Schamanismus zwischen Sibirien und Deutschland: Kulturelle Austauschprozesse in globalen religiösen Diskursfeldern [1. Aufl.] 9783839420461

Sibirische Schamanen sind schwer zu fassen. Monokausale Beschreibungen greifen nicht mehr. Heiko Grünwedel befragt Austa

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Schamanismus zwischen Sibirien und Deutschland: Kulturelle Austauschprozesse in globalen religiösen Diskursfeldern [1. Aufl.]
 9783839420461

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
1 EINLEITUNG
1.1 Gekreuzte Linien
1.2 Fremdes im Eigenen
1.3 Dreifaches Dazwischen
1.4 Aufriss der Arbeit
2 GRUNDLAGEN
2.1 Forschungsgeschichte
2.1.1 Forschungsgeschichte als kritische Wissenschaftsgeschichte des Schamanismus
2.1.2 Felder vorliegender Forschungsarbeiten
2.1.3 Eine kritische Re-Lektüre zentraler Arbeiten
2.1.4 Schamanismusforschung im Kontakt mit anderen Wissenschaftszweigen
2.1.5 Zusammenfassung
2.2 Methodische Reflexionen
2.2.1 Religionswissenschaft als verstehende Soziologie als Kulturhermeneutik
2.2.2 Wissenssoziologie und Diskursanalyse
2.2.3 Grundlegende diskursanalytische Terminologie und Konkretisierungen des methodischen Zugriffs
2.2.4 Religionswissenschaft als Diskursanalyse – diskursive Religionswissenschaft
2.2.5 Kultur – kulturelle Grenzen – Interkulturalität
2.2.6 Binäre Differenzlogiken und ihr sich entziehendes Komplement: Transdifferenz
2.2.7 Globalisierungstheorien und kulturelle Austauschprozesse
2.2.8 Bündelungen im Hinblick auf die Schamanismusforschung
3 DAS FELD DES TYVANISCHEN SCHAMANISMUS: ZWISCHEN DIFFERENZ UND INTERFERENZ
3.1 Geschichte der Institutionalisierung
3.1.1 Entwicklungsphasen des Schamanismus nach der Perestroika
3.1.2 Kristallisation, Katalyse und Initialzündung: ‚Die erste tyvanisch-amerikanische akademisch-praktische Konferenz von Schamanen und Schamanenforschern‘
3.1.3 Zusammenfassung
3.2 Historie im Spiegel des Diskurses
3.3 Kanon, Orthopraxie und Häresie im tyvanischen Schamanismus
3.3.1 Schamanismus enzyklopädisch
3.3.2 Mongush Kenin-Lopsan: Magic of Tuvinian Shamans
3.3.3 Die Vielfalt mündlicher Überlieferungen und die Einheit des Kanons
3.3.4 Subversion und Kanon-Bruch
3.3.5 Kenin-Lopsan und ‚Ethnografien‘ des 19. / 20. Jahrhunderts
3.3.6 Zusammenfassung
3.4 Schamanische Visitenkarten
3.4.1 Ein typischer Aufbau der schamanischen Visitenkarten
3.4.2 Das Fähigkeitenangebot: Response auf Bedürfnisse oder umgekehrt?
3.4.3 Zusammenfassung
3.5 Heterotopien, Schwellenräume, Orte der Transdifferenz
3.5.1 Einleitung
3.5.2 Topografie Kyzyls
3.5.3 Eine typische Schamanenklinik
3.5.4 Exkurs: Die Funktion der Fotografie in den Empfangszimmern schamanischer Kliniken
3.5.5 Im Behandlungskabinett
3.5.6 Soziale Funktionen der Schamanenkliniken
3.5.7 Reflexionen zum Charakter der Schamanenklinken
3.6 Der Schamane und der Politiker
3.7 Resümee des ersten Hauptteils
4 RÄUME DER GRENZÜBERSCHREITUNG ZWISCHEN EIGENEM UND FREMDEN
4.1 Ritualdynamik
4.1.1 Ritualtheorie im Zusammenhang der Schamanismusdebatte
4.1.2 Ritualtransfer und interkulturelle Kontaktzonen
4.1.3 Die Reflexivität des Ritualtransfers: Emische Diskurse in zwei schamanischen Webauftritten
4.1.4 Die Liminalität des Ritualtransfers: Ein Hinweis auf die allgemeine Bedeutung der Ritualstudien für den Kulturvergleich
4.1.5 Zusammenfassung: Von der Ritual- zur Biografieanalyse
4.2 Der lebende Schatz des Schamanismus – Mongush Kenin-Lopsan
4.2.1 Das Inkarnierte Kulturelle Gedächtnis Tyvas als ‚drop in center‘ des Westens
4.2.2 Leben und Schreiben des Mongush Kenin-Lopsan
4.2.3 Eine innertyvanische Repräsentation Kenin-Lopsans mit Außenwirkung
4.2.4 Die Foundation for Shamanic Studies und der Lebende Schatz des Schamanismus
4.2.5 Das literarische Werk Kenin-Lopsans zum Schamanismus: Eine Periodisierung in Auseinandersetzung mit den historischen Kontexten
4.2.6 Der Habitus Kenin-Lopsans gegenüber westlichen Wissenschaftlern: Zwischen Performanzen einer personalen Schnittstelle und der Inkarnation des kulturellen Gedächtnisses
4.2.7 Schlussfolgerungen zur zentralen Diskursplattform um den tyvanischen Schamanismus
4.2.8 Kenin-Lopsan und seine Schamanen – double bind zwischen Präsident und Schützlingen
4.3 Nikolai Oorzhak-ool – Paradigma einer zweifachen Metamorphose
4.3.1 „Wenn ein Schüler auf der Suche nach seinem Lehrer ist, dann führen die Geister sie zusammen“ – personale Dispositionen jenseits der Musterbiografie Oorzhaks
4.3.2 Der tyvanische Kehlkopfgesang – ein kulturelles Chamäleon? Bedeutungsverschiebung und nützliche Rekontextualisierungen
4.3.3 Attraktionspunkte, Authentizitätsmarker und Plausibilitätsmuster
4.3.4 Auftrittskontexte Nikolai Oorzhaks in Europa
4.4 Galsan Tschinag
4.4.1 Tschinags Biografie und literarisches Werk
4.4.2 Tschinag der Schamane
4.4.3 Der Schamane und seine Hilfsgeister – interkulturelle Beziehungen
4.5 Schamanische Biografien – ein Resümee
4.6 Schamanismus als Event: Zur Heilungsdynamik von Kongressen
4.6.1 Schamanen auf einem Event, Schamanen – ein Event?
4.6.2 Selbstrepräsentation des Kongresses
4.6.3 Schamanische Heilung auf dem Kongress
4.6.4 Heilungseffektivität durch Herstellung von Öffentlichkeit
4.6.5 Die reflexive Öffentlichkeit: Der Patient, der sich selber zum Publikum wird
4.6.6 Tacit knowledge, tacit performance und tacit experience
4.6.7 Räume der Identitätssuche
4.6.8 Zusammenfassung
4.7 Der fremde Schamane in Angeboten des Neoschamanismus
4.7.1 Ziele einer Diskursanalyse der neoschamanischen Kosmologie
4.7.2 Das sprachliche Pantheon des Neoschamanismus
4.7.3 Der fremde Heiler und seine Funktion in Angeboten des westlichen Neoschamanismus
4.7.4 Die Organisatoren von Schamanenseminaren und Kongressen
4.7.5 Das Vokabular der spirituellen Reiseanbieter
4.7.6 Zusammenfassung
4.8 Resümee des zweiten Hauptteils
5 ANALYTISCHE LÄNGSSCHNITTE: SCHAMANISMUSFORSCHUNG UND IHR GEGENSTAND
5.1 Visuelle Anthropologie des Schamanimus
5.1.1 Diskursanalyse und Visual Culture Studies: Herausforderungen und Möglichkeiten eines Gesprächs
5.1.2 Die Geburt einer Metapher: Der Tungusische Schamane – Priester des Teufels
5.1.3 Fotografische Fortschreibungen der ersten Metapher
5.1.4 Einander ins Bild setzen: Wie der Schamane sich selbst inszenieren will
5.1.5 Zusammenfassung
5.2 Schamanismus- und Esoterikforschung
5.2.1 Emische und Etische Standpunkte
5.2.2 Ansätze von Esoterik
5.2.3 New Age?
5.2.4 Schamanismus und Heilung
5.2.5 Zusammenfassung
5.3 Wissenschaftler und Schamanen
5.3.1 Ethische, etische und emische Dilemmata
5.3.2 Unschärfe am Ausgangspunkt: Die Ungewissheit der Rezeptionsbedingungen ethnologischen Wissens
5.3.3 Herausforderungen des qualitativen Paradigmas – schamanische und wissenschaftliche Responsen
5.3.4 Die dialogische Feldforschungspraxis – Erfahrungen der Inklusion zwischen Glücksgefühlen und Abgrenzungsbedürfnissen
5.3.5 Problematiken mit der dialogischen Forschungsmethode
5.3.6 Schluss: Nichts als eeren, azalar und albys
6 GLOSSAR
7 LITERATUR- UND QUELLENVERZEICHNIS
7.1 Deutsch- und englischsprachige Literatur
7.2 Russischsprachige Literatur
7.3 Zitierte Tyvanische Zeitungsausgaben
7.4 Zitierte Webseiten
7.5 Zitierte Dokumentarfilme
7.6 Abbildungsnachweis

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Heiko Grünwedel Schamanismus zwischen Sibirien und Deutschland

Heiko Grünwedel (Dr. theol.) ist Lehrbeauftragter am Institut für Religionsund Missionswissenschaft der Universität Erlangen-Nürnberg. Seine Forschungsschwerpunkte sind kulturwissenschaftliche Religionswissenschaft, visuelle Anthropologie sowie subalterne Religionsbewegungen.

Heiko Grünwedel

Schamanismus zwischen Sibirien und Deutschland Kulturelle Austauschprozesse in globalen religiösen Diskursfeldern

Deutsche Forschungsgemeinschaft DFG Deutscher Akademischer Austauschdienst DAAD Ilse und Dr. Alexander Mayer-Stiftung an der Universität Erlangen-Nürnberg Deutsche Gesellschaft für Missionswissenschaft DGMW Die vorliegende Arbeit wurde am 10. Mai 2010 unter dem Titel »Schamanismus zwischen Tyva und Deutschland. Eine Untersuchung zum globalen Feld des Schamanismusdiskurses, dargestellt an kulturellen Austauschprozessen zwischen Sibirien und Westeuropa« an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Heiko Grünwedel, Tyva, 2007 Lektorat & Satz: Agnes Müller-Grünwedel Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-2046-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorwort | 11

1 E INLEITUNG 1.1  Gekreuzte Linien | 13  1.2  Fremdes im Eigenen | 1 5  1.3  Dreifaches Dazwischen | 17  1.4  Aufriss der Arbeit | 21 

2 G RUNDLAGEN



2.1  Forschungsgeschichte | 27 

2.1.1Forschungsgeschichte als kritische Wissenschaftsgeschichte des Schamanismus | 27 2.1.2Felder vorliegender Forschungsarbeiten | 29 2.1.3Eine kritische Re-Lektüre zentraler Arbeiten | 33 2.1.4Schamanismusforschung im Kontakt mit anderen Wissenschaftszweigen | 46 2.1.5Zusammenfassung | 55 2.2  Methodische Reflexionen | 58 

2.2.1Religionswissenschaft als verstehende Soziologie als Kulturhermeneutik | 58 2.2.2Wissenssoziologie und Diskursanalyse | 60 2.2.3Grundlegende diskursanalytische Terminologie und Konkretisierungen des methodischen Zugriffs | 63 2.2.4Religionswissenschaft als Diskursanalyse – diskursive Religionswissenschaft | 69 2.2.5Kultur – kulturelle Grenzen – Interkulturalität | 73 2.2.6Binäre Differenzlogiken und ihr sich entziehendes Komplement: Transdifferenz | 75 2.2.7Globalisierungstheorien und kulturelle Austauschprozesse | 77 2.2.8Bündelungen im Hinblick auf die Schamanismusforschung | 81 

3 DAS FELD DES TYVANISCHEN S CHAMANISMUS: ZWISCHEN DIFFERENZ UND I NTERFERENZ  3.1  Geschichte der Institutionalisierung | 85



3.1.1Entwicklungsphasen des Schamanismus nach der Perestroika | 86 3.1.2Kristallisation, Katalyse und Initialzündung: ‚Die erste tyvanisch-amerikanische akademisch-praktische Konferenz von Schamanen und Schamanenforschern‘ | 90 3.1.3Zusammenfassung | 104 3.2  Historie im Spiegel des Diskurses | 106  3.3  Kanon, Orthopraxie und Häresie im tyvanischen Schamanismus | 110 

3.3.1Schamanismus enzyklopädisch | 114 3.3.2Mongush Kenin-Lopsan: Magic of Tuvinian Shamans | 116 3.3.3Die Vielfalt mündlicher Überlieferungen und die Einheit des Kanons | 118 3.3.4Subversion und Kanon-Bruch | 121 3.3.5Kenin-Lopsan und ‚Ethnografien‘ des 19. / 20. Jahrhunderts | 123  3.3.6Zusammenfassung | 127 3.4  Schamanische Visitenkarten | 128 

3.4.1Ein typischer Aufbau der schamanischen Visitenkarten | 130 3.4.2Das Fähigkeitenangebot: Response auf Bedürfnisse oder umgekehrt? | 132 3.4.3Zusammenfassung | 139 3.5  Heterotopien, Schwellenräume, Orte der Transdifferenz | 140 

3.5.1Einleitung | 140 3.5.2Topografie Kyzyls | 142 3.5.3Eine typische Schamanenklinik | 144 3.5.4Exkurs: Die Funktion der Fotografie in den Empfangszimmern schamanischer Kliniken | 149 3.5.5Im Behandlungskabinett | 153 3.5.6Soziale Funktionen der Schamanenkliniken | 156 3.5.7Reflexionen zum Charakter der Schamanenklinken | 159 3.6  Der Schamane und der Politiker | 165 

3.7  Resümee des ersten Hauptteils | 178 

4 RÄUME DER GRENZÜBERSCHREITUNG ZWISCHEN E IGENEM UND F REMDEN  4.1  Ritualdynamik | 181 

4.1.1Ritualtheorie im Zusammenhang der Schamanismusdebatte | 182  4.1.2Ritualtransfer und interkulturelle Kontaktzonen | 183 4.1.3Die Reflexivität des Ritualtransfers: Emische Diskurse in zwei schamanischen Webauftritten | 187 4.1.4Die Liminalität des Ritualtransfers: Ein Hinweis auf die allgemeine Bedeutung der Ritualstudien für den Kulturvergleich | 192 4.1.5Zusammenfassung: Von der Ritual- zur Biografieanalyse | 193 4.2  Der lebende Schatz des Schamanismus – Mongush Kenin-Lopsan | 195

4.2.1Das Inkarnierte Kulturelle Gedächtnis Tyvas als ‚drop in center‘ des Westens | 195 4.2.2Leben und Schreiben des Mongush Kenin-Lopsan | 197 4.2.3Eine innertyvanische Repräsentation Kenin-Lopsans mit Außenwirkung | 199 4.2.4Die Foundation for Shamanic Studies und der Lebende Schatz des Schamanismus | 201 4.2.5Das literarische Werk Kenin-Lopsans zum Schamanismus: Eine Periodisierung in Auseinandersetzung mit den historischen Kontexten | 203 4.2.6Der Habitus Kenin-Lopsans gegenüber westlichen Wissenschaftlern: Zwischen Performanzen einer personalen Schnittstelle und der Inkarnation des kulturellen Gedächtnisses | 207 4.2.7Schlussfolgerungen zur zentralen Diskursplattform um den tyvanischen Schamanismus | 209 4.2.8Kenin-Lopsan und seine Schamanen – double bind zwischen Präsident und Schützlingen | 212 4.3  Nikolai Oorzhak-ool – Paradigma einer zweifachen Metamorphose | 213 

4.3.1„Wenn ein Schüler auf der Suche nach seinem Lehrer ist, dann führen die Geister sie zusammen“ – personale Dispositionen jenseits der Musterbiografie Oorzhaks | 217

4.3.2Der tyvanische Kehlkopfgesang – ein kulturelles Chamäleon? Bedeutungsverschiebung und nützliche Rekontextualisierungen | 218 4.3.3Attraktionspunkte, Authentizitätsmarker und Plausibilitätsmuster | 221  4.3.4Auftrittskontexte Nikolai Oorzhaks in Europa | 224 4.4  Galsan Tschinag | 228 

4.4.1Tschinags Biografie und literarisches Werk | 228 4.4.2Tschinag der Schamane | 232 4.4.3Der Schamane und seine Hilfsgeister – interkulturelle Beziehungen | 233 4.5  Schamanische Biografien – ein Resümee | 236 4.6  Schamanismus als Event: Zur Heilungsdynamik von Kongressen | 238 

4.6.1Schamanen auf einem Event, Schamanen – ein Event? | 238 4.6.2Selbstrepräsentation des Kongresses | 240 4.6.3Schamanische Heilung auf dem Kongress | 242 4.6.4Heilungseffektivität durch Herstellung von Öffentlichkeit | 242 4.6.5Die reflexive Öffentlichkeit: Der Patient, der sich selber zum Publikum wird | 244 4.6.6Tacit knowledge, tacit performance und tacit experience | 245 4.6.7Räume der Identitätssuche | 247 4.6.8Zusammenfassung | 248 4.7  Der fremde Schamane in Angeboten des Neoschamanismus | 249



   

4.7.1Ziele einer Diskursanalyse der neoschamanischen Kosmologie | 249 4.7.2Das sprachliche Pantheon des Neoschamanismus | 249  4.7.3Der fremde Heiler und seine Funktion in Angeboten des westlichen Neoschamanismus | 253  4.7.4Die Organisatoren von Schamanenseminaren und Kongressen | 256  4.7.5Das Vokabular der spirituellen Reiseanbieter | 259  4.7.6Zusammenfassung | 266  4.8  Resümee des zweiten Hauptteils | 267



5 ANALYTISCHE LÄNGSSCHNITTE: S CHAMANISMUSFORSCHUNG UND IHR GEGENSTAND



5.1  Visuelle Anthropologie des Schamanimus | 269 

5.1.1Diskursanalyse und Visual Culture Studies: Herausforderungen und Möglichkeiten eines Gesprächs | 269  5.1.2Die Geburt einer Metapher: Der Tungusische Schamane – Priester des Teufels | 273 5.1.3Fotografische Fortschreibungen der ersten Metapher | 279 5.1.4Einander ins Bild setzen: Wie der Schamane sich selbst inszenieren will | 286 5.1.5Zusammenfassung | 297 5.2  Schamanismus- und Esoterikforschung | 299



5.2.1Emische und Etische Standpunkte | 299 5.2.2Ansätze von Esoterik | 301 5.2.3New Age? | 302 5.2.4Schamanismus und Heilung | 304 5.2.5Zusammenfassung | 306



5.3.1Ethische, etische und emische Dilemmata | 309 5.3.2Unschärfe am Ausgangspunkt: Die Ungewissheit der Rezeptionsbedingungen ethnologischen Wissens | 310 5.3.3Herausforderungen des qualitativen Paradigmas – schamanische und wissenschaftliche Responsen | 312 5.3.4Die dialogische Feldforschungspraxis – Erfahrungen der Inklusion zwischen Glücksgefühlen und Abgrenzungsbedürfnissen | 320 5.3.5Problematiken mit der dialogischen Forschungsmethode | 322 5.3.6Schluss: Nichts als eeren, azalar und albys | 324



7 LITERATUR- UND Q UELLENVERZEICHNIS



7.1  Deutsch- und englischsprachige Literatur | 337



7.2  Russischsprachige Literatur | 352



7.3  Zitierte Tyvanische Zeitungsausgaben | 356



   

5.3  Wissenschaftler und Schamanen | 308

6 G LOSSAR

 

     

7.4  Zitierte Webseiten | 357



7.5  Zitierte Dokumentarfilme | 358



7.6  Abbildungsnachweis | 359



Vorwort

Diese Arbeit würde nicht existieren ohne die beherzte Unterstützung vieler Menschen. Nennen kann ich aus ihrer Reihe nur einige stellvertretend und bitte die Nichtgenannten, sich doch hier wiederzufinden. Ich danke meiner Frau Agnes Müller-Grünwedel, dass sie mich in den erfüllenden wie den anstrengenden Zeiten der Arbeit an dieser außergewöhnlichen Thematik begleitet hat. Sie hat nicht nur immer wieder aufs Neue kreative Potentiale in mir geweckt und mich zum nächsten Schritt ermutigt, sondern mit Geduld die Konzentration mitgetragen, die ein derartiges Unternehmen mit sich bringt. Des Weiteren danke ich meinen Eltern und Großeltern, die früh in mir Neugier geweckt und mich mit Liebe darin gefördert haben. Sie legten damit den Grundstein, sich auf den Weg der Wissenschaft zu begeben, und haben das geschafft, was für Eltern am schwierigsten ist: Den Sohn auf dem begonnenen Weg alleine weiter gehen zu lassen. Danken möchte ich von Herzen auch meinen beiden Betreuern Herrn Prof. Dr. Nehring und Herrn Prof. Dr. Sparn. Sie waren mir auf ihre je eigene Art präsente und scharfe Geister, die mir zur rechten Zeit die notwendige Kritik nicht vorenthielten, aber auch den Rücken gestärkt haben, wenn der Gegenwind sibirisch kalt war. Daran anschliessend möchte ich unter den zahlreichen wissenschaftlichen Kollegen, die mir zu wichtigen Gesprächspartnern wurden, noch vier im Besonderen hervorheben und meinen Dank aussprechen. Frau Dr. Erika Taube, die es verstand, nicht nur den Funken der Faszination für Tyva zu wecken, sondern mich auch zu ersten Schritten im Tyvanischen ermutigt hat. Frau Prof. Dr. Ulla Johansen, welche sich als ausgezeichnete Kennerin der Materie zu verschiedenen Konferenzen mit mir auf einen anregenden Gedankenaustausch einliess. Schließlich Frau Dr. Anett Oelschlägel, Herrn Dr. Gerhard Mayer, Frau Dr. Christina Hein und Herrn Dr. Vadim Zhdanov für ihren kritischen Blick aus je anderer Perspektive und ihre immer offene Dialogbereitschaft. Darüber hinaus schulde ich einer Reihe von Institutionen Dank für Ihre großzügige strukturelle, ideelle und finanzielle Unterstützung, ohne welche mein Dissertationsprojekt in der vorliegenden Form nicht hätte realisiert werden können: Dem

12 | V ORWORT

Graduiertenkolleg Kulturhermeneutik im Zeichen von Differenz und Transdifferenz der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg und allen seinen Mitgliedern für einen freundschaftlichen und anregenden Raum des Gedankenaustausches, der DFG, dem DAAD sowie dem Siberian Studies Center des Max-PlanckInstitutes Halle für Stipendien und kompetente ethnologische Expertise, in Tyva selbst dem Institut für humanwissenschaftliche Studien TIGI, allen voran Frau Prof. Dr. Valentina Süzükei, und der staatlichen Universität Tyvas TGU für ihre Gastfreundschaft und wissenschaftliche Kollegialität. Außerdem bin ich der Ilse und Dr. Alexander Mayer-Stiftung an der Universität Erlangen-Nürnberg sowie der Deutschen Gesellschaft für Missionswissenschaft für ihre großzügige Unterstützung des Buchprojektes zu tiefem Dank verpflichtet. Der Staedtler-Stiftung bleibe ich für ihre Anerkennung, die sie meiner Arbeit mit dem Promotionspreis gewährt hat, in Dank verbunden. Schließlich danke ich von Herzen denjenigen, welche in dieser Arbeit die Hauptrolle spielen. Den unerschrockenen Schamanen Tyvas und Deutschlands in ihrem Wagnis kulturenüberschreitender Reisen. Ohne ihre Bereitschaft, sich auf ein Gespräch mit mir als Wissenschaftler einzulassen, ohne ihre Ausdauer, einen lästigen Anthropologen auch auf Durststrecken teilnehmen zu lassen und ohne ihren Witz für den nötigen Humor, wäre diese Forschung nicht nur unmöglich, sondern v.a. auch um vieles langweiliger geworden. Für ihre menschliche Nähe und Offenheit einem Fremden gegenüber danke ich ihnen.

1 Einleitung

1.1 G EKREUZTE L INIEN – D ER T EE DER V ORFAHREN Im Zentrum Asiens – so will es zumindest eine zugegebenermaßen etwas eigenwillige topografische Projektion – befindet sich die kleine sibirische Republik Tyva. Nach einer wechselvollen Geschichte, in der sich abwechselnd China und Russland, später die Sowjetunion das turksprachige Land einverleibt haben, zählt es heute zu denjenigen autonomen Republiken Sibiriens, die sich zahlreiche kulturelle Eigenheiten bewahrt haben. Ein Reisender, der sich entschließt, den nicht ganz nach reinen Wellness-Gesichtspunkten gestalteten Weg nach Tyva zu beschreiten, findet sich nach existentiellen Erfahrungen mit verschiedensten sibirischen Verkehrsmitteln endlich in dessen Hauptstadt Kyzyl wieder. Dort wird er weniger von einem New Yorker Lichtermeer an Reklametafeln beeindruckt, als vielleicht von Lenin, der in wohlwollender Geste beständig den Weg weist. Und dennoch hat die Multimedialität des modernen Werbedesigns Einzug gehalten in die tyvanische Metropole und wirbt um die Aufmerksamkeit des Besuchers auf dem Zentralplatz, dem Platz des Volkes, mit folgender Tafel: „Khaan Shai – Der Tee der Vorfahren“ (Vgl. Abbildung 1). Ein genauerer Blick auf den unteren Rand der archaisch und romantisch zugleich anmutenden Silhouette eines Steppenkriegers verrät dann auch das Produkt, für das geworben wird. Und wer wäre der Ethnologe, der sich nicht zugleich aufmachen würde, um dem Geheimnis des mystischen Tees auf den Grund zu gehen. Im nächsten Café findet er dann auch tatsächlich qua des erinnerten Signifikanten „Khaan Shai“ folgende Teebeutelchen (Vgl. Abbildung 2).

14 | E INLEITUNG

Abbildung 1: Khaan Shai – Der Tee der Vorfahren

Quelle: Heiko Grünwedel

Abbildung 2: Khaan ýai-Teebeutel

Quelle: Heiko Grünwedel

F REMDES IM E IGENEN | 15

Das Wundern lässt nicht nach: Der Tee der Vorfahren hat als unbegrenzte Möglichkeit die emblematische Signatur eines weit entfernten Landes bekommen. ‚Khaan Shai‘ wurde nicht nur korrekt russifiziert in Khaan ýai, sondern erfuhr mit dem ‚Teaking‘, der nun plötzlich ganz europäisch anmutet eine linguistische und ikonografische Translation in den anderen Kontext. Ein Blick auf die Rückseite des Teebeutelchens verrät mehr, wo das verwunschene Getränk denn nun genossen werden kann: In Tyvanisch, Russisch, Kasachisch und Englisch finden die potentiellen Konsumenten ihre jeweilige Zubereitungsanleitung. Dass der Produzent des Tees der Vorfahren seinen Firmensitz außerdem in Singapur hat, verwundert dann auch nicht mehr. Fazit: ‚3 in 1 Teamix‘ – nicht nur mit seinem Inhalt, auch bzgl. der äußeren Kontextbedingungen liegt das überlieferte Getränk am Schnittpunkt mehrerer Welten. Einige Zeit nach seiner Entdeckung und nach dem Genuss der einen oder anderen Tasse des traditionsaffizierten Trunks erfährt der Ethnologe, dass es sich dabei nicht nur um ein beliebtes Mitbringsel aus Tyva handelt, eine Trophäe des Dortgewesenseins, sondern dieser auch gerne und zahlreich von der ‚indigenen‘ Bevölkerung in Cafés und Kantinen getrunken wird. Wobei dann in Gesellschaft natürlich der obligatorische Hinweis nicht fehlen darf, dass es sich hier eigentlich um keinen richtigen tyvanischen Tee handelt, sondern um ‚Chemie‘. Warum diese Ausführungen zu einem banalen Alltagsgegenstand wie diesem Instanttee im Rahmen einer Untersuchung zum tyvanischen Schamanismus? Meiner Ansicht nach sind die Referenz auf eine von den Vorfahren überkommene Tradition und dessen im gegebenen Fall offensichtlicher Konstruktcharakter nicht die einzige Schnittmenge zwischen beiden Phänomenen. Vielmehr kann die Dynamik um den Khaan Shai gelesen werden als allegorischer Verweis auf die Globaldynamik der tyvanischen Gesellschaft. Wie durch ein Okular erlaubt diese Mikrostudie eine Perspektive auf Schnittpunkte sich kreuzender Linien, die zugleich separieren als auch in Form der Schnittstelle Verbindungen herstellen. Analoge Prozesse sind auch im tyvanischen Schamanismus zu beobachten – wie sich diese konkret manifestieren, wird Gegenstand der vorliegenden Untersuchung sein.

1.2 F REMDES IM E IGENEN – S CHAMANENBIOGRAFIEN D EUTSCHLAND

ZWISCHEN

S IBIRIEN

UND

Die schamanische Landkarte wird gegenwärtig neu gezeichnet. Während die Forschung bislang intensiv diskutierte, ob es so etwas wie ein weltweites Phänomen des Schamanismus überhaupt gibt, bzw. ob es Sinn macht, die kulturell so ausdifferenzierten Erscheinungen, die damit meist in Verbindung gebracht werden, unter einem Oberbegriff zusammen zu fassen, haben Schamanen aus verschiedensten

16 | E INLEITUNG

Erdteilen diese Fragestellung längst ins Archiv der Forschungsgeschichte geschickt. Auch die Auseinandersetzung darüber, ob eine traditionelle – womöglich indigene – Form des Schamanismus von einem westeuropäisch anmutenden Neoschamanismus zu unterscheiden sei, wurde durch die Dynamik zeitgenössischer globaler Vernetzungen überholt. Schamanen überschreiten Grenzen und mit Ihnen ihre Rituale. Schamanen aus der südsibirischen Republik Tyva stellen sich dem Abenteuer der Reise – in spirituelle Welten und in Welten jenseits der Sowjetnachfolgestaaten. Schamanen aus der Schweiz wiederum begeben sich auf die Suche nach ihren Wurzeln und durchstreifen den sibirischen Kosmos. Wanderbewegungen und Austauschprozesse haben die statischen Fragen der Ethnologie kräftig durchgerüttelt, rufen nach neuen Perspektiven, die den Entwicklungsdynamiken des heute zu beobachtenden Ritualtransfers angemessener begegnen. Dabei verrät ein Blick auf die hinter diesen Vorgängen des kulturellen Austausches stehenden Biografien, dass es sich um wahrhaft dramatische Übersetzungsbewegungen handelt. Im Falle Tyvas kann man das Spiel in zwei Akten recht transparent in den Lebensentwürfen von Jurij und Peter (alle hier erwähnten Namen sind anonymisiert) nachvollziehen: Jurij war Schauspieler am Nationaltheater in Kyzyl, der Hauptstadt der südsibirischen Republik Tyva. Er war Schauspieler und kein schlechter dazu, bekannt für seine Beherrschung des traditionellen Kehlkopfgesangs Khöömei. Eines Tages – er spielt die kleine Rolle eines Schamanen – erwacht in ihm das Interesse am Schamanismus. Da trifft es sich, dass 1992 der Zusammenbruch der Sowjetunion den Weg öffnet für die Wiedererstarkung bisher als überaltert wegdefinierter religiöser Praktiken. Jurij entdeckt seine Affinität zum autochthonen Schamanimus und wird bald Vorsitzender der in diesem Zusammenhang mit der Unterstützung der amerikanischen Foundation for Shamanic Studies (FSS) gegründeten und staatlich anerkannten schamanischen Klinik Tos Deer. 1995 erteilt ihm der Dalai Lama während seines Besuch in Indien den Segen für seine Heilarbeit und nachdem er im Jahr 2000 einen Arzt aus der Ukraine kennen lernt, der für ihn ins Englische übersetzt, ist alles bereit, um international auf Tournee zu gehen. 2008 kann dann ein Besucher des Rainbow Spirit Festivals in Deutschland ein Seminar zu den Heilkräften des Kehlkopfgesangs besuchen – geleitet von einem Schamanen aus Tyva namens Jurij. Peter ist promovierter Psychotherapeut in der Schweiz. Neben Fortbildungen in verschiedenen psychotherapeutischen Verfahren, u.a. gestalttherapeutischen und hypnotischen Ansätzen, beschäftigt er sich seit Mitte der Siebziger mit schamanischer Traumarbeit und Heilritualen. Er wird aktives Mitglied der von Michael Harner gegründeten Foundation for Shamanic Studies, gibt Seminare in der Schweiz, Deutschland und Italien. Der Kontakt der Foundation zu Schamanen in Tyva führt ihn auch auf eine Forschungsexpedition nach Sibirien. Bei einer passiven Beobachtung der indigenen Rituale bleibt es während dieser Reise nicht. Peter arbeitet selbst mit den tyvanischen Schamanen zusammen, seine Methoden verhelfen ihm zu

D REIFACHES D AZWISCHEN | 17

Ansehen in der tyvanischen Bevölkerung. Als Peter ein zweites und drittes Mal nach Tyva zurückkehrt, wartet die Bevölkerung Erzins, eines kleinen Städtchens am Rande der Wüste Gobi bereits auf den fremden Schamanen. Man sagt, der Mann aus Europa habe besondere Kraft zu heilen. Folgt man den beiden Biografien, stellen sich unweigerlich grundlegende Fragen: Wie gelangen Seminare zu den Selbstheilungskräften des tyvanischen Kehlkopfgesangs nach Deutschland? Und warum warten die Bewohner des zentralasiatischen Tyvas auf einen Schamanen aus der Schweiz? Genau diesen Fragen soll im Folgenden nachgegangen werden.

1.3 D REIFACHES D AZWISCHEN – S CHAMANISMUS JENSEITS POSTSOWJETISCHEM B OOM

VON

N EW AGE

UND

Schamanismus ist das Exotische. Er ist mysteriös, wild, archaisch, bunt und echt. Zumindest wäre es schön, wäre es so. Und damit komme ich zu einer grundlegenden Schwierigkeit und zugleich reizvollen Herausforderung bei der Charakterisierung der gegenwärtigen Situation des Schamanismus in Tyva und Westeuropa. Hier wie dort entziehen sich die Phänomene, die sich unter der Perspektive des Schamanismus strukturieren lassen und selbst strukturieren, einer klaren und monokausalen Einordnung in vorhandene Beschreibungssysteme. In beiden Welten existiert, bewegt sich und oszilliert der Schamanismus in einer Sphäre des Dazwischen – einem Dazwischen dessen Pole im Anschluss gleich näher zu bestimmen sind. Doch nicht nur das. Der Schamanismus steht nicht nur in einer interkontextuellen Dynamik zwischen Spannungspunkten, sondern auch intrakontextuell und überschreitet damit traditionelle kulturelle Grenzen. Dies macht die folgende Beschreibung hinreichend komplex. In dieser Komplexität werden dann aber auch – so die Verheißung des Gedankengangs – Dynamiken transparent, die uns den Gegenstand in neuem Licht jenseits essentialistisch festgeschriebener Exotismen sehen lassen. Zunächst scheint die grundsätzliche Frage einer dringenden Beantwortung zu harren, warum denn gerade der sibirische und noch spezifischer der tyvanische Schamanismus mit dem westlichen Neoschamanismus auf seine Wechselwirkungen hin untersucht werden soll. Warum könnte es nicht genauso gut der ecuadorianische, der nepalesische, der nordamerikanische oder indonesische sein? Und in der Tat erfahren alle diese indigenen Traditionen eine je spezifische Rezeption und Interaktion in und mit der neoschamanischen Szene in Westeuropa und könnten Gegenstand einer lohnenden Untersuchung sein. Mindestens zwei Gründe sprechen jedoch in der gegebenen Fragestellung dafür, dass Sibirien in der Untersuchung des Schamanismus eine Sonderstellung einnimmt und im Speziellen eine Option für

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Tyva zu treffen ist. Diese Sonderstellung begründet sich zunächst darin, dass Sibirien der Kulturkreis war, in welchem der Begriff des Schamanen zuerst geprägt wurde und Verwendung fand.1 Nun ist der Begriffe des Schamanen selbstredend in mehrfacher Hinsicht problemaffiziert und kann nur in reflektierter, ja dekonstruierter Weise Verwendung finden. Doch da es in dieser Arbeit gerade nicht darum geht, den ‚authentischen‘ Schamanen abzugrenzen vom neuerfundenen, mithin auch nicht, alle diejenigen, die sich selbst als Schamanen beschreiben, als überfremdete Erscheinungen zu klassifizieren, muss der Begriff des Schamanismus beibehalten werden. Ja, es ist Teil des Ernstnehmens von Selbstrepräsentation, ihn als gültige Beschreibung zunächst bedingungslos zu akzeptieren, freilich unter Analyse der ihn betreffenden Verwendungsstrategien. Ähnlich gelagert sind die Verhältnisse bzgl. des Selbstverständnisses von Tyva. Der tyvanische Repräsentant aller Schamanen Mongush Kenin-Lopsan argumentiert, dass der Ursprungsort des Schamanismus in Tyva zu suchen sei. Ob dies nun historisch und wenn ja unter welchen theoretischen Prämissen zu halten ist, spielt zunächst nur eine sekundäre Rolle. Entscheidend ist, dass diese diskursive Markierung einer Vorrangstellung Tyvas im globalen Diskurs ein hierarchisches Gefälle konstruiert und genau dieser Machtoption heißt es, auf den Grund zu gehen. Von einem dreifachen Dazwischen des gegenwärtigen Schamanismus war die Rede. Ein Dazwischen, das sich in Tyva bewegt zwischen Tradition und Modernisierung, zwischen Konstruktion und Rekonstruktion, zwischen altüberlieferter Weisheit und Adaption an neue sozioökonomische und politische Kontexte. Im post-sowjetischen Kontext ist es die Intelligentsia, die den Schamanismus als Mittel entdeckt, ethnische Identität in der Dilemmasituation zwischen neuem politischen Vakuum und gleichzeitigem ökonomischen Positionierungsdruck zu bilden. Schamanismus wird gefördert als Ideologie einer Harmonie mit der Natur, welche zugleich territoriale Ansprüche sichert und die Anbindung an den Tourismus bietet.2 1

Die Problematik einer Herkunftsbestimmung des Wortes ‚Schamane‘ wird später zu diskutieren sein. Eine Möglichkeit, seine Etymologie zu bestimmen, liegt bei den Tungusen, einem Volk in Ostsibirien. Der nach Sibirien deportierte russisch-orthodoxe Erzpriester Avvakum berichtet in seinem ‚Record of Exile‘ (1672-1675) zum ersten Mal von einem Schamanen in der Form eines ‚Teufelsdieners‘. Im Zuge der zaristischen Kolonisierung wurde der Terminus dann auf alle sibirischen indigenen Völker ausgeweitet. Vgl. Hamayon, Roberte: Siberian Shamanism, in: Shamanism. An Encyclopedia of World Beliefs, Practices, and Culture, ed. by Mariko Namba Walter and Eva Jane Neumann Fridmann, Santa Barbara 2004, 618.

2

Vgl. Hamayon, Roberte: Siberian Shamanism, in: Shamanism. An Encyclopedia of World Beliefs, Practices, and Culture, ed. by Mariko Namba Walter and Eva Jane Neumann Fridmann, Santa Barbara 2004, 618-627: 619: „In the modernizing post-Soviet context, shamanism is claimed as a native ideology of harmony with nature, as one way of

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Dabei beschreiten die neuen Schamanen eine Gratwanderung zwischen politischem Kritikpotenzial und dem Instrumentalisiertwerden durch die russische Zentralpolitik als exotische Attraktionsphänomene3. Schamanen im ‚traditionellen‘ Sinn sind dabei außer in entlegenen ländlichen Gebieten nicht mehr zu finden und wenn, dann vermeiden sie jeden Kontakt zu Ausländern. Diejenigen Schamanen, die sich finden lassen, vollziehen hauptsächlich Privatrituale, deren vornehmliches Ziel Fragen des materiellen Wohls sind. Dazu werden verschiedene Arten von Reinigungs- und Divinationsritualen angewandt – kollektive Rituale dagegen meist rekontextualisiert und an nationale Feste angebunden. Viele der genannten Schamanen haben sich unter dem Einfluss westlicher neoschamanischer Bewegungen in professionellen Institutionen organisiert. Dort wird dann oft das westliche, postmoderne und damit individualisierte Verständnis von Schamanismus als verändertem Bewusstseinszustand vertreten.4 In der gegenwärtigen Situation handelt es sich daher oft gerade nicht um diejenigen unveränderten Traditionen und das althergebrachte Wissen, das die tyvanischen Schamanen für sich beanspruchen und im politischen Diskurs für ihre Ziele zweckdienlich machen. Eine Kennzeichnung dieser Vorgänge als reine Assimilation, Traditionsabbruch oder Dekadenz wäre dennoch nicht nur unangemessen5, sondern auch methodologisch eine Sackgasse. Entschieden interessanter supporting ethnic identity. It also takes the form of a variety of private practices that reflect Western influence. Nevertheless, only the traditional background […] can account for many features found today.“ 3

Vgl. ebd., 625: „Some new shamans have attempted to restore former collective rituals dedicated to ancestors and to spirits of the local natural environment, although these two types of spirits are no longer relevant to social and economic life in present-day cities.“ Sicherlich verweist Hamayon auf eine entscheidende Kontextverschiebung der Anrufung von Naturgeistern. Dass diese im gegenwärtigen Leben ihre Relevanz verloren hätten, ist aber insofern ein Fehlschluss, als die Autorin dabei übersieht wie im Kontakt neuer Kontexte und alter Traditionen viel weniger die Widersprüchlichkeiten entscheidend sind als die Generierung neuer Sinnhorizonte, die diese problemlos überwindet.

4

Vgl. ebd, 619; 625.

5

So notiert Judith Schlehe zu ihren Beobachtungen bzgl. der Zusammenhänge zwischen Tourismus und Schamanismus in der Mongolei: „Shamanism and neoshamanism is drawing on different traditions and combining old and new, it is changing, modernising, experimenting, mixing, without assimilation or total loss of the past. I think we should not interpret this mélange and eclecticism in a purist manner as a sign of decadence or decline nor for mere commercialisation, but as the openness and strength of a current non-insitutionalised belief-system to fulfil the changing everyday needs of practitioners, performers, people who need help, and spectators.“ Schlehe, Judith: Shamanism in Mongolia and in New Age Movements, in: Rasuly-Paleczek, Gabriele und Katschnig, Julia (Eds.): Central Asia on Display. Proceedings of the VII. Conference of the European So-

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und aufschlussreicher ist es daher, einen genauen Blick darauf zu werfen, wie es zu solchen Austauschphänomenen zwischen tyvanischem Schamanismus und Neoschamanismus westeuropäischer Art kommen konnte und kann, und welche Strukturen diesen zugrunde liegen. Der ‚indigene‘ Schamanismus kann daher in der gegenwärtigen Situation nicht mehr isoliert von neoschamanischen Bewegungen gesehen und verstanden werden. Letztere entziehen sich – um nochmals auf die Dreifachheit des Dazwischen zurückzukommen – nämlich ähnlich wie ihre tyvanische Entsprechung ebenfalls einer Klassifizierung in etablierten Analysekategorien. Konzepte wie new age, Esoterik, counter culture oder Subkultur haben sicher ihren Beitrag geleistet, um ein Phänomen wie den Neoschamanismus im Rahmen säkularer Gesellschaften wie der Westeuropas besser zu beschreiben und zu verstehen. Sie erfassen auch noch immer wichtige bleibende Aspekte. Doch haben die Entwicklungen der letzten Jahre deutlich darüber hinausgeführt, so dass der Neoschamanismus in seiner Gesamtheit sich davon ‚emanzipiert‘ hat. Dieses Herauswinden aus festgefügten Perspektiven, das vielleicht in seiner tricksterhaften Weise typisch ist für viele Formen des Schamanismus liegt nicht nur darin begründet, dass zahlreiche esoterische Anschauungen ihre Marginalposition transzendiert haben und in den Mainstream an Popularüberzeugungen eingewandert sind. Der Neoschamanismus behält zwar Grundannahmen bei, die ihn zum Kritikpotenzial gegen eine materialistische Weltauffassung und Anthropologie prädestinierten. Gleichzeitig findet er sich gegenwärtig aber gut etabliert wieder im Wellness-Markt alternativer Gesundheits- und Heilungssysteme. Mit Selbstfindungsseminaren, männer- bzw. frauenspezifischer Spiritualität, exotisch-spirituellen Urlaubsangeboten und ästhetisch-performativen Events integriert und positioniert er sich darüber hinaus oft bruchlos in die individualistische Erlebnisgesellschaft. Das ‚Zeitalter des Wassermanns‘ mit seinen Prämissen einer holistischen Kosmologie und der Erwartung eines globalen Bewusstseinswandels behält sein spielerisches Revolutionspotenzial, wird aber zugleich als Alltagsbewältigung in einem System vermarktet, mit dem man sich weitgehend arrangiert hat. Dem gegenüberzustellen sind allerdings auch sehr ernsthafte Ansätze westeuropäischer schamanischer Praktiker, Antworten zu finden auf die Krise eines Gesundheitssystems, dessen mechanistisches Menschenbild seine Grenzen und Widersprüche nun selbst zu erkennen beginnt. Zwischen diesen beiden Welten, zwischen dem Dazwischen dort und dem Dazwischen hier, um bereits sprachlich die vielfachen Verschränkungen anzudeuten, finden nun Prozesse wechselseitiger Konstitution und Beeinflussung statt. Was passiert, welche kulturenüberschreitenden Diskurse dort ihren Raum finden und wie das Wechselspiel zwischen der Globalisierung lokaler und der (Re)lokalisierung

ciety for the Central Asian Studies, Wiener Zentralasien Studien, Vol. 1, Wien 2004, 283295.

A UFRISS DER A RBEIT | 21

globaler Perspektiven vor sich geht, das soll daher Gegenstand dieser Untersuchung sein.

1.4 AUFRISS

DER

ARBEIT

Wie bereits in diesen einleitenden Kapiteln angedeutet, sind die Verhältnisse hinreichend komplex. Nicht nur überkreuzen sich im Gegenstand die verschiedensten Wirkungslinien aus verschiedensten Kontexten, nicht nur gestalten sich die wechselseitigen Aushandlungen des Eigenen und Fremden in verwinkelten Lebensgeschichten polyphon, nicht nur entzieht sich das Phänomen des Schamanismus monokausalen Erklärungsmodellen. Das gesamte hier ausgesteckte Vorhaben ist darüber hinaus von einer grundlegenden Spannung gekennzeichnet zwischen der Notwendigkeit, Unterscheidungen einführen zu müssen, etwa zwischen bestimmten kulturellen Kontexten, und dennoch zugleich immer wieder die Verwobenheiten und das in sich Verschränktsein des Unterschiedenen herausarbeiten zu müssen. So erweist es sich als notwendig, an sich sinnvolle Differenzierungen je und je vor einer Reifizierung und Re-Essentialisierung ihrer selbst zu bewahren. Nicht ohne das nötige Quantum Ironie, kann daher festgehalten werden, dass die textual-lineare Form einer Abhandlung wie der vorliegenden gerade nicht besonders geeignet ist, um ihrem Gegenstand gerecht zu werden. Vielmehr wären hierzu Modelle der Hypertextualität mit ihren Möglichkeiten intertextueller Verknüpfungs- und Verweismöglichkeiten angemessener. Da diese für die gegebene Form der Dissertation aber nicht zur Verfügung stehen, soll zumindest versucht werden, das Potenzial einer hypertextuellen Struktur innerhalb einer linearen Gliederung zu simulieren und somit rekursiv immer wieder mit hineinzunehmen. Die inneren Verschränkungen, die den Gegenstand selbst kennzeichnen, schreiben sich somit auch der Form nach in seine Darstellung ein. Was heißt dies nun für den Aufriss der hier vorliegenden Arbeit, ihre Argumentationsstränge und Aufmerksamkeitsbereiche? Zu beginnen ist die Untersuchung ganz klassisch mit einer Würdigung der bereits von anderer Seite geleisteten Arbeiten. Hierbei ist jedoch zu bedenken, dass es sich nicht um eine Darstellung der Forschungsgeschichte zur Problematik des Schamanismus allgemein handeln kann – eine solche wäre schon aufgrund der Fülle des Materials nicht zu leisten. Vielmehr soll die hier gestellte spezifische Fragestellung von vorne herein darin eingezeichnet werden und damit auch die notwendige Fokussierung erreicht werden. Im Sinne einer kritischen Wissenschaftsgeschichte der Schamanismusforschung kommen so v.a. drei – für die hier intendierte Analyse zentrale – Felder vorliegender Arbeiten in den Blick: Empirische Untersuchungen zum Phänomen des modernen westlichen Neoschamanismus, historische und kulturgeschichtliche Untersuchungen, die Forschungsgeschichten

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des Schamanismus als Interaktionsgeschichten mit der westlichen Wissenschaft schreiben und schließlich ethnologisch-religionswissenschaftliche Studien zu religiösen Wiederbelebungsprozesse in den post-sowjetischen Teilrepubliken Russlands. Ergänzungsbedürftig ist diese Triade darüber hinaus durch eine Reihe verstreuter Einzelarbeiten, die sich nur schwer in diese dreifache Kategorisierung einfügen lassen, dafür aber einen jeweils spezifischen Aspekt herausarbeiten, wie z.B. die multiplen Sinnproduktionen von international besetzten Forschungsreisen, Wechselwirkungsprozesse zwischen der Tourismusbranche und der Rekonstruktion schamanischer Traditionen sowie Transformationsvorgänge unter der zunehmenden Rolle der neuen technischen Medien. Dieser Korpus an Beobachtungen bildet die Grundlage, auf der aufbauend die hier gegebene Arbeit vorher nicht bedachte Zusammenhänge analysiert, vorauslaufende Annahmen hinterfragt und einen intensiveren Blick auf verschiedene Diskurspraktiken wirft, als dies bisher geschehen ist. Eine Leerstelle der gegenwärtig vorliegenden Forschungsliteratur und zugleich methodische Schwierigkeit ist dabei v.a. ihre meist nur partielle methodologische Reflexivität sowie Kohärenz. Aufgabe des sich an die Darstellung der Forschungsgeschichte anschließenden Kapitels muss es daher sein, letztere für die hiesige Arbeit zu leisten. Gerade da die vorliegenden Untersuchungen oft nicht bedenken, in welcher Perspektive sie sich ihrem Gegenstand annähern und wie sie selbst als Beobachter in ihren Gegenstand hineinverwoben werden – Ausnahmen, das sei vorweg vermerkt, existieren ebenso – muss das hier angelegte Erkenntnisinteresse von vorne herein klar umrissen werden. Im Kapitel zur methodischen Reflexion wird es daher darum gehen, die Beziehungen zwischen Religionswissenschaft, wie sie hier verstanden wird, der verstehenden Soziologie und einer Kulturhermeneutik zu bestimmen. Im Besonderen ist innerhalb dieser methodologischen Konstellation eine Verortung der Diskursanalyse zu leisten, welche sich aus Gründen, die später zu erörtern sind, als für die gegebene Untersuchung besonders adäquat herausstellt. Da auch letztere einer Vielfalt von Interpretationsansätzen unterliegt, ist eine definitorische Festlegung ihrer zentralen Analyseterminologie dazu unerlässlich. Doch ist dies notwendig, aber noch nicht hinreichend: Da es sich beim zu untersuchenden Gegenstand darüber hinaus um ein kulturenüberschreitendes Phänomen handelt, ist der diskursanalytische Ansatz zu schärfen durch eine Perspektive, welche die Begriffe der Kultur, der Interkulturalität, der Transdifferenz und der Globalisierung in den Blick kommen lässt. Letzteres nicht, um einer Mode zu folgen und in allem und jedem Prozesse der Globalisierung wahrzunehmen, sondern weil die genannten Begriffe im emischen Diskurs um den Schamanismus selbst von Bedeutung sind. Die Arbeit muss daher klären, wie sie selbst letztere versteht, ohne damit einen Vorrang dieser Interpretation zu behaupten. Basierend auf dieser methodologischen Selbstreflexion wird das dritte Kapitel medias in res den gegenwärtigen rekonstruierten Schamanismus in Tyva charakterisieren. Die historische Nachzeichnung seiner Genese beginnt daher mit seiner

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jüngsten Geschichte der post-sowjetischen Institutionalisierung seit 1993. Darin wird im Besonderen die Rolle der ersten ‚Schamanismuskonferenz‘, organisiert von Akteuren aus internationalen Kontexten, und die ihr inhärente Verschränkung lokaler und globaler Faktoren, transparent werden. Erst im Anschluss daran ist es dann sinnvoll, die geschichtlichen Linien des tyvanischen Schamanismus noch weiter zu ziehen: Denn auch im Falle Tyvas wird deutlich, dass Geschichte geschrieben wird unter der fermentierenden Wirkung gegenwärtiger Notwendigkeiten. Auf die Skizzierung der Genese der gegenwärtigen Situation folgt deren Entfaltung unter verschiedenen Gesichtspunkten. Der ‚Präsident aller tyvanischen Schamanen‘ Mongush Kenin-Lopsan wird darin als die zentrale, wenn auch nicht unumstrittene, Figur deutlich. Er hat seine Signatur verschiedenen Institutionen sowie v.a. auch dem von ihm begründeten Kanon schamanischen Wissens eingeschrieben. Dessen Rezeption und Wirkungslinien werden nachgezeichnet. Inwieweit die normative Setzung Kenin-Lopsans auch tatsächlich der Praxis gegenwärtiger tyvanischer Schamanen entspricht, wird im Anschluss daran anhand der Analyse schamanischer Ritualangebote entfaltet. Die Räume, in denen sie dieses Angebot realisieren – die sog. Schamanenkliniken – können, so meine Theorie, als heterotope Orte der Transdifferenz beschrieben werden. Sowohl in ihrer relationalen Verortung in einer Topografie der Stadt Kyzyls, als auch in ihren intrainstitutionellen Applikationsweisen von Fotografien wird deutlich, dass sich in ihnen das Eigene und das Fremde wechselseitig konstituieren. Welche gesamtgesellschaftliche Funktion die Schamanenklinken davon ausgehend einnehmen und wie sie z.B. mit Bereichen der Medien und Politik in Wechselwirkung treten, beantwortet der letzte Abschnitt des dritten Kapitels. Zusammenfassend lässt sich der erste Hauptteil der Arbeit folglich als Skizzierung des gegenwärtigen tyvanischen Schamanismus in seiner Wechselwirkung mit westeuropäisch-nordamerikanischen Diskursen fokussiert auf den kulturellen Kontext Tyvas überschreiben. Das vierte Kapitel zeigt nun die Schnittstellen auf, qua derer ein kulturüberschreitender Transfer der genannten Diskurse in beiden Richtungen stattfinden kann. Darunter fallen zunächst Rituale und die ihnen eigene Dynamik. Rituale repräsentieren innerhalb der Arbeit deswegen ein zentrales Moment der genannten Schnittstellen, da die von der Ethnologie ausdifferenzierte Ritualtheorie ein geeignetes theoretisches Instrumentarium zur Verfügung stellt, um die gegenseitigen Verwiesenheiten von Praxis und deren Deutungen zu analysieren. Im Besonderen erweist sich der Zusammenhang zwischen Ritualtransfer und interkulturellen Kontaktzonen als fruchtbar für die hiesigen Zusammenhänge. Gewinnbringend ist darüber hinaus aber auch der Blick auf Biografien von Schamanen, als den zentralen Trägern der Ritualpraxis. Dass nicht nur die Rituale sondern auch die Schamanen selbst zu Schnittstellen figurieren, wird daher daran anschließend anhand dreier Beispiele exemplarisch gezeigt: Nochmals am Leben und Lebenswerk des schon oben erwähnten Mongush Kenin-Lopsan, hier jedoch nicht in Konzentration auf den von ihm gestifteten Kanon, sondern auf seinen gesamten Lebensent-

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wurf in Auseinandersetzung mit westlichen Kontakten. Des weiteren anhand der Figur des Nikolai Oorzhak-ool, der eine Musterkarriere vollzogen hat vom Schauspieler zum Vorsitzenden einer tyvanischen Schamanengesellschaft zum Seminarleiter in Deutschland. Und schließlich am Beispiel des Galsan Tschinag, eines ebenso mustergültigen Lebensverlaufes vom Nomadenkind, sowjetischen Austauschstudenten zum deutschsprachigen Schriftsteller und Schamanen. Wie sich die typischen Kontexte gestalten, innerhalb deren diese Wandler zwischen den Kulturen im deutschsprachigen Raum auftreten, wird im darauf folgenden Abschnitt bedacht. Schamanische Kongresse als Event entfalten meiner Beobachtung nach eine Dynamik, in der durch Herstellung von Öffentlichkeit und selbstreflexiver medialer Praktiken ein Raum der Identitätssuche eröffnet und so die gesuchte Heilung gefunden werden kann. Welche Rolle dabei dem fremden Schamanen zukommt und wie ihn westliche schamanische Angebote und Reiseorganisatoren integrieren und instrumentalisieren, ist Thema des letzten Abschnitts von Kapitel vier. Das fünfte und letzte inhaltliche Kapitel wird dann in Form einer Zusammenschau die bisherigen Beobachtungen nochmals neu bündeln und durch drei miteinander in Wechselwirkung stehende analytische Längsschnitte aus je anderer Perspektive theoretisch reflektieren. In den Blick genommen wird dabei noch einmal grundsätzlich wie die Entstehung des Begriffes ‚Schamane‘ zusammenfällt mit der ihn begleitenden visuellen Repräsentation. Dazu ist es zunächst nötig, die hier als Forschungsperspektive applizierte Diskursanalyse methodologisch zu positionieren und zu sensibilisieren für Fragen der visuellen Kultur, wie sie beispielhaft in den Visual Culture Studies geschieht. Darauf aufbauend wird dann der Weg der bildlichen Darstellung des Schamanen nachverfolgt aus seinem von Projektionen des Othering und kolonialer Strukturen geprägten Entstehungskontext heraus bis hin zur Präfiguration von gegenwärtigen Rezeptionsbedingungen. Die bereits dem Anfang des Schamanismusdiskurses inhärenten kulturellen Aushandlungsbewegungen werden in ihrer kontinuierlichen Fortwirkung so transparent in ihrer das Selbstbild von Schamanen prägenden Kraft. Inwieweit der bis dorthin beschriebene Schamanismus in Tyva und Deutschland darüber hinaus sinnvoll in der Perspektive der Esoterikforschung(en) beschrieben werden kann, soll im Anschluss differenziert beantwortet werden. Dies umfasst sowohl eine Unterscheidung diesbezüglicher emischer und etischer Standpunkte als auch konkurrierender Theorieansätze. Erkenntnis – so die Schlussfolgerung – lässt sich daraus v.a. durch das In-Beziehung-Setzen der jeweiligen Differenzen gewinnen. Die Begriffe der Esoterik und des new age werden dazu in ihrem Signifikationsspektrum umrissen und auf ihre Tragfähigkeit hinsichtlich einer Beschreibung gegenwärtiger Entwicklungen geprüft. Schließlich führen beide Standortbestimmungen des Schamanismusdiskurses in seinem visuellen und ideengeschichtlichen Kontext hinein in eine Horizontöffnung zur grundsätzlichen Problematik interkulturellen Übersetzens: Beziehung und Wechselwirkungen von Wissenschaftler und

A UFRISS DER A RBEIT | 25

Schamanen im Forschungsprozess sollen dazu thematisch werden. Ethische Dilemmata, ungewisse Rezeptionsbedingungen ethnologischen Wissens und ihre Folgen, sowie Herausforderungen an das qualitative wie dialogische Forschungsparadigma werden erörtert. Anstatt diese notwendigen Fragen folglich ex-ante zu klären, damit aber auch zu entschärfen, wird hier der Ansatz vertreten, dass erst ausgehend von empirischen Beobachtungen, welche natürlich schon immer von ihnen begleitet wurden, bereichernde Überlegungen angestellt werden können.

2 Grundlagen

2.1 F ORSCHUNGSGESCHICHTE „One of the most striking impressions from the Siberian journey was the sense of how much the most distant nooks and crannies of the geographically isolated localities were impacted by global processes of the production, reproduction, and consumption of meaning.“6

2.1.1 Forschungsgeschichte als kritische Wissenschaftsgeschichte des Schamanismus „Das vorliegende Werk ist unseres Wissens das erste, welches den Schamanismus in seinem ganzen Umfang behandelt und ihn zugleich in eine allgemein religionsgeschichtliche Perspektive stellt; damit sind von vornherein gewisse Unvollkommenheiten und Gefahren gegeben. Das Material, das uns heute über die verschiedenen Arten des Schamanismus – sibirischen, nord- und südamerikanischen, indonesischen, ozeanischen – zur Verfügung steht, ist beträchtlich. [...] doch mit einigen bemerkenswerten Ausnahmen [...] hat das riesige Schrifttum es versäumt, eine Interpretation dieses überaus komplexen Phänomens im Rahmen der allgemeinen Religionsgeschichte zu unternehmen. Wenn wir nun unsererseits den Versuch gemacht haben, uns dem Schamanismus zu nähern und ihn zu begreifen und darzustellen, so geschah dies in unserer Eigenschaft als Religionshistoriker.“7

Mit diesen erhabenen Worten beginnt Mircea Eliade seine erstmals 1951 erschienene Studie „Schamanismus und archaische Ekstasetechnik“. Eine Religionsgeschichte des Schamanismus will er schreiben, eine synthetische Zusammenschau, die

6

Lindquist, Galina: The Quest for the Authentic Shaman. Multiple Meanings of Shamanism on a Siberian Journey, Uppsala 2006, 13.

7

Eliade, Mircea: Schamanismus und archaische Ekstasetechnik, Frankfurt 1975, 1.

28 | G RUNDLAGEN

unter der Prämisse seines spezifischen Verständnisses von Geschichte endlich diejenige Gesamtinterpretation des Schamanismus liefert, die das bisher vorliegende Material so schmerzlich vermissen lies. Nichts liege ihm ferner, als die ‚bewundernswerten Untersuchungen zu verkleinern‘, welche bereits durchgeführt worden seien oder sich selbst zum ‚Ethnologen, Altaisten, Amerikanisten zu machen‘. Und doch beansprucht Eliade, dass seine Untersuchung zum Schamanismus die entscheidende ist – die Prophetie ist nach ihm abgeschlossen. Dass ein solcher Totalanspruch in der Wissenschaft gefährlich ist, dessen ist sich der Autor freilich bewusst und so begegnet er präventiv einer möglichen Kritik seines Werkes, wenn er einräumt: „Die Bibliographie von Popov, die 1932 erschienen ist und sich auf den sibirischen Schamanismus beschränkt, verzeichnet 650 Arbeiten von russischen Ethnologen. Auch die Literatur über den nordamerikanischen und indonesischen Schamanismus ist recht beträchtlich. Man kann nicht alles lesen.“8

Gerade diese Spannung zwischen der Kapitulation vor dem Detail und dem ungebrochenen Mut des Religionshistorikers zu einer das Partikulare überschreitenden Perspektive wird Eliades Schrift zu seiner ungeheuerlichen Rezeptionsgeschichte im weltweiten Schamanismusdiskurs verhelfen. Er hat nicht nur eine Zusammenschau dessen geliefert, was gewesen ist, sondern v.a. eine Grundlagenschrift für das, was nach ihm sein wird: Ein als kulturüberschreitend verstandenes Phänomen, das sich qua seines Selbstverständnisses universalisiert und globale Wirkungen verzeichnet. Was das im Einzelnen bedeutet, wird an späterer Stelle noch eingehend zu erläutern sein. Hier ist zunächst zu fragen, welche Schlussfolgerung aus diesen Beobachtungen für das Schreiben einer Forschungsgeschichte, wie sie hier notwendig ist, zu ziehen ist. Meiner Ansicht nach ist es eine doppelte: Zum einen ist eine chronologische Forschungsgeschichte zum allgemeinen Phänomen des Schamanismus aufgrund der Menge der bereits vor 1950 für Eliade überwältigenden Menge an Literatur weder leistbar noch wünschenswert. Sie würde eine entdifferenzierende Perspektive herstellen und darin Erscheinungen unter sich subsumieren, welchen nur durch Unterscheidung adäquat begegnet werden kann. Zum anderen wird aus dem Zusammenhang zwischen Eliades Grundansatz und seiner Wirkungsgeschichte deutlich, dass eine Forschungsgeschichte eine kritische Aufarbeitung genau jener Voraussetzungen liefern muss, unter welchen die verschiedenen Werke bestimmte Aspekte der hier betrachteten Prozesse untersuchen. Wünschenswert ist daher statt einer umfassenden Protokollierung aller existierenden Beiträge eine Markierung zentraler Forschungsarbeiten und ihrer jeweiligen eingetragenen Prämissen. Sie müssen einer kritischen Re-Lektüre unterzogen und auf ihre jeweiligen Zielsetzun8

Ebd., 10.

F ORSCHUNGSGESCHICHTE | 29

gen befragt werden. Wie sich zeigen wird, bestimmt die Art und Weise wie die jeweiligen Ansätze an ihren Gegenstand herangehen, entscheidend ihre Ergebnisse: Meistens finden die Untersuchungen, was sie in ihrer vorauslaufenden Zielsetzung benannt haben. Als ein zentraler Schlüssel zur Analyse der jeweiligen Forschungen hinsichtlich ihres Zugangs zum Gegenstand erweisen sich so die Selbstpositionierungen der jeweiligen Autoren – in neueren Werken bereits als topos etabliert und daher explizit zugänglich, in älteren Werken meist nur implizit zu erheben. Damit wird auch dem in der methodologischen Einleitung skizzierten Umstand Rechnung getragen, dass ethnologische, religionswissenschaftliche und andere aus dem akademischen Kontext erwachsene Arbeiten und ihre breitenwirksame Rezeption als konstitutiver Teil des Schamanismusdiskurses gesehen werden müssen. Die Selbstpositionierungen der einzelnen Autoren spiegeln somit im Kleinen die makroskopische Verflechtung der Wissenschaft in das Diskursfeld des Schamanismus und machen sich diese selbstreflexiv zum Thema. 2.1.2 Felder vorliegender Forschungsarbeiten Die für die vorliegende Arbeit maßgebende Perspektive der kulturellen Austauschprozesse zwischen einer wiederbelebten Tradition des tyvanischen Schamanismus im post-sowjetischen Kontext einerseits, westeuropäisch-amerikanischen neoschamanischen Bewegungen andererseits, weist bzgl. der hierzu vorliegenden Forschungen eine interessante Dialektik auf. Rückblickend würde ich aus Sicht meiner Feldforschungsarbeit in Tyva sogar etwas lapidar Folgendes festhalten: Über die Wechselwirkungsphänomene im Rahmen eines globalen Schamanismusdiskurses ist bereits alles gesagt und nichts. Alles, da sich in verschiedensten Werken aus unterschiedlichsten Perspektiven Anmerkungen, Verweise und fragmentarische Einsichten bezogen auf eine breite Palette von Einzelaspekten dieser Interferenzprozesse finden. Nichts, da die meisten dieser Beobachtungen bzgl. ihrer Argumentation auf einer allgemeinen und somit oberflächlichen Ebene verbleiben, und daher um die zugrundeliegenden Dynamiken gerade nicht wissen bzw. diese verfehlen. Eine theoretische Reflexion und der Versuch eines Verstehens im Rahmen eines kulturwissenschaftlichen Theoriemodells unterbleiben darüber hinaus fast durchweg. Welche Felder der hier relevanten Thematik wurden bearbeitet? Obwohl es nicht einer gewissen Ironie entbehrt, an dieser Stelle einzelne Felder zu benennen und konzeptionell zu trennen, deren Zusammenhänge, Überschneidungen und Verschränkungen im Verlauf der Arbeit gerade gezeigt werden sollen, ist dies dennoch sinnvoll. Eine heuristische Gliederung der vorliegenden Forschungsliteratur wird nicht nur deren jeweiliger Schwerpunktsetzung gerechter, sondern schafft auch eine vorläufige Orientierung – welche v.a. dann gewinnbringend ist, wenn die kontinu-

30 | G RUNDLAGEN

ierliche aufeinander Bezogenheit und Wechselwirkungen der verschiedenen Forschungsfelder grundsätzlich im Bewusstsein gehalten werden. Folgende Kategorisierung der geleisteten Vorarbeiten schlage ich vor: Zunächst empirische Untersuchungen zum Phänomen des modernen westlichen Neoschamanismus. Galina Lindquist9 hat eine solche für den schwedischen, Merete Demand Jakobsen10 für den dänischen, Robert Wallis11 für den großbritannischnordamerikanisch und Gerhard Mayer12 schließlich für den deutschsprachigen Kontext vorgelegt. Diese Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, im Besonderen hinsichtlich des nordamerikanischen Bereichs. Da das entscheidende Moment jedoch in der Benennung grundlegender Tendenzen, v.a. in der Skizzierung der Vielfalt und der kulturspezifischen Charaktereigenschaften liegt, dürfen die genannten Werke dennoch als (meta)repräsentativ erachtet werden. Weiterhin historische und kulturgeschichtliche Untersuchungen, die Forschungsgeschichten des Schamanismus als Interaktionsgeschichten mit der westlichen Wissenschaft schreiben. Mit jeweils unterschiedlichen Fokussierungen und theoretischen Zugriffen legen zuerst Ronald Hutton13, dann Kocku von Stuckrad14 und endlich Andrei Znamenski15 vergleichbar strukturierte Untersuchung vor. Huttons Ziel, einen generellen Überblick zu liefern, was über sibirischen Schamanimus bekannt ist und welche Schlussfolgerungen daraus gezogen werden können, erreicht er durch eine kritische Re-Lektüre von Literatur und klassischen Werken zum sibirischen Schamanismus. Ausgehend vom Konstruktcharakter Sibiriens selbst, und dem darauf beruhenden Konstruktcharakter des Schamanen zeichnet er nach, warum und was wir glauben, über Schamanen zu wissen. Eine derartige Darstellung dessen, wie Schamanismus von westlichen Wissenschaftlern beschrieben wurde, ist für Hutton somit nicht nur eine Inventur des Wissens über Schamanen, sondern ein

9

Lindquist, Galina: Shamanic Performances on the Urban Scene. Neo-Shamanism in Contemporary Sweden, Stockholm 1997.

10 Jakobsen, Merete Demand: Shamanism, Traditional and Contemporary Approaches to the Mastery of Spirits and Healing, New York 1999. 11 Wallis, Robert: Shamans / Neo-Shamans. Ecstasy, Alternative and Contemporary Pagans, London 2003. 12 Mayer, Gerhard: Schamanismus in Deutschland. Konzepte – Praktiken – Erfahrungen, Würzburg 2003. 13 Hutton, Ronald: Shamans. Siberian Spirituality and the Western Imagination, London 2001. 14 Stuckrad, Kocku von: Schamanismus und Esoterik. Kultur- und wissenschaftsgeschichtliche Betrachtungen, Leuven 2003. 15 Znamenski, Andrei A.: The Beauty of the Primitive. Shamanism and the Western Imagination, Oxford 2007.

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Beitrag zur Geschichte Europas und Amerikas. Ein ähnliches und darüber hinausgreifendes Ziel setzt sich Stuckrad, wenn er sein Werk verstanden wissen will als Beitrag zur Geschichte des nicht-christlichen Abendlandes. Mit dem analytischen Instrument der Dialektik zwischen Abwehr und Verlangen nimmt er es in Angriff, die Genese des modernen westlichen Schamanismus in seiner historischen Entwicklung zu skizzieren. Hauptthema seiner Studie ist dabei, wie ethnologische Wissensbestände seit den 60ern durch die westliche Welt mäandern und damit ein Diskursfeld konstituieren, das grundlegend von einer Auseinandersetzung um Definitionshoheiten, Legitimität und Authentizität geprägt ist. Während Stuckrad aber die Formationsphase des Schamanismus bereits im 19. Jahrhundert verortet, stellt Znamenski betonter auf die wachsende Wertschätzung des Schamanismus als Teil antimoderner Strömungen seit den 60ern ab. Trotz dieser Differenz in der Schlussfolgerung teilt letzterer aber mit dem vorherigen sein Interesse daran, wie der Begriff des Schamanen in den westlichen Gebrauch eingeführt wurde und wie sich dessen westliche Wahrnehmung verändert hat. Als ‚intellectual and cultural history‘ behandelt er Schamanismus sowohl als Metapher als auch als lebendige spirituelle Praxis. Alle drei Autoren schreiben somit aufbauend auf einer breiten Basis von Beiträgen aus Literatur, Kunst, Wissenschaft und Politik, teilweise ergänzt durch Beobachtungen gegenwärtiger Phänomene (welche jedoch für alle eine sekundäre Bedeutung einnehmen), Forschungsgeschichten, die Verschränkungen der wissenschaftlichen Zugänge mit ihrem Gegenstand transparent machen. Alle drei sind jedoch bzgl. der Konsequenzen ihrer Ergebnisse für den zeitgenössischen Schamanismus in Tyva nur marginal informiert – Znamenski noch am besten. Ein weiteres Feld von vorliegenden Arbeiten bilden ethnologische und religionswissenschaftliche Studien zu religiösen Wiederbelebungsprozessen in den post-sowjetischen Teilrepubliken Russlands. Mehrere von ihnen unterliegen in ihrer kulturellen sowie politischen Situation ähnlichen Prozessen, wie sie in Tyva zu finden sind, und sind daher für die hier beabsichtigte Untersuchung von paradigmatischem Interesse. Für die Republik Sakha haben Marjorie Balzer Mandelstam16 und Piers Vitebsky17 entscheidende Beiträge vorgelegt, für die Republik Burjatien die Filmemacherin und Ethnologin Anja Bernstein18. In umfassender Perspektive hat das Max-Planck-Institut für Sozialanthropologie in Halle zahlreiche Grundlagenfor16 Mandelstam Balzer, Marjorie: Two Urban Shamans: Unmasking Leadership in Fin-desoviet Siberia, in: Perilous States. Conversations on Culture, Politics, and Nation, hg. v. Geroge E. Marcus, Chicago and London 1993, 131-164. 17 Vitebsky, Piers: Reindeer People. Living with Animals and Spirits in Siberia, Boston 2005. 18 Vgl. den Film ‚In Pursuit of the Siberian Shaman‘ von Anya Bernstein (www.cinetrance.com/in pursuit.htm). Vertreiber: DER, 101 Morse St., Watertown, MA 02472, USA (http://der.org/films/in-pursuit-of-siberian-shaman.html).

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schungen beigetragen19. Und schließlich hat die an der Universität Moskau arbeitende Psychologin Valentina Kharitonova aus Sicht ihrer Fachdisziplin eine grundlegende Untersuchung und Deutung der post-sowjetischen Wiederbelebungsprozesse geliefert20. Über diese drei Hauptfelder von vorliegenden Untersuchungen hinaus ist noch eine Reihe von Einzelarbeiten zu nennen, die jeweils wichtige Einzelaspekte abgehandelt haben. Ich fasse sie daher nicht unter die obigen Großkategorien, sondern in einer gesonderten vierten Gruppe, um den jeweiligen Charakteristiken dieser Analysen Vorrang zu geben und ihnen in der Deskription gerechter werden zu können. Zunächst ist ein klassischer Aufsatz von Ulla Johansen21 zu nennen, in welchem sie die Transformationen des gegenwärtigen Schamanismus in Tyva darstellt auf dem Hintergrund ethnografischer Berichte zum vor-sowjetischen Schamanismus. Die Autorin gelangt so zu einem Katalog differenzierender Merkmale, welcher nach ihrer Ansicht den Neoschamanismus von früheren Praxen absetzt. Die gegenwärtige Erforschung des letzteren skizziert Galina Lindquist22, wenn sie die spezifischen Dynamiken und multiplen Sinnproduktionen von international besetzten Forschungsreisen auf der Suche nach dem sibirischen Schamanen beschreibt. Die Autorin hatte sich nach ihrer Untersuchung der neoschamanischen Szene in Schweden (vgl. im Absatz zu den empirisch orientierten Studien des westlichen Schamanismus) in ihrer Forschung ihrem ursprünglichen Heimatland wiederzugewandt und verbindet in diesem – im Genre eines Reisetagebuchs verfassten – Büchlein ihre Forschungen zu gegenwärtigem geistigem Heilen in Russland23 und westeuropäischem Schamanismus bzgl. der Situation in Sibirien. Für die in diesem Zusammenhang dezisiven Wechselwirkungsprozesse zwischen einer seit den 90ern an Bedeutung gewinnenden Tourismusbranche und der Rekonstruktion schamanischer Tradi19 Vgl. www.eth.mpg.de. Aus der Fülle der Werke seien aus der Siberian Studies Reihe beispielhaft erwähnt: Kasten Erich (Ed.): People and the Land. Pathways to Reform in Post-Soviet Siberia, Berlin 2002. -: Properties of Culture – Culture as Property. Pathways to Reform in Post-Soviet Siberia, Berlin 2004. -: Rebuilding Identities. Pathways to Reform in Post-Soviet Siberia, Berlin 2005. 20 ɏɚɪɢɬɨɧɨɜɚ, ȼ. ɂ.: Ɏɟɧɢɤɫ ɢɡ ɩɟɩɥɚ? ɋɢɛɢɪɫɤɢɣ ɲɚɦɚɧɢɡɦ ɧɚ ɪɭɛɟɠɟ ɬɵɫɹɱɟɥɟɬɢɣ, Ɇɨɫɤɜɚ 2006. 21 Johansen, Ulla: Vom Schamanismus zum Neoschamanismus, in: Jahrbuch des Museums für Völkerkunde zu Leipzig, Band XLII, Münster 2004, 65-76. 22 Lindquist, Galina: The Quest for the Authentic Shaman. Multiple Meanings of Shamanism on a Siberian Journey, Uppsala 2006. 23 Lindquist, Galina: Conjuring Hope. Healing and Magic in Contemporary Russia, New York 2006.

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tionen hat Judith Schlehe24 eine Untersuchung vorgelegt – hier für den Kontext der Mongolei. Ähnlich den russischen Nachbarrepubliken Tyvas kommt dieser aufgrund ihrer zahlreichen kulturellen und soziopolitischen Querverbindungen zu Tyva ebenfalls eine vergleichbare und damit paradigmatische Funktion zu. Geografisch und kulturell weiter entfernt, jedoch in ihrer ähnlichen thematischen Zielsetzung und methodologischen Zuspitzung interessant ist darüber hinaus die Dissertation von Dirk Schlottmann25. Er untersucht darin am Beispiel des koreanischen Schamanismus dessen Transformationsprozesse im Besonderen unter Einbeziehung der Rolle der neuen technischen Medien wie Fernsehen, Internet und virtueller Kommunikationsräume. Unter diese letzte Kategorie von Studien, die kulturell entfernte, jedoch aus methodologischer Sicht relevante Beiträge liefern wäre noch eine Vielzahl anderer Beiträge zu nennen, wie z.B. die Untersuchung von Elke Mader26, welche interkulturelle Austauschprozesse im Schamanismus der Shuar im Hinblick auf kulturenüberschreitende Netzwerkbildungen unter Schamanen betrachtet hat, oder die Arbeit von Sidky27, die eine Analyse des gegenwärtigen nepalesischen Schamanismus in seiner Wechselwirkung mit dem globalen Schamanismusdiskurs liefert. Doch dies würde den Rahmen der hier beabsichtigten Forschungsgeschichte sprengen, und so scheint mir eine Beschränkung auf die bis hier erwähnten Werke ausreichend, um die zentralen Felder der Debatten abzustecken. 2.1.3 Eine kritische Re-Lektüre zentraler Arbeiten Die obige heuristische Klassifizierung des Feldes geleisteter Forschungen soll nun im Folgenden sowohl dekonstruiert als auch in sich vernetzt werden. Ziel der anschließenden Überlegungen wird es sein, die Studien, die zuerst probeweise voneinander abgegrenzt wurden, nun zueinander in Beziehung zu setzen und sie in Diskussion miteinander zu bringen. Letzteres leisten einige Autoren bereits selbst, indem sie sich explizit zu anderen Arbeiten positionieren, dies aber natürlich aus ihrer jeweiligen Perspektive. Aus einer Außenperspektive, die jedoch um ihre eigene Kontingenz weiß, will ich daher das Feld der Forschungsarbeiten fokussiert auf meine Fragestellung miteinander ins Gespräch bringen. Meine Perspektive wird eine kritische sein – behauptet damit jedoch nicht, in ihrem Erkenntnis- und Verstehenswert über derjenigen der jeweiligen Autoren selbst zu stehen. 24 Schlehe, Judith und Weber, Helmut: Schamanismus und Tourismus in der Mongolei, Zeitschrift für Ethnologie 126, 2001, 93-116. 25 Schlottmann, Dirk: Koreanischer Schamanismus im neuen Millenium, Frankfurt 2007. 26 Mader, Elke: Die Attacke der Grünen Magie. Interkulturelle Austauschprozesse im Schamanismus der Shuar, in: Zeitschrift für Ethnologie, Bd. 120, Heft 2, 1995, 177-190. 27 Sidky, H.: Haunted by the Archaic Shaman. Himalayan Jhakris and the Discourse on Shamanism, Lanham 2008.

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2.1.3.1 Die doppelte Essentialisierung des westlichen Neoschamanismus bei Stuckrad Mit seiner Studie ‚Schamanismus und Esoterik. Kultur- und wissenschaftsgeschichtliche Betrachtungen‘ beabsichtigt Kocku von Stuckrad nicht nur ein Buch zum Schamanismus vorzulegen, sondern ein Doppeltes mehr. Zum einen sieht er sein Werk, welches Schamanismus jenseits einer christlichen Religionsgeschichte und dennoch in ständiger Wechselwirkung mit ihr beschreiben will, als einen Beitrag zur Geschichte des nicht-christlichen Abendlandes.28 Und er betrachtet es zweitens als Ort der Selbstreflexion der Religionswissenschaft. Erreichen will er beides, indem er ausgehend von einer exemplarischen Palette von künstlerischen, literarischen, philosophischen und anderen Repräsentationen untersucht, wie sich das Diskursfeld des Schamanismus in der Auseinandersetzung um Definitionshoheiten, Legitimität und Authentizität historisch entwickelt hat. Ein besonderer Fokus liegt dabei im Besonderen auf ethnologischen Wissensbeständen und ihren Rezeptionen und Bewegungen seit den 60ern durch die westliche Welt. Ausgewiesenes Ziel Stuckrads ist es daher, Übergänge und Durchlässigkeiten zwischen den verschiedenen Bereichen der Wissenschaft, Religion und Kunst zu markieren, die Adaption akademischen Wissens in der euro-amerikanischen Kultur als den Neoschamanismus generierende zu analysieren und Linien schamanischer Semantiken als Reaktion auf die der Moderne inhärente Desakralisierung der Natur nachzuzeichnen. Notwendig seien folglich eine geistesgeschichtliche Verortung des Neoschamanismus und dessen Kontextualisierung im Rahmen der Esoterik. Soweit zum Programm Stuckrads. Seine beachtliche Studie, welche selbstredend als Meilenstein in der Schamanismusforschung gesehen werden muss, und hinter welche keine zukünftige Forschung zurück kann, unterliegt in ihrer Reichweite dennoch zweier Einschränkungen. Zum einen, und dies räumt Stuckrad selbst ein, interessieren ihn nur am Rande Fragen der Transformation eines traditionellen Schamanismus in der Moderne. Es gibt jedoch Indizien, dass Stuckrad derartige Transformationen nicht nur nicht interessieren, sondern er sie grundsätzlich in Frage stellt. Dies heißt in der Konsequenz dann allerdings nicht weniger als, dass er sein Bild vom Schamanismus, das er ausgehend von bestimmten Beobachtungen gegenwärtiger Gruppen gewinnt, zurück projiziert auf die gesamte Geschichte der westlichen Begegnung mit dem Schamanismus. Stuckrad unterliegt somit derselben Essentialisierungsgefahr, welche er bei anderen Autoren so harsch kritisiert. Die Studie von Jakobsen, welche 28 „Insofern versteht sich dieses Buch auch als ein Beitrag zur Geschichte des ‚nichtchrislichen Abendlandes‘, durchaus mit dem Ziel, der Rede von der kulturellen Einheit Europas unter der Fahne des Christentums – letztlich überhaupt der Konstruktion einer Einheit – die Grundlage zu entziehen“. Stuckrad, Kocku von: Schamanismus und Esoterik. Kultur- und wissenschaftsgeschichtliche Betrachtungen, Leuven 2003, 1.

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den westlichen Neoschamanismus in Dänemark auf dem Hintergrund ethnografischer Berichte zum klassischen grönländischen Schamanismus entfaltet, kann er daher in ihren Schlussfolgerungen nur als ‚naiv‘ betrachten. Und Unterscheidungen, wie sie Johansen und Hamayon als typisch für die post-sowjetischen Veränderungsprozesse benannt haben, können für Stuckrad ebenso keine Bedeutung finden. Aus Sicht einer Theorie der Transdifferenz29 begeht Stuckrad den epistemologischen Fehler, zu denken, die Herausbildung von Transdifferenz würde die ursprüngliche Differenzsetzung aufheben. Es ist jedoch das Gegenteil der Fall. Die Erscheinung von Transdifferenz, d.h. das von Stuckrad richtig markierte Verschwimmen der Grenzen und Durchlässigwerden von zunächst disparat erscheinenden Diskursen30, ist bleibend zurückverwiesen auf die grundlegende Differenzsetzung. Letztere wird relativiert und kann temporal an Kraft verlieren, nicht aber grundsätzlich verschwinden. Es ist daher notwendig, die Differenzsetzungen in ihrer entgegen dem Stuckradschen Ansatz bleibenden Wirksamkeit im Anschluss genauer zu entfalten. Nur so kann die dualistische Perspektive, die Stuckrad behauptet relativieren zu wollen, tatsächlich dekonstruiert werden. Dass die Rede von einem schamanischen Diskursfeld keinerlei künstliche Trennung zwischen ‚traditionell’ und ‚neo’ oder zwischen ‚echt’ und ‚hybrid’ erlaubt, darin ist dem Autor zu zu stimmen, da die vermeintlichen Gegensätze in ihrer Konstruktion tatsächlich unlösbar aufeinander bezogen sind. Dass das Konzept des Diskursfeldes eine Differenzsetzung aber grundsätzlich unmöglich machen würde, stellt einen Widerspruch in sich selbst dar. Gerade die Rede von einem Diskurs bedingt doch, dass dort Unterscheidungen in Form von Differenzmarkierungen getroffen werden. Die Tatsache jedoch, dass diese unauflösbar aufeinander bezogen sind, wird durch die Sinnstiftung einer Differenzbildung aber auch gar nicht in Frage gestellt. Und eine zweite Essentialisierungstendenz muss benannt werden, die bei Stuckrad zu finden ist. In seiner Definition von Neoschamanismus behauptet er nämlich, dieser könne repräsentativ erfasst werden, indem er sich auf Gruppierungen beschränkt, die aus der Beschäftigung mit den Werken von Carlos Castaneda hervorgegangen sind, v.a. die ‚Foundation for Shamanic Studies‘ sowie das ‚Esalen Institute‘. Eine derartige Eingrenzung mag aus Stuckrads pragmatischem, auf das Schreiben einer einsträngigen Kulturgeschichte ausgerichteten Ansatz geboten 29 Zur Theorie der Transdifferenz siehe die methodologischen Ausführungen in Kapitel 2.2. 30 „Erstens verschwammen aufgrund fortschreitender Globalisierung die Grenzen zwischen lokal gebundenen Gemeinschaften und religiös-kulturellen Entwicklungen auf internationaler Ebene. Was auf die euro-amerikanische Moderne zutraf, nämlich das Reflexivwerden von Religion und Wissenschaft, gilt heute auch für die indigenen Kulturen, die ihre Nischen jenseits von Geschichte und Theoriebildung verlassen und einen Platz innerhalb des globalen Diskurses beanspruchen.“ Stuckrad, Kocku von: Schamanismus und Esoterik. Kultur- und wissenschaftsgeschichtliche Betrachtungen, Leuven 2003, 3.

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gewesen sein – dem Gegenstand gerecht geworden ist er damit nur unzureichend. Zu Recht haben Gerhard Mayer und Robert Wallis in ihren jeweiligen Studien auf das breite Spektrum neoschamanischer Praxen im westeuropäischen Kontext und dessen zahlreichen Binnendifferenzierungen hingewiesen. Auch hier nimmt Stuckrad eine Reduktion, eine Zurechtlegung seines Gegenstandes vor, die eher am Fluchtpunkt seiner Argumentation als an adäquaten Beschreibungen seines Untersuchungsfeldes interessiert ist. Weder kann eine isolierte Betrachtung des Phänomens des westlichen Neoschamanismus, noch eine Beschränkung auf den ‚spielerischen Umgang’31 mit schamanischen Traditionen wie sie zwar in einigen, durchaus aber nicht in allen Gruppen zu beobachten ist, eine Repräsentativität begründen, wie sie Stuckrad für sich einfordert. Folglich müssen auch in dieser Hinsicht Differenzierungen vorgenommen werden, die die Studie Stuckrads nicht zu leisten vermag. 2.1.3.2 Vom Schamanismus zum Neoschamanismus? In ihrem Aufsatz ‘Vom Schamanismus zum Neoschamanismus’ verarbeitet die Köllner Ethnologin und Spezialistin für Geschichte der Schamanismusforschung Ulla Johansen ihre Eindrücke einer Forschungsexpedition nach Tyva im Jahr 1996. Dem Duktus des Aufsatzes ist eigen, obwohl er sich im Wesentlichen an Beobachtungen orientiert, in kleineren Bemerkungen eine existentielle Auseinandersetzung der Wissenschaftlerin mit dem von ihr Erlebten und Reflektierten durchscheinen zu lassen. So setzt sie als Leitmotiv ein Zitat ihren Ausführungen voran, das auf den Erfindungscharakter jeder Tradition verweist und ihrer Einbindung in die Notwendigkeiten der Gegenwart. Ethnologen seien in diesen Prozess der Rekonstruktion insofern involviert, als sie qua Exotik ihrer Darstellungen oft selbst die Grundlage dazu lieferten. Johansen ist es so möglich, die Transformationsprozesse der postsowjetischen Zeit einzuschreiben in eine Geschichte der sibirischen Völker, die ihre Identität als ethnische Gruppe schon während der Sowjetzeit aufbauend auf Reiseberichten und Ethnografien entwickelt hätten. Die Grundfrage, der sich die Autorin stellt, besteht somit darin, wie das Verhältnis des Schamanismus vor 1930 und des gegenwärtigen zu bestimmen ist. Um dieses zu charakterisieren, legt sie einen Bericht einer Schamanenséance von 1929 zugrunde, welcher deutlich werden lasse, dass Séancen immer am Abend oder in der Nacht abgehalten wurden, die dazu notwendige Tracht unter großem Aufwand nach Vorbild der Vorfahren hergestellt

31 „[…] besuchte ich Seminare des Kopenhagener Scandinavian Center for Shamanic Studies. Die dort gemachten Erfahrungen lehrten mich zweierlei: Erstens braucht es kein großes dogmatisches System, um religiöse Zusammenhänge überzeugend erlebbar zu machen; es ist gerade das Spielerische im Umgang mit der Tradition, was die Kohärenz der Erfahrung für die Beteiligten herstellt.“ Stuckrad, Schamanismus und Esoterik, 1.

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und die ganze Gruppe am Ritual teilgenommen habe. Letztere hätte im Besonderen über keine Wahlmöglichkeit des religiösen Glaubens verfügt, die Séance sei daher von einer Übereinstimmung mit der Gesamt-Gesellschaft getragen gewesen. Im Unterschied dazu verfügten heute alle Bürger Tyvas über eine Schulbildung, hätten Erfahrung durch den Militärdienst oder weiterführende Schulen besucht und dadurch bzgl. der religiösen Situation klar eine Wahl zwischen verschiedenen Optionen. Die von Johansen 1996 beobachteten Séancen seien darüber hinaus nur zehnminütig gewesen und – gut für Filmaufnahmen – am Nachmittag abgehalten worden. Das Schamanengewand werde einfach über der Alltagskleidung getragen und von Plastikschlangen und Christbaumkugeln verziert. Auch bzgl. der Organisationsform habe sich Entscheidendes verändert: Die neu entstandenen schamanischen Kliniken glichen im Wesentlichen psychotherapeutischen Praxen, in denen Patienten aus allen Bevölkerungsschichten anzutreffen sind und Heilung nicht durch eine Séance, sondern primär durch einfühlsame Gespräche, Berührung und Auflegung von Symbolen suchten. Sowohl das Vokabular der Schamanen, das sich verschoben habe hin zu esoterischen termini wie ‚Aura‘, ‚Energie‘, ‚Astralleib‘ und ‚extrasensorischen Fähigkeiten‘ als auch die Vorstellung von der ‚Seele‘, entsprächen nicht mehr den traditionellen Vorgaben wie sie in Ethnografien der Jahrhundertwende zu finden seien. Johansen fasst daher ihre Beobachtungen in fünf Punkten zusammen: Die durch die post-sowjetischen Transformationsprozesse bedingten Unterschiede beträfen das kognitive System (Schulbildung, Wahl der Religion, Fernsehen), die internationalen Verbindungen der Schamanen (Kongresse, Spiritismus und New Age, Erwartungen internationaler Gruppen), die Art des Schamanisierens (Klientel, Tageszeit, Dauer, Tracht, Arbeitsaufwand, Tiefe der Trance, Verhältnis zur Fotografie), das Element der Ethnizität im Schamanismus (von Geringschätzung der eigenen Kultur hin zur Demonstration und Wertschätzung) und schließlich den veränderten Glauben an eine Seele. Johansen folgert daraus, dass ein Schamanismus wie er sich in der Gegenwart in Sibirien zeige, ohne Beeinflussung durch postmoderne westliche Strömungen nicht zu erfassen sei. Den tyvanischen Neoschamanen fehlten die Initiationsphase, der Gesellschaftsauftrag und die kulturelle Tradition. Es handle sich daher im besten Falle um eine Folklorisierung des Schamanismus, die in öffentlichen Folklore-Festivals, inmitten von Touristen und wenig kritischen Ethnologen ihren Raum finde: „Wenden wir uns nach diesem Exkurs zurück nach Tyva. Mein erster Eindruck im Sommer 1996 war der einer Folklorisierung des Schamanismus. Es ist nicht länger verboten Schamane zu sein. Im Gegenteil: Es gibt öffentlich Folklore-Festivals mit Personen, die am hellen Tage, inmitten einer Menge von Touristen und anderen Neugierigen, darunter auch wenig kritischen Ethnologen, die sie mit Foto- und Filmkameras bedrängen, tanzen, trommeln und singen.

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(Fotos davon sind sogar im Museum von Kyzyl ausgestellt.) Diese ‚Schamanen‘ sind dabei ganz offensichtlich auf ihr Publikum, kaum auf ein Jenseits eingestellt.“32

Johansen ist zugute zu halten, dass sie im Schluss ihres Aufsatzes die Aufgabe der Ethnologie darin benennt, die neuerfundene Tradition nicht wegzustreichen, sondern zu verstehen, wie sie Autorität erlangt. Doch bleibt diese Forderung abstrakt und scheint sich nicht in vollem Umfang auf ihre eigenen Betrachtungen zu beziehen. So kennzeichnet sie zwar explizit ihren Gebrauch des terminus Neoschamanismus als nicht-pejorativ, bewirkt aber durch ihre aktive semantische Bestimmung genau das Gegenteil: Einer gewissen Nostalgie nach der ‚großen Ausnahme abgelegener, von internationalen Kontakten isolierter‘ Schamanen, welche sich noch auf Séancen in der Nacht beschränken würden und nur ihr eigenes, noch illiterates Ritualpublikum bedienen würden, wird einerseits der westliche Neoschamanismus als in vielen Aspekten verflachte Aneignung indigener Praktiken gegenübergestellt, andererseits die gegenwärtigen Formen in Tyva als Folklorisierung gebrandmarkt. Ethnologen, welche diese aktuellen Entwicklungen unter Berücksichtigung des Einflusses und aktiven Gebrauchs moderner technischer Medien, wie dies z.B. die visuelle Anthropologie betrieben hat, untersuchen, werden als ‚wenig kritisch‘ abgestempelt. Dabei beruht der zugewiesene Grad an Kritikfähigkeit bzw. Selbstreflexion auf einem von der Autorin implizit gesetzten Kriterium, nämlich dass derartige Ethnologen nicht diejenige Fundamentalunterscheidung zwischen echtem und folklorisiert-inszeniertem Schamanismus teilen bzw. kennen, welche die Autorin voraussetzt. Ihr kritischer Blick beschränkt sich interessanterweise auch auf Beobachtungen gegenwärtiger Praxis. Dagegen werden die von ihr als Referenzwerk vorgelegten Ethnografien der Jahrhundertwende unbesehen als Garanten objektiver Beschreibungen vorausgesetzt. Cum grano salis kann deswegen gefolgert werden, dass Johansen derselben asymmetrischen Verzerrung unterliegt wie Stuckrad, nur in spiegelverkehrter Weise. Während Stuckrad den für sich definierten Neoschamanismus der Gegenwart als das Maß nimmt, an welchem die europäische Kulturgeschichte bis ins 17. Jahrhundert gemessen wird, setzt Johansen auf die alten Quellen als regulativum gegenwärtiger Prozesse. Beide Haltungen sind defizitär. Beide können nur in komplementärer Ergänzung eine adäquate Beschreibung liefern. 2.1.3.3 Die Vielfalt des Neoschamanismus Mit dem dezidierten Ziel, eine deskriptive Beschreibung der deutschen neoschamanischen Szene vorzulegen und dem Versuch deren Systematisierung, nimmt Gerhard Mayer seine Studie ‚Schamanismus in Deutschland. Konzepte – Praktiken –

32 Johansen, Ulla: Vom Schamanismus zum Neoschamanismus, in: Jahrbuch des Museums für Völkerkunde zu Leipzig, Band XLII, Münster 2004, 70.

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Erfahrungen‘33 in Angriff. Deutlich aber nicht aufdringlich steht dabei dessen Einbettung in den Forschungskontext des Freiburger ‚Instituts für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene‘34 im Hintergrund und prägt Mayers Fragestellungen. Mit Hilfe halbstrukturierter qualitativer Tiefeninterviews und Teilnahmen an Workshops eruiert der Psychologe Biografie, Motivationsstrukturen, Beliefsysteme, Angebote und Erfahrungen seiner Interviewpartner. Einen besonderen Fokus nehmen – begründet durch die institutionelle Rahmung von Mayers Studie – Fragen nach veränderten Bewusstseinszuständen, paranormalen Erlebnissen und den Umgang mit Wesenheiten der nichtalltäglichen Wirklichkeit ein, doch bleibt er dabei nicht stehen. Die für die Thematik sensiblen Fragen nach der Möglichkeit des Kulturtransfers, der Grenzen im Verstehen des Fremden und eines potentiellen Raubes am Kulturgut der ‚Naturvölker‘ werden ebenso thematisiert. Mayers breiter Fragehorizont entspricht der Differenziertheit seiner Ergebnisse. Eine besondere Stärke seiner Untersuchung liegt daher darin, verschiedene, auf bestimmten Religionstheorien basierende Generalisierungen über den westeuropäischen Neoschamanismus zu untergraben und sie in ihrer nur relativen Gültigkeit transparent zu machen. Einige seiner Schlussfolgerungen seien daher hier entfaltet: Entgegen kategorischer Behauptungen der Wirkungslosigkeit schamanischer Heilverfahren, der materiellen Vorteilnahme ihrer Anbieter und Vermarktung indigener Spiritualität, der Weltflucht ihrer Klienten und des Entkontextualisierens von Traditionen, muss laut Mayer Folgendes festgehalten werden: Die in der Szene anzutreffenden Preise sind verglichen mit ähnlichen Angeboten moderat – ein Ausdruck der inneren Spannung, in der schamanisch Praktizierende stehen, zwischen finanziellen Honorierungen als Zeichen der Anerkennung einerseits und Uneigennützigkeit andererseits. Auch hinsichtlich der kolonialen Verhältnisse und der Ausbeutungsthematik in Bezug zu indigenen Gemeinschaften sei ein hohes Problembewusstsein zu verzeichnen. Als individualistisch ausgerichteter Ansatz entspreche der Schamanismus zwar Modernisierungsprozessen und der notwendigen 33 Mayer, Gerhard: Schamanismus in Deutschland. Konzepte – Praktiken – Erfahrungen, Würzburg 2003. 34 Auf der homepage des Instituts ist dessen Selbstbeschreibung nachzulesen: „Das Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene (IGPP) beschäftigt sich mit der systematischen und interdisziplinären Erforschung von bisher unzureichend verstandenen Phänomenen und Anomalien an den Grenzen unseres Wissens. Dazu zählen veränderte Bewusstseinszustände und Erfahrungsbereiche, psychophysische Beziehungen sowie deren soziale, kulturelle und historische Kontexte aus den Perspektiven von Geistes-, Sozial- und Naturwissenschaften. Das IGPP unterhält zudem ein breit angelegtes Informations-, Aufklärungs- und Beratungsprogramm für Menschen mit außergewöhnlichen Erfahrungen, eine umfangreiche Spezialbibliothek sowie ein Forschungsarchiv für Parapsychologie und Grenzgebiete der Psychologie.“ (Vgl. www.igpp.de).

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Identitätsarbeit an oftmals Patchwork-Identitäten, doch sei bei Neoschamanen gerade keine Egomanie, sondern Bodenhaftung und eine sinnvolle Integrierung der schamanischen Weltdeutung in den modernen Alltag zu verzeichnen. Ihre Angebote der Heilung seien daher von Verantwortlichkeit geprägt v.a. bzgl. der Notwendigkeit einer begleitenden naturwissenschaftlich orientierten medizinischen Behandlung und enthielten sich Versprechen einer Alleinwirksamkeit ihrer Methode. Mayer zieht daraus einen doppelten Schluss: In soziologischer Perspektive ist im Hinblick auf seine Untersuchungsgruppe, v.a. auch weil die meisten Praktizierenden sich neben ihrer schamanischen Tätigkeit einem anderen Erwerbsberuf widmen, nicht von einer Subkultur, sondern einer Teilkultur auszugehen. Die Neoschamanen hätten zwar teilweise Vorbehalte, ihre Anschauungen öffentlich werden zu lassen, bewegten sich aber dennoch nicht insgesamt am Rande der Gesellschaft. Und zweitens sollte innerhalb der Szene eine Unterscheidung vorgenommen werden zwischen einem schamanischen Weg als spirituellem Lebensentwurf und einem nur oberflächlichen Zugang, wie ihn z.B. der Besucher eines Wochenendseminars erwirbt. Eine Beschränkung von Studien zum Neoschamanismus auf Gruppen, die aus dem Kontakt mit der Foundation for Shamanic Studies hervorgegangen sind, sei entschieden als methodologische Schwachstelle zu werten, da das Feld sich nicht darin erschöpfe. Was ist nun aus der Darstellung Mayers zu folgern? Natürlich wird man dem Autor eine gewisse Sympathie für seinen Gegenstand nicht absprechen können. Auch der Forschungsansatz und die epistemologischen Prämissen des ‚Instituts für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene‘ sind mit Sicherheit nicht verallgemeinerungsfähig. Dennoch schafft die Studie Mayers ein Bewusstsein dafür, dass sich die neoschamanische Szene – hier speziell im deutschsprachigen Raum – monokausaler Erklärungsmodelle entzieht. Es ist vielmehr von deren ausgeprägter Binnendifferenzierung auszugehen und daher wird eine deskriptive Kulturhermeneutik sich weniger an Meisternarrativen oder Großhypothesen orientieren als vielmehr das verunsichernde Moment dieser Komplexität auf sich nehmen und von dort heraus Ansätze des Verstehens entwickeln. 2.1.3.4 Beobachtungen nichtlinearer Verschränkungen Wie der westeuropäische Neoschamanismus, so entziehen sich auch die Phänomene eines wiederbelebten Schamanismus in den Sowjet-Nachfolgestaaten Sibiriens prästrukturierten Interpretationsansätzen. Eindrücklicher und konsequenter als Galina Lindquist in ihrem Reisetagebuch ‚The Quest for the Authentic Shaman. Multiple Meanings of Shamanism on a Siberian Journey‘35 hat dies kaum jemand beschrieben. Und da eine Schilderung solcher Momente des Entzogenseins erst 35 Lindquist, Galina: The Quest for the Authentic Shaman. Multiple Meanings of Shamanism on a Siberian Journey, Uppsala 2006.

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recht für eine Annäherung an ein fremdkulturelles Phänomen von entscheidender hermeneutischer Bedeutung ist, sollen einige ihrer zentralen Beobachtungen referiert werden. Lindquist skizziert aus einer von ihr explizit als subjektiv markierten Sicht36 wie sich der gegenwärtige sibirische Schamanismus im institutionellen Rahmen einer international besetzten Forschungsreise konstituiert in der Spannung zwischen lokalen Eigengesetzlichkeiten und globalen Diskurskräften. Und nicht ohne ein gehöriges Maß an Ironie, doch mit einer ebenso gehörigen Portion Ernst in ihrer Aussage resümiert sie den Charakter der Expedition, an der sie teilgenommen hatte: „like Knights of the Round Table in pursuit of the Holy Grail“37. Diese ihr grundsätzlich eingeschriebene Unbestimmtheit im Griff nach dem Gegenstand, hatte seine Ursache im Gegenstand selbst: „In the process of performing, representing and consuming, the essentialized phenomenon of ‚Siberian shamanism’, its definitions, and its performers and practitioners, appeared to me as a fluid and dynamic field of social practice.“38

Die Auseinandersetzungen um Bedeutungen und die Interaktion verschiedenster Interessendispositionen prägen dem Phänomen des Schamanismus eine Unschärfe ein, welche dynamisch und komplex, dennoch aber nicht willkürlich oder vollkommen frei wäre. Lindquist benennt daher drei wesentliche Prozesse der Verschränkung und Doppelung, die Bestimmung in der Unbestimmtheit dessen, was als Schamanismus wahrgenommen und verstanden wird, konstituieren: Das freie Fließen des Signifikanten und seiner kontinuierlichen machtgebundenen Refixierung und Rematerialisierung. Die Schwingung der Suchbewegungen zwischen Performanz, erweiterten Bewusstseinszuständen und ergebnisorientierter Effektivität von Ritualpraxis. Den multirelationalen Beziehungsgefügen zwischen Schamanen, Wissenschaftlern, Medienvertretern und anderen Personengruppen.

36 „My view of this journey was also coloured by my fascination with the world as a creative chaos, always resisting and ultimately subverting all the best attempts of ‚science‘ to impose an order on it, to classify, categorise, put labels, squeeze into theoretical frameworks. Perhaps my travel companions saw order where I saw disorder; discerned laws and rules where I saw discord and power skirmishes. In the touted and disclaimed traditions of the post-everything discourse that many academics love to hate, and making myself vulnerable to the most fierce criticism of my colleagues from West and East, I offer my version not as a word of truth, but only as my highly personal glimpse, my vision shaped within that particular chronotype.“ Lindquist, The Quest for the Authentic Shaman, 13. 37 Lindquist, The Quest for the Authentic Shaman, 12. 38 Ebd., 12.

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Zunächst zur Bedeutungsgebundenheit des Signifikanten. Lindquist stellt fest, dass es sich beim Begriff des ‚Schamanismus‘ um einen ‚blurred free-floating signifier‘ handelt, der eine Vielzahl von Referenten aufweise, jedoch weit davon entfernt sei, frei und friedlich vor sich hin zu fließen. Vielmehr handle es sich um einen schwer umkämpften und hoch politischen Begriff. Einerseits kann Schamanismus daher als selbstkonstitutiver Diskurs verstanden werden, denn „Shamanism exists as long as it is performed and practiced. The global processes of the movement of signs and people, such as trourists, scientists and journalists, and the images they produce, provide the scene on which the staging of shamanism becomes possible. There is no shamanism as social field without these processes […].“39

Andererseits wird der Signifikant Schamanismus, der das Herz der lokalen kulturellen Identitätsbildungsprozesse in den sibirischen Republiken darstellt, gebildet, transformiert und weitergeführt durch Interaktion verschiedener sozialer Kräfte. Die Autorität zur Bestimmung seiner Bedeutung ist dabei an soziale Positionen gebunden, welche auch diejenigen ausländischer Wissenschaftler, lokaler und metropolitaner Medien, Touristen, Schamanenaspiranten und letztlich der lokalen Klienten umfasse40. Für den Prozess der Selbstkonstituierung des Schamanismusbegriffs war daher auch die Forschungsreise selbst entscheidend: „Our journey has provided a number of scenes and contexts for the Siberian shamanism to reiterate its rights as a salient cultural phenomenon, legitimized as Tradition, heritage of the past, and as a worthy object of scholarly endeavours. At the same time, this journey has contributed to further globalization and popularization of ‚Siberian shamanism’, by moving 39 Ebd., 68f. 40 Das Verhältnis von Wissenschaftlern und Schamanen wird weiter unten entfaltet. Zur Rolle der Medien beobachtet Lindquist ein Doppeltes: Zum einen entwickeln technische Medien in ihrer Begegnung mit dem Schamanen eine Eigengesetzlichkeit und beanspruchen für sich Freiheiten, die guter ethnografischer Praxis zuwider laufen : „Nikolai, the cameraman, has no awe before the mysteries of shamanism. But he has a passion for video-filming […] ignoring all instructions on ritual behavior that shamans usually give […]. He is like an all-mighty and omnipresent spirit of modernity bestowing its blessings over the shamanic performances in the name of science.“ Lindquist, The Quest for the Authentic Shaman, 29. Zum Anderen applizieren Schamanen selbst technische Medien, um sich Wettbewerbsvorteile zu verschaffen. Als Beispiel nennt Lindquist eine Stadtschamanin aus Moskau, welche Bilder von sich an tyvanischen Kraftorten aufnimmt, um diese dann in ihrem eigenen spirituellen Zentrum aufzuhängen und sich damit selbst zu einer stärkeren Schamanin zu machen. Vgl. ebd., 52.

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the signifiers far away from their context of origin, by multiplying their representations, and by further emptying them, to be filled with new meanings generated by different people in different contexts.“41

Die spezifische Dynamik, die die soziale Konstellation einer solchen Reise entfaltet, führt laut Lindquist jedoch auch dazu, dass eine Verschiebung der Rolle lokaler und globaler Bedeutungszuweisungen stattfindet. Im Besonderen kann dies zu einer übersteigerten Wahrnehmung globaler Einflüsse führen, die nicht der Tatsache gerecht zu werden vermag, dass der Schamanismus z.B. in Tyva unter der Oberfläche von Einflüssen solcher supralokaler Kräfte eine starke Verwurzelung im kulturellen Alltagsleben hat.42 Dies impliziert dann darüber hinaus eine Prioritätenverzerrung bzgl. des Sinns schamanischer Praxis zwischen westeuropäischer und lokaler tyvanischer Auffassung: „The interface between the local and the global that was the source for this essay also made for an exaggerated emphasis on the performative side of shamanic practices. This attention to performance is justified when talking about urban shamanism, where what is at stake is the experience of what is in these circles referred to as ‚non-ordinary reality’. In Tuva, the local people are less interested to pursue the experience of the ‚non-ordninary’. Indeed, the term itself is ill-suited to Tuvan reality, where the ‚spirits’ are very much part of the ‚ordninary’ or the ‚everyday’, even if they are usually unseen. What people are concerned about is not the experience of ‚trance’ or ‘altered states of consciousness’, as urban shamans are; what they care about is the results of the shaman’s work: accurate divinations and successful healing. In fact, many people would rather avoid the ‚experience’ of the non-human beings, since such encounters can often be fraught with danger.“43

41 Ebd., 69. 42 „The first and most important limitation is the tendency to over-emphasize the interface between the local and the external – the global and the metropolitan influences. This is not surprising, since my journey unfolded in this interface; indeed, the moving symposium described below, along with several similar ones that I observed in later years, was one of the important constitutive factors of this interface. My travelogue can be taken as the analysis of how ‚shamanism‘ in such places as Tuva and Khakasia is structured by the global forces of science, media and tourism; and the influence of these supra-local factors on the local religio-political life is indeed very significant. However, shamanic practices in Tuva (and in Khakassia) have much deeper historical and cultural roots. Under the surface of ‚shamanic spectacles‘ described here, there are practices and understandings that are at the core of local life.“ Ebd., 8. 43 Ebd., 9f.

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Lindquist ist in der Konsequenz zu zustimmen, dass Kategorien, die der Wissenschaftler in seiner Funktion als Beobachter meint als analytische Instrumente einbringen zu können, einer ständigen Hinterfragen bedürfen, ob sie dem emischen Verständnis überhaupt gerecht werden können. Und zugleich liegt innerhalb dieser Spannung nochmals eine Wendung, die die Perspektive eines Feldes sozialer Praxis auf den Schamanismus deutlich macht: Wissenschaftler und Schamanen sind in einem multirelationalen Beziehungsgefüge miteinander auf komplexe Weise verschränkt. Die Autorin nähert sich dem Sachverhalt folgendermaßen: „Local ‚shamanisms‘ are tokens and hears of these traditions [traditions that ethnographers record and that are then used as a source of revival, Anm. d. A.]. Shamans draw on the work of ethnographers past and present, to build up the body of knowledge that is in many cases nearly extinct; ethnographers interview and describe shamans to document this knowledge as ‚beliefs and practices’. The two groups are sustaining each other, and in some cases are even staffed by the same people.“44

Schamanen und Wissenschaftler sind in ihren beruflichen Funktionen aufeinander verwiesen. Es bilden sich individuelle Vorlieben, Machtgefüge und strategische Kalküle aus, welche sich besonders deutlich auf Konferenzen und Feldforschungen in ihren Konsequenzen offenbaren.45 Schamanen im russischen Kontext haben ein nicht unerhebliches Interesse, von anerkannten Wissenschaftlern als ‚Person mit außergewöhnlichen Fähigkeiten‘ qualifiziert zu werden, denn dies hat qua offizieller Anerkennung derartiger Fähigkeiten entscheidenden Einfluss auf ihre zukünftige Karriere. Das Urteil des Forschers wird so zur politischen Kraft, welche durch Netzwerke zwischen der metropolitanen Akademie und lokaler Intelligentsia noch potenziert wird.46 Umge44 Lindquist, The Quest for the Authentic Shaman, 17. 45 „Different local intellectuals had various preferences among the shamans, and different shamans had their preferred researchers who worked with them, and who invited them, as shamans, when their colleagues from the metropolitan research centers came for conferences, guest visits, and fieldwork expeditions. For Moscow researchers, it was important to maintain as many of the local connections as possible, not to alienate any of the friends, to avoid adding fuel to the fire of rivalries. Also […] to show to the symposium participants, as much as possible of the local ‚shamanism‘, in order to get a bigger picture, which would also provide for greater ethnographic objectivity.“ Ebd., 43f. 46 Von besonderer Brisanz ist in diesem Zusammenhang die Bezeichnung als Neoschamane, welche hier einem pejorativen Urteil gleichkommt, das den Anspruch auf Echtheit des Praktizierenden vollkommen untergräbt: „The metropolitan science wants to retain the right to define terms, in the name of ‚scientific‘ rigor. But, as it turns out, these attempts at definitions acquire a political character. Issuing definitions becomes tantamount to giv-

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kehrt ist der Forscher daran interessiert, möglichst gute Kontakte zu einer repräsentativen Menge von Schamanen aufrecht zu erhalten, da nur dies seine Forschungsergebnisse plausibilisiert und im Rahmen des Wissenschaftssystems akzeptabel macht. Dass dies im Besonderen bei der ethnografischen Erforschung des Schamanismus auch zu Situationen führen kann, in welchen diese prekären Konstellationen und gegenseitigen Angewiesenheiten herausragend klar sichtbar werden, schildert Lindquist in folgender Episode: „The ritual, performed with an exceptional mastery and passion, together with the spellbinding beauty of the place, managed to bring about those shifts of consciousness that for most of us, rationally schooled academics, is maybe the closest one to coming into trance. This is what happens when we take seriously the discussion about respect to our informants’ practices and the suspension of disbelief, the discussion that we have been immersed in for quite some years. What has been omitted in these discussions, however, is the fact that, in the contexts like the one I am describing, we ourselves become those ‚insects in the glass jars’ that Tatyana [eine der Teilnehmerinnen, Anm. d. A.] referred to. The institute cameraman was the one who never rested […] filming everything that was going on, including the foreign participants rocking in trance, their eyes closed, their hands opened towards the spirits. On the evening of this day, in my hotel room, he showed us the video of that day’s kamlanie. The sight of myself and of all of us in trance was truly disconcerting. When I watched this video, I only hoped that Valentina cuts it all out when montaging the film, and these images would never reach my own university department […].“47

Galina Lindquist entwirft in ihrem Beitrag ein Bild wie innerhalb des sozialen Feldes, das durch die Kategorie des Schamanismus bezeichnet wird, die verschiedensten Akteure in Identitätsbildungsprozessen und Machtkämpfen miteinander verwoben sind und die divergierenden Bedeutungen unter Einfluss lokaler und globaler Ströme aushandeln. Obwohl die Autorin im Wesentlichen Beobachtungen verschiedener Ebenen zusammenführt und außer der Bourdieuschen Kategorie des sozialen Feldes keine weiteren theoretischen Modelle liefert, ist ihre Skizze dennoch von hohem heuristischem Wert. Der Reisebericht von Lindquist markiert sensible Bereiche und zeigt Problemstellen auf, auf die es besonders zu achten gilt. Räumt man ein, dass ihre Beobachtungen – wie sie zu Anfang selbst erklärt – geprägt sind von ihren beiden vorherigen Studien zur neoschamanischen Szene in Schweden und den Transformationsprozessen des geistigen Heilens im posting value judgments as to the professional qualifications of the local practitioners, as well as truth values of their public statements. Being referred to a ‚neo-shaman‘ is, on the local social arena, effectively tantamount to being accused of presenting false credentials.“ Ebd., 47. 47 Lindquist, The Quest for the Authentic Shaman, 58.

