Der vollkommene Capellmeister, Hamburg 1739, Nachdruck Kassel 1954, S. 160ff. 9

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nigfaltigkeit erkennt, teils bei der Wiederkehr derselben Einheit sich erinnert, daß sie bereits dagewesen sei und gerade durch ihr Wiederkehren sich als herrschende Regel zeige. Die Befriedigung aber, welche das Ich durch den Takt in diesem Wiederfinden seiner selbst erhält, ist um so vollständiger, als die Einheit und Gleichförmigkeit weder der Zeit noch den Tönen als solchen zukommt, sondern etwas ist, das nur dem Ich angehört und von demselben zu seiner Selbstbefriedigung in die Zeit hineingesetzt ist. 1 3

Die Interpretation als »Klangfuß« — statt als Takt —, die insofern wahrscheinlicher ist, als Körner den »Rhythmus in der griechischen Musik, Poesie und Tanzkunst« erwähnt, findet sich in deutlicherer Ausprägung bei Ε. Τ. A. Hoffmann, der 1810 in seiner Rezension von Beethovens Fünfter Symphonie die innere Einheit des ersten Satzes — den »Charakter des Ganzen«, wie er mit einer an Körner erinnernden Wendung sagt14 — darin begründet sieht, daß der Rhythmus des Hauptthemas in wechselnden melodischen Gestalten sämtliche Teile durchdringt. »Es gibt keinen einfacheren Gedanken, als den, welchen der Meister dem ganzen Allegro zum Grunde legte, und mit Bewunderung wird man gewahr, wie er alle Nebengedanken, alle Zwischensätze durch rhythmischen Verhalt jenem einfachen Thema so anzureihen wußte, daß sie nur dazu dienten, den Charakter des Ganzen, den jenes Thema nur andeuten konnte, immer mehr und mehr zu entfalten«.15 Schiller, der im 22. Brief über die ästhetische Erziehung des Menschen forderte, daß »die Musik in ihrer höchsten Veredlung Gestalt werden« müsse,16 war von Körners Versuch, das als Utopie gemeinte Postulat durch den Charakterbegriff einzulösen und gewissermaßen in die greifbare musikalische Realität herunterzuholen, nicht restlos überzeugt. Am 10. März 1795 schrieb er an Körner: »Offenbar beruht die Macht der Musik auf ihren körperlichen, materiellen Teilen. Aber weil in dem Reiche der Schönheit alle Macht, insofern sie blind ist, aufgehoben werden soll, so wird die Musik nur ästhetisch durch die Form. Die Form aber macht keineswegs, daß sie als Musik wirkt, sondern bloß, daß sie bei ihrer musikalischen Macht ästhetisch wirkt«. Die Form, die Schiller meint, ist nicht mehr die »mathematische Form«, von der bei Kant die Rede war, sondern die innere Einheit, die Körner »Charakter« nannte. Dennoch kann sich Schiller, wohl aufgrund eigener musikalischer Erfahrungen, von Kants Behauptung, daß in der Mu-

13 14 15 16

G. W. F. Hegel: Ästhetik. Hg. v. F. Bassenge. Frankfurt am Main o.J., Bd. 2, S. 285. Seifert: Körner, S. 157. Ε. T. A. Hoffmann: Schriften zur Musik. Hg. v. F. Schnapp. München 1963, S. 43. Schiller: Sämtliche Werke, Bd. 5, S. 639.

