Sanfte Stadt: Planungsideen für den urbanen Alltag 9783868597912, 9783868597479

Annoying tasks are as much part of our lives as easy ones. We all have to wait for the bus on cold winter days, do the w

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Sanfte Stadt: Planungsideen für den urbanen Alltag
 9783868597912, 9783868597479

Table of contents :
Inhalt
Vorwort von Jan Gehl
Vorwort
Einführung
Nachbarn sein
Blöcke als Bausteine
Die Zeit deines Lebens
Fortbewegung und Vorankommen
Leben schichten
Mit dem Wetter leben
Sanftes ist schwer zu brechen
Neun Kriterien
Sanfte Städte in harten Zeiten
Anmerkungen

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Sanfte Stadt

In Erinnerung an meinen verstorbenen Vater

James Sim – ein Schotte, der leidenschaftlich an Europa glaubte. Er ermutigte mich, Deutsch zu lernen, wie er es als Knabe* vor dem Zweiten Weltkrieg getan hatte, und sorgte dafür, dass ich in meinen prägenden J ­ ahren reiste und Zeit in Deutschland, der Schweiz und Österreich verbrachte. * Knabe war das erste deutsche Wort, das ich von ihm gelernt habe.

Sanfte Stadt Planungsideen für den urbanen Alltag David Sim

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Vorwort von Jan Gehl

12

Vorwort

23

Nachbarn sein

15

Einführung Vom Leben zwischen Gebäuden zur sanften Stadt

29

Blöcke als Bausteine Vor Ort leben in einer verstädternden Welt Umschließung Verbunden Schichtung Das Potenzial des Erdgeschosses Größere Elemente unterbringen und den menschlichen Maßstab beibehalten Was ein geschlossener Block leisten kann

103

Die Zeit deines Lebens

155

Leben schichten

219

Sanftes ist schwer zu brechen

107

Fortbewegung und Vorankommen in einer überfüllten und segregierten Welt

161

Mit dem Wetter leben in Zeiten des Klimawandels

225

Im Freien leben lernen

Neun Kriterien für lebenswerte urbane Dichte

Die menschliche Dimension

Den Außenbereich ins

1. Vielfalt an gebauten Formen

der Mobilität

Haus holen: Natürliches Licht

2. Vielfalt der Freiräume

Fußläufige Gebäude

und Belüftung

3. Flexibilität

Straßen bauen

Fenster und Türen

4. Menschlicher Maßstab

Über das Zufußgehen

Die unmittelbare Außenwelt

5. Fußläufigkeit

Das Radfahren integrieren

Das eigene Wetter schaffen

6. Gefühl von Kontrolle und

Die Natur in die Stadt bringen

Identität 7. Angenehmes Mikroklima 8. Geringerer CO2-Fußabdruck 9. Größere Artenvielfalt

247

Sanfte Städte in harten Zeiten

253

Anmerkungen

Vorwort von Jan Gehl 1933 traf sich eine exklusive Gruppe europäischer Architekten und Stadtplaner in Athen zur Unterzeichnung der CIAM-Charta, die die Stadtplanung grundlegend veränderte. Diese oft als Charta von Athen bezeichneten Leitsätze bezogen sich auf die Zukunft von Architektur und Städten und empfahlen im Wesentlichen, die verschiedenen städtischen Funktionen ab sofort sorgfältig zu trennen: Wohnen, Arbeiten, Freizeit und Verkehr waren stets voneinander abzusondern. Dieser Ansatz wurde – wenig überraschend – als funktionalistisch bezeichnet und die gesamte Bewegung als Modernismus. In den folgenden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts entwickelten sich diese Ideen nicht nur zu den Leitprinzipien für Architektur und Stadtplanung, sondern dominierten auch weltweit. Insbesondere nach 1960, als auf der ganzen Welt die rasche Verstädterung einsetzte, waren sie gänzlich vorherrschend. Der traditionelle Schwerpunkt verlagerte sich. Es galt nicht mehr der traditionelle Ansatz, Städte um die Räume von Menschen zu bauen, der Fokus lag nun auf von Restflächen umgebenen Gebäuden. Überall setzten sich die modernistischen Vorstellungen von frei stehenden, monofunktionalen Gebäuden durch, die von vage definierten Niemandsländern umgeben waren. Insgesamt repräsentierten diese neuen Prinzipien den radikalsten Kurswechsel in der Geschichte menschlicher Siedlungen. Im großen Ganzen wurde nie richtig bewertet, ob diese Veränderungen für die Menschen wirklich nützlich waren. Tatsächlich haben sie für die Menschheit nicht funktioniert, wie die weit verbreitete Unzufriedenheit mit dieser Siedlungsart bekundet. 1998 wurde zu einer neuen Konferenz der europäischen Stadtplaner nach Athen eingeladen. Auf Grundlage der Erfahrungen aus den 65 Jahren seit der letzten Konferenz wurde eine neue Charta von Athen erarbeitet, die hauptsächlich besagt, dass Wohnen, Arbeiten, Erholung und Kommunikation niemals getrennt werden dürfen. Eine völlige Kehrtwende! Anscheinend mussten erst 65 Jahre vergehen und zahlreiche modernistische Stadtviertel entstehen, um zu diesen Schlussfolgerungen zu gelangen. Allerdings hatte sich als Reaktion auf die technokratische Modernismus-Bewegung seit einigen Jahren allmählich die Gegenbewegung „Städte für Menschen“ gebildet. Aus den Schriften und Forschungen zu diesem Thema ragen die Arbeit von Jane Jacobs in New York und ihr berühmtes Buch The Death and Life of Great American Cities von 1961 heraus. Jane Jacobs hat viele der Probleme der modernistischen Stadtplanung hervorragend beschrieben. Sie begann, neue Richtlinien zu formulieren: Schauen Sie

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aus dem Fenster, schauen Sie auf die Menschen, schauen Sie auf das Leben, bevor Sie planen und gestalten. In den Jahren und Jahrzehnten nach ihrem Aufruf entwickelten und vertieften mehrere Forscher die Arbeit daran, wie die gebaute Form die Lebensqualität beeinflusst. Die New Yorker Schule, mit William H. Whyte und später mit dem Projekt für öffentliche Räume, setzt die Arbeit und die Inspiration von Jane Jacobs fort. In Kalifornien hat die Berkeley School mit Christopher Alexander, Donald Appleyard, Clare Cooper Marcus, Allan Jacobs und Peter Bosselmann über mehrere Jahrzehnte viel wertvolle Forschungsarbeit und Erkenntnisse zur menschenorientierten Architektur und Stadtplanung beigetragen. In Kopenhagen wurde Mitte der 1960er Jahre an der Arkitektskolen der Kongelige Danske Kunstakademi ein ausgedehntes Forschungsumfeld geschaffen. Mehr als 40 Jahre lang hat diese Schule die Arbeit im Bereich der menschenorientierten Architektur und Stadtplanung kontinuierlich weiterentwickelt. Ich selbst war dort als Forscher tätig, zusammen mit Lars Gemzøe, Birgitte Svarre und Camilla van Deurs, um nur einige zu nennen. Die Gruppe produzierte einen stetigen Strom von Büchern mit selbsterklärenden Titeln wie Life between Buildings (1971), Public Spaces  – Public Life (1996) und Cities for People (2010). Diese und andere „Kopenhagener“ Bücher verbreiteten sich im Laufe der Jahre weltweit. Die Kopen­hagener Schule hat großen Einfluss auf die Entwicklung Kopenhagens zu einer der lebenswertesten Städte der Welt ausgeübt. Diese Art der menschenorientierten Stadtplanung übertrug sich über die Jahre auf viele Städte in der ganzen Welt, zum Beispiel auf Oslo, Stockholm, Sydney, Melbourne, London, New York und Moskau. Parallel zu diesen verschiedenen Forschungsbemühungen und ihrer Anwendung in Projekten zur Verbesserung von Städten entstanden mehrere bedeutende, auf den Menschen ausgerichtete Wohnprojekte. Hier ragen die Nachbarschafts- und Wohnprojekte des britisch-schwedischen Architekten Ralph Erskine aus den 1940er Jahren bis zu seinem Tod im Jahr 2005 heraus. Während sich die Modernisten auf frei stehende, monofunktionale Gebäude konzentrierten, die von viel zu viel Restfläche umgeben waren, konzentrierte sich Ralph Erskine auf die Menschen, die Bauwerke und die Räume zwischen den Gebäuden. Dies führte zu großartigen Stadtvierteln, großartigen Bauplänen und großartiger Architektur, bei der die Details, die Menschen und die Stadt auf Augenhöhe besondere Aufmerksamkeit erhielten. Zu den aufsehenerregendsten Projekten aus dem Büro von Ralph Erskine gehören die Stadtviertel Sandvika, Tibro, Esperanza und Ekerö in Schweden, Repulse Bay in Kanada und Byker Wall in Newcastle, England. Ralph Erskine, der von den Bewohnern immer sehr geschätzt wurde, hatte bedeutenden Einfluss auf die Kunst genommen, gute Nachbarschaftsviertel zu schaffen, insbesondere in Schweden. Professor Klas Tham, der viele Jahre mit Erskine zusammengearbeitet hat, entwarf das herausragende Stadtviertel Bo01 in Malmö, Schweden, das in diesem Buch besprochen wird. Die Bebauung ist ganz im Sinne von

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Ralph Erskine. Andere jüngere schwedische Projekte wie Järla Sjö und Hammarby Sjöstad sind ebenfalls stark von der menschenorientierten „Bauweise nach Erskine“ geprägt. In einem Interview aus dem Jahr 2000 wurde Ralph Erskine gefragt, was man braucht, um ein guter Architekt zu sein. Er antwortete: „Um ein guter Architekt zu sein, muss man die Menschen lieben, denn Architektur ist eine angewandte Kunst und befasst sich mit den Rahmenbedingungen für das Leben der Menschen.“ Was hat das alles mit der Sanften Stadt von David Sim zu tun? Eigentlich ist jedes Wort wichtig, um zu verstehen, wer David Sim ist. Man muss seinen Hintergrund kennen und wissen, wo sich die Vorstellung von der sanften Stadt in das größere Muster der aktuellen Trends im Wohnungsbau und der Stadtplanung einfügt. David Sim, ein weiterer britischer Auswanderer nach Skandinavien, wurde als Student, als Dozent für Architektur und in jüngster Zeit als Partner und Creative Director bei Gehl maßgeblich von der Kopenhagener Schule beeinflusst. Als Dozent an der Lund School of Architecture hat er eng mit einer Reihe von guten „Erskinisten“ zusammengearbeitet, vor allem mit Professor Klas Tham. David hat eine sehr intensive menschenorientierte Ausbildung genossen. Gute Städte und gute Wohnungen für die Menschen sind in der Tat das, was ihn beschäftigt und was er in diesem Buch behandelt. All die oben genannten Einflüsse und Anliegen werden in seinen sorgfältigen Beschreibungen von Alltagssituationen und den vielen Details deutlich, die zu berücksichtigen sind, um eine wirklich sanfte Stadt zu schaffen. Die Sanfte Stadt ist ein sehr persönliches Buch, das Davids außergewöhnliches Interesse an Menschen und am Leben widerspiegelt. Er schöpft aus seiner großen Erfahrung durch die Arbeit an Projekten auf allen Kontinenten und in allen Kulturen. Sie werden von seiner außerordentlichen Fähigkeit profitieren, Szenen aus dem Leben und aus den Städten zu sehen, zu beobachten und zu reflektieren. Die Sanfte Stadt ist eine wichtige Ergänzung der wachsenden Literatur über menschenfreundliche Architektur und Stadtplanung. In der Tat müssen Architektur und Stadtplanung ein wenig sanfter sein. Dies ist ein guter Ausgangspunkt. Jan Gehl Kopenhagen, April 2019

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Vorwort

Jan Gehls Vorlesungen hörte ich zum ersten Mal, als ich 19 Jahre alt und Architekturstudent in Schottland war. Mit einer Mischung aus Bescheidenheit, Menschlichkeit und Humor verwebt Jan Gehls verständiger Ansatz Architektur, Planung und Psychologie mit intensiven Beobachtungen der menschlichen Natur. Jan vermittelte mir die immense Bedeutung der kleinen, scheinbar banalen Aspekte der Alltagsumgebung – die einfachen Dinge, die unser Verhalten beeinflussen und zu unserem Wohlbefinden beitragen. Ich lernte auch, dass ich das meiste, was ich über Design wissen musste, einfach dadurch erfuhr, dass ich die Menschen und die Umgebung um mich herum betrachtete, indem ich sah, was funktioniert und was nicht. Diese pragmatischen Ideale begründeten meine Zukunft – meine ­weitere Ausbildung und berufliche Praxis. Ich studierte in Dänemark und Schweden, nicht nur bei Jan Gehl, sondern auch bei anderen Architekten, die zu meinen persönlichen Helden wurden, darunter Steen Eiler Rasmussen, Sven-Ingvar Andersson, Ralph Erskine, Bernt Nilsson und Klas Tham. Da ich in Skandinavien lebe, mit seiner Tradition der schönen Alltagsarchitektur und des Designs, habe ich eine grundlegende Achtung vor der Natur und den Menschen sowie die sanftere Herangehensweise an das tägliche Leben zu verstehen und schätzen gelernt. Im Jahr 2002 trat ich in das neu gegründete Büro Gehl in Kopenhagen ein. Zunächst waren wir nur vier Personen in einem Dachgeschoss, und in den folgenden 17 Jahren erlebte ich, wie das Büro zu einer globalen Marke mit mehr als 80 Mitarbeitern und Büros in New York und San Francisco heranwuchs. Als Kreativdirektor bei Gehl konnte ich all das, was ich zuvor gelernt hatte, in Projekten auf der ganzen Welt umsetzen. Gehl ermöglichte mir auch dieses Buch, und

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ich möchte mich besonders bei meiner internen Redakteurin Birgitte Svarre und dem Team bei Gehl bedanken, das bei der Erstellung aller Grafiken auf der Grundlage meiner Handskizzen geholfen hat. Seit der Veröffentlichung von Soft City im Jahr 2019 sind etwa 20 Übersetzungen erschienen, 10 weitere sind in Vorbereitung. Über diese deutsche Übersetzung freue ich mich besonders, da ich glaube, dass im deutschsprachigen Raum bereits eine solide Grundlage für die Errichtung sanfterer Städte vorhanden ist. Es besteht eine bewährte Tradition für nachhaltige und pragmatische Stadtplanung, sowohl in Bezug auf die Beibehaltung alter Dinge, die funktionieren (wie beispielsweise die Achtung und der Wiederaufbau traditioneller städtischer Bebauungsstrukturen und die Reinvestition in den schienengebundenen Stadtverkehr), als auch in Bezug auf neuere Ideen wie die Umgestaltung zu Fußgängerbereichen und die Form der Baugemeinschaft. Darüber hinaus möchte ich die vielen kreativen Möglichkeiten erwähnen, die städtischen Freiräume zu nutzen, alte und neue, vom Weihnachtsmarkt bis zum Flusssurfen. Im Jahr 2021 verließ ich Gehl und begann ein neues Kapitel in meinem Leben; ich machte mein eigenes kleines Büro auf und schrieb das nächste Buch. Auch nach rund 30 Jahren Berufspraxis, Lehr- und Forschungserfahrung lerne ich noch täglich Neues und studiere weiterhin die menschliche Natur. Danke, dass Sie sich die Zeit nehmen, Sanfte Stadt zu lesen. David Sim Lund, Juli 2022

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Einführung Vom Leben zwischen Gebäuden zur sanften Stadt

Einführung 15

So steinig kann eine gesellschaft sein Daß alles ein einziger block ist Und so knochig die einwohnermasse Daß das leben erstarrt im schock ist Und das herz ist gänzlich im schatten Und das herz hat fast aufgehört Bis einer beginnt eine stadt zu baun Die ist wie ein körper so weich Inger Christensen, [1969] 20021

Das dänische Phänomen Hygge hat weltweites Interesse gefunden. Es beschreibt das tägliche Beisammensein und meint eine gemütliche, gesellige Atmosphäre, die Wohlbefinden fördert. Hygge spiegelt die Sanftheit der skandinavischen Gesellschaften wider. Den nordischen Ländern ist ein sanfter Pragmatismus eigen; er geht mit einer außergewöhnlichen Lebensqualität der Menschen einher, die auf der Aufmerksamkeit auch für die einfachen Dinge des Alltags und einer bestmöglichen Nutzung begrenzter Ressourcen beruht (was sich nicht zuletzt in der tiefen Bedeutung des Wohlfahrtsstaates zeigt). Dieser Pragmatismus gründet auf den Möglichkeiten und Grenzen der menschlichen Sinne, indem er den Naturgesetzen folgt und mit den Realitäten des Klimas und dem Wechsel der Jahreszeiten lebt. Hygge hat den gleichen Ursprung wie das englische hug („umarmen“ – wortwörtlich „trösten“). Die Schweden bezeichnen dies mit mys, während die Norweger kose verwenden. Im Dänischen und Norwegischen lassen sich diese Verben reflexiv gebrauchen, sodass man sagen kann: „Sollen wir es uns gemütlich machen?“ Dieses aufschlussreiche Sprachdetail der kalten Klimazonen und rauen Landschaften Skandinaviens verrät das tiefe Bedürfnis eines Volkes, in gemeinschaftliche Behaglichkeit zu investieren, um die harte Realität des Alltags sanfter zu gestalten. Nach wie vor besteht das Leben aus lästigen Aufgaben und Herausforderungen. Jeder muss arbeiten, in die Winterkälte hinausgehen, Fahrrad fahren oder auf den Bus warten, die Kinder von der Kita abholen und ihnen das Abendessen bereiten, den Abwasch machen und den Müll hinaustragen. Aber mit ein wenig Aufmerksamkeit lässt sich all dies mit ein wenig mehr Würde, ein wenig mehr Komfort und sogar mit ein wenig mehr Freude erledigen. In kleinen Schritten und mit einfachen, kostengünstigen Investitionen kann die harte Realität des modernen Lebens etwas sanfter gemacht werden – selbst in einer Welt, in der die Verstädterung rasant voranschreitet, die räumliche Trennung zunimmt und das Klima uns herausfordert. Angesichts der riesigen gesellschaftlichen Herausforderungen unserer Zeit mag es naiv erscheinen, über Hygge zu sprechen. Das raue politische Klima zeugt von einer tief empfundenen Angst vor Veränderungen. Die Menschen haben Angst vor der raschen Verstädterung, die als Bedrohung ihrer Lebensweise wahrgenommen wird. Furcht besteht auch vor der wachsenden und sich verändernden Bevölkerung, vor Überbevölkerung und Verkehrsstaus, sozialer Kluft und Ungleichheit. Es herrscht Angst vor dem Klimawandel, vor ungewohnten Wetterlagen und immer häufigeren Naturkatastrophen. Diese Herausforderungen rühren am Kern der menschlichen Existenz. Doch als Reaktion auf die Angst wird oft genau die entgegengesetzte Richtung

16  Sanfte Stadt



Klimawandel, Verkehrsstaus, räumliche Trennungen sowie rasche Verstädterung sind vier der größten Herausforderungen, denen die Welt im 21. Jahrhundert gegenübersteht. Von vielen wird jede Veränderung im Zusammenhang mit der Erde, den Menschen und dem verfügbaren Raum als Bedrohung ihrer Lebensweise empfunden

eingeschlagen, der Wandel geleugnet und das Ausmaß der Unterschiede ausgeblendet, anstatt sich der Aufgabe zu stellen und die Chance des Neuen anzunehmen. Da sich die Städte weltweit verdichten und die Wohnkosten mehr Menschen in kleinere Räume drängen, wird ein Gleichgewicht zwischen Privatsphäre und Geselligkeit immer schwieriger. Depressionen und Einsamkeit sind inzwischen normale Phänomene. Der Gesundheitszustand der Menschen verschlechtert sich, da sie ihr Leben in geschlossenen, klimatisierten Gebäuden mit künstlichem Licht verbringen und zur Fortbewegung das Auto nutzen. Die sanfte Stadt geht diese Herausforderungen an. Mehr Zeit im Freien in Gesellschaft zu verbringen, sich zu bewegen, das „Leben zwischen Häusern“2 zu erfahren, ist wichtiger denn je. Die Kombination von sanft und Stadt mag wie ein Widerspruch in sich klingen. In einem Gespräch mit Professor Toshio Kitahara, dem Übersetzer von Jan Gehls Büchern ins Japanische, entstand der Begriff sanfte Stadt. Professor Kitahara bemerkte, dass ich diese scheinbar widersprüchlichen Wörter häufig kombiniere. In der sanften Stadt sollen die Menschen näher zusammenrücken, sich untereinander und mit allen Aspekten des Lebens um sie herum verbinden. Jahrzehntelang suchte die Stadtplanung vor allem nach Wegen, um menschliche Aktivitäten in abgegrenzten Silos zu organisieren, um Menschen und Dinge zu trennen und so das Risiko von Konflikten zu verringern. Ich möchte mich stattdessen darauf konzentrieren, wie zugunsten einer besseren Lebensqualität widersprüchliche Faktoren des täglichen Lebens zusammengebracht und verknüpft werden können. Vielleicht kann die sanfte Stadt als Gegenpol oder sogar als Ergänzung zur smarten Stadt betrachtet werden. Anstatt für die Lösung der zunehmenden Verstädterung

Einführung 17

nach komplexen neuen Techniken zu suchen, sollten wir einfache, kleine, technologiearme, kostengünstige, menschenorientierte und sanfte Lösungen anstreben, die das Stadtleben leichter, attraktiver und angenehmer machen. Sanfter ist vielleicht smarter. Dieses Buch enthält Überlegungen zu einigen grundlegenden Aspekten der ­urbanen Form und der Stadtgestaltung, die zu nachhaltigeren und anpassungs­­ fähigeren Gemeinschaften und einem gesünderen und glücklicheren Leben der dort wohnenden Menschen beitragen können. Jedes der drei Hauptkapitel befasst sich mit einer der großen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Zwischen den einzelnen Kapiteln erörtert jeweils ein kurzer Essay einen der Leitgedanken zum Erhalt der Lebensqualität im städtischen Umfeld. Das erste Kapitel, „Blöcke als Bausteine: Vor Ort leben in einer verstädternden Welt“, nimmt die Herausforderung der Urbanisierung an, indem es aufzeigt, wie sich Dichte und Vielfalt am selben Ort vereinen lassen, um möglichst lokal leben zu können. Im zweiten Kapitel, „Fortbewegung und Vorankommen in einer überfüllten und segregierten Welt“, werden die baulich-räumlichen und sozialen Fragen im Zusammenhang mit der Bewegung der Menschen behandelt, die unmittelbar vor der Haustür beginnt. In Kapitel drei, „Mit dem Wetter leben in Zeiten des Klimawandels“, geht es darum, die in Innenräumen lebenden Menschen besser mit dem Außenleben zu verbinden, um das Bewusstsein für die Natur zu schärfen und den Umgang mit ihr zu erleichtern. Alle Kapitel führen in kleinen, einfachen Schritten vom Vertrauten (Zuhause und Arbeitsplatz) zum weniger Vertrauten (dem Viertel, der Stadt und der Welt). Ihr gemeinsamer Nenner ist, die Dichte und Vielfalt des Alltags so zu gestalten, dass Bequemlichkeit, Zweckmäßigkeit, Geselligkeit und Gemeinschaft im täglichen Leben möglich sind. Das Buch zieht seine Inspirationen aus einer nordischen, auf den Menschen ausgerichteten Planungstradition. 1971veröffentlichte Jan Gehl das Buch Livet mellem husene (Leben zwischen Häusern), während seine Frau Ingrid Gehl das Buch Bomiljø (Die Psychologie des Wohnens) herausgab.3 Beide Veröffentlichungen fielen in eine Zeit des Umbruchs in der Stadtplanung und repräsentieren einen Paradigmenwechsel im Verständnis des Menschen und seiner gebauten Umwelt. Jan und Ingrid Gehl schufen einen interdisziplinären Ansatz, der dem menschlichen Leben Vorrang vor der gebauten Form einräumt. Zur gleichen Zeit entstand in Dänemark eine neue Form des Städtebaus, die sogenannte Tæt-lav (dicht-niedrig), eine architektonische Bewegung, die ein Gleichgewicht zwischen den individuellen und den gemeinsamen Bedürfnissen von Bewohnern herstellte. Dieser „dritte Weg“ kombinierte die im großmaßstäblichen Wohnungsbau eingesetzten industriellen Produktionstechniken mit typologischen Details von Einfamilienhäusern. Die frühen Tæt-lav-Projekte reduzierten den Maßstab radikal und schufen Orte mit dorfähnlichen Mustern, in denen die einzelnen Bauten deutlich erkennbar waren. Die Häuser unterschieden sich dabei durch kleine, aber bedeutsame Details wie eine eigene Eingangstür und einen zugehörigen Garten. Ebenso wurde auf identifizierbare Gemeinschaftsbereiche geachtet, die das nachbarschaftliche Zusammenleben fördern sollten. Die Tæt-lav-Bewegung feierte sowohl die Individualität als auch die Gemeinschaft. Dieser wichtige Sowohl-als-auch-Aspekt von privat und gemeinschaftlich berücksichtigt zwei scheinbar widersprüchliche Seiten des Men-

18  Sanfte Stadt

Mit dem Wetter leben

Fortbewegung und Vorankommen

Die sanfte Stadt ergreift die Gelegenheit, sich mit der Erde, den Menschen und dem Ort auseinanderzusetzen. Die Menschen sind eingeladen, in ihrem eigenen Tempo eine Beziehung zu ihrer Umgebung aufzunehmen, sich von ihrem Zuhause und ihrem Arbeitsplatz aus schrittweise nach draußen in ihre Nachbarschaft und in das weitere Umfeld zu bewegen

Blöcke als Bausteine / Vor Ort leben

schen: das Bedürfnis nach Individualität und das Bedürfnis nach Geselligkeit. Die Grundsätze in diesem Buch beruhen auf den Werten der Tæt-lav-Bewegung und aktualisieren sie für die dichten, gemischt genutzten städtischen Umgebungen des 21. Jahrhunderts. Zeitgleich mit Tæt lav wurden in Dänemark Straßen und öffentliche Räume zu Fußgängerzonen umgestaltet, angefangen mit der berühmten Strøget in Kopenhagen. Zumindest für eine kurze Zeit boten diese Fußgängerbereiche eine nachhaltigere und geselligere Alternative zu den überdachten Einkaufszentren außerhalb der Stadt. Als Reaktion auf die Ölkrise von 1973/74 leisteten die dänischen Städte und Gemeinden zudem Pionierarbeit für das Fahrrad als ernstzunehmendes Verkehrsmittel. Die urbane Verkehrsinfrastruktur machte das Radfahren für alle sicherer, indem es als wichtiger Teil des täglichen Lebens im städtischen Kontext belassen wurde. In den späten 1970er und 1980er Jahren kehrte Dänemark der von modernistischen Planern weltweit propagierten Beseitigung älterer Stadtviertel den Rücken und wandte sich einem vorsichtigeren, durchdachten lokalen Ansatz zu. Die tradi-

Einführung 19

tionelle Struktur der Blockrandbebauung blieb bestehen, und viele alte Gebäude wurden erhalten und renoviert. In den 1980er Jahren hielten auch ökologische Lösungen im städtischen Kontext Einzug: Solarpaneele und Wintergärten brachten die Menschen näher zur Natur und machten die Ökologie in ihrem Alltag relevant. Insgesamt betrachtet haben der Tæt-lav-Wohnungsbau, das Zufußgehen und Radfahren, einfache Änderungen an der bestehenden Blockbebauung und der Einbezug der Ökologie das städtische Leben geselliger und wesentlich attraktiver gemacht, insbesondere für Familien mit Kindern. Diese Anerkennung und Berücksichtigung der menschlichen Dimension trug maßgeblich zur Renaissance des urbanen Lebens bei und machte Kopenhagen zu einer der lebenswertesten Städte der Welt.4 Es ist nicht meine Absicht, Kopenhagen oder Skandinavien zu kopieren, zumal das Übertragen von Lösungen von einem Ort auf den anderen eine umfangreiche Neuinterpretation erfordert. Allerdings könnte der nordische Ansatz, die Realität eher anzunehmen als abzulehnen, auch unser Leben verbessern. Wir können lernen, das Alltägliche zu feiern, anstatt es zu beklagen, mit dem Wetter, in unseren Verhältnissen und mit unseren Nachbarn zu leben. Dieses Buch enthält neben denen aus Skandinavien auch Beispiele aus anderen europäischen Ländern sowie aus Japan, den USA und Australien, die zeigen, wie an anderen kreativen Orten mit weniger offenbar mehr zu erreichen ist. Die urbane Welt besteht aus vielen verschiedenen Orten mit unterschiedlichen Umgebungen und Kulturen, Menschen und Landschaften, Politiken und Verwaltungsmodellen, Finanzierungsmechanismen und Rechtssystemen. Einige dieser Unterschiede finden sich zwischen Städten, Gemeinden und Dörfern, Stadtzen­ tren und Vorstädten ein und desselben Landes. Und dennoch sehe ich trotz dieser Abweichungen überall auf der Welt sehr ähnliche Situationen, Herausforderungen und Probleme. Ich vermute, dass für viele dieser Situationen dieselben Grundprinzipien Lösungen liefern können. Alles in allem sind sich die Menschen und ihre Verhaltensweisen auf der ganzen Welt bemerkenswert ähnlich, ebenso wie ihr Grundbedürfnis nach Bequemlichkeit und Geselligkeit im Alltag. Die derzeitige Herausforderung der zunehmenden Verstädterung sollte eigentlich als Chance gesehen werden, besser funktionierende Städte zu schaffen. Städte haben das Potenzial, Orte positiver Interaktion und der Verbindung zu sein, die im Zuge ihrer Verdichtung und Diversifizierung Unterschiede bewusst nebeneinanderstellen. So können wir sanfte urbane Symbiosen herstellen, die sich ständig weiterentwickeln, und dabei Möglichkeiten für gesündere, nachhaltigere, angenehmere und bedeutungsvollere Beziehungen entdecken, indem wir Nachbarn sind. Wie Jaime Lerner, Architekt und ehemaliger Bürgermeister von Curitiba, Brasilien, bekanntlich sagte: „Städte sind nicht das Problem, sie sind die Lösung.“5

20  Sanfte Stadt

Einige Grundsätze für eine sanftere Stadt

Vom großen Maßstab

zum kleinen Maßstab

Vom offenen Raum

zur Umschließung

Vom Stapeln

zum Schichten

Von alleinstehend

zum Verbundenen

Von monofunktional

zum Multifunktionalen

Von ausgebreitet und befahrbar

zum Konzentrierten und Fußläufigen

Einführung 21

Nachbarn sein

01.

02.

24  Sanfte Stadt

03.

„Nachbarschaft ist kein Ort; Nachbarschaft ist eine Einstellung.“

Nachbarschaftsszenen: 01. Mexiko-Stadt, Mexiko 02. Kopenhagen, Dänemark 03. Stockholm, Schweden

Wenn es um den Lebensraum des Menschen geht, um Städte und Gemeinden, um urbane Gestaltung oder die Schaffung von Orten, dann ist der Begriff Nachbar stets hilfreich. Sobald man an einen Nachbarn denkt, fällt einem ein anderer Mensch ein. Dabei handelt es sich nicht um ein vages Planungskonzept oder irgendein städtisches Phänomen, sondern um eine lebende Person, jemanden wie du, aber anders. Nachbar ist weder ein Fachterminus noch der Jargon von Planern, sondern ein einfaches Wort, das jeder kennt und versteht. Im engsten Sinne meint Nachbar die Person von nebenan, im weitesten die ganze Menschheit. Nachbarschaft ist ein Beziehungsstatus. Das menschliche Umfeld besteht vor allem aus Beziehungen: zwischen den Menschen und der Erde, zwischen Menschen und Orten sowie der Menschen untereinander. In der Beziehung zwischen Mensch und Erde haben wir unwirtliche Orte und raue Klimazonen bewohnbar gemacht. Das Zusammenleben mit anderen ermöglichte uns, gemeinsam zu agieren und zu arbeiten – und damit zu organisieren, Handel zu treiben, zu produzieren und zu lernen. Indem wir diese verschiedenen Beziehungen kultivierten, kontrollierten und sogar manipulierten, konnten wir nicht nur überleben, sondern auch Gesellschaften und Kulturen erschaffen und oftmals (aber gewiss nicht immer) eine bessere Lebensqualität erzielen. Gelungene Nachbarschaft brachte uns Aufschwung und Blüte und ein längeres, erfüllteres Leben. Natürlich ist es nicht immer einfach, Nachbarn zu sein. Menschen haben unterschiedliche Ansichten und Bedürfnisse, Werte und Verhaltensweisen. Die Vorteile eines gemeinsamen Standorts können sich ebenso leicht zu Problemen entwickeln wie ein Überangebot zu Abfall, Energie zu Schadstoffausstoß, Mobilität zu Verkehrsstau, Zusammenarbeit zu Ausbeutung und Zusammenleben zu Konflikten führt. Dennoch ist der Begriff Nachbar in unserer sich rasch verstädternden Welt aktueller denn je. Überall auf der Welt verdichten sich die Städte nicht nur, sie werden auch vielfältiger. Genau diese Vielfalt und die Unterschiede sind es, die neue Möglichkeiten schaffen. Am einfachsten lässt sich alles, was die Gesellschaft zu bieten hat, nutzen, wenn man Nachbarn hat, enge Nachbarn.

Nachbarn sein  25

Die These dieses Buches läuft auf eine einfache Gleichung hinaus: Dichte × Vielfalt = Nähe Dahinter steckt der Gedanke, dass die Verschmelzung von Dichte und Vielfalt die Wahrscheinlichkeit oder Möglichkeit erhöht, dass sich nützliche Dinge, Orte und Menschen in unmittelbarer Nähe befinden. Die Anziehungskraft von Städten liegt im gemeinsamen Nutzen. Sie bieten wechselseitige Systeme oder Regelungen, die symbiotische Beziehungen fördern. Es sind mindestens drei Vorteile, aus denen sich die Attraktivität einer dichten, vielfältigen urbanen Umwelt erklärt: räumliche Nähe, gemeinsame Ressourcen und geteilte Identitäten. Die räumliche Nähe zu Menschen und Orten kann auch den Zugang zu Arbeitgebern und Arbeitnehmern, Lehrern und Handwerkern, Geschäften, Schulen und Dienstleistungen verbessern – am richtigen Ort und zur passenden Zeit. Nähe wird im städtischen Kontext durch gemeinsame Ressourcen ermöglicht, wie öffentliche Räume, Krankenhäuser, Bibliotheken, Universitäten und öffentliche Verkehrsmittel. Es geht darum, näher an dem Ort zu sein, an dem Entscheidungen getroffen und Entdeckungen gemacht werden, wo neues Wissen entsteht, wo Mode kreiert wird, Trends entstehen und Kultur stattfindet. Durch die Nähe lässt sich die urbane Umwelt in Zeit verwandeln, mit dem Vorteil, dass sich diverse Dinge am selben Tag, am selben Morgen oder sogar zum selben Zeitpunkt erledigen lassen. Wir wissen, dass die Infrastrukturkosten pro Kopf mit zunehmender Dichte sinken. Außerdem ergeben mehr Menschen mehr Kunden und damit eine größere Bandbreite an kommerziellen und kulturellen Aktivitäten. Theoretisch gilt: je größer die Stadt umso größer der Pool an gemeinsamen Ressourcen. Und genau dieser Zugang zu Ressourcen ist es, der die bisweilen beengten und überfüllten Lebensbedingungen im urbanen Alltag kompensiert. Von Vorteil ist außerdem die mit der Gemeinschaft geteilte Identität, die aus der gemeinsamen Nutzung von Orten und Ressourcen resultiert. Dieses Zugehörigkeitsgefühl zeigt sich im Stolz der Menschen auf ihre Stadt, auf ihre Lieblingsorte und lokale Helden, ihre öffentlichen Bauten, Parks und Promenaden und ihre Sportler und Künstler. Eine lokale urbane Identität ist häufig stärker und vielleicht auch relevanter als die nationale, kulturelle oder ethnische Identität. Ihr integrativer Charakter bewirkt wohl eine der gesündesten Formen kollektiver Identität. Ein weiterer Vorteil einer dichten, vielfältigen urbanen Umwelt liegt in ihrem Potenzial unerwarteter Möglichkeiten. Städte und Gemeinden sind Orte spontaner, zufälliger und unvorhergesehener Begegnungen. Beständig wechselnde Konstellationen von Personen halten erfreuliche Überraschungen und zahlreiche Möglichkeiten bereit. Dieser scheinbar belanglose Aspekt ist von entscheidender Bedeutung.

26  Sanfte Stadt

Wenn wir besser verstehen, welche Bedingungen eine gute Nachbarschaft ausmachen, können wir uns leichter an Enge, Unterschiedlichkeit und Veränderungen anpassen. Wir können dies als Möglichkeit und nicht als beklagenswerte Herausforderung ansehen. Wir sollten erkennen, dass jedes Detail in der physischen Zusammensetzung der gebauten Umwelt das Potenzial hat, uns Bequemlichkeit, Nutzen und Verbindung zu anderen Menschen zu bieten. Das subtile Gleichgewicht zwischen privaten und öffentlichen Bedürfnissen und das Unterbringen verschiedener Aktivitäten am selben Standort ermöglichen ein gutes Leben, ohne viel unterwegs sein zu müssen. Wenn die Beziehungen im räumlich-baulichen Umfeld stimmen und alles Notwendige in greifbarer Nähe liegt, kann eine städtische Nachbarschaft ein besseres Leben bieten. Durch täglichen Kontakt und regelmäßige Begegnungen entsteht ein Bezug zu anderen Menschen. Im Laufe der Zeit kann aus diesem Bewusstsein, diesem Verständnis eine Wertschätzung erwachsen, wenn den Menschen die Erde, ihre Mitmenschen und Orte ein Anliegen sind. Letztlich führt ein Umdenken zu veränderten Verhaltensweisen. So gesehen ist Nachbarschaft kein Ort; Nachbarschaft ist eine Einstellung.

01./02. Kissa Laundry Café, Tokio, Japan Ein freies Erdgeschoss in einem ruhigen Stadtviertel wurde kreativ zu einem Waschsalon-Café umgebaut und entwickelte sich schnell zu einem beliebten Gemeinschaftszentrum

01.

02.

Nachbarn sein  27

28  Sanfte Stadt

Blöcke als Bausteine Vor Ort leben in einer verstädternden Welt

Penthouse

Gemeinsames Treppenhaus

Öffentliche Vorderseite

Verbundene Bauten

Geschichtetes Gebäude

Aktives Erdgeschoss

30  Sanfte Stadt

Dach optimal nutzen

Für eine zunehmende Verdichtung sprechen viele Gründe. Angesichts einer rasanten Verstädterung und schwindender Ressourcen müssen wir die vorhandene Infrastruktur effizienter nutzen, mit den vorhandenen Grundlagen besser umgehen – insbesondere mit dem zur Verfügung stehenden Raum – und dafür sorgen, dass das, was wir bauen, mehr für uns leistet. Doch beschert uns höhere Dichte allein noch kein besseres Leben. Nur weil gestapelte Flächen räumlich nutzbarer sind, sind sie nicht unbedingt von Vorteil. Wahre urbane Qualität entsteht durch Dichte und Vielfalt von Gebäudetypen und Nutzungen am selben Ort. Meiner Meinung nach können die unterschiedlichsten, selbst gegensätzliche Nutzungen und Nutzer nebeneinander bestehen und von den Annehmlichkeiten eines gemeinsamen Standorts profitieren, wenn das städtische Umfeld einer guten Nachbarschaft förderlich ist.

Private Rückseite

Umschließung

Innenhof

Blöcke als Bausteine  31

Umschließung

Die städtebauliche Grundform der Umschließung scheint so alt zu sein wie die gebaute Umwelt selbst. Schon in den ersten formalen menschlichen Siedlungen vor Tausenden von Jahren existierte eine einfache Bebauungsstruktur, die als urban bezeichnet werden könnte. Die Umschließung zeichnet sich durch Gebäude aus, die nicht in der Mitte, sondern am äußersten Grundstücksrand und miteinander verbunden platziert sind, sodass verschiedene Parzellen nebeneinanderliegen. Ihr vielleicht wichtigster Aspekt sind die unterschiedlichen Außenräume, die zwischen den Bauten entstehen. Durch die Gruppierung der Gebäude zu Umschließungen werden ohne zusätzliche Kosten weitere kontrollierbare Außenräume geschaffen. Die Blockrandbebauung mit Innenhöfen gewährt die im urbanen Umfeld drin­ gend benötigte Privatsphäre sowie Sicherheit. Da der Bereich baulich und visuell geschützt ist, eignet er sich für verschiedene Tätigkeiten, sei es als Erweiterung des Lebensbereichs innerhalb eines Hauses oder als zusätzliche Fläche für weitere Nut­ zungen. Mit der Zeit bieten geschützte Bereiche Raum für Flexibilität, für tempo­ räre oder saisonale Nutzungen und zukünftige Erweiterungen. Außerdem halten sie Lärm, Gerüche und Unordnung ab und schützen die umliegenden Nachbarn somit vor eventuell störenden Aktivitäten. Diese geschützten Außenbereiche können als Toleranzzonen angesehen werden. Sie spielen eine entscheidende Rolle darin, die Menschen und ihre Tätigkeiten voneinander abzuschirmen. Vervielfacht ergibt die Gruppierung von Blöcken weitere Raumtypen: ohne Mehr­ kosten entstehen dadurch Straßen und öffentliche Räume wie Plätze. Diese Bereiche sind wichtig, auch wenn sie oft nicht gänzlich umschlossen sind. Definiert werden sie durch die Ränder der Häuserblöcke, zu denen sie auch den Zugang ermöglichen. Da sie teilweise wettergeschützt sind, können sie bequemer durchquert werden und ein Verweilen ist angenehmer. Diese althergebrachte urbane Bebauungsstruktur bie­ tet den Vorteil, dass sie zwei sehr unterschiedliche Arten praktischer Außenräume ausbildet – einen privaten und einen öffentlichen. Die Raumökonomie des Systems ermöglicht es, die verschiedenen Raumarten – bebaut und unbebaut, privat und öffentlich – unmittelbar nebeneinanderzustellen und nur durch die Gebäude selbst zu trennen. Somit löst diese urbane Bauform mit nur minimalem Einsatz von Mate­ rial und Raum die größte Herausforderung des Städtebaus, nämlich die Schaffung von Dichte bei gleichzeitiger Vielfalt von Gebäudetypen und Nutzungen, in denen sich verschiedene Aktivitäten entfalten können. Es existieren viele Spielarten der geschlossenen Form − von einem großen Hof, der von einem einzigen, die gesamte Grundstücksfläche einnehmenden Gebäude umgeben ist, bis hin zu mehreren Bauten um eine Reihe unterteilter Außen­bereiche. Vom hutong und dem patio über den Schlosshof bis zum Kreuzgang gibt es in der Siedlungsgeschichte verschiedener Regionen und Kulturen Beispiele für einge­ friedete Stadtviertel. Der von Gebäuden umschlossene Außenraum hat sich im urbanen Kontext als nützliche und sinnvolle Wohnform bewährt. Wichtig ist ein klar

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Raum umschließen: eine städtebauliche Grundform der Bebauung 01. Gebäude am äußeren Grundstücksrand 01.

02. Unterschiedliche Bauten: verbunden und nebeneinander angeordnet 03. Eine Umschließung schafft kontrollierbaren privaten Außenraum

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04. Eine wiederholte Blockstruktur definiert den öffentlichen Raum von Straßen und Plätzen

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­ efinierter und erkennbarer Innenbereich, der von den Bewohnern des Gebäudes d oder der umliegenden Bauten kontrolliert werden kann. Ein wesentliches Merkmal der Blockrandbebauung ist die Eigenschaft, bei geringer Höhe Dichte zu erzielen. Durch die Bebauung entlang des äußeren Grundstücks­ randes entsteht um den inneren Freiraum sozusagen eine Schale von Bauten, sodass deren Grundfläche größer ausfallen kann. Diese sehr effiziente Art der Raumnutzung ermöglicht es, eine größere Fläche zu bebauen, und erfordert damit eine geringere Gebäudehöhe. Kleinere Häuserblöcke weisen im Verhältnis zu ihrer Größe mehr solcher Ränder oder Schalen aus Gebäuden auf als größere Blöcke. Es kann also in Gebäuden mit geringerer Höhe die gleiche Anzahl von Quadratmetern erreicht werden, wenn die Blöcke kleiner sind. Ein klassischer Häuserblock mit vier oder fünf Geschossen kann viel mehr leis­ ten, als sein bescheidenes Erscheinungsbild vermuten lässt. Wenn der geschlossene Block sein volles Potenzial entfaltet, schafft er an einem Standort ein symbiotisches urbanes System für viele verschiedene Aktivitäten. Die Kombination von Dichte und Vielfalt der Gebäudetypen und Nutzungen, bei kompakter Grundfläche und im menschlichen Maßstab, ergibt ein ebenso effizientes wie attraktives Umfeld. Mit seiner Vorder- und Rückseite bietet der geschlossene Block sowohl eine klar definierte und zugängliche öffentliche Seite als auch eine geschützte und kontrol­ lierte private Seite. Dieser einfache Ansatz vereint vielfältige Bedürfnisse, von sehr öffentlich bis sehr privat, in nächster Nähe. Die räumliche Organisation des geschlossenen Häuserblocks trägt dazu bei, den verschiedenen Anforderungen des Alltags gerecht zu werden und mehr Möglich­ keiten für diverse Aktivitäten zu schaffen. Die Vorderseite ist öffentlich, wobei sich das Erdgeschoss ideal für Dienstleistungen, Geschäfte und Betriebe eignet. Der private rückseitige Teil hingegen bietet Kindern einen sicheren Platz zum Spielen oder Aufbewahrungsorte für persönliches Eigentum. Die Gebäudewände schirmen den Lärm der Straße und der öffentlichen Plätze ab, insbesondere den des Autoverkehrs. In der dichten Stadt sind Ruhe und Stille von besonderer Bedeutung, und die Umschließung ermöglicht sogar, bei offenem Fenster zum Hof hin zu schlafen. Die gebaute Umfriedung hält auch die Luftver­ schmutzung zurück, sodass die Luft im Hof sauberer bleibt und zum Beispiel Wäsche im Freien getrocknet werden kann.

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Dragør, Dänemark, und Rosengård, Malmö, Schweden Das malerische dänische Dorf Dragør ist berühmt für sein Mikroklima, das trotz der relativ kalten und windigen nordischen Witterung Feigenbäume in den kleinen Gärten gedeihen lässt. Kaum vorstellbar, dass das aus Häusern und Gassen bestehende Dorf die gleiche Dichte aufweist wie die Wohnsiedlung Rosengård in Malmö mit ihren großen Plattenbauten

Verschiedene Entwürfe für Dichte Bei gleicher Bebauungsdichte sind unterschiedliche Gebäudetypologien und Freiflächen möglich. Alle Beispiele haben eine Netto-Geschoss­ fläche von 22.400 Quadratmetern und beinhalten 224 Wohnungen. Besonders interessant ist, welche Bauform mehr umschlossenen, geschützten Außenraum und anteilig mehr Erdgeschoss-, Rand- und Dachgeschoss-/Penthousefläche ergibt, denn all dies schlägt sich im Nutzen und letztlich im Wert nieder

3 Türme 18−19 Geschosse Grundfläche: 1200 m2 5 % Erdgeschoss 5 % Dachgeschoss/Penthouse 22 % begehbare Höhe Gebäudekante: 240 m

Plattenbauten 14 Geschosse Grundfläche: 1600 m2 7 % Erdgeschoss 7 % Penthouse 29 % begehbare Höhe Gebäudekante: 360 m

Größerer Hof 6−7 Geschosse Grundfläche: 3600 m2 16 % Erdgeschoss 16 % Dachgeschoss/Penthouse 67 % begehbare Höhe Gebäudekante: 400 m

Kleinere Höfe 4 Geschosse Grundfläche: 5600 m2 25 % Erdgeschoss 25 % Dachgeschoss/Penthouse 100 % begehbare Höhe Gebäudekante: 720 m

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Obwohl die städtebauliche Grundform des geschlossenen Häuserblocks lange vor deren Aufkommen existierte, ist sie auch für den Einsatz von Kraftfahrzeugen geeignet. Die Zufahrtsmöglichkeit zu den Gebäuden ist nötig für Rettungsdienste, Anlieferungen und das Abholen oder Absetzen an der Haustür. Allerdings bringen Kraftfahrzeuge Lärm, Abgase und Unfallgefahren mit sich. Daher bleiben Fahr­ zeuge draußen, sodass innerhalb der Umschließung eine autofreie Zone entsteht. Der geschlossene Häuserblock kann mit dem Besten aus beiden Welten dienen, da die Haustür gut zu erreichen ist und unmittelbar an der Hintertür ein sicherer, sauberer und ruhiger Außenbereich beginnt. Der geschlossene Häuserblock kann auch sein eigenes Wetter erschaffen. Die Außenseiten des Blocks schützen den Innenbereich vor Wind, und die verschiede­ nen Größen der Hofräume sowie unterschiedliche Höhen der umliegenden Gebäude können mehr oder weniger direktes Sonnenlicht zulassen. Abhängig vom lokalen Klima kann der Innenhof ein windgeschütztes sonniges Plätzchen oder eine schat­ tige Oase bieten. Die Umschließung erlaubt eine bessere Kontrolle und größere Beständigkeit des Mikroklimas, wodurch die Bewohner mehr Zeit im Freien ver­ bringen und dort mehr unternehmen können. Die Bauform der Umschließung ist jedoch nicht frei von Mängeln. Nicht selten wird das System der geschlossenen Blöcke und Höfe von Gebäuden beeinträchtigt, die den Freiraum für sich vereinnahmen und so den Nutzen, den Komfort und die Toleranz des Systems zerstören. Manchmal wird der Innenhof zu einem schmut­ zigen Abstellraum oder einem Ort für Außentoiletten und Mülltonnen reduziert. Häufig wurde der Innenhof allerdings auch wiederentdeckt und in eine gemeinsame Ressource verwandelt, die hell, grün und luftig ist.6

01. Lund, Schweden Ein gemeinsamer, geschützter Gartenhof bietet einen nützlichen Außenbereich für Familienfeiern inmitten der Stadt 02. Malmö, Schweden Der Innen­ hof schafft nicht nur ein angenehmes Mikroklima, sondern ist auch ein gemeinsamer sozialer Mittelpunkt für die Bewohner 03. Freiburg i. Br., Deutschland Für die Kinder der Bewohner bietet der große gemeinsame Hof einen Spielbereich, der weitaus größer ist als ein privater Garten 04. Mexiko-Stadt, Mexiko Der patio ist in den lateinamerikanischen Ländern eine weit verbreitete Bauform. Hier ist er Teil eines Museums, ein eher formeller Ausstellungsraum im Freien 05. Hackesche Höfe, Berlin, Deutschland Das dichte System von Innenhöfen enthält ein breites Spektrum von Nutzungen und Nutzern in einer höchst flexiblen, integrierten und zugänglichen Anlage 06. Breitenrain, Bern, Schweiz Eine überdachte Passage führt von der Straße zu einem üppigen und ruhigen Innenhof 07. 8 House, Kopenhagen, Dänemark Eine neue Interpretation des gemeinschaftlichen Innenhofs

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01. Kopenhagen, Dänemark Der gemeinsame Mittelpunkt eines gemeinschaftlichen Außenraums zwischen einer großen, aber begrenzten Gruppe von Nachbarn – ein Ort für Begegnungen und Beziehungen auf kontrolliertem, neutralem Boden

02. Kopenhagen Ein ausgedehnter, leicht zugänglicher Garten im Hinterhof mit Spielkameraden – sicher vor dem Verkehr und gut überwacht

03. Kopenhagen Ein geschütztes Mikroklima zwischen den Gebäuden, in dem Grün gedeihen kann und Platz für gemeinsame Möbel und Spielgeräte vorhanden ist 05. Kopenhagen Ein zugänglicher, sicherer Ort mit sauberer Luft zum Aufhängen von Wäsche

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04. Kopenhagen Ein sicherer Ort, um Spielzeug (und andere persönliche Gegenstände) über Nacht draußen zu lassen 06. Tübingen, Deutschland Ein gemeinsamer Mittelpunkt für verschiedene Menschen (in unterschiedlichen Gebäuden und Eigentumsverhältnissen) dank des gemeinsamen Innenhofs

Das Potenzial kleinerer Häuserblöcke: Donnybrook Quarter, London, England 


Foto: Morley von Sternberg

Das soziale Wohnungsbauprojekt Donnybrook Quarter ist ein Beispiel einer niedrigen, hochverdich­ teten Bebauung, die kostengünstig und zugleich exklu­ siv ist. Zwei neue Straßen unterteilen das Grund­stück und lassen kleinere Blöcke entstehen. Diese schaffen nicht nur neuen öffentlichen Raum, indem sich eine der Straßen zu einem Platz aufweitet, sondern auch verbesserte fußläufige Verbindungen. Außerdem er­­ geben sie mehr Straßenränder und erreichen so die erforderliche Dichte mit nur zwei- und dreigeschossi­ gen Gebäuden. Die niedrigen Höhen ermöglichen die Unterbringung von Einzelhäusern mit eigener Haustür und ummauertem Gartenhof, die in einer einfachen und erschwinglichen Bauweise errichtet sind. Hier im Donnybrook Quarter liefern kleinmaß­ stäbliche Blöcke und einzelne Bauteile eine kompakte und zugleich sensible Lösung für das Stadtleben und beweisen, dass menschliches Maß und Privatsphäre auch bei höherer Dichte möglich sind.

Straße Grundstück Rand

Ursprünglicher Grundstücksrand

Zunahme der Grundstücksränder durch die Unterteilung in kleinere Blöcke

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Der Innenhof, der mehr leisten kann: Dronningensgade, Kopenhagen, Dänemark

Bebauungsdichte Gesamtfläche: Netto-Geschossfläche: Wohnnutzfläche (brutto): Bürofläche (brutto): Brutto-Geschossflächenzahl: Grundflächenzahl:

Funktionsmischung 400 × 400 m 235.600 m2 150.100 m2 85.500 m2 1,47 0,29

Personendichte Anzahl Bewohner: Anzahl Einheiten: Anzahl Bewohner pro Einheit:

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2998 1898 1,57

Dieser Teil des Stadtviertels Christianshavn hat eine Funktionsmischung: – Wohnbauten mit unterschiedlichen Eigentumsverhältnissen – Wohnen für Studenten – Restaurants und Cafés – Gemeinschaftseinrichtungen – Supermarkt – kleine Läden – Büros und Einrichtungen

Die traditionellen Wohnblöcke aus dem 18. Jahr­ hundert an der Dronningensgade im Kopenhagener Stadtteil Christianshavn belegen beispielhaft, was die Form eines geschlossenen Blocks zu leisten vermag. In einem relativ dichten Block findet sich eine bemer­ kenswerte Vielfalt an Räumen und Gebäuden. Das Areal zeigt, wie sich einfache Abweichungen in der räumlichen Organisation nicht nur auf die Diversität der Gebäude, sondern auch auf die ihrer Freiräume auswirken können. Im nördlichsten Block, neben einem öffentlichen Platz und unweit der Hauptverkehrsstraße, finden sich verschiedene Nichtwohnfunktionen neben einer Reihe von Wohnungsarten, darunter ein Studentenwohnheim. Die aktiven Erdgeschosse beherbergen kleine Geschäfte, Büros und Dienstleistungseinrichtungen, eine „Bodega“, ein Kellerrestaurant und ein Musiklokal sowie einen Kindergarten mit großer Fensterfront. Es gibt einen Coop-Supermarkt, der sich im Laufe der Zeit auf die benachbarten Gebäude, darunter ein ehemaliges Kino und eine Bank, ausgedehnt hat und so zu einem wichti­ gen lokalen Einkaufszentrum geworden ist. Der Innenhof enthält einen Kindergarten für die Kleinsten und eine gemeinsame Waschküche für die Studentenwohnungen. Der Block hat sich organisch zu einer beständigen urbanen Form entwickelt. Die vielen Veränderungen im

Laufe der Zeit lassen sich am Abwechslungsreichtum der Architekturstile ablesen, die von der traditionellen regionstypischen Bauweise über den Klassizismus und den Funktionalismus der 1930er Jahre bis zur Sozia­ len Moderne der 1970er Jahre reichen. Der südliche Nachbarblock (in der schematischen Darstellung auf Seite 40 grün gekennzeichnet) ist vielleicht noch inte­ ressanter, da die Bereiche zwischen den Gebäuden im Rahmen eines Stadterneuerungsprogramms teilweise umgestaltet wurden, um hochwertigere Außenberei­ che zu schaffen. Die Vielfalt an Stilen, Epochen und Gebäudetypen verleiht den Straßen ihren ganz eigenen Charakter. Es finden sich größere Wohngebäude neben kleinen Stadthäusern, ältere Konstruktionen und neuere Zwi­ schenbauten. Jedes Gebäude verfügt über spezifische Besonderheiten, was zu einer eigenen Identität der Straßen beiträgt. Verbundene Grünflächen Der traditionelle Kopenhagener Block besteht aus mehreren straßenseitigen Gebäuden mit jeweils einem eigenen Hinterhof. Früher waren die gepflasterten Höfe eher Stellflächen für kleinere Nebengebäude – Toiletten, Waschhäuser, Lagerräume, Werkstätten – als­

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Grünflächen oder Gärten. Im Rahmen eines Stadterneue­ rungsprojekts für diesen Block wurden die Mauern und die meisten Außengebäude entfernt und die Höfe zusätzlich bepflanzt. Es ist ein frühes Beispiel des Programms zur Begrünung von Innenhöfen, das die Stadt Kopenhagen zur Verbesserung des innerstädtischen Lebens aufgelegt hat. Für die Aufwertung des Gebäudebestands in Kopen­ hagen ist dieses Programm entscheidend. Wie bei anderen städtischen Blöcken schaffen die Vorder- und Rückseiten der Gebäude zwei verschiedene Welten: außen, zur Straße hin, findet das öffentliche Leben statt, innen, im Hof, das private Leben. Jedes Gebäude richtet sich mit Fenstern und einer eigenen Haustür oder einem eigenen Durchgang zur Straße. So entsteht der Eindruck, dass das Leben im Inneren in irgendeiner Weise mit der Straße verbunden ist und ein reges Kommen und Gehen herrscht.

lich. Allerdings spiegelt die sehr klare räumliche Ord­ nung eine gewisse soziale Kontrolle wider, die von allen Gästen respektiert werden sollte.

Eingänge zum Innenhof Es führen mehrere Eingänge in das Innere des Blocks: eigene Hintertüren oder gemeinsame Treppenhäuser sowie mit Toren oder Türen verschlossene Durchgänge zwischen den Gebäuden. Der gemeinsame Innenhof ist gewöhnlich nicht verschlossen und öffentlich zugäng­

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Unterschiedliche Ebenen des Außenraums Im Rahmen des Stadterneuerungsprogramms wurde der Innenhof für die Wohnungen im Erdgeschoss um kleine, ausschließlich private Räume erweitert. Im Innenhof existieren zwei weitere unterschiedliche Ebe­ nen des Außenraums. Eine umfasst die alten einzelnen Höfe, die den Gebäuden am nächsten liegen und teil­ weise erhalten geblieben sind, jetzt aber mehr Grün aufweisen. Die andere weist in der Mitte eine große, gemeinschaftliche Grünfläche auf. Jede dieser Ebenen lädt zu unterschiedlichen Aktivitäten und Verhalten ein. Die gemeinschaftliche Grünfläche bietet genügend Platz für Gruppenaktivitäten wie geselliges Beisammen­ sein oder Spiele sowie für gemeinsam genutzte Geräte (wie Grill und Sandkasten) und Möbel. An diesem Ort können sich die Bewohner des Blocks auf einem für sie neutralen oder gemeinsamen Boden treffen. Da es sich um einen privaten, gemeinschaftlich genutz­ ten Raum handelt, repräsentiert er die gemeinsamen Interessen der Nachbarn, die sich das Eigentum teilen. Um inumquatius, od et pos nostibusdae volum acium et as is dolor

Privater Bereich Gemeinsam genutzter Privatbereich Gemeinschaftlicher Bereich

Eine Blockbebauung in Christianshavn mit einer ausgedehnten Gemeinschaftsfläche in der Mitte, umgeben von gemeinschaftlich genutzten Gärten und einigen kleinen Privatbereichen entlang des Gebäuderands

Bewohner, deren Hausfronten verschiedenen Straßen zugewandt sind und die zuvor vielleicht nicht wuss­ ten, dass sie Nachbarn sind, können sich in diesem Innenraum begegnen. Ein kleines, aber durchdachtes Detail ist die gemeinsame Toilette. Sie ist sehr sinn­ voll bei Gruppenveranstaltungen oder für Kinder, die draußen spielen und sich so den Weg ins Haus sparen können. Die Sauberkeit der Toilette spiegelt den Grad der gemeinsamen Verantwortung wider. Auch die älteren Einzelhöfe sind Gemeinschafts­ flächen, werden aber von einer kleineren Gruppe von Bewohnern genutzt. Sie zeigen gewöhnlich eine stärkeres Maß an Identität als die gemeinschaftliche Grünfläche in der Mitte. Diese Gemeinschaftshöfe sind Orte, an denen Spielzeug, Fahrräder oder Kinderwagen abge­ stellt werden können. In diesen Bereichen sind Out­ door-Projekte möglich und die Bewohner dürfen ihre Materialien und Werkzeuge über Nacht draußen las­ sen. Gemeinschaftlich genutzte Außenmöbel können von den Bewohnern auch für die Bewirtung eigener Gäste eingesetzt werden. Die rein privaten Gärten, Terrassen oder Balkone schirmen die Bewohner im Erdgeschoss von den Akti­ vitäten im Innenhof ab. In diesen unmittelbar mit den Innenräumen verbundenen, nutzbaren Bereichen kön­

nen sich die Bewohner entspannen, Wäsche aufhän­ gen und persönliche Gegenstände aufbewahren. Diese Außenräume machen die Wohnungen im Erdgeschoss attraktiver. Die erhöhte Terrasse oder ein Balkon stär­ ken die Privatsphäre. Neben den drei unterschiedlichen Außenräumen trägt auch die Positionierung der alten und neuen Nebengebäude, einschließlich der Fahrradschuppen und Lagerbehälter, zur räumlichen Komplexität des Innenhofs bei. Letztere sind nicht nur von praktischem Nutzen, sondern unterteilen den Hof auch optisch in kleinere Räume. Dadurch entstehen zusätzliche nutz­ bare Ecken und eine gewisse Intimität in den Räumen. Sie gewährleisten, dass nicht alles auf einmal sichtbar ist, und fordern stets zum Entdecken auf. Vor allem jüngeren Kindern bietet dieser komplexe Innenhof eine reiche Auswahl an Spielmöglichkeiten. Unterschiedliche Bereiche für diverse Spiele und Alters­ gruppen sind erreichbar, ohne das Grundstück verlassen oder eine verkehrsreiche Straße überqueren zu müssen. 01. Verschiedene Bauten jeweils mit einem rückseitigen eigenen kleinen Garten 02. Gemeinsamer Spielbereich in der Mitte des Blocks 03. Gemeinschaftlicher Hinterhof

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Vielfältige Raumerfahrungen am selben Ort

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01. Unmittelbar mit dem Wohnbereich verbundene Außenräume 02. Gemeinsamer Innenhof eines Gebäudes: Er lässt sich sowohl vom Haus als auch von dem Gemeinschaftsbereich in der Blockmitte Um erschließen inumquatius, od et pos nostibusdae volum acium et as is dolor

03. Ein weitläufiger gemeinschaftlicher Bereich in der Blockmitte, der für alle zugänglich ist 04. Die Gebäudevorderseiten sind unmittelbar mit dem öffentlichen Straßenraum verbunden

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Das Programm „Grüne Höfe“: Kopenhagen, Dänemark Als viele der Höfe in Kopenhagen im 19. Jahrhun­ dert entstanden, enthielten sie Nebengebäude, darunter Außentoiletten, kleine Werkstätten und Lagerräume. Meist waren die Bodenflächen gepflastert und es gab wenig oder gar keine Vegetation. 1992 etablierte die Stadt Kopenhagen das Programm „Grüne Höfe“ mit dem Ziel, die Bewohner direkt vor ihrer Haustür mit grünen Erholungsflächen zu versorgen. Die Bewohner eines Gebäudes um einen gemein­ schaftlichen Innenhof sind unabhängig von den Eigen­ tumsverhältnissen angehalten, einen Verein zu grün­ den, um städtische Mittel für die Neugestaltung des Hofes zu erhalten. Nach Abschluss der Arbeiten ist der Verein auch für dessen Instandhaltung zuständig. Die Erneuerung der Innenhöfe hat zu einer stärkeren Nutzung und Interaktion geführt. Diese stadtweite Initiative hat wesentlich dazu beigetragen, Familien mit Kindern zum Wohnen in der Stadt zu ermutigen. In jüngerer Zeit wurden auch Elemente der Regenwas­ serbewirtschaftung in das Programm aufgenommen.

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01. 01. Hedebygade, Kopenhagen Unterschiedlich begrünter erneuerter Innenhof 02./03. Nøjsomhedsvej, Kopenhagen Vor und nach der Erneueeines Innenhofs: Der umgestaltete Innenhof die Um rung inumquatius, od et pos nostibusdae volum aciumzeigt, et as dass is dolor Zäune zwischen den Parzellen entfernt wurden. Er ist nun direkt vom Erdgeschoss aus zugänglich, die Wertstofftonnen sind besser organisiert und die Gestaltung ist trotz seiner schmalen Form grüner und ansprechender. Fotos: City of Copenhagen

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Umschließung mit Mehrzwecknutzung: Jim’s House, Västergatan, Malmö, Schweden

01. Foto: Lars Asklund

02. Foto: Lars Asklund

Jim’s House ist ein bescheiden anmutendes Gebäude, das weitaus anpassungsfähiger ist als die meisten Bauten dieser Größe. Das Gebäude von Lars „Jim“ Asklund in der Västergatan in Malmö war 1986 Teil der schwedi­ schen Wohnungsbauausstellung Bo 86 und verbindet die Vergangenheit mit der Zukunft. Es ist ein frühes Passivenergiehaus mit einem Grundriss, der mehrere Nutzungen zulässt. Viele der praktischen architektonischen Lösungen in Jim’s House entsprechen traditioneller Bauweise: der großzügige Eingangsbereich, der L-förmige Grund­ riss des Hauptgebäudes mit einem Flügel, der sich zur Rückseite erstreckt, das L-förmige, zum Hof gewandte Gebäude und die nach innen geneigten Dächer, die Sonnenlicht in die geschützten Außenräume lassen. Es verfügt über zwei Höfe – einen äußeren, gepflasterten, der näher an der Straße liegt, und einen privaten inneren, der begrünt ist. Jim’s House weist im Erdgeschoss eine

Schaufensterfront auf. Der zusätzliche Flügel ermög­ licht die Unterbringung von Wohnungen unterschied­ licher Größe, sodass eine soziale und wirtschaftliche Durchmischung gegeben ist. Die Wohnungen lassen sich auch als Arbeitsräume nutzen. Asklund behandelt den Außenraum und das Gebäude gleichrangig. Konzentrierte Nutzungen werden von­ einander abgeschirmt, wodurch in einem dichten, urbanen Kontext dringend benötigter zusätzlicher Lebensraum entsteht. Mit ihren bewohnten Gebäude­ rändern definieren die beiden L-förmigen Bauten die Außenräume. So bilden sich wichtige Orte und keine Restflächen. Der Hofpavillon in der Mitte trennt den befestigten Hof vom begrünten ab. Für weiteren Lebensraum sorgt der wettergeschützte private Innenhof. Seine nach Süden ausgerichtete Haupt­ fassade ist fast vollständig mit Wintergärten verglast. Die nordseitige Straßenfassade hat kleinere Fenster

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Dachterrasse

Nach innen geneigte Dächer

L-förmiges Hofgebäude

Begrünter Innenhof Nebengebäude Gepflasterter äußerer Hof

L-förmiges Hauptgebäude

Durchgang

01. Die Nordfassade mit kleinen Fenstern und Ladenfronten 02. Der innere Hof mit Blick zurück auf das Hauptgebäude 03. Ein temporäres Restaurant im äußeren Hof

mit artikulierten Sprossen, welche die Dämmung ver­ bessern und zur Privatsphäre beitragen. Dieses System der doppelten Höfe ergibt zwei unterschiedliche Außenbereiche, die zu verschiedenen Nutzungen einladen und somit eine gewisse Flexibili­ tät bieten. So dient der vordere, gepflasterte Innenhof dem Restaurant im Erdgeschoss im Sommer als will­ kommene Ergänzung. Die Restaurantgäste dürfen den privaten Bereich betreten und in der Sonne speisen, die frische Luft und die Ruhe genießen. Wenn auch nur für wenige Stunden am Tag, kann das dem Nor­ den zugewandte Restaurant in den Sommermonaten florieren. Der zentrale Pavillon fungiert als Puffer zum anderen Teil des Hofes. Gäste können den Innenhof zwar sehen, aber seine Gestaltung macht deutlich, dass er privat ist. Das System der doppelten Höfe ist äußerst praktisch. Ihre gepflasterte Fläche nimmt Servicefunktionen auf – Mülleimer, Fahrräder, gele­

gentlich Restauranttische –, während ihre üppigere und ruhigere Innenwelt zum Vergnügen der Bewoh­ ner bestimmt ist. Als das Gebäude fertiggestellt war, konnten die Kritiker nicht hinter seine postmoderne Straßenfassade schauen. Jim’s House ist ein Modell für einen flexiblen, wohnlichen und nachhaltigen Bau mit gemischter Nutzung. In ihm manifestiert sich der Unterschied zwischen der oberflächlichen Erscheinung eines Gebäudes und seinen tatsächlichen Fähigkeiten.

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Verbunden

Verschiedene Grundstücke im selben Block können separat entwickelt und verwaltet werden. Dies führt zu einer größeren Flexibilität bei der Gestaltung der Gebäude, der Typologie, der Bauweise, der Übergabe, der Eigentumsverhältnisse, der Nutzung und – ganz entscheidend – der Entwicklung im Verlauf der Zeit. Die Unterteilung des Areals ermöglicht, dass sich mehrere Bauträger am Bau beteili­ gen und die Entwürfe von verschiedenen Architekten stammen. Die Abmessungen der Grundstücke und Gebäude können variieren. Jedes Grundstück muss jedoch mit einem Rand zur Straße liegen, um einen Zugang zu gewähren. Die Geometrie erfordert etwas Geschick, weil nur rechteckige Grundstücke effizient bebaubar sind. Jedes Grundstück kann unabhängig von seinen Nachbarbauten existieren. Aller­ dings müssen diese über eine Brandmauer und einen unabhängigen Zugang verfü­ gen, um die Integrität des Blocks als Ganzes zu gewährleisten. Um die Gebäude miteinander zu verbinden, ist eine Brandmauer erforderlich: eine leere, fensterlose Wand auf jeder Seite. Diese Grundkonstruktion erlaubt es, die Bauten nebeneinander zu platzieren. Außerdem spart sie viel Platz ein, der durch Lücken zwischen den Bauten verschwendet würde. Anbauten oder Flügel des straßenseitigen Gebäudes sowie Nebengebäude sollten ebenfalls eine solche Mauer aufweisen, wenn sie den Grundstücksrand berühren. Brandmauern ermög­ lichen eine unabhängige Bebauung der benachbarten Grundstücke. Die Doppelmauer, die durch die nebeneinander angeordneten Konstruktionen entsteht, dämmt die Gebäude, reduziert Lärm und Vibrationen. Darüber hinaus senken Brandmauern die Bau- und Wartungskosten, da sie weniger freie und abwei­ sende Wandflächen zeigen als frei stehende Häuser. Jedes Grundstück sollte über mindestens einen eigenen straßenseitigen Zugang verfügen, der durch das Gebäude mit dem Innenhof verbunden ist. Das heißt, jedes Grundstück und sein oder seine Gebäude können unabhängig von den anderen Grundstücken des Häuserblocks funktionieren. Natürlich gibt es Ausnahmen. In alten Stadtvierteln finden sich ungeplante Bau­ lücken mit außermittig positionierten Fenstern an den Seitenmauern und improvi­ sierten Erschließungen. Im Allgemeinen gewährleisten jedoch Brandmauern und eigene Zugänge langfristig eine Autonomie der einzelnen Baugrundstücke. Die Unabhängigkeit der einzelnen Elemente in einem geschlossenen Block hängt nicht nur von der räumlich-baulichen Form oder der Gestaltung ab. Im Verlauf einer lan­ gen Lebensdauer eines Gebäudes können die jeweiligen Personen oder Organisa­ tionen, die es besitzen oder verwalten, ihre eigenen Konzepte für den Betrieb, die Instandhaltung und die Vermarktung ihres Eigentums entwickeln. Einige Bauten sehen nur eine einzige Nutzungsart vor, andere eine extreme Nutzungsmischung. In einigen kann Untervermietung erlaubt sein, in anderen nicht. Manche erlauben

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Verbunden und nebeneinandergestellt 01. Mit Brandmauern (fensterlose Seiten­ mauern) lassen sich unterschiedliche Gebäude miteinander verbinden und nebeneinander anordnen 01.

02. Jedes Gebäude besitzt von der Straße aus einen separaten Eingang zum rückseitigen Innenhof, sodass sich jedes Grundstück im Laufe der Zeit unabhängig entwickeln kann 03. Das System des Verbindens und Neben­ einanderstellens ermöglicht Vielfalt in jedem Block 04. Das Verbinden lässt sich auf ein ganzes Stadtviertel ausdehnen, was unbegrenzte Variationen ermöglicht

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03. 01. Temple Bar, Dublin, Irland Gebäude unterschiedlicher Epochen sind in derselben Straße nebeneinander angeordnet 02. Nürnberg, Deutschland Selbst bei den einfachsten Gebäuden sorgt ein Nebeneinander für ein interessanteres Straßenbild 03./04. Berlin, Deutschland Verbundene Alt- und Neubauten stellen verschiedene Nutzungen und Nutzer ebenso nebeneinander wie unterschiedliche Architekturstile

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05.–08. Kopenhagen, Dänemark, und Melbourne, Australien Beispiele für die Integration des sehr Kleinen in einem dichten städtischen Umfeld. Die geringe Größe reduziert den Maßstab erheblich und gerät interessanterweise zu einem attraktiven Mittelpunkt für Aktivitäten

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Die Unabhängigkeit jedes einzelnen Gebäudes lässt im Laufe der Zeit Veränderungen, Wiederverwendungen und Erneuerungen auf verschiedenen Ebenen zu, sodass über längere Zeiträume eine noch größere soziale und wirtschaftliche Vielfalt nebeneinander bestehen kann

wiederum eine Nutzungsänderung, zum Beispiel von Wohn- zu Arbeitsräumen oder umgekehrt. Einige sollen einen höchstmöglichen Gewinn erzielen und andere wiederum gar keinen. Was zählt sind nicht nur die verschiedenen Gebäudearten, sondern auch die unterschiedlichen Nutzungen und Personengruppen, die sie in nächster Nähe zuei­ nander unterbringen. Die Mischung alter und neuer Bauten kann zu der von Jane Jacobs beschriebenen sozioökonomischen Vielfalt beitragen.7 Die Vielfalt der Nutzungen und Nutzer begünstigt ein Gemeinschaftsgefühl und trägt damit zur Sicherheit der Viertel bei. Eine Mischung aus Wohnungen, Arbeitsstätten, Geschäften und Dienstleistungsbetrieben stellt sicher, dass sich zu jeder Zeit Menschen im Block aufhalten. Unterschiedliche Bewohner und Nutzer sind zu verschiedenen Tageszeiten zu Hause und wach, was für die Verhütung von Kriminalität besonders wichtig ist. Ein weiterer Vorteil dieser Bebauungsstruktur ist, dass es kleine Gebäude zulässt. Durch das Einbeziehen sehr kleiner Bauten wird die Atmosphäre eines Ortes völlig verändert, bekommt die Dichte einen menschlichen Maßstab und es entsteht Raum für vielfältige, zur Belebung beitragende Aktivitäten.

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Kagurazaka-dori, Tokio, Japan Typische schmale Grund­ stücke säumen die Straße, in der verschiedene Gebäude aus unterschiedlichen Epochen nebeneinanderstehen. Die diversen Eigentumsverhältnisse spiegeln sich in einer beein­ druckenden Vielfalt an Aktivitäten auf der Straße wider. Diese Vielfalt bietet für jeden etwas und macht die Straße zum Herzstück des Viertels. Collage: Sotaro Miyatake

Verbundene Bauten und Funktionen in einer neuen Bebauung: Caroline-von-Humboldt-Weg/Oberwallstraße, Berlin, Deutschland

Einer von drei nachgebildeten Stadtblöcken, die hauptsächlich aus schmalen Reihenhäusern und eini­ gen Mietshäusern bestehen, demonstriert das Potenzial der Unterteilung. Von Karsten Pålson als „moderne mittelalterliche Stadt“ beschrieben, sind hier alle Gebäude voneinan­ der unabhängig. Einige werden gemischt genutzt und kombinieren Geschäfte und Büros in den unteren Eta­ gen mit Wohnungen darüber, andere sind reine Wohn­ häuser. Alle werden von der Straße aus erschlossen und verfügen auf der Rückseite über kleine Gärten.8 Beachtenswert ist auch der tiefere Grundriss der unteren Geschosse, der die höhere Wertigkeit und das Poten­ zial dieser Etagen artikuliert. Höchst attraktive private und sehr individuelle Wohn- und Arbeitssituationen ergeben zusammen einen Block, der einen lebendigeren öffentlichen Raum und ein interessanteres Erlebnis für Fußgänger schafft und dabei eine vielfältige moderne Architektur präsentiert. Blöcke als Bausteine  53

Vielfalt am selben Ort: Vauban, Freiburg im Breisgau, Deutschland

Bebauungsdichte Gesamtfläche: Netto-Geschossfläche: Wohnnutzfläche (brutto): Brutto-Geschossflächenzahl: Grundflächenzahl:

Eigentümerstruktur 400 × 400 m 129.400 m² 34.900 m² 0,8 0,22

Zugang auf Bodenniveau 27 % Baufläche mit ebenerdigem Zugang: Baufläche mit fußläufiger Entfernung zum Erdgeschoss (4. Geschoss oder darunter): 80 %

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Einzelbauherren: 9% Baugruppen: 57 % Genossenschaftlich orientierte Bauträger: 10 % Private Bauträger: 26 % Bereits 2002 wurde in einer Studie mit 450 Wohnungen der Erfolg einer durchmischten Bewohnerschaft festgestellt: 60 % Eigentümer und 40 % Mieter; 25 % Arbeiter, 55 % Führungskräfte, 20 % Freiberufler und Selbstständige; 10 % Alleinerziehende, 25 % kinderlose Paare, 65 % Familien mit Kindern; 75 % Zuzug aus Freiburg, 25 % Zuzug von außerhalb9

Freiburg ist bekannt für seine fortschrittlichen Inves­ titionen in innovative öffentliche Räume, Solarenergie und Fahrradinfrastruktur. Aufsehen erregte die Stadt jedoch mit ihren Programmen für Baugemeinschaften. Die Neubaugebiete Rieselfeld und Vauban zeichnen sich durch neue Stadtteile mit hochwertigen Wohnun­ gen an lebendigen Orten mit städtischem Flair aus. Zuerst erstellte die Stadt für Rieselfeld einen schein­ bar konventionellen Bebauungsplan mit Reihen- und Mehrfamilienhäusern um geschützte Innenhöfe, deutli­ chen Vorder- und Rückseiten und dies im menschlichen Maßstab. Der Plan hatte den Anspruch, dass „Kinder in Grünanlagen spielen können und in Rufweite ihrer Eltern bleiben“. Bald folgte Vauban, ein ehemaliges französisches Kasernengelände im Innenstadtbereich Freiburgs. Den Plan entwickelte die Stadt Freiburg mit Unterstützung der Partei Die Grünen und unter Beteiligung verschiedener lokaler Bürgervereinigungen. Der Plan sah eine parzellenweise Erschließung unter Führung einer Baugemeinschaft und einiger privater Bauträger vor, um eine breite Käuferschicht zu gewährleisten. Wie in Rieselfeld lag die Grund­ stücksgröße unter der Norm, um kleinere Projekte zu fördern. Mehrere Parteien konnten sich um ein und dasselbe Grundstück bewerben, wobei das höchste

Gebot nicht ausschlaggebend war. In ihrer Eigenschaft als Verwalterin gab die Stadt Baugemeinschaften den Vorzug vor Bauträgern, wenn die Erschwinglichkeit, die Vielfalt von Bewohnern sowie der Einsatz erneu­ erbarer Materialien und energetischer Maßnahmen besser nachgewiesen war. Der neue Stadtteil sollte wirtschaftlich wie sozial vielfältig sein und die Stabilität sowie die Vitalität älte­ rer Stadtteile widerspiegeln. Nach dem Motto „Jedem eine Chance geben“ bewertete die Stadt jeden Käufer nach seinem „Blockprofil“. Dabei hatte die Vielfalt in Bezug auf Alter, Beruf, Familienstand, Anzahl der Kinder, frühere Adresse, aktuellen Arbeitsplatz und Art des Bewohners (Eigentümer oder Mieter) einen hohen Stellenwert. Von Anfang an herrschte ein ausgeprägtes Gefühl für den Ort. In dem neuen Plan blieben fast alle großen Bäume und die meisten Bauten erhalten. Hausbesetzer bekamen feste Mietverträge. Ehemalige Kasernen wur­ den in Studenten- und Sozialwohnungen, ein Zentrum für Asylbewerber sowie ein Gemeinschaftszentrum mit Büros, Besprechungszimmern und einem Café/Restau­ rant umgewandelt. Der Plan ist auf die Achse der Vaubanallee ausge­ richtet – eine grüne Verkehrsader in Ost-West-Richtung

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mit einer Straßenbahnlinie. Die breite, grasbewachsene Fläche in der Mitte dämpft den Straßenbahnlärm und enthält eine Regenwasserrigole. Die Vaubanallee verläuft im rechten Winkel zur Merzhauser Straße, der Haupt­ verkehrsstraße, die ins Zentrum von Freiburg führt. An der Einmündung dieser beiden Straßen ist ein natür­ licher Angelpunkt für allerlei Aktivitäten entstanden. Hier befinden sich die Schule und zahlreiche Geschäfte sowie ein Hotel, das den Stadtteil mit Besuchern belebt. In der Vaubanallee finden sich auch viele Gebäude mit Funktionen, die keinen Wohnzwecken dienen, darunter ein Kindergarten im Erdgeschoss eines Mehrfamilienhauses sowie Geschäfte, Cafés, Büros und Kosmetiksalons. Von der Vaubanallee gehen auf beiden Seiten u-förmige Quartiersstraßen ab, die fast verkehrsfrei sind und keine Parkplätze aufweisen. Die Gebäude haben alle eine Höhe, die keinen Aufzug erfordert. Sowohl Mehrfamilienhäuser als auch Rei­ henhäuser sind drei- bis fünfgeschossig (Nettodichte von 95 Einheiten pro Hektar) und oft gemischt genutzt. Obwohl die Blöcke nicht vollständig geschlossen sind, ist die Grundform der Umschließung mit erkennbaren

Vorder- und Rückseiten deutlich sichtbar. Dabei ver­ fügen die Gebäude über eine öffentliche, der Straße zugewandte Vorderseite und eine eher private, zum Garten hin orientierte Rückseite. Einfache Vorrichtungen wie Brandmauern und separate Eingänge ergeben eine Straße aus zusammen­ hängenden Häusern. Jedes Gebäude ist anders, nicht nur in Bezug auf seine äußere Erscheinung mit diver­ sen architektonischen Stilen, verschiedenen Farben, Materialien und Details, sondern auch hinsichtlich der multiplen Größen, Standards und Wohnungsgrund­ risse. Die Vielfalt der Gebäudetypen zieht Menschen unterschiedlichster Geschmäcker und Lebensstile an. Diese Vielfalt sorgt für interessante visuelle Reize, fördert das öffentliche Leben, erleichtert die Orientierung und macht das Zufußgehen attraktiver. Sie ist außer­ dem identitätsstiftend und macht sowohl die einzelnen Haushalte als auch die Gemeinschaft stolz auf ihren charakteristischen und unverwechselbaren Stadtteil. Die Gebäude weisen mehrere unterschiedliche Inter­ pretationen eines aktiven Erdgeschosses auf. Es gibt viele Türen, die zur Straße führen, Vorgärten, Rand­

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zonen, Schaufenster, kleine Gewerbeeinheiten sowie Außentreppen und Zugangsgalerien, die ebenfalls auf die Straße ausgerichtet sind. Der Plan bietet eine Vielzahl von privaten Außen­ bereichen, darunter kleine Zonen am Gartenrand mit direkter Verbindung zu den Erdgeschossräumen sowie großzügige Balkone, Veranden, Loggien, Terrassen und Dachgärten. Daneben existieren größere Gärten, die sich die Bewohner eines Gebäudes teilen, sowie gemeinschaftliche, auch von der umliegenden Nach­ barschaft genutzte Außenflächen. Weitere öffentliche Räume sind ein Platz vor dem Bürgerhaus und eine Waldlandschaft im Süden mit einem kleinen Bachlauf. Die Straßen sind wichtige öffentliche Räume zum Spielen und für Begegnungen. Obwohl Vauban nicht autofrei ist, wird hier das autofreie Leben mit hervorra­ genden öffentlichen Verkehrsmitteln und einer Fahrrad­ infrastruktur gefördert. Die Parkplätze sind in mehrstö­ ckigen Garagen am Rande des Viertels untergebracht. Vauban steht für einen ehrgeizigen Plan seitens der Stadt und ein enthusiastisches lokales Engage­ ment. Die Bebauung vereint in gelungener Weise eine

höhere Dichte und Vielfalt im menschlichen Maßstab in Gebäuden, die sich zum öffentlichen Raum orientie­ ren. Der mittlere Maßstab bietet mehr Möglichkeiten für Geselligkeit. Indem der Vauban-Plan bewusst kleinere Fraktale, Gebäude für Gebäude, vorsieht, schafft er identitätsstif­ tende feste Gruppierungen von Haushalten und fördert so die Gemeinschaft. Er bietet eine praktikable, nach­ haltige und attraktive Alternative zum autogerechten Vorstadtleben.

01. Ein aktives Erdgeschoss mit einer Bäckerei als gemeinschaftlichem Mittelpunkt 02. Ein grüner Erschließungskern, Gleise im Gras, um den Lärm der Straßenbahn zu dämpfen, rechts ein Regenwassersammelbecken 03. Nebeneinander platzierte Bauten verschiedener Typologien, Größen und Stile 04. Seitenstraße als gemeinsamer Raum mit durchgehenden Geh­wegen 05. Eine unterschiedliche Gebäudearchitektur spiegelt den Wunsch nach individuellem Ausdruck wider, während gemeinsame Außenbereiche das Bedürfnis nach Gemeinschaft artikulieren

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Die Baugruppen: Das Modell Baugemeinschaft Weitsichtige deutsche Planer haben vorausgesagt, dass für die kommende Generation junger Menschen Immobilien von Bauträgern nicht mehr erschwinglich sein werden. In den letzten 15 Jahren haben deutsche Städte wie Freiburg im Breisgau, Tübingen, Ham­ burg und Berlin gemeinschaftliche Bauprogramme für sogenannte Baugemeinschaften oder Baugruppen entwickelt. Dabei handelt es sich um ein Modell, bei dem die zukünftigen Eigentümer zu Bauherren werden. Die individuelle, parzellenweise Bebauung ermöglicht einen vielfältigen, hochwertigen und erschwinglichen Gebäudebestand. Das Konzept der Baugemeinschaft vereint die einzelnen privaten Wünsche der Bewohner mit den gemeinschaftlichen und sozialen Bedürfnissen. Städtische Wohnhäuser entsprechen nur selten den Anforderungen einer aktiven und wachsenden Fami­ lie. Die einzige Möglichkeit, ein Haus nach eigenen Vorstellungen zu realisieren, bedeutet, ein Grundstück außerhalb der Stadt zu finden und ein Einfamilien­ haus zu bauen. Die Planung eines eigenen Hauses im urbanen Umfeld ist oft nur Wohlhabenden vorbehal­ ten. Neubauwohnungen bieten zwar einige Wahlmög­ lichkeiten, aber diese beschränken sich auf Details wie die Fliesen im Badezimmer und die Küchenschränke. Die Vorstellung, den Entwurf eines eigenen Hauses in der Stadt selbst mitgestalten zu können, einschließlich Größe, Grundriss, Heizsystem und Dämmung, ist des­ halb höchst interessant. Die Grundstücke der Baugemeinschaft werden von der Gemeinde überplant und in kleine Parzellen unterteilt, die anschließend zu einem festen Markt­ preis zum Verkauf angeboten werden. Interessierte Käufer erhalten von der Gemeinde ein Programm mit Angaben zu den Höhenbegrenzungen, der zulässigen Bebauungsdichte, dem Einbeziehen von Nichtwohn­ funktionen wie Arbeitsplätzen, den Wohnungstypen, der Mischung von Besitzverhältnissen und den Standards für Dämmung, erneuerbare Materialien und Umwelt­ freundlichkeit. Allgemein scheinen sich Privatperso­ nen viel stärker für Innovationen im Wohnungsbau zu interessieren als marktorientierte Bauträger. Die Baugemeinschaft bietet ein anderes Investi­ tionsmodell als herkömmliche spekulative Bauvorha­ ben. Für den Hypothekengeber besteht ein geringeres Risiko, da die Käufer von Anfang an bekannt sind. Ihre

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Wohngebäude der Baugemeinschaft in Tübingen, Deutschland

Namen, Adressen und Sicherheiten liegen vor. Selbst der Ausstieg von ein oder zwei Personen oder der Ver­ lust ihres Arbeitsplatzes gefährdet nicht das Projekt. Diese maßgeschneiderten Lösungen können 40 Pro­ zent günstiger ausfallen als herkömmliche standardisierte Wohnbauten, da der Bauträger keinen Gewinn erzielt.9 Einige Ausgaben entfallen, weil die Baugemeinschaft als Bauträgerin fungiert und keine Marketingkosten entstehen, da alles bereits zu Beginn des Projekts ver­ kauft wird. Die künftigen Bewohner investieren häufig in hochwertigere Materialien und Ausstattungen und in bessere technische Lösungen, was wiederum die War­ tungs- und Betriebskosten senkt. Es ist unwahrschein­ lich, dass ein Bauträger mit nur kurzfristigem Interesse solche Entscheidungen treffen würde. In diesen Projekten herrscht von Anfang an Nach­ barschaftsgeist. Im Grunde wählen die Mitglieder einer Baugemeinschaft ihre Nachbarn selbst aus. Während der Planungs- und Bauphase lernen sie sich gegensei­ tig kennen und können das Projekt verlassen, wenn sie sich überwerfen. Nach der Fertigstellung des Gebäu­ des sind sie gut miteinander bekannt und das tägliche Zusammenleben kann beginnen. Die nach dem Modell der Baugemeinschaft hergestellten Bauten sind bes­ ser auf die Bedürfnisse und Wünsche ihrer Bewohner abgestimmt. Auch kümmern sich die Anwohner eher um ihr eigenes Gebäude und fühlen sich mit ihm ver­ bunden, was eine stabile Gemeinschaft fördert. Da sie sich langfristig an das Projekt binden, investieren sie auch bereitwilliger in ihre Umgebung. Das Modell wird inzwischen in anderen europäischen Ländern und sogar in Australien getestet.

Eine Gesellschaft besteht aus verschiedenen Menschen mit unterschiedlichen Bedürfnissen, Mitteln und Träumen

Die Stadt schlägt einen parzellenbezogenen Plan vor, der viele Einzelprojekte zulässt

Die Baugemeinschaft: Jede Gruppe arbeitet zusammen, um den Entwurf und den Zeitplan für ihr eigenes Projekt zu entwickeln

Das Ergebnis ist ein vielfältiges Stadtbild mit einer starken Identität und Gebäuden, die auf ihre Nutzer zugeschnitten sind

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Schichtung


Schichtung und Stapelung unterscheiden sich wesentlich. Beim Schichten werden verschiedene Funktionen und Wohnformen im selben Gebäude übereinander ange­ ordnet, wobei die Unterschiede zwischen den einzelnen Räumen optimal genutzt werden. Beim Stapeln hingegen liegen lediglich dieselben Funktionen und dieselbe Art der Unterkunft übereinander. Idealerweise sollten städtische Bauten eindeutige horizontale Schichten aufweisen und ihren Charakter von der Straßenebene bis zum Dach verändern, da sich die Zugangs- und Lichtverhältnisse von Geschoss zu Geschoss unterscheiden. Das geschichtete Gebäude hebt diese Unterschiede hervor.

Stapelung

versus

Schichtung

Im geschichteten Gebäude ist die Erdgeschossebene ohne Treppen zugänglich. Oft kann man von der Straße aus direkt in die Fenster des Erdgeschosses schauen, was je nach Nutzung von Vorteil sein kann oder auch nicht. Die Grundfläche des Erd­ geschosses ist im Gegensatz zu den darüber liegenden Etagen jederzeit erweiterbar. Das erste Obergeschoss mit nahem Kontakt zum Boden bietet Privatsphäre und zugleich ein Gefühl der Sicherheit, was ihm den Namen piano nobile oder bel étage einbrachte. Hinsichtlich Zugänglichkeit, Bezug zum Bodenniveau und Tageslicht unterscheiden sich die Etagen nach oben hin geringfügig vom Erdgeschoss. Das oberste Geschoss, das Dachgeschoss oder Penthouse, lässt sich sowohl von oben als auch von den Seiten belichten. Die Grundrisse können durchaus unter­ schiedlich ausgebildet sein, da nicht alle Wände zwangsläufig tragend sind. Im geschlossenen Block gibt es auch eine vertikale Schichtung: Die zur Straße gelegenen Räume unterscheiden sich von denen, die sich zum Hof öffnen; Hofgebäude weichen von den Häusern an der Straße ab; Nebengebäude sind anders gestaltet als Hauptgebäude; der Hof hat einen ganz anderen Charakter als die öffentliche Straße. Die Schichtung auf beiden Ebenen schafft ein komplexes System aus Innenund Außenbereichen. Je komplexer das räumliche System, je unterschiedlicher seine Qualität, desto größer die Chance, dass dort vielfältige Aktivitäten und Ver­ halten stattfinden. Dieses komplexe System beinhaltet mehrere Schlüsselfaktoren wie Zuwegungen, Grad der Präsenz (öffentlich oder privat), Anteil der natürlichen

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01. Lille, Frankreich Ein Mehrzweckgebäude mit unterschiedlichen Schichten wird der städtischen Lage mit Ladeneinheiten im Erdgeschoss, Büroflächen in der Mitte und Penthousewohnungen auf dem Dach gerecht 02. Tübingen, Deutschland Ein Wohngebäude nutzt das Erdgeschoss mit einem langen rückwärtigen Anbau für einen großzügigen Terrassengarten auf dem Dach. Die Wohnungen im obersten Geschoss haben einen anderen Grundriss als die darunter liegenden und verfügen über eine Dachterrasse

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Schichtung akzentuiert die Unterschiede zwischen den Geschossen

Freie Abmessungen und Grundrisse im Dachgeschoss

Höhere Decken erlauben mehr Flexibilität im Erdgeschoss

Potenziell nutzbares Untergeschoss

Tiefere Grundrisse im Erdgeschoss möglich

Belichtung und Belüftung, Abmessungen und Volumina und natürlich Raumfor­ men und Grundrisse. Da sowohl das Erdgeschoss als auch das Dachgeschoss spezifische Merkmale aufweisen, wie sie sich sonst nur in frei stehenden Häusern finden, sind sie poten­ ziell besser nutzbar und flexibler als andere Teile des Gebäudes. Beide können viel­ fältigere Funktionen und Nutzer aufnehmen. Ein umschlossenes, mittelhohes Gebäude profitiert eher von einer Schichtung als ein hohes, da sein Erdgeschoss und sein Dachgeschoss anteilig größer sind. Zusammen können Erd- und Dachgeschoss bis zur Hälfte des gesamten Bauvolu­ mens ausmachen. Das bedeutet, dass die Hälfte der Wohnungen Charakteristika haben könnte, die sonst nur bei frei stehenden Gebäuden denkbar wären. In einem dichten urbanen Umfeld ist dies außerordentlich wichtig.

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01. Kopenhagen, Dänemark Das sogenannte „Sandwich“ besteht aus drei verschiedenen Schichten mit einem Supermarkt im Erdgeschoss, Sporteinrichtungen in der Mitte und Penthousewohnungen auf dem Dach 02. Malmö, Schweden Schichtweise Unterbringung im F ­ ahrradhotel Ohboy: Die Gästezimmer im Erdgeschoss öffnen sich unmittelbar zur Straße, was ein reges Treiben mit Kommen und Gehen auf der Straße bewirkt. Darüber befinden sich verschiedene Arten von Wohnungen

Schichtung in der Nähe des Nahverkehrs: Nightingale 1, Melbourne, Australien

Foto: Peter Clarke

Nightingale 1 ist ein Vorzeigeprojekt, eine aus­ tralische Variante der Baugemeinschaft, bei der die künftigen Bewohner aktiv an der Entwicklung betei­ ligt sind. Es liegt günstig in der Nähe eines Bahnhofs sowie von Straßenbahn- und Buslinien. Bei diesem Projekt spielte die Erschwinglichkeit eine große Rolle. Nightingale 1 soll ökologisch, sozial und wirtschaftlich nachhaltig sein. Es ist vor allem die Durchführung des Projekts, die alle Aufmerksamkeit auf sich zieht, aber auch die geschichtete Gestaltung des zeitgenössischen Wohngebäudes ist bemerkenswert. Das Erdgeschoss bietet Platz für ein Café, ein Archi­ tekturbüro und einen Büroraum. Diese Nutzungen beleben die Straße den ganzen Tag über und schaffen eine Art Mikrogemeinschaft, in die man sich zurück­ ziehen kann. Im Erdgeschoss finden sich auch direkt zugängliche Fahrradstellplätze, die üblicherweise an einem abgelegeneren Ort untergebracht sind. Auch dies ist ein wichtiges Detail, da Nightingale 1 keine

Parkplätze bereithält. An der Vorderseite setzt sich das Leben auf dem Bürgersteig mit Pflanzkübeln und Sitzgelegenheiten fort. Vom Erdgeschoss deutlich abgesetzt enthält die Mitte vier Etagen mit Wohnungen, die durch ein großzügiges offenes Treppenhaus verbunden sind. Dieses sorgt auch für Belüftung (Nightingale 1 ist nicht klimatisiert). Höhere Decken ließen sich durch die geschickte Freilegung von Versorgungsleitungen realisieren. Sie verbessern die Lichtverhältnisse und das Raumgefühl in den kompakten Wohnungen. Der Blick von der Dachterrasse auf die Umgebung zele­ briert die gemeinsamen Nutzungen wie Liegewiese, Sommer- und Winterbereiche, Grill, Sandkasten, Gemüsegärten und Bienenstöcke sowie eine gemein­ same Waschküche und Wäscheleinen. Für Nightingale Village, eine Maßnahme aus sieben ähnlichen Projekten in Brunswick, existieren bereits laufende Pläne.

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Schichtung in einem Neubaugebiet: Nya Hovås, Göteborg, Schweden

Das Neubaugebiet Nya Hovås, das südlich von Göteborg auf einer ehemaligen Brachfläche an der Autobahn errichtet wurde, entwickelt sich zu einem florierenden Stadtzentrum. Zu Beginn wurden einige nicht mehr benötigte Gewerbebauten mit einer breiten Palette von Nutzungen wiederbelebt, darunter Einzel­ handel, Dienstleistungen und Freizeiteinrichtungen. In einer nächsten Phase entstanden Straßen und Innen­ höfe in einem traditionellen städtebaulichen Layout und als neue Landmarke der Mehrzweckbau Spektrum. Der Bauträger hat erkannt, dass für die Attraktivität von Gebieten mit höherer Dichte eine gemischte Nut­ zung ausschlaggebend ist, und hat daher in Erdgeschoss­ flächen für Nichtwohnzwecke investiert. Gebäude mit

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aktiven Straßenfronten wurden bewusst an einer viel­befahrenen Straße platziert. Der Bauträger betreute neue Betriebe in der Siedlung, förderte ihre Profes­ sionalität und leistete Unterstützung bei der Innen­ einrichtung sowie beim Marketing. Die neuen städtischen Blöcke von Nya Hovås zei­ gen eine klassische Schichtung mit Geschäftsräumen im Erdgeschoss an der belebten Hauptstraße und Wohnungen in den Geschossen darüber. Durch die besonderen Wohnungen im obersten Geschoss ent­ steht eine unverwechselbare und abwechslungsreiche Dachlandschaft, die dem neuen Viertel einen eigenen Charakter verleiht und den Vorbeifahrenden ein loka­ les Wahrzeichen bietet.

Ein geschichtetes Gebäude mit vielfältigen Funktionen: Spektrumhuset, Nya Hovås, Göteborg, Schweden

Das Spektrum-Gebäude, das Herzstück des Stadt­ viertels Nya Hovås, erstreckt sich über einen ganzen Häuserblock und besitzt an allen vier Seiten aktive Fronten. Es nutzt die Vorteile der Schichtung mit einer Bowlingbahn im Untergeschoss, einem Restaurant und verschiedenen Geschäften im Erdgeschoss, mehreren Etagen mit Klassenzimmern und Schulbüros sowie einem Spielplatz, einem Penthouse für Mitarbeiter und einer Terrasse auf dem Dach. Das Spektrum-Gebäude zeigt, wie ein durchdach­ ter Bau viele verschiedene Nutzungen beinhalten und gleichzeitig seine Ränder zu den umliegenden Straßen aktivieren kann.

Bowling

Schule

Restaurant

Spielplatz

Geschäfte

Gemeinsames Klassenzimmer/Büro

Co-Working

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Unterbringung verschiedener Funktionen durch Schichtung: Mercat de la Concepció, Barcelona, Spanien

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Der modernisierte Mercat de la Concepció, eine Markthalle in Barcelona, ist ein gelungenes Beispiel dafür, wie sich ein großes Gebäude durch Schichtung in ein gemischt genutztes Stadtviertel integrieren lässt. Das historische Marktgebäude wurde erhalten und mit einem neuen Supermarkt, einer großen Laderampe und einer mehrgeschossigen Tiefgarage ausgestattet. Durch die bewusste Schichtung der Funktionen wurde die Markthalle in der Erdgeschossebene akti­ viert. Die vielen kleinen Händler – mit ihren arbeitsin­ tensiven und zeitaufwendigen Tätigkeiten – genießen nun Tageslicht, Frischluft und die hohen Decken des historischen Raumes, während sie gleichzeitig mit den umliegenden Straßen verbunden sind. Anstelle einer geschlossenen Fassade sind zur Hauptstraße hin Blu­ menläden angeordnet, deren Angebot auf den Bürger­ steig hinausragt. Dies stimuliert die Sinne und erlaubt

mehr Flexibilität und längere Öffnungszeiten als bei den Marktständen im Innern. An den Marktständen herrscht eine hohe Beschäf­ tigungsdichte, wobei bis zu vier oder fünf Personen auf einer Fläche von 15 bis 20 Quadratmetern arbeiten. In der Markthalle werden Stühle vorgehalten, damit sich die Kunden bequem niederlassen können, um ihre Einkäufe sorgfältig auszuwählen und sich mit den Standbetreibern zu unterhalten. Das geschäftige und intensive Markttreiben sollte im Vordergrund stehen, damit mehr Menschen das sensorische Erlebnis all der Produkte in einer Umgebung (mit Tageslicht und natürlicher Belüftung) erfahren können, die das Ver­ weilen und das Gespräch fördert. Der Markt beherbergt auch eine Café-Bar, die sowohl von Standbetreibern als auch von Kunden besucht wird, sowie einen Friseur und ein Elektrogeschäft. Unterhalb des Marktes im Erdgeschoss befindet sich ein Super­

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markt mit einer großzügigen Grundfläche für die all­ täglichen Dinge. Hier gibt es nur wenige Angestellte, da die Kassen wohlüberlegt im Erdgeschoss platziert sind, wo für die Kassiererinnen ebenso wie für die Standinhaber angenehme Lichtverhältnisse herrschen. Im selben Gebäude bietet der Markt eine hohe Dichte bei einer Vielfalt an Produkten und Erlebnissen und ist dabei mit der Nachbarschaft gut vernetzt. Das menschliche Erleben – etwa im praktischen, direkten Zugang und einem aktiven Erdgeschoss – hat Vorrang vor der Logistik von Waren, den Anlieferungen durch Fahrzeuge und parkenden Autos. Beim Mercat de la Concepció geht es somit nicht allein um die Unterbrin­ gung verschiedener, sich ergänzender Nutzungen an einem gemeinsamen Ort. Vielmehr demonstriert der Markt eine angemessene Positionierung verschiedener Komponenten durch Schichtung, damit der Erlebnis­ wert im Mittelpunkt steht.

Der Markt ist schichtweise organisiert. Die Markthalle im Erdgeschoss liegt über dem Supermarkt und der wiederum über dem Lager und dem Parkhaus 01. Markthalle im Erdgeschoss 02. Die Blumenhändler breiten sich bis auf den Bürgersteig aus 03. Seiteneingang mit direkter Verbindung zu einer Seitenstraße im Viertel 04. Die kleinen Stände mit jeweils bis zu 4 bis 5 Mitarbeitern 05. Fußgängerbrücke am Eingang über dem Supermarkt im Untergeschoss

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Das Potenzial des Erdgeschosses

Ein besonderer Pluspunkt kleinerer geschlossener Blöcke ist ihr höherer Erd­ geschossanteil. Erdgeschosse – vor allem bei großzügigen Deckenhöhen – sind fle­ xibler als andere Etagen und können daher für mehr Dichte und Vielfalt sorgen. Das aktive Erdgeschoss kann eine größere Bandbreite an Nutzungen aufneh­ men und damit sicherstellen, dass mehr Menschen mehr Zeit auf der Straßenebene verbringen und sich mit dem öffentlichen Leben verbinden. Aktive Erdgeschosse fördern den Gemeinschaftssinn und ein Gefühl der Sicherheit, da mehr Fenster zur Straße zeigen und der direkte Zugang zu vermehrtem Kommen und Gehen führt. Die größere Nutzungsvielfalt bewirkt einen ganztägig belebten Raum. Aufgrund ihrer Attraktivität für Passanten unterstützen sie aktive Mobilität und ermöglichen zugleich ein Multitasking, da ein größeres Angebot von Dienstleistungen und Waren im täglichen Bewegungsmuster verfügbar ist. Aktive Erdgeschosse eignen sich aber nicht nur für Geschäfte. Im Gegenteil: Sie sind ebenso für Wohnungen, Arbeits­ plätze und andere Dienstleistungsfunktionen von Bedeutung.10

Bei einem vier- bis fünfstöckigen Gebäude kann der Anteil des Erd­geschosses mindestens 20 bis 25 Prozent betragen

Ohne die Integrität des Blocks zu verlieren, kann die Erdgeschoss­ fläche bis zu 100 Prozent betragen

Das Erdgeschoss ist besonders gut zugänglich und sichtbar und kann daher ein breiteres Spektrum von Nutzern aufnehmen

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01. Bellagio, Italien Die Bedeutung des auf Augenhöhe Sichtbaren veranlasste Ladenbesitzer, zusätzliche Schaufenster vor die Fassade zu hängen, um ihre kommerzielle Präsenz zu maximieren

02. Tokio, Japan Selbst bescheidene, alltägliche Arbeitsstätten können die Straße beleben. Hier präsentieren die Mitarbeiter einer familiengeführten Hemdenmanufaktur ihr Können auf der Straße, bieten Passanten Abwechslung und werben gleichzeitig neue Kunden

03. London, England Die Bedeutung des Erdgeschosses hat zur Erweiterung dieser schlichten Stadthäuser mit Geschäften geführt. Bemerkenswert ist, dass sich die Aufmerksamkeit (Farbe, Details und Dekoration) auf die ersten 3 Meter konzentriert, also auf alles in Augenhöhe. Die darüber liegenden Gebäude mit Wohnungen bleiben eher unauffällig 05. Tokio, Japan Großzügige Fenster im Erdgeschoss vernetzten die Menschen im Haus mit denen draußen und tragen dazu bei, die lokale Gemeinschaft kennenzulernen

04. Edinburgh, Schottland Im Erdgeschoss können viele kleine Geschäfte und Dienstleistungen untergebracht werden. Die Abwechslung macht auch den Spaziergang interessanter 06. São Paulo, Brasilien Ein ehemaliges Ladenlokal wurde in eine Gemeinschaftseinrichtung umgewandelt. Die großen Fenster informieren die Passanten über das Geschehen im Inneren und laden sie zum Zuschauen und vielleicht sogar zum Mitmachen ein

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XS

Das kleinste aktive Erdgeschoss besitzt eine Tiefe von 25 bis 60 Zen­ timetern, also die Maße eines Regals oder Schranks. Diese Größe ist für sehr kleine Geschäfte gedacht, bei denen sich der Eigentümer oder Verkäufer im Freien aufhält. Die Abmessungen sind ausreichend für das Lagern von Waren und eine Auslage. Eine bewusst platzierte Einbaubank könnte ebenfalls als aktiver Rand gelten.

XS 25–60 Zentimeter

S

S 1–2 Meter

Bei einem 1 bis 2 Meter tiefen Raum kann sich der Händler oder Laden­ inhaber im Innern aufhalten, wobei die Kunden draußen bleiben. Sie können durch eine Öffnung in der Wand bedient werden. Ein solcher Raum eignet sich für einen Kaffeestand, eine Schuh­reparaturwerkstatt oder einen Zeitungskiosk. Hierbei wird die Straße als Verkaufsflä­ che genutzt, da die Kunden auf dem Bürgersteig um etwas anstehen. Häufig werden die Waren auch im Freien zur Schau gestellt. Kleine Einheiten dieser Art sind nützlich, um größere, weniger aktive Erd­ geschossnutzungen wie Supermärkte oder Parkhäuser zu ergänzen.

M

Eine mittelgroße Einheit mit einer Tiefe von 4 bis 6 Metern bietet Raum für einen kleinen Laden oder ein Büro mit Platz für Kunden im Inneren. Sie befindet sich häufig in der vorderen Hälfte des Gebäudes, zur Straße hin, und kann verschiedene kleine Geschäfte, Werkstätten oder Büros beherbergen.

M 4–6 Meter

L

Ein großer Raum füllt die gesamte Tiefe und Breite des Erdgeschosses eines Gebäudes aus. Der öffentliche Bereich, etwa die Verkaufsfläche oder der Essbereich eines Restaurants, kann sich bis in den hinteren Bereich erstrecken. Alternativ lassen sich die Räumlichkeiten auch in Zonen unterteilen. Dabei befindet sich der Verkaufsbereich im vorderen Teil, Lager und andere Einrichtungen liegen in der (dunkleren) Mitte und die Küche, das Büro und der Personalbereich im hinteren, ruhi­ geren Bereich. Für manche Einzelhandelsgeschäfte werden „schmale Fronten und tiefe Grundrisse“ bevorzugt, nebeneinander angeordnet führt diese Form zu einer dichten und vielfältigen Ladenzeile. L 10–12 Meter

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XS Die kleinsten Abmessungen ermöglichen das Lagern und Darbieten von Waren

XS Belgrad, Serbien Bei einem Straßenladen aus einer dünnen Schicht von Schränken können Ladenbesitzer wie Kunden auf dem Bürgersteig stehen

S Bei der nächstkleineren Einheit kann der Händler drinnen sein, während die Kunden draußen bleiben

S Tokio, Japan Lediglich ein paar Meter ermöglichen die Existenz dieses Geschäfts. Beachtenswert sind die winzige Bar auf der Fensterbank und der Klapptisch

M Die kleinen Räumlichkeiten zeigen nur zur Straßenseite des Gebäudes

M Kopenhagen, Dänemark Einseitige Ladeneinheiten können mit ihren breiteren Fronten mehr Leben in die Straße bringen

L Die mittelgroßen Räumlichkeiten reichen von der Vorder- bis zur Rückseite des Gebäudes

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XL

Manchmal kann das Erdgeschoss tiefer ausgebildet sein als die da-­ rüber liegenden Etagen. Dadurch entsteht ein besonders weitläufiger und zweckdienlicher Raum für bestimmte Funktionen (insbesondere Einzelhandel), die eine größere Geschossplatte benötigen. Außerdem kann das ausgedehnte Erdgeschoss die Basis für eine Terrasse oder einen Außenbereich für die darüber liegenden Räumlichkeiten schaffen. XL 12–20 Meter

XXL > 20 Meter

XXL Extrem große Räumlichkeiten können einen ganzen Block einnehmen

XXL

Die Räumlichkeiten im Erdgeschoss können die gesamte Grundfläche eines Blocks einnehmen, sodass sie einen Sockel für einen angehobe­ nen Innenhof bilden. Mit solch einer extrem großen Lösung könnte sich zum Beispiel ein Supermarkt in einem bebauten Viertel nieder­ lassen. Wichtig ist dabei, den größten Teil des äußeren Randes mit anderen kleineren Nutzungen zu umgeben, um ein durchgängiges Straßenbild zu schaffen, das die Fußläufigkeit und die Anbindung an die umliegende Nachbarschaft verbessert. Der Sockel schafft einen erhöhten Außenbereich, der direkt mit den umliegenden Geschos­ sen verbunden ist.

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XL Die besonders großen Räumlichkeiten gehen über die Breite des Gebäudes hinaus …

… mit kleinen Geschäften an den Rändern

XXL Bern, Schweiz Eingefasst von kleineren Einzelhandelsgeschäften fügt sich ein ausgedehnter Supermarkt unauffällig in die Straße ein. Die andernfalls langweiligen Fassaden sind nun für die Passanten interessanter. Die B ­ äckerei und der Eisstand im Außenbereich locken mehr potenzielle Kunden an und ersparen ihnen den Weg in das größere Geschäft

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Hin zur Straße Für eine Erweiterung der Geschäftsfläche ist der Bürgersteig der flexibelste Raum. Unterschiedlich große Bürgersteige und verschiedene Nutzungen lassen sich mit einer aktiven Randzone im Freien kombinieren. So wird der Übergang zur Straße aufgelockert, was zum Verweilen einlädt. Besonders für kleinere Läden ist dieser zusätzliche Raum wichtig, etwa für die Auslage von Waren. Lebensmittelhändler können dort ihre Kisten mit frischem Obst aufstellen, Bekleidungsgeschäfte ihre Kleiderständer, und es können auch Tische und Stühle untergebracht werden für den Verzehr im Freien. Bei schönem Wetter die Straße nutzen zu können, ist für Restaurants und Cafés besonders wichtig, da sie dann nicht nur ein reges Straßenleben erzeugen, sondern auch den größten Umsatz erzielen. Der Bürgersteig oder öffentliche Raum vergrö­ ßert die Restaurant- oder Caféfläche beträchtlich und das bei sehr geringen Kosten. Dies gilt sowohl für die anfängliche Investition in Tische und Stühle als auch für die Instandhaltung, da Außenflächen leichter zu reinigen sind. Außerdem muss ein Außenbereich nicht belüftet werden und ist im Allgemeinen unbeheizt. Vielleicht mehr als jedes andere Phänomen einer Erdgeschossfunktion sorgen Tische und Stühle auf dem Bürgersteig für ein belebteres Straßenbild und tragen so zu einer vielfältigeren und dichteren Nutzung des Stadtraums bei. Selbst in Wohngebieten schafft der Bürgersteig zusätzlichen Lebensraum. Durch die Gegenwart der Anwohner und ihrer persönlichen Gegenstände wird eine private und gesellige Atmosphäre auch in den öffentlichen Bereich getragen.

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01. Tokio, Japan Das kleine Restaurant kann seine Kapazität mehr als verdoppeln, wenn es sich in den Straßenraum ausdehnt. Beachtenswert ist auch der Klimavorhang aus Kunststoff beim benachbarten Restaurant

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02. Amsterdam, Niederlande Personalisierung der Gebäuderänder vor den Stadthäusern mit einem Minigarten aus Topfpflanzen: Dies erfreut Passanten und Bewohner gleichermaßen

03. Kopenhagen, Dänemark Die Nutzung des schmalen Bereichs vor den Wohnungen bietet den Bewohnern ein zusätzliches Wohnzimmer und verbindet sie mit dem öffentlichen Raum

04. Helsingborg, Schweden Klappstühle vor einer sonnigen Eisdiele ermöglichen eine saisonale Nutzung des Bürgersteigs

05. Rinkeby, Schweden Unter einer Markise haben die Geschäfts­ inhaber ihre Läden durch Auslagetische und hängende Waren zur Straße erweitert und so einen fließenden Übergang zur Fußgängerpromenade geschaffen

06. Bern, Schweiz Eine großzügige Markise und Topfpflanzen schaffen einen Außenraum für das Café im Erdgeschoss

07. Edinburgh, Schottland Ein Kellercafé erstreckt sich in den kleinen Vorhof und treppauf auf den Bürgersteig

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Mehr als nur Läden: Verschiedene Arten aktiver Erdgeschosse Familienhaus Für eine Familie mit Kindern ist das Wohnen im Erdgeschoss sehr bequem. Ein kleiner Garten fungiert nicht nur als Puffer zur Straße, sondern kann auch ein wertvoller Freiraum, ein Abstellplatz für Fahrräder, Spielzeug und Kinderwagen sowie ein Spielplatz für kleine Kinder sein.

Haus für besondere Bedürfnisse Dies kann für ältere Menschen oder Menschen mit Behinderungen sein, für die ein ebenerdiger Zugang höchst praktisch ist. Das Betreten und Verlassen ohne fremde Hilfe erleichtert den Kontakt zur Außenwelt. Die Zeit im Freien zu verbringen, Passanten zu beobachten und mit ihnen ins Gespräch zu kommen, gibt den Bewohnern des Erdgeschosses die Möglichkeit, eine engere Beziehung zu ihrer Nachbarschaft aufzubauen.

Büro mit eigenem Zugang Das Erdgeschoss eignet sich für einen unabhängigen Arbeitsplatz. Die Straßenlage bietet Sichtbarkeit und soziale Beziehungen. Man kann nach draußen gehen und sich als Teil der Gemeinschaft fühlen. Ein Arbeitsplatz im Erdgeschoss belebt die Straße und vermittelt ein Gefühl der Sicherheit.

Werkstatt Erdgeschosse können als Werkstätten und ­Ateliers genutzt werden. In den Erdgeschossbereichen können Künstler, Handwerker und Händler mit dem Alltag ihrer Gemeinschaften besser vernetzt sein. Die Lage an der Straße ist nicht nur für Kundenbesuche, sondern auch für Anlieferungen zu und Abholungen von diesen Räumlichkeiten nützlich.

Kinderbetreuung Das Erdgeschoss bietet die Vorteile eines direkten Zugangs und eines „Schaufensters“ für Einrichtungen: Kindertagesstätten und Kindergärten, Zweigstellen von Bibliotheken, öffentliche Dienststellen, Gemeindebüros und Wohltätigkeitsorganisationen. Statt in separaten öffentlichen Gebäuden können diese Aktivitäten näher an ihren Nutzern stattfinden – als Teil der Straße und als Teil der Gemeinschaft.

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Gesundheitsfürsorge Im Erdgeschoss liegen idealerweise die Praxis eines Arztes, Zahnarztes, Tierarztes oder die Räumlichkeiten eines anderen Spezialisten oder Therapeuten. Für Besucher sind die Einrichtungen leicht zu finden und zu erreichen, weil es eine Straßenadresse gibt. Zudem gibt es eine Verbindung zu anderen Angeboten wie etwa der Bushaltestelle bei Anreise mit öffentlichen Verkehrsmitteln.

Ausstellungsraum/Galerie Größere Flächen im Erdgeschoss können auch für Ausstellungen und Galerien genutzt werden. Diese Räume beleben ruhige Seitenstraßen, obwohl dort nur wenige Menschen pro Quadratmeter beschäftigt sind. Die Lage in der Stadt und nicht in einem Vorort macht diese Räume und Aktivitäten einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich.

Salon Die Geschäftsräume von Friseursalons, Kosmetik- und Nagelstudios verdienen wegen des geselligeren Charakters der Aktivitäten besondere Aufmerksamkeit. Schaufenster gewähren einen direkten Einblick in die Tätigkeiten, wodurch die Kunden Teil der Präsentation werden und die Räume lebendiger wirken. Das Terminsystem sorgt für eine gleichmäßige Auslastung.

Fitness Das Fitnessstudio kann eine große Fläche im Erdgeschoss einnehmen und belebt die Straße durch seine Besucher. Sie sind die beste Werbung für die Aktivitäten im Inneren. Da Fitnessstudios im Erdgeschoss oft von früh morgens bis spät abends geöffnet haben, sind sie ein Blickfang auf der Straße und vermitteln ein Gefühl der Sicherheit im öffentlichen Raum, insbesondere wenn andere Geschäfte geschlossen sind.

Fachgeschäft Kleine Fachgeschäfte können Leben in ruhigere Straßen bringen. Ob Wolle, Modelleisenbahnen, Secondhand-Bücher oder Selbstgemachtes – die Schaufensterauslage ist besonders wichtig, wenn das Geschäft ungewöhnliche Waren anbietet. Fachgeschäfte machen vielleicht den größten Teil ihres Umsatzes online. Ein physisches Geschäft bietet dem Geschäftsinhaber/Ladenbesitzer jedoch die Möglichkeit, in seinem Alltag Teil einer Gemeinschaft zu sein.

Blöcke als Bausteine  77

Die Bedeutung von Dach und Dachgeschoss So wie der geschlossene Block proportional mehr Erdgeschossfläche bereitstellt, bietet er im Vergleich zu Hochhäusern oder frei stehenden Gebäuden proportional auch mehr Dachgeschoss- oder Penthouse-Fläche. In einem Gebäude mit vier bis fünf Geschossen können 20 bis 25 Prozent der gesamten Gebäudefläche als Dach­ geschoss ausgebildet sein. Wie das Erdgeschoss zeichnen sich auch Dachgeschoss und Dach durch besondere Eigenschaften aus, durch deren Nutzung sich die Leis­ tung und der Wert des Gebäudes steigern lassen. Beim Dachgeschoss sind die freie Raumanordnung und die Dachform, der leichte Zugang zur Dachfläche und die Erweiterbarkeit von Vorteil ebenso wie die bessere Aussicht, mehr Tageslicht und natürliche Belüftung. Unabhängig von den darunter liegenden Geschossen bietet das Dachgeschoss eine freiere Grundrissgestaltung, da die Innenwände keine tragende Funktion haben. Zudem ermöglicht der flexible Grundriss unmittelbar zugängliche Außenbereiche auf der Dachfläche. Das Volumen des Dachgeschosses kann fast jede beliebige Form annehmen, da sich darüber nichts mehr befindet. So entstehen selbst in derselben Wohnung verschiedene Dachformen und unterschiedliche Deckenhöhen, sogar Berei­ che mit doppelter Raumhöhe und Zwischengeschosse sind möglich. Außerdem lässt sich das Dach aufstocken. Kleine, aber entscheidende Erweiterungen können die funktionale Flexibilität erhöhen und mehr individuelle Lösungen berücksichtigen. Häufig wird das Dachgeschoss als attraktiver empfunden, da niemand mehr darüber wohnt − daher die hohen Preise für Penthäuser. In vielen Städten sind Dachgeschossausbauten besonders als Luxuswohnungen beliebt. Das Dachgeschoss besitzt viele Eigenschaften eines Vorstadthauses, wie Privatsphäre, Licht und einen eigenen Außenbereich. Aufgrund seiner Flexibilität eignet es sich für unterschied­ liche Nutzungen und Bewohner. Dadurch kann sich die sozioökonomische Vielfalt und die Dynamik des Gebäudes erhöhen. Häufig jedoch birgt das Dachgeschoss ein beträchtliches, nicht ausgeschöpftes Potenzial.

01.

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Bei 4 bis 5 Stockwerken können 20 bis 25 Prozent eines Gebäudes die einzigartigen Penthouse-Eigenschaften des Dachgeschosses besitzen

01. Shoreditch, London, England Ein neues, mehrstöckiges Penthouse auf einem bestehenden Gebäude beherbergt MaisonetteHotelsuiten mit einem Dachrestaurant und einer Terrasse darüber 02. Mexiko-Stadt, Mexiko Neue Dachwohnungen profitieren vom Licht der großen Fenster und von den Dachterrassen

Wohnen im Dach: Töölö Housing, Helsinki, Finnland

Wie lässt sich ein höheres Gebäude in eine niedri­ gere Umgebung integrieren? Ein großes Dach könnte die Lösung sein. Das riesige und etwas verspielte Mansarden­dach von Töölö Housing beherbergt vier Geschosse mit Wohnungen und lässt das achtstöckige Gebäude deutlich niedriger erscheinen. Die Verwen­ dung von Dachmaterial in den oberen Geschossen unterstützt diese Illusion. Die aerodynamische Form des Daches lenkt den Wind nach oben ab und schützt so den Hofraum, wäh­ rend seine Neigung das Sonnenlicht auf den Boden des Hofes einfallen lässt. Das verspielte Aussehen mit den stark betonten Schornsteinen verleiht dem Ort einen freundlichen Charakter. Vorspringende Glaskasten­ balkone kompensieren die geringe Wohnungsgröße, nutzen die Dachform optimal aus und geben den Blick in den Himmel frei.

Obwohl es für gewöhnlich nur ein Dachgeschoss geben kann, verleiht das großzügige Dach von Töölo Housing vielen Wohnungen ein Penthouse-Gefühl. Die schrägen Fenster lassen mehr Licht herein als normale vertikale Fenster, und die Balkone wirken geräumig und bieten einen 270-Grad-Blick.

50 Prozent der Höhe nimmt das Dach ein

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Die Bedeutung von Nebenflächen Nebenräume – Keller, Dachböden und rückwärtige Anbauten – sowie Neben­ gebäude wie Garagen und Fahrradschuppen bieten langfristig Raum für Wachstum und Veränderungen. Kurz- bis mittelfristig können Dachböden, Keller und Nebengebäude dazu bei­ tragen, viele praktische Nebennutzungen unterzubringen, zum Beispiel saisonale Lagerräume, Gemeinschaftseinrichtungen wie Waschküchen, Hobbyräume und geschützte Fahrradabstellflächen. Diese wichtigen Funktionen finden sich oft nur in einem vorstädtischen Kontext. Mittelfristig stellen diese einfachen Gebäude oder Flächen erschwingliche Räumlichkeiten für kleine Unternehmen dar. Die schlichten Räume ermöglichen es neuen Betrieben, sich in etablierten und beliebten Gebieten mit vielen Nachbarn und potenziellem Kundenstamm anzusiedeln. Das an die Straße angebundene Untergeschoss kann ein neu eröffnetes Geschäft enthalten, während ein Nebengebäude in einem ruhigen Innenhof für eine Werk­ statt oder für das Büro eines Start-ups infrage kommt. Nichtwohnnutzungen in einem Wohngebiet tragen zur Anpassungsfähigkeit eines Viertels bei, indem sie die Bevölkerung diversifizieren und Aktivität zu unterschiedlichen Tageszeiten fördern. Langfristig können diese Nebenflächen an Bedeutung gewinnen, wenn der Standort in der Nachbarschaft beliebter wird. Es besteht auch die Möglichkeit, zu investieren und sie in Wohn- und Arbeitsräume umzuwandeln. Ehemalige Wasch­ häuser, Stallungen, Garagen und Dachböden werden so zu attraktiven Wohnungen aufgewertet. Umgebaute Marställe und Loftwohnungen sind bekannte Beispiele für die Umnutzung von Nebenräumen.

01.

01. Kopenhagen, Dänemark Die Attraktivität dieses ehemaligen Nebengebäudes in einem Hof wurde im Laufe der Zeit erkannt – ein kleines Haus in einem ruhigen, geschützten Hof mit direkter Anbindung an die Annehmlichkeiten der Stadt 02./03. Breitenrain, Bern, Schweiz Zu hochwertigem Büroraum aufgewertete Nebengebäude in einem ruhigen Hof sorgen tagsüber für ein lebendiges Wohngebiet

Dachgeschosse, Untergeschosse, rückwärtige Erweiterungen und Nebengebäude bieten langfristig Raum für Wachstum und neue Nutzungen

80  Sanfte Stadt

04. Kopenhagen, Dänemark An vielen Orten der Stadt entstanden aus ehemaligen Dach­geschossen zum Wäschetrocknen Wohnungen mit außergewöhnlichen Aussichten und Lichtverhältnissen

02.

03.

04.

Blöcke als Bausteine  81

01.

Räumliche Vielfalt anerkennen Ein einfacher Vergleich zwischen einem verbundenen und geschichteten Gebäude in einem geschlossenen Block und einem frei stehenden, gestapelten Gebäude in einer offenen Landschaft zeigt, dass ein alleinstehendes Gebäude weniger Arten von Freiräumen bereitstellt als ein Gebäude in einem geschlossenen städtischen Block. Dies gilt auch für ein frei stehendes Gebäude mit ungewöhnlicher oder exzentri­ scher architektonischer Form. Auf den ersten Blick zeigt das gestapelte, frei stehende Gebäude keine Unter­ scheidung zwischen Vorder- und Rückseite. Es gibt also keine öffentliche Seite, keine offensichtliche Front. Auch fehlt eine private Seite, eine erkennbare Rückseite für Versorgungseinrichtungen, die jedes Gebäude braucht – Mülltonnen, Fahrradstell­ plätze und dergleichen. Es ist keine geschäftige Seite vorhanden, an der ein Laden oder ein Dienstleistungsbetrieb florieren könnte, und ebenso keine geschützte, ruhige Seite, die sich für spielende Kinder oder Schlafen bei offenem Fenster eignen würde. Somit weist das frei stehende Gebäude mit seinen gestapelten Räumlichkeiten nur eine Art von Außenraum und eine oder zwei Arten von Innenraum auf. Wenn es ein System zur Messung der räumlichen Vielfalt gäbe, könnte diesem Gebäude­ typ ein Faktor von 2 oder 3 für die räumliche Vielfalt zugewiesen werden, da innen und außen nur maximal drei deutlich unterschiedliche Arten von Räumen existieren.

03.

82  Sanfte Stadt

04.

01. Das frei stehende gestapelte Gebäude in einer offenen Landschaft erzeugt wenig räumliche Vielfalt. Es gibt keine eindeutigen Vorder- oder Rückseiten und keinen ersichtlichen öffentlichen und privaten Bereich. Die räumlichen Erfahrungen der einzelnen Etagen unterscheiden sich kaum

03. Lund, Schweden Der offene Grundriss bewirkt bei allein­ stehenden Gebäuden auf großen Flächen eine monotone Umgebung

02.

02. Der geschlossene Block mit geschichteten Bauten bietet eine beträchtliche räumliche Vielfalt. Der öffentliche Raum der Straße unterscheidet sich stark von dem des Innenhofs. Die Zimmer zur öffentlichen Vorderseite haben einen anderen Charakter als die auf der privaten Rückseite. Da das Erdgeschoss mit dem Boden verbunden ist, unterscheidet es sich deutlich von den darüber liegenden Etagen

04.–06. Kopenhagen, Dänemark Geschlossene Blöcke mit geschichteten Bauten ermöglichen diverse räumliche Bedingungen am selben Standort. Alle drei Fotos wurden in einem Abstand von weniger als 50 Meter voneinander aufgenommen

05.

Ein geschichtetes Gebäude in einem geschlossenen Block schafft mehr unter­ schiedlich nutzbaren Raum als ein frei stehendes Gebäude mit offenem Grund­ riss. Die Unterscheidung zwischen der Vorderseite/Straße und der Rückseite/Hof bringt mindestens zwei sehr divergierende Typen von Außenbereichen hervor. Auch zwei aufeinanderfolgende Höfe können sich unterscheiden, allein dadurch, dass der äußere näher an der Straße liegt als der innere. Zudem können die Räume an der Vorder- oder Rückseite eines Gebäudes oder in verschiedenen Geschossen voneinander abweichen; und ebenso unterscheiden sich die Zimmer, die Vorderund Rückseite miteinander verbinden. Auskragende Erweiterungen und Neben­ gebäude bilden von sich aus verschiedene Raumtypen und schaffen außerdem in den Zwischenbereichen unterschiedliche Teilräume im Freien. Wendet man die gleiche einfache Methode an wie oben beim alleinstehenden Gebäude, könnte man den geschichteten Blockbauten mit Nebengebäuden dank ihrer Vorder- und Rückseite und der charakteristischen Schichtung vom Boden bis zum Dachgeschoss einen räumlichen Diversitätsfaktor von bis zu 12 oder 13 zuschreiben. Wesentlich ist, dass jede Art von unterschiedlichem Raum die Wahr­ scheinlichkeit verschiedener Nutzungen erhöht.

06.

Blöcke als Bausteine  83

Größere Elemente unterbringen und den menschlichen Maßstab beibehalten

Um ein Stadtviertel zu schaffen, in dem das Leben vor Ort stattfinden kann, müssen Arbeitsplätze, medizinische Versorgung und Kinderbetreuung, Bildung, Unterhaltung und Einzelhandel leicht erreichbar sein, idealerweise in fußläufiger Entfernung von den Wohnungen. Gebäude, die diese Nutzungen beherbergen, gehö­ ren zu den Herausforderungen der Verdichtung mit Vielfalt. Wie lassen sich eine Schule, eine Bibliothek, Gesundheits- und Betreuungseinrichtungen, ein Hotel, ein Kino, ein Supermarkt oder ein Firmensitz in einem Viertel unterbringen? Wie kann man größere Nutzungen aufnehmen, ohne den menschlichen Maßstab zu verlieren? Wie stellt man sicher, dass diese Nutzungen auf Augenhöhe mit ihrer Umgebung verbunden und zugleich fußgängerfreundlich sind? Wahrscheinlich ist Arbeit die wichtigste Funktion, weil sie täglich über einen langen Zeitraum erfolgt. Ein Stadtviertel sollte im Idealfall eine Reihe von Beschäftigungsmög­ lichkeiten bieten, einschließlich größerer Arbeitsstätten. An zweiter Stelle stehen Schulen und Kindertagesstätten, da sie über mehrere Jahre hinweg fast täglich genutzt werden. Diese Einrichtungen spielen für die Identität eines Stadtviertels und für Begegnungs­ stätten eine ebenso wichtige Rolle wie Gotteshäuser oder andere soziale und kulturelle Einrichtungen, etwa Bibliotheken und Sportanlagen, die wöchentlich genutzt werden. Auch wenn nicht täglich oder jede Woche benötigt, sind Gesundheitseinrichtungen ein Leben lang unverzichtbar. Der Einzelhandel für den täglichen Bedarf wie Supermärkte darf im Straßenbild ebenfalls nicht fehlen. Eine besondere Herausforderung stellt die Unterbringung von Nutzungen mit sehr hohem Flächenbedarf dar. Diese müssen sich gut in die umliegenden mittleren und kleinen Strukturen einfügen. Natürlich können einige größere Aktivitäten einen ganzen Block oder zumindest einen Großteil davon einnehmen. Größere Bauten sollten so in das örtliche Straßenbild integriert werden, dass sie den kleinteiligen Rhythmus und das Leben in den Straßen nicht unterbrechen.

01.

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01. Edinburgh, Schottland In einer höflichen Geste präsentiert der Megabau des viktorianischen Hotels Balmoral (links) kleine Geschäfte (die nichts mit dem Hotelbetrieb zu tun haben) an den Hintertreppen zum Edinburgher Hauptbahnhof und bietet eiligen Reisenden nützliche Dienstleistungen an. Das Einkaufszentrum aus den 1980er Jahren (rechts) ist weniger entgegenkommend 02. Barcelona, Spanien Ein „Mauseloch“-Eingang zu einer Supermarktkette verbirgt die große Bodenplatte dieser Funktion und schafft gleichzeitig Platz für kleinere Geschäfte, Büros und Wohnungen

03. Kopenhagen, Dänemark Kaufhaus Illum: Mit seinen fünf Geschossen ist dieses Kaufhaus ähnlich groß wie die umliegenden Gebäude im mittelalterlichen Stadtzen­ trum. Anstelle von Innenhöfen verfügt es über Atriumräume zur Belichtung und Belüftung der großen Bodenplatten und des Dachgeschosses mit Terrassen und Oberlichtern. Um die Gebäuderänder im Erdgeschoss des Kaufhauses sind kleinere Flagship-Stores platziert und machen die Straße interessanter 04./05. Utrecht, Holland, und Paris, Frankreich Eine evangelische Kirche und eine katholische Kirche: Zwei Kirchen in unterschiedlichen Kontexten, mit kleinen Geschäften entlang der Gebäuderänder komplettieren das lokale Umfeld

03.

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05.

Vielleicht lässt sich diesbezüglich etwas von historischen Umgebungen lernen. In älteren Städten und Gemeinden wurden größere Gebäude in kleinere Bereiche integriert, indem die Gebäude in ihrer Größe und Nutzung abgemildert wurden. Beispielhaft belegt dies der traditionelle deutsche Rathauskeller, Restaurant und Kneipe zugleich, der in einem der wichtigsten öffentlichen Profanbauten unterge­ bracht ist. Hierbei handelt es sich nicht nur um eine baulich-räumliche Lösung, bei der die Gastronomie die Präsenz des Verwaltungsgebäudes abschwächt, sondern auch um eine sozioökonomische, da beide Funktionen zu verschiedenen Tages­ zeiten zu Aktivitäten einladen. Das Restaurant belebt einen zentralen, städtischen Ort, der sonst leer stehen würde. Hier wird eine private, kommerzielle und beliebte Nutzung mit einer offiziellen, öffentlichen Einrichtung verbunden, sodass ein pri­ vates Unternehmen Einnahmen für die städtische Verwaltung generieren kann. Eine ganze Reihe von öffentlichen, zivilen oder sakralen Gebäuden beherbergt in ihren Kellern oder Erdgeschossen alltägliche und private Nutzungen. Diese können zwar für die Tätigkeiten in den Hauptgebäuden irrelevant (oder sogar respektlos) sein, anerkennen aber in gewisser Weise auch die Kontinuität der Straßen und des Lebens um sie herum.

Großflächiger Einzelhandel Ein großes Kaufhaus kann sich gut in den Maßstab vier- bis sechsgeschossiger städtischer Blockbauten einfügen. Von der Straße aus unsichtbar, lassen sich die Innenhöfe als Betriebsflächen oder als Atriumräume nutzen, die natürliches Licht in einen ansonsten tiefen Grundriss bringen und die Kommunikation zwischen den Etagen ermöglichen. Die größere Einheit kann kleinere aufnehmen wie etwa ein

Blöcke als Bausteine  85

Kaufhaus mit kleineren Geschäften an seinen Gebäuderändern, in einer Art wirt­ schaftlicher Symbiose. Die kleineren Geschäfte locken Kunden in das größere, höhere Unkosten tra­ gende Kaufhaus, für das sie gleichzeitig Mieteinnahmen generieren. Das Kaufhaus stellt für sich allein ebenfalls einen Anziehungspunkt dar und die kleinen Läden profitieren von der unmittelbaren Nähe. Das Cluster von Geschäften zieht eine breite Bevölkerungsgruppe an und bietet eine umfangreiche Waren- und Dienstleis­ tungspalette an einem zentralen Ort, der fußläufig zu erreichen und zudem länger geöffnet ist. Darüber hinaus hält das Kaufhaus als größerer Arbeitgeber eine ganze Reihe verschiedener Arbeitsplätze bereit.

Die Schleife der Umschließung Wenn die Umschließung des Blocks durchgehend ist, bildet sie eine kontinuierliche Schleife. Diese Schleife bietet mehrere Zugangsmöglichkeiten ohne Sackgassen. Bewegungen sind endlos in zwei unterschiedliche Richtungen möglich, wodurch eine flexible Nutzung entsteht. Die Schleife kann entweder in mehrere Komponen­ ten unterteilt oder als ein großer zusammenhängender Raum genutzt werden. Daher eignet sie sich für vielfältige Nutzungen – große, mittlere oder kleine. Die Schleife erleichtert auch die Versorgung, da sich alles – von Reinigungs- und Cateringwagen bis zu Stromkreisen und Computerkabeln – mühelos hin- und her­ bewegen lässt. Für Gebäude mit hohen Serviceanforderungen, etwa Krankenhäuser und Hotels, ist dies äußerst hilfreich. Weil diese Bauform mehrere Zugangspunkte bietet, bestehen im Notfall viele Evakuierungsmöglichkeiten. Beispielsweise kann im Brandfall bei einem blockierten Ausgang die entgegengesetzte Richtung einge­ schlagen werden.

Große Hotels in kleinen Stadtvierteln Für die Ansiedlung eines Hotels in einem Wohnviertel spricht vieles, sowohl aus der Sicht der Hotelgäste als auch der Anwohner. Hotelgäste befinden sich an einem fußläufig zu erschließenden Standort, von dem aus weitere nützliche Dienstleistungen gut zu erreichen sind. Ein Hotel kann eine symbiotische Beziehung mit anderen loka­ len Unternehmen eingehen und wird vermutlich Ortsansässige beschäftigen. Es bietet Arbeitsplätze für unterschiedliche Qualifikationen, wobei sehr häufig junge Menschen und Einwanderer angestellt werden. Die öffentlichen Bereiche des Hotels wie die Lobby – mit bequemen Sitzgelegenheiten, Café-Betrieb und Internetzugang – dienen als Mehrzweckräume für Treffen und zum Arbeiten. Üblicherweise sind diese Bereiche durchgehend geöffnet, erfüllen das Erdgeschoss zusätzlich mit Leben und vermitteln der Nachbarschaft dadurch ein Gefühl größerer Sicherheit. Indem Hotels unterschiedliche Gäste anziehen, von Geschäftsreisenden bis hin zu Urlaubern, Alleinreisenden, Fami­ lien und Gruppen, schaffen sie einen wichtigen Kundenstamm für lokale Geschäfte. In einem geschlossenen Block gewährleistet die durchgehende Schleife von Räu­ men um einen Innenhof eine effiziente Versorgung. Die Bauform bietet zudem die Wahl zwischen verschiedenen Zimmern: ruhige, zum Innenhof gelegene Räume oder Außenräume mit Blick auf die lebendige Stadt. Gänzlich oder teilweise überdacht kann der Hof als großer stützenfreier Veranstaltungsraum genutzt werden. Er könnte sogar die architektonische Hauptattraktion werden – der „Wow“-Raum des Gebäudes.

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Maximieren des Potenzials eines Blocks mit Innenhof: Radisson Blu Hotel, Berlin, Deutschland

02.

01.

In einer der zentralsten Lagen der deutschen Haupt­ stadt gelegen, wahrt das Radisson Blu Hotel einen diskreten Maßstab und betont so Größe und Höhe des benachbarten Berliner Doms. Durch seine geringe Höhe fügt es sich gut in die umliegende Bebauung ein, sodass sich die Gäste mit ihrer unmittelbaren Umge­ bung verbunden fühlen. Das Hotelgebäude nimmt einen ganzen Block ein. In seinem ausgedehnten Innenhof befinden sich Bars und Restaurants sowie ein spektakuläres, sich über fünf Etagen erstreckendes zylindrisches Aquarium, das weltweit größte seiner Art. Es gehört zu einem Großaquarium, dessen Hauptteil im Untergeschoss untergebracht ist. Ein aktives Erdgeschoss belebt die umliegenden Straßen mit unabhängigen Restaurants, Cafés und Geschäften. Das Hotel profitiert von einem geschlossenen Block mit einer Schleife für Versorgung und Zugang/Evakuierung.

03.

Spa

Geschäfte

Aquarium

Hotelzimmer

Der Schnitt durch das Hotel zeigt das zentrale Atrium und das Aquarium

01. Überdachte Einkaufsstraße neben dem Hotel 02. Zurückhaltender Maßstab eines großen Volumens gegenüber dem Dom 03. Aquarium in der Atrium-Lobby

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Integrieren einer Megastruktur in eine feinkörnige Nachbarschaft: IKEA, Hamburg-Altona, Deutschland

In einer Zeit stetig wachsenden Online-Handels und der Verdrängung großer Geschäfte in die Vororte stellt die Ansiedlung eines vollständigen IKEA-Hau­ ses in einem vom menschlichen Maßstab geprägten Stadtviertel einen beachtlichen Erfolg dar. In dieser Größenordnung ist IKEA für gewöhnlich in einer blauen Industriehalle am Stadtrand angesiedelt, direkt neben der Autobahn. Im Hamburger Stadtteil Altona wurde es in gelungener Weise in eine Fußgängerzone mit kleinen Geschäften, Betrieben, Büros und Woh­ nungen integriert. Im Gegensatz zu anderen IKEA-Häusern ist dieses mit öffentlichen Verkehrsmitteln und zu Fuß erreichbar. Das Einrichtungshaus zeichnet sich durch eine klare Schichtung aus, wobei die Ausstellungsräume in den bodennahen Etagen untergebracht sind. Ein aktiver, zur Straße gewandter Gebäuderand umfasst Eingänge, Schaufenster, das schwedische Lebensmittelgeschäft

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und ein Eiscafé. Ein Geschoss höher befindet sich das Restaurant mit Blick auf die Straße. Über den Aus­ stellungsräumen befindet sich das Selbstbedienungslager und in den Geschossen darüber liegen Parkplätze.

Zufahrtsrampe zu den Parkdecks

Parkdecks

Selbstbedie­ nungslager Restaurant Ausstellungsraum

513-551

Anlieferungen

Vom Kaufhaus zum Arbeitsplatz: Twitter-Hauptsitz, San Francisco, Kalifornien

Für seinen Hauptsitz in San Francisco wählte Twitter ein ehemaliges Kaufhaus in der zentralen Market Street. Große Geschossplatten bieten Flexibilität für die sich ständig wandelnde, weiterentwickelnde gruppenbasierte Projektarbeit, für Zusammenarbeit und Co-Working sowie für die relativ flache Managementstruktur vie­ ler innovativer Unternehmen. Die weiträumige, offene Fläche auf jeder Ebene ermöglicht den Mitarbeitern formelle als auch spontane Treffen und Austausch. Wichtig sind eine städtische Lage und leichte Erreich­ barkeit mit öffentlichen Verkehrsmitteln, zu Fuß und mit dem Fahrrad sowie Zugang zu Geschäften, Frei­ zeit- und Kultureinrichtungen. Das Gebäude greift seine Umgebung auf und bietet eigene Annehmlichkeiten. Die Erdgeschossebene mit großzügigen Fenstern und Schaufensterflächen wurde mit attraktiven und nütz­ lichen Funktionen ausgestattet, darunter Cafés und Restaurants, eine Markthalle und ein Supermarkt, die

allesamt Passanten dazu einladen, hereinzuschauen, einzutreten, sich umzusehen und zu verweilen. Die Wahl dieses ehemaligen Kaufhauses für die große Mitarbeiterzentrale zeigt drei wichtige Dinge auf: ers­ tens, welche Gebäudeart für Arbeitsplätze benötigt wird (große, flexible Flächen auf wenigen Etagen); zweitens, welche Standortbedingungen erfüllt sein müssen, um Mitarbeiter anzuwerben und zu halten (zentral gelegen, gut angebunden, mit hohem Servicegrad). Der dritte Punkt ist die Einbindung von Twitter in die Stadt mit­ tels eines ausgedehnten Erdgeschosses mit Geschäften und Dienstleistungen, die für alle zugänglich sind – die Öffentlichkeit ist eingeladen, sich in der Immobilie des Unternehmens aufzuhalten. Abgesehen vom Vorteil für die Mitarbeiter, im eigenen Gebäude über ein authen­ tisches Stück Stadtleben zu verfügen, hat Twitter nicht nur seine baulich-räumliche Präsenz, sondern auch sein Unternehmensimage weniger streng gestaltet.

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Schichtung hoher Dichte im menschlichen Maßstab: Altstadt, Bern, Schweiz

Bebauungsdichte Gesamtfläche: Netto-Geschossfläche: Wohnnutzfläche (brutto): Brutto-Geschossflächenzahl: Grundflächenzahl:

Bern Altstadt 400 × 400 m 373.600 m² 80.200 m² 1,87 0,50

UNESCO-Welterbestätte 0,85 km²/85 ha 4600 Einwohner in der Altstadt 93 Einwohner/ha 140.600 Einwohner in der Stadt 400.000 Einwohner im Großraum Bern

Zugang auf Bodenniveau Baufläche mit ebenerdigem Zugang: Baufläche mit fußläufiger Entfernung zum Erdgeschoss (4. Geschoss oder darunter):

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21,5 % 62 %

Der Querschnitt zeigt die Beziehung der Straße zu den Arkaden und zum öffentlichen Verkehr

Eines der besten Beispiele für Dichte und Vielfalt von Gebäudetypen und Nutzungen im menschlichen Maßstab findet sich im mittelalterlichen Stadtkern Berns, der Hauptstadt der Schweiz. Die Berner Altstadt, vor allem um die zentralen Straßen Marktgasse, Kram­ gasse und Gerechtigkeitsgasse, offenbart das Potenzial vielfältiger, dichter Blockstrukturen aus mittelhohen Gebäuden. Die Straßenzüge zeichnen sich durch eine multiple Nutzungs- und Funktionsmischung aus, die einen pulsierenden Stadtraum ergibt. Auch wenn sich die Nutzung dieser Strukturen im Laufe der Zeit ver­ ändert hat, blieb der Grundriss seit seiner Entstehung zwischen dem 12. und 15. Jahrhundert im Wesent­ lichen erhalten. Einfache Strukturen Alle Gebäude sind vier- oder fünfgeschossig, ver­ fügen über große Dächer, Arkaden im straßenseitigen Erdgeschoss und Innenhöfe auf der Rückseite. Die öffentliche Seite präsentiert zur Straße hin eine ein­ heitliche, geordnete Fassade. Dagegen ist die private Seite mit den Höfen flexibler, sowohl hinsichtlich der alltäglichen Nutzung als auch der Veränderungen im Laufe der Zeit. So können sich die Bauten nach innen ausdehnen, ohne an Höhe zuzunehmen oder in den öffentlichen Raum vorzudringen. Die fraktale Dachlandschaft im Verein mit den relativ geringen Gebäudehöhen und der dichten städtischen Form schafft zwischen den Bauten ein angenehmes Mikroklima. Bei jedem Wetter laden die durchgehen­ den Arkaden im Erdgeschoss zum Promenieren ein. Schmale Gassen verringern die Größe der ­­städti­schen Blockbauten und schaffen nicht nur fußläufige A ­ b-

­­ ürzungen zwischen den Hauptstraßen, sondern ­bieten k auch mehr Ladenfronten für kommerzielle Aktivitäten. Platz für alle und alles Die Berner Struktur mit ihren geschlossenen Blö­ cken im menschlichen Maßstab kann Nutzungen fast jeder Größe beherbergen, von extraklein bis extragroß, und dabei den Maßstab beibehalten. Extraklein sind ein Imbiss- oder Blumenstand im Schutz der Arka­ den, ein Stand auf dem Marktplatz, ein Kiosk in einer Ecke oder ein winziges Studioapartment im obersten Geschoss unter den riesigen Dächern. Extrem groß können ein Supermarkt mit ausgedehnter Bodenplatte, ein Kaufhaus oder ein großes Hotel sein. Dazwischen liegt alles andere: Geschäfte jeder Größe, Banken und Ausstellungsräume, Cafés, Bars und Restaurants, Anwaltskanzleien und Arztpraxen. Sämtliche dieser Einrichtungen existieren nebeneinander und profitie­ ren von ihrer Nähe zueinander. Es gibt eine klare räumliche Hierarchie, die eine Unterbringung der gemischten Einzelhandelsaktivitä­ ten erleichtert. Kettenläden und Geschäfte mit einem höheren Umsatz wählen offensichtlich die Haupt­ straße, während kleinere, privat geführte Geschäfte oder solche mit einem begrenzten Kundenkreis sich in den Gassen, Nebenstraßen und Arkaden ansiedeln. Unterschiedliche historische Eigentumsverhältnisse machen ein Nebeneinander wenig wahrscheinlich. Ein kleines Familienunternehmen liegt selten neben einem neuen Laden einer internationalen Kette. Die symbiotische Beziehung zwischen unterschied­ lich großen Aktivitäten zeigt sich in der Art und Weise, wie großmaßstäbliche Einheiten, etwa Supermärkte,

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01.

in die im menschlichen Maßstab gestaltete Umgebung eingepasst sind. Große Einzelhandelseinheiten wer­ den an ihren Außenseiten von kleineren Geschäften gesäumt. Dadurch bleibt der gesamte Block dynamisch und lebendig und wird nicht von den eintönigen, lan­ gen Außenwänden einer einzigen Funktion dominiert. Horizontale Schichten In den zentral gelegenen Straßen Berns besteht eine klare horizontale Schichtung, die mit der am meisten konzentrierten Aktivität im Erdgeschoss beginnt – der wichtigsten, durchgehenden Verkaufsebene, in der die Geschäfte aufgrund ihrer leichten Erreichbar­ keit florieren. Diese Geschäftsfläche im Erdgeschoss nimmt manchmal je nach Bedarf des Händlers auch das Geschoss darüber oder darunter ein. Gelegentlich kann ein Geschäft zwei oder drei Etagen höher weiter­ geführt werden, sodass neben kleineren Einzelhändlern und anderen Nutzungen auch Kaufhäuser und Möbel­ häuser in dieser Lage existieren können. Manchmal werden die Untergeschosse dank Außen­ treppen unabhängig vom Erdgeschoss betrieben. Da die Mieten hier deutlich niedriger sind, können sie Start-ups oder alternativen Händlern den Zugang zu erstklassigen, stark frequentierten Standorten bieten. Eine solche Schichtung ermöglicht die Koexistenz verschiedener kommerzieller Subkulturen, alternativer und neuer Betriebe mit herkömmlichen, etablierten

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Geschäften. Ein Laden, der gebrauchte Schallplat­ ten verkauft, könnte unter einem exklusiven Juwelier platziert sein. Oberhalb des Erdgeschosses finden sich Räum­ lichkeiten für Dienstleistungen, etwa für Ärzte und Zahnärzte, sowie alle Arten von kleineren Büros etwa für Rechtsanwälte, Ingenieure und Architekten, deren Besucher ebenfalls von der zentralen Lage profitieren. Auch einige Wohnungen sind vorhanden. Die Laden­ fronten im Erdgeschoss durchsetzen Türen zu Treppen­ häusern, die in die darüber liegenden Geschosse führen. Schilder und Messingtafeln verweisen auf die Namen und Tätigkeiten der Bewohner. Über den Bankräumen eines Erdgeschosses ist ein komplettes Bürogebäude in die Blöcke integriert. Bei all diesen Bauten ermöglicht das traditionelle Straßenlayout ihre mühelose Auffind­ barkeit anhand der Adresse. Aus Sicht der Kunden und Auftraggeber sowie der Angestellten oder Bewohner bietet eine solche ­Z usammenlegung multipler Aktivitäten an einem 01. Der Bereich der Hauptstraße 02. Ein Restaurant auf einem Podest im dritten Geschoss fängt die Sonnenstrahlen ein, die sonst nicht in das Erdgeschoss des Innenhofs gelangen. Beachtenswert ist die Nähe zum Dach 03. Einige Höfe wurden für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht, um zusätzliche Einzelhandelsflächen zu bieten 04. Zeitweise unabhängige Einzelhandelsaktivitäten in der Arkade 05. Namenstafeln bekunden die vielfältigen Aktivitäten im selben Gebäude 06. Vorübergehende unabhängige Einzelhandelsaktivität in der Arkade 07. Struktur der Geschäfte in Arkade und Untergeschoss mit separaten Zugangstreppen

02.

03.

04.

05.

06.

07.

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Der Querschnitt durch Straße und Gebäude zeigt die Schichtung verschiedener Aktivitäten in denselben Gebäuden sowie die Unterbringung größerer und kleinerer Funktionen

94  Sanfte Stadt

Blöcke als Bausteine  95

Standort ein sehr bequemes, multifunktionales Umfeld. Alles ist fußläufig erreichbar, viele verschiedene Dinge lassen sich mit einem Besuch erledigen. Alltägliche Mobilität Die zentrale Straße wartet mit einem Angebot an zugänglichen Mobilitätsoptionen auf. Sie ist fahrrad­ freundlich, verfügt über Straßenbahn- und Buslinien, die in zwei Richtungen verkehren, sowie über Arka­ dengänge für Fußgänger, die problemlos von einer Seite zur anderen wechseln und den Raum zwischen den Straßenbahnschienen als improvisierte Verkehrs­ insel nutzen können. Im Mobilitätskonzept sind auch Liefer- und Dienst­ leistungsfahrzeuge enthalten. Um dem UNESCO-Welt­ erbe-Status Berns zu entsprechen, wurden zahlreiche praktische Lösungen gefunden, die den modernen

01.

01./02. Aufzüge unter dem Arkadengeschoss und dem Bürgersteig ermöglichen die Anlieferung in die Keller der größeren Geschäfte 03. Straßenbahnen und Fußgänger teilen sich bequem denselben Raum 04. In Kombination mit Sonnenschirmen bieten die Arkaden eine Reihe von Innen-außen-Erlebnissen 02.

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Dienstleistungsbedürfnissen gerecht werden. So ermög­ lichen unter dem Bürgersteig verborgene Aufzüge die Belieferung der zahlreichen Einzelhandelsgeschäfte, darunter mehrere Supermärkte. Dadurch werden die riesigen Anlieferungsbuchten und die Verkehrsgeo­ metrie vermieden, die normalerweise für große Last­ wagen erforderlich sind. Die Arkade In Bern bieten die Arkaden zusätzlich zur Straße einen Raum für Mobilität. Sie schaffen eine erweiterte Komfortzone zum Gehen und Verweilen und bringen die Menschen dem Wetter näher, ohne dass sie sich im Freien aufhalten müssen. Sie spenden Schatten bei Sonne und schützen vor Regen und Schnee. Dank der Arkaden ist der freie Himmel immer nur einen Schritt entfernt, und sobald der Regen aufhört, kann man wie­ der heraustreten. Restaurants und Cafés können ihre Sitzplätze im Schutz der Arkaden belassen und bei schönem Wetter auf die Straße ausdehnen. Arkaden bieten Geschäften die Möglichkeit, ihre Waren das ganze Jahr über im Freien auszustellen. Die Arkadensäulen ergänzen diese kommerzielle Tätigkeit,

Die Arkade bietet zu verschiedenen Jahreszeiten eine Reihe von Aktivitäten im Freien

04.

Blöcke als Bausteine  97

Was ein geschlossener Block leisten kann 28 Frederiksberg

513-551

Typischer städtischer Block Ein typischer städtischer Block mit vier bis fünf Geschossen: Diese besondere städtebauliche Form leistet mehr als ihr bescheidenes Aussehen zunächst vermuten lässt.

28 Frederiksberg

513-551

Privater/Öffentlicher Raum

Gemeinsamer Raum und Identität

Das Blocksystem definiert klar den öffentlichen Raum an der Vorderseite (oder außerhalb des Blocks) und den privaten Raum an der Rückseite (innerhalb des Blocks). Zwei sehr unterschiedliche Welten können in unmittelbarer Nähe zueinander existieren.

Der geschlossene Block bildet im Innern einen gemeinsamen Raum, der ein gemeinschaftlicher Mittelpunkt der Bewohner und ein Ort für den Aufbau lokaler Gemeinschaften sein kann.

Hohe Dichte/Niedrige Höhe

Besseres Mikroklima

Das Blocksystem ermöglicht eine hohe Bebauungsdichte unter Beibehalt eines niedrigeren, menschlichen Maßstabs. Dadurch haben Menschen einen engeren Kontakt zueinander und einen leichteren Zugang zur Erdgeschossebene und den Vorzügen des umliegenden Viertels.

Der geschlossene Block schafft einen abgeschirmten Raum, ein geschütztes Mikroklima, Schutz vor den vorherrschenden Winden und eine Möglichkeit, die Sonne nach Bedarf einzufangen. Gleichmäßige Gebäudehöhen reduzieren die negativen Auswirkungen von turbulenten Winden.

Holz

Modul

Einfachere Konstruktion und Fundamente

Geschützter akustischer Raum

Mittelhohe Gebäude mit vier bis fünf Stockwerken lassen sich leichter bauen, da sie im Vergleich zu höheren Gebäuden einfachere (und güns­ ti­gere) Fundament- und Konstruktionssysteme haben. Zum Einsatz kommen eine breitere Palette von Materialien (einschließlich Holz) und verschiedene Bauverfahren (einschließlich vorgefertigter Module). Außerdem können sich kleinere Bauunternehmen und Bauträger beteiligen.

Der geschlossene Block erzeugt einen geschützten akustischen Raum. Die umgebende Wand aus Gebäuden schirmt den Innenraum vom Straßenlärm ab. Das bedeutet, dass man im Sommer bei offenem Fenster schlafen kann und nicht durch den Verkehr gestört wird.

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Geschützter Luftraum

Potenzielle Entwicklung aktiver Gebäuderänder

Der geschlossene Block ergibt einen geschützten Luftraum. Das heißt, dass die Luft im Inneren sauberer sein kann als außerhalb in den verkehrsreichen Straßen. Dies bringt frische Luft zum Lüften, sauberere Fensterscheiben und die Möglichkeit, draußen Wäsche aufzuhängen.

Der geschlossene Block ermöglicht die Ausdehnung der Aktivitäten im Erdgeschoss (zum Beispiel Geschäfte, Cafés und Arbeitsplätze) um ein Geschoss in die erste Etage (+1) oder in den Keller (–1). Die Aktivitäten im Erdgeschoss lassen sich auch in den Block zurückverlegen. Auf diese Weise können straßenbezogene öffentliche Aktivitäten verdoppelt, verdreifacht oder mehr werden, ohne die Innenwelt zu stören.

Geschützte sichere Zone

100 Prozent Zufahrt und 100 Prozent autofrei

Der geschlossene Block bewirkt eine geschützte, sichere Zone, unabhängig von der Straße, ein bewachtes Quartier inmitten eines städtischen, öffentlichen Kontexts. Diese Zone ist ein sicherer Ort zum Abstellen von Fahrrädern und zum Spielen von Kindern.

Der geschlossene Block bietet eine 100-prozentige Zufahrt zu allen Gebäuden auf der einen Seite und ist auf der anderen Seite zu 100 Prozent autofrei und bietet damit für jeden das Beste.

20 bis 25 Prozent begehbarer Zugang

20 bis 25 Prozent Penthouse

Im geschlossenen Block mit vier bis fünf Geschossen haben 20 bis 25 Prozent der Gebäude einen direkten Zugang – ein beträchtlicher Vorteil für eine Vielzahl von Nutzern und Nutzungen.

Der vier- bis fünfgeschossige, geschlossene Block hat 20 bis 25 Prozent Penthouse- und wertvolle Dachgeschosswohnungen, die einen freien Grundriss (da es keine tragenden Wände gibt) und viel mehr Licht bieten (da Fenster sowohl im Dach als auch in den Wänden möglich sind). Außerdem lassen sich Dachterrassen und Dachgärten in einer Höhe mit einem noch angenehmen Mikroklima anlegen. Weiter oben können die Außenbereiche wegen der stärkeren und kälteren Winde weniger angenehm und daher eingeschränkt nutzbar sein.

28 Frederiksberg

513-551

100 Prozent begehbar

Multi-fraktales System

Der geschlossene Block mit vier Geschossen ist zu 100 Prozent begehbar und bietet einen doppelten Zugang zur öffentlichen Vorderseite und zur privaten Rückseite.

Der geschlossene Block lässt sich in völlig unabhängige Gebäude mit jeweils eigenem Zugang unterteilen, ohne seine grundlegenden Eigenschaften zu verlieren. Dadurch sind in enger Nachbarschaft sowohl verschiedene Baustile und Nutzungen als auch unterschied­liche Eigentums- und Besitzverhältnisse möglich.

Blöcke als Bausteine  99

Ist da etwas zwischen dem vorstädtischen Einzelhaus und dem städtischen Hochhaus? Interessanterweise können sowohl niedrige als auch hohe Dichten zu einem isolierten Umfeld führen

indem sie Vitrinen und Schilder aufnehmen und gestatten, sich im Stehen oder Sit­ zen anzulehnen. Der hybride Raum der Arkaden lockert die Beziehung zwischen dem Leben innerhalb und außerhalb des Gebäudes.

Blöcke bauen, Resilienz schaffen Die städtebauliche Grundform kleiner geschlossener Blöcke mit unabhängigen, verbundenen und geschichteten Gebäuden kann eine hohe Dichte und eine Vielfalt von Nutzungen ermöglichen und gleichzeitig den menschlichen Maßstab wahren. Sie lässt sich beliebig wiederholen, sodass die Städte wachsen, sich anpassen und im Laufe der Zeit verändern können. Diese Form kann den Komfort und die Sicherheit des privaten Raums mit der Bequemlichkeit und Zugänglichkeit des öffentlichen Lebens so vereinen, dass die Lebensqualität verbessert wird. Die kleinen, durch­ dachten Details des Maßstabs ermöglichen soziales Miteinander. Hierbei handelt sich um ein äußerst wirtschaftliches System in puncto Raum, Material, Energie und Zeit. Obwohl viele der beschriebenen Faktoren sehr simpel erscheinen, hat diese äußerst unkomplizierte städtebauliche Form aus geschlossenen Blöcken mit ihren einfachen Regeln einige der weltweit lebenswertesten Städte und Gemeinden her­ vorgebracht. Der scheinbar universelle Erfolg dieser Bebauungsgrundform erklärt ihre anhaltende Bedeutung. Die Robustheit der städtischen Blockstruktur macht sie anpassungsfähig. Sie beherbergt die größeren Einrichtungen des öffentlichen Lebens – Kaufhäuser und Supermärkte, Schulen und Büros, Institutionen und Sporteinrichtungen – und auch die kleinmaßstäblichen Bereiche des privaten Lebens mit seinen Häusern und Gärten, Werkstätten und Ateliers. Diese Grundform erleichtert den Alltag: Die öffentliche Seite des Lebens – Brot kaufen, Hund spazieren führen, im Freien Mittag essen, einem Straßenmusikanten zuhören, auf den Markt gehen – lässt sich bequem mit privaten Dingen vereinen wie Wäsche draußen zum Trocknen aufhängen, grillen, Fahrrad reparieren, im Planschbecken spielen, Bettwäsche lüften und einen sonni­ gen Platz für Tomatenpflanzen finden. Dieses einfache System ergibt eine flexible Struktur, die sich vergrößern und kombinieren lässt. Blöcke können zu Straßen verbunden werden; Straßen können zu Stadtvierteln verbunden werden; Stadtviertel können zu ganzen Städten ver­ bunden werden.

100  Sanfte Stadt

Die fehlende Mitte? Mittelhohe Blöcke bieten gleichzeitig eine hohe Dichte und einen menschlichen Maßstab und verbinden die Menschen besser mit der Erde und miteinander

Zusammen entsteht ein System unabhängiger Fraktale mit unbegrenzten Per­ mutationen. Jedes einzelne Gebäude hat das Potenzial, sich anzupassen und zu verändern, auf seine Art und als Reaktion auf die einzigartigen und spezifischen Umstände seiner Nutzer. Die Gesamtheit führt zu einem anpassungsfähigen System, das Unterschiede ausgleicht und langfristig offen für Veränderungen ist. Diese Bebauungsstruktur könnte uns helfen, die sogenannte fehlende Mitte im Städtebau zu finden und dies in einer Zeit der raschen Verstädterung, in der Politik und Marktkräfte häufig Verdichtung fordern. Dieser „dichter-niedriger“-Maßstab von mittelhohen Gebäuden schafft wünschenswerte öffentliche und auch private Räume. Er könnte sowohl neue Stadtviertel für die Menschen hervorbringen, die in die Städte ziehen, als auch für die vorhandenen Orte und die dort bereits lebenden Menschen eine gute Nachbarschaft schaffen. Diese Dichte ermöglicht und fördert die öffentliche Infrastruktur, öffentliche und private Dienstleistungen sowie Frei­ zeit- und Kulturaktivitäten. Gleichzeitig entspricht dieser Maßstab den besonde­ ren Bedürfnissen und Wünschen des Einzelnen. Dieses Gleichgewicht zwischen Gemeinwohl und persönlicher Entfaltung könnte die Errichtung von Blöcken zur Schaffung von Resilienz erlauben.

Umschließung, Verbindung und Schichtung ergeben Eigenschaften, die unseren persönlichen Bestrebungen und Bedürfnissen selbst bei höherer Dichte entsprechen

Blöcke als Bausteine  101

Die Zeit deines Lebens

„Life is what happens to you while you’re busy making other plans.“ John Lennon, 198011

Der Hauptunterschied zwischen Lebensstandard und Lebensqualität besteht meines Erachtens darin, dass beim Lebensstandard das Geld zählt, das wir haben, und wie wir es ausgeben. Bei der Lebensqualität hingegen geht es um unsere verfügbare Zeit und wie wir sie verbringen. Bei dem einen geht es mehr um Quantität, bei dem anderen mehr um Qualität. Bei dem einen geht es um Dinge, bei dem anderen um Erfahrungen. Anstatt nach Wegen zu suchen, wie wir uns mehr Dinge leisten und in unserem Leben unterbringen können, sollten wir über Lösungen nachdenken, die uns helfen, unsere kostbare Zeit besser einzusetzen, die uns das Leben erleichtern, anstatt zu belasten, und dazu beitragen, den täglichen Stress und die Konflikte bei der Arbeit, der Kindererziehung, der Fitness, dem Einkaufen, der Haushaltsführung und dem Umgang mit den Nachbarn in tägliche Freude umzuwandeln. Die vielleicht größte Herausforderung für ein gutes Leben ist die räumliche Trennung der verschiedenen Komponenten des täglichen Lebens. Die Stadtplanung schuf hier in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts keine Abhilfe, da sie die unterschiedlichen Aktivitäten voneinander trennte und verstreute. Lokales Leben ist schwierig, wenn so vieles, das wir brauchen und möchten, weit auseinanderliegt. Das Einfamilienhaus in der Vorstadt, das Industriegebiet, das Einkaufszentrum außerhalb der Stadt, der Büropark, der Bildungscampus befinden sich alle an unterschiedlichen Orten. Der Traum vom friedlichen Leben in der Vorstadt in einer ruhigen, grünen und sicheren Umgebung hat den Nachteil, dass ein Auto benötigt wird, das wiederum sowohl in der Anschaffung als auch im Betrieb teuer ist. Nicht jeder kann Auto fahren (zum Beispiel Kinder, Ältere, Kranke, nervöse Menschen) und die Aktivitäten eines Haushalts können in verschiedene Richtungen führen, sodass ein Auto vielleicht nicht ausreicht. Für die Lebensqualität ist nicht entscheidend, wieviel Geld und Energie das Auto verbraucht, sondern wieviel Zeit es kostet. Beim Hin- und Herpendeln zwischen Bedürfnissen und Wünschen geht viel Zeit verloren. Oft kommen dabei die weitaus befriedigenderen Beziehungen zu den Orten und Menschen im direkten Umfeld zu kurz. Im Grunde genommen ist Zeit gerecht und wirklich demokratisch, denn unabhängig von Wohlstand, Gesundheit, ethnischer Zugehörigkeit oder Bildung hat jeder Mensch täglich nur 24 Stunden zum Leben. Nachdem

104  Sanfte Stadt

Schlafen

Arbeiten

verfügbare Zeit Alltagsaufgaben

Fahrwege

24 Stunden Jeder muss mindestens 8 Stunden arbeiten, 8 Stunden schlafen (wenn er Glück hat) und weitere 8 Stunden bleiben für alles andere, einschließlich der täglichen Aufgaben. Meist verschlingen die Fahrwege die wertvolle Zeit für alles andere

Schlafen

Arbeiten

verfügbare Zeit

Fahrwege Alltagsaufgaben

24 Stunden Wird der Anteil der Fahrwege aus der Gleichung herausgenommen, bleibt täglich viel mehr Zeit übrig; vielleicht auch ein paar Stunden für Dinge, die einem am Herzen liegen

die notwendigen Dinge erledigt sind, bleibt Zeit für alles andere. Diese Zeit ist es, die unsere Lebensqualität ausmacht, denn die wenigen wertvollen Stunden in der Woche können wir für erfüllende und lohnenswerte Dinge nutzen – in unser Leben investieren und es voranbringen, Beziehungen zu Freunden und Familie pflegen, unseren Kindern Gutenachtgeschichten vorlesen, mit dem Hund im Park spielen, zum Gemeinschaftsleben beitragen, lernen und uns persönlich weiterentwickeln (von Heimwerkerprojekten bis hin zu Sprachkursen), Kultur erleben, ein neues Unternehmen gründen, uns ehrenamtlich für Herzenssachen engagieren und all den anderen erfreulichen und erbaulichen einfachen Vergnügungen nachgehen. Können wir das Umfeld unserer Städte und Gemeinden, Nachbarschaften und Straßen baulich so gestalten, dass wir mehr Zeit für Dinge haben, die uns etwas bedeuten? Können wir die Zeit produktiver nutzen oder zumindest ihren Ablauf bequemer und angenehmer machen? Offensichtlich lässt sich das derzeitige segmentierte Muster ändern, indem wir unsere alltäglichen Aktivitäten vermehrt zusammenlegen, sodass wir an einem Ort leben, arbeiten, lernen und entspannen. Dadurch verringert sich die Fahrzeit erheblich und kann sogar ganz entfallen, was Energie und Geld einspart. Wir würden einige Stunden des Tages dazugewinnen, die wir nach eigenen Vorstellungen verbringen könnten. Es geht nicht nur darum, alles, was wir brauchen, in unmittelbarer Nähe zu haben. Auch die Zeiten und Orte dazwischen sollten angenehm gestaltet sein. Wir müssen Orte schaffen, die eine Fülle an Möglichkeiten bergen, um uns zeitlich und räumlich besser im Hier und Jetzt zu vernetzen, damit wir für das tägliche Leben tatsächlichen Mehrwert gewinnen. So könnte beispielsweise der Schulweg zu einer Radtour mit der Familie werden, der Weg zur Arbeit ein schöner Spaziergang durch den Park, die Mittagspause zu einer Gelegenheit für jede Art von Multitasking und Einkäufen, und es wären sogar Zwischenstopps möglich: zu Hause oder im Kindergarten, um nach dem Kind zu schauen. Das Abholen der Kinder aus der Tagesstätte wäre weniger stressig, und es bliebe mehr Zeit für Freizeitaktivitäten. Stellen Sie sich vor, was Sie tun würden, wenn Ihnen jeden Tag ein paar Stunden mehr zur Verfügung stünden. Wie würde Ihr Tag aussehen? ­Ent­­scheidend ist letztendlich, wie wir unsere Städte und Gemeinden bauen und nutzen.

Die Zeit deines Lebens  105

106  Blød by

Fortbewegung und Vorankommen in einer überfüllten und segregierten Welt

Hinaufgehen

Direkt hineingehen

Hindurchgehen Breitere Bürgersteige

Mittelstreifen

Bordsteinerweiterungen

108  Blød by

Verkehrsstau und räumliche Trennung hängen miteinander zusammen, da die mit der Trennung verbundene räumliche Ausbreitung mehr Platz erfordert und dies wiederum zu einem größeren Verkehrsaufkommen führt. Die von den Modernisten geplante Stadt mit ihren separaten Zonen und Funktionen erzeugt einen riesigen Bedarf an Verkehrsmitteln, um in den Genuss aller Vorzüge des städtischen Lebens zu gelangen. Gleichzeitig ruft die räumliche Trennung auch eine soziale Kluft hervor, weil unterschiedliche Menschen und Aktivitäten an völlig verschiedenen Orten angesiedelt sind. Die zonierte Stadt bewirkt nicht nur einen beschwerlichen Alltag, sondern stellt auch eine soziale Herausforderung dar, da sich (ethnisch, wirtschaftlich, beruflich und altersmäßig) unterschiedliche Gruppen von Menschen nicht auf natürliche Weise begegnen können. Städtische Mobilität bedeutet auch soziale Mobilität. Das Sich-Fortbewegen verbindet nicht nur mit dem jeweiligen Ziel, sondern auch mit den Orten und Menschen, denen man unterwegs begegnet.

Direkt hineingehen

Durchgehender Bürgersteig

Fahrradweg

Mittelstreifen

Fahrradweg

Bürgersteig als Haltestelle

Fortbewegung und Vorankommen  109

Die menschliche Dimension der Mobilität

Unabhängig davon, wie gut die verschiedenen Aktivitäten vor Ort integriert sind, besteht in jedem städtischen System ein Bedarf an weiteren Mobilitätsoptionen. Das fängt bei den kleinsten Wegen an, den Wegen von innen nach außen – vom Wohnzimmer zum Balkon, von der Wohnungstür zur Straße, von der Küche zum Innenhof. Diese scheinbar unbedeutenden Bewegungen sind wesentlich für ein bequemes und angenehmes Leben. Man könnte dies als System der fußläufigen Gebäude bezeichnen: Diese ermöglichen es, in weniger als einer Minute vom Schlafzimmer, dem Badezimmer oder dem Balkon zum Bäcker, zum Radweg oder zur Bushaltestelle zu gelangen. Städtische Mobilität umfasst Fußgänger, Radfahrer, Scooter und öffentliche Verkehrsmittel ebenso wie Personenkraftwagen und alle Arten von Dienstleistungsund Lieferfahrzeugen. Auf dieser Ebene wird Mobilität zumeist im Hinblick auf die jeweiligen Vorteile der verschiedenen technischen und infrastrukturellen Systeme diskutiert, ihre Kapazität, Geschwindigkeit und den Verkehrsfluss. Es gibt jedoch noch eine weitere Ebene der Mobilität, die sich mit der Schnittstelle zwischen der Beförderungsart und den Menschen befasst sowie der Frage, wie sich Mobilitätssysteme, unabhängig von ihrer Größe und Komplexität, in den kleinen Maßstab einer Wohnstraße integrieren lassen. Wie bei den fußläufigen Gebäuden ist auch das Leben im Stadtviertel von kleinen Bewegungen bestimmt, um die Straße zu überqueren, das Fahrrad auf den Radweg zu schieben oder auf den Bus zu warten. All diese kleinen Bewegungen, die verschiedene Mobilitätsformen nutzen, bieten Gelegenheiten für Begegnungen – sie laden dazu ein, mit anderen Menschen in Kontakt zu treten.

01. Basel, Schweiz Eine Langstrecken-­ Stadtbahn verlangsamt ihr Tempo im Stadtzentrum auf das der Menschen. Die Schienen geben den Fußgängern Sicherheit und sie fühlen sich wohl in der Nähe der sauberen elektrischen Straßenbahnen, die viel leiser als Busse sind. Beachtenswert sind das geparkte Fahrrad und das schlafende Baby 02. Tokio, Japan Nutzer aller Altersgruppen interagieren mit verschiedenen Formen der Mobilität 03. Freiburg i. Br., Deutschland Öffentliche Verkehrsmittel bieten unzählige Möglichkeiten, Menschen zu treffen, die anders sind als man selbst

Die menschliche Dimension der Mobilität beginnt im Gebäude, und sie stellt eine nahtlose Verbindung zwischen den verschiedenen Alltagssituationen her

110  Sanfte Stadt

01.

02.

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Dies ist die menschliche Dimension der städtischen Mobilität. Sich fortzubewegen gehört unabdingbar zum täglichen Leben, während es beim Vorankommen darum geht, sich weiterzuentwickeln, das Leben voranzubringen und mit den Menschen in unserem Umfeld Kontakt aufzunehmen und sich wohlzufühlen. Fußläufigkeit kann soziales Miteinander schaffen. Wir müssen erkennen, dass Fußläufigkeit jeden einzelnen Schritt und jede bauliche Beziehung, jedes Gebäude, in dem Menschen leben und arbeiten, und selbst den kleinsten Raum, in dem sich Menschen bewegen, beinhaltet.

Fortbewegung und Vorankommen  111

Fußläufige Gebäude

Mit vier oder fünf Geschossen hat der geschlossene städtische Block einen menschlichen Maßstab und seine Gebäude sind leicht zugänglich (siehe das Kapitel „Blöcke als Bausteine“). Dieser menschliche Maßstab erleichtert die soziale Interaktion. Die meisten Menschen können drei oder vier Geschosse relativ mühelos hinaufgehen, und mindestens bis zur vierten Etage ist eine gute Verbindung zur Straße gewährleistet. Vom vierten Geschoss aus lässt sich das Geschehen beobachten und sogar in das Straßenleben eingreifen: im Hof spielende Kinder hereinrufen, einem Freund die Schlüssel hinunterwerfen oder einem Bekannten auf der Straße zurufen. Bei der Planung großer Verkehrsinfrastrukturen wird ein Zubringersystem entwickelt. Mobilitätsplaner sind sich zunehmend der Bedeutung des letzten zurückgelegten Kilometers bewusst, etwa vom Verkehrsknotenpunkt nach Hause. Bei der sanften Stadt soll das Mobilitätskonzept in einem Stadtviertel noch näher an das Zuhause heranführen, bis ins Haus, ins Treppenhaus, die Treppe hinauf, bis zur Wohnungstür. Die Sorgfalt, die diesen letzten Metern zukommt, ist entscheidend für die Verbindung zwischen dem Innen- und Außenleben und für die Qualität der Beziehungen, die Menschen miteinander, mit ihrer Nachbarschaft, ihren Orten und ihrem Klima eingehen. Fußläufigkeit reicht von der Wohnungstür bis zur Straße. Die räumliche Nähe und der direkte Zugang zur Straße verknüpfen das private, persönliche mit dem öffentlichen Leben der Stadt. Fußläufigkeit umfasst begehbare, durchquerbare und hinaufgehbare Gebäude.

Direkt hineingehen: bequemer Zugang

112  Sanfte Stadt

Hindurchgehen: schafft Möglichkeiten für vielfältige Nutzungen am selben Ort – öffentliche und private

Hinaufgehen: leichter Zugang zu allen Obergeschossen für die meisten Menschen und Situationen, keine Abhängigkeit vom Aufzug

Direkt hineingehen Bei der einfachsten und vielleicht wichtigsten Zugangsart wird das Gebäude geradewegs betreten und verlassen. Hierin liegt die eigentliche Bedeutung des Erdgeschosses, da es sowohl vom äußeren Gebäuderand (zur Straße) als auch vom inneren Gebäuderand (zum Hof) unmittelbar zugänglich ist. Je mehr Fenster und Türen vorhanden sind, die eine unmittelbare Verbindung zwischen innen und außen herstellen, desto besser. Eine urbane Form mit anteilig mehr Erdgeschoss kann mehr direkte Zugangssituationen bieten und dadurch mehr Möglichkeiten schaffen, mit

anderen Menschen in Kontakt zu kommen, insbesondere mit den direkten Nachbarn. Geradewegs begehbare Erdgeschosse sind für jeden zugänglich, auch für Rollstuhlfahrer und Menschen mit Behinderung oder eingeschränkter Mobilität. Sie sind sehr praktisch, um Dinge zu tragen oder zu bewegen. In einem Haushalt könnten dies die täglichen oder wöchentlichen Einkäufe, der Müll, Kinder, Kinderwagen und Autositze, Fahrräder, Gepäck und Sportgeräte und gelegentlich auch Möbel und Geräte sein. Für einen Betrieb zählt, dass Kunden direkt eintreten, aber auch, dass sie täglich bequem Waren annehmen und Abfälle entsorgen können. Je besser der innere Bereich auf den Bürgersteig ausgerichtet ist, desto bequemer der Zugang.

Hindurchgehen

01. Tübingen, Deutschland Direkt hineingehen 02./03. Kopenhagen, Dänemark Direkt hineingehen und hindurchgehen

01.

Die Erschließung durch eine überdachte Eingangspassage oder einen Verbindungsgang schafft eine einfache Verknüpfung zwischen dem öffentlichen Raum der Straße und der privaten Welt des Hofes, sodass man binnen Sekunden von einer Welt in eine völlig andere gelangt. In einer Stadt, in der zwei so unterschiedliche Arten von Außenräumen so nahe beieinander liegen, ist es höchst praktisch, vom privaten Hof zum öffentlichen Raum hindurchzugehen.

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Fortbewegung und Vorankommen  113

Da die Erdgeschossebene eines Gebäudes am leichtesten zugänglich ist, birgt sie auch das größte Potenzial für multiple Nutzungen. Je unabhängiger der Zugang durch das Erdgeschoss ist und je mehr dort auf private Räumlichkeiten und Treppen zu den oberen Geschossen verzichtet wird, desto höher die Anzahl verschiedener Aktivitäten am selben Standort. Kombiniert mit einem unabhängigen straßenseitigen oder hofseitigen Zugang zu den Kellerräumen ergibt das direkte Hineingehen wie auch das Hindurchgehen eine größere Nutzungsvielfalt. 01.

Hinaufgehen Der vielleicht wichtigste Aspekt der Fußläufigkeit in einem dichten baulichen Umfeld ist die Möglichkeit, alle oberen Geschosse bequem über Treppen zu erreichen, ohne auf einen Aufzug angewiesen zu sein. Für Lieferungen und als Zugang für all jene, die ihn benötigen, darf ein Aufzug durchaus vorhanden sein, aber die Treppe sollte die Hauptverbindung zu den oberen Etagen darstellen. Einige grundlegende gestalterische Details können das Erlebnis der Treppennutzung erheblich verändern, wie natürliches Licht, Belüftung und Ausblicke ins Freie. Wenn der Treppenaufgang in kleinere Abschnitte unterteilt ist, beispielsweise mit einer gegenläufigen Treppe, hat der Benutzer mehr Gelegenheit, sich auszuruhen, und das Treppensteigen fühlt sich weniger anstrengend an. Besonders interessant ist die Zugänglichkeit des Dachgeschosses. Wie bereits erwähnt, bietet das Dachgeschoss viele Vorteile, darunter Privatsphäre, räumliche Flexibilität, einen weiten Himmel mit reichlich natürlichem Licht und einen privaten Außenbereich – alles Eigenschaften, die denen eines Einfamilienhauses in der Vorstadt ähneln. Mit nur drei oder vier Treppenläufen über dem Bodenniveau liegen diese privaten Vorzüge in Reichweite zu allen öffentlichen Einrichtungen des Viertels in kürzester Entfernung.

02.

Die Bedeutung von fußläufigen Gebäuden Spontan ein- und ausgehen zu können, wirkt sich insbesondere in einem urbanen Umfeld erheblich auf die Lebensqualität aus. Für den Einzelnen ergeben sich unmittelbare gesundheitliche Vorteile durch mehr Bewegung, frische Luft und soziale Kontakte. Für die Gemeinschaft als Ganze entsteht das Nachbarschaftsgefühl aus der Anwesenheit und Aktivität der Menschen im öffentlichen Raum: Kinder, die problemlos zum Spielen nach draußen gehen, und Erwachsene, die mit ihren Nachbarn und ihrer Umgebung interagieren. Niedrigere Gebäude und vor allem Wohnungen im Erdgeschoss begünstigen all dies, weil es schneller und einfacher ist, hinein- und hinauszugehen. Bei durchschnittlich vier Geschossen haben 25 Prozent der Wohnungen einen direkten Zugang nach draußen, möglicherweise sogar mit einer eigenen Tür zur Straße. Bei durchschnittlich fünf Geschossen sind es 20 Prozent. Ebenso können 20 bis 25 Prozent der Wohnungen die Vorteile eines Penthouses im Dachgeschoss nutzen. Bei mittelhohen Gebäuden mit vier bis fünf Geschossen kann jeder nur eine Gehminute von der Außenwelt entfernt wohnen.

114  Sanfte Stadt

01. Kopenhagen, Dänemark Die Passage ermöglicht einen Durchgang von der Vorder- zur Rückseite des Gebäudes 02. Berlin, Deutschland 03. Berlin, Deutschland Der Durchgang lässt sich auch mit einer Treppe kombinieren 04. Bern, Schweiz Das sichere Treppenhaus kann informellere Verhaltensweisen zulassen

Das Leben auf der Treppe

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Zwischen einer Treppe und einem Aufzug bestehen wesentliche Unterschiede. Abgesehen von der täglichen Bewegung können gemeinsame Treppenhäuser als soziale Foren fungieren, in denen jeden Tag Nachbarn zu treffen sind. Das Treppenhaus bildet das Herzstück des Gebäudes. Es hat das Potenzial, die kleine Gemeinschaft von Nachbarn zu fördern. Auf weniger Geschossen wohnen auch weniger Haushalte pro Etage, was mehr Kontrolle und eine vertraulichere Atmosphäre bedeutet. Es ist wahrscheinlicher, seine Nachbarn in einem niedrigeren Gebäude zu kennen und kennenzulernen als in einem Hochhaus, weil man dort den meisten Bewohnern schlicht nicht begegnet. Die gemeinsame Treppe zwischen der Tür zur Straße und der Wohnungstür ist wie eine Schleuse und bildet eine wertvolle Pufferzone zwischen dem privaten Zuhause und dem Außen der Stadt. In gewisser Weise stellt sie im Miniaturmaßstab die Situation einer Gated Community her, die eine stark geregelte und sichere Zone um das Haus herum schafft. Im Gegensatz zu den bewachten Wohnvierteln in den Vorstädten befindet sich diese Gemeinschaft jedoch in unmittelbarer Nähe zur öffentlichen Welt, sie ist also nicht isoliert. Insofern trägt der Puffer der gemeinsamen Treppe dazu bei, die täglichen Herausforderungen in einem dichten und vielfältigen urbanen Umfeld zu entschärfen. Die Treppe nehmen oder auf den Aufzug warten? Bei einer städtischen Form aus Gebäuden mit nur vier oder fünf Geschossen wird wahrscheinlich ein größerer Anteil zu Fuß hinaufgehen und das gesamte Viertel so spontaner zugänglich sein

Treppen: 45 Sekunden

Aufzug: 4 bis 5 Minuten

Fortbewegung und Vorankommen  115

Den eigenen Außenbereich erschließen Jedes Gebäude besitzt etwas, das ich als „eigenen Außenbereich“ bezeichne – das Stück Boden direkt vor dem eigenen Fenster, das Fleckchen Gehweg oder Gras, der Platz unmittelbar vor dem eigenen Haus. Der eigene Außenbereich kann der Teil der Gemeinschaft werden, mit dem man sich befasst und den man selbst pflegt. Wenn hier etwas geschieht, kann man etwas unternehmen – bei einem Unfall, einem schreienden Kind oder asozialem Verhalten. Jane Jacobs hat die Straßenszenen vor ihrem Reihenhausfenster anschaulich beschrieben ebenso wie die wichtige Rolle des Straßenbeobachters für mehr Sicherheit („Augen der Straße“).12 Und während Fenster als die Augen zur Straße gelten können, möchte ich Türen als die „Arme und Beine zur Straße“ ansehen. Wie oft bemerkt wird, stellen Fenster natürlich eine wichtige Komponente in der Verhütung von Kriminalität dar. Türen zur Straße senden jedoch ein stärkeres Sicherheitssignal aus, das versuchte Täter warnt und potenzielle Opfer darin versichert, dass sie sowohl gesehen werden als auch schnell erreichbar sind. Es ist eine merkwürdige Situation, wenn sich direkt vor dem eigenen Fenster eine Freifläche befindet, die nicht unmittelbar zugänglich ist. Stattdessen muss man, um dorthin zu gelangen, zum Ausgang auf der anderen Seite des Gebäudes gehen und es dann umrunden, was wesentlich mehr Zeit in Anspruch nimmt. Vielleicht fühlt es sich nach all dieser Mühe auch nicht mehr so an, als sei man im eigenen Außenraum. Ein möglichst direkter Zugang zur Vorder- und Rückseite des Gebäudes und damit eine unmittelbare Verbindung zum öffentlichen und privaten Außenbereich sind von entscheidender Bedeutung. Daher sollten die Treppenhäuser vorzugsweise Zugang zu den Vorder- und Hintertüren gewähren. Die Räume im Erdgeschoss sollten direkt an die Außenbereiche angeschlossen und die Räumlichkeiten im Obergeschoss so gut wie möglich mit den Bereichen unter ihren Fenstern verbunden sein. Es ist der unmittelbare Zugang zur Straße, der das Leben in der Stadt so attraktiv macht. Die Tatsache, dass so viele verschiedene Orte innerhalb kürzester Zeit erreichbar sind, macht den Reiz der Städte aus. Den eigenen Außenbereich in 4 bis 5 Minuten erschließen Viele modernistische Gebäude lassen sich nur von einer Seite aus erschließen, sodass die Bewohner ihren Außenbereich nur auf Um­­wegen erreichen. Innere Korridorsysteme verschlechtern die Situation

Den eigenen Außenbereich in 45 Sekunden erschließen Zwischen der eigenen Wohnung und dem unmittelbaren Außenbereich muss eine logische Beziehung bestehen. Beide Gebäudeseiten sollten Eingangstüren ebenso wie mehrere Treppenhäuser aufweisen

116  Sanfte Stadt

Schnappschüsse von Jan Gehl aus seiner klassischen Vortragsreihe, die veranschaulichen, wie Menschen versuchen, sich mit ihrem Außenbereich zu verbinden, auch wenn die Architektur dies nicht zulässt

Straßen bauen

Die ältesten Spuren menschlichen Lebens auf der Erde sind Wege. Wegenetze existierten lange vor den Gebäuden und städtischen Blöcken. Sie markieren Mobilitätsmuster und spiegeln die Ökonomie menschlicher Energie wider. Die Straße als Raum entstand aus der Verbindung dieser menschlichen Mobilitätsmuster mit den menschlichen Aktivitäten in Gebäuden. Wenn Gebäude entlang einer Route oder um einen offene Fläche gruppiert sind, bilden sie nutzbare Räume wie Straßen und Plätze. Diese gehören zum öffentlichen Raum, der identifizierbare Bereiche für Bewegung und andere Aktivitäten im Freien enthält. Früher war dies die wirtschaftlichste Art, um eine möglichst große Anzahl von Grundstücken an die teure Infrastruktur einer gepflasterten Straße, Kanalisation, Wasserleitung und anderer Versorgungseinrichtungen sowie an den öffentlichen Verkehr anzuschließen. Durch den direkten Anschluss an die Infrastruktur erhalten private Grundstücke Zugang zum öffentlichen Netz und sind überall mit allen anderen verbunden. So entsteht eine dynamische Verbindung zwischen Gebäuden und Infrastruktur, zwischen der statischen und der mobilen Welt, zwischen der privaten und der öffentlichen Welt, zwischen einzelnen Haushalten und der gesamten Stadtbevölkerung. Der öffentliche Raum mit seinen Straßen und Plätzen kann eine gute Nachbarschaft fördern, indem er die Menschen zusammenbringt und sie in die Lage versetzt, mehr Zeit im Freien zu verbringen und am öffentlichen Leben teilzunehmen. Allerdings kann dies nur funktionieren, wenn der öffentliche Raum sicher und komfortabel ist und den Menschen vermittelt, wie sie sich zu verhalten haben, was sie erwarten können, wie sie sich leicht fortbewegen und wo sie die Dinge finden, die sie brauchen. Das Muster der Straßen und Bereiche zwischen den Blöcken sollte eine einfache Bewegungsstruktur vorgeben, sodass die Menschen den öffentlichen Raum erkennen und sich dank seiner Struktur instinktiv in der Gemeinde oder der Stadt zurechtzufinden können. Straßen- und Ortsnamen werden zu Adressen, Häuserecken zu Orientierungspunkten. Die Verbindung von Gebäuden spart Platz und erfordert weniger Infrastruktur, da verschiedene Dinge näher beieinander liegen. Dies ist wiederum für Fußgänger praktisch, denn bei weniger verschwendetem Raum sind mehr Orte schneller zu Fuß erreichbar. Die Struktur der Straße bietet den an den fließenden Verkehr ­angeschlossen Gebäuden kommerzielle Möglichkeiten. Die Gebäuderänder können als Ladenfronten ausgebildet sein und durch die gemeinsame Unterbringung entprechender Räumlichkeiten in einer Straße entstehen Einkaufs- und Geschäfts­zentren.

Fortbewegung und Vorankommen  117

Ecken Das Muster der Straßen zwischen geschlossenen Blöcken erzeugt Ecken: je mehr Blöcke, desto mehr Ecken. Je größer die Anzahl der Kreuzungen, umso fußläufiger ist auch das Viertel, da die Auswahl an Wegen größer ist. Daher bestimmt die Zahl der Kreuzungen, wieviel die Menschen zu Fuß gehen, und ihre Häufigkeit ist ein Barometer für die Gesundheit in städtischen Gebieten.13 Ecken sind ein äußerst wichtiges Element im Straßenleben. Sie sind bedeutsame Orte, Orientierungspunkte, beliebte Treffpunkte und Standorte für Gewerbeflächen. Im Erdgeschoss bieten Eckgebäude einen gut sichtbaren Standort für Geschäfte, Cafés und andere Betriebe. Sie können aus verschiedenen Richtungen kommende Kunden anziehen. In höheren Geschossen sind Eckbereiche ebenfalls attraktiv, weil das Licht von zwei Seiten einfällt und Ausblicke in mehrere Richtungen bestehen. Vielleicht sind aktive Erdgeschosse nicht in jeder Straße realisierbar, insbesondere nicht in Wohngebieten. Sofern möglich, sollte das Erdgeschoss einer Häuserecke jedoch mit Nutzungen belegt werden, die für die Nachbarschaft wichtig sind, wie Geschäfte, öffentliche oder kommunale Einrichtungen.

01. London, England Die leuchtend rote Schaufensterfront hebt sich von den anderen weißen Wohngebäuden ab und verdeutlicht die Bedeutung der Ecklage 02. Tokio, Japan Bei dem winzigen Laden an der Ecke handelt es sich um einen Eckladen innerhalb eines anderen. Dies unterstreicht die Bedeutung des Standorts in einem lokalen ­Viertel 03. Kopenhagen, Dänemark Ein neues Viertel mit einem Café als aktive Gebäudeecke: Beachtens­wert ist, dass nur das Erdgeschoss einen diagonalen Schnitt an der Ecke aufweist, um dem regen Fußgängerverkehr an der Straßenkreuzung gerecht zu werden, aber die effiziente rechteckige Geometrie darüber zu erhalten 04. Dublin, Irland Ein klassischer Eckladen mit Eingangstür an der abgeschrägten Ecke nimmt den Fußgängerverkehr aus zwei Richtungen auf. Die Schräge sorgt hier für zusätzliche lebendige Gehwegfläche

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118  Sanfte Stadt

Über das Zufußgehen

Jan Gehl erinnert uns immer wieder daran, dass der Mensch biologisch darauf ausgelegt ist, zu Fuß zu gehen.14 Bei der Fußläufigkeit geht es darum, das Gehen zu ermöglichen, zu erleichtern, es effizient und angenehm zu gestalten. Das Zufußgehen wird immer ein wesentlicher Bestandteil des städtischen Lebens sein. Es ist die wichtigste und grundlegendste Form der Mobilität. Unabhängig vom Verkehrsträger beginnt und endet jede Strecke mit dem Gehen. Man geht zum Parkplatz oder zum Fahrradschuppen, zur Bushaltestelle oder zum Bahnsteig der U-Bahn. Das Zufußgehen bringt uns zu den Verbindungen in die Stadt, lässt uns alle Orte in nächster Nähe erreichen und es kann uns auch über unsere unmittelbare Umgebung hinausführen. Schrittgeschwindigkeit ermöglicht ein umfangreiches, sinnliches Erlebnis und fördert die soziale Interaktion ebenso wie die Verbindung zum Umfeld. Städtische Räume lassen sich so gestalten, dass derlei Erlebnisse verstärkt werden und die Fußläufigkeit insgesamt verbessert wird. Daher müssen bequeme, attraktive und durchgängige Gehwege geschaffen werden; Räume, die unterschiedlichen Fußgängergruppen neben anderen Verkehrsarten eine sichere, einfache und intuitive Fortbewegung erlauben. Von allen Verkehrsteilnehmern ist der Fußgänger am flexibelsten – er kann jederzeit spontan anhalten und weitergehen. Der Fußverkehr kann am schnellsten auf die Umgebung reagieren und bietet daher die meisten Möglichkeiten für Verbindungen. Besonders wichtig sind kurze Wege zu den Anschlüssen an andere Verkehrsträger. Wenn man von der Straße direkt in eine Tiefgarage fährt und anschließend einen Aufzug zur Wohnung oder ins Büro nutzt, besteht keine Chance, mit dem Ort, den Menschen oder der Welt in Verbindung zu treten. Werden die Autostellplätze hingegen so angelegt, dass sie durch einen kurzen Spaziergang von der Wohnung oder dem Arbeitsplatz getrennt sind, fördert dies nicht nur die Gesundheit, sondern vermehrt auch die Gelegenheiten, sich zu vernetzen. Man kann das Geschehen in der eigenen Straße beobachten, andere Menschen treffen und das Wetter auf der Haut spüren. Fußläufigkeit muss bei der Planung die Vielfalt der Menschen und ihrer Lebensumstände berücksichtigen. Manche haben es eilig, um ihren Bus zu erreichen, und jede Sekunde zählt. Andere schlendern, froh um die Gelegenheit, zwischendurch

Fortbewegung und Vorankommen  119

anzuhalten. Einige treiben im Gehen aktiv Sport, während andere, wie der Postbote, dabei ihre Arbeit verrichten. Manche tragen vernünftige Wanderschuhe, andere wiederum hohe Absätze oder Gummistiefel. Einzelne gehen vielleicht sogar barfuß. All diese Menschen mit ihren unterschiedlichen Bedürfnissen und ihren eigenen Geschwindigkeiten teilen sich denselben Bürgersteig.

01. Basel, Schweiz Tausende von Fußgängern teilen sich vor dem Basler Hauptbahnhof dieselbe Fläche mit zwölf Straßenbahnlinien. Im Gegensatz zu den Busspuren zeigen die Straßenbahnschienen intuitiv an, wo genau sich die Fußgänger sicher bewegen können 02. Kopenhagen, Dänemark Die Bürgersteige im Stadtzentrum sind nicht immer fürs Gehen und gleichzeitige Verweilen dimensioniert

Auch die Vielfalt der in der Stadt mitgeführten Gegenstände ist groß, sei es für weitere Aktivitäten oder für mehr Komfort. Kinderwagen, Einkaufstrolleys, Rol­ la­toren, Rollkoffer, Tragetaschen und Einkaufskörbe, Rucksäcke, Klappfahrräder, Kopfhörer, mobile Geräte, Wasserflaschen, Kaffeebecher, Regen- und Sonnenschirme – sie alle beeinflussen die Art und Weise, in der sich Fußgänger bewegen und den Raum nutzen. Bei der Planung der Fußläufigkeit sind diese Gegenstände und das dazugehörige Verhalten einzubeziehen. Außerdem ist zu bedenken, wie sie die Fort­bewegung fördern oder behindern und welchen Raum sie benötigen.

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120  Sanfte Stadt

03. Kopenhagen, Dänemark Der Gehweg wird viel von Kinderwagen und kleinen Fahrrädern befahren 04. Bern, Schweiz Oberfläche und Größe von Bürgersteigen müssen für Rollstühle geeignet sein

Die Straße überqueren

05.–07. Tokio, Japan; Hongkong, China; Melbourne, Australien Eine leichte Überquerung der Straße ist eines der wichtigsten Details der städtischen Mobilität

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Das sichere Überqueren der Straße gehört zu den größten Herausforderungen der Fußläufigkeit. Hierbei begegnen Fußgänger ihren Nachbarn im Straßenverkehr und die multiplen Verkehrsmittel können tatsächlich eine Gefahr für sie darstellen. Manchmal liegen die Fußgängerüberwege ungünstig oder bringen einen Umweg mit sich, wenn sie nicht dort platziert sind, wo eine Person die Straße passieren möchte. Das Wechseln der Straßenseite ist besonders für die Jüngsten und die Ältesten schwierig – insbesondere für Kinder stellt dies wahrscheinlich das größte Hindernis im städtischen Leben dar. Dennoch ist es für ein funktionierendes Alltagsleben unentbehrlich. Fußgängerbrücken und -tunnel schränken die Möglichkeiten zum Überqueren einer Straße ein. Sie schaffen isolierte und manchmal irritierende Umgebungen, während Treppen eine erheblich größere körperliche Anstrengung abverlangen. Zudem erschweren sie den allgemeinen Zugang.15 Straßenecken gelten für die Fußläufigkeit ebenfalls als problematisch, weil sie sehr dicht, verkehrsreich und komplex sind. An Kreuzungen besteht mit Fußgängern und Fahrzeugen die größte Verkehrskonzentration, da alle Verkehrsteilnehmer an der gleichen Stelle anhalten und anfahren und eventuell die Richtung wechseln. Sie bedeuten die größte Gefahr für Fußgänger, denn die anderen Verkehrsarten sind nicht einschätzbar. Oft wird gerade vor dem Umschalten einer Ampel die Geschwindigkeit eines Fahrzeugs noch erhöht, um nicht bei Rot anhalten zu müssen. Es existieren auch informelle Fußgängerüberwege, wie etwa Einfahrten zu Garagen oder Parkplätzen oder andere Unterbrechungen, an denen Fußgänger den Gehweg mit Kraftfahrern teilen. Solche Situationen können Fußgänger verunsichern, da sie nicht immer vorhersehen können, aus welcher Richtung der Verkehr kommt. Von veränderten Bodenniveaus und Belagsmaterialien, Steigungen und Bordsteinen profitieren häufig eher Fahrzeuge als Fußgänger. Ebenso können Gehwege viele Hindernisse für Fußgänger aufweisen. Dazu gehören unnötige Bordsteine, Masten, Schilder, Versorgungseinrichtungen und andere Objekte und Infrastrukturen, die ein Hindernis darstellen können. Aber auch andere Menschen und ihre mitgeführten Gegenstände können hinderlich sein. Wenn der Gehweg für die Anzahl der Personen und die Vielfalt der Nutzungen nicht ausreichend groß ist, kann dies für Fußgänger anstrengend, irritierend und schwierig sein. Dies gilt insbesondere für Menschen mit besonderen Bedürfnissen, wie Personen mit Kinderwagen, Rollatoren oder Rollstühlen.

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Im Folgenden werden mehrere einfache Lösungen für einige dieser Herausforderungen aufgezeigt, mit Beispielen aus Städten auf der ganzen Welt. Gemeinsam ist ihnen, dass es sich um einfache Lowtech-Lösungen handelt, die intuitiv anzuwenden sind und den Fußgängern das Leben erleichtern.

Der Mittelstreifen Der Fußgängerüberweg mit Ampeln und aufgemalten Streifen symbolisiert Verkehrssicherheit. Allerdings erweist er sich für das häufige und tägliche Überqueren der Straße als unflexible und manchmal unbequeme Lösung. Straßen sind auf die Bedürfnisse einer Vielfalt von Menschen mit unterschiedlichen Wünschen und Verhaltensweisen abzustimmen. Sie müssen spontaner und bequemer zu überqueren sein, als manche Fußgängerüberwege es erlauben. Ein zusätzlicher Mittelstreifen auf der Straße kann das Miteinander von Fußgängern und Fahrzeugen entscheidend verändern. Ein Mittelstreifen signalisiert Autofahrern, dass sie die Straße mit anderen Verkehrsteilnehmern wie Fußgängern und Radfahrern teilen müssen. Dadurch kann sich das Verhalten der einzelnen Nutzer ändern, was wiederum den Verkehrsfluss und die Fahrgeschwindigkeit beeinflusst. Ein solches Umfeld fördert sowohl die Fußläufigkeit als auch eine Kultur der Koexistenz von Fußgängern und Fahrzeugen als Nachbarn im Straßenverkehr. Der Mittelstreifen versetzt Fußgänger in die Lage, die Straßenseite fast überall und jederzeit mühelos zu wechseln. Sie müssen weniger Fahrspuren überqueren, da sie jeweils nur den aus einer Richtung kommenden Verkehr zu beachten haben. Da ein Mittelstreifen die individuellen Bedürfnisse der Menschen unmittelbar bedient, ist er von großer Bedeutung. Die Straße wird sanfter, die Atmosphäre insgesamt besser. Kombiniert mit Fahrstreifen für den Fahrradverkehr entstehen noch weitere Haltepunkte für Fußgänger und erleichtern das Überqueren der Straße zusätzlich. Mittelstreifen in unterschiedlichen Größen und Ausführungen wirken auf die Bewegung des Fahrzeugverkehrs ein, der durch sie kontrolliert oder eingeschränkt werden kann. Mit einem Bordstein können sie ein Befahren verhindern oder aber bündig mit der Straße abschließen, damit Fahrzeuge sie bei Bedarf leicht überqueren können. Ihre Abmessungen reichen von wenigen Pflastersteinen – gerade breit genug für eine Person – bis zu einer Größe, die Elemente wie Bäume oder Fahrradstellplätze zulässt.

01. Vesterbrogade, Kopenhagen, Dänemark Dank des schmalen Mittelstreifens können Fußgänger ihrem gewünschten Weg folgen und die Straße spontan überqueren, auch wenn sie nur in einer Richtung frei ist. Sie können auf halbem Weg warten, bis die andere Richtung frei ist 02. Kensington High Street, London Der breite Mittelstreifen sorgt nicht nur für ein leichteres und spontanes Überqueren durch Fußgänger, sondern fungiert auch als Abstellplatz für Fahrräder. Die häufige Anwesenheit von Menschen in der Straßenmitte hat die Fahrkultur verändert. Seit Einführung des Mittelstreifens haben sich weniger Unfälle ereignet

Der Mittelstreifen bietet dem Fußgänger auf halber Strecke einen sicheren Haltepunkt und erleichtert das Überqueren der Straße

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Durchgehende Bürgersteige in Nebenstraßen In der urbanen Straßenhierarchie ist es sinnvoll, den Fahrzeugverkehr auf den Hauptstraßen ungehindert fließen zu lassen und ihn auf den Nebenstraßen häufiger anzuhalten und durch Vorfahrtsituationen zu regulieren. Gleiches gilt für den Fußgängerverkehr. Warum sollten Fußgänger auf einer Hauptverkehrsstraße an jeder einzelnen Seitenstraße anhalten und warten müssen, während die Fahrzeuge in derselben Fahrtrichtung dies nicht müssen? Manchmal sind Fußgänger zu Umwegen gezwungen, die sie von ihrer gewohnten Richtung oder Wunschroute abbringen, weil die Überwege einer Straßengeometrie folgen, die auf den Wende­kreisen großer Fahrzeuge basiert. Im städtischen Umfeld sind Fußgänger den Fahrzeugen zahlenmäßig oft überlegen. Wer sollte also bei der Straßen­gestaltung vorrangig behandelt werden? In Kopenhagen, London und anderen Städten erhält der Fußgängerverkehr dadurch Vorrang, dass sich der Bürgersteig als durchgehende Fläche über die Seitenstraßen erstreckt. So entsteht aus mehreren kleineren Gehwegblöcken ein einziger langer Block. Abbiegende Autos müssen den Bürgersteig vorsichtig befahren, dabei Fußgänger beachten und ihnen Vortritt gewähren. Umgestaltete Überwege an Seitenstraßen, die Fußgänger bevorzugen, verändern das Gleichgewicht der Vorfahrt. Fußgänger erhalten Vorrang, weil Autofahrer im Fußgängerbereich nur Gäste sind. Überwege sind einfach umzugestalten, machen jedoch einen großen Unterschied aus im Hinblick auf Zugang, Bequemlichkeit und Sicherheit auf dem Gehweg. Ein durchgehender Gehweg hat keine lästigen Höhenunterschiede, was die Benutzung von Rollstühlen, Kinderwagen, Rollkoffern und Einkaufstrolleys, Rollern und Tretrollern erleichtert. Insgesamt bietet der durchgängige Bürgersteig Fußgängern ein bequemeres, sichereres und angenehmeres Erlebnis. Außerdem spart er Zeit ein, weil an den Seitenstraßen das Warten wegen des Verkehrs entfällt. Mit durchgehenden Gehwegen sind Kinder unabhängiger und können ihr tägliches Netzwerk exponentiell erweitern – der Schulweg, der Besuch bei Freunden und die Erledigung von Besorgungen sind ohne die Aufsicht von Erwachsenen möglich. Diese Option einer sichereren Mobilität eröffnet einem Kind eine neue Welt der Freiheit, des Lernens und der Erfahrung und gibt den Eltern Freizeit zurück.

Der durchgehende Bürgersteig gibt Fußgängern den Vorrang

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Kopenhagen, Dänemark Eines der einfachsten und doch wichtigsten Details im Stadtraum: die Fortsetzung des Bürgersteigs über die Fahrbahn einer Nebenstraße

Weitere Beispiele: Der durchgehende Bürgersteig verändert die Bedingungen in der Stadt drastisch, indem er den Autoverkehr eindämmt und den Fußweg sicherer und einfacher macht

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Frederiksberg, Dänemark Aalborg, Dänemark Kopenhagen, Dänemark Lyon, Frankreich London, England

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Die Bordsteinerweiterung Straßenecken sind Mittelpunkte im Stadtviertel. Diese kleinen, lokalen Konzentrationspunkte, an denen sich Wege kreuzen, offenbaren viele Möglichkeiten. Straßenecken können Treffpunkte sein oder einfach nur eine Gelegenheit zum Stehenbleiben, Durchatmen und Beobachten des Umfelds. Angesichts der vielen Fußgänger, die sich in verschiedene Richtungen bewegen oder auf das Überqueren warten, stellen Straßenecken und Kreuzungen ein Problem dar. Eine Bordsteinerweiterung an der Straßenecke ist für einige dieser Herausforderungen eine einfache, doch höchst effektive Lösung. Durch die Erweiterung des Bürgersteigs zur Kreuzung hin wird der Raum ausgewogener verteilt. Es entsteht mehr Platz für wartende Fußgänger und ihre Bewegungen, eine bessere Übersicht zur eigenen Orientierung und Raum für lokale Aktivitäten, die dem sozialen oder kommerziellen Potenzial der Ecke entsprechen. Die Bordsteinerweiterung dämmt gefährliches Fahrverhalten an der Kreuzung ein und macht zugleich die Fußwege kürzer und sicherer. Sie stellt Raum für Stadtmobiliar zur Verfügung, das an einer stark befahrenen Durchgangsstraße für eine kleine Ruhepause sorgt, und für Bepflanzungen, die das „harte“ Straßenbild auflockern.

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Bordsteinerweiterungen teilen die Straße neu auf zugunsten der langsameren und sanfteren Aspekte des öffentlichen Lebens. Fußgänger werden gegenüber Fahrzeugen bevorzugt

01./02. Lyon, Frankreich Bordsteinerweiterungen an den Gebäudeecken erleichtern das Überqueren der Straße und schaffen Platz für Bereiche mit Stühlen und Tischen ähnlich den Parklets 03./04. Mar del Plata, Argentinien Bei diesem Pilotprojekt werden die Bordsteine an den Gebäude­ ecken nur mit Farbe und temporären Pollern erweitert. Stadtmobiliar und Pflanzgefäße auf dem ehemaligen Autobereich laden zum Anhalten, Verweilen und Sitzen ein. Fotos: Municipalidad de Mar del Plata 05./06. Buenos Aires, Argentinien Aufgemalte Bordsteinerweiterungen erleichtern das Überqueren der Straße und laden zum Verweilen ein

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Die sonnige Seite der Straße: Vester Voldgade, Kopenhagen, Dänemark

In den nordischen Ländern lässt sich eine Durchgangsstraße sehr einfach in einen Ort verwandeln, an dem sich Menschen gerne aufhalten, indem der Gehweg auf der Sonnenseite der Straße verbreitert wird. Fußgänger können so mit dem Ort und anderen Menschen interagieren und dabei das bessere Wetter genießen.

In der Vester Voldgade, Kopenhagen, wurde die Straße umgestaltet und um Aktivitäten ergänzt, die zu den angrenzenden Funktionen passen. So wurde zum Beispiel eine Tischtennisplatte unweit der Schule aufgestellt, und bei den Cafés und Restaurants entstand Platz für Tische und Stühle im Freien.

Vorher

Nachher

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Viel mehr als nur zu Fuß gehen

01./02. Melbourne, Australien, und Rio de Janeiro, Brasilien Kioske in zentralen Bezirken sorgen für ein Gefühl der Sicherheit bei nachts unbelebten Straßen

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Die Straße ist vielleicht der wichtigste öffentliche Raum, da sie direkt vor der Haustür liegt. Gleichzeitig machen Straßen oft 30 Prozent der Freifläche einer Gemeinde oder Stadt aus.16 Am einfachsten lassen sich Fußläufigkeit und öffentliches Leben durch einen breiteren Gehweg verbessern. Er stellt Fußgängern mehr Raum bereit, unabhängig davon, ob sie haltmachen, stehen oder sich bewegen. Ein breiterer Gehweg führt zu mehr Toleranz und erhöht den Komfort für vielfältige Nutzer – von Menschen, die ziellos nebeneinander bummeln bis hin zu Menschen, die eilig zu ihrem Ziel streben. Die meisten Städte verfügen über umfangreiche Daten zu motorisierten Fahrzeugen und nahezu keine zu Fußgängern. Folglich wird bei Entscheidungen über die Verteilung des Platzes das Auto bevorzugt. Oft erhalten Fußgänger anteilig viel weniger Raum, obwohl sie tatsächlich die größte Nutzergruppe darstellen. In einer breiteren Diskussion über die Funktion der Straße könnte angeführt werden, dass Fußgänger das Sicherheitsgefühl verbessern, zur Bildung einer Gemeinschaft beitragen und mehr Geld in örtlichen Geschäften ausgeben. Vorbeifahrende Autos vermögen dies nicht. Auch andere Elemente des Bürgersteigs können der Unterstützung des Fußverkehrs dienen, indem sie Spaziergänge in der Stadt erleichtern und gleichzeitig das öffentliche Leben fördern. So nützen beispielsweise Bänke oder Stühle vielen Fußgängern zum Ausruhen vor der nächsten Etappe. Gleichzeitig laden öffentliche Sitzgelegenheiten zum ausschließlichen Verweilen ein und dazu, mehr Zeit im Freien zu verbringen. In ähnlicher Weise stellen Kioske nützliche Dienstleistungen bereit, die einen längeren Aufenthalt im öffentlichen Raum ermöglichen. Neben der Schaffung von Arbeitsplätzen und florierenden Geschäften auf kleinstem Raum sorgt die Anwesenheit von Kiosken auch für mehr Sicherheit in einer Straße. Mehr Zeit im öffentlichen Raum zu verbringen bedeutet, für die Spontaneität des dort stattfindenden Lebens offen zu sein. Das Bleiben, Anhalten und Sitzen ermöglicht soziale Interaktion, etwa Bekanntschaften zu machen und Nachbarschaften aufzubauen. Spontan können Entscheidungen getroffen werden wie hinsetzen und die Sonne genießen, eine Tasse Kaffee trinken oder einfach eine Pause einlegen.

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Das Radfahren integrieren

Ähnlich wie das Zufußgehen ist das Radfahren umweltfreundlich und gesund und zudem eine äußerst zweckmäßige und manchmal auch vergnügliche Art der Fortbewegung. Radfahren ist preiswert und für fast alle zugänglich. Da die meisten alltäglichen lokalen Strecken (Kita und Schule, Einkauf von Lebensmitteln, Fitnessstudio usw.) relativ kurz sind, kann das Fahrrad eine bequeme und praktische Option sein. Das Fahrradfahren kann für Menschen in Betracht kommen, die Schwierigkeiten haben, längere Strecken zu Fuß zurückzulegen. Auch lassen sich mit dem Rad mehr Dinge transportieren als zu Fuß. Auf einem Fahrrad kann man sein Kind, ein Haustier, Einkäufe, Sportgeräte und vieles andere befördern. Der Vorteil des Fahrrads für den Transport von Lasten ist nicht zu unterschätzen. Radfahrer können ihre Routen mühelos anpassen. Sie können direkt von Tür zu Tür fahren, in ihrem eigenen Tempo, ohne einen Fahrplan zu benötigen oder einen Parkplatz suchen zu müssen. Diese Verfügbarkeit ist mit einem sehr geringen Kostenaufwand verbunden. Das Radfahren ist nach dem Gehen die wahrscheinlich zugänglichste Art der Fortbewegung. Das Radfahren sollte als Teil des täglichen Lebens anerkannt werden. Radfahrer bewegen sich auf Augenhöhe und haben daher eine ähnliche Perspektive wie Fußgänger. Auch sie profitieren von der Teilhabe am Straßenleben: Auf dem Fahrrad bleibt die Verbindung mit der Umgebung – mit Menschen, Orten, Aktivitäten und der Natur – auf eine Weise erhalten, wie sie beim Bus- oder Straßenbahnfahren schwieriger und in einem Auto völlig unmöglich ist. Spontane Interaktionen und die Teilnahme am nachbarschaftlichen Leben sind einfach. Es dauert nur ein paar Sekunden, vom Fahrrad abzusteigen, um einen Freund zu grüßen oder in ein Geschäft zu gehen. All das macht die Fortbewegung mit dem Fahrrad angenehmer. Erlebnisqualität – miteinander vernetzt und Nachbarn im Verkehr: Ein gut durchdachter Radweg kann auch das Geh­­ erlebnis verbessern, indem er die Fußgänger vor dem motorisierten Verkehr schützt

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Verschiedene Radfahrer mit unterschiedlichen Bedürfnissen und Geschwindigkeiten 01. 02. 03. 04.

São Paulo, Brasilien Luzern, Schweiz Bordeaux, Frankreich Tokio, Japan

Ebenso wie Fußgänger unterscheiden sich Radfahrer in ihren Fähigkeiten und Verhaltensweisen. Neben Fernpendlern und Rennfahrern in Lycra-Kleidung finden sich Großmütter und Briefträger. Fahrräder gibt es in verschiedenen Größen, von winzigen Kinderfahrrädern bis hin zu großen Lastenrädern. Daneben gibt es weitere Geräte mit kleinen Rädern wie Skateboards, Rollschuhe und Tretroller. Eine wichtige Ergänzung dieser Gruppe von Fortbewegungsmitteln sind Elektrofahrräder und -roller. E-Scooter machen nicht nur Spaß, sondern senken auch die Schwelle zur aktiven Mobilität. Mithilfe von E-Bikes hingegen können mehr Menschen weitere Strecken schneller, bei schlechterem Wetter und vor allem auch bergauf zurück­ legen. Alle diese unterschiedlichen Nutzer sind im Straßenverkehr unterzubringen. Die Lösung lautet, für die sanfte Mobilität der kleineren, leichteren Zweiräder, ­Tretroller und Skateboards eigene Fahrstreifen zu schaffen.

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Sicheres Radfahren für alle: Fahrradstreifen in Kopenhagen

Bordstein

Bordstein

Das Radfahren im motorisierten Stadtverkehr ist äußerst problembehaftet und potenziell gefährlich. Radfahrer fühlen sich auf ihren empfindlich kleinen Rädern gefährdet, wenn sie von großen, schweren und schnell fahrenden Kraftfahrzeugen umgeben sind. Die Kopenhagener Fahrradstreifen sind zweifellos eine optimale Vorgehensweise für integrierte und sanfte Fahrradmobilität im städtischen Raum. Die Spuren bieten Sicherheit und Bequemlichkeit und machen das Radfahren viel einfacher und berechenbarer. Das Verkehrssystem ist simpel und leicht verständlich. Radfahrer verfügen über ihren eigenen Bereich und bleiben dennoch in das Leben der Straße und der anderen Verkehrsteilnehmer eingebunden. Beim Kopenhagener Modell liegt zwischen dem Gehweg und den Fahrspuren für motorisierte Fahrzeuge einen eigener Fahrradstreifen. Er ist von den Fußgängern durch eine niedrige Bordsteinkante von

8 Zentimetern abgesetzt, die für eine deutliche Trennung der Zonen ausreicht. Wichtiger noch ist der zweite Bordstein gleicher Größe, der die Radfahrer von den Autofahrern trennt. Jede Verkehrsart hat ihre eigene Oberfläche, wodurch der Eindruck von Ordnung entsteht, da jeder seinen Bereich kennt. Ebenso wie Autos nicht den Gehweg benutzen, fahren sie auch nicht auf den Fahrstreifen für Radfahrer und Fahrradfahrer nicht auf dem Gehweg. Durch diese Klarheit werden grundlegende Konflikte vermieden. Die Beziehung zwischen dem Gehweg, dem Fahrradstreifen und der Straße muss unbedingt durchgängig erhalten bleiben. Die Fahrradstreifen sind nur in einer Richtung zu befahren. Die Radfahrer und die motorisierten Fahrzeuge bewegen sich in derselben Richtung, sodass kein Gegenverkehr besteht und die potenziell tödliche Gefahr eines Zusammenstoßes vermieden wird. Da die Radwege direkt neben dem

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Bordstein

Bordstein

Bürgersteig verlaufen, haben Radfahrer nur zu einer Seite Autoverkehr und nicht – wie in anderen Städten üblich – auf beiden Seiten. Die eigentliche Gefahr und der Stress für Radfahrer gehen von den motorisierten Fahrzeugen aus und nicht von den Fußgängern. Wenn nur auf einer Seite Autos fahren, ist das Radfahren viel einfacher und sicherer. Beim Kopenhagener Modell fungieren parkende Autos als Schutzbarriere zwischen dem Fahrstreifen für Radfahrer und der Fahrspur des Autoverkehrs. In vielen Städten parken Autos zwischen dem Gehweg und dem Radweg, was zu einer komplizierten und nervenaufreibenden Verkehrssituation für Radfahrer wie Autofahrer führt. Für Autofahrer ist das Parken in städtischer Umgebung bereits ohne die Beteiligung von Radfahrern eine der stressreichsten Herausforderungen. Wenn Autofahrer zum Ein- und Ausparken den Radstreifen überqueren müssen, ist − zumal bei

01.–04. Kopenhagen, Dänemark Radfahren zu allen Jahreszeiten

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eingeschränkter Sicht beim Zurücksetzen − auf vorbeikommende Radfahrer achtzugeben. Dieses Manöver kann schwierig sein und den Verkehr behindern und ist insbesondere für Radfahrer gefährlich. Auch beim Aussteigen ist Vorsicht geboten, um keinen Radfahrer mit der Fahrertür zu erfassen. Das Kopenhagener Modell ist hier als Win-win-Situation zu betrachten, da es parkende Autos und Radfahrer voneinander trennt und ein Nebeneinander von Mobilitätsarten mit unterschiedlichen Bedürfnissen ermöglicht. Ein weiterer entscheidender Vorteil des Kopenhagener Modells für den Radfahrer ist der einfache Einstieg in das System. Dieser ist unmittelbar möglich, weil die Fahrradstreifen praktischerweise direkt neben dem Gehweg liegen.

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Paris, Frankreich Spontanes Anhalten ist möglich und attraktiv, wenn der Fahrstreifen unmittelbar an Bürgersteig und Ladenfronten angrenzt

Da die Radfahrer dem von der Straße abgesetzten Bürgersteig so nah sind, ­ önnen sie das Geschehen auf der Straße gut überblicken und mühelos anhalten. k Diese Anordnung der Fahrradstreifen neben dem Bürgersteig hat obendrein einen schönen Nebeneffekt: Fährt man morgens an der Bäckerei vorbei und es zieht einem der Duft von frischem Gebäck in die Nase, ist man schnell vom Rad gestiegen, um für sich und die Kollegen Frühstück zu besorgen. Der einfache Zugang zum Gehweg bedeutet auch, dass Radfahrer als gute Kunden der örtlichen Geschäfte infrage kommen. Sie kaufen häufiger ein als Autofahrer, weil sie schneller anhalten können. Dieses Verhaltensmuster sollte berücksichtigt werden, wenn es um Lösungen potenzieller Konflikte hinsichtlich der Bevorzugung von Radwegen gegenüber Parkplätzen vor Geschäften geht. Das unkomplizierte Anhalten verbessert außerdem die Kenntnis des eigenen Viertels und trägt zum Zugehörigkeitsgefühl bei. Fahrstreifen sollten Platz für mindestens zwei Fahrräder bieten. Noch besser ist es, wenn sie drei Fahrräder aufnehmen können, damit zwei Personen nebeneinander fahren und andere problemlos überholen können. Dies vermeidet von vornherein Konflikte zwischen Radfahrern unterschiedlicher Geschwindigkeit. Das Radfahren in der Stadt sollte generell einen höheren Stellenwert als Gelegenheit sozialen Austauschs erhalten. Konversationsradfahren ermöglicht Freunden oder Familienmitgliedern, nebeneinander zu fahren, das Erlebnis zu teilen und wertvolle Zeit gemeinsam zu verbringen. Dass Eltern neben ihren Kindern fahren können, ist nicht nur wegen der gemeinsam verbrachten Zeit von Bedeutung, sondern auch für die Stärkung des kindlichen Selbstvertrauens während es lernt, im städtischen Umfeld Rad zu fahren.

Hybrides Radfahren Das Zufußgehen lässt sich gut mit anderen Verkehrsmitteln kombinieren, aber das Radfahren im Verein mit anderen Verkehrsarten scheint weniger naheliegend zu sein. Das Fahrrad in Kombination mit dem öffentlichen Nahverkehr ermöglicht jedoch extrem schnelle und effiziente Touren. Wenn der öffentliche Personennahverkehr Fahrräder befördert, kann man zum Beispiel mit dem Fahrrad zum Bahnhof fahren, das Fahrrad einladen und dann von der Ankunftsstation bis zum endgültigen Ziel

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Konversationsradfahren

01. 01. Montpellier, Frankreich Das Straßenbahnsystem erlaubt die Mitnahme von Fahrrädern und ergibt eine effiziente Kombination von Fahrten 02. Kopenhagen, Dänemark Alle Taxis müssen einen Gepäckträger für mindestens zwei Fahrräder aufweisen

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weiterfahren. Busse, Straßenbahnen, U-Bahnen und Züge, die die Mitnahme von Fahrrädern zulassen, erlauben es, längere Strecken mit dem Fahrrad zurückzulegen oder auch kürzere, bei denen das Radfahren sonst nicht sinnvoll wäre. Selbst Taxis sind mit Fahrradträgern ausgestattet und helfen dabei, spätabends, während eines Schneesturms, bei plattem Reifen oder einfach, wenn man müde ist, nach Hause zu kommen. Werden diese Komponenten zu einer hybriden Tour kombiniert, ist die Fortbewegung in der Stadt besonders einfach und bequem.

Hardware und Software Für eine fahrradfreundliche Gestaltung sind sowohl Hardware als auch Software erforderlich. Zur Hardware gehören gut gestaltete Fahrstreifen, Ampeln zur Verkehrssteuerung und Aufrechterhaltung der Sicherheit, Rampen, die Radfahrern das Überwinden von Treppen erleichtern, Fußstützen, die beim Anhalten an Ampeln entlasten, Fahrradstellplätze, die für Ordnung sorgen, Dächer und Überdachungen von Stellplätzen, um die Fahrräder trocken zu halten, Einrichtungen wie Luftpumpstationen und Reparaturwerkstätten zur Wartung von Fahrrädern, Fahrradhalterungen in Bussen, Straßenbahnen und Zügen, in denen die Mitnahme von Fahrrädern erlaubt ist, um lange Fahrten bequemer zu machen. Für die Entwicklung einer lebendigen und sicheren Fahrradkultur ist die Software ebenso wichtig. Sie beinhaltet Datenerhebung und Forschung, Kommunikations- und Aufklärungskampagnen, Fahrradtests für Schulkinder, Radfahrkurse für Erwachsene, Sensibilisierung für lokale Radfahrnormen (wie spezielle Handzeichen), Strafverfolgung und Straßeninstandhaltung (zum Beispiel Schneeräumen) sowie die Organisation von Veranstaltungen, die verschiedene Radfahrer einbeziehen und ermutigen. Radfahren kann eine höchst effiziente, bequeme und positive Form der aktiven Mobilität darstellen. Es bietet eine einfache, schnelle und flexible Art der Fortbewegung. Gleichzeitig ermöglicht es, am Leben auf dem Bürgersteig teilzunehmen, sodass es auf natürliche Weise zu sozialen Begegnungen mit den Nachbarn kommt. Unter Berücksichtigung der Dichte und Vielfalt von Radfahrern gestattet eine durchdachte Einbindung des Fahrradverkehrs in das Straßenbild ein problemloses Miteinander von Fahrradfahrern, Fußgängern und motorisiertem Verkehr.

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Straßengebundener öffentlicher Verkehr Ein effizienter öffentlicher Verkehr kann den Energieverbrauch und die Umweltverschmutzung in Städten verringern. Abgesehen von den Umweltaspekten spielt der öffentliche Verkehr eine wichtige Rolle bei der Entstehung von Gemeinschaft und einem dynamischeren öffentlichen Leben. In öffentlichen Verkehrsmitteln können sich auf relativ engem Raum unterschiedliche Menschen begegnen. Gespräche und Meinungen zu unbekannten Themen hören, andere Verhaltensweisen und Arten der Bekleidung sehen sowie einfach die physische Nähe zu Fremden sind bedeutsame Erfahrungen in einer von Segregation geprägten Welt. Die Menschen haben mehr Möglichkeiten, ihre Umgebung zu erleben und sich mit ihr zu verbinden, wenn sie zur Straße gehören. Das Zufußgehen und das Radfahren sind die am stärksten vernetzten Formen der Mobilität, da man exponierter ist. Aber auch in einem Bus oder einer Straßenbahn bewegt man sich auf Straßenniveau, hält häufig an, sieht, was rundherum geschieht, und bekommt ein Gefühl für die tatsächliche Entfernung. In den Tunneln der U-Bahn, beim konzentrierten Autofahren oder hoch oben in einer Schwebebahn herrscht nicht die gleiche Verbindung zu Menschen oder Orten. Straßengebundene öffentliche Verkehrsmittel erleichtern die Fortbewegung und vernetzen besser mit der Umgebung. Die Orientierung fällt leichter, da stets ein Bezug zu den Menschen und Aktivitäten, zu den Dingen und Orten besteht, die bekannt sind und genutzt werden. Beim straßengebundenen öffentlichen Verkehr herrscht auch eine besondere Dynamik, falls eine Haltestelle früher ausgestiegen oder gegebenenfalls zur nächsten Station weitergefahren wird, wodurch einem die Vorzüge des Viertels vertrauter werden.

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01./02. Bern, Schweiz Mobili­ tiät auf Augenhöhe mit Straßenbahn und Bus sorgt für persönlichen Kontakt – fragen Sie einfach den Fahrer 03./04. Zürich, Schweiz Das Fahren auf Augenhöhe entlang einer Straße schafft eine Beziehung zum nachbarschaftlichen Leben, da die Menschen bei ihren Tätigkeiten beobachtet werden können. Auch fällt die visuelle Orientierung anhand von Orten leichter und Bäume, Licht und Wetter stellen eine Verbindung zur Natur her

Der Bürgersteig als Bahnsteig

01. Hamburg, Deutschland Die Bushaltestelle ist Teil des Straßenlebens, nur wenige Meter vom Restaurant entfernt. Beachtenswert ist auch das große Fenster, das die Beziehung zur Straße noch einfacher macht 02. Tokio, Japan Nur ein kleiner Schritt – das Ein- und Aussteigen aus dem Bus ist für Menschen mit Mobilitätseinschränkungen bequem, und die Straße selbst ist ein sicherer und angenehmer Ort zum Warten

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Mit dem Bürgersteig als Bahnsteig sind Busse und Straßenbahnen leicht zugänglich. Das Ein- und Aussteigen bereitet keine Mühe, wenn der Bus oder die Straßenbahn nur einen Schritt entfernt liegen. So ist für Menschen mit den unterschiedlichsten Bedürfnissen ein leichter Zugang zu Verkehrsmitteln gewährleistet. Niederflurige Straßenbahnen und Busse sind für den Transport mit alltäglichen städtischen Gerätschaften wie Kinderwagen und Rollatoren, Gepäck und Einkaufstaschen besser ausgelegt. Wenn die öffentlichen Verkehrsmittel direkt vom Bürgersteig aus erreichbar sind, bleibt Raum für freie und spontane Entscheidungen. Beim Spazierengehen kann man den Bus kommen sehen und in letzter Minute einsteigen, um etwas Zeit und Energie zu sparen oder dem Regen zu entkommen. Der Bürgersteig als Bahnsteig bietet die Möglichkeit, anderen Menschen nahe zu sein oder Abstand zu halten, ein paar Meter weiter in die Sonne zu gehen, sich auf eine Bank zu setzen, einen Kaffee zu trinken, eine Zeitung zu kaufen oder im Geschäft nebenan Besorgungen zu machen. Damit lässt sich jede Sekunde bis zum Einstieg nutzen, weil der Bus oder die Straßenbahn zu Fuß erreichbar sind. Die so effizient genutzte Zeit macht die Fortbewegung viel bequemer.

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Für Haltestellen auf dem Bürgersteig besteht eine einfache Logik. In der Straße sind beide Richtungen des Busses zu erkennen und die Routenführung ist mit den Haltestellen instinktiv zu verstehen. An der Anzahl der wartenden Fahrgäste lässt sich ablesen, wann der nächste Bus kommt, was zuverlässiger sein kann als die offiziellen Informationen in gedruckten Fahrplänen oder in Apps. Anstatt den Verkehrsknotenpunkt in ein separates Gebäude oder eine U-BahnStation zu verlegen, kann der Zugang zu öffentlichen Verkehrsmitteln bequem im Straßenraum erfolgen. So bleiben die verschiedenen Verkehrsarten dicht bei­ einander und erlauben den Nutzern einen fließenden Wechsel. Die Beförderungsmöglichkeiten sind sichtbar, verständlich und leicht zu orten, mit der Umgebung verbunden, erscheinen sicherer und gestatten eine effektive Nutzung der eigenen Zeit. Die meisten straßengebundenen öffentlichen Verkehrsmittel (Straßenbahnen, Busse, Minibusse) können dieselben Haltestellen und Strecken nutzen, was ein effizientes, nahtloses und höchst anpassungsfähiges System ergibt. Die einzelnen Verkehrsmittel bieten verschiedene Lösungen für eine vielfältige Bevölkerung mit unterschiedlichen Bedürfnissen an.

01./02. Bordeaux, Frankreich, und Melbourne, Australien Der Bürgersteig als Bahnsteig, die Straße als Bahnhof: Öffentlicher Nahverkehr ist unmittelbar zugänglich und Teil des Straßenlebens 03. Wien, Österreich Müheloses Ein- und Aussteigen bei Bussen und Straßenbahnen direkt vom Bürgersteig aus 04./05. Bordeaux, Frankreich

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Öffentlicher Verkehr als Teil der Stadt: Verkehrsknotenpunkt, Bern, Schweiz

Der überdachte Verkehrsknotenpunkt in Bern fungiert als Drehscheibe für Busse und Straßenbahnen unmittelbar vor einem großen Kaufhaus und einer Kirche im zentralen Geschäftsviertel. Der öffentliche Raum setzt sich im Verkehrsknotenpunkt fort, ohne räumliche Unterscheidung oder Veränderung der Oberfläche. Diese Situation macht das Verkehrsangebot leicht zugänglich und sehr zweckmäßig. Von einem Einkaufsbummel oder Gottesdienst, Zahnarzttermin oder Bankbesuch sind es buchstäblich nur ein paar Schritte und ein paar Sekunden bis zur Straßenbahn. Diese sehr einfache Lösung ermöglicht den Zugang zu verschiedenen Verkehrsarten, die sämtlich unter einem charakteristischen Glasdach untergebracht sind. Dieses schützt vor der Witterung, ohne das Tageslicht oder die Aussicht auf die Umgebung abzuschirmen. Aufgrund der hohen Sichtbarkeit vermittelt ein solch offener Verkehrsknotenpunkt ein Gefühl der

Sicherheit. Stets befinden sich diverse andere Personen auf der Straße, in den nahegelegenen Geschäften oder sie blicken aus den Wohnungen und Büros auf die Straße. Zudem bedeutet ein einfacher Zugang auch ein leichtes Entkommen in einer unangenehmen oder bedrohlichen Lage.

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Einbahnstraßen versus Zweirichtungsstraßen Einbahnstraßen wurden in den 1970er Jahren populär, als man glaubte, sie könnten die Kapazität und den Verkehrsfluss von Fahrzeugen im städtischen Raum erhöhen. In Wirklichkeit verschlechtern sie die Mobilität und befördern den Durchgangsverkehr, der eigentlich aus den Stadtvierteln zu verbannen ist. Die Fahrkultur in Einbahnstraßen – häufig mit höheren Geschwindigkeiten – ist nur schwer mit anderen Formen der Mobilität vereinbar. So erschwert der schnellere Verkehrsfluss in eine Richtung Fußgängern das Überqueren der Straße. Auch für Radfahrer ergeben sich Probleme. Selbst wenn sie in die Gegenrichtung fahren dürfen, kann es für sie besonders bedrohlich sein. Für Autofahrer ist das Fahren in Einbahnstraßen ebenfalls komplizierter, weil die intuitive Orientierung verloren geht und längere Strecken zurückzulegen sind, was wiederum zu mehr Verkehr, mehr Lärm und mehr Umweltverschmutzung führt. In einem Bericht aus dem Jahr 2010 wurde festgestellt, dass Zweirichtungsstraßen die Gesamtfahr­ strecke um 8 bis 6 Prozent reduzieren, da sie mehr Streckenalternativen bieten und Umwege vermeiden.17 In Einbahnstraßen können Buslinien nicht in beide Richtungen verkehren, wodurch das natürliche Verstehen des öffentlichen Verkehrssystems verloren geht. Für die Rückfahrt können Fahrgäste nicht einfach auf der gegenüberliegenden Straßenseite einsteigen, sondern müssen zu einer Haltestelle in einer anderen Straße gehen. Zweirichtungsstraßen können den Verkehr beruhigen, was oft zu mehr Aktivierung und einer Verjüngung des Viertels und sogar zu höheren Immobilienwerten führt. Zu beobachten ist auch, dass sich langsamerer Autoverkehr positiv auf die lokale Wirtschaft auswirkt, weil die Autofahrer die Geschäfte der Nachbarschaft entdecken.

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01. Die Einbahnstraße begünstigt schnelleres Fahren und macht die Wegfindung weniger logisch. Dies erschwert Fußgängern die Straßenquerung und verunsichert die Radfahrer. Für Nutzer des öffentlichen Nahverkehrs ist das System weniger verständlich, da ihr Bus nach Hause an einer anderen Straße hält 02. Die Zweirichtungsstraße bietet Autofahrern den Vorteil einer logischen Wegfindung und schafft ein besseres Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Verkehrsteilnehmern. Sie ist für Fußgänger leichter zu überqueren, für Radfahrer sicherer (vor allem, wenn es keine Fahrstreifen gibt) und für Benutzer öffentlicher Verkehrsmittel ist es einfacher, den Bus nach Haus zu finden

Von Einbahnstraßen zurück zu Zweirichtungsstraßen: Perth, Australien

Vorher

Perth hat im Rahmen eines längerfristigen Programms zur Schaffung einer pulsierenden und fußgängerfreundlicheren Stadt viele seiner Hauptstraßen wieder vom Einbahn- in den Zweirichtungsverkehr umgewandelt. Nach einem erfolgreichen Versuch in der William Street, einer der beiden Hauptstraßen im zentralen Geschäftsviertel, stellt Perth nun in der gesamten Stadt Hauptstraßen auf Zweirichtungsverkehr um. Die Veränderungen beinhalten auch Aufwertungen des öffentlichen Raums mit breiteren Gehwegen, Straßenmöbeln und Bäumen, neu gestalteten Fußgängerüberwegen sowie geänderten Straßenführungen wie engeren Verkehrsgeometrien für abbiegende Fahrzeuge. Die Stadt hat das Programm mit einer intensiven Öffentlichkeitsbefragung aufgelegt und die Argumente für den Wandel auf verständliche und kommunikative Weise dargelegt.

Nachher

„Wenn der Verkehr auf einer Straße wieder in beide Richtungen fließt, verlangsamt sich der Verkehr gerade wegen des Zusammentreffens von Verkehrsströmen in beide Richtungen.“ Lisa Scaffidi, Oberbürgermeisterin von Perth18 Von der Stadt herausgegebenes Faltblatt zur Bekanntgabe von Änderungen City of Perth: Two Way Streets (Perth 2014)

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Verkehrskorridor: Folie zur Entwicklungsplanung 1. Geeignete Straßen

2. Baudenkmal und Bereiche öffentlicher Nutzung oder

Fahrspur mindestens 6 m, vorhanden oder vorgesehen

Baudenkmal

3. Bauhöhenbeschränkung vorne

hinten

Room for photo of taxe with bicycle? Gebäudehülle

4. Parken

Nur rückseitiger Zugang Wohnungen und Gewerbeeinheiten im Verhältnis 1:1 Externe Parkplätze höchstens 300 m vom Gebäude entfernt

5. Rücksprünge vorne

setlich Gebäudeform an der Straßengrenze

Gebäudeform an der Straßengrenze

6. Aktive Straßenfronten

Auskragung an den Grundstücksrändern

7. Passive Überwachung

Sanitärtechnik rückseitig

Erdgeschossebene für Einzelhandel geeignet

8. Bereiche mit Gestaltungs freiheiten Auf Rücksprünge nicht anwendbar

Passive Überwachung

9. Zugang Zugang für Fußgänger an der Vorder- und Rückseite

Alle Anwohner haben Zugang zum rückseitigen Gemeinschaftsbereich

Balkonr 1 m vor der Fassade erlaubt

Planungsanforderungen werden mit einfachen Darstellungen auf einem Blatt Papier veranschaulicht. Illustration: Steve Thorn, Ralph Webster, Simon Goddard, City of Melbourne

142  Sanfte Stadt

Verdichtung im Umfeld bestehender Infrastruktur: „Lineares Barcelona“, Melbourne, Australien

Auf Vorhandenem aufbauen

„Wir haben eine interessante Zeit erreicht, in der die Triebfedern für nachhaltige Städte dieselben sind wie die Triebfedern für lebenswerte Städte, nämlich gemischte Nutzung, Verbundenheit, hochwertiger öffentlicher Raum, lokaler Charakter und Anpassungsfähigkeit. Wenn diese Merkmale so wie in Barcelona zusammenkommen, ergeben sie eine Alchemie für Nachhaltigkeit, sozialen Nutzen und wirtschaftliche Vitalität. Diese Städte verringern den Bedarf an Autoverkehr, reduzieren den Energieverbrauch und die Emissionen, verwenden lokale Materialien, unterstützen lokale Unternehmen und schaffen identifizierbare Gemeinschaften.“ Rob Adams, 200919

Transforming Australian Cities, allgemein als das „Lineare Barcelona“ bezeichnet, ist ein Bericht über die Studienergebnisse des Teams um den Stadtrat von Melbourne unter der Leitung von Rob Adams, dem städtischen Direktor für Stadtgestaltung. Der Bericht plädiert für ein strategisches Entwicklungsmodell, bei dem die Dichte der Stadt im Laufe der Zeit erhöht wird. Dabei wird die vorhandene Infrastruktur genutzt und der menschliche Maßstab der Stadtviertel beibehalten. Der Ansatz berücksichtigt das Bevölkerungswachstum, ohne dass die Stadt nach außen expandiert. Aus dem Bericht geht hervor, wie Melbourne die Einwohnerzahl verdoppeln kann und dabei nur 7,5 Prozent der bebauten Flächen nutzt, während die restlichen 92,5 Prozent unberührt bleiben. Von den 7,5 Prozent entfallen 3 Prozent auf straßengebundene öffentliche Verkehrswege, 3 Prozent auf die Umgebung von Bahnhöfen und 1,5 Prozent auf Brachflächen.20

Fortbewegung und Vorankommen  143

01.

02.

Die Idee ist einfach: Eine dichtere Mischnutzungsbebauung entlang und um den vorhandenen öffentlichen Verkehr wird ermöglicht und die Genehmigung entsprechender Bauanträge beschleunigt. Melbournes umfangreiches Straßenbahnnetz, das weltweit größte, und das Vorortbahnnetz der Stadt bilden hierfür die Grundlage. In neun einfachen Darstellungen auf einer DIN-A4Seite wird zusammengefasst, was angemessen erscheint. Im Wesentlichen gestattet das „Lineare Barcelona“ entlang der ausgewiesenen Hauptstraßen und um die bezeichneten Bahnhöfe den Bau von unabhängigen Wohngebäuden mit maximal sechs bis acht Etagen und aktiven Erdgeschossen (die charakteristische europäische oder barcelonische Typologie, daher der Name). Laut der Studie ist bei niedrigen und mittelhohen Gebäuden der Energiebedarf sowohl für die Errichtung als auch für die Nutzung geringer, weil Treppen eine Alternative zu Aufzügen darstellen und manuell zu öffnende Fenster eine passive Belüftung und Kühlung ermöglichen. Außerdem herrscht im Erdgeschoss ein besseres Mikroklima, da keine hohen Gebäude unangenehme Windturbulenzen verursachen. Durch klare Definition der Gebäudehöhen lassen sich von Anfang an der Grundstückswert und realistische Preise leicht festlegen. Da die Bauherren nicht abwarten und auf vielleicht etwas mehr Höhe spekulieren, geht die Bebauung voran. Die klaren, einfachen Regeln ermöglichen eine parzellenweise Verdichtung von Objekt zu Objekt. Von diesem Ansatz profitieren private Bauherren, darunter die aktuellen Grundstückseigentümer, ortsansässige Familien und Firmen sowie kleinere, lokale Bauunter-

nehmen. Diese Bauherren können ihre Grundstücke unabhängig voneinander nach eigener Art, eigenem Stil und Geschmack entwickeln. Der so erzielte pluralistische Ansatz führt zu vielen verschiedenen Interpretationen, Wirtschaftsmodellen und spezifischen architektonischen Lösungen. Mehr und kleinere Projekte beinhalten eine breitere wirtschaftliche Basis, die Beschäftigung diverser Architekten und hoffentlich eine vielfältige Gruppe von Bewohnern.

144  Sanfte Stadt

Benachbarte Bereiche Der menschliche Maßstab mit niedrigen Gebäuden ist auch ein nachbarschaftlicher Maßstab. Die Bebauung ist von angemessener Größe für die umliegende, eher vorstädtische Wohnbebauung, die zumeist eingeschossig ist, sodass es kaum oder gar nicht zu Verschattung oder einem Verlust der Aussicht kommt. Eine Verdichtung in diesem Maßstab stellt für die kleineren Nachbargebäude einen Vorteil dar, und sie ermöglicht es, in einem frei stehenden, eingeschossigen Haus mit Garten leben zu können, das in Fußnähe zur Stadt liegt mit ihrem öffentlichem Nahverkehr, den Geschäften, Dienstleistungen und Erlebnissen. Die umliegenden weniger dichten Gebiete gleichen die Verdichtung an den Hauptverkehrsstraßen aus. Dahinter steht die Idee, mit der Verdichtung der Hauptstraßen die angrenzenden niedrigen Gartenstädte zu beiden Seiten vor Bebauung zu schützen, den Verkehr zu beruhigen und das Gebiet zu begrünen. Diese Gartenstädte sind Zonen der Stabilität, die durch Solar- und Windenergie autark sind. Mit ihrer stärkeren Begrünung, insbesondere wegen der aus-

03.

04.

ladenden Baumkronen und Zonen der Artenvielfalt, verbessern sie den Lebensraum für Flora und Fauna. Ein sensibler Umgang mit Wasser, einschließlich der Nutzung von Regen- und Abwasser sowie einer lokalen Abwasserbehandlung, verringert die Belastung der bestehenden Infrastruktur. Insgesamt reduzieren diese ökologischen Einzugsbereiche den Wärmeinseleffekt, tragen zur Luftreinigung bei und werden so zu einer grünen Lunge der Stadt.

Einzelprojekte bewirken ein vielfältiges Nebeneinander und damit eine urbane Dynamik mit Gebäuden unterschiedlichen Alters. Renoviertes und Verfallenes, niedrige und hohe Mieten wechseln sich ab, wodurch sich Start-ups und Pop-ups neben Kettenläden und etablierten Unternehmen ansiedeln können. Diese Vielfalt ist von gegenseitigem Nutzen, eine Art sozioökonomisches Ökosystem, da die Menschen mit unterschiedlichen Erfahrungen und anderen Mitmenschen in Kontakt kommen.

Die bestehende Infrastruktur nutzen Aus der Nutzung bestehender Infrastrukturen ergeben sich sowohl aus wirtschaftlichen als auch aus ökologischen Gründen eindeutige Vorteile. Die Infrastruktur für Straßen sowie für Wasser, Elektrizität und Telekommunikation ist bereits vorhanden, ebenso die soziale und kommerzielle Infrastruktur mit Geschäften und Dienstleistungen. Eine stärkere Nutzung der bestehenden öffentlichen Verkehrsmittel kann zu Investitionen in besseren und häufigeren Service führen. Mehr Kunden ergeben einen höheren Umsatz für die Geschäfte mit frischeren Produkten und einem größeren Warenangebot. Für die Stadt bedeutet eine solche Bevölkerungskonzentration Steuereinnahmen zur Finanzierung der von allen genutzten Dienstleistungen. Eine derartige Verdichtung kommt allen zugute. Mehrere Nebeneinanderstellungen Im Gegensatz zu großmaßstäblichen Neubaugebieten führt das „Lineare Barcelona“ zu einer natürlichen Koexistenz von Alt und Neu. Die zahlreichen

Die aufgewertete Straße als öffentlicher Raum Gleichzeitig lassen sich durch die neue Bebauung Einnahmen erzielen, die in die Verbesserung des Straßenbildes investiert werden können: hochwertigere, fußgängerfreundliche Pflasterungen, mehr Straßenbäume und wassersensible Bepflanzung, Verkehrsberuhigung, aufgewertete Radwege und verbesserte Straßenbahnhaltestellen. Im Gegenzug erhöhen bessere Detailsorgfalt und Materialien, Möbel und Landschaftsgestaltung die Nutzung der Straßen. Sie werden zu öffentlichen Räumen, in denen das Anhalten, Sitzen und Verweilen ebenso wichtig sein kann wie die Fortbewegung.

01. Typischer Bestand mit niedrigen Bauten zur Hauptstraße in einem Vorort 02./03. Neuer Zwischenbau mit Mischnutzung, Prahran 04. Aufgewertetes Straßenbild mit neuen öffentlichen Sitzgelegenheiten, Prahran

Fortbewegung und Vorankommen  145

Zeit Besonders interessant ist beim „Linearen Barcelona“ der Zeitaspekt. Der Ansatz erkennt die Bedeutung einer Beschleunigung der baulichen Entwicklung an und erleichtert daher die Planung und die Bauausführung. Auch den Vorteilen einer schrittweisen Entwicklung über die Jahre wird Rechnung getragen, die mit dem Leben der dort wohnenden Menschen in Einklang steht. Kurzfristig erleichtert das „Lineare Barcelona“ den Einstieg in das Projekt. Durch die eindeutige Festlegung der Grenzen besteht die Gewissheit, dass ein größeres oder höheres Gebäude nicht genehmigt wird und der Grundstückseigentümer oder Bauträger sogleich anfangen kann. Diese Grenzen geben den Nachbarn auch die Sicherheit, dass sie vor einer ungeordneten oder willkürlichen Bebauung außerhalb der festgelegten Zonen geschützt sind. Damit erübrigen sich Einsprüche gegen Bauanträge. Dank des einfachen und übersichtlichen einseitigen Regelwerks kann der Bauherr sehr gut nachvollziehen, was möglich ist. Da Projekte, die diese Anforderungen erfüllen, zügig durch das Planungssystem geleitet werden, können sie schneller beginnen. Im Gegensatz zu Megaprojekten mit ausschließlich Neubeuten, die ein genaues Timing erfordern und enorme Störungen verursachen, entsteht das „Lineare Barcelona“ Stück für Stück über viele Jahre. Die Gemeinschaft im Umkreis funktioniert weiterhin mehr oder weniger normal, passt sich jeweils den Veränderungen, der neuen Bevölkerung und den neuen Aktivitäten an und nimmt sie auf. Jedes Projekt hat seinen eigenen Zeitplan, und ob es früher oder später

Melbournes neue regionstypische Stadtarchitektur

146  Sanfte Stadt

fertig wird, wirkt sich nicht auf das Ganze aus. Hierin liegt eine gewisse Zeittoleranz. Das „Lineare Barcelona“ ist insofern genial, als es auf Vorhandenem aufbaut und dadurch der Stadt hilft, mehr zu leisten und die vorhandenen Ressourcen besser einzusetzen. Es erweitert die Stadt, ohne die existierenden, inhärenten Qualitäten zu zerstören oder zu beschädigen, und ermöglicht eine schrittweise Entwicklung im Laufe der Zeit. In dieser höheren Dichte koexistieren neue Gebäude mit den alten. Dies ist nicht nur eine Frage unterschiedlicher Ästhetiken oder architektonischer Maßstäbe. Vielmehr geht es auch um das Nebeneinander verschiedener Aktivitäten und Menschen, neuer und alter, öffentlicher und privater, Seite an Seite in derselben Straße. Die Studie Transforming Australian Cities hat eine menschliche Note, denn sie nennt Menschen pro Hektar und nicht Gebäudedichten. Sie anerkennt die menschliche Dimension, weil sie kleinere, schrittweise Entwicklungen vorsieht. Die Bewohner können so die Vorteile während des Entstehens erfahren. Es entstehen nicht nur Gebäude im menschlichen Maßstab, auch der Wandel erfolgt im menschlichen Tempo. Obwohl der Maßstab und die Struktur von Barcelona inspiriert sein könnten, zeigt sich in den inneren Vororten von Melbourne eine neue Architektur, eine regionstypische urbane Ausdrucksweise, die einzigartig ist und zu ihrem Ort gehört. Diese Art eines Bebauungsmodells ist für viele andere Teile der Welt von Bedeutung und veranschaulicht, dass eine hohe Dichte auch ohne Hochhäuser erreichbar ist und dass eine höhere Dichte mehr Menschen eine bessere Lebensqualität bieten kann.

Das Modell „Lineares Barcelona“

Bestand mit verkehrsschwachen Straßen, die von einem qualitätsvollen öffentlichen Nahverkehr bedient werden

Kurz- und mittelfristig lassen sich Straßen mit Bäumen, Fahrradwegen und Möbeln aufwerten und erste Neubauten neben den alten errichten. Für die vorhandenen Gebäude können neue Nutzungen gefunden werden

Mittel- bis langfristig kann der Gebäudebestand ersetzt, verdichtet und diversifiziert werden, und zwar in einem Tempo, bei dem die lokalen Unternehmen und die Bewohner Teil der Entwicklung sein können. Mit wachsender Bevölkerung können die öffentlichen Nahverkehrsmittel häufiger verkehren

Fortbewegung und Vorankommen  147

Vielfalt der Straßen Eine Straße für Fußgänger muss nicht nur diesen vorbehalten sein. Straßen, die verschiedene Verkehrsmittel zulassen, können sogar noch lebendiger sein, wenn sich Bewohner als Nachbarn im Verkehr treffen. Mit einer durchdachten Gestaltung können Straßen die Verteilung der verschiedenen Nutzungsarten im Raum besser ausbalancieren. Der Straßenraum kann auch zu bestimmten Zeiten einzelnen Nutzern Priorität einräumen und unterschiedliche Aktivitäten zu verschiedenen Tages-, Wochen- oder Jahreszeiten zulassen.

2,6m

2,8m

3,8m

0,5m

3,8m

2,8m

2,6m

18,9m Vesterbrogade, Kopenhagen, Dänemark Der starke Durchgangsverkehr wurde eingeschränkt, sodass nun Platz für eine große Vielfalt von Nutzern vorhanden ist, mit Fahrstreifen in jeder Richtung und einem schmalen Mittelstreifen. Der fast ebene Mittelstreifen ermöglicht Fahrzeugen auf der anderthalb­ spurigen Fahrbahn das Überholen

88

4,9m

7m

3,2m 26,7m

Kensington High Street, London, England Die Straße wurde mit einem breiten Mittelstreifen für Fahrradstellplätze neu organisiert. Er erleichtert das Überqueren der Straße, setzt ein Signal, wie die Straße zu nutzen ist, und beruhigt den Verkehr. Zuvor waren zwischen Bürgersteig und Fahrbahn Barrieren vorhanden. Seit der Umgestaltung kam es zu weniger Unfällen21

148  Sanfte Stadt

7m

4,6m

2,8m

8,6m

7,4m

3,4m

2,8m

25m Kaiser-Joseph-Straße, Freiburg i. Br., Deutschland Die Straßenbahn führt wie die Hauptradwege durch den Fußgängerbereich. Die Zusammenführung von Straßenbahnen, Fahrrädern und Fußgängern erfordert eine ständige Absprache zwischen den verschiedenen Nutzern

2m

2m

2,2m

7m

9,8m

23m Vester Voldgade, Kopenhagen, Dänemark Ein extra breiter Bürgersteig auf der Sonnenseite der Straße lädt zum Stehenbleiben, Verweilen und Genießen ein, um das angenehme Mikroklima zu nutzen

1,8m

2,4m

2,2m

3,7m

5m

6,5m

4,6m

4,3m

2,2m

2,4m

1,8m

36,9m Sønder Boulevard, Kopenhagen, Dänemark Der Parkstreifen in der Mitte wurde in einen linearen Park umgestaltet im Stil einer Rambla mit Grünflächen und einer Reihe von Außenbereichen für aktive und passive Erholung

Fortbewegung und Vorankommen  149

0,7m

3,1m

0,7m

4,5m Eine Nachbarschaftsstraße in Daikanyama, Tokio, Japan Eine Straße ohne Bürgersteige mit nur einer Oberfläche, eine Art Passage durch den Verkehr; Autos, Fahrräder und Fußgänger ergeben ein ständiges „Ballett“ der Verkehrsteilnehmer

1,9m

4,6m

2,5m

9m Strædet, Kopenhagen, Dänemark Eine Straße mit Vorrang für Fußgänger gestattet Autoverkehr und Fahrräder, aber zu den Bedingungen des gemächlichen Fußgängers

4,5m

7,5m 14,5m

New Road, Brighton, England Großbritanniens erster gemeinsam genutzter Raum, der Fußgänger bevorzugt, aber auch Fahrräder, Autos und Busse zulässt, solange sich diese umsichtig fortbewegen. Foto: Shaw & Shaw

150  Sanfte Stadt

2,5m

6m

7m

6m

19m Tagsüber

6m

7m

6m

Naka-dori-Staße, Tokio, Japan Die Naka-dori-Straße wurde durch breitere Bürgersteige, Straßenbäume, Bänke und Kunst verschönert, wodurch sich ihr Charakter eines Finanzviertels zu dem eines Ortes für Menschen wandelte. Zur Mittagszeit wird die Straße für ein paar Stunden gesperrt, um den Tausenden Büroangestellten des Viertels mehr Raum zu geben

19m Morgens und abends

3m

4m

3m

3m

4m

3m

10m

10m

10m

Morgens in eine Richtung

Die andere Richtung am Nachmittag

Fußgängerbereich zur Mittagszeit und an Feiertagen

Kagurazaka-dori, Tokio, Japan Im belebten Viertel Kagurazaka führt die Hauptstraße morgens in eine Richtung, am Nachmittag läuft der Verkehr in die andere Richtung. Zur Mittagszeit und an Feiertagen wird sie gesperrt

Fortbewegung und Vorankommen  151

TOD (Transit-Oriented Development – am öffentlichen Personennahverkehr ausgerichtete Stadtentwicklung): Hier geht es darum, die Bebauung mit hoher Dichte in der Nähe von öffentlichen Verkehrsknotenpunkten zu konzentrieren, um diese effizient mit anderen Orten zu verbinden

Jede Bewegung zwischen Gebäuden bietet Gelegenheit, die Menschen mit dem Ort, der Erde und den Mitmenschen zu verbinden. Wir sollten die sich überschneidenden und integrierten Mobilitätserfahrungen berücksichtigen, die bei einem Wechsel der Verkehrsmittel Teil einer im Idealfall nahtlosen Route sind: der Gang von der Wohnung zur Straße und unterwegs ein Besuch in einem Geschäft, das Überqueren der Straße und dabei die Interaktion mit anderen Verkehrsarten, das Abstellen des Fahrrades, der Weg vom Bürgersteig zum Radweg, das Warten auf den Bus, das Einsteigen in eine Straßenbahn und das Erleben der Nachbarschaft während der Fortbewegung. Daher erfordert die urbane Mobilität einen ganzheitlichen Ansatz, der ein breites Spektrum von Mobilitätsoptionen im selben Raum beinhaltet. Gleichzeitig ist zu bedenken, wie sich kleinste und kürzeste Fahrten verbinden und in größere und längere überleiten lassen. Die Vielfältigkeit der Mobilität bietet mehr Optionen und erleichtert es, sich unter verschiedenen Umständen fortzubewegen, spontan Pläne zu ändern und hybride oder multimodale Touren zu unternehmen. Wir müssen die Vielfalt der Menschen, die sich fortbewegen wollen, und ihre unterschiedlichen Bedürfnisse und Geschwindigkeiten berücksichtigen. Wir müssen Wege finden, all diese Unterschiede so zu integrieren und zu vereinen, dass nicht nur die aktive Mobilität Priorität erhält, sondern idealerweise auch das alltägliche Fortbewegungsmittel mehr leistet als eine Beförderung von A nach B. Die zwischen Gebäuden in aktiver Mobilität verbrachte Zeit führt zu Kontakten zwischen Menschen in Alltagssituationen. Man sieht andere Menschen und achtet auf ihr Verhalten, sitzt im Bus neben Fremden, hört Gesprächen über unbekannte Themen zu, sieht immer wieder dieselben Menschen, denen man zur Begrüßung zunickt und mit denen sich allmählich eine engere Bekanntschaft entwickelt. Diese zahllosen Erfahrungen und unerwarteten sozialen Möglichkeiten, der wiederholte Kontakt zu Unterschieden, das Zufällige und das Spontane bereichern das tägliche Leben.

152  Sanfte Stadt

Oder NOT (Neighbourhood-­Oriented Transit – an der Nachbarschaft aus­­ gerichteter öffentlicher Personennahverkehr) zielt darauf, Orte besser miteinander zu verbinden und niedrige Bauten mittlerer Dichte in fußläufige Stadtviertel, in den Radverkehr und den bodengebundenen öffentlichen Nah­­ verkehr zu integrieren

Vor allem aber können diese Erfahrungen Verständnis und Toleranz zwischen verschiedenen Menschen aufbauen und den gesellschaftlichen Zusammenhalt fördern. Ähnlich setzt die aktive Mobilität die Menschen tagtäglich der Natur und dem Wechsel der Jahreszeiten aus. Abgesehen von den offensichtlichen gesundheitlichen Vorteilen erhöht die im Freien verbrachte Zeit auch die Fähigkeit, das Wetter zu deuten, von anderen zu lernen, zu sehen, wie sie sich kleiden und verhalten, und so auch besser mit dem Wetter zu leben. Die viel gepriesenen Projekte zu einer am öffentlichen Personennahverkehr ausgerichteten Stadtentwicklung nutzen effiziente Technik, um dicht bebaute Gebiete mit dem öffentlichen Nahverkehr zu erschließen. Auf diese Weise verbinden sie die Menschen effizient mit anderen Orten. Ich denke jedoch, dass die Herausforderung der Mobilität im Grunde darin besteht, die Menschen besser mit dem Ort zu verbinden, an dem sie sich aufhalten. Statt einer am öffentlichen Nahverkehr ausgerichteten Stadtentwicklung brauchen wir einen an der Nachbarschaft ausgerichteten öffentlichen Nahverkehr. Vielleicht geht es letztlich um die Voraussetzungen für Gesundheit und Wohlbefinden – frische Luft, Bewegung und Begegnungen mit Menschen. Einsamkeit und Fettleibigkeit sind Epidemien. Es werden täglich mindestens 10.000 Schritte empfohlen. Jeder Tagesausflug bietet die Chance, mehr zu gehen, länger zu bleiben, draußen mehr zu unternehmen und mehr Zeit mit anderen Menschen zu verbringen. Bei der Mobilität geht es darum, sich fortzubewegen, einander zu verstehen und im Leben voranzukommen.

„Die längste Reise beginnt dort, wo du bist.“ Lao Tzu22

Fortbewegung und Vorankommen  153

Leben schichten

Können wir uns bei unserem Streben nach Nachhaltigkeit und Resilienz im urbanen Umfeld von der Natur inspirieren lassen? In der Natur gibt es Systeme, die Dichte und Vielfalt dauerhaft integrieren und sich als anpassungsfähig erwiesen haben. Ein Wald bedeutet mehr als eine große Gruppe von Bäumen. Er beinhaltet ein komplexes, symbiotisches System, welches das Leben mannigfaltiger Arten verschiedener Größen und Habitate aufrechterhält. Er schafft Lebensraum für eine Vielzahl von Lebensformen – Pflanzen und Mikroorganismen, Insekten, Tiere und Vögel. Wälder gehören zu den artenreichsten Ökosystemen unserer Erde. Charakteristisch für den Wald ist ein ausgeprägtes horizontales System aus geschichtetem Leben. Das Leben am Boden unterscheidet sich von dem im Unterholz und das wiederum von dem in den Baumkronen. Es gibt verschiedene Habitate – dunkle, mit der Erde verbundene, helle, dem Himmel nahe, mehr geschützte Standorte und eher exponierte sowie alle Bereiche dazwischen. Die Schichtung dieser verschiedenen Mikromilieus ermöglicht diversen Lebensformen, am selben Ort zu existieren und sich sogar zu entfalten. Verschiedene Baumarten können nebeneinander wachsen. Jeder Baum schafft sein eigenes Umfeld und Mikroklima. Der Raum zwischen den Bäumen lässt eine einzigartige Umgebung entstehen, ein Produkt aus beiden. Daher ist das Ganze größer als die Summe seiner Einzelteile. Der Wald zeigt uns, dass Vielfalt der Schlüssel zur Nachhaltigkeit ist. Von Bränden, Stürmen oder Schädlingen kann er sich erholen, weil seine einzelnen Bestandteile auf unterschiedliche Weise reagieren können. Auch wenn ein Blitz einschlägt und ein Feuer entfacht oder bei Insekten- und Krankheitsbefall und selbst wenn ein oder zwei Bäume sterben oder eine Art leidet, lebt der Wald als Ganzes weiter. Der Wald demonstriert das Potenzial eines gemeinsamen Standorts verschiedener Elemente und schafft ein System, in dem die Wechselbeziehungen das Leben in den Zwischenräumen gedeihen lassen. Naturwälder und Aufforstungen sind grundverschieden. Nutzpflanzungen verfügen über keine Schichten aus verschiedenen Lebensformen und meist auch nur über eine Baumart. Die Bäume heben sich nicht voneinander ab, das Ganze entspricht der Summe seiner Einzelteile. Der Bedarf an Pestiziden, die höhere Zerstörungsrate bei Stürmen und die strengen Brandschutz- und

156  Sanfte Stadt

Naturwald

Gepflanzter Forst

Hochwasservorkehrungen machen deutlich, dass ein Forst anfälliger ist als der Naturwald. Als ich über die Unterschiede zwischen Naturwäldern und Forsten las, stieß ich auf eine mögliche Parallele in der baulichen Umwelt. Gibt es Städte und Gemeinden mit der Anpassungsfähigkeit von Naturwäldern und andere, die eher anfälligen angepflanzten Wäldern gleichen? Die Schichten verschiedener Lebensbedingungen im traditionellen französischen Wohnblock gleichen denen im Naturwald. Diese Zeichnung zeigt

Leben schichten  157

Der Querschnitt eines Pariser Hauses um 1850 zeigt den in jedem Geschoss unterschiedlichen wirtschaftlichen Status der Mieter (Edmund Texier, Tableau de Paris [Paris 1852])

158  Sanfte Stadt

die funktionale, soziale und wirtschaftliche Vielfalt, die ein Gebäude beherbergen kann. Der Zeichner artikuliert die Schwächen der Gesellschaft, indem er das Innenleben der Stadt und die wirtschaftliche Kluft aufzeigt. Für diese Illustration gibt es jedoch auch eine andere Lesart. Was zählt, ist die gemeinsame Adresse dieser unterschiedlichen Menschen. Sie alle leben unter demselben Dach. Sobald sie ihre Wohnungstür verlassen, sind sie Nachbarn, und sobald sie auf die Straße treten, gehören sie der gleichen Gemeinschaft an und haben Zugang zu den Vorzügen der Stadt in ihrer Nähe. Wenn ein Gebäude diese Vielfalt aufnehmen kann, dann erst recht ein Block, weil sich das Muster wiederholt. Daher können Menschen mit multiplen Fähigkeiten, Bedürfnissen, finanziellen Mitteln und Hintergründen und in diversen Lebensabschnitten als Nachbarn zusammenleben. Bereits lange vor dem Modernismus scheinen die meisten formalen Planungen sich darin zu wiederholen, die bauliche Umwelt ordnen zu wollen, was meistens mit der Trennung von unterschiedlichen Menschen und Nutzungen einhergeht. Im Gegensatz zu den Personen in der französischen Zeichnung wohnen heute Menschen mit ungleichen Einkommensverhältnissen kilometerweit voneinander entfernt. Existiert eine Parallele zwischen dem Naturwald und der traditionellen Stadt oder Gemeinde? Ebenso wie der Wald nicht nur eine große Ansammlung von Bäumen ist, ist die Stadt nicht nur eine große Ansammlung von Gebäuden. In beiden Fällen ist das Ganze größer als die Summe der Einzelteile. Wenn die Stadt gut funktioniert, kann sie auch ein symbiotisches und nachhaltiges System sein, das eine große Lebensvielfalt beherbergt. So wie Bäume können auch Gebäude spezifische und verschiedene Schichten aufweisen – die Erdgeschossebene ist die geschäftigste und konzentrierteste, danach kommen die relativ ruhigen mittleren Geschosse und schließlich der besondere Ort im Dachgeschoss, wo das Gebäude wie die Baumkronen auf den Himmel trifft. Sind die abgetrennten Zonen der modernistischen Planung, die Sozialwohnungen, die bewachten Wohnviertel, die Gewerbegebiete und die Einkaufszentren das urbane Äquivalent zum Forst? Wie das Leben im Wald ist auch das urbane Leben stets im Wandel begriffen. Die durch räumliches Schichten und Nebeneinanderstellen bewirkte lokale Komplexität verhilft der Stadt, sich den ständig verändernden Lebensbedingungen anzupassen und sie einzuverleiben.

Leben schichten  159

Mit dem Wetter leben in Zeiten des Klimawandels

Gründach Wintergarten

Dachterrasse

Fenstertür

Zurückgesetzter Balkon

Mikroklimatische Umschließung Loggia

Erkerfenster

Artenvielfalt Verglaste Loggia Arkade Terrasse

Da zunehmend mehr Menschen in einem sich verdichtenden Umfeld wohnen, wird es immer wichtiger, Zeit im Freien zu verbringen, Naturereignisse zu erleben und zu lernen, mit den Jahreszeiten zu leben. Die tägliche Erfahrung, mit der Natur verbunden zu sein, ist langfristig wesentlich für Gesundheit und Wohlbefinden. Sich draußen aufzuhalten bietet die Chance, andere Menschen zu treffen und Erlebnisse zu teilen. Hierzu ist nicht zwangsläufig ein eigener Garten nötig, aber es sollte ein Zugang zu verschiedenen Außenräumen und Naturerlebnissen bestehen, vom Blumenkasten bis zur Dachterrasse, vom Balkon bis zum öffentlichen Park, vom Straßencafé bis zum von Bäumen gesäumten Boulevard. Solche Räume können die Natur näherbringen und zu mehr Einklang mit dem Wetter führen.

Fensterläden

Balkone

Artenvielfalt

Straßenbäume

Wasserspiele

Verbindung zur Natur Schwimmen im Fluss

Anpassung an den Klimawandel

Im Freien leben lernen

Die nordischen Länder, in denen die Menschen trotz des allgemein raueren Klimas viel Zeit im Freien verbringen, gehören auch zu den führenden Ländern im globalen Kampf gegen den Klimawandel.23 Möglicherweise verstehen und schätzen diejenigen die Natur mehr, die eher mit ihr in Einklang leben. Die Bilder von Kopenhagener Radfahrern im Schnee finden viele Menschen aus milderen Klimazonen schockierend. Was genau motiviert diese Rad fahrenden Wikinger? Die Stadt verfolgt tatsächlich die Strategie, nach einem starken Schneefall zuerst die Radwege zu räumen, sodass das Fahrrad das erste verfügbare Verkehrsmittel ist. Das Wetter wird damit nur zu einem Detail in einer komplexen Lebensgleichung, in der Zeitersparnis wahrscheinlich der wichtigste Faktor ist. Auch Kinder verbringen in den nordischen Ländern das ganze Jahr über beträchtliche Zeit im Freien. Von klein auf lernen sie, sich bei jedem Wetter draußen aufzuhalten, und diese Kultur wird oft bis ins Erwachsenenleben fortgeführt. Städte sollten daher so gestaltet sein, dass sie eine Kultur des Aufenthalts im Freien zu allen Jahreszeiten fördern. In Kopenhagen erhielten die Bürger mit dem Hafenbad auf Islands Brygge die Möglichkeit, im Meer zu baden. Die öffentliche Einrichtung etablierte neue Verhaltensweisen, die normalerweise mit Urlaub und Strandaufenthalten assoziiert werden. Schwimmen, Spielen, Picknicken, Eis essen und Sonnenbaden gehören heute zum urbanen Alltag. Die wirkliche Veränderung bestand in der Entscheidung, das verschmutzte Wasser im Hafenbecken und das belastete Flussbett zu reinigen. In Oslo fährt die U-Bahn, die mit Skihalterungen ausgestattet ist, vom Stadtzentrum direkt zu den Skipisten. Im Sommer führt sie zu den Wanderwegen. Die bequeme direkte Verbindung mit öffentlichen Verkehrsmitteln aus dem städtischen Alltag zu Freizeitaktivitäten im Freien ist ein großer Pluspunkt. Mit dem Wetter leben zu lernen, erfordert Sensibilität für Veränderungen und Respekt vor der Natur. Die Räume, Formen und Details der sanften Stadt können dazu beitragen, den Menschen die Natur mit kleinen und einfachen Mitteln als Teil ihres Alltags näherzubringen.

Kopenhagen, Dänemark: Sommer und Winter 01. Nachdem das Wasser im Hafen gereinigt war, wurde 2002 das Hafenbad im Stadtzentrum von Kopenhagen angelegt – zunächst als temporäre Einrichtung. Da sie sich schnell zu einem beliebten Treffpunkt entwickelte, wurde die Anlage modernisiert und dauerhaft eingerichtet. Später kam eine Sauna hinzu, um eine ganzjährige Nutzung zu ermöglichen 02. Trotz Wind, Regen und gelegentlich Schnee fahren 70 Prozent der Kopenhagener auch im Winter mit dem Fahrrad24

164  Sanfte Stadt

01.

02.

Mit dem Wetter leben  165

01.

02.

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04.

05.

06. 01./02. Badestation in Bogense, Dänemark, verfügt über einen Badesteg, einen Sandstrand, eine Rampe für Rollstühle, einen Holzsteg und eine Treppe. In den Holzbauten sind Umkleideräume, Toiletten und eine Sauna untergebracht. An der Rückseite eines der Häuser befindet sich eine eingelassene Bank, welche die Besucher sorgsam vor den kalten Nordwinden schützt 03./04. Amager Beach Park, Kopenhagen Ein künstlicher Strand soll ganzjährig Besucher und Aktivitäten aufnehmen 05./06. Bern, Schweiz Leichte Dachkonstruktionen verlängern die Saison. Ein altes Fabrikgebäude wurde geöffnet, um einen wettergeschützten Wohnraum für die lokale Gemeinschaft zu schaffen. Ein Restaurant in einem leichten Pavillon über dem Fluss unterstreicht die Verbindung zur Natur

07.

166  Sanfte Stadt

07. Paris, Frankreich Am Ufer der Seine stehen bequeme Loungemöbel als Teil des Stadtstrands „Paris Plages“

Die Sommersaison verlängern: Kopenhagener Café-Kultur

Als Tische und Stühle erstmals auf den Kopenhagener Bürgersteigen auftauchten, ging man von einer kurzen Freiluftsaison aus von nicht mehr als ein paar Monaten. Dänemark hat im Vergleich zu südeuropäischen Städten, in denen Cafés auf den Bürgersteigen üblicher sind, einen kurzen Sommer. Die Café-Besitzer und Kunden in Kopenhagen stellten jedoch fest, dass das Sitzen im Freien auch bei schlechtem Wetter recht angenehm ist. Daher halten viele Cafés Decken und Schirme bereit und einige haben Wärmelampen aufgestellt − was vielleicht weniger nachhaltig ist. Am Anstieg der städtischen Genehmigungen für Straßencafés, der über die Jahre zu verzeichnen ist, sowie der Anzahl von Tischen und Stühlen lässt sich eine Verlängerung der Freiluftsaison ebenfalls ablesen. In Kopenhagens Geschichte der Straßencafés spiegeln sich veränderte Verhaltensweisen durch mehr Freizeit und das erlernte Vermögen, mit dem Wetter zu leben und es optimal zu nutzen.

Anzahl der Kaffeehausstühle in Kopenhagen, Dänemark25 7.820 7.020

4.780

2.970

1986

1995

2005

2015

Mit dem Wetter leben  167

Den Außenbereich ins Haus holen: Natürliches Licht und Belüftung

Die Verbindung zur natürlichen Umwelt und zur freien Natur beginnt bereits in den Gebäuden, da wir dort die meiste Zeit verbringen. Angemessenes, natürliches Licht und frische Luft in Innenräumen wirkt sich erheblich auf unsere Gesundheit und unser Wohlbefinden aus. Natürliches Licht ist nicht zu ersetzen. Die dynamischen Eigenschaften des natürlichen Lichts stimulieren die Augen- und Gehirnfunktion. Natürliches Licht verbessert die Produktivität am Arbeitsplatz und die schulischen Leistungen sowie die Heilung und Genesung in der Gesundheitsfürsorge.26 Natürliche Belüftung und Tageslicht gehören auch zu den zwei augenfälligsten energiesparenden Faktoren, die bei der Planung von Gebäuden zu berücksichtigen sind. Ein Drittel des gesamten Stromverbrauchs in den USA wird für Belichtung, Kühlung, Heizung und Belüftung verbraucht. In der modernistischen Architektur ist es üblich, direktes Sonnenlicht in die Gebäude zu leiten, allerdings sind die Entwürfe häufig sehr eindimensional. Die Methode zur Lichtmessung ist quantitativ und erfasst das Eindringen direkten Sonnenlichts zu bestimmten Tageszeiten – bei Wohngebäuden gewöhnlich zur Mittagszeit. Eine Planung für das Licht zur Mittagszeit ist zu hinterfragen, da sich zu dieser Tageszeit üblicherweise niemand zu Hause aufhält. In manchen Klimazonen ist außerdem ein bedeckter Himmel häufiger als ein wolkenloser Himmel und durch Wolken gefiltertes Licht verhält sich völlig anders als direktes Sonnenlicht. Anforderungen an das Licht sind komplex und unterscheiden sich je nach Tageszeit und Zweck, für den ein Raum gedacht ist. Eine Vielfältigkeit der Licht- und auch Belüftungsbedingungen können verschiedene Aktivitäten in unmittelbarer Nähe zueinander ermöglichen, was in einer dichten, multifunktionalen Umgebung wünschenswert ist. Bei der Belichtung eines Raumes sollte es nicht nur um die Menge, sondern auch um die Qualität des Lichts gehen. Zum Beispiel ist natürliches Licht aus verschiedenen Richtungen sehr wichtig für den Erlebniswert in einem Gebäude. Christopher Alexander unterstreicht dies in A Pattern Language mit dem Muster 159: „Licht auf zwei Seiten eines jeden Raumes“. Die Qualität des Lichts und die menschliche Erfahrung unterscheiden sich deutlich bei komplexerem Licht und beeinflussen die Wahrnehmung von Emotionen und Gesichtsausdrücken.27 Wegen der kleineren Abmessungen bei niedrigeren und schlankeren Gebäuden ist vielfach natürliches Sonnenlicht von zwei Seiten oder sogar von oben möglich. Bei diesen Maßen können Planer für reichliches und hochwertiges Licht sorgen. Verkehrsflächen wie Treppenhäuser, Flure und Gänge lassen sich bei kleineren Gebäuden leichter natürlich belichten und belüften. Ein solches Treppenhaus ist attraktiver, spart Energie und hilft den Nutzern bei ihrer Verbindung zwischen innen und außen. Niedrigere Gebäude haben anteilig mehr Dachgeschoss, sodass über

168  Sanfte Stadt

01. Bern, Schweiz Ein einfaches Flügelfenster lässt sich nach innen klappen, um den Außenbereich hereinzubringen 02. Bern, Schweiz Ein großzügiges Fenster im Treppenhaus dieses Wohnhauses stellt die Verbindung zum Leben draußen her und macht das Treppensteigen zu einer angenehmeren Alternative zum Aufzug. Im Sommer sorgen die Fenster in Kombination mit dem „Kamin“-Effekt des Treppenhauses für eine wirksame natürliche Kühlung 03. Tokio, Japan Ein ­Faltfenster macht das Café zu einem hybriden Innen-außen-Raum

01.

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Oberlichter mehr Räume belichtet werden können. Oberlichter lassen bei gleicher Glasfläche viel mehr Licht herein als normale Fenster. Vertikale Verglasungen sind innerhalb eines Gebäudes nur bis zu einer Tiefe von 6 Metern effizient. Ab 12 Metern ist eine natürliche Belichtung daher begrenzt. Bei kleineren Abmessungen können auch Nebenräume wie Badezimmer, Wandschränke und Abstellräume natürlich belichtet und belüftet werden. Abgesehen von der Energieersparnis ergibt sich für diese Bereiche auch eine höhere Lebensqualität. Allzu oft gibt es höhere und voluminösere Gebäude mit fensterlosen Haupträumen wie Schlafzimmern und Küchen. Natürliche Belüftung ist preiswerter (letztlich kostenlos) als künstliche durch Klimaanlagen, vermeidet unnötige Emissionen und spart Energie. Ein klimatisiertes Haus in den USA produziert zwei Tonnen CO2 pro Jahr. 5 Prozent des gesamten Stromverbrauchs in den USA werden für Klimaanlagen benötigt.28 Natürliche Belüftung ist für die Nutzer leichter zu kontrollieren und verbindet sie besser mit der Außenwelt. Künstliche Belüftung ist teuer in der Installation, der Wartung und im Betrieb. Sie verstärkt Asthma und Allergien und verursacht störenden Lärm. Außerdem empfinden viele Menschen die Kühle klimatisierter Räume als unangenehm.

Kleinere Abmessungen verbessern die natürliche Belichtung und Belüftung und schaffen ein lokales Mikroklima

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Für eine natürliche Belüftung gibt es einige einfache Mittel, die in einem kleineren Gebäude leichter realisierbar sind. Am besten eignet sich die Querlüftung, bei der die Luft auf einer Seite eintritt und auf der gegenüberliegenden austritt. Temperaturunterschiede auf entgegengesetzten Häuserseiten erzeugen Luftbewegungen. Rück- und Vorsprünge in der Fassade, wie Loggien, Erker und Balkone, ergeben Schatten und bewirken einen kleinen, aber bedeutenden Temperaturunterschied, der diese Luftbewegungen unterstützt. Innenhöfe, Terrassen und Lichtschächte führen zu einem Mikroklima, das sich von dem der umgebenden Straßen und Plätze unterscheidet. Der daraus resultierende Temperaturunterschied fördert wiederum die natürliche Belüftung. Eine bessere Luftbewegung kann auch durch eine geschickte Anordnung der Räume im Wohnungsgrundriss, die Position von Türen oder durch mehrere Türen in einem Raum erreicht werden.

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01. Malmö, Schweden Natür­liches Licht von mehr als einer Seite oder von oben erleichtert das Leben in Wohn-, Arbeits- und Geschäftsräumen beträchtlich 02. Tokio, Japan 03. Sydney, Australien

Ein Bürogebäude, in dem sich Fenster öffnen lassen: CH2, Melbourne, Australien

Fotos: Diana Snape

Mit neun Stockwerken ist CH2 in Melbourne etwas höher als ein typisches vier- bis fünfgeschossiges Hochhaus in Europa, jedoch deutlich niedriger als viele der umliegenden Bürotürme. CH2 ist ein Pilotprojekt für Melbournes Plan „Zero Net Emissions by 2020“ (Netto-null-Emissionen bis 2020) und wurde mit vielfältigen nachhaltigen Merkmalen konzipiert, von der Windkraft bis zur Grauwassernutzung. Am beeindruckendsten sind vielleicht die einfachen Details wie Fensterläden, zu öffnende Fenster und zugängliche Balkone auf jeder Etage. Hervorzuheben ist auch die gelungene Ansiedlung einer großen Arbeitsstätte im Central Business District, die mit ihrer Umgebung verschmilzt. Ihr aktives Erdgeschoss mit Geschäften und Restaurants und einer nur kleinen Lobby schafft ein zusammenhängendes Straßenbild. CH2 nutzt die Naturkräfte für eine natürliche Kühlung und Belüftung

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Fenster und Türen

Fenster und Türen stellen wahrscheinlich die bedeutendsten aller architektonischen Elemente dar. Sie bilden Muster auf den Fassaden und lassen Luft und natürliches Licht in die Gebäude gelangen. Fenster und Türen können das Innen und Außen besser verbinden und lassen die Übergänge manchmal verschwimmen. Sie ermuntern uns zum Aufenthalt an den Gebäuderändern und stärken so unsere Beziehung zur Außenwelt. Daher ist der wichtigste Aspekt von Fenstern nicht nur ihr Aussehen, sondern auch ihre Funktion. Es gibt viele traditionelle und zeitgenössische Beispiele für Fenstertypen, die eine bessere Verbindung zwischen dem Außen- und dem Innenbereich herstellen. Vorspringende oder Erkerfenster und verglaste Balkone, die aus der Gebäudefassade auskragen, fangen komplexeres Licht von verschiedenen Seiten ein und bieten zudem eine lohnendere Aussicht auf den Außenbereich. Schichtweise angeordnet – mit Vortüren, Rollläden, Jalousien und Metallgittern – können Türen und Fenster mehr leisten und spontan an die jeweiligen klimatischen oder sozialen Anforderungen angepasst werden. Hohe vertikale Fensteröffnungen, etwa eine Fenstertür, bieten Ausblicke auf drei wichtige Komponenten: den Himmel, den mittleren Bereich der städtischen Umgebung mit Bauten und Bäumen und die Erdgeschossebene, auf der sich Menschen aufhalten. Himmel und Wolken informieren über das Wetter und das ständig wechselnde Licht über die Tageszeit. Bei den Nachbargebäuden leuchten die Fenster in der Nacht und vermitteln die Anwesenheit von Menschen. Im Wind bewegen sich die Blätter der Bäume und zeigen das Wetter und die wechselnden Jahreszeiten an. Die Bewegung der Menschen in der Stadt zu sehen, stellt eine Verbindung zum Alltag her.

Fenstertür – eine vertikale Öffnung, die den Blick in den Himmel, auf die umliegenden Bäume und Gebäude sowie auf die Menschen in der Horizontalebene erlaubt

01. Barcelona, Spanien Dank einer Fensterbank-Bar können Restaurantgäste unmittelbar am Straßenrand sitzen 02. London, England Ein kleines Erkerfenster ermöglicht es den Gästen, bei vollem Tageslicht im Straßenraum zu speisen 03. Córdoba, Spanien Das Gitter über dem Fenster sorgt für eine sanfte Nahtstelle, die es erlaubt, das Fenster offen zu lassen und die Geräusche und Gerüche des Innenraums mit der Straße zu teilen. Ein Rollo und Pflanzen ergänzen die Schichten 04. Luzern, Schweiz Eine großzügige Öffnung in einem Restaurant mit einer ausladenden Fensterbank lädt zum Sitzen ein und bringt ein wenig vom Straßenleben ins Innere 05. Mexiko-Stadt, Mexiko Mittels großer Fenster breitet sich das Café in die Straße aus und schafft dabei einen winzigen Raum um den kleinen Tisch. Nebenan öffnet sich die gesamte Front des Schneiderateliers zur Straße 06. Tokio, Japan Fenster in Wipfelhöhe machen das Treppensteigen in diesem Geschäft zu einem Vergnügen

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07. Malmö, Schweden Ein ­Fenster auf Augenhöhe für ein Schwätzchen unter Nachbarn

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Lösungen, die Licht, Luft und Lärm der urbanen Umgebung filtern: 01. Barcelona, Spanien 02. Lyon, Frankreich 03. Basel, Schweiz 04. Melbourne, Australien 04.

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05. Freiburg i. Br., Deutschland

Ein praktischer und flexibler Filter: Die Edinburgher Haustür

Die traditionelle Eingangstür in Edinburgh, Schottland, kombiniert eine schwere äußere Haustür mit einer leichteren Innentür aus Glas. Dazwischen fungiert ein Windfang als komplexer klimatischer Filter, der auf die unterschiedlichen täglichen Bedürfnisse der Nutzer reagieren kann. Ein thermischer Puffer aus zwei Türen bewirkt eine bessere Isolierung und weniger Wärmeverluste beim Betreten und Verlassen in der kalten Jahreszeit. Der Windfang kann auch Kleidung und Utensilien für draußen aufnehmen, zum Beispiel Regenmäntel, Gummistiefel und Regenschirme, die in regenreichen Gebieten üblich sind. Durch ein Oberlicht über der Haustür gelangt natürliches Licht in den Windfang, selbst bei geschlossener Tür. Die innere Glastür kann gemustertes oder opakes

Glas oder auch einen Vorhang als Sichtschutz aufweisen. Die beiden Türen, eine Lampe und der Vorhang bieten verschiedene Ebenen der Verbindung zur Straße. Die vielfältigen Kombinationsmöglichkeiten der Öffnung von Türen und Vorhang und auch das ein- oder ausgeschaltete Licht beeinflussen das Verhalten auf der Straße. Sowohl die Haustür als auch die Glastür können weit geöffnet, ganz geschlossen, leicht angelehnt, verriegelt oder entriegelt sein und signalisieren so den Grad der Offenheit für Geselligkeit. Der Ausdruck von Offenheit erhöht auch das Sicherheitsempfinden, weil vor allem in der Nacht eine Straße sicherer anmutet, wenn Licht brennt und die Türen offen sind. Ebenso kann ein beleuchteter Windfang den Eindruck erwecken, dass das Haus bewohnt ist, und so die Wahrscheinlichkeit eines Einbruchs verringern.

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Ein intuitiver und reaktionsfähiger Filter zwischen innen und außen: Fensterläden in Barcelona

Das klassische Barcelona-Fenster umfasst eine hohe, vertikale Öffnung, die vom Boden bis zur Decke reicht, und einen schmalen Balkon. Es besteht aus zwei Hauptelementen: einem Paar innerer Glastürflügel, die sich entweder nach innen öffnen oder zur Seite schieben lassen, und einem Paar äußerer Fensterläden. In geöffnetem Zustand beanspruchen die inneren Glastüren keinen Raum und verwandeln das ganze Zimmer in einen virtuellen Balkon, der das großartige Gefühl vermittelt, im Freien zu leben. Das Barcelona-Fenster ist faszinierend, weil es scheinbar endlose Möglichkeiten bietet, zu schützen, abzuschirmen und die Beziehung zwischen innen und außen zu filtern. An der Außenseite lassen sich die beiden Fensterläden zur Hälfte falten, sodass kleinere Paneele mit jeweils zwei oder drei unabhängigen Lamellengrup-

pen entstehen. Die Lamellen lassen sich vollständig zu herkömmlichen massiven Fensterläden schließen oder nach oben, horizontal oder nach unten ausrichten. Dadurch bilden die Fensterläden einen hochkomplexen und anpassungsfähigen Filter zwischen innen und außen, der die Akustik, das Licht, die Luft und die visuelle Beziehung zur Straße regelt. Mit den zahllosen Kombinationsmöglichkeiten von Glastüren und Fensterläden lässt sich die Privatsphäre wahren und gleichzeitig für Licht und Belüftung sorgen. So gesehen stellt das Fenster eine energiesparende Einrichtung dar, die ohne Energieaufwand sowohl eine regelbare Isolierung als auch Kühlung bietet. Das Barcelona-Fenster ist intuitiv und leicht bedienbar. Es reagiert unmittelbar auf die spezifischen und jeweiligen Gegebenheiten und Wünsche des Benutzers.

01. Vier verschiedene Positionen der Glastüren und Fenster­ läden: Die einfache Kombination aus F ­ enstern und faltbaren, mit Lamellen versehenen Fensterläden bietet unendlich viele Möglichkeiten, Licht, Luft und Geräusche zwischen innen und außen zu filtern 02./03. Zwei Eckgebäude in Barcelona bieten höchst unterschiedliche Antworten auf das Klima. Das traditionelle Gebäude mit Fensterläden gestattet den Nutzern im Inneren zahllose und einfache Möglichkeiten. Das moderne Gebäude hingegen ist unflexibel und geht nicht auf die Bedürfnisse des Einzelnen ein 01.

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Die unmittelbare Außenwelt

Auf die Türen und Fenster folgen Vorrichtungen und Räume, die den Aufenthalt am Rand des Gebäudes, unmittelbar im Freien erlauben. Im Erdgeschoss sind dies die Bereiche um die Eingänge sowie nutzbare Hybridräume entlang der Außenränder, etwa Vorbauten, Eingänge, Veranden und Arkaden. In den Obergeschossen gehören Balkone, Loggien, Decks und Dachterrassen dazu. Eines der einfachsten Details, welches das Leben an den Gebäuderändern fördert, ist ein über die Erdgeschosszone hinausragendes Dach. Das klassische Beispiel hierfür bildet das traditionelle japanische Haus mit seinem Dachvorsprung. Es ermöglicht ein Verweilen zwischen innen und außen. Mit einem Vordach oder Überstand steht auch bei Regen oder wechselhaftem Wetter einem Aufenthalt im Freien nichts entgegen. Das Pendeln von drinnen nach draußen entfällt, das Verhältnis zum Wetter entspannt sich. Außerdem lassen sich dort beispielsweise Möbel, Ausrüstung oder Kleidung unterbringen, ohne nass zu werden. Das mag in seiner Einfachheit banal klingen, doch diese Art von Bequemlichkeit macht das Leben zwischen Innen- und Außenräumen im Einklang mit dem Wetter äußerst leicht. Der Rand unmittelbar außerhalb eines Gebäudes auf Erdgeschossebene, nahe einer Eingangstür oder um sie herum, verschafft ein wenig Privatsphäre. So nähern sich öffentliches und privates Leben an und führen zu Begegnungen, die Gemeinschaft herstellen können. Manchmal fehlt ein privater Rand gänzlich. Doch kann er durch einfallsreiche Elemente wie mutig platzierte Topfpflanzen bewohnt oder vereinnahmt werden, sei es auch nur vorübergehend – beispielsweise durch einen Stuhl, der nur bei Bedarf herausgestellt wird.

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01. Tokio, Japan 15 bis 30 Zenti­ meter reichen für einen dreidimensio­nalen Garten an dieser Randzone aus. Beachtenswert sind die Schiebetür und die Bambusabschirmungen zusätzlich zum Bambusrollo und den hängenden Pflanzen, die kombiniert einen sehr individuellen und reaktionsfähigen Filter zwischen innen und außen bilden 02. Sluseholmen, Kopenhagen, Dänemark 90 bis 150 Zenti­­meter bieten Platz für einen Kinder­wagen im Freien oder einen Tisch und Stühle sowie eine Bepflanzung. Die diskrete Abtrennung schafft eine geschützte Wand, und der Wechsel der Oberfläche markiert den Übergang vom Privaten zum Öffentlichen

10 bis 15 Zentimeter Schon 10 bis 15 Zentimeter entlang eines Gebäuderands reichen aus für mehrere Blumentöpfe, einen Aschenbecher oder einen Platz, an dem eine Katze ungestört sitzen kann

15 bis 50 Zentimeter Mit 15 bis 50 Zentimeter besteht Platz für größere Topfpflanzen, ein abgestelltes Fahrrad und vielleicht eine schmale Bank

50 bis 90 Zentimeter 50 bis 90 Zentimeter bieten eventuell Platz für eine schmale Markise oder einen Überstand. Sie schützen vor der Witterung und verschaffen einen kleinen Puffer beim Betreten und Verlassen. Dieser Randbereich dürfte ausreichen, um die Tür einen Spalt offenzulassen oder vielleicht einen Stuhl hinauszustellen

90 bis 150 Zentimeter Bei 90 bis 150 Zentimeter sind eine Pflanzzone möglich, ein kleiner Tisch und ein paar Stühle, Platz zum seitlichen Abstellen des Kinderwagens oder von Fahrrädern

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Bei 150 bis 180 Zentimeter lässt sich ein Tisch mit ­Stühlen rundherum oder eine Chaiselongue unter­ bringen. Je komfortabler der Bereich ausgestattet ist, desto mehr Zeit wird im Freien verbracht und die Nachbarschaft gepflegt

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Einfache Begrünung Am Gebäuderand kann sich auch die Natur entfalten. Flora und Fauna gedeihen auch im städtischen Kontext, wenn das Mikroklima ihr Wachstum fördert und schützt. Ohne auf komplizierte vertikale Begrünungssysteme zurückzugreifen, können einfache Maßnahmen und Details wie Töpfe oder Pflanzgefäße, Drähte, Spaliere und einfache Metall- oder Holzgerüste herkömmliche Gebäude mit viel Grün ausstatten. Bereiche wie Balkone und Außentreppen eignen sich ideal für eine Begrünung. Dadurch werden die Grünflächen einer Stadt ergänzt, was das sensorische Erlebnis steigert. Anstatt nur grauen Beton, Menschen und Verkehr wahrzunehmen, sehen wir Grün, verfolgen die sich mit den Jahreszeiten verändernden Blätter und hören ihr Rauschen im Wind. Für unser Wohlbefinden sind diese natürlichen Elemente wichtig. Eine bescheidene Grünschicht schafft Lebensraum für Insekten und Vögel und fördert das lokale Ökosystem. Diese lebende Schicht verleiht den Gebäuden nicht nur die Schönheit der Natur, sondern trägt auch zu ihrer Isolierung und Kühlung, zur Reinigung der Stadtluft, zur Lärmminderung, zur Privatsphäre und zur Verringerung des Wärmeinseleffekts bei. Die Begrünung kann mit einer Bepflanzung entlang der Gebäuderänder beginnen. Im schwedischen Lund verschaffen lose verlegte Pflastersteine den Anwohnern einen direkten Zugang zu einem Stück Erde, was eine Bepflanzung der Straßenränder ermöglicht. Anwohner können direkt vor ihrem Haus Pflanzen kultivieren und damit die Passanten auf der Straße erfreuen. Gleichzeitig schaffen die Pflanzen einen subtilen Puffer zwischen der Straße und dem Gebäude. Die Straßenrandbepflanzung lässt sich mit kleinen Metallgittern oder Drähten unterstützen, um das Wachstum an der Gebäudefassade zu erleichtern. Die durchlässige Oberfläche der losen Pflastersteine sorgt dafür, dass das Regenwasser langsam einsickern kann, sodass die Pflanzen am Gebäuderand nicht oft gegossen werden müssen. Eine spontane, bescheidene Bepflanzung am Straßenrand erinnert außerdem daran, dass sich unter dem Bürgersteig fruchtbare Erde befindet.

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Die einfachsten Details können die Vegetation in der urbanen Umgebung gedeihen lassen 01./02. Lund, Schweden Wenn die Anwohner die losen Pflastersteine entfernen, können sie den Straßenrand bepflanzen 03. Freiburg i. Br., Deutschland Ein­­fache Drähte an einer Beton­fassade lassen eine zweite „Haut“ aus Vegetation wachsen 04./05. Paris, Frankreich Riesige Pflanzkübel säumen umlaufende Balkone 06. Stockholm, Schweden Efeu bedeckt die gesamte Vorderseite eines Gebäudes 07. Freiburg i. Br., Deutschland Begrünung an den Metallgerüsten von Loggien

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Vorbauten, Veranden und Arkaden Die sehr nützlichen Vorbauten und Veranden liegen bequem vor der Haustür und verfügen über ein eigenes Mikroklima. Der Vorbau ist ein für soziale Aktivitäten ausgelegter Raum im Freien, der zudem als wichtiger Puffer zwischen dem privaten Bereich des Hauses und dem öffentlichen Straßenraum fungiert. Vorbauten und Veranden sind relativ kostengünstige zusätzliche Räume und daher besonders für kleinere Wohnungen von Bedeutung. Sie fördern soziale Begegnungen und bieten die Gelegenheit, mit Menschen auf der Straße in Kontakt zu treten. Der klar abgegrenzte Bereich bewirkt, dass sich Bewohner wie Passanten im Umgang miteinander sehr wohl fühlen. In Nordamerika ist der klassische Vorbau an der Vorderseite eines Wohnhauses ein äußerst wichtiges kulturelles Phänomen, das ein nachbarschaftliches Miteinander ermöglicht. Die vergrößerte, öffentliche Version des Vorbaus oder der Veranda ist die Arkade oder der Säulengang. Abgesehen davon, dass die Arkade im dichten städtischen Umfeld für zusätzlichen Gehwegbereich sorgt, erzeugt diese einfache architektonische Typologie einen geschützten Außenraum, in dem man sich bewegen und aufhalten kann. Sowohl formelle als auch informelle Aktivitäten können hier stattfinden. An heißen, sonnigen Tagen spenden Arkaden Schatten und an stürmischen Tagen schützen sie vor Regen und Wind. Vor allem aber lassen sich Arkaden intuitiv nutzen, um auf verschiedene Weise das Miteinander zu fördern, persönliche Wohlfühlbereiche zu finden, hinein- und hinauszugehen oder sich an die Säulen zu lehnen.

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01. Akaroa, Neuseeland Ein einfaches Dach über dem Bürgersteig vor den Geschäften an der Hauptstraße bietet Schatten und schützt vor Regen. Es erlaubt die Auslage von Waren im Freien und lädt Passanten zum Verweilen ein 02./03. Sydney und Melbourne, Australien Supermärkte öffnen sich und bilden eine ruhige Zone zwischen innen und außen. Ein Café/eine Bar im vorderen, attraktiven Teil des Ladens ermuntert zu einem Besuch und nicht zum Forteilen, wie nach dem Einkauf von Lebensmitteln sonst üblich 04./05. São Paolo, Brasilien Zwei Ansichten eines Cafés mit einem „Vordach“-Raum von innen nach außen und von außen nach innen: Die verglaste Terrasse verschmilzt mit dem Straßenbaum und dem Gehweg. Eine transportable Bank bildet eine Wand zum Bürgersteig, ergibt aber gleichzeitig einen unklaren, weichen Rand mit den kleinen Tischen und den Kunden an diesem Übergang

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Balkone, Loggien und Terrassen Der Vorteil hybrider Räume im Erdgeschoss, wie Vorbauten und Veranden, besteht in ihrer Verbindung mit den Innenräumen, die ein direktes Hinaustreten und wieder Hineingehen erlaubt. In den Obergeschossen sind dieselben Vorzüge mit Terrassen, Balkonen, Decks, Loggien und Dachgärten zu erreichen. Ein unmittelbarer, leichter Zugang erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass er auch genutzt wird. Wegen der größeren Sicherheit in den oberen Etagen können Besitzgegenstände draußen sowie Fenster und Türen offen oder zumindest unverschlossen bleiben. Offene Türen sorgen für Belüftung, sind bequem für Haustiere und spielende Kinder und lassen mehr Spontaneität und Bewegungsfreiheit zwischen innen und außen zu. Außenräume im Obergeschoss gewähren auch mehr Privatsphäre als ihre Pendants im Erdgeschoss; hier kann man sich legerer kleiden und privater verhalten, zum Beispiel Sonnenbaden und Wäsche zum Trocknen aufhängen. Ein weiteres wesentliches Charakteristikum gelungener balkonartiger Räume ist ein gewisser Grad der Abgeschlossenheit, um mehr Privatsphäre zu schaffen und Schutz vor Wind zu bieten. In das Gebäudevolumen eingetieft oder abgeschirmt durch Paravents wird eine räumliche Komplexität geschaffen, die derlei Außenräumen eine wesentlich längere Nutzungsdauer und ein breiteres Nutzungsspektrum beschert. Fensterläden, Jalousien, Schiebetüren und Schirme tragen dazu bei, dass sie zu verschiedenen Zeiten besser auf die Bedürfnisse der Nutzer abgestimmt sind. Bemerkenswert ist jedoch auch, dass öffentliche oder gemeinsam genutzte Außenbereiche in den oberen Geschossen, zum Beispiel Galerien oder umlaufende Balkone (typisch für modernistische Wohnhäuser), deutlich weniger genutzt werden. Vielleicht liegt dies an dem fehlenden Puffer zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten und daran, dass nicht klar zu erkennen ist, wem der Raum gehört.

01. Freiburg i. Br., Deutschland Loggien mit verschiebbaren Fensterläden aus Holz 02. Lyon, Frankreich Eine zusätzliche bewohnbare Fläche an einem Gebäude mit einem verglasten Bereich, dessen Fenster sich sowohl verschieben als auch mit Lüftungslamellen öffnen lassen 03. Malmö, Schweden Verglaste Balkone mit faltbaren, rahmenlosen Glaspaneelen ermöglichen eine Reihe von Varianten, vom Wintergarten bis zum ­vollständig offenen Balkon 04. Malmö, Schweden Eine Kombination aus Erkern und Balkonen schafft vielfältige Möglichkeiten, sich am Gebäude­rand aufzuhalten 05./06. Lyon, Frankreich Loggien mit faltbaren, mit Lamellen versehenen Fensterläden sind mannigfaltig zu öffnen und zu schließen

Hybride Räume – Innen-außen-Räume, die alle einen Zugang zum direkten Ein- und Ausgehen aufweisen

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Maximieren der Innen-/Außenrand-Erfahrung: T-Site, Daikanyama, Tokio, Japan

T-Site ist das Flaggschiff der Buchhandelskette Tsutaya in Tokios schickem Daikanyama-Viertel. Dieses innovative, als „Bibliothek im Wald“ konzipierte Einzelhandelsgeschäft ähnelt einem kleinen Dorf mit niedrigen Pavillongebäuden in einem Landschaftsgarten. Anstatt alles in einem einzigen Innenraum unterzubringen, gibt es neun Pavillons. Die Buchhandlung nimmt drei separate Pavillons ein. Mehrere Eingänge fördern aktiv die ständige Bewegung nach innen und außen. Großformatige Fenster, die nicht von Ladeneinrichtungen oder Regalen verdeckt werden, lassen viel natürliches Licht herein und unterstreichen den Wechsel der Jahreszeiten. Die Buchhandlung verfügt über ein Café und eine Cocktailbar und ist bis 2 Uhr morgens geöffnet. Die anderen sechs Pavillons beherbergen ganz unterschiedliche Aktivitäten: ein Fachgeschäft für Kameras, ein dänisches Geschäft für Lernspielzeug, einen Aus-

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stellungsraum für Elektrofahrräder, einen Anbieter für Haustierdienstleistungen, eine flexible Galerie mit Ausstellungsraum für temporäre Veranstaltungen und eine Bar mit Restaurant. Der Bar-/Restaurant-Pavillon ist in kleinere Abschnitte unterteilt und verfügt über einen überdachten Innen-außen-Bereich für mehr Zeit im Freien. Die Zwischenräume sind reich an Vegetation. Es gibt einen Steingarten, der zum Spielen einlädt, und einen Hundepark, der ebenso viele Zuschauer wie Nutzer hat. Die verschiedenen Nutzungen laden auch andere Zielgruppen als Kunden des Buchhandels ein. Daikanyama T-Site ist viel mehr als eine Buchhandlung. Es ist auch ein Ausflugsziel im Freien, eine Mini-Umgebung, die aktiv zum Leben zwischen den Gebäuden einlädt und die Menschen dazu ermutigt, bei jedem Wetter mehr Zeit im Freien zu verbringen, Unterschiede zu entdecken und zu erleben und sich besser mit den Menschen, dem Ort und der Erde zu verbinden.

Maximieren der Vegetation in 3D: Urbana Villor, Malmö, Schweden

Urbana Villor (Urbane Villen) ist eine Baugemeinschaft. Das Wohnhaus wurde mittels Pflanztrögen auf den Balkonen umgestaltet. Diese bieten eine flexible Oberfläche mit beweglichen Betonplatten über einem verhältnismäßig tiefen, mit Erde gefüllten Beet. Somit lassen sich Pflanzen mit einem tieferen Wurzelsystem setzen. Mit Balkongeländern und einer Außentreppe kombiniert bilden diese Pflanztröge eine regelrechte grüne Wand.

Maximieren der Vegetation in 3D

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Das eigene Wetter schaffen

In den verschiedenen Regionen der Welt herrschen unterschiedliche Klimazonen und Wetterverhältnisse. Daraus ergeben sich auch unterschiedliche Beziehungen zur Außenwelt, mit diversen Kulturen und Verhaltensmustern. In Nordeuropa erscheinen das Einfangen der Sonne und der Schutz vor den vorherrschenden Winden am wichtigsten. In Südeuropa geht es eher darum, Schatten zu finden. In Klimazonen mit größeren jahreszeitlichen Schwankungen könnte eine Kombination dieser räumlichen Qualitäten von Vorteil sein. Der Ansatz der sanften Stadt verfolgt einfache Lösungen, um das Klima zu mäßigen und die Wetterextreme zu reduzieren, damit die Menschen bequem mehr Zeit im Freien verbringen können. Geschützt vor Wind und gelegentlich auch vor der Sonne, haben Räume zwischen Gebäuden ihr eigenes Mikroklima, das sich manchmal deutlich vom Klima der Umgebung unterscheidet. Der geschlossene Raum kann beispielsweise einen Ort bewohnbarer machen und so über längere Zeiträume mehr Aktivitäten im Freien ermöglichen. Vergleichbar ist dies mit einem schützenden Felsbecken, das zu mehr Leben führt, oder mit dem Gedeihen winziger Pflanzen in den Zwischenräumen von Pflastersteinen. In einem ummauerten Garten herrscht eine größere Pflanzenvielfalt als in einer offenen Ebene. Dieses Schutzkonzept lässt sich auf die Stadt übertragen, und der städtische Block kann dabei als großes Felsbecken oder als ummauerter Garten betrachtet werden. Obwohl der städtische Innenhof meist kleiner ausfällt als die ausgedehnten Freiflächen zwischen Wohntürmen und Plattenbauten, können abgeschlossene Freiflächen innerhalb traditioneller Stadtblöcke dennoch wertvoller sein. Diese dichten Räume sind oftmals biodynamisch reicher und vielfältiger. Das mildere Mikroklima eines geschlossenen Blocks lässt eine stärkere Nutzung des Außenraums zu. Mehr Aufenthalt im Freien fördert ein Gefühl von Besitz und der Kontrolle über einen Raum und erhöht zugleich die Wahrscheinlichkeit von Begegnungen mit anderen Menschen, was wiederum der Gemeinschaft dienlich ist. Darüber hinaus ist die räumliche Klarheit des abgeschlossenen Bereichs identitätsstiftend, was ebenfalls eine stärkere Nutzung herbeiführt. Die oft windigen und kühlen offenen Grünanlagen um zahllose Hoch- und Punkthäuser oder Plattenbauten sind weniger begehrte Orte für einen Aufenthalt. Im größeren Maßstab eines ganzen Stadtviertels lässt sich das Wetter durch die Anordnung oder Gruppierung von Blöcken verbessern. Dabei ist unbedingt dafür zu sorgen, dass nicht nur die privaten Bereiche der Innenhöfe, sondern auch die öffentlichen Räume zwischen den Blöcken, die Straßen und Plätze des Viertels ein angenehmes Mikroklima aufweisen. In alten Dörfern, Städten und Gemeinden, insbesondere den mittelalterlich geprägten, deutet ein asymmetrischer Grundriss an, dass das menschliche

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01. Malmö, Schweden Die sonnige Ecke zwischen den mittelhohen Gebäuden ist ein attraktiver Ort für den Aufenthalt im Freien, sowohl auf den privaten Balkonen als auch im öffentlichen Raum 02. Findhorn, Schottland An der Küste schaffen dicht stehende Häuser mit Schrägdach ein angenehmeres Mikroklima in den Zwischenräumen 03. Findhorn, Schottland Die nebeneinanderliegenden Gebäude schaffen eine mikroklimatische Umgebung, die sich zu einem attraktiven Außenraum für den lokalen Pub entwickelt hat 04. Luzern, Schweiz Ein traditionelles, asymmetrisches Straßenlayout mit engen Abmessungen schafft ein besseres Mikroklima für Spaziergänge und Aufenthalte im Freien 05. Breitenrain, Bern, Schweiz Das windgeschützte, sonnige Mikroklima im Innenhof bietet viele Möglichkeiten, sich im Freien aufzuhalten, sowohl auf Balkonen und Loggien als auch auf Bodenniveau, während gleichzeitig die Vegetation gedeihen kann

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­ ohlbefinden dort mehr zählt als ein übersichtlicher Plan. Früher spielte sich das W Leben viel häufiger im Freien ab, und das Mikroklima der Außenräume war von großer Bedeutung. Sowohl in heißen als auch in kalten Klimazonen bevorzugte die regionstypische Bauweise kleinere Räume und schmalere Straßen. Straßen in Nordeuropa, wie die in der Stockholmer Altstadt, haben ähnliche Proportionen wie die im italienischen Neapel, wo man mit einem Schritt in die Sonne und mit einem Schritt zurück in den Schatten gelangt. Ähnlich wurden sowohl in heißen als auch in kalten Ländern Typologien des Innenhofs bevorzugt. Die gemeinsamen Faktoren scheinen Größe und Abgeschlossenheit zu sein, wobei kleinere und geschützte Räume eine größere Nutzungsvielfalt bieten. In Nordeuropa können die Straßen verwinkelt sein, wobei der breitere Teil mehr Sonneneinstrahlung zulässt und der schmalere vor starkem Wind schützt. Die Seitenstraßen sind versetzt, um zu verhindern, dass der Wind hindurchpfeift. Alte Stadtpläne, insbesondere die als „organisch“ zu bezeichnenden, faszinieren mit ihrer Reaktion auf Klima und Topografie und die Vielfalt der geschaffenen Orte. Ihre bei oberflächlicher Betrachtung scheinbare Unordnung erweist sich in Wirklichkeit als reichhaltigere, subtilere Ordnung, die auf das Klima und die unterschiedlichen Bedürfnisse einer Gesellschaft reagiert, die mehr Zeit im Freien verbrachte. Niedrige und mittelhohe Gebäude schützen die Außenbereiche vor Wind und − je nach lokalem Klima − auch vor Sonne, wodurch die Räume besser bewohnbar werden und mittels eines durchgehenden Gebäuderands geschützte Fußgängerwege entstehen. Außerdem lassen sich niedrigere Gebäude leichter natürlich belüften, was sich positiv auf die Gesundheit der Bewohner auswirkt, Energieersparnis für Gebäudenutzer oder -betreiber bringt und der Umwelt dient. Schrägdächer können ein besseres Mikroklima schaffen. Mit ihrer aerodynamischen Form werden Turbulenzen in den Bereichen zwischen den Gebäuden reduziert oder sogar vermieden. Dadurch sind die Außenbereiche angenehmer, weil starke, böige Winde und kältere, kühlere Winde nicht auftreten. Außerdem lassen sich die Fenster zur natürlichen Belüftung leichter öffnen. Bei einem geneigten Dach kann die Sonne den Straßen- und Hofbereich erwärmen und natürlich belichten. Vom Boden aus bietet ein solches Dach einen größeren Blick in den Himmel und erweckt den Eindruck von Weite und Offenheit in der ansonsten bebauten Umgebung. Zweifelsfrei ist ein Schrägdach auch effizienter als ein Flachdach, weil die Schwerkraft das Niederschlagswasser abfließen lässt. Kleinere Volumen wie Nebengebäude und Anbauten schaffen noch kleinere Klimainseln. Sie ermöglichen eine größere Flexibilität und dadurch eine höchst lokale Anpassung an klimatische Anforderungen. Diese einfachen Aspekte – Abgeschlossenheit, asymmetrischer Grundriss, aerodynamische Dachform und geringere Bauvolumen – können in den Zwischenräumen das Mikroklima deutlich verbessern, sodass sich mehr Alltagsleben im Freien abspielt. In der gebauten Umwelt bestehen viele Beispiele dafür, wie durch Stadtgestaltung ein angenehmeres Mikroklima erzielt wurde. Die Südseite des Doms zu Lund, Schweden, erzeugt genau ein solches Mikroklima. Der sonnige Gebäuderand

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Umschließung

Asymmetrisches Layout

Die umschlossenen Räume der Innenhöfe sowie die durchgängig niedrigeren Gebäudehöhen schützen vor Wind, während die niedrigen Höhen die Sonne eindringen lassen

Ein asymmetrischer Grundriss kann Winde stoppen und Räume mit einem angenehmen Mikroklima schaffen. Gleichzeitig bietet die Variation ein interessanteres Raumerlebnis

Schrägdächer

Kleinere Volumen

Die aerodynamische Form von Schrägdächern lässt die Sonne auf die Straße und den Hof scheinen, während sie gleichzeitig den Wind ablenkt, verlangsamt oder stoppt

Nebengebäude und kleinere Volumen tragen zu einem guten lokalen Mikroklima bei

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und der Windschutz durch die Strebepfeiler der Kirche bewirken, dass die dicken Steinmauern die Wärme halten und trocken bleiben. Die Menschen können sich dort zurücklehnen und das ganze Jahr über auf den langen Bänken draußen sitzen. Unweit des Doms, an der nordöstlichen Ecke des Stortorget, dem Hauptplatz von Lund, sitzen die Menschen auch bei Schnee im Freien, da der Platz windgeschützt ist und die Sonne den ganzen Nachmittag einfällt. Diese Ecke ist so beliebt, dass die Stadtverwaltung die herkömmlichen Bänke durch bequemere Sitzgelegenheiten ersetzt hat, eine Geste zur Verbesserung des städtischen Alltagslebens. Je entspannter die Menschen im öffentlichen Raum werden und je mehr Zeit sie dort verbringen, desto mehr Gelegenheiten gibt es, mit Fremden ins Gespräch zu kommen. In Nyhavn, einer Straße am Kopenhagener Hafen, führte die Kombination aus der nach Südwesten orientierten Uferpromenade und einer windgeschützten Klimainsel zu einem der populärsten Außenbereiche der Stadt. Dank einer durchdachten Organisation sind kommerzielle Möglichkeiten und öffentliches Leben gemeinsam präsent. Die Straße gliedert sich in Bereiche zum Spazierengehen und Verweilen, in kommerzielle Zonen mit Tischen und Stühlen unter großen Sonnenschirmen und gelegentlich Heizstrahlern sowie in einen Streifen öffentlichen Raums am Ufer. Aufgrund der vielfältigen Aufenthalts- und Sitzmöglichkeiten können sich in großer Zahl verschiedene Menschen an einem Ort versammeln und gemeinsam die Abendsonne am Wasser genießen.

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01. Nyhavn, Kopenhagen, Dänemark An der Sonnenseite von Nyhavn herrschen die besten mikroklimatischen Bedingun­ gen. Sie werden sowohl gewerblich für die Sitzplätze unter Sonnenschirmen als auch privat für die Aufenthalte am Ufer genutzt 02. Dom zu Lund, Schweden Selbst im Winter (siehe die langen Schatten) ist der nach Süden ausgerichtete Rand der Kathedrale ein angenehmer Ort, um draußen zu sitzen 03./04. Dom zu Lund, Schweden Hinzugekommene bewegliche Hocker/Tische haben den persönlichen Komfort erhöht und eine größere Bandbreite an Aktivitäten erlaubt 05./06. Stortorget, Lund, Schweden Die nordöstliche Ecke des Hauptplatzes in Lund bildet ein sonniges Plätzchen und ist im Sommer wie im Winter ein beliebter Sitzplatz (man beachte den Schnee auf dem Boden)

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Ein angenehmes Mikroklima in einem Neubaugebiet schaffen: Bo01, Malmö, Schweden

Bebauungsdichte Gesamtfläche: Netto-Geschossfläche: Wohnnutzfläche (brutto): Brutto-Geschossflächenzahl: Grundflächenzahl:

Bo01 400 × 400 m 150.000 m2 37.000 m2 0,9 0,23

Wie der Name nahelegt, wurde die Wohnungsbauausstellung Bo01 2001 entwickelt. Schweden hat eine lange Tradition an Bauausstellungen mit dem Ziel, neue technologische Entwicklungen, Experimente, Lifestyle-Trends und Zukunftsvisionen zu präsentieren.

Zugang auf Bodenniveau Baufläche mit ebenerdigem Zugang: Baufläche mit fußläufiger Entfernung zum Erdgeschoss (4. Geschoss oder darunter):

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39 % 83 %

Bei Bo01 handelt es sich vorwiegend um eine Wohnbebauung auf einer isolierten und stark exponierten Brachfläche im Westhafen Malmös. Der Architekt des Masterplans, Klas Tham, schuf ein Viertel, das Dichte und bauliche Vielfalt an einem urbanen Ort mit dörflichem Charakter bietet und eine echte Alternative zum Leben am Stadtrand darstellt. Bo01 hat die räumlichen Qualitäten mittelalterlicher Städte, mit menschlichen Dimensionen und überraschenden und reizvollen Elementen. Aber das Viertel ahmt die Vergangenheit keineswegs nach. Es ist in seinem architektonischen Stil, seiner Konstruktionslogik und mit den eingesetzten Materialien und Technologien völlig zeitgemäß. Klas Tham hat ein Raster entworfen, das man als „durchgeschüttelt“ bezeichnen könnte. Ausgehend von einem klassischen städtischen Raster aus quadratischen oder rechteckigen Blöcken deformierte er den

Grundriss, um dazwischen komplexere Räume zu rea­ lisieren. Die Deformierung reagiert auf das Klima, indem sie den Wind abhält und einladende, vielfältige öffentliche Räume schafft, die zur Sonne ausgerichtet sind. Die rationalen rechteckigen Formen der Blöcke entsprechen den Materialien und Komponenten, die zum Bau verwendet wurden, sowie den Einrichtungsgegenständen und den Möbeln der fertigen Gebäude. Das geschüttelte Raster behält diese rechteckigen Formen für die Bauten bei und stellt eine wirtschaftliche Grundlage des Bauens und Wohnens sicher. Die Baudurchführung basiert auf der Standardisierung, wobei der rechte Winkel und das Rechteck als Grundlage dienen. Die Herstellung unregelmäßiger Formen in Gebäuden ist teuer und zeitaufwendig. Daher war dieser standardisierte Ansatz ein wesentlicher Faktor dafür, dass der Plan zu erschwinglicheren Gebäuden führte.

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Dabei ist es ziemlich einfach und preiswert, mit der Geometrie von Zwischenräumen zu spielen. Pflanzbeete, Gras, Kies, Asphalt und sogar die meisten Pflasterungen lassen sich leicht an unregelmäßige Formen anpassen. Anders als bei Gebäuden müssen Landschaftsflächen mit Bepflanzung, Gras oder Pflaster nicht perfekt oder wasserdicht sein. Was manche als Unordnung abtun, beschreibt Tham als reichhaltigere Ordnung. Parzellenbasierter Urbanismus Die bereits kleinen Blöcke wurden in jeweils zwei oder drei Parzellen unterteilt. Auf jedem Grundstück erfolgte die Bebauung mit einem anderen Bauträger und Architektur- und Landschaftsplanungsbüro, sodass innerhalb eines Blocks eine Vielzahl von Wohnformen vorhanden ist. Anfangs war bei den Bauträgern das Nebeneinander unbeliebt; Berichten zufolge herrschte ein ungewöhnlich starker Wettbewerb zwischen ihnen, als sie gezwungen waren, Seite an Seite zu arbeiten. Es gibt eine gemischte Flächennutzung mit einer Ansammlung von Nichtwohnnutzungen im Erdgeschoss an den wichtigsten Ecken. Außerdem verfügen die Erdgeschossräume der äußeren Gebäudekrusten über höhere Decken (mindestens 3,5 Meter), damit in Zukunft Gewerbenutzungen möglich sind. Vorhanden sind mehrere Wohntypen, sowohl Häuser als auch Wohnungen, in verschiedenen Größen und in deutlich unterschiedlichen Baustilen. Zwischen Vorderund Rückseiten herrscht eine klare Ordnung, und alle Gebäude weisen Vorder- und Hintertüren auf, sodass

Das geschüttelte Raster Der Grundriss von Bo01 ist ein modifiziertes Raster, das Abwechslung und ein gutes Mikroklima schafft

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Zen-view: Die Kombination aus einer äußeren Schale aus Gebäuden und den kleineren Volumina im Inneren schufen eine klimatisch geschützte Innenwelt mit nur einem flüchtigen Blick auf das Meer

mehrere Zugangsmöglichkeiten bestehen. Nicht alle Blöcke sind vollständig von Gebäuden umschlossen. Wo Gebäude fehlen, existieren Mauern oder Tore, um die Privatsphäre der Bewohner zu wahren. Neben den Gemeinschaftsgärten besitzen alle Häuser und die meisten Erdgeschosswohnungen auch private Gartenflächen. In den obersten Geschossen liegen Penthouse-Wohnungen mit begrünten Dachterrassen in direkter Verbindung zu den Innenräumen sowie frei geformten turmartigen Vorsprüngen. Neben den diversen privaten Außenbereichen sind die Blöcke auch mit öffentlichen Räumen verbunden: mit der großen Uferpromenade im Westen, den kleinen Plätzen mit ihren Wasserspielen, den lokalen Straßen und den Gässchen. Auf diese Weise entsteht auf kleinstem Raum und in unmittelbarer Nähe eine außergewöhnliche räumliche Vielfalt für unterschiedliche Aktivitäten in ganz verschiedenen Atmosphären.

Bewegung und Verhalten Der Grundriss von Bo01 schafft eine klare Raumhierarchie, wobei öffentliche Flächen in großzügigeren Bereichen an den Außenrändern und kleinere, intimere Räume im Inneren untergebracht sind. Die relativ kleinen Blöcke von etwa 50 mal 50 Metern bilden ein Raster mit einer Vielzahl von Kreuzungen, das zum Gehen animiert. Eine sich ständig verändernde urbane Szene weckt die Neugier, sodass sich der Entdecker fragt, was ihn hinter der nächsten Ecke erwartet. Das Blocklayout bestimmt auch die Bewegungsarten, da nicht alle Öffnungen breit genug für Autos sind und daher viele Abkürzungen für Fußgänger existieren. Fußgänger verhalten sich hier anders, weil der geringe Autoverkehr ihnen ein Gefühl der Sicherheit vermittelt. Interessanterweise gehen die Menschen hier eher in der Mitte der Straßen und schmiegen sich nicht an die Gebäudeseiten – sie haben das Gefühl, dass die Straßen ihnen gehören, und genießen die Räume eindeutig mehr.

Obwohl in den meisten Teilen von Bo01 Autoverkehr erlaubt ist, gibt es viele andere sinnvollere Alternativen. 40  Prozent der Einwohner gehen zu Fuß oder fahren mit dem Fahrrad zur Schule oder zur Arbeit, und für 30 Prozent aller Wege wird das Fahrrad genutzt. Die nächste Bushaltestelle ist höchstens 500 Meter entfernt. Die Bewohner gehen insgesamt mehr zu Fuß oder nehmen das Fahrrad und fahren weniger mit dem Auto als im Stadtzentrum.

Die fußgängerfreundlichen Straßen von Bo01 sind ein beliebtes Ziel für die örtlichen Kindergärten

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01.

Attraktive und nützliche Freiräume Für die Gestaltung attraktiver und praktischer Freiräume in dieser so nah am Meer gelegenen Region ist das Mikroklima ein zentraler Aspekt. Doch gewährleistet der Masterplan darüber hinaus auch ein breites Spektrum an Raumerfahrungen, mit unterschiedlichen Räumen und Außenbereichen, von ganz privat und intim bis zu öffentlich. Der öffentliche Raum hat einen großen Anteil am Erfolg von Bo01, von den größeren Parks im Stadtgebiet bis zu den vielen kleinen Plätzen in der Nachbarschaft. Bo01 ist vom öffentlichen Raum regelrecht eingerahmt. Im Westen liegen das Meer und die Uferpromenade (Sundspromenaden) sowie der grüne Erholungspark Daniaparken und im Osten der Ankarparken mit seinem Kanal zum Meer. Diese zwei wichtigen öffentlichen Seiten bedeuten, dass es keine unerwünschte Rückseite gibt. In beiden Bereichen herrscht ein anderes Mikro-

klima. Die Uferpromenade bietet eine weite Aussicht, die viele Menschen anlockt, um die Abendsonne zu sehen. Hier weht zuweilen ein starker Seewind, der die Aktivitäten bei bestimmten Wetterlagen einschränkt. Der Park am Kanal ist eher windstill, hat ein berechenbareres Klima und ist ein ruhigerer und entspannterer Ort. Diese beiden Räume ergänzen sich gegenseitig, und ihre inhärenten Unterschiede bieten den Bewohnern die Wahl, wo sie sich lieber aufhalten möchten.

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01. Die Ansicht der Sundspromenaden zeigt die Aneinanderreihung einzelner Gebäude zu einer Straße. Collage: Sotaro Miyatake 02.–04. Auffallend ist, dass die Bewohner ihre Türen offenstehen lassen und ihre persönlichen Gegenstände auf der Straße ausbreiten. Dies zeugt von einer Freiluftkultur und einem gewissen Vertrauen, das wir eher mit einem alten Dorf als mit einer relativ neuen urbanen Siedlung assoziieren würden 05. Eine Pergola in einem der kleinen öffentlichen Bereiche

Eine grüne Nachbarschaft Bei Bo01 enthielt der Plan einen sogenannten Grünflächenfaktor, der die Vorteile von Elementen zur Förderung der Artenvielfalt berücksichtigt. So wie jedes Grundstück einen anderen Gebäudearchitekten hatte, so hatte auch jedes Grundstück einen anderen Landschaftsarchitekten, um vielfältige Lösungen zu gewährleisten. Die Bauherren und ihre Planer verwendeten für jeden Standort ein Punktesystem, das eine Vielzahl von Lösungen für den Grünbedarf in der Umgebung ihrer Gebäude ermöglichte. Punkte erhielten große Bäume und Sträucher, Grünflächen und Pflanzbeete, Begrünungen von Mauern, etwa mit Schling- und Kletterpflanzen, und Dächern, etwa mit Sedum, sowie Wasserflächen wie Teiche und andere Wasserspiele. Die Liste umfasste 35 umfangreiche Umweltmaßnahmen, von denen mindestens 10 in jedem Wohnhof umzusetzen waren.

Grüne Punkte wurden außerdem vergeben für Vogelnistkästen an den Wohnungen und einen Fledermauskasten auf jedem Grundstück, die Verwilderung eines Teils des Hofgartens, das Anpflanzen von 50 einheimischen Wildblumenarten, Gründächer und für Systeme zum Auffangen und Wiederverwenden von Regenwasser. Dieser Grünflächenfaktor soll gegebenenfalls auch in der Stadt Malmö angewendet werden. Ähnliche Grünflächenfaktoren kamen in deutschen Städten wie Berlin und Seattle in den USA zum Tragen. Immer mehr Städte erwägen ein solches Vorgehen, um dem Bedarf an Grünflächen und Artenvielfalt auf dynamischere Weise zu begegnen.

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Angenehmes Mikroklima Bo01 befindet sich in einer extrem exponierten Lage am Öresund. Der Standort bietet spektakuläre Aussichten und einen direkten Zugang zum Wasser. Damit die Bewohner möglichst viel Zeit im Freien verbringen können, musste ein angenehmes und komfortables Mikroklima geschaffen werden. Zum wirksamen Schutz der Siedlung vor dem Wind wurde daher eine äußere Hülle aus mittelhohen (vierbis sechsstöckigen) Gebäuden errichtet. Im Inneren sind die Bauten mit ein bis drei Geschossen niedriger. Um den Wind abzulenken und die Sonne tiefer in die Außenbereiche zu leiten, verfügen sie entweder über Schrägdächer oder zurückgesetzte Obergeschosse. Die Blöcke bilden Innenhöfe mit eigenem geschütztem Mikroklima. Stellenweise sind die geschlossenen Blöcke unterbrochen, damit Sonne und Licht in die Zwischenräume gelangen. Im Grundriss verlaufen die Blöcke schräg, verengen sich an einigen Stellen, um den Wind abzuhalten, und

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verbreitern sich zu sonnigen Plätzen im öffentlichen Raum. Die Blöcke gliedern sich in kleinere rechteckige Elemente und ergeben so versetzte Gassen und Zickzacköffnungen, damit kein Wind eindringen kann. Diese Maßnahme zugunsten des Mikroklimas war wichtig, um das Zufußgehen und den Aufenthalt im Freien zu fördern. Um die tatsächliche Wirkung des Layouts von Bo01 zu untersuchen, führte Henning Larsen eine Studie zum Mikroklima durch. Sie zeigt deutlich, dass die starken Westwinde abgehalten werden und das Innere des Viertels geschützt wird. An einem Märztag mit Durchschnittstemperaturen um 9 Grad Celsius herrschen in vielen Straßen und Räumen zwischen den Gebäuden angenehme Temperaturen von 16 bis 18 Grad Celsius. Die gefühlte Temperatur liegt stellenweise sogar bei 21 Grad Celsius. Trotz der Lage am Meer mit vorherrschenden Winden aus West bis Südwest29 weist der überwiegende Teil der Siedlung höhere Temperaturen auf als die Umgebung. Integrierte Komplexität Der Plan erzeugt Komplexität innerhalb der Komplexität. Beispielsweise ist einer der Eckblöcke in vier separate Grundstücke unterteilt, die von unterschied-

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Studie zum Mikroklima, Bo01, von Henning Larsen: Die Studie zeigt, wie der Grundriss Schutz vor den vorherrschenden Westwinden bietet, was an einem Märztag zu Temperaturunterschieden zwischen 8 und 21 Grad Celsius führt30

lichen Bauträgern bebaut und jeweils als Einzelprojekt verschiedener Architekten und Landschaftsarchitekten gestaltet wurden. Im Eckgebäude nimmt das Erdgeschoss ein Café-Restaurant auf. Das mittlere Gebäude beherbergt im Erdgeschoss ein Büro und einen Friseursalon. Auf der westlichen und nördlichen Seite (der äußeren Hülle) liegen Wohnungen mit Meerblick, während sich im Inneren, im Osten und Süden, Reihen- und Doppelhäuser befinden. Der Maßstab reicht von eineinhalb bis sechseinhalb Geschossen, wobei der Durchschnitt bei etwa dreieinhalb bis vier Etagen liegt. Es ist bemerkenswert, dass sich eine Doppelhaushälfte und eine städtische Caféterrasse zusammen im selben Block befinden können. Der Plan ermöglicht die gemeinsame Präsenz höchst unterschiedlicher räumlicher Bedingungen am selben Ort. Ein weiteres erwähnenswertes Detail ist die Vielfalt an Außenbereichen, die ein kleines Haus bietet: Die Doppelhaushälfte verfügt über einen eigenen, ummauerten Garten,

eine eigene Dachterrasse sowie einen Zugang zu einem großen Gemeinschaftsgarten mit einer ausgedehnten Rasenfläche, der mit anderen Nachbarn geteilt wird. Zusätzlich zu diesen privaten und gemeinsamen Bereichen existiert direkt vor der Haustür ein kleiner Platz mit einem Wasserspiel und einer Pergola. Von hier aus werden auch mehrere öffentliche Plätze und das Meer erschlossen, die alle nur wenige Gehminuten entfernt liegen. Bo01 als Impulsgeber Bo01 ist ein Impulsgeber für die Planung von Stadtvierteln gewesen, weil damit ein Wohngebiet entstand, das einen lebendigen Teil der Stadt ausmacht und in dem viele öffentliche Räume von Besuchern und Bewohnern gemeinsam genutzt werden. In einer Region mit relativ preiswerten, vorstädtischen Einfamilienhäusern und einer ausgeprägten Kultur des Autofahrens war es ein großer Durchbruch, ein urbaneres Umfeld für ehemalige Villenbewohner und Familien mit Kindern attraktiv zu machen. Bo01 überzeugte sie, dass eine hohe Lebensqualität ohne Auto und in unmittelbarer Nähe zu anderen möglich ist.

Der Block ist in vier separate Parzellen aufgeteilt, jede rechtlich selbstständig mit einem anderen Bauträger, Architekten und Landschaftsarchitekten

02. Die Doppelhaushälfte ist Teil einer kleinen Wohnbebauung, zu der auch das größere Apartmenthaus gehört. Die Bewohner haben draußen die Wahl zwischen einer privaten Dachterrasse auf der Vorderseite und einem privaten Garten auf der Rückseite, einer gemeinsamen Rasenfläche sowie einem kleinen öffentlichen Platz direkt vor der Haustür

01. Die vielen geschützten sonnigen Ecken ermuntern dazu, mehr Zeit im Freien zu verbringen 02. Im Stadtviertel ist das Baden im Meer beliebt. Die Bewohner sind häufig in ihren Bademänteln zu sehen, was zusätzlich zur Privatheit des Viertels beiträgt

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Die Natur in die Stadt bringen Biophilie bezeichnet die Naturverbundenheit des Menschen. Begegnungen mit der Natur bringen viele gesundheitliche Vorteile mit sich. Internationale Forschungen haben die heilende Wirkung des Anblicks von Bäumen für Krankenhauspatienten nachgewiesen, und die japanische Praxis des Waldbadens wird immer bekannter. Nicht immer findet sich eine natürliche Landschaft in der Nähe, mit der eine Verbindung eingegangen werden kann. Daher müssen das Naturerlebnis oder wenigstens starke Naturelemente in die Stadt gebracht werden. Grün und Wasser lassen sich auf vielfältige Weise in die urbane Umgebung zurückholen. Obwohl Vegetation für die Verbesserung der Umwelt in städtischen Gebieten wahrscheinlich das wichtigste Naturelement ist, mag Wasser vielleicht von noch größerer Bedeutung sein. Die intensivsten sensorischen Erfahrungen werden mit Wasser, insbesondere fließendem, assoziiert, mit Geräuschen, Bewegung und Reflexion.

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01. Mariatorget, Stockholm, Schweden In Mariatorget, einem beliebten, zentral gelegenen Park, wurden die vorhandenen natürlichen Geräusche verstärkt. Das Rauschen der Blätter an den Bäumen und das Plätschern des Wassers in den Springbrunnen wurden über kleine Lautsprecher verstärkt und übertönen den Verkehrslärm 02. Basel, Schweiz In dem Maße, in dem sich die heutigen Bürger mit dem urbanen Leben anfreunden und eine entspanntere Einstellung zur Nutzung des öffentlichen Raums entwickeln, können alte Infrastrukturen, Möbel und Ausstattungen auf neue Weise genutzt werden, so wie die Kinder in Basel einen historischen Brunnen vor einer Kirche als Minischwimmbad nutzen

Dichte und Vielfalt von Nutzungen und Nutzer: Bryant Park, New York

Ein Beispiel für Natur in einem sehr urbanen Kontext und daher besonders erwähnenswert ist der Bryant Park in New York. Angeregt von William Whyte, machten bewegliche Stühle eine der wichtigsten Designentscheidungen aus. Sie erlauben den Nutzern, dort zu sitzen, wo und in welcher Ausrichtung sie wollen. Der Bryant Park war einer der ersten öffentlichen Parks in den USA, in dem Stühle und Tische im Café-Stil für die Öffentlichkeit zur Verfügung standen ohne Kauf- oder Verzehrzwang. Hier darf das eigene Picknick mitgebracht werden und es entstehen Synergien mit den umliegenden Geschäften. Eine weitere wichtige gestalterische Entscheidung war das Absenken des Bodenniveaus im Park, sodass er fast auf gleicher Ebene mit den angrenzenden Gehwegen liegt. Die Beseitigung von Hecken und Zäunen machte den Park transparent und vollständig zugänglich.

Es gibt unterschiedlich dimensionierte Räume für Einzelpersonen, Paare oder Gruppen, belebte oder ruhigere Ecken und ein flexibles Angebot an Veranstaltungen und Events, darunter Open-Air-Kino und Live-Sportübertragungen, saisonale Einkaufsmöglichkeiten, eine Schlittschuhbahn im Winter, ein OpenAir-Lesesaal (eine Tradition, die auf das Jahr 1935 zurückgeht), Boule, Tischtennis, Brettspiele, Kunstkurse und ein Karussell. Der Bryant Park zeichnet sich durch seine Dichte und Vielfalt aus und lädt die verschiedensten Menschen dazu ein, ihre Zeit im Freien zu verbringen und dabei diverse Aktivitäten auszuüben – vom Arbeiten am Laptop oder Lesen bis hin zu Yoga und Linedancing. Der Park bietet ein hohes Maß an Service, einschließlich Essens- und Getränkeoptionen, saubere öffentliche Toiletten und kostenloses Internet.

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Ein kleiner Wasserlauf mit großer Wirkung: Bächle, Freiburg im Breisgau, Deutschland

In Freiburg verlaufen kleine und flache Wasserkanäle durch die Straßen des mittelalterlichen Stadtkerns, die ein historisches System von kleinen Bächen neu interpretieren. Diese Bächle sind 20 bis 50 Zentimeter breit und 5 bis10 Zentimeter tief. Die Wasserläufe haben mehrere Funktionen: Sie kühlen und reinigen, trennen Fußgänger von Straßenbahnen oder definieren eine Zone zum Sitzen und Verweilen. Sie reflektieren ein tänzelndes Licht in den schmalen, dunklen Straßen. Und vor allem verwandeln sie die Straßen in einen riesigen Spielplatz, der Kinder aller Altersgruppen zum Schiffchenfahren und Planschen auffordert. Diese kleine Besonderheit hat weitreichende Folgen, da die Straßen durch die Erhöhung der Nutzungsintensität mehr leisten können. Die Bächle verhelfen zum Gleichgewicht zwischen Erholung (Verweilen, Sitzen und Spielen) und Funktion (multimodale Verkehrskorridore).

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Ein heiterer Platz vor dem Parlament: Bundesplatz, Bern, Schweiz

Der Bundesplatz ist einer der am intensivsten genutzten Plätze Berns, auf dem das ganze Jahr über Märkte, Vorführungen und kulturelle Veranstaltungen stattfinden. Seine verspielten Fontänen beleben den Platz zusätzlich und erhöhen Kapazität und Nutzung, wenn es zum Beispiel Zeit zu überbrücken gilt. Die Einrichtung eines Spielplatzes unmittelbar vor dem Parlament löste eine heftige Debatte darüber aus, ob es angemessen sei, wenn kleine Kinder spärlich bekleidet vor dem wichtigsten Regierungsgebäude des Landes herumlaufen. Schließlich erkannte man jedoch, dass die Unschuld in Sicherheit spielender Kinder inmitten der Stadt die beste Erinnerung an jene Grundwerte ist, die das Parlament repräsentiert. Obwohl Bern einen Fluss und viele weitere Wasserspiele hat, verwandelt die Einfachheit und Zugänglichkeit der Fontänen einen versiegelten, formalen Raum in einen heiteren Ort für soziale und sensitive Erfahrungen.

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Straßenbäume Das Anpflanzen von Straßenbäumen ist eine der wichtigsten Maßnahmen zur Verbesserung der urbanen Umgebung. Über das Wirken der ihnen eigenen Schönheit hinaus optimieren sie das Erscheinungsbild, die Atmosphäre und die Leistungsfähigkeit städtischer Räume. Bäume verändern das Klima von Straßen und ganzen Städten, indem sie Straßenoberflächen und Gebäude vor Sonne und Wind schützen. Es wird angenehmer, sich im Freien auf dem Gehweg aufzuhalten, und leichter, sich zu Fuß oder mit dem Fahrrad fortzubewegen oder auf den Nahverkehr zu warten. Daher kommt Bäumen bei der Förderung der aktiven Mobilität eine wichtige Rolle zu. Bäume sind mehr als nur Begrünung. Durch Beschattung, Reflexion, Verdunstungskühlung und Evapotranspiration tragen sie zur Verringerung des Wärmeinseleffekts bei, der viele städtische Gebiete belastet. Bäume dienen als Sichtschutz in dicht bebauten Gebieten. Sie filtern starkes Sonnenlicht, verringern die Blendwirkung und können als Lichtreflektoren wirken, die ein dynamisches, „tänzelndes“ Licht in die Gebäude werfen. Mit ihren Geräuschen, Gerüchen und Bewegungen bieten sie den Passanten ein äußerst wichtiges sensorisches Erlebnis. Ihr sich ständig veränderndes Aussehen vermittelt ein Bewusstsein für die Jahreszeiten und das Vergehen der Zeit und verwandelt Straßen in lineare Parks. Bäume absorbieren Kohlenstoffdioxid. Da Städte den meisten Kohlenstoffdioxid produzieren, sollten Bäume dort gepflanzt werden, wo das Problem entsteht und wo die Menschen am meisten gefährdet sind. Bäume sind natürliche Luftfilter, die Staub und andere Partikel in der Luft binden, indem diese auf ihren Blättern und in ihrer Rinde eingeschlossen werden. Außerdem absorbieren sie unangenehme Gerüche und schädliche Gase wie Ammoniak, Schwefel und Stickoxide. Dies ist besonders wichtig im Hinblick auf die Emissionen von Kraftfahrzeugen.

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01. Sydney, Australien Straßenbäume in einem Wohngebiet schaffen eine intime Atmosphäre, verbessern die Bedingungen für Fußgänger und verbinden die Menschen mit den wechselnden Jahreszeiten 02. Havanna, Kuba Straßenbäume bilden eine Überdachung und schaffen einen Außenbereich mit mildem Klima für Spaziergänge und zum Verweilen

Den Klimawandel angehen: Urbane Waldstrategie, Melbourne, Australien

Foto: David Hanna

Die Stadt Melbourne hat die große Bedeutung erkannt, die Bäumen für die Gesundheit, bei der Beseitigung von Umweltverschmutzungen, der Verringerung des Wärmeinseleffekts sowie der Beschattung der Bürgersteige zukommt. Die Anpflanzung eines Stadtwaldes ist Teil ihrer Strategie, den Auswirkungen des Klimawandels, des Bevölkerungswachstums und der städtischen Erwärmung gerecht zu werden, die Bausubstanz, Dienstleistungen und die Menschen in der Stadt betreffen. „Ein gesunder Stadtwald wird für die Aufrechterhaltung der Gesundheit und Lebensqualität in Melbourne entscheidend sein.“31 Die konkreten Ziele der städtischen Waldstrategie von Melbourne umfassen die Erhöhung der Baumkronenbedeckung von 22 auf 40 Prozent bis 2040 und eine größere Baumvielfalt. Außerdem soll über die Bedeutung von Bäumen für die Gemeinschaft informiert und aufgeklärt werden.

Baum Baumschutzgitter Verzinktes Baumgrubengestell mit Abdeckung Bordsteinöffnung aus Blaustein mit Ausschnitt zur Überleitung des Wassers von der Rinne zur Baumgrube Stahlgitterrost als Einlauf Filterschicht – mind. 450 mm „zugelassene schnell entwässernde Erde“ Zwischenschicht – 100 mm „zugelassener Drainagesand“ Drainageschicht – 100 mm „zugelassener Kies“ Anschluss Hart-PVC-Rohr an Regenwasserkanal Ein speziell für den Bürgersteig entwickelter Pflanzkübel fängt das Regenwasser auf und filtert es zur Bewässerung der Bäume

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Mit der vorhandenen Natur vernetzen Fast jede Stadt oder Gemeinde verfügt über einige natürliche Reize, sei es Wasser, die Topografie oder die Aussicht. Die Art und Weise, wie ein Ort mit seinen Vorzügen verbunden ist und selbst bescheidene Reize betont, beeinflusst die Dauer der im Freien verbrachten Zeit erheblich. Verschiedene Maßnahmen können dazu anregen, sich draußen aufzuhalten und der Natur zu begegnen, die eigene Komfortzone zu erweitern mit Erfahrungen, die einfach zugänglich sind, Spaß machen und Freude bereiten. Beispielsweise könnten Gebäude mit Blick auf die Natur ausgerichtet, ein natürlicher Wasserlauf freigelegt, Straßenbäume gepflanzt und Mikrohabitate zum Blühen gebracht oder einfach vor einem Café Stühle aufgestellt werden, damit die Menschen in der Sonne sitzen können. Alle Begegnungen mit der Natur, ob großartiges Bergpanorama oder zartes Vogelgezwitscher, sind bedeutsam und vermitteln uns ein Bewusstsein für den Kreislauf des Lebens. Sich der Natur bewusst zu sein, ist der erste Schritt, um sie zu verstehen, um zu lernen, sich an die Umwelt anzupassen und mit ihr zu leben. Der einfachste Weg, um Mensch und Natur zu verbinden, ist, bereits Vorhandenes leicht zugänglich zu machen. In Freiburg im Breisgau fließt die Dreisam außerhalb des mittelalterlichen Stadtkerns. In den Sommermonaten sitzen die Menschen auf den Steinen im Fluss und genießen die kühlende Wirkung und den Schatten der Bäume am Flussufer. Die Felsen bilden eine informelle Sitzlandschaft, die Begegnungen mit anderen Menschen sowie mit der Natur ermöglicht. Selbst eine kleine Wasserfläche von wenigen Zentimetern Tiefe, wie der Bach im Zentrum von Kyoto, Japan, kann eine starke Präsenz haben. Die immense Bedeutung und den Wert des Wassers hat man in Städten wie Aarhus in Dänemark und der südkoreanischen Hauptstadt Seoul erkannt. Unter erheblichen Anstrengungen wurden die zuvor unter Straßen verborgenen Flüsse wieder zugänglich gemacht. Das Ergebnis dieser Bemühungen hat das Verhalten der Menschen grundlegend verändert und dazu geführt, dass sie wesentlich mehr Zeit im Freien verbringen.

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01. Freiburg i. Br., Deutschland Der Freiburger Fluss Dreisam unmittelbar vor dem Stadt­ zentrum mit natürlichen Sitzelementen 02. Kyoto, Japan Wenige Zentimeter Wasser reichen für ein intensives sensorisches Erlebnis aus 03. Aarhus, Dänemark In Aarhus entstand durch den freigelegten Fluss eine sehr gut genutzte Erholungsfläche im Stadtzentrum 04. Seoul, Südkorea Der wiederentdeckte Fluss ist ein ikonisches Projekt. Er bietet in der Innenstadt ein außergewöhn­ liches sensorisches Erlebnis

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Ein Outdoor-Wohnzimmer für die ganze Stadt: Västra Hamnen, Malmö, Schweden

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Die schwedische Stadt Malmö hatte sich in der Vergangenheit vom Meer abgewandt, doch mit der Transformation des Westhafens vom Industriegebiet zum Wohnviertel wurde der Wert des Hafenviertels wiederentdeckt. Mit dem Flaggschiff der Wohnungsbauausstellung Bo01 wurde die Sundspromenaden, eine Fußgängerpromenade, eingefügt, die dem Gebiet einen resortgleichen Charakter verleiht. Diese Fußgängerzone am Wasser ist wahrscheinlich der wichtigste öffentliche Raum in der Stadt. Ihr Hauptmerkmal ist eine multifunktionale gestufte Mauer, die als Sturmschutz, Windschutz, Sitzlandschaft, Spielplatz, Bühne, Laufsteg, Sonnendeck und Aussichtsplattform fungiert. Sie markiert und akzentuiert den herrlichen Blick über das Wasser auf die Öresundbrücke und Kopenhagen.

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Im angrenzenden Daniaparken bieten umschlossene, windgeschützte Bereiche die Möglichkeit, länger im Freien zu sitzen und sich zu sonnen, während Plattformen, Stufen und Leitern das Baden im Meer erleichtern. Gefährliche Felsen auf dem Meeresgrund wurden entfernt und so das Tauchen ermöglicht. Die spektakuläre Aussichtsplattform am Ende der Promenade dient jetzt auch als Sprungbrett. Sundspromenaden und Daniaparken ziehen Besucher aus der unmittelbaren Nachbarschaft, der größeren Stadt und sogar aus dem Umland an. Malmö verfügt über lange Strandabschnitte, und doch kommen tagtäglich Menschen jeden Alters, jeder ethnischen Zugehörigkeit und jedes sozioökonomischen Hintergrunds zur Sundspromenaden, was beweist, dass ein städtisches Naturerlebnis genauso attraktiv sein kann wie ein natürliches.

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07. Västra Hamnen vereinigt viele Arten von Aktivitäten, passive und aktive, und viele unterschiedliche Menschen am selben Ort und zur selben Zeit. Es bieten sich zahlreiche Möglichkeiten, wie man seine Zeit im Freien verbringen kann. Wichtig sind viele praktische Details, die eine Naturnähe ermöglichen und das Sitzen in der Sonne oder den Zugang zum Meer bequemer gestalten.

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01. Aus der gestuften Uferpromenade wird an Frühlingsabenden eine kleine Bühne zum Tangotanzen 02. Schwimmen und Sonnenbaden – man beachte die Windschutzmauern 03. Aussichtspunkt als Sprungturm 04. Wasserelemente bieten unterhaltsame Spielmöglichkeiten für Kinder, während sich die Erwachsenen entspannen 05. Ortsansässige Kinder verkaufen selbstgemachten Saft an Besucher 06. Schwimmen und Sonnenbaden für alle Altersgruppen 07. Bewohner des Viertels, die abends „auswärts essen“ 08. Windgeschützter Außenraum für ganzjährigen Sonnengenuss

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Das Beste aus der Infrastruktur machen: Tåsinge-Plads, Klima-Nachbarschaft, Kopenhagen, Dänemark

In den letzten Jahren wurde Kopenhagen von immer häufigeren und heftigeren Regenfällen heimgesucht, die zu extremen Überschwemmungen führten und große Schäden verursachten. Die Stadt reagierte darauf mit einem Klimaanpassungsplan, der die Schaffung neuer vegetationsbestimmter Flächen auf öffentlichen Plätzen vorsieht, um Starkregen aufzunehmen.32 Zuvor versiegelte, undurchlässige Flächen werden begrünt, um starke Niederschläge aufzusaugen und einen langsameren Abfluss während und nach Regenfällen zu ermöglichen. Anstatt in eine teure unterirdische Infrastruktur zu investieren, die für die Bürger unsichtbar und die meiste Zeit ungenutzt ist, investierte die Stadt in die Regenwasserbewirtschaftung, um einen größeren Wert zu schaffen. Der Plan von 2011 umfasst „Wolkenbruch-Projekte“ für mehr als 300 Parks, Straßen und

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Plätze, die in den kommenden Jahrzehnten umgesetzt werden sollen. Die neuen Landschaften verbessern die Lebensqualität der Einwohner, steigern gleichzeitig die Immobilienwerte, erhöhen die Artenvielfalt und verringern den Wärmeinseleffekt. Eine dieser neuen im Rahmen des Klimaplans ge­­ schaffe­­­nen Flächen ist der Tåsinge-Plads in Kopen­hagens erstem klimaresilienten Stadtviertel. Der ursprünglich mit Asphalt und parkenden Autos bedeckte Platz verwandelte sich in ein markantes grünes und nachhaltiges Wahrzeichen. Der Park reagiert oberirdisch und daher für jeden sichtbar auf Regenwasser. Der Platz fördert das Verständnis für den Klimawandel in einem aktiven sozialen Kontext. Wenn er nicht ­überflutet ist, bietet er allen eine großartige Erholungs­­­­­landschaft.

Infrastruktur als öffentlichen Raum wiederverwenden: Kizu River Waterfront Project, Osaka, Japan

Japaner sind Klimakatastrophen gewohnt. Tsunamis, Erdbeben, Erdrutsche, Überschwemmungen und Vulkanausbrüche sind regelmäßige Ereignisse. Japan hat in Hardware (Infrastruktur) und Software (Ausbildung) investiert, um die Sicherheit seiner Bürger zu gewährleisten. Mächtige Hochwasserschutzmauern bewahren Städte wie Osaka vor Überschwemmungen, aber die Mauern trennen die Bürger auch von ihrem Lebensraum am Wasser. Die Größe der Mauern verhindert jegliche Kommunikation mit dem offenen Wasser. So verlieren die Bürger ihr Bewusstsein für das Meer und vergessen dabei sowohl ihre Angst vor dem Wasser als auch ihre Freude daran. Ryoko Iwases Projekt (2013–2017) macht die Hochwasserschutzmauer wieder nutzbar und verwandelt die versiegelte, technische Infrastruktur in einen öffentlichen Bereich, eine terrassenförmige Landschaft mit Raum für unterschiedliche Interpretationen, Besiedlung

und Aneignung durch die Nutzer. Ein durchgehender Fußweg am Ufer soll zum Spazierengehen am Wasser animieren. Große Sitzstufen laden zum Verweilen und Beobachten des Wassers ein. Ein System aus Pflanzkübeln lockert die Betonkonstruktion mit Vegetation auf. Die Bürger sind angehalten, sich aktiv um die Begrünung kümmern. Durch die Neugestaltung der Infrastruktur als öffentlicher Raum können die Menschen mehr Zeit im Freien verbringen und im Einklang mit der Natur leben.

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Das Beste aus der Natur machen: Schwimmen im Fluss, Bern, Schweiz

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Was für eine Vorstellung, an einem Sommertag das überfüllte Büro oder die winzige Stadtwohnung zu verlassen, ein paar 100 Meter zu gehen und dann direkt in das kühle Nass eines Flusses zu springen! Das Schwimmen in der Aare in Bern belegt beispielhaft, wie eine Aktivität das dichte Stadtleben angenehmer macht. Es ist die Gelegenheit, sich inmitten der Stadt körperlich und geistig mit der Natur zu verbinden. Das Erlebnis spricht alle Sinne an: die Haut im Wasser spüren, mit dem Kopf unter Wasser die Geräusche der Steine im Flussbett wahrnehmen, das Plätschern und die Stimmen der Mitschwimmer sowie das Vogelgezwitscher und das Rauschen der Bäume am Flussufer hören. Unter diesen außergewöhnlichen Umständen trifft man Nachbarn und Mitbürger und nimmt Kontakt zu ihnen auf. Da die Strömung flussabwärts trägt, ist es ein Ritual, an den Betonstufen einzusteigen oder von einem Steg zu springen, mit der Strömung zu schwim-

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men, dann auszusteigen, entlang der Promenade zum Ausgangspunkt zurückzulaufen und das Ganze noch einmal zu wiederholen. Für die zurückhaltenden Bürger der Schweizer Hauptstadt scheint dies eine eher ungewöhnliche Aktivität zu sein, doch dieses Naturwunder bringt Menschen unterschiedlichster Herkunft unter sehr entspannten Bedingungen zusammen. Die Banker und Politiker ­­legen ihre Anzüge ab und genießen es, ihren Nachbarn in Badekleidung zu begegnen. Das Flussschwimmen bringt eine Art Urlaubsstimmung in den u ­ rbanen Alltag. Schwimmen im Fluss ist kostenlos und schließt eine Vielzahl von Menschen ein – Jung und Alt, verschiedene Nationalitäten und Ethnien, Einheimische und Touristen. Sogar einige Haustiere machen mit. Weil diese Aktivität jeden Tag nach der Schule oder nach der Arbeit leicht zugänglich ist, gibt es viele und häufige Gelegenheiten, sich mit der Natur zu

verbinden und gleichzeitig neue Freunde und Bekannte zu finden. Über das tägliche Vergnügen hinaus vermittelt das Aare-Erlebnis den Menschen mehr Bewusstsein für Wetter und Umwelt. Die Menschen verstehen zum Beispiel besser, wie die Wassertemperatur des Flusses durch das Wetter in den Bergen beeinflusst wird, und nehmen von Jahr zu Jahr den Beginn und das Ende, Länge und Beständigkeit der Badesaison wahr. Daraus ergeben sich bedeutende Gesprächsthemen, da diese wichtige jährliche Aktivität unmittelbaren Wettereinflüssen unterliegt. All dies führt zu einem tieferen Verständnis der Wettermuster, der Zyklen und der Zusammenhänge mit unseren eigenen Erfahrungen und unserem Leben. Selbst für den Zuschauer hat das Schwimmen eine Bedeutung, denn der Anblick von Flussschwimmern aus dem Zug oder der Straßenbahn heraus verbindet die Menschen mit ihrem Ort und dem Klima. Eine recht einfache und intuitive Infrastruktur unterstützt das Schwimmen im Fluss. Entlang des Flussufers gibt es simple Betontreppen mit bunt bemalten Handläufen, die das Ein- und Aussteigen erleichtern, sowie Bojen und einige Warnschilder, die darauf hinweisen, wann man aussteigen sollte.

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03. 01. Von einer Fußgängerbrücke ins Wasser springen 02./03. Einfache Betonstufen und bunt bemalte Handläufe helfen den Schwimmern beim Ein- und Ausstieg aus dem Fluss 04. Schwimmer, die am Flussufer spazieren gehen

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„Es gibt kein schlechtes Wetter, nur die falsche Kleidung.“ Sprichwort

Leben mit dem Wetter heißt, zu erkennen, wie sich die Gestaltung der gebauten Umwelt auf unser Verhalten auswirken kann, wie wir uns leichter zwischen innen und außen bewegen und mehr Zeit im Freien verbringen können. Zugleich können wir schrittweise dazu beitragen, in Zeiten des Klimawandels mehr im Einklang mit der Natur zu leben. Draußen zu sein bedeutet, sinnliche Erfahrungen zu machen, das Wetter auf der Haut zu spüren. Damit Menschen, die ihr Leben in geschlossenen Räumen verbringen, eine bessere Beziehung zu ihrer Umwelt entwickeln, mit dem Wetter leben lernen oder bessere Nachbarn der Natur werden, müssen ihnen viele Möglichkeiten und Gelegenheiten geboten und muss ihnen zuweilen der Anstoß gegeben werden, sich ihr Schritt für Schritt zu nähern. Viele unlängst entstandene Umgebungen wie Häuser, Institutionen und Arbeitsstätten scheinen auf den Aufenthalt in Innenräumen ausgelegt zu sein, und jede Mobilität in ihrem Umfeld basiert auf dem Autofahren. Das Internetzeitalter hat die Debatte und die Forschung über die Bedeutung von Freiluftaufenthalten und Naturerlebnissen beschleunigt – vor allem im Hinblick auf Kindererziehung in Zeiten des iPads.33 Im Freien verbrachte Zeit ermöglicht soziales Miteinander und ein gemeinsames Erleben von Naturphänomenen. Dies wiederum erzeugt gemeinsames Verständnis und Konsens darüber, was mit unserem Klima geschieht. Jede Stadt unterliegt eigenen klimatischen Herausforderungen. Aber das Wetter müssen wir nicht einfach ertragen. Die äußeren Bedingungen lassen sich durch einfache, durchdachte Details – wie Form und Masse von Gebäuden und Zwischenräumen – gestalten, die für ein angenehmeres Mikroklima sorgen können. Indem wir die Sonne hereinlassen und sie manchmal ausschließen, indem wir uns vor Wind und Regen schützen, können wir unser eigenes Wetter schaffen oder zumindest die Zeit verlängern, die wir draußen verbringen können. Lowtech- und LowCost-Maßnahmen wie Fensterläden und Treppen, Balkone und Arkaden können die Menschen aus ihrer gewohnten Komfortzone des Innenraums herausholen und sie im Freien eine engere, befriedigendere Beziehung zur natürlichen und sozialen Umgebung eingehen lassen. Auch im Norden Deutschlands kennt man das Sprichwort gut: „Es gibt kein schlechtes Wetter, nur die falsche Kleidung.“

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01. Tokio, Japan Kinder sind Kinder: Sie wachsen neugierig auf und reagieren auf ihre Umgebung. Wir können niemanden zu etwas zwingen, aber wir können zumindest Möglichkeiten für Begegnungen mit der Natur schaffen 02. Bern, Schweiz Schach ist nicht nur ein Spiel für zwei. Diese Outdoor-Aktivität zieht ein kleines, aber treues Publikum an und bietet eine legitime Ausrede, länger im Freien zu verweilen

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01. Kopenhagen, Dänemark Ohne Zäune oder Mauern öffnet sich dieser Schulhof vollständig zu einem öffentlichen Platz 02. Paris, Frankreich Stände der Bouquinisten bevölkern die schweren Schutzmauern entlang der Seine und sorgen für Arbeitsplätze, Kultur und Unterhaltung 03. Barcelona, Spanien Offizielle Informationskampagne zur Förderung eines besseren Verhaltens an öffentlichen Orten 04. New York, USA Der große, gemeinsam genutzte Tisch in einem Café ermöglicht spontane Interaktion 05. Paris, Frankreich Auf einer durchlässigen Kiesfläche und unter einem Blätterdach ermöglichen bewegliche Stühle unbegrenzte Sitzmöglichkeiten 06. Kopenhagen, Dänemark Hybrides Reisen – mit dem Kurierfahrrad im Vorortzug 07. Tokio, Japan Großeltern und Enkelkinder nutzen die Vorteile einer Fußgängerzone

Was lässt menschliche Siedlungen fortbestehen? Wie konnte Rom den Untergang des Römischen Reiches überleben und anderthalb Jahrtausende später die Hauptstadt eines modernen Italiens sein? Dresden und Hiroshima wurden durch Bombenangriffe zerstört und einzig aus Staub und Erinnerungen zu neuem Leben erweckt. Warum gelingt es dagegen vielen neu geplanten Städten nicht, zu florieren? Wird aus Brasília jemals ein Rio oder aus Canberra ein Sydney? Gleichzeitig erweisen sich Favelas als anpassungsfähig und sind viel lebendiger als stark subventionierte, geplante Wohnbauprojekte. Einige informelle Siedlungen, die ohne Architekten, Planer oder Subventionen auf den minderwertigsten Grundstücken entstanden, haben über­raschend nachhaltige, integrative und enge Gemeinschaften geschaffen, die auf die sich wandelnden Bedürfnisse ihrer Bewohner reagieren. Um unseren Lebensraum zu verbessern, müssen wir uns mit den Heraus­forderungen unseres Umfelds befassen; um ihnen gerecht zu werden, müssen wir sie bereitwillig annehmen. Wir brauchen eine engere Verbindung zur Welt um uns herum. Das Errichten einer Mauer löst nicht das Problem auf der anderen Seite. In vielerlei Hinsicht verschärft es dieses nur. Stattdessen müssen wir Beziehungen aufbauen. Angesichts des Klimawandels, der Segregation, der Verkehrsstaus und der raschen Verstädterung bedarf es besserer Beziehungen zur Erde, zu den Mitmenschen und Orten. Weder der Bau alleinstehender, in den Himmel ragender klimatisierter Gebäude oder bewachter Wohnviertel noch mehr Straßen und autonome Autos werden uns mit den globalen Herausforderungen oder miteinander verbinden, um diese Herausforderungen letztlich gemeinsam angehen zu können. Die Stadt oder die Gemeinde ist ein System von Beziehungen, ein gemeinsamer Standort mehrerer, sich überschneidender Systeme unterschiedlicher Beziehungen – öffentliche und private, gemeinschaftliche und individuelle, formelle und informelle. Wie die natürlichen Schichten im Wald verbinden die vielfältigen, untereinander verknüpften Beziehungen verschiedene Phänomene miteinander und erhöhen die Resilienz des Ganzen.

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01. Luzern, Schweiz Ein kleiner Balkon zum Innenhof verbindet mit der Sonne, den Baumwipfeln und den Nachbarn auf ihren Balkonen 02. Malmö, Schweden Eine Anzeige an der Bushaltestelle mit übergroßen Zahlen, die bis zur Abfahrtszeit herunterzählen, lässt die Fahrgäste wissen, ob sie zu ihrem Bus laufen müssen 03. New York, USA Essbare Landschaftsgestaltung in der Straße 04. Kopenhagen, Dänemark Eine seitliche Rampe macht den unterirdischen Bahnhof für Radfahrer zugänglich 05. Mexiko-Stadt, Mexiko Ein „Loch in der Wand“ als Fenster verwandelt den Bürgersteig in einen Laden 06. Luzern, Schweiz Allgemeiner Zugang, kommerzielle Aktivität, öffentlicher Raum und öffentliches Leben – alles zur gleichen Zeit 07. Kyoto, Japan Riesige Trittsteine verbinden die Bevölkerung mit der großen Wasserfläche des Flusses 08. Kopenhagen, Dänemark In dänischen Kindertagesstätten machen schon die Kleinsten häufig Ausflüge ins Freie

Das Leben lehrt uns, dass eine feste Beziehung keine starre ist. Feingefühl und Aufgeschlossenheit sind wichtige Bestandteile einer guten Beziehung. Die Kontrolle zu haben bedeutet nicht, dass man seinen Standpunkt nie ändert. Ganz im Gegenteil: Kontrolle zu haben bedeutet, an einem bestimmten Zeitpunkt und in einer bestimmten Situation angemessen zu reagieren, und die Reaktion wird nicht immer die gleiche sein. Es ist ein Geben und Nehmen; es gibt Zeiten, in denen man sich öffnet, und Zeiten, in denen man schweigt. Sanfte Beziehungen können aufgrund ihres Feingefühls und ihrer Aufgeschlossenheit viel mehr bewirken und länger halten als feste Beziehungen. In diesem Sinne könnte man sagen, dass Sanftes schwer zu brechen ist. Da sich das Leben ständig verändert, benötigen wir einen physischen Rahmen, der sich mit uns anpasst und verändert – etwas Lebendiges, etwas Organisches, etwas Sanftes. Die sanfte Stadt ist nicht nur eine gebaute Form. Jede Stadt oder Gemeinde bildet eine komplexe Kombination aus Hardware und Software. Hardware meint die physische Form, die Struktur, die Straßen und Gebäude, alles Entworfene und Gebaute. Die Software besteht aus all den unsichtbaren Strukturen aus Recht und Kapital, Planung und Bildung, Demokratie, Gebräuchen und Kultur, Verhalten und Vertrauen. In diesem Buch geht es hauptsächlich um die Hardware, wie Städte gebaut werden, aber die Software verdient ebenso viel Aufmerksamkeit. Überall zeigen sich Anzeichen für die sanfte Stadt; kostengünstige, technologiearme, größere und kleinere Phänomene, explizite oder subtile Toleranzen und Tendenzen, die alle den Alltag kurzfristig angenehmer machen. Längerfristig kann die sanfte Stadt dazu beitragen, einige der großen Herausforderungen zu bewältigen, vor denen die Menschen stehen. Gemeinsam ist ihnen, dass sie die Dichte und Vielfalt des Alltags aufnehmen und dabei Möglichkeiten für ein besseres Leben anbieten. Die Verbindung des Menschen zur Natur und zu Orten ist zweifellos wichtig; aber ich glaube, dass die Verbindung der Menschen untereinander am wichtigsten ist. Nur wenn Menschen zusammenkommen, können sie wirklich verstehen, was ihnen gemein ist, und dann gemeinsam erkunden, wieviel sich davon umsetzen lässt. Winston Churchill hat einmal gesagt: „Wir formen unsere Gebäude, und danach formen unsere Gebäude uns.“ Aus den Arbeiten von Jan Gehl, Jane Jacobs und anderen wissen wir, dass die räumlich-bauliche Form der Umwelt unser Verhalten beeinflusst. Bevor wir jedoch entscheiden, was wir bauen wollen, müssen wir klären, wie wir unser Leben leben und in welcher Welt wir leben wollen. Um es mit den Worten Jan Gehls zu sagen: „Erst das Leben, dann die Räume und zuletzt die Gebäude.“

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Neun Kriterien für lebenswerte urbane Dichte

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Über die Frage, wie sich die gleiche Bebauungsdichte mit unterschiedlichen Ansätzen erzielen lässt, ist viel geforscht und geschrieben worden. Alle Arbeiten zeigen, dass Gebäude mit niedriger und mittlerer Höhe durchgängig überraschend gute Ergebnisse liefern. Für das Erreichen einer höheren Dichte ist also keine größere Höhe erforderlich. Allerdings besteht nur selten die Bereitschaft, die sozialen oder ökologischen Folgen verschiedener Bauformen zu hinterfragen oder zu bewerten. Kenngrößen wie GFZ (Geschossflächenzahl) und andere vergleichbare Formeln sind nicht zwangsläufig nützliche Indikatoren für den Erfolg, da sie ausschließlich Größe oder Quantität bewerten. Die Leistung urbaner Formen mit höherer Dichte muss komplexer und umfassender beurteilt werden. Qualitative Kriterien sind erforderlich. Dabei ist zu fragen, wie die gebaute Form den Alltag unterstützt. Der Erfolg einer urbanen Form ist daran zu bemessen, wie sie eine höhere Lebensqualität für die Menschen bietet, die mit ihr leben. Von gleicher Wichtigkeit sind ihre Resilienz und Verwendbarkeit angesichts beständiger Veränderungen in Gesellschaft, Umwelt und Wirtschaft. Der Schwerpunkt sollte auf den Beziehungen zur Umgebung liegen, die eine bestimmte Bauform ermöglicht. Wie gut verbindet sie die Menschen mit den physischen Ressourcen der Stadt, mit dem Zugang zu nützlichen Einrichtungen und Annehmlichkeiten, zu Dingen und zu Orten? Wie gut verbindet sie die Menschen mit der Natur und erlaubt ein Leben im Einklang mit dem Wetter? Wie gut verbindet sie die Menschen untereinander und bietet Möglichkeiten für gesellige Begegnungen und soziales Miteinander?

Neun Kriterien Hinsichtlich der Lebensumstände und Nachhaltigkeit einer dicht bebauten Umgebung habe ich neun Kriterien zur Bewertung der Qualität aufgestellt. Ein lebenswertes, resilientes Gebiet mit hoher Bevölkerungsdichte sollte Folgendes umfassen: eine Vielfalt an gebauten Formen und an Freiräumen, Flexibilität, einen menschlichen Maßstab, Fußläufigkeit, ein Gefühl der Kontrolle und Identität, ein angenehmes Mikroklima, einen geringeren CO2-Fußabdruck und eine größere Artenvielfalt.

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Neun Kriterien für lebenswerte urbane Dichte

1. Vielfalt an gebauten Formen

2. Vielfalt der Freiräume

3. Flexibilität

4. Menschlicher Maßstab

5. Fußläufigkeit

6. Gefühl von Kontrolle und Identität

7. Angenehmes Mikroklima

8. Geringerer CO2-Fußabdruck

9. Größere Artenvielfalt

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1. Vielfalt an gebauten Formen

Die Koexistenz verschiedener Aktivitäten ist sowohl nützlich als auch nachhaltiger. Wenn wir in unmittelbarer Nähe wohnen, arbeiten, lernen und uns erholen, können wir mehr vor Ort leben. Um ein möglichst breites Spektrum an unterschiedlichen, praktischen Aktivitäten in einem Viertel zu ermöglichen, müssen wir vielfältige Gebäudetypen anbieten. Der Nutzen im Alltag ergibt sich aus der Nähe der einzelnen Aktivitäten, sodass es einer urbanen Form bedarf, die unterschiedliche Gebäudevolumen und -formen zulässt. Die verschiedenen Gebäudetypen sollten sich in ein zusammenhängendes Ganzes einfügen, in dem ein Gebäude und seine Aktivitäten seine Nachbarschaft nicht dominieren. Für eine nachhaltige und resiliente Gesellschaft sind unterschiedliche Menschen zu beherbergen und eine Balance zwischen öffentlichen und privaten Aktivitäten zu schaffen. Wir brauchen eine urbane Form, die

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verschiedene Arten von Besitz und Nutzung zulässt. Die Unterteilung von Land in kleinere Grundstücke ermöglicht eine größere Bandbreite an Eigentumsmodellen und Kontrolle. Die urbane Form sollte unterschiedliche Gebäudegrö­ß en erlauben, allerdings nur wenige große und ­e xtragroße Komponenten, damit mehr Raum für­ vielfältigere Gebäudetypen und Aktivitäten bleibt. Auch sind mehr extrakleine, kleine und mittelgroße Gebäude einzubeziehen. Es sollte verschiedene Gebäudetypen geben, darunter kleine Häuser, Wohnhäuser, ­Bürogebäude, größere Industriehallen, Produktionsräume und Sonderbauten wie Sporthallen und Gotteshäuser. Idealerweise sind verschiedene Größen in unmittelbarer Nähe untergebracht, etwa kleine und große Häuser. Um die Dichte zu variieren, könnten die Bauten unterschiedlich gegliedert sein. So kann ein großes Apartmenthaus viele kleinere Einheiten enthalten, während ein kleines Mehrfamilienhaus nur wenige größere Wohnungen umfasst. Ein Bürogebäude kann aus großen einräumigen Geschossplatten oder vielen kleinen Räumen bestehen. Die urbane Form sollte in der Lage sein, Sozialwohnungen neben Privatwohnungen, öffentliche Einrichtungen neben Gewerbebetrieben und Unternehmen neben Genossenschaften aufzunehmen. Auch kleine, aber wichtige Komponenten wie Einliegerwohnungen und Homeoffices sollten vorgesehen werden. Die Gebäude müssen einander Respekt erweisen und dürfen sich nicht gegenseitig übersehen oder verschatten. Dabei ist die Gesamtstruktur der Vorder-, Rück- und Seitenflächen sowie der Zugang zu öffentlichen oder gemeinsamen Infrastrukturen zu beachten. Je größer die räumliche Vielfalt in einem Gebäude, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit einer vielfältigen Nachbarschaft. Die unabhängigen Komponenten sollten als größeres Ganzes fungieren.

Jeder einzelne Bau hat das Potenzial, in sich selbst räumliche Unterschiede zu schaffen. Insbesondere sollte die gebaute Form beachten, dass einige Gebäudeteile mit der Erdgeschossebene verbunden sind, woraus gewisse Vorteile – etwa ein leichterer Zugang – resultieren. Andere Teile sind mit dem Himmel verbunden und daher mit mehr Licht erfüllt. Zwischen diesen beiden liegt der mittlere Gebäudeteil, der wiederum andere Eigenschaften in sich vereint. Manche Bauten, beispielsweise große eingeschossige Hallen, können alle drei Aspekte aufweisen. Auch Untergeschosse mit einem bequemen Zugang in Erdgeschossnähe sind möglich, allerdings verfügen sie über weniger natürliches Licht. Die vielfältigen Gebäude und ihre Kombination sollten für eine abwechslungsreiche Optik sorgen. Das Nebeneinander verschiedener Erscheinungsbilder trägt zu einem Gefühl für den Ort bei. Dies führt zu interessanteren sensorischen Erfahrungen und wirkt identitätsstiftend, sowohl für den Einzelnen als auch für eine Gemeinschaft. Diese visuellen Unterschiede machen eine Straße oder ein Stadtviertel unterscheidbarer und erkennbarer, was die Orientierung erleichtert und das Gehen angenehmer macht.

Eine dicht bebaute urbane Form sollte eine breite Palette an Gebäudetypen (unterschiedliche Typologien, Formen, Dimensionen und räumliche Bedingungen) in unmittelbarer Nähe zueinander enthalten. Die Bauten sollten sich räumlich-baulich Respekt erweisen und dabei organisatorisch unabhängig bleiben.

Worauf zu achten ist: • Verschiedene Gebäudearten • Verschiedene Abmessungen • Verschiedene Typologien • Kleinere Parzellen • Kleinere Unterteilungen • Größere Bandbreite an kleineren Eigentumsund Besitzverhältnissen • Ausgewogenheit der einzelnen Gebäudekomponenten: • Erdgeschoss, Mitte und Dachgeschoss • Abwechslungsreiche Materialität

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2. Vielfalt der Freiräume

Mehr Zeit im Freien zu verbringen, sollte leicht und angenehm sein. Der Aufenthalt draußen kann die Menschen sowohl mit ihrer Umgebung als auch untereinander verbinden. Es geht darum, mehr Arten von Freiräumen zu schaffen, um mehr Arten eines Lebens im Freien zu ermöglichen. Die Außenfreiräume in einer Stadt und Gemeinde sind wichtig, weil sie einen essenziellen, zusätzlichen und nützlichen Lebensraum in der ansonsten eher kompakten und engen städtischen Umgebung bieten. Je mannigfaltiger die Außenräume sind, desto größer ist das Potenzial für Aktivitäten, und desto vielfältiger sind diese Aktivitäten. Die Nutzung von Außenräumen sollte zum täglichen Leben gehören, wodurch der Raum vor der Haustür an Bedeutung gewinnt. Entscheidend sind nicht nur die Freude an der Gartenarbeit oder an Ausflügen in den Park, sondern auch die täglichen Erledigungen. Das Warten auf den Bus oder

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das Herausstellen des Mülls sollten Gelegenheiten für angenehme Begegnungen sein. Zeit im Freien zu verbringen, heißt frische Luft, körperliche Aktivität und Treffen mit anderen, was alles zu einer besseren körperlichen und geistigen Gesundheit beiträgt. Die Außenräume der Stadt sollten ein System verschiedener öffentlicher und privater Orte bilden, die entweder miteinander verbunden sind oder nebeneinanderliegen. Die Kombination und Verknüpfung verschiedener Raumtypen ergeben ein komplexes System, dessen Abweichungen für mehr Aktivität sorgen. Straßen, Plätze und Parks bieten als öffentliche Bereiche etwas anderes als private Freiräume wie Gärten und Höfe. Wenn beide Arten von Bereichen unweit voneinander bestehen und sich gegenseitig ergänzen, haben mehr Menschen im Alltag eine größere Auswahl und mehr Möglichkeiten. Wie bei anderen Aspekten einer Stadt ist auch hier das Ganze mehr als die Summe seiner Teile. Die urbane Form muss nicht nur öffentliche und private Außenräume aufnehmen, sondern auch verschiedene öffentliche Bereiche und unterschiedliche private Räume in unmittelbarer Nähe zueinander bieten. Die Dimensionen sollten differieren – kleine und große Bereiche, intime und eindrucksvolle Räume –, und es sollte verschiedene Zugangsmöglichkeiten sowie Stufen der Privatsphäre geben, von deutlich sichtbar bis gänzlich verborgen. Zwischen öffentlich und privat gibt es Unterkategorien wie halb öffentlich und halb privat oder gemeinschaftlich und gemeinsam genutzt, über deren exakte Definition sich ausgiebig diskutieren ließe. Entscheidend ist lediglich das Vorhandensein dieser verschiedenen Raumtypen. Unverzichtbar sind auch robuste, flexible Mehrzweckbereiche, in denen zeitlich versetzt verschiedene Aktivitäten stattfinden können. Ebenfalls sollten Räume

für bestimmte Aktivitäten wie Sport, Spiele und Aufführungen vorgesehen sein. Darüber hinaus gibt es verschiedene Arten hybrider Innen-außen-Bereiche, welche die Gebäude mit den Außenräumen verbinden. Dazu gehören Kolonnaden, Arkaden, Decks, Balkone, Vorbauten, Veranden, Loggien, Terrassen und Dachgärten. Schließlich gehören auch Straßen zu den öffentlichen Räumen. Sie reichen von Boulevards, Alleen und Hauptstraßen bis zu Seiten- und Nebenstraßen, Gassen und Gässchen, die alle das Leben im Freien auf unterschiedliche Weise fördern. Als Hauptverkehrswege geplante Straßen können Orte sein, an denen das Stehen, Verweilen und Sitzen genauso wichtig ist wie das Vorankommen. Ebenso können andere Außenräume Orte der Bewegung sein. So könnte ein städtischer Park oder öffentlicher Platz Teil eines täglichen Arbeitsweges sein und ein gemeinschaftlich genutzter Hofgarten jemandem eine Abkürzung bieten.

Eine dichte, urbane Form sollte verschiedene Arten von Außenräumen eng beieinander beherbergen, um dem breiten Spektrum an Bedürfnissen für das öffentliche und private Leben gerecht zu werden.

Worauf zu achten ist: • Verschiedene Arten öffentlicher Außenräume • Verschiedene Arten privater Außenräume • Verschiedene Arten gemeinschaftlicher/ gemeinsam genutzter Außenräume • Verschiedene Raumtypologien, die unterschiedlichen Bedürfnissen und Aktivitäten entsprechen, vom Allgemeinen zum Spezifischen • Hybride Bereiche, die Innen und Außen verbinden • Straßen als öffentliche Räume • Öffentliche Räume als Orte der Mobilität

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3. Flexibilität

Das Leben ist in einem ständigen Wandel begriffen, und auch Städte, Gemeinden oder Stadtviertel sind niemals vollendet. Soll ein Ort resilient sein, muss seine urbane Form auf Veränderungen reagieren können und diese zulassen. Sie muss sich an geänderte demografische und wirtschaftliche Zyklen, Verdichtung, neue Aktivitäten und Funktionen, zugezogene und alteingesessene Bewohner mit neuen und gewandelten Bedürfnissen anpassen. Ein Stadtviertel muss in der Lage sein, kurz-, mittel- und auch langfristig auf Entwicklungen zu reagieren. Kurzfristige Veränderungen können vom Tag (Wochentag oder Wochenende), der Tageszeit, der Jahreszeit oder dem Wetter abhängen. Ein flexibler Raum ist vielseitig verwendbar, um wechselnden Bedürfnissen gerecht zu werden – ein Schulhof wird am Wochenende zu einem öffentlichen Park, ein Marktplatz dient auch als Parkplatz, ein Gemeindesaal wird wochentags von

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Pfadfindern genutzt und eine Hotel- oder Bürolobby wird zu einem Pop-up-Store. Das vielleicht bescheidenste und vergänglichste Veränderungspotenzial besteht in einem nach außen erweiterten Erdgeschoss. Dieses kann sehr wertvoll sein für Einrichtungen wie Cafés oder Restaurants mit Tischen und Stühlen, die den Bürgersteig oder den Hof nutzen, für ein Geschäft, das seine Waren im Freien ausstellt, oder für Anwohner, die mit Topfpflanzen, Gartenmöbeln und abgestellten Fahrrädern in den Randbereich um die Tür eindringen. Höfe sind besonders flexible Räume. Die Begrenzung umschlossener Räume erleichtert die Anpassung an Veränderungen. Da sie optisch verborgen und akustisch gedämpft sind, lassen sich Räume wie Höfe leicht umgestalten ohne die Umgebung zu stören. Mittelfristig können Veränderungen darin bestehen, ein Gebäude umzunutzen, zu renovieren oder in geringem Umfang zu erweitern, um dem Bedürfnis nach Wachstum oder größerer Personalisierung zu entsprechen. Durch eine kleine, lokale Erhöhung der Dichte kann eine wachsende Familie oder ein expandierendes Unternehmen am Ort bleiben. Direkte Zugänge vom öffentlichen Bereich zu einem privaten Raum erhöhen das Potenzial für Nutzungsänderungen. Ein neutraler Zugang kann direkt von der Straße aus, über ein unabhängiges, privates Treppenhaus, das nur den betreffenden Räumlichkeiten dient, oder bei einem Innenhofgebäude auch über einen Durchgang erfolgen. Im Idealfall beeinträchtigen die neuen Nutzungen und Nutzer nicht die vorhandenen (siehe auch Kriterium 5 zur Fußläufigkeit). Die höchste Wahrscheinlichkeit einer Veränderung bergen Erdgeschossräume, da sie vom öffentlichen Raum aus unmittelbar zugänglich sind. Durch diesen direkten Zugang kann die Nutzung auf Bodenniveau geändert werden, ohne die übrigen Teile des Gebäudes zu stören. Allgemein lässt sich sagen: je höher der Anteil

des Erdgeschosses mit einem direkten Zugang, desto flexibler das Gebäude und desto größer das Potenzial für Nutzungsänderungen. Auch ist eine in unabhängige Einheiten unterteilte Fläche im Erdgeschoss flexibler. Eine größere Anzahl unabhängiger Räume bedeutet mehr Möglichkeiten für spontane Veränderungen. Nebengebäude und -räume eignen sich besonders gut zur Anpassung an Veränderungen, einschließlich der Verdichtung, da neue Volumina keine Kontroversen auslösen. Die bestehenden Gebäude oder Räume sind lediglich neu zu klassifizieren, vielleicht mit geringfügigen baulich-räumlichen Veränderungen und Aufwertungen. Keller, Dachböden und Außengebäude lassen sich sämtlich von innen verdichten. Außengebäude profitieren von einem direkten, ebenerdigen Zugang, wenn auch meist eher von einem Innenhof als von der Straße aus. Dachböden bieten die interessante Möglichkeit, verschiedene Raumtypen hinsichtlich Licht und Raumaufteilung zu ergänzen. Wegen geringerer Nutzungsmöglichkeiten ist das Untergeschoss nicht so attraktiv wie das Dachgeschoss. Allerdings ermöglicht die Nähe zum Erdgeschoss und zur Straße gewerbliche Nutzungen. Mehr Dachgeschoss, mehr Untergeschoss und mehr Außengebäude bedeuten ein größeres Potenzial für Nutzungsänderungen. Eine klare Struktur mit Vorder- und Rückseite beinhaltet einen gewissen Spielraum für Wachstum und ist daher toleranter gegenüber Veränderungen im Laufe der Zeit. In einem bereits bebauten Gebiet werden rückseitige Anbauten eher akzeptiert, da die optischen Auswirkungen der Veränderungen für viele nicht sichtbar sind. Längerfristig sollte die Flexibilität das Entfernen und Ersetzen größerer Komponenten wie ganzer Gebäude ermöglichen, ohne die gebaute Form als Ganzes zu stören. Daher kann eine urbane Form aus mehreren, unabhängigen Konstruktionen oder Fraktalen, die lokalen Abriss und Ersatz ermöglichen, umfangreichere und grundlegendere Veränderungen zulassen.

Eine dichte und vielfältige urbane Form mit Gebäuden und Räumen sollte flexibel sein und auf Veränderungen (einschließlich Verdichtung) in allen Maßstäben kurz-, mittel- und langfristig reagieren können.

Worauf zu achten ist: • Mehrzweckräume, innen und außen • Ein größerer Anteil des Bauvolumens entfällt auf das Erdgeschoss • Unabhängiger Zugang zu verschiedenen Teilen des Gebäudes (insbesondere ein direkter Zugang vom öffentlichen Bereich aus) • Nebenräume wie Außengebäude, Unter- und Dachgeschosse • Rückseiten mit Raum für Wachstum • Umschlossene Räume, die Aktivitäten aufnehmen können • Raum an den Gebäuderändern für temporäre Erweiterungen • Unabhängige Fraktale

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4. Menschlicher Maßstab

Wenn wir die Bedürfnisse der Menschen im urbanen Raum erkennen und auf den Schutz und den Komfort der Umgebung achten, gelingen uns Stadtviertel, in die die Menschen gerne kommen, um sie zu durchqueren oder dort Zeit zu verbringen. Der Begriff des menschlichen Maßstabs beinhaltet Abmessungen, die von den menschlichen Sinnesorganen und Verhaltensweisen ausgehen und zu kleineren Bauteilen sowie geringeren Höhen führen. Dazu gehören insbesondere die Verwendung von Dimensionen, die sich auf den menschlichen Körper beziehen, und eine am Erlebnis auf Augenhöhe orientierte Gestaltung, einschließlich sensorischer Reize. Kleinere Räume bringen die Menschen näher zueinander und näher zum Leben. Die Nähe zum sensorischen System – nahe genug, um kleine Details zu sehen, um leise Geräusche zu unterscheiden, nahe genug, um riechen und berühren zu können – intensi-

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viert Begegnungen und Erfahrungen. Kleinere Abmessungen bewirken auch ein besseres Mikroklima in den Zwischenräumen und damit eine angenehmere Körpererfahrung. Kleinere Räume tragen auch zu einem größeren Sicherheitsgefühl bei, da der Ort bequemer zu überblicken ist. Bei Gebäuden mit begehbarer Höhe bleibt eine Verbindung zwischen dem Erdgeschoss und den oberen Etagen bestehen. Bei dieser Entfernung können Augen noch fokussieren und nützliche Informationen aufnehmen, eine Unterhaltung ist möglich und verschiedene Geräusche sind unterscheidbar. In der Regel erfüllen Gebäude mit bis zu fünf Geschossen diese Kriterien. Kleinere Räume können sichere und komfortable Orte sein, um Zeit zu verbringen und Menschen zu treffen. Einigen kleineren Räumen wohnt eine Art psychologische Gemütlichkeit inne, etwas Tröstliches und Beruhigendes, das Vertrautheit und Geselligkeit fördert. Ein kleiner Maßstab kann eine großmaßstäbliche Umgebung menschlicher machen. Anscheinend sind Menschen darauf programmiert, sich auf kleinere Dinge zu konzentrieren, weil diese uns letztendlich mehr bereichern. Aus diesem Grund sind kleinere bauliche Elemente zwischen größeren wesentlich. Ein urbanes Umfeld sollte alle Sinne ansprechen. Obwohl visuelle Reize wichtig sind, geht es nicht nur um das Gesehene. Je mehr Gelegenheiten zur Beobachtung lebendiger Phänomene bestehen, desto besser – anderen Menschen bei ihren Aktivitäten zusehen, den großen Himmel betrachten, Schatten und Licht, Blumen und Bäume, Vögel und Tiere. Ebenso bedeutend ist die Vielfalt an Farben und Materialien sowie an Mustern und Dekorationen. Der Mensch hat die Fähigkeit zum Gehen entwickelt, und auf Augenhöhe liegt seine größte Stärke, die Umgebung zu interpretieren, sich mit ihr auseinanderzusetzen und auf sie zu reagieren. Im Gesicht konzentrieren sich die menschlichen Sinne und mit ihm kom-

munizieren und artikulieren wir die meisten Gefühle. Beim Betreten eines Raumes oder beim Kontakt mit der Umgebung hat das Geschehen auf Augenhöhe die größte Bedeutung. Daher muss die urbane Form auf Erdgeschossebene am leistungsfähigsten sein. Die Erlebnisse in den unteren 3 Metern verbinden uns mit dem Ort – mit den Gebäuden, ihren Fenstern und Türen, den Materialien, Texturen und Farben, aber auch mit den Menschen, die dort gehen, stehen und sitzen. Da die Erfahrung auf Augenhöhe während unserer Bewegung durch den Raum eine fortlaufende ist, verändert sich die Szene ständig, und wir werden unablässig mit neuen Reizen konfrontiert. Der Mensch reagiert auf unangenehme physische und klimatische Phänomene höchst empfindlich. Wird aufgrund einer schlechten Erfahrung die Verbindung zu einem Ort gestört oder unterbrochen, gehen Verhaltensmuster verloren, und es ist weniger wahrscheinlich, dass er dort spazieren geht oder sich dort aufhält. Die Qualität von Elementen im menschlichen Maßstab, wie kleinere Dimensionen, sensorische Erlebnisse und Beachtung der Augenhöhe, sollte in einem Viertel durchgängig und nicht nur an einigen Stellen vorhanden sein.

Die urbane Form sollte eine Dichte im menschlichen Maßstab aufweisen mit Abmessungen und Details, die den Menschen in den Gebäuden, um diese herum und in den Zwischenräumen Komfort und Wohlbefinden bieten.

Worauf zu achten ist: • Kleinere Abmessungen • Kleinere Räume • Nicht höher als sechs Geschosse – idealerweise vier oder fünf • Multisensorische Erlebnisse • Besondere Beachtung der Augenhöhe • Durchgängige Qualität auf Augenhöhe

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5. Fußläufigkeit

Fußläufigkeit bezieht sich auf die kleinsten, aber vielleicht wichtigsten täglichen Bewegungen des Menschen. Bei der Gestaltung der Fußläufigkeit gilt es, die Menschen mit dem Leben in ihrer Nachbarschaft zu verbinden, zu sehen, was vorhanden ist, und Optionen des Zugangs zu verwirklichen. Angestrebt werden ein schneller und einfacher Zugang, Bequemlichkeit, spontane Teilnahme und die Möglichkeit, problemlos von einer Stelle zur anderen zu gelangen. Innerhalb von Gebäuden geht es um scheinbar einfache Dinge wie die Häufigkeit, Position und Funktion von Fenstern, Türen, Fluren, Durchgängen und Treppen, die die Voraussetzungen für komplexe Bewegungen schaffen. Das fußläufige Stadtviertel soll geschützt, komfortabel und angenehm sein mit mühelosen Übergängen von einem Gebäude zum anderen, vom Gebäude zum Block, von einem Block zum anderen und vom Stadtviertel zur Umgebung. Fußläufigkeit beinhaltet

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Beziehungen – das Kennenlernen von Menschen und Orten und das Erleben der Naturäußerungen unterwegs. Wegen seiner leichten Zugänglichkeit ist das Erdgeschoss äußerst wertvoll. Da jeder hier unmittelbar ein- und ausgehen kann, stellt es die einfachste Form des Universalzugangs dar. Diese Mobilität zwischen innen und außen ist praktisch für die am meisten genutzten Bereiche wie Geschäfte, Arbeitsstätten, Institutionen und sogar Wohnungen. Jedes Gebäude mit einem gemeinsamen Treppenhaus sollte über einen Zugang auf der Vorder- und der Rückseite verfügen, damit Wahlmöglichkeiten bestehen. Auch ist jedes einzelne Haus ist mit einer Vorder- und einer Hintertür zu versehen. Der Durchgang schafft eine dynamische Verbindung zwischen den öffentlichen und den privaten Bereichen in der Stadt. Die Bedeutung der Begehbarkeit liegt darin, dass in einem Gebäude möglichst viele Räume ohne Aufzug erreicht werden können und dadurch eine sensorische Verbindung zu den Geschehnissen im Erdgeschoss erhalten bleibt. Eine gute Testfrage bei gebauten Umgebungen lautet, bis zu welcher Größe die Nutzung eines Aufzugs nicht erforderlich ist. Ein kleines, aber wichtiges Detail ist die Lage der gemeinsamen Treppenhäuser. Im Idealfall befinden sie sich an der Außenwand des Gebäudes und haben Fenster, die für natürliches Licht und Belüftung sowie eine ständige Verbindung nach draußen sorgen. Eine gegenläufige Treppe wechselt auf jeder halben Etage die Richtung und unterbricht sowohl die körperliche als auch die visuelle Eintönigkeit, da für kurze Zeit das Treppensteigen entfällt und der Blick auf die lange Treppenflucht erspart bleibt. Fenster sind ein wichtiger Faktor bei der Begehbarkeit; sie machen die Menschen auf das Leben draußen aufmerksam und verbinden sie mit dem Klima. Auch die Form des Fensters kann sich auf die Beziehung zur Außenwelt auswirken. Eine vertikale Fensteröffnung

verbraucht nicht nur weniger nutzbaren Innenraum, sondern lässt auch mehr Licht in den Raum eindringen und bietet Ausblicke auf den Himmel, die umliegenden Gebäude und Bäume sowie auf das Leben auf Bodenniveau. Obwohl Fenster nützlich sind, stellen Türen die eigentlichen Verbindungselemente dar, denn sie ermöglichen den Zugang. Der Blick auf die Straße, die Möglichkeit, unmittelbar nach draußen zu gehen, um am Geschehen der Straße teilzunehmen, machen wichtige Verbindungen aus. Mehrere Türen bedeuten eine einfachere und spontanere Bewegung von einem Raum zum anderen, zwischen innen und außen und vom privaten zum öffentlichen Bereich. Vorder- und Hintertüren sind gleichermaßen praktisch. Zusätzliche Öffnungen wie Fenster- und Terrassentüren oder ergänzende, ausgefallene Elemente wie private Außentreppen erhöhen die Wahrscheinlichkeit für einen Wechsel zwischen innen und außen. Meine eigene einfache Regel für Gebäude lautet: Wenn man das Fenster der Wohnung sehen kann, sollte man auch irgendeine Eingangstür sehen können. Die urbane Form sollte einen kleinen, aber nützlichen Bereich unmittelbar vor den Wohnungen und Arbeitsstätten vorsehen, sodass man tatsächlich nach draußen treten kann. Balkone, Loggien, Dachterrassen, Vorbauten, Veranden, Eingangsterrassen, Hintertreppen, kleine Vorgärten und rückwärtige Gartenzonen fallen in diese Kategorie.

Die gebaute Form sollte leichte Zugänglichkeit und Vernetzung gewährleisten. Einfach ausgedrückt bedeutet Zugänglichkeit, dass man sich mit möglichst wenig Aufwand schnell in Gebäuden, aus Gebäuden und durch sie hindurch sowie zwischen möglichst vielen verschiedenen Räumen und Orten bewegen kann. Das heißt auch, dass das Stadtviertel fußläufig erreichbar ist, wobei das Zufußgehen am bequemsten und zweckmäßigsten für kurze Strecken ist. Schließlich existiert noch die Fußläufigkeit auf der Ebene eines Stadtviertels, einschließlich aller Details, die das Gehen im Viertel effizient, einfach und angenehm machen. Zu den wichtigen Details gehören großzügige Bürgersteige, an abzweigenden Seitenstraßen durchgehende Bürgersteige, Bordsteinverbreiterungen (insbesondere an Ecken) sowie Mittelstreifen und andere Details, die das Überqueren der Straße vereinfachen.

Worauf zu achten ist: • Gebäude mit direktem Zugang • Gebäude mit Durchgang • Gebäude mit Treppenhaus • Ein höherer Anteil an Erdgeschossfläche • Visuelle Verbindung und Verbindung zwischen innen und außen • Direkter Zugang zu nützlichen Außenbereichen • Fußläufiges Stadtviertel

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6. Gefühl von Kontrolle und Identität

Die gebaute Form sollte aus identifizierbaren, klar abgegrenzten Orten bestehen, die einer Person oder Gruppe gehören oder von ihr kontrolliert werden. Dabei kann es sich um eine kleine zurückgesetzte Stufe vor einer Haustür handeln, auf die der Bewohner eine Topfpflanze stellt. Es kann ein kleiner, privater Garten vor einem Haus oder einer Erdgeschosswohnung sein, in dem der Nutzer einige Möbel aufstellt und Sträucher pflanzt. Es kann ein gemeinsames Treppenhaus sein, das von acht Familien genutzt wird und die sich alle so gut kennen, dass sie einander im Notfall um Hilfe bitten. Denkbar ist auch ein Hinterhof mehrerer Häuser, in dem Spielgeräte gemeinsam genutzt werden und gemeinschaftliche Aktivitäten stattfinden. Auch eine allen zugängliche identitätsstiftende Straße oder ein öffentlicher Platz sind möglich. Die territoriale Hierarchie beginnt im Zuhause, das mit gemeinsamen Zonen wie Wohnzimmer und

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Küche und privaterem Bereich wie Schlafzimmer und Badezimmer eine subtile Schichtung aufweisen kann. Die nächste Schicht besteht aus der Gruppe von Wohnungen mit derselben Adresse und den Menschen, die um ein gemeinsames Treppenhaus wohnen. Sie bilden eine kleine, exklusive Gemeinschaft mit dem spezifischen, gemeinsamen Interesse, am selben Ort zu leben. Dabei schaffen sie ein Gleichgewicht zwischen Vertrautheit, Respekt, Toleranz und Strenge. Die darauffolgende Schicht beinhaltet einen gemeinsam genutzten Außenbereich, etwa einen Garten oder Innenhof. Diese Gemeinschaft ist größer und vielfältiger als die Nachbarn im Treppenhaus. Sie besteht aus Menschen mit einem gemeinsamen Interesse an Sauberkeit, Sicherheit, Schutz und nächtlicher Ruhe. Hinzu kommt die Identität, einer Gruppe von Menschen anzugehören, die in einer bestimmten Straße oder in der Nähe eines bestimmten öffentlichen Raums leben und arbeiten. Nach dem Zuhause, dem Gebäude, dem Hof und der Straße kommt als nächste Ebene der Identität die Nachbarschaft (das Stadtviertel). Ein Gefühl nachbarschaftlicher Identität steht für den eigentlichen Erfolg, da dieser lokale Maßstab die Beziehung des Einzelnen zu der Großstadt insgesamt abschwächt. Die Struktur der gebauten Umwelt schafft definierte Räume, die erkennbare Orte sein können. Im größeren Maßstab kann beispielsweise ein zusammenhängender Häuserblock einen deutlichen Außen- und Innenbereich mit Vorder- und Rückseiten sowie eine klare Unterscheidung zwischen öffentlich und privat aufweisen. Dadurch entstehen charakteristische Höfe und Gärten im Inneren und öffentliche Räume, Straßen und Plätze im Äußeren, die klar identifizierbare Orte sind. Im kleinen Maßstab können Vorrichtungen wie niedrige Mauern oder Hecken, Tore und Pforten ein Gebiet definieren.

Soziale Phänomene wie öffentlich und privat lassen sich mühelos auf die räumlichen Phänomene von Vorder- und Rückseite übertragen. Die exponiertere Vorderseite ist von einer gewissen Formalität geprägt. Sie ist allgemein aufgeräumter, strenger kontrolliert und reflektiert ein Verständnis und die Akzeptanz von Regeln sowie ein bestimmtes Verhalten. Die mehr verdeckte Rückseite ist allgemein informeller und zwangloser. Es besteht eine größere Freiheit und Anerkennung des individuellen, persönlichen Ausdrucks. Eine Schaufensterauslage und ein gepflegter Blumengarten finden sich allenfalls auf der Vorderseite, wohingegen Mülleimer, Fahrradständer und aufgehängte Wäsche auf der Rückseite verborgen werden. Randzonen, vor allem außerhalb des Hauses, sind wichtig für den Ausdruck von Identität. So ermöglicht ein kleiner, privater Garten oder ein Deck den Bewohnern eine Nutzung nach ihrem Belieben – sei es zum Pflanzen, zum Lagern, zum Ausschmücken oder zur Verwendung als sozialer Raum. Jeder Haushalt hat andere spezifische Bedürfnisse. Eine private Randzone lässt diese Unterschiede zu und würdigt sie sogar. Ecken sind als deutlich erkennbare Schnittstellen im räumlichen System des Viertels wichtig. An einer Ecke treffen zwei oder mehrere Wege zusammen; wegen der Möglichkeit einer Richtungsänderung macht sie einen Knotenpunkt im Mobilitätsnetz aus. Dank der vielfältigen Ausblicke scheinen Ecken beliebte Treffpunkte zu sein, bedeutende Standorte für erfolgreiche kommerzielle Aktivitäten (wie Cafés und populäre lokale Geschäfte) und Gelegenheiten für den architektonischen Ausdruck. Die Kombination all dieser Aspekte – vernetzter Standort, bedeutende Geschäftsaktivität und einprägsame Architektur – machen Ecken zu nützlichen Orten, die in einem Viertel die Orientierung vereinfachen. Schließlich ist es wichtig, dass öffentliche Räume auch öffentlich empfunden werden, die Menschen sich dort wohlfühlen und Zeit verbringen.

Die gebaute Form sollte sowohl einer einzelnen Person als auch kleineren oder größeren Gruppen eine bessere Kontrolle über die sie umgebenden Räume ermöglichen. Die Räume sollten ein Gefühl der Identität stiften und die Orientierung und Navigation erleichtern.

Worauf zu achten ist: • Eine Hierarchie identifizierbarer Territorien • Klarheit zwischen öffentlich und privat • Vorder- und Rückseiten • Umschließung und räumliche Klarheit • Kleinere Einheiten und Unterteilungen • Gemeinsamer/gemeinschaftlicher Mittelpunkt • Nützliche Randzonen • Signifikante Ecken

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7. Angenehmes Mikroklima

Der physische Komfort eines guten Mikroklimas ist besonders für das öffentliche Leben wichtig, da er zum Gehen, Radfahren und zum Aufenthalt im Freien ermuntert. Dies schließt auch die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel mit ein, da sie ebenfalls mit Fußwegen und Wartezeiten im Freien verbunden ist. Wie bereits beim zweiten Kriterium zum Leben im Freien erwähnt, kann der Aufenthalt in den Zwischenbereichen der Gebäude die für das Stadtleben typischen beengten Lebensbedingungen ausgleichen. Mit der angestrebten Wechselwirkung von gebauter Form und Mikroklima soll das Wetter gemildert, aber nicht geleugnet oder verändert werden. Vielmehr werden Extreme herausgefiltert. Entsprechend dem Motto „wettergerechte Kleidung“ sollen Menschen mit ihrem Klima in Einklang kommen, indem es ihnen nähergebracht wird. Dies geht mit einer geringeren Abhängigkeit von Heizungs- und Kühlungssystemen einher.

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Um eine lebendigere Nachbarschaft zu bilden und ein nachhaltigeres Verhalten, insbesondere aktive Mobilität, zu fördern, sollte das angenehme Mikroklima direkt vor der Haustür beginnen. Dies ist der Ort, an dem der Spaziergang oder Weg zur Bushaltestelle (oder zu einem anderen Ziel) seinen Ausgang nimmt oder an dem sogar gewartet wird. Es reicht nicht aus, ein angenehmes Klima nur in außergewöhnlichen Bereichen zu schaffen, es ist die gesamte urbane Form einzubeziehen. Jan Gehl stellt häufig fest, dass die meisten älteren Stadtviertel diese Qualität aufweisen. Eine urbane Form mit einheitlich niedrigeren Gebäudehöhen schafft nahezu immer ein besseres Mikroklima, weil hohe Strukturen als Ursache von Turbulenzen fehlen. Höhere Gebäude fangen häufig stärkere und kältere Winde ab und leiten sie auf den Boden, wodurch die Zwischenräume ungemütlich, zugig und dem Wind ausgesetzt sind. Außerdem werfen hohe Gebäude längere Schatten, sodass die Orte dunkel und kalt bleiben. Gebäude mit aerodynamischen Dachformen wie Schräg-, Walm-, Rund- oder Mansardendach können stärkere Winde vom Boden wegleiten und die Sonne in die Zwischenräume einfallen lassen. Wenn sonnige Gebäuderänder und Windschutz kombiniert werden, zum Beispiel in Innenhöfen, entstehen angenehme Plätzchen, die sich auch in der kälteren Jahreszeit für einen Aufenthalt im Freien eignen. Interessanterweise können geschlossene Räume wie Innenhöfe auch in heißeren Klimazonen nützlich sein, da sie sowohl Schatten spenden als auch für die kälteren Nächte als Wärmespeicher dienen. Halbgeschlossene Räume wie zurückgesetzte Balkone haben eine längere Saison. Kleine Details wie Öffnungen können für die mikroklimatische Erfahrung von Bedeutung sein. Fenstertüren und niederländische Türen oder Stalltüren können einen ganzen Raum in einen Balkon verwandeln und

die Menschen innen mit der frischen Luft und dem Leben draußen verbinden. Regen sollte kein Hindernis für die tägliche Fortbewegung im Stadtviertel sein. Verschiedene bauliche Maßnahmen ermöglichen die Bewegung und den Aufenthalt im Freien auch bei Nässe. Diese Art von Schutzbauten umfasst Auskragungen, Vordächer, Markisen und großzügige Dachvorsprünge entlang des Gebäuderandes sowie größere Lösungen wie Kolonnaden, Arkaden und überdachte Gehwege.

Das mit einer gebauten Form geschaffene, angenehme Mikroklima ermöglicht einen längeren Aufenthalt im Freien.

Worauf zu achten ist: • Gleichbleibende mikroklimatische Bedingungen in einem Raum • Schutz vor starken Winden und Vermeiden von Turbulenzen • Sonneneinstrahlung und Vermeiden von Schatten (oder das Gegenteil, abhängig vom lokalen Klima) • Aerodynamische Dachform • Geschützte oder umschlossene Außenbereiche • Nützliche Öffnungen • Regenschutz an Rändern

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8. Geringerer CO2-Fußabdruck

Negative Auswirkungen der gebauten Form auf die Umwelt sollten so gering wie möglich sein. Anordnung, Größe und Form von Gebäuden können einen geringeren Energieverbrauch und weniger Umweltverschmutzung sowie eine Einsparung von natürlichen Ressourcen, Materialien und auch Geld bewirken. Niedrigere Gebäudehöhen und umschlossene Räume schaffen ein besseres lokales Mikroklima und bieten unmittelbare Vorteile. Geringere Exposition gegenüber starkem Wind und Sonne können Instandhaltungskosten und Aufwendungen für Heizungs- und Kühlungssysteme im gesamten Gebiet verringern. Eine größere Anzahl zusammenhängender Gebäude weist weniger exponierte Seiten auf, was die Baukosten und langfristig auch die Heiz- und Kühlkosten der einzelnen Gebäude reduziert. Natürliches Licht in Innenräumen lässt sich nicht ersetzen. Es führt zu erheblichen Energieeinsparungen

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und ist vorteilhaft für Gesundheit und Wohlbefinden. Idealerweise werden alle Räume und Kommunikationsbereiche natürlich belichtet. In kleineren Gebäuden können viele Räume von mehr als einer Seite belichtet werden, was die Lichtverhältnisse in den Innenräumen erheblich verbessert. Die Lichtqualität sollte unbedingt den ganzen Tag über bewertet werden und nicht nur zu einer bestimmten Tageszeit, wie es viele Bauvorschriften und Normen vorsehen. In schmaleren Bauten ist natürliches Licht in allen Innenräumen einfacher zu realisieren. Bei niedrigeren Gebäuden lassen sich Oberlichter effektiv nutzen. Bei eher schmalen und niedrigen Gebäuden ist eine natürliche Belichtung bis zu einer bestimmten Höhe möglich – bei konventioneller Technik und Gebäudesystemen im Allgemeinen bis zu acht Geschossen. Natürliches Licht bewirkt beträchtliche Energieeinsparungen und birgt Vorteile für Gesundheit und Wohlergehen. Zahllose Bücher sind über das „SickBuilding-Syndrom“ geschrieben worden – und die gesellschaftlichen Kosten, die durch den Aufenthalt in ungesunden Gebäuden mit künstlicher Belichtung und Belüftung entstehen. Eine urbane Form mit größerer Flächenbebauung weist auch mehr Dachfläche auf und birgt damit mehr Potenzial für die Nutzung von Sonnenenergie und für Begrünungsmaßnahmen zur Verringerung des Wärmeinseleffekts. Sonnige Dachgeschosse sind auch ideale Standorte für Gewächshäuser zur lokalen Lebensmittelproduktion. Eine aus niedrigeren und kleineren Gebäuden bestehende urbane Bauform lässt sich mit einfachen und leichteren Konstruktionen realisieren. Die Verwendung gesunder und erneuerbarer Materialien wie Holz ist dabei mit den üblichen Baumethoden gut vereinbar. Dies reduziert sowohl den Verbrauch von grauer Energie als auch die Umweltverschmutzung, die bei der Herstellung von Materialien wie Beton und Stahl

entstehen. Der niedrigere und kleinere Maßstab eignet sich auch für die Fertigteilbauweise, die dank exakter Konstruktionen allgemein eine bessere Umweltbilanz aufweist als herkömmliche Bauverfahren. Leichtere Bauten erfordern auch dünnere Fundamente, die den Baugrund und den Grundwasserspiegel weniger schädigen und Einsparungen von grauer Energie bewirken. Bei niedrigeren Gebäuden kann auf Aufzüge verzichtet werden. Weniger Aufzüge bedeuten einen geringeren Energieverbrauch in der Herstellungs- und Nutzungsphase. Der größte Umweltvorteil besteht jedoch in den Energieeinsparungen, die sich aus dem alltäglichen Verhalten in einem fußläufigeren Viertel ergeben, indem die Dinge des täglichen Bedarfs zugänglich sind, ohne auf ein Auto angewiesen zu sein.

Die gebaute Form sollte in der Herstellungsund der Nutzungsphase weniger Ressourcen verbrauchen und gleichzeitig Verhaltensweisen und Lebensstile mit einem geringeren CO2-Fußabdruck fördern, zum Beispiel das Zufußgehen und das Radfahren.

Worauf zu achten ist: • Weniger exponierte Fassaden (dank verbundener Gebäude) • Kleinere Abmessungen für eine natürliche Belichtung und Belüftung • Einfachere Konstruktionen und Gründungen • Weniger Abhängigkeit von komplexer Technik und Tiefbauarbeiten • Layout fördert aktive Mobilität (insbesondere das Zufußgehen)

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9. Größere Artenvielfalt

In der gebauten Form sollten Grünflächen und natürliches Leben gedeihen. Sowohl die Menschen als auch die Erde profitieren von der Artenvielfalt. Hier geht es in erster Linie um die Vegetation, aber auch um den Erhalt der Insekten-, Vogel- und Tierwelt. Eine reichhaltigere und vielfältigere Natur in bebauten Gebieten wirkt sich deutlich positiv auf die Gesundheit und das Wohlbefinden von Stadtbewohnern aus. Inmitten der vielen versiegelten Flächen von Mauern und Pflasterungen im städtischen Kontext hat Vegetation auch einen akustischen Effekt; sie absorbiert Schall, was wiederum dem Stressabbau dient. Auch kann sie die Luftverschmutzung durch Absorption gefährlicher Nanopartikel verringern, was angesichts der häufigen Atemwegserkrankungen in urbanen Gebieten wichtig ist. Vegetation bietet auch praktischen Sichtschutz, der die Privatsphäre erhöht und gegen Wind sowie starke Sonneneinstrahlung abschirmt.

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Sie kann dazu beitragen, den Wärmeinseleffekt abzuschwächen. Mehr Unterteilungen der Grundstücke können zu größerer Artenvielfalt führen, da bei der Gartengestaltung und -bewirtschaftung jeweils unterschiedliche Ideen und Herangehensweisen umgesetzt werden. Dabei hat jedes Grundstück das Potenzial, ein einzigartiges Mikroökosystem zu bilden. Die Gesamtheit der Einzelparzellen trägt so zum Erhalt der Artenvielfalt bei. Besonders große Biodiversität findet sich außerdem im Übergangsbereich zweier unterschiedlicher Systeme, dem Ökoton, beispielsweise zwischen den Grund­stücken entlang von Hecken, Zäunen und Gartenmauern. Somit ergeben die unterschiedlichen Bedingungen der Einzelparzellen zusammen mit dem Phänomen der Übergangsbereiche erhöhte Artenvielfalt. Das Ganze ist größer als die Summe seiner Teile. Durch ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Sonneneinstrahlung und Windschutz tragen Einfriedungen oder Teileinfriedungen zur Schaffung eines günstigen Mikroklimas und damit guter Wachstumsbedingungen bei (siehe auch Kriterium 7 zum Mikroklima) und verringern Beeinträchtigungen durch die Eingriffe des Menschen. Räumlich-baulich geschützte Räume wie Innenhöfe und ummauerte Gärten ermöglichen das Gedeihen von Flora und Fauna. An diesen Orten können Menschen die Natur auch akustisch ungestört genießen, da beispielsweise Vegetations- und Tiergeräusche, das Rauschen der Bäume oder Vogelgezwitscher, in einem geschützteren Raum besser wahrnehmbar sind. Durchgängig geringere Gebäudehöhen schaffen ein besseres, weil milderes Mikroklima für Gründächer (von Dachgärten mit Topfpflanzen bis zu begrünten Dachflächen) und begrünte Wände (von einfachen Schlingpflanzen bis zu komplexen Bepflanzungssystemen). Die gesamte Palette kleiner, bepflanzbarer Flächen von Blumenkästen bis zu Balkonen entwickelt sich hier besser.

Die gebaute Form sollte Räume für eine vegetationsbestimmte Landschaftsgestaltung sowie eine lokale Wasserbewirtschaftung inklusive der Filterung von Regenwasser bereitstellen. Für eine natürliche Entwässerung sollte es ausreichend Stellen mit tiefem Erdreich geben. Häufig wird eine natürliche Versickerung oder die großflächige Bepflanzung mit Bäumen etwa durch unterirdische Parkgaragen verhindert. Bei kleineren Gebäuden und weniger versiegelten Flächen reduziert sich die abfließende Regenwassermenge und ist daher leichter zu handhaben. Je näher die Natur dem Alltag ist, desto mehr Relevanz kommt ihr zu. Wie in Kriterium 6 erwähnt, kann die durchdachte Anordnung von Gebäuden in Bezug auf ihre Umgebung und die Zwischenbereiche das Gefühl von Kontrolle, Verantwortung und Gemeinschaft verstärken. Leichter zugängliche Freiflächen erhöhen die Wahrscheinlichkeit einer häufigen und regelmäßigen Nutzung und im Gegenzug ein Gefühl der Zuständigkeit, das zu pfleglichem Umgang und vielleicht auch gemeinsamer Gartenarbeit führt, was am Ende sogar eine gemeinschaftliche Ernte erbringen kann. Wenn Größe und Aufteilung des Grundstücks Höfe und Gärten mit klar definierten privaten und gemeinschaftlichen Räumen ermöglichen, kann daraus Verantwortung und eine Verbindung zur natürlichen Welt entstehen.

Die urbane Form sollte dem natürlichen Leben gerecht werden. Anordnung, Größe und Form der Bauten sowie die Nutzung von Räumen sollten ihm ebenfalls gerecht werden und eine größere Artenvielfalt ermöglichen.

Worauf zu achten ist: • Eine Vielzahl kleinerer, individueller Grünflächen im Freien • Viele geschützte Räume und Kanten • Kleinere Gebäudeabmessungen, damit begrünte Mauern und Dächer gedeihen können • Kleinerer Maßstab für die Wasserbewirtschaftung mit langsamer Filterung von Regenwasser • Wenn möglich, vegetationsbestimmte Landschaftsgestaltung • Straßenbäume

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Sanfte Städte in harten Zeiten

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Sechs Monate vor der Corona-Pandemie, im Herbst 2019, veröffentlichte ich Soft City, das als „Loblied auf Städte mit niedrigen und mittelhohen Gebäuden und deren soziale, nachhaltige und technische Vorzüge und Nutzen“ beschrieben wurde.34 Als die Pandemie ausbrach, bemitleideten mich viele. Man meinte, die Idee der sanften Stadt hätte sich erübrigt, die gesellige urbane Hygge, gemütliche Räume im menschlichen Maßstab, die bequeme Mischung von Aktivitäten und die enthusiastische Teilnahme am öffentlichen Leben gehörten der Vergangenheit an. In der Panik der Pandemie fiel es nur allzu leicht, sich im Namen der räumlichen Distanz ein härteres, kälteres urbanes Umfeld vorzustellen und den sicheren Individualverkehr im privaten Pkw, Online-Einkäufe und das abgeschiedene Homeoffice im vorstädtischen Einfamilienhaus zu bevorzugen. Drei Jahre später ist mit Erscheinen dieser deutschen Übersetzung die sanfte Stadt in einem neuen Kontext zu sehen. Meines Erachtens bedeutet Corona keineswegs das Ende des städtischen Lebens, wie wir es kennen. Im Gegenteil: In mehrfacher Hinsicht hat die Pandemie die vielen Vorteile und die Bedeutung des Lebens in Städten noch verstärkt – zumindest in sanften Städten! Nach den Jahren der Pandemie wollte ich einige der Themen und Konzepte des Buches überarbeiten und sie auf die aktuelle Lage beziehen – und hoffentlich zum Nachdenken über die gemeinsame Neugestaltung und Definition unserer Städte anregen, um neuen Bedürfnissen und Verhaltensweisen gerecht zu werden. Corona hat die soziale Gleichheit nicht befördert und vieles von dem zum Vorschein gebracht, was wir bereits hätten wissen müssen. Gewiss ist der Raum heute wenig gerecht verteilt. Im Privatbereich spiegeln Qualität und Quantität von Räumen fast immer den finanziellen Wohlstand wider. Und den (finanziell) Bessergestellten ging es während des Lockdowns dank des Komforts größerer Wohnräume und der Flexibilität ihres Lebensstils sicherlich auch gesundheitlich besser. Darüber hinaus werden die Unterschiede noch dadurch verschärft, dass Wohnungen mit mehr privaten Annehmlichkeiten häufig in Stadtvierteln mit besseren öffentlichen Einrichtungen liegen, einschließlich ausgedehnteren öffentlichen Bereichen – ein wichtiger Faktor zur Senkung des Risikos, sich durch soziale Kontakte mit dem Virus anzustecken. Am anderen Ende der sozioökonomischen Skala ist das Gegenteil der Fall, wobei räumliche und soziale Beschränkungen den fragilen urbanen Lebensstil mit engeren Wohnungen und eingeschränktem Zugang zu qualitätvollen öffentlichen Räumen noch erschweren. Die folgenden Beobachtungen beinhalten einige kleine urbane Phänomene, die für das Funk-

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tionieren und die Lebensqualität von Städten während des Lockdowns einen großen Unterschied ausgemacht haben. Sie liefern gleichzeitig Anhaltspunkte dafür, wie zukünftig bessere Städte gebaut werden können.

Während der Pandemie, inmitten so vieler Tragödien, stammten einige der optimistischsten Bilder aus einer der weltweit am schwersten betroffenen Regionen. Kaum jemandem dürften die einnehmenden Balkonszenen aus Italien entgangen sein. Der Balkon ist etwas so Einfaches und eigentlich relativ preiswert. Nur ein paar Quadratmeter Beton oder Holz, die jedoch seit Hunderten von Jahren ihren Dienst tun und die Menschen täglich mit frischer Luft, Sonnenlicht und der Außenwelt verbinden. Man vergleiche dies mit den hohen Kosten und der kurzen Lebensdauer eines Autos oder selbst eines Gerätes wie einem Fernseher oder einem Computer. Ähnlich wie die Einfachheit des Balkons schafft das gemeinsame Treppenhaus eines traditionellen Wohngebäudes eine resiliente Mikrogemeinschaft, die sich selbst kontrolliert und versorgt. Die täglichen Begegnungen im Treppenhaus, die eine kontinuierliche Orientierung und Kenntnis des Lebens von 8, 10 oder 12 Haushalten mit sich bringen, schaffen Vertrauen und ein gemeinsames Verständnis: auf die alte Dame im zweiten Geschoss achtgeben, wissen, wer eine Flasche Milch (oder Wein) verleiht, merken, dass es andere Erwachsene gibt, die einem als Kind bei Abwesenheit der eigenen Eltern helfen. Öffentliche Verkehrsmittel boten bei voller Auslastung keine Sicherheit. Für eine Fahrt ohne erhöhtes Risiko wäre vermutlich ein Drittel der Fahrgäste realistisch gewesen, was jedoch Tausende Pendler außen vor gelassen hätte. Wären diese stattdessen mit dem privaten Pkw zur Arbeit gefahren, hätte es einen Verkehrskollaps gegeben, und natürlich hätten mehr Autos auch eine größere Umweltverschmutzung bedeutet, die insbesondere während der Pandemie einer Atemwegserkrankung inakzeptabel war. Zufußgehen und Radfahren sind die billigsten, saubersten und platzsparendsten Fortbewegungsmöglichkeiten und sie wahren gleichzeitig die räumliche Distanz. Außerdem erfordern sie die preisgünstigste und am schnellsten realisierbare Infrastruktur. Überall auf der Welt haben Bürgermeister und Behörden die radikale Umgestaltung ihrer Straßen in Auftrag gegeben, um mehr Kapazitäten für den Fuß- und Radverkehr zu schaffen. Von Auckland bis Athen, vom Pariser Stadtzentrum bis zum vorstädtischen Portland wurden Straßen und öffentliche Räume entschärft, neu gestaltet und der Raum neu verteilt, um den nicht motorisierten Verkehr zu fördern. Bürgersteige lassen sich leicht über den Straßenraum erweitern, eine Autospur kann sich schnell in einen Radfahrstreifen verwandeln. Und nur eine Fahrbahnspur reicht aus, um einen großzügigen Fußweg oder einen Radschnellweg zu schaffen. Wir sahen, wie sich Straßenflächen rasch in öffentlichen Raum verwandelten, sodass Bürger einen Ort mit frischer Luft und Raum für Bewegung fanden, soziale Kontakte in sicherem Abstand unterhielten und Kinder den

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dringend benötigten Spielbereich bekamen. Diese Art der Umwandlung unterstützt auch die Geschäfte vor Ort, da die Kunden bei begrenztem Platz im Inneren draußen warten können. Die Terrassen von Cafés und Restaurants dehnen sich aus, kompensieren so verlorene Kapazität im Innenraum und sorgen für Abstand zwischen den Tischen. Gleichzeitig werden die Straßen lebendiger – und durch die Anwesenheit von Menschen beziehungsweise die Abwesenheit von Autos auch sicherer und geschützter. Mir fällt auf, dass so viele der urbanen Phänomene, die uns in den harten Zeiten der Pandemie ein besser vernetztes Leben ermöglichten, nicht unbedingt auch teuer, kompliziert oder energieintensiv waren. Balkone und Gärten im Hinterhof, Treppenhäuser und Straßenbäume, Gehwegerweiterungen und Radwege sind kostengünstige und technisch einfache Lösungen für die komplexen Herausforderungen des städtischen Lebens. Wie Jan Gehl häufig bemerkt: „Es kostet nichts, nett zu anderen zu sein“. Und um auch noch einmal auf Jaime Lerners Worte zurückzukommen: „Städte sind nicht das Problem, sie sind die Lösung“. Meiner Meinung nach gilt dies noch immer, wenn wir in diesen harten Zeiten der globalen Pandemie die Bedeutung sanfter Städte anerkennen. Stadtplanung kann uns optimistisch stimmen.

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01–04. New York, USA Die Corona-Pandemie führte zu einer explosionsartigen Straßenbelebung, als viele Restaurants ihre Räumlichkeiten auf die Straße ausweiteten 05. München, Deutschland Urbanes Surfen zieht viele begeisterte Sportler an – und noch mehr Zuschauer 06. Bern, Schweiz Noch bis in das 3. oder 4. Stockwerk schafft ein einfacher Balkon eine Verbindung zwischen Privatraum und Straße 07. Düsseldorf, Deutschland Es sind die einfachen Dinge: eine Bank zum Ausruhen, ein Schatten spendender Baum, eine Telefonzelle, die jetzt als kostenlose Bibliothek dient 08. Neumarkt i. d. Oberpfalz, Deutschland Deutsche Altstädte sorgen mit zusammenhängenden geschichteten Gebäuden und Umschließungen für Dichte und Vielfalt in menschlichem Maßstab

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Anmerkungen

Anmerkungen

Einführung 1 Christensen, Inger: Das, Übers. Hanns Grössel. Münster 2002 (dänische Originalausgabe 1969), S. 195. 2 Gehl, Jan: Livet mellem husene. Kopenhagen 1971. 3 Ebd.; Gehl, Ingrid: Bomiljø, SBI Rapport 71. Kopenhagen 1971. 4 Siehe z. B. den „Quality of Life Survey“ des Magazins Monocle, das Kopenhagen dreimal zur lebenswertesten Stadt nominiert hat (2008, 2013, 2014). Sie war 2016 die Nummer 1 im Metropolis-Ranking, und im Economist steht sie auf Platz 9 im Ranking der lebenswertesten Städte von 2005 bis 2018. 5 Lerner, Jaime: Planning Report, Oktober 2007: https://www.planningreport.com/2007/11/01/jaime-lerner-cities-present-solutions-not-problems-quality-life-climate-change (abgerufen am 14. April 2019).

Blöcke als Bausteine 6 Etwa in dem „Grüne Höfe“-Programm der Stadt Kopenhagen, aufgelegt 1992. 7 Vgl. Jacobs, Jane: The Death and Life of Great American Cities. New York 1961. 8 Vgl. Pålsson, Karsten: Public Spaces and Urbanity. How to Design Humane ­Cities. Construction and Design Manual. Berlin 2017, S. 164. 9 Coates, G. J.: „The Sustainable Urban District of Vauban in Freiburg, Germany“. In: International Journal of Design & Nature and Ecodynamics. Band 8, Nr. 4, 2013, S. 265–286. 10 Aktive Erdgeschosse fordern mehr Menschen zum Verweilen auf. Eine Studie, die mit ähnlichen Straßenlayouts, aber unterschiedlichen Erdgeschossen durchgeführt wurde – aktiven mit Türöffnungen, Nischen usw. gegenüber inaktiven ohne Fenster, Türöffnungen usw. – zeigte, dass sich in den aktiven Erdgeschossen siebenmal mehr Menschen aufhalten als in den inaktiven. Gehl, Jan/Kaefer, Lotte

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Johansen/Reigstad, Solvejg: „Enge Begegnungen mit Gebäuden“. In: Urban Design International. Band 11, 2006, S. 29−47.

Die Zeit deines Lebens 11 John Lennon, Beautiful Boy (1980).

Fortbewegung und Vorankommen 12 Jacobs, Jane: The Death and Life of Great American Cities. New York 1961, S. 36–37. 13 Vgl. Institute for Transportation & Development Policy: Pedestrians First. Tools for a Walkable City. New York 2018. 14 Siehe z. B. Gehl, Jan: Cities for People. Washington D.C. 2010. 15 Vgl. ebd., S. 131–132. 16 Laut UN-Habitat sollten Straßen 30 Prozent der Fläche einer Stadt ausmachen: Streets as Public Spaces and Drivers of Urban Prosperity. Nairobi 2013. 17 Vgl. City of Perth: Two Way Streets. Perth 2014. Mehr über die Nachteile von Einbahnstraßen: Gaya, Vikash V.: „Two-Way Street Networks: More Efficient than Previously Thought?“. In: Access, Band 41, Herbst 2012. 18 City of Perth: Two Way Streets. Perth 2014. 19 Adams, Rob, et al.: Transforming Australian Cities: for a more financially viable and sustainable future: transportation and urban design. Melbourne 2009. 20 Vgl. ebd. 21 Die Zahl der Unfälle sank um die Hälfte gemäß Quimby, Allan/Castle, James: A Review of Simplified Streets cape Schemes. London 2006. 22 Chinesisches Sprichwort.

Mit dem Wetter leben 23 Zu dem in Skandinavien als friluftsliv bezeichneten Konzept des Lebens im Freien siehe z. B.: Savage, Maddy: „Friluftsliv: The Nordic concept of get-

ting outdoors“: https://www.bbc.com, (abgerufen am 11. Dezember 2017). 24 Vgl. City of Copenhagen, Bicycle Account. Kopenhagen 2006. 25 Daten 1986, 1995, 2005 aus Gehl, Jan: Cities for People. Washington D.C. 2010, S. 146. Daten 2015 aus City of Copenhagen, Bylivsregnskab (Urban Life Account). Kopenhagen 2015, S. 6. 26 Vgl. Bergland, Christopher: „Exposure to Natural Light Improves Workplace Performance“. In: Psychology Today (Juni 2013): https://www.psychologytoday.com/us/blog/the-athletesway/201306/exposure-natural-lightimproves-workplace-performance (abgerufen am 12. April 2022). 27 Vgl. Alexander, Christopher: A Pattern Language: Towns, Buildings, Construction. New York 1977, pattern 159. 28 Vgl. International Energy Agency: The Future of Cooling (Mai 2018): https:// www.iea.org/reports/the-future-ofcooling (abgerufen am 12. April 2022). 29 Vgl. Larsen, Henning/Petersen, Micki Aaen: Mikroklima analyser (Mikroklimatische Analyse), Bo01, Västra Hamnen, Malmö, Juni 2018. 30 Vgl. ebd. 31 City of Melbourne, Urban Forest Strategy: https://www.melbourne.vic.gov.au/ community/parks-open-spaces/urbanforest/Pages/urban-forest-strategy.aspx (abgerufen am 5. Dezember 2018). 32 Vgl. City of Copenhagen, Climate Adaptation Plan, für die englische Version siehe: https://en.klimatilpasning.dk/media/568851/copenhagen_adaption_plan. pdf (abgerufen am 14. April 2019). 33 Siehe z. B. Louv, Richard: Last child in the Woods. Chapel Hill, NC 2008.

Sanfte Städte in harten Zeiten 34 Lowenstein, Oliver: „Soft City. Building Density for Everyday Life“. In: Geographical, November 2019 (51).

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Das Gesamtkonzept des Buches, das Layout, der Umschlag, alle Illustrationen und die Diagramme wurden vom Autor entworfen, mit Ausnahme des Diagramms unten auf ­Seite 101, das auf die Idee von Kristian Villadsen zurückgeht. Marie Boye Thomsen hat diese Komponenten zu einem publizierbaren Buch zusammengestellt. Mein Dank geht an Pia Jablonsky, die mir bei so mancher kniffliger Wortwahl beratend zur Seite stand.

Übersetzung: Joanna Zajac-Heinken, Köln Lektorat: Ute Rummel, Aschau im Chiemgau Projektmanagement Verlag: Theresa Hartherz, ovis, Berlin Satz: Bild1Druck, Berlin Lithografie: Bild1Druck, Berlin Gedruckt in der Europäischen Union

Projektteam Gehl Projektmanagement: Birgitte Svarre Grafikerin: Marie Boye Thomsen Architekt: Scott Przibella Koordination Grafiken und Vektorgrafiken: Martin Nelson Wissenschaftliche Mitarbeit: Camilla Siggard-Andersen Studentische Mitarbeit: Elena Balabanska, Arianna Bavuso, Anne Louise Brath Severinsen, Samuel Csader, Mads Kjær, Anna Lindgaard Jensen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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