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sowjetischen Russland, so bilden sie dennoch eine orientierende Grundlage für die in dieser Untersuchung relevanten Perspektiven. 2.1.4 Schamanismusforschung im Kontakt mit anderen Wissenschaftszweigen 2.1.4.1 Schamanismus und Tourismusforschung Was Galina Lindquist für die Prozesse transversaler Verschränkungen während einer Forschungsreise nach Sibirien gezeigt hat, beschreiben Judith Schlehe und Helmut Weber für ähnliche Phänomene im Bereich der Tourismusbranche. In ihrem ‚Aufsatz Schamanismus und Tourismus in der Mongolei‘48 zeichnen sie die Wechselbeziehungen zwischen der Wiederbelebung des dortigen Schamanismus und der Dynamik eines internationalen Tourismus am Beispiel einer in diesem Zusammenhang inszenierten und im Internet beworbenen Sonnwendzeremonie nach. Ausgehend von ihrer Hauptfrage nach den Verbindungslinien zwischen schamanischen Handlungspraxen, Diskursen und Bedeutungszusammenhängen mit dem internationalen Tourismus gelangen sie zu der Schlussfolgerung, dass lokale Traditionen via ‚cross-cultural discourses‘ mit einer globalen Ideologie der Ökologie verknüpft werden und so zu neuen Formen kultureller Identität führen. Die Organisation des schamanischen Rituals zur Sonnwende sei dabei ungewöhnlich gewesen, da sie aus der gemeinsamen Anstrengung einer Vereinigung mongolischer Schamanen, mehrerer Reisegesellschaften und eines Schamanismus-Forschungszentrums erwachsen sei. Die Autoren verorten es daher im Kontext eines weltweit an Bedeutung gewinnenden urbanen Schamanismus, d.h. typischerweise von Schamanen, die in der Stadt wohnen und auch zu ihren Klienten aufs Land fahren, Ratsuchende in ihren Plattenbauwohnungen empfangen oder gegenüber Besuchern aus dem Ausland nicht abgeneigt sind. Ein solcher städtischer Schamanismus sei deshalb nicht nur ein postmodernes sondern auch internationales kulturelles Phänomen, dem ein populäres Interesse am Schamanismus korreliere und sich in zahlreichen Konferenzen zur Erforschung des Schamanismus sowie esoterischen Sinnsuchenden manifestiere. Das touristische Interesse gehe jedoch deshalb über solche an new age Interessierten hinaus, da das Schamanentum grundsätzlich mit seinem Flair des Geheimnisvollen-Archaischen, Naturnahen, etc. ein hohes Maß an Exotik biete. Entscheidend sei nun, dass der Tourismussektor in der Mongolei angesichts einer stetigen Verschlechterung der wirtschaftlichen Situation zum Hoffnungsträger geworden sei – jedoch aufgrund mangelnder Professionalisierung und eines nicht vorhandenen typisch mongolischen Angebots zu einem problematischen. Der Schamanismus versprach unter diesen Umständen und aufgrund eines allgemeinen 48 Schlehe, Judith und Weber, Helmut: Schamanismus und Tourismus in der Mongolei, Zeitschrift für Ethnologie 126, 2001, 93-116.

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Ansteigens des Kulturtourismus, oft in Verbindung mit sinnsuchenden Reiseformen, sich als touristische Attraktion etablieren zu lassen. Letzteres geschah, so die Beobachtungen von Schlehe und Weber, in einer aufschlussreichen Spannung: Einerseits hatte das organisierte Tourismusprogramm starke Ähnlichkeit mit einer Mischung aus allem: Folklore, Freilufttheater, Schamanenzeremonie und Discoabend. Andererseits wurden die Organisatoren nicht müde festzuhalten, dass dies nicht als Show miss zu verstehen sei. Es gehe nicht um Geschäfte, sondern um die weltweite Anerkennung der mongolischen Tradition. In dieser Dualität spiegelt sich die ebenfalls zwiefache Zusammensetzung des Publikums aus Ausländern, die unablässig fotografierten und das Ganze als Performance behandelten einerseits, andererseits den Mongolen selbst, die dies als ein religiöses Ritual mit unmittelbarer Bedeutung betrachteten. Die Leugnung der geschäftlichen Interessen, so die Autoren, dient deshalb der Herstellung der Echtheit, die für das Publikum aus der Performance selbst heraus nicht mehr beantwortbar ist. Die Abwesenheit des dazu notwendigen Rollenmodells, das die Echtheit der Trance definieren würde, wirft daher die Aufmerksamkeit des Publikums auf die Person des Schamanen zurück und bleibt einem subjektiven Urteil überlassen. Schlehe und Weber schlussfolgern, dass die Erschaffung von Traditionen in der Mongolei geprägt sei von der Kreativität der Neuanfänge und der sie begleitenden Widersprüche. Bewegte Lebensläufe, Komplexität und Hybridität seien Normalität geworden. Die Suche nach neuer kultureller Identität geschehe folglich in Verbindung mit translokalen Strukturen und globalen Interessen, so dass von einer Doppelbewegung der Öffnung zum kapitalistischen Westen bei gleichzeitigem Rekurs auf die eigene kulturelle Identität gesprochen werden könne. Die Autoren haben in ihrem Aufsatz erhellende Beobachtungen geliefert, in welchen Spannungsfeldern und Dynamiken die Neuschöpfung eines Selbstverständnis unter veränderten soziopolitischen Bedingungen vonstatten geht. Aufgrund seiner Kürze haben sie sich eher auf Deskriptionen beschränkt und diese nur an einzelnen Stellen mit kulturwissenschaftlichen Theorien in Verbindung gebracht. Dennoch eröffnet der Beitrag wichtige Perspektiven für eine Untersuchung ähnlicher Phänomene in der Republik Tyva. Diese betreffen v.a. die Veränderungen des Ritualpublikums hin zu einer hybriden Zusammensetzung aus Akteuren mit je unterschiedlichen Dispositionen und Erwartungshaltungen. Trotz oder gerade wegen postmoderner Partikularisierungen der einzelnen Weltanschauungen hat sich in diesem Zusammenhang der Diskurs um Authentizität als beständig weiter wirksam erwiesen. Und schließlich sollte aus dem Dargelegten festgehalten werden, dass eine Rekonstruktion des Lokalen gegenwärtig nicht mehr allein aus sich heraus verstanden werden kann, im Besonderen bzgl. schamanischer Traditionen auch nicht beschränkt auf eine Wechselwirkung mit Diskursen der westlichen Esoterik, sondern nur in seiner Interaktion mit je eigengesetzlichen globalen Mechanismen des Tourismus und anderer Wirtschaftszweige. Das haben die Autoren schlüssig

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gezeigt und in Ansätzen auch schon bzgl. der neuen technischen Medien angedeutet, wie es sich in der Ausschreibung der hier verhandelten Rituale im Medium des Internets ablesen lies. Doch zu letzterem existiert eine eigene, umfangreichere Studie und es lohnt, diese nun im Anschluss separat zu erörtern. 2.1.4.2 Schamanismus und die neuen technischen Medien Der Bedeutung der neuen Medien bei der Konstruktion der Identität koreanischer Schamanen ist Dirk Schlottmann in seiner Studie ‚Koreanischer Schamanismus im neuen Millenium‘49 auf den Grund gegangen. Ihn interessieren Interaktionen, Veränderungen und Anpassungsprozesse des koreanischen Schamanismus in der modernen Gesellschaft. Aufbauend auf einer zweijährigen Feldstudie v.a. in der Hauptstadt Seoul, die als Sitz der Medienindustrie das wichtigste internationale Podium repräsentiert, skizziert er Transformationen im urbanen Milieu und Wechselwirkung mit globalen Aspekten. Sein erklärtes Ziel ist es dabei, nicht Abweichungen von der authentischen Tradition aufzudecken, sondern der Versuch, Relevanz und Sinn schamanischer Praxis in der Gegenwart zu verstehen. Letzteres gelingt ihm z.B. wenn er traditionelle Welterklärungsmodelle und Schamanismus als Reaktion auf Ohnmachtserfahrungen in der koreanischen Wirtschaftskrise beschreiben kann. Die Selbstdefinition koreanischer Schamanen biete hierzu eine kulturelle Grundlage, in der sich Anhänger unterschiedlicher Herkunft als Gruppe erfahren können und während Schamanenperformanzen eine kollektive Identität etabliert wird. Schlottmann fokussiert seine Studie daher auf die öffentliche Wahrnehmung von Schamaninnen und deren Suche nach neuen gesellschaftlichen Rollen sowie Methoden der Selbstdarstellung. Qua Analysen von Webpräsenzen, Selbstdarstellungen im Internet und virtueller Kommunikationsräume wie guestbooks, schamanischer Internetcafés und virtueller communities zeigt er die damit einhergehenden neuen Selbstvermarktungsstrategien, Zielgruppen, und Reorientierungen an urbanen Gruppen sowie deren diffuse Interessen auf. Diese Veränderung des ‚Klientels‘ – vom Autor als Ritualindustrie bezeichnet – aus Journalisten, Akademikern, Fotografen, Künstlern und Geschäftsleuten, zeitigt nicht nur Prozesse der Kommerzialisierung und Folklorisierung des koreanischen Schamanismus sondern schaffe auch neue Podien der Selbstdarstellung. Entscheidend für den Erfolg von koreanischen Schamaninnen sei daher ihre Kompetenz sowohl in der Wechselwirkung mit den Medien als auch akademischer Kreise. Medienpräsenz geschickt aufzubauen, langfristige Beziehungen zu Akademikern zu pflegen, performativ wirksame Charismen und ästhetische Qualitäten zählten daher zu den Merkmalen bekannter Schamaninnen, denen es gelingt, ein Identifikationspotenzial aufzubauen und ekstatische Momente als medienwirksames Mittel einzusetzen. Dabei sei diese

49 Schlottmann, Dirk: Koreanischer Schamanismus im neuen Millenium, Frankfurt 2007.

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Entwicklung nicht auf den innerkoreanischen kulturellen Kontext beschränkt, sondern stehe in der Spannung zwischen nationalen Vorstellungen und internationalen Erwartungshaltungen, innerhalb deren Konstruktionsprozesse der Grenzziehungen stattfänden. Doch stehe der koreanische Schamanismus noch in einer zweiten Spannung. Neben performativen Inszenierungen und medienwirksamen Auftritten sei der Alltag der Schamaninnen nämlich ebenso von ihrer Aufgabe der Seelsorge geprägt. Dies führe mitunter auch zu Konflikten, wenn strittig ist, ob bestimmte Rituale nun wirklich für die Dorfgemeinde durchgeführt werden oder nur für die Medien. Damit einher ginge auch eine potentielle Binnendifferenzierung zwischen lokalen und Starschamanen, Diskurse um den Erhalt ‚authentischer Rituale‘ und der Frage ob bestimmte Adaptionen als Degeneration zu verstehen seien. Schlottmann resümiert seine Beobachtungen in Korea im Bild eines ethnisch-nationalen Selbstfindungsprozesses, der Konstruktion einer Gesellschaft in der Abgrenzung vom Anderen. Schamanismus als urkoreanisches Kulturgut werde zum Symbol gegen kulturelle Globalisierung, und erlebe seine Renaissance daher in enger Verbindung mit der kollektiven Identität, die er hervorbringt. Die damit korrelierte Entstehung einer Ritualindustrie sei als Konsequenz der politisch motivierten Unterstützung des koreanischen Schamanismus im Sinne einer performing art zu verstehen. Neben ihrer so eingerichteten öffentlichen Funktion hätten die Schamaninnen aber weiter ihre Funktion als spirituelle Berater. Qua dieses Amtes böten sie den Beobachtungen Schlottmanns zufolge keine Flucht vor der Alltagswirklichkeit in eine diffuse spirituelle Welt, sondern förderten eine aktive Auseinandersetzung mit den gestellten Problemen, Reintegration in die Gesellschaft und kollektive Krisenbewältigungsformen. Dem Wertepluralismus und der fragmentierten Sozialwelt der Moderne werde so in Form traditioneller Konzepte ein alternatives Deutungssystem gegenübergestellt. Dass dies unter zunehmender Zuhilfenahme neuer Kommunikationsmedien geschehe, ist nach Ansicht des Autors ein Zeichen der Anpassungsfähigkeit. Die so ermöglichte Ausdehnung des Handlungsspielraums der Schamanen über die Landesgrenzen hinweg begünstige nämlich darüber hinaus lokale Bezüge und kulturelle Identitäten auf neue Weise und schaffe neben hybriden Ritualformen gleichzeitig eine Wiederbelebung lokaler und glokaler Schamanenkultur. Schlottmanns Studie ist spannend, da er unerschrocken Ernst macht mit der Forderung, die Suche nach dem echten, authentischen und traditionsgemäßen Schamanen aufzugeben. Er befreit sich dadurch zu einem unverstellten Blick auf Veränderungsprozesse die durch die zunehmende Medialisierung der modernen Erfahrungswelt ausgelöst werden. Dass jedoch eine Referenz auf Archaizität, in diesem Fall der Ur-Koreanizität einer Tradition nicht bruchlos eingefügt werden kann in das System der zeitgenössischen Medienindustrie, entgeht Schlottmann nicht und macht seine Untersuchung umso gewinnbringender. Die sich intensivierende Präsenz der technischen Medien kann als globales Dispositiv begriffen werden, das erwartungsgemäß auch Transformationsprozesse in Tyva prägt. Zu unter-

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suchen wird sein, wie derartige globale Strukturen jeweils kulturspezifisch interpretiert werden bzw. welche Antworten und Reaktionen auf sie gefunden werden. Das Buch Schlottmanns gibt zur Eruierung dieser Fragestellungen wichtige Hinweise. Es zeigt Querverbindungen zwischen nationalen Identitätsbildungsprozessen, Diskursen der Medien und der Rolle religiöser Traditionen innerhalb dieses Gefüges auf. Obwohl die Ergebnisse Schlottmanns als selbstredend aufgrund der kulturellen Differenz Koreas zu Sibirien nicht unbesehen übernommen werden können, stellt seine Studie einen methodologischen Vorstoß dar, der im Besonderen auf Gebieten wertvolle Hilfe leistet, die bzgl. des zu applizierenden Forschungsdesigns und methodischen Instrumentariums durch ein hohes Maß an Unsicherheit gekennzeichnet sind. 2.1.4.3 Schamanismus und Politik Am Beispiel der sibirischen Teilrepublik Sakha und der Biografien zweier Schamanen legt Marjorie Mandelstam Balzer die Querbeziehungen zwischen der Rekonstruktion schamanischer Traditionen und ihrer politischen Implikationen dar. Die Helden ihres Aufsatzes ‚Two Urban Shamans: Unmasking Leadership in Fin-desoviet Siberia’50 sind Andrei und Vladimir – zwei Zeitgenossen der postsowjetischen Suche nach einer neuen politischen und kulturellen Identität Sakhas. Beide verstünden sich als Schamanen, doch auf je unterschiedliche Weise. Während Andreis Weg vom Theaterregisseur über den Parlamentsabgeordneten hin zur Gründung einer kulturellen Wiederbelebungsbewegung führte und in einer Assoziation für Volksmedizin und Schamanismus endete, sah Vladimir seine Mission darin, als Schamane Séancen zu geben, eine Kampagne für die Legitimation des Schamanismus zu beginnen, professionelle Heiler zusammen zu bringen und eine Schule für zukünftige Schamanengenerationen zu gründen. Der Lebensweg beider unterschied sich und doch liessen sich Gemeinsamkeiten benennen: Beide begegneten einer Situation der Spannung zwischen alten und neuen Werten auf kreative Weise, indem sie die Essenz der Tradition zu greifen versuchten ohne diese wortwörtlich zu nehmen. Vladimir, wenn er seine Tätigkeit als Schamane in Kategorien von Bioenergie, extrasensualen Fähigkeiten und der Gruppenhypnose deutete. Andrei, wenn er in Felsenkunst die türkischen Wurzeln seiner Kultur entdeckte, eine Philosophie der Kultur Sakhas vertrete und nach transkulturellen Vergleichsmöglichkeiten suche. Beide sähen sich mit Paradoxien in ihren Arbeiten konfrontiert. Beide seien in ihrem Wirken nicht unumstritten. Beide nutzten, um ihre Ziele zu erreichen, Kontakte zu Ausländern und internationale Netzwerke.

50 Mandelstam Balzer, Marjorie: Two Urban Shamans: Unmasking Leadership in Fin-desoviet Siberia, in: Perilous States. Conversations on Culture, Politics, and Nation, hg. v. Geroge E. Marcus, Chicago and London 1993, 131-164.

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Balzer Mandelstam zieht aus ihren Beobachtungen die Schlussfolgerung, dass für die Identitätssuche der post-sowjetischen Gesellschaften Spiritualität insofern eine zentrale Rolle einnahm, als diese sich nach einer Rekonstruktion des Heiligen sehnten. Als entscheidend sieht sie in diesem Zusammenhang auch die Unterscheidung zwischen nationalistischen und ethnischen Bewegungen. Im Gegensatz zur ersteren bedeutete letztere nämlich keine Paralysierung in der Nostalgie. Grenzbildungen durch konstruierte Wir-Sie-Dualitäten spielten dabei sicherlich eine Rolle, jedoch in der Weise, dass diese die Bereitschaft einschlössen, äußere Einflüsse zu integrieren. Führungspersönlichkeiten dieses Prozesses und mithin Schamanen seien umstritten und erfuhren ihre multipolare Identität schmerzvoll. Die Attribuierung als weiße oder schwarze Schamanen sei jedoch schon immer ein Machtdispositiv gewesen und wäre es auch gegenwärtig, das Autoritäten und Legitimitäten schaffen bzw. dekonstruieren wolle. Als Botschaft anti-sowjetischer politischer Selbstbestimmung avancierte der Schamanismus so aufgrund seines Erbes als vom Kommunismus verfolgte Tradition und seiner inhärenten Spiritualität zu dessen idealem Medium. Dem widerspreche auch nicht, dass der Schamanismus neue institutionelle Formen wie die einer Volksmedizin-Assoziation annimmt, neue kreative Wege finde, sein Publikum anzusprechen, wie Videos über schamanische Philosophie oder TVSéancen und mit der new-age-Bewegung in synkretistische Wechselwirkung trete. Im Rahmen einer neuen politischen Situation ausgelöst durch den Zusammenbruch der Sowjetunion habe das Neuverstehen der Tradition erstmals seit 1920 die Voraussetzungen geschaffen für einen Wandel der politischen Selbstbestimmung. 2.1.4.4 Institutionalisierung des tyvanischen Schamanismus Aus obiger Betrachtung des Verhältnisses der schamanischen Wiederbelebung zu politischen Fragestellungen klang bereits die Bedeutung des post-sowjetischen Phänomens der Institutionalisierung und organisatorischen Materialisierung des Schamanismus an. Während Balzer Mandelstam dies für die Republik Sakha skizziert hat und Johansen letztere als eine Entwicklung vom Schamanismus zum Neoschamanismus beschrieb, existieren neben anderen partikularen Hinweisen v.a. drei Referenzwerke, die sich mit den involvierten organisationstheoretischen Prozessen auseinandersetzen: Andrei Znamenski im letzten Kapitel seines Buches ‚The Beauty of the Primitive‘51, in welchem er den Fokus seiner Kulturgeschichte der Schamanismus-Metapher zurückwendet auf den Kontext dessen erster Applikation Sibirien. Zweitens Valentina Kharitonova, welche in ihrem Werk ‚Phönix aus der Asche?‘52 v.a. aus Sicht der Psychologin die Organisationenbildung als Teil der 51 Znamenski, Andrei A.: The Beauty of the Primitive. Shamanism and the Western Imagination, Oxford 2007. 52 ɏɚɪɢɬɨɧɨɜɚ, ȼ. ɂ.: Ɏɟɧɢɤɫ ɢɡ ɩɟɩɥɚ? ɋɢɛɢɪɫɤɢɣ ɲɚɦɚɧɢɡɦ ɧɚ ɪɭɛɟɠɟ ɬɵɫɹɱɟɥɟɬɢɣ, Ɇɨɫɤɜɚ 2006.

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Transformationsprozesse in einer Übergangsperiode darstellt. Und schließlich nochmals Galina Lindquist mit ihrem Aufsatz ‚Healers, Leaders and Entrepreneurs: Shamanic Revival in Southern Siberia‘53, der eine Deutung ausgehend von der Theorie Csordas‘ über Charakteristiken religiöser Bewegungen unter Bedingungen der Postmoderne liefert und dabei Schamanismus als soziales Feld beschreibt. V.a. die beiden ersten sollen hier diskutiert werden, da Lindquists Ansatz schon im Kapitel zu den Beobachtungen nichtlinearer Verschränkungen ausführlich entfaltet wurde. Znamenskis Werk zählt – wie schon eingangs erwähnt – neben Hutton und Stuckrad zu denjenigen historisch-kulturgeschichtlichen Untersuchungen, die eine Forschungsgeschichte des Schamanismus als Interaktionsgeschichten mit der westlichen Wissenschaft in der Dialektik zwischen Faszination und Ablehnung schreiben. In seiner Frage nach der Einführung des Schamanismusbegriffes in den Westen und dessen sich verändernde Wahrnehmungen untersucht er die Verschränkungen der wissenschaftlichen Zugänge mit ihrem Gegenstand und gelangt schließlich bis zur gegenwärtigen Situation in Sibirien. Der Autor wird damit seinem Anspruch gerecht, Schamanismus nicht nur als Metapher sondern auch als lebendige Praxis und damit Teil einer kulturellen Wiederbelebung beschreiben zu wollen. Im Sinne der letzteren sei Schamanismus seit den 90ern zum ‚toolkit‘ der indigenen Kulturarbeiter geworden. Als Beispiel führt Znamenski u.a. Mongush Kenin-Lopsan an, die treibende Kraft hinter der Wiederbelebung in Tyva. Letzterer habe vergleichbar den Assoziationen von Schamanen in den Republiken Sakha und Burjatien ein System etabliert, um innerhalb der blühenden Vielfalt neuberufener Schamanen ‚wahre‘ und ‚falsche‘ zu unterscheiden, sowie seine eigene Organisation gegen andere, konkurrierende abzusetzen: Ein Monopol des wahren Schamanismus. Typisches Merkmal dieser Organisationen sei darüber hinaus ihr kosmopolitischer Ansatz: Indem sie Wissenschaftler aus Russland und Europa einladen, erhöhten sie ihre Popularität in Tyva selbst. Die Kultivierung von Kontakten zum Ausland sei folglich unabdingbares Charakteristikum. Geleitet würden derartige Organisationen bezeichnenderweise von Intellektuellen und schamanisch Praktizierende zugleich – fleißigen Lesern, die ihren schamanischen Ruf in Form ihrer künstlerischen Verwirklichung erhielten und sich das esoterische Vokabular der Energien, Chakren, des Karma und Astralleibes zu eigen machten. Neben ihrer Funktion der Heilung der Lokalbevölkerung fungierten die schamanischen Organisationen daher auch als mystische Zentren für spirituell Suchende aus dem Westen. Wechselseitige Befruchtungen von spirituellen Praktikern des Westens und Sibiriens seien die Folge, wenn einerseits Michael Harner mit seinem core-shamanism ein ‚Skelett des Scha-

53 Lindquist, Galina: Healer, Leaders and Entrepreneurs: Shamanic Revival in Southern Siberia, in: Culture and Religion, Vol. 6, No. 2, July 2005, 263-285.

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manismus‘ nach Tyva zurückbringt, andererseits das Idiom des sibirischen Schamanismus die westliche new age Szene betritt und Gruppen in USA plötzlich ‚native siberian shamanism‘ studieren. Znamenskis Beitrag ist insofern von hohem Interesse, da er – im Gegensatz zu den nur marginalen Bezugnahmen Huttons oder Stuckrads – auf gegenwärtige Phänomene eine Rückbindung leistet seines allgemeinen Leitgedankens, die Geschichte der Schamanenforschung quer zu lesen, hin auf tatsächliche Prozesse sozialer Interaktion. Dies ist für die vorliegende Arbeit nicht nur deshalb entscheidend, da gerade letztere im Zentrum der Untersuchung stehen, sondern auch, weil dadurch ein Moment der Überprüfbarkeit generiert wird. Kulturwissenschaftliche Kategorien- und Theoriebildungen können so zwar nicht gemessen jedoch konfrontiert werden mit ihrer Tragfähigkeit zur Beschreibung zeitgenössischer Prozesse. Znamenski zieht seine Linie der kulturgeschichtlichen Faszinationsgeschichte nun zwar bis zur Gegenwart durch, bleibt aber dort noch an vielen Stellen ungenau und liefert keine weiterführenden Modelle der Deutung. Dies ist sicherlich mitunter auf seine Selbstpositionierung zurück zu führen, in der er die primäre Aufgabe sieht, sich von zwei Erblasten loszusagen: „Although I approach their views and experiences seriously, I do not commit myself to judgments about the truth or falsity of a particular scholarly or spiritual path. At the same time, I do have my personal take on the topic. I do not agree that we can dissociate shamanism and spiritual life in general from their contexts, or what Eliade called the ‚terror of history’. Although our spiritualities and beliefs do acquire lives of their own, they carry stamps of our upbringing, the spirit of our time, and our culture […]. I also want to stress that I am not among those academics who look down upon modern Western shamanism as something artificial and imagined in contrast to an ideal, ‚real‘ shamanism found, say among nineteenthcentury Native Siberians or Native Americans. […]. At the same time, I am not a spiritual seeker who experiments with shamanic techniques. I am a sympathetic observer, who does not believe that neo-shamanism, as fuzzy and fluid as it may be, is a spirituality of a lesser caliber than Native American beliefs, Scientology, Catholicism, evangelical Christianity, Wicca, Mormonism, or Hinduism.“54

Als ‚sympathetic observer’ beschränkt sich Znamenski, Beobachtungen zu benennen, und diese sowohl von pejorativen als auch zu engagierten Tendenzen frei zu halten. Während letzterem zu zustimmen ist, bleibt doch das Desiderat einer kulturhermeneutischen Durchdringung der von Znamenski skizzierten Phänomene – und in genau dieser Hinsicht versteht die vorliegende Untersuchung ihre Aufgabe. Bevor damit begonnen wird, soll abschließend noch eine Forschungsarbeit besehen

54 Znamenski, The Beauty of the Primitive, ix; xii.

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werden, die eine Deutung des hier Verhandelten geliefert hat, jedoch aus anderer Perspektive. Valentina Kharitonova, Psychologin der Universität Moskau, beschreibt in ihrem Buch ‚Phönix aus der Asche‘55 die Wiederbelebung des Schamanismus in Sibirien zwar aus – wie sie es nennt – ‚interdisziplinärer‘ Perspektive, doch deutlich geprägt von ihrem Kategorienapparat für ‚psychophysiologische und psychomentale Phänomene‘. Ähnlich wie Znamenski nimmt sie Prozesse der nationalen, kulturellen und religiösen Wiederbelebung in den Blick, die sich um die Idee des Schamanismus organisierten. Schamanische Organisationen seien ihr zufolge nach dem Modell der Sowjetischen Parteigewerkschaften gegründet, fungierten aber faktisch als Heilzentren. Ebenso stellt sie deutliche Tendenzen unter den Intellektuellen fest, die an der Wiederbelebung des Schamanismus wirkten, hin zum New Age und beschreibt den daraus emergierenden Komplex tyvanischer Schamanen, die Seminare in Petersburg und Moskau abhalten, Stadtschamanen die nach Tyva reisen und Schamanenorganisationen, die Kontakte zu metropolitanen Zentren sowie zu ausländischen Eliten aufrecht erhalten. Um sich innerhalb dieser Vielfalt zu orientieren, führt sie aufbauend auf ihrer Theorie der veränderten Bewusstseinszustände mehrere Unterscheidungen ein: Zwischen Schamanen, Schamanisierenden und Schamanisten einerseits, Schamanismus und Schamanentum andererseits. Die erste Triade unterscheidet diejenigen, die die Fähigkeit zur Manipulation der Bewusstseinszustände in vollem Umfang ausgebildet hätten (Schamanen), von denjenigen, die nur in Ansätzen dazu in der Lage seien (Schamanisierende) und drittens von jenen, die nur Klienten derartiger Rituale würden (Schamanisten). Der Unterschied zwischen Schamanismus und Schamanentum betreffe schließlich die Differenz zwischen der Praxis bzw. dem Vollzug schamanischer Handlungen (Schamanismus) und der religiös-mystischen Weltsicht, die dieser zugrunde liege (Schamanentum). Ausgehend von einer derartigen Klassifizierung hält es Kharitonova dann auch für möglich, normative Urteile und Zukunftsprognosen zu geben: In schamanistischen Gesellschaften umfasse die Gruppe der Initiierten nur echte Schamanen und deshalb hänge die Zukunft des Schamanismus auch ab von den tatsächlichen psychophysiologischen und mentalen Kräften der als begabt erkannten Menschen. Nur Menschen, die wirklich über derartige Kräfte verfügten, sollten sich auch der schamanischen Praxis widmen. In Kharitonovas Argumentationsweise sind deutlich die Nachwirkungen eines sowjetischen Forschungsansatzes zu spüren. Denn obwohl religiöse Praxis während der Sowjetzeit aus ideologischen Gründen untersagt war und verfolgt wurde, bestand doch ein naturwissenschaftlich motiviertes Interesse an ‚okkulten‘ Phänomenen. Kharitonova gehört nun mit ihrer offenen Thematisierung des Schamanismus 55 ɏɚɪɢɬɨɧɨɜɚ, ȼ. ɂ.: Ɏɟɧɢɤɫ ɢɡ ɩɟɩɥɚ? ɋɢɛɢɪɫɤɢɣ ɲɚɦɚɧɢɡɦ ɧɚ ɪɭɛɟɠɟ ɬɵɫɹɱɟɥɟɬɢɣ, Ɇɨɫɤɜɚ 2006.

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als Geschehen der Wiedererfindung kultureller Identität klar zur post-sowjetischen Ära der Wissenschaft, doch trägt sie das Erbe einer Suche nach objektivierbaren und mit psycho-technologischen Instrumenten messbaren ‚übernatürlichen‘ Fähigkeiten der Schamanen weiter mit sich. Ihr Begriffssystem der Psychologie der Bewusstseinszustände generiert Deutungen, die jedoch in ihrer impliziten Normativität über das Ziel hinausschießen. Sowohl Znamenskis Selbstzurücknahme als auch Kharitonovas Überbestimmung hinsichtlich des Schamanismus können gesehen werden als Reaktionen auf die unüberschaubare Vielfalt des sozialen Feldes, wie es Lindquist skizziert hat. Während ersterer auf der Stufe einer bloßen Konstatierung von Phänomenen stehen bleibt, macht sich Kharitonova das Feld gefügig, indem sie ihm ihr Raster aufzwingt. Beide Ansätze verfehlen jedoch ihren ‚Gegenstand‘, da Znamenskis Bescheidenheit sich als nur scheinbare entlarvt und Kharitonova eher ihre vorausgesetzten Theoriemodelle verifiziert als den Gegenstand von sich heraus zu verstehen. Beide Wege erscheinen für die vorliegende Arbeit als nicht gangbar, eine genaue Bestimmung der eigenen Methodologie wird daher im Anschluss notwendig sein. 2.1.5 Zusammenfassung Ziel dieses Kapitels war es, eine kritische Wissenschaftsgeschichte der Schamanismusforschung zu schreiben, indem zentrale Forschungsarbeiten markiert und auf ihre jeweiligen eingetragenen Prämissen hin untersucht wurden. Eine Re-Lektüre auf ihre jeweiligen Zielsetzungen und Herangehensweisen an ihren Gegenstand zeigte, dass ihre Ergebnisse von vorauslaufenden Erkenntnisinteressen bestimmt sind. Darüber hinaus verbleiben die meisten Studien auf der Ebene der Benennung von Beobachtungen, und enthalten sich nominell einer Reflexion auf das Verstehen im Rahmen eines kulturwissenschaftlichen Theoriemodells. Von den Feldern vorliegender Arbeiten kamen dabei v.a. drei in den Blick: Empirische Untersuchungen zum Phänomen des modernen westlichen Neoschamanismus, historische und kulturgeschichtliche Untersuchungen, die Forschungsgeschichten des Schamanismus als Interaktionsgeschichten mit der westlichen Wissenschaft schreiben und schließlich ethnologisch-religionswissenschaftliche Studien zu religiösen Wiederbelebungsprozesse in den post-sowjetischen Teilrepubliken Russlands. Vertreter der ersten Gruppe waren Galina Lindquist56 mit ihrer Studie zum schwedischen Neoschamanismus, Merete Demand Jakobsen57 für

56 Lindquist, Galina: Shamanic Performances on the Urban Scene. Neo-Shamanism in Contemporary Sweden, Stockholm 1997. 57 Jakobsen, Merete Demand: Shamanism, Traditional and Contemporary Approaches to the Mastery of Spirits and Healing, New York 1999.

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den dänischen Kontext, Robert Wallis58 für den großbritannisch-nordamerikanisch und Gerhard Mayer59 schließlich für den deutschsprachigen. Die zweite Gruppe der historisch-kulturgeschichtlichen Untersuchungen zur Interaktionsgeschichte mit der westlichen Wissenschaft bildeten Ronald Hutton60, Kocku von Stuckrad61 und Andrei Znamenski62. Unter der Kategorie der Studien zu den Wiederbelebungsprozessen im post-sowjetischen Sibirien wurden Marjorie Balzer Mandelstam63, Ulla Johansen64, Piers Vitebsky65 und Anja Bernstein66 verhandelt. Aus dieser Triade herausgefallen und daher in separater Perspektive bedacht wurden schließlich einzelne, nichtsdestoweniger zentrale Arbeiten von, Judith Schlehe67, Dirk Schlottmann68, nochmals Galina Lindquist69 und Valentina Kharitonova70. Letztere lieferten – im Zusammenhang betrachtet – ein breites Netz von Querverbindungen für die in der vorliegenden Arbeit bearbeitete Fragestellung. So kamen die Wechselwirkungen zwischen der Rekonstruktion schamanischer Traditionen und des Tourismus, der neuen technischen Medien, internationaler Forschungsreisen, der Politik sowie die in diesen Interferenzprozessen jeweils angelegten mannigfaltigen Sinn58 Wallis, Robert: Shamans / Neo-Shamans. Ecstasy, Alternative and Contemporary Pagans, London 2003. 59 Mayer, Gerhard: Schamanismus in Deutschland. Konzepte – Praktiken – Erfahrungen, Würzburg 2003. 60 Hutton, Ronald: Shamans. Siberian Spirituality and the Western Imagination, London 2001. 61 Stuckrad, Kocku von: Schamanismus und Esoterik. Kultur- und wissenschaftsgeschichtliche Betrachtungen, Leuven 2003. 62 Znamenski, Andrei A: The Beauty of the Primitive. Shamanism and the Western Imagination, Oxford 2007. 63 Mandelstam Balzer, Marjorie: Two Urban Shamans: Unmasking Leadership in Fin-desoviet Siberia, in: Perilous States. Conversations on Culture, Politics, and Nation, hg. v. Geroge E. Marcus, Chicago and London 1993, 131-164. 64 Johansen, Ulla: Vom Schamanismus zum Neoschamanismus, in: Jahrbuch des Museums für Völkerkunde zu Leipzig, Band XLII, Münster 2004, 65-76. 65 Vitebsky, Piers: Reindeer People. Living with Animals and Spirits in Siberia, Boston 2005. 66 Bernstein, Anya: In Pursuit of the Siberian Shaman. www.cinetrance.com/in pursuit.htm. 67 Schlehe, Judith und Weber, Helmut: Schamanismus und Tourismus in der Mongolei, Zeitschrift für Ethnologie 126, 2001, 93-116. 68 Schlottmann, Dirk: Koreanischer Schamanismus im neuen Millenium, Frankfurt 2007. 69 Lindquist, Galina: The Quest for the Authentic Shaman. Multiple Meanings of Shamanism on a Siberian Journey, Uppsala 2006. 70 ɏɚɪɢɬɨɧɨɜɚ, ȼ. ɂ.: Ɏɟɧɢɤɫ ɢɡ ɩɟɩɥɚ? ɋɢɛɢɪɫɤɢɣ ɲɚɦɚɧɢɡɦ ɧɚ ɪɭɛɟɠɟ ɬɵɫɹɱɟɥɟɬɢɣ, Ɇɨɫɤɜɚ 2006.

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produktionen, Bedeutungsaushandlungen und Verschränkungen in den Blick. Diskutiert wurden Spannungen zwischen lokalen und globalen Diskurskräften, die machtgebundene Refixierung des scheinbar frei fließenden Signifikanten ‚Schamanismus‘ unter dem Kräftefeld einer Vielzahl sozialer Akteure sowie multirelationaler Beziehungsgefüge zwischen Forschern und Schamanen. Und schließlich haben die Vorläufer hingewiesen auf Zwischenverbindungen von nationalen Identitätsbildungsprozessen, Diskursen der Medien und der Rolle religiöser Traditionen innerhalb dieses Gefüges sowie der damit einhergehenden Transformation des Ritualpublikums und Applikation neuer Kommunikationsmedien. Die Forschungsliteratur bildet somit eine Basis für die vorliegende Arbeit, insofern sie Sensibilität schafft für besondere Aufmerksamkeitsbereiche und Orte der Diskursverdichtung markiert. Eine methodische Schwierigkeit, das wurde bereits in der Einleitung angemerkt, stellt jedoch ihre oft nur partielle methodologische Reflexivität sowie Kohärenz dar. Als problematisch waren daher Tendenzen der Essentialisierung des Schamanismus zu kritisieren, sei es durch Projektion von Beobachtungen gegenwärtiger Gruppen auf die gesamte Geschichte der westlichen Begegnung mit dem Schamanismus, sei es durch Komplexitätsreduktion des westlichen Neoschamanismus auf Gruppen die um Carlos Castaneda oder die Foundation for Shamanic Studies entstanden sind oder sei es in umgekehrter Bewegung durch implizite normative Setzungen, die (alte) ethnologische Quellen aus der Zeit der Jahrhundertwende als Gradmesser für zeitgenössische Phänomene setzen. Derartigen Generalisierungen gegenüber war es notwendig, ihre nur relative Gültigkeit aufzuzeigen und sowohl auf die ausgeprägte Binnendifferenzierung des westeuropäischen Neoschamanismus als auch die Bedeutung nichtlinearer Verschränkungen zwischen den Kontexten hinzuweisen. Als methodisch nicht weiterführend zu bezeichnen waren außerdem Modelle, die die Komplexität der Verhältnisse dadurch reduzieren wollen, dass sie mit Hilfe eines Kategorienapparats für ‚psychophysiologische und psychomentale Phänomene‘ aufbauend auf einer Theorie veränderter Bewusstseinszustände letztlich normative Unterscheidungen zwischen Schamanen, Schamanisierenden und Schamanisten bzw. Schamanismus und Schamanentum treffen. Die Sehnsucht nach einer Fassbarmachung des Gegenstandes als naturwissenschaftlich objektiv messbares ‚okkultes‘ Phänomen ‚übernatürlicher‘ Fähigkeiten der Schamanen muss enttäuscht werden. Aufgabe des folgenden Kapitels wird es daher sein, für die hiesige Arbeit den methodischen Zugriff so abzustecken, dass weder die eigene Relativität und standortbedingte Verwobenheit in den Gegenstand durch Konstruktion einer Scheinobjektivität verdunkelt, noch der Gegenstand a priori einer Zurechtformung an vorgeprägte statische Horizonte unterworfen wird. Notwendig ist die Entwicklung einer klar umrissenen und selbstreflexiven Herangehensweise, die sich primär am Gegenstand selbst ausrichtet und das eigene Erkenntnisinteresse als ebenso kontingent konstruiert anerkennt wie das zu untersuchende Phänomen selbst.

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2.2 M ETHODISCHE R EFLEXIONEN „Michel Foucault ist schwer zu fassen.“71

2.2.1 Religionswissenschaft als verstehende Soziologie als Kulturhermeneutik Religionswissenschaft – und hierbei sollte es sich wohl schon bei der Behauptung eines Singulars um eine nicht haltbare These handeln – ist in der Pluralität der Formen, in der sie betrieben wird, keineswegs ein einheitlich zu bestimmendes Unterfangen. Die Mannigfaltigkeit ihrer Ansätze, ihre Ausdifferenzierung von methodologischen Orientierungen und Erkenntniszielen ist eine adäquate Response auf die ihrem Gegenstand innewohnende phänomenale Vielfalt. Dennoch kann ein Grundmerkmal zumindest verantwortlicher Religionswissenschaft benannt werden: Religionswissenschaft sollte selbstreflexiv sein. Das Anliegen der nun folgenden Überlegungen wird es daher sein, Rechenschaft abzulegen über die eigenen Voraussetzungen und erkenntnistheoretischen Annahmen. Eine derartige Reflexion auf die Methode sollte jedoch nicht verstanden werden als die Entfaltung der Werkzeuge und Instrumente, die einen analytischen Zugriff auf den Gegenstand erlauben, dessen Handhabbarmachung, Zerlegung und Zurechtlegung ermöglichen. Vielmehr will sie in Form eines rekursiven Prozesses der Bewusstmachung und Bewussthaltung des Charakters des eigenen Tuns zuarbeiten. Methodische Reflexionen nehmen die Verwiesen- und Verwobenheit des Erforschens auf und mit seinem Gegenstand in den Blick und zielen so auf Anerkennung seiner unauflöslichen Verstrickungen. Eine derartige Selbstreflexion soll aber auch nicht bei sich selbst stehen bleiben. Denn dies wäre dann doch wieder nichts anderes als die Spiegelung des Selbst im Gegenstand – womit man ihn gerade verfehlen dürfte. Selbstreflexion wird daher hier verstanden als die weiteste mögliche Offenlegung der eigenen Vorannahmen, der historisch bedingten Gebundenheiten im wissenschaftlichen System und der angestrebten Erkenntnisziele. Es wird davon ausgegangen, dass es sinnvoller ist, Beschränkungen, welche aus der eigenen Standortgebundenheit und der darin inkludierten Prämissen resultieren, anzuerkennen, als ein unter dem Deckmantel einer wie auch immer rationalisierten Objektivität Verstrickungen und bleibende epistemologische Differenzen zu verschleiern. Welches Verständnis von Religionswissenschaft wird nun hier zu tragen kommen? Religionswissenschaft wird im Rahmen dieser Untersuchung verstanden werden als sozialwissenschaftlich orientierte Kulturwissenschaft. Dies impliziert im Besonderen, dass ihr Gegenstand als nicht in positivistisch-cartesianischer Weise gegeben vorausgesetzt wird. Grundlegende Annahme eines solchen nicht71 Sarasin, Philipp: Michel Foucault zur Einführung, Hamburg 2005, 9.

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positivistischen Zugangs ist hierzu, dass dieser keinen Selbstentzug vor den Forderungen nach methodischer Überprüfbarkeit darstellt, sondern gerade als Zugangsform gesehen werden muss, die dem Gegenstand gerechter zu werden vermag. Affirmativ heißt dies, dass es Religionswissenschaft als Sozialwissenschaft mit dem Deuten von Gedeutetem zu tun hat. Die sozialen Phänomene, die hier unter der Perspektive der Religion untersucht werden, sind bereits Auslegungen, in der Tradition von Schütz ‚Konstrukte erster Ordnung‘. Aufgabe der Sozialwissenschaft ist es, davon ausgehend, in Spannung zwischen Alltagsdeutung und Fremdwerden dieser Deutungen, Konstrukte zweiter Ordnung zu bilden. Es handelt sich daher um einen grundlegend hermeneutischen Zugang, der hier zur Anwendung kommen wird. Um möglichen Bedenken entgegenzuwirken, sei hier vorweg vermerkt, dass es sich jedoch nicht um einen derartigen hermeneutischen Zugang handelt, der sich einen homogenen lebensweltlichen Zusammenhang in Form eines geteilten wirkungsgeschichtlichen Horizontes und eines darin verorteten zentrierten Erkenntnisund Verstehenssubjektes zur Voraussetzung macht sowie auf aneignendes Verstehen zielte. Vielmehr wird hermeneutisch hier im Sinne eines grundsätzlichen Vorauslaufens des Gedeutetseins aller Wirklichkeit verstanden. Auch wenn damit kein klar umrissenes methodologisches Programm benannt werden kann, so ist es doch aus diesem Grund das Projekt einer Kulturhermeneutik, welches sich am gegebenen Gegenstand bewähren soll. Da es kulturelle Austauschprozesse zweier Kontinente sind, die hier unter der Perspektive der Religion untersucht werden, sind neben der kategorischen hermeneutischen Verfasstheit die Frage der Interkulturalität, des Fremdverstehens sowie Konzepte der Globalisierung zu thematisieren. Der prinzipielle Vorbehalt gegen die eigene Methode, welcher diese als bleibend kontingent und partikular ausweist und damit den Verzicht auf jegliche Form privilegierter Deutungen impliziert, erfährt dadurch nochmals eine qualitative Verschärfung: Können schon die eigenen Deutungen als nicht gegeben vorausgesetzt werden, ist das Selbstverstehen schon durchsetzt von Sich-Entziehendem, so müssen aufgrund der Vervielfachung der Übersetzungsverhältnisse und der Mehrdimensionalität der damit einhergehenden epistemologischen Brüche in interkulturellen Relationen das Fragen des Forschers kontinuierlich selbstreflexiv eingeholt und in den Erkenntnisbildungsprozess inkludiert werden. Zunächst ungewöhnlich anmutend und von vielerlei Seite in seiner Realisierbarkeit bestritten, sollen hierzu Perspektiven einbezogen werden, die der Diskursanalyse entlehnt sind. Im Besonderen einer Diskursanalyse in ihrer wissenssoziologischen Ausrichtung, welche in ihrem Blick geschärft und sensibilisiert wurde auf Phänomene interkultureller Translation. Warum sich eine derartig verstandene Diskursanalyse gerade als Mittel der Religionswissenschaft ausweist, die auf verschiedenen Ebenen anzutreffenden, konstitutiven Verschränkungen von Wissenschaft und ihrem Gegenstand sichtbar zu machen, soll im Folgenden erörtert werden.

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2.2.2 Wissenssoziologie und Diskursanalyse Als interpretatives Paradigma hat die verstehende Soziologie in Abgrenzung zu einem cartesianischen Wissenschaftsverständnis die sozialwissenschaftliche Hermeneutik begründet. In der Tradition Webers stehend ist sie grundsätzlich darauf bedacht, „soziales Handeln deutend [zu] verstehen und dadurch in seinem Ablauf und Wirkungen ursächlich [zu] erklären“72. Da die verstehende Soziologie ausgehend von diesem Grundsatz verschiedene Formen angenommen hat, beziehe ich mich in ihrer konkreten Ausgestaltung auf den Ansatz Hans-Georg Soeffners. In seinem Buch ‚Auslegung des Alltags – Der Alltag der Auslegung‘ hat er nicht nur verschiedene prinzipielle Aspekte einer sozialwissenschaftlichen Hermeneutik entfaltet, sondern eine für die vorliegende Untersuchung im Besonderen relevante Verhältnisbestimmung der wissenschaftlichen Interpretationsweisen und Formen alltäglicher Interpretation reflektiert. Letztere skizziert er in der Spannung zwischen Vorordnung und seiner Funktion als Ausgangspunkt einerseits, Verfremdung und Distanzgewinn andererseits. In welchem Sinne das Auslegen und Deuten alltägliche Fähigkeiten repräsentieren und so zur Grundlage wissenschaftlicher Interpretation werden, benennt er folgendermaßen: „Das (sinnhaft) Soziale in all seinen Erscheinungsformen ist implizit oder explizit zumindest bereits ausgelegt und gedeutet, wird implizit oder explizit zumindest jeweils von denen gewusst, die diese Erscheinungsformen hervorbringen: das von den Soziologen deutend zu verstehende und zu erklärende Handeln ist bereits gedeutet und verstanden. Darüber hinaus steht das Gedeutete und Verstandene zumeist bereits im Dienst alltäglicher Erklärungszusammenhänge. - Die in wissenschaftlicher Perspektive und Einstellung erarbeiteten Modelle und Konstruktionen ‚zweiter Ordnung‘ (Schütz) haben es sowohl material als auch methodisch nicht nur mit der Rekonstruktion und Deutung der alltäglichen Konstruktionen ‚erster Ordnung‘ zu tun, sondern sie basieren auch darauf.“ 73

Andererseits führt die Inklusion des Deuteprozesses selbst in die Reflexion zu einer notwendigen Distanzierung: „Es geht also nicht nur darum, das implizit und intersubjektiv bereits Gedeutete und Verstandene rekonstruktiv und objektivierend zu deuten, zu verstehen und in seinen Bedingungen und Folgen zu erklären, sondern auch darum, die Arbeitsweise und die Verfahren des Deutens 72 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, Tübingen 5

1972, 1.

73 Soeffner, Hans-Georg: Auslegung des Alltags – Der Alltag der Auslegung. Zur wissenschaftlichen Konzeption einer sozialwissenschaftlichen Hermeneutik, Konstanz 22004, 12.

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und Verstehens selbst zum Gegenstand der Analyse zu machen. Dabei bewegt man sich – auch in wissenschaftlicher Einstellung – nicht gegenüber einer weitgehend symbolisch ausgedeuteten Welt, sondern in ihr. Dennoch und obwohl wir in dieser Welt aufgewachsen, damit Einheimische in ihr sind – und mit einigem Geschick als Alltagsmenschen auch bleiben können - , wird uns in wissenschaftlicher Perspektive das bereits Gedeutete deutungsbedürftig, das Erklärte erklärungsbedürftig, das Vertraute fremd [...]. Das wissenschaftlich angestrebte Ziel hat nur noch wenig mit der Pragmatik des Alltagslebens zu schaffen.“74

Deutlich wird, dass es sich beim Verhältnis zwischen Sozialwissenschaft und gesellschaftlicher Alltagsdeutung um eine dialektische Verschränkung handelt. Beide sind weder als identisch noch als unabhängig voneinander zu denken. Deutlich wird auch, dass dem Forscher bereits das Selbstverstehen fremd werden muss – und diese Verfremdung wird wie bereits eingangs erwähnt durch die Reflexion auf die Möglichkeiten und Grenzen des Fremdverstehens noch einer Intensivierung bedürfen, welche später zu erläutern sein wird. Soeffner betont nun, dass sich der Wissenschaftler mit seiner spezifischen Interpretation nicht in eine diametrale Außenposition zu dem von ihm untersuchten Gegenstand begeben kann, sondern mit eben seiner Interpretation auch innerhalb des Universums an Interpretationen verbleibt, welches Wirklichkeit konstituiert. Stellt man nun genau jene Frage nach der Wechselwirkung wissenschaftlicher und anderer Deutungen, zielt man auf die Interaktionsdynamik verschiedener Interpretationsmodelle, so erscheint ein Anschluss an die Diskursanalyse – nicht wie gegenteilige Meinungen behaupten – unmöglich, sondern geboten: „Alles was wir wahrnehmen, erfahren, spüren, auch die Art, wie wir handeln, ist über sozial konstruiertes, typisiertes, in unterschiedlichen Graden als legitim anerkanntes und objektiviertes Wissen vermittelt. Dieses Wissen ist nicht auf ein ‚angeborenes‘ kognitives Kategoriensystem rückführbar, sondern auf gesellschaftlich hergestellte symbolische Systeme. Solche symbolischen Ordnungen werden überwiegend in Diskursen gesellschaftlich produziert, legitimiert, kommuniziert und transformiert; sie haben gesellschaftlich-materiale Voraussetzungen und Folgen. Diskursanalyse ist ein Forschungsprogramm bzw. eine Forschungsperspektive, die ihr Erkenntnisinteresse auf die Analyse dieser Zusammenhänge richtet. Der wissenssoziologischen Diskursanalyse geht es darum, Prozesse der sozialen Konstruktion, Objektivation, Kommunikation und Legitimation von Sinn-, d.h. Deutungs- und Handlungsstrukturen auf der Ebene von Institutionen, Organisationen bzw. sozialen (kollektiven) Akteuren zu rekonstruieren und die gesellschaftlichen Wirkungen dieser Prozesse zu analysieren.“75

74 Ebd., 12. 75 Keller, Reiner: Wissenssoziologische Diskursanalyse, in: Handbuch sozialwissenschaftliche Diskursanalyse, Wiesbaden 2006, 115.

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Der von Reiner Keller in seinem programmatischen Aufsatz76 zu einer ‚Wissenssoziologischen Diskursanalyse‘ vorausgesetzte Wissensbegriff ist wie aus obiger Definition ersichtlich wird, nicht kognitivistisch fehl zu interpretieren. Vielmehr umfasst er nach Keller ‚Prozesse der sozialen Konstruktion, Objektivation, Kommunikation und Legitimation von Sinn-, d.h. Deutungs- und Handlungsstrukturen‘, welche ihre Wirkung auf unterschiedlichsten sozialen Ebenen entfalten und daher das gesamte Wirklichkeitsspektrum umfassen können. Entscheidend aus seiner Definition festzuhalten bleibt die Tatsache, dass es sich bei der Diskursanalyse um eine ‚Forschungsperspektive‘ und keine spezifische Methode handelt. Diskurse sind analytische Konstrukte – gesellschaftliche Phänomene als solche aufzufassen, bedeutet daher sie unter spezifischen Gesichtspunkten zusammen zu fassen und zu rekonstruieren.77 Welches Verständnis von Diskurs soll nun jenseits einer solchen formalkategorischen Fassung für die vorliegende Untersuchung vorausgesetzt werden78 und wie sind die Kriterien einer Applikation dieser Kategorie als analytisches Instrument zu bestimmen? „Diskurse sind Praktiken, die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen“79 – dies ist zunächst bzgl. ihrer wirklichkeitskonstituierenden Funktion festzustellen: Sie sind grundlegend charakterisiert durch Selbstbezüglichkeit und Autokonstitution. In der Perspektive der wissenssoziologischen Diskursanalyse wird Wissen über Wirklichkeit in Diskursen konstruiert und damit diese Wirklichkeit selbst. Diskurse verleihen den sozialen Phänomenen Bedeutung und konstituieren dadurch deren gesellschaftliche Realität bzw. diese Phänomene selbst.80 Darüber hinaus zeichnen sich Diskurse qua ihrer Mannigfaltigkeit aus und der Möglichkeit sie zu unterscheiden. „Es gibt nicht einen Diskurs, sondern viele Diskurse, die der Herstellung und Unterhaltung komplexer Denksysteme dienen. Die Diskurse bilden die Voraussetzung des Wissens und der Wissenschaften, indem sie die Bedingungen eines Denkens in der Sprache beinhalten.“81 In ihrer Vielfalt präfigurieren die unterschiedlichen Diskurse Sprache, Denken, Wissen und Wissenschaften.82 Sie nehmen konkrete Gestalt an in Sprechhandlungen, Texten, Objekten, Organisa-

76 Ebd., 115-146. 77 Vgl. ebd., 129. 78 Hier in Abgrenzung zu einer immensen Vielfalt von Diskursbegriffen, v.a. auch dem Verständnis von Habermas. Vgl. ebd., 130. 79 Ruoff, Michael: Foucault-Lexikon. Entwicklungen, Kernbegriffe, Zusammenhänge, Paderborn 2007, 91-93. 80 Vgl. Keller, Wissenssoziologische Diskursanalyse, 130. 81 Ruoff, Foucault-Lexikon, 97. 82 Als Bedeutungsarrangements sind sie u.a. themen-, disziplin-, bereichs- und ebenenspezifisch.

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tionen, Gebäuden, Rechtsnormen, u.a.m.83 Man kann sie daher als abgrenzbare, übersituative Zusammenhänge von Artikulationspraktiken und Bedeutungsinhalten begreifen, die einem bestimmten Grad an Institutionalisierung unterliegen. Sie sind unterscheidbar qua der Legitimität, die sie bestimmten Äußerungen zuweisen und die Thematiken, auf die sie bezogen sind – respektive durch dasjenige Wissen, das sie mittels sog. Ausschließungs- und Verknappungssysteme externalisieren.84 Die Formen derartiger, innerhalb der Regelstrukturen des Diskurses getätigter Äußerungen sind dabei wie oben bereits angedeutet, oft, aber keinesfalls zwingend sprachlicher Natur. Das Verhältnis der Subjekte zum Diskurs schließlich, der sog. Akteure lässt sich in einer dialektischen Beziehung fassen: Da Diskurse kollektive Unternehmungen der Wissensproduktion repräsentieren, sind sie den einzelnen Subjekten vor- und nachläufig. Andererseits können sie aber auch nur durch deren jeweilige Aktualisierung existieren und ihre Wirksamkeit entfalten. Eine von den oben skizzierten Prinzipien geleitete Diskursanalyse im Sinne eines Forschungsprogramms wird daher die Entstehung von Diskursen, die Aushandlungsprozesse in der Konstruktion eines Diskurses, die Veränderungen innerhalb des Diskurses mit der Zeit, dessen Protagonisten, Adressaten und Publikum, etc. in den Blick nehmen. Eine Fokussierung ist grundsätzlich auf sehr unterschiedliche Aspekte und Ebenen möglich und kann eine Vielfalt von Datenerhebungsmethoden einschließen. Entscheidend ist die organisierende Perspektive, die verschiedene, dem interpretativen Paradigma zugehörige Analyseverfahren auf die Forschungsfrage bezieht.85 2.2.3 Grundlegende diskursanalytische Terminologie und Konkretisierungen des methodischen Zugriffs Da der Begriff der Diskursanalyse zunächst nur einen Gegenstand abgrenzt und dazu ein Forschungsprogramm definiert, sich jedoch methodischer Spezifizierungen enthält, sollen für die hier durchzuführende Untersuchung zentrale Begrifflichkeiten definiert und methodische Verfahren erläutert werden. Eine Abwägung aller innerhalb der wissenssoziologischen Diskursanalyse sinnvollen Methoden ist an diesem Ort nicht leistbar, wurde bei Keller86 differenziert erbracht und wird in den einzel83 Vgl. Keller, Wissenssoziologische Diskursanalyse, 129. 84 Vgl. ebd., 131. 85 Vgl. ebd., 137 86 Keller benennt zunächst einen allgemeinen Dreischritt, der von der Festlegung der zu untersuchenden Diskurse über die Fragestellung und Untersuchungsgrößen hin zu den Erhebungsverfahren und Auswertungsprozeduren reicht. Als konkrete Methoden führt er u.a. folgende an: Gesprächsanalyse, Bildanalyse, Symbolanalyse, Analyse kommunikativer Gattungen, Deutungsmusteranalyse, teilnehmende Beobachtung, grounded theory,

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nen Kapiteln jeweils vor Ort in concretum plausibilisiert werden. Unabhängig von den jeweiligen Erhebungsverfahren werden die einzelnen Ergebnisse in Text überführt und liegen dann als Dokumente vor, die der Diskursanalyse zugrundgelegt werden. Entgegen den Annahmen der Objektiven Hermeneutik wird dabei nicht davon ausgegangen, in einem Dokument eine vollständige Repräsentation eines Diskurses zu finden. Vielmehr wird letzteres als Diskursfragment betrachtet und liefert so nur eine partielle Realisation eines Diskurses bzw. setzt sich aus einer hybriden Mischung unterschiedlicher Diskurse zusammen. Um zu einem Gesamtbild zu gelangen, müssen daher eine gültige Menge repräsentativer Texte zusammengestellt und analysiert werden: „Vor allem die Aggregation einzelner Ergebnisse zu den Gesamtaussagen über ‚den Diskurs‘ markiert den zentralen Unterschied zu den meisten qualitativen sozialwissenschaftlichen Untersuchungen, die pro Text (in der Regel ein Interview) von einer in sich konsistenten und geschlossenen Sinn- oder Fallstruktur ausgehen, d.h. einen Text als vollständiges Dokument genau eines Falles betrachten.“87

Selbstredend bedingt die methodische Offenheit der Diskursanalyse einerseits die Notwendigkeit, einen repräsentativen Kanon von Grunddokumenten zusammenzustellen, andererseits Grenzziehungs- und Geltungsprobleme, die nicht kategorisch gelöst werden können. Doch auch diese können nicht anders als nach der genuin sozialwissenschaftlichen Weise in Angriff genommen werden: Durch prinzipielle Offenlegung der Verfahren und Nachvollziehbarkeit der Interpretation, nicht durch positive Kriterien, die mit einem cartesianischen Messverfahren garantiert werden könnten. Abschließend soll eine Kernliste von begrifflichen Definitionen gegeben werden, welche im Rahmen dieser Arbeit wiederholt als analytische Kategorien Verwendung finden. Sowohl die spezifische Auswahl aus dem Universum des Foucaultschen Begriffsapparates88 als auch die notwendige definitorische und damit pragmatische Festlegung stellen kontingente, meiner Ansicht nach jedoch plausible Verallgemeinerungen dar:

etc. Mehrere davon werden in der vorliegenden Arbeit appliziert werden und dann am jeweiligen Ort begründet. Vgl. ebd., 137-142. 87 Keller, Wissenssoziologische Diskursanalyse, 14. 88 Die Begriffsdefinitionen sind entnommen aus: Ruoff, Foucault-Lexikon, 2007. Keller, Wissenssoziologische Diskursanalyse, 115-146. Ullrich, Rüdiger: Diskursfelder. Eine Analyse der Handlungs- und Spannungsfelder ethnologischer Tätigkeit, Göttingen 1992, 64-73.

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Tabelle 1:Diskursanalytische Zentralkategorien Teilperspektive der

Analytische Kategorie

Begriffliche Eingrenzung

Diskursanalyse Soziale Manifestati-

Dispositiv89

„Foucault bestimmt das Dispositiv

onsformen des Dis-

als ‚heterogene Gesamtheit, beste-

kurses

hend aus Diskursen, Institutionen, architektonischen Einrichtungen, reglementierenden Erscheinungen, Gesetzen, administrativen Maßnahmen, wissenschaftlichen Aussagen, philosophischen, moralischen und philanthropischen Lehrsätzen, kurz Gesagtes wie Ungesagtes, das sind die Elemente des Dispositivs. Das Dispositiv selbst ist das Netz, das man zwischen diesen Elementen herstellen kann‘.“90 Folgende Aspekte sind bzgl. des Dispositivbegriffs festzuhalten: Totalität: Gesamtheit von Institutionen, Diskursen und Praktiken. Umfasst das Gesamt der materiellen, handlungspraktischen, sozialen, kognitiven und normativen Infrastruktur der Produktion eines Diskurses. Funktionale Genese: Das Dispositiv ist nicht einfach gegeben, sondern entwickelt sich erst unter der Vorgabe seiner Funktion Machtorientierung: Die strategische Seite des Dispositivs deutet auf seine Verwendung im Zusammenhang von Macht und Wissen Wirklichkeitsherstellung: Dispositive

89 Ruoff, Foucault-Lexikon, 101. Keller, Wissenssoziologische Diskursanalyse, 136f. 90 Ruoff, Foucault-Lexikon, 101.

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repräsentieren die Infrastruktur der Problembearbeitung. Durch Dispositive greifen Diskurse in die Welt ein und erzeugen Wirkungen außerhalb des Diskurses. Sie sind Mittel, durch die Diskurse die Welt und Wirklichkeit nach ihrem Bilde gestalten Gruppierungen von

Feld

„Ein Feld ist eine abstrakte Raumbe-

Diskursen

Diskursfeld

dingung, die in einer bestimmten

Diskursfamilie91

historischen Formation die Bedingungen für die Beziehungen zwischen Subjekten, Institutionen, Äußerungsmodalitäten, Gegenständen und Begriffen ausdrückt. Gleichzeitig unterliegt das Feld der Modulation durch seine Elemente.“92 Diskursfelder und -familien zeichnen sich daran anschließend folgendermaßen aus: Handlungen sind unter Wirkungen von Feldern Kräften und dispositionalen Bedingungen ausgesetzt.93 Gleiche Praktiken werden präferiert bzw. ausgeschlossen.94 Ein unterscheidendes Merkmal zwischen den Diskursfeldern ist daher das charakteristische Netz von Obligationen (Verpflichtungen, Zwänge und Erwartungen), welches Selektionsbedingungen schafft und individuelle

91 Ruoff, Foucault-Lexikon, 144. Keller, Wissenssoziologische Diskursanalyse, 133. Ullrich, Diskursfelder, 64-73. 92 Ruoff, Foucault-Lexikon, 114. 93 Ebd., 65. 94 Keller, Wissenssoziologische Diskursanalyse, 133.

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Präferenzen an die Imperative der gesellschaftlichen Diskurse anpasst.95 Diskursfelder bilden in sich eine Einheit, welche Handlungskontexte als Spannungsfelder ordnet, verweisen aber dadurch gleichzeitig auf die strukturelle Heterogenität, Diskontinuitäten und Illogizitäten des sozialen Raums.96

Grenzbildung: Das Außen und das Innen

Ausschließungssysteme Verknappungssysteme

des Diskurses

97

„Ausschließungssysteme dienen der Kontrolle des Dikurses von außen. Es geht um den Versuch das Ereignishafte am Diskurs auszuklammern.“98 Ausschließungssysteme können sein: Verbote: Eingrenzung des Sagbaren durch Festlegung angemessenen Sprechens (Tabu, kanonisierte Lockerung im Ritual, Status als Befugnis zum Sprechen) Soziale Grenzziehung: Wahnsinn als das Andere der Vernunft Dualismus von Wahrem und Falschem: Wahrheitsanspruch und Logik Verknappungsysteme kontrollieren den Diskurs nach innen qua Klassifikations-, Anordnungs- und Verteilungsprinzipien: Autor: Garant, Bezugspunkt, verleiht Identität. Autorität der Wahrheitsbezeugung in der Moderne aber verloren

95 Ullrich, Diskursfelder, 64-73. 96 Ebd. 64-73. 97 Ruoff, Foucault-Lexikon, 77;222. 98 Ebd.

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Wissen: Grenzt den Spielraum für die Formulierung neuer Sätze ab; Wahrheitskorridor der richtigen Gegenstände Autorisation des Sprechens

Pragmatische Aspekte des Diskurses

Diskurs konstituierende 99

Praktiken

„Die Diskurspraktiken sind keine bloßen Formen der Herstellung von Diskursen. Sie nehmen Gestalt an in technischen Komplexen, in Institutionen, in Verhaltensmustern, in Vermittlungs- und Verbreitungsformen, in pädagogischen Formen, die sie aufzwingen und aufrechterhalten“.100 Diskurskonstituierende Praktiken sind zu charakterisieren als101 Semiotisch und asemiotisch: Sprachliche Handlungen und begleitende Handlungsformen Kontinuierlich diskursbildend: Systematische Diskursproduktion und Diskursaktualisierung Wirklichkeitsherstellend: Gesellschaftlich regulierte Verhaltensmuster legitimer Äußerungsformen, die Realität konstituieren.

Kognitiv-semantische

Deutungsmuster

Deutungsmuster sind „grundlegende

Aspekte

Interpretationsrepertoire102

bedeutungsgenerierende Regulationsmuster innerhalb der Diskurse,

99

Ruoff, Foucault-Lexikon, 95. Keller, Wissenssoziologische Diskursanalyse, 132f.

100 Ruoff, Foucault-Lexikon, 95. 101 Keller, Wissenssoziologische Diskursanalyse, 132f. 102 Keller, Wissenssoziologische Diskursanalyse, 133-135.

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die nahelegen, worum es sich bei einem Phänomen handelt.“103 Sie stiften Sinn, werden in Deutungsprozessen aktualisiert und stellen Resonanzgrundlagen für diskursspezifische Anliegen dar. Das Interpretationsrepertoire umfasst einen ‚typisierbaren Kernbestand an Deutungsmustern, argumentativen Verknüpfungen und rhetorischen Mitteln eines Diskurses‘. Bausteine dieses Interpretationsrepertoires werden in einem Diskurs zu einer besonderen Erzählung, einem roten Faden bzw. story line zusammengeführt

Verhältnis von Diskurs und Subjekt

Akteure104

‚Akteure vollziehen die Akte, durch die Diskurse existieren‘ und bilden so Diskursgemeinschaften. Diskurse sind abgesehen von ‚Initialzündungen‘ den Akteuren strukturell vorgeordnet. Eine Identität zwischen Akteursgruppen und Diskursen besteht nicht (Unterschiedliche Diskurse innerhalb einer Akteursgruppe).

2.2.4 Religionswissenschaft als Diskursanalyse – diskursive Religionswissenschaft Die oben definierte Form der Diskursanalyse soll nun noch expliziert werden bzgl. der Frage, was es heißt, in ihrem Zeichen Religionswissenschaft zu betreiben. Wie Kocku von Stuckrad in seinem wegweisenden Aufsatz ‚Discursive Study of Religi-

103 Ebd., 133. 104 Ebd., 135f.

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on. From States of the Mind to Communication and Action’105 zeigt, erlaubt es die Perspektive der Diskursanalyse, Abstand zu nehmen von Spekulationen über innere Geisteszustände und Aussagen über das Transzendente, und stattdessen Religion als System der Kommunikation und Handlung zu beschreiben. Eine Analyse von Religion qua ihrer öffentlich kommunizierten Sinnkonstruktionen ist nach Stuckrad deshalb geboten, da die sichtbaren, in Sätzen, Zeichen und symbolischen Handlungen kommunizierten religiösen Propositionen das einzige sind, was einer wissenschaftlichen Analyse zugänglich ist. Dies bedeute keine Absage an die Existenz von Transzendenz, es sei nur die adäquate Reaktion darauf, dass ihre Voraussetzung mit einem wissenschaftlichen Ansatz inkommensurabel sei. Diskursive Religionswissenschaft ermögliche es so, in ihrem Fokus auf Kommunikation von Sinn und Handlungen als bewusste Entscheidungen, Repräsentationen sozialer Positionen, Aushandlungen von Identitätsformationen sowie Kontinuitäten und Veränderungen von Bedeutungen innerhalb eines variablen Machtgefüges zu untersuchen. Der entscheidende Vorteil liegt nun laut Stuckrad darin, im analytischen Konstrukt des Diskursfeldes, die Interaktion und Verschränkung des Religionswissenschaftlers als eines der dort agierenden Protagonisten sichtbar zu machen. Er sei dadurch, dass er Theorien, Narrative sowie Beurteilungen sozialpolitischer Implikationen zur Verfügung stelle, aktiv involviert in ein Feld wechselnder Konstellationen. Die Wechselwirkung zwischen Religionswissenschaft und seinem ‚Objekt‘ gehe gar so weit, dass das von ersterer zur Verfügung gestellte Wissen die Grundlage bildete für die Gründung neuer Religionen. Die Schlussfolgerung liegt daher für Stuckrad auf der Hand, dass Religionswissenschaft in selbstkritisch verantwortlicher Weise betrieben werden müsse als multifokale Analyse, welche von einer Meta-Perspektive aus, dynamische Netzwerke von Identitäten und Bedeutungen sichtbar mache. Ob ein derartiger Ansatz von diskursorientierter Religionswissenschaft, so wie Stuckrad es in seinem Aufsatz angelegt hatte, tatsächlich eine umfassende Antwort bietet auf die Krise derselben, welche sich in der Repräsentationsfrage, der des standortgebundenen Beobachters sowie der Spannung zwischen Essentialismus und Relativismus darstelle, muss offen bleiben. Als problematisch zu kennzeichnen ist auch die von Stuckrad im Anschluss an Gavin Flood106 formulierte Behauptung, Religionswissenschaft müsse in Form einer Meta-Theorie betrieben werden. Denn obwohl der Ansatz einer Metatheorie einen gangbaren Weg zwischen dem starrem Festhalten an Großtheorien und der sich als unwissend gebarenden Beschränkung auf Einzelanalysen zu weisen scheint, impliziert sie mit ihrer Metapher der Meta105 Stuckrad, Kocku von: Discursive Study of Religion. From states of the Mind to Communication and Action, in: Method &Theory in the Study of Religion 15, 2003, 255271. 106 Flood, Gavin: Beyond Phenomenology: Rethinking the Study of Religion, London and New York 1999.

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Perspektive doch eine im Wortsinne erhöhte Perspektive des wissenschaftlichen Beobachters und damit, auch wenn er dies nominell bestreiten mag, einen grundsätzlichen Vorrang seiner Erkenntnis- und Verstehensfähigkeiten und der damit einhergehenden privilegierten epistemologischen Position. Eine sich konsequent als Mitspielerin in den Diskursfeldern verstehende Religionswissenschaft wird daher besser auf die Behauptung ihrer Meta-Positionierung verzichten und sich auf Augenhöhe mit anderen Verfahren der Primär- und Sekundärinterpretation verstehen. Zu zustimmen ist Stuckrad allerdings ohne Zweifel darin, dass es Aufgabe einer diskursiven Religionswissenschaft ist, welche sich ihre Rolle als Teilnehmerin am Diskurs selbstreflexiv bewusst macht, ihre Voraussetzungen offen darzulegen sowie sich einer Explizierung der Besonderheiten ihrer Erkenntnisinstrumente nicht zu enthalten. In seinen Grundzügen, dies kann als Fazit festgehalten werden, wird der Stuckradsche Ansatz daher mit einigen Einschränkungen und Korrekturen als für die vorliegende Untersuchung adäquat betrachtet. Welche Konsequenzen dies für den hier vorausgesetzten Religionsbegriff hat, ist nun noch zu zeigen. Während in der Geschichte der Religionswissenschaft Myriaden von Definitionen von Religion zu finden sind, setzt die Diskursanalyse gerade darauf, sich einer inhaltlich-ontologischen Bestimmung zu enthalten. Der Begriff der Religion wird so als eine Kategorie zweiter Ordnung verstanden und daher nicht vorausgesetzt, bei Religion handele es sich um dieses oder jenes (ontologische) Phänomen bzw. Religion erfülle diese oder jene (gesellschaftliche) Funktion. Als viel interessanter wird vielmehr die Frage betrachtet, in welcher Weise der Begriff der Religion als Selbstbeschreibung oder Alteritätsdiskurs Verwendung findet. Ausgehend von der Grundannahme, dass es sich beim Begriff der Religion um einen terminus handelt, der zum einen aus einer euro- und christentumszentrischen Religionswissenschaft107 heraus entwickelt wurde, zum anderen von Anfang an in einen Kontext des Kolonialismus eingebettet war, wird sein Gebrauch in der vorliegenden Analyse in doppelter Perspektive untersucht werden. Zunächst, worin die historischen und kontextuellen Bedingungen liegen, dass ein derartiger Begriff nachdem er 70 Jahre einer Ideologie des Marxismus als Negativfolie zur Verfolgung bestimmter kultureller Praktiken diente, seit den 90ern in genau diametraler Weise gebraucht werden kann, nämlich zur Rekonstitution kultureller Eigenheit und Identität. Darüber hinaus, wie der Begriff im Rahmen esoterischer Bewegungen seit den 60ern zumindest im westeuropäischen Kontext als Abgrenzungskategorie zu etablierten und institutionalisierten Formen religiöser Praxis diente, zugleich aber spätestens seit den 90ern im Gewand des Alternativbegriffes ‚Spiritualität‘ als Sammelkategorie für verschiedene Gegenentwürfe zu einer materialistisch orientierten Weltdeutung in Beschlag genommen wird. Beide Linien des Gebrauchs des Religionsbegriffs koinzi107 Vgl. McCutcheon, Russell T.: Manufacturing Religion. The Discourse on Sui Generis Religion and the Politics of Nostalgia, New York and Oxford 1997.

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dieren schließlich darin, dass sie strukturell analog und semantisch gekoppelt an den Begriff des Schamanismus einer globalen Wechselwirkungsdynamik unterliegen, die beide Begriffe zu einer universalen Diskursplattform konstituieren. Zu untersuchen ist daher, wie kontextuell different der Begriff der Religion zugleich als Anschlussstelle kulturübersetzender Praxis gebraucht und je unterschiedlich mit Bedeutung affiziert wird. Impliziert in dieser Verfahrensweise ist somit eine dem terminologischen Gebrauch des Religionsbegriffs korrespondierender Gebrauch des Schamanismusbegriffs: Als Kategorie zweiter Ordnung setzt sie keine inhaltliche Bestimmung und damit Festlegung auf eine der ebenfalls myriadenhaft existierenden Schamanismusdefinitionen voraus, sondern bietet eine Perspektive: Auf die Frage nämlich, wie und warum der Begriff des Schamanismus als Selbst- oder Fremdbeschreibung gebraucht wird und mit welchen Konsequenzen dies einhergeht. Es ist wiederum Stuckrad, der in seiner Studie „Schamanismus und Esoterik“108 die Bedeutung eines diskursanalytischen Zugriffs für eine Untersuchung des Schamanismus dargelegt hat: Verstanden im oben erörterten Sinne, erlaube sie es, die ansonsten disparat erscheinenden Felder der Wissenschaft, Religion, Kunst, Literatur, Politik, etc. im Hinblick auf ihre gemeinsame handlungspräfigurierenden Wirkungen zu untersuchen. Die Interaktion der religionswissenschaftlichen Schamanismusforschung, im Besonderen in ihrer popularisierten Form, ihre grundsätzliche Haltung gegenüber dem Irrationalen sowie des neoschamanischen Diskurses könnten so sichtbar gemacht werden. Stuckrad hat die Auseinandersetzung mit dem Schamanismus eingezeichnet in eine euro-amerikanische Faszinations- und Ablehnungsgeschichte, gekennzeichnet durch die ihr inhärente Dialektik zwischen Rationalisierung und Mechanisierung der Welt einerseits, Resakralisierung, romantischen Naturkonzeptionen und der individuellen Verschmelzung mit dem Kosmos andererseits. Der gegenwärtigen Religionswissenschaft wiederum komme in dieser Bewegung die Rolle einer Expertin innerhalb dieses globalen Diskursfeldes zu, die das Objekt der Analyse als auch diese Analyse selbst in einer Fragestellung auf die darin liegenden, mit der Praxis des Wissens verknüpften Machtverhältnisse untersucht. Dass mit dieser Konstitution der Religionswissenschaft als einer Meta-Disziplin, wie sie Stuckrad fordert, meiner Ansicht nach unumgehbare Problematiken verbunden sind, habe ich bereits weiter oben kritisiert und entfaltet. Festzuhalten bleibt aber, dass der Begriff des Schamanismus für die hier durchzuführende Untersuchung auf der Stuckradschen Linie aufbauend verwendet wird und ausgehend davon zur Frage führt, wie er im globalen Zusammenhang eines internationalen Schamanismusdiskurses als identitätsstiftende Kategorie der Selbstbeschreibung dienen kann. Nicht was Schamanismus an sich und in seinem Wesen ist, wird der Fokus dieser Studie sein, sondern die Dynamiken, Prozesse und strukturellen Zusammenhänge, wie 108 Stuckrad, Schamanismus und Esoterik, 265-284.

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genau dieser Begriff mit verschiedenen kultur-varianten Bedeutungen affiziert wird. Womit ich beim nächsten Begriff angelangt bin, der einer vorauslaufenden Präzisierung bedarf: Der Kultur. 2.2.5 Kultur – kulturelle Grenzen – Interkulturalität Das Ziel der nun folgenden Überlegungen wird es sein, eine Klärung verschiedener Begriffe vorzunehmen, die sich nicht dadurch auszeichnen, a priori in einem untrennbaren Zusammenhang zu stehen mit den obigen Ausführungen zu einer selbstreflexiven und diskursiv orientierten Religionswissenschaft, sich aber im Konnex der vorliegenden Untersuchung ex post als doch intrinsisch verwoben herausstellen. Wie sich zeigen wird, sind die fraglichen Begriffe durch je unterschiedliche logische Verweise mit der Bestimmung eines allgemeinen Begriffes der Kultur verbunden. Ausgehend davon wird dann einzugrenzen sein, wie einzelne Kulturen gekennzeichnet werden können, wie ihre Abgrenzungen zu anderen Kulturen konzeptuell zu fassen sind, was als Austauschprozesse zwischen den Kulturen verstanden wird und wie der dadurch aufgespannte Raum der Interkulturalität zu begreifen ist. Zur Beschreibung derartiger Prozesse werden die analytischen Kategorien der Globalisierung und Transdifferenz zu tragen kommen und daher ebenfalls vorweg definitorisch festzulegen sein. Zunächst also zum Begriff der Kultur. Ausgangspunkt für alle Näherbestimmungen von ‚Kultur‘ soll deren Eigenschaft sein, qua Differenzsetzungen lebensweltliche Komplexität zu reduzieren und damit Orientierung und Sinn zu generieren. Dies ist von zahlreichen Kulturtheorien ebenso unbestritten wie die Tatsache, dass Kultur aus sozialer Kommunikation und Interaktion, sprachlichen und nichtsprachlichen Zeichenprozessen hervorgeht, weitergegeben und transformiert wird. Viel interessanter und entscheidender als derartige allgemein positive Bestimmungen sind die negativen Abgrenzungen dessen, was Kultur nicht ist. Darin wird der Kulturbegriff spezifiziert und für das durchzuführende Projekt definiert. In Anlehnung an den Kulturbegriff, welchen das Graduiertenkolleg ‚Kulturhermeneutik im Zeichen von Differenz und Transdifferenz‘ geprägt hat, im Besonderen wie es Sparn109, Breinig und Lösch110 herausgearbeitet haben, werde ich Kultur im Folgenden im Zeichen einer vierfachen Negativität verstehen als: Nicht-ontologisch, Nicht-dependent vom Grad der Innendifferenzierung, Nicht-autopoietisch und 109 Sparn, Walter: Einleitung, in: ders. & Ernst, Christoph & Wagner, Hedwig: Kulturhermeneutik. Interdisziplinäre Beiträge zum Umgang mit kultureller Differenz, München 2008, 11-22. 110 Lösch, Klaus: Transdifferenz. Ein Komplement von Differenz, in: Srubar, Ilja & Renn, Joachim & Wenzel, Ulrich: Kulturen vergleichen. Sozial- und kulturwissenschaftliche Grundlagen und Kontroversen, Wiesbaden 2005, 252-270.

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Nicht-normativ. Diese vier Signifikanten bedürfen einer Erläuterung. In nichtontologischer Weise soll Kultur beschrieben werden, um damit der Tatsache gerecht zu werden, dass es sich hierbei um keine statischen, substanziellen, genetisch vererbbaren Sachverhalte handelt, welche homogen, linear und essentiell sich an sich und für sich genügen würden und dadurch eine stabile Identität generierten. Vielmehr sollen durch den nicht-ontologischen Charakter Prozesse des kulturellen Wandels, der Ausdifferenzierung, der internen und externen Transfers und Übersetzungsprozesse adressiert werden.111 Kultur wird daher verstanden als „nichtontologische Universalie für alle Sachverhalte und Vorgänge, die sich beschreiben lassen als die Erzeugung, Erhaltung, Veränderung und Überlieferung von wahrnehmnungs- und handlungsorientierendem Sinn“112. Darüber hinaus hängt dieses Verständnis von Kultur nicht ab vom Grand der internen Heterogenität. Das Konzept der Kultur umfasst daher alle Formen von gesellschaftlichen Systemen wie tribale, ethnische, nationale113 oder anders zu fassende soziale Organisationsformen. Drittens beinhaltet der hier implizierte Kulturbegriff seine Eigenschaft der NichtAutopoietizität. In Abgrenzung zur Luhmannschen Konzeption einer Selbstkonstitution von Kultur qua selbstreferentieller Prozesse, wird hier davon ausgegangen, dass der Außenbezug, die Interaktion über die Grenze von entscheidender, nicht erst sekundärer Formationskraft ist. Daher handelt es sich bei Kulturen um keine wesentlich substantiellen sondern relationale Gebilde.114 Schließlich und diese Eigenschaft umfasst sozusagen alle drei vorher genannten, zeichnet sich der hier applizierte Kulturbegriff durch seinen ausschließlich deskriptiven und nicht normativen Gebrauch aus. Obwohl, wie im Folgenden noch weiter zu entfalten sein wird, durchaus an der Sinnhaftigkeit, Möglichkeit und Notwendigkeit einer Unterscheidung zwischen einzelnen Kulturen festgehalten wird, so geschieht dies nicht im Sinne einer wie auch immer gearteten Wertkonnotation bzw. Gegenüberstellung dieser voneinander unterschiedener Kulturen. Vielmehr wird dann, in einem Rahmen der Kultur als universaler Funktion des Menschseins, der Fokus gelegt auf Prozesse der Überlappung, des Austauschs und der kontinuierlichen Neuverhandlung von Abgrenzungen. Eine probeweise Skizzierung von Einzelkulturen kann also nicht anders geschehen als eingebettet in eine Hermeneutik, die von einem prozessual-relationalen Charakter dieser Kulturen und eines ebenso verstandenen Konzeptes ihrer Grenzen ausgeht. Letztere zeichnen sich nämlich jenseits ihrer lediglich differenzierenden Funktion dadurch aus, dass sie Kontaktzonen darstellen, welche Orte interagierender Identitäts- und Alteritätskonstitutionen produzieren. Diese von einer grundlegenden Unbestimmtheit geprägten Zonen der Aushandlung 111 Vgl. Sparn, Einleitung, 13f. 112 Ebd., 14. 113 Vgl. Lösch, Transdifferenz, 257. 114 Vgl. ebd., 258.

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von Bedeutungen und wechselseitigen Signifikationsansprüchen sind als Räume der Überlappung115 gerade für die jeweiligen Kulturen generativ. Kulturen entstehen erst aus dieser Beziehung der Interkulturalität heraus. Zur Beschreibung derartiger Prozesse bieten sich verschiedene analytische, von den Kulturwissenschaften entwickelte Konstrukte an. Warum und in welchem Verständnis hier die Kategorie der Transdifferenz Anwendung finden soll, wird Thema der nun folgenden Ausführungen sein. 2.2.6 Binäre Differenzlogiken und ihr sich entziehendes Komplement: Transdifferenz Der Begriff der Transdifferenz hat nicht nur im Rahmen des erwähnten Graduiertenkollegs ‚Kulturhermeneutik im Zeichen von Differenz und Transdifferenz‘ unterschiedliche definitorische Bestimmungen, epistemologische Bezüge und Anwendungsebenen erfahren, sondern wurde auch außerhalb des Kollegs verschiedentlich aufgegriffen, interpretiert, kritisiert oder weitergeführt. Ohne diese Vielfalt der zugrundeliegenden Verständnisse näher berücksichtigen zu können und ohne weiter auf die Gründe für dessen Ursachen eingehen zu wollen, soll Transdifferenz hier nach der Definition von Breinig und Lösch verstanden werden, da diese doch zumindest einen partiellen Konsens des Kreises an Wissenschaftlern für sich beanspruchen kann, welche das Konzept erstmals geprägt und längere Zeit kontinuierlich an seiner Schärfung gearbeitet haben. Ein Grundsatzprogramm haben sie z.B. in ihrem Aufsatz „Transdifferenz. Ein Komplement von Differenz“116 gegeben, und unter Berücksichtigung der weiteren Diskussion in einem zweiten Aufsatz „Transdifference“117, welcher im Journal for the Study of Bristish Cultures erschienen ist, präzisiert und justiert. Für eine Definition ist zunächst zu fragen, worauf sich der Terminus als analytisches Konstrukt beziehen soll, welche Referenzbereiche er absteckt. Transdifferenz betrifft, wie oben bereits angedeutet diejenigen kulturellen Prozesse der Sinnproduktion, welche mit den Begriffen der Aushandlung, Überlappung, Übersetzung, Verschränkung oder sonstiger Interaktions- und Interferenzformen kultureller Semantiken beschrieben werden können. Sie manifestieren sich auf interkultureller, intrakultureller sowie individueller Ebene und implizieren dort jeweils entsprechende Identitätskonstruktionen und -dekonstruktionen des Eigenen und Fremden.

115 Vgl. ebd., 258-260. 116 Lösch, Transdifferenz, 252-270. 117 Breinig, Helmbrecht & Lösch, Klaus: Transdifference, in: Journal for the Study of Bristish Cultures 13, 105-122.

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Erkenntnistheoretisches Ziel des Transdifferenzkonzeptes ist nun, in diesen Prozessen eine methodisch selbstreflexive Sensibilität zu schaffen für diejenigen Phänomene, die in einer differenzlogischen Perspektive gar nicht oder nur unzureichend berücksichtigt würden. Transdifferenz fokussiert die kulturwissenschaftliche Wahrnehmung daher auf Spannungen, ungelöste Kopräsenzen, Unentscheidbarkeiten und Widersprüche, welche aus binären Ordnungslogiken gezielt ausgeblendet werden. Transdifferenz stellt ein begriffliches Instrumentarium, um das transversal Liegende, das Quere und seine die ursprüngliche Differenz relativierenden Effekte zu benennen. In der invertierenden Wirkung dieser Perspektive liegt es auch begründet, dass dadurch gesetzter differenzlogischer Sinn von außen in seiner Kontingenz und Partikularität transparent wird. Zugleich sichtbar wird aber auch die immer nur temporale Aufhebung und Erosion von Differenzen in Momenten der Transdifferenz. Letztere bleibt stets an Differenz rückgebunden, nimmt also ein komplementäres Verhältnis zu ihr ein. Etablierte Identitäts- und Alteritätsmuster können dadurch in Frage gestellt werden, jedoch nicht aufgelöst. Da die hier vorliegende Untersuchung die Aushandlung kultureller Selbst- und Fremdkonzepte nicht nur im Maßstab kollektiver Entitäten untersuchen wird, sondern auch deren Interaktion auf individueller Ebene in den Blick nehmen wird, seien abschließend noch einige Anmerkungen zu den Wirkungen von Transdifferenz auf der Subjektebene benannt. Letztere bewegen sich unter einem grundsätzlichen Spannungsbogen, der von der kreativen Schöpfung kultureller Innovationen und selbstperformativer Möglichkeiten bis zu Erfahrungen des Scheiterns, der Zerrissenheit und des Leides reichen. In jedem Fall stellt das Auftreten von Transdifferenz zunächst ein Moment der Verunsicherung, des Verlustes von stabilisierenden Deutungsmustern dar. Die Möglichkeiten, diese zu verarbeiten und aktiv umzusetzen, sind sozial stark asymmetrisch verteilt und von zahlreichen extrinsischen Determinanten abhängig. So mag die im Zusammenhang der Transdifferenz erfahrene kognitive Dissonanz einmal zu einer cross-cutting- oder patchworkidentity führen, der Betroffene sich als Grenzüberschreiter, Übersetzer oder Trickster selbst zu deuten verstehen und dies u.U. in Narrationen einer Multiplizität von Identität einbetten. Meist wird dies aber nur wirtschaftlich und sozial Unabhängigen, denen künstlerisch orientierte Deutungsmuster zur Verfügung stehen, zugänglich sein. Die Mehrzahl der Individuen jedoch wird dem gesellschaftlichen Essentialisierungsdruck nur leidvoll und den Dissonanzen bleibend ausgesetzt begegnen können. Die Mikroperspektive auf das Individuum zeigt in existentieller Weise, dass, wie bereits oben angedeutet, Transdifferenz nicht zur Aufhebung von Differenz führt, sondern diese nur in einen neuen Bezugsrahmen stellt, innerhalb dessen die Differenzsetzung aber ihre Wirksamkeit nicht verliert. Transdifferenz darf daher keinesfalls verwechselt werden mit Entdifferenzierung. Wendet man die Perspektive nun vom Individuum und der interkulturellen in eine globale Ebene, so wird deutlich, dass die Dialektik von Differenzierung und Entdifferenzierung auch

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dem Prozess der Globalisierung innewohnt. Breinig und Lösch formulieren daher in ihren Überlegungen für zukünftige Bewährungsfelder des Transdifferenzkonzeptes den Zusammenhang zwischen den beiden Gedanken: „In view of the discussion of the impact of globalisation as an economic, political and cultural process and the new celebration of sameness, convergence, universality, what is required is a renewed scrutiny of particulars and universals, of gradations of difference and the degree of differentiation needed to make the question of transdifference a relevant approach.“118

Die Forderung der Autoren zielt auf eine Globalisierungstheorie, welche nicht einseitig kulturnivellierende Vorgänge in den Blick nimmt, sondern die analytischen Mittel bereitstellt, um adäquate Verhältnisbestimmungen des Partikularen und Universellen, Differenzierungen innerhalb der Differenz, kurz um Phänomene der Transdifferenz in den Blick nehmen zu können. Da im vorliegenden Projekt tatsächlich Globalisierungsprozesse von bedeutendem Einfluss auf die Untersuchungsgegenstände sind und daher explizit in den Blick geraten, ist abschließend eine Globalisierungstheorie zu entwickeln, welche an die bisherigen Theoriemodelle anschlussfähig ist. 2.2.7 Globalisierungstheorien und kulturelle Austauschprozesse Entsprechend der Vielfältigkeit der sich überlagernden Prozesse, welche das, was als Globalisierung beschrieben wird, konstituieren, findet sich eine ebenso breite Palette an Deuteversuchen, welche jeweils unterschiedliche Aspekte in unterschiedlichen Gewichtungen und Perspektiven in den Blick nehmen. Eine Aufarbeitung ist auch hier im Rahmen dieser Arbeit nicht möglich und so soll das vorausgesetzte Verständnis an eine Theorie angelehnt werden, welche zum einen eine möglichst breite Sicht auf das Phänomen der Globalisierung bietet, sowohl in seinen Facetten und Dynamiken, als auch der Rolle der Kultur und darin wiederum der Religion besondere Beachtung schenkt. Religion – das sei vorweg vermerkt – im oben definierten Sinne eines kulturellen Aspektes, welcher der Selbstkonzeptionalisierung dient und nicht im ontologischen Sinne einer gegebenen statischen Größe. Eine Globalisierungstheorie, die diesen Anforderungen entgegenkommt, ist diejenige von Roland Robertson119.

118 Breinig, Helmbrecht & Lösch, Klaus: Transdifference, in: Journal for the Study of Bristish Cultures, 13, 2006, 118f. 119 Robertson, Roland: The Globalization Paradigm: Thinking Globally, in: Beyer, Peter (Hg.): Religion im Prozeß der Globalisierung, Bd. 10, Religion in der Gesellschaft, Würzburg 2001, 3-22. Dürrschmidt, Jörg: Roland Robertson: Kultur im Spannungsfeld

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Robertson weist, wie bereits angemerkt, der Kultur eine zentrale Funktion im Globalisierungsprozess zu und grenzt seine Theorie somit ab gegen ökonomistisch oder politisch begründete Weltsystemtheorien120. Er kommt dabei dem vorherig bestimmten Begriff von Kultur, welche sich durch ihren nicht-autopoietischen Charakter auszeichnet, insofern entgegen, als er sich ausgehend vom InternationalRelations-Ansatz ebenfalls gegen die strukturfunktionalistische Systemtheorie Parsons wendet, welche Gesellschaften und ihre Konstitution auf ihre internen Bezüge begrenzt dachte. Robertson verknüpft nun den globalen Analyserahmen der International Relations Schule mit der Frage nach soziokulturellen Dimensionen.121 Religion untersucht er innerhalb dieser Perspektive nicht im Sinne einer Religionssoziologie sondern im Hinblick auf ihre Funktion als kultureller Form, welche der Glokalisierung, in: Kultur. Theorien der Gegenwart, hg. v. Stephan Moebius & Dirk Quadflieg, Wiesbaden 2006, 519-530. 120 Robertson begründet seine Ablehung von Globalsierungstheorien mit einem seiner Ansicht nach zu exklusivistischen Fokus auf ökonomische Gesetzmäßigkeiten v.a. mit deren mangelnder Tiefe bzgl. ihres Bezugs auf eine Vorstellung der Welt als Ganzes: Vgl. Robertson, The Globalization Paradigm, 11f: „I refer, of course, to world system theory, as originally developed by Immanuel Wallerstein and his colleagues; the main features of which for present purposes may be summarized as follows: The modern world system is constituted by (capitalistic) economic relations between nationally constituted societies, that system having been formed over the last five-hundred years or so from an originally European feudal basis […]. It is not only because religion has a mainly epiphenomenal significance in world system theory that I have strong reservations about its plausibility (while greatly respecting some of its accomplishments), but also because of its exceedingly narrow locus (notwithstanding its promotion of the study of long periods of history). It is narrow and thus promotes a ‚thin‘ conception of the world-as-a-whole […].“ 121 „Like other social scientists attempting to move away from the purely international societal perspective on modernization, my colleagues and I emphasized the significance of the external circumstances of all societies but in so doing we focused particularly on cultural – including religious – aspects of the ‚international‘ situation and tried at the same time to weave internal and external factors into a single analytical fabric. In so doing, we argued that while the economic apects of relations between societies could certainly not be ignored, the elements that were most crucially missing both from conventional theories and emergent alternative theories of modernization as an ‚international‘ phenomenon were the political and the cultural. In particular, the formation, construction and presentation of national identities and ideologies, it was argued, are vital ingredients of the international circumstance. Moreover, as I would now say, these processes occur within and, indeed, largely constitute a global culture of modernization.“ Robertson, The Globalization Paradigm, 7.

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konkurrierende Deutemuster für eine sich internationalisierende Welt liefert.122 Sein Fokus auf Kultur, welche er nicht substantiell, sondern als offenen und pluralistischen Prozess definiert, bedingt so seine Zugehörigkeit zur ‚multidimensionalen und multikausalen Schule‘ der Globalisierung. Letztere wird nicht monokausal aus einem einzelnen Prinzip wie etwa dem ökonomischen sondern als Zusammenwirkung verschiedener Faktoren erklärt. Wie ist nun nach Robertson das oben von Breinig und Lösch formulierte Problem der Verhältnisbestimmung des Partikularen und Universalen, des Lokalen und Globalen zu beschreiben? Zentrale Kategorie Robertsons zur Deskription der erwähnten Relationen bildet das ‚global field‘. Er definiert es als ‚relativierendes Bezugsfeld unterschiedlicher, im globalen Kontext operierender Akteure‘ und sieht es von einer doppelten, dialektisch aufeinander bezogenen Dynamik geprägt: „Globalization as a concept refers both to the compression of the world and the intensification of consciousness of the world as a whole“123. Robertson lässt eine Analyse der konkreten materiellen Vorgänge, wie technologische und infrastrukturelle Faktoren, die zur Herausbildung dieses globalen Feldes führen, beiseite, um den seiner Ansicht nach zentraleren Aspekt zu unterstreichen: Der Rolle des Bewusstseins von der Welt als Ganzer, die Art wie Akteure ihre Handlungen zunehmend in einem Horizont der Welt als Ganzer sehen. Erst dadurch komme es in letzter Konsequenz zu einer ‚compression‘. Im Rahmen dieses globalen Feldes als Hauptkoordinate des Globalisierungsprozesses begegnet ein Phänomen, das Robertson als Bezugserweiterung kennzeichnet: Individuen bilden ihre Individualität und Identität zunehmend nicht mehr beschränkt auf den nationalstaatlichen Kontext, sondern mit Blick auf internationale Bezüge aus. Innerhalb der so neu entstehenden kulturellen Komplexität, gibt es aber nach Robertson ein strukturierendes Prinzip, das er ‚globewide cultural nexus‘ nennt und eine zweifache Kontextualisierung beinhaltet: „universalization of particularism and particularization of universalism“124. Der Kompression in einen 122 Die Konsequenzen seines Religionsbegriffs, welchen er für den kulturellen Kontext der Globalisierung vorschlägt, zieht Robertson folgendermaßen: „Studying religion globally brings into sharp relief the problem of what we mean by the term ‚religion‘. It encourages the study of the diffusion of religion as a category in the ordering of modern societies. […] encouraging inquiry into the civilizational and global settings of religion in politically bounded collectives […] relativizing the problem of the functions and/or the substance of religion […][and] enables us to see […] the various ways in which religion is interwoven with culture, ideology, politics, economics, and so on.“ Robertson, The Globalization Paradigm, 18f. 123 Dürrschmidt, Jörg: Roland Robertson: Kultur im Spannungsfeld der Glokalisierung, in: Kultur. Theorien der Gegenwart, hg.v. Stephan Moebius & Dirk Quadflieg, Wiesbaden 2006, 522. 124 Ebd., 523.

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singulären Handlungs- und Erfahrungszusammenhang steht so als antagonistische Kraft die ständige Herausforderung partikularer Wertvorstellungen durch universale Ideen gegenüber. In der Gleichheit bildet sich Differenz aus, so dass von einer Artikulation lokaler Differenz und unterscheidbarer Identität nach den Spielregeln globaler Anerkennungsprozeduren gesprochen werden kann. Für diese Doppelbewegung wiederum prägt Robertson den Begriff der „Glokalisierung“125 und verweist damit auf die Gleichzeitigkeit des Globalen und des Lokalen126. Deren Polarität wird aufgehoben in eine Dynamik logischer Gleichzeitigkeit. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Robertson Theorie Konnektivitäten und Prozesse der Relativierung gegen Behauptungen der bloßen Integration und Vereinheitlichung betont. Mit ihr lassen sich Räume des Dazwischen beschreiben, etwa zwischen Lokalitäten und Regionen; die dialektischen Zusammenhänge von Entterritorialisierung und Rekontextualisierung, Ausgliederungs- und Wiedereinbettungsprozessen werden beschreibbar. Welche Konsequenzen ergeben sich nun aus den hier entfalteten Theoriekomplexen des nicht-ontologischen Kulturbegriffs, der Transdifferenz und der Globalisierung, wie sie Robertson beschreibt für die Skizzierung der im vorliegenden Projekt fokussierten kulturellen Austauschprozesse? Anschließen möchte ich hier wiederum an die im Erlanger Graduiertenkolleg präzisierte Interpretation, was es heißt Kulturhermeneutik, im Besonderen eine Kulturhermeneutik im Zeichen von Differenz und Transdifferenz zu treiben. Breinig und Lösch127 weisen zunächst auf die Schwierigkeit hin, im Rahmen eines zweidimensionalen Kulturvergleichs, überhaupt den Gegenstand zu bestimmen. Ohne Berücksichtigung von Aspekten der Transdifferenz, welche natürlich eine essentialistische Gegenstandsbestimmung unterlaufen, würde dieser eher einer reduktionistischen Zurechtrichtung gleichen, denn einer gegenstandsadäquaten Erfassung. Darüber hinaus sollte von einer dreifachen Multipolarität ausgegangen werden: Zum einen bzgl. des Vergleichsarrangements an sich, das in einer Dualität nur ungenügend die tatsächlichen vielfachen Relationalitäten widerspiegelt. Zweitens in der Betrachtung der Übersetzungsverhältnisse, welche nicht als linear konzipiert werden können, sondern in ihrer mehrfachen Gebrochenheit beachtet werden müssen. Und schließlich bzgl. des eigenkul125 Ebd., 524. 126 Globalität und Lokalität positioniert Robertson folgendermaßen zueinander: „there are contests and conflicts over definition of the global-human situation in long-historical, primordial perspective. Thus globality tends to produce considerable religious diversity and the religious reconstitution of locality relative to the world as a whole. Increasingly, legitimation of locality – including of course, the legitimation of societies – is sought in terms of claims that the locality in question has a global significance.“ Robertson, The Globalization Paradigm, 17. 127 Lösch, Transdifferenz, 267-269.

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turellen Horizontes, welcher ebenfalls als nicht selbstverständlich gegeben vorausgesetzt werden darf und dadurch die Grenze zwischen Selbstverstehen und Fremdverstehen durchlässig werden lässt. In der Anerkennung der Kontingenz der eigenen kulturellen Praxis in Form wissenschaftlicher Betätigung sowie des Entzogenseins des Selbst128 bekommt der Begriff der Kulturhermeneutik seine Schärfe gerade in der Unschärfe: Da das Verstehen selbst als unweigerlich sich sperrendes und sich entziehenden Ereignis konzipiert werden muss, kann eine Kulturhermeneutik im Respekt vor der bleibenden Andersheit des Anderen nur auf eine verschmelzende Aneignung verzichten, gerade aber dadurch den nötigen Freiraum für sich ereignendes Verstehen schaffen. 2.2.8 Bündelungen im Hinblick auf die Schamanismusforschung Religionswissenschaft sollte selbstreflexiv sein, die eigenen Voraussetzungen offen legen und sich die Verwiesen- und Verwobenheit des Erforschens auf und mit seinem Gegenstand bewusst machen – das war der Leitsatz, der dieses Kapitel zu den methodologischen Überlegungen eröffnete. Religionswissenschaft wurde daher als sozialwissenschaftlich orientierte Kulturwissenschaft konzipiert, d.h. aufbauend auf einer Grundlegung in der verstehenden Soziologie über eine Anknüpfung an die wissenssoziologische Diskursanalyse hin zu einer Präzisierung durch globalisierungstheoretische und kulturhermeneutische Modelle entwickelt. Ausgangspunkt war das Vorauslaufen des Gedeutetseins aller Wirklichkeit, mithin ein hermeneutischer Zugang, der auf die Problematik des Fremdverstehens und Phänomene interkultureller Translation sensibilisiert wurde, insofern auch schon das Selbstverstehen als nicht gegeben vorausgesetzt wird. Hans-Goerg Soeffners Verortung der soziologischen Hermeneutik in dialektischer Verschränkung zur Alltagshermeneutik bot dabei den Anknüpfungspunkt für eine wissenssoziologische Diskursanalyse wie sie Reiner Keller entfaltet hat. Diskursanalyse – das wurde deutlich – ist in diesem Zusammenhang zu verstehen als Forschungsperspektive, nicht als spezifische Methode. Sie untersucht Zusammenhänge mit Hilfe des analytischen Konstrukts des Diskurses, Praktiken also, die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen. In Bezug auf ihre Akteure sind sie als kollektive Unternehmungen der Wissensproduktion den einzelnen Subjekten einerseits vor- und nachläufig, können andererseits aber auch nur durch deren jeweilige Aktualisierung existieren. Die Diskursanalyse bündelt daher verschiedene dem interpretativen Paradigma zugehörige Analyseverfahren auf die Forschungsfrage und gelangt durch diese organisierende Perspektive zu einem Gesamtbild. Als Analyseterminologie wurden dazu aus der Vielfalt der Foucaultschen Ansätze die Begriffe Dispositiv, Diskursfeld (bzw.

128 Vgl. Sparn, Einleitung, 15f.

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Diskursfamilie), Ausschließungs- und Verknappungssystem, Diskurs konstituierende Praktiken, Deutungsmuster und Interpretationsrepertoire sowie Akteure vorgestellt und in ihrer Relevanz für die vorliegende Untersuchung definiert. Welche Konsequenzen eine derart verstandene Diskursanalyse explizit für eine religionswissenschaftliche Perspektive hat, wurde dann im Anschluss an Kocku von Stuckrad entwickelt. Sein Hauptargument bestand darin, im Hinblick auf den Begriff der Religion Abstand zu nehmen von Spekulationen über innere Geisteszustände und Aussagen über das Transzendente und stattdessen Religion als System der Kommunikation und Handlung zu beschreiben. Dies ermöglicht in der Fokussierung auf Kommunikation von Sinn und Handlungen als bewusste Entscheidungen eine Analyse von Repräsentationen sozialer Positionen, Aushandlungen von Identitätsformationen sowie Kontinuitäten und Veränderungen von Bedeutungen innerhalb eines variablen Machtgefüges. Im Besonderen ist damit die Verschränkung des Religionswissenschaftlers als eines im Diskurs selbst agierenden Protagonisten sichtbar zu machen, wodurch Religionswissenschaft in die Lage versetzt wird, ihre Rolle als Teilnehmerin am Diskurs zu reflektieren. In der Konsequenz lieg es auch, dass der Begriff der Religion so als eine Kategorie zweiter Ordnung verstanden wird, und damit in wissenschaftlicher Hinsicht v.a. an dessen Verwendungsweisen interessiert ist, d.h. in welcher Weise der Begriff der Religion als Selbstbeschreibung oder Alteritätsdiskurs Verwendung findet. Er teilt diese Eigenschaft mit dem Begriff des Schamanismus, der ebenfalls einer globalen Wechselwirkungsdynamik unterliegt und sowohl kontextuell different als Anschlussstelle kulturübersetzender Praxis gebraucht als auch je unterschiedlich mit Bedeutung affiziert wird. Religionswissenschaft fragt daher danach, warum beide Begriffe als Selbst- oder Fremdbeschreibung gebraucht werden bzw. wie sie in globalen Zusammenhängen als identitätsstiftende Kategorie der Selbstbeschreibung fungieren können. Dass die so bedachten Prozesse in kulturenüberschreitenden Kontexten verlaufen, ist dann auch die Ursache, die eine weitere Schärfung des diskursanalytischen Ansatzes durch eine Perspektive notwendig macht, welche die Begriffe der Kultur, der Interkulturalität, der Transdifferenz und der Globalisierung in den Blick kommen lässt. Letzteres nicht, um einer Mode zu folgen und in allem und jedem Prozesse der Globalisierung wahrzunehmen, sondern weil die genannten Begriffe im emischen Diskurs selbst von Bedeutung sind. Kultur, in einem strikt deskriptiven Verständnis, wurde jenseits allgemeiner Bestimmungen als komplexitätsreduzierende und sinngenerierende Zeichenprozesse, v.a. im Hinblick auf ihre Grenzen, Austauschprozesse und den dadurch aufgespannten Raum der Interkulturalität bestimmt. In ihrer negativen Abgrenzung als nicht-ontologisch, nicht-dependent vom Grad der Innendifferenzierung, nicht-autopoietisch und nicht-normativ wurde deutlich, dass für Kulturen der Außenbezug, die Interaktion über die Grenze von entscheidender, nicht erst sekundärer Formationskraft ist. Zur Beschreibung derartiger inhärenter Prozesse der Überlappung, der Kontaktzonen und Orte interagierender Identitäts- und Alteritäts-

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konstitutionen hat sich hierzu das Konzept der Transdifferenz als tragfähig erwiesen. Mit seinem Fokus auf kulturelle Prozesse der Sinnproduktion, welche mit den Begriffen der Aushandlung, Übersetzung, Verschränkung oder sonstiger Interaktions- und Interferenzformen beschrieben werden können, schafft es Sensibilität für diejenigen Phänomene, die in einer differenzlogischen Perspektive nur unzureichend berücksichtigt würden. Zugleich verweist es aber darauf, dass die nur temporale Aufhebung der Differenz stets an diese rückgebunden bleibt, somit nicht zu ihrer Suspendierung führt. Um derartige Phänomene der Transdifferenz in den Blick zu nehmen, ist es dann auch notwendig, eine Globalisierungstheorie zu entwickeln, welche nicht einseitig auf kulturnivellierende Vorgänge rekurriert, sondern eine adäquate Verhältnisbestimmungen des Partikularen und Universellen, der Differenzierungen innerhalb der Differenz vornimmt. Um dieser Forderung zu entsprechen, wurde die Globalisierungstheorie von Roland Robertson vorgestellt, welche zugleich den Vorteil bietet, der Rolle der Religion im oben verstandenen Sinne den notwendigen Raum abzustecken. Letztere untersucht Robertson in ihre Funktion als kultureller Form, welche konkurrierende Deutemuster für eine sich internationalisierende Welt liefert. Zentrale Kategorien hierzu bilden das ‚global field‘ bzw. der ‚globewide cultural nexus‘ welche der Rolle des Bewusstseins von der Welt als Ganzer, der Art wie Akteure ihre Handlungen zunehmend in einem Horizont der Welt als Ganzer sehen, gerecht zu werden versuchen. Globalisierung versteht Robertson folglich wesentlich als Glokalisierung in der Spannung zwischen ‚universalization of particularism and particularization of universalism‘, der Gleichzeitigkeit des Globalen und des Lokalen. Wie sich nun diese Gleichzeitigkeit im konkreten Fall des hier gegebenen Untersuchungsgegenstandes gestaltet, das wird zentraler Inhalt der nun folgenden Kapitel sein. Im Verlauf der Analyse verwendete religions- und kulturwissenschaftliche Kategorien, wie Privatisierung der Religion, Postmoderne, Performanz, Öffentlichkeit, Medien, etc. die in diesem methodologischen Reflexionskapitel nicht erläutert werden konnten, wurden aus Gründen der Übersichtlichkeit am Ende der Dissertation in einem separaten Glossar definiert. Begonnen werden soll nun die Deskription der bis hierher zunächst theoretisch reflektierten Phänomene mit einem konstitutiven Ereignis des gegenwärtigen tyvanischen Schamanismus, in das die Signatur der Glokalisierung von Anfang an eingeschrieben war. In der ersten ‚akademisch-praktischen Konferenz von Schamanen und Schamanenforschern‘ organisiert von einem tyvanisch-amerikanischen Gremium wird deutlich, wie im Raum eines interkulturellen Kontaktes kulturelle Bedeutungen neu ausgehandelt werden, das Eigene und Fremde interagieren und die Akteure sich im Bewusstsein einer verschränkten Welt neu positionieren. Mit einem Wort: Am Anfang des zeitgenössischen tyvanischen Schamanismus stand – cum grano salis – die Transdifferenz.

3 Das Feld des tyvanischen Schamanismus: Zwischen Differenz und Interferenz

3.1 G ESCHICHTE DER I NSTITUTIONALISIERUNG – D ER NEUE S CHAMANISMUS IN T YVA SEIT 1993 „One of the brightest events in the life of the Republic in 1993 was the first Tuvan-American scientific-practical seminar of shamanologists and practitioners in shamanism, which took place in June-July. The Tuvan side welcomed guests from the USA, Finland, Austria and Canada.“129

Die Journalistin Marina Kenin-Lopsan beginnt ihr Vorwort zur Publikation der erwähnten Konferenz mit einem starken statement: ‚one of the brightest events‘ würde dieses internationale Treffen darstellen – was veranlasst sie zu diesem Schluss? Wie kann gerade eine tyvanisch-amerikanische Kooperation eines der wichtigsten Ereignisse der Republik werden? Um Klarheit in die hier gegebene historische Konstellation zu bringen und transparent zu machen, wie eine Fremdreferenz eine derart konstitutive Rolle einnehmen kann, ist es notwendig, das Geschehen in seinem geschichtlichen Mikrokontext zu verorten. Im Folgenden soll daher eine detaillierte Analyse der Ereignisse seit der Perestroika erfolgen und erst in einem zweiten Schritt eine Geschichte des tyvanischen Schamanismus aus globaler Perspektive vom 17. bis zum 21. Jahrhundert angeschlossen werden. Es wird sich zeigen, dass die Entwicklung des tyvanischen Schamanismus in einen Spannungsbogen eingezeichnet werden kann, der, beginnend mit einer präfigurativen Phase, einen Kristallisationshöhepunkt in obiger Konferenz 1993 genommen hat, um in der darauffolgenden Zeit bis in die Gegenwart die dort erfolgte Initialzündung in verschiedensten Konsequenzen durch zu deklinieren und auszudifferenzieren. Da an diesem Prozess die unterschiedlichs129 Kenin-Lopsan, Marina in: Budegetshi, Tamara (Ed.): Shamanism in Tuva. Scientific works of the first Tuvan-American Seminar of Shamans and Shamanologists, Kyzyl 1994, 5.

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ten Akteure beteiligt waren und sind, ist es unerlässlich, der Rekonstruktion der historischen Sachverhalte eine Quellenbasis zugrunde zu legen, die den unterschiedlichen Perspektiven und Ausgangspunkten Rechnung trägt. Im konkreten Fall bedeutet dies, die Stimme der tyvanischen Partizipanten, im Besonderen greifbar durch Publikationen des späteren Präsidenten der tyvanischen Schamanen KeninLopsan, mit Berichten der Foundation for Shamanic Studies (FSS) über ihre Expedition nach Tyva sowie dem als Reaktion auf die Ereignisse von der Republik Tyva erlassenen Gesetz zusammen und in ihren Wechselwirkungen zu sehen. Darüber hinaus werden Sekundärperspektiven von Ethnologen und Religionswissenschaftlern sowie meine eigenen Ergebnisse aus Interviews und Gesprächen ein zu beziehen sein. 3.1.1 Entwicklungsphasen des Schamanismus nach der Perestroika Während okkulte und esoterische Strömungen die gesamte Zeit der Sowjetherrschaft in verschiedenen Formen und Graden der Untergrundexistenz präsent waren, so sind es doch die 80er und im Besonderen die Jahre der Perestroika, die durch eine entscheidende Zunahme derartiger Plausibilitätsmuster geprägt waren. Das eminente Aufblühen der Volksheilerbewegung nach dem Fall der Sowjetunion trägt daher, trotz aller Innovation die darin liegt, auch ein Moment der Kontinuität zur vorherigen Entwicklung mit sich. Am Beginn der schamanischen Wiederbelebung treffen daher zwei entscheidende Konstitutionsfaktoren aufeinander130: Zum einen bildete die Volksmedizinbewegung mit ihrem Ziel einer integrativen Medizin den ersten institutionalisierten Interpretationsrahmen zu Anfang der Perestroika131: Sibirische Schamanen, dort als Volksheiler betrachtet, studierten mit ihren Kollegen aus anderen traditionellen Kulturen Bio-Energo-Therapie und andere Alternativverfahren. Mit den dafür erhaltenen Dokumenten und Urkunden begannen sie dann in ihren Herkunftsorten Zentren von Heilern zu gründen. Das Auftreten schamanischer Vereinigungen fiel so zusammen mit der Entstehung von magisch-mystischen und parapsychologischen Einrichtungen, die sich durch alternative psychologische Praktiken der Erweiterung des Bewusstseins und der Entwicklung ‚super-sensitiver extrasensualer‘ Fähigkeiten gewidmet hatten. Das Volksheilertum (narodnoe

130 Vgl. ɏɚɪɢɬɨɧɨɜɚ, ȼ. ɂ.: Ɏɟɧɢɤɫ ɢɡ ɩɟɩɥɚ? ɋɢɛɢɪɫɤɢɣ ɲɚɦɚɧɢɡɦ ɧɚ ɪɭɛɟɠɟ ɬɵɫɹɱɟɥɟɬɢɣ, Ɇɨɫɤɜɚ 2006, 156-195. 131 Mit ermöglicht wurde dieser Prozess durch den Erlass entsprechender Gesetze, so z.B. 1990 und 1997 „Von der Freiheit des Gewissens und der religiösen Vereinigung“. ɏɚɪɢɬɨɧɨɜɚ, ȼ. ɂ.: Ɏɟɧɢɤɫ ɢɡ ɩɟɩɥɚ? ɋɢɛɢɪɫɤɢɣ ɲɚɦɚɧɢɡɦ ɧɚ ɪɭɛɟɠɟ ɬɵɫɹɱɟɥɟɬɢɣ, Ɇɨɫɤɜɚ 2006, 156.

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tselitelstwo) wurde als eigenständige Berufstätigkeit legitimiert132 und aktivierte so im Gewand des Heilers erhaltene Reste schamanischer Praktiken. Zum anderen bildete die national-kulturelle Wiederauferstehung mit ihrer propagierten Rückkehr zum Eigenen den zweiten Eckpfeiler der schamanischen Wiederbelebung. Der Schamanismus – als besondere Art der Weltanschauung, ritueller Praktiken, geistiger Kultur und Folklore – wurde so instrumentalisiert gegen alles Fremde. Beschritten wurden dabei im Wesentlichen zwei Wege: Die Deklaration eines ‚Tengrianstwo‘ bzw. ‚Burchanism‘ als die echte Vorreligion. Oder alternativ der Schamanismus als universelle kulturell-religiöse Erscheinung, wobei in Südsibirien dieser Prozess besonders deutlich zu Tage trat. Dieser mündete schließlich dahin, dass der Schamanismus als vollwertige gesetzmäßige Konfession betrachtet wurde. Um jedoch den Schamanismus in Form einer professionellen Institution zu organisieren, waren Akteure mit ausreichend hohem Bildungsgrad und sozialen Status notwendig. In Tyva nahm diese Institution die Form eines parteilich organisierten Berufsbundes (partijno-profsojus) an. Kenin-Lopsan, der die Rollen des Organisators, Administrators und Kenners der Tradition in sich vereinigte, ist als entscheidende Triebfeder in diesem Prozess zu sehen. Seine Sammlungen zum traditionellen Schamanismus und sein persönliches, von seinen SchamanenVorfahren geerbtes Wissen, prädestinierten ihn, zum Gründungsvater des tyvanischen Schamanismus zu werden. 1992 gründete er zunächst unter Betonung der heilerischen Funktionen zusammen mit seinem Administrator das erste schamanische Zentrum ‚Dungur‘ (‚Trommel‘). Ein von ihm 1993 durchgeführtes internationales Seminar von Schamanenforschern und tyvanischen Schamanen avanciert zum Katalysator und Initialzünder der Wiedeerstarkung – wie dies im Einzelnen geschah wird im Anschluss an diesen Überblick noch einen genaueren Blick verdienen. Die Schamanenklinik Dungur entfaltete dabei eine Reihe von Dynamiken, die Kritiker des tyvanischen Neoschamanismus u.a. auch in negativ wertender Weise als Differenzmarkierung zur ‚traditionellen‘ Form des Schamanismus anführen. Einerseits gruppierten sich so in der von Kenin-Lopsan gegründeten Organisation – auch bedingt durch die Tatsache, dass noch praktizierende Schamanen in Kyzyl selbst schwer ausfindig zu machen waren – Personen verschiedenster Provenienz, überwiegend Neoschamanen. Da die Mehrheit der Praktizierenden eine Veranlagung zu psychenergetischen Tätigkeiten zeigte, wurden so auch Leute zu Neoschamanen, die sich früher niemals vorstellen konnten, in diesem Bereich zu arbeiten. Kenin-Lopsan erarbeitete ein Prüfverfahren, stellte Ausweise aus, und archivierte die Biografien aller Schamanen. Viele der Praktizierenden entwickelten innerhalb dieses Rahmens ihre eigenen Methoden und arbeiteten unabhängig, um z.B. 132 Vgl. das „Gesetz über die Bewahrung der Gesundheit“ von 1993, in welchem der Heiler einen professionellen Status erhielt. ɏɚɪɢɬɨɧɨɜɚ, ȼ. ɂ.: Ɏɟɧɢɤɫ ɢɡ ɩɟɩɥɚ? ɋɢɛɢɪɫɤɢɣ ɲɚɦɚɧɢɡɦ ɧɚ ɪɭɛɟɠɟ ɬɵɫɹɱɟɥɟɬɢɣ, Ɇɨɫɤɜɚ 2006, 157.

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in Moskau Seminare zu geben. Andererseits nahm die Organisation Dungur wie schon erwähnt die Form eines parteilichen Arbeiterbundes in strenger Hierarchie und Kenin-Lopsan an der Spitze an: Dies widersprach der traditionellen Feindschaft unter Schamanen in doppelter Weise, da dort eine gegenseitige Unterordnung von Schamanen bzw. kollektive Zusammenarbeit in gemeinsamen Räumen und Ritualen undenkbar gewesen wäre. Die Einheit des wiederbelebten Schamanismus, basierend auf der Autorität Kenin-Lopsans und familiärer Beziehungen, wurde jedoch alsbald erschüttert. Interne Spannungen in der Leitung führten zu verschiedenen Spaltungen. Z.B. mit Sailyk-ool133, einem ehemals engen Mitarbeiter und technischen Organisator, der so erfolgreich war, dass Dungur ein zweites Haus im Zentrum Kyzyls zugewiesen bekam. Als letzterer dieses jedoch auf seinen Namen privatisierte, endete dies in einem erbitterten Streit zwischen Kenin-Lopsan und Sailyk-ool – bis heute stehen sich beide Parteien vor Gericht gegenüber. Sailyk-ool gründete sein eigenes schamanisches Zentrum ‚Solotaya Orba‘134 – ‚Goldener Trommelschlegel‘ mit einem anderen Ansatz der Wissensvermittlung. Im Jahr 2000 wurde darüber hinaus der vormalige Vorsitzende der Gesellschaft Dungur Kara-ool Doptshun-ool Tjuljusewitsh aufgrund eines Konfliktes mit Kenin-Lopsan entlassen. Auch er gründete daraufhin 2001 seine eigene schamanische Vereinigung ‚Adyg Eeren‘ – ‚Geist des Bären‘. Derartige Spannungen sind jedoch nicht nur zwischen formal getrennten und unabhängig arbeitenden Schamanenorganisationen wahrzunehmen, sondern auch intern.135 Die Schamanenklinik ‚Tos Deer‘ (‚Neun Himmel‘), öffentlich eine Schwesterorganisation von ‚Dungur‘ und mit ihrer prestigeträchtigen Lage am Jennisej gleich neben den wichtigen Hotels Kyzyls so etwas wie der Touristen133 Vgl. Lindquist, Healers, Leaders and Entrepreneurs, 273; 277. 134 Kharitonova berichtet davon abweichend, dass Kantshyyr-ool 2000 die geistliche Schule Chattyg-Taiga gegründet habe und nach der Ausbildung einiger Schamanen die Organisation „Klassische Basis des Schamanismus – Goldener Trommelschlegel“, während Kenin-Lopsan gegen die Bildung einer Schule von Schamanen war, da dies seiner Argumentation nach der Tradition widersprach, vertrat Kantshyyr-ool die Ansicht, dass nur seine Schule die verlorenen Tradition retten könne, sie daher unverzichtbar sei in einer Situation, in der Schamanen in einer nichttraditionellen Umwelt und ohne Kenntnisse des Schamanismus aufwuchsen (ein Argument war auch, dass traditioneller Weise jeder Schamane einen Lehrer und Chef hatte). Kantshyyr-ool schrieb einen Wettbewerb aus und untersuchte wie Kenin-Lopsan die schamanischen Fähigkeiten der Bewerber. Jedoch gelang es ihm nicht, die reine Tradition zu erhalten: Die Teilnehmer bildeten sich in unterschiedlichsten Methoden fort. Vgl. ɏɚɪɢɬɨɧɨɜɚ, ȼ. ɂ.: Ɏɟɧɢɤɫ ɢɡ ɩɟɩɥɚ? ɋɢɛɢɪɫɤɢɣ ɲɚɦɚɧɢɡɦ ɧɚ ɪɭɛɟɠɟ ɬɵɫɹɱɟɥɟɬɢɣ, Ɇɨɫɤɜɚ 2006, 156-195. 135 Vgl. Znamenski, Andrei A.: The Beauty of the Primitive. Shamanism and the Western Imagination, 2007, 350.

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magnet, wurde zuerst von Nikolai Oorzhak, später von Ay-ýurek geleitet. Während ersterer die Arbeit in Tyva aufgab, um in internationalen Kontexten, darunter in der Ukraine und Deutschland schamanische Seminare zu geben, avancierte letztere zur Starschamanin Tyvas. Kenin-Lopsan bleibt sicherlich die symbolische Integrationsfigur des tyvanischen Schamanismus, doch in politischen Versammlungen, theatralen Performanzen und Medieninterviews ist Ay-ýurek die führende Persönlichkeit geworden. Schließlich sind neben den in Institutionen arbeitenden Schamanen noch alle diejenigen ‚freifliegenden‘136 Schamanen zu nennen, die es vorziehen unabhängig von institutioneller Anbindung zu arbeiten.137 Folglich ergab sich 2003 eine Situation der Koexistenz von sieben bzw. acht religiösen Vereinigungen138 in Tyva mit Bezug zum Schamanismus, welche meinen Forschungen nach auch 2007 im Wesentlichen unverändert war139. Die Entwicklungsphasen des neu entstandenen tyvanischen Schamanismus lassen sich daran anschließend zusammenfassend folgendermaßen gliedern: a) Präfiguration im Rahmen der Volksheilerbewegung b) Institutionalisierung in Dungur und kulminierend-katalytische Initiation während der internationalen Konferenz 1993 c) Strukturelle Ausdifferenzierungen und deviante ‚Häresien‘ d) ‚Postmodernisierung‘: Entkopplung vom Eigenkontext und Rekontextualisierung im Fremden Die letzte Phase ist mit Nikolai Oorzhak bewusst hier nur angedeutet worden, da sie Gegenstand genauerer Betrachtungen späterer Kapitel werden soll. Es sei nur soviel im Voraus bemerkt, dass nicht nur verschiedene Schamanen die Mutterorganisation Dungur und damit den von Kenin-Lopsan abgesteckten kanonischen Rahmen ver136 Ich wähle diese Bezeichnung in Analogie zu denjenigen Wicca-Hexen im europäischen Kontext, die sich keinem Coven zugehörig fühlen und individuell tätig sind. 137 Kharitonova spricht in diesem Zusammenhang auch von ‚kleineren nichtregistrierten schamanischen Mikroorganisationen‘. ɏɚɪɢɬɨɧɨɜɚ, ȼ. ɂ.: Ɏɟɧɢɤɫ ɢɡ ɩɟɩɥɚ? ɋɢɛɢɪɫɤɢɣ ɲɚɦɚɧɢɡɦ ɧɚ ɪɭɛɟɠɟ ɬɵɫɹɱɟɥɟɬɢɣ, Ɇɨɫɤɜɚ 2006, 156-195. 138 U. a. in der wetstyvanischen Stadt Ak-Dovurak die Vereinigung Solangy-Eeren, in Bert-Dag die Organisation Ovaa, in Shagonar die von Vera Sazhina geleitete Klinik Üsh Möörük. Vgl. ɏɚɪɢɬɨɧɨɜɚ, ȼ. ɂ.: Ɏɟɧɢɤɫ ɢɡ ɩɟɩɥɚ? ɋɢɛɢɪɫɤɢɣ ɲɚɦɚɧɢɡɦ ɧɚ ɪɭɛɟɠɟ ɬɵɫɹɱɟɥɟɬɢɣ, Ɇɨɫɤɜɚ 2006, 171. 139 Vgl. den [nicht publizierten] Bericht des tyvanischen Ministeriums für Religionsfragen ‚Report über die gegenwärtige religiöse Situation und staatliche Politik der Beziehungen der Republik Tyva zu Religionen‘: Dort finden sich 57 registrierte Schamanen, 8 schamanische Organisationen.

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lassen sowie eigene Vereinigungen in Tyva gegründet haben. Sie haben sich vielmehr gänzlich aus dem tyvanischen Kontext emanzipiert, auf internationale Tourneen begeben und bieten ihre Seminare nun in einem kategorisch anderen kulturellen Umfeld an. 3.1.2 Kristallisation, Katalyse und Initialzündung: ‚Die erste tyvanisch-amerikanische akademisch-praktische Konferenz von Schamanen und Schamanenforschern‘ Die oben beschriebene Entwicklung des tyvanischen Schamanismus von einer Nischenexistenz hin zu einer identitätsbildenden und international präsenten Größe wurde in ihren Anfängen aus den beiden Strömungen der Volksheilerbewegung sowie der nationalen Wiedererstarkung nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion begreiflich. Organisierende Mitte einer institutionellen Verdichtung wurde aus den dargelegten Gründen der Ethnograf und Schriftsteller Kenin-Lopsan. Entscheidend ist dabei zu beobachten, dass ihm dies nur gelingen konnte, indem er geschickt seine Kontakte zu lokalen Akteuren verknüpfte mit seinen Beziehungen zu ausländischen Interessengruppen. Kenin-Lopsan wurde als personifiziertes schamanisches Wissen inklusive des von ihm zusammengestellten Korpus von Texten zur lebenden Ikone des Tyvanischen Schamanismus für Forscher aus dem Westen, welche über ihn und mit ihm Texte zum tyvanischen Schamanismus herausgaben.140 Seine Zusammenarbeit mit zeitgenössischen Wissens- und Praxisträgern, lokaler Intelligentsia, Machthabern und Repräsentanten der Akademie erfuhr eine entscheidende Erweiterung und Intensivierung durch seine Kontakte zu einem globalen Netzwerk von Forschern aus USA, Finnland, Deutschland, etc. Meiner Ansicht nach wird die Dynamik der dabei auftretenden wechselseitigen Erwartungen und intrinsischen Automatismen, sowie die Rolle des Fremdbezuges in keinem Ereignis plastischer als in der ersten, gemeinsam von Dungur und der FSS organisierten ‚Tyvanisch-Amerikanischen akademisch-praktischen Konferenz von Schamanen und Schamanenforschern‘. Deren Farbigkeit soll im Folgenden näher betrachtet werden. 3.1.2.1 Diskurse und Gesetze: Autoritätsinstallationen Marina Kenin-Lopsan, die zu Beginn zitierte Journalistin, hatte die Konferenz von Schamanen und Schamanenforschern als ‚one of the brightest events in the life of the Republic in 1993’ bezeichnet. Dies sicherlich nicht zuletzt auch deswegen, da auch der Vorsitzende des Parlaments und der Präsident der Republik die Bedeutung dieses Ereignisses für Tyva unterstrichen und als Reaktion auf die Konferenz folgendes Gesetz erlassen hatten: 140 Vgl. Lindquist, Healers, Leaders and Entrepreneurs, 269f.

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„The Government of the Republic of Tuva. Act No 383 of October 15, 1993. Kyzyl. On the Results of the First Tuvan-American Academic-Practical Seminar of Shamans and Shamanologists. From June 20 till August 9, 1993 the First Tuvan-American academic-practical seminar of shamans and shamanologists was held with the participation of representatives of the USA, Canada, Austria and Finland, together with Tuvan researchers and members of the Association of Tuvan shamans ‚Dungur’. Academic reports were presented by Tuvan, American and European researchers. The reports mutually enriched colleagues from different parts of the world; shamans shared their practical experience; a group of shamans demonstrated a joint form of treatment of a patient; about 30 séances and sanctification rites were conducted […]. It was found that the traditional way of life linked to shamanism (its philosophy and ideology) has been preserved in Tuva and maintained by ordinary people to the present day as shown by surviving notions and standards of behavior in life, and the existence of successfully practitioning shamans. The following joint decisions were made […].“141

Die Eingangspräambel des Gesetzes – in der nur wenige Jahre zurückliegenden Sowjetzeit vollkommen undenkbar – wartet gleich mit mehreren Kuriositäten142 auf: Verabschiedet wird das Gesetz als Response auf eine wissenschaftliche Konferenz, die eine Schamanenorganisation zusammen mit mehreren ausländischen Kooperationspartnern organisiert hat. Festgehalten wird nicht nur der Austausch praktischer Erfahrung, sondern auch die erfolgreiche kollektive Heilung eines Patienten qua schamanischer Praktiken. Begrifflichkeiten wie Séance, Heiligung, Tradition werden fixiert und die Rolle Tyvas für die Bewahrung der letzteren hervorgehoben. Dies bildet dann die Grundlage für autoritätsgenerierende Beschlüsse: „Approving the joint investigation of Tuvan and foreign shamans and shamanologists and the work of the Organizing Committee in holding the Seminar, the Government of the Republic of Tuva resolves to: 1. Support the decision of the First Tuvan-American Academic-Practical Seminar of Shamans and Shamanologists to found a scientific center for the study of shamanism in the Tuvan Museum of Regional Studies Named after 60 Heroes: its aim is the integrated (ethnological, sociological, philosophical) research of this ancient phenomenon of world, in particular, Tuvan culture, problems of shamanism’s affects on the ecology of human culture and environment, its potential use of the contemporary individual’s spirituality. 141 Budegetshi, Tamara (Ed.): Shamanism in Tuva. Scientific works of the first TuvanAmerican Seminar of Shamans and Shamanologists, Kyzyl 1994, 42f. 142 Die Tatsache, dass dieses Gesetz in englischer Übersetzung vorliegt, erlaubt bereits Rückschlüsse auf sein Adressatenpublikum. Wie dies textimmanent auch auf inhaltlicher Ebene deutlich wird, soll im Folgenden gezeigt werden.

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2. The Ministry of Finance (G.A. Salchak), the State Committee of Science and Educational Establishments (L.Kh. Tas-ool), the Ministry of Culture, Cinema and Tourism (Ch. Ch.-B. Ondar) are to provide the Tuvan Museum of Regional Studies Named after 60 Heroes with the necessary allocation of 5.6 million roubles for 1994 to maintain the personnel, 1 million roubles for expedition expenses, and 3 million roubles for publishing the Seminar’s materials. 3. The Ministry of Public Health is recommended to organize an experiment on joint healing of patients by professional physicians and shamans. 4. The Heads of Regional Administration are recommended to establish conditions required for treatment by practitioning shamans, registered in the Association of Shamans ‚Dungur’.“143

Qua politischer Kraft schreibt der Gesetzesentwurf fest, wie die tyvanische Antwort auf das internationale Interesse am lokalen Phänomen des Schamanismus geschehen soll. Als Institutionen werden das tyvanische Völkerkundemuseum sowie die Schamanengesellschaft Dungur zur legitimisierten Erforschung des Schamanismus autorisiert. Eine Manifestation erfährt diese Autorität in einem korrespondierenden Budget. Da hinter beiden Institutionen die Person Kenin-Lopsans steht, wird er, obschon im Gesetz nicht namentlich genannt, als Repräsentant installiert. Doch es bleibt nicht bei einer Präformation der institutionellen Rahmenbedingungen. Auch konzeptionell wird eingezeichnet, unter welchen Vorzeichen der Schamanismus zu thematisieren ist: Grundlegendes Postulat hierbei ist und dies ist als grundlegende Wende im Vergleich zur früheren Sowjetpolitik zu werten, dass der Schamanimus mit Methoden der Wissenschaft erforscht werden kann und soll. Dass dies so ist, wird damit begründet, dass es sich beim Schamanismus um ein altes kulturelles Phänomen der gesamten Welt handelt - Tyvas im Besonderen. Und auch die benannten Zielperspektiven der finanzierten Forschung entsprechen dem veränderten Kräftefeld der post-sowjetischen Ära: Ökologie und Spiritualität werden nun als Begründungsstrategie für die Sinnhaftigkeit einer Auseinandersetzung mit dem Schamanismus ins Feld geführt. Einen Reflex dieses Kräftefeldes bilden darüber hinaus auch die Arten der Ministerien, welche an der Wiederbelebung des Schamanismus mitwirken: Erziehung, Kultur, Medien und Tourismus – ganz im Gegensatz zum philosophischen Atheismus des Marxismus früherer Epochen. Während letzterer darum bemüht war, Aufklärung zu betreiben hin zu einer naturwissenschaftlich orientierten Medizin und weg von der blendenden ‚Scharlatanerie des Schamanen‘, werden nun joint ventures von Ärzten und Schamanen ausdrücklich gefördert. Das 1993 erlassene Gesetz spiegelt somit sowohl den aktiven Einfluss der Foundation for Shamanic Studies als auch die Umschreibeprozesse, die die tyvanische Gesellschaft an sich selbst bzgl. ihres schamanischen Erbes vornimmt. 143 Budegetshi, Shamanism in Tuva, 42f.

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Sie sind als Reaktion zu werten sowohl auf die externe Wertschätzung als auch als Auseinandersetzung mit den sich veränderten politischen und religiösen Rahmenbedingungen. Während für letztere schon im vorausgehenden Kapitel eine Übersicht gegeben wurde, soll nun der für diese Untersuchung explizit interessante Einfluss der Foundation einer eingehenderen Betrachtung unterzogen werden. 3.1.2.2 Die FSS als Initiatorin der Konferenz Wie kam es zur Organisation der Konferenz? In seinem rückblickenden Bericht über die Ereignisse 1993, schildert Bill Brunton, damaliger Repräsentant der FSS, die Gedanken Heimo Lappaleinens, welcher im Auftrag der FSS Tyva mehrmals bereist hatte: „I think the idea started to grow because I so often heard mention of the Dalai Lama's visit to Tuva. He had made his first to Tuva the preceding month, September 1992. It was an official visit organized on the highest level with the President and other dignitaries involved. This, of course, meant promoting and officially sanctioning Buddhism in the country again. In my discussions with the President I brought this point out, arguing that as Tuva, through the Dalai Lama's visit, had focused public interest on one of the spiritual traditions of the country, wouldn't it also be time to cast some light on the other, the older spiritual tradition, by organizing a seminar on shamanism? He agreed.“144

Neben der Pionierarbeit des Dalai-Lama, die von der FSS als erfolgreiche strukturelle und nicht konkurrenzfreie Parallele aufgegriffen wird, spielt für die amerikanische Organisation aber auch eine Wiederbelebung des Schamanismus unter ihrer öffentlichkeitswirksamen Mitwirkung und nach ihren Spielregeln der Verbindung von Theorie und Praxis eine entscheidende Rolle: „Heimo also found that although the number of Tuvan shamans had radically diminished under Soviet rule, now many Tuvans wished to see shamanism restored to their daily lives […]. He subsequently met with the President, and they agreed that in late June and early July 1993 the Republic of Tuva and the Foundation for Shamanic Studies would co-sponsor a conference as the cooperative vehicle for the rehabilitation of shamanism. The conference was to be officially labeled ‚scientific’, but with the recognition that participants from both sides would primarily be persons who practiced shamanism as well as studied it.“145 144 Brunton, Bill: Tuva, Land of Eagles – The Foundation's 1993 Expedition to Tuva, Shamanism 7(1), 1994. (http://www.shamanicstudies.org/articles/article08.html). 145 Brunton, Bill: Tuva, Land of Eagles, 1994. (http://www.shamanicstudies.org/articles/article08.html). Die Foundation war also gerade nicht nur an einer einseitigen Wiederbelebung interessiert, auch wenn sie sich gerne als rein altruistisch darstellt: „Here in this rural world of yurts, grass and live-

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3.1.2.3 Die Teilnehmer: Vorstrukturierung des Feldes Die Beweggründe der FSS zur Organisation der Konferenz stellten das erste grundlegende Dispositiv dar, die Rahmenbedingungen, unter welchen sich die Dynamik des Ereignisses entfalten konnte. Darüber hinaus präfigurierten die Teilnehmer der Expedition mit ihren jeweiligen beruflichen bzw. spirituellen Hintergründen, Einstellungen und individuellen Erwartungen das Kräftefeld. Zunächst ist darauf zu verweisen, dass die Partizipanten selbst die Tätigkeit der FSS in Tyva nicht als lediglich organisatorisch oder etwa politisch begriffen, sondern als spirituelle Mission: „One important aspect of our community was that we were a sacred circle from the very beginning of our stay in Tuva, as Gabriele mentioned above. Time and again we drew on the familiar power of the circle, the blessings of which extended to the Tuvans as well.“146

Und zu einem späteren Zeitpunkt reflektiert der Autor sein persönliches rituelles Tun im Lichte einer internationalen Ritualgemeinschaft: „From where I was sitting, the horizon was literally a circle. I had never seen that before. I knew this was an important day for me. This ritual was about land. This ritual was about drums. This was my ritual. In the circle, with all of us together, I began to drum a certain rhythm and sing. And it was as if something cracked open inside me and moved through me. The Tuvan shamans, Moon Heart and Pauline, drummed in sync with us for the first time. The circle pulsed together. It was a beautiful experience, having a visceral sense of the miracle of our coming together in this remote place, for this particular ritual, from Austria, California, Minnesota, Finland, Canada, Norway, and many places in Tuva.“147

Diese spirituelle Mission beinhaltete auch, zu spirituellen Lehrern für die Tyvaner zu werden:

stock, as well as in the cities and smaller communities of Tuva, there is a strong longing for a new identity that is an old identity. Tuvans, like other tribal peoples of Siberia, want to be who they are. As in other places in Siberia, this means that they want their spiritual lives restored. In Tuva this vital link to themselves and their world is shamanism blended with Lamaist Buddhism. It was this pressing interest on the part of Tuvans that led to the Foundation expedition to Tuva in the summer of 1993.“ 146 Brunton, Bill: Tuva, Land of Eagles, 1994. (http://www.shamanicstudies.org/articles/article08.html). 147 Brunton, Bill: Tuva, Land of Eagles, 1994. (http://www.shamanicstudies.org/articles/article08.html).

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„We were hungry to share perspectives with them. After continued insistence and negotiation, we were finally given the opportunity to meet exclusively with them. At last we had our opportunity. But, how were we to proceed? We began by giving our own introductions of how we had come to shamanic practice. But, the dynamic was wrong. Then we hit upon the idea: form a circle with them! We did this, and explained the symbolism of the circle. The effects were dramatic. There was an immediate easing of tension.“148

Und wie es der Anspruch der FSS an den Schamanismus und sich selbst ist, beinhaltet das Lehrersein, auch das Heilersein: „On our second excursion we traveled west from Kyzyl, accompanied by a second Russian bus carrying Norwegian educators. We stopped at communities along the way where we were expected to do concerts. The format we tried to adopt of introducing ourselves and describing the Foundation and its work abruptly gave way to doing healing sessions for those who came forward with complaints. We learned from this the great need for healing in Tuva and the apparent lack of people […]. We were told that our blessings were spreading across Tuva, to eventually touch all parts. There was in us the satisfaction borne of simply doing the right thing.“149

Die Foundation war daher nicht ausschließlich darum bemüht, den Tyvanern das Eigene zurück zu bringen, wie sie zu Anfang konstatierte. Sie engagierte sich vielmehr recht ordentlich darin, das Ihre weiterzugeben. Ob dies bewusste oder unbewusste Absicht der Teilnehmenden war, oder ob es sich dabei vielmehr um ein Phänomen der Emergenz aus der sich entwickelnden Interaktionsdynamik handelt, kann ex post nur schwer beurteilt werden. Festgehalten werden können aber die faktischen, oben beschriebenen Weisen, in welchen sich die interkulturelle Kommunikation ausgestaltete. Rückwirkend, und damit schließt sich der Kreis der Interaktion, haben auch die Expeditionsteilnehmer ihre Reise als Transformation erfahren: „It would be accurate to describe our experience in Tuva as transformative. All members of the expedition feel that their lives have been changed by the experiences shared in this small central Asian country. The Tuvans assured us that they too had been changed. The shamans who participated in our circles learned a new way of working; cooperating with each other

148 Brunton, Bill: Tuva, Land of Eagles, 1994. (http://www.shamanicstudies.org/articles/article08.html). 149 Brunton, Bill: Tuva, Land of Eagles, 1994. (http://www.shamanicstudies.org/articles/article08.html).

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and drawing on the power of the circle to amplify and focus healing power. We were thanked profusely for introducing them to this way of working with the spirits.“150

Die Darstellungen lassen darauf schließen, dass die FSS mit der Art, wie die Kooperation verlief und mit den daraus resultierenden Ergebnissen zufrieden war. An welchem Punkt es zu einem Nicht-Verstehen kam und welche Konsequenzen dies hatte, soll im Anschluss verhandelt werden. Zunächst seien zusammenfassend folgende Dispositionen der Teilnehmer festgehalten: Im Rahmen einer spirituellen Mission werden die Schamanismus Praktizierenden aus Europa und USA zu spirituellen Lehrer und Heilern für die Tyvaner. Für die Partizipanten selbst manifestiert sich dies als befriedigende Selbsterfahrung der Transformation. Wer waren nun die Teilnehmer im Einzelnen, worüber haben sie auf der Konferenz gesprochen und welche Rückschlüsse lässt dies auf ihre Hintergründe zu?151 Zunächst ist der Hauptinitiator Heimo Lappaleinen zu nennen. Er referiert über seine Forschungen bei den Nganasans auf der Tamyr Halbinsel. Dazu wird eine Film von Lennart Meri gezeigt, der ein zwanzig minütiges Schamanen-Ritual der Nganasan vorstellt. In der anschließenden Diskussion finden die Konferenzteilnehmer viele Gemeinsamkeiten mit den Riten in Tyva. Des weiteren Melinda Maxfield, Psychologin und schamanisch Praktizierende. Sie hält einen Vortrag zu den ‚verschiedenen Bewusstseinszuständen während der Trommelséance‘. Betont wird auch, dass sie ihre modernen Techniken erfolgreich in der Praxis einsetzt. Dann Norman Benzie, der die schamanischen Gehalte in der Kunst der Inuit herausarbeitet und Larry Peters, der den Schamanismus in Nepal präsentiert. Letzterer erklärt dabei im Detail ein Heilungsritual sowie als Beweis der Echtheit des Schamanen seine außergewöhnlichen Taten. Weiterhin Roswita und Paul Uccusic, beide schamanisch Praktizierende. Der Journalist und Fotograf Paul überreicht bei dieser Gelegenheit den Tyvanern sein Buch ‚Der Schamane in uns‘152. Tom und Tamia Anderson, die das ganze Seminar filmen und schließlich Bill Brunton, der Repräsentant der FSS. Aus der Konstellation der beteiligten Personen und der von ihnen vorgetragenen Thematiken lassen sich meiner Ansicht nach einige Schlussfolgerungen ziehen. Die westlichen Teilnehmer präfigurieren in ihren mitgebrachten Perspektiven die Wiederentstehung des tyvanischen Schamanismus als Mischung einer Rekonstruktion 150 Brunton, Bill: Tuva, Land of Eagles, 1994. (http://www.shamanicstudies.org/articles/article08.html). 151 Vgl. Kenin-Lopsan, Marina in: Budegetshi, Tamara (Ed.): Shamanism in Tuva. Scientific works of the first Tuvan-American Seminar of Shamans and Shamanologists, Kyzyl 1994, 5f. 152 Uccusic, Paul: Der Schamane in uns. Schamanismus als neue Selbsterfahrung. Hilfe und Heilung, München 1993.

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von ‚alten‘, imaginierten Praktiken, bewusstseinspsychologischen Argumenten, einer transkulturellen Anschlussfähigkeit des Schamanismus an andere traditionelle Kulturen und neoschamanischen Praktiken sowie seine Verbindung mit neuen technischen Medien. Dies konnte gelingen, indem Parallelen zu anderen Kulturen konstruiert wurden, die sich in einer vermeintlich ähnlichen Situation der Tyvas befinden: Die Bewohner Tamyrs, Nepals und die Inuit. Dass dabei eine Reihe von Stereotypen bedient wurde, kann nur vermutet werden. Schamanismus als solcher wird darüber hinaus in seinen differenzierten kulturellen Dimensionen kreiert: Schamanismus als alternative Medizin, Form der Heilung und psychologische Technik. Schamanismus im Film, in der bildendenden Kunst, Literatur etc. Die selbstbezügliche mediale Dokumentation des Ereignisses, die dazu dient, es im eigenen und anderen Kontexten reproduzierbar zu machen, spielt von Anfang an eine entscheidende Rolle.153 Dass hierbei die Rekonstruktion vermeintlich ältester und damit unerklärlicher Traditionen einhergeht mit einem Rekurs auf die modernen technischen Medien, stellt kein Problem dar. Vielmehr ist es die Verbindung von Theorie und Praxis, von Wissenschaft und gelebtem Schamanismus, die ‚wahre Kommunikation‘ garantiert: „Most of them combine a theoretical interest in shamanism with its practical experience, and this may be the reason why the guests found a common language with Tuvan shamans.“154

Als Ergebnis kann festgehalten werden, dass in den Akteuren und ihren Interaktionen die gegenseitigen Erwartungen deutlich wurden und somit auch die Konstatierung eines wechselseitigen Erfolges verständlich wird. Jeder hat bekommen was er gesucht hat: Die FSS wurde darin bestätigt, dass sie nicht umsonst Geld investiert hat, da es tatsächlich noch Schamanismus gab in Tyva, der lohnte wiederzubeleben. Die Tyvaner haben an und mit den ausländischen Schamanen sehen können, was ihr eigener Schamanismus ist:

153 2009 eröffnet die Foundation for Shamanic Studies einen channel auf der video sharing website youtube mit dem Titel ‚shamanicstudies‘ und veröffentlicht dort neben anderen Filmen über ihr weltweites Wirken auch die Dokumentation über die Ereignisse in Tyva mit folgendem Begleittext: „Clips from a moving documentary of the Foundation for Shamanic Studies' 1993 expedition to help, at their invitation, the Tuvan peoples of Central Asia revive their shamanic traditions, nearly destroyed under Soviet Communism. Michael Harner offers commentary on shamanism and shamanic healing.“ Ein link auf die homepage der Foundation garantiert dabei den erwünschten rückkoppelnden Werbeeffekt. Vgl. http://www.youtube.com/watch?v=nFmpWmghLB4. 154 Kenin-Lopsan, Marina, Shamanism in Tuva, 5f.

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„As a consequence the guests satisfied themselves that shamanic philosophy is still alive in the country situated in the center of Asia, and you can still find people practitioning shamanism. As for the local population, people had an opportunity to learn foreign shamans practice and even experience it themselves.“155

3.1.2.4 Ein Nichtverstehen als Auslöser einer Wahrnehmungsverschiebung In der Darstellung der FSS der Ereignisse von 1993, wie sie oben bereits verhandelt wurden, begegnet im Wesentlichen die Konstatierung von Zufriedenheit und die Rhetorik erreichter Ziele. Allerdings findet sich im Aufsatz Bill Bruntons auch ein Absatz, der wenn auch nicht explizit, so doch mit aller Plastizität ein Ereignis schildert, das sich um ein Geschehen des kulturellen Nicht-Verstehens organisiert. Da diese raumzeitliche Einheit während der Konferenz, ich möchte es als Ereignis im Ereignis bezeichnen, wie sich später zeigen wird, den Ausgangspunkt einer Entwicklung des tyvanischen Schamanismus in eine neue Phase der Internationalisierung einläuten sollte, sei sie an dieser Stelle einer genaueren Betrachtung unterzogen. Bill Brunton berichtet: „The Concert Like rumbles of thunder on a distant horizon, we began hearing of a planned ‚concert‘ in which we were expected to take part. At first we were confused by the term, which we took at its literal meaning. ‚Why would our group be associated with such an event,‘ we wondered? Evidently, this was a problem in translation. The actual meaning was something like ‚public performance on a stage.‘ Several negotiations failed to resolve the issue. We were not able to dissuade the Tuvans from the position that there was to be a concert and that we would perform there. ‚Besides,‘ they said, ‚we have already sold the tickets!‘ In their subsequent written reports to the Foundation, members of the expedition covered many topics with different slants. This is expected when independent observers participate in complex events over time. However, there is a voice of unanimity about the concert. Excerpting from the report by Norman Benzie, we learn how precipitously the concert went from discussions and uncertainty to concrete event. We returned to Kyzyl in the late afternoon and were told of the ‚concert‘ which we would be attending. We thought it was to be in our honor. It turned out we were to be performers. The organizers began telling us that we should each do what we did the best. The reaction of our group was one that was the closest thing to a revolt! We were dropped off briefly to change clothes and then attended the concert. My thoughts were running rampant. ‚How could they possibly do something like this? What nerve! They were totally insensitive to what we do. This is a sacred event and they sold tickets to the public to put us on stage as performers!‘ I had brought my rattle to Tuva. I consider it a sa155 Ebd., 5f.

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cred instrument. There was no way I was going to take it on stage to perform in front of the public. I therefore decided not to take it with me and left for the concert with the others. Even up to the last seconds before the curtain went up, we were backstage seriously considering refusing to do anything. They had absolutely no idea of what we did, or how we did it. The audience was clapping to get the "show" started and there we were, still considering what to do. We finally decided to form a circle on stage, to begin drumming, and trusted that the spirits would do what needed to be done. We also were told that the most popular actor in Tuva was there to be healed. He had been released from the hospital, specifically to attend this function. He had a serious heart condition. After considering refusal, we decided to have him come up on the stage to be in the center of our circle once we had begun. The crisis caused by the concert taught us a valuable lesson: one that we were to have repeated more than once in Tuva; shamanism requires flexibility! What followed those moments of final resistance on the stage of Tuva's National Theater, with the need of the actor and his desperate wife at the focus, was a major turning point for the rest of our work. Unknown to Larry Peters, who had served as a Nepalese shaman's apprentice during his research for his doctorate in anthropology, and who had recently been studying advanced Core Shamanism with Michael Harner, the spirits were about to make him the instrument of power in a breathtaking healing. Norm continues in his report that, We began to rattle and drum. The energy moved to higher and higher levels very quickly. Larry got up and began to dance around the circle and still the energies moved higher. Larry then moved to the actor and began to frantically extract from his chest and different parts of his body. The energy continued to climb while Moon Heart rose up and almost broke the drum with her beating. The drunk shaman was beating erratically, the lama began ringing bells, the box of Tic Tacs I was using as a temporary rattle got louder and louder. The drums were shaking the stage until they created such a din that the actor on the floor in the center of the circle looked like he was going to immediately go into cardiac arrest. Still Larry kept frantically pulling and extracting. After some indeterminable time, the drumming slowed and stopped. Larry was totally spaced-out and completely exhausted, the actor was shaking and Mo was at his head trying to create some form of closure. The actor shortly got to his feet and exclaimed that he was free of pain. He was returned to the hospital for observation, but was released the next day. There was applause and the hands — together praying — honoring gesture from the audience. We looked toward the wings of the stage. To our surprise, we saw the Tuvan shamans who had not joined us on the stage (four had) honoring us too. They also gave us hugs as we left the stage. From that moment the Tuvans accepted the authenticity of our shamanic work. We then began a series of ‚concerts‘ and other healing sessions that continued until we left Tuva. […]. Four days later the actor and his wife, all smiles and filled with energy, served as our hosts at their flat. He continues to prosper as of this writing.“156 156 Brunton, Bill: Tuva, Land of Eagles, 1994. (http://www.shamanicstudies.org/articles/article08.html).

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Die zuvor von beiden Seiten festgestellte Kommunikation unter Schamanen jenseits linguistischer Barrieren scheint an diesem Punkt an ihre Grenzen gestoßen zu sein.157 Es geschieht ein interkultureller Bruch darin, als die Erwartungen, Selbstverständnisse und Fremdwahrnehmungen dissoziieren. Die Tyvaner, welche die aus dem Westen angereisten Schamanen wohl auch in der Tradition sowjetischer Theatergruppen sahen, die schamanische Traditionen auf die Bühne bringen, haben bereits Karten für ein Konzert verkauft, bevor sie ihre Gäste davon in Kenntnis setzen. Bezeichnend ist auch die Tatsache, dass sich die Mehrzahl der tyvanischen Schamanen eines Auftrittes auf der Bühne entziehen, also eine klare Unterscheidung vornehmen zwischen Inszenierung und echtem Ritual. Dennoch scheint im Prozess der Aufführung und performativen Heilung eine Verschiebung stattgefunden zu haben, die die Wahrnehmung der Tyvaner selbst auf die Zusammenhänge von Inszenierung und Authentizität verschoben hat. Ein Indiz dafür ist die erfolgreiche Heilung des auf der Bühne behandelten herzkranken Schauspielers. Sie setzt sich fort in der an die Theaterperformanz anschließenden Tour der Schamanen der FSS durch Tyva, in der sie immer wieder zu Heilungen aufgefordert werden. Während die Schamanengruppe vor dem Theaterauftritt als exotisches Phänomen aus dem Ausland galt, das wohl zu bestaunen galt, erfahren sie nun ein Deutung inner157 Vgl. auch: Ʉɟɧɢɧ-Ʌɨɩɫɚɧ, Ɇ. Ȼ. (1993). „Ɂɜɭɱɢ ɛɭɛɟɧ…“, Ɍɭɜɢɧɫɤɚɹ ɩɪɚɜɞɚ 85 (14342), 29 ɢɸɥɹ 1993, Ʉɵɡɵɥ. Kenin-Lopsan berichtet in seinem Zeitungsartikel zur Konferenz davon, dass die ausländischen und tyvanischen Schamanen schnell eine gemeinsame Sprache gefunden und sich ohne Übersetzer verständigt hätten. So sahen die Gäste aus dem Ausland, dass die schamanische Philosophie in Tyva unter einfachen Leuten lebendig ist. Wichtig war dabei für Kenin-Lopsan auch zu unterstreichen, dass es sich bei den Gästen um ‚interessante Menschen‘ handelt, die theoretisches Wissen mit der Praxis verbinden – ‚hochgebildete Menschen mit tiefem Verständnis für die Sache, man kann sagen, sie leben die schamanische Philosophie‘. Darüber hinaus lies eine Grußadresse eines indianischen Schamanen an die Mitglieder der Schamanengesellschaft Dungur, übermittelt auf einem Video, Kenin-Lopsan strukturelle Ähnlichkeiten entdecken: Ins Zentrum Asiens sei so ein Indianer gekommen. Dieser heile Leute mit der Hilfe der Geister des Adlers, des Bären, des Hirsches in Ritualen und lebe in Nevada, einer Landschaft sehr ähnlich der Tyvas. In den USA habe sich die Situation des Schamanismus seit 20 Jahren verändert und so habe der indianische Schamane beschlossen, dass es genug der heimlichen Praxis sei und fing nun an öffentlich zu arbeiten. Neben ‚vielen gemeinsamen Details‘ zwischen tyvanischen Schamanen und denen des Nordens, die in einem während der Konferenz gemeinsam analysierten Film herausgestellt werden, schafft die als ähnlich wahrgenommene Situation indigener Völker in USA und Tyva so eine kulturübergreifende Kommunikationsbasis. In welcher Form sich diese aber auch sehr schnell wieder relativieren konnte, sollen die obigen Betrachtungen deutlich machen.

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halb von Schemata, die die Tyvaner selbst in diesem Prozess für sich neu als die eigenen entdeckt und auch auf die ausländischen Schamanen als zutreffend empfunden haben. Auch die Ritualklienten, in diesem Fall Tyvaner konnten so die Schamanen der FSS als echte und wirksame erfahren, ihre Hilfe war daher gesucht. Wie dieser eher rezeptive Prozess aber auch eine aktive Rolle für das Selbstkonzept einnehmen konnte, soll im Folgenden genauer betrachtet werden. 3.1.2.5 Die Geburt einer Star-Schamanin Während des Konzertes wurde interessanterweise eine junge Frau mit in den Kreis der Trommelnden einbezogen, die bis dahin in der schamanischen Gilde Tyvas ein unbeschriebenes Blatt war: Ay-ýurek. Sie wird später zur Star-Schamanin Tyvas werden und diejenige Schamanin, die nicht nur im Inland den Schamanismus bei kollektiven Ereignissen wie keine anderere repräsentiert, sondern auch durch die ihr eigene Performativität ihres Auftretens auf internationaler Bühne die Schlüsselrolle spielen wird. Es ist wohl nicht unberechtigt festzustellen, dass sich in ihrer ‚Berufung‘ während des Konzerts mit den Schamanen der FSS die tyvanische Wahrnehmungsverschiebung auf persönlicher Ebene spiegelt und verkörpert. Wie geschah es nun, dass sie in den Kreis der Trommelnden einbezogen wurde? „For some indigenous neo-shamans, Western Spirituality print culture and contact provide not only feedback but also inspiration. The best example that comes to mind is Tuvan shamaness Ai-Churek, whose name is poetically translated from Tuvan as Moon-Heart […]. This woman was consecrated as a shaman in 1993 by Kenin-Lopsan […]. That year, in the Tuvan National Theater, Western spiritual seakers affiliated with Harner’s FSS performed a public healing session over a native actor with a failing heart. The event was part of the first international shamanism conference in Tuva. Ai-Churek came to see the event as spectator. Then joining the impromptu healing session, she left the building as a spiritual practitioner. During the ritual manipulations over the sick actor, trying to involve natives who stood nearby, Kenin-Lopsan suddenly handed her a drum and said, ‚Drum!’ Ai-Churek said that she stepped on the stage and began to drum vigorously. In fact, Ai-Churek became involved in the séance of the public healing so deeply that Kenin-Lopsan had to interfere to bring her back to ordinary reality: ‚Just come down. It is all over. It is all right. Just stop drumming.‘ It is notable that in 1998, during her visit to the United States, Ai-Churek stressed that this particular shamanism conference and the contacts with Harner’s associates served her as an inspiration to cultivate her own shamanic skills. After the performance in the Tuvan Nation Theater, she decided to become a shamanism practitioner on a permanent basis. In addition to her regular activities in the shamanic clinic, Moon Heart was constantly on the road participating in various folk and pop concerts and workshops in the United States, Germany, France, Italy and elite clubs of Moscow.“158 158 Znamenski, The Beauty of the Primitive, 356f.

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Obwohl Ay-ýurek die Bedeutung des 1993er Ereignisses unterstreicht und die Inspiration durch Harner betont, deutet sie ihre Berufung auf ihrer Homepage doch gemäß traditioneller Schemata: „Die schamanischen Wurzeln Ay-ýureks können in mütterlicher und väterlicher Linie zurückverfolgt werden. Ihr Vater heilte das Volk und sagte mit den Khuvaanak-Stein weis zu der Zeit, als die schamanische Praktik staatlich verboten war. Er wurde 74 Jahre alt. Zur Familie der Mutter gehörten die berühmten Schwestern – neun Schamanen. Ihr Geburtsort befindet sich in Dedir Aastygkuj am Abhang des Berggrates Tandy-Uula. Dort gibt es neun Gräber, die auf den Begräbnisort der neun Schamanen verweisen. Seit alter Zeit heisst die Familie Ay-ýureks ‚Nachfahren der neun Schamanen aus dem Geschlecht ýoodu‘. Sie unterschieden sich durch ihren Gesang während schamanischer Zeremonien, sie heilten die Leute mit Gesang, Schamanenlieder (algyshy) sangen sie auch. Hierin unterscheiden sich auch die gegenwärtigen Schamaninnen aus der Familie ýoodu. Die Zahl neun besitzt für diese Familie eine heilige Bedeutung. Die Mutter Ay-ýureks gebar neun Töchter. Die Schamanin selbst ist das achte Kind in der Familie. Aber, wie sie selbst anmerkt, ungeachtet der Tatsache eines der jüngsten Kinder zu sein, führte sie jedoch immer den Kreis der Schwestern an.“ 159

Diese ex-post Identitätskonstruktion Ay-ýureks leistet es nicht nur, ihre Berufung, die maßgeblich mit ausgelöst wurde durch den Kontakt zu einer externen Organisation wie der Foundation, einen Deutungsrahmen zu verleihen, der den klassischen Anforderungen an eine schamanische Abstammung korrespondiert, sondern begegnet in einem Zug auch einer häufig Ay-ýurek entgegen gebrachten Kritik. Denn während der tyvanische Kehlkopfgesang Khöömei traditionellerweise bis zum Auftreten Ay-ýureks gerade nicht Teil schamanischer Rituale war, sondern als Kunstform im Alltag oder auch von Meistern beherrscht wurde, integrierte sie diesen neben den überlieferten Schamanengesängen Algyshy in ihre Rituale. In der Praxis setzte sich die Idee Ay-ýureks trotz aller Kritik wohl nicht zuletzt deswegen durch, da Khöömei neben schamanischen Performanzen im Westen das zweite große tyvanisch-exotische Exportprodukt darstellt und sich so synergetisch in einen Gesamtauftritt einfügt.160 Nun ist in obiger Autobiografie nicht explizit von Khöömei die Rede. Es bestehen aber begründete Vermutungen, dass der Textabschnitt, welcher sowohl die starke Kopplung Ay-ýureks zu einer doppelten verwandtschaftlichen schamanischen Linie als auch zur mythologischen Bedeutung der Zahl Neun betont, zugleich aber auch die Differenz zu den übrigen schamanischen Traditionen im Aspekt des Gesanges, als Response auf entsprechende Kritiken gelesen werden kann. So interferieren im Konstrukt der schamanischen Biografie überlieferungsbedingte Anforderungen an die Vita, Dynamiken des internationalisierten Ritualmark159 Vgl. die Homepage Ay-ýureks www.shaman.shude.ru. 160 Vgl. Lindquist, Healers, Leaders and Entrepreneurs, 273-277.

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tes mit persönlichen Dispositionen und kontingenten Lebenserfahrungen. In der rückblickenden Sicht auf ihr Leben zeigt sich die kontinuierliche Gratwanderung der tyvanischen Star-Schamanen zwischen den Anforderungen der verschiedenen Kontexte: Denn Journalisten und Touristen, die nach Tyva reisen, um Schamanen zu treffen, brauchen Performanzen, die sowohl visuell ansprechend sind, als auch Authentizität vermitteln. Die Theatralik Ay-ýureks will daher wohl dosiert sein, denn schnell sind Ausländer enttäuscht, wenn das Ritual zu starke Anklänge an new age zeigt.161 Doch die Star-Schamanin versteht sich sowohl auf Vermarktung als auch auf repräsentatives Auftreten während politischer Ereignisse. Ihre Organisation von Gruppenexkursionen für Ausländer mit all inclusive Ritualen an heiligen Plätzen schadet dabei ihrem Ruf unter der Lokalbevölkerung, eine starke Schamanin zu sein, nicht. Denn letztere profitiert entweder in ökonomischer Hinsicht als Ausstatter derartiger durchdesignter Ausflüge oder in ritueller, da sie so die Gelegenheit hat, an schamanischen Ritualen teilzunehmen die die eigenen finanziellen Möglichkeiten ansonsten übersteigen würden. Trotz, dass verschiedene schamanische Kollegen Ay-ýurek nicht zuletzt aus wettbewerbsstrategischen Gründen unter verschiedenen Gesichtspunkten kritisieren, ist ihr Status als Star-Schamanin in der tyvanischen Bevölkerung dennoch weitgehend etabliert. Eine Star-Schamanin zu sein, bedeutet unter den gegenwärtigen Bedingungen auch, auf Theaterfestivals in Moskau und Petersburg teilzunehmen, in die USA eingeladen zu werden, Seminare zum Schamanismus in westeuropäischen Ländern zu geben und eine eigene Homepage zu betreiben162. Dort findet sich dann auch die für den Interessierten notwendige Vorabinformation wie eine Einführung in die Geschichte von Tos Deer und den tyvanischen Schamanismus, aber praktischerweise auch ad hoc die Dienstleistungen und Rituale, welche von der Schamanin in Tos Deer und auf Tournee feilgeboten werden. Zwei Filme, die über Ay-ýurek gedreht wurden (1998 ‚Küsüngü Algyshy‘, Die Stimme des Schamanenspiegels und ‚Moonheart‘), 6 Bücher die von 1998 bis 2006 über Ai-Thsurek herausgegeben wurden, sowie mehrere aufgenommene CDs mit schamanischen Liedern (‚Kadyn ýangysy‘) belegen darüber hinaus den internationalen Rang der Schamanin. Schließlich fand die Meisterin der schamanischen Performanz als Grenzgängerin in unbekannte Welten – wie es fast nicht anders zu erwarten war – auch ihren Weg in virtuelle Räume wie z.B. video sharing websites. Auf der Plattform youtube können daher schamanisch Suchende auf der ganzen Welt an der ‚shamanic journey around Tuva‘ partizipieren und die StarSchamanin kennenlernen.163 Die junge Frau, welche 1993 beim Besuch einiger amerikanischer Vertreter des Harnerschen Core-Schamanismus eine Trommel in 161 Vgl. Lindquist, Healers, Leaders and Entrepreneurs, 273-277. 162 Vgl. www.shaman.shude.ru. 163 Vgl. http://de.youtube.com/watch?v=2KopD0R38w4.

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die Hand gedrückt bekam, ist in vielerlei Hinsicht den Weg einer zeitgenössischen Schamanin gegangen. Sie vereint in ihrer Person Diskursverschiebungen und Wahrnehmungstransformationen wie sonst keine Figur im Spielfeld des tyvanischen Schamanismus. Ausgehend von der katalytischen Wirkung des Ereignisses 1993 ist sie dann selbst zu einem personellen Katalysator geworden und hat viele Neuerungen im tyvanischen Schamanismus entwickelt oder beschleunigt. Dass diese herausgehobene Stellung sie auch zur prädestinierten Adresse von Kritik machte, versteht sich von selbst. Kontingenz in den Entstehungsbedingungen, Wirksamkeit internationaler Wechselwirkungen, Kreativität in der Adaption an die Herausforderungen der post-sowjetischen Transformationsprozesse sowie die Dialektik von Faszination und Kritik kennzeichnen so Ay-ýurek als pars pro toto des tyvanischen Schamanismus. 3.1.3 Zusammenfassung ‚One of the brightest events in the life of the Republic‘ war die Selbstbezeichnung, die eine tyvanische Journalistin der 1993 abgehaltenen internationalen Konferenz von Schamanenforschern und Schamanen zugewiesen hatte. In der Tat stellte sie den Höhepunkt einer Entwicklung dar, die sich bereits in den 80er Jahren der Perestroika anbahnte. So treffen zwei Faktoren zusammen, die die Wiederbelebung des tyvanischen Schamanismus in den 90ern begünstigen: Die zunehmende Plausibilität der Volksheilerbewegung mit ihrem Ziel einer integrativen Medizin als erster institutionalisierter Interpretationsrahmen und die national-kulturelle Wiedererstarkung mit ihrer propagierten Rückkehr zum Eigenen als Abgrenzung gegen alles Fremde. Innerhalb dieses Prozesses ist Kenin-Lopsan in seiner Rolle als Organisator, Administrator und Kenner der Tradition als die entscheidende Triebfeder zu sehen und gründete schließlich 1992 zunächst unter Betonung der heilerischen Funktionen das erste schamanische Zentrum Dungur. Das anschließend von ihm 1993 durchgeführte internationale Seminar avanciert zum Kristallisationspunkt, Katalysator und Initialzünder der Wiedererstarkung. Doch die Einheit des dadurch wiederbelebten Schamanismus, basierend auf der Autorität Kenin-Lopsans, wird bald erschüttert. Interne Spannungen führen sowohl zu Abspaltungen von formal getrennten und unabhängig arbeitenden Schamanenorganisationen, als auch zu internen Machtaushandlungen. Kenin-Lopsan bleibt die symbolische Integrationsfigur des tyvanischen Schamanismus, doch zu einer v.a. im Ausland öffentlichkeitswirksamen Schamanin entwickelt sich eine zunächst außenstehende Persönlichkeit: Die spätere Star-Schamanin Ay-ýurek. Als Resultat dieser Entwicklung existieren seit 2003 sieben bzw. acht religiöse schamanische Vereinigungen. Eine Untersuchung der konstitutiven Faktoren, die zum Erfolg des Kenin-Lopsan beitrugen, zeigt, dass ihm sein beispielloses Unternehmen nur gelingen konnte, indem er ge-

G ESCHICHTE DER I NSTITUTIONALISIERUNG | 105

schickt seine Kontakte zu lokalen Akteuren mit seinen Beziehungen zu ausländischen Interessengruppen verknüpfte. Kenin-Lopsan wurde als personifiziertes schamanisches Wissen inklusive des von ihm zusammengestellten Korpus von Texten zur lebenden Ikone des tyvanischen Schamanismus für Forscher aus dem Westen, welche über ihn und mit ihm Texte zu ‚seinem‘ Schamanismus herausgaben. Die Regierung Tyvas erlässt darüber hinaus als Reaktion auf das internationale Interesse am lokalen Phänomen des Schamanismus ein Gesetz, das qua politischer Kraft als Institutionen das tyvanische Völkerkundemuseum sowie die Schamanengesellschaft Dungur zur nun legitimisierten Erforschung des Schamanismus autorisiert und damit implizit Kenin-Lopsan als maßgebende Autorität installiert. In dieser Entscheidung spiegelt sich sowohl der aktive Einfluss der Foundation for Shamanic Studies als auch die Umschreibeprozesse, die die tyvanische Gesellschaft an sich selbst bzgl. ihres schamanischen Erbes vornimmt. Sie sind als Reaktion zu werten sowohl auf die externe Wertschätzung als auch als Auseinandersetzung mit den veränderten politischen und religiösen Rahmenbedingungen. Die Wertschätzung von außen ist dabei keineswegs als uneigennützige Affirmation zu sehen. Vielmehr zeigen sich in der initiatorischen Mitwirkung der FSS klar ihre eigenen Spielregeln, welche auch beinhalteten, nicht ausschließlich den Tyvanern das Eigene zurück zu bringen, sondern demgegenüber auch das Ihre weiterzugeben. Die Prädispositionen der Teilnehmer, ihre Selbstwahrnehmung als spirituelle Lehrer Tyvas und eingebrachten Perspektiven bildeten so das Dispositiv, unter welchem sich die Dynamik des Ereignisses entfaltete. Deutlich wird dies im Besonderen auch dadurch, dass am Anfang der Wahrnehmungsverschiebung und einer neuen Phase der Internationalisierung des tyvanischen Schamanismus ein Nichtverstehen als Auslöser stand. Im Prozess einer performativen Heilung wurde so die Aufmerksamkeit der Tyvaner selbst auf die Zusammenhänge von Inszenierung und Authentizität verschoben. Deuteschemata werden als eigene entdeckt, die sowohl für das Eigene als auch das Fremde plausibel erscheinen. Bezeichnenderweise kann gerade dieses Ereignis des Missverstehens als die Geburtsstunde der Star-Schamanin Ayýurek gesehen werden. Die Wahrnehmungsverschiebung manifestiert sich bei ihr auf persönlicher Ebene und lässt sie für sich selbst eine schamanische Biografie konstruieren, die sowohl den überlieferungsbedingten Anforderungen an die Vita, den Dynamiken des internationalisierten Ritualmarktes und kontingenten Lebenserfahrungen gerecht wird. Im Leben Ay-ýureks spiegelt sich daher die kontinuierliche Gratwanderung zwischen den Kontexten als Weg einer zeitgenössischen Schamanin. Sie vereint in ihrer Person Diskursverschiebungen und Wahrnehmungstransformationen und wurde selbst zu einem personellen Katalysator zahlreicher Neuerungen. Ausgehend von dieser ersten Skizzierung des sozialen Feldes, welches sich um die Diskurskategorie Schamanismus in Tyva seit den 80ern und wesentlich seit 1992 gebildet hat, ist es nun sinnvoll, weiter zurück zu fragen. In Gesprächen mit

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tyvanischen Schamanen kamen diese immer wieder auf geschichtliche Ereignisse zu sprechen, die u.a. die Verfolgungen während der Sowjetzeit, die vor-sowjetische Situation oder auch verschiedenste Epochen bis zur prähistorischen Zeit betrafen. Um die in diesem Zusammenhang anzutreffenden Diskursstrategien nach zu vollziehen, ist es meiner Ansicht nach unabdingbar zu beachten, dass die Wahrnehmung und das Schreiben von Geschichte unter der fermentierenden Wirkung gegenwärtiger Notwendigkeiten steht. Mündlich überlieferte Erzählungen oder auch schriftlich fixierte Dokumente werden daher aus einer Hermeneutik gehört, gelesen und verstanden, die mit der aktuellen Weltwahrnehmung wechselwirkt. Worin diese Wechselwirkungen bestehen, ist Thema des nächsten Kapitels.

3.2 H ISTORIE IM S PIEGEL DES D ISKURSES – G ESCHICHTSSCHREIBUNG UND P RAXIS W ECHSELWIRKUNG

IN

Eine (kurze) Geschichte des tyvanischen Schamanismus zu schreiben, heißt, den Blick zu richten auf die Geschichte seiner Dokumentation und die damit beginnenden Veränderungen. Die Transformationsgeschichte hat ihren Anfang daher mit seiner ersten Erwähnung 1672. Im Falle Sibiriens kann nach Roberte Hamayon164 überdies eine Korrelation beobachtet werden zwischen den Eingriffen in die nomadische Lebensweise der indigenen Bevölkerung und dessen Widerspiegelung in religiösen Praktiken. So veränderte sich der Schamanismus unter der Zarenherrschaft nur geringfügig, denn dort konnte die traditionelle Lebensweise zu großen Teilen bewahrt werden. Russifizierung und Christianisierung gingen nur oberflächlich vonstatten. Unter dem Sowjetregime dagegen waren einschneidende Veränderungen zu verzeichnen, da eine explizite atheistische Ideologie, die auf die Auslöschung des Schamanismus und anderer Religionen zielte, einherging mit einer grundlegenden Umgestaltung des Wirtschaftssystems.165 Sesshaftwerdung und Kollektivierung forcierten so die angestrebte Abschaffung aller Religion, die als überkommener Rest der vorkommunistischen Zeit thematisiert wurde. Diesem markanten Einschnitt in der tyvanischen ‚Religionsgeschichte‘ entsprechend nimmt die Unterdrückung des Schamanismus in der Sowjetzeit auch eine zentrale Rolle im gegenwärtigen Diskursgefüge um den Schamanismus ein. Die Rekonstruktion einer schamanischen Praxis nach der Perestroika als Teil tyvanischer Identität rekurriert

164 Hamayon, Roberte: Siberian Shamanism, in: Shamanism. An Encyclopedia of World Beliefs, Practices, and Culture, ed. by Mariko Namba Walter and Eva Jane Neumann Fridmann, Santa Barbara 2004, 618f. 165 Vgl. ebd.

H ISTORIE IM S PIEGEL

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auf das Ereignis der Zäsur, des Schnittes und der Unterbrechung, wie sie durch die Sowjetpolitik eminent durchgesetzt wurde in doppelter Weise: Einerseits betont sie den Charakter der Gewaltsamkeit des Ereignisses und dass dieses von außen aufgezwungen wurde. Andererseits wird gleichzeitig hervorgehoben, dass dies trotzdem nicht zu einer vollkommenen Extinktion indigener Praxis führen konnte, sondern diese im Untergrund weiterexistierte. Warum diese zweifache diskursive Anbindung für die Konstitution gegenwärtiger Selbstverständnisse notwendig ist und in welcher Weise sie ihre Funktion erfüllt, stellt so m. E. einen der relevantesten Punkte dar, die einer genaueren Analyse zugeführt werden sollten. Dabei sieht sich der Religionswissenschaftler mit der grundlegenden historiografischen Schwierigkeit konfrontiert, dass ihm ein u. U. in zentralen Linien divergierendes Mosaik aus Quellen schriftlicher Natur und mündlicher Rekonstruktionen vorliegt, das nun in Bezug gesetzt werden soll mit zeitgenössischer Praxis. Fernab von jeglicher Möglichkeit, zu eruieren, wie es sich denn ‚wirklich‘ zugetragen hat, bleibt dem Religionswissenschaftler keine andere Wahl, als selbst das ihm zugängliche Material zu strukturieren und damit seine eigene kontingente Ordnung aufzuprägen, will er Analyseschnitte anbringen. Die einzige Möglichkeit, diesen Prozess zumindest so transparent wie möglich zu gestalten, liegt darin, dieses Ordnen immer wieder von Neuem reflexiv einzuholen. Wie gestaltet sich nun die grundsätzliche Differenz in der Interpretation der Ereignisse zu Beginn der Integration Tyvas in das sowjetische System? Einigkeit besteht im Wesentlichen über das Ergebnis des Prozesses: Am Ende war der Schamanismus in Tyva aus dem öffentlichen Vollzug von Kultur ausgelagert. Dass dennoch private schamanische Praktiken heimlich weitergeführt und Elemente kollektiver Rituale in lokale Gemeinschaftsfeiern integriert wurden, sowie über dies hinaus Überzeugungen einer engen Beziehung zwischen Menschen und Natur im Volksglauben fortlebten166, darüber herrscht weitgehend Konsens. Umstritten bleibt jedoch der Charakter dieses Wandlungsprozesses. Sicherlich hat sich dieser lokal, temporal und abhängig von der Form der Machtausübung sowjetischer Beamter differenziert gestaltet, doch ist folgende interpretatorisch Kluft zu verzeichnen: Es existieren Berichte über Exekutionen von Schamanen, darüber, dass sie aus fliegenden Helikoptern geworfen wurden, um sie ihre Fähigkeiten zum schamanischen Flug beweisen zu lassen und über ihre Deportation in den Gulag. Demgegenüber zeichnet die jüngste tyvanische Geschichtsschreibung167 ein Bild der ebenfalls grundlegend erfolgreichen aber mit subtileren Mitteln erreichten Ausschaltung von Schamanen:

166 Vgl. ebd., 618f. 167 Vgl. Ʌɚɦɢɧ, ȼ. Ⱥ., ȼ. Ⱦ. Ɇɚɪɬ-ɨɨɥ, et al., Eds. (2007): ɂɫɬɨɪɢɹ Ɍɭɜɵ, Ɍɨɦ 2, ɇɨɜɨɫɢɛɢɪɫɤ 2007, 253-263.

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Die 1930 erlassene Verfassung der TNR (Tyvanische Volksrepublik) entzog neben Händlern und Wucherern, ehemaligen Feudalherrn und Organisatoren von konterrevolutionären Aufständen auch Lamas und Schamanen das Wahlrecht. Am Ende eines längeren Prozesses der Auseinandersetzung um die Rolle des lamaistischen Buddhismus für die tyvanische Kultur, sah die Partei eine ihrer grundlegenden Aufgaben im Kampf mit dem Kloster. Da dieses als Tribüne angesehen wurde, von der aus die Lamas ihre reaktionären Ideen verbreiten konnten, verbot man ihnen, ihre klösterliche Kleidung zu tragen sowie ihre religiösen Veranstaltungen ohne besondere schriftliche Erlaubnis der staatlichen Organe durchzuführen. Schamanen dagegen wurden nicht in gleicher Weise als Feinde des Volkes betrachtet, insofern sie im Allgemeinen aus dem Volk stammten und sie keine ernsthafte politische Opposition zur revolutionären Volksregierung darstellten. Daher beschränkte sich der Kampf mit ihnen meistens auf eine Konfiszierung ihrer Attribute und einem Verbot der Durchführung des Rituals der kamlanie168. Darunter gab es sogar Fälle, dass Schamanen in der Tyvanischen Volkspartei TNRP tätig waren, wie dies auch unter ehemaligen Vertretern der feudal-theokratischen Bevölkerungsschicht beobachtet werden konnte. Warum der Schamanismus schlussendlich aus der öffentlichen Kultur verschwand, ist somit noch nicht hinreichend erklärt. Transparent wird es jedoch, sieht man die oben genannten Entscheidungen im weiteren Kontext der von den Sowjets vorangetriebenen Säkularisierung. Mit dem Ziel der vollkommenen Trennung von Religion und Staat, Religion und Bildung sowie Religion und Gesundheitswesen wurden verschiedene Prozesse eingeleitet, die die Handlungsfreiheit der Schamanen in zusätzlicher Weise beeinträchtigten: Dies betraf zum einen das Verbot der Durchführung traditioneller Rituale, die mit dem Kult der Natur in Zusammenhang standen. So wurde in gleicher Weise die Feier des traditionellen Neujahrsfestes gemäß dem Mondkalender ‚Shagaa‘ abgeschafft. Lamas und Schamanen, welche in diesen kollektiven Ereignissen gewöhnlich zentrale Rollen innehatten, wurde dadurch die Plattform einer öffentlichen Darstellung ihres Weltbildes und ihrer Funktion darin entzogen. Zum anderen affektierte die Umgestaltung des Gesundheitswesens in Tyva die Bedeutung schamanischer Praktiken. Während noch in den 20ern die Heilung von Krankheiten hauptsächlich Aufgabe der Lamas und Schamanen war, löste die nun folgende Verbreitung der europäischen Medizin die Einbindung des Gesundheitssystems in die Sphäre des Religiösen auf. Alles in allem mündete die öffentliche, ideologisch untermauerte Diskreditierung von Kult ausübenden 168 Das Wort kamlanie ist ein Kunstwort, zusammengesetzt aus der turksprachigen bzw. tyvanischen Bezeichnung für den Ritualspezialisten / Schamanen kam und der russischen Wortbildungsendung –enie, welche v.a. Tätigkeiten oder Vorgänge bezeichnet. Kamlanie könnte daher wörtlich übersetzt werden mit Schamanisieren und verweist damit ohne weitere Differenzierung auf eine rituelle Tätigkeit des Schamanen.

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Personen ein in den Prozess eines progressiven funktionalen Relevanzverlustes religiöser Praktiken. Ich schließe daraus, dass dies am Ende einer langen Auseinandersetzung um die Frage des Ortes der Religion in der tyvanischen Kultur, trotz dass die Radikalität der Säkularisierung als einseitig und gewaltsam empfunden wurde, endlich zu einer Durchsetzung der Sowjetideologie führte. Schamanen wurden auch bruchartig und radikal durch Hinrichtungen oder Verfolgungen aus dem öffentlichen Leben gedrängt, aber in der Mehrzahl der Fälle, indem man ihnen in mehreren Sphären die Grundlage ihrer öffentlichen Präsenz entzog: In der formalen Bildung, die immer stärker buddhistische Klöster und die orale Weitergabe von Traditionen durch ein strukturales Schulsystem ersetzte. In der Transformierung des Gesundheitssystems hin zur europäischen Medizin. In der Brandmarkung von Religion als Überrest einer veralteten Weltsicht im Gegensatz zur progressorientierten materialistischen Linie der Partei. Sowie im Verbot öffentlicher Rituale, die die Natur als Adressat hatte. Da diese Transformationen jedoch von außen forciert wurden und damit in bleibendem Widerspruch zur traditionellen Kultur verblieben, verschwanden Lamas und Schamanen nicht völlig sondern erfuhren eine Verschiebung in den Untergrund. Im Gegensatz zu einem Bild der absoluten Zäsur habe ich hier versucht, der unbestreitbaren Radikalität des Ergebnisses in gleicher Weise gerecht zu werden wie der Einzeichnung der Ereignisse in ein Kontinuum historischer Linien. Folgt man der struktural-funktionalen Interpretation des Schamanismus nach Roberte Hamayon, so fügen sich die Entwicklungen des letzten Jahrhunderts auch in ein schlüssiges Gesamtbild der Transformationsgeschichte des Schamanismus: Die mit der Erklärung des russischen Protektorats über Tyva 1914 kontinuierlich zunehmenden ökonomischen und kulturellen Verbindungen zwischen Russland und Tyva führen zu einer fortlaufend stärkeren Integration in das zaristische Russland. Fasst man diese Epoche in den Spannungsbogen, der bei kleinen, nichtzentralisierten und von der Jagd abhängigen Gesellschaften beginnt und in der postmodernen kapitalistisch globalen endet, so transformiert sich der Schamanismus von einer zentralen Institution, welcher zunächst hauptsächlich darauf abzielt, den Erfolg der Jagd durch kollektive Rituale zu sichern hin zu immer privateren Zielen. Dies beginnt bereits mit dem Übergang zur größeren Viehhaltergesellschaft, in welcher die Bedeutung des Schamanismus bereits abnimmt und verschiebt sich im Kontext der Kolonisierung hin zur Heilung, die desto wichtiger wird, je eher sie im Gegensatz zu öffentlichen Ritualen von der dominierenden Herrschaftsmacht leichter geduldet wird. Im sowjetischen Kontext wandert sie in den Untergrund, bleibt aber gleichsam an privaten Bedürfnissen ausgerichtet, im post-sowjetischen verlässt sie den Untergrund erneut, erfährt aber in der individualisierten Gesellschaft ihre endgültige Privatisierung.

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3.3 K ANON , O RTHOPRAXIE S CHAMANISMUS

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In der Hauptstadt Tyvas Kyzyl findet ein Besucher aus dem Ausland im Wesentlichen vier Hotels als Möglichkeiten seiner Übernachtung. Die zwei größeren sind in Architektur und Dienstleistungsangebot noch sehr der sowjetischen Vergangenheit verhaftet, die beiden kleineren haben sich nicht zuletzt durch ihre ‚Traumlage‘ direkt am Ufer des Jennisej zu Prestigeträgern entwickelt. Konsequenz des letzteren ist allerdings für so manchen Touristen auch, dass er bei angekündigtem Staatsbesuch kurzerhand zwangsausquartiert wird und der höheren Macht weichen muss. Prestigereich wie das Hotel Öndügen am Jennisej sich nun gibt, bietet es in seinem Foyer eine kleinen Laden mit Kunsthandwerk und Literatur für den fremden Besucher. Neben Steinskulpturen ringender Tyvaner entdeckt der sprachhungrige Ethnologe dann tatsächlich folgendes Werk: „Englisch-Tuvan Phrasebook“ (Vgl. Abbildung 3)169. In seinem Vorwort heißt es: „The main purpose of the book holding now in your hands is to help foreigners visiting Tuva to communicate naturally with Tuvans not only in Kyzyl – the capital of Tuva – but also outside of it. Tuvan people are proud of their language and every effort to a foreign person to say at least a few words in Tuvan and hold a conversation meets with the great appreciation of Tuvan people.“170 Neben den aus dem Genre der Phrasebooks bekannten Topoi Ankunft, Kennenlernen, Im Hotel, Bus, Post, Einladung, Dank etc. findet sich in dem Büchlein auch ein Kapitel zur Religion. Buddhismus und Schamanismus werden gleichberechtigt behandelt. M. E. handelt es sich bei dem zum Schamanismus bereitgestellten Wendungen (Vgl. Abbildung 3)171 aber nicht mehr nur um eine Anleitung, der tyvanischen Sprache Wertschätzung zu zeigen, indem der Fremde das eine oder andere Wörtchen anbringen kann, sondern um die Ergebnisse eines vermeintlich ethnografischen Interviews. Ein ganzer Frage- und Antwortkatalog soll nicht nur dem Wissbegierigen helfen, die richtigen Fragen an den Schamanen zu stellen, sondern gibt auch gleich die Übersetzung der zu erwartenden Antworten. Einige Beispiele mögen dies erläutern:

169 Seden-Chuurak, A. B.: English-Tuvan Phrasebook, Kyzyl 2003, 1. 170 Seden-Chuurak, A. B.: English-Tuvan Phrasebook, Kyzyl 2003, 7. 171 Ebd.

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Tabelle 2: Reisewortschatz für den Schamanenbesuch Fragen

Antworten

Differenzkategorie

How can I get to the shamanist center? When (how) did you first

Initiation

start to practice shamanism? Who taught you how to

My father / grandmother did

practice shamanism?

Überlieferungsweg der Tradition

What kind of shaman are

I originate from the spirits

Mythologisch-

you?

of earth and water / spirits of

Kosmologische

Albys / spirits of Aza / I am

Verwurzelung

a Sky-origin shaman Are you a hereditary sham-

Yes my ancestors have been

Begründung der besonderen

an?

shamans for 7 generations /

Gabe

my grandmother was a powerful shaman What are the main attributes

Tuvan shamans use their

Legitimität der

of a Tuvan shaman?

shaman´s mirror / drum /

Ritualwerkzeuge

drum stick / head-dress / shaman’s dress Who helps you during the

I call on the spirits of my

rituals? Whom do you

ancestors / I call on my

Herrschaft über Geister

address during your rituals?

helper - fetishes

Where do you journey

I can perform healing rituals

Differenzierung der Wirk-

during your rituals? What

/ I can perform purification

samkeiten des Schamanen

kind of rituals can you

rituals / I can perform sanc-

perform?

tification of … / I can perform 7th / 49th day ritual

Do you practice divination?

I make divination with the

Fähigkeit zu Kenntnissen

What kind of divination do

41 stones / I make divina-

jenseits der Zeit

you do?

tion with the sheep’s shoulder blade

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What is needed during a

Chalama / Juniper / some

Korrektheit des

shaman’s ritual?

milk / some rice / chazhyg /

Ritualvollzugs

the first offering of every food available Who makes paraphernalia

Shamans themselves /

for shaman?

specialists

Ausschluss von Fremdhilfe

Das Phrasebook ermöglicht es so dem Reisenden oder Spirituell Suchenden, die adäquaten bzw. genehmen Fragen zu stellen und auch gleich die Antworten zu bekommen, die der Schamane gerne gibt und der Interessierte auch haben möchte. Nun könnte ein Schelm auf die Idee kommen, den ihm vorliegenden Kanon nicht so zu lesen wie ein Kanon gelesen werden sollte, sondern in genau invertierter Form, um so nach genau allem dem zu fragen, was unangenehm ist. Die hier vollzogenen Grenzmarkierungen und Einzäunungen markieren ja gerade die neuralgischen Punkte der Echtheit eines Schamanen. Sind tatsächlich alle Schamanen erbliche Schamanen, oder haben sie ihre Profession nicht vielmehr aus ökonomischen Beweggründen gewählt? Haben Sie ihr Handwerk vielleicht gar nicht so sehr von der atheistischen Großmutter sondern aus einem Buch gelernt, das vielleicht noch ein Amerikaner verfasst hat? Benutzt der Schamane in seinen Ritualen neben den klassischen Attributen auch Kunststoffgegenstände und ein Mikrophon? Führt er neben Heilungsritualen auch Segnungen von Unternehmen und neuen Autos durch? Das sind ketzerische Fragen, die obige Fragen und Antworten nicht auf den ersten Blick, doch in der Perspektive ihrer Kanonhaftigkeit, aufwerfen. Was ist nun hier geschehen? Wie konnte traditionell arkanes Wissen um die Abstammung des Schamanen und die Art seiner Hilfsgeister in ein öffentliches Buch einwandern, das interkulturelle Begegnungen innerhalb bestimmter diskursiver Bahnen verlaufen lassen soll? Woher stammen die Kategorien, die die Grundlage für die Vorprägung eines Touristen-Schamanen-Gesprächs geliefert haben? Keine unmittelbare Aufklärung, aber doch einen Schritt in die richtige Richtung, liefert ein Blick in die umfassende ‚Enzyklopädie des Schamanismus‘172. Der erstaunte Leser findet dort im Eintrag zu Tyva die bekannten schamanischtouristischen Begegnungsfragen wieder. Es lohnt daher, die Enzyklopädie etwas genauer zu betrachten.

172 Walter, Mariko Namba and Neumann Fridman, Eva Jane: Shamanism. An Encyclopedia of World Beliefs, Practices and Cultures, Santa Barbara 2004.

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Abbildung 3: Ein tyvanisches Wörterbuch für Touristen

Quelle: Heiko Grünwedel

Abbildung 4: Schamanismus im Wörterbuch

Quelle: Heiko Grünwedel

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3.3.1 Schamanismus enzyklopädisch In zwei Bänden verspricht das Standardwerk173 jeweils gegliedert nach thematischen und geografischen Stichworteinträgen, umfassend Auskunft zu geben über Fragen des Schamanismus. Der erste Band widmet sich dessen allgemeinen Aspekten, der zweite bestehend aus Einträgen zu den einzelnen Regionen und kulturellen Gruppen bietet Wissen über lokale Ausprägungen des Schamanismus174. In letzterem findet sich dann auch, wie es sich für das schamanische Mekka gehört, ein Artikel zu Tyva: „Tuvan Shamanism – The Republic of Tuva lies at the heart of Asia, a land of mountains, taiga (boreal forests), steppe grasslands, and mystery. Central to the Tuvan culture and its ancient history of nomadic, warring tribes lies a rich spiritual heritage of Tuvan shamanism.“175

Der interessierte Forscher darf also gespannt sein: Tuva, ein Land voller Mysterien, im Zentrum Asiens. Davon, dass es sich beim fraglichen Phänomen des Schamanismus auch tatsächlich um das spirituelle Erbe handelt, das der tyvanischen Kultur eigen ist, kann sich der Leser auch gleich nochmals versichern, wenn betont wird: „Despite a turbulent history of varying powers – Turks, Chinese, Uyghur […] imposing their hegemony over the Tuvans, shamanism has remained a vital spiritual force.“176

Gefragt, wer sie in der Kunst des Schamanismus unterrichtet hat, haben Schamanen daher, wie in obigem Sprachführer erwähnt, korrekt zu antworten: Von den Eltern, Großeltern,… Ins Zentrum des tyvanischen Schamanismus stellt die Enzyklopädie daher wie jener das Konzept des Erbschamanismus: „The Tuvan shamanic tradition recognizes shamans of ancestral lineage who are gifted with healing abilities, foresight clairvoyance, or the ability to interact positively with the spirit world. The universe is divided into three primary planes. The Upper World, the Middle World, and the Lower World are all very real phenomenal places to which the Tuvan shaman may travel by drum, in an ecstatic state, to gain insight, answers to personal or community questions, or healing treatments.“177 173 Walter, Mariko Namba and Neumann Fridman, Eva Jane: Shamanism. An Encyclopedia of World Beliefs, Practices and Cultures, Santa Barbara 2004. 174 Walter, Shamanism, xii. 175 Ebd., 637. 176 Ebd., 637. 177 Ebd., 638.

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Doch nicht nur die Erblichkeit, auch die Kategorisierung der Arten von Schamanen, trifft der interessierte Leser wieder: „Kenin-Lopsan has classified Tuvan shamans into five types: (1) shamans who trace their descent from shaman ancestors, (2) shamans who trace their origins from the spirits of earth and water, (3) shamans who trace their descent from the heavens (deer kham), (4) those who originate from the Albys (name of a beautiful young woman spirit) spirits, and (5) those who originate fram aza spirits (also called kara kham, or black shamans) (Kenin-Lopsan 1997, xxi). Shamans who have inherited their gift are considered the only true shamans.“178

Und nun sollte es den Interessierten auch schon nicht mehr verwundern, dass nicht nur Abstammung und Arten von Schamanen, sondern auch deren Ritualwerkzeuge, Ritualanlässe und spirituelle Fähigkeiten gemäß dem gemeinsamen Kanon bestimmt werden: „Kenin-Lopsan has categorized the main modes of shaman activity as follows: (1) shamanizing with küsüngü (mirror), (2) shamanizing with a khomus (a mouth harp), (3) holding a séance with a drum and wearing ritual clothing (characteristic only of shamans of a high degree and traditionally preformed only at night), (4) holding a séance with a shaman drum and dayak (staff).“179 „The Tuvan Kamlanya Ritual of Balance and Harmony. […] Tuvan kamlanye ceremony best typifies the Tuvan shamanic tradition of cleansing negative energy and bad spirits from people, while offering respect, thanks, and restored balance to nature […]. The opening portion of the kamlanye is the ritual purification of the participants and the atmosphere and attributes to be used in the ceremony through the use of burning juniper, artish, in a small ritual ceramic, wooden, or at times shallow silver bowl, piala.“180 „The instruments used by the shaman form a veritable animist panorama of aids for spiritual practice in Tuva. The orba, ‚drumstick’, is covered with the skin of a reindeer’s leg […]. An adig eereni, a bear’s paw with claws, may often be present among the shaman’s spirit tools, and the use of the ot kimchizi , horse whip, speeds the shaman’s travel to the Upper or Lower Worlds […]. The chalama, or braided, multicolored cloth tails or snakes that hang from the shaman’s robes provide sacred protection […] the tos-karak (the nine-eyed spoon) holds a very special role for all shamanic practices […]. But perhaps no other tool or shamanic attrib-

178 Walter, Shamanism, 638f. 179 Ebd., 639. 180 Ebd., 639.

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ute, apart from the drum, holds such a valued place as the küzüngü, the shaman’s spirit mirror […].“181

Die Enzyklopädie greift in ihrem Regionalartikel zur Beschreibung des Schamanismus in Tyva auf exakt das kanonisierte Wissen zurück, das auch dem eingangs erwähnten Sprachführer für Touristen zugrundeliegt. Abgesehen von detaillierteren Beschreibungen, die der Artikel naturgemäß liefert, finden sich jedoch keinerlei Abweichungen, entscheidende Erweiterungen oder Widersprüche. Das überrascht! Denn vollkommen unabhängig vom ethnografischen Forschungsprozess, der zu dem vorliegenden Artikel der Enzyklopädie führte (der Sprachführer erschien ein Jahr vor Publikation der Enzyklopädie), muss ein eminenter vereinheitlichender und uniformierender Kanonisierungsprozess am zugrundeliegenden kulturellen ‚Material‘ stattgefunden haben, um eine solche Übereinstimmung erklären zu können. Welche historischen Bedingungen führten eine solche Entwicklung der Kanonbildung herbei und wer waren die Autoritäten, die diesen vorantrieben? Beide Literaturen verweisen auf Kenin-Lopsan. Daher muss sein Werk die nächste Etappe der Spurensuche bilden. 3.3.2 Mongush Kenin-Lopsan: Magic of Tuvinian Shamans Nicht nur die Enzyklopädie, auch Kenin-Lopsan182 verweist gleichsam als Prolog auf die wechselseitigen Sonderstellungen des Schamanismus und Tyva zueinander. Schamanismus ist das proprium Tyvas und Tyva ist der eigentliche Ort des Schamanismus: „Schamanismus, das ist ein Phänomen der geistigen Kultur des tyvanischen Volkes und zieht seit langem die Aufmerksamkeit der Wissenschaftler auf sich. Schamanismus hat sich in Tyva länger erhalten als in anderen Völkern Südsibiriens und ist daher in klarerer und ganzerer Form als bei den anderen Völkern des Sajan-Altai-Gebirges zu finden.“183

Nach dieser Selbstversicherung, die auch den Leser seines Interesses versichern soll, gelangt Kenin-Lopsan, wie die beiden obigen Werke, zu der Frage: ‚Wer sind diese Schamanen?‘ 184 und wie ist ihre Abstammung zu erklären? „Trotz umfangreicher ethnografischer Forschungen konnte diese Frage im Allgemeinen und im tyvnischen Fall im Besonderen nicht ausreichend geklärt werden. Für die russische und 181 Ebd., 641. 182 Mongush, Kenin-Lopsan: Magic of Tuvinian Shamans, Kyzyl 1999. 183 Ebd., 13 (Übersetzung des Autors). 184 Ebd., 14.

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sowjetische Ethnografie ist traditionell die Frage nach der Abstammung des Schamanen die wichtigste. Sie müssen ihre Eigenschaft unbedingt von den Schamanen-Vorfahren erben. In der Mehrzahl der Fälle ist dies tatsächlich so, aber bei den Tyvanern gibt es auch andere Kategorien von Schamanen, die nach Glauben des Volkes eine andere Herkunft besitzen. Daher unterscheidet man: 1. Schamanen, die ihre Herkunft von den Schamanen-Vorfahren ableiten 2. Schamanen, die ihre Herkunft von den Geistern der Erde und des Wassers ableiten 3. Schamanen, die ihre Herkunft vom Himmel ableiten 4. Schamanen, die ihre Herkunft von den bösen Geistern albys ableiten 5. Schamanen, die ihre Herkunft von den bösen Geistern aza ableiten Abhängig von seiner Herkunft bestimmt sich der Platz des Schamanen in der schamanischen Hierarchie, und man schrieb ihm verschiedenen Fähigkeiten zu, auf die Leute einzuwirken, die sich an ihn zur Hilfe in diesem oder jenen Anlass wanden [...]. Nach Überzeugung der Tyvaner ist ein echter Schamane nur derjenige, der über eine erbliche Abstammung verfügt: ɵɡɵɝɭɭɪ ɫɚɥɝɚɧ ɯɚɦɧɚɚɧ ɯɚɦɧɚɪ.“185

Und zur Frage der Hierarchie unter den Schamanen präzisiert Kenin-Lopsan: „Die Schamanen waren stolz darauf, Schamanen in mehreren Generationen als Vorfahren zu haben. Sie wandten sich während ihrer kamlanie an ihre mächtigen Vorfahren [...]. Die anderen Kategorien tyvanischer Schamanen sind in der Literatur erheblich seltener zu finden […].“186

Worauf ein Wiedersehen stattfindet mit den tyvanischen Schamanenarten, an dieser Stelle jedoch, und deshalb seien sie ausführlich zitiert, in Tyvanisch und mit ihren jeweiligen mythologischen Ätiologien187: 1. ɵɡɵɝɭɭɪ ɫɚɥɝɚɧ ɯɚɦɧɚɚɧ ɯɚɦɧɚɪ : Schamanen, die ihre Herkunft von den Schamanen-Vorfahren ableiten 2. ɱɟɪ, ɫɭɝ ɷɷɡɢɧɞɟɧ ɯɚɦɧɚɚɧ ɯɚɦɧɚɪ : Schamanen, die ihre Herkunft von den Geistern der Erde und des Wassers ableiten. Ihre Abstammung ist verbunden mit den zentralen Personen des religiösen animistischen Systems der alten Türken: Sie hatten Erde und Wasser als ihre Götter. Diese verloren jedoch nachher ihre Personifikation und wurden zu Geistern.

185 Ebd., 14 (Übersetzung des Autors). 186 Ebd., 15 (Übersetzung des Autors). 187 Ebd., 17f.

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3. ɞɷɷɪɥɟɪɞɟɧ ɯɚɦɧɚɚɧ ɯɚɦ : Schamanen, die ihre Herkunft vom Himmel ableiten. Verbunden mit der Mythologie der alten Türken, insbesondere des Tengri. Bis vor kurzer Zeit galt der Himmel als oberster Gott. Diese Schamanen bekommen ihr Signal zum Schamanismus durch den Regenbogen und stammen von den Himmelsbewohnern ɚɡɚɪɥɚɪ , ɚɡɚɪ ɤɭɛɭɫɬɭɥɚɪ ab. 4. ɚɥɛɵɫɬɚɧ ɯɚɦɧɚɚɧ ɯɚɦɧɚɪ : Schamanen, die ihre Herkunft von den bösen Geistern albys ableiten. Das höchste Geschlecht der Schamanen, von den bösen Geistern. Die bösen Geister umfassen drei Arten: ɚɡɚ ɚɥɛɵɫ ɱɭɥɛɭɫ (ɚɥɛɵɫ befallen Menschen v.a. wenn sie einsam unterwegs sind und rauben die Seele. Der Mensch erkrankt und kann nur von einem Schamanen gerettet werden. Gelingt dies, so wird der Gerettete selbst Schamane (ɭɤ ɱɨɤ ɯɚɦɧɚɪ, ɲɚɦɚɧɵ ɛɟɡ ɪɨɞɚ, ein Schamane ohne Abstammungsgeschlecht) 5. ɚɡɚɥɚɪɞɚɧ ɯɚɦɧɚɚɧ ɯɚɦɧɚɪ : Schamanen, die ihre Herkunft von den bösen Geistern aza ableiten. Abstammung von den Teufeln ɚɡɚɥɚɪ (ɱɟɪɬɢ). Außer diesen Teufeln gibt es noch andere (ɤɚɣɛɵɧ-ɤɭ)

Kenin-Lopsan fasst zusammen und sieht schließlich die Notwendigkeit, für die Vielfalt an Schamanentypen auch eine Erklärung zu geben: „Jeder Schamane war darum bemüht, seine rituelle Kleidung, seine Melodie, seine Texte, seinen ausdrucksvollen Tanz, seinen Stammbaum zu haben. Daraus folgt offensichtlich die Entstehung der verschiedenen Kategorien der tyvanischen Schamanen.“188

3.3.3 Die Vielfalt mündlicher Überlieferungen und die Einheit des Kanons Wie nun deutlich geworden sein sollte, stützen sich der Sprachführer für den Touristen und der Artikel zu Tyva in der Enzyklopädie zum Schamanimus in ihren Darstellungen des tyvanischen Schamanismus auf die Systematisierung, die KeninLopsan geleistet hat. Dieser wiederum zitiert verschiedene ethnologische Arbeiten, die sich zeitlich vom Ende des 19. Jahrhunderts bis Mitte des 20. Jahrhunderts erstrecken, und verweist zusätzlich auf seine eigene Tätigkeit als Sammler mündlicher Überlieferungen während der Sowjetzeit. Dass die Vorstellungen über die verschiedenen Arten von Geistern und möglichen Schamanentypen, die daraus resultieren, vor dem Kanonisierungsprozess, den Kenin-Lopsan vollzogen hat, vielfältiger und spannungsgeladener waren, dafür haben sich in seinem Werk mehrere Spuren erhalten. Während der Sprachführer 188 Ebd., 25 (Übersetzung des Autors).

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und die Enzyklopädie als Sekundärrezeptionen des Kenin-Lopsanschen Kanons vollkommen geglättete Versionen desselben bieten, ist in der ‚Begründungsschrift‘ des Kanons noch festzustellen, wie die Frage der Abstammungsmöglichkeiten zwischen verschiedenen tyvanischen Arten der schamanischen Herkunft und der Beschränkung der Echtheit auf erbliche Schamanen oszilliert. Indizien werden sichtbar, dass das ‚System der Teufel‘ umfangreicher und unsystematisierter war, als dies aus der literarischen Ordnungsstiftung des jetzigen Präsidenten der tyvanischen Schamanen unmittelbar sichtbar wird. Kenin-Lopsan zweifelt jedoch gar nicht an, dass die schamanischen Werkzeuge, die auch seinen Stammbaum umfassen, Ergebnis einer Bemühung, einer aktiven Betätigung sind und daher nicht einfach zufallen oder unverfügbar sind. Auch der Stammbaum ist also machbar, eine Konstruktion. Unterstützt wird diese Beobachtung durch den Verweis KeninLopsans in selbigem Werk auf die performativen Aspekte des Schamanismus: „Tricks, Kunststücke und Verwandlungen stellten eine praktische Vergrößerung der Kraft des professionellen Schamanen dar [...]. Schamanen sind große Poeten und Artisten. Der Tyvanische Schamane – das ist das Theater eines Artisten.“189 Trotz der wiederholten Betonung der Erblichkeit der schamanischen Gabe, räumt KeninLopsan also durchaus auch die Notwendigkeit einer Potenzierung dieser Kraft durch andere Realitätsbereiche ein, die näher am Alltagsverstehen angesiedelt sind. Wie später noch genauer zu zeigen sein wird, präfiguriert und öffnet er zugleich mit seiner Kanonisierung den Weg zu einer praktischen Realisierung der Wiederbelebung des tyvanischen Schamanismus. In der doppelten Verankerung der neu erfundenen Tradition in der Unverfügbarkeit erblicher Transmission einerseits, einer Adaption an Bedürfnisse und Herausforderungen der Gegenwart andererseits, schafft Kenin-Lopsan mit seinem Werk die kanonische Basis für eine Rekonstruktion nach dem Kontinuitätsabbruch. Dass dies in höchsten Maß erfolgreich war, zeigt nicht nur das Aufblühen des Schamanimus in den 90ern, sondern auch die vielfache Rezeption seines literarischen Schaffens durch Ethnografen wie den Autor des Artikels in der Enzyklopädie für Schamanismus oder den tyvanischen Sprachführer als Kommunikationsorgan und Erstbegegnungsmedium von Touristen und Schamanen. Worin liegen jedoch die Ursachen, dass Kenin-Lopsan die ihm vorgegebene polyphone mündliche Überlieferung systematisieren und damit in ihren differenzierten Sinnmöglichkeiten reduzieren musste? Die Antwort ist eine zwiefache. Einerseits stellte die abgeschlossene Systematik Kenin-Lopsans Sicherheit her in einer Situation eminenter Unsicherheit. Obwohl einzelne Fragmente von Überlieferungen und Praxen trotz der Annihilierungspolitik der Sowjets erhalten blieben, so waren die Mehrzahl der noch lebenden Schamanen bzw. der neu Berufenen doch in einer Situation der Unklarheit hinsichtlich der ‚eigenen Tradition‘ – die ja erst wieder neu 189 Ebd., 45.72.

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gefunden bzw. erfunden werden musste. Ein systematischer Kanon garantierte daher nicht nur die bestmögliche mythologische sondern auch – und darin zeigt sich auch die Kondition der Postmoderne – ethnografische Einbettung und Kontextualisierung des Eigenen. In seinem Verweis auf das Besondere der tyvanischen Schamanen (auch in Abgrenzung zu anderen Völkern Sibiriens) und der Verwurzelung in der Kultur Tyvas, bietet Kenin-Lopsan den neuen Schamanen die Identitätsmarker, die ihnen dazu dienen, sich auch konzeptionell von anderen Praxen performativ zu differenzieren. Eine derartige Inszenierung des Selbstkonzepts dürfte in der chaotischen Situation der Post-Perestroika weit mehr berührt haben als Fragen des Images. Individuen bekamen in einer Umgebung des Umbruchs und ständigen Wandels einen Raum der Identitätsfindung gestiftet. Selbstverständnisse von Schamanen konnten sich bilden, da der Kanon einen Referenzpunkt repräsentiert, der nach innen und außen psychologisch stabilisierend und autorisierend wirkt. Doch ist damit die Funktion der Kenin-Lopsanschen Systematisierung noch nicht erschöpft. Die Bündelung von Kräften, Ausgrenzung von konkurrierenden Strömungen und außenwirksame Selbstpräsentation als abgeschlossenes, systematisches und logisch erscheinendes Religionssystem ist auch in ihrer Wechselwirkung mit westlichen Forschern und Besuchern zu sehen. Obwohl letztere in Tyva das Exotische und Wilde suchten, mithin das Chaotische und Ordnungsauflösende, konnten sie doch ihre mitgebrachten Denkschemata insofern nicht ablegen, als sie in der Pluralität wieder die Ordnung suchten. Der Kenin-Lopsansche Kanon bot daher den idealen Anknüpfungspunkt für interkulturelle Kontakte. Die Attraktivität des neuerstandenen tyvanischen Schamanismus wurde so nicht nur durch die Referenz auf seine Archaizität gesichert, sondern indem ein vereinfachendes System eine Möglichkeit des ‚Verstehens‘ anbot. So ist das literarische Schaffen des Schamanenpräsidenten auch zu sehen in seiner Verschränkung von Wissenschaft, kultureller Praxis, transkulturellen Aneignungen und religiösem Tourismus. Eine Kanonbildung war im Rekonstruktionsprozess nicht nur deshalb notwendig, um sich in der Konkurrenz zu anderen neu erstarkenden Religionen zu profilieren und zu behaupten, sondern auch, um der veränderten Situation einer globalen Öffentlichkeit des Schamanismus Rechnung zu tragen. Letzteres führte dann auch zu Phänomenen der wechselseitigen Rezeption, Verstärkung und Autokonstitutionen – einer komplexen Dynamik von interagierenden (internationalen) Akteuren. Westliche Forscher und spirituelle Abenteurer kreierten somit mit und bekamen, was sie suchten: Einen wilden und systematisch-gezähmten tyvanischen Schamanismus.

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3.3.4 Subversion und Kanon-Bruch Geschichte ist jedoch dynamisch, eine gesetzte Ordnung bildet erst die Grundlage dafür, dass sie durchbrochen wird, und so ist die Zeit nach dem Kanon geprägt von der Auseinandersetzung mit ihm und seiner Transzendierung. Um diese Prozesse der Verschiebung von schamanischen Praxen abbilden zu können, ist es notwendig, zusätzlich zu denjenigen Schamanentypen, die KeninLopsan strukturiert hat, auch die darin implizierten Vorprägungen des rituellen Handelns genauer zu betrachten. A. Kenin-Lopsan benennt folgende typische Tätigkeiten der Schamanen190:  ëAèAîäAìAäöáíîááñü–Schamanisieren mit dem Schamanenspiegel  öïíôòóáðöáíîááñü–Schamanisieren mit der Maultrommel  åæñéäåAîäAñìAä öáíîááñü – Schamanisieren mit der Schamanentrommel  åáĀëóüäöáíîááñü –Schamanisieren mit dem Schamanenstab B. Den Ablauf des Grundtypus eines schamanischen Rituals ɤɚɦɥɚɧɢɟ gliedert er wie folgt: 1. öáíîüöïïñô –Den Schamanen rufen 2. øüóóüäòáāòáìüñü –Verbrennen von Räucherwerk 3. öáíîáðþäæìþþñé –Anfang der kamlanie 4. ááñüäîüā øAAìAòAî ëüìüñü – Anfertigung eines Symbols der Krankheit 5. ïäááìäáëüìüñü –Anfertigung eines ogaalga (kleines Filzstückchen, in das ein Stück fettiges Fleisch und der Rest einer alten Suppe gelegt wird: der Fleischgeruch lockt die Krankheit vom Kranken weg und führt sie nach draußen) 6. òæñééñøïïäôîåáAîåAñæñøAãæìæñ– Dinge, die zum Hinaustragen vor Beendigung der kamlanie bestimmt sind 7. áñçááîëüìüñü–Bereitung des heiligen Wassers 8. öáíîüāòæñééñé– Vollendung der kamlanie des Schamanen 9. ó""ñæëëááñü –Divination mit Hilfe des Trommelschlegels 10. öáíîüāïäåæîôîæñé–Das Verlassen der Jurte durch den Schamanen 11. áòóü –Bezahlung für die Kamlanie 12. öáíîüā þóòæãéîäæ âþþñ øAãæìæñ – Opfer für die schamanischen Attribute 13. öáíîüøæåéñæñé –Heimkehr des Schamanen

190 Ebd., 26.

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C. Rituelle Handlungen des Schamanen unterscheidet er weiter in Heilungs- und Kultrituale I.Heilungsrituale 1. öáíîüā ëéçéîéā ëïì òAîæèéîéā ëüêäüñüð þëëþþñé – der Schamane ruft die Hauptseele des Kranken o öáíîüāö"ñAíîæðöáíîááñü – Ritual zur Vorhersage des Guten oder Schlechten o òAèAëâéìæ öáíîááñü – Ritual zur Vorbeugung gegen Krankheit o ááñüääáöáíîááñü – Ritual zur Heilung eines Kranken 2. öáíîüā âïñá òAîæèéîéî AîåAñæñé – Vertreibung der grauen Seele eines Menschen (Gestorbenen) 3. ïäáòáìüñü – Verbrennen von Oga (beim Tod eines Menschen) 4. öáíîüā ôñôä ëôåô ëüêäüñáñü – Rufen der Seele des Kindes durch einen Schamanen II. Kultrituale ïóåáäüüñü – Ritual zur Heiligung des Feuers òôäâáçüîåáäüüñü – Ritual zur Heiligung der Quelle üĀùåáäüüñü– Ritual zur Heiligung des Baumes íáìüåüëóááñü– Ritual zur Heiligung der Tiere ïãááåáäüüñü– Ritual zur Heiligung des Ovaa ë"çææåáäüüñü– Ritual zur Heiligung einer Steinfigur âôäáâáçüåáäüüñü– Ritual zur Heiligung eines Bewässerungskanals Mit diesen Klassifizierungen steckt Kenin-Lopsan das Handlungsfeld ab, innerhalb dessen sich legitime schamanische Praxis in Tyva bewegen darf. Er grenzt sie nach außen ab und strukturiert sie im Inneren. Grenzen werden gesetzt an den Rändern und ein Koordinatensystem der intraschamanischen Bezüge innerhalb der Gemeinschaft. Doch wie bereits oben erwähnt, werden jene Grenzen und dieses Koordinatensystem in mehreren Dimensionen durchbrochen. Daher wird in einem späteren Schritt der Kanon des Kenin-Lopsans mit den Feldbeobachtungen gegenwärtiger schamanischer Praxis kontrastierend gegenüber zu stellen sein. Aus dem Vergleich überlappender Bereiche und differierender Felder, soll dann auf die veränderten Kontextbedingungen bzw. Motivationen zum Überschreiten des Systematisierten geschlossen werden. Doch noch vor diesem Schritt von der Literatur in die Praxis, sollen die oben aufgezeigten Linien von einem Phrasenwörterbuch über die schamanische Enzyklopädie zur Stiftungsschrift des Kenin-Lopsan noch über das Neuschöpfungsereignis in den 1990ern hinaus gezogen werden. Wie schon transparent wurde, bewegen

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sich sehr ähnliche Diskurse mit erstaunlicher Invarianz quer durch die Literaturgattungen. Der Kanon Kenin-Lopsans stellt innerhalb dieser Bewegung keinen Endpunkt dar, sondern basiert selbst neben der Feldforschungstätigkeit des Autors auf ethnografischen Berichten beginnend mit dem Ende des 19. Jahrhunderts. Damit wird im Raum der Literatur diejenige Kontinuität geschaffen, die historisch nicht möglich war: Die achtzigjährige Unterdrückungsgeschichte der Sowjetunion wird qua eines ideengeschichtlichen Hiatus übersprungen. Die von Kenin-Lopsan systematisierten und auf praktische Applizierbarkeit hin kanonisierten Diskurse sind folglich nicht nur durch ihre (konstruierte) Konstanz über Literaturgattungen hinweg gekennzeichnet sondern auch über historische Epochen. Nicht im Sinne eines Aufweises der Plagiazität des Kenin-Lopsanschen Werkes, sondern als Nachzeichnung der Wiederholung von Diskursen in einem neuen zeitgeschichtlichen Kontext soll daher nun ein Vergleich zentraler Thematiken angeschlossen werden, welche klassische Studien zum Schamanismus und das hier betrachtete Werk teilen. 3.3.5 Kenin-Lopsan und ‚Ethnografien‘ des 19. / 20. Jahrhunderts Für eine Zeiten und Literaturgattungen überspannende Konstanz zwischen einem rekonstruktiven Werk wie dem Kenin-Lopsanschen191 und Ethnografien des späten 19. bzw. frühen 20. Jahrhunderts, sprechen meiner Ansicht nach zwei Indizien: Zum einen begegnet ein ähnlicher Duktus der Argumentation, der sich im Aufriss der Werke bzw. deren Inhaltsangabe niederschlägt. Zum Anderen findet sich eine Abarbeitung an einem Korpus bestimmter Topoi. Sicherlich wird es sich in beiden Fällen um keine Kopie oder Repetition handeln. Vielmehr lohnt es, einen Kern an Überschneidungen zu markieren, um dann umso deutlicher die Veränderungen und Neukontextualisierungen hervortreten zu lassen. Meine These ist nun, dass erwähnte ‚klassische‘ Ethnografien einem Grundmuster in ihrer Darstellung des von ihnen untersuchten Schamanismus folgen und ihrem inhaltlichen Argumentationsduktus gemäß folgenden Spannungsbogen konstruieren:

191 Kenin-Lopsan selbst verweist auf folgende ethnografische Literatur, die er verarbeitet hat: ɉɨɬɚɩɨɜ Ʌ. ɉ.: Ɉɱɟɪɤɢ ɢɫɬɨɪɢɢ ɧɚɪɨɞɧɨɝɨ ɛɵɬɚ ɬɭɜɢɧɰɟɜ, Ɇɨɫɤɜɚ 1969, ɫ. 348. ȼɚɣɧɲɬɟɣɧ ɋ.ɂ.: Ɇɢɪ ɤɨɱɟɜɧɢɤɨɜ ɰɟɧɬɪɚ Ⱥɡɢɢ, Ɇɨɫɤɜɚ ɇɚɭɤɚ 1991. Ʉɚɬɚɧɨɜ ɇ.Ɏ.: ɋɪɟɞɢ ɬɸɪɤɫɤɢɯ ɩɥɟɦɟɧ, ɂɫɜɟɫɬɢɹ ɂɦɩɟɪɚɬɨɪɫɤɨɝɨ ɪɭɫɫɤɨɝɨ ɝɟɨɝɪɚɮɢɱɟɫɤɨɝɨ ɨɛɳɟɫɬɜɚ, ɬ. XXIX, 1893, ɜɵɩ. V, ɫ. 521. Ɇɚɥɨɜ ɋ. ȿ.: Ɉɫɬɚɬɤɢ ɲɚɦɚɧɫɬɜɚ ɭ ɠɟɥɬɵɯ ɭɣɝɭɪɨɜ, ȼ ɤɧ: ɀɢɜɚɹ ɫɬɚɪɢɧɚ, Ƚɨɞ XXI, ɜɵɩ. I, ɋɉȻ 1912, ɫ. 62.

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I. Skizzierung des kulturellen Kontextes, der den betrachteten Schamanismus umfasst: Netzwerke, Beziehungen und Wechselwirkungen von Zeit, Raum und lebendigen Handlungsträgern II. Verdichtung und Fokussierung auf eine Person: Erwählung, Entwicklung, Ausbildung, Kategorisierung und Spezialisierung des Schamanen III. Instrumentelle Wiederanbindung der singulären Persönlichkeit: Semiotische Strukturierung von Person, Praxis, Habitus, materiellen Werkzeugen des Schamanen IV. Verhältnisbestimmung zur Gesellschaft: Funktionszuschreibung, Publikumswirkungen, soziale Rollendefinition, schließlich Kontraktlösung qua Begräbnis Verdeutlicht werden soll dies an zwei (vom mir in verdichteter Form wiedergegebenen) Inhaltsverzeichnissen klassischer Ethnografien, die sicherlich nicht globalrepräsentativ, so doch als paradigmatisch betrachtet werden können192: A.

Nioradze, Georg: Der Schamanismus bei den sibirischen Völkern, Stuttgart 1925 Seine Gliederung: I. Die schamanistische Weltanschauung: Totenkult und Jenseits – Seele des Menschen – Geister - Krankheit II. Der Schamane : Individuum und Gruppe – Person des Schamanen – Weg der Berufung – Ritualwerkzeuge – Arten von Schamanen – Tätigkeit der Schamanen – Mimesis, Dichtung, Schauspiele und Echtheit – Soziale Stellung des Schamanen

B.

Ɇɢɯɚɣɥɨɜɫɤɢɣ, ȼ. Ɇ. (2004/1892): ɒɚɦɚɧɫɬɜɨ. ɷɬɧɨɝɪɚɮɢɱɟɫɤɢɟ ɨɱɟɪɤɢ, Ɇɨɫɤɜɚ 2004/1892193

ɋɪɚɜɧɢɬɟɥɶɧɨ-

192 Einen umfassenden Überblick bietet Znamenski, Andrei: Shamanism in Siberia. Russian Records of Indigenous Spirtuality, London 2003. 193 Ɇɢɯɚɣɥɨɜɫɤɢɣ, ȼ. Ɇ.: ɒɚɦɚɧɫɬɜɨ. ɋɪɚɜɧɢɬɟɥɶɧɨ-ɷɬɧɨɝɪɚɮɢɱɟɫɤɢɟ ɨɱɟɪɤɢ, Ɇɨɫɤɜɚ 1892.

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Seine Gliederung: I. Weltbild der Schamanisten: Weltbild der kulturlosen Völker – die unsterbliche Seele – Wechselwirkungen der Toten mit der lebendigen Welt – Ursachen von Krankheit und Tod – Animismus, Tierkult, Verehrung der Vorfahren, Fetischismus II. Schamanismus Sibiriens und Russlands: Bezeichnungen von Schamanen – Herkunft der ersten Schamanen – Kamlanie und Beschwörung – Schamanenkleidung – Schamanentrommel und -schlegel – Errungenschaften, Tätigkeit, Schamanenärzte, Heilung, Zukunftsvoraussage – der Stand des Schamanen und seine soziale Stellung – übernatürliche Kräfte des Schamanen – Begräbnis des Schamanen – Schamanische Kunststücke – der Glaube des Schamanen an seine Berufung – Schamanismus als allgemeines Phänomen bei den russischen Fremdvölkern Kenin-Lopsan übernimmt nun diese Globalbewegung in seinem Werk, vertauscht jedoch in charakteristischer Weise Eingangs- und Zielpunkt: Während in genannten klassischen Ethnografien die kulturelle Mythologie als den Schamanismus bergend verstanden und diesem daher vornan gestellt wird, mutiert sie bei Kenin-Lopsan zur Fluchtperspektive seiner Argumentation. Ausgehend von der geopolitischen Realsituation der Tyvaner konstituiert hier vielmehr der Schamanismus die Grundlage, um zur Mythologie zurück zu kehren. Gliederung Kenin-Lopsans 1. Tyva 2. Tyvaner 3. Tyvanische Schamanen 4. Wer sind diese Schamanen? 5. Berufstätigkeit tyvanischer Schamanen 6. Kultische Rituale 7. Zuschauereffekte und Verwandlungen 8. Tod und Bestattung von Schamanen 9. Die Vorfahren des Menschen in den Mythen des tyvanischen Schamanismus Obwohl Kenin-Lopsan den Grundansatz der Klassiker weiterführt, spiegelt sich in seiner Adaption doch ein grundlegender gesellschaftlicher Wandel: Die Mythologie ist im Zusammenhang einer Reflexion auf die Rolle des Schamanismus nicht mehr Grundlage und Ausgangspunkt sondern das angestrebte Ziel. Der Autor versteht seine differenzierende Darstellung und Erklärung des Phänomens des Schamanismus nicht mehr als aus dem mythologischen Weltbild herauswachsend, wohl aber als darauf verweisend und dieses begründend.

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Die so erreichte Verschiebung innerhalb der Konstanz baut jedoch nicht nur auf Anknüpfungen struktureller Art, sondern ist ebenso durch Koinzidenz in verschiedensten Topoi verwurzelt. Die folgende Auflistung kann keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben, vielmehr soll es ihr Ziel sein, grundlegende genealogische Linien in jenen inhaltlichen Referenzpunkten nachzuzeichnen, welche als die entscheidenden markiert werden. Von Kenin-Lopsan kanonisierte Topoi des Schamanismus: - Abstammung, Arten und Kategorien von Schamanen194 - Geister der Erde und des Wassers195 - Genese der Geister aus der Entpersonifizierung früherer Gottheiten196 - Der Himmel als oberster Gott197 - Böse Geister und ihre Benennungen: Albys, Aza, Tshulbus198 - Der Bär als Vorfahre des Menschen199 - Lehre eines jungen bei einem älteren Schamanen200 - Prozedur des Schamanisierens201 - Schamanentrommel, -schlegel, -mütze, - gewand202 - Heilungsrituale und Krankheitsarten203 - Zauberkunststücke als Verstärkung der Schamanenkraft: Geschosse, Messer, Äxte, glühendes Eisen204 - Die soziale Rolle des Schamanen zwischen individuellen und öffentlichen Ritualen205 - Bestattungsprozedur206 Welches Ergebnis kann aus der hier vollzogenen Nachzeichnung von (impliziten) Rezeptionslinien festgehalten werden? Beginnend bei einem Sprachführer, über eine wissenschaftliche Enzyklopädie zum Schamanimus hin zu einem Kardinalwerk 194 Nioradze: 85f. Kenin-Lopsan: 14ff. 195 N: 27;30; K-L: 16. 196 N: 26; K-L: 16f. 197 N: 28; K-L: 18. 198 N: 27;29f; K-L: 25. 199 N: 39; K-L: 59. 200 N: 56; K-L: 25. 201 N: 90; K-L:26ff. 202 N: 64-83; K-L: 31ff. 203 N: 44f.; K-L: 34ff. 204 N: 97; K-L: 45ff. 205 N: 101ff.; K-L: 71f. 206 N: 101; K-L: 53ff.

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in der Rekonstruktionsgeschichte des tyvanischen Schamanismus bis schließlich, aber nicht zuletzt, zu den Anfängen der Ethnografie führte die Aufdeckung von Spuren und Korrelationen. Ziel der Analyse war es, sich durchhaltende Argumentationsmuster aufzuzeigen, sowie in dieser grenzüberschreitenden Kontinuität die jeweilige historische, kontextuelle bzw. durch das literarische Genre bedingte Varianz. Es zeigte sich, dass bestimmte Konzepte z.B. der Arten von Geistern und Schamanenkategorien, die sich zunächst selbst als kontingent präsentieren, eine durchhaltende Ideengeschichte aufweisen und bedingt durch die veränderten geschichtlichen Verhältnisse in plötzlich unvermuteten Verwendungszusammenhängen begegnen. Anknüpfung und Transformation sind die beiden Grundbewegungen, die deutlich werden lassen, dass Konzeptionen und Termini ihre eigene Genealogie in sich eingeschrieben tragen. Schamanische Kategoriensysteme haben ihre Abstammungs- und Veränderungsgeschichte, sie sind weder vom Himmel gefallen, noch starr und stereotyp weitertradiert worden. Und wahrscheinlich liegt gerade in dieser Spannung zwischen einer wiederaneignenden Verwurzelung und kontextualisierender Adaption die entscheidende Dynamik von Wiederbelebungsprozessen wie im Falle des tyvanischen Schamanismus. 3.3.6 Zusammenfassung Kenin-Lopsan greift in seiner Begründung eines Kanons schamanischen Wissens und Handelns nicht nur auf Beobachtungen aus seiner eigenen Feldforschungstätigkeit zurück, sondern auch auf Beschreibungen ethnografischer Berichte beginnend vom Ende des 19. Jahrhunderts. Er übernimmt klassische Topoi und ihren Argumentationsduktus, kehrt letzteren aber in seiner eigenen Darstellung für die gegenwärtige Situation um, so dass die Mythologie nicht mehr die Rolle der Grundlage sondern des Ziels für die zeitgenössische Gesellschaft einnimmt. In der Literatur wird damit die Kontinuität geschaffen, die historisch nicht unumstritten ist. KeninLopsan gelingt es so, aus einer Situation der polyphonen Vielfalt mündlicher Überlieferungen und chaotischer soziopolitischer Zustände nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion heraus, Ordnung zu stiften, die mehrere Funktionen erfüllt. Einerseits stellt er Sicherheit her in einer Situation eminenter Unabwägbarkeiten, indem er das neu entdeckte Eigene ethnografisch einbettet und kontextualisiert. Dies generiert die notwendigen Identitätsmarker, um sich auch konzeptionell von anderen Praxen performativ abzugrenzen. Über diese Innenwirkung hinaus schafft KeninLopsan mit seinem Kanon aber auch eine außenwirksame Selbstpräsentation in Form eines abgeschlossenen, systematischen und logisch erscheinenden Religionssystems. Dies bietet den idealen Anknüpfungspunkt für interkulturelle Kontakte sowie als vereinfachendes System eine Möglichkeit des übersetzenden Verstehens. Im Rekonstruktionsprozess war die Kanonbildung deshalb nicht nur notwendig, um

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sich in der Konkurrenz zu anderen neu erstarkenden Religionen zu profilieren und zu behaupten, sondern auch, um der veränderten Situation einer globalen Öffentlichkeit des Schamanismus im Besonderen der Wechselwirkung mit westlichen Forschern Rechnung zu tragen. Dass das von Kenin-Lopsan abgesteckte Feld schamanischen Wissens und schamanischer Tätigkeiten Plausibilität und Wirkkraft in sich hatte, zeigt die vielfache Rezeption seiner Typenbildung schamanischer Rituale, Abstammungsarten und des Erbschamanismus. Für eine Enzyklopädie des Schamanismus legen Ethnologen letztere ihrer Beschreibung des Schamanismus in Tyva ebenso zugrunde, wie die Herausgeber eines tyvanischen Sprachführers, der die adäquate Kommunikation zwischen Touristen und Schamanen sichern soll. Die so bereitgestellten Wendungen tragen dann, ohne dass derjenige, der sie verwendet, sich dessen vielleicht bewusst wird, einer weiteren Festigung des zugrundeliegenden Kanons bei. Kontinuität ist so hergestellt vom 19. Jahrhundert bis zum Gespräch des westlichen Touristen mit dem zeitgenössischen Schamanen – eine Kontinuitätskonstruktion, die notwendig war in der post-sowjetischen Ausgangssituation. Die sich nun organisch anschließende Frage ist natürlich, dies wurde bereits angedeutet, inwieweit diese Kontinuität in der Praxis tyvanischer Schamanen tatsächlich zu finden ist. Wird der Kanon eingehalten? Oder wird er an dieser und jener Stelle durchbrochen, reinterpretiert oder nur formal respektiert? Diese Fragen soll das nächste Kapitel beantworten, indem die Angebotstäfelchen tyvanischer Schamanen – ich nenne sie schamanische Visitenkarten – als Spiegel eben dieser Praxis gelesen und analysiert werden.

3.4 S CHAMANISCHE V ISITENKARTEN – R EFLEX SCHAMANISCHER P RAXEN E RWARTUNGEN DER K LIENTEN

UND

Im vorangehenden Kapitel zu Kanon, Orthopraxie und Häresie im tyvanischen Schamanismus wurde dargelegt, welche konzeptionellen Linien schamanischer Praxis in Tyva auf synchroner und diachroner Ebene auszumachen sind. Die zentrale Rolle des Kenin-Lopsanschen Werkes für dessen Kanonisierung wurde sichtbar, darüber hinaus in welche andere Literaturgattung hinein es ausgestrahlt hat und woher es seine Inspirationen schöpfte. Im Folgenden soll nun ein Schritt weiter gegangen werden, insofern die normierende Wirkung des Kenin-Lopsan-Kanons auf die Praxis tyvanischer Schamanen untersucht wird. Methodisch soll dies durch eine Kontrastierung des vorher umrissenen Kanons mit den in den Schamanenkliniken zu findenden Visitenkarten der Schamanen geschehen, auf welchen diese sich selbst und ihr rituelles Angebot präsentieren. Das dazu notwendige empirische Material wurde von mir in den drei zur Zeit der Feldforschung aktiven Schamanen-

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kliniken Adyg Eeren, Dungur und Tos Deer gesammelt. Vor dessen Darstellung soll jedoch der Kenin-Lopsan-Kanon nochmals zusammengefasst und pointiert werden. Im Wesentlichen umfasst er drei Kernbereiche: Erstens die Arten von Schamanentypen und ihre jeweilige Abstammung. Zweitens die Grundformen des schamanischen Handelns und ein typisiertes Ablaufschema. Schließlich die wiederkehrenden rituellen Werkzeuge des Schamanen. Die fünf Kategorien von Schamanen waren folgende: 1. ɵɡɵɝɭɭɪ ɫɚɥɝɚɧ ɯɚɦɧɚɚɧ ɯɚɦɧɚɪ - Schamanen, die ihre Herkunft von den Schamanen-Vorfahren ableiten 2. ɱɟɪ, ɫɭɝ ɷɷɡɢɧɞɟɧ ɯɚɦɧɚɚɧ ɯɚɦɧɚɪ - Schamanen, die ihre Herkunft von den Geistern der Erde und des Wassers ableiten 3. ɞɷɷɪɥɟɪɞɟɧ ɯɚɦɧɚɚɧ ɯɚɦ Schamanen, die ihre Herkunft vom Himmel ableiten 4. ɚɥɛɵɫɬɚɧ ɯɚɦɧɚɚɧ ɯɚɦɧɚɪ - Schamanen, die ihre Herkunft von den bösen Geistern albys ableiten 5. ɚɡɚɥɚɪɞɚɧ ɯɚɦɧɚɚɧ ɯɚɦɧɚɪ - Schamanen, die ihre Herkunft von den bösen Geistern aza ableiten. Ihre typischen Tätigkeiten gliedern sich in das Schamanisieren mit unterschiedlichen Instrumenten: úA÷AýóAûAó ąðüýððĀċ – Schamanisieren mit dem Schamanenspiegel, ąþüăāĂðÿ ąðüýððĀċ – Schamanisieren mit der Maultrommel, ôõĀøóôAýóAĀûAó ąðüýððĀċ – Schamanisieren mit der Schamanentrommel, ôðďúĂċóąðüýððĀċ – Schamanisieren mit dem Schamanenstab. Dieses Schamanisieren ist innerhalb des Grundtypus eines schamanischen Rituals, der ɤɚɦɥɚɧɢɟ, eingebettet in einen weiteren rituellen Kontext, dessen Handlungen nach einer bestimmten Reihenfolge ablaufen. Funktional lassen diese sich dann nach KeninLopsan weiter differenzieren in Heilungs- und Kultrituale. Erstere beziehen sich z.B. auf die Seele eines Kranken: ąðüýċĐ úøöøýøĐ úþû āAýõ÷øýøĐ úċùóċĀċÿ čúúččĀø (der Schamane ruft die Hauptseele des Kranken), letztere auf verschiedene Entitäten der natürlichen Umgebung: þĂôðóċċĀċ – Ritual zur Heiligung des Feuers, āăóñðöċýôðóċċĀċ – Ritual zur Heiligung der Quelle, ċďĈôðóċċĀċ – Ritual zur Heiligung des Baumes, üðûċôċúĂððĀċ – Ritual zur Heiligung der Tiere, ɨɜɚɚ ɞɚɝɵɵɪɵ – Ritual zur Heiligung des Ovaa, ú"öõõ ôðóċċĀċ – Ritual zur Heiligung einer Steinfigur, ñăóð ñðöċ ôðóċċĀċ – Ritual zur Heiligung eines Bewässerungskanals. Hierzu sind neben den Instrumenten zur Induzierung des Schamanisierens weitere rituelle Werkzeuge notwendig: orba – der Trommelschlegel, eeren – materialisierte Hilfsgeister, at kymchyzy – die Pferdepeitsche, tos-karak – der neunäugige Libationslöffel, etc. In den Visitenkarten, die Schamanen von sich selbst erstellen, kehren zahlreiche der von Kenin-Lopsan begründeten Signifikanten und Marker wieder. Allerdings lassen sie sich nur in Ausnahmen in ‚Reinform‘ finden, vielmehr begegnen sie zusammen mit von den Schamanen selbst neu geprägten Ritualbezeichnungen bzw. auch in Abwandlungen. Und gerade diese Prozesse der interpretativen Aneignung und u.U. Transgression des Kanons stellen die interessanteren Momente dar, insofern sie ein Spiegel der Lebendigkeit und der Adaptionsvorgänge schamanischer Praxis sind.

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3.4.1 Ein typischer Aufbau der schamanischen Visitenkarten Unterschiedlich in Größe, Anordnung der Textelemente und farblicher Gestaltung, folgen die Karten dennoch einem charakteristischen Aufbau.207 Auf eine Selbstportraitierung mit Schilderung der Herkunft und Eigenkategorisierung in Anlehnung an das Kenin-Lopsansche System folgt eine meist längere Liste von rituellen Angeboten als Response auf verschiedene Bedürfnislagen. Eine zusammenfassende Botschaft schließt die Visitenkarte ab (Vgl. Abbildung 5). In Form einer Selbstpräsentation kennzeichnet der Schamane nach der Nennung seines vollen Namens, der auch schamanische Sonderbezeichnungen enthalten kann, sich selbst gewöhnlich als Erbschamane. Dies stellt ein Echtheitsperformativ dar, das Wirklichkeit durch Sprache herstellt – und mündet dann direkt in eine Positionierung innerhalb des Kenin-Lopsanschen Kategoriensystem. Letzterer kann, wie bereits vorher ausgeführt, als der System-Begründer gesehen werden, der das vorher offene Weltdeutungsmodell der schamanischen Herkunft systematisiert und einer literarischen Ordnung unterworfen hat. Seine Wirkung geht aber noch darüber hinaus: Gegenwärtige Schamanen erfahren heute ihre Berufung gemäß diesem vorgegebenen Sinnsystem. Die Struktur, die Kenin-Lopsan geschaffen hat, stellt das Raster dar, an welchem sich die schamanischen Biografien kristallisieren und selbst finden können. Kenin-Lopsan hat Ordnung geschaffen, indem er Komplexität strukturierte, reduzierte, und damit gleichzeitig Identitätsmarker kreierte, die die Möglichkeit zu innersystemischer Differenzierung schaffen. Diese Ordnung repräsentiert dann aber auch den Kanon, der ins kulturelle Gedächtnis eingeprägt wird und von dort her seine Effektivität erhält. Anhand seiner Unterscheidungskraft wird entschieden, was gesellschaftlich als diesem kulturellen Gedächtnis entsprechend angesehen wird und was nicht. Es bildet sich Differenz zwischen Orthopraxis und Heteropraxis heraus. Schamanen reihen sich selbst mit ihrer schamanischen Biografie in dieses vorprägende System ein oder sprengen aus verschiedenen Gründen die Ordnung und verlassen damit den geschützten Raum der Legitimität gemäß der vergegenwärtigten schamanischen Mythologie. Zu dieser ersten Form der selbstkategorisierenden Spezifizierung gehört dann auf den meisten Visitenkarten auch eine Selbstpositionierung in die Spannung zwischen Lokalität und Universalität. Dem Verweis auf die eigene Abstammung aus dem Landkreis x, welcher die lokale Originalität und Anhaftung garantiert, wird die Zugehörigkeit zur Schamanengesellschaft y an die Seite gestellt und damit ein quasi innertyvanischer Kosmopolitismus produziert. Der Schamane konstatiert zwar seine Wurzeln im tyvanischen Dorf, seine Abstammung aus dem Stamm seiner Geburt, beschränkt aber seine Kräfte und soziale Legitimation nicht mehr auf diese 207 Dies folgt aus meiner Beobachtung von ca. 20 Visitenkarten unterschiedlicher Schamanen in den drei erwähnten Kliniken.

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abgeschlossene gesellschaftliche Gruppe. Seine Arbeit in der Stadt, institutionell gerahmt durch die Schamanengesellschaft, erweitert seinen Wirkbereich in das tyvanische Universum hinein, und in einzelnen Fällen durch die Kontakte der Schamanenklinik ins Ausland auch darüber hinaus in die Internationalität. Um die hier vollzogenen Gedankengänge zu konkretisieren, seien folgende Auszüge aus den Visitenkarten betrachtet: ØááÖ"ì ëïçôôîîôā åþþñ ôëóôä öáíü – Schamane himmlischer Abstammung aus dem Gebeit des Tshaa-Chöl (ein See) ÂáêÓáêäá ëïçôôîîôā ëüèüäôôñ òáìäááî åAðëAñæñ öáí – ErbSchamane mit besonderer Kraft, durch Spucken zu heilen, aus dem Gebiet der BajTaiga (ein Gebirgsmassiv) Im tyvanischen Kontext stellen die Marker Tshaa-Chöl und Baj-Taiga bekannte geografische Marker dar. Die beiden Schamanen verorten sich selbst innerhalb des geografischen und hier im Besonderen kulturellen Raumes Tyvas. Zu der so vollzogenen Lokalisierung tritt die Gegenbewegung einer Universalisierung: ÁåüäÞþñæî Öáíîáñ îééóéìæìéîā åáñäáèü ôëóôä üèüäôôñìôä Åþþñ øáĀááìäáìüäÖáí – Erbschamane [...] der Vereinigung Adyg Eeren ÂáñüüîÖæíøéëóæ Ëüèüìåüî öáíîáñ îééóéìæìéîā ĘÁåüä ÞþñæîĖ Öáí – Schamane aus dem Gebiet Baryyn-Chemtshik, Mitglied der Schamanenvereinigung Kyzyls Adyg Eeren Óüãá Ñæòðôâìéëáîüî ĘÁåüäÞþñæîĖ Öáíîáñ Îééóéìæìîéā ëæçéäôîA ÒAóÖïì ëïçôôîîôā ĘÁëåáùĖ òôíôèôîåáî üèüäôôñ òáìäááî ĘËïëáêĖ ôëóôä Öáí – Erbschamane, Mitglied der Schamanenvereinigung der Republik Tyva Adyg Eeren, aus dem Gebiet Süt-Chol (Milch-See) vom Ort Ak-Dash (weißer Stein)[...]. Alle drei Schamanen, unterschiedlicher Herkunft und unterschiedlicher Art, erklären sich als Teil der allgemeinen Schamanenvereinigung Adyg Eeren. Dies wird bis zur dritten Selbstverortung noch insoweit gesteigert, da die Vereinigung als eine Größe nationalen Ausmaßes gekennzeichnet wird (‚der Republik Tyva‘ ). Und schließlich die Selbstklassifizierungen nach dem System Kenin-Lopsans: Diese können sich entweder ganz an die Vorgaben des Begründers halten und eine Kategorie als die eigene benennen: ÁèáåáîÖáíîááîÖáí – Schamane von den Geistern Aza

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Oder eine Kombination aus den kanonischen Signifikanten vornehmen: Øæñ Òôä Åþþñ Ôëóôä ØááÖïì ëïçôôîåáî üèüäôôñ òáìäááî öáí – Erbschamane aus dem Gebiet Tshaa-Chol, mit Abstammug von der Erde, dem Wasser und dem Himmel Oder die Kategorien selbst durch Hinzufügung ergänzender Titel erweitern: Üèüäôôñ òáìäááî Øôòøáìáíá ÅþþñAëóAä öáí Áê Øôñæë Ïÿî – Erbschamane „100-ýalama“ von himmlischer Abstammung Ay-ýurek Während sich bei den schamanischen Abstammungsarten bereits kreative Adaptionen feststellen lassen, bleiben die meisten Schamanen noch weitestgehend in dem von Kenin-Lopsan abgesteckten Rahmen. Wesentlich umfangreicher wird jedoch das Spektrum an rituellen Tätigkeiten erweitert. Dies soll im Folgenden genauer untersucht werden. 3.4.2 Das Fähigkeitenangebot: Response auf Bedürfnisse oder umgekehrt? Der obigen Selbstpräsentation wird nun meist ein Katalog von Ereignissen angeschlossen, zu denen schamanische Unterstützung in vielfältiger Form angeboten wird. Dabei handelt es sich sowohl um allgemein lebensweltliche Herausforderungen der menschlichen Existenz als auch spezifische Krankheiten oder wiederum jahres- und lebenszeitliche Stationen und Okkasionen, zu denen ein schamanisches Ritual angemessen erscheint. Typischerweise werden diese drei Hauptkategorien auch nicht einer strikten Differenzierung unterzogen, sondern kreativ verschränkt und relational aufeinander bezogen. Oder anders gewendet, stellt diese meine Klassifizierung eine von außen an die schamanische Sicht herangetragene Unterscheidung dar, die aus der emischen Perspektive zunächst nicht notwendig oder gar sinnlos erscheint. Tyvanische termini zur Bezeichnung von Krankheiten stehen so neben Begriffen aus der westlichen naturwissenschaftlichen Medizin. Alltagsproblematiken bzgl. der Zukunftsschau bei zu treffenden Entscheidungen oder dem Wohl der eigenen Finanzen, des Autos oder ganzer Organisationen treffen auf Lebensstationen des Menschen wie Kindheit, Adoleszenz und Tod. Herausforderungen des nomadischen Lebens reihen sich an Aufgaben, die das Stadtleben für die Menschen mit sich bringt. Fragmente aus dem Weltdeutungsrahmen des tibetischen Buddhismus mischen sich unter die schamanische Kosmologie und diese wiederum unter esoterische Referenzkategorien. Und schließlich wird den besonderen Bedürfnissen des westlichen Besuchers mit Angeboten von Interviews, Filmen und

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Ritualvorführungen begegnet. Einige Beispiele, die weder Anspruch auf Vollständigkeit noch auf letztgültige Repräsentativität erheben, jedoch als paradigmatisch gesehen werden können, sollen dies im Folgenden erläutern. Unter die Kategorie der umfassenden Alltagsherausforderungen lassen sich etwa folgende Rituale fassen: - Áëùáë"ðææëáëóááñïñôëøéñéëáçüåáñ– Geld weiß machen, die Pforte zum Weg öffnen - Öôãááîáëóáñ ùïó"ìäæ òáìüñ – eine Divination erfragen (durch Legen der Chuvaanak-Steine oder des Schulterblattorakels) - ÁñäáòAíæ âþþñ – einen Rat erteilen (‚der Möglichkeiten / der Weisheit‘) - Ëæçéë ëüêäüñáñ åAîäAñìæð áñüäìááùëüîîáñ þñóóéñæñ – Glück /Erfolg herbeirufen durch Schlagen der Trommel und Reinigung - Öááøáöááñ – Die Haustür schließen (vor unbefugtem Eintritt) - Øáñüîòáìüðïïñòôëóôāïñôôîóüãáñ– mit dem Schulterblattorakel Diebesgut / den Weg des Diebes (wieder)finden Einen eindeutigeren Bezug zur nomadischen Lebensweise zeigen folgende: - Íáìüåüëóááñ/ íáìíáäáîüåüëóááñ– Das Vieh segnen/ heiligen/vor Schaden schützen - Ëáçáááñüäìááùëüîü– Das Tiergehege (Zaun) reinigen - Ááìëïåáî áñüäìááùëüîü – Die Jurtensiedlung (Gesamtkomplex) reinigen - Âáçüîâáìäáó ëïåáîöááøá ïóë"ò áñüäìááñ – Die Wohnung (städtisch-modern), das Herdentor, den Herd/die Feuerstelle reinigen - åæëëüùóáäíáìíáäáîüåüëóáðâþþñéïïñáìâáòëüìåüñ åïòëôôì ëüìüñü þäéåæñé – Im Winterlager durch (schützende) Segnung des Viehs einen Zaun/ein Hindernis anlegen, damit der Dieb nichts wegnimmt und es zurückgibt Dagegen weisen diese Rituale in die Gegenrichtung des Stadtlebens: - Ïñäáîéèá÷éĀáñüäìááñü – ein Unternehmen / eine Organisation reinigen - Íáùéîáóæöîéëááñüäìááùëüîü – die Technik eines Autos reinigen - Åïëôíæîóáëùááëóááñüåüëóááñ – Dokumente (wie den Pass), Geld weiß machen und heiligen/schützen Da ein derartiges Angebot an Fällen ritueller Handlungen auch als Spiegel der Lebenssituationen gelesen werden kann, wird die Verwobenheit der letzteren deut-

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lich. So wie Schamanen keine kategorischen Trennungen zwischen den auf das Stadtleben bezogenen Ritualen und solchen, die einem nomadischen Leben korrespondieren, vornehmen, interagieren auch die beiden Lebensformen in der tyvanischen Realität. Das Fortbewegungsmittel Auto, der Pass als Ausdruck bürokratischer Herrschaftsstrukturen und Geld als Symbol der Wirkmächtigkeit der Marktwirtschaft – alle werden zu Objekten der Einflussnahme qua schamanischer Praxen. Sie stehen damit nicht außerhalb oder getrennt von einer Lebenswelt, die durch Viehhaltung, Nomadensiedlungen, Jurten und Feuerstellen geprägt ist, sondern sind darin verwoben. Das Angebot der tyvanischen Schamanen spiegelt damit auch die Untrennbarkeit dieser beiden Existenzweisen. Strukturanalog zeigt sich diese Gleichzeitigkeit differenter interpretativer Zugriffe auch in der Frage, wie Krankheiten klassifiziert werden und wie darauf zu reagieren ist. Dies soll nun exemplifiziert werden. Grundsätzliche heilende Tätigkeiten in schamanischer Perspektive: - Åïíîááñ – Sammelbegriff für Reinigungsriten spiritueller Zielrichtung - Þíîææñ – Heilen mit Heilmitteln materieller Art - Òôêâááñ– Bestreichen - Öáîîááñ – Zur Ader lassen Spezialisierte schamanische Heilpraxen: - ËAèAāäAâéìæë""ñAåïíîáåüðáìüñü – mit dem Schamanenspiegel heilen - Áñóüçáð ëüíøüãéìæ öáíîááñü – Durch Artysh-Räuchern und mit der Schamanenpeitsche schamanisiseren - Âáçüîóôåáñ – Den Kopf heilen (an den richtigen Platz bringen) durch Handauflegen - Âáçüîáñüäìááùëüîü– Den Kopf reinigen - Ááçüøáāü "òëæñéìäæî ôêäôåAçA âáòëüñááî ôìôòóô ÅæñéäÅAîäAñâéìæôìôäáñüäìááùëüîîáñëüìüñ– eine große Reinigen mit der [...] Trommel durchführen für Menschen, die ihren Charakter geändert haben / depressiv sind oder an Schlaflosigkeit leiden (mit schläfriger Seele) - Âéøééôñôäìáñòüìåáāäüèüîøáêìáåüñü– ein kleines Kind von grundloser Nervosität befreien - Øáù ôñôäåáñüä òüìåáîäüèü þåæñ åïíîááñ – ein Baby von grundloser Nervosität wieder in Ordnung bringen, heilen

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Kategorien westlich-moderner and anderer Medizinarten - Íáòòáçóááñ – Massage - Íáòòáçóôåôðòôêâááñü – Massage durch Bestreichen - Óéâæóíáòòáç – Tibetische Medizin - Öïîåñïòóôä – Chondrose (Verschmälerung des Zwischenwirbelabstands) - Âïïòóááâáäáê – Probleme in der Kehle (schwache Kehle) - Èïâóôäáîäéîáìüñ – Halsangina (‚Schilddrüsenangina‘) - Òüāüê âáäáê – Probleme mit der Harnblase/den Fortpflanzungsorganen Zu konstatieren ist auch hier ein Ineinandergreifen der beiden Systeme, das keine Widersprüche generiert, sondern als vereinbar konzipiert wird. Der Schamane bietet daher Heilung nicht nur für Krankheiten, die im Rahmen einer schamanischen Kosmologie klassifiziert werden oder ihre Erklärung daraus finden würden, sondern auch Indikationen einer Medizin, die auf naturwissenschaftlichen Annahmen fußt. Die strikte Benennung einer Krankheitsursache gemäß eines bestimmten Systems scheint nur sekundär gegenüber der Fähigkeit, sie zu heilen – und diese nimmt der Schamane für sich in Anspruch auch bei Phänomenen, die er in der Sprache eines ihm zunächst fremden Denksystems fasst. Schließlich sei noch eine dritte Dualität ritueller Praxis tyvanischer Schamanen aufgezeigt, welche ebenfalls von pragmatischer Verzahnung und wechselseitiger Bezugnahme gekennzeichnet ist: Rituale, die ihren Anknüpfungspunkt in lebenszeitlichen oder jahreszeitlichen Zyklen haben und jeweils dem Deuterahmen des Tibetischen Buddhismus oder des Schamanismus entstammen – jedoch beide von Schamanen bedient werden. Ersterem ist zunächst v.a. die Praxis der tibetischen Astrologie zu zuordnen, welche als þûăĂāþþôðû, üõĐóø ćðĀðĀ bzw. üõýóø, āþþôðû ćðĀûċĀðĀċ bezeichnet wird. Ohne diese ausführlicher zu erläutern, sei darauf hingewiesen, dass es sich hier um ein differenziertes System von Größen handelt, die gemäß dem Geburtszeitpunkt des Klienten bestimmt werden und so verschiedene Aussagen über die das Leben des Klienten bestimmenden Kräfte, Aufgaben und Gefahren ermöglichen. Sucht ein Klient Rat bei einem Schamanen, so ist es wahrscheinlich, dass er neben der schamanischen Divinationspraxis des Khuvaanak208 auch noch die zweite Perspektive des tibetischen Systems einholen wird. Beide werden daher nicht als konkurrierend, sondern vielmehr additiv und komplementär verstanden. Eine mögliche rituelle Reaktion auf die daraus gewonnenen Kenntnisse über zukünftige Dispositionen kann nun darin bestehen, den Weg 208 Zu den ethnografischen Details dieses Divinationsverfahrens siehe: Oelschlägel, Anett C.: Der weisse Weg: Naturreligion und Divination bei den West-Tyva im Süden Sibiriens, Leipzig 2004.

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des Klienten ‚weiß‘ zu machen: ÞĀăú ðúĂððĀċ ôăýóăĀûõÿ úõöøú úċùóċĀċÿ ñččĀø úðüóðûðûččĀõý úċûċĀċÿ – Den Weg weiß machen, mit der Trommel Glück rufen, einen Schutz-Hilfsgeist anfertigen. Die Logik des divinatorischen Systems beinhaltet daher sowohl die prinzipielle Möglichkeit der Einsicht in zukünftige Prozesse, konstituiert damit aber andererseits noch kein Ausgeliefertsein an die Kräfte der Zukunft. Mit der adäquaten schamanischen Response hat der Klient die Möglichkeit, auf sein Geschick einzuwirken. Eine Komplementarität zwischen buddhistischen und schamanischen Ritualen, wie sie oben ausgeführt wurde, ist auch bei lebenszyklischen Anlässen, wie zur Geburt eines Kindes oder beim Tod eines Angehörigen, zu verzeichnen. Für Kasualien des Todes sind es v.a. die Schamanen, die zum 7. und 49. Todestag sowie nach 1 bzw. 3 Jahren die obligatorischen rituellen Verrichtungen durchführen, in deren Rahmen eine Kommunikation mit den Totengeistern ermöglicht wird: Diese werden als ąþýăúćċûôðĀčĀĂøýõĀTIJWFZHMñþûóðĈąþýăú ćċû"÷AûðûôðĀċýčĀĂøĀõĀ bezeichnet. Jahreszeitlich kennen die Schamanen aus dem tibetischen Buddhismus ‚Das Heiligungs-Fest der Erde-Land, Wasser-Quelle, des Gelben Blattes, und des Blauen Blattes‘ (ôðóċûóðûðĀ čĀĂøĀõĀ ćõĀćăĀĂ āăó ñðöċ āðĀċóñAĀA ú"ú ñAĀA) und ganz ähnlich die schamanische Variante: āăóñðöċ ąðüôċĂ Ăõû ċďĈñðùċďĈþòððôðóċċĀ – ‚Das Heiligungs-Fest der Wasser-Quelle, des Schamanenbaums, des heiligen Baums, des großen Baums, des Ovaa‘. Deutlich wird die Bindung dieses Festes an spezifisch tyvanische Erscheinungen der Fauna, einer hybriden Baumart, die sich dadurch auszeichnet, dass aus einem Stamm zwei verschiedene Baumsorten zugleich entspringen. In diese Kategorie der lokal anhaftenden zyklischen Feste fallen auch die ðĀöððýðĀóðôðóċûóðûðĀ, zu vollziehen an einer tyvanischen Mineralwasserquelle mit heilender Wirkung. Alle derartigen Orte sind einerseits gekennzeichnet von einer materiellen Grundlage in Form einer herausragenden geologisch-botanischen Eigenschaft, andererseits wird ihnen ihr spiritueller Charakter zugewiesen. Dies dokumentieren die ýalama, bunte Stoffbänder, die am Ovaa, am Arzhan und allen Arten heiliger Bäume während des Rituals hinterlassen werden. Eine gegenseitige Exklusion buddhistischer und schamanischer Feste kann von keiner Seite beobachtet werden. Wenn eine Unterscheidung getroffen wird, dann bzgl. des Charakters der Ritualspezialisten. Während buddhistische Lamas den Schamanen hinsichtlich ihrer Bildung als überlegen gelten, verweisen Schamanen gerne darauf, dass den Lamas die eigentliche Kraft fehle und diese nur den Schamanen reserviert sei. Da dieser Diskurs jedoch keinen unmittelbaren Niederschlag auf den hier untersuchten schamanischen Visitenkarten findet, soll er hier nicht weiter nachverfolgt werden. Sehr wohl darin eingeschrieben hat sich jedoch ein anderer Diskurs bzgl. des Charakters der Schamanen, welcher als letztes typisiertes Element der Visitenkarten noch dargestellt werden soll. Es handelt sich um zusammenfassende Botschaften der Schamanen, die – meist farblich

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abgehoben – das Ritualangebot einleiten oder abschließen. Es begegnen Wendungen wie -

ØïîäááøüâôĀîü– Dem Volk Glück ØïîäáøæåéñéðóôñáñáøüâôĀîü– Bringt den Leuten vollendetes Glück Öáíëéçéîéāëüìüñáçüìüîå"äæñæèéîëüìüñ – Der Schamane macht alle Arbeiten, für die er bestimmt ist zu tun Òéìæñäæ áøüâôĀî øæåéñéð ëæìåé – Zu Ihnen ist das Glück vollkommen angekommen

Der Schamane kennzeichnet sich selbst in seiner Funktion als Glücksbringer. Seine Tätigkeiten werden als grundsätzlich ethisch gut normiert. Da im Zusammenhang schamanischer Tätigkeit oftmals eine Unterscheidung zwischen sog. schwarzen und weißen Schamanen, also solchen, die zum Schaden und andere, die zum Wohl der Menschen handeln, im Hintergrund steht, könnte in derartigen Wendungen ein Verweis darauf vorliegen. Um den Vorwurf ‚schwarzmagischer‘, also schadenbringender Handlungen – welche natürlich in der grundsätzlichen Akzeptanz einer Fähigkeit des Schamanen zur Manipulation des menschlichen Geschicks immer impliziert ist – präventiv zu begegnen, stellen sie performativ einen Zusammenhang her zwischen ihrem Ritualangebot und dem positiv konnotierten Begriff des ðćċ ñăďý– des (verdienten) Glücks / Wohlergehens. Es verleiht den offerierten Maßnahmen einen legitimierenden Gesamtrahmen und versichert auch die Klienten, dass alle wählbaren Handlungen von guter Natur sind. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass das Angebot an schamanischen Ritualen mindestens von einer dreifachen inkludierenden und verschränkenden Dualität geprägt ist: Den Alltagsherausforderungen des Stadt- und Nomadenlebens, dem auf geistige Heilung zielenden schamanischen System und naturwissenschaftlicher bzw. alternativer Medizin, den buddhistischen und schamanischen Festen des Jahres und des Lebens. Wendet man nun dieses Ergebnis zurück auf die Ausgangsfrage, wie das Verhältnis des Kenin-Lopsanschen Kanons zu den konkreten Manifestationen schamanischen Handelns zu bestimmen ist, so wird deutlich, dass sich gerade in diesen Inklusionen und Verschränkungen die adaptiven und kanonüberschreitenden Prozesse spiegeln. Den Kern, den Kenin-Lopsan zunächst als einen für die Rekonstruktion notwendigen Minimalkonsensus schriftlich fixiert hat, behalten die Schamanen bei, expandieren ihr Spektrum an Ritualen jedoch in unterschiedlichste Richtungen. Als besonders farbige Extrapolationen dieser Art seien abschließend noch einige Angebote der Schamanenklinik Tos Deer geschildert, welche in ihrer Ausrichtung explizit für Touristen bzw. Ausländer bestimmt sind – erkennbar schon allein daran, dass sie nicht wie obige in Tyvanisch, sondern nur in Russisch begegnen:

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ɤɨɧɫɭɥɶɬɚɰɢɹ, ɝɚɞɚɧɢɟ ɧɚ ɤɚɦɧɹɯ – Konsultation, Weissagung mit den Steinen ɨɱɢɳɟɧɢɟ ɫ ɛɭɛɧɨɦ, ɥɟɱɟɧɢɟ - ɧɚ ɪɨɫɫɬɨɹɧɢɢ, ɩɨ ɮɨɬɨ, ɨɛɪɚɞɵ, ɪɢɬɭɚɥɵ – Reinigung mit der Schamanentrommel, Heilung – auf Entfernung, durch ein Foto, Rituale, ‚Rituale‘ ɤɚɦɥɚɧɢɟ ɧɚ ɩɪɢɪɨɞɢɟ, ɩɪɢɝɥɚɲɟɧɢɟ – Kamlanie in der Natur, Einladung (des Schamanen) ɢɧɬɟɪɜɶɸ, ɥɟɤɰɢɹ ɩɨ ɲɚɦɚɧɢɡɦɭ – Interview, Lektion über den Schamanismus

Diese weiterreichenden Entwicklungen schamanischer Angebote machen zweierlei deutlich: Es haben sich in den letzten 15 Jahren nicht nur die Lebenssituationen geändert, auf welche vom Schamanen eine Antwort erwartet wird – dies wurde bereits aus den weiter oben skizzierten Transformationen ersichtlich. Verändert haben sich auch das Klientel der Rituale und die Interaktionsformen. Jetzt mischen sich unter die einheimische Bevölkerung Moskauer Bürger oder westeuropäische Besucher als Empfänger des Rituals. Für sie werden neue soziale Formen der Begegnung mit dem Schamanen kreiert: Konsultation, Einladung, Interview und die an das akademische System angelehnte Form der Unterrichtsstunden bzw. Lektion. Für die esoterisch Informierten wird die schamanische Kraft auf Fernheilungen transmittiert. Die tyvanische Differenzierung von an verschiedene Naturphänomene angebundenen Ritualorten wird reduziert auf ‚die Natur‘, in der das ebenso auf die ‚kamlanie‘ reduzierte Handeln des Schamanen durchgeführt wird. Das genau beund vorgeschriebene System des divinatorischen Khuvaanak wird vereinfacht auf eine ‚Weissagung auf den Steinen‘. Ohne derartige Komplexizitätsreduktionen als simplifizierend kennzeichnen zu wollen, kann doch vermutet werden, dass diese notwendig sind als Anschlussstellen für eine transkulturelle Kommunikation zwischen tyvanischen Schamanen und ihrem internationalen Publikum. Die Internationalisierung, die sich als so entscheidend für den Wiederbelebungsprozess des tyvanischen Schamanismus herausgestellt hat, führt gleichzeitig zu einer Einpassung und Handhabbarmachung des tyvanischen Ritualkosmos in stereotype Formen des globalen Schamanismusdiskurses. Beinah eine Ironie: Um das Eigene als das Eigene erfahren zu können, waren externe Impulse notwendig – und gerade in diesem Kontakt geschieht die Assimilierung des Eigenen hinein in das Globale.

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Abbildung 5: Schamanische Visitenkarte. Rechte Spalte: Struktur.

Quelle: Heiko Grünwedel

3.4.3 Zusammenfassung Ausgehend von der Kenin-Lopsanschen Kanonisierung der Schamanentypen und ihrer Abstammung, der Grundformen des schamanischen Handelns und wiederkehrender Ritualwerkzeuge, wurden schamanische Visitenkarten aus den vier zentralen Schamanenkliniken Kyzyls untersucht. Es zeigte sich, dass die vom Präsidenten aller Schamanen begründeten Signifikanten und Marker wiederkehren, jedoch meist in adaptierter Form bzw. neu geprägten Ritualbezeichnungen und damit in einen Prozess der interpretativen Aneignung treten. Der typische Aufbau der schamanischen Visitenkarten aus Selbstportraitierung qua Herkunft und Erbschamanentum, Eigenkategorisierung im Kenin-Lopsanschen Typensystem sowie Ritualangebot mit abschließendem Performativ als weißer Schamane spiegelt die Einprägung des Kanons ins kulturelle Gedächtnis und dessen erfahrungskonditionierende Kraft wider. Zugleich wird darin aber auch deutlich, wie lokale Originalitäten durch

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Universalisierung transzendiert werden und die Zugehörigkeit zu einer der Schamanengesellschaften die soziale Legitimation für die Arbeit des Schamanen im Kontext der Stadt bzw. darüber hinaus im Ausland liefert. Das Spektrum an rituellen Tätigkeiten ist folglich auch durch mehrfache nicht-exklusive Dualitäten gekennzeichnet. Alltägliche und existenzielle Herausforderungen, Krankheiten, jahres- und lebenszyklische Zeitpunkte finden Antworten aus schamanischer, buddhistischer oder naturwissenschaftlich-westlicher Weltdeutung, ohne sich in Widersprüchen zu verlieren. Erklärbar sind derartige Amplifizierungs- und Adaptionsprozesse durch die Veränderungen nicht nur der sozialen Lebenssituation sondern auch des Ritualklientels, der Interaktionsformen mit dem Schamanen und durch globale Kräfte bedingte Verschiebungen im Schamanismusdiskurs. Aufgabe des nächsten Kapitels wird es daher sein, eben jene transformativen Dynamiken, deren Spuren hier aufgedeckt wurden, zu untersuchen. Zugänglich werden diese, indem die geschilderten schamanischen Praxen in ihren soziologischen und räumlichen Kontexten verorten werden, d.h. im Raum ihrer Realisation, in den schamanischen Kliniken.

3.5 H ETEROTOPIEN , S CHWELLENRÄUME , O RTE T RANSDIFFERENZ

DER

„The imagination of space as a surface on which we are placed, the turning of space into time, the sharp separation of local place from the space out there; these are all ways of taming the challenge that the inherent spatiality of the world presents. […]. In this case, the argument is that the very possibility of any serious recognition of multiplicity and heterogeneity itself depends on a recognition of spatiality.“209

3.5.1 Einleitung Eine Situationsbeschreibung des gegenwärtigen Schamanismus in Tyva muss, wie bereits weiter oben dargelegt, von einer Koexistenz mehrerer (konkurrierender) Schamanenkliniken sowie anderer unabhängig operierender einzelner Schamanen ausgehen. Interne Spannungen und Konflikte hatten die zunächst auf der Autorität Kenin-Lopsans basierende Einheit des wiederbelebten Schamanismus unterminiert

209 Massey, Doreen: For Space, London 2005, 7; 11.

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und mündeten in Neugründungen schamanischer Zentren meist unter früheren zentralen Persönlichkeiten, die sich jedoch dem Regiment Kenin-Lopsans entzogen. Unter dem Druck der gewachsenen Konkurrenzsituation führte dies darüber hinaus zu einer funktionellen Ausdifferenzierung der Kliniken in ihrem schamanischen Dienstleistungsspektrum sowie personaler Profilierung einzelner Schamanen hinsichtlich ihrer performativen Rollen zu verschiedenen gesellschaftlichen Anlässen (vgl. das Verhältnis des Schamanenpräsidenten Kenin-Lopsans zu der StarSchamanin Ay-ýurek). Basierend auf den Beobachtungen während meiner Feldforschung in Kyzyl, möchte ich im Folgenden darlegen, dass der geschilderte Prozess nicht nur von historisch kontigenten Entwicklungen und personellen habituellen Prädispositionen abhängt, sondern darüber hinaus verschiedene Korrelationen zur Topografie der tyvanischen Hauptstadt Kyzyl aufweist. Anhand der Lage der drei während der Feldforschungszeit aktivsten Schamanenklinken Dungur, Tos Deer und Adyg Eeren im Gesamtgefüge der Stadt werde ich Zusammenhänge zwischen der schamanischen Praxis der jeweiligen Klinik und der durch die räumliche Lage bedingten sozialen Linien, die dort zusammentreffen, herausarbeiten. Im Besonderen wird ein Augenmerk auf die Ströme von ausländischen Besuchern, Touristen, Forschern und ihre charakteristischen Pfade zu richten sein, da diese eine entscheidende Kommunikationsstelle zum Westen darstellen. Die Topografie des Schamanimus in der Hauptstadt Kyzyl wird wie die Mikrotopografie der inneren Organisation der Schamanenkliniken selbst zu einem Reflexionsort der Wechselwirkungsdynamik von Lokalem und Globalen. Es ist daher angebracht, zu untersuchen, wie dem lokalen Ort, konkret einer schamanischen Klinik im sozialen Raum der Stadt Kyzyl210 unter dem Kräftefeld des globalen Diskursfeldes des Schamanismus Be210 Die Stadt als eigenständiger soziologischer Gegenstand in der Transparenz gegenwärtiger Forschung wurde u.a. von Martina Löw rehabilitiert. In ihrer ‚Soziologie der Städte‘ begründet die Autorin Stadtforschung in ihrer doppelten Perspektive darauf, „wie Orte mit Bedeutung aufgeladen werden und wie Menschen durch Orte konstituiert werden“ (108) und hält definierend fest: „Insofern richtet sich die Analyse der Eigenlogik der Städte im Kern auf den Prozess, städtische Wirklichkeit in ihrer Differenz zu interpretieren und Folgen für Vergesellschaftung in den Städten sowie für Gesellschaftskonstitution zu verdeutlichen.“ (114) Entscheidend ist dabei, die qualitative Beschreibung von Städten nicht substanzialistisch zu betreiben sondern diese aus ihren Bezügen heraus zu verstehen. Städte verfügen so nach Löw über Eigenlogiken, ortsspezifische Strukturen und an Materialität gebundene dauerhafte Dispositionen, die sich aus einem relationalem System lokaler, nationaler und globaler Bezüge, d.h. im Spannungsverhältnis zwischen Tendenzen der Homogenisierung und Heterogenisierung konstitutieren. Zwischen bedeutungsbesetztem Raum und den diese Bedeutungen zuweisenden Bewohnern besteht dabei eine Wechselwirkung: Als raumzeitlicher Gedächtnisspeicher schreiben sich Städte in die Routinen der Wege, Wahrnehmungen und der Körper ein. Löw

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deutung zugewiesen wird. Raum als Prozess, konstituiert durch soziale Interaktionen eröffnet eine entscheidende Perspektive auf die Reinterpretation des Globalen in lokalen Kontexten und die Affizierung des Lokalen durch globale Dispositive. 3.5.2 Topografie Kyzyls Kyzyl, die ‚Rote‘, die ‚Schöne‘ wirkt in Mitten der tyvanischen Steppenlandschaft für den ausländischen Besucher oft etwas deplaziert. Tatsächlich ist die Hauptstadt Tyvas ein repräsentatives Werk der Sowjetpolitik und spiegelt abgesehen von wenigen architektonischen Eigenheiten tyvanischer Herkunft auch im Wesentlichen die Charakteristik sonstiger Sowjetstädte wider. Als Stadtzentrum soll im Folgenden der auf der Karte (Vgl.Abbildung 6)211 oval umrundete Bereich verstanden werden, der die zentralen administrativen, ökonomischen und kulturellen Einrichtungen einer modernen Stadt umfasst: Die Regierungsgebäude, das Nationaltheater, die Post, einige Supermärkte und Mobilfunkgeschäfte, das Universitätshauptgebäude, eine zentrale Gaststätte, welche zugleich verschiedenste kleinere Dienstleistungsunternehmen beheimatet sowie das städtische Kino. Innerhalb dieses Gebietes ist die Dichte und soziale Herkunft derjenigen Menschen, die sich darin bewegen, relativ homogen. Außerhalb des Stadtzentrums jedoch – wobei keine expliziten Grenzen existieren und die Übergänge fließender Art sind – ist ein ausgeprägtes Nord-Süd-Gefälle festzustellen. Während sich im Norden die Regierungs- und Verwaltungseinrichtungen, die prestigereicheren Hotels mit v.a. ausländischer bzw. wohlhabender Kundschaft befinden, schließt sich im Süden des Zentrums der eher an orientalische oder zentralamerikanische Stereotypen erinnernde Markt sowie ein an alltäglichen Bedürfnissen orientiertes Warenhaus an. Die Wahrscheinlichkeit, nördlich des Zentrums Menschen in Anzügen und Krawatte anzutreffen, übersteigt im Allgemeinen – und natürlich hier bewusst zugespitzt – diejenige Wahrscheinlichkeit, dieselben Menschen südlich davon anzutreffen, um ein Vielfaches. Im Süden finden sich vielmehr Markthändler, Arbeiter, Hausfrauen und v.a. auch in konzentrierterer Form alle diejenigen Existenzen, welche der post-sowjetische Transformationsprozess als Verlierer zurückgelassen hat. Touristen, die Tyva einen Besuch abstatten, findet man hier nur selten. Sie bewegen sich eher entlang der schlußfolgert: „Eine Soziologie der Städte, praxeologisch angelegt, sucht die Eigenlogik der Städte im impliziten Verstehen, das heißt darin, wie sie sich in den Körper, in die Materialität der Stadt, in die aufgespannten Räume etc. einlagert und über Routinen gelebt wird.“ Vgl. Löw, Martina: Soziologie der Städte, Frankfurt 2008, 20-24; 108-114. 211 Zugrundeliegender Stadtplan von Kyzyl: ɂɡɞɚɬɟɥɶɫɤɢɣ ɰɟɧɬɪ „ɉɥɚɬɢɧɚ“: Ʉɵɡɵɥ. Ʉɚɪɬɚ ɝɨɪɨɞɚ. ɋɬɨɥɢɰɚ Ɋɟɫɩɭɛɥɢɤɚ Ɍɵɜɚ, ɤɚɪɬɨɝɪɚɮɢɱɟɫɤɚɹ ɨɫɧɨɜɚ ɩɪɟɞɨɫɬɚɜɥɟɧɚ ɈɈɈ „Ɍɵɜɚɝɢɩɪɨɡɟɦ“, ɪɭɤɨɜɨɞɢɬɟɥɢ ɩɪɨɟɤɬɚ: Ɇɨɧɝɭɲ ɗ. Ȼ., Ɉɸɧ Ⱥ.Ȼ., ɒɚɪɚ-ɏɨɨ Ɇ.ɋ. , 2008.

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Flaniermeile nördlich des Zentrums parallel zum Jenissej. So führt ein typischer Touristenpfad, beginnend bei einem der Prestigehotels am Fluss entlang bis zum Völkerkundemuseum und dann vielleicht noch zum Abschluss in das einzig größere Restaurant. Interessant ist nun, wie die drei untersuchten schamanischen Kliniken Dungur, Tos Deer und Adyg Eeren hinsichtlich dieser Mikrogeografie Kyzyls positioniert sind. Auffällig ist zunächst, dass alle drei sich am Rande des hier markierten Zentrums befinden und vereinfacht gesprochen in größtmöglichem Abstand zueinander. Hierbei kann es sich um einen Zufall handeln, wahrscheinlicher ist es jedoch, in dieser räumlichen Konstellation einen Ausdruck der traditionellen Feindschaft und Konkurrenz unter Schamanen zu sehen, die in der gegenwärtigen Situation neue Formen annimmt. Während nun die von der Star-Schamanin geleitete Klinik Tos-Deer quasi auf halber Strecke zwischen Hotel und Museum liegt – dem Touristen also auf seiner Wanderung auf dem für ihn vorgesehenen Pfade gar nicht verborgen bleiben kann, werden die Gesellschaften Dungur und Adyg Eeren für ihn erst nach längerer Recherche auffindbar werden. Tos Deer schwimmt daher besonders in den Sommermonaten in einer internationalen Atmosphäre von Besuchern, die beiden südlichen Schamanenkliniken werden tendenziell eher von Tyvanern frequentiert werden. Wozu nun alle diese Überlegungen topografischer Natur? Sicherlich wird, wie weiter oben herausgearbeitet, die persönliche Fähigkeit Ayýureks eine publikumswirksame Performanz mit authentischer Repräsentation zu öffentlichen Ereignissen zu verbinden, einen wesentlichen Faktor ihrer sowohl innertyvanischen als auch internationalen Popularität darstellen. Dennoch darf mit gleicher Berechtigung die Tatsache nicht als unerheblich betrachtet werden, dass die Mehrzahl ausländischer Besucher, von welchen wiederum ein Großteil durch das Interesse am Schamanismus zu einer Reise nach Tyva motiviert wurde, alleine wegen der räumlichen Nähe eher in Tos Deer Kunde werden wird als in Adyg Eeren. Korreliert ist dies auch mit den Preisen, die für schamanische Rituale erhoben werden: Das Niveau Tos Deers übersteigt das der beiden anderen Gesellschaften zum Teil um ein Vielfaches. Ursache und Wirkung sind in diesem Komplex nur schwer auszumachen. Doch dass ein Zusammenhang besteht zwischen Popularität, stadttopologischer Lage, Arten schamanischer Rituale und deren Preisen, scheint plausibel.

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Abbildung 6: Stadtplan Kyzyl. Ovale Markierung: Zentrum. Rote Pfeile: Schamanenkliniken.

Quelle: ɂɡɞɚɬɟɥɶɫɤɢɣ ɰɟɧɬɪ ɉɥɚɬɢɧɚ, Bearbeitung: Heiko Grünwedel

3.5.3 Eine typische Schamanenklinik In ihrem äußeren Aufbau gleichen sich die verschiedenen Schamanenkliniken in struktureller Hinsicht (Vgl. Abbildung 7): Ein einstöckiges Haus mit mehreren Zimmern beherbergt die schamanische ‚Poliklinik‘. Im angeschlossenen Garten findet sich eine obligatorische Jurte (Vgl. Abbildung 8) sowie ein Ritual-Feuerplatz (Vgl Abbildung 10 und Abbildung 11), meist behangen mit ‚ýalama‘, den farbigen Stoffbändern, die Klienten dort ähnlich wie an Ritualplätzen außerhalb der Stadt (z.B. an einem Arzhan oder einem Ovaa) hinterlassen haben. Dazu kann noch eine für Reinigungszwecke fugierende Banya (eine Form der Sauna) hinzukommen. Die besonders prestigeträchtige Jurte erfüllt dabei mehrere Funktionen. In ihr können selbst Heilungsbehandlungen durchgeführt werden oder sie wird ihrer ursprünglichen Bestimmung in kreativer Weise erneut zugeführt, wenn sie als exotisches Hotel ausländischen Gästen zur Übernachtung dient. Auch als spontaner Konzert-

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saal für ein Ensemble eines Khöömeiþik (Khöömei-Sänger) und Pferdekopfgeigenspielers kann sie brauchbar sein. Falls an all dem gerade kein Bedarf herrscht, übernachten auch die Schamanen selbst darin oder verrichten alltägliche Aufgaben des Haushaltes. Als prestigeträchtig bezeichne ich die Jurte deswegen, da sie in ihrem symbolischen Charakter über pragmatische Fragen hinausgehend mindestens zwei Verweisfunktionen erfüllt: Für den StadtTyvaner repräsentiert die Jurte das Ideal des angesehenen Nomadenlebens. Die Jurte im Garten der Schamanenklinik leistet daher einen Rückbezug zum eigenen, aber, bedingt durch die Existenz in der Stadt, verlorenen, jedoch als gesünder geltenden Ideal. Der urbanisierte Tyvaner kommt also, wenn er zum Schamanen geht, zurück in die eigene ‚Archaizität‘ der eigenen Geschichte. Er setzt sich aus welchen Gründen auch immer erneut diesem Moment seines Selbst aus, um dort z.B. Rat oder Heilung zu finden. Für den Ausländer ist die gleiche Jurte nicht Rückgriff sondern Gegenentwurf zu seinem westlichen Lebensmodell (Vgl. Abbildung 9)212. Die zunächst romantisierte Harmonie mit der Natur und Ursprünglichkeit wird später, nach einigen kalten Nächten vielleicht realistischer gesehen, wird aber dennoch, und sei es in Form eines heroisierenden Überlebensmythos diese Symbolisierungskraft des Anderen nur unwahrscheinlich verlieren. Zu beobachten ist auch, dass die Gartenjurten der schamanischen Kliniken an Orten aufgebaut sind, die sich durch ihren Grad an Öffentlichkeit und Sichtbarkeit unterscheiden. Typischerweise hat das als Touristenmagnet fungierende Tos Deer seine Jurte auch prononciert noch vor der Haustür und direkt am Ufer des Jennisej positioniert. So kann sie ihre volle Wirksamkeit entfalten als eye-catcher und Stimulus romantischer Gefühle für den Touristen und als unvermittelte Verbindung zum Nationalfluss für den seines Nomadenleben beraubten Stadt-Tyvaners. Betritt man nun das Hauptgebäude einer Schamanenklinik, so wird man feststellen, dass sie sich auch in ihrem inneren Aufbau stark ähneln. Im Empfangsraum erwartet die Sekretärin und Schatzmeisterin mit Telefon potentielle Klienten. Sie ist der erste Kontakt, der zwischen Klient und Schamanen vermittelt. Dabei kann der Hilfesuchende sich entscheiden, entweder selbst einen speziellen, ihn bekannten Schamanen auszuwählen oder er überlässt die Wahl dem gerade in der Schamanenklinik festgelegten Turnus. Verschiedene Aushänge zu den Angeboten und Preisen der Klinik sowie den einzelnen Schamanen, deren Abstammung und Fähigkeiten, helfen bei der Wahl. Eine Charakterisierung dieser Empfangsräume, die über eine rein deskriptive Beschreibung auch deren Funktion benennen will, könnte im Begriff des ‚Schwellen-Ortes‘ ein treffendes Bild finden. Ist der Klient in die Schamanenklinik eingetreten, hat er schon Zugang gefunden zu diesem besonderen Raum, so befindet er sich dennoch zunächst noch in Abstand zu einem der Behandlungszimmer, noch nicht in leiblichem Kontakt mit der Präsenz des Schamanen und dessen Welt der Hilfsgeister. Die Eingangszimmer sind daher einerseits ganz nor212 http://home.vr-web.de/herbysmusic/auswahl/verkleinert/IMG_3372.JPG.

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male Räume, wie sie auch Teil einer Wohnung sein könnten, andererseits repräsentieren sie aber auch schon den ersten Schritt in den schamanischen Kosmos. Dort tönen aus den Behandlungszimmern schon die verschiedenen Klänge gerade stattfindender schamanischer Behandlung wie Glocken, Rasseln, Trommeln, Peitschenhiebe. Es strömt durch den Türspalt schon der erste stechende Rauch vom Wacholderbeerstrauch, man vernimmt erstes Murmeln einer Divination, einer Lebensberatung u.U. auch strenge Worte einer Zurechtweisung. Möglich ist auch, dass eine Tür plötzlich aufgestoßen wird und ein Schamane oder Helfer eine Schale mit Milch nach draußen trägt, um sie dort zu opfern oder laut trommelnd die ausgetriebene Krankheit hinausbefördert. Das Empfangszimmer ist darüber hinaus der Raum, an welchem bestimmte Schwellenrituale durchzuführen sind. Man meldet sich an, man erkundigt sich danach, welcher Schamane verfügbar ist und ob bzw. wann bestimmte Rituale durchgeführt werden können. Man bezahlt die notwendige Gebühr. Man legt im Winter schwere Mützen, Mäntel und Taschen ab, lässt den sonst notwendigen Schutz. Diesen Raum kann man, falls an diesem Tag nichts weiter als eine Anmeldung zu vollziehen ist, eine Bestellung des Schamanen nach Hause erfolgt oder man sich gegen eine schamanische Behandlung entschieden hat, wieder verlassen, ohne weiter involviert zu werden, ohne tiefgreifendere Partizipation, ja gar ohne einem Schamanen persönlich zu begegnen. Mit den Empfangszimmern ermöglichen die Schamanenkliniken eine niederschwellige Annäherung, einen noch unverbindlichen Erstkontakt. Interessant ist dabei zu beobachten, dass aber gerade in diesem Raum des Erstkontaktes eine Begegnung mit den Schamanen in medialisierter Form stattfindet, nämlich in den aushängenden Fotografien und Beschreibungen von Ritualangeboten derselben. In welcher Art die tyvanischen Schamanen sich dort selbst repräsentieren, wurde bereits ausgeführt. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang, dass diese Schamanenvisitenkarten nicht die einzigen Bildelemente darstellen, sondern eingebettet sind in einen visuellen Kontext, einen fotografischen Diskurs, der ihre Aussage mitprägt und gegenseitig verstärkt. Es ist daher ein Blick zu werfen auf die Applikationsweisen von Fotografien in den Schwellenräumen der Empfangszimmer.

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Abbildung 7: Eingang der Schamanenklinik Adyg Eeren

Quelle: Heiko Grünwedel

Abbildung 8: Jurte im Garten – der Schamanenklinik

Quelle: Heiko Grünwedel

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Abbildung 9: Jurte im Garten – in Bayern

Quelle: http://home.vr-web.de/herbysmusic/auswahl/verkleinert/IMG_3372.JPG

Abbildung 10: Feueropferplatz in prestigeträchtiger Lage am Jennisej

Quelle: Heiko Grünwedel

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Abbildung 11: Ritualplatz im Garten Adyg Eerens

Quelle: Heiko Grünwedel

3.5.4 Exkurs: Die Funktion der Fotografie in den Empfangszimmern schamanischer Kliniken Als erstes Beispiel sei die Schamanenklinik Adyg Eeren herausgegriffen. Neben den schamanischen Visitenkarten – man könnte sie auch als SchamanenAutobiopraxografien bezeichnen – findet sich eine größere Wand mit Fotografien, die verschiedene Stationen, Ereignisse und Personen aus der Geschichte der Klinik dokumentiert. Es handelt sich dabei um ein medial kondensiertes und thematisch auskristallisiertes kulturelles Mikrogedächtnis der Klinik. Eine Fotopinnwand als Erinnerungsraum. Es begegnen dort gegenwärtige und ehemalige Schamanen, Touristen, Forscher, Besucher, verschiedenste Rituale, verschiedenste Orte. Trotz der Vielfältigkeit von Darstellungsweisen und Materialien, ist die Auswahl der begegnenden Motive aber keineswegs willkürlich. Dieses visuelle Gedächtnis der Klinik übernimmt nämlich mindestens drei zentrale Funktionen: Erstens stiftet sie für die Schamanengesellschaft einen sowohl synchronen als auch diachronen Raum der Identität. Die in der Klinik arbeitenden Schamanen, unter welchen nicht selten auch Konflikte herrschen, werden als Mitglieder der einen Organisation präsentiert. Obwohl also eine gewisse Individualität der Scha-

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manen qua ihrer Herkunft und Charaktereigenschaften sowie eine Differenzierung hinsichtlich ihres Angebotsspektrums gefordert wird, werden sie in der Fotokollage doch als Teile der einen Vereinigung visualisiert. Eine derartige Stiftung von Zusammenhalt und Einheit hat ihrer Funktion für den inneren Zusammenhalt – besonders etwa in ökonomisch schwierigen Zeiten mangelnder Kundschaft – und für die Abgrenzung nach außen gegen konkurrierende Schamanengesellschaften. Die diachrone Perspektive, welche ehemalige, meist bereits verstorbene Mitglieder als bleibende Mitarbeiter der Klinik kennzeichnet, hat darüber hinaus noch intensivierende Funktion: Analog zur staatlich anerkannten Rentenversicherung für Schamanen bietet sie eine ideelle Sicherheit, auch über das Ausscheiden aus dem Berufsleben hinaus geschätztes Mitglied der Vereinigung zu sein, und verstärkt damit die Motivation und den Teamgeist in gegenwärtigen Herausforderungen. Zweitens werden auf der Fotopinnwand ausländische Schamanen und Forscher in die Geschichte der Schamanenklinik eingezeichnet (Vgl. Abbildung 12). Die Forschungsgeschichte wie die Geschichte des Erforschtwerdens werden so konstitutive Teile der historischen Identität Adyg Eerens. Interesse und Wertschätzung von Fremden unterstützen die Wichtigkeit und Richtigkeit der Praxis der Schamanen. Außerdem fühlen sich die inkorporierten Forscher als von den Schamanen Akzeptierte und daher laut ihres Forschungskodexes zumindest als Ethnologen in ihrer Forschungspraxis als Erfolgreiche. Ein wechselseitiger Rückkopplungsprozess ist so in Gang gebracht, und Forscher und Schamanen konstituieren sich gegenseitig in ihren Selbstkonzepten. Das Fremde und das Eigene bleibt auf den Fotografien deutlich erkennbar und unterscheidbar, doch es wird so relational verschränkt, dass die Identitäten beider irreduzibel verbunden bleiben.213 Schliesslich ist noch eine dritte Funktion zu benennen: Obwohl die Schamanenklinik – wie oben auch aufgrund ihrer Lage in der Stadttopologie deutlich wurde – im Wesentlich an Dienstleistungen für Tyvaner orientiert ist, zeigt sie in ihrer Empfangshalle zahlreiche Fotos von Ausländern. Der Schluss liegt nahe, dass dies also nicht nur der Identitätsstärkung der Schamanen selbst dient, sondern auch für die Klienten einen Reiz offeriert. Um es noch pointierter auszudrücken: Die visuelle Selbstdarstellung der Schamanen Adyg Eerens Seite an Seite mit Ausländern verschafft ihnen einen Attraktivitäts- und damit Wettbewerbsvorteil bei ihren Kunden. Prestige, Authenti-

213 Ein zunächst banal anmutender, doch in seiner praktischen Relevanz nicht zu unterschätzender Faktor, stellt darüber hinaus die Funktion der Fotowand als Gesprächsstimulus dar: Die unerschöpfliche Sammlung von visuellen Reizen bietet für den Besucher oder den Ethnologen immer wieder die Möglichkeit, in ein Gespräch einzusteigen und so Erkundungen über die Geschichte der Schamanenklinik anzustellen, die sonst aufgrund der üblichen Schweigsamkeit der Schamanen nicht zugänglich gewesen wäre.

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zität und Autorität werden deswegen dadurch gestärkt, weil der Klientel bei ihnen eher effektive Rituale, Heilung etc. erwartet. Dass es sich hierbei um keinen Einzelfall und damit einen möglichen Zufall handelt, kann am Beispiel einer zweiten Schamanenklinik eingesehen werden. In der Empfangshalle der Klinik Dungur findet sich neben den schamanischen AutoBiopraxografien ein visueller Verweis auf eine Ausstellung über tyvanischen Schamanismus. Ein Bild referiert in diesem Fall auf andere Bilder. Ein Bild zeigt auf ein Bild von Tyva in Deutschland. Die Schamanen verweisen damit auf sich zurück, doch über den Umweg des Auslandes. Diese Bewegung scheint eine diskursive Macht zu besitzen und wird daher gewinn- und prestigebringend eingesetzt. Die internationale Bedeutung der Klinik, ihre Reichweite bis in den Westen wird als ebenso repräsentativ erachtet wie die Selbstdarstellungen der tyvanischen Schamanen selbst. Auch in diesem Fall ist also eine Verschränkung des Eigenen mit dem Fremden zu beobachten, welche konstitutiv auf die Selbstwahrnehmung und Außendarstellung wirkt. Abschließend soll ein Blick in die Empfangshalle der dritten Schamanenklinik Tos Deer (Vgl. Abbildung 13) noch einen letzten Aspekt transparent machen. Hinter dem Empfangstisch der Sekretärin findet sich dort ein großwandiges Poster. In schematischer, silhouettenhafter Weise zeigt es einen Schamanen, der mit seiner Trommel ein Ritual an einem Ovaa vollzieht. Die Botschaft darunter verweist auf Tos Deer und seine Besucher zugleich: „Must not take photographs and videos without permission of administration!“ Das Bild enthält somit einen performativen Selbstbezug und zugleich eine normative Setzung in visualisierter Form: Obwohl es sich selbst um ein Bild handelt, das da von der Wand schaut, untersagt es doch, ohne die Entrichtung einer Gebühr Bilder vom Symbolisierten anzufertigen. Die hier begegnende Selbstreferenz des Bildes lässt den hohen Reflexionsgrad deutlich werden, in welchem Fotos von tyvanischen Schamamen gebraucht werden. Alle oben dargestellten Prozesse werden keineswegs naiv oder unbewusst in Gang gesetzt. Tyvanische Schamanen sind sich vielmehr trotz der ihrer Arbeit inhärenten wiederholten Verweise auf die Archaizität ihres Tuns sehr wohl der Dynamiken und Gesetzmäßigkeiten technischer Medien, der Fotografie im Besonderen bewusst. Befragt man sie, was auf den Bildern zu sehen ist, mag man verschiedene Verweise auf Elemente der schamanischen Mythologie, wie diesen oder jenen Geist, solche und solche Energien oder Tätigkeiten bekommen. Die Art und Weise wie Schamanen aber die Fotografie als Fotografie verwenden, entspricht in ihrem Komplexitäts- und Reflexivitätsniveau derjenigen der sie Erforschenden.

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Abbildung 12: In das visualisierte Gedächtnis der Klinik eingewanderte Fotografie des Forschers

Quelle: Heiko Grünwedel

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Abbildung 13: „Must not take photographs and videos without permission of administration“

Quelle: Heiko Grünwedel 3.5.5 Im Behandlungskabinett Hat der Klient seine Anmeldung vollzogen, sich für einen Schamanen entschieden und die notwendige Gebühr verrichtet, so wird er hineingebeten in das individuelle Behandlungszimmer seines Schamanen (Vgl. Abbildung 14). Von den Wänden blicken ihn alle Arten von schamanischen Attributen an: Tierköpfe oder -felle, schamanische Trommeln unterschiedlicher Größe, Schamanen-Peitschen, Gewänder, -Stäbe, -Pfeile, Bündel von materialisierten Hilfsgeister, die während eines Rituals über den Klienten gestrichen werden, etc. Auch ein ausgetopfter Bär in Lebensgröße kann in der Ecke stehen oder eine Krähe von der Decke herabluken. Unter den klassischen, theriomorphen schamanischen Attributen können sich auch modernere Ausprägungen wie Kuhglocken, Christbaumkugeln214 oder Plastikschlangen befinden. Vom starken Räuchern während einer Vielzahl von Ritualen mit dem Wacholderbusch Artysh erhält sich im Raum ein bleibender typischer Geruch. Vielleicht ist die Luft auch noch neblig vom Ritual, das einige Minuten vorher für einen anderen Klienten abgehalten wurde. Nimmt der Besucher Platz, so 214 Vgl. Bohnet, Ulrike: Magier, Mittler, Manager. Revitalisierung am Beispiel der Schamanenkliniken in Tuva, in: Schamanen Sibiriens. Magier, Mittler, Heiler, hg. v. Erich Kasten, Stuttgart 2009, 201.

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sitzt er mit großer Wahrscheinlichkeit dem Schamanen an einem kleinen Tischchen gegenüber. Auf diesem finden sich Räuchergefäße, Klangschalen, Kerzen, Sträucher des erwähnen Artysh, Milch und evtl. andere Lebensmittel, die für ein Opfer vorgesehen sind. Außerdem birgt der Tisch meist in einer etwas versteckten Schublade unter ihm ein Notizbüchlein mit Telefonnummern und Adressen von Klienten oder Kollegen, Nachschlagewerke zum chinesischen astrologischen Kalender, ein Stoffbeutelchen, das die Khuvaanak-Steine beinhaltet und gleichzeitig als Unterlage dient, auf der die Divination ausgeführt wird. Für die Behandlung stehen im Raum des Weiteren oft Liegen bereit. Tibetische Wandteppiche (Tankas) schmücken neben den schamanischen Attributen die Wand und wachen über den auf der Liege ruhenden Klienten. Neben all diesen rituellen Werkzeugen besitzen viele Schamanen ein Schränkchen mit persönlichen Gegenständen: Bücher über Schamanismus von Kenin-Lopsan, Michael Harner oder anderen finden sich dort genauso wie als besonders wertvoll erachtete Dinge. Der Vorsitzende der Gesellschaft Adyg Eeren Kara-ool Tjuljusewitsh bewahrt darin z. B. die Tibetischen Mantras seines Großvaters auf. Der ebenfalls dort beschäftigte Schamane Jurij Zeitungsartikel über ihn selbst sowie ein Buch über Tyva – ein Geschenk eines Klienten. Meist handelt es sich bei diesen Kleinoden also um materielle identitätsstiftende Gegenstände. Hat all das Genannte bisher recht traditionell angemutet, so sollte der Besucher nicht überrascht sein, im schamanischen Behandlungszimmer auch Fernseher, DVDPlayer oder Karaokeanlagen anzutreffen. Letzteres mag einer europäischen Reinheitsvorstellung schamanischer Praxis widersprechen, für tyvanische Schamanen stellt dies allerdings kein Problem dar. Dies umso weniger als die Behandlungszimmer eine mehrfache Funktion erfüllen. Sie sind nämlich nicht nur Orte einer Klienten-Schamanen Interaktion, sondern ebenso Wohn-, Aufenthalts- und Ruheraum für die Schamanen (Vgl. Abbildung 15). Sie dienen daher neben Rituellem auch dem gemeinsamen Teetrinken, Fernsehen oder tagsüber, wenn keine Klienten zugegen sind, der Rekreation. Dabei werden die Zeiten klar unterschieden: Sobald ein Klient eintritt und ein Ritual vollzogen werden soll, müssen alle anderen Aktivitäten unterbrochen oder in einen anderen Raum verlegt werden. Auf eine kurze Anweisung folgt auch ein ritueller Marker, der eine deutliche zeitliche Differenzierung einführt und den Beginn der Behandlung performativ konstatiert. Das Handy als allgegenwärtiges Dispositiv bleibt zwar während der Rituale eingeschaltet und darf auch klingeln, wird dann aber meist nicht abgenommen. Warum eine solch ausführliche phänomenologische Schilderung eines schamanischen Arbeitszimmers? Im Anschluss sollen alle bisherigen Beobachtungen, beginnend bei der Stadttopografie Kyzyls und der Verortung der Schamanenkliniken darin bis hin zum innersten Interieur der Schamanenpraxen, darauf hin befragt werden, wie sie aus kulturwissenschaftlicher Sicht raumtheoretisch beschrieben werden können. Doch zuvor sind noch einige Überlegungen zu den sozialen Prozessen notwendig, die innerhalb der geschilderten Räume stattfinden.

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Abbildung 14: Behandlungszimmer des Schamanen mit Kliententischchen

Quelle: Heiko Grünwedel

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Abbildung 15: Doppelfunktion des Behandlungszimmers als Ruheraum

Quelle: Heiko Grünwedel

3.5.6 Soziale Funktionen der Schamanenkliniken Vielfach wird in der Forschungsliteratur angemerkt, dass die Schamanenkliniken nicht mit der traditionellen Form einer Praxis des Schamanismus korrespondieren, welche als Einzelgänger und nicht nach den Regeln moderner Bürokratie tätig zu sein pflegten.215 Und tatsächlich handelt es sich um eine Erscheinungsform, die im Gefüge der nachsowjetischen Wiederbelebung des Schamanismus neu erfunden und

215 Vgl. Johansen, Ulla: Vom Schamanismus zum Neoschamanismus, in: Jahrbuch des Museums für Völkerkunde zu Leipzig, Band XLII, Münster 2004, 65-76. Bohnet, Ulrike: Magier, Mittler, Manager. Revitalisierung am Beispiel der Schamanenkliniken in Tuva, in: Schamanen Sibiriens. Magier, Mittler, Heiler, hg. v. Erich Kasten, Stuttgart 2009, 200-203. ɏɚɪɢɬɨɧɨɜɚ, ȼ. ɂ.: Ɏɟɧɢɤɫ ɢɡ ɩɟɩɥɚ? ɋɢɛɢɪɫɤɢɣ ɲɚɦɚɧɢɡɦ ɧɚ ɪɭɛɟɠɟ ɬɵɫɹɱɟɥɟɬɢɣ, Ɇɨɫɤɜɚ 2006, 173.

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kontinuierlich adaptiert wurde. Eine Entwicklungsgeschichte derselben wurde bereits gegeben. Wenn hier jedoch eine Differenz zu früherer Praxis eingetreten ist, so ist zu erklären, warum. Warum war es sinnvoll und notwendig, dass Schamanen sich in Gesellschaften organisierten. Welche Funktionen erfüllen die Kliniken? 216 Zunächst ist eine Unterscheidung der Funktionen sinnvoll für diejenigen, die dort aktiv beschäftigt sind, d.h. die Schamanen, Sekretärinnen und ihre Familien, und diejenigen, die die Dienste der Kliniken in Anspruch nehmen, ergo die Klienten. Für erstere macht weiterhin eine heuristische Unterscheidung in sozialdynamische, arbeitsorganisatorische und wissenstechnische Funktionen Sinn, wobei vorweggeschickt werden muss, dass hier keine scharfen Grenzverläufe auszumachen sind, und zahlreiche Faktoren sich gegenseitig bedingen und beeinflussen. a. Sozialdynamische Funktionen Wie bereits in der Skizzierung der schamanischen Behandlungszimmer deutlich wurde, dienen diese nicht ausschließlich rituellen Zwecken, sondern sind auch Wohnräume. Oft sind jedoch zusätzlich zu den expliziten Behandlungsräumen noch Übernachtungs- und Essenszimmer der Schamanen Teil der Kliniken. Man könnte letztere daher als Wohnheime für Menschen mit geteilten Interessen und gleichem Beruf bezeichnen. Von besonderer Relevanz sind die Unterkunftsmöglichkeiten auch für diejenigen Schamanen, die vom Land in die Stadt kommen und sonst über keine Behausung verfügen. Auch Nicht-Tyvaner arbeiten in den Schamanenhäusern: Dies können z.B. Moskauer sein, die bei einem Besuch eine spezielle Weihe oder Initiation bekommen haben und nun regelmäßig nach Tyva zurückkehren. Prädestiniert dafür ist die Sommerzeit, wenn sich in Tyva Stadtschamanen unterschiedlichster Herkunft versammeln, und zu Anlässen wie kollektiven Feiern zusammenkommen. Auch ausländische Kollegen aus allen Teilen Europas und der USA sind willkommen und werden aktiv selbst bei der Behandlung von Tyvanern. Zusammenfassend fungieren die Schamanenkliniken als geteilter Lebensraum von Schamanen unterschiedlichster Herkunft, der Sozialisierung und Austausch ermöglicht. b. Arbeitsorganisatorische Funktionen Neben der sekretarischen Organisation von Terminen, der Buchhaltung des Klinikhaushaltes und Verwaltung der Einkünfte, ist v.a. die Beitragszahlung zur Renten-

216 Vgl. Lindquist, Healers, Leaders and Entrepreneurs, 271f. Und ɏɚɪɢɬɨɧɨɜɚ, ȼ. ɂ.: Ɏɟɧɢɤɫ ɢɡ ɩɟɩɥɚ? ɋɢɛɢɪɫɤɢɣ ɲɚɦɚɧɢɡɦ ɧɚ ɪɭɛɟɠɟ ɬɵɫɹɱɟɥɟɬɢɣ, Ɇɨɫɤɜɚ 2006, 173.

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kasse und solidarische Distribution der erwirtschafteten Gewinne für die einzelnen Praktizierenden von existentieller Bedeutung. Letzteres um so mehr, als die ökonomische Situation in Tyva zu den prekärsten in der Russischen Föderation zählt. Neben diesen alltäglichen Regulierungen der Arbeits- und Lohnkreisläufe, organisieren die Kliniken auch Performanzen der Schamanen zu besonderen Anlässen wie kollektiver Rituale, zu staatlichen Feiertagen, auf sog. ‚wissenschaftlich-praktischen Konferenzen‘, Künstler-Festivals, für Touristengruppen und Filmteams. In allen diesen Tätigkeiten nutzen sich die schamanischen Attribute wie das Schamanengewand oder die Schamanentrommel ab. Von Jägern, die in regelmäßigen Abständen die Kliniken aufsuchen, können Schamanen dafür neues tierisches Material und von professionellen Handwerkern speziell angefertigte Trommeln erwerben. Auch hier hat also die organisatorische Funktion der Klinik die eigene Anfertigung ersetzt. c. Funktionen der Wissensaneignung und -vermittlung Wie die neue Organisationsform der Kliniken zentrale materielle Kreisläufe neu gestaltet hat, so transformiert sie auch die Art der Transmission von relevantem Traditions- und Ritualwissen. Während frühere Schamanen ihr Berufswissen von einem persönlichen Lehrer mündlich überliefert bekommen hatten, so treten an dessen Stelle nun die Schamanenkliniken als Orte der Wissenssammlung, -kanonisierung und -erprobung. Sie sind zu schamanischen Schulen geworden, die als Ausbildungsplatz zukünftiger Schamanen nicht nur Praxiswissen vermitteln und dies durch aktive Partizipation einüben, sondern den Erwerb auch durch formelle Zertifikate bestätigen, autorisieren und damit reglementieren. Nach dem Traditionsabbruch während der Sowjetzeit bildete die im Raum der Schamanenkliniken geleistete Unifikation des schamanischen Wissens die Grundlage für so etwas wie eine ‚schamanische Tradition‘. Das Wissen verschiedener Schamanen – älterer aus den Dörfern, anderer, die aus der Literatur Kenin-Lopsans studiert hatten, dritte, die an Heilungsseminaren in Moskau teilgenommen hatten und schließlich Neoschamanen aus dem Westen – wurde in einem großen Schmelztiegel zu einer minimalen Basis, die die Wiedererkennbarkeit der zukünftigen Praxis garantierte und garantiert. Dabei ist dieser Prozess keineswegs als abgeschlossen zu betrachten, sondern vielmehr als eine kontinuierliche Integration, Adaption und Neuaushandlung der Bedeutung überlieferter Inhalte. Wie oben eingeleitet, korrespondieren den Funktionen, die die Schamanenkliniken für die dort Praktizierenden erfüllen, in vielfacher Weise ihre Funktionen für die Klienten. Zunächst sind sie für die Lokalbevölkerung der Anlaufpunkt, um ‚echte‘ Schamanen zu treffen, die Dienstleistungen gemäß der ‚Tradition‘ anbieten. Dies mögen Rituale nach dem Tod eines Familienmitglieds sein, Beratungen, Heilungen, Segnung eines Schamanenbaumes, die Heiligung eines Opfertieres, oder vieles

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andere. Das Kenin-Lopsansche Zertifizierungssystem, das zwar von den sich abspaltenden Kliniken unterlaufen, im Prinzip aber strukturell fortgeführt wurde, bietet der Bevölkerung Orientierung auf einem auch in Tyva undurchschaubaren und florierenden Markt an alternativen Heilern und Ritualisten. Die Institutionalisierung der schamanischen Arbeit schafft so in der post-sowjetischen Situation vielschichtiger Unsicherheiten eine Reduzierung von Komplexität, indem sie klare Grenzen und Differenzierungen schafft. Indem Schamanen sich darüber hinaus im Raum ihrer Kliniken öffentlich qua ihrer Visitenkarten selbst vorstellen, wird auch eine Transparenz und Vielfalt des Angebots geschaffen, die den durch die Marktwirtschaft individualisierten Wünschen der Klienten entsprechen. So kann nicht nur in den obigen traditionellen Situationen die Hilfe eines Schamanen erwünscht sein, sondern auch um Geld, ein Auto, eine Schule oder ein Unternehmen segnen zu lassen. Klienten aus unterschiedlichen Bevölkerungsschichten finden in den Kliniken daher einen Ansprechpartner, der den ‚richtigen‘ Schamanen für das ‚richtige‘ Ritual findet. Auch Medien und Politiker laden zu öffentlichen Veranstaltungen gerne Schamanen ein und greifen so auf das Wissen der Kliniken zurück. Tourismusunternehmen bestellen Rituale und Jurtenübernachtungen für Urlauber, Filmteams eine Gruppe von Schamanen zum Abdrehen einer ‚Doku über die turksprachigen Völker in Sibirien‘. Ausländer rufen aus ihren Heimatländern in den Kliniken an, bestellen den gewünschten Schamanen und senden direkt das Flugticket. Es wird deutlich, dass die Kliniken zu einer organisatorischen Drehscheibe geworden sind und Aufgaben erfüllen, die sich für Schamanen erst in der gegenwärtigen Situation ergeben. In der Tat stellen sie eine vollkommene Neuschöpfung dar, ohne welche aber der in die Gegenwart katapultierte Beruf des Schamanen nicht mehr denkbar wäre. Die bisherigen Überlegungen waren stark darum bemüht, die konkreten Vorgänge in und um die Schamanenkliniken möglichst differenziert darzustellen. Offen blieb bisher allerdings, welche Bedeutung diesen Einrichtungen für die tyvanische Gesellschaft als Ganzes und die darin verschränkten Besucher aus dem Ausland zukommt. Warum werden die Schamanenkliniken aufgesucht und worin liegt der Sinn der dort vollzogenen Aktivitäten. Es wird sich zeigen, dass zur Beantwortung dieser Frage, die notwendig interpretativ bleiben muss, der Begriff der Heterotopie, der Andere Ort, eine entscheidende Rolle spielen wird. 3.5.7 Reflexionen zum Charakter der Schamanenklinken Die eingangs zitierten Überlegungen von Doreen Massey zur Bedeutung der Raumfrage217 verweisen auf ihre Grundsätzlichkeit für eine Analyse kultureller Prozesse. 217 „The imagination of space as a surface on which we are placed, the turning of space into time, the sharp separation of local place from the space out there; these are all ways

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Massey spricht von einer ‚inherent spatiality of the world‘, welcher immer wieder nur unzureichend entsprochen wurde. Im Besonderen sieht sie zwei Bewegungen als der prinzipiellen Räumlichkeit unangemessen: Den Versuch einer absoluten Separierung des lokalen Ortes von globalen Zusammenhängen einerseits, die vollkommene Nivellierung aller Orte in eine lediglich zeitliche Abfolge im Sinne eines evolutionistischen Schemas andererseits.218 Ihrer Ansicht nach könne der Herausforderung der Gleichzeitigkeit des Anderen nur durch tiefen Respekt vor der Räumlichkeit begegnet werden. Die Analyse der Autorin ist für die Betrachtung des tyvanischen Schamanismus deswegen von hohem Interesse, da sie die Kategorie des Raumes löst aus der Spannung zwischen einem exklusivistischen Lokalismus und den Ungleichheiten einer hegemonialisierenden Globalisierung. Sie öffnet den Raum, welcher als kohärente und authentische Quelle des Rückzugs konstruiert wird, hin auf eine Perspektive der Prozesshaftigkeit, der Pluralität und Heterogenität. Multiple Identitäten des Raumes selbst werden sichtbar, Grenzen nicht mehr als bare Gegenüberstellung zum Äußeren, sondern als relationale Kontaktstellen dorthin gesehen. Machtgeometrien und eine Geografie der sozialen Beziehungen geraten in den Blick. Raum wird transparent als Produkt von Interrelationen, als Prozess ständiger Konstruktion.219 Im Gefolge der post-sowjetischen kulturellen Revitalisierung Tyvas wird dessen Selbstkonzept als kultureller Raum zwar essentialisiert, wenn es etwa als der Ursprungsort des Schamanismus oder als das Herkunftsland von Tshingis-Khan thematisiert wird. Gleichzeitig ist dieser Revitalisierungsprozess aber reflexiv auf den globalen Kontext, innerhalb dessen er geschieht. Der Rückgriff auf ‚vormoderne‘ kulturelle Muster wie den Schamanismus mag zwar qua dessen Ursprünglichkeit of taming the challenge that the inherent spatiality of the world presents. […]. In this case, the argument is that the very possibility of any serious recognition of multiplicity and heterogeneity itself depends on a recognition of spatiality.“ Massey, Doreen: For Space, London 2005, 1-15. 218 Vgl. dazu auch die dem von Massey parallel gehende raumtheoretische Diskussion zwischen den zwei Extrempositionen einer absoluten territorialen Bindung bzw. von Raum als Ausgangspunkt einer relationalen Verortung. Vgl. Dünne, J. und S. Günzel, (Hg.): Raumtheorie: Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt 2006, 9-15. 219 Statt von einem spatial turn zu sprechen, der die Kritik einer Rückkehr zum substantialistischen Raumdenken auf sich gezogen hat, soll hier vielmehr die Perspektive eines topographical turn eingenommen werden, wie sie Sigrid Weigel geprägt hat. In den Fokus werden so soziale Praktiken der kulturgeschichtlichen Konstitution von Raum genommen. Vgl. Dünne, J.: Einleitung, in: Dünne, J. und S. Günzel, (Hg.): Raumtheorie: Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt 2006, 289-303.

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begründet werden, doch geschieht dies stets so, dass er verschränkt wird mit dem internationalen Beziehungsnetzwerk, in welchem Tyva steht. Dies hat auch zur Folge, dass die Installation des kulturellen ‚Ursprungsraumes‘ Tyva nicht nur für die Tyvaner selbst erfolgt, sondern auch für all diejenigen Ausländern, die eingebunden durch diese Netzwerke, auf verschiedensten Ebenen interaktiv daran partizipieren. Wie nun ein ‚sense of place‘, die spezifische Bedeutung eines lokalen Ortes in regionalgeografischen Zusammenhängen in dialektischer Beziehung zur Dynamik der Globalisierung steht, wurde von der Sozialgeografie v.a. im Anschluss an Foucault herausgearbeitet.220 Zur Analyse der Interaktion von Nah- und Fernräumen im Falle Tyvas, soll daher im Folgenden Foucaults Kategorie der Heterotopie221 auf ihre Tragfähigkeit geprüft werden. Foucaults Grundhypothese richtet sich auf die Frage der Beziehung spezieller Räume zum Ganzen der Gesellschaft. Seiner Ansicht nach existieren Räume, die in besonderer Weise gesellschaftliche Verhältnisse reflektieren, indem sie sie repräsentieren, negieren oder umkehren. Wenn nun Schamanenkliniken – und das werde ich weiter unten zeigen - Heterotopien sind, dann müssten diese die tyvanische Gesellschaft und aus den oben genannten Gründen die Gesellschaft derjenigen Ausländer in besonderer Weise spiegeln, die durch den globalen Schamanismusdiskurs daran angebunden sind. Die Anderen Orte der Tyvaner wären dann Andere Orte für Ausländer. Andere Orte, die lokal konstruiert aber global eingebunden sind und ebenso globale Verweisfunktionen erfüllen. Es wird sich zeigen, dass die doppelte Referenzfunktion der Schamanenkliniken auf Nah- und Fernräume auch eine doppelte Selbstbezüglichkeit bedingt. Schamanenkliniken sind daher nicht nur Heterotopien, sondern, und hier ist ein wechselseitiges Konstitutionsverhältnis gegeben, Orte der Transdifferenz.222 220 Vgl. Dünne, Einleitung, 289-303. 221 Foucault, Michael: Von anderen Räumen (1967), in: Dünne, J. und S. Günzel, (Hg.): Raumtheorie: Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt 2006, 317-329. 222 Zum Verhältnis von Heterotopie und Transdifferenz vgl. Keitel, Christoph & AllolioNäcke, Lars: Erfahrungen der Transdifferenz, in: Allolio-Näcke, Lars & Kalscheuer, Britta, & Manzeschke, Arne (Hg.): Differenz anders denken. Bausteine zu einer Kulturtheorie der Transdifferenz, Frankfurt 2005, 104-117. Obwohl beide Autoren den Ausgangspunkt ihrer Überlegungen in der Literaturwissenschaft nehmen, verweisen sie doch auf einen für die vorliegende Untersuchung entscheidenden Konnex. In ihrer Untersuchung zur Bewegung des Denkens und der Sprache an und auf Grenzen zu, geraten ihnen Grenzerfahrungen in den Blick, welche transformativ auf Wissen und Erfahrung einwirken. Sie schlussfolgern: „Mit dem Raum, der sich mit dem Öffnen der Grenze auftut, werden keine Diskurse kreiert, sondern nur Möglichkeitsbedingungen dafür vorbereitet […]. Diesen Raum der Möglichkeiten bezeichnet Foucault als Heterotopie, also

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Zunächst zum Foucaultschen Konzept der Heterotopie. Foucault differenziert diese in einem ersten Gedankengang von der Utopie. Im Gegensatz zur letzteren ist die Heterotopie ein wirklicher und wirksamer Ort, dem von der Gesellschaft eine Funktion zugeschrieben wird, und daher für die Analyse sozialer Zusammenhänge der relevante. Für die vorliegende Untersuchung ist es nun nicht notwendig, alle von Foucault benannten Eigenschaften der Heterotopien im Detail zu diskutieren bzw. als Voraussetzung für den Charakter der Schamanenkliniken anzunehmen. Dies u.a. schon deswegen, weil sie im Einzelnen streitbar sind – hierunter fiele z.B. Foucaults Behauptung ihrer kulturellen Universalität – und auch Foucault selbst nicht die Erfüllung aller Prämissen gefordert hatte. So soll sich hier beschränkt werden auf die für die gegebene Fragestellung relevanten Aspekte: Heterotopien spiegeln und begründen die Gleichzeitigkeit von unterschiedlichen Gebrauchsformen desselben geografischen Ortes. Sie machen aus Orten veränderliche Räume und unterliegen selbst einer beständigen Umdeutung durch die Gesellschaft. Ihre Regeln sind nur so lange in Funktion, wie sie von den Mitgliedern einer Gesellschaft befolgt werden. Oft zeichnen sich Heterotopien durch eine Unterbrechung des Chronos aus, ‚speichern‘ die Zeit oder entreißen sie aus ihrem Fluss. Die Zugänglichkeit schließlich zu Heterotopien wird geregelt durch ein System der Öffnungen und Schließungen. Warum bezeichne ich nun Schamanenkliniken als Heterotopien? Schamanenkliniken sind als wirksame Orte in die tyvanische Gesellschaft eingezeichnet, gehen parallel mit ihr, stellen aber auch Gegenplatzierungen und Widerlager dar. Als Rückgriff auf eine vorrevolutionäre Epoche Tyvas, als Kritik an der industrialisierten Lebensweise, in der Fortführung ihrer Verwaltungs- und Organisationsstruktur sowie in der Applikation moderner technischer Medien, reflektieren, repräsentieren, aber negieren sie auch die tyvanische Gesellschaft im Kontext der Weltgesellschaft. Verschiedenste Orte der tyvanischen Kultur werden so in einem integriert, bestritten und gewendet. Schamanenkliniken sind institutionelle Orte außerhalb aller Orte, da sie sich einerseits dem rationalisierenden Zugriff der Moderne und dem pluralisierenden Effekt der Postmoderne entziehen, andererseits bestimmte Regelsysteme ausbilden, die ihre „Partizipanten“ strengen Kontrollen unterwerfen. Kenin-Lopsan reglementiert die Zugehörigkeit zur Schamanengilde, für Schamanen gilt ein Kodex ritueller Praktiken, und Klienten haben sich dem Verwaltungsapparat der Schamanenkliniken zu beugen. Ein System von Öffnungen und Schließungen macht Schaals den anderen Raum, der sich bei der Überschreitung eröffnet und – mit unseren Worten eine Erfahrung der Transdifferenz ermöglicht […]. Die Heterotopie ist also die Möglichkeit der Repräsentation, der möglichen Zurückweisung und sogar der Auflösung von ‚realen‘ kulturellen Formationen, von ‚realen‘ Diskursen – also all dem, was uns den Blick auf das außerhalb unserer Vorstellungswelt Befindliche verstellt. In der Heterotopie werden die Diskurse als Konstrukte erkennbar.“ (110f.).

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manenkliniken nicht ohne weiteres für jeden zugänglich, sondern knüpft deren Betreten und Verlassen an bestimmte Ein- und Ausgangsrituale (und seien sie ökonomischer Art). Die Bedeutung der Schamanenkliniken ist darüber hinaus nicht statisch. Sie unterliegt vielmehr, wie ihre post-sowjetische Entwicklungsgeschichte zeigt, einer kontinuierlichen Reinterpretation, welche in eine beständige Reorganisation der heterotopen Praxis in den Schamanenkliniken mündet. Ihre innere Struktur bedingt es, mehrere Räume an einem einzigen Ort zu vereinen und zueinander in Beziehung zu setzen, die eigentlich nicht vereinbar sind: Die Behandlungsräume der Schamanen dienen zur Zeit der Abwesenheit von Klienten zugleich als Wohnund Ruheräume. Vereinbar gemacht werden die unvereinbaren Funktionen wie oben dargestellt durch rituelle Marker, die eine zeitliche Differenzierung vornehmen. Qua dieser temporalen Zäsur wird der Schamanenklinik in ihrer Funktion als ritueller Raum eine eigene Zeitstruktur eingeprägt. Foucault bezeichnet sie als Heterochronie, als den Chronos, an welchem ein Bruch geschehen kann mit der herkömmlichen Zeit. Durch die Ermöglichung dieses Bruches fallen den Schamanenkliniken als Heterotopien Funktionen zu gegenüber dem anderen Raum: In der Oszillation zwischen Illusionsraum und Kompensationsraum erweitern Schamanenkliniken den Potenzialitätsraum der Wirklichkeit. Alternative Lebenswege können gefunden werden und es wid Raum geschaffen für abweichendes Verhalten. Dies gilt sowohl für die Schamanen selbst, deren deviantes Verhalten in Form des Kontaktes mit der Geisterwelt eine gesellschaftliche Heilfunktion zugewiesen bekommt, als auch für die Klienten, die ,aus welchen Gründen auch immer, aus dem Funktionalismusdiktat der post-sowjetischen kapitalistischen Gesellschaft herausfallen: Auch ihnen wird durch den ritualisierten Deutungsrahmen der schamanischen Kosmologie das Spektrum an Interpretationsmöglichkeiten ihres Schicksals amplifiziert. Schamanenkliniken sind daher Abweichungsheterotopien im doppelten Sinne. In der oben geführten Beschreibung der Empfangshallen wurde deren Charakter als Schwellenräume herausgearbeitet und dabei im Besonderen die Funktion des visualisierten Fremden darin, z.B. in Form von Fotografien von Forschern, deutlich gemacht. Das Fremde als autoritäts-, authentizitäts- und identitätssteigerndes Agens hat seine Funktion in der Attraktivitätsvermehrung tyvanischer Schamanen auf Seiten der Klienten. Die Gegenorte der tyvanischen Gesellschaft inkludieren und integrieren Elemente des Fremden und werden erst dadurch in voller Form zu dem, was sie sind. Umgekehrt fungieren die Heterotopien der Tyvaner aber gleichzeitig auch als Heterotopien für Touristen, Spirituell Suchende, Forscher, etc., welche somit alle auf ihre je eigene Weise zu Mitgliedern der Heterotopiegemeinde werden. Die Jurten in den Gärten der Schamanenkliniken erfüllen daher wie bereits angemerkt eine Doppelfunktion: Sie repräsentieren die tyvanische (Nomaden)Kultur, hinterfragen und negieren aber gleichzeitig die tyvanische und europäische (Stadt-)Kultur. Tyvaner und Ausländer erhalten die Möglichkeit, den Zeitstrom der

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Moderne zu unterbrechen und in der Jurte temporal in die Archaizität zurückzukehren. Wenn Schamanenkliniken also nur durch Verschränkung des Eigenen mit dem Fremden zu Heterotopien werden können, dann heißt das, dass die tyvanischen Gegenorte Orte der Transdifferenz sind. Das Eigene und das Fremde sind gleichzeitig präsent, sie heben sich nicht gegenseitig auf, bleiben unterscheidbar, treten aber in eine Situation der Kommunikation. Differenzen bleiben als nicht reduzierbare Spannungen und Herausforderungen, entfalten aber auch ein kreatives Moment. Tyvanische und nicht-tyvanische, beispielsweise russische oder westeuropäische Schamanen arbeiten in den Klinken zusammen, erfüllen aber unterschiedliche Funktionen bzgl. ihrer äußeren Kleidung und ritueller Praktiken. Als Authentifizierungsstrategie bleibt die Kategorie des Erbschamanismus ein stets präsenter und mächtiger Signifikant, doch werden die Einstellungsbedingungen zum Schamanen durch Tests geregelt, mit Ausweisen dokumentiert, etc. Während die zumindest prinzipielle Notwendigkeit einer familiären Belegung der Schamanenkraft für tyvanische Schamanen bestehen bleibt, werden ausländische Schamanen vorwiegend an ihrer Fähigkeit einer überzeugenden Trommel- und Tanzperformanz gemessen. Handys und Schamanentrommeln, die beiden Kardinalwerkzeuge des Schamanen, bilden keinen unlösbaren Gegensatz, sondern bestimmen als gleichzeitige Präsenzen das Alltagsleben des Schamanen. Beide sind Handwerkszeug zur Kontaktaufnahme: Die Trommel mit den Geistern, das Handy mit den Klienten. Die Klienten suchen den Schamanen, um die Geister zu rufen, und der Schamane sucht Klienten, damit er weiter Geister rufen kann. Die im architekturästhetischen Stil der Sowjets gehaltenen Häuschen der Schamanenkliniken sind angefüllt mit den schamanischen Hilfsgeistern, die dieselben Sowjets so bekämpft haben, und mitten unter ihnen die Hilfsgeister der Postmoderne: Fernseher und DVD-Spieler. Und oft genug sind es Filme, die ein Gespräch zwischen dem Ethnologen und dem Schamanen entspinnen lassen über die Natur der Geister, denn: ‚Genau so sehen sie aus, die Geister, genau wie im Film x!‘ Ausgangspunkt der hier vollzogenen kulturwissenschaftlichen Überlegungen zur Bedeutung der Schamanenkliniken als Räume war die Annahme, dass derartige soziale Strukturen von einer grundsätzlichen spatiality durchzogen sind. Die Raumfrage wurde deswegen explizit im Hinblick auf die soziale Konstruktion, auf die Praktiken der Konstitution von Raum gestellt. Tyvanische Schamanenkliniken konnten so verortet werden in einer Stadttopografie Kyzyls, sie wurden positioniert im Gradienten sozialer Gesellschaftsschichten und der Dynamiken von Besucherströmen, die die Hauptstadt durchwirken. Aufbauend auf dieser Lokalisierung und ihrer differenzierenden Wirkung, konnten die Funktionen der Schamanenkliniken für Schamanen selbst und das breite Spektrum ihrer Klienten benannt werden. Es zeigte sich, dass der schamanischen Landkarte im ganzen eine Mikrotopografie der inneren Organisation der Schamanenkliniken selbst korrespondiert und beide als Reflexionsort der Wechselwirkungsdynamik von Lokalem und Globalen bezeichnet

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werden können. Transparent wurden die Mechanismen, wie unter dem Kräftefeld des globalen Diskursfeldes des Schamanismus dem lokalen Ort Bedeutung zugewiesen wird. Die Heterotopie, ein von Foucault entwickeltes Konzept zur allgemeinen Beschreibung von Gegenorten, erwies sich sowohl als tragfähig für die Deskription des konkreten Phänomens der Schamanenkliniken als auch als erweiterbar: Die Heterotopien der Schamanenkliniken sind zugleich fassbar als Orte der Transdifferenz. Die Anderen Orte sind Orte des Eigenen und Anderen, qua dieser Eigenschaft Orte für das Eigene und Andere. Die Verschränkungsdynamik, so mag man abschließend formulieren, von Lokalität und Globalität wird in den Schamanenkliniken in der Perspektive des Raumes sichtbar, welcher durch die Interaktion des Eigenen mit dem Fremden konstituiert wird.

3.6 D ER S CHAMANE UND DER P OLITIKER – D ISJUNKTE S UBSYSTEME DER G ESELLSCHAFT ODER DISKURSIVE V ERQUICKUNG MACHTKONSTITUTIVER F ELDER ? „ə ɦɧɨɝɨ ɝɞɟ ɛɵɥ ɢ ɦɧɨɝɨ ɱɟɝɨ ɜɢɞɟɥ, ɧɨ ɬɚɤɨɝɨ ɟɳɟ ɧɟ ɜɢɞɟɥ ɧɢɤɨɝɞɚ“223 „Ich war an vielen Orten und habe vieles gesehen, aber derartiges habe ich niemals gesehen.“ So das Resümee des Präsidenten der Russischen Föderation während seines Besuches in Tyva vom 13.-16. August 2007224. Doch dieser Satz ist mehr als ein Resümee. Dieser Satz wurde in allen Zeitungen Tyvas über mehrere Tage in

223 www.tuvaonline.ru vom 20. August 2007. ȼɥɚɞɢɦɢɪ ɉɭɬɢɧ: „ə ɦɧɨɝɨ ɝɞɟ ɛɵɥ ɢ ɦɧɨɝɨ ɱɟɝɨ ɜɢɞɟɥ, ɧɨ ɬɚɤɨɝɨ ɟɳɟ ɧɟ ɜɢɞɟɥ ɧɢɤɨɝɞɚ", — ɱɟɫɬɧɨ ɩɪɢɡɧɚɥɫɹ ȼɥɚɞɢɦɢɪ ɉɭɬɢɧ, ɤɨɝɞɚ ɠɭɪɧɚɥɢɫɬɵ ɩɨɩɪɨɫɢɥɢ ɟɝɨ ɩɨɫɥɟ ɭɱɟɧɢɣ ɫɬɪɚɧ ɒɈɋ ɜ ɑɟɥɹɛɢɧɫɤɨɣ ɨɛɥɚɫɬɢ ɩɨɞɟɥɢɬɶɫɹ ɜɩɟɱɚɬɥɟɧɢɹɦɢ ɨɬ ɩɨɟɡɞɤɢ ɜ Ɍɭɜɭ [...]. 224 Für einen Überblick über die Aktivitäten Putins während dieses Besuches vgl. u.a. www.tuvaonline.ru: 13. August: ȼɥɚɞɢɦɢɪ ɉɭɬɢɧ ɩɪɢɧɢɦɚɟɬ ɤɧɹɡɹ Ɇɨɧɚɤɨ ɜ Ɍɭɜɟ. 14. August: ȼɥɚɞɢɦɢɪ ɉɭɬɢɧ ɢ Ⱥɥɶɛɟɪ ȼɬɨɪɨɣ ɩɨɫɥɭɲɚɥɢ ɬɭɜɢɧɫɤɨɟ ɝɨɪɥɨɜɨɟ ɩɟɧɢɟ. 16. August: ȼɥɚɞɢɦɢɪ ɉɭɬɢɧ ɩɨɡɞɪɚɜɢɥ ɠɢɬɟɥɟɣ Ɍɭɜɵ ɫ ɇɚɚɞɵɦɨɦ. 16. August: ɑɬɨ ɡɧɚɱɢɬ ɞɥɹ Ɍɭɜɵ ɷɬɨɬ ɜɢɡɢɬ, ɦɨɠɧɨ ɛɭɞɟɬ ɩɨɧɹɬɶ ɥɢɲɶ ɫɩɭɫɬɹ ɜɪɟɦɹ. 20. August: ȼɥɚɞɢɦɢɪ ɉɭɬɢɧ: „ə ɦɧɨɝɨ ɝɞɟ ɛɵɥ ɢ ɦɧɨɝɨ ɱɟɝɨ ɜɢɞɟɥ, ɧɨ ɬɚɤɨɝɨ ɟɳɟ ɧɟ ɜɢɞɟɥ ɧɢɤɨɝɞɚ". 24. August: Ɍɭɜɚ ɩɨɤɨɪɢɥɚ ɫɟɪɞɰɟ ȼɥɚɞɢɦɢɪɚ ɉɭɬɢɧɚ.

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verschiedenen Artikeln rezitiert, er wurde in Fernsehsendungen wiederholt, von Lokalpolitikern nachgesprochen und schaffte es, auf einer Großleinwand im Zentrum der Hauptstadt zur Wahlparole für die Partei Putins zu werden. Dieser Satz musste etwas an sich haben, eine Botschaft transportieren, einem Ereignis Ausdruck verleihen, das ihn prädestinierte, zur Losung eines fundamentalen Sachverhaltes zu werden. Dieser Satz war in seiner Prägnanz das identitätsstiftende Angebot schlechthin. Er wurde zu einem Star, der sich nicht nur kurzlebiger Berühmtheit erfreuen konnte, sondern noch 2009 bei einem erneuten Besuch Putins explizit in den Medien wiederholt wurde.225 Und er wurde ein sichtbarer Star, dessen visuelle Repräsentation die prägende Kraft der Ikonografie entfaltete. Auch sie taugt zwei Jahre später zu einer rezitierenden medialen Wiederholung (Vgl. Abbildung 16a):

225 www.tuvaonline.ru (4. August 2009). „ȼɥɚɞɢɦɢɪ ɉɭɬɢɧ ɜɨ ɜɪɟɦɹ ɤɪɚɬɤɨɜɪɟɦɟɧɧɨɝɨ ɨɬɞɵɯɚ ɜ Ɍɭɜɟ ɩɨɛɵɜɚɥ ɜ ɝɨɫɬɹɯ ɭ ɱɚɛɚɧɚ. ɉɪɟɦɶɟɪ-ɦɢɧɢɫɬɪ ɊɎ ȼɥɚɞɢɦɢɪ ɉɭɬɢɧ ɜɡɹɥ ɜ ɩɨɧɟɞɟɥɶɧɢɤ ɨɞɧɨɞɧɟɜɧɵɣ ɨɬɩɭɫɤ ɢ ɩɪɨɜɟɥ ɟɝɨ ɜ Ɍɭɜɟ, ɝɞɟ ɫɩɭɫɬɢɥɫɹ ɩɨ ɪɟɤɟ ɢ ɩɨɡɧɚɤɨɦɢɥɫɹ ɫ ɠɢɡɧɶɸ ɱɚɛɚɧɨɜ. […] ɇɚɩɨɦɧɢɦ, ɱɬɨ ȼɥɚɞɢɦɢɪ ɉɭɬɢɧ ɜɩɟɪɜɵɟ ɩɨɛɵɜɚɥ ɜ Ɍɭɜɟ ɜ ɚɜɝɭɫɬɟ 2007 ɝɨɞɚ. Ɉɧ ɩɪɨɜɟɥ ɨɬɞɵɯ ɜ ɪɟɫɩɭɛɥɢɤɟ ɜ ɤɨɦɩɚɧɢɢ ɤɧɹɡɹ Ɇɨɧɚɤɨ Ⱥɥɶɛɟɪɚ ȼɬɨɪɨɝɨ. ȼ ɯɨɞɟ ɷɬɨɝɨ ɜɢɡɢɬɚ ɫɨɫɬɨɹɥɚɫɶ ɟɝɨ ɪɚɛɨɱɚɹ ɜɫɬɪɟɱɚ ɫ ɉɪɟɞɫɟɞɚɬɟɥɟɦ ɉɪɚɜɢɬɟɥɶɫɬɜɚ ɪɟɫɩɭɛɥɢɤɢ, ɉɪɟɡɢɞɟɧɬ ɩɨɡɞɪɚɜɢɥ ɠɢɬɟɥɟɣ ɪɟɫɩɭɛɥɢɤɢ ɫ ɧɚɰɢɨɧɚɥɶɧɵɦ

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Abbildung 16a: Putins Parteiwerbung

Quelle: Heiko Grünwedel

Was war passiert? Was geschah da während Putins Besuch in Tyva? Doch zuerst noch einen Schritt zurück. Warum soll das Tagesgeschäft eines Politikers Relevanz besitzen für eine Untersuchung des Schamanismus in Tyva? These der nun folgenden Überlegungen wird es sein, dass im Besuch Putins und der von ihm ausgelösten medialen Reaktionen eine grundlegende Dynamik im Wechselspiel von Politik, Religion und anderen gesellschaftlichen Subsystemen in Tyva sichtbar geworden ist. Um dies zu belegen, werde ich im Anschluss so verfahren, dieses Ereignis im Wesentlichen aus unmittelbaren Selbstzeugnissen der tyvanischen Gesellschaft in Form von Pressemeldungen nachzuzeichnen. Dass die dabei vorgenommene und notwendige Beschränkung auf wesentliche Zitate eine kontingente Auswahl darstellt, soll dabei immer reflexiv im Bewusstsein bleiben, jedoch keinen Hinderungsgrund darstellen, darin dennoch die Basis für analytische Schlussfolgerungen zu sehen. Mit dem Prinzip der Collage, der gleichzeitigen (wenn auch der Notwendigkeit einer textuellen Linearisierung unterworfen) Nebeneinanderstellung von Momentaufnahmen soll ein Gemälde entworfen werden, in welchem nicht alle Flächen farblich abgedeckt sind, sondern krasse, leuchtstarke Akzente eine Fläche abstecken, aus welcher dann Beziehungen heraus ersichtlich werden. Diese Form der Darstellung kann für sich keinen Anspruch auf eine wie auch immer geartete Repräsentativität erheben, will aber als essayistische Untersuchung von Populärkultur transparent machen, wie in der tyvanischen Presse ein Feld von Markern konstituiert wird, ein Netz von Signifikanten, das Politik, Archäologie, Religion und Popularglauben in spielerischer und doch diskursfestigender Weise verknüpft. Dabei treten Verknüpfungen zu Tage, die in der (Post)moderne

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zunächst erstaunlich anmuten. Politische Macht, so die These, wird auf implizitem Weg implementiert durch eine Lesart archaistischer Deutemuster. Historisierendspielerische Konstruktionen und Anspielungen prägen Dispositive und applizieren archetypische Plausibilitätsmuster zur Legitimation gegenwärtiger Strukturen. Der Schamanismus gerät dabei in zweifacher Weise zum Mitspieler im Diskursfeld der medialen und politischen Wirklichkeitskonstruktion. Einerseits dient die ihm zugrundeliegende und als Popularkosmologie unterstellte Weltsicht als Schatz an Bildern und Deutemustern, auf die die Presse in ihrer Einordnung politischer Ereignisse zurückgreift. Andererseits wird die Politik selbst eingewoben in einen Komplex aus einersetis historisch-mythologischen Figuren, die typisiert und heroisiert werden, und andererseits archäologischen Unternehmungen, die in der Spannung zwischen der Wiederverwurzelung in der eigenen Geschichte und ökonomischtouristischen Überlegungen stehen. Das ambivalente Verhältnis Tyvas zum Großen Bruder Russland spiegelt sich darin genauso wie die Interferenz zwischen der Einbindung Tyvas in globale Finanznetzwerke und seiner Identitätsbestimmung im post-sowjetischen Kontext. Innerhalb dieser multilateral verschränkten Diskursfelder von einer Doppelbewegung der Sakralisierung des Politischen und der Politisierung des Sakralen zu sprechen, würde die Sachverhalte unzulässig vereinfachen. Dennoch handelt es sich bei diesem bidirektionalen Austausch um Grundtendenzen, die sich in mannigfaltiger Gestalt manifestieren. Welches Material soll nun konkret untersucht werden? In den Blick kommen die drei in Kyzyl maßgeblichen russischsprachigen Tageszeitungen Tuvinskaya Pravda, Tsentr Azii und Pljus Inform. Neben der tyvanischsprachigen Zeitung Shyn stellen diese die Hauptquellen des in Tyva angesiedelten lokalen Journalismus dar. In unterschiedlicher Verteilung weisen alle drei sowohl berichterstattenden, informativen als auch unterhaltenden Charakter auf. Letztere steht dabei der Regenbogenpresse am nächsten und verfügt zugleich über die größte Auflage. Über einen Zeitraum von mehreren Monaten waren dabei folgende Schlagzeilen zu beobachten: „Der Präsident und der Fürst in Tyva Prognosen gehen in Erfüllung. Und tatsächlich, es geschah! Nach Tyva kam er SELBST! Fünf Minuten nach elf Ortszeit, landete ‚Bort Nr. 1‘ auf dem Flughafen Kyzyl und brachte den Präsidenten der Russischen Föderation Vladimir Putin zusammen mit Kollegen auf tyvanische Erde.“226

226 Pljus Inform No 32(292) 15. August 2007. ɉɪɟɡɢɞɟɧɬ ɢ ɤɧɹɡɶ ɜ ɬɭɜɟ. ɉɪɨɝɩɨɡɵ ɫɛɵɜɚɸɬɫɹ. ɇɭ, ɜɨɬ ɢ ɫɥɭɱɢɥɨɫɶ! ȼ Ɍɭɜɭ ɩɪɢɛɵɥ ɋȺɆ!

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„Seine Exzellenz empfing Seine Hoheit. Tyva – schamanisches Land Hier haben Worte die Macht, sich zu materialisieren, und Vorhersagen sich zu erfüllen. Na und wir haben etwas ‚schamanisiert‘ und den Besuch der Republik gleich zweier Staatshäupter vorhergesagt. Und wenn es noch möglich war, die Ankunft des Präsidenten Rußlands Vladimir Putins vorauszuahnen auch ohne Fähigkeiten des Hellsehens, so hat doch den Besuch Tyvas durch den Fürsten von Monaco Albert den Zweiten tatsächlich niemand erwartet.“227 „Putin berühren Was war das? Eine Massenpsychose? Ein Syndrom der Menschenmenge? Oder sendet er doch irgendwelche unsichtbare Strahlen aus? Selbst die allerruhigsten Phlegmatiker und langsamsten Melancholiker befiel am 15. August in Kyzyl ein zeitweiser Wahnsinn: Doch nur aus der Nähe Putin sehen.“228 „Naadym unter dem Zeichen Putins Wie wir den Feiertag erlebten und Präsident Putin trafen. Einen solchen Tag der Republik und des Naadyms hat man noch nicht gesehen.“229 „Magische Reise Putins Wozu kam Putin zu uns? Um sich an ‚Kraftorten‘ energetisch aufzuladen. In Anbetracht der Begeisterung des Präsidenten für die östliche Philosophie erscheint diese Version vollkommen wahrscheinlich [...]. Magische Reise Putins an Kraftorte. Putin kam doch nach Tyva, um ȼ ɩɹɬɶ ɦɢɧɭɬ ɨɞɢɧɧɚɞɰɚɬɨɝɨ, ɩɨ ɦɟɫɬɧɨɦɭ ɜɪɟɦɟɧɢ, „Ȼɨɪɬ ʋ 1“ ɫɨɜɟɪɲɢɥ ɩɨɫɚɞɤɭ ɜ ɚɷɪɨɩɨɪɭ Ʉɵɡɵɥɚ, ɞɨɬɚɜɢɜ ɧɚ ɬɭɜɢɧɫɤɨɝɨ ɡɟɦɥɸ ɉɪɟɡɢɞɟɧɬɚ Ɋɨɫɫɢɣɫɤɨɣ Ɏɟɞɟɪɚɰɢɢ ȼɥɚɞɢɦɢɪɚ ɉɭɬɢɧɚ ɫɨ ɬɨɜɚɪɢɳɢ. 227 Pljus Inform No 32(292) 15. August 2007. ȿɝɨ ɉɪɟɜɨɫɯɨɞɢɬɟɥɶɫɬɜɨ ɩɪɢɜɟɡ ȿɝɨ ȼɵɫɨɱɟɫɬɜɨ. Ɍɭɜɚ – ɡɟɦɥɹ ɲɚɦɚɧɫɤɚɹ. Ɂɞɟɫɶ ɫɥɨɜɚ ɢɦɟɸɬ ɫɩɨɫɨɛɧɨɫɬɶ ɦɚɬɟɪɢɚɥɢɡɨɜɚɬɶɫɹ, ɚ ɩɪɟɞɫɤɚɡɚɧɢɹ — ɫɛɵɜɚɬɶɫɹ. ȼɨɬ ɢ ɦɵ ɧɟɦɧɨɝɨ „ɩɨɲɚɦɚɧɢɥɢ“ ɢ ɧɚɩɪɨɪɨɱɢɥɢ ɜɢɡɢɬ ɜ ɪɟɫɩɭɛɥɢɤɭ ɫɪɚɡɭ ɞɜɭɯ ɝɥɚɜ ɝɨɫɭɞɚɪɫɬɜ. ɂ ɟɫɥɢ ɩɪɢɟɡɞ ɉɪɟɡɢɞɟɧɬɚ Ɋɨɫɫɢɢ ȼɥɚɞɢɦɢɪɚ ɉɭɬɢɧɚ ɟɳɟ ɦɨɠɧɨ ɛɵɥɨ ɩɪɟɞɭɝɚɞɚɬɶ ɢ ɛɟɡ ɫɩɨɫɨɛɧɨɫɬɟɣ ɤ ɹɫɧɨɜɢɞɟɧɢɸ, ɬɨ ɩɨɫɟɳɟɧɢɟ Ɍɭɜɵ ɤɧɹɡɟɦ Ɇɨɧɚɤɨ Ⱥɥɶɛɟɪɬɨɦ ȼɬɨɪɵɦ — ɹɜɧɨ ɧɢɤɬɨ ɧɟ ɨɠɢɞɚɥ. 228 Zentr Azii No 33, 24-30. August 2007. ɉɪɢɤɨɫɧɭɬɶɫɹ ɤ ɉɭɬɢɧɭ. ɑɬɨ ɷɬɨ ɛɵɥɨ? Ɇɚɫɫɨɜɵɣ ɩɫɢɯɨɡ? ɋɢɧɞɪɨɦ ɬɨɥɩɵ? ɂɥɢ ɨɧ ɞɟɣɫɬɜɢɬɟɥɶɧɨ ɢɫɩɭɫɤɚɟɬ ɤɚɤɢɟ-ɬɨ ɧɟɜɢɞɢɦɵɟ ɥɭɱɢ? Ⱦɚɠɟ ɧɚ ɫɚɦɵɯ ɫɩɨɤɨɣɧɵɯ ɮɥɟɝɦɚɬɢɤɨɜ ɢ ɦɟɞɥɢɬɟɥɶɧɵɯ ɦɟɥɚɧɯɨɥɢɤɨɜ 15 ɚɜɝɭɫɬɚ ɜ Ʉɵɡɵɥɟ ɧɚɩɚɥɨ ɤɚɤɨɟ-ɬɨ ɜɪɟɦɟɧɧɨɟ ɩɨɦɟɲɚɬɟɥɶɫɬɜɨ: ɯɨɬɶ ɤɪɚɟɦ ɝɥɚɡɚ ɜɢɞɟɬɶ ɉɭɬɢɧɚ. 229 Tuvinskaja Pravda No 97 (16448)18. August 2007. ɇɚɚɞɵɦ ɩɨɞ ɡɧɚɤɨɦ ɉɭɬɢɧɚ. Ʉɚɤ ɦɵ ɜɫɬɪɟɱɚɥɢ ɩɪɚɡɞɧɢɤ ɢ ɉɪɟɡɢɞɟɧɬɚ Ɋɨɫɫɢɢ. Ɍɚɤɨɝɨ Ⱦɧɹ ɪɟɫɩɭɛɥɢɤɢ ɢ ɇɚɚɞɵɦɚ ɜ Ɍɭɜɟ ɟɳɟ ɧɟ ɛɵɥɨ.

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an Kraftorte zu fahren, Energie zu tanken vor der entscheidenden Schlacht. Por-Bashyn, welche der Präsident besuchte, war nach Meinung mehrerer Wissenschaftler, die Residenz des Bilge-Kaganes, eines mächtigen Herrschers der Vorzeit, der unter seiner Macht beinahe halb Asien vereinigte. Den Ort für derartige Residenzen wählten die Hofschamanen sorgfältig aus, welche auch über die starken Ortsherrengeister verfügen mussten... . Bekanntermaßen unternimmt Putin nichts einfach so aufs Geratewohl, auch nicht einen bedeutenden Schritt. Ein einfacher Urlaub in der Natur oder eine PR Maßnahme wird es nicht gewesen sein, wie in ‚Argumenty i Fakty‘ und anderen Föderalen Zeitungen zu lesen war. Interessant, aber haben in Tyva alle die Botschaft Putins für das tyvanische Volk verstanden?“230 „Putin — Tshingis Khan, Schoigu — Sübedej Ein Witz. Eigentlich geht es um die Eröffnung des Sportkoplexes Sübedej, der natürlich nicht ohne ‚hohe Gäste‘ aus Moskau vonstatten ging.“231 „Die Nachfahren des Welteroberers wohnen in Moren Professor Ilja Artemewitsch Zacharow von der Staatlichen Universität Moskau, Mitarbeiter des Instituts für Allgemeine Genetik und der Vater der sensationellen Entdeckung der genetischen Verwandtschaft zwischen Tyvanern und amerikanischen Indigenen...“232

230 Pljus Inform No 44 (304) 7. November 2007. Ɇɚɝɢɱɟɫɤɨɟ ɩɭɬɟɲɟɫɬɜɢɟ ɉɭɬɢɧɚ. Ɂɚɱɟɦ ɩɪɢɟɡɠɚɥ ɤ ɧɚɦ ɉɭɬɢɧ? Ɂɚɪɹɞɢɬɶɫɹ ɷɧɟɪɝɢɟɣ

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Ausgehend von diesen Selbstzeugnissen der tyvanischen Popularkultur möchte ich zwei Themenkomplexe markieren, herausgreifen und einer eingehenderen Untersuchung unterziehen. Es handelt sich zum einen um das semantische von Feld von Deutungsfiguren aus der gegenwärtigen schamanischen Kosmologie: -

Schamanisches Land Worte materialisieren sich Schamanisieren Vorhersagen, Hellsehen Magische Reise Kraftorte Energetisch aufladen Unsichtbare Strahlen aussenden Hofschamanen Ortsherrengeister

Zum anderen soll das Wortfeld des politischen Messianismus in den näheren Blick geraten: -

Der Präsident und der Fürst in Tyva Er SELBST Seine Exzellenz und seine Hoheit Putin berühren Putin aus der Nähe sehen Unter dem Zeichen Putins Noch nie gesehen Mächtiger Herrscher der Vorzeit Halb Asien vereinigt Botschaft Putins für Tyva Putin – Tschingis Chan

Diesem korreliert ein visueller Diskurs, der unter Rückgriff auf fotografische Codes und kulturell verankerte Symboliken im Bild einen Herrscher konstruiert. Verbale und visuelle Ästhetik konstituieren sich so wechselseitig hin zu einem präsidentalen Kult. Die Tatsache, dass derartige fotografische Codierungen anlässlich eines zweiten Besuches des Präsidenten in Tyva medial zitiert und in ihrer Bildkomposition

ɉɪɨɮɟɫɫɨɪ Ɇɨɫɤɨɜɫɤɨɝɨ ɝɨɫɭɞɚɪɫɬɜɟɧɧɨɝɨ ɭɧɢɜɟɪɫɢɬɟɬɚ, ɫɨɬɪɭɞɧɢɤ ɂɧɫɬɢɬɭɬɚ ɨɛɳɟɣ ɝɟɧɟɬɢɤɢ [...] ɢ ɚɜɬɨɪ ɫɟɧɫɚɰɢɨɧɧɨɝɨ ɨɬɤɪɵɬɢɹ ɝɟɧɟɬɢɱɟɫɤɨɣ ɛɥɩɡɨɫɬɢ ɬɭɜɢɧɰɟɜ ɢ ɚɦɟɪɢɧɞɨɜ (ɢɧɞɟɣɰɟɜ Ⱥɦɟɪɢɤɢ) ɂɥɶɹ Ⱥɪɬɟɦɶɟɜɢɱ Ɂɚɯɚɪɨɜ.

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reproduziert werden, kann diese These zwar nicht verifizieren, fügt ihr aber darüber hinaus Plausibilität aufgrund historischer Kontinuität hinzu:

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Abbildung 16 b: Visuelle Ästhetik des politischen Messianismus 2007

Quelle: www.tuvaonline.ru (14.08.2007)

2009

Quelle: www.tuvaonline.ru (04.08.2009)

‚Putin berühren‘ – Heil in der Zuwendung des Mächtigen zu seinem niederen Volk: Man beachte die leibliche Überwindung der Distanz im Handschlag bei gleichzeitigem Gefälle der Körpergrößen.

Quelle: www.tuvaonline.ru (06.08.2009)

Quelle: www.tuvaonline.ru (15.08.2007)

Der durchtrainierte politische Messias zeigt seinen Leib. Das Charisma seiner körperlichen Präsenz, begleitet vom zeitgenössischen Accessoire der Sonnenbrille spiegelt die doppelte Referenz der tyvanischen Kultur auf körperliche Kraft und Naturbezogenheit einerseits, Mpodernität andererseits.

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Quelle: www.tuvaonline.ru (16.08.2007)

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Quelle: www.centerasia.ru (07-13.08.2009)

Putins Interesse und aktive Partizipation an lokaler Ausprägung von Kunst und Tradition: Das Going native des Präsidenten in seiner Verschmelzung mit der Gruppe, der Kleidung und dem Instrument.

Quelle: Heiko Grünwedel - Aufnahme

Quelle: www.centerasia.ru (07-13.08.2009)

eines Wahlplakates im Zentrum Kyzyls 2007

Putin weist den Weg – in Anknüpfung an die visuelle Semantik früherer LeninStatuen. Ein Exemplar ist noch heute im Zentrum Kyzyls zu finden:

Quelle: Heiko Grünwedel - Aufnahme auf dem Zentralplatz Kyzyls 2007.

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Quelle: www.tuvaonline.ru (20.08.2007)

Quelle: www.centerasia.ru (07-13.08.2009)

Putin liebt Natur und Menschen Tyvas.

Warum ist hier die Rede von einem politischem Messianismus, was soll damit ausgesagt werden und in welcher Hinsicht ist dies ein Analyseinstrument, das Sachverhalte erhellt, statt sie nur mit Metaphern zu verdunkeln. Zunächst scheint der Begriff des Messianismus aus jüdisch-christlicher Tradition stammend völlig deplaziert für eine Beschreibung von Zusammenhängen im Kontext Tyvas233. Doch betrachtet man den Terminus losgelöst von seiner ursprünglichen Verwendung und legt ein breites Verständnis von Messianismus zugrunde als Erwartungshaltung und Hoffnungsverknüpfung von Heil bzw. einer grundlegenden Umgestaltung der Lebensverhältnisse mit einer bestimmten Person, so wird Folgendes deutlich: Sowohl textuell als auch bildlich wird im Ereignis des Besuchs Putins in Tyva ein Kult um den Präsidenten inszeniert. Als Elemente dieses Kultes benenne ich folgende Elemente: -

Putin, der zusammen mit seinem Freund, dem Prinz von Monaco, die Ehrentitel Exzellenz und Hoheit empfängt Putin, der mächtige Präsident, der sich an das niedere Volk Tyvas wendet Putin, der körperlich durchtrainierte Präsident, dessen charismatische Aura Strahlen aussendet Putin, der den tyvanischen Präsidenten unterstützt, die Natur Tyvas liebt Die alleinige Berührung und Nähe des Präsidenten, die als heilbringend empfunden wird

233 Zum Messianismus im Schamanismus siehe Giesler, Patric V.: Messianism and Shamanism, in: Shamanism. An Encyclopedia of World Beliefs, Practics, and Culture, ed. Mariko Namba Walter and Eva Jane Neumann Fridman, Santa Barbara 2004, 169172.

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Die Präsenz Putins, die ein Zeichen darstellt der Verheissung von Entwicklung, Fortschritt und Anerkennung Die Spekulationen über die Bedeutung des Besuchs Putins für die Menschen in Tyva als Unantastbarkeit Die Mystifizierung der Gesamtpolitik Putins als bis ins Detail durchdachter masterplan

Dass dies im Kontext Tyvas in Zusammenhang gesetzt wird mit Deutungsmustern, die der schamanischen Kosmologie entliehen sind, ist nicht als bloße oberflächliche Kontextualisierung der Politik Putins in der zentralasiatischen Republik zu sehen. Vielmehr stellt sie den konsequenten Schritt einer archaisierenden Interpretation und Legitimation der Person des Herrschers dar. Putin wird parallelisiert mit Tshingis Khan und sein Parteigenosse Schoigu mit dem tyvanischen Nationalhelden Sübedei. Letzterer repräsentiert als der Vertreter tyvanischer Interessen in der russischen Staatsduma nicht nur tyvanischen Lokalstolz sondern ist gleichzeitig mit hohen Erwartungen und Hoffnungen auf eine Verbesserung der ökonomischen Situation in Tyva verbunden. Durch einen derartigen – freilich als Humor gekennzeichneten, dennoch nicht minder wirksamen – Rückbezug des gegenwärtigen Präsidenten auf die Figur des Tshingis Khan wird impliziert, dass die Größe, Einheit und Widerspruchslosigkeit der glorreichen Vorzeit auch heute wieder erreichbar ist – weist man Putin nur die notwendige unumschränkte Macht zu. Umso plausibler scheint diese Überbrückung einer fast 800 jährigen historischen Kluft, da nun auf genetischem Wege die Nachfahren Tshingis Khans in Tyva lokalisiert wurden. Auch diese Konstrutkion eines historischen Konnexes erfährt eine Transposition in die visuelle Kultur, indem die Bildmontage die behauptete Parallelität qua Iuxtapositionierung suggeriert (Vgl. Abbildung 17)234: Abbildung 17: Nachfahre Tschingis Khans in Tyva

Quelle: Tuvinskaja Pravda, No. 115 (16466), 27. September 2007 234 Vgl. Tuvinskaja Pravda, No. 115 (16466), 27. September 2007.

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Nicht nur das Charisma, die Stärke und Intelligenz des Präsidenten rechtfertigt also diesen gewaltigen Schritt sondern auch die durch die modernste Wissenschaft nachgewiesene Kontinuität in den Erbanlagen. Dafür spricht auch – und hier trifft sozusagen interdisziplinär alles in dieselbe Kerbe, dass mit Por-Bashyn eine alte Herrscherresidenz in Tyva gefunden wurde. Dass Putin dorthin fährt, um sich in die energetische Erbfolge seiner Vorläufer zu stellen, liegt nur in der Konsequenz der Dinge. Wie empfängt man nun derartige Lichtgestalten gebührend? Der Religionswissenschaftler antwortet: Mit einer Liturgie. Und tatsächlich ähnelt der Empfang Schoigus bei der Einweihung des neuen Sportzentrums eine Woche vor den gesamtrussischen Wahlen der Duma einem Wechselgespräch mit und einer Lobeshymne auf den Stellvertreter Putins in Tyva und Tyvas in Moskau.235 Die Messianität beider Politiker reicht dabei soweit, dass sie zurückwirkt auf eine religiöse Gemeinschaft wie die protestantischen Baptisten. Für den dortigen Pastor wurden Putin und Schoigu zu einem so geläufigen Bild messianischer Regenten, dass er seiner Gemeinde damit einen Bibeltext auslegt. Den Text, der von der Wiederkunft Jesu spricht, erläutert er mit einem Hinweis darauf, dass Jesus kommen würde wie Putin oder Schoigu: Alles müsse vorbereitet sein, er wolle nur das Mikrophon ergreifen, denn Jesus sei für uns der Herr und nicht nur ein zufälliger Gast. Der Umkehrschluss zeigt, dass dieses Prädikat auch auf Putin zu applizieren ist. Auch er ist nicht nur ein Gast, ein Mitmensch, sondern ein Herr. Von der Sakralisierung des Politischen war die Rede und der ihr korrespondierenden Politisierung des Sakralen. Die Verquickung beider Sphären spiegelt das Verhältnis Tyvas zu seinem großen Bruder Russland in der Doppelbewegung zwischen Abgrenzungs- und Selbstdefinitionsnotwendigkeit einerseits, ökonomischer Abhängigkeit andererseits.236 Der Schamanismus als ein Puzzlestück tyvanischer Identität, als Teil des Eigenen ist Anlass zu Stolz und wird zugleich instrumentalisiert für eine absolutistische Selbstauslieferung an die Macht. Wie zu Zeiten Tshingis Khans ist es nicht Kritik237, die im politischen Feld zwischen Tyva und Russland gefragt ist, sondern Bewunderung und Gehorsam. Die Existenz zwischen den Imperien ermöglicht Tyva, dass es sich selbst deutet, bedingt aber andererseits, dass es 235 Pljus Inform 47 (307), 28. November 2007. 236 Zum über Jahrzehnte indoktrinierten Minderwertigkeitsgefühl der Tyviner in der Sowjetunion vgl. Ʉɭɠɭɝɟɬ, Ⱥ.Ʉ.: Ⱦɭɯɨɜɧɚɹ ɤɭɥɶɬɭɪɚ ɬɭɜɢɧɰɟɜ: ɫɬɪɭɤɬɭɪɚ ɢ ɬɪɚɧɫɮɨɪɦɚɰɢɹ, Ʉɟɦɟɪɨɜɨ 2006, 248ff. 237 Der Abwesenheit jeglicher Kritik in der oben zitierten, sich politisch neutral gebenden Presse entspricht die Verschwörungstheorie des kommunistischen Parteiblattes am anderen Ende der Skala. In beiden Fällen geschieht keine Inbezugsetzung zur Macht Putins. In beiden Fällen bleibt die Macht Putins absolut, absolutistisch, d.h. losgelöst von jeglichen Beziehungen in der Lebenswelt. Vgl. Slovo Arata No. 12 (14) 15. August 2007 : ɉɭɬɢɧ, ɤɧɹɡɶ ɦɨɧɚɤɨ ɢ ȼɚɫɢɥɢɣ.

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UND I NTERFERENZ

diese Selbstdeutung nur in einem Rahmen vollziehen kann, der ihm von außen vorgegeben wird.

3.7 R ESÜMEE

DES ERSTEN

H AUPTTEILS

Aufbauend auf einer breit gefächerten Basis von Perspektiven, die die Forschungsliteratur für die vorliegende Arbeit zur Verfügung stellte, jedoch im Einzelnen kritisch zu werten war v.a. im Hinblick auf ihr inhärente Generalisierungstendenzen und fehlende methodologische Reflexivität, war es die Absicht des ersten Hauptteils dieser Dissertation, die Wechselwirkung des Lokalen und Globalen im wiedererstarkten tyvanischen Schamanismus in seinem Gespräch mit westeuropäischnordamerikanischen Diskursen zu skizzieren. Der Fokus lag dabei zunächst auf dem kulturellen Kontext Tyvas selbst. Ihren Ausgangspunkt nahm die Darstellung im konstitutiven Ereignis der ersten ‚akademisch-praktischen Konferenz von Schamanen und Schamanenforschern‘, welche zeigte, dass dem Prozess der Wiederbelebung von Anfang an eine Signatur der Glokalisierung eingeschrieben war, die in der Interaktion des Eigenen und Fremden einen Raum der Neuaushandlung kultureller Bedeutungen generierte. Von dort aus war dann eine Rückfrage nach Diskursen über die ältere Geschichte des tyvanischen Schamanismus möglich, die die gegenwärtige Rekonstruktion als Determinante und Hermeneutik auch des geschichtlichen Selbstbewusstseins transparent werden lies. Auf die Skizzierung der Genese der zeitgenössischen Situation folgte dann deren Entfaltung unter Gesichtspunkten der Kontinuitätskonstruktion und Kanonsierung schamanischer Traditionen durch die zentrale Figur des Mongush Kenin-Lopsan. Ob und wenn ja seine normative Setzung der Praxis gegenwärtiger tyvanischer Schamanen tatsächlich entspricht, wurde im Anschluss daran anhand der Analyse schamanischer Ritualangebote entfaltet. Die dort festzustellenden Amplifizierungs- und Adaptionsprozesse fanden eine mögliche Erklärung in der multifaktoralen Veränderungen nicht nur der sozialen Lebenssituation, sondern auch des Ritualklientels, der Interaktionsformen mit dem Schamanen und durch globale Kräfte bedingte Verschiebungen im Schamanismusdiskurs. Eine Beschreibung der Räume, innerhalb deren sich diese Transformationsprozesse realisieren – die in einer Gesamttopografie der Stadt Kyzyl zu verstehenden Schamanenkliniken, wurde möglich im Konzept der heterotopen Transdifferenzorte. Sowohl ihre externe Verortung im weiteren Kontext Kyzyls, als auch die ihnen eigene Verwendungsweise von Fotografien konnte als Indiz gelesen werden, dass sich in ihnen das Eigene und das Fremde wechselseitig aushandeln und konstituieren. Welche gesamtgesellschaftliche Funktion die Schamanenklinken davon ausgehend einnehmen und wie sie z.B. mit Bereichen der Medien und Politik in Wechselwirkung treten, beantwortete der letzte Abschnitt des dritten Kapitels.

R ESÜMEE DES ERSTEN H AUPTTEILS | 179

Obwohl dieses dritte Kapitel aus heuristischen Gründen und aufgrund der Unumgehbarkeit einer textuellen Linearisierung den kulturellen Kontext Tyvas probeweise absteckte und die Betrachtung darauf fokussierte, versteht sich das nun folgende vierte Kapitel gerade nicht als Gegenüberstellung (und damit impliziter Vergleich) korrelierter Prozesse im westeuropäisch-deutschsprachigen Raum. Sicherlich werden sich viele der nun geschilderten Phänomene – aus ebenso heuristischen Gründen auf letztere beziehen. Die Aufmerksamkeit liegt jedoch auf den Beobachtungen der Differenz in der Differenz, d.h. auf der Transdifferenz. Hauptaugenmerk werden daher die Schnittstellen und Überlappungsbereiche sein, qua derer ein kulturüberschreitender Transfer der genannten Diskurse in beiden Richtungen stattfinden kann. Die analytischen Zugänge dazu liefern – wie bereits in der Einleitung angedeutet – das Konzept des Rituals und seines Transfers, Biografien von Schamanen und der Event-Charakter von schamanischen Kongressen bzw. Seminaren mit ihrer genuinen Installation des fremden Heilers als konstitutivem Element. Ziel des vierten Kapitels ist es folglich, Austausch- und Übersetzungsprozesse aus unterschiedlichen Perspektiven transparent werden zu lassen und damit die Rekontextualisierung im deutschsprachigen Raum in seinen vielschichtigen Querverbindungen zu den in Kapitel drei erörterten Vorgängen verständlich zu machen.

4 Räume der Grenzüberschreitung zwischen Eigenem und Fremden

4.1 R ITUALDYNAMIK Die Grundthese dieser Arbeit, dass für eine Kartierung der gegenwärtigen Transformationsprozesse schamanischer Praktiken an einer Analyse globaler Interferenzen und gegenseitiger Rezeptionsvorgänge nicht mehr vorbei zu kommen ist, impliziert ein breites Spektrum von Phänomenen, die für deren Untersuchung relevant ist. Aus Beobachtungen im Feld hat sich gezeigt, dass hierfür Ritualen eine entscheidende Rolle zufällt – wobei in einer solchen Argumentation natürlich fraglich und zu bestimmen ist, welche Handlungen als Ritual verstanden und zur Analyse ausgegrenzt werden. Das Ziel des nun folgenden Kapitels wird es daher sein, Überlegungen zur Ritualtheorie auf das bisher Erörterte zu beziehen und zu prüfen, ob sich durch ein solches Gespräch der Ansätze neue Erkenntnisse gewinnen lassen. Meine These ist, dass sich die interkulturellen Transferprozesse im Zusammenhang des schamanischen Diskurses beschreiben lassen in der Perspektive eines asymmetrischen bidirektionalen Ritualtransfers. Letzterer wird – so die Fortführung meine These – kanalisiert über inszenierte Kontakträume gemeinsamer Praxis. In den Blick geraten so Transfermedien der performativen Mimesis in interkulturellen Workshops, Diskursübertragungen und Verschiebungen von Ritualdeutungsmodellen. Ein Vergleich der identitätskonstitutiven Wirkung der jeweiligen Rituale stellt dabei die Frage nach ihrer Kontext(in)varianz. Dass die Ritualträger, deren transdifferente Lebensentwürfe durch ein Zwischen der Kulturen geprägt sind, zu Vermittlern von Innovation und Tradition werden, lässt schließlich den Ritualtransfer als paradigmatisch für die grundsätzliche Dynamik des Rituals deutlich werden, das Ritual selbst als interkulturelle Schnittstelle.

182 | R ÄUME DER G RENZÜBERSCHREITUNG ZWISCHEN E IGENEM UND F REMDEN

4.1.1 Ritualtheorie im Zusammenhang der Schamanismusdebatte Ritualstudien reflektieren Prozesse des kulturellen Wandels. Dies wird bereits in ihrer Entstehung deutlich, welche mit einer massiven Infragestellung etablierter Riten und Zeremonien koinzidiert, und reicht bis in die gegenwärtige Diversifizierung der Ritualindustrie. Rituale entpuppten sich dabei als die master keys zum Verständnis von Kulturen.238 These des folgenden Beitrags ist es daher, dass auch in den kulturellen Austauschprozessen zwischen autochthonen Heilungstraditionen und deren westlichen Rezeptionen, Rituale und ihr Transfer zwar nur einen Aspekt der Interferenzvorgänge darstellen, jedoch einen zentralen, wenn nicht den entscheidenden. Paradigmatisch kann dies an den Translationen von Heilungstraditionen zwischen Tyva und Deutschland aufgezeigt werden. Kontakte der erwähnten Art sind grundsätzlich betrachtet keineswegs ein neuartiges Phänomen, jedoch haben sie meiner Ansicht nach unter den Bedingungen einer medial vermittelten Globalisierung eine neue Qualität erhalten. Diese kulturelle Verschiebung ritualtheoretisch zu beleuchten, verspricht daher ein Feld innovativer Ansätze zu generieren, um die aus der Begegnung entspringenden Phänomene kultureller Grenzüberschreitung neu zu verstehen. Die Schamanismusdebatte selbst und ihre Forschungsgeschichte werden dann im Licht von Prozessen des Ritualtransfers und – so die Verheissung auch umgekehrt – auf andere Art transparent. Alle bisher diskutierten methodischen Schwierigkeiten der Schamanismusforschung, wie die Verschränkungen mit dem von ihr untersuchten Phänomen, die Autokonstitution ihres wissenschaftlichen Gegenstandes und andere fundamentale Umwälzungen wie Aneignung indigener Traditionen durch die New Age Bewegung sowie der Konstruktcharakter der Zuweisung des Attributes ‚autochthon’ werden als Kontext zu berücksichtigen bleiben, wenn von schamanischen Ritualen die Rede ist. Die Grundtugend einer theoretischen Annäherung an schamanische Rituale könnte in diesem Zusammenhang lauten, wie Jens Kreinath in der Einleitung zu einem Standardwerk der Ritualtheorie vermerkt, „[that] [...] one should not take anything for granted when it comes to ritual [...]“239. Der hier applizierte Ansatz versteht sich daher als theoretical approach, jenseits der Großtheorien und doch mit dem Ziel vor Augen, die eigene case study zu einer metatheoretischen Perspektive hin zu transzendieren. Entscheidend ist es hierzu, nicht so sehr Antworten auf vorgeprägte Frage zu intendieren, sondern die Fragen selbst als nicht gegeben zu analysieren. Theoretische Reflexionen sollten daher in einem ständigen Prozess der Selbstreflexion ihre eigene Ergebnisoffenheit bewahren und sich bewusst als weder 238 Vgl. Kreinath, Jens; Snoek, Jan; Stausberg, Michael (ed.): Theorizing Rituals: Issues, Topics, Approaches, Concepts, Studies in the History of Religions, Vol. 114-1, Leiden 2006, IXf. 239 Kreinath, Theorizing Rituals, XIV.

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a priori noch a posteriori zu den Phänomenen selbst, sondern sich als in koordiniertem Wechselspiel mit ihnen begreifen. Konzepte und Ansätze, die hier angewandt werden, um sich dem Ritual kategorial zu nähern, sind daher weniger essentiell als Analyseinstrumente als vielmehr in ihrer Kopplungsfunktion zwischen Beobachter und Beobachtetem zu reflektieren.240 In Anlehnung an Jan Snoeks Vorschlag, Ritualdefintionen als polythetische Klasse241 zu konzipieren, soll daher eine schamanische rituelle Heilung im Folgenden verstanden werden als eine bestimmte Art des Verhaltens, die sich oft (aber keineswegs immer) absetzt vom Alltagsverhalten. Ritualspezialisten und Klienten stehen zwar in asymmetrischem Verhältnis zueinander, beide sind jedoch sowohl Vollzieher als auch Empfänger, aktiver wie passiver Teil dieser Handlungen. Im Besonderen spielt die konzeptionelle wie performative, nicht nur auf die gemeinsame Zeit des Rituals beschränkte choreographische Kopplung, sondern auch die symbolische Verschränkung der Lebenseinheiten von Klient und Schamane eine entscheidende Rolle. In der Mehrzahl der Fälle erfolgt eine mehr oder minder standardisierte (aber auch kreativ gestaltbare) Grenz- und Übergangsmarkierung situativer, örtlicher und habitueller Art. Meistens folgt das Heilungsritual einem festen Kern von Basisriten, die in verschiedener Reihenfolge arrangiert die Struktur des Rituals bilden. Klient und Schamane verbinden erwartungsgemäß eine intentionale und symbolische Bedeutung mit dem Vollzug des Rituals, welche eingebettet ist in einen umfassenderen Deutungsrahmen von Krankheit, Gesundheit und die den Menschen umgebende Welt.242

4.1.2 Ritualtransfer und interkulturelle Kontaktzonen Obige ‚Ritualdefinition’ ist noch insofern essentialistisch und statisch als sie eine Reihe von Faktoren vernachlässigt, die zunächst als Begleitphänomene dessen erscheinen, was als ‚das Ritual’ abgegrenzt wird, bei genauerer Betrachtung jedoch von äußerlichen Teilen zu inneren Konstitutiven werden können. Dazu zählt u.a. erstens die Präsenz von Forschern, Zuschauern, spirituell Suchenden, Touristen während des Ritualvollzugs, d.h. ein Transfer der Ritualklienten. Zweitens die Rekonstruktion des Ritualskripts aus Quellen zeitlicher differenter Abstammung, womit der Ritualvollzug gemäß diesem Skript dann einen temporalen Ritualtransfer darstellt. Schließlich die Bewegung des Ritualspezialisten in differente Gebiete, mithin einen räumlichen Ritualtransfer vollziehend. Dass es sich hierbei zunächst um nichts weiter als heuristische Unterscheidungen handelt, versteht sich selbstredend. Die Differenzierung dieser drei Bewegungen kann helfen, die Wahrnehmung zu verfeinern. Sie sollte jedoch nicht darüber hinweg täuschen, dass es zumindest 240 Vgl. Kreinath, Theorizing Rituals, VIII-XX. 241 Vgl. Snoek, Jan A. M.: Defining ‚Rituals‘, in: Kreinath, Theorizing Rituals, 3-14. 242 Vgl. Snoek, Jan A. M.: Defining ‚Rituals‘, in: Kreinath, Theorizing Rituals, 3-14.

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im Falle schamanischer Heilungsriten gerade die Verschränkung synchroner und diachroner Formen des Ritualtransfers ist, welche die Dynamik und schließlich Effektivität der verzeichneten Verschiebungen ausmacht. Es muss daher noch eine Ebene tiefer gefragt werden, was wir unter dem Ereignis des Transfers verstehen wollen. Handelt es sich um eine Kopie, eine Aneignung, ein Verstehen, Mimesis, Neuschaffung? Wie sind die unterschiedlichen Kontexte, d.h. Kulturen aus denen heraus und in die hinein ein Ritualtransfer erfolgt, zu bestimmen? Denn einerseits werden diese Kontexte als different wahrgenommen und konstruiert, entziehen sich aber zumindest in wissenschaftlicher Perspektive einer linearen, monoperspektivischen Bestimmung. Dort sind sie vielmehr auf komplexe Weise multilateral verquickt und teilen mehrfach gebrochene Grenzlinien bzw. Horizonte. Bezogen auf den tyvanischen Schamanismus beobachtete ich während meiner Feldstudie in Tyva und Deutschland 2007/2008 folgende Transferinterfaces: 1. Materiale Ritualgegenstände in Form schamanischer Attribute und Utensilien: Schamanentrommeln, -mäntel, -mützen und -rasseln, Materialisierte Hilfsgeister und Kraftgegenstände, Libationslöffel, Räucherschalen, etc. 2. Performative Ritualkunst: Schamanenlieder, -tänze, -ritenskripts sowie im Besonderen der tyvanische Kehlkopfgesang Khöömei 3. Modelle der Ritualinterpretationen: Konzepte, Narrative, Literatur 4. Erfahrungen der Teilnahme: Persönliche episodische Erinnerungen und emotional affektierte Änderungen der Reflexionsdisposition bzgl. des Fremden 5. Medien der Demonstration von Ritualen: Videoaufnahmen, Fotoalben, Webgallerien, Tagebücher und Internetblogs

Ich bezeichne diese fünf Dimensionen, vermittels welcher sich der Transfer eines Rituals ereignen kann, mit dem Bild der interfaces oder der Schnittstellen des Transfers. Damit intendiere ich, deutlich zu machen, dass es sich hierbei um keine asemiotischen Translationen bestimmter Praktiken von einem in den anderen Kontext hinein handelt, sondern um Anschlussstellen, an denen Neuinterpretationen stattfinden. Die Schnittstelle als Bereich der Überlappung bildet so den Ort, an dem kontinuierlich Aushandlungen von Bedeutungen geschehen. Sie rekurrieren weniger auf die Statik, Determiniert- und Abgeschlossenheit derartiger Kommunikationskanäle als vielmehr auf die kreativen Prozesse der gegenseitigen Durchdringung. Beispielhaft seien die im Punkt 3 genannten Ritualdeutungen und Erklärungsmodelle des Rituals genauer erläutert: Wie schon zuvor gezeigt, greifen tyvanische Schamanen zur Beschreibung ihrer heilerischen Tätigkeit neben traditionellen Fachtermini (A), welche etymologisch im Tyvanischen verwurzelt sind, auch auf Begrifflichkeiten zurück, die v.a. im europäisch-esoterisch Diskurs zu finden sind (B) und dann in russischer Übersetzung gebraucht werden. Folgende

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analytische Differenzierung der termini, die in der Praxis synthetisch gebraucht werden, möge dies verdeutlichen: A. Tyvanische Termini technici schamanischer Arbeit243 a. Globalreferenz auf rituelles Handeln ÔþüýððĀ [domnaar ] Sammelbegriff für Reinigungsriten spiritueller Zielrichtung íüýõõĀ [emneer ] Heilen mit Heilmitteln materieller Art b. Ritualframing ÔðóċûôðĀ [dagyldar] Ritual durchführen, beten, heiligen ëôċúĂððĀ [ydyktaar] Heiligen ÐûóððĀ [algaar ] Segnen, heiligen c. Ritual als Differenzschaffung ÐĀċóûððĀ [aryglar] Reinigen áðĐāðûċĀ [sang salyr ] Reinigendes Räucherritual durchführen d. Ritual als Ordnungsstiftung Ñðöċý ĂăôðĀ [bashyn tudar] An den richtigen Platz bringen åðýýðĀ [channar] Zur Ader lassen áăùñððĀ [sujbar] Streichen, abstreifen ÞĀăúćøĀøúðöċôðĀ [oruk tshirik azhydar] Strasse, Weg öffnen çðûñðĀċċĀ [tshalbaryyr ] Um Wohlergehen bitten, beten e. Spezialistenbezeichnung und ritualbezogene Anthropologie åðü [cham ] Tyvanischer Schamane áAýõ÷øý [sünesin] Seele â"ûóõ [tölge] Divination B. Esoterische Deutefiguren rituellen Handelns • Beschreibungskategorien zur Deskription anthropologischer Zustände: Energien, Chakren, Auren, Bewusstseinszustände, Trance, Balance und Harmonie, Meditation, spirituelle Entwicklung • Handlungsklassifizierungen des Heilens: Aufladen, Karma, Blockaden und Flüche lösen, Hellsehen, Massage, Talisman gebrauchen • Adressierungskategorien für Ritualspezialisten: Hexer, Heiler, Zauberer, Wahrsager 243 Die Termini und deren Strukturierung stammen aus meiner Feldarbeit in Tyva 2007. Vgl. aber auch Alekseev, N. A.: Schamanismus der Türken Sibiriens. Versuch einer vergleichenden arealen Untersuchung, Studia Eurasia, Bd. 1, Hamburg 1987 und Kenin-Lopsan, M. B.: Shamanic Songs and Myths of Tuva, Budapest 1997.

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• Rahmendeutungsmodelle des Heilens: Übernatürliches, Jenseitiges, Paranormales, Mystik

In der Praxis des Heilungsrituals rekurrieren tyvanische Schamanen, abhängig vom soziobiografischen Hintergrund des Klienten, auf verschiedene dieser semantischen Felder und setzen sie situativ in diverse Beziehungen zueinander. Eine strenge Trennung, wie hier künstlich durchgeführt, ist dabei nicht zu beobachten, vielmehr ein Gebrauch, der durch wechselseitige Durchdringung (A+B) und interreferentielle Hermeneutik gekennzeichnet ist. Interessant ist darüber hinaus zu beobachten, dass es nicht bei dieser unidirektionalen Transformation autochthonen Sprachgebrauchs aus der westlichen Esoterik heraus bleibt, sondern parallel dazu in Gegenbewegung tyvanische bzw. allgemein turksprachliche termini technici schamanischer Weltdeutung in die westeuropäische schamanische Szene einwandern (C). Diese wiederum bezeichne ich als Containerkategorien, da sie die Signatur einer expliziten Performanz ihres Fremdheitscharakters tragen. Sie wirken abgelöst von ihrem Ausgangsinhalt via ihres Anderssein als Transportmittel und lassen sich so relativ problemlos mit neuer Bedeutung füllen: C. Tyvanische Containerkategorien244 - Arzhan - Im Tyvanischen zunächst eine Heilquelle, darüber hinaus aber auch ein heiliger Ort mit Heilungskräften. Dieser wird zum schamanischen Lehrer. - Erlik - Der Herrscher der Geister Unterwelt - er wird zum Grossen Geist der Vergangenheit. - Ulgen - Die Ober- und Schöpfergottheit der Oberwelt – sie wird zum Großen Geist der Zukunft. - Tengry - Der Himmel - transformiert zum Ort der Kraft bzw. der Welt der Ewigkeit.

Die Schnittstellen des Ritualtransfers sind folglich in beiden Richtungen durchlässig, eine Verschiebung und Reinterpretation von Ritualaspekten erfolgt in asymmetrischer doppelter Weise in den durch die Schnittstelle gekoppelten kulturellen Kontexten. Neben obiger Differenzierung der Inhalte bzw. Objekte des Ritualtransfers lohnt noch ein genauerer Blick auf die Strukturen, welche die Rahmen und Träger dieser Schnittstellen bilden245: Im Falle schamanischer Heilrituale kann man als Transfer244 Vgl. Das Seminar des ‚Sibirischen Schamanen Ahamkara‘, der in Deutschland Seminare anbietet. www.bluejay.eu. 245 Vgl. Kapferer, Bruce: Dynamics, in: Kreinath, Theorizing Rituals, 515-517: Kapferer bezeichnet diesen Prozess als ‚ritual framing‘. Dabei werden alle Handlungen, die innerhalb eines abgesteckten Rahmens stattfinden, zusammengebunden und auf Prozesse hinsichtlich des Rituals bezogen. Bestimmte Dimensionen der Realität werden isoliert

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strukturen Kongresse, Wochenendseminare, Esoterikmessen und touristische Begegnungen einerseits, sog. ‚wissenschaftlich-praktische’ Symposien, Ritualinszenierungen für Forscher in Tyva und Europatourneen andererseits benennen. Dass solche Trägerstrukturen institutionell kristallisiert in beiden Kontexten ausgemacht werden können, gibt nochmals einen Hinweis auf die Eigenschaft des Ritualtransfers bidirektional zu verlaufen und sich in dieser Doppelbewegung gegenseitig zu konstituieren. Eine Unterscheidung in einen translatorischen und einen expeditorischen Ritualtransfer ist konzeptionell also möglich, diese sollten aber stets in ihrer gegenseitigen Verwiesenheit aufeinander konzeptionalisiert werden. Dabei verstehe ich unter ersterem Ritualtransfer den Vorgang, dass ein Ritualspezialist sich an den Anderen Ort begibt und dort das Ritual aus seinem Kontext vollzieht. Ritualspezialisten des Anderen Ortes nehmen teil, lernen und vollziehen Mimesis. Um einen expeditorischen Ritualtransfer handelt es sich dann, wenn ein Ritualspezialist an den Anderen Ort geht, am lokalen Ritual partizipiert und von den dortigen Ritualspezialisten lernt. Das neue Ritualwissen appliziert er nach seiner Rückkehr an seinem Ausgangskontext. In der Bidirektionalität überlagern sich beide Formen mehrdimensional und interferieren in vielfacher Hinsicht, so dass lineare Modelle der Wechselwirkungen für ein Verstehen der Komplexität der dabei ablaufenden Prozesse nur bedingt taugen. Ein Detail dieser wechselseitigen Konstitution soll nun im Folgenden exemplarisch anhand der Analyse zweier schamanischer Webauftritte skizziert werden. 4.1.3 Die Reflexivität des Ritualtransfers: Emische Diskurse in zwei schamanischen Webauftritten Ausgangspunkt ist die tyvanische Schamanenklinik Tos Deer. Sie ist – das wurde an anderer Stelle gezeigt – diejenige unter den mindestens vier in Kyzyl konkurrierenden, welche sich des umfangreichsten internationalen Renommees erfreuen kann. Die Vorsitzende Schamanin Ay-ýurek bereist regelmäßig Europa und die USA, in Tyva repräsentiert Tos Deer mehr als die anderen Kliniken die Primäranlaufstelle für Besucher Tyvas und Forscher. Das bayerische Schamanenzentrum ‚Musikhimmel‘ in der Nähe von Augsburg, eine unter anderen neoschamanischen Initiativen kann paradigmatisch als Spiegel Tos Deers in Westeuropa herausgegriffen werden. Dessen musikbegeisterter Leiter studiert zunächst verschiedene exotische Instrumente bis er 1993 zum tyvanischen Kehlkopfgesang gelangt. 2004 führt ihn eine Reise nach Tyva, wo er auch Ayýurek begegnet. Der Schamane aus Bayern erhält Anerkennung für seine Heilarbeit und nennt sich fortan ‚celtic music shaman’: und bilden ein selbstreferentielles System, das schließlich die teleologische Verknüpfung der darin sich ereignenden Handlungen herstellt.

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„Schamanenzentrum Musikhimmel. Das erste Schamanenzentrum Europas, das 2004 nach sibirischem Vorbild im Herzen von Bayern entstanden ist. Hier erhalten Sie Informationen zum Schamanentum, das auf einer persönlichen Zusammenarbeit mit Schamanen in Sibirien beruht. Die dort noch lebendigen Strukturen und tiefe Verankerung im Bewusstsein der Menschen bieten ein unglaublich hohes Potenzial, um zu unseren eigenen keltischen Wurzeln zurückzufinden. [...]. In Tuva (Sibirien) ist es ganz normal zum Schamanen zu gehen. Durch den Besitz einer Arbeits- und Studienerlaubnis als Schamane in Tuva, mit dem Ziel der Erforschung der musikalischen Zusammenhänge bei Schamanenheilungen, konnten viele Erfahrungen gesammelt werden, die in Deutschland noch nicht möglich sind. Der Kontakt mit Schamanen verschiedener Kulturen ermöglicht deren Einladung in dieses Zentrum [...]. Das [...] Schamanenzentrum nach sibirischem Vorbild und der Unterstützung der derzeit aktivsten Schamanen aus Tuva und Jakutien läd Sie zu 99 ganz besonderen Dingen ein. Sie werden [...] mit ganz besonderen Techniken zu innerer Ruhe, zur Entspannung und zum Loslassen gebracht. Selbstvertrauen und innere Kraft sind logische Folgerungen. Nutzen Sie den gewaltigen Schatz an Wissen der Schamanen um Ihre spirituelle Entwicklung voranzutreiben. Sie finden hier alle gewöhnlichen Dienste wie Krafttiersuche, Elementreisen und Reinigungsrituale sowie besondere Rituale für Trommeln und Heilungen.“ 246 „Erbschamanin Ay-ýurek Shizhekowna Oyun stammt aus dem uralten Volksstamm ‚Neun Kurgane’. Die Schamanin internationaler Kategorie ist Organisatorin und Koordinatorin internationaler Symposien und Kongresse, welche sich psychospiritueller Probleme des Menschen widmen. Sie wurde als eine der stärksten Schamaninnen Europas anerkannt. Sie leitet Seminare in Italien, der Schweiz, Frankreich, in den USA [...]. Interessant anzumerken, dass die Schamanin in Russland selbst nur zweimal Seminare geleitet hat – in Moskau und in Novosibirsk im Jahr 2006. [...]. Sie besitzt das Urheberrecht ihrer schamanischen Massage, der Naturmassage. Durch ihre Hellsichtigkeit verfügt sie über große Vorhersagefähigkeiten der Geister, sie gibt Auskunft aus den Khuvaanak Steinen. Sie besitzt Steine aus dem Ozean, dem Meer, Flüssen und Gebirgen. Für Fotoaufnahmen erteilt sie Termine [...]. Ay-ýurek reist aktiv ins Ausland, ihre einzigartige Gabe wurde zum Gegenstand des Interesses sowohl russischer als auch ausländischer Journalisten, welche besonders gerne zu ihr in die Republik ins Zentrum Asiens kommen. Im Jahr 1998 wurde der Film ‚Kuzungu Algyshy’ herausgebracht [...] von 1998 bis 2006 wurden sechs Bücher über Ay-ýurek veröffentlicht [...]. Ihre Teilnahme am Seminar über schamanische Praktiken stellt ein naturwissenschaftliches Instrument und die wesentliche Kraft für die Erhaltung ihrer Gesundheit dar sowie für die Anregung der künstlerischen Entwicklung der Seele, des Geistes und des Körpers. Das ist ein

246 http://home.vr-web.de/herbysmusic/schamanenzentrum.html.

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aktiver Schritt der Hinwendung zur Quelle des Lebens durch die Aneignung ältester Methoden.“247

Unterzieht man beide virtuellen Repräsentationen schamanischer Institutionen einer gegenüberstellenden Betrachtung, wird transparent, wie die Person des Schamanen als Schnittstelle des interkulturellen Kontaktes konstruiert wird, indem nicht nur auf Ursprünge und die Archaizität des Angebots, sondern auch auf den Anderen Ort, das Nicht-Hier, die Erfahrung in der fremden Welt verwiesen wird. In beiden Fällen spielt die Konzentration auf das Innere, die Spiritualität des Individuums eine entscheidende Rolle für die Adressierung des Zielpublikums und spiegelt sich in der Herstellung der persönlichen Fähigkeit, einen Ritualtransfer zu leisten, cum grano salis einer interkulturellen Ritualkompetenz auf Seiten der Schamanen. Identität, Authentizität und Autorität von Ay-ýurek und im Schamanenzentrum Musikhimmel konstituieren sich im wechselseitigen Fremdbezug. Obige Webauftritte können daher nach den Referenzkategorien analysiert werden, welche für die performative Produktion der schamanischen Identität konstitutiv wirken:

247 Vgl. http://shaman.shude.ru. Ergänzt durch eigene Aufzeichnungen aus der Feldarbeit 2007 in der tyvanischen Schamanenklinik Tos Deer. Übersetzung des Autors aus dem russischen Original, das wie folgt lautet: ɉɨɬɨɦɫɬɜɟɧɧɚɹ ɲɚɦɚɧɤɚ Ⱥɣ-ɑɭɪɟɤ ɒɢɢɠɟɤɨɜɧɚ Ɉɸɧ, ɩɪɨɢɫɯɨɞɹɳɢɯ ɢɡ ɞɪɟɜɧɟɝɨ ɩɥɟɦɟɧɢ „Ⱦɟɜɹɬɶ ɤɭɪɝɚɧɨɜ“ ɒɚɦɚɧ ɦɟɠɞɭɧɚɪɨɞɧɨɣ ɤɚɬɟɝɨɪɢɢ ɹɜɥɹɟɬɫɹ ɨɪɝɚɧɢɡɚɬɨɪɨɦ, ɤɨɨɪɞɢɧɚɬɨɪɨɦ ɦɟɠɞɭɧɚɪɨɞɧɵɯ

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190 | R ÄUME DER G RENZÜBERSCHREITUNG ZWISCHEN E IGENEM UND F REMDEN

Tabelle 3: Identitätskosntruktionen im Fremdbezug Identitätskonstitution

Schamanenzentrum

Schamanenzentrum

Bayern

Tyva

Referenz auf kulturelle

Potenzial, um zu unseren

Erbschamnin Ay-ýurek aus

Ursprünge

eigenen keltischen Wur-

dem uralten Volksstamm

zeln zurückzufinden

„Neun Kurgane“. Durch ihre Hellsichtigkeit verfügt sie über große Vorhersagefähigkeiten der Geister, sie gibt Auskunft aus den Khuvaanak Steinen.

Bezug auf Archaizität des

Dienste wie Krafttiersuche,

Durch Aneignung ältester

Angebots

Elementreisen und Reini-

Methoden

gungsrituale Verweis auf den Anderen

Die dort noch lebendigen

Anerkannt als eine der

Ort

Strukturen und tiefe Veran-

stärksten Schamanen Euro-

kerung im Bewusstsein der

pas

Menschen Das Nicht-Hier

Erfahrungen [...] die in

Seminare in Italien, der

Deutschland noch nicht

Schweiz, Frankreich, USA

möglich sind

[...], in Russland selbst nur zweimal [...] – in Moskau und in Novosibirsk

Die Person des Schamanen

Informationen [...], die auf

Reist aktiv ins Ausland, ihre

einer persönlichen Zusam-

einzigartige Gabe wurde

menarbeit mit Schamanen in

zum Gegenstand des Inte-

Sibirien beruhen

resses ausländischer Journalisten

– als Schnittstelle

– interkultureller Kompetenz

Arbeits- und Studienerlaub-

Schamanin internationaler

nis als Schamane in Tuva

Kategorie

Kontakt mit Schamanen

Organisatorin internationa-

verschiedener Kulturen

ler Symposien

R ITUALDYNAMIK | 191

Selbstverständnis als religi-

Ganz besondere Techniken

onsübergreifende Technik

Naturwissenschaftliches Instrument [...] zur Erhaltung der Gesundheit

Konzentration auf die innere

Innere Ruhe und Kraft,

Aktiver Schritt der Hinwen-

Spiritualität des Individu-

Selbstvertrauen, spirituelle

dung zu den Quellen des

ums

Entwicklung

Lebens, Anregung der künstlerischen Entwicklung der Seele, des Geistes und des Körpers

Die nachgezeichneten Überlappungen, Transferereignisse und wechselseitigen Bezugnahmen sind, so frappierend sie erscheinen mögen (oder auch nicht mehr), per se kein Phänomen sui generis der Gegenwart. Interessant und höchstwahrscheinlich spezifisch für die zeitgenössische Situation ist allerdings die Parallelität, in der die mediale Vermittlung in beiden Fällen zu tragen kommt. Wie weiter oben dargelegt, bilden Ritualdeutungen in Form von Konzepten, Narrativen und Literaturen etc. ein wesentliches Konstitutiv des Ritualtransfers. In beiden Webauftritten begegnen daher als ein Resultat des letzteren strukturell analoge Strategien des expliziten Fremdbezugs als Begründung schamanischer Authentizität. Allerdings wäre es ein Kurzschluss zu denken, derartige synchrone und raumübergreifende Formen des Ritualtransfers stünden im Widerspruch zu diachronen Transferprozessen innerhalb eines Kulturraums. Im Falle des sibirischen Schamanismus bedingen sich meiner Ansicht nach vielmehr synchroner kulturenüberschreitender und diachroner innerkultureller Transfer gegenseitig und gehen auseinander hervor. 248 Die Wiederbelebung schamanischer Traditionen in der Republik Tyva nach dem Fall der Sowjetunion wäre daher ohne Interaktionsereignisse wie dem Besuch der Foundation for Shamanic Studies in Tyva, dem damit einhergehenden aktiv koordinierten gemeinsamen Ritualvollzug und der Response einer Reise tyvanischer Delegationen von Schamanen in die Schweiz bzw. USA nicht denkbar. Kurzschlüssig wäre es wiederum auch, daraus ein Abweichen von der Tradition bzw. der innerethnischen Praxis des Ritualtransfers zu behaupten, indem man eine vor dem Kontakt lokalisierte Reinheitsvorstellung von unberührtem Schamanismus postuliert. Kultureller Kontakt und Ritualtransfer haben dagegen immer stattgefunden, der diachrone Ritualtransfer stand kontinuierlich in dialektischer Auseinandersetzung

248 Vgl. Znamenski, Andrei: The Beauty of the Primitive. Shamanism and the Western Imagination, Oxford 2007. Stuckrad, Kocku von: Schamanismus und Esoterik. Kulturund wissenschaftsgeschichtliche Betrachtungen, Leuven 2003. Hutton, Ronald: Shamans. Siberian Spiritualiy and the Western Imagination, London 2001.

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und Anregung mit dem synchronen. Heute nimmt dieser Austausch nur neue überraschende Formen an. Die dabei ablaufenden faszinierenden Prozesse zu skizzieren, war Ziel dieser Betrachtung. 4.1.4 Die Liminalität des Ritualtransfers: Ein Hinweis auf die allgemeine Bedeutung der Ritualstudien für den Kulturvergleich Betrachtet wurde bisher, wie aus der leiblichen Begegnung autochthoner Schamanen aus Sibirien und Neoschamanen aus Westeuropa in inszenierten Kontakträumen, die Bildung kultureller Schnittstellen und ritueller Transferinterfaces erwächst. Deutlich wurde darüber hinaus, dass derartige Schnittstellen Orte der Übersetzung, Ereignisse gemeinsamer Bedeutungsherstellung darstellen, welche trennen und zugleich verbinden. Es würde nun lohnen, auch wenn dies einen sehr freien Umgang mit seiner ursprünglichen Konzipierung bedeutete, für diese Orte die Kategorie der Turnerschen Liminalität fruchtbar zu machen. Die im Zusammenhang schamanischer Heilrituale diskutierten Transferinterfaces und die sie einbettenden Trägerstrukturen können nämlich potentiell ein neues Bewährungsfeld desselben darstellen. Letztere öffnen Begegnungsräume, die die Signatur der von Turner herausgearbeiteten Antistruktur aufweisen. Die bidirektional transferierten Rituale werden zu Quellen für neue Konstruktionen der Wirklichkeit. Sie stellen einen spezifischen transitiven Wendepunkt dar, der durch die Auflösung alter Strukturen und die Schaffung neuer gekennzeichnet und daher chaotisch und gefährlich ist.249 Schamanen, die sich in diese liminalen Räume begeben, werden zu transdifferenten250 Persönlichkeiten, zu Grenzgängern zwischen einer Vielheit von Welten. Sie vermitteln Tradition und Postmoderne, treten in die Spannung, Unsicherheit und die Zerreiskräfte des Dazwischen. Die emergierenden transnationalen communities von Schamanen und Schamanenklienten jenseits traditioneller nationaler Grenzen erlangen in ihrem doppelten Rekurs auf Exotismen, auf das nostrifizierte Fremde zwar einen Wettbewerbsvorteil innerhalb des Gefüges postmoderner Grenzauflö249 Vgl. Turner, Victor: Das Ritual. Struktur und Antistruktur, Frankfurt 2005, 94-111 und Kapferer, Bruce: Dynamics, 510f. 250 Zu den Konsequenzen transdifferenter Subjektpositionen vgl. die in der methodologischen Einführung gegebenen Bestimmungen des Transdifferenzkonzeptes nach Breinig und Lösch: Lösch, Klaus: Transdifferenz. Ein Komplement von Differenz, in: Srubar, Ilja & Renn, Joachim & Wenzel, Ulrich: Kulturen vergleichen. Sozial- und kulturwissenschaftliche Grundlagen und Kontroversen, Wiesbaden 2005, 252-270. Breinig, Helmbrecht & Lösch, Klaus: Transdifference, in: Journal for the Study of Bristish Cultures 13, 105-122.

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sungen und seines implizierten Zwanges zur Selbstprofilierung. Gleichzeitig gelangen die Ritualträger dadurch aber in transdifferente Existenzpositionen, die Kulturen handeln sich in ihren Lebensentwürfen aus und dies wiederum findet seinen Niederschlag in ihren Ritualkonzeptionen: Brauchbares Traditionelles wird erhalten, Brauchbares Neues wird integriert. Dynamik und Bewahrung des kulturellen Gedächtnisses sind daher nicht als Antagonismen zu verstehen, sondern eher als in dialektischer Ergänzung stehend. Wenn nun wie oben dargelegt, Rituale als kulturelle Aushandlungsräume verstanden werden können und der Ritualtransfer die Herausforderungen von Widersprüchen und Spannungen in gegenwärtigen Transformationsprozessen deutlich werden lässt, so öffnet sich für das Bedachte ein weiterer Horizont. Die hier erörterten schamanischen Rituale und Begegnungsräume können insofern als paradigmatisch verstanden werden, als die dabei beschriebenen Schnittstellenbildungen typisch für Prozesse des interkulturellen Kontaktes sind. Auch wenn die dabei verhandelten Inhalte vollkommen andere sind und gewiss eine absolute Trennung des Inhalts von den Strukturen nicht möglich ist, so gibt es doch Indizien dafür, dass der hier beschriebene bidirektionale Transfer nicht auf Rituelles beschränkt ist. Er ist vielmehr applizierbar auf verschiedene Arten komplexer Konstellationen von Bedeutungsaushandlung in der interkulturellen Begegnung. Zur Annäherung an eine solche Komplexität ohne diese vorschnell auf handhabbare Modelle zu reduzieren, haben sich die hier angewendeten Kategorien als sensibel genug erwiesen. 4.1.5 Zusammenfassung: Von der Ritual- zur Biografieanalyse Im Mittelpunkt der bisherigen Ausführungen zu interkulturellen Transferprozessen standen Diskursübertragungen und Verschiebungen von Ritualdeutungsmodellen wie sie aus der Begegnung autochthoner Schamanen aus Sibirien und Neoschamanen aus Westeuropa in inszenierten Kontakträumen emergieren. Gezeigt wurde auch, dass derartige Schnittstellen Orte der Übersetzung, Ereignisse gemeinsamer Bedeutungsherstellung darstellen, und die bidirektional transferierten Rituale zu Quellen für neue Konstruktionen der Wirklichkeit werden. Dass die Träger dieser Rituale selbst, ebenfalls von derartigen Prozessen der Vermittlung und des Dazwischen geprägt werden, ist dabei bereits angeklungen, konnte aber noch nicht eingehender analysiert werden. Wie diese Grenzgängerpersönlichkeiten nun zwischen Innovation und Tradition stehen, welche Spannungen und Unsicherheiten ihre transdifferenten Lebensentwürfe mit sich bringen wird daher der Fokus der nächsten Kapitel sein. Drei – wie ich meine – paradigmatische Biografien werden dazu herausgegriffen, da es sich bei ihren Helden sowohl um besonders öffentlichkeitswirksame und exponierte Beispiele handelt, als auch darüber hinaus die angespro-

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chenen Dynamiken in besonders klarer Weise sichtbar gemacht werden können. Und obwohl es sich bei den Skizzen der Lebensentwürfe von Galsan Tschinag, Nikolai Oorzhak-ool und Kenin-Lopsan nicht im strengen methodologischen Sinne um Biografieanalysen251 handelt, wie sie die Soziologie ausgearbeitet hat, stehen deren Grundüberlegungen doch im Hintergrund252. Die in den Blick genommenen Biografien – ob erzählt, vorgetragen, in der eigenen Homepage veröffentlicht oder in Seminarauschreibungen eingefügt – werden daher in zweifacher Perspektive betrachtet. Aus Sicht der Diskursanalyse werden sie als Dokumente gedeutet, die Einblicke in Argumentationsstrategien, Kommunikationsregeln und die zugrundeliegenden Gesetzmäßigkeiten bzgl. kontextuell gebundener und zugleich variabler Anforderungsprofile und Wirkmechanismen einer schamanischen Biografie freigeben. Eine erzähltheoretische Position wird darüber hinaus deutlich werden lassen, dass es sich bei den Biografien um Erzählungen handelt, die eine Form der Alltagskommunikation darstellen. Sie greifen damit auf Plausibilitätsmuster zurück, die eine interkulturelle Übersetzungsleistung erbringen (wollen) und treten damit zugleich in einen zweiten Rahmen anderer Gesetzmäßigkeiten ein. Wie die beiden Regelwerke interagieren und welche Konsequenzen daraus für eine Verhältnisbestimmung von konstruierter Biografie und zugrundeliegendem Lebensentwurf zu ziehen sind, wird daher eine wiederkehrende Fragestellung der nun folgenden Kapitel sein. Vorweg sei bemerkt, dass es sich bei den kulturenüberschreitenden Bewegungen der Schamanen durchweg um spannende Biografien handelt – im doppelten Sinne. Die sich in den individuellen Ge-

251 Vgl. Bohnsack, Ralf: Rekonstruktive Sozialforschung. Einführung in qualitative Methoden, Opladen 62007, 91-104. 252 Erinnert sei in diesem Zusammenhang v.a. an den methodologischen Bezugsrahmen wie ihn Fritz Schütze für das narrative Interview geprägt hat, indem er eine Theorie des Erzählens bezogen hat auf die Biografieanalyse: „Erzählungen (Geschichten) sind im Alltag ein allgemein vertrautes und gängiges Mittel, um jemanden etwas, das uns selbst betrifft oder das wir erlebt haben, mitzuteilen. Erzählungen sind Ausdruck selbst erlebter Erfahrungen, d.h. wir greifen immer dann auf sie als Mitteilungsmedium zurück, wenn es darum geht, Eigenerlebtes einem anderen nahe zu bringen. Insofern kann also von Erzählen als ‚elementarer Institution menschlicher Kommunikation‘, als alltäglich eingespielter Kommunikationsform gesprochen werden.“ In seiner Bedeutung als Alltagspraxis soll das Erzählen also hier wissenschaftlich fruchtbar gemacht werden als Weg ‚Eigenerlebtes einem anderen nahe zu bringen‘. Vgl. Bohnsack, Ralf: Rekonstruktive Sozialforschung. Einführung in qualitative Methoden, Opladen 62007, 91f. Und Schütze, Fritz: Das narrative Interview in Interaktionsfeldstudien: Erzähltheoretische Grundlagen, Studienbrief der Fernuniversität Hagen, Teil I, Merkmale von Alltagserzählungen und was wir mit ihrer Hilfe erkennen können, Hagen 1987, 77.

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schichten einschreibende Transdifferenz präfiguriert ein bleibendes Potenzial kognitiver, emotionaler und existenzieller Dissonanz, setzt aber auch horizonttranszendierende Kreativitätsdynamiken frei. Welche Formen dies annimmt, wird nun beschrieben werden.

4.2 D ER LEBENDE S CHATZ DES S CHAMANISMUS – M ONGUSH K ENIN -L OPSAN 4.2.1 Das Inkarnierte Kulturelle Gedächtnis Tyvas als ‚drop in center‘ des Westens „ɇɚɞɨ ɯɜɚɥɢɬɶ ɦɟɧɹ!“ - „Man muss mich preisen!“ So empfängt Mongush Borachowitsch Kenin-Lopsan mit Vorliebe Forschende aus dem Westen, Russland, allgemein alle, die vorhaben, die Geheimnisse des tyvanischen Schamanismus tiefer zu ergründen. Dabei ist Kenin-Lopsan nicht nur die Instanz der langjährigen wissenschaftlichen Erforschung des Schamanismus, der master mind seiner Wiederbelebung nach dem Fall der Sowjetunion, sondern als Präsident aller tyvanischen Schamanen auch die bleibende Schnittstelle zwischen der manchmal verschlossenen und nicht-gezeigten, manchmal medial und performativ inszenierten Kultur des tyvanischen Schamanismus einerseits, einem wie auch immer motivierten externen Interesse an diesem Phänomen andererseits. Der Forscher, der Tourist, der spirituell Suchende – alle kommen nicht an ihm vorbei, da ohne seine Erlaubnis kein offizielles und damit mit seinem Segen versehenes Gespräch mit Schamanen stattfinden wird. Fast alle wollen aber auch nicht an ihm vorbei, da die Begegnung mit ihm, wenn auch aus Gründen, die später noch zu erläutern sind, nicht immer unbedingt angenehm, so doch meist horizontöffnend ist. Ich beginne daher meine Darstellung der Biografien tyvanischer Schamanen mit Kenin-Lopsan selbst. Wie sich noch zeigen wird, kann an seiner Lebensgeschichte, an seinem wissenschaftlichen Werk, an seinem Modus der Beziehungsgestaltung mit Ausländern Grundlegendes von der historischen und gegenwärtigen Dynamik im tyvanischen Schamanismus abgelesen werden. „Ich erinnere mich an Sie!“ Aus der Ecke des kleinen Kämmerchens im Hinterhof des ethnografischen Museums blickt mich ein Greis an seinem Schreibtisch sitzend mit Adleraugen an. „Ich erinnere mich an Sie!“ waren die ersten Worte, mit denen mich Mongush Kenin-Lopsan zu Beginn meiner Feldforschung begrüßte. Und dies war mehr als überraschend. Denn tatsächlich hatten wir uns schon kennengelernt, drei Jahre vor meiner Feldforschung, als ich als Student des Russischen nach Sibirien kam und aus Neugier Tyva besuchte. Der Präsident aller tyvanischen Schamanen Kenin-Lopsan hatte mir damals seinen obligatorischen Erlaubnisschein

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„zum Studium des tyvanischen Schamanismus“ ausgestellt – ein Dokument ohne das ein Interview mit einem Schamanen in Tyva nur mit Schwierigkeiten möglich ist. Kenin-Lopsan erinnerte sich und hatte damit das erste Gefecht mit dem europäischen Ethnologen für sich entschieden. Vor meinem inneren Auge sah ich noch einmal die bei der ersten Begegnung so eindrückliche Situation, wie Kenin-Lopsan vom schläfrigen Greis zum energischen Schriftsteller mutierte. Aus der Mittagstrance erwacht, hämmerte Kenin-Lopsan, geleitet von einem gänzlich neuen Geist, Folgendes in seine Schreibmaschine: „Möge er die Praxis tyvanischer Schamanen studieren. Möge er erfahren, dass Tyva in der Tat die Heimat des Weltschamanismus ist [...]. Ich hoffe, dass der Student Heiko Grünwedel eine gute Arbeit schreibt, gewidmet dem tyvanischen Schamanismus, den guten tyvanischen Schamanen und ebenso dem tyvanischen Volk, das für die Menschheit den Schamanismus in erster Linie bewahrt hat. Ich wünschte, dass er meine Bücher über den tyvanischen Schamanismus erwürbe. [...].“253

Das Dokument, versehen mit zwei Siegelstempeln, die Kenin-Lopsan als Präsident aller tyvanischen Schamanen und Doktor der Geschichte ausweisen, öffnet dem jungen Studenten den Weg in die Welt des tyvanischen Schamanismus. Formal adressiert an die Schamanengesellschaft, welche den Studenten bei seinen Studien unterstützen soll, transportiert es jedoch implizit und vorrangig Auftrag und Rahmenbedingung an mich, unter welchen meine Begegnung mit den Schamanen stattfinden sollen. In kürzester Prägnanz konstatiert Kenin-Lopsan die drei Axiome der Schamanismusforschung in Tyva: 1. Tyva ist die Heimat des Schamanismus und hat diesen für die Menschheit bewahrt. 2. Der tyvanische Schamanismus ist vorrangiger Repräsentant eines Weltschamanismus 3. Kenin-Lopsan ist sein respektierter Vertreter und alle, die von ihm beauftragt werden, sollen Gutes über den Schamanismus schreiben. So sind die Spielregeln, wie sie der Präsident festlegt - damals geronnen in besagtem Dokument. Erneut holten sie mich ein am Beginn meiner Feldforschung. Im Blick, im Wissen, im Satz Kenin-Lopsans „Ich erinnere mich an Sie!“ wird mir von Neuem deutlich, dass Forschung zum Schamanismus ein Ringen um Bedeutungen ist. Kenin-Lopsan schreibt in der Weise, in der er dem europäischen Forscher begegnet, seine Bedingungen dieses Spiels ein.

253 „ɉɭɫɬɶ ɨɧ ɢɡɭɱɚɟɬ ɩɪɚɤɬɢɤɭ ɬɭɜɢɧɫɤɢɯ ɲɚɦɚɧɨɜ. ɉɭɫɬɶ ɨɧ ɭɡɧɚɟɬ, ɱɬɨ Ɍɭɜɚ ɞɟɣɫɬɜɢɬɟɥɶɧɨ ɹɜɥɹɟɬɫɹ ɧɚɪɨɞɢɧɨɣ ɦɢɪɨɜɨɝɨ ɲɚɦɚɧɫɬɜɚ [...] ə ɧɚɞɟɸɫɶ, ɱɬɨ ɫɬɭɞɟɧɬ ɏɟɣɤɨ Ƚɪɸɧɜɟɞɟɥɶ ɧɚɩɢɲɟɬ ɯɨɪɨɲɭɸ ɪɚɛɨɬɭ, ɩɨɫɜɹɳɟɧɧɭɸ ɬɭɜɢɧɫɤɨɦɭ ɲɚɦɚɧɫɬɜɨ, ɞɨɛɪɵɦ ɬɭɜɢɧɫɤɢɦ ɲɚɦɚɧɚɦ ɢ ɬɚɤɠɟ ɬɭɜɢɧɫɤɨɦɭ ɧɚɪɨɞɭ, ɤɨɬɨɪɵɣ ɞɥɹ ɱɟɥɟɜɟɱɟɫɬɜɚ ɫɨɯɪɚɧɢɥ ɲɚɦɚɧɫɬɜɨ ɜ ɩɟɪɜɨɡɞɚɧɧɨɦ ɜɢɞɟ! ə ɛɵ ɯɨɬɟɥ, ɱɬɨɛɵ ɨɧ ɩɪɢɨɛɪɟɥ ɦɨɢ ɤɧɢɝɢ ɨ ɬɭɜɢɧɫɤɨɦ ɲɚɦɚɧɫɬɜɟ [...]“.

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Wer ist nun dieser Mann? Wie kam er dazu, zum Präsident der tyvanischen Schamanen zu werden? Und warum ist er die primäre Kontaktstelle aller europäischen Wissenschaftler, die in Tyva forschen wollen? 4.2.2 Leben und Schreiben des Mongush Kenin-Lopsan254 Kenin-Lopsan kam am 10. April 1925 in einer Nomadenfamilie als eines von 16 Kindern im Regierungsbezirk Dzun-Khemtschiskij zur Welt. Seine Eltern waren bereits als Gesangserzähler von Mythen und Volksdichtung bekannt. 1938 beginnt Kenin-Lopsan seine schulische Bildung, studiert an der Universität Leningrad, welche er 1952 mit einem Diplom abschließt. Zurückgekehrt nach Tyva arbeitet er zunächst als Lehrer des Tyvanischen, Russischen und der Pädagogik. Doch bereits 1953 beginnt er seine Laufbahn als Chefredaktor für Literatur im Tyvanischen Verlag. Seit 1966 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter des Tyvanischen Ethnografischen Nationalmuseums ‚Aldan Maadyr‘. Er veröffentlicht zahlreiche Romane, Poesie, Kindererzählungen, Schriften zur Folklore und sammelt über 50 Jahre ethnografisches Material zum tyvanischen Schamanismus. Seine dazu 1982 durchgeführte Untersuchung stößt auf hartnäckige Gegnerschaft von Seiten der Partei, sie wird als ‚Propaganda einer überlebten religiösen Ideologie‘ gebrandmarkt. Doch die Perestroika ermöglicht ein zweites Aufatmen. Kenin-Lopsan entwickelt sich zum Wissenschaftler, erntet die Früchte seiner langjährigen vorhergehenden Arbeit. Er veröffentlicht Werke zu den tyvanischen Schamanengesängen, zur ‚Rituellen Praktik und Magie des tyvanischen Schamanismus‘ sowie zu ‚Motiven und Poetik des tyvanischen Schamanismus‘. 1993 organisiert er ein Internationales Seminar von Schamanen und Schamanismusforschern unter seiner Führung und erhält in diesem Zusammenhang von der amerikanischen ‚Foundation for Shamanic Studies‘ den Titel ‚Lebender Schatz des Schamanismus‘ verliehen. Seine Dissertation zu den ‚Probleme[n] der ethnografischen Untersuchung des tyvanischen Schamanismus, dargestellt an Materialien der schamanischen Folklore‘ verteidigt er 1997 an der Petersburger Universität. 2000 wird er von der Zeitung ‚Tsentr Asii‘ zum ‚Mensch des Jahrhunderts‘ gewählt. Kenin-Lopsan hält Vorlesungen in Österreich, in der Schweiz, in den Niederlanden, in USA und an der Universität Berlin. Schließlich erscheint 2005 in Tyva ihm zu Ehren ein ‚biobibliografischer‘ Leitfaden255, welcher den Reigen an Titeln kanonisiert, welche Kenin-Lopsan noch jenseits des Orderns 254 Vgl. Ɍɚɪɭɧɨɜ, Ⱥ. Ɇ.: Ɍɭɜɚ. ɋɨɤɪɨɜɢɳɚ ɤɭɥɶɬɭɪɵ, ɇɚɫɥɟɞɢɟ ɧɚɪɨɞɨɜ ɪɨɫɫɢɣɫɤɨɣ ɮɟɞɟɪɚɰɢɢ, ɜɵɩ. 7, Ɇɨɫɤɜɚ 2006, 116-120. ɑɚɞɚɦɛɚ, Ʌ. Ɇ. & ȿ. Ɇ. Ⱥɤ-ɤɵɫ (Eds.): Ɇɨɧɝɭɲ

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Ȼɢɨɛɢɛɥɢɨɝɪɚɮɢɱɟɫɤɢɣ

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ɇɚɰɢɨɧɚɥɶɧɚɹ ɛɢɛɥɢɨɬɟɤɚ ɢɦ. Ⱥ.ɋ. ɉɭɲɤɢɧɚ Ɋɟɫɩɭɛɥɢɤɚ Ɍɵɜɚ, Ʉɵɡɵɥ 2005, 9-18. Sowie: http://shaman.shude.ru/shaman.php. 255 ɑɚɞɚɦɛɚ, Ʌ. Ɇ. & ȿ. Ɇ. Ⱥɤ-ɤɵɫ (Eds.): Ɇɨɧɝɭɲ Ȼɨɪɚɯɨɜɢɱ Ʉɟɧɢɧ-Ʌɨɩɫɚɧ, 2005.

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der Russischen Föderation und des Ordens der Republik Tyva, auf sich vereinen konnte: „Der Biobibliographische Leitfaden spiegelt die Literatur wieder über das Leben und Werk des Nationalschriftstellers Tyvas, des Doktors der Geschichtswissenschaft, des verdienten Kulturarbeiters Russlands und Tyvas, des Saryg-ool Preisträgers auf dem Feld der Literatur und Kunst der Republik Tyva, des aktiven Mitglieds der New Yorker Akademie der Wissenschaften, des Schamanenforschers, des Trägers des Titels ‚Lebender Schatz des Schamanismus‘, verliehen von der Amerikanischen Foundation for Shamanic Studies, des Präsidenten der tyvanischen Schamanen auf Lebenszeit, des verdienten Bürgers der Stadt Kyzyl, des ‚Menschen des Jahrhunderts‘ Tyvas, des ältesten wissenschaftlichen Mitarbeiters des Tyvanischen Nationalmuseums Aldan Maadyr, des Helden der Arbeit Mongush Borachowitsh Kenin-Lopsan.“256

Warum ich dies eine Kanonisierung von Titeln nenne, soll im Folgenden noch klar werden. Vorweg sei bemerkt, dass es sich dabei um keine zufällige, lediglich akkumulative Aneinanderreihung von sowjetisch anmutenden Ehrenbezeichnungen handelt. Vielmehr stellen das dargebotene System von Signaturen sowohl eine Strukturierung und Pointierung der Lebensgeschichte des Kenin-Lopsan dar, als auch eine identitätskonstitutive Strategie, die geschickt innertyvanische Würden mit gesamtrussischen Auszeichnungen sowie internationalen Elementen der Anerkennung verknüpft. In seiner gesellschaftlichen Funktion als inkarniertes kulturelles Gedächtnis – wie ich später herausarbeiten werde – zeichnet sich rückblickend ein roter Faden in der Biografie Kenin-Lopsan ab, der von seiner Geburt als traditioneller Nomade bis zu seinen Vorträgen in den internationalen Metropolen reicht. Doch zunächst lohnt noch ein Blick, welche Rolle einem derart ausgezeichneten Mann zukommt in der Selbstrepräsentation einer peripheren Republik wie Tyva.

256 Ebd., 3: „Ȼɢɨɛɢɛɥɢɨɝɪɚɮɢɱɟɫɤɢɣ ɭɤɚɡɚɬɟɥɶ ɨɬɪɚɠɚɟɬ ɥɢɬɟɪɚɬɭɪɭ ɨ ɠɢɡɧɢ ɢ ɬɜɨɪɱɟɫɬɜɟ ɧɚɪɨɞɧɨɝɨ ɩɢɫɚɬɟɥɹ Ɍɭɜɵ, ɞɨɤɬɨɪɚ ɢɫɬɨɪɢɱɟɫɤɢɯ ɧɚɭɤ, ɡɚɫɥɭɠɟɧɧɨɝɨ ɪɚɛɨɬɧɢɤɚ ɤɭɥɬɭɪɵ Ɋɨɫɫɢɢ ɢ Ɍɭɜɵ, ɥɚɭɪɟɚɬɚ ɩɪɟɦɢɢ ɢɦ. ɋ. ɋɚɪɵɝ-ɨɨɥɚ ɜ ɨɛɥɚɫɬɢ ɥɢɬɟɪɚɬɭɪɵ ɢ ɢɫɤɭɫɫɬɜɚ Ɋɟɫɩɭɛɥɢɤɢ Ɍɵɜɚ, ɞɟɣɫɬɜɢɬɟɥɶɧɨɝɨ ɱɥɟɧɚ ɇɶɸ-Ƀɨɪɤɫɤɨɣ Ⱥɤɚɞɟɦɢɢ ɧɚɭɤ, ɲɚɦɚɧɚɜɟɞɚ, ɨɛɥɚɞɚɬɟɥɹ ɡɜɚɧɢɹ „ɀɢɜɨɟ ɫɨɤɪɨɜɢɳɟ ɲɚɦɚɧɢɡɦɚ“ Ⱥɦɟɪɢɤɚɧɫɤɨɝɨ ɮɨɧɞɚ ɲɚɦɚɧɫɤɢɯ ɢɫɫɥɟɞɨɜɚɧɢɣ, ɩɨɠɢɡɧɟɧɧɨɝɨ ɩɪɟɡɢɞɟɧɬɚ ɬɭɜɢɧɫɤɢɯ ɲɚɦɚɧɨɜ, ɩɨɱɟɬɧɨɝɨ ɝɪɚɠɞɚɧɢɧɚ ɝ. Ʉɵɡɵɥɚ, „ɑɟɥɨɜɟɤ ȼɟɤɚ“ Ɍɭɜɵ, ɫɬɚɪɲɟɝɨ ɧɚɭɱɧɨɝɨ ɫɨɬɪɭɞɧɢɤɚ Ɍɭɜɢɧɫɤɨɝɨ ɧɚɰɢɨɧɚɥɶɧɨɝɨ ɦɭɡɟɹ ɢɦ. ȺɥɞɚɧɆɚɚɞɵɪ, ɜɟɬɟɪɚɧɚ ɬɪɭɞɚ Ɇɨɧɝɭɲɚ Ȼɨɪɚɯɨɜɢɱɚ Ʉɟɧɢɧ-Ʌɨɩɫɚɧɚ“.

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4.2.3 Eine innertyvanische Repräsentation Kenin-Lopsans mit Außenwirkung „Eine der am wenigsten bekannten und exotischsten Landstriche Sibiriens ist ohne Zweifel die Republik Tuva mit ihrer Hauptstadt Kyzyl. Die hinter dem Sajan-Gebirge an der Grenze zur Mongolei gelegene Republik war früher für Ausländer verschlossen. Tuva ist erst seit 1990 zugänglich und nach wie vor auch für viele Russen ein völlig unbekanntes Buch mit sieben Siegeln am Rande der Welt.“257 So leitet einer der einschlägigen deutschsprachigen Reiseführer sein kurzes Kapitel zu Tyva ein und in der Tat ist die verfügbare Literatur, welche eine unspezifische und somit breitenwirksame Repräsentation Tyvas für das deutsche aber auch das russische Publikum greifbar machen würde, rar. Eine Ausnahme bildet nun die vom ‚Wissenschaftlichen Informationsund Verlagszentrum Moskau‘ herausgegebene Reihe ‚ɇɚɫɥɟɞɢɟ ɧɚɪɨɞɨɜ ɪɨɫɫɢɣɫɤɨɣ ɮɟɞɟɪɚɰɢɢ‘ – ‚Das Erbe der Völker der russischen Föderation‘, in welchem 2006 auch ein Band zu Tyva erscheint. Als Mitherausgeber benennt die Ausgabe verschiedene staatliche Institutionen, welche bereits einen Hinweis auf die Dokumentations- und Verifikationsintention kultureller Vielfalt liefern, darunter folgende: Die „Bundesagentur für Kultur und Filmkunst der Russischen Föderation‘, das ‚Ministerium für Kultur und Geistliche Entwicklung der Republik Tyva‘, das ‚Komitee für die Erhaltung des kulturellen Erbes der Republik Tyva‘, das Nationalmuseum der Republik Tyva ‚Aldan-Maadyr‘ und schließlich das ‚Tyvanische Institut für Humanwissenschaften‘. Der Hochglanzfotoband, der aufgrund seines stolzen Preises von 40 Euro ironischerweise für den DurchschnittsTyvaner selbst so gut wie unerschwinglich ist, gibt – in stereotyper Weise – einen Querschnitt durch verschiedene kulturelle und landschafttypische Besonderheiten der Republik. Ein Kapitel darin ist erwartungsgemäß auch Kenin-Lopsan gewidmet258 und wird wie folgt eingeleitet: „Der lebende Schatz des Schamanismus. Es wohnt unter uns ein Mensch, weiß von grauem Haar und erfasst von Gedanken – Bewahrer der materiellen und geistlichen Werte im direkten und übertragenen Sinne. Einen Großteil seines Lebens arbeitete Kenin-Lopsan im Museum, sammelte und bewahrte kostbare Schätze vieler Generationen des Tyvanischen Volkes, was an sich schon eine große Tat ist. Aber er ist nicht nur der Bewahrer dieser Werte, sondern auch ihr Sammler und Erforscher. Im geistlichen Leben jedes Volkes existieren Phänomene, die nur für dieses Volk charakteristisch sind und daher ein besonderes Gefühl des Stolzes hervorrufen. Für die Tyvaner wurden derartig 257 Thöns, Bodo: Sibirien entdecken. Städte und Landschaften zwischen Ural und Pazifik, Berlin 22001, 239. 258 ɋɚɦɞɚɧ, Ɂɨɹ: „ɀɢɜɨɟ ɋɨɤɪɨɜɢɳɟ ɒɚɦɚɧɢɡɦɚ“, in: Ɍɚɪɭɧɨɜ Ⱥ.Ɇ.: Ɍɭɜɚ. ɋɨɤɪɨɜɢɳɚ ɤɭɥɶɬɭɪɵ, ɇɚɫɥɟɞɢɟ ɧɚɪɨɞɨɜ ɪɨɫɫɢɣɫɤɨɣ ɮɟɞɟɪɚɰɢɢ, ɜɵɩ 7, Ɇɨɫɤɜɚ 2006, 116-120.

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außergewöhnlich markante Erscheinungen der nationalen Eigenart der Schamanismus, der Kehlkopfgesang (Khöömei) und die Felsenkunst (Tshonar-Dasch). Diese drei einzigartigen Grenzen der Seele und der Psychologie, ethischer und ästhetischer Selbstausdruck des Tyvaners untersucht Kenin-Lopsan Mongush vom Gesichtspunkt des traditionellen Weltbildes aus sein ganzes Leben lang. Er ist selbst – ein Unikum der tyvanischen Realität, ein Abkömmling aus dem Geschlecht der Schamanen und Mythensänger, ein Schriftsteller und Gelehrter.“259

Kenin-Lopsan, der ‚big man‘ mit den vielen Titeln, wird hier in letzter Konsequenz transponiert in eine literarische Figur. Zum Zwecke einer textuellen Repräsentation dient er als Material zur Projektion bestimmter Gehalte. So entfaltet sich eine Eigendynamik der Sprache, welche ihm als Figur durch die Art ihrer Verarbeitung im Text eine charakteristische Signatur einprägt. Kenin-Lopsan fungiert im gegebenen Fall so als ein Brückenelement. Einerseits wird er vorgestellt als selbst Kuriosum und Teil der Eigenart der zu umschreibenden tyvanischen Kultur. Andererseits bietet er als Erforscher dessen, was er selbst repräsentiert, auch den nötigen literarischen Anknüpfungspunkt, der eine Entfaltung einer per se zunächst unzugänglichen Thematik wie des Schamanismus plausibel erscheinen lässt. Nicht zuletzt zeigt sich dies auch in der den Aufsatz einleitenden Wendung „ɀɢɜɟɬ ɫɪɟɞɢ ɧɚɫ ɱɟɥɨɜɟɤ“ – „Es lebt unter uns ein Mensch“. Sicherlich handelt es sich hier um eine geprägte Form, deren Verwendungskontexte hier nicht nachgezeichnet werden können. Doch verweist sie zugleich auf eine aufschlussreiche Dialektik. Mitten in einem Text, der an ein Publikum gerichtet, das als Fremde eine literarische Annäherung an die 259 Ɍɚɪɭɧɨɜ Ⱥ.Ɇ.: Ɍɭɜɚ. ɋɨɤɪɨɜɢɳɚ ɤɭɥɶɬɭɪɵ, ɇɚɫɥɟɞɢɟ ɧɚɪɨɞɨɜ ɪɨɫɫɢɣɫɤɨɣ ɮɟɞɟɪɚɰɢɢ, ɜɵɩ 7, Ɇɨɫɤɜɚ 2006, 116: „ ɀɢɜɨɟ ɋɨɤɪɨɜɢɳɟ ɒɚɦɚɧɢɡɦɚ. ɀɢɜɟɬ ɫɪɟɞɢ ɧɚɫ ɱɟɥɨɜɟɤ, ɭɛɟɥɟɧɧɵɣ ɫɟɞɢɧɚɦɢ, ɨɯɜɚɱɟɧɧɵɣ ɞɭɦɚɦɢ – ɯɪɚɧɢɬɟɥɶ ɦɚɬɟɪɢɚɥɶɧɵɯ ɢ ɞɭɯɨɜɧɵɯ ɰɟɧɧɨɫɬɟɣ ɜ ɩɪɹɦɨɦ ɢ ɩɟɪɟɧɨɫɨɦ ɫɦɵɫɥɟ. Ȼɨɥɶɲɭɸ ɱɚɫɬɶ ɠɢɡɧɢ Ɇɨɧɝɭɲ Ʉɟɧɢɧ-Ʌɨɩɫɚɧ ɩɪɨɪɚɛɨɬɚɥ ɜ ɦɭɡɟɟ, ɫɨɛɢɪɚɹ ɢ ɨɯɪɚɧɧɚɹ ɛɟɫɰɟɧɧɵɟ ɫɨɤɪɨɜɢɳɚ ɦɧɨɝɢɯ ɩɨɤɨɥɟɧɢɣ ɬɭɜɢɧɫɤɨɝɨ ɧɚɪɨɞɚ, ɱɬɨ ɫɚɦɨ ɩɨ ɫɟɛɟ ɜɟɥɢɤɨɟ ɞɟɥɨ. Ɉɞɧɚɤɨ ɨɧ ɧɟ ɩɪɨɫɬɨ ɯɪɚɧɢɬɟɥɶ ɷɬɢɯ ɰɟɧɧɨɫɬɟɣ, ɚ ɟɳɟ ɢ ɢɯ ɫɨɛɢɪɚɬɟɥɶ ɢ ɢɫɫɥɟɞɨɜɚɬɟɥɶ. ȼ ɞɭɯɨɜɧɨɣ ɠɢɡɧɢ ɤɚɠɞɨɝɨ ɧɚɪɨɞɚ ɟɫɬɶ ɬɨɥɶɤɨ ɟɦɭ ɩɪɢɫɭɳɢɟ ɮɟɧɨɦɟɧɚɥɶɧɵɟ ɹɜɥɟɧɢɹ, ɜɵɡɵɜɚɸɳɢɟ ɱɭɜɫɬɜɨ ɨɫɨɛɨɣ ɝɨɪɞɨɫɬɢ. ɍ ɬɭɜɢɧɰɟɜ ɬɚɤɢɦɢ ɧɟɨɛɵɱɧɨ ɹɪɤɢɦɢ ɩɪɨɹɜɥɟɧɢɹɦɢ ɧɚɰɢɧɚɥɧɨɣ ɫɚɦɨɛɵɬɧɨɫɬɢ ɫɬɚɥɢ ɲɚɦɚɧɢɡɦ, ɝɨɪɥɨɜɨɟ ɩɟɧɢɟ (ɯɨɨɦɟɣ) ɢ ɤɚɧɟɪɟɡɧɨɟ ɢɫɤɭɫɫɬɜɨ (ɱɨɧɚɪ-ɞɚɲ). ɗɬɢ ɬɪɢ ɧɟɩɨɜɬɨɪɢɦɵɟ ɝɪɚɧɢ ɞɭɲɢ ɢ ɩɫɢɯɨɥɨɝɢɢ, ɷɬɢɱɟɫɤɨɝɨ ɢ ɷɫɬɟɬɢɱɟɫɤɨɝɨ ɫɚɦɨɜɵɪɚɠɟɧɢɹ ɬɭɜɢɧɰɚ ɫ ɬɨɱɤɢ ɡɪɟɧɢɹ ɬɪɚɞɢɰɢɨɧɧɨɝɨ ɦɢɪɨɜɨɡɡɪɟɧɢɹ ɜɫɸ ɠɢɡɧɶ ɢɡɭɱɚɟɬ Ʉɟɧɢɧ-Ʌɨɩɫɚɧ Ɇɨɧɝɭɲ. Ɉɧ ɢ ɫɚɦ ɩɨ ɫɟɛɟ – ɭɧɢɤɭɦ ɬɭɜɢɧɫɤɨɣ ɞɟɣɫɜɢɬɟɥɶɧɨɫɬɢ, ɜɵɯɨɞɟɰ ɢɡ ɲɚɦɚɧɫɤɨɝɨ ɢ ɫɤɚɡɢɬɟɥɶɫɤɨɝɨ ɪɨɞɚ, ɩɢɫɚɬɟɥɶ ɢ ɭɱɟɧɵɣ“.

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Kultur Tyvas sucht, findet so etwas wie Selbstvergewisserung statt. Die für die Erhaltung der tyvanischen Kultur zentrale Figur Kenin-Lopsan muss auch für den Tyvaner, an welchen die einleitende Phrase den Text adressiert, erst eingeführt werden. Dies erlaubt den Rückschluss, dass Kenin-Lopsan nicht selbstverständlich über den Bekanntheits- und Anerkennungsgrad verfügt, der ihm laut der Beschreibung des Textes eigentlich gebühren würde. Der Text erweist sich so neben seiner Funktion als einführende Darstellung Tyvas für den Fremdling als Baustein einer Identitätsstiftung und Autorisierungsstrategie einer intrakulturellen Instanz. KeninLopsan wird nicht nur nach außen als der legitime Vertreter des tyvanischen Schamanismus dargebotenen, auch innergesellschaftlich wird seine Position gefestigt. Damit schließt sich der Kreis auch zum Titel des Aufsatzes: „ɀɢɜɨɟ ɋɨɤɪɨɜɢɳɟ ɒɚɦɚɧɢɡɦɚ“ - „Lebender Schatz des Schamanismus“. Diese Ehrentitulierung Kenin-Lopsans, die er von einer amerikanischen, also ausländischen Institution zugesprochen bekommen hat, löste sich aus seinem ursprünglichen Einsetzungsund Verwendungskontext heraus, wurde internalisiert und hat sich zum selbständigen terminus technicus gewandelt. Eine zunächst in einem ganz spezifischen Bedeutungsgewebe verankerte Bezeichnung wird universalisiert und dient fortan im Sinne eines Emblems als Autoritätssignifikant. Damit stellt sich die Frage, woher dieser Titel stammt und wie das Ereignisgeflecht zu beschreiben ist, in dessen Zusammenhang Kenin-Lopsan zum ‚Lebenden Schatz des Schamanismus‘ wurde. 4.2.4 Die Foundation for Shamanic Studies und der Lebende Schatz des Schamanismus „Dear Professor Kenin-Lopsan, on behalf of the Foundation for Shamanie (!) Studies it is my great pleasure to inform you that you have been awarded the status of LIVING TREASURE OF SHAMANISM effectively 1 July 1994. This award is made in recognition of your important role in preserving the knowledge of Tuvan shamanism and encouraging the revival of this great spiritual tradition of the peoples of the republic of Tuva. Your contribution also benefits all of humanity, for through your observations and your teaching, you are helping the world understand the important contributions of the Tuvan peoples to the practice, development, and preservation of shamanism […]. The award itself carries a modest lifetime annual stipend […]. Also the Living Treasure Award is made to you in memory of the late Foundation Field Associate Heimo Lappalainen in recognition of the work he undertook in cooperation with the government of the Republic of Tuva for the revitalization and recognition of Tuvan shamanism. With the profoundest respect and highest regards, Sincerely Michael Earner (!)260, Ph.D. President“261

260 Dass aus Michael Harner versehentlich ein Michel Earner wurde, kann natürlich nur ein Schmaus für alle diejenigen Kritiker des Neoschamanismus sein, die darin vornehmlich

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So der Wortlaut der Urkunde, die die Titulierung zum ‚Lebenden Schatz des Schamanismus‘ verbürgt. Historisch ist sie als Reaktion und Ergebnis zu werten auf die 1993 von Kenin-Lopsan organisierte ‚Internationale Konferenz von Schamanen und Schamanenforschern‘. Interessant ist dabei zu beobachten, dass es sich keineswegs um eine unilaterale Anerkennung handelt, die vornehmlich Kenin-Lopsan einen geprägten Status verleiht. Vielmehr legt die Foundation mit ihrem Begleitschreiben bewusst das Dispositiv offen, den kontextuellen Handlungs-, Denk- und Machtrahmen, unter welchen die Verleihung des Titels und des damit verbundenen Stipendiums für Kenin-Lopsan erfolgt. Die kulturbewahrende Leistung Kenin-Lopsan wird nicht nur in ihrer Wichtigkeit für die Menschen Tyvas anerkannt, sondern auch als Dienst an der gesamten Menschheit. Implizit legt die Foundation damit im wahrsten Sinne ihrer Bestimmung die Grundlage, dass der tyvanische Schamanismus weltweit rezipiert werden kann, anders gewendet, dass Menschen aus aller Welt nach Tyva kommen können und dort problemlos tyvanischen Schamanismus studieren. Auch dass tyvanische Schamanen Seminare in Europa abhalten oder gar auf Welttourneen gehen, ist darin bereits präfiguriert. Obwohl die Foundation sich selbst als ‚non-profit incorporated educational organization’ kennzeichnet, gibt sie sich hier nicht ganz uneigennützig: Der Preis wird Kenin-Lopsan auch, das wird am Ende explizit nochmals unterstrichen, verliehen in Erinnerung an Heimo Lappaleinen, einen Mitarbeiter der Foundation für seine Zusammenarbeit mit der Regierung Tyvas im Prozess der Wiederbelebung des tyvanischen Schamanismus. Die Foundation reklamiert damit für sich, dass letztendlich sie es war, die den Schamanismus wiederbelebt hat. Über die Merkwürdigkeit der Tatsache, dass für die Wiederbelebung einer religiösen Tradition primär und initiierend ein Ausländer und die Regierung zusammenwirken, wird in diesem Zusammenhang nicht reflektiert. Auslöser und Katalysator für diesen Wiederbelebungsprozess war wie eingangs erwähnt die von Kenin-Lopsan organisierte Konferenz 1993. Ihre Dynamik wurde an anderer Stelle unter anderen Gesichtspunkten eingehender untersucht. An dieser Stelle ist es jedoch notwendig, über die oben gebotene allgemeine Biografie KeninLopsans zu skizzieren, wie er sich in seiner eigenen wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Schamanismus unter den wechselnden politischen Vorzeichen entwickelt hat. Nur in der Einzeichnung seiner Publikationen in einen historischen Duktus wird verständlich, warum Kenin-Lopsan zum Organisator der Konferenz werden sollte, ja warum dies als folgerichtiger Schritt betrachtet werden kann in der Abfolge seiner methodisch wechselnden Herangehensweisen an seine Lebensthematik.

eine kapitalisierte und individualisierte Aneignung indigener Traditionen durch westliche Esoteriker sehen. 261 ɑɚɞɚɦɛɚ, Ʌ. Ɇ. & ȿ. Ɇ. Ⱥɤ-ɤɵɫ (Eds.): Ɇɨɧɝɭɲ Ȼɨɪɚɯɨɜɢɱ Ʉɟɧɢɧ-Ʌɨɩɫɚɧ, 2005, 7.

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4.2.5 Das literarische Werk Kenin-Lopsans zum Schamanismus: Eine Periodisierung in Auseinandersetzung mit den historischen Kontexten Zunächst ist zu begründen, warum für eine religionswissenschaftliche Untersuchung die Analyse eines literarischen Korpus, wie er im Falle des Kenin-Lopsans gegeben ist, sinnvoll und gewinnbringend sein soll. Einschränkend muss vorweg bemerkt werden, dass die vorliegende Arbeit keine umfassende literaturwissenschaftliche Aufarbeitung des Lebenswerks Kenin-Lopsans leisten kann. Allerdings lohnt die Mühe, einmal aus den verschiedenen Publikationen des Autors diejenigen herauszugreifen, die eine dezidierte Referenz zum Schamanismus aufweisen, und deren Titel in chronologischer Anordnung zu betrachten. Ablesen lässt sich daraus, wie der Duktus des Diskurses sich unter den wechselnden historischen Rahmenbedingungen verschoben hat. Anders gesagt wird daraus ersichtlich, unter welchen Leitkonzepten bzw. Diskurshauptkategorien Kenin-Lopsan den Schamanismus thematisiert. Besonders deutlich wird dies in den Titelkonzeptionen seiner Bücher. Eine eingehendere Untersuchung der Inhaltsebene geschieht dann im Anschluss an exemplarischen Eckpfeilern seines Werkes. Tabelle 4: Die Schriften Kenin-Lopsans zum Schamanismus Jahr 1968

Titel Wolf-Schamane und Wolf-

Erscheinungsort Kyzyl

Forscher 1972

Das Ende des Schamanen.

Kyzyl

Legende über den himmlischen Schamanen 1982

Sujets und Poetik des

Leningrad (Dissertation zum

tyvanischen Schamanismus

Kandidat der Wissenschaften)

1985

Legende über die Kuzungu:

Kyzyl

Über den Schamanismus 1987

Rituelle Praktik und Folklo-

Novosibirsk, Akademie der

re des tyvanischen Schama-

Wissenschaften

nismus: Ende 19. bis Anfang 20. Jahrhundert

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1992

Himmel, Erde, Mensch in

Jakutsk

den Mythen des tyvanischen Schamanismus. Schamanismus als Religion: Genese, Rekonstruktion, Tradition 1993

Magie der tyvanischen

Kyzyl

Schamanen (dreisprachig: englisch, russisch, tyvanisch) 1994

Koordinaten der Seele bei den Tyvanern, Schamanismus in Tyva. Materialien des 1. tyvanischamerikanischen Seminars von WissenschaftlernSchamanenforschern und Schamanen (zweisprachig: russisch, englisch)

1995

Algyshy (Schamanengesän-

Kyzyl

ge) tyvanischer Schamanen 1996

Probleme des ethnografi-

St. Petersburg (Dissertation

schen Schamanismus: An

zum Doktorgrad)

Materialien der schamanischen Folklore 1998

Wien lernt die schamani-

Tuvinskaya Pravda

schen Attribute kennen: Interview mit M. B. KeninLopsan zur Ausstellung in Belgien über den Schamanismus 1999

Das Altertum der Vorfahren – Schamanismus: Vernissage mit Ausstellungsstücken des Tyvanischen Ethnogra-

Tuvinskaya Pravda

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fischen Museums in Bremen unter Mitwirkung von M. B. Kenin-Lopsan 2004

Studiert Traditionelle Kultur

Zeitung Bashky

2005

Das 21. Jahrhundert wird

Zeitung Efir

das Jahrhundert der Wiedererstehung des Schamanismus sein 2006

Traditionelle Kultur der

Kyzyl

Tyvaner

Die Auflistung262 erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, vielmehr stellt sie den Versuch dar, sowohl die Mehrzahl der relevantesten Publikationen Kenin262 1968 ȼɨɥɤ-ɲɚɦɚɧ ɢ ȼɨɥɤ-ɭɱɟɧɵɣ, Ɍɭɜɢɧɫɤɚɹ ɩɪɚɜɞɚ 30 ɧɨɹɛɪ, Ʉɵɡɵɥ. 1972 Ʉɨɧɟɰ ɲɚɦɚɧɚ. Ʌɟɝɟɧɞɚ ɨ ɧɟɛɟɫɧɨɦ ɲɚɦɚɧɟ, ɩɟɪ. ɘ. Ɋɚɡɭɦɨɜɫɤɨɝɨ, Ʉɵɡɵɥ, ɋ. 111. 1982 ɋɸɠɟɬɵ ɢ ɩɨɷɬɢɤɚ ɬɭɜɢɧɫɤɨɝɨ ɲɚɦɚɧɫɬɜɨ (Dissertation zum Kandidat der Wissenschaften). 1985 Ʌɟɝɟɧɞɚ ɨ ɤɭɡɭɧɝɭ: ɨ ɲɚɦɚɧɢɡɦɟ, Ʉɵɡɵɥ, ɋ. 69;72. 1987 Ɉɛɪɹɞɨɜɚɹ ɩɪɚɤɬɢɤɚ ɢ ɮɨɥɶɤɥɨɪ ɬɭɜɢɧɫɤɨɝɨ ɲɚɦɚɧɫɬɜɨ: ɤɨɧɟɰ XIX-ɧɚɱ XX ɜ., Ⱥɇ ɋɋɋɊ ɋɢɛ. Ɉɬɞ-ɧɢɟ, ɢɧ-ɬ ɢɫɬ., ɮɢɥɨɥɨɝɢɢ., ɇɨɜɨɫɢɛɢɪɫɤ. 1992 ɇɟɛɨ, Ɂɟɦɥɹ, ɱɟɥɨɜɟɤ ɜ ɦɢɮɚɯ ɬɭɜɢɧɫɤɨɝɨ ɲɚɦɚɧɫɬɜɚ. ɒɚɦɚɧɢɡɦ ɤɚɤ ɪɟɥɢɝɢɹ: ɝɟɧɟɡɢɫ, ɪɟɤɨɧɫɬɪɭɤɰɢɹ, ɬɪɚɞɢɰɢɹ: ɬɟɡɢɫɵ ɞɨɤɥ. ɧɚɭɱ. ɤɨɧɮ., əɤɭɬɫɤ. 1993 Ɇɚɝɢɹ ɬɭɜɢɧɫɤɢɯ ɲɚɦɚɧɨɜ, Ʉɵɡɵɥ (tyvanisch, englisch, russisch). 1994 Ʉɨɨɪɞɢɧɚɬɵ ɞɭɲɢ ɭ ɬɭɜɢɰɟɜ, ɒɚɦɚɧɢɡɦ ɜ ɬɭɜɟ: ɦɚɬɟɪɢɚɥɵ 1 ɬɭɜ.-ɚɦɟɪɢɤ. ɋɟɦɢɧɚɪɚ ɭɱɟɧɵɯ-ɲɚɦɚɧɚɜɟɞɨɜ ɢ ɲɚɦɚɧɨɜ, Ʉɵɡɵɥ (russisch-englisch). 1995 Ⱥɥɝɵɲɢ ɬɭɜɢɧɫɤɢɯ ɲɚɦɚɧɨɜ (Ɍɵɜɚ ɯɚɦɧɚɪɧɵɺ ɚɥɝɵɲɬɚɪɵ). 1996 ɉɪɨɛɥɟɦɵ ɷɬɧɨɝɪɚɮɢɱɟɫɤɨɝɨ ɲɚɦɚɧɢɡɦɚ: ɩɨ ɦɚɬɟɪɢɚɥɚɦ ɲɚɦɚɧɫɤɨɝɨ ɮɨɥɶɤɥɨɪɚ, ɋɚɧɤɬ-ɉɟɬɟɪɛɭɪɝ. (Dissertation abgeliefert an der ɋɉɛ). 1998

ȼɟɧɚ

ɡɧɚɤɨɦɢɬɫɹ

ɫ

ɲɚɦɚɧɫɤɢɦɢ

ɚɬɪɢɛɭɬɚɦɢ:

ɢɧɬɟɪɜɶɸ

ɫ

Ɇ.Ȼ.

Ʉɟɧɢɧ.Ʌɨɩɫɚɧɨɦ ɨ ɜɵɫɬɚɜɤɟ ɜ Ȼɟɥɶɝɢɢ, ɩɨɫɜɹɲɟɧɧɨɣ ɲɚɦɚɧɢɡɦɭ, Ɍɭɜɢɧɫɤɚɹ ɩɪɚɜɞɚ 3 ɞɟɤ. 1999 Ⱦɪɟɜɧɨɫɬɶ ɩɪɟɞɤɨɜ – ɲɚɦɚɧɢɡɦ: ȼɟɪɧɢɫɚɠ ɜ Ȼɪɟɦɟɧɟ ɷɤɫɩɨɧɚɬɨɜ Ɍɭɜ. Ʉɪɚɟɜɟɞ. Ɇɭɡɟɹ ɫ ɭɱɚɫɬɢɟɦ Ɇ.Ȼ. Ʉɟɧɢɧ. Ʌɨɩɫɚɧɚ, Ɍɭɜɢɧɫɤɚɹ ɩɪɚɜɞɚ 1 ɢɸɥɹ. 2004 ɂɡɭɱɚɣɬɟ Ɍɪɚɞɢɰɢɨɧɧɭɸ ɤɭɥɶɬɭɪɭ, Ȼɚɲɤɵ 2, ɋ. 80-82. 2005 XXI ɜɟɤ ɛɭɞɟɬ ɜɟɤoɦ ɜɨɡɪɨɠɞɟɧɢɹ ɲɚɦɚɧɫɬɜɚ, ɗɮɢɪ 17-13 ɹɧɜ, Ʉɵɡɵɥ. 2006 Ɍɪɚɞɢɰɢɨɧɧɚɹ ɤɭɥɶɬɭɪɚ Ɍɭɜɢɧɰɟɜ, Ʉɵɡɵɥ.

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Lopsans zu erfassen, als auch die Vielfalt, die aus einem Publikationszeitraum von 40 Jahren resultiert, auf einen überschaubaren Arbeitskanon zu begrenzen. Um letzteren einer weiteren Analyse zugänglich zu machen, schlage ich eine sicherlich kontingente, hoffentlich aber ebenso plausible Periodisierung des Opus vor, welche ich – wie bereits oben erwähnt – aus der Entwicklung der Eigenkategorien ableite, unter denen Kenin-Lopsan den Schamanismus thematisiert. Mein Ziel ist es, die sich dann ergebende Struktur nicht als festgefügtes Rastersystem zu verstehen, sondern, durchaus in Anerkennung bleibender Überlappungsbereiche und Spannungen, zu Aussagen über die Diskursevolution zu gelangen. Mein Vorschlag einer Periodisierung lautet daher wie folgt: Tabelle 5: Periodisierung des literarischen Werkes Kenin-Lopsans 1968–1985

Adaption und Subversion unter der Ideologie des Marxismus

1987–1992

Transformation während der Perestroika hin zur praxeologischen Wende

1992–1996

Epistemologische Öffnung und praktische Wiederbelebung

1998–1999

Internationalisierung von Selbstverständnis und Repräsentation

Seit 2000

‚Cultural turn’ des tyvanischen Schamanismus

1. Phase: Adaption und Subversion unter der Ideologie des Marxismus 1968-1985 Die grundlegende Frage, die Kenin-Lopsan in dieser Phase beschäftigt, ist diejenige nach dem Verhältnis von Anpassung und Kritikpotenzial des Schamanismus. Subversion oder Adaption sind die Leitgedanken des Forschers, die er aber aus bekannten historischen Gründen nur in chiffrierter Form besprechen kann. Kenin-Lopsan parallelisiert den Forscher mit dem Schamanen, greift mithin zum Mittel der Ironie und Satire als Instrument des Widerstandes. Explizit thematisiert wird der Schamanismus unter den öffentlichkeitsfähigen Kategorien der Legenden oder der Poetik. 2. Phase: Transformation während der Perestroika 1987 –1992 Unter den sich verändernden politischen Bedingungen mit einer gleichzeitigen Mainstream Öffnung der russischen Gesellschaft hin zur Esoterik, bleibt KeninLopsan nicht mehr bei einer Untersuchung der Folklore des Schamanismus stehen.

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Nun wird der Dokumentation der Tradition parallel die Praktik desselben gegenübergestellt. Allerdings erfolgt hier noch eine Beschränkung des Untersuchungszeitraums bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts, der Überschlag bis zur Gegenwart bleibt der nächsten Phase vorbehalten. 3. Phase: Epistemologische Öffnung und praktische Wiederbelebung hin zur praxeologischen Wende: 1992-1996 Himmel, Erde und Mensch – das gesamte Universum, die gesamte uns umgebende Welt wird eingeordnet in die schamanische Mythologie. Schamanismus wird als Religion signiert und unter diesem Vorzeichen wird über ihre Rekonstruktion nachgedacht. Magie, Seele und Folklore können so als Wirklichkeiten gekennzeichnet werden. Schamanen-Forscher und Schamanen stehen nun auf Augenhöhe, Probleme der Ethnografie des Schamanismus werden als wissenschaftliche qualifiziert und anerkannt. 4. Phase: Internationalisierung von Selbstverständnis und Repräsentation 19981999 Nachdem die vorhergehende Periode den Schamanismus im eigenkulturellen Bereich neu in Kraft und Amt gesetzt hat, wird nun der Wirkungshorizont erweitert. Wien, Belgien, Berlin erscheinen als Stationen der Selbstrepräsentation des tyvanischen Schamanismus auf internationalem Parkett. Dies wirkt schließlich auch zurück auf das Verständnis des Eigenen. Das Selbstkonzept überschreitet die nationalen Grenzen. 5. Phase: ‚Cultural turn’ des tyvanischen Schamanismus Angelangt im und anerkannt vom Ensemble der Welttraditionen wird in der Vielfalt nun eine Rückverortung im indigenen Kontext notwendig. Das Bedürfnis nach Selbstvergewisserung im kontingenten Kontext global werdender lokaler Traditionen stellt das Desiderat der Thematisierung des Schamanismus unter der Perspektive des traditionellen kulturellen Erbes Tyvas in den Raum. Kenin-Lopsan vollzieht den cultural turn und beschreibt den Schamanismus nun als Teil des kulturellen Gedächtnisses Tyvas. 4.2.6 Der Habitus Kenin-Lopsans gegenüber westlichen Wissenschaftlern: Zwischen Performanzen einer personalen Schnittstelle und der Inkarnation des kulturellen Gedächtnisses Leitthese der bisherigen Untersuchung war, dass aus dem Leben und literarischen Werk Kenin-Lopsans Grundlegendes abgelesen werden kann über die Dynamik der

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Relationen des tyvanischen Schamanismus und seinen Außenbegegnungen. Gezeigt wurde dies an seiner Biografie, den Entwicklungslinien seines literarischen Opus, an zentralen Punkten seiner Argumentationsstrategien. Doch Kenin-Lopsan kann nicht auf seine Bücher reduziert werden. Kenin-Lopsan entfaltet eine eminente Wirkung – das wurde bereits durch das eingangs zitierte Bonmot angedeutet – durch die Präsenz seiner Person. Kenin-Lopsan hat sich einen spezifischen Habitus angeeignet und kultiviert in diesem seine Art der Begegnung v.a. mit Forschern aus dem Westen. Meine eigenen Beobachtungen dazu decken sich – man möchte sagen auf köstliche Weise – mit dem wenigen, was sich dazu in der Forschungsliteratur findet. Da es sich meiner Ansicht nach dabei aber nicht nur um Skurrilitäten einer altehrwürdigen Achtungspersönlichkeit handelt, sondern sich darin tieferliegende Schichten kultureller Prozesse einzeichnen, sei im Folgenden also ein scharfzeichnender Fokus auf die Person des Kenin-Lopsan und sein Gebaren geworfen. „I had come to see Kenin-Lopsan, the Nestor of Tuvan neoshamanism, on my first day in Kyzyl in summer 2000 in order not to repeat the mistake I’d made two years earlier, when I had waited until the fifth day to pay him a visit and he had spent an entire interview session reproaching me.“263,

erinnert sich Theodore Levin, Musikwissenschaftler der Princeton University, welcher seit 1987 Tyva bereist und 1998 nochmals zu einer Feldforschung aufbrach, die den Zusammenhang zwischen traditioneller Musik, Naturklängen und der nomadischen Lebensweise untersuchte. Und er fährt fort, dem Leser zu erklären: „It was not his [Kenin-Lopsans, Anm. d. A.] research position at the museum that attracted a steady flow of visitors, but his widespread reputation as practicing shaman, and his role as what one might call a shamanic entrepreneur. To have an audience with Kenin-Lopsan, you’re supposed to go through the museum and pay the regular entrance fee plus an additional fee for your consultation [...]. Mounted on the back of the door to Kenin-Lopsan’s office is a red plaque with raised gold lettering: ‚Entrance to Doctor of Historical Sciences, Living Treasure of Shamanism, Mr. Mongush Borakhovich Kenin-Lopsan. Entrance fee: 10 rubles.‘ [...]. When it was my turn to see Kenin-Lopsan, an assistant ushered me into the office, where the Living Treasure of Shamanism brooded over a desk in the far corner, peering up through thick glasses as I entered the room. ‚When did you arrive in Kyzyl?‘ Kenin Lopsan asked slowly and loudly, motioning for me to sit in a chair in front of his desk but not rising of offering his hand.

263 Levin, Theodore und Süzükei, Valentina: Where Rivers and Mountains Sing. Sound, Music and Nomadism in Tuva and Beyond, Indiana 2006, 125.

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‚Late last night. Today is my first day here.‘ ‚What presents did you bring me?‘“264

Kenin-Lopsan fordert, dass der Wissenschaftler, der Tyva bereist, zuerst eine Audienz bei ihm antritt. Kenin-Lopsan fragt ihn inquisitorisch ab, wann er nach Kyzyl gekommen sei, er erwidert nicht den Handgruß. Kenin-Lopsan fordert Geschenke für sich. Was zunächst als Marotten einer ungehobelten Persönlichkeit erscheint, hat System. Mich selbst fragte er aus, wann ich wohin mit welchem Schamanen zu einem Ritual aufgebrochen sei. Er paukte mir ein, dass ich diese und jene Bezeichnungen genau wissen müsse, da dies in Tyva entscheidend sei. Kollegen aus der ethnologischen Wissenschaft bezeichnete er offen als schlechte Ethnologen, einen Journalisten beschimpfte er am Telefon. Doch gleichzeitig gibt Kenin-Lopsan, hat man erst einmal die Eingangsprozedur wie eine Feuerprobe überstanden, bereitwillig Auskunft und zeigt sich hilfsbereit in verschiedensten Anliegen. Was steckt hinter diesem double bind? Warum inszeniert sich Kenin-Lopsan in diesen zwei Gesichtern? Es gibt Indizien, dass das Verhältnis, das Kenin-Lopsan zu russischen und westlichen Wissenschaftlern konstruiert und pflegt, das Verhältnis der kleinen Republik Tyva zur Russischen Föderation und in globalerem Zusammenhang zur europäisch-amerikanischen Welt insgesamt widerspiegelt. Meine zugegebenermaßen steile These sehe ich darin begründet, dass der Überlebenskampf einer kleinen Ethnie und ihre kulturelle Behauptung im globalisiertem Mainstream gleichzeitig einhergeht mit wirtschaftlicher und subventioneller Abhängigkeit vom großen russischen Bruder einerseits, internationalen Kontakten v.a. in akademischer und touristischer Hinsicht andererseits. Tyva stand nicht nur historisch betrachtet kontinuierlich zwischen den Großreichen des zaristischen Russland und China, sah sich nicht nur im Sowjetrussland einer Brandmarkung aus ideologischen Gründen als minderwertige Kulturform gegenüber, sondern muss auch und gerade nach den desorientierenden Umbrüchen der Perestroika seinen Ort im nun globalen Spiel kultureller und politischer Eigenheiten neu finden. Kenin-Lopsan reagiert nun in seiner Rolle auf diese Doppeldynamik mit der einzig möglichen Haltung einer ebenso spannungsgeladenen sozialen Interaktion. Dies mag dem, der ihm begegnet, kurios erscheinen, entbehrt aber weder der Logik, noch dem Geschick, sich den Widersprüchen der gegenwärtigen Situation zu stellen. 4.2.7 Schlussfolgerungen zur zentralen Diskursplattform um den tyvanischen Schamanismus Wer also ist Kenin-Lopsan? Es wird keine Antwort auf diese Frage geben außer einer komplexen. Und trotz, dass er multiperspektivisch gesehen werden muss, kann es doch lohnen, die Tragfähigkeit einiger Analysekategorien an seiner Person 264 Levin, Where Rivers and Mountains Sing, 126-129.

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zu erproben. Ich will daher nochmals auf die Begegnung Theodore Levins mit Kenin-Lopsan zurückkommen, denn dort deutet der Musikwissenschaftler den Präsidenten der tyvanischen Schamanen explizit unter dieser Perspektive: „Lopsan was at once an insider and outsider in the world of shamanism, and the chief architect of its revival and transformation into a contemporary clinical practice in Tuva [...]. Kenin-Lopsan seemed to relish the aura of enigma that surrounded his public life. He was at once shaman and wry trickster, and in his presence, one was never sure which role he was playing.“265

Kenin-Lopsan entzieht sich aktiv einer fixierten Rollenzuschreibung. Er erhält bewusst einen nebulösen Schleier um sich aufrecht – das eröffnet ihm die Narrenfreiheit eines tricksters. Nur diese soziale Rolle garantiert ihm die Möglichkeit der weiter oben beschriebenen Oszillation. Dabei beherrscht Kenin-Lopsan dieses performative Spiel derart meisterhaft, dass seine Wandlungsfähigkeit auch seine Sprachgabe umfasst: „An observer of South Siberian shamanism acrimoniously pointed out a curious feature of Kenin-Lopsan. When performing on various shamanism-defined public occasions, such as giving interviews to Russian journalists or scholars, he speaks Russian with such a heavy accent that he sometimes is barely understandable (Vinogradov n.d.). However, those who remember him from his time in Leningrad academia recall his perfect command of Russian without any traces of accent whatsoever. Indeed, Mongush Borakhovich’s accent when he speaks Russian is remarkably changeable: it shifts perceptibly between contexts, sometimes making his Russian barely distinguishable, forcing the interviewing researcher to sharpen all her faculties, sometimes smoothing out to a mere folkloristic hint. His speech is a balancing act between the roundabout opacity characteristic of ‚folk legends‘ and straightforward clarity proper to academic speech, blended in careful context-dependent doses. I am far from seeing this as conscious opportunistic role-playing. Rather, this shifting character of his speech points to a (perhaps unconscious) command of contexts that is iconic of the nature of today’s Tuvan shamanism itself [...].“266

Kein folkloristischer Habitus also, sondern Kontextweisheit. Der founding father267, chief architect268, driving force269 und shaman-adminsitrator270 wies und weist sich grundlegend dadurch aus, dass er die Zeichen der Zeit zu deuten versteht. Sein 265 Levin, Where Rivers and Mountains Sing, 129. 266 Lindquist, Healers, Leaders and Entrepreneurs, 270f. 267 Vgl. ebd., 269. 268 Vgl. Levin, Where Rivers and Mountains Sing, 129. 269 Vgl. Znamenski, The Beauty of the Primitive, 349. 270 Vgl. ebd., 350.

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Selbstverständnis als Repräsentant und Inkarnation der traditionellen tyvanischen Lebensweise gerät daher auch nicht in Widerspruch z.B. dazu, der erste eingetragene Abonnent des Mobilfunkunternehmens MTS zu sein und dies stolz von der Zeitung berichten zu lassen. Kenin-Lopsan führt in mehrfacher Hinsicht seine Existenz als Schnittstelle: Zwischen Tradition und Moderne. Zwischen Wissenschaft und religiöser Praxis. Zwischen westlichen Wissenschaftlern und tyvanischen Schamanen. Er prägt Spielregeln sowohl für die innertyvanische Organisation des Schamanismus271 als auch für alle von außen kommenden Forscher. „ɇɚɞɨ ɯɜɚɥɢɬɶ ɦɟɧɹ!“ – „Man muss mich rühmen, mich loben!“ ist die Phrase, die jeder, der Kenin-Lopsan begegnet, in irgendeinem Stadium der Kommunikation mit ihm zu hören bekommt. Sie wird verständlich nur im Kontext seiner sonstigen Bescheidenheit. Der altehrwürdiger Doktor und Mitglied zahlreicher Akademien der Wissenschaften sitzt in seinem Kämmerlein und arbeitetet Tag um Tag, sein Lebenswerk widmet er der Stärkung der traditionellen Kultur innerhalb der tyvanischen Gesellschaft. Dies kann konsequenterweise nicht ohne Anknüpfungen an moderne Phänomene geschehen, um die traditionelle Kultur nicht zu isolieren, sondern zu kontextualisieren und sie mit der aktuellen gegebenen Lebenswelt zu verknüpfen. Kenin-Lopsan ist mit seinem Werk und seiner Praxis die zentrale Plattform verschiedenster Diskurse, die sich um den tyvanischen Schamanismus spinnen. Umstritten und beehrentitelt, bunt und widerständig ist er einer der interessantesten Persönlichkeiten, die dem Forscher auf einer Feldforschung zum Schamanismus in Tyva begegnet.

271 Vgl. ebd., 350.

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4.2.8 Kenin-Lopsan und seine Schamanen – double bind zwischen Präsident und Schützlingen Mindestens eine letzte Frage blieb noch offen: Wie gestaltet sich das Verhältnis Kenin-Lopsans zu den tyvanischen Schamanen, deren Präsident er ist, und zu einem in Kyzyl lebenden Tyvaner? Um die Antwort vorwegzuschicken: Auch in diese Relation prägt sich die Dualität des Habitus von Kenin-Lopsan ein, entsprechend sind die Reaktionen seiner Schützlinge bzw. Menschen, die ihren Alltag mit ihm teilen. Eine Kardinalfrage betrifft dabei zunächst seine Vergangenheit – und dies spitzt sich bzgl. der Zeit der Sowjetherrschaft meistens auf das Sein oder Nicht-Sein eines Parteimitglieds der kommunistischen Partei zu. Und tatsächlich ist es zunächst verwunderlich, wie aus einer Persönlichkeit, die bereits unter der Ideologie des historischen Materialismus relativen Erfolg hatte, plötzlich die Leitfigur des tyvanischen Schamanismus werden konnte. Doch die Zusammenhänge sind wie so oft komplexer und Kenin-Lopsan hält mit seiner Vorgeschichte nicht hinter dem Baum: „During the greater part of his adult life, spent under communism, Kenin-Lopsan was a wellknown fiction writer. His novels and stories from that time glorify the advance of soviet modernity into the life of his people. To his credit, he does not hide his communist past and openly admitted that he remained a member of the Communist party to the very end of the Soviet empire [...]. It is notable that he conducted this work before the topic of shamanism became a hot spiritual commodity among his Siberian compatriots.“272

Sowohl kritische Anfragen an seine Person als auch sein Umgang mit seiner Vergangenheit erscheinen konsistent. Kenin-Lopsan, der einmal als medienwirksames Kuriosum und tourismusförderndes Attraktivum begrüßt wird, kann in gleichem Atemzug von seinen Mitbürgern als ärgerliches enfant terrible empfunden werden. Ähnlich positionieren sich die in Tyva praktizierenden Schamanen zu ihrem schamanischen Präsidenten. Als Instanz, die staatliche Anerkennung garantiert, und als internationale Schnittstelle ist er eine willkommene Integrationsfigur, andererseits wird sein autoritäres Regiment auch als Last empfunden. Sat Nadjeschda, die gegenwärtige Vorsitzende der Schamanengesellschaft Dungur beklagt einerseits den problematischen Gesamtzustand des Schamanimus in Tyva, da es nicht gelänge, die verschiedenen Schamanengesellschaften zu einer einzigen zu einen und so eine zentralisierte Organisation mit staatlicher Hilfe zu gründen. Andererseits empfindet sie es als Verlust, dass Kenin-Lopsan keine Erlaubnisse zu Veränderungen geben würde, auch nicht z. B. zu notwendigen wie der Reparatur des Daches oder des 272 Znamenski, The Beauty of the Primitive, 349f.

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Abrisses einer alten störenden Banja. Eine Reise von 5 Schamanen aus der Schamanengesellschaft Dungur nach Lettland hätte ebenfalls nur heimlich erfolgen können, da Kenin-Lopsan sonst wieder Gelder hätte abzweigen wollen. Derartige Aushandlungen von Zuständigkeitsbereichen und Machtverteilungen bewegen sich daher zwischen dem Wunsch nach einer zentralisierenden Autorität einerseits, dem Mangel an selbständigen Entscheidungsbefugnissen andererseits. Auch Kara-ool, der Vorsitzende der Schamanengesellschaft Adyg Eeren positioniert sich zu KeninLopsan zwiefältig: In ein und derselben Gesprächssituation präsentiert er mir Stolz ein rotes Mäppchen, das ihm den von Kenin-Lopsan ausgestellten Titel ‚weliki shaman‘ - ‚großer Schamane‘ zubilligt. Zugleich lässt er aber nicht ab zu betonen, dass er der einzige große Schamane in Tyva sei, Kenin-Lopsan dagegen nur ein Wissenschaftler und Schriftsteller, auf jeden Fall aber kein ‚weliki shaman‘. Gerne lehnt man sich also gegen die Okkupationsbewegung des Kenin-Lopsan auf den Präsidentenposten auf, erkennt ihn dann aber doch wieder implizit an und zeigt mit Vorliebe irgendwelche Dokumente mit Stempeln von ihm vor. Das Doppelverhältnis, das seine Spur in die Existenz Kenin-Lopsans einzeichnet setzt sich fort und wird cum grano salis zu so etwas wie dem ‚Wesen‘ des Präsidenten der tyvanischen Schamanen.

4.3 N IKOLAI O ORZHAK - OOL – P ARADIGMA EINER ZWEIFACHEN M ETAMORPHOSE Im Feld der verschiedenen bisher beschriebenen Dynamiken soll im Folgenden der Mechanismus einer typischen Doppelbewegung beschrieben werden. Sie erklärt zunächst, wie im Zusammenhang der Wiederbelebung des Schamanismus in den 90ern bestimmte soziale Gruppen sich als prädestiniert erwiesen, um zu den Rekrutierungslagern der zukünftigen Schamanen zu werden. Doch hier blieb die Entwicklung nicht stehen. Viele dieser anfangs lokal aktiven Performer erwiesen sich als so begabt und erfolgreich, dass sie aus dem indigenen Kontext hinauswuchsen und entweder in großem Maßstab internationale Kontakte und Reisen in ihre Tätigkeiten integrierten oder vollends ihren Ursprungskontext verließen und sich internationalisierten. Meine eigenen Beobachtungen konvergieren bzgl. der ersten Phase mit Ergebnissen von Andrei Znamenski, wenn er feststellt: „Many indigenous Siberians who began to position themselves as shamanism practitioners in the 1990s were young or middle-aged people who graduated from colleges and universities. Frequently, they had backgrounds in various creative and humanities professions: Anthropology, education, theater, or music. With the rise of interest in the spiritual and traditional, for such people shamanism became a natural outlet for their creative self-fulfillment. During her

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visit to Khakassia and Tuva, Canadian folklore scholar Kira van Deusen was stunned that various singers, philosophers, and musical instrument makers were introduced to her as ‚shamans‘. These people not only sampled their spirituality in healing sessions and workshops but also processed the sacred knowledge in lectures, on stage, and in mass media.“273

Jedoch kam die kreative Selbstentfaltung der ehemaligen Künstler und Akademiker, wie oben erwähnt, nicht zu einem Stillstand. Als Beispiel will ich im Folgenden den Khöömei-Schamanen Nikolai Oorzhak genauer untersuchen, dessen Karriere im Nationaltheater in Kyzyl begann, sich über den Vorsitzenden der Schamanenklinik Dungur erstreckte und gegenwärtig bis zu Kongressen Alternativer Spiritualität in Europa reicht. Ein Blick auf seine Autobiografie, welche er auf seiner Homepage274 und im Zusammenhang eines der letztgenannten Kongresse im Internet veröffentlicht275, lohnt nicht nur, weil sie die wichtigsten Stationen seiner ‚schamanischen Karriere‘ darlegt, sondern auch interessante Schlussfolgerungen über die Konstruktionsstrategien seiner ‚schamanischen Identität‘ erlaubt. Ich zitiere daher die etwas ausführlichere Passage, ohne die Details auszusparen: „Nikolay Oorzhak kam im Dezember 1949 in dem kleinen Dorf Khorum-Dag im westlichen Teil der autonomen Republik Tuwa [...] zur Welt. Nach Abschluss der Highschool 1964 arbeitete er für vier Jahre als Schäfer, hütete eine Herde von Pferden, Schafen und Kühen. Alleine in der Steppe mit seinen Tieren begann er Töne wie seine Väter und Großväter zu singen [...]. Damals bestand sein Publikum ausschließlich aus seinen Pferden, Schafen und Kühen. ‚Kehlgesang‘ imitiert die Stimmen der Tiere, und die Töne, die dabei herauskommen, stimmen mit den Tönen des Universums überein. ‚Für mich sind all diese Töne der Rhythmus des einen Ganzen‘, sagt Nikolay. Von 1968 bis 70 diente Nikolay in der Armee, was damals in der Sowjetunion Pflicht war. Danach arbeitete er im lokalen Theater der Stadt Chadaana in Tuwa, bis er 1982 die Aufmerksamkeit der lokalen Behörden auf sich zog, die ihn in seinem Streben nach einer professionellen Ausbildung unterstützten. So war es ihm 1983 möglich, das Ulan-Ude Kultur-Institut in Buryatia zu besuchen, wo er gleichzeitig wiederum als Direktor des öffentlichen Theaters arbeitete. Dies war auch eine Möglichkeit für ihn, endlich sein verstecktes Talent im Kehlgesang in die Öffentlichkeit zu bringen. So wurde 1989 das erste ‚Internationale Festival im Kehlgesang‘ in Kyzyl, der Hauptstadt von Tuwa, gefeiert. Dort wurde Nikolay mit dem ersten Preis im Kehlgesang im ‚Kargyraa-Style‘ ausgezeichnet. Schon damals bot er brillante Vorstellungen in all den unterschiedlichen Stillrichtungen im Kehlgesang und Obertonsingen: in Khoomei, Kargyraa, Sygyt, Borbangnadyr und Ezengileer. Und er wurde ein Khoomeiji (anerkannter Meister in Khoomei-Singen). Im gleichen Jahr gründeten er, sein Kehlgesang-Kollege Boris Kherly und der Naturwissenschaftler Zoya 273 Znamenski, The Beauty of the Primitive, 353. 274 http://www.khoomeiji.narod.ru/bio_e.html. 275 http://www.rainbow-spirit-festival.de/highlights/highlights_det_20070423161600.php.

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Kyrgys das Ensemble Tuwa. Dank ihres großen Erfolges konnten sie internationale Tourneen bestreiten wie durch Norwegen, Schweden, der Türkei und durch die Mongolei. Damals war es für solche Ensembles üblich, auch ein schamanisches Ritual dramaturgisch darzustellen. So kam es, dass Nikolay zusätzlich zum Singen und Spielen mit dem Ensemble Tuwa auch einen Schamanen auf der Bühne darstellte. Ältere Menschen kommentierten seine Darstellung oft damit, dass er für dieser Rolle sehr geeignet sei und sie sehr authentisch spiele – und dass er vielleicht ein wirklicher Schamane sein sollte. Manchmal fühlte er sich nach diesen Vorstellung schwindlig und hatte Kopfschmerzen, worauf er Hilfe bei dem bekannten Schamanen Oleg Toiduk suchte. Oleg sagte ihm, dass er seiner Vorbestimmung nach ein Schamane werden solle und dass seine Beschwerden nach den Vorstellungen von seinen Energien und Talenten herrühren würden, die er zur Heilung der Menschen benutzen könne. In Tuwa war es oft so, dass Schamanen ihre Fähigkeiten vererbten, und Nikolay war da keine Ausnahme. In seiner mütterlichen Verwandtschaft gab es einige Schamanen, so war sein Großvater ein berühmter Schamane in der Sut-Khlo Region in Tuwa. So begann Nikolays Weg, seine heilerischen Fähigkeiten zu leben. Dem hervorragendem tuwanischen Schamanismuslehrer Professor Mongush Kenin-Lopsan entging nicht Nikolays Fortschritte, und so lud er ihn 1998 ein, in seiner schamanistischen Gesellschaft Dungur mitzuarbeiten. 1995 wurde Nikolay nach Indien eingeladen, um an den Feierlichkeiten zum 60. Geburtstag seiner Heiligkeit des Dalai Lamas teilzunehmen. Er erhielt den Segen des Dalai Lamas und dieser ermutigte ihn auch, seine heilerische Arbeit auszudehnen. ‚Das Obertonsingen in der Khoomei-Stilrichtung zusammen mit Tungur schafft eine höchst integrale Behandlung der Menschen. Dabei gibt es keine Tricks und Illusionen, sondern es geht um die Kraft des integralen Klanges‘. 1999 wurde Nikolay zum Vorsitzenden der Tuwanischen Schamanistischen Gesellschaft Tos-Deer gewählt, und im gleichen Jahr besuchte er zusammen mit Prof. Mongush den SchamanenKongress und er tourte durch Italien und die Schweiz. Zurück in Tuwa drehte ein deutsches Filmteam eine Dokumentation über seine außergewöhnliche schamanische Technik und das Obertonsingen. Im Jahre 2000 wurde er nach Deutschland eingeladen zum jährlichen Schamanen-Kongress. 2002 unternahm er auf Einladung von Steeve Sklar (International Association for Harmonic Singing) und der Canadian Shaman’s Society eine erfolgreiche dreimonatige Tour durch Kanada und die USA. Während der Tour traf er Dr. Michael Harner, dem berühmten Gründer der Foundation for Shamanic Studies, der sehr angetan war von den außerordentlichen Fähigkeiten Nikolays. Nikolay Oorzhak hält regelmäßig Seminare ab an verschieden Plätzen in Russland, der Ukraine und Europa, während denen er schamanische Praktiken, den Kehlgesang und das Obertonsingen in der Heilpraktik und Selbstentwicklung lehrt. Außerdem ist er ein sehr willkommener Gast auf lokalen und internationalen MusikFestivals.“276

In seiner Autobiografie beantwortet Nikolai Oorzhak grundlegend, was notwendig ist für eine ‚Karriere zum Schamanen‘. Und noch mehr: Er gibt eine plausible Be276 http://www.khoomeiji.narod.ru/bio_e.html.

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gründung und hermeneutische Aufschlüsslung seiner Internationalisierung. Qua Authentizitätsmarker rekurriert er auf Instanzen und Konzepte, welche sein Selbstverständnis als Schamane stützen: So konstatieren etwa ältere Tyvaner, dass seine Performance authentisch sei. Sie vermuten daher in ihm etwas, das über die reine Performance hinausgeht. Die Unterscheidung zwischen darstellendem Spiel und tatsächlicher Heilungskraft wird also beibehalten. Dazu kommt Oorzahks eigene empirische körperliche Erfahrung. Um Klarheit zu finden, unternimmt Oorzhak den ‚richtigen‘, d.h. den plausiblen Schritt und wendet sich an einen älteren und anerkannten Schamanen. Sein Name wird genannt, er heißt Toiduk, damit ist die Behauptung Oorzhaks als grundsätzlich überprüfbar dargeboten. Toiduk verifiziert dann tatsächlich die Vorherbestimmung Oorzhaks. So steht dieser fest in der Tradition der erblichen tyvanischen Schamanen, denn plötzlich wird auch der Großvater als Schamane eingeführt. Als weitere Größen, die die Wirkkraft Oorzhaks bestätigen, können schließlich Kenin-Lopsan und der Dalai Lama ins Feld geführt werden. So wird sowohl die innertyvanische Legitimität als auch die notwendige interreligiöse Toleranz- und Kompatibilitätsfähigkeit unterstrichen – diese ist für den postmodernen spirituellen Sucher deswegen entscheidend, da er in seiner Person gerne verschiedene Spiritualitäten kombiniert und ein entsprechender Exklusivitätsanspruch lieber z.B. christlichen Dogmatikern als Negativfolie zugewiesen wird. Außerdem wird so von vorneherein ein zu großes Maß an kognitiver Dissonanz vermieden. Nach der Approbation durch den Dalai Lama ist der Weg auch geöffnet für eine Kombination seiner schamanischen Kräfte mit seiner gesangstechnischen Begabung – der Schritt über die Tradition hinaus wird ermöglicht, Kreativität kann seinen Raum finden. Da diese anscheinend fruchtet und international auf Resonanz stößt, wird er rückwirkend auch wieder attraktiv im Ursprungskontext. Oorzhak steigt auf der Karriereleiter bis zum Vorsitzenden der schamanischen Klinik. Kongresse und Tourneen sind neue Formen des Wirkens und in diesem Rahmen erhält Oorzhak schließlich die endgültige Approbation durch den Meister des Neoschamanismus selbst – Michael Harner. Soweit zur Analyse der Begründungsstrategie eines Mannes, der sich vom begabten Kehlkopfsänger, Schauspieler und Theaterregisseur zum Vorsitzenden einer Schamanenklinik, schließlich zum international gefragten Heiler und spirituellen Leiter entwickelt hat. Welche personalen Begegnungen, Bedeutungsverschiebungen, Begriffsneuprägungen und Rekontextualisierungen von Praktiken waren notwendig, damit Oorzhak ausgehend von seiner Vita ein schlüssiges Konzept seiner schamanischen Existenz entwerfen konnte?

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4.3.1 „Wenn ein Schüler auf der Suche nach seinem Lehrer ist, dann führen die Geister sie zusammen“ – personale Dispositionen jenseits der Musterbiografie Oorzhaks Rainbow-Spirit-Festival, Baden-Baden 2008: Der Schamane Nikolai Oorzhak aus Tyva lädt zusammen mit seinem Mitarbeiter Vladislav Matrenitsky ein zur „Schamanische[n] Stimm-Heilungs-Zeremonie The fire of soul“. Im großen Vortragssaal sitzen oder liegen ca. 30 Frauen und Männer und lauschen eineinhalb Stunden den Performances von Nikolai und Vladislav. Vladislav gibt sich zunächst als sein Manager aus, übersetzt die Erläuterungen Nikolais ins Englische. Dabei ‚esoterisiert’ er gerne die Inhalte, passt diverse Äußerungen Nikolais an das westliche Publikum an und richtet z.B. ein Gebet Nikolais an das Universum (was Nikolai so nicht gesagt hatte): „Öffne dich Universum, dass ich mich mit dir verbinde. Entzünde das Feuer in meinem Herzen!“ Während der Performance heben beide gestisch die Hände geistig empfangend zum Himmel, kreisen auf den Stühlen mit den Hüften. Bald transzendiert Vladislav seine Rolle als Übersetzer, vollzieht selber Kehlkopfgesang und greift eigenhändig zur Schamanentrommel. So präsentieren sich Nikolai und Vladislav eingangs als tyvanischer Schamane mit Übersetzer, verlassen aber bald diese Struktur. Sie werden zu einem Ensemble der Doppelperformanz, praktizieren ein spirituell-performatives Synchronschwimmen. Am Ende des Konzerts wird dann dem Publikum angeboten, diese Technik selbst zu erlernen. Man bräuchte nur Übung dazu, denn Khöömei sei eine Methode, die verschiedenen energetischen Bereiche des Körpers, die Chakren zu verbinden. Auf meine Frage, wie Nikolai und Vladislav sich kennengelernt hätten und zur Zusammenarbeit fanden, antwortet mir der ukrainische Arzt: „Wenn ein Schüler auf der Suche nach seinem Lehrer ist, dann führen die Geister sie zusammen.“ Diese für ein spirituell suchendes Publikum, wie es auf dem RainbowSpirit-Kongress in Baden-Baden anzutreffen war, durchaus adäquate Erklärung, regt den Ethnologen zu vertiefender Rückfrage an. Und so zeigt sich, dass den Ereignissen in der spirituellen Welt durchaus recht weltliche Geschehnisse korrelieren: „In 1989, after getting a First Prize at International Festival of Throat-Singing, Nikolay together with fellow throat-singer Boris Kherly founded Ensemble Tuva. Meeting with great success, they toured internationally, including Norway, Sweden, Turkey and Mongolia. By today, Nikolay makes a brilliant career as singer and performer. Starting from clubs and local concerts, he at the moment [is] a welcomed and honorary guest at different serious folklore and jazz festivals in Russia and Ukraine [...]. The Russian and Ukrainian television made a several programs with Nikolay's participation. Especially interesting was a live improvising concert in the forest together with famous Ukrainian performers Vladimir Soljanik and Enver

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Izmaylov. Since that time, the best Nikolay’s student and manager, Dr. Vladislav Marenitsky, is also participate in his performances.“277

Vladislav, der Medizin studiert und als Arzt gearbeitet hat, lernt Nikolai, der seit 1989 seinen Wirkungskreis als Kehlkopfsänger kontinuierlich erweitert, auf einem Improvisationskonzert in der Ukraine kennen. Ähnlich wie Paul Uccusic, der als Journalist Michael Harner und die Foundation for Shamanic Studies auf einem Seminar in Wien kennenlernte und später zum Repräsentanten der Foundation für Europa wurde, handelt es sich hier um ein Ereignis, in welchem wohl bestimmte Prädispositionen aufeinandertrafen und so neue Zusammenarbeit ermöglichten. In einem Gespräch am Ende der Performance auf dem Baden-Badener Rainbow-Spirit-Festival mit einer Medizinstudentin merkt Vladislav an, dass er zwar die naturwissenschaftliche Medizin kenne, er jedoch deren materialistischen und technizistischen Ansatz mittlerweile kritisch gegenüberstehe. Es ist daher zu vermuten, dass dies neben anderen Faktoren einer der Gründe gewesen sein dürften, die den ukrainischen Arzt dazu führten, seinen ursprünglichen Beruf aufzugeben und sich neu zu orientieren. Dass dies innerhalb des neuen Interpretationszusammenhangs spiritueller Heilverfahren auch einer Deutung im Sinne der Wirkkräfte von Geistern zugeführt wird, ist nur konsequent und verfügt im gegebenen Kontext über Plausibilisierungskraft. 4.3.2 Der tyvanische Kehlkopfgesang – ein kulturelles Chamäleon? Bedeutungsverschiebung und nützliche Rekontextualisierungen Nikolai Oorzhak bezeichnet sich selbst als ‚Tyvanischen Erbschamanen und Meister des Khöömei‘. Zur Frage ob der Kehlkopfgesang eine genuin schamanische Tätigkeit war bzw. ist, ist in Tyva eine umfangreiche Diskussion im Gange und es existieren stichhaltige Argumente, dass dem in historischer Perspektive nicht so ist278. Faktisch hat aber bereits Kenin-Lopsan die legitimatorische Grundlage für die Verknüpfung der beiden charakteristisch tyvanischen Performanzen gelegt279, so dass gegenwärtig die Mehrzahl tyvanischer Schamanen, sofern sie die Kunst des Khöömei beherrschen in ihren Séancen darauf zurückgreifen. Für die vorliegende Untersuchung viel interessanter als die essentialistische Fragestellung, ob Khöömei zum Wesen des Schamanismus gehört oder nicht, ist vielmehr die Untersuchung der Art und Weise, wie der Khöömei in welche rituelle Kontexte wie eingebettet und 277 http://www.khoomeiji.narod.ru/perf_e.html. 278 Vgl. Levin, Where Rivers and Mountains Sing, 130. 279 Theodore Levin zitiert Kenin-Lopsan: „Shamans, you could say, are founders of xöömei, of sygyt“. Levin, Where Rivers and Mountains Sing, 130.

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unter welchen hermeneutischen Erklärungsmustern appliziert wird. Für die dabei stattfindenden Bedeutungsneufüllungen und Signifikationsverschiebungen ist Nikolai Oorzhak ein besonders prägnantes Beispiel. Um dies zu verdeutlichen, möchte ich aus seiner Biografie nochmals die Passage mit Referenz auf seine Tätigkeit als Sänger in Erinnerung rufen: „Nach Abschluss der Highschool 1964 arbeitete er für vier Jahre als Schäfer, hütete eine Herde von Pferden, Schafen und Kühen. Alleine in der Steppe mit seinen Tieren begann er Töne wie seine Väter und Großväter zu singen [...]. Damals bestand sein Publikum ausschließlich aus seinen Pferden, Schafen und Kühen. ‚Kehlgesang‘ imitiert die Stimmen der Tiere, und die Töne, die dabei herauskommen, stimmen mit den Tönen des Universums überein. ‚Für mich sind all diese Töne der Rhythmus des einen Ganzen‘, sagt Nikolay.“280

Der Khöömei wird also zunächst in einem ganz traditionalistischen, hier natürlich romantisch überzeichneten Kontext verortet. Er wird als Ausdrucks- und Konstitutionsmittel einer ungebrochenen Harmonie mit der Natur konzeptionalisiert. Ganz anders klingt die Deutung des Khöömei allerdings einige Zeilen weiter, nachdem Nikolai bereits Vorsitzender der Schamanenklinik Dungur geworden ist: „Das Obertonsingen in der Khoomei-Stilrichtung zusammen mit Tungur schafft eine höchst integrale Behandlung der Menschen. Dabei gibt es keine Tricks und Illusionen, sondern es geht um die Kraft des integralen Klanges.“281

Eine semantische Bewegung findet statt von der Imitation von Tierstimmen zur Übereinstimmung mit dem Universum. Nach seiner Berufung und Initiation als Heiler vollzieht Oorzhak den Bedeutungswandel des Khöömei hin zur integralen Behandlung. Auf dem Rainbow-Spirit-Festival in Baden-Baden führt er folglich in einem Einführungsseminar in sein Heilungssystem des ‚Un-Hun‘ weiter aus: „Die Töne, mit denen ich arbeite, stehen in Zusammenhang mit dem Rückgrat, daher bitte ich Sie, aufrecht zu sitzen. Die kreisenden Bewegungen Ihrer Wirbelsäule ermöglichen einen Strom, der Erde und Himmel verbindet. Atemübungen dienen der Entwicklung der inneren Quellen der Energie. Jeder Mensch kann in seinem Inneren den Ton erwecken, der seinem Inneren entspricht. Ich selbst habe einen langen Weg hinter mir, um den Ton zu meistern, den sie hören. Ich hatte einen Traum, das Feuer in diesem Traum erweckte in mir die Sehnsucht nach dem perfekten Ton. Nach diesem außergewöhnlichen Ton wollte ich den ewigen Ton erreichen. Wenn in uns das Feuer, die Sehnsucht brennt, dann brauche ich auch Wasser. Wir müssen wissen, wie wir den Wind erzeugen. Jeder Ton entsteht zwischen Feuer, Wasser und 280 http://www.rainbow-spirit-festival.de/highlights/highlights_det_20070423161600.php. 281 http://www.rainbow-spirit-festival.de/highlights/highlights_det_20070423161600.php.

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Wind. Jeder Körper hat in sich Feuer, Wasser und Wind. Wenn wir wissen, wie diese zu harmonisieren sind, dann wissen wir, den göttlichen Ton zu erzeugen. Die Sehnsucht sollte also die Harmonie zu diesen dreien sein. Daraus ergibt sich ein Vorteil für Körper, Seele und Geist. Das System, in welchem sie in Harmonie den göttlichen Ton erzeugen, besteht aus fünf Hauptteilen: Ein gesunder Körper – Atmung – Bewusstseinserweiterung – sauberes Denken – Ton. Wenn keine Harmonie herrscht, dann fühlt sich der Mensch nicht wohl. Diese fünf Teile sind wie die Saiten eines Instruments. Der Körper muss wieder frei werden wie in der Kindheit. Seit meiner Kindheit war mein Körper aber in Spannung. Daher war die Frage nach der Entspannung und Selbstmassage notwendig, Bewegungen der Wirbelsäule, dann fühlte ich die Energie fliessen, habe eine innere Welle gespürt, dann konnte ich den Ton erzeugen. Ein gespannter Körper kann sich nicht mit dem Universum verbinden. Meine Wirbelsäule soll sich wie ein Fisch im Wasser bewegen, wie ein Adler in der Luft, nur dann fühlt man die Reinheit des Bewusstseins, ansonsten stellt sich eine zu schnelle Atmung durch die stille Wirbelsäule ein. Sänger fühlen deswegen auch mehr Energie wenn sie tanzen. Die Energie der Bewegung öffnet das Herz, die Fähigkeit zu lieben, das Gefühl der Freude, ein Leben im Glück.“282

Plastisch kann hier nachverfolgt werden, wie Nikolai gemäß seiner Theorie die Behandlungsmöglichkeiten mit Hilfe des Khöömei zuschneidet auf die Problemlagen des Individuums in der postmodernen Gesellschaft. Nicht mehr die Frage der Repräsentation von Tierstimmen steht im Mittelpunkt, sondern die der Neuverortung des Individuums in der Kontingenz seiner Existenz ‚zwischen Himmel und Erde‘. Die berührten Thematiken kreisen um die Entsprechung mit sich selbst, um das Finden der inneren Energie. Ziel ist der perfekte, der ewige, der himmlische Ton, erreicht wird er in Harmonie und Gleichgewicht. Ausgangspunkt ist daher ein Subjekt, das seine Selbstidentifikation zumindest teilweise verloren hat, Subjekte, die zwar autonom sind aber zugleich sich nicht in der Lage sehen, bestimmte leibliche, geistige und emotionale Haltungen einzunehmen und daher Unterstützung benötigen. Oorzhak bettet, um Antwort auf diese Fragen geben zu können, traditionelle Konzepte aus seiner Ursprungskultur qua esoterisch salonfähiger Argumentationsmuster in einen stimmigen Gesamtrahmen ein. Wie gelingt es ihm dabei, die Aufmerksamkeit des westlichen Publikums zu erlangen und gleichzeitig als authentisch zu gelten? Welche Zeichen setzt er und wovon werden die Teilnehmer auf einem spirituellen Kongress wie in Baden-Baden angezogen?

282 http://www.rainbow-spirit-festival.de/highlights/highlights_det_20070423161600.php.

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4.3.3 Attraktionspunkte, Authentizitätsmarker und Plausibilitätsmuster Gezeigt wurde bereits, wie sich Oorzhak mittels seiner Autobiografie als sowohl authentisch-traditioneller tyvanischer als auch legitimerweise internationalisierter Schamane selber konstituiert, selbst ernennt könnte eine spitze Zunge bemerken. Gezeigt wurde auch, wie Oorzhak traditionelle Konzepte aus seiner Kultur umformt und im neuen Interpretationskleid für den westlichen Klienten zurechtschmückt. Dies sind sozusagen die beiden Ausgangsbedingungen, unter denen ein esoterisches Angebot funktionieren kann, die ‚echte‘ Abstammung und die ‚richtige‘ Zielgruppenorientierung. Interessant ist nun darüber hinaus, zu zeigen, zu welchen Markierungen Oorzhak greift, um in der Vielfalt des unüberschaubaren Wellness-Marktes sein spezifisches Angebot als prickelnd und attraktiv erscheinen zu lassen. Dazu drei Zitate, die dies illustrieren: „The Song of Spirit - Healing Voice Ceremony mit Nikolay Oorzhak. Ein besonderes Erlebnis für Liebhaber der ethnischen und meditativen Musik sind die einzigartigen Klänge der südsibirischen Steppe und Taiga. Keine Folklore, sondern authentisches Erleben schamanischer Kraft und Magie...Der bekannte Schamane und Musiker Nikolay Oorzhak leitet gemeinsam mit dem Arzt und Künstler Vladislav Matrenytsky eine Shamanic Voice Healing Ceremony, bei der gemeinsames Tönen und die Chakrenarbeit im Vordergrund stehen.“283 „The basic seminar of Nikolay Oorzhak on throat singing, shamanism and self-healing is effective in harmonization of mind and body (Spirit and Soul). It assists one’s personal grows, self-healing and self-knowledge, improves the energy movement in the body and approach the spiritual enlightenment. In the course of seminar, Nikolay introduces the philosophy of Tuvan shamanism and his own views on human energy, Power of Spirit of Earth and Universe, explains the nature of kind and evil spirits, and how to feel and understand them.“284 „Aus meiner Erfahrung liegt im Klang eine große Kraft, die nicht nur zur Heilung anderer Menschen eingesetzt werden kann, sondern in erster Linie zur Selbstheilung. Durch die regelmäßige Praxis öffnen sich die Energiezentren des Körpers und das Herz wird rein. Es ist ein Weg der spirituellen Entwicklung. [...]. Durch diese Rituale können Körper, Geist und Seele Harmonisierung erfahren, was zu einer körperlichen Ausgeglichenheit führt. Diese wiederum bewirkt eine Erweiterung des Bewusstseins, eine Beruhigung der Seele und Befreiung der eigenen kreativen Potenziale und Ressourcen. [...]. Während der Meditationen 283 http://www.eco-world.de/scripts/basics/ eco-world/service/events/basics.prg?a_no=4160&nap=new. 284 http://www.khoomeiji.narod.ru/eng.html.

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und schamanischen Tänze werden die Teilnehmer mit ihrem jeweiligen Krafttier in Kontakt gebracht.“285

Oorzhak etabliert mit seinem Seminarangebot eine Matrix von Signifikanten, er strickt ein semantisches Netzwerk von Bedeutungen aus einer zwar eklektischen doch dezidiert gesetzten Auswahl esoterischer Standardtermini: keine Folklore – authentisches Erleben – Magie – Chakrenarbeit – gemeinsames Tönen – selfhealing – harmonization of mind and body – energy movement – spiritual enlightment – philosophy of shamanism – Spirit of Earth – nature of spirits – Energiezentren – Erweiterung des Bewußtseins – kreative Potenziale – Krafttiere

Diese Matrix bildet dann das Trägergerüst für seine in Aussicht gestellten Verbesserungen des Befindens: „With practice of Un-Hun one opens the 9 energy centers in the body, as well as: 1. Broadens the volume of brain’s energy center, which helps to open the ‚door‘ to the spiritual worlds; 2. Cleans the negative powers (deceases) in the body, normalizes functions of cardiovascular and breathing systems, and broadens the space of Power of Spirit and Peace of Soul. 3. Increases the content of energy in liver, kidneys, stomach, intestines and pancreas. 4. Improves the activity of energy center in the bottom of body, return or increase the sexual power of both men and women. 5. Broadens the volume of resonance of nose and vocal cords. This harmonizing the voice, makes the speech and singing more efficient and confident. 6. Improves the work or muscles and articulations, increases a body flexibility. Appears the permanent balance of body and spirit and self-feeling of bliss. 7. The Power of Sound is hereditary transmitting of to one’s unborn child. 8. Establishes the harmony of breathing and thoughts with a spirits of Nature and Universe, i.e. ‚the profound thoughts – are in the healthy body‘.“286

Dass das System auch funktioniert, wird zum einen durch die direkte Partizipationsund Versuchsmöglichkeit während des Seminars unterstrichen (Vgl. Abbildung 18)287. Zum anderen stellt dies die Performanz Nikolais und seines Mitarbeiters sicher: Obwohl seine Aufführung des tyvanischen Kehlkopfgesangs meiner Erfahrung nach im Vergleich zu seinen tyvanischen Kollegen aus künstlerischer Perspektive eher mittelmäßig ausfällt, hat sie im deutschen Kontext doch den Charakter des 285 http://www.meditation-ettlingen.de/kurse/oorzhak_base.html. 286 http://www.khoomei-shaman.com/seminar_e.html. 287 http://www.khoomei-shaman.com/seminar_e.html.

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Wilden. Auch lassen beide kräftig die Hüften kreisen, worin das Publikum gleich einstimmen kann. Nikolai pustet am Anfang und am Ende die Partizipanten in archaischer Weise an. Eine Frau erschrickt sich dabei. Doch gleich eilt ein Helfer vom Team des Festivals herbei – ein geistlicher Betreuer, der unterstützt und ihr heilend seine Hände auflegt. Am Ende des Seminars wird dann dargelegt, dass die Technik des Khöömei von jedermann zu erlernen sei. Man bräuchte nur Übung dazu. Der tyvanische Kehlkopfgesang sei eine Methode, die verschiedenen energetischen Bereiche des Körpers zu verbinden, und daher grundsätzlich jedem Menschen zugänglich. Diese Form der Demokratisierung stellt einen wichtigen Schritt in der esoterischen Argumentationslinie dar, da eine Privilegierung bestimmter Personengruppen als nicht akzeptabel vorausgesetzt wird – lediglich im Hinblick auf einen möglichen bestehenden Vorsprung im Prozess der Erleuchtung. Obwohl erklärende Ausführungen rar bleiben und man vergebens auf eine wenn auch skizzenhafte Einführung in die tyvanische Kosmologie wartet, in welche die angebotene Technik eingebettet ist, kann unter diesen Voraussetzungen doch Aneignung im essentiellen Sinne stattfinden. Eine hermeneutische Aufschlüsslung des Exotischen, die den Weg zum Verstehen andeuten würde, ist viel weniger entscheidend als die Überzeugungskraft, die in der Performanz als solcher liegt. Plausibilität erlangt Oorzhak nicht, indem er das von ihm transportierte Weltbild erklärt, sondern indem er es universalisiert, rekontextualisiert und dramaturgisch und erlebbar in Szene setzt. Abbildung 18: Nikolai Oorzhak während eines Seminars

Quelle: http://www.khoomei-shaman.com/seminar_e.html

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4.3.4 Auftrittskontexte Nikolai Oorzhaks in Europa Nikolai Oorzhak ist ein Schamane auf Reise. Seine Veranstaltungen, die er auf seiner Homepage ankündigt, finden daher in multilokalen Kontexten statt. Wie ein Künstler befindet er sich auf Tournee. Wie gestalten sich die Rahmenbedingungen einer solchen künstlerischen Praxis? Wer organisiert die Seminare und Auftrittsmöglichkeiten Nikolais? Welche Institutionen haben ein Interesse daran, einen Schamanen aus Tyva bei sich im Programm zu haben und wie nehmen sie auf die Seminargestaltung Einfluss? Als abschließende Betrachtung zu den Austauschdynamiken um die Person Nikolai Oorzhak sollen folglich die ihn einladenden Einrichtungen in den Blick genommen und charakterisiert werden. Dabei wird sich zeigen, dass diese einerseits eine erstaunliche Vielfalt und Streuungsbreite aufweisen, andererseits aber gewisse ‚Familienähnlichkeiten‘ ausgemacht werden können, die rückblickend auch plausibel erscheinen lassen, warum es gerade der Schamane aus Sibirien sein kann und soll, der dort seinen Auftritt findet. 4.3.4.1 Körperorientierte Psychotherapie – don‘t mind Die von zwei Psychologen gegründete Unternehmung ‚don‘t mind‘288 versteht sich als um alternative Therapiemethoden erweiterte Praxis mit Schwerpunkt einer ganzheitlichen Behandlung: „dont' mind . . . ist als Spiel mit den eigenen Möglichkeiten gedacht- Sich von den gewohnten, einengenden Denkmustern zu befreien um sich auf neuen Wegen selbst zu begegnen. Sich dabei auch von den (vom Mind erzeugten) Sorgen und Haltungen zu verabschieden [...]. Das Ziel der Arbeit ist die Wieder-Entdeckung unserer ursprünglichen Inspirationen, Wünschen, wesenseigenen Aufgaben und Lebensträume, indem wir bisher wirksame Begrenzungen unserer Ausdrucksmöglichkeiten durch die Art des bisherigen Denkens bewusst machen.“289

Als grundlegender Ansatz wird dabei die sog. ‚Körperorientierte Psychotherapie‘ in den Mittelpunkt gestellt: „Innerhalb der Psychotherapie stellt die körperorientierte Psychotherapie eine eigenständige Richtung dar. Die verschiedenen Therapieansätze haben als grundlegende Annahme zu eigen, dass die Vorgänge von Körper, Geist und Seele nicht getrennt voneinander betrachtet werden können, sondern in diesem Dreiklang eine funktionelle Einheit bilden [...]. In meiner Praxis

288 http://dont-mind.de. 289 http://dont-mind.de.

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ergänze ich Körperpsychotherapie durch Gestalttherapie, klientenzentrierte Gespräche, Traumarbeit, Kommunikationstraining, Imagination- und Meditationstechniken.“290



Ein Blick auf die Biografie einer der Psychologinnen zeigt ihren beruflichen Weg zu ihrem Ansatz: Begonnen als Heilpraktikerin gelangt sie über die Gestalttherapie und Transaktionsanalyse zur Spiritual Care Sterbebegleitung und tritt auch in ein interkulturelles Schülerin-Lehrerin-Verhältnis mit Chögyal Namkhai Norbu Rinpoche. Angebunden an ihre Psychotherapiepraxis ist das Meditationszentrum Ettlingen291, in welchem sie zusammen mit ihrem Kollegen und anderen als Referentin auftritt. Hier findet auch Nikolai Oorzhak den Ort seines Seminars, das nun als Angebot zu Kehlton und Oberton-Gesang neben Möglichkeiten steht, das Enneagramm, die heilende Kraft des Geistes, Atemmeditation nach Kabbal, Lilith, Buddhistische Geistesübungen, Qi Gong u.a. zu studieren. Durch Referenz auf die Ursprünglichkeit der Inspiration, auf die Notwendigkeit, bisherige Bewusstseinsformen aufzusprengen, auf die Ganzheitlichkeit des Menschenbildes und schließlich die Lernmöglichkeit aus fremdkulturellen Traditionen, rückt die Integration eines tyvanischen Schamanen in den Bereich des Möglichen und Sinnvollen. Oorzhak bildet einen Teil einer Sammlung exotischer Traditionen, die zur Lösung lokaler und gegenwärtiger persönlicher Probleme von Menschen in Deutschland angeboten werden. 4.3.4.2 Festivals hier und dort: Rainbow-Spirit-Festival – Art of Life Network Etwas anders strukturierte Settings als obiger Mikrokontext einer Psychotherapiepraxis stellen Großveranstaltungen wie esoterische Festivals dar. Hierzu sollen das bereits vorher eingeführte, jährlich in Baden-Baden stattfindende Rainbow-SpiritFestival und das Art of Life Network in der Schweiz näher betrachtet werden. Das Rainbow-Spirit-Festival, ‚Das Woodstock des Geistes‘, veranstaltet von der One Spirit GmbH und vertreten durch den Geschäftsführer Thomas Sura, versteht sich als ‚Netzwerk im Sinne eines undogmatischen und offenen Geistes‘. „Rainbow Spirit - der Geist des Regenbogens ist das Sinnbild für die Schönheit der Verschmelzung kosmischer Vielfalt in der Einheit - einer spirituellen Verbindung über alle unterschiedlichen Ansichten und Wege hinweg.“292

Regelmäßig zum Festival gibt das Magazin „Visionen“ eine Sonderausgabe heraus, in welchem das Program des Rainbow-Spirit-Festivals veröffentlicht wird. Auch 290 http://dont-mind.de. 291 http://www.meditation-ettlingen.de/. 292 http://www.rainbow-spirit.de/.

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Veranstaltungen wie die deutschen Wellness-Tage und der Internationale Kongress „power of ressonance“ sind strukturell mit ihm verwoben. Dabei deckt das Festival beinahe das gesamte Spektrum gegenwärtiger esoterischer Angebote ab. Unter den prägnantesten seien nur die folgenden genannt: Advaita, Anthroposophie, Astrologie, Aufstellungen, Ayurveda, Channeling, Engel, Energiearbeit, Feng Shui, Ganzheitliche Therapie und Wissenschaft, Geomantie, Herzarbeit, Naturgeister und -religionen, Numerologie, Reiki, Schamanismus, Satsang, Tantra, Theossophie, Visionssuche, Weiblichkeit, Yoga, Zen

Nikolai Oorzhak tritt mit seinem oben erörterten Programm auf und reiht sich ein in eine Phalanx von Praktikern aus allen Kontinenten. Ein Schamane aus Peru und eine Neoschamanin aus Deutschland füllen mit ihm zusammen den Programmpunkt zum Schamanismus. Nikolai kommt es so zu, Sibirien zu repräsentieren. Weitere Informationen zu seinem Angebot bekommt der Besucher der Messe am Stand Nikolais. Ganz ähnlich sind die Konditionen des vom Art of life network293 organisierten Festivals. Die in der Schweiz ansässige Art of Life Messe AG organisiert Messen zu Themen wie „Gesundheit, überliefertes Wissen, Spiritualität, Natürliche Heilung, Feng Shui und Weiteres auf einer neutralen, ganzheitlichen und hochwertigen Plattform.“ Dabei definiert sie das Art of life Konzept als organisierede Mitte: „Art of Life ist die Kunst, ein gesundes und erfülltes Leben zu leben. ART OF LIFE steht für Entwicklung der Persönlichkeit, Bewusst Leben, Gesundheit, Freude und Leichtigkeit, ein schönes Lebensgefühl.“ Sofern die Klienten den Weg zur Lebenskunst noch nicht gefunden haben, so bietet die AG auch gleich die passende Lösung: „Viele Menschen, vielleicht auch Sie, spüren die Veränderung des Lebens sehr stark. In spirituellen Kreisen spricht man auch von einem Ansteigen des Energieniveaus und der Schwingungsfrequenz auf der Erde. Sehr viele Menschen spüren diese Veränderungen, spüren eine Unruhe, oder Unstimmigkeiten in Ihrem Leben und haben das Bedürfnis sich zu verändern. Viele wissen instinktiv, dass das Leben, was sie bisher gelebt haben nicht das sein wird, was Sie in Zukunft leben. Viele Menschen suchen neue Impulse und sind bereit sich auf Ihr persönliches Lebensabenteuer einzulassen.“294

Während Rainbow-Spirit mehr auf das rein Spielerische, die Buntheit und ‚undogmatische‘ Vielfalt setzt, rekurriert Art-of-life stärker auf notwendige Veränderungsprozesse ähnlich der Psychotherapiepraxis don‘t mind. Oorzhak wird hier zum 293 http://www.artoflifenet.com/. 294 http://www.artoflifenet.com/.

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Impulsgeber für neue Lebenskonzepte. Der tyvanische Schamane als Lehrer für ein zukünftig besseres Leben. 4.3.4.3 Das Uniklinikum Heidelberg und der Förderverein Zukunftsmusik Ebenfalls mit psychotherapeutischer Zielsetzung, doch unter stärkerer Betonung des ethnomusikalischen Aspektes als bei don‘t mind, lädt der Förderverein Zukunftsmusik295 Nikolai Oorzhak nach Heidelberg ein. Der ‚Förderverein für medizinische Psychologie, Ethnomedizin und Musiktherapie e.V.‘ ist institutionell an das Universitätsklinikum Heidelberg angeschlossen. Der Verein schreibt über sich selbst: „Mit unseren Konzerten, Vorträgen, Workshops und kreativen Impulsen aus verschiedensten Kulturen der Welt möchten wir Sie einladen zu einer inspirierenden Begegnung zwischen Musik, Wissenschaft, Medizin und den Heilkünsten.“296

Einer der Motoren dieses interdisziplinären Austausches ist Prof. Dr. Rolf Verres.297 Er leitet Forschungsprojekte zu veränderten Bewusstseinszuständen, Lebenskunst in Heilkunde und Medizinstudium, zur Interkulturellen Psychologie und Spirituellen Kompetenz in der Sterbebegleitung. Seine Abteilung „entwickelt und praktiziert ambulante, salutogenetische (auf Gesundheitsförderung gerichtete) Psychotherapieverfahren. Sie bietet ein sehr breites psychotherapeutisches Methodenspektrum an (derzeit u.a. analytische Psychotherapie, tiefenpsychologische Therapie, systemische Familientherapie, Verhaltenstherapie, Musiktherapie).“ V.a. letztere und sein Interesse an interkultureller Psychologie dürfte dann den Ausschlag gegeben haben, einen Vortrag von Nikolai Oorzhak ins Programm aufzunehmen. Unter den Titel „Der Geist des Windes. Musik und Obertongesang aus der Mongolei – Eine schamanische Voicehealing-Zeremonie“ wird Nikolai angekündigt als „anerkannter Schamane aus Tuva (Russland), international renommierter Meister des mongolischen Kehlgesanges (Khöömei)“. Er werde das „einzigartige musikalische Erbe der südsibirischen Steppe und Taiga“ präsentieren. „Bewunderer meditativer und ethnischer Musik werden an diesem Abend unvergessliche Eindrücke einer faszinierenden Vielzahl von Klängen genießen können, die einem menschlichen Kehlkopf zu entlocken unmöglich erscheinen – vom Röhren eines Yaks bis hin zum Trillern eines Vogels. Die Schamanengesänge geben den Zuhörern die seltene Gelegenheit, eine wirklich sakrale Kunst hautnah mit zu erleben.“ Obwohl der Kontext in diesem Fall einen deutlich wissenschaftlicheren Anspruch erhebt als z.B. obige Festivals, wird dennoch auf ähnliche Authentizitätsmarker zurückgegriffen: Ein anerkannter 295 http://www.foerderverein-zukunftsmusik.de/. 296 http://www.foerderverein-zukunftsmusik.de/. 297 http://www.klinikum.uni-heidelberg.de/index.php?id=1090.

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Schamane, ein international renommierter Meister präsentiert einzigartiges Erbe, unvergessliche Eindrücke, wirklich sakrale Kunst. Auch im Objektivitätsanspruch der modernen westlichen Wissenschaft scheint also das Rekurrieren auf Essentialismen bzgl. der Person Oorzhaks und der Qualität des von ihm Gebotenen notwendig. 4.3.4.4 Rückkehr nach Russland: Depo dla ljudej Um nochmals der Bilateralität des kulturellen Austausches Rechnung zu tragen, sei abschließend ein Blick auf einen Kontext geworfen, in welchem beide Richtungen zusammentreffen. Der 2004 in Moskau gegründete Klub Depo dla ljudej298, führt seit 2005 im Rahmen der Zusammenarbeit mit dem Skandinavischen Zentrum für schamanistische Studien ‚Jonatan Horwitz‘ jährlich Seminare zum Schamanismus durch. Die Teilnehmer erlernen dort die Anwendung schamanischer Praktiken für den Alltag, treffen sich monatlich zu schamanischen Arbeitskreisen. Der Club lädt Gastschamanen aus Großbritannien (Shenoa Taylor David Scott) ein und bietet Artikel verschiedener englischsprachiger Schamanen (Joan Halifax, Daniel Stone, Jan Morgan Wood, Mary Curtis, etc.) zum Download an. Außerdem kann man auf der Homepage des Klubs CDs mit schamanischem Trommeln für die schamanische Reise erwerben. Reisen in der realen Welt, nichtsdestoweniger mit spirituellem Ziel, organisiert der Klub in den Altai, auf die Insel Olchon, auf die Krim, aber auch nach Indien und Karelien. Nikolai Oorzhak gibt dort neben Praktikern aus dem Westen Kurse als Schamane aus Sibirien. Beide sind für die Moskauer mit dem notwendigen Charme des Exotischen affiziert, beide werden zu Garanten einer authentischen schamanischen Tradition. Dass es sich bei den Wechselwirkungen zwischen Sibirischem Schamanismus und westeuropäischem Neoschamanismus nicht um unidirektionale Austauschbewegungen sondern vielmehr um bi- oder multidirektionale Oszillationen handelt, wird an diesem Moskauer Klub somit in besonders ‚ästhetischer‘ Weise sichtbar.

4.4 G ALSAN T SCHINAG 4.4.1 Tschinags Biografie und literarisches Werk Der Schriftsteller und mittlerweile Schamane ist in mehrfacher Sicht ein weiteres Beispiel einer ‚schamanischen‘ Biografie, an welcher grundlegende Prozesse transnationaler Verkoppelungen abgelesen werden können. Wie Oorzhak durchläuft Tschinag eine doppelte ‚Metamorphose‘ und bewegt sich unter mehrfachen Oszilla298 http://depo-club.ru/directions/shamanism/seminar.htm.

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tionen zwischen den Kontexten: Er lebt heute zwischen Deutschland und Ulan Bator, ist in beiden kulturellen Kreisen bekannt und versteht sich selbst nicht nur als Stammesoberhaupt der Tyva sondern auch als Schamane. Um nachzuzeichnen, wie aus einem Nomadenkind ein Schriftsteller in Westeuropa und dann ein Schamane wird, soll zunächst wieder ein Ausschnitt aus seiner Autobiografie in den Blick kommen. Dort werden die Kontinuitäten gemeißelt, die der Religionswissenschaftler geneigt ist, zunächst als Brüche wahrzunehmen. Ein entscheidender Analyseschritt wird daher wieder sein müssen, zu beobachten, wie der mit dem Bundesverdienstkreuz und dem Literaturpreis der deutschen Wirtschaft ausgezeichnete ‚Schamanenschriftsteller‘ seine Identität konstruiert. Die literarisch verdichtete Selbstbildung Tschinags findet sich u.a. beim Suhrkampverlag und damit einem der renommiertesten deutschen Verlage für Belletristik: „Galsan Tschinag, geboren 1943 als jüngster Sohn einer Nomadenfamilie in der Westmongolei, ist Stammesoberhaupt der turksprachigen Tuwa, einer ethnischen Minderheit in der Mongolei. Sein Name in der Sprache der Tuwa lautet Irgit Schynykbai-oglu Dshurukuwaa. Nach Abschluß der Schule erhält er 1962 ein Stipendium, das es ihm erlaubt, in die DDR zu reisen. Er lernt Deutsch und Germanistik in Leipzig. Seitdem schreibt er seine literarischen Texte vor allem in deutscher Sprache. Sechs Jahre später, 1968, kehrte er in seine Heimat zurück und lehrt an der Universität in Ulan Bator deutsche Sprache und Literatur, bis er 1976 wegen ‚politischer Unzuverlässigkeit‘ Berufsverbot erhält. In den folgenden Jahren arbeitet er als Redakteur der Zeitschrift ‚Journalist‘ und als Cheflektor bei ‚Mongol Kino‘, wo er sich um die Verfilmung mongolischer Epen bemühte. Seit 1991 lebt er als freier Schriftsteller vor allem in Ulan Bator, ist aber auch viele Monate als Nomade mit seiner Sippe im Altaigebirge in der Nordwestmongolei unterwegs. Galsan Tschinag versteht sich als Mittler zwischen den Kulturen und ist im Ausland viel auf Lesereisen unterwegs. Im Sommer 1996 erfüllt sich Galsan Tschinag einen Teil seines Lebenstraumes, zur Rettung der traditioniellen Nomadenkultur beizutragen. In 63 Tagen führte er eine Karawane von Tuwa-Nomaden, die im Zuge kommunistischer Planwirtschaft im Norden der Mongolei angesiedelt worden waren, 2000 km weit zurück in ihre ursprüngliche Heimat, das Altai-Gebirge. Diese größte Karawane seit Dschingis-Khan erregte großes Aufsehen in der Öffentlichkeit und stärkte das Selbstbewußtsein der jahrzehntelang entwurzelten und unterdrückten Nomaden. Das Volk der Tuwa bezeichnet Galsan Tschinag als ‚Insel der Menschheit der vergangenen Jahrtausende‘; ihre Kultur müsse erhalten und gefördert werden.“299

Während Suhrkamp noch weitgehend auf die Mittlerschaft Tschinags zwischen den Kulturen abstellt und auf seine Leistungen für den Erhalt der traditionellen tyvanischen Kultur verweist, parallelisiert der Schweizer Unionsverlag die für Tschinag prägenden Entwicklungseinflüsse zum Schriftsteller und von der Schama299 http://www.suhrkamp.de/autoren/autor.cfm?id=5007.

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nin expliziter. Da für den Unionsverlag Übersetzungen aus der internationalen Literatur zum festen Programmbereich gehören und er sich auf Literatur außerhalb der gängigen Literaturregionen spezialisiert300, erscheint dies für das Verlagskonzept auch stringent: „Galsan Tschinag, eigentlich Irgit Schynykbaj-oglu Dshurukuwaa, kommt Anfang der Vierzigerjahre im Altai-Gebirge in der Westmongolei zur Welt. Seine Geburts- und Wohnstätte ist eine Jurte und seine erste Lehrerin eine Schamanin. Es sind die Gesänge und Epen seines Volkes und die Natur der Bergsteppe, die ihn prägen. Nach Abschluss der Zehnklassenschule schlägt er ein Angebot, in Moskau zu studieren, aus und gerät 1962 nach Leipzig, wo er Deutsch lernt und Germanistik studiert. Seitdem schreibt er unter anderem auf Deutsch; Erwin Strittmatter wird neben der Schamanin, die seine Sinne für die Dichtung und den Gesang schärft, zu seinem wichtigsten Lehrmeister. [...]. Heute bemüht er sich um die Verwirklichung verschiedener kultureller und wirtschaftlicher Projekte, um dem Nomadentum das Überleben zu sichern.“301

Dass aus Tschinag tatsächlich selbst ein Schamane geworden ist, scheint im Diskursgefüge des Verlagimages nicht opportun zu äußern, doch verweisen die impliziten Anmerkungen darauf, dass seine erste Lehrerin eine Schamanin war und ihn nachhaltig als ‚wichtigste Lehrmeisterin‘ prägt. Dazu zählen konsequenterweise auch die Epen seines Volkes sowie die Natur, die Tschinag zu einem Schriftsteller außerhalb der gängigen Literaturregionen macht. Dass Tschinag zum ‚Schriftsteller des Anderen‘ wird, zeigen auch die Rezensionen und Kommentare zu seinen Bücher, welche gleichsam werbewirksam auf den Homepages der Verlage zitiert werden. Dazu nur eine beschränkte Auswahl302:

300 Vgl. http://www.unionsverlag.com/info/text.asp?text_id=105&b=0. 301 http://www.unionsverlag.com/info/person.asp?pers_id=188. 302 Vgl. http://www.unionsverlag.com.

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Tabelle 6: Auswahl literarischer Werke Galsan Tschinags Titel des Romans „Die neun Träume des Tshingis Khan“

Kommentare „Neun: die heilige Zahl der Nomaden. – Galsan Tschinag erzählt in diesem außerordentlichen historisch-psychologischen Roman mit archaischer Sprachgewalt das Leben des Dschingis Khan“

„Der blaue Himmel“

„The hero may be a simple shepherd boy, but his tale is nothing short of epic. With this novel, a Mongolian shaman has stepped onto the stage of world literature.“ Der Spiegel „Tschinag's books have reached well beyond his native Altai Mountains, and with good reason. They speak of a true partnership between people and nature, and in a language as clear and stark as the steppes.“ Südwest Presse

„Im Land der zornigen Winde“

„Galsan Tschinag findet für uns ungewohnte poetische Bilder und zeigt uns, dass die Natur eine archaische Kraft besitzt, der sich der nomadische Mensch unterordnet, die ihn aber auch erneuert.“ Barbara Traber, Aargauer Zeitung „Eine poetische Reise in das Land der Schamanen, eine genussvolle Lektüre, die dazu einlädt, über Gott und den Tod, Kindererziehung und die Rolle von Mann und Frau nachzudenken.“Unsere Kirche

„Eine tuwinische Geschichte“

„In den Jurten der Tuwiner wurde nur dem zugehört, der spannend und bewegend zu erzählen wußte. Daß ein Kind aus diesen Jurten die deutsche Sprache zu seiner Erzählsprache machen konnte, ist ein Glück für die deutsche Literatur, vielleicht für die Weltliteratur.“

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„Die Karawane“

„In bilderreicher Sprache erzählt Galsan Tschinag, selbst ein Kind aus den Jurten, die Geschichte der Karawane und lässt die Leser durch seine Tagebuchnotizen teilhaben an diesem großen Ereignis. Es entsteht ein literarisches Panorama, das die Hintergründe, die Menschen und ihre Geschichten poetisch einfängt. Dieses Buch setzt dem im Zeitalter des Umbruchs gefährdeten Nomadentum ein literarisches Denkmal.“

Mit ‚archaischer Sprachgewalt‘ betritt ein ‚Mongolischer Schamane die Bühne der Weltliteratur‘. ‚Seine Sprache ist so klar und gewaltig wie die Steppe’, deren ‚archaische Kraft erneuert’. Mit einer ‚poetischen Reise in das Land der Schamanen‘ setzt das ‚Kind aus diesen Jurten‘ dem im ‚Zeitalter des Umbruchs gefährdeten Nomadentum ein literarisches Denkmal‘. Was geschieht hier? Welche Attraktivitätsmuster werden hier von den Literaturkritikern für Tschinag geprägt? Hier werden Sprache und Sein Tschinags in eins gesetzt. Das Andere der Sprache Tschinags wird zum Anderen Tschinags selbst. Tschinag wird als authentisch markiert, da der, der anders schreibt, auch anders ist. Der exotische Schriftsteller schreibt nicht nur über Exotik, sondern durch Exotik und das macht ihn echt. Wie einen Schamanen. 4.4.2 Tschinag der Schamane Galsan Tschinag schreibt nicht nur Romane und Poesie. Er hat auch ein Repertoire des Schamanischen selbst zu bieten. Neben Lesungen findet man in seinem Veranstaltungskalender303 daher auch Vorträge, Seminare, Erzählnachmittage und Erlebnisabende mit dem zentralen thematischen Kern des mongolischen Schamanismus: „Der Schamane in dir“, „Wenn Himmel und Erde sich verbinden. Schamanische Heilkunst und Spiritualität“, „Kraft, Vision, Heilung“, „Traditionelle mongolische Heilkunst, schamanische Spiritualität“ und „Schamanische Diagnostik und Heilweise für Ärzte, Psychotherapeuten und Psychologen“ lauten die Angebote des Schriftstellers Tschinag – um nur einige exemplarisch zu nennen. Als ‚Vermittler zwischen den Kulturen‘, wie er sich selbst versteht, war er nach seinem Studium in Deutschland in seine Heimat zurückgekehrt und hatte dort als Dozent unterrichtet. Aber nicht nur dazu verhalf ihm das in Europa erworbene Wissen. Nachdem er in Sowjetzeiten noch den Einschränkungen der damals herr303 Vgl. http://galsan.info.

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schenden Ideologie unterlag, ermöglichte ihm nach der Perestroika das aus seinem schriftstellerischen Erfolg erworbene Kapital, selbst in seiner Heimat politisch aktiv zu werden. Dabei war sich Tschinag des primär zeichenhaften Charakters der von ihm organisierten Karawane durchaus bewusst. Sicherlich leistete er damit – wie er es gerne kennzeichnet – einen Beitrag zur Rettung der traditionellen tyvanischen Kultur. Doch würde man dem eminent medial inszenierten Ereignis nicht gerecht, sähe man darin nicht auch die Selbstkonstituierung Tschinags zu etwas wie einem politischen Führer dieses Nomadenvolkes in Zeiten des Umbruchs. Der Vermittler zwischen den Kulturen kennt sowohl die Spielregeln beider Welten als auch die Notwendigkeiten einer Existenz dazwischen. Um nichts anderes dürfte es sich dann handeln, wenn Tschinag die Zeichen der Zeit in Europa liest und sein literarisches Schaffen und Präsentieren um einen schamanischen Zug seiner Performanz erweitert. Nach Europa bringt er seine Kultur daher nicht nur als literarisch verdichtete Erzählungen sondern auch als Praxis – und trifft so die Bedürfnisse des gegenwärtigen deutschen Publikums: Im Übermaß eines kontingenten postmodernen Angebots an Literatur wird ein Gesamtkunstwerk geschätzt, das nicht nur aus seiner Verwurzelung heraus als natürlich und echt gilt, sondern auch in seiner nacherlebbaren Dynamik ein Sinnangebot für die Existenzbewältigung im Alltag bietet. 4.4.3 Der Schamane und seine Hilfsgeister – interkulturelle Beziehungen Nicht das, was man erwarten könnte, keine Skizze eines spirituellen Pantheons, vielmehr die Abbildung von Dynamiken, wie sie sich durch interpersonale Konstellationen konstituieren, soll abschließend betrachtet werden. Der Schriftsteller und Schamane Galsan Tschinag ist nämlich kein Einzelkämpfer. Er hat vielmehr, wie Oorzhak seinen Assistenten, Übersetzer und Organisator in Deutschland hat, ebenfalls zwei ‚starke Frauen‘ hinter sich. Es lohnt, einen Blick auch auf die Geschichten dieser Menschen zu werfen, da daraus transparent wird, an welchen biografischen Anknüpfungs- bzw. Interferenzpunkten ein Transfer zwischen den Kulturen möglich wird. Zum einen arbeitet Tschinag mit der Ethnologin Amelie Schenk als Vorsitzende im Verein Freunde-des-Altai304 zusammen. Letzterer hat sich gebildet, um die von Naturkatastrophen geschlagenen Hirtennomanden im Altai zu unterstützen: „Hilfe und Beistand dem leidenden Nomadenvolk, Schutz und Pflege der kulturellen und biologischen Vielfalt im Lebensraum Mongolischer Altai sind Ziele des Vereins.“305 Der Verein unterhält ein Begegnungszentrum mit Lesestube und Umschlagplatz für nomadische Handwerkserzeugnisse und organisiert in Europa den 304 http://www.freunde-des-altai.org. 305 http://www.freunde-des-altai.org/UBER_UNS/uber_uns.html.

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Verkauf von Filzen, die im Rahmen einer Nichtregierungsorganisation von Frauen der Tyva hergestellt werden. Darüber hinaus bietet er ein Sommercamp306 an, das das „Lernen von der Natur, leben mit den Bergnomaden im Altai der Mongolei“ verspricht, und koordiniert Patenschaften zwischen Deutschland und der Mongolei. Interessant ist dabei, zu beobachten, dass Galsan Tschinag und Amelie Schenk zu einer derartigen Zusammenarbeit gefunden und auch ein Buch zusammen veröffentlicht haben.307 Die promovierte Ethnologin Amelie Schenk, die sich sehr stark einem aktionsethnologischen Ansatz eigener Interpretation verschrieben hat, dürfte mit ihren letzten Publikationen308 das Feld der established science verlassen haben und ist ebenfalls zur Referentin über die Praxis des Schamanismus geworden. Während Schenk nun aus ihrer Wendung von der Wissenschaftlerin zum praktischen Engagement für die von ihr studierten Ethnien den Anknüpfungspunkt an Galsan Tschinag den Schriftsteller, der aus einer dieser Ethnien heraus ein reverse going native vollzog, geschaffen hat, sind es bei der deutschen Schamanin Maria Kaluza309 die künstlerischen Ausdrucksformen der Spiritualität, die biografische Synergien mit Tschinag ausgelöst haben. So berichtet sie auf ihrer Homepage: „Seit 15 Jahren gestalte ich Schmuck nach Gedichten, suche nach Ausdrucksformen diese verdichteten Texte in tragbare Bilder umzusetzen.“310

Und Tschinag antwortete darauf: „Durch diesen Schmuck haben sich meine Gedichte materialisiert.“311 306 Zum Reiseangebot Galsan Tschinags und wie seine Leser darauf reagieren siehe auch www.galsan.info. Eine Leserin berichtet dort: „Man kann mich auch besuchen...“, sagte Galsan Tschinag auf einer Veranstaltung vor nunmehr drei Jahren in Hamburg. Diese Einladung habe ich wörtlich genommen, denn ich bin eine begeisterte Leserin seiner Bücher, und ich habe auch den Film vom „Häuptling Däumling“ mit großem Interesse gesehen. Also habe ich mir die Adresse der Reise-Organisatorin beschafft und bin in das unbekannte Land meiner Träume geflogen. Inzwischen bin ich bereits zweimal dort gewesen und werde ganz bestimmt noch häufiger dorthin fliegen.“ 307 Schenk, Amelie und Tschinag, Galsan: Im Land der zornigen Winde, Zürich 41999. 308 Schenk, Amelie: Heilung des Wissens. Forscher erzählen von ihrer Begegnung mit dem Schamanen – der innere und der äußere Weg des Wissens, München 1987; Der Gesang des Donnervogels. Lebendige Weisheit der Indianer, Frankfurt 1997; Herr des schwarzen Himmels: Zeren Baawai – Schamane der Mongolei, Freiburg 2000; Der Gesang des Himmels: Galbe – Schamanin des Altai, Frankfurt 2006. 309 http://www.maka-unikat.de/. 310 http://www.maka-unikat.de/. 311 http://www.maka-unikat.de/.

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Maria Kaluza ist mittlerweile zur Vertreterin Galsan Tschinags in Deutschland geworden, die seine Interessen repräsentiert und Informationen über ihn vermittelt. Dabei deutet sie ihre Zusammenarbeit im Blick der Kooperation der Kulturen in der Weltformung: „Zwei Schamanen, ein Dichter aus dem Osten und eine Goldschmiedin aus dem Westen kommen zusammen mit der gemeinsamen Vision, an ‚dem fortlaufenden Werk Welt‘ mit zu gestalten. Im fruchtbaren Zusammenwirken der beiden Kulturen arbeiten sie mit den Kräften, die den Menschen seit Urzeiten bewegen, ihn mit der Natur, der Schöpfung verbinden. Galsan Tschinag, Dichter, Schamane, Häuptling der Tuwa ist Herz und Rückgrat seines Volkes, Wanderer zwischen Ost und West, der Nomaden - und der Fortschrittswelt. Ich vertrete Galsan Tschinags Interessen in Europa und bin die ‚Brücke zwischen den Welten‘. Wenn sie ein Anliegen an Galsan Tschinag haben oder Informationen über seine Arbeit in Europa benötigen, kontaktieren Sie mich bitte.“312

Maria Kaluza versteht sich so wie Tschinag selbst im Bild der Brücke zwischen verschiedenen Welten. Die persönliche Grundlage, um eine solche Funktion als verknüpfende und vermittelnde Person wahrnehmen zu können, sieht sie dabei in ihrer langjährigen interkulturellen Erfahrung einerseits, in einer Verortung in der christlichen Tradition, die sie unter dem spezifischen Gesichtspunkt der Mystik deutet, andererseits: „Seit 19 Jahren arbeite ich in meiner eigenen Werkstatt-Galerie als Schmuckschamanin, gestalte Unikatschmuck und Amulette, ich habe in über 180 Ausstellungen im In– und Ausland meine Arbeiten gezeigt. In dieser Zeit habe ich bei Schamanen und Heilern aus aller Welt alternative Heilmethoden und gelebte Spiritualität kennengelernt. Beides beeinflusst meine Schmuck- und Heilarbeit […]. Ich verstehe mich als christliche Schamanin, da meine spirituellen Wurzeln im Christentum liegen. Auch hier gibt es eine lange Tradition. Hier sind es die Mystiker, die die Verbindung zwischen Himmel und Erde schaffen, die in ihren Visionen die Verbindung zum All-Einen haben und Heilendes zu den Menschen bringen.“313

So werden Poesie und Schmuck, Schamanismus und Mystik die Koordinaten, unter denen Maria Kaluza ihre Lebensgeschichte, ihre Berufung, die Zusammenarbeit mit Tschinag und das Angebot für den westlichen spirituell suchenden Menschen zusammen in ein Bild einschreibt:

312 http://www.maka-unikat.de/galsan/. 313 http://www.maka-unikat.de/.

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„Ich finde und entwickle mit Ihnen Ihr persönliches Amulett: nehmen Sie sich Zeit zu einem Gespräch. Ich höre Ihnen zu und beginne intuitiv zu zeichnen. So finden wir gemeinsam das für Sie richtige Symbol, die Zeichen, die in Ihrer Lebensgeschichte wichtig sind. Es kann das stärkende Zeichen für Sie selber sein, ein Schmuckstück zur Initiation Ihrer Kinder [...] oder ein ritueller Schmuck für Ihre Partnerschaft.“314

4.5 S CHAMANISCHE B IOGRAFIEN –

EIN

R ESÜMEE

Der Präsident aller tyvanischen Schamanen Mongush Kenin-Lopsan ist ein trickster. Er entzieht sich aktiv fixierten Rollenzuschreibungen, wandelt situativ seine Sprachfähigkeiten und positioniert sich habituell gegenüber ausländischen Forschern und Vertretern in doppelter Bindung. Ausgehend von seinem Selbstverständnis als Repräsentant und Inkarnation der traditionellen tyvanischen Lebensweise prägt er mit seinem Werk und seiner Praxis die Spielregeln des Diskurses um den tyvanischen Schamanismus. Verschiedene Dualitäten, die er in sich vereint, führen ihn nicht in Widersprüche, sondern werden von ihm in seiner Existenz als Schnittstelle verarbeitet. Als medienwirksames Kuriosum und tourismusförderndes Attraktivum begrüßt, wird er zugleich als ärgerliches enfant terrible empfunden. Als Garantieinstanz staatlicher Anerkennung des Schamanismus und internationaler Anbindung ist er willkommene Integrationsfigur und zugleich autoritäre Last. Kulturintern und in seiner Wirkung nach außen spiegelt Kenin-Lopsan in seinem Leben und Schaffen den transdifferenten Charakterzug des tyvanischen Schamanismus in seiner internationalen Einbettung. Nikolai Oorzhak-ool ist der vielleicht prononcierteste Vertreter derjenigen zunächst lokal aktiven Performer, die aus dem indigenen Kontext hinauswuchsen und nun auf internationaler Bühne tätig sind. Der Khöömei-Schamane beginnt seine Karriere im Nationaltheater in Kyzyl, wird Vorsitzender der Schamanenklinik Dungur und ist gegenwärtig auf Esoterikmessen sowie Schamanismuskongressen u.a. in Europa anzutreffen. Seine Biografie erlaubt Rückschlüsse auf die Konstruktionsstrategien einer schamanischen Identität zwischen Authentizität und Internationalisierung. Tyvanische Legitimationsmuster verbinden sich in seinem Selbstverständnis mit Markern der Toleranz- und Kompatibilitätsfähigkeit. Als Präzedenzbeispiel kann dabei seine Verwendung des tyvanischen Kehlkopfgesangs Khöömei gesehen werden. Unabhängig von der essentialistischen Fragestellung, ob letzterer zu einem traditionellen Schamanismus gehört oder nicht, ist die Art und Weise interessant, wie Oorzhak ihn in neue rituelle Kontexte einbettet. Die damit einhergehende Rekontextualisierung und Signifikationsverschiebung reicht von einem Konstitutionsmittel einer ungebrochenen Harmonie mit der Natur zur Behandlungsmöglich314 http://www.maka-unikat.de/schamanismus/texte/amulette.html.

S CHAMANISCHE BIOGRAFIEN –

EIN

R ESÜMEE | 237

keit von Problemen des postmodernen Individuums. Traditionelle Konzepte werden so aus ihrer Ursprungskultur qua esoterischer Argumentationsmuster in einen stimmigen Gesamtrahmen rekonfiguriert und neu interpretiert. Echtheit, Zielgruppenorientierung, Demokratisierung und performative Überzeugungskraft sind dabei die Hauptdeterminanten dieser universalisierenden Neuverortung. Unter den institutionellen Organisatoren, die den Rahmen für Oorzhaks Praxis konstituieren, können trotz interner Differenzierungen bestimmte Familienähnlichkeiten ausgemacht werden: Der tyvanische Schamane bietet als Teil einer Sammlung exotischer Traditionen qua seiner Authentizität und Ursprünglichkeit Lösungen lokaler und gegenwärtiger persönlicher Probleme von Menschen im deutschsprachigen Raum an. Galsan Tschinag, aufgewachsen als Nomadenkind der in der Mongolei lebenden Tyva, wirkt heute als Schriftsteller zwischen Deutschland und Ulan Bator. Wie Oorzhak durchläuft er eine doppelte Metamorphose und bewegt sich unter mehrfachen Oszillationen zwischen den Kontexten. Sein Selbstverständnis als Stammesoberhaupt der Tyva und Schamane ist gleichzeitig vom Bundesverdienstkreuz und dem Literaturpreis der deutschen Wirtschaft geprägt. Die seine Bücher herausgebenden Verlage werben für den ‚Schamanenschriftsteller‘ mit seiner Mittlerschaft zwischen den Kulturen, seinen Leistungen für den Erhalt der traditionellen tyvanischen Kultur, seiner archaischen Sprachgewalt und nicht zuletzt seiner Doppelexistenz als Schamane und Schriftsteller. Als Schreiber des Anderen wird Tschinag als authentisch markiert, da der, der anders schreibt, auch anders ist. Neben seiner Tätigkeit als Schriftsteller finden sich aber auch Vorträge, Seminare, Erzählnachmittage und Erlebnisabende, die um den Kern des mongolischen Schamanismus kreisen, in seinem Repertoire. Kulturübersetzend wirkt er daher nicht nur qua literarisch verdichteter Erzählungen, sondern auch in der Praxis. Tschinag schafft so ein an den Bedürfnissen des gegenwärtigen deutschen Publikums orientiertes Gesamtkunstwerk, das nicht nur aus seiner Verwurzelung heraus als natürlich und echt gilt, sondern auch in seiner nacherlebbaren Dynamik ein Sinnangebot für die Existenzbewältigung bietet. Drei Schamanen wurden beschrieben. Drei Schamanen, in deren Leben und Werk sich die Begegnung kultureller Kontexte und die Übersetzung zwischen ihnen, in besonderer Weise verdichtet haben. Drei Schamanen, die in ihren je eigenen dramatischen Biografien die Koexistenz und wechselseitige Interaktion des Lokalen und Globalen verkörpern. Kenin-Lopsan, Oorzhak und Tschinag sind bei weitem nicht die einzigen Persönlichkeiten, die im Rahmen des tyvanischen Schamanismus einer solchen Dynamik angehören, sie zählen meiner Ansicht nach aber zu den aussagekräftigsten. Eine an die erzähltheoretische Biografieanalyse angelehnte Diskursanalyse lies deutlich werden, wie die Protagonisten die Spielregeln der jeweiligen kontextuell geprägten Diskurse respektieren, sie aber zugleich kreativ für sich einsetzen und umfigurieren. Zu zeigen, wie sich die jeweiligen Sets an Plausibilisierungsmustern zueinander verhalten und wie sie in Wechselwirkung treten,

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war Absicht der vorangehenden drei Kapitel. Was nun folgt ist – ähnlich dem Schritt im dritten Kapitel vom Ritualangebot der in Tyva praktizierenden Schamanen hin zu einer Kontextualisierung in den Schamanenkliniken – die Verortung der in Westeuropa aktiven Schamanen im sozialen Raum ihrer Praxis. Dies wurde vereinzelt innerhalb der genannten Biografien schon angedeutet, dort jedoch noch mit Fokus auf die Ritualanbieter. Das Ziel der anschließenden Überlegungen wird es sein, ein stärkeres Augenmerk auf die Klienten und die ihnen zugehörigen Interaktionsdynamiken zu richten.

4.6 S CHAMANISMUS ALS E VENT : Z UR H EILUNGSDYNAMIK VON K ONGRESSEN 4.6.1 Schamanen auf einem Event, Schamanen – ein Event? Tyvanische Schamanen sind nicht allein auf ihrer Europatournee. Sie sind vielmehr Teil eines Konzerts, einer – man wäre versucht pathetisch zu formulieren – globalen Bewegung. Und dieses Konzert ist kein dissonantes Spiel unkoordinierter Solisten, sondern arrangiert sich an herausragenden raumzeitlichen Punkten zu einer gemeinsamen Praxis. Tyvanische Schamanen finden sich neben ihren Kollegen aus Nordamerika, Peru, Neuseeland, Korea, Indonesien etc., wieder als präsentierende Teilnehmer auf Schamanenkongressen. Schamanen, Schamanensuchende, Organisatoren, Forscher und oft auch medial wirksame Menschen treffen sich in Tagungszentren für mehrere Tage, es ereignen sich Begegnungen spannendster Konstellationen. Wie kann nun der Religionswissenschaftler, der sich als teilnehmender Beobachter auf derartige Kongresse begibt, und damit sicher nur einen Teilausschnitt der Gesamtdynamik wahrnehmen und verzeichnen kann, ein derartiges Ereignis sinnvoll beschreiben? Als fruchtbar sowohl für die Analyse von Zusammenhängen als auch für die Auseinandersetzung mit seinem Gegenstand in alltagsweltlicher Relevanz schlage ich in dieser Hinsicht den Begriff des Events vor. Er soll im Folgenden versuchsweise zur Beschreibung der oben genannten Schamanenkongresse appliziert werden. Dabei ist zunächst zu klären, worum es sich handelt, wenn von einem Event die Rede ist. Dies einerseits, um die zahlreichen polysemantischen alltagssprachlichen Bezüge einzugrenzen, andererseits in dieser Eingrenzung aber auch Präzision zu erreichen. Ein Event wird daher verstanden als eine bestimmte Form der Veranstaltung, ein organisiertes und zweckbestimmtes Ereignis mit begrenztem Zeitumfang, an dem eine Gruppe von Menschen teilnimmt. Die Teilnehmenden, welche einen Kern gemeinsamer Interessenbereiche teilen, haben eine (u.U. stillschweigende) Übereinkunft getroffen, was in diesem Ereignis befördert werden soll. Im besonde-

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ren Fall des Schamanenkongresses handelt es sich meist um eine mehrtägige Veranstaltung, in welcher Elemente von Konferenzen, Messen, Ausstellungen, Seminaren, Workshops, Konzerten und Individualbehandlungen zusammenfallen. Zu einem spirituellen Ereignis wird der Schamanenkongress dadurch, dass in dessen Ausschreibung, Angebot und Durchführung zum einen explizite und damit performativ wirklichkeitsherstellende Marker von Spiritualität gesetzt werden, zum anderen dadurch, dass er ein vielfältiges Sinnangebot leistet, das sich als Alternative zu einer rein materialistischen Weltorientierung versteht. Nachdem nun zumindest in groben Zügen geklärt ist, worum es sich bei einem Event, speziell einem spirituellen Event handelt, bleibt weiter zu klären, warum gerade dieser Begriff dazu taugen soll, schamanische Praxis transparent zu machen. Meine These ist, dass die Organisationsform des Schamanenkongresses als Event eine Doppelbewegung wiederspiegelt: Einerseits wird durch das Zusammenkommen einer Gruppe von zumindest an einigen geteilten Punkten gleichgesinnten Menschen, die sich zu einer Übereinkunft auf Zeit entscheiden, eine ‚peer group‘ geschaffen, die einen besonderen Raum der Identitätsstiftung öffnet. Andererseits reflektiert die offene Seminar- und Messestruktur des Kongresses aber auch die Kondition des postmodernen Individuums, das in autonomer religiöser Wahl nur selbst als Garant von Wahrheit einstehen kann. Es gibt Indizien, dass ein Event wie ein Schamanenkongress eine religiöse Gemeinschaftsbildung auf Zeit leistet, die jedoch trotz ihres temporalen Tiefgangs sich am Ende des Kongresses genauso schnell auflösen kann wie sie sich gebildet hat. Interessant ist hierbei im Besonderen die Dynamik, die eine derartige Gemeinschafts- und Öffentlichkeitskonstitution im Hinblick auf die Effektivität schamanischer Heilung freisetzt, welche oft zentrales Thema genannter Veranstaltungen ist. Ich denke, darlegen zu können, dass diese Form der Öffentlichkeit, die im Bereich neuer religiöser Bewegungen zunächst erst hergestellt werden muss, einen konstitutiven Part im Mechanismus der Heilung repräsentiert. Schließlich bleibt noch eine Frage zu beantworten: Warum müssen auf dem Schamanenkongress Schamanen aus aller Welt auftreten? Könnten es nicht auch Schamanen aus dem deutschsprachigen Raum sein oder grundsätzlich ganz und gar nicht-schamanische Menschen? Grundsätzlich wohl ja, was an der Existenz ähnlicher Kongresse abzulesen ist, die sich um andere Formen der Spiritualität organisieren. Im Speziellen aber nein. Meiner Beobachtung zufolge handelt es sich bei der Inszenierung des Fremden um dasjenige die Alltagsrealität destabilisierende und Kreativitäten freisetzende Element, was Teilnehmer der Kongresse bewegt zu partizipieren. Die Tatsache, dass die Schamanen, die man auf derartigen Kongressen antreffen kann, aus der ganzen Welt stammen, stellt daher meiner Meinung nach ein intrinsisches und selbstwirksames Moment der Attraktivität genannter Kongresse dar. Alle bis hierher aufgestellten Thesen bedürfen einer genaueren Erläuterung und Plausibilisierung, dies soll im Folgenden geschehen.

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4.6.2 Selbstrepräsentation des Kongresses Zunächst sei ein Blick auf die Selbstdeutung eines beispielhaften Kongresses315, der 2008 am österreichischen Mondsee veranstaltet wurde, geworfen. Eine derartige Analyse erlaubt es, nicht nur nach zu zeichnen, wie der Kongress als event autodiskursiv und selbstreflexiv geworden ist, sondern auch in welche medial vermittelte Kommunikation mit seinem Publikum er tritt: „Schamanismus gilt als Oberbegriff für die zahllosen Wissensgebäude, Weltbilder, Rituale, Heilformen und Weisheiten traditioneller indigener Kulturen. Er reicht von uralten Erklärungen zum Zusammenwirken der universellen Kräfte, über die Entstehung und Heilung von Krankheiten, bis zu rituellen und spirituellen Strategien zum Umgang mit Störungen im sozialen, individuellen und ökologischen Gleichgewicht. Schamanisches Wissen ist die wohl älteste Lehre der Menschheit und rund um den Globus anzutreffen. Das schamanische Wissen wurde über Jahrtausende in ganz unterschiedlichen Kulturen von Generation zu Generation weiter getragen und fortentwickelt, wobei die Grundlagen und Praktiken sich erstaunlich ähneln und offensichtlich eine zeitlose Gültigkeit haben. Auch Europa hat eine schamanische Tradition, die bis in die Anfänge der menschlichen Geschichte zurückreicht. Erst in den letzten Jahrhunderten wurde schamanisches Wissen - etwa durch die Inquisition, die Entwicklung der modernen Naturwissenschaften und den Emanzipationprozess der Aufklärung – verdrängt und vergessen. Doch das globale schamanische Wissen ist nie ganz verloren gegangen. Uns bietet sich heute die Chance, die alte und die neue ‚Natur-Wissenschaft‘ miteinander zu verbinden [...]. Während das Weltbild moderner westlicher Kulturen darauf beruht, die Welt zu zertrennen, zu sezieren, zu unterteilen und zu kategorisieren, basiert die schamanische Weltsicht auf der Integration vieler Wirklichkeiten. Während der Mensch des Westens unterscheidet zwischen Innen und Außen, Leben und Tod, Geist und Natur, Traum und Realität, verstehen sich SchamanInnen als Wanderer zwischen den Welten. Wo der westliche Mensch Zäune einzieht, sind Schamanen die Zaunkönige, die Kraft ihres Bewusstseins, ihrer Rituale und ihres Wissens um die Geheimnisse der Natur scheinbare Gegensätze überwinden und verbinden. Wo die westliche Welt linear denkt und Sicherheiten sucht, denken Schama-

315 Als strukturell parallel zum Schamanenkongress am österreichischen Mondsee ist z.B. die seit 2002 in ca. zweijährigem Turnus an der Ludwig-Maximilians-Universität München stattfindende ‚Weltkonferenz der Ethnotherapien‘ zu betrachten. Organisiert vom Institut für Ethnomedizin (http://institut-ethnomed.de) öffnet es einen dazu analogen Raum der Versammlung von Heilern aus der ganzen Welt. Die im Folgenden beschriebenen Dynamiken habe ich dort in ähnlicher Weise beobachten können. In die Kategorie des schamanischen events könnten darüber hinaus auch einzelne Veranstaltungen des bereits erwähnten rainbow spirit festivals mit einbezogen werden, so dass sich die Liste fortsetzen läßt.

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nInnen zyklisch und begleiten seit Urzeiten Menschen durch Wachstumskrisen. Sie sind damit die Spezialisten für Wandlung. Auf dem 7. Internationalen Kongress ‚Schamanismus und Heilen - Die Kraft der Wandlung‘ hat darum jeweils eine(r) der ReferentInnen einen ca. 1½ Stunden dauernden Vortrag zu folgenden, täglich wechselnden Schwerpunktthemen gehalten: 1.Tag: Entstehung und Transformation von Traumata 2.Tag: Visionssuche – Wege zur Reife 3.Tag: Übergangsrituale von Geburt bis Tod 4.Tag: Tore zu anderen Wirklichkeiten 5. Tag: Wertewandel – Schamanen, ganzheitliche Ethik und Politik [...] Durch praktische Übungen, Meditationen und Rituale haben sie uns ihren Umgang mit dem Wandel und ihre Heilmethoden erleben lassen und uns dazu eingeladen, unsere eigenen Antworten zu finden [...] Ziel des Kongresses war es, einen Brückenschlag zwischen der modernen Welt und schamanischen Kulturen zu ermöglichen. Wir wollten Saatkörner für einen globalen Wandel pflanzen, die Verantwortung für alles Lebendige stärken und ein Netzwerk entstehen lassen, das uns trägt und verbindet.“316

Der Kongress führt zunächst seine Legitimierungsstrategie, indem er sowohl auf die verhandelten Traditionen in ihrer jahrtausendjährigen Nachhaltigkeit und zeitlosen Gültigkeit rekurriert, als auch die Möglichkeit einer Verbindung dieser ältesten Vorstellungen mit den neuen Naturwissenschaften plausibilisiert. Damit beantwortet er einmal die grundsätzliche Frage, ob denn eine Organisation, wie sie der vorliegende Kongress innerhalb des von ihm abgesteckten Rahmens bietet, sinnvoll und adäquat ist für die Auseinandersetzung mit schamanischen Weltbildern. Indem er darüber hinaus als Methode praktische Übungen und die Suche nach eigenen Antworten benennt, mit dem Ziel eines Brückenschlags, der in einen globalen Wandel münden soll, respondiert er nicht nur auf seinen Gegenstand sondern auch auf die Bedürfnisse und Hoffnungen seines Publikums. Die individuelle spirituelle Suche will getragen und eingebettet sein in einen diese Individualität transzendierenden und umfassenderen Rahmen – das Netzwerk stellt dazu die gegenwärtig plausible Referenzkategorie dar. Wie die fünf genannten Schwerpunktthemen des Kongresses erkennen lassen, ist die Palette an Angeboten breit. Eine umfassende Schilderung wäre lohnenswert, ist aus Gründen der Konzentration hier jedoch nicht möglich. Denn trotz der Variabilität und Ausdifferenzierung lässt sich meiner Ansicht nach innerhalb der genannten Thematiken eine zugrundeliegende Grundbewegung ausmachen, die in verschiedener Manifestationsform immer wieder begegnet: Die Frage und die Suche nach Heilung als leibliche Schwellenhandlung.

316 www.schamanenkongress.de.

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4.6.3 Schamanische Heilung auf dem Kongress Warum bezeichne ich die auf verschiedenen Kongressen anzutreffenden Prozesse der Heilungspraktiken als leibliche Schwellenhandlung? Welcher Erklärungswert ist mit dieser Kategorie gewonnen? Ich beginne zunächst mit der Schilderung einer paradigmatischen Heilung, wie sie ähnlich oder in transponierter Form auf verschiedenen schamanischen Kongressen begegnet: Der Schamane, bekleidet mit seinem Ritualkleid und dem Mikrophon in der Hand gibt zunächst vor einem aufmerksamen Publikum eine Einführung in die den Heilungsvorgang umfassende Kosmologie. Nach einer derartigen grundlegenden Koordinatenbestimmung seines schamanischen Weltbildes ist es dann Zeit, den Schritt von der Theorie in die Praxis, mithin zur Demonstration zu gehen. Der Schamane fragt die Seminarteilnehmer, ob jemand unter ihnen an einer Krankheit leidet und gerne jetzt von ihm behandelt werden möchte. Es melden sich zwei Frauen, X und Y. X leidet an einer schwerwiegenden chronischen Entzündung, Y kämpft seit längerem mit Krebs. Beide Frauen stehen nun Rücken an Rücken im Mittelpunkt, die Seminarteilnehmer bilden einen Kreis um sie und beobachten, der Schamane vollzieht sein Ritual. Er schlägt seine Trommel, positioniert diese nahe an den Köpfen seiner Patientinnen, welche die Augen geschlossen halten. Dazu singt er einen rituellen Gesang. Mit seiner Hand berührt er die jeweils erkrankten Körperstellen, er hält sie kräftig fest und extrahiert unter Anstrengung die Krankheit. Nachdem er sie mit all seiner Kraft symbolisch herausgerissen hat, streckt er seinen Arm so weit ihm möglich von sich und seinen Patientinnen weg und schüttelt die Krankheit ab, zerreibt sie und lässt sie wie Staub zu Boden fallen. Später wird der Schamane seine Patientinnen befragen, wie sie sich und was sie während des Rituals gefühlt haben. Was ist hier geschehen? Ich möchte bei der Beschreibung dieses beispielhaften Heilrituals, die naturgemäß nur lücken- und skizzenhaft ausfallen konnte, die Aufmerksamkeit auf zwei Momente richten, die meiner Ansicht nach für die Effektivität des vollzogenen Rituals entscheidend sind. Zum einen betrifft dies die Herstellung von Öffentlichkeit, innerhalb deren die Krankheit selbst und ihre Heilung Raum finden kann. Zum anderen den Aspekt der leiblichen Berührung, Verknüpfung und prozeduralen Darstellung während des Heilungsprozesses. 4.6.4 Heilungseffektivität durch Herstellung von Öffentlichkeit Die Grundfrage, die im Zusammenhang mit dem beschriebenen Ritual meiner Ansicht nach beantwortet werden sollte, liegt darin, warum es notwendig und hilfreich ist, dass Menschen sich mit ihrem (gesundheitlichen) Problem in die Öffentlichkeit eines schamanischen Kongresses begeben. Potenziert wird diese Frage u. U. noch

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dadurch, dass diese Öffentlichkeiten sich oftmals nicht auf den Kreis der Teilnehmer an Schamanenkongressen beschränken, sondern eine Extension und Verdopplung durch anwesende Filmteams erfahren, welche Dokumentationen der Kongresse nicht nur für die Kongressteilnehmer selbst sondern auch für mediale Formate etwa das öffentliche Fernsehens erarbeiten317. Geht man nun davon aus, dass die Teilnahme der Patientinnen an der Heilung und deren medialer Aneignung vollkommen freiwillig erfolgte, scheint der Öffentlichkeitsgewinn also einen ‚Heilungsgewinn‘ zu bedeuten. Ganz unabhängig von den spirituellen Kräften des Schamanen, die einer religionswissenschaftlichen Beurteilung per definitionem unzugänglich bleiben müssen, scheint es daher kein unerheblicher Faktor zu sein, dass das Publikum des Schamanenkongresses einen Raum bildet, in welchem die Krankheit vor einem verständnisvollen und interessierten Forum ihren Ausdruck finden kann. Die Effektivität schamanischer Heilungsriten hängt so an ihrer öffentlichen Inszenierung – und dies nicht im Sinne einer bloßen Vortäuschung, sondern in der Möglichkeit der Gestaltgewinnung vor Menschen, die anerkennend daran partizipieren. Ausgeschlossen ist dabei auch nicht, dass das Ritual – ähnlich anderen öffentlichen und damit performativen Bekundungen etwa einer Eheschließung – darin einen positiven Zwang bekommt, der, wenn alles klappt, zu Glück in der Ehe bzw. zur Aktivierung von Selbstheilungskräften führt. Das Publikum wird zum Zeugen der Authentizität des Rituals, wenn es beobachtet, wie der Schamane die geistige Heilung durch entsprechende Handbewegungen, Mimiken oder Abschütteln von Extrahiertem veranschaulicht. Darüber hinaus verstärkt es die erfahrene Zuwendung und bedingungslose Akzeptanz – wenn auch auf Zeit – durch einen Aspekt der gemeinschaflichen Öffentlichkeit. Cum grano salis könnte man sogar noch weiter gehen und vermuten, dass es heilende Wirkungen mit sich bringt, einmal zum Star zu werden, auf der Bühne neben dem großen Schamanen. Patienten gehen einen Kontrakt mit dem Schamanen ein, der nur eingehalten wird, wenn auch die erhoffte und versprochene Heilung erfolgt. Der spirituellen Verquickung der Lebensschicksale des Schamanen und seines Klienten entspricht daher eine Verquickung der anderen Art: Dafür dass der Schamane den Klienten mit zum Star macht, entspricht der Klient auch den Bedürfnissen des Schamanen mit Gesundung, denn sonst gilt dieser nicht als erfolgreich.

317 Vgl. im Falle des Schamanenkongress am Mondsee etwa die Dokumentation von Georg Lolos, „Die Stewardess und der Schamane“ in der Sendereihe ‚WDR weltweit‘ (2008). (http://www.wdr.de/unternehmen/presselounge/programmhinweise/fernsehen/2008/08/ 20080821_stewardess_und_der_schamane.phtml).

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4.6.5 Die reflexive Öffentlichkeit: Der Patient, der sich selber zum Publikum wird Der Zugewinn, den die ‚Veröffentlichung‘ der Heilung mit sich bringt, geht aber noch einen Schritt weiter. Ich möchte in diesem Zusammenhang von einer doppelt verschränkten Öffentlichkeit sprechen. Was darunter zu verstehen ist, wird beispielhaft an einer der bereits erwähnten Dokumentationen318 deutlich: Eine darin biografisch portraitierte Teilnehmerin des Kongresses und Patientin wird nicht nur in ihrer Suche nach Heilung dargestellt, sondern auch wie sie sich auf einer Metaebene in medial verdoppelter Form ihre eigene Heilung nochmals aneignet: Nach dem Besuch des Kongresses, auf welchem sie eine Dokumentations-DVD erworben hat, die ihre eigene Heilung zeigt, kehrt sie nach Hause zurück und betrachtet diese mit ihren Eltern. Das Publikum, das während der Heilung leiblich präsent war, wird so nicht nur durch den Familienkreis erweitert, sondern auch, und darin liegt ein Schlüsselmoment, in einer reflexiven Wendung durch die Patientin selbst. Die Patientin wird zur Zuschauerin ihrer eigenen Heilung. Die Dokumentation des Ereignisses wird so zum genuinen Konstitutivum des Ereignisses. D.h. das Ereignis wird nicht nur erinnert durch das zweite Betrachten, sondern es wird dadurch erst vollständig hergestellt. Indem man es Verwandten oder Freunden oder Dritten zeigen kann, indem man die Perspektive hin zu einer Beobachterposition wechseln kann, indem man in die Lage versetzt wird, das Geschehen zu kommentieren, wird es zur wahren Erfahrung. Meiner These nach spiegelt sich darin ein Aspekt der Gegenwartskultur als einer Kultur der Inszenierung, als einer inszenierten Kultur. Schamanische Heilung wird erfahren, wird echt, indem sie aufgezeichnet und immer wieder von neuem aus Sicht der Kamera betrachtet werden kann. Deutlich vermittelt dies die Protagonisten der Dokumentation selbst: Als beim Betrachten ihres Videos die entscheidende Stelle erreicht wird, in welcher der Schamane die Trommel vor ihr Gesicht führt und anschließend die Krankheit aus ihrem Körper entfernt, beschreibt die Patientin, dass sie sich in diesem Moment so schön gefühlt habe, wie dies im normalen Leben nicht möglich sei. Der Moment der Behandlung stellt für sie einen ekstatischen Glücksmoment dar. Da dieser mit geschlossenen Augen, aber im Bewusstsein eines nicht unerheblichen Publikums erfahren wird, repräsentiert die Selbstaneignung der Videoaufzeichnung des eigenen gefilmten Selbst so etwas wie die Rezeption in einem veränderten Bewusstseinszustand. Oder anders gewendet: Die Wahrnehmung der Patientin, dass sie sich im Moment der Heilung ganz und gar anders fühlte als im Moment der Betrachtung des Videofilms stellt eine Verifizierungsstrategie dar, die belegen soll, dass sie sich im Moment der Heilung tatsächlich in Trance befunden hat. Letzteres ist v.a. deswegen notwendig, da dies ja auf keinem Weg objektiv nachweisbar, aber unabdingbar ist für die Echt318 Ebd.

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heit der Behandlung und damit für deren Effektivität – vor anderen Menschen und vor dem Selbst. Derartige Videos von der eigenen Heilung sind daher weniger als Dokumentationen zu verstehen, denn als Identitätsstiftungen. Der gegenwärtige spirituell suchende Mensch stellt sich hier selber medial her. Im gegebenen Falle nicht nur sich, sondern auch seine Gesundung. Echt ist das, was nicht nur erlebt und erinnert werden kann, sondern was in audiovisueller Form reproduzierbar ist. So tritt zur individuellen Wahl und dem persönlichen Erlebnis die mediale Repräsentation als Garant von Authentizität. Dass dies nicht ohne Konsequenzen für die Effektivität des schamanischen Rituals bleibt, sollte nicht überraschen. 4.6.6 Tacit knowledge, tacit performance und tacit experience Neben dem oben erörterten extensiven Moment der schamanischen Heilung in der hergestellten Öffentlichkeit tritt ein intensives: Das der Erfahrung einer heftigen körperlichen Berührung und Nähe zu einem fremden Menschen, jenseits der sonst in der postmodernen Gesellschaft kultivierten Individualisierung, Subjektivierung und Atomisierung. Nach dem Heilungsritual erzählt die Patientin des obigen Dokumentarfilms, dass sie nie einem Menschen näher gewesen wäre als dem Schamanen während des Rituals, auch nicht ihrem Freund. Es wäre eine Berührung gewesen, die bis nach innen gegangen wäre, bis an ihre innersten Organe. Mit Sexualität hätte dies nichts zu tun, vielmehr wäre es bedingungslose Akzeptanz gewesen, die sie verspürt hätte. Dass Schamanen über ein tacit knowledge verfügen, über ein Berührungswissen, das über explizites Wissen bzw. bestimmte technische diagnostische Fähigkeiten hinausgeht, wurde an anderer Stelle319 gezeigt und thematisiert.320 Weitaus weniger thematisiert wurde dagegen, dass dem tacit knowledge des Schamanen eine darstellende Bewegung desselben korrespondiert, die ich als tacit performance bezeichnen möchte: Ausgehend von der ganzheitlichen Rezeptivität des Klienten, 319 Vgl. Mayer, Gerhard: Schamanismus in Deutschland. Konzepte-Praktiken-Erfahrungen, Würzburg 2003. 320 Interessanterweise wird dieses tacit knowledge z.B. von den Veranstaltern des Kongresses so beschrieben, dass der Schamane den Klienten mit Trommel und Hand „scannt“. Einerseits wird im Schamanen so eine verkörperte Gabe gesehen, die die westliche naturwissenschaftliche Gerätemedizin transzendiert und auch übertrumpft. Andererseits wird diese Gabe gerade in einer Terminologie beschrieben, die gerade aus der technischen Beschreibungssprache stammt. So spiegelt der westliche Besucher oder Veranstalter des Kongresses natürlich seine bleibende Verwurzelung und Begründungsnotwendigkeit im naturwissenschaftlichen Weltbild trotz aller Annäherung an die schamanische Variante. Vgl. Mayer, Gerhard: Schamanismus in Deutschland. KonzeptePraktiken-Erfahrungen, Würzburg 2003.

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verleiht der Schamane seinem tacit knowledge choreografisch Ausdruck, indem er geistige Vorgänge durch entsprechende Bewegungen, symbolische moves, verleiblichte Kosmologien abbildet. Der Klient nimmt so den Heilungsvorgang, der an ihm geschieht, nicht nur theoretisch-rational sondern leiblich-sensitiv mit allen Sinnen wahr. So geht es viel weniger um das rein kognitive Verstehen als um ein eigenes Nachvollziehen des Heilungsgeschehens mit der ganzen Person. In Fortführung des Konzeptes der tacit performance schlage ich vor, diese Response auf Seiten des Klienten als tacit experience zu bezeichnen. In der Erfahrung einer Berührung eines vollkommen Fremden, die jedoch trotzdem durch einen Kontext des Vertrauens gerahmt ist, liegt meines Erachtens der entscheidende Faktor, der für die Wirksamkeit des vollzogenen Rituals verantwortlich zeichnet. Dies umso mehr, als eine weitverbreitete Unzufriedenheit mit der Technisierung der westlichen Apparatemedizin zu beobachten ist, die zur Suche nach Berührung, Verständnis, Zeit und Ausstrahlung in alternativen Heilbeziehungen führt. Der Schamane strukturiert daher zunächst in seiner Einführung die Basis eines partiell gemeinsamen Weltbildes, indem er in die schamanische Kosmologie und die darin eingebettete Bedeutung von Krankheit und Heilung einführt. Darüber hinaus erweist er sich selbst durch den legitimierenden Rahmen, welchen ihn die Kongressorganisatoren setzen, und seine eigene implizite Expertise als kompetenter und authentischer Spezialist in Heilungsfragen. Er wird so zur Vertrauensperson, die eine Erfahrung menschlicher Nähe jenseits der sexualisierten Gesellschaft und bedingungslosem Akzeptiertwerden ermöglicht. Dabei soll die Berührung des Fremden abgesehen von dieser notwendigen Basis des Vertrauens bewusst fremd bleiben, unbegreiflich, denn nur so kann sie den Raum offen halten für eine ebenso unerklärliche Heilung. Dass die öffentliche Berührung der Patientin durch einen männlichen Schamanen in einer ansonsten kulturell tabuisierten Form Brisanz und Reflexionsbedarf in sich tragen kann, zeigte sich dann u.a. auch darin, dass dieser Aspekt des Rituals ex post explizit öffentlich diskutiert wurde. Dabei war die Patientin in ihrem selbstreflexiven Diskurs um eine potentielle sexuelle Note der Berührungen sichtlich darum bemüht, diese zu widerlegen, denn dies könnte als Zeichen der Inauthentizität des Schamanen gedeutet werden. So wird vom Schamanen einerseits erwartet, dass er sich nicht scheut, von Krebs befallene Körperpartien zu berühren, andererseits soll er moralisch integer sein und keine abwegigen Gedanken dabei hegen. Der fremde Heiler bürgt für die notwendige Überschreitung eingefahrener Grenzen und den damit eröffneten kreativen Ausbruch aus vorgegebenen Rollen und zugleich für die edle Gesinnung. Eingebettet ist diese doppelte Erwartung nicht zuletzt in den Gesamtkontext des Kongresses. Eine interessante Parallelität wird sich zeigen: Was für das Detail des Heilungsrituals gilt, trifft auch auf die Dynamik des Events als Ganzes zu. Das soll im Folgenden deutlich werden.

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4.6.7 Räume der Identitätssuche Aufschlussreich ist zunächst ein Blick auf die Lebensthemen, die Teilnehmer zum Kongress mit- und einbringen: Neben Krankheit und Traumata begegnen oftmals Fragen der Weiblichkeit / Männlichkeit, der Partnerschaft, der Spannung zwischen Beruf und Berufung, von Schuld und belasteten Beziehungen, alter Wunden oder Probleme mit den Eltern. Während nun der Alltag und das Berufsleben der Kongressteilnehmer von zeitlichem Stress und Anonymität geprägt sind, stellt die Beschäftigung mit dem Schamanismus für viele einen Ausgleich dar, eine Möglichkeit der Beschäftigung mit Spiritualität. Der Schamanenkongress bildet so den Raum, in welchem über Dinge gesprochen werden kann, die sonst nicht expliziert werden können. Er füllt einen Leerraum, ein Sinn-Vakuum, welches durch die individualisierte und kapitalisiert postmoderne Erlebenswelt nicht ausgefüllt werden kann. Schamanismus wird so ein Gegenprogramm zur postmodernen Alltagsexistenz. Eine Verstärkung findet dieser Prozess darin, dass der Kongress eine Gruppendynamik derart entfaltet, dass es zur ansonsten seltenen Begegnung und Bestärkung durch die peer group führt. Menschen mit gleichen Interessen und Weltanschauungen, Unruhen und Wünschen treffen sich und können sich zwanglos austauschen. Dieser spielerische Charakter des Kongresses schafft so bewusst die Möglichkeit, einen Raum, um aus den Zwängen der Alltagsregeln ausbrechen zu können, jemand anders sein zu können. Dies äußert sich nicht nur in nichtalltäglichen Kleidungen, Gesprächsthemen und -formen, sondern auch in expressiven Momenten des Tanzes, des Berührt- und Umarmtwerdens, der akzeptierten Äußerung von Schmerz, Schreien, Weinen etc. Eine destabilisierende und Gewohnheiten auflösende Funktion des Kongresses öffnet zugleich die Möglichkeit, aus eingeschliffenen Verhaltensmustern, die vielleicht unbefriedigend geworden sind, auszubrechen und neue zu erproben. Victor Turner hatte zur Beschreibung des Spannungsbogens einer solchen Zeit den Begriff der Liminalität eingeführt. Alte Bindungen werden relativiert, der Ritualklient betritt eine Zone der Ungebundenheit, um dann neue Formen zu prägen. Das chaotische Element dieser liminalen Zeit des Kongresses stellt die Voraussetzung dar, dass Menschen als andere nach Hause kehren, als sie angereist waren. Doch würde man ein einseitiges Bild zeichnen, rekurrierte man lediglich auf die ordnungsdestabilsierenden Faktoren des Kongresses. Der Ausbruch aus dem Alltag geschieht nämlich als kontrollierter Ausbruch, als sanfte Revolte, oder vielleicht als Wellness-Erfahrung. Eine entscheidende Rolle dazu spielt das Setting des Kongresses, das einem bewusst holistischen Ansatz folgt. Beschreiben würde ich es in der Kategorie des Gesamtkunstwerkes.

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4.6.8 Zusammenfassung Tyvanische Schamanen auf internationalem Parkett, das war der Ausgangspunkt dieses Kapitels, treffen auf Schamanenkongressen ihre Kollegen aus allen Weltteilen. Sie sind die präsentierenden Teilnehmer, die mit spirituell Suchenden, Schamanenschülern, Organisatoren, Forschern und oft auch medial wirksamen Menschen interagieren. Der Begriff des spirituellen Events skizzierte dabei, wie sich eine Gruppe von Menschen zu einem zweckbestimmten Ereignis in begrenztem Zeitumfang unter impliziter Übereinkunft ihrer Ziele und unter dem Zeichen wirklichkeitsherstellender Marker von Spiritualität trifft, um an einem vielfältigen Sinnangebot als Alternative zu materialistischen Weltorientierungen zu partizipieren. Die gleichzeitige Schaffung einer identitätsstiftenden peer-group wie einer das postmoderne Individuum widerspiegelnden Seminar- und Messestruktur bietet, so meine These, den Raum, um das Fremde als alltagsdestabilisierendes und Kreativitäten freisetzendes Element zu inszenieren. Ursprünglichkeit und Anschlussfähigkeit an die Kondition der Postmoderne bilden dabei keinen Widerspruch sondern werden plausibilisiert. Heilung, als zentrales Thema der in der Veranstaltung durchgeführten Rituale, wird durch die Herstellung von Öffentlichkeit und leiblicher Berührung kanalisiert. Sowohl das Publikum als verständnisvoll partizipierendes Forum und Garant der Echtheit des Schamanen, der implizite Kontrakt mit dem Schamanen, als auch die Wirkung reflexiver Medialität tragen zu deren Effektivität bei. Einem Patienten, der sich selber zum Publikum wird, und einem Ereignis, das erst durch seine mediale Repräsentation vollständig hergestellt wird, korreliert eine Erfahrung körperlicher Berührung und Nähe zu einem fremden Menschen. Das tacit knowledge des Schamanen findet so qua seiner tacit performance einen Niederschlag in der tacit experience des Klienten. Der Heilungsvorgang wird daher nicht nur theoretisch-rational, sondern leiblich-sensitiv wahrgenommen. Schlussfolgerung war, dass die Berührung eines Fremden im Kontext des Vertrauens verantwortlich zeichnet für die Wirksamkeit des vollzogenen Rituals, das als bewusst fremd gehaltene Erfahrung den Raum öffnet zur Explizierung von Nöten und zum Füllen des postmodern empfundenen Sinnvakuums. Auf spielerische Weise bietet der Schamanenkongress so ein Gegenprogramm, das den Ausbruch aus eingeschliffenen Verhaltensmustern und Zwängen des Alltags ermöglicht – dabei jedoch in kontrollierter Weise im Rahmen der gegenwärtigen Wellness-Bewegung verbleibend. Was dieses Kapitel geleistet hat, war die Verortung derjenigen Schamanen innerhalb ihres Praxiskontextes, deren Biografien zuvor eingehend besprochen wurde. Es war notwendig, um die Dynamiken darzustellen und zu erläutern, im Rahmen derer sie ihre übersetzenden und rekontextualisierenden Leistungen erbringen. Sein Ziel war es, ein Bild zu schaffen vom Gegenüber tyvanischer oder anderer interna-

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tionaler Schamanen und beide in eine gemeinsame Handlung einzuzeichnen. An dieser Stelle wird es interessant, weiter zu fragen, wie die Teilnehmer derartiger Schamanenkongresse oder ähnlicher Veranstaltungen aufmerksam und von der Echtheit des dort Gebotenen überzeugt werden. Zu untersuchen sind daher nun die vermittelnden Schnittstellen, ergo die medialen Angebote im Hinblick auf die in ihnen geführten Diskurse. Der Rolle des fremden Schamanen wird dabei besondere Aufmerksamkeit zu Teil werden.

4.7 D ER FREMDE S CHAMANE N EOSCHAMANISMUS

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4.7.1 Ziele einer Diskursanalyse der neoschamanischen Kosmologie Aufbauend auf den verschiedenen Formen medialer Werbemittel wie Webpages, email-newslettern, Flyern, Messekatalogen, Plakatanschlägen und Reisebroschüren, soll im Folgenden diskursanalytisch untersucht werden, wie Anbieter schamanischer Veranstaltungen ein Authentizität vermittelndes Angebot generieren und beim Publikum Interesse daran wecken. Dazu wird es in einem ersten Schritt notwendig sein, den linguistischen Kosmos, die Sprachwelt des gegenwärtigen westeuropäischen Schamanismus zu skizzieren. Eine derartige Benennung von Grundthematiken und ihrem zugehörigen Vokabular wird fragmentarisch und von bleibender Unschärfe bleiben müssen, dennoch ist eine Skizzierung des sprachlichen Grundfeldes möglich und ausreichend. Darauf aufbauend wird dann im Besonderen zu analysieren sein, welche Rolle darin dem Topos der fremden Kultur zukommt und wie Echtheit und Autorität des fremden Schamanen konstituiert werden. Da die Begegnung mit letzterem nicht nur in hiesigen Seminaren und Kongressen organisiert ist, sondern auch auf Reisen z.B. in die Republik Tyva, sind in diesem Zusammenhang auch die zugehörigen Ausschreibungen auf die ihnen inhärenten Verweise auf Schamanisches zu untersuchen. Aufbauend auf den vorherigen Beschreibungen von Interaktionen des Schamanen mit seinem Publikum in europäischem und sibirischem Kontext, wird nun in diesem Kapitel noch einmal explizit die sprachliche Komponente des Diskurses in den Blick kommen. 4.7.2 Das sprachliche Pantheon des Neoschamanismus Zentrum der Sprachwelt schamanischer Angebote, unmittelbar wirksamer Aufmerksamkeits-magnet und erste Perspektive, auf welche alle übrigen Aspekte in letzter Konsequenz zurückbezogen werden, bildet das Individuum. ‚Wachsen auf

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dem spirituellen Weg‘, um zu ‚höheren, spirituellen Ebenen‘ zu gelangen, die ‚Reise zu sich selbst‘, zur ‚inneren Wirklichkeit‘ oder dem ‚Wesen‘ sind die Ziele, die die Beschäftigung mit dem Schamanismus in Aussicht stellen. ‚Lebensthemen‘ zu benennen und das ‚Überschreiten mancher persönlicher Schwellen‘ sind die ‚Entwicklungs- und Heilschritte‘, die eine ‚Integrale Therapie‘ ermöglichen. Eine derartige Zentriertheit um das Individuum teilen schamanische Angebote mit anderen Formen esoterischer Suchbewegungen. Entscheidend ist daher hier zu zeigen, welche semantischen Felder an diese Mitte des Subjekts angeschlossen werden. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit der Beschreibung lassen sich folgende Motivgruppen benennen:





1. Wellness und Körperbetonung 2. Antirationalismus 3. Gegenwartskritik a) Verortung vs. Beschleunigung b) Ganzheit vs. Partikularisierung c) Sensibilisierung vs. Konsum 4. Parallelwelt(en) 5. Qua esoterischer Hermeneutik angeeigneter ethnologischer Diskurs

Tabelle 7: Neoschamanische Sprachuniversen Motiv: Wellness und Körperbetonung Heilung und Reinigung

Vokabular Heilarbeit, Heilzeit, Heilwissen, Healings, heilsamen Rituale, heilsame Offenbarungen, Purifikationsritual

Berührung

hautnahe Berührung mit der Kultur und Spiritualität der Navajo, berühren und begleiten

Bewegung Ästhetik

Tanz, Körperarbeit künstlerisches Rahmenprogramm, liebevoll gestaltete wunderschöne Trommeln, schamanische Schokolade

Feiern

Unbeschwert, Träumen, Frausein, Mannsein

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Motiv: Antirationalismus

Vokabular

Erfahrung

Erfahrbarkeit, Erlebnisse, direkter Zugang und erfahrbare Verbindung mit dem All-Einen, mystische Erfahrungen

Kraft

Erleben der Kraft in schamanischen Ritualen, visionäre Kraft, kraftvolle Seminararbeit, schamanischen Gabe, Kraft der Liebe

Intuition

Herz, Hingezogensein, Botschaften vermitteln, Kreative Werkzeuge, Ruf zur Schamanin, heilsame Offenbarungen

Traum

Eintauchen, Sehnsüchte und Wünsche, traumhaftes Erlebnis, Geheimnisse des Trommelns, Traumreise

Motiv: Gegenwartskritik

Vokabular

Verortung und Archaizität vs. Beschleu-

Positiv: Uralt, ursprünglich, Wurzeln ehren,

nigung

Mutter Erde, Ahnenreihe, Spirits, ursprüngliche Spiritualität, traditionelle Heilmethoden Negativ: Tiefe Entfremdung zur natürlichen Welt, Erkenntnisflut, komplexer erscheinende Welt

Ganzheit vs. Partikularisierung

Positiv: Vision, Funktionieren des Ganzen, kollektives Verantwortungsbewusstsein, ökologisches Gleichgewicht, Männer- und Frauenarbeit Negativ: Egomanie, Glaubenssätze, Religionssystem

Sensibilisierung vs. Konsum

Positiv: Weisheit, tiefer Bewusstseinszustand, Weg in die Stille, Gefühl des Seins, ehrliche Begegnung, Achtung, Respekt, beschenkt sein, Bedeutung von Geburt, Leben, Tod, Wiedergeburt, Weisheit im Hier und Jetzt,

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Kraft der Liebe Negativ: Dualistische und materialistische Weltsicht

Motiv: Parallelwelt(en) Energie

Vokabular Sanfte Energie, Energieblockaden, energetische Arbeit, Lebensenergie

Geister

Spirits, Kraft- und Wirkfelder, die Verbündeten, die großen Geistern des sibirischen Schamanismus

Andere Wirklichkeit

Nicht alltägliche Wirklichkeit, Reise in die Anderswelt

Motiv: angeeigneter ethnologischer

Vokabular

Diskurs Kultur und Tradition

Indigene Völker, Erfahrungen, die normalerweise nur Einheimischen zugänglich sind, traditioneller Schamanismus, Kosmologie

Rituale

Purifikationsritual, Initiation der Frauen, Visionssuche, Medizinrad, Schwitzhüttenrituale, Trance

Materielle Gegenstände

Totems, Krafttiere, magisch geladenes Schutzamulett

 Den ‚Weg zum Selbst‘ beschreibt das neoschamanische semantische Universum so durch folgenden Eckpfeiler: Der Rückgriff auf Kategorien des Ethnologischen Diskurses und seiner Begrifflichkeiten der geistigen und materiellen Kultur, der Tradition und Rituale bildet die Grundlage für eine Kritik der Gegenwart und setzt dieser Verortetsein, Archaizität, Ganzheit und Sensibilisierung entgegen. Greifbar wird dies für das Individuum durch eine doppelte Haltungsänderung: Zum einen zu sich selbst, indem in Heilung und Reinigung, Berührung und Bewegung, Ästhetik und Feiern die eigene Körperlichkeit auf dem Genussweg betont wird. Dazu gehört

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auch gegen den Rationalismus die Kategorien der Erfahrung, Kraft, Intuition und Traum stark zu machen. Zum Anderen manifestiert sich diese Haltungsänderung aber auch gegenüber der Wirklichkeitswahrnehmung: Energien, Geister und Andere Wirklichkeiten hinterfragen die Alleinwirksamkeit der diesseitigen Welt und öffnen die Perspektive auf eine Parallelwelt. Welche Funktion erfüllt nun innerhalb dieses Netzes an Signifikanten und Argumentationsmustern die Abstammung des Schamanen aus einem fremdkulturellen Kontext? Es wird sich zeigen, dass die Legitimationsschemata, die den eingeladenen oder aufzusuchenden Schamanen als authentisch herstellen, mit denjenigen korrespondieren, die der spirituell Suchende aus der Lektüre (popular)ethnografischer Literatur als die ‚traditionellen‘ Weisen, ein Schamane zu werden, kennt. Dazu fügt sich oft ein Element der Bildung bzw. als Verantwortungsträger der institutionalisierten Bewahrung und Wiederbelebung etwa im akademischen Kontext des Abstammungslandes des Schamanen tätig zu sein. Dies stellt nur einen scheinbaren Widerspruch zur Betonung antirationaler Aspekte des menschlichen Bewusstseins dar, da sich der neoschamanische Diskurs des Westens durchaus bzgl. der oft prekären Situation indigener Völker ausdifferenziert hat. Zu beobachten ist darüber hinaus, dass die in den anderen Motiven gefundene, auf das Individuum zentrierte, identitätsstiftende Funktion auch den Schamanen als Repräsentanten des Fremden einholt. Das Individuum schafft seine Identität über einen Außenbezug und es resultiert daraus eine Rückkopplungsschleife der Identitätskonstruktion zwischen schamanisch Interessierten und schamanisch Praktizierenden. Um dies deutlich zu machen, ist ein genauerer Blick auf die Authentizitätsmotivik, wie sie meist in biografischen Notizen der bereits oben untersuchten Einladungen zu finden sind. 4.7.3 Der fremde Heiler und seine Funktion in Angeboten des westlichen Neoschamanismus Welche Rolle kommt innerhalb des oben skizzierten Koordinatensystems dem Topos der fremden Kultur und des Heilers, der dieser Kultur entstammt, zu? Wie werden Echtheit und Autorität des fremden Schamanen konstituiert? Zunächst ist auf die vielleicht banal anmutende Beobachtung einer triadischen Struktur der Namensgebung (Nomenklatur) hinzuweisen: Der erste Teil dieser Triade wird konstituiert durch eine funktionale Berufsgruppenbezeichnung, die durchweg einem positiv konnotierten Begriffsspektrum entnommen ist: Heilerin, Medizinmann, Schamane, Frau/Mann des Wissens, Mayapriesterin, Seherin, Lehrerin, Medium, Beraterin etc. Den zweiten Teil bildet eine meist fremdsprachliche und möglichst exotisch klingende Bezeichnung, die entweder an den indigenen Begriff des ersteren angelehnt ist oder einen spirituellen Rufnamen darstellt. Der dritte Teil schließlich wird vom Eigennamen des jeweiligen Praktizierenden einge-

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nommen. Alle drei Teile erfüllen eine spezifische Funktion. Rekurrierend auf die Tätigkeit des Heilens, der Bewahrung und Weitergabe von Wissen, des Erteilens von Rat und Weisheit, unterstellt die Berufsbezeichnung performativ eine Disposition des Praktizierenden zu ‚guten Absichten‘ und schließt damit gleichzeitig evtl. mit der Macht des Schamanen verbundene Fähigkeiten der Manipulation zum Schaden des Menschen kategorisch aus. Der Schamane wird dadurch als jemand konstituiert, dem man vertrauen kann, der gutmütig, hilfsbereit und aufgeschlossen ist. Diesem Moment der Herstellung von Nähe korrespondiert allerdings auch eine Konstruktion des für die Effektivität der vom Schamanen vollzogenen Rituale notwendigen Abstandes: Exotisierende termini, teils übersetzt, teils monolithisch angeschlossen, kreieren eine Aura des Fremden, Unbegreiflichen und Unnahbaren. Der schließlich folgende Eigenname garantiert die Individualität des Angebots als Korrelat der allgemeinen Überzeugung alternativer Spiritualität, dass Authentizität durch Verweis auf die persönliche Erfahrung und Wahrhaftigkeit gestiftet wird. Schon bei der Namensgebung der Praktizierenden lässt sich daher eine Doppelbewegung mit verschränkender Funktion feststellen: Einerseits wird das Fremde angeeignet und in den eigenen Kontext hineingezogen. Andererseits soll die Fremdheit, wenn auch in nominalistischer Weise, wie hier angezeigt, bestehen bleiben, damit der Heiler seine Aufgabe erfüllen kann: Nur qua seiner Fremdheit, die einen Projektionsraum des Mystischen und Geheimnisvollen öffnet, kann er im neoschamanischen westlichen Kontext die Kräfte entfalten, die ihm zugewiesen werden. Zur Veranschaulichung mögen folgende Beispiele dienen:  - Dancing Thunder, Medizinmann und Häuptling der Susquehannock - Wai Turoa-Morgan, Maori Schamanin und Matakite, Heilerin und Seherin - Ahamkara, Altai-Schamane und Heiler - Elliott Rivera, Sangoma und Heiler, Spiritualist/Medium, Priester der Yemaya - Angaangaq, Eskimo Elder der Kalaaliit Grönland Da der spirituell Suchende in seiner Alltagswirklichkeit an die Dynamiken des kapitalistischen Marktes gewöhnt ist und daher eine Reichhaltigkeit des Angebotsspektrums zumindest implizit erwartet, setzt hinsichtlich des Begriffes des Schama-

321 Weitere Beispiele, die ebenfalls dem triadischen Muster folgen, sind: Margareeta Blues Star Bakker, Heilerin und Medium, Feuerfrau; Galsan Tschinag, Schamane, Dichter und Häuptling der Tuwa; TiEngErie Diarra, traditioneller Heiler und Schamane vom Stamme der Bambara in Mali; Standing Eagle, medicine person der Anasazi und Yaqui.

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nen ein Differenzierungsprozess ein, der dieser Grundhaltung begegnet: Es ist nicht mehr nur von ‚Schamanen‘ die Rede, sondern von ‚Altai-Schamanen‘, ‚Mongolischen Schamanen‘, ‚Schamanen der Santerie‘, ‚Schamanen der Maya‘ etc. Einerseits kann dies als Sensibilisierung der esoterischen Szene gegenüber der kulturellen Spezifität und Gebundenheit betrachtet werden, andererseits geraten doch auch diese Begriffe schnell in einen Prozess der Stereotypisierung und Vereinfachung, da auch sie zu wiederholten Signifikanten einer nur ausdifferenzierteren Exotiksehnsucht werden. Folglich haben sich bestimmte Regionen, Länder bzw. Kulturen als besonders geeignet für diese Verweisungsprozesse herausgebildet, darunter die Schamanen Sibiriens, Indianer Nordamerikas, Nepal, Ecuador, die Mayas Guatemalas und Mexikos, Korea, verschiedene Afrikanische Kulturen, etc. Durch diesen Prozess der Typisierung sind sie zu etwas wie einem Standardkanon geworden, auf welchen immer dann zurückgegriffen werden kann, wenn eine Begründung exotischer Autorität gewünscht ist. Neben der hier skizzierten triadischen Struktur der Namensgebung, lässt sich darüber hinaus ein Grundbestand an Argumentationen benennen, die im Diskurs zur Legitimation der Traditionalität der fremdkulturellen Schamanen appliziert und verstanden wird. Darunter fallen u.a. folgende Plausibilisierungsmuster: 1. Familiäre Vermittlung: Geborenwerden in einer Familie, die traditionelles Wissen weitergab, und / oder Großmutter war ‚Medizinfrau‘, Vater ‚Mann des Wissens‘ etc. 2. Wissen erhalten von archaischen Vorfahren, etwa den Ahnen der Eiszeit 3. Abstammung aus einem Nomadenvolk (Tuwa, Kasachen, etc.) 4. Adoption durch ein indigenes Volk 5. Übertragung der Kräfte durch einen Lehrer 6. Ausbildung, Initiation durch einen Lehrer 7. Persönliche spirituelle Suche, Erfahrungen und Erforschungen, Begegnungen mit Meistern 8. Entwicklung zum wounded healer: Nach Schicksalsschlag selber zum Heiler werden Wie bereits eingangs erwähnt, handelt es sich hierbei im Wesentlichen um aus der Ethnografie entnommene Begründungsstrategien, die teilweise den tatsächlichen Verhältnissen in den jeweiligen Kulturen entsprechen, teilweise aber auch an die Grundannahmen esoterischer Bewegungen adaptiert wurden. Genealogische Kausalitätsherstellungen stehen so neben Verweisen auf Erfahrungen des Individuums, die als Grundlage der Anerkennung dienen. Diese Differenz wird als nicht exklusiv wahrgenommen, sondern eher als komplementär. Darin liegt auch die Ursache, dass die Tatsache einer ‚Verwurzelung‘ des Schamanen in seiner jeweiligen ‚traditionellen‘ Kultur nicht im Widerspruch gesehen wird dazu, dass er sich

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auf weltweite Reise begibt und sein Wissen nicht im Kreise seiner Familie weitergibt, wie er selbst es erhalten hat, sondern auf Kongressen in Westeuropa. Dass hierin dennoch eine Wurzel für kognitive Dissonanz liegen kann, zeigen die impliziten Rationalisierungen dieses Prozesses: Der kulturelle Übersetzungsprozess, den die Schamanen leisten, ist nicht nur eine notwendige Hürde, sondern ihr expliziter Auftrag: Als ‚Wanderer zwischen Ost und West‘ sind sie ‚Botschafter einer anderen Kultur‘ und ‚auserwählt, verlorenes Wissen nach Nordamerika und Europa zurück zu bringen‘. Aus ‚persönlicher Überzeugung vermitteln sie ihre Kultur, damit die Welt einen Teil dieser wunderbaren Tradition kennen lernt‘. Sowohl die Authentizität der Abstammung als auch die Legitimität der Grenzüberschreitung sind so begründet. Worin liegt nun die Funktion dieser Schamanen für den spirituell Suchenden, der sein Seminar besucht? Meiner These nach ist der Schamane in seiner Fremdheit ein Garant sowohl von Echtheit als auch der Möglichkeit, einen Raum für die Imagination neuer Lebensmustern zu öffnen und offen zu halten. Er ist zwar archaisch wild und ursprünglich, aber zugleich ‚persönlich, humorvoll und herzlich‘. Er hat die Macht, Krankheiten auszutreiben und ist zugleich ‚sanft und einfühlsam‘. Der Schamane symbolisiert und manifestiert so das destabilisierende Element, das hilft, die als einzwängend erfahrenen Regeln der Alltagswelt und ihrer Verhaltensgewohnheiten zu durchbrechen. ‚Mit Wissenschaftlern erleben Sie angewandtes archaisches Wissen aus den Heilweisen der Natur‘ – es ist eine abgesicherte Destabilisierung, die der Schamane dem westlichen Publikum in einem Seminar bietet. Denn die von der Großmutter initiierten Kinder eines Nomadenclans sind zugleich ‚Mitbegründerin der Internationalen Konföderation der Naturheilkunde‘, publizieren Bücher und haben Anthropologie studiert, arbeiten als ‚Projektkoordinatoren‘ und haben eine ‚Professur für Schamanismus‘ inne. Der Schamane wird so inszeniert als authentischer Wegbereiter zu neuen Verhaltensweisen – ‚ursprünglich und wild‘, gekennzeichnet durch ‚Einfachheit, Menschenkenntnis, Intuition‘ – ein echter Heiler. Zu vermuten ist, dass hier all diejenigen Muster anzutreffen sind, die Klienten im Gesundheitssystem, das sich der naturwissenschaftlichen Gerätemedizin verschrieben hat, gerade vermissen. 4.7.4 Die Organisatoren von Schamanenseminaren und Kongressen Die hier beschriebenen Seminare, Kongresse und Kurse, die Schamanen geben, schweben nicht im freien Himmel. Meist finden sie statt innerhalb eines Rahmens, der von westeuropäischen alternativ spirituell, u.U. besonders an dessen schamanischen Manifestationsformen interessierten Menschen organisiert wird. Da dieser institutionelle Rahmen in Wechselwirkung tritt mit den Selbstdarstellungen und rituellen Praktiken der Schamanen, lohnt ein Blick darauf, wie sich diese Organisa-

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toren selber präsentieren und worin sie ihre Aufgabe benennen. Schamanen wechseln zwar durchaus zwischen den verschiedenen Organisatoren oder arbeiten einer Tournee gleich die verschiedenen Hauptveranstaltungen im Verlauf eines Jahres ab. Sie verfügen den Organisatoren gegenüber daher zum einen über Unabhängigkeit, andererseits sind sie aber auch angewiesen auf deren kybernetisches know-how. Letztere Kompetenz der Planung betonen die einladenden Institutionen dann auch explizit im Hinblick auf die Organisation schamanischer Veranstaltungen im Westen. Welche Aspekte sie dabei hervorheben, spiegelt zugleich ihre Perspektiven auf Möglichkeit und Wichtigkeit von Faktoren, die diese determinieren: „Schamanenkongress ‚Treffen der weltbesten Schamanen‘ Vom 7. bis zum 12. Mai 2008 veranstaltete der Verein SCHAMANISMUS & HEILEN seinen 7. Internationalen Kongress. Der Kongress am österreichischen Mondsee stand unter dem Titel ‚SCHAMANISMUS & HEILEN – Die Kraft der Wandlung’. Fünfzehn HeilerInnen und SchamanInnen aus fünf Kontinenten waren anwesend, die das traditionell überlieferte Wissen ihrer alten Kulturen vermitteln wollten und daran interessiert waren, sich über die Herausforderungen unserer neuen Zeit auszutauschen. Kompetente Wissenschaftler, schamanisch arbeitende Heiler aus unserem Kulturbereich und bekannte Künstler haben sie dabei unterstützt.“322

Die Organisatoren beanspruchen für Ihre Veranstaltung gleichsam eine weltweite Abdeckung aller Kulturkreise. Nicht nur sei es ihnen gelungen, einen Brückenschlag ‚traditioneller‘ Kulturen in den Westen zu ermöglichen, sondern auch zwischen Wissenschaft und Schamanismus. Und wie es der holistische Ansatz der gegenwärtigen Event-Kultur fordert, gehörte dazu auch noch die Einbeziehung eines künstlerischen Rahmenprogramms. Dass diese Verbindung eines Rückgriffs auf das Archaische mit den zeitgenössischen Ansprüchen an eine postmoderne durchorganisierte Veranstaltung, die den Besuchern auch einen gehörigen Service bietet, keine Zufälligkeit ist, zeigt ein Blick auf das Grundsatzprogramm eines zweiten Organisators: „BlueJay sieht sich als zentralen Punkt, an dem Heiler, Medizinmänner & Medizinfrauen und Schamanen aus vielen verschiedenen Kulturen, Traditionen und Ländern dieser Erde mit interessierten Menschen, die von ihnen lernen wollen, zusammen treffen. Die Idee dazu ist aus dem Wunsch entstanden, von Heilern, Medizinmännern & Medizinfrauen und Schamanen zu lernen und dies mit anderen zu teilen. Die Absicht dabei ist, den best möglichen Service zu bieten, so dass sich alle Beteiligten willkommen, versorgt und wohl fühlen [...].“323

322 www.schamanenkongress.de. 323 www.bluejay.eu.

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Auch hier geht die Betonung der Angebotsvarietät eines kulturell ausdifferenzierten Programms einher mit einem kulturübergreifenden Brückenschlag und dessen perfekter, serviceorientierter Durchführung. Interessant ist diese Betonung des schamanischen Ereignisses als Genuss v.a. deswegen, weil beide Veranstalter zugleich eine Kritik an der gegenwärtigen Konsumgesellschaft und dem ihr zugrundeliegenden Weltmodell anschließen: „Aus unserer dualistischen und materialistischen Weltsicht ist eine tiefe Entfremdung zur natürlichen Welt entstanden. Die Erkenntnisflut der modernen Naturwissenschaften macht die Spezialisierung des Einzelnen in einer immer komplexer erscheinenden Welt notwendig. Das Verständnis, wie das Einzelne ineinander greift und zum Funktionieren des Ganzen beiträgt, stellt sich nicht mehr ein. Dies führt dazu, dass detailliertes Spezialwissen und die Gier nach Reichtum höher bewertet werden, als kollektives Verantwortungsbewusstsein und ein intuitives Gesamtverständnis. Dadurch sind unser soziales Gefüge und das ökologische Gleichgewicht der Erde bedroht. Die Folgen von Überforderung für unsere körperliche und psychische Gesundheit werden immer deutlicher. Individueller und kollektiver Wandel sind zum Imperativ des Überlebens geworden. Während das Weltbild moderner westlicher Kulturen darauf beruht, die Welt zu zertrennen, zu sezieren, zu unterteilen und zu kategorisieren, basiert die schamanische Weltsicht auf der Integration vieler Wirklichkeiten. Während der Mensch des Westens unterscheidet zwischen Innen und Außen, Leben und Tod, Geist und Natur, Traum und Realität, verstehen sich SchamanInnen als Wanderer zwischen den Welten. Wo der westliche Mensch Zäune einzieht, sind Schamanen die Zaunkönige, die Kraft ihres Bewusstseins, ihrer Rituale und ihres Wissens um die Geheimnisse der Natur scheinbare Gegensätze überwinden und verbinden. Wo die westliche Welt linear denkt und Sicherheiten sucht, denken SchamanInnen zyklisch und begleiten seit Urzeiten Menschen durch Wachstumskrisen. Sie sind damit die Spezialisten für Wandlung.“324

Die Organisatoren des Schamanenkongresses schaffen mit ihrer Kritik an der Gegenwartskultur ein Forum für alle diejenigen, die mit dem Mainstream zeitgenössischer Lebensmodelle nicht zufrieden oder einverstanden sind. Sei es die Überforderung durch die kontinuierlich wachsende Menge an Informationen und Wissen, sei es die Partikularisierung und Atomisierung des Weltbildes sowie der mit der Postmoderne unaufhaltbare Verlust aller umfassenden Deutungssysteme oder die ökonomischen, sozialen und ökologischen Krisen – jeder findet hier einen Anknüpfungs- und Identifikationspunkt. Doch der Schamanenkongress bietet nicht nur einen Raum des Austauschs und der sozialen Kontakte aller Unzufriedenen. Er bietet mit den Schamanen und der von ihnen mitgebrachten Weltdeutung auch gleich eine Alternative zum als ungenügend empfundenen System. Der Schamane schafft es nicht nur Grenzen aufzubrechen, Gegensätze zu überwinden und Wachs324 www.schamanenkongress.de.

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tumskrisen(!) zu meistern, sondern er offeriert qua der von ihm ermöglichten spirituellen Erleuchtung umfassende Verantwortung für die Zukunft: „Es ist im Moment die Zeit des spirituellen Erwachens, in der ursprüngliches und zeitnahes Wissen, Rituale und Heilmethoden zum ersten Mal an eine weitere Öffentlichkeit vermittelt werden und wo traditionelle Spiritualität zurück gewonnen und wieder belebt wird. Heiler, Medizinmänner & Medizinfrauen und Schamanen geben ihre Weisheiten, Erfahrungsschätze und ihr Wissen an all jene weiter, die von ihnen lernen möchten. Viele dieser Lerninhalte waren bis vor kurzem nur für Eingeweihte, Stammesmitglieder oder Auserwählte zugänglich. Ich habe sehr große Achtung und sehr großen Respekt vor diesen Heilern, Medizinmännern & Medizinfrauen und Schamanen und ich sehe es als großes Privileg an, dass es nun möglich ist, von diesem Wissen und diesen Weisheiten mehr zu erfahren. Auf diese Weise können wir besser verstehen und auf unserem Weg durch das Leben wachsen. So sind wir fähig, anderen zu helfen und unseren Beitrag an Mutter Erde und Vater Himmel zu leisten. Und wir können uns um die Welt kümmern, damit sie ein wunderschöner Platz zum Leben für uns, unsere Kinder und deren Kinder bleibt.“325

Die Kongressveranstalter beanspruchen für sich, eine Übersetzungsleistung zu erbringen von ‚ältesten Traditionen‘ in die Gegenwart. Sie beanspruchen zugleich, dies bruchlos für das postmoderne Publikum und gemäß dessen Ansprüchen meistern zu können. Deutlich wird jedoch aus ihrer Selbstdarstellung, dass sie die Heiler aus den fremden Kulturen gerade nicht unbedarft und kultursensitiv in den hiesigen Kontext einführen, sondern explizit instrumentalisieren: Die Schamanen sollen alles das gerade biegen, was in der postmodernen Gesellschaft Westeuropas schief läuft. Sie sollen den Sinn, den Zusammenhalt und die Vision wiederherstellen, die unter den gegenwärtigen Bedingungen nicht mehr problemlos zu haben sind. Dass die Organisatoren dadurch, dass sie dies in Aussicht stellen, ihr ursprüngliches Unternehmen eines Brückenschlags ad absurdum führen, scheint sich auf die Beliebtheit derartiger Veranstaltungen nicht negativ auszuwirken. Daher ist in letzter Konsequenz zu schlussfolgern, dass es dem Klientel weniger um die faktische kulturelle Übersetzung als vielmehr der Beantwortung der zweiten Frage geht: Wie kann die Krise der eigenen Gesellschaft überwunden werden? 4.7.5 Das Vokabular der spirituellen Reiseanbieter Das bisher Geschilderte soll im Folgenden abschließend wie durch ein Prisma nochmals aus einem diametral anderen Blickwinkel gezeigt werden. Während die obigen Veranstalter Schamanen aus der ganzen Welt einladen, um z.B. in Deutschland auf einem Kongress teilzunehmen, ermöglichen Reiseanbieter auch die umgekehrte Bewegung: Der Klient macht sich selbst auf den (spirituellen Pilger-) Weg 325 www.bluejay.eu.

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zum Schamanen der fremden Kultur. Am Beispiel Tyva sollen daher einige Reiseangebote auf die ihnen inhärenten Diskurse zur Exotik des Landes im Allgemeinen und der dort zu treffenden Schamanen im Besonderen untersucht werden. Eine Unterscheidung hat sich dabei als sinnvoll erwiesen zwischen einerseits allgemeinen Rundreisen durch das ‚geheimnisvolle Sibirien‘, in denen der Besuch beim Schamanen zu einem unter vielen Exotika wird und andererseits explizit spirituell orientierten Reisen. Letztere lassen typischerweise die großen Touristenmagnete aus und suchen ‚alternative‘ Ziele auf, die aber in strukturähnlicher Weise dann doch Mainstream Ziele darstellen, nämlich des spirituellen Tourismus. Diese Differenzierung ist jedoch nur als heuristische zu sehen, da eine Definition, was ein spirituelles Ziel darstellt und was nicht, ins Leere greifen muss. Dies hängt vielmehr von den Erwartungen der Reisenden ab und es wird daher prinzipiell zahlreiche Überlappungen und Unschärfen geben. Viel interessanter als eine derartige wesensmäßige Unterscheidung ist es auch, die qua bestimmter Signifikanten in Aussicht gestellten Erlebnisse auf die ihnen zugrundeliegenden Argumentationsstrukturen zu untersuchen. Meine These hierzu lautet, dass Indizien für eine grundsätzliche Koinzidenz im Habitus gegenüber dem fremden Land zu verzeichnen sind: Man fährt dorthin, um sich etwas zu holen, um etwas mit nach Hause zu bringen. Ziel ist, das eigene Leben für eine kurze Zeit zu verlassen, um in der Begegnung mit dem Außergewöhnlichen das Eigene wieder erträglich zu gestalten. Interessanter als das Land selbst sind die Wünsche und Ziele die mitgebracht werden. Im Wesentlichen sind es auch diese, die erfüllt werden – auch und v.a. in der ‚Begegnung‘ mit dem Schamanen, welcher das bietet was der Reiseanbieter ihm aufträgt. Und dieser trägt ihm das auf, was er denkt, dass es die Touristen am besten zufriedenstellt. Zunächst aber zu den konkreten Ausgestaltungen der Reiseangebote. Neben dem Baikalsee, dem Altaigebirge, der Mongolei und Kirgisien hat der Reiseanbieter Baikal-express.de326 auch eine Reise nach Tyva im Programm: ‚Tuva, 326 Vgl. auch ähnliche Angebote von www.baikaltours.de: „Mythen Sibiriens. Eine Rundreise im geographischen Zentrum Asiens durch Tuva und Chakassien mit einer Transsib-Fahrt zum Baikalsee“ oder „Schamanen-Tour. Eine esoterische Reise zu den Schamanen Sibirien“. Zum Schamanimus wird dort Folgendes erklärt: „Der Schamanismus basiert auf den Naturerscheinungen und gehört zu den ältesten Religionen der Menschheit. Die Schamanen haben ihre Rituale und Gebräuche über die Jahrtausende bewahrt. Ziel dieser Reise ist, dem zivilisierten Menschen zu erleichtern, seine wahre Rolle in dieser Welt zu verstehen und zur Natur und zu sich selbst zu finden. Sie werden mit der Philosophie und den Heilpraktiken der ‚Medizinmenschen‘ vertraut gemacht und erleben Vorträge sowie echte Zeremonien an verschiedenen heiligen Stätten. Neben dem authentischen Thema stehen die Begegnungen mit Menschen und faszinierender Natur. Ihre Tour beginnt in der Republik Tuva, in der etwa 300 Schamanen aktiv praktizieren. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ist diese Religion gesetzlich

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das Land der Schamanen‘. Dort finde der Reisende nicht nur unterschiedlichste Landschaften und eine so große Vielfalt verschiedener Kulturen, sonder auch eine der restlichen Welt unbekannte Vielzahl ‚uralter Traditionen‘. Diese ‚unvergleichliche Vielfalt des tuvinischen Gebietes‘, seine ‚geringe wirtschaftliche Erschließung‘, die ‚artenreiche und interessante Flora‘, seine ‚reine Luft‘, ‚hohen Gebirge, Wälder, Bergsteppen, Rentiere und Kamele‘, der ‚Jenissei sowie viele heiße Quellen‘ machten Tyva zum idealen, ‚unberührten‘ Ziel327, um am ‚Mittelpunkt Asiens‘ die ‚sehr tief verwurzelte Religiosität traditioneller Bräuche‘ der Schamanen kennen zu lernen: „14. Tag: Kyzyl, Besuch einer Schamanen-Klinik. Nach der Besichtigung eines Buddhistischen Tempels in Kyzyl besuchen wir die Klinik der Schamanen. Hier werden Kranke nach der überlieferten Heilkunst der Schamanen behandelt. Wir erhalten selbst die Möglichkeit, uns von einem Schamanen untersuchen zu lassen oder im Gespräch mit ihm die Kraft seines Wirkens zu spüren. Am Abend findet im Camp ein schamanistisches Ritual statt. In der Mitte eines ringförmigen Feuers werden die einheimischen Schamanen die Geister um Gesundheit und Wohlergehen bitten und mit den traditionellen Gesängen und Instrumenten die Zeremonie begleiten.“328

‚Überlieferte Heilkunst‘ – ‚Kraft seines Wirkens‘ – ‚schamanistisches Ritual‘ – ‚traditionelle Gesänge‘ und ‚Zeremonie‘ sind die Stichworte, die cum grano salis eine erlebnisreiche Reise mit einem netten Lagerfeuerabend abrunden – am nächsten Tag geht es dann auch gleich wieder zurück nach Deutschland. Einige Varianten dieser organisierten Begegnung mit dem Schamanen genauer zu betrachten, lohnt sich: Bahnurlaub.de bietet mit seiner Reise ‘Mythen Sibiriens‘ am 5.Tag ebenfalls den Besuch einer Schamanenklinik in Kyzyl an: „Eine Stadtrundfahrt durch Kysyl macht Sie mit der Hauptstadt der Republik Tuva bekannt. Sie besichtigen das geographische Zentrum Asiens und einen buddhistischen Tempel. In einer Schamanen-Klinik werden Sie über Herkunft, Tradition und Heilkunde der Schamanen unterrichtet. In Ihrem Jurtencamp kosten Sie die traditionellen Gerichte der tuvinischen Küche und

anerkannt worden. Sie besichtigen die Schamanen-Klinik in der Hauptstadt und lernen mehrere Schamanen kennen. Sie schöpfen Ruhe und Energie.“ 327 Unter die für Tyva typischen Marker des Exotischen fallen darüber hinaus Folgende: ‚Das Tal der Zaren‘ – eine skythische Ausgrabungsstätte; Übernachtung im JurtenNaturpark, Wanderung zu einer Nomadenfamilie, traditionelle tuvinische Küche und Bekleidung, Kehlkopfgesangs, Felszeichnungen, der Buddhistische Tempel in Kyzyl und die Kliniken der Schamanen. 328 www.baikal-express.de.

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erleben eine echte und seltene Zeremonie am Lagerfeuer, an der mehrere Schamanen teilnehmen. Übernachtung in Jurten.“329

Oder eine 15 tägige ‚Kulturerlebnisreise - Rundreise am Baikalsee, mit der Transsibirischen Eisenbahn und im Zentrum Asiens durch Chakassien und Tuva‘ verspricht: „Nach dem Besuch in einem buddhistischen Tempel ist der Höhepunkt des Tages die Besichtigung der Schamanenklinik. Die echten Schamanen erzählen über ihre Traditionen, Rituale und Fähigkeiten. Freiwillige können die Dienste eines Schamanen in Anspruch nehmen, um die Zukunft zu erfahren, sich rituell reinigen zu lassen oder etwas über den Gesundheitszustand zu erfahren. Danach Mittagessen mit tuvinischen Spezialitäten. Anschließend besuchen wir das Nationalmuseum von Tuva und ein Atelier für Kunsthandwerk und Nationaltrachten. Auf dem Rückweg besuchen wir eine Nomaden-Familie, die außerhalb der Stadt in Jurten wohnt. Am Abend im Camp erwartet uns eine spannende Vorführung. Schamanen zaubern ‚Kamlanije‘. Dazu gehören auch Gespräche mit Geistern, ein Zauberritual am Feuer mit Gesang und Trommelschlag. Übernachtung wie am Vortag im Jurtencamp.“330

Und schließlich stellt baikaltours.de im Rahmen seiner sibirischen Schamanen-Tour fürstliche Behandlung und Initiation in schamanische Geheimnisse zugleich in Aussicht: „8. Tag heilige Stätte: Sie besichtigen das Nationalmuseum und werden vom ‚Gold des Skythen‘ beeindruckt. Russische und deutsche Archäologe (!) haben etwa 20 kg skythische GoldGegenstände in Tuva gefunden. Anschließend haben Sie mehrere Möglichkeiten für Ihre Tagesgestaltung: Besuch eines Schamanen, der Sie über die Bedeutung der Schamanentrommel und Geheimnisse ihrer Herstellung unterrichtet. Zu seinen Gästen zählte auch der Präsident Russlands. Sie haben die Möglichkeit für individuelle Beratungen (optional). Als Alternative können Sie mit einem Schamanen eine heilige Stätte in der Natur besichtigen oder sich einfach im Jurtencamp erholen. Am abendlichen Lagerfeuer erleben Sie eine SchamanenZeremonie und bekommen Ihre Zertifikate. Zum Abschied wünscht Ihnen der Schamane ‚Weißen Weg‘. Übernachtung wie am vorigen Tag.“331

Die verschiedenen Reiseanbieter sehen im Wesentlichen alle das gleiche Programm vor, nämlich den individuell zugeschnittenen, erlebnis- und genussorientierten Kontakt mit der ‚sehr tief verwurzelten‘, ‚unverfälschten religiösen Tradition‘, im gegebenen Falle des Schamanen. Dabei deklinieren sie die jeweiligen Varianten 329 www.bahnurlaub.de. 330 www.bahnurlaub.de. 331 baikaltours.de.

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einer Matrix von Signifikanten durch, die in ihrer Gesamtheit sprachlich ein Ereignis des Mystischen und Geheimnisvollen sowie die zugehörige Erwartungshaltung prädisponieren. Ein Blick von der Metaebene lässt jedoch die Selbstwidersprüchlichkeit des Diskurses deutlich werden: Die Begegnung mit dem ‚traditionellen, echten und unverfälschten‘ Schamanen soll genauso selten und unbekannt sein wie das Land Tyva selbst – und dennoch wird sie öffentlich qua technischer Reproduktionsmedien wie einem Reisekatalog massenhaft vervielfältigt und die Teilnahme daran mit Zertifikaten bestätigt. Zugespitzt könnte man beobachten, dass es sich hier um ein ähnliches Phänomen handelt wie bei sog. back-packer Reisehandbüchern, die in einem Satz Geheimtipps für Reisen ‚off the beaten track‘ anbieten und zugleich mit ihrer unschlagbaren Auflage von 15 Millionen weltweit werben. Dass dieser Diskurs trotzdem seine Wirkmächtigkeit entfaltet, d.h. im gegebenen Falle ein Attraktionsmuster für Kunden ausbildet, sich für diese Reise zu entscheiden, zeigt sich durch sein wiederholtes Auftreten bei zahlreichen Anbietern. Durch welche Referenzen gelingt dies? Tabelle 8: Vokabular spiritueller Reiseanbieter Referenz

Vokabular

Tradition

Uralte Traditionen, tief verwurzelte Religiosität, traditionelle Bräuche, heilige Stätte

Heilung

Heilkunde, rituell reinigen, überlieferte Heilkunst

Ritual

Echte und seltene Zeremonie am Lagerfeuer, Rituale und Fähigkeiten, Dienste eines Schamanen

Spirituelles Spektakel

Spannende Vorführung, Schamanen zaubern ‚Kamlanije‘, Zauberritual, die Zukunft zu erfahren, Schamanen-BeschwörungsZeremonie, Gespräche mit Geistern, 20 kg Skythen-Gold, Behandlung wie der Präsident Russlands

Betrachtet man die obigen Argumentationsmuster nochmals im Zusammenhang, fällt eine interessante Parallele zu den Kongressveranstaltern in Deutschland ins Auge. Die Reiseveranstalter beanspruchen wie diese für sich, eine Übersetzungsleistung lediglich in die umgekehrte Richtung zu erbringen: Nicht von den ‚ältesten

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Traditionen‘ in die Gegenwart, sondern von der Gegenwart der postmodernen Welt hin zu den ‚ältesten Traditionen‘. Sie beanspruchen zugleich, dies bruchlos für das postmoderne Publikum und entsprechend dessen Ansprüchen meistern zu können. Gemäß ihrer Darstellung können sie es leisten, Reisebusse voller Westeuropäer nach Tyva zum Schamanen zu verfrachten und doch die Unverfälschtheit, Echtheit und Verborgenheit des dortigen Schamanen zu garantieren. Die Art und Weise, in der dies geschehen soll, nämlich als letzter Tag einer Rundreise, verweist aber gerade auf die Abwesenheit jeglicher Kultursensitivität. Auch hier wird der Schamane explizit instrumentalisiert: Er soll alles das bieten, was die Reisenden zu Hause nicht finden können: Tradition, Heilung, echte Rituale, spirituelle Erlebnisse. Wie bei den Kongressveranstaltern führen die Reiseanbieter jedoch ihr ursprüngliches Unternehmen einer Reise zur Mystik so ad absurdum. Da dies aus werbestrategischen Gründen irrelevant erscheint, lässt sich auch hier vermuten, dass es der Klientel weniger um die faktische kulturelle Übersetzung und Begegnung als vielmehr der Ausfüllung eigener Erwartungen geht. Abschließend und zugleich im Sinne einer Synthese der bisherigen Betrachtungen soll ein explizit spirituelles Reiseangebot der Analyse unterzogen werden. Der aus Sibirien stammende russische Schamane Ahamkara unterrichtet nicht nur in Seminaren in Deutschland ‚sibirischen Schamanismus‘, sondern bietet seinen Klienten zugleich einen ‚Spiritual trip to Tuva‘ an: „Day 1: Flight to Moscow and meet shaman Ahamkara. From Moscow we fly together to Tuva. Day 2: Arrival in the afternoon in Tuva, transfer to the hotel. After arrival at the hotel there will be time for relaxation. The rest of the day we will make contact with the spirits of Tuva and discover the surroundings of the hotel. Day 3: Time to go to powerful places in the mountains where we will do the shamanistic ritual ‚The power of the mountain‘. We will do that at the mountain Hayyrakan, one of the most honoured places in Tuva. In 1992 this spot is chosen as the most energetic powerful places. The Dalai Lama XIV gave his blessings to this spot and shamans who live in the surroundings of Tuva visit this mountain regularly to get their energybattery charged up again, to revitalise and to cleanse their mind and soul. Day 4: We will make contact with the spirit of the river. This spirit will help us with the shamanistic ritual to become young again and to strengthen our power of life. One of the places we will go to is Arzhaan Shiviling, a radon well that comes out of the mountain just there where a valley starts. We find this well at the left of the river Hemchik and 10 to 15 km of the little village Baytal. In Tuva are more then 50 powerful wells, fresh and full of minerals. The people of Tuva idolize these wells, they mention them in their songs and when they

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visit a well they always do an old ritual to say thanks to Arzhaan. The shamans do this mysterious ritual many times a year and cleanse the well Arzhaan. This well contains a lot of minerals for example carbonate, hydrogen sulphate, salt, tart, radon. Day 5: This whole day is dedicated to shamanistic prayer at a place called Ova, a holy place where shamans like to do their rituals. Ova has a magic power to fulfil wishes. Day 6: Now it is time to open our shamanistic qualities. To do that we will use Olennyy stone (reindeer stone), a very old stone with flying reindeer on it. The moment of opening these qualities Tuvanian shamans call Hereksur. Day 7: This is a very special day, because we will be initiated by the spirit of Tuva. This spirit observed us all these days during our rituals and it is common that he will give us (most of the time) an initiation. The place to be for this initiation is the lake Tere-groom. We find this lake high in the mountain and it stretches out till 10 km to below from southwest to northeast. In this lake big pikes and carps have their dominion. The locals use the water to drink and to bath. In the night we leave Tuva and fly back to Moscou. Day 8: We will say goodbye and leave Moscow by flying back to our home country. After this journey you will be changed and see the world and your life with different eyes. Your energy will be charged up again and you will have new powers.“332

Wie bereits zu Anfang angedeutet, unterscheidet sich diese Reiseform zunächst von den obigen Angeboten dadurch, dass weniger die üblichen touristischen Magnete aufgesucht werden, sondern explizit als spirituell bedeutsam gekennzeichnete Orte, wie der Berg ‚Hayyrakan‘, verschiedene Heilquellen ‚arzhaan‘, ein Ovaa und der See ‚Tere-groom‘. Zu den jeweiligen Zielen werden auch mythologische und traditionsbedingte Begründungen gegeben, warum sie für bestimmte spirituelle Aktivitäten sinnvoll und erfolgversprechend sind: ‚Shamans visit regularly‘, ‚people of Tuva idolize‘ oder ‚shamans do their rituals, say thanks‘ sind dabei wiederkehrende Legitimationsmuster. Und auch interreligiös gibt sich der Veranstalter kundig und offen: „The Dalai Lama XIV gave his blessings to this spot“. Bezeichnend ist darüber hinaus, dass das Publikum hier durch eine Verdichtung der Begrifflichkeit spirituell-esoterischen Ursprungs angesprochen wird: An ‚most energetic powerful places‘ bzw.‚ powerful wells’ wird nicht nur der Kontakt zu den Geistern ermöglicht (‚make contact with the spirits‘), sondern auch das spirituelle Individuum in seinen Bedürfnisses nach seelisch-leiblicher Reinigung und Erfüllung bedient: ‚to get their energybattery charged up again, to revitalise and to cleanse their mind and soul‘, ‘to become young again and to strengthen our power of life’, alles in allem 332 www.ahamkara.org/trips.

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‘be changed and see the world and your life with different eyes’. Ermöglicht wird dies nicht nur durch die Energie-Affizierung der Kraftorte, sondern durch die besondere Qualität der dort vollzogenen Rituale: ‚old‘ und ‚mysterious‘ sind sie, ‚magic‘ die Kraft, die durch sie wirkt. Die Reise in das unverfälschte Tyva hat folglich auch hier eindeutig funktionalen Charakter. Nicht die Begegnung mit den spirituell bedeutenden Orten an sich interessiert, sondern ihre Wirkung für den Reisenden. Er will sich reinigen und neue Kraft erhalten, gestärkt nach Hause fahren. Und noch mehr: Er will auch eine neue Qualifikation mitbringen, die sich vielleicht sogar als gewinnbringend erweisen wird: ‚we will be initiated by the spirit of Tuva‘ und ‚open our shamanistic qualities‘ – der Besucher des Schamanen wird selbst zum Schamanen. Die Reise ins mystische Tyva ersetzt die in der Heimat fehlenden Formen der Initiation. Und zu Hause dient der Narrativ einer spirituellen Suche im fernen Sibirien der Legitimation der eigenen schamanischen Kraft. 4.7.6 Zusammenfassung Ziel dieser Untersuchung war es, ausgehend von einer sprachlichen Untersuchung der verschiedenen Formen medialer Werbemittel diskursanalytisch herauszuarbeiten, wie Anbieter schamanischer Veranstaltungen ein Authentizität vermittelndes Angebot generieren und beim Publikum Interesse daran wecken. Dazu wurde zunächst die Sprachwelt des gegenwärtigen westeuropäischen Schamanismus nach dem ihr zugehörigen Vokabular und ihrer Grundthematiken beschrieben. Auf diesem linguistischen Feld aufbauend wurde dann skizziert, welche Rolle darin dem Topos der fremden Kultur zufällt sowie Echtheit und Autorität des fremden Schamanen konstituiert wird. Eine Rückkopplungsschleife der wechselseitigen Identitätskonstruktion zwischen schamanisch Interessierten und schamanisch Praktizierenden konnte benannt werden. In einem weiteren Schritt wurden die institutionellen Rahmenbedingungen untersucht, welche mit den Angeboten der Schamanen interagieren. Organisatoren von Schamanenkongressen in Deutschland und Reiseveranstalter für spirituelle Trips nach Sibirien kamen in den Blick. Dass die dort konstruierten Formen der Traditionalität der fremdkulturellen Schamanen nicht in Konflikt geraten mit der Gegenwärtigkeit der Organisationsmuster, innerhalb deren einen Begegnung mit ihnen inszeniert wird, wurde als Indiz für die funktionale Ausrichtung derartiger Veranstaltungen gelesen. Der ‚echte‘ Schamane wurde transparent als Garant für die Erfüllung von Sehnsüchten nach Ganzheit, Reinheit, Berufung und Vision. Zusammenfassend lässt sich aus den geschilderten Beobachtungen folgern, dass die hier gegebenen Formen der interkulturellen Begegnung und des kulturtransgredierenden Austausches nach fest vorgeprägten Formen verlaufen. Es handelt sich nicht um Orte und Situationen der Offenheit und ausgehaltener Span-

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nungen, sondern a priori eingebrachter Erwartungen. Die Interaktion ist daher weniger an der Änderung des Eigenen orientiert – mögen die Ausschreibungen auch das Gegenteil konstatieren – sondern an der Bestätigung des Selbst. Nicht ein Verstehen des Fremden als anderes Verstehens, wie es Gadamer333 im Sinne hatte, sondern die Versicherung des schon im Voraus richtigen eigenen Verstehens wird hier angestrebt. Der Schamane von den fünf Kontinenten der Welt, hier im Seminar über Schamanismus oder dort bei der abendlichen Zeremonie, ist und bleibt daher der Schamane, wie er es schon immer gewesen ist: Wild, archaisch, unberührt – und doch gerade so, wie er in die Deuteschemata des westlichen postmodernen spirituell Suchenden passt.

4.8 R ESÜMEE

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Nachdem der erste Hauptteil der Dissertation die gegenwärtigen tyvanischen Schamanen in ihrem Heimatkontext im Blick hatte, fragte der zweite Hauptteil nach den Dynamiken und Wechselwirkungen ihrer Rekontextualisierung in Westeuropa. Beginnend mit der Skizzierung eines bidirektionalen Ritualtransfers, der damit einhergehenden Diskursübertragungen und Verschiebungen von Ritualdeutungsmodellen in inszenierten Kontakträumen tyvanischer und westeuropäischer Schamanen, führte die Untersuchung die Aufmerksamkeit auf die Lebensentwürfe der Ritualträger selbst. Am Beispiel dreier schamanischer Biografien konnte qua eines diskursanalytisch-erzähltheoretischen Zugriffs gezeigt werden, wie Argumentationsstrategien, Kommunikationsregeln und Wirkmechanismen in deren von Transdifferenz geprägten und durch Koexistenz des Lokalen und Globalen ausgezeichneten Existenzen zu tragen kommen. Eine Verortung der Praxis dieser in Westeuropa aktiven Schamanen in Events schamanischer Seminare oder Kongresse eröffnete dann einen Blick auf ihre Klienten als ihrem Gegenüber und die ihnen zugehörigen Interaktionsdynamiken, v.a. bzgl. Heilungserwartungen von einem fremden Schamanen. Wie die Teilnehmer dieser Veranstaltungen auf diese aufmerksam und von der Echtheit des dort Gebotenen überzeugt werden, war schließlich Thema des letzten Abschnitts. Die dadurch bedingte wechselseitige Identitätskonstruktion zwischen schamanisch Interessierten und schamanisch Praktizierenden wurde transparent auf seine Art des Fremdverstehens hin: Nicht Orte der Offenheit konstituieren derartige Formen der interkulturellen Begegnung, sondern tendenziell eher solche der vorgeprägten Formen und der a priori eingebrachten Erwartungen. Mit dem Ende des zweiten Hauptteils ist die Darstellung der empirischen Beobachtungen, wie sie ausgehend von der zu Anfang skizzierten Forschungsliteratur und 333 Gadamer, H.-G.: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1960.

268 | R ÄUME DER G RENZÜBERSCHREITUNG ZWISCHEN E IGENEM UND F REMDEN

entfalteten Methodologie durchgeführt werden konnten, zu einem ersten Ende gekommen. Es lohnt aber, den Blick nochmals zu weiten und das hier Präsentierte in einem umfassenderen Horizont zu bedenken. Umfassend nicht in dem Sinne, dass in diesem letzten Teil der Arbeit sozusagen durch die Hintertür einer nachträglichen Reflexion doch noch ein Rückfall zu Überlegungen bzgl. des allgemeinen Phänomens des Schamanismus erfolgen würde, sondern indem die hier in der Mikroperspektive erörterten Austauschbeziehungen verortet werden in größeren Zusammenhängen, in die sie eingewoben sind. Das fünfte und letzte inhaltliche Kapitel wird daher in Form einer Zusammenschau die bisherigen Beobachtungen nochmals neu bündeln und durch drei miteinander in Wechselwirkung stehende analytische Längsschnitte aus je anderer Perspektive theoretisch reflektieren. Dies betrifft zum einen die Frage nach der Entstehung des Begriffes oder besser der Metapher des ‚Schamanen‘ in einem Kontext kolonialer Strukturen, welcher sich gegenwärtig zwar transformiert hat, dessen Wirkungskraft aber nicht gebrochen ist. Eine Diskursanalyse, die einen für Fragen der visuellen Kultur geschärften Blick entwickelt, wird in diesem Zusammenhang nicht umhin können, die prägnante Koinzidenz der terminologischen Emergenz des Schamanen mit seiner ersten bildlichen Darstellung als Indiz einer wechselseitigen Konstitution zu lesen. Wie damit gar gegenwärtige Rezeptionsbedingungen solcher Darstellungen vermittelt über erste Fotografien von Schamanen vom Beginn des 20. Jahrhunderts präfiguriert werden, lässt die Nachzeichnung ihres Weges bis in die Gegenwart deutlich werden. Die somit schon im Anfang des Schamanismusdiskurses gegebenen kulturellen Aushandlungsbewegungen werden in ihrer kontinuierlichen Fortwirkung so transparent in ihrer prägenden Kraft für das Selbstbild gegenwärtiger Schamanen. Ob es darüber hinaus Sinn macht, die beschriebenen Prozesse anhand des Analysemodells der Esoterik zu befragen, d.h. sie einzuzeichnen in größere ideengeschichtliche Zusammenhänge oder religionssoziologisch-empirische Beobachtungen – abhängig von dem jeweils zugrundegelegten Verständnis von Esoterik, beantwortet das anschließende Kapitel. Und schlussendlich wird es fruchtbringend sein, die hier zusammengestellten Analysen nochmals explizit als Ergebnisse einer Feldforschung zu lesen. Dies impliziert im Besonderen, die Interaktion des Forschers mit dem Schamanen auf die ihr eigenen Problematiken, ergebnisdeterminierenden Dynamiken und Herausforderungen an ein dialogisches Forschungsparadigma zu durchleuchten. Im Sinne einer Kulturhermeneutik soll der letzte Teil der Dissertation daher auch der nochmaligen rekursiven selbstreflexiven Einholung der Forschungsergebnisse dienen. Nur so kann die bleibende Relativität des eigenen Standpunkts Berücksichtigung finden und die unausweichlichen Verschränkungen des Forschers in seinen Schlussfolgerungen über den Untersuchungsgegenstand ausgewiesen werden.

5 Analytische Längsschnitte: Schamanismusforschung und ihr Gegenstand

5.1 V ISUELLE ANTHROPOLOGIE

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„Es wurde von den Informanten ausdrücklich gesagt, daß Schamanen-Séancen – im Gegensatz zu Opferritualen – immer am Abend oder in der Nacht stattfanden. Wie viele andere Augenzeugen des älteren Schamanismus betont auch ýudinov diese Tatsache besonders. Olsen und sein norwegisches Team waren die einzigen, die authentische Fotos von sibirischen Schamanen-Séancen mit Hilfe von Blitzlicht aufnehmen konnten. Dies wurde aber auch ihnen alsbald von den versammelten Qaš verboten, mit dem Argument, daß die Geister, durch die

hellen

Blitze

erschreckt,

nicht

in

der

angestrebten Weise reagieren würden. Fast alle anderen Schamanenfotos aus Sibirien sind tagsüber gestellt worden.“334

5.1.1 Diskursanalyse und Visual Culture Studies: Herausforderungen und Möglichkeiten eines Gesprächs Diskurse finden ihren Niederschlag oftmals und dann meist einer direkten Analyse zugänglich in sprachlichen Ereignissen bzw. Dokumenten. Auch Handlungen, Institutionen, Infrastrukturen etc. – alle Elemente eines Dispositivs, die vom Dis-

334 Johansen, Ulla: Vom Schamanismus zum Neoschamanismus, in: Jahrbuch des Museums für Völkerkunde zu Leipzig, Band XLII, Münster 2004, 66.

270 | A NALYTISCHE L ÄNGSSCHNITTE: S CHAMANISMUSFORSCHUNG

UND IHR

G EGENSTAND

kurs seine charakteristische Signatur eingeschrieben bekommen – werden kontinuierlich von semiotisch strukturierten Deutungen durch die jeweiligen Akteure eingeholt. Sprache ist dadurch im Rahmen eines Diskurses in ständiger Wechselwirkung mit allen nichtsprachlichen Elementen. Um einen Diskurs daher – nicht vollständig – valider zu analysieren, kann es lohnend sein, auch nichtsprachliche Aspekte einer Analyse zu unterwerfen. Dies soll im Folgenden geschehen anhand einer detaillierteren Betrachtung der Rolle der Fotografie im Diskursfeld des Schamanismus. Die Grundfrage der anschließenden Überlegungen lautet daher: Wie wirkt das Diskursfeld des Schamanismus auf Bilder ein und umgekehrt welche Funktion kommt Bildern innerhalb dieses Diskursfeldes zu. Zu beachten ist in diesem Zusammenhang eine grundlegende Problematik einer derartigen Analyse. Bilder müssen als nichtsprachliche Diskurselemente zuerst einer Übersetzung in Sprache unterzogen werden, sollen sie innerhalb eines wissenschaftlichen Diskurses erörtert werden.335 Ein derartiger Übersetzungsprozess kann nicht in Kategorien eines korrekt abbildenden Transfers gefasst werden, denn es existiert kein Konsens über die hierzu notwendigen Regeln. Grundsätzlich ist diese Problematik schon zwischen zwei Sprachen gegeben, sie verschärft sich jedoch noch einmal, soll die Übersetzung zwischen zwei verschiedenen Medien stattfinden. Trotz dieser fundamentalen Fragwürdigkeit und damit immer im Bewusstsein der Kontingenz der hier 335 Der Übersetzungsproblematik vom bildlichen in den sprachlichen Diskurs hat sich u.a. der Kunsthistoriker Max Imdahl im Rahmen seiner Ausarbeitung einer Ikonik gestellt. Dieses Verfahren, das Erwin Panofskys Interpretationsverfahren im Dreischritt einer vorikonografischen, ikonografischen und ikonologischen Aufschlüsslung von Sinnebenen fortführt hin zum Aufweis eines sachlichen Zusammenhangs zwischen Ikonografie, Ikonologie und Ikonik, nimmt wiederum Jürgen Raab als Ausgangspunkt seiner visuellen Wissenssoziologie. Zur Translation zwischen Bild und Sprache bemerkt er treffend: „Aus der theoretischen Einsicht in die sprachlich-narrative Uneinholbarkeit und in die letzliche generelle Nicht-Substitiuierbarkeit von Bildern wählt Max Imdahl im Anschluss an Fiedler und Wölfflin die Erfahrung und die Anschauung als Hauptkategorien und methodische Grundpfeiler seines Auslegungsverfahrens – der Ikonik. Weil es sinnhafte Zusammenhänge gibt, die nur das Bild zur Darstellung bringen kann, existieren auch Erfahrungen von Wirklichkeit, die nur durch die konkrete, folglich unentbehrliche und durch nichts zu ersetzende Bildanschauung gewonnen werden können. Diese unmittelbare Evidenzerfahrung, die außerhalb des Bildes nicht realisierbar ist, den ‚ikonischen Bildsinn‘ zu erfassen, ist das Thema der Ikonik und die Aufgabe der ikonischen Interpretationsmethode, als eines der spezifischen Erscheinungsweisen eines Bildes gerecht werdenden, das heißt zuallererst bildbezogenen und insbesondere auf die bildgebenden ästhetischen Qualitäten gerichteten analytischen Verfahrens.“ Raab, Jürgen: Visuelle Wissenssoziologie. Theoretische Konzeption und materiale Analysen, Konstanz 2008, 54f.

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betriebenen Analyse, soll sie gewagt werden, insofern sie sich bemüht, ihre Voraussetzungen jeweils so klar wie möglich offen zu legen. Was sind nun die zentralen Fragehorizonte, die das Visuelle im Hinblick auf seine Rolle im hier erörterten Zusammenhang kultureller Austauschprozesse in den Blick nehmen sollen?336 Eine dreifache Differenzierung ist notwendig: Eine nach dem historischen Hintergrund, eine nach den Akteuren und eine nach den Verwendungszusammenhängen von Fotografien337. Die erste Unterscheidung wird sowohl historische Zeichnungen und 336 Zu den grundlegenden Fragestellungen, methodischen Annäherungen und historischen Entwicklungen der Visuellen Anthropologie vgl. u.a.: Grimshaw, Anna: The Ethnographer’s Eye. Ways of Seeing in Anthropology, Cambridge 2001, 1-12. -: Eyeing the Field: New Horizons for Visual Anthropology, in: Grimshaw, Anna & Ravetz, Amanda (Ed.): Visualizing Anthropology, Bristol 2005, 17-30. Grimshaw, Anna & Ravetz, Amanda (Ed.): Visualizing Anthropology, Bristol 2005, 116. Pink, Sarah: Doing Visual Anthropology, London 2007, 1-18. Hockings, Paul: Principals of Visual Anthropology, Berlin und New York 2003. Banks, Marcus: Using Visual Data in Qualitative Research, London 2007. Banks, Marcus & Morphy, Howard (Ed.): Rethinking Visual Anthropology, New Haven and London 1999, 1-35. Wells, Liz (Ed.): Photography. A Critical Introduction, London 32004. 337 Die Bedeutung einer soziologischen Analyse des Bildgebrauchs hat Pierre Bourdieu in seinem Werk ‚Eine illegitime Kunst. Die sozialen Gebrauchsweisen der Photographie‘ folgendermaßen begründet: „Während theoretisch das Prinzip und die Fortschritte der photographischen Technik dazu tendieren, alle objektiv ‚photographierbar‘ zu machen, wählt, jedenfalls innerhalb der theoretischen Unendlichkeit aller Photographien, die ihr technisch möglich sind, jede Gruppe praktisch ein endliches und bestimmtes Sortiment möglicher Gegenstände, Genres und Kompositionen aus. ‚Der Künstler‘, sagt Nietzsche, ‚wählt seine Stoffe aus: das ist seine Art zu loben.‘ Weil sie eine Wahl ist, die lobt, weil sie der Absicht folgt, festzuhalten, d.h. zu feiern und zu verewigen, darf die Photographie nicht den Zufälligkeiten der individuellen Phantasie ausgeliefert werden. Durch die Vermittlung des Ethos, die Verinnerlichung objektiver und allgemeiner Regelmäßigkeiten, unterwirft die Gruppe diese Praxis der kollektiven Regel, so daß noch die unbedeutendste Photographie neben den expliziten Intentionen ihres Produzenten das System der Schemata des Denkens, der Wahrnehmung und der Vorlieben zum Ausdruck bringt, die einer Gruppe gemeinsam sind. Anders gesagt, es zeigt sich, daß das Feld dessen, was sich einer bestimmten gesellschaftlichen Klasse als wirkliche Objekte der Photographie darstellt […] durch implizite Modelle definiert wird, die sich über die photographische Praxis und ihre Produkte dingfest machen lassen, da sie objektiv den Sinn bestimmten, den eine Gruppe dem photographischen Akt als der fundamentalen

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Fotografien – im Wesentlichen von vor der russischen Revolution – als auch zeitgenössische auf ihre Entstehungskontexte und weiterführenden Applikationen hin in den Blick nehmen. Eine zweite Differenzierung wird unterscheiden zwischen einem Gebrauch Dritter wie Forschern, Nachrichtenagenturen oder Tourismusfirmen und einem Gebrauch der Schamanen selbst, einem Gebrauch in Tyva, in Deutschland oder in kulturellen Überlappungszonen. Schließlich wird zu unterscheiden sein zwischen den Funktionen, Zwecken und Aussageabsichten, die den Fotografien zugewiesen werden. Aus kulturhermeneutischer Perspektive ist zu einer derartigen Analyse der visuellen Kultur das in der methodischen Einleitung Angemerkte zu beachten, was sich u.a. in einer kontinuierlichen Selbstreflexivität bewähren muss. Im Bewusstsein, dass es keinen a-hermeneutischen Zugang zu Bildern geben kann, wird die hier folgende Analyse dafür sensibilisiert sein, dass jegliches Feststellen von beobachteten Tatsachen immer einen Prozess der Deutung einschließt, welcher den eigenen Horizont als nur fragmentarisch gegeben bzw. einholbar voraussetzen kann. Aus der Perspektive der Diskursanalyse ist darüber hinaus darauf zu verweisen, dass die fotografische Kristallisierung des Diskurses nicht einfach aus der Summe einzelner (fotografischer) Dokumente zu suchen ist, sondern in den Regeln, die einen Niederschlag in der Mehrheit der Bilder präfigurieren. Eine Untersuchung des Diskurses im Bild selbst kann daher nur in ihrer Wechselwirkung und stetigen Rückkopplung an eine Analyse des Diskurses, der sich im Gebrauch der vielen Bilder zeigt, geschehen. Von besonderer Relevanz für das vorliegende Thema wird es innerhalb dieser Dynamik dann sein, Prozesse des kulturellen Austausches, Transfers und rekursive Strukturen von Deutemustern und Applikationsweisen sichtbar zu machen. Die Frage, wie in der Fotografie das Andere konstruiert wird, steht dabei im Zentrum. Zusammenfassend lässt sich die nun folgende Untersuchung daher skizzieren im Bild der Wechselwirkung kulturell geprägter Ästhetiken des Schamanismus. Dies impliziert einen doppelten epistemologischen Horizont: In welcher Interaktion stehen die kulturell kontingenten Erkenntnisweisen der Wahrnehmung und zugleich Bestimmung dessen, was Schamanen sind oder sein sollen? Welche kulturspezifischen, normierenden Präfiguratio-

Aufwertung eines wahrgenommenen Objekts zu einem Objekt verleiht, das für notwendig befunden wird, es zu photographieren, d.h. es festzuhalten, zu konservieren, zu kommunizieren, vorzuzeigen und zu bewundern […]. Das adäquate Verständnis eines Photos […] stellt sich nicht allein dadurch her, daß man die Bedeutungen übernimmt, die es verkündet, d.h. in gewissem Maße die expliziten Absichtn ihres Urhebers; man muß auch jenen Bedeutungsüberschuß entschlüsseln, den es ungewollt verrät, soweit es an der Symbolik einer Epoche, einer Klasse oder einer Künstlergruppe partizipiert.“ Bourdieu, Pierre et al.: Eine illegitime Kunst. Die sozialen Gebrauchsweisen der Photographie, Frankfurt 1981, 17f.

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nen lassen sich verzeichnen bzgl. des je und je historisch sich verändernden Stil eines typischen Schamanen? 5.1.2 Die Geburt einer Metapher: Der Tungusische Schamane – Priester des Teufels Eine Möglichkeit, einen Anfang der Bildgeschichte des Schamanismus zu bestimmen, sind die Jahre zwischen 1672 und 1692 – sicherlich nicht die einzige oder letztlich historisch verifizierbare, dennoch aus verschiedenen Gründen plausible Möglichkeit. Abgesehen von der grundsätzlichen Möglichkeit einer Existenz älterer bildlicher Darstellungen, welche mit dem Terminus ‚Schamane‘ in Verbindung gebracht wurden, die entweder nicht mehr erhalten sind oder von der historischen Forschung noch nicht entdeckt, ist im vorliegenden Fall darüber hinaus der kontextuelle Rahmen von grundsätzlicher Relevanz. Gerade letzterer wird sich für eine Untersuchung des fotografischen Diskurses um den Schamanismus als besonders interessant herausstellen. Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang nämlich auf ein Vorurteil, das die originäre Etablierung des Schamanismusbegriffes im Westen betrifft. Entgegen der in der Forschungsliteratur öfter begegnenden Auffassung, es wären russische Autoren gewesen, die den Begriff des Schamanen in die westliche Literatur und Wissenschaft eingeführt hätten, weist Andrei Znamenski darauf hin, dass es deutschsprachige Forscher waren, denen dies zufiel: „In reality, the people who brought the word shaman into Western usage and intellectual culture were the eighteenth-century Germanic explorers and scientists who visited Siberia. They used the word schaman to familiarize educated European and American audiences with ecstatic séances performed by native Siberian spiritual ‘doctors.’ Many Russian accounts which mentioned shamans existed in manuscripts but remained unknown even to Russians until the late nineteenth century. As a result, Russianeducated people learned about Siberian shamans from original or translated writings of Western explorers of Siberia.“338 Dieses primär marginal anmutende Detail ist insofern festzuhalten, als die Dynamik einer derartig vermittelten, in heutiger Terminologie medialisierten und durch Übersetzung angeeigneten Begegnung, von grundlegender Bedeutung für die Verständnisse dessen sind, was ein Schamane darstelle. Einen ersten Bericht, der umfassend über sibirische Schamanen Auskunft gab, veröffentlichte der dänische Forscher Nicolaas Witsen, Bürgermeister Amsterdams, nachdem er 1664 und 1665 umfangreiches Material in Sibirien, welches damals als Tartarien bezeichnet wurde, gesammelt hatte. In seinen Aufzeichnungen ‚Noord en Oost Tartarye‘ (1672/1692)339 findet sich folgende Zeichnung eines Tungusischen Schamanen: (Vgl. Abbildung 19).340 338 Znamenski, The Beauty of the Primitive, 5. 339 Znamenski, The Beauty of the Primitive, 5f.

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Abbildung 19: Een Schaman ofte Duyvel-priester in’t Tungoesen lant

Quelle: Witsen, N. (1785): Noord en Oost Tartarye, Amsterdam, 663.

Die Unterschrift dazu lautete: „een Schaman ofte Duyvel-priester in’t Tungoesen lant“. Zwischen Bild und Text wurde damit ein sich wechselseitig konstituierender und verstärkender Diskurs der Dämonisierung und folglich Alterierung hergestellt. Die pelzartige Kleidung des Schamanen, seine ekstatische Körperhaltung und Mundöffnung, krallenartigen Zehen sowie die Reaktion des Hundes im Vordergrund bzw. die lebensweltliche Kontextualisierung im Hintergrund schufen eine Symbolwelt, die die Schlussfolgerung Witsens ikonografisch verifizierte: Der Schamane als Diener des Teufels. Interessant ist nun zu beobachten, dass die Zeichnung Witsens in verschiedensten Formen aufgegriffen, angeeignet und oft vollkommen losgelöst von ihrem genuinen Entstehungsraum rekontextualisiert wird. Eine umfassende Darstellung dieser Pentikäinen, Juha: The Bear Myth from a Finnish and Uralic Perspektive, in: SHAMAN, Vol. 14 No. 1-2, Spring /Autum 2006, 61-80. Siikala, Lena & Hoppal, Mihaly: Studies on Shamanism, 1992, 197. 340 Witsen, N.: Noord en Oost Tartarye; Tweede Deel: Behelzende de Landschappen Georgia, Mengrelia, Cirkassia, Crim, Astakkia, Altin, Tingoessia, Siberia, en Samojedia, Tweede Deel, Amsterdam 1785, 663. Es handelt sich hierbei um dem zweiten Teil einer doppelbändigen Neuauflage der Erstausgabe des Werkes Witsens. Die Bayerische Staatsbibliothek in München war ursprünglich auch im Besitz der letzteren, diese ging jedoch durch Kriegsschäden verloren.

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Verwendungsweisen und Arten, die Zeichnung durch eine alterierte semantische Einbettung mit neuen Bedeutungen zu versehen, kann hier nicht geleistet werden. Dennoch mögen einige Beispiele dies illustrieren und zugleich einige grundlegende Dynamiken abstecken: Robert Wallis – um ein erstes Beispiel eines emblematischen Gebrauchs zu nennen – schmückt sein Buch ‚Shamans / Neo-Shamans. Ecstasy, Alternative Archeologies and Contemporary Pagans‘341 entsprechend seinem dual angelegten Titel mit einem ebenso zwiefachen bildlichen Außeneinband. Einer Fotografie eines mit geschlossenen Augen meditierenden gegenwärtigen westlichen Menschen wird die Zeichnung Witsens gegenübergestellt. Ein erläuternder Text dazu findet sich auf der Rückseite: „Cover Images: A Tungus shaman. Source, Nicholaes Witsen, ‚Nord en Oost Tartarye‘ (1705). – A heathen neo-Shaman with drum and medicine bag containing a crystal ball, practicing at Wayland’s Smithy long barrow, Oxfordshire, summer solistice 1998.“342

Die Zeichnung dient hier in bildlicher Weise einer Differenzkonstruktion. Nicht mehr wie für Witsen einer wir-sie-Unterscheidung im Sinne der Verehrer Gottes vs. der Verehrer des Widersachers Gottes, des Teufels, sondern einer zeitlichen Differenz, die Fragen der Kontinuität aufwirft. Witsens Bild, ursprünglich als Darstellung eines normativ als negativ gekennzeichneten Repräsentanten des Anderen, wird nun zum Referenzpunkt und erneut Repräsentativität garantierenden Emblem der traditionellen, ursprünglichen Form des Schamanen, der dessen postmoderner Wiederaneignung gegenüber steht: (Vgl. Abbildung 20)343:

341 Wallis, Robert J.: Shamans / Neo-Shamans. Ecstasy, Alternative Archeologies and Contemporary Pagans, London and New York 2003. 342 Ebd. 343 Ebd.

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Abbildung 20: Buchdeckel ‚Shamans / Neo-Shamans‘ von Robert Wallis

Quelle: Wallis, Robert J.: Shamans / Neo-Shamans.Ecstasy, Alternative Archeologies and Contemporary Pagans, London and New York 2003.

Eine strukturell ähnliche semantische Verschiebung, welche ebenfalls Witsens Bild in seiner repräsentativen Funktion instrumentalisiert, findet sich bei Juha Pentikäi-

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nen in seinem Aufsatz „The Bear Myth from a Finnish and Uralic Perspektive“344, in welchem er die mystische Beziehung des Menschen zum Bären reflektiert und darin die These entfaltet, dass die Verbreitung dieser mystischen Beziehung im Vokabular und der Folklore derjenigen Völker, die in Zusammenhang mit den Finnen stehen, Anlass gebe, diese Völker ‚Völker des Großen Bären‘ zu nennen. U.a. gelangt er in seinem Gedankengang zu Tacitus, der in seiner Germania die jenseits der Germanen lebenden Völker aus der Perspektive einer Mythologie des Bären für besonders interessant gehalten habe. Und Pentikäinen schlußfolgert: „This description [aus der Germania des Tacitus] thus may refer to bear and elk elements in the mythologies of these two peoples, in the same way as Siberian shamans have dressed themselves in ritualistic bear and elf outfits.“345

... und im direkten textlichen Anschluß die Zeichnung Witsens, mit der Unterschrift: „An Evenk shaman with horns in his head from N. Witsen’s book Noord en Oost Tartarye (1672), the first picture of a Siberian shaman ever published.“346

Pentikäinen liest hier, ohne in hermeneutische Schwierigkeiten zu kommen, eine Beschreibung eines römischen Geschichtsschreibers von 98 v.Chr. und eine Zeichnung eines dänischen Forschers aus dem 17. Jahrhundert zusammen. Wiederum wird der semantische Kontext, in welchem das Bild steht, einer Modifikation unterzogen, wiederum der ursprüngliche Titel ersetzt durch eine Neudefinition. Indem der Autor betont, dass es sich hier um das erste Bild eines Schamanen ‚ever published‘ handelt, wird der Illustration ein maximaler Grad an Repräsentativität und Authentizität zugewiesen. Pentikäinen braucht dies, um auf der Grundlage eines solchen ‚Wahrheit‘ garantierenden Bildes, im Bild einen Bärenkult entdecken zu können, diesen aus dem Bild heraus und hinein in seinen Argumentationsstrang zu lesen, dass zwischen der Finnischen Mythologie und Uralisch-Sibirischen Tradition ein Zusammenhang zu sehen sei. Aus dem Alterierungsdiskurs Witsens wird ein räumlicher und zeitlicher Kontinuitätsdiskurs, welcher implizit dem Schamanismus eine kulturen- und zeitenüberschreitende Konstanz zuweist. Auf derselben impliziten Annahme beruht das Angebot eines zeitgenössischen Schamanen, welcher in Kursen sein Wissen weitergibt, und auf dessen Homepage

344 Pentikäinen, Juha: The Bear Myth from a Finnish and Uralic Perspektive, in: SHAMAN, Vol. 14 No. 1-2, Spring /Autum 2006, 61-80. 345 Pentikäinen, The Bear Myth from a Finnish and Uralic Perspektive, 64f. 346 Ebd., 65.

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elementargeister.de ebenfalls die Witsensche Zeichnung appliziert wird. Einleitend erklärt der Schamane sein Angebot: „Elementgeister ist ein Projekt, das im Bereich des Schamanismus aktiv ist. Es gibt verschiedene Veranstaltungen zu Themen wie Räuchern, Schamanisches Gehen, verschiedene Naturrituale und Lu Jong. Es ist ein Ziel der Elementgeister altes Wissen unserer Vorfahren weiterzugeben und zu leben. Der Praktizierende soll durch die Aktivitäten wieder vollständig; also eine Einheit werden [...]. Ein wichtiges Element bei allen Themen der Elementgeister ist der Schamanismus. Er zieht sich durch alle Kurse durch, auch wenn manchmal etwas versteckt wie z.B. bei Lu Jong [...].“

Und setzt mit Hilfe des Witsenschen Bildes seinen neuen Weg ins Verhältnis zur Praxis des ‚ursprünglichen‘ Schamanen: „Der ursprüngliche Schamane strebt nicht unbedingt nach diesem ‚Amt‘, allein schon wegen der Anstrengungen und Entbehrungen die ihn erwarten. Der große Geist entscheidet, ob er Schamane wird oder nicht. Er beruft, ‚initiiert‘ den Menschen. Wege dazu gibt es viele, dies kann bei einer Visionssuche geschehen, nach einer überstandenen schweren Krankheit oder manchmal auch durch ‚Vererbung‘ des jeweiligen Wissens. Kurzum durch das belegen eines Kurses wird man kaum Schamane. Hier können schamanische Methoden gelernt werden, die dir helfen dich selbst zu heilen. Es ist sinnvoll an der Stelle zu erwähnen, dass du wirklich bei dir selbst anfängst. Das eigene Leben schamanisch zu meistern ist eine große Aufgabe, es benötigt viele Jahre oder Jahrzehnte der Praxis von dir und eine große Ausdauer. Die Motivation dazu können schadhafte Verhaltensmuster sein, die abgelegt werden sollen, gesundheitliche Gründe, die Weiterentwicklung im Leben voranzutreiben oder die im Westen oft beschriebene Suche nach dem Sinn.“347

Hier wird schließlich ein dritter Weg beschritten, die originäre Differenzsetzung Witsens zu transformieren und in eine neue Relation einzuschreiben. Der ‚ursprüngliche‘ Schamane wird zwar als heroisches Ideal gleichsam als unerreichbare Utopie der eigenen Praxis gegenübergestellt (‚Kurzum durch das belegen eines Kurses wird man kaum Schamane‘). Dennoch bleibt er als unverzichtbarer und das Fundament liefernder Referenzpunkt bestehen. Es sind zwar nur ‚schamanische Methoden‘, die der gegenwärtige Schamanismus vermittelt, aber immer noch schamanische. Die Differenz zwischen einer ‚entbehrungsreichen Initiation‘ des ‚ursprünglichen Schamanen‘ und der auf das Individuum bezogenen Sinnsuche (‚dass du wirklich bei dir selbst anfängst‘) wird zwar eingeräumt, v.a. aber eingeschlossen in den umfassenderen Zusammenhang einer Kontinuität. Der erste veröffentlichte Bericht des dänischen Forschers Witsen über den von ihm gesehenen sibirischen Schamanen hat seine Verdichtung in einer ikonografi347 www.elementgeister.de.

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schen Darstellung als Teufelsdiener gefunden. Wie der Terminus des ‚Schamanen‘ selbst erfuhr seine qua eindrücklicher Symbolik geschärfte Darstellung eine Entkopplung aus ihrem ursprünglichen Bedeutungskontext. Witsens Zeichnung wurde zu einem ebenso frei flotierenden, ortlosen Signifikanten348 und damit prädestiniert, mit neuem Sinn gefüllt und in neue Verwendungszusammenhänge gestellt zu werden – das kann aus den obigen Beobachtungen gefolgert werden. Wie dies geschah und welche die neuen Gehalte waren, mit denen sie affiziert wurde, spiegelt nicht nur das Diskursfeld des Schamanismus an sich, sondern auch die daran anschließenden Diskurse. Der Gebrauch der Metapher des Schamanen – sei sie sprachlicher oder bildlicher Natur – spiegelt so die gesellschaftlichen Verhältnisse, in welchen dieser Gebrauch sich ereignet. 5.1.3 Fotografische Fortschreibungen der ersten Metapher Nach der Erfindung des Fotoapparates und dessen Verbreitung im Laufe der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts trat an die Stelle einer wahrheitsvermittelnden Zeichnung, wie sie Witsen geliefert hatte, das fotografische Bild. Zahlreiche dieser Bilder, welche meistens zwischen 1900 und 1930 aufgezeichnet wurden, unterlagen während ihres Weges über Händler, Museen, Buchpublikationen zum Schamanis348 Der Ortlosigkeit zeitgenössischer digitaler Fotografien, der Auflösung gewohnter Ordnungen korreliert eine Herausbildung neuer Anordnungen, wechselseitiger Bezugnahmen und Sichtbarkeiten. Knut Ebeling spricht vom deterritorialisierten Bild im Kontext neuer Dispositive technischer Ordnungssysteme: „Das fotografische Bild hat seinen Ort verloren, es ist ortsvergessen und deterritorialisiert. Diese Deterritorialsierung des zeitgenössischen Bildes ist eine junge Erscheinung. Dabei ist es nicht allein die schiere Anzahl von Abbildungen, die exponentiell zugenommen hat. Mit der Inflation der Bilder hat die Fotografie auch eine gewisse Ordnung verloren, ohne dass sich bereits eine neue etabliert hätte […]. Wenn neue Bildmassen im Internet verfügbar werden, wird das fotografische Bild einerseits in einer neuen quantitativen Dimension zugänglich; andererseits ermöglicht die explodierende Anzahl heterogener Bilder, dass sich aus ihnen auch neue qualitative und inhaltliche Korrespondenzen herausschälen. Man kann heute nicht nur viel mehr Bilder finden; mit diesem vorgefundenen Bildern, den Readymades der visuellen Kultur, kann man auch ganz neue Dinge machen. Das fängt schon bei den digitalen Bildersuchmaschinen an, die Bilder nach neuen Kriterien suchen und ordnen. Sie sortieren die Bilderfluten und sorgen dafür, was aus ihnen auftaucht was auf immer unsichtbar bleibt. Aus diesem Grund werfen aufgerufene Bilder heute immer auch die Frage nach den unaufgerufenen und verschollenen Bildern auf – sowie die Frage nach dem technischen Vorgang, der dieses Aufrufen regelt.“ Ebeling, Knut: Gesperrte Bilder. Das Bildgedächtnis zwischen Sichtbarkeit und Verborgenheit, in: Ruelfs, Esther & Berger, Tobias (Hg.): Images Recalled. Bilder auf Abruf, Heidelberg 2009, 15-17.

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mus bis hinein in das Gegenwartsmedium Internet ähnlichen Rekontextualisierungsprozessen analog zur Zeichnung Witsens. Einige davon haben sich im Laufe dieses Prozesses etabliert als Standard-Verweis-Ikonen eines Bildes vom traditionellen Schamanismus gemäß seiner vorausgesetzten sibirischen vorrevolutionären Form. Wie im Eingangszitat bereits angemerkt, handelt es sich dabei samt und sonders um gestellte Aufnahmen, d.h. Arrangements, welche von Anfang an in einem bestimmten Verweiskontext und beabsichtigten Aussagezusammenhang standen. Auch wenn es daher vollkommen müßig ist, in diesen Photografien Dokumente eines ‚wahren‘ Schamanismus, wie er sich vor der russischen Revolution hätte finden lassen, zu suchen, so lohnt dennoch ein Blick auf die durch die neuen Medien erschlossenen Verwendungskontexte. An drei Beispielen soll dies plastisch werden (Vgl. Abbildung 21 – 23): Tabelle 9: Rekontextualisierungen Fotografie

Kontext der Entste-

Rekontextualisierung

hung/ Fotograf, Sammler, Museum Abbildung 21: Schamane Fedor Poligus

Ost-Sibirien, Ewen-

www.3worlds.podoma

ken 1907 / 1908

tic.com

Sammler: A. A. Makarenko 349

www.officetwentythre e.blogspot.com www.flickr.com

349 Vgl. Ƚɨɪɛɚɱɟɜɚ, ȼ. ȼ.: ɇɚ ɝɪɚɧɢ ɦɢɪɨɜ. ɒɚɦɚɧɢɡɦ ɧɚɪɨɞɨɜ ɋɢɛɢɪɢ. ɂɡ ɫɨɛɪɚɧɢɹ Ɋɨɫɫɢɫɤɨɝɨ ɷɬɧɨɝɪɚɮɢɱɟɫɤɨɝɨ ɦɭɡɟɹ, ɉɟɬɟɪɛɭɪɝ 2006, 10f.

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Abbildung 22: Unbekannter Schamane

Sibirien 1925 350

www.3worlds.podoma tic.com www.quetzalcouatl.sp aces.live www.schamanismusinformation.de www.transpersonalepsychotherapie.de

Abbildung 23: Schamane Otsir böö

Mongolei 1909

www.quetzalcouatl.sp

Sakari Pälsi, National

aces.live

Museum Finnland351 www.wolfsspur.org www.face-music.ch www.research.unc.edu

Die hier dargestellten Fotografien begegnen im Kontext des schamanischen Diskurses kontinuierlich und intermedial. Obwohl sie keinen Kanon darstellen, der nicht 350 www.schamanismus-information.de 351 Vgl. Siikala, Anna-Lena & Hoppal, Mihaly: Studies on Shamanism, Helsinki 1992, 201.

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verlassen werden könnte, so ist es doch nicht übertrieben zu behaupten, dass sie durch die Häufigkeit ihrer Zitierung und Reproduktion eine präfigurierende und normierende Wirkung auf die Vorstellungen dessen ausüben, was den vorrevolutionären Schamanismus betrifft. Trotz der Vielfalt der Darstellungen und medialen Manifestationen des Diskurses um den Schamanismus haben sie eine gewisse repräsentative Wirkung auf sich vereinigen können. Ob eine derartige Repräsentativität allerdings in irgendeiner Rückbindung zur tatsächlichen Form des Schamanismus in Sibirien vor der Revolution steht, muss offen bleiben und überschreitet auch den hier gestellten Fragehorizont. Entscheidend ist vielmehr, dass diese Fotografien der Jahrhundertwende eine prägende Kraft entfalten – wie sich dies genau äußert wird noch zu explizieren sein. Zunächst ist hier die Wirkungslinie der Fotografie im Schamanismusdiskurs noch weiter zu zeichnen. Konzeptionsformende Kraft ist nämlich nicht nur obigen historischen Fotografien eigen, sondern ebenso gegenwärtigen. Als besonders prägnantes Beispiel soll dazu folgende Fotografie (Vgl. Abbildung 24)352 herausgegriffen werden: Abbildung 24: Fotografische Ikone eines Schamanen

Quelle: www.geo.de © Medienkontor FFP GmbH

Welche ikonografischen Beobachtungen lassen sich an diesem visuellen Artefakt anstellen? In halbnaher Perspektive begegnet hier zunächst ein Mensch in auffälliger Kleidung mit einem Objekt in der linken Hand. Der gewählte Ausschnitt der Halbnahen Einstellung von der Hüfte an aufwärts lenkt die Aufmerksamkeit des Betrachters auf die Person, gewährt aber dennoch eine Wiedererkennbarkeit der

352 http://www.geo.de/GEO/kultur/geo_tv/3518.html. © Medienkontor FFP GmbH.

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unmittelbaren Umgebung353. Den Blick von der Kamera ab- und dem Horizont zugewandt läßt der Gezeigte sein Gesicht nur partiell im Profil und im Gegenlicht vernehmen. Dennoch vermittelt der starke Hell-Dunkel-Kontrast zwischen Protagonist und Landschaft Umrißlinien, die klare visuelle Marker hinsichtlich seiner Tätigkeit setzen: Es handelt sich anscheinend um einen Schamanen. Dieser methodisch gewagte Schritt von der ikonografischen zum ikonologischen Aussagegehalt des Bildes, kann jedoch – und hier muß die Ebene der bildimmanenten Interpretation verlassen werden – nur plausibel werden durch einen Blick auf seinen sozialen Gebrauch: Zu beobachten ist nämlich, dass die hier untersuchte Fotografie im cyberspace in dynamischer Weise und unterschiedlichsten Zusammenhängen aufgegriffen wird. Das Spektrum der Aneignungen reicht dabei von allgemein esoterischen, alternativ-spirituell oder alternativ-sanatorisch interessierten Anbietern354, hin zu sportlich orientierten Webpages355, über dezidiert am Schamanismus Interessierte356, bis zur gegenwärtig boomenden Sparte des Personal Coachings357. In allen diesen medialen Darstellungen gesellschaftlicher, zunächst disparat erscheinender Sektoren begegnet ein Schamane in der immer gleichen visuellen Repräsentation. Ohne nun den Bogen bildinterpretatorischer Spekulationen zu überspannen, kann vermutet werden, dass dieses Bild seinen stellvertretenden Status deswegen erlangen konnte, da der silhouettenhafte Schamane vor dem Sonnenuntergang, in einer an sibirische Nostalgie anspielenden Winterlandschaft und seiner lichtdurchfluteten, magisch erscheinenden Trommel in einer Gesamtkomposition bestimmte symbolische Propositionen transportiert, welche auf die eine oder andere Weise in den erwähnten Zusammenhängen von Wichtigkeit sind. Interessanterweise ist im Falle der vorliegenden Fotografie das Gesicht des Schamanen und damit dessen Wiedererkennbarkeit nur von sekundärer Bedeutung bzw. gar unerwünscht. Die dargestellte Person repräsentiert daher in dieser Ikone des Schamanismus nicht vorwiegend sich selbst, sondern eine allgemeine Idee des (idealisierten) Schamanen. Für die Wirksamkeit einer derartigen sibirischen Ikone reicht eine Andeutung und Rezitierung bestimmter Stereotypen des Schamanen. Nicht eine am individuellen Schamanen selbst interessierte Darstellung sondern die fotografische Komposition ist es, die die Botschaft konstituiert. Wer ist es nun, der hier im Bild inszeniert wurde? Denn trotz allen Verweischarakters des Bildes, will der Betrachter dieses Geheimnis schliesslich doch gelüftet wissen. Es ist der schon an anderer Stelle, für 353 Zur Nähe-Distanz-Relation in der Halbnahen Perspektive vgl. Hickethier, K.: Film- und Fernsehanalyse. Stuttgart, 42007, 55f. 354 www.lebenslust-essen.de oder www.reiki-esslingen.de. 355 www.steppenreiter.de. 356 www.alpenschamanismus.de, www.quetzalcouatl.spaces.live.com, www.chaman-life.com, www.indianerpfad.de. 357 www.systemcoach.org.

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diese Untersuchung aufgrund seiner biografischen Verschränkungen interessant gewordene tyvanische Schamane Nikolai Oorzhak. Wie sich in seinem Leben Prozesse der Transdifferenzbildung eingeschrieben haben, so hat ihn das Filmcover einer Dokumention des WDR358 zu einer Gegenwartsikone des Schamanismus gemacht. Die in seiner Person zu verzeichnenden Appropriierungen und Rekontextualisierungen schamanischer Praxen haben eine mediale Verdopplung erfahren, indem die sein Bild aufgreifenden Formate ihn auch ikonografisch zu einer Repräsentation des sibirischen Schamanismus machen. Diametral entgegengesetzt zum visuellen Zurücktreten der Wiedererkennbarkeit Oorzhaks verhält es sich bei einer anderen Gegenwartsikone des sibirischen Schamanismus, dem aus Burjatien stammenden Valentin Chagdaev. Er genießt einen ähnlichen Bekanntheits-, Präsenz- und Repräsentationsgrad wie Nikolai Oorzhak, jedoch stärker als bei seinem internationalisierten tyvanischen Kollegen stets gekoppelt an seine landschaftliche Umgebung des Baikal-Sees. Medial wird er nicht durch das eine wiederkehrende Bild wie Oorzhak repräsentiert, sondern durch eine Pluralität von Bildern, welche jedoch in seiner Person ein integrierendes Moment finden (Vgl. Abbildung 25)359:

358 www.geo.de./GEO/kultur/geo_tv/3518.html. 360°: Die Klinik der Schamanen, Die GEO-Reportage, Folge 53, Regie: Ute Gebhard, 2000, © Medienkontor FFP GmbH. http://www.medienkontor.de/produktionen/2_Dokumentation_Reportage/14_360_GEO _Reportage.html. 359 www.archipel-reisen.ch 2.jpg; www.web30.server1.ihreigenerwebserver.de.jpg; www. baikal.desib.de.jpg; www. baikalkomplex.com.jpg; www. faszination-russland.de 3.jpg; www. www.aktuell.ru.jpg; www. www.spiegel.de.jpg.

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Abbildung 25: Kontextvariabilität und personale Integration: Valentin Chagdaev

Quelle: www.archipel-reisen.ch 2.jpg; www.web30.server1.ihreigenerwebserver.de.jpg; www. baikal.desib.de.jpg; www. baikalkomplex.com.jpg; www. faszination-russland.de 3.jpg; www. www.aktuell.ru.jpg; www. www.spiegel.de.jpg.

Der Vielzahl der Bilder entspricht die Vielzahl der Farben seiner Schamanengewänder in gold, grün, rot, blau, etc. Als wiederkehrende Motive begegnen sein schwarzer Hut sowie ein vor der Brust hängender schamanischer Messingspiegel. Meist ist seine Trommel zu sehen, der blaue Himmel des Baikal, sowie bisweilen dessen typische Felsformationen. Die rekurrierenden Fotos von Chagdaev sind folglich von einer Spannung zwischen Variabilität und Wiedererkennbarkeit durch

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feststehende Motive gekennzeichnet. Sein Gesicht und die klassischen schamanischen Attribute gehören zu den letzteren. Dass Chagdaev und das Genre der ihn zeigenden Fotografien in einer anderen Funktion stehen, zeigt im Gegensatz zu Oorzhak auch ihre Verwendung v.a. im touristischen360 und nachrichtenorientierten361 Sektor. Beide Formen von Fotografien werden jedoch als künstlerische Arrangements zu Ikonen eines virtuellen Raumes. Sie stellen qua ihrer Kraft, Wahrnehmung zu prägen, Wirklichkeit her und bilden die Vorstellungen voraus, wie ein gegenwärtiger sibirischer Schamane auszusehen hat. Ihre Verwendung ist nicht zufällig, sondern sie wollen eine Botschaft transportieren. Sie zeigen das Andere und laden ein zu einem Abenteuer. Sie erzählen mit den Mitteln ihrer Ästhetik von fremden Welten und versprechen im Visuellen eine Überschreitung des Hier. Chagdaev und Oorzhak – zwei Werbe-Ikonen für die Andere Erfahrung. 5.1.4 Einander ins Bild setzen: Wie der Schamane sich selbst inszenieren will Die bisherigen Überlegungen waren geleitet von der Frage, wie Schamanen zeigende Zeichnungen oder Fotografien von Dritten zu eigenen Aussagezwecken rekontextualisiert und appliziert werden. Sicherlich ist davon auszugehen, dass Oorzhak und Chagdaev bei der Komposition der oben dargestellten Bilder wesentlich mitgewirkt haben – für die Fotografien um die Jahrhundertwende ist dies dagegen aufgrund des kolonialen Kontextes in dem sie entstanden sind ungewiss. Die Applikation dieser Bilder erfolgte aber in Kontexten, die als von den dargestellten Personen als unabhängig zu betrachten ist. Meine These ist nun, dass exakt diese Art des Gebrauchs Dritter Rückwirkungen hat auf die Weise, wie heutige Schamanen sich selbst auf Fotografien darstellen möchten. Die vorgegebenen historischen Fotografien in ihrer spezifischen Geschichte sowie gegenwärtige Verwendungspraxen haben ein Dispositiv geprägt und kreieren dies ständig neu, welches implizite Wahrnehmungsmuster und ästhetische Konzepte aktiver Schamanen vorauslaufend und rekursiv ausbilden. Darüber hinaus existieren Indizien, dass die Art, wie heutige Schamanen z.B. in Tyva sich selbst auf Fotografien, die sie im tyvanischen Kontext zu verwenden beabsichtigen, sehen wollen, in einer doppelten Spannung steht: Zwischen einer Ansicht wie sie der Frontalposition der meisten historischen Aufnahmen entspricht mit Trommel und Schlegel jeweils in den Händen und einer zweiten performanzorientierten, dynamischen, auf Authentizität der Trance zielenden Selbstpräsentation. Ich möchte dies im Folgenden zeigen, indem ich einige 360 www.baikal.desib.de, www.faszination-russland.de, www.sajanreisen.de, www.baikalcomplex.com. 361 www.aktuell.ru, www.spiegel.de.

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Fotografien untersuche, die während meiner Feldforschung in der Schamanenklinik Adyg Eeren entweder entstanden, oder mit denen ich in Kontakt kam. Denn Teil der geteilten Lebenspraxis mit den dort aktiven Schamanen war es auch, dass ich sie für sich selbst fotografierte, damit sie diese Fotografien auf ihren schamanischen Visitenkarten verwenden können bzw. in eine geplante Homepage der Schamanenklinik einstellen. Ein Beispiel soll exemplarisch herausgegriffen und mit vorrevolutionären Fotografien362 sowie Zeichnungen aus dem 18. Jahrhundert363 kontrastiert werden (Vgl. Abbildung 26):

362 Die Fotografien von links nach rechts: Altaischer Schamane 1930, Sammler Gryasnow; Schamane Grigorij Fedotow (Negidale) 1927, Sammler Schneider; Schamane der Nanajtsy 1910 Museum Chabarowsk; Schamane Amyr Salanka (Altaier), 1924 Sammler Rudenko. Vgl. Ƚɨɪɛɚɱɟɜɚ, ȼ. ȼ.: ɇɚ ɝɪɚɧɢ ɦɢɪɨɜ. ɒɚɦɚɧɢɡɦ ɧɚɪɨɞɨɜ ɋɢɛɢɪɢ. ɂɡ ɫɨɛɪɚɧɢɹ Ɋɨɫɫɢɫɤɨɝɨ ɷɬɧɨɝɪɚɮɢɱɟɫɤɨɝɨ ɦɭɡɟɹ, ɉɟɬɟɪɛɭɪɝ 2006, 10f. 12f.; 64f. 363 Zeichnungen aus Georgi, J. G.: Beschreibungen aller Nationen des Russischen Reichs ihrer Lebensart, Religion, Gebräuche, Wohnungen, Kleidungen und übrigen Merkwürdigkeiten, St. Petersburg 1776. Bild 44f; 82f. und 86. Zitiert nach Hoppál Mihály: Schamanen und Schamanismus, Augsburg 1994, 48f.

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Abbildung 26: Haltung bewahren und Kontinuität zeigen

Quelle: Erste Reihe: Heiko Grünwedel. Zweite Reihe: Ƚɨɪɛɚɱɟɜɚ, 10f. 12f.; 64f. Dritte Reihe: Hoppál, 1994, 48f.

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Vergleicht man die drei Ebenen, die jeweils einen Abstand von 100 bis 150 Jahren zueinander aufweisen, so lässt sich eine klare Linie in der Haltung des Schamanen erkennen. Allerdings sind die jeweiligen Aufzeichnungen unter sehr verschiedenen Rahmenbedingungen entstanden. Während keine Aussage darüber getroffen werden kann, ob für die Zeichnungen des 18. Jahrhunderts Schamanen in der dargestellten Weise ‚Modell‘ gestanden hatten, bzw. ob der Zeichner das Arrangement aus seiner Vision heraus anfertigte, ist dies für die Fotografien des beginnenden 20. Jahrhunderts anzunehmen. Wie schon erwähnt ist bzgl. des Zustandekommens dieser historischen Aufnahmen ein kolonialer Machtzusammenhang vorauszusetzen. Die stereotype Haltung, in der sich Schamanen positionieren sollten, entsprach dabei den Vorgaben der 100 Jahre älteren Zeichnungen und damit den Zeigeinteressen der aufnehmenden Fotografen bzw. den Wünschen potentieller Betrachter des späteren Bildes in Russland oder Europa. So spiegelt sich in der Haltung, die dem Schamanen aus einer normativen Vorerwartung heraus auferlegt wurde, eine Relation der Herrschaft: Der Schamane soll sich öffnen, seine Körperbreitseite bloßlegen, sein Gewand und seine Instrumente präsentieren, sein Gesicht erkennbar geben. Der Schamane wird vorgeführt. Er soll seinen Habitus dem vorgeformten Blick des Beobachters anpassen. Der moderne Schamane Gennadij führt nun diesen Habitus fort. Er positioniert sich in Anspielung an die Posen seiner Vorgänger von vor 100 Jahren. Er versteht sich selber in der Tradition dieser vorrevolutionären Schamanen und daher nimmt er auch ihre Haltung ein. Dass diese Haltung einem kolonialen Diskurs entsprang, ist hier jedoch zweitrangig geworden. Entscheidender ist der visuelle Aufweis von Kontinuität. Der Schamane Gennadij stellt seine Authentizität qua eines Habitus her, indem er eine bildliche Referenz zu den Garanten des traditionellen Schamanismus generiert. Mit diesen Fotos präsentiert er sich selbst seinen Klienten. Sein Habitus macht für sie seine Fotografien lesbar und interpretierbar. Die Botschaft der Echtheit wird übermittelt. Es ist folglich nicht unberechtigt, die Herausbildung eines visuellen Dispositivs durch die untersuchten historischen Aufnahmen von Schamanen zu konstatieren. Losgelöst aus ihrem ursprünglichen semantischen Kontext haben sie ein Kommunikationssystem gebildet, in dem gegenwärtig Bedeutungen ausgehandelt werden können. Wie anfangs bereits angemerkt, stellen derartige statische Aufnahmen nicht die einzige Referenz für Selbstauftritte von Schamanen dar. Der obige koloniale Habitus tritt vielmehr in Spannung zu einer dynamisch geprägten und auf die geistigen Fähigkeiten des Schamanen zielenden Eigenpräsentation. Verdeutlichen möchte ich dies mit einer Fotostrecke, die den Vorsitzenden der Schamanenklinik Adyg Eeren Kara-ool Tjuljusewitsh zeigt. Die Aufnahmen stammen aus seinem ‚schamanischen Fotoalbum‘, welches er gerne zu Demonstrationszwecken Besuchern, Reportern

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oder Touristen zeigt und das er mir überließ, um es im Rahmen eines Homepage Projektes der Klinik zu digitalisieren (Vgl. Abbildung 27)364: Abbildung 27: Performanzorientierte Selbstpräsentation

364 Fotografien aus dem Privatbesitz des Vorsitzenden der Schamanenklinik Adyg Eeren Kara-ool Tjuljusewitsh. Courtesy Kara-ool Tjuljusewitsh.

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Quelle: Fotografien aus dem Privatbesitz von Eeren Kara-ool Tjuljusewitsh

Wie zeigt sich Kara-ool hier selbst? Von entscheidender Bedeutung sind seine Körperhaltungen, Gesichtsausdrücke und die jeweilige Umgebung. Er singt, ruft an, beschwört, neigt sich demütig, opfert Milch, trommelt heftig, blickt zum Himmel, verweist mit seinem schamanischen Pfeil. Er befindet sich in Höhlen, an Bächen, Bergen, Schamanenbäumen und inmitten seiner Attribute. Kara-ool weist damit nach, dass er an verschiedensten Kraftorten gewesen ist, verschiedenste Rituale durchgeführt hat, die traditionelle Lebensweise der Tyvaner in der Jurte schätzt. Kara-ool inszeniert sich selbst als dynamischer, emotionaler, kraftvoller Schamane, der das kann, was man von einem Vorsitzenden einer Schamanenklinik erwartet: Nicht nur seine Organisation zu leiten sondern auch die Geister. Verschiedenste Topoi der tyvanischen Symbolwelt wie ein schattiger nur in der Silhouette erkennbarer Hilfsgeist, ein Milchopfer, die Stoffbänder ýalama etc. kreieren einen Kontext, der die Interpretation der spezifischen Gesten Kara-ools leitet und damit zugleich über das Bild hinaus weist: Als entscheidend soll hier verstanden werden, was auf dem Bild gerade nicht zu sehen ist: Die schamanische Reise Kara-ools und seine Kommunikation mit den Geistern. So dienen folglich beide Arten, obwohl sie in ihrer fotografischen Komposition unterschiedlicher nicht sein könnten, einem gemeinsamen Ziel. Die statischen, an die Kolonialfotografien angelehnten Ganzkörperaufnahmen von Schamanen intendieren in ihrer Dokumentation der äußeren Attribute qua ihres kanonischen Charakters denselben Echtheitserweis wie die dynamischen, auf die geistigen Fähigkeiten des Schamanen verweisenden Performanzfotografien. Meiner Ansicht nach ist die Wiedererweckung des Schamanismus in Tyva nach dem Zerfall der Sowjetunion als ein neues Phänomen in genau dieser Spannung zu verstehen. Zum einen unter Rückbezug auf eine Tradition, die vor der Revolution lokalisiert und für die Ge-

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genwart neu angeeignet wird. Zugleich in ständiger Aushandlung mit neuen Ausdrucksformen, welche davon ausgehen, dass geistige Prozesse einer äußere, bildliche Repräsentation einnehmen können. Der Prozess der Rekonstruktion des tyvanischen Schamanismus, so kann man zusammenfassend festhalten, bricht sich mehrfach in den fotografischen Manifestationen, die ihn begleiten. Die eingangs aufgestellte These, dass eine Diskursanalyse auch die Korrelationen des Diskurses zu visuellen Medien in den Blick nehmen sollte, hat sich so bewahrheitet. Eine Fragestellung blieb aber bisher unbeantwortet: Durch welche strukturellen Rahmenbedingungen kommen performative Fotografien wie die Kara-ools zustande? Hierbei ist zu verweisen auf eine grundlegende Wechselwirkungsdynamik zwischen gegenwärtigen Schamanen und Vertretern technischer Medien. Wie die Fotografie von Beginn an von einem Diskurs der Interferenz der Medien mit den Geistern begleitet wurde, indem z.B. darauf hingewiesen wurde, dass Geister sich in der Präsenz eines Fotoapparates oder Blitzes nicht zeigen würde, so auch heute. Schamanen gebrauchen selbst den Begriff des show-man (in Anlehnung an shaman), um damit die Echtheit ihrer Konkurrenten zu untergraben. Und dennoch kann von keiner grundsätzlichen Ablehnung visueller Medien von Seiten der Schamanen gesprochen werden. Diese werden vielmehr differenziert, situationsabhängig und durchaus mit eigenen Interessen in den Diskurs integriert oder auch nach Bedarf exkludiert. Ich denke, die Situation kann treffend beschrieben werden als ein beständiges Kräftemessen und gegenseitiges Abstecken der Grenzen. Schamanen und Medienleute sind aufeinander verwiesen, begegnen sich aber gegenseitig mit Machtinteressen. Weniger im Sinne einer Analyse, als mit dem Ziel, die Konfrontation der schamanischen Macht mit der Macht der Kamera zu visualisieren, mögen folgende – natürlich ebenfalls in ein Machtdispositiv zweiter Ordnung eingebundene – Fotografien dienen: (Vgl. Abbildung 28)365:

365 Foto links oben: http://www.krupar.com/index.php?file=www/en/gallery/gallery.html&cat=5. Foto rechts oben: http://www.axel-moeller.de/html/schamanen_aus_tuva_an_den_exte.html. Fotos untere Reihe: Eigene Aufnahmen.

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Abbildung 28: Kräftemessen und Machtinteressen

Quelle: Heiko Grünwedel

Quelle: Stanislav Krupar

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Und um den Bogen zu schließen zur ersten, einen Schamanen sichtbar machenden Zeichnung von 1672, sollen abschließend gegenwärtige Aufnahmen von sibirischen Schamanen, wie sie aus einem Dispositiv wie dem oben skizzierten entspringen, betrachtet werden. Es handelt sich dabei zum einen um Fotografien des tschechischen Fotografen Stanislav Krupar, welcher seit mehreren Jahren regelmäßig die Republik Tyva bereist und dort künstlerische Fotografien von Schamanen anfertigt. Er veröffentlicht diese nicht nur auf seiner professionellen Homepage (www.krupar.com), sondern seine Bilder wurden auch Teil der groß angelegten Schamanismusausstellung des ethnologischen Lindenmuseums 2008 in Stuttgart366. Dort fanden Exponate des Ethnografischen Museums aus St. Petersburg, wie sie in verschiedenen Facetten bereits in den obigen Fotografien erörtert wurden, und fotografische Gegenwartskunst zusammen. Das Sujet blieb über 100 Jahre das gleiche, die Ästhetiken haben sich vielfach gespiegelt, gebrochen, verschoben und verschränkt (Vgl. Abbildung 29)367:

366 Vgl. Kasten, Erich: Schamanen Sibiriens. Magier – Mittler – Heiler, Stuttgart 2009. 367 http://www.krupar.com/index.php?file=www/en/gallery/gallery.html&cat=5.

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Abbildung 29: Schamanismus im Blick des Künstlers

Quelle: Stanislav Krupar

Krupars und Witsen‘s Transpositionen in die Visualität lassen auf ihre je eigene Weise durchscheinen, wie Abbildungen von Schamanen zur Reflexionszone des Fotografen und dessen Publikum instrumentalisiert werden. Rekontextualisiert und in sich kontinuierlich verschiebende Verwendungszusammenhänge eingebettet,

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stehen die ältesten und die neuesten Bilder von Schamanen unter der Einwirkung des gleichen diskursiven Kraftfeldes, das sie selbst mitkonstituieren. Dass eine hinsichtlich der Macht zur Abgrenzung legitimen Wissens nicht unerhebliche Institution wie das ethnologisches Museum Stuttgart (im konkreten Falle über das Phänomen des Schamanismus) auf einen Fotografen zurückgreift, der in Tyva gearbeitet hat, ist dabei kein Zufall. Deutlich wird dies, nimmt man die exemplarischrepräsentative visuelle Präsenz der kleinen südsibirischen Republik in einer der prägendsten Fotografenvereinigungen in den Blick. Auf magnum.com, der website der ersten und heute weltweit agierenden Foto-Agentur368 mit dokumentarischkünstlerischem Grundimpetus, lassen sich Beobachtungen bzgl. der Anordnung visueller Repräsentationen von Schamanen durchführen. Eine Suche im onlineKatalog der verfügbaren Fotografien zu unterschiedlichen Kombinationen von Schlagwörtern ergibt Folgendes: • Zum Stichwort ‚shaman‘ finden sich insgesamt 158 Einträge • 73 von diesen 158 Schamanenbildern zeigen Schamanen aus Tyva (Stichwort ‚shaman‘ + ‚Tuva‘) • Die Stichwortsuche ‚shaman‘ + ‚Siberia‘ ergibt die gleiche Ausgabemenge wie ‚shaman‘ + ‚Tuva‘ • Das Thema ‚Tuva‘ allein ergibt 110 Treffer, 73 davon sind Schamanen Ausgehend von dieser Strukturierung legen sich Vermutungen nahe: • Der tyvanische Schamanismus ist bzgl. seiner visuellen Präsenz überproportional repräsentativ für den weltweiten Schamanismus (73 von 158, also fast die Hälfte aller Schamanenbilder werden durch tyvanische Schamanen besetzt) • Der tyvanische Schamanismus ist bzgl. seiner visuellen Präsenz absolut repräsentativ für Schamanismus in Sibirien, einer geografischen Region, die im Schamanismusdiskurs (wie anfangs gezeigt) eine zentrale Rolle spielt • Schamanismus an sich ist im Hinblick auf eine visuelle Charakterisierung des Landes Tyva zum vorrangigen Signifikanten geworden: 73 von 110, mehr als zwei Drittel des Gezeigten, gruppiert sich um die eine Thematik Zusammenfassend kann daher festgehalten werden, dass auch der visuelle Part des Schamanismusdiskurses eine doppelte Prädestination zwischen Tyva und seinem Schamanismus herstellt: Tyva ist das Land der Schamanen und die Schamanen sind das Proprium Tyvas. In Personalunion vertreten beide in der visuellen Kultur nicht 368 Zur historischen Entwicklung und gegenwärtigen Bedeutung der Fotografenvereinigung Magnum vgl. Lardinois, Brigitte (Hg.): Magnum Magnum, München 2009, 8f., 564f.

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nur den über die Partialethnie der Tyvaner hinausreichenden historischgeografische Globalraum Sibirien, sondern im Kontext einer globalisierten ‚Weltkultur‘ das Phänomen an sich. 5.1.5 Zusammenfassung Das Unternehmen des Kapitels war es, die Analyse des schamanischen Diskursfeldes zu fokussieren auf Wechselwirkungen sprachlich verfasster Diskurselemente mit nichtsprachlichen, im Besonderen bildlich-fotografischen. Die Frage, wie es die Entstehung von Bildern konditioniert und umgekehrt, welche Funktion innerhalb dieses Diskursfeldes Bildern zukommt, führte zur Analyse der darin implizierten Übersetzungsprozesse, historischen Hintergründe, Akteure und den Verwendungszusammenhängen von Fotografien im Gebrauch Dritter und der Schamanen selbst. Ziel war es, die interdependenten Strukturen von Deutemustern und Applikationsweisen sichtbar zu machen sowie ein Bild der Wechselwirkung kulturell geprägter Ästhetiken des Schamanismus zu zeichnen. Der Anfang einer solchen Bildgeschichte des Schamanismus wurde zwischen 1672 und 1692 mit der Publikation des Berichtes ‚Noord en Oost Tartarye‘ des dänischen Forschers Nicolaas Witsen bestimmt, welcher eine erste Zeichnung eines Tungusischen Schamanen beinhaltet. Bild und Text können dort, als sich wechselseitig konstituierender Diskurs der Dämonisierung und folglich Alterierung begriffen werden. Diese Zeichnung erfuhr und erfährt über ihre initiatorische Bedeutung der Schaffung einer visuellen Metapher hinaus eine Rezeption in verschiedensten, von seinem genuinen Entstehungsraum losgelösten, Kontexten. Ein emblematischer, zeitliche Differenz und Kontinuität zugleich konstituierender Gebrauch bei Robert Wallis wurde ebenso bedacht wie der Repräsentativität und Genuinität schaffende bei Juha Pentikäinen oder zeitgenössischer Schamanen. Witsens ikonografische Verdichtung eines ‚Teufelsdieners‘ wird somit wie der Terminus des ‚Schamanen‘ selbst zu einem frei flotierenden Signifikanten und damit prädestiniert, mit neuem Sinn gefüllt in neue Verwendungszusammenhänge gestellt zu werden. Die Erfindung des Fotoapparates ersetzt zwar zunächst wahrheitsvermittelnde Zeichnungen wie die Witsens, führt aber den dort dargestellten schamanischen Habitus fort. Beide Medien werden 100 Jahre später im Gegenwartsmedium Internet Rekontextualisierungsprozessen unterzogen und können sich so zu Standard-Verweis-Ikonen eines Bildes vom traditionellen sibirischen Schamanismus entwickeln, welche Vorstellungen, worum es sich dabei handelt, visuell präfigurieren und normieren. Letzteres kann auch von zeitgenössischen Fotografien beobachtet werden. Am Beispiel einer silhouettenhaften Aufnahme des tyvanischen Schamanen Nikolai Oorzhak wurde deutlich, wie diese einen stellvertretenden Status qua ihres Charakters einer Gesamtkomposition erlangen konnte und damit eine Symbolik transportiert, die eine allgemeine Idee des

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(idealisierten) Schamanen zeichnet. Als künstlerische Arrangements werden derartige Fotografien zu Ikonen eines virtuellen Raumes, die qua ihrer Kraft, Wahrnehmung zu prägen, Wirklichkeit herstellen und in ihrer Verwendung nicht zufällig sind: Im Verweis auf das Andere laden sie ein zu einem Abenteuer, erzählen von fremden Welten und versprechen im Visuellen eine Überschreitung des Hier: Werbe-Ikonen für die andere Erfahrung. Schließlich wurde noch eine zweite Dynamik bedacht: Geschichte und Verwendungspraxen der untersuchten historischen und gegenwärtigen Fotografien prägen kontinuierlich ein Dispositiv, welches auch die impliziten Wahrnehmungsmuster und ästhetischen Konzepte aktiver Schamanen vorauslaufend determinieren. Die Weise, wie heutige Schamanen in Tyva sich selbst in ihrem Kontext auf Fotografien sehen wollen, steht so in einer doppelten Spannung: Zwischen einer Ansicht der Frontalposition, wie sie die meisten historischen Aufnahmen zeigen und einer dynamischen, auf Authentizität der Trance zielenden Selbstpräsentation. Vergleicht man daher erste Zeichnungen wie die Witsens mit Fotografien der Jahrhundertwende und schließlich gegenwärtigen, so lassen sich durchlaufende Linien in der Haltung des Schamanen erkennen. Die aufgezwungene stereotype Haltung der Kolonialfotografien entsprach dabei den Vorgaben der 100 Jahre älteren Zeichnungen und damit den Zeigeinteressen der aufnehmenden Fotografen bzw. den Wünschen potentieller Betrachter. Der moderne Schamane führt nun diesen Habitus in seiner Eigenpräsentation fort, um seine Kontinuität zu den vorrevolutionären Schamanen herzustellen. Derartige statische Ganzkörperaufnahmen von Schamanen intendieren in ihrer Dokumentation der äußeren Attribute qua ihres kanonischen Charakters aber denselben Echtheitserweis wie die dynamischen, auf die geistigen Fähigkeiten des Schamanen verweisenden Performanzfotografien. Als Schlussfolgerung konnte so festgehalten werden, dass der Prozess der Rekonstruktion des tyvanischen Schamanismus sich in den fotografischen Manifestationen spiegelt, die ihn begleiten. Der Wechselwirkungsdynamik zwischen gegenwärtigen Schamanen und Vertretern technischer Medien kommt daher eine entscheidende Rolle zu, das wurde an anderer Stelle verschiedentlich erläutert und konnte hier in seinen visuellen Ausprägungen gezeigt werden. Unter Zuhilfenahme der umfassenderen Perspektive der visuellen Anthropologie war es so in diesem Kapitel möglich, die diskutierten Austauschbewegungen unter dem spezifischen Fokus des Visuellen in seine historischen Zusammenhänge einzuzeichnen und damit eine umfassendere kulturhermeneutische Verortung anzubieten. Ähnlich wird das nächste Kapitel verfahren, wenn es nach einer analogen Horizonterweiterung bzgl. ideengeschichtlicher Linien fragt. Die Perspektive der Esoterikforschung wird sich dabei als umstrittener, nichtsdestoweniger den Blick schärfender Zugang erweisen, der einen Blick auf Querverbindungen anderer Art ermöglicht.

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5.2 S CHAMANISMUS -

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5.2.1 Emische und Etische Standpunkte Befragt man Schamanen in Tyva oder in Deutschland, worum es sich beim Schamanismus handelt, so ist das Spektrum der erhaltenen Antworten erfahrungsgemäß breit. Eine der zu verzeichnenden Grundlinien wird u.a. jedoch sein, dass es sich dort um die Religion der Vorfahren bzw. älteste Religion, hier um eine vorchristliche Praxis handelt, die bis zur Steinzeit zurückverfolgt werden kann. Beide Statements, die kontextuell spezifisch und in ihren interpretatorischen Konsequenzen je unterschiedlich einen Aussagekern teilen, verorten den Schamanismus in einem bestimmten Kontext und verhalten sich je zur Frage der Kontinuität. Bei beiden Aussagen handelt es sich um emische Perspektiven auf die eigene Praxis. Religionswissenschaft zeichnet sich nun neben anderem dadurch aus, dass sie die emische von der etischen Sichtweise zu unterscheiden weiß, gleichzeitig aber auch über die Wechselbeziehungen der beiden reflektieren und Auskunft geben kann. Obige Kontextualisierung wird die Religionswissenschaft daher als Selbstrepräsentation uneingeschränkt akzeptieren und bedenken, ihr zugleich aber auch kritische Anfragen gegenüberstellen. Eine der möglichen Verortungen, aus der heraus die Religionswissenschaft ihre Kritikfähigkeit beziehen kann, ist die Beleuchtung des Schamanismus auf dem Hintergrund der Esoterikforschung. Dabei handelt es sich zunächst um eine etische Kategorie, die die Wissenschaft von außen an das Phänomen anlegt. Jedoch wird sich im Folgenden zeigen, dass eine rein dichotomische Differenzbildung zwischen emischer und etischer Beobachterposition, die zentralen Probleme nicht in der Lage ist zu erfassen. Vielmehr liegen die eigentlichen epistemologischen Herausforderungen an der Schnittstelle beider. Nicht die Differenz repräsentiert das interessante Spiel, sondern die Art und Weise, wie diese Differenz konstituiert wird. Warum könnte es also sinnvoll sein, Schamanismus – und dies sei nochmals vorweg betont – sowohl in Deutschland als auch in Tyva unter der Perspektive der Esoterik zu untersuchen? Kocku von Stuckrad, der zu dieser Fragestellung in seiner gleichlautenden Untersuchung „Schamanismus und Esoterik“ gearbeitet hat, begründet dies folgendermaßen: „Geht man so an die Sache heran, liegt die enge Verbindung zwischen Esoterik und Schamanismus auf der Hand. Die idealisierende Beschreibung des Schamanen als eines religiösen Spezialisten für die ‚andere Welt‘, aus der er Informationen gewinnt, für die Kommunikation mit nicht-menschlichen Entitäten, für ein tiefes, mystisch-künstlerisches Verständnis der Natur – all dies ist Teil einer esoterischen Konzeptionalisierung von Mensch und Kosmos, wie sie von der antiken Stoa bis zur modernen Naturphilosophie europäischem Denken ver-

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traut war [...]. Pantheismus, Animismus und Holismus sind Modelle, die in der Neuzeit vorgeprägt waren und auf die Ausbildung der Esoterik ebenso einwirkten wie auf die Erklärung schamanischer Phänomene. Aufschlussreich ist außerdem, dass die Formierungsphase des modernen westlichen Schamanismus, die ich zwischen Aufklärung und Romantik ansetze, auch die entscheidenden Impulse für die sogenannte New Age – Religion lieferte, ein Sachverhalt, der den engen Zusammenhang zwischen beiden Diskussionsfeldern deutlich macht.“369

Stuckrad analysiert in seiner Studie den modernen westlichen Neoschamanismus, er selbst nennt ihn aus intrinsischen Gründen seiner Arbeit Schamanismus, auf dem Hintergrund der westlichen Esoterik. Letztere bestimmt er dabei idealtypisch als ein analytisches Instrument, das es ihm ermöglicht, bestimmte historische Erscheinungen vergleichend in den Blick zu nehmen.370 Stuckrad greift dabei den Faivreschen Vorschlag, Esoterik als Denkform mit gemeinsamen Grundzügen zu konzeptionalisieren, auf, erweitert ihn aber zugleich in seiner zeitlichen und räumlichen Erstreckung. Esoterik wird nun zu einer adaptierbaren Taxonomie einer festen Komponente der modernen Kulturgeschichte.371 Allerdings gerät die Stuckradsche Argumentation in den Verdacht eines Zirkelschlusses, wenn er den Schamanismus, den er sich als Phänomen anhand bestimmter Ideen und literarischer Zeugnisse absteckt, parallelisiert mit der Esoterik, die er in methodisch gleicher Weise definiert, aufgrund einer bestimmten ‚esoterischen Konzeptionalisierung von Mensch und Kosmos‘. Gleiches betrifft dann das Argument einer inhaltlichen Koinzidenz zwischen den Anfängen des westlichen Schamanismus, wie ihn sich Stuckrad rekonstruiert, und der New Age. Dass darüber hinaus – wie Stuckrad im darauffolgenden Kapitel selbst ausführt – der Begriff der new age in diesem Zusammenhang ebenfalls zu problematisieren ist, sei nur vorweg bemerkt. Gibt es aber dennoch, jenseits des Stuckradschen Korrelationsvorschlags, gewichtige Gründe, Schamanismus mit den Fragestellungen der Esoterikforschung zu konfrontieren? Ja, letztere sind da, doch um sie transparent zu machen, ist zunächst ein Schritt zurück notwendig, und es muss gefragt werden, worum es sich handelt, wenn von Esoterik die Rede ist. Der Stuckradsche Ansatz ist einer, doch bei weitem nicht der einzige, geschweige denn unumstrittene. Besondere Relevanz wird, wie bereits oben angedeutet, in den folgenden Betrachtungen dem Verhältnis zwischen emischer und etischer Position zukommen.

369 Stuckrad, Schamanismus und Esoterik, 30. 370 Vgl. Stuckrad, Schamanismus und Esoterik, 30. 371 Vgl. ebd., 27-30.

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5.2.2 Ansätze von Esoterik Paradigmatisch für die Beleuchtung der ersten Grundsatzfrage in der Gegenstandsbestimmung der Esoterik kann die Debatte zwischen Christoph Bochinger und Wouter J. Hanegraaff herangezogen werden. Während letzterer ebenfalls in der Tradition Faivres stehend einen ideengeschichtlichen Zugriff auf die Esoterik vertritt372, geht Bochinger den umgekehrten Weg und setzt seinen Angriffspunkt in sozialwissenschaftlich-phänomenologischen Beobachtungen.373 Faivre hatte es als erster unternommen, unter Kombination eines historischen und typologischen Arguments einen Bestand von Grundgedanken in dem von ihn abgesteckten ‚esoterischen corpus‘ auszumachen und dadurch etwas zu bestimmen, was er die esoterische Denkform nannte. Er konzeptionalisiert so Esoterik erstmals als ein durchgehendes Phänomen der europäischen Kultur- und Religionsgeschichte. Sechs Merkmale sind Faivre zufolge für das Esoterische maßgeblich: Denken in Entsprechungen, das Konzept der lebenden Natur, Imagination, Transmutation, und optional noch Konkordanzbildung und Transmission. Eine inhaltliche Bestimmung von Esoterik als wissenschaftlichem Gegenstand ist damit vollzogen. Hanegraaff (wie auch Stuckrad) baut auf diesem Konzept auf, weist jedoch daraufhin, dass die Faivreschen Grundformen nicht essentialistisch fehl zu interpretieren seien und betont daher stärker die Transformationen im esoterischen corpus. Dennoch bleibt bei Hanegraaff die Esoterik eine inhaltlich zusammengehörige Bewegung mit längerem diachronem Traditionszusammenhang. Sie ist seiner Ansicht nach das Ergebnis eines polemischen Ausschließungsdiskurses, eines grand polemic narrative. Esoterikforschung sei daher als Korrektiv einer einseitigen europäischen Religionsgeschichte zu konzeptionalisieren. Bochinger setzt nun mit seiner Kritik am Hanegraaffschen Modell an dessen Kernvorstellung eines kohärenten, historisch nachzeichenbaren Zusammenhangs an. Die neue religiöse Szene, für die der Begriff new age gebraucht würde, sei weder synchron noch diachron eine gemeinsame Bewegung. Pluralität und Heterogenität seien vielmehr ihre entscheidenden Charakteristika. New age und Esoterik seine als fuzzy terms daher nur in einem generellen Rahmen zeitgenössischer religiöser Kultur zu verstehen. Bochinger schlägt daher vor, anstatt von etwaigen gemeinsamen Ideen auszugehen, die new age strukturellfunktional zu charakterisieren. Die soziologischen Bedingungen der religiösen 372 Vgl. Hanegraaff, Wouter J.: New Age Religion and Western Culture: Esotericism in the Mirror of Secular Thought, Leiden 1996. 373 Vgl. Bochinger, Christoph: „New Age“ und moderne Religion: Religionswissenschaftliche Analysen, Gütersloh 1994. Ders.: The Invisible Inside the Visible – The Visible Inside the Invisible: Theoretical and methodological aspects of research on New Age and contemporary Esotercism, in: Journal of Alternative Spiritualities and New Age Studies, 2005 1, 59-73.

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Gegenwartskultur brächten es mit sich, dass das Teilen einer globalen Kultur von der ständigen Notwendigkeit der Auswahl aus religiösen Alternativen begleitet würde. Entscheidend ist ihm zufolge dabei, dass die strukturelle Pluralisierung dabei keine klassischen konfessionellen Grenzen kenne, sondern quer zu diesen die Dichotomie zwischen traditionellen und neuen Formen von Religion aufsprenge. Bochinger kann so zeigen, dass Elemente des new age sowohl in den Religionen zu finden sind, die die Polemik gegen sie betrieben hatten, als auch in den gesellschaftlichen Mainstream überhaupt eingewandert sind. Er schlussfolgert, dass ihre unabhängige nichtdogmatische Herangehensweise an Religion moderne oder postmoderne Bedürfnisse überhaupt spiegle. Ein esoterisches Element liege daher letztendlich aller zeitgenössischen Religion zugrunde. Welche Schlussfolgerungen sind daraus für eine potentielle Untersuchung des Schamanismus in der Perspektive der Esoterik zu ziehen? Beide Bewegungen, diejenige Hanegraaffs von der Ideengeschichte zu den vorfindlichen gegenwärtigen Phänomenen der Religiosität, als auch die Bochingers von der religionssoziologischen Empirie zu den historischen Linien haben ihre jeweiligen Möglichkeiten und Grenzen. Mir scheint es dabei unter Beachtung des jeweiligen Gültigkeitsbereichs der Methoden durchaus möglich, die Vorzüge beider, auch in Form gegenseitiger Korrektive applizieren zu können. Entscheidend ist es dabei, der wechselseitigen Bezogenheit von wissenschaftlicher Forschung und Gegenstand gerecht zu werden und nicht durch eine künstliche Trennung eine nominelle Objektivität vorzuspiegeln, die tatsächliche Interferenzen verschleiert. Interessanter und fruchtbringender ist es daher, herauszuarbeiten, wie die Esoterikforschung den esoterischen Diskurs beeinflusst hat, im konkreten Fall mit dem Schamanismusdiskurs interagierte und damit zum Teil der Geschichte des Schamanismus wurde. Fragen nach Kontinuität und Diskontinuität, nach Universalismus und Relativismus spielen dabei eine zentrale Rolle, jedoch in nichtessentialistischer Weise sondern in ihrer jeweiligen kontextuellen Relevanz und Ausformung. 5.2.3 New Age? Der Begriff des new age ist – das wurde schon angedeutet – in mehrfacher Hinsicht problematisch. Warum er trotzdem erörtert werden sollte und was mit ihm Positives gewonnen wird, soll im Folgenden gezeigt werden. Das new age hatte trotz eines gewissen Booms in den 80ern – das hat Bochinger eindrücklich geschildert374, niemals denselben Status in Deutschland oder Zentraleuropa wie in England oder Nordamerika. Es handelte sich lediglich um ein Label, und heute ist new age als Selbstidentifikation vollkommen vergessen. Eine der Ursachen liegt wohl auch darin, dass die Drahtzieher hinter dem new age boom 374 Bochinger, „New Age“ und moderne Religion, 59-73.

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nicht die leitenden Figuren der alternativen Spiritualität waren, sondern Medienexperten. New age hat daher in Deutschland nur als wissenschaftlicher Begriff überlebt. Als Selbstbezeichnung wird er von Praktikern des Schamanismus in Deutschland überdies als pejorativ abgelehnt.375 Warum soll er als wissenschaftliche Kategorie dann dennoch beibehalten werden? Bochinger zufolge seien die mit dem Begriff new age klassifizierten Phänomene paradigmatisch für einen generellen Prozess religiöser Veränderung. Die Bezeichnungen haben sich zwar geändert, nicht jedoch die Praxis. Darüber hinaus ist als Ergebnis des wenn auch kurzen Booms der new age zu konstatieren, dass verschiedene Topoi marginaler Traditionen in den Mainstream Diskurs der Gesellschaft eingewandert sind. Dies könnte cum grano salis als die Essenz der Prozesse von Demokratisierung und Säkularisierung von Religion betrachtet werden. Dies ist umso interessanter als die new age sich zunächst in einem Milieu der Gegenkultur entwickelt hatte. Jedoch entdeckte die Generation der Widerstandbewegung mit zunehmendem Alter die bürgerlichen Werte wieder und so wurde die new age in den ‚normalen‘ gesellschaftlichen Diskurses integriert. Wie eine solche Transformation geschehen konnte, lohnt daher einer genaueren Untersuchung. Im Zusammenhang mit dem Schamanismus im Besonderen, da die allgemeine Verschiebung der Esoterik hin zu Fragen der Heilung sich in den Manifestationsformen schamanischer Praxis sowohl in indigenen Kontexten376 als auch in Deutschland pointiert zeigt – das wurde aus den bisherigen Schilderungen deutlich. Welche heuristischen Entwicklungsphasen der new age sind also zu benennen? Olav Hammer377 unterscheidet die Zeit des sensu stricto der new age von der Phase des sensu lato: Während new age im engeren Sinne zunächst in den 50ern und 60ern in theosophischer Literatur und UFO-Kulten begegnet und dort in Form einer milleniaristischen Bewegung im Zeitalter des Wassermanns die Welt vor einer grundlegenden Transformation des Bewusstseins sieht, erfährt der Begriff in den 70er und 80er eine Erweiterung auf eine Vielfalt von divergenten Praktiken und Überzeugungen. Es handelt sich dabei um keine Bewegung im ersteren Sinne mehr, und inwiefern Verbindungen durch historische Linien, einen geteilten Diskurs etc. vorliegen, ist, wie bereits diskutiert, umstritten. Die zunehmende Dominanz des sensu lato über den sensu stricto seit den 80ern mündet in den 90ern schließlich zur Assimilation des sensu lato in die Mainstream Kultur. Mit dem Älterwerden der Anhänger, der Integration der new age Literatur in Mainstream Bücherläden etc. ist die new age als Bewegung zwar gestorben, der Diskurs jedoch erhalten geblieben. Allerdings hat dieser eine Verschiebung erfahren: Weg von der Idee einer globalen 375 Vgl. Stuckrad, Schamanismus und Esoterik, 31. 376 Vgl. Hamayon, Siberian Shamanism, 618-627. 377 Hammer, Olav: New Age Movement, in: Hanegraaff, Wouter J.: Dictionary of Gnosis and Western Esotericism, Vol. II, Leiden 2005, 855-861.

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hin zu individueller Transformation. Der Entwicklungsbogen der new age erstreckt sich so von einem Beginn als kulturkritischer Gegengesellschaft einer Untergrundströmung im ‚kultischen‘ Milieu hin zu einem marktwirtschaftlich eingeholten, pluralistisch-ausdifferenzierten und hoch individualistischen Angebotsspektrum an spirituellen Praktiken. Doch auch wenn die new age damit im Pantheon der postmodernen ‚freien‘ Wahlmöglichkeiten angekommen ist, verbleibt sie doch in einer doppelten Spannung. Diese betrifft zunächst das Verhältnis zur (Post)moderne. Denn einerseits fügt sich die new age bruchlos in deren Charakteristika der Globalisierung, der Individualisierung, der Kommerzialisierung und macht sich in eklektischer Weise indigene Traditionen selbst dienbar, indem sie sie auf die Bedürfnisse der spirituell Suchenden anpasst. Die Grundannahme in diesem Prozess ist dabei das grundsätzlich auf sich selbst zurückverwiesene Subjekt. Dessen individuelle Wahl, Entscheidung und Erfahrung ist der Garant in der Wahrheitsfrage und wichtiger als jegliche Form der Autorität. Andererseits erfolgt keine reflexive Einholung des Entstehungsprozesses und der Bedingungen dieser (konstruierten) Erfahrung, sie bleibt daher vorkritisch. Das individuelle spirituelle Erleben gilt als der verlässliche Grund von Wirklichkeit und kann doch einhergehen mit der Akzeptanz von Rahmenbedingungen, die durch letztlich autoritäre Strukturen oder Persönlichkeiten gesetzt werden. Diese Ambivalenz in der Positionierung des Subjekts gegenüber Systemen der Begründung spiritueller Erfahrung, in die das Subjekt eingebunden ist, korreliert auch mit einer bleibenden Spannung zwischen der Selbst- und Außenwahrnehmung durch z.B. die Religionswissenschaft. Während die new age Religiosität selbst aufgrund deren Institutionalisierung und mangelnden Offenheit kritisiert, verzeichnet der Religionswissenschaftler gerade dort unter Berücksichtigung der Problematik des Religionsbegriffes eminent religiöses Verhalten. Während die new age Rituale u.U. als erstarrte Äußerlichkeit kennzeichnet, kommt der Ritualität in ihr von außen betrachtet doch eine entscheidende Rolle zu. Und während die new age sich schließlich als verwurzelt in Praxen uralter Kulturen versteht, wird eine wissenschaftliche Analyse nicht umhin können, die zeitgenössischen Innovationen herauszuarbeiten. Emische und etische Perspektive divergieren also u. U. erheblich und sollten in einer Erforschung der new age ins Gespräch miteinander gebracht werden. Denn wie bereits oben erwähnt ist weniger die reine Konstatierung einer beobachtbaren Differenz von Innen- und Außenwahrnehmung interessant, als der Dialog über diese Differenz und welche Erklärungsmuster darin jeweils ihren Ort finden. 5.2.4 Schamanismus und Heilung Die bisherigen Überlegungen zu den Begriffs- und Gegenstandsbestimmungen der Esoterik und new age haben sich aus den erörterten Gründen zunächst formal ange-

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nähert und einer inhaltlichen Charakterisierung bewusst enthalten. Diese Enthaltung war aufgrund der notwendigen Kritik am Faivreschen Paradigma unumgänglich. Wenn nun abschließend doch ein ideenbasierter Konkretisierungsvorschlag gemacht werden soll, dann ist dies dezidiert nicht als Rückschritt hinter die aufgezeigte nicht aufzulösende Spannung zu verstehen, sondern als pragmatische Notwendigkeit. Ziel der Erörterung des Schamanismus in der Perspektive der new age soll es nämlich sein, die gegenwärtigen Verschiebungen kenntlich zu machen, die seit der Assimilation des new age in die Mainstream Kultur zu verzeichnen sind. Eine inhaltliche Füllung kosmologischer Grundannahmen des new age soll daher nicht essentialistisch als Konstatierung von So-Seiendem gelesen werden, sondern als Analyseraster, an welchem spezifische Transformationen deutlich gemacht werden können. In der Rekonstruktion einer Gesamtvision schließe ich mich Olav Hammer 378 an : 1. Der Kosmos ist keine Ansammlung materieller Objekte, sondern ein Netz von Bedeutungen 2. Das dem Kosmos Zugrundeliegende ist nicht Materie, sondern Bewusstsein oder Energie 3. Der Mensch hat einen Funken dieser Energie in sich, er kann damit die Realität verändern 4. Der Mensch besteht daher aus Körper, Geist und Spirituellem Aspekt. Heilung muss alle diese Bereiche umfassen 5. Jeder befindet sich auf einer spirituellen Entwicklung, Reinkarnation 6. Es gibt bessere Wege der Erkenntnis als den Intellekt wie Intuition, Prophetie, etc. 7. Bestimmte alte Kulturen hatten bereits entscheidende Erkenntnisse, bestätigt werden diese durch die moderne Wissenschaft, v.a. die Quantenmechanik 8. Spiritualität ist als individuelle Suche und persönliche Erfahrung in der Lage, die Welt zu verbessern Im Besonderen entfaltet sich diese Kosmologie für den Menschen in bestimmten Grundannahmen der Heilung, die wie bereits angemerkt den Zentralfokus gegenwärtiger esoterischer und v.a. auch schamanischer Praxis repräsentiert. In ihrem Mittelpunkt stehen dabei meistens unsichtbare vitale Energien, die den Körper durchströmen, und die der Therapeut kontrollieren kann. Sie fließen durch bestimmte Kanäle des Körpers und konzentrieren sich in den Zentren der sieben Chakren. Der Körper als holistisches System spiegelt sich so einerseits in bestimmten Körperteilen, weist aber andererseits eine versteckte Anatomie auf, die sich z.B. 378 Vgl. Hammer, New Age Movement, 855-861.

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in der Aura als farbiger Umgebung zeigt und Rückschlüsse auf die Gesundheit ermöglicht. Heilungsrituale orientieren sich an diesen Grundkoordinaten und stellen eine meist ebenfalls holistische Response auf diese Verfasstheit des menschlichen Körpers dar. Meine Beobachtung ist es nun, das wurde an verschiedenen Stellen dieser Untersuchung herausgearbeitet, dass diese minimalistischen Prinzipien sowohl in Deutschland als auch in Tyva in je eigener Form begegnen. Dabei spielen für die hier durchgeführten Betrachtungen v. a. Differenzen, Überlappungen und Austauschbewegungen zwischen den Kontexten eine dezisive Rolle. Die zunehmende Vernetzung der Kontexte bringt bzgl. der Möglichkeiten der Rezeption, Reinterpretation und Reimplantation indigener Traditionen eine qualitative Veränderung mit sich. Spirituelle Erfahrung wird nun durch persönliche Präsenz und Partizipation vor Ort in Sibirien und Begegnungen in von Indigenen geleiteten Seminaren im deutschsprachigen Raum authentifiziert. Die Individualisierung als Basis der Echtheit des religiösen Erlebens wird so konfrontiert und kombiniert durch den unmittelbaren Kontakt mit dem Fremden. Auch hier verharrt die new age also in einer bleibenden Spannung. Einerseits wird die Erfahrung durch das Fremde konstituiert, sie prüft sich daran. Andererseits findet ein Adaptionsprozess des Fremden an das Eigene statt. Zurückgegriffen wird dabei auf vermeintlich universelle Erklärungsund Interpretationsmuster wie die erwähnten Energien, Auren, Chakren etc. Dem Streben nach Authentifizierung qua Alteritätsbezug korreliert so eine Tendenz zur Homogenisierung des Fremden in der Identität. 5.2.5 Zusammenfassung Ausgangspunkt dieses Kapitels zur Verhältnisbestimmung des Schamanismusdiskurses zur Esoterikforschung war die diesbezügliche Differenz des emischen und potentiellen etischen Standpunkts der Religionswissenschaft. Dezidiertes Ziel hiesiger Überlegungen war es daher, die Wechselbeziehungen beider Positionen zu reflektieren, was auch beinhaltete, eine differenzierte Bestimmung dessen zu liefern, was Esoterik ist. Paradigmatisch konnte letzteres durch die Konfrontation zweier Ansätze geschehen, die als diametral entgegengesetzt gelten können: Einerseits des auf dem Faivreschen Vorschlag, Esoterik als Denkform mit gemeinsamen Grundzügen zu konzeptionalisieren, beruhenden Konzeptes Wouter J. Hanegraaffs eines ideengeschichtlichen Zugriff auf die Esoterik. Andererseits des sozialwissenschaftlich-phänomenologisch orientierten Vorgehens Christoph Bochingers einer struktural-funktionalen Perspektive. Während ersterer auf die inhaltliche Zusammengehörigkeit der Bewegung mit einer längeren, diachron kohärenten Traditionslinie rekurrierte, charakterisierte letzterer die neue religiöse Szene gerade durch das Fehlen jedweder synchroner oder diachroner Kernvorstellungen einer gemeinsamen

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Bewegung. Pluralität und Heterogenität seien vielmehr ihre entscheidenden Charakteristika, so dass die Dichotomie zwischen traditionellen und neuen Formen von Religion aufgesprengt werde. Obwohl der Begriff der new age in diesem Zusammenhang als aus verschiedenen Gründen problematisch zu kennzeichnen ist, verweist er doch auf eine entscheidende Entwicklung zumindest im deutschsprachigen Raum: Ergebnis eines kurzen Booms, ist – wenn auch unter anderem Namen auftauchend – das Einwandern verschiedene Topoi marginaler Traditionen in den Mainstream Diskurs der Gesellschaft. Ihr Entwicklungsbogen erstreckt sich so von einem Beginn als kulturkritischer Gegenströmung hin zu einem marktwirtschaftlich eingeholten, pluralistisch-ausdifferenzierten und hoch individualistischen Angebotsspektrum. Eine allgemein zu konstatierende Verschiebung hin zu Fragen der Heilung führte darüber hinaus dazu, dass Schamanismus sich in dieser Gesamtbewegung in einen globalen Diskurs transformierte, der von den Prinzipien der new age durchwirkt war und sich dies nicht auf den westeuropäischen Raum beschränkte, sondern in indigene Kontexte zurückwirkte. Eine Beantwortung der Ausgangsfrage dieses Kapitels, ob die Perspektive der Esoterikforschung auf die in dieser Arbeit beschriebenen Phänomene einen Erkenntnisgewinn beiträgt, muss differenziert ausfallen. Einerseits lassen sich unter Berücksichtigung der oben skizzierten Relativierungen und Gültigkeitsbeschränkungen verschiedene Bereiche der Überschneidung und Koinzidenzen ausmachen. Zahlreiche Teile des Diskursfeldes des Schamanismus können mit Sicherheit deskriptiv vom Analysemodell der Esoterik erfasst werden. Da es aber ebenso von einer großen Binnenpluralität geprägt ist – was verschiedentlich zur Sprache kam – sollten Generalisierungen nur mit großer Vorsicht zu genießen sein. Es stehen sich daher eine Zweiheit von Pluralitäten gegenüber: Die des schamanischen Diskursfeldes und die der Ansätze, Esoterik methodologisch zu beschreiben. Beachtet man die jeweiligen Einschränkungen und partiellen Gültigkeiten, so können sinnvolle Querbeziehungen ausgemacht und Kontextualisierungen vorgenommen werden. Eine Zusammenschau in Form einer totalen Synopsis würde sich jedoch selbst ad absurdum führen. Die in diesem vorletzten Kapitel markierten Einschränkungen der Validität theoretischer Perspektiven, soll nun in einem letzten Schritt auch für die eigenen, hier vollzogenen Überlegungen appliziert werden. Ich erreiche dies, indem ich den Entstehungskontext des hier generierten Wissens kritisch hinterfrage und damit mich selbst in meiner Tätigkeit als Feldforscher zu meinem Gegenstand in Beziehung setze. Indem die in der vorliegenden Untersuchung erarbeitete Repräsentation somit rückgebunden wird an die Bedingungen und besonderen Dynamiken ihrer Entstehung, soll nochmals explizit hingewiesen werden auf beider intrinsische Verschränkungen und Unauflösbarkeiten.

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„Können Hexen fliegen?“379 „Ob ich auf dem Thonet-Stuhl, auf einem LehrStuhl, oder gar keinem Stuhl sitze, nämlich auf dem lehmigen Boden eines Magarhauses, acht Tagesmärsche vom nächsten Airstol entfernt und weitere zwanzig Flugstunden vom Gesumme der Intellektuellen, - das, so glaube ich, wirkt sich schon ein wenig aus auf die Wiedergabe dessen, was ich zu einem bestimmten Gegenstand zu sagen hätte, etwa zu der für diese Gelehrten-Olympiade eigens gestellten Frage: Wie verhält sich der Wissenschaftler zu Erscheinungen, die als unerklärbar gelten.“380 „Ich mußte jedoch feststellen, dass irrationale Faktoren meine sorgfältig ausgetüftelten Vorkehrungen durcheinander brachten, und zwar vor allem auf dem Gebiete der Religion. Aber das war noch nicht alles. An Ritualen mit Medizinmännern teilnehmend mußte ich in meinem Notizbuch Beobachtungen von einer Art festhalten, die ich in keiner Fachzeitschrift hätte veröffentlichen können, ohne meine wissenschaftliche Reputation aufs Spiel zu setzen! Es ereigneten sich Dinge, die man im Rahmen unseres gängigen wissenschaftlichen Wertesystems nicht als Faktum registrieren konnte.“381

379 Duerr, Hans-Peter: Über die Grenzen einer seriösen Völkerkunde – oder: Können Hexen fliegen, in: Schmied-Kowarzik, Wolfdietrich und Stagl, Justin: Grundfragen der Ethnologie. Beiträge zur gegenwärtigen Theoriediskussion, Berlin 1981, 323-334. 380 Oppitz, Michael: Schamanen, Hexen, Ethnographen, in: Der Wissenschaftler und das Irrationale, Erster Band, Beiträge aus Ethnologie und Anthropologie, hg. v. Hans Peter Duerr, Frankfurt 1981, 37-59. 381 Hultkrantz, Ake: Ritual und Geheimnis: Über die Kunst der Medizinmänner, oder: Was der Herr Professor verschwieg, in: Der Wissenschaftler und das Irrationale, Erster Band, Beiträge aus Ethnologie und Anthropologie, hg. v. Hans Peter Duerr, Frankfurt 1981, 73-97.

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„ ‚Wenn du wissen willst, wie kablag aussehen, dann sieh dir einen Zombie-Film an!‘ empfiehlt Juanit [...]. Für ihn bestand nicht der geringste Zweifel: genau so musste man sich kablag, die lebenden Toten vorstellen.“382

Das letzte Kapitel dieser Dissertation ist ein Kapitel der Verunsicherung. Mehrfacher Verunsicherung und bleibender Verunsicherung. Ich behandle sie deswegen auch am Schluss meiner Überlegungen, nicht um sie fein säuberlich von den vorherigen Gedanken abzugrenzen, aus zu sortieren und qua eines solchen out-sourcing unschädlich zu machen, sondern um sie als bleibenden Horizont fest zu halten. Während die vorauslaufenden diskursanalytischen Analysen wissenschaftliches Selbstbewusstsein vermitteln und auch voraussetzen, so muss eine kulturhermeneutische Korrektur dieses Habitus auf die widerständigen Destabilisierungen hinweisen, die der Gegenstand auf die Vorkonzepte des Wissenschaftlers ausübt. Ziel dieses abschließenden Kapitels ist es daher, das bisher Gesagte insofern zu bündeln, als verschiedene Momente dieser Verunsicherung während des Forschungsprozesses herausgearbeitet und – so weit möglich – transparent gemacht werden sollen. Das letzte Kapitel ist daher ein Kapitel des geblendeten Blicks, von dickem Nebel umgebener Orientierungsversuche, blinder Flecken, tauber Fingerspitzen, verzerrender Klangräume, des unscharfen Rauschens und v.a. verzehrender Fragen, nach denen nichts als Stille bleibt. 5.3.1 Ethische, etische und emische Dilemmata Die in den Sozialwissenschaften und v.a. auch in der Ethnologie geprägte Unterscheidung zwischen etischer und emischer Perspektive, d.h. derjenigen eines außenstehenden Beobachters und der eines Insiders kennt eine lange Diskurstradition, doch weißt sie meiner Ansicht nach eine entscheidende Fehlstelle auf. In der binären Differenzopposition, die sie eröffnet, verfehlt sie gerade das von ihr angestrebte Ziel, das Verstehen verstehbarer zu machen. Eine derartige duale Aufschlüsslung übersieht nämlich das entscheidende dritte Element, das die Binarität zu einer Triade macht: Die jeder Unterscheidung zwischen innen und außen innenwohnende ethische Komponente. Meiner Ansicht nach kann es keinen wissenschaftlichen Versuch einer Annäherung an das Fremde geben, der nicht zugleich die ethischen Konsequenzen seines Handelns bedenkt und welche Rückwirkungen dies auf seine Epistemologie haben muss. Dass dies vielfach mit unlösbaren Fragen konfrontieren 382 Bräunlein, Peter: Die Rückkehr der ‚lebenden Leichen‘. Das Problem der Untoten und die Grenzen der ethnologischen Erkenntnis, in: KEA Zeitschrift für Kulturwissenschaften 9 TOD, 1996, 105f.

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wird, versteht sich von selbst, ja die Annahme einer vollkommenen Lösbarkeit aller diesbezüglichen Problemstellungen würde die Notwendigkeit einer Forschungsethik sogar negieren. Die Absicht der nun folgenden Überlegungen ist es daher nicht, zu beanspruchen, Lösungen für die aufgeworfenen Dilemmata zu liefern, sondern vielmehr sensible Stellen zu markieren und zugleich Antwortversuche darauf zu skizzieren. Ein Blick auf die Responsen, welche durch die vorgegebenen ethischen Dissonanzen ausgelöst wurden, erlaubt dann aber auch eine letzte Perspektive auf Verschränkungsprozesse zwischen Wissenschaftlern und Schamanen. Die in dieser Dissertation verhandelte Thematik wird so in die ethische Reflexion hineingenommen – der einzig sinnvolle Weg, um die notwendigen Rückkopplungsprozesse zu garantieren. 5.3.2 Unschärfe am Ausgangspunkt: Die Ungewissheit der Rezeptionsbedingungen ethnologischen Wissens Dass die Veröffentlichung von Forschungsergebnissen, besonders unter prekären politischen Bedingungen, sich verhängnisvoll für ‚Informanten‘ auswirken kann, ist keine neue Erkenntnis. Ulla Johansen weist bereits in ihrer Bestandsaufnahme der Veränderungsprozesse des gegenwärtigen Schamanismus in Tyva darauf hin, dass Schamanen, die in den 30ern Ethnologen Auskünfte erteilten, Opfer der stalinistischen Repressionen wurden, sobald ihre Praxis über den Umweg der Forschung öffentlich bekannt wurde: „Material aus dem Archiv in Ulan-Ude, das Mel´nikova veröffentlicht hat, zeigt, daß sich der gerade zitierte Bericht ýudinovs für den kargassischen Schamanen Tutaev noch verhängnisvoller auswirkte. Von 1935 an wurden er und sechs andere kargassische Schamanen verhört und inhaftiert, und nur ein einziger unter ihnen war nach dem Zweiten Weltkrieg noch am Leben. Es half dem armen Tutaev nicht, daß er in offensichtlicher Verzweiflung 1936 in einer Selbstbezichtigung bekannte, wie im Protokoll festgehalten: ‚Ich bekenne meine Fehler. Ich werde es nicht wieder tun. Ich will arbeiten und leben wie ein ehrlicher Staatsbürger‘. Es wurde nicht akzeptiert und Tutaev verschwand während der Stalinschen ‚Säuberungen‘ von 1937 spurlos.“383

In der gegenwärtigen Situation Russlands ist zwar nicht unmittelbar davon auszugehen, dass Schamanen im Rahmen politischer Säuberungsmaßnahmen verschwinden, obwohl auch hier, das macht das zahlreiche Verschwinden kritischer Journalisten deutlich, keine Verstöße gegen die Menschenrechte für unmöglich gehalten werden sollten. Gerade wenn Schamanen Mitglieder von Bewegungen kultureller 383 Johansen, Ulla: Vom Schamanismus zum Neoschamanismus, in: Jahrbuch des Museums für Völkerkunde zu Leipzig, Band XLII, Münster 2004, 67.

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Selbstbestimmung oder auch von Widerstandsgruppen gegen den Zugriff transnationaler Megakonzerne auf Naturressourcen sind, kann hier eine nicht unerhebliche Gefahr konstatiert werden. Die Problematik liegt jedoch noch auf einer fundamentaleren Ebene, die (logisch) noch vor derartigen Extrembeispielen zu lokalisieren ist. Wie schon die skizzierte Problematik des Begriffes ‚Neo-Schamane‘ als authentizitätsuntergrabendes Attribut und der in der russischen Ethnologie weitergeführte Diskurs um eine essentialistische Unterscheidung zwischen echten und falschen Schamanen gezeigt hat, können die Voraussetzungen der hier durchgeführten Arbeit keinerlei Anspruch auf allgemeine Geltung erheben. Annahmen der Konstruiertheit aller sozialen Wirklichkeit und einer damit verbundenen Legitimation von diskursanalytischen Zugriffen sind nicht universal. Die Ergebnisse von Arbeiten wie der vorliegenden werden daher dann höchst prekär, wenn sie aus diesem hermeneutischen Rahmen herausgenommen und in einen neuen, tendenziell ontologischen Interpretationskontext versetzt werden. Konkret bedeutet dies, wenn ich hier von der Konstruktion der Identität eines Schamanen spreche, so interessieren aus diskursanalytischer Sicht nur die Bausteine und Regeln, nach denen eine derartige Konstruktion zusammengesetzt wird. Letztere Einsicht tritt aber zugunsten einer Frage nach der Wahrheit und Echtheit eines solchen Konstrukts zurück, wenn die hermeneutischen Voraussetzungen übersprungen werden. Gerade der (populär)politische Diskurs zeichnet sich nun dadurch aus, dass er kontinuierlich auf essentialistische Wirklichkeitsmodelle rekurriert, um die in der politischen Konkurrenzsituation notwendigen Komplexitätsreduktionen auf griffige Botschaften zu liefern. Im gegenwärtigen Russland umfasst dies meiner Beobachtung zufolge bzgl. der hier erörterten Fragen v.a. zwei Bewegungen: Die Essentialisierung der Einheit Russland und der christlich-orthodoxen Religion als Teil russischer Kultur. Es ist hier nicht der Ort, um derartige politische Fragestellungen im Detail zu erörtern, und so sehe ich mich auch gezwungen, einen Beleg dieser Aussagen hier schuldig zu bleiben. Dennoch will ich die Auswirkungen skizzieren, die dies für eine Analyse des tyvanischen Schamanismus hat. Forschungsergebnisse, wie die hier vorliegenden, können – in Analogie zu dem eingangs zitierten Beispiel der stalinistischen Verfolgung – rezipiert und instrumentalisiert werden von politischen Organen, die daran interessiert sind, Bewegungen, die eine politische und kulturelle Teilautonomie z.B. der Republik Tyvas unterstützen, zu untergraben. Für einen populären Diskurs – besonders nach der traumatischen Erfahrung der postsowjetischen Orientierungslosigkeit und Maßlosigkeit wirtschaftlicher Entwicklungen – kommt eine Dekonstruktion z.B. des Schamanismus im Sinne eines Aufweises seiner Re-konstruiertheit gerade recht. Forschung gerät damit in einen Verwendungskontext, der der ursprünglichen Absicht einer respektvollen und dennoch kritischen Annäherung an das Fremde diametral entgegen steht. Eine Lösung für dieses Dilemma gibt es nicht. Notwendig ist es aber, darauf hinzuweisen. Meiner

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Ansicht nach bedingt diese implizite oder explizite Unsicherheit bzgl. der Verwendungsweisen von Wissen, das im Rahmen einer ethnologischen Forschung generiert wurde, eine doppelte Response von Seiten der Wissenschaftler und der Schamanen selbst. Wie sich diese gestalten, soll Thema der nun folgenden Ausführungen sein. 5.3.3 Herausforderungen des qualitativen Paradigmas – schamanische und wissenschaftliche Responsen Um die Responsen der Schamanen auf die oben erörterte Rezeptionsungewissheiten verständlich zu machen, muss nochmals auf den Entstehungskontext ethnografischen Wissens verwiesen werden: Die Situation der Feldforschung geht mit einer grundsätzlich Künstlichkeit der sozialen Beziehungen einher. Der Feldforscher ist ein Mensch, der an der von ihm untersuchten sozialen Welt teilnimmt und in ihr interagiert, ohne es aus begreiflichen Gründen zu müssen. Und noch darüber hinaus: Nicht umsonst wurde auf die Parallelität des ethnografischen Interviews mit einem Verhör auf dem Polizeirevier hingewiesen. Der Ethnologe, der seine Präsenz den von ihm beforschten Menschen aufbürdet – auch wenn dies in einem wohl abgesteckten gegenseitigen Vertrag geschehen mag und sollte – konstituiert in seiner Funktion als Fragender und Beobachtender eine Situation der Herrschaft. Diese mag sanft sein, wie in einem biografischen Interview, das sich bewusst und methodisch vordefinierter Fragen enthält und die Gesprächsführung ganz dem Interviewpartner in die Hand gibt. Dennoch wird es immer eine Beziehung der Macht bleiben, insofern es immer der Schamane ist, der Informationen von sich preisgeben soll, und der Ethnologe derjenige, der letztere fixiert. Inwiefern der Ansatz einer dialogischen Feldforschungsmethode eine Lösung für diese Problemstellung bietet, wird weiter unten genauer diskutiert werden. Hier interessiert zunächst, wie Schamanen auf eine derartige Herrschaftsrelation und das aus ihr entspringende Wissen unbekannter Destination antworten. Die Antworten können – so die Schlussfolgerung aus Beobachtungen während meiner eigenen Tätigkeit als Feldforscher – als dreifache Subversion beschrieben werden: Durch Entzug, Bruch und Verschränkung stellen sie die Situation der Feldforschung in Frage, kehren sie um und verweisen durch diese Selbstermächtigung auf die soeben diskutierte Machtgeprägtheit der ethnografischen Interaktion. Wie manifestieren sich diese drei Bewegungen in concreto? Ein Selbstentzug aus der Beziehung kann mannigfaltige Formen annehmen. Ich werde daher versuchen, mich durch einige Beispiele anzunähern. Eine erste Möglichkeit besteht darin, auf verschiedene Fragen Standardantworten zu liefern. Diese sind nicht nur in Übereinstimmung mit dem, was die Forschungsliteratur oder Autoritäten mit kanonstiftender Macht zu sagen haben, sondern auch mit den Erwartungen des befragenden Feldforschers. Die Interviewpartner erkennen natürlich – wenn auch

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implizit – viel schneller das Forschungsinteresse des vor ihnen stehenden Ethnologen, als letzterer sich dessen bewusst ist. Gerne werden sie ihm daher die Antworten liefern, die er hören möchte und im Sinne seines Forschungskonzeptes gut verwerten kann. Eine derartige Standardisierung ermöglicht es dem Schamanen, sich selbst aus der Situation des Gesprächs heraus zu nehmen und an seine Stelle stellvertretend vorgeprägte Antworten treten zu lassen. Oder – und das ist eine weitere Möglichkeit des Selbstentzugs – er verweist auf Entitäten, die dem wissenschaftlichen Apparat des Ethnologen qua definitionem unzugänglich bleiben müssen. Darunter zählen Referenzen auf Entscheidungen und Botschaften von Geistern, einer durch Vererbung übermittelten schamanischen Gabe oder grundsätzlich eines schamanischen Habitus, welcher in der Unverfügbarkeit seiner spezifischen Kraft gründet. Derartige Entitäten sind Sinnkonstrukte, die der Ethnologe zwar beschreiben kann, deren Regeln und innere Zusammenhänge aber nur der Schamane beherrscht. Ein Verweis darauf ermöglicht es dem Schamanen daher, die Interviewsituation, die von Regeln geleitet ist, die meist nur der Wissenschaftler kennt und manipulieren kann, umzukehren. Geister und Erbschamanismus sind daher Kontrollmöglichkeiten des Schamanen nicht nur in der spirituellen Welt, sondern in der alltäglichen der Interaktion mit dem Forscher. Was ich bisher als Entzug skizziert habe, kann auch die Form eines Bruches annehmen bzw. als ein solcher wahrgenommen werden. Im Besonderen der Bruch der Interviewsituation und damit der Kommunikation ist hier von Interesse. Schamanen unterbrechen die Abfrage biografischer Rekonstruktionen von Seiten des Ethnografen, indem sie den Fokus von sich selbst weg auf die Person des Ethnografen richten. Während des Interviews diagnostizieren sie z.B. einen ‚Schadenszauber‘ eines anderen Schamanen gegen den Ethnografen, geben Zukunftsvoraussagen für den Forscher bzgl. des Erfolgs seiner Forschungsarbeit, seiner beruflichen Karriere oder familiären Glücks. Derartige Konstatierungen können auch einhergehen mit der Generierung von Ritualnotwendigkeiten und dadurch meist auch der Möglichkeit zur Akquirierung von Finanzmitteln für den Schamanen. Beispiele aus den von mir geführten Gesprächen sind hier ein Gegenritual für eine Fußschlinge, die ein anderer Schamane um mich gelegt habe und so meine ethnografische Tätigkeit hemme, oder verschiedene ‚Schutzamulette‘ in Form von Arm- oder Fußbändchen, die mich während meiner gefährlichen Arbeit beschützen sollten. In diese Reihe zählen auch die von Schamanen für notwendig erklärte ‚Initiations‘- und Abschlussrituale für eine Forschungstätigkeit in Tyva, da nur so die dortigen Geister meine Arbeit gut heißen würden. Was passiert hier? Der Schamane kehrt in derartigen Abbrüchen der Kommunikation wiederum die Herrschaftssituation um. Nicht mehr der Schamane steht im Brennpunkt, sondern das Leben des Forschers. Nicht mehr der Forscher bestimmt die wichtigen Informationen, die vom Schamanen kommen sollen, sondern der Schamane bestimmt die Informationen, die der Ethnologe notwendig hat. Zukunftsvoraussagen und Ritualnotwendigkeitsgenerierungen bilden so eine Zäsur

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des qualitativen Interviews, die Handlungsträgerschaft (agency) innerhalb dieses Prozesses wird verschoben. Innerhalb des Strukturrahmens eines Interviews bleiben derartige Zäsuren zunächst ohne Anschlussstellen, d.h. vom wissenschaftlichen System unverstanden. Und gerade in der Erzeugung eines solchen Nichtverstehens liegt der subversive Akt des Schamanen, der es ihm erlaubt, die Struktur des an ihn herangetragenen wissenschaftlichen Systems aufzubrechen. Und eine letzte Form derartiger Subversionen soll hier besprochen werden: Die Bewegung der Verschränkung, im Besonderen der leiblichen Verschränkung. Schamanische Rituale, in welche der Forscher – sofern er teilnehmende Beobachtung betreibt – inkludiert wird, zeichnen sich durch einen hohen Grad an leiblicher Involvierung aus. Inwiefern dem Leib in einem solchen Prozess in seiner Funktion als Schnittstelle eine besondere Rolle für das Fremdverstehen zukommt, habe ich an anderer Stelle gezeigt384, hier sollen v. a. die konkreten Formen der Involvierung bedacht werden. Wenn in diesem Zusammenhang vom Leib die Rede ist, so soll damit die Ganzheit des Menschen bezeichnet werden. Leib ist hier nicht misszuverstehen als bloß physisch-materieller Körper, sondern bezieht sich im Sinne Bernhard Waldenfels385 auf die grundsätzliche Verwoben- und Vermitteltheit der menschlichen Lebenserfahrung in Leibprozesse. Das bedeutet u.a. dass die Sinnesreize, welche während eines schamanischen Rituals über alle fünf Sinne den Forscher berühren, nicht lediglich registriert werden, sondern denselben in einen Prozess einbinden, der zwischen dem Schamanen und dem Ethnologen eine spezifische Relation konstituieren. Zu diesen Sinnesreizen gehören u.a. folgende. Erstens visuelle Impulse: Das Schamanengewand, seine Attribute und Hilfsgeister, die Umgebung der Schamanenklinik oder ein bestimmter Ritualplatz, das Spiel von Feuer, Kerzenlicht und Rauch. Zweitens auditive Impulse: Rasseln mit dem Trommelschlegel, das Schlagen der Schamanentrommel, Peitschenhiebe, Schamanengesänge, das Klingen von Glocken und diversen Metallgegenständen des Schamanengewandes. Drittens olfaktorische Reize: Das Räuchern mit Wacholder (Artysh), Einreiben mit Bärenfett und anschließendes Aufsprühen von Parfüm. Viertens Reize des Geschmackssinns: Das Trinken von Opfermilch, die mit Wacholder behandelt wurde. Und schließlich die sensorischen Impulse, welche vielleicht die eindrücklichste Komponente dar-

384 Vgl. Grünwedel, Heiko: Schnittstellen am ganzen Leib - Der Leib eine offene Schnittstelle. Überlegungen zur Bedeutung der Leiblichkeit für eine Interkulturelle Hermeneutik, in: Kulturhermeneutik. Interdisziplinäre Beiträge zum Umgang mit kultureller Differenz, hg. v. C. Ernst, W. Sparn und H. Wagner., München 2008, 55-74. 385 Waldenfels, Bernhard: (2000). Das Leibliche Selbst. Vorlesungen zur Phänomenologie des Leibes, Frankfurt 2000. -: Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, Frankfurt 2006.

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stellen: Das Umbinden von Schutzbändchen an Füßen und Händen, Bespucktwerden mit Milch, Auspeitschen mit der Schamanenpeitsche, Abreiben mit dem Hilfsgeisterbündel, das Auflegen des Schamanenspiegels auf die Brust, Kopfmassagen, etc. Alle diese Handlungen verfügen – obwohl sie natürlich nachträglich einer Reflexion unterzogen werden können – über eine durchdringende emotionale Eindrücklichkeit. Sowohl symbolisch als auch sensitiv stellt der Schamane durch diese rituellen Vollzüge eine leibliche Verschränkung zwischen ihm und dem Ritualklienten, im gegebenen Falle dem Forscher her. Er untergräbt damit die Beobachterposition des Wissenschaftlers, nimmt die Handlungsträgerschaft an sich und relativiert damit die in der Wissenschaftlichkeit des Forschers begründete Machtposition. Während der Bruch in der Interviewsituation durch Divination und spirituelle Diagnosen eine existentielle Involvierung des Forschers in die Gesprächssituation einführte, verbindet ihn das Ritual darüber hinaus leiblich. Indem der Schamane konstruierte Distanzen und konzeptionelle Trennungen von Forscher und ‚Gegenstand‘ dekonstruiert, stellt er sich gegen die darin implizierte Machtrelation. Entzug, Bruch und Involvierung sind die Kategorien, mit deren Hilfe diese Prozesse meiner Ansicht nach beschrieben werden können. Um der sprachlichen Deskription – im Bewusstsein aller hermeneutischen Einschränkungen – auch eine visuelle an die Seite zu stellen, mögen folgende Fotografien dienen, die nicht die Involvierung eines Forschers, aber eines ebenso betroffenen Filmteams während einer Aufnahme in Tyva zeigt: (Vgl. Abbildung 30-32): Abbildung 30: Subversion der Machtrelation 1

Quelle: Heiko Grünwedel

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Abbildung 31: Subversion der Machtrelation 2

Quelle: Heiko Grünwedel

Abbildung 32: Subversion der Machtrelation 3

Quelle: Heiko Grünwedel

Wie reagieren nun ihrerseits Wissenschaftler auf derartige subversive Akte der Schamanen, auf deren in den Gegenstand hinein verwickelnde Praxis? Eine Annäherung an diese Frage muss sich bewusst sein, dass die Palette der wissenschaftlichen Responsen auf diese schamanischen Responsen – das hat bereits in Ansätzen die Forschungsgeschichte gezeigt, so breit ist, dass sie nicht umfassend abgesteckt werden kann. Dennoch ist es möglich, zentrale Grundhaltungen zu erörtern. Stuckrad weist zunächst zu Recht darauf hin, dass das Dispositiv der Wissenschaft ein

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Ausschlussverfahren des Paranormalen generiert hat.386 Obwohl paranormale Erfahrungen zum Gesamtkontext von Feldforschungen gehörten, fielen diese aus den späteren Ethnografien heraus und würden so aus dem wissenschaftlichen Genre ausgegrenzt. Die Epoché stellte eine Trope dar, die fest im wissenschaftlichen Paradigma verankert sei und das Paranormale daher in nicht-akademische Genres abschiebe. Eine derartige Entscheidung für bestimmte, Stuckrad zufolge, kontingente Rationalitätskriterien konstituiere einen Graben, der wissenschaftliche Anerkennung bestimme und somit Diskurskontrolle ermögliche. Die Aufgabe der Religionswissenschaft sei es aber, nicht über die Richtigkeit der jeweiligen Wirklichkeitskonstruktion zu entscheiden, sondern vielmehr deren Plausibilität, Begründungsstrategien und Kohärenz zu untersuchen. Dass dieses Ausschlussverfahren nicht nur bestimmte Erfahrungen in andere Genres auslagert, sondern u.U. auch Personen aus der scientific community exkludiert, steht im Hintergrund der Überlegungen Lindquists zu ihrem Reisebericht einer Expedition nach Sibirien. Daraus wird ersichtlich, dass die Potenzialität eines derartigen folgenreichen Ausschlusses Rückwirkungen auf die Haltung von Wissenschaftlern während des Forschungsprozesses sowie der Sorge um ihr Selbstbild hat: „The ritual, performed with an exceptional mastery and passion, together with the spellbinding beauty of the place, managed to bring about those shifts of consciousness that for most of us, rationally schooled academics, is maybe the closest one to coming into trance. This is what happens when we take seriously the discussion about respect to our informants’ practices and the suspension of disbelief, the discussion that we have been immersed in for quite some years. What has been omitted in these discussions, however, is the fact that, in the contexts like the one I am describing, we ourselves become those ‚insects in the glass jars‘ that Tatyana referred to. The institute cameraman was the one who never rested […] filming everything that was going on, including the foreign participants rocking in trance, their eyes closed, their hands opened towards the spirits. On the evening of this day, in my hotel room, he showed us the video of that day’s kamlanie. The sight of myself and of all of us in trance was truly disconcerting. When I watched this video, I only hoped that Valentina cuts it all out when montaging the film, and these images would never reach my own university department […].“387

Lindquist ist nur zu zu stimmen, wenn sie eine doppelte Problematik markiert: Einerseits bleibt das Ernstnehmen der Interviewpartner ein Lippenbekenntnis, die Anerkennung der Relativität des eigenen Weltbildes nur Heuchelei, wenn dies nicht bis zur Konsequenz gedacht wird und der Forscher bereit ist, seine prädisponierten 386 Vgl. Stuckrad, Schamanismus und Esoterik, 276-279. 387 Lindquist, Galina: The Quest for the Authentic Shaman. Multiple Meanings of shamanism on a Siberian journey, Uppsala 2006, 58.

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Fragen selbst hinterfragen zu lassen. Andererseits – und das wurde bereits weiter oben ausführlicher erläutert – gerät der Wissenschaftler selbst hinein in den Gegenstand und wird damit selbst zum Objekt der Beobachtung. Dass mit der Frage der konsequenten Anerkennung immer auch die Wissenschaft selbst auf dem Spiel steht und damit der Schritt auch nicht mehr weit ist zu normativen Beurteilungen der verschiedenen Wissenssysteme, hat Peter Bräunlein in Anlehnung an Johannes Fabian herausgearbeitet und spricht von einem „[...] grundsätzlichen Dilemma ethnologischer Forschung und Darstellung: Wie läßt sich jene, von Johannes Fabian mit zwingender Deutlichkeit eingeforderte ‚Gleichzeitigkeit‘ – coevalness – in der Begegnung mit fremden Menschen und in der ethnographischen Darstellung herstellen? Ohne ein Ernstnehmen der Anderen, das ist gewiß, ist ‚Gleichzeitigkeit‘ nicht zu verwirklichen. Um es einfach zu machen, könnte man schlicht behaupten, rein wissenschaftlich erkenne man selbstverständlich an, daß es unterschiedliche Weltbilder und Wirklichkeiten gibt, ohne diese notwendigerweise teilen oder verstehen zu müssen. Das entspricht üblicher ‚scientific correctness‘ [...]. Der Sieger bei diesem ‚clash of realities‘ steht immer schon in der ersten Runde fest: westliche Rationalität. Das ‚local knowledge‘ [...] gerät damit über kurz oder lang zum Aberglauben, im besten Fall zu einem ‚folk-belief‘. Es wird zu unnützem, planerisch dysfunktionalen Wissen degradiert und schließlich von der Walze ‚Entwicklung‘, ‚Modernisierung‘ plattgemacht.“388

Aus dieser Widersprüchlichkeit eines grundsätzlichen Bekenntnisses zur Begegnung auf Augenhöhe und einer dennoch ihr vorauslaufende Prädisposition zum wahreren Wahrheitsgehalt wissenschaftlicher Rationalität ziehen manche Forscher die radikale Konsequenz. Robert Wallis ist ein Beispiel derjenigen Wissenschaftler, die die Sorge um die eigene wissenschaftliche Reputation aufgeben zugunsten einer Selbstpositionierung auf Seite des schamanischen Weltbildes: „But in answering a question, which I suspect many people may ask on opening this book – ‚what have neo-Shamans got to do with me?‘ – I must also explain what neo-Shamanisms have got to do with me, Robert Wallis. I came to this work as a trained archeologist, but also with a personal involvement in neo-Shamanisms. This has created many tensions for me, tensions I am forced to resolve on a day-to-day basis. Most of all, my ‚coming out‘ as a socalled ‚neo-Shaman‘ is controversial. But where conventional anthropologists might promptly reject my findings based on my being ‚native‘, recent movements in ethnography confront the fallacy of the insider-outsider dichotomy. This ‚experiental anthropology‘ challenges those anthropologists concerned with going native to alter their view […]. These ideas coalesce into what I call an ‚autoarcheology‘ in which self-reflexively considering and taking into account 388 Bräunlein, Die Rückkehr der ‚lebenden Leichen‘, 123f.

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our own socio-political locations and motivations is crucial to understanding the past and representations of it in the present.“389

Wallis Weg mag bedenklich sein und ist sicher zu recht umstritten. Dennoch verweist er mit ebenso stichhaltiger Berechtigung auf die Fehlstellen einer rein binären Differenzkonstruktion. Indem er die Reflexion des eigenen Standpunkts und der eigenen Motivation an dessen Stelle als primärer Aufgabe der Wissenschaft treten lässt, verweist er darüber hinaus auf die essentialistische Tendenz einer solchen Dichotomie. Obwohl Wallis Auto-Heroismus in Form seines tagtäglichen Kampfes mit der Umstrittenheit seines coming-out wohl auch als diskursive Strategie zu kennzeichnen ist und darauf verwiesen werden muss, dass er sich als gutsituierter westlicher Wissenschaftler eine derartige Grenzüberschreitung leichter ermöglich kann als andere Mitspieler im schamanischen Diskursgefüge, so kann doch in der Zusammenschau mit dem oben Ausgeführten eine Beobachtung festgehalten werden: Die Tatsache, dass die Notwendigkeit einer Selbstpositionierung schon annähernd zu einem Topos in der Forschungsliteratur zum Schamanismus geworden ist390, verweist auf die inneren Dynamiken und Gesetzmäßigkeiten dieser Erforschung. Die doppelte Machtgeprägtheit der ethnologischen Begegnungssituation qua der Ungewissheit der Rezeptionslage des aus ihr generierten Wissens und der 389 Wallis, Robert: Shamans / Neo-Shamans. Ecstasy, Alternative and Contemporary Pagans, London 2003, xiiif. 390 Vgl. z.B. auch die Selbtpositionierung Znamenskis in seinem neuesten Werk ‚The Beauty of the Primitive‘, IX, X, XII.: „Although I approach their views and experiences seriously, I do not commit myself to judgments about the truth or falsity of a particular scholarly or spiritual path. At the same time, I do have my personal take on the topic. I do not agree that we can dissociate shamanism and spiritual life in general from their contexts, or what Eliade called the ‚terror of history‘. Although our spiritualities and beliefs do acquire lives of their own, they carry stamps of our upbringing, the spirit of our time, and our culture […]. I also want to stress that I am not among those academics who look down upon modern western shamanism as something artificial and imagined in contrast to an ideal, ‚real‘ shamanism found, say among nineteenth-century natives Siberians or Native Americans. Neither do I agress with those writers and scholars who portray Western practitioners of shamanism as spiritual colonizers who feed on indigenous spirituality. I equally disagree who dismiss these spiritual seekers as hopeless romantics, simply because I am not convinced that being a romantic or a dreamer is a liability. At the same time, I am not a spiritual seeker who experiments with shamanic techniques. I am a sympathetic observer, who does not believe that neo-shamanism, as fuzzy and fluid as it may be, is a spirituality of a lesser caliber than Native American beliefs, Scientology, Catholicism, evangelical Christianity, Wicca, Mormonism, or Hinduism.“

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investigativen Grundhaltung eines Informationen akquirierenden Forschers evozieren subversive Responsen der Schamanen. Dies konstituiert eine komplexe, wissenschaftlich nur prekär zu analysierende Situation der Wechselwirkungen, Abhängigkeiten, Kalküle und autopoietischer Diskurse. Die Frage nach einer angemessenen wissenschaftlichen Methodik zur Annäherung an derartige Phänomene ist daher zu Recht hart umkämpft. Ein Vorschlag, wie der hier dargelegten Problematik begegnet werden kann – und um es gleich einschränkend vorweg zu nehmen, wie sie aber nicht aus der Welt zu schaffen ist – soll nun abschließend diskutiert werden. 5.3.4 Die dialogische Feldforschungspraxis – Erfahrungen der Inklusion zwischen Glücksgefühlen und Abgrenzungsbedürfnissen Die Krise der ethnografischen Repräsentation ist mit Sicherheit ein komplexer, nicht auf eine überschaubare Menge von Linien reduzierbarer Prozess des expliziten Reflexivwerdens von Fragen des stellvertretenden Sprechens für jemanden. Die Literatur391, die dazu besprochen werden müsste, ist Legion und so soll eine spezifische Zuspitzung vorgenommen werden auf die Begründung und Problematiken einer dialogischen Feldforschungspraxis ausgehend von meinen Erfahrungen der Feldarbeit in Tyva. Als Dialogische Forschungspraxis verstehe ich eine methodologische Ausrichtung, die sich in doppelter Weise abgrenzt, um dadurch dem Anderen, das im Feld begegnet, möglichst gerecht zu werden. Sie grenzt sich einerseits ab gegen jegliche Ansätze, welche implizit oder explizit eine Deutungshoheit des Ethnografen bzw. dessen Fähigkeit zum besseren Verstehen der von ihm untersuchten Menschen, als diese sich selbst verstehen, einfordert. Zum anderen grenzt sich dialogische Praxis aber auch ab gegenüber einer bloßen Relativierung der Methodologie in eine postmoderne Beliebigkeit. Erstere Wendung beinhaltet u.a. eine Kritik von Ansätzen der symbolischen Anthropologie wie sie Clifford Geertz392 vorgeschlagen hat. Dessen Ansatz einer ‚dichten Beschreibung‘ stellt zwar schon einen ersten Schritt hin zur dialogischen Praxis dar, bleibt aber auf halber Strecke stehen. Indem er im Bild des über die Schulter lesenden Ethnografen eine asymmetrische Beziehung konstituiert zwischen einem neutralen Erkenntnissubjekt und anonymen Untersuchungsgegenständen, wird er seinem Anspruch, die Eigeninterpretation der von ihm Untersuchten ernst zu nehmen, nicht gerecht.393 Anstatt eine Begegnung von Ange391 Vgl. exemplarisch Berg, Eberhard und Fuchs, Martin (Hg.): Kultur, soziale Praxis, Text. Die Krise der ethnographischen Repräsentation, Frankfurt 21995. 392 Geertz, Clifford: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt 1987. 393 Vgl. Berg, Kultur, soziale Praxis, Text, 43-69.

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sicht zu Angesicht zu ermöglichen, generiert Geertz ein Machtgefälle zwischen dem wissenschaftlichen Diskurs und dem Diskurs derjenigen, die dessen Objekt werden. Eine dialogische Feldforschungspraxis dagegen wird die Repräsentation der Anderen in den Vorgang der eigenen Repräsentation eingehen lassen sowie epistemische und politische Ungleichheiten, Herrschaftsfunktionen kultureller Muster und den Konflikt der Interpretationen thematisieren. Die Verstricktheit des Forschenden in globale Dominanzstrukturen systematisch zu reflektieren, ist dazu unabdingbare Voraussetzung. Die besondere Herausforderung der dialogischen Wendung der Anthropologie liegt daher gerade im Verzicht des Wissenschaftlers auf einen prinzipiell privilegierten Status auch und gerade in der Stufe der Repräsentation. Allerdings führt dies auch nicht – und hierin liegt die zweite Abgrenzung der dialogischen Praxis – zu einer Auflösung der Ansprüche auf Repräsentativität in die Beliebigkeit und reine Polyphonie. Dialogische Praxis ist postmodern, erhebt die Fragmentarizität aber nicht zu einem neuen Metanarrativ.394 Sie bleibt daher nicht in der Totalität der Fragmentierung und der Selbstbespiegelung in den Scherben des Anderen stehen, sondern wagt es, aus dem fragmentarischen Leben des Feldes heraus, dem Anderen das Sprechen zu übergeben.395 Eine Abgrenzung von wissenschaftlichem Subjekt und verobjektivierbarem Anderen wird damit problematisch – ein Verlust der Scheu vor engagierter Wissenschaft dafür möglich. Letzteres kann mit der Gefahr einer verzeichnenden Reduzierung in drei Prinzipien beschrieben werden: Empathie, Transparenz und Einsatz396. Der Forscher, der sich um eine dialogische Feldforschungspraxis bemüht, wird daher bestrebt sein, respektvolle und kulturell angemessene Wege der Forschung zu finden, die sich immer um die Annäherung an eine Innenperspektive bemühen. Er wird am Aufbau reziproker Beziehungen arbeiten zwischen Forscher und Beforschtem. Dazu gehört auch, Forschungsergebnisse zurückzumelden, Wissen zu teilen und schützen zu helfen. Und schließlich umfasst es, einen Beitrag zum Streben indigener Gemeinschaften nach Selbstbestimmung zu leisten. Das ist die theoretische Abgrenzung des Ideals einer dialogischen Feldforschungspraxis. Mit welchen Schwierigkeiten sieht sich

394 Vgl. Petermann, Werner: Die Geschichte der Ethnologie, Wuppertal 2004, 1028f. 395 Dies stellt keine Regression hinter die allgemeine Verunsicherung der Ethnologie, ausgelöst durch Dekonstruktion, Dezentrierung, Diskursivität der Macht, Ideologiekritik, Dialogie, performative Übermittlungsversuche, etc. dar, sondern schreibt die Methode davon ausgehend weiter fort. Vgl. Petermann, Werner: Die Geschichte der Ethnologie, Wuppertal 2004, 1028f. 396 Vgl. Porsanger, Jelena: An essay about indigenous methodology. Nordlit 15, 105–120. Tromsø: Det humanistiske fakultet, Tromsø 2004.

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der Forscher konfrontiert, wenn er diese z.B. im Rahmen einer Untersuchung zum tyvanischen Schamanismus realisieren möchte? 5.3.5 Problematiken mit der dialogischen Forschungsmethode Im Wesentlichen sind die dem dialogischen Ansatz widerstrebenden und ihn in seinem Grundanliegen immer wieder aufs neue verunmöglichenden Momente auf drei Ebenen zu lokalisieren: In epistemologischer, struktureller und forschungspraktischer Hinsicht begegnen Hürden des Dialogs – ohne in ihrer realen Ausgestaltung voneinander getrennt werden zu können. Alle drei Aspekte wechselwirken vielmehr untereinander und sind in den jeweiligen Dispositiven in gemischter Form zu finden. Die folgende Beschreibung soll daher nicht entlang von Demarkationslinien erfolgen, die in der Praxis keine darstellen, sondern vielmehr Zusammenhänge und Überlappungen aufzeigen. So lohnt ein erster Blick auf die Begegnung der westlichen Wissenschaft mit dem von ihr untersuchten Feld des Indigenen: Sozial- , Kultur- und Religionswissenschaften, welche im Rahmen des westlichen Wissenschaftssystems operieren, zeichnen sich, das kann als erstes festgehalten werden, durch eine ihnen immanente Tendenz aus, Theoriemodelle und Kategoriensysteme tendenziell bevorzugt binnenkulturell zu diskutieren und fortzuentwickeln, als durch Inklusion von Impulsen, die von den von ihnen untersuchten Gegenständen ausgingen. Fataler Weise beschränken sich die Wirkungen eines derartigen abgeschlossenen Innenraummonologs nicht auf denselben, sondern werden über wissenschaftliche Diskurse und das von ihnen geprägte Machtdispositiv exportiert. Die Tatsache, dass durch derartige Universalisierungstendenzen Erfahrungen in fremdkulturellen Kontexten nur als Varianten des Eigenen begriffen werden können, wird daher insofern noch potenziert, als die Diskussion der eigenen Forschungsergebnisse mit Wissenschaftlern der erforschten Kulturen epistemologischen Beschränkungen unterliegt, wenn diese ihre eigene Kultur schon in Begriffen auffassen, die ebenfalls dem Repertoire der westlichen Sozial- und Kulturwissenschaften entstammen. Noch drastischer wird es, wenn diese Begrifflichkeiten insofern nicht völlig an der empirischen Wirklichkeit vorbeireden, als fremde Kulturen durch koloniale Abhängigkeitsverhältnisse und die Globalisierung bedingte Nivellierungsprozesse zumindest partiell Charakteristika der okzidentalen Welt angenommen haben. Das Ergebnis sind tendenziell binnenkulturelle Monologe, die sich zwar als wissenschaftliche Darstellungen fremdkultureller Orientierungen gebärden, jedoch eher den Charakter von Selbstdarstellungen als zustimmungsfähiger Repräsentationen des Fremden besitzen. Ein derartig universalistisch orientiertes Vokabular fällt deswegen grundsätzlich unter den Verdacht verzeichnender Bilder.397 Ne397 Vgl. Shimada, Shingo und Straub, Jürgen: Relationale Hermeneutik im Kontext interkulturellen Verstehens, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 47 (3), 1999, 450-454.

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ben dieser dem westlichen Wissenschaftssystem eingeschriebenen Trägheit zur Selbstüberwindung seiner eigenen Kategorien, entzieht sich jedoch auch der Dialogpartner einer eindeutigen Zuweisung seiner Rolle als Gesprächsgegenüber. Nicht die eine indigene Präsenz existiert, die zum Partner eines Gesprächs auf Augenhöhe werden könnte, sondern eine Vielfalt indigener Stimmen, die repräsentiert werden wollen. Dies zu akzeptieren und die Spannung der dadurch bedingten Polyphonie auszuhalten, heißt, indigene Gesellschaften in ihrem postmodernen Charakter ernst zu nehmen. Sich der Reduzierung auf monoperspektivische Gesprächsanordnungen zu enthalten, bedeutet die eigenen Reinheits- und Harmonievorstellungen zurück zu nehmen hinter einer adäquaten Begegnung mit der Vielfalt und dem Feld interner Spannungen des Indigenen. Allerdings impliziert dies auch methodische Ungewissheit, da so unklar und unvorherbestimmt bleiben muss, welche der Stimmen aus dem Chor als legitimere und repräsentativere als andere und damit als geeignetere Dialogpartner ausgewählt werden. Ein aussagekräftiges Beispiel sind die im Rahmen dieser Untersuchung vorgestellten schamanischen Kliniken in Tyva. Sie konkurrieren untereinander und beanspruchen jeweils – explizit oder implizit – die wahre Tradition, mithin das Indigene zu repräsentieren. Der Feldforscher, der sich in den Prozess einer dialogischen Forschungspraxis begibt, wird zwar zunächst versuchen, der Vielfalt der Stimmen möglichst gerecht zu werden. Dennoch wird er eingeholt von den pragmatischen Notwendigkeiten einer Beschränkung auf einen kleineren Kreis von Dialogpartnern, mit denen er intensiv zusammen arbeiten wird. Wie bereits im vorherigen Kapiteln beschrieben, stärkt diese extrinsische Bestätigung die Innen- und Außen-Identität einer bestimmten Gruppe von Schamanen – der Forscher kann sich also auch durch die dialogische Methode einer parteilichen Einflussnahme nicht enthalten, selbst wenn er dies möchte. Dieser Prozess wird dann noch um Grade komplexer, als das Indigene nicht nur ein spannungsgeladenes Feld von intern konkurrierenden Repräsentationen darstellt, sondern auch von außen in vielfältiger Weise umkämpft ist. Nicht nur die Frage, wer das Indigene definieren darf und für sich beanspruchen, wird prekär, sondern darüber hinaus, wer sich als dessen Unterstützer kennzeichnen darf und somit einen Sekundärnutzen für sich daraus ziehen kann. Politiker, Tourismusfirmen, ‚Gemeinnützige Vereine‘ die sich ‚uneigennützig‘ einsetzen für das Indigene, Medienunternehmen und Starschamanen: Alle eignen sich das Indigene auf ihre Weise an, ernennen sich zum Anwalt des Indigenen und profitieren selbst von dieser Stiftung. Der Forscher, der bestimmte Teile davon – wenn auch nur durch seine Wahl eines Dialogpartners – bevorzugt, partizipiert an diesem Machtdiskurs und beeinflusst ihn unwillkürlich. Ja seine Einflussnahme und dessen Konsequenzen sind vielfach seiner willentlichen Kontrolle entzogen, er findet sich wieder als Spieler in einem Mechanismus, dessen Regeln er nicht überblicken kann. Auch die dialogische Methode entbindet daher nicht von der Notwendigkeit der Reflexion auf bleibende Asymmetrien und Machtprägungen – sondern fordert sie

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vielmehr vehement ein. Die Frage, wer aus der Stimmenvielfalt repräsentiert wird und wer zum Autor dieser Repräsentation wird, kann im postkolonialen Kontext der Globalisierung nicht mehr durch eine Trennung vom Subjekt der Wissenschaft und dessen Untersuchungsobjekt beantwortet werden. Die Entstehungskontexte von Wissen müssen vielmehr in ihrem unauflöslichen Zusammenhang mit dem Plausibilisierungskontext desselben Wissens gesehen werden. Wissenschaft ist Teil globaler Dominanzstrukturen, tritt auch in ihrer dialogischen Form, die sich um konsequentes Ernstnehmen der Stimmen des Anderen bemüht, ein in einen Diskurs, innerhalb dessen dieses Andere ständig umstritten ist. Dennoch hat sich meiner Erfahrung zufolge ein Ansatz der Reziprozität als besser geeignet erwiesen, solchen Herausforderungen zu begegnen als statische, monoperspektivische oder reduktionistische Modelle. 5.3.6 Schluss: Nichts als eeren, azalar und albys Welche Schlussfolgerungen sollen am Ende dieser Arbeit gezogen werden? Die Diskursanalyse in ihrer kulturhermeneutischen Ausrichtung hat sich als adäquates Reflexionsinstrument erwiesen, um verschiedene Zusammenhänge der Wiederbelebung des tyvanischen Schamanismus in seiner kulturellen Wechselwirkung mit westeuropäischen Strömungen transparent zu machen. Biografische, institutionelle, literarische und mediale Dynamiken in der Herausbildung eines globalen Diskursfeldes konnten sichtbar gemacht werden. Dennoch wäre eine Untersuchung wie die hier vorliegende unvollständig, würde sie nicht am Schluss auf ihr notwendiges offenes Ende hinweisen. Erstens blieben sonst keine Fragen für nachfolgende Forschergenerationen übrig und die Arbeit würde sich qua ihrer Hybris das Urteil einer Unterschätzung zukünftiger Forschungen selbst sprechen. Zweitens und ernster kann nur ein unabgeschlossenes Ende, das Bekenntnis zur eigenen Begrenztheit, dem Gegenstand würdig begegnen. Denn trotz aller Erkenntnisse, aller aufgezeigten Prozesse der Verschränkung und analysierten wechselseitigen Rollen des Fremden: Ein letztes Verstehen der Schamanen in Tyva wie in Deutschland kann ich nicht für mich beanspruchen. Peter Bräunlein hat dafür in seinem Aufsatz, in welchem er seine Feldforschungserfahrungen bei den Mangyan in der Suche nach der Bedeutung der lebenden Leichen, der ‚kablags‘ verarbeitet, passende Worte gefunden: „Als wir nach 16 Monaten den Ort Malula verließen, um nach Hause zurückzukehren, begleitete mich das unangenehme Gefühl, auf viele Frage keine ausreichenden Antworten erhalten zu haben. Manches blieb rätselhaft und als Widerspruch bestehen, die lebenden Toten der Mangyan gehörten dazu. Eine ganze Weile war ich bemüht, all die offenen Fragen, die diese Feldforschung mit sich gebracht hatte, zu vergessen. Ich ertappte mich dabei, in zeitlicher und räumlicher Distanz eine Geschichte zu konstruieren, in der manche verwirrende Erfahrungen

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einfach ‚geglättet‘ wurden oder gar nicht mehr auftauchten. Das gelang ganz gut. Ich hatte die Wiedergänger abgeschüttelt [...]. Ich konnte dieses peinigende Dilemma, in das mich die lebenden Toten der Mangyan trieben, nicht lösen. Bis heute ist es mir nicht gelungen, beschriebene ‚Bilder‘ von lebenden Toten mit Wirklichkeit zu ‚sättigen‘, geschweige, denn diese ‚Bilder‘ angemessen zu übersetzen. Wie ich mir einen kablag, eine lebende Leiche der Alangan-Mangyan, ‚eigentlich‘ vorzustellen habe und ob ich potentiell in der Lage wäre, einem solchen zu begegnen und wahrzunehmen, ist eine offene Frage, die bestehen bleibt.“398

Die Wahrnehmung Bräunleins der Versuchung, mit zunehmendem lebensgeschichtlichen Abstand und wachsendem Druck einer pragmatischen literarischen Formgebung der Dissertation, befremdliche und unverstandene Erfahrungen auszublenden und dafür die beschreibbareren in den Vordergrund zu rücken, teile ich. Mir scheint es sogar insofern sinnvoll, als man lieber über das sprechen und schreiben sollte, über das sich dies auch tun lässt, und alles andere mit Schweigen versieht. Vielleicht ist dies auch ein Ausdruck einer notwendigen Selbstbeschränkung, der Anerkennung der eigenen Grenzen. Dennoch muss hingewiesen werden darauf, dass das, worauf Licht geworfen wurde nicht alles ist, sondern vielleicht nur ein kleiner, ja sogar unerheblicher Teil. Eine Übersetzung ist geschehen – ob sie adäquat und elegant war, das möge der Leser beurteilen.

398 Bräunlein, Die Rückkehr der ‚lebenden Leichen‘, 109.125.

6 Glossar

Die vorliegende Dissertation diskutiert ihre Fragestellung im Horizont einer Matrix kulturwissenschaftlicher Kategorien, Forschungsperspektiven und analytischer Methoden. Die dazu zentralen Theoriemodelle werden im Text selbst in der notwendigen Breite skizziert und ins Gespräch gebracht. Darüber hinaus werden aber auch Begriffsdefinitionen appliziert und vorausgesetzt, deren Genese nicht umfassend nachgezeichnet bzw. deren wissenschaftliche Reflexion nicht erschöpfend dargestellt werden kann. Nichtsdestoweniger soll aber ein Bewusstsein für deren inhärente Problematiken klar markiert werden. Das hier gebotene Glossar bietet daher für die im Text nicht ausführlicher diskutierten Begriffe knappe Schlaglichter einer Theoriekritik. Ich stütze mich dabei im Wesentlichen auf die von anderen Autoren bereits geleisteten Arbeiten in Metzlers Lexikon Religion. Diese werden an den Stellen, an welchen ich für den Kontext der vorliegenden Arbeit eine Hinzunahme anderer Positionen für notwendig halte, entsprechend erweitert.

I DENTITÄT 399 Während die philosophische Bedeutung von Identität das logische Prädikat des Gleichseins eines Gegenstandes in verschiedenen Perspektiven bezeichnet, bezieht sich der sozialwissenschaftlich-psychologische Identitätsbegriff auf das Selbstbild, den Charakter oder die Persönlichkeitskonstitution. Diese unterliegt Identifizierungsprozessen, die individuell oder kollektiv sein können und in letzterem Fall eine angleichende Zielfunktion einnehmen. In beiden Fällen geht der Identitätsbildungsprozess mit gefühlsbestimmten Bewusstseinszuständen einher, in welchem Unterschiede ausgeblendet und Differenz auf andere Kollektive oder Individuen übertragen werden. Als kollektive Identität kann sie die Form einer Bekenntnisformel annehmen und dann zum zentralen Symbol politischer Religionen avancieren. 399 Vgl. hierzu und im Folgenden: Berghoff, Peter: Art. ‚Identität‘, Metzler Lexikon Religion. Gegenwart-Alltag-Medien, Bd. 2, hg. v. Christoph Auffarth, Jutta Bernhard und Hubert Mohr, Stuttgart 1999, 70f.

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M EDIEN 400 Der Begriff des Mediums denotiert eine mindestens dreifache Phänomenalität. Zum einen wird damit im allgemeinen Sinne ein Raum der Realisierung bzw. Vermittlung bezeichnet, der im Sinne eines Mittels an bestimmte Zwecke gebunden ist. Im spezielleren Wortgebrauch bezeichnen Medien jedoch Träger von Symbolsystemen und Botschaften. Diese können technischer oder menschlicher Natur sein und beide sind für Religionen als kulturell bedingte Kommunikationssysteme von herausragender Bedeutung. Der Mensch nimmt dabei als das Primärmedium die Rolle des religiösen Spezialisten ein und fungiert als Mittler zwischen den Welten in kultischen, therapeutischen oder kathartischen Funktionen. Dies impliziert eminente Fragen sowohl des sozialen Prestiges als auch des gesellschaftspolitischen Einflusses. Da Kommunikation jedoch schon per se einen medialen Aspekt der Informationsübermittlung, Koordination und Vernetzung in sich trägt, suchen Religionen nach weiterführenden Strategien der Übermittlung und rekurrieren dabei auf technische Medien. Dies geschieht meist in der Dialektik zwischen Aneignung und kritischer Distanz v.a. zu neuen Arten von Kulturtechniken. Einem erweiterten Möglichkeitsraum neuer Medien korreliert daher meist eine Anpassung bzw. NeuSchöpfung kultureller und religiöser Sachverhalte, welche immer auch mit einer Kritik der Verfälschung einhergeht. Die im 15. Jahrhundert mit dem Buchdruck einsetzende Verschiebung der Mensch-Mensch hin zu einer Mensch-Maschine Kommunikation findet ihre Fortführung und Intensivierung bis in die Gegenwart, welche durch neue Formen der kommunikativen Vernetzung (Internet), der Informationsspeicherung (Video) und der Pluralisierung des Informationsangebotes gekennzeichnet ist, so dass bisweilen von einem ‚Zeitalter der entgrenzten Medien‘ gesprochen wird. Den erweiterten Möglichkeiten der Information und Speicherung kulturell-religiösen Wissens korreliert dabei stets sowohl eine Externalisierung aus dem Gedächtnis als auch eine Emergenz neuer Formen der Religiosität. Bzgl. des für diese Untersuchung besonders relevanten Mediums der Fotografie ist darauf hinzuweisen, dass sie in ihrem Anfangsstadium als die Erfüllung des lange gehegten Wunsches nach genauester Abbildung der Realität im Sinne eines Dokumentationsmediums betrachtet wurde. Vielfach fand sie sich dementsprechend instrumentalisiert von Ethnologen, Kolonialbeamten und Missionaren, die die Wirklichkeit zeigen wollten, ‚wie sie ist‘. Weit davon entfernt, die Wirklichkeit abzubilden, diente die damalige Fotografie in ihrer Suche nach dem Fremden, Exotischen und Wilden vielmehr der Rechtfertigung des sie hervorbringenden kolonialen Kontextes. Eine daraus erwachsende kritische Sicht ist auch und v.a. im Zeitalter der 400 Vgl. hierzu und im Folgenden: Bernhard, Jutta: Art. ‚Medien‘, Metzler Lexikon Religion. Gegenwart-Alltag-Medien, Bd. 2, hg. v. Christoph Auffarth, Jutta Bernhard und Hubert Mohr, Stuttgart 1999, 400-407.

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Kleinbildkamera als touristisches Massenmedium der zu Hause stattfindenden Präsentation der Welt bzw. der gegenwärtigen digitalen Technologien unabdingbar geworden. Neben der Fotografie wird auch ein besonderes Augenmerk zu richten sein auf die den neuesten technischen Medien des Internets inhärenten Dynamiken und Eigengesetzlichkeiten. Die sich dort im Gegensatz zur asymmetrischen Charakteristik von Radio und Fernsehen entfaltende interaktive Beteiligung hat besonders im Hinblick auf die sich z.B. in Foren neu bildenden Formen von Teilöffentlichkeiten, weltweite Kommunikation und Verschränkung mit rituellen Praxen bisher wenig erforschte, aber nichtsdestoweniger paradigmatische Bedeutung für religionswissenschaftliche Untersuchungen.

M ODERNE 401 Der Begriff der Moderne ist in mehrfacher Hinsicht problematisch. Zwar kann mit ihm näherungsweise die historische Makroperiode der Wirksamkeit aufgeklärten Denkens ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhundert bezeichnet werden, mit den ihr eigenen Hauptmerkmalen der Orientierung an autonomer Vernunft, Fortschritt, sozialem Wandel, Demokratisierung, Bildungsverbreitung und schwindender Bedeutung traditioneller Kirchlichkeit. Dennoch unterliegt er einerseits als Sammelbegriff semantischen Spaltungen und entzieht sich andererseits als zeitlicher Relationsbegriff sowohl einer Festlegung wie der begrifflichen Anreicherung. Darüber hinaus ist er entweder ein rein historischer Begriff, der die Gesamtheit des Neuzeitlichen bezeichnet oder bezeichnet als ästhetischer Wertbegriff das Neuzeitliche als dem Urteil seiner Zeitgenossen unterliegend. Den mit der Moderne einhergehenden Umwandlungsprozessen der Differenzierung, Rationalisierung und Individualisierung haften daher stets Paradoxien und Ambivalenzen an. Das Bewusstsein von Modernität ist so seit dem 19. Jahrhundert mit einem Gefühl der Krise oder des Niedergangs verbunden. Den positiven Bestimmungen der Moderne steht daher auch das ganze Spektrum an negativen Beurteilungen gegenüber, vom Gipfel der Fehlentwicklung bis zur Entfremdung. Auch die Verhältnisbestimmungen der Moderne zu den Religionen ist vielschichtig vorzunehmen: Sowohl die Verflechtung des Christentums mit der Moderne kann keineswegs nur unter der Säkularisierungsthese thematisiert werden als auch das Verhältnis nichtchristlicher Religionen zur Moderne, das von begeisterter Akzeptanz bis zu radikalen Abwehr reicht. Als Fazit ist daher festzuhalten, dass eine Rede von der Moderne an sich keinen Sinn macht. 401 Vgl. hierzu und im Folgenden: Klöcker, Michael: Art. ‚Moderne‘, Metzler Lexikon Religion. Gegenwart-Alltag-Medien, Bd. 2, hg. v. Christoph Auffarth, Jutta Bernhard und Hubert Mohr, Stuttgart 1999, 471-474. Und: Piepmeier, R.: Art. ‚Modern, die Moderne‘, Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 6, hg. v. Joachim Ritter und Karlfried Gründer, Darmstadt 1984, 54-62.

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Dies gilt schon für den innereuropäischen Kontext und erst recht für alle Formen der interkulturellen Bestimmung von Moderne. Es muss daher von einer Vielzahl von Modernitäten ausgegangen werden, deren Charakter je und je darzulegen ist.

Ö FFENTLICHKEIT 402 Der Begriff der Öffentlichkeit enthält in sich eine doppelte Differenzierung. Zum einen muss unterschieden werden zwischen seinem pluralen Gebrauch im Sinne einer Vielzahl unterscheidbarer Öffentlichkeiten und seinem Singular als einer auf der kulturell dominierenden Kommunikationsform basierenden umfassenden Öffentlichkeit. Darüber hinaus ist der Öffentlichkeitsbegriff insofern gedoppelt, als er in seiner normativ-kritischen und soziologisch-deskriptiven Funktion zu unterscheiden ist. Normativ-kritisch insofern er den Inbegriff der Kontrollmöglichkeit repräsentiert. Soziologisch-deskriptiv wenn er als soziales Medium des öffentlichen Lebens auf eine kommunikativ erzeugte Sphäre rekurriert. Die Bedeutung von Öffentlichkeit steht daher einerseits in einem Abhängigkeitsverhältnis zu bestimmten gesellschaftlichen Kommunikationsmöglichkeiten und Formen gesellschaftlicher Differenzierung. Andererseits sind Öffentlichkeiten immer auch Räume der moralischen Kommunikation, daher mit normativen Aspekten affiziert. Für (post)moderne westliche Gesellschaften ist in diesem Zusammenhang besonders zu beachten, dass von einer Vervielfältigung und daher Konkurrenz von Öffentlichkeiten ausgegangen werden muss. Die umfassende gesellschaftliche Öffentlichkeit ist sowohl massenmedial geprägt als auch den Kräften von Märkten moralischer Kommunikation unterworfen. Religiöse Öffentlichkeiten sind zunächst durch Kommunikation erzeugte und auf Kommunikation zielende begrenzte Bündelungen und Verdichtungen individueller sowie sozialer Aufmerksamkeit. Sie legen einerseits bewusst die Grenzen ihrer Kommunikation fest, drängen aber auch in vielen Fällen auf Mitgestaltung der soziopolitischen Öffentlichkeit.

P ERFORMANZ 403 Im Gegensatz zu Religionstheorien, die auf kognitive Erklärungsansatze abstellen, richtet eine Theorie der Performanz ihre Aufmerksamkeit auf die tatsächlichen Vollzüge des Handelns. Sie kann daher verstanden werden als Fortführung des Ritualbegriffs und Reaktion auf dessen Kritik einer Dissoziation von Denken und 402 Vgl. hierzu und im Folgenden: Thomas, Günther: Art. ‚Öffentlichkeit‘, Metzler Lexikon Religion. Gegenwart-Alltag-Medien, Bd. 2, hg. v. Christoph Auffarth, Jutta Bernhard und Hubert Mohr, Stuttgart 1999, 586-589. 403 Vgl. hierzu und im Folgenden: Bell, Catherine: Performance, in: Critical Terms for Religious Studies, ed. by Mark Taylor, Chicago 1998, 205-224.

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Handeln, der Auferlegung einer symbolischen Intentionalität und einer Universalisierung im Zuge der Globalisierung, die bedingte, dass undifferenziert alles als Ritual betrachtet wurde.404 Und obwohl nicht von einer Einheit der PerformanzAnsätze bzw. deren Analysesprache ausgegangen werden kann, so besteht doch eine Kerngemeinsamkeit darin, dass sie Handlung als Handlung thematisieren.405 Aufbauend auf Theoriemodellen wie Victor Turners, der das Ritual als soziales Drama konzipierte, Austins linguistischer Theorie der performativen Sprechakte und Erving Goffmanns Analyse sozialer Interaktion, wollen Performanztheorien soziale Handlungen begreifen, ohne sie sofort in etwas anderes als Handlung zu übersetzen. Handlungstheoretiker wie Bourdieu u.a. teilen daher ihre grundlegenden Annahmen, ohne die Performanzterminologie an sich anzuwenden, und untersuchen Machtspiele in allen Arten sozialer Handlungen. Der Einfluss der Performanzterminologie in den Religionswissenschaften zeigt sich in seiner vollen Wir404 Zur Abgrenzung der Menge derjenigen Handlungen, die sinnvollerweise unter der Kategorie ‚Ritual‘ analysiert werden können, vgl. Wirt, Uwe: Der Performanzbegriff im Spannungsfeld von Illokution, Iteration und Indexikalität, in: ders. (Hg.): Peformanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt 2002, 36: „Ritualisierte Handlungen unterscheiden sich von den pragmatischen Bedingungen des argumentativen Diskurses dadurch, daß sie keine Frage nach den Gültigkeitsansprüchen mit Blick auf gemeinsam akzeptierte Kriterien zulassen, sondern die Wahrheit ‚verkünden‘ […]. Der Vollzug ritueller Handlungen ist dabei, wie Tambiah in seiner performativen Theorie des Rituals feststellt, auf drei Arten performativ; erstens im Sinne Austins, also als Vollzug einer konventionellen Sprechhandlung, zweitens im ‚davon völlig verschiedenen Sinn einer dramatischen Performance, in der die Teilnehmer verschiedene Medien benutzen und das Ereignis intensiv erfahren‘ und drittens im ‚Sinne eines indexikalischen Wertes (der Begriff stammt von Peirce), den die Akteure während der Performance dieser zuschreiben und aus ihr ableiten‘.“ 405 Zunächst ist auf einen nicht unerheblichen positiven Aspekt dieser Unabgeschlossenheit des terminus Performanz zu verweisen: „Die vielgestaltige Verwendbarkeit des Performanzbegriffs ebenso wie seine Mehrdeutigkeit haben maßgeblich zur akademischen Breitenwirkung des ‚garstigen Wortes‘ beigetragen. Auf die Frage, was der Begriff Performanz eigentlich bedeutet, geben Sprachphilosophen und Linguisten einerseits, Theaterwissenschaftler, Rezeptionsästhetiker, Ethnologen oder Medienwissenschaftler andererseits sehr verschiedene Antworten. Performanz kann sich ebenso auf das ernsthafte Ausführen von Sprechakten, das inszenierende Aufführen von theatralen oder rituellen Handlungen, das materiale Verkörpern von Botschaften im ‚Akt des Schreibens‘ oder auf die Konstitution von Imaginationen im ‚Akt des Lesens‘ beziehen.“ Vgl. Wirt, Uwe: Der Performanzbegriff im Spannungsfeld von Illokution, Iteration und Indexikalität, in: ders. (Hg.): Peformanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt 2002, 9.

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kung in der Umkehrung einer zuvor etablierten Sichtweise: Die Perspektive wechselt von der Handlung als Text hin zum Text als Handlung. Religiöses Leben wird deshalb als über den bloßen funktionalen Ausdruck von Glaubensaspekten oder sozialen Beziehungen hinausreichend verstanden. In der Frage, wie performative Akte kulturell bedeutsame Umgebungen selbst herstellen, untersuchen Performanzanalysen die spezifische Wirksamkeit und Effektivität ritueller Handlungen sowie das sie paradigmatisch von anderen Arten der Kommunikation Unterscheidende. Dies beinhaltet typischerweise auch ein Bewusstsein des Forschers der intrinsischen Rolle seiner eigenen Position für Ereignisse der Performanz. In der Kritik eines einfachen Objektivismus und selbstreflexiver Wendungen kann die Rolle des Beobachters daher in Parallele gesehen werden zu denjenigen, die das Ritual durchführen.406 Die Frage, wie der Theoretiker das von ihm untersuchte Performanzphänomen beeinflusst, kann daher bis dorthin reichen, welche Rolle er selbst in diesem Phänomen einnimmt. Neben dieser Eigenschaft der Selbstreflexivität ist auch das grundsätzliche Bemühen von Performanzansätzen festzuhalten, sich vorausgängiger Definitionen dessen, was Rituale oder Religion allgemein sind, und welche mentalen Zustände sie bedingen, zu enthalten, um dadurch eine Einpassung des Phänomens in vorgeprägte Kategorien zu vermeiden. Ihr Ausgangspunkt ist daher die je spezifische Handlung und die soziale Mikropolitik, die sie beinhaltet. Performanztheorien zeigen daher statt definitiver Interpretation eines Rituals, vielmehr die Multiplizität der Arten auf, in der diese erfahren werden, und wie diese Vielfalt Teil der Wirksamkeit der Rituale ist. Besonders unter Berücksichtigung der Dynamiken eines fremdkulturellen Kontextes erliegen sie so nicht den Nachvollzug des Verstehens eher behindernden allgemeinen Interpretationsmustern. Letzteres ist auch zugleich als Problematik von Performanztheorien zu markieren: Die Tendenz neuer Performanztheorien hin zur Behauptung eines eigenen Universalismus, was letztendlich nichts anderes bedeutet, als ältere Ritualtheorien durch Performanz zu ersetzen, verfällt dem gleichen Fehler, den Performanz ursprünglich reflektierte: Die Annahme, Performanz sei überall und immer das gleiche, sollte daher verworfen werden und statt dessen von kontextuell kontingenten Ausprägungen sowie der 406 Victor Turner nimmt diese Parallelität zum Ausgangspunkt für seine Frage nach den Möglichkeiten des Fremdverstehens und wendet sie zurück auf den Forscher selbst. In seinem Buch ‚Vom Ritual zum Theater‘ zieh er daraus die Konsequenz, dass es Aufgabe der Ethnologie ist, rituelle Handlungen zu re-inszenieren: „Die Ethnographie bringt die rituellen Handlungen fremder Kulturen auf die Bühne der eigenen Kultur, wobei die rituellen Performatives in theatrale Performances transformiert werden. […]. Das spielerische Auf-die-Bühne‘ bringen ist damit die Voraussetzung für jeden ernsthaften Versuch des Fremdverstehens.“ Vgl. Wirt, Uwe: Der Performanzbegriff im Spannungsfeld von Illokution, Iteration und Indexikalität, in: ders. (Hg.): Peformanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt 2002, 37f.

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je und je neu zu bestimmenden Gültigkeit des Performanzbegriffes ausgegangen werden.

P OSTMODERNE 407 Bedingt durch Prozesse gesellschaftlichen Wandels, welche u.a. technische Umwälzungen in der Informations- und Datenverarbeitung, Entwicklungen hin zur Dienstleistungsgesellschaft, fortschreitender Vernetzung und Intensivierungen der Globalisierung umfassen, kann beginnend mit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts von einer Krise der Moderne gesprochen werden. Obwohl letztere bei weitem nicht als einheitliches Phänomen abzustecken ist, kann die Postmoderne doch versuchsweise als kritische Auseinandersetzung mit den der Moderne inhärenten Strömungen des Rationalismus, technisch-herrschaftlichen Denkens, ihres Szientismus, Funktionalismus und Utopismus begriffen werden. Jean-Francois Lyotard konstatiert daher in seiner Analyse der Verfassung des postmodernen Wissens in den westlichen Gesellschaften, dass dessen Legitimation sich nicht mehr mit Hilfe ‚großer Erzählungen‘, sondern nur noch unter Bezug auf inkommensurable Sprachspiele und zeitweilige Verträge leisten lässt. In der Revidierung des Einheitsdenkens wird die Postmoderne daher explizit pluralitätsfreundlich. Dies hat auch Konsequenzen dafür, welche Formen Religion in ihr annimmt: Einer Pluralisierung und Marktorientierung des Angebots korreliert die Veränderung der Sozialformen, welche oft Privatisierung und Subjektivierung mit einschließt. Der religiöse Mensch enthält sich als Konsument langfristiger Mitgliedschaften und verzichtet auf Exklusivität oder Widerspruchsfreiheit. Außer- und alteuropäische Religionen werden rezipiert, neue religiöse Szenerien bilden sich, andere gesellschaftliche Felder werden religiös besetzt (Thomas Luckmann spricht von unsichtbarer Religion). Einer derartigen Ausdifferenzierung und Relativierung bleibt natürlich nicht unwidersprochen. Verschiedene Fundamentalismen als Gegenforderung einer Orthopraxie sind daher auch konstitutiver Teil der Postmoderne.

P RIVATRELIGION / P RIVATISIERUNG DER R ELIGION 408 Obwohl der Begriff des Privaten im Sinne des von der Öffentlichkeit Abgesonderten als abendländische Kategorie mit der Problematik des Ethnozentrismus behaftet 407 Vgl. hierzu und im Folgenden: Hartmann, Georg: Art. ‚Postmoderne‘, Metzler Lexikon Religion. Gegenwart-Alltag-Medien, hg. v. Christoph Auffarth, Jutta Bernhard und Hubert Mohr, Bd. 3, Stuttgart 2000, 48-50. 408 Vgl. hierzu und im Folgenden: Knoblauch, Hubert: Art. ‚Privatreligion/Privatsierung der Religion‘, Metzler Lexikon Religion. Gegenwart-Alltag-Medien, Bd. 3, hg. v. Christoph Auffarth, Jutta Bernhard und Hubert Mohr, Stuttgart 2000, 62-64.

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ist, stellen die damit verbundenen Theorien der Religionsausübung für die Postmoderne dennoch einen unverzichtbaren Teil der Religionswissenschaft dar. Die Privatreligion als Form der Religionsausübung, die sich dem Zugriff der Öffentlichkeit, der religiösen und anderer Institutionen entzieht, ist verbunden mit Individuen, die ohne den Einfluss religiöser Autoritäten Vorstellungen selbst entwickeln sowie Praktiken ausüben, die nicht kommuniziert werden. Diese von der Religionssoziologie seit den 60ern in Teilen Westeuropas beobachteten Phänomene führen zur Beschränkung des Religiösen auf Belange des Individuums und daher der Reduzierung von dessen öffentlicher Relevanz. Einzelne Aspekte einer derartigen Privatisierung betreffen u.a. die kirchenlose Religion, die freiwillige Bildung religiöser Gemeinschaften, individuelle theologische Verantwortung, religiösen Subjektivismus sowie die Herausbildung eines Marktes der Religionen. Verschiedene Privatisierungsthesen haben je unterschiedliche Erklärungsmodelle mit je differenten Hauptmerkmalen geliefert. Diese reichen von der Verschiebung der öffentlichen Funktion der Religion auf andere kulturelle Formen als Folge der Pluralsierung der Religion (Talcott Parsons und Robert Bellah), über das Unsichtbarwerden der Religion im Prozess der institutionellen Differenzierung und Rationalisierung moderner Gesellschaften und der damit einhergehenden Überantwortung umfassender Sinnsysteme auf das Individuum und sekundären Institutionen (Peter Berger und Thomas Luckmann), bis hin zur Privatisierung der Entscheidung von Religion im Sinne eines Privaten als Zusammenfassung der zum Professionellen komplementären Rollen (Niklas Luhmann). Trotz derartiger Gesamttendenzen können in der Postmoderne auch – das hat Roland Robertson deutlich gemacht – Gegenbewegungen zur Privatisierung der Religion festgestellt werden. Darunter fallen u.a. deren zunehmende Politisierung im Globalisierungsprozess oder ihre (erneute) Einmischung in vormals private Lebensbereiche.

T RADITION 409 Ein allgemeines Verständnis von Tradition als die Weitergabe oder Überlieferung von Wissen, Normen und Fertigkeiten einer Gemeinschaft oder Kultur nimmt eine je unterschiedliche Gestalt an, je nachdem ob es aus der Innenperspektive oder einer deskriptiven Außenperspektive beschrieben wird. Erstere wird auf deren normative Bedeutung rekurrieren, während zweite beobachtet, dass alle die vom Menschen geschaffenen Gewohnheiten und Ordnungen immer dann gebraucht werden, 409 Vgl. hierzu und im Folgenden: Klinkhammer, Gritt: Art. ‚Tradition‘, Metzler Lexikon Religion. Gegenwart-Alltag-Medien, Bd. 3, hg. v. Christoph Auffarth, Jutta Bernhard und Hubert Mohr, Stuttgart 2000, 519-521. Und: Steenblock, V.: Art. ‚Tradition‘, Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 10, hg. v. Joachim Ritter und Karlfried Gründer, Darmstadt 1998, 1315-1329.

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wenn sich nachträglich eine Kontinuität von Motiven und Ideen ausmachen lässt. Die Perspektive des kulturellen Gedächtnisses (Aleida Assmann) sieht Tradition daher als die auf Dauer gestellte kulturelle Konstruktion von Identität. In der europäischen Neuzeit tritt Tradition sachlich in einen doppelten Konflikt mit Erfahrung und Vernunft und damit den beiden neuzeitlichen Hauptströmungen des Empirismus und Rationalismus. Die daraus resultierende Zurückdrängung der Bedeutung von Tradition wird jedoch in der Kritik der Aufklärung insofern relativiert, als dort der Rekurs auf ein nicht aufzuhebendes Erbe von Kulturerrungenschaften wieder zunimmt. In (post)modernen Gesellschaften wird dieser Prozess weitergeführt und vollendet: Zu Beobachten ist eine ‚Invention of Tradition‘ (Eric Hobsbawm), im Rahmen derer Randgruppen oder historisch Marginalisierte auf lang vergessene oder wenig beachtete Traditionen zurückgreifen und ihnen neue Bedeutung verleihen, um ihre Stellung in der Gesellschaft zu sichern. Als konstitutives Element von Religion unterliegen Traditionen der Traditionspflege und sind daher an Sicherungsmedien wie kanonisierte Schriften oder religiöse Autoritäten gebunden.

U RSPRUNG 410 Während die Religionswissenschaft in ihren Anfängen die Suche nach den Ursprüngen der Religion als eines ihrer Hauptanliegen betrachtete und sich dies in ihrer Theorie- bzw. Begriffsbildung z.B. in der Rede von Evolutionismus, Animismus, Dynamismus oder einem Urmonotheismus niederschlug, teilen gegenwärtige Ansätze die Einschränkung, dass es eine Möglichkeit der Erforschung einer Urkultur oder Urreligion nicht gibt. Sehr wohl stellen aber verschiedene Gesellschaftsformen die Frage nach dem Ursprung, entweder in expliziter Form wie im Falle traditionsgebundener Vergemeinschaftungsformen oder in sublimierter in modernen Gesellschaftstypen. Diese Art, wie nach dem Ursprung gefragt wird, wiederum, kann sehr wohl sinnvollerweise Gegenstand der Religionswissenschaft werden. Das Spektrum umfasst dabei sowohl die hinduistische Weltalterlehre von der ewigen Wiederkehr, die ohne jegliche Setzung eines Ursprungs auskommt bis hin zur modernen abendländischen Gewissheitssuche nach einem (in der Zeit feststehenden) gesichertem Ausgangspunkt als Achse des Wirklichkeitsverständnis. Im Besonderen kommt hier die für diese Untersuchung an vielfacher Stelle relevante Frage einer philosophischen Hermeneutik in den Blick, die nach Diltey auf einen deutungsfreien archimedischen Punkt gerade verzichten kann, da jeder Anfang willkürlich ist.

410 Vgl. hierzu und im Folgenden: Gantke, Wolfgang, Art. ‚Ursprung‘, Metzler Lexikon Religion. Gegenwart-Alltag-Medien, Bd. 3, hg. v. Christoph Auffarth, Jutta Bernhard und Hubert Mohr, Stuttgart 2000, 553-555.

7 Literatur- und Quellenverzeichnis

7.1 D EUTSCH -

UND ENGLISCHSPRACHIGE

L ITERATUR

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ɏɨɦɭɲɤɭ, Ɉ. Ɇ. (2005). Ɋɟɥɢɝɢɹ ɜ ɤɭɥɶɬɭɪɟ ɧɚɪɨɞɨɜ ɫɚɹɧɨ-ɚɥɬɚɹ. Ɇɨɫɤɜɚ. ɑɚɞɚɦɛɚ, Ʌ. Ɇ. and ȿ. Ɇ. Ⱥɤ-ɤɵɫ (2005). Ɇɨɧɝɭɲ Ȼɨɪɚɯɨɜɢɱ Ʉɟɧɢɧ-Ʌɨɩɫɚɧ. Ȼɢɨɛɢɛɥɢɨɝɪɚɮɢɱɟɫɤɢɣ ɭɤɚɡɚɬɟɥɶ, ɇɚɰɢɨɧɚɥɶɧɚɹ ɛɢɛɥɢɨɬɟɤɚ ɢɦ. Ⱥ.ɋ. ɉɭɲɤɢɧɚ Ɋɟɫɩɭɛɥɢɤɚ Ɍɵɜɚ. Ʉɵɡɵɥ.

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7.3 Z ITIERTE T YVANISCHE Z EITUNGSAUSGABEN (1993). Tuvinskaya Pravda 85 (14342). (2007). Tuvinskaya Pravda 115 (16466). (2007). Pljus Inform 32 (292). (2007). Pljus Inform 44 (304). (2007). Pljus Inform 47 (307). (2007). Zentr Azii 33. (2007). Slovo Arata 12 (14). (2007). www.tuvaonline.ru (13.-24.August). (2009). www.tuvaonline.ru (4. und 6. August 2009). (2009). www.centerasia.ru (7.-13. August 2009).

Z ITIERTE W EBSEITEN | 357

7.4 Z ITIERTE W EBSEITEN (Letzter Abruf: 29. Mai 2008) http://de.youtube.com/watch?v=2KopD0R38w4. http://depo-club.ru/directions/shamanism/seminar.htm. http://dont-mind.de. http://galsan.info. http://home.vr-web.de/herbysmusic/schamanenzentrum.html. http://home.vr-web.de/herbysmusic/fotos.html. http://home.vr-web.de/herbysmusic/auswahl/verkleinert/IMG_3372.JPG http://shaman.shude.ru/. www.ahamkara.org/trips. www.artoflifenet.com/. www.baikaltours.de. www.bluejay.eu. www.baikal-express.de. www.bahnurlaub.de. www.eth.mpg.de. www.eco-world.de/scripts/basics/ecoworld/service/events/basics.prg?a_no=4160&nap=new. www.elementgeister.de. www.flss.ch. www.fss.at. www.foerderverein-zukunftsmusik.de/. www.freunde-des-altai.org. www.igpp.de. www.institut-ethnomed.de. www.khoomei-shaman.com. www.khoomeiji.narod.ru/ www.klinikum.uni-heidelberg.de/index.php?id=1090. www.krupar.com. www.maka-unikat.de/. www.meditation-ettlingen.de/. www.meditation-ettlingen.de/kurse/oorzhak_base.html. www.paradeast.de. www.rainbow-spirit-festival.de/highlights/highlights_det_20070423161600.php. www.rainbow-spirit.de/ www.schamanenkongress.de. www.shamanicstudies.org/articles/article08.html www.suhrkamp.de. www.tuvaonline.ru. www.unionsverlag.com.

358 | L ITERATUR - UND QUELLENVERZEICHNIS

7.5 Z ITIERTE D OKUMENTARFILME Bernstein, Anja. (2006). In Pursuit of the Siberian Shaman, 75 Min., Farbe, Russisch und Buryatisch mit Englischem Untertitel, Vertreiber: DER, 101 Morse St., Watertown, MA 02472, USA. (http://der.org/films/in-pursuit-of-siberianshaman.html.; http://www.cinetrance.com/in%20pursuit.htm). Gebhard, Ute. (2000). Die Klinik der Schamanen, 360° - Die GEO-Reportage, Folge 53, Regie:, © Medienkontor FFP GmbH, Vertrieb: Studio Hamburg Distribution & Marketing GmbH. (http://www.medienkontor.de/produktionen/2_Dokumentation_Reportage/14_3 60_GEO_Reportage.html). Lolos, Georg. (2008). Die Stewardess und der Schamane, WDR weltweit. (http://www.wdr.de/unternehmen/presselounge/programmhinweise/fernsehen/2 008/08/20080821_stewardess_und_der_schamane.phtml). Stehli Pfister, Helen: Eine Reise hinter die Wolken, Schweizer Fernsehen 1997.

A BBILDUNGSNACHWEIS | 359

7.6 ABBILDUNGSNACHWEIS Abbildung 1: Fotografie Heiko Grünwedel. Abbildung 2: Digitalisierung eines materiellen Objekts, gescannt von Heiko Grünwedel. Abbildung 3: Seden-Chuurak, A. B.: English-Tuvan Phrasebook, Kyzyl 2003, Buchaußenseite. Abbildung 4: Seden-Chuurak, A. B.: English-Tuvan Phrasebook, Kyzyl 2003, 102. Abbildung 5: Fotografie Heiko Grünwedel; Strukturierung Heiko Grünwedel. Abbildung 6: Zugrundeliegender Stadtplan von Kyzyl: ɂɡɞɚɬɟɥɶɫɤɢɣ ɰɟɧɬɪ „ɉɥɚɬɢɧɚ“: Ʉɵɡɵɥ. Ʉɚɪɬɚ ɝɨɪɨɞɚ. ɋɬɨɥɢɰɚ Ɋɟɫɩɭɛɥɢɤɚ Ɍɵɜɚ, ɤɚɪɬɨɝɪɚɮɢɱɟɫɤɚɹ ɨɫɧɨɜɚ ɩɪɟɞɨɫɬɚɜɥɟɧɚ ɈɈɈ „Ɍɵɜɚɝɢɩɪɨɡɟɦ“, ɪɭɤɨɜɨɞɢɬɟɥɢ ɩɪɨɟɤɬɚ: Ɇɨɧɝɭɲ ɗ. Ȼ., Ɉɸɧ Ⱥ.Ȼ., ɒɚɪɚ-ɏɨɨ Ɇ.ɋ. , 2008 ). Ausschnitt, Scan und Markierungen Heiko Grünwedel. Abbildung 7: Fotografie Heiko Grünwedel. Abbildung 8: Fotografie Heiko Grünwedel. Abbildung 9: http://home.vrweb.de/herbysmusic/auswahl/verkleinert/IMG_3372.JPG. Abbildung 10-15: Fotografie Heiko Grünwedel. Abbildung 16a: Fotografie Heiko Grünwedel. Abbildung 16b: Linke Spalte: www.tuvaonline.ru (14., 15., 16. Und 20. August). Rechte Spalte: www.tuvaonline.ru (4. Und 6. August 2009) und www.centerasia.ru (7-13. August 2009). Mittig positionierte Fotografie der Lenin-Statue: Heiko Grünwedel. Abbildung 17: Tuvinskaja Pravda, No. 115 (16466), 27. September 2007. Abbildung 18: http://www.khoomei-shaman.com/seminar_e.html. Abbildung 19: Witsen, N. (1785): Noord en Oost Tartarye; Tweede Deel: Behelzende de Landschappen Georgia, Mengrelia, Cirkassia, Crim, Astakkia, Altin, Tingoessia, Siberia, en Samojedia, Tweede Deel, Amsterdam, 663. Reproduziert und leichter zugänglich auch in: Znamenski, A. (2007). The Beauty of the Primitive. Shamanism and the Western Imagination. Oxford, 5. Das ursprüngliche Werk Witsens wird gegenwärtig neu ediert und übersetzt: Vgl. The Witsen Project: An annotated re-edition of N. Witsen's „North and East Tartar“ (1705) in Russian and Dutch, Prof. Dr. B. Naarden, Universiteit van Amsterdam. http://www.nwo.nl/projecten.nsf/pages/1600111152. Abbildung 20: Wallis, Robert J.: Shamans / Neo-Shamans. Ecstasy, Alternative Archeologies and Contemporary Pagans, London and New York 2003, Buchdeckel. Abbildung 21: Ƚɨɪɛɚɱɟɜɚ, ȼ. ȼ.: ɇɚ ɝɪɚɧɢ ɦɢɪɨɜ. ɒɚɦɚɧɢɡɦ ɧɚɪɨɞɨɜ ɋɢɛɢɪɢ. ɂɡ ɫɨɛɪɚɧɢɹ Ɋɨɫɫɢɫɤɨɝɨ ɷɬɧɨɝɪɚɮɢɱɟɫɤɨɝɨ ɦɭɡɟɹ, ɉɟɬɟɪɛɭɪɝ 2006, 10f. Abbildung 22: www.schamanismus-information.de.

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Abbildung 23: Siikala, Anna-Lena & Hoppal, Mihaly: Studies on Shamanism, 1992, 201. Abbildung 24: http://www.geo.de/GEO/kultur/geo_tv/3518.html. © Medienkontor FFP GmbH. (http://www.medienkontor.de/produktionen/2_Dokumentation_Reportage/14_3 60_GEO_Reportage.html). Abbildung 25: Von links nach rechts und von oben nach unten: www.archipelreisen.ch 2.jpg; www.web30.server1.ihreigenerwebserver.de.jpg; www. baikal.desib.de.jpg; www. baikalkomplex.com.jpg; www. faszinationrussland.de 3.jpg; www. www.aktuell.ru.jpg; www. www.spiegel.de.jpg. Abbildung 26: Oberste Reihe: Fotografien Heiko Grünwedel. Zweite Reihe: Ƚɨɪɛɚɱɟɜɚ, ȼ. ȼ.: ɇɚ ɝɪɚɧɢ ɦɢɪɨɜ. ɒɚɦɚɧɢɡɦ ɧɚɪɨɞɨɜ ɋɢɛɢɪɢ. ɂɡ ɫɨɛɪɚɧɢɹ Ɋɨɫɫɢɫɤɨɝɨ ɷɬɧɨɝɪɚɮɢɱɟɫɤɨɝɨ ɦɭɡɟɹ, ɉɟɬɟɪɛɭɪɝ 2006, 10f.; 12f. Dritte Reihe: Georgi, J. G.: Beschreibungen aller Nationen des Russischen Reichs ihrer Lebensart, Religion, Gebräuche, Wohnungen, Kleidungen und übrigen Merkwürdigkeiten, St. Petersburg 1776. Bild 44f; 82f. und 86. Zitiert nach Hoppál Mihály: Schamanen und Schamanismus, Augsburg 1994, 48f. Abbildung 27: Fotografien aus dem Privatbesitz des Vorsitzenden der Schamanenklinik Adyg Eeren Kara-ool Tjuljusewitsh. Courtesy Kara-ool Tjuljusewitsh. Abbildung 28: Fotografie links oben: http://www.krupar.com/index.php?file=www/en/gallery/gallery.html&cat=5. Fotografie rechts oben: http://www.axelmoeller.de/html/schamanen_aus_tuva_an_den_exte.html. Fotografien untere Reihe: Heiko Grünwedel. Abbildung 29: http://www.krupar.com/index.php?file=www/en/gallery/gallery.html&cat=5. Abbildung 30-32: Fotografien Heiko Grünwedel.

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