Sand als metaphorisches Modell für Virtualität 9783110651522, 9783110646337

Following Gilles Deleuze, this book envisions virtuality as opposed not to reality but to actuality, connecting this rel

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Sand als metaphorisches Modell für Virtualität
 9783110651522, 9783110646337

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Annina Klappert Sand als metaphorisches Modell für Virtualität

Communicatio Kultur – Text – Medium

Herausgegeben von Jürgen Fohrmann und Brigitte Weingart

Band 49

Annina Klappert

Sand als metaphorisches Modell für Virtualität

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der FONTE Stiftung.

Stiftung zur Förderung des geisteswissenschaftlichen Nachwuchses

ISBN 978-3-11-064633-7 e-ISBN (PDF) 978-3-11-065152-2 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-064817-1 ISSN 0941-1704 Library of Congress Control Number: 2020935596 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: Timm Rautert, New York, 1969 Satz: Integra Software Services Pvt. Ltd. Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Mit Dank an Bettine Menke für jede kritische Lektüre und Unterstützung Dank an das Forum Texte. Zeichen. Medien. der Erfurter Literaturwissenschaft für die konstruktiven Diskussionen Dank an Elena Esposito und Christian Moser für wertvolle Hinweise Dank an Künstler*innen und Galerien für die Bereitstellung von Bildern und Dokumenten Dank an die Herausgeber*innen von Communicatio für die Aufnahme in die Reihe Dank an die FONTE Stiftung zur Förderung des geisteswissenschaftlichen Nachwuchses für die freundliche Gewährung des Druckkostenzuschusses Dank an die Universität Erfurt für die Förderung durch ein Postdoc-Stipendium

Inhaltsverzeichnis 1

Sand als Denkmodell

1

2

Virtualität und Sand: Metaphorisches Modell 11 2.1 Virtualitätskonzept 11 2.1.1 Das Virtuelle steht in Differenz zum Aktuellen (und nicht zum Möglichen) 13 2.1.2 Das Virtuelle hat eine Realität (und ist nicht das Unreale) 16 2.1.3 Virtualität verhält sich zu Aktualität wie das Medium zur Form 18 2.1.4 Was virtuell ist und was Medium ist, ist ein Effekt von Perspektivierung 30 2.1.5 Zwei Perspektiven der Virtualität: Die ‚Virtualität der Formen‘ und die ‚virtuelle Form hochaufgelöster Medien‘ 31 2.1.6 Virtualitätskonzept: Sieben Grundthesen 33 2.2 Metaphorisch-geologische Merkmale von Sand 35 2.2.1 Das einzelne Sandkorn: Diskret und klein 36 2.2.2 Gut sortierte Sandkörner: Eins wie das andere 47 2.2.3 Viele Sandkörner: Unzählbar 48 2.2.4 Bewegliche Sandmengen: Flexibel und instabil 50 2.2.5 Feinkörniger Sand: Hochaufgelöst und hochauflösend 53 2.3 Sand als metaphorisches Modell für Virtualität 54 2.3.1 Sand als Virtualitätsmetapher 55 2.3.2 Die Perspektiven der Virtualität als Struktur der Sandmetapher 64 2.3.3 Sand und andere Virtualitätsmetaphern 66

3

Virtualität der Formen 70 3.1 Varianten der Virtualisierung in Medientheorien 71 3.1.1 Die Auflösung von Formen in ihre Einzelelemente 3.1.2 Auflösungen des Textraumgefüges 79 3.1.3 Zeitlich bedingte Auflösungen 85 3.2 Virtualisierung und Sandmetapher 88 3.2.1 Perspektive der Virtualisierung 88 3.2.2 Varianten der Virtualisierung 89 3.2.3 Felder der Virtualisierung 91

72

VIII

Inhaltsverzeichnis

3.2.4

3.3

3.4

3.5

4

Sand als metaphorisches Modell für die Virtualisierung der Formen 93 Lose Elemente: Auflösung von rigiden Kopplungen 93 3.3.1 Archimedes: Zählen wie mit Sand 95 3.3.2 Jorge Luis Borges: Blättern im Sandbuch 105 3.3.3 Vilém Flusser: Komputieren im Sanduniversum 120 3.3.4 Dissolution: Virtualisierung von rigiden Kopplungen 131 Lose Gründe: Auflösung von Situierungen 139 3.4.1 Sand als Metapher für lose Gründe 141 3.4.2 Haus auf Sand gebaut 152 3.4.3 Desituierung: Virtualisierung von Gründen 195 Lose Eindrücke: Auflösung von Archivierungen 205 3.5.1 Bewegte und angehaltene Zeit: Sanduhr und „gesammelter Sand“ 206 3.5.2 Spuren im Sand: Zeichen in Auflösung 221 3.5.3 Gedächtnis in Auflösung 241 3.5.4 Dearchivierung: Virtualisierung von Eindrücken 265

Virtuelle Form des Mediums: Hohe Auflösung des Traums 275 4.1 Sand als Metapher für den Traum 277 4.1.1 Der Traum als hochaufgelöstes, hochauflösendes Medium 278 4.1.2 Hohe Auflösung im Traum als Modalität der Welt 281 4.1.3 ‚Unter dem Sand‘ stehen: Imagination als Modalität der Welt 285 4.1.4 Welten? Modalitäten der Welt? 289 4.1.5 Traum im Traum: Ein Haufen Sandkörner 292 4.1.6 Traumgrenzen, Weltgrenzen 296 4.2 Der Sandmann als Grenzfigur zwischen Wach- und Traumwelt 299 4.2.1 Der Sand des Sandmanns 300 4.2.2 Architektur der Welten: Hans Christian Andersens Der Sandmann 322 4.2.3 Ununterscheidbarkeit der Welten: E. T. A. Hoffmanns Der Sandmann 335 4.2.4 Zwei Sandmänner: Bodo Kirchhoffs Der Sandmann 350

Inhaltsverzeichnis

4.2.5 4.2.6

Selbstauflösung des Sandmanns und eine Sandfrau: Peter Luisis Der Sandmann 362 Der Sandmann als Grenzfigur 370

5

Sandkunst 381 5.1 Zählen (nicht nur wie) mit Sand: Sandkunst als Zählkunst 386 5.1.1 Paradise lost: Sandhaufen-Populationen (2001/ 2002) 386 5.1.2 Nima Sand Museum in Japan (seit 1990) 387 5.1.3 Jochem Hendricks: 3.281.579 Sandkörner (1999– 2000) 389 5.1.4 Micha Ullman: Until the last grain of sand (2011) 394 5.2 Bewegte Sandkunst: „Temporale Skulpturen“ 398 5.2.1 Jean-Pierre Hébert/Bruce Shapiro (Atelier Ho): Sisyphus 400 5.2.2 Günther Uecker: Sandmühle (1970) 403 5.2.3 Alice Aycock: Sand/Fans (1971) 406 5.2.4 Remo Campopiano: Video Studio for Insects/Under the Volcano (2002) 408 5.2.5 Anne Löper: Augenmusik (2013) 409 5.2.6 Ernst Florens Friedrich Chladnis Klangfiguren im Sand (1787) 411 5.3 Fixierter Sand: Stillgestellte Formgebung 414 5.3.1 Materialität von Sand 415 5.3.2 Anselm Kiefer: Dein und mein Alter und das Alter der Welt (1997) 416 5.3.3 Micha Ullman: Sand Buch 1–5 (2000) und Sand Blatt 1–5 (2006) 418 5.3.4 Micha Ullman: Bücher (2009) 424 5.3.5 Günther Uecker: Kleine und große Wüste (1966) 430 5.4 Formen von Sand in der Kunst 432

6

Pragmatik der Sandmetapher 436 6.1 Sand als Metapher mit Modellfunktion 437 6.2 Virtualitätsrisiko und -potential: Unerwünschte und erwünschte Probleme 443 6.3 Sand und Sehen 449 6.4 Die Pragmatik ‚sandiger‘ Medien 454 6.5 Die Virtualität der Sandmetapher 457

IX

X

Inhaltsverzeichnis

Literaturverzeichnis

461

Abbildungsverzeichnis Sachregister Personenregister

491 499

485

1 Sand als Denkmodell Ein Körnchen kommt zum anderen, eins nach dem anderen, und eines Tages, plötzlich, ist es ein Haufen, ein kleiner Haufen, der unmögliche Haufen.1

Der klassische antike Sorites entwirft ein Problem: Gesetzt den Fall, dass ein Sandhaufen, dem ein einziges Sandkorn entnommen wird, immer noch ein Sandhaufen ist, und gesetzt den Fall, dieser Vorgang wird wiederholt – wann ist der Punkt gekommen, an dem er aufhört, ein Sandhaufen zu sein? Oder umgekehrt: Gesetzt den Fall, dass ein Sandkorn, das offensichtlich noch kein Sandhaufen ist, auch dann noch kein Sandhaufen ist, wenn ihm ein weiteres Sandkorn hinzugefügt wird – wann ist, wenn dieser Vorgang wiederholt wird, der Moment erreicht, in dem die einzelnen Sandkörner beginnen, ein Sandhaufen zu sein? Oder, um es mit Cicero zu formulieren: „Bei welchem Wieviel beginnt der Haufen?“2 Logisch stellt sich das Problem so dar, dass von einer zutreffenden kategorischen Prämisse (ein Korn stellt keinen Haufen dar) und einer weiteren ebenfalls zutreffenden kategorischen Prämisse (wenn ein Korn hinzugefügt wird, dann ist es immer noch kein Haufen) ein generelles Prinzip abgeleitet wird, durch das ein Paradox entsteht (also stellen auch 100.000 Körner keinen Haufen dar). Die (Fang-)Frage des Sorites (griech. σωρός der Haufen, σωρίτης gehäuft) wird auf Eubulides von Milet zurückgeführt, und sie begleitet das europäische philosophische Denken seit der Antike.3 Ebenso lange bleibt eine allgemein anerkannte Lösung aus, da die fragliche Grenze, wenn man den gedanklichen Aufbau des Sorites zulässt, unbestimmt bleiben muss.4

1 Samuel Beckett: Endspiel, in: Ders.: Drei Stücke. Warten auf Godot. Endspiel. Glückliche Tage, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2006, S. 107–160, hier S. 110. 2 Dieses Zitat wird Cicero vom Duden zugeschrieben (Duden, Bd. 5: Fremdwörterbuch, Mannheim u. a. 41982, S. 715), ist bei Cicero aber in genau diesem Wortlaut nicht nachweisbar. Aufgrund der griffigen Formulierung soll es hier dennoch stehen bleiben. Bei Cicero heißt es wörtlich abweichend: „Gegen die Soriten also hilft Dir jene Kunst nichts, die Dich weder bei’m Dazuthun noch bei’m Davonthun lehrt, Was entweder das Erste oder das Letzte sey [wo das Viel oder das Wenig anfange oder aufhöre].“ (Marcus Tullius Cicero: Werke, 18. Bändchen, Akademische Untersuchungen [Academica prioria], zwei Bücher, übers. v. G. H. Moser, 2. Bändchen, Stuttgart: Metzler 1833, S. 2283) 3 Vgl. Bernd Buldt/Ernst Günther Schmidt: Sorites, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. v. Joachim Ritter u. Karlfried Gründer, Bd. 9, Darmstadt: WBG 1995, Sp. 1090–1098. In der Antike sind die Sorites ein gern genutztes Argument im Streit zwischen Skeptikern und Stoikern (vgl. zu Geschichte und Problemstellungen der Sorites Richard Mark Sainsbury/Timothy Williamson: Sorites, in: Bob Hale (Hg.): A Companion to the Philosophy of Language, Oxford: Blackwell 1997, S. 458–483). 4 Vgl. weiter zu Paradox und Vagheitsproblem der Sorites z. B. Tim Schöne: Was Vagheit ist, Paderborn: mentis 2011, Kap. 2.5; Thomas Schestag: Sorites, in: Wilhelm Büttemeyer/Hanshttps://doi.org/10.1515/9783110651522-001

2

1 Sand als Denkmodell

Der Sorites lädt dazu ein, ein Problem anhand von Sand zu durchdenken. Sand wird zu einem Denkmodell, und zwar für eine bestimmte Art von Problemen, für die er nur aufgrund seiner spezifischen metaphorisch-geologischen Eigenschaften ausreichend Ansatzpunkte bietet: aufgrund seiner diskreten, zahlreichen, gleich großen und beweglichen Einzelteile. Sand wird so als Metapher nutzbar, anhand der theoretisiert werden kann, was sonst schwer zu theoretisieren wäre. Im Sinne Hans Blumenbergs soll daher Sand als eine Metapher mit „Modellfunktion“ verstanden werden, als ein metaphorisches Modell, das eine „Möglichkeit des Verstehens“ bereitstellt.5 In diesem Buch wird es darum gehen, die metaphorologischen Aspekte von Sand literaturwissenschaftlich an einer breiten Palette vornehmlich literarischer sowie auch wissenschaftlicher Texte und Beispiele aus der bildenden Kunst zu untersuchen. Hierbei wird es allerdings nicht bleiben, sondern es wird im Zuge dessen gezeigt, inwiefern Sand ein metaphorisches Modell für Virtualität als lose Kopplung darstellen kann. Hinter der Konzeptualisierung von Virtualität als loser Kopplung verbirgt sich das Vorhaben, die Unterscheidung von Virtualität und Aktualität, wie sie Gilles Deleuze und Pierre Lévy konzipieren, mit Niklas Luhmanns Unterscheidung von Medium und Form zusammenzubringen, wobei das Medium als lose Kopplung von Elementen verstanden wird, in dem sich Formen als rigide Kopplungen durchsetzen. Meine These ist, dass die Relation von Medium und Form der Relation von Virtualität und Aktualität entspricht. Virtualität kann dann als Spezifikation von Medien begriffen werden, während Aktualität als Spezifikation von Formen gelten kann – und umgekehrt Medialität als Spezifikation von Virtualität und Formhaftigkeit von Aktualität. Einerseits wird dadurch der Begriff der Virtualität medientheoretisch ausgeweitet, andererseits werden die Implikationen der Virtualität im Medienbegriff gestärkt. So gesehen kann Virtualität als lose Kopplung verstanden werden, und an dieser Verknüpfungsstelle der losen Kopplung, die ebenso die Struktur der Virtualität wie die des Mediums kennzeichnet, entfaltet Sand sein metaphorisches Potential als Medium und Metapher für Virtualität! In diesem Buch wird Sand für dieses Konzept von Virtualität als metaphorisches Modell genutzt. Wie das aussehen wird, kann am Sorites beispielhaft gezeigt werden, wobei die theoretischen Begriffe, die den Arbeiten von Deleuze/Lévy und Luhmann entnommen sind, kursiv markiert sind.

Jörg Sandkühler (Hg.): Übersetzung. Sprache und Interpretation, Frankfurt/M. u. a.: Peter Lang 2000, S. 227–255; Richard Mark Sainsbury: Paradoxes, Cambridge: Cambridge University Press 21995, Kap. 2 ‚Vagueness. The Paradox of the Heap‘, S. 34 f. 5 Vgl. Hans Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1998 [1960], hier S. 106, 112; vgl. auch S. 10, 99.

1 Sand als Denkmodell

3

Mit Sand wird im Sorites über das Definieren nachgedacht: Kann eine bestimmte Menge Sandkörner als ein Sandhaufen definiert werden oder nicht? Kann, mit anderen Worten, die Grenze, an der die Sandkörner zu einem Sandhaufen werden oder an der sie aufhören, ein Sandhaufen zu sein, aktualisiert werden oder muss sie virtuell bleiben? Entsteht also durch die Definition eine Aktualisierung des Haufens, oder bleibt er durch ihr Ausbleiben virtuell? Der Sorites führt vor, dass die Grenze zwischen Haufen und Nicht-Haufen nicht zu aktualisieren ist, dass der Punkt (das Sandkorn), an dem die Definition des Sandhaufens zu aktualisieren wäre, nicht bestimmt werden kann und also virtuell bleiben muss.6 Im Sorites (im Medium) ist aus einer Menge von Sandkörnern (aus den losen Kopplungen der medialen Elemente) die Definition eines Sandhaufens (eine Form) zu bilden, die aber, da es keine endgültige Definition gibt, virtuell bleiben muss, sodass einmal gefundene Definitionen (als rigide Kopplungen aktualisierte Formen) also immer wieder in das Problem des Sorites (in die Virtualität des Mediums) zurückgeführt werden müssen. Jeder Versuch einer Definition (dies ist ein Sandhaufen) stellt also durch die rigide Kopplung der medialen Elemente (die Bindung der Sandkörner in dieser Definition) eine Formbildung dar, die aber wieder aufgelöst wird (als durch das Paradox unmögliche Formbildung), sodass die Elemente wieder in die losen Kopplungen des Mediums zurückgeführt werden (in die Frage: Ab welchem Sandkorn beginnt ein Sandhaufen?). Die Grenze, durch die der Sandhaufen zu definieren und das Undifferenzierte zu differenzieren wäre, könnte also so (an diesem Sandkorn) oder auch anders (an jenem oder jenem Sandkorn) verlaufen. Die Definition des Sandhaufens ist also ein Problem! Er hat eine problematische Struktur: Aus einer unbestimmten Anzahl von Sandkörnern muss ein Sandhaufen allererst aktualisiert werden. Aber wie? Das Problem ist nicht gelöst, und seine Lösungen sind instabil. Ob vielmehr eine bestimmte Anzahl von Sandkörnern schon einen Sandhaufen darstellt oder noch nicht, ist immer so (mit diesem Sandkorn) oder auch anders (mit jenem oder jenem Sandkorn) möglich. Die Definition (die Form) des Sandhaufens ist damit kontingent, da er nicht notwendig ab einem festzusetzenden Sandkorn zu einem Sandhaufen wird. Was genau einen Sandhaufen zu einem solchen macht, ist also offen, aber es ist gleichwohl nicht beliebig. Nicht alles kann als Sandhaufen aktualisiert

6 Weil der Sand nicht „eindeutig“, also nicht differenzierbar ist, hat er nach Sören Kierkegaard keinen „Charakter“: „Sittlichkeit ist Charakter, Charakter ist das Eingegrabene, aber das Meer hat keinen Charakter und der Sand hat auch keinen, [...] die Auflösung durch Zweideutigkeit ist ein sachter, aber Tag und Nacht geschäftiger Sorites.“ (Sören Kierkegaard: Kritik der Gegenwart, 1914, S. 15 f., zit. n. Schestag: Sorites, S. 232)

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1 Sand als Denkmodell

werden. Eine Ansammlung von Wassertropfen ergibt vielleicht eine Pfütze und eine Ansammlung von Goldstücken mit etwas Glück einen Schatz, aber weder das eine noch das andere ergibt jemals einen Sandhaufen. Was zu einem Sandhaufen werden kann und was nicht, ist definiert und limitiert, denn bekannt ist dessen nichtbeliebige Struktur: Er besteht aus einer unbestimmten Menge an Sandkörnern, die eine bestimmte Form ergeben soll, nämlich einen Haufen. Wie allerdings aus dieser Virtualität eines Sandhaufens seine Definition konkret zu aktualisieren ist, dafür gibt es keine vorgefertigten Möglichkeiten, aus denen man nur zu wählen bräuchte, sondern das ist das bleibende Problem, das als Paradox des Sorites bis heute zu denken gibt. Ein Paradox, so könnte man daher sagen, verweist immer auf eine unlösbare virtuelle Struktur. Auf keinen Fall ist dieser virtuelle Sandhaufen aber unreal. Er stellt vielmehr ein sehr reales Problem dar. Seine Problematik setzt sich aus realen Faktoren zusammen wie der Diskretheit und damit Zählbarkeit von Sandkörnern, ihrer geringen Größe, ihrer Gleichförmigkeit und Beweglichkeit. Ebenso real ist die Form des Haufens, die diese Sandkörner ergeben sollen. Real sind auch Sandhaufen, die aktuell vorliegen, aber die stellen, da sie einmal als Sandhaufen aktualisiert wurden, kein Problem dar. Ein reales Problem bleibt dagegen der virtuelle Sandhaufen mit seiner realen Struktur, von dem nicht gesagt werden kann, wie, wann und ob er sich aktualisieren wird. Der Sorites stellt insgesamt ein Problem mit einer hohen Virtualität dar. Ginge es um die Frage, ab welchem Kiesel ein Haufen ein Haufen wäre, so gäbe es weniger Möglichkeiten der Definition, da die medialen Elemente größer und nicht so fein differenziert wären wie Sandkörner. Die Frage, ab welchem Sandkorn ein Haufen ein Haufen ist, stellt vor ein größeres Problem der Grenzziehung als der Kieselhaufen, sodass verschiedene Grade der Virtualität festzustellen sind: Das Problem des Sandhaufens ist ‚virtueller‘ als das des Kieselhaufens. Dabei ist es immer eine Frage der Perspektive, ob der Sandhaufen überhaupt als virtuell gesehen wird, ob also das Problem überhaupt ‚aufgeworfen‘ wird. Es kann aus dem Weg geräumt werden, indem etwa die Prämissen als falsch zurückgewiesen werden, die Schlussfolgerung nicht zugelassen oder das Problem als pragmatisch irrelevant übergangen wird. Nur wenn die Definition eines Sandhaufens überhaupt problematisch erscheint, kann die Frage seiner Definierbarkeit zum Gegenstand des Denkens werden. Das leitet über zur Überlegung, dass anstelle des Sandhaufens auch etwas ganz anderes zur einem Medium/Problem hätte werden können. Erst die Unterscheidung von Sandhaufen und Nicht-Sandhaufen eröffnet die Frage, was ein Sandhaufen ist. Schon die Frage, wie ein Sandhaufen zu definieren ist, ist also ebenso kontingent wie die aktualisierten Antworten.

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Schließlich kann jedes Sandkorn im Sorites einen Unterschied machen, indem es ein Aktuelles in einen problematischen Komplex verwandeln kann. Jedes Sandkorn im Sorites kann die unmögliche Definierbarkeit von Sandhaufen sichtbar machen: Alle möglichen Sandkörner könnten die definierenden Sandkörner sein, und jedes einzelne dieser Sandkörner stellt damit eine mögliche Störung für jeden aktuellen Definitionsversuch dar. Das kann positiv oder negativ sein, d. h. es kann erwünscht sein, Paradoxien als Potentiale zu entwerfen, um Definierbarkeiten in Frage zu stellen; es kann aber auch als eine unerwünschte Problematisierung gesehen werden, die es als Risiko auszuschließen oder irgendwie zu lösen gilt. Der Sand hat also als Metapher auch eine pragmatische Funktion. Das Paradox des Sorites ist nur ein Anfang. Der Sand ist eine Metapher, die als Modell für viele Fragen offen ist, und gerade daher lohnt es sich, Sand als Denkmodell zu beschreiben. Meine These ist, dass der Sand vornehmlich dort ‚gesehen‘ wird, wo das Problem der Virtualität aufgeworfen wird. Er erhält als Metapher immer dann seinen Einzug in Diskurse, wenn Gefüge nicht (mehr) als selbstverständlich gegeben erscheinen und ihre Kontingenz beobachtungsrelevant wird. Das heißt umgekehrt: Wenn Lösungen und Entscheidungen gefunden sind oder wenn die Gefüge der Welt für aktuell und definiert gehalten werden, dann wird auch Sand als Denkmodell keine Relevanz haben und gar nicht erst als Problem ‚aufgehäuft‘. Wenn in Texten also die Metapher Sand erscheint, dann ist, so möchte ich behaupten, die Wahrscheinlichkeit, dass es darin um nicht banale Probleme mit stabilen Gefügen und Grenzziehungen geht, sehr hoch. Der Sand, da er selbst eine virtuelle Struktur hat, führt zu den vielschichtigen Problemen der Virtualität, die sich an ihm modellhaft beschreiben lassen. Durch die Sandmetapher werden nicht nur die Beziehungen zwischen der Virtualität des Mediums und den aktuellen Formen deutlicher, sondern sie führt auch in literarische Felder, in denen diese Beziehungen thematisiert und durchdacht werden. Sie öffnet viele jener semantischen Räume, die durch die Struktur der Beziehung von Virtualität und Aktualität gekennzeichnet sind oder in denen sie explizit verhandelt wird. Sand ist ein metaphorischer Komplex, vermittels dessen sich immer wieder neue, erkenntnistheoretische Diskussionen führen und Weltmodelle entwerfen lassen. Umso bemerkenswerter ist es, dass es zur Metapher Sand bislang fast keine und keinesfalls größere Forschungsarbeiten gibt. Es wird also eine völlig neue metaphorologische Untersuchung vorgenommen, die sich auf Texte der europäischen Kulturgeschichte konzentriert, womit aber keine historische Herleitung versucht wird, sondern vielmehr systematisch nach den Problemen vorgegangen wird, die Sand als metaphorisches Modell für Virtualität mit sich führt. Die Untersuchung bewegt sich dabei zwischen literarischem, wissenschaftlichem und ästhetischem Diskurs, wobei der Schwerpunkt

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auf der Analyse literarischer Texte liegt, da die metaphorologische Arbeit hier zu den ergiebigsten Erkenntnissen gelangen kann. Entlang der Metapher Sand entfaltet sich ein Diskurs über das Wissen von Virtualität, den zu explizieren das erste Vorhaben dieses Buches ist. Das Beispiel des Sorites zeigt, wie in diesem Buch mit dem Sand metaphorologisch über Virtualität nachgedacht werden wird. Dem zugrunde liegt ein eigenes Konzept von Virtualität, das es noch ausführlicher zu entwickeln gilt (Kap. 2.1). Virtualität ist demnach, und hier beziehe ich mich auf Arbeiten von Deleuze und Lévy, nie (!) im Gegensatz zu Realität zu denken, sondern immer zu Aktualität; Virtualität wird als eine nichtbeliebige, problematische Struktur verstanden, die für verschiedene Aktualisierungen offen ist, von denen eine als Lösung aktualisiert wird. Dieses Verhältnis von Virtualität und Aktualität entspricht, so meine Behauptung, dem Verhältnis von Medium und Form, wie es Luhmann formuliert hat. Medien werden von ihm als lose Kopplungen begriffen, in denen sich Formen als rigide Kopplungen durchsetzen und sich wieder entkoppeln. In Zusammenführung der Konzepte von Deleuze/Lévy und Luhmann werden das Bilden und Auflösen von Formen in Medien daher als Prozesse der Aktualisierung und Virtualisierung aufgefasst. Die Virtualität des Mediums besteht demnach in der losen Kopplung seiner Elemente! Das Problem der Virtualität ist entsprechend in den losen Kopplungen gegründet, also in der Eigenschaft des Mediums, formbar (rigide koppelbar) zu sein. Virtualität und Aktualität sind dabei wie auch Medium und Form zwei Seiten einer Unterscheidung: Das Medium ist stabil, und die in ihm gebildeten Formen sind instabil, da die medialen Elemente immer vorhanden sind, während sich die Formen wieder verflüchtigen, weil sich die rigiden Kopplungen auch wieder auflösen. Die Kontingenz des Mediums besteht darin, immer auch anders formbar zu sein, wobei diese Formbildung nicht beliebig, sondern durch die Form des Mediums selbst limitiert ist; gleichzeitig ist die aktuelle Form aber auch nicht in der Virtualität des Mediums prärealisiert. Medien können sodann nach dem Grad ihrer Virtualität unterschieden werden: Je weniger die Formbildung limitiert ist, desto ‚virtueller‘ beziehungsweise ‚medialer‘ ist das Medium. Was schließlich überhaupt jeweils als Medium (virtuell) oder als Form (aktuell) gesehen wird, ist immer ein Effekt von Perspektivierung und damit auch schon kontingent. Dabei lassen sich zwei Perspektiven der Virtualität benennen, durch die beide Seiten der Unterscheidung von Medium und Form virtualisiert werden können, indem zum einen die Form des Mediums als virtuell und ‚hochaufgelöst‘ betrachtet wird und zum anderen die Formen als virtualisierbare in den Blick genommen werden. Der Sand greift als Metapher für Virtualität insofern, als die diskreten Sandkörner die medialen Elemente und die losen Kopplungen des Mediums modellhaft darstellen können. Wie die Darstellung der metaphorisch-geologischen Merkmale von Sand zeigen wird, sind Sandkörner detritische Komponenten des Bodens, der

1 Sand als Denkmodell

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durch sie lose wird; sie sind gleichförmig, ungefähr zwei Millimeter groß und körnig und dadurch äußerst beweglich, sodass sie als Boden keine Stabilität bieten (Kap. 2.2). Die Elemente von Sand werden aufgrund dessen für das eigene Modell gefasst als: diskret und klein, nahezu gleich groß, äußerst zahlreich, beweglich und instabil sowie hochaufgelöst in ihrer Form und hochauflösend in Bezug auf die in ihnen gebildeten Formen. Geeignet ist Sand als metaphorisches Modell für Virtualität, weil sich an ihm die virtuelle Form des Mediums ebenso wie die Virtualität der Formen zeigen lässt (Kap. 2.3). Das heißt: Der Sand ist ein Medium, das seiner Formung nichts entgegenzusetzen hat; er hat ein hohes Maß an Virtualität, weil die Formbildung in ihm kaum limitiert wird. Zugleich können sich die Formen im Sand nicht lange halten, sodass sich mit Sand die rasche Virtualisierung von Formen in Medien thematisieren lässt. Auf diese Weise kann das Wechselspiel von Medium und Form an ihm wie an kaum einem anderen Medium verdeutlicht werden. Anhand der Metapher Sand werden auf diese Weise die Begrifflichkeiten von Deleuze/Lévy und Luhmann so, wie sie vorher konzeptuell zusammengeführt wurden, immer wieder modellhaft eingesetzt und durchgespielt. Welches sind nun die Probleme der Virtualität, über die konkret mit Sand nachgedacht werden kann? Perspektiviert man die Seite der Formen als problematisch, richtet sich der Blick auf die Virtualität der Formen (Kap. 3). Mit dem Sand wird dann die Auflösbarkeit von Formen in Medien thematisiert, für die drei Aspekte zu unterscheiden sind. Der erste Aspekt betrifft Sand als Metapher für lose Elemente (Kap. 3.3). Insofern Sand aus diskreten Einzelteilen zusammengesetzt ist, rücken Verfahren der (rigiden) Kopplung von Einzelelementen zu Formen beziehungsweise gegenläufige Verfahren der Auflösung von Formen in (lose gekoppelte) Einzelelemente in den Fokus. Den Sand als Denkmodell zu verstehen, bedeutet dann, rigide Kopplungen als auflösbar zu betrachten, zu problematisieren und kontingent zu setzen. Bestehende Zusammensetzungen werden virtualisiert, und dies bezeichne ich als Dissolution. In den behandelten Texten erfolgt hierdurch eine Bestandsaufnahme der Welt durch Zerlegung in ihre Bestandteile: Mit Sand werden verschiedene Weisen der ‚Weltauflösung‘ durchdacht. Während Archimedes von Syrakus (287–212 v. Chr.) in seiner mathematischen Abhandlung Die Sandzahl mit Sandkörnern die Größe der Welt ausmisst, erdenkt Jorge Luis Borges in seiner Erzählung El Libro de Arena (1974) ein Buch, das durch die permanente Auflösung seiner Seiten die Unendlichkeit der Welt enthält, und deutet Vilém Flusser in seinen medienphilosophischen Überlegungen mit Sandkörnern auf die Grundelemente dessen hin, was er als das gegenwärtige „Punkte-Universum“ beschreibt (1993). Der zweite Aspekt betrifft Sand als Metapher für lose Gründe (Kap. 3.4). Insofern der Sand ein loses Gefüge ist, rücken Verfahren der Situierung und

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1 Sand als Denkmodell

Auflösung von Raumgefügen in den Fokus. Mit Sand als Denkmodell werden in diesem Kontext Raumgefüge als auflösbar betrachtet, wobei die losen Gründe, für die der Sand steht, gerade auch metaphorisch als Begründungen und Grundlegungen zu verstehen sind. Die Gründe werden in diesem doppelten Sinne als lose problematisiert und kontingent gesetzt, sodass bestehende Verortungen virtualisiert werden. Dies bezeichne ich als Desituierung. Hier sind Texte relevant, in denen unterschiedliche (Grund-)Konzepte mit der Metapher Sand als ‚sandiger Grund‘ behandelt werden, sowie in der Hauptsache solche Texte, in denen die kombinierte Metapher vom ‚Haus auf Sand gebaut‘ erscheint, und zwar in der Geschichte Auf Sand gebaut (1990) von Stefan Heym, im Roman House of sand and fog (1999) von André Dubus III, im Roman Suna no onna (Die Frau in den Dünen) (1962) von Kobo Abe sowie im Film Casa de areia (2005) von Andrucha Waddington. Der dritte Aspekt betrifft Sand als Metapher für lose Eindrücke (Kap. 3.5). Insofern sich im Sand Formen nicht dauerhaft einprägen, rücken Fragen der Archivierung sowie der zeitlich bedingten Auflösung von Formen in den Fokus. Den Sand als Denkmodell zu verstehen, bedeutet hier, Formen in der Zeit als auflösbar zu betrachten und Medien des Speicherns als instabil zu problematisieren und kontingent zu setzen. Sand erscheint als Metapher für verrinnende Zeit und für die Auflösung von Formen über die Zeit hinweg. Wenn Medien als ‚sandig‘ erscheinen, wird die Virtualisierung von Formen in Speichermedien betrachtet. Diese Variante der Virtualisierung bezeichne ich als Dearchivierung. Dieses Themenfeld bearbeiten Texte, die sich mit Sanduhren und Sandsammlungen als Metaphern für verrinnende und angehaltene Zeit auseinandersetzen wie etwa Jorge Luis Borges’ Gedicht El Reloj de Arena (Die Sanduhr) von 1974 und Italo Calvinos Essay Collezione di sabbia (Gesammelter Sand) von 1984. Sodann rücken solche Texte in den Blick, in denen Spuren im Sand auf die Instabilität von Formen in ‚sandigen‘ Archivierungsmedien hinweisen wie unter anderem in Narrationen der Sand Art, im Hypertext Sand Loves (1999) von Deena Larsen oder im Film Point last seen (1998) von Elodie Keene (dt. Untertitel Spuren im Sand) oder auf die Instabilität von Ordnungen und Konzepten wie bei Michel Foucault (1966) oder in Stefan Heyms Ahasver (1981). Schließlich werden Texte behandelt, die die ‚sandige‘ Instabilität des Gedächtnisses als Erinnerungsmedium beschäftigt wie das Theaterstück Kinder der Bestie (2003) und Wolfgang Herrndorfs Roman Sand (2011). Wenn man nicht die Seite der Formen, sondern die Seite des Mediums als problematisch perspektiviert, dann richtet sich der Blick auf die virtuelle Form des Mediums (Kap. 4). Es geht dann nicht in erster Linie um die Auflösung von Formen in Medien, sondern um die hochaufgelöste und hochauflösende Form von Medien, also um Medien mit einem hohen Virtualitätsgrad. Unter ‚hochaufgelöst‘

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verstehe ich, dass die losen Kopplungen eines Mediums vielfältig formbar sind, weil das Medium kaum Vorgaben für die Formung macht; es ist aber zugleich hochauflösend in Bezug auf die in ihm gebildeten Formen, die unmittelbar nach ihrer Bildung wieder entkoppelt werden. Ein derart hoher Virtualitätsgrad ist dann von besonderer Relevanz, wenn die Welt in der Wahrnehmung hochaufgelöst erscheint, so wie im Traum (Kap. 4.1). Der Sand kann hier als Denkmodell eingesetzt werden, um über eine Wahrnehmung nachzudenken, die unter dem Einfluss von Sand steht: Im Traum ist die Welt so gestaltbar wie die Formen im Sand, aber sie löst sich auch ebenso schnell wieder auf. Der Traum ist mit Foucaults Worten, eine „in der Welt [] schwach verankerte Modalität“ (s. Einleitung v. Kap. 4), und diese schwache Verankerung in der Welt modelliert der Sand metaphorisch. Der Sand ist eine maßgebliche Metapher im Traumdiskurs, weil durch den Traum die Wachwahrnehmung problematisiert und kontingent gesetzt wird. Die Welt ist im Traum auch anders möglich, aber sie ist in ihm zugleich so schwach verankert wie die Formen im Sand. Dies zeigt sich an verschiedenen theoretischen Texten sowie in Ingeborg Bachmanns Büchner-Preisrede Ein Ort für Zufälle (1964), in François Ozons Film Sous le sable (2000) oder in der Erzählung La Escritura del Dios (1949) von Jorge Luis Borges. Mit dem Sand wird zudem die Grenze zwischen Wach- und Traumwelt problematisiert. Einen besonderen Stellenwert hat dabei der Sandmann als Grenzfigur, der seit jeher, schon als ‚Vielgestalter‘ Morpheus, die Traumwahrnehmung herbeiführt und zwischen Wach- und Traumwelt vermittelt (Kap. 4.2). Ausführlicher behandelt werden hierzu Hans Christian Andersens Märchen Der Sandmann (1842), E. T. A. Hoffmanns Erzählung Der Sandmann (1817), Bodo Kirchhoffs Roman Der Sandmann (1992) sowie Peter Luisis Film Der Sandmann (2011). In diesen Texten wird die Definition der Grenze zwischen Wach- und Traumwahrnehmung explizit zum Problem, wobei die verschiedenen Sandmannfiguren sehr unterschiedliche Konzepte vertreten: Ob der Sandmann Probleme schafft oder Probleme löst, hängt davon ab, ob er Wach- und Traumwahrnehmung für die Träumenden unterscheidbar sein lässt. Schließlich ist der Sand nicht nur Medium und Metapher in Texten, sondern er entfaltet auch als Material in der Kunst, als Sandkunst, eine eigene Semantik (Kap. 5). Mit diesem Begriff bezeichne ich jene Kunstwerke, in denen die Materialität von Sand eine ästhetisch wirksame Differenzfunktion erfüllt. Dies ist zum einen in Kunstwerken der Fall, die den Sand als etwas Zählbares ausstellen, in Sandkunst als Zählkunst; dies sind unter anderem Jochem Hendricks Skulptur 3.281.579 Sandkörner (1999–2000), Micha Ullmans Until the last grain (2011) und die Sanduhr im Nima Sand Museum (Kap. 5.1). Sodann rücken Kunstwerke in den Blick, die die leichte Formbarkeit und Instabilität von Sand nutzen, um bewegte Sandkunst, „temporale Skulpturen“, zu schaffen (Kap. 5.2). Als Beispiele

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1 Sand als Denkmodell

werden besonders das kinetische Werkzeug Sisyphus (1990 ff.) von Jean-Pierre Hébert und Bruce Shapiro, die Skulptur Sandmühle (1970) von Günther Uecker, die Installation Sand/Fans (1971) von Alice Aycock, die Sandinstallation Video Studio for Insects (2002) von Remo Campopiano sowie ein Beispiel aus der Sand Art und Ernst Florens Friedrich Chladnis Klangfiguren im Sand (1787) behandelt. Schließlich wird es um solche Kunstwerke gehen, die den Sand fixieren, sodass er gerade in der Stillstellung sein ästhetisches Potential entfaltet wie Anselm Kiefers Gemäldezyklus Dein und mein Alter und das Alter der Welt (1997), Micha Ullmans Skulpturen Sand Buch 1–5 (2000) und Sand Blatt 1–5 (2006), dessen Sandschüttungen Bücher (2009) und Hochzeit (2011) sowie ein weiteres Werk von Uecker Kleine und große Wüste (1966) (Kap. 5.3). Sand hat als metaphorisches Modell eine pragmatische Funktion, die abschließend noch einmal für die zuvor behandelten Texte und Kunstwerke reflektiert wird: in Bezug auf die Pragmatik von Sand als metaphorischem Modell, die Pragmatik von Sand als unerwünschtem oder erwünschtem Problem, den Bezug von Sand und Sehen, die Pragmatik ‚sandiger‘ Medien sowie die Virtualität der Sandmetapher (Kap. 6). Es geht in diesem Buch nur um solche Texte und Kunstwerke, in denen Sand als Metapher und Medium zum Problem der Virtualität wird. Texte, in denen Körner, Sande, Strände, Dünen oder Wüsten als Motive auftauchen, ohne auf ihre spezifisch ‚sandige‘ Medialität hinterfragt zu sein, werden nicht berücksichtigt. Dafür erscheinen neben den überwiegend literarischen Texten auch medien- und literaturtheoretische, sozial- und naturwissenschaftliche sowie philosophische Texte und Exponate der Kunst. Das Material ist so breit gestreut, da diese Arbeit von der Überzeugung getragen ist, dass Sand als Denkmodell in allen Diskursen virulent ist, die Wissen generieren. In literarischen, wissenschaftlichen und ästhetischen Diskursen wird über die Bedingung der Möglichkeit von Problemen sowie von Lösungen, Definitionen und Grenzziehungen nachgedacht und also über das Verhältnis von Virtualität und Aktualität. Der Sand ist hierfür immer dann ein geeignetes Modell, wenn die Stabilität aktueller Grenzen (Formen) sowie die Kontingenz ihrer Aktualisierung (Formbildung) zur Diskussion stehen. Der Sand trägt inexakte Grenzen en masse in sich und ist so eine vorzügliche Metapher für die Abwesenheit aktualisierbarer Grenzen und also für die Probleme der Definierbarkeit. Der Sand ist somit ein problematisches Problem, denn seine hohe Auflösung verweigert sich Konsistenzen und verweist auf Kontingenzen. Mit dem Sand lässt sich das Problematische selbst problematisieren.

2 Virtualität und Sand: Metaphorisches Modell 2.1 Virtualitätskonzept Betrachtet man einen Begriff nicht nur auf seine möglichen Bedeutungen hin, sondern versucht darüber hinaus, diese Bedeutungen auch auf den Begriff selbst anzuwenden, so funktioniert dies im Fall von ‚Virtualität‘ sehr gut, und zwar insbesondere seit den 1990er Jahren: Der Begriff hat seither, könnte man sagen, selbst an Virtualität gewonnen. Immer neue Aktualisierungen seiner Bedeutung komplizieren den Begriff ‚Virtualität‘ zu einem immer größeren Problemfeld: Neben einer breiten medientheoretischen Diskussion1 werden philosophische Konzepte im Blick auf Virtualität reformuliert2; Virtualität wird allgemein philosophisch,3 theologisch,4 religionswissenschaftlich5 oder naturwissenschaftlich6 als Gegenbegriff zu Realität untersucht und sogar die Virtualität der Berge von ihrer Realität unterschieden7; die Geschichte der Virtualität wird aus anthropologischer Sicht neu geschrieben8 ebenso wie die Kunstgeschichte virtueller Kunst seit den pompejanischen Wandmalereien9;

1 Vgl. z. B. Samuel Weber: Virtualität der Medien, in: Sigrid Schade/Georg Christoph Tholen (Hg.): Konfigurationen. Zwischen Kunst und Medien, München 1999, S. 35–49; Elena Esposito: Fiktion und Virtualität, in: Sibylle Krämer (Hg.): Medien, Computer, Realität. Wirklichkeitsvorstellungen und neue Medien, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1998, S. 269–295; Joseph Vogl: Grinsen ohne Katze. Vom Wissen virtueller Objekte, in: Hans-Christian von Herrmann/Matthias Midell (Hg.): Orte der Kulturwissenschaft, Leipzig: Leipziger Univ.-Verlag 1998, S. 41–53; Christopher Horrocks: Marshall McLuhan and Virtuality, Trumpington: Icon 2000; Martin Warnke: Virtualität und Interaktivität, in: Ulrich Pfisterer (Hg.): Metzler Lexikon Kunstwissenschaft, Weimar: J. B. Metzler 2003, S. 369–372. 2 Vgl. z. B. zu Heidegger Rudolf Altrichter: Zurück zur Seinsfrage. Über den Humanismus der Virtualität, München 2003, S. 42–59; Hubert Okolowitz: Virtualität bei G. W. Leibniz. Eine Retrospektive, Diss. 2006, unter http://d-nb.info/98278726X/34 [01.01.2019]. 3 Vgl. z. B. Vilém Flusser: Vom Virtuellen, in: Florian Rötzer/Peter Weibel (Hg.): Cyberspace. Zum medialen Gesamtkunstwerk, München: Boer 1993, S. 65–71; Dirk Vaihinger: Virtualität und Realität, in: Thomas Wägenbaur/Holger Krapp (Hg.): Künstliche Paradiese. Künstliche Räume in Literatur-, Sozial- und Naturwissenschaften, München: Fink 1997, S. 19–43. 4 Vgl. z. B. Peter Roth u. a. (Hg.): Die Anwesenheit des Abwesenden. Theologische Annäherungen an Begriff und Phänomene von Virtualität, Augsburg 2000. 5 Vgl. z. B. Oliver Krüger: Virtualität und Unsterblichkeit, Freiburg i. Br. 2004. 6 Vgl. z. B. Gottfried Magerl/Kurt Komarek (Hg.): Virtualität und Realität. Bild und Wirklichkeit der Naturwissenschaften, Wien u. a. 1998. 7 Herbert Arlt (Hg.): Realität und Virtualität der Berge, St. Ingbert: Röhrig 2002. 8 Stefan Rieger: Kybernetische Anthropologie. Eine Geschichte der Virtualität, Frankfurt/M. 2003. 9 Oliver Grau: Virtuelle Kunst in Geschichte und Gegenwart. Visuelle Strategien, Berlin: Reimer 2001. https://doi.org/10.1515/9783110651522-002

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2 Virtualität und Sand: Metaphorisches Modell

oder Virtualität wird medientheoretisch als Simulationstechnik verstanden,10 sodass der Begriff auch in das Feld der Virtuellen Realität führt und der damit verbundenen breiten Forschung von philosophischer,11 kulturwissenschaftlicher,12 narratologischer,13 technischer,14 soziologischer,15 pädagogischer16 oder künstlerischer17 Seite. Die Reihe der Ansatzmöglichkeiten ist damit gerade einmal skizziert,18 und jedes Projekt, das mit diesem Begriff arbeitet, ist sich der Tatsache, dass er derzeit besonders häufig aufgerufen wird, auch ganz bewusst. Wenn in diesem Kapitel ein eigenes Virtualitätskonzept entwickelt wird, soll diese Diversifizität des Begriffs in keiner Weise eingefangen werden; ebenso wenig soll lediglich eine neue Begriffsverwendung, ein neuer Anwendungsbereich hinzugefügt werden. Vielmehr soll gerade die gegenwärtige Auflösung des Begriffs in immer neue Bedeutungsfelder Anlass sein, ihn als Diagnostikum für das gegenwärtig hohe Interesse an Medien der leichten Form- und Auflösbarkeit zu verwenden. Es zeichnet sich derzeit eine Sichtweise ab, die in allen möglichen

10 Vgl. z. B. Manfred Faßler (Hg.): Alle möglichen Welten. Virtuelle Realität – Wahrnehmung – Ethik der Kommunikation, München: Fink 1999; Florian Rötzer/Peter Weibel (Hg.): Cyberspace. Zum Medialen Gesamtkunstwerk, München: Boer 1993; Gianni Vattimo/Wolfgang Welsch (Hg.): Medien-Welten. Wirklichkeiten, München: Fink 1998. 11 Vgl. z. B. Michael Heim: The Metaphysics of Virtual Reality, New York 1993; Jaron Lanier: Was heißt ‚Virtuelle Realität‘? Ein Interview mit Jaron Lanier [erstmalig 1989], in: Manfred Waffender (Hg.): Cyberspace, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1991, S. 67–87; Stefan Münker: Philosophie nach dem ‚Medial Turn‘. Beiträge zur Theorie der Mediengesellschaft, Bielefeld: transcript 2009, S. 111–158; Stanislav Lem: Die Entdeckung der Virtualität, mit einem Essay von Bernd Flessner, Frankfurt/M. 1996. 12 Vgl. z. B. Bernd Flessner (Hg.): Die Welt im Bild. Wirklichkeit im Zeitalter der Virtualität, Freiburg i. Br. 1997; Holger Krapp/Thomas Wägenbaur (Hg.): Künstliche Paradiese – Virtuelle Realitäten. Künstliche Räume in Literatur-, Sozial- und Naturwissenschaften, München 1997. 13 Vgl. z. B. Marie-Laure Ryan: Narrative as Virtual Reality. Immersion and Interactivity in Literature and Electronic Media, Baltimore/London 2001. 14 Vgl. z. B. Sven Bormann: Virtuelle Realität. Genese und Evaluation, Bonn u. a.: AddisonWesley 1994. 15 Vgl. z. B. Manfred Faßler: Mediale Interaktion. Speicher. Individualität. Öffentlichkeit, München: Fink 1996; Gerd Gerken: Virtualität als neue Form der Verführung. Wie die neuen Medien Marketing und Konsumverhalten ändern, Düsseldorf/Berlin: Metropolitan Verlag 2000; Howard Rheingold: Virtuelle Welten. Reisen im Cyberspace, Reinbek 1992. 16 Vgl. z. B. DIE. Zeitschrift für Erwachsenenbildung 8 (2001), Themenheft zur Virtualität. 17 Vgl. z. B. Manfred Bogen/Roland Kuck/Jens Schröter: Virtuelle Welten als Basistechnologie für Kunst und Kultur? Eine Bestandsaufnahme, Bielefeld: transcript 2009. 18 Vgl. weiter Sven K. Knebel: Virtualität, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. v. Joachim Ritter u. Karlfried Gründer, Bd. 11, Basel 2001, Sp. 1062–1066; Ralf Grötker: Virtuelle Realität, in: Ebd., Sp. 1066–1968; NN: Virtualität, in: Alexander Roesler/Bernd Stiegler (Hg.): Grundbegriffe der Medientheorie, München: Fink 2005, S. 244–249.

2.1 Virtualitätskonzept

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Wissensfeldern aufmerksam auf Virtualitäten ist, eine grundsätzliche Tendenz zur Perspektivierung von Virtualität. Es sollen daher im Folgenden grundlegende Thesen zum Begriff der Virtualität teils vorgestellt, teils selbst entwickelt und schließlich gegen Ende dieses Kapitels 2.1 zu einem eigenen Konzept von Virtualität zusammengeführt werden, als theoretische Basis dafür, wie in dieser Arbeit von Virtualität gesprochen werden wird.

2.1.1 Das Virtuelle steht in Differenz zum Aktuellen (und nicht zum Möglichen) Für die Entwicklung meines Konzepts gehe ich vom Virtualitätsbegriff aus, den Pierre Lévy in Qu’est-ce que le virtuel? entwirft.19 Recht eigentlich bedeutet dies, mit Gilles Deleuze zu beginnen, der, so Lévy, in Différence et répétition erstmals die prominent gewordene Unterscheidung zwischen virtuell und reell verworfen hat.20 Im Zuge dieser Verwerfung setzt Deleuze dagegen die Unterscheidung von virtuell und aktuell: „Das Virtuelle steht nicht dem Realen, sondern bloß dem Aktuellen gegenüber. Das Virtuelle besitzt volle Realität, als Virtuelles.“21 Das Virtuelle ist demnach immer real, aber eben nie aktuell. Es hat eine reale Struktur, die sich aber nicht als solche, sondern nur in ihren Aktualisierungen zeigt.22 Mit der Unterscheidung virtuell/aktuell zu arbeiten, bedeutet daher auch einen alternativen Weg zu jenem, der die Auseinandersetzung mit der Unterscheidung möglich/wirklich anbietet. Dass die grundsätzliche Trennung dieser beiden Unterscheidungswege erst jüngst vorgenommen wurde, hat begriffshistorische Gründe. Während der Begriff ‚virtuell‘ von mlat. virtualis (‚tüchtig, tauglich; geartet, beschaffen‘) aus über das französische virtuel erst im frühen neunzehnten Jahrhundert in der Bedeutung ‚der Möglichkeit, dem Vermögen nach‘ bzw. substantivisch als ‚Kraft, Möglichkeit, Potentialität, Wesen, Anlage‘ einen erkenntnistheoretischen Wert erhält, stellt die Unterscheidung von möglich/wirklich bereits seit der Antike einen Königsweg dar, um das, was sein könnte, von dem, was passiert, zu unterscheiden.23

19 Vgl. Pierre Lévy: Qu’est-ce que le virtuel?, Paris: Edition de La Découverte 1998. 20 Vgl. Gilles Deleuze: Différence et répétition, Paris: Presses Universitaires de France 1968. 21 Gilles Deleuze: Differenz und Wiederholung, München: Fink 1992, S. 264. 22 Gleichwohl kann das Problem bei Deleuze nie ganz zu Bewusstsein kommen und gibt die Gesamtheit der Lösungen nicht das Problem wieder; vgl. ebd., S. 263. 23 Vgl. NN: virtuell, in: Deutsches Fremdwörterbuch, Bd. 6, beg. v. Hans Schulz, fortgeführt v. Otto Basler, weitergeführt im Institut für deutsche Sprache, Berlin/New York: De Gruyter 1983, S. 194 f.

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2 Virtualität und Sand: Metaphorisches Modell

Aristoteles differenziert in seiner Metaphysik zwischen Vermögen (Möglichkeit) und Vollendung (Wirklichkeit), wobei „möglich etwas insofern ist, als ihm (die Wirklichkeit) folgt“.24 Das Vermögen kann hierbei sowohl darin bestehen, bewegt zu werden, als auch darin zu bewegen: Das Vermögen, eine Bewegung zu „leiden“ wäre z. B. die – passive – Möglichkeit von Fett zu brennen („Das Fette ist nämlich brennbar“25), während das Vermögen zu bewegen die nun: aktive Möglichkeit z. B. des Baukundigen wäre, etwas zu bauen. In jedem Fall aber denkt Aristoteles die Wirklichkeit im Vermögen mit, d. h. ein Vermögen ist nur dann ein solches, wenn es realisierbar ist. Vielmehr ist die Wirklichkeit dem Vermögen sogar vorgeordnet, da schon etwas existieren muss, bevor es ein Vermögen für etwas Weiteres sein kann. So ist jemand nur dann ein Baukünstler, wenn er etwas gebaut hat, weil „von dem, was bewegt wird, schon etwas bewegt ist“.26 In diese prominente Unterscheidung von Wirklichem und Möglichem wird nun auch in der Regel der Virtualitätsbegriff – auf der Seite des Möglichen – eingetragen, und eben hiervon grenzen sich Deleuze/Lévy ab. Sie setzen das Virtuelle nicht wie das Mögliche als Gegensatz zur Wirklichkeit, sondern als Gegensatz zum Aktuellen. Deleuze schreibt: „Die einzige Gefahr bei all dem liegt darin, das Virtuelle mit dem Möglichen zu verwechseln. Denn das Mögliche steht dem Realen entgegen; der Prozeß des Möglichen ist also eine Realisierung. Demgegenüber steht das Virtuelle dem Realen nicht entgegen; es besitzt volle Realität durch sich selbst. Sein Prozess ist die Aktualisierung.“27 Diese Aktualisierung ist nach Deleuze eine Schöpfung, die durch Differenzierung entsteht: [Es] vollzieht sich die Aktualisierung des Virtuellen stets über Differenz, Divergenz oder Differenzierung. Die Aktualisierung bricht mit der Ähnlichkeit als Prozeß ebenso wie mit der Identität als Prinzip. Niemals ähneln die aktuellen Terme der Virtualität, die sie aktualisieren. [...] die Aktualisierung, die Differenzierung ist in diesem Sinne stets eine wirkliche Schöpfung. Sie entsteht nicht durch Beschränkung einer präexistenten Möglichkeit.28

Das Mögliche beschreibt – dann auch – Lévy als prädeterminiert und nur noch nicht realisiert, so wie bei Aristoteles: Möglich ist etwas insofern, als ihm die Wirklichkeit folgt. Das Mögliche steht dabei auch für ihn zur Realität in einer Ähnlichkeitsbeziehung: „La possible est exactement comme le réel: il ne lui manque que l’existence“.29 Eine Realisation ist also lediglich eine Umsetzung

24 25 26 27 28 29

Aristoteles: Metaphysik, Buch IX, Hamburg: Meiner 1991, S. 101–137, hier S. 111. Ebd., S. 103. Ebd., S. 125. Deleuze: Differenz und Wiederholung, S. 267. Ebd., S. 268. Lévy: Qu’est-ce que le virtuel?, S. 14.

2.1 Virtualitätskonzept

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von einem Präexistenten in ein Existentes, aber sie stellt keine „Kreation“ dar. Anders das Aktuelle. Es realisiert nach Deleuze/Lévy kein Präexistentes und ähnelt auch seinem Gegenüber – dem Virtuellen – nicht; das Virtuelle stellt keine Möglichkeiten bereit, von denen sich eine als die aktuelle durchsetzen würde. Die Aktualisierung eines Virtuellen ist eine „Kreation“, eine Differenzierung, die etwas Neues setzt. Das Virtuelle stellt auf diese Weise nach Deleuze einen problematischen Komplex dar, der nach einer Lösung sucht: „Das Virtuelle besitzt die Realität einer zu erfüllenden Aufgabe, nämlich eines zu lösenden Problems; das Problem ist es, das die Lösungen ausrichtet, bedingt, erzeugt, diese aber ähneln nicht den Bedingungen des Problems.“30 „L’actualisation allait d’un problème à une solution“,31 schreibt auch Lévy, d. h. eine Aktualisierung besteht in der Lösung eines Problems, und eines der zahlreichen Beispiele, die er nennt, ist der Baum, der virtuell im Saatgut enthalten ist.32 Dem Saaatgut ist ein Problem insofern inhärent, als es einen Baum hervorbringen kann, aber dessen genaue Form noch nicht ‚kennt‘. Es muss also den virtuellen Baum, den es enthält, auf seine Weise unter den jeweils gegebenen Rahmenbedingungen aktualisieren, und eben diesen Prozess beschreibt Lévy als inventiv: „L’actualisation est création, invention d’une forme“.33 Produziert eine Aktualisierung also neue Qualitäten, indem sie eine Problemlösung darstellt, kommt die Realisierung einer Möglichkeit durch eine Wahl aus einem prädefinierten Ensemble zustande. Infolge dessen entspricht die Realisierung dem Möglichen, während das Aktuelle dem Virtuellen nicht ähnelt, sondern ihm, so Lévy, „antwortet“.34 Diese Definition des Virtuellen von Deleuze/Lévy wird eine Grundlage für das Virtualitätskonzept darstellen, das hier entwickelt werden soll. Denn einerseits vermeidet sie, indem sie das Virtuelle als Problemkomplex auffasst, den Schematismus, den der Möglichkeitsbegriff oft mit sich bringt, auch wenn es durchaus komplexere Verwendungen dessen gibt; andererseits beschränkt sie das Begriffsfeld sinnvoll, indem sie die Unterscheidung von virtuell/aktuell grundsätzlich von der Unterscheidung möglich/wirklich löst. Welche Konsequenzen hat es aber, dieserart von der Unterscheidung virtuell/aktuell auszugehen?

30 Deleuze: Differenz und Wiederholung, S. 268. 31 Lévy: Qu’est-ce que le virtuel?, S. 16. 32 Ebd., S. 14. 33 Ebd., S. 15. 34 Die Aktualität verhält sich „comme réponse à une question particulière.“ (Ebd., S. 16)

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2 Virtualität und Sand: Metaphorisches Modell

2.1.2 Das Virtuelle hat eine Realität (und ist nicht das Unreale) Systematisch ausgeschieden werden damit an dieser Stelle solche Positionen, die im Virtuellen eine Bedrohung für die Realität sehen, die jenseits massenmedialer Vermittlung eine durch die einzelnen selbst erfahrbare gesellschaftliche Wirklichkeit darstellt. Ein Beispiel hierfür wäre Jean Baudrillards Schreckbild einer Kultur, die sich durch ihre eigene permanente Medialisierung ihre Realität selbst entzieht. Das Konzept der Virtualität werde überall ins reale Leben hineindestilliert, und darüber sinke der Realitätsgrad, „weil das Medium selbst ins Leben übergegangen ist“.35 In diesem Szenario werden in einem zweiten Schritt Möglichkeiten, die der Mensch in seiner Realität nicht habe, durch die neuen Technologien realisiert. Technisch werde so eine vollkommene Welt erschaffen, aus der wir uns nicht zurückziehen könnten. Diese Art der Auseinandersetzung mit Virtualität als bloßem ‚Schein‘, der die Realität immer weiter zurückdrängt, kann hier als beispielhaft für einen Argumentationstyp gelten, der in verschiedensten Kontexten immer wieder ausgefaltet wird.36 Dieser Schein ist hier zumeist ein befürchteter Effekt der digitalen Medien, die Baudrillard als „Technologien des Virtuellen“37 bezeichnet.38 Obschon in dieser Formulierung deutlich wird, dass diese Technologien das Virtuelle besonders produzieren sollen, denkt Baudrillard Virtualität dennoch als Wahrnehmungsform. Dies ist dort anders, wo Virtualität nicht als Effekt von Technik, sondern als technische Funktion definiert wird. So möchte etwa Rudolf Maresch angesichts der vielen Bedeutungsvarianten von Virtualität das begriffliche Problem knapp wegdefinieren: „Um der Konfusion ein Ende zu setzen, sollte man sich den Begriff ‚virtuell‘ daher für all jene Vorgänge vorbehalten, die sich zwischen zentraler Recheneinheit (CPU) und grafischer Bild- und Benutzeroberfläche (Desktop) ereignen.“39 Der Computer wähle als Rechenmaschine nicht aus (und befände sich damit also nicht einmal im Unsicherheitsbereich verschiedener Möglichkeiten), sondern er rechne und sei damit „entscheidungssicher“: „Willkürlichkeit, Differentialität und Substituierbarkeit der Zeichen, die Deleuze als Realität des Virtuellen ausgibt, bekommen durch ihn einen Halt. Das 35 Jean Baudrillard: Die Illusion und die Virtualität. Vortrag im Kunstmuseum Bern am 03.10.1993, Bern 1994, S. 9. Vgl. dazu auch Baudrillards Grundthesen in Ders.: Simulacres et Simulation, Paris: Galilée 1981. 36 Vgl. dazu etwa Florian Rötzer (Hg.): Digitaler Schein. Ästhetik der elektronischen Medien, Frankfurt/M. 1991; Norbert Bolz: Eine kurze Geschichte des Scheins, München 1991. 37 Baudrillard: Die Illusion und die Virtualität, S. 10. 38 Vgl. auch Paul Virilio: Der negative Horizont, übers. v. Brigitte Weidmann, München: Hanser 1989. 39 Rudolf Maresch: Virtualität, (interaktive) Benutzeroberfläche, 2009, unter http://www.ru dolf-maresch.de/texte/72.pdf [01.01.2019].

2.1 Virtualitätskonzept

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Virtuelle ist nicht mehr nur real. Durch Komponenten wie Kabel, Transistoren und magnetische Platten wird es auch wieder höchst materiell.“40 Virtualität wird hier also nicht nur nicht als Gegenstück zur Realität gesehen, und es wird hier auch nicht die Realität einer virtuellen Struktur bekräftigt, nein: Virtualität ist hier nur noch in der Realität des Materiellen anzufinden. Maresch zieht mit seiner Definition Virtualität innerhalb der Unterscheidung von möglich/wirklich weg vom Möglichen ganz auf die andere Seite der Unterscheidung hin zur Realisation, die eine rein materielle sein soll. Virtualität soll in konkreter Technik lokalisierbar sein, auch wenn damit theoretisch (zusammen mit dem Konzept von Deleuze) ausgeklammert wird, dass diese Funktion Effekte produziert, die sich ihrerseits schwer lokalisieren lassen. Anders als diese Positionen, die dem Virtuellen entweder jede Realität absprechen oder es in der Realität des Materiellen festzusetzen versuchen, geht Deleuze von einer äußerst ernst zu nehmenden Realität des Virtuellen aus, die sich in dessen Struktur äußert: Die Realität des Virtuellen besteht in den differentiellen Elementen und Verhältnissen und in den singulären Punkten, die ihnen entsprechen. Die Struktur ist die Realität des Virtuellen. Wir müssen gleichermaßen vermeiden, den Elementen und Verhältnissen, die eine Struktur bilden, eine Aktualität zuzusprechen, die sie nicht besitzen, und die Realität abzusprechen, über die sie verfügen.41

Das Virtuelle hat also eine Realität durch seine Struktur, die durch die differentiellen Elemente und Verhältnisse bestimmt ist. Das Virtuelle ist sogar „vollständig bestimmt“, und ein Beispiel hierfür ist das Kunstwerk: Wenn sich das Kunstwerk auf eine Virtualität beruft, in die es eingelassen ist, so macht es keinerlei verworrene Bestimmung geltend, sondern die vollständig bestimmte Struktur, die durch seine genetischen differentiellen Elemente [...] gebildet wird. Die Elemente, die Verhältnisvarietäten, die singulären Punkte koexistieren im Werk oder im Objekt, im virtuellen Teil des Werks oder des Objekts, ohne daß man einen privilegierten Standpunkt gegenüber anderen, ein Zentrum, das die anderen Zentren vereinigen würde, festlegen könnte.42

Das Virtuelle ist damit strukturell dadurch gekennzeichnet, welche Aktualisierungen es zulässt; diese sind zwar nicht in der Weise prädeterminiert, wie es Deleuze für Möglichkeiten beschreibt, aber auch nicht beliebig. Durch die Bestimmtheit der differentiellen Elemente und seiner Verhältnisse gewinnt das Virtuelle seine Realität.

40 Ebd. 41 Deleuze: Differenz und Wiederholung, S. 264. 42 Ebd., S. 265.

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2 Virtualität und Sand: Metaphorisches Modell

Das Virtuelle und seine Realität: Es scheint wie ein Taschenspielertrick, den Begriff der Realität nebenbei durch ein Theoriegebäude einfließen zu lassen, das die Realität ausgerechnet des Virtuellen behauptet. Um also auch diesen Begriff nicht nur implizit mitlaufen zu lassen: Wie soll mit dem Realitätsbegriff weitergearbeitet werden? Es scheint mir sinnvoll, Realität als vorzufindende Struktur zu definieren, die den Rahmen für neue Strukturierungen bildet, wobei ein Realitätspluralismus damit durchaus nicht ausgeschlossen ist, da es verschiedene Strukturen gibt, die eine Realität darstellen können. Diese können dann sowohl soziale Realitäten sein, an denen sich das Handeln der einzelnen orientiert, die psychischen Realitäten einzelner oder die Realität von Fiktionen.

2.1.3 Virtualität verhält sich zu Aktualität wie das Medium zur Form Während die Theorien von Deleuze und Lévy eine übergreifende kulturtheoretische Sicht auf Virtualität anbieten, möchte ich in meinem Konzept den medientheoretischen Aspekt stärker fokussieren als es jene tun, ohne damit kultur- und auch literaturtheoretische Implikationen ausschließen zu wollen oder zu müssen.43 Dies soll durch den Versuch geschehen, die Unterscheidung von Virtualität und Aktualität, wie sie Deleuze/Lévy konzipieren, mit Niklas Luhmanns Unterscheidung von Medium und Form zusammenzudenken. Luhmann versteht unter Medien lose Kopplungen, in denen sich Formen als rigidere Kopplungen durchsetzen.44 Formen entstehen also dann, wenn sie in einem Medium feste Kopplungen bilden: „Ein Medium besteht in lose gekoppelten Elementen, eine Form fügt dieselben Elemente dagegen zu strikter Kopplung zusammen.“45 Unter lose gekoppelten Elementen versteht Luhmann Elemente, die für unterschiedlichste Verbindungen offen sind: „Gemeint ist [...] eine offene Mehrheit möglicher Verbindungen, die mit der Einheit eines Elementes noch kompatibel sind – also etwa die Zahl der sinnvollen Sätze, die mit einem sinnidenti-

43 Samuel Weber hat eine Möglichkeit, die Gedanken der beiden französischen Philosophen stärker medientheoretisch zu fassen, durchgespielt: Benjamin’s -abilities, Cambridge/Mass./ London: Harvard University Press 2008. 44 Eine ausführliche Auseinandersetzung mit Luhmanns Medium/Form-Unterscheidung findet sich bei Jörg Brauns (Hg.): Form und Medium, Weimar: VDG 2002. 45 Niklas Luhmann: Medium und Form, in: Ders.: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1997, S. 190–202, hier S. 198 – im Folgenden als Kurztitel zitiert: Luhmann: Medium und Form, GdG. Vgl. auch: „Formen werden in einem Medium durch feste Kopplung seiner Elemente gewonnen.“ (Niklas Luhmann: Medium und Form, in: Ders.: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1995, S. 165–214, hier S. 169 – im Folgenden als Kurztitel zitiert: Luhmann: Medium und Form, KdG)

2.1 Virtualitätskonzept

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schen Wort gebildet werden können.“46 An dieser Definition, dass das Medium aus Elementen und der offenen Mehrheit ihrer möglichen Verbindungen besteht, fällt die strukturelle Ähnlichkeit mit jener Definition auf, mit der Deleuze Virtualität beschreibt: als Realität von differentiellen Elementen und Verhältnissen, die verschieden aktualisiert werden können. Meine These ist daher, dass die Relation von Medium und Form der Relation von Virtualität und Aktualität entspricht. Virtualität kann als Spezifikation von Medien begriffen werden, und Aktualität als Spezifikation von Formen. Virtualität folgt aus der losen Kopplung von Elementen und lose Kopplungen beinhalten Probleme der Virtualität. Virtualität verstehe ich somit im Sinne von Deleuze/Lévy als Problem und auf der Basis von Luhmanns Medienbegriff als lose Kopplung, hiermit die Strukturen von Deleuze/Lévys Virtualitätsbegriff und Luhmanns Medienbegriff verknüpfend. Dies erfordert einige begriffliche Klärungen, erscheint aber mit Blick auf die konkreten Bestimmungen zulässig, die Deleuze/Lévy der Differenz von Virtualität und Aktualität bzw. Luhmann der Medium/Form-Differenz zuweisen. I. Virtualität/Aktualität und Medium/Form sind jeweils zwei Seiten einer Unterscheidung Eine erste, fundamentale Bestimmung, die die Begriffe kompatibel macht, ist die Tatsache, dass sie jeweils als zwei Seiten einer Unterscheidung aufgefasst werden. So sind bei Deleuze/Lévy Virtualität und Aktualität unauflöslich aufeinander bezogen, indem im Aktuellen (in der Lösung) die Virtualität (ein Problem) vorhanden ist und umgekehrt das Virtuelle (ein Problem) die Aktualität (seine Lösung) enthält.47 So trägt das Virtuelle wie beim Saatgut schon seine Aktualisierung in sich, während auf der anderen Seite das Virtuelle im Aktuellen erscheint; etwa wenn ein Ereignis eine vorhergehende Problematik reorganisiert oder verschiedene Interpretationen zulässt.48 Bei Luhmann sind Medium und Form zwei Seiten einer Unterscheidung, die immer aufeinander verweisen, „die nicht voneinander gelöst, nicht gegeneinander isoliert gedacht werden können“;49 vielmehr sind Medien die Bedingung für Formen und Formen bilden sich in Medien: „In diesem Sinne ist feste Kopplung sogar

46 Ebd., S. 168. 47 Deleuze formuliert in Bezug auf Kant: „Allerdings trifft es zu, daß zum einen die Natur der Lösungen auf verschiedene Problemordnungen in der Dialektik selbst verweist; und daß andererseits sich die Probleme, kraft ihrer Immanenz, die nicht weniger wesentlich ist als die Transzendenz, selber technisch in jenem Lösungsbereich ausdrücken, den sie in Abhängigkeit von ihrer dialektischen Ordnung erzeugen.“ (Differenz und Wiederholung, S. 230) 48 Vgl. Lévy: Qu’est-ce que le virtuel?, S. 14. 49 Luhmann: Medium und Form, KdG, S. 169.

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eine Art Fortsetzung von loser Kopplung, eine Existenzform des Mediums.“50 Das, was Medium und Form verbindet, ist also das Merkmal der Kopplung von Elementen: „Das Gemeinsame der beiden Seiten dieser Unterscheidung, also das, was sie als Unterscheidung von anderen Unterscheidungen unterscheidet, liegt im Begriff der Kopplung von Elementen.“51 Das Gemeinsame von Virtualität und Aktualität liegt bei Deleuze in der Problematik der Differenzen, wie er im Kapitel Ideelle Synthese der Differenz beschreibt: Während die Differentiation den virtuellen Inhalt der Idee als Problem bestimmt, drückt die Differenzierung die Aktualisierung dieses Virtuellen und die Konstitution der Lösungen (durch lokale Integrationen) aus. Die Differenzierung ist gleichsam der zweite Teil der Differenz, und man muß den komplexen Begriff Differentiation/zierung [différent/ciation] prägen, um die Integrität oder Integralität des Objekts zu bezeichnen. tiation und zierung [t und c] sind hier das Unterscheidungsmerkmal oder das phonologische Verhältnis der Differenz selbst. Jedes Objekt ist doppelt, ohne daß sich seine beiden Hälften ähneln, von denen die eine das virtuelle Bild, die andere das aktuelle Bild ist. Unpaarige ungleiche Hälften.52

Die Differentiation ist auf der Seite des problematischen Virtuellen zu verorten, während die Differenzierung als „der zweite Teil der Differenz“ (als die andere Seite der Unterscheidung) auf der Seite der Lösung und Aktualisierung angesiedelt ist. Bezogen auf die Medium/Form-Unterscheidung steht die Differentiation in Entsprechung zur Form des Mediums und die Differenzierung zur Formbildung, während die medialen Elemente sich in Entsprechung zu den differentiellen Elementen des Problematischen sehen lassen, wie sie Deleuze beschreibt.53 Virtualität und Aktualität bilden wie Medium und Form zwei Seiten einer Unterscheidung als zwei Teile einer Differenz, als „ungleiche Hälften“. II. Zwischen Virtualität und Aktualität bzw. Medium und Form finden Prozesse der Bildung und Auflösung statt Grundlegend für beide Begriffspaare ist zudem, dass sie gleichermaßen Prozesse der Bildung und Auflösung beschreiben. Bei Luhmann heißt es: „Das Medium

50 Niklas Luhmann: Die Form der Schrift, in: Hans Ulrich Gumbrecht/Ludwig K. Pfeiffer (Hg.): Schrift, München 1994, S. 349–366, hier S. 356. 51 Luhmann: Medium und Form, KdG, S. 167. Vgl. auch ebd., S. 169, oder: „Die Unterscheidung [von Medium und Form] behandelt zwei verschiedene Möglichkeiten der Kopplung von Elementen. Lose gekoppelt bilden Elemente ein Medium, fest gekoppelt bilden sie eine Form.“ (Niklas Luhmann: Zeichen als Form, in: Dirk Baecker (Hg.): Probleme der Form, Frankfurt/M. 1993, S. 45–69, hier S. 64) 52 Deleuze: Differenz und Wiederholung, S. 265. 53 Vgl. ebd., S. 229.

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wird gebunden – und wieder freigegeben. Ohne Medium keine Form und ohne Form kein Medium, und in der Zeit ist es möglich, diese Differenz ständig zu reproduzieren.“54 Oder auch: „Man müßte von Koppeln und Entkoppeln sprechen – von einer nur momentanen Integration, die Form gibt, sich aber wieder auflösen läßt.“55 Will sich die Eigenschaft der losen Kopplung auf virtuelle Strukturen übertragen lassen, so muss sie auf das Beispiel zutreffen, das Lévy zur Funktionsweise der Virtualität heranzieht, nämlich das virtuelle Unternehmen. Dieses bestehe nicht mehr durch feste Koordinaten in Zeit und Raum (durch feste Arbeitsplätze, zu denen sich immer dieselben Personen zu festen Zeiten begeben), sondern durch Prozesse der Koordination, welche die zeit-räumlichen Koordinaten der Arbeit immer wieder neu für die jeweiligen Mitglieder festlegten.56 Die Existenzweise eines virtuellen Unternehmens gleicht damit der Struktur der losen Kopplung: Verschiedene Arbeitsplätze, -zeiten und -kräfte sind lose miteinander verbunden, und zur Erledigung der Arbeit bildet das Unternehmen je neue Koordinations-Formen aus, die sich aber immer wieder auflösen müssen, um zu wieder neuen Koordinations-Formen umgebildet zu werden. In Übereinstimmung damit lassen sich auch die Beschreibungen der jeweiligen Bildungsprozesse bringen: der Aktualisierung auf der einen Seite (Deleuze/Lévy) bzw. der Formbildung auf der anderen (Luhmann). Lévy fügt beide Begriffe sogar direkt zusammen: „L’actualisation invente une forme“.57 Deleuze wiederum setzt im Übergang vom Virtuellen zum Aktuellen vier Terme synonym: „[A]ktualisieren, differenzieren, integrieren, lösen. Die Natur des Virtuellen ist so beschaffen, daß Aktualisierung für es Differenzierung bedeutet. Jede Differenzierung ist eine lokale Integration, eine lokale Lösung“.58 Da ja Luhmann Formen als rigide Kopplungen beschreibt, könnte man nun sagen, dass sich diese Formen durch Differenzierung von anderen rigiden oder losen Kopplungen bilden, sich damit lokal integrieren und so insgesamt ein lokales Formbildungsproblem lösen. Form ist nämlich bei Luhmann nicht zuletzt als genau das definiert: als „momentane[ ] Integration“59 und Unterscheidung.60 Medien lassen sich also als Differentiationen (die Seite des

54 Luhmann: Medium und Form, GdG, S. 199. 55 Ebd. 56 Vgl. Lévy: Qu’est-ce que le virtuel?, S. 16. 57 Ebd., S. 137. 58 Deleuze: Differenz und Wiederholung, S. 267. Vgl. auch ebd., S. 268. 59 Luhmann: Medium und Form, GdG, S. 199. 60 „An dieser Stelle sei daran erinnert, daß wir unter ‚Form‘ die Markierung einer Unterscheidung verstehen. Also ist auch die Unterscheidung von Medium und Form eine Form.“ (Ebd.,

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Virtuellen bei Deleuze) und Formen als Differenzierungen (die Seite des Aktuellen bei Deleuze) beschreiben!61 Damit ist der Prozess der Aktualisierung angedeutet, in dem sich feste Kopplungen durchsetzen. Meist übersehen wird, wie auch Lévy zutreffend bemerkt,62 die andere Seite der Unterscheidung, das ‚Virtualisieren‘. Virtualisieren bedeutet im Gegensatz zum Aktualisieren, feste Kopplungen, also einmal aktualisierte Formen, zu lösen und Probleme aufzuwerfen. Dies geht, weil Formen prinzipiell instabil sind. III. Das Virtuelle und das Medium sind über die Zeit hinweg stabil, das Aktuelle und die Formen instabil; sichtbar sind nur die aktualisierten Formen Gemeinsam ist Medien und Formen ihre Eigenschaft, aus Kopplungen zu bestehen; die Art, wie sie dies tun, unterscheidet sie jedoch, denn „Kopplung ist ein Begriff, der Zeit impliziert.“63 So sind Formen immer stärker, und das heißt hier: durchsetzungsfähiger als das Medium selbst: „Das Medium setzt ihnen [den Formen] keinen Widerstand entgegen – so wie Worte sich nicht gegen Satzbildung […] sträuben können.“64 „Das Medium nimmt [...] die für es möglichen Formen widerstandslos auf“.65 Luhmann spricht an anderer Stelle vom „Zusammenhang von Durchsetzungsstärke und zeitlicher Flüchtigkeit der Form.“66 Das heißt, dass die Formen zwar durchsetzungsfähiger sind, weil sie rigide Kopplungen darstellen, aber dafür über die Zeit hinweg flüchtig sind, weil sie sich irgendwann im Medium wieder auflösen: „Sie koppeln und entkoppeln das Medium, könnte man sagen.“67 Sie sind damit instabil, denn „diese Durchsetzungsfähigkeit der Form muß mit Instabilität bezahlt werden.“68 Auch Aktualisierung ist damit ein Begriff, der Zeit impliziert: Eine aktuelle Kopplung ist eine nur „momentane[] Integration“, die eine Form herstellt, sich aber mit der Zeit auch wieder auflösen – virtualisieren – lässt.

S. 198); vgl. auch: „Wie im Formenkalkül von George Spencer Brown soll der Begriff der Form auf eine vorausgesetzte Unterscheidung bezogen werden. Die Unterscheidung selbst ist dann, sofern sie von dem durch sie Unterschiedenen unterschieden wird, die Form.“ (Luhmann: Zeichen als Form, S. 49) Oder vgl. Luhmann: Medium und Form, KdG, S. 169. 61 Vgl. Deleuze: Differenz und Wiederholung, S. 265. 62 Vgl. Lévy: Qu’est-ce que le virtuel?, S. 10. 63 Luhmann: Medium und Form, GdG, S. 199. 64 Luhmann: Medium und Form, KdG, S. 170. 65 Ebd., S. 171. Vgl. auch ebd., S. 170. 66 Luhmann: Medium und Form, GdG, S. 200. 67 Luhmann: Medium und Form, KdG, S. 170. Vgl. auch Luhmann: Medium und Form, GdG, S. 199. 68 Luhmann: Medium und Form, KdG, S. 171. Vgl. auch ebd., S. 170.

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Anders als die Formen ist dagegen das Medium in zeitlicher Hinsicht beständig: „Das Medium ist stabiler als die Form – eben weil es nur lose Kopplungen benötigt“.69 Die Bildung von Formen minimiert nämlich die Möglichkeiten des Mediums nicht: „Formen können also in einem Medium wie immer flüchtig oder längerfristig gebildet werden, ohne daß das Medium dadurch verbraucht würde oder mit Auflösung der Form verschwände.“70 Formen sind daher flüchtiger als ihr Medium: „Die lose Kopplung (das Medium) gewährt die dauernde Möglichkeit fester Kopplungen [...]. Die festen Kopplungen [die Formen] sind vorläufig, sie bilden sich und lösen sich auf“.71 Die lose Kopplung korreliert also mit Dauerhaftigkeit und Stabilität und die rigide Kopplung mit Vorläufigkeit und Instabilität: „Die Stabilität des Mediums beruht auf der Instabilität der Formen, die ein Verhältnis fester Kopplung realisieren und wieder auflösen. Medien sind invariant, Formen variabel.“72 Entsprechend lassen sich auch in die Unterscheidung von Virtualität und Aktualität die Stabilität von Problemen und die Instabilität von Lösungen eintragen. In Bezug auf Kants Konzept der Idee erläutert Deleuze, dass „die wahren Probleme Ideen seien und daß diese Ideen nicht durch ‚ihre‘ Lösungen beseitigt werden, da sie die unerläßliche Bedingung sind, ohne die keine Auflösung jemals existieren würde.“73 Weil die Probleme „unerläßliche Bedingung“ ihrer Lösungen sind, sind sie beständig, denn die Lösungen „beseitigen“ die Probleme ebenso wenig wie die Formbildungen das Medium verbrauchen. Das Medium kann in diesem Verständnis als dauerhaft problematisches Feld für Lösungen verstanden werden. Das Medium ist stabiler als die Formen, die sich in ihm bilden, wird aber gleichwohl nur durch die Formen sichtbar. Medien sind unsichtbar, weil „nicht das mediale Substrat, sondern nur die Formen im System operativ anschlußfähig sind. Mit den formlosen, lose gekoppelten Elementen kann das System nichts anfangen. Das gilt bereits für die Wahrnehmungsmedien. Man sieht nicht das Licht, sondern die Dinge, und wenn man Licht sieht, dann an der Form der Dinge.“74 „Das unsichtbare Medium“, so erläutert Elena Esposito, „wird nur in seinen Formen sichtbar, aber in den Rekombinationen wird ein Verweis auf die Unbestimmtheit des Mediums erhalten, sodass erkennbar bleibt, dass die Formen auch anders hätten sein können“; das „Geld trifft man immer als investierte Summe an“, die Sprache nur in Form von

69 Ebd. 70 Ebd., S. 171. Vgl. auch ebd., S. 170. 71 Luhmann: Die Form der Schrift, S. 356. 72 Luhmann: Medium und Form, KdG, S. 209. 73 Deleuze: Differenz und Wiederholung, S. 218. 74 Luhmann: Medium und Form, GdG, S. 201.

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Wörtern und Sätzen etc.75 Medien sind mithin, so wieder Luhmann, „nur an der Kontingenz der Formbildung erkennbar [...], die sie ermöglichen. (Das entspricht der alten Lehre, daß Materie als solche, als reines Chaos, für das Bewußtsein unzugänglich sei.)“76 In einer Fußnote zitiert Luhmann Friedrich Schlegel: „Die Materie ist kein Gegenstand des Bewußtseyns. Nämlich es ist das Merkmahl des Chaos, daß nichts darinnen unterschieden werden kann; und es kann nichts ins Bewußtseyn kommen, was nicht unterschieden ist. Nur die Form kommt ins empirische Bewußtseyn. Was wir für Materie halten, ist Form.“77 Peter Fuchs kommentiert: „Ein Beobachter kann, so scheint es, das Medium nur als Form entdecken.“78 Esposito beschreibt diese Verschränkung von Unsichtbarkeit und Stabilität als paradoxal: „Das unsichtbare Medium verdankt seine Stabilität dem temporären und flüchtigen Charakter der Formen, die verschwinden, aber sichtbar sind.“79 Das ununterschiedene mediale Substrat ist damit nicht sichtbar, und nicht sichtbar ist auch die Differentiation oder das „differentielle Element“ bei Deleuze: Es „ist das Spiel der Differenz als solcher, die sich weder durch die Repräsentation vermitteln noch der Identität des Begriffs unterordnen läßt.“80 Sichtbar wird nicht die Virtualität, sondern immer nur die aktualisierte Differenz, die Lösung, in der sich ein Problem ausdrückt.81 Die Virtualität ist die Bedingung der Aktualisierungen, aber gleichzeitig wird sie nur in ihren Aktualisierungen sichtbar. IV. Kontingenz: Aktualisierungen und Formen sind nicht in der Virtualität bzw. im Medium prärealisiert; die Formbildung ist im Medium kontingent Des Weiteren dürfen Medien, wenn man sie als virtuell im Sinne von Deleuze/ Lévy beschreibt, keine vorgefertigten Möglichkeiten bereitstellen, denn Virtualität gilt ihnen ja als Problemkomplex und nicht als fertige Summe von wählbaren Möglichkeiten, die gleichsam nur auf ihre Realisierung warten.82 Dies lässt

75 Elena Esposito: Was man von den unsichtbaren Medien sehen kann, in: Soziale Systeme 12,1 (2006), S. 53–77, hier S. 62. 76 Luhmann: Medium und Form, KdG, S. 168. 77 Friedrich Schlegel: Jenaer Vorlesung Transzendentalphilosophie, 1800–1801, in: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. XII, München 1964, S. 37 f., zit. n. Luhmann: Medium und Form, KdG, S. 168 f., Anm. 8. 78 Peter Fuchs: Die Beobachtung der Medium/Form-Unterscheidung, in: Brauns (Hg.): Form und Medium, S. 71–83, hier S. 77. 79 Esposito: Was man von unsichtbaren Medien sehen kann, S. 56. 80 Deleuze: Differenz und Wiederholung, S. 229. 81 Vgl. ebd., S. 230. 82 Vgl. hierzu auch Henri Bergson: Das Mögliche und das Wirkliche, in: Ders.: Denken und schöpferisches Werden. Aufsätze und Vorträge, Frankfurt/M.: Syndikat 1985, S. 110–125. Die Begriffe des Möglichen und Virtuellen werden bei Bergson synonym verwendet. Das Mögliche ist

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sich indessen für Luhmanns Beschreibung von Medien durchaus feststellen: Medien sind demnach nur an der „Kontingenz der Formbildung erkennbar“,83 die sie ermöglichen; alle Formen erscheinen als akzidentiell, d. h. keine von ihnen drückt ein ohnehin nicht existierendes ‚Wesen‘ des Mediums aus. Schwierig wird die Zuordnung dieser Begrifflichkeiten allerdings bei dem von Luhmann so genannten „allgemeinste[n] Medium“,84 dem Medium Sinn. Sinn bestehe in der Unterscheidung von potentiell/aktuell bzw. möglich/wirklich.85 Er sei die Einheit der Differenz zwischen Aktuellem und Möglichem und erlaube, da alles Mögliche ebenso Sinn habe wie alles Reale, die Welt als das Nicht-Aktualisierte zugänglich zu halten.86 Hier ruft Luhmann also ausgerechnet jene Unterscheidungen auf, die bei Deleuze/Lévy ausgeschlossen werden; Luhmann geht aber nicht von präformierten Möglichkeiten aus, aus denen gewählt werden kann, sondern er versteht sie als komplexe Gebilde – und als virtuell im Sinne von Deleuze/Lévy. Dort, wo ich etwas setze, befindet sich eine Virtualität, weil die Setzung im Feld dessen stattfindet, was auch hätte gesetzt werden können. Was gesetzt werden kann, ist indessen nicht beliebig, da dies auf die jeweilige Sinnstruktur bezogen ist, vor deren Hintergrund Setzungen aktualisiert werden. Ohne Setzung bestünde allerdings auch dieses Feld nicht. Aus diesem Grunde gibt es im Luhmannschen System auch keinen ‚Unsinn‘, da schon die Setzung von Unsinn selbst Sinn erzeugt, indem sie ein virtuelles Feld eröffnet. Das Prozessieren von Sinn läuft über die Wahl von Unterscheidungen, und das heißt: von Formen. Es wird etwas Bestimmtes (dies) bezeichnet, wenn z. B. gesagt wird: Diese Eibe ist diese Eibe (und nichts anderes), bzw. sie ist eine Eibe (und kein anderer Baum). Die Unterscheidung führt also immer „den Hinweis mit, dass es immer auch noch etwas anderes gibt – sei es Unbestimmtes, sei es Bestimmtes, sei es Notwendiges oder nicht zu Leugnendes, sei es nur Mögliches oder Bezweifelbares, sei es Natürliches oder Künstliches.“87 Mit jedem

demnach nicht wie in „Schubfächern“ vor seiner Verwirklichung vorhanden, sondern es zeigt sich erst: „In demselben Maße, wie die Wirklichkeit sich erschafft als etwas Unvorhersehbares und Neues, wirft sie ihr Bild hinter sich in eine unbestimmte Vergangenheit; sie erscheint so als zu jeder Zeit möglich gewesen, aber erst in diesem Augenblick beginnt sie, es immer gewesen zu sein, und gerade darum sage ich, daß ihre Möglichkeit, die ihrer Wirklichkeit nicht vorausgeht, ihr vorausgegangen sein wird, sobald die Wirklichkeit aufgetaucht ist. Das Mögliche ist also das Spiegelbild des Gegenwärtigen im Vergangenen“ (ebd., S. 121). 83 Luhmann: Medium und Form, KdG, S. 168. 84 Ebd., S. 173. 85 Vgl. z. B. ebd., S. 174. 86 Vgl. Claudio Baraldi: Sinn, in: Ders./Giancarlo Corsi/Elena Esposito: GLU. Glossar zu Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1997, S. 170–173, hier S. 172f. 87 Luhmann: Medium und Form, KdG, S. 174.

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Sinn wird nun, da die Form alles Nicht-Aktualisierte offen hält, eine „unfaßbar hohe Komplexität (Weltkomplexität) appräsentiert und für die Operationen psychischer bzw. sozialer Systeme verfügbar gehalten.“88 Der Sinn der Eibe besteht damit darin, dass sie so aussieht, wie sie aussieht, und darin, auf all jenes zu verweisen, was anders aussieht als sie selbst. Die jeweiligen Aktualisierungen geschehen daher, wie Luhmann später weiter ausführt, in Horizonten, die eine Vielzahl weiterer Aktualisierungsmöglichkeiten appräsentieren. Es bilden nämlich „anknüpfende Verweisungen auf ein ‚Und-so-weiter‘ weiterer Möglichkeiten ein Verhältnis loser Kopplung ab, das nur durch weitere Aktualisierungen gebunden werden kann. Die feste Kopplung ist das, was gegenwärtig [...] realisiert ist. Die lose Kopplung liegt in den dadurch nicht festgelegten Möglichkeiten des Übergangs vom einen zum anderen.“89 Eine Lösung des begrifflichen Problems könnte darin bestehen, dass das Mögliche bei Luhmann als Oberkategorie zur Unterscheidung des notwendig Möglichen vom kontingent Möglichen fungiert.90 Das notwendig Mögliche würde dann den präformierten Möglichkeiten entsprechen, die Deleuze/Lévy in der Unterscheidung von möglich/wirklich ihren Realisationen entgegenstellen, während das kontingent Mögliche das abstecken würde, was Deleuze/Lévy als virtuell beschreiben, als (reales) Problem, dessen (ebenso reale) Lösung nicht präformiert ist, sondern erst inventiv gebildet werden muss. Aktualisierte Formen sind dann, weil sie immer auch anders möglich sind (weil das Problem der Virtualität immer auch anders gelöst oder die Form im Medium immer auch anders gebildet werden kann), kontingent. Die Unterscheidung von virtuell/aktuell wäre in diesem Verständnis dann ein Unterpfad des Möglichen, als kontingent Mögliches. Medium und Virtualität weisen somit beide eine Struktur für kontingente Formbildung auf, und dies ist ein Befund, der nicht deutlich genug hervorgehoben werden kann. Berücksichtigt man außerdem, dass die Unterscheidung von Medium/Form perspektivenabhängig ist, ist schon das kontingent, was überhaupt als Medium oder als virtuell erscheint und als Struktur für kontingente Formbildung wahrgenommen wird.

88 Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt/M.: Suhrkamp 51994, S. 94. 89 Luhmann: Medium und Form, GdG, S. 199 f. 90 In diesem Sinne versteht es auch Esposito: Fiktion und Virtualität, S. 269–295; was aktuell wird, ist daher immer kontingent aktuell geworden und was nicht aktuell geworden ist, ist nicht notwendig-möglich, sondern kontingent-möglich: „Wie kann man die nicht möglich gewordenen Möglichkeiten behandeln, die sich nicht als ‚andere‘ Seite der kontingent aktuell gewordenen Möglichkeiten aktualisiert haben? Wie kann man die Kontingenz nicht nur des Aktuellen, sondern auch des Möglichen behandeln?“ (Esposito: Was man von den unsichtbaren Medien sehen kann, S. 59 f.)

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V. Limitierung: Aktualisierungen und Formen werden durch die Struktur der Virtualität und die Form des Mediums limitiert; sie sind nicht beliebig Aktualisierungen und Formen sind also nicht in der Virtualität bzw. im Medium prärealisiert; sie sind aber auch nicht beliebig. Dass das „Medium der Unterschied [ist], das den Unterschied macht“,91 kann als Wissen der neueren Medientheorien behauptet werden. Speziell für den systemtheoretischen Medienbegriff gilt in diesem Sinne, dass die Form des Mediums für die Formen, die in ihm gebildet werden, durchaus von Bedeutung ist. Da Luhmann hier nicht immer eindeutig formuliert, gilt sein Medienbegriff oftmals als Beispiel für einen ‚reinen‘ Medienbegriff, der die Spezifik der jeweiligen Medien in seiner eigenen theoretischen Bestimmung weitgehend ausblendet. Mit einem solchen Medienverständnis lässt sich jedoch Luhmanns Medienbegriff nicht erfassen; vielmehr gibt es für ihn bestimmte Regeln, nach denen sich Formen in Medien bilden können: „Natürlich limitieren Medien das, was man mit ihnen anfangen kann. Sie schließen, da sie ja ihrerseits aus Elementen bestehen, Beliebigkeit aus.“92 „Medien werden nicht nur aus immer schon geformten Elementen gebildet“,93 diese Elemente müssen wieder erkennbar sein,94 und nicht jedes Element kann mit jedem anderen verknüpft werden:95 Die Form des Mediums besteht also in seinen spezifischen Elementen und deren Verknüpfungsregeln, so wie die Struktur der Virtualität in ihren differentiellen Elementen und Verhältnissen besteht. In Lévys Beispiel des Saatguts ist dieses zwar offen für Formen (Aktualisierungen), indem ‚alles Mögliche‘ aus ihm entstehen kann (was virtuell ist); gleichzeitig gibt das Saatgut aber auch bestimmte Limitierungen vor (als Struktur seiner Virtualität), indem es eben kein Saatgut für alles Mögliche, sondern eine Kastanien-, Haselnuss- oder Nelkensaat ist. Die Struktur des Saatguts limitiert die Möglichkeiten, weil die Form des Mediums sich nicht verflüchtigt: Eine Saatsorte generiert immer

91 Jürgen Fohrmann: Der Unterschied der Medien, in: transcriptionen 1 (März 2003), S. 2–7, hier S. 2. 92 Luhmann: Medium und Form, KdG, S. 170. Nach Luhmann zieht das Kunstwerk die Differenz von Medium und Form, sodass es dem „Sog selbstfestgelegter Unterscheidungen folgt und eigene Formen bestimmt. Die Spezifik der Kunstformen beruht nun darauf, daß die Bestimmung der einen Seite nicht völlig offen läßt, was auf der anderen Seite geschehen kann. Sie determiniert die andere Seite nicht, aber sie entzieht die Bestimmung der anderen Seite dem Belieben. Was dort vorkommen kann, muß ‚passen‘, wenn nicht der Eindruck eines Mißklangs, eines Fehlers, einer Störung entstehen soll (was natürlich als Form auch gewollt sein kann und dann seinerseits nach passendem Ausgleich verlangt).“ (Ebd., S. 189) 93 Ebd., S. 172. 94 Vgl. ebd., S. 170. 95 Vgl. Luhmann: Medium und Form, GdG, S. 196.

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wieder neue Formen, aber das Formeninventar selbst, das sie zu einer spezifischen Saatsorte macht, bleibt erhalten. Dieses Beispiel des Saatguts, mit dem Lévy die Funktionsweise des Virtuellen verdeutlicht, und Deleuzes Behauptung, dass die Realität des Virtuellen in seiner Struktur besteht, zeigen, dass auch bei ihnen von einer Struktur (des Virtuellen) ausgegangen wird, dass das Virtuelle, selbst wenn es nicht präformiert ist, gleichwohl nicht beliebig strukturiert ist. So bildet sich nach Lévy z. B. ein Individuum erst aus einer mehrfach bestimmten Virtualität heraus, „les virtualités inhérentes à un être, sa problématique, le noeud de tensions, de contraintes et de projets qui l’animent, les questions qui le meuvent sont une part essentielle de sa détermination.“96 Diesen Prozess der Aktualisierung beschreibt Lévy als inventiv, aber eben immer ausgehend von einer Konfiguration aus Kräften und Bestimmungen, eine „invention d’une forme à partir d’une configuration dynamique de forces et de finalités.“97 Bei Deleuze heißt es entsprechend zum Verhältnis von Problem und Lösung: „Denn die Auflösung setzt ein Problem voraus, d. h. die Konstitution eines einheitlichen systematischen Feldes, das die Forschungen oder Befragungen ausrichtet und subsumiert, und zwar derart, daß die Antworten ihrerseits eben Lösungsfälle bilden.“98 Dieses systematische Feld ist durch die Differentiation spezifiziert, denn diese bestimmt den virtuellen Inhalt der Idee als Problem. Medien sind also nicht nur virtuell, sondern dieses Virtuelle hat eine Struktur, eine Form, wobei die spezifische Form eines spezifischen Virtuellen auch die spezifische Medialität kennzeichnet. Wenn daher nachfolgend (in Kap. 2.2) die Modellbildung von Virtualität anhand des Mediums Sand vorgenommen wird, so kann hierbei auch dies gezeigt werden: dass die Form des Mediums mitzudenken ist, dass Sand als Virtualitätsmetapher nur aufgrund seiner spezifischen Medialität funktionieren kann; mit den Medien Kies oder Lehm wäre diese Formbildung nicht zu leisten. VI. Gradualität: ‚Hochaufgelöste‘ Medien haben einen hohen Virtualitätsgrad Am Sand wird sich auch zeigen lassen, dass Medien nicht im gleichen Maße limitiert sind. Vielmehr kann das Medium die Formbildung weniger oder mehr limitieren, es kann mehr oder weniger ‚medial‘ bzw. ‚virtuell‘ sein, wobei es weniger limitiert ist, wenn es ein hohes Auflösungsvermögen in Bezug auf die Formbildung hat: Die Elemente sind nicht autonom gegeben, sondern werden vom System aufgrund eines eigenen Auflösevermögens konstituiert, das die externen Gegebenheiten in intern verfüg-

96 Lévy: Qu’est-ce que le virtuel?, S. 14. 97 Ebd., S. 15. 98 Deleuze: Differenz und Wiederholung, S. 218.

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bare Einheiten umwandelt – und der Auflösungsgrad des Mediums richtet sich nach der beabsichtigten Formenbildung. Je abstrakter die vorzuführenden Formenkombinationen, desto stärker muss das Medium aufgelöst werden.99

Die interne Verfügbarkeit also ist das Maß der Auflösung: Je mehr Verbindungen die medialen Elemente potentiell eingehen können, desto höher ist das Medium aufgelöst, desto ‚medialer‘ ist es. Und in Bezug auf Deleuze lässt sich sagen: Auflösung korreliert mit Differenzierung, d. h. je stärker das Medium aufgelöst ist, desto höher ist auch der Grad seiner Differenziertheit im Rahmen der differentiellen Elemente und desto ‚virtueller‘ ist es. Es gibt also verschiedene Grade der Auflösung. Diese kennzeichnen zum einen verschiedene Grade von Formbildungsmöglichkeiten sowie zum anderen verschiedene Grade von Dauerhaftigkeit, also verschiedenen Zeitspannen, für die Formen gebildet werden bzw. in denen Formen aktualisiert werden. Nämlich: Je aufgelöster, differenzierter, medialer und virtueller das Medium ist, desto weniger stabil sind die Formen, die in ihm gebildet werden. Diese Gradualität wird in den Kapiteln relevant, in welchen es um die verschiedenen Virtualisierungsgrade von Formen geht.100 ——— Für meine übergeordnete These lässt sich nach der Darlegung der einzelnen Bestimmungen sagen, dass Luhmanns Beschreibung der Medium/Form-Unterscheidung sowie Deleuzes/Lévys Beschreibung der Virtualität/AktualitätsUnterscheidung eine Relationierung beider ohne fundamentale Irritationen zulassen. Das heißt also: In den genannten Bestimmungen kann Virtualität im Kontext von Luhmanns Medium/Form-Unterscheidung als Spezifikation des Mediums und entsprechend Aktualität als Spezifikation von Formen gelten. Umgekehrt ist Virtualität als lose Kopplung beschreibbar sowie Aktualität als rigide Kopplung bzw. Form. Wozu aber braucht es für die konzeptionelle Arbeit zu Virtualität überhaupt Luhmanns Unterscheidung von Medium und Form? Warum reicht es nicht, mit Deleuze/Lévy zu argumentieren? Zum einen erlaubt die Hinzunahme der Medium/Form-Unterscheidung, wie bereits erwähnt, eine deutlichere medientheoretische Situierung der Begrifflichkeiten.

99 Esposito: Was man von den unsichtbaren Medien sehen kann, S. 56. „Die Evolution der Wissenschaft wird zum Beispiel von einer laufenden Steigerung des Auflösevermögens begleitet, korreliert aber mit einer entsprechenden Zunahme des Rekombinationsvermögens, also der Formbildungsfähigkeit“ (ebd.). Esposito bezieht sich auf Luhmann: Die Funktion der Kunst und die Ausdifferenzierung des Kunstsystems, KdG, S. 252. 100 Vgl. Kap. 2.3; Kap. 4; Kap. 5; Kap. 6.

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Zum anderen ergibt sich aber auch eine markante erkenntnistheoretische Verschiebung.

2.1.4 Was virtuell ist und was Medium ist, ist ein Effekt von Perspektivierung Medium und Form sind bei Luhmann Kategorien, die die Beobachtung vorgibt, während Lévy Virtualität und Aktualität als zwei Zustände versteht. Für ihn sind Virtualität und Aktualität „deux manières d’être différentes“,101 also zwei verschiedenen Seinsweisen, so wie auch sein dazu gehöriges Beispiel von Saatgut und ausgewachsenem Baum zwei verschiedene Seinsweisen oder Zustände eines ‚Baumes‘ darstellt.102 Bei Luhmann stellt sich hingegen immer nur für einen Beobachter etwas als Form oder als Medium dar. Eine der Grundlagen für Luhmanns beobachtungsorientierte Theorie ist – wie in medientheoretischen Arbeiten immer wieder angemerkt – Fritz Heiders Aufsatz Ding und Medium von 1926.103 Die erkenntnistheoretischen Konsequenzen sind insofern weitreichend, als die Unterscheidung von Medium und Form, so wie Luhmann sie versteht, die Unterscheidung Substanz/Akzidenz oder Ding/Eigenschaft ersetzt.104 Medien und Formen sind nicht wie Dinge oder Eigenschaften ‚da‘, sondern werden jeweils von Systemen aus konstruiert und setzen Systemreferenz voraus: „Es gibt sie

101 Lévy: Qu’est-ce que le virtuel?, S. 13. 102 Deleuze betont gleichwohl, dass die Virtualität nicht auf die Identitätsform im Begriff verweist wie die Möglichkeit, sondern „eine reine Mannigfaltigkeit in der Idee bezeichnet“ (Deleuze: Differenz und Wiederholung, S. 268). Auch dürfen die „Elemente der Mannigfaltigkeit [...] weder sinnliche Form noch begriffliche Bedeutung und folglich keine zuweisbare Funktion besitzen. Sie besitzen nicht einmal aktuelle Existenz und sind untrennbar von einem Potential oder einer Virtualität. In diesem Sinne implizieren sie keinerlei vorgängige Identität, keinerlei Setzung von irgendwas, das man Eines oder Dasselbe nenne könnte; ihre Unbestimmtheit aber ermöglicht demgegenüber die Manifestation der Differenz als von jeglicher Unterordnung befreit.“ (Ebd., S. 234) 103 Fritz Heider: Ding und Medium, Berlin: Kadmos 2005. Hier entnimmt Luhmann u. a. den Begriff der losen Kopplung; vgl. Luhmann: Medium und Form, KdG, S. 167. Gleichzeitig weicht Luhmann deutlich von Heiders Konzeption ab, insofern Heider selbst zu einem ontologisierendem Verständnis von Dingen neigt. Vgl. dazu auch Jörg Brauns: Die Metaphysik des Mediums, in: Ders. (Hg.): Form und Medium, S. 9–19, bes. S. 9 f. Vgl. auch Fuchs: Die Beobachtung der Medium/Form-Unterscheidung, S. 72, 76. 104 Vgl. Luhmann: Medium und Form, KdG, S. 165. Vgl. hierzu auch Oliver Jahraus: Literatur als Medium. Sinnkonstitution und Subjekterfahrung zwischen Bewußtsein und Kommunikation, Weilerswist 2003.

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nicht ‚an sich‘“.105 Ihre Unterscheidung ist „beobachterabhängig“;106 sie ist ein systeminternes Produkt und damit nichts, was schon vor der Beobachtung existent wäre: „Es gibt keine entsprechende Differenz in der Umwelt. Weder Medium noch Formen ‚repräsentieren‘ letztlich physikalische Sachverhalte im System.“107 Zwar räumt Luhmann ein, dass Formen Felder voraussetzen, die durch den Wahrnehmenden zu bestimmten Formen gebunden werden können;108 „Die physikalische Welt muß das [die Bildung von Formen] ermöglichen, aber die Differenz von Medium und Form ist eine Eigenleistung des wahrnehmenden Organismus.“109 Dies gilt auch für die Elemente, die lose gekoppelt werden. Der Begriff des Elements nämlich soll nicht auf eine naturale Konstante verweisen, nicht auf Partikel, Seelen oder Individuen, die jeder als dieselben vorfinden könnte: „Vielmehr sind immer Einheiten gemeint, die von einem beobachtenden System konstruiert (unterschieden) werden“, es gibt „keine Letzteinheiten, deren Identität nicht wieder auf den Beobachter zurückverweist.“110 Den Virtualitätsbegriff mit Luhmanns Medienbegriff zu verknüpfen bedeutet einen erkenntnistheoretischen Gewinn, weil Virtualität dadurch als Perspektive begriffen werden kann. Für das eigene Konzept von Virtualität kann so als weitere Grundthese festgehalten werden: Was lose gekoppelt (Medium) und was rigide gekoppelt (Form) ist, ist ebenso ein Effekt der Perspektivierung wie das, was ein Problem (eine Virtualität) und eine Lösung (eine Aktualität) darstellt.

2.1.5 Zwei Perspektiven der Virtualität: Die ‚Virtualität der Formen‘ und die ‚virtuelle Form hochaufgelöster Medien‘ Wenn Virtualität ein Effekt von Perspektivierung ist, können auch die zwei Seiten der Medium/Form-Unterscheidung selbst noch einmal aus dieser Perspektive der Virtualität betrachtet werden. Es ergeben sich daraus für das Konzept von Virtualität, sieht man es so, zwei Perspektiven der Virtualität: Die erste Perspektive nimmt die Seite der Form in den Blick und die zweite die Seite des Mediums. Im ersten Fall spreche ich von der Perspektive auf die ‚Virtualität der Formen‘, im

105 Luhmann: Medium und Form, KdG, S. 166. 106 Luhmann: Medium und Form, GdG, S. 195. 107 Luhmann: Medium und Form, KdG, S. 166. 108 Vgl. Luhmann: Medium und Form, GdG, S. 197. 109 Ebd. 110 Luhmann: Medium und Form, KdG, S. 167 f.; vgl. auch Luhmann: Medium und Form, GdG, S. 196.

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2 Virtualität und Sand: Metaphorisches Modell

zweiten Fall von der Perspektive auf die ‚virtuelle Form hochaufgelöster Medien‘. Wie ist dies zu verstehen? Richtet sich der Blick auf die ‚Virtualität der Formen‘, so wird die Seite der Formen perspektiviert; es wird auf die Auflösbarkeit von Formen in Medien geschaut. Einmal gebildete Formen in Medien werden aus dieser Sicht darauf hin betrachtet, dass die rigiden Kopplungen, durch die sie gebildet wurden, wieder aufgelöst und die aktuellen Differenzierungen zurück in die Differentiation geführt werden können. Diese Perspektivierung der Auflösbarkeit von Formen nenne ich die Virtualisierung von Formen (in Medien). Alle einmal in einem Medium gebildeten Formen lassen sich wieder virtualisieren, und das ist nicht nur der Grundgedanke von Luhmanns Medienbegriff, sondern wird auch von Lévy als bislang unterschätzte Gegenbewegung zur Aktualisierung hervorgehoben. Gleichwohl sind die Formen nicht in allen Medien gleich gut oder gleich schnell virtualisierbar. Nicht alle Medien bilden Formen aus, die ohne weiteres wieder aufgelöst werden können. Diese Blickrichtung ändert sich völlig, wenn man die andere Seite der Medium/Form-Unterscheidung in Bezug auf ihre Virtualität in den Blick nimmt. Betrachtet man die Seite des Mediums, so wird das perspektiviert, was ich die ‚virtuelle Form hochaufgelöster Medien‘ nenne. Unter hochaufgelösten Medien verstehe ich solche, deren Form selbst virtuell ist, bzw. einen hohen Virtualitätsgrad haben.111 Ihre Formbildung ist wenig durch medienspezifische Formvorgaben limitiert, und sie ermöglichen keine festen Kopplungen auf Dauer, sodass die einmal in ihnen gebildete Formen keinen Bestand haben. Nicht alle Medien haben einen hohen Virtualitätsgrad, sondern nur jene Medien, deren „mediales Substrat“, deren mediale Elemente, besonders zahlreich, kleinteilig sowie gleichförmig und damit offen für eine Vielzahl von Verbindungen sind, die also mit anderen Worten hochaufgelöst sind. Gerade dann nämlich gibt es innerhalb des Mediums kaum limitierende Vorformungen, die die Formbildung beeinflussen. Diese Medien funktionieren aber zugleich auch hochauflösend, indem die in ihnen aktualisierten Formen sehr leicht virtualisiert werden können. Zu denken ist etwa an physikalische Medien wie Wasser oder Luft, aber im Kontext dieser Arbeit soll – die Sandmetapher im Fokus – der Traum als Wahrnehmungsmedium betrachtet werden, das in der Formbildung wenig limitiert ist und Formen ausbildet, die sich besonders leicht und schnell wieder auflösen.

111 Vgl. Kap. 4.

2.1 Virtualitätskonzept

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2.1.6 Virtualitätskonzept: Sieben Grundthesen Aus der Herleitung des Virtualitätskonzepts von Deleuze/Lévy und dessen Zusammenführung mit Luhmanns Unterscheidung von Medium und Form formuliere ich nun mit sieben Thesen das Grundmodell meines eigenen Virtualitätskonzeptes. Dabei wird Virtualität als Spezifikation von Medien verstanden und Aktualität als Spezifikation von Formen. I. Das Verhältnis von Medium und Form entspricht dem Verhältnis von Virtualität und Aktualität. Virtualität bzw. Medium und Aktualität bzw. Form sind jeweils zwei Seiten einer Unterscheidung. Das Gemeinsame der Unterscheidung von Medium und Form liegt in der Kopplung von Elementen, das Gemeinsame der Unterscheidung von Virtualität und Aktualität liegt in der Problematik von Differenzen. Das Medium in seiner problematischen Virtualität besteht aus lose gekoppelten Elementen, während die Formen in ihrer Aktualität durch feste Kopplungen dieser Elemente eine Lösung hierfür darstellen. Die Virtualität des Mediums kennzeichnet die Struktur der Differentiation, während in der Form eine Differenz aktualisiert wird. II. Zwischen Virtualität und Aktualität bzw. zwischen Medium und Form finden Prozesse der Bildung und Auflösung statt. Eine Aktualisierung findet statt, wenn sich im Medium eine Form bildet bzw. sich ein Problem löst; eine Virtualisierung findet hingegen statt, wenn sich eine Form im Medium auflöst und eine aktuelle Lösung problematisiert wird. Die Virtualisierung führt die medialen Elemente ihrer Differentiation zu, während die Aktualisierung mit einer Differenzierung der medialen Elemente einhergeht. III. Das Virtuelle und das Medium sind in der Zeit stabil; das Aktuelle und die Formen sind über die Zeit hinweg instabil. Sichtbar sind nur die aktualisierten Formen. Das Medium setzt den Formen keinen Widerstand entgegen, es ist offen für Aktualisierungen und in seiner Virtualität formbar; es ist aber unsichtbar. Die Formen setzen sich dagegen als aktuell im Medium durch; erst durch sie wird das Medium sichtbar. Damit korrespondiert die Instabilität der Formen, die sich im Medium immer wieder auflösen und also flüchtig sind, während das Medium sich durch die Formbildung nicht verbraucht und also stabil bleibt.

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2 Virtualität und Sand: Metaphorisches Modell

IV. Kontingenz: Die Aktualisierung von Formen ist in der Virtualität des Mediums nicht prärealisiert. In der Virtualität des Mediums ist die Formbildung kontingent. Es gibt weder im Virtuellen noch im Medium präformierte Möglichkeiten. Vielmehr verhält sich das Virtuelle zum Aktuellen wie ein Problemkomplex zu seiner Lösung, und ebenso ist die Bildung von Formen im Medium nicht prädefiniert. Die Aktualisierung von Lösungen im Problemfeld sowie die Bildung von Formen im Medium sind prinzipiell immer auch anders möglich; insofern verweisen Medium und Virtualität immer auf die Struktur der Kontingenz. V. Limitierung: Die Bildung von Formen und die Aktualisierung von Lösungen sind nicht beliebig, weil das Medium eine spezifische Form hat und die Virtualität eine reale Struktur. Medien limitieren die Möglichkeiten der Formbildung, indem sie selbst aus schon geformten Elementen und deren Verbindungsoptionen bestehen. Ebenso ist die Aktualisierung von Lösungen nicht beliebig, sondern diese ergeben sich aus der vollständig bestimmten Struktur des Virtuellen, aus ihren differentiellen Elementen und Verhältnisvarietäten, in der die Realität des Virtuellen besteht. VI. Gradualität: ‚Hochaufgelöste‘ Medien haben einen hohen Virtualitätsgrad. Medien sind umso ‚medialer‘ oder ‚virtueller‘, je weniger sie die Formbildung limitieren. In Medien, die die Formbildung kaum limitieren, ist der Auflösungsgrad der medialen Elemente, d. h. ihre Ausdifferenzierung, besonders hoch, und ich bezeichne sie daher als ‚hochaufgelöst‘ oder als Medien mit ‚hohem Virtualitätsgrad‘. Diese Medien sind zudem ‚hochauflösend‘ in Bezug auf die in ihnen gebildeten Formen, die besonders flüchtig und instabil sind. VII. Perspektivität: Ob etwas Virtualität bzw. Medium oder Aktualität bzw. Form ist, ist ein Effekt von Perspektivierung. Es lassen sich zwei Perspektiven der Virtualität benennen. Das, was Medium ist, und das, was Form ist, wird ebenso perspektivenabhängig konstruiert wie die Definition der medialen Elemente. Ebenso werden auch Virtualität bzw. Aktualität als etwas verstanden, was erst durch die Wahrnehmung ‚als virtuell‘ (als Problem, als Differentiation) bzw. ‚als aktuell‘ (als Lösung, als Differenz) entsteht. Zwei Perspektiven der Virtualität können spezifiziert werden: Die eine Perspektive richtet den Blick auf die ‚Virtualität der Formen‘, indem sie nach der Auflösbarkeit von Formen in Medien fragt, während die andere den

2.2 Metaphorisch-geologische Merkmale von Sand

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Blick auf die ‚virtuelle Form hochaufgelöster Medien‘ richtet, also auf Medien mit einem hohen Virtualitätsgrad, deren Formbildung minimal limitiert ist und deren Formen leicht auflösbar sind.

2.2 Metaphorisch-geologische Merkmale von Sand NAGG: Hat man dein Sägemehl erneuert? NELL: Es ist kein Sägemehl. Pause. Überdrüssig. Kannst du dich nicht etwas genauer ausdrücken, Nagg? NAGG: Dann eben deinen Sand. Ist das so wichtig? NELL: Das ist wichtig.112

Aufbauend auf das in Kapitel 2.1 entwickelte Grundmodell kann nun zur Hauptthese dieses Buches übergeleitet werden: Für die Struktur der Beziehung zwischen Virtualität und Aktualität, der die Beziehung von Medium und Form entspricht, kann Sand als metaphorisches Modell dienen. Durch die Metapher Sand werden nicht nur diese Beziehungen deutlicher, sondern sie führt auch in literarische Felder, in denen diese Beziehungen thematisiert und durchdacht werden. Dennoch kann gefragt werden: Wieso sollte Sand, ausgerechnet Sand, ein Medium sein, dessen metaphorische Verwendung sich als Denkmodell für Virtualität besonders eignet? Ein Blick in geologische Beschreibungen von Sand ist aufschlussreich, um jene materiellen Eigenschaften zu verstehen, die seit der Antike markant genug sind, um einen metaphorischen Komplex von beachtlicher Reichweite zu bilden. Umso bemerkenswerter ist es, dass es zur Metapher Sand bislang praktisch keine eigenen Forschungsarbeiten gibt.113 Welches sind die Verknüpfungsstellen, an denen die geologischen Merkmale von Sand ihr traditionelles, metaphorisches Potential entfalten?114 Bei der

112 Samuel Beckett: Endspiel, in: Ders.: Drei Stücke. Warten auf Godot. Endspiel. Glückliche Tage, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2006, S. 107–160, hier S. 118 f. 113 Lediglich zwei Aufsätze von Franziska Frei-Gerlach dokumentieren ein Interesse für Sand als Metapher und Material. Vgl. dies.: Sandkunst. Korrespondenzen zwischen Anselm Kiefer, Paul Celan und Ingeborg Bachmann, in: Thomas Strässle/Caroline Torra-Mattenklott (Hg.): Poetiken der Materie. Stoffe und ihre Qualitäten in Literatur, Kunst und Philosophie, Freiburg i. Br./Berlin: Rombach 2005, S. 225–242; dies.: Die Macht der Körnlein. Stifters Sandformationen zwischen Materialität und Signifikation, in: Sabine Schneider/Barbara Hunfeld (Hg.): Die Dinge und die Zeichen. Dimensionen des Realistischen in der Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts, Würzburg: Königshausen & Neumann 2008, S. 109–122. 114 Allgemeine Definitionen von Sand werden als wenig hilfreich vernachlässigt. Vgl. etwa: „Sand, lose Anhäufung kleiner Mineralkörner unterschiedl. oder gleicher chem. Zusammenset-

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2 Virtualität und Sand: Metaphorisches Modell

Die Elemente von Sand sind / strukturieren Sand als

Lektüre geologischer und metaphorischer Beschreibungen von Sand erweisen sich fünf seiner Merkmale als relevant für mein Virtualitäts-Konzept: Sand besteht mit seinen Körnern aus (1) diskreten und kleinen Elementen, die (2) nahezu gleich groß – und d. h. gut sortiert – sowie (3) äußerst zahlreich und scheinbar unendlich sind, sodass Sand insgesamt (4) so beweglich wie instabil ist und (5) hochaufgelöst in seiner Form sowie hochauflösend in Bezug auf die in ihm gebildeten Formen.

(1) diskret und klein (2) nahezu gleich groß, d. h. gut sortiert (3) äußerst zahlreich, scheinbar unendlich (4) beweglich und instabil (5) hochaufgelöst und hochauflösend

Abb. 2.1: Eigenschaften von Sand (eigene Darstellung).

2.2.1 Das einzelne Sandkorn: Diskret und klein eins der kleinen körperchen, aus denen der sand besteht.115

Ein Sandkorn ist ein Element, das sich, anders als etwa eine Schneeflocke oder ein Wassertropfen, besonders dadurch auszeichnet, dass seine Identität als einzelner Körper (oder einzelnes „körperchen“) selbst bei seiner Vermischung klar definiert ist. Seine „Einzelkörner [sind] gut sicht- und fühlbar“ sowie „[n]icht bindig“.116 Daher kann das Sandkorn als Metapher für das besonders Kleine genutzt werden, das die Abgegrenztheit zu seiner Umgebung bewahrt und als einzelnes Teil in einer größeren Menge erkennbar bleibt. So dient das Sandkorn in einer ästhetischen Schrift Friedrich Schillers zur Veranschaulichung des Gedankens, dass das

zung (häufig Quarz) mit einem Durchmesser von 0,002–2mm.“ (NN: Sand, in: Die Zeit. Das Lexikon in 20 Bänden, Hamburg 2005, S. 545) 115 Jakob und Wilhelm Grimm: Sandkorn, in: Dies.: Deutsches Wörterbuch, Bd. 8, fotomech. Nachdr. der Erstausgabe von 1893, München 1991, Sp. 1768. 116 Eduard Mückenhausen: Die Bodenkunde und ihre geologischen, geomorphologischen, mineralogischen und petrologischen Grundlagen, Frankfurt/M.: DLG-Verlag 41993, S. 195.

2.2 Metaphorisch-geologische Merkmale von Sand

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Kunstgenie Geduld noch für die kleinste Einzelheit bewahren muss, will es einen Effekt im Ganzen erzielen: „Ihm [dem Kunstgenie] ist es wohlbekannt, daß nur aus dem unscheinbar Kleinen das Große erwächst, und Sandkorn für Sandkorn trägt er das Wundergebäude zusammen, das uns in einem einzigen Eindruck jetzt schwindelnd faßt.“117 „Sandkorn für Sandkorn“, eins ums andere: Sandkörner sind diskrete Einheiten, weil sie zum einen lose im Blick auf ihre Verbindung zu anderen Sandkörnern sind (lose nach außen) und zum anderen stabil im Blick auf ihre eigene Konstitution (stabil nach innen). Beide Eigenschaften tragen dazu bei, dass Sandkörner als diskrete Elemente funktionieren können. Wie kommt es aber dazu? Wie kommt es zur Körnigkeit von Sand? Zunächst: Wieso sind Sandkörner lose nach außen? Sandkörner entstehen durch Verwitterung und mechanische Zerstörung größerer Gesteine und gehören daher zu den so genannten ‚klastischen‘ oder auch ‚detritischen‘ Komponenten des Bodens.118 Im Kontinuum eines festen Gesteins kann es durch veränderte Spannungsbedingungen zu Entlastungsbrüchen kommen, welche die Gesteinsmasse in eine Reihe von Bruchstücken zerlegen; das Wort ‚detritisch‘ betont hierbei den zerkleinernden Prozess, während das Wort ‚klastisch‘ den stückhaften Charakter des Resultats hervorhebt.119 Ungeachtet der Entstehung ist das Resultat immer ein loses, grobporiges Gefüge.120 In der Geologie werden, je nachdem, ob einzelne Körner leicht aus dem Gefüge fallen oder Brocken abgelöst werden können, drei Gefügeformen unterschieden: Bei Sand handelt es sich, da die einzelnen Körner nicht zusammengehalten werden (das wäre ein Kohärentgefüge) und auch keine zusammenhängenden festen Körper bilden (das wäre ein Aggregatgefüge) um ein Einzelkorngefüge bzw. um

117 Friedrich Schiller: Über die nothwendigen Gränzen beim Gebrauch schöner Formen, in: Ders.: Sämmtliche Werke in zwei Bänden, Stuttgart/Augsburg: Cotta’scher Verlag 1855, S. 527– 535, hier S. 533. Mit den Worten „Sandkorn für Sandkorn“ beschreibt Schiller metaphorisch auch den langsamen, aber stetigen „Bau der Ewigkeiten“ in seinem Gedicht Die Ideale, das als Motto für den Insektenforscher Jean-Henri Fabre zitiert wird, der über ein von ihm untersuchtes Insekt gesagt haben soll, dies sei sein Sandkorn: Vgl. Kurt Guggenheim: Sandkorn für Sandkorn. Die Begegnung mit J.-H. Fabre, Frankfurt/M./Berlin: Ullstein 1980, bes. S. 142 f. 118 Vgl. Frank Press/Raymond Siever: Allgemeine Geologie. Eine Einführung, Heidelberg u. a.: Spektrum 1995, S. 150. 119 Das Wort ‚detritisch‘ stammt von lat. detreo, dt. abreiben, abfeilen; das Wort ‚klastisch‘ stammt von griech. κλάω, dt. entzweibrechen, bzw. κλάσμα, dt. das Abgebrochene, Bruchstück. 120 Mit Gefüge ist hier das Makrogefüge gemeint, das mit bloßem Auge zu sehen ist. Vgl. hierzu und zum folgenden Fritz Scheffer/Paul Schachtschabel: Lehrbuch der Bodenkunde, Stuttgart: Enke 1998, Kap. ‚Gefügemorphologie‘, S. 160–168. Im Vergleich der Feinfraktionen ist der Anteil der Grobporen bei den sandigen Böden am höchsten; vgl. ebd., S. 145.

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2 Virtualität und Sand: Metaphorisches Modell

Abb. 2.2: Einzelkorngefüge aus Sand (Länge des Balkens ≙ 1 mm).

ein Gefüge, in dem kein Element mit einem anderen verbunden ist (vgl. Abb. 2.2). Zwar ist eine Kohäsion im Gefüge durch Wasser möglich, was für einige Zeit zu stabilen Formen führt; es kommt aber auch dadurch nie zu einer dauerhaften ‚festen Kopplung‘, da sich diese Kohäsion im Falle des Austrocknens oder Überflutens auflöst.121 Sandkörner sind aber nicht nur diskret, weil sie unverbunden nach außen sind, sondern auch, weil sie sehr stabil nach innen sind. Es gibt, anders gesagt, keine Kohäsion nach außen, daher aber eine umso stärkere Kohäsion innerhalb jener Kristalle, aus denen die einzelnen Sandkörner noch bestehen.122 Sie sind aufgrund ihrer kleinen Größe äußerst unempfindlich gegenüber weiteren Veränderungen an ihrer Gestalt: „Sandkörner zerbrechen in weitaus geringerem Maße [als größere Partikel] und sind erst nach längerem Transportweg zugerundet.“123

121 Eine Ausnahme zeigt sich nur beim „Kittgefüge“, das entsteht, wenn Sandkörner „durch Hüllen aus Eisenoxiden, Carbonaten oder organischen Stoffen an den Berührungsstellen verkittet werden.“ (Ebd.) Auch wenn es damit eine geologische Möglichkeit gibt, dass Sand nicht als Einzelkorngefüge auftritt, wird diese Ausnahme vernachlässigt, und es wird von dem häufigsten Vorkommen von Sand, nämlich von Sand als losem, allenfalls durch Wasser mehr oder weniger stark und mehr oder weniger lang zu bindendem Gefüge einzelner, diskreter Körner ausgegangen. 122 Die Kohäsionskräfte zwischen sehr feinkörnigen Kristallen sind zu stark, um ein Aufbrechen des Gesteins entlang von interkristallinen Grenzflächen zu erlauben. Daher sind Sandkörner kleine polykristalline Ausschnitte der großen Gesteinsmasse, aus der sie durch Zertrümmerung hervorgegangen sind. Vgl. Raymond Siever: Sand. Ein Archiv der Erdgeschichte, Heidelberg: Spektrum d. Wiss. 1989, S. 39. 123 Press/Siever: Allgemeine Geologie, S. 144. Vgl. auch Siever: Sand, S. 68.

2.2 Metaphorisch-geologische Merkmale von Sand

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Sie sind nachgerade unter den Bedingungen, die das menschliche Auge erfassen kann, „fast unverwüstlich“.124 Insbesondere das Quarzsandkorn ist so stabil, dass es „den Kreislauf von der Erosion über Sedimentation, Einbettung und Gesteinsbildung bis zur Freilegung und erneuten Abtragung mehrfach durchlaufen kann, ohne seine Identität als Korn zu verlieren.“125

Abb. 2.3: Sandkorn, etwa 65fach vergrößert.

Jedes Sandkorn trägt, indem es seine Identität auch durch mehrere Erosionsschleifen hindurch bewahrt, seine eigene Geschichte mit sich, von der Abbröcklung des ursprünglichen Gesteins bis hin zu seiner Metamorphose. Sand enthält, wie der Geologe Raymond Siever erläutert, in seiner Kristallstruktur, in seiner chemischen Zusammensetzung, in seinem Alter und in seiner Gestalt mehr Information über Jahrmillionen bewegter Erdgeschichte als jedes andere Sediment, weshalb Siever die „Sande von heute und die Sandsteine der Vergangenheit [als] Archive über die Erdoberfläche“ bezeichnet.126 Das Wissen, das mit Sand generiert wird, verbindet Ästhetik und Naturwissenschaft. So greift der Geologe Siever auf ein Gedicht von William Blake zurück, um seinen Befund zu erläutern: „To see a World in a Grain of Sand / And Heaven in a Wild Flower / Hold Infinity in the Palm of Your Hand / And Eternity in an Hour“.127 Wo der Geologe einen poe-

124 Ebd. Das stellt auch Antoni van Leeuwenhoek in seinen frühen mikroskopischen Beobachtungen fest; vgl. weiter unten in diesem Kapitel. 125 Siever: Sand, S. 45. 126 Ebd., S. 14. Vgl. auch ebd., S. 9, 13. Vgl. auch Scheffer/Schachtschabel: Lehrbuch der Bodenkunde, S. 141. 127 Zit. n. Siever: Sand, S. 13.

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2 Virtualität und Sand: Metaphorisches Modell

tischen Sand-Text anzuführen sich nicht zurückhalten mag, wird der metaphorisch-geologische Berührungspunkt besonders deutlich. Die geologische Einzigartigkeit jedes Sandkorns wird auch zum Gegenstand einer Betrachtung von Antoni van Leeuwenhoek (1632–1723), einem der Pioniere der Mikroskopie.128 Er entwickelt ein Mikroskop mit einer Linse, deren Leistungsfähigkeit zwei Jahrhunderte lang nicht übertroffen wird und die eine 270fache Vergrößerung bewerkstelligt. In einem Bericht von 1703 schreibt er seine Beobachtungen zu Sandkörnern auf, die nicht zuletzt aufgrund ihrer geringen Größe die Funktionalität seines Mikroskops unter Beweis stellen.129 Diese Beschreibung von Sandkörnern ist eine der ersten ‚Mikrographien‘.130 Die für das bloße Auge unsichtbaren Feinheiten können mithilfe des neuen Apparats erkannt werden: „When I viewed several grains of the abovesaid Sand with my Microscope, I was surprised to see that many of them were hexangular, and the more, when I had sisted the findest from the courtest; neither could I observe that any of the Sands were like each other.“131

Abb. 2.4: Sandkorn ‚Hexangular‘ von Leeuwenhoek.

128 Vgl. Dieter Gerlach: Geschichte der Mikroskopie, Frankfurt/M. 2009. 129 Vgl. Anthony van Leeuwenhoek: Part of a Letter from Anthony van Leeuwenhoek, F.R. S. concerning the Figures of Sand, in: Philosophical Transactions 24 (1704–1705), hg. v. The Royal Society, S. 1537–1555. 130 Auf Geheiß der Royal Society in London stellte deren Schriftführer Robert Hooke in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts mikroskopische Untersuchungen an und fasste diese in dem Buch Micrographia zusammen. 131 Ebd., S. 1538 f. Vgl. auch „yo cannot find in any quantity whatsoever two Particles thereof, that are entirely like each other, and tho perhaps in their first Configuration they might be alike, yet at present they are exceeding different“ (ebd., S. 1537).

2.2 Metaphorisch-geologische Merkmale von Sand

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Kein Sandkorn gleicht dem anderen, kann Leeuwenhoek durch sein Mikroskop beobachten, und er unterscheidet jedes einzelne. Zudem stellt er fest, dass kein Sandkorn zerstörbar ist. Jedes hat seine eigene Form, und jedes ist in exakt dieser Form unveränderlich. Im Verlauf des Berichtes wird eine Reihe von Sandkörnern ausführlich in Form und Oberfläche beschrieben, und einige von ihnen werden auch gezeichnet (wie z. B. in Abb. 2.4 und 2.5). Die ersten Personen, die eines dieser Sandkörner von einer „überraschenden Gestalt“ sehen, sind Maler, von denen sich einer bereit erklärt, „the figure of such a wonderful Sand“ zu zeichnen, und ein anderer sich eine Kopie hiervon anfertigen lässt, um sie weiterreichen zu können, „that he might let other curious persons see the strange things in such a small body.“132 Dass die Natur ‚zeichnet‘, macht die Wissenschaft erkennbar, und die Kunst versucht, diese Fähigkeit der Natur ihrerseits nachzuzeichnen.

Abb. 2.5: Sandkorn mit ‚Altarszene‘ von Leeuwenhoek.

Für besonders bemerkenswert halten Leeuwenhoek und die (möglicherweise zu Zwecken der Autorisierung erdachten) Maler, dass in ihm eine kleine Altarszene zu erkennen ist: In the said Sand, which is describ’d by GHIKL, you may see not only, as it were, a ruined Temple, but in the corner of it GHI appear two images of humane shape, kneeling, and extending their Arms to an Altar, that seems to stand at a little distance from them; this was still the more agreeable, because it was as bright as any polisht Steel.133

132 Van Leeuwenhoek: Part of a Letter, S. 1539 f. 133 Ebd., S. 1540.

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2 Virtualität und Sand: Metaphorisches Modell

Im Kleinen scheint eine eigene Welt sichtbar zu werden, zumindest „strange things“, und schon die neue Erfahrung des mikroskopischen Sehens mag begeisternd gewirkt haben. Doch besonderer Erwähnung bedarf die minimale Fläche, auf der diese veritable und detaillierte ‚Zeichnung‘ der Natur eingraviert ist. „To See a World in a Grain of Sand“: Was Blake also noch als Möglichkeit poetisch oder als poetische Möglichkeit beschreibt, wird hier mikroskopischgeologisch durchgeführt. Die Betrachtungen Leeuwenhoeks stehen im Kontext der sich entwickelnden Mikroskopie. Natalie Binczek beschreibt die diskursiven Veränderungen, die der Einsatz des neuen Instruments in der Naturforschung des frühen achtzehnten Jahrhunderts mit sich bringt.134 Die Erfindung des Mikroskops reicht zwar ins sechzehnte Jahrhundert zurück; systematisch erkundet werden seine Möglichkeiten aber erst im siebzehnten Jahrhundert. Binczek erläutert die Art und Weise, in der die Beobachtung des Gegenstands nunmehr mit der Selbstbeobachtung des Verfahrens einhergeht, und zwar anhand zweier Texte, die Sandkörner zu ihrem Gegenstand wählen. Die erste ist Christian Wolffs Schrift Allerhand nützliche Versuche, dadurch zu genauer Erkäntnis der Natur und Kunst der Weg gebähnet wird (1729), worin er die Modifikation, Belehrung und Veränderung der Wahrnehmung durch das Auge beschreibt, die sich durch das Mikroskop vollziehen.135 Da die Technik des Mikroskops verschiedene Vergrößerungsstufen ermöglicht, erweitert sich auch die Diversifikation der Sandkörner: Eines sehe aus wie ein gläsernes durchsichtiges Küglein, dergleichen man zu Vergrößerungs=Gläsern brauchet, in der Grösse eines Hiersen=Körnleins und konnte man dadurch den Reiffen in dem schwartzen Korne des Tellerleins sehen. Das andre Stücke war länglicht, wohl drey Diameter des rundten lang und helle wie ein Crystall, von der oberen Seite wie wenn es poliret, von der unterern aber als wenn etwas davon unordentlich abgesprungen wäre: oben sahe es nicht anders aus als wie Glaß, welches von der Nässe zerspringet und unzehlich viel Brüche bekommet, indem es warm ist und kaltes Wasser darauf gegossen. Von den übrigen beyden Theilen war das eine sehr klein und bey nahe sehr rund, das andere länglicht und von der einen Seite sehr spitzig. Beyde waren nicht durchsichtig, sondern sahen aus wie Stücklein Zucker, wenn die Körnlein etwas grob sind [...].136

134 Vgl. Binczek, Natalie: Mikroskopie des Sandes. Zu Christian Wolff und Barthold Heinrich Brockes, in: Walburga Hülk-Althoff/Ursula Renner (Hg.): Biologie, Psychologie, Philosophie. Verhandlungen zwischen den Wissenschaften, Würzburg: Königshausen & Neumann 2005, S. 201–219, hier S. 202. 135 Christian Wolff: Allerhand nützliche Versuche, dadurch zu genauer Erkäntnis der Natur und Kunst der Weg gebähnet wird. Deutsche Experimentalphysik III [1729], Nachdruck, in: Ders.: Gesammelte Werke, Hildesheim/New York 1982. 136 Wolff: Allerhand nützliche Versuche, zit. n. Binczek, S. 211.

2.2 Metaphorisch-geologische Merkmale von Sand

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Binczek beschreibt treffend, wie nicht nur „für jedes einzelne Sandkorn, sondern für jedes seiner Merkmale mittels eines Vergleichs [...] eine bereits definierte Form herangezogen“ wird.137 Je stärker die Sandkörner vergrößert werden, desto deutlicher zeigt sich ihre Unterschiedlichkeit. „Wir sahen demnach, daß die Sand = Stäublein innen selbst ganz unähnlich“ werden, und nur mit bloßem Auge halten wir „für einerley [...], was unterschieden ist“.138 Binczek konkludiert: „Die Linse des bloßen Auges und die variablen Linsen des Mikroskops bringen demnach unterschiedliche Beobachtungsgegenstände hervor, obwohl sie sich auf dieselbe Materie beziehen. Sie verunsichern damit die Bestimmung des Streusandes ebenso wie die des Sehens.“139 Bei dem zweiten Text, den Binczek heranzieht, handelt es sich um Barthold Heinrich Brockes’ Gedicht „Der Sand“ von 1727.140 Hierin wird die Diskretheit der Sandkörner vermerkt und geologisch detailliert beschrieben: Die Kleinheit, Festigkeit, die Klarheit, Glätt’ und Ründe, Die ich in manchem Sand-Korn finde, Wodurch sie sich nicht ganz verbinden können, [...] Ist ja Bewunderns werth. Noch mehr, da sie vereint, Und doch nicht ganz, (indem sie sonst versteint) [...].

Die Sandkörner können sich „nicht ganz verbinden“, sondern bleiben ‚definiert‘ und diskret aufgrund ihrer geologischen Beschaffenheit: Sie sind klein, stabil (fest), deutlich (klar) unterschieden, glatt und rund. Obwohl sie nur lose verbunden sind, sind sie doch „vereint“, weil sie in ihrem Vorkommen als Sand – als Einzelkorngefüge – zusammengehören. Aber sie sind eben „nicht ganz“ verbunden, da sie sonst nicht mehr Sand, sondern schon Stein bilden würden, „sonst versteint“ wären. Brockes ist ebenso wie Leeuwenhoek von der Möglichkeit beeindruckt, im derart Kleinen noch etwas erkennen zu können, selbst mit bloßem Auge: So gar auf einem öden Lande, Wo weder Baum, noch Strauch, noch Gras, Selbst in dem unfruchtbaren Sande Find ein betrachtend Auge was [...].

137 Ebd. 138 Ebd., S. 212. 139 Ebd. 140 Barthold Heinrich Brockes: Der Sand, in: Ders.: Irdisches Vergnügen in Gott. Erster und Zweiter Teil, hg. und kommentiert von Jürgen Rathje, Werke 2.2, Göttingen: Wallstein Verlag 2013, S. 630–633.

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Sein Vorhaben – „was sehn, auch wenn wir nichts fast sehn“ – lässt ihn Muster erkennen: Worinn, wenn wir den Geist mit unserm Blick verbinden, Wir mancherley Vergnügen finden, Da, wenn sonst nichts zu sehn, doch allerley Figuren Von eingedruckten Spuren Im dürren Sande ja gefunden werden. In kleinen Tiefen, kleinen Höhn Kann ein aufmerksam Herz so Licht als Schatten sehn. Man trifft [...] [...] Veränderung nicht ohn’ Vergnügen an, Wie jeder, der es recht betrachtet, finden kann.

Unter der Bedingung ‚rechter Betrachtung‘, für die „Geist“ und „Blick“ zusammenwirken müssen, können in der Oberfläche der Sandkörner Figuren erkannt werden, die Brockes allerdings nicht so konkret benennt wie etwa Leeuwenhoek die Altarszene. Brockes hebt vielmehr die Differenziertheit der Sandkörner hervor, welche er genau spezifiziert: Ich nahm hierauf ein Häuflein Sand, Betrachtet’ es genau, und fand Den Unterschied, daß er nicht mancherley, Nein, in der That unzählig sey. Ich konnte tausend Form und Ecken Auch an dem kleinsten Sand entdecken. Theils sind die Körner lang, theils rund, theils groß, theils klein, Theils schwarz, theils braun, theils gelb, theils grau, Theils röthlich, weißlich theils, theils blau, Es sind die meisten dicht und dunkel, viele helle, Durchsichtig, glänzend, rein. Ich wurd auf mancher Stelle Verschiedener, die wie Crystall so klar, Mit Lust und mit Verwunderung gewahr.

So unzählbar wie die Sandkörner selbst sind auch ihre Differenzen. Mit jedem weiteren Sandkorn wachsen die Spezifika, sodass sie ebenfalls „unzählig“ genannt werden müssen. Sie weisen verschiedene Farbkombinationen auf, sind „theils“ dies, „theils“ das und bieten dadurch scheinbar unzählige Varianten der Farbzusammensetzung und -intensität, der Dichte und der Transparenz. Die einzelne Identifizierbarkeit von Sandkörnern, die bei Leeuwenhoek, Wolff und Brockes ästhetisch und geologisch betrachtet wird, ist erst dann nicht mehr möglich, wenn sie den Zustand der losen Verbindung, „doch nicht ganz [vereint], (indem sie sonst versteint)“, verlieren und zu Stein werden. Der Prozess der ‚Versteinung‘ ist eine geologische Metamorphose, die sich bei Sand durch die Versen-

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kung in große Erdtiefen und die damit verbundene starke Erhitzung bis zu 400°C vollzieht, wodurch sich seine mineralogische Struktur grundlegend verändert.141 Ein Sandkorn existiert also nur im, wenngleich möglicherweise Millionen von Jahren dauernden, Zwischenzustand – nach der Abbröckelung von einem größeren Gestein und vor der Metamorphose – als Sandkorn und hat nur hier die Merkmale, die auch für seine metaphorische Verwendung relevant sind. Ein Sandkorn ist nicht nur deutlich von anderen Sandkörnern unterschieden, es ist außerdem sehr klein. Metaphorisch kann daher durch das Sandkorn der Gegensatz von Groß und Klein thematisiert werden, wie sprichwörtlich mit der im Sandkorn enthaltenen Welt.142 Hierzu sei eine weitere Passage aus Brockes’ Gedicht „Der Sand“ zitiert: Indem ich nun die Kleinheit übersehe, Und alles dieses überlege; Erstaun ich, wenn ich recht erwege, Daß alle Größe dieser Welt, Ja selbst die Welt aus Kleinigkeiten nur, Wie groß sie uns auch scheint und wirklich ist, bestehe. [...] Noch mehr, wie wunderbar Erhellt im Sande Gottes Macht, Der alles nicht allein aus Nichts hervorgebracht; Der auch so gar Durch solche Kleinigkeit das Allergrößte zwinget, Indem er durch so kleinen Sand Die ungeheure Fluthen-Last So wunderbarlich eingefaßt, Daß aller Wellen Wuth nicht durch ihn dringet. Hiermit stimmt alles überein, Daß, wie für uns das Allerkleinste groß, Also für Gott das Allergrößte klein [...].143

Während hier die Relation von kleinem Sandkorn und ungeheurer Flut zum Vergleich von Gott und Mensch anregt, deren Verhältnismäßigkeiten einander

141 Vgl. zur Metamorphose eines Sandsteins Heinrich Bahlburg/Christoph Breitkreuz: Grundlagen der Geologie, München: Spektrum 2004, Kap. 13; Press/Siever: Allgemeine Geologie, S. 149. 142 A World in a Grain of Sand ist der Titel einer Interviewsammlung, und wahrscheinlich (man erhält keine Erklärung) soll hierin die Spannung zwischen der Kleinformatigkeit der Interviews und der Großformatigkeit der darin enthaltenen Gedanken Ausdruck finden (Northrop Frye/Robert D. Denham: A world in a grain of sand. Twenty-two interviews with Northrop Frye, New York [u. a.]: Lang 1991). 143 Brockes: Der Sand, S. 632 f.

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entgegengesetzt werden, dient die Winzigkeit des Sandkorns oft auch dazu, wie schon im obigen Zitat von Schiller, den Wert oder, wie in Jaume Cabrés Das Schweigen des Sammlers, die Wirkmächtigkeit schon einer einzelnen kleinen Begebenheit hervorzuheben. Bei Cabré erwirbt beispielsweise der Ich-Erzähler ein Originalmanuskript des Discours de la méthode, das einem jüdischen Besitz enteignet wurde und zunächst nur wie ein „Sandkorn“ erscheint, das ihm aber mit der Zeit „zu einer bleischwere[n] Last auf dem Gewissen“ wird.144 Wenn auch in einem ganz anderen Kontext, so wird auch im Don Carlos die potentielle Macht selbst noch des Kleinsten mit der Metapher des Sandkorns herausgestellt; es wird hier von einem Orakelspruch erzählt, der einen großen Schatz, der in einem Brunnen unter einem großen Felsen verborgen ist, jenem verheißt, der die nötigen moralischen Eigenschaften hat: „Wer reines Herzens / in diesen Brunnen sich hinunter läßt, / rückt, wie ein Sandkorn, diesen Felsen weg; / doch kaum (fährt das Orakel fort) daß ihn / ein Schalk berührt, bedecken schwarze Beulen / des Frevlers Hand, und der erzürnte Schatz / versinkt um eines Thurmes Höhe tiefer.“145 Klein ist das Sandkorn im Vergleich zum Fels in der Tat: Die Korngröße von Sand wird in geologischen Einteilungen von 63 μm bis 2 mm angegeben und steht in der Reihe der detritischen oder klastischen Bruchstücke zwischen Kies (bis 63 mm), Steinen (bis 2 m) und Blöcken (bis 6,3 m) auf der einen Seite sowie Ton (bis 63 nm) und Silt (bis 2 μm) auf der anderen.146 Dies ist entscheidend, da gerade die kleine Größe der einzelnen Körner der Grund ist, warum der Eindruck ihrer großen Zahl hervorgerufen werden kann und die große Beweglichkeit und damit Instabilität von Sand entsteht. Ebenso ist es nur bei exakt dieser Größe (größer als Ton und Silt und kleiner als Kies, Steine und Blöcke) möglich, dass die Elemente (anders als bei Ton oder Silt) diskret erscheinen und (anders als Kies, Steine und Blöcke) leicht formbar sind. Gerade auch von der genauen Größe der einzelnen Sandkörner ist damit das beachtliche metaphorische Potential von Sand abhängig, welches im Rahmen dieses Buches auszufalten sein wird.

144 Jaume Cabré: Das Schweigen des Sammlers, Berlin: Insel 2011, S. 398 f. 145 Friedrich Schiller: Don Carlos. Infant von Spanien, in: Ders. (Hg.): Thalia, Erster Band, Leipzig: Göschen, Heft 1 (1785), S. 95–175, hier S. 112. 146 Vgl. z. B. Scheffer/Schachtschabel: Lehrbuch der Bodenkunde, S. 135 f.; Siever: Sand, S. 39. Weiter wird unterschieden: Fein-Sand (0,02–0,2 mm), Mittel-Sand (0,2–0,6 mm) und Grob-Sand (0,6–2,0 mm).

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2.2.2 Gut sortierte Sandkörner: Eins wie das andere Ebenso markant wie die Diskretheit und Kleinförmigkeit von Sand ist seine Größengleichheit. Sandkörner sind geologisch gesprochen „gut sortiert“, und hierunter versteht man die „Tendenz, daß durch Geschwindigkeitsänderungen in einer Strömung die Sedimente entsprechend ihrer Korngröße getrennt werden“.147 Ist ein Sediment schlecht sortiert, differieren die Korngrößen in einem bestimmten Gebiet sehr stark; ist es gut sortiert, liegen sie nahe beieinander:

Abb. 2.6: Gut und schlecht sortierte Sandkörner.

Innerhalb aller Gesteinsbruchstücke ist Sand, und das ist für seine metaphorische Verwendung äußerst relevant, am besten sortiert: Sande kommen am reinsten vor (bis > 95%).148 Die Eigenschaft der guten Sortierung ist im Blick auf Sand als metaphorisches Modell für Virtualität wichtig, denn das Markante an ihm ist, dass die Sandkörner mit bloßem Auge unterscheidbar (diskret) sind und ihre weitgehende Größengleichheit wenig Anhaltspunkte für Vorformungen gibt. Sand bietet mit anderen Worten als Medium für die Formen, die sich ihm einbilden, durch die Form seiner Elemente so gut wie keine Limitierungen (beziehungsweise genau < 5%), während etwa größere Körner oder Verklebungen die Formbildung einschränken würden. Diese gute Sortiertheit von Sand ist neben seiner Kleinteiligkeit der Grund dafür, dass er (bevorzugt in seinem bestsortierten und feinsten Vorkommen) zur

147 Press/Siever: Allgemeine Geologie, S. 143. 148 Vgl. Scheffer/Schachtschabel: Lehrbuch der Bodenkunde, S. 141, Abb. 5.1–5.

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2 Virtualität und Sand: Metaphorisches Modell

Zeitmessung in Sanduhren verwendet werden kann;149 eine zuverlässige Messung wäre bei einer unregelmäßigen Korngröße schwer vorstellbar. Als Zeitmaß in der Sanduhr wird Sand auch zum Sinnbild für Lebenszeit, und nur durch die Regelmäßigkeit der Korngröße kann Sand auch zur Ausmessung von Räumen praktisch oder metaphorisch dienen. So errechnet etwa schon Archimedes von Syrakus die Größe des Kosmos mit der durchschnittlichen Größe von Sandkörnern.150 Zum Zählen gehören eben nicht nur diskrete Elemente, sondern auch (relativ) gleich große Elemente. Besonders nah an Fragestellungen von Mathematik und Metaphysik gerät Sand indes durch seine Eigenschaft, im Ganzen unzählbar und dadurch gleichsam unendlich zu sein.

2.2.3 Viele Sandkörner: Unzählbar Es wird aber die Zahl der Kinder in Israel sein wie der Sand am Meer, den man weder messen noch zählen kann.151

‚Wie Sand am Meer‘ ist die häufigste metaphorische Verwendung von Sand, sobald die große Menge das tertium comparationis ist. „Wie der Sand am Meer“ werden etwa die Kinder Israels sich vermehren, lautet die Verheißung des biblischen Gottes. An die zwanzig weitere, überwiegend alttestamentarische Belege gibt es in der Bibel für Sand als Metapher der großen Zahl oder der unzählbaren Menge: unzählbar an Nachkommen, an Feinden, an Erträgen, an reichem Geist. Als feste Redewendung zieht sich der Topos des unzählbaren Sandes auch durch die Antike – etwa bei Homer,152 Vergil oder Horaz – sowie durch die weitere Kulturgeschichte.153 In der Tat fällt Sand vielerorts erst durch seine enorme Menge auf: an Stränden oder in Sandbänken, sandigen Auenablagerungen, Flusstälern und Wüsten.154 Nachgerade unübersehbar sind die überaus großen Sandmengen an Stränden und in Dünen, wo sie ganze Berge oder Felder bilden, manchmal soweit das Auge reicht.

149 Vgl. Kap. 3.5.1. 150 Vgl. ebd. 151 (Hosea 2,1) 152 Z. B.: „Ohne Zahl, wie der Sand am Meer und die Blätter am Baume, / Ziehen sie über das Feld zum Kampfe gegen die Feste.“ (Homer: Ilias, hg. v. Eduard Schwartz, übers. v. Johann Heinrich Voss, Augsburg: Weltbild Verlag 1994, II/800 f.) 153 Vgl. Klaus R. Grinda: Enzyklopädie der literarischen Vergleiche. Das Bildinventar von der römischen Antike bis zum Ende des Frühmittelalters, Paderborn u. a.: Schöningh 2002, Kap. ‚F. Unzählbare Dinge‘, S. 165–182. 154 Vgl. Press/Siever: Allgemeine Geologie, S. 310.

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Abb. 2.7: Dünenfeld.

Dünen entstehen durch Wind, denn jedes Hindernis kann eine große Düne bilden, indem sich in dessen Strömungsschatten Sandkörner ablagern, die nicht mehr hochgewirbelt werden. Die so entstehende Sandwehe wird, wenn der Vorgang fortdauert, „ihrerseits zu einem Hindernis, und wenn genügend Sand zur Verfügung steht und der Wind weiterhin lange genug aus derselben Richtung weht, wird die Sandwehe schließlich zur Düne.“155 In der Wüste bilden Dünen ganze Felder, die Höhen von über hundert Meter erreichen können, wie beispielsweise die riesigen Sanddünen in Saudi-Arabien, die bis zu zweihundertundfünfzig Meter hoch sind.156 Größere Sandablagerungen können aber auch durch Wasser entstehen. Das betrifft sowohl die Bewegung von Wüstensanden durch größere Regenfälle als auch und vor allem die Entstehung von Stränden. Durch Gezeiten und Wellen wird sehr viel Sand abgelagert, wobei oft lange Dünengürtel, die durch auflandigen Wind entstehen, den Eindruck der großen Sandmenge zusätzlich verstärken. Wüsten, Dünen und Strände: Der Eindruck von Unendlichkeit mag entstehen, wenn man sich vorstellt, hier jedes einzelne Sandkorn zählen

155 Ebd., S. 312. 156 Vgl. ebd., S. 313. Höher können sie nicht werden, da auf dieser Höhe der Wind wieder so stark wird, dass er die Sandkörner genauso schnell fortbläst, wie er sie den Hang hinauftransportiert (vgl. Siever: Sand, S. 28).

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zu müssen. Unendlichkeit in zeitlicher und räumlicher Ausdehnung ist damit ein Merkmal, das die Sandmetapher in ihrer erkenntnistheoretischen Anwendung kennzeichnet – auch dann noch, wenn das einzelne Sandkorn die Rekursivität dieser Ausdehnung zu bedenken gibt wie in Micha Ullmans Skulptur Until the last grain of sand (2011).157

2.2.4 Bewegliche Sandmengen: Flexibel und instabil Seiner Klagen Reim, in Sand geschrieben, Sind vom Winde gleich verjagt; Er versteht nicht, was er sagt, Was er sagt, wird er nicht halten.158

Sand ist, wie schon deutlich wurde, hochgradig beweglich und dadurch kein Medium, das stabile Kopplungen auf Dauer ohne weiteres zulässt. Seine Beweglichkeit und Instabilität führt zu einer Reihe von Metaphernbildungen, die dazu geeignet sind, Pessimisten froh zu stimmen: Vergeblichkeit, Ergebnislosigkeit und Vergänglichkeit sind Eindrücke, die von der Sandmetapher aufgerufen werden, sobald die Instabilität von Sand als tertium comparationis in den Fokus gerät. Ob etwas so wirkungsvoll ist, wie aus Sand ein Seil zu drehen, oder so haltbar, wie etwas in den Sand zu schreiben: Immer kann man mit der Metapher Sand (auch) darauf hinweisen, dass jeglicher Versuch, eine wie auch immer geartete Beständigkeit aufzubauen, unnütz ist. Aus geologischer Sicht erscheint die Flexibilität des Sandes indessen positiver, wie die Beschreibungsmetaphorik zeigt; in zahlreichen Bewegungsmetaphern wird versucht, die beachtliche Beweglichkeit von Sandkörnern auszudrücken: „Sandkörner sind Reisende. Bereits ein schwacher Wind genügt, um die kleineren Körner fort zu tragen, und jede mäßig starke Wasserströmung vermag auch mittelgroße und grobe Exemplare mitzureißen.“159 Schon eine leichte Kraft kann mithin zwar wenig, aber konstant Sand in Strömungsrichtung vorantreiben, eine Bewegung, die auch als ‚Springen‘ beschrieben wird: „Für die meisten Sandkörner in den relativ langsamen Strömungen von Flüssen ergibt sich als Gesamtergebnis ein sprungweiser Transport, das heißt, ein wiederholtes ‚Hüpfen‘ entlang von Bahnkurven, die jeweils vom Punkt der Aufnahme zum Punkt des Abgesetztwerdens führen

157 Vgl. Kap. 5.1.4. 158 Johann Wolfgang von Goethe: West-östlicher Divan, Buch Hafis, V. 12–15, in: Ders.: Sämtliche Werke, Frankfurt/M. 1985 ff., Bd. 3/1, S. 29. 159 Siever: Sand, S. 49.

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(Saltation).“160 Dieses Phänomen wird auch als „tanzender Sand“ bezeichnet (vgl. Abb. 2.8). – Reisen, hüpfen, springen und tanzen: Variantenreich (und anthropomorph) wird die Dynamizität von Sand beschrieben.

Abb. 2.8: Tanzender Sand einer Düne.

Die Kraft der einzelnen Sandkörner ist in dieser tanzenden Bewegung in Relation zu seiner eigenen Größe extrem: „Ein Sandkorn, das mit hoher Geschwindigkeit auf der Oberfläche aufschlägt, kann ein anderes Korn bis zum Sechsfachen seines eigenen Durchmessers vorwärts bewegen.“161 Der Aufprall durch springende Körner kann aber auch Körner, die zu groß sind, um in die Luft hinaufgeschleudert zu werden, vorwärts bewegen und hat schließlich ein „Kriechen“162 der Sandschicht in Windrichtung zur Folge. Die Dünen, ja ganze Strände, bewegen sich („wandern“) auf diese Weise unter dem Einfluss von Wind:163 Sobald eine Düne weiter wächst, beginnt der gesamte Hügel durch die gleichgerichtete Bewegung einer großen Anzahl einzelner Sandkörner nach Lee zu wandern. Die Sandkörner springen kontinuierlich in Richtung auf die Kammlinie des [...] windzugewandten Luvhanges und fallen dort schließlich auf den im Windschatten liegenden Leehang [...].

160 Ebd., S. 59. 161 Press/Siever: Allgemeine Geologie, S. 305. „Sand bewegt sich im Wind unmittelbar an der Erdoberfläche durch eine Kombination von Schieben und Rollen sowie durch Saltation“ (ebd.). 162 Ebd. 163 Vgl. zur starken Veränderung von Stränden durch Wellen und Stürme Siever: Sand, S. 115. Die massiven Veränderungen über die Jahrhunderte werden am Beispiel der geographischen Lage von Troja deutlich, das zu Zeiten Homers an der Küste gebaut wurde, mittlerweile aber deutlich im Landesinneren liegt.

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2 Virtualität und Sand: Metaphorisches Modell

Diese Sandkörner bilden eine steile, instabile Sandmasse. Dieses steile Gebilde wird periodisch instabil und rutscht oder fällt kaskadenartig, spontan und frei den Leehang hinab und bildet so einen neuen Hang mit einem flachen Böschungswinkel.164

Auch wenn Sandkörner normalerweise nach relativ kurzer Zeit in die sich langsam bewegenden Dünen eingebettet werden, legen sie teils enorme Distanzen zurück: Sie können in großen Wüsten wie der Sahara und jenen Saudi-Arabiens über mehr als tausend Kilometer weit transportiert werden.165 Mit steigender Windstärke sind dabei auch stärkere Bewegungen möglich. Besonders schnell wird Sand durch Windhosen bewegt, die durch ihre Fracht zu Sandhosen werden: „Sandwirbel (Sandhose, Staubwirbel), Luftwirbel mit vertikaler Achse kleinen Ausmaßes in der unteren Atmosphäre. S[andwirbel] können über stark erhitztem Boden durch Aufstrudeln der Bodenluft entstehen und dabei Sand, Staub o. Ä. mitreißen.“166 Die größte Kraft entfalten indessen Sandstürme: Ein starker Wind mit einer Geschwindigkeit von 48 Kilometern pro Stunde kann an einem einzigen Tag [...] eine halbe Tonne Sand verfrachten (vergleichbar dem Volumen von ungefähr zwei großen Koffern), und die Sandmengen, die bei höheren Geschwindigkeiten bewegt werden können, nehmen rasch zu. Kein Wunder also, daß durch einen mehrere Tage dauernden Sandsturm ganze Häuser begraben werden können.167

In The House of Sand von Andrucha Waddington wird diese dem Sand eigene Möglichkeit, mit Hilfe von Wind ganze Häuser zu verschütten, eindrücklich dargestellt und als Metapher für das Versanden einer ganzen Existenz eingesetzt, während sich in Suna no onna (Die Frau in den Dünen) von Kobo Abe hartnäckiger Widerstand gegen die Kraft, die ein ganzes Dorf in Dünen versenkt, zeigt.168 Ob Sand also nun langsam oder schnell, springend oder kriechend, tanzend oder wirbelnd, besonders weit, hoch oder in großer Menge in Bewegung ist, er wechselt permanent seinen Standort, immer in Abhängigkeit von der jeweiligen Strömungsstärke von Wind oder Wasser und seiner aktuellen Lage. Hierdurch wird er insgesamt äußerst instabil. Sand ist dementsprechend ein klassisch schlechter Baugrund und daher eine gern genutzte Metapher für alle sozialen, ökonomischen, politischen oder metaphysischen Verhältnisse, die eine instabile ‚Grundlage‘ haben. Seit der Bergpredigt gehört die metaphorische Wendung und

164 Press/Siever: Allgemeine Geologie, S. 312. 165 Vgl. ebd., S. 306. 166 NN: Sandwirbel, in: Die Zeit. Das Lexikon in 20 Bänden, Hamburg 2005, S. 549; erstes Wort im Original fett. 167 Press/Siever: Allgemeine Geologie, S. 306. 168 Vgl. Kap. 3.4.2.

2.2 Metaphorisch-geologische Merkmale von Sand

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Mahnung, sein Haus nicht auf Sand zu bauen, zum festen Bildinventar für die Warnung vor allem, was eine sichere Existenz in Frage stellen könnte.169 Geologisch gesehen ist Stabilität grundsätzlich davon abhängig, „ob die Gegenkräfte, die ein Bodengefüge gegenüber einer belastenden Kraftwirkung mobilisieren kann, eine ausreichende Größe erreichen, um eine plastische Verformung zu verhindern.“170 Wie fest ein Boden ist, zeigt sich also daran, wie gut sich die jeweiligen Bodenteilchen im Gesamtverband abstützen: „Die verbesserte Abstützung, die durch die erhöhte Anzahl von Kontakten innerhalb eines Bodenvolumens zustande kommt, erhöht den Widerstand gegen weitere Komprimierung und somit die ‚Festigkeit‘ des Bodens.“171 Je dichter der Boden gepackt ist, desto fester ist er; da Sandböden aber besonders grobporig sind, können sich die einzelnen Sandkörner nicht gegenseitig abstützen und so gegenüber „Komprimierungen“ nicht stabil bleiben.172 Es gibt keine ausreichenden „Gegenkräfte“, die bei einer belastenden Kraftwirkung mobilisiert werden könnten. Sand ist also, geologisch betrachtet, kein fester Grund, und die metaphorische Verwendung von Sand setzt (unter anderem) hier an.

2.2.5 Feinkörniger Sand: Hochaufgelöst und hochauflösend Ob nun das einzelne Sandkorn unter seinesgleichen hervorgehoben oder umgekehrt die ununterscheidbare Masse von Sandkörnern betont wird oder die Tatsache, aus Sand kein Seil drehen bzw. in Sand nicht dauerhaft schreiben zu können, oder der Ratschlag, besser auf Sand kein Haus zu bauen – immer sind es die hohe Auflösung des Sandes und die leichte Auflösbarkeit von Sandformationen, die der Sandmetapher ihre Schubkraft verleihen. Die festen Kopplungen von Sandkörnern sind keine stabilen Verbindungen auf Dauer, da sie keinen Widerstand gegen neue Verformungen leisten. Die Formen im Sand bestehen immer nur im Über-

169 Vgl. ebd. 170 Scheffer/Schachtschabel: Lehrbuch der Bodenkunde, S. 169. Für die „kritische Höhe, ab der eine Säule aus Sand zu bröseln beginnt“, hat der Physiker Daniel Bonn eine eigene Formel entwickelt, wonach die maximale Höhe eines Sandberges mit der „Zwei-Drittel-Potenz des Radius“ wächst; zudem wirkt Wasser in Sandburgen kohäsiv, indem es „Kapillarbrücken zwischen den Sandkörnern bildet“ (Stefanie Schramm: Hoch hinaus. Ein Physiker hat die Formel für die perfekte Sandburg experimentell untermauert, in: Die Zeit 35 (23.08.2012), S. 32). 171 Scheffer/Schachtschabel: Lehrbuch der Bodenkunde, S. 142. Vgl. zu Abstützung und Berührung ebd., Kap. 5.1.6.1. 172 Es mag hierbei graduelle Unterschiede geben, weil etwa bei Dünen die windzugewandte Seite durch springende Sandkörner dichter gepackt und damit fester ist als die windabgewandte Seite, bei der die Sandkörner lockerer gepackt sind (vgl. Siever: Sand, S. 96).

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2 Virtualität und Sand: Metaphorisches Modell

gang, da sie in einem Medium gebildet werden, in dem sich Formen so schnell auflösen, dass sie sich, kaum dass sie gebildet sind, schon wieder neu formen. Sand ist als aufgelöst (im Sinne des Partizips Perfekt Passiv) zu bezeichnen, weil die Sandkörner diskret und beweglich sind. Hochaufgelöst ist er, weil die Sandkörner zudem klein, also feinkörnig, und zahlreich sind: Es gibt im Sand viele kleine Einzelkörner. Diese sind zudem gut sortiert, d. h. sie sind alle etwa gleich groß und untereinander diesbezüglich nicht differenziert. Die Sandkörner sind dadurch offen für viele Formbildungen (Differenzierungen), weil es keine Vorformungen bzw. Vorgaben in Gestalt größerer Sandkörner, Kiesel oder Kittmaterialien gibt. Sand ist damit besonders ‚medial‘. Er ist lose gepackt und grobporig und setzt Formungen verschiedenster Art keinen Widerstand entgegen. Im Sand gibt es also nicht nur die Aufgelöstheit in Einzelelemente, die man mit Luhmann als „verfügbare Einheiten“ beschreiben könnte, sondern auch einen hohen „Auflösungsgrad“ dieser Einheiten.173 Sand ist zugleich als auflösend (im Sinne des Partizips Präsens Aktiv) zu beschreiben, weil die Formen in ihm nicht lange gebildet bleiben. Hochauflösend ist er, weil sich die Formen in ihm besonders schnell wieder zerstreuen. Sand ist feinund gleichkörnig und hat keine Kitteigenschaften, sodass sich die Einzelkörner beständig neu anordnen können und Eindrücken gegenüber immer offen sind. Die Formen sind daher instabil: Der Sand als hochaufgelöster wirkt auf die Formen hochauflösend. Sand kann daher nicht nur zur Metapher für instabile Speichermedien werden, sondern auch zur Metapher für hochaufgelöste und hochauflösende Medien wie den Traum.174 Ebenso ist er dadurch als Material für jene Kunst interessant, die die spezifische sandige Konsistenz semantisch in ihre Werke einfließen lässt.175 Sand kann, allgemein gesagt, zur Metapher für ‚sandige‘ Medien werden.

2.3 Sand als metaphorisches Modell für Virtualität Sand hat spezifische geologische Qualitäten, die ein ebenso spezifisches metaphorisches Feld aufrufen. Diese Qualitäten sind dergestalt, dass durch sie die Struktur der Virtualität modelliert werden kann. Sand soll daher im Folgenden als metaphorisches Modell im Sinne Hans Blumenbergs entwickelt werden,176

173 Luhmann: Die Funktion der Kunst und die Ausdifferenzierung des Kunstsystems, KdG, S. 252. 174 Vgl. Kap. 4.1. 175 Vgl. Kap. 5. 176 Vgl. Kap. 1; vgl. Hans Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1997, hier z. B. S. 112.

2.3 Sand als metaphorisches Modell für Virtualität

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und zwar als ein metaphorisches Modell für Virtualität, als eine Möglichkeit, das Konzept der Virtualität verstehen zu können. Zum anderen wird eine eigene und neue, beziehungsweise überhaupt erstmals konsistente Fokussierung der Sandmetapher formuliert.

2.3.1 Sand als Virtualitätsmetapher Ich möchte noch einmal an die sieben Grundthesen in Kapitel 2.1 erinnern, die den Begriff von Virtualität anhand von Deleuze/Lévys und Luhmanns Konzepten von Virtualität und Aktualität bzw. Medium und Form konturieren. Inwiefern kann nun Sand für die so spezifizierte Begrifflichkeit ein besonders prägnantes metaphorisches Modell liefern? I. Sand ist ein metaphorisches Modell für die Virtualität des Mediums und die Aktualität der Formen Sand ist der geologischen Definition nach ein Einzelkorngefüge und damit eine ideale Metapher für das Medium als „offene Mehrheit möglicher Verbindungen“ von lose gekoppelten Elementen. Die Metaphorik des Sandes erhält daher nicht zufällig Einzug in die systemtheoretischen Beschreibungen der Medium/Form-Unterscheidung. Luhmann spricht zwar selbst nur einmal an eher unauffälliger Stelle von Sand,177 dennoch wird die Metapher immer wieder in Bezug auf seine Medium/Form-Unterscheidung angeführt. Fuchs kommentiert das: „Es genügt, über Sand und Fußabdrücke zu reden, um die Figur dieser Unterscheidung [von Medium und Form] plausibel zu machen, und hat man die Figur verstanden, kann man eigentlich schon anfangen, mit ihr zu arbeiten“.178 Das mag damit zusammenhängen, dass die Metapher Sand besonders treffend ist oder dass sie als markant positioniertes Beispiel im Eintrag zu Form/Medium im Glossar zu Luhmanns Schriften GLU den Status des Standards erhalten hat. Ein herausgehobener Bezug lässt sich in Luhmanns veröffentlichten Schriften jedenfalls nicht finden, und so ist der Sand als Beschreibungsmetapher für das Wechselspiel von Form und Me-

177 „Und je mehr inneren Zwängen die Organisation unterliegt und je unelastischer sie ist, desto mehr muß das Medium sich ihr anpassen – so wie der Sand sich dem Stein, aber nicht der Stein sich dem Sand anpaßt.“ (Niklas Luhmann: Die Differenzierung von Politik und Wirtschaft, in: Ders.: Soziologische Aufklärung. Beiträge zur funktionalen Differenzierung der Gesellschaft, Wiesbaden: Verlag der Sozialwissenschaften 32005, S. 32–48, hier S. 45) Vgl. zu diesem Zitat auch weiter unten. 178 Fuchs: Die Beobachtung der Medium/Form-Unterscheidung, S. 71. Im Weiteren beschreibt er die Komplexitäten hinter dieser scheinbaren Simplizität.

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2 Virtualität und Sand: Metaphorisches Modell

dium wahrscheinlich mündlichen Erläuterungen in Vorträgen entnommen und dann in GLU aufgezeichnet worden. Im dortigen Eintrag Form/Medium erläutern in jedem Fall Giancarlo Corsi und Esposito die Unterscheidung von loser und rigider Kopplung sowie den Prozess der Formbildung mit dem Medium Sand: Die Spur eines Fußes im Sand setzt zum Beispiel zwischen den Sandkörnern eine rigidere Kopplung durch, der sie (da sie keine starke Verbindung miteinander aufweisen) keinen Widerstand leisten können. Je schwächer die stabilen Verkopplungen zwischen den Elementen des Mediums sind, desto besser eignet es sich, Formen anzunehmen: Die Anwesenheit von Steinen oder größeren Sandkörnern, die mit ihrer Form die Form der Spur konditionieren, macht das Medium weniger geeignet, als Medium zu fungieren [...].179

Das Zitat zeigt deutlich: Am Sand kann das Wechselspiel von Medium und Form wie an kaum einem anderen Medium verdeutlicht werden, da er den Blick präzise auf die lose Kopplung von Elementen (von ‚Sandkörnern‘) lenkt. Sand ist hierdurch selbst ‚medial‘ und als Metapher für die Medialität von Medien besonders geeignet. Den Auflösungscharakter von Medien beschreibt Luhmann mit der Metaphorik der „Körnigkeit“, die zum metaphorischen Feld von Sand gehört: Die Unterscheidung [von Medium und Form] setzt im Bereich des Mediums identifizierbare Elemente (insofern also wiederum Form) voraus und unterscheidet sich dadurch vom alteuropäischen Begriff der (von sich gänzlich unbestimmten) Materie. Das Medium muß (digital) eine gewisse Körnigkeit und (analog) eine gewisse Viskosität aufweisen. Es muß außerdem in der Bindung durch Form als Medium erhalten bleiben, wenngleich es durch die Form gewissermaßen ‚deformiert‘ wird.180

Die „gewisse Körnigkeit“ bezeichnet die lose Kopplung, die als „digital“ gekennzeichnet wird. Mit „Viskosität“ ist indessen nicht die medieneigene Limitierung von Formbildung gemeint, sondern die Zusammengehörigkeit der medialen Elemente, ohne deren Verbindung im Medium die Formen sich gar nicht erst medienspezifisch ausbilden könnten. Heider, von dem Luhmann das Konzept der losen Kopplung übernimmt, verdeutlicht die Eigenschaften des Mediums an Ton, der dem Eindrückenden „je mehr Freiheiten“ gibt, desto weniger „grobe Steine“ in ihm vorhanden sind.181 Er

179 Giancarlo Corsi/Elena Esposito: Form/Medium, in: Claudio Baraldi/Dies.: GLU. Glossar zu Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1997, S. 58–60, hier S. 59. 180 Niklas Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt/M.: Suhrkamp 21994, S. 53. 181 Heider: Ding und Medium, S. 85 f. Der Sand erscheint bei Heider nur in einem „Postskriptum“ zu einem Tagungsbericht, den Friedrich Balke dankenswerterweise in einem Aufsatz zum Medialen bei Luhmann und Heider zitiert (Friedrich Balke: Celluloidbälle, Sand, Messer. Die Bewirtschaftung des Medialen bei Fritz Heider und Niklas Luhmann, in: Brauns (Hg.): Form und Medium, S. 21–37, hier bes. S. 29–33). Heider berichtet, dass jeden Morgen bei

2.3 Sand als metaphorisches Modell für Virtualität

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unterscheidet zwischen einem Substrat mit starkem eigenen Charakter wie dem Stein, der sich nur in geringem Maße von außen beeinflussen lässt, und einem von außen bedingten Substrat: „Das Substrat hat gar keinen eigenen Charakter, alles wird übernommen und treu weitergeleitet, das Substrat hat viel [!] Geschehensmöglichkeiten in sich.“182 Dieses, dass das „Mediumgeschehen [...] außenbedingt“ ist, macht aber erst das Medium zu einem Medium.183 Auch im Sinne Heiders ist also Sand besonders ‚medial‘, weil von ihm jedes „Geschehen“ übernommen wird und er als Substrat stark außenbedingt ist; und es lässt sich, da das Mediale mit dem Virtuellen korrespondiert, hinzufügen, dass er auch besonders ‚virtuell‘ ist, weil er „viel Geschehensmöglichkeiten“ in sich hat. Wenn Medien immer lose Kopplungen darstellen, in denen sich feste Kopplungen als Formen durchsetzen, so sind Medien prinzipiell immer virtuell; sie sind immer Austragungsort von Formen, die auch anders hätten sein können oder noch anders werden könnten. Sand wird damit auch zur prädestinierten Metapher für das Wechselverhältnis von Virtualität und Aktualität. Virtualität steht in Differenz zum Aktuellen und verhält sich zu ihm wie das Problem zu seiner Lösung (These 1). Ein Beispiel Lévys hierfür war das virtuelle Unternehmen, das nicht mehr durch feste Koordinaten in Zeit und Raum besteht, sondern in einem Prozess der Koordination, der die Arbeitseinheiten für jeden Auftrag immer wieder neu verbindet. Anhand der Sandmetapher kann diese Struktur insofern gut modelliert werden, als Sand aus mehreren differentiellen Elementen (Arbeitseinheiten) besteht und eine Struktur aus differentiellen Verhältnissen bildet (das Problem), die immer neue Zusammensetzungen (aktuelle Problemlösungen) erlauben, wobei die Sandkörner in ständiger Bewegung sind (in wechselnden Koordinationsprozessen), was immerzu neue Formen (laufende Aktualisierungen) produziert.

einem Sekretär der philosophischen Gesellschaft, in deren Haus eine Tagung stattfand, „ein wenig Sand auf seinem Schreibtisch“ lag, der aus einem Riß an der Decke herrührte. Hiermit ist die metaphorische Verwendung vom ‚Haus aus Sand‘ angesprochen, mit der, wie Balke bemerkt, Heider auf das ‚Haus‘ der alten Philosophie anspielt, dessen Ende sich mit dem Geriesel ankündige. Vgl. zur Metapher vom ‚Haus aus bzw. auf Sand‘ Kap. 3.4.2. 182 Heider: Ding und Medium, S. 36 f. Der Sand, insofern in ihm alles „treu weitergeleitet“ wird, hätte demnach „keinen eigenen Charakter“, und bei Sören Kierkegaard hat der Sand sogar explizit keinen; vgl. oben Kap. 1, Anm. 6. 183 Heider: Ding und Medium, S. 38.

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2 Virtualität und Sand: Metaphorisches Modell

II. Sand ist ein metaphorisches Modell für die Prozesse der Bildung (Aktualisierung) und Auflösung (Virtualisierung) von Formen Durch die leichte Bildung von Formen im Sand (zu ‚Sandgebilden‘) sowie deren Auflösung (dem ‚Versanden‘) können anhand der Sandmetapher auch die Prozesse vom Aktualisieren und Virtualisieren bzw. vom Bilden und Auflösen von Formen, das „laufende Binden und Lösen des Mediums“,184 thematisiert werden. Der Prozess der Aktualisierung ist mit der Sandmetapher dann so zu beschreiben: Aus der virtuellen Struktur von Sand wird eine aktuelle Form gebildet, indem die Sandkörner differenziert und damit in Formen integriert werden; auf diese Weise löst sich das Problem, das die virtuelle Struktur des Sandes noch hatte (nämlich das Problem: wie die Körner differenzieren?), ohne dass jedoch die virtuelle Struktur ‚weg‘ wäre: Sie ist in der aktuellen Lösung noch enthalten (wie hätten die Körner noch differenziert werden können?), und die aktuelle Zusammensetzung der Sandkörner kann immer wieder aufgelöst und eine neue Form der Differenzierung und damit Aktualisierung gewählt werden (wie nun die Körner differenzieren?). Deutlich werden ebenso die Prozesse der leichten Auflösung. Wie der Sand bestehen Medien ebenso in der Möglichkeit für Formen wie für deren Auflösung, denn „[d]as Medium als reine Virtualität kann das Erscheinen von Geräuschen und Dingen als Formen fester Kopplung nicht verhindern. Es kann auch ihre Auflösung nicht verhindern. Es liegt ihrem Kommen und Gehen zugrunde und unterstützt es.“185 Der Sand ist daher eine einprägsame Metapher für die Prozesse des Mediums, weil auch er den Formen, die sich in ihm bilden wollen, nichts entgegenzusetzen hat. Ebenso wenig kann er die Formen, die sich einmal in ihm gebildet haben, halten, da schon kleinste Berührungen oder Windund Wasserbewegungen eine Umformung der Sandkonstellationen initiieren und sie virtualisieren. Dies gilt jedenfalls dann, wenn diese Konstellationen nicht fixiert wurden, wenn also eine aktuelle, feste Kopplung der Sandkörner nicht durch andere Medien stabilisiert wurde. III. Aktuelle Formen im Sand sind instabil; nur die aktuellen Formen von Sand sind sichtbar Auf der Ebene der im Sand gebildeten Formen gilt ebenfalls, dass es sich um Formen von hohem Virtualisierungsgrad handelt. Wenn Formen, wie Luhmann sagt, immer zeitlich begrenzt sind, er aber noch einmal zwischen flüchtigen und längerfristigen Formen unterscheidet, so stehen die Formen im Sand metaphorisch für

184 Luhmann: Medium und Form, GdG, S. 199. 185 Luhmann: Die Form der Schrift, S. 356.

2.3 Sand als metaphorisches Modell für Virtualität

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jene, die besonders flüchtig sind. Sie setzen sich durch, werden sich aber auch schnell wieder auflösen, werden bald: versanden. Die Auflösung ist ihnen im Moment ihrer Entstehung schon eingeschrieben; die lose Kopplung der Sandkörner bleibt selbst noch in ihrer Geformtheit sichtbar. Als Einzelkorngefüge besteht Sand aus losen Elementen, die über keine ausreichenden „Gegenkräfte“ verfügen, die stabilisierend wirken könnten. Zudem sind die Sandkörner sehr klein, und das Gefüge ist dadurch noch instabiler: Sandkörner sind äußerst beweglich, springen, hüpfen, tanzen und reisen. Sand bleibt als Medium gleichwohl stabiler als etwa die Abdrücke, Spuren oder Gebilde, die sich in ihm oder mit ihm als Formen gebildet haben; er ist als ihr „mediales Substrat“ beständiger als jene. Der Sand ist mit anderen Worten ein problematisches Feld für Formbildungen wie Spuren, Haufen, Sandwehen, das sich durch diese aktuellen Lösungen aber nicht verbraucht. Der Sand als Medium setzt seiner Formung keinen Widerstand entgegen und ist nachgiebig – aber hierin stabil; wenn sich Formen in Sand einprägen, so ist das Medium Sand nicht aufgebraucht, da immerzu neue Formen möglich sind.186 Das Medium ist aber immer nur in seinen Formen sichtbar. Genauer ist Sand als Medium nur als Sand in (irgend)einer Form sichtbar, ebenso wie auch die Virtualität von Sand nur dadurch sichtbar wird, dass es eine Aktualisierung gibt. Nur das Aktuelle, nur die Differenz ist sichtbar; das Spiel der Differenzen, die Differentiation, ist unsichtbar. An dieser Stelle zeigt sich ein interessantes Problem: Der Sand suggeriert nämlich dort, wo er zur Metapher für die Virtualität des Mediums wird, eine Sichtbarkeit dieser Virtualität und des Mediums, die es nicht gibt. Er suggeriert, dass das Medium sichtbar ist, weil es sich bei Sand um etwas Sichtbares, Materielles handelt. Diesem Widerspruch ist nicht zu entkommen, weil er durch die Wahl einer geologischen Metapher für das Wechselspiel von Medium und Form konzeptuell bedingt ist. Durch die Metapher soll ja etwas sichtbar werden. Der Eindruck, dass in den Sandkörnern das ‚Medium selbst‘ als lose Kopplung von Elementen sichtbar zu werden scheint, ist also schwer zu verhindern.187 Es ist daher umso wichtiger zu gegenwärtigen, dass der Visualisierungsversuch durch die Metapher Sand nicht ‚das‘ Medium oder ‚die‘ Virtualität visualisieren kann, sondern nur die aktualisierten Formen, in denen allein sich das Medium und seine Virtualität zeigen. IV. Die Formen im Sand sind nicht präformiert, sondern maximal kontingent Zwischen Virtualität und Aktualität darf nach Deleuze/Lévy keine Ähnlichkeitsbeziehung bestehen. Dies ist bei Sand insofern nicht gegeben, als in der Struktur

186 Nur wenn alle Formen gespeichert würden, wäre der Sand, anders als etwa das Medium Sprache, als Medium irgendwann ‚aufgebraucht‘. 187 Vgl. zu dieser Problematik auch die Ausführungen in Kap. 3.5.1.

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2 Virtualität und Sand: Metaphorisches Modell

des Sandes (seiner Virtualität) nicht vorher abzusehen ist, welche Zusammensetzung (Aktualisierung) sich hieraus ergeben wird. Das liegt daran, dass Sandkörner nicht bindig, sondern diskret, klein, gleichförmig und zahlreich sind und der Sand hierdurch besonders gut formbar ist (also wieder: Es sind keine „Steine“ oder „größeren“ Körner vorhanden). Sand stellt also keine ‚fertigen‘ Möglichkeiten bereit und metaphorisiert damit im Sinne von Deleuze/Lévy nicht das Mögliche, sondern das Virtuelle. Virtuell sind alle Sandkörner mit allen verbindbar, denn in einem Einzelkorngefüge ist kein Element (schon) mit einem anderen verbunden. Jede Form im Sand ist nicht nur ein wenig, sondern auch absolut anders möglich. Auch die Virtualität des Sandes verweist damit auf die Struktur der Kontingenz, wobei Sand insofern eine maximale Kontingenz hat, als die Sandkörner gut sortiert sind und es überhaupt keine Vorformungen oder Verbindungsvorgaben gibt. Zudem ist der Sand praktisch unzählbar, sodass es scheinbar unendlich viele Möglichkeiten für Verbindungen gibt. Auch durch den permanenten Ortswechsel der Sandkörner, ihre Beweglichkeit und ihre damit verbundene Instabilität erscheint die Formbildung beständig anders möglich, da sich für das einzelne Sandkorn fortlaufend neue Verbindungsmöglichkeiten ergeben, die nicht vorhersagbar sind. Die Lösung des Formproblems ist im Sand also, und das ist ein wichtiges Spezifikum, so offen, wie es offener kaum denkbar ist. V. Sand hat als Medium eine Form; seine Formbildung ist minimal limitiert Auch wenn also die Formen im Medium Sand nicht präformiert sind, ist ihre Formung dennoch nicht beliebig, da das Medium selbst eine Form hat und hierdurch Limitierungen vorgibt. Es kann also keine absolut „reinen“ Medien geben, sondern Medien weisen immer Spezifika auf, durch die sie von anderen Medien unterschieden werden können. Die Form von Sand, d. h. der Unterschied, den Sand als Medium gegenüber anderen Medien macht, bestimmt dabei immer auch die Formen, die sich in ihm bilden können. Die Form von Sand ist nun aber, und das ist von fundamentaler Bedeutung für alle weiteren Ausführungen, selbst lose gekoppelt! Seine Form ist es, Formbildungen wenig Widerstand entgegen zu setzen, sodass die rigiden Kopplungen schnell wieder virtualisiert werden. Das Virtuelle ist ja nicht das Unreale, sondern es hat eine reale Struktur. Wenn die Realität des Virtuellen „in den differentiellen Elementen und Verhältnissen“ besteht, wie es bei Deleuze heißt, und hierdurch „vollständig bestimmt“ ist, so entsprechen diese differentiellen Elemente den einzelnen Sandkörnern und die differentiellen Verhältnisse jenen Verhältnissen im Sand, die sich aus den jeweiligen Positionen ergeben, die die Sandkörner einnehmen. Differentiell sind dabei nicht nur die Sandkörner, weil sie diskret und voneinander unter-

2.3 Sand als metaphorisches Modell für Virtualität

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schieden sind, sondern auch ihr Verhältnis zueinander, weil sie in einem jeweils unterschiedlichen Verhältnis zu jedem anderen Sandkorn stehen. Eine Differenzierung, die eine Inbezugsetzung und damit eine Aktualisierung vornimmt, kann sich im differentiellen Sand-Gefüge nicht lange halten. Sand ist damit eine Metapher für genau jene Medien, deren Form einerseits selbst lose gekoppelt ist (Form von Sand) und denen sich andererseits, oder: gerade deshalb Formen als leicht auflösbar einprägen (Formen im Sand). Anders als bei der Pflanzensaat gibt es kaum Limitierungen auf der Ebene der Formenkonstitution. Sand ist vielmehr ein Medium für alles Mögliche. Dies liegt zum einen daran, dass die Elemente von Sand diskret, zahlreich und klein sind und dass das Maß an Feinkörnigkeit damit besonders hoch ist. Der Sand entspricht der Struktur nach Heiders Beispiel jener Kette mit guten „Mediumeigenschaften“, in der die Kettenglieder zahlreich, klein und nicht abhängig voneinander sind; er besteht „aus vielen voneinander unabhängigen Teilen“.188 Zum anderen ist Sand diejenige Sorte von Gesteinsbruchstücken, die am besten sortiert ist. Die Sandkörner sind also in besonders hohem Maße gleich groß, sodass es auch hierdurch kaum Vorgaben für die Formen gibt, die sich im Sand einprägen. Nur wenn der Sand schlecht sortiert ist, d. h. auch andere Korngrößen enthält und also, wie es auch im obigen Zitat von Corsi/Esposito heißt, die Zahl der „Steine“ oder „größeren Sandkörner“ zu groß ist, ist er umso weniger virtuell und damit umso weniger geeignet, sich formen zu lassen. Sand befindet sich im ständigen Prozess der Bildung und Auflösung von Formen. Dies ist der nicht-beliebige Unterschied, den Sand gegenüber anderen Medien macht, und dies ist also seine Form. Die Form von Sand ist seine hohe Formbarkeit und sein hoher Virtualitätsgrad. Er ist als Medium wenig limitiert in der Formbildung und -auflösung, und aus diesem Grund kann er zur Metapher für die Medialität selbst werden. Die „bestimmte Struktur“ (Deleuze) von Sand ist es, minimal bestimmt zu sein. Die Formbildung im Sand ist also nicht beliebig, sondern sehr wohl limitiert, insofern sie minimal – ! – limitiert ist, und dies ist die reale und nichtbeliebige Struktur von Sand. VI. Sand ist hochaufgelöst und hat einen hohen Virtualitätsgrad Wenn man nun davon ausgeht, dass die Limitierungen in jedem Medium unterschiedlich sind, ist es kein weiter Schritt mehr zur Annahme, dass Medien mehr oder weniger limitiert sein können. Während Luhmann das Medium als „reine Virtualität“ auffasst und damit die prinzipielle Virtualität aller Medien meint,

188 Heider: Ding und Medium, S. 42 f.

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2 Virtualität und Sand: Metaphorisches Modell

füge ich diesem verallgemeinernden Begriff der Virtualität eine Spezifizierung hinzu und unterscheide innerhalb der prinzipiellen Virtualität von Medien eine maximal und minimal bzw. eine mehr oder weniger limitierte Virtualität. Der Gewinn hiervon ist, dass innerhalb der Medien damit noch einmal zwischen jenen differenziert werden kann, deren mediale Form rigider gekoppelt ist (und die also weniger virtuell sind), und solchen, deren mediale Form weniger rigide gekoppelt ist (und die also stärker virtuell sind).189 Dies kann unschwer noch einmal mit Heider veranschaulicht werden, denn es lässt sich nach Heider „ein stärkeres und schwächeres Hervortreten der Mediumeigenschaften feststellen.“190 Entscheidend für die stärkeren „Mediumeigenschaften“ sind die Menge diskreter Elemente und ihre Größe: Ein genaues Abbilden, Aufzwingen, Aufdrücken einer Gestaltung ist ganz allgemein nur möglich, wenn das Aufgezwungene, oder das, dem etwas aufgezwungen wird, aus vielen voneinander unabhängigen Teilen besteht. Eine Kette schmiegt sich an eine gekrümmte Linie um so genauer an, je kleiner die Kettenglieder sind, je kürzer die starren Teile der Kette sind, je weniger die einzelnen Teile der Kette voneinander abhängig sind.191

Eine Kette hat daher bessere „Mediumeigenschaften“ als etwa eine „Stange“.192 Diese Unterscheidung zwischen Formen von Medien ist aber auch konstitutiv für die Unterscheidung der Formen in Medien. So kann man innerhalb der Medien zwischen jenen unterscheiden, denen sich Formen als dauerhaft fest gekoppelt einprägen, und solchen, denen sich Formen als leicht auflösbar einprägen. Zu unterscheiden ist also auch hier von der „reinen“ Virtualität der Medien noch einmal die Virtualität der Medien auf der Ebene der Formenkonstitution. Weil die medialen Elemente zwar differentiell, aber kaum differenziert sind, können die Differenzierungen in den mit ihnen gebildeten Formen immer nur flüchtig sein, da die rigiden Kopplungen auf Dauer der Entdifferenzierungstendenz des Mediums ausgeliefert sind: Hochauflösende Medien virtualisieren ihre Formen besonders rasch. Wenn also eine hohe Virtualität von Sand konstatiert werden kann, weil Sand minimal limitiert formbar ist und seine Formen hoch auflösbar sind, so kann umgekehrt metaphorisch von ‚sandigen‘ Medien gesprochen werden. Medien sind ‚sandig‘, wenn sie sehr virtuell und hochaufgelöst sind. Je mehr Virtua-

189 Die Idee, dass Medien selbst wieder im Blick auf die Unterscheidung von Medium und Form hin betrachtet werden können, dass sie also selbst eine Form haben, ist wiederum Teil von Luhmanns Konzept. Vgl. Luhmann: Die Form der Schrift, S. 355. 190 Heider: Ding und Medium, S. 43. 191 Ebd., S. 42. 192 Eine Stange schmiegt sich überhaupt nicht an, weil die Lage ihrer Teile eigenbedingt ist; vgl. ebd.

2.3 Sand als metaphorisches Modell für Virtualität

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lität ein Medium also hat, desto ‚sandiger‘ ist es, und das legt auch Luhmanns Verwendung der Sandmetapher nahe: „Und je mehr inneren Zwängen die Organisation unterliegt und je unelastischer sie ist, desto mehr muß das Medium sich ihr anpassen – so wie der Sand sich dem Stein, aber nicht der Stein sich dem Sand anpaßt.“193 Wenn ein Medium also, wie es auch Corsi/Esposito in Anlehnung an Luhmann formulieren, desto besser geeignet ist, Formen anzunehmen, je flexibler seine Elemente koppelbar sind, je mehr sie also, mit Luhmanns Worten, „intern verfügbar“ sind, wenn also, wie Heider behauptet, die „Mediumeigenschaften“ je stärker hervortreten, je kleiner, zahlreicher und unabhängiger die Einzelteile voneinander sind, dann ist das Medium desto besser für Formungen, i. e. unterschiedliche Aktualisierungen, geeignet, je ‚sandiger‘ es ist. ‚Sandig‘ ist ein Medium, wenn es besonders gleich-, viel- und feinkörnig ist und dadurch hochaufgelöst. Je mehr mögliche Verbindungen es hat, desto höher aufgelöst ist es, sodass von Sand als einem ‚hochaufgelösten‘ und damit hochgradig virtuellen Medium gesprochen werden kann. Der Grad von Virtualität lässt sich nach dem Grad der Diskretheit, Feinkörnigkeit, Gleichförmigkeit und Menge bzw. der Limitierung medialer Elemente spezifizieren. Diese Eigenschaften markieren den Grad der Auflösung, das heißt, dass eine höhere Auflösung durch Feinkörnigkeit und eine niedrigere Auflösung durch Grobkörnigkeit zustande kommt. Medien können also mehr oder weniger körnig sein, so wie Kiesel kaum körnig sind, weil sie gebunden und größer und dadurch „intern“ nicht so „verfügbar“ sind, Sand aber sehr körnig ist, weil Sandkörner lose und klein sind. Die verschiedene Körnigkeit markiert also den Grad der Virtualität: Je feiner, zahlreicher und ähnlicher die Körner, desto höher aufgelöst, formbarer, medialer und virtueller ist ihre Struktur. VII. Ob Sand Medium oder Form ist, ist ein Effekt der Perspektivierung. Die zwei Perspektiven der Virtualität fokussieren die Formen im Sand und Sand als hochaufgelöstes Medium Was nun aber als lose gekoppelt (als Medium) und was als rigide gekoppelt (als Form) betrachtet wird, ist notwendig ein Effekt der Perspektivierung. Wann demnach Sand als Medium (als virtuell) begriffen wird und wann als Form (als aktuell), ist immer eine Frage der momentanen Sichtweise. Die Betrachtung einer Sanddüne kann einerseits zum Begriff der Form führen, die sich im Medium Sand gebildet hat (oder Sand als Form im Medium Licht); sie kann andererseits zum Begriff des Mediums führen, in das sich, z. B. wenn man über sie hinweg läuft, Spuren als Formen einprägen. Es lässt sich in diesem Sinne mit Luhmann

193 Luhmann: Die Differenzierung von Politik und Wirtschaft, S. 45.

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2 Virtualität und Sand: Metaphorisches Modell

sagen, dass die physikalische Welt die Bildung von Formen ermöglicht, aber die Differenz von Medium und Form eine Eigenleistung des wahrnehmenden Organismus ist. Sand wird damit als metaphorisches Modell für die Perspektivierung von Virtualität, aber auch für die zwei Perspektiven der Virtualität genutzt: Die ‚Virtualität der Formen‘ kann mit ihnen ebenso durchdacht werden wie die ‚virtuelle Form hochaufgelöster Medien‘. In Bezug auf die ‚Virtualität der Formen‘ macht die Sandmetapher deutlich, dass man den Formen ihre Auflösbarkeit schon ansieht und sie als problematisch und kontingent perspektiviert werden. Hier werden die mangelnden Speicherqualitäten von Sand relevant. Die Formen sind, so sie sich einmal im Sand gebildet haben, schnell wieder auflösbar; sie sind sprichwörtlich flüchtig und instabil. In Bezug auf die ‚virtuelle Form hochaufgelöster Medien‘ ist zu bemerken, dass ich, wenn ich Medien mit der Sandmetapher beschreibe, sie als hochaufgelöst, d. h. als so lose gekoppelt wie die Elemente von Sand betrachte. Ich sehe ihre Form als so virtuell wie die Form von Sand, in dem es aufgrund seiner guten Sortiertheit und mangelnden Kohäsion kaum Limitierungen bei der Formbildung gibt. Dass Sandkörner ihrer abstrakten Form nach mit Punkten oder Pixeln verglichen werden können, verweist zusätzlich darauf, dass die Metapher Sand mediale Verhältnisse der Feinkörnigkeit und der hohen Auflösung ins Spiel bringt. Die ‚sandige‘ Form von Sand besteht darin, virtuell und das heißt: hochaufgelöst zu sein.

2.3.2 Die Perspektiven der Virtualität als Struktur der Sandmetapher Der erste Schritt der Modellbildung wandte sich noch einmal Kapitel 2.1 und dem Konzept von Virtualität zu; nun wird im zweiten Schritt noch einmal das in Kapitel 2.2 Gesagte aufgenommen. Damit erfolgt ein Richtungswechsel: Wurde in Kapitel 2.3.1 die Sandmetapher als Modell für das Virtualitätskonzept extrapoliert, sollen im Folgenden die zwei Perspektiven der Virtualität eine Restrukturierung der metaphorisch-geologischen Merkmale von Sand leisten. In Bezug auf die ‚Virtualität der Formen‘ wird die These vertreten, dass jedes Medium ein Medium nicht nur der Bildung, sondern auch der Auflösung von Formen ist, dass also jede einmal gebildete Form als auflösbar perspektiviert werden kann. Für diese Virtualität der Formen wird Sand als metaphorisches Modell verstanden: Sand kann als Metapher par excellence immer dort gelten, wo die Virtualisierbarkeit von Formen in Medien zum Ausdruck gebracht werden soll. Er entfaltet also in Texten immer dann sein metaphorisches Potential, wenn die leichte oder auch die allzu leichte Auflösbarkeit von Formen in Medien thematisiert wird.

2.3 Sand als metaphorisches Modell für Virtualität

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Innerhalb der metaphorisch-geologischen Merkmale rücken aus dieser Sicht die Diskretheit, Kleinheit und gute Sortiertheit der Sandkörner sowie ihre große Zahl in den Blick, d. h. alle Eigenschaften, die dazu führen, dass die Elemente von Sand, die Sandkörner, lose gekoppelt sind. Es prägen sich ihnen damit nicht nur besonders leicht Formen ein, sondern die rigiden Kopplungen, die diese Formen bilden, sind ebenso leicht wieder zu entkoppeln. Blickt man demnach auf die Virtualität der Formen im Sand, so perspektiviert man ihre Auflösbarkeit und ihre Virtualisierbarkeit, indem man sie problematisiert und kontingent setzt. Nimmt man diese Sicht ein, lassen sich drei Möglichkeiten aus dem metaphorischen Feld von Sand herauskristallisieren, wie die rigiden Kopplungen als auflösbar betrachtet werden können, also drei Arten, inwiefern es sich um leicht auflösbare Formen handelt. Die erste Möglichkeit ist die Betrachtung der medialen Elemente, d. h. es können die losen Elemente zum Gegenstand der Sandmetaphorik werden. Dies ist immer dann der Fall, wenn es um das Zählen mit Sand, das Zusammensetzen und Auflösen einzelner Sandkörner oder um das Aus- oder Ermessen von, unter Umständen auch unendlichen, Raum- und Zeitverhältnissen geht. Das Verfahren, das dem zugrunde liegt, ist das Koppeln zu Formen, wobei es sich im Rahmen der Sandmetapher immer um Kopplungen handelt, die leicht aufzulösen sind und im Sand problematisch werden. Die zweite Möglichkeit ist die Betrachtung der Stabilität von Kopplungen im Sinne ihres ‚räumlichen Halts‘, den sie aber nicht haben. Es geht hier um die losen Gründe der Elemente, d. h. um die ihnen zu Grunde liegende Haltlosigkeit. Innerhalb des metaphorischen Feldes tritt diese Problematik immer dann auf, wenn irgendetwas (ein Haus, ein sozialer Zustand, eine Idee) wie auf Sand gebaut ist. Das hier relevante Verfahren ist das Situieren, wobei dieses Verfahren der grundlegenden Situierung oder situierenden Begründung durch die Sandmetapher als problematisch und kontingent herausgestellt wird. Die dritte Möglichkeit ist schließlich die Betrachtung der Stabilität von Kopplungen im Sinne ihres ‚zeitlichen Halts‘, den sie ebenso wenig haben wie den ‚räumlichen Halt‘. Es geht hiermit um die losen Eindrücke der rigiden Kopplungen, d. h. um die kurze Dauer, in der sich die Formen in einem Medium einprägen. Der englische Begriff impermanence, der im Deutschen keine adäquate Entsprechung hat (übersetzt wird mit ‚Wandelbarkeit‘ oder ‚Unbeständigkeit‘), drückt dies im Sinne einer ‚Nicht-Dauerhaftigkeit‘ sehr gut aus. In Bezug auf die Sandmetapher wird dies immer dann thematisiert, wenn es um Negativabdrücke einer Form im Sand geht, d. h. etwa eine Spur im oder das Schreiben in Sand. Das entsprechende Verfahren ist das Archivieren, und durch die Sandmetapher bzw. durch die mangelnde Fähigkeit von Sand, Formen zu bewahren, wird gerade dessen Funktionieren in Frage gestellt.

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2 Virtualität und Sand: Metaphorisches Modell

Wechselt man auch hier wieder die Perspektive, blickt man also auf die ‚virtuelle Form hochaufgelöster Medien‘, so wird ein anderer Bereich des sandmetaphorischen Feldes relevant. Dann rückt das Merkmal von Sand in den Vordergrund, seine Formbildung minimal zu limitieren; es leistet als Medium den Formen wenig Widerstand und kann so zur Metapher für hochaufgelöste Medien werden, insbesondere für den Traum, für den die Sandmetapher paradigmatisch geworden ist. Das Medium Traum ist gleichzeitig ein hochauflösendes Medium, d. h. dass die Formen, die sich einmal durchgesetzt haben, selbst hoch auflösbar sind. Der Sand, den der Sandmann streut, bewirkt schließlich den Übergang vom Wach- in den Traumzustand und metaphorisiert den Grenzwechsel zwischen diesen Zuständen; er hat die Funktion, in die Traumwelt überzuleiten und also in eine Modalität der Welt, in der die Formbildung medial zwar wenig limitiert ist, in der sich die gebildeten Formen aber auch sogleich wieder auflösen.

2.3.3 Sand und andere Virtualitätsmetaphern Die hier vorgenommene Fokussierung der Sandmetapher ist der spezifischen Verwendung von Sand als metaphorischem Modell für Virtualität geschuldet. Andere Akzentuierungen wären durchaus möglich. Z. B. wurden alle Bedeutungsmöglichkeiten ausgespart, die sich aus dem Gewicht von Sand ergeben: Der ‚schwere Sand‘ kann dann als Metapher Verwendung finden, wenn ein schweres Schicksal eine Figur zu ‚erdrücken‘ scheint,194 etwas ins Stocken gerät und wie ein Schiff ‚auf Sand läuft‘ oder etwas ‚in den Sand gesetzt‘ wird, z. B. eine kriminologische Untersuchung.195 Es scheiden daher ebenso Texte aus, bei denen der Sand zwar angeführt, aber als Metapher nicht oder nur unergiebig eingeführt wird.196 Unberücksichtigt bleiben außerdem metaphorische Verwendungen, die sich aus der Trockenheit von Sand ergeben, aus seiner mangelnden Nahrhaftigkeit und Unfruchtbarkeit, wie etwa ‚in den Sand säen‘ oder ‚im Sande verlaufen‘. Zwar verläuft auch etwas im Sand, weil es zwischen den losen gekoppelten Körnern keinen

194 Vgl. z. B. Leon Levit: Ein Mercedes im Sand, Frankfurt/M. 2003. 195 Vgl. z. B. In den Sand gesetzt von Kirsten Holst. Der Roman interessiert in Kap. 3.5.2 allerdings in Bezug auf die Spuren im Sand; vgl. ebd. 196 So ist etwa unklar, worauf sich „Sand“ im Titel Gras und Sand von David Schütz (Roman, Frankfurt/M.: Fischer 1992) überhaupt beziehen soll. Es geht zwar um eine zerstreute Familie, aber die Metaphorik selbst wird weder im Roman angesprochen, noch weiter eingesetzt, und auch die Differenz zu „Gras“ (als das auf Sand nicht Wachsende? Als das anders als Sand Fruchtbare?) wird nicht weiter bedeutsam.

2.3 Sand als metaphorisches Modell für Virtualität

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Halt findet, aber hier wird eher auf das vergebliche Gießen, also auf die mangelnde Aufnahmefähigkeit von Sand, abgezielt als auf seine Zusammensetzung aus diskreten Elementen. Ebenso ist zwar auch der ‚Streusand‘, der noch im neunzehnten Jahrhundert zum Trocknen der Tinte ausgestreut wird, lose gekoppelt; aber metaphorisch zielt der Streusand eher auf die Fähigkeit von Sand, überschüssige Flüssigkeit aufzunehmen (hierfür also ist er aufnahmefähig genug), und ist dadurch für den Virtualitätsbegriff nicht relevant. Auch der ‚brennende‘ und ‚glühende‘ Sand kann nicht für das Modell von Sand als Virtualitätsmetapher genutzt werden. In allen diesen Fällen geht es um Sand als Aufnahmemöglichkeit von Wasser oder Hitze, d. h. es geht weniger um die Struktur von Sand als um die Absorptionsqualität seiner Körner. Der ‚Sand im Getriebe‘ zielt ebenfalls nicht direkt auf die dem Sand eigene Virtualität ab, da damit nicht die interne Struktur des Sandes fokussiert wird, sondern die Störung einer anderen Struktur, auch wenn die Kleinteiligkeit und Diskretheit des Sandes Grund dafür sind, dass ein Getriebe gestört werden kann. Wenn sich allerdings subversive Gruppen als ‚Sand im Getriebe‘ bezeichneten und sie ihr Störpotential dadurch entwickelten, dass sie sich immerzu anders bilden und wieder auflösen, dann wäre dies ein metaphorischen Gebrauch, der für das Virtualitätskonzept relevant wäre; der ‚Sand im Getriebe‘ wirkte dann über seine eigenen Formen auf die Formen in anderen Medien auflösend, er störte das Formengefüge anderer Medien. Eigens berücksichtigt wird die Wendung jedoch nicht, weil es zu wenig relevante Stellen gibt. Gleichwohl kommt das Störpotential des Sandes über die Sandmetapher implizit immer ins Spiel, insofern die Perspektive der Virtualisierung, die mit der Sandmetapher eingenommen wird, immer ein Aktuelles stört und es zu einem problematischen Komplex erklärt. Sand ist also, so lässt sich abschließend sagen, als Metapher für mein Vorhaben immer dann interessant, wenn die Struktur der losen Kopplung den metaphorischen Einsatz motiviert und die Sandmetapher damit entweder auf Verfahren des rigiden Koppelns, Begründens und Einprägens oder auf minimal limitierte, hochauflösende Wahrnehmungsmodalitäten verweist. Werden damit auf der einen Seite innerhalb des metaphorischen Feldes von Sand einige Bedeutungsmöglichkeiten ausgeschlossen, gibt es auf der anderen Seite jenseits dieses metaphorischen Feldes von Sand durchaus weitere oder andere Metaphern, die ein Modell für die Struktur der losen Kopplung bieten könnten. Sie müssen lediglich dazu geeignet sein, eine modulare Struktur aus koppelbaren Elementen, entsprechend den Sandkörnern, hervorzuheben; dies sind z. B. Mosaiksteine, Teile eines Baukastens, Stücke eines Patchworks, Sterne, Gene oder Pixel – und diese Reihe ist offen. Würden diese oder andere Metaphern als Modell für Virtualität herangezogen werden, würden sie Virtualität allerdings in teils sehr spezifische semantische Felder ziehen; zudem sind

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2 Virtualität und Sand: Metaphorisches Modell

nicht alle der genannten Elemente so klein, diskret, gut sortiert, zahlreich und instabil wie Sandkörner. Daher stellt gerade der Sand ein ideales metaphorisches Modell für Virtualität dar. Auf die Pixel wird allerdings wegen der ihnen ebenfalls eigenen Kleinteiligkeit, großen Menge, guten Sortiertheit und losen Kopplung im digitalen Medium noch zurückzukommen sein.197 Auch die astronomische Metaphorik der Sterne ist zwar nicht als Modell für Virtualität geeignet, da Sterne sich nicht wie die Elemente des Sandes formen lassen; dennoch ergeben sich hier punktuell Verknüpfungsstellen zur Sandmetapher, da Sterne immerhin doch dies sind: einzelne Elemente, aus Sicht des Planeten Erde sehr klein, fraglos sehr zahlreich und zu Sternbildern formbar, die wiederum als kontingent betrachtet werden können.198 Gerade auch die Tatsache, dass sie sich im Universum befinden, lässt über den Gedanken der Unendlichkeit eine Verbindung zur Unzählbarkeit und Unendlichkeit von Sand erkennbar werden. Auch die Ähnlichkeit von Sand- und Mohnkörnern ist erwähnenswert: Beide sind diskret und kleinteilig und damit zählbar,199 und beide wirken (hier metaphorisch, dort im eigentlichen Sinne) als Schlaf bringendes Mittel.200 Sand steht zudem als geologische Metapher in einer Reihe mit Metaphern wie Asche, Staub, Ton oder Lehm; deren Elemente sind allerdings entweder so klein oder so eng miteinander verbunden, dass sie als einzelne nicht oder kaum erkennbar sind. Möglich wäre ebenso die Betrachtung von Einzelelementen wie Wassertropfen, die sich zu Wellen und Wolken und damit ebenfalls zu sich ständig verändernden Gebilden formen; Wolken würden allerdings einen Begriff von Virtualität eher im Sinne Baudrillards bedienen, der in Differenz zu Realität steht und nicht in Differenz zu Aktualität. Zudem wurde bereits darauf hingewiesen, dass Wassertropfen wie Schneeflocken nicht mehr als diskrete Elemente sichtbar sind, sobald sie sich vermischen. Dies ist bei Sand, und das macht ihn als Metapher für Virtualität als lose Kopplung so wertvoll, nicht der Fall. Es gibt also im Blick auf die eigene Konzeption von Virtualität als lose Kopplung in jeder Hinsicht Gründe, gerade Sand als metaphorisches Modell zu wählen. Nur bei Sand findet sich eine Kombination aus Eigenschaften, an denen sich metaphorisch exakt das entfaltet, was virtuelle Strukturen sowie das Wechselspiel von Aktualisierung und Virtualisierung kennzeichnet. Nur bei Sand verbinden sich die Merkmale der kleinen Größe und Diskretheit, der guten

197 Vgl. Kap. 3.3.3. 198 Vgl. Kap. 3.3.4. 199 Vgl. Kap. 3.3.1. 200 Vgl. Kap. 4.2.1.

2.3 Sand als metaphorisches Modell für Virtualität

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Zählbarkeit und der scheinbar unendlichen Menge, der Beweglichkeit und der Instabilität, der Gleichförmigkeit (der guten Sortierung) und der hohen Auflösung, der leichten Formbarkeit und der leichten Auflösbarkeit – und ergibt sich damit insgesamt die Möglichkeit, die ‚Virtualität der Formen‘ ebenso zu thematisieren wie die ‚virtuelle Form hochaufgelöster Medien‘.

3 Virtualität der Formen Wie im vorangegangenen Kapitel erläutert wurde, ist jedes Medium nicht nur ein Medium der Bildung, sondern auch der Auflösung von Formen, sodass jede einmal gebildete Form auch als auflösbar perspektiviert werden kann. In diesem Kapitel wird es nun zuerst allein um die Perspektivierung der Formen gehen. Es wird also um solche Theorien und Denkansätze gehen, in denen die Virtualisierbarkeit von Formen thematisiert wird, und zwar vornehmlich dort, wo dies über die Metapher Sand geschieht. Medien sind nur über ihre Formen sichtbar, und die Metapher Sand ist eine Zugriffsmöglichkeit, die Virtualisierung von Formen – als deren ‚Versanden‘ – zu durchdenken und so eine der beiden zentralen Funktionsweisen von Medien – die Auflösung von Formen – deutlich zu machen. Es können hierbei wiederum zwei Betrachtungsweisen eingenommen werden: die Betrachtung der Virtualisierbarkeit (die Formen sind noch da) oder der Virtualisierung (die Formen sind aufgelöst). Die Unterscheidung von Bildung und Auflösung ist gleichwohl keine einfache Unterscheidung. Vielmehr kann und soll gar nicht ausgeschlossen werden, dass dort, wo die Auflösung der Formen betrachtet wird, auch die Bildung dieser Formen eine Rolle spielt. Umgekehrt wird später auch dann, wenn die Bildung von Formen in hochauflösenden Medien erörtert wird, auch nach der Virtualisierbarkeit dieser Formen gefragt.1 Nicht nur das: Die Verbindung ist eine fundamental systematische, denn indem sich Formen auflösen, formen sich neue, im Auflösen findet eine Bildung und in der Bildung eine Auflösung statt; beide Prozesse bedingen sich und müssen sich bedingen, weil sie beide im Medium stattfinden und damit innerhalb derselben medialen Elemente. Eine Verschränkung beider Perspektiven ist also ebenso wenig auszuschließen wie diese als ein und dasselbe zu betrachten wären. Es ergibt sich vielmehr ein – trotz allem nicht allzu komplexes – Modell aus Relationen, in dem die Bildung und Auflösung von Formen voneinander unterschieden und aufeinander bezogen sind, derweil beide Bewegungen als gleichermaßen von Virtualität betroffen betrachtet werden: Virtualität betrifft die Bildung von virtualisierbaren Formen ebenso wie die Virtualisierung von gebildeten Formen. Die Virtualisierung von Formen stellt das Gegenteil einer Aktualisierung dar: Rigide Kopplungen werden in lose Kopplungen umgewandelt, und eine zuvor bestehende Lösung wird zu einem Problem. Die Virtualisierung bewirkt also eine

1 Dies ist im Sinne der reentry-Figur von Luhmann als Wiedereintritt einer Unterscheidung in die eine Seite der Unterscheidung gemeint. Vgl. z. B. Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Suhrkamp 51994, S. 230. https://doi.org/10.1515/9783110651522-003

3.1 Varianten der Virtualisierung in Medientheorien

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Problematisierung eines länger oder kürzer, jedenfalls in seiner derzeitigen Form bislang nicht problematisierten Feldes. Zugleich wird hiermit eine aktuelle Lösung kontingent gesetzt; Problematisierung und Kontingenz hängen zusammen, da eine Problematisierung eine aktuelle Lösung im Horizont anderer Möglichkeiten einer neuen Betrachtung unterzieht. Es lassen sich dabei drei Varianten der Virtualisierung unterscheiden: erstens die Auflösung von Formen in ihre Elemente, ihre Dissolution; zweitens die Auflösung von Raumgefügen, die zu Desituierungen und zur Frage nach neuen Situierungsmöglichkeiten führt; und drittens die zeitlich bedingte Auflösung von Formen, ihre Dearchivierung, bei der die Formen im Zuge ihrer Auflösung vergessen werden (können). Nachdem zu Beginn dieses Kapitels 3 gezeigt worden sein wird, wie diese drei Varianten der Virtualisierung durch medientheoretische Überlegungen weiter spezifiziert werden können, wird in detaillierten Analysen herausgearbeitet, inwiefern die Sandmetapher ein metaphorisches Modell bietet, durch das diese drei Varianten beschrieben werden können (Kap. 3.3 bis 3.5). Virtualisierung ist dabei immer eine Perspektive, und das gilt auch für meine Analyse: Wenn hier also Texte und Theorien als virtualisierend beschrieben werden, so verdankt sich dies dem Fokus, der sie überhaupt als virtualisierend identifiziert. Es wäre daher bei einem Fokuswechsel durchaus denkbar, dieselben Texte im Blick auf ihre Formationen und Formierungen zu beschreiben.

3.1 Varianten der Virtualisierung in Medientheorien Virtualität verhält sich zu Aktualität wie das Medium zu seinen Formen (vgl. zur Thesenbildung Kap. 2.1). In Bezug auf die Virtualisierung von Formen erscheint es daher vielversprechend, auch Medientheorien direkt darauf hin zu befragen, ob und, wenn ja, wie sie Virtualisierbarkeit beschreiben, auch wenn die Sandmetapher dabei keine Rolle spielt. In der Tat ist bemerkenswert, dass sich seit den 1970er Jahren ein forciertes Interesse an Virtualisierungsprozessen – wenn auch erst seit den 1990er Jahren mit dem Begriff ‚Virtualität‘ markiert – durchzusetzen beginnt. Die Perspektivierung von Virtualisierbarkeit, die Gegebenheiten als auflösbar betrachtet, ist zwar schon damals selbst alles andere als neu. Auf einer sehr allgemeinen Ebene gehört die Idee der Auflösung wohl eher zum Grundinventar menschlicher Vorstellungsbilder, und für die Idee einer Virtualisierung interessant werden schon Überlegungen zur Kontingenz seit der Neuzeit, nach denen gegebene Zustände nunmehr grundsätzlich als nicht notwendig betrachtet werden. Auch allgemein differenztheoretisch argumentierende Positionen lassen sich hier in Bezug auf Unterscheidungen anführen, die auch anders hätten ausfallen können.

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3 Virtualität der Formen

Seit den 1970er Jahren ist aber dieser Gedanke der Auflösung – also der nachträglichen Virtualisierung bestehender Formen – nicht nur eine Option oder Denkbewegung innerhalb von Theorien, sondern eine ihrer Hauptdenkrichtungen,2 und dies gilt in besonderem Maße auch für medientheoretische Einsätze, die sich nicht zuletzt unter dem Eindruck der Digitalisierung für die Virtualisierbarkeit von Formen interessieren. Wenn daher auch der Auflösungsgedanke selbst nicht neu ist, so mag vielleicht der Fokus, diese Ansätze unter diesem Aspekt zu sammeln, eine neue Blickweise ermöglichen. Die drei oben genannten Varianten der Virtualisierung sind leitend, wenn im Folgenden bekannte medientheoretische Einsätze neu durchdacht und diese ihrerseits dadurch spezifiziert werden. Diese Spezifizierungen dienen der theoretischen Hinführung zur späteren Analyse der Sand-Texte, in denen die verschiedenen Varianten der Virtualisierung durchgespielt werden.

3.1.1 Die Auflösung von Formen in ihre Einzelelemente Um die Auflösung von Formen in ihre Einzelelemente – um ihre Dissolution – geht es in solchen Theorien, die ich als ‚Theorien der Zwischenräume‘ bezeichne. Diese interessieren sich nicht in erster Linie für zusammenhängende Zeichenketten, sondern heben die Relevanz der Räume in und zwischen den Zeichen, die gaps, Brüche, Lücken, Risse, Spielräume, Leerstellen etc. zwischen ihnen, hervor. Das gesamte Zeichengefüge wird damit als etwas betrachtet, was immer schon in sich unterschieden ist und aus Teilen besteht, die sich erst in der Differenz zu anderen Zeichen bestimmen. Die syntagmatische Anordnung verliert hierbei nicht an Relevanz, aber das Interesse gilt nun weniger der Anordnung von Einzelgliedern als der Anordnung von Einzelgliedern. Sandmetaphorisch gesprochen verschiebt sich das Interesse von den Formen im Sand zum Raum zwischen den Sandkörnern. Zu beobachten ist dies z. B. an virtualisierenden Betrachtungen der Schrift. Auch wenn die strukturale Linguistik schon früher auf die bedeutungsunterscheidende Kraft einzelner Buchstaben aufmerksam gemacht hat, gewinnt doch die „Differentialität und Analytizität der Schrift“, so Werner Kogge, in den letzten

2 Eines von vielen Symptomen hierfür mag das zu diesem Zeitpunkt erstmals stärker auftretende Interesse für kontrafaktische Geschichtsverläufe sein, d. h. für die Auflösung der als faktisch angenommenen Geschichtsverläufe, vgl. Hermann Ritter: Kontrafaktische Geschichte. Unterhaltung versus Erkenntnis, in: Michael Salewski (Hg.): Was Wäre Wenn. Alternativ- und Parallelgeschichte, Stuttgart: Steiner 1999, S. 13–42, hier S. 17–19.

3.1 Varianten der Virtualisierung in Medientheorien

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Jahrzehnten insbesondere „mit der ‚Toronto-School‘, Jacques Derrida und Nelson Goodman“ an Bedeutung. Die Differenzialität der Schrift wird oft mit der vermeintlichen Kontinuität von Bildern kontrastiert, doch können auch diese virtualisierend betrachtet werden. Am ehesten lässt sich dies an Bildern zeigen, die eine Theorie der Auflösung direkt ausstellen, womit nicht die Auflösung im Sinne einer Absentierung von Gegenständen gemeint ist,3 sondern die Auflösung in Bildpunkte, wie sie sich vom Pointillismus der Impressionisten über die Benday Dots in der Pop Art etwa eines Roy Lichtenstein bis hin zu den Punkt-Bildern von Damien Hirst finden lässt.4

Abb. 3.1: Damien Hirst: Cocaine Hydro Chloride. 1993.

Die Körnigkeit ist in der Darstellung von Hirst so grob gewählt, dass die Auflösung in einzelne Bildpunkte selbst zum Thema des Bildes wird. Eine virtualisierende Bildlektüre wird auch in den Bildern von Ursus Wehrli deutlich, der bekannte Kunstwerke – mal in materieller, mal in bildgestalterischer Hinsicht – „aufräumt“,

3 So bei Peter Weibel: Ära der Absenz, in: Ulrike Lehmann/Ders. (Hg.): Ästhetik der Absenz. Bilder zwischen Anwesenheit und Abwesenheit, München/Berlin 1994, S. 10–26. 4 Vgl. zu Hirst Raimar Stange: Damien Hirst, in: Larsen Lars Bang/Burkhard Riemschneider/ Uta Grosenick (Hg.): Art at the turn of the millennium. Ausblick auf das neue Jahrtausend, Köln u. a.: Taschen 1999, S. 226–229. Auch wenn die Bildfläche nicht nur in Punktform, sondern auch in andere geometrische Figuren (etwa bei Wassily Kandinsky) aufgelöst werden kann, interessiert mich besonders die Auflösung in Punkte aufgrund des Bezugs von Punkt und Sandkorn.

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3 Virtualität der Formen

und das heißt: sie in ihre Einzelteile zerlegt.5 Das Beispiel von „Seurats Les Poseuses aufräumen“ (Abb. 3.2) zeigt darüber hinaus, wie gerade die pointillistische Kunst zur Auflösung ihrer Bilder in Körner einlädt.

Abb. 3.2: Ursus Wehrli: Seurats ‚Les Poseuses‘ vor und nach der Virtualisierung.

Es wird hier deutlich, dass durch die Virtualisierung des Bildes nicht nur die aktuelle Lösung seiner Zusammensetzung aufgehoben, sondern auch ein Problem herbeigeführt wird, nämlich etwa: Wie ist aus den Einzelelementen ein neues Bild oder was ist daraus überhaupt zu formen? Es zeigt sich auch, dass sich im Prozess der Auflösung bereits neue Formen bilden, denn die Tüte mit den bunten Körnern stellt ja bereits eine Lösung des Problems dar; sie ist eine neue Aktualisierung der vielen aufgelösten Bildpunkte. Gleichwohl, auch dies wird im Beispiel erkennbar, ist die Virtualität des Bildes sehr real, denn die Bildpunkte stellen eine strukturierte Basis für neue Zusammensetzungen dar – ihre Größe, ihre Buntheit, ihre Farben und ihre runde Gestalt sind festgelegt. Während die Auflösung im Bild oder von Bildern auf diese Weise in der Kunst ein explizites Thema ist, scheinen sich bildtheoretische Einsätze eher für die Differenzialität von Bildern in Bezug auf ihre Rahmung und damit für ihre Differenz zum Außen zu interessieren6 wie auch für ihre Differenz zu anderen Bildern. Die Virtualisierung wird gleichwohl besonders deutlich bei jenen Medien, die überwiegend als ‚Kontinuität‘ und ‚Einheit‘ verstanden werden. Auch

5 Ursus Wehrli: Noch mehr Kunst aufräumen, m. einem Vorw. v. Albrecht Götz von Olenhusen, Königstein i. Ts.: Kein & Aber 2006. 6 Vgl. etwa Jacques Derrida: Die Wahrheit in der Malerei, hg. v. Peter Engelmann, Wien 1992, v. a. Kap. I ‚Parergon‘.

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wenn jedes Medium, wie W. J. T. Mitchell herausgestellt hat, ein „mixed medium“ ist, also immer schon Elemente verschiedener Medien in sich vereinigt, gibt es doch Medien, bei denen diese Gemischtheit weniger offensichtlich ist und für die eine virtualisierende Perspektive einen umso stärkeren Effekt zeitigt. Die Position von Mitchell ist insofern virtualisierend, als er auf die Heterogenität des – traditionell als homogen angesehenen – Mediums Bild hinweist.7 Die vermeintliche ‚Einheitlichkeit‘ ist einfacher in solchen Medien aufzulösen, deren mediale ‚Gemischtheit‘ so offensichtlich ist wie etwa in Comics, die sowohl Schrift- als auch Bildelemente nutzen und aus einer Ansammlung verschiedener ‚Bilder‘ zusammengesetzt sind. Die Reflexion auf die Zwischenräume zwischen den Bildrahmen gehört daher in der Comictheorie mittlerweile zum festen Bestand. Durch die Panelstruktur ist der Comic ein Medium, das affirmativ auf die Vereinzelung seiner graphisch-erzählerischen Elemente setzt, und dies ist seit den 1970er Jahren maßgeblich hervorgehoben worden. Scott McClouds Understanding Comics, eine der ersten umfassenderen Comictheorien,8 widmet diesen Zwischenräumen nicht nur ein eigenes Kapitel,9 sondern ihre Existenz wird von ihm als Grundform des Comics aufgefasst, die bei vielen seiner Gestaltungsmöglichkeiten, und ganz besonders bei der Organisation der Raum- und Zeitverhältnisse,10 unverzichtbar ist. Auch in der deutschsprachigen Comicforschung werden die Räume zwischen den Panels unter verschiedenen Aspekten beleuchtet und als Grundinventar der Comicform analysiert.11 Affirmativ wird die virtualisierende Lektüre in den Experimenten der an OuLiPo angelehnten Ouvroir de la Bande dessinée Potentielle (OuBaPo) verfolgt. Hier werden für die Bildelemente Regeln – constraints – definiert, nach denen sie (nicht) erscheinen, wiederholt, kombiniert oder auf der Seite angeordnet

7 Vgl. W. J. Thomas Mitchell: Picture Theory. Essays on verbal and visual representation, Chicago 1994, z. B. S. 95–99. Mitchells theoretisches Modell ‚Imagetext‘ geht davon aus, dass Schrift und Bild (so wie alle Medien) gemischte Medien sind: Die Schrift inkorporiert Visualität, und das Bild inkorporiert Schriftlichkeit. 8 Scott McCloud: Understanding Comics. The Invisible Art, Northhampton, MA 1993. Zu nennen wäre auch Will Eisner: Mit Bildern erzählen. Comics und Sequential art, Wimmelbach: ComicPress 1995; hier gibt es jedoch keine Ausführungen, die sich direkt auf die Zwischenräume beziehen. 9 Vgl. McCloud: Understanding Comics, Kap. ‚Blood in the gutter‘, S. 60–93. 10 Vgl. ebd., Kap. ‚Time Frames‘, S. 94–117. 11 Vgl. z. B. Michael Hein/Ole Frahm/Torsten Michaelsen (Hg.): Ästhetik des Comic, Berlin 2002, darin v. a. die Aufsätze von Michael Hein (Zwischen Panel und Strip. Auf der Suche nach der ausgelassenen Zeit, S. 51–58) und Günter Dammann (Temporale Strukturen des Erzählens im Comic, S. 91–101).

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3 Virtualität der Formen

werden können.12 Das einzelne Element rückt schon auf der Schreibebene in den Fokus (generative constraints), die virtualisierende Perspektive wird aber dort besonders deutlich, wo Lektüreregeln entwickelt werden, nach denen bereits bestehende Formen, also schon geschriebene Comics, aufgelöst werden können (transformative constraints). Theorien über die Auflösung von Comicformen in ihre medialen Elemente finden sich auch in Comics selbst, wie etwa in einem einseitigen Comic von Mark Newgarden (Abb. 3.3). Hierin wird in aller Kürze von einem Ich-Erzähler geschildert, wie er drei Jahre mit einer bestimmten S-Bahn fährt, um eine geliebte Frau – dies ist die Comicfigur Nancy von Ernie Bushmiller13 – wiederzusehen:

Abb. 3.3: Mark Newgarden: Love’s savage fury.

Die Erinnerung an das Aussehen dieser Frau löst sich auf, wie die andauernde Variation des Gesichts zeigt, und zwar so stark, dass die Figur schließlich ganz in einem Gemenge aus Strichen, Kreisen u. s. f. auseinanderfällt. Die Dekomposition der einzelnen Bildelemente theoretisiert den virtualisierenden

12 Vgl. z. B. unter http://www.tomhart.net/oubapo/constraints/groensteen/index.html [16.01.2012]. 13 Vgl. hierzu den Essay von Mark Newgarden und Paul Karasic: How to read Nancy, in: Brian Walker: The Best of Ernie Bushmiller’s Nancy, Henry Holt/Comicana, 1988, auch unter http:// www.laffpix.com/howtoreadnancy.pdf [28.12.2019].

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Blick auf die Form des Comics durch die Auflösung in die comicspezifischen Zeichenelemente.14 Während die Bildzeilen im obigen Comic bereits an Filmstreifen erinnern, ist umgekehrt in der Projektion des Films der Zwischenraum zwischen den einzelnen Bildern, anders als beim Comic, nicht mehr sichtbar. Ein Interesse hierfür gibt es in Filmtheorien gleichwohl, etwa bei Deleuze.15 Hier zeigt sich die Perspektive der Virtualisierung, indem nicht von der Kontinuität des projizierten Films ausgegangen, sondern auf die Bedeutung des Zwischenraums zwischen den Filmbildern reflektiert wird. Anders als bei den bisher angeführten Medien gehört es zur Spezifik digitaler Medien, dass sich ihre Formen besonders leicht auflösen lassen. Die Entwicklung der Digitalität stellt auch deswegen einen fundamentalen Umbruch dar, weil nun alle Einzelmedien in eine gemeinsame Umgebung übersetzbar sind, deren Formungs- und Auflösungsbedingungen auch für sie gelten. Zum Beispiel spricht Philippe Quéau in Bezug auf Fotos im Band Fotografie nach der Fotografie von einer „Fotovirtualität“, die durch die Entwicklung der digitalen Techniken entsteht: „Der Begriff des Bildes selbst beginnt sich […] zu verändern.“16 Die Auflösung von Bildern ist exakt zu benennen als „eine Auflösung von 4096 Zeilen mit 4096 Pixel“,17 und ihre Konstellationen sind, so Hubertus von Amelunxen im gleichen Band, variabel: „In Pixel (picture elements) zersetzt, vermag die digitale Bildtechnik eine jegliche bildhafte Darstellung der Wirklichkeit beliebig zu modifizieren, zu löschen oder zu supplementieren.“18 Markant ist dabei der Rückverweis von der Fotografie über die Digitalität auf die Zahl: „Die Digitalisierung der Fotografie bedeutet nur ihre Übersetzung in eine zahlenkodierte […] Lesbarkeit, eine Übersetzung also, die sie mit den anderen Medien des Tons, der Schrift oder des Films teilt und zu denen sie sich in einem digitalen Pool nun einfinden kann.“19

14 Vgl. zu den Elementen des Comics und einer ähnlichen Darstellung ihrer Auflösung auf der Bildfläche McCloud: Understanding Comics, Kap. ‚The Vocabulary of Comics‘, v. a. S. 50. 15 Vgl. Gilles Deleuze: Kino, Bd. 2: Das Zeit-Bild, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1991. 16 Philippe Quéau: Die Fotovirtualität, in: Stefan Iglhaut/Florian Rötzer/Hubertus von Amelunxen (Hg.): Fotografie nach der Fotografie, München: Verlag der Kunst 1995, S. 111–113, hier S. 111. 17 Ebd. 18 Hubertus von Amelunxen: Fotografie nach der Fotografie. Das Entsetzen des Körpers im digitalen Raum, in: Ders./Iglhaut/Rötzer (Hg.): Fotografie nach der Fotografie, S. 116–123, hier S. 118. 19 Ebd., S. 119. Vgl. auch: „Man muss festhalten, daß das aus Zahlen erzeugte digitale Bild nach Belieben und ohne Einschränkungen bearbeitet werden kann.“ (Queau: Die Fotovirtualität, S. 112)

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3 Virtualität der Formen

Diese Reflexion auf die Konsequenzen der Digitalisierung für die ‚alten‘ Medien, gibt es in allen Einzelmedientheorien, um die Bedeutung einer Übersetzung in einen gemeinsamen, zahlenbasierten Code zu ermessen. Die extrem hohe Auflösbarkeit in zählbare Punkte, in picture elements, schafft im Zuge dessen auch einen Nährboden für die Perspektive der Virtualisierung, sogar im großen Maßstab von Weltmodellen wie etwa Vilém Flussers „Punkte-Universum“, in dem das mediale Argument zum Konzept einer globalen Virtualisierung erweitert wird.20 Die Auflösung des Ganzen in eine Vielzahl diskreter und kleiner Einzelelemente bestimmt hierin ein grundsätzlich neues Bild von der Welt: Die Wissenschaft entwirft unter Einfluß dieses Zählers ein Weltbild, das wie ein Mosaik aus zählbaren Steinchen („calculi“) zusammengesetzt ist, und zwar sowohl auf der Ebene der unbelebten Natur (Atompartikel) als auch auf jener der belebten (Gene). Auch die Gesellschaft wird als Mosaik gesehen, innerhalb dessen sich die Bausteinchen (Individuen) nach ausrechenbaren Regeln miteinander verbinden und voneinander lösen.21

Die Operationen des Computers, des „Zählers“, setzen auf Zahlen, und auch hieraus erklärt sich das sehr intensive und für die virtualisierende Sichtweise typische kulturwissenschaftliche Interesse für die Zahl besonders in den letzten fünfzehn Jahren.22 Sie gilt vor dem Hintergrund der Digitalisierung als das differentielle Zeichen schlechthin. Der eher schnelle Streifzug durch die Möglichkeiten virtualisierender Betrachtungsweisen aus der Sicht der jeweiligen Einzelmedien, den ich hier vorgenommen habe, ließe sich verlangsamen, auf andere Medien ausweiten und detaillierter vornehmen. Einzugehen wäre auf die Musik mit den Techniken des Samplens; oder auf die Auflösung der Theaterszene in parallel angeordnete Szenen bzw. auf

20 Vgl. hierzu ausführlich Kap. 3.3.3. 21 Vilém Flusser: Die Schrift. Hat Schreiben Zukunft? Frankfurt/M.: Fischer 1992, S. 27. 22 Vgl. z. B. Sybille Krämer/Horst Bredekamp (Hg.): Bild, Schrift, Zahl, München: Fink 2003; Horst Wenzel (Hg.): Bild-Schrift-Zahl (Themenheft). Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge, Bd. XIII, H. 3, Bern et al.: Peter Lang 2003; Moritz Wedell/Pablo Schneider (Hg.): Grenzfälle. Transformationen von Bild, Schrift und Zahl, Weimar 2004; Sigrid Weigel: Die „innere Spannung im alpha-numerischen Code“ (Flusser). Buchstabe und Zahl in grammatologischer und wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive, Köln 2006; Moritz Wedell: Zeigen, Zählen und Erzählen. Semantische und praxeologische Studien zum numerischen Wissen im Mittelalter, Berlin 2007; ders. (Hg.): Status und Poetik der Zahl. Ordnungsangebote, Gebrauchsformen und Erfahrungsmodalitäten des ‚numerus‘ im Mittelalter, Köln 2011; Wolfgang Coy: Analog/Digital. Schrift, Bilder & Zahlen als Basismedien, unter http://waste.informatik.hu-berlin.de/~coy/Pa pers/Coy_Siegen_000929.pdf [28.12.2019].

3.1 Varianten der Virtualisierung in Medientheorien

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Theaterkonzepte, die von einer Auflösung der Theaterform ausgehen,23 wie z. B. das postdramatische Theater; ebenso wären die Auflösungen von Texten in Hypertexte oder verwandte Textformen zu betrachten. An dieser Stelle unterbleibt eine solche umfassendere Analyse von Mediendiskursen, da lediglich skizziert werden sollte, wie sich medientheoretische Einsätze für die lose Kopplung der Elemente interessieren, wenn sie auf die Zwischenräume zwischen ihnen hinweisen und die Perspektive der Virtualisierung einnehmen.

3.1.2 Auflösungen des Textraumgefüges Eine andere Variante der Virtualisierung – die Desituierung von Formen – liegt dann vor, wenn der Betrachtungsrahmen vom einzelnen Element hin zu größeren Zusammenhängen ausgedehnt wird, die als auflösbar betrachtet werden. Dies ist etwa bekannt von Theorien, die die Offenheit von Texten propagieren bzw. das Textraumgefüge nicht als geschlossene Einheit, sondern als auflösbares oder sich verschiebendes Gebilde aufeinander und von sich weg verweisender Zeichen betrachten. Es entzieht sich damit jede Vorstellung eines festen Textgrundes oder einer festen Textbegründung. 3.1.2.1 Roland Barthes: Die Virtualisierung der Textbedeutung Roland Barthes‘ Schriften der 1970er Jahre sind in diesem Kontext interessant, weil er in ihnen seine dekompositorische Textanalyse virtualitätsperspektivisch entwickelt. Der Virtualisierungsgedanke wird besonders in Das semiologische Abenteuer am Begriff „Pluralitätsprinzip“ deutlich.24 Demnach ist der Text „plural“, weil er über endlose Bedeutungsmöglichkeiten verfügt; deren („geometrischer“) Ort soll in der strukturalen Erzählanalyse bestimmt werden. Diese unterscheidet sich grundlegend von der philologischen Analyse, da sie darauf abzielt, das zu umreißen, was ich als geometrischen Ort bezeichnen werde, als Ort der Bedeutungen, als Ort der Möglichkeiten des Textes. Genauso wie eine Sprache (langue) eine Möglichkeit von Sprachweisen (paroles) ist (eine Sprache ist der mögliche Ort einer

23 Vgl. Kerstin Gehse, die von einer „räumlichen und zeitlichen Entgrenzung und der Auflösung der fiktiven, in sich geschlossenen Bühnenrealität“ spricht (Medien-Theater. Medieneinsatz und Wahrnehmungsstrategien in theatralen Projekten der Gegenwart, Würzburg [u. a.]: Dt. Wiss.-Verlag 2001, S. 4). Vgl. auch Samuel Webers Konzept eines Theaters, das nicht mehr in geschlossenen Einheiten gedacht werden kann (Vor Ort. Theater im Zeitalter der Medien, in: Gabriele Brandstetter (Hg.): Grenzgänge. Das Theater und die anderen Künste, Tübingen 1998, S. 31–51). 24 Roland Barthes: Das semiologische Abenteuer, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1997 [1985], S. 233.

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3 Virtualität der Formen

bestimmten, im Grunde einer unendlichen Anzahl von Sprechweisen), genauso will der Analytiker bei der Erforschung der Erzählsprache den möglichen Ort der Bedeutungen bestimmen, oder auch den Plural des Sinns oder den Sinn als Plural.25

Die strukturale Analyse soll den „Ort der Möglichkeiten des Textes“ als Ort der Bedeutungen bestimmen, die im Plural (Plural des Sinns) gedacht und als Plural (Sinn als Plural) erforscht werden. Eine deutliche Parallele zum Virtuellen ergibt sich dabei nicht nur durch die Konzeption des Textes als „Ort der Möglichkeiten“, sondern auch durch die Spezifizierung des möglichen Sinns: [I]ch halte den möglichen Sinn nicht für eine Art nachsichtige und liberale Vorbedingung für einen feststehenden Sinn; für mich ist der Sinn nicht eine Möglichkeit, nicht ein Mögliches, sondern das eigentliche Wesen des Möglichen, das Wesen des Plurals (und nicht ein oder zwei oder mehrere Möglichkeiten).26

Der mögliche Sinn besteht nicht in einer festen Anzahl von Möglichkeiten, sondern dieses Verständnis wird, weil es keine abzählbare Anzahl gibt (und das ist auch für den Virtualitätsbegriff von Deleuze und Lévy konstitutiv27), explizit ausgeschlossen. Der mögliche Sinn ist plural, aber seine Möglichkeiten sind nicht abzählbar, denn es sind „nicht ein oder zwei oder mehrere Möglichkeiten“, die den Plural als Plural ausmachen, sondern als „Wesen des Möglichen“. Die Möglichkeit des Sinns wird bei Barthes als Virtuelles konzipiert, und das bedeutet, dass die Textbedeutung selbst virtualisiert wird. Aus diesem Verständnis von Text leiten sich Konsequenzen für die Lektüre ab, in der es nicht darum gehen kann, „eine Struktur aufzuzeichnen“ (eine Aktualisierung herzustellen), „sondern vielmehr eine mobile Strukturierung des Textes zu produzieren […], im signifikanten Rahmen des Textes zu bleiben, in seiner Signifikanz.“28 Statt nur eine Möglichkeit des Textes zu fixieren, soll seine „Signifikanz“ aufgezeigt werden, die strukturell der Differentiation bei Deleuze entspricht, insofern Aktualisierungen angelegt, aber vordefiniert sind.29 Die Lektüre soll somit, so verstehe ich hier Barthes, die Virtualität der Bedeutungen, den ‚wesenhaften‘ Plural des Sinns aufrecht erhalten, und das heißt in S/Z „abschätzen, aus welchem Pluralem er [der Text] gebildet ist“, „das Sein von Pluralität“ bestätigen.30 Der Text ist nicht auf ein Signifikat, gleichgültig welches, zu

25 26 27 28 29 30

Ebd. Ebd. Vgl. Kap. 2.1.1. Barthes: Das semiologische Abenteuer, S. 266. Vgl. Kap. 2.1.1. Roland Barthes: S/Z, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1998, S. 9 f.

3.1 Varianten der Virtualisierung in Medientheorien

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reduzieren, „sondern seine Signifikanz [ist] offenzuhalten.“31 Der Virtualität der Textbedeutung entsprechend soll die Lektüre den Text virtualisieren: Sie solle versuchen, „nicht herauszufinden, wodurch ein Text determiniert […] wird, sondern vielmehr, wie er aufbricht und auseinanderfällt.“32 Ihr Ziel ist die „Dekomposition“ des Textes, um „die Umkehrbarkeit der Strukturen zu beobachten, aus denen der Text gewebt ist“,33 und was wäre die Beobachtung dieser „Umkehrbarkeit“ anderes als eine Kontingentsetzung des aktuell strukturierten Textes? Während bereits die Metaphern des Aufbrechens und Auseinanderfallens auf die Perspektive der Virtualisierung hindeuten, verweist die Metapher des Zerstäubens direkt auf den Sand: [D]as System ist der Korpus einer Lehrmeinung, indem sich die einzelnen Elemente (Prinzipien, Feststellungen, Konsequenzen) logisch, d. h. vom Diskurs her gesehen, rhetorisch entwickeln. […] das Systematische ist das Spiel des Systems, ist offene, unendliche Sprache, frei von jeder referentiellen Illusion (Prätention). Seine Erscheinungsweise, seine Konstitutionsweise ist nicht die ‚Entfaltung‘, sondern die Zerstäubung, die Ausstreuung (der Goldstaub des Signifikanten) […].34

Im System „entwickeln“ oder „entfalten“ sich also die Elemente; sie hängen gebunden durch die Logik oder Rhetorik, aneinander. Das Systematische hingegen ist durch die Auflösung dieser Beziehungen gekennzeichnet, durch „Zerstäubung“ und „Ausstreuung“. Die gleiche konträre Metaphorik von Falten und Zerstäuben benutzt auch Lévy: Von einer grundsätzlichen Virtualität des Textes, der sich in vielfachen Versionen, Übersetzungen, Editionen, Exemplaren, Kopien aktualisiert sowie in den Interpretationen virtuell korrespondierender Textpassagen,35 unterscheidet er eine zusätzlich virtualisierende Lektüre, in der uns nicht mehr der Sinn des Textes beschäftigt, sondern die Richtung unserer eigenen Gedanken; hierdurch werde der Text aufgelöst: „Cette fois-ci, le texte n’est plus froissé, replié en boule sur lui-même, mais découpé, pulvérisé, distruibué, évalué selon les critères d’une subjectivité accouchant d’elle-même.“36 Der Text wird in einer solchen Lektüre nicht mehr „gefaltet“, sondern „pulverisiert“; es wird ähnlich wie bei Barthes’ Idee vom Systematischen keiner Kontinuität eines Systems gefolgt, die man entfalten würde, sondern stattdessen wird der Text virtualisierend aufgelöst.

31 Barthes: Das semiologische Abenteuer, S. 264. Es wären ohnehin nicht alle Bedeutungen ermittelbar, da der Text „unendlich offen“ ist (ebd., S. 267). 32 Ebd. 33 Barthes: S/Z, S. 17. 34 Roland Barthes: Sade, Fourier, Loyola, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1974, S. 126 f. 35 Vgl. Pierre Lévy: Qu’est-ce que le virtuel?, Paris: Edition de La Découverte 1998, S. 33. 36 Ebd., S. 34.

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3 Virtualität der Formen

Auch wenn das Auseinandernehmen des Textes weder bei Barthes noch bei Lévy direkt mit der Sandmetapher verknüpft wird, deutet sich in den Metaphern des Zerstäubens, Pulverisierens und Distribuierens strukturell die Metaphorik des Sandes an. Allerdings gibt es unterschiedliche Feinheitsgrade in der Auflösung, denn durch Staub und Pulver wird metaphorisch auf noch kleinere Teile als auf Sandkörner verwiesen. Hierdurch findet weniger eine prinzipielle Abgrenzung von Staubkörnern zu anderen Kleinstelementen wie Sandkörnern statt (zumal Feinsand und Grobstaub sich, streng geologisch gesehen, bis auf eine Differenz von weniger als 0,01 mm annähern37); vielmehr verweist der Gedanke der Zerstäubung bis zum allerkleinsten Teilchen auf Unendlichkeit hin, und zwar nicht so sehr in Bezug auf die scheinbar endlos erweiterbare Menge von Elementen, sondern auf die unendliche Teilbarkeit von Zwischenräumen, auf die unendlich große Auffüllung durch das unendlich Kleine. Das tertium comparationis bei allen diesen Formen ist die feine bis feinste Ausdifferenzierung des Textraums nach innen (der Textraum als Einzelkorngefüge) und die damit einhergehende Abwesenheit eines stabilen ‚Text-Grundes‘.38 Inwiefern soll diese Lektüre nun, wie Barthes in Das semiologische Abenteuer sagt, die „Streuung“39 des Textes erwirken? Barthes verfährt in S/Z so, dass er den Text, Honoré Balzacs Sarrasine, in Fragmente zerlegt, in „kurze Segmente“, die er „Lexien“ nennt und die für ihn wie ein Vers die kleinsten „Leseeinheiten“ eines Textes darstellen.40 Es geht also darum, den Text in einem sehr praktischen Sinn auszudifferenzieren, ihn „sternenförmig aufzulösen“,41 wobei sich die strukturelle Nähe von Stern- und Sandmetaphorik in der Streuung der Elemente zeigt. Die kleinsten Einheiten des Textes, die Lexien, werden in einem zweiten Schritt inventarisiert,42 indem sie nummeriert werden, beginnend mit der 1. Das zählbare Einzelne ist zum einen ein Resultat der virtualisierenden Lektüre mit dem Ziel der Auflösung, die dem Text deutlich anzusehen ist: Er stellt nun ein Gefüge aus abgezählten Einzelstücken dar (aus genau 561). Zum anderen sind die zählbaren Einzelteile eine Grundlage für die

37 Als Grobstaub sind Korngrößen von über 0,01mm definiert, vgl. Hans-Peter Blume: Handbuch des Bodenschutzes, Landsberg/Lech: ecomed ²1992, S. 263; Feinsand beginnt bei Korngrößen ab 0,02 mm und geht bis zu einer Korngröße von 0,2 mm (vgl. Eduard Mückenhausen: Die Bodenkunde und ihre geologischen, geomorphologischen, mineralogischen und petrologischen Grundlagen, Frankfurt/M.: DLG-Verlag 41993, S. 190). 38 Vgl. hierzu auch Kap. 2.2.4 und Kap. 3.4. 39 Barthes: Das semiologische Abenteuer, S. 264. 40 Vgl. Barthes: S/Z, S. 18. 41 Ebd., S. 17. 42 Vgl. S/Z ab Kap. X; Barthes unterteilt die Erzählung in 561 Lexien. Vgl. auch Barthes: Das semiologische Abenteuer, S. 234.

3.1 Varianten der Virtualisierung in Medientheorien

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Virtualisierung der Textbedeutung, insofern sie immer wieder neu und immer wieder anders aufeinander bezogen werden können, ohne dass diese Bezüge – wie es ähnlich Deleuze für die Differentiation als bestimmte Struktur der Virtualität beschreibt – beliebig wären. Für jede einzelne Lexie sollen schließlich im Inventarisierungsprozess die möglichen Sinne aufgesammelt werden, oder, in Barthes’ Worten: „[U]nsere Lexien werden, wenn ich so sagen darf, möglichst feine Siebe bilden, mit deren Hilfe wir die Sinne, die Konnotationen, ‚abschöpfen‘ werden.“43 Die Metaphorik des Sandes deutet sich auch hier an (wenn auch metonymisch), wird nun aber widersprüchlich: Zuerst sollen die Lexien wie Goldstaub ausgestreut werden, aber dann sollen sie als Siebe Konnotationen abschöpfen, während wiederum anderes – was? – als wertlos ausgesiebt wird. Zum einen sollen die Lexien ‚zerstäubt‘ werden und also kein Sinn festgelegt, sondern der gleiche (Gold-)Wert der feinen Einzelstücke (Staubkörner) betont werden, zum anderen sollen aber die Lexien als Sieb die Sinne ‚abschöpfen‘, das heißt also, sie sollen werten, was bedeutsam ist: Was wird durch das Sieb ausgesiebt (fällt durch, ist unbedeutend), und was wird im Sieb aufgefangen (bleibt hängen, ist bedeutsam)? Die Ungereimtheit löst sich etwas auf, wenn man den Goldstaub als differentielle Elemente (zerstäubte, weil virtuell verbindbare Lexien) versteht und das Sieb als nicht-beliebige Struktur ihrer Differentiation (abgeschöpfter, weil nicht-beliebig aktualisierbarer Sinn). Das Sieb hat als solches dieselbe Funktion wie die Sternbilder, die Formen darstellen, die immer wieder neu aus Sternen (aus der Virtualität ihrer Anordnung) gebildet werden können, wobei die Art der Form (Aktualisierung) weder von vornherein festgelegt ist (offene Struktur der Virtualität) noch beliebig (reale Struktur der Virtualität). Ebenso funktioniert das Sieb der Lexien: Es ‚schöpft‘ die Sinne so ab, wie die Sterne im Sternbild ‚hängen‘ bleiben, ohne dass die einzelnen Lexien einem bestimmten Sinn – ebenso wenig wie Sterne einem einzigen Sternbild – zugeordnet werden können. Beide Metaphern weisen darauf hin, dass die Bedeutung des Textes nicht fixierbar ist: Der Grund, in dem sich die Formen (die Sternbilder, die Bedeutungen) bilden, ist lose, weil er immer wieder neue Formbildungen zulässt. Gerade hierin besteht die Virtualität der Bedeutung! Die Dekomposition von Barthes ist eben keine Zerstörung, sondern ein Auseinanderlösen und Rekomponieren, das sich ebenso verhält wie die Virtualisierung (Lösung fester Kopplungen) zur Aktualisierung (fest koppeln). Das Medium wird ja durch die Virtualisierung nicht zerstört, sondern seine Elemente werden lediglich wieder in den Zustand loser Kopplung zurückgeführt. Die Textbedeutung muss virtuell bleiben, weil sich

43 Ebd., S. 268.

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3 Virtualität der Formen

die Elemente immer wieder neu zusammensetzen lassen, ist aber gleichwohl nicht beliebig.44 3.1.2.2 Jacques Derrida: Die Virtualisierung der Textstellen Die Auflösung des Textraums ist eine der Grundvoraussetzungen auch für die Überlegungen von Jacques Derrida, jedoch mit anderen Gewichtungen und Konsequenzen. Während für Barthes das Auflösen in einzelne Teile das Fazit der Überlegungen ist, geht es Derrida vor allem um die Bewegungen, die sich zwischen den Teilen als Grund und Resultat der Auflösung vollziehen. Derridas Grammatologie formuliert einen Schriftbegriff, in dem das gramma, das einzelne Schriftzeichen, rein differentiell und mit sich selbst nicht identisch konzipiert wird, als différance.45 Demnach sind Zeichen nur in Differenz zu anderen Zeichen bestimmbar, sodass sich ihre Bedeutung in andere Zeichen hinein verschiebt. Während also bei Barthes die Virtualisierung in einem aufgelösten Zustand in Form einer nummerierten Lexiensammlung resultiert, mündet bei Derrida die Virtualisierung der Bedeutung in einer Bewegung aus Ersetzungsund Verschiebungsprozessen zwischen Zeichen. Die Vorstellung feststellbarer Zeichen und fester Stellen im Text wird virtualisiert, und auch das Verhältnis von Zentrum und Rand gerät in Bewegung; an seine Stelle tritt der „flottierende“ Signifikant, der immer wieder ersetzt werden muss und neue Konstruktionen nach sich zieht.46 Jede dieser Permutationen virtualisiert dabei alle anderen Stellen des Textes. Resultat dieser Prozesse ist – und auch hier deutet sich die strukturelle Nähe zur Sandmetapher an – die Zerstreuung der Bedeutung, ihre dissémination, sodass auch hier von einer Virtualisierung der Textbedeutung – wie bei Barthes – gesprochen werden kann.47 Wie bei ihm wird, wenn auch mit anderen theoretischen Implikationen, Bedeutung grundsätzlich als Mehrzahl konzipiert,

44 Vgl. auch die jeweiligen Zitate von Deleuze und Luhmann zum Kunstwerk in Kap. 2.1. 45 Vgl. Jacques Derrida: Die différance, in: Ders.: Randgänge der Philosophie, hg. v. P. Engelmann, Wien: Passagen 21999 [1972], S. 31–56; ders.: Semiologie und Grammatologie. Gespräch mit Julia Kristeva, in: Postmoderne und Dekonstruktion. Texte französischer Philosophen der Gegenwart, Stuttgart: Reclam 1990, S. 140–164. 46 Vgl. Jacques Derrida: Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen, in: Ders.: Die Schrift und die Differenz, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1976 [1967], S. 422–442, Zitat S. 437. 47 Vgl. Jacques Derrida: La dissémination, hg. v. Peter Engelmann, übers. v. Hans-Dieter Gondek, Wien: Passagen 1995 [1972].

3.1 Varianten der Virtualisierung in Medientheorien

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als „zerstreut“, als „Schrift in unzähliger Zahl“.48 Die Schrift ist „zahlreich“, weil jedes Zeichen nur differentiell gegeben ist und sich erst über die Vielzahl dessen bestimmt, was es selbst nicht ist: Die différance ist die Einschreibung des konstitutiven, unterscheidenden Bezuges eines Elements auf das, was es nicht ist, und insofern „jene Bewegung, durch die sich die Sprache oder jeder Code, jedes Verweisungssystems im allgemeinen ‚historisch‘ als Gewebe von Differenzen konstituiert.“49 Das Netz der Bezüge und Unterscheidungen wird im Begriff der différance unendlich offen gedacht. Damit ist die Grenze der Sandmetapher in diesem Punkt überschritten, da die Metapher des Gewebes und deren Implikationen nicht mit der Vorstellung der losen Kopplung vereinbar sind. Eine Konsequenz aus dieser Konzeption ist eine dekonstruktive Lektüre, die man auch als Perspektive auf die Auflösbarkeit von Texten beschreiben könnte. Dekonstruktiv zu lesen bedeutet, hierarchisierende Oppositionen auseinanderzunehmen, die Bedeutung eines Zeichens als immer schon in andere Zeichen verschoben zu betrachten und die Existenz eines Textzentrums in Frage zu stellen zugunsten einer Zerstreuung der Bedeutung. Es heißt, der Übertragung auf die Sandmetapher vorgreifend, jeden hermeneutisch gesetzten Stein in zahlreiche Sandkörner zu transformieren und den scheinbar festen ‚Grund‘ eines Textes aufzulösen in sich ständig verschiebende ‚Gründe‘. Die Bedeutung von Zeichen wird grundsätzlich problematisiert, indem sie in das Spiel der Differenzen aufgelöst wird, das mit Deleuze als die Virtualität der Bedeutung, als ihre Differentiation, zu bezeichnen ist.

3.1.3 Zeitlich bedingte Auflösungen Eine dritte Art der Virtualisierung – die Dearchivierung von Formen in Medien – findet dort statt, wo die Flüchtigkeit von Formen über die Zeit hinweg thematisiert wird. Dass es sich dabei um eine Perspektivierung handelt, zeigt sich deutlich am Beispiel der Mündlichkeit. Wird sie bei Platon noch als Medium wertgeschätzt, in dem sich Formen besonders lange speichern lassen, wird sie in schriftorientierten Theorien als gerade jenes Medium beschrieben, dessen Formen über die Zeit hinweg nicht stabil sind.50 Die Formen der Mündlichkeit werden also in diesen anderen Theorien virtualisiert.

48 Ebd., S. 342 f. 49 Derrida: Die différance, S. 41. 50 Vgl. zum Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit z. B. Walter J. Ong: Oralität und Literalität. Die Technologisierung des Wortes, Opladen 1987.

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3 Virtualität der Formen

Ein weiteres Beispiel sind Repräsentationen auf digitalen Bildschirmen, die meist als instabil aufgefasst werden, in der Regel aufgrund zweier Spezifika. Das erste Spezifikum ist ihre Zusammensetzung aus Pixeln, deren Auflösung punktgenau beschrieben werden kann und die einzeln abzählbar sind (z. B. 1024 x 768 Bildpunkte). Die Isolierbarkeit eines jeden Pixels provoziert die Perspektive der Virtualisierung: „Jedes einzelne der 25 Bilder pro Sekunde kann bis in jedes Pixel hinein verändert werden. Der Computer ist, je nach Modell und Programm, eine Palette mit Millionen verschiedener Farben […]. Eine winzige Veränderung schafft, unsichtbar, ein neues Werk.“51 Explizit wird in Bezug auf Digitalität betont, dass es keine „Kontinuität“ mehr gibt, sondern vielmehr ein Angebot aus je neu kombinierbaren Elementen: Ihre Ordnung [neuer Technologien] ist nicht mehr linear-sukzessiv, sondern eine durch Montage erzeugbare Gleichzeitigkeit unterschiedlichster Fragmente. Kontinuität weicht einer Gedanken- und Vorstellungspragmatik der Zuordnung und Vermischung von Elementen, die wegen des Fehlens innerer Verbindung im Endergebnis auch ganz anders aussehen könnte.52

Deutlich wird hier die Perspektivierung von Kontingenz in der Betonung, dass die Formen, die in diesem Medium produziert wurden, „auch ganz anders“ hätten gebildet werden können. Digitale Bilder werden, mit Paul Virilio gesprochen, als „synthetische“ Bilder perspektiviert,53 als zusammengesetzt (ich würde sagen: hochaufgelöst), und deren Kontingenz scheint dadurch eine besondere Erwähnung zu verlangen. Es handelt sich jedoch auch hier um nur eine mögliche Sichtweise, denn die Formen im digitalen Medium sind nicht synthetischer als etwa die Formen im Medium Schrift, die ebenfalls aus verschiedenen Schriftzeichen zusammengesetzt sind. Aber die Kleinteiligkeit der Pixel, die Tatsache, dass die Zusammensetzung der Pixel vom Medium selbst aufgelöst werden kann, und nicht zuletzt die digitale Spezifizität des Zusammengesetzten fördern den Eindruck des Synthetischen. Die Perspektive der Virtualisierung kann aufgrund des erst jüngst erfolgten Medienumbruchs derzeit besonders leicht greifen. Dass diese Perspektivierung selbst relativ ist, wird dadurch deutlich, dass durchaus eine andere denkbar wäre, nach der digitale Repräsentationen als kontinuierlich und dagegen gedruckte Schriftsätze als auflösbar erscheinen würden.

51 Christof Siemes: Der schöne Schein von Null und Eins, in: Stefan Bollmann (Hg.): Kursbuch Neue Medien. Trends in Wirtschaft und Politik, Wissenschaft und Kultur, Mannheim 1995, S. 344–352, hier S. 349. 52 Florian Rötzer (Hg.): Digitaler Schein. Ästhetik der elektronischen Medien, Frankfurt/M. 1991, S. 22. 53 Paul Virilio: Die Sehmaschine, Berlin: Merve 1989, S. 170.

3.1 Varianten der Virtualisierung in Medientheorien

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Etwa, wenn jemand betonte, dass digital gespeicherte Daten ja immer wieder auf den Bildschirm ‚geholt‘ werden können und, anders als Bücher, nicht der Verwitterung ausgeliefert sind, und dass sie außerdem, anders als gedruckte Schriftsätze, gerade nicht verändert (z. B. eben nicht zerschnitten oder verknickt) werden können, wenn sie sich z. B. auf anderen Servern befinden oder der Zugriff beschränkt ist. Noch ein zweites Spezifikum digitaler Medien wird in virtualisierender Weise aufgegriffen, nämlich die Projiziertheit der digitalen Repräsentationen. Durch die Programme des Computers werden sie an der Oberfläche sichtbar gemacht und scheinen dort ‚flüchtig‘, nur kurz ‚da‘ zu sein, um dann wieder von der Bildfläche zu verschwinden. Dies wird etwa von Vivian Sobchak als Verschwinden des Körpers in der Zeit („Entkörperlichung“) begriffen und als Grundeinheit der Bildschirmpräsentationen der Moment („instant“).54 Ob man weiter wie Richard Lanham eine Desubstantialisierung konstatiert, in der sich die Schrift auflöst („In the face of such volatility, it is reassuring to recall all the real literature that got written and fixed forever before pixels dissolved the literary monasteries.“55), oder ob man wie Henri-Pierre Jeudy eine „Revolte des Objekts gegen seine Auflösung in Daten“ erkennen mag56 – immer wird von einer Virtualisierung der Formen im digitalen Medium ausgegangen, die deren räumliche Präsentation so schnell verschwinden lässt, dass die Formen nur noch kurzzeitig präsent erscheinen.57 Gerne nehmen solche Theoriepositionen auf Derridas Konzeption vom „Text in Bewegung“ Bezug, um das ‚eigene‘, neue Medium zu nobilitieren; aber auch wenn sich die Plausibilität dieser Bezüge meist sehr bald erschöpft, erklärt sich immerhin aus der gemeinsamen Perspektive der Virtualisierung, warum Derrida überhaupt als eine der Leitfiguren herangezogen wird.

54 Vivian Sobchak: The Scene of the Screen. Beitrag zu einer Phänomenologie der ‚Gegenwärtigkeit‘ im Film und in den elektronischen Medien, in: Hans Ulrich Gumbrecht/K. Ludwig Pfeiffer (Hg.): Materialität der Kommunikation, Frankfurt/M. 1988, S. 416–428. 55 Richard A. Lanham: The Electronic Word. Literary Study and the Digital Revolution, in: New Literary History 20 (1989), S. 265–290, hier S. 268; vgl. ebd. auch weiter dazu S. 274 f. 56 Zit. n. Rötzer: Digitaler Schein, S. 46. 57 „Mit der Entfaltung der Potentiale der neuen Technologien geht sowohl bei ihren Befürwortern als auch bei ihren kulturpessimistischen Kritikern immer ein eschatologischer Diskurs des Verschwindens einher“ (Rötzer: Digitaler Schein, S. 46).

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3 Virtualität der Formen

3.2 Virtualisierung und Sandmetapher Die geschilderten medientheoretischen Ansätze sind miteinander durch ihre Distanz zu Konzepten verbunden, die nach der Einheit von Formen, dem Sinn des Textes oder seinem Zusammenhang fragen. In ihnen zeigt sich ein deutliches Interesse für die Virtualisierung von Formen, auch wenn dies nicht mit dem Begriff der Virtualität belegt und auch wenn die Sandmetapher nicht beigezogen wird. Je stärker die Form eines Mediums zuvor als ‚einheitlich‘ und ‚kontinuierlich‘ etabliert wurde (je mehr es ‚Fels‘ war), desto ungewöhnlicher ‚wirkt‘ bei ihm die Perspektive der Virtualisierung (die ‚Auflösung in Sandkörner‘). Ansätze, die so vorgehen, bezeichne ich als Medientheorien der Virtualisierung. Explizit angeführt wird dieser Begriff (der Virtualisierung) allerdings bislang nur im Rahmen der philosophischen Überlegungen von Lévy, dessen Ausführungen eine große Qualität für den hier entwickelten Zusammenhang haben, weil er die besondere Bedeutung der Virtualisierung heraushebt. Tatsächlich ist es nämlich so, wie er konstatiert, dass zwar schon viele Philosophen zum Virtualitätsbegriff gearbeitet haben,58 aber die Tradition der Philosophie grundsätzlich nur den Übergang vom Möglichen zum Reellen oder vom Virtuellen zum Aktuellen analysiert; keine Studie hat sich aber, so Lévy, bisher der umgekehrten Transformation in Richtung des Virtuellen gewidmet, der Virtualisierung, „qui remonte du réel ou de l’actuel vers le virtuel.“59 Wenn ich also nun explizieren werde, was Virtualisierung heißt, bewege ich mich insgesamt im theoretischen Rahmen, den ich in Kapitel 2.1 entworfen habe, wobei ich noch einmal gezielt konkretere Beschreibungen von Lévy hinzuziehe und mit den Beobachtungen zu den medientheoretischen Einsätzen verknüpfe.

3.2.1 Perspektive der Virtualisierung Wie verfährt die Perspektive der Virtualisierung? Eine Virtualisierung bewegt sich immer vom Aktuellen zum Virtuellen und steht somit, so Lévy, dem Virtuellen, das ein Sein ist, als eine Bewegung gegenüber: „La virtualisation peut se définir comme le mouvement inverse de l’actualisation.“60 Mit dem Übergang vom Aktuellen zum Virtuellen ist aber keine Derealisierung verbunden, keine

58 Vgl. dazu etwa die Ansätze, die in Kap. 2.1. angeführt werden. Lévy nennt Michel Serres und Gilles Deleuze. 59 Lévy: Qu’est-ce que le virtuel?, S. 10. 60 Ebd., S. 15.

3.2 Virtualisierung und Sandmetapher

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„transformation d’une réalité en un ensemble de possibles“, sondern vielmehr ein Anderswerden, eine „mutation d’identité“, eine Heterogenese.61 Im Gegensatz zu Lévy verstehe ich allerdings unter Virtualisierung keinen Vorgang, der gesehen oder übersehen werden kann, sondern vielmehr eine Perspektive, die eingenommen wird. Die Virtualisierung ist also keine Bewegung, die ‚ist‘, sondern die ‚entsteht‘, indem der virtualisierende Blick auf etwas gerichtet wird. Durch diesen Blick – und hier nehme ich wieder Bezug auf Lévy – wird eine Problematisierung von einem zuvor nicht Problematisierten aufgerufen: „La virtualisation passe d’une solution donnée à un (autre) problème“, denn „au lieu de se definir principalement par son actualité (une ‚solution‘), l’entité trouve désormais sa consistance essentielle dans un champ problématique.“62 Eine Einheit zu virtualisieren heißt demnach „découvrir une question générale à laquelle elle se rapporte, à faire muter l’entité en direction de cette interrogation et à redéfinir l’actualité de départ comme réponse à une question particulière.“63 Virtualisierung bedeutet also, eine Lösung in ein problematisches Feld zu transformieren, bedeutet, eine allgemeine Frage zu entdecken, ein Aktuelles in Frage zu stellen, einen Zustand im Licht seiner Fraglichkeit zu betrachten. Diese Perspektivierung erzeugt immer, so möchte ich ergänzen, eine Kontingentsetzung, weil Problematisierung und Kontingentsetzung sich gegenseitig bedingen. Da Kontingenz in der Betrachtung von Entscheidungen im Horizont ihrer Alternativen entsteht und eine Problematisierung immer ein Feld mehrerer ununterschiedener Elemente und ihrer Relationen eröffnet, bewirkt eine Virtualisierung immer auch eine Komplexitätssteigerung. Virtualisierung ist demnach: eine Perspektive (1), die einen Prozess vom Aktuellen zum Virtuellen vollzieht (2), indem eine aktuelle Lösung problematisiert (3) und kontingent gesetzt wird (4), sodass die Komplexität des Problemfeldes in den Fokus gerät (5).

3.2.2 Varianten der Virtualisierung Neben diesen grundsätzlichen Bestimmungen der Virtualisierung lassen sich drei Varianten spezifizieren, die ihre je eigenen Problemfelder evozieren. Die Verfahren berücksichtigend, die oben in der Durchsicht der Medientheorien

61 Ebd., S. 16. Die Virtualisierung bewirkt eine Heterogenese insofern, als dasjenige, das virtualisiert wurde, nicht mehr dasselbe ist wie zuvor: „C’est pourquoi la virtualisation est toujours hétérogenèse, devenir autre, processus d’acceuil de l’alterité.“ (Ebd., S. 23) 62 Ebd., S. 16. 63 Ebd.

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3 Virtualität der Formen

als implizit virtualisierend beschrieben wurden, lässt sich nun Folgendes zusammenfassen. Eine erste Variante der Virtualisierung ist die Dissolution. Betrachtet werden die Einzelelemente, die aus ihrer rigiden Kopplung (ihrer aktuellen Lösung) gelöst und dadurch desintegriert werden und deren Anordnung nunmehr kontingent gesetzt wird (sie könnten auch anders gekoppelt sein). Hierdurch entsteht ein Problem (wie sollen die Elemente nun gekoppelt werden?) als ein komplexes Problemfeld, weil nun nicht mehr eine, sondern mehrere Lösungen möglich sind – wenn auch nicht beliebig viele, da das Problemfeld die Aktualisierungsmöglichkeiten begrenzt. So werden, um noch einmal ein bereits genanntes Beispiel herauszugreifen, in Newgardens Comic Love’s a savage fury einzelne Elemente aus dem Gesicht von Nancy immer wieder in ihrer Anordnung aufgelöst und neu zusammengesetzt: Die Augen werden vertikal gestellt, die Nase horizontal, Gesichtselemente werden durch dickere Zeichnung hervorgehoben oder weggelassen. Auf der dreijährigen Suche nach Nancy in der immer gleichen S-Bahn löst sich ihr aktuelles Gesicht in der Erinnerung des Erzählers zusehends auf und stellt ihn vor das Problem, wie Nancy aktuell aussehen mag, was er zu lösen versucht, indem er die Gesichtselemente ständig wieder neu relationiert. Nancys Gesicht wird für ihn schmerzhaft kontingent: Das Bild seiner Erinnerung könnte auch ganz anders sein. Schließlich löst sich zusammen mit seiner Einsicht, er könnte Nancys Aussehen ganz vergessen haben, der Zusammenhang der Gesichtselemente in den letzten beiden Bildzeilen ganz auf. Die Virtualisierung ist perfekt: Das Bild besteht nur noch aus desintegrierten Einzelteilen, die nur noch ihre eigene Abstraktion darstellen. Eine zweite Variante der Virtualisierung ist die Desituierung. Der Fokus richtet sich auf die aktuelle räumliche Anordnung von Elementen, die kontingent gesetzt wird: Diese erscheint im Kontext ihrer möglichen Andersordnung und verliert damit ihren festen Ort. Dies kann durch Verschiebung von Elementen geschehen, durch die Pluralisierung von Anordnungsmöglichkeiten oder durch die Öffnung von Grenzen, also durch De-Definition. Eine Problematisierung entsteht nun durch die Frage, wie eine Re-Definition aussehen könnte, auf welche Weise also eine Situierung vorgenommen werden kann oder soll. An die medientheoretischen Einsätze zurückdenkend vollzieht etwa Barthes eine Virtualisierung durch die Pluralisierung und damit Desituierung der Textbedeutung: Die Textbedeutung ist niemals ‚da‘, sie ist virtuell (immer wieder anders aktualisierbar), indem die Lexien immer wieder anders zugeordnet werden können; sie hat keinen Ort. Lévy spricht seinerseits von Delokalisierung oder auch Deterritorialisierung am Beispiel der Virtualisierung von ‚Text‘, da er dann nicht ‚hier‘, sondern nur in jeder seiner Versionen präsent sei, in Kopien, Projektionen: „Lorsqu’une personne, une collectivité, un acte, une information

3.2 Virtualisierung und Sandmetapher

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se virtualisent, ils se mettent ‚hors-là‘, ils se déterritorialisent.“64 Das, was virtualisiert wird, verliert seine Gründe. Die Delokalisierung, das Versetzen in den Zustand des ‚hors-là‘, ist ein Königsweg hierfür: „Il était donc prévisible de rencontrer la déterritorialisation, la sortie du ‚là‘, du ‚maintenant‘ et du ‚cela‘ comme une des voies royales de la virtualisation.“65 Die dritte Variante der Virtualisierung deutet sich in diesem letzten Zitat in Bezug auf die zeitliche Dimension an, nämlich die Dearchivierung. Die Auflösung durch die Virtualisierung besteht in einer Deaktualisierung nicht nur des Hier, sondern auch des Jetzt, denn in beiden Hinsichten ist das Virtuelle – auch bei Lévy – „‚n’est pas là‘“.66 Gemeint ist mit dem von mir vorgeschlagenen Begriff der Dearchivierung die Flüchtigkeit von Formen über die Zeit hinweg, der Blick auf die Formen als nicht dauerhaft stabil im Medium gekoppelt (impermanence von Formen). Die Perspektivierung der Flüchtigkeit über die Zeit hinweg zeigt sich in den medientheoretischen Überlegungen etwa in den Beispielen digitaler Bilder: Sie erscheinen kontingent, weil sie im nächsten Moment wieder anders aussehen können und nicht dauerhaft auf dem Bildschirm zu sehen sind. Die Problematisierung besteht hier in der Frage nach der Archivierbarkeit digital repräsentierter Formen. Die drei Varianten der Virtualisierung – Dissolution, Desituierung und Dearchivierung – laufen alle darauf hinaus, die Formen, die im Medium rigide gekoppelt sind, in lose Kopplungen zu überführen. Hier ‚liegen‘ die medialen Elemente aber nicht einfach ‚herum‘, sondern sie sind der Virtualität des Mediums anheimgestellt. Das Medium nämlich ist zu verstehen als ein problematisches Feld, in dem neue Lösungen entstehen können, in dem sich wieder neue rigide Kopplungen durchsetzen, je nachdem, welche neuen Formen sich bereits wieder zu aktualisieren beginnen. Die Varianten der Virtualisierung setzen damit die Produktivität des Mediums in Gang: Sie reaktivieren die Koppelbarkeit des Mediums und entfalten so allererst dessen kreatives Potential.

3.2.3 Felder der Virtualisierung Da sich jede Virtualisierung einer spezifischen Perspektivierung verdankt, kann sie auf jeden Gegenstandsbereich angewendet werden. Das Feld des Virtuali-

64 Ebd., S. 18. Lévy unterscheidet zwischen Merkmalen und Modi der Virtualisierung, wobei diese Trennung bei ihm nicht sehr genau ist. Als ein Merkmal nennt er vier Modi, und zwar: Deaktualisierung, Dissolution, Desintegration und Delokalisation. Vgl. ebd., S. 15–19. 65 Ebd., S. 19. 66 Ebd., S. 17.

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3 Virtualität der Formen

sierbaren ist also durchaus über Medien hinaus erweiterbar, und die Perspektive der Virtualisierung kann, wenn man so will, ganz prinzipiell als Hinsicht auf die Welt ‚überhaupt‘ verstanden werden. Ganz konkret lassen sich mit dieser Sichtweise auch derzeitige Entwicklungen von gesellschaftlichen Formen beschreiben, und dies ist auch das Anliegen Lévys in Qu’est-ce que le virtuel?. Größere Abschnitte widmen sich hier der Beschreibung von gegenwärtigen kulturellen und ökonomischen Veränderungen durch die Virtualisierung von Körper, Text und Ökonomie. Unter der Virtualisierung des Körpers wird etwa die mehrfache Analysierbarkeit des Körpers aus immer wieder neuen Blickrichtungen heraus verstanden: Im Röntgenbild erscheint das Körperinnere als transparent, während Gesichtschirurgie oder Diätprogramme versuchen, das Körperäußere zu remodellieren.67 Der Körper stellt bei einer solchen Sichtweise keine einheitliche Größe dar, sondern findet sich aufgelöst in einen Problembereich, der je nach Betrachtungsweise eine andere Aktualisierung erfährt. „Das Prinzip Genom“ mag dem zuträglich sein, zusammen mit der „unvorstellbar hohen Auflösung, mit der wir unsere innersten Zellstrukturen inzwischen betrachten können“.68 Im Rahmen der Ökonomie ist Lévys Beispiel die Virtualisierung von Unternehmensstrukturen, wie sie bereits erwähnt und hinsichtlich seines Virtualitätskonzepts erläutert wurde.69 Als Virtualisierung des Textes wird schließlich von ihm jede Auffassung von Text verstanden, die diesen als virtuell begreift, insofern er sich nur in Versionen, Übersetzungen, Editionen, Exemplaren und Kopien aktualisiert.70 Weitere Dimensionen der Virtualisierung konstatiert Lévy in Instanzen, durch welche Aktionsfelder des Menschen von seiner körperlichen Präsenz getrennt werden können. So spricht er von der Virtualisierung der unmittelbaren Präsenz durch Sprache, der Virtualisierung physischer Handlungen durch Technik sowie der Virtualisierung der Gewalt durch den Vertrag.71 Ein vorläufig letztes Feld seiner Beobachtungen stellt die Virtualisierung der Intelligenz dar, bei der es ihm um die Frage geht, wie die Ressourcen der Menschen so nutzbar sind, dass sie gemeinsam wirken und effektiver werden können.72 Ich verfolge hier die Argumentationen von Lévy nicht im Einzelnen weiter, weil lediglich deutlich werden sollte, wie er den Gedanken der Virtualisierung,

67 Vgl. ebd., Kap. 2. 68 Tobias Kniebe: Das Prinzip Genom, in: Süddeutsche Zeitung 5 (01.02.2008), S. 6. 69 Vgl. Kap. 2.1.1. Vgl. Lévy: Qu’est-ce que le virtuel?, Kap. 3. 70 Vgl. ebd., Kap. 4. 71 Vgl. ebd., Kap. 5. 72 Vgl. ebd., Kap. 7 f.

3.3 Lose Elemente: Auflösung von rigiden Kopplungen

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den ich an medientheoretischen Programmen erläutert habe, unter abwechselnd philosophischen, anthropologischen und soziopolitischen Gesichtspunkten auf ganz unterschiedliche Bereiche anwendet.

3.2.4 Sand als metaphorisches Modell für die Virtualisierung der Formen Mein Vorhaben besteht dagegen darin, über die Metapher Sand weitere Felder in Literatur und Theorie zu erschließen. Ich begreife Sand als metaphorisches Modell, mit dem die verschiedenen Virtualisierungsweisen reflektiert werden können, sodass in theoretischen wie literarischen Texten über die Sandmetapher eine Theoretisierung der Virtualisierung stattfindet. Während das bisher Gesagte vor allem verdeutlichen sollte, wie die Virtualität der Formen allgemein gedacht und der Prozess der Virtualisierung beschrieben werden kann, möchte ich mich nun auf jene Texte konzentrieren, die diese Problematik der Auflösbarkeit anhand der Sandmetapher verhandeln. Die Sandmetapher thematisiert die Auflösbarkeit von Formen in ihre kleinsten Einheiten durch die Differentialität der Sandkörner und entfaltet besonders dort ihr metaphorisches Potential, wo die Virtualisierbarkeit von Formen zum Ausdruck gebracht werden soll.

3.3 Lose Elemente: Auflösung von rigiden Kopplungen In Bezug auf die Virtualität der Formen rücken nun in einem ersten Zugriff die lose gekoppelten Elemente in den Blick, also das mediale Substrat, aus dem die Formen zusammengesetzt sind. Diese Variante der Virtualisierung besteht in der Dissolution von Formen in mediale Elemente und, damit einhergehend, in deren Desintegration, d. h. in der Herauslösung dieser Elemente aus ihren Zusammenhängen, aus ihren rigiden Kopplungen. Hierdurch gewinnen Zwischenräume eine größere Bedeutung, da sie definieren, in welchem Verhältnis die Elemente nach der Auflösung zueinanderstehen. Da der Grad der Virtualisierung je größer ist, desto kleiner die Elemente sind, sind hier die besonders kleinen Elemente von größter Bedeutung. Für das metaphorische Modell konzentriere ich mich daher auf das einzelne Sandkorn, insofern dies die kleinste Einheit darstellt, die als solche erkennbar ist. Diskret und klein, dabei gut sortiert und ohne größere Limitierungen für Formungen; äußerst zahlreich und scheinbar unendlich; sehr beweglich und dadurch äußerst instabil – diese Eigenschaften von Sandkörnern spezifi-

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3 Virtualität der Formen

zieren metaphorisch die Merkmale lose gekoppelter Elemente als jene medialen Bestandteile, aus denen Formen gebildet und in die Formen aufgelöst werden.73 Von diesen Eigenschaften ausgehend lassen sich weitere ableiten, die für den Gebrauch der Sandmetapher, so wie er in diesem Kapitel verhandelt wird, maßgeblich sind. Durch die Diskretheit von Sandkörnern werden ihre Differenziertheit und ihre Zwischenräume deutlich; sie haben eine parataktische Struktur. Da sie nicht nur diskret, sondern auch beweglich sind, sind sie zudem rigide koppelbar, und weil sie auch in ihrer rigiden Kopplung diskret bleiben, sind sie aus diesen rigiden Kopplungen leicht wieder herauslösbar. Schließlich sind sie aufgrund ihrer Diskretheit, Beweglichkeit und Größengleichheit zählbar, und nicht nur dies: Sie eröffnen, weil sie außerdem äußerst zahlreich sind, auch den Raum großer Zahlen und scheinbarer Unendlichkeiten. Diese Eigenschaften, diese These verfolge ich in diesem Kapitel, sind der Grund dafür, dass Sand ein metaphorisches Modell für verschiedene Arten der Weltmodellierung liefert. Diese stehen im Kontext jener atomistischen Weltmodelle, die sich seit der Antike mit dem Gedanken auseinandersetzen, ob und wie die Welt aus kleinsten, einzelnen Teilen besteht, wie diese zu qualifizieren sind und wie sie sich zueinander verhalten. Die Elemente der Welt stellen hier das mediale Substrat dar, aus dem sich immer wieder Formen bilden (das ‚Werden‘ in der Welt), die sich aber auch wieder auflösen lassen (das ‚Vergehen‘ in der Welt). Im Folgenden werden drei Texte vorgestellt, in denen Sand als Metapher für solche Weltmodellierungen genutzt wird. Auch später in Kapitel 4.1 werden Texte behandelt, die Sand als Metapher der Weltmodellierung einsetzen; aber während dort der Gedanke der Weltbildung im Mittelpunkt steht, richtet sich in den hier vorgestellten Texten der Fokus auf die einzelnen Bestandteile der Welt und damit auf den Gedanken der Weltauflösung, und zwar nicht in dem Sinne, dass die Welt gedanklich destruiert, sondern dass sie als ein Zusammengesetztes wahrgenommen wird. Texte, die sich mit der ‚Weltauflösung‘ befassen, gehen gleichsam von einer Granularität der Welt aus, weshalb Sand zur bevorzugten Metapher wird. Die folgenden drei Modelle sind in unterschiedlichen historischen Kontexten entstanden, sodass sie verschiedene Voraussetzungen haben und andere Schlussfolgerungen ziehen.

73 Vgl. zu den metaphorisch-geologischen Merkmalen von Sand Kap. 2.2.

3.3 Lose Elemente: Auflösung von rigiden Kopplungen

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3.3.1 Archimedes: Zählen wie mit Sand In seiner mathematischen Abhandlung Ψαμμίτης (Die Sandzahl),74 von ἥ ψάμμος, griechisch für ‚Sand‘ – bzw. bedeutet ψαμμίτης wörtlich ‚von Sand‘, ‚sandig‘ –, führt Archimedes von Syrakus astronomische Berechnungen durch. Als Maßeinheit wählt er das Sandkorn. Er setzt also, wie die antike Tradition im Sorites,75 Sandkorn und Zahl in Analogie, wodurch es ihm möglich wird, wie mit Sand zu zählen. Archimedes‘ Ziel ist, anhand geometrischer Beweise zu zeigen, dass die Zahl der Sandkörner nicht nur nicht unendlich ist, sondern dass sogar eine Zahl benannt werden kann, die deutlich größer ist als die Zahl der Sandkörner auf der Erde: Etliche glauben […], daß die Zahl der Sandkörner unendlich sei. […] Andere gibt es, die zwar nicht der Ansicht sind, daß die Zahl der Sandkörner unendlich sei, die aber meinen, daß es keine so große Zahl gebe, die die Zahl der Sandkörner übertreffe. Es ist klar, daß die Vertreter dieser Ansicht, wenn sie sich eine Kugel aus Sand vorstellten, so groß wie die Erdkugel […], um so mehr der Ansicht wären, daß keine Zahl namhaft gemacht werden könne, die größer wäre als die Zahl der Sandkörner dieser Kugel. Ich aber werde versuchen, […] mit Hilfe von geometrischen Beweisen, klar zu machen, daß unter den […] Zahlen etliche vorhanden sind, die nicht nur die Zahl der Sandkörner in jener der Erdkugel gleichen Kugel, von der wir sprachen, übertreffen, sondern auch die Zahl der Sandkörner in einer Kugel, die so groß ist wie der Kosmos.76

Sandkörner werden als Mengeneinheit herbeigezogen, um den Inhalt von verschieden großen ‚Kugeln‘ zu berechnen und eine bis dato unvorstellbar große Zahl zu ermitteln.77 Ausgehend von der Größe eines Mohnkorns78 (τὰν διάμετρον τᾶς μάκωνος) rechnet er deren Sandinhalt hoch zur Menge der Sandkörner, welche die Erdkugel (τᾶ γᾶ), bestünde sie nur aus Sand, enthalten würde, bis er zu den Inhalten der Kugeln von der Größe des Kosmos (το

74 Archimedes: Die Sandzahl, in: Ders.: Über schwimmende Körper und die Sandzahl, übers. u. m. Anm. vers. v. Arthur Czwalina, Repr. n. d. Erstausgabe von 1925, Leipzig 1987, S. 67–82. Der griechische Originaltext Ψαμμίτης mit lateinischer Übersetzung unter dem Titel Αrenarius findet sich in: Archimedes: Opera Omnia cum commentarius Eutochi, hg. v. Johan Ludvig Heiberg, Bd. 2, Leipzig: Teubner 1881, S. 241–291. 75 Vgl. Kap. 1. 76 Archimedes: Die Sandzahl, S. 67. 77 Im griechischen Original heißt es „ἐκ τοῦ ψάμμου ταλικοῦτον ὄγκον συγκείμενον“, was wörtlich übersetzt heißt „eine so große aus Sand zusammengesetzte Masse“, in der lateinischen Übersetzung aber mit „globum ex arena“ übersetzt wird, hier also die Vorstellung der Kugeln evoziert wird (vgl. Archimedes: Ψαμμίτης/Arenarius, S. 242 f.). 78 „Da nun vorausgesetzt ist, daß eine Kugel von Mohnkorngröße nicht mehr als 10 000 Sandkörner enthalten kann, so ist klar, daß eine Kugel mit einem Durchmesser von Fingerbreite nicht mehr als 640 000 000 Sandkörner enthält.“ (Archimedes: Die Sandzahl, S. 76)

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3 Virtualität der Formen

κόσμος) und, noch größer, der von Aristarch angenommenen Fixsternsphäre (ἄστρων σφαῖρα) gelangt.79 Archimedes’ Leistung ist hierbei zum einen die geometrische Berechnung der Größenverhältnisse, welche die verschieden großen Kugeln zueinander haben:

Abb. 3.4: Geometrische Berechnung aus Archimedes’ Die Sandzahl.

Zum anderen sucht er nach einer Methode, sehr große Zahlen zu bilden und auszudrücken. [Die Griechen zählten] bis 1000, aber die Tausender zählten sie als besondere Einheiten von 1 … 10. auf diese Weise entstand als größte Zahl der Wert 10 000, für den die Griechen eine besondere Bezeichnung hatten. Sie nennen sie Myriade – μύριας, von dem griechischen Wort μύριος, das etwas nicht mehr Zählbares bezeichnet. Zur Zeit des Archimedes bildete diese Zahl die Grenze des griechischen Zählens.80

79 Ebd., S. 67, 77. Gemeint ist Aristarch von Samos, 301–230 v. Chr., der als erster das heliozentrische Weltbild vertritt. 80 W. F. Kagan: Archimedes. Sein Leben und Werk, Leipzig 1955, S. 20.

3.3 Lose Elemente: Auflösung von rigiden Kopplungen

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Um Zahlen beschreiben und benennen zu können, die „größer als eine Myriade von Myriaden waren“,81 entwickelte er ein neues Zahlensystem anhand eines Stufenmodells: Die Zahlen 1–1.000.000.000 werden als Zahlen erster Ordnung e1 bezeichnet, darauf baut e2 auf, das dann zu 10 e2 erweitert werden kann, etc.82 Archimedes rechnet sich nun anhand der so benennbaren Zahlengruppen in immer höhere Ebenen bis er z. B. zur Größe des „Kosmos“ gelangt: „Da nun gezeigt wurde […], daß der Durchmesser des Kosmos kleiner ist als 10 000 000 000 Stadien, so ist klar, daß der Kosmos, mit Sand gefüllt weniger als 1000 e7 Sandkörner enthält.“83 Da Archimedes schließlich sogar eine Zahl nennen kann, durch welche mehr als die Menge der potentiell in der „Fixsternsphäre“ enthaltenen Sandkörner bezeichnet werden kann, kann er seinen Beweis erfolgreich schließen: Die Zahl der Sandkörner ist ebenso wenig unendlich wie es keine Zahl gibt, die größer wäre als sie.84 Was bedeutet das nun für Sand als metaphorisches Modell? Sandkörner und Zahlen sind jeweils lose gekoppelte Elemente, in die Archimedes den Kosmos gedanklich auflöst. Hierdurch wird jedoch nicht das geschlossene Weltbild virtualisiert, für das der Kosmos als Weltkugel steht. Vielmehr lässt sich sein Gedankenexperiment, verschieden große Kugeln mit Körnern anzufüllen, an die Bildlichkeit des Sphärischen anschließen, die Peter Sloterdijk als maßgeblich für das geschlossene vormoderne Weltbild erwiesen hat.85 Nicht die Vorstellung einer geschlossenen Welt wird also durch die Sandmetapher virtualisiert, sondern der bisherige Begriff ihrer Größe. Ebenso wird auch die (feste) Vorstellung von der Unendlichkeit der Sandzahl virtualisiert, wenn auch paradoxerweise durch die Aktualisierung einer Zahl als ‚Sand-

81 Georges Ifrah: Universalgeschichte der Zahlen, Frankfurt/M./New York: Campus 1989, S. 293. Vgl. hier auch zur detaillierteren mathematischen Beschreibung des griechischen Zahlensystems vor und nach Archimedes. 82 Vgl. Archimedes: Die Sandzahl, S. 74. 83 Ebd., S. 77. 84 Vgl. ebd., S. 77 f. Alle Sandkörner zu zählen, stellt sich – hypothetisch – auch Prokopius vor, um zu zeigen, wie unermesslich viele Opfer Kaiser Justinian auf dem Gewissen hat, wobei er die Unmöglichkeit, alle Sandkörner zu zählen, hervorhebt: „Und dass er kein menschliches Wesen, sondern, wie man vermutet hat, die Verkörperung eines Dämons in menschlicher Gestalt war, kann man erschließen, wenn man die Schwere der Untaten ermisst, welche er an der Menschheit verübte. […] Nun die genaue Zahl jener festzustellen, die durch ihn zerstört wurden, wäre nicht möglich, denke ich, weder für einen Menschen, noch für Gott. Denn man könnte schneller, so denke ich, alle Sandkörner zählen als die unermessliche Zahl jener, welche dieser Kaiser zerstörte.“ (Prokopios: Die Anekdota. Geheimnisgeschichte eines Tyrannis, aus d. Griech. übertr. u. eingel. v. Emil Fuchs, Wien: Luckmann 1946, Kap. 18,1) 85 Vgl. Peter Sloterdijk: Sphären I–III. Blasen, Globen, Schäume. Frankfurt/M. 1998–2003.

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zahl‘. Die Aktualisierung der errechneten (nach der Rechnung fest-stehenden) Sandzahl virtualisiert die (zuvor feststehende) Vorstellung davon, dass die Menge des Sandes unendlich ist. Archimedes’ Ψαμμίτης ist ein ungewöhnliches Beispiel für die Verwendung der Sandmetapher, da Sand auf den ersten Blick ganz unmetaphorisch als Zähleinheit verwendet wird; dennoch oder vielmehr gerade deswegen ist der Einsatz des Sandes aber aussagekräftig auch für Sand als Metapher für Virtualität. Warum kann Archimedes nämlich, und diese Frage ist entscheidend, überhaupt mit Sand rechnen? Was sind die Bedingungen der Möglichkeit einer „Sand-Rechnung“, wie Ψαμμίτης in einer früheren deutschen Ausgabe übersetzt wird?86 Eine erste Antwort auf diese Frage geben die Eigenschaften des Zählens. Zählen ist ein Prozess, in dem durch „Bildung von Nachfolgern“ eine Reihe gebildet wird.87 Die Zählzahlen werden hierbei als Einzelgegenstände aufgefasst, die den Zählprozess dokumentieren. Es kann aber durchaus auch mit anderen Gegenständen gezählt werden: Unsere […] Definition des Zählens grenzt den Begriff des Zählens einerseits ein. Andererseits öffnet sie ihn – vielleicht unerwartet […]: Man nehme beliebige Gegenstände, erkläre eine geeignete Zuordnung, und die Gegenstände sind im Prinzip Zahlen, mit denen wir zählen können. […] Die Offenheit des Zählbegriffs […] bietet […] die Gelegenheit, neue Situationen als zählartig zu begreifen, Zusammenhänge zu sehen, herzustellen und transparenter zu machen.88

In Archimedes’ Rechnung sind solche Zählgegenstände die Sandkörner, die nur deswegen gezählt werden können, weil sie unterscheidbar sind und aneinandergereiht werden können. Dies ist grundsätzlich mit beliebigen Gegenständen möglich, was kein überraschender Gedanke ist, bildet doch das „Einkerben von Holz oder Knochen […] genau wie das Anlegen von Steinhäufchen oder Häufchen aus anderen Gegenständen den Ursprung des Zählens.“89 Auch wenn die Zählgegenstände beliebig sein können, müssen sie, so würde ich konkretisieren, zumindest als Elemente identifizierbar sein: Sie müssen diskret sein. Mit Wasser z. B. wäre es zwar auch möglich, eine Menge abzumessen, aber die Zähl- und Identifizierbarkeit der einzelnen Elemente, auf die es in Archimedes’

86 Johann Christoph Sturmius (Hg.): Αrchimedis Sand-Rechnung, in: Ders.: Des Unvergleichlichen Archimedis Kunst-Bücher, Oder Heutigs Tags befindliche Schrifften / Aus dem griechischen in das Hoch-Deutsche übersetzt / und mit nothwendigen Anmerkungen durch und durch erläutert von Johanne Christophoro Sturmio, Nürnberg: Wettib und Erben 1670, S. 1–32. 87 Thomas Bedürftig/Roman Murawski: Zählen. Grundlage der elementaren Arithmetik, Hildesheim/Berlin: Franzbecker 2001, S. 3. 88 Ebd., S. 16 f. 89 Ifrah: Universalgeschichte der Zahlen, S. 117.

3.3 Lose Elemente: Auflösung von rigiden Kopplungen

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Rechnung ja ankommt, wäre hier nicht gegeben. Dem Zählen ist der Gedanke der diskreten Einheiten insofern eingeschrieben, als es, wie oben erwähnt, bereits in den Anfängen mit dem Anhäufen kleiner Steinchen verbunden ist: Lateinisch calculus, aus dem sich das heutige ‚Kalkül‘ ableitet, bedeutet ‚kleiner Kieselstein‘,90 und so bewegt sich das Sandkorn als gleichsam besonders kleiner Kieselstein in großer Nähe zu den ältesten Gegenständen des Zählens. Die Zählgegenstände müssen diskret sein, und sie dürfen, zumindest in der Rechnung von Archimedes, nicht völlig beliebig sein, da er nicht nur zählt, sondern anhand der Zahl der Sandkörner Volumina ermisst, wofür die Gegenstände gleich groß sein müssen. Eine Rechnung mit Sand ist in diesem Sinne relativ präzise, da Sand gut sortiert ist, d. h. aus in hohem Maße gleich großen Elementen besteht. Auch wenn Sandkörner heute nur unter bestimmten Bedingungen eine exakte Maßeinheit darstellen, können sie in antiker Vorstellung doch aufgrund ihrer Diskretheit und annähernden Größengleichheit zu einer Einheit werden, die Volumina weitgehend genau ausmisst. Konkrete Gegenstände gehören, folgt man Georges Ifrahs Universalgeschichte der Zahlen, zu den figürlichen Zahlzeichen, für die er als Beispiele Kiesel, Muscheln oder Stäbchen nennt. Innerhalb der schriftlichen Zahlzeichen wiederum verzeichnet er nicht nur Buchstaben mit Zahlenwert, sondern auch auf direkte Anschauung gegründete Zahlenbezeichnungen, so wie etwa die Abbildung von fünf Strichen oder fünf Punkten für die Zahl fünf.91 Sandkörner fänden in beiden dieser Rubriken ihren Platz: Sie könnten im genannten Sinne als figürliche Zahlzeichen verstanden werden, insofern mit ihnen wie mit Kieseln gerechnet werden kann; sie könnten aber ebenso als schriftliche Zahlzeichen verstanden werden, wenn man von ihrer Gegenständlichkeit abstrahiert und sie als Punkte betrachtet bzw. schriftliche Punkte als Zeichen für Sandkörner ansehen würde. Sandkörner befinden sich im Übergang zwischen figürlichem und schriftlichem Zahlzeichen. Das Schriftliche der Zahlzeichen wird in jenem Moment wieder figürlich, wo in Johann Christoph Sturmius’ Übersetzung und Kommentierung von Archimedes’ Ψαμμίτης die enorm hohen Zahlen am Rand noch einmal von Sturmius in arabischen Ziffern aufgezeichnet werden, bei denen, während sich Archimedes in immer größere Zahlen hochrechnet, hinter der 1 immer mehr Nullen zu stehen kommen. Bei den letzten Zahlen, die die Menge der Sandkörner in der „Fixsternsphäre“ bezeichnen, finden sich so viele Nullen, dass visuell der Eindruck entsteht, hier würden Sandhäufchen zusammengeschoben (vgl. Abb. 3.5).

90 Vgl. ebd. 91 Vgl. ebd., S. 48.

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Abb. 3.5: Bildkommentar von Sturmius zu Archimedes’ Die Sandzahl.

Man könnte einwenden, dass Archimedes, genau genommen, keine Reihen mit Sandkörnern bildet und also auch nicht zählt. Das ist insofern richtig, als er in der Tat keine Nachfolger für jedes einzelne Element bildet. Er zählt aber in dem Sinne, dass er immer neue Nachfolger für ganze Mengen bildet, indem er der Menge an Sandkörnern von kleineren Kugelinhalten weitere Mengen hinzufügt und auf diese Weise ‚weiterzählt‘. Seine besondere Leistung besteht dabei darin, durch Weiterzählen die bekannten Zählreihen (zwischen 1–1.000.000.000) zu erweitern, indem er sie als ganze Zahlräume in einen unbekannten Raum hineinprojiziert (z. B. den Zählraum von 1000 in 1000 e2 hinein).92 Ein weiterer Aspekt ist, dass Mengen selbst zwar statisch und ohne Reihung sind, aber mit dem Zählen im direkten Zusammenhang stehen, da sie das Resultat eines Zählprozesses darstellen. Einer Menge ist also ihr Gezähltsein oder ihre Zählbarkeit zwar nicht anzusehen, da die Gegenstände meist nicht in einer Reihe angeordnet sind oder mit einzelnen Zahlen belegt werden, aber umgekehrt ist jede Menge auszählbar und für das Ergebnis des Auszählens ist die Reihenfolge irrelevant.93 Auch in Archimedes’ Sandrechnung stellen daher die Sandkornmengen, die bestimmte Kugelgrößen zu fassen vermögen, immer Resultate eines fiktiven Zählprozesses dar. Sandkörner können sich jedoch in immer neue Anordnungen einfügen, sodass einmal gebildete Sandmengen immer wieder auflösbar und die einzelnen Elemente immer wieder für das Weiterzählen zu immer größeren Mengen verfügbar sind. Von besonderer Relevanz ist in diesem Kontext die Tatsache, dass Mengen grundsätzlich endlich sind.94 Die Sandmengen, die Archimedes für die verschiedenen Kugelgrößen berechnet, sind immer endliche Mengen von Elementen, und genau dies, dass die Zahl der Sandkörner endlich ist, möchte er

92 Vgl. zur Erweiterung von Zählreihen Bedürftig/Murawski: Zählen, S. 180. 93 Es gilt das Prinzip der Unabhängigkeit von der Reihenfolge: „Das Ergebnis des Auszählens ist unabhängig von der Reihenfolge, in der die Gegenstände durchlaufen werden.“ (Bedürftig/ Murawski: Zählen, S. 339) 94 Vgl. ebd., S. XVf.

3.3 Lose Elemente: Auflösung von rigiden Kopplungen

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beweisen.95 Gerade Sand evoziert also einerseits die Vorstellung von scheinbar unendlich großen Mengen und der scheinbar endlosen Möglichkeit, immer weiter in immer größere Zahlenräume hinein zu zählen; gleichzeitig definiert Archimedes eine Menge Sand über die „Sand-Zahl“ und zeigt so, dass der Sand nicht unendlich ist, denn die „unendliche Zahlenreihe ist keine Menge“.96 Die theoretischen Bedingungen des Zählens und die geologischen Eigenschaften von Sand machen im Zusammenhang deutlich, dass Sandkörner die Eigenschaften haben, die Elemente brauchen, um nicht nur zählbar zu sein, sondern auch selbst als Zahl für etwas zu stehen. Bis heute wird in Museen versucht, die Zahl der verstreichenden Jahre oder die Zahl der auf dem Planeten Erde lebenden Menschen mit Sandkörnern anschaulich zu machen.97 Durch Sand werden bis heute Mengenverhältnisse dar- und vorgestellt, wobei die Gleichsetzung von Sandkorn und Byte besonders markant ist, die eine Aufstellung zum Problem des Big Data vornimmt:

Abb. 3.6: Abschätzen von digitalen Speicherkapazitäten mit Sandmengen.

Ausgehend von einem Byte, dem ein Sandkorn gleich gesetzt wird, wird hier, ähnlich wie bei Archimedes’ Kosmosberechnung, errechnet, wie viele Sandkörner einem Kilobyte entsprächen (einige Prisen) und weiter wie viele einem Megabyte (ein Esslöffel), einem Gigabyte (ein Schuhkarton), einem Terabyte (ein Sandkasten), einem Petabyte (ein langer Strand), einem Exabyte (ein sehr langer Strand) bis hin zum Zettabyte (ein Strand so lang wie alle Küsten der Welt).

95 Bei Cassiodor lässt später Theoderich die Zahl der Sandkörner mit der Begründung endlich nennen, dass alles Erschaffene endlich sei. Vgl. Klaus R. Grinda: Enzyklopädie der literarischen Vergleiche. Das Bildinventar von der römischen Antike bis zum Ende des Frühmittelalters, Paderborn u. a.: Schöningh 2002, S. 165, Anm. 5. 96 Bedürftig/Murawski: Zählen, S. 187. 97 Vgl. Kap. 5.1.1.

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Bemerkenswert ist die Umschreibung zum Zettabyte, denn das ist „unimaginable, or a beach as big as all the coastlines in the world.“98 Eigentlich ist diese Menge also unvorstellbar, oder man macht sie mit Sand vorstellbar. Die Begriffe, die wir von Sandmengen haben (Korn, Prise, Löffel, Karton, Sandkasten, Strand, alle Strände der Welt), können helfen, sich einen Begriff von der jeweiligen Datenmenge zu machen. Gleichwohl sind große Sandmenge unvorstellbar, wodurch paradoxerweise gerade das unvorstellbar Große der Datenmenge Zettabyte anschaulich werden soll. Eine zweite Antwort auf die Frage, warum Archimedes mit Sand rechnen kann, erhält man, wenn man das Verhältnis von metaphorischer und unmetaphorischer Verwendung von Sand in Ψαμμίτης näher betrachtet. Beide Verwendungen sind durch die Eigenschaften von Sand eng verbunden, und zwar sowohl durch das einzelne, zählbare Kleine als auch durch das unermesslich Vielzahlige. Diese beiden Vorstellungen deckt Sand zugleich ab, und es ergibt sich hieraus eine Spannbreite, durch die ein metaphorischer Raum eröffnet wird, den Archimedes als Rechenraum nutzt. Sein Vorgehen operiert damit, so meine These, auf der Grenze zwischen unmetaphorischem Berechnen der großen Sand-Zahl und dem Verwenden von Sand als metaphorischem Modell für das Unendliche. Unmetaphorisch ist Archimedes‘ Verwendung von Sand hierbei, weil er Kugelinhalte tatsächlich mit Sandkörnern abschätzt; metaphorisch ist seine Verwendung von Sand aber, weil er den in der Antike gängigen Topos vom unzählbaren Sand nutzt, um seine Rechnung anschaulicher zu machen.99 Die Metapher wird also zur popularisierenden Darstellung von Wissen genutzt. Dies wird nicht zuletzt im Schlusswort des Textes deutlich, das direkt an den Adressaten des Gesamttextes, König Gelon, gerichtet ist: Ich glaube, König Gelon, daß dies [die große Zahl, die um ein Vielfaches größer ist als die Zahl des Sandes auf der Erde] der Menge der nicht mathematisch gebildeten Menschen unglaublich erscheinen wird, den mathematisch gebildeten Menschen […] aber keineswegs. Deshalb glaubte ich, daß es auch dir wünschenswert sein würde, dies zu erkennen.100

Der König, als ein herausgehobener Leser, soll das mathematische Anliegen und Vorgehen von Archimedes verstehen, und damit es ihm besser gelingen kann, wählt Archimedes eine Metapher, mit der König Gelon sich die unermesslichen Mengen, die diese Zahl bezeichnen kann, besser vorzustellen vermag.

98 Rick Smolan/Jennifer Erwitt: The Human Face of Big Data, Sterling 2012, S. 218. 99 Vgl. zur Metapher des unzählbaren Sandes in der Antike Grinda: Enzyklopädie der literarischen Vergleiche, Kap. ‚F. Unzählbare Dinge‘, S. 165–182, v. a. S. 165–175. 100 Archimedes: Die Sandzahl, S. 78.

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Dies ist möglich, weil letztlich auch Zahlen abstrakt sind: „Zahlen sind Gegenstände, von deren Eigenart wir völlig absehen. Was uns in Wahrheit interessiert, sind die Gegenstände ‚als solche‘ und deren Beziehungen untereinander“.101 Zahlen sind abstrakte Stellen im Zählprozess, und auch in Archimedes’ Sandrechnung ist die Verwendung von Sand fiktional. Wir sehen nicht, wie Archimedes Sandkorn um Sandkorn aneinanderreiht; vielmehr liegt seiner Sandrechnung die abstrakte Vorstellung von Sandkörnern zu Grunde. Dass Archimedes’ Verwendung von Sand in dieser Weise metaphorisch ist, lässt sich am besten noch einmal an der Gegenfolie einer ausschließlich unmetaphorischen Berechnung von Sandmengen zeigen, wie sie etwa in folgender geologischen Darstellung zu finden ist: „Tausend Körner mit einem Durchmesser von jeweils 0,5 Millimetern ergeben bei einem normalen Porenvolumen (von ungefähr 40 Prozent) einen Würfel mit einer Kantenlänge von etwas weniger als einem Zentimeter. Manche Sande sind enger gepackt und nehmen weniger Raum ein.“102 Sand ist hier lediglich ein Material, für das die Größe seiner Einzelteile abgeschätzt werden soll. Interessant ist hierbei, dass auch die geologische Berechnung ein geometrisches Modell zugrundelegt, in das die Sandmenge hineinprojiziert wird, allerdings diesmal nicht eine gedachte Kugel, sondern einen gedachten Würfel. Nicht der Sand, sondern der Würfel dient hier als metaphorisches Modell, um die Sandmenge vorstellbar zu machen. Oder anders: Während bei Archimedes der Sand die ans Unendliche reichende Größe einer Zahl vorstellbar machen soll, soll umgekehrt in der geologischen Berechnung der Würfel einen Begriff von der Größe der Sandkörner geben. Deutlich wird die metaphorische Dimension von Sand bei Archimedes auch an der Wahl des Titels. Mit der Überschrift Die Sandzahl vollzieht Archimedes eine Wortneuschöpfung, die ein eigenes metaphorisches Potential entfaltet und ja auch entfalten soll. Genau genommen zielt er mit seiner Berechnung nicht darauf ab, die exakte Zahl der Sandkörner zu bestimmen, sondern eine Zahl, die nahezu unendlich große Mengen erfassen kann, eine scheinbar, aber eben auch nur scheinbar, unendlich große Zahl. Ein Titel, der dies benannt hätte, hätte aber nicht den Effekt gehabt wie der gewählte: Sofort lässt die Sandmetapher erkennen, dass es in diesem Text um extrem große Mengen gehen wird, um eine Zahl, die so unermesslich groß ist, wie für die Zahl des Sandes allgemein angenommen wird, um eine „Sandzahl“ eben. Gerade der Sand liefert damit einen passenden Aufhänger für die astronomischen Berechnungen, indem dessen sprichwörtliche Unendlichkeit ex negativo Modell bildend wird,

101 Bedürftig/Murawski: Zählen, S. 20. 102 Raymond Siever: Sand. Ein Archiv der Erdgeschichte, Heidelberg 1989, S. 16.

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um mathematisch zu beweisen, dass die Zahl des Sandes auf der Erde nicht unendlich ist und die Sandzahl sogar mehr als ein Vielfaches der hier vorhandenen Sandmenge erfassen kann. Die Wahl der Sandmetapher im Titel finden indes nicht alle gelungen, zumindest Sturmius nicht, der Archimedes’ Text 1670 herausgibt: „Der kurze und schlechte Nahme Sand-Rechnung (ψαμμίτης) welchen dieser Vatter solcher seiner / recht-vatterartigen / Frucht geschöpfet / reichet nicht an das allergeringeste Stükk ihrer edlen Eigenschafften und Tugenden.“103 Für eine solch negative Einschätzung des Titels mögen die negativen Konnotationen von Sand, z. B. seine Instabilität oder Unfruchtbarkeit, eine Rolle gespielt haben; mich interessiert aber weniger das Fazit der Bewertung als die Tatsache, dass der Titel überhaupt von Sturmius kommentiert wird. Infrage gestellt wird ja nicht die mathematische Qualität der Rechnung, im Gegenteil, sondern nur die Bezeichnung. Die ästhetische Qualität des Titels wird mit der Frage zur Diskussion gestellt, ob die richtige Metapher gewählt wurde, oder vielleicht auch, ob überhaupt eine Metapher hat gewählt werden dürfen. Sturmius’ Aufmerksamkeit richtet sich wohlmöglich überhaupt nur deshalb auf die metaphorische Seite von Archimedes’ „Sand-Rechnung“, weil ihm selbst ein poetisches Interesse nicht fremd ist, denn er versieht Archimedes’ Text mit einem Titelgedicht104 und greift auch die Sandmetapher auf, um ihr metaphorisches Potential in seiner Widmung an die Bürgermeister zu nutzen: Dir / Edle Nerons-Burg / Du Künste-Nährerinn! den Wunsch so vieles Glükks / zum Neuen Jahr / zu schenken / als aller Sand / den hier des Syrakusers Sinn mit seiner Wunder-Zahl so künstlich kan beschränken105

Ob diese Widmung ihrerseits so gelungen ist, da die Zahl des Glückes den Bürgermeistern ja limitiert wird? Oder wird die Zahl des Sandes selbst als beschränkte für groß genug gehalten, das Glück der Bürgermeister ausreichend abzusichern? In jedem Fall durchschaut Sturmius Archimedes’ doppeltes Spiel

103 Sturmius (Hg.): Αrchimedis Sand-Rechnung, Vorblatt „An den Kunst-liebenden Leser“. 104 „Es sey das End der alten Welt / da wo, ihr Aug, die Sonne stehet: / Des Aristarchi Sternen Zelt / sey vielmal-tausentmal verhöhet; / So wirst du dennoch beydesmal / Die umbgeschriebne Sandes-Zahl, / aus weltbekannt-gewißen Gründen, / viel größer als die Welt befinden. / Die größte Wunder-Kunst hierinn / ist, daß so große Zahlen-Reihen, / nach Archimedis Götter-Sinn, / so leichtlich auszusprechen seyen. / Dann Er die kleinste so behendt, / Der Siebenden Ein Tausend, nent: / Die größre heißt, Der achten Zahlen / Ein Tausend-Zehntausendmahle.“ (Ebd., Titelblatt) 105 Ebd., Vorblatt „Zuschrift“.

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der metaphorisch/unmetaphorischen Verwendung und experimentiert selbst mit der Metapher in seinen Rahmungstexten weiter. Als ‚Zählen wie mit Sand‘ lässt sich daher Archimedes’ Vorgehen beschreiben, denn auch wenn er die Sandkörner nur benutzt, um große Mengen abzuschätzen, ist Sand als metaphorisches Modell für seine Rechnung ebenso bedeutsam.

3.3.2 Jorge Luis Borges: Blättern im Sandbuch Die scheinbare Unendlichkeit der Sandvorkommen, die bei Archimedes zum Zählen wie mit Sand anregt, spielt auch eine wichtige Rolle in der Vorstellung eines Buches wie aus Sand, eines Sandbuchs. In Jorge Luis Borges’ El libro de Arena,106 einer Erzählung von 1974, geht es, wie in Die Sandzahl, um die variable Zusammenstellung einzelner, lose gekoppelter und scheinbar unendlich vieler Elemente. Diese Elemente sind hier nun allerdings nicht Zahlen, sondern Buchseiten. Die Geschichte beginnt damit, dass der Ich-Erzähler von einem Unbekannten aufgesucht wird, der ihm ein Buch verkaufen möchte, das er „Sandbuch“ nennt. Es wird seinem Namen insofern gerecht, als es von losen Kopplungen und starken Verschiebungen geprägt ist. So ist zunächst die Anordnung der Seiten völlig beliebig, sodass zum Beispiel die aufgeschlagene „gerade Seite die Nummer (sagen wir) 40514 trug und die folgende ungerade die Nummer 999“ (94). Während die Beliebigkeit der Zahlenabfolgen durch das „(sagen wir)“ des Erzählers unterstrichen wird, ist es eigentlich falsch, überhaupt von einer – nicht einmal von einer beliebigen – Anordnung zu sprechen, da nicht nur die Seitenzahlen nicht aufeinanderfolgen, sondern die Seiten auch nicht an einer bestimmten Stelle im Buch bleiben. Die für das Medium Buch spezifische Form der festen Seitenfolge hat das Sandbuch nicht, weil es keine dauerhafte rigide Kopplung der Seiten gibt, sondern die Seitenfolge fortwährend virtualisiert wird. Die Form des Mediums Buch hat sich in dieser Hinsicht aufgelöst. Aus diesem Grund verrutschen auch die Abbildungen im Buch ins Unbestimmte – auf immer. Dies exemplifiziert die Erzählung ausgerechnet am Verschwinden eines Ankers, „eine kleine Abbildung, wie sie in Lexika üblich sind: ein Anker, wie von der unbeholfenen Hand eines Kindes mit der Feder gezeichnet.“ (94) Wird ein Anker üblicherweise ausgeworfen, damit ein Schiff an einer bestimmten Stelle bleibt und nicht auf das weite Meer abgetrieben werden

106 Jorge Luis Borges: El libro de arena, in: Ders.: Obras Completas, Bd. 3: 1975–1985, Barcelona 1989, S. 68–71. Jorge Luis Borges: Das Sandbuch, in: Ders.: Erzählungen 1975–1977, übers. v. Dieter E. Zimmer, München/Wien 1982, S. 93–98; die Seitenangaben in diesem Kapitel beziehen sich auf diesen Text.

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kann, hält der ‚Anker‘ im Sandbuch dieses Versprechen nicht. Denn „[i]n diesem Augenblick sagte der Unbekannte: ‚Sehen sie ihn sich gut an. Sie werden ihn nie wiedersehen.‘ In der Feststellung lag eine Drohung, indessen nicht im Ton.“ (94) Der Erzähler merkt sich daraufhin die Stelle, schlägt den Band zu und öffnet ihn gleich wieder. Ohne Erfolg: „Vergebens suchte ich die Abbildung des Ankers, Seite auf Seite.“ (94) Nicht nur diese spezielle Abbildung des Ankers kann nicht wiedergefunden werden; die Anker-Episode steht exemplarisch für die Vergeblichkeit, überhaupt irgendeine Stelle im Sandbuch länger fixieren zu wollen. Das Verankern, also das dauerhafte Aktualisieren einer Stelle im Buch, funktioniert im Sandbuch grundsätzlich nicht. Es gibt keine Orientierung, keine Möglichkeit, am oder sich im Text festzuhalten, und deswegen kann in der Tat schon in der bloßen Feststellung, dass der Anker nie wieder zu sehen sein wird, eine Drohung liegen. Der Anker im Sandbuch ist eine Metapher für die Unmöglichkeit dauerhafter Aktualisierungen in sandigen Medien. Während das Sandbuch schon in dieser Weise ohne stabile Reihung ist, weist der Unbekannte zudem darauf hin, dass es weder Anfang oder Ende hat, weil keine Seite die erste oder letzte ist. Beim Versuch, das erste Blatt zu finden, geschieht vielmehr Folgendes: „Ich drückte die linke Hand auf das Titelblatt und schlug das Buch auf, den Daumen fest an den Zeigefinger gepreßt. Alles war zwecklos: Immer schoben sich einige Blätter zwischen Titelblatt und Hand. Es war, als brächte das Buch sie hervor.“ (95) Auch hier funktioniert also die Verankerung nicht, denn obwohl die Finger versuchen, die Anfangsseite festzuhalten (zu aktualisieren), schieben sich immer andere Blätter dazwischen (die sie virtualisieren). Das gleiche ereignet sich beim Versuch, das Ende zu finden, und anlässlich dessen wird nun auch die Erklärung für den Namen des Buches geliefert: „‚Sein Buch heißt Sandbuch, sagte er, weil weder das Buch noch der Sand Anfang oder Ende hätten.‘“ (95) Ein Sandbuch ist es also, weil die gerade noch aufgeschlagenen Blätter ‚wegrutschen‘, immer neue Blätter ‚hereinrieseln‘, keine feste Reihenfolge ersichtlich ist und daher weder Anfang noch Ende definiert werden können. Man kann, mit Peter Sloterdijk gesprochen, anfangen, es zu lesen, aber man kann nicht am Anfang anfangen.107 „Das kann doch nicht sein“, ruft der Erzähler aus, und auf diesen Ausruf wird noch zurückzukommen sein. Schon dieses kann also „nicht sein“, und doch ist noch mehr hinzunehmen, denn das Buch ist, auch das suggeriert die Sandmetapher, unendlich. Es kann nicht sein, und es ist im Sandbuch doch so: „Dieses Buch 107 „Dieses Buch läßt erkennen, daß Anfangen und am Anfang anfangen zwei sehr verschiedene Dinge sind.“ (Peter Sloterdijk: Poetik des Anfangens, in: Ders.: Zur Welt kommen – Zur Sprache kommen. Frankfurter Vorlesungen, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1988, S. 31–59, hier S. 35) Sloterdijk geht in dieser Vorlesung ausführlich auf Borges’ Erzählung ein.

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hat nämlich eine unendliche Zahl von Seiten. Keine ist die erste, keine die letzte. Ich habe keine Ahnung, warum es so willkürlich paginiert ist. Vielleicht um zu verstehen zu geben, daß jeder Term einer unendlichen Serie eine beliebige Zahl tragen kann.“ (95) „Das kann doch nicht sein“ ist die Entrüstung darüber, dass im Sandbuch etwas geschieht, das nicht im Bereich des Möglichen liegt. Das Lesen einer Seite ist nicht wiederholbar, die Seitenfolge erscheint nur in einem bestimmten Moment als aktuell und wird durch immer neue Ersetzungen virtualisiert. All dies entspricht einer Logik, die die Metapher des ‚Sandbuches‘ einzuholen vermag. Ist nämlich ein Buch wie aus Sand, so kann dies alles sein. Die erste Begegnung mit dem Sandbuch ruft jedoch deutliche Verwirrung beim Erzähler hervor und zugleich den Versuch, diese „Verwirrung zu verbergen“ und die gewohnte Ordnung wieder herzustellen, indem er sich bemüht, sich die verwirrenden Verschiebungen seinerseits mit einer Verschiebung zu erklären: „Es handelt sich um eine Übersetzung der Heiligen Schrift in eine hindustanische Sprache, nicht wahr?“ (94) Mit einem einfachen „Nein“ als Antwort hat er sich abzufinden und damit auch mit der Unmöglichkeit, die Verschiebungen aufzuhalten. Was sich hier an Paradoxien und Virtualisierungen in der Funktionsweise des Buches zeigt, kennzeichnet ebenso die Unmöglichkeit, es in irgendwelche Kontexte einzubinden. Jeder Versuch des Erzählers, die Grenzen des Buches zu verorten, schlägt fehl. So erhält er auf die Frage nach der zeitlichen Herkunft und auf seine Vermutung hin, das Buch stamme aus dem neunzehnten Jahrhundert, die Antwort des Unbekannten: „Ich weiß es nicht. Ich habe es nie gewußt“ (94). Auch die Schrift ist dem Erzähler „fremd“ (94), und er äußert eine Vermutung zur sprachlichen Herkunft: „‚Es handelt sich um eine Übersetzung der Heiligen Schrift in eine hindustanische Sprache, nicht wahr?‘“ (94), fragt er den Unbekannten, der, wie wir schon wissen, verneint, aber keine andere Erklärung folgen lässt. Ebenso wenig lässt sich die geographische Herkunft des Buches eindeutig bestimmen. Während auf dem Buchrücken „‚Holy Writ‘“ und darunter „‚Bombay‘“ steht (94), bezeichnet es der Unbekannte als „ein heiliges Buch“, das er „in der Gegend von Bikaner erworben“ hat (94). Das Buch stammt also aus Indien, aber der genaue Ort ist unklar, und nur die Zuordnung als „heiliges Buch“ scheint zunächst richtig. Doch auch diese feste Kopplung löst sich im weiteren Verlauf der Erzählung auf. Zwar verkauft der Unbekannte Bibeln (vgl. 93 f.) und zwar ist das Sandbuch ebenso wie die Bibel zweispaltig und in bibelartige Verse unterteilt (94); aber in der Zweispaltigkeit deutet sich auch die Form von Lexika an, und dazu passend gibt es erläuternde Abbildungen (94). Der Erzähler stellt es in seinem Regal schließlich weder an den Platz der Bibel noch zu den Lexika, sondern versteckt es hinter einigen unvollständigen Bänden von 1001 Nacht (vgl. 97). Die formspezifische Zuordnung wechselt

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also mehrmals: von der Bibel über das Lexikon bis hin zu dieser Art Märchen, das selbst eine Sammlung darstellt und noch dazu im vorliegenden Exemplar nicht vollständig ist. Das Sandbuch ist damit weder historisch noch geographisch noch in Bezug auf seine Herkunftssprache oder irgendwie formal lokalisierbar. Es hat keinen Ort. In keiner Hinsicht. Dass jede Verortung des Sandbuchs scheitern muss, zeigt sich ausgerechnet im Versuch, die geographischen Indikatoren weiterzuverfolgen. Während nämlich das Wort „Bombay“ auf dem Buchrücken allenfalls einen Ansatzpunkt für Vermutungen bietet, die sich dann aber nicht bestätigen, führt auch der konkrete Hinweis des Unbekannten, dass er das Buch selbst in Bikaner erstanden hat, ins Unkonkrete. Bikaner nämlich führt zum Anfang des Problems, da es sich um einen Ort handelt, der für den Export von Wolle und Quarz bekannt ist, also für Quarz als einem der für die Industrie wichtigsten Sande. Auf die Frage nach der Herkunft des Sandbuches erhält der Erzähler damit letztlich die Antwort, es komme von dort, wo der Sand herkomme. Der Herkunftsort Bikaner scheint als Umschlagort von Sand die Ortlosigkeit des Sandbuches selbst zu generieren, weil er per Export eine ständige Verschiebung von etwas in der Welt bewirkt, das sich selbst schon ständig in sich verschiebt. Von ähnlichen Prozessen der Virtualisierung ist auch die Person des Unbekannten betroffen, dessen Erscheinungsbild bereits alle Zuordnungsversuche erschwert: Es war ein großer Mann mit unscharfen Gesichtszügen. Vielleicht sah nur meine Kurzsichtigkeit sie so. Sein ganzes Aussehen war arm, aber anständig. Er war grau gekleidet und hielt einen grauen Koffer in der Hand. Sofort spürte ich, daß er Ausländer war. Anfangs hielt ich ihn für alt; dann wurde mir klar, daß mich sein schütteres blondes, nach skandinavischer Art nahezu weißes Haar getäuscht hatte. (93)

Der Erzähler hat Schwierigkeiten, einen deutlichen Eindruck vom Unbekannten festzuhalten, was an der grauen Farbe von dessen Kleidung und Koffer liegt und an der Tatsache, dass jener ein Ausländer ist (oder zu sein scheint). Der Erzähler hält ihn zunächst für alt, weil er weißes Haar hat; es stellt sich aber bald heraus, dass er jung und sein Haar nicht weiß, sondern skandinavischblond ist. Hat der Erzähler also die Erscheinung des Fremden kulturell bedingt falsch gedeutet, kann er diese Fehlwahrnehmung immerhin sogleich berichtigen. Im weiteren Verlauf gerät aber auch diese Zurechtrückung ins Rutschen: Obwohl der Unbekannte jung ist, bezeichnet er sich als „Presbyterianer“ (95). Demnach ist er ein ‚Ältester‘, sodass in der Übersetzung aus dem Griechischen die erste Wahrnehmung des Erzählers wieder stimmt! Das Paradox (er sieht alt aus, ist aber jung), das durch die kulturelle Erklärung entparadoxiert wurde (er hat nur skandinavisch-blonde Haare), wird nun wieder reparadoxiert durch die

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griechische Bezeichnung eines kirchlichen Leitungsamtes (er ist jung, aber ein ‚Ältester‘), und der Alterseindruck wird durch diese zweimalige Verschiebung virtualisiert. Die Frage nach der Herkunft gibt – wie schon beim Sandbuch – einen Hinweis auf die Frage, warum der Unbekannte so schwer einzuordnen ist, denn er ist ein Schotte von den Orkney-Inseln (96), und die Orkney-Inseln bestehen zu fast hundert Prozent aus Sandstein.108 Das Sandbuch wurde also nicht nur von einem Ort importiert, der für den Export von Sand typisch ist, sondern auch der Überbringer des Sandbuches stammt von einem aus Sand bestehenden Ort. Die wichtigsten Inseln der Orkneygruppe enden zudem mit dem Suffix -ay, das sich aus dem altnordischen Wort für ‚Insel‘ ableitet. Das Wort „Bombay“ auf dem Buchrücken des Sandbuches verweist somit über seine Endung auf den Herkunftsort seines Überbringers, während es sprachlich-‚sandig‘ diesen Ort verschiebt beziehungsweise die Worte und Orte gleichsam ineinanderrieseln. Es ist daher folgerichtig, dass auch der Unbekannte keinen festen Anhaltspunkt bietet, dass er, wie am Anfang der Erzählung geschildert, unscharfe Gesichtszüge hat, dass sich der Eindruck seines Alters immer wieder zu verschieben scheint, dass er dazu namenlos bleibt und schließlich, wie die Seiten im Sandbuch, aus dem Gesichtsfeld des Erzählers verschwindet, nachdem er nur einmal aufgetaucht ist: „Ich habe ihn nicht wiedergesehen, noch weiß ich seinen Namen.“ (96) Überbringer wie Überbrachtes werden virtualisiert, indem einmal gewonnene Eindrücke sogleich wieder verrutschen, sich jeder Anker der Aktualisierung wieder löst und sich jedes einmal Begriffene (so wie jede einmal ergriffene Seite) in einer scheinbar unendlichen Produktion neuer Formationen verliert. Dieses Phänomen einer sich selbst reproduzierenden und unaufhaltsamen Verschiebung entfacht nun aber gerade das unbedingte Interesse des Erzählers, und er erwirbt das Buch. „Das kann doch nicht sein“, die erste Verwirrung des Erzählers, wird zum Auslöser für ein ungebremstes Austesten. Er nennt es das „unmögliche Buch“ (97) und überprüft, ob es die Möglichkeit eines unmöglichen Buches geben kann, motiviert durch den „Argwohn, daß [es] nicht wirklich unendlich sei.“ (97) Dieser Test erweist sich als „ungeheuerlich“, muss er doch wie das Buch unmöglich sein, weil die Überprüfung eines Unendlichen unmöglich ist – es

108 „Bei den Gesteinen, aus denen die Inseln aufgebaut sind, handelt es sich im Wesentlichen um Sedimente aus dem Paläozoikum, die Middle Old Red Sand- & Flagstones, die im Devon gebildet wurden. Zu nahezu 100 Prozent sind die Gesteine der Orkney group und der Caithness group zuzuordnen, feinkörnige bis mittelgrobe Sandsteine, die im Süß- und Brackwassermeer des Orcadian Basin abgelagert wurden.“ (NN: Orkney, Wikipedia, unter http://de. wikipedia.org/wiki/Orkney [27.06.2019])

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zeichnet das Unendliche ja gerade aus, dass man es nicht erfassen kann. Dennoch kommt der Erzähler im Verlaufe seiner Forschungen für sich zu einem positiven Ergebnis: „Mit einer Lupe untersuchte ich den ramponierten Buchrücken und die Einbanddeckel, und ich verwarf die Möglichkeit irgendeines Tricks. Ich stellte fest, daß die kleinen Illustrationen tausend Seiten voneinander entfernt waren. Ich trug sie in ein alphabetisches Notizbuch ein, das sich rasch füllte. Sie wiederholten sich nie.“ (97) Wenn das Sandbuch indessen nicht sein kann – von welchem Standpunkt aus ist das so? Von welchem Standpunkt aus ist es „unmöglich“? In der Erzählung erfolgt die Einschätzung des Sandbuches durch den Ich-Erzähler, und dieser ist zunächst ambivalent. Er bezeichnet es als seinen „Schatz“, den er vor anderen verbirgt, wodurch er sich aber immer mehr von seiner Umgebung isoliert und auf diese Art schließlich ein, wie er sagt, „Gefangener des Buches“ wird (97). Er ist hin- und hergerissen zwischen seiner Erfahrungswelt und der Auflösung dessen, was er als möglich zu betrachten gewohnt ist. Das Sandbuch ist ein unmögliches Buch, weil für den Ich-Erzähler die Erfahrungen, die er mit ihm macht, unmöglich möglich sein und daher nicht von ihm integriert werden können: Der Sommer ging zu Ende, und ich begriff, daß das Buch etwas Ungeheuerliches war. Die Überlegung, daß ich selber nicht weniger ungeheuerlich war, der ich es mit meinen Augen wahrnahm und mit zehn Fingern samt Fingernägeln betastete, nützte mir nichts. Ich hatte das Gefühl, es mit einem Gegenstand für Albträume zu tun zu haben, mit etwas Obszönem, was die Wirklichkeit schändete und korrumpierte. (97)

Das Buch „schändet“ die als aktuell erlebte Wirklichkeit, indem es sie virtualisiert. Es ist „obszön“, indem es etwas Uneinsehbares wie das Unendliche ‚schamlos‘ offenlegt und den lustvollen Einblick in etwas gewährt, das ungesehen bleiben soll. Im Buch ist also beides angelegt: das ‚Obszöne‘ und das ‚Heilige‘. Der Eindruck des Obszönen im Sinne der Wirklichkeitsschändung setzt sich aber schließlich durch, und um die entstandene Unordnung wieder in Ordnung zu überführen und das Unlogische wieder ins Logische einzubinden, müssen die Auflösungen, die das Sandbuch generiert hat, gestoppt werden. Der Ich-Erzähler kommt zu dem Schluss, dass er das Buch loswerden muss. Doch wie? Da es ein unmögliches Buch ist, kann er es nicht so vernichten wie andere Bücher. Einen Buchtausch zieht er erst gar nicht in Erwägung, obschon auch bisherige Tauschhandel die Virtualisierungen durch das Sandbuch als „teuflisches“ Buch durch den Tausch gegen Bibeln (unter)binden sollten. So berichtet der Unbekannte: „Mein Gewissen ist rein. Ich bin sicher, daß ich den Eingeborenen nicht übers Ohr gehauen habe, als ich ihm sein teuflisches Buch gegen das Wort des Herrn eintauschte.“ (95) Ebenso tauscht der Unbe-

3.3 Lose Elemente: Auflösung von rigiden Kopplungen

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kannte seinerseits das Sandbuch beim Ich-Erzähler für einen Geldbetrag und die „Wyclif-Bibel in gotischer Schrift“ (96), als würde der Versuch unternommen, das Obszöne oder Teuflische des Buches durch eine Bibel auszugleichen. Aber auch wenn man das Buch als „heiliges Buch“ betrachtet, wäre der Tausch gegen eine Bibel angemessen. Dennoch scheidet diese Möglichkeit für den IchErzähler offenbar von vornherein aus: Ein Tausch würde schließlich das grundsätzliche Problem nicht lösen, weil es nichts gegen die Existenz einer Unmöglichkeit bewirken würde; das Sandbuch bliebe in die Zirkularität der Bücher eingebunden und wäre weiterhin möglich. Der Ich-Erzähler muss das Buch also anders beseitigen und erwägt, es zu verbrennen. Da er jedoch befürchtet, dass ein unendliches Buch, wenn man es verbrennt, ein unendliches Feuer entfacht, sieht er die einzige Lösung darin, es dort zu verstecken, wo es wie ein Blatt im Wald verschwindet, nämlich zwischen den 900.000 Büchern der Nationalbibliothek: [I]ch weiß, daß rechts von der Eingangshalle eine Wendeltreppe im Keller verschwindet, wo sich die Zeitungen und Landkarten befinden. Ich nutzte eine Unachtsamkeit der Angestellten aus, das Sandbuch auf einem der feuchten Regale loszuwerden. Ich versuchte, mir nicht zu merken, in welcher Höhe und in welcher Entfernung von der Tür. Ich fühle mich etwas erleichtert, doch die Calle México meide ich lieber. (97 f.)

Das unverortbare Sandbuch ist damit schließlich dort verortet worden, wo es unverortet bleiben kann: Selbst nicht lokalisierbar, steht es nun dort, wo es nicht wiedergefunden werden kann; selbst seine Seiten dem Vergessen übergebend, wird es da aufbewahrt, wo seine Seiten vergessen werden können; selbst unendlich, kann es sich nun in der scheinbaren Unendlichkeit von Büchern in der Bibliothek verlieren.109 Dass es dabei zwischen Zeitungen und Landkarten zu stehen kommt, verweist auf die mediale Spezifik des Sandbuches mit seinen losen Blättern, weil es zwischen den ungebundenen Blattsammlungen und ungewöhnlichen Formaten weniger auffallen muss als zwischen den ‚üblichen‘ Büchern, die in den anderen Buchregalen stehen. Die Tatsache, dass es zusätzlich an einer feuchten Stelle landet, antwortet auf die metaphorische Spezifik des Sandes. Das Sandige des Sandbuches, seine unmögliche Tendenz, sich im-

109 Eine andere Möglichkeit wäre die Wüste gewesen, für die sich Elisabeth S. Clark als Archivierungsort für eine der seltenen Erstausgaben von Borges’ El libro de arena entschieden hat: „Cited the driest desert in the world, the Atacama Desert stretched before me. It seemed a fitting place to bury it – or perhaps archive this seminal edition. I remembered reading once that the best place to hide a leaf was in the forest. I tried not to measure how far I walked or how deep I dug into the sand that day. […] And so it became lost. Lost to the infinite grains of sand.“ (Zit. n. Maya Sachweh: Elisabeth S. Clarke, Aktionen und Performances, unter http:// www.ms-artrelations.com/MAYA_SACHWEH_DE/Elisabeth_S._Clark_4_D.html [15.11.2014])

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merzu aufzulösen, muss durch Wasser gebunden werden. Diese physikalische Logik ersetzt den unmöglichen Versuch, diesem Buch buchbinderisch beizukommen. Dieser Ort – feucht, inmitten einer Bibliothek mit scheinbar unendlich vielen Büchern und in deren Keller dem Vergessen und der Auflösung anheimgestellt – scheint in der Tat die einzige Lösung für die Problematik eines Buches zu sein, dessen Seiten sich ständig auflösen und dessen unmögliche Virtualität anders nicht aktualisiert werden kann, weil es ein Buch wie aus Sand ist. Das Sandbuch ist ein unmögliches Buch, weil es mit dem logisch Möglichen konfligiert, indem es einen endlichen Raum für das Unendliche darstellt. Diese Thematik setzt von Anfang an den Rahmen für die Erzählung, denn der Text beginnt nicht mit der Geschichte des Buchverkaufs, sondern mit einer allgemeinen Überlegung zur Auflösbarkeit von Zeit und Raum im Unendlichen: „Die Linie besteht aus einer unendlichen Zahl von Punkten; die Fläche aus einer unendlichen Zahl von Linien; das Volumen aus einer unendlichen Zahl von Flächen; das Hypervolumen aus einer unendlichen Zahl von Volumina“ (93). Das erkenntnistheoretische Potential der Sandmetapher wird hier gleich zu Beginn als Lektüremöglichkeit aufgerufen. Während allerdings der Rest des Textes sein theoretisches Anliegen narrativ ausfaltet, markiert diese Stelle auch in ihrer Semantik den direkten Übergang zu Theorien von Raum und Zeit: „Wenn der Raum unendlich ist, befinden wir uns an einem beliebigen Punkt des Raumes. Wenn die Zeit unendlich ist, befinden wir uns an einem beliebigen Punkt der Zeit“ (95), sagt der Unbekannte in Bezug auf das Sandbuch, das ja die Unendlichkeit enthalten soll. Es geht damit in El libro de Arena nicht nur darum, die Auflösbarkeit des Raum-Zeit-Kontinuums bis hin zum kleinsten Punkt zu konstatieren, sondern es wird auch nach der Bestimmung des einzelnen (Lektüre-)Standorts gefragt, der sich in Anbetracht der Unendlichkeit immer nur als beliebiger Punkt in Raum und Zeit darstellen kann. Das Sandbuch ist also nicht nur eine Metapher für die Virtualisierung des Raumes (des Buches) in unendlich viele Standpunkte (Seiten), deren Ordnung unendlich variiert werden kann; das Sandbuch mit seiner problematischen Lektüre ist auch eine Metapher für die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit einer Orientierung in der Unendlichkeit von Raum und Zeit. Die Lektüre des Sandbuchs kann daher durchaus eine bereichernde Erfahrung sein, denn sie erweitert den Wissensstand des Ich-Erzählers über die Wahrnehmung des Unendlichen. Wenn man die Überlegungen des Unbekannten, dass man sich, wenn der Raum unendlich ist, an einem beliebigen Punkt des Raumes befindet, auf die Lektüre des Sandbuches als einer Bewegung in einem unendlichen Raum überträgt, so kann seine Lektüre als Möglichkeit verstanden werden, in eine Erfahrungswelt für das Unendliche einzutauchen, die

3.3 Lose Elemente: Auflösung von rigiden Kopplungen

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die Beliebigkeit räumlicher und zeitlicher Definitionen zum Gegenstand hat. Der Mathematiker Rudolf Taschner schreibt über ein Konzept des Unendlichen: „Nimmt man das Unendliche als Begriff ernst, muss sich unser Sprechen und unsere Logik auf das Wesen dieses Begriffs einstellen, selbst wenn sich hieraus skurrile Folgerungen ergeben.“110 Das Sandbuch mag die Skurrilität dieser Folgen ebenso zeigen wie andere Texte von Borges; man denke etwa an Die Bibliothek von Babel.111 Dort verweisen allerdings die Sechsecke der Bibliothek auf die unendliche Wiederkehr des Gleichen nach einem Unendlichkeitsverständnis etwa des Pythagoras;112 gleichzeitig sind in der Bibliothek alle möglichen Zeichenkombinationen der vorgegebenen zweiundzwanzig Zeichen erfasst, und sie ist somit endlich. Explizit wird gesagt, „daß die Bibliothek total ist, und daß ihre Regale alle nur möglichen Kombinationen der zwanzig und soviel orthographischen Zeichen (deren Zahl, wenn auch außerordentlich groß, nicht unendlich ist) verzeichnen“.113 Die Vorstellung einer offenen Unendlichkeit wird aber insofern in der Bibliothek von Babel gedacht, als sie zyklisch ist (weil die Sechsecke nicht irgendwo aufhören, sondern am Anfang wieder anschließen) und die Lektüre der begrenzten Anzahl an Büchern unbegrenzt ist. Die Seitenzahlen des Sandbuches, die durch immer neue ersetzt werden und in höchste Potenzen reichen, spielen dagegen auf ein Verständnis von Unendlichkeit an, wie es erstmals von dem niederländischen Mathematiker Jan Brouwer in der Mitte des letzten Jahrhunderts vertreten wird: Man wird nie wissen können, ob man alle Zahlen erfasst haben wird, weil das Unendliche ein nie zu Ende Kommendes ist.114 Die Unmöglichkeit des Sandbuches lädt in dieser Hinsicht zu einer produktiven Lektüre dergestalt ein, dass es als Buch über die Funktionsweise der Formenbildung lesbar ist: Die einmal in ihm gebildeten Formen lösen sich sogleich in immer neue Formen auf, sodass sowohl das Momentane als auch das Fortwährende der Formenbildung deutlich werden kann. Vor diesem Hintergrund ist sowohl der Eindruck, es bringe „das Buch [die Blätter] hervor“ (95), konsequent, als auch die Tatsache, dass

110 Rudolf Taschner: Das Unendliche. Mathematiker ringen um einen Begriff, Berlin/Heidelberg: Springer 2006, S. 106. 111 Vgl. Jorge Luis Borges: Die Bibliothek von Babel [1941], in: Ders.: Im Labyrinth. Erzählungen. Gedichte. Essays, hg. u. mit einem Nachw. versehen v. Alberto Manguel, Frankfurt/M.: Fischer 2003, S. 97–106. 112 „Das Universum (das andere die Bibliothek nennen) setzt sich aus einer unbestimmten, vielleicht unendlichen Zahl sechseckiger Galerien zusammen […]. Von jedem Sechseck kann man die unteren und oberen Stockwerke sehen: ohne Ende. Die Anordnung der Galerien ist immer gleich.“ (Ebd., S. 97 f.) 113 Ebd., S. 101; vgl. ebd., S. 99–101. 114 Vgl. Taschner: Das Unendliche, S. 105.

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sein ungewöhnliches Gewicht dem Erzähler auffällt (vgl. 94), da das Buch unendlich viele Formbildungsmöglichkeiten in sich trägt. Das Sandbuch ist als Buch wie aus Sand so ‚medial‘ wie der Sand, es ist so formbar wie der Sand und somit ein besonders ‚mediales‘ Medium.115 Borges wollte in den dreizehn Erzählungen des Bandes, in dem auch El libro de Arena abgedruckt ist, – so schreibt er in der Vorbemerkung – „dem Beispiel von Wells treu sein: der Verbindung eines ebenmäßig schlichten, zuweilen fast mündlichen Stils mit einem logisch unmöglichen Inhalt“,116 und man kann sagen, dass es ihm gelungen ist. Das Sandbuch stellt ein Paradox dar, ein logisch Unmögliches. Ein Buch, das keinen Anfang und kein Ende hat, weil sich permanent neue Seiten zwischen die Buchdeckel schieben, und dessen Lektüre nicht nur deswegen unabschließbar ist, weil jede Lektüre anders liest, sondern weil jede neue Lektüre es mit völlig neuen Seiten zu tun haben wird – ein solches Buch ist logisch nicht möglich. Ein solches Paradox kann gleichwohl eine bereichernde Störung sein, wenn die in ihm enthaltenen widersprüchlichen Gedanken eine höhere Erkenntnis vermitteln. „In deutscher Übersetzung findet sich bei Cicero das Paradox deshalb als ‚verwunderlich‘ und nicht, wie zu erwarten wäre, als ‚widersinnig‘.“117 Folgt man dieser Übersetzung, gelangt man vom „widersinnigen“ Sandbuch zum „verwunderlichen“ Sandbuch, und es würde auch der Titel „Holy Writ“ und seine Beschreibung als „heiliges Buch“ verständlich werden können: Es wäre dann verwunderlich und voller Wunder, weil es als Paradoxon den Einblick in etwas liefert, das neben dem, was gewohnt ist, existiert. Das Sandbuch ist aber nicht nur ein „unmögliches Buch“, sondern auch ein „unmögliches Buch“ (97, Herv. A. K.). In einem Buch, das als Buch funktioniert, muss das Lesen einer Seite wiederholbar und auf die Ordnung der Seitenzahlen Verlass sein. Ein Buch ist zudem gebunden, und seine Seitenzahl ist endlich. All dies ist beim Sandbuch nicht der Fall, und diese mediale Störung weist, wie es bei Störungen immer der Fall ist, darauf hin, wie das Medium eigentlich funktionieren sollte. Warum aber, kann man sich fragen, ist das Sandbuch ein Sandbuch und nicht etwa ein Sandfilm oder ein Sandradio? Vor dem Hintergrund dieser Frage ist der Versuch bemerkenswert, El libro de Arena in eine Hypertext-Version

115 Vgl. Kap. 2.1.5 und 2.3.1. 116 Jorge Luis Borges: Vorbemerkung, in: Ders.: Erzählungen 1975–1977, übers. v. Dieter E. Zimmer, Nachwort v. Horst Bienek, Gesammelte Werke, Bd. 4, München/Wien: Carl Hanser 1982, o. S. 117 Dominik J. Harjung: Lexikon der Sprachkunst: Die rhetorischen Stilformen, München: Beck 2000, S. 323.

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zu übertragen.118 Es handelt sich hierbei um einen Hypertext von Maximus Clarke, der aus acht Knoten besteht, acht zufällig nummerierten Seiten, die den Originaltext der Erzählung enthalten. Klickt man auf einen Link zu einer dieser Seiten, erscheint zunächst der Text, während sich die Kopfzeile, die den Titel „The Book of Sand“ enthält, erst allmählich aufbaut. Eine Analogie von Pixeln und Sandkörnern wird durch die allmähliche Zusammensetzung der Buchstaben aus verstreuten Punkten hergestellt.119 Einige der Bilder sind ebenfalls auf diese Weise animiert; sie lösen sich im Verweis auf die verschwindenden Abbildungen in der Erzählung sukzessive auf und machen neuen Bildern Platz, die sich an ihrer Stelle zusammensetzen. Die Adaption kann allerdings die Idee des Originaltextes in keinster Weise einholen: Zwar verändern sich die Bilder, aber immer am selben Ort, und die Bildwechsel ergeben eine Serie, die sich als solche wiederholt. Während in der genannten Weise dem Bilden und Auflösen von Formen im Sand auf der digitalen Bildoberfläche Ausdruck verliehen werden soll, propagiert der Hypertext, auch eine strukturelle Entsprechung zum Sandbuch zu sein. In der Einleitung wird erklärt, dass die Erzählung für eine hypertextuelle Präsentation sehr gut geeignet sei, weil das Sandbuch wie Hypertexte viele Seiten in unbestimmter Ordnung enthalte. Das Sandbuch sei sogar eine Metapher für das gesamte Internet: „The Book of Sand is not one of his most famous fictions, but its central enigma may be Borges’ most directly prescient metaphor for the Web: its pages are uncountable, ever-changing, without beginning or end.“120 Clarke reproduziert hiermit eine rhetorische Wendung innerhalb der Hypertexttheorie, mit welcher der Hypertext durch die Figur des ‚Hypertext avant la lettre‘ durch ältere Theorie- oder Literaturmodelle nobilitiert werden bzw. der Hypertext als Erfüllung theoretisch – hier z. B. durch eine „prescient metaphor“ – vorgreifender, aber medial ‚unbeholfener‘ Texturen statuiert werden soll. Borges gehört in diesem Kontext neben Autoren wie Laurence Sterne, Jacques Derrida oder Gilles Deleuze und Félix Guattari bereits zum Kanon. Clarkes Überbietungsgeste scheitert spätestens mit dem Versuch der medialen Übertragung, der die Idee des Sandbuches nur zu konterkarieren vermag: Nicht nur können die Seiten in der Hypertextversion nicht unendlich sein (es sind vielmehr genau acht), sondern auch der Anker befindet sich immer auf derselben Seite und garantiert deren Aktualität. Diese Stabilität erscheint, hat man sich einmal an die Logik von Borges’

118 Maximus Clarke: Jorge Luis Borges. The Book of Sand. A Hypertext/Puzzle, übers. v. Norman Thomas di Giovanni, Web Design v. Maximus Clarke, 2001, unter http://artificeeternity. com/bookofsand/ [28.12.2019]. 119 Im literarischen Hypertext Sand Loves von Deena Larsen wird diese Möglichkeit, die Auflösung medial zu reflektieren, nicht genutzt. Vgl. Kap. 3.5.2. 120 Clarke: Borges. The Book of Sand. A Hypertext/Puzzle, Introduction.

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Sandbuch gewöhnt, nun ihrerseits obszön, nämlich die Wirklichkeit des Sandbuches in El libro de Arena schändend. Auch wenn sich die hypertextuelle Inszenierung vielleicht verbessern ließe, scheitert die Übertragung schon auf einer viel grundsätzlicheren Ebene: Weil das Sandbuch ein (medial) unmögliches Buch ist, muss jeder Versuch, es ins (medial) Mögliche zu übertragen, fehlschlagen. Gelungener scheint dagegen ein Übertragungsversuch in einen Kurzfilm mit dem gleichnamigen Titel El libro de Arena. Hier wird weder versucht, die Funktionsweise des Sandbuches formal nachzubilden, noch wird der Versuch unternommen, sie zu zeigen.121 Ich schlage vor, die Rhetorik der medialen Überbietung und das Scheitern des Übertragungsversuchs für einen Moment zu ignorieren und die Hypertextversion als medialen Kommentar zu El libro de Arena zu lesen, um zwei interessante Vergleichspunkte nicht zu übersehen. Zum einen werden die Sandbuch-Seiten durch ihre Beweglichkeit („ever-changing“) und scheinbare Unendlichkeit („uncountable“; „without beginning or end“) mit Hypertext-Elementen und InternetSeiten verglichen, wobei die Diskretheit der Elemente nicht angesprochen, aber über die Betrachtung der „pages“ implizit mitgedacht wird. Zum anderen wird im Sandbuch und in der Hypertext-Theorie die gleiche Metaphorik aufgerufen, da in letzterer die kleinsten medialen Elemente oft als ‚körnig‘ beschrieben werden. David Kolb etwa spricht in Bezug auf die Unverbundenheit dieser Elemente von „Hypertext’s granularity“, wegen welcher es trotz der Verlinkungen schwer sei, die Verbindung zwischen zwei sich konstituierenden Einheiten zu zeigen.122 Theodor H. Nelson unterscheidet anhand der Körnigkeit ganze Systemversionen von Xanadu (des von ihm entworfenen hypertextuellen Sammelsystems zur globalen Erfassung und Vernetzung aller Texte samt ihrer Versionen). Die unterschiedlichen Korngrößen differenzieren das alte und das neue System: „In a large-grain xanalogical system, the elements in the illustration represent chunks – paragraphs, sentences or cells. […] In a fine-grain xanalogical system, the elements are text characters, individual audio samples and video frames.“123 Das alte xanalogische System ist demnach ‚grobkörnig‘, weil es nur ganze Paragraphen und Sätze, also nur größere Textteile, zum Ausgangs- oder Zielpunkt einer Verlinkung

121 Vgl. Borges: El libro de arena, 2010, unter https://www.youtube.com/watch?v=9nwYVg qAMDw [28.12.2019]. 122 David Kolb: Socrates in the Labyrinth, in: George P. Landow (Hg.): Hyper/Text/Theory, Baltimore 1994, S. 323–344, hier S. 333. 123 Theodor Nelson, unter www.sfc.keio.ac.jp/~tec/XU/xanastrux.html. Leider funktioniert dieser Link nicht mehr; die Idee findet sich aber auch, wenn auch weniger pointiert formuliert, in: Theodor Nelson: Xanalogical Structure. Needed Now More than Ever, in: 32. ACM Computing Surveys 31,4 (December 1999).

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verwenden kann. Im neueren, ‚feinkörnigen‘ xanalogischen System lassen sich dagegen auch kleinere Teile innerhalb von Dokumenten (feinkörnig) eigenständig verlinken. Für Nelson gilt dabei: Je feinkörniger die Verlinkung, desto besser, denn Feinkörnigkeit ist die zentrale Metapher seiner Gesamtvision: The emerging role of the computer as a media machine is clear, but its consequences are not generally recognized. […] Users will accumulate digital material in vast quantities, much of which will be re-usable in new contexts. […] Being able to make links to this content, wherever used, will be vital. At a deeper level, there is a great deal of traditional structure in computer files and programs, whose clumsiness is seldom acknowledged; which might well benefit from fine-grained linkage and transclusion as system facilities.124

Je detaillierter die Verlinkbarkeit, desto mehr Variabilität entsteht. Nelson sieht in dieser feinkörnigen Struktur die grundsätzliche Stärke von Hypertexten in heutigen Denkzusammenhängen. Für ihn ist daher die Übertragung dieser Struktur auf den gesamten Computer dringend angeraten, um dessen „clumsiness“, also die Klobigkeit und Schwerfälligkeit (i. e. dessen Grobkörnigkeit) der „traditionellen Strukturen“, aufzulockern – ein Gedankengang, an dem sich die Freiheitsideologie innerhalb der Hypertexttheorie entzündet.125 Mit Blick auf Kapitel 2.3 lässt sich feststellen, dass eine Textur als umso feinkörniger beschrieben werden kann, je weniger sie die Formbildung limitiert. Mit anderen Worten: Je feinkörniger die Struktur ist, desto virtueller ist sie.126 Das gilt auch für Hypertexte, auch wenn Lévy sie kategorisch als nicht virtuell bezeichnet. Für ihn ist ein Hypertext ein prädeterminiertes Ensemble von Möglichkeiten und steht damit im Gegensatz zu Virtualität, die immer ein Problemfeld für nicht prädefinierte Lösungen darstellt.127 Ein Hypertext wäre dann nicht virtuell, wenn es wirklich, wie Lévy behauptet, keine Differenz zwischen dem möglichen Text und der Kombinatorik des reellen Textes gäbe. Diese gibt es aber insbesondere dann, wenn man nicht von exploratorischen Hypertexten ausgeht, in denen tatsächlich nur vorprogrammierte Möglichkeiten gewählt werden können, sondern von konstruktiven Hypertexten, in denen

124 Theodor Nelson: Xanalogical Media. Needed Now More Than Ever, 1999, unter http:// www.xanadu.net/NOWMORETHANEVER/XuSum99.html [28.12.2019]. 125 Vgl. zum Freiheitspathos im Hypertextdiskurs Annina Klappert: Hypertext als Paradigma kultureller Selbstbeschreibung, in: Internationales Archiv für die Sozialgeschichte der deutschen Literatur (IASL) 32,1 (2007), S. 16–65. 126 Vgl. Kap. 2.1.6 sowie Kap. 2.3.1/VI. 127 Vgl. Kap. 2.1.1. Vgl. konkret Pierre Lévy: Qu’est-ce que le virtuel?, Paris: Edition de La Découverte 1998, hier Kap. ‚La numérisation, ou la potentialisation du texte‘, S. 37–39.

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Materialien und Verlinkungen hinzugefügt werden können.128 Hier kann dann durchaus von einem Problemfeld gesprochen werden, dessen Lösung nicht in einer Summe von Möglichkeiten vorgezeichnet ist. Zwischen Borges’ Sandbuch und Hypertexten lassen sich damit zwei markante Vergleichsmöglichkeiten finden: die Variabilität von Seiten und die Feinkörnigkeit der Elemente. Dies deutet aber weniger auf eine exklusive Affinität zwischen ihnen hin als auf ein Drittes. Beide verweisen durch ihre Kombinierbarkeit und Granularität auf die Struktur der Virtualität als lose Kopplung und modellieren diese Struktur mit der Sandmetapher. Das Sandbuch ist also ein virtuelles Buch, und daher ist es ein Sandbuch. Es ist kein Kies-, kein Wolken- und auch kein Meer-, geschweige denn ein Felsbuch. Die Seiten des Buches sind wie Sandkörner diskret und können wie diese als lose gekoppelte Elemente betrachtet werden. Vorstellbar ist aber auch, dass die Seiten selbst aus Sand bestehen und quer durch das Buch ‚ineinanderrieseln‘. Dies wird mit Blick auf eine Serie von Kunstwerken von Micha Ullman vorstellbar, Sand Blatt 1–5 (vgl. Kap. 5.3.3), die verschiedene Buchseiten aus Sand darstellen. Die Sandbuchseiten sind weiterhin im Verhältnis zum Gesamtbuch kleinteilig, und ihre Anordnung ist wie die Anordnung von Sandkörnern immer wieder auflösbar und veränderbar. Schließlich ist die Anzahl der Buchseiten unendlich wie der Sand. Das Sandbuch virtualisiert auf diese Weise die mediale Struktur des Buchmediums. Es ist ein Sandbuch und fordert dadurch das Buch als Metapher für stabile Ordnung, Reihung und Bindung durch die Bildung eines Paradoxons und einer Gegenmetapher im Sinne des logisch Unmöglichen heraus. Es verhandelt, was unter Wirklichkeit verstanden werden kann. Das Problem, das virtualisierend durch das Sandbuch aufgeworfen wird, besteht in der Frage, was das logisch und was das medial Mögliche sein darf oder soll. Das Sandbuch funktioniert damit auch als Modell für die Welt. Die Auflösung, ja: Granularisierung der Welt, findet im Sandbuch statt; sie findet im Buch statt, dessen Seiten sich aus der Ordnung lösen und bis ins Unendliche verschieben. In der Bibliothek von Babel von 1941 liefert die ungeheure Bibliothek das metaphorische Modell für die Welt, und schon hier wird in der letzten Anmerkung angedacht, dass diese im Grunde auch in einem einzigen Buch enthalten sein könnte: Letizia Álvarez de Toledo hat angemerkt, daß die ungeheure Bibliothek überflüssig ist; strenggenommen würde ein einziger Band gewöhnlichen Formats, gedruckt in Corpus neun oder zehn, genügen, wenn er aus einer unendlichen Zahl unendlich dünner Blätter

128 Vgl. zu dieser Unterscheidung Michael Joyce: Of two minds. Hypertext Pedagogy and Poetics, Michigan 2002, S. 39–43.

3.3 Lose Elemente: Auflösung von rigiden Kopplungen

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bestünde. (Cavalieri sagte zu Anfang des 17. Jahrhunderts, daß jeder feste Körper die Überlagerung einer unendlichen Zahl von Flächen ist.)129

El Libro de Arena von 1974 kann man sich als die Ausführung dieser Idee vorstellen. Die Erzählung bietet dann ein alternatives Modell, nach dem „die ungeheure Bibliothek“ in nur einem Band (dem ungeheuerlichen Sandbuch) abgebildet wird. Als wäre das Sandbuch der feste Körper Cavalieris, in dem die Blätter die unendlich vielen Flächen darstellen, die sich zum festen Körper des Buches überlagern. Das Sandbuch stellt damit eine spezifische Form eines Buches der Welt dar. Zum Buch der Welt schreibt Hans Blumenberg in seiner großen metaphorologischen Studie Die Lesbarkeit der Welt: Der Wunsch, die Welt möge sich in anderer Weise als der der bloßen Wahrnehmung und sogar der exakten Vorhersagbarkeit ihrer Erscheinungen zugänglich erweisen […] gehört […] zum Inbegriff des Sinnverlangens an die Realität, gerichtet auf ihre vollkommenste und nicht mehr gewaltsame Verfügbarkeit. […] Von der Welt Erfahrung zu machen, wie man sie einem Buch oder einem Brief verdanken kann, setzt nicht nur Alphabetismus, nicht nur die Vorprägung der Wünsche auf Sinnzugang durch Schrift und Buch voraus, sondern auch die kulturelle Idee des Buches selbst, insofern es nicht mehr bloßes Instrument des Zuganges zu anderem ist. Ist es aber zu einer eigenen Erfahrung von Totalität autonomisiert, wie exemplarisch im frühgriechischen Epos oder im Buch der Bücher, tritt die Bucherfahrung in Rivalität zur Welterfahrung.130

Indem Borges in El Libro de Arena die Welt aus Sand und die Welt als Buch als zwei Weltmodelle zusammenführt, löst er das letztere Modell im ersteren auf: Die Lesbarkeit und Totalität, die im Buch der Welt erfahrbar werden soll, verliert sich zusammen mit den unendlichen Veschiebungen und Unmöglichkeiten des Sandbuches. Blumenberg erläutert in den Paradigmen zu einer Metaphorologie, wie die Metapher vom Buch der Welt die Welt auch als Wissenschaft modelliert. Die Welt wird in diesem Sinne nicht mehr als gegebene Realität aufgefasst, sondern als durch die Aussagen über sie zustande Gekommenes und von den Lesenden dieses Buches Gebildetes.131 Das Sandbuch deutet damit schon als Buch der Welt darauf hin, dass die Welt aus theoretischen Aussagen gebildet ist, und es verweist damit auf die eine Perspektive der Virtualität, die virtuelle Form von Medien. Dazu kommt aber noch, dass es sich um ein Sandbuch handelt und damit auf die Auflösbarkeit der Welt verwiesen wird. Es kommt also auch die andere Perspektive der Virtualität, die Virtualität von Formen, hinzu, und das

129 Borges: Die Bibliothek von Babel, S. 106. 130 Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt. Frankfurt/M. 1986, S. 10 f. 131 Vgl. Hans Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1997, S. 109 f.

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Sandbuch ist somit als Sand/Buch, das für beide Seiten der Virtualität Modell steht, ein virtuelles Buch in jenem umfassenden Sinn von Virtualität, wie ich ihn in Kapitel 2.1 beschrieben habe. Betrachtet man das Sandbuch als virtuelles Buch, so ist es also schon aus strukturbedingten Gründen das vom Ich-Erzähler Befürchtete, nämlich „Wirklichkeit schändend“. Es lässt die Wirklichkeit gleichsam feinkörnig werden, löst sie auf, annähernd in dem Sinne, wie es Paul Virilio für digitale Bilder beschreibt: „Das bedeutet letzten Endes ‚hohe Auflösung‘, und zwar nicht so sehr des (photographischen oder televisuellen) Bildes, sondern der Realität selbst.“132 Da das Virtuelle selbst real ist, wird im Sandbuch als einem virtuellen Buch nicht die Wirklichkeit aufgelöst, sondern vielmehr das Statische der Wirklichkeit, die Wirklichkeit als Feststehendes, als fest Stehendes. Aus diesem Grund ist Virilios Formulierung treffend, denn es heißt eben nicht: „Auflösung“ der Realität, sondern „hohe Auflösung“ der Realität. Verglichen mit Archimedes, der mit dem Sandkorn die Größe des Kosmos und der Fixsternsphäre ausmisst, erhält der Einsatz der Sandmetapher bei Borges eine andere Qualität, da die Seite im Sandbuch zur Metapher für das Grundelement wird, aus dem das Universum im Sinne einer hohen Auflösung selbst besteht und von dem aus gesehen es immer virtualisierbar ist. Vom Zählen ‚wie mit Sand‘ kann so über das Buch ‚wie aus Sand‘ nun schließlich der Bogen geschlagen werden zur Vorstellung eines Universums ‚wie aus Sand‘, und dieses Universum ist dann spätestens seit den 1980er Jahren auch ein digitales Universum ‚wie aus Sand‘.

3.3.3 Vilém Flusser: Komputieren im Sanduniversum In Lob der Oberflächlichkeit spricht Flusser in seinem geschichtsphilosophischen Entwurf von der Entwicklung von vier Universen, die durch zunehmende Abstraktion aus dem Wirklichen entstehen:133 Erst wird die Zeit aus dem Wirklichen herausgenommen (es entsteht das Universum der zeitlosen Körper mit der Skulptur), dann die Tiefe (es entsteht das Universum der tiefenlose Fläche mit der Höhlenmalerei), dann die Oberfläche (es entsteht das Universum der flächenlosen Linien – der ‚Gewebe‘ – mit den mesopotamischen Epen) und schließlich der

132 Paul Virilio: Die Sehmaschine, Berlin: Merve 1989, S. 145. Vgl. zur hohen Auflösung der Realität als äquivalent zu einer „Bildauflösung“ auch ebd., S. 168. 133 Vilém Flusser: Lob der Oberflächlichkeit. Für eine Phänomenologie der Medien, Mannheim 21995 [1993], S. 9. Die Seitenangaben in diesem Kapitel beziehen sich auf diese Ausgabe.

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„Strahl“ (es entsteht das Universum der linienlosen Punkte – der ‚Mosaiken‘ – mit dem Taschenrechner). Über die Jahrtausende hinweg werden so verschiedene Universen gebildet: Das „Flächen-Universum der Vorgeschichte“, formuliert Flusser an anderer Stelle, ist vom „Gewebe-Universum der Geschichte“ abgelöst worden und dieses wiederum durch das gegenwärtige „Punkte-Universum der Komputation“ (11, vgl. auch 9 f.). Dies impliziert jedoch kein allmähliches Zurücktreten aus der ‚Wirklichkeit‘, da die Schritte auch wieder „trippelnd“ rückgängig gemacht werden können, sondern vielmehr ein anderes Bewusstsein von der ‚Wirklichkeit‘ (vgl. 10). In Folge dieses Abstraktionsprozesses sieht Flusser gegenwärtig einen besonderen Moment gekommen aufgrund der Aktualität der letzten „Wende“ durch „das gerade emportauchende Universum der Punkte, dieses Gewirr von Atomen und Bits, von Partikeln und Intervallen“ (11): Wir sind gerade dabei, den ‚Strahl‘ aus der Linie und aus dem abstrakten Universum des ‚Gewebes‘, aus dem ‚Kontext‘, das noch abstraktere des ‚Mosaiks‘ zu abstrahieren. Denn noch schwimmen wir im Kontext, in der Linie, in der ‚Geschichte‘ und tauchen nur sporadisch ins Mosaik, in die ‚Nachgeschichte‘ auf, um von dort aus auf uns selbst, die wir in der Geschichte schwimmen, zurückzublicken. (11)

Wenn aber mit dem Universum der Mosaiken und linienlosen Punkte der höchste Abstraktionsgrad eingetreten ist, dann müsste in geschichtsphilosophischer Logik ein Endpunkt eingetreten sein, denn wie sollte man die Abstraktion von hier aus weiterdenken? Was sollte nach dem Punkt noch kommen? Und in der Tat konstatiert Flusser: „Im Verlauf des Abstraktionsspiels, an dem die Menschheit seit der Menschwerdung engagiert ist, ist ein Stadium erreicht worden, in welchem nichts mehr übriggeblieben ist, wovon man abstrahieren könnte: End game. Es ist ein völlig abstraktes Punkte-Universum entstanden, in welchem wir uns nicht länger an irgend etwas Konkretes halten können.“ (40) Ein solcher geschichtsphilosophischer Entwurf, der den Geschichtsverlauf als Hinführung auf die Gegenwart als einen ‚letztmöglichen‘ Zustand versteht, wäre leicht in Frage zu stellen, aber es interessiert mich im Blick auf meine Gesamtfragestellung hier eher die Tatsache, dass Flusser diese Geschichte als Prozess der Auflösung beschreibt. Dies geschieht, und dies ist wichtig für die metaphorische Modellierung von Virtualität, unter anderem anhand der Sandmetapher. Die Auflösung, schreibt Flusser, das ist der „gegenwärtige Zerfall der Wellen in Tropfen, der Dünen in Sandkörner, der Zahlenreihen in Mengen, des logischen Denkens ins Komputieren“ (17). Die Düne wird als Ganzheit gedacht (auch wenn sie als eine zusammengesetzte erkennbar ist), die nun in ihre Bestandteile, in Sandkörner als abstrakte Einheiten, zerfällt. Flusser betont die Granularität des Ergebnisses: „Gegenwärtig“, schreibt er weiter, „ist die Linie im Begriff[,] in ihre Punkte

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zu zerbröckeln.“ (16) Die „Linie“ ist „in Bits aufgelöst“ (12). Flusser parallelisiert damit zwar nur indirekt, aber der obigen Abb. 3.6 (mit ihrer Analogisierung von Bytes und Sandkörnern) entsprechend, Bits und Sandkörner. Zerbröckeln, Zerfallen, Auflösen – wenn man Flussers Diagnose als Prozess der Virtualisierung beschreibt, ist die Vorstellung der Differenzierung, die damit einhergeht, unschwer erkennbar. Auch der Leitfaden, der die Punkte ordnet, wird laut Flusser gegenwärtig abstrahiert, allerdings nicht intentional: „Vielmehr zerfällt dieser Leitfaden eher ‚von selbst‘, und wir sind gezwungen, aus dem Universum der Prozesse ins Universum der Partikel zu springen. Dort unten nämlich, im innersten Kern der Prozesse, wollen gegenwärtig die Punkte nicht länger der Kausalkette gehorchen – sie beginnen zu schwirren.“ (16) Diesen Prozess der Virtualisierung beschreibt Flusser anhand geologischer Metaphern (Sand, Wasser) wie im obigen Zitat sowie in textiler Metaphorik: Bislang nämlich war das „Gewebe-Universum“ oder auch das „Universum der Prozesse“ von der Operation des Fädelns geprägt. Dies besteht in der Selektion der „fädelbaren Elemente“ (z. B. der Muscheln im Sand, Erbsenhülsen im Beet) und ihrer anschließenden Reihung,134 was auch bei der Sprache der Fall ist (26). Auch das Schreiben ist demnach eine Geste des Fädelns: „Beim Schreiben sind die losen Elemente die Buchstaben und Ziffern. Der Faden dabei ist die Sprache.“ (28) Die Buchstaben sind lose gekoppelte Elemente, deren Selektion und Reihung rigide Kopplungen (Formen) bilden. Diese Beschreibung von Sprache und Schrift ist zwar an sich nicht originell, aber ihre Einbettung in die Universen-Geschichte und die Hineinschreibung dieser Geschichte in die Prozesse der Virtualisierung ist es sehr wohl. Nunmehr werden demnach keine Formen mehr durch Fädeln gebildet, sie werden jetzt vielmehr durch Auseinanderreißen aufgelöst, und das neue Gegenmodell zum Faden ist die Lücke: „Abstrahieren ist Auseinanderreißen. Nach der Abstraktion steht auf der einen Seite das Abstrahierte, auf der anderen die entblößte ‚Sache‘. Der abstrahierende Mensch befindet sich in jener Kluft, die das Abstrahieren im ‚Wirklichen‘ aufreißt. Menschen sind abstrahierende Tiere, ihr Habitat ist die Lücke. Sie ‚existieren‘.“ (35) Das Resultat sind aufgerissene Wunden und die Versuche, diese Lücken-Wunden zu schließen, und zwar durch Modelle. Am Ende von Flussers Geschichte steht der Mensch als Modell-Erzeuger, der versucht, das abstrakte Universum zu konkretisieren, indem er es modelliert.

134 Sand ist hier das, was nicht selegiert wird: „Die Elemente werden aus ihrem Sachverhalt herausgerissen – sie werden aufgelesen. Um sie herauslesen zu können, muß man sie zuvor entdecken: Die Muscheln am Strand müssen aus dem Sand gegraben, die Perlen aus ihren Schalen herausgebrochen, die Erbsen aus ihren Hülsen hervorgeholt werden. Der Sachverhalt muß entziffert werden.“ (Flusser: Lob der Oberflächlichkeit, S. 24)

3.3 Lose Elemente: Auflösung von rigiden Kopplungen

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Wie dies aussehen kann, zeigt er am Beispiel eines bellenden Hundes. Ist bislang ein bellender Hund etwas Natürliches und ein Porzellanhund etwas Künstliches gewesen, funktioniert diese Gegenüberstellung so nicht mehr. Auch der bellende Hund ist demnach nur ein Modell: Wir wissen, daß der bellende Hund aus Partikeln besteht, die zu klein sind, um ein Etwas genannt werden zu können, und daß diese Partikel im Nichts schwirren. Wir wissen, daß wir den bellenden Hund von seiner Umgebung […] nur abheben können, weil wir über ein Modell ‚bellender Hund‘ verfügen. Nach einem anderen Modell würden wir nicht einen bellenden Hund, sondern einen gegen ein Gartengitter schlagenden Schwanz wahrnehmen. (38)

Das Bilden von Modellen sei an sich nicht neu, aber anders als vorangegangene Generationen seien wir uns dessen bewusst (39). Während das Universum vorher als historisch, prozessual und kausal gedacht und alles „zu Vorgängen aufgefädelt“ worden sei (45), sei die Punktwelt ein „zerstäubtes Universum“ (45), das nachhistorisch, kombinatorisch, in Möglichkeiten denkend funktioniere – und dessen neue Operation sei die Kunst. Flussers Punkte-Universum entspringt einer virtualisierenden Sichtweise, und zwar in ihrer ersten Variante (vgl. Kap. 3.1.1), der Auflösung in Elemente, die von ihm diagnostiziert wird. „Die Welt ist zu Krümeln und Chaos geworden“, heißt es passend dazu bei Deleuze,135 und auch Italo Calvino beschreibt die Welt als etwas, das zunehmend aufgelöst wahrgenommen wird: „Die Welt in ihren verschiedenen Aspekten wird immer mehr als diskret und nicht als stetig gesehen.“136 Auch wenn die Metapher Sand nicht genannt wird, fehlt die Diagnose eines Stückhaften bzw. Krümeligen nicht, und Calvino konstatiert wie Flusser den Wechsel vom Faden hin zur Kombination: „Der Gedanke, der uns bis gestern als etwas Flüssiges erschien, rief in uns lineare Bilder wach – wie einen strömenden Fluß oder einen abrollenden Faden […]. Heute neigen wir dazu, ihn als eine Serie unstetiger Zustände und Impulskombinationen […] von Kontroll- und Sinnesorganen zu sehen.“137 Theoretiker wie Flusser oder Calvino konstatieren damit nicht nur eine neue Kulturtechnik, sondern einen fundamentalen Paradigmenwechsel vom kausalen zum kombinatorischen bzw. vom syntagmatischen zum Modaldenken. Hierdurch wird die Virtualisierung als universeller Prozess

135 Gilles Deleuze: Proust und die Zeichen, Berlin: Merve-Verlag 1993 [1964], S. 89. 136 Italo Calvino: Kybernetik und Gespenster. Überlegungen zu Literatur und Gesellschaft, München 1984, S. 10. 137 Ebd., S. 10 f.

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beschrieben und stellt wie jede Virtualisierung eine Problematisierung dar; das Problem, das Flusser oder auch Calvino beschäftigt, ist aber die Virtualität der Welt im Blick auf ihre Zusammensetzung. Das Ergebnis der Virtualisierung ist die Diagnose einer virtualisierten Welt, eines „Punkte-Universums“. Flusser bemerkt indessen, dass die Bemühung, das Universum der Fläche zu durchbrechen, von Demokrit bereits gedanklich vorweggenommen worden sei, und auch hier wird die Sandmetapher eingesetzt: „Aus der Sicht des Demokrit […] erscheint das Atom, das Sandkorn, das Mosaiksteinchen, kurz, das Kombinationsspiel als die Grundstruktur des ‚Wirklichen‘“ (12). Als erste Generation würden wir Demokrits Weltbild wirklich erleben. Das Sandkorn ist auch hier nur eine der möglichen Metaphern, die das diskrete, koppelbare Einzelteil als Teil eines Kombinationsspiels thematisieren, das nunmehr das Wirkliche konstituiert. Die Auflösung der Welt ist daher nicht mehr, wie für den Erzähler im Sandbuch, „Wirklichkeit schändend“, sondern im Gegenteil die „Grundstruktur des Wirklichen“, auch wenn sie das „Gruseln“ hervorrufen mag, ob etwa „ein aus Komputation rekonstruiertes Szenario der Wirtschaft die ‚wirkliche ökonomische Lage‘ ist“ (10, Herv. A. K.). Demokrit, so lautet Flussers These weiter, habe die heutige Struktur unserer Welt bereits erkannt: „Aber daß Demokrit die Welt der Computer vorausgesehen hat, daß er die Linie in Bits aufgelöst hat und daß wir daher die erste Generation sind, die sein Weltbild tatsächlich erlebt, muß uns stutzen lassen.“ (12) Es scheint lohnenswert, einen näheren Blick auf Demokrit und sein Weltbild zu werfen. Demokrit (460 v. Chr. bis ca. 360 v. Chr.), der mit Leukipp zu den älteren Atomisten gezählt wird, bewegt sich seinerzeit im Horizont einer eleatischen Weltsicht, nach welcher die Welt als Kontinuum und unveränderlich Seiendes ohne leeren Raum aufgefasst wird. Um die Frage zu beantworten, wie vor diesem Hintergrund Werden und Veränderung möglich sein können,138 nehmen die Atomisten eine Vielheit von Atomen an, die unteilbar, aber in ihrer Zusammensetzung veränderbar sind, wodurch die Veränderlichkeit der Dinge insgesamt erklärbar wird.139 Dabei gibt es für sie nur die unteilbaren und in sich zwischenraumlosen Atome sowie das Vakuum, das die Atome voneinander trennt. Bei genauerer Betrachtung dieser Konzeption zeigen sich bald die Grenzen von Flussers Vergleich. Die Atome werden von Demokrit, anders als die Punkte

138 Vgl. Wolfgang Röd: Die Philosophie der Antike 1. Von Thales bis Demokrit, München: Beck 1988, S. 193 f. Vgl. auch Sousanna-Maria Nikolaou: Die Atomlehre Demokrits und Platons ‚Timaios‘. Eine vergleichende Untersuchung, Stuttgart/Leipzig: Teubner 1998, S. 15 f. 139 Vgl. Röd: Die Philosophie der Antike 1, S. 194 f.

3.3 Lose Elemente: Auflösung von rigiden Kopplungen

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bei Flusser, als voneinander verschieden konzipiert. Sie werden zwar an sich qualitätslos gedacht, unterscheiden sich aber nach Gestalt (σχῆμα), Anordnung (τάξις) und Lage (θέσις).140 So sollen sie beispielsweise in ihrer Größe differieren: Kleine Atome, die unsichtbar sind, stehen neben großen, die so groß wie eine Welt sind, denn auch der größte Körper kann unteilbar sein, wenn er in sich kein Leeres hat. Demokrits Atome sind somit verschieden groß, haben eine unterschiedliche Gestalt und sind ‚etwas‘; sie sind also keine Punkte. Es scheint daher weniger so zu sein, dass Demokrit eine gegenwärtige Welt der Punkte „vorausgesehen hat“, als dass Flusser umgekehrt auf Demokrits Vorstellung der Atome zurückgreift und an sie anschließt, wo es eben möglich ist. Ohne dies weiter erörtern zu wollen, möchte ich drei Ansatzpunkte herausgreifen, in Bezug auf die ein Vergleich von Punkt und Atom nichtsdestotrotz sinnvoll erscheint. Zum einen ist dies die Idee der Zwischenräume, die Demokrit braucht, um sowohl das Diskrete der Atome erklären zu können als auch ihre Koppelbarkeit.141 Diese führt Flusser zum Konzept eines Zugleich von Leere und Masse im Punkte-Universum: Dieses erweckt zugleich das Gefühl der Leere und der Masse. Der Leere, weil zwischen den Punkten Intervalle klaffen, weil man zwischen ihnen hindurch das Nichts sieht. Und der Masse, weil die Gesamtheit der Punkte formlos wie ein Teig ist. Beide, Leere und Masse, sind auf die Nulldimensionalität der Punkte zurückzuführen: Sie sind unmeßbar, ein Nichts, und zugleich unermeßlich, ein Alles. (17)

Es handelt sich hier um eine typische ‚Zwischenraumtheorie‘.142 Die Grundstruktur des neuen Universums wird in seiner Differenziertheit gesehen, in den „Intervallen“, der „Leere“, dem „Nichts“ zwischen den Elementen und den daraus

140 Vgl. Nikolaou: Die Atomlehre Demokrits und Platons ‚Timaios‘, S. 76. 141 Hierin besteht ein Bezug von Demokrit zu den Pythagoreern, die die Existenz eines Leeren vertreten: „Das Leere dringt aus der unendlichen Luft in die Welt ein, die auch dieses Leere mit einatmet. Es ist dasjenige, das die Wesenheiten der Dinge voneinander trennt, denn das Leere fungiert als ein Prinzip der Trennung zwischen dem miteinander Benachbarten und als ein Prinzip des bestimmenden Unterschieds. Diese Funktion übt es zuerst bei den Zahlen aus, denn was die ϕύσις (natürliche Beschaffenheit) der Zahlen auseinanderhält und voneinander unterscheidet, ist nichts anderes als das Leere.“ (Ebd., S. 18) „Sicher ein altes pythagoreisches Lehrstück. Wenn die vom unendlichen Odem umgebene Welt diesen Odem einatmet, atmet sie auch das Leere mit ein. Und dieses Leere fungiert dann als Prinzip der Diskretion – in der Körperwelt Körper von Körper, in der Zahlenwelt Zahl von Zahl trennend und unterscheidbar machend.“ (Aristoteles: Physikvorlesung, in: Ders.: Werke in der dt. Übersetzung, Bd. 11, übers. v. Hans Wagner, Darmstadt 1967, S. 97) Vgl. dazu auch: Hans Günter Zekl (Hg.): Aristoteles: Physik. Vorlesung über Natur, griech./dt. Übers., Bd. I, Hamburg 1987. 142 Vgl. Kap. 3.1.1.

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resultierenden unermesslichen Möglichkeiten ihrer Kopplung. Auch wenn die „Masse“ „unermeßlich“ formbar ist, ist sie doch zugleich „formlos“ in jenem Sinne, in dem jedes Medium formlos ist, weil sich Formen in ihm immer wieder neu und anders durchsetzen können. Die Punkte, heißt es an anderer Stelle, sind nichts, aber virtuell alles (18); dies ist ebenfalls stimmig, da aus den losen Kopplungen des Mediums die Virtualität resultiert, die eine gleichsam „alles“ umfassende Formbildung ermöglicht. Darüber hinaus ähneln sich Demokrits Atome und Flussers Punkte darin, „ungeworden, unveränderlich, unvergänglich“143 zu sein, denn auch Flusser scheint für die Punkte von so etwas wie einer steten und stets schon aktuellen Existenz auszugehen. Zwar sind die Atome in Demokrits Verständnis verschieden in der Form, aber der Art nach sind sie gleich, und diese Gleichartigkeit gibt ihnen die Möglichkeit, aufeinander zu wirken. Auch Flussers Punkte müssen, um komputiert werden zu können, der Art nach gleich sein. Schließlich ergibt sich strukturell eine Verbindung von Flussers Konzept mit Demokrits Idee des Zufalls, wenn es bei ersterem heißt: [D]er Erzeuger von Modellen folgt nicht einer ‚gegebenen‘ Struktur des Möglichkeitsfeldes, sondern er ‚erfindet‘ Strukturen […] durch Zufall. Beim ‚Erfinden‘ von Modellen geht es um ein zufälliges Zusammenballen von Möglichkeiten: um ein ‚Wahrscheinlich-Machen‘ von Möglichkeiten. Wie die Möglichkeiten dabei zusammenfallen, zu-einander-fallen, wie sie, um es mit Demokrit zu sagen, ‚klinieren‘, das eben macht die Wahrscheinlichkeit aus. (44)144

Jedes Modell im Punkte-Universum ist zufällig, weil es auch anders möglich wäre, und es wird – möchte ich ergänzen –, indem es auf diese Weise kontingent gesetzt wird, auch virtualisiert. Wir befinden uns aber deshalb, so Flusser, derzeit in der Krise, weil wir noch nicht in Zufallskategorien denken, sondern versuchen, die prozessualen, historischen Kategorien auf die Punktwelt anzuwenden. Ein solcher Versuch bedeute aber ein „Verkleben der Intervalle“ (17), und diese Metapher verweist auf die geologische Beschreibung der Substanzen, die Sandkörner „verkitten“ und „Einzelkorngefüge“ (in denen die Sandkörner lose vor-

143 Nikolaou: Die Atomlehre Demokrits und Platons ‚Timaios‘, S. 76. 144 Vgl. auch: „Die Tatsache, daß Demokrit keine Begründung für die Bewegung angegeben hat, veranlaßt Aristoteles, über die Atomkombinationen zu sagen, daß sie durch den Zufall zustande kommen: nach der Ansicht einiger Philosophen ist der Zufall (hier gemeint αὐτόματον) die Ursache auch für diesen Himmel und für sämtliche Welten.“ (Ebd., S. 86) Aus Zufall bewirken Wirbel und Bewegung die Aussonderung und bringen das All in die gegenwärtige Ordnung (vgl. ebd.).

3.3 Lose Elemente: Auflösung von rigiden Kopplungen

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kommen) in „Kittgefüge“ verwandeln können.145 Durch das „Verkleben“ werden nach Flusser aber die Möglichkeiten des Punkte-Universums verschenkt: Die Punkte sind strikt nichts, und es ist ein Irrtum, sich an sie wie an ein Etwas halten zu wollen. Ein ebensolcher Irrtum jedoch ist, dieses strikte Nichts zwischen den Fingern entschlüpfen zu lassen. Denn die Punkte sind zwar genau genommen nichts, aber virtuell alles. Sie sind Möglichkeiten. Wir müssen beginnen, in der Kategorie der ‚Möglichkeit‘ zu denken, zu fühlen und zu handeln. Das Universum der Punkte ist leer, weil es nichts enthält außer Möglichkeiten, und weil es lauter Möglichkeiten enthält, ist es ein volles Universum. Die Kategorie ‚Möglichkeit‘ aber hat die der ‚Notwendigkeit‘ zur Folge: wirklich ist, was möglich war und notwendig wurde. Der Gegenbegriff zu ‚Notwendigkeit‘ ist ‚Zufall‘. Wir müssen lernen, in den Kategorien ‚möglich‘, ‚notwendig‘ und ‚zufällig‘ zu denken, wenn wir uns im Universum der Punkte orientieren wollen. (17 f.)

Dass die Punkte „virtuell alles“ sind, heißt mit anderen Worten, dass sie das mediale Substrat der ‚ganzen‘ Welt sind. Wie hat man sich aber diese Punkte vorzustellen? Was soll es heißen, dass die Welt aus Punkten zusammengesetzt ist? Dieser Gedanke ist, meine ich, im Zuge der digitalen Neuerungen möglich geworden zusammen mit dem Phantasma, alles sei punktgenau in den digitalen Code übersetzbar. Besonders dann kann Flusser überhaupt von einem Punkte-„Universum“ sprechen, wenn er an die Grundidee anschließt,146 dass der digitale Code wie ein „Grundalphabet“147 für alle Medien funktioniert, wobei das kleinste Element hinsichtlich der gespeicherten Information das Bit und hinsichtlich der Bildoberfläche das Pixel ist. Von dieser Analogie scheint Flusser auszugehen, obwohl das Pixel, anders als der ausdehnungslose Punkt, niemals „strikt nichts“, sondern immer ‚etwas‘ ist, weil es eine, und sei es eine noch so kleine Ausdehnung hat. Worum handelt es sich eigentlich bei diesen kleinsten Bildelementen? Lexika erklären das Pixel als die „kleinste Einheit einer digitalen Rastergrafik; jedes P[ixel] nimmt genau einen Farbwert an. P[ixel] ist ein Kunstwort, das sich aus der Abkürzung des englischen Ausdrucks ‚picture element‘ zusammensetzt. P[ixel] wird u. a. als Maßeinheit zur Angabe von Auflösungen von Bildschirmen genutzt.“148 Jedem Pixel sind bestimmte Informationen zugeordnet, und zwar

145 Vgl. hierzu Kap. 2.2.1. 146 Vgl. z. B. Jay David Bolter: Writing Space. The computer, hypertext, and the history of writing, Hillsdale, NJ u. a.: Erlbaum 1991 oder Richard A. Lanham: The Electronic Word. Literary Study and the Digital Revolution, in: New Literary History 20 (Winter 1989), S. 265–290, hier S. 273. 147 Jürgen Claus: Medien-Parks-Labors, in: Kunstforum International 97 (1988), S. 75–85, hier S. 80. 148 P. Schaerf/K. Umlauf: Pixel, in: Thomas Keiderling (Hg.). Lexikon der Medien- und Buchwissenschaft. Analog – digital, 3. Band, Stuttgart 2018, S. 65. Vgl. auch Michael Becker: Pixel-

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mindestens über Farbe oder Helligkeit, und sie sind kleiner als Sandkörner, deren Größe ja bei 63 μm bis 2 mm liegt: „Die physische Größe eines Bildschirmpixels hängt vom Ausgabegerät ab. Bei einem 15-Zoll-Bildschirm mit einer Auflösung von 1024 × 768 misst ein Pixel etwa 0,3 Millimeter.“149 Nebenbei zeigt sich, dass der Begriff „Pixel“ kaum ohne sein Pendant „Auflösung“ zu denken ist. Die alternative Bezeichnung des Bildpunktes als „resolution element“ verknüpft diese beiden Aspekte – das Element als auflösendes Element bzw. das Element in Auflösung, je nachdem, ob man dessen aktive oder passive Beteiligung an der Auflösung stärker betont.150 Mit dem Begriff der Auflösung komme ich über ein technisches Detail an den Grundgedanken meiner Argumentation zurück. Der Begriff resultiert aus der Perspektive der Virtualisierung und kann zunächst den Prozess der Differenzierung bezeichnen. Dieser kann die Auflösung (Unterscheidung) von etwas bewirken, oder etwas kann in Auflösung sein (unterschieden werden); der Prozess kann also aktivisch oder passivisch gedacht werden. Die Auflösung kann aber auch die Struktur des Aufgelöstseins kennzeichnen, den Zustand des Unterschiedenen: Dies kann der Zustand des schon Unterschiedenen sein (wenn die Unterscheidung zurück liegt) oder des noch Unterschiedenen (wenn eine Verknüpfung folgen wird); die Auflösung kann also hinsichtlich ihrer zeitlichen Einordnung ebenso den Zustand vor einem Auflösungsprozess bezeichnen (wo noch Unterscheidungen vorgenommen werden) oder nach einem solchen (wo bereits unterschieden wurde). Während im Begriff der Auflösung der Zeitpunkt im Prozess nicht festgelegt ist, legt der Begriff der Auflösbarkeit eine Disposition nahe, die auf die Möglichkeit, aufgelöst zu werden, schon hinweist. Er verweist darauf, dass ein gegebener differentieller Zustand differenziert werden kann. Auflösung und Auflösbarkeit bezeichnen also verschiedene Dispositionen, hängen aber insofern eng zusammen, als eine hohe Auflösung eine leichtere Auflösbarkeit impliziert.

salat. Von Bildschirmauflösung, Zeichengrößen und Lesba, in: Computer-Fachwissen 3 (2005), S. 4–10; Gerhard Paul. Das visuelle Zeitalter. Punkt und Pixel, Göttingen: Wallstein 2016. 149 Vgl. NN: Pixel, unter Wikipedia: „Wenn von ‚einem Pixel Breite‘ die Rede ist, dann ist damit tatsächlich der Abstand zwischen zwei benachbarten Pixeln gemeint; der ‚Mittelpunkt‘ eines Pixels bezeichnet in Wirklichkeit das Pixel selbst.“ 150 Nachdem die Bezeichnung ‚picture element‘ ab 1911 in diversen US-amerikanischen Patentschriften verwendet wird, werden damit seit den 1950er Jahren Bildpunkte digitaler Bilder bezeichnet; hierfür gibt es oft auch andere Begriffe wie: ‚resolution element‘, ‚spot‘, ‚sample‘, ‚raster point‘ oder ‚matrix element‘ (vgl. ebd.)

3.3 Lose Elemente: Auflösung von rigiden Kopplungen

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In digitalen Bildern teilt sich ihre Auflösbarkeit schon im Moment ihrer Generierung mit: In der Kathodenstrahlröhre, die immer noch Bestandteil fast aller Bildschirme ist, regt der über die Bildschirmzeilen geführte Strahl für Sekundenbruchteile Luminiszenzkörper, die sogenannten Pixel, zu Emittierung von Licht an. Diese leuchten zwar nach, es existiert jedoch niemals ein vollständig abgeschlossenes Bild. Erst die menschliche Augenträgheit […] bewirkt den Eindruck eines vollständigen Bildes. Die in ‚Echtzeit‘ nicht mehr wahrnehmbare serielle Erzeugung bedeutet ein ständiges Vergehen des Bildes. Ist der Bruchteil einer Sekunde vergangen, ist dieses Bild für immer verloren.151

Während die Auflösbarkeit eine Prädisposition für eine Virtualisierung darstellt, bewirkt die Darstellung in Pixeln – auf der technischen Ebene – eine Virtualisierung schon im Moment ihrer Entstehung. Dies ändert sich in dem Moment, wo das digitale Bild nicht aus der Perspektive der Virtualisierung betrachtet wird, sondern als aktualisiertes, das jederzeit so auf dem Bildschirm erscheint, wie es auf der Festplatte gespeichert wurde. Ich komme mit dem Pixel – dem Bildpunkt – als virtualisierendes Element wieder zurück zu Flusser. Flussers Punkte, die auch für Pixel modellhaft sind, sind für ihn konstitutiv für eine neue Form der Bildgenerierung: Aus den aufgelösten Punkten können Bilder hergestellt werden, die aber nun Bilder mit „hoher Auflösung“ sind. Es entsteht damit ein anderer Typus von Fläche: Sind vorher Bilder durch Abstraktion aus Körpern hergestellt worden, werden sie nun durch Ballung von Punkten projiziert. Hat es also vorher eine Bewegung vom Körper hin zur Fläche gegeben, generiert die Auflösung der Linie im Punkte-Universum bei der Bildherstellung eine umgekehrte Perspektive: Nun geht die Bewegung zur Fläche vom Punkt aus: „Wir bewegen uns im Dasein und Denken nicht mehr von der Fläche weg auf den roten Faden zu, sondern vom Staub des zerfallenen Universums weg der Fläche entgegen.“ (46) Die neue Form der Lektüre, die solchen Texturen begegnen kann, ist das „Komputieren“: „Unsere Suche nach Unwahrscheinlichem kehrt die historische Geste um. Wir versuchen nicht mehr, Bilder wegzuerklären, sondern im Gegenteil Bilder aus Punkten mosaikartig herzustellen; nicht mehr die Oberflächlichkeit zu überwinden, sondern aus der gähnenden Lücke in die Oberfläche zu dringen.“ (46) Statt nach Erklärungen und Wahrheiten hinter den Flächen zu suchen, soll die Lektüre nun „aus den schwirrenden Möglichkeiten um uns herum Unwahrscheinliches machen. Wir

151 Oliver Grau: Hingabe an das Nichts. Der Cyberspace zwischen Utopie, Ökonomie und Kunst, in: Medien. Kunst. Passagen 4 (1994), S. 17–30, hier S. 21.

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sind nicht mehr Forscher, sondern Erfinder, nicht mehr Wissenschaftler, sondern Künstler.“ (46) Es ist also, wenn man sich im „Punkte-Universum“ zurechtfinden möchte, eine neue Haltung der Welt gegenüber angezeigt, die vom Wissen weg und hin zur Kunst führt, vom Forschen weg und hin zum Erfinden. Von Flusser her gedacht ist das Sandbuch bei Borges also sozusagen nur solange ein „unmögliches Buch“, wie man versucht, es zu „verkleben“, das heißt ihm ein Ganzes – eine Erklärung, eine Wahrheit – zu unterstellen und es als „roten Faden“ oder als Geschichte, eben als „Kittgefüge“, zu lesen; eine Lektüre indessen, die im Sandbuch nichts suchen, sondern nur finden möchte, die nicht Wissen sammeln, sondern erfinden mag, kann die Lektüre des Sandbuches „möglich“ und aus seinen „schwirrenden Möglichkeiten […] Unwahrscheinliches machen“. „Flächen sind nicht vorhanden“ (47), heißt es bei Flusser, der hiermit eine wieder neue Bedeutungsdimension von Auflösung entfaltet. Während die alten Bilder einen Umstand sichtlich machen, sind in den neuen Bildern lediglich die im Nichts schwirrenden Punkte zu sehen, die aber vorgeben, einen Umstand zu bedeuten. Die Absicht ist demnach eine optische Illusion der Bilder: „Sie trügen.“ (48) Die Parallele zur Beschwerde des Ich-Erzählers in El libro de Arena, das Sandbuch enthalte etwas „Obszönes“, folgt auf den Fuß: „Dieser Unterschied ist grundlegend, aber schlüpfrig.“ (48) „Schlüpfrig“ sind die neuen Bilder nach Flusser, weil sie einen „doppelten Betrug“ darstellen: Sie geben, anders als die alten Bilder, nicht vor, etwas zu sein, das sie nicht sind; stattdessen „vertuschen [sie], daß sie Komputationen von Punkten sind“ (48), und geben den Ursprung aus Punkten scheinbar zu, aber nur, um vorzugeben, den Umstand besser, objektiver, nämlich Punkt für Punkt zu bedeuten (49). Je höher die Auflösung, desto detaillierter kann das Bild die Umstände oder Gegenstände abbilden. Dass der Computer immer nur eine Versammlung von Punkten generieren kann, betont auch Christof Siemes: „Soviel der Computer auch rechnet, eine elegant und bruchlos geschwungene Kurve gibt es in der Welt der Pixel nicht. Jede Linie bleibt eine mehr oder weniger krakelige Versammlung von Punkten. Selbst wenn das Problem mit brachialer Rechengewalt und hochauflösenden Bildschirmen gelöst werden sollte, gäbe es allenfalls zufriedene Kunden, aber keine Revolution.“152 Je höher also die Auflösung, d. h. je feinkörniger die Pixel in Bezug auf das Ganze, desto besser dient, wie in Kapitel 2.1 erläutert wurde,

152 Christof Siemes: Der schöne Schein von Null und Eins. Fluch und Chance der Computerkunst, in: Stefan Bollmann (Hg.): Kursbuch Neue Medien. Trends in Wirtschaft und Politik, Wissenschaft und Kultur, Mannheim 1995, S. 344–352, hier S. 345.

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das Medium als Medium. Körnigkeit lässt sich auch hier wieder in grob- und feinkörnig unterteilen, wobei die Punktstruktur, wie Flusser konstatiert, an allen neuen technischen Bildern zu erkennen ist (vgl. 49 f.), nicht zuletzt an der Fotografie als „eine[r] aus Körnern bestehende[n] Fläche“.153 Flusser interessiert sich nicht nur in Lob der Oberflächlichkeit für die Beschreibung der gegenwärtigen Lebenswelt im Zeichen der Virtualisierung; beispielsweise entwirft er an anderer Stelle ein Bild vom gegenwärtigen Menschen, der sich nur über seine Beziehungen und damit virtuell bestimme.154 Lob der Oberflächlichkeit ist aber vor allem wegen seines umfassenden Ansatzes und der in diesem Kontext eingesetzten Sandmetaphorik interessant. Sand entfaltet bei Flusser im Rahmen seiner Medientheorie ein metaphorischanalytisches Potential in der Diskussion des Verhältnisses von Punkt und Universum vor dem Hintergrund eines Medienumbruchs, durch den aus Bits (auf der Informationsebene) und Pixeln (auf der Repräsentationsebene) unendlich viele Kopplungsmöglichkeiten zu unendlich vielen Formen zu führen scheinen, die wiederum in unendliche Auflösungsprozesse übergehen können. Mit der medialen Veränderung geht ein Wandel des Weltbildes einher, das die neue Qualität der Bild- und Auflösbarkeit punktartig denkt, was einer der Gründe für den Einsatz der Sandmetapher ist. Das Sandkorn wird gleichsam zum „resolution element“ in einer Welt, die einerseits eine hohe Auflösung hat, weil sie maximal kleinteilig organisiert ist, und die andererseits hochgradig auflösbar ist, weil alle ihre Elemente diskret sind. Das Komputieren in diesem Universum, das man sich wie ein ‚Sanduniversum‘ zu denken hat, wird zur neuen Kulturtechnik, mit der sich die gegenwärtigen Menschen in der Masse und Kontingenz der Punkte, auf die die Vielzahl der Sandkörner verweist, zurechtzufinden können. Die Wirklichkeit ist daher schließlich nur in „hoher Auflösung“ zu haben, weil die Punkte wie die Sandkörner „trügen“,155 und wird damit virtualisierend als Problem aufgefasst.

3.3.4 Dissolution: Virtualisierung von rigiden Kopplungen Die Sandzahl, das Sandbuch und der Sandkornpunkt diskutieren auf ihre je spezifische Weise die Virtualität der Formen anhand der Sandmetapher. Die

153 Flusser: Lob der Oberflächlichkeit, S. 50. 154 Vilém Flusser: Verbündelung oder Vernetzung?, in: Stefan Bollmann (Hg.): Kursbuch Neue Medien. Trends in Wirtschaft und Politik, Wissenschaft und Kultur, Mannheim 1995, S. 15–23. 155 Vgl. zur Problematik der ‚trügerischen‘ hohen Auflösung Kap. 4.

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3 Virtualität der Formen

Reihe zeigt auch, dass jedes Medium als Medium für die Auflösung von Formen perspektiviert werden kann: Buchseiten können ebenso Anlass werden, über die Auflösbarkeit von Formen in Medien nachzudenken wie Zahlen, Pixel oder Hypertextelemente. Gemeinsam ist gerade diesen Medien jedoch, dass sie über diskrete, kleinteilige, variable und zahlreiche Elemente verfügen, und gerade aus diesem Grund kann, wie die Beispiele zeigen, Sand als metaphorisches Modell eingesetzt werden. Es wurde in Kapitel 3.1 erläutert, dass es drei Varianten der Virtualisierung gibt, wobei das nun abzuschließende Kapitel 3.3 sich auf die erste Variante der Virtualisierung, die Auflösung in Einzelelemente, konzentriert. Jede Virtualisierung bedeutet eine Kontingentsetzung und Problematisierung, sodass nun gefragt werden kann, worin diese bei den behandelten Texten eigentlich bestehen, wenn sie in der beschriebenen Weise von Auflösungen in Einzelelemente handeln: Welche Problemstellungen sind ihnen gemeinsam, und was unterscheidet sie? Erstens nehmen alle drei Texte eine Problematisierung der Beziehung medialer Elemente vor, indem sie deren lose Kopplung in den Vordergrund rücken. Betrachtet man die medialen Elemente als lose gekoppelt, so entwirft man das Problem, wie sie zusammenhängen könnten. Bei Archimedes sind diese medialen Elemente die Zahlen, bei Borges die Buchseiten und bei Flusser die Punkte. Der Sand steht dabei metaphorisch für das jeweilige Medium, das Sandkorn entsprechend für das einzelne mediale Element und seine Körnigkeit. Die Sandkörner modellieren allerdings in den genannten Texten mehr als die medialen Eigenschaften, da Zahl, Seite und Punkt als Metaphern für Weltelemente über sich hinausweisen. Durch die Granularität wird für Archimedes die Größe der Welt berechenbar, bei Borges die Wirklichkeit granularisiert und bei Flusser die Bezüge zwischen den Granulaten fokussiert. Zweitens gibt es in allen drei Texten eine Problematisierung von Strukturen, und zwar über die Koppelbarkeit dieser Elemente. Bei Archimedes wird zwar nicht die Struktur der Welt, aber die Struktur von Weltverhältnissen problematisiert, indem die Größe des Kosmos in Relation zu einem Sandkorn auf der einen (der kleinen) Seite und zur Fixsternsphäre auf der anderen (der großen) Seite ausgerechnet werden soll (und kann). Die Welt wird berechenbar durch die Auflösung in lose gekoppelte Einheiten: in Sandkörner, in Zahlen. Sie ist nicht einfach nur ‚sehr groß‘ wie ein monolithischer Block, sondern sie wird gedanklich mit einer sehr großen Menge einzelner Sandkörner gefüllt und als solche zum Teil einer Rechnung. In dieser kann die Menge der Welt-Sandkörner in ein Verhältnis zu kleineren und größeren Mengen von Sandkörnern gesetzt werden, wobei diese für jede neue Mengenbestimmung immer wieder neu zu immer größeren Mengen gekoppelt werden. Bei Borges steht dagegen die Pro-

3.3 Lose Elemente: Auflösung von rigiden Kopplungen

133

blematisierung von festen strukturellen Ordnungen im Vordergrund, insofern im Sandbuch überhaupt keine (auch keine Zahlen-)Ordnung Bestand hat. Die Seiten sind lose und bilden immer wieder neue Strukturen, die jedoch als solche nicht vorhalten. Jede Lektüre, die von einer stabilen Ordnung ausgeht, funktioniert nicht. Das Sandbuch virtualisiert die Form der Seite als eingebundene, weil sie nicht an einem Ort verankert bleibt, sondern überall auftauchen kann. Auch bei Flusser werden Ordnungen problematisiert, indem er schon jede Reihe als in arrangierbare Punkte aufgelöst begreift. Die „Geste des Fädelns“ ist demnach keine adäquate Reaktion mehr auf die neue Variabilität der Punkte; stattdessen könne nun durch die „Komputation“ als Zufallsverfahren, durch das einander Zufallen der einzelnen Elemente, das Problem der rigiden Kopplung ‚gelöst‘ werden. Die Komputation ist also bereits das Angebot eines problemlösenden Verfahrens. Alle drei Texte führen damit an unterschiedlichen Medien eine Problematisierung traditioneller Kopplungsweisen vor: von Zahlenfolgen, Blattfolgen oder Gefädeltem. Das Problem, das evoziert wird, ist die Beschaffenheit der Weltzusammensetzung, die durch die Metapher Sand modelliert wird: Der Sand ist der metaphorische Verweis darauf, dass der Begriff von der Welt (bei Borges und Flusser) oder von der Größe der Welt (bei Archimedes) auch anders möglich ist. Drittens gibt es in allen drei Texten, und hierzu ist im Folgenden mehr zu sagen, Problematisierungen der raumzeitlichen Grenzen durch das Unendliche. Dies wird durch Sand als Metapher für Unendlichkeit modelliert, deren Ausdehnung in zwei Richtungen gedacht werden kann. Die Unendlichkeit kann sich zum einen nach außen richten (eine Unendlichkeit ins Große hinein). Hierum handelt es sich, wenn Archimedes immer weiter zählt, sodass sein Zählen die Grenze des Endlichen überschreitet. Sand erhält hier seinen metaphorischen Einsatz durch das Merkmal der großen Zahl und scheinbaren Unendlichkeit. Die Unendlichkeit kann sich zum anderen nach innen richten (eine Unendlichkeit ins Kleine hinein). Dies ist etwa der Fall bei den Dezimalstellen nach dem Komma. Der Sand wird dann metaphorisch in Bezug auf die Kleinteiligkeit seiner Elemente genutzt. In diesem zweiten Sinne schreiben Ellen und Robert Kaplan in ihrer Abhandlung über das Unendliche: Wie wir in der materiellen Welt Kontinuität darstellen durch Gesteinsbrocken zwischen Felsen, Steinen zwischen Gesteinsbrocken, Kieseln zwischen Steinen und Sand, der die Lücken füllt, so denken wir uns immer kleinere Brüche in den Lücken zwischen ganzen Zahlen – und bei Brüchen bedeutet ‚immer kleiner‘, dass die Nenner unendlich groß werden.156

156 Ellen Kaplan/Robert Kaplan: Das Unendliche. Eine Verführung zur Mathematik, München 2003, S. 102 f.

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3 Virtualität der Formen

Kaplan und Kaplan ziehen den Sand als metaphorisches Modell heran, um das Unendliche denkbar zu machen: „Wie“ in der materiellen Welt die Entstehung des Sandes funktioniert, „so denken wir uns“ die Entstehung des unendlich Kleinen: Fels zerbricht zu Gesteinsbrocken, diese zerfallen zu Steinen, welche dann weiter zu Kieseln bis hin zum Sand zerkleinert werden. Der Bruch produziert immer kleinere Bruch-Stücke bis hin zum kleinsten Bruch-Teil, hier dem Sandkorn. Mit der geologischen Metaphorik wird gezeigt, wie durch mathematische Brüche die Lücken zwischen den ganzen Zahlen gefüllt werden, wie immer kleinere Brüche die immer kleineren, gleichzeitig aber mit jedem Bruch immer wieder neu entstehenden Lücken füllen sollen, wobei das ‚endgültige‘ Füllen immer wieder scheitern muss. Das Prinzip ist bekannt von Xenon von Elea, der über sein Gleichnis von Achill und Schildkröte auf die Unterteilung des Raums in unendlich viele Zwischenpunkte hinweist. Calvino interessiert dieses Gleichnis ebenfalls für seine Gegenwartsdiagnose: „[J]eder analytische Prozeß, jede Trennung in Teile tendiert dazu, ein Bild von der Welt zu vermitteln, das nach und nach immer komplizierter wird; so wie bei Xenon von Elea […]. Heute ist ein Rachefeldzug der Unstetigkeit, Teilbarkeit, Kombinierbarkeit gegen all das im Gange, was kontinuierlicher Fluß ist oder Spektrum von Nuancen, die aufeinander abfärben.“157 Die Intervalle zwischen Achill und der Schildkröte oder zwischen den Gesteinsbruchstücken werden immer kleiner; dennoch entsteht gerade hier das Unendliche, und das erscheint mir in Bezug auf die Sandmetapher das eigentlich Bemerkenswerte an der oben zitierten Beschreibung von Kaplan und Kaplan zu sein: Der Auflösungsprozess generiert zwar Bruchstücke, die immer kleiner, immer mehr wie Sandkörner werden, es werden aber gerade dadurch mathematische Nenner gebildet, die unendlich groß sind. Wird also der Aspekt der Sandmenge betont, die sich zu einer riesigen Menge fortsetzt, metaphorisiert der Sand das unendlich Große; wird das Diskrete und Kleinteilige des einzelnen Sandkorns betont, das ein winziger Bruchteil ist, metaphorisiert der Sand das in einer ins unendlich Große reichende Operation des Bruchs entstehende Kleine. Da sich Archimedes, Borges und Flusser mit Unendlichkeit auseinandersetzen, lohnt es sich zu verfolgen, welcher Aspekt der Sandmetapher – die große Menge oder das kleinteilige Einzelne – für sie jeweils eine Rolle spielt. Zuvor ist jedoch noch ein Zwischenschritt zu machen: Nach wie vor geht es um Virtuali-

157 Calvino: Kybernetik und Gespenster, S. 11 f. Auch bei Calvino geht es in dem Zusammenhang um die Entstehung von Unendlichkeit: „Die grenzenlose Vielfalt von Lebensformen kann auf die Kombination gewisser endlicher Quantitäten reduziert werden.“ (12)

3.3 Lose Elemente: Auflösung von rigiden Kopplungen

135

sierungsprozesse durch Auflösung, wobei die Endlichkeit durch Unendlichkeit problematisiert wird – wodurch aber entsteht Unendlichkeit, ausgehend vom Mathematischen? Das Unendliche lässt sich am einfachsten auf dem Weg über das Endliche erklären: Das Endliche hat immer ein letztes, ein endliches Element. In einer Anordnung von beispielsweise vier Elementen, von denen das erste auf das zweite, das zweite auf das dritte, das dritte auf das vierte, aber das vierte nicht wieder auf das erste verweist, gibt es ein letztes, ein endliches Element.158 Verlängert man diese Verweiskette jedoch, indem das vierte wieder auf das erste Element verweist, so gibt es auch für das letzte Element einen Nachfolger (und nach wie vor für alle anderen Elemente vorher), und die Verweiskette „‚dreht sich‘ sozusagen unbegrenzt ‚im Kreise‘“.159 Diese Bewegung kann unterbrochen werden, wenn man einen beliebigen Verweis entfernt und dadurch ein letztes Element generiert. Das Prinzip des Endlichen ist also die Existenz von einem „Element ohne Nachfolger“,160 während das Unendliche dadurch entsteht, dass jedes Element einen Nachfolger hat. Jeder Zahl muss eine weitere folgen, jeder Anzahl muss eine weitere Anzahl hinzugefügt sein, wodurch immer wieder eine Spannung entsteht zwischen der Nachfolgerbildung in der Reihe und der Grenze, die dem gesetzt ist: Die Umsetzung des Prinzips Nachfolgerbildung „macht das Zählen ‚im Prinzip‘ endlos, ‚potentiell unendlich‘.“161 Sand kann daher das Unendliche nicht metaphorisieren, weil er selbst unendlich wäre, sondern weil im Sand feste Anordnungen mit letztem Element untypisch sind; Sand ist nicht unendlich, aber es entsteht der Eindruck von Unendlichkeit dadurch, dass jedem Sandkorn eine anderes folgt und es immer weitere Nachfolger gibt. Dieser Zusammenhang von Sand und einem endlos fortsetzbaren Zählen findet sich bereits in der Bibel. So verspricht Gott Abraham, nachdem dieser Isaak auf Gottes Befehl hin an den Opferstein gebunden hat: „[W]eil du das getan und deinen Sohn, deinen einzigen, mir nicht vorenthalten hast, darum will ich dich segnen und dein Geschlecht so zahlreich machen wie die Sterne des Himmels und wie den Sand am Gestade des Meeres“.162 Weil Abraham bereit ist, seinen einzigen Nachfolger Gott zu

158 Vgl. hierzu Bedürftig/Murawski: Zählen, S. 11 f. 159 Ebd., S. 11. Hierin besteht die Unendlichkeit von Borges’ Bibliothek von Babel: Die Sechsecke der Bibliothek haben immer einen Nachfolger. 160 Ebd., S. 12, Herv. A. K. 161 Ebd., S. 185. 162 1. Mose 22, 16 f. und ähnlich: „Und deine Nachkommen will ich mehren wie den Staub der Erde, sodass, wenn man den Staub der Erde zählen kann, man auch deine Nachkommen wird zählen können.“ (1. Mose 13,16)

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3 Virtualität der Formen

opfern und so die Weiterführung seiner eigenen familiären Kette zu unterbrechen, entlohnt ihn Gott mit fortgesetzter Nachfolgerbildung, dass nämlich seine Nachfolger so zahlreich sein würden wie der „Sand am Gestade des Meeres“, mit der Tendenz ins unendlich Große. Auch Archimedes leitet die Vorstellung einer Fortsetzung in eine unendlich große Anzahl, wenn er ausgehend von kleinen Mengen immer weiter zählt und durch immer größere Sandkugeln immer neue „Nachfolger“ bildet. Archimedes wählt die Sandmetapher, weil der Sand unendlich scheint, es aber nicht ist. Auch wenn er dies zu beweisen sucht, zählt er trotz allem mit fiktiven Sandkörnern immer weiter und gelangt so ins Fahrwasser des Unendlichen. Es gibt, so heißt es bei Bedürftig/Murawski, eine Zählreihe, die alle endlichen Zählreihen umfasst, selbst aber eine unendliche Zählreihe ist.163 Wäre Archimedes’ Verfahren, die Sandkugeln auszuzählen, nicht dies: die Bildung einer Reihe endlicher Sandkugeln, die aber durch ihre immer neuerliche Fortsetzung selbst als unendliche fortgesetzt werden könnte? Archimedes würde dann – von ihm selbst unbeabsichtigt, denn er möchte ja die Größe der Welt abschließend benennen – die Welt in ihrer Endlichkeit problematisieren, insofern sie durch Weiterzählen in immer größere Zahlen und Räume hinein unendlich fortzudenken wäre. Bei Borges verhält es sich etwas anders. Hier werden „Nachfolger“ gebildet, indem sich fortwährend neue Blätter in das Sandbuch schieben, wodurch ein Unendliches ins Große und ins Kleine hinein entsteht. Ins Große hinein entsteht es, weil die Seitenzahlen auf ein unendlich Großes hinweisen und auf jede Seite eine weitere folgt. Das Sandbuch, so heißt es in der Erzählung, ist unendlich, weil es weder Anfang noch Ende hat. Das Unendliche ins Kleine hinein entsteht, weil es endlose Stoffströme innerhalb der beiden Buchdeckel gibt, die in ihrer Grenzfunktion zwei ganzen, aufeinander folgende Zahlen entsprechen, zwischen denen eine unendliche Teilbarkeit in Bruchstellen stattfindet. Es ‚rutschen‘ daher immer neue Seiten nach, so wie immer neue Dezimalstellen nach dem Komma denkbar sind und immer wieder neuer Sand hereinrieselt, wenn sich nur eine Lücke im Sandgemenge auftut. Auf diese Weise wird das Endliche durch den Eintritt des Unendlichen in das Endliche problematisiert und damit auch das, was bislang für logisch möglich gehalten wurde. Bei Flusser findet die Ausweitung ins Unendliche im „Punkte-Universum“ ebenfalls nach innen wie nach außen statt. Zum einen konstatiert er, dass die Bildfläche, die aus Punkten generiert wird, nie kontinuierlich sein kann. Selbst bei höherer Auflösung bleibt sie differenziell: „Der zweite Typ von Fläche, das technische Bild, ist ein Mosaik aus Punkten, deren Kalkulation die Intervalle

163 Vgl. Bedürftig/Murawski: Zählen, S. 198.

3.3 Lose Elemente: Auflösung von rigiden Kopplungen

137

zwischen ihnen durch Infinitesimation der Differentiale zu integrieren versucht. Diese Integration gelingt nicht völlig. Die punktuelle Struktur dieser Bilder taucht immer wieder auf Ebenen auf, welche über der scheinbar integrierten Grundebene liegen.“164 Die Unmöglichkeit, die Punkte einander absolut anzunähern, verhindert ein Kontinuum im Punkte-Universum und öffnet das Unendliche ins Kleine hinein – wie bei der Schildkröte von Xenon –, weil noch die kleinsten Differenzen weiter differenziert werden können. Auch nach außen sind die Punkte unendlich erweiterbar, denn: Wo sollte der letzte Punkt sein? Wenn Flusser sich an Demokrits Atomen orientiert, so wären seine Punkte wie diese unendlich, denn „da die Atome der Zahl nach unendlich sind, muß auch der Raum, der sie faßt und in dem sie sich bewegen, unendlich sein.“165 Flusser selbst bezeichnet die Punkte als „Masse“, weil sie unbegrenzt rekombinierbar sind. Es handelt sich damit um die Problematisierung der Welt durch ihre hohe Auflösung sowie die Problematisierung von endlichen Zuständen durch unendliche Auflösungs- und Rekopplungsprozesse. In allen drei Texten ist Sand eine Metapher des Unendlichen, weil beim Sand die Grenzen in der Regel nicht definiert sind. Bei den Sandkörnern gibt es immer einen neuen Nachfolger. Das Gegenmodell zum unendlich scheinenden Sand ist daher das Sandhäufchen. Anders als das Unendliche ist das Endliche nämlich eine Menge: „Eine Menge heißt endlich, wenn man ihre Elemente aufzählen kann“.166 Diese Verwendung der Sandmetapher ist bei Michel Houellebecq in einer Reflexion über Erkenntnisprozesse zu beobachten: Qu’aurait fait Heisenberg? Qu’aurait fait Niels Bohr? Prendre du champ; réfléchir; marcher dans la campagne, écouter de la musique. Le nouveau ne se produit jamais par simple interpolation de l’ancien; les informations s’ajoutaient aux informations comme des poignées de sable, prédéfinies dans leur nature par le cadre conceptuel délimitant le champ des expériences; aujourd’hui plus que jamais ils avaient besoin d’un angle neuf.167

Die Sandhäufchen entsprechen Informationsmengen, die sich zu neuen Erkenntnissen zusammenfügen, die es aber zuvor klar zu definieren gilt, damit begriffliche Bezugsrahmen gegeben sind. Auf diese Weise – abzählbar und gerahmt – wird Sand zu etwas Endlichem; das Problem wird nicht ‚eröffnet‘, sondern ‚begrenzt‘.168

164 Flusser: Lob der Oberflächlichkeit, S. 58. 165 Nikolaou: Die Atomlehre Demokrits und Platons ‚Timaios‘, S. 114. 166 Bedürftig/Murawski: Zählen, S. 33. Vgl. die Sandzählungen von Jochem Hendricks in Kap. 5.1. 167 Michel Houellebecq: Les particules élémentaires, Paris: Flammarion 1998, 279 f. 168 Der Sorites wäre hier definitorisch gelöst, vgl. Kap. 1.

138

3 Virtualität der Formen

Die Arten der Virtualisierung, die in den drei Texten durch die Sandmetapher modelliert werden, problematisieren alle auf ihre Weise Elemente (als lose gekoppelt), Strukturen (als variabel) und Grenzen (als undefiniert):

Archimedes

Borges

Flusser

Elemente = lose gekoppelt

Zahl

Buchseite

Punkt

rigide Kopplung = variabel

Zahlreihe ⇒ variable Mengen

Seitenfolge ⇒ wechselnde Ordnung unbestimmbar

Fädeln ⇒ Komputieren

Grenzen = undefiniert

immer weiter zählen

immer neue Seiten

unendliche Rekoppelbarkeit

Abb. 3.7: Auflösung in Zahlen, Seiten, Punkte (eigene Darstellung).

Diese Problematisierungen entstehen durch die Virtualisierung als Auflösung. Bei allen Texten stehen Weltmodelle zur Disposition: Bei Archimedes wird die Welt zu einer in berechenbare Teile zerlegbaren Kugel, bei Borges wird die Welt als instabil und unbestimmbar entworfen, indem in ihr Zeit und Raum beliebig werden, und bei Flusser schließlich wird sie als ein Universum aus Punkten modelliert, dessen Zusammensetzung unaufhörlich veränderbar ist. Diese drei Modelle operieren mit Sandkugel, Sandbuch und (Sand-)Punktmenge als Weltmetaphern, für die Blumenberg in seinen Paradigmen zu einer Metaphorologie feststellt, dass sie durch die Frage verbunden sind, „[w]as die Welt eigentlich sei“.169 Die Wahrheit dieser Metaphorik bestehe in ihrer Pragmatik, d. h. in dem Versuch, durch die Metapher Orientierungen zu bieten und Verhalten zu steuern.170 Von Blumenberg aus ist zu überlegen, worin die Pragmatik der Metapher ‚Sand‘ besteht, wenn der Sand die Welt metaphorisch modelliert. Die Welt, ist sie wie aus Sand, ist eine auflösbare, kontingente und virtualisierbare, eine Welt, die unendlich ist und keinen Halt bietet, da ihre Elemente sich fortlaufend rekonfigurieren. Das stimmt nur sehr eingeschränkt für Archimedes’ Weltmodell, dessen Auflös- und Rekonfigurierbarkeit sich auf die Zusammensetzung der Rechenelemente beschränkt, dessen Weltsicht ansonsten aber von stabilen Einheiten geprägt ist. Das gilt indessen in sehr umfassender Weise für die Weltmodelle von Borges und Flusser. Sie problematisieren

169 Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie, S. 26. 170 Vgl. ebd., S. 25.

3.4 Lose Gründe: Auflösung von Situierungen

139

die Welt selbst als aufgelöst in lose gekoppelte Elemente, rigide Welt-Kopplungen als auflösbar und Welt-Grenzen als unendlich.171 Die spezifische Pragmatik der Sandmetapher besteht daher bei ihnen darin, eine Vorstellung von Welt zu ermöglichen, in der es keine feste Grenzbildung gibt und in der Orientierung kontingent und problematisch ist: „Wir wissen“, heißt es in Kaplan/Kaplans Schrift zum Unendlichen, „wo wir stehen, wenn unsere Gedanken, wie unsere Worte, genau definiert sind.“172 Umgekehrt bedeutet dies aber, dass die Abwesenheit von Grenzen den Standpunkt unbestimmt werden lässt, denn das Unendliche, griechisch ἄπειρον, bedeutet wörtlich das Grenzenlose.173 Eine Welt ‚wie aus Sand‘ ist unendlich und offen für alle möglichen Verbindungen. Sie funktioniert gleichsam wie eine globale, asyndetische Parataxe, wie ein loses Gefüge ohne verbindenden „Kitt“. Die Perspektive der Virtualisierung, die mit der Sandmetapher von Borges und Flusser eingenommen wird, stellt somit über die Auflösungsprozesse und Entdefinierungen auf sehr grundsätzliche Weise die Frage nach der Orientierung in der Welt.

3.4 Lose Gründe: Auflösung von Situierungen Sand ist auch ein metaphorisches Modell für lose Gründe, durch das die Virtualisierung von Situierungen denkbar wird. Diese zweite Variante der Virtualisierung verschiebt den Schwerpunt auf die räumliche Dimension: Während durch die losen Kopplungen die Auflösung im Raum thematisiert wurde (Kap. 3.3), wird nun die Auflösung von Raumgefügen ins Blickfeld gerückt, entsprechend der Auflösung von Textraumgefügen im Kontext medientheoretischer Überlegungen (vgl. Kap. 3.1.2). Situierung begreife ich als Verortung (lat. situs), und die Auflösung von Gründen als Desituierung durch Problematisierung und Kontingentsetzung bestehender Verortungen. Die losen Kopplungen funktionieren

171 „Statt Welt zu geben, verweist das Medium Sinn auf selektives Prozessieren; […] Aktualisierter Sinn ist ausnahmslos selektiv zustandegekommen und verweist ausnahmslos auf weitere Selektion. […] Anstatt die Welt phänomenal zu geben, führt sie [die Unterscheidung, die Sinn konstituiert] den Hinweis mit, daß es immer auch noch etwas anderes gibt […]. Es gibt im Medium des Sinns keine Endlichkeit ohne Unendlichkeit. […] Welt kann nach all dem auch in der Kunst nur als unbestimmbar (unbeobachtbar, ununterscheidbar formlos) symbolisiert werden; denn jede Spezifikation müßte eine Unterscheidung verwenden, müßte sich also der Frage stellen, was es sonst noch gibt.“ (Niklas Luhmann: Medium und Form, in: Ders.: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1995, S. 165–214, hier S. 174 f. – im Folgenden als Kurztitel zitiert: Luhmann: Medium und Form, KdG) 172 Kaplan/Kaplan: Das Unendliche, S. 102. 173 Vgl. ebd.

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3 Virtualität der Formen

auch hier wie asyndetische Parataxen: Das kontingente Nebeneinander der Elemente vermittelt keinen ‚Halt‘, weil sich ihre rigide Kopplung keinem ‚festen Grund‘ verdankt. Sand ist hierfür ein metaphorisches Modell, weil seine eigene Form wenig limitiert ist (er ist ein hochaufgelöstes Medium) und sich die in ihm gebildeten Formen dadurch schnell wieder auflösen (er ist ein hochauflösendes Medium): Weil der Sand selbst ein loser Grund für die in ihm gebildeten Formen ist, lassen sich lose Gründe mit der Sandmetapher beschreiben (als wenig limitiert in ihrer Form). Lose Gründe haben wie der Sand einen hohen Virtualitätsgrad, d. h. die in ihnen gebildeten Formen sind besonders flüchtig und instabil. Gründe sind dann ‚sandig‘, d. h. so lose wie der Sand, wenn sie besonders ‚virtuell‘ sind.174 Zur Beschreibung dieser Raum- und auch später der Zeitgefüge wird die Medium/Form-Unterscheidung durch Luhmanns Gedanken spezifiziert, dass es Raum- und Zeitstellen gibt, die differentiell strukturiert sind und das Medium markieren.175 Die Stellen werden erst durch die Besetzung mit Objekten (so wie Medien durch die Bildung von Formen) wahrnehmbar. Dabei ist eine wechselnde Besetzung möglich, aber jede Stelle kann immer nur durch ein Objekt besetzt sein. Im Raum bleiben die Stellen mit sich identisch (so wie Medien dauerhaft sind), während die Objekte wechseln können (so wie Formen instabil sind). Bei den Zeitstellen verhält es sich dagegen umgekehrt; hier verschieben sich die Stellen und verlassen ihre Objekte.176 Die Sandmetapher kann als Modell für Raumgefüge dienen, die lose Gründe darstellen. Von losen Gründen ist dort zu sprechen, wo die Virtualisierung der Raumstruktur selbst zur Disposition steht, wo also die Räume so beschaffen sind, dass sie ‚von Grund auf‘ keine Stabilität bieten. Das heißt, dass nicht die Objekte auf stabilen Stellen wechseln, sondern die Stellen keine Stabilität für den Verbleib der Objekte bieten. Während es also eigentlich möglich ist, dass Objekte dauerhaft auf Stellen bleiben, können sie sich in Räumen ‚aus Sand‘ nicht halten, weil sich die Stellen fortwährend auflösen. Die folgenden Ausführungen demonstrieren in diesem Sinne die Virtualisierung der Medien als ‚Gründe‘ für

174 Vgl. zu den Bestimmungen von Sand als metaphorisches Modell für Virtualität Kap. 2.3. 175 Vgl. Luhmann: Medium und Form, KdG, S. 180. 176 Luhmann führt zur Beschreibung von Zeit und Raum allgemein die Unterscheidug von Stelle und Objekt ein und bezieht sie auf die Medium/Form-Unterscheidung: „Stellendifferenzen markieren das Medium, Objektdifferenzen die Formen des Mediums.“ (Luhmann: Medium und Form, KdG, S. 180) Luhmanns Definition von Raum und Zeit ist dabei sehr schematisch und bildet m. E. nicht die Komplexitäten und Relationalitäten ab, die diese Begriffe mit sich führen. Hier soll daher nur die Begrifflichkeit der Raum- und Zeitstellen übernommen werden, zumal sie an die Medium/Form-Unterscheidung anschließt.

3.4 Lose Gründe: Auflösung von Situierungen

141

die Formbildung, sodass durch Sand als Metapher für lose Gründe ganz dezidiert der hohe Virtualitätsgrad und die Instabilität von Räumen und Medien in den Fokus rücken: Sind Gründe ‚sandig‘, werden sie zu problematischen Feldern.

3.4.1 Sand als Metapher für lose Gründe Vielleicht können wir, wenn wir den Sand als Sand und die Wörter als Wörter betrachten, ein wenig besser begreifen, wie und in welchem Maße die zermahlene und zerfallene Welt darin noch ein Fundament und Modell finden kann.177

Eigentlich ist der Grund ein Ort, der ein festes Fundament bietet, doch die Sandmetapher modelliert dessen Auflösung. Sand ist ein loser Grund, der, selbst anfangs- und endlos, die Definition von Orten virtualisiert. Die Sandmetapher bietet dadurch ein Denkmodell für die Kontingenz von Situierungen; ein Grund, der Halt gibt, wird kontingent gesetzt, indem seine Bestimmungen in Unbestimmtheit gewandelt werden und an die Stelle von Entscheidungen Möglichkeitsalternativen rücken: Die Sandkörner könnten so oder anders angeordnet sein, und sind sie einmal angeordnet, so werden sie es nicht bleiben. Sand modelliert metaphorisch die Virtualisierung eines Aktualisierten. Etwas ‚Festes‘ wird lose, etwas Bestehendes problematisiert. Die Sandmetapher kann, weil der Sand sich immerzu bewegt, Räume modellieren, die keine Stabilität bieten, also Raumgefüge, die lose Gründe darstellen. Auch wenn sich Objekte im Sand nicht bewegen, werden sie nicht an derselben Stelle bleiben, da die Stellen im Sand nicht stabil sind. Sand ist ein instabiler, ein loser Grund, der keinen Halt bietet. Diese Instabilität drückt sich in den Wendungen aus, die sprichwörtlich mit Sand in Verbindung gebracht werden: auf Sand bauen, im Sand versinken, Sand zusammenknüpfen, aus Sand ein Seil drehen. Für eine dauerhafte Situierung bietet Sand keine stabile Grundlage, für eine feste Verknüpfung ist Sand nicht geeignet. Sand bietet keinen stabilen Ausgangspunkt, und ebenso wenig findet sich in ihm ein fixierbares Ende: Die Dinge verlaufen im Sand. Zu unterscheiden ist Sand als Grund im literalen Sinne vom Sand als ‚Grund‘ im Sinne einer philosophischen Metapher. Im literalen Verständnis ist Sand durch seine Aufgelöstheit in Form der losen Kopplung von Sandkörnern definiert. Diese sandigen Gründe, die in den Texten in ihrer geologischen Beschaffenheit beschrieben werden und in ihrer spezifischen Materialität eine Rolle spielen, werden immer dann berücksichtigt, wenn sie auch als philosophische Metapher für die Auflösung von Situierungen von Bedeutung sind. Die metaphorischen

177 Italo Calvino: Gesammelter Sand. Essays, München [u. a.]: Hanser 1995, S. 14.

142

3 Virtualität der Formen

Verwendungen von Sand schließen an den Gebrauch von ‚Grund‘ als philosophischer Metapher an, die eine lange Tradition seit der mittelhochdeutschen Mystik hat und im deutschen Idealismus besondere Bedeutung gewinnt.178 Der ‚Grund‘ wird hier philosophisch nicht nur als Ursprung gedacht, sondern kann ebenso Ziel und Effekt einer Betrachtung sein. So sucht z. B. Edmund Husserl nach dem „Grund“ der Wissenschaften, nach „einer Wissenschaft, die ‚auf einem einzigen Grunde‘ beruhen soll, er sucht nach ‚Wissen […] aus dem letzten Grunde‘, nach einer ‚Fundierungsordnung‘ aller Wissenschaft, nach ‚dem Urboden alles theoretischen wie praktischen Lebens‘“.179 Husserls „Urboden“ ist ein umfassender ‚Grund‘, der den Endpunkt einer suchenden Bewegung ebenso darstellen kann wie den Anfang für jegliche neue Fundierung. ‚Grund‘ als philosophische Metapher zu gebrauchen ist gleichwohl nicht unproblematisch. Eine Schwierigkeit ergibt sich nach Jacques Derrida daraus, dass „die ‚Gründer‘-Begriffe“ wie theorie, eidos, logos „als ‚natürliche‘ Sprache bestimmt wurden“, aber selbst metaphorisch sind: „Es sind die Werte Begriff, Gründung, Theorie, die metaphorisch sind und jeder Meta-Metaphorik standhalten. […] Das Grundlegende entspricht dem Begehren nach dem festen und letztendlichen Boden, nach dem Bereich der planmäßigen Gestaltung, nach der Erde als Stütze einer künstlichen Struktur.“180 Das Wort ‚Grund‘ im philosophischen Diskurs ist demnach in seiner Metaphorizität zu sehen, in seiner Verbundenheit mit der Vorstellung eines festen Bodens, von dem ausgegangen und auf dem aufgebaut werden kann und der das Ziel eines Begehrens ist, das auch die Suche und Sehnsucht Husserls nach einem Fundament, das einen letzten ‚Halt‘ bietet, antreibt.

178 Vgl. Karin Bendszeit: Grund, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. v. Joachim Ritter u. Karlfried Gründer, Bd. 3: G-H, Darmstadt: WBG 1974, Sp. 902–910, hier Sp. 906. Dass es sich bei „Grund“ um eine Metapher handelt erwähnt das Historische Wörterbuch nicht, anders als das Wörterbuch der philosophischen Metaphern (Olaf Briese: Erde, Grund, in: Ralf Konersmann (Hg.): Wörterbuch der philosophischen Metaphern, Darmstadt: WBG 2007, S. 92–102). 179 Zitate im Zitat aus Edmund Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie (21976), S. 8, 12, zit. n. Briese: Erde, Grund, S. 99. Bei Briese heißt es weiter: „Dieser ‚Erfahrungsboden‘ ist nach Husserl die Sphäre oder die Schicht der Lebenswelt. Auf dieser Lebenswelt, dieser Schicht ursprünglicher Evidenzen, ruhe das Wissen gleichermaßen auf. Die neue Philosophie wäre ‚eine Wissenschaft von dem universalen Wie der Vorgegebenheit der Welt, also von dem, was ihr universales Bodensein für jedwede Objektivität ausmacht‘.“ (Zitate im Zitat aus Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften, S. 149, zit. n. Briese: Erde, Grund, S. 99) 180 Jacques Derrida: Die weiße Mythologie. Die Metapher im philosophischen Text, in: Peter Engelmann (Hg.): Randgänge der Philosophie, Wien: Passagen 1988, S. 205–258, hier S. 218.

3.4 Lose Gründe: Auflösung von Situierungen

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Bei meinem Einsatz von Sand als metaphorischem Modell für Virtualität verstehe ich diesen explizit als philosophische, konzeptuelle Metapher. Es ist zu bedenken, dass ‚Sand‘ dadurch mit den Problemen des ‚Grund‘-Begriffs verbunden ist. Zwar ist das Wort ‚Sand‘ nicht schon in seiner metaphorischen Bedeutung in die „‚natürliche‘ Sprache“ übergegangen, aber Sand und Grund stehen in metonymischem Verhältnis zueinander. Sand ist eine Seinsart von Gründen, und zwar sowohl auf geologischer als auch auf metaphorischer Ebene. Es ist also ‚naheliegend‘ (wenn sich die Entfernung zwischen Metaphern raummetaphorisch messen lassen kann), dass es im Rahmen der Sandmetapher auch um ‚Gründe‘ geht. Geologisch wie metaphorisch handelt es sich bei Sand um eine mögliche Form, ein Grund zu sein: ein loser Grund. Bezieht man ‚Sand‘ auf metaphorische ‚Gründe‘, werden sie als ‚lose Gründe‘ im philosophischen Sinne begreifbar. Sand als loser Grund perspektiviert in seinem metaphorischen Gebrauch die Virtualisierung von ‚Gründen‘, er deutet auf das Fehlen von festem ‚Boden‘, er spielt gegen die planmäßige Gestaltung, Limitierung und definierende Setzung, er ist: ein Grund in Auflösung, ein ‚zutiefst‘ problematischer ‚Grund‘. 3.4.1.1 Fester Grund und loser Grund Die metaphorische Verwendung des Begriffs ‚Grund‘, die im philosophischen Diskurs meist unmarkiert bleibt, ist insbesondere in der räumlichen Vorstellung eines Fundaments eng an seine literale Bedeutung geknüpft. Vier Bedeutungen von ‚Grund‘ sind hier relevant: (1) Ein ‚Grund‘ evoziert erstens eine topologische Relation, indem er als Untergrund horizontal oder, in der Differenz von Hintergrund und Vordergrund, vertikal gedacht werden kann; er ist ein ‚Unten‘ oder ein ‚Dahinter‘. (2) Zweitens markiert der ‚Grund‘ eine Grenze, die in zwei Richtungen relevant sein kann: als Ausgangspunkt (‚weg von‘), von dem etwas ausgeht (causa), oder als Ziel- und Endpunkt (‚hin zu‘), auf den man stößt (finis); so kann das Verb ‚gründen‘ entweder bedeuten, etwas noch nicht Existierendes neu zu errichten (Bewegung vom Grund weg) oder im Sinne einer Begründung, dass für etwas schon Existierendes auf dessen Grund hingewiesen wird (der Grund als Ziel einer Bewegung).181 (3) Drittens ist mit ‚Grund‘ die Vorstellung von Festigkeit verbunden, ganz im Sinne rigider Kopplungen, die sich durchgesetzt haben.182 (4) Dies führt viertens dazu, dass der ‚Grund‘ als Basis,

181 Vgl. zu dieser Bedeutung des Verbs „gründen“: NN: gründen, in: Deutsches Rechtswörterbuch. Wörterbuch der älteren deutschen Rechtssprache, hg. v. d. Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. IV, H. 1, Weimar: Hermann Böhlaus Nachfolger 1939, Sp. 1182. 182 Davon kann ausgegangen werden, auch wenn die ältere Etymologie von ‚Grund‘ das Merkmal des Losen in sich trägt: „Unter Annahme einer (nicht belegbaren) ursprünglichen Be-

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also als ein im von Derrida beschriebenen Sinne (begehrtes) Fundament, begriffen wird. Das Denken vom ‚Grund‘ reicht daher nicht selten ins Existenzielle. Die Perspektivierung loser Gründe bedeutet, so meine These, eine Virtualisierung dieser Eigenschaften von ‚Grund‘. Es geht dabei nicht um die ‚tatsächliche‘ Feststellung irgendeiner Festig- oder Losigkeit von Gründen. Vielmehr geht es um die Perspektivierung von Gründen als lose. Das heißt in Bezugnahme auf die oben genannten vier Bedeutungen von ‚Grund‘, dass ein aktuelles Unten oder Dahinter nicht als (noch) gegeben gesehen, sondern seine Auflösung betrachtet wird (1). Es bedeutet, dass das, was bislang als Grenze aktuell galt, problematisiert und als nicht mehr definiert betrachtet wird, sodass Ausgangs- und Zielpunkte nicht mehr gegeben scheinen und Begründungen keine Geltung mehr beanspruchen können, sondern kontingent gesetzt werden (2); das, was als ‚fest‘ gegolten hat, wird als ‚lose‘ betrachtet, rigide Kopplungen werden also in lose Kopplungen überführt (3); schließlich steht oftmals dort, wo hierbei Fundamente gelockert werden und der Bereich planmäßiger Gestaltung sich in seine Bestandteile auflöst, eine Existenzweise auf dem Spiel (4). Die Entgegensetzung von festem und losem Grund strukturiert in besonderem Maße den Film White Sands (1992) von Roger Donaldson,183 in dem die literale und die metaphorische Bedeutung von Sand verknüpft werden. Philosophisch gesehen ist hier Geld um jeden Preis der ‚Grund‘, der keine Existenzgrundlage bietet; gleichzeitig stellt der Ort „White Sands“ jenen – losen – sandigen Wüstengrund dar, auf dem – lose – Geldgeschäfte getätigt werden. Demgegenüber steht für den ‚festen Grund‘ der Sheriff einer kleinen Stadt in Neu Mexiko (Ray), der beruflich für Sicherheit zu sorgen hat und sich auch privat als Vater in einer Kleinfamilie in einer überschaubaren Stadt in einem klar definierten, ‚soliden‘ Rahmen bewegt. Diese beiden entgegengesetzten Typen von ‚Grund‘ kommen in Berührung, als in Rays Revier ein Mord verübt wird und er bei dessen Aufklärung in FBI-interne Rivalitäten gerät, bei denen es u. a. um eine halbe Million Dollar und schwarzen Waffenhandel geht. Ray, der sich als der Ermordete ausgibt, gelangt inkognito nach „White Sands“, was als Chiffre für einen Ort steht, an dem der Tausch von Geld und Waffen stattfindet, ein paar Blockhäuser in der Wüste. Trotz wiederholter Versuchungen durch die hohe Geldsumme und die Verführungskünste der attraktiven Lane bleibt Ray seinem eigenen Leben als Fami-

deutung ‚körniger Boden, Sandboden‘ kann für germ. *grundu- über ‚Zerriebenes‘ ein Anschluß an ie. *ghren-, Erweiterung der Wurzel ie. *gher- ‚hart worüber streichen, zerreiben‘, hergestellt werden.“ (Wolfgang Pfeifer/Wilhelm Braun: Grund, in: Dies.: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, Berlin: Akademie-Verlag 1993, S. 484) 183 Roger Donaldson: White Sands, USA 1992.

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lienvater und Sheriff treu. „I never met anyone like you“, meint Lane, „you’re honest even when you’re lying“. Während also – in einem sehr schematischen Muster – die Grundlage für Rays Handlungen Treue und Ehrlichkeit sind, werden die FBI-Agenten, die ihn wiederum für einen „Spießer“ halten, von Geldund Machtgier gesteuert. Ray gelingt es, die rivalisierenden Gruppen so gegeneinander auszuspielen, dass er selbst ungeschoren davonkommt und sogar noch das viele Geld an diejenigen zurückgeben kann, denen es gehört. Die FBIAgenten lassen sich hingegen von ihm täuschen, sodass sie für einen Koffer töten und getötet werden, von dem sie glauben, er enthalte eine halbe Million Dollar, in dem sich aber zu diesem Zeitpunkt nur noch Sand befindet. In der vorletzten Szene ist der letzte noch handlungsfähige FBI-Agent auf seiner vergeblichen Flucht über die Sanddünen zu sehen: Kurz bevor er gefangen wird, öffnet er den Koffer, greift in Erwartung zahlreicher Banknoten hinein und muss dabei zusehen, wie ihm nicht Geld die Hände füllt, sondern Sand zwischen den Fingern zerrinnt. Die lose Beschaffenheit seiner Handlungsgründe visualisiert der Film durch diese Bilder, die statt des erwarteten Geldes den Sand in seinen Händen zeigen. Direkt auf den langen Verzweiflungsschrei des Agenten folgt nach einem Schnitt die letzte Szene, in der Ray in Frieden zu seiner Familie fährt, als ein Odysseus, der zu seiner Frau zurückkehrt (sie heißt „Molly“) und in die kleine Stadt, die für ihn Ausgangs- und Zielpunkt und damit ‚fester‘ Grund im Leben ist; auf seiner Rückfahrt von jenem instabilen Ort, an dem der Film die grenzen- und bodenlose Gier nach Geld lokalisiert und der, so will es die Erzählung, als ‚Grund‘ keinen Halt bietet: White Sands. Das Kennzeichen loser Gründe ist, dass sie rigide Kopplungen nicht lange halten können, sondern sie sogleich wieder in lose Kopplungen auflösen: Das Geld zerrinnt in White Sands förmlich zu Sand. Eine dieserart negative Einordnung des Losen ist zwar typisch, aber nicht notwendig. Etymologisch gesehen bedeutet ‚los‘ „nicht (mehr) befestigt, abgelöst, befreit von“,184 aber die griechische Wurzel lyein (‚lösen‘, ‚befreien‘, ‚auflösen‘, ‚vernichten‘, ‚bezahlen‘) oder auch das lateinische luere (‚büßen‘, ‚zahlen‘) beziehungsweise solvere (aus ‚seluere‘) enthalten zusätzlich Wertungen, die das Lose als etwas Positives (‚Lösung‘, ‚Befreiung‘) oder als etwas Negatives (‚Vernichtung‘, ‚Buße‘, ‚Zahlung‘) betrachten.185 Ebenso deutet die Etymologie von ‚lose‘ zwar stärker in das geologische Bedeutungsfeld als „nicht mehr fest anhaftend, nicht eng anliegend,

184 Pfeifer/Braun: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, S. 812. 185 Das setzt sich im Alt- und Mittelhochdeutschen im Wesentlichen so fort: Ahd: „befreit, beraubt, leichtfertig, listig, zuchtlos, böse“; mhd/mnd: „frei, ledig, bar, beraubt, mutwillig“, vgl. ebd.

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locker, unverpackt, einzeln“, trägt aber auch die moralisch gefärbte Bedeutung „leichtfertig“.186 Lose Gründe resultieren, so mein Resümee, aus der Virtualisierung von Gründen, die durch Auflösung ihrer rigiden Kopplungen entstehen; ihr Virtualitätsgrad wird gesteigert und ihre Form weniger limitiert; die Gründe sind: nicht („mehr“!) fest anhaftend, locker, einzeln. Damit kann die Bedeutung des Haltlosen verbunden werden wie in White Sands187 oder – und auch das wird die Analyse der sandmetaphorischen Texte zeigen – der Befreiung. Lose Gründe sind nicht grundlos! Sie sind zwar aufgelöst, können ihre Eigenschaft, Grund zu sein, aber nicht dadurch verlieren, keine festen Gründe zu sein. Genau diesen Zusammenhang modelliert Sand metaphorisch: Geld ist in White Sands ein loser, aber durchaus möglicher ‚Grund‘. Durch ihre Virtualisierung verschwinden ‚Gründe‘ nicht, sondern sie werden als stabile Raumstellen problematisiert; sie werden als solche Gründe erkennbar, die kein festes Fundament bieten, keine Haftung haben und keinen aktuellen Ort bieten, von dem man ausgehen und auf den man zurückkommen kann. Während der Grund in Relation zu einem ‚Unten‘ oder einem ‚Dahinter‘ eine Grenze bildet, die ein festes (existentielles) Fundament darstellt, ist der lose Grund grenzenlos und virtuell und zu locker und flexibel, um ein Fundament (für Existenzen) bieten zu können. Man könnte auch sagen, dass feste Gründe Kontingenz weitestmöglich ausschließen, während lose Gründe Kontingenz strukturell einbinden. 3.4.1.2 Virtualisierung als Kontingentsetzung von Gründen Lose Gründe entstehen durch die Kontingentsetzung von Situierungen. Die Metapher Sand zeigt dies modellhaft, indem durch sie ein fester ‚Grund‘ – wie eine rigide gekoppelte Form des Mediums – zu einem ‚losen Grund‘ virtualisiert wird – wie eine in lose Kopplungen aufgelöste Form des Mediums mit einem hohen Virtualitätsgrad. Kontingent ist nach Luhmann „etwas, was weder notwendig ist 186 Ebd. Es gibt demnach auch schon vorher die Bedeutungen im mhd. „auf anmutige, liebliche Weise“, „leichtfertig“, frühnhd. „der Tugend ledig, locker“, „locker“ und später auch „sittenlos“ (16. Jh). 187 Ebenfalls negativ erscheinen die losen Gründe im Comic Die Sandkorntheorie (2010). Hier gerät das Gleichgewicht der Welt aus den Fugen, da ein bestimmtes magisches Objekt sich nicht mehr am richtigen Ort befindet. Die ganze Welt wird instabil, was sich durch überall sich aufhäufende Sandmengen bzw. Steinbrocken manifestiert, die jeweils auf ihre Weise die Dinge ins Ungleichgewicht bringen; vgl. François Schuiten/Benoit Peeters: Die Sandkorntheorie, München: Schreiber & Leser 2010. Auch die Stadt, die ein Fürst im Kinderbuch Stadt aus Sand (2009) aus Seelen baut, derer er sich zuvor bemächtigt hat, ist im negativen Sinne „aus Sand“, und sie fällt daher in dem Moment, wo der Fürst von einem kleinen Mädchen besiegt wird, das diese Seelen befreit, ganz in sich zusammen (Pierdomenico Baccalario/Enzo d’Alò/ Gaston Kaboré: Stadt aus Sand, aus d. Ital. v. Katharina Schmidt, Frankfurt/M.: Fischer 2009).

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noch unmöglich ist; was also so, wie es ist (war, sein wird), sein kann, aber auch anders möglich ist. Der Begriff bezeichnet mithin Gegebenes […] im Hinblick auf mögliches Anderssein“.188 In diesem Zitat wird deutlich, dass Kontingenz immer durch die Perspektive der Virtualisierung entsteht, die von einem Gegebenen, „wie es ist (war, sein wird)“, ausgeht, das auch anders hätte aktualisiert werden können (werden könnte). Etwas als kontingent zu betrachten bedeutet, feste Kopplungen vor dem Horizont ihrer möglichen Entkopplung zu betrachten. Die Kontingenztheorie Luhmanns beleuchtet Entscheidungen im Lichte der Alternativen, wobei diese Alternativen ebenso in die Vergangenheit wie in die Zukunft hineinprojiziert werden können: Nichts muss so sein, wie es ist (war, sein wird). Betrachtet man bereits getroffene Entscheidungen als kontingent, wird deutlich, dass sie auch anders hätten ausfallen können, wobei Entscheidungen auch anlässlich der Tatsache als kontingent betrachtet werden können, dass die Informationen, die im Moment der Entscheidung noch galten, nun nicht mehr gelten.189 Während nach Luhmanns alles als kontingent betrachtet werden kann und die Auflösung von ehemaligen Gründen (einstmals verlässlichen Informationen) auch die Kontingenz eines einmal Entschiedenen zu Tage zu fördern vermag, fasst Michael Makropoulos mit Rüdiger Bubner die Entscheidung selbst als Grund auf. Kontingenz ist zwar auch bei Makropoulos das, was „auch anders möglich ist“,190 zufällig ist ein Ereignis aber dann, wenn „sein Eintreten […] im Unterschied zum entscheidungsgenerierten und damit begründbaren Handeln als grundlos erklärt wird.“191 Das Ereignis ist also dann grundlos, wenn ihm keine Entscheidung zu Grunde liegt, die den Grund für sein Eintreten liefern würde. Vielleicht zeigt sich in den unterschiedlichen Entscheidungsbegriffen von Luhmann und Makropoulos am deutlichsten die Differenz von losen Gründen und Grundlosigkeit. Luhmanns Kontingenzbegriff korrespondiert mit dem Gedanken der losen Gründe, da er eine Auflösung in Möglichkeiten beinhaltet, und zwar auch in Bezug auf Entscheidungen, die bereits getroffen wurden; diese Entscheidungen erweisen sich als etwas, was sich ex post wieder in die Reihe der Möglichkeiten auflösen lässt, ohne dass sich aber deshalb das Feld der Möglichkeiten selbst auflösen würde: Die Gründe verschwinden nicht, sie werden lose. Bei Makropoulos hingegen steht oder fällt mit der Anwesenheit einer Entscheidung der

188 Luhmann: Soziale Systeme, S. 152. 189 Vgl. weiter unten die Analysen zu Heyms Erzählung Auf Sand gebaut und Dubus III Roman Auf Sand gebaut. 190 Michael Makropoulos: Modernität als Kontingenzkultur. Konturen eines Konzepts, in: Gerhard v. Graevenitz/Odo Marquard (Hg.): Kontingenz, München 1998, S. 55–79, hier S. 59. 191 Ebd., S. 61. Makropoulos bezieht sich auf Rüdiger Bubner: Geschichtsprozesse und Handlungsnormen, Frankfurt/M. 1984.

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Grund für Ereignisse; die Ereignisse werden ohne Entscheidung grundlos; der feste Grund ist nicht aufgelöst, sondern inexistent. Die Ereignisse könnten auch anders – sie könnten kontingent sein, aber eben nur, wenn es keine Entscheidung gab.192 Für den Gedanken der Virtualisierung, wie ich ihn im Kontext meines Virtualitätskonzepts auffasse, ist es wichtig, dass auch Entscheidungen als kontingent gesehen werden können. Alles kann nicht nur von vornherein, sondern auch im Nachhinein kontingent gesetzt werden. Dies ist genau der Gedanke der Virtualisierung: Etwas, das bereits besteht, wird aufgelöst, indem es in den Kontext anders möglicher Aktualisierungen gestellt wird, sodass dies bereits Situierte seine feste Grundlage verliert. Gegebenes (rigide Gekoppeltes) kann im Horizont seiner Auflösung (in lose Kopplungen) gesehen werden. Sand ist der metaphorische Hinweis auf eine solche Auflösung in einen losen Grund. Die Perspektive der Kontingenz ist indessen allgemeiner, weil der Gedanke des Bestehens und Auflösens nicht auf die Metapher Sand beschränkt ist. Sand ist aber gleichwohl eine Metapher für diese allgemeine Perspektive; sie stellt eine Behauptung loser Gründe dar bzw. performiert die Auflösung von Gründen durch die Perspektivierung ihrer Kontingenz. Die ‚Gegründetheit‘ von Entscheidungen erhält eine doppelte Bedeutung, sobald ihre Gegenstände territoriale Gründe sind. Führt man sich die geopolitischen Implikationen des Begriffs ‚Grund‘ vor Augen, überrascht es nicht, dass Sand im außenpolitischen Diskurs, wo gut gegründetes politisches Handeln zwischen Staaten diskutiert wird, als Metapher für lose Gründe eingesetzt wird. Wo sich politische Entscheidungen als haltlos erwiesen haben sollen, wird Sand als Metapher herangezogen:193 Dies zeigt sich in Buchtiteln wie Wind over Sand. The Diplomacy of Franklin Roosevelt,194 Auf Sand gebaut.

192 Makropoulos bezieht den Kontingenzbegriff auf das neuzeitliche Selbst- und Weltverständnis, wobei der Erweiterung der Handlungsbereiche die Einschätzung „als akute Orientierungslosigkeit und bodenlose Unsicherheit“ entgegenstünde, „weil der Bereich des Auchanders-sein-Könnens, der Bereich der Kontingenz […] prinzipiell keine definitive Grenze mehr hatte“ (Makropoulos: Modernität als Kontingenzkultur, S. 70). Ebenso führt er auch die Kritik der Klassischen Moderne an der Modernität an als eine „bodenlose[ ] Kontingenz“, als „Zusammenbruch einer ganzen Welt, als vollendeter Ordnungs- und Wirklichkeitsschwund“ (ebd., S. 75 f.). 193 Oder auch als Metapher für ergebnisloses wissenschaftliches Handeln, vgl. Martin S. Kramer: Ivory towers on sand. The failure of Middle Eastern studies in America, Washington, DC: Washington Institute for Near East Policy 2001. 194 Frederick W. Marks: Wind over Sand. The Diplomacy of Franklin Roosevelt, Athen 1988.

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Die amerikanischen „Europa“-Pläne nach 1945195 oder Ropes of Sand. America’s Failure in the Middle East,196 wobei die Metapher keinen Unterschied zwischen den politischen Motivationen macht, auf die sie anspielt: Auch Hitlers Gewaltpolitik in Russland 1941–1944 wird als ein Haus auf Sand gebaut betrachtet.197 Alle diese Titel beziehen sich auf Grundlegungsversuche in den Beziehungen zu anderen Ländern; aber auch das politische Vorgehen in Bezug auf das eigene Land kann als grundlos gelten. Dies zeigt sich in Titeln wie Walls built on sand. Migration, Exclusion, and Society in Kuwait198 oder Im Treibsand; letzterer ist die Überschrift über einen Artikel in der Süddeutschen Zeitung, der polemisiert, dass die Demokratie in Deutschland derzeit nicht mehr als einen sandigen Grund darstelle, weil man nicht in der Lage sei, neue Herausforderungen wie die Erderwärmung, die Bildungskrise oder die Kinderarmut zu meistern: „Denn was die Demokratie zur Zeit geradezu kultiviert, das sind Lernblockaden […]. Statt Motor der Geschichte zu bleiben, droht sie der Treibsand zu werden.“199 Im politischen Diskurs wird also die Kontingenz von Entscheidungen durch die Sandmetapher thematisiert, indem sie die schlechte Be- und Gegründetheit von Entscheidungen im metaphorischen Sinne anspricht und gerade von solchen, die Auswirkungen auf die tatsächlichen Gründe und Begründungen von Staaten haben. Die Virtualitätsperspektive setzt hierbei die Gründe – das Fundament für weitere Planungen – auf zweierlei Weise kontingent. Die Formulierung ‚auf Sand gebaut‘ bekräftigt, dass falsch getroffene Entscheidungen besser anders getroffen worden wären oder dass anstehende Entscheidungen voraussichtlich nicht lange ‚halten‘, weil schon die Rahmenbedingungen für diese Entscheidungen nicht stabil sind. In beiden Fällen verweist Sand auf die Kontingenz der die Staaten betreffenden Begründungen oder sogar der staatlichen Gründe. Auch Entscheidungen sind eine Form der Situierung durch rigide Kopplung. Diese können auch – z. B. durch neue Informationen – im Medium des Entscheidungsraums aufgelöst wer-

195 Siegfried Welz: Auf Sand gebaut. Die amerikanischen „Europa“-Pläne nach 1945, Burgscheidungen 1963. 196 Wilbur Crane Eveland: Ropes of Sand. America’s Failure in the Middle East, London: Norton 1980. 197 Gerald Reitlinger: Ein Haus auf Sand gebaut. Hitlers Gewaltpolitik in Russland 1941–1944, Hamburg: Rütten & Loenig 1962. 198 Anh Nga Longva: Walls built on sand. Migration, Exclusion, and Society in Kuwait, Boulder, Col.: Westview 1997. 199 Andreas Zielcke: Im Treibsand. Trotz guter Verfassung: Die Demokratie stellt sich dumm, in: Süddeutsche Zeitung 116 (22.05.2009), S. 13.

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den, das heißt im Horizont aller möglichen anderen Entscheidungen in dieser Situation. 3.4.1.3 Virtualisierung als Problematisierung von Gründen Indem aus der Perspektive der Virtualität Stellen (und nicht Objekte) als kontingent betrachtet werden, wird die Fähigkeit des Mediums problematisiert, überhaupt rigide Kopplungen zu ermöglichen. Wenn Stellen (Gründe) immer auch anders sein könnten, dann sind die Objekte, die sich auf ihnen befinden (bzw. ist alles, was durch die Gründe existiert), ständig der Auflösung ausgesetzt. Das Medium selbst wird in seiner eigenen Form virtualisiert: Es ist nicht mehr nur Medium für die Problematisierung von Formen, sondern es ist selbst ein problematisches Feld geworden. Wie in Kapitel 2.1 beschrieben, führen Betrachtungen aus der Perspektive der Virtualität zu Problematisierungen. Die Problematisierung von Gründen richtet sich spezifisch auf die Auflösung stabiler Raumstellen – auf die fundamentale Instabilität eines Mediums. Eine solche Problematisierung findet sich in Stefan Heyms Ahasver, insofern die Ordnung Gottes, als ein Medium, in dem sich kulturelle Formen bilden und auflösen können, als tragfähiger Grund zur Disposition gestellt wird. Der Rebell Ahasver hat Zweifel an der Güte von Gottes Ordnung; er stellt die Frage, wer nun wem ähnlich sei: Gott dem Menschen oder der Mensch Gott: „Es ist ein Widerspruch, o HErr, sagte ich, ein Loch in deiner Ordnung, aus welchem der Sand rieselt.“200 Der Zweifel resultiert aus dem Widerspruch in Gottes Ordnung, die sich als ein loser ‚Grund‘ erweist. „Gottes Ordnung“ wird zwar auch als räumliches Konstrukt gedacht, weil sich in ihr ein „Loch“ befinden kann, „aus welchem der Sand rieselt“; gleichwohl ist die metaphorische Verbindung von Gott als ‚Grund‘ und dem Boden als Grund weit gespannt. Ihre mühelose Verknüpfung funktioniert nur, weil Gott als ‚Grund‘ seit der mittelhochdeutschen Mystik des vierzehnten und fünfzehnten Jahrhunderts fest ins metaphorische Inventar gerückt ist. In der mystischen Vorstellung ist der „grunt der seele“201 das Geistige im Wesen des Menschen; grunt wird zu einer „Metapher für Gott“.202 Johannes Tauler bringt dann erstmals zwei neue Aspekte des Begriffs ein, und zwar zum einen den grunt als Ort in der Seele203 und zum anderen die Bedeutungsverschiebung

200 Stefan Heym: Ahasver. Roman, Frankfurt/M.: Fischer-Taschenbuch-Verlag 1983, S. 100. 201 Bendszeit: Grund, Sp. 902 f. 202 Ebd., Sp. 902. Vgl. hierzu auch die alte, aber ‚grundlegende‘ Arbeit von Hermann Kunisch: Das Wort ‚Grund‘ in der Sprache der deutschen Mystik des 14. und 15. Jahrhunderts, Osnabrück 1929. 203 Vgl. Bendszeit: Grund, Sp. 903.

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von grunt zu causa, indem er mit der Formulierung „sobeschaffener grunt“ deutlich macht, dass sich das sittliche Verhalten nach dem grunt richtet, er also als Beweggrund die Bewegung des Willens antreibt.204 Die Beschaffenheit dieses Ortes in der Seele ist entscheidend für das, was aus ihm resultiert. Diese beiden Bedeutungen vom Grund – der Grund als Ort und der Grund als Beweggrund – nimmt Jakob Böhme auf, indem auch bei ihm Gott das unanfängliche Eine ist, aus dem alle Entwicklung ihren Ursprung nimmt; gleichzeitig ist bei ihm aber Gott ein unergründlicher Gott, ein Un-Grund, „tiefer als sich ein Gedanke schwingen mag; er ist die Unendlichkeit“,205 womit nicht Gott als Grund in Frage gestellt, sondern die eingeschränkte Sicht des Menschen hervorgehoben wird, der die Gründe Gottes nicht zu erkennen vermag. Die Ordnung Gottes ist demnach ein traditionell tragfähiger Grund. Rieselt aus ihr nun, wie in Ahasver, der Sand, wird ihre Stabilität in Frage gestellt und die Situierung von Gott als Grund steht zur Disposition. Der Zweifel Ahasvers greift die Vorstellung von Gott als Lebensfundament auf, problematisiert sie aber durch den Zweifel als alternativhaft – also als kontingent. Ahasvers Widerrede ist zudem invers zur Bergpredigt aufgebaut: Auf Gott ist nicht wie auf Felsen zu bauen; er taugt angesichts seiner Schöpfung, die aus Sand ist, nicht als grunt. In Ahasver wird damit die Stabilität von Gott als festem Grund ‚grund‘sätzlich in Frage gestellt. Bei aller Verschiedenheit ist den Gründen, die virtualisiert werden, gemeinsam, dass sie durch die Metapher Sand als lose ausgestellt werden. ‚Lose Gründe‘ werden immer dort gesehen, wo Situierungen als unhaltbar erscheinen, wo sie kontingent gesetzt und damit problematisiert werden. Dies sind im Rahmen der Sandmetapher immer Situierungen (Ausgangs- und Zielpunkte), die allzu schnell auflösbar sind oder die, weil sie das falsche Fundament bieten, aufgelöst werden müssen. Dies kann alles Mögliche sein wie etwa metaphysische Konzepte, die Motivierung durch Geld oder ein bestimmtes politisches Handeln – und vieles mehr.206 Dass die Auflösung fester Gründe perspektiviert wird, zeigt sich besonders in der Wendung vom Haus, das auf Sand gebaut ist. Die Virtualisierung aktueller Lösungen führt zu Desituierung und lässt komplexe ‚Situationen‘ entstehen.

204 Vgl. ebd., Sp. 904. 205 J. Böhme, zit. n. ebd., Sp. 905. 206 Vgl. etwa den Überblick über virtualisierbare Kulturformen bei Lévy: Qu’est-ce que le virtuel?.

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3.4.2 Haus auf Sand gebaut Das Aufeinandertreffen metaphorischer Selbstverständlichkeiten macht die Wendung vom Haus, das auf Sand gebaut ist, sehr eindrücklich. Stabiles trifft auf Instabiles. Durch die metonymische Nähe fügt sich die Metapher ‚Haus‘ wie selbstverständlich in die Metaphorik von ‚Grund‘ und ‚Sand‘ ein: Ein Haus steht immer auf einem Grund, und es liegt im Interesse einer langfristig zu garantierenden Statik, dass dieser Grund stabil ist und nicht, wie im Fall von Sand, lose. Ein Haus hat dabei einen doppelten Bezug zum Grund. Ein Haus braucht einen „Hausgrund“, d. h. einen Boden oder ein Grundstück, auf dem es steht.207 Darüber hinaus ist ein Haus ein Grund, wenn es selbst ein Fundament für etwas anderes ist, ein ‚Unten‘, auf dem aufgebaut wird und Ausgangs- und Zielpunkt sein kann, oder ein ‚Dahinter‘, in Bezug auf welches man sich ausrichtet. Wenn eine Existenzbegründung virtualisiert wird, so kann dies daher ebenso durch ein Haus modelliert werden, das auf Sand gebaut ist, wie durch ein Haus, das aus Sand besteht. Der Fokus auf das, was virtualisiert wird, liegt hier etwas verschieden: mal auf dem Fundament des Hauses und mal auf dem Haus als Fundament. Das Haus auf und aus Sand sind jedoch zwei Varianten desselben Problems, weil es immer um ein – so oder so – lose fundiertes Haus geht, das zwar einen Grund bietet, aber keinen festen. Es ist immer eine instabile Raumstelle. Der Begriff ‚Haus‘ steht, solange er nicht mit Sand in Verbindung gebracht wird, für Schutz und Stabilität. Ein Haus ist, etwa im Gegensatz zum Zelt, ein festes Gebäude, es hat „den allgemeinsten sinn eines mittels zum bergen, eines unterschlupfs“, es ist „allgemein jedes menschlicher wohnung, unterkunft und beschäftigung dienende gebäude.“208 Ein Haus ist eine materielle und organisatorische Einheit.209 Gab es vor der Neuzeit noch keine Trennung von öffentlichem und privatem Bereich, konzentriert sich der Begriff spätestens ab dem Anfang des neunzehnten Jahrhunderts mit der bürgerlichen Hausideologie auf das private Eigene.210 Das Haus ist nun ein „unterschlupf“ auch insofern, als es einen

207 „Hausgrund m. unabtrennbares Grundstück, das mit dem Hause auf dem nämlichen, unabgeteilten Grundbuchblatt steht.“ (NN: Hausgrund, in: Deutsches Rechtswörterbuch, Bd. V, Heft 1, Weimar: Hermann Böhlau Nachfolger 1953, Sp. 419) 208 Jakob und Wilhelm Grimm: Haus, in: Dies.: Deutsches Wörterbuch, Nachdruck München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1984 [1935], Sp. 640–651, hier Sp. 640 f. 209 Das Haus folgt etwa bei Aristoteles noch der allgemeinen Ökonomik zwischen Ethik und Politik oder kann bei Luther nicht nur die Wohnstätte, sondern auch Gefolgschaft und Volk meinen. Vgl. Günther Bien/Hannah Rabe: Haus, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. v. Joachim Ritter u. Karlfried Gründer, Bd. 3, Darmstadt: WBG 1974, Sp. 1007–1020, hier Sp. 1007. 210 Vgl. Bien/Rabe: Haus, Sp. 1017 f.

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sicheren Besitz darstellt, auf den die Staatsmacht keinen Zugriff hat.211 In Zuspitzung dieser Ideologie wird der Hausherr zur naturgesetzlichen Autorität erklärt und dessen Familie zur Erweiterung seiner Individualität. Das Haus als Einheit unter einem Dach bietet also Sicherheit nicht nur vor Wind und Wetter, sondern auch vor ungünstigen Einwirkungen des Staates. Es bildet nun Grenzen nach allen Seiten aus – nach oben, unten und in seiner Ausdehnung – als Setzungen, Definitionen, Situierungen. Dadurch wird es zu einem festen, stabilen Ort, zum eigenen Standort, zum Ausgangs- und Zielpunkt für Aktivitäten der Familie. Ich schlage vor, das ‚Haus‘ in der Formel vom ‚Haus auf Sand gebaut‘ als philosophische Metapher zu verstehen, die Konzepte reflektiert, die nicht tragen. Sand verweist auf die Virtualisierung dieser Konzepte, die nicht (mehr) als fest gelten können oder sollen und auf diese Weise keine stabile Situierung (mehr) darstellen. Ein Konzept wird als ‚Grund‘ durch Kontingentsetzung virtualisiert, indem der Blick auf das mögliche Anderssein des ‚Hauses‘ gerichtet wird, das auf ‚Sand‘ gebaut ist, und es wird dadurch problematisiert. Ein ‚Haus‘ ist dabei in zwei Hinsichten virtualisierbar. Es kann zunächst potentiell eine stabile Situierung, ein Ort, ein Rahmen, eine Definition und damit eine Abgrenzung von außen sein und damit als an sich fester Ort verstanden werden, der nur unter bestimmten Umständen als ein solcher problematisch geworden ist. Es entsteht damit lediglich ein einfacher Gegensatz zwischen einem Haus als festem Standort und einem Haus, das diesen festen Standort unüblicherweise nicht bietet. Bei einem Haus auf Sand oder einem Haus aus Sand ist die Festigkeit aufgelöst, die Häuser haben sollen. Gerade das, was einen Grund darstellen soll (das Haus), ist dann als Grund virtuell (es ist aus Sand oder auf Sand gebaut). Der Inbegriff dessen, was das Fundament für die eigene „planmäßige Gestaltung“ ist, ist lose gegründet. Der sichere Standort, von dem aus man ausgehen und zu dem man zurückkehren kann, existiert nicht, vielmehr ist ein Haus auf Sand nicht befestigt. Es ist lose, es ist kein sicherer Ort, es hat keine definierten Grenzen, es ist nicht fest, und es ist alles in allem keine stabile Existenzgrundlage. Das kann als Befreiung oder als Bedrohung wahrgenommen werden. Fraglos bedrohlich wird das Haus, das auf Sand gebaut wird, in der Bergpredigt dargestellt, in der durch die Metapher des festgegründeten Hauses auch ihre eigene Wirkung fundiert werden soll: Jeder nun, der diese meine Worte hört und sie tut, ist einem klugen Manne zu vergleichen, der sein Haus auf den Felsen baute. Und der Platzregen fiel und die Wasserströme

211 So propagiert v. a. Johann Gottlieb Fichte, der im Haus eine naturrechtliche Habe und ein „absolutes Eigentum“ erblickt (zit. n. Bien/Rabe: Haus, Sp. 1018).

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kamen und die Winde wehten und stiessen an jenes Haus, und es fiel nicht ein, denn es war auf den Felsen gegründet. Und jeder, der diese meine Worte hört und sie nicht tut, ist einem törichten Manne zu vergleichen, der sein Haus auf den Sand baute. Und der Platzregen fiel und die Wasserströme kamen und die Winde wehten und stiessen an jenes Haus, und es fiel ein, und sein Fall war gross.212

Anders als in dieser Version der Bergpredigt nach Matthäus wird in der Bergpredigt im Lukasevangelium der Anteil der eigenen Arbeit stärker betont. Der, „der beim Bau eines Hauses tief grub und die Grundmauer auf dem Felsen errichtete“, wird dem entgegengesetzt, „der ein Haus ohne Grundmauer auf das Erdreich baute“.213 Bei Matthäus wird der ‚richtige‘ Grund und bei Lukas die ‚gründliche‘ Arbeit – dessen, der „tief grub“, – betont; in beiden Fällen ist jedoch Gott der Grund und die Antwort auf die Frage nach dem richtigen Handeln, so wie es im bekannten Lied von Georg Neumark heißt: „Wer nur den Lieben Gott lässt walten und hoffet auf ihn alle Zeit […], wer Gott dem Allerhöchsten traut, der hat auf keinen Sand gebaut.“214 Der Fels steht für Stabilität, der Sand dagegen für die instabile Gründung eigenen Handelns. „[A]uf Sand bauen“ ist als Metapher die „Umschreibung für unsichere, unsolide Aktivitäten“.215 Der Fels metaphorisiert hingegen als monolithischer Block einen Grund, der schwerer virtualisierbar ist als ein Grund aus Sand. Während in diesem Fall ‚Haus‘ als Begriff einer festen Form (des Hauses) in Opposition zu einer hochauflösenden Form (dem Haus auf Sand gebaut) gesetzt wird, gibt es auch Fälle, in denen das Haus als Idee vom festen Ort und stabiler Einheit ganz aufgelöst wird. Schon die Idee vom ‚Haus‘ wird dann kontingent gesetzt und zu einem Problem: Das Haus wird bis zur ‚Hauslosigkeit‘ virtualisiert. Dies geschieht um 1900, wo der bürgerliche Begriff des Hauses als „Grundfeste“, als „bollwerk“ und „Sitz des Familienvaters“ als Ideologie im Sinne Friedrich Engels in Frage gestellt und ihm das Bild sozialistischer Großfamilien mit Anschluss an das öffentliche Leben entgegengesetzt wird.216 Der angestammte „Sitz“, die Situierung des Familienvaters als Hausherr, wird dann nicht mehr als stabil vorausgesetzt, sondern im Gegenteil destabilisiert.

212 Matthäus 7, 24–27. 213 Lukas 6, 47–49. 214 Georg Neumark: Wer nur den lieben Gott lässt walten [um 1641], in: Ders.: Fortgepflantzter musikalisch-poetischer Lustwald, Jena 1657. 215 Kurt Böttcher u. a.: Geflügelte Worte. Zitate, Sentenzen und Begriffe in ihrem geschichtlichen Zusammenhang, Leipzig 31984, S. 137. 216 Vgl. Bien/Rabe: Haus, Sp. 1018 f.

3.4 Lose Gründe: Auflösung von Situierungen

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Gegenwärtig argumentiert Vilém Flusser in diesem Sinne in seinem kurzen Text „Häuser bauen“.217 Er entwickelt hierin die These, es gebe ein „neues Unbehaustsein“,218 ‚unbehaust‘ als ‚obdachlos‘ verstehend, als einen Zustand, in dem wir im weitesten Sinne ‚ohne Dach‘ auskommen müssen. Entscheidend ist, dass das Dach als „die Grenze zwischen dem Hoheitsbereich der Gesetze und dem Privatraum des untertänigen Subjektes“ verstanden wird219 und sein Wegfall, die Entfernung der Grenze, durch uns selbst erfolgt, denn wir „glauben nicht mehr an uns aufgesetzte Gesetze, seien sie transzendent oder natürlich. Wir glauben eher, daß wir selbst die Gesetze projizieren.“220 Weitere Grenzziehungen durch Mauern, diesen „Verteidigungsanlagen gegen außen“,221 fallen ebenfalls weg durch die Löcher in den Grenzen, die sie passierbar machen, durch Fenster und Türen. Das Haus ist zwar auch bei Flusser ein Grund, von dem man ausgeht: „Türen sind Mauerlöcher zum Ein- und Ausgehen. Man geht aus, um die Welt zu erfahren“; der Kontakt mit der Welt draußen führt jedoch zu Selbstverlust, die Rückkehr stellt sich im Versuch, sich zu Hause „wiederzufinden“, als Scheitern dar, und man verliert überdies noch die Welt, „die man erobern wollte.“222 Wenn die Welt, die man und in der man sich zu verlieren droht, nicht mehr „außen vor“ bleibt, sondern in den Ort des Hauses eintritt, verwischen die Grenzen, die das Haus als Grund zu einem sicheren Standort machten. Diese spezifische Art der Grenzauflösung transformiert das Haus als Idee in einen losen Grund. In Flussers Text sind weder die Oben/Unten-Differenz noch die Außen/Innen-Differenz stabil, die Grenzen sind aufgelöst und das „heile Haus“ ist durch verschiedene mediale ‚Einbrüche‘ zerstört: Dach, Mauer Fenster und Tür sind in der Gegenwart nicht mehr operationell, und das erklärt, warum wir beginnen, uns unbehaust zu fühlen. […] Das heile Haus mit Dach, Mauer, Fenster und Tür gibt es nur noch in Märchenbüchern. Materielle und immaterielle Kabel haben es wie einen Emmentaler durchlöchert: auf dem Dach die Antenne, durch die Mauer der Telefondraht, statt Fenster das Fernsehen, und statt Tür die Garage mit dem Auto. Das heile Haus wurde zur Ruine, durch deren Risse der Wind der Kommunikation bläst.223

217 Vilém Flusser: Häuser bauen, in: Ders.: Häuser bauen, Frankfurt/M.: Fischer-Taschenbuch-Verlag 1997, S. 160–182. 218 Ebd., S. 160. 219 Ebd. 220 Ebd., S. 160 f. 221 Ebd., S. 161. 222 Ebd., S. 160. 223 Ebd., S. 162.

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Flussers Gestus ist hier wie schon in seinem Text „Lob der Oberfläche“ visionär; sein Konzept vom Haus in Auflösung funktioniert analog zum dortigen Modell des „Punkte-Universums“: als Haus ohne „Boden“, ohne „Rückhalt“, das Haus nicht mehr als künstliche Höhle, sondern als Krümmung des Feldes der zwischenmenschlichen Relationen. […] So hat das neue Haus auszusehen: wie eine Krümmung im zwischenmenschlichen Feld, wohin Beziehungen ‚angezogen‘ werden. So ein attraktives Haus hätte diese Beziehungen einzusammeln, sie zu Informationen zu prozessieren, diese zu lagern und weiterzugeben. Ein schöpferisches Haus als Knoten des zwischenmenschlichen Netzes. […] Eine dach- und mauerlose Architektur, die weltweit offenstünde […], würde das Dasein verändern. Die Leute könnten sich nirgends mehr ducken, sie hätten weder Boden noch Rückhalt. Es bliebe ihnen nichts übrig, als einander die Hände zu reichen. […] Dafür aber würden diese einander offenen Häuser einen bisher unvorstellbaren Reichtum an Projekten erzeugen. Es wären netzartig geschaltete Projektoren für alle Menschen gemeinsame alternative Welten. So ein Häuserbau wäre ein gefährliches Abenteuer. Weniger gefährlich jedoch als das Verharren in den gegenwärtigen Häuserruinen. Das Erdbeben, dessen Zeugen wir sind, zwingt uns, das Abenteuer zu wagen. Sollte es gelingen […], dann würden wir wieder wohnen können.224

Geht es in der Bergpredigt um die Differenz von stabil stehenden und instabil situierten Häusern, wird hier ein jedes Haus, wird das Konzept ‚Haus‘ instabil. Das Haus wird als Raumstelle lose, es wird ‚von Grund auf‘ einem „Erdbeben“ und dessen Kontingenzen ausgesetzt: als Ort, dessen Grenzen undefiniert sind und der kein haltbares Fundament hat. Kurz: Das Konzept von ‚Haus‘ wird bis hin zur Hauslosigkeit virtualisiert, bis zum losen Grund seiner selbst. Aktualisierungen (Grenzziehungen) fallen weg; stattdessen entstehen Probleme: Wie können wir wohnen, wenn wir die bisherigen Häuser als feste Gründe aufgelöst haben? Verschiedene literarische Texte arbeiten dieses spezifische Verhältnis von fest geglaubtem und sich auflösendem Ort aus wie die Erzählung Auf Sand gebaut (1990) von Stefan Heym, der Roman House of sand and fog (1999) von André Dubus III, der Roman Suna no onna (Die Frau in den Dünen) (1962) von Kobo Abe sowie der Film Casa de Areia (2005) von Andrucha Waddington. An ihnen kann verfolgt werden, was geschieht, wenn ein Haus, anders als andere Häuser, auf Sand gebaut ist (Heym, Dubus III, Waddington), wenn also ein spezifisches ‚Haus‘ als Grund aufgelöst wird. Ebenso wird überlegt, was es bedeutet, wenn es überhaupt keine stabilen Häuser (mehr) gibt, in denen man wohnen kann (Abe), wenn also – wie bei Flusser – das Konzept vom Haus als Grund ganz aufgelöst wird. Ich werde bei der Lektüre dieser Texte den Gedanken verfolgen, dass ein Haus, das auf Sand gebaut ist, in der einen oder anderen Hinsicht als

224 Ebd., S. 162 f.

3.4 Lose Gründe: Auflösung von Situierungen

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Grund virtualisiert wird. Ist ein Haus „auf Sand gebaut“, so ist ihm seine eigene Auflösung immer schon zum Zeitpunkt seiner Formbildung ‚eingebaut‘; es ist als Grund immer schon kontingent gesetzt. Die Entscheidungen, die zur Bewertung des Hauses als festem Fundament geführt haben, werden in Frage gestellt, und das Haus wird als fester Standort, als Fundament für eine „planmäßige Gestaltung“, problematisch. Betrachtet man das Haus als Medium (oder Raumstelle), wird dieses, wenn das Haus ‚auf Sand gebaut‘ ist, instabil. Dies bedeutet eine Desituierung nicht nur der Häuser, die nicht an dieser Raumstelle bleiben können, sondern auch des Konzepts vom Haus, insofern es selbst als feste Situierung (Raumstelle) verstanden wird. In beiden Fällen löst sich das Haus als Grund auf, was zum „Verlust des ‚angestammten Platzes‘“ führt – eine weitere Formulierung, mit der Luhmann die Auflösung der Formdifferenzen erläutert.225 Ich werde im Folgenden die vier genannten Texte in Bezug auf dieses spezifische Verhältnis von Haus und losem Grund lesen, wobei ich sie als Problemaufrisse auffasse, als verschiedene Entwürfe eines problematischen Feldes, in dem sich stabile Situierungen auflösen. Die Virtualisierung ist indessen nie ein einfacher Schritt von einem Zustand A (Form) in einen Zustand B (aufgelöste Form), sondern immer ein Prozess, in dem die Formbildung nicht einfach aussetzt, wenn sich Formen aufgelöst haben. Neue Formen bilden sich vielmehr im Medium im Zuge der Auflösung bestehender Formen, sodass weder die Virtualisierung noch die Bildung von Formen ein Ende finden kann. Aus diesem Grund ist es auch für die folgenden Analysen interessant, die Texte danach zu unterscheiden, an welcher Stelle sie im medialen Prozess der Formauflösung und -bildung ihr narratives Ende finden. Es gibt signifikante Unterschiede in der Art des Ausschnitts, den die Texte jeweils aus diesem Prozess zeigen. Bei Heym und Dubus III befinden sich die Figuren am Ende der Narration in einer gänzlich auflösten Situation, gleichsam mitten im problematischen Feld, mitten in der Virtualität ihrer eigenen Lebensgrundlagen. Die Differentiation, der ungelöste Zustand, der das Problematische der Virtualität kennzeichnet, fällt mit dem diegetischen Ende zusammen: Die Figuren sind am Schluss der Narration ‚unbehaust‘. Bei Abe und Waddington gibt es dagegen am narrativen Ende den Ansatz einer Problemlösung, den An-

225 „Raum und Zeit werden erzeugt dadurch, daß Stellen unabhängig von den Objekten identifiziert werden können, die sie jeweils besetzen. Dies gilt auch für den Fall, daß ein Verlust des ‚angestammten Platzes’ mit der Zerstörung des Objektes (aber eben nicht: der Stelle!) verbunden wäre. Stellendifferenzen markieren das Medium, Objektdifferenzen die Formen des Mediums. Stellen sind anders, aber keineswegs beliebig, gekoppelt als Objekte.“ (Luhmann: Medium und Form, KdG, S. 180)

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fang einer neuen Aktualisierung und eine neue Situierungsmöglichkeit, indem jeweils von Entscheidungen erzählt wird, die eine Neudifferenzierung nach sich ziehen und damit auch den Beginn einer neuen Formbildung. 3.4.2.1 Stefan Heym: Auf Sand gebaut In Stefan Heyms Erzählung Auf Sand gebaut wird ein Konzept von ‚Haus‘ entworfen, das es als festen Standort im Sinne des Bibelzitates begreift. Der Text deutet das Zitat nicht nur im Titel an, sondern es eröffnet als Motto auch die gleichnamige Erzählsammlung, in der er erscheint.226 Deren Geschichten beziehen sich alle auf die deutsche Nachwendezeit, in der sich der sozialistische Staat der DDR aufgelöst hat. Die Erzählung Auf Sand gebaut handelt von einem Ehepaar, das sein zu DDR-Zeiten gekauftes und durch Beziehungen erworbenes Haus als Grund verliert. Es zeigt sich, dass die Informationen, die zur Entscheidung des Kaufs geführt haben, nach der Wiedervereinigung mit der BRD keinen Bestand mehr haben. Der Besitzanspruch des Hauses wird zunehmend problematisch: Es wird als ‚Grund‘ virtualisiert, indem das Problem eröffnet wird, wem das Haus überhaupt gehört. Die Desituierung des Ehepaars, das sich ein Haus „auf Sand gebaut“ hat, vollzieht sich im Text in vier Stadien. Zu Beginn wird deutlich, wie fest dieses Ehepaar, der Ich-Erzähler Bodelschwingh und seine Frau Elisabeth, daran glaubt, sich mit dem damaligen Kauf ihres Hauses eine stabile Lebensgrundlage geschaffen zu haben: „Richtig froh sein können wir“, fährt Elisabeth fort, „daß wir das Haus gekauft haben von der Kommunalen Wohnungsverwaltung, als keiner noch an dergleichen dachte, und für 35000 Ost, ein Klacks, nicht lange und das Haus wird eine halbe Million wert sein, wenn nicht eine ganze […]; aber Besitz ist Besitz, den kann keiner antasten, jetzt nicht und später ebensowenig.“ (34)

Besitz ist für beide ein fester Grund, auf den man bauen, auf den man sich verlassen kann. „Besitz ist Besitz“: das „ist“ pocht auf die aktuelle Version, es setzt ein Gleichzeichen zwischen dem, was Bodelschwinghs haben, und dem, was der Grund dafür ist: Ihr Besitz ist darauf gegründet, dass sie ihn besitzen. Das „ist“ ist eine Gleich- und eine Festsetzung. In dem Glaubenssatz ‚Was wir haben, das haben wir‘ ist keine Kontingenz und damit auch kein Problem enthalten, und so versucht Elisabeth mit ihrem „ist“ auch, jede Kontingenzsetzung

226 Stefan Heym: Auf Sand gebaut, in: Ders.: Auf Sand gebaut. Sieben Geschichten aus der unmittelbaren Vergangenheit, München 31990, S. 34–57. Die Seitenangaben in Klammern in diesem Kapitel beziehen sich auf diesen Text.

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eines „wäre“ oder „würde“ auszuschließen, möglicherweise in dem Bemühen, verbal etwas zu sistieren, was faktisch gar nicht so sicher ist. Dass diesem aktuellen Zustand die Kontingentsetzung droht, zeigt sich – und dies läutet ein zweites Stadium ein –, als, in Begleitung eines Liegenschaftsberaters, der Sohn des vorherigen Besitzers, Elmar Prottwedel, klingelt, der sich sogleich in dem Haus bewegt, „als ob es ihm gehörte“ (36). In diesem Moment werden erstmals die Grenzen von Bodelschwinghs Haus perforiert, indem andere Definitionsmöglichkeiten – in Gestalt des Vorbesitzersohns – in es eintreten, und es ergibt sich eine konflikthafte Konstellation. Während sich diese beiden Besucher „wie Eroberer“ (38) benehmen, das Wort „Wiederinbesitznahme“ wie beiläufig fallen lassen und die bestehenden Eigentumsverhältnisse mit der Begründung in Frage stellen, dass die Eltern Prottwedels vom DDR-Regime enteignet worden seien, pocht Elisabeth ihrerseits auf den eigenen Kaufvertrag samt entsprechendem Grundbucheintrag. Der ‚Grund‘ des Hauses erscheint damit semantisch an der Textoberfläche, und gerade daran, dass der Grundbucheintrag den Besitz dokumentieren soll, zeigt sich, dass dessen ‚Grund‘ lose ist. Die Besitzverhältnisse waren nämlich zum Zeitpunkt des Erwerbs nicht geklärt, auch wenn Bodelschwinghs das nicht wussten oder wissen wollten. Aus der vermeintlich unverrückbaren Aktualität des Präsens Indikativ im Satz „Besitz ist Besitz“ wird nun eine Kontingenz in einer konjunktivischen Vergangenheit oder Zukunft: Besitz wäre Besitz gewesen oder Besitz würde Besitz werden: Der aktuelle Zustand wird in die Vergangenheit oder in die Zukunft hinein kontingent gesetzt und die Stabilität des Grundes in Frage gestellt. Es wird gleichsam an den rigiden Kopplungen gerüttelt. Die Besucher gehen, um die Besitzrechte weiter zu klären, aber das Ehepaar Bodelschwingh bleibt – und dies markiert das dritte Stadium –, obwohl sie der entstandenen Ungewissheit mit Selbstversicherungen zu trotzen suchen, in einem Zustand gesteigerter Wachsamkeit und nervösen Wartens zurück. Von einem Moment auf den anderen ist ihnen die Sicherheit ihres Lebensplans abhandengekommen, und sie reagieren schon auf die geringste Unregelmäßigkeit beunruhigt: Es hat uns aufgeweckt mitten in der Nacht, […] man fängt an nachzudenken: das kann doch nicht wahr sein, denkt man, die ganze Zeit ging das Leben seinen Gang, und nun auf einmal stürzt zusammen, was für die Ewigkeit schien, und wenn nicht für die Ewigkeit, dann doch für beträchtliche Fristen; aber immerhin stand noch das Haus und gehörte uns, ein Dach war da, unter das man kriechen konnte. (43)

Ein Schwebezustand ist etabliert zwischen dem noch existentem „Dach, unter das man kriechen konnte“, und dem drohenden Einsturz, ein Zustand, in dem die Entscheidung offenbleibt, ob eine neue Entscheidung ansteht oder ob alles

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beim Alten bleibt. Es gibt nun nicht mehr nur noch eine, sondern mehrere Möglichkeiten, wie der Besitz zu begründen ist, und dadurch wird er kontingent gesetzt: Es muss neu entschieden werden. Der vorige Zustand ist problematisiert und damit virtualisiert worden, aber es ist gibt noch keine Problemlösung, weil zunächst zu klären ist, welche der möglichen Begründungen gelten soll. Kompliziert wird dieser schon verunsicherte Zustand durch eine weitere mögliche Variante der Problemlösung, deren Gründe noch tiefer in die Vergangenheit zurückreichen. Statt Prottwedels klingelt nämlich einige Zeit später eine Frau, Eva Rothmund, mit deren Ankunft das vierte und letzte Stadium der Destabilisierung im Wortsinn ‚eingeläutet‘ ist. Sie stellt sich ihrerseits als Erbin ihres Großvaters Siegfried Rothmund vor, dem dieses Haus gehörte, bevor er 1936 von SS-Sturmführer Dietmar Prottwedel enteignet wurde. Die Fakten und Dokumente über die Unrechtmäßigkeit der Hausübernahme sind eindeutig, das Haus gehört ihr. Elisabeth bleibt schließlich nur, die doppeldeutige, aber in dieser Doppeldeutigkeit präzise Frage nach dem eigenen Standpunkt und der eigenen Lebensgrundlage zu stellen: „‚Aber wo stehen wir dann?‘“ (48) Wo man selbst ‚steht‘, ist nach der Logik der Erzählung eine Frage, die sich früher oder später notwendig stellt, wenn ein Haus „auf Sand gebaut“ ist, denn der eine Grund (der Hauskauf zu DDR-Zeiten) löst sich in eine Konstellation auf, in der förmlich in der Geschichte immer tiefer gegraben wird bis zu jenem Punkt, an dem der Boden ‚fest‘ wird (der Hausbesitz vor der unrechtmäßigen Enteignung). Die Erzählung thematisiert damit die ethische, politische und dadurch auch soziale Instabilität innerhalb von Systemen, in denen Grund-Rechte nicht gelten. Die Sicherheit des Hausbesitzes, die innerhalb des totalitären Systems gegolten haben mochte, hat nach dessen Fall keinen Bestand, weil diese Sicherheit nachträglich bei keiner Instanz eingefordert werden kann. Die Klage Elisabeths – „Aber sie müssen doch auch an uns denken, Frau Rothmund!“ (48) – resultiert daraus, dass Elisabeth die alte Orientierung über ihren Standpunkt verloren hat, richtet sich aber an die falsche Adresse. Familie Rothmund ist die erste in der Kette, die enteignet wurde, hier begann der Grund ins ‚Rutschen‘ zu geraten, und wer in diesem Verrutschungsprozess involviert ist, verliert seinen festen Standort. Der jeweilige Systemwechsel sowie das Bedachtsein auf den eigenen Vorteil stellen daher einen losen Grund nicht nur als Ausgangspunkt für Bodelschwinghs Hausbesitz dar, weil das Haus durch die Nazis enteignet wurde, sondern auch als Ziel für dessen Verlust, weil sie aus eigenem Interesse nicht danach gefragt haben, was für eine Geschichte das Haus hat, und es nach der deutsch-deutschen Wiedervereinigung zurückgeben müssen. Das Haus bot für Bodelschwinghs daher nicht keinen Grund, sondern es stellte für sie vielmehr durch die lose Gültigkeit der Aneignungsvorgänge einen losen Grund dar: Es war auf Sand gebaut.

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Der Name „Bodelschwingh“ verweist zusätzlich auf eine lose Verortung, da „keinerlei verwandtschaftliche Verbindung besteht“ zwischen dem „berühmte[n] Pastor“ und dem Ich-Erzähler (35 f.). Zugleich steht der Name des Pastors selbst für einen losen Grund im Sinne des Textes, weil Friedrich von Bodelschwingh zwar christlich ambitioniert aber zugleich auch überzeugter Antisemit war und somit über ihn auch der ideologische Hintergrund aufgerufen ist, der auf der tieferen historischen Ebene der jüdischen Familie Rothmund das Haus entzog und die Destabilisierung des ‚Grundes‘, welche die Figuren im Text bewegt, allererst in Gang setzte. Die antisemitische Ideologie hat der jüdischen Familie das Haus als stabiles Medium der Lebensführung entzogen, wobei sich dieser Entzug nun gegen die späteren Profiteure richtet. Bodelschwinghs haben am Ende nur noch einander. Die Erzählung läuft auf den Verlust des festgeglaubten Standpunkts zu, der sich im Verlust des Hausbesitzes materialisiert. Der Ich-Erzähler kommentiert die haltlose Klage seiner Frau als Symptom des Systemwechsels: „[W]as soll man auch sagen in einer solchen Situation, jetzt wo sich alles bei uns ändert“ (48). Elisabeth ist erschüttert von der Auflösung bisheriger gesellschaftlicher Kohäsion, die dazu führt, dass die rigiden Kopplungen anfälliger für Kontingenz sind: Raumstellen, die vorher eine relative Stabilität bieten konnten, entkoppeln sich als feste Gründe. Eine solche Änderung der Umstände verunsichert vor allem jene, das sehe ich als ein Fazit des Textes, die keinen ‚Grund‘ in sich haben, deren ‚Stand‘-Punkte nicht auf solidem ‚Grund‘, und das heißt hier: auf einem demokratisches Rechtssystem fußen. Das Haus kann daher nur solange ein Grund für Bodelschwinghs sein, wie er vom System garantiert wird, auf das sie ‚gebaut‘ haben. Die Erzählung arbeitet also mit der doppelten Semantik des Grundes: als Grundbesitz und als ideologisches Fundament. Der oberflächlich zunächst fest wirkende Grund wird desto loser, je tiefer die Erzählung ‚schürft‘: Es kommen immer neue Schichten zu Tage, die sich als tiefere Begründungen erweisen und die weiter oben liegenden Schichten ins Rutschen bringen. Obwohl Bodelschwinghs verzweifelt versuchen, an derselben Stelle im Raum zu bleiben, ‚verrutscht‘ diese Stelle, weil sie wie aus Sand ist, unweigerlich. Der „Verlust des ‚angestammten Platzes‘“ ist bei ihnen greifbar: Ihre Existenz ist die Form, die sich nicht im Grund des Hauses halten kann, weil sich der Grund als solcher für sie aufgelöst hat. Das Perspektivische der Virtualisierung wird hier deutlich: Das Haus kann nach wie vor einen stabilen Grund bieten (nun für Frau Rothmund), aber nicht mehr für Bodelschwinghs. Während für das Ehepaar Bodelschwingh der eigene Grund aufgrund historischer Gründe und während der erzählten Geschichte lose wird, findet die Geschichte ihren Schluss in der Feststellung der rechtmäßigen Besitzerin. Die Erzählung hat gleichsam ihre ‚Arbeit‘ im Sinne des Lukasevangeliums erledigt: Schicht für Schicht trägt sie den ‚falschen‘ Boden ab, bis sie auf einen tragen-

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den Grund stößt, und zwar den Besitz von Frau Rothmund. Auch wenn prinzipiell auch dieser kontingent gesetzt werden könnte und die Erzählung selbst vorführt, dass Gründe immer ‚ins Rutschen‘ geraten können, beendet sie an dieser Stelle die Bewegung der Virtualisierung. Die Rehabilitation der unrechtmäßig Enteigneten löst eine problematische Situation für den Moment und minimiert die Kontingenz auf Dauer, indem es das neue Besitzrecht dieses Hauses innerhalb des Erzählrahmens als fest gegründet definiert. Während sich die Entscheidung des Ehepaars Bodelschwingh, sich durch den Kauf dieses Hauses einen stabilen Standort zu schaffen, rückblickend als haltlos erweist, zeigt sich, dass in der erzählten Gegenwart nun eine Entscheidung auf fester Grundlage getroffen werden kann. Darauf, wodurch über die Unentschiedenheit des Besitzstandes entschieden werden kann, können sich die Beteiligten nämlich am Ende einigen: „‚Entscheidend, sagten Sie‘, sagte Frau Rothmund, ‚entscheidend für den Besitzstand sei der Erhalt der Kaufsumme?‘“(48) Diese Kaufsumme habe aber ihr Großvater niemals erhalten, und also gehöre das Haus noch ihrer Familie. Bodelschwinghs werden vor die Tür ihres eigenen Hauses gesetzt, geraten also in einem sehr praktischen und prekären Sinne in einen Bereich jenseits ihrer Selbstdefinition. Diese Entortung geschieht in der schrittweisen Auflösung der Differenz von innen und außen, die bis dahin die festen Grenzen ihres Hauses markiert hatte. Zuerst schaut Elisabeth aus dem Fenster, weil vor dem Haus ein Unbekannter umherstreicht, sodass sich ihr Blick vom Innen- in den Außenraum begibt. Dann tritt dieser Unbekannte, Elmar Prottwedel, zusammen mit seinem Liegenschaftsberater in das Haus ein, und letzterer betont, dass sie nicht „auch nur im Traum daran dächten, [das Ehepaar Bodelschwingh] vor die Tür setzen zu wollen“ (42). Haben die Hereingekommenen nun verbal – in der Negation – die Möglichkeit vorweggenommen, die Verhältnisse von innen und außen könnten sich verkehren (Herumstreichende werden Herausschauende und vice versa), ist es nachvollziehbar, dass nach diesem Besuch der Ich-Erzähler „auf jedes Geräusch von draußen“ lauscht (43). In der Tat kündigt das Knirschen des Kieses vor dem Haus schließlich einen Besuch an, wenn auch nicht den befürchteten von Prottwedel, sondern von Frau Rothmund, der erweisen wird, dass das Haus ihnen nun definitiv kein Dach mehr bietet, „unter das man kriechen konnte“ (43). Die Erzählung endet für sie im Zustand einer vollendeten Desituierung, die sich durch die unaufhaltbare Auflösung ihres Besitzrechtes an ihrem Haus vollzieht: Besitz war Besitz. Der Grund, den das Haus darstellte und den sie für rigide gekoppelt gehalten haben, wird für sie kontingent, und am Ende der Erzählung ist nicht absehbar, wie sie diese problematische Situation lösen und für welche neuen Setzungen sie sich dabei entscheiden werden.

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Wenn sich die Grenzen zwischen innen und außen in diesem Schlussmoment ganz aufgelöst haben, ist es allerdings nicht die grundsätzliche Idee von ‚Haus‘, nicht die Idee vom Haus als festem Grund, als „Dach, unter das man kriechen konnte“, die problematisch geworden wäre; es ist vielmehr dieses Haus in dieser Situation, das anzeigt, dass der Grund, auf den Bodelschwinghs gebaut haben, sich als haltlos erweist.227 Heyms Text spricht gleichsam vom Fels der Moral aus, indem er daran erinnert, dass das diktatorische System der DDR keinen soliden gesellschaftlichen ‚Grund‘ bot, dass, metaphorisch gesprochen, Sand, im Gegensatz zum Fels, kein haltbarer Grund ist. Nicht weniger moralisierend, wenn auch nicht so direkt und auch nicht explizit an die Bergpredigt anknüpfend, ist der nun folgende Text, in dem sich ein weiteres Haus als eines „aus Sand“ erweist. 3.4.2.2 Andre Dubus III: House of sand and fog Im Roman House of sand and fog von Andre Dubus III geht es ebenfalls um die Besitzrechte an einem Haus, das zunächst einer suchtgefährdeten Putzfrau, Kathy Lazaro, gehört, die es von ihrem Vater geerbt hat.228 Sie verliert gleich zu Beginn des Romans den Anspruch darauf, doch löst diese Destabilisierung kein

227 Das Thema von Haltlosigkeiten im sozialistischen System bringt auch die Erzählung Wörterbuch von Jenny Erpenbeck (Frankfurt/M.: Eichborn 2004) mit der Metapher Sand zur Sprache. Es geht in diesem Text um ein Mädchen, das den eigenen Eltern weggenommen wird, um im Geiste des ‚wahren Sozialismus‘ erzogen zu werden. Es merkt schließlich, dass es gleichsam auf losem Grund gelebt hat, so dass auch kein Wort mehr die Bedeutung behalten kann, die es hatte, als es noch bei seinen leiblichen Eltern aufzuwachsen glaubte. Die Sandmetaphorik erscheint in der Rede eines Lehrers: „Spart Strom, sagt der Lehrer. Denkt an unser Land. Seht euch einmal an, sagt der Lehrer, ihr seid sauber gekleidet, ihr lernt etwas, ihr seid satt. Aber das kommt nicht von selbst, sagt der Lehrer. Das hier, sagt er, ist nur ein Anfang, stellt euch vor, rings um uns wäre nur Wasser. […] Wenn wir alle zusammenarbeiten, können wir aus dem Sand, der angespült wird, neues Land gewinnen, sagt der Lehrer. Und alle, die auf diesem neuen Land leben werden, denen wird es genausogut gehen wie euch. Wir nicken. Aber das Meer ist tückisch, sagt er, was wir ihm auf der einen Seite abtrotzen, das will es uns auf der anderen wieder nehmen. Habt ihr schon einmal gesehen, wie das Meer gegen die Felsen schlägt? Wir nicken. Felsen braucht eine Insel, um nicht vom Meer ins Meer gerissen zu werden. Tag für Tag Felsen.“ (Ebd., S. 41) Zur Gewinnung sozialistischen Landes wurde das Mädchen gleichsam der Strömung abgetrotzt. Es erscheint wie der Sand, der die Insel des Sozialismus stärken soll, und es soll lernen, zu einem Felsen zu werden, um das neue System zu stabilisieren. Später muss dass Mädchen jedoch erfahren, dass dieses System ihr im Gegenzug den Halt genommen hat, was der Text an der Haltlosigkeit noch der einfachsten Wörter vorführt: Mutter, Vater, Auto, Ball. 228 André Dubus III: House of sand and fog, New York: Vintage 1999. Die Seitenangaben in Klammern in diesem Kapitel beziehen sich auf diesen Text.

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Wechsel des politischen Systems aus, sondern eine Mischung aus Justizirrtum und eigenem Verschulden. Kathys Ehe ist kurz zuvor gescheitert, weswegen sie sich weitgehend von der Außenwelt abgeschottet hat. Sie öffnet die Briefe der Bezirksverwaltung nicht, in denen sie zur Zahlung von Gewerbesteuern aufgefordert wird, obwohl sie bereits mitgeteilt hatte, dass sie kein Gewerbe in dem Haus betreibt. Ebenso wenig öffnet sie den Brief des Gerichts, der sie wegen der ausbleibenden Zahlungen von der bevorstehenden Beschlagnahmung und Versteigerung des Hauses informiert, sodass sie völlig überrascht ist, als sie eines Morgens von Polizisten geweckt wird, die sie per Anordnung dazu zwingen, noch am selben Tag ihren Hausstand in einem Container unterzubringen und das Haus zu verlassen: „It took only four hours to move my life from the only house I’ve ever owned to one of those steel shacks with the padlock I now have to pay for and can’t afford.“ (37) Mit dem Eintritt der Polizisten lösen sich die sicheren Grenzen von Kathys Haus, löst sich das Haus als stabile Raumstelle für sie auf: „Who did they think they were evicting? And for what? A tax they billed to the wrong fucking house? My dead father’s house?“ (38) Als eigentlichen Hausherren betrachtet Kathy ihren Vater, dessen Erbe ihr Sicherheit gibt. Da sie nicht rechtzeitig Einspruch erhoben hat, wird das Haus nun trotz des Justizirrtums – die Bezirksverwaltung hatte sich in der Adresse vertan – bereits am folgenden Tag versteigert. Sie verliert in kürzester Zeit ihr Haus als Grund in beiden Verständnissen des Wortes ‚Haus‘: Sie besitzt nun bis auf Weiteres weder einen festen „unterschlupf“ noch hat sie das Familienerbe bewahren können. Wie bei Heym löst sich auch hier das Haus nicht im literalen, sondern im metaphorischen Sinne des Wortes auf. Es virtualisiert sich als ‚Grund‘ für Kathy, die für sich aber keinen neuen Grund aktualisieren kann. Da sie weder eine feste Arbeit noch einen guten Kontakt zu ihrer Familie hat, kann sie bald die Hotelkosten nicht mehr bezahlen und lebt in ihrem Auto. Sie verliert also nicht jeglichen ‚Grund‘, da sie nach wie vor ihrem gewohnten Alltag nachgeht, aber dieser ‚Grund‘ ist lose geworden. Von Anfang an verfolgt sie mit Hilfe einer Anwältin das Ziel, ihr Haus zurückzugewinnen, nicht nur, um wieder ein Zuhause zu haben, sondern auch, um das Gesicht ihrer Familie gegenüber zu wahren. Um die Wahrung des Gesichts geht es auch Colonel Massoud Behrani, der das Haus gleich nach Kathys Auszug ersteigert. Die dem Shah treue Familie ist nach der Islamischen Revolution 1979 aus dem Iran in die USA geflohen. Massoud sieht mit dem Hauskauf erstmals eine Gelegenheit, sich von der Arbeit als Straßenarbeiter (tags) und Kioskverkäufer (nachts) zu befreien, indem er in den Immobilienhandel einsteigt. Die ehemals beträchtliche Summe an Erspartem ist durch den hohen Lebensstandard, den er trotz der wenig lukrativen Gelegenheitsarbeiten seiner Familie zu ermöglichen sucht, auf eine Summe geschrumpft,

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mit der er gerade noch eine Investition dieser Art tätigen kann. Er sieht hierin nun den einzigen Weg, nicht nur die Zukunft seiner Familie zu sichern, sondern auch deren Ansprüchen an die gewohnten sozialen Standards wenigstens annähernd gerecht zu werden – von einer respektablen Arbeit für sich selbst über das eigene Haus für seine Frau bis hin zur Aussteuer für seine Tochter und die Universitätsausbildung für seinen Sohn. Das Haus stellt also nicht nur für Kathy, sondern auch für ihn den derzeit besten Weg dar, eine Desituiertheit zu beenden. Es ergibt sich damit eine Konstellation, in der zwei Kulturen und zwei Lebenswelten aufeinanderprallen, die gleichwohl aus völlig unterschiedlichen Motivationen das identische Ziel mit dem Besitz genau dieses Hauses – Bisgrove Street 34 – verbinden: eine materielle Sicherheit zu haben und dem Konzept ‚Familie‘ gerecht zu werden. Auf der einen Seite steht Kathy, die den Besitz ihres Hauses gegenüber den Polizisten als aktuell zu verteidigen sucht und dabei auf ihrem Erbrecht beharrt: „Look, I inherited this house from my father, it’s paid for. You can’t evict me!“ (37) Auf der anderen Seite steht Massoud, der das Haus rechtmäßig erworben hat, Kathy an die Bezirksverwaltung verweist und sie wiederholt als Eindringling aus dem Haus wirft. Ein einmal aktualisiertes Geschäft ist für ihn etwas Solides, Unumkehrbares, „a sale is a sale. They cannot stop it now. It is too late. How can this be a legal practice?“ (96) Wie Elisabeth Bodelschwingh in Heyms Auf Sand gebaut in ihrem Satz „Besitz ist Besitz“ hält sich auch Massoud an der aktualisierenden Geltung des Präsens Indikativ „is“ fest, die ihm das Haus sichern soll. Und nicht nur vom wirtschaftlichen, auch vom juristischen Standpunkt aus beharrt Massoud darauf, denn „[he has] honored all the legalities in the buying of this bungalow, and [he is] certain there is nothing they can dot to change this fact.“ (102 f.) Im Gespräch mit Kathys Anwältin betont er daher sein Besitzrecht – „I am the rightful owner of this property“ (104) – und verlangt für den Fall, dass Kathy das Haus zurückerwerben möchte, das Vierfache des Kaufpreises. Durch diese Konstellation, dass beide, Kathy und Massoud, gute Gründe haben, virtualisieren sich ihre Gründe gegenseitig, und es entsteht eine problematische Situation. Das Haus wird als Grund für Kathy mit der Enteignung durch die Bezirksverwaltung und der Aneignung durch die Familie Behrani kontingent gesetzt: Eigentum ist nicht mehr Eigentum, sondern wäre Eigentum gewesen oder würde wieder Eigentum werden. Umgekehrt wird das Haus als Grund für die Behranis durch den anhaltenden Besitzanspruch Kathys kontingent und das Recht der Behranis in den Konjunktiv gesetzt: Recht ist nicht Recht, sondern Recht wäre Recht gewesen oder würde Recht sein. Das Haus ist ein Haus aus Sand, weil es eine instabile Raumstelle für alle geworden ist; es ist, weil alle Beteiligten gute Gründe haben, es als festen Grund zu beanspruchen, ein loser Grund geworden.

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3 Virtualität der Formen

Ist diese Sandhaftigkeit erst einmal etabliert, erweist sich die Situation für alle als ausgesprochen unsicher. Sie stabilisiert lediglich die Virtualität, solange unklar bleibt, wie das Problem der Besitzansprüche zu lösen ist, und hierüber keine Entscheidung gefällt werden kann. Kathy muss erleben, wie sie trotz ihres rechtmäßigen Anspruchs ihr Haus nicht wieder beziehen kann. Im Gegenteil werden ihr von der Anwältin immer längere Fristen in Aussicht gestellt, und gleichzeitig wird die Möglichkeit immer wahrscheinlicher und schließlich sicher, dass sie das Haus überhaupt nicht zurückerhalten wird, sondern nur auf einen Schadensersatz hoffen kann, weil die Bezirksverwaltung den stark erhöhten Preis nicht zu zahlen bereit ist, den Massoud fordert. Die Metaphorik des Sandes erfasst diese endlos scheinende, unentschiedene Situation ebenso wie Kathys Eindruck, den festen Boden unter den Füßen verloren zu haben: „I felt connected to the ground as an old newspaper blowing down the street.“ (98)229 Macht sich ihre unsichere Situation besonders bemerkbar, fühlt sie „that off-the-ground sensation again“ und weiß, dass sie „had to get back into [her] normal routine“ (101). Ihre Existenz ist nicht mehr von rigiden Kopplungen bestimmt, sondern diese haben sich durch den Verlust des Hauses in lose Kopplungen aufgelöst, sodass sie sich im oben erläuterten Sinne des Wortes „lose“ wie „nicht mehr fest anhaftend“ fühlt; die Lösung wäre die Rückgewinnung ihres Hauses: „I knew nothing was going to make me feel more rooted than getting back into my house.“ (101) Doch ihre Situierung bleibt ein ungelöstes Problem: „I don’t know, I feel lost; I just – feel lost.“ (121) Dieses Gefühl steigert sich allmählich zur Angst vor allen möglichen Bewegungen, die ihr so bedrohlich erscheinen, weil sie sie, so wie schon eine leise Erschütterung lose Sandkörner ins Rieseln bringen kann, in den Abgrund abrutschen zu lassen drohen; „losing my father’s house had been the final shove in a long drift to the edge“ (181). So groß ist die Angst, mit einer Regung könne sich ihr loser ‚Grund‘ in Bewegung setzen, dass sie sich im Haus der Behranis, nachdem sie nach einem verhinderten Selbstmordversuch erwacht, gar nicht mehr regen kann: „I felt so suddenly afraid, so far away from the solid feel of a real moment in my old life that I couldn’t move.“ (247) Instabil ist die Situation zudem dadurch, dass sich das Haus verändert hat. Andere Menschen wohnen in ihm, und es ist völlig anders eingerichtet. Darüber hinaus gibt es dauerhafte bauliche Veränderungen wie eine zusätzliche Veranda im Obergeschoss. Die rigiden Kopplungen, die das Haus materiell als Raumstelle definieren, haben sich aufgelöst, und es ist so neu

229 Vgl. auch ihr Gefühl, „as if I wasn’t anchored at all the way to the ground, like when you’ve had too much to drink but you dont’t know it until you lie down and it’s that instant right before the room begins to turn“ (100). Vgl. auch S. 131.

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bestimmt, dass es für Kathy die alte Funktion doppelt verliert und ihr nicht mehr wie ihr eigenes vorkommt. Die Instabilität, die Kathy durch den Verlust des Hauses erlebt, kennzeichnet indessen schon vorher ihre Erlebnisstruktur. So ist sie seit der Trennung von ihrem Mann im Grunde völlig unverbunden in der Welt. Sie sieht sich nicht nur nicht in der Lage, die Briefe der Bezirksverwaltung und des Gerichts zu öffnen, sondern scheut auch die Kontakte zu ihrer Familie. Schon als Jugendliche hat sie sich im Haus ihrer Familie nicht erwünscht gefühlt: Dad had never really looked right at me anyway, but then [nach einer Abtreibung] he stopped doing it at all, would only give me his quiet profile, usually in his recliner in front of the TV. And Ma started giving me that look […], like I was something from her bad dreams that kept showing up in her day, in her home, and just who did I think I was? (40)

Der Kontakt ist immer lose geblieben, und so erzählt sie ihrer Mutter nichts von den aktuellen Problemen (44). Auch ihren Bruder kann sie nicht informieren; sie möchte ihrer Familie über die Tatsache hinaus, dass ihr Mann sie verlassen hat, unter keinen Umständen mehr an Enttäuschungen zumuten, schon gar nicht eine so große: „But not this; not to have Dad’s house taken from us while I lived in it.“ (128) Ihr sozialer Lebensraum besteht nur aus losen Kopplungen, deren Instabilität sie schmerzlich spürt. Nicht nur in Bezug auf ihre Familie gelingt ihr kein sozial kohäsives Verhalten, sondern auch die Tatsache, dass sie auf die brieflichen Kontaktangebote der Bezirksverwaltung nicht eingeht, generiert Unverbindlichkeiten. Die losen Gründe sind nicht nur Effekt einer Virtualisierung, die Kathys Existenzgrund ‚Haus‘ betrifft, sondern sie sind auch deren Ursache, indem ihre mangelnde soziale Eingebundenheit den Hausverlust überhaupt erst zur endgültigen Tatsache werden lassen kann. Den einzigen Halt gewinnt sie durch Hilfssheriff Lester Burdon, der bei der Räumung ihres Hauses anwesend war und zu dem sich in deren Folge eine intensive Liebesbeziehung entwickelt. Lester jedoch ist ein nicht weniger destabilisierender Faktor für Kathy. Da er wegen ihr Hals über Kopf seine Familie verlässt, haben sie nun beide keine feste Wohnung mehr, und es droht außerdem die Möglichkeit, er könne wieder zu seiner Familie zurückkehren wollen. Hinzu kommt, dass sie im Beisein von Lester wieder Alkohol zu sich nimmt, nachdem sie ihre Abhängigkeit nur mühsam überwunden hat. Die Situation kann sich nur daher so zuspitzen, weil neben Lester ihr Haus der einzig stabile Faktor in ihrem Leben ist: „Where else could I got but home?“ (212) Der „Verlust des ‚angestammten Platzes‘“, der durch die Situierung auf losem Grund entsteht, zeigt sich hier deutlich, und weil das Haus Kathys einziger sicherer Bezugspunkt ist, wird es zum Dreh- und Angelpunkt des Konflikts.

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Auch Massoud muss erleben, dass sein Plan, die Zukunft seiner Familie auf das Haus in der Bisgrove Street zu gründen, kontingent gesetzt wird. Anfangs hatte er überlegt, die Versteigerung von Häusern, „the legal way to rob“ (17), für sich zu nutzen: „Perhaps it is the sized property I must begin to view, the used, the broken, the stolen. Perhaps there is where we can get our start.“ (14) Doch diese Entscheidung, auf den legalen Weg des Diebstahls zu bauen, wird sich als lose gegründet erweisen und ihn und seine Familie in die Katastrophe führen. Erinnert er sich, als er die Notiz über die Hausversteigerung in den Händen hält (18), an seinen Sohn, wie er „father most dear“ sagt, und möchte er für dessen Zukunft sorgen, so wird der Kauf des Hauses ihm schließlich diesen Sohn nehmen. Dass die Sicherheit des Vertrages in Frage gestellt wird, erfährt er zunächst aus einem Brief von Kathys Anwältin: „Oh this country, this terrible place; what manner of society is it when one cannot expect a business transaction to be completed once the papers have been signed and the money deposited?“ (121 f.) Die Geschäftsgrundlage wird virtualisiert und im Gefühl, wieder von einem angestammten Platz vertrieben zu werden, richtet er seine Aggression gegen Kathy, die als suchtgefährdete, alleinlebende Mittdreißigerin seinen Moralvorstellungen ohnehin nicht entspricht: „These people do not deserve what they have.“ (123) Er fühlt sich vielmehr von Kathy bedroht, die immer wieder in die Bisgrove Street fährt und die Inbesitznahme des Hauses durch die Behranis mit wachsender Verzweiflung teils nur beobachtet und teils beschimpft, sodass sich Massoud ihr direkt ausgeliefert sieht, „for with each of her false accusations, she was attempting to take from me not simply my future, but my family’s food and water, our shelter, our clothes.“ (153)230 Gleichwohl ist die Existenz der Behranis auch jenseits des Hauses in der Bisgrove Street instabil, denn es stellt nur die erste Station einer längeren Kette von gepfändeten Häusern dar, die Massoud weit unter Wert aufkaufen, in sie einziehen und dann mit Gewinn weiterverkaufen möchte. Angesichts dessen stellt sich ihm die Frage, ob diese Art Lebensunterhalt auf Kosten anderer eine ethisch vertretbare Grundlage ist; darüber hinaus impliziert er aber auch ganz praktisch eine Gründung des eigenen ‚Behaustseins‘ auf der permanenten Verschiebung von Gründen. Kathys Anspruch auf den zumindest aktuell stabilen Grund (das Haus), droht damit, auch eine Verrutschung aller anderen für die Zukunft geplanten Gründe (der immer wertvolleren Häuser) in Gang zu setzen. Der lose Grund ist damit nicht nur Zielpunkt und Effekt des Streits um das Haus, sondern auch dessen Ursache.

230 Er schüttelt Kathy: „You tell to him [Lester] that. This is our home. Our home.“ (194)

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Diese für beide Seiten unhaltbare und haltlose Situation stabilisiert sich zwischenzeitlich, als Kathy beschließt, mit Frau Behrani zu reden. Nachdem Lester sich in seiner Polizeiuniform widerrechtlich Einlass in das Haus verschafft und den Behranis gedroht hat, erkennt Kathy, von einem zurückgezogenen Standpunkt aus, dass keine Seite das Recht hat, der anderen das Haus zu nehmen, denn „this is wrong; it’s so wrong to invade someone else’s home.“ (183) Sie versucht daher, das Verständnis von Frau Behrani zu wecken: „I have no place to live. Do you understand?“ (190) Sie macht ihr Hauptproblem deutlich, nämlich keinen „unterschlupf“ zu haben. Ohne es zu wissen, ist Kathy gerade dadurch im Wertsystem von Frau Behrani zu jemandem (zu einer Bettlerin) geworden, mit der sie Frieden schließen muss (217), sodass jene versucht, ihren Mann davon zu überzeugen, das Haus zurückzugeben. Dieses Anliegen wird für sie umso drängender, als Kathy, im Glauben von Lester verlassen und um ihren letzten Halt gebracht worden zu sein, zweimal versucht, sich im umstrittenen Haus umzubringen. Beide Suizidversuche werden von den Behranis verhindert, die sich schließlich für Kathy verantwortlich fühlen, ohne dass Massoud allerdings bereit wäre, das Haus ohne Weiteres zurückzugeben. Diese kurze Phase einer Stabilisierung, die durch sozial kohäsiv wirkende Werte wie ‚Verständigung‘, ‚Mitleid‘ und ‚Verantwortung‘ entsteht, bricht jedoch abrupt ab, als sich Lester, die friedliche Situation durch das Fenster falsch deutend, gewaltsam Zugang zum Haus verschafft und die Behranis mit Hilfe seiner Dienstwaffe erpresst. Lester, der Kathy versprochen hatte „I’ll move you back in [your house] myself“ (121), ist durch diese selbst in eine instabile Situation geraten, weil er Familie und Arbeitsplatz riskiert, um ihr zu helfen und ein neues Leben mit ihr aufzubauen. Auch er steht also nicht auf festem ‚Grund‘, ist „not quite rooted in his own feet. Nothing was rooted. Everything was suspended in midair“ (244). Er agiert vielmehr nur noch von Moment zu Moment ohne Anhaltspunkte für sein Handeln: „Right now everything was floating completely out of proportion. Nothing felt grounded or real. There was no proportion at all.“ (255) An dieser Stelle des Textes wird vielleicht am ehesten deutlich, warum das Haus nicht nur aus „Sand“, sondern auch aus „Nebel“ ist. Der von Lester geschilderte Schwebezustand verweist eher auf die Dispersion von kleinsten Wasserteilen als auf die Disparatheit von Sandkörnern. Die kleinsten Teile, die den Nebel bilden, sind zwar auch lose gekoppelt und ihre Formen sind ebenso leicht auflösbar, sie sind aber gleichzeitig viel kleiner und von so leichtem Gewicht, dass sie einen Teil der Luft bilden. Während Sand zwar ein loser Grund, aber in jedem Fall ein Grund ist, befindet sich Nebel grundsätzlich über dem Grund und stellt insofern überhaupt keinen Grund dar. Die Metapher ‚Nebel‘ stellt in Bezug auf die fehlende Stabilität von Gründen insofern eine

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Steigerung dar; ‚Nebel‘ überschreitet allerdings auch die Grenzen der Sandmetapher, sodass es hier bei dieser Andeutung bleiben soll. Obwohl die Behranis Kathy das Leben gerettet und sie gepflegt haben und schließlich sogar ihre Bereitschaft bekunden, Kathy das Haus zurückzugeben, begegnet Lester ihnen weiter mit der Waffe und besteht darauf, Massoud und dessen Sohn Esmail zur Bezirksverwaltung für die Aufhebung des Kaufvertrages zu begleiten. Vor dem Verwaltungsgebäude entgleitet die Situation: Esmail verliert bei einer neuerlichen Erniedrigung und Bedrohung durch Lester die Nerven, entreißt ihm dessen Waffe und fordert ihn auf, seinen Vater loszulassen. Die Szene wird von vorbeieilenden Polizisten missverstanden, sodass sie tödliche Schüsse auf Esmail abgeben. Der Konflikt findet dadurch sein vorläufiges Ende, dass Lester ins Gefängnis kommt und Massoud sich und seine Frau in der Trauer um den Sohn tötet. Zuvor erwürgt er aus Rache Kathy, die jedoch, was er nicht mehr erfährt, knapp überlebt, aber ebenfalls ins Gefängnis kommt. Da Massoud das Haus kurz vor seinem Tod seiner Tochter mit dem Hinweis überschreibt, dass sie es selbst bewohnen oder zu einem Preis verkaufen soll, den Kathy nicht bezahlen kann, wird das Haus in der Bisgrove Street weiterhin Gegenstand von Streitigkeiten sein. Das Haus ist damit dauerhaft „aus Sand“, denn am Ende der Geschichte ist nicht absehbar, dass es für irgendjemanden einen stabilen Grund wird bieten können. Das Thema, das über die Sandmetapher verhandelt wird, ist also auch hier wie bei Heym die Frage nach der Stabilität von Lebensgrundlagen. Der Rahmen ist indessen ein völlig anderer: Wird bei Heym die Rechtsbasis diktatorischer Systeme als instabil ausgestellt, geht es hier um die möglichen Instabilitäten innerhalb eines demokratischen Rechtssystems und der sozialen Standfestigkeit von Personen. Es ist zwar ein Fehler des Systems, ein Justizirrtum, der die Instabilität verursacht; perpetuiert und gesteigert wird dieser Zustand aber durch ein Verhalten Einzelner, das sozial kaum kohäsiv ist: Kathy öffnet die Briefe der Bezirksverwaltung nicht und schließt sich dadurch zu lange aus jenem System aus, das den Fehler rechtzeitig korrigieren könnte; Massoud hört nicht auf die zweifelnden Stimmen seiner Familie und die Argumente der Anwältin, sondern verschließt sich zu lange den Möglichkeiten, seinen eigenen Standpunkt zu korrigieren und das Haus zum ursprünglichen Preis zurückzugeben; Lester destabilisiert die soziale Kommunikation, indem er auf Erpressung und Waffengewalt setzt; Esmail als einziges Kind hält schließlich der instabilen Lage nicht stand und versucht auf seine Weise, seinem Vater zu helfen; dies führt allerdings nur deshalb zur Katastrophe, weil die herbeieilenden Polizisten die Situation falsch einschätzen, und dies wird dadurch begünstigt, dass das Verhalten aller Beteiligten lose gegründet ist. So wie die Bewegungen der einzelnen Sandkörner in einem Sandrutsch nicht vorhergesagt werden können, ist auch das Verhalten aller in den Konflikt involvierten

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Personen ‚in alle Richtungen‘ möglich, da es keine Kräfte gibt, die ihr Handeln aufeinander abstimmen oder absehbar machen. Sichere Standpunkte sind auch hier wichtig, um auf instabile Situationen reagieren zu können, wobei die Sicherheit diesmal dadurch entstehen würde, sich nicht aus dem System sozialer und soziabler Kommunikation auszuschließen. Wie bei Heym scheint die Moralität der Bergpredigt durch, nach der es „töricht“ ist, auf Sand zu bauen. Die Gründe, auf denen sich Kathy bewegt, sind „lose“, sie sind im ursprünglichen Sinne des Wortes „nicht mehr fest anhaftend, […] locker, […] leichtfertig“.231 Dass „lose“ ein Tugendbegriff war, klingt hier durch;232 „leichtfertig“ mag es sein, dass Kathy die Briefe des Countys nicht öffnet, und Massoud bezeichnet sie sogar abschätzig als „djende“, als Hure (260). Der Roman bezieht jedoch keine Stellung, sondern stellt die Wertsysteme einander gegenüber: Kathy und Lester sehen nämlich ihrerseits die Familiengeschichte der Shah-Treuen und -Begünstigten Behranis äußerst kritisch. Die Auflösung aller Gründe eskaliert aber schließlich durch Lesters ‚haltloses‘ und kriminelles Handeln, sodass er sich als besten Ausgang der Geschichte nur noch erhoffen kann, dass es ihm und Kathy gelingt, mit dem Erlös des Hauses zu fliehen. Das Haus hat sich damit gerade durch jene Person, die es Kathy zurückerobern wollte, als Zukunftsperspektive aufgelöst. Ebenso kann Massoud es nicht mehr nutzen. Das Haus ist durch die gegenseitige Kontingentsetzung zu einem instabilen Grund für alle geworden – es ist auf Dauer virtualisiert. Es ist zu einem Haus aus Sand geworden, nicht, weil es im architektonischen Sinne kein stabiles Haus mehr wäre, sondern weil es aus der Perspektive der Beteiligten in der aktuellen Situation keinen festen ‚Grund‘ bieten kann. Die Narration endet schließlich mit dieser offenen Situation – mit diesem Zustand der Differentiation. Sie schließt mit dem Virtuellen: Eine etwaige Lösung des Problems, d. h. eine Neubildung der so aufgelösten Formen, ist nicht Teil der Erzählung. Auch wenn in House of sand and fog keine einseitigen Wertungen vorgenommen werden, ist der Text stark moralisierend. Er setzt Sand als metaphorisches Modell für lose Gründe ein, die durch mangelnde soziale Kohäsionskräfte entstehen. Individuell fehlende Situierungen stellt der Text als so problematisch aus, dass das Aufeinandertreffen von lose situierten Individuen in der Eskalation enden muss. Wenn die Gründe verrutschen, auf denen man steht, wenn die eigenen ‚Häuser‘ ‚aus Sand‘ sind, braucht es andere stabile Situierungen, damit die Katastrophe der völligen Auflösung verhindert werden kann. Eine Problematisierung von Situierungen ist also so lange ‚kein größeres Problem‘ wie es einen stabilen

231 Pfeifer/Braun: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, S. 812. 232 Vgl. Kap. 3.4.1.

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Rahmen gibt, innerhalb dessen dies geschieht. Geht der problematische Bereich aber in einen anderen über, so erscheint die Destabilisierung des Aktuellen universell – die Auflösung einzelner Formen im Sand verliert sich gleichsam im Sandrutsch. Die Metapher Sand zeigt: Wenn sich jenseits des Problemfeldes ein weiteres Problemfeld eröffnet, dann gibt es nichts, was den Prozess der Auflösung aufhalten kann, sich ins Endlose zu perpetuieren. Dann dauert der Prozess der Virtualisierung an, ohne dass eine Lösung neue Situierungsmöglichkeiten in Aussicht stellen könnte. Die Virtualisierung endet – Sand in Sand – als endlose in der Katastrophe. 3.4.2.3 Kobo Abe: Suna no onna (Die Frau in den Dünen) Schaudernd zog er den Fuß zurück, aber der Sand hörte nicht auf zu fließen. Auf was für unsicherem, gefährlichen Grund stand er doch! (21)

Während in den vorangegangenen Texten die Häuser im metaphorischen Sinne auf Sand gebaut oder aus Sand waren, handelt es sich bei Abes Roman Suna no onna233 um einen Text, in dem sich das Problem der Virtualität auf metaphorischer und literaler Ebene entfaltet: Hier stehen ‚Gründe‘ am Umgang mit einem Haus zur Disposition, das tatsächlich auf Sand gebaut ist. Dabei wird auf Sand wie in keinem der Texte zuvor in Bezug auf viele seiner Aspekte im Feld seiner semantischen Möglichkeiten reflektiert. 3.4.2.3.1 Die Sand-Expedition Jumpei Niki, 24jähriger Lehrer und Protagonist von Suna no onna, ist fasziniert von Sand, der für ihn „etwas Wunderbares“ ist (16): Zum einen, weil es eine „klare Definition“ von Sand gibt, die ihn als Verwitterungsprodukt aus Steinen mit einem Durchmesser von durchschnittlich 1,8 mm bestimmt (16); zum anderen, weil diese Definierbarkeit selbst schon erstaunlich ist, da Sand als „Zwischenform“ zwischen Kiesel und Ton eigentlich unendlich viele Zwischengrößen aufweisen müsste. Stattdessen aber ist Sand sich „immer gleich, wo er sich auch befinden mag“ (17), immer 1,8 mm, und das auf der ganzen Welt. Besonders beeindruckt ist Jumpei, der im gesamten Roman „der Mann“ genannt wird, von der Bewegung des Sandes, denn die zertrümmerten Partikel sind „von einer so geringen Größe, daß ihre Fortbewegung durch eine leichte Strömung möglich ist“ (17): „Sand ruht nie. Langsam,

233 Kobo Abe: Die Frau in den Dünen. Roman, Berlin 1997 [Suna no Onna, 1962]. Die Seitenangaben in Klammern in diesem Kapitel beziehen sich auf diesen Text. Der Roman wurde verfilmt, vgl. Hiroshi Teshigahara: Suna no onna, Japan 1964.

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aber stetig überfällt und zerstört er die Oberfläche der Erde. Diese Vorstellung des ständig dahinfließenden Sandes versetzte ihn in unbeschreibliche Erregung.“ (18) Zwar ist der Sand durch diese Bewegung der „Feind alles Lebendigen“; gleichzeitig fragt Jumpei zweifelnd, ob diese „trostlose[ ] Art, in der wir Menschen uns Jahr um Jahr aneinanderklammern“, ob „denn Haften unbedingt zum Leben“ gehört: „Entsteht nicht gerade daraus, daß man unbedingt irgendwo haften will, der Kampf ums Dasein? Verzichtete man auf das Haftenwollen und überließe sich der Bewegung des Sandes, dann hätte dieser Kampf augenblicklich ein Ende.“ (18) In solchen Überlegungen erscheint ihm Sand, anders als gemeinhin üblich, als Inbegriff des Lebendigen, denn erst jenseits des „Kampfes ums Dasein“ entsteht etwas möglicherweise Lebenswerteres, indem man sich wie der Sand vom „Haftenwollen“ lösen und der Bewegung überlassen könnte. Lose Kopplung sieht er positiv, Entkoppeln versteht er als Entwicklung. Jumpeis Interesse für Sand ist so groß, dass er sich selbst in Bewegung setzt, sich dabei aber, ohne sich dessen bewusst zu sein, auch grundsätzlich desituiert, indem er unversehens die Gründe virtualisiert, die sein Leben bislang ausgemacht haben. Er bricht von Zuhause auf, ohne zu wissen, dass er niemals wiederkehren wird, geht, um eine neue Käferart zu suchen, eine neue Art des Sandlaufkäfers: „Ihn interessierten allein der Sand und die Insekten“ (12). Er gelangt über die Dünen, in denen er den Käfer vermutet, in ein Dorf, in dem man ihm mitteilt, dass er den letzten Bus zurück nicht mehr bekommen wird. Stattdessen bietet man ihm eine Bleibe über Nacht an, auch wenn es, wie es heißt, im Dorf keine Häuser gebe, „die zum Verweilen einladen“ (23). Was lediglich wie eine höfliche Entschuldigung für die bescheidenen Verhältnisse eines Fischerdorfes klingt, ist auch ein Hinweis auf die Sandartigkeit der Häuser, ja des ganzen Dorfes. Dessen Häuser sind zu einem großen Teil in tiefe Sandlöcher in einer Düne abgesunken: Das ganze Dorf schien ein sich erhebender Hügel zu sein, in dem die Häuser versanken. Dieser Eindruck verstärkte sich, je weiter er ging; und schließlich sahen alle Häuser aus, als habe man sie in Löcher hineingebaut, die man in den Sand gegraben hatte. Die Sandfläche lag höher als die Dächer der Häuser. Und jedes der hintereinander gestaffelten Häuser war tiefer in sein Loch abgesunken als das vorhergehende. (12)

Dass die Häuser nicht „zum Verweilen“ einladen, ist also eine feine Zweideutigkeit, da sie nicht nur unwirtlich sind, sondern auch selbst nicht verweilen, weil sie der Bewegung des Sandes ausgesetzt sind. Sie können nicht auf ihrer Raumstelle bleiben, da sie auf Sand gebaut und vom Sand umgeben sind. Die Verhältnisse von oben und unten haben sich dadurch gründlich verkehrt: „Das Dorf befand sich auf der Sanddüne, oder genauer gesagt, die Düne befand sich auf dem Dorf. Es handelte sich auf jeden Fall um eine höchst beunruhigende

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Landschaft.“ (13) Sollten Häuser normalerweise auf dem Grund stehen, sind diese Häuser im Grund versunken. Interessiert tritt der Mann an den Rand ein solchen Sandlochs heran: „In der dunklen Tiefe stand still ein kleines Haus; der Balken des Dachfirstes war hinabgesunken und steckte schief in der Sandwand. […] Was man dort unten auch versucht, dachte er, dem Gesetz des strömenden Sandes kann man nicht entgehen.“ (20) So wie sich die einzelnen Häuser in den Sand gefügt haben, scheint das ganze Dorf der Logik des – unendlichen – Sandes zu gehorchen. Der Mann findet nämlich aus dem Dorf nicht mehr hinaus; endlos erstreckt sich der Weg zum Meer, obwohl es bereits zu riechen ist; das Dorf „dehnte sich unerwartet weit hin.“ (11) Während dem Mann die Einladung zu bleiben noch wie eine harmlose Gastfreundlichkeit erscheint, kündigt die Landschaft ein Gefängnis aus Sand an, aus dem er nicht mehr entkommen wird. Dass dem Mann zuvor gesagt wird, es gebe keine Häuser, die „zum Verweilen einladen“, ist daher nicht nur zweideutig, sondern auch sarkastisch, da die Dorfbewohner bereits wissen, dass der Mann nicht zum Verweilen eingeladen, sondern von ihnen dazu gezwungen wird. Die gesamte Topographie des Dorfes wird in der Semantik des Gefangenenlagers beschrieben, denn es ist klein, ein ärmlicher, reizloser Flecken, und in seiner Mitte steht ein Wachturm, während es sonst über nichts als einen Versammlungsraum der Fischereigenossenschaft verfügt, wobei es in Gänze „gleich einem Burgwall“ (18) von einer Düne umgeben scheint. Die Löcher, in denen die Häuser sich befinden, sind wie Gefängniszellen in Reihen angeordnet, und zu einem ebensolchen Loch wird der Mann nun geführt. Ahnungslos und voller Neugier klettert er hinab, mit Hilfe einer Strickleiter, denn „ohne Leiter wäre es völlig unmöglich gewesen, den Abhang hinunterzukommen; er hätte kaum Halt für Hände und Füße gefunden.“ (25) Der fast senkrechte Abhang erweist sich als etwa dreimal so hoch wie das Haus, sodass das Ganze auf ihn wirkt „wie eine natürliche Festung“ (25). Immerhin: Freudig begrüßt ihn eine Frau, „eine nette kleine Person von etwa dreißig Jahren.“ (26) Sie kocht ihm, macht ihm ein Lager, gibt ihm Ratschläge, wie er mit den Unannehmlichkeiten des überall herein rieselnden Sandes leben kann; aber sie wird ihm nicht dabei helfen, aus dem Sandloch wieder zu entkommen. 3.4.2.3.2 Gefangen! Während der Mann noch nicht weiß, dass er das Sandloch so schnell nicht wieder verlassen wird, bietet ihm seine neue Situation schon die Möglichkeit, etwas über die Eigenschaften von Sand zu erfahren. So muss er zum einen seinen Glauben, dass Sand sauber und rein ist, revidieren, nicht ohne zunächst der Frau, die von der Verderblichkeit des Sandes berichtet, harsch über den

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Mund zu fahren, weil er seine eigenen Vorstellungen von Sand „durch ihre Unwissenheit entweiht“ sieht: „Ausgeschlossen! […] Ich weiß über Sand Bescheid. Ich werde Ihnen einiges erzählen. Der Sand fließt unaufhörlich, und dieses Fließen macht das Leben des Sandes aus. Er bleibt niemals still liegen. Er bewegt sich frei und ungehindert – ob im Wasser oder in der Luft. Deshalb vermögen gewöhnliche Lebewesen auch nicht im Sand zu existieren, und das gilt sogar für Fäulnisbazillen. Er ist sozusagen Symbol und Muster für Sauberkeit und Reinheit. Er wirkt sogar dem Fäulnisprozeß entgegen. Es ist völlig ausgeschlossen, daß Sand etwas verdirbt. Und vor allem, liebe Frau, verdirbt der Sand selber nie! Denn Sand ist ja ein Mineral, verstehen Sie?“ (29 f.)

Auch wenn die „Frau erstarrte und schwieg“ (30), zeigt sich später – und auch bei anderen Uneinigkeiten über den Sand – dass der Mann ihr Recht geben muss, zumal er selbst den Geruch von „vermoderndem“ Sand wahrnimmt (26). Die Frau streitet nicht, verfügt aber über ein langjähriges Erfahrungswissen, das der Mann anzuerkennen beginnt, auch wenn es mit seinem theoretischen Wissen nicht immer zur Deckung zu bringen ist. In diesem Prozess muss der Mann auch erkennen, dass Sand wegen seiner Beweglichkeit nicht nur für das Leben stehen, sondern ebenso tödliche Konsequenzen haben kann. Auch wenn die losen Kopplungen der Grund für die Flexibilität des Sandes sind, kann die damit verbundene Anpassungsfähigkeit jedem festen Bestand gefährlich werden. Am deutlichsten wird dies am Haus selbst: Das Dach ist kaputt, „aber selbst, wenn es neu gedeckt wäre, würde der Sand überall durchrieseln. Sand ist schlimmer als Holzwürmer.“ (28) Der Sand zerstört selbst große Balken, er „dringt überall herein. Bei ungünstigem Wind muß man den ganzen Tag unter dem Dach sitzen und ihn wegräumen. Sonst häuft sich so viel an, daß die Decke bricht.“ (29) Opfer des Sandes wurden auch Mann und Kind der Frau, die sich während des letzten Taifuns aus dem Haus gewagt hatten, sodass der Mann auch diese Seite des Sandes anerkennen muss: „‚Das ist ja furchbar [sic]! Grauenhaft! Dieser Sand! Grauenhaft!‘“ (32) Trotz dieses Grauens ist der Mann jedoch unvermindert vom Sand fasziniert.234 Insbesondere beeindruckt ihn die Formlosigkeit des Sandes, die für dessen zerstörerische Kräfte ursächlich ist: „War die Tatsache, daß der Sand keine Form hatte, nicht die eindrucksvollste Manifestierung der ihm innewohnenden

234 „Als er die Augen schloß, strömten wellenförmige Linien gleich Seufzern auf ihn zu. Es waren die Sandkräuselungen auf den Dünen. […] Solche Sandströme hatten einst blühende Städte und große Kaiserreiche zerstört und verschlungen. […] Alte Städte, an deren Unwandelbarkeit auch nicht ein einziger Mensch gezweifelt hatte! Trotzdem konnte sich keine dieser Städte dem Gesetz des mächtigen Stroms der 1,8 mm großen Sandkörner widersetzen. Sand…“ (42)

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Kraft?“ (33 f.) Jumpei formuliert letztlich die These, dass die Formlosigkeit des Sandes auch sein Potential ist, dass er also über eine besondere mediale „Kraft“ verfügt, indem sich in ihm immer wieder neue Formen durchsetzen können. Sand ist damit die „Antithese“ der Form: „Gemessen am Sand, waren alle geformten Dinge nichtig. Das einzige Sichere war seine Bewegung; Sand war die Antithese aller Form.“ (43) Sand als Medium ist die Antithese der in ihm gebildeten Formen und ihrer Auflösung, insofern das Medium stabil ist. Das Haus, das auf dem Grund des Sandlochs steht und zugleich in den Grund des umliegenden Bodens eingelassen ist, kann angesichts dieser formlosen und dadurch zerstörerischen „Kraft“ des Sandes keinen stabilen Grund bieten. Waren die Häuser in den Texten von Heym und Dubus III im metaphorischen Sinne auf Sand gebaut bzw. aus Sand, so vollzieht sich in Suna no onna eine tatsächliche Auflösung des Hauses. Es befindet sich fast vollständig im Prozess der Zersetzung: „Die Wände des Hauses blätterten ab, die Stützbalken standen schief. Statt Schiebetüren hatte man Matten aufgehängt, die Fenster waren mit Brettern vernagelt, die Tatami-Matten lösten sich auf und gaben beim Betreten ein Geräusch von sich, als trete man auf nassen Schwamm und überall roch es widerlich nach verbranntem, vermoderndem Sand.“ (26) Das Haus leistet keinen Widerstand gegen den Sand und bietet keinen Schutz gegen seine Kraft, mit der er von außen, und zwar von allen Seiten gleichzeitig, eindringt. Immer wieder rieselt neuer Sand ins Haus hinein, bildet plötzlich „einen kleinen Berg von Sand, der durch die Mauer hereingedrungen war“, und lässt den Mann schockiert innehalten: Er erschauerte und blieb wie angewurzelt stehen. Dieses Haus war also bereits zum Sterben verurteilt. Die Wände waren durch den unaufhörlich hereinfließenden Sand völlig zerfressen. Durch Sand, der nicht einmal eine eigene Form besaß, von dem nur der Durchmesser von 1,8 mm bekannt war. Dieser gestaltlosen, zerstörerischen Kraft schien sich nichts, gar nichts widersetzen zu können. (33)

Zwar sind, wie der Mann bemerkt, „noch nicht die Grundfesten des Hauses erschüttert“ (127), aber seine Bretterwände leisten „kaum größeren Widerstand als feuchter Biskuit. Die Wand war durch den Sand völlig ausgelaugt“ (129). Das Haus ist in Auflösung. Inwiefern findet hier nun eine Virtualisierung statt? In Suna no onna wird, anders als in den vorigen Texten, das Haus als ‚Grund‘ nicht nur für die in ihm Wohnenden kontingent gesetzt, sondern als solches. Es wird deutlich, dass das Haus, das einmal anders gewesen sein muss (fest, stabil), auch anders sein könnte oder sein wird (vermodert, vom Sand zerfressen). Die Existenz des Hauses wird durch die Kraft des Sandes kontingent gesetzt; es ist in

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seiner Form hochaufgelöst. Es ist damit kein stabiler Grund mehr, weil es nicht auf stabilem Grund steht; es ist vielmehr auf Sand gegründet, der sich permanent verschiebt: Sie meinte, das Haus sei vielleicht durch den ständigen Sanddruck verschoben worden, oder das Sandloch selber habe sich verlagert. Ferner deutete sie an, daß der Hühnerstall und die irdischen Überreste ihres Mannes und ihres Kindes möglicherweise unter der dicken Sandwand lagen, die das Haus von dem des Nachbarn trennte, ja, daß sie vielleicht sogar schon in den Garten des Nachbarn geraten seien. (191)

Die Raumstellen verrutschen, und das Haus verrutscht mit. Es wäre im Widerspruch mit sich, wollte es „zum Verweilen einladen“, da es durch den Sand einer unaufhörlichen Desituierung ausgesetzt ist. Nicht nur die Bewohner verlieren hier ihren „angestammten Platz“ (so wie bei Heym), sondern auch das Haus. Der einzige Grund, warum das Haus überhaupt noch existiert, ist die Arbeit der Frau, die tagtäglich Sand in Kanister schaufelt, die von anderen Arbeitern nach oben gezogen werden. Würde niemand den Sand wegschaufeln, wäre das Haus innerhalb von zehn Tagen vom Sand verschüttet. Zunächst leistet die Frau diese Arbeit weiterhin allein, doch es zeigt sich bald, was das eigentliche Motiv dafür ist, den Mann im Sandloch festzuhalten: „‚Man wird des Sandes gar nicht mehr Herr, und wenn man noch soviel schaufelt! […]‘“ (31) Der Mann soll ihr helfen, denn es gibt zu wenig Arbeitskräfte im Dorf. Dass diese Arbeit sinnlos sein oder durch technische Maßnahmen erleichtert werden könnte, interessiert die Frau nicht, obwohl der Mann sie davon zu überzeugen versucht. Die Dorfbewohner widerstehen auf ihre Weise der Auflösung des Dorfes, sie arbeiten, obschon die virtualisierende Kraft des Sandes akzeptierend, eben dieser entgegen. Allein ihre Arbeit affirmiert jeden Tag aufs Neue, dass sie in diesem Dorf leben wollen, jeder Kanister Sand, der hochgezogen wird, bedeutet eine Aktualisierung jener virtualisierenden Frage, die der Sand kontinuierlich stellt: Das Dorf könnte aufgelöst werden – soll es? Jede Schaufel Sand, die von den Häusern weggeschaufelt wird, löst dieses Problem minütlich, indem es die Auflösung als Lösung nicht akzeptiert. Die Frau leistet und bietet indessen keinen Widerstand, und zwar weder gegen die Arbeit noch gegen den Mann; ebenso wenig wie der Sand, bei dem der Mann, wie er feststellt, ebenfalls „auf keinen Widerstand“ stößt und an dem er mit jedem erneuten Versuch, in ihm Halt zu finden, nur Kraft verliert (128). Auch die Frau schwächt auf diese Weise die Widerstandskräfte des Mannes. Kampflos nimmt sie es zwischendurch hin, von ihm als Gefangene genommen zu werden, sie „unterwarf sich nicht nur völlig seinem Willen, sie gehorchte ihm auch aufs Wort. Sie leistete keinen Widerstand“ (100). Die Frau lebt daher nicht nur vom Sand und im Sand: Sie ist wie Sand. Die Übersetzung des japanischen Originaltitels „Suna no

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onna“ mit „Die Frau in den Dünen“ ist gerade wegen dieses Zusammenhangs mehr als unglücklich. „Onna“ (女) bedeutet ‚Frau‘, aber „Suna“ (砂) bedeutet nicht ‚Düne‘, sondern ‚Sand‘ und „no“ kennzeichnet den Genitiv.235 ‚Frau des Sandes‘ oder ‚Sandfrau ‘ wäre demnach die wörtliche Bedeutung, und dies entspricht präzise der Poetologie des Textes: Diese Frau ist wie der Sand, sie ist wie er widerstandslos und gefügig. In seiner Verfilmung von Suna no onna 1964 hat Hiroshi Teshigahara diesem Umstand auch im Filmbild Ausdruck verliehen:

Abb. 3.8: Filmstill aus Suna no onna (1964).

Ohne größere Umstände freut sich die Frau über den neuen Mann im Haus und richtet sich ihr Leben mit ihm ein. Offensichtlich hat man im Dorf keine Scheu, sich zufällig vorbeikommender Wanderer zu bemächtigen und öffentliche Nachforschungen nach ihnen zu unterbinden. In diesem Sinne zeigt sich das Dorf – jenseits aller Befangenheit und Haftung – als ‚versandetes‘ Dorf: „Das Dorf stellte offenbar eine besondere, schon vom Sand zerfressene Welt dar, in der die allgemein gültigen Konventionen nichts mehr bedeuteten.“ (52) Gefangen in der

235 Ich danke Rie Mukai für die Hilfe bei der japanischen Übersetzung. Von ‚Suna‘ (砂) kann man nicht ‚Sunao‘ (素直) assoziieren, obwohl beide Wörter dieselben Silben (Suna) haben. Dies hätte gut zu dem Text gepasst, da „sunao na“ ‚gehorsam, gefügig, unbefangen‘ heißt und dann das Gefügige und Gehorsame mitgeklungen wäre, das auch den Sand und die Frau in Suna no onna kennzeichnet.

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Unbefangenheit kann der Mann von diesem Ausstieg aus dem allgemein Gültigen nichts halten, er möchte nicht bleiben. Anders als offenbar alles um ihn herum, verhält er sich widerständig und möchte gehen: „Na gut! Jeder hat so seine eigenen Ideen über das Leben; sie werden von anderen keineswegs immer geteilt. Schuften Sie sich nur weiter ab, tragen Sie den Sand hier weg und machen Sie, was Sie wollen! Aber ich kann das nicht länger ertragen! Ich habe es satt!“ (66) Sagt es, plant einen Fluchtversuch nach dem nächsten – und scheitert immer wieder am Sand. 3.4.2.3.3 Mitten im Forschungsfeld Grund für sein Scheitern ist der Sand als loser Grund, der keinen Widerstand bietet. Beim Versuch, den flachen Hang des Sandloches hochzugehen, setzt Jumpei seine letzte Kraft ein, erreicht aber nichts: „Obwohl er den Hang unter allen Umständen hatte erklettern wollen, hatte er seine Energie offenbar nur dazu eingesetzt, sich immer tiefer in den Sand einzugraben.“ (48) Hieran wird zum einen deutlich, dass Virtualität, wofür Sand als Modell steht, keinen Halt bietet, sondern jeder Versuch, sich im Prozess der Auflösung Halt zu verschaffen, nur zu hoher Kraftanstrengung führt und „immer tiefer“ in die Auflösungsprozesse verwickelt. Zum anderen zeigt sich, dass der Mann selbst noch bei seinen Fluchtversuchen wissenschaftliche Beobachtungen über den Sand anstellt, ja durch die wissenschaftliche Beobachtung versucht, sich aus seiner Gefangenschaft zu befreien: Er verzeichnet nicht nur seinen eigenen Energieverlust, sondern wird z. B. auch ein Modell des Sandlochs bauen, um zu begreifen, warum er diesen Hang nicht ersteigen kann. Er versucht also, den Sand zu verstehen, um seine Fluchtchancen zu verbessern, und ist zugleich nach wie vor fasziniert von den Eigenschaften des Sandes. Sein Interesse ist dabei nicht nur naturwissenschaftlich, sondern er entwickelt an der Sandmetapher auch philosophische Gedanken in einem fiktiven, inneren Dialog mit einem ehemaligen Kollegen: „[I]ch habe den Sand nur deswegen als Beispiel genannt, weil meiner Meinung nach die Welt letzten Endes wie Sand ist. Das Wesen des Sandes ist schwer zu erklären, wenn man ihn im Ruhezustand betrachtet. Der Sand fließt nicht, sondern das Fließen selber ist der Sand… Ich kann das leider nicht besser formulieren!“ (97) Nicht der Sand steht im Fokus dieses Gedankengangs, sondern das Fließen, und der Sand dient als Metapher für das Fließen, das die Welt in Bewegung hält. Dies, dass es in der Konstruktion seines philosophischen Modells auf die metaphorischen Qualitäten des Sandes ankommt und nicht – zumindest nicht in erster Linie – auf den Sand als Material, ist in der Tat schwer zu formulieren. Sand, von Jumpei einmal zur Weltmetapher erklärt, ist nun auf alles anwendbar, etwa auf

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seine Schüler (seine nun ehemaligen), die ihm wie Sand erscheinen, wenn sie an den Lehrern vorbeiströmen, die wiederum wie Steine im Fluss des Lebens an einer Stelle zu bleiben gezwungen sind (98). Aber die Konsequenzen, die Welt ‚als Sand‘ zu sehen, sind noch viel fundamentaler, denn die Betrachtungsweise verändert auch die Betrachtenden: „Man selbst wird vielmehr zu Sand! Man sieht die Dinge mit den Augen des Sandes.“ (97) Sand wird hier also als eine Perspektive auf die Welt verstanden! Mehr noch: als Perspektive des Fließens oder auch: als Perspektive der Virtualisierung. Besser könnte es keine Virtualitäts-Theorie beschreiben: Virtualisierung, das ist: „die Dinge mit den Augen des Sandes“ zu sehen, das ist: alles in Bewegung und Fließen zu versetzen, was sich im festen Zustand der Aktualität befindet. Das hat Auswirkungen auf das Konzept vom Haus. Der Mann entwickelt schon bald die Idee, dass sich die mühsame Arbeit, das Haus vor dem Sand zu schützen, als überflüssig erweist, wenn man nur die Betrachtungsweise ändert und die Sicht, dass alles fest verbunden sein muss, aufgibt. Das Haus kämpft dann nicht gegen den Sand um seine Situierung, sondern ist im Sand situiert: Wenn ein Schiff auf dem Wasser schwimmen konnte, dann vermochte es sicher auch auf Sand zu schwimmen. Würden sich die Menschen hier von dem Gedanken an festverankerte Häuser freimachen, brauchten sie ihre Kräfte nicht damit zu verschwenden, gegen den Sand anzukämpfen. Schwimmende Schiffe, dahinfließende Häuser, gestaltlose Dörfer und Städte… (43)

Der Mann behauptet also nicht, dass man diese Häuser nicht auf sandigen Grund hätte bauen dürfen, sondern er stellt im Gegenteil das Konzept der „festverankerten Häuser“ in Frage.236 Er sieht die Lösung darin, im ganz praktischen Sinne die Verkittung zwischen den Sandkörnern nicht mehr zu suchen, sondern sich der freien Bewegung des Sandes zu überlassen. Jumpei formuliert Flussers Konzept vom Unbehaustsein geradezu aus (auch wenn dabei andere Bilder entstehen als bei Flusser), denn die Häuser kämpfen nicht mehr gegen die losen Gründe an, sondern ergeben sich ihnen: Zu denken wäre etwa ein Haus in der Form eines Fasses, das alle Bewegungen mitmachen würde. Wenn es sich ein wenig neigte, würde der Sand sofort herunterfallen, und es hielte sich immer an der Oberfläche. Nur würden die Menschen es schwerlich in einem Hause aushalten, das immerfort schwankte und sich drehte. Daher wäre es am besten,

236 „[D]ahinfließende Häuser“ – noch ein Gedankenspiel in Suna no onna, aktuell schon eine Antwort auf die anstehenden Bedrohungen durch den vom Menschen verursachten Anstieg der Erdtemperatur: Ein niederländischer Architekt nennt sie „Archen“, die er entwickelt hat, um die Wohnweise der Menschen den steigenden Meeresspiegeln anpassen zu können. Vgl. Burkhard Strassmann: Die Sintflut kann kommen, in: Die Zeit 3 (10.01.2013), S. 31.

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zwei ineinandersteckende Fässer an einer gemeinsamen Achse zu befestigen, so daß der Boden des inneren Fasses einen eigenen Schwerpunkt besitzt. Das innere Faß wäre dann ziemlich stabil, nur das äußere würde sich bewegen […], ein Wiegenhaus, ein Wüstenschiff… Ganze Dörfer und Städte aus Schiffen würden ständig hin- und herschwingen… Unversehens fiel er in Schlaf. (44)

Mitten in seiner misslichen Lage betreibt der Mann das, was ihn ursprünglich hergeführt hat, nämlich Wissenschaft. Unversehens ist er mitten im Forschungsfeld gelandet, das er gesucht hat, mitten im Sand. Mehr noch, er hat auch die Insekten im Sand gefunden, die „Sandinsekten“ (21). Es sind allerdings dies nicht die tatsächlichen Käfer, sondern Sandinsekten im metaphorischen Sinne, gleichsam die ‚menschliche‘ Variante dieser Spezies. Die Unterscheidung von Mensch und Insekt wird vom Text permanent unterlaufen und aufgelöst. So stellt der Mann nicht nur fest, dass das „ganze [Dorf] wie ein halbzerstörter Bienenkorb“ wirkt (13), sondern er bemerkt auch beim ersten Blick in ein Sandloch fachmännisch: „Die Lebensbedingungen für Insekten waren hier sicher günstig“ (26). In der Tat leben die im Dorf Wohnenden in den Sandlöchern mit ihren „nahezu senkrechten“ Wänden wie die von Jumpei so sehr gesuchten Sandlaufkäfer, die laut Lexikon in „senkrechten Erdröhren auf vorbeikommende Beute“ warten: Sandlaufkäfer (Tigerkäfer, Cicindlindae), Käferfamilie aus der Unterordnung Adephaga, bes. in warmen Ländern verbreitet; 8-35 mm lang […]. S. sind sehr flinke Läufer, die ihre Beute blitzschnell überfallen. Die Larven lauern in senkrechten Erdröhren auf vorbeikommende Beute.237

Als fanatischer Entomologe hatte er gerade noch das sichere Gefühl, dass „er hier Beute finden würde“, da stößt er auf eines der Sandlöcher (20). Hier wird er tatsächlich später seine „Beute“ finden, wenn auch nicht in Form eines Käfers, sondern in Form der Erkenntnisse über den Sand und dessen Insekten. Die Frau nimmt er wiederholt wie ein ‚Insekt‘ wahr: Einmal krümmt sie sich „so, daß sie wie eine Wespe aussah, die Eier legt“ (117), und sie hat nicht nur in ihrem ‚Sandkäferloch‘ so lange gewartet, bis sie ihrerseits ihn als ihre „vorbeikommende Beute“ fangen kann; wie von einem Sandlaufkäfer wirkt auf ihn auch ihre Art, sich plötzlich wie beleidigt umzudrehen und wegzulaufen: „Es kam ihm vor wie der Trick des Sandlaufkäfers. Doch gerade deshalb gedachte er nicht, darauf hereinzufallen.“ (40)238 Am meisten fasziniert ihn die „außerge-

237 NN: Sandlaufkäfer, in: Die Zeit. Das Lexikon in 20 Bänden, Hamburg 2005, S. 547. 238 Der Mann hatte vorher dieses Verhalten des Sandlaufkäfers beschrieben als eine „verwirrende Art zu fliegen. Er flog weg, machte kehrt und wartete, als wolle er sagen: ‚Na, fang mich doch!‘ Und jedesmal wenn der Mann sich vorsichtig und voller Hoffnung näherte, flog der

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wöhnliche Anpassungsfähigkeit“ (14) der Insekten, „denn daß Fliegen sich so gut anpassen können, bedeutet ja wohl, daß sie selbst unter ungünstigen Umständen, unter Umständen, unter denen andere Insekten nicht mehr existieren können, zu leben vermögen – etwa in der Wüste, wo fast alle Lebewesen zugrunde gehen.“ (14) Diese Eigenschaft wird er nun während seiner Gefangenschaft ausgiebig an der Sandartigkeit der Dorfbewohner studieren dürfen, und so gesehen ist der gesamte Roman auch eine Allegorie auf die Tätigkeit des Forschens: Der Forscher ist (wie) gefangen in seinem Forschungsfeld (in seinem Thema), für das er das Ziel formuliert hat, den Sandlaufkäfer zu fangen (für das er eine Hypothese aufgestellt hat), wobei er anstatt des ‚eigentlichen‘ Sandlaufkäfers Menschen findet, die sich wie dieser verhalten (wobei er ein anderes Ziel erreicht, als er dachte, aber so zu einer umfassenderen Erkenntnis kommt). Für diese Metaphorisierung spricht, dass er in dem Moment, wo er ausgiebig die Dorfbewohner studieren kann, kein Interesse mehr an einem vorbeikrabbelnden (literalen) Insekt zeigt, das sogar ein Sandlaufkäfer zu sein scheint (179). Dass er den Sand verstehen wolle, weil er die Lebensgrundlage für den Sandlaufkäfer darstelle, erhält vor diesem Hintergrund auch eine neue Bedeutung; seine Erkenntnisse über den Sand verweisen nun auf die Eigenschaften und Lebensbedingungen der Dorfbewohner. Wenn der Mann also vom Sand und den in ihm lebenden ‚Insekten‘ gefangen ist, so ist er von seinem eigenen Forschungsinteresse ‚gefangen‘. Das Problem ist nur, dass auch er von den anderen wie ein Insekt behandelt wird – zumindest erscheint es ihm so. Er kann es nicht glauben: Kann es sein, dass die Dorfbewohner Leute wie ihn mitten aus der Zivilisation (ins Familienregister eingetragen, Steuer zahlend) „wie eine Maus oder ein Insekt in eine Falle locken und dort festhalten?“ (52) Im Sandloch eingesperrt findet er für sich vor allem Bilder von Tieren, die im Glauben, sie könnten entkommen, immer wieder erfolglos gegen die Wände ihres Gefängnisses ankämpfen, so wie etwa Fliegen: „Er war eine große, schwarze Fliege, die davonzufliegen glaubte, aber sogleich mit dem Kopf gegen eine Fensterscheibe prallte. Diese Fliegen – die muscina stabulans – haben zusammenhängende Augen, aber fast überhaupt keine Sehkraft.“ (114) Die Fähigkeit zu erkennen, dass er gefangen ist, ist ihm wie einer Fliege nicht gegeben, und wie ein Goldfisch im Glas versteht er erst nach und nach mit jedem neuen Fluchtversuch, dass das Gefängnis endgültig ist.239

Käfer wieder davon, drehte sich nach einer Weile um und erwartete ihn aufs neue. So hielt er ihn immer wieder zum besten und verschwand schließlich im Grasgebüsch.“ (15) 239 „Er kam sich vor wie ein Tier, das beim Sprung durch die Zaunlücke, die es für einen Fluchtweg gehalten hatte, plötzlich merkt, daß es sich in Wirklichkeit um die Tür zu seinem

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Schließlich wird er bei seinem letzten Fluchtversuch von den Dorfbewohnern wie ein Falter gefangen. Nach der Sandlaufkäfermethode kommt dafür eine zweite Fangtechnik zum Einsatz. Diese Analogie zum Insektenfangen wird jedenfalls in einer Szene nach seiner Rückkehr ins Sandloch angedeutet, in der er beobachtet, wie eine Spinne unablässig um den Lichtkegel der Lampe kriecht und darauf wartet, dass sie einen Falter fangen kann, der, vom Licht angelockt, um es herumfliegt: „Was für ein blindes, irres, von künstlichem Licht bewirktes Flattern!“ (203) Auch der Mann hatte bei seinem Fluchtversuch kurz zuvor die Lichter des Dorfes als Anhaltspunkt genommen, um sich in den Dünen zu orientieren. Die Lichter jedoch tauchten auf und verschwanden, sodass er nicht nur wiederholt vom Weg abkam, sondern das Gefühl hatte, „als bewege er sich immerzu an der gleichen Stelle im Kreise.“ (183) Wie der Falter vom Licht angezogen wird, kreiste er um das Dorf, in dem die Dorfbewohner wie die Spinne warteten, um ihn im rechten Moment fangen und ihn, nun wie Entomologen, mit ihren Lichtstrahlen gleich einem Schmetterling aufspießen zu können: „Eine der Taschenlampen besaß einen drehbaren Brennpunkt; als er eben schon gehofft hatte, sie sei ausgegangen, durchstach ihn ihr Strahl wie eine glühende Nadel.“ (193) Wie ein Falter und wie von einer Nadel aufgespießt fühlt er sich und ist in der Folge wie gelähmt und handlungsunfähig. Die Verhältnisse werden also umgedreht. Die Aussage des Mannes über das Haus im Sandloch, dass nämlich die „Lebensbedingungen für Insekten hier sicher günstig“ waren (26), stellt sich nun von einer anderen Seite dar: Das Haus erweist sich als Labor, in dem er sich als Insekt aufhält und in dem er gefangen gehalten wird. Wer betreibt aber dieses Labor, wenn der Mann selbst zum untersuchten Gegenstand wird? Stimmt die These, dass die Gefangenschaft des Mannes eine Allegorie auf das Gefangensein in seiner Forschung ist, so wäre er als ‚Sandinsekt‘ Gegenstand seines eigenen wissenschaftlichen Interesses und er hätte sich selbst in eine Umgebung begeben, die hierfür „sicher günstig“ wäre. Ebenso könnte der Mann aber auch das ‚Versuchsinsekt‘ des Textes sein, der ein bestimmtes Erkenntnisinteresse verfolgt. In beiden Fällen wäre die erste Forschungsfrage, wie es möglich ist, selbst zum Sandinsekt zu werden, und was es bedeutet, so zu sein wie die Sandinsekten und der Sand, die sich an die sandige Umgebung anpassen können und dem Sand keinen Widerstand leisten. In der Tat spielt der Mann – spielt der Text – diesen Fall durch; Jumpei verändert sich im Laufe des Textes, wobei er sich lange gegen die Anordnung, wie der Sand zu sein, sträubt. Die zweite Forschungsfrage wäre, was es heißt,

Käfig handelte. Oder wie ein Goldfisch, der – nachdem er immer wieder mit seiner Nase gegen das Glas gestoßen ist – dieses Glas endlich als eine undurchdringliche Mauer erkennt.“ (121)

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„mit den Augen des Sandes“ zu sehen, und zwar auch in letzter Konsequenz, also nicht allein als philosophische Modellbildung zur Beschreibung der Welt, sondern als grundsätzliche Seh-Einstellung. Mit der ‚Insektwerdung‘ des Mannes kehren sich jedenfalls auch in seiner Wahrnehmung die Verhältnisse allmählich um: Er wechselt nach und nach von der ‚Perspektivierung des Sandkorns‘ zur ‚Perspektivierung des Sandes‘, indem er schließlich feststellt, dass er „bisher nicht den Sand, sondern nur Sandkörner gesehen“ hatte (231). Das muss erklärt werden. 3.4.2.3.4 Das Sandkorn sehen Auf das Sandkorn zu sehen ist die gewohnte Sehweise des Mannes. Es bedeutet, das Sandkorn als einzelnes, als ein vom Sand Unterschiedenes zu betrachten. Er nimmt die Perspektive ein, die geologisch das Sandkorn in seiner Stabilität „nach innen“ beschreibt.240 In diesem Sinne gibt es bei Sandkörnern keine Kohäsion nach außen, aber eine umso stärkere Kohäsion innerhalb der Kristalle, die das Sandkorn bilden. Der Wert, der damit im Text verbunden wird, ist die Individualität, die vom Einzelnen gegen das Aufgehen in der Gemeinschaft verteidigt wird – ein Wert, den auch schon Schiller markiert, indem er mit der Metapher des Sandkorns die Wichtigkeit des Einzelnen hervorhebt.241 So kann der Mann nicht begreifen, dass die Frau ihr ganzes Leben, Tag für Tag, allein für den Zweck zu arbeiten bereit ist, dass das Dorf nicht im Sand versinkt: „Aber dann leben Sie ja nur, um immerfort Sand wegzuschaffen!“, schließt der Mann und möchte „um keinen Preis in ein solches Dasein verwickelt werden“ (40). Auch im Gespräch mit einem Alten aus dem Dorf zeigt sich eine grundsätzlich verschiedene Sichtweise. Während der Mann diesen davon zu überzeugen versucht, dass er mit seinem spezfischen Sand-Wissen den Dorfbewohnern helfen kann, wenn sie nur bereit wären, ihre Einstellung zu verändern,242 verweist der Alte ihn auf die Aussichtslosigkeit, anders als bisher den Erhalt des Dorfes zu sichern. Als der Mann seine Chance zu entkommen verstreichen sieht, pocht er schließlich auf seine Grundrechte als Individuum: „‚Aber ich muß doch auch an mich denken!‘ schrie er“ (150). Gerade dies, Eigensinn und Individualität, sind nun aber so wenig im Sinne des Dorfes, dass der Alte Konsequenzen, und das heißt hier die

240 Vgl. Kap. 2.2.1. 241 Vgl. ebd. 242 „Es ist natürlich wichtig, daß der Sand weggeräumt wird, aber das ist doch nur ein Mittel, nicht das Ziel selber. Ihr Ziel ist, sich vor diesem Sand zu schützen, nicht wahr?“ (148) Das Dorf soll den Sand für sich nutzen: „‚Sie sollten den Sand für sich arbeiten lassen, sich ihm fügen und nicht sich ihm widersetzen! Sie müssen lernen, völlig umzudenken!‘“ (148) „Sie brauchen sich nicht so daran zu klammern, auf diese althergebrachte Art zu leben.“ (149)

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einzige Verbindung Jumpeis mit der Freiheit nach oben, zieht: „Da zog der Alte das Seil in die Höhe.“ (150) Das Sandkorn ist eben nicht nur durch seine Stabilität nach innen einzeln, sondern auch durch seine ‚Losigkeit‘ nach außen. Weil es nicht mit anderen Sandkörnern verbunden ist, ist es diskret. Diese Diskretheit wird aber vom Dorf nicht gewünscht. Statt der Betonung des einzelnen Menschen (des Sandkorns) proklamiert man im Dorf das Aufgehen des einzelnen (des einzelnen Sandkorns) in der Menge (des Sandes). Der Mann erlebt diese Einbindung in die Unterschiedslosigkeit zunächst als gewaltsam, als Rückführung des Menschen auf die ‚bare‘ Existenz, um die er kämpft: „Hat der Begriff der Individualität denn im Angesicht des Todes überhaupt noch einen Sinn? Er wollte leben! Selbst wenn dieses Leben bar jeder persönlichen Form war und sich von anderen nicht mehr unterschied als ein Ei vom anderen.“ (198) – oder eben nicht mehr als ein Sandkorn vom anderen. Das ‚bare‘ Leben ist das, was dem Mann bleibt, ohne „[s]eine Träume, seine Verzweiflung, die Scham und sein guter Ruf, all das wurde nun vom Sand begraben und verschwand.“ (201) Als er von den Männern des Dorfes wieder einmal in eine Falle gelockt wird – er versinkt im Treibsand –, beschreibt er dies zweideutig als „Liquidieren“ (197). Das „Liquidieren“ bezieht sich sowohl auf die Auflösung (und damit Auslöschung) seiner Individualität im Sand als auch auf die mehrdeutige Materialität des Sandes: Obwohl Sand kein Wasser ist, ist er flüssig und verflüssigt – ‚liquidiert‘ – das, was in ihm versinkt. Die „hydrostatischen Eigenschaften von Sand“ sind die Bedingung der Möglichkeit zu virtualisieren, und sie ermöglichen metaphorisch das chemische ‚Liquidieren‘ als eine Weise der Virtualisierung, die im Text von Jumpei, insofern es seine Individualität auflöst – ihre festen Formen in lose Kopplungen überführt –, als gewaltsam erlebt wird. Der Protest des Mannes gegen seine drohende Entindividualisierung verbindet sich mit dem Protest gegen seine Entmenschlichung. Soll er sich wie ein Insekt anpassen und in einem der „Sklavenlöcher“ (173) für das Dorf arbeiten, hält er sich – „auch ich bin ein Mensch“ (102) – an sein Menschenrecht, einen eigenen Willen zu haben und nicht seiner Freiheit beraubt zu werden: Er pocht auf die Perspektive des Sandkorns. Auch die Gestaltung der eigenen Zeit gehört für ihn dazu, denn die Frau erlebt er in ihrer Zeitauffassung „wie ein Tier. Sie kannte nichts als das Heute. Es gab weder ein Gestern noch ein Morgen für sie! Ihr Herz war nur ein Punkt.“ (67 f.) Diese Entzeitlichung wird vom Mann als (herzlose) Entmenschlichung wahrgenommen. Die Unmöglichkeit, auch nur einen Tag mit dem Sandschaufeln auszusetzen, weil dann die Wasserrationen vom Dorf ausgesetzt werden, erscheint ihm als Angriff auf seine humane Integrität: „Ein Menschenleben besteht doch nicht aus vielen losen Blättern; es ist ein gebundenes Tagebuch und hat immer nur eine erste Seite. Man braucht

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seine Pflichterfüllung nicht auf jeder dieser Seiten zu beweisen, vor allem, soweit sie nicht mit der vorausgehenden in einem Zusammenhang steht.“ (126) Wenn er von Tag zu Tag wie von Sandkorn zu Sandkorn leben und arbeiten soll, sieht er sich in seiner menschlichen Existenz aufgelöst. Die Metaphorik des Buches lässt auch noch einmal an Borges’ El libro de Arena denken: Wie die Auflösung eines Buches in Seiten vollzieht der Sand die Auflösung des Menschen als eine zeitlich definierte Einheit.243 Sich an den Sand anzupassen bedeutet auch, sich in der Zeit aufzulösen, indem jeder einzelne Tag als ein einzelner erlebt wird und die Orientierung an der gesamten Lebensspanne aufgegeben wird. Es ist ein Leben jenseits der Differenzierung, ein Leben in unaufhörlicher Differentiation. Wenn die Zeit, so wie ein Buch in seine Einzelblätter, in ihre Einheiten zerfällt, so zerfällt sie als ein Ganzes – sie hört auf, als eine fortlaufende zu existieren. Vor diesem Stillstand der Zeit fürchtet sich der Mann, zumal er für ihn bereits begonnen hat: „Er blickte auf seine Uhr. Sand lag über dem Zifferblatt. Er rieb ihn an seiner Hose ab und sah, daß sie immer noch zehn Minuten nach zwei zeigte! Zehn Minuten nach zwei Uhr! Die gleiche Zeit also wie vorhin, als er das letzte Mal nachgesehen hatte! Mit einemmal verlor er alles Vertrauen in sein Zeitempfinden.“ (71) Was ihm zunächst wie eine persönliche zeitliche Desorientierung erscheint, ist jedoch mehr; nicht sein Empfinden trügt ihn, und auch die Uhr hat keinen technischen Fehler, vielmehr ist es die Logik des Sandes, die die Zeit aussetzt; so „bestand“, wenn er nicht floh, „die Gefahr, daß durch den rieselnden Sand nicht nur seine Uhr, sondern auch die Zeit selber stehenblieb.“ (91) Paradoxerweise ist es also gerade die Anpassung an die entdifferenzierende Bewegung des Sandes, die dazu führt, dass die Zeit zum Stillstand kommt. Insbesondere die Frau, die er zu begehren beginnt, erscheint ihm dabei als direkter Weg, eine „Marionette“ des Dorfes zu werden, und „sein Leben“ käme – entindividualisiert, entmenschlicht und entzeitlicht – „mit einem Schlag zum Stillstand“ (88). Dagegen begehrt der Mann auf, er weigert sich, sich an diese seiner Sichtweise so fundamental widerstrebenden Bedingungen anzupassen, und versucht mit aller kohäsiver Kraft, die er aus dem Blick auf sich als ‚Sandkorn‘ schöpft, dem ‚Sand‘ (als Menge) und damit seiner eigenen Auflösung in lose Kopplungen zu widerstehen.

243 Seine Gefangennahme hat ihn ebenso aus der Zeit gerissen: „Eine bloße Hinfahrkarte ist ein in Teile gerissenes Leben – ein Leben ohne Verbindung zwischen Gestern und Heute, zwischen Heute und Morgen.“ (159)

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3.4.2.3.5 Den Sand sehen Obgleich der Impuls des Widerstandes gegen die Lebensweise der Dorfbewohner stark ist, stellt der Mann fest, dass er ihr trotz allem etwas abgewinnen kann. So denkt er bei seiner schon für geglückt geglaubten Flucht an sein Leben im Sandloch zurück: „Wenn er alles das zusammenrechnete, kam ziemlich viel dabei heraus. So unglaubhaft es auch wirken mochte, dies alles hatte ihm wirklich etwas bedeutet.“ (188) Ebenso wünscht er herauszufinden, warum die Frau so zufrieden mit ihrem Leben im Sandloch scheint. Nach und nach begreift er, dass dies vom Lebensmodell ‚Sand‘ herrührt, von ihrer Einstellung, nicht das Sandkorn, sondern „den Sand zu sehen“, und diese Sichtweise entfaltet der Text, indem er das ganze Register der metaphorisch-geologischen Eigenschaften von Sand zieht. Zunächst ist es gleichsam das Aufgehen des einzelnen Sandkorns im Ganzen, das die Frau motiviert, denn sie hat nie nur sich (als einzelnes Korn), sondern immer auch den Erhalt des ganzen Dorfes (den Sand) im Blick, für den sie unverzichtbar ist. Wegzulaufen wäre für sie nicht nur unrecht,244 sondern vielmehr erhält sie alles Lebensnotwendige vom Dorf. Die Möglichkeit etwa, einfach spazieren gehen zu können, erscheint ihr nicht als Freiheit, sondern als zwecklos, da sie ihren Sinn im Wegschaufeln des Sandes sieht. Sie profitiert für sich von der Sicherheit des immer Gleichen: „Der Sand“, sagt die Frau „macht keine Pause…“ (40) Dies kann auch der Mann erleben, als er anfängt, sich auf das Leben im Sandloch einzulassen: „Die ständig wiederholte Bewegung verlieh der Gegenwart Sicherheit und Wirklichkeit.“ (209) Die Formulierung, die der Mann für das Leben in den Sandlöchern findet, nämlich als „perfekte Wiederholung des immer Gleichen“, entspricht zudem fast wörtlich einer der ältesten Definitionen des Unendlichen.245 Sich dem Sand anzupassen bedeutet also – aber nur, wenn man den Sand und nicht das Sandkorn betrachtet – nicht mehr gefangen zu sein, sondern die Abwechslung aufzugeben, um Freiheit im Unendlichen zu finden. Die Kohäsionskraft, die im einzelnen Sandkorn nach innen wirkt, wird der Verbindungskraft nachgeordnet, die das Sandkorn auf andere Sandkörner bezieht. Es wird durch rigide Kopplung mit anderen Elementen zum Teil einer Form. Wie der Sand, ohne Anfang und Ende, ist auch die sexuelle Lust, die Jumpei mit der Frau erlebt: „Letzten Endes hatte nichts begonnen und war nichts beendet worden. Nicht er hatte seine Begierde befriedigt, sondern offenbar irgendein

244 „Das Dorf kann nur existieren, weil wir alle ständig den Sand wegräumen. Täten wir das nicht, würden die Häuser in zehn Tagen unter dem Sand begraben liegen“ (41). 245 Vgl. Kap. 3.3.2.

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anderer, der seinen Körper ausgeliehen hatte. Geschlechtlichkeit gehört nicht dem einzelnen, sondern der Gattung.“ (141)246 Der Blick des Mannes entfernt sich zusehends von dem Bedürfnis, sich als abgegrenzt zu erleben, und richtet sich vermehrt auf das Aufgehen im Ganzen. Schließlich gibt er seinen Widerstand auf: „Gut, ich gebe nach! Ich habe verloren.“ (143) So wie er sich dem Sand fügt, fügt er sich am Ende – „ohne Widerwillen“ (155) – der Arbeit und vice versa. Er ‚fügt‘ sich, fügt sich ein und wird, indem er den Sand (und nicht das Sandkorn) anvisiert, wie der Sand, denn auch der „Sand war außerordentlich gefügig.“ (69) Diese Fügsamkeit erscheint wie eine späte Bejahung jener bereits zitierten Frage, die Jumpei zu Beginn des Textes durchdenkt: „Entsteht nicht gerade daraus, daß man unbedingt irgendwo haften will, der Kampf ums Dasein? Verzichtete man auf das Haftenwollen und überließe sich der Bewegung des Sandes, dann hätte dieser Kampf augenblicklich ein Ende.“ (18) Indem er sich „der Bewegung des Sandes“ endlich überlässt, findet er seinen persönlichen Frieden. Sobald er die Perspektive des Sandes ganz eingenommen hat, erscheint ihm sein bisheriges Leben mit anderen Augen. Das, was ihm zuvor als fester ‚Grund‘ erschien, problematisiert er nun. So stellt er fest, dass er nicht zuletzt in den Sand gezogen war, „weil er hoffte, hier diese [!] Pflichten und der Eintönigkeit seines Lebens wenigstens vorübergehend zu entfliehen.“ (42) Während etwa die Schülermenge „Jahr für Jahr gleich einem Fluß an ihm vorbei[strömte]“, blieb er selbst „wie ein tief auf dem Grund des Flusses liegender Stein zurück.“ (77) Eintönig und nutzlos erscheint ihm sein Leben ebenso wie das seiner Kollegen, die durch den „grauen Alltag grau bis auf die Haut geworden waren“ (95). Auch die Beziehung zu seiner Freundin sieht er problematisch, da sie nur dadurch zueinanderhielten, dass sie einander trotzten: „Sagte er das Gegenteil, vertrat sie den umgekehrten Standpunkt.“ (98) Die Individualität – das eigene ‚Sandkorndasein‘ – etablierte sich nicht in Orientierung an Meinungen und Inhalten, sondern nur im Wunsch, sie als solche zu verteidigen. Sie definierte sich nur in der Relation zu einem Gegenüber, von dem es sich abzugrenzen und zu unterscheiden galt, um einzeln (98), um ein diskretes ‚Sandkorn‘ zu sein. Diese Sicht auf das Sandkorn erscheint Jumpei nun der Grund für seine frühere Einsamkeit, die er als ungestillten Durst nach Illusionen definiert, als tägliches Einerlei aus individuellen Wünschen und Albträumen. Die Expedition in den Sand wäre demnach eine Flucht aus der Sicht auf das Sandkorn: War nicht vielleicht er selber auch des Blindekuhspieles mit seinen Illusionen müde geworden und aus diesem Grunde hierher in die Dünen geirrt. Zu diesem Sand, dem endlo-

246 Schon zu Beginn sind die Gefahr und die Bereitschaft Jumpeis, sich dem Sand zu überlassen, gekoppelt an sexuelle Erfahrungen mit der Frau (vgl. 36).

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sen Strom der 1,8 mm großen Sandkörner – das war gewissermaßen ein Selbstbildnis in einem Negativfilm, ein Bildnis, das sich an die Freiheit klammerte, nicht spazierengehen zu müssen. (87)

Der Vorstellung von Freiheit durch das ‚Sandkorn-Dasein‘ wird die Utopie entgegengesetzt, in der Limitierung auf das Leben im Sandloch diesen „Illusionen“ der Individualität zu entkommen. Gerade am Sand könne man lernen, nicht mehr an Dinge zu glauben, die „es in Wahrheit gar nicht gibt. Aus diesem Grunde interessiere ich mich sehr für den Sand, weil er, wie Sie ja wissen, viele hydrodynamische Eigenschaften besitzt, obgleich er ein fester Körper ist“ (96 f.). Der Anpassungsprozess des Mannes geht mit der Problematisierung alter Unterscheidungen und der Destabilisierung der gewohnten Sichtweise einher, die er zwar noch als verwirrend, aber immer weniger als bedrohlich erlebt. So erkennt der Mann schließlich, dass er auch in Bezug auf seine eigene Lage die Verhältnisse umkehren kann, indem er das Dorf nicht mehr als Macht betrachtet, die ihn gefangen hält, sondern als ohnmächtig einer Politik gegenüber, die sich um ärmliche Landstriche und die dortigen Probleme nicht kümmern möchte. Im Übergang und Wechsel der Sichtweisen erscheint ihm zunächst alles undeutlich und in Zwischenfarben, da die Grenze von Freund und Feind unscharf wird. Nachdem er sich mit der Sichtweise des Dorfes anfreunden kann, ist er schließlich auch bereit, sich auf Dauer mit der Frau zu verbinden und hierfür, selbst ‚Sand‘ werdend, die Grenzen seines Ichs aufzulösen; er liefert gleichsam ein Beispiel für die hydrostatischen Eigenschaften des Sandes, indem er mit der Frau ‚verschmilzt‘: „Was noch von ihm geblieben war, verwandelte sich in etwas Flüssiges und verschmolz mit ihrem Körper.“ (227) Die Virtualisierung durch ‚Liquidierung‘, im Sinne der Auflösung von (Körper-) Grenzen, ist ihm nun und auf diese Weise durchaus erwünscht. Er ist jetzt nur noch „der Mann“, als den der Text ihn schon von Beginn an bezeichnete, und nicht mehr das Individuum Jumpei Niki, dessen Name nur in der Verschollenenanzeige erscheint, mit der der Roman schließt. Diese generalisierende Bezeichnung markiert einen Systemwechsel: „Jumpei“ ist als Einzelner nicht mehr auffindbar, sondern nur noch als „Mann“; er ist als solcher kein Einzelelement mehr, sondern ein Element unter vielen, das zu sein diegetisch schon den ganzen Roman über mit seiner Benennung als „der Mann“ vorbereitet wurde. Die uneingeschränkte Bereitschaft, „den Sand“ und „mit den Augen des Sandes“ zu sehen, kann er erst zeigen, als er sich ebenso verbunden mit dem Dorf wie frei von ihm fühlt. Dies äußert sich in zwei Hinsichten: Erstens löst in ihm die Entdeckung, dass er im Sand Wasser sammeln und sich unabhängig von den Wassergaben der Dorfbewohner machen kann, keine Fluchtgedanken

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3 Virtualität der Formen

mehr aus, sondern geht vielmehr mit dem Wunsch einher, den Dorfbewohnern davon zu erzählen. Zweitens erlebt er die Trennung von der Frau, die von ihm schwanger ist und wegen Komplikationen ins Krankenhaus gebracht wird, als schmerzlich. Er wird nach oben gelassen, und es steht ihm frei, die Strickleiter in beide Richtungen zu nutzen, wann immer er möchte. Auch wenn es keine explizite Erklärung der Dorfbewohner gibt, stellt der Text die Kausalität her, dass der Mann in dem Moment, wo er bleiben möchte, gehen darf; und weil er gehen könnte, möchte er schließlich bleiben. In dieser Dialektik scheint das Ziel (der Dorfbewohner) zu liegen: Sandkorn im Sand zu sein. Nicht zuletzt ist hier – wie auch in anderen Texten Abes – sehr deutlich die Utopie eines kommunistischen Systems abzulesen, worauf Thomas Schnellbächer nachdrücklich hingewiesen hat.247 In diesem Zustand erkennt der Mann plötzlich Zusammenhänge: „Als er um sich blickte, übersah er alles. Ein Mosaik kann man nur aus der Entfernung richtig beurteilen. Tritt man begeistert näher, verliert man sich im Detail. Und löst man sich von einem Detail, absorbiert einen bereits das nächste. Vielleicht hatte er bisher nicht den Sand, sondern nur Sandkörner gesehen.“ (231) Der Detailblick, der Blick auf das Sandkorn, erweckt nunmehr „Übelkeit“ in ihm (232), da durch ihn alles „klein und insektenhaft“ erscheint – so wie nun die Menschen aus seinem alten Leben. Statt weiter auf das Unterschiedene, isolierte Kleine zu sehen, das im Kampf um seine Abgrenzung von anderen einsam ist, möchte er lieber alles ‚wie Sand‘ sehen: unterschiedslos, unendlich, ohne Anfang und Ende, immer gleich und damit zeitlos. Dieser Perspektivwechsel weg vom Sandkorn hin zum Sand organisiert ihn fundamental neu: „Die Veränderung im Sand hatte eine Veränderung in ihm bewirkt. Vielleicht hatte er, durch das Wasser im Sand, ein neues Ich entdeckt!“ (232) „Mit den Augen des Sandes“ zu sehen heißt also schließlich auch, mit dem Sand zu sehen, wie der Sand gesehen werden kann. Sand funktioniert in Suna no onna daher durchgehend auch als erkenntnistheoretische Metapher. Im Zuge des Unterscheidens von Sandkorn und Sand werden die Prozesse des Differenzierens und Entdifferenzierens sichtbar: Das Sandkorn zu sehen bedeutet, seine Unterschiedenheit zu sistieren und hierdurch die Differenzen zwischen den Sandkörnern immer wieder neu zu aktualisieren. Den Sand zu sehen bedeutet hingegen, von der Unterschiedslosigkeit der Sandkörner im Sand auszugehen und deren Differenzen immer wieder in

247 Vgl. Thomas Schnellbächer: Abe Kobo, Literary Strategist. The Evolution of his Agenda and Rhetoric in the Context of Postwar Japanese Avant-garde and Communist Artists’ Movements, München: Iudicium 2004.

3.4 Lose Gründe: Auflösung von Situierungen

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den Zustand der Differentiation hinein zu virtualisieren, wobei gerade hierin die Form besteht, in der die Sandkörner als Elemente gebunden sind: die Form von Sand. Nicht die möglichen Formen des einzelnen Sandkorns, sondern sein Eingebundensein im Horizont der möglichen Formen von Sand sind dann der Sinn, den das einzelne Sandkorn hat. 3.4.2.3.6 Sand als loser und fester Grund Sand ist auch in Suna no onna nicht kein Grund, sondern ein loser Grund. Die Häuser befinden sich nicht auf keinem, sondern auf instabilem Grund. Aber ist dieser lose Grund wirklich durchgängig lose? Bezogen auf das architektonische Fundament der Häuser ist das in jedem Fall so, aber auf der metaphorischen Auflösungsebene verhält es sich anders. Auch wenn das Dorf beständig der eigenen literalen Auflösung entgegenarbeitet, ist diese Tätigkeit im metaphorischen Sinne nicht lose gegründet und das tägliche Sandschaufeln keine sinnlose Sisyphos-Arbeit. Zum einen wird der aus den Löchern geschaufelte Sand an Bauunternehmer verkauft, die damit ihren Zement strecken. Da dies allerdings die Existenz der Häuser in den Sandlöchern nicht hinreichend erklärt, scheint ein anderer Grund noch zentraler: Indem die Dorfbewohner als Gesamtheit der Auflösung durch den Sand und der Unterschiedslosigkeit des Sandes entgegenarbeiten, wird die Form des Dorfes bewahrt. Immer wieder wird die Form der Häuser aktualisiert, indem ihr Aufgehen in der Unterschiedslosigkeit des Sandes negiert wird. Gerade dies kennzeichnet aber nach Luhmann die Form von Sinn: das rekursive Aufrechterhalten von Systemgrenzen durch die permanente Sistierung der Unterscheidung von Selbst- und Fremdreferenz.248 Die Differentiation, das heißt die Differenzlosigkeit des Sandes und das Hauslose, ist also der Grund des Dorfes, weil hierdurch die Tätigkeit der Dorfbewohner, die in einem unaufhörlichen Redifferenzieren besteht, einsetzen kann. Daher kann auch der Vorschlag des Mannes, auf dem Sand schwimmende Häuser zu bauen, keinen Erfolg haben, weil durch solche Häuser die Notwendigkeit dieser aktualisierenden Tätigkeit ausgesetzt würde. Die Bewohner des Dorfes haben ihren festen Grund darin, dass sie den instabilen Grund stabilisieren, sodass die Stabilität des Grundes durch die Formen und nicht durch das Medium gewährleistet wird.

248 Vgl. z. B. Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. 1, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1999, Kap. I/III Sinn, S. 44–59.

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3 Virtualität der Formen

Ähnlich verhält es sich mit der Virtualisierung der Person ‚Jumpei‘. Zwar hat der Mann die Definition seiner eigenen Person problematisiert und seine Entdifferenzierung akzeptiert, aber er findet hierin einen neuen ‚Grund‘, der als stabiler ausgestellt wird als sein voriges Lebenskonzept. Der Mann und die Frau sind sich mitten im Sand ein ‚Grund‘. Obwohl der Mann ein Haus auf losem Grund vorfindet, erweist es sich in konzeptueller Hinsicht als ein fester Grund für seine Existenz. Obwohl das Haus als literaler Grund permanent durch den Sand kontingent gesetzt wird, wird gerade dies am Ende im metaphorischen Sinne als Lebenskonzept sistiert. Obwohl die Häuser im literalen Sinne nicht „zum Verweilen“ einladen, sind sie durch ihre Stabilität im metaphorischen Sinne ein Ort, an dem der Mann schließlich verweilen möchte. Während sich im literalen Sinne noch das Problem stellt, wie man an einem solchen instabilen Ort Halt finden kann, ist die Lösung des Problems auf konzeptueller Ebene schon dadurch gefunden, dass der Mann die größtmögliche Stabilität für sich sieht, wenn er bleibt. Ausgezogen, um ein neues Sandinsekt zu entdecken und mehr über den Sand zu erfahren, ist der Mann selbst zum Gegenstand seiner Expedition geworden. Am Ende des Romans wird deutlich, dass hier die eigentliche Forschung stattgefunden hat, denn die neue Spezies, die der Mann entdeckt, findet er auch in sich selbst: ein neues Ich, ein neues Sand-Ich, das „mit den Augen des Sandes“ sehen und „den Sand sehen“ kann. Durch diese neue Sichtweise hat er die Virtualisierung seines Lebens – die Auflösung seines alten Lebens durch sein Leben im Sandloch – selbst durch die Aktualisierung neuer Unterscheidungen – die Sistierung neuer Begründungen – beendet. Die Narration hört damit nicht wie Haus auf Sand gebaut oder House of sand and fog im Zustand der Auflösung von Formen auf. Vielmehr zeichnet sich am Ende von Suna no onna eine Neubildung von Formen ab durch die Bildung eines neuen und festen Grundes. Während sich die ‚Gründe‘ des Mannes mit seinem Einzug in das Sandloch zunehmend aufgelöst haben, haben sich im Zuge dieses Prozesses bereits neue Kopplungen gebildet. Die Existenz als ‚Sandkorn‘ hat sich schließlich, so zeigt der Roman, als loser Grund für den Mann erwiesen, der seinen festen Grund stattdessen ‚im Sand‘ findet. 3.4.2.4 Andrucha Waddington: Casa de areia In der immer wieder scheiternden Flucht zeigt sich eine deutliche Parallele von Suna no onna und dem brasilianischen Film Casa de areia (The House of Sand) (2005) von Andrucha Waddington.249 Eine junge Frau (Áurea) zieht 1910 mit

249 Andrucha Waddington: Casa de areia, Brasilien 2005.

3.4 Lose Gründe: Auflösung von Situierungen

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ihrem Mann (Vasco) in die brasilianische Wüste, wo dieser auf einem frisch erworbenen Stück sandigen Lands siedeln möchte. Schon in der Anfangseinstellung ist das Rieseln des Sandes deutlich zu hören und auch im Vordergrund zu sehen, während sich im Hintergrund der Tross der Siedler über die Dünen kämpft. Von Anfang an möchte die schwangere Áurea zurück: „This is no place for a child. This is no place for anyone.“250 Wodurch sich ein geeigneter „Ort“ für die Gründung einer Familie auszeichnet, schätzt Vasco jedoch anders ein; er will, mit Verweis auf die unbezahlbaren Schulden zu Hause, an diesem Ort aus Sand bleiben, stirbt jedoch sehr bald unter dem zusammenfallenden Gerüst des neugebauten Hauses, während gleichzeitig die Helfer fliehen. Áurea bleibt mit ihrer Mutter allein zurück, in einem Haus, von dem sie erfährt, dass es an einem ungünstigen Ort steht, weil der Sand alles mitnehmen wird: „This sand moves.“ Das Haus stellt also für Áurea in doppelter Weise einen instabilen Grund – einen losen ‚Grund‘ und Grund – dar: Möchte sie schon nicht bleiben, weil dieser Ort für sie keine geeignete Basis für ihr Lebenskonzept darstellt, bewegt sich außerdem eine große Sanddüne auf ihr Haus zu, und es ist nur eine Frage der Zeit, wann es unter ihr begraben sein wird. Das Haus wird für Áurea ein in beiden Hinsichten problematisches Feld. Während sich die Düne über die Jahre hinweg immer weiter auf das Haus zubewegt, scheitern alle Fluchtversuche, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil Massu, einer der wenigen Menschen, die in der Nähe leben, aus eigenem Interesse jeden ihrer Fluchtversuche heimlich verhindert. Auch dieses Haus hat damit nicht keinen Grund, sondern einen losen Grund: in literaler Hinsicht, weil die Sanddüne sich immer weiter in das Haus schiebt, und in konzeptueller Hinsicht, weil es als ‚Grund‘ solange kontingent gesetzt ist, wie Áureas Fluchtgedanken einen Horizont alternativer Möglichkeiten eröffnen. Solange das Problem, ob und wie sie gehen könnte, nicht gelöst ist, bleibt für sie das Haus als ‚Grund‘ virtuell. Die vorerst letzte Chance zur Flucht ergibt sich fast zehn Jahre später, als Wissenschaftler in die Wüste kommen, um eine Sonnenfinsternis zu filmen, und Áurea versprechen, sie mitzunehmen. Áurea möchte Mutter und Tochter holen, findet aber das Haus ganz und gar vom Sand verschüttet (vgl. Abb. 3.9). Áureas Mutter hat die Verschüttung durch den Sand nicht überlebt, und ihre Tochter sucht Áurea so lange, dass sie nicht rechtzeitig zur Abfahrt des Trosses zurückkehrt. Das im literalen Sinne vollends aufgelöste Haus deutet nun auch

250 „I am not staying in this house. I refuse to live here.“ (Waddington: House of Sand [Casa de areia])

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3 Virtualität der Formen

Abb. 3.9: Auflösung von Haus und Lebensplan in Casa de Areia (2005).

auf eine Auflösung im metaphorischen Sinne, weil die Flucht nicht mehr zu aktualisieren ist. Nach deren abermaligem Scheitern und der endgültigen Versandung des Hauses entschließt sich Áurea ebenso endgültig für Massu und das Leben in der Wüste. Diese Entscheidung