Saturn und Melancholie : Studien zur Geschichte der Naturphilosophie und Medizin, der Religion und der Kunst 3518286102

Saturn und Melancholie, 1964 auf englisch erschienen und von Raymond Klibansky für die zuerst 1990 erschienene deutsche

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Saturn und Melancholie : Studien zur Geschichte der Naturphilosophie und Medizin, der Religion und der Kunst
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Saturn und Melancholie Studien zur Geschichte der !Naturphilosophie und Medizin, der Religion und der Kunst Von Raymond Klibansky, Erwin Pänofsky und Fritz Saxl suhrkamp taschenbuch Wissenschaft

suhrkamp taschenbuch Wissenschaft ioio

Saturn und Melancholie, 1964 auf englisch erschienen und von Raymond Klibansky für die zuerst 1990 erschienene deutsche Übersetzung mit erhebliehen Verbesserungen, einem neuen Anhang, einer Auswahlbibliographie und weiteren Abbildungen versehen, ist zweifellos das chef d'tzuvre der modernen Melancholieforschung. Zugleich ist das Werk eine der bedeutendsten Studien, die aus der - bis 1933 in Hamburg ansässigen - Bibliothek Warburg hervorgegangen bzw. im engeren oder weiteren Umkreis dieser heute als Warburg Institute der Universität London eingegliederten Forschungsstätte entstanden ist. Das Buch enthält die Resultate eines halben Jahrhunderts geistes- bzw. ideengeschichtlicher Forschung und gilt als Klassiker. Thematisch Aby Warburgs einschlägige Arbeiten kritisch weiterführend und methodisch dessen kulturwissenschaftlichem Ansatz nachdrücklich verpflichtet, war das Buch ursprünglich als Interpretation des berühmten Dürerschen Kupferstichs Melencolia I angelegt und entwickelte sich schließlich zu einer im wahrsten Sinne des Wortes umfassenden Untersuchung der gesamten medizinischen, philosophischen, astrologischen, literarischen und bildkünstlerisehen Tradition, die Dürer als lebendige Überlieferung vorgefunden und sich in seinem Meisterwerk anverwandelt hat. Saturn und Melancholie besteht aus vier Teilen: Der erste geht der historisehen Entwicklung des Melancholie-Begriffs in der medizinischen, naturwissenschaftlichen und philosophischen Literatur der Antike und des Mittelalters nach. Der zweite beschäftigt sich mit Saturn - dem Stem der Melancholie ‫־‬, und zwar mit der literarischen und bildlichen Überlieferung vor allem in der Antike und im Mittelalter. Der dritte Teil untersucht zwei neuzeitliche Ausprägungen der Melancholie: die »poetische Melancholie« und die »Melancholia generosa«. Im Lichte der in den ersten drei Teilen rekonstruierten Vorstellungs- und Bildtraditionen wird im vierten Teil schließlich Dürers Melancholie-Blatt interpretiert.

Raymond Klibansky (geb. 1905) war von 1927 bis zu seiner Emigration 1933 Assistent an der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, von 19311933‫ ־‬Privatdozent für Philosophie an der Universität Heidelberg, von 19361948‫ ־‬Lecturer in Philosophy am Oriel College in Oxford, von 1946 bis zu seiner Emeritierung 1975 Frothingham Professor of Logic and Metaphysics an der McGill University in Montreal, von 19661969‫ ־‬Präsident des Institut International de Philosophie in Paris, dessen Ehrenpräsi‫־‬ dent er seither ist; seit 1981 Extraordinary Fellow of Wolfson College in Oxford. Forschungsschwerpunkte: Platonismus in der Antike und im Mittelalter; mittelalterliche Philosophie und Mystik; englischer Empirismus; Philosophie und Geschichte; Problem der Menschenrechte.

Erwin Panofsky (18921968‫ )־‬lehrte von 1921 bis zu seiner Emigration 1933 an der Universität Hamburg Kunstgeschichte und war ab 193$ bis zu seiner Emeritierung 1962 Mitglied des Institute for Advanced Study an der Universität Princeton. Forschungsschwerpunkte: Kunst der Renaissance; Nachleben der Antike vom Mittelalter bis zum französischen Klassizismus; deutsche und niederländische Malerei des 15. und 16. Jahrhunderts; allgemeine Kunsttheorie. Fritz S4xl (18901948‫ )־‬war von 19131914‫ ־‬und von 19191929‫ ־‬Bibliothekar und wissenschaftlicher Mitarbeiter und von 19291933‫ ־‬Direktor der Bibliothek Warburg in Hamburg. Er lehrte von 19271933‫ ־‬als Privatdozent für Kunstgeschichte an der Universität Hamburg. Nach der Emigration war er von 19331948‫ ־‬Direktor des Warburg Institute in London. Forschungsschwerpunkte: Rembrandt; Astrologie; Nachleben der Antike im Mittelalter und in der Renaissance.

Grabmal Robert Burtons

Raymond Klibansky, Erwin Panofsky und Fritz Saxl Saturn und Melancholie Studien zur Geschichte der Naturphilosophie und Medizin, der Religion und der Kunst

Übersetzt von Christa Buschendorf

Suhrkamp

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Klibansky, Raymond: Satum und Melancholie : Studien zur Geschichte der Naturphilosophie und Medizin, der Religion und der Kunst / Raymond Klibansky, Erwin Panofsky und Tritz Saxl. Übers, von Christa Buschendorf. Frankfurt am Main : Suhrkamp, 1992 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft; 1010) ISBN 3-518-28610-2 NE: Panofsky,Erwin:; Saxl, Fritz:; GT

suhrkamp taschenbuch Wissenschaft 1010 Erste Auflage 1992 © dieser Ausgabe Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1990 Suhrkamp Taschenbuch Verlag Alte Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen sowie der Übersetzung, auch einzelner Teile. Satz und Druck: Wagner GmbH, Nördlingen Printed in Germany Umschlag nach Entwürfen von Willy Fleckhaus und Rolf Staudt 1 2 3 4 5 6 - 97 96 9s 94 93 92

INHALT

Vorwort zur deutschen Ausgabe.............................................................

11

Vorwort zur englischen Ausgabe.............................................................

31

ERSTER TEIL

DER MELANCHOLIEBEGRIFF UND SEINE HISTORISCHE ENTWICKLUNG

Erstes Kapitel

Die Melancholie in der medizinisch-natur-

wissenschaftlichen Literatur der Antike..............................................

39

I. Die Lehre von den »Quattuor Humores«...................................

39

II. Die Revolution der Melancholievorstellung im Peripatos:

Das Problem XXX, 1 III.

. ...................................................................

55

Die nachperipatetische Entwicklung der MelancholieVorstellung................................................................................................

92

1. Die Melancholie als Krankheit..................................................

94

a) Die stoische Auffassung..........................................................

94

b) Asklepiades, Archigenes und Soran...................................

96

c) Rufus von Ephesus.....................................................................

101

2. Die Melancholie im System der Vier Temperamente ...

Zweites Kapitel

nq.

Die Melancholie in der Medizin, den Natur-

Wissenschaften und der Philosophie des Mittelalters....................

125

I. Das Nachleben der Aristotelischen Melancholievorsteliung

125

im Mittelalter..........................

II. Die Melancholie als Krankheit..........................................................

136

1. Melancholie in Theologie und Moralphilosophie................

136

2. Die Melancholie in der scholastischen Medizin.................... a) Die früharabische Medizin und ihre Übermittlung an

14$

das Abendland: Constantinus Africanus

.......................

145

b) Systematisierungsversuche auf humoralpatho-

logischer Basis: Avicennas Vierformenlehre...................

151

c) Systematisierungsversuche auf psychologischer Basis: Averroes und die scholastische Medizin...........................

156

6

Inhalt

III.

Die Melancholie im System der Vier Temperamente .... 165 1. Die Galemsche Überlieferung, insbesondere bei den Arabern und Constantinus Africanus.......................................

166

2. Die Wiederbelebung der humoralen Charakterlehre in

der abendländischen Naturphilosophie in der ersten

Hälfte des 12. Jahrhunderts..........................................................

172

3. Die populärwissenschaftliche Temperamentenlehre des

späten Mittelalters und ihr Fortwirken..................................

183

ZWEITER TEIL

SATURN, DER STERN DER MELANCHOLIE

Erstes Kapitel

Saturn in der literarischen Überlieferung . . . .

20)

I. Die Saturnvorstellung der arabischen Astrologie....................

203

II. Saturn in der Literatur der Antike................................................

211

1. Kronos-Saturn als mythische Gestalt......................................

211

2. Kronos-Saturn als Planet..................................

214

III.

a) Kronos-Saturn in der antiken Astrophysik...................

216

b) Kronos-Saturn in der antiken Astrologie.......................

219

c) Kronos-Saturn im Neuplatonismus...................................

235

Saturn in der Literatur des Mittelalters...................................

246

j. Saturn in der Polemik der Kirchenväter..................................

246

2. Saturn im hochmittelalterlichen Denken...............................

a) Saturn in der Moraltheologie

253

..............................................

253

b) Saturn in der mittelalterlichen Mythographie...............

259

c) Saturn in der mittelalterlichen Astrologie: die Aufnahme astrologischer Elemente in die

scholastische Naturphilosophie..........................................

269

Saturn in der Bildüberlieferung...........................

293

Zweites Kapitel

I. Das Saturnbild der Antike und sein bildtraditionelles

Nachleben in der mittelalterlichen Kunst...................................

293

II. Textillustration und orientalischer Einfluß.............................

298

Saturn im Planetenkinderbild......................................................

303

III.

7

Inhalt

IV. Saturn in der mythographischen Illustration des Spätmittelalters........................................................................................

V. Der Saturn des Humanismus

..........................................................

307 309

DRITTER TEIL »POETISCHE MELANCHOLIE« UND

»MELANCHOLIA GENEROSA«

Erstes Kapitel

»Poetische Melancholie« in der

nachmittelalterlichen Dichtung.............................................................

319

I. Melancholie als Gemütszustand in der spätmittelalterlichen Dichtung....................................................................................................

319

II. »Dame Merencolye«...........................................................................

324

Melancholie als gesteigerte Selbsterfahrung...........................

334

III.

Zweites Kapitel

»Melancholia Generosa«. Die Glorifizierung

der Melancholie und des Saturn im Florentiner Neuplatonis-

mus und die Entstehung des modernen Geniebegriffs...................

351

I. Die geistigen Voraussetzungen der neuen Lehre.......................

351

II. Marsilio Ficino......................................................................................

367

VIERTER TEIL

DÜRER

Erstes Kapitel

Die Melancholieauffassung des Konrad Celtes

397

Dürers Titelholzschnitt zu Celtes’ »Quattuor libri amorum«.

Die Temperamentenlehre in Dürers Schriften...................................

397

Der Kupferstich »Melencolia I«.......................

406

I. Der historische Hintergrund der »Melencolial«...................

406

i. Traditionelle Motive.........................................................................

406

Zweites Kapitel

8

Inhalt

2.

a) Beutel und Schlüssel.................................................................

406

b) Das Motiv des aufgestützten Kopfes

...............................

409

c) Geschlossene Faust und schwarzes Antlitz...................

412

Bildtraditionen in der Gesamtkonzeption des Stichs ... 414

a) Krankheitsbilder.........................................................................

414

b) Bildzyklen der vier Temperamente

I: Deskriptive Einzelfiguren (die vier Temperamente

und die vier Lebensalter)

II.

II: Szenische Gruppen: Temperamente und Laster . .

415

c) Die Artes-Bilder.........................................................................

434

Der neue Sinn der »Melencolia I«..............................................

448

1. Der neue Ausdruckssinn.............................................................

448

2. Der neue Begriffsgehalt.................................................................

454

a) Saturn-bzw. Melancholiesymbolik...................................

45 5

b) Geometriesymbolik.................................................................

462

c) Saturn- bzw. Melancholiesymbolik im Verein mit Geometriesymbolik: der mythologisch-astrologische

Zusammenhang - der epistemologisch-

psychologische Zusammenhang..........................................

468

d) Kunst und Brauch.....................................................................

477

3. Der Dokumentsinn der»Melencolia I«....................................

485

4. Die »Vier Apostel«................... .....................................................

512

Drittes Kapitel

Die künstlerische Nachfolge der

»Melencolia I«....................... ■ >...................................................................

523

I. Darstellungen der Melancholie als einzelne Frauengestalt in

der Manier Dürers.................................................................................

325

II. Typische Melancholiedarstellungen in spätmittelalterlichen Kalendern.........................................................

III.

348

Melancholie in Darstellungen des Saturn bzw. der

Saturnkinder............................................................................................

Anhang.................................................................................... I. Der Polyeder der »Melencolia I«

..................................................

552

557

557

9

-

Inhalt

II. Die Bedeutung der Radierung B70

III.

560

Lukas Cranachs Melancholiedarstellungen............................

563

Verzeichnis der Abkürzungen.................................................................

571

Auswahlbibliographie.................................................................................

573

Verzeichnis der Abbildungen.....................................................................

585

Handschriftenregister.................................................................................

593

Personen- und Sachregister.........................................................................

$98

Abbildungen....................................................................................

200

nach

Vorwort zur deutschen Ausgabe Der vorliegende Band ist die Übersetzung des 1964 in London und New York erschienenen Buches Saturn and Melancholy. In dem un-

ten wiedergegebenen Vorwort zur englischen Ausgabe wird über die Geschichte des Buches berichtet; sie reicht über sechs Jahrzehnte zurück.

Das Interesse an der Melancholie ist heute lebhafter denn je. Sollte der Grund nicht darin bestehen, daß der Gegenstand jenseits aller historisehen Bedeutung Probleme aufwirft, die den Menschen von heute in

besonderer Weise berühren? Es ist gewiß kein Zufall, daß die Zahl der

Studien zum Thema Melancholie, die in dem Vierteljahrhundert nach der Veröffentlichung unseres Buches erschienen, ständig gestiegen ist

und weiterhin steigt, und zwar in den Bereichen Medizin und Psych-

iatrie, Geschichte und Philosophie, Religion und Theologie, Astrologie und Alchemie, Literatur und Kunst. Es bedürfte eines eigenen Buches, um ihnen gerecht zu werden.

Zwei der Autoren sind seit langem verstorben: Fritz Saxl im Jahre

1948, Erwin Panofsky 1968. Ich hielt es daher für angebracht, dem ursprünglichen Text soweit wie möglich treu zu bleiben. Änderungen waren unerläßlich, wo es Irrtümer zu berichtigen galt und wo der Leser auf neuere und leichter zugängliche Ausgaben zitierter Werke

hingewiesen werden sollte. Auf spätere Literatur einzugehen hätte den Rahmen des Buches gesprengt. In einigen Fällen, wie etwa im

Abschnitt über babylonische Astrologie, war es nötig, den Einsichten der neuesten Forschung Rechnung zu tragen. Von der grundlegenden Schrift zur Geschichte des Melancholieproblems, dem den Namen

des Aristoteles tragenden Problem XXX, 1 wurde nach erneuter

Durchsicht und Prüfung aller früheren Ausgaben ein kritischer Text erstellt. Die Ergebnisse der jüngsten Cranach-Forschung zu den verschiedenen Fassungen von Cranachs Melancholie sind in einem be-

sonderen Appendix zusammengefaßt. Im Bildteil sind vier Abbildungen neu hinzugekommen (Tafeln 152-155). - Ferner wurde am Ende des Textes eine kurze Auswahlbibliographie hinzugefügt.

Im folgenden seien einige der Punkte erwähnt, die in der englischen Ausgabe nicht genügend berücksichtigt werden konnten.

12

Vorwort zur deutschen Ausgabe

Wenige Begriffe gibt es in der Geschichte des abendländischen Denkens, deren Vieldeutigkeit der des Wortes ►Melancholie« gleich-

kommt. Von seinem griechischen Ursprung an hat dasselbe Wort einen besonderen Saft, die schwarze Galle, einen krankhaften oder abnormen Zustand, ein Temperament und im besonderen das eigen-

tümliche Temperament außergewöhnlicher Menschen bezeichnet.

Für Luther »ist wahr: ... Wo ein melancholisch- und schwermütiger Kopf ist ..da hat derTeufei ein zugericht Bad«. In seiner Nachfolge

bringt eine protestantische Tradition die Melancholie stets mit Satan

in Verbindung. Jakob Böhme erblickt in der besonderen Hinwendüng des Teufels zu den Melancholikern sowohl die drohende Gefahr

der Verderbnis wie - gerade wegen dieser Gefahr - die Möglichkeit eines besonderen Zugangs zum Heil. In seinen Betrachtungen über

den menschlichen Geist wird die Melancholie von Vauvenargues als allumfassender Ekel ohne Hoffnung (»le degoüt universel sans esperance«) gedeutet. Von Rousseau wird sie als die süße Melancholie,

Freundin der Lust (»la melancolie douce, amie de la volupte«) gepriesen; gelegentlich kommt er aber auch auf die »schwarze Melancholie«

zu sprechen, die ihm nicht unbekannt war. Zur gleichen Zeit bezeichnet das Wort für Diderot das vertraute Gefühl unserer Unvollkommenheit (»le sentiment habituel de nötre imperfection«). Für Kant,

der sich selbst als Melancholiker betrachtete, hat die »echte Tugend aus Grundsätzen ... etwas an sich, was am meisten mit der melancholischen Gemütsverfassung ... zusammenzustimmen scheint«. Dem

Melancholiker sind »alle Ketten, von denen vergoldeten an, die man am Hofe trägt, bis zu dem schweren Eisen des Galeerensklaven ...

abscheulich«. Während Burton die Melancholie als eine chronische Krankheit betrachtet, sehen andere in ihr die Quelle erlesener Freuden. Für Steele ist sie »jene ruhige und elegante Befriedigung, vom gemeinen Volk

Melancholie genannt, die besondere Freude gebildeter und tugend-

hafter Menschen«; und Addison bekennt, daß »Schönheit ihm eine größere Freude bereitet, wenn sie mit dem sanften Hauch der Melancholie einhergeht«. In Les Amours de Psyche et de Cupidon hatte La Fontaine von der »düsteren Freude eines melancholischen Herzens«

gesprochen. Zwei Jahrhunderte später bekannte Musset seine Liebe

zu Madame Jaubert mit den Worten:

Vorwon zur deutschen Ausgabe

»Un petit air de doute et de melancolie, Vous le savez, Ninon, vous rend bien plus jolie

Und in Les Travailleurs de la mer formulierte Victor Hugo sein

bekanntes, durch häufige Wiederholung banal gewordenes Paradox: »La melancolie, c’est le bonheur d’etre triste.«2

Völlig verschieden ist die Sinnesart, in der, wie Chamfort berichtet, einer seiner Zeitgenossen darauf drang, »das melancholische Tempe-

rament und den patriotischen Geist zu beseitigen. Dies sind zwei widernatürliche Krankheiten in dem Land zwischen Rhein und den Pyrenäen; und wenn ein Franzose von einem dieser Übel betroffen

wird, muß man das schlimmste für ihn befürchten.« Im folgenden

Jahrhundert findet sich ein verschiedener, weit nuancierterer Gedanke bei den Brüdern Goncourt, in deren Journal es am 28. August

1855 heißt: »Es gilt, einer neuen Melancholie Ausdruck zu geben: der

französischen Melancholie, die sich humoristisch nennen ließe, eine nicht lästerliche Melancholie, ein vages Gefühl der Traurigkeit, in der

ein Quentchen lachender Ironie mitschwingt. Shakespeare im Ham-

let, Byron, Chateaubriands Rene sind Formen der Melancholie, die nördlicheren Ländern als dem unseren eigen sind. Sie langweilen sich

in deutscher Manier.« Kaum zwei Monate später stirbt Kierkegaard, für den im Gegenteil die Melancholie - und zwar diejenige Form der Melancholie, die er Tungsind (Schwermut) nennt - die tiefste existentielle Grundbedingung des unter seiner Gottesferne leidenden Mensehen darstellt. Welches einende Band hält die Verschiedenheit der Bedeutungen zu-

sammen — von der das Vorhergehende nur einige Beispiele bietet -,

wenn nicht die Tatsache, daß das Wort in jedem Fall einen ungewohnlichen Zustand bezeichnet, der - wie auch immer geartet - die Aufmerksamkeit auf sich lenkt? Eines jedoch steht fest: in diesem

Babel glaubt ein jeder zu verstehen, sei es auch auf seine eigene Weise, was gemeint ist.

Selbst in der medizinischen Literatur der Gegenwart ist, wie in der der früheren Jahrhunderte, der Begriff durchaus nicht eindeutig. Wie Calmeil im Dictionnaire encyclopedique des sciences medicales von

1 »Ein kleiner Anflug von Zweifel und Melancholie, Sie wissen es, Ninon, macht Sie sehr viel hübscher ...« 2 »Die Melancholie ist das Glück, traurig zu sein.«

14

Vorwort zur deutschen Ausgabe

1876 bemerkte, »hat selbst in jüngster Vergangenheit das Wort Me-

lancholie fast immer dazu gedient, einen krankhaften Zustand zu bezeichnen, der durch das Andauern der Gefühle von Angst, Entmutigung und Niedergeschlagenheit charakterisiert ist«. Mitunter hat

man dem Typ des Melancholikers »alle Arten von partiellen WahnVorstellungen« zugeschrieben, unbeschadet der Natur der Wahnvor-

Stellungen. Darum sprach sich Esquirol, der Meister, der durch seine

Werke auf diesem Gebiet als Autorität galt, dagegen aus, daß der Name Melancholie auf den Wahn, der sich in dauernder Trauer und

Depression bekundet, angewendet werden sollte. Und zwar führt er

zwei Gründe an: der Name dient manchmal der Bezeichnung des Wahnsinns; zugleich ist er gängig in der Sprache der Dichter, der

Künstler und der Leute von Welt. Daher schlug er vor, dieses Wort

durch »lypemanie« (Trauerwahn) zu ersetzen, um all das zu bezeichnen, was bisher als Melancholie galt. In neuerer Zeit hat die Melancholie zahlreiche Studien von Seiten der Psychiater, vor allem in

Deutschland, hervorgerufen, die glauben, den Schlüssel zum Problem

durch einen Rückgriff auf die zeitgenössische Philosophie ‫ ־‬zuerst war es Husserl, dann Scheier, schließlich Heidegger - gefunden zu

haben. Zugleich aber ist der Begriff Melancholie infolge des Mangels an Eindeutigkeit von ihren Kollegen in Großbritannien auf wissen-

schaftlichem Gebiet aufgegeben worden. Anstelle dessen werden verschiedene Grade der Depression unterschieden. Für den Marxisten hat die Melancholie ihren Grund im Unvermögen

der Bourgeoisie, den Widerspruch zwischen dem Bereich der Mög-

lichkeiten und der harten historischen Wirklichkeit in positiver Weise

aufzuheben. So beschloß etwa der erste Gesamtkongreß der Sowjetschriftsteller, daß es Ziel der Literatur sei, auf die Beseitigung der die

Melancholie verursachenden sozialen Verhältnisse hinzuwirken. Die Melancholie gilt als ein deutliches Merkmal bürgerlicher Dekadenz.

Zunächst als Krankheit gefürchtet, dann von kirchlicher Seite als

Werk des Teufels verdammt, wird sie nun von einer anderen Orthodoxie als ein gesellschaftliches Übel verurteilt. Der Begriff, der bis zu Beginn der Neuzeit der conditio humana vorbehalten blieb, wird im elisabethanischen Zeitalter auf verschie-

dene Aspekte der natürlichen Welt angewandt, eine Entwicklung, die

Schelling zu der Feststellung führen wird: »Daher der Schleier der

Vorwort zur deutschen Ausgabe

π

Schwermut, der über die ganze Natur ausgebreitet ist, die tiefe unzerstörliche Melancholie alles Lebens.«

Die Ambivalenz des Begriffs war längst in den christlichen Sprachgebrauch eingedrungen, der nicht immer deutlich zwischen der Melancholie und der acedia, einer Vorstellung ganz anderer Herkunft, zu

unterscheiden vermochte. Letztere wird zunächst mit der Trägheit

gleichgesetzt, die zu einer der sieben Todsünden wird. Später wird die Unterscheidung unscharf, und die beiden Begriffe werden, wie bei

Petrarca, miteinander verwechselt.

In der Neuzeit kommt es im Deutschen und Dänischen, anders als im

Französischen und Englischen, zu einer Unterscheidung zwischen der Melancholie im engeren Sinne, d. h. einem vorübergehenden Zu-

stand, und anderen Vorstellungen wie Schwermut oder - bei Kierkegaard - Tungsind, der religiösen Melancholie. Bezeichnenderweise zeigt Kronos, wie dessen römisches Gegenstück, Saturn, seit der astrologischen Literatur der Spätantike ebenfalls viele

Gesichter. Saturn ist, wie bei Tycho Brahe und nach ihm bei Burton, der Herr der Melancholie geblieben. Der Gott, den der eigene Sohn bestrafte, bringt den Saturnkindern, denjenigen, die unter seinem

Stern geboren wurden, Unglück. Andererseits ist Saturn, als höchster Planet, in der platonischen Tradition der Gott der Philosophen. Da er

mit Chronos identifiziert wird, ist er auch die Zeit, die ihre Kinder verschlingt. Schließlich wird er aufgrund seiner unheilbringenden Ei-

genschaften in der bis zum Ende des Hellenismus zurückreichenden und von den Arabern verstärkten astrologischen Tradition zum Schutzherrn der Krüppel und Wegelagerer, doch manchmal, in den-

selben Texten, wie bei Ptolemäus und denjenigen, die ihm folgen, zu dem der tiefsinnigen Denker (βαθύφρων). In den Sprachen des Abendlandes und in der volkstümlichen Litera-

tur herrscht eindeutig der negative Charakter Saturns vor. Dennoch

tritt die Dualität immer wieder in Erscheinung, sowohl in der Ansicht, daß Künstler im Zeichen Saturns geboren seien, als auch in

allgemeinen Aussagen, wie derjenigen des Battista de Crema, eines mailändischen Dominikaners aus der ersten Hälfte des 16.Jahrhunderts: »Ein Saturnkind ist entweder ein Engel oder ein Teufel.« (Della cognitione et vittoria di se stesso, Venedig 1548, Kap. 8).

Wenn man die Geschichte des Begriffs der Melancholie oder schwär­

16

Vorwort zur deutschen Ausgabe

zen Galle in den Schriften der griechischen Antike verfolgt, sollte eine

vorwissenschafthche Komponente nicht außer acht gelassen werden: die große Bedeutung der Farbe Schwarz und alles dessen, was sie seit

Homer evoziert. In der Geschichte des Abendlandes und eines Teils

von Asien steht Schwarz, als unheilvolle Farbe, in einer engen Beziehung zum Tod und häufig auch zu den satanischen Mächten. Es fällt au(, daß diesem dunklen Saft von Anfang an eine besondere Bedeu-

tung anhaftet, die ihn in gefühlsmäßiger Hinsicht von den anderen

unterschied, was freilich nicht klar erkannt wurde, sondern mehr oder weniger unbewußt blieb. Ohne uns auf die Diskussion über die Authentizität der Schriften, die den Namen des Hippokrates tragen, einzulassen, ist uns daran gele-

gen hervorzuheben, daß wir die hyperkritischen Tendenzen nicht teilen, denen zufolge sich das Werk des Hippokrates einer Zuschrei‫־‬

bung völlig entzieht. Es sind gute Argumente dafür vorgebracht worden, ihn mit bestimmten Schriften wie dem dritten Buch der Epidemien in Zusammenhang zu bringen. Gerade in diesem Buch bezeichnet »melancholisch« eher eine Disposition als einen krankhaf-

ten Zustand, was eine Verbindung mit dem Buch Uber die Natur des Menschen herstellt, das für die Vier-Säfte-Lehre entscheidend und seit dem 4. Jahrhundert v. Chr., wenn nicht als Werk des Hippokrates, so

doch als das seines Schülers Polybos anerkannt ist. Dessen englische Übersetzung war für die Gelehrten und Schriftsteller im elisabethanisehen England von größter Bedeutung. Sie ist unter dem Titel »Dis-

course of Human Nature Written by Hippocrates« in der Sammlung

The Key to Unknowne Knowledge. Or, a Shop of Five Windowes,

London 1599, enthalten, die von Jean de Bourges, einem Arzt, ins Französische übersetzt und von demselben mit einem Kommentar versehen wurde. Verschiedene Aspekte der Melancholie treten deutlich in dem Aristo-

teles zugeschriebenen Problem XXX, 1 hervor, dem wichtigsten Dokumenc zur Geschichte des Begriffs und seiner späteren Verbindung mit dem Genie-Gedanken. Die in diesem Buch vorgelegte neue kriti-

sehe Fassung berücksichtigt die inzwischen erschienene Literatur.

Gleichwohl war es notwendig, Abstand von ihr zu nehmen, um einen wesentlichen Zug des Problems hervortreten zu lassen. Dieses unterscheidet nämlich zwischen einem Zustand, der dem göttlichen Wahn­

Vorwort zur deutschen Ausgabe

7

sinn Platons oder jener Besessenheit analog ist, auf die ein berühmter Satz der Aristotelischen Poetik zielt, und einer Krankheit, wobei ersterer sich nur allzu leicht in einen pathologischen Zustand verwan-

dein kann.

Als außergewöhnliche Menschen, περιττοί, führt das Problem insbesondere die Philosophen an, denen, gleich den tragischen Helden, die Strafe für ihre Überlegenheit auferlegt ist. Von daher rührt die faszi-

nierende Wirkung, die das Problem durch die Jahrhunderte ausübte. Die Geschichte dieses Textes und seiner Überlieferung an das Abend-

land muß noch geschrieben werden. Was diese Überlieferung anbelangt, so wurde der Text der lateinischen Welt des Mittelalters bereits

durch David de Dinant bekannt, den Philosophen, dessen kühne, die

Identität Gottes, des Geistes und der Materie verkündende Thesen 1210 in Paris verurteilt wurden. Seine Übersetzung aus dem frühen 13. Jahrhundert geht mindestens um ein halbes Jahrhundert der des Bartholomäus von Messina voraus, die bisher als die erste galt. Wahrend in der Antike nicht in Zweifel gezogen wurde, daß Aristoteles der Autor des Problems sei, ist diese Zuschreibung bereits früh in

Frage gestellt worden. In der Tat hatten die deutschen Philologen des

letzten Jahrhunderts den Namen Theophrasts vorgeschlagen, doch ist es der hessische Gelehrte Friedrich Sylburg, der diese Zuschreibung

in seiner Ausgabe von 1585 vornahm, wobei er sich auf das Urteil seines Pariser Lehrers, Henri Estienne, berief. Daß dieser vermutliche Autor des Problems ein ausgesprochen eigenständiger Geist war, muß nicht ausdrücklich betont werden. Gewiß,

er war ein Schüler des Aristoteles, aber er zögerte nicht, von seinem

Lehrer abzuweichen. Es ist uns nur ein kleiner Teil der etwa zwei-

hundert Werke erhalten, die im Verzeichnis des Diogenes Laertius aufgeführt sind. Zahlreich sind die Gebiete, in denen er als Neuerer auftritt. Eine umfassende Würdigung durch die Philosophiehistoriker

steht noch aus, doch sind der Umfang seiner Interessen und die Kraft

seines Geistes leicht zu erkennen. Für den Logiker stellt Theophrasts Behandlung der Theorie der Mo-

daiitäten sowie derjenigen der hypothetischen Syllogismen eine be-

merkenswerte Entwicklung im Vergleich zu Aristoteles dar. Die Philosophiehistoriker sehen in seiner Darstellung der Vorsokratiker den

Ursprung der späteren Doxographie. Berühmt ist er für sein Buch

18

Vorwort zur deutschen Ausgabe

über die Charaktere, doch ist er auch der Autor der beiden ersten umfassenden Werke über die Pflanzenwelt, die wegen ihrer Behänd-

lung morphologischer Vorstellungen beachtenswert sind. Seine zoologischen Schriften überraschen durch ihre Ausführungen zur TierPsychologie. Die Zitate, die sich bei den Schriftstellern des Hellenis-

mus finden, lassen den Einfluß ermessen, den er dadurch ausübte, daß

er bestimmte ästhetische Kategorien systematisch auf die Moralphi-

losophie anwandte. Aus seinem verlorengegangenen Buch über die Ehe bewahrte der hl. Hieronymus jenes seit den Zeiten von Abelard und Heloise häufig zitierte Diktum, daß der Weise nicht heiraten

solle. Als Anhänger des Aristoteles lobt er das kontemplative Leben

und erhebt es zum Ideal; doch in verschiedenen Punkten löst er sich von dessen Lehre, zum Beispiel hinsichtlich der ersten Ursache und

hinsichtlich des Raumes; sogar die Theorie der Verstandeserkenntnis erscheint ihm zweifelhaft. Er unterscheidet sich von ihm ebenfalls

durch seine Auffassung der Gottheit und der Frömmigkeit. Schließlieh äußert er seinen Vorbehalt gegenüber der für Aristoteles grundle-

genden teleologischen Erklärung, wobei er sich auf die Erfahrung stützt und die materiellen Ursachen hervorhebt. Man ist berechtigt,

ihm das Verdienst zuzuschreiben, die erste Monographie über den außergewöhnlichen Menschen verfaßt und nach einer natürlichen Erklärung des Phänomens gesucht zu haben. Theophrast ist der erste

Philosoph, von dem man weiß, daß er eine Abhandlung über die Melancholie verfaßt hat. Überdies enthält das Verzeichnis seiner

Werke ein Buch Über die Trunkenheit, ein Thema, das im Problem angeschnitten wird, sowie ein Buch Über das Feuer. Es gibt keinen

Anhaltspunkt dafür, daß es sich dabei nicht um dasjenige Buch han-

delt, das im Problem zitiert ist.

Man hat also allen Grund anzunehmen, daß der Urtext des Problems zu einer Reihe von Problemen gehörte, die Diogenes Laertius ihm

zuschreibt, und daß er jedenfalls seiner Abhandlung über dasselbe

Thema nahestand. Kurze Zeit nach dem Tode Theophrasts wurde sein Text zweifellos überarbeitet und durch mehrere Einfügungen kontaminiert: das könnte die deutliche Ungleichmäßigkeit in Gedankengang

und Ausdruck erklären. Die redigierte Fassung wurde in eine Sammlung disparater Schriften aufgenommen, die sich an Abhandlungen des Aristoteles und seiner Schule anlehnten. Diese erste Sammlung von

Vorwort zur deutschen Ausgabe

‫ז‬9

Problemen, die im Laufe der folgenden Jahrhunderte beträchtlich er-

weitert wurde, war bereits zu Zeiten Ciceros unter dem Namen bckannt, der vom Kompilator eingetragen und bis in die jüngsten Aus-

gaben beibehälten wurde, dem Namen des Aristoteles.

Den im vorliegenden Buch erwähnten Werken muß noch ein weiteres

Dokument von großer Bedeutung hinzugefügt werden, die Briefe, die den Namen des Hippokrates tragen. Unter diesen Schriften ist es vor

allem der Brief an Damagetos, der die bemerkenswerte Geschichte der Begegnung zwischen Hippokrates und Demokrit enthält. Da die-

ser als wahnsinnig betrachtet wurde, weil er über alles lachte, hatten seine Mitbürger, die Abderiten, Hippokrates eingeladen zu kommen, um ihn zu heilen. Bei seiner Ankunft fand er Demokrit damit be-

schäftigt, Tiere zu zerlegen, um den Quell der Melancholie zu finden. Als er von ihm den Grund für sein Lachen erfuhr, war Hippokrates

überzeugt, daß Demokrit es war, der gesund war in einer Welt von Wahnsinnigen. In diesem Zusammenhang taucht die Vorstellung auf, daß die »Welt krank ist, ohne es zu wissen« und daß man aus der

»Erde, unserer Mutter, eine feindliche Erde macht«. Es ist bedauerlieh, daß dieser schöne Text im Original nur in den alten Ausgaben

der hippokratischen Werke von Littre und Ermerins sowie in einer Anthologie griechischer Epistolographen greifbar ist, alle drei über

hundert Jahre alt, und schließlich in einem Jahresbericht des Gymnasiums einer sächsischen Kleinstadt.3 Das von Philologen geringge1‫־‬

schätzte romanhafte Werk aus der hellenistischen Ara, dessen Grundstock ins 1.Jahrhundert v.Chr. zurückreicht, wurde zur Zeit der

Renaissance sehr geschätzt, wie die Handschriften und beide UberSetzungen des 15 .Jahrhunderts - die des Aurispa und die des Rinutius

von Arezzo - erkennen lassen. Letztere war zuerst Papst Nikolaus V.

gewidmet und wurde zwischen 1479 und 1500 mehrfach gedruckt. Auf die lateinischen Übersetzungen folgte eine französische Übersetzung von I. Guichard. Sie findet sich am Ende des Tratte du ris contenant son essance, ces causes et son merveilheus effais, curieusement

recherches, raisonnes et observes par Μ. Laur. Ioxbert, conselier & medeetn ordinatre du Roy et du Roy de Navarre ..., Paris 1579. Die

) Hippocratis quae feruntur Epistolae ad codicum fidem recensitae, ed. Gualtharius Putzger, Wurzen, König!. Gymnasium, Jahresbericht 1914.

20

Vorwort zur deutschen Ausgabe

Übersetzung datiert ebenfalls von 1579 und trägt den Titel »La cause

morale du ris de Texcellant & tres-nomme Democrite, expliquee ct temoignee par le divin Hippocras an ses Epitres«.

Den Brief an Damagetos übersetzte Robert Burton in der Einleitung zu seiner Anatomy of Melancholy von 1621; eben dieser Brief regte

ihn dazu an, sich auf dem Titelblatt das Pseudonym Democritus Junior zuzulegen.

Was Dürers Melencolia I betrifft, besteht Wölfflins Beobachtung nach wie vor zu Recht (Die Kunst Albrecht Dürers, 4. Aufl., München 1920, p. 330): »Über den Sinn der Melancholie haben sich die Gemü-

ter noch immer nicht ganz beruhigt. Fast jedes Jahr bringt neue Erklärungen, wie das selbstverständlich ist, solange keine strengere

Selbstdisziplin die Schriftsteller abhält, jeden beliebigen Einfall eines modernen Menschen als Gedanken Dürers zu proklamieren.« Diese Feststellung des bekannten Kunsthistorikers trifft nach 70 Jah-

ren mehr denn je zu. Die Zahl der Publikationen über das Werk ist so groß, daß ein Bibliograph sie schwerlich alle rezensieren könnte. Der

großen Anzahl der Schriften entspricht die Mannigfaltigkeit der Erklärungen. Diejenigen, auf die Wölfflin sich bezog, zeichneten sich

durch eine gewisse Schlichtheit aus, da sie beispielsweise die Hauptfi‫־‬ gur als »den Geist«, »die menschliche Vernunft« oder »den Engel von Wissenschaft und Maß« deuteten. Heutzutage haben wir die Wahl

zwischen ausgefeilten Interpretationen astrologischer, psychoanalytischer, alchemistischer, soziologischer, theologischer, theosophischer, freimaurerischer, numerologischer, magischer und philosophischer Art. Die Geschichte dieser Deutungen - sie beginnt mit den Interpretatio-

nen von Zeitgenossen des Künstlers wie Joachim Camerarius, setzt sich fort mit denjenigen von Vasari im 16. Jahrhundert, von Henrich

Conrad Arend, Pastor in Goslar, im 18. Jahrhundert und denjenigen von Romantikern wie Carus, die in der Melancholie eine Darstellung des faustischen Menschen sahen, und reicht über Dichter wie Victor

Hugo, Kunsthistoriker wie Charles Blanc und Ruskin, Liebhaber wie Oliver Wendell Holmes und Maler wie Odilon Redon bis zu den

zahlreichen Interpretationen der Gelehrten unserer Tage - wäre von

besonderem Interesse, denn sie würde vielerlei unterschiedliche Auffassungen von ein und demselben Kunstwerk zu Tage fördern. Eine

Vorwort zur deutschen Ausgabe

21

solche Geschichte wäre ein Paradigma für die Problematik jeglicher

Kunstkritik.

1

Als ein bemerkenswertes Zeichen der Zeit sei hinzugefügt, daß eine auf die okkulte Philosophie gegründete Interpretation in manchen

Kreisen in England Anklang fand. Dieser Interpretation zufolge soll

sich die mit Engelsflügeln dargestellte Frau in einem Zustand visionä-

rer Trance befinden und die Verbindung der Magie mit der Kabbala zum Ausdruck bringen. Darüber hinaus versteigt man sich zu der Annahme, daß der elisabethanische Dichter George Chapman sich in seinem The Shadow of Night von Dürers Melencolia II habe inspirie-

ren lassen, einem Bild, das er neben der Melencolia I gesehen habe und das verlorengegangen sei, nachdem es Gerungs Bild (Tafel 123) als Vorbild gedient hätte. Von okkulter Philosophie zu okkulter Ge-

Schichtsschreibung ist es nur ein kleiner Schritt’

Gewiß, Dürer teilte die Vorstellungen seiner Zeit vom Einfluß der Planeten und der Temperamente. Das magische Quadrat stellt einen Talisman dar, der Jupiters Schutz vor unheilvollen Strahlen verbürgt.

Hingegen weisen seine zahlreichen gesammelten Schriften keinerlei Spuren von Dämonologie oder Kabbala auf; sie zeigen, daß er im künstlerischen Verfahren allenthalben nach der Exaktheit von Zahl

und Maß strebt. Was Dürer kennzeichnet, ist genau diese Synthese von unversiegbarer schöpferischer Vorstellungskraft und dem Verlangen nach der Klarheit einer auf dem Sinn für Proportion gegründe-

ten Struktur. Auch heutzutage zeigt es sich, daß die Maler nicht anders als früher gefesselt sind durch das, was das Bild ihnen je nach der eigenen Sicht-

weise offenbart. So hat etwa Kokoschka am Ende seiner Autobiographie festgestellt: »Zur selben Zeit hat Dürer die Melancholie gesto-

chen, den beklemmendsten Ausdruck der Hoffnungslosigkeit, der

Furcht, die ebenso tief menschlich ist.« Noch weniger sollte man die Reaktionen der Dichter vergessen, die zugleich die starke Anziehungskraft des Bildes und die persönliche

Art der Interpretation erkennen lassen. Die einen, wie Theophile Gautier, der durch seine Anfänge als Maler besonders gut für eine kritische Würdigung vorbereitet war, sehen darin die Personifikation des seinen Schmerz zum Ausdruck bringenden Künstlers:

22

Vorwon zur deutschen Ausgabe

·Toi, le coude au genou, le mcnton dans la main, Tu reves tristement au pauvre sort humain: Que pour durer si peu la vie est bien amere, Que la science est vaine et que l'arc est chimcre. Que le Christ a l’eponge a laisse bien du fiel, Et que tout n’est pas fleurs dans le chemin du ciel. Et, l’äme d’amcrtume et de dcgoüt remplie, Tu t’es peint, ö Dürer! dans ta Melancolie, Et ton genie en pleurs, te prenant en pitie, Dans sa creation t’a personnifie. Je ne sais rien qui soit plus admirable au monde, Plus plcin de reverie et de douleur profonde, Que ce grand ange assis, l'aile ployee au dos, Dans l’immobilite du plus complet repos. Son vetement, drape d’une fa^on austere, Jusqu’au bout de son pied s’allonge avec myscere, Son front est couronne d’ache ec de nenufar; Et convulsivement sa main presse sa tempe. Sans ordre autour de lui mille objets sont epars,

II a touche le fond de tout savoir humain; Voilä comme Dürer, le grand maitre allemand, Philosophiqucment et symboliquement, Nous a represente, dans ce dessin etrange, Le reve de son cceur sous une forme d’ange.«4

4 ·Du, den Ellbogen am Knie, das Kinn in der Hand, sinnst traurig dem armen menschlichen Geschick nach: Daß trotz so kurzer Dauer das Leben sehr bitter ist, daß die Wissenschaft eitel ist und die Kunst ein Wahn. Daß der Erlöser in dem Schwamm viel Galle gelassen hat, und daß nicht alles Blüte ist auf dem Weg zum Himmel. Und, die Seele voll Bitterkeit und Ekel, hast du dich, o Dürer, in deiner Melancholie gemalt, und dein Genius hat dir, sich deiner in Tränen erbarmend, in seiner Schöpfung Gestalt verliehen. Ich kenne nichts Bewundernswerteres auf der Welt, nichts, was erfüllter wäre von grübelndem Gedanken und tiefem Schmerz, als diesen großen Engel, den Flügel auf dem Rücken zusammengelegt, dasitzend in der Unbeweglichkeit der vollkommensten Ruhe. Sein Gewand, in strenge Falten gelegt, fällt geheimnisvoll bis zur Spitze seines Fußes, seine Stirn ist mit Eppich und Seerose bekränzt; ... und seine Hand preßt krampfhaft seine Schlafe. Ohne Ordnung liegen um ihn herum tausend Dinge verstreut... Er hat die Tiefe alles menschlichen Wissens

Vorwort zur deutschen Ausgabe

23

Die anderen, wie Henri Cazalis oder auch James Thomson, sehen darin die Sinnlosigkeit jeglicher Handlung angesichts des Nichts:

»La Melencolia, songeant ä ce mystere, Qui fait que tout ici s’en retourne au neant, Et qu’il n’est nulle part de ferme monument.

Et que partout nos pieds heurtent un cimetierc Se dit: Oh! puisque tout se doit aneantir, Que sert donc de creer sans fin et de bätir?«’ »The sense that every struggle brings dcfeat Because Fate holds no prizc to crown success; That all the oracles arc dumb or cheat Because they have no secret to express; ,That none can pierce the vast black veil uncertain Because there is no light beyond the curtam; That all is vanity and nothingness.« *

Wieder andere sind empfänglich für das Geheimnisvolle, wie Sir William Watson: »What holds her fix’d far eyes nor lets them ränge? Not the stränge sea, stränge earth, or heaven more stränge; But her own phantom dwarfing these great three, More stränge than all, more old than heaven, earth, sea.«7

ergründet ... So hat Dürer, der große deutsche Meister, uns in dieser seltsamen Darstellung den Traum seines Herzens in der Gestalt eines Engels philosophisch und symbolisch abgebildet.« (aus: »Melancholia«, Übersetzung von Jörg und Ludwig Völker). $ »Die Melencolia, nachgrübelnd dem Rätsel, daß alles auf der Welt ins Nichts zurückkehrt und kein Bauwerk Bestand hat // und unsere Füße überall an einen Friedhof stoßen, spricht zu sich: Ach was nützt, da doch alles zunichte werden muß, das unaufhörliche Erschaffen und Bauen?« (aus: »Devant la Melancolie d’Albert Duter«, Übersetzung von Jörg und Ludwig Völker). 6 »Das Gefühl, daß jeder Kampf in Niederlage mündet, weil das Schicksal keinen Preis bereithält, den Erfolg zu krönen; daß alle Orakel stumm oder trügerisch sind, weil sic kein Geheimnis auszudrücken haben; daß niemand den ungeheuren schwarzen ungewissen Schleier durchdringen kann, weil kein Licht jenseits des Vorhangs ist; daß alles eitel und nichtig ist.« (aus: »*The »Melencolia« of Albrecht Dürer«, The City of Dreadful Night, Übersetzung von Ludwig Volker und Gerlinde Westarp). 7 »Was hält ihre in die Weite gebannten Augen fest und laßt sie nicht umher-

24

Vorwort zur deutschen Ausgabe

Die Arbeiten der Kunsthistoriker und anderer Spezialisten, die darauf zielen, die vielen Details des Stichs zu erklären, sind kaum überschaubar. Einigen von ihnen gelingt es, die Bedeutung dieses oder jenes Attributs zu erhellen; doch nur allzuoft begegnen wir der Überzeu-

gung, daß das Verständnis der Gesamtheit der Details das Erfassen

des Ganzen ermögliche. Die ikonographische Methode, als Hilfswissenschaft unentbehrlich und wertvoll, läuft Gefahr, das Werk auf die

Summe seiner Details zu reduzieren statt die Bedeutung zu beachten,

die der grundlegenden Einheit des Werks zukommt. Einer humanistisehen Lehre zufolge, welcher Dürers Freund Konrad Geltes in einer programmatischen Rede an die Professoren und Studenten der Uni-

versität Ingolstadt Ausdruck gab, dienen die Symbole der Dichter dazu, Heiliges unter einer sakramentalen Hülle (sacramentali quodam

velamine) zu verbergen, um es vor dem Zugriff des Pöbels zu bewahren. Sind Symbole nicht, wie ein Schüler des Celtes den Gedanken

weicerführte, Schleier, die dazu anspornen sollen, die verhüllte Wahrheit zu schauen? Letztlich ist es nicht eine noch so umfassende ge-

lehrte Kenntnis der historischen Einzelheiten noch auch die der sozialen Zusammenhänge allein, sondern darüber hinaus der Wille und

die Gabe, die Einzigartigkeit des Kunstwerks zu erfassen, die es dem Interpreten ermöglicht, es angemessen zu deuten. Das andere Extrem sind jene nicht eben seltenen neueren Interpreten,

die sich im Besitz einer besonderen Intuition wähnen. Sie haben Hypothesen unterbreitet, die ebenso ingeniös wie phantastisch sind. So

wurde die Ansicht vertreten, die Melencolia I könnte die Nichtigkeit

des menschlichen Wissens darstellen, wobei man die stete Vorliebe des Künstlers für die Bedeutung der exakten Wissenschaften außer acht ließ. Eine Interpretation ist nur dann gerechtfertigt, wenn sie den

Kontext, in dem das Werk geschaffen wurde, und die Lebensum-

stände des Künstlers um 1 $ 14 und während der vorangehenden Jahre

in Betracht zieht. Spricht man von den literarischen Quellen, die ihn angeregt haben könnten, so sollte man auch sicher sein, daß sie ihm,

schweifen? Nicht das unbekannte Meer, die unbekannte Erde oder der noch unbekanntere Himmel, sondern ihr eigenes Schattenbild, vor dem diese drei Großen zu Zwergen werden, unerforschlicher als alles, älter als Himmel, Erde, Meer.« (aus: »Dürer’s »Melencolia««, Übersetzung von Jörg und Ludwig Völker).

Vorwort zur deutschen Ausgabe

25

sei es unmittelbar, sei es mittelbar über Personen, mit denen er verkehrte, vertraut waren. Das bestehende Bild von Dürers Nürnberger Umwelt ist in mancher

Hinsicht der Ergänzung bedürftig. Vor allem ist das Wirken Ulrich Pinders, Stadtphysicus von 1493 bis 1519 und Freund des Konrad

Celtes, außer Acht gelassen worden. Pinder ließ seine Schriften, die in seiner eigenen Druckerei erschienen, durch Dürer nahestehende Künstler illustrieren; sein besonders reich ausgestattetes umfangrei-

ches Buch Der beschlossen gart des rosenkrantz marie (1505), das Dürer ohne Zweifel bekannt war, bringt - wie bisher unbemerkt blieb

‫ ־‬eine Fülle von Lehren des Nikolaus von Kues, die er ohne Namens-

nennung in deutscher Sprache wiedergibt. Einige Jahre später bekundet sein Friedrich dem Weisen, Kurfürst von Sachsen, gewidmetes

Speculum intellectuale humanae felicitatis (1510) eine eingehende Kenntnis von Nikolaus *

philosophischen Werken; bei keinem zeitge-

nössischen deutschen Autor finden sich derart zahlreiche Auszüge aus diesen Schriften, deren Verfasser nunmehr mit Namen genannt

wird. Inwieweit dessen eindrucksvolle Betonung der unaufhebbaren

Spannung zwischen allem menschlichen gottgerichteten Streben und

dem unendlichen Ziel Dürer berührte, bleibe hier dahingestellt. Hinsichtlich seiner literarischen Kenntnisse verdankt Dürer sehr viel seinem Freund Pirckheimer, dem Autor mehrerer Übersetzungen aus

dem Griechischen, darunter der der Hieroglyphica des Horapollon, die für Kaiser Maximilian angefertigt wurde und ebenso wie die Übersetzung der Charaktere des Theophrast von Dürer illustriert

wurde, wobei letztere ihm eigens gewidmet ist. Durch Pirckheimer wissen wir auch, daß Dürer sich während seines Italienaufenthalts mit

Giovanni Francesco anfreundete, dem Neffen von Pico della Mirandola. Die Schrift Ficinos, die seine Theorien über die Melancholie enthielt, De vita triplici, war ihm in der neuen deutschen Übersetzung des Johannes Adelphus Muelich zugänglich. Trithemius, Abt des Klosters St. Jakob in Würzburg, hatte in Nürnberg die Handschrift

der Urfassung der Occulta philosophia des Henricus Agrippa von Nettesheim bekannt gemacht, die eine plausible Erklärung für die Ziffer I enthält.

Der Kreis derer, die verstanden, daß die unterste der drei von Agrippa

unterschiedenen Stufen der Melancholie, die der Einbildungskraft,

Vorwort zur deutschen Ausgabe

26

gemeint war, bleibt demnach auf die Leser seines handschriftlichen

Entwurfs zur einundzwanzig Jahre später gedruckten Occulta philo-

sophia beschränkt. Zweifellos lag für die mit diesem Text nicht Ver-

trauten die Annahme nahe, daß Dürer die in der medizinischen und naturwissenschaftlichen

Literatur seit Jahrhunderten

verkündete

Lehre der zwei Formen der Melancholie - der * natürlichen«

(dem

Temperament) und der * unnatürlichen« (krankhaften) - im Sinne hatte

und daß demnach die Zahl I auf die erste der beiden Formen der melancholia duplex deutete.

Dürers Aufzeichnungen heben die große Bedeutung hervor, die er

der Temperamentenlehre beimaß. Die unterschiedlichen Menschentypen werden ausschließlich aus den vier »Complexen« heraus erklärt. Sie zu studieren und sich nach ihnen zu richten, betont er, sei

des Schülers erste Pflicht (cf. Schriftlicher Nachlaß, Berlin 1969, III, pp. 277-286). Daß Dürer selbst ein Melancholiker gewesen sei, bezeugt Melanchthon, der ihn gut kannte und von der »melancholia

generosissima Dureri« spricht. Sollte dies ein zusätzlicher Grund für die Wahl des Themas gewesen sein? Die Aufzeichnungen Dürers können zur Deutung seines Stiches einen wertvollen Beitrag leisten; zunächst in Hinsicht auf die Erklärung gewisser Details. Auf der Grundlage von Durers Kunstauffassung läßt sich der Sinn vermuten, den er seiner Komposition zuerkannte. In dem Entwurf zur Einleitung in seine Lehre von menschlicher Pro-

portion (Schriftlicher Nachlaß, Berlin 1966, II, p. 109) heißt es: »Dan

ein guter maler ist jndwendig voller vigur. Vnd obs müglich wer, daz er ewiglich lebte, so het er aws den jnneren ideen, do van Plato

schreibt, albeg etwas news durch die werck aws tzwgissen.« Diese inneren Ideen sind offensichtlich sehr verschieden von der pla-

tonischen Vorstellung der ewigen Ideen, die unabhängig von den

Menschen sind, die sie schauen. Sie befinden sich wie »die inneren Bilde«, von denen die deutschen Mystiker sprechen, in der Seele des

Menschen. Wie so oft greifen die * mystischen«

Denker eine Lehre des

Thomas von Aquin auf, die, ins Deutsche übertragen, einen neuen

Klang erhält. »Denn das Wort * Idee«« - so heißt es in seinen Quae-

stiones quodlihetales (IV, q. 1, art. 1) - »bezeichnet ein Gedankenge-

bilde des schaffenden Menschen, welches ihm bei der Gestaltung des

Werkes, das er hervorbringen will, als Modell dient. So konzipiert der

Vorwort zur deutschen Ausgabe

»7

Baumeister zunächst in seinem Geist die Form des Hauses; diese ist gleichsam die Idee des Hauses, das im Baumaterial entstehen soll.« Doch im Unterschied zu all seinen Vorgängern vergleicht Dürer den Künstler mit Gott, weil ihm, wie Gott, die Fähigkeit eigen ist, ausge-

hend von den Ideen, die in seiner Seele sind, jeden Tag neue Gestalten von Menschen oder anderen Lebewesen zu erschaffen. Der Künstler ist nicht mehr bloß Nachahmer der Natur, sondern Schöpfer. Den-

noch ist diese neue Konzeption der Rolle des Künstlers, wie Dürers Aufzeichnungen zeigen, mit dem deutlichen Bewußtsein von dem

Abstand verbunden, der die Vision des Künstlers vom vollendeten Werk trennt. Thomas Venatorius, der Herausgeber von Leone Battista Alberti (De

pictura, Basel 1540), schrieb in seinem 1540 in Nürnberg verfaßten Vorwon: »Da muß ich an meinen Landsmann Albrecht Dürer den-

ken, wohl den größten Maler seiner Zeit, der, wenn er Protypa oder

Ektypa, wie es die Griechen nennen, [Bilder] schuf, zwar jederzeit alle urteilfähigen Leute befriedigte; aber (pflegte er zu sagen), sich

selbst habe er mit allem, was er geleistet, wenn er es mit der Schönheit

des in seinem Geiste vorher gefaßten Archetypus [Urbild] vergleiche, niemals genug getan. Was ich hier schreibe, habe ich zusammen mit

vielen andern zuverlässigen und gelehrten Männern ihn selbst sagen

hören.« Wie sehr diese Haltung Dürers gegenüber seinem eigenen Werk den

Zeitgenossen auffiel, wird von Melanchthon bestätigt, der viele Jahre nach Dürers Tod in einem Brief an den Fürsten Georg von Anhalt

(Dezember 1546) an den Ausspruch Dürers erinnert, er habe in seiner'

Jugend färben- und formenreiche Gemälde geliebt und seine Freude daran gehabt, wenn er diese Vielfalt in seinen Gemälden betrachtete; später aber habe er begonnen, die Natur zu erschauen, und versucht,

ihr eigentliches Wesen zu gewahren. Da habe er erkannt, daß Einfachheit die höchste Zierde der Kunst sei; unfähig, diese ganz zu erreichen,

sei er nicht mehr imstande, seine Werke zu bewundern; er seufze, wenn er sie betrachte und sich seiner Ohnmacht bewußt werde. Es kam auch vor, daß Dürer behauptete, die eigenen Werke beschäm-

ten ihn, wenn er sie nach einer gewissen Zeit wieder betrachte. Doch seine Aufzeichnungen lassen erkennen, daß er die Melencolia I nicht

verwarf, denn er verschenkte sie noch lange, nachdem er sie geschaf­

28

Vorwon zur deutschen Ausgabe

fen hatte. Die Tatsache, daß er sie für gewöhnlich zusammen mit dem Hieronymus im Gehaus verschenkte, der im selben Jahr gestochen

wurde, scheint darauf hinzudeuten, daß er die beiden Werke als ein

Ganzes betrachtete aufgrund des Kontrasts zwischen dem Frieden und der Heiterkeit einerseits, die den Mann des Glaubens umgeben, und den Konflikten andrerseits, die eine rastlose und beklemmende Welt beherrschen, deren negative Aspekte durch den feindseligen

Charakter der Fledermaus, die die Lichtquelle flieht, hervorgehoben sind. Es ist folglich legitim, davon auszugehen, daß Dürer, der sich des

Abstands zwischen der Idee und ihrer Verwirklichung bewußt war, mit diesem Stich, der so viele Symbole einer heidnischen Welt enthält,

letztlich die Ohnmacht des Künstlers zum Ausdruck bringen wollte, der zwar über alle handwerklichen Mittel verfügt und über die natür-

liehen Kräfte Saturns und der astralen Magie Bescheid weiß, dem aber der Beistand Gottes versagt bleibt. Mit einer Zuflucht zu »okkulter Philosophie« und »christlicher Kabbala«, die ihm neuerdings zuge-

schrieben wird, hat diese Haltung nichts gemein.

Wir wissen, wie stark das Interesse war, das Dürer Luthers Lehre entgegenbrachte, und wie eng sein Verhältnis zu Melanchthon; doch

vor allem aus seinen eigenen Schriften geht hervor, welch entscheidende Bedeutung er Gott beimaß. Ihm verdankt der Künstler seine

Schöpferkraft. Läßt eine Deutung, und sei sie noch so gelehrt, diese tiefe Überzeugung außer acht, so wird sie weder dem Künstler noch dem Werk gerecht. Bedürfte die Intensität von Dürers Glauben noch

eines Beweises, so genügte es, sich seinen Schmerzensmann ins Gedächtnis zu rufen, der übrigens in der Haltung des Melancholikers dargestellt ist.

Selbst wenn man sämtliche Interpretationen von Gelehrten, Künst-

lern und Dichtern berücksichtigt, bleibt abschließend festzuhalten, daß alle Versuche, Dürers Intention zu erklären, das Geheimnis des

Werks nur bis zu einem gewissen Grad ergründen können. In seinem Zauber liegt ein für jede historische Deutung irreduzibles Moment.

Die wichtigen Bücher, die während der letzten Jahrzehnte zur Melan-

cholie erschienen sind, haben das Verdienst, unsere Kenntnisse auf besonderen Gebieten zu vertiefen, die so unterschiedlich sind wie ihre Behandlung im Laufe der Jahrhunderte oder die Rolle, die sie in der

Vorwort zur deutschen Ausgabe

*9

französischen Dichtung des Mittelalters oder in der deutschen Aufklärung gespielt hat. In seiner Untersuchung der Symptome der Me-

lancholie hatte Burton die Hypothese vorgebracht, daß die Melancholie ein gesellschaftliches Übel sei, und in der Zusammenfassung seines Werks schlug er zu ihrer Behandlung eine Veränderung des gesamten gesellschaftlichen Gefüges vor. Vor kurzem ist der Zusam-

menhang zwischen Melancholie und Gesellschaft zum Gegenstand einer interessanten Studie gemacht worden. Immer noch selten sind die Bücher, die die Melancholie über die Grenzen eines Landes hinaus als europäisches Phänomen ins Auge fassen und eine Übersicht bie-

ten, die dort anknüpft, wo unser Buch endet. Die Kluft, welche die Betrachtungsart der Psychiater von derjenigen

der nicht-medizinischen Autoren und Künstler trennt, geht auf die in der antiken Tradition verankerte, im späteren Mittelalter betonte Un-

terscheidung zwischen Melancholie als Krankheit und Melancholie als ein in den Wurzeln menschlichen Daseins begründeter Gemütszustand zurück. Diesen Zustand zu erhellen ist nicht Sache der Ärzte;

ihn zu deuten, lehren die Visionen der Künstler wie die Schöpfungen

der Dichter und die Werke der Romanschriftsteller. Die Aufgabe bleibt, die Deutungsweisen der Melancholie vom Zeitalter der Refor-

mation und Gegenreformation an in England, Frankreich, Italien und Deutschland, vor allem aber auch im Spanien des Cervantes und Tirso de Molina im Gesamtzusammenhang darzustellen und verständlich zu machen, aus welchem Grund das Thema bei den Dichtern des

]9. Jahrhunderts, wie Baudelaire und Verlaine, und Schriftstellern

wie Flaubert eine entscheidende Rolle spielt und welche Bedeutung es, nach Kierkegaard und Nietzsche, im Roman der heutigen Zeit für

das Selbstverständnis des geistigen Menschen hat. Zur Klärung der

Vorgeschichte beizutragen ist ein Ziel unseres Buches.

Ich danke der Hannah Foundation for the History of Medicine, Toronto, deren großzügige Beihilfe mir eine erneute Überprüfung der

handschriftlichen Quellen und seltener Werke in europäischen und

amerikanischen Bibliotheken ermöglichte. Mein besonderer Dank gebührt Frau Dr. Christa Buschendorf in

Heidelberg, Dozentin an der Universität Düsseldorf; sie nahm die

Vorwort zur deutschen Ausgabe Mühe der Übersetzung des schwierigen Textes auf sich, bewältigte

die zahlreichen im Lauf der Drucklegung erwachsenen Probleme mit leichter Hand und machte die Zusammenarbeit zu einer steten Freude. Dankbar gedenke ich ferner des hilfreichen Interesses, das Herr

Friedhelm Herborth, Lektor des Suhrkamp Verlags, und dessen Assistentin, Frau Elke Habicht, der Fertigstellung des Buches zuwandten.