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sik — entgegen der Maxime, daß der Stoff »durch die Form vertilgt« werden müsse — die Form ein in der Affektwirkung verschwindendes Moment sei, nicht restlos trennen. »Nimmst Du«, heißt es in der Fortsetzung des Briefes an Körner, »der Musik alle Form, so verliert sie zwar alle ihre ästhetische, aber nicht alle ihre musikalische Kraft. Nimmst Du ihr allen Stoff und behältst bloß ihren reinen Teil, so verliert sie zugleich ihre ästhetische und musikalische Macht und wird bloß ein Objekt des Verstandes. Das beweist also, daß auf ihren körperlichen Teil mehr Rücksicht genommen werden muß, als Du genommen hast«. 17 Schiller spricht von der Form, obwohl sie von Körner als Charakter im Sinne von innerer Einheit bestimmt worden war, als einem bloßen »Objekt des Verstandes«, als ob es sich noch um die »mathematische Form« handelte, die in der Kritik der Urteilskraft als »proportionierte Stimmung« im »Spiel der Empfindungen« 18 den Anspruch der Musik, zu den schönen Künsten gezählt zu werden, rechtfertigen sollte.

3 Die Vorstellung einer »tönenden Gestalt«, in der neueren Musikästhetik eine Selbstverständlichkeit, war für Schiller ein Paradox, weil die Musik, die in der Zeit vergeht, und der Gestaltbegriff, der etwas Bleibendes bezeichnet, sich auszuschließen schienen. »Die Zeit«, hießt es in der Kritik der reinen Vernunft, »ist nichts anders, als die Form des inneren Sinnes, d.i. des Anschauens unserer selbst und unsers innern Zustandes. Denn die Zeit kann keine Bestimmung äußerer Erscheinungen sein; sie gehöret weder zu einer Gestalt oder Lage etc., dagegen bestimmt sie das Verhältnis der Vorstellungen in unserm innern Zustande. Und, eben weil diese innre Anschauung keine Gestalt gibt, suchen wir auch diesen Mangel durch Analogien zu ersetzen, und stellen die Zeitfolge durch eine ins Unendliche fortgehende Linie vor«. 19 Daß die Musik, im Unterschied zu den bildenden Künsten, nicht »von bleibendem«, sondern »nur von transitorischem Eindrucke« ist und das Gemüt »bloß vorübergehend«, wenn auch »inniglicher« als die Poesie bewegt, war für Kant ein Grund zu dem Urteil, sie sei »freilich mehr Genuß als Kultur«. 20 Und Schiller griff, als er im 12. Brief über die ästhetische Erziehung den Zustand eines Menschen beschrieb, der von einer Emp-

Seifert: Körner, S. 54f. Kant: Kritik der Urteilskraft, § 53. " Kant: Kritik der reinen Vernunft, 1781, Transzendentale Ästhetik, § 6. 20 Kant: Kritik der Urteilskraft, § 53. 17 18

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findung ganz erfüllt und dadurch in einen einzigen »Moment der Zeit« gleichsam eingeschlossen und dem Bewußtsein seiner selbst entfremdet ist, nicht zufällig zu einem musikalischen Beispiel: Es ist der Ton eines Instruments, der das Außer-sich-selbst-Sein herbeiführt. 2 1 Es scheint, als sei die Befangenheit im einzelnen musikalischen Augenblick, der weniger mit dem nächsten verknüpft ist, als daß er durch ihn ausgelöscht wird, charakteristisch für die Wahrnehmung von Musik, die den ästhetischen Reflexionen Kants und Schillers zugrundeliegt. Die tönenden Partikel schließen sich nicht zu einer Gestalt zusammen, die man im Gedächtnis festhalten kann — daß »die Musik in ihrer höchsten Veredlung Gestalt werden« müsse, ist im 22. Brief Uber die ästhetische Erziehung utopisches Postulat und nicht Beschreibung gegenwärtiger ästhetischer Realität —, sondern vergehen wie die Empfindungen, deren flüchtiger Ausdruck sie sind, in dem Augenblick, in dem sie entstehen. Die These, daß die Musik — genauer: die Klassische Instrumentalmusik — »tönend bewegte Form« ist, daß Form in der Musik als Geist begriffen werden muß, und Geist sich in der Form manifestiert, ist erst von Eduard Hanslick, dessen Abhandlung Vom Musikalisch-Schönen bei ihrem Erscheinen 1854 Entrüstung auslöste, mit einer Entschiedenheit formuliert worden, durch die sie geschichtswirksam wurde. U n d daß Hanslick einerseits von musikalischer »Anschauung« sprach 22 und andererseits gegen die »verrottete Gefühlsästhetik«, wie er sie nannte, polemisierte, 23 ist kein Zufall. In der mit der Wiener Klassik gleichzeitigen Ästhetik, gegen die Hanslick sich wandte, weil er in ihr ein Mißverständnis der klassischen Musik zu erkennen glaubte, waren die Schwäche der Formwahrnehmung, die Versunkenheit in »innigliche«, aber »bloß vorübergehende« Gefühle und die Vorstellung eines Zeitflusses, in dem sich nichts als »Anschauung« festhalten läßt, eng aufeinander bezogene und sich gegenseitig stützende Momente. Es war die Ästhetik Schillers, die in ihren Grundlagen auf einer vorklassischen Stufe stehenblieb und nur insofern Teilmomente einer klassischen Musikästhetik enthielt, als Schiller postulierte, die Musik müsse »in ihrer höchsten Veredlung Gestalt werden«, ohne zu ahnen, daß sie es in den klassischen Symphonien und Quartetten, die er nicht kannte, längst geworden war.

21 22 23

Schiller: Sämtliche Werke, Bd. 5, S. 604. E. Hanslick: Vom Musikalisch-Schönen. Leipzig 1854, Nachdruck Darmstadt 1965, S. 70. Ebd. V.

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4 In Körners Theorie des Rhythmus lag, ohne daß es Schiller bewußt wurde, ein Ansatz zu einer Formtheorie verborgen, die dem gerecht zu werden vermochte, was sich in der Musik in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts ereignete. Entwickelt und in seiner fundamentalen Bedeutung herausgestellt wurde das Gedankenmotiv, aus dem eine klassische Musikästhetik hervorgehen konnte, in Schellings Philosophie der Kunst, die 1802/1803 und 1804/1805 als Vorlesungskonzept entworfen, allerdings erst 1859 posthum gedruckt wurde. Nach Schelling ist der Rhythmus »die Musik in der Musik«. 2 4 Rhythmus aber, Gleichmaß im Wechsel, begründet Einheit in der Mannigfaltigkeit und dadurch Form. »Allgemein nun angesehen ist Rhythmus überhaupt Verwandlung der an sich bedeutungslosen Succession in eine bedeutende. Die Succession rein als solche hat den Charakter der Zufälligkeit. Verwandlung des Zufälligen der Succession in Notwendigkeit = Rhythmus, wodurch das Ganze nicht mehr der Zeit unterworfen ist, sondern sie in sich selbst hat«. 25 War Schiller, aufgrund eigener Erfahrungen und unter dem Einfluß Kants, in der engen Vorstellung befangen, daß Musik einem Zeitverlauf ausgeliefert sei, der Augenblick nach Augenblick in sich verschwinden läßt, so erkannte Schelling, daß Musik durch den Rhythmus, den sie enthält, gleichsam Herr über die Zeit ist und sie festzuhalten und ihr eine Struktur aufzuprägen vermag. Unter Rhythmus versteht Schelling nicht nur die Komplementarität von Zählzeiten, Halbtakten und Takten, sondern auch die übergreifenden Beziehungen zwischen Taktgruppen, Halbsätzen und Perioden: das also, was Eduard Hanslick später »Rhythmus im Großen« nannte. Daß die Beschreibung des musikalischen Sachverhalts aus dem Artikel »Rhythmus« in Sulzers Allgemeiner Theorie der Schönen Künste stammt 26 — der Quelle, aus der auch Schiller seine musikalischen Kenntnisse schöpfte —, ändert nichts an Schellings Originalität; denn erst durch die philosophische Interpretation, daß Musik, die einen »Rhythmus im Großen« ausprägt, »nicht mehr der Zeit unterworfen ist, sondern sie in sich selbst hat«, wird Sulzers Rhythmustheorie zu einer klassischen Ästhetik. Daß Schelling sich, wie später Hanslick, in gleichem Maße, wie er die im Rhythmus begründete Form akzentuiert, von der herrschenden Gefühlsästhetik entfernt, ist kein

F. W. J. von Schelling: Philosophie der Kunst, 1859. Nachdruck Darmstadt I960, S. 138. Ebd. S. 137. 26 J. G. Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Bd. 2, Leipzig 2 1794, Nachdruck Hildesheim 1967, S. 94. 24

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Zufall. Von den Affekten, die durch Musik ausgedrückt und hervorgerufen werden, »wird bei der Betrachtung des Rhythmus ganz abstrahiert, seine Schönheit ist nicht stoffartig und bedarf der bloß natürlichen Rührungen, die etwa in Tönen an und für sich liegen, nicht, um absolut wohlzugefallen und eine dafür empfängliche Seele zu entzücken«. 27

5 Die Musikästhetik des 18. Jahrhunderts war auch dort, wo von Musik schlechthin die Rede ist, eine Ästhetik der Vokalmusik: der Oper und seltener des Liedes oder der Kirchenmusik. Die Instrumentalmusik wurde — abgesehen von der Opernouvertüre, die schon früh das Interesse räsonierender Laien auf sich zog — erst gegen Ende des Jahrhunderts, als der internationale Ruhm von Haydns Symphonien und Quartetten einen Paradigmenwechsel der Theorie erzwang, zu einem Gegenstand ästhetischer Reflexion. Vokalmusik ist, um ästhetisch sinnvoll zu sein, in geringerem Maße als Instrumentalmusik darauf angewiesen, daß man die einzelnen Teile in einer Imagination, die früher Gehörtes — wie schattenhaft auch immer — festzuhalten versucht, zum Ganzen einer Form zusammenfügt. Beim Hören einer Arie oder eines Liedes neigt man vielmehr dazu, musikalische Details unabhängig von dem Kontext, in dem sie eine Funktion erfüllen, auf sich wirken zu lassen; das Bezugssystem, dem die expressiven Augenblicke angehören, stiftet der Text, nicht eine übergreifende musikalische Form, die zwar vorhanden ist, aber in der Regel kaum wahrgenommen wird. Dagegen erweist sich die fragmentierende Hörweise, die Stückelung expressiver Details, bei Instrumentalmusik, da das verbindende Moment des Textes fehlt, rasch als unzulänglich und inadäquat. Die Formwahrnehmung, die in der Oper vernachlässigt werden kann, ohne daß man sich eines ästhetischen Mangels bewußt zu werden braucht, wird bei einer Symphonie oder einem Streichquartett zur Notwendigkeit, wenn nicht das unangenehme Gefühl, einem amorphen Gewirr tönender Bruchstücke ausgesetzt zu sein, entstehen soll. Phrasen zu Perioden zusammenzufügen, spätere Motive als Varianten von früheren zu erkennen und die Symmetrie zu empfinden, die zwischen dem Verlassen einer Tonart und der Rückkehr zu ihr besteht, wird bei Instrumentalmusik zur Bedingung einer ästhetischen Wahrnehmung, die dem 27

Schelling: Philosophie der Kunst, S. 136.

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Kunstcharakter der Werke angemessen ist. Das passive Hören wird durch ein aktives abgelöst, wie H u g o Riemann, der bedeutendste Musiktheoretiker des späten 19. Jahrhunderts, immer wieder betonte. 28 (Allerdings wurde ihm nicht bewußt, daß seine Ästhetik, die er für eine Theorie der Musik schlechthin hielt, eine Ästhetik der klassisch-romantischen Instrumentalmusik war.) Es ist demnach kein Zufall, daß es die ästhetische Erfahrung der Symphonie war, durch die sich Christian Gottfried Körner dazu herausgefordert fühlte, gerade die Musik als Paradigma der Wahrnehmung eines Kunstwerks als eines in sich geschlossenen Ganzen zu zitieren. »Daß ich mich immer bestrebe, das Ganze eines Kunstwerkes zu fassen«, schrieb Körner am 17. Dezember 1796 an Goethe, »habe ich vielleicht meiner Liebhaberei für Musik zu danken. Die Sinfonie des größten Meisters gibt einen gar dürftigen Genuß, wenn man sich bloß leidend dabei verhält, und sehr von einzelnen Tönen das Ohr kitzeln läßt. Hier muß man schlechterdings, was uns einzeln gegeben ist, zusammen hören, und dazu gehört bei reichhaltigen Werken eine gewisse Tätigkeit. Wer sich diese durch Übung erleichtert hat, wird auch in Kunstwerken andrer Art, selbst, wenn sie von größerem Umfang sind, die Einheit finden«. 29 Das aktiv-synthetische Hören, das Körner postuliert, 30 ist allerdings eine utopische, nahezu unerfüllbare Forderung, wenn Instrumentalwerke, wie es im 18. Jahrhundert üblich war, auf eine einzige Aufführung beschränkt bleiben und nicht die Chance erhalten, durch Wiederholungen allmählich verständlicher zu werden. Daß Schiller, in Übereinstimmung mit Kant, den Eindruck von Musik als »bloß transitorisch« empfand und nicht erkannte, daß sich in der Imagination aus den in der Zeit vergehenden Teilen ein der Zeit enthobenes Ganzes aufbauen läßt, ist nicht allein der Begrenztheit seiner musikalischen Erfahrung zur Last zu legen, sondern auch dem äußerlichen Umstand, daß die zum Formverständnis von Instrumentalmusik notwendige Wiederholung von Aufführungen noch nicht zur Regel geworden war. Wenn Schiller im 22. Brief über die ästhetische Erziehung davon sprach, daß die Musik »Gestalt werden« müsse, so formulierte er eine ästhetische Erfahrung, die ihm fehlte, deren Möglichkeit er aber ahnte: die Erfahrung, daß sich bei wiederholtem Hören eines Werkes eine Form abzeichnet, die

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H . Riemann: Ideen zu einer »Lehre von den Tonvorstellungen«. Jahrbuch Peters XXI— X X I I , 1914-1915. F. Th. Bratranek: Nachträge zu Goethe-Correspondenzen. In: GJb 4 (1883), S. 300f. H . Besseler: Das musikalische Hören der Neuzeit. Berlin 1959.

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als gleichsam räumliche Ordnung der Teile dem Hörer vor Augen steht. Die Komplementarität von Vorder- und Nachsätzen, das Netz der Beziehungen zwischen den Themen und Motiven und die aus Konsequenzen und Antithesen gefügte Disposition der Tonarten ergibt ein Bild, das den Vergleich der Musik mit der Architektur verständlich erscheinen läßt. Die Verfestigung des tönenden Prozesses zu einer Struktur, die man überblikken kann, ist allerdings nicht die letzte Stufe, die von der musikalischen Wahrnehmung erreicht werden kann; sonst wäre die Analyse musikalischer Werke, die immer schon von deren Verräumlichung ausgeht, der Inbegriff ästhetischer Erfahrung. Dadurch, daß das Netz der Beziehungen zwischen den Teilen dem Hörer von vornherein vor Augen steht, wird die gespannte Aufmerksamkeit für den Prozeß, in dessen Verlauf die Zusammenhänge allmählich geknüpft werden — für einen Prozeß, der wie der Gang einer Erzählung, auch Umwege und Täuschungen einschließt — zumindest teilweise aufgehoben. Soll aber die ästhetische Erfahrung von Instrumentalmusik adäquat sein, so muß das Formverständnis, wenn es erst einmal geglückt ist, die Struktur gewissermaßen mit einem einzigen Blick zu erfassen, vor dem Hintergrund dieses Strukturbewußtseins wiederum zur ursprünglichen Prozeßwahrnehmung und den Überraschungen, Ambiguitäten und Unsicherheiten, die darin enthalten sind, zurückzukehren versuchen. Die Idee einer >zweiten Unmittelbarkeit^ die in dieser Forderung steckt, mag paradox erscheinen. Sie drängt sich jedoch unabweislich auf; denn die Form ist in der klassisch-romantischen Instrumentalmusik zugleich und in eins eine Struktur, die im Uberblick erfaßt werden soll, und ein Prozeß, zu dessen Wesen die Spannung auf den Fortgang gehört.

Gerhard vom Hofe

Die Verkündigung des »ästhetischen Staats« im höfischen Theater Zu Schillers lyrischem Spiel Die Huldigung der Künste

Schillers Huldigung der Künste, obschon >nur< eine flüchtige Gelegenheitsarbeit mit eindeutiger Zweckbestimmung, ist für die ästhetische Kritik eine Herausforderung. Diese letzte abgeschlossene dramatische Komposition des Autors scheint sich einer genauen Gattungszuweisung wie auch einer begrifflichen Bestimmung der sachlichen Intention zu entziehen. Schiller selbst bezeichnet sein »Machwerk« (NA 32, 170) zumeist bloß formal als »Vorspiel«, auf die Funktion seines Widmungsspiels als Prolog zum Hauptstück, Racines Mithridate, am Abend der Uraufführung Bezug nehmend. In der Druckfassung erhält der Text den charakterisierenden Untertitel »Ein lyrisches Spiel« (NA 10, 279), womit auf die sprachliche Gestaltung des Stücks in verschiedenen Versformen hingedeutet wird. Und der höfische Anlaß zum Spiel findet in der Widmung Ausdruck: Bei hoher Ankunft Ihrer Kaiserlichen Hoheit der Frau Erbprinzessin von Weimar Maria Paulowna Großfürstin von Rußland vorgestellt auf dem Weimarischen Hoftheater den 12. November 1804. ( N A 10, 280)

Über Idee, Thematik und poetische Organisation des Stoffes schweigt sich der Autor aus. Ein ästhetisches Urteil bleibt Zeitgenossen und Freunden überlassen. Doch deren Kritik verrät Verlegenheit. Interessant ist immerhin Körners Versuch einer Charakterisierung der Huldigung der Künste, denn er läßt eine Auseinandersetzung mit Fragen des Stils und des Inhalts erkennen. Überdies geht Körner auf, daß sich das kleine dramatische Gedicht nicht recht ins Schema der bisher vom Autor erprobten und geprägten dramatischen Gattungen fügen lassen will, wenn er dem Freunde, offenkundig verlegen um eine angemessene Kategorie, zu verstehen gibt, sein

Zu Schillers Huldigung der Künste

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»Product«(!) gehöre »eigentlich mehr zur oratorischen Classe« und habe »nur eine poetische Aussenseite«. ( N A 40, 1, 263.) Besonderheiten der dramatischen Struktur und der sprachlichen Organisation eines auffällig heterogenen Bildmaterials, die Verbindung von Bauformen und Ausdrucksmitteln des Sprech- und des Musiktheaters und nicht zuletzt eine eigentümlich barocke Manier in der Szenengestaltung lassen den Eindruck aufkommen, der Autor arrangiere ein buntes Mosaik aus Elementen der verschiedensten dramatischen Gattungen. Gegen das Widmungsspiel ließe sich einwenden, Schiller füge Bausteine des Singspiels, der Barockoper, der Pastorale und Idylle, der Mysterienspieltradition und der allegorischen Festspiele eklektisch zu einem merkwürdigen Konglomerat zusammen. Welche Gründe gibt es für dies künstlerische Verfahren? Läßt sich eine übergeordnete Idee geltend machen, die solche Konstruktion erklären hilft? Verbirgt sich dahinter ein aufwendig dramatisiertes >Lehrgedicht