Nicht unerwähnt bleibe schließlich die Hilfe, die Fräulein Silvia von Hase, cand. phil., bei der Übertragung der französischen, italienisehen und lateinischen Textstücke leistete. Raymond Klibansky

Montreal und Oxford, Dezember 1988

Vorwort zur englischen Ausgabe Seit jener längst vergangenen Zeit, als der Mensch erstmals das Welt-

geschehen mit den Sternen in Verbindung brachte, glaubte man, Saturn verzögere jedes mit ihm in Verbindung stehende Unternehmen.

Zweifellos hätten die Alten im Schicksal dieses Buchs einen guten Beweis für seinen verlangsamenden Einfluß gesehen. Im Jahre 1923 publizierten Erwin Panofsky und Fritz Saxl Dürers

·Melencolia Λ. Eine quellen- und typengeschichtliche Untersuchung (Studien der Bibliothek Warburg, B.G. Teubner, Leipzig). Als diese

Abhandlung vergriffen war, entschloß man sich zu einer neuen, revi-

dierten und erweiterten Ausgabe, in der die Entwicklung der Tempe-

ramentenlehre ausführlich dargestellt und die Geschichte Saturns, des »Herrschers der Melancholie«, bis an die Schwelle der Moderne ver-

folgt werden sollte. Die erweiterte Konzeption des Werks machte es sehr bald erforderlich, über den Rahmen einer Monographie zu Durers Stich hinauszugehen. Es entstand der Plan eines neuen Buchs

über Saturn und Melancholie, das von den drei Autoren verfaßt werden sollte, deren Namen nunmehr auf der Titelseite erscheinen. In jedem Stadium der Produktion wurde das Buch von Verzögerun-

gen und Widerständen heimgesucht. Nach einer längeren Unterbrechung, verursacht durch die politischen Umwälzungen im Deutsch-

land der dreißiger Jahre und die Emigration der Autoren, wurde die Arbeit in Großbritannien (Oxford und London) wiederaufgenom‫·־‬

men. Im Sommer 1939 ging die letzte Fahnenkorrektur an die Druk-

kerei in Glückstadt bei Hamburg zurück; 1945, kurz nach dem Waffenstillstand, kam die Nachricht, daß der Stehsatz während des Kriegs zerstört worden war. Das vernichtete deutsche Buch wiederherzu-

stellen kam nicht in Frage. Statt dessen beschlossen die Autoren, eine englische Übersetzung zu veröffentlichen, die von einem erhalten

gebliebenen Exemplar der deutschen Fahnen hergestellt werden sollte. Aufgrund des frühzeitigen Todes von Fritz Saxl im März 1948

verzögerte sich die Ausführung dieses Plans.

Als die Arbeit schließlich wieder in Angriff genommen wurde, ergab sich die Notwendigkeit, an mehreren Stellen Umgestaltungen und Änderungen vorzunehmen. Der Inhalt des Buchs blieb jedoch im

3*

Vorwort zur englischen Ausgabe

wesentlichen unverändert. Während der beiden letzten Jahrzehnte ist über manche der in diesem Buch berührten Gebieten viel geschrieben worden. Insbesondere erscheinen fast jedes Jahr neue Interpretatio-

nen des Dürerstichs, von denen einige in E. Panofskys Albrecht Dürer

(4. Aufl., Princeton 1955) erwähnt werden. Der Versuch, die gesamte Literatur zu berücksichtigen, hatte den vorliegenden Band auf einen

unhandlichen Umfang anschwellen lassen. Es bestand die Möglich-

keit, noch weitere Einzelheiten einzufügen und einige strittige Punkte

ausführlicher zu diskutieren. Die Autoren sind jedoch überzeugt, daß der Gedankengang als solcher davon nicht betroffen gewesen wäre.

Zugleich sind sie sich einiger Lücken in der Behandlung ihres umfangreichen Gegenstands bewußt. Es gibt viele verwandte Themen,

denen man hätte nachgehen können. Um nur einige zu nennen: Die

Legende von Demokrit, dem melancholischen Philosophen, den ‫״‬die Eitelkeit der Welt, voller lächerlicher Gegensätze« zum Lachen bringt, hätte von ihren hellenistischen Ursprüngen bis zu ihrem denkwürdigen Erscheinen im Vorwort des »Democritus Junior« zur Anatomy of Melancholy verfolgt werden können. Man hätte noch vieles

zur Bedeutung der Melancholie in der französischen Literatur des Spätmittelalters, etwa in der Lyrik des Charles d’Orleans, anführen können. Bei der Behandlung der Astrologie haben sich die Autoren

darauf beschränkt, die historischen Ursprünge und die Entwicklung des Glaubens an den Einfluß Saturns zu untersuchen. Es bleibt die

umfangreichere Aufgabe bestehen, die Bedeutung eines solchen Glau-

bens an die Macht der Sterne zu verstehen und die Gründe zu erhellen, weshalb der Mensch die Planeten mit eben den Kräften ausgestat-

tet hat, die seinen Mikrokosmos beherrschen. Die Grenzen, die diesem Buch gesteckt sind, stehen jeglichem Ver-

such entgegen, den komplexen und fesselnden Gegenstand der Melancholie des elisabethanischen und jakobinischen Zeitalters gerecht zu werden. So groß die Versuchung war, die Schätze Burtons zu heben, so mußten sich die Autoren doch damit zufrieden geben, dem

großen Melancholiker dadurch ihre Reverenz zu erweisen, daß sie sein Bildnis dem vorliegenden Band voranstellten. Unser herzlicher Dank gilt Miss Frances Lobb, die sich der mühevol-

len Aufgabe unterzog, die erste Fassung der Übersetzung aus dem Deutschen herzustellen. Mit besonderer Dankbarkeit erwähnen wir

Vorwort zur englischen Ausgabe

33

die Unterstützung, die uns von den Mitarbeitern des Warburg Institutes der Universität London, vor allem bei der Beschaffung der Pho-

tographien für die Abbildungen, zuteil wurde; sie leisteten wertvolle Hilfe während der langen Phase der Vorbereitung und in den früheren Stadien der Fahnenkorrektur. In besonderer Weise verpflichtet

sind wir dem verstorbenen Hans Meier, der uns als erster auf die von ihm in einer Handschrift der Universitätsbibliothek Würzburg ent-

deckte Urfassung von Agrippas De occulta philosophia aufmerksam machte.

Dank sagen möchten wir auch den zahlreichen Instituten und Bibliotheken, deren Bestände wir benutzen konnten: insbesondere dem

Johns Hopkins Institute of the History of Medicine, Baltimore, und dem Institut für Geschichte der Medizin, Johann Wolfgang Goethe-

Universität, Frankfurt (Main); dem Courtauld Institute, University of London; dem British Museum, London; der Bodleian Library,

Oxford; der Bayerischen Staatsbibliothek, München; der Biblioteca Apostolica Vaticana; und nicht zuletzt den Bibliothekaren und Mitar-

beitern der Redpath Library und der Osler Library of McGill Uni-

versity, Montreal. Wir sind den zahlreichen Gelehrten und Sammlern verpflichtet, die

unsere Anfragen beantworteten, und Miss Desiree Park, Μ. A. (McGill), die die Last des Korrekturlesens mit uns teilte.

Besonders dankbar sind wir all denjenigen, die uns bei der Uberarbeitung der Übersetzung halfen: Dr. Gertrud Bing, London, Miss Rose-

mary Woolf, Fellow of Somerville College, Oxford, vor allem aber, Dr. Lotte Labowsky, Lady Carlisle Research Fellow of Somerville

College, deren wertvolle Beobachtungen auch zur Erstellung des griechischen Texts des berühmten, Aristoteles zugeschriebenen Pro-

blems XXX,i beitrugen. Verpflichtet sind wir schließlich den Verlegern, Thomas Nelson & Sons, für ihre Geduld und Unterstützung bei der Herstellung des

Buchs. R. K. und E. P.

Montreal und Princeton, Winter 1963-64

ERSTER TEIL

Der Melancholiebegriff und seine historische Entwicklung

Das Wort »Melancholie« bezeichnet im modernen Sprachgebrauch

recht unterschiedliche Dinge. Es ist der Ausdruck für eine Geisteskrankheit, die durch Angstzustände, tiefe Depression und Lebens-

Überdruß gekennzeichnet ist - wenngleich freilich in neuerer Zeit ihr

medizinischer Begriff eine weitgehende Zersetzung erfahren hat.123Es ist ferner der Ausdruck für eine auch im physischen Habitus kennt-

lieh werdende Charakterveranlagung, die zusammen mit der sanguinischen, cholerischen und phlegmatischen das System der »vierTemperamente« (der alte Ausdruck ist: »vier Komplexionen«) bildet. Es

ist schließlich der Ausdruck für einen vorübergehenden Seelenzustand, der bald quälend, deprimierend, bald aber auch nur sanft-träge

oder nostalgisch sein kann. In diesem Fall ist es eine rein subjektive Stimmung, die dann auf die Welt der objektiven Dinge übertragen

werden kann, so daß man sinnvoll von der »Melancholie des Abends«, der »Melancholie des Herbstes«1 oder, wie Shakespeares Prinz Heinz, von der Melancholie von »Moorditch«, des nach einer

Sumpfgegend benannten Londoner Stadtteils, sprechen kann.5

1 Siehe E. Kraepelin, Psychiatrie. Ein Lehrbuch für Studierende und Arzte, 8. Aufl.» Leipzig 1913; G.L.Dreyfus, Die Melancholie, mir einem Vorwort von E. Kraepelin, Jena 1907; E. L. Hopewell-Ash, Melancholie in Everyday Practice, London 1934; E.Biermanns Übersicht Die Melancholiefrage in Literatur und Statistik, Handschr. Dissertation, Jena 1926; L. Binswanger, Melancholie und Manie, Pfullingen 1960, 2 Es ist merkwürdig, wie diese literarischen Topoi, in denen »Melancholie« ganz selbstverständlich eine subjektive Stimmung bezeichnet, noch immer die alten medizinisch-kosmologischen Zuordnungen enthalten (cf. unten, Seite 319 f.). 3 Henry IV, Teil I, 1, 2, 88.

ERSTES KAPITEL

Die Melancholie in der medizinischnaturwissenschaftlichen Literatur der Antike

I. DIE LEHRE VON DEN ‫״‬QUATTUOR HUMORES‫״‬ Die verschiedenen Bedeutungen haben sich in der genannten Reihen-

folge im Laufe einer mehr als zwei Jahrtausende umfassenden Ent-

wicklung herausgebildet, wobei sie nicht notwendigerweise einander ablösten, sondern oft nebeneinander bestehen blieben. Neu auftau‫־‬

chende Bedeutungen verdrängten die alten nicht, kurz, es handelt sich nicht um einen Verfalls- und Verwandlungsprozeß, sondern um ein

sich parallel vollziehendes Fortleben. Was den verschiedenen Bedeu-

tungen zugrunde liegt, ist die ganz unmetaphorische Vorstellung eines konkreten, sicht- und

greifbaren

Körperbestandteils, der

»schwarzen Galle« (atra bilis, μελαινα χολή, μελαγχολία), die neben dem Phlegma, der gelben (oder »roten«) Galle und dem Blut zu den

»quattuor humores« gezählt wurde. Diese vier Säfte, so glaubte man, entsprachen den kosmischen Elementen und Perioden, sie beherrschten das ganze Sein und Verhalten des Menschen und bestimmten

durch die Art ihrer Mischung den Charakter des Individuums. Es gibt nämlich vier Säfte im Menschen, die die unterschiedlichen Elemente nachahmen; jeder nimmt in einer anderen Jahreszeit zu, jeder ist in einem anderen Lebensabschnitt vorherrschend. Das Blut ahmt die Luft nach, nimmt im Frühling zu und herrscht in der Kindheit vor. Die gelbe Galle ahmt das Feuer nach, nimmt im Sommer zu und herrscht in der Jugend vor. Die schwarze Galle oder Melancholie ahmt die Erde nach, nimmt im Herbst zu und ist im Mannesalter vorherrschend. Das Phlegma ahmt das Wasser nach, nimmt im Winter zu und ist im Greisenalter vorherrschend. Wenn sie weder in zu hohem noch zu geringem Maße fließen, ist der Mensch im Vollbesitz seiner Kräfte.4 4 »Sunt enim quattuor humores in homine, qui imitantur diversa elementa; crescunt in diversis temporibus, regnant in diversis aetatibus. Sanguis imitatur aerem, crescit in vere, regnat in pueritia. Cholera imitatur ignem, crescit in aestate, regnat in adolescentia. Melancholia imitatur terram, crescit in autumno, regnat in maturitate. Phlegma imitatur aquam, crescit in hieme,

Die Melancholie in der naturwissenschaftlichen Literatur der Antike

40

In diesen knappen und klaren Sätzen eines frühmittelalterlichen Naturphilosophen ist die ganze antike Vier-Säfte-Lehre enthalten. Die-

ses System sollte die Anschauungen der Physiologie und der Psychologie bis an die Schwelle unserer Zeit beherrschen. Denn das, was die

»heterodoxen« Schulen des Altertums gegen die Humoralpachologie

eingewandt hatten, wurde entweder vergessen oder durch die Eklektiker des 2. Jahrhunderts n. Chr., vor allem Galen, in die kanonische Lehre eingeschmolzen, und der Widerspruch des Paracelsus blieb

lange ungehört.

Dieses System ist nur aus dem Zusammenwirken dreier sehr alter, und zumindest teilweise spezifisch griechischer, Prinzipien erklärbar:

1. Die Suche nach einheitlichen Ur-Elementen oder Ur-Qualitäten, auf die die komplexe und scheinbar irrationale Struktur des Makrokosmos wie des Mikrokosmos eindeutig zurückgeführt werden

könnte. 2. Das Bedürfnis, für eben diese komplexe Struktur des körperlichen

und seelischen Daseins einen zahlenmäßigen Ausdruck zu finden. 3. Die Lehre von der Harmonie, Symmetrie, Isonomie, oder wie im-

mer man jene Wohlabgestimmtheit der Teile, Stoffe oder Kräfte ausgedrückt hat, in der das griechische Denken bis zu Plotin die Vorbe-

dingung jedes ethischen, ästhetischen und hygienischen Wertes sah. So führt uns denn die Frage nach dem Ursprung der Vier-Säfte-Lehre

bis zu den Pythagoräern zurück, nicht nur weil die Verehrung der Zahl im allgemeinen in der pythagoräischen Philosophie ihren monumentalsten Ausdruck gefunden hat, sondern auch, weil die Pythago-

räer der Vierzahl im besonderen eine zentrale Bedeutung zumaßen.

Sie schworen »bei der Vierzahl, die die Quelle und Wurzel der ewigen

regnat in senectute. Hi cum nec plus nec minus iusto exuberant, viget homo.« Anon., De mundi constitutione (Migne, P. L., Bd. XC, coi. 881D). Diese Kosmologie aus der Zeit vor 1135 ist unter Bedas Werken gedruckt. Dieses lange Zeit wenig beachtete Werk (siehe unten, Seite 276, Anm, 182) ist in vieler Hinsicht bemerkenswert; cs ist jetzt zugänglich unter dem Titel Pseudo-Bede, De mundi celestis terrestrisque constitutione. A treatise on the Universe and the Soul. Ed. und übers, von C. Burnett (Warburg Institute Surveys and Texts, Bd.XI), London 1985. Die Verwandtschaft mit einem spätantiken Text mit dem Titel περί τής τοΰ κόσμου κατασκευής καί τού άνθρώπου (in ]. L. Ideler, Physici et medicigraeci minores, Bd. I, Berlin 1841, pp. 303-304; Nachdruck Amsterdam 1963) ist dort nicht erkannt.

Die Lehre von den »Quattuor Humores«

4‫ו‬

Physis inne hat«,’ und nicht nur die Natur im allgemeinen, sondern auch der vernunftbegabte Mensch im besonderen schien ihnen von

vier Prinzipien beherrscht zu werden, die man in Gehirn, Herz, Nabei und Phallus lokalisierte.6 Selbst die Seele betrachteten sie später als

Vierheit, die Geist, Verstand, Meinung und Wahrnehmung (νοϋς,

έπιστήμη, δόξα, αισθησις) umfaßte.7 Die Pythagoräer selbst entwickelten nicht die Vier-Säfte-Lehre, wohl aber bereiteten sie den Boden dafür, indem sie eine Reihe tetradischer

Zuordnungen aufstellten (so zum Beispiel neben den schon genann-

ten:.Feuer, Wasser, Luft und Erde; Frühling, Sommer, Herbst und Winter),8 in deren System die vier Säfte späterhin eincreten konnten.

Vor allem aber sind sie es gewesen, die die Gesundheit als die Ausgewogenheit verschiedener Qualitäten, die Krankheit als die Vor-

herrschaft einer einzigen definiert haben - ein für die Lehre der »Humores« im engeren Sinn geradezu ausschlaggebender Gedanke.

Alkmaion von Kroton, ein pythagoräischer Arzt, der um 500 v. Chr. gelebt hat, erklärt, »die Gesundheit werde durch das gleiche Recht

(ισονομία) der Kräfte (δυνάμεις) erhalten: des Feuchten und Trocke-

nen, Kalten und Warmen, Bitteren und Süßen usw. Die »AlleinherrSchaft« (μοναρχία) einer unter ihnen sei die Ursache der Krankheit«;

und er faßt den Begriff der Gesundheit in die Formel der »gleichmäßigen Mischung der Qualitäten« (σύμμετρος τών ποιών κράσις) zu-

sammen.9 5 Diels, Fragm., Anonyme Pythagoräer, B 15; cf. Theo Smyrnaeus, ed. E. Hiller, Leipzig 1878, p. 97, 4. 6 Diels, Fragm., Philoiaos, B ij. '' 7 Diels, Fragm., Anonyme Pythagoräer, B15. 8 Theo Smyrnaeus, ed. eit,, pp. 93 ff. 9 Diels, Fragm., Alkmaion, B4 (ähnlich Platon, Staat 444 D). Cf. hierzu und zum folgenden C. Fredrichs ausgezeichnete Studie »Hippokratische Untersuchungen«, Philologische Untersuchungen XV (1899), pp. 33 ff. (edd. A. Kiessling und U. von Wilamowitz-Moellendorff); K.Sudhoff, Kurzes Handbuch zur Geschichte der Medizin, Berlin 1922; Μ. Wellmann, «Die Fragmente der sikelischen Ärzte Akron, Philistion und Diokles von Karystos«, in Fragmentsammlung der Griechischen Ärzte, ed. Μ. Wellmann, Berlin 1901, Bd. 1, pp. 76ff.; O.Temkin, »Der systematische Zusammenhang im Corpus Hippocraticum«, Kyklos (Jahrbuch des Instituts für Geschichte der Medizin) I, Leipzig 1928, pp. 9ff.; sowie.L. Edelstein, Artikel »Hippokrates« in Pauly-Wissowa, Supplementband VI, col. 1290 ff.

42

Die Melancholie in der naturwissenschaftlichen Literatur der Antike

Während Alkmaion die Zahl und die Art jener Qualitäten, deren Isonomie Gesundheit bedeuten soll, völlig unbestimmt läßt (»das

Feuchte, Trockene, Kalte, Warme, Bittere, Süße und so weiter«), ist es eine Vorbereitung des Vier-Säfte-Systems, wenn Philolaos die

Vierzahl als »das Prinzip der Gesundheit« (ύγιείας άρχή) bezeich-

net.10 Die wirkliche Aufstellung dieser Vier-Säfte-Lehre war nun aber erst

unter drei weiteren Voraussetzungen möglich. Erstens mußte der Vierzahl, die die Pythagoraer als vollkommene Zahl verehrt hatten, ein konkreter Inhalt gegeben werden; das geschah mit der Umwand *

lung des pythagoräischen Zahlensymbolismus in eine kosmische Eiementenlehre. Zweitens mußte jedes dieser vier Elemente mit einer

Qualität in Beziehung gebracht werden, die eine gleichsam offenkun-

dige Verbindung zwischen den Urstoffen und den entsprechenden Bestandteilen des menschlichen Körpers schuf, konnten doch diese in

ihrem empirischen Vorkommen nicht als reine Erde, reines Wasser

und so weiter angesehen werden. Drittens mußte man bestimmte reale Stoffe, die jenen Elementen und Qualitäten zu entsprechen

schienen, im menschlichen Körper auffinden, denn nur dann konnte die naturphilosophische Spekulation mit der physiologisch-medizinisehen Empirie versöhnt werden.

So führt der Weg von den Pythagoräern zunächst zu Empedokles, dessen Lehre die erste dieser drei Voraussetzungen erfüllt. Er hat die rein stofflich denkende und daher alles Sein auf ein einziges Urele-

ment zurückführende Spekulation der älteren Naturphilosophen, wie Thales oder Anaximenes, mit der gerade umgekehrt von reinen Zah-

lenvorstellungen ausgehenden Tetradik der Pythagoraer zu verbinden gesucht. In diesem Versuch ist er zu der Lehre von den Elementen

gelangt, die die »vier Wurzeln des Alls« vier ganz bestimmten kosmisehen Grund wesen gleichsetzte: Sonne, Erde, Himmel, Meer. Diese

Elemente - bei Empedokles noch φιζώματα (Wurzeln), seit Demo-

krit στοιχεία (Elemente) genannt - sind an sich gleich stark und ebenbürtig, aber jedes von ihnen hat sein besonderes Amt und seine

besondere Art. Abwechselnd gewinnen sie im Umlauf der Zeiten die Oberhand, und nur aus ihrer in jedem Fall verschiedenen Mischung 10 Diels, Fragm., Philolaos, An.

Die Lehre von den »Quattuor Humores«

43

(κρασις) entstehen sämtliche Einzeldinge, und diese Mischung allein

bestimmt den Charakter des Menschen. Die vollkommene Mischung ist die, bei der erstens alle Elemente gleichmäßig beteiligt sind und

zweitens die letzten Elementareinheiten (wir würden sagen: Atome) ihrer Menge nach weder in zu großer noch in zu geringer Anzahl vorhanden und ihrer Beschaffenheit nach weder zu grob noch zu fein sind. Diese vollkommene Mischung ergibt den Menschen, der den

größten Verstand und die schärfsten Sinne besitzt. Sind nicht alle

Elemente gleichmäßig verteilt, so ist der Mensch ein Tor. Ist hingegen

die Zahl der beteiligten Einheiten zu klein oder zu groß, so entstehen entweder trübsinnige und träge oder aber hitzige und enthusiastische,

doch nichts zu Ende führende Menschen. Wenn aber die Mischung in einem bestimmten Organ eine vollkommenere ist als im übrigen Körper, so ergeben sich Individuen mit einer spezifischen Sonderbega‫־‬

bung, also zum Beispiel Redner, wenn die >Krasis< der Zunge, Künst-

ler, wenn die der Hände besonders gut ist.11 Man sieht, daß Empedokles die Einheit von Makrokosmos und Mikrokosmos fest - beinahe zu fest - begründet hat (denn Mensch und Welt bestehen aus den gleichen Grundstoffen) und daß er auch schon

den Versuch unternimmt, eine systematische Beziehung zwischen

körperlichen und geistigen Momenten nachzuweisen, mit anderen Worten, eine psychophysiologische Charakterlehre aufzustellen.

Man sieht aber auch, daß dieser Versuch für die Bedürfnisse einer spezifisch anthropologischen oder gar medizinischen Betrachtungsweise noch viel zu allgemein und spekulativ war. Indem Empedokles

auch im Menschen nur Feuer, Wasser, Luft und Erde annimmt, stellt‫׳‬

er zwar fest, was Makrokosmos und Mikrokosmos miteinander gemeinsam haben, geht aber an dem vorbei, was dem Mikrokosmos als

solchem eignet. Er reduziert den Menschen auf allgemein-kosmische

Elemente, ohne seinen spezifisch menschlichen nachzufragen, gibt sozusagen die Ur-Stoffe, nicht aber die Stoffe seines Aufbaus an. Ein im engeren Sinn anthropologisch gerichtetes Denken konnte sich hiermit nicht zufriedengeben, sondern mußte versuchen, im Men-

sehen spezifische Stoffe (und Kräfte) aufzusuchen, die den die Welt

11 Cf. insbes. Theophrast, De sensu, § 11 (Diels, Fragm., Empedokles, A 86) und G. Μ. Stratton, Theophrastus und the Greek Physiologien{ Psychology hefore Aristotle (mit Abdruck von Περί αίσθήσεως), London 1917, pp. 74 ff.

44

Die Melancholie in der naturwissenschaftlichen Literatur der Antike

als Ganzes konstituierenden Urelementen zwar irgendwie entsprachen, aber doch nicht einfach mit ihnen identisch waren. Schon die unmittelbaren Nachfolger des Empedokles hatten das Be-

dürfnis, seine anthropologische Auffassung dadurch ein wenig elascischer zu machen, daß sie die Elemente, aus denen die Menschen bestehen, ihrer rein stofflichen Natur bis zu einem gewissen Grad

entkleideten und ihnen einen mehr dynamischen Charakter gaben.

Philistion, das Haupt der von Empedokles begründeten Sizilischen Arzteschule, erklärt den Menschen zwar noch ganz im Sinne seines Meisters als eine Zusammensetzung der vier Elemente Feuer, Wasser,

Luft und Erde. Er bringt aber den Gedanken hinzu, daß jedes dieser Elemente eine bestimmte Qualität (δύναμις) besitze: »zum Feuer gehört Hitze, zur Luft Kälte, zum Wasser das Feuchte und zur Erde

das Trockene«.11 Damit erfüllt er die zweite unserer Voraussetzung gen. Auf diese Weise war die Empedokleische Elementenlehre in Einklang gebracht mit der Alkmaionischen Qualitätenlehre - mit dem Erfolg,

daß die Elemente ihre starre Stofflichkeit verloren, während die Menge der Qualitäten, die Alkmaion unbestimmt gelassen hatte, nun-

mehr ebenfalls auf eine Tetrade eingeschränkt wurde. Es war daher

nur folgerichtig, daß Philistion selbst die Frage »Wann ist die Krasis

dieser Qualitäten gut und richtig?« ganz einfach durch den Satz beantwortete: »Krankheiten entstehen durch Überwiegen oder Mangel

einer Qualität«.° Während die Empedokleische Charakterlehre (von der Empedokleischen Medizin ist uns nichts Sicheres bekannt)‘4 neben dem Gesichtspunkt des »Zuvieh und »Zuwenig< noch den Ge-

sichtspunkt der »zu groben« und >zu feinen« Beschaffenheit der letzten Elementareinheiten eingeführt hatte, bewirkte die neue Betrachtungsweise, die nur die Begriffe des Überflusses und des Mangels heranzog, eine Ausdehnung auf eine große Anzahl von Differenzierungen. Die

Qualitäten vermochten nämlich nicht nur paarweise Verbindungen

einzugehen (warm-feucht, warm-trocken, kalt-feucht, kalt-trocken).12 14 13 12 Pap. Lond. XX, 25 (The Medical Wricings of Anon. Lond., ed. Jones, CamBridge 1947, p. 80). 13 Cf. Fredrich, op. cit, p. 47. 14 Das ist um so bedauerlicher, als Empedokles selbst sich stets als Arzt ver* stand und auch im Altertum als solcher galt: cf. Diels, Fragm. A 3, Bin.

Die Lehre von den »Quattuor Humores*

4$

Vielmehr konnten sie auch, was zunächst wichtiger ist, von den Empedokleischen Urelementen Feuer, Wasser, Luft und Erde abgelöst

und als Prädikate beliebiger anderer Stoffe verwendet werden. Auf dem Höhepunkt ihrer Entwicklung befinden sich beide Theorien kurz vor 400, als nun wirklich die Vier-Säfte-Lehre entsteht. Und

zwar entsteht sie eben dadurch, daß die bisher betrachteten Vorsteilungen - nicht ohne Gewaltsamkeit - auf die im menschlichen Körper

empirisch nachweisbaren Säfte (χυμοί) übertragen wurden.'‫ ז‬Der spezifisch medizinischen Überlieferung waren diese Säfte von alters her

bekannt, und zwar zunächst als Krankheitserreger und, wenn sie beim Erbrechen oder dergleichen zutage treten, als Krankheitssym-

ptome. Die Nahrung führt dem Körper Stoffe zu, die durch die Verdauung teils nutzbar gemacht, d. h. in Knochen, Fleisch und Blut

verwandelt werden, teils aber άπεπτα, unverdaulich, sind; aus diesen entstehen »überschüssige Säfte« (περισσώματα), deren Vorstellung sich in ganz ähnlicher Weise entwickelte wie die der kosmischen

Urelemente. Euryphon von Knidos nahm eine völlig unbestimmte

Zahl solcher Säfte an, die zum Kopf emporsteigen und dann Krank-

heiten erzeugen; Timotheos von Metapont glaubte, sie würden von einer einzigen salzig-scharfen Flüssigkeit erzeugt; Herodikos von

Knidos hingegen unterschied zwei solcher Safte, einen saueren und einen bitteren.‘6 Diese zwei Säfte sind es, die später die Namen

Phlegma (φλέγμα) und Galle (χολή) erhalten - Phlegma, weil es den

Brand erzeugt, obgleich ihm einige Schriftsteller die Qualität des Feuchten und Kalten beimaßen. Auf der Annahme einer solchen Wechselbeziehung beruht auch die sehr wichtige Schrift Über die15 16

15 Ein solcher Versuch wird in der Schrift Περί άρχαίης ίητρικής (vor 400) unternommen, die die Alkmaionische Lehre dahingehend umwandelt, daß sie sie primär auf die tatsächlich im Körper vorhandenen Stoffe (das Salzige, Bittere, Süße, Saure, Herbe, Fade) bezieht und die Eigenschaften warm, kalt, trocken und feucht als bloße Akzidentien hinstellt: cf. Fredrich, op. cit., p.}}. Dieser Versuch führt jedoch von dem hier zu verfolgenden Weg insofern ab, als er die Anzahl dieser Stoffe noch mehr ins Unbegrenzte ausweitet, als es innerhalb der ursprünglichen Alkmaionischen Lehre mit der Anzahl der Qualitäten geschehen war: ένι γάρ έν άνθρώπψ χαί άλμυρόν καί πικρόν καί γλυκύ καί όξύ καί στρυφνόν καί πλαδαρόν καί άλλα μυρία... (έ. 14; Corp. med. Gr. I, 1, 45)· 16 Fredrich, op.cit., pp. )4 ff.

46

Die Melancholie in der naturwissenschaftlichen Literatur der Antike

Natur des Menschen (Περί φύσιος άνθρώπου),17 die im Altertum,

wie wir von Galen wissen, entweder Hippokrates oder seinem Schwiegersohn Polybos zugeschrieben,19 jedenfalls aber nicht später

als 400 v. Chr. verfaßt wurde. Was diesem Dokument die für die Folgezeit entscheidende Sonderstellung gibt, ist der Versuch, die rein medizinische Säftelehre und eine allgemein-kosmologische (und zwar

insbesondere Empedokleische) Spekulation in einen systematischen

Zusammenhang zu bringen.19

Von diesem Bestreben geleitet, ist der Verfasser zunächst darauf bedacht, die Ansicht derer zurückzuweisen, die den menschlichen Körper nur aus einem Element entstehen und bestehen lassen wollen. Dann aber trägt er - soviel wir wissen, als erster - die Lehre von der Vierzahl der Säfte vor. Obwohl sie später fast kanonisch werden

sollte, konnte sie zunächst nur mit Hilfe zweier recht zweifelhafter Annahmen aufgestellt werden. Zum einen mußte das Blut in das System integriert werden, obgleich es kein überschüssiger Saft ist, und zum anderen war es notwendig, die Galle, die bisher entweder als

einziger Saft aufgefaßt oder aber in unzählige Unterarten gespalten wurde, in zwei selbständige »humores«, die gelbe Galle (χολή ξανθή) und die schwarze Galle (μελαινα χολή=μελαγχολία), aufzuteilen.10 17 Wir haben es hier nur mit dem ersten Teil dieses divergenten Werks zu tun. 18 Fredrich, op.cit., pp. 51 ff.; Hippocrates, ed. W.H.S. Jones, Bd. IV, p. XXVI, London 19p. Siehe jetzt Hippocrates, De natura hominis, ed., mit französischer Übersetzung und Kommentar, J.Jouanna, Corp. med. Gr. I, 1, j, Berlin 1975. ,, 19 Fredrich, op. cit., pp. 28 ff.; cf, ferner R. O. Moon, Hippocrates and bis Suc· cessors in Relation to the Philosophy of their Time, London 192), insbes. pp. $7ff. Ferner O. Vjllarrets Dissertation Hippocratis de natura hominis liher, Berlin 1911; Galen, In Hippocratis de nat. hom. comm., Corp. med. Gr. V, 9- i 20 Freilich hatte schon Philolaos (Diels, Fragm. A 27) das Blut als Krankheitserreger aufgefaßt, und die Zweiteilung der Galle in τά χολώδη und μέλαινα χολή (so bei Dexippos von Kos) oder in χολώδεα ξανθά und χολώδεα μέλανα (so in Epidemien I, Fall 5, Hippocrates, ed. W.H.S. Jones, Bd. 1, p. 196, London 1923) scheint einigen ►Hippokrat1kem< bekannt gewesen zu sein. Aber diese Äußerungen sind vereinzelt - wobei die des Dexippos und die in Epidemien I sicher nicht alter sind als die Schrift Περί φύσιος άνθρώπου - und auch in ihnen wirkt schon die Tendenz zum Anschluß an das kosmologische System. Daß die in Περί φύσιος άνθρώπου vorgetragene Lehre sich gegenüber allen anderen durchgesetzt hat (cf. Wellmann, op.cit.,

Die Lehre von den ·Quattuor Humores«

47

Diese vier Säfte sind immer im menschlichen Körper vorhanden und

machen seine Natur aus; aber je nach der Jahreszeit hat bald dieser,

bald jener die Oberhand - die schwarze Galle zum Beispiel im Herbst, während ihr der Winter unlieb und der Frühling feindlich ist,

so daß die vom Herbst gebrachten Leiden vom Frühling gelindert

werden. Die vier Säfte sind also insofern Ursache von Krankheit und Gesundheit, als ihre richtige Mischung Gesundheit bedeutet, das Überwiegen oder der Mangel des einen oder des anderen Stoffes aber

die Krankheit bedingt: »Man ist ganz gesund, wenn sich sowohl einzelne dieser Eigenschaften zueinander als auch alle zusammen in ei-

nem harmonischen Gleichgewicht befinden, und vor allem, wenn sie sich verbinden.«21 All das sind Gedanken, deren Herkunft wir nunmehr anzugeben ver-

mögen. Der Begriff der Säfte als solcher stammt aus der empirischen

Medizin. Der Gedanke der Vierzahl und die Definition der Gesundheit als einer Gleichgewichtslage der verschiedenen Bestandteile, der

Krankheit als einer Störung dieser Gleichgewichtslage ist pythagoräisehen Ursprungs (und wurde von Empedokles aufgegriffen). Die Vorstellung, daß jeder der vier Stoffe abwechselnd im Umlauf der

Zeiten zur Herrschaft gelange, scheint rein Empedokleisch zu sein.

Doch das Verdienst, all diese Motive zu einer systematischen Einheit verbunden und dadurch die die Folgezeit beherrschende Vier-Säfte-

Lehre geschaffen zu haben, gebührt zweifellos dem bedeutenden Verfasser des ersten Teils von Περί φύσιος ανθρώπου.12 Dieses System

umfaßte nicht nur die Pythagoräisch-Empedokleische Tetradik, son-

dem auch die uns durch Philistion überlieferte Qualitätenlehre — und zwar zunächst, indem unter paarweiser Kombination eine Verbin-

pp. 75 ff.), verdankt sie dem Umstand, daß sie es als einzige verstand, diesen Anschluß zu einem vollkommenen zu machen und das System mit eindrucksvoller Schlichtheit darzustellen. 21 ‫״‬Υγιαίνει μέν ούν μάλιστα, δταν μετρίως έχη ταΰτα τής πρός άλληλα δυνάμιος καί τού πλήθεος, χαί μάλιστα ήν μεμιγμένα ή. De nat. hom., Kap. 4, ed. Jouanna, pp. 172-174. Wir folgen der Lesung ήν bei Galen, Comment. I, 20, Corp. med. Gr. V, 9, 1, p. 33. 22 Viele Autoren des Altertums haben geglaubt, daß die Schrift Περί φύσιος άνθρώπου genuin »hippokratischen« Ursprungs sei: cf. oben, Seite 46 und Anm. (8; jedenfalls scheint der Autor dieses Werks der erste gewesen zu sein, der die Lehre schriftlich niederlegte. Cf. Fredrich, op. cit., pp. 49, 51 ff.

48

Die Melancholie in der naturwissenschaftlichen Literatur der Antike

düng zwischen den Säften und den Jahreszeiten hergestellt wurde, später freilich auch als je einzelne Verknüpfung der Säfte mit den

Empedokleischen Urelementen. Daraus ergibt sich für den Autor von Περί φύσιος άνθρώπου das nachfolgende, für mehr als zweiJahrtausende maßgebend bleibende Schema:13

Säfte

Jahreszeiten

Eigenschaften*23

Blut Gelbe Galle Schwarze Galle Phlegma

Frühling Sommer Herbst Winter

warm-feucht warm-trocken kalt-trocken kalt-feucht

Nun waren die vier Jahreszeiten, vermutlich schon bei den Pythago-

raern, auch mit den vier Stufen des menschlichen Lebens parallel

gesetzt worden, wobei letztere entweder unterteilt wurden in Kna-

benalter, Jünglingszeit, Mannesalter und Greisentum, oder aber in Jugend bis etwa zum zwanzigsten Jahr, Mannesalter bis etwa zum

vierzigsten, sinkendes Mannesalter bis etwa zum sechzigsten und

dann Greisentum. Von daher ergab sich ohne weiteres eine Zuordnung der vier Säfte (und später der vier Temperamente) zu den vier Lebensaltern ‫ ־‬eine Zuordnung, die allezeit gültig blieb und die für

die weitere Entwicklung sowohl des begrifflichen wie des bildhaften Denkens von grundsätzlicher Bedeutung werden sollte. Der Zyklus ist durch das gesamte Mittelalter und die Renaissance hindurch im wesentlichen unverändert geblieben, abgesehen von ei-

ner gewissen Kontroverse über seinen Anfangspunkt. Er konnte

nämlich entweder bei der »phlegmatischen« Kindheit einsetzen, um über die »sanguinische« Jugend und die »cholerische« Reifezeit zum

23 Fredrich, op.cit., p. 45; vor allem aber E. Schoner, Das Viererschema in der antiken Humoralpathologie (Sudhoffs Archiv für Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften, Beiheft 4), Wiesbaden 1964. Cf. Galen, De placitis Hippocratis et Platonis libri novem, ed. I. Mueller, Leipzig 1874, Bd. i, pp. 679ff. (κοινός ό λόγος έστιν έπί τε τών χυμών καί τών στοιχείων). Annähernd gleichzeitig mit Galen wäre, wenn Boll recht hat, die Reihe bei »Antiochos von Athen« (Cat. astr. Gr., Bd. VII, p. 104; BBG, Sternglaube, p. 54), aus der jedoch die Rubrik »Temperamente« zu streichen ist. ‫־‬ Zur Entsprechung von Makrokosmos und Mikrokosmos cf. das in der Inkunabel von Isidor von Sevillas De natura rerum (Augsburg 1472) dargestellte Schema (Tafel 155),

Die Lehre von den »Quattuor Humores-

49

»melancholischen« Greisenalter zu gelangen (und unter Umständen zu einer »zweiten Kindheit« zurückzukehren); oder aber er begann

mit der »sanguinischen« Jugend, um über die »cholerische« Periode zwischen zwanzig und vierzig und die »melancholische« zwischen vierzig und sechzig beim »Phlegma« des Greisenalters zu enden.24

Aus dieser Verknüpfung der rein medizinischen Säftelehre mit einem

naturphilosophischen System ergibt sich freilich eine eigentümliche Schwierigkeit, deren sich frühere Autoren gar nicht bewußt waren,

die aber später entscheidend hervortreten sollte und eigentlich nie ganz gelöst worden ist. Einerseits sind die aus der medizinischen Lehre übernommenen Safte, mit Ausnahme des Blutes, unnütze,

wenn nicht gar schädliche Stoffe.25 Es handelt sich um krankheitserregende Ausscheidungen, »humores vitiosi«, deren erste Beobachtung beim Erbrechen und anderen Symptomen erfolgte.26 So sind denn auch die von ihren Bezeichnungen abgeleiteten Adjektiva, φλέγμα-

τικός, (φλεγματώδης), χολερικός (χολώδης) und insbesondere

μελαγχολικός, ursprünglich nichts anderes als Krankheitsbezeich-

nungen, während von Gesundheit genaugenommen nur gesprochen

werden konnte, wenn alle Säfte in der richtigen Mischung vorhanden waren, so daß sich ihre schädlichen Einflüsse wechselseitig neutrali-

sierten. 24 Über diese Zuordnungen cf. F. Boll, ‫״‬Die Lebensalter«, Neue Jahrbücher für das klassische Altertum XXXI, Leipzig 1913, pp. loiff., mit zahlreichen Quellenangaben; ferner unten, Seite 183 ff. und 517 ff. Wahrend einige spätantike Autoren den Jahreszeiten-Zyklus auf die gesamte menschliche Lebensdauer ausweiten (eine auch in das rabbinische Schrifttum übergegangene ‫׳‬ Sicht), verengen ihn wiederum andere auf die einzelnen Tageszeiten. So herrscht das Blut von der neunten Nachtstunde bis zur dritten Tagesstunde, d. h. von 3 bis 9 Uhr morgens, und danach herrschen, immer in sechsstündigern Wechsel, die rote Galle, die schwarze Galle und das Phlegma; cf. Pseudo-Soran (Medici antiqui, Venedig 1547, fol. 159‫ )״‬und Vindician (Priscian, Eupor., p. 487). Die Verteilung der Safte auf die vier Lebensalter weicht bei diesen beiden Autoren etwas vom Üblichen ab: das Phlegma »cum sanguine« herrscht von der Geburt bis zum 15. Lebensjahr, die rote Galle »cum parte sanguinis« bis zum 28.Jahr, die schwarze Galle »cum maxima parte sanguinis« bis zum 42.Jahr und schließlich, »sicut in pueris«, wieder das Phlegma. Cf. die Ausführungen zu Pseudo-Soran und Vindician unten, Seite i r 7 ff. und 179 ff. 25 Cf. die bekannte Stelle aus Platons Timaios, 82A-83E. 26 Fredrich, op.cit. (cf. oben, Seite 41, Anm.9), p. 34.



Die Melancholie in der naturwissenschaftlichen Literatur der Antike

Andererseits aber sind eben diese, jeweils für sich betrachtet Krankheit erzeugenden oder jedenfalls Krankheit begünstigenden, Stoffe

mit den allgemeinen und hygienisch indifferenten Qualitäten des Kal-

ten, Feuchten, Warmen und Trockenen gepaart. Jeder von ihnen erringt im Lauf des Jahres einmal die Oberhand, ohne deshalb notwendig akute Erkrankungen hervorzurufen; und da der absolut gesunde

Mensch derjenige ist, der überhaupt nicht krank wird (weshalb er jedem anderen absolut gesunden Menschen wie ein Ei dem anderen gleichen müßte, weil die richtige Mischung der vier Säfte eindeutig

bestimmt ist und keinerlei Verschiedenheiten zuläßt), kann sich ge-

rade der Arzt der Einsicht nicht verschließen, daß dieser absolut gesunde Mensch einen in der Realität kaum je gegebenen Idealfall darstellt.27 So geschah es also in dieser Tradition, daß die alten Begriffe für Krankheitssymptome allmählich und zunächst unbewußt zur Be-

Zeichnung von Veranlagungstypen verwendet wurden. Die völlige Gesundheit war ein Ideal, dem man sich annähern, das man jedoch

niemals tatsächlich erreichen konnte. Und es war nur logisch, wenn von dem, dessen Körper die vier Säfte in völlig richtiger Mischung

enthielt, gesagt wurde, er sei »bei bester Gesundheit« (μάλιστα ύγιαί-

νει); denn damit war ausdrücklich zugestanden, daß auch derjenige,

bei dem der eine oder andere Saft überwiegt, doch immerhin - wenn auch nicht im höchstmöglichen Grade - gesund sein kann. Es mußte

daher eingeräumt werden, daß die physische Beschaffenheit der Mensehen de facto in den meisten Fällen durch Vorwalten des einen oder

andern Saftes bestimmt ist und daß diese Individuen zwar zu ganz

bestimmten Krankheiten prädisponiert, normalerweise aber durchaus

gesund sind. Die Worte »phlegmatisch« usw. werden Bezeichnungen besonderer, aber innerhalb dieser Besonderheit nicht eigentlich

krankhafter Ausprägungen der menschlichen Natur. War aber die Lehre von den vier Saften erst einmal in der beschriebenen Form

systematisiert, mußte sie auch allmählich zur Lehre von den vier

Temperamenten werden. 17 Cf. Sudhoff, op.cit., p. 120: »Jeder Mensch lebt [sc. nach Galen] in einer gewissen Intemperies; das Temperamentum ist schon der Beginn eines leidenden gestörten Zustands; bei jedem Individuum herrscht widernatürlich einer der vier humores vor.«

Die Lehre von den »Quattuor Humores‫׳‬

5

‫י‬

So heißt es etwa bei >Hippokrates< an einer Stelle: »ein allzu trockner

Sommer und Herbst nutzt den Phlegmatikern, den Cholerikern ist dies der größte Schade, denn sie laufen Gefahr, ganz zu vertrocknen,

die Augen trocknen ein, sie fiebern, einige verfallen in melancholische , * Krankheiten 2829 woraus hervorgeht, daß es bereits für die Hippokratiker Menschen gibt, deren Konstitution durch eine dauernde Vorherrschaft des Phlegma oder der gelben Galle bestimmt wird, die aber

im allgemeinen nicht wirklich krank sind, sondern nur zu bestimmten

Krankheiten neigen, ja unter bestimmten Voraussetzungen sogar solchen Krankheiten anheimfallen können, die gar nicht von dem in

ihnen vorherrschenden »humor« ausgehen. Seit dieser Zeit sind also

die Begriffe »cholerisch«, »phlegmatisch« und »melancholisch« die potentiellen Träger zweier im Grunde ganz verschiedener Bedeutungen: sie können entweder pathologische Affektionen oder aber konstitutionelle Beschaffenheiten bezeichnen. Freilich hängen diese mit

jenen sehr eng zusammen, da es im allgemeinen derselbe »humor« ist, der unter ungünstigen Umständen die bloße Veranlagung zur wirklichen Erkrankung ausarten läßt. Wie es später bei Isidor heißt: »die

Gesunden werden von diesen vier Säften beherrscht, und die Kranken leiden unter ihnen«.19

Daneben aber brachte die Systematisierung der Vier-Säfte-Lehre die

weitere Komplikation mit sich, daß zwei der vier Säfte, das Blut und die schwarze Galle, eine deutliche Sonderstellung einnehmen, die in

der Entstehungsgeschichte des Systems begründet ist und die sich auch in sprachlicher Hinsicht zu erkennen gibt.

Was zunächst das Blut angeht, so war es von vornherein gewissermaßen nur durch die Hintertür in das System gelangt, denn es ist nicht nur kein überschüssiger Saft, sondern sogar der unentbehrlichste und

edelste Körperbestandteil?0 Wenngleich es ein anerkannter Grundsatz blieb, daß auch das Blut Krankheiten hervorrufen kann (und

zwar - ebenso wie die von der gelben Galle hervorgerufenen - in 28 Περί άέρων, ύδάτων, τόπων, Kap. 10 (Liare, II, p. 50; Corp. med. Gr. I, 1, p.66). 29 Isidor, Etym. IV, 5, 7. jo Fredrich, op. cit., p. 45; Galen, Περί κράσεων, ed. Helmreich, Leipzig 1904, II, 60j, p. 59, wo z. B. das Blut των χυμών ό μέν χρηστότατός τε καί οίκενότατος genannt wird.

J2

Die Melancholie in der naturwissenschaftlichen Literatur der Antike

erster Linie akute, während die zwei kalten Säfte mehr chronische

erzeugen), und wenngleich das Corpus Hippocraticxm den phlegmati-

sehen, cholerischen und melancholischen Leiden den Blutüberschuß

zur Seite stellt,5’ so galt doch die konstitutionelle Vorherrschaft des Blutes auch späterhin kaum je als Krankheitsdisposition, sondern im

Gegenteil als die gesunde Veranlagung par excellence und daher als

die beste,52 so daß medizinische Texte die übliche Bezeichnung »complexio sanguinea« häufig durch den Begriff »complexio temperata«

ersetzen.5 5 Der griechischen Physiologie, innerhalb deren die Vier-Säfte-Lehre primär Pathologie war, mangelt es offenbar an einem adjektivischen

Ausdruck für eine Konstitution, die durch das Blut bestimmt wird,54 wie die cholerische durch die gelbe Galle oder die phlegmatische durch das Phlegma bestimmt wird. Und es ist bezeichnend, daß in der

späteren Temperamentenlehre (in der sich die Begriffe im Einklang

mit dem modernen Sprachgebrauch nur auf den Habitus und den Charakter der Gesunden beziehen) ausschließlich das »sanguinische«

Temperament einen lateinischen Namen trägt.55 Genau umgekehrt liegt der Fall beim »humor melancholicus«. Wie wir sahen, fügt sich das Blut der Reihe der Säfte (im Sinne von Uberschüssigem) so wenig ein, daß es schwer war, dem Begriff des Blut-

reichtums ein eindeutiges Krankheitsbild zuzuordnen, weshalb das

sanguinische Temperament zwischen den anderen steht wie etwa in Dürers physiognomischen Zeichnungen das schöne, aber leere »Normalprofil« zwischen den häßlichen, aber einprägsamen »Charakter-

Fredrich, op.cit., p.45. Siehe unten, Seite 114H., 166 ff. (insbes. 170) und passim. Siehe unten, Seite 204, Anm. 5. Der Ausdruck ϋφαιμος hat zwar bei den Physiognomikern die Bedeutung des Krankhaften verloren, wird aber, soweit wir sehen, nicht mit χολώδης usw. parallelisiert, sondern bedeutet entweder ‫״‬vollblütig« ($0 bei »Aristoteles«, Scriptores physiognomici graeci et latini, ed. R. Forster, Leipzig 1893, Bd. I, p. 18,8) oder wird, häufiger, für das durchblutete oder blutunterlaufene Aussehen einzelner Teile gebraucht (Script, phys. gr. et lat. I, 30, 17; II, 225, 16). Das Wort αιματώδης scheint bei den Physiognomikern nur in dem letztgenannten Sinn vorzukommen (Script, phys. gr. et lat. I, 388,5; 331,3). 3 j Und zwar erhielt es bezeichnenderweise die Form »sanguineus«, während die drei anderen Adjektive mit ‫״‬-icus« gebildet sind.

}i 32 )3 34

Die Lehre von den »Quattuor Humores«

53

köpfen«. Die schwarze Galle hingegen war schon früh als eine böse Entartung der gelben Galle oder auch des Bluts aufgefaßt worden?6 Sie zeigte ein so bekanntes und charakteristisches Krankheitsbild (das

möglicherweise sogar aus vorhippokratischer Zeit stammte), daß die Krankheit durch ein einziges Substantiv bezeichnet werden konnte. Den zusammengesetzten Ausdrücken χολερικοί bzw. φλεγματικοί

νόσοι, χολερικά bzw. φλεγματικά παθήματα steht das einfache με-

λαγχολία und μελαγχολίαι gegenüber?7 So bleibt auch der spätere Begriff des melancholischen Temperaments weit mehr, als es bei den drei anderen der Fall ist, durch die Vorstellung der melancholischen

Krankheit gefärbt. Ferner ist es bezeichnend, daß die Melancholie als Krankheit besonders früh und besonders häufig zum Gegenstand monographischer Behandlung gemacht wurde?8

Von hier aus wird es nun auch begreiflich, daß gerade das Problem der Melancholie gleichsam das Ferment für die Weiterentwicklung der Humores-Lehre darstellen sollte. Denn je einprägsamer und furchterregender das Krankheitsbild, das mit der Vorstellung eines

bestimmten Saftes verbunden ist, um so größer auch dessen typenbil-

dende Kraft; und es ist nur scheinbar paradox, wenn eben dieselbe

Melancholie es ist, die unter allen Mischungen (κράσεις) die meisten ausgesprochen pathologischen Züge trägt und hinsichtlich deren am frühesten und bewußtesten eine Scheidung zwischen wirklicher Er-

krankung und bloßer Krankheitsdisposition, pathologischem Zu-

stand und charaktermäßiger Veranlagung, kurz zwischen Krankheit

und Temperament versucht wurde, während die analoge Umbildung der anderen Humores-Begriffe erst viel spater erfolgte?9 Hinzu kommt aber noch ein weiteres. Im Gegensatz zu allen andern bestand bei der als »Melancholie< bezeichneten Krankheit der über-

wiegende Teil der Symptome in seelischen Veränderungen, von Furcht,

Menschenscheu

und

Niedergeschlagenheit bis

zu

den

36 Siehe unten, Seite 173. 37 Cf. Scriptores physiognomici graeci et latini, ed. R. Förster, Leipzig 1893, Bd. II, p. 274,25 und p. 282, 21. )8 Cf. Rufus sowie Galens Übersicht älterer Schriften, zitiert unten, Seite 96 ff. 39 Das fertige System der Vier-Temperamenten-Lehre im Sinne einer Zuordnung sowohl habitueller geistiger als habitueller körperlicher Eigenschaften zu den »quattuor humores« war, soweit wir sehen, erst um oder kurz nach 200 n. Chr. fertig ausgebildet (cf. unten, Seite 114).

Die Melancholie in der naturwissenschaftlichen Literatur der Antike

54

schrecklichsten Formen des wirklichen Wahnsinns. Man konnte spä-

ter die melancholische Erkrankung ebenso als ein körperliches Leiden mit seelischen Rückwirkungen wie als eine »permixtio rationis«, eine geistige Verwirrung, aus körperlichen Ursachen definieren, eine BeSonderheit, die den Prozeß der Trennung einer bloß temperaments-

mäßigen Melancholie von der melancholischen Krankheit erheblich begünstigen mußte. Gerade die Ambiguität psychischer Symptome

machte nämlich die Grenzen zwischen Krankheit und Normalität unscharf und erzwang die Anerkennung eines Habitus, der melancholisch war, ohne daß sein Träger in jedem Augenblick als wirklich

Kranker angesprochen werden konnte. Diese Besonderheit aber war dazu angetan, die gesamte Melancholiekonzeption in den Bereich der Psychologie und der Physiognomik zu verlagern und damit einer Wandlung der Humoraltheorie in eine Charaktertypenlehre Bahn zu

brechen. Tatsächlich sehen wir, wie bereits die medizinischen Autoren den Begriff des Melancholikers unter einem ausgesprochen phy-

siognomischen und psychologischen Blickwinkel zu fassen begannen:

die Lispelnden, Kahlköpfigen, Stotternden und Dichtbehaarten leiden an schweren melancholischen Erkrankungen/® emotionale Erregungszustände gelten als Indizien für eine »geistige Melancholie«/1

und schließlich wurde die Symptomatik der Melancholie in der im-

mer wieder angeführten Diagnose zusammengefaßt: »Anhaltende Angstzustände und Depressionen sind Zeichen der Melancholie.«40 *42

40 Epidem. II, 5, 1 (Ps.-Hippokr.), Scriptores physiognomici graeci et latini, Bd. 11, p. 246, 16; und p. 247, 14, aus Epidem. II, 6, 1: 01 τραυλοί, ταχύγλωο* σοι, μίλαγχολικοί. κατακορέες, άσκαρδαμύκται, όξύθυμοι. 4 Epidem. III, 17 β; Hippocr. (Jones), Bd. I, p. 262. Ein etwas jüngerer Zusatz zu Epidem. VI, 8, 31 hebt die enge Verbindung von Melancholie und Epilepsie hervor, und es heißt dort ausdrücklich, der Unterschied bestehe nur darin, daß dieselbe Krankheit im Fall der Epilepsie den Körper, im Fall der Melancholie dagegen den Geist angreife. 42 Aphonsmata VI, 23. Noch Galen, obgleich schon im Besitz einer hochdifferenzierten psychologischen Semiotik, hat mit Bezug auf diese Stelle geschrieben: »Mit Recht hat Hippokrates alle melancholischen Erscheinungen in folgende zwei zusammengefaßt-. Furcht und Betrübnis«. De locis affectis III, 10, Galen (Kühn), Bd. VIII, p. 190.

‫י‬

‫זז‬

Die Melancholievorstellung im Peripatos: Das Problem XXX, 1 II. DIE REVOLUTION

DER MELANCHOLIEVORSTELLUNG IM PERIPATOS:

DAS PROBLEM ΧΧΧ,ι

Wir sind nun in der Lage, die große Wandlung zu verstehen, die die Melancholievorstellung im Laufe des 4. Jahrhunderts durch die Ein-

Wirkung zweier bedeutender kultureller Einflüsse erfuhr: der WahnVorstellung der großen Tragödie und der Mania-Vorstellung der Platonischen

Philosophie.

Die

Verdüsterung

des

Bewußtseins,

Schwermut, Angst und Wahnvorstellungen und schließlich die furchtbare Lykanthropie, die die von ihr Befallenen als heulende und bei-

ßende Wolfe durch die Nacht trieb/5 all das wurde der Wirkung des unheimlichen Stoffes zugeschrieben, der schon durch seinen Namen

(μέλας = schwarz) mit allen bösen und nächtlichen Vorstellungen verknüpft war/4 Dieser Stoff galt so sehr als Quelle des Wahnsinns,

daß das (wie χολεριάν gebildete) Verb μελαγχολάν seit dem Ende des

5. Jahrhunderts v. Chr. als Synonym zu μαίνεσθαι (verrückt sein) belegt ist. »’(0 μοχθηρέ, μελαγχολείς«/ *

heißt etwa »armer Mensch,

du bist verrückt«; und wenn Demosthenes von Olympiodoros sagt: »ού μόνον άδικος άλλά και μελαγχολάν δοκών«/6 so wäre das etwa zu übersetzen: »der nicht nur ein Frevler, sondern auch ein Rasender 4) Marcellus Sidetes, überliefert von Oribasius und anderen; Scriptores physiognomici graeci et latini, ed. R. Förster, Leipzig 1893, Bd. 11, p. 282, 10. Enthaken auch in der Exzerpten-Sammlung Περί μελαγχολίας in Pseudo-Galen (Kühn), Bd.XIX, pp.719fr Über Marcellus Sidetes cf. U.v.Wilamowitz-: Moellendorff, Sb. d. Preuß. Akademie d. Wissen sch., 1928, II, 3 f.; Μ. Wellmann, »Marcellus von Side als Arzt«, Philologus, Supplementband XXVII, 2 (1934)· 44 Das Wort μέλας enthält, wie sein Äquivalent in fast allen anderen Sprachen, viel mehr als eine Farbbezeichnung; μελάνες άνθρωποι etwa sind ruchlose Menschen, μέλαιναι όδύναι, sind grimmige Schmerzen. Von hier aus werden die Worte Galens ohne weiteres verständlich: »Wie die äußere Finsternis fast allen Menschen Furcht einflößt, es sei denn, daß sie sehr tapfer oder sehr aufgeklärt sind, so erzeugt auch die finstere Farbe der schwarzen Galle Furcht, indem sie den Sitz der Vernunft verdunkelt.« De locis affectis III, 10, Galen (Kühn), Bd. VIII, p. 191. Es finden sich zahlreiche Parallelstellen in der jüngeren Literatur. 45 Phaidros 268 E. 46 Demosthenes, Or. 48, In Olympiod. 56.

5^

Die Melancholie in der naturwissenschaftlichen Literatur der Antike

scheint«. Im 4. Jahrhundert v.Chr. aber wurde die aus früherer Zeit

stammende religiöse Intuition allmählich durch ein diskursiv-wissenschaftliches Denken ersetzt, und symbolische Deutungen des Mythos existierten neben rationalistischen Erklärungen. So überrascht es kaum, daß nunmehr auch in den großen Gestalten jener fluchbelade-

nen, von einer beleidigten Gottheit mit Wahnsinn bestraften Heroen,

wie etwa Herakles, Ajax und Bellerophon, die Euripides noch in mythischer Überlebensgroße auf die Bühne gestellt hatte, Züge einer

krankhaften Melancholie entdeckt wurden.47 Aber auch für das 4. Jahrhundert war der Zauber dieser großen Gestalten noch stark

genug, um den mit ihrer Vorstellung verknüpften Begriff der Melan-

cholie mit einem Nimbus düsterer Erhabenheit zu umgeben. Sie wird, wie Gellius es später ironisch ausdrückte, zur »Krankheit der Heroen«.48 So kam es, daß die melancholische Disposition in Verbindüng mit dem Mythischen in gewissem Maße für heroisch gehalten

wurde. Noch stärker idealisiert aber wurde sie in der Gleichsetzung mit der Mania, insofern als der »humor melancholicus« als eine wenn

auch noch so gefährliche Quelle des höchsten geistigen Aufschwungs

zu erscheinen begann, sobald der Begriff der Mania selbst in diesem

Sinn gedeutet oder vielmehr umgewertet worden war. Diese Umwertung ist bekanntlich von Platon vollzogen worden. Wie Sokrates im

Phaidros sagt: »wenn freilich ohne Einschränkung gälte, daß der Wahnsinn ein Übel ist, dann wäre dieses wohlgesprochen: nun aber entstehen uns die größten Güter aus einem Vfchnsinn, der jedoch

durch göttliche Gunst verliehen wird«.49 Dem Denken Platons lag es jedoch fern, diese Vorstellung einer Ekstase, die den Philosophen,

47 Ci. »Aristoteles«, Problem XXX,1 (unten, Seite 5976‫)־‬, wo die im Vorigen genannten Heroen »und viele andere« als Melancholiker angeführt sind. Ci. ferner E. D. Baumann, Psyche*! Lijden, Rotterdam 1927, pp. 178 ff. 48 Noctes Atticae XVIII, 7, 4, p. 229; zitiert unten, Seite 93, Anm. 100. 49 Phaidros 244 A. Es ist hier nicht der Ort, auf die historischen Voraussetzungen der Platonischen Mania-Lehre einzugehen. Immerhin sei darauf hingewiesen, daß schon Empedokles unterschied zwischen einem »furor«, der »ex animi purgamento« hervorgeht, und einer »alienatio mentis ex corporis causa sive iniquitate« (Diels, Fragm. A98) und daß eine ähnliche Unterscheidung auch in Demokrits Lehre vom dichterischen Wahnsinn (Περί ποιήονος, Diels, Fragm. B 1721 ,18‫ )־‬bis in den sprachlichen Ausdruck hinein nachzuwirken scheint. Genuin Platonisch ist freilich der Gedanke, daß die θεία

Die Melancholievorstellung im Peripatos: Das Problem XXX, 1

57

den Liebenden und den Dichter gleichermaßen zur überirdischen

Schau der reinen Ideen erhebt, mit dem Begriff der Melancholie in Zusammenhang zu bringen. Vielmehr galt ihm die Melancholie in

erster Linie wenn nicht geradezu als Irrsinn, so doch als ein die Ver-

nunft und den Willen trübender und schwächender moralischer Wahn. Denn er betrachtete sie als Kennzeichen derjenigen Seele, die er im Phaidros als die schlechteste von allen bezeichnet — der tyranni-

sehen/0 Wie es im Staat heißt: »Ein tyrannischer Mann also... ent-

steht genaugenommen, wenn einer vermöge seiner Natur oder durch

seine Führung oder durch beides ein Trunkenbold geworden ist oder ein Wollüstling oder ein Schwarzgalliger.« JI Erst auf dem Boden der Aristotelischen Naturphilosophie vollzog sich die Vereinigung zwischen dem ursprünglich rein medizinischen

Begriff der Melancholie und der Platonischen Konzeption der Mania. Ihren Ausdruck fand diese Vereinigung in der für das griechische

Denken paradoxen These/1 daß nicht nur die tragischen Heroen wie

μανία in ihrer »vierten« (erotischen) Form über das Mantische, Religiöse und Dichterische hinausgreift und zu der universalen Macht wird, die die Seele zur Schau der Ideen erhebt. 50 Phaidros 248 E. Im Timaios (71 Aff.) scheint nur die unbewußte Seite des seherischen Vorgangs auf komplizierte Weise mit der Funktion der Leber und der »bitteren« Galle in Verbindung gebracht zu werden. 51 Staat 573 C. $2 Die von den Gebildeten des ausgehenden 4. Jahrhunderts im allgemeinen geteilte Melancholievorstellung wird ausgezeichnet illustriert durch einige Verse des Menander (ed. C.Jensen, Berlin 1929), Έπιτρέποντες, Zeile 494 ff., in denen der Sklave Onesimos sich folgendermaßen über seinen Herrn äußert: ύπομαίνεθ’ ούτος, νή τόν Άπόλλω, μαίνεται, μεμάνητ’ άληθώς, μαίνεται, νή τούς θεούς, τόν δεσπότην λέγω Χαρίσιον. χολή μελαινα προσπέπτωκεν ή τοιούτό τι. τί γάρ &ν τις είκάσειεν άλλο γεγονέναι;

In der Übersetzung von U.von Wilamowitz-Moellendorff (Menander, Das Schiedsgericht, Berlin 1925, p. 206):

Der wird ganz toll, bei allen Göttern toll, ich schwör’ es, das ist ausgesprochne Tollheit. Charisios, mein Herr, ist toll geworden.

58

Die Melancholie in der naturwissenschaftlichen Literatur der Antike

Ajax, Herakles und Bellerophon, sondern überhaupt alle Männer von überragender Bedeutung, sei es auf dem Gebiet der Künste, der Dichtung, der Philosophie oder der Staatskunst, ja daß sogar Sokrates und

Platon Melancholiker gewesen seien.15 Diese Theorie ist in dem berühmtesten unter den dem Aristoteles

zugeschriebenen Problemen dargelegt, das im folgenden vollständig wiedergegeben werden soll.

[Fortsetzung der Fußnote ja auf S. 57] Die schwarze Galle ist ihm ins Blut geschlagen, so etwas muß es sein, ich kann's mir gar nicht anders denken. (...)

5) Siehe unten, Seite 5960‫־‬.

)ie Melancholievorstellung im Peripatos: Das Problem XXX, 1

59

PROBLEM XXX, 1 *

►5J3 io

1‫ץ‬

Διά τί πάντες δσοι περιττοί γεγόνασιν άνδρες ή κατά φιλοσοφίαν ή πολιτικήν ή ποίησιν ή τέχνας φαίνονται μελαγχολικοί δντες, καί οΐ μέν ούτως ώστε καί λαμβάνεσθαι τοϊς άπό μελαίνης χολής άρρωστήμασιν, olov λέγεται τών γε ήρωϊκών τά περί τόν Ήρακλέα; καί γάρ έκεϊνος έοικε γενέσθαι ταύτης τής φυσεως· διό καί τά άρρωστήματα τών έπιληπτικών άπ’ έκείνου προσηγόρευον οι άρχαϊοι ίεράν νόσον, καί ή περί

Warum sind alle hervorragen‫־‬ den Männer, ob Philosophen, Staatsmänner, Dichter oder Künstler, offenbar Melancholiker gewesen? Und zwar einige in solchem Maße, daß sie sogar unter den von der schwarzen Galle verursachten krankhaften Anfällen litten, wie in der Heroensage von Herakles berich-' tet wird. Denn dieser scheint eine solche Naturanlage besessen zu haben, weshalb auch die Alten die Anfälle der Epileptiker nach ihm die »heilige Krankheit« nannten.‫ ״‬Sowohl

!4 γε conterimus] τε codd., del. Flashar

54 Editionen, Übersetzungen, kritische Literatur: Aristotelis, Alexandri et Cassii Problemata cum Theophrasteorum quorundam collectaneis, cum praefatione Frid. Sylburgii, Francof. 1585 = SyIburg; Aristoteles, Problemata physica, edd. Ruelle, Knoellinger, Leipzig 1922 = Ruelle‫׳‬, Aristotelis opera omnia graece et latine, vol. IV, Parisiis !889 = Bussemaker; Η. P. Richards, Aristotelica, London 1915= Richards; The Works of Aristotle transl. into English, ed. W. D. Ross, vol. VII: Problemata, tr. E. S. Forster, Oxford 1927 (reprinted in The Complete Works of Aristotle. The Revised Oxford Translation, ed. by J. Barnes, Princeton 1984) = Forster; Aristotle, Problems, vol. II, with an English translation by W. S. Hett, The Loeb Library, Cambridge, Mass., and London 1957 = Hett; Aristoteles, Werke in deutscher Übersetzung, hrsg. von E. Grumach, Bd. 19: Problemata Physica, übersetzt von Hellmut Flashar, Darmstadt 1962 = Flashar; Versio lat. antiqua Bartholomei de Messina (saec. XIII med.) in: Aristotelis Problemata, Venet. 1501 = Bartholomeus; Versio lat. nova Theodori Gazae (saec. XV med.) in: Aristoteles, Opera Omnia, ed. Acad. Reg. Boruss., vol. III, Berol. 18)1= Gaza. (Zum Problem XXX,i siehe Vorwort zur deutschen Ausgabe, Seite 16 ff.). 5 5 Die enge Verbindung zwischen Melancholie und Epilepsie wurde von den Hippokratikern hervorgehoben; cf. Seite 54, Anm.41.

60

Die Melancholie in der naturwissenschaftlichen Literatur der Antike

τους παϊδας έκστασις καί ή πρό τής άφανίσεως έν Οίτη τών έλκων έκφυσις γενομένη τούτο δηλοΐ· καί γάρ τούτο γίνεται πολλοϊς άπό μελαίνης χολής, συνέβη δέ καί Λυσάνδρφ τφ Λάκωνι πρό τής τελευτής γενέσθαι τά έλκη ταύτα. έτι δέ τά περί Αίαντα καί Βελλεροφόντην, ών ό μέν έκστατικός έγένετο παντελώς, ό δέ τάς έρημίας έδίωκεν■ διό ούτως έποίησεν "Ομηρος

μ

jo

die Wahnsinnstat gegen seine Kinder als auch das Aufbrechen seiner Wunden vor der Entrukkung auf dem öta macht dies deutlich, - denn solches wird bei vielen durch die schwarze Galle bewirkt: ebendies geschah auch mit den Wunden des Lysander von Sparta vor seinem Tode. Ferner die Geschichten von Ajax und Bellerophon, von denen der eine völlig wahnsinnig wurde, der andere in die Einsamkeit floh, weshalb auch Homer über ihn folgendermaßen gedichtet hat:

“αύτάρ έπεί καί κείνος άπήχθετό πάσι θεοισιν, ήτοι ό καππεδίον τό Άλήϊον οίος άλάτο, δν θυμόν κατέδων, πάτον άνθρώπων άλεείνων”.

»Aber nachdem auch jener verhaßt war allen Göttern, Irrt’ er umher, einsam, durch die Aleische Flur, Sein Herz in Kummer verzehrend, der Menschen Pfade vermeidend.«

καί άλλοι δέ πολλοί τών ήρώων όμοιοπαθεϊς φαίνονται τούτοις. τών δέ ύστερον Εμπεδοκλής καί Πλάτων καί Σωκράτης καί έτεροι συχνοί τών γνωρίμων· έτι δέ τών περί τήν ποίησιν οί πλεΐστοι. πολλοίς μέν γάρ τών τοιουτων γίνεται νοσήματα άπό τής τοιαύτης κράσεως τφ σώματι, τοίς δέ ή φύσις δήλη φέπουσα

Auch viele andere unter den Heroen, ,litten offenbar in derselben Weise wie diese. Unter den Späteren waren es Empedokles, Platon und Sokrates und zahlreiche andere berühmte Manner, sowie auch die meisten Dichter. Viele von ihnen werden von Erkrankungen befallen infolge einer derartigen Mischung in ihrem Körper, bei andern zeigt die Naturanlage

23-25 ΙΙίαι VI, 200-202

ie Melancholievorstellung im Peripatos: Das Problem XXX, 1 πρός τά πάθη, πάντες δ’ ούν ώς είπεΐν άπλώς είσί, καθάπερ έλέχθη, τοιούτοι τήν φύσιν.

π

jb

δεϊ δή λαβεϊν τήν αιτίαν πρώτον έπί παραδείγματος προχειρισαμενους. ό γάρ οίνος ό πολύς μάλιστα φαίνεται παρασκευάζειν τοιούτους οϊους λέγομεν τούς μελαγχολικούς είναι, και πλειστα ήθη ποιεϊν πινόμενος, οίον όργίλους, φιλανθρώπους, έλεήμονας, Ιταμούς· άλλ’ ούχί τό μέλι ούδέ τό γάλα ουδέ τό ύδωρ ούδ’ άλλο τών τοιούτων ούδέν.

ιδοι δ’ άν τις δτι παντοδαπούς απεργάζεται, θεωρών ώς μετάβάλλει τούς πίνοντας έκ προσαγωγής· παραλαβών γάρ άπεψυγμενους έν τώ νήφειν καί σιωπηλούς μικρφ μέν πλείων ποθείς λαλιστέρους ποιεί, έτι

31 ταΰτα τά πάθη Ruelle (sec. Gazam in eos ipsos affectus) j j παραδείγματος! ούκ άτόπου έκ τού οίνου add. Ruelle, Helt (sec. Gazam exemplo haud sane incommodo vini) 35 ποιεϊν] ποιεί Camotius, Sylburg (condit Gaza)

61

eine deutliche Neigung zu diesen Leiden. Alle aber, um es knapp zu sagen, sind also, wie bereits erwähnt, von Natur aus so beschaffen. Wir müssen nun die Ursache hiervon herausfinden, indem wir uns zunächst eines Vergleiches bedienen. Wein in großer Menge genossen versetzt offensichtlich Menschen in solche Zustände, wie wir sie bei den Melancholikern finden, und ruft bei den Trinkenden die verschiedensten Charakterzüge hervor, indem er sie zum Beispiel jähzornig, menschenfreundlich, rührselig oder draufgängerisch macht; doch weder Honig noch Milch, noch Wasser, noch etwas anderes dieser Art hat eine solche Wirkung. Daß der Wein bei den Mensehen die verschiedensten Charakterzüge hervorbringt, kann man auch sehen, wenn man beobachtet, wie er die Trinkenden allmählich verändert: diejenigen, welche am Anfang, in nüchternem Zustand, kühl und schweigsam waren, macht er, wenn sie nur ein wenig zuviel

62

$

10

Die Melancholie in der naturwissenschaftlichen Literatur der Antike

δέ πλειων φητορικούς καί θαρραλέους, προϊόντας δε πρός τό πράττειν Ιταμούς, έτι δε μάλλον πινόμενος ύβριστάς, έπειτα μανικούς, λίαν δέ πολύς έκλύει και ποιεί μωρούς, ώσπερ τούς έκ παίδων έπιλήπτους ή καί έχομένους τοϊς μελαγχολικοϊς άγαν.

ώσπερ ούν δ είς άνθρωπος μεταβάλλει τό ήθος πίνων καί χρώμενος τώ οίνω ποσω τινί, ούτω καθ’ έκαστον τό ήθος είσί τινες άνθρωποι, οίος γάρ ούτος μεθύων νΰν έστίν, άλλος τις τοιούτος φύσει έστίν, ό μέν λάλος, ό δέ κεκινημένος, ό δέ άρίδακρυς * ποιεί γάρ τινας καί τοιούτους, διό καί‫״‬Ομψ ρος έποίησε

"καί μέ φησι δακρυπλώειν βεβαρημένον οϊνφ”.

12 abweichend vom überlieferten Text, Od. XIX, 121-122

getrunken haben, geschwätziger; trinken sie noch ein wenig mehr, macht er sie großsprecherisch und übermütig und, wenn sie fortfahren, draufgängerisch. Trinken sie noch mehr, so macht er sie frevelhaft und schließlich rasend. Ein allzu großes Übermaß jedoch erschöpft sie und macht sie stumpfsinnig wie jene, die von Kindheit an Epileptiker waren oder deren Zustand an extreme Melancholie grenzt. Wie nun der einzelne Mensch seinen Charakter ändert beim Trinken, je nach der Menge des Weines, die er zu sich genommen hat, so gibt es - entsprechend jeder solchen temporären Verhaltensweise - gewisse Menschentypen, die sie verkörpem. Denn so wie der eine in diesem Augenblick der Trunkenheit ist, so ist ein anderer von N^tur: der eine geschwätzig, der andere erregbar, der dritte stets den Tränen nahe denn auch in diesen Zustand bringt der Wein den Menschen, weshalb es auch bei Homer heißt:

»Und sie sagt, daß ich in Tränen schwimme, weil mir der Sinn vom Wein beschwert ist.«

1ie Melancholievorstellung im Peripatos: Das Problem XXX, 1

1‫ן‬

20

καί γάρ έλεήμονές ποτέ γίνονται καί άγριοι καί σιωπηλοί * ενιοι γάρ αύ άποσιωπώσι, καί μάλιστα των μελαγχολικών δσοι έκστατικοι. ποιεί δέ καί φιλητικούς ό οίνος * σημεϊον δέ δτι προάγεται ό πίνων καί τώ στόματι φιλεΐν, οΰς νήφων ούδ’ άν είς φιλήσειεν ή διά τό είδος ή διά τήν ήλικίαν. ό μέν οΐν οίνος ού πολύν χρόνον ποιεί περιττόν, άλλ’ όλίγον, ή δέ φύσις άεί, έως τις άν ή* 01 μέν γάρ θρασείς, 01 δέ σιωπήλοί, οί δέ έλεήμονες, οί δέ δειλοί γίνονται φύσει, ώστε δήλον δτι διά τού αύτού ποιεί δ τε οίνος καί ή φύσις έκαστου τό ήθος * πάντα γάρ κάτεργάζεται τή θερμότητι ταμιευόμένα.

δ τε δή χυμός καί ή κράσις ή τής μελαίνης χολής πνεύματικά έστιν * διό καί τά πνευ-

*3

Manchmal werden sie auch rührselig oder grausam oder stumm (denn einige versinken in völliges Schweigen, und zwar besonders Melancholiker, die zu Verzückungen neigen). Der Wein macht Menschen aber auch zärtlichkeitsbedürftig; ein Zeichen dafür ist, daß ein Trinkender sich hinreißen läßt, Leute zu küssen, die wegen ihres Aussehens oder ihres Alters wohl kein Nüchterner liebkosen würde. Wein bringt nun die Menschen in einen außergewohnlichen Zustand, nicht für lange Zeit, sondern nur kurz, die Naturanlage aber für immer, auf Lebenszeit, denn die einen sind tollkühn, andere schweigsam, andere mitleidig, wieder andere feige, von Natur. Daher ist es offenbar dieselbe Ursache, durch die der Wein und die Naturanlage des einzelnen den Charakter bestimmen: alle Prozesse werden nämlich durch Wärme reguliert. Nun ist sowohl der Saft der schwarzen Galle als auch das Temperament lufthaltig.5* Da-

21 διά'τοϋ αύτού Richards, Forster] διά τό αύτό codd., Ruelle (eandem esse causam qua Gaza: idem Bartholomens) 21 Εκαστον Richards, Forster

56 Cf. die auf Seite 82 f., Anm.71, angeführten Stellen.

64

2?

jo

3$

Die Melancholie in der naturwissenschaftlichen Literatur der Antike

ματώδη πάθη καί τά ύποχονδριακά μελαγχολικά οί ιατροί φασιν είναι, καί ό οίνος δέ πνευματώδης τήν δύναμιν. διό δή έστι τήν φυσιν όμοια δ τε οίνος καί ή κράσις. δηλοϊ δέ δτι πνευματώδης ό οινός έστιν ό άφρός· τό μέν γάρ έλαιον θερμόν δν ού ποιεί άφρόν, ό δέ οίνος πολύν, καί μάλλον ό μέλας τοϋ λευκού, δτι θερμότερος καί σωματωδέστερος.

καί διά τούτο δ τε οίνος άφροδισιαοτικούς άπεργάζεται, καί όρθώς Διόνυσος καί ’Αφροδίτη λέγονται μετ’ άλλήλων είναι, καί οί μελαγχολικοί οί πλεΐστοι λάγνοι είσίν. δ τε γάρ άφροδισιασμός πνευματώδης, σημείον δέ τό αίδοϊον, ώς έκ μικρού ταχεϊαν ποιείται τήν αύξησιν διά τό έμφυσάσθαι. καί έτι πριν δύνασθαι προίεσθαι σπέρμα, γίνεταί τις ήδονή έτι παισίν ούσιν, όταν έγγύς δντες τού ήβάν ξύωνται τά αιδοία δι’ άκολασίαν γίνεται δέ δήλον διά τό πνεύμα διεξιέναι διά τών πόρων, δι’ ών ύστερον τό ύγρόν φέρεται, ή τε έκχυσις

3J Ετι om. Burnet, Forster 36 tri Bonitz, Ruelle] bd codd.

her rechnen auch die Ärzte Blähungsbeschwerden sowie Uncerleibsleiden zu den melancholischen Krankheiten. Auch Wein hat eine lufterzeugende Kraft, und somit sind der Wein und das Temperament einander von Natur ähnlich. Daß Wein lufthaltig ist, zeigt sein Schaum. Öl erzeugt nämlich keinen Schaum, selbst wenn es warm ist, Wein jedoch sehr viel, und zwar der dunkle mehr als der helle, weil er warmer und konzentrierter ist. Aus diesem Grunde erregt Wein Liebesverlangen in den Menschen, und mit Recht sagt man, daß Dionysos und Aphrodite zusammengehören; auch sind die meisten Melancholiker wollüstig. Der Geschlechtsakt ist nämlich mit der Erzeugung von Luft verbunden. Ein Zeichen dafür ist, daß das männliche Glied aus einem kleinen Umfang schnell anwächst, weil es aufgebläht wird. Noch bevor sie Samen auswerfen können, haben Knaben, die kurz vor der Pubertät stehen, ein gewisses Lustempfinden, wenn sie in unbeherrschter Weise ihr Glied reiben. Das hat offenbar seinen Grund darin, daß die Luft durch die Poren entweicht, durch die sich später die Flüssigkeit ergießt. Die Er-

ie Melancholievorstellung im Peripatos: Das Problem XXX, 1 4a

5

9

τού σπέρματος έν ταις δμιλίαις καί ή φίψις ύπό τού πνεύματος ώθούντος φανερόν δτι γίνεται, ώστε καί τών έδεσμάτων καί ποτών εύλόγως ταύτ’ έστίν άφροδισιασακά, δσα πνευματώδη τον περί τά αιδοία ποιεί τόπον. διό καί ό μέλας οίνος ούδενός ήττον τοιούτους άπεργάζεται, οιοι καί οί μελαγχολικοί [πνευματώδεις], δήλοι δ’ εισίν έπ’ ένίων· σκληφροί γάρ 01 πλείους τών μελαγχολικών, καί αί φλέβες έξέχουσιν· τούτου δ’ αίτιον ού τό τού αίματος πλήθος, άλλα τού πνεύματος· διότι δέ ουδέ πάντες οί μελαγχολικοί σκληφροί ούδέ [01] μέλανες, άλλ’ οί μάλλον κακόχυμοι, άλλος λόγος.

2 ότι γίνεται Richards, Forster] γίνεται Sylburg (fit Bartholomeus); γίνεσθαι codd., Ruelle (fieri Gaza) 6 πνευματώδεις secl. Forster ‫ ך‬σκληφροί Bussemaker, Forster; cf. Aristoteles, De somno et vigilia Hl, p. 4J7 a 29] σκληροί codd., Ruelle (duri Bartholomeus, Gaza) 10 σκληφροί cad. Paris, Bibi. Nat. gr. 186; a Michaele Apostolio scriptus, Bussemaker, /brster) σκληροί codd. ■ ceteri (duri Bartholomeusi invecta duritas Gaza) 10 01 secl. Casaubonus, Bekker, Forster

gießung des Samens beim Geschlechtsverkehr und sein Herausschleudem wird offenbar bewirkt durch das Nachstoßen der Luft. Daraus ergibt sich, daß diejenigen Speisen und Getränke den Geschlechtstrieb anregen, welche die Gegend um die Geschlechtsorgane mit Luft anfüllen. Daher bringt auch der dunkle Wein die Menschen in dieselbe Verfassung, in der sich die Melancholiker befinden. Daß diese Luft enthalten, wird an einigen Symptomen deutlieh: die meisten Melancholiker sind nämlich mager und haben hervortretende Adem; die Ursache dafür ist aber nicht die Menge des Blutes, sondern die der Luft. Warum aber nicht alle Melancholiker mager sind und nicht alle dunkel sind, sondern nur die, welche besonders schlechte Säfte in sich tragen, das gehört in eine andere Untersuchung.

66

5

Die Melancholie in der naturwissenschaftlichen Literatur der Antike

‫י‬



περί ού δέ έξ άρχής προειλόμεθά διελθεΐν, δτι έν τή φύσει ευθύς 6 τοιοϋτος χυμός ό μελαγχολικός κεράννυται· θερμοΰ γάρ καί ■ψυχρού κράσίς έστιν· έκ τούτων γάρ τών δυοϊν ή φύσις συνέστηκεν. διό και ή μέλαινα χολή καί θερμότατον καί ψυχρότατσν γίνεται. τό γάρ αύτό πάσχειν πέφυκε ταϋτ’ άμφω, olov καί τό ύδωρ δν ψυχρόν, δμως έάν Ικανώς θερμανθή, olov τό ζέον, τής φλογός αυτής θερμότερόν έστι, καί λίθος καί σίδηρος διάπυρα γενόμενα μάλλον θερμά γίνεται άνθρακος, ψυχρά όντα φύσει, είρηται δέ σαφέστερον περί τούτων έν τοίς περί πυρός.

Doch um zu unserem ur■ sprunglichen Thema zurückzukehren: daß dieser melancholisehe Saft in der Naturanlage von Anfang an gemischt ist (denn er ist eine Mischung aus Warm und Kalt; aus diesen beiden besteht seine Natur). Deswegen kann die schwarze Galle sowohl sehr heiß als auch sehr kalt werden, denn ein und dasselbe kann von Natur beide Zustände annehmen, wie auch Wasser, das an sich kalt ist, dennoch, wenn es genügend erwärmt wird, zum Beispiel wenn es kocht, wärmer ist als die Flamme selbst. Auch Stein und Eisen können, wenn sie durchglüht sind, wärmer werden als die Kohle, obwohl sie von Natur kalt sind. Genauer ist dies in der Abhandlung über das Feuer dargelegt.’7

j7 Da wir aus dem bei Diogenes Laertius (V, 44) angeführten Verzeichnis seiner Schriften wissen, daß Theophrast ein Buch Uber Melancholie verfaßt hat, scheint die Annahme, daß unser Problem in Beziehung zu diesem Buch steht, begründet zu sein. Auf eine Verbindung zwischen unserem Problem und ‫״‬den unter dem Namen des Theophrast überlieferten kleineren Schriften * deutete C. Prantl (Abh. d. legi. Bayr. Akad., Philos.-Philol. Kl. VI,2, 1852, p. 372) hin; genauer V. Rose, De Aristotelis librorum ordine et auctoritate, Berlin 1854, p. 191, und H.Usener, Analecta Theophrastea (Kl. Schriften L54, Leipzig 19121914‫)־‬, und O. Regenbogen, Artikel «Theophrastos«, Pauly-Wissowa, Supplementband VII, col. 1402, 1406. Lange vor den eben genannten wiesen Philologen des 16. Jahrhunderts auf Theophrast hin; siehe Vorwort zur deutschen Ausgabe, Seite 17. Der obige Verweis bezieht sich offensichtlich auf Theophrasts Περί πυρός (ed. A. Gerckc, Greifswald 1896; neuerdings unter dem Titel De igne, ed. V. Coutant, Assen 1971), Kap. 35, das von Stoffen wie Eisen und Stein handelt, die, wiewohl >von Natur kalt«, sehr heiß werden.

Oie Melancholievorstellung im Peripatos: Das Problem XXX, 1

2$

jo

καί ή χολή δέ ή μέλαινα φύσει ψυχρά καί ούκ έπιπολαίως ούσα, 0ταν μέν ούτως έχη ώς είρηται, έάν ύπερβάλλη έν τφ σώματι, άποπληξίας ή νάρκας ή άθυμίας ποιεί ή φόβους, έάν δέ ύπερθερμανθή, τάς μετ’ ωδής ευθυμίας καί έκστάσεις και έκζέσεις έλκων καί άλλα τοιαϋτα. τοϊς μέν ούν πολλοίς άπό τής καθ’ ήμέραν τροφής έγγινομένη ούδέν τό ήθος ποιεί διαφόρους, άλλά μόνον νόσημά τι μελαγχολικόν άπειργάσατο. δοοις δέ έν τή φύσει συνέστη κράσις τοιαύτη, ευθύς ούτοι τά ήθη γίνονται παντοδαποί, άλλος κατ’ άλλην κράσιν· olov δσοις μέν πολλή καί ψυχρά ένυπάρχει, νωθροί καί μωροί, δσοις δέ

22 έηιπόλαιος Sylburg, Casaubonus, Forster (superficialis Bartholomeus)] έπιπολαιώς codd., Ruelle 22 ούτως] ούν ούτως Camotius, Bussemaker ζγ ύιάφορσν Sylburg

*7

So kann auch die schwarze Galle ‫ ־‬die von Natur aus, und nicht nur oberflächlich betrach‫־‬ tet, kalt ist wenn sie sich in dem beschriebenen Zustand befindet, d.h., wenn sie im Körper das rechte Maß überschreitet, Schlagflüsse, Lähmungen, Depressionen oder Angstzustände hervorrufen. Wird sie aber übermäßig erwärmt, bewirkt sie übersteigerte Hochgefühle und Sangesfreude, Ekstasen, Aufbrechen von Wunden und anderes dergleichen. Bei den meisten Menschen bewirkt die durch die tägliche Nahrung entstehende Galle keine Veränderung des Charakters, sondern ruft nur im Körper einen entsprechenden schwarzgalligen Krankheitsanfall hervor. Unter denjenigen aber, die von Natur ein solches Temperament besitzen, zeigt sich sogleich große Mannigfaltigkeit von Charakteren, verschieden je nach der Art der Mischung. So sind zum Beispiel diejenigen, bei denen kalte Galle in großer Menge vorhanden ist, schlaff und stumpfsinnig, diejenigen aber,

68

‫nimiusAbnorme< nur einen »modus deficiens« bedeutet, und in den Ethiken spricht der

Moralist, der das Individuum im Hinblick auf seine Beziehung zur

Gemeinschaft denkt und demgemäß das Sein und Verhalten der Mensehen unter dem Gesichtspunkt der Schicklichkeit und der Verant-

wortlichkeit betrachtet. In beiden Fällen ist der Melancholiker als

»durch Krankheit bedingter Melancholiker« (μελαγχολικός διά νόlancholia accidentali ex acumine humoris morsa habeant corpora, tamen dicit Aristoteles in Problematibus, quod omnes hi, qui fuerunt heroicarum virtutum, Hector et Priamus et alii, in hac melancholia laborabant: eo quod haec melancholia rubei vini, quod vaporosum est, habet similitudinem; et quia gravitatem habet, constantiam facit; quia vero vaporosa, virtutem erigit ad operationem. Melancholia enim naturalis, ut dicit Galenus, frigida est et sicca. Per frigiditatem abscidens motum et evaporationem, per siccitatem autem gravitate propria decidit; propter quod stomachus melancholicorum et senum superius vacuus est, omni evaporatione destitutus, et semper suam sentiens inanitionem ex nutrimenti defectu; propter quod continue cibum desiderant... Cuius signum est, quod tales multum et continue comedunt, multi stercoris sunt et parvi nutrimenti. Appetunt continue et supplens defectum et expellens tristitiam, quae est ex defectu. Delectatio autem si fortis sit, facit expulsionem, sive illa delectatio sit contraria sive etiam conveniens quaecumque. Vehemens enim delectatio in quocumque sit, ad se trahit animam, et non sinit avertere tristitias, quae ex aliis contingunt defectibus. Propter hoc ergo, quod tam senes quam iuvenes superabundantias prosequuntur delectationum, fiunt intemperati et pravi: quia intemperatus circa tales est delectationes.« Die wörtliche Anlehnung an Aristoteles ist fast überall unverkennbar.

Die Melancholievorstellung im Peripatos: Das Problem XXX, 1

*7

oov) gefaßt, dessen physisches Leiden entweder in deutlichen Abwei-

chungen von der Normalität oder in einem geringeren Maß an moralischer Zurechnungsfähigkeit resultiert. Demgegenüber stellt sich der

Verfasser des Problems XXX, 1 die Aufgabe, einem Charaktertypus

gerecht zu werden, der sich sowohl der medizinischen als auch der moralischen Beurteilung entzieht, dem Typus des »Überragenden« (περιττός).

An sich bezeichnet dieser Ausdruck jene schicksalhafte Maßlosigkeit,

die den Helden und Opfern der großen Tragödien eignet, wie sie sich in der Trauer der Elektra8* oder in dem Liebeswerk der Antigone zeigt. Was der vernünftigen Ismene und dem starren, autokratischen

Kreon als frevelhaft und sinnlos erscheint, gilt freilich dem Dichter und dem Zuschauer als die Erfüllung eines höheren sittlichen Gesetzes?4 In dem Attribut »überragend« schwingt ein gewisser unheilvoller Schauer mit, da man sich des Verdachts der ύβρις nicht erwehren

kann, den jeder Versuch, von den anerkannten menschlichen Normen

abzuweichen, impliziert. Auf diese verbreitete religiöse Vorstellung spielt Aristoteles zu Beginn der Metaphysikis an: »Wenn die Dichter recht haben und die Götter von Natur neidisch sind,... dann dürften

alle

außergewöhnlichen

(hervorragenden)

Männer

unglücklich

sein.«

An anderen Stellen freilich, wo Aristoteles die von ihm geschätzte Methode in Anschlag bringt, durch Analyse weitverbreiteter Über-

Zeugungen zu einer klareren Unterscheidung ethischer Begriffe zu gelangen, wird das Wort »περιττόν« gelegentlich in der Umgangs?,

sprachlichen Bedeutung gebraucht, in der es zu einem jener leicht ambivalenten Ausdrücke übertriebener Bewunderung geworden war,

die der Philister im Zusammenhang mit Dingen zu verwenden pflegt, die seinen Verstand übersteigen und ihm daher verdächtig sind.86 83 Sophokles, Elektra, Vers 155. 84 Antigone, Vers 68 und 780. Wenn Kreon Antigones Bestattung des Bruders als einen πόνος περισσός bezeichnet, so tritt wohl neben die Vorstellung des ·Übermäßigen« (weil der weiblichen Natur und der Pflicht des Bürgers Widersprechenden) zugleich die Vorstellung des »Überflüssigen« (cf. den oft erwähnten medizinischen Ausdruck περισσώματα). 8j Metaphysik I, 2 (982 b 32 ff.). 86 Cf. z. B. Nikom. Ethik VI (1141 b 6): »Daher gelten Anaxagoras und Thales und Denker ihrer Art als Repräsentanten philosophischer Weisheit, nicht

Die Melancholie in der naturwissenschaftlichen Literatur der Antike

Doch wenn dieser Begriff schließlich eine vornehmlich positive Bedeutung annimmt und demgegenüber das Mittelmaß (μέσον) zur blo-

ßen »Mittelmäßigkeit« absinkt, so läßt sich auch diese Entwicklung

wiederum auf Aristoteles zurückführen, der die Vorstellung des »Überragenden« über den Bereich des gefühlsbestimmten Handelns hinaus erweitert und auf die Region des rationalen Verhaltens und

sogar auf jene höchste menschliche Errungenschaft, die Kontemplation des Philosophen, ausgedehnt hat. In seiner NikomachUchen Ethik wird der »Größe der Seele« (μεγα-

λοψυχία) des überragenden Menschen ein weitaus höherer Wert zugemessen als dem von geringeren Naturen erlangten einfachen

Gleichgewicht der Kräfte. Der Großmütige wird beschrieben als »in

Beziehung auf Größe ein Extrem, in Beziehung auf das (richtige) Verhältnis Mittelmaß«.87

Eben diese Einstellung gegenüber der Größe als einem absoluten

Wert läßt auch das Nachdenken über die ersten Ursachen, das das

eigentliche Geschäft des Philosophen ist, als περιττόν - in der populären wie in der tieferen Bedeutung des Worts - erscheinen. Denn es

geht nicht nur über jegliches Wissen hinaus, das unmittelbar verwertbar oder auch von einem gewissen moralisch-politischen Nutzen ist,88

sondern man könnte es, da es Selbstzweck ist, sogar für etwas halten, was die menschliche Natur übersteigt und somit Privileg der Götter wäre. Aristoteles jedoch, der den alten Aberglauben an die eifersüchtige Gottheit verwirft, behauptet vielmehr, gerade durch ihre »trän-

szendierende< Qualität werde diese Weisheit zum wahren Ziel und

zum vollkommenen Glück des Menschen.89

aber der praktischen Einsicht, wenn man beobachtet, wie sie es nicht verstehen, ihren eigenen Vorteil wahrzunehmen - und man schreibt ihnen ein Wissen um bedeutende, großartige, schwer verständliche und unergründlich rätselhafte, fürs Leben aber unbrauchbare Dinge zu...« Übers. Franz Dirlmeier, Darmstadt 1974. 87 Oder: »absolut gesprochen ein Extrem, relativ gesprochen ein Mittelmaß« (Nikom. Ethik IV, 7, 1123 b 13: τφ μέν μεγέθει άκρος, τφ δέ ώς δεί μέσος). Auffallend ist die Ähnlichkeit dieses Gedankens mit folgendem Satz im Prohlem: »Da es möglich ist, daß die variable Mischung gut ausgewogen ist...« 88 Cf. Politik VIII, 2 (1137342): »...fürs Leben nützliche Disziplinen oder solche, die zur Tugend oder zu den περιττά neigen«. 89 Metaphysik I, 2 (983 a 2. ff.); Nikom. Ethik X, 7 (j 177b 26 ff.).

Die Melancholievorstellung im Peripatos: Das Problem XXX, 1

89

Wer auch immer der Verfasser des Problems XXX, 1 gewesen sein

mag (am wahrscheinlichsten Theophrast), er sucht denjenigen Mensehen zu begreifen und in gewisser Weise zu rechtfertigen, der groß

ist, weil seine Affekte über das Maß des Gewöhnlichen hinausgehen und weil er dennoch stark genug ist, sie trotz ihres Übermaßes im

Gleichgewicht zu halten - ein Typus, dem nicht nur Ajax und Belle-

rophon, sondern auch Platon und Sokrates angehören. Und so knüpft das Problem an genuin Aristotelische Denkmotive an. Die Begriffe des schöpferischen Wahns (μανία) und des Enthusiasmus waren für

den jungen Aristoteles durchaus annehmbar,90 und er hat sie auch im Laufe seiner Entwicklung nicht preisgegeben; sie sind vielmehr -

wenn auch nicht immer ausdrücklich genannt - in seinem Denken

und in seiner Empfindung wirksam geblieben. Derselbe Denker nämlieh, der gelegentlich die Worte μανικός und ενθουσιαστικός in ganz abschätzigem Sinn gebraucht,9' hat auf der anderen Seite die Dicht-

kunst selbst als inspiriert (ένθεον) bezeichnet92 und in der Poetik gesagt,91 daß der Dichter, da er sich alle Momente des Dramas an­

90 Cf. Werner Jaeger, Aristoteles, 1. veränderte Aufl., Berlin 1955, passim. Hier wird die μανία-Vorstellung ein wenig zu sehr als ein von Platon Übernom‫־‬ menes betrachtet, das für Aristoteles mit der Entwicklung zur Selbständigkeit weniger wichtig geworden sei; dagegen handelt es sich unserer Meinung nach um etwas dem Aristotelischen Denken durchaus Kongeniales, das im Laufe der Entwicklung nicht so sehr abgestoßen als vielmehr assimiliert und dabei selbstverständlich umgeformt wird. 91 Siehe z.B. Endern. Ethik 1230832; μή καλόν άλλά μανικόν. 92 Rhetorik III, 7 (14°®h 19). 9) Poetik 17 (145 5 a 33); cf. J. Vahlen, Beiträge zu Aristoteles’ Poetik, Neudruck besorgt von R. Schöne, Leipzig 1914 (vormals Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften, Phil.-hist. Kl. LII, Wien 1866, p. 129). Der ευφυής ist der von Natur mit Geistesgaben Ausgestattete (Gegensatz: der γεγυμναομένος), insbesondere derjenige, der kraft angeborenen Urteilsvermögens das Wahre erkennt und erwählt {Nikom. Ethik 1 j 14 b 7, Topik 163 b 13), und darf daher als εύπλαστος (bildsam, sich leicht in die Vorstellungen anderer einfühlcnd) bezeichnet werden. Statt έκστατικοί lesen Vahlen und andere έξεταστικοί, doch wäre eine Paarung von εύφυής mit εύπλαστοι und μανικός mit έξεταστικοί nicht ganz sinnentsprechend, da »Urteilsfähigkeit« weit eher zum εύφυής als zum μανικός passen würde. Cf. auch den arabischen Text, Jaroslaus Tkatsch, Die arabische Übersetzung der Poetik des Aristoteles I (Akademie der Wissenschaften in Wien, Phil.-hist. Kl., Kommission für die Herausgäbe der arabischen Aristoteles-Übersetzungen), Wien 1928, pp. 256 ff.

90

Die Melancholie in der naturwissenschaftlichen Literatur der Antike

schaulich vorstellen und alle Affekte seiner Helden in sich selbst un-

mittelbar nacherleben müsse, entweder talentiert (ευφυής) oder durch Wahnsinn inspiriert sein müsse, denn ersterer habe ein leicht formbares (εΰπλαστος) Wesen, letzterer sei ekstatisch.94

Freilich konnte dieser Wahn für Aristoteles nicht in dem Sinne >göttlieh« sein, daß er auf einem metaphysischen Ursprung zurückgefuhrt

werden müßte. Man konnte sogar sagen, daß er ihn erst dann akzeptieren konnte, wenn er seines transzendentalen Charakters entkleidet

und durch die Einbeziehung in den natürlichen Nexus von Ursache und Wirkung legalisiert worden wäre. Gerade diese Aufgabe stellt und löst nun aber das Problem XXX, 1.

Der mythische Begriff des Wahnsinns (μανία) wurde durch den na-

turwissenschaftlichen Begriff der Melancholie ersetzt, was um so

leichter geschehen konnte, als »melancholisch« und »verrückt« in rein pathologischem Sinne seit langem Synonyme waren und als die auch

dem krankhaften Melancholiker eignende Gabe der Wahrträume und Prophezeiungen der Platonischen Gleichsetzung von Mantik und Manik entsprach. Hierdurch erhielt die Melancholievorstellung ihrerseits einen neuen, positiven Inhalt, und auf diese Weise wurde es möglich, das Phäno-

men des »genialen Menschern zugleich anzuerkennen und begreiflich 94 Wichtig für Aristoteles’ Stellung zum Enthusiasmus und zur Mantik ist das Fragment des Sextus Empiricus, Adversus dogmaticos III, 20-22 (Aristotelis Fragmenta, ed. V. Rose, frag. 10). Ob Aristoteles selbst Melancholiker war, wissen wir nicht. Wenn ja, wäre es ein für die geistigen Voraussetzungen des Problems XXX, sehr aufschlußreicher Umstand. Bemerkenswert ist jedenfalls, daß ein boshaftes Spottgedicht die nämlichen Züge aufzählt, die in den echten Schriften des Aristoteles als Kennzeichen des Melancholikers erscheinen: σμικρός, φαλακρός, τραυλός ό Σταγειρίτης, λάγνος, προγάστωρ, παλλακαίς συνημμένος.

‫ז‬

(Aristotelis Fragmenta, ed. V. Rose, p. jo, am Schluß einer kurzen Aristoteles-Vita, die ebenfalls einige der hier verspotteten Züge namhaft macht.) Dagegen besteht kein Zweifel daran, daß sich der Melancholikertypus, wie er im Problem XXX, 1 gefaßt ist, in den Gestalten anderer großer Philosophen manifestierte. Zu Heraklit siehe unten, Seite 92; und Sokrates wird glaubhaft als ein völlig »unbeherrschter«, aufbrausender und sinnlicher Mensch geschildert, der nur durch Willensanstrengung zum Philosophen geworden sei.

Die Melancholievorstellung im Peripatos: Das Problem XXX, t

91

zu machen. Nur der platonische Gedanke, daß ein abnormer, von

außen betrachtet geradezu dem Irrsinn vergleichbarer Zustand, der den tiefen Denker in den Augen der Welt als Narren erscheinen

läßt,95 den Urquell aller großen geistigen Taten bedeute, konnte in

einem mehr naturwissenschaftlich als metaphysisch orientierten Geist die Vorstellung entstehen lassen, daß auch die gefürchtete Melancholie die ihr Verfallenen mit Geistesgaben ausstatte, die die Vernunft der Vernünftigen übertreffen. Und nur die im Phaidros96 vollzogene

Trennung zwischen dem göttlichen Wahn und dem Wahn als

menschlicher Krankheit ermöglichte den im Problem XXX, 1 gesetz-

ten Unterschied zwischen der natürlichen und der krankhaften Me-

lancholie (μελαγχολία διά φύσιν ή διά νόσον). Doch erst der Aristotelische Begriff von Materie in Verbindung mit der Aristotelischen Wärmelehre schuf die Möglichkeit, die vielgestaltige »Heftigkeit« des

Melancholikers im Sinne dieser klaren Gegensätzlichkeit zu ordnen. Und erst die Aristotelische Theorie des »Mittelmaßes« erlaubte es, zwischen den Polen einer solchen Gegensätzlichkeit jenen fruchtbaren Schwebezustand einer »Eukrasie innerhalb der Anomalie« zu

denken, der die scheinbar paradoxe Behauptung, daß nur das Abnorme das Große sei, begründet. Das Wunder des genialen Menschen

bleibt bestehen, doch es wird (wodurch es vielleicht noch wunderbarer erscheint) nicht mehr als Einbruch des Mythischen in die Realität

verstanden, sondern als Selbsterhöhung der Natur, die nach ihren

Eigengesetzen den Menschen - freilich notwendigerweise sehr selten - zum Übermenschen macht. So steht das Problem XXX, 1 an einem Punkt der Geistesgeschichte, an dem sich Platonismus und Aristotelismus wechselseitig durchdrin-

gen und die Waage halten. Platonisch ist die Bewertung des Manisehen als der alleinigen Grundlage höchster schöpferischer Begabung.

Aristotelisch ist das Bestreben, die damit anerkannte geheimnisvolle Verwandtschaft zwischen Genialität und Wahnsinn, die Platon nur

durch einen Mythos auszudrücken vermochte, in das helle Licht rational-naturwissenschaftlicher Erkenntnis zu rücken und den Gegen-

95 Johannes Adelphus Mulichius, ein deutscher Autor des 16. Jahrhunderts, verwendet das Wort »schellig« in seiner Ficino-Übersetzung, Straßburg, ca. 1505 (zitiert Seite 403). 96 Phaidros 265 A.

9*

Die Melancholie in der naturwissenschaftlichen Literatur der Antike

satz zwischen der Welt der Dinge und der Welt der Ideen durch eine neue Fassung des Naturbegriffs aufzuheben. Diese Verbindung

führte zu einer Umwertung von Werten, die die Gleichsetzung der

»Vielen« mit dem »Durchschnitt« bewirkte und dem pathetischen »Sei anders!« den Vorzug vor dem ethischen »Sei gut!« gab - ein Subjekti-

vismus, der typisch hellenistisch ist, was vielleicht seinen eigentumlieh modernen Anstrich erklärt. Der göttliche Wahn wird zu einer

Erregbarkeit der Seele gemacht und damit die Größe des geistigen

Menschen an das Maß seiner Erlebnis- und insbesondere seiner Lei-

densfahigkeit geknüpft. Damit ist die Auffassung des Problems XXX, i im Einklang mit der des Theophrast, der als erster ein ganzes

Buch über die Melancholie verfaßte und bei dem es von Heraklit

heißt, er habe aufgrund der Melancholie die Mehrzahl seiner Werke

unvollendet hinterlassen oder aber sich in Widersprüche verwik-

kelt.97

Zum ersten Mal wird der - in dem Wort »Melancholie« bereits ent-

haltene - dunkle Urgrund des genialen Wesens aufgedeckt. Der göttliehe Wahn des Platon ist die Erinnerung an ein verlorenes, nur in Augenblicken der Ekstase wieder erschaubares Reich »überhimmlisehen« Lichts: die Melancholie des Peripatos ist eine Erlebensform, innerhalb deren die Helle nur ein Korrelat der Finsternis ist, inner-

halb deren der Weg zum Licht, dem Verständnis späterer Zeiten zufolge, durch einen von Dämonen bewohnten Abgrund führt.’8

III. DIE NACHPERIPATETISCHE ENTWICKLUNG DER MELANCHOLIEVORSTELLUNG

Es ist verständlich, daß eine adäquate Weiterentwicklung dieses Ge-

dankens zunächst nicht möglich war. Ein wirkliches Verständnis des

Problems XXX, 1 konnte sich nicht eher anbahnen, als die hier antizipierte Erscheinung für das theoretische Bewußtsein zur Wirklichkeit

geworden war: die Erscheinung des Genies. Man darf behaupten, daß

erst die italienische Renaissance des 15. Jahrhunderts das Problem in seiner vollen Bedeutung begriffen und freilich auch sogleich umge-

97 Diogenes Laertius, De vitis V, 2, 44 und IX, 1, 6. 98 Siehe unten, Seite )62 ff. (Text).

Die nachperipatetische Entwicklung der Melancholievorstellung

93

formt hat. Die antiken Schriftsteller haben zwar die Hauptthese, daß alle bedeutenden Männer Melancholiker gewesen seien, teils mit einer

gewissen kühlen Verwunderung," teils mit eindeutiger Ironie wieder-

gegeben,99 100 verloren ging jedoch das Gefühl für die tragische Anoma-

lie des überragenden Menschen, der zwischen inspiratorischen AufSchwüngen und tiefen Depressionen hin- und hergerissen ist. Und verloren ging auch die diese Anomalie begründende Anschauung vom Wesen des melancholischen Saftes als solchem, der gleich einem über-

empfindlichen Präzisionswerkzeug durch jede äußere oder innere Einwirkung aus dem Gleichgewicht gebracht werden kann. Nach der

die »thermodynamische Ambivalenz« nicht berücksichtigenden Qualitäten- und Elementenlehre ist die schwarze Galle auch weiterhin ein

kalter, trockener und erdiger Stoff101 und nichts weiter. Was von der neuen Konzeption bleibt, ist - abgesehen von den im

Problem XXX, 1 und in den authentischen Schriften des Aristoteles beschriebenen Symptomkomplexen - zum einen das Gefühl für eine besondere Beziehung der Melancholie zum geistigen Leben und zum

anderen die Einsicht, daß zwischen dem, was »natürlich«, und dem, was »krankhaft« ist, scharf unterschieden werden müsse, daß also die

Säfte im Hinblick auf ihre »natürliche« Vorherrschaft auch für den

seelischen Zustand des Menschen bestimmend seien. Beide Momente sind wichtig genug: das erste für die Weiterentwicklung der patholo-

gischen, das zweite für die Neubildung einer rein charakterologischen Melancholievorstellung. Letztere sollte noch vor dem Ausgang des

Altertums mit dem System einer Lehre von den vier Temperamenten als Charakterbildern verschmelzen. 99 Cicero, !oc. cit. (cf. De divinatione I, 81), Plutarch, loc. cit., siehe oben, Seite 81, Anm.6j. Aulus Gellius, Noctium Atticarum libri 20, XVIII, 7, 4: ‫״‬Cumque digressi essemus, ►Non tempestive«, inquit Favorinus, »hunc hominem accessimus. Videtur enim mihi έπισημως μαίνεσθαι. Scitote«, inquit, »tamen intemperiem istam, quae μελαγχολία dicitur non parvis nec abiectis ingeniis accidere, άλλα είναι σχεδόν τι τό πάθος τούτο ήρωίκόν et veritates plerumque fortiter dicere, sed respectum non habere μήτε καιρού μήτε μέτρου’.* ιοί Ci. vor allem Rufus, p. 355, 2: ‫־‬ψυχρός γάρ καί ξηρός ό μελαγχολικός χυμός; ferner Galens Kommentar zu Περί φύσιος άνθρώπου I, 4041‫( ־‬Corp. med. Gr. V, 1, p. 51), zitiert z. B. von Alben dem Großen: siehe oben, Seite 86, Anm. 82.

!‫סס‬

94

Dic Melancholie in der naturwissenschaftlichen Literatur der Antike

1. Die Melancholie als Krankheit

Was die Weiterentwicklung der pathologischen Melancholievorstel■ lung betrifft, so läßt sich zwischen einer moralphilosophisch-werten-

den und einer rein medizinisch-therapeutischen Richtung unterschei-

den. Jene wird vertreten durch die Stoiker, diese vornehmlich durch

Rufus von Ephesus (ca. 200 n. Chr.), der für die Geschichte des medizinischen Melancholiebegriffs ebenso bedeutend ist wie der Verfasset

des Problems XXX, 1 für die Geschichte der philosophisch-psychologischen Genievorstellung.

a) Die stoische Auffassung

Die Stoiker behaupten, der Weise könne niemals dem Wahnsinn verfallen, weil die Begriffe der Weisheit und des Wahns sich gegenseitig ausschließen - so sehr, daß umgekehrt jeder Nicht-Weise geradezu als

ein »Wahnsinniger« bezeichnet werden kann (»Ebenfalls wahnsinnig sind all diejenigen, die nicht weise sind.«).102103 Doch obwohl demnach der stoische Weise vor dem Wahnsinn sicher ist, kann er merkwürdigerweise gelegentlich der Melancholie anheimfallen. »Der Weise kann

nicht verrückt werden, doch kann er gelegentlich Wahnvorstellungen unterworfen sein, die von der Melancholie oder vom Delirium

herrühren.«,0J Er kann sogar die Tugend verlieren, die doch nach stoischer Anschauung im allgemeinen unvergänglich ist: Diogenes

Laertius zufolge erklärte Chrysipp, der Weise könne seiner Tugend­

102 Μαίνεσθαι όμοίως πάντας, όσοι μή σοφοί, Stoicorum veterum fragmenta, ed. J. von Arnim, Bd. III, frag. 658, 662, 663,668. Mi( frag. 664: πάντας τούς άφρονας μαίνεσβαι... άλλα κατά την ίσην τή άφροσύνη μανιάν πάντα πράττειν, cf. frag. 665 (= Cicero, Tuse. Disp. IV, 54): »Stoici, qui omnes insipientes insanos esse dicunt.« Cf. ferner frag. 666: »Stoici omnes homines insanos et stultos esse dicunt, excepto sapiente.« Danach ist die Behauptung, daß der Weise nie dem Wahnsinn verfallen könne, ganz logisch: wer μή σοφός (insipiens) ist, ist ein μαινόμενος (insanus), und da der σοφός nicht μή σοφός sein kann, kann er auch kein μαινόμενος sein. 103 Diogenes Laertius, De vitis VII, 118 = J. von Arnim (ed.), op.cit., Bd. 111, frag. 664.

Die nachperipatetische Entwicklung der Melancholievorstellung

95

haftigkeit durch Melancholie verlustig gehen;'04 und allem Anschein nach war dies die allgemeine Lehre der Stoiker. Auch Cicero hat sie

sich zu eigen gemacht, wobei er nicht ohne einen gewissen Nationalstolz den lateinischen Ausdruck »furor«, durch den er das griechische

»melancholia« wiedergibt, als einen treffenderen rühmt, weil er un-

mittelbar und deutlich die seelische Erschütterung bezeichne, die aus dem Ausdruck »Schwarzgalligkeit« nicht ohne weiteres herausgelesen

werden könnte.104 105 Die Gegner der stoischen Tugendlehre haben diese Konzession des Weisen an die Schwächen der Menschennatur mit Eifer und einiger Schadenfreude aufgegriffen.106

An dieser stoischen Lehre ist uns folgendes wichtig. Einerseits biegt sie den Begriff der Melancholie in einem durchaus voraristotelischen

Sinn in eine reine Krankheitsvorstellung, und zwar in die einer außerst schweren Erkrankung, zurück. Cicero nennt sie »mentis 2d

omnia caecitas« und stellt sie der »insania« gegenüber, die auf bloßer

Torheit beruhe und daher eine mittelmäßige Geschäftsfähigkeit und

Lebenstüchtigkeit nicht ausschließe. Andererseits aber behandeln die

Stoiker diese Erkrankung durchgängig als ein negatives Privileg des Weisen. Melancholie als Disposition hat zwar aufgehört, die wesentli-

ehe Bedingung der überragenden Begabung zu sein, aber sie ist als

Krankheit die wesentliche Gefahr des überragend Begabten geblieben. Sie allein hat das Vorrecht, einem Menschen zu nehmen, was sie

ihm nach peripatetischer Anschauung zu geben vermochte. Erst Poseidonios scheint wenigstens die Prophezeiungsgabe des krankhaften

Melancholikers wieder anerkannt und von hier aus eine naturwissenschaftliche Begründung für das der Stoa so wichtige Phänomen der

Mantik gewonnen zu haben.107 Diese Begründung mußte freilich 104 J. von Arnim (ed.), op. cit. Bd. III, frag. 237; das διά μέθην ist wahrscheinlich ein Zusatz des Diogenes Laertius, da es im Begriff der stoischen lügend liegt, daß der > Weise« dem Rausch nicht zum Opfer fallen kann. 10; Tuse. disp. III, 5, 2. 106 J. von Arnim (ed.), op.cit., Bd.III, frag. 238 (cf. auch frag. 239). 107 Sextus Empiricus, Adversus dogmaticos I, 247. Innerhalb der wahren Vorstellungen wird zwischen »kataleptischen«, d. h. auf evidenter Wahrnehmung beruhenden, und solchen unterschieden, die im Zustand des πάθος begegnen. Zu diesen letzteren gehören die zwar wahren, aber nicht »kataleptisehen« und daher subjektiv unsicheren φαντασίαι der φρενιτίζοντες καί μελαγχολώντες. Auf dieser Linie, die also weniger die Genietheorie des

96

Die Melancholie in der naturwissenschaftlichen Literatur der Antike

eben wegen ihres naturwissenschaftlichen Charakters bei einem von mystischen Tendenzen bestimmten Denker wie Jamblich auf heftigen Widerspruch stoßen.108

b) Asklepiades, Archigenes und Soran

In der Einleitung zu seiner Monographie über die schwarze Galle hat Galen die älteren Schriften über dieses Thema Revue passieren lassen.

Er übt dabei in ziemlich boshafter Weise Kritik an denjenigen, die aus

bloßem Widerspruchsgeist heraus die wahre Lehre bekämpft hätten,

vor allem an denjenigen, die »sich selbst Erasistratiden, Asklepiaden und Methodiker nannten«.109 Allen diesen Häretikern ist gemeinsam, daß sie sich, dem Beispiel der Knidischen Ärzteschule folgend, mit mehr oder weniger großer Entschiedenheit von der Koischen Humores-Lehre abgewendet hatten und daher den Begriff der Melancholie-

soweit sie sich überhaupt mit ihr beschäftigten, was Erasistratos selbst, Galen zufolge, »gar nicht gewagt hatte« - auf neue Weise zu bestimmen versuchten. Problems XXX, 1 als die in der Eudemischen Ethik vertretene Vorstellung vom wahrsagungsbegabten Melancholiker fortsetzt, stehen auch Äußerungen wie die Ciceros in De divinatione I, 81 (Aristoteles habe den Melancholikern »aliquid praesagiens atque divinum« zugeschnebenj oder die Plutarchs, der die herrschende Meinung von den Wahrträumen der Melancholiker bekämpft: da sie viel träumen und viel phantasieren, treffen sie oft durch Zufall das richtige (De defectu oraculorum 50). 108 Iamblich, De mysteriis III, 8, 25, ed. G. Parthey, Berlin 1857, pp. 116f.; 158. Der melancholische Furor gehöre zu denjenigen Ekstasen, die uns, wieTrun * kenheit oder Tollwut, έπί τό χείρον herabziehen, der echt mantische Furor dagegen trage uns έπί τό βέλτιον empor und sei weder eine Anlage des Körpers noch der Seele noch des aus deren Verbindung bestehenden »naturlichen« Menschen, sondern etwas schlechthin Supranaturales, nämlich τά καθήκοντα άπό τών θεών φώτα, oder, wie er an anderer Stelle sagt (ed. eit., p. 100), όρμωμένη ούτε άπό τών περί τοίς σώμαος παθημάτων. Daher steht bei ihm der melancholische Furor in ausdrücklichem Gegensatz zur θεία μανία. 109 Galen (Kühn), Bd.V, p. 105 (= Corp. med. Gr. V 4, 1.1, p.71), teilweise abgedruckt bei Rufus, p. 291.

Die nachpcripatetische Entwicklung der Melancholievorstellung

97

Die Lehren des Asklepiades von Bithynien, der im Jahr 91 v.Chr. nach Rom kam, ein Freund Ciceros und anderer vornehmer Römer

wurde und die griechische Medizin zum ersten Mal auf italienischem Boden zu Ansehen brachte,',‫ כ‬sind uns vor allem durch den unter Tiberius schreibenden Aulus Cornelius Celsus überliefert.1,1 Aus

dem Werk dieses Celsus erfahren wir erstmals von einer systematisehen Einteilung der Geisteskrankheiten in drei Unterarten: 1. die

Phrenesie, die akut auftritt und von Fieber begleitet ist, 2. die länger währende, in der Regel fieberlose »tristitia quam videtur atra bilis

contrahere« und 3. die absolut chronische Form, die entweder in einer Verwirrung der Phantasie, teils trauriger, teils heiterer Art, oder aber in einer Verwirrung des Verstandes besteht. Demnach ist nicht

nur die zweite, sondern auch die dritte Art dem zuzurechnen, was ältere - und dann auch wieder jüngere - Autoren als »Melancholie«

bezeichnet haben. Das geht schon daraus hervor, daß sie unter ande-

rem an Ajax exemplifiziert wird, den das Problem XXX, 1 ausdrücklieh unter den Melancholikern namhaft macht. Celsus geht kaum auf

Symptome und Ursachen ein, sondern beschränkt sich vornehmlich auf therapeutische Vorschriften. Den allgemeinen Grundsätzen des

Asklepiades entsprechend, basiert die Behandlung aller dieser Krankheiten weniger auf dem Gebrauch von Arzneimitteln und operativen Eingriffen112 als auf diätetischen und, was am wichtigsten ist, auf psychischen Heilfaktoren. Genannt werden der Aufenthalt in hellen

Räumen (entgegen der älteren Meinung, daß Dunkelheit beruhige), Vermeidung schwerer Kost, Mäßigung im Weintrinken, insbesondere

im Genuß schweren Weins, Massage, Bader, Bewegungskuren und bei genügend kräftigem Körperzustand Gymnastik; Bekämpfung der

Schlaflosigkeit nicht durch Medikamente, sondern durch sanftes Wie-

gen oder durch das Geräusch plätschernden Wassers; Wechsel des 11O K.Sudhoff, Kurzes Handbuch zur Geschichte der Medizin, Berlin 1922, PP 93 ff· π t A. Cornelii Celsi quae supersunt, ed. F. Marx (Corpus medicorum Latinorum, Bd. I, Leipzig 1915, pp. 122 ff.). Hierzu und zum folgenden cf. Μ. Weilmann, A. Cornelius Celsus, eine Quellenuntersuchung, Berlin 1913, pp. 10$ ff., und J. L. Heiberg, Geisteskrankheiten im klassischen Altertum, Berlin 1927, Son * derdruck aus Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie, Bd. LXXXVI. 112 Unter anderem Verabreichung von Nieswurz (Helleborus), im Altertum und noch in neuerer Zeit als Mittel zur Verstandesstärkung sprichwörtlich.

98

Die Melancholie in der naturwissenschaftlichen Literatur der Antike

Aufenthaltsortes, längere Reisen;1’1 insbesondere Fernhalten aller beängstigenden Vorstellungen, erheiternde Gespräche und Vergnügun-

gen, sanfte Ermahnungen, Eingehen auf fixe Ideen, Diskussionen, bei denen der Kranke mehr durch unmerkliche Suggestion als durch of-

fenen Widerspruch umgestimmt werden soll, vor allem aber Musik, deren bereits durch Theophrast bezeugte“4 psychiatrische Anwendüng durch Asklepiades abschließend systematisiert worden ist.“5 So

wissen wir sogar, weiche Tonarten er gegen die verschiedenen Formen der geistigen Leiden anzuwenden riet.“6 Damit war ein Urgedanke der Menschheit, der in den Lehren der Pythagoräer ebenso

zum Ausdruck kommt wie in den Orpheusmythen und in der biblisehen Erzählung von Saul und David, mit Platons Anschauungen

über die ethische Wirkung der einzelnen Tonarten“7 zu einer »Musik-

therapie< verbunden worden, die bis in die neueste Zeit Geltung beanspruchte“8 und sogar gegenwärtig in gewisser Weise wiederaufzule-

ben scheint. Anders als Asklepiades selbst hat sein Schüler Titus aber auch für gewisse Fälle die sogenannte Schocktherapie und bei gewalttätigen Kranken ausgesprochene Zwangsmaßnahmen empfohlen,

vom Zwang zum Auswendiglernen bis zu Fesselung, Peitschenhieben

(die auch im Mittelalter häufig angewendet wurden, siehe Tafel 72),

nj Die Empfehlung von Reisen als Aufheiterungsmittel ist typisch: Porphyrios berichtet in Kapitel XI seiner Vita Plotini, er selbst sei einmal dem Selbstmord nahe gewesen; Plotin habe dies als aufkommende έκ μελαγχολικής τίνος νόσου, diagnostiziert und ihm geraten zu verreisen, und dadurch sei er gerettet worden. 114 Theophrast, iragm.87, Opera omnia, ed. F.Wimmer, Paris 193t, p.436 ( = Athenaios, Deipnosophistai, XIV, 624a); fragm.88, ibid. 115 Censorinus, De die natali XII, 4; Caelius Aurelianus, De morbis acutis et chronias, Amsterdam 1709, chron.I,), pp. 3}8ff.: »Asclepiades secundo Iibro adhibendam praecepit cantilenam.« 116 Caelius Aurelianus, op. cit., p. 337: «Die Traurigen sollen durch phrygische Melodien erheitert, die Albernen durch dorische ernster gestimmt werden«. 117 Staat 398 D ff.; über die phrygische und dorische Tonart siehe insbes. 399 AC; ferner cf. Aristoteles, Politik VIII, 41339) 9‫ ־‬b ff.); Plutarch, Περί μουσικής ιγ; in christlicher Zeit Cassiodori Senatoris Variae 11, 40, ed. Th. Mommsen, Berlin 1894, Monumenta Germaniae Historica, Auctores Antiquissimi, Bd. XII, pp. 70-72. 118 Cf. unten. Scite (49, 385 ff. und passim (Text).

Die nachperipatetische Entwicklung der Melancholievorstellung

99

Entziehung von Speise und Trank, künstlicher Berauschung und Ver-

leitung zu sexuellen Exzessen.“9 Gleichsam den Gegenpol zu dieser Asklepiadischen Lehre stellt die des Archigenes von Apamea dar, der unter Trajan lebte und als einer

der letzten und bedeutendsten Vertreter der »pneumatischen *

Schule

gilt.“0 Asklepiades hatte die »anscheinend von der schwarzen Galle kommende« Erkrankung sowohl von der akuten Phrenesie als auch von der chronischen Form des Wahnsinns abzusondern versucht.

Demgegenüber anerkennt Archigenes nur »Melancholia« und »Mania«. Überdies schränkt er diesen Unterschied insofern noch weiter ein, als er die Melancholie prinzipiell von der »atra bilis« unabhängig

macht“' und sie lediglich als »Vorform oder Symptom der Mania«

betrachtet. Allerdings gibt er zu, daß die jähzornigen, heiteren und vehementen Naturen mehr zu der manischen, die stumpfen, traurigen und geistig schwer beweglichen dagegen mehr zu der melancholisehen Erkrankung neigen, die er als eine auf eine fixe Idee zurück-

gehende fieberlose Depression beschreibt (έστι δέ (ή μελαγχολίη) άθυμίη έπί μιή φαντασίη άνευθε πυρετού- δοκέει δέ μοι μανίης γε

έμμεναι αρχή καί μέρος ή μελαγχολίη).,‫ ״‬Und während bei Asklepiades eine gewisse Vernachlässigung der Semiotik, dafür aber eine starke Betonung der psychischen Heilfaktoren zutage tritt, ist bei

Archigenes genau das Umgekehrte der Fall. Seine Analyse der Sym-

119 Neben Celsus cf. Caelius Aurelianus, De morbis acutis et chronicis, cap. cit., p. 339; Μ. Wellmann, A. Cornelius Celsus, eine Quellenuntersuchung, p. 65. 120 Überliefert durch Aretaeus III, 5 (Opera omnia, ed. C.G.Kühn, Leipzig 1828, p. 74; ed. C. Hude, Corp. med. Gr. II, p. 39, dessen Text wir folgen.) Wie Μ. Wellmann und O. Temkin in der meisterlichen Studie ‫״‬Geschichte des Hippokratismus im ausgehenden Altertum« (Kyklos IV, Leipzig 1932) waren wir der Meinung, daß Arctaeus die Lehren des von Galen hochgepriesenen Arztes Archigenes wiedergibt. Inzwischen hat die scharfsinnige Analyse Fndolf Kudliens («Untersuchungen zu Aretaios von Kappadokien«, Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Abhandlungen der Geistes- und Sozialwiss. Kl., Jg. 1963, Nr. 11) die Originalität des Aretaeus und die Abhängigkeit des Archigenes von diesem wahrscheinlich gemacht. 121 Μετεξετέροιοι δέ ούτε φύσα ούτε μέλαινα χολή έγγίγνεται, όργή δέ άκρητος καί λύπη καί κατηφείη δεινή, καί τούσδε ών μελαγχολικούς καλέομεν. χολή μέν τής όργής ξυμφραζομένης. μελαίνη 6έ πολλής καί θηριώδεος (Aretaeus III, 5> 2). 122 Aretaeus III, 5, 3■

IOO

Die Melancholie in der naturwissenschaftlichen Literatur der Antike

ptome ist von einer zum Teil bis heute unübertroffenen Schärfe und Feinheit, die Therapie dagegen - im allgemeinen der Asklepiadischen

nicht unähnlich - sieht von allen psychischen Mitteln ab, abgesehen davon, daß die Maßnahmen gegen die Schlaflosigkeit dem geistigen

Habitus des Patienten angepaßt werden sollen, etwa der Musiker

durch Musik, der Lehrer durch kindliches Geplapper eingeschläfert werden soll. Auffällige Symptome der Melancholie sind ihm zufolge:

dunkle Hautfarbe,'13 Aufgetriebenheit, übler Geruch,’14 Gefräßigkeit bei anhaltender Magerkeit, Depressionen, Menschenscheu, Neigung zum Selbstmord, wahre Träume, Ängste, Visionen sowie der Sprunghafte Wechsel von Gehässigkeit, Kleinlichkeit und Geiz zu Umgäng-

lichkeit und Großzügigkeit. Wenn aus der bloßen Melancholie manifester Wahnsinn geworden ist, treten vielfältige Halluzinationen, Dämonenfurcht und Wahnvorstellungen auf (Gebildete ergehen sich

in phantastischen astronomischen oder philosophischen Theorien und vermeintlich von den Musen inspirierten künstlerischen Tätigkeiten, Ungebildete glauben, auf anderen Gebieten hervorragend be-

gabt zu sein) sowie religiöse Ekstasen und sonderbare fixe Ideen, wie

etwa die Zwangsvorstellung, ein irdener Topf zu sein. Als Grund der Krankheit führt Archigenes nur Hitze und Trockenheit an, als Anlaß

Völlerei, unmäßige Fülle, Trunkenheit, Wollust, Unmäßigkeit im Sexualgenuß sowie die Störung der normalen Exkretionen. Die Schule der von Galen mißbilligten »Methodiken war von Themison, einem Schüler des Asklepiades, beeinfluße Zu dieser Schule ge-

hört der in der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts lebende Soran von

Ephesus,113 der in diagnostischer Beziehung nicht allzuviel Neues

bringt, an den therapeutischen Lehren seiner Vorgänger aber scharfe

Kritik übt. Im allgemeinen tritt er für eine mildere Behandlung der Kranken ein, wobei er die psychischen Heilfaktoren wieder stark in

den Vordergrund stellt. Er hat die Therapie um viele, teilweise sehr

subtile Züge bereichert.116 So soll zum Beispiel das Bett des Kranken123 *126 124

123 Aretaeus III, 5, 7: χροιή μελάγχλωρος. 124 Aretaeus III, 5, 1: φύσάν τε γάρ έμποιέε» χαί έρυγάς κακώδεας. ίχθυώόεας; III, 5, ‫ \ך‬έρυγαί κακώδεες, βρωμώδεες. 12; Überliefert durch Caelius Aurelianus, op. cit., I, 5 und 6 (pp. 325 ff.). 126 Für die Folgezeit wichtig ist die Betonung der Seereisen, die auch Vindician empfiehlt.

Die nachpcripatetische Entwicklung der Melanchohcvorstcllung

ΙΟΙ

so gestellt werden, daß er nicht durch den wechselnden Gesichtsausdruck der Besucher beunruhigt werden kann; bei Unterhaltungen soll

man ihm Gelegenheit zu erfolgreichem Widerspruch geben, um sein Selbstbewußtsein zu stärken; bei der Musiktherapie ist die Flöte als allzu aufregend zu vermeiden usw. Für uns ist Soran vor allem da-

durch von Interesse, daß er zwischen »Mama« und »Melancholia« wieder strenger zu unterscheiden versucht (jene hat ihren Sitz 1m

Kopf, diese im Körperinneren) und daß er die »von den meisten«

vertretene und selbst von Archigenes nur innerhalb gewisser Grenzen bezweifelte Meinung, die Melancholie werde durch die schwarze

Galle verursacht, ausdrücklich bestreitet! Man nennt sie Melancholie, da die an ihr Erkrankten beim Erbrechen häufig schwarze Galle mitausspuckcn... und nicht, wie die meisten glauben, weil die schwarze Galle etwa Ursache oder Ursprung der Krankheit wäre; letzteres heißt, die Wahrheit eher erraten wollen, als sjc wirklich zu erkennen - ja, es ist sogar falsch, wie wir an anderer Stelle zeigen werden.“7

c) Rufus von Ephesus Die Lehren der bisher genannten Ärzte konnten für die weitere Ent-

wicklung nur eine partielle und mittelbare Bedeutung gewinnen.

Denn die Zukunft gehörte nicht den Gegnern der Koischen Humoralpathologie. Vielmehr sollte durch seinen großen Vertreter Galen

der Eklektizismus zu fast unbestrittener Herrschaft gelangen. Galen

aber sah seine Aufgabe gerade darin, der alten Humores-Lehre, wenn auch in zeitgemäß reformierter Gestalt, wieder Geltung zu verschaf-

fen. Dieser Eklektizismus machte sich zwar gelegentlich die diagnostischen und therapeutischen Erkenntnisse der »Asklepiaden und Methodiker« zunutze, konnte jedoch nicht ihre ätiologischen Anschauungen als maßgebend anerkennen, und wir haben bereits ge-

hört, wie bitter sich Galen über ihre Melancholieauffassung geäußert 127 ·Melancholia dicta, quod nigra fella aegrotantibus saepe per vomitum veniant... et non, ut plerique existimant, quod passionis causa vel generatio nigra sint fella; hoc enim est aestimantium magis quam videntium veritatem, vel potius falsum, sicut in aliis ostendimus.« Caelius Aurelianus, op.cit., I, 6,

P-359·

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Die Melancholie in der naturwissenschaftlichen Literatur der Antike

hat. Um so mehr aber würdigt er den in der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts n. Chr. tätigen Rufus von Ephesus. Dessen Werk Über die

Melancholie, das sich aus ausdrücklichen und stillschweigenden Zitaten anderer Autoren partiell rekonstruieren läßt, bezeichnet Galen als

die beste, geradezu einwandfreie Darstellung dieses Themas.128129 Die Lehre dieses Rufus von Ephesus sollte denn auch die Anschauun-

gen der Schulmedizin bis an die Schwelle der neuesten Zeit beherrsehen. Galen hat sich ihm vorbehaltlos angeschlossen, und auch die

großen Araber des 9. Jahrhunderts haben sich seine Lehren zu eigen gemacht. Einer von ihnen, Ishaq ibn Amrän, nennt des Rufus Schrift »das einzige antike Werk, das einen zu befriedigen vermöchte«. Seine

mithin vor allem auf Rufus beruhende Melancholieabhandlung

scheint die unmittelbare Vorlage für die Monographie des Constantinus Africanus gewesen zu sein. Da nun Constantinus aufgrund seiner engen Beziehung zur Salernitanischen Ärzteschule einen entscheiden-

den Einfluß auf die Medizin des abendländischen Mittelalters ausübte, ist die Behauptung statthaft, daß Rufus von Ephesus der medizinischen Melancholievorstellung für mehr als fünfzehnhundert Jahre

die Richtung gewiesen hat.12’ Rufus hat zunächst, was für uns das wichtigste ist, die im Problem XXX, 1 hergestellte Verbindung zwischen Melancholie und Geist, die die anderen Ärzte zerschnitten hatten, wieder geknüpft. Dabei nä-

herte er sich freilich der stoischen Ansicht und deutete das Band zu

128 Die Hauptstellen sind: das durch Rhazes überlieferte Fragment (Rufus, p. 454, 18 ff.); das Exzerpt des Aetius (Rufus, p. 354, 7 ff.); und das Fragment bei Rufus, p. 320, 8 ff., ebenfalls aus Aetius. Cf. J. Ilberg, Rufus von Ephesos, Leipzig 1930 {Abhandlungen der Sächsischen Akademie der Wissenschaften, Phil.-hist. klasse, Bd. XLI, p. 35).

129 Cf. A. Bumm, Über die .Identität der Abhandlungen des Ishak ibn Amrän und des Constantinus Africanus über Melancholie, München, Prtvatdruck, o.J. R.Creutz und W. Creutz, Archiv für Psychiatrie XCVI1 (1932), pp. 244 fr, versuchen zu beweisen, daß Constantinus seine Kenntnis nicht Ishaq, sondern Rufus direkt verdanke, doch beruht ihr Beweis (der im übrigen ohne Heranziehung des Ishäqschen Originaltexts geführt wird) hauptsächlich darauf, daß Constantinus zwar Rufus, aber nicht den Araber als seinen Gewährsmann nennt, was jedoch in Anbetracht mittelalterlicher Ziuergepflogenheiten wenig besagt. Für uns ist die Frage, ob Constantinus die Melancholieabhandlung des Rufus mittelbar oder unmittelbar benutzte, verhältnismaßig irrelevant.

Die nachperipatetische Entwicklung der Melancholievorstellung

103

einer lebensgefährlichen Schlinge um. Auch er sieht in erster Linie

den geistigen Menschen, den »Menschen von feinem Verstand und großem Scharfsinn«, von der Melancholie bedroht, denn, so heißt es

bei ihm ganz wie bei Aristoteles:

Diejenigen, die scharfsinnig und von besonderer Auffassungsgabe sind, verfallen leicht in melancholische Stimmungen, weil sie leicht erregbar, vorausschauend und von lebhafter Einbildungskraft sind.130131 Doch der Arzt geht einen Schritt weiter als die Moralphilosophen. Für den Verfasser des Problems XXX, 1 war der geistige Rang gera-

dezu eine Folge der natürlichen Melancholie, für die Stoiker kam er

nur einer Prädisposition für die krankhafte Melancholie gleich, für Rufus aber wird die geistige Tätigkeit zur unmittelbaren Ursache der melancholischen Erkrankung:

Er sagte, langes Nachdenken und Traurigkeit verursachten Melancholie.13' Diese Wendung kehrt das in Problem XXX, 1 konstatierte Verhältnis

von Ursache und Wirkung gänzlich um und macht aus dem tragisehen Schicksal des genialen Menschen den >Spleen< des überarbeite-

ten Gelehrten. In dieser Wendung ist somit der ganze Gegensatz

enthalten, der eine spezifisch ärztliche Blickrichtung und Zielsetzung von der naturphilosophischen wie von der moralphilosophischen

trennt und der die Melancholieauffassung auf lange Zeit bestimmen

sollte. Sodann hat Rufus nicht nur in diagnostischer, sondern auch in ätiologischer Beziehung die von den heterodoxen Ärzten vernachlässigten

Beobachtungen und Entdeckungen der Peripatetiker wieder zu Ehren gebracht. Das Krankheitsbild des Melancholikers steht nunmehr fest: er ist aufgetrieben, dunkelhäutig, von allerlei Begierden geplagt, nie-

130 »Illi qui sunt subtilis ingenii et multae perspicationis, de facili incidunt in melancolias, eo quod sunt velocis motus et multae praemeditationis et imaginationis.« Rufus, p.457, 18. 131 »Dixit, quod multa cogitatio et tristitia faciunt accidere melancoliam.« Rufus, p. 455, 31. Von den drei zuvor erwähnten Ärzten nennt nur Soran die »intentio nimia sensuum et intellectus ob cupiditatem disciplinarum«, aber lediglich als Ursache der Mania, nicht der Melancholia und keineswegs als etwas Besonderes: sie steht gleichgeordnet neben dem »quaestus pecunialis« und der »gloria« (Caelius Aurelianus, De morbis acutis et chronicis, chron. I, 5, p.526).

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Die Melancholie in der naturwissenschaftlichen Literatur der Antike

dergeschlagen (κατηφής, d. h. »zur Erde blickend«, ein spater in sei-

nem buchstäblichen Sinn besonders häufig angeführtes Symptom), furchtsam, menschenscheu, meist grundlos traurig, gelegentlich aber

unvermittelt heiter’32 sowie verfolgt von vielfältigen Idiosynkrasien,

Wahn- und Zwangsvorstellungen.‘33 Diesen Symptomen fügt Rufus von Ephesus, wie einige seiner Vorgänger, das Stottern und Lispeln‘34

sowie die Prophezeiungsgabe hinzu. Vor allem aber greift er in der Begründung aller dieser Erscheinungen mit Entschiedenheit auf die hippokratische und peripatetische Lehrmeinung zurück. Des Übels

Wurzel ist zum einen der Überfluß an Pneuma, das die Aufgetrieben‫־‬ heit, das Stottern und die Geschlechtsgier verursacht, zum anderen

aber das Vorwalten der schwarzen Galle, deren erdige Trockenheit und Kälte zum Beispiel die Zwangsvorstellung, ein irdener Topf zu sein, hervorruft und die auch das Dumpf-Traurige, in sich Zurückge-

zogene und dann doch wieder manisch Ausbrechende des melancholischen Zustands erklärt. Freilich hat Rufus gerade da, wo es um die

prinzipielle Methode geht, die Hauptthese des Problems XXX, 1 auf höchst bezeichnende und folgenschwere Weise ins Medizinische ab-

gebogen. Das »Aristotelische« Problem hatte behauptet, daß der melancholische

Saft entweder aufgrund der täglichen Nahrungsaufnahme ein zeitwei-

13 2 Nach Isidor (Etym. XI, 127), der sicher alteren Quellen folgt, ist die Milz, das Erzeugungsorgan der schwarzen Galle, zugleich das Lachzentrum: »nam splene ridemus, feile irascimur, corde sapimus, iecore amamus.« Ein kurioses Zeugnis für die Langlebigkeit solcher Vorstellungen ist ein Gespräch aus Casanovas Erinnerungen (I, 9): *>Wie? Dies hypochondrische Leiden, das sonst alle davon Befallenen traurig stimmt, es macht Sie heiter?« >Ja. Ohne Zweifel kommt dies daher, daß meine flati statt auf die Rippenweiche bei mir auf die Milz wirken, die nach meinem Arzt das Organ des Lachens ist. Er hat da eine Entdeckung gemacht.« »Keineswegs. Diese Ansicht ist schon sehr alt«« - worin wir mit dem Autor völlig ubereinstimmen (Übers. Heinrich Conrad, München und Leipzig 1907, Bd.I, p. 332). 133 Unter den Zwangsvorstellungen erwähnt er neben der schon bei Archigenes angeführten Selbstidentifikation mit einem irdenen Gefäß auch die Idee, keinen Kopf zu haben, ein später häufig wiederholtes Beispiel; als Heilmittel wurde von einigen Ärzten eine Bleihaube empfohlen! 134 Auch hier ταχύγλωσσοι, ίσχνόφωνοι, τραυλοί. Rhazes (Rufus, p. 454, 18 ff.) sagt ausdrücklich, daß sie kein >S< aussprechen können und statt dessen >T< sagen.

Die nachperipatetische Entwicklung der Melancholievorstellung

105

liges Übergewicht erringen könne, ohne dabei den Charakter zu be-

einflussen, oder aber bei bestimmten Menschen von Haus aus ein dauerndes Übergewicht besitzen könne, das dann den Charakter forme. In diesem letzteren Fall entstünden, wenn die schwarze Galle zu kalt sei, Furcht und dumpfe Verstimmung, wenn sie zu warm sei,

Entzündungen, Ekstasen und manische Zustände, bei richtiger Tem-

perierung aber seien bedeutende Geistesqualitäten die Folge. Von diesen Thesen übernimmt Rufus erstens die Unterscheidung zwi-

sehen derjenigen Melancholie, die aus der Einnahme der täglichen Nahrung entsteht, und derjenigen, die von einem konstitutionellen Übergewicht herrührt.1’5 Aber was für den Naturphilosophen einen

Unterschied zwischen akuter Erkrankung und habitueller Veranla-

gung und zugleich zwischen rein körperlichem Leiden und moralischem Charakter bedeutet hatte, wird für den Mediziner zu einer

ätiologischen und damit therapeutischen Nuance: Es macht bet der Behandlung einen nicht unwesentlichen Unterschied, woher die Krankheit ihren Ausgang nahm, denn man muß wissen, daß das melancholische Wesen von zweierlei Art ist: manche von ihnen [i. e. den Melancholikern] haben es von Natur und aufgrund einer angeborenen Säftemischung, andere aber haben diese Säftemischung erst nachträglich durch eine schlechte Diät erworben.

Es wird also nicht vorübergehende Krankheit von konstitutioneller

Beschaffenheit geschieden, sondern innerhalb der Krankheit wird zwischen einer angeborenen und einer erworbenen Form differenziert.'37 Sodann jedoch - und das ist vielleicht noch aufschlußreicher

und für die Weiterentwicklung wichtiger - wird auch der Gedanke der übermäßigen Hitze und Kälte übernommen, aber völlig neu gewendet. Nach »Aristoteles« war es die Eigentümlichkeit der schwär-

zen Galle, ohne Veränderung ihrer stofflichen Natur den Zustand großer Kälte wie großer Hitze annehmen zu können; nach Rufus ist

es ihre Eigentümlichkeit, erst durch übermäßige Erwärmung und Abkühlung anderer Körperbestandteile zu entstehen. Entweder nämlich,135 137 136

135 Problem XXX, 1, 934 a 26 ff. 136 Rufus, p. 337, 12. 137 Nur unter gewissen Bedingungen (»quando residet melancholia«) kann der Mensch trotz der «multiplicatio« der schwarzen Galle vor der melancholisehen Krankheit bewahrt bleiben: Rufus, p.456, 38.

106

Die Melancholie in der naturwissenschaftlichen Literatur der Antike

so heißt es bei Rufus, kann sich das Blut durch Abkühlung in schwarze Galle verwandeln, oder aber die gelbe Galle kann durch Überhitzung (ύπερόπτησις) ebenfalls zu schwarzer Galle werden,

denn das Schwarzwerden kann sowohl auf Abkühlung zurückgehen (so bei erloschenen Kohlen) als auf Erhitzung beruhen (wie die durch Sonnenglut verdorrcen Früchte beweisen).1}8

Der Arzt versuchte, die medizinische Säftelehre mit der peripatetisehen Poiaritätstheorie zu verbinden. Dabei denkt er nicht funktio-

nal, sondern stofflich, d.h., er zieht es vor, zwei Substanzen anzu-

erkennen, anstatt ein und derselben Substanz zwei verschiedene Erscheinungs- und Wirkungsweisen zuzuschreiben. Er hat damit einer schwarzen Galle, die sich beim Abkühlen des Blutes bildet, eine

viel verderblichere »melancholia combusta« oder »adusta« gegenübergestellt, die durch »Verbrennung« der gelben Galle entsteht, ein

Unterschied, der von nun an nie wieder vergessen worden ist. Was

aus dem uns nur mittelbar überlieferten Text des Rufus nicht ganz so deutlich hervorgeht, wie wir es hier dargestellt haben, hat Galen, vor

allem in der Schrift De loäs affectis, so klar formuliert, daß wir von da aus ohne weiteres auf die Meinung des Rufus zurückschließen

dürfen.'”

Gemäß ihrer Zusammensetzung weist die schwarze Galle deutliche Unterschiede auf. Die eine ist gleichsam ein Rückstand des Blutes,140 sehr dick und dem Rückstand des Weines nicht unähnlich. Die andere ist viel dünner und so

138 Rufus, p. 3 0, 14 ff.: Μελαίνεται δέ δ χυμός ούτως ποτέ μέν ύπερθερμαινόμένος, ποτέ δέ ύπερψυχόμενος, οίον πάσχουσι γάρ τι 01 καιόμενοι άνθρακες, διαυγέστατοι μέν όντες τή φλογί, οβεννυμένης δέ τής φλογός άπομελαίνονται, ϊοιοϋτόν τι καί ή ‫־‬ψύξις περί τό φαιδρόν χρώμα τού αίματος έργάζεται... ή δέ ύπερβολή τού θερμού πάλιν ξηράνασα καί δαπανήσασα τάς υγρότητας... μελαίνει τούς χυμούς, ώσπερ καί δ ήλιος τούς καρπούς... δτι δέ έξ ύπεροπτήσεως τής ξανθής χολής τή παραφροσύνη παραπίπτουσι... Die Grundlage dieser Verbrennungstheorie kann man in Timaios 83A-C, 8j D, erblicken, wo freilich die Galle ganz allgemein auf eine Verbrennung des Fleisches zurückgeführt wird. 139 De locis affectis III, 9, Galen (Kühn), Bd. VIII, pp. 176 ff. 140 Hier τρύξ (lateinisch »faex«): an anderer Stelle, wo die Kalte der solchermaßen erzeugten Flüssigkeit betont wird, ist von ύπόστασις (lateinisch »residuum«) und ιλύς (lateinisch wiederum »faex«) die Rede. Galen, De temperamentis II, 603 (ed. G. Helmreich, Leipzig 1904, p. 59).

Die nachperipatetischc Entwicklung der Melancholievorstellung

107

scharf daß sie den Erdboden angreift... und Blasen wirft. Diejenige, die ich mit einem Rückstand verglichen habe, nenne ich »melancholischen Saft« oder »melancholisches Blut« (μελαγχολικός χυμός oder μελαγχολικόν αίμα), denn sie kann nicht eigentlich als schwarze Galle bezeichnet werden. Sie überwiegt bei einigen, sei es in Folge der von Anfang an bestehenden Mischung, sei es in Folge der Ernährung. ...Wenn sie sich in den Gängen der Gehirnventrikel festsetzt, erzeugt sie meist Epilepsie, herrscht sie aber in der eigentlichen Gehirnsubstanz, so bewirkt sie diejenige Art von Wahnsinn, die wir Melancholie nennen. ... Der andere schwarzgallige Saft dagegen, der aus der übermäßig erhitzten gelben Galle entsteht (ό κατωπτημένης τής ξανθής χολής γενόμενος), verursacht, wenn er in der Gehirnsubstanz herrscht, tierisehe Rasereien, sowohl mit als auch ohne Fieber.

Man kann nicht sagen, daß die Melancholieanschauung durch diese Wendung sehr vereinfacht worden wäre. Der melancholische Saft als

einer der vier Grundsäfte hat gar nichts mehr mit der Galle zu tun,

sondern ist verdicktes und ausgekühltes Blut; was hingegen wirklich schwarze Galle ist, ist eine durch Verbrennung entstandene Entar-

tungsform der gelben Galle, gehört also nicht zu den vier Grundsaften. Diese komplizierte Theorie hat jedoch den Vorteil, eine solide

Begründung für die verschiedenen Formen der geistigen Störungen zu liefern und zugleich die im Problem XXX, 1 vollzogene Unter-

Scheidung zwischen »natürlicher« und »krankhafter« Melancholie an

die Verschiedenheit greifbarer Substanzen zu knüpfen. Von da an verstehen daher diejenigen Mediziner, die sich überhaupt auf diese Unterscheidungen einlassen (die populärwissenschaftliche Literatur

hat es meist gar nicht versucht), unter »natürlicher schwarzer Galle« einen der immer im Körper vorhandenen vier Säfte. Und dieser ist

seinem Wesen nach nichts anderes als ein dickes und kaltes Residuum des Blutes. Als solches ist es noch immer mit dem Stigma des Schlak-

kenhaften, Rückstandsmäßigen behaftet und, wenngleich in geringe-

rer Menge nicht eigentlich schädlich, so doch zur Erzeugung von

Krankheiten fähig. Unter »»melancholia adusta« oder »incensa« aber

verstehen sie die krankhafte schwarze Galle, die als solche nicht zu

den vier Säften gehört, sondern durch »superassatio«, »combustio«, oder wie immer die Ausdrücke später lauten, der gelben Galle ent-

steht. Sie bewirkt daher nicht nur immer, selbst in kleinster Dosierung, Krankheit, sondern verdankt bereits ihr Dasein einem

108

Die Melancholie in der naturwissenschaftlichen Literatur der Antike

Krankheitsprozeß. Damit sind die Grundzüge der medizinischen Melancholielehre festgelegt. Weder Galen‘4' noch die Spätrömer wie Theodorus Priscianus,'42 noch die Frühbyzantiner wie Aetius,'43 Pau-

141 Eine besonders einfache Beschreibung findet sich in der Schrift Isagoge in Tegni (τέχνη) Galeni von Johannilius (Honein ibn Ishaq), ein vor der Bekanntschaft mit den griechischen Originalen im Abendland viel benutzter Text. »Cholera nigra duobus modis constat: uno modo est naturalis in modo fecis sanguinis et eiusdem perturbationis... et iste modus est veraciter frigidus ei siccus. Est et alius modus extra naturalem cursum; et origo eius est de ustione cholerici commixtionis et hic veraciter appellatur niger; et est calidior et levior ac superior modus, habens in se impetum pernecabilem et qualitatem perniciosam.« (Isidor, Etym. IV, 5, versucht eine Kombination beider GcSichtspunkte; »Melancholia dicta eo quod sit ex nigri sanguinis faece admixta abundantia fellis«.) Neben der grundsätzlich so bedeutsamen Unterscheidung der verschiedenen Krankheits-Stoffe hat Rufus auch eine ebenso einflußreiche Unterscheidung der verschiedenen Krankheits-Sitze vorgenommen. Er unterscheidet (t) die Infiltration des gesamten Blutes, die unter anderem die Schwarzfärbung der Haut zufolge hat; (2) eine Gchirnaffektion, die insbesondere die psychischen Störungen verursacht; und (3) eine »hypochondrische« Krankheitsform, bei der die schwarze Galle sich im »os stomachi« festsetzt, primär Aufgetrieben■ heit und Verdauungsstörungen erzeugt, sekundär aber ebenfalls in hohem Grade auf das Bewußtsein zurückwirkt (diese Dreiteilung ist nachzulesen bei Galen (Kühn), Bd.VIII, p. 18$; Alexander von Tralles, Originaltext und Übersetzung, ed. T. Puschmann, Wien 1878, I, pp. 591 ff., und vielen anderen). Daneben war Rufus naturgemäß an den im engeren Sinne klinischen Fragen interessiert und stellt auch eine ausführliche Therapie bereit, in der alle bisherigen Informationen zusammengefaßt und der Nachwelt überliefert sind. Er verbindet die diätetischen und gymnastischen Maßnahmen des Asklepiades mit der Verabreichung von Medikamenten, u. a. der lange Zeit berühmten ιερά 'Ρούφου προς μελαγχολίας (p. 323» 7) empfiehlt - gegen Soran - für die nicht-manische Form der Krankheit als bestes Mittel den Umgang mit Frauen und rühmt - ganz anders als Archigenes - die seelenbelebende Wirkung der dramatischen Dichtkunst und der Musik (p. $83). Auf die Therapie der Melancholie kommt Rufus auch in der Abhandlung über krankhafte Störungen (Περί άποοκημμάτων) zu sprechen, cf. J.Ilberg, Rufus von Ephesos, pp. 31 ff. Besonders interessant ist die an die moderne Fiebertherapie erinnernde Heilung der Melancholie durch »Quartärfieber« (offenbar Malaria). 142 Priscian, Eupor. II, 18, p. 152. 143 J. L. Heiberg, Geisteskrankheiten im klassischen Altertum, Berlin 1927 (Sonderdruck aus Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie, Bd. LXXXVI), pp. 37 ff.

‫י‬

Die nachperipatetische Entwicklung der Melancholievorstellung

109

lus von Aegina'44 oder Alexander von Tralles,‘45 noch auch die ersten arabischen Schriftsteller haben etwas wesentlich Neues hinzugefügt; sie haben sie sogar in vielen Fällen vereinfacht. Der heroische Nimbus des Melancholikers ist völlig zum Verschwinden gebracht, und na-

menclich die Beziehung zur «profunda cogitatio« tritt mehr und mehr

in den Hintergrund, um erst bei Ishaq ibn Amrän wieder betont zu

werden.‘46 Schließlich ist es auch ganz bezeichnend, daß die von Aristoteles beobachtete Prophezeiungsgabe des Melancholikers, die Rufus trotz ihres pathologischen Ursprungs noch für real hielt, nunmehr

als bloße Einbildung des Kranken betrachtet zu werden beginnt. Den Worten des Rufus, »Et contingit quod ... prognosticantur futura, et

eveniunt ea, quae ipsi praedicunt«,'47 stellt Paulus von Aegina den Satz gegenüber: »Einige erwecken den Eindruck, sie würden von höheren Mächten heimgesucht und sagten gleichsam durch göttliche

Eingebung die Zukunft voraus, so daß man sie im eigentlichen Sinne ένθεαστικοί (d.h. gottbesessen) nennt.« 14β

In praktischer Hinsicht sind von den späteren Autoren einige neue Merkmale hinzugefügt worden. So erwähnt Alexander von Tralles -

angeblich aus eigener Erfahrung - ein zusätzliches Melancholiesym-

ptom, das, wie wir sehen werden, für die spätere Bildüberlieferung nicht unwichtig ist, nämlich einen Spasmus der Finger. Darunter

scheint er, dem griechischen Text zufolge, ein krankhaftes Abspreizen des Mittelfingers verstanden zu haben.'49 Von späteren Autoren wurde es allerdings, vielleicht wegen der Unklarheit des lateinischen

Textes, als ein zwangsmäßiges Ballen der Faust aufgefaßt:

Wir haben eine Frau kennengelernt, die von einer derartigen Vorstellung besessen war; sie krümmte den Daumen mit solcher Kraft, daß niemand den Finger mühelos geraderichten konnte, und behauptete, sie trüge die ganze Welt.

...0’‫י‬

!44 Paulus Aegineta, ed. J.L.Hciberg, Leipzig 1921 (Corp. med. Gr. IX, 1), pp. 156 ff. 45 Ed. T. Puschmann, Wien 1878, I, pp. 591 ff.; Heiberg, op. cit., pp. 40 ff. 146 Uber diesen Mann und seine Nachfolger im Spätmittelalter cf. unten, Seite 146 ff. (Text). 147 Rufus, p.456, L. 148 Corp. med. Gr. IX, 1, p. 156, 20. 149 Alexander von Tralles, cd. T. Puschmann, p. 506. 150 »Novimus quippe foeminam ipsi eiusmodi phantasia obrutam, quae pollicem

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I IO

Die Melancholie in der naturwissenschaftlichen Literatur der Antike

Ferner ist erwähnenswert, daß bei Paulus von Aegina auf die Behändlung der Melancholie mit dem Brenneisen hingewiesen wird - eine

Praxis, der wir die Aufnahme des Melancholikers in die Serie der mittelalterlichen »Brennstellenbilder« verdanken.,Jl

2. Die Melancholie im System der Vier Temperamente Bereits >Hippokrates< hatte versucht, von körperlichen Merkmalen

auf das psychische Verhalten zu schließen; er soll sogar den Puls-

schlag als Zeugnis für die moralische Disposition gewertet haben. So ist es begreiflich, daß sich im weiteren Verlauf der Entwicklung und

unter engstem Zusammenwirken medizinischer, biologischer und ethnologischer Beobachtungen mit der naturphilosophischen Speku-

lation eine besondere Wissenschaft, die sogenannte »Physiognomik«, herausgebildet hat, die sich als Gegengewicht zur ärztlichen Semio-

logie der Kranken mit den charakterlichen Eigenheiten Gesunder

beschäftigte.’52 Das früheste Zeugnis ihrer Anerkennung als selbständiger Wissenschaft wird niemand Geringerem als Aristoteles zugetam arctissime constringebat, ut nemo digitum facile posset corrigere, affirmans se universum orbem sustinere...«, Alexander von Tralles, De singularum corporis partium... vitiis, etc. (Übers. Albanus Torinus), Basel 1533, p. 50. Im Zusammenhang mit dieser Überlieferung offensichtlich Μ. Plateanus, Practica, de aegnt. capitis, Kap. V, in der Veneaaner Ausgabe von 1497, p. 173: »Alii tenent pugnum clausum, quod non potest aperiri: credunt enim se tenere thesaurum in manu vel totum mundum« (über dic Bedeutung des in den Alexander-Text interpolierten ‫״‬thesaurus« siehe unten, Seite 413). Früher Guillelmus Brixiensis (Guglielmo de Corvi, gest. 1326), Practica, Venedig 150B, fol.2ov: »quidam putant se mundum tenere in manu: et ideo ipsi manum claudunt.« Siehe unsere Tafel 73. Das durchgehende Motiv des »gesamten Universums«, das die Unglücklichen zu halten glauben, macht den Zusammenhang dieser späteren Stellen mit dem Alexander-Passus evident. 15 Cf. K. Sudhoff, Beiträge zur Geschichte der Chirurgie im Mittelalter (Studiert zur Geschichte der Medizin, Bd.X), Leipzig 1914, pp. 76 ff. Bei Paulus von Aegina scheint es sich jedoch um ein Kauterisieren der Milzgegend zu handein, noch nicht um das der »media vertex«, wie es in den mittelalterlichen Quellen geschildert wird. 152 Die einschlägigen Schriften und Stellen sind gesammelt in Scriptores physiognomici graeci et latini, ed. R.Förster, Leipzig 1893.

‫ז‬

Dic nachperipatetische Entwicklung der Melancholievorstellung

11 ϊ

schrieben und ist zweifellos in seinem näheren Umkreis entstanden. Überhaupt erhielten diese Bestrebungen Bestätigung und Antrieb

durch die Aristotelische Lehre von dem Entelechieverhältnis zwisehen Seele und Körper und durch die hochentwickelte Affekt- und

Charakteranalyse der Aristotelischen Ethik. Hinzu kam der im 4.Jahrhundert erwachende spezifisch hellenistische Sinn für eine Betrachtung der individuellen Eigenheiten aus der Nahe. Dies tritt

besonders deutlich in Theophrasts Charakteren hervor, wo gewissermaßen mit der Lupe Hunderte von psychologischen Einzelzügen be-

obachtet und dann in einigen Haupttypen verkörpert werden. Ebenso weist die hellenistische Dichtung und Bildkunst die Tendenz auf,

bestimmte typische Gattungskonstellationen mit einer Fülle realisti-

scher Details anzureichern. Eine gewisse Rolle spielte schließlich auch

die Tatsache, daß die Philosophie sich immer entschiedener zu der Ansicht bekannte, »daß die Mischung der Elemente auch die Ver-

schiedenheiten der Sitten verursacht«.153154 Den Ausschlag gab möglicherweise Poseidonios, der an physiognomischen und ethnologischen

Fragen außerordentlich interessiert war. Er betonte die dynamische

Bedeutung der kosmischen Elemente und der ihnen innewohnenden

Kräfte so stark, daß in seiner Philosophie die Elemente selbst gleichsam zu Mittlern werden zwischen dem, was man für gewöhnlich als * »Materie und »Geist *

bezeichnet.1’4

Auf der anderen Seite hatte, wie wir oben sahen, die Ansicht fortbestanden, daß die Säfte mit ihren warmen, kalten, trockenen und

feuchten Qualitäten nicht nur Krankheitserreger, sondern auch kon-

stitutionsbestimmende Faktoren seien. Für den Philosophen und Arzt Sextus Empiricus ist es etwas vollkommen Selbstverständliches, daß die natürliche Konstitution jedes Lebewesens durch einen der

vier Safte bestimmt werde. Für die von Blut und Phlegma beherrschten gebraucht er sogar schon die Adjektive »sanguinisch« und »phlegmatisch« (πολύαιμος und φλεγματώδης), während er die beiden an-

deren Typen noch umschreibt als »diejenigen, die beherrscht sind von 153 »Et morum varietates mixtura elementorum facit«, Seneca, De ira II, 19, offenbar nach älteren Quellen. Es heißt dann weiter: »iracundos fervida ammi natura faciet... frigidi mixtura timidos facit.« 154 K. Reinhardt, Poseidonios, München 1921, insbes. pp. 225 ff., }17ff. und 38s ff·

112

Die Melancholie in der naturwissenschaftlichen Literatur der Antike

und einen Überfluß haben an gelber oder schwarzer Galle«.’” Mit

dem Erstarken des Interesses an der physiognomischen und charakterologischen Theorie konnte cs nicht ausbleiben, daß nunmehr allen Säften jenes charakterbildcnde Vermögen zugebilligt wurde, das das Problem XXX, 1 nur der schwarzen Galle zugeschrieben hatte. Mit

anderen Worten: in der neuen Typenpsychologie trafen sich die Wege der Humoralpathologie mit denen der Physiognomik und Charakterlehre, wobei das Problem XXX, 1 gleichsam als Wahrzeichen an diesem Kreuzungspunkt steht. Aus den oben erwähnten Schriften der Ärzte geht hervor, wie sehr

sich diese Interessen auch in rein medizinischen Kreisen verstärkten. Denn neben den ausgesprochenen Krankheitsmerkmalen wurden ja auch rein physiognomische Züge in die Beschreibung aufgenommen, wie etwa dürre Glieder,”6 ein verhältnismäßig großer Oberkörper

und schnelle Bewegungen.”7 Darüber hinaus erfuhren die seelischen

Symptome eine ebenso sorgfältige Ausmalung, wie sie in der hellenistischen Kleinkunst begegnet. Je mehr nun die Koische Vier-Säfte-

Lehre die heterodoxen Doktrinen zurückdrängte, um so klarer empfand man die Notwendigkeit, die physiognomischen und charakte-

rologischen Beobachtungen auf ein geschlossenes System zu bringen. Galen selbst hat in dem Kommentar zu Περί φύσιος ανθρώπου und

in dem Buch Περί κράσεων die äußeren Kennzeichen jeder besonderen »Mischung« systematisch zusammengestellt, freilich mit aller Vorsicht des auf die Vielfalt der Erscheinungen achtenden Empirikers.”8

‫זן‬

(ed. H.Mutschmann, Leipzig 191a, p. 16). Es ging ihm nur darum, die Subjektivität und individueile Verschiedenheit der Sinneswahrnehmungen zu beweisen, was er am einfachsten durch einen Hinweis auf die Humoralkrasen erreichen zu können glaubte, die schon von Natur aus eine Differenz der Sinneseindrückc bedingten. Daß Sextus für die von der gelben und schwarzen Galle beherrschten Typen noch nicht die Ausdrücke χολερικός und μελαγχολικός gebraucht, dürfte darin begründet sein, daß es sich für ihn noch um spezifisch pathologisehe Begriffe handelte. 156 Rufus, p. 456, 6. 157 Rufus, p. 456, 21. 8 Cf. z. B. Galen, De temperamentis III, 646ff. (ed. G. Helmreich» Leipzig 1904, pp. 86 ff.), der zwischen erworbenen und angeborenen Qualitäten unterscheidet; oder ibid. II, 641 (ed. G. Helmreich, pp. 8z ff.), wo die Berücksichtigung des Lebensalters empfohlen wird: dichter Haarwuchs etwa lasse ijj Sextus Empiricus, Πυφφώνειοι 'Υποτυπώσεις A

‫ןו‬

Die nachperipatetische Entwicklung der Melancholievorstellung

11}

Wichtig ist für uns der Grundsatz, daß Wärme den Menschen lang, Kälte kurz, Feuchtigkeit dick und Trockenheit dünn macht, und eine Bestimmung wie die, daß die Zarten, Weißen und Fetten am wenigsten melancholischen Saft besäßen, die Mageren, Schwärzlichen,

Dichtbehaarten und durch breite Adern Ausgezeichneten aber beson· ders viel davon.’59 Nachdrücklicher als irgendein anderer betont Ga-

len das unmittelbare kausale Verhältnis zwischen Körperbeschaffen‫־‬ heil und Charakter, und in einer besonderen Monographie behauptet

er, daß die »geistige Disposition von der >Krasis< im Körper abhän-

gig« sei.160 So kann es nicht verwundern, daß er zu einer Systematik

der durch die Säfte bedingten geistigen Eigenschaften vordringt -

wenn auch zu einer noch nicht ganz vollständigen Systematik, da dem Phlegma noch jede charakterbildende Kraft abgesprochen wird:

Es gibt auch eine andere Theorie... nach der die vier Säfte zur Bildung charakterlicher Eigenschaften und Haltungen beitragen. Man müßte jedoch zunächst mit dem Nachweis beginnen, daß die geistigen Eigenschaften von der Körperbeschaffenheit abhängig sind. Darüber haben wir uns an anderer Stelle ausgelassen. Setzen wir dies daher einmal als bewiesen voraus, so folgt daraus, daß Schärfe und Intelligenz des Geistes von den Gallensäften stammen, Stetigkeit und Festigkeit von der schwarzen Galle, vom Blut aber an Torheit grenzende Einfalt. Das Phlegma trägt von seinem Wesen her nicht zur Charakterbildung bei, da es offenbar stets ein Nebenprodukt der ersten Stufe des Stoffwechselprozesses ist.161

im besten Mannesaker den Rückschluß auf Melancholie zu, nicht aber in der Jugend oder im Alter. Angaben über die äußere Erscheinung des Melancholikers finden sich auch in Galens Kommentar (nur arabisch erhalten; deutsche Übersetzung in Corp. med. Gr. V, 10, 1, P· 355) zum zweiten Buch der Pseudo-Hippokratischen Epidemien. Zur charakterologischen Seite der Krasen-Lehre siehe unten, Seite 16? f. (Text). 159 Galen, De locis affectis III, 10 (Kühn, Bd. VIII, p. 182) = Scriptores physiognomici graeci et latini, ed. R. Förster, Bd. II, p. 293, frag. too. 160 Galen zitiert die Schrift unter anderem in der unten im Text angeführten Stelle des Kommentars zu Περί φύσιος άνθρώπου. Das Werk ist von I. Müller herausgegeben (Galenus, Scripta Minora, Bd. II, Leipzig 1891, pp. 32-79): 0‫״‬x1 ταϊς του σώματος κράσεσιν al τής ,ψυχής δυνάμεις έπονται. 161 Kommentar zu Περί φύσιος άνθρώπου, ed. G.C. Kühn, XV, p. 97; ed. J. Mewaldt, Corp. med. Gr. V, 9, 1, Leipzig 1914, p. 51. Abgedruckt auch bei Förster (ed.), op.cit., Bd. II, p.295, frag. 103 (cf. ibid., p.296, frag. 105).

‫״‬4

Die Melancholie in der naturwissenschaftlichen Literatur der Antike

Das Blut bestimmt also den Menschen zum Einfältigen und Törich-

ten, die gelbe Galle zum Scharfsinnigen und Geschickten, die schwarze zum Festen und Beständigen, und man sieht ohne weiteres,

wieviel alte kosmologische Spekulation in diesen Bestimmungen steckt. Während nun das Denken in dieser Richtung fortschreitet,

d. h. die neue Charakterlehre immer fester in das alte Vier-ElementeSystem verwoben wird und zugleich durch neue, den Säften und

Elementen entsprechende Eigenschaften und Beziehungen bereichert wird, entsteht im Verlauf des 2., spätestens 3. Jahrhunderts n. Chr. ein

vollständiges Schema der vier Temperamente als körperlicher und

geistiger Charakterbilder. Wohl am weitesten gediehen ist diese NeuBelebung der alten kosmologischen Gedanken in einer kleinen Ab-

handlung mit dem Titel Περί τής τοϋ κόσμου κατασκευής (καί τής)

τοΰ ανθρώπου (Von der Beschaffenheit des Universums und des Menschen).'61 Die Luft ist warm-feucht, das Feuer warm-trocken, die

Erde kalt-trocken, das Wasser kalt-feucht. Jedem dieser Elemente »gleicht» (έοικεν) einer der Aufbaustoffe des Organismus: das Blut

der Luft, die gelbe Galle dem Feuer, die schwarze Galle der Erde, das Phlegma dem Wasser. Jeder dieser Säfte hat die Vormacht (πληθύνεται) in einer der vier Jahreszeiten und beherrscht (κυριεύει) eines der

vier Lebensalter: dem Blut gehört der Frühling und die Kindheit, der gelben Galle der Sommer und die Jugend, der schwarzen Galle der

Herbst und das reife Mannesalter, dem Phlegma der Winter und das

Greisentum. Mit Ausnahme des auch hier eine Sonderstellung einnehmenden Blutes, das nur im Herzen wohnt, werden die Säfte in je

zwei Körperorganen lokalisiert (die schwarze Galle in der Leber und

in einem durch eine Textlücke unerkennbar gewordenen Körperteil) und haben ihnen gemäße Ausgänge: das Blut durch die Nase, die gelbe Galle durch die Ohren, das Phlegma durch den Mund, die schwarze Galle durch die Augen. Und nun begründen die Säfte auch

die Unterschiede der Charaktere: Woher kommt es, daß manche Menschen liebenswürdig sind, lachen und scherzen, andere verdrießlich, mürrisch und niedergeschlagen, wieder andere zornig und heftig sind und zur Wut neigen, noch andere schließlich träge, 162 Veröffentlicht von J.L. Ideler, Physici et medici graeci minores, Berlin 1841 (Nachdruck Amsterdam 1963), 1, p. 303 (nicht II, p. 303, wie Fredrich angibt, op.cit., p.49).

Die nachperipatetische Entwicklung der Melancholievorstellung

Ϊ‫זז‬

unentschlossen und kleinmutig sind. Die Ursache liegt in den vier Grundsäften. Denn die vom reinsten Blut Bestimmten (οί έξ αίματος καθαρωτάτου τυγχάνοντες) sind anmutig, lachen und scherzen und haben rosige, schönfarbigc Körper; die von der gelben Galle Bestimmten sind zornig, heftig und kühn und haben helle, gelbliche Körper; die von der schwarzen Galle Bestimmten sind träge, zaudernd und kränklich und hinsichtlich ihrer Körperbcschaffenhcit von dunklem Teint und schwarzer Hautfarbe; die vom Phlegma Bestimmten aber sind traurig, vergeßlich und in bezug auf den Körper ganz blaß.163 An diesem Beispiel eines detaillierten Schemas aus der Spätantike

werden die Faktoren, aus denen sich die neue Vier-Temperamenten-

Lehre zusammensetzt, überaus deutlich: die Gedankengänge der Kosmologie haben sich mit den Errungenschaften der eigentlichen

Heilkunde und den Beobachtungen der Physiognomik verbunden. So stimmen zum Beispiel die Kennzeichen des »vom Blut bestimmten«

Menschen (den wir nunmehr zu Recht als »Sanguiniker« bezeichnen dürfen und dessen Veranlagung später fast durchgängig als die beste

oder edelste galt) weitgehend mit denen des ευφυής, des »bene natus«

überein, mit dem er die weiß-rötliche Hautfarbe und das liebenswürdige Wesen gemeinsam hat.164 Die Charakteristika des Melancholi16) Einige dieser Eigentümlichkeiten treten nicht nur dauernd bei denjenigen Menschen auf, die ihrer Naturanlage nach von einem der vier Säfte beherrscht werden, sondern auch temporär bei jedem Menschen, da ja jeder humor innerhalb einer bestimmten Lebensstufc zeitweilig die Oberhand gewinnt, so daß abgesehen von denen, die von Natur aus Sanguiniker, Choleriker oder Phlegmatiker sind, Kinder, Jünglinge, Männer und Greise jeweils Anteil an den Wesenskriterien der einzelnen Temperamente haben (so bei Pseudo-Soran, Vindician und den von diesen abhängigen mittelalterlichen Schriftstellern). Wie bewußt die in Περί κατασκευής gezeichneten Charakterbilder von eigentlichen Krankheitsbildern unterschieden wurden, geht schon daraus hervor, daß jedem Normaltypus eine bestimmte Störungsform zugeordnet wird: wenn (sanguinische) Kinder weinen, geraten sic sehr schnell wieder in andere Stimmung; wenn (cholerische) Jünglinge sich erzürnen, geraten sie langsamer, aber ebenfalls von selbst in andere Stimmung (άλλάσσονται); wenn (melancholische) Männer verrückt werden, sind sie nur schwer in andere Verfassung zu bringen, wobei es, nach der passivischen Verbform zu schließen, fremder Einwirkung bedarf (δυσμετάβλητοι); und wenn (phlegmatischen) Greisen dasselbe begegnet, so sind sie überhaupt nicht mehr zu ändern (Αμετάβλητοι διαμείνουοι). 164 »Aristoteles«, in Scriptores physiognomici graect et latini, ed. R. Förster, Bd. I, p. 2 8, Zeile 10; Anonymus, Förster (ed.), op. cit., Bd. II, p. 2)2, Zeile 15.

116

Die Melancholie in der naturwissenschaftlichen Literatur der Antike

kers dagegen entsprechen vor allem denen des πικρός, der sich durch schwarze Haare und dunkle Hautfarbe auszeichnet,‘6* wobei uns

letztere Eigentümlichkeit als Krankheitssymptom ja schon bei Archigenes und Rufus begegnet ist. Auch das geneigte Haupt (τό πρόσ-

ωπον σεσηρός) und die Magerkeit gehören zu den Gallensymptomen. Und wenn alle diese Merkmale nach anderen Physiognomikern auch für den Geldgierigen und Furchtsamen charakteristisch sind,165 166 so ist

damit noch eine weitere Berührung mit dem Melancholikerbild gegeben, innerhalb dessen »timor« und »avaritia« konstante Züge sind. Die Schrift, die wir der Kürze halber Περί κατασκευής nennen wollen, ist nicht datierbar. Dennoch besteht kein Anlaß, in ihr ein früh-

mittelalterliches, von islamischem Gedankengut beeinflußtes Produkt

zu vermuten.167 Die Entsprechungen zu »melancholicus«, »choleri-

cus«, »sanguineus«, »phlegmaticus« scheinen bei den arabischen Astrologen des 9. Jahrhunderts fest verankert gewesen zu sein. Doch

die Frage, wann sich diese Bezeichnungen im allgemeinen Sprachge-

brauch durchgesetzt haben, ist gänzlich irrelevant gegenüber der Frage, ob schon die Antike den Begriff der vier Typen ausgebildet hatte, d. h., ob sie bereits dazu gelangt war, die gesunden Menschen

systematisch in vier nach Körper und Geist unterschiedene Katego-

rien einzuteilen und die Unterschiede zwischen ihnen auf das Vorherrschen des einen oder anderen Saftes zurückzuführen. Diese Frage 165 »Aristoteles«, in Förster (ed.), op.cit., Bd.I, p. )4, Zeile 7. 166 Polemon, in Förster (ed.), op.cit., Bd.I, p.278, ?eile 14 (der »colligendae pecuniae amans« ist von dürftiger Gestalt, schwarzhaarig und von schnellem Gang, »in quo aliquid inclinationis est«); p.270, Zeile 1) (gebeugte Haltung und schwarze Farbe als Zeichen des »vir timidus ignavus«); p. 244, Zeile 5 (die schwarze Hautfarbe bedeutet »timiditatem et diuturnam sollicitudinem et maestitiam«). Bei einem Anonymus, Förster (ed.), op.cit., Bd.II, p.92., Zeile 7, bedeuten schwarze Haare »timidum nimium et avarum«; bei PseudoPolemon, Förster (ed.), op.cit., Bd.II, p. 160, Zeile 6, kennzeichnet den »timidus« u. a. die »flexio staturae«, dunkler Teint und »tristis obtutus«. 167 Das allein ist angetan, J. van Wageningens These zu erschüttern, wir verdankten die Formulierung der Vier-Temperamenten-Lehre als Charaktenypen »Honorius von Autun« (i. e. Wilhelm von Conches). Cf. J.van Wageningens Aufsatz »De quattuor temperamentis«, Mnemosyne, N.F., XLVI, 4 (1918), pp. 374ff. Ferner F. Boll, »Vita contemplativa«, Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Phil.-hist. Kl., VIII (Heidelberg 1920), p. 20.

Die nachperipatetische Entwicklung der Melancholievorstcllung

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ist ohne Einschränkung zu bejahen. Glücklicherweise ist nämlich die

Schrift Περί κατασκευής durchaus nicht die einzige, die das vollstän-

dige Schema der vier Temperamente enthält, sondern wir können ihr eine ganze Reihe weiterer Zeugnisse zur Seite stellen, die teilweise

jünger, teilweise aber sicherlich älter sind und die die Weiterentwicklung des noch unvollständigen Galenischen Schemas deutlich erken-

nen lassen. Es handelt sich um die folgenden: 1. Die pseudo-galenische Schrift Περί χυμών.168 1. Ein fälschlich dem Soran zugeschriebener, möglicherweise aber noch im 3. Jahrhundert n. Chr. entstandener Traktat.169170 3. Der mit dem letzteren eng zusammenhängende Brief an Pentadius

des Vindician. Vindician war ein Freund des hl. Augustinus und lebte

in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts in Nordafrika. Sein kleiner Traktat sollte für die sich im 12. Jahrhundert formenden Temperamentsvorstellungen des Mittelalters von ausschlaggebender Bedeutung werden.17® Die pseudo-galenische Schrift Περί χυμών kann nicht unter arabi-

schem Einfluß abgefaßt worden sein, sondern muß spätestens im

6. bis 7.Jahrhundert vorgelegen haben. Das geht schon daraus her-

vor, daß einige ihrer Angaben - kombiniert mit denen des echten Kommentars zu Περί φύσιος ανθρώπου und namentlich mit denen des Pentadius-Briefs - in Bedas De temporum ratione einge-

gangen sind.’7' Wir werden nun die in allen diesen Schriften begegnenden Bestim168 Galen (Kühn), Bd.XIX, pp. 485 ff.» insbes. p.492. 169 Medici antiqui, Venedig 1547, fol. 1J9vf. 170 Abgedruckt bei Priscian, Eupor., pp. 484 ff. Über die bei Pseudo-Soran und Vindician begegnende Aufteilung der humores auf Lebensalter und Tagesstunden siehe oben, Seite 48 ff. (Text). Die Verteilung auf die Jahreszeiten ist die übliche: Vindicians Verteilung auf die Körperöffnungen, die PseudoSoran nicht erwähnt, stimmt mit seinen Aussagen in der Schrift Περί κατασκευής überein. Über die Wiederaufnahme der Vindicianischen Lehre im 12. Jahrhundert siehe unten, Seite 172 ff., insbes. pp. 183 ff. (Text). 17t Kap. XXXV (Mignc, P. L., Bd.XC, col.459). Berührungspunkte zu Περ'ι χυμών sind u.a. die Anwendung des Begriffs »hilares« auf den Sanguiniker und des Begriffs »audaces« auf den Choleriker. Außerdem laßt sich nachwcisen, daß die Schrift Περί χυμών dem im 9. Jahrhundert schreibenden byzantinischen Mönch Meletius Vorgelegen hat (siehe unten, Seite 168, Anm.98).

Galen, Kommentar Schlichtheit und Einfalt (sind vom Scharfsinn und Klugheit zu Blut abhängig) τό όξύ καί συνετόν Περί φύσιος τό άπλοΰν καί ήλι,θιώτερσν (sc. άνΟρώπου έσται διά τό αίμα)

τό έδραϊον καί βέβαιον

Festigkeit und Standhaftigkeit

Die Natur des Phlegmas, verderblieh für die Bildung des Charakters, hat offenbar ihren notwendigen Ursprung im frühesten Sta-

118

Die Melancholie in der naturwissenschaftlichen Literatur der Antike

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Die nachperipatetische Entwicklung der Melancholievorstellung

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Die Melancholie in der naturwissenschaftlichen Literatur der Antike

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Die nachperipatetische Entwicklung der Melancholievorstellung

121

mungen, soweit sie für uns von Wichtigkeit sind, in einer Übersichtstäfel zusammenstellen.171

Was die aus dieser Tabelle ersichtliche Entwicklung so außerordent-

lieh interessant macht, ist das immer entschiedenere Bekenntnis zu

dem Gedanken einer typenprägenden Kraft der Säfte. Im Kommentar zu Περί φύσιος ανθρώπου heißt es noch neutral: »das Scharfsinnige

entsteht bzw. vermehrt sich durch die gelbe Galle«. In der Tat ist es sehr zweifelhaft, ob Galen überhaupt schon an einen in seinem ganzen Wesen durch das Vorwalten des einen oder anderen Saftes bestimmten Menschentypus geglaubt hat. Später aber wird die These

durch ein transitives Verb zum Ausdruck gebracht: »die gelbe Galle

erzeugt zornmütige Menschen«, wobei die Ausdrucksweise der Schrift Περί χυμών, »die gelbe Galle macht die Seele zorniger«, gewissermaßen den Übergang bildet. Weiterhin von Interesse ist die bei allen Schwankungen und Inkonsequenzen doch deutlich hervortre-

tende Verschiebung der Werte, die die Temperamentsvorstellung des Mittelalters und der Neuzeit entscheidend bestimmt, ja sogar vorwegnimmt. Der Sanguiniker, in Galens echten Schriften noch der

bloße Tor, wird immer mehr zu dem, was er für alle Zeiten bleiben sollte: der heitere, unbeschwerte, gutmütige, hübsche, in jeder Bezie-

hung wohltemperierte Mensch. Und obgleich im streng Galenischen System auch das Vorwalten des Blutes zu den Dyskrasien zählt, wird

er den anderen bald so sehr vorgezogen, daß man im 12. Jahrhundert

die anderen drei Temperamente geradezu als Entartungsformen des sanguinischen bezeichnen konnte.172 173 Auf der anderen Seite wird der Choleriker, dessen beherrschender Saft nach Galen Geschärftheit der Sinne und Klugheit verleiht, zum

bloß Heftigen, Schnellen und Jähzornigen. Was nun den Melancholi­

172 Mit aufgenommen sind die Angaben Isidors und der kleinen, vermutlich aus dem frühen 6. Jahrhundert stammenden Schrift Sapientia artis medianae (ed. Μ. Wlaschky in Kyklos. Jahrbuch des Instituts für die Geschichte der Medizin 1, Leipzig 1928, pp. 103 ff.), obwohl es sich hier nur um Bruchstücke der Überlieferung handelt, die in pathologische Angaben eingebettet sind. 17) In der Philosophia des Wilhelm von Conches, abgedruckt unter dem Namen des Honorius von Autun in Migne, P. L., Bd. CLXX11, col.9), und unter diesem falschen Namen zitiert bei J.van Wageningcn, Mnemosyne, N. F., Bd.XLVI (1918), pp. 374ff. Siehe auch unten, Seite 172 (Text).

122

Die Melancholie in der naturwissenschaftlichen Literatur der Antike

ker betrifft, so ist zweierlei festzustellen. Zum einen werden ihm,

dessen »erdiger« Saft von Galen als Quelle des Festen und Beständigen bezeichnet wurde, im weiteren Verlauf der Entwicklung immer

mehr ungünstige Eigenschaften zugeschrieben; zum anderen fließen

seine Eigenschaften in vielen Punkten mit denen des Phlegmatikers zusammen oder sind schließlich sogar austauschbar. So kann in den Illustrationen des 1$. und 16. Jahrhunderts das Melancholikerbild sei-

nen Platz ohne weiteres mit dem Phlegmatikerbild tauschen, so daß

bald das eine, bald das andere an dritter Stelle steht, während der Sanguiniker regelmäßig an erster und der Choleriker ebenso regelmäßig an zweiter Stelle rangiert (siehe Tafel 78, 79, 82, 124-127, 129132). In der Schrift Περί χυμών wird dem Phlegma, dem Galen ausdrücklich jede charakterbildende Kraft abgesprochen hatte, jene

Geistlosigkeit zugeschrieben, die von Galen noch auf das Blut zuruckgeführt worden war; bei Pseudo-Soran und Vindician wird der

Phlegmatiker als gesetzt, wach und gedankenvoll bezeichnet, während die Eigenschaft der Gesetztheit nach Beda dem Melancholiker

zukommt; dagegen gilt er in der Schrift Περί κατασκευής sowie bei Beda als traurig, schläfrig und vergeßlich ‫ ־‬Eigenschaften, die bei Pseudo-Soran und Vindician wiederum dem Melancholiker eignen.

Man sieht, daß die Begriffe »phlegmatisch« und »melancholisch« vermischt wurden und daß diese Vermischung zur Herabwertung der melancholischen Veranlagung beitragen mußte, von der schließlich kaum noch etwas Gutes ausgesagt wird. Diese Verschiebung der Werte dürfte auf zwei Faktoren zurückzu-

führen sein: zum einen auf die entwicklungsgeschichtlich nur zu be-

greifiiche Neigung, dem Blut, das nicht zu den überschüssigen Säften zählt, einen immer günstigeren Einfluß auf die Charakterbildung zu·

zuschreiben - zuungunsten der anderen drei Säfte, vor allem aber der schwarzen Galle; zum anderen auf die Wirkung der Galenischen >Krasen‫־‬Lehre53

Von nun an gab es also eine melancholische Erkrankung auf sanguini-

scher, cholerischer, phlegmatischer und »natürlich-melancholischer« Basis, wobei man letztere gleichsam als »Melancholie im Quadrat«

bezeichnen könnte. Dieses Schema hatte nun den Vorteil, die Vielfalt der Symptome an eine Vielfalt von Ursachen zu knüpfen. Gleichzei-

tig gelang es ihm auf eine logisch befriedigende Weise, die durch Galen kanonisierte Verbrennungstheorie an die Vier-Säfte-Lehre an-

zuschließen. Es ist bis in das 17. und 18.Jahrhundert in Geltung

geblieben, was nicht verwunderlich ist angesichts der Tatsache, daß die Medizin des späteren Mittelalters sich zu einem guten Teil in der

Kommentierung Avicennas erschöpfte60 und daß sogar die jüngeren Salernitaner sich auf die Dauer der Vierformenlehre nicht entziehen konnten.61 Die Enzyklopädisten des 13. Jahrhunderts,6' die Ärzte von Gordonius6’ und Guglielmo de Corvi64 bis zu Giovanni da Concor-

reggio6' und Antonio Guainerio,66 die Humanisten von Ficino67 und 60 Zu den Kommentatoren cf. H. Ecklebens Leipziger Dissertation, Die abendländischen Avicenna-Kommentare, 192t. 61 De conservanda valetudine ... cum Amoldi Novicomensis [Arnaldus de Villanova] enarrationibus, häufig gedruckt und übersetzt; in der Frankfurter Ausgabe von 1551, fol. in ff.; cf. auch Arnaldus de Villanova, De morbis curandis I, 26, in der Straßburger Ausgabe von IJ41, fol. 87‫ ■׳‬ff. 62 Albert der Große, Liber de animalibus, ed. H. Stadler, Münster 1.W. 1916-21, Bd. I, p. 329, § 120, in fast wörtlichem Anschluß an Avicenna, nur daß er eine Erörterung des Problems XXX, 1 hinzufügt (cf. oben, Seite 128 ff., Text). Ferner Bartholomaeus de Glanvilla (i.e. Bartholomaeus Anglicus), De propnetatibus rerum IV, 11 (in der Straßburger Ausgabe von 1485 nicht paginiert). 63 B. Gordonius (1282-1)18), Practica, lilium medicinae nuncupata, Venedig 1498, Bd. II, fol. jovff. Er will auch die Therapie den vier Sonderformen entsprechend differenziert wissen. 64 Guillelmus Brixiensis (gestorben 1326), Practica, Venedig !508, Kap. 22, fol. 2Or. 65 Gestorben um 1440. Practica nova, Pavia 1309, Bd.I, Kap. 23, fol. 16r. 66 Practica, Venedig 1517, tract. 15, fol. 23'. Uber Guainerio (gestorben 1440) siehe unten, Seite 162 ff. 67 Ficino, De vita tripi. I,j: »Melancholia, id est atra bilis, est duplex; altera quidem naturalis a medicis appellatur, altera vero adustione contingit. Naturalis illa nihil aliud est quam densior quaedam sicciorque pars sanguinis. Adusta vero in species quattuor distribuitur, aut enim naturalis melancholiae, aut sanguinis purioris aut bilis [sc. flavae] aut salsae pituitae combustione concipitur.«

>54

Die Melancholie in Naturwissenschaft und Philosophie des Mittelalters

Melanchthon68 bis Burton6’: sie alle ergreifen die Möglichkeit, die unterschiedlichen Varianten der »adustiven« Melancholie auf den

Charakter der vier Grundsäfte zurückzuführen. Bei Avicenna lesen wir:

Und wir sagen, daß die die Melancholie bewirkende schwarze Galle, wenn sie mit dem Blut gemischt ist, mit Freude und Lachen verbunden auftritt und nicht von heftiger Traurigkeit begleitet wird; ist sie aber mit dem Phlegma gemischt, so ist sie mit Trägheit, geringer Bewegung und Ruhe verknüpft; ist sie mit der gelben Galle gemischt, so sind ihre Symptome Unruhe, Gewalttätigkeit, Besessenheit, und sie ist ähnlich der Mama. Und wenn sie reine schwarze Galle ist, dann ist die Nachdenklichkeit sehr groß, Unruhe und Besessenheit geringer, außer wenn der Kranke erregt und zum Streit gereizt wird und einen Haß nährt, den er nicht vergessen kann.70 Wir können verfolgen, wie diese knappe, aber scharfgeschnittene

Charakteristik in immer lebhafteren Farben ausgemalt wird, bis

schließlich Melanchthon, tief durchdrungen von der heroischen Auf68 De anima II; Corpus Reformatorum XIII, col. 83 ff. 69 Anatomy of Melancholy, London 1621. Es ist ein merkwürdiges Mißverständnis, wenn G. A. Bieber (Der Melancholikertypus Shakespeares und sein Ursprung, Anglistische Arbeiten III, Heidelberg 1913, p. 12) aus der vollkommen traditionsgemäßen Unterscheidung zwischen sanguinischer, cholerischer, phlegmatischer und melancholischer Melancholie den Schluß zieht, daß Burton das Wort ·melancholy« bisweilen nur als Synonym für Temperament verwendet habe. 4, 70 Avicenna, Liber canonis, Venedig 1555, III, 1, 4, Kap. 19, fol. 205': »Et dicimus quod cholera nigra faciens melancholiam, cum est cum sanguine, est cum gaudio et risu et non concomitatur ipsam tristitia vehemens. Si autem est cum phlegmate est cum pigritia et paucitate motus et quiete. Et si est cum cholera, vel ex cholera est cum agitatione et aliquali daemonio et est similis maniae. Et si fuerit cholera nigra pura, tunc cogitatio in ipsa erit plurima et agitatio seu furiositas erit minus: nisi moveatur et rixetur et habeat odium cuius non obliviscitur.« Die Charakteristik dieser vier Melancholieformen schließt sich - ,mit Ausnahme der phlegmatischen, die geradezu ins Gegenteil verkehrt wurde - derjenigen an, die unter anderem in Περί χυμών für die von den vier Säften ausgehenden allgemeinpachologischen Zustände gegeben wird: Öoai γάρ αύτών (sc. τών νόσων] είσιν έφ’ αίματος, μετ * φδής προσπίπτουσί τε καί γέλωτος, οσαι. δ' άπό ξανθής (χολής), θρασύτεραι καί πικρότεραι... *Όσαι δ’ αύ άπό μελαίνης, σκυθρωπότεροι καί σιωπηλότεροι καί άστειότεραι. δσαι δ' αύ άπό φλέγματος ληρώδεις καί άσταταίνουσαι (Pseudo-Galen, Kühn, Bd. XIX, p. 493).

Die Melancholie als Krankheit

Π5

fassung des Problems XXX, 1, auch die vier Formen der krankhaften Melancholie nach Möglichkeit durch klassisch-mythologische Bei-

spiele adelt und durch die Nennung Demokrits sogar den romantisehen Typus des melancholischen Humoristen antizipiert:

Wenn die Melancholie aus dem Blut stammt und mit Blut versetzt ist, bewirkt sie den Aberwitz der lächerlich Fröhlichen, von der Art der heiteren Tollheit des Demokrit, der über die Torheit der Menschen zu lachen pflegte und durch diese Gemütsruhe sein Leben bis zu seinem hundertneunten Jahr verlängert hat. Wenn aber die Melancholie aus der roten Galle stammt oder mit viel roter Galle versetzt ist, so entstehen schreckliche Rasereien und Manien; solcher Art war der Wahnsinn des Herakles und des Ajax. So sagt Vergil vom Zorn des Herakles: »Gleich aber brennt dem Alkiden in rasendem Grolle mit schwarzer / Galle der Schmerz« [Aeneis VIII, zijf.]. Obgleich nämlich im Zorn die rote Galle gereizt wird, nennt Vergil sie schwarz, weil die rote mit einer größeren Menge schwarzer vermischt ist, ja sie wird zusammen mit der schwarzen verbrannt und wird aschenartig zugleich mit der schwarzen. Wenn sie mit reichlichem Phlegma versetzt ist, so entsteht ungewöhnliche Apathie. Wir haben selbst einen Geisteskranken gesehen, der fast dauernd schlief, ausdruckslos sprach und überhaupt nicht erregbar war, außer durch Lautenklang; wenn er den hörte, hob er den Kopf, begann zu lächeln und antwortete auf Fragen einigermaßen heiter. Wenn die schwarze Galle, von sich aus im Überfluß vorhanden, sich entzündet, so entstehen tiefe Depressionen und Menschenscheu; von dieser Art war die Trauer des Bellerophon: »Irrt’ er umher, einsam, durch die Ale’ische Flur, Sein Herz in Kummer verzehrend, der Menschen Pfade vermeidend«, wie Homer sagt.7' 71 Melanchthon, loc. cit.: »Atra bilis viciosa est, cum vel coeteri humores, vel ipsa atra bilis ita aduritur, ut humor cineris naturam crassiorem et mordacem referat ... Cum melancholia est ex sanguine et diluitur modico sanguine, efficit amentias ridicule laetantium, quale aiunt fuisse delirium Democriti hilarius, qui ridere solebat hominum stulticiam, eaque animi tranquillitate vitam produxit usque ad annum centesimum nonum suae aetatis. »Cum vero melancholia est ex rubra bile, aut diluitur multa rubra bile, fiunt atroces furores et maniae, qualis fuit Herculis et Aiacis furor. Ut Virgilius de ira Herculis inquit:

>H1c vero Alcidae furiis exarserat atro Felle dolor«.

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Die Melancholie in Naturwissenschaft und Philosophie des Mittelalters gut< und »böse«, die spätestens seit dem 1. Jahrhundert v.Chr. allgemein anerkannt war und gewöhnlich

45 Cf. P. Schnabel, Berossos und die babylonisch-hellenistische Literatur, Leipzig 1923. Der große Einfluß des Berossos und das Ansehen, dessen er sich im ganzen Altertum erfreute, geht auch aus Plinius (Nat. hist. VII, 123) und Flavius Josephus (Contra Apionem I, § 129) hervor (»Testimonia«, Schnabel, op. cit., p. 250). Nach Plinius errichteten die Athener dem Berossos sogar eine Statue, die wegen seiner wundervollen Prophezeiungen eine vergoldete Zunge hatte. 46 Über die Sternbilder- und Dekan-Astrologie cf. F. Boll, Sphaera, Leipzig 1903, und W. Gundel, Dekane und Dekan-Sternbilder (Studien der Bibliothek Warburg XIX, 1936).

220

Saturn in der literarischen Überlieferung

als »chaldäisch« bezeichnet wird, schon geraume Zeit früher importiert worden sein muß. Nach diesem Einteilungsschema, das allen Aussagen römischer Schriftsteller zur Astrologie zugrunde liegt und auch die nach den Planeten benannten Wochentage zu »glücklichen«

und »unglücklichen« macht, sind zwei Planeten, Jupiter und Venus, grundsätzlich »gut«, einer, nämlich Merkur, grundsätzlich »neutral«

und zwei, Mars und Saturn, grundsätzlich »böse«/7 Und es ist klar, daß diese Lehre, die das komplizierte Wesen Saturns in ein ausgesprochen finsteres und unheildrohendes Licht rückte/8 für die spätere

Einbeziehung der Melancholie in seinen Bereich von großer Bedeutung wurde.

So tritt uns schon in den wenigen Versen des Manilius - einer der

frühesten uns erhaltenen astrologischen Aussagen über das Wesen

Saturns - ein Himmelsherrscher eigentümlich düsteren Charakters entgegen. Von seinem Thron gestürzt und von der Schwelle der Götter verjagt, übt Saturn seine Kräfte am »umgekehrten Ende der Himmselsachse« aus; er beherrscht die »Fundamente«« des Univer-

sums, d. h. den »imum coeli« genannten untersten Abschnitt des

Himmels, was zur Folge hat, daß er die ganze Welt gleichsam in 47 Cicero, De divinatione I, 85; Plutarch, De Iside et Osiüde 18. Von entsprechenden Stellen aus der Dichtung seien angeführt: Horaz, Oden II, 17 (»Te Iovis impio tutela / Saturno refulgens / Eripuit volucrisque fati / Tardavit alas...«); Tibuli I, 3, 17 («sacra dies Saturni« als schlechter Reisetag); Ovid, Ibis, Zeile 209 ff. (»Te fera nec quicquam placidum spondentia Martis / Sidera presserunt falciferique senis«); Juvenal, Sal. VI, $6$ (»quid sidus triste minetur / Saturni...«); Properz IV, 1,83(»... Felicesque Jovis stellas Martisque rapaces / Et grave Satumi sidus«); Lukan, Bellum civile I, 651 (»Summo $i frigida caelo / Stella nocens nigros Saturni accenderet ignis«). Ferner Schol. in Luc. I, 660. Im Filocalus-Kalender von 354 werden die Dienstage und Samstage als »dies nefasti«, die Donnerstage und Freitage als Glückstage und die übrigen als neutral (»communes«) bezeichnet. Wie M.J. Bottero, Mesopotamie (cf. oben, Seite 214, Anm. 35), gezeigt hat, kannten die Babylonier keine »guten« oder »bösen« Planeten. Die Einteilung der Tage in »günstige« und »ungünstige« beruhte nicht auf astrologischen, sondern auf »hemerologisehen« oder »menologischen«, d. h. die zahlenmäßige Stellung des Tages oder Monats im Kalender berücksichtigenden Kriterien. 48 Cf. z. B. die in der vorigen Anmerkung zitierte Lukanstelle, wo »frigida« unmittelbar neben »nocens« steht. Später finden wir die Kalte Saturns (sowie seine Trockenheit) geradezu als »qualitas mortifera« bezeichnet (siehe unten, Seite 281, Text, und Seite 282, Anm. 196).

221

Satum in der Literatur der Antike umgekehrter Perspektive, von

einem grundsätzlich feindseligen

Standpunkt aus, anblickt. Und wie sein eigenes mythisches Schicksal durch seine Vaterschaft entschieden wurde, so hat er als planetarische Potenz das Schicksal aller Vater und Greise in Händen.49

Das Aufschlußreiche dieser knappen Schilderung besteht - abgesehen von der dusteren Färbung des Saturnbildes - in der Verschmelzung einer naturphilosophischen, insbesondere stoischen Betrachtungsweise mit einer mythologischen sowie in dem Hervortreten einer

mehr und mehr maßgebenden Denkform, die durch Zuordnung rational-logisch kaum verbundener Beziehungsreihen gekennzeichnet

ist. Die astrologische Auffassung, wie sie bei Manilius zu beobachten ist, hat mit der stoischen folgendes gemeinsam: beide sind an den

alten Göttermythen nur insoweit interessiert, als deren Einzelelemente zur Bestimmung einer Naturerscheinung herangezogen wer-

den konnte. Sie unterscheidet sich aber von der stoischen in dreifaeher Hinsicht: erstens wird die Vorstellung der Gottheit von der des nach ihr benannten Gestirns nicht mehr getrennt gehalten, sondern mit ihr gleichgesetzt; zweitens ist dem Astrologen die Natur dieser nunmehr Götter und Himmelskörper zugleich in sich begreifenden

Sternpotenz nur insoweit bedeutungsvoll, als sie einen genau be-

stimmbaren Einfluß auf den Menschen und sein Schicksal ausüben

kann; und drittens ist die bei der Deutung der Mythen befolgte Me-

thode nicht mehr die abstrakter Allegorese, sondern die konkreter

Analogiesetzung. Es heißt nicht mehr: »Saturn bedeutet die Zeit, weil

diese, wie er seine Kinder, ihre eigenen Erzeugnisse verschlingt«, sondern »Saturn, vom Olymp in den Hades hinabgestoßen, be49 Manilius, Astronomica II, Zeile 929 ff.

at qua subsidit converso cardine mundus fundamenta tenens adversum et suspicit orbem ac media sub nocte iacet, Saturnus in illa parte suas agitat vires, deiectus et ipse imperio quondam mundi solioque deorum, et pater in patrios exercet numina casus fortunamque senum; priva est tutela duorum, [nascentum atque patrum, quae tali condita pars est.] asper erit templis titulus, quem Graecia fecit daemonium, signatque suas pro nomine uires.

222

Saturn in der literarischen Überlieferung

herrscht die unterste Region der Himmelskugel«, oder »Saturn, selbst Greis und Vater, bestimmt auch das Schicksal der Greise und Väter«. Bei den späteren Astrologen werden diese in »strukturalen« Analogien

begründeten Bezugsetzungen immer weiter ausgebaut, so daß die bei Manilius noch sehr skizzenhafte Charakteristik der Planetengötter

und ihrer Kräfte eine immer reichere, bestimmtere und gleichzeitig kompliziertere Form annimmt. Auf der anderen Seite scheinen die bei

Manilius noch ausdrücklich angeführten Götterattribute der ur? sprünglichen Mythen (»deiectus et ipse Imperio quondam mundi solioque deorum« usw.) aus dem Bewußtsein der Autoren und Leser

allmählich zu entschwinden und können nur mehr durch retrospek-

tive Analyse wiedergewonnen werden. Ein vergleichsweise früher Vertreter dieser voll entwickelten astrolo-

gischen Charakteristik ist der im zweiten Jahrhundert schreibende Vetcius Valens/0 dessen Werk mit einer ausführlichen Beschreibung des Wesens und der Wirkung der Planeten beginnt und im Hinblick

auf eben diese Beschreibung sehr viel mit dem früharabischen Schrift50 Vettius Valens, Anthologiarum libri, ed. W. Kroll, Berlin 1908, p.2: (ό) δέ τού Κρόνου ποιεί μέν τούς ύπ’ αυτόν γεννωμένους μικρολόγους, βασκάνους, πολυμερίμνους, έαυτούς καταφφίπτοντας. μονοτρόπους, τυφώδεις, άποκρύπτοντας τήν δολιότητα, αύστηρούς, κατανενευκότας, ύποκρινομένην τήν δρασιν έχοντας, αυχμηρούς, μελανοείμονας, προσαιτητικούς, καταστύγνους, κακοπάθεις, πλαστικούς [lies: πλευστικούς], πάρυγρα πράσσοντας. ποιεί δέ καί ταπεινότητας, νωχελίας, άπραξίας, έγκοπάς τών πρασσομένων, πολυχρονίους δίκας, άνασκευάς πραγμάτων, κρυβάς, συνοχάς, δεσμό, πένθη, καταιτιασμούς, δάκρυα, όρφανίας, αίχμαλωσίας, έκθέσεις· γεηπόνους δέ καί γεωργούς ποιεί διά τό τής γής αυτόν κυριεύειν, μισθωτός τε κτημάτων καί τελώνας καί βίαιους πράξεις άποτελεί, δόξας περιποιεί μεγάλας καί τάξεις επισήμους καί έπιτροπείας καί άλλοτρίων διοικητάς καί άλλοτρίων τέκνων πατέρας, ουσίας δέ κυριεύει μολύβδου, ξύλων καί λίθων- τών δέ τού σώματος μελών κυριεύει σκελών, γονάτων, νεύρων, ίχώρων, φλέγματος, κύστεως, νεφρών καί τών έντός άποκρύφων. σινών δέ δηλωτικός όσα συνίσταται έκ ψύξεως καί ύγρότητος, οίον ύδρωπικών, νεύρων άλγηδόνων, ποδάγρας, βηχός, δυσεντερίας, κηλών, σπασμών, παθών δέ δαιμονισμού, κιναιδίας, ακαθαρσίας, ποιεί δέ καί άγάμους καί χηρείας, όρφανίας. άτεκνίας. τούς δέ θανάτους άποτελεί βίαιους έν ϋδατι ή δι * άγχόνης ή δεσμών ή δυσεντερίας, ποιεί δέ καί πτώσεις έπί στόμα, έστί δέ Νεμέσεως άστήρ καί τής ήμερινής αίρέσεως, τή μέν χρόρ καστορίζων, τή δέ γεύσει στυφός.

Saturn in der Literatur der Antike tum gemeinsam hat.5' In dieser Darstellung beherrscht Saturn, der hier graeco-ägyptisch auch als »Stern der Nemesis« angeführt wird, eine Fülle disparater Menschentypen, ja er beherrscht sie nicht nur,

sondern erzeugt sie sogar. Daneben unterstehen ihm eine Reihe be-

stimmter Substanzen (wie Blei, Holz und Stein), Körperteile, Krank-

heiten (und zwar vor allem solche, die durch Kälte und Feuchtigkeit verursacht werden) und Todesarten (vor allem Ertränken, Erhängen, Fesselung und Dysenterie). Ein Teil dieser Zuordnungen, deren Aufnahme in die arabischen Texte leicht ersichtlich ist, läßt sich ohne weiteres aus dem echten

mythologischen Kern der Gesamtvorstellung ableiten. Von den Akkerbauern und Erdarbeitern weiß Vettius Valens noch selbst, daß sie Saturn angehören: διά τό τής γής αυτόν κυριεύειν. Die Zuordnung der Ehelosigkeit und Kinderlosigkeit, des Witwenstandes, der Kin-

deraussetzung, der Verwaisung, Gewalttätigkeit und verborgener Arglist erklärt sich aus den unglücklichen Erfahrungen des griechischen

Kronos in seinem Familienleben. Die Zuordnung der Traurigen, Sorgenvollen, Mißhandelten und Bettler, der Fesseln, der Gefangenschaft

und des Verborgenseins hat ihren Ursprung in seiner Absetzung und Gefangensetzung im Tartarus. Die Zuordnung der »Oberaufsicht«

oder »Vormundschaft«, des großen Ruhmes und hohen Rangs leitet sich her aus der ursprünglichen Stellung des Weltenherrschers und

Götterkönigs. Das Patronat über die Erde, die Hölzer und Steine, Ackerbau und Erdarbeit ist ebenso leicht aus den Errungenschaften

des italischen Flurgotts Saturn zu erklären,12 wie die der Seefahrer aus

51 Über die große Verbreitung der Astrologie des Vettius Valens siehe Kroll (ed.)> op. cit., pp. VII ff. 52 Daß Saturn die festesten Bestandteile des menschlichen Körpers (Knochen, ·Sehnen, Knie usw.) zugeordnet werden, dürfte sich aus seiner »erdhaften« Natur erklären: die Parallelisierung der Erde mit dem Menschenkörper (Erde als Fleisch, Wasser als Blut usw.), die noch bei Nikolaus von Kues und Leonardo da Vinci anzutreffen ist, geht auf orientalische und antike Spekulationen zurück (cf. R. Reitzenstein und Η. H. Schaeder, Aus Iran und Griechenland, Studien der Bibliothek Warburg, VII, Leipzig 1926, pp. 1j6ff.; Saxl, Verzeichnis, Bd. II, pp. 40ff.; cf. auch Charles deTolnay, Pierre Bruegel l'Ancien, Brüssel 193$, pp. 7 und 60, der jedoch Zeugnisse aus dem Hochmittelalter, wie etwa Honorius von Autun und Hildegard von Bingen nicht berücksichtigt). Zu dem Ganzen cf. R. Klibansky (ed.) in Nikolaus von Kues, De docta ignorantia II, 13, Leipzig 1932, p. m (Quellenverzeichnis).

224

Saturn in der literarischen Überlieferung

seiner langen, gefahrvollen Flucht nach Latium.υ Ferner begründet

sich die Zuweisung der Tränen, der mit feuchten Dingen Arbeitenden, der durch Kälte und Nässe verursachten Schäden und Krankheiten, der Blase, der Lymphe, des Todes durch Ertränken usw. aus der

pythagoräisch-orphischen Interpretation des Kronos als Fluß- und Meeresgott.53 54 Doch nun werden - was bei Manilius nur in bescheide-

nem Umfang geschehen war - alle diese Einzelzüge des Mythos zu Typen irdischer Dinge und Vorgänge umgedeutet. Die einzelnen Erfahrungen und Eigenschaften des Gottes konkretisieren sich gleichsam zu bestimmten Kategorien irdischer Substanzen und vor allem zu

bestimmten Kategorien menschlicher Charaktere und Schicksale.

Daher wird es dem Astrologen nunmehr möglich, die durch den Mythos bestimmten Ding- und Menschentypen mit solchen zu ver-

binden, die aus rein natürlichen Vorstellungen hervorgegangen sind. Zunächst einmal sind es, wie schon bei Manilius, die astronomischen und physikalischen Eigenschaften des Saturn als eines Himmelskör-

pers, die sich zu Wesens- und Schicksalstypen verdichten können. Die Langsamkeit seines Umlaufs verleiht den unter ihm geborenen

Menschen den Charakter der Trägheit und macht ihn selbst zum Herrn des Bleis (noch heute sprechen wir von »bleiernen Füßen« und

»bleierner Langeweile«) sowie zum Verursacher lang hingezogener Rechtshändel. Die ihm allgemein zugeschriebene Kälte erzeugt, vor

allem in Verbindung mit der Feuchtigkeit (die nun wieder mythischen Ursprungs ist) bestimmte Krankheiten wie Wassersucht und Rheumatismus. Man sieht, daß ein Teil dieser Aussagen auf einer Art Analogiesetzung beruht, die uns bisher noch nicht begegnet ist. Die

ihnen zugrundeliegende Formel lautet nicht mehr: »wie Kronos selbst gefesselt im Tartarus saß, so sind auch die Saturnkinder oft im Gefängnis«, sondern: »da der Saturn kalt und feucht ist und da Wassersucht und Rheumatismus durch Kälte und Feuchtigkeit verursacht

werden, gehören Wassersucht und Rheumatismus zum Saturn«. Durch dieses Mittel indirekter Analogisierung konnte nun die SaturnVorstellung der Astrologie eine dritte Gruppe von Bestimmungen in

53 Daß bei Vettius Valens nicht πλαστικούς, sondern πλευστικούς zu lesen ist, geht aus der Parallelstelle bei Rhetorius hervor (Cat. astr. Gr., Bd.VlI, p.215). 54 Siehe oben, Seite 216 (Text).

2i$

Satum in der Literatur der Antike

sich aufnehmen, die an und für sich weder mit mythischen noch mit astrophysikalischen Gegebenheiten in Verbindung stehen, sondern

gleichsam irdischen Ursprungs sind, in unserem Zusammenhang aber

eine ganz besondere Bedeutung besitzen. Gemeint ist das von der Sternkunde gänzlich unabhängige Gebiet des Wissens, das Physiognomik, Charakterlehre und Popular-Ethik bereitstellen.55

Der mythische Kronos zeichnet sich durch eine ganz bestimmte Physiognomie, nämlich die des trübsinnigen oder tiefsinnigen Alten aus,‘6

vor allem aber durch ganz bestimmte, häufig negative Charakterzüge. Diese menschlichen Eigenschaften ließen sich, wie wir soeben sahen,

zunächst durch unmittelbare Analogiesetzung auf das Wesen und Schicksal der Traurigen, Greisenhaften, Kinderlosen, Arglistigen usw. anwenden.57 Aber indem aus der speziellen Eigenschaft eines

Gottes ein allgemein menschlicher Charaktertypus wurde, kamen

nun jene Wissenschaften ins Spiel, die sich seit Aristoteles die Erfor-

schung der physischen und psychischen Struktur des Menschen zum Ziel gesetzt hatten. Die in diesem Zusammenhang entwickelten rein * »natürlichen Charaktertypen berührten sich vielfach mit den mittel-

bar aus dem Wesen der Sterngötter abgeleiteten »planetarischen * We-

sens- und Schicksalstypen, wie auch die vermeintlich von den Gestir-

nen verursachten Krankheiten den Vorstellungen der Schulmedizin entsprachen. Die Übereinstimmung war so groß, daß eine weitere

* »mittelbare Analogiesetzung, d. h. die Aufnahme »verwandter * Typen aus dem Bildervorrat der Physiognomik und Charakterlehre in die Astrologie, nicht ausblieb. So kommt es zur Einbeziehung der Mürri-

sehen, Kleinsinnigen, Eigenbrötlerischen, Geizigen, Verleumderisehen usw. in die Gruppe der »saturninischen« Menschen, und so kommt es auch zur Verbindung des »saturninischen *

Menschen mit

dem melancholischen. Dasselbe Verfahren, nämlich das der hellenisti-

5 j Siehe oben, Seite 111 ff. (Text). 56 Cf. auch die Darstellungen Saturns von der Art unserer Tafel 12. J7 Astrologen versehen die Kinder des Steinbocks, der das Haus Saturns ist, natürlich mit denselben Kennzeichen wie die Kinder des Planeten. So heißt es etwa (Cat. astr. Gr., Bd. X, pp. 238 ff.): πολλά μοχΒήσας, γυνή μικρή; oder bei Hephaistion II, 2 (Cat. astr. Gr., Bd.VIII, 2, p. 59) μικροφυείς κάτω κύπτοντας usw. Besonders eindeutige Verbindungen begegnen bei Vcttius Valens, Antholögiarum libri I, 2, ed. W. Kroll, Berlin 1908, p. 11.

226

Saturn in der literarischen Überlieferung

sehen Physiognomik und Charakterologie, wurde, wie wir gesehen haben, von den spätantiken Vertretern der Humores-Lehre zum Auf-

bau der >vier Temperamente« angewandt; und es dient, wie sich nunmehr erweist, der spätantiken Astrologie zum Aufbau ihrer »planeta-

rischem Typen. Was das Melancholikerbild der Temperamentenlehre betrifft, so wurde bereits erwähnt, daß es wichtige Züge der Bitterkeit, der Ver-

zweiflung, des Geldscheffelns und der Engstirnigkeit angenommen hatte.’8 Diese physiognomisch-charakterologischen Typen gehen nun mit ihren wesentlichen Eigenschaften in die Kennzeichnung des ebenfalls pessimistischen, einsamen Saturnmenschen von kalter Natur ein,

verstärkt durch solche Prädikate, die, im Zuge weiterer Analogie-

bildung, aus der pathologischen Betrachtung der Melancholie über-

nommen wurden.’9 Eine ausschließlich auf Vettius Valens beruhende Tabelle (siehe Seiten 228, 229) mag diese Beziehung in großen Zügen

veranschaulichen.

Durch die Heranziehung weiterer astrologischer Quellen aus gleieher oder nur wenig jüngerer Zeit lassen sich diese Analogien noch erheblich vermehren. Das bei fast allen Astrologen überlieferte Prädikat der Gefräßigkeit zum Beispiel, dessen mythische Wurzeln deut-

lieh sind, hat schon bei Aristoteles sein Analogon in der Semiotik des Melancholikers.60 Das Gedicht Aetna bezeichnet den Saturn als eine »stella tenax«,61 was der Beschreibung des Melancholikers als be-

ständig und fest (έδραϊον καί βέβαιον) und »stabilis« entspricht. Julian von Laodicea gibt Saturn die Alleinherrschaft,62 was mit dem

»tyrannischen«

Wesen des

Melancholikers

bei

Platon

überein-

stimmt.6’ Rhetorius nennt ihn schweigsam und schreibt seinem Ein-

fluß die Neigung zum Aberglauben zu.64 Ptolemäus schließlich führt unter den ausschließlich von Saturn beherrschten Menschen Geizige, 58 Siehe die oben, Seite 118 ff., zitierten Stellen; vor allem R. Förster, Script, phys. gr. et lat. I, pp. 32-36. 59 Siehe oben, Seite 95 ff. (Text). 60 Siehe oben, Seite 83 ff. (Text). 61 Aetna II, 244 (ed. S. Sudhaus, Leipzig 1898, p. 18). 62 Cat. astr. Gr.s Bd. IV, p. 105. 63 Siehe oben, Seite $7 (Text). 64 Cat. astr. Gr., Bd. VII, p. 215. Cf. ferner Cat. astr. Gr., Bd. VII, p. 96; μονάχικόν σχήμα καί έρημικός βίος.

Saturn in der Literatur der Antike

227

Geldgierige und Schätzesammelnde, andererseits aber auch tiefe Den-

ker an.6* Was freilich bei all diesen spätantiken Astrologen noch fehlt, ist die

eindeutige und feste Verteilung der vier Säfte auf bestimmte Planeten

und insbesondere die eindeutige und feste Zuordnung der schwarzen Galle zu Saturn. Zwar werden bei Vettius Valens und seinen spatantiken Nachfolgern die schwarze Galle, die Milz und die entsprechenden Körper- und Seelenzustände im Zusammenhang mit Saturn erwähnt, aber es handelt sich dabei um eine Form der Zuordnung, die entweder noch nicht allgemeingültig oder aber noch nicht spezifisch

ist. Entweder wird allgemein gesagt: »die Milz wird von Saturn beherrscht« - dann aber ist dieses Patronat kein spezifisches, sondern

die Milz steht gleichgeordnet neben den Knochen, der Blase, dem rechten Ohr, usw/6 Oder aber es wird von einer spezifischen Wir-

6j Ptolemäus, Tetrabibios III, Basel 1553, p. 158 = Apotelesmata III, 14, ed. F. Boll und Ae. Boer, p. 158. In einer iatromathematischen Schrift mit dem Titel Liber ad Ammonem 0. L. Ideler, ed., Physici et media graeci minores. Berlin 1841, Bd. I, p. 389) wird den unter Saturn (freilich auch unter Merkur) krank werdenden Patienten eine Prognose gestellt, deren Einzelsymptome sich teilweise wörtlich mit denen der Melancholie decken: Οί μέν γάρ ύπό h καί 2 κατακλινόμενοι, νωχελείς έσονται καί δυσκίνητοι (καί άναλγεϊς) τοΐς τε άρθροις καί παντί τώ σώματι άπό ψύξεων καί ρευματισμού κατά μικρόν έμφαίνοντος τήν νόσον καί βραδέως διεγειρόμενοι μικρόφωνο( τε καί δεδιότες καί φοβούμενοι καί έαυτούς θάλποντες τοΐς ίματίοις και τό φώς φεύγοντες καί πυκνώς άναστενάζοντες καί βραδέως άναπνέοντες καί μικρόσφυγμοι καί τήν βοήθειαν θερμασίαν έχοντες. καί διά τών σφυγμών δεικνύμενοι ένδεεις καί άτονοι καί τήν έπιφάνειαν τού σώματος κατεψυγμένοι. χρήσθαι ούν έπί τούτων δει τοΐς θερμαίνουσι καί άναχαλώσιν έστεγνωμένως. 66 So Ptolemäus, Tetrabibios III, Basel 1553, p. 148 = Apotelesmata, ed. cit., p. 148. Diese Zuordnung war starken Schwankungen unterworfen; cf. z. B. das dem Porphyrios zugeschriebene Werk Introductio in Ptolemaei opus de effectibus astrorum, Basel 1559, p. 198: «Saturnus ex interioribus phlegmaticum humorem, tussim et solutionem intestinorum.« Unter den von Satum verursachten gefährlichen Krankheiten stehen Erkrankungen der Milz neben Schwindsucht, faulen Fiebern und anderen schweren Erkältungskrankheiten (Ptolemäus, Tetrabibios IV, Basel 1553, p. 198). 67 Das Prädikat des »üblen Geruchs‫( ״‬im allgemeinen als »foetidus« bezeichnet und von Guido Bonatti - zitiert unten, Seite 285, Text - als »Bocksgeruch« qualifiziert) hat übrigens auch einen mythologischen Hintergrund: es gab in Rom einen besonderen »Saturnus Stercutius« oder »Sterculius‫״‬, den Gott des

Saturn ίη der literarischen Überlieferung

228

Melancholie-Prädikate

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Saturn-Prädikate

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schwarzgekleidet μελανοείμονες

μελάνΟριξ

μελανόχρως,

von dunkler Hautfarbe, schwarzhaarig

μελάντριχοι

Schwarze Haare als Zei- schwarzäugig, schwarzhaarig chen des Geizigen μελανόψιοι.

Satum in der Literatur der Antike

229

230

Saturn in der literarischen Überlieferung

kung Saturns auf die schwarze Galle und die mit ihr zusammenhängenden Zustände gesprochen - dann aber ist diese Wirkung keine dauernde und von Saturn allein ausgehende, sondern sie ist an eine bestimmte Stellung Saturns am Fixsternhimmel oder sogar an sein Zusammenwirken mit anderen Planeten gebunden.68 Als Beispiel

hierfür diene eine Stelle aus dem Astrologen Dorotheus (spätestens

Anfang des 2. Jahrhunderts), dessen Werk uns heute nur in Fragmen-

ten oder in griechischen und lateinischen Prosa-Umformungen überliefert ist, während es den Arabern des 10. Jahrhunderts noch vollständig vorlag.6’ In seinem Gedicht führt er aus, daß, wenn der kalte Saturn und der heiße Mars in Konjunktion sind, die Arbeit gehemmt

und die schwarze Galle in Bewegung gebracht wird.70 Ackerdüngers (cf. Macrobius, Saturnalia I, 7, 25 und W. H. Roscher, Ausjährliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie, Leipzig 1884, s. v. »Saturnus«, col. 428). 6S Zum Beispiel bewirkt Saturn nach der Lehre von den zwölf »loci« im sechsten Ort έξ υγρών καί ψυγμών καί μελαίνης χολής... τό αίνος κτλ. (Rhctorius, Cat. astr. Gr., Bd.VIII, 4, p. 155). Nach Vettius Valens (Anthologiarum libri, ed. W. Kroll, Berlin 1908, p. 17) gehören die »termini« des Skorpion Saturn und erzeugen neben anderen unerfreulichen Menschentypen auch Melancholiker. Firmicus zufolge erzeugt Saturn bei einem bestimmten Stand am Fixsternhimmel und wenn der Mond, sich von ihm entfernend, in Konjunktion mit Mars tritt, »insanos, lunaticos, melancholicos, languidos« (Firmicus Maternus, Matheseos libri VIII, ed. W. Kroll und F. Skutsch, Leipzig 1897-1913, Buch III, 2, 24; p. 104, 4). Cf. auch die Stelle IV, 9, 9; p.211, ii, wonach unter noch komplizierteren Bedingungen der Einfluß Saturns »melancholici, icterici, splenetici, thisici, hydropici, pleutnatici, etc.« entstehen laßt. Die Stelle bei Firmicus III, 2 steht offenbar in Zusammenhang mit einem Passus bei Pseudo-Manetho, Apotelesmata III, 593 ff.: »Aber wenn die gehörnte Selene in Konjunktion mit Helios tritt und in der Mitte zwischen ihnen Ares erstrahlt und mit ihnen zusammen im Geviertschein Kronos gesehen wird, dann verwirrt die in der Brust aufkochende schwarze Galle im Menschen den Sinn und erregt in ihm die Raserei.« 69 Ci. Kuhnert in Pauly-Wissowa, s. v. »Dorotheus«; und A.Engelbrecht, Hephaestion von Theben, Wien 1887, pp. 29 ff. 70 Cat. astr. Gr., Bd. V, 3, p. 12$. Der Satz κωλύσεις έργων καί χολής μελαίνης κίνησιν ποιεί ist mit einem είτα προστίθησιν οτι... an sechs Verse des Dorotheus angeschlosscn, die sich auf die Wirkung Saturns in Konjunktion mit Mars beziehen. Zu dieser Stelle cf. J. Haeg in Hermes, Bd. XLV (1910), pp. 31 $ 319‫־‬, und Cat. astr. Gr., Bd. II, pp. 159 ff., insbes. p. 162, 3 ff. Ferner W. Kroll im kritischen Apparat zu Firmicus Maternus, op. cit., Bd. II, p. 11 j.

Saturn in der Literatur der Antike

23 1

Daß es in spätantiker Zeit noch nicht zu einer ständigen Verbindung

zwischen Saturn und Melancholie als Krankheit und noch weniger zu einer ständigen Verbindung zwischen Saturn und Melancholie als

Temperament gekommen ist, ist verständlich. Zu der Zeit, da sich die

spätantike Astrologie herausbildete, war das System der vier Temperamente noch im Stadium der Entwicklung und gewann erst um das 4. Jahrhundert eine einigermaßen feste Form.7' Viel besser als die vier

Säfte ließen sich die Galenischen Krasen in die astrologische Planetenlehre einbauen, und das ist in der Tat von einem streng Wissenschaft-

lieh vorgehenden Astrologen wie Ptolemäus versucht worden.72 Als aber die Theorie von den vier humores etabliert war, hatte die westli-

ehe Welt ihr Interesse an einer Weiterbildung der Astrologie zunächst vollständig verloren.73 Das Problem, die Vierzahl der Säfte mit der

Siebenzahl der Planeten in Einklang zu bringen, sollte erst von den orientalischen Gelehrten des Mittelalters wiederaufgenommen werden. Die Voraussetzungen zu einer solchen Verbindung lagen jedoch

in der spätantiken Astrologie bereit, ja diese Verbindung war in den wesentlichen sachlichen Punkten so weit vorgebildet, daß sie nur noch der ausdrücklichen Formulierung und Formalisierung bedurfte.

Selbst in dem überwiegend negtiven Saturnbild eines Vettius Valens

fehlt es nicht ganz an positiven Zügen (der »große Ruhm und hohe Rang«), und es läßt sich verfolgen, wie diese positiven Züge sich

später vermehren. Auch werden sie schärfer herausgearbeitet, indem

sie an einen bestimmten Stand des Planeten geknüpft werden und dadurch in einen klarer faßbaren Gegensatz zu seinen im allgemeinen'

unglücklichen Wirkungen treten. Saturn, dessen Kinder im allgemeinen die unglücklichsten der Sterbli-

chen sind, wurde, als es zu einer Verteilung der Lebensalter auf die

Über Dorotheus siehe jetzt V. Stegemann in Beiträge zur Geschichte der Astrologie I, Heidelberg 1935. 71 Siehe oben, Seite 116 ff. (Text). 72 Saturn muß freilich, seiner feucht-trockenen Doppelnatur entsprechend, nicht nur - was bedeutsam genug war - die »kalt-trockene« Krasis des Melanchoiikers, sondern auch die »kalt-feuchte« Krasis des Phlegmatikers zugesprochen werden. Ptolemäus, Tetrabibios III, Basel 1555, p. 143 = Apotelesmata, ed. cit., p. 143. 73 Siehe unten, Seite 269 ff. (Text).

2)2

Saturn in der literarischen Überlieferung

sieben Planeten kam, die letzte, traurigste Phase des menschlichen Daseins, nämlich das Greisenalter mit seiner Vereinsamung, seiner

körperlichen und geistigen Hinfälligkeit und seiner Hoffnungslosigkeit unterstellt.7,1 Derselbe Saturn aber kann nach Manetho, »in peculiaribus suis domibus«, nicht nur Reichtum und Üppigkeit bedeuten, sondern auch Menschen hervorbringen, die bis an ihr Lebensende glücklich, gewandt und umgänglich sind.75 An anderer Stelle lesen

74 Cf. F. Boll, «Die Lebensalter«, Neue Jahrbücher für das klassische Altertum XVI (1913), pp. 117 ff. Seiner meisterhaften Darstellung, die die Entwicklung des Gedankens, daß die sieben Lebensalter von je einem der sieben Planeten beherrscht sind - am besten bei Ptolemaus, Tetrabibios IV, Basel 1553, p. 204 = Apotelesmata, ed. cit., p. 204, zum Ausdruck gebracht-, von seinem ersten Auftreten an bis in. die Neuzeit verfolgt, ist kaum etwas hinzuzufügen. Es sei jedoch die Bemerkung gestattet, daß auch dieses Schema notwendig den Weg bereitete für die Verbindung Saturns mit der Melancholie, die ja ebenfalls die Spätphase des menschlichen Lebens beherrscht. Ferner untersteht der «sechstc Akt« des Menschenlebens, wie ihn der melancholische Jaques bei Shakespeare beschreibt (Boll, op. cit., p. 131), zweifellos dem Saturn und nicht, wie Boll meinte, dem Jupiter. Jupiter ist dem fünften Akt zugeordnet, während die dem Sol entsprechende Altersstufe als der ‫״‬jovialischen« zu ähnlich fortgelassen ist. Die ‫״‬jugendliche Hose« des ‫״‬besockten Pantalon« kann in diesem Zusammenhang kaum als Rudiment des für das Jupitcrakcr charakteristischen εύσχημον gedeutet werden, und auch der Beutel ist nicht ein Hinweis auf den fröhlichen Reichtum der jovialischen, sondern auf den geizigen Reichtum der saturninischen Lebensstufe (cf. unten, Seite 406 ff., Text). 75 Pseudo-Manetho, Apotelesmata IV, 1$ sqq.: »Stella, quam Phaenonta dei hominesque appellant. Haec quando in peculiaribus suis apparet domibus, Nascentibus mortalibus ad inspectorem horae vitae, Locupletes ostendit & opulentia plurima potiri Felices, 8c in vita etiam ad finem usque semper faciles.« Steht dagegen der Saturn »in non domesticis locis« (IV, 31 ff.):

»Prorsus calamitosos facit, & cassos opibus & gloria Indigos vitae & quotidiani victus; Et omnes tristitiae experientes, lugentes in aedibus Facit & tristem errantemque vitam subeuntes.«

Diese Aufspaltung der Saturnwirkungen nach Gut und Böse findet sich auch in arabischen Schriften. Cf. z.B. Albohali (Abu 'Ali Al-Khaiyät, gestorben

‫ג‬33

Saturn in der Literatur der Antike

wir, daß er unter bestimmten Konstellationen Ärzte erzeuge sowie Geometer76 und solche, die aus verborgenen Büchern prophezeien können und viel von den geheimen Mysterienriten wissen.77 Firmicus

und ein eng mit ihm zusammenhängender griechischer Text schreiben

Saturn die Fähigkeit zu, »im fünften Orte Könige, Herrscher und

Städtegründer« zu erzeugen und »im neunten Orte sogar berühmte Magier und Philosophen sowie vortreffliche Wahrsager und Mathematiker (d. h. Sterndeuter), die immer richtig prophezeien und deren Worte gleichsam göttliche Autorität besitzen«.7‫״‬

um 835), De iudiciis nativitatum liber, Nürnberg 1546, fol.Cj': ‫״‬Quando autem Saturnus fuerit dominus ascendentis, et fuerit in bono loco, liber a malis, significat magni precii hominem, profunditatem atque singularitatem consilii, et paucitatem interrogationis. At si fuerit in malo loco impeditus, significat servile, ac parvi precii ingenium, ignobilitatem animi atque versutiam.« 76 So Palchos, Cat. astr. Gr., Bd. V, 1, p. 89 Bemerkenswert ist es auch, daß in einer nach astrologischen Gesichtspunkten angelegten Stadt, die in dem persischen Buch Dabistan beschrieben wird, u.a. «Mathematiker, Wahrsager und Sternkundige« rings um den Tempel des Saturn gewohnt haben sollen und daß in dem Tempel selbst »Wissenschaften vermittelt und gelehrt wurden« (cf. Schcik Mohamed Fanis Dabistän, übersetzt von Francis Gladwin und F. von Dalberg, Bamberg und Würzburg 1817, p. 52). 77 Cat. astr. Gr.t Bd.I, p. 115. 78 So Firmicus Maternus, op. cit., Buch III, 2, pp. 97 ff. Die unter Saturn geborenen Diebe sind übrigens solche »quos in furto numquam prosper sequatur eventus«. Eine Parallelstelle aus Rhetorius findet sich in Cat. astr. Gr., Bd.VIII, 4, pp. (52 ff.; Saturn im fünften Ort erzeugt die πολυκτήμονας. έγγειων άρχοντας, θεμελίων κτίστας ή χωρών ή πόλεων; im neunten Ort bei günstigem Stand die μύστας, άρχιμάγους, φιλοσόφους, τό μέλλον προλέγοντας, τινάς δέ και έν ίερατικαϊς άσχολίαις ή ιερών προεστώτας. Eine andere wichtige Stelle findet sich bei Firmicus Maternus, op. cit., Buch IV, 19, pp. 244ff.: »Si Saturnus dominus geniturae fuerit effectus et sit oportune in genitura positus et ei dominium crescens Luna decreverit, faciet homines inflatos, spiritu sublevatos, honoratos bonos graves, boni consilii et quorum fides recto semper iudicio comprobetur et qui negotia omnia recti iudicii rationibus compleant, sed circa uxores et filios erunt alieno semper affectu; erunt sane semoti et sibi vacantes, modicum sumentes cibum et multa potatione gaudentes. Corpore erunt modici pallidi languidi, frigido ventri et qui adsidue reiectare consueverint et quos semper malignus humor inpugnet et quos intrinsecus collectus dolor adsidua ratione discruciet. Vita vero eorum erit malitiosa laboriosa sollicita et adsiduis doloribus animi implicata, circa aquam vel in aquoso loco habentes vitae subsidium.« Dieser Passus (cf. auch

‫ן‬.

234

Saturn in der literarischen Überlieferung

Die an solchen und anderen Stellen hervortretende positive Bewer-

tung des Saturneinflusses, die teilweise auch von den arabischen Astrologen übernommen wurde (deren Auffassung daher wesentlich

uneinheitlicher erscheint als die des Vettius Valens), läßt sich zum Teil wiederum aus bestimmten Motiven des Saturn-Mythos erklären.

Zum Beispiel wird der Reichtum, das Gründen von Städten, die Beziehung zur Geometrie, die Kenntnis all dessen, was geheim oder ver-

borgen ist, ohne weiteres aus den Mythen vom Goldenen Zeitalter, von der Kolonisierung Italiens, vom Aufenthalt in »Latium« beziehungsweise von der Verbannung Saturns in die verborgene Unter-

weit79 abgeleitet werden können. Was aber die rein geistigen Qualitäten angeht, die einigen besonders bevorzugten Saturnkindern

zugesprochen werden, wie die Fähigkeit zu tiefem philosophischem

Denken, zur Mantik und zum Priestertum, so wird man den Einfluß einer Saturnauffassung anzunehmen haben, die nicht im Zusammenhang mit der Astrologie stand, sondern das gleiche mythische und

astrophysikalische Rohmaterial zu einem ganz andersartigen Bild geformt hatte. Diese Saturnauffassung, die von der Astrologie natürlich nur ganz allmählich assimiliert werden konnte, ist die der Neuplatoniker. Dem komplexen und überwiegend negativen Saturnbild der

Astrologie tritt sie als eine ebenso einheitlich-geschlossene und

grundsätzlich positive gegenüber wie die Melancholievorstellung des >Aristoteles< derjenigen der Schulmedizin.

Cat. astr. Gr.t Bd. VII, p. 239, 20 ff.) ist fast wörtlich wiederholt bei Johannes Engel (Johannes Angelus, Astrolabium planum, Augsburg 1488 und Venedig 1494, fol. 11r), wie ein Leser aus dem 16. Jahrhundert in seinem Exemplar der Venezianer Ausgabe, jetzt im Warburg Institute, London, angemerkt hat. Noch in Guido Colonnas Historia Troiana wird die Tatsache, daß Saturn das ihm von seinem Sohn drohende Unheil voraussieht, damit begründet, daß er »in mathematica arte peritissimus« sei (Kap. »De imtio Idolatrie«, Straßburg 14,4, fol.e j'). 79 Zu der lateinischen Etymologie »Latium = latere« siehe unten, Text, Seite 246; 249. Zu den griechischen Ausdrücken απόκρυφα βιβλία (Cat. astr. Gr., Bd.I, p. 115) und κρυβαί (Vettius Valens) siehe Hesiod, Theogonie, Vers 729 ff.: ένθα θεοί Τιτήνες ύπό |όφφ ήερόεντι κεκρύφαται...

Saturn in der Literatur der Antike

*35

c) Kronos-Saturn im ‫־‬Neuplatonismus

Wenn der Neuplatonismus auf dieselben mythischen und naturwissenschaftlichen Gegebenheiten zurückgreift wie die Astrologie, so tut er es nicht, um die Gesamtheit der irdischen Welt dem vorbestirr.menden Einfluß der Gestirne unterzuordnen, sondern um allem phy-

sisch Seienden von einer metaphysischen Einheit aus Sinn zu geben.

Indem diese höchste Einheit sich in gradueller Abstufung und Verzweigung zur Vielheit der irdischen Dinge auseinanderlegt, ordnen

sich die Erscheinungen nach vertikalen Reihen (σειραί), innerhalb

deren es eine Stufenfolge bis hinab zu den bewegungslosen Mineralien gibt.80 Das diese »Ketten des Seins * beherrschende Prinzip wird

nun aber durch die Himmelskörper symbolisiert, die zwischen der irdischen Welt und dem »Ort über den Himmeln« die Mitte einnehmen. Daher sind die Reihen des Neuplatonismus den astrologischen Zuordnungen insofern vergleichbar, als sie, gleich jenen, bestimmte

Gruppen irdischer Erscheinungen mit bestimmten Planeten sowie Tierkreiszeichen verbinden. Die neuplatonischen Zuordnungen 1mplizieren jedoch zunächst kein Kausalitätsverhältnis 1m Sinne astraler Vorherbestimmung.8' Man versteht die Himmelskörper zum einen

als metaphysische Symbole, die die verschiedenen Stufen im Aufbau des Alls anschaulich machen, zum anderen als kosmologische Prinzi-

pien, nach denen die Emanation des All-Einen in die Welt der Materie und umgekehrt der Aufstieg aus der Welt der Materie in die Sphäre des All-Einen sich differenziert. Die zu den vertikalen Reihen zusammengeschlossenen Erscheinungen hängen daher nicht deshalb mitein-

ander zusammen, weil sie durch Saturn, Jupiter oder Mars bestimmt,

geschweige denn erzeugt würden, sondern nur deshalb, weil sie in 80 Proklos, Comm. in Tim. I, p. 2 10, 19 ff. (ed. E. Diehl, Leipzig 1903-1906) und passim. Eine sehr charakteristische Stelle in Bd. II, p. 268, 29 ff.: συγχωρήσείε δ’ άν καί Πλάτων καί άπό τής άπλανοΰς καί άπό τής πλανωμένης [sc. σφαίρας] διατείνειν τάς σειράς μέχρι τών χθονίων..., όπου γε καί τών άπολύτων ήγεμόνων τών δώδεκα τάς σειράς άνωθεν καθήκειν έθέλει μέχρι τών έσχάτων. 81 Zugestanden wird freilich, daß Himmelserscheinungen »Zeichen« für Zukünftiges seien (Plotin, Enneaden II, 3, 7), denn das, was sich auf Erden nur langsam und verworren abspielt, muß früher und in klarerei Gestalt am Himmel erkennbar werden.

2)6

Saturn in der literarischen Überlieferung

einer durch Saturn, Jupiter oder Mars vermittelten und daher in be * stimmter Weise qualifizierten Form am Wesen des All-Einen Anteil

haben. Aus dieser Konstruktion81 ergibt sich ohne weiteres, daß es im Neu-

platonismus eine grundsätzlich böse Wirkung der Gestirne nicht ge-

ben kann. Selbst der niedrigste der Planeten ist dem All-Einen immer noch näher als die Welt der Materie. Selbst der mythologisch und

physikalisch betrachtet böseste und lebensfeindlichste Planet ist ein Vermittler von Kräften, die ihrem Wesen nach nur gute sein können.

Am klarsten findet sich dieser Grundsatz bei Jamblich ausgesprochen:83 82 Wie stark diese kosmologischen Konstruktionen auf arabische Philosophen, Mystiker und schließlich auch Magiker wirkten, ist allgemein bekannt. Ein besonders charakteristisches Referat der neuplatonischen Emanationslehre findet sich z.B. bei Avicenna (cf. B.Carra de Vaux, Avicenne, Paris 1900, p. 247). In anderen, überwiegend magisch orientierten Schriften dagegen ergibt sich ein sehr interessantes Zusammentreffen des Neuplatonismus mit der Astrologie: während ersterer die Gaben der Planeten durchweg als heilsam auffaßt, bewertet letztere die Wirkung gerade Saturns überwiegend negativ. So kommt in dem auf einer neuplatonischen Grundstruktur beruhenden Picatnx etwa den Planeten die Aufgabe zu, die Emanationen des νοΰς an die ύλη weiterzuleiten und dabei ihrem eigenen Wesen entsprechend 7.u differenzieren (zu diesem Buch, auf dessen Bedeutung und Wirkung Aby Warburg als erster hingewiesen hat, cf. H. Ritter, «Picatrix, ein arabisches Handbuch hellenistischer Magie«, Vorträge der Bibliothek Warburg, Bd. I, 1921-1922; ferner die lateinische Übersetzung des Picatrix aus dem Arabischen, ed. D. Pingree, London 1987). Da diese Emanationen von Natur aus gut sind, können die Planeten nur positiv wirken, was jedoch weder Picatrix noch die (gleichfalls neuplatonisch beeinflußten) Lauteren Brüder daran hindert, den Einfluß des- Saturn oder des Mars als überwiegend unheilvoll zu schildern. Man sieht, daß das ungemein komplexe System der Astrologie im Grunde mit den wesentlich optimistischen Anschauungen des Neuplatonismus unvereinbar ist. 8) Jamblich, De mysteriis, ed. G.Parthey, Berlin 1857, I, 18, pp. 52 und 54 (Übers. Th. Hopfner, Leipzig 1922, pp. 33 f.). Dieser auch im Mittelalter gelegentlich wiederauftauchende Gedanke, daß die Wirkung der Sterne sich nach der Physis der aufnehmenden Materie und nicht nur nach ihrer eigenen Dynamis bestimme (cf. unten, Seite 249, 258 ff., Text), wird in den folgenden Abschnitten weiter ausgeführt, und zwar gerade am Beispiel des Saturn und Mars, deren metaphysische Erhabenheit der ihnen von den Astrologen zugeschriebenen Malevolenz gegenübergestellt wird.

Saturn in der Literatur der Antike

237

Auf diese Weise sind also die Gestirne am Himmel» und zwar alle insgesamt, zwar sichtbar, aber doch zugleich auch Götter und in gewissem Sinne nichtkörperhaft. Deine weitere Frage ist darüber im Unklaren, >wieso manche von diesen gutes-, andere übelstiftend sein können«. Diese Auffassung ist von den Astrologen hergcholt, verfehlt aber völlig den wahren Sachverhalt. Denn in Wahrheit sind alle Gestirngottheiten insgesamt gut und Urheber des Guten, da sie, alle in gleicher Weise nur auf das Gute hinblickend, nach dem Guten und Schönen allein ihre Bahnen vollenden ... Die Schöpfung dagegen nimmt, da sie selbst vielgestaltig und aus verschiedenartigen Teilen zusammengesetzt ist, infolge der ihr eignenden Gegensätzlichkeit und Zerspaltung das Einheitliehe und voneinander nicht Verschiedene dieser Energien nicht ohne Widerstreit und nur geteilt in sich auf. Diese positive Interpretation der Gestirnwirkungen kommt Saturn in

höherem Grade zugute als allen anderen Planeten. Auch Mars, der

vormals ebenfalls >böse< war, wird nun selbstverständlich nicht weniger zu einem positiven Prinzip im Neuplatonismus als Saturn. Aber

Saturn besitzt die doppelte Eigenschaft, der Stammvater aller übrigen Planetcngötter zu sein und die höchste Himmelssphäre innezuhaben. Diese beiden Qualitäten, die ursprünglich miteinander verbunden gewesen sein dürften,84 sichern ihm eine unbestrittene Suprematie im

System des Neuplatonismus, der hier wie auch sonst Platonische An-

schauungen mit Aristotelischen ineinszusetzen sucht. Die auf Platon zurückgehende Hierarchie metaphysischer Prinzipien, wonach der Erzeuger vor dem Erzeugten den Vorrang besitzt/5 verbindet sich

mit dem Aristotelischen Prinzip einer ►topischen« Denkform, die in

dem räumlich Höheren das metaphysisch Wertvollere sieht. So wird Kronos im Neuplatonismus zur erhabensten Gestalt eines

philosophisch interpretierten Pantheon. Nach Plotin symbolisiert er den reinen Geist (Νούς) im Gegensatz zu Zeus, der die Seele versinnbildlicht.86 Der Mythos des Kinderfressens kann daher in dem Sinne

gedeutet werden, daß der Geist, bis er die Seele hervorbringt, seine 84 Siehe oben, Seite 214 f. (Text). 85 Cf. die bekannte Dreigliederung der Prinzipien bei Platon, die oft als Modell der christlichen Trinitätslehre gedeutet wird: Brief VI, j2jCD (den wir für echt halten) und Brief II, 312E (apokryph). Hierzu siehe R. Klibansky, Ein Proklos-Fund und seine Bedeutung, Heidelberg 1929, pp. 10 ff., insbes. p. 11, Anm. 1. 86 Plotin, Enneaden V, 1,4: Κρόνου ... θεού κόρου καί νοϋ δντος.

238

Saturn in der literarischen Überlieferung

Produkte in sich selber verschließt.87 Auf dieser Grundlage kann selbst die Entmannung des Uranos durch Kronos und weiterhin die

Entthronung des Kronos durch Zeus eine metaphysische Erklärung finden.88 Diese Glorifizierung Saturns nicht als eines Vertreters irdischer

Macht und irdischen Reichtums, sondern als eines Vertreters reinster

und höchster Denkenergie konnte sich auf Platon selbst berufen, der,

wie er den Wahnsinn zum »heiligen Wahn< (θεία μανία) umgedeutet hatte, so auch zur Autorität für den Saturn verliehenen neuen Adel

wurde. Er hat nicht nur die von Hesiod geformte Vorstellung vom Goldenen Zeitalter in den Vordergrund seiner politischen Betrachtun-

gen gestellt, sondern auch den Weg bereitet für die Gleichsetzung des Kronos mit dem Νους. Die Etymologien im Kratylos sind in gewissem

Grade ironisch gemeint. Aber em Name ist seinem Wesen nach Ver-

dichtung des Mythos, die Etymologie des Namens dessen bildhaft magische Auslegung. So wird verständlich, daß die Neuplatoniker ernst

nehmen konnten, was von Platon ironisierend gesagt wird: Daß nun dieser der Sohn des »Kronos« ist, könnte anfänglich frevelhaft scheinen, wenn man es nur schnell und obenhin hört. Natürlich ist aber doch, daß Zeus der Abkömmling eines großen Verstandes ist, und so bedeutet das κόρος in diesem Namen nicht Kind, sondern das Reine und Ungetrübte des Geistes.89 87 Plotin, Enneaden V, 1,7: Κρόνον μεν θεόν σοφώτατον προτού Διός γενεάθαι ά γεννρ πάλιν έν έαυτφ έχειν, ή καί πλήρης ‫־‬καί νούς έν κόρφ. 88 Plotin, Enneaden V, 8, 13:6 ούν θεός δ είς τό μένειν ωσαύτως δεδεμένος καί συγχωρήσας τώ παιδί τούδε τού παντός άρχειν (ού γάρ ήν αύτώ πρός τρόπου την έκεί άρχήν άφέντι νεωτέραν αύτοΐ' καί ύστέραν μεθέπειν κόρον έχοντι τών καλών) ταύτ* άφείς έστησε τε τον αυτού πατέρα είς έαυτόν καί μέχρις αυτού προς τό άνω ... Άλλ’ έπειδή ό πατήρ αύτώ [sc. Zeus] μείζων ή κατά κάλλος ήν, πρώτως αυτός έμεινε καλός, καίτοι καλής κάί τής ψυχής ούσης. 89 Platon, Kratylos 396Β (Übers. Schleiermacher). Besonders interessant ist die Verbindung κορόνους, ώς νους αυλός καί καθαρός: Proklos, Scholia in Cratylxm, ed. G. Pasquali, Leipzig 1908, p. 59, 5; ähnlich in In theol. Platon., ed. A. Portus, Hamburg 1618, V, 5, p. 258 (und öfter); derselbe in Schot. ad Hesiod. Erga, Vers 111, (Poetae minores graeci, ed. T. Gaisford, neue Ausg., Bd. II, Leipzig 1823, p. 112, 20); und Eustathius, In Iliad., p. 203, 20. Cf. auch Proklos, In Tim., I, 34, 25 f. (Diehl): τό δε φιλόσοφον τώ Κρόνω, καθόσον έστί νοερόν καί άνεισι μέχρι τής πρώτιστης αιτίας. Zum Ver-

Saturn in der Literatur der Antike

239

Darüber hinaus wird Kronos an den Stellen, an denen Platon in my-

thischer Form die Entstehung des Staates behandelt, als menschenfreundlicher Gott bezeichnet, unter dessen Regierung Zufriedenheit, Bescheidenheit, Gesetzlichkeit und neidlose Rechtlichkeit herrschten,

so daß die Menschen der Gegenwart ermahnt werden, auf jegliche Weise dem Leben unter Kronos nachzustreben und in diesem Sinne

die Herrschaft des Νους Gesetz zu nennen.90 Daneben lassen sich auch orphische Quellen feststellen, die vornehmlich von den Neupla-

tonikern selbst überliefert werden. In der Orphik galt Kronos - gelegentlich unter Umdeutung seiner Fesseln zu einem kosmologischen

Einheitsprinzip9' - als der Weltbaumeister, der als All-Vater seinem Sohn noch im Tartarus die Grundprinzipien des Universums überlie-

fert.91 Ferner hielt man ihn für einen Seher, der als πρόμαντις oder

προμηθεύς bezeichnet wird,95 Die Grundlage hierfür bildete die vom Neuplatonismus ausdrücklich anerkannte Gleichsetzung zwischen Kronos und Chronos, d. h. der Zeit, die das Urprinzip der orphischen

Theologie war.94 Diese nicht nur auf der vermeintlichen Namensver-

90

9t 92

9)

ständnis der griechischen Etymologie im allgemeinen und speziell der des Kratylos cf. Max A. Warburg, Zwei Fragen zum Kratylos, Berlin 1929. Platon, Gesetze IV, 7!)C4!7‫־‬A; cf. auch Politikos 269Aff. Die Vorstellung des schlechten, grausamen Kronos wird dagegen bei Platon nur einmal erwähnt, und zwar im Zusammenhang einer allgemeinen Polemik gegen die Gottesvorstellung der alten Mythen (Staat II, 378A). Cf. E.Abel (ed.), Orphica, Leipzig 1885, XIII, 4: δεσμούς άρρήκτους δς έχεις κατ' άπείρονα κόσμον. Ci. Ε. Abel (ed.), loc. cit.; ferner Orphicorum fragmenta, ed. O. Kern, Berlin 1922, 129. Ci. E.Abel (ed.), loc. cit.: σεμνέ προμηθεύ; ferner Lykophron, Alexandra, Zeile 202: τού προμάντιος Κρόνου, mit Scholion; πρόμαντις ούν ό Κρόνος, ό προτού δράκοντος μαντευσάμενος (ρ. 84, 19 ’η θ· Kinkels Ausgabe, Leipzig 1880). »Orpheus nennt das allererste Urprinzip Χρόνος, fast homonymisch also mit Κρόνος«, heißt es bei Proklos, Scholia in Cratylum, ed. G. Pasquali, Leipzig 1908, p. 59, 17; die Κρόνος-νούς-Verbindung wird auch als orphisch bczeichnet: Damaskios, De primis principiis, 67; O. Kern (ed.), Orphicorum fragmenta, 131: έοικε δέ καί Όρφεύς τόν Κρόνον είδώς νούν; und Proklos in Schot, ad Hesiod. Erga, Vers. 126 (Gaisford, ed., op. cit., p. 121, 17): ό μέν Όρφεύς τού Αργύρου γένους βασιλεύειν φησί τον Κρόνον, τούς κατά τόν καθαρόν λόγον ζώντας άργυρούς λέγων. ώσπερ τούς κατά νούν μόνον χρυσούς.

‫י‬

94

240

Saturn in der literarischen Überlieferung

wandtschaft beruhende Gleichsetzung91 hat bei Macrobius (oder viel-

mehr bei Porphyrios, dem er folgt) zu der Behauptung geführt, Kronos-Chronos sei als die Sonne zu betrachten, deren Umlauf den »ordo elementorum« auf Maß und Zahl gründet?6

Doch auch in den Neuplatonismus findet eine astrologische Strö-

mung Eingang. Während Proklos, im Anschluß an Platons Phaidros,

alle olympischen Götter als Regenten jener »Reihen« beschreibt, die alle »verwandten« Dinge und Lebewesen miteinander verknüpfen, messen andere Neuplatoniker diese Kraft nur mehr den Planetenherrschern bei.97 Was bei Plotin im wesentlichen mythische Allegorese ist

und dann bei Proklos kosmologische Verknüpfung wurde, ist bei

MacrobiuS (beziehungsweise dessen Quellen) echt astrologische

Doktrin im Sinne planetarischer Beeinflussung. Darin aber sind sich Proklos und Macrobius einig, daß sie in fast identischer Formulierung

die Kräfte der Gestirne mit den körperlichen und geistigen Fähigkeiten des Individuums in Verbindung bringen. Dabei entspricht das höchste Vermögen der menschlichen Seele, nämlich das rationale und

das spekulative Denken, Saturn bzw. wird es sogar (nach Macrobius)

in seiner Sphäre erworben. In der Darstellung des Macrobius, die für die gesamte Folgezeit von

grundlegender Bedeutung ist, wächst die Gleichsetzung Kronos = Νοϋς mit einem eigentümlichen Mythologem zusammen, dessen Ent-

Wicklungsgeschichte die grundsätzlich optimistische Deutungsabsicht des Neuplatonismus deutlich hervortreten läßt, nämlich mit der

Lehre von der Seelenreise. Die von der Körperwelt angezogene, ihre 95 Χρόνος wird z. B. τέκτων οοφός genannt, was seinen Begriff dem des alten weisen Städtegründers nahebringt (cf. Crates, Fragm. 39 und die in diesem Zusammenhang von T. Kock angeführten Parallelen, Comicorum Atticorum fragmenta, Bd. I, Leipzig 1880, p. 142). 96 Macrobius, Saturnalia 1, 22, 8: »Saturnus ipse, qui auctor est temporum et ideo a Graecis inmutata littera Κρόνος quasi χρόνος vocatur, quid aliud nisi sol intellegendus est, cum tradatur ordo elementorum numerositate distinetus, luce patefactus, nexus aeternitate conductus, visione discretus, quae om * nia actum solis ostendunt?« Über die auf die Babylonier zurückgehende Verbindung zwischen Saturn und Sol siehe Seite 214 (Text). 97 Die nicht mit Sternen identifizierten Götter dagegen werden entweder ignoriert oder aber unter Aufgabe ihrer Identität von den Planetengöttern resorbiert (cf. H. Ritter, »Picatrix, ein arabisches Handbuch hellenistischer Magie«, Vorträge der Bibliothek Warburg, Bd. I, 1921-1922, p. 101).

Saturn in der Literatur der Antike

241

reine göttliche Natur mehr und mehr vergessende und im Sternbild des »Crater« durch einen letheähnlichen Trank »berauschte« Seele so heißt es im Kommentar zu dem Somnium Scipionis9* - sinkt von

den Höhen des Fixstern-Himmels (de zodiaco et lacteo) zu den nie-

deren Sphären (d.h. zu denen der Planeten) herab. Und während sie

durch die Sphären herniedergleitet, wird sie nicht nur in jeder einzelnen durch die Annäherung des leuchtenden Körpers bekleidet, son-

dern lernt auch, die einzelnen Bewegungen zu erzeugen, die sie später ausüben wird. In der Sphäre Saturns entwickelt sie das vernunftgemäße Denken und die Einsicht, »die λογιστικόν und θεωρητικόν

genannt werden«; in der Jupiters erwirbt sie die Kraft des Tuns, »die

πρακτικόν heißt«; in der des Mars die Glut der »mutigen Erregung«,

»die als θυμικόν wohlbekannt ist«; in der Sonne erlangt sie die Qualitat der Empfindung und Einbildung, »die man αισθητικόν und φανταστικόν nennt«. Die Bewegung des Begehrens (»desiderii«) aber,

»die έπιθυμητικόν heißt«, erwirbt sie in der Sphäre der Venus; die

■‫ת‬

98 Macrobius, In Somnium Scipionis I, 12, 13 *14 * 533 (p der Ausgabe von F. Eyssenhardt, Leipzig 1893): ‫״‬Hoc ergo primo pondere de zodiaco et lacteo ad subiectas usque sphaeras anima delapsa, dum et per illas labitur, in singulis non solum, ut iam diximus, luminosi corporis amicticur accessu, sed et singulos motus, quos in exercitio est habitura, producit:

In Saturni ratiocinationem et intelligentiam, quod λογιστικόν et θεωρητικόν vocant: in Iovis vim agendi, quod πρακτικόν dicitur: in Martis animositatis ardorem, quod θυμικόν nuncupatur: in Solis sentiendi opinandique naturam, quod αισθητικόν et φανταστικόν appellant: 1 desiderii vero motum, quod έπιθυμητικόν vocatur, in Veneris: pronuntiandi et interpretandi quae sentiat, quod έρμηνευτικόν dicitur, in orbe Mercurii: φυτικόν vero, id est naturam plantandi et augendi corpora, in ingressu globi lunans exercet.«

(/‫מ‬

Dieser Text, der ebenso wie der verwandte des Proklos Tim. I, 34, 2j f., Diehl) die neuplatonische Lehre prägnant zusammenfaßt, war im ganzen Mittelalter bekannt, und sein Nachleben läßt sich (freilich auf einer sehr speziellen Linie) bis in das 15. und 16.Jahrhundert hinein verfolgen (siehe unten, Seite 288ff., 365 ff., Text). Zur Bedeutung, die er noch für Nikolaus von Kues hatte (De doct. ign. I, 25), cf. R. Klibanskys Quellenverzeichnis, ed. cit., Leipzig 1932, p. 52.

242

Saturn in der literarischen Überlieferung

der Mitteilung und Deutung des Empfundenen, die man als »έρμηνευτικόν« bezeichnet, in der Sphäre Merkurs; das φυτικόν endlich, das heißt die Kraft, Körperliches zu erzeugen und wachsen zu lassen,

beim Eintritt in die Mondsphäre. Diese Anschauung ist kaum anders zu erklären als aus einer Verbin-

düng der neuplatonischen Lehre von den »Reihen« mit einer weniger philosophischen als religiösen Vorstellung, nach der die individuelle

Menschenseele vor ihrer irdischen Geburt die Himmelssphären durchläuft und dabei von den Sternenmächten je eine Gabe erhält, die

sie bei ihrem Wiederaufstieg nach dem Tod ebendort von sich abstreift. Diese Vorstellung scheint in dem religiösen System der Gnosis zu wurzeln, und da dieses System von einem radikal weitverneinen‫־‬

den Dualismus beherrscht wird, der (wie im altiranischen Denken) ein sündenloses Jenseits von einem unreinen und schuldvollen Diesseits unterscheidet, so ist es nicht verwunderlich, wenn jener Weg der Seele vom Himmel zur Erde ursprünglich nur als ein »Sündenfall«

aufgefaßt werden konnte." Die ausführlichste und beste Darstellung

der Seelenreise stammt von Servius, wenngleich sie sogar hier in einer durch astronomische Begriffe bereits rationalisierten Form erscheint.

Sie lautet: Es lehren die Philosophen, was die Seele bei ihrem Herabsteigen durch die einzelnen Sphären verliert. Daher behaupten die Astrologen, daß unsere Seelen und Körper mit der Tätigkeit der Gottheiten jener einzelnen Sphären verknüpft seien; denn wenn die Seelen hinabsteigen,,schleppen sie mit sich

99 Cf. F. Boll, «Die Lebensalter«, Neue Jahrbücher für das klassische Altertum XVI (1913), pp. 12 5 ff. Bezeichnend für den Geist radikaler Weltverneinung, der dieser Lehre zugrunde liegt, ist z. B. eine Stelle im Corpus hermeticum, libellus VI, 4 a, ed. W. Scott, Oxford 1924, p. 168: ό γάρ κόσμος πλήρωμά έστι τής κακίας, ό δέ θεός τού άγαθοϋ. Uber die Ableitung der sieben Todsünden in der christlichen Theologie aus den Unheilsgaben der sieben Planeten cf. T. Zielinski, Philologus LXIV (1905), pp. 21 ff. W. Bousset (Hauptprobleme der Gnosis, Göttingen 1907, pp. 91 ff.) neigt dazu, den metaphysischen Dualismus der Gnosis aus persischen Einflüssen zu erklären, wofür angeführt werden könnte, daß in persischen Quellen die sieben Planeten als «Führer auf Seiten des Ahriman«, die zwölf Tierkreiszeichen dagegen als »Führer auf Seiten des Ormuzd« bezeichnet werden (cf. H. Junker, »Über iranische Quellen des hellenistischen Aionbegriffs«, Vorträge der Bibliothek Warburg, 1922, pp. 141 ff.). Cf. auch T. Zielinski, »Hermes und die Hermetik«, Archiv für Religionswissenschaft VIII (1905), pp. 325 ff., insbes. 33off.

Saturn in der Literatur der Antike

243

die Lethargie Saturns, den Jähzorn des Mars, die Sinnlichkeit der Venus, die Gewinnsucht Merkurs und die Herrschbegicr Jupiters.100

Entsprechend heißt es bei Poimandres, daß die Seele beim Aufstieg nach dem Tode die schlechten Eigenschaften ihres irdischen Wesens

von sich abstreife und in der Saturnsphäre die »im Hinterhalt lau-

ernde Lüge« zurücklasse.101102 In dieser Darstellung hat das Mythologem der Seelenreise seinen gno-

stischen Grundcharakter, nämlich die »Ausstattung« der Seele mit spezifischen Eigenschaften, die durchweg Unheilsgaben sind, in hohem

Grade bewahrt. Dieser Grundcharakter verwischt sich jedoch, sobald

eine Verbindung mit einer rein kosmologischen Theorie stattfindet,

die nicht so sehr auf das Problem der Sünde als vielmehr auf das Problem der Wesenseinheit zwischen Mensch und Universum ge-

richtet ist. Als man begann, diese Wesenseinheit mehr im allgemein Biologischen als im spezifisch Psychologischen zu suchen, trat der »Reisecharakter« der ursprünglichen Vorstellung stark in den Hintergründ. Dagegen werden die nunmehr weniger bei einer Wanderung

erworbenen als bei der Geburt empfangenen Planetengaben zu wert-

neutralen Aufbauelementen, die teils seelischer, teils körperlicher Natur sind. Es ist nun zufällig derselbe Servius, der uns auch diese

Version der alten Lehre überliefert hat, diesmal nicht unter Berufung auf die Philosophen und Astrologen, sondern auf die »physici«. Bei der Geburt empfängt das Menschenwesen »von der Sonne den Geist, vom Mond den Körper, von Mars das Blut, von Merkur den Ver-

stand, von Jupiter Verlangen nach Reichtümern, von Venus die Be-

gierde, von Saturn die Gemütsart«.'02 100 Servius, Comm. in Aeneid. VI, 714. 101 Cf. Boll, Bousset und Zielinski, loc. cit.; Zielinski, op. cit., pp. 321 ff.; F. Cumont, After-Life in Roman Pagamsm, New Haven 1922, pp. 106 ff. 102 »A Sole spiritum, a Luna corpus, a Marte sanguinem, a Mercurio ingenium, a Iove bonorum desiderium, a Venere cupiditatem, a Saturno humorem«, Servius, Comm. in Aeneid. XI, 51. Diese physikalisch-biologische Auffassung der Planetengaben wird, neben einer mehr neuplatonischen, auch von Isidor vertreten (Isidor, Etym. V, 30, 8, weitgehend übereinstimmend mit Servius, aber bezeichnenderweise als »stultitia gentilium« vorgetragen); eben diese Servius-Reihe findet sich wörtlich wiederholt in Mythographus III (cf. unten, Seite 262 ff., Text), in dem Kapitel über Merkur (G. H. Bode, Scriptores rerum mythicarum latini tres, Celle 1834, pp. 217, Zeile 33). Andererseits lebt

244

Saturn in der literarischen Überlieferung

Wenn aber die Beziehung zwischen Makrokosmos und Mikrokosmos

so aufgefaßt wird, daß die Einflüsse der Planeten für psychischer und ethischer Art gehalten werden, und wenn zugleich der Gedanke der

Emanation und des Wiederaufstiegs mit der Seelenreise verbunden wird, dann tritt jene Umformung ein, der wir bei den Neuplatonikern Proklos und Macrobius begegnet sind. Ob nun nach »Reihen« zuge-

ordnet wie bei Proklos oder als ein in den einzelnen Planetensphären stattfindender Aneignungsprozeß gedacht wie bei Macrobius, die

Planetengaben werden zu seelischen Fähigkeiten, und diese Fähigkei-

ten sind ausnahmslos positiv. Für den Neuplatonismus bedeutet die

Inkarnation der Seele in der Körperwelt zwar auch einen Abstieg, aber

einen solchen, bei dem das, was die Seele aus ihrer höheren Heimat mitbringt, nur Gutes sein kann; und unter diesen eingeborenen Gütern ist, wie wir gesehen haben, das edelste die Gabe Saturns.103

So hat in dieser zweifachen Ausdeutung des Mythos von der Hirnmelsreise der Seele - und zwischen diesen Extremen begegnen noch

zahlreiche Mischformen -,o< die Polarität des Kronosbegriffs zu zwei

gegensätzlichen Grundanschauungen geführt. Die prägnante Anti-

these »Stumpfsinn, Trauer, Betrug versus vernünftiges oder gar er-

leuchtetes Denken« ist auch in der Folgezeit bestimmend geblieben. Allerdings sollte das starre »entweder‫־‬oder< sehr bald zu einem »so-

die Vorstellung der eigentlichen Seelenreise in einer großen Zahl platonisierender Schriften und Dichtungen in vielfältigen Formen weiter, z.B. bei Bernardus Silvestris, De univ. mundi II, 3; Alanus ab Insulis (siehe unten, Seite 278 ff., Text); und später bei Matteo Palmieri (siehe unten, Seite 363 ff., Text); Cardanus, Athanasius Kircher usw. 103 Siehe oben, Seite 240 (Text). 104 Cf. die auf Seite 243, Anm 101 f. angeführte Literatur. In solchen Mischreihen (wie z. B. bei Isidor, De natura rerum, ed. G. Becker, Berlin 1857, III, p. 10; Beda, De temporum ratione, Kap. 8, Migne, P. L., Bd. XC, coi. 328 f.; Anda‫־‬ lus de Nigro, Brit. Library, MS Add. 23770, fol. 36v37‫־‬r) gehört Saturn im allgemeinen auf die schlechte Seite; er verleiht oder bedeutet δάκρυ, νωχελία, ψεύδος, »merores, tristitiam, vilitatem et malum« und »tarditatem«. Nur in der Κόρη Κόομου (T. Zielinski, »Hermes und die Hermetik«, Archiv für Religionswissenschaft VIII, 1905, p. 365) spielt Saturn eine positive Rolle: als ό τής Νεμεσεως άστήρ verleiht er der Seele Δίκη und ’Ανάγκη. Diese auf den ersten Blick einzigartige Ausnahme wird aus dem auch sonst im Corpus Hermeticum spürbaren Einfluß platonisierender Literatur deutlich.

Saturn in der Literatur der Antike

‫ז‬

*4

wohl-als-auch« abgemildert werden. Derselbe Saturn, dem die Lechargischen und «Gemeinen angehören, wird zugleich als der Planet

der hohen Kontemplation verehrt, der das Gestirn der Einsiedler und Philosophen ist.

Immer aber behält das Wesen und das Schicksal des unter Saturn geborenen Menschen, auch da, wo ihm das im Rahmen seiner Bedingung günstigste Los zuteil geworden ist, den Grundcharakter des Düsteren. Gerade die Vorstellung eines aus Dunkelheit geborenen

Gegensatzes zwischen den äußersten Möglichkeiten des Guten und des Bösen begründet denn auch die tiefste Entsprechung zwischen

Saturn und der Melancholie. Es ist nicht nur die Kombination der

Kälte und Trockenheit, die die schwarze Galle mit dem vermeintlich ebenso gearteten Gestirn verbindet, und es ist nicht nur die Neigung

zu Trübsinn, Einsamkeit und visionären Zuständen, die der melancholische Mensch mit dem Planet der Tränen, des einsamen Lebens

und der Wahrsager gemeinsam hat, sondern vor allem besteht eine Analogie ihrer Wirkungsart. Wie die Melancholie, so verleiht auch

Saturn, jener Dämon der Gegensätze, der Seele sowohl die Trägheit und den Stumpfsinn als auch die Kraft der Intelligenz und der Kontemplation. Wie die Melancholie bedroht auch er die ihm Unterworfenen, mögen sie noch so erlauchte Geister sein, mit Schwermut oder

gar Irrsinn. Saturn, um Ficino zu zitieren, »bezeichnet selten ge-

wohnliche Charaktere und Schicksale, sondern Menschen, die von

anderen abgesondert sind, göttliche oder tierische, glückselige oder vom tiefsten Elend darniedergebeugte«. 1o*

105 Ficino, De vita tripi. III, 2 (Opera, p. 533).‫» ־‬Saturnus non facile communem significat humani generis qualitatem atque sortem, sed hominem ab aliis segregatum, divinum aut brutum, beatum aut extrema miseria pressum.« Der Zusammenhang zwischen der neuplatonischen Saturnauffassung und der Entstehung des modernen Geniebegriffs (siehe unten, Seite 351 ff., Text) wird hier schon in der sprachlichen Formulierung deutlich, denn »divinus« wurde die typische Bezeichnung des modernen Philosophen-, Dichter- und (seit Michelangelo) auch Künstler-Genies. Manchmal tritt die innere Gegensatzlichkeit der Saturnvorstellung auch schon in älteren Texten zutage, wie bei Hermippus, Anonymi Christiani Hermippus de astrologia dialogus XIII, 86, ed. W. Kroll und P. Viereck, Leipzig 1895, p. 19 (14.Jahrhundert): είληχε μεν ώς είρηται ό τού Κρόνου, οιον φαντασίαν, μνήμην, έτι δέ καί τήν έναντίαν αύτή λήθην καί γονήν σπέρματος. Über Alanus ab Insulis siehe unten, Seite 279 (Text).

Saturn in der literarischen Überlieferung

246

III. SATURN IN DER LITERATUR DES MITTELALTERS * 1. Saturn in der Polemik der Kirchenväter

Das frühe Christentum mußte sowohl der astrologischen Weltauffassung als auch der Verehrung der antiken Götter den Kampf ansagen.106107 Es ist daher von Anfang an das Anliegen der Kirchenväter, den

Glauben an die astrale Vorbedingtheit'07 zu entkräften und die Nichtigkett des antiken Götterglaubens zu beweisen. Wenn es sich um Götter handelt, die gleichzeitig Planetenherrscher sind, so wird gegen

ein und denselben Feind ein Kampf auf zwei Fronten geführt, wobei - wie immer bei der Ketzerbekämpfung - gerade die Widerlegung der heterodoxen Ansichten zu ihrer Überlieferung beiträgt.

Die dabei verwendeten Waffen konnten von einer frühen, relativ unkomplizierten Gruppe von Apologeten dem Arsenal der Antike selbst entnommen werden. Die Saturnvorstellung bildete mit ihren

vielfachen Widersprüchen ein besonders geeignetes Angriffsobjekt. So stützten sich Minucius Felix, Tertullian und Laktanz, der Minucius fast wörtlich folgt, auf die euhemeristische Auffassung, nach der

die Götter bloße Menschen waren und Saturn, vermeintlich der oberste dieser Götter, ein vom Schicksal besonders hart mitgenommener

Mensch: Saturn, den Fürsten dieses Geschlechtes und Schwarmes, haben alle Schriftsteiler des Altertums, Griechen wie Römer, als Menschen dargestellt... Als er, aus Furcht vor seinem wütenden Sohn aus Creta geflohen, nach Italien gekommen und von Janus gastlich aufgenommen worden war, unterrichtete er, als der gebildete Graeculus, der er war, jene rohen und wilden Menschen in vielen Dingen, im Schreiben, Münzprägen und in der HerStellung von Werkzeugen. Daher wollte er seinen Zufluchtsort, wo er sich sicher verborgen hatte, lieber Latium genannt sehen (von »latere«)... also

106 Eine Geschichte der mittelalterlichen Astrologie gibt es noch nicht. Cf. vorläufig Wedel, Μ. Λ. A. 107 Tertullian, De idolatria 9, lehrt jedoch unter Berufung auf den Stern der Heiligen Drei Könige: »at enim scientia ista [i.e. Astrologie] usque ad evangelium fuit concessa.« Über seine Haltung zur Astrologie cf. F. W. C. L. Schulte, Het Heidendom bij Tertullianus, Nijkerk 1923, Kap. 7. Isidor, Etym. VIII, 9, 26 folgt Tertullian wörtlich (cf. Wedel, Μ. A. A.t p. 18).

Saturn in der Literatur des Mittelalters

247

ganz und gar ein Mensch, der flieht, ganz und gar ein Mensch, der sich verbirgt.108

Dies ist nicht der Ort im einzelnen zu verfolgen, auf welche Weise andere Motive der heidnischen und jüdischen Polemik gegen die Göt-

ter von den Apologeten übernommen und dem christlichen Gedan-

ken dienstbar gemacht wurden.109110 Durchgängig spielt in diesem

Kampf der Kronos-Saturn-Mythos eine nicht unerhebliche Rolle, sei es, daß seine primitiv-gewaltsamen Motive das sittliche Empfinden

der Zeit verletzten,1,0 sei es, daß deren stoisch-physiologische Deutung so tiefsinnig erschien, daß sie einer Widerlegung ganz besonders

bedurfte. Ob man den Wahnsinn des Kronos als die Wandlung des »Kairos« auslegt oder ob Kronos die Zeit, das Dunkle, der Frost oder

das Feuchte ist — er kann kein Gott sein, denn das Göttliche ist seinem Wesen nach unveränderlich. So argumentiert Athenagoras, wobei er

die Elemente seiner Argumentation der alteren Stoa-Polemik entnimmt, die ihm aus jüdisch-hellenistischen Quellen bekannt gewesen 108 Minucius Felix, Octavius XXI, 4-7; Tertullian, Apologetic. X; Laktanz, Divin. inst. I, 13, 6-8, stützt sich auf das Vergilzitat (Aen, VIII, Zeile poff.: siehe unten, Seite 249, Text), das später von Augustinus übernommen wurde. Die Saturnstellc wird in der kritischen Literatur häufig erwähnt im Zusammenhang mit der in zahllosen Abhandlungen diskutierten Frage des Abhängigkeitsverhältnisses zwischen Minucius Felix und Tertullian. Siehe die Lire‫־‬ raturverzeichnisse bei H.J.Baylis, Mmucius Felix, London 1928, und bei G.A.Johanna Schmidt, Minucius Felix oder Tertullian (Dissertation, München 1932), pp. 89 ff.; über den Stern der Magier cf. A. Bouche-Ledercq, L’astrologie grecque, Paris 1899, p. 611, und L. de Vreese, Augustinus en de Astrologie (Dissertation, Amsterdam 1933), pp. 71 ff109 Die Saturnstellen der Kirchenväter sind übersichtlich zusammengetragen im zweiten Indexband zu Migne, P. L., Bd. CCXIX, pp. 388 ff. Zur frühen Geschichte der Kritik der heidnischen Götter mit ausführlichem Kommentar über zwei der frühesten griechischen Schriften cf. J. Geffcken, Zwei griechisehe Apologeten (Aristides und Athenagoras), Leipzig 1907. Josef Lortz, Tertullian als Apologet, Bd.I-II, 1927-1928 (Münster, Beiträge zur Theologie, IX-X), erörtert die Probleme der frühen römischen Angriffe gegen das Heidentum. Cf. insbes. pp. 128-179. 110 Für die Verachtung, mit der der Mythos der Geburt des Zeus und der Verschlingung des Steins durch Kronos behandelt wurde, sei ein späterer Text angeführt: Gregor von Nazianz, Oratio in sancta lumina (Migne, P. Gr., Bd. XXXVI, col. 337), siehe unten, Seite296f. (Text) und Tafel 13.

248

Saturn in der literarischen Überlieferung

sein kann.111 Auch Tertullian behandelt Saturn besonders ausführlich,

weil in ihm der Ursprung der Götter liege: »Himmel und Erde haben ihn gezeugt, den Patriarchen der Götter, und die Dichter waren ihre

Geburtshelfer.«‘“ So verschieden Tertullian nach Herkunft, Temperament und Charakter von einem durchschnittlichen Griechen wie Athenagoras ist - in dieser christlichen Frühzeit bekämpfen Griechen wie Römer den gemeinsamen Feind im wesentlichen doch mit densel-

ben Methoden und Gedanken. Das hat an manchen Stellen eine derartige Übereinstimmung der Texte zur Folge, daß die Philologen bis heute die Abhängigkeitsverhältnisse nicht eindeutig bestimmen können."3 * Der hl. Augustinus jedoch, dessen Ablehnung der Astrologie sowohl

in seiner Sorge um die Willensfreiheit als in seinem Glauben an die göttliche Prädestination begründet ist,“4 begnügte sich mit solchen Argumenten nicht. Er widerlegte eingehend in De civitate Dei alle

‫ן‬

Apologia pro Christianis 22 (J. Geffcken, Zwei griechische Apologeten, Leipzig 1907. PP· B9 ff·. 205 ff.). 112 Ad nationes 11, 12 (Corp. Ss. Eccl. Lat., Bd. XX, p. 118). Tertullian wendet sich gegen die von Cicero, De natura deorum II, 24-25, vorgetragene stoische Lehre, die Κρόνος mit Χρόνος gleichsctzt: »Sed eleganter quidam sibi videntur physiologice per allegoricam argumentationem de Saturno interpretari tempus esse... Nominis quoque testimonium compellant: Κρόνον dictum Graece ut Χρόνον. Aeque latini vocabuli a sationibus rationem deducunt, qui eum procreatorem coniectantur, per eum seminalia caeli in terram deferri.« Die letztere Ableitung des Namens Saturnus »a satu«, die auf Varro, De lingua latina V, 64, ed. G. Goetz und F.Schoell, Leipzig 1910, p.2o, zurückgeht (siehe auch die im Apparat gegebenen Parallelstellen), wird auch bei Augustinus mehrfach angeführt: De Civitate Dei VI, 8; VII, 2; VII, 3 (‫״‬Saturnus seminis dator vel sator«); VII, 13; VII, 15. Auf welche Weise Varro diese Ableitung mit der aus dem Zeitbegriff zu verbinden suchte, erfahren wir aus De Civitate Dei VII, 19: »Chronon appellatum dicit [sc. Varro), quod Graeco vocabulo significat temporis spatium, sine quo semen, inquit, non potest esse fecundum.« Cf. E. Schwartz, ‫״‬De Μ. T. Vanonis apud sanctos patres vestigiis«, Jahrbuch für klassische Philologie, Suppi.-Bd. XVI (1888), pp.424ff., 439, 482ff. 113 Z. B. Josef Lortz, Tertullian als Apologet I, p. 134. 114 Cf. L. de Vreese, Augustinus en de Astrologie (Dissertation, Amsterdam 1933), und J. A. Davis, De Orosio et sancto Augustino Priscillianistarum adversariis commentaria historica et philologica (Dissertation, Nimwegen 1930), pp. 189 ff.

11

Saturn in der Literatur des Mittelalters

249

gelehrten Interpretationen der antiken Götterwelt,’15 und er verfaßte überdies eine ausführliche Einzelstudie über Saturn. Darin setzt er in

systematischer Absicht die euhemeristische Vermenschlichung der ursprünglichen Göttergestalt gegen deren naturphilosophische und

etymologische Allegorisierung ab, um dann beiden Interpretationen

die Deutung der Neuplatoniker gegenüberzustellen, die die Unhalt‫־‬ barkeit der früheren Lehren erkannt hatten. Für die Neuplatoniker ist Saturn der höchste Intellekt. Aber müßten dann nicht logischerweise diese Philosophen mit der Änderung der Deutung auch ihren Glau-

ben ändern und entweder gar keine Götterbilder mehr errichten oder nur noch Saturn und nicht Jupiter Capitolinus? Doch die Welt küm-

merte sich nicht um diese Lehren und verehrte noch immer Jupiter als

den höchsten Gott, und die Volksmeinung stimmte überein mit den Astrologen, die Saturn nicht als den weisen Schöpfer, sondern als den bösen Alten betrachteten. So gipfelt seine Polemik in einer groß ange-

legten Kontrastierung der metaphysisch-positiven Saturnauffassung des Neuplatonismus mit der abergläubisch-negativen der Astrologie.

Und die haßerfüllte Schärfe dieser Kontrastierung stellt die innere Ambivalenz der Saturngestalt mit einer Klarheit heraus, wie sie erst

wieder von der Einfühlungsgabe der Renaissance erreicht wurde. Was sagen sie von Saturn? Welches Wesen verehren sie als Saturn? Ist es nicht der, der zuerst vom Olymp herabkam »fliehend vor Jupiters Waffen, verbannt und beraubt seines Reiches. Er vereinte das rohe, im Bergland verstreute Geschlecht und gab ihm Gesetze und zog als Namen ►Latium-Heimstatt« vor, da geheim und geschützt er lebte an diesen Gestaden.«115 116 Kennzeichnet ihn nicht sein eigenes Bild, das mit bedecktem Haupt gestaltet wird, gleichsam als den, der sich verbirgt? Hat er nicht selbst den Italern den

115 De Civitate Dei VII, 19. Die übrigen Saturnstellen in De Civitate Dei sind leicht erfaßbar durch den Index der Ausgabe von E. Hoffmann, Wien 18991900 (Saturn als Unglücksplanet, Judengott, Herr des Sonnabends usw.). Über Saturn in den übrigen Werken Augustins siehe Sister Mary Daniel Madden, The Pagan Divinities and their Worship... in the works of St. Augustine exclusive of the City of God (The Catholic Universicy of America, Pacristic Studies, Bd.XXIV, 1930), pp· 46-33. Über Augustin als Fortsetzer und Vollender der frühchristlichen Apologetik im allgemeinen siehe Geffcken, op. cit., pp. 318 ff. 116 »His quoniam latuisset tutus in orts«; Vergil, Aen. VIII, 320-324.

2 jo

Satum in der literarischen Überlieferung

Ackerbau gezeigt, wie er durch seine Sichel andeutet? Nein, sagen sie... Denn wir deuten den Saturn als die »Gesamtheit der Zeit«, worauf auch sein griechischer Name hinweist: denn er heißt Kronos, was, aspiriert ausgesprochen, auch der Name der Zeit ist. Daher heißt er auch auf lateinisch Saturnus, als wäre er an Jahren gesättigt [»quasi saturetur annis«]. Ich weiß wirklich nicht, was man mit Leuten anfangen soll, die beim Versuch, die Namen und Bilder ihrer Götter in einem besseren Sinne auszudeuten, einräumen, daß ihr größter Gott, der Vater aller andern, die Zeit sei. Denn was anders verraten sie damit, als daß alle ihre Götter zeitlich seien, da sie die Zeit selbst zu deren Vater einsetzen? So erröteten auch darüber ihre neueren platonischen Philosophen, die schon zu christlicher Zeit lebten. Sie suchten daher Saturn in anderer Weise zu deuten, indem sie sagten, er werde Kronos genannt gleichsam wegen der Fülle des Geistes (»velut a satietate intellectus«], weil nämlich auf griechisch die Fülle κόρος und der Verstand oder Geist νους heißt. Diese Auffassung scheint auch durch den lateinischen Namen unterstützt zu werden, der gleichsam aus einem lateinischen ersten und einem griechischen zweiten Bestandteil zusammengesetzt ist, so daß er Saturnus genannt würde im Sinne von »reichhaltiger Geist« (satur-νοΰς). Sie sahen ein, wie absurd es wäre, wenn Jupiter, den sie für eine ewige Gottheit hielten, oder doch gehalten wissen wollten, als ein Sohn der Zeit angesehen würde. Nach jener modernen Deutung... nennen sie Jupiter vielmehr den Sohn des Saturn gleichsam als einen von jenem höchsten Intellekt [»mens«] hervorfließenden Geist [»spiritus«), den sie für die alle himmlischen und irdischen Körper erfüllende Seele dieser Welt halten ... Die Römer jedoch, die nicht Saturn, sondern Jupiter das Kapitol errichteten, und auch die anderen Völker, die Jupiter vor allen anderen Göttern Verehrung zu schulden glaubten, waren nicht derselben Ansicht wie die Platoniker. Diese würden, ihrer neuen Theorie zufolge, wofern sie nur in solchen Dingen irgendwelche Macht besessen hätten, sowohl die höchsten Heiligtümer lieber Saturn weihen als vor allem die Astrologen und Horoskopsteller ausrotten, die Saturn, welche jene als den »weisen Schöpfer«"7 bezeichnen, als einen bösen Gott unter die anderen Gestirne versetzt haben."8 117 Nach einer anderen Lesart: »Schöpfer der Weisen«. 118 Augustinus, De consensu euangelistarum 1, 34O. (Corp. Ss. Eccl. Lat., Bd. XLIII, ed. F. Weihrich, Wien 1904, pp. 32 ff.). Teile der Polemik stimmen mit den oben angeführten Ausführungen des Laktanz überein (siehe den Apparat der zitierten Ausgabe). Der Schlußpassus sei um seiner Prägnanz willen im Original wiedergegeben: »Romani tamen, qui non Saturno, sed Iovi Capitolium condiderunt, vel aliae nationes, quae lovem praecipue supra ceteros deos colendum esse putaverunt, non hoc quod isti [sc. philosophi

Saturn in der Literatur des Mittelalters

2P

Die neuplatonische Saturndeutung wird hier zwar mit unverkennbarer Ironie, aber nicht ganz ohne Achtung behandelt. Um so bemerkenswerter ist es, daß Augustin, der sonst häufig von den Vorstellun-

gen des mittleren und späteren Platonismus Gebrauch macht,119 an

diesem Punkt das heidnische Erbe nicht in den Dienst der christlichen Weltanschauung stellt. Seine radikal ablehnende Haltung gilt ebenso der heidnischen 'Theologie wie der heidnischen Astrologie.‘20 Einen für die Zukunft bedeutsamen Weg hat dagegen Ambrosius

gebahnt, indem er nicht wie Tertullian, Athenagoras, Augustinus und

deren Zeitgenossen von der Polemik ausgeht, sondern an phiionisch-

pythagoräische Gedanken anknüpft. Sein Ausgangspunkt sind nicht

die Planetengötter, sondern deren Zahl, die Sieben. In gewisser Hinsicht hat Ambrosius einen Vorläufer in Victorinus von Pettau, der in

großartiger Schau die sieben Gaben des Heiligen Geistes den sieben himmlischen Sphären zuteilt. Die sieben Himmel entsprechen nach

recentiores Platonici] senserunt, qui secundum istam suam novam opinionem et summas arces, si quicquam in his rebus potestatis habuissent, Saturno potius dedicarent et mathematicos uel genethliacos maxime delerent, qui Saturnum, quem sapientem [andere Lesart: sapientumj effectorem isti dicerent, maleficum deum inter alia sidera constituerent.« Die Quelle für die Etymologie von Kronos: κόρος und νούς und davon abgeleitet die Etymologie von Saturn: satur - νοϋς ist Plotin, Enneaden V, 1, 4 und V, 1, 7; siehe oben, Seite 237 f., Anm. 86 und 87. 119 Ein bezeichnendes Beispiel hierfür ist Augustins Ideenlehre (z.B. Migne, P. L., Bd. XL, col. 29 f.); cf. auch E. Panofsky, Idea (Studien der Bibliothek Warburg, Bd, V, 1924), pp. 18 ff. und 81 ff. 120 Diese radikal ablehnende Haltung illustriert sehr gut eine Stelle aus Martin von Bracaras Bauernpredigt. Martin von Bracara betrachtet die Wochentagsgötter als gefallene Engel oder Dämonen, die die Sünde der Menschen wahrnehmen und sich vor ihnen für gottlose Menschen früherer Zeiten ausgeben (Saturn, Jupiter usw.). Diese Dämonen überreden das Volk, sie unter dem Namen dieser angeblichen Menschen anzubeten. Daher verurteilt Martin auch aufs schärfste die Benennung der Wochentage nach den Planeten. »Non tarnen sine permissione dei nocent, quia deum habent iratum et non ex toto corde in fide Christi credunt. Sed sunt dubii in tantum, ut nomina ipsa daemoniorum in singulos dies nominent, et appellent diem Martis et Mercuri et Iovis et Veneris et Saturni, qui nullum diem fecerunt, sed fuerunt homines pessimi et scelerati in gente Graecorum« (De correctione rusticorum 8, ed. K.P.Caspari, Christiania 1883, pp. 11 und LXXVIII). Die Schrift entstand zwischen 572 und 574 n. Chr. Siehe Caspari (ed.), op. cit., pp. CVI1 ff., über ihr Nachleben im Mittelalter.

252

Saturn in der literarischen Überlieferung

Victorinus den sieben Tagen der Schöpfung. Er beruft sich dabei auf

die Worte des Psalms XXXIII,6: »Durch das Wort des Herrn sind die Himmel gemacht, durch den Hauch seines Mundes ihr ganzes Heer.«

Die Himmel sind sieben Geister. Ihre Namen sind die Namen jener Geister, die auf Christus ruhten, wie bei dem Propheten Jesaja geweissagt ist. Der höchste der Himmel ist daher der Himmel der Weis-

heit, der zweite der des Verstandes, der dritte der des Rates. Daraus

also brüllen die Donner, kommen die Blitze und so fort.121 Hier

begegnen wir also einer kosmologischen Spekulation über die sieben

Gaben. Aber es ist charakteristisch für Victorinus, daß er gar nicht daran interessiert ist, die Position dieser Sphären im Kosmos genauer

zu bestimmen.

Zu Recht sagt Ambrosius, daß seine Abhandlung aus einem anderen Blickpunkt verfaßt sei als die der Pythagoräer und der anderen Philosophen. Der von ihm benützte Vergleich mit Philon zeigt das

Kühne der Ambrosianischen Symbolik, die nicht davor zurück-

scheut, durch Zahlenmystik122 das kosmische System mit den Gaben des Heiligen Geistes in Verbindung zu bringen. Ambrosius sagt: »Die

Zahl sieben ist gut.«,2J Jesaja hat sieben Haupttugenden des Heiligen 121 Victorinus von Pettau, Tractatus de fabrica mundi, Kap. 7 (ed. J. Haussierter, Corp. Ss. Eccl. Lat., Bd.XLIX, Wien 1916, pp.6ff.). Zu dieser Stelle cf. W. Macholz, Spuren binitarischer Denkweise (Dissertation, Halle-Wittenberg 1902), pp. 16 ff. Victorinus von Pettau knüpft im wesentlichen an Origenes an. Über Victorinus’ Stellung zu Origenes cf. Hieronymus, Epist. 61, 2, 4 und Vigilius. {Sancti E. Hieronymi epistulae, ed. j.Hilberg, Corp. Ss. Eccl. Lat., Bd. LIV, Wien 1910-1912, pp-5f75‫־‬f8: «Taceo de Uictorino Petobionensi et ceteris, qui Origenem in explanatione dumtaxat scripturarum secuti sunt et expresserunt«; ferner Epist. 84, 7, ad Pammachium et Oceanum (Hilberg, ed., ibid., Bd.LV, pp. 130 ff.): »Nec disertiores sumus Hilario nec fideliores Victorino, qui tractatus eius [scii. OrigenisJ non ut interpretes sed ut auctores proprii operis transtulerunt. Nuper Ambrosius sic Exaemeron illius [scii. OrigenisJ conpilavit, ut magis Hippolyti sententias Basiliique sequerecur«; ferner Hieronymus, Adversus libros Rufini j, 14 (Migne, P.L., Bd. XXIII, coi. 467). 122 F. Boll (»Die Lebensalter«, Neue Jahrbücher für das klassische Altertum XVI (1913), p. 126, Anm. 3) hat als erster auf die Ambrosius-Stelle in diesem Zusammenhang hingewiesen. Zu Philon cf. K. Staehle, Die Zahlenmystik bei Philon von Alexandria, Leipzig 1931. 123 Cf. είναι τελεσφόρον όντως τόν έβδομον άριθμόν in Philon, De opificio mundi 106 (Opera I, 38, ed. L. Cohn, Berlin 1896).

Saturn in der Literatur des Mittelalters

*53

Geistes aufgezählt. Die Hebdomas ist wie die Trinitas ohne Zeit und ohne Maß; sie ist der Urheber der Zahl, nicht deren Gesetz unterwor-

fen.

Nach diesem siebenfältigen Umkreis der geistigen Tugenden... sehen wir einen siebenfältigen Dienst der Planeten erschaffen, durch die diese Welt erleuchtet wird.114 Durch diese Anschauungsweise ist der Weg zu christlichen Spekula-

tionen über die Gestirne freigelegt: die Planeten werden zwar, zunächst wenigstens, nicht wie in der neuplatonischen Lehre von der

Himmelsreise der Seele als Verteiler der guten Seelengaben betrachtet, aber doch mit der christlichen Tugendlehre in unmittelbare Bezie-

hung gesetzt.

2. Saturn im hochmittelalterlichen Denken

a) Saturn in der Moraltheologie

Die Lehre von den sieben Gaben des Heiligen Geistes war für das Mittelalter von besonders großer Bedeutung.115 Seitdem Augustinus

die sieben Gaben als eine Stufenleiter erläutert hatte, deren höchste

124 Ambrosius, Epist. ad Horontianum 44, 3 (Migne, P. L., Bd.XVI, col. 11}6ff.): »Bonus septimus numerus, quem non Pythagorico et ceterorum philosophorum more tractamus, sed secundum formam et divisiones gratiae spiritalis; septem enim virtutes principales sancti spiritus propheta Esaias complexus est (Esai. XI, 2). Haec hebdomas... sine tempore, sine ordine, auctor numeri, non sub numeri lege devincta. Itaque sicut ad aeternae Trinitatis gratiam caelum, terra, maria formata, sicut sol, luna et stellae: ita etiam ad illum septenarium virtutum spiritalium circuitum atque orbem operationis divinae vigore praestantem, septenarium quoddam ministerium planctarum creatum advertimus, quo hic mundus illuminatur.« Nach J. A. Davis, op. cit., p. 187, stand Ambrosius hier unter dem Einfluß des Origenes. In Hexaem. lib. 4, § 17 (Migne, P. L., Bd. XIV, col. 153) vertritt Ambrosius einen anderen Standpunkt. 12j Cf. K. Boeckl, Die sieben Gaben des heiligen Geistes in ihrer Bedeutung für die Mystik nach der Theologie des /3. und /4. Jahrhunderts (Freiburg i. B. 1931), und den Artikel »Dons du Saint-Esprit«, Dictionnaire de Theologie Catholique, Bd. IV (A. Gardeil).

*54

Saturn in der literarischen Überlieferung

Stufe die Weisheit ist, war dieses Lehrstück mit dem neuplatonischen Gedanken vom Aufstieg der Seele verschmolzen und wurde gegen

Ende des 12. Jahrhunderts in kosmologischem Sinne weiterentwikkelt. Alexander Neckam, der im Zeitalter der Wiedererweckung der

Astrologie lebt, verleiht der ambrosianischen Lehre einen spezifisch

astrologisch gefärbten Charakter. Während bei Ambrosius der Gedanke einer Verbindung zwischen den Planeten und den sieben Ga-

ben im Zusammenhang einer Erörterung über die Siebenzahl auftaucht, die nicht auf Astrologisches zielt, steht dieser Gedanke bei Neckam in einem Kapitel, das mit den Worten beginnt‘1*: »Sieben

sind die Planeten, die die Welt nicht nur schmücken, sondern auch ihre Wirkungen auf die untere Sphäre ausüben, Wirkungen, die ihnen

von der höchsten Natur, die Gott ist, übertragen wurden.« Selbst hinsichtlich der sieben Gaben bedient er sich einer ganz astrologisehen Wendung, wenn er von den sieben Gaben spricht, »die den

Mikrokosmos mit hellem Schmuck zieren und ihren Einfluß auf die natürlichen Kräfte der Seele ausüben«.

Es ist daher begreiflich, daß Neckam sich nicht mit allgemeinen Ana-

logien begnügt, sondern diese im einzelnen und unter Einbeziehung astrologischer und astronomischer Elemente durchführt.117 Er be-

schreibt die Wirkungsart der sieben Gaben entsprechend der bei Macrobius überlieferten neuplatonischen Anschauung von den guten Planetengaben. Uns interessiert hier vor allem die Folgerung, die sich

daraus für die Saturnvorstellung ergibt. Die Reihe der sieben Gaben

beginnt bei Jesaja mit der Weisheit und endet mit der Furcht des Herrn. Es lag daher nahe, Saturn als dem obersten Planeten entweder

die erste oder die letzte Gabe zuzuordnen. Neckam har ihm die Weisheit zugewiesen und dafür folgende Begründung gegeben: »Wie der

Planet Saturn sich geraume Zeit läßt, um seinen Umlauf zu vollziehen, so erzeugt die Weisheit aus sich heraus die Reife. Saturn wird126 127

126 De naturis rerum, ed. T. Wright, London 186), pp. )9 ff. 127 Hierbei ist der wichtige Umstand zu berücksichtigen, daß Neckam bei der Einführung astrologischer Lehren stets nachdrücklich hervorhebt, diese dürften keinerlei Einschränkung der menschlichen Willensfreiheit bedeuten; cf. De naturis rerum (ed. Wright, op. cit.), pp.40-41. Siehe auch unten, Seite 270, Anm. 161.

Saturn in der Literatur des Mittelalters

*55

von den Philosophen zu Recht als Greis bezeichnet, denn Greise sind reifen Sinnes.«,28 Diese Beschreibung Saturns ist, wie die allgemeine Anschauung der

guten Planetengaben, neuplatonisch, denn es war der Neuplatonismus, der Saturn als den alten und weisen Gott feierte. Mit anderen

Worten nimmt also Neckam gerade diejenige Auffassung, die der hl.

Augustinus verspottet hatte,‘2’ wieder auf, um sein christliches Gedankensystem auszubauen.

Berthold von Regensburg, ein Mönch, ein Landprediger, wie er sich selbst bezeichnet, konnte in einem Zeitalter, das erfüllt war von Sternglauben, kaum vermeiden, auch die Planeten und ihre Wirkun-

gen in sein moralisches Ermahnungssystem einzubeziehen. »Es stehen sieben Sterne am Himmel. Daran sollt Ihr lesen und Tugend lernen, denn wenn Ihr die Tugend nicht habt, kommt Ihr nimmer in

das verheißene Land, und darum hat Gott die sieben Tugenden an den sieben Planeten aufgezeigt, damit sie Euch nach dem Himmelreich weisen.«‘30 Berthold ist kein Systematiker. Er vergleicht nicht

die sieben Gaben oder eine andere Tugendreihe mit den Planeten, sondern trifft die Wahl der Tugenden zum einen nach theologischen Gesichtspunkten, zum anderen danach, welche Tugenden ihm durch

Assoziation mit kosmologischen und astrologischen Lehren nahelie-

gend erscheinen. Seine Tugendreihe hat eine gewisse Beziehung zu einer Reihe, die der hl. Thomas in ganz anderem Zusammenhang

128 De naturis rerum (ed. Wright), p.41. Im übrigen erwirbt die Seele folgende Fähigkeiten: von Jupiter »intellectus, qui providentiam creat et hebetudinem expellit«; von Mars »donum consilii, quod praecipitationem renuit et cautelam procreat« (dies zweifellos, weil Vorsicht der bessere Teil der soldatischen Tugend der Tapferkeit ist); von Sol dagegen »donum fortitudinis, quia... creat perseverantiam et fiduciam et magnanimitatem«; von Venus »seientia... quae in sanguineis vigere solet«. Mit Merkurs Gabe wird »pietatis donum« in Beziehung gesetzt, da dieser »hominibus dulcis conversationis spirituale augmentum gratiae ministrat«; Lunas Gabe wird in Beziehung gesetzt zu »timor qui negligentiam expellit... et... humilitatem generat«. Bei Abaelard finden wir einen ähnlichen Gedanken, nämlich daß die Planeten geistig erleuchtet werden durch die göttliche Gnade, die als siebenfältig bezeichnet wird (Opera, ed. V. Cousin, Paris 1859, Bd. II, p. 42). 129 Siehe oben, Seite 248 ff. (Text). 1)0 Berthold von Regensburg, Predigten IV und LXI (ed. F. Pfeiffer, Bd. I, Wien 1862, pp. 48 ff., Bd. II, Wien 1880, pp. 233 ff.).

z$6

Saturn in der literarischen Überlieferung

aufgestellt hatte.‘5‘ Letzterer unternimmt den Versuch, den Einfluß der Planeten systematisch zu gliedern. Danach beziehen sich die Wirkungen der drei obersten Planeten auf die Existenz der Dinge. Die

vier anderen Planeten bestimmen weniger das Sein als die Bewegung

der Dinge. Daher verleiht Saturn die höchste Gabe, nämlich die Stetigkeit der Existenz (»ipsa stabilitas esse rei«), Jupiter deren Vollendüng und Mars ihre Selbsterhaltungskraft, die Kraft, das Schädliche

von der Existenz abzuwehren. Berthold übernimmt die Zuordnungen für Saturn und vielleicht auch für Mars aus einer Reihe, die mit der

Reihe des hl. Thomas verwandt ist. Saturn verleiht »staetikeit«, Mars »wieder die sünde striten«. Die thomistische Systematik ist jedoch für

seinen Zweck, moralisch auf den einfachen Mann einzuwirken, ohne Belang. Seine im Vergleich zu Thomas etwas banal anmutende ZuOrdnung der Stetigkeit zu Saturn begründet er mit der wohl auch seinen ungebildetsten Hörern wohlbekannten Tatsache, daß der Pia-

net so langsam sei, daß er dreißig Jahre zu einem einzigen Umlauf

benötige - derselben Tatsache also, die Neckam dazu veranlaßte, Saturn und Weisheit miteinander in Verbindung zu bringen. Während

aber die letztere Zuordnung spezifisch neuplatonisch ist, ist die Verbindung von Saturn und Stetigkeit offensichtlich aufgrund jener

astrologischen Quellen vollzogen, die dem Planeten das Beiwort »tenax« gaben und ihn in erster Linie als den Beherrscher des erdenhaft Schweren, des Langsamen und Beharrenden betrachten.'52 Aus demselben Reservoir guter Qualitäten Satyrns schöpft der Text

einer unter dem Namen Meister Eckharts gehenden deutschen Predigt, die dem Ambrosianischen Gedanken eine ausgesprochen mysti-

sehe Wendung gibt.‘55 Dem geistlichen Himmel der Seele sollen die

Einflüsse der göttlichen Gnade und des Trostes zuteil werden. Wenn

die Seele ein seliger geistlicher Himmel wird, dann schmückt sie der

13T Thomas von Aquin, !n Metaphysicam Aristotelis Commentaria, ed. M.-R. Cathala, Turin :926, p. 12), 2560ff. 1)2 Cf. etwa die oben (Seite 226, Text) erwähnte Zuordnung von βέβαιον und »tenacitas« sowie unten (Seite 285 f., Text) die Charakteristik Satu rns bei Guido Bonatti. 133 Meister Eckhart, Predigt LXVII (ed. F. Pfeiffer, Leipzig 1857, pp. 212 ff.). Zu dieser Tradition cf. A. Spamer in Beiträge zur Geschichte der deutschen Literatur und Sprache XXXIV (1909), p. 324, Anm. 2.

Saturn in der Literatur des Mittelalters

*57

Herr mit den geistlichen Sternen. Im Gegensatz zu Berthold von Regensburg greift der Prediger wieder auf das Ambrosianische

Thema zurück, wenn auch mit einer Variation. Er vergleicht die sieben Planeten mit den sieben Seligpreisungen, die die Theologie mit den sieben Gaben des Heiligen Geistes eng verknüpft hat. »Also wirt an dem himel der sele Saturnus [der fürber] der engelischen reinekeit

unde bringet zu löne anschouwunge der gotheit, wan unser herre sprach >selic sint, die reiniu herze habent wan sie unser werdent se-

* hen. 7)■ 146 Bekanntlich wurden die Ovid-Moralisationen, nicht aber der Ovid-Text selbst, auf den Tridentiner Index gesetzt (cf. Metropolitan Museum Studies IV, 1933, pp.27«ff.).

264

Saturn in der literarischen Überlieferung

die auf die frühmittelalterlichen Martianus-Kommentare zurückgeht

und die ihm durch den Mythographus III vermittelt wurden. Schon vorher aber hatte Petrarca die Angaben des Mythographus III, samt einiger Reminiszenzen aus der originalen römischen Dichtung,

für die Götterbeschreibungen seiner Africa, verwendet, wobei seine Entlehnungen von rein künstlerischen Absichten diktiert und in klas-

sische Hexameter gegossen waren.‘47 Es ist wohl bezeichnend, daß ein großer italienischer Dichter des 14. Jahrhunderts die Götter seiner

römischen Vorfahren anhand eines Kompendiums schildert, das lediglich aus spätantiken und karolingischen Quellen zusammengebraut ist. Nicht minder aufschlußreich ist jedoch, daß ein zeitgenössischer Theologe, der nach eigener Aussage diese großartigen,

schlichten und gänzlich unallegorisierten Zeilen kannte, dennoch die alten Elemente aus dem Mythographus III wieder aufnimmt und sie

in die schwerfällige Prosa einer christlichen Allegorese einkleidet. Denn Berchorius hat den Bildbeschreibungen Petrarcas verschiedene

Einzelzüge entlehnt, die freilich unter dem Wust der Allegorese kaum mehr erkennbar sind.‘48 Um 1400 wird dann der anschauliche Sachgehalt aus diesem Wust

herausgeschält und um einige neue Elemente bereichert, woraus der oft als »Albricus« zitierte Libellus de imaginibus deorum147 149 entsteht, 148

ein anspruchsloses, aber eben deshalb viel benutztes Handbuch für den »gebildeten Laien< und insbesondere den schaffenden Künstler.

Besonderen Nachdruck legt der Text auf die von Berchorius einge-

führte astronomische Abfolge der Planetengötter. Die etwa 1350 begonnene Genealogia deorum des Boccaccio hält dagegen an der genealogischen Anordnung des Mythographus III fest. Aber es ist

bedeutsam, daß sie bei aller Verbundenheit mit mittelalterlicher Tradition und Geisteshaltung zum ersten Mal einen wissenschaftlichen

147 Cf. H. Liebeschütz, Fulgentius Metaforalis (Studien der Bibliothek Warburg, Bd. IV, Leipzig 1926), pp. 16 und 41; und zu Petrarcas Umgestaltungsprinzipien: E.Panofsky, Hercules am Scheidewege (Studien der Bibliothek Warbürg, Bd. XVIII, Leipzig 1930). 148 Cf. F. Ghisalberti, »L’ >Ovidius moralizatus« di Pierre BersuireMensch< im Sinne des Euhemerismus).1’2 Die Merkmale, die, wie wir sahen,

150 Cf. das von Liebeschütz zitierte Einleitungskapitel, op. cit., p.2 1, Anm.33; »Qui primus apud gentiles deus habitus sit...« Boccaccio behandelt Saturn im 1.Kapitel des VIII.Buchs (pp.i^/ff. in der Basier Ausgabe von 1532; neuerdings ed. V. Romano, Bari 1951, p. 389). Siehe auch Boccaccio, Epistola a Francesco Petrarca·. »Hic est ingeniosissimus per Saturnum.« (Opere, Bd. II, p. 1068, ed. P. G. Ricci, Mailand-Neapel 1965). Über Boccaccios Methode der Mythenauslegung siehe C G. Osgood, Boccaccio on Poetry, Princeton 1930, pp. XVII ff., und die vorzügliche Einzelstudie von Carlo Landi, Demogorgone, Palermo 1930. 151 Cf. E. H. Wilkins, The University of Chicago MS of the Genealogia deorum (The Modern Philology Monographs), Chicago 1927, Kap. II, »The Grcek quotations in the Genealogia«·, ferner Landi, op. cit., pp. 22 ff. 152 Ähnlich (aber von der Astrologie zur Mythologie führend und nicht umgekehrt) die Seite 281 f. (Text) ausführlich zitierte Stelle aus Bartholomaeus Anglicus: »planeta malivolus... ponderosus, et ideo in fabulis senex depingitur.«

266

Saturn in der literarischen Überlieferung

ursprünglich der Mythologie entstammten und sich mit anderen zu

dem astrologischen Bild vereinigten, kehren nun wieder zum Mythologischen zurück. So kommt es, daß Boccaccio die Saturn-Bpitheta, die er aus dem Mythographus III (d. h. aus der Martianus-Tradition) entnimmt, durch Sätze aus Abü Ma'sar kommentiert, die das Wesen

der Saturnkinder beschreiben.

Mit dem Erstarken der kritischen Philologie entschwindet diese bunte Welt des Mittelalters, wenn auch nicht mit einem Schlage. Die Studien von Schoell und Seznec haben die Aufmerksamkeit auf die große Bedeutung der mythologischen Handbücher von der Arc der Mytho-

logien des Natale Conti und Vincenzo Cartari gelenkt,15 J die ohne die mittelalterlichen Vorstufen unvorstellbar sind. Auch in den Emble-

mata und Allegoriensammlungen lebt der alte Stoff weiter.'14 Aber in dem Moment, als des L. G. Gyraldus mythologisches Handbuch erschienen war (in dem »Albricus« zwar noch zitiert, aber zugleich mit

dem Makel eines »auctor proletarius« behaftet wird),‘15 war ein Modell ernster Gelehrsamkeit aufgestellt, an dem gemessen alles Voran-

gehende phantastisch und unwissenschaftlich erschien. Gyraldus war sich sicher seiner neuen Haltung bewußt, was deutlich in der Polemik

gegen Boccaccio, die in seiner Vorrede enthalten ist, zum Ausdruck kommt. Gyraldus spricht dort von Boccaccio mit größter Hochach-

tung als einem Mann von Fleiß, Geist und Bildung, einem Literaten,

der alle anderen italienischen Prosaschriftsteller weit hinter sich gelas-

sen habe. Aber ein Latinist oder gar Gräcist sei ,Boccaccio eben nicht

153 V. Cartari, Le Imagini de i dei degli antichi, Venedig 1556. Spätere Ausgaben verzeichnet J. Seznec, »Les manuels mythologiques Italiens et leur diffusion en Angleterre«, Melanges d’Archeologie et d’Histoire L (1933), p. 281. Die lateinische Übersetzung des Verderius wurde skrupellos in Joachim Sandrarts Iconologia deorum, Nürnberg 1680, benutzt. Zu den mythologischen Handbüchern cf. F.L. Schoell, »Les mythologistes Italiens de la Renaissance et la poesie Elisabethaine«, Revue de litterature comparee IV (1924), pp. 5-25, und desselben Verfassers Etades sur Ehumanisme Continental en Angleterre d la fin de la Renaissance, Paris 1926 (Bibliotheque de la Revue de litterature comparee, Bd. XXIX). 1J4 Cf. Mario Praz, Studies in Seventeenth-Century Imagery, Bd.I, London 1939, und E. Mandowsky, Ricerche intorno all’ Iconologia di Cesare Ripa (La Bibliofilia, XLI), Florenz 1939. 155 L. G. Gyraldus, De deis gentilium varia et multiplex historia, Basel 1548. Die Stelle aus »Albricus« in L.G.Gyraldus, Opera, Lyon 1696, Bd.I, col. 153.

Saturn in der Literatur des Mittelalters

26/

gewesen. Er, Gyraldus, könne nicht verstehen, daß Boccaccios Ge-

nealogia von gewissen Leuten so geschätzt werde, daß sie sie als Autorität zitierten oder gar kommentierten. Vom wissenschaftlichen

Standpunkt aus mißbilligt er Boccaccios tiefsinnige Spekulationen über den Urgott Demogorgon, dessen Name nicht gewußt werden darf. Soviel er auch danach gesucht habe, nirgends sei jener Demogor-

gon zu finden gewesen, »nirgends, sage ich, nirgends erschien er«

(»nusquam Demogorgon iste, nusquam, inquam, apparuit«). Gyraldus findet die Lösung: >Demogorgon< ist nur eine Verballhornung

von >Demiurgosmathematicis< zufolge« als »Deus malitiosus« wirkt, wobei das Attribut der Sichel anzeigt, daß er, gleich dieser, nur in rückläufiger Bewegung zu schaden vermag. In den christlichen Interpretationen des 14. Jahrhunderts kann dann der alte Flurgott als »Prudentia« er-

scheinen (wie bei Ridewall)1*9 oder als Personifikation eines in Sünde

grau gewordenen alten höheren Geistlichen; daneben kann er aber

auch, mit typischer Polarität, als Beispiel eines frommen und gerechten Prälaten verwandt werden, der sich damit beschäftigt, einerseits

die Armen zu sättigen, andererseits seine bösen Kinder »zwecks Verbesserung« aufzufressen. Außerdem ist er, noch immer nach Bercho-

rius, ein Musterbild eines Tyrannen, der sich mit List oder Gewalt

den Staat unterwirft, eine Personifikation des Lasters der Gefräßigkeit und schließlich das abschreckende Beispiel für die Unentrinnbarkeit des göttlichen Ratschlusses, da ihn selbst das Verschlingen seiner

158 Mythographus III, 1, 3 ff., in G. H. Bode, Scriptores rerum mythicarum latini tres, Celle 1834, pp. 153 ff. 159 Cf. H. Liebeschütz, Fulgentius Metaforalis (Studien der Bibliothek Warburg, Bd.IV, 1926), pp. 71 ff.; cf. ferner F.Saxl in Festschrift für Julius Schlosser, Zürich 1926, pp. 104 ff. Hier wird daher das verhüllte Haupt der antiken Weisen als Zeichen der Ehre gedeutet, die diese der Klugheit zollen, und die Sichel als Szepter der Klugheit, das aber in sich zurückgekurvt ist, um anzudeuten, wie der Kluge »omnes ad se possit attrahere et panem pocumque sapientiae cunctis largissime ministrare« usw.

Saturn in der Literatur des Mittelalters

269

Kinder nicht gegen das ihm von diesen drohende Verhängnis hat schützen können.160 Dies sind lediglich die »spirituellen« Deutungen,

die auf eine rein moralische Nutzanwendung zugeschnitten sind. Darüber hinaus deutet Berchorius Saturn, immer bei entsprechender

Interpretation aller Einzelattribute, »litcraliter« als Gestirn, »naturaliter« als Zeit und »historialiter«, in der euhemeristischen Tradition, als

den vertriebenen König von Kreta. Mit Gyraldus hatte all das ein Ende, mit Ausnahme der widersprüchlichen, aber unverfälschten

Tradition, die sich aus den antiken Autoren belegen ließ.

c) Saturn in der mittelalterlichen Astrologie:

die Aufnahme astrologischer Elemente in die scholastische Naturphilosophie

Wenn, wie wir sahen, erst die Zeit um 1200 auf den Ambrosianischen

Gedanken zurückgriff, die sieben Planeten mit den sieben Gaben des Heiligen Geistes zu verbinden, so erklärt sich das in erster Linie

daraus, daß erst in dieser Zeit wieder eine Situation entstand, die der patristischen Epoche vergleichbar war. Wie sich die Kirchenväter mit

einer noch lebendigen Astrologie auseinanderzusetzen hatten, hatten die Theologen des 12. und 1 ).Jahrhunderts gegen eine wieder lebendig gewordene Stellung zu beziehen; und sowohl bei Alexander Neckam wie bei Berthold von Regensburg ist diese Position deutlich

zum Ausdruck gebracht. Beide verwahren sich mit polemischer Entschiedenheit gegen die Ansicht, daß die Gestirne den menschlichen Willen und damit das menschliche Schicksal im ethischen Sinne be-

stimmen könnten, und lassen ihren Einfluß nur für die Welt der physischen Erscheinungen zu. Bei Berthold von Regensburg heißt es:

160 Metamorphosis Ovidiana, moraliter a Magistro Thoma Waleys... explanata, fol.irff. in der Pariser Ausgabe von 1515. In allen diesen Fällen werden natürlich sämtliche Einzelzüge entsprechend interpretiert, die Kastration z. B. im Falle des »bösen Geistlichen« als Hinweis darauf, daß »tota voluptas eius in amaritudinem convertitur«; im Falle des »guten Geistlichen«, daß »tales boni prelati solent... ambitiosis subditis infestari«; im Falle des »Tyrannen«, daß Gleiches mit Gleichem vergolten wird, und im Falle der Gefräßigkeit, daß diese, wie das abgeschnittene Glied Saturns die Venus, Wollust erzeugt usw.

270

Satum in der literarischen Überlieferung

Sie [die Sterne] habent kraft über boume und über winwahs, über loup unde gras, über krut unde wurze, über körn und allez daz, daz same treit, über die vogel in den lüften und über diu cier in dem walde und über die vische in dem wage und über die würme in der erden: über daz allez samt daz under dem himel ist, dar über hat unser herre den Sternen kraft gegeben, wan über ein dinc: da hat nieman keine kraft über noch keine mäht, weder sterne noch wurze noch wort noch steine noch engel noch tiuvel noch nieman wan got alleine; der wil sin ouch niht tuon, der wil niht gewaltes drüber han. Daz ist des menschen friiu willekür: da hat nieman gewalt über danne du selber.161 Von wenigen Ausnahmen abgesehen,'62 hatte es der Kampf der frühen Kirche tatsächlich zuwege gebracht, daß die Astrologie jahrhundertelang kein Gegenstand praktisch-kirchenpolitischen Interesses

war, sondern lediglich ein Thema theoretischer Diskussionen bil-

dete. Zwischen 1120 und 1180 wurde dem Abendland durch Übersetzung aus dem Arabischen ein umfangreiches Corpus spätantiker und orientalischer Astrologie zugänglich. Aber bereits aus früherer Zeit, dem

10. Jahrhundert, ist uns die Abschrift des Liber Alchandrini philosophi in Paris erhalten, der dem lateinischen Westen die spätgriechisehen Lehren auf dem Umweg über den Orient wieder vermittelte

und der bis ins 15. Jahrhundert immer wieder abgeschrieben und später gedruckt wurde.163 Spätestens im 10. Jahrhundert zieht also mit »Alchandrinus« auch die

Saturnkinder-Vorstellung wieder in £uropa ein. Die unter Saturn Ge­

161 Berthold von Regensburg, Predigten, ed. F. Pfeiffer, Bd. I, Wien 1862, p. 50. Ähnlich heißt es bei Neckam, De naturis rerum, ed. cit., pp. 39ff.: ‫״‬Absit autem, ut ipsos aliquam inevitabilis necessitatis legem in inferiora sortiri censeamus... Voluntas enim divina certissima est rerum causa et primitiva, cui non solum planetae parent, sed et omnis natura creata. Sciendum etiam est quod, licet superiora corpora effectus quosdam compleant in inferioribus, liberum tamen arbitrium animae non impellunt in ullam necessitatem hoc vel illud exequendi...« Siehe oben, Seite 254, Anm. 127. 162 Cf. die Dekrete der Bischöfe Burchard von Worms und Ivo von Chartres (zitiert in Wedel, Μ. A. A., pp. 30 ff.) gegen astrologische Praktiken bei EheSchließungen, Ackerbaumaßnahmen usw. 163 Cf. A. van de Vyver, «Les plus anciennes traductions latines medievales (X' et XIe siecles) de traites d’astronomie et d’astrologie«, Osiris I (1936), pp. 689691‫־‬. R. Klibansky hat des Nikolaus von Kues Exemplar des Liber Alchandri philosophi in London, Brtt. Library, Harleian MS 5402, entdeckt.

Saturn in der Literatur des Mittelalters

‫י‬

*7

borenen sind schwarz, haben breite Schultern, einen runden Kopf

und einen mäßigen Bart. Sie sind Diebe, sie sind gesprächig, sie sind Leute, die etwas anderes mit dem Munde sagen, als sie im Herzen

planen, sie sind nachtragend, sie sind Söhne des Teufels, sind geizig auf eigenem Boden, habgierig in der Fremde usw.164 Allerdings sind

im frühen Mittelalter nur wenige in der Lage, die zur Berechnung der Horoskope nötigen Beobachtungen anzustellen (»cumque tamen a paucis hoc iugiter possit observari«, sagt unser Autor).165 Daher ist

die frühmittelalterliche Lehre darauf aufgebaut, den Geburtsstern aus dem Zahlenwert des Namens zu ermitteln - man dividiert den Namen

durch sieben; bleibt fünf, so ist der Geborene ein Saturnkind.

Die Wiedererweckung der mythologischen Elemente ist somit schon

in dieser Frühzeit vollzogen und die astrologische Praxis so vereinfacht, daß diese Elemente für die Vorhersage der Zukunft benutzt werden können. Der theologische Kompromiß mit der Astrologie

findet aber nicht vor dem 12.Jahrhundert statt, nicht bevor das

Abendland von Spanien und Süditalien her mit den Werken der gro-

ßen Meister Ptolemaus und Abu Ma‘sar wieder vertraut wurde. Für Männer wie Adelard von Bath, die in der Blütezeit der Übersetzungs-

tätigkeit in Spanien waren, sind »jene höheren und göttlichen Wesen [die Planeten] sowohl »principium« als »causae« der unteren Naturen«.’66 Diese vollständige Übernahme des astrologischen Glaubens

wird von Abaelard und Wilhelm von Conches kritisiert. Abaelards Kritik setzt bei dem aus Boethius’ Aristoteles-Kommentar stammenden Begriff des Zufälligen, des »contingens« an.167 Wer über die

contingentia futura, die auch der Natur unbekannt sind, durch Astrologie Gewißheit zu schaffen verspricht, der ist nicht als Astronom,

164 Paris, Bibi. Nat, MS lat. 17868 fol. 1ov. 16$ Paris, Bibi. Nat. MS. lat. 17868 fol. $v. 166 H. Willner, »Des Adelard von Bath Traktat >De eodem et diverso««, Beitrage zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters IV, I, Münster 1903, p. 32, 10: »Superiora quippe illa divinaque animalia inferiorum naturarum et principium et causae sunt.« 167 »Contingens autem secundum Aristotelicam sententiam est, quodeumque aut casus fert aut ex libero cuiuslibet arbitrio et propria voluntate venit aut facilitate naturae in utramque partem redire possibile est, ut fiat scilicet et non fiat.« Boethius, Commentarii in librum Aristotelis Περί έρμηνείας. 2. Auf!., III, 9, ed. C.Meiser, Leipzig 1880, p. 190, 1 ff.

272

Saturn in der literarischen Überlieferung

sondern als Anhänger des Teufels zu betrachten.168169 171 170 Und es ist nur die logische Konsequenz jener Unterscheidung, die Abaelard ausführlich begründet hat, wenn Hugo von St. Viktor in seinem Didascaleion

zwei Arten von Astrologie unterscheidet. Die eine, die natürliche, befaßt sich mit der Verfassung der irdischen Körper, die gemäß den himmlischen Körpern wechselt, wie etwa Gesundheit, Krankheit, das

gute und schlechte Wetter, Fruchtbarkeit und Dürre. Die andere Art von Astrologie aber befaßt sich mit den Zufälligkeiten der Zukunft

und mit demjenigen, was dem freien Willen unterliegt, und diese Astrologie ist abergläubisch.’65 In der Tendenz verwandt, in der Methode jedoch grundverschieden ist die Behandlung der Astrologie bei Wilhelm von Conches.'70 Er

unterscheidet drei Betrachtungsweisen der Himmelserscheinungen:

eine mythologische (»fabulosa«), die sich auf die Sternennamen und

die damit verknüpften Fabeln bezieht; eine astrologische, die die Bewegungen der Himmelskörper, wie sie sich dem Augenschein bieten,

zum Gegenstand hat; eine astronomische, die nicht die scheinbaren, sondern die wirklichen Himmelsvorgänge untersucht.17‘ Ohne es

ausdrücklich hervorzuheben, läßt Wilhelm im Verlauf seiner Darlegung erkennen, daß sich die drei Betrachtungsweisen nicht gegensei-

tig ausschließen, sondern, richtig verstanden, auf je verschiedene

Weise denselben Sachverhalt zum Ausdruck bringen. Saturn etwa, der ausführlicher als die anderen Sterne erörtert wird, ist vom astro-

168 Abaelard, Expositio in Hexaemeron, Opera, ed. V.Cousin, Paris 1849-1859, Bd. I, pp. 649 f. 169 Abaelard, loc. cit. 170 Der historische Kontext, in dem die Naturphilosophie des Wilhelm von Conches steht, wird deutlicher zutage treten, wenn sein Kommentar über Platons Timaios im Corpus Platonicum Medii Aevi verglichen wird. Die Handschriften, von denen eine aus der Bibliothek des Kardinals Bessarion stammt, sind verzeichnet in The Continuity of the Platonic Tradition, London 1959, p. 30 (neuere Ausgaben: München 1981; Millwood, N. Y., 1982), und in »The School of Chartres«, in Twelfth Century Europe and the Foundation of Modem Society, ed. M.Clagett, G.Post, R. Reynolds, Madison 1961, p. 11. Der Text ist jetzt zugänglich in der Ausgabe von E. Jeaunau, Paris 1965. 171 Philosophia II, 5 (Migne, P.L., Bd.CLXXII, coi. 59A-B); Dragmaticon ΙΠ (»Dialogus de substantiis physicis a Vuilhelmo Aneponymo«, Straßburg 1^7. PP· 70-7Ü·

»aturn in der Literatur des Mittelalters lomischen Standpunkt aus charakterisiert als der entfernteste Planet,

nie der längsten Umlaufzeit - »daher wird er in den Mythen als Greis

largestellt«.172 Das ihm von den Astrologen zugewiesene Attribut der iälte geht auf deren Beobachtungen zurück, denen zufolge die Sonne n einer bestimmten Konjunktion mit Saturn an Wärmekraft verliert.

\us der Kälte folgt die Eigenschaft der Schädlichkeit, die ihm beson-

lers bei rückläufigen Bewegungen zukommen soll; und diese Entleckung hat wiederum ihren mythischen Ausdruck im Bild des Si-

:heltragens gefunden.’73 Hier wie sonst ist es Wilhelms Bestreben, in iiner an die stoische Mythendeutung erinnernden Weise174 aus den Fabeln« wie aus den Lehren der Astrologen den physikalischen

Wahrheitskern herauszuschälen. m Zusammenhang mit der Erörterung des Saturn ergibt sich für Wilhelm eine Reihe von Fragen, deren Behandlung für seine Haltung

»egenüber der Astrologie besonders charakteristisch ist. In der Philo-

ophia wie auch in dem etwa zwanzig Jahre später verfaßten Dragma-

icon wird der Einwurf erhoben: »Wie ist es möglich, daß Sterne, die loch feuriger Natur sind, Kälte erzeugen können?« In dem früheren Werk wird an dieser Stelle eine physikalische ,Theone angeführt, mit

ier man vor ihm diese Schwierigkeit zu beheben versucht hatte. Die Matur des Feuers umfasse zwei Qualitäten, die des Leuchtens und die

les Wärmens, von denen die zweite nur mittels eines Mediums, näm-

ich der »Dichte und Feuchtigkeit« sich verwirklichen könne. Als

72 »Unde in fabulis senex fingitur«, Philosophia II, 17 (Migne, P. L., Bd. CLXXII, coi. 62 B, verbessert aufgrund der Handschrift in Oxford, Bodleiana, MS Bodley 679); Dragmaticon IV (Straßburger Ausgabe von 1567, P- 99)· 73 »Haec eadem stella ex frigiditate dicitur nociva, et maxime quando est retrograda: unde in fabulis dicitur falcem deferre«, Philosophia II, 17 (Migne, P.L., Bd.CLXXII, C0I.63B); cf. Dragmaticon IV (ed. cit., p. 102). In L.Thorndike, A History of Magie and Experimental Science, Bd. II, London 192), p. 57, wird der Sinn des Satzes »Dicitur Jupiter patrem Saturnum expulisse, quia Saturno vicinior factus naturalem nocivitatem ei aufert« versehent * lieh ins Gegenteil verkehrt. Über die besondere Rolle, die diese astrologische Interpretation des Satum-Jupiter-Mythos in der Renaissance gespielt hat, siehe unten, Seite 390 ff., 460 ff. (Text). 74 Cf. insbes. Servius, Comment. in Vergil, Georgica I, 336 (Commentarii in Vergilii carmina, Bd. III, ed. G. Thilo und H. Hagen, Leipzig 1878, p. 201), dessen Lehre Wilhelm in charakteristischer Weise ändert.

274

Saturn in der literarischen Überlieferung

Beweis wird vorgetragen: die Sonne wärmt in den Tälern mehr als auf den Bergeshöhen, wo trotz größerer Sonnennähe der Schnee nicht

schrtülzt. Wilhelm macht sich diese Erklärung zunächst nicht zu ei■

gen, sondern sucht die Aporie mit Hilfe einer begrifflichen UnterScheidung zwischen verschiedenen Bedeutungen dieser Aussage zu

beheben. Saturn wird kalt genannt, nicht weil er an sich kalt ist, sondern weil er Kälte bewirkt. Die weitere Frage, wie es möglich sei,

daß ein heißer, oder jedenfalls nicht kalter Stern Kalte erzeuge, wird

von Wilhelm in der Philosophia noch, als die Grenzen seines Wissens übersteigend, unbeantwortet gelassen.175176 177 In seinem späteren Werk hingegen versucht er, dieses Problem mit Hilfe jener in der Philoso-

phia nur erwähnten physikalischen Theorie von den beiden Qualitäten des Feuers zu lösen. Aber auch hier erlaubt ihm sein kritischer Sinn nicht, in dieser Erklärung mehr als eine mögliche Hypothese zu

erblicken. So bringt er noch eine andere mögliche Lösung vor, die

ebenfalls von der begrifflichen Unterscheidung zwischen den Bedeutungen dieser Aussage ausgeht. Saturn hat das Attribut kalt, nicht

weil er seiner Natur nach kalt ist oder weil er Kälte bewirkt, sondern weil er Kälte bedeutet.'76 Hiermit ist, wenn auch zunächst nur versuchsweise, ein weiteres Mo-

ment in die mittelalterliche Erörterung der Astrologie eingeführt oder vielmehr wiederaufgenommen: die Sterne sind, wie bei den Neupla-

tonikern, nicht wirkende Kräfte, sondern Zeichen. Diese Auffassung der Planeten als Zeichen kommt sehr prägnant zum

Ausdruck in einem neu entdeckten Kommentar zu Macrobius’ Auslegung von Ciceros Somnium Scipionis,'77 der auf Wilhelm von Con-

ches zurückgeht. Unter Berufung auf Plotin erklärt der Verfasser, daß

die Planeten den Menschen nicht Gutes oder Schlechtes bringen, son­

175 Philosophia II, 17 (Migne, P. L., Bd.CLXXII, col. 63 A). 176 Dragmaticon IV (Straßburger Ausgabe, pp. 99-102). »Saturnus igitur, etsi non sit frigidus, frigus tamen generat. Vel si Saturnum nec frigidum esse nec frigus facere contendis; dic, quod frigus non facit sed significat. Unde propter illud quod significat, frigidus dicitur« (ed. cit., pp. 101-102, verbessert aufgründ der Handschrift in Oxford, Bodleina, Digby MS I, fol. 25*). 177 Dieser Kommentar, der in einer Reihe von Handschriften des !2. bis 14. Jahrhunderts erscheint (z. B. Kopenhagen, Gl. Kgl. S. 1910; Bamberg J IV 21 = dass. 40; Bem 266) wird Gegenstand einer gesonderten Abhandlung sein (R.K.).

itum in der Literatur des Mittelalters

*75

ern anzeigen, daß ihnen Gutes oder Schlechtes zustoßen werde.178 eine eigentliche Absicht ist es, zwischen der Einflußsphäre der

laneten und der Sphäre der menschlichen Willensfreiheit zu unter:beiden. Er wendet sich gegen Ptolemäus, der die Abhängigkeit eini-

er menschlicher Handlungen von den Gestirnen anerkannt hatte,

nd betont mit Nachdruck, daß die Veranlagung des Menschen unter em Einfluß der Gestirne stehe, nicht aber seine einzelnen Handlun-

en. Denn es bleibt seinem freien Willen überlassen, diese Veranlaung zum Guten oder zum Bösen zu entwickeln.‘78 7980 *Der Standpunkt

inclinant astra, non necessitant« kommt hier bereits in voller Schärfe um Ausdruck. Nur über den Bereich des Physischen haben die

terne Macht, die Taten der Menschen sind ihrer Gewalt entzoen.190 >ie metaphysische Begründung für diese Scheidung der Einflußsphä· in gibt Wilhelm von Conches, indem er sich Platons Erklärung zu

igen macht, nach der die Bildung des Körpers den von Gott geschafinen Geistern und Sternen überlassen bleibe, die Seele hingegen eine nmittelbare * Schöpfung« Gottes ist.18' )arnit ist eine neue theologische Grenzlinie gezogen. Ihrer Tendenz

78 MS Bern 226 fol. 11*: »... ut appareat, qualis est ratio Plotini, ponit eam; quae talis est, quod planetae non conferunt hominibus prospera vel adversa, sed significant prospera vel adversa hominibus eventura. Unde, quia utraque stella, Solis scilicet et Lunae, signum est boni eventus, dicitur salutaris; stellae vero Saturni et Marris terribiles dicuntur, ideo quia Soli coniunctae in aliquo signo sunt signum mali eventus.« 79 Ibid.: »Sic Ptolomaeus et eius sequaces volebant actus hominum provenire ex effectu planetarum, non tamen omnes, quia actuum alii naturales, alii voluntarii, alii casuales ... Volumus tamen actus hominum non provenire ex effectu planetarum, sed aptitudines actuum et humanorum officiorum ... Nam minime volumus quod planetae conferant hominibus scientiam, divitias, et huiusmodi, sed aptitudines ipsas.« 80 Ibid.: »Namque planetae in terris et in aquis vi vel potestate operantur, sed in actibus hominum neque vi neque potestate aliquid operantur.« h ·Unde Plato... dicit Deum creatorem stellis et spiritibus a se creatis curam formandi hominis iniecisse, ipsum vero animam fecisse«; Philosophia IV, 32 (Migne, P. L., Bd.CLXXII, C0I.98C, verbessert aufgrund MS Bodley 679 und der Basler Ausgabe von 1531. »Philosophicarum et astronomicarum institutionum Guilielmi Hirsaugiensis olim abbatis libri tres«, fol. a. 3*).

Saturn in der literarischen Überlieferung

276

nach war sie gewiß nicht der Astrologie feindlich gesinnt,'81 das Re-

sultat aber bedeutet einen entscheidenden Sieg der neuen Lehre.

So viele naturwissenschaftliche und astrologische Erkenntnisse dem

Abendland in der Zeit zwischen Abaelard und der Hochscholastik

zuflossen, so wenig hat sich die Haltung der Theologie zum astrologisehen Fatalismus geändert. Natürlich werden die Angaben differen-

zierter als in der Frühzeit; den Theologen des 13. Jahrhunderts steht ein ganz anderes Arsenal für die Erörterung des Pro und Contra zur Verfügung als ihren Vorgängern. 'Thomas von Aquin zählt zum Beispiel als Resultat möglichen Scerneneinflusses auf, daß der eine Arzt

begabter sei als der andere, ein Bauer geeigneter zum Pflanzen als ein anderer oder daß ein Krieger besonders befähigt sei zum Kämpfen

(wenn auch die Vollendung dieser Fähigkeiten Gottes Gnade zu verdanken sei).185 Aber obgleich Thomas von Aquin selbst so weit gehen

zu können glaubt, daß er eine indirekte Beeinflussung des Intellekts durch die Sterne für möglich halt,182 184 kommt er wie seine Nachfolger 183

doch letzten Endes zu dem Ergebnis, daß der Wille des Menschen den Sternen nicht unterworfen ist. »Daher sagen sogar selbst die Astrologen«, bemerkt Thomas, »daß der weise Mensch den Sternen gebietet,

182 Diese Tendenz wird besonders deutlich, wenn Wilhelms Werke mit De mundi constitutione verglichen werden. Diese unter Bedas Werken gedruckte, in Wahrheit von einem unmittelbaren Vorgänger Wilhelms verfaßte Kosmologie (Migne, P. L., Bd. XC, col. 881 ff., fälschlich dem 9. Jahrhundert zugewiesen von P. Duhem, Le Systeme du monde, Bd. 111, Paris 1915, p. 81, und fälschlich für einen astrologischen Auszug aus Martianus Capella gehalten von L.Thomdike und P. Kibre, A Catalogue of Incipits..Cambridge, Mass., 1937, col. 421) macht sich die astrologische Lehre ohne Vorbehalte zu eigen. 183 Die Hauptstellen über Sterneneinfluß sind: Summa Theo!. I, qu. 115, art. 3 und 4: Summa contra gentiles III, 82: >In quibus homo potest licite uti iudicio astrorum« (Opusculum XVII, ed. P. Mandonnet, Paris 1927, III, pp. 142 i.). Cf. P. Choisnard, S. Thomas d’Aquin et Tinfluence des astres, Paris 1926; G.Gusnelli, »S.T. d’A. e l'influsso genetliaco delle stelle«, Civiltd Cattolica IV (1927), pp. 303-316; W. Schöllgen, »Der anthropologische Sinn der astrologischen Schicksalsdeutung... im Weltbild des Thomas von Aquino«, Philosophisches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft XLIX (1936), pp. 124137‫־‬. Die hier zitierten Stellen stammen aus Buch 111, § 92 der Summa contra gentiles.

184 Summa contra gentiles III, 84.

Saturn in der Literatur des Mittelalters

2-77

soweit er nämlich seine Leidenschaften beherrscht«; und er verlangt

von jedem Christen, es als Gewißheit zu betrachten, daß, was von

dem Willen des Menschen abhängt, der Notwendigkeit der Sterne nicht unterworfen ist.105 Wir müssen nun noch einmal zur Entwicklung der Naturanschauung

im 12. Jahrhundert zurückkehren und uns zur Vervollständigung unseres Bildes einer anderen Gruppe von Denkern zuwenden: den Be-

wunderem der Astrologie wie Adelard von Bath. Seine Lehre, der zu-

folge jene oberen und göttlichen Wesen, nämlich die Sterne, sowohl das Prinzip als auch die Ursache der unteren Naturen sind, haben wir

bereits erwähnt. Allein der enthusiastische Ton, in dem Adelard von

den Gestirnen spricht, bezeugt, daß er und seine Gesinnungsgenossen zu dem Glauben an die Macht von Sternendämonen wieder Zugang

gefunden haben. Adelards englischer Nachfolger, Daniel von Morley, ist fast völlig dem Fatalismus erlegen. Diejenigen, die die Macht und

Wirksamkeit der himmlischen Bewegungen leugnen, sind ihm unver-

schämte Toren. Der Mensch kann zukünftiges Mißgeschick voraussehen, kann ihm aber trotzdem nicht ganz entfliehen. Er wird seine Leiden jedoch leichter ertragen, wenn er sie im voraus kennt.185 186 Bei Daniel von Morley und anderen werden die Reste der lateinischen Tradition mit der neuen arabischen Lehre verbunden,187 und so be­

185 Summa Theol. I, qu. 115, an. 4; Opusculum XVII (zitien oben, Anm. 183). Der u.a. auch 1m Roman de la Rose zitierte Satz »Sapiens homo dominatur astris« geht letztlich wahrscheinlich auf eine Pseudo-Ptolemäus-Stelle zurück (cf. Pseudo-Ptolemäus, Centiloquium 8: »anima sapiens adiuvat opus stellarum«), nach der der kundige Astrologe erkennen kann, ob die astralen Einwirkungen menschliche Gegenaktionen zulassen oder nicht (BBG, Sternglaube, p. 169). Für Thomas ist jedoch der »homo sapiens« nicht mehr der Astrologe, sondern der mit freiem Willen begabte Christ, der daher, was seine Seele betrifft, jedem Gestirneinfluß Trotz bieten kann. Bei Gower (siehe unten, Seite 291, Anm. 207) wird er dann zum demütig Frommen, der sich durch Beten zu retten sucht, und bei Renaissanceautoren wie Pico della Mirandola zu dem, der kraft seiner eingeborenen Würde, unabhängig von seiner religiösen Haltung, über der Macht der Sterne steht. 186 Daniel von Morley, Liber de naturis inferiorum et superiorum, ed. K. Sudhoff (Archiv für die Geschichte der Naturwissenschaft und der Technik, VIII), Leipzig 1917, p. 34. Über den Ptolemäischen Hintergrund cf. BBG, Sternglaube, p. 168. 187 Adelard von Bath war zweifellos einer der ersten, die die neuen Materialien

278

Saturn in der literarischen Überlieferung

gegnen wir bei ihm der bekannten Gabenreihe: von Saturn erhält der Mensch die Langsamkeit, von Jupiter Mäßigkeit, von Mars Zorn usw.188 Aber zugleich beschreibt er, »nach den Arabern«, welche

Natur der unter Saturn Geborene erhält. Der Natur des Gottes ent-

sprechend, ist sie dunkel, rauh und schwer, und dann erhalten wir wieder die bekannte Schilderung der Saturnkinder, die melancholisch

und geizig sind, anderes im Munde führen, als sie im Herzen denken,

einsam sind, das Erbe von Vätern und Vorvätern erwerben, schweigsam und stumpf sind und die, wenn sie etwas wissen, es nicht leicht vergessen usw/89

Im Hauptwerk eines der bedeutendsten Schriftsteller der Generation vor Daniel, in Bernardus Silvestris" Schrift über Makrokosmos und Mikrokosmos, tritt die bildhafte Anschauung der Planetengottheiten

noch stärker hervor. Er geht in seinem Glauben an die Macht der Sterne so weit, daß er nicht nur die Regierung des Papstes Eugenius, sondern sogar das Erscheinen Christi in die Reihe der durch die Sterne angezeigten Ereignisse aufnimmt.190 Bernardus’ Schilderung

des Saturn ist vielleicht die lebendigste von allen. Saturn erscheint hier

als der böse Alte, der Grausame und Verächtliche, der beharrlich neben der Kreißenden wacht, um das Neugeborene mitleidlos zu

verschlingen. Wie wirksam die Vorstellung von dem Dämon ist, zeigt

sich darin, daß der Dichter ihr eine neue Form geben kann, ohne

dabei von der Tradition abzuweichen. Saturn ist hier der Schnitter, dessen scharfe Sichel alles vernichtet, was schön ist und Blüten trägt:

der arabischen Astrologie kannten; er selbst bearbeitete zwei astrologische Traktate arabischer Autoren (cf. C. H. Haskins, Studies in the Hiitory of Medieval Science, 2. Aufl., Cambridge 1927, pp. 22 und )0). In seinen eigenen Werken ließen sich jedoch bisher keine Spuren der Verwertung arabischer astrologischer Lehren nachweisen. Abu Ma'sar wurde seit etwa 1140 in Südfrankreich benutzt (z. B. Raymond von Marseille, De curat planetarum, Corpus Christi College, Oxford, Cod. 243, fol. 59 *); eine intensive Verwertung dieses Autors und anderer großer Astrologen wie Messahalä findet sich in dem Hauptwerk des Abu Ma‘sar-Übersetzers Hermannus Dalmata, De essentiis (über Saturn cf. Corpus Christi College, Oxford, Codex 243, fol. ioj1). 188 Daniel von Morley, op. cit., p. 38. 189 Ibid. 190 Bernardus Silvestris, De univ. mundi, ed. Barach und Wrobel, p. 16.

Saturn in der Literatur des Mittelalters

*79

Rosen und Lilien laßt er nicht blühen und kann Gebären nicht ertragen. Nur durch eines ist er ehrwürdig, daß er der Sohn der Ewigkeit

und der Vater der Zeit ist.‘9'

Gilson hat in einem klaren und lehrreichen Aufsatz zu beweisen versucht, daß die Kosmologie des Bernardus Silvestris im Einklang mit

der Tradition stehe.12‫ ״‬Sicherlich war Bernardus kein eigenwilliger

Denker; das Originelle seiner Darstellung liegt weniger in ihrem Inhalt als in ihrem Ton. Die poetische und religiöse Phantasie ist kraft-

voll, die Saturn als den Schnitter Tod ansieht und den antiquierten Dämon in eine furchterregende mittelalterliche Gestalt verwandelt.

Das Werk des Bernardus bewahrte daher lange Zeit die Kraft unmittelbarer Anregung. Gegen Ende des Jahrhunderts zeichnet Alanus ab

Insulis im Anschluß an Bernardus ein Bild der Saturnsphäre. Es ist

zwar im wesentlichen von den negativen Charakterisierungen der

astrologischen Texte bestimmt (Kälte, Dürre, Alter, Geiz, Dunkelheit, Schweigen, Schmerz, Tränen, Unrecht, Schrecken und Trauer),

wird aber bemerkenswert und eindrucksvoll durch die Antithetik der sprachlichen Formulierung, wie sie in der Schilderung der anderen Planetensphären nicht begegnet. Bewußt oder unbewußt kommen in

ihr die alten in der Saturnvorstellung enthaltenen Gegensätze zu poetischem Ausdruck: Ulterius progressa suos Prudentia gressus dirigit ad superos, superans Iovis atria cursu, Saturnique domos tractu maiore iacentes intrat et algores hiemis brumaeque pruinas horret et ignavum frigus miratur in aestu. Illic fervet hiems, aestas algescit et aestus friget, delirat splendor dum flamma tepescit.191 192

191 Bernardus Silvestris, De univ. mundi, ed. cit., pp. 41 ff. 192 E. Gilson, La cosmologie de Bernardus Silvestris (Archives d’histoire doctrinale et litteraire du moyen äge, Bd. III, Paris 1928), pp. 524‫־‬. In dem Bestreben, Bernhards Werk als im wesentlichen traditionell christlich darzustellen, verkennt Gilson dessen Besonderheit ebenso wie die vorhergehenden Forscher, die den unchrisclichen Charakter der Schrift De mundi universitate betonten. Die Eigenart dieses Werks besteht vielmehr (wie eine gründliche Analyse zeigt) in der durchgängigen Verwertung hermetischer Lehren in Verbindung mit denen des Plato-Chalcidius und in dem Versuch, diese in das Gefüge der christlichen Kosmologie einzugliedern.

280

Satum in der literarischen Überlieferung

Hic tenebrae lucent, hic lux tenebrescit, et illic nox cum luce viget, et lux cum nocte diescit. Illic Saturnus spatium percurrit avaro motu, progessuque gravi, longaque diaeta. Hic algore suo praedatur gaudia veris, furaturque decus pratis, et sidera florum, algescitque calens, frigens fervescit, inundat aridus, obscurus lucet, iuvenisque senescit. Nec tamen a cantu sonus eius degener errat, sed comitum voces vox praevenit huius adulto concentu, quem non cantus obtusio reddit insipidum, cui dat vocis dulcedo saporem. Hic dolor et gemitus, lacrimae, discordia, terror, tristities, pallor, planctus, iniuria regnant.193 So wird im Laufe des 12. Jahrhunderts der astrologische Glaube in bestimmte Systeme der scholastischen Naturphilosophie eingearbei-

tet und kann von nun an außerhalb wie innerhalb der eigentlich philosophischen Sphäre weiterwirken. Selbst bei den vornehmlich

enzyklopädischen Autoren finden wir eine erweiterte Einbeziehung

193 »Während sie ihren Weg fortsetzt, lenkt die Besonnenheit / ihren Schritt zu den Göttern des Himmels, läßt in ihrem Lauf die Wohnstätten des Jupiter hinter sich, / tritt in Saturns Häuser ein, die einen größeren Teil des Himmels einnehmen / und erschauert vor dem winterlichen Frost und dem Schnee der Wintersonnenwende / und wundert sich über die trag machende Kälte in der Hitze. / Dort wütet der Winter, der Sommer erstarrt und die Hitze / erkaltet, der Glanz schlägt aus seiner Art, während die Flamme lau wird. / Hier leuchtet die Finsternis, hier verfinstert sich das Licht, und dort / waltet die Nacht zugleich mit dem Licht, und das Licht bricht zugleich mit der Nacht an. / Don durchläuft Saturn den Raum mit sparsamer / Bewegung, in schwerfälligem und langwierigem Fortschreiten. / Hier raubt er mit seinem Frost die Freuden des Frühlings / und stiehlt den Schmuck der Wiesen und die Zierde der Blumen / und friert, während er erglüht, und erglüht, während er erkaltet, und obwohl er trocken ist, / fließt er über, und obwohl er dunkel ist, leuchtet er, und obwohl er jung ist, ist er greisenhaft. / Und doch irrt sein Ton nicht vom Gesang ab, / sondern seine Stimme übertrifft die Stimmen der Gefährten an gereiftem / Klang, den die Schwächung durch den Gesang / nicht farblos werden läßt, welchem er durch die Lieblichkeit seiner Stimme vielmehr Lebendigkeit verleiht. / Hier herrschen Schmerz und Betrübnis, Tranen, Zwietracht, Schrecken, / Trauer, Angst, Wehklagen und Unrecht«, Alanus ab Insulis, Änticlaudianus IV, 8 (Migne, P. L., Bd. CCX, col. 528).

Saturn in der Literatur des Mittelalters

281

eigentlich astrologischen Materials. Für Schriftsteller des 13. Jahrhunderts, wie etwa Arnoldus Saxo, Vincenz von Beauvais oder Bartholomaeus Anglicus, ist es nicht mehr bedenklich, unter Berufung auf Ptolemäus und ohne weitere moralische oder kosmologische Umdeu-

tungsversuche, die Ansicht zu vertreten, daß Saturn das Leben, die Architektur, die Lehre zugehören oder daß er Kummer, Trauer, Niedrigkeit und Übel bedeute.‘94 Ebenso hält ihn Vincenz von Beauvais für kalt und trocken, manchmal auch feucht und erdig, melan-

cholisch, bleiern, dunkel, für einen Liebhaber schwarzer Gewänder,

zäh, fromm, einen Landmann.194 195 Bei Bartholomaeus Anglicus finden

wir Saturn in folgender Weise gekennzeichnet:

Saturn ist nach »saturare«, sättigen, benannt. Seine Frau Ops ist laut Isidor und Martian nach »opulentia« benannt, dem Reichtum, den sie den Sterblichen verleiht. Von ihm erzählen die Mythen, daß man ihn so schwermütig aussehend darstellt, weil man sich vorstellt, daß er von seinem Sohn kastriert wurde. Und aus seinen ins Meer geschleuderten Genitalien sei dann Venus hervorgegangen. Ferner ist laut Misael Saturn ein Planet, der mißgünstig, kalt und trocken ist, ein Planet der Nacht und der Schwere, weshalb ihn sich auch die Mythen als Greis vorstellen. Seine Umlaufbahn ist sehr weit von der Erde entfernt und dennoch für diese äußerst schädlich... Auch ist er von der Farbe her blaß oder vielmehr so fahl wie Blei, weil er zwei todbringende Eigenschäften hat, nämlich Kälte und Trockenheit. Und eine unter seiner Herrschäft entbundene und empfangene Leibesfrucht muß deshalb entweder zugrunde gehen, oder sie wird in der Folge zumindest sehr schlechte Eigenschäften aufweisen. Denn laut des Ptolemäus Buch über die Urteile der GeStirne, ist es das Schicksal jenes Menschen, dunkel, häßlich, ungerecht, träge, schwerfällig, traurig, selten heiter oder lachend zu sein, weshalb derselbe Ptolemäus sagt: »Diejenigen, die dem Einfluß Saturns unterworfen sind, sind von gräulicher Haut- und fahler Haarfarbe, ihr ganzer Körper ist grob und ungepflegt, sie schrecken nicht vor häßlicher und stinkender Kleidung zu­

194 Die Enzyklopädie des Arnoldus Saxo, 1, »De coelo et mundo« (ed. E. Stange, Beilage zum Jahresbericht des Kgl. Gymnasiums zu Erfurt, 1904-1905, p. 18): »In libro de motibus planetarum Ptolomeus... Sub eo [sc. Saturno] continetur vita, edificium, doctrina et locus. Frigidus est et siccus, et significat merorem, vilitatem, malum...« 195 Vincentius Bellovacensis, Speculum naturae 15, 44 ff. (Bibi, mundi, I, Douai 1624, coi. 1119).

282

Saturn in der literarischen Überlieferung

rück, lieben stinkende und unreine Tiere, Saures und Verstopfendes, weil in ihrer Komplexion der »humor melancolicus« überwiegt.«’’6 Texte wie diese, vor allem der des Bartholomaeus Anglicus, lassen auf

den ersten Blick erkennen, daß hier der Einstrom eines den älteren

Schriftstellern noch fremden, uns aber bekannten Quellenmaterials stattgefunden und einen grundsätzlichen Wandel der Betrachtungsweise herbeigeführt hat. Die Schilderungen sind durchgängig sehr

eingehend, erstrecken sich auf Lebensschicksal, Lebensdauer, Krankheit, Gesundheit, Körperbau und Charakter; sie verbinden Saturn

grundsätzlich mit der »melancholia complexio« - wie andererseits von Jupiter gesagt wird: »praeest sanguini et sanguineae complexioni«

und von Mars »disponit ad iram et animositatem et alias colericas passiones« - und sie sind ganz überwiegend negativ. In der Tat finden wir, daß als Autoritäten neben Ptolemäus, Isidor und Martianus Ca-

pella auch »Misael« zitiert wird - und »Misael« ist kein anderer als der

berühmte Astrologe Messahalä. Mit anderen Worten, wir stehen hier vor einer vollendeten Rezeption der arabischen Texte und einer auf

ihnen aufgebauten abendländischen Berufsastrologie, deren handfeste Charakteristiken einen weitaus größeren Einfluß auf die allgemeine

Vorstellung vom Wesen der Gestirne ausüben sollten als die verklä-

renden Deutungen der Mystiker und Moraltheologen, die moralisie-

196 »Saturnus est a saturando dictus. Cuius uxor Ops est dicta ab opulentia, quam tribuit mortalibus, ut dicunt Isidorus et Martianus. De quo dicunt fabulae quod ideo depingitur maestissimus, quia a filio suo fingitur castratus fuisse, cuius virilia in mare protecta Venerem creaverunt. Est autem seeundum Misael Saturnus planeta malivolus, frigidus et siccus, nocturnus et ponderosus, et ideo in fabulis senex depingitur. Iste circulus a terra est remotissimus, et tamen terrae est maxime nocivus... In colore etiam pallidus aut lividus sicut plumbum, quia duas habet qualitates mortiferas, scilicet frigiditatem et siccitatem. Et ideo foetus sub ipsius dominio natus et conceptus vel moritur vel pessimas consequitur qualitates. Nam secundum Ptolomaeum in libro de iudiciis astrorum dat hominem esse fuscum, turpem, iniqua operantem, pigrum, gravem, tristem, raro hilarem seu ridentem. Unde dicit idem Ptolomaeus: »Subiecti Saturno... glauci sunt coloris et lividi in capillis, et in toto corpore asperi et inculti, turpia et fetida non abhorrent vestimenta, animalia diligunt fetida et immunda, res diligunt acidas et stipticas, quia in eorum complexione humor melancolicus dominaturChaldäer
ct). Uber die phönikischen Münzen aus Byblos cf. F. Imhoof-Blumer, »Monnaics grecques«, Verhandelingen d.k. Akademie van Wetenschapen Amsterdam, Afd. Letterkunde XIV (1883), p. 442. 3 Siehe den Artikel »Kronos« in W. H. Roscher, Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie, Leipzig 18901897‫־‬, II, col. 1549ff., von Maximilian Mayer; und M.Pohlenz* Artikel in Pauly-Wissowa XI, 1922, col. 2014 ff. Die Sichel wurde schon von den alten Autoren verschieden gedeu-

294

Saturn in der Bildüberlieferung

Motiv, das Saturn nur mit Asklepios gemeinsam hat und das seinem

Bild von Anfang an etwas Düsteres gibt. Der erste Typus zeigt den Gott in allgemein hieratischer Haltung, entweder als Büste, gewöhn-

lieh über seinen Tierkreiszeichen (wie auf Münzen der Antoninen),4 oder aber als stehende Ganzfigur bei einer im übrigen ganz ähnlichen Auffassung. Der zweite Typus zeigt ihn in der Haltung eines sitzen-

den Denkers, der sein Haupt auf die Hand stützt. In exemplarischer Gestalt tritt uns der erste Typus in einem ein-

drucksvollen Wandbild der Casa dei Dioscuri in Pompeji entgegen (Tafel 14).5 Die Augen des Gottes sind furchterregend. Der Mantel verdeckt alles bis auf das Gesicht, die Füße und die eine Hand, die

seitlich etwas unbeholfen die Sichel hält. Diese Unbeholfenheit ist zweifellos gewollt, denn das Fresko ist das Werk eines großen Künstlers. Das Werkzeug, das der Gott hält, ist kein alltägliches, sondern es

ist das Machtsymbol dieses strengen Gottes, mit dem er den Gläubi-

gen zu bedrohen scheint. Das außergewöhnlich Starre und zugleich Dämonische des Freskos darf also als der Ausdruck der individuellen Anschauung eines Künstlers aus der Blütezeit der pompejanischen

Malerei angesehen werden. Saturn war für ihn der Furcht gebietende Gott der Erde. Der zweite Typus ist, wie gesagt, dadurch charakterisiert, daß der

Gott sitzend, mit aufgestütztem Arm dargestellt ist, ein Zug, der für das Wesen des Gottes so charakteristisch schien, daß er selbst in

solchen Darstellungen anklingt, wo er fast unangebracht ist. So hebt zum Beispiel Saturn die Linke ans Haupt in einer Darstellung der Szene, in der ihm der Stein überbracht wird, den er statt des Kindes

verschlingen soll.6 Neben einer kleinen Bronze im Museo Grego-

tet. Nach den einen verweist sie auf seine Funktion als Erdgott, nach den anderen auf den Mythos der Verstümmelung des Uranos durch Kronos. 4 Über diesen Typus und seine orientalischen Derivate cf. F. Saxl in Der Islam III (1912), p. 163. Eine analoge Darstellung der Venus über ihrem TierkreisZeichen Stier auf einer Tessera aus Palmyra veröffentlichte Μ. I. Rostovtzeff in The Journal of Roman Studies XXII, p. 113, Tafel XXVI,3 (ohne Deutung der Darstellung). 5 Jetzt in Neapel, Museo Nazionale. P. Herrmann, Denkmäler der Malerei des Altertums, München 1904-1931, Tafel 122, Text p. 168. 6 Relief der Ara Capitolina. G. W. Helbig, Führer I, 3. Aufl., p. 485. Abgebildet in S. Reinach, Repertoire des reliefs grecs et romains III, Paris 1912, 201.

Das antike Satumbild in der mittelalterlichen Kunst

‫?ג‬5

riano7 und einigen Fragmenten monumentaler Marmorstatuen ist das wichtigste Denkmal dieses Typus das Grabmal des Cornutus im Vati-

kan (Tafel 12). Wie auf anderen Grabmälern Attis’, erscheint hier

Saturn traurig sinnend. Die Rechte hält die Sichel nicht aufrecht, wie auf dem Fresko in Pompeji, sondern läßt sie müde auf dem Knie

ruhen. Der Kopf ist zur Seite geneigt und auf den Arm gestützt. Für Cornutus, der diese Darstellung auf sein und seiner Kinder Grab

setzen ließ, war Saturn ein Sinnbild der Schwermut der Todesruhe. So

hat die antike Kunst für die beiden Seiten des Saturnischen Wesens

einen Ausdruck gefunden: für den Furcht erregenden und Segen spendenden Erdgott und für den vernichtenden, aber zugleich Frie-

den schenkenden Herrscher der Unterwelt. In der frühmittelalterlichen Kunst des Abendlandes verschwindet letzterer Typus; der Den-

kertypus bleibt in der Kunst der christlichen Epoche zunächst den Evangelisten, Aposteln und Propheten vorbehalten. Neben der Büstenform, die für die in den Arathandschriften übliche Zusammen-

Stellung der fünf Planeten Saturn, Jupiter, Mars, Merkur und Venus typisch wird,8 lebt das feierliche, aber allgemeine Schema, wie wir es

von Pompeji her kennen, fort. In einer karolingischen PlanetendarStellung (Tafel 1 j)9 finden wir eine genaue Wiedergabe des Saturn als

stehende Ganzfigur mit der Sichel und mit dem über den Kopf gezogenen Mantel. Wir können nachweisen, wie dieser Typus überliefert

wurde, denn schon antike Handschriften hatten die monumentale Bildform zur Buchillustration verwendet. Das Saturnbild in dem Ka-

lender von 354 n. Chr. (Tafel 9) zeigt den Gott, wie in Pompeji, in der

Schritthaltung;10 der Mantel läßt einen Teil des Oberkörpers sehen, die Rechte halt die Waffe. Der Illustrator der karolingischen Hand-

7 Abgebildet in W. H. Roscher, op. cit., II, col. 1562. 8 Das griechische Vorbild ist in einer späten Kopie in Vat. graec. 1087, fol. )01* erhalten; über die Darstellung in lateinischen Handschriften cf. Georg Thiele, Antike Himmelsbilder, Berlin 1898, pp. 130 ff. 9 Leiden, Universitätsbibliothek, Cod. Voss. lat. q. 79. 10 J.Strzygowski, »Die Calenderbilder des Chronographen vom Jahre 354«, Jahrbuch des kaiserlich deutschen archäologischen Instituts, Ergänzungsheft l, Berlin 1888, Tafel X. Neueren Datums (jedoch nicht überzeugend, was die Ausschaltung einer karolingischen Zwischenstufe zwischen dem spätantiken Original und den erhaltenen Renaissancekopien betrifft) C. Nordenfalk, Der Kalender vom Jahre 354 und die lateinische Buchmalerei des ^.Jahrhunderts

296

Saturn in der Bildüberlieferung

schrift muß ein spätantikes Vorbild vor Augen gehabt haben, das mehr Ähnlichkeit mit dem antiken Fresko hatte als das Bild in dem Kalender. Daß Saturn den Arm mit der Waffe von sich streckt, ist eine Abweichung, die das karolingische Bild mit dem Kalender ge-

meinsam hat, doch wie auf dem antiken Fresko wendet er den Kopf zur Seite, als blickte er den Gegner an, den die Waffe bedroht.11

Auch die Illustrationen zur Enzyklopädie des Hrabanus Maurus (Ta-

fei 10) beruhen noch im wesentlichen auf der antiken Bildtradition.11 Hier erscheint Saturn in ganz unmittelalterlicher Gestalt, halbnackt

und in antikischem Gewand, und auch die Schrittstellung geht auf ein antikes Vorbild zurück. Überraschend und neu ist dagegen, daß der

Gott nicht die Sichel hält, sondern eine Sense - ein Umstand, der auf

die Interpretation eines Kopisten aus dem 11. Jahrhundert zurückgeht.15 In der byzantinischen Kunst begegnen - außer in den bereits erwähn-

ten Planetenbildern -‘4 Darstellungen des Saturn nur in den Illustrationen zu den Homilien des hi. Gregor von Nazianz.

Die älteste Darstellung des Saturn befindet sich in einer Mailänder Handschrift.1’ Sie illustriert die erste Homilie Contra Julianum und

11

12

13 14 1$

(Göteborgs kungl. Vetenskaps- och Vitterhets-Samhälles Handlingar, j.Földjen, Ser.A, Bd.V, Nr. 2, 1936, p. 2j). Zu dem Germanicus Codex, Leiden, Voss. lat. q.79, und der Kopie in Boulogne, Bibi. Municip., MS 188, siche G.Thiele, Antike Himmelsbilder, pp. 138 ff. Einen verwandten Typus benutzt der Miniator des Vat. Reg. lat. 123, abgebildet bei Saxl, Verzeichnis, I, Tafel 5, Abb. 11. Das Bild in Reg. lat. 123, das Saturn in mittelalterlicher Tracht mit bedecktem Haupt und einer langen Sense zeigt, geht wahrscheinlich in erster Linie auf Beschreibungen und nicht auf Bildtradition zurück. Doch scheint uns nicht ausgeschlossen, daß selbst hinter dieser Darstellung noch vage Erinnerungen an antike Vorbilder stecken können. Miniature sacre e profane dell’anno 1023 ..., ed. A. Μ. Amelli, Montecassino 1896, Tafel CVIII; cf. Hrabanus Maurus, De universo, lib.XV: »Falcem tenet (inquiunt), propter agriculturam significandam« (Mignc, P. L., Bd.CXl, coi. 428). Cf. E. Panofsky und F. Saxi in Metropolitan Museum Studies IV,2 (1933), p. 230, Anm. 3. Cod. Vat. graec. 1087. Mailand, Biblioteca Ambrosiana, Cod. E. 49/30 inf., in A. Martini und D. Bassi, Cat. Cod. Gr. Bibi. Ambr., Mailand 1906, Bd. II, pp. 1084 fi. Die

Das antike Satumbild in der mittelalterlichen Kunst

*97

ist so ausschließlich auf den die Heidengötter gewaltig attackierenden

Text ausgerichtet, daß dem Künstler ein komisches Mißverständnis

unterlaufen ist. Gregor sagt ironisch: das ist eine vortreffliche Erziehung zur Kindesliebe, wenn man liest, wie Kronos den Uranos ka-

strierte und wie ihm dann sein Sohn Zeus auflauerte und ihm Gleiches mit Gleichem vergalt.16 Der Illustrator aber, der unter dem Wort Ουρανός nicht den Gott Uranos, sondern den realen Himmel und

unter τέμνειν nicht »kastrieren«, sondern »schneiden« oder »spalten«

verstand, zeigt uns Saturn (‫־‬ο κρονος ton oynon temno) mit einer ungeheuren Axt das Himmelsgewölbe zerteilend, während Zeus (ό δίας ΚΑΤΑ του κρον έπανιςταμενος) ihn mit einer ähnlichen Axt von hinten bedroht (Tafel 17).

Eine jüngere Gruppe von Gregor-Handschriften aus dem 11. und 12. Jahrhundert, die also auf dem Höhepunkt der im 10. Jahrhundert einsetzenden humanistischen Bewegung entstanden sind, bietet frei-

lieh ein wesentlich anderes Bild. In diesen Handschriften'7 sind die

Illustrationen der heidnischen Götter aus der Homilie Contra Ju-

lianum herausgenommen und in die der Homilie In sancta lumina übertragen worden. Doch ist der Zyklus nun viel reicher, und, was

das Wichtigste ist, die auf literarischer Überlieferung beruhenden Darstellungen (wie etwa die >Geburt der Venus< aus den ins Meer

geworfenen Genitalien des Saturn, die sonst nur in der späteren Kunst des Westens begegnet) werden nun verstärkt durch solche, die gerade umgekehrt der Kunst des Westens fremd geblieben sind und eine an

die klassische Antike anknüpfende Bildtradition voraussetzen. Hier-

Kenntnis dieser Handschrift sowie der unten erwähnten Jerusalemer HandSchrift verdanken wir Herrn Professor A. M.Friend. Die hier reproduzierten Photographien wurden uns freundlicherweise von Herrn Dr. Kurt Weitzmann zur Verfügung gestellt. Cf. A.Grabar, Les miniatures du Gregoire de Naztanze de l’Ambrosienne, Paris 1943, Tafel 71. K. Weitzmann, Greek Mythology in Byzantine Art, Princeton 1951, p. 38. 16 Migne, P. Gr., Bd. XXXV, cd. 660. 17 Paris, Bibi. Nat. MS Coislin 239 (cf. H.Omont, Les miniatures des plus anciens manuscrits grecs de la Bihliotheque Nationale, 1. Aufl., Paris 1929, Tafel CXVIII, Nr. 14 ff.), Jerusalem Bibi. Graec. Patr. Cod. Taphou 14, Athos Panteleimon, Cod. 6 (Tafel 13 und 17). Von diesen ist die Athoshandschrift die früheste und beste, ohne daß sie deshalb notwendigerweise dem ursprünglieben Typus am nächsten stünde.

298

Saturn in der Bildüberlieferung

her gehört etwa die >List der Rhea«, die ihrem Gatten einen eingewikkelten Stein zum Verschlingen überreicht (Tafel 13), und die musika-

lische Hilfestellung der Kureten und Korybanten, deren Lärmen das Weinen des neugeborenen Zeuskindes übertönt und es dadurch vor Entdeckung schützt (Tafel 16). In der Szene, in der Rhea den Satum

täuscht, begegnen wir dem Typus des sitzenden Saturn, der dem des oben erwähnten kapitolinischen Reliefs ähnlich ist.,e Man darf daher annehmen, daß die Illustrationen dieser jüngeren Gregor-Hand-

Schriften nur zum Teil auf dem Wege der Verbildlichung von Texten

entstanden sind. In anderen Fällen scheinen sie auf eine reine Bildtradition zurückzugreifen, die durch illustrierte Texte säkularer Natur

vermittelt, erst während der Renaissance des 10.Jahrhunderts in die

theologischen Zyklen eindrang. Das gilt nicht nur für die SaturnRhea-Szene und die Korybanten-Darstellung, sondern auch für die Illustrationen der Geburt der Athene, der Kybele und des Orpheus. Diese Vermutung wird fast zur Gewißheit durch die Tatsache, daß

die Korybanten-Miniaturen der jüngeren Gregor-Handschriften offensichtlich auf dasselbe Vorbild zurückgehen, das in den Darstellun-

gen dieser Szene in den Oppian-Handschriften überliefert ist.'9

II. TEXTILLUSTRATION UND ORIENTALISCHER EINFLUSS Die Illustrationen der Schriften des Hrabanus Maurus bilden einen Übergang von den auf reiner Bildtradition beruhenden Darstellun-

18 Zur Szene der Steinübergabe cf. oben, Seite 294 (Text). Zur Korybanten-Szene cf. S. Reinach, Repertoire des reliefs, Paris 1912, Bd. II, p. 280 und Bd. III, p. 201. Die bei Omont, op. cit., Abb. 14, reproduzierte Miniatur stellt ebenfalls die Übergabe des Steines an Saturn, nicht die des Zeuskindes an eine Magd dar; die von Omont als Magd gedeutete Figur war ursprünglich bärtig. 19 Diese sind: Venedig, Biblioteca Marciana, Cod. gr. 479; Paris, Bibi. Nat., MSS gr. 2736 und 2737 (cf. A. W. Byvanck, Mededeelingen van het Nederlandsche Histor. Insutuut te Rome, V, 1925, pp. 34 ff.). Es ist interessant, daß der in der Korybantenminiatur (Paris, Bibi. Nat., MS gr. 2736, fol. 24) fehlende Saturn in dem von Ange Vergece 1554 geschriebenen MS gr. 2737, fol. 35, nach einem abendländischen Vorbild hinzugesetzt wurde.

Textillustration und orientalischer Einfluß

299

gen, wie jene in der Vossianus-Handschrift, zu einer neuen Gruppe

von abendländisch-mittelalterlichen Werken, die für die Gesamtentwicklung von weit wesentlicherer Bedeutung werden sollten, weil sie

nicht auf einer in der klassischen Kunst formulierten Bildtradition beruhen. In diesen Werken werden neue Typen geschaffen, zum einen, indem die Künstler von Texten ausgehen, die Beschreibungen

antiker Götter enthalten und die die mittelalterlichen Illustratoren aus eigener Phantasie ausschmücken konnten, zum andern, indem sie von Vorlagen aus einem fremden Kulturkreis, nämlich dem Orient, aus-

gingen. In beiden Fällen hätte die Einbildungskraft der mittelalterlichen Künstler die Freiheit, wirklich neue und daher dem zeitgenössi-

sehen Bewußtsein nähere Typen hervorzubringen. Das beste Beispiel

eines solchen frühen mittelalterlichen Saturn findet sich in einer in Regensburg gemalten Handschrift (Tafel 18).20 Diese Darstellung hat

nichts mit antiken Vorbildern zu tun, sondern ist eine von diesen

unabhängige Illustration der im vorigen Kapitel besprochenen gelehrten Texte -Texte, die das Mittelalter von der Spätantike übernommen hat und in denen die Beschreibungen antiker Götter zu philosophisch-moralischen Zwecken allegorisch ausgelegt wurden. In dieser Illustration ist Saturn mit einer Fülle von Attributen ausgestattet. Sein

Kopf ist bedeckt; in der Linken hält er die Sichel und die uns schon aus der Enzyklopädie des Hrabanus bekannte Sense; in der Rechten aber hält er den Zeitdrachen, der sich in den Schwanz beißt und somit anzeigt, daß Kronos auch als Chronos zu interpretieren ist. Der

Phantasie des Künstlers ist es gelungen, die alte Beschreibung neu und

typisch mittelalterlich zu beleben.11 Eine solche Darstellung wie die der Regensburger Handschrift steht jedoch auf lange Zeit allein da, denn dieses Saturnbild ist zunächst

nichts als eine graphische Inventarisierung der im Text gegebenen Einzelzüge, die in allgemeiner Weise an zeitgenössische Typen ange-

nähert sind. Es fehlt noch jede Beziehung und Beziehungsmöglichkeit zu einer realen Person oder auch zur realen Umwelt des mittelalterlichen Menschen, da einer solchen rein textumschreibenden Darstellung weder die anschauliche Kraft der Bildüberlieferung noch die

20 Clm. 14 271. 21 Cf. E. Panofsky und F.Saxl, in Metropolitan Museum Studies IV,2 (1933), pp. 2J3 ff. und Abb. 39.

300

Saturn in der Bildüberlieferung

Vitalität einer realistischen Wiedergabe innewohnte. So wird es ver-

ständlich, daß eine anschauliche Wiederbelebung der antiken Götter

in größerem Umfang erst dann erfolgen konnte, als nach dem Absterben der antiken Tradition eine andere lebendig geworden war, die den Übergang zu einer realistischen Neu-Interpretation der hier noch rein literarischen Götcervorstellungen ermöglichte. Dies geschieht, als der

Westen mit orientalischen Vorbildern in Berührung kommt, die die

Heidengötter zwar etwas exotisch kostümiert, dennoch aber in eine

gegenwärtigere, oder jedenfalls der Vergegenwärtigung fähigere Form gebracht hatten. Im Orient hatte sich nämlich, möglicherweise auf-

gründ eines gewissermaßen unterirdischen Fortlebens der altorientalischen Planetenvorstellungen, eine Reihe von Bildtypen entwickelt,

deren besondere Züge dem Abendland bisher fremd gewesen waren,

aber leicht ins Zeitgenössische übertragen werden konnten. Jupiter und Merkur erscheinen mit einem Buch, Venus mit der Laute, Mars mit dem Schwert und einem abgeschlagenen Haupt und Saturn schließlich mit Spitzhacke und Spaten (Tafel 24, 25). Spätestens seit

dem 13. Jahrhundert beginnen diese Typen“ in die abendländische

Vorstellung einzudringen, und in gewissen Fällen können wir diesen Vorgang sogar in verschiedenen Stufen verfolgen. Die in diesem Zu-

sammenhang wichtigsten Handschriften sind jene, die Illustrationen

zu einem Text des Abü Ma'sar enthalten, die in einer relativ großen

Anzahl auf uns gekommen sind/5 Die früheste Handschrift dieser Gruppe2* enthält Planetendarstellungen, die offensichtlich auf orientalische Quellen zurückgehen. Merkur erscheint wie im Orient mit

dem Buch, Venus mit einem Musikinstrument, Mars mit einem ge-

köpften Mann, und die Zwillinge sind zusammengewachsen, wie wir

das in orientalischen Schriften ebenfalls finden. In diesen begegnen auch die eigentümlichen Darstellungen der kopfüber hinabstürzen-

den Planeten2’ (Tafel 1922‫ ;)־‬aber es ist ein westlicher Zug, die Plane-

22 Cf. F.Saxl, in Der Islam III (1912), pp. ijiff. 23 Das Beispiel dieser Abü Ma'sar-Handschriften ist nicht isoliert. In einer Geomantie, die für König Richard II. geschrieben ist (Oxford, MS Bodley $81) finden wir ebenfalls den orientalischen Saturn mit der Spitzhacke. 24 Paris, Bibi. Nat., MS lat. 7330 (Mitte des 13. Jahrhunderts, aber ein älteres Vorbild des 12. Jahrhunderts voraussetzend). 2$ Cf. BBG, Stemglaube, p. 148. Die Pierpont Morgan Library besitzt eine türkisehe Handschrift derselben Gruppe, MS 788.

Textillustration und orientalischer Einfluß

501

ten als thronende Herrscher 2u zeigen (wie in den von Paris MS lat.

7330 abstammenden Handschriften) und die zwei Darstellungen einer

Erhöhung und Erniedrigung» die wir im Orient finden (Tafel 23),

durch eine dritte des Abstiegs zu ergänzen. Diese bedeutende Bereicherung durch eine mittlere Stufe zwischen den beiden Extremen läßt auf eine Verbindung der Erhöhungs- und Erniedrigungs-Idee mit

der westlichen Idee des Rads der Fortuna schließen, eine Verbindung,

die durch das für die Fortuna-Räder typische Motiv der herabfallen-

den Kronen als bewiesen gelten kann. Es ist kaum überraschend, wenn wir am Ende des Pariser Codex16 tatsächlich eine auf vier Blätter verteilte Darstellung des Fortuna-Rades vorfinden, die die übliche Abfolge »Regnabo, Regno, Regnavi, Sum sine regno« in eine den

Planetenphasen entsprechende Reihe von Einzelbildern zerlegt. So tritt uns in diesen Handschriften eine eigentümliche Mischung orien-

talischer und westlicher Elemente entgegen, die allein schon nahele-

gen würde, daß sie zuerst in Unteritalien illustriert wurden. Dafür spricht auch, wie an anderem Ort gezeigt werden soll, eine genaue

Analyse des Stils der Darstellung/7

In der Pariser Handschrift MS lat. 7330 erscheint Saturn in rein westlicher Darstellungsform als Herrscher mit Zepter und ohne jedes an-

dere Attribut. Auch seine Tierkreiszeichen, der Wassermann als Ga-

nymed und der Steinbock, zeugen von einer rein westlichen Auffassung. Betrachten wir aber spätere Handschriften dieser Gruppe/8 so

haben sich erstaunlicherweise die orientalischen Einflüsse insofern

verstärkt, als Saturn, wie in orientalischen Handschriften, mit einem Spaten ausgestattet ist, und insofern, als der Gott nun in einer sonder-

baren Haltung erscheint: der eine Fuß ist auf den Sitz aufgestutzt/9 Er hat hier nichts mehr von der ruhigen, königlichen Haltung der

26 Fol. 74 * ff.

27 In F. Saxi, H. Meier und H. Bober, Catalogue ofAstrological and Mythological lllwninated Manuscripts of the Latin Middle Ages, Bd. III, Manuscripts in English Libraries, London 1953, pp.LXIIIff. 28 London, Brit. Library, Sloane MS 3983, und New York, Pierpont Morgan Library, MS 78$ (Tafel 25, kurz vor 1400 in Brügge entstanden). 29 Bei der Darstellung der Luna geht die Orientalisierung so weit, daß sie in der Handschrift Paris Bibi. Nat., MS lat. 7330, fol. j8vff., noch als Diana erscheint, in Brit. Library, Sloane MS 3983 und deren Derivaten aber im Sinn des altoriencalischen Sin als Mann dargestellt wird.

302

Saturn in der Bildüberlieferung

älteren Handschrift; die Figur scheint eher denen der orientalischen

Manuskripte angenähert, in denen wir eine ähnlich bewegte Haltung finden (Tafel 24). Auf dem Umweg über den Orient konnten die

antiken Götter nunmehr zu realistischeren Gestalten werden, die in ihrer äußeren Erscheinung mittelalterlichen Gelehrten, Bauern oder Edelleuten ähneln, in unmittelbar anschaulicher Beziehung zu den

unter ihnen Geborenen stehen und damit zum ersten Mal wieder zu Kraft und Vitalität erwachen. Insbesondere Saturn hat sich in der

Kunst des späteren Mittelalters mehr und mehr zum Führer und

Vertreter der Armen und Bedrückten entwickelt, was nicht nur mit den realistischen Tendenzen der spätmittelalterlichen Kunst im allge-

meinen, sondern auch mit der sozial-revolutionären Bewegtheit der Epoche im besonderen übereinstimmt. Schon in den sogenannten

Guariento-Fresken der Kirche der Eremitani in Padua)o erscheint er

als das, was er trotz aller humanistischer Verfeinerungen bis in die Neuzeit hinein bleiben sollte: ein zerlumpter Bauer, der sich auf sein

Ackergerät stützt. Ein Bauer ist er auch in einer norditalienischen

Handschrift, mit der Sense und der Wasserflasche am Gürtel, der im

‫יי‬

Begriff ist, auf das Feld zu gehen (Tafel 26). Unter dem Einfluß des Orients ist aus dem griechischen Gott der Ernte und aus dem italienisehen Gott des Ackerbaus der Bauer selbst geworden. Und er bleibt

ein Bauer sogar in einer mythologischen Szene, in der ihn die Andalus de Nigro-Handschriften im Verein mit der in eine Stute verwandelten Philyra zeigen (Tafel 29). Er ist der Vertreter des niedrigsten Standes

der mittelalterlichen Hierarchie, dem alles Geistige femliegt und der sich sein Leben lang in dem mühsamen Kampf um die Scholle auf-

reibt. Das Ende des Lebens, da der Mensch unfruchtbar wird und seine Lebenswärme schwindet, so daß er am Feuer zu hocken liebt diese Zeit ist Saturn zu eigen.

30 Über deren Zuschreibung an einen Mitarbeiter Guarientos cf. L. Coletti, »Studi Sulla pittura del Trecento a Padova«, Rivista d’Arte XII (1930), PP■ 376 ff· 31 L. Dorez, La canzone delle virtü delle scienze di Bartolomeo di Bartoli da Bologna, Bergamo 1904, p. 84.

Saturn im Planetenkinderbild

‫י=>ג‬3

III. SATURN IM PLANETENKINDERBILD Der Osten vermittelt dem Westen völlig neue Begriffe von den Hirn-

melsherrschern - Begriffe, die mit den klassischen Bildtypen nichts

mehr gemein haben. Darüber hinaus übermittelt er ein dem Abendland bisher unbekanntes System komplexer Darstellungen, das das Verhältnis der Planeten zu den ihrem Einfluß unterworfenen Men-

sehen veranschaulicht. Orientalische Schriftsteller berichten, daß in heidnischen Tempeln

Saturn dargestellt gewesen sei als ein indischer Greis, als ein Mann, der auf einem Elefanten reitet, als ein Mann, der über alte Weisheit nachdenkt, als einer, der einen Eimer aus einem Brunnen zieht, usw. Diese Bilder sind mit wenigen Ausnahmen52 Darstellungen jener Be-

schaftigungen, die in den im vorigen Kapitel behandelten astrologisehen Texten Saturn zugeordnet erscheinen, und wir haben daher

allen Grund zu der Vermutung, daß die von jenen Schriftstellern

beschriebenen Wandbilder die ersten Vorläufer derjenigen Darstellungen waren, die der späteren Kunstgeschichte als »Planetenkinderbilder« geläufig sind. Diese Vermutung wird unterstützt durch die

Tatsache, daß sich solche Planetenkinderbilder tatsächlich in jüngeren

orientalischen Handschriften finden. In einem arabischen Manuskript55 und seinen späteren Verwandten5* begegnen uns in achtmal

sieben Bildern die »Planetenberufe« (Tafel 31). Das erste Bild zeigt jeweils den Planeten selbst, die anschließenden sieben Bilder derselben Reihe je eines seiner Kinder. Saturn erscheint als Mann mit einer

Spitzhacke (wie in Tafel 24), und neben ihm Berufe wie die des Leder-

arbeiters, Bauern usw.; Merkur ist ein Gelehrter mit Buch, dem feinere Beschäftigungen zugeordnet sind, usw. Ähnliche Anordnungen muß das Abendland im 14. Jahrhundert kennengelernt haben, denn32 * 34 33

32 Der Mann mit dem Wasseretmer ist offenbar der Aquarius, eines der »Hausen Saturns. Daß er im Orient so dargestellt wurde, zeigt z. B. die Darstellung auf dem islamischen astronomischen Instrument im Besitz des Fürsten OettingenWallerstein, abgebildet in Der Islam III (1912), Tafel 7, Abb. 13; ibid. pp. 156 f. die Texte. 33 Oxford, Bodleiana MS Or. 133. 34 Wie etwa Paris, Bibi. Nat., suppl. turc. 242, und New York, Pierpont Morgan Library, MS 788.

Saturn in der Bildüberlieferung

304

nur so wird es begreiflich, wenn im Salone in Padua” ganz ähnliche tabellarisch angeordnete Zyklen von Planetenkindern erscheinen, die

wir als monumentale westliche Version solcher >Bildtabellen< be-

zeichnen können, wie sie uns etwa in der Handschrift Oriental 133

der Bodleiana entgegentreten. Saturn selbst erscheint - gänzlich unklassisch - als ein Mann, der die Hand an den Mund legt, entweder

um sein Schweigen oder aber seine düstere, kränkliche Natur zu bezeichnen (Tafel 32-34). Auch die >Planetenkinder< unterliegen im Westen in zunehmendem Maße realistischer )Modernisierung«. Die tabel-

larisch angeordneten Reihen von Beschäftigungsbildern (wie sie der Paduaner Salone von den orientalischen Handschriften im Stil der

oben genannten Handschrift der Bodleiana übernommen hatte) erschienen der Folgezeit zu einförmig in formaler und zu heterogen in inhaltlicher Hinsicht. Man erstrebte eine Form, die die von den

Planeten beherrschten Menschen gewissermaßen in lebendigen >Genrebildern« zeigte und sozial und psychologisch homogener wirkte. Dies bedeutete einerseits eine Einschränkung der chaotischen Man-

nigfaltigkeit, wie sie in den ursprünglichen )Tabellen« auftrat, auf eine

begrenzte Anzahl innerlich zusammengehöriger Typen, andererseits

die Zusammenfassung dieser Typen durch eine Vereinheitlichung der Umgebung und der Perspektive. Die Darstellung Jupiters sollte das

Wesen und Leben der mit Bildung und Besitz Gesegneten veranschaulichen, die des Merkur das Wesen und Leben der Gelehrten und Künstler, die des Mars das Wesen und Leben der Kriegerischen und

die des Saturn das der armen und bedrückten Bauern, der Bettler, Krüppel,

Gefangenen

und Verbrecher.

Zugleich

regt sich

der

Wunsch, den schicksalhaften «Einfluß« des Planeten auf die ihm Unterworfenen unmittelbar anschaulich zu machen, und so wird es ver-

ständlich, daß nach einer Reihe tastender Versuche, das Schema im Paduaner Salone zu modernisieren, die Lösung schließlich in einer

Darstellungsform gefunden wurde, die den )Einfluß« einer himmlisehen Macht auf irdische Wesen in einer ganz anderen Sphäre und in

ganz anderem Sinne gezeigt hatte: die Darstellungsform der Himmel-

fahrt Christi (oder, genauer gesagt, der Anrede des gen Himmel Ge-

33 A. Barzon, I cieli e la loro influenza negli affreschi del Salone in Padovat Padua 1424.

Saturn im Planetenktnderbild

3θ5

fahrenen an die auf der Erde Zurückbleibenden), des Jüngsten Ge-

richts und vor allem des Pfingstfestes und verwandter Wunder (Tafel 3«).J< Diese neue Bildform entstand in der nordischen Kunst des 15. Jahr-

hunderts (Tafel 39, 41), wie Kautzsch und Warburg gezeigt haben,37 griff später auf die Kunst Italiens über (Tafel 40) und blieb bei aller

Modifizierung im einzelnen und bei aller Verschiebung der Bedeu-

tung bis in das 17. und 18. Jahrhundert hinein kompositorisch unverändert (Tafel 54). Wir begegnen ihr zuerst in Gestalt einer vollständi-

gen Serie in den Illustrationen zur Epitre d’Othea der Christine de Pisan. Der Planetengott sitzt auf Wolken in einer Sternenglorie als

echter Himmelsherrscher, und unten auf der Erde leben seine >Kin-

der< - im Falle der Venus die Liebenden, die ihre Herzen wie Opfergaben emporhalten, im Fall Saturns die Weisen, die zum Rat versam-

melt sind (Tafel 37). Das Phänomen einer solchen Adaption der

Pfingstszene zu weltlichen Zwecken ist in dieser Zeit nicht vereinzelt. In einer Miniatur des Wiener Losbuchs vom Ende des 14.Jahrhunderts (Tafel 38) finden wir eine Gruppe Weiser und Patriarchen unter

einer die Sieben Planeten umschließenden Himmelssphäre versammelt,J0 und die um 1400 gezeichneten Illustrationen zu Boccaccios De

claris mulieribus zeigen Juno als Himmelserscheinung über ihren Anbetern schwebend, während Minerva mit ihren kunstreichen Schutzbefohlenen eine Art Mythologie der >Artes< bildet (Tafel 35)·39 Eine

Verschmelzung des säkularisierten >Pfingst-Typus< mit diesem my-

thologisierten >Artes-Bild< macht die weitere Entwicklung ohne Schwierigkeiten verständlich.

Die Verwendung eines religiösen Bildschemas konnte sich in Christine de Pisans Illustrationen um so leichter vollziehen, als hier die

)6 E. Panofsky und F. Saxl in Metropolitan Museum Studies IV,2 (1933), p. 245. 37 A. Warburg, Gesammelte Schriften, Bd. I, Leipzig 1932, pp.86 und 331. 38 Cf. A. Stange, Deutsche Malerei der Gotik, Bd. II, 1936, Abb. 33. Das von Stange angenommene Datum erscheint etwas zu früh. 39 Cf. die Junobilder in Paris, Bibi. Nat., MS fr. 598, fol. 12; Paris, Bibi. Nat., MS fr. 12 420, fol. 11; Brüssel, Bibi. Royale, MS 9509, fol. 12v; die Minervabilder in Paris, Bibi. Nat., MS fr. 598, fol. 13; Paris, Bibi. Nat., MS fr. 12420, fol. 13‫;״‬ Brüssel, Bibi. Royale, MS 9509, fol. 15. Zum Typus des >Artes-Bildes« cf. unten, Seite 434 ff. (Text).

)06

Saturn in der Bildüberlieferung

Planeten eine rein positive Bedeutung haben. Sie versinnbildlichen

jeweils eine bestimmte Tugend, so daß die Angleichung dieser Bilder

an Darstellungen wie die des Pfingstfestes ganz natürlich erscheint.

War diese Adaption durch die Synthese mit dem >Artes-Typus< erst einmal vollzogen, so konnte diese Bildform auch die ganz unter-

schiedlichen Angaben der üblichen astrologischen Texte in sich auf-

nehmen und dadurch die für die folgenden Jahrhunderte maßgebende Form der Planetenkinderbilder entstehen lassen. Innerhalb dieser Entwicklung kommt es dann zu zahlreichen Um- und Weiterbildun-

gen. So hat man Saturn als Geldzähler und Rechner dargestellt (Tafel 44), als Gott der Geldtruhe, der neben der Sichel die Schlüssel hält

(Tafel 28), als grabenden Arbeiter, aber auch als Reiter, der nicht nur den prächtigen Stern, sondern auch die bescheidene Sichel in der Wappenfahne führen kann (Tafel 30, 42). Aus der Sense, die er neben

oder anstelle der Sichel hält, kann ein Spaten oder eine Hacke werden und aus dieser wiederum eine Krücke (Tafel 27, 39, 58), und schließlieh erhält dieser Gott der Armseligen und Beladenen auch noch ein

Holzbein. Vielleicht hat dabei jene eigentümliche Beinhaltung, die gelegentlich aus gewissen orientalischen Quellen entnommen wurde

und möglicherweise sogar eine unterbewußte Erinnerung an den Kastrationsmythos war, eine Rolle gespielt. Auf der anderen Seite hatten

Künstler des 15. Jahrhunderts, bezeichnenderweise besonders in Ita-

lien, bereits begonnen, das Bild des Saturn in gewisser Weise zu heroisieren. Auf den Florentiner Planetenkinderfolgen erscheint er

analog zu den seit Petrarca so beliebten Trionfo-Illustrationen als König Zeit mit der Sense, dessen Wagen von den sich in den Schwanz

beißenden >Zeitdrachen< gezogen wird (Tafel 40). Im Norden erscheint er als Reiter, analog zu den Reitern in Tumierdarstellungen.

In der Florentiner Bildchronik schließlich erscheint er in echt huma-

nistischer Manier als lateinischer König, der die Römer den Ackerbau

lehrt und Sutrium gegründet hat (Tafel 45)/0

40 Sidney Colvin, A Florentine Picture-Chronicle, London 1898, Tafel 30.

Saturn in der mythographischen Illustration des Spätmittelalters

307

IV. SATURN IN DER MYTHOGRAPHISCHEN ILLUSTRATION DES SPÄTMITTELALTERS Daneben erwacht nun aber jene mythographische Illustration, von

der wir ein frühes, aber vereinzeltes Beispiel in der Münchner HandSchrift4142 43kennenlernten, zu neuem Leben. Inhaltlich betrachtet, er-

scheinen die mythographischen Texte zu dieser Zeit, also im 14. und 15. Jahrhundert, völlig >moralisiertZeitdrachen< verbunden/5 Vor

allem wird das Motiv des Kinderfressens, das nicht einmal in der Antike dargestellt wurde, in seiner ganzen Kraßheit veranschaulicht, ebenso wie die Geburt der Venus aus dem kastrierten Glied in den

oben erwähnten Illustrationen des Fulgentius metaforalis gezeigt wird. Wir sehen den Gott, wie er das Kind zum Munde führt, wie er dessen Arm mit den Zähnen packt oder gar wie er schon dessen Kopf verschlungen hat (Tafel 47, yo, 53, 149). Das unerbittlich Böse des

Gottes wird hier veranschaulicht, der Moloch, der die eigenen Kinder verschlingt, und das Unerträgliche wird nur dadurch gemildert, daß der begleitende Text das Bild allegorisch zu deuten sucht.

Weiter ausgestaltet werden diese Motive in den Illustrationen zu der

von Berchorius verfaßten Einleitung zum lateinischen Ovide moralise und dem aus derselben Einleitung stammenden Libellus de imaginibus deorum. * 6 Die Beschreibungen dieses Werks haben später im Sü-

den wie im Norden in zahllosen Darstellungen Gestalt gewonnen.45 47 46

45 Wie in clm. 14271. 46 Cf. A. Warburg, Gesammelte Schriftent Bd. II, pp. 453 ff., 462, 471, 485 ff. 47 Eine Synthese aus astrologischer und mythographischer Bildüberlieferung sehen wir in den phantastischen Planetenbildern der Scotus-Handschriften (die Genesis dieses Saturntypus mit Schild und Helm wird bei E. Panofsky und F. Saxl in Metropolitan Museum Studies IV,2, 1933■, pp. 242 ff. erörtert). Diese Scotus-Planetenbilder sind seit dem 14. Jahrhundert die vorherrschende 11112‫־‬ strationsform in astrologischen Handschriften, nur daß sie im 15. Jahrhundert durch Wiederaufnahme der durch karolingische Vorbilder vermittelten Typen des Kalenders von 334 in bemerkenswerter Weise »humanisiert« werden (cf. Darmstadt, Cod. 266, abgebildet bei Panofsky und Saxl, loc. cit., p. 266; Salzbürg, Cod. VzG, 81/83, tmd Cod. Vat. Pal. lat. 1370). Vergleichbar sind auch die im 15.Jahrhundert hergestellten Kopien der karolingischen Hrabanus Maurus-Handschriften, das wiedererwachende Interesse an karolingischen Terenz-Illustrationen (ebenfalls erörtert bei Panofsky und Saxl, loc. cit.), die Kopien der Notitia dignitatum usw. Eine gewisse Parallele zu dieser ProtoRenaissance im Norden kann man vielleicht in der Tatsache erblicken, daß die Planetengötter in der nordischen Kunst des 15. Jahrhunderts für gewöhnlich als nackte Standfiguren erscheinen, die an die antiken Typen der römischen Wochengöttersteine erinnern, ohne daß ein direkter Einfluß nachweisbar wäre. Im hohen Mittelalter sind uns nackte Planeten nur in dem begründeten

Der Saturn des Humanismus

309

Das Motiv des Kinderfressens dringt aus der mythographischen

Kunst in die Planeten- und Planetenkinderbilder ein (auf Tafel 48

sogar mit dem Kastrationsmotiv kombiniert!) und wird später ein charakteristisches Merkmal solcher Darstellungen (Tafel 49 und 50).48

V. DER SATURN DES HUMANISMUS Die große Vielfalt der seit dem 14. Jahrhundert entstehenden Typen

zeigt, daß, nach der fast völligen Stagnation der vorangehenden Epo-

ehe, eine wirkliche Wiederauferstehung der antiken Götter einsetzt und daß nun auch eine genuin humanistische Neuformung, d. h. eine bewußt klassizistische Behandlung derselben möglich und in gewis-

sem Grade notwendig wird. Das gilt in besonderem Maße für Saturn. Wir werden später sehen, welche Bedeutung gerade dieser unheim-

lichste der Götter im italienischen Humanismus erlangen sollte, doch wir können hier bereits verstehen, daß die vormaligen Bilder des

armen Bauern, des bösen Kinderfressers, des klugen Rechners, aber auch selbst die des triumphalen Zeitgottes oder des würdigen Städte-

gründers den Bedürfnissen einer Kultur nicht genügen konnten, in der die antiken Götter wieder zu wirklichen Göttern wurden. Die

italienische Renaissance verlangte nach einem Saturnbild, das nicht nur die beiden Seiten des saturninischen Wesens, das Böse und das

Traurige wie das Erhabene und Tiefsinnig-Kontemplative, in sich vereinigte, sondern auch jene >ideale< Form aufwies, die nur durch ein

Wiederanknüpfen an echt antike Vorbilder erreichbar schien. Diese humanistische Aufwertung des Saturn erfolgt um 1500 in einem der

bemerkenswertesten Kulturzentren Italiens, in der Stadt des spaten Bellini, des jungen Giorgione und Tizians. Die venezianische Kunst wird erst spät vom Humanismus beeinflußt,

Ausnahmefall der provenzalischen Illustrationen zu Matfre Ermengauds Brevian d'Amor bekannt geworden (cf. z. B. die Saturnbilder in Paris, Bibi. Nat.,

MS fr. 9219, fol. 33, oder London, Brit. Library, Harleian MS 4940, fol. 33). 48 Auf dem Relief am Florentiner Campanile hält Saturn genau wie in der Ovidem074/üe-Handschrift (Paris, Bibi. Nat., MS fr. 19121) das Kind, das verschlungen werden soll, aufrecht, doch ist ihm statt des Zeit-Drachens das ZeitRad beigegeben, offenbar eine humanistische Neuerung.

jio

Saturn in der Bildüberlieferung

doch seit den Tagen des alten Jacopo Bellini ist auch hier eine deutlich humanistische Strömung zu beobachten. In den Skizzenbüchern, die

Jacopo der jüngeren Generation hinterließ, finden wir eine Sammlung archäologischer Zeichnungen ganz besonderer Art. Jacopo Bellini hat nicht nur Antiken gezeichnet, die dem einen oder anderen Künstler

als Vorbild oder Anregung für sein eigenes Werk dienen konnten, sondern er hat auch Inschriften festgehalten, die keinerlei künstlerisehe oder auch nur historische Bedeutung haben, wie die vom Grab-

mal einer Schneiderin/9 Es besteht also ein allgemeines archäologisch-humanistisches Interesse an der Antike, das Jacopos Schwieger-

sohn Mantegna schon in seinen Anfängen dazu veranlaßte, eine der Antiken aus diesem Skizzenbuch in den Fresken der Eremitani-Ka-

pelle zu verwenden,10 und das den Höhepunkt seiner Auswirkung in Mantegnas Triumph Cäsars erreicht hat. Auf der anderen Seite aber

zeigt sich derselbe Jacopo Bellini, der Zeitgenosse Donatellos, in seinen Zeichnungen und Gemälden, die inhaltlich nichts mit dem Altertum zu tun haben, vom Klassizismus kaum berührt. Er bleibt ein

echter spätgotischer Maler mit einem ausgeprägten und gänzlich unhumanistischen Interesse an der Landschaft, an den Bäumen, Flüssen,

Brücken, Vögeln und Bergen seines Landes. So weist das Werk des älteren Bellini gesondert jene beiden Möglichkeiten auf, deren Ver-

einigung den Werken der venezianischen Renaissance ihren besonderen Charakter gibt - Werken wie des jungen Tizian Rekonstruktio-

nen philostratischer Bilder, die die dionysischen Gestalten und die

Kinder der Venus in antikischem Rhythmus, aber in der heimischen

Landschaft darstellen, die Statuen der Venus in die Parkanlagen der Adligen verlegen und die das archäologisch-humanistische Element

mit dem modern-venezianischen verschmelzen. Tizians Gemälde für Alfonso I. von Ferrara bilden den Höhepunkt dieses Stils.

Auch Giulio Campagnolas Saturnstich (Tafel $5) ist ein, freilich bescheidenes, Zeugnis dieser Bewegung/1 Er stammt aus der Frühzeit

49 C. Ricci, Jacopo Bellini e i suoi disegni, Bd. I, Florenz 1908, Tafel 51 (Corpus inscriptionum latinaram, Bd.V, 2542). 50 Siehe Ricci, op. cit., p. 70. 51 G.F. Hartlaub, »Giorgione und der Mythos der Akademien«, Repertorium für Kunstwissenschaft XLVIII (1927), pp. 2jj ff.

Der Saturn des Humanismus

3‫״‬

des Künstlers, der ihn gelehrt mit »Antenoreus« signiert, als Nach-

komme jenes Antenor, der von Troja nach Venetien kam und dort Padua gegründet haben soll. Vielleicht weil es sich um das Werk einer

schwächeren Persönlichkeit handelt, treten die Tendenzen der Zeit in vieler Hinsicht besonders deutlich hervor. Im Vordergrund liegt Saturn auf dem Erdboden, neben der Gestalt ist

sonderbares Gestein und ein Baumstrunk. Im Mittelgrund rechts ist

ein Wäldchen mit hohen Stämmen und Sträuchern. Den Hintergrund

bildet eine turmbewehrte Stadt am Wasser, auf dem ein Schiff dahin-

segelt. Es ist auffallend, wie wenig innere Verbindung das Bild des Gottes im Vordergrund mit dem >modernen< Mittel- und Hintergründ hat. Weder der Hintergrund noch der Baumstrunk zur Linken

sind selbständige Erfindungen Campagnolas; vielmehr sind sie zwei verschiedenen Stichen Dürers entnommen. Doch hatte Campagnola

diese Details Durer entnehmen und dennoch so mit der Hauptfigur verbinden können, daß keinerlei Uneinheitlichkeit in dem Bild zu

spüren wäre. Es hat vielmehr den Anschein, als habe er einen gewissen Dualismus geradezu angestrebt. Schließlich lag es nach Jacopo

Bellini in der historischen Linie der venezianischen Kunst, antike Denkmäler aus einer archäologischen Distanz zu sehen und sie in eine >moderne< Umgebung zu versetzen, die ihre Ferne wiederum betonte.

Die Gestalt des Gottes ist fremdartig, fremd ist auch ihr Name und ihre Behandlung insgesamt, und doch erscheint sie in der Gegenwart, inmitten alltäglicher Dinge. Wie eine Statue wirkt der Körper auf dem nackten Boden, aber die Linke greift wie die Hand eines Lebendigen

zart nach dem Schilf, der Blick geht sinnend zur Seite, die Augenbraue ist zusammengezogen. Der Fuß und das Schilf haben gewiß nichts Statuarisches, aber wie lebensfern wirkt der vollendet gerun-

dete Bausch des Gewandes neben den Steinen am Boden! Der Ein-

druck dieser Gestalt läßt sich vielleicht am besten mit den Worten

erläutern, sie erscheine wie die Vision eines antiken Gottes im modernen Leben. In dieser Hinsicht ist Campagnola der typische Venezianer des Quattrocento, der die Antike nach Art der Archäologen stu-

diert und sie dem Leben eingliedert, ohne sie ganz lebendig werden zu lassen, wie es nur wenig spater Tizian gelingen sollte. Es scheint,

daß wir sogar das spezielle Vorbild Campagnolas aufzeigen können: sein Kupferstich lehnt sich offenbar an den noch nicht bestimmt ge­

312

Saturn in der Bildüberlieferung

deuteten Fluß- oder Meergott des Triumphbogens zu Benevent an’*

(Tafel 56). Campagnolas Saturn hat mit diesem Gott den zur Seite

gewendeten Blick und den aufgestützten Kopf gemeinsam. Merkmale, die nur aus dem Zusammenhang der Gesamtkomposition des Bogens verständlich sind. Sogar der Baumstumpf ist eine optische

Reminiszenz an die etwas undeutliche Urne; das Attribut des SchilfStengels erklärt sich vermutlich aus der Tatsache, daß die im Relief hinter der Figur emporwachsenden Schilfstauden mit dem unerkenn-

bar gewordenen Attribut in des Gottes rechter Hand zusammengezo-

gen wurden, und, was das Wichtigste ist, der hinter dem Beneventaner Gott wehende Gewandbausch sieht im Zusammenhang mit seinem eigentümlichen Kopfschmuck noch heute so aus, als ob der Mantel im Sinne des klassischen »caput velatum« über den Kopf ge-

zogen wäre. Diese seltsame Verbindung tatsächlicher und scheinbarer

Besonderheiten des melancholisch-saturninischen Wesens - aufgestützte Hand und anscheinende Verhüllung des Kopfes durch den

Mantel - konnte dem archäologisch gesinnten Campagnola sehr wohl

das Recht geben, die Figur des Beneventer Bogens als Saturn zu inter-

pretieren oder zumindest für einen Saturn zu benützen. Er hat den

Saturn offensichtlich als eine Gottheit aufgefaßt, die neben ihren sonstigen Eigenschaften in einer besonderen Beziehung zum Wasser steht: das beweist das Schilfattribut und die Seelandschaft im Hintergründ. Und diese Auffassung kann sich auf die Texte stützen, die

Saturn als »accidentaliter humidus« bezeichnen, ihn einen lang und weit zu Wasser Gereisten nennen und ihm das Patronat über Leute, die am Wasser wohnen, zuschreiben und deren größte Autorität der

berühmte oberitalienische Astrologe Guido Bonatti ist.‫ ״‬Hinzu kommt, daß man seit dem Mittelalter gewohnt war, sich Saturn in dieser Gestalt vorzustellen, galt doch in den römischen Mirabilia der eine der beiden antiken Flußgötter, die vor dem Senatorenpalast ste-

52 Der Bogen kann ihm durch einen Stich (oder eine Zeichnung) bekannt geworden sein, in der Art des von S. Reinach veröffentlichten Quattrocento-Stichs, »La plus ancienne image grevee de l’arc de Benevent«, Melange! Bertaux, Paris 1924, pp. 232235‫־‬, Tafel XIV; A. Μ. Hind, Early Italian Engraving, Bd.I, London 1938, p. 285. 5) Siehe oben, Seite 284f. (Text).

Der Saturn des Humanismus

‫י‬

3 3

hen, als Statue des Saturn?4 Die besondere Bedeutung des KupferStichs, dessen Landschaft, wie erwähnt, ausgiebig von Motiven frühe-

rer Dürerstiche Gebrauch macht, besteht nicht so sehr in seinem

möglichen Einfluß auf Durers Melencolia Iss (deren Hintergrunds-

landschaft sehr wohl durch Campagnola angeregt sein könnte), als vielmehr darin, daß hier zum ersten Mal ein neues humanistisches,

idealisiertes Saturnbild geschaffen worden ist. Dies ist in der Tat in einem Maße der Fall, daß Campagnolas unmittelbare Nachfolger auf die gewohnteren Konzeptionen zurückgreifen, sei es, daß Girolamo da Santa Croce die antikisierenden Motive wegläßt und unter Beibehaltung der allgemeinen Anlage Saturn zum alten Bauern umgestaltet

(Tafel 5 7),56 sei es, daß Lorenzo Costa den in die Trauer des Flußgotts versunkenen antiken Gott in einen christlich meditierenden Hierony-

mus verwandelt.57 Campagnolas antikisch idealisierte Form des Kronos kann freilich in

eine der Realität noch mehr enthobene Sphäre versetzt werden, indem

der klassisch drapierte Gott auch noch mit Schwingen versehen wird und dadurch, wie schon in den orphisch-mithraischen Grabmälern

des ausgehenden Altertums, den spezifischen Charakter einer ZeitGottheit annimmt. Aus Kronos, der gleichsam nur zufällig den Cha-

rakter eines Zeitgotts hat, wird nunmehr wieder Chronos, dessen

hauptsächliche Funktion die schicksalhafte Zerstörung alles Irdisehen, aber auch die Rettung der Wahrheit und die Bewahrung des Nachruhms ist. In dieser letzten Verwandlung wird er dann ein fast unentbehrliches Requisit für die marmornen Allegorien des Grab-

Schmucks und für die lehrhaften Titelkupfer vieler Werke, die sich auf * eine zerstörte und doch erinnerte Vergangenheit beziehen (Tafel 60).58 Auch in ihrer äußeren Erscheinung können die Darstellungen

54 55 56 57

Mirabilia Romae, ed. G.Parthey, Berlin 1869, p. 24.

Siehe unten, Seite 412 (Text), Seite 457, Anm. 135. G. Fiocco, »I pittori da Santacroce«, L'Arte XIX (1916), p. 190. Ehemals Berlin, Sammlung Kaufmann; abgebildet in A. Venturi, Storia dell' arte italiana VII,3, Mailand 1914, p. 812, Abb. 600, j8 Nach dem Eigentlyke Afbeeldinge van Hondert der Aldervermaerdste Statuen, of Antique-Beeiden, Staande binnen Romen betitelten Amsterdamer Nachdruck des im Jahre 1638 in Rom erschienenen Werks von Frangois Perrier, das den bezeichnenden Titel trägt: Segmenta nobilium signorum et statuarum quae temporis dentem inuidium [sic] euasere.

Saturn in der Bildüberlieferung

3M

dieses wiedererstandenen Saturn-Chronos denen des spätantiken Chronos, Aion oder Kairos sehr ähneln,59 doch ist es fraglich, ob sie

tatsächlich aus ihnen herzuleiten sind. Die Gestalt des geflügelten Saturn scheint vielmehr da entstanden zu sein, wo sich eine spontane

Verbindung

zwischen

Bauerngott

und

Zeitallegorie

vollziehen

konnte, nämlich in den Illustrationen zu Petrarcas Trionfo del * Tempo 0 (Tafel 58). Petrarca läßt die Zeit im Zusammenhang mit der

Sonne auftreten, gibt aber den Illustratoren keinerlei weitere Anhaltspunkte. Sie haben daher den im Text gar nicht genannten Saturn als

Zeitpersonifikation in die Darstellung dieses Trionfo eingesetzt und seine spezifische Bedeutung durch Beigabe eines Stundenglases61 oder gelegentlich des Zodiakus deutlich zu machen gesucht. Vor allem aber haben sie die traditionelle, vorhumanistische Form des Bauerngottes

dadurch idealisiert, daß sie ihm Flügel gaben. Auf diese Weise gestal-

teten sie ihn als echte Zeitpersonifikation und vervollständigten sein

Bild durch einen neuen, vom Mittelalter aus gesehen gänzlich unsaturnischen Zug, den sie der rein allegorischen Bildüberlieferung ent-

nahmen - so zum Beispiel in einer um 1400 entstandenen Allegorie der Zeit (Tafel 59).61 Bestätigt wird dieser Prozeß durch einige italie-

nische Petrarca-Illustrationen des 15.Jahrhunderts, in denen der die Zeit personifizierende Saturn, ganz wie die Figur aus der französi-

sehen Miniatur, mit symmetrisch gesenkten Armen dasteht und mit vier Flügeln ausgestattet ist, die die vier Jahreszeiten versinnbildlichen sollen.6} Einmal vollzogen, hat diese humanistische Wieder-Ineinsset-

$9 Hierzu cf. A. Greifenhagen, Die Antike, Bd.XI, Berlin !935, pp. 67ff. 60 Nach Prince d’Essling und E. Müntz, Petrarque ..., Paris 1902, Tafel gegenüber p. 148. 6 t Dieses findet dann später Eingang in die Todesdarstellungen der Renaissance und des Barock und wird zum allgemeinen Symbol der Vergänglichkeit und des »Memento mori«. 62 Cf. E. Panofsky, Hercules am Scheidewege (Studien der Bibliothek Warburg, Bd.XVIII), Leipzig 1930, p-4, Abb.5. 63 Abgebildet in Prince d'Essling und E. Müntz, Petrarque ..., Paris 1902, p. 167. Später dringt das Motiv des Kinderverschlingens oder Kinderbedrohens in die Petrarca-Illustration ein (cf. z.B. einen Madrider Teppich, der von Prince d’Essling und E. Müntz, op. cit., p. 218, beschrieben wird, und einen Stich des Georg Pencz, abgebildet ebd., p. 262, sowie einen Holzschnitt zu 11 Petrarca con PEspositione d’Alessandro Vellutello, Venedig 1j60, fol. 263’). Aber nur

Der Saturn des Humanismus

315

zung von Saturn und Chronos naturgemäß zu einer Umkehrung, zu einer Rückkehr zu den antiken Gestalten des Chronos, Kairos und

Aion geführt. Dabei entstand der bekannte Typus des nackten Zeit-

gottes, ein idealisierter Greis mit Flügeln, der dem späteren Betrach‫־‬ ter so selbstverständlich ist, in Wahrheit aber einem überaus kompli-

zierten und wechselvollen Geschehen sein Dasein verdankt/4

selten wird von der durch den Text nahegelegten Identifizierung der Zeit mit der Sonne Gebrauch gemacht; cf. Prince d’Essling und E. Müntz, op. cit., p. 219, oder den Holzschnitt zu II Petrarcha con PEspositione di Μ. G. Gesvaldo, Venedig 1581, fol. 407, in dem jedoch der geflügelte Zeitgott dem Sonnenwagen nachfolgt. 64 Manchmal sogar unter Wiederaufnahme der Fußflügel, wie sie für den klassisehen Kairos charakteristisch sind (cf. z. B. F.Saxl, ‫״‬Veritas filia temporis«, Philosophy and History, Essays presented to E. Cassirer, ed. R. Klibansky und J. Paton, Oxford 1936, p. 197, Abb.4). A. Greifenhagen, Die Antike, H. Bd.XI, Berlin 1935, pp.67ff., erörtert andere Renaissance-Nachahmungen der antiken Kairos- und Chronostypen, die gelegentlich sogar aus dem gefesselten und zur Arbeit mit der Spitzhacke verurteilten Cupido entwickelt sind, wie in Abb. 13 und 14, die übrigens aus Cartari stammen. Diese spezifisch hoch- und spätrenaissancemäßige Typenbildung knüpft naturgemäß durchweg an den zweiflügligen Typus an. Eine Ausnahme bildet die bei V. Cartari, Le Imagint de i dei degli antichi, Padua 1603, p. 32, und Venedig 1674, p. 19, illustrierte Gestalt mit vier Schulter- und zwei Kopfflügeln, die, wie Cartari ausdrücklich angibt, aus der Beschreibung des Phönikischen Saturn bei Eusebius (cf. oben, Text, Seite 293) entwickelt ist.

DRITTER TEIL

»Poetische Melancholie« und »Melancholia Generosa«

ERSTES KAPITEL

Poetische Melancholie«123in der nachmittelalterlichen Dichtung I. MELANCHOLIE ALS GEMÜTSZUSTAND IN DER SPÄTMITTELALTERLICHEN DICHTUNG

Die Geschichte des Wortes »Melancholie« weist eine Entwicklung auf, innerhalb deren es zum Synonym für »Traurigkeit ohne Ursa-

ehe« wurde. Es hat die Bedeutung eines vorübergehenden Gemütszu-

Standes angenommen, eines von allen pathologischen und physiologisehen Bedingungen unabhängigen Schwermutsgefühls, das Burton *

(mit ausdrücklicher Kritik an dieser Ausweitung des Wortgebrauchs) als melancholische Stimmung (»transitory melancholy disposition«)

dem melancholischen Temperament (»melancholy habit«) und der melancholischen Erkrankung (»melancholy disease«) gegenüber-

stellt. So konnte man von jemandem sagen, er sei »heute melancholisch«,

was im Mittelalter undenkbar gewesen wäre. Ferner konnte das Prä-

dikat »melancholisch« von der Person auf den ihre Stimmung hervor-

rufenden Gegenstand übertragen werden, so daß man von melancholischen Räumen, Beleuchtungen, Tönen und Landschaften sprechen konnte.1 Diese Umwandlung hat sich naturgemäß nicht innerhalb des

1 »Poetical Melancholy« ist der Titel eines Sonetts von W. Hamilton Reid in The Gentleman’s Magazine, Juni 1791, p. 567. 2 Cf. Roben Burton, Anatomy of Melancholy, Partition I, Section I, Member i, sub-section 5: »Melancholy ... is cither in disposition, or habit. In disposition, is that transitory melancholy which goes and comes upon every small occasion of sorrow, need, sickness, trouble, fear, grief, passion or perturbation of the mind ... In which equivocal and improper sense we call him melancholy that is dull, sad, sour, lumpish, ill-disposed, solitary, any way moved or displeascd. And from thesc melancholy dispositions no man living is free ... This mclancholy of which we are to treat is a habit, ... a chronie or continuate disease, a settled humour, ...not errant, but fixed.« Über Burton cf. auch Jonathan Wright, Medical Journal and Record CXXX (1929), pp. 291 ff. (mehrere FortSetzungen). 3 Cf. die Aufzählung in Shakespeares Henry IV, Teil I, t, 2, 82 ff.

320

»Poetische Melancholie« in der nachmittelalterlichen Dichtung

medizinischen oder naturwissenschaftlichen Schrifttums vollzogen,

sondern in der Literaturgattung, die ihrem Wesen nach dazu neigt, das Seelische im Menschen als Selbstwert zu betrachten und darzustellen - das heißt in der Lyrik, in der epischen Dichtung sowie im Roman. Der Terminus »Melancholie«, der sich in populären spätmittelalterlichen Schriften immer mehr verbreitete, wurde, insbesondere in Frankreich, von der »schönen Literatur« begierig aufgegriffen,

um seelischen Anlagen und Zuständen Farbe zu verleihen. Dabei

wurde die ursprünglich rein humoralpathologische Bedeutung dieses Begriffs allmählich so umgeformt, daß er sich zur Bezeichnung einer mehr oder weniger vorübergehenden »Gemütsstimmung« verschob. Neben dem eigentlichen naturwissenschaftlich-medizinischen

Sprachgebrauch bildete sich somit ein anderer heraus, den man als spezifisch »poetischen« bezeichnen könnte. Dieser Sprachgebrauch hat seine eigene Geschichte und mußte, einmal fixiert, auf den alltagli-

chen Sprachgebrauch stärker zurückwirken, als es die Begriffe der

esoterischen Wissenschaft vermochten. Es ist natürlich nicht so, daß die beiden anderen, ursprünglichen

Bedeutungen der Melancholie - im Sinne von Krankheit oder Tempe-

rament - aus der Literatur und der Alltagssprache völlig verschwanden. In der Liebeslyrik zum Beispiel wird »Melancholie« nach wie

vor als Synonym zu »Wahnsinn« gebraucht,4 und in Charakterschilderungen wird die Bezeichnung »melancholisch« durchgängig im

Sinne einer konstanten Temperamentsanlage verwendet. Doch außer-

halb des wissenschaftlichen Schrifttums tendiert der traditionelle Gebrauch immer mehr zu einer subjektiv-transitorischen Auffassung

und wird schließlich von der neuen * poetischen« Vorstellung so über­

4 Cf. das Selbstporträt des verliebten Autors in Les echecs amoureux (Ernst Sieper, »Les echecs amoureux«, Literarhistorische Forschungen IX, 1898, P' **0)‫י‬

»Ains me veist on sans demeure Muer soubdainement coulour, Muer de froidure en chalour ... De sens en parfaitte folie, De Raison en melancolie ...«

Selbst Ficino erinnert uns in seinem Kommentar zum Symposion an die Meinung der Ärzte (siehe oben, Seite 151, Text), daß die Liebe »una specie di umore malinconico e di pazzia« sei.

Melancholie als Gemütszustand in der spätmittelakerlichen Dichtung

3‫זג‬

schattet, daß diese im normalen Denk- und Sprachgebrauch der Neuzeit die vorherrschende wird.5

Schon bei Boccaccio (besonders in seinem Ninfale Fiesolano) finden

sich Wendungen wie

pella maninconia e pel dolore ch’i’ sento, ehe m’offende dentro il core, oder

ove quel giorno dal padre aspectato era stato con gran maninconia,

oder

malinconoso e mal contento, oder caendo la sua amante aspra e selvaggia e ehe facea lui star malinconoso6

- alles Wendungen, in denen die Melancholie weder als Krankheit

noch als habituelle Anlage, sondern vielmehr als eine rein seelische

und zeitlich begrenzte Gemütsverstimmung gefaßt wird. Nur wenig später wird auch in der französischen Literatur die »subjektive« Vor-

Stellung der Melancholie in ähnlicher Weise verwendet. Hier bezeich­

5 Das ändert natürlich nichts an der Tatsache, daß in poetischen Schilderungen des melancholischen Gemütszustands immer wieder die typischen Züge des »morbus melancholicus« auftauchen - tatsächlich ist das, wie wir noch sehen werden, sogar die Regel, wo immer die Melancholie als Personifikation auftritt. Ein besonders lehrreiches Beispiel ist des Hans Sachs Gespräch der Philosophia mit einem melancholischen, betrübten Jüngling (Bibliothek des literarischen Vereins Stuttgart, Bd.CV, 1870), pp. 141 ff., in dem sogar der medizinische Terminus »Überschwank nehmen« vorkommt. 6 »Aufgrund der Melancholie und des Schmerzes, / den ich fühle, der mich im tiefsten Herzen verletzt«; »wo er an jenem Tag von seinem Vater / mit großer Melancholie erwartet worden war«; »melancholisch und unzufrieden«; »auf der Suche nach seiner Liebsten, die spröd und wild war, / und ihn melancholisch machte«, Boccaccio, Ninfale Fiesolano, ed. B. Wiese, Sammlung romanischer Elementar- und Handbücher, Reihe V, Nr.), Heidelberg 1913. Die angeführten Beispiele stammen aus Stanze 331, Wiese (ed.), op. cit., p. 75; Stanze 71, ibid., p. 18; Stanze 70, ibid., p. 17; Stanze 55, ibid., p. 14. Ferner (inter alia) Stanze 244, ibid., p. 57, und Stanze 276, ibid., p. 63.

}22

»Poetische Melancholie« in der nachmittelalterlichen Dichtung

net das Substantiv * melancolie«

sowohl die Beschwerden, die jemand

hat, als auch diejenigen, die er anderen verursacht, während das Verb »merencolier« zum Synonym von »attrister« wird und das Adjek-

tiv »melancolique«, oder häufiger »melancolieux«, bereits von der fühlenden Person auf den das Gefühl hervorrufenden Gegenstand

übertragen werden kann. »Quant on s’endort en aucun desplaisir ou merencolie«,7 heißt es z. B. in einer Novelle Ludwigs XL, und die erotische Literatur kann diese Bedeutung sogar dahingehend modifizieren, daß von »petites merencolies« etwa im Sinn von »kleinen Schmollszenen« geredet werden kann.8 »Se melancolier« heißt »sich

betrüben« oder »trüben Gedanken nachhängen«,910 12und das Adjektiv 11

»melancolieux« kann ebensowohl die Gemütsverfassung eines trauri-

gen oder verstimmten Menschen bezeichnen (»on l’a trouve melancolieux et ire«, oder »Alexandre melancolieusement pensant ä ses pertes«'°) als den Blick eines tollwütigen Hundes (»le chien enrage regarde de travers et plus melancholiquement que de coustume«”), den Eindruck der Nacht’2 oder den Gefühlswert jedes beliebigen »tristen« Gegenstands. »Je suis entree en grant merencolie«, singt eine liebende

Frau bei Christine de Pisan, als sie glaubt, ihr Ritter habe einer ande­

7 Zitiert nach F. Godefroy, Dictionnaire de Tancienne langue fran^aise, Bd. V, 8, Paris 1888, pp. 221 ff. B »Et sachez, qu’elle fait a son amy cent chouses, et monstre des secrctz d’amours et fait plusieurs petites merencolies que eile n’ouseroit faire ne montrer a son mary ... et de tant qu’il l'aura plus chiere, de tant luy fera eile plus de melencolies pour lui donner soussy« (zitiert nach Godefroy, op. cit.; schon 1389 kommt eine Wendung vor wie »apres plusieurs courroux, dcsplaisances et mirencoulies«). In einem Satz wie »vix possumus respirare ex multis quaerimoniis et melancoliis, quibus non cessamus vexari« (nach du Cange, Glossarium mediae et infimae latinitatis, Bd. V, Niort 1885, p.329) ist das Wort »melancholiae« fast gleichbedeutend mit »Beschwerde« oder »Klage«. 9 »Lorsque le roy vyt que il n'en vendroit point aisieement a son intention, il se melenconia et se party de euls« (aus Godefroy, op. cit.; ibid.: »et puls il se prenoit a penser sur la table en se merencoliant«). In transitiver Form: »dont plusieurs fois l’avoient melancoliet et courouciet.« Es ist interessant, daß der deutsche Barock das Verb »melancholieren« wieder aufnimmt (F.von Spee, Trutznachtigall, ed. G. Balke, Leipzig 1879, p. 70). 10 Nach Godefroy, op. cit. 11 Nach Godefroy, op. cit. 12 Nach Godefroy, op. cit.

Melancholie als Gemütszustand in der spätmittelakerlichen Dichtung

3‫ג‬3

ren Treue geschworen;0 und die Traumvision - ein häufiges Motiv

der mittelalterlichen Epik

die in der Regel dadurch eingeleitet wird,

daß sich der Erzähler in die Einsamkeit der Natur begibt, wird jetzt nicht mehr durch die Müdigkeit oder den Trübsinn des Erzählers, sondern durch seine »Melancholie« heraufbeschworen. Die Dichter des 15. Jahrhunderts flüchten an den Busen der Natur:

pour oblier merencolie et pour faire plus chiere lie.M So verliert in der gesamten neuzeitlichen Literatur Europas der Aus-

druck »Melancholie« (außerhalb wissenschaftlicher Zusammenhänge)

die Bedeutung einer Eigenschaft und gewinnt statt dessen die Bedeutung einer >StimmungTrauer< mit dem Brüten in Abgeschiedenheit und der an Krankheit

grenzenden Düsternis der Melancholie in engerem Sinne vereinigte. In der gleichen Epoche besteht die Neigung, die Verben »attrister«

und »s'attrister« durch die Verben »merencolier« und »se merencolier« zu ersetzen; und die davon abgeleiteten Formen »merencoliser«

und »melancomoyer« nehmen die Bedeutung von »nachdenken« oder »in düsteres Sinnen verfallen« an.42 Überdies wurden zu dieser Mi-

schung all die ursprünglich mit der Melancholie und dem Saturn verknüpften Vorstellungen von unglücklicher Liebe, Krankheit und

Tod hinzugefügt, so daß es nicht überraschen kann, daß die neue, aus einer Synthese zwischen »Tristesse« und »Melancholie« hervorgegangene Trauer-Empfindung eine Empfindung ganz besonderer Art zu

werden bestimmt war. Tragisch durch ein gesteigertes Wissen um sich selbst (denn das Ich-Bewußtsein ist ja nichts als ein Korrelat des Todes-Bewußtseins), konnte diese neue Melancholie sowohl didak-

tisch seziert werden als sich in Lyrik oder Musik verströmen; sie

konnte sich zu erhabener Weltflucht erheben oder zu empfindsamer

Schwärmerei sich verflüchtigen. Schon bei einem Autor des frühen 15. Jahrhunderts tritt die Verbin-

düng der Vorstellungen »Tod«, »Melancholie« und »Selbstbewußt-

sein« in eigentümlicher Weise hervor. »In dem Maße, in dem sich das Bewußtsein entwickelt«, heißt es in Jacques Legrands »Betrachtungen

über den Tod und das Jüngste Gericht«, »wächst die Sorge, und der

Mensch wird immer melancholischer, ein je vollkommeneres und wahreres Bewußtsein er von seinem Zustand hat«.4* Etwa hundert 41 Siehe du Gange, ioc. cit., p.330.

4) Zitiert nach P. Champion, Histoire poetique du XV' siede, 1923, 1, p. 220.

340

»Poetische Melancholie« in der nachmictelalterlichen Dichtung

Jahre später ist dieses Bewußtsein so sehr zu einem Teil des Selbstbewußtseins geworden, daß kaum noch ein bedeutender Mensch ange-

troffen wird, der nicht entweder wirklich Melancholiker war oder wenigstens von sich selbst und anderen dafür gehalten wurde. Selbst von Raffael, den wir uns so gerne als vornehmlich heiteren, glücklichen Menschen vorstellen, bekundet ein Zeitgenosse, daß * er zu Melancholie neige wie alle Leute von so überragender Begabung«.44*Und

bei Michelangelo vertieft und steigert sich dieses Gefühl zu einem freilich überaus bitteren Selbstgenuß: »La mia allegrezz * e la malinconia.«4i Noch ist es aber nicht soweit, daß jemand in der süßen Selbstgenüg-

samkeit des Melancholiegefühls, im Stil von Miltons Gedicht, schwelgen könnte oder gar mit Lessings Tempelherrn halb wehmütig, halb scherzhaft von sich sagen dürfte: »Wenn ich nun melancholisch gern

mich fühlte?«46 Unter dem furchtbaren Druck der religiösen Konflikte, die die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts erfüllten, gräbt sich

der melancholische Zug nicht nur tief in das Antlitz der Dichtung ein — man denke nur an Tasso oder Samuel Daniel —, sondern bestimmt geradezu die Physiognomie der damals lebenden Menschen, wie sie

uns aus den abweisend verschlossenen, herrischen und zugleich trau *

44 Bericht des ferraresischen Geschäftsträgers Pauluzzi vom 17. Dezember 1519 (abgedruckt zuerst bei Campori, »Documents inedits sur Raphael«, Gazette des Beanx-Arts 14, 1863, p.452). Solche Erscheinungen sind jedoch bereits das Resultat der Kreuzung zweier Entwicklungslinien: der der »poetischen Melancholie« und der der humanistisch-neuplatonischen Melancholietheorie. Letztere soll im folgenden Kapitel behandelt werden (Seite 360 ff.). 4j »Meine Freude ist die Melancholie«, Die Dichtungen des Michelangiolo Bttonarotti, ed. Carl Frey, 1897, Nr. LXXXI. Michelangelo hatte nach Lomazzo eine »proportione saturnina« (cf. Schlosser, La letteratura artistica, 1935, p. 387; sowie oben, Seite 332 f.» und unten, Seite 518, Anm. 304). 46 Lessing, Nathan der Weise, I. Akt, j. Szene. Die Selbstpersiflage des Lessingsehen Tempelherrn ist ein spätes ironisches Echo des in Michelangelos pathetischem Ausbruch zum Ausdruck kommenden Gefühls. Ebenso findet die platonisierende Genielehre des Humanismus ein anmutigeres Echo in Goethes Versen: Zart Gedicht, wie Regenbogen, Wird nur auf dunklen Grund gezogen; Darum behagt dem Dichtergenie Das Element der Melancholie.

Melancholie als gesteigene Selbsterfahrung

341

rigen Zügen der »manieristischen« Bildnisse entgegenblickt/7 In dieser Epoche des Übergangs machte die Schwere des seelischen Drucks die Melancholie zu einer unerbittlichen Wirklichkeit, vor der man als vor einer »grausamen Plage« oder einem »melancholischen Teufel«

zitterte und die man durch tausend Gegenmittel und Trostschriften

vergebens zu bannen suchte.47 48 Noch war es der Vorstellungskraft

nicht möglich, sie in einen bei aller Schmerzhaftigkeit lustvollen Zustand zu verwandeln - einen Zustand, in dem die Spannung zwischen

Depression und Aufschwung, Unglücklichsein und >Besonders-sein tung auf seinem Spaten lehnt und dabei ist, seinen Geldkasten zu vergraben.7 Doch bei dem zweiten Melancholiker in der Erfurter

Handschrift werden Reichtum und Geiz nicht mehr durch den Geld-

kästen, sondern durch den Beutel bezeichnet, und dieses Attribut wird von nun an so typisch, daß die Beispiele des 1 ;.Jahrhunderts kaum mehr zu zählen sind (Tafel 78, 79, 81 und 82).8 Und auch die

noch in der Barockzeit benutzte Iconologia des Cesare Ripa hätte den

Melancholiker niemals ohne seinen Beutel dargestellt (Tafel 69)/ Das 6 Vatikan, Bibi. Vat., Cod. Urb. lat. 1398, fol. 1Γ. Der rechnende und geldzäh-

lende Saturn aus Cod. Pal. lat. 1369, fol. 144 * (Tafel 44) gehört dem gleichen Vorstellungskreis an (nur diesmal ohne Schlüssel); so auch die merkwürdige Gestalt links oben auf dem Sacurnblatt der Tübinger Handschrift Md. 2 (Tafei 41): ein sitzender König, der mit der Rechten auf einem großen Geldkasten Goldstücke zählt, mit der Linken aber einen Becher emporhebt (entstanden aus einer Verbindung des schmausenden Königs Janus mit dem rechnenden Saturn, der ja den Januar nicht minder als den Dezember beherrscht). 7 Die Beischrift gibt die Erklärung für diese Angleichung: *Nyemant getruwen ich.« Noch in K. W. Ramlers Kurzgefaßte Mythologie (4. Aufl., Berlin 1820, p. 456) wird dem Melancholiker neben Dolch, Strick und Fledermaus (hierzu cf. unten, Seite 456, Text) ein Geldkasten beigegeben. 8 In einem Fall ist das Motiv des Beutels sogar mit dem des Geldkastens kombiniert. 9 Cesare Ripa, Iconologia (!.Aufl., Rom 1593), s.v. »Complessioni«. Der Holzschnitt erschien zuerst in der Ausgabe von 1603.

Der historische Hintergrund der »Melencolia I

409

ist auch das Motiv, das den braven Appelius dazu veranlaßte, den

Apostel Judas zu einem Melancholiker zu machen: »Melancholische, deren vornehmste Neigung der Geitz ist, können sich wohl in Haus-

haltungssachen schicken und zu Rathe halten. Judas trug den Beutel.«10

b) Das Motiv des aufgestützten Kopfes

Zu einem nicht unbeträchtlichen Teil haben die oben erwähnten Melancholikerdarstellungen11 mit Dürers Melencolia noch ein weiteres Motiv gemeinsam, das dem modernen Betrachter zu naheliegend er-

scheint, als daß es einer historischen Ableitung bedürfte. Dürers Vor-

Studie zu dem Kupferstich, die gerade in diesem Punkt abweicht,1213

zeigt jedoch, daß es seine Herkunft nicht einfach der Beobachtung der Haltung des Melancholikers verdankt, sondern aus einer Bildtra-

dition hervorgegangen ist, die in diesem Fall über Jahrtausende zurückreicht. Es handelt sich um das Motiv der in die Hand gestützten

Wange. Die primäre Bedeutung dieser uralten Ausdrucksgeste, die schon bei den Klagefiguren in den Reliefs ägyptischer Sarkophage

begegnet, ist die der Trauer, doch kann sie auch Müdigkeit und

schöpferisches Denken bedeuten. Sie ist, um nur von mittelalterlichen

Typen zu sprechen, Ausdruck nicht nur der Klage des Johannes am

Kreuze oder des Schmerzes der »anima tristis« des Psalmisten (Tafel

63),,j sondern auch des tiefen Schlafs der Jünger am Olberg oder des träumenden Mönchs in den Illustrationen des Pelerinage de la Vie

Humaine, des konzentrierten Nachdenkens des Staatenlenkers,14 der

divinatorischen Kontemplation der Dichter, Philosophen, Evangeli-

10 Siehe oben, Seite 197 (Text). 1! J. Ligozzis AUegorte des Geizes (H. Voß, Die Malerei der Spätrenaissance in Rom und Florenz, Berlin 1920, Bd. II, Tafel 165) mit Beutel, Geldkasten und aufgestützter Hand könnte, wenn die übrigen Bildmotive nicht waren, ebensowohl als »Melancholie« gelten. 12 F. Haack hat nochmals begründet, daß es wirklich die Vorstudie ist {Zeitschrift für bildende Kunst LX, 1926/27, Beilage, p. 121). 13 Nach Ernest T. De Wald, The Stuttgart Psalter, Princeton 1930, fol. 55 (zu Psalm 42,7: »Quare tristis es, anima mea«). Verwandte Typen begegnen in demselben Werk, fol. 58* (zu Psalm 45) und fol. 14t (zu Psalm 118). 14 Siehe die oben, Seite 328, Anm. 27, erwähnten Beispiele.

4>0

Der Kupferstich »Melencolia l«

sten und Kirchenväter (Tafel 62 und 64)/5 ja selbst der meditierenden

Ruhe Gottvaters am siebten Schöpfungstag.’6 Kein Wunder daher, wenn sich diese Geste den Künstlern geradezu aufdrängen mußte, sobald es darum ging, eine Konfiguration zu schaffen, die in einer fast

einzigartigen Weise jene Dreiheit von Trauer, Mattigkeit und Nach-

denken vereinigte, d.h. wenn Saturn und die von ihm beherrschte Melancholie zu gestalten waren. In der Tat ruht das verschleierte Haupt des antiken Kronos’7 (Tafel 12) ebenso traurig und gedanken-

voll in der aufgestützten Hand, wie es bei dem Kopf des melancholisehen Herkules in einigen antiken Darstellungen der Fall ist.19 In den

mittelalterlichen Saturn- und Melancholiedarstellungen, die kaum mehr unmittelbar mit der antiken Bildtradition verbunden sind,19 ist

dieses Motiv zwar vielfach in den Hintergrund getreten, aber selbst hier ist es nicht ganz vergessen worden;20 siehe zum Beispiel die

Beschreibung des Saturn in König Alfonsos Schachbuch, die ihn als

einen traurigen Greis schildert, »la mano ala mexiella como omne

cuyerdadoso«.21 Um so leichter vermochte es daher im 15. und

16. Jahrhundert seine typische Bedeutung zurückzugewinnen und eine Renaissance zu erleben,21 die freilich im Norden und im Süden

1$ Das Vorbild für diesen außerordentlich verbreiteten Typus des »Meditierenden« ist natürlich das antike Philosophen- und Dichterporträt, dessen Uberleitung in die mittelalterliche Evangelistendarstellung von A. Μ. Friend genau untersucht worden ist (Art Studies V, 1927, pp. 1.45 ff., besonders lehrreich Tafel XVI). Paris, Bibi. Mazarine, MS 19, fol. 3'. 17 Siehe oben, Seite 294 ff. (Text). 18 Abgebildet in W. H. Roscher, Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie, Bd.I, Leipzig 1884-1890, col. 2160. 19 Über Saturnbilder siehe oben, Seite 298 ff. (Text); über Melancholiebilder unten, Seite 41$ ff. (Text). 20 Cf. etwa Modena, Biblioteca Estense, Cod. 697; über diese Handschrift und die Guarientofresken der Eremitani-Kapelle in Padua cf. A. Venturi, Arte XVII (1914), pp. 49 ff., wenngleich der Zusammenhang zwischen ihnen nicht ganz richtig gesehen ist. 21 F. Saxi, in Repertorium für Kunstwissenschaft "XIAH (1922), p. 233. 22 Wie sehr das Motiv des aufgestützten Kopfes später als spezifische Melancholikerhaltung galt, geht z. B. aus dem Umstand hervor, daß die DürerZeichnung L 144 (an sich eine harmlose Porträtstudie) in einem alten Inventar als »eines alten melancholischen Weibs Prustpild« verzeichnet ist (cf.

Der historische Hintergrund der »Melencolia 1·

411

aus ganz unterschiedlichen Impulsen entspringt. Im Norden sorgt das

wachsende Interesse an einer naturalistisch-psychologischen Charakterisierung bestimmter Menschentypen dafür, daß die Ausdrucksge-

ste des aufgestützten Kopfes in den Melancholikerbildern wieder auf-

lebt; hingegen fehlt sie bis auf weiteres in den Saturndarstellungen. In

Italien, wo Temperamentsbilder im 15.Jahrhundert kaum vorkommen (das einzige uns bekannte Beispiel ist eine Kopie eines nor-

dischen Zyklus, vom Typus unserer Tafeln 78 und 79, die nur in Einzelheiten antikisiert wurde)/3 ist es das Bestreben, nicht Typen,

sondern bestimmte Individualitäten zu charakterisieren, und insbesondere das Bestreben, die idealisch-antike Götterwelt wiederzuer-

wecken, das zur Restitution der klassischen Saturngeste führt. Dem den Kopf in die Hand stützenden Melancholiker, wie er in deutschen

Handschriften und Drucken erscheint, entspricht in Italien zum einen die Gestalt des Heraklit in Raffaels Schule von Athen, zum anderen der Saturn in dem Kupferstich B4 von Campagnola (Tafel 5;), eine

majestätische Verkörperung göttlicher Kontemplation, die erst später auf die Darstellung allgemein-menschlichen Nachdenkens zurück-

wirkt?4

G. Glück, in Jahrbuch der kunsthistorischen Sammlungen des allerhöchsten Kaiserhauses XXVIII, 1909/1910, p.4). Die unten (Seite 546, Anm. 54) zi-

tierte Arbeit von Ursula Hoff enthält eine interessante Zusammenstellung von »melancholischen« Porträts mit der Aufstützgeste. Siehe jetzt auch die Studie von Maxime Preaud, Melancolies, Paris 1982, in der sich zahlreiche Abbildungen zum Motiv des aufgestützten Kopfes finden. 23 Bei diesen Miniaturen handelt es sich um Illustrationen zu den oben (Seite 189, Anm. 149) zitierten Versen des Lionardo Dati, Vatikan, Bibi. Vat., Cod. Chis. Μ. VII, 148, fol. 11V ff. (um 1460/70). Wesentlich verändert ist nur der Choleriker, der aus einem mittelalterlichen Krieger in einen römischen verwandelt wurde. Der Sanguiniker schwingt statt der Falkenhaube einen Lorbeerkranz. 24 Zu Campagnolas Saturnstich cf. Hartlaub, Geheimnis, insbes. p. 53 und Tafel 23, und ders. in Repertorium für Kunstwissenschaft XLVIII (1927), pp. 233 ff. Uber seine Beziehung zu einem Flußgott am Triumphbogen in Benevent sowie seine interessanten Umwandlungen in 1.) einen bäuerlichen Saturn in einem Gemälde von Girolamo da Santa Croce (Tafel 57) und 2.) einen hl. Hieronymus in einem Bild des Lorenzo Costa (publiziert in Arte V, 1902, p. 296) siehe oben, Seite 313 (Text). Campagnola selbst hat den Saturnischen Denkertypus einige Jahre später in einen rein menschlichen und gewisserma-

Der Kupferstich »Melencolia I
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78. Die vier Temperamente, 1. Hälfte des ij.Jhs. Paris, Bibliotheque Nationale

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Die vier Temperamente, Mitte ij.Jh. Zürich, Zentralbibliothek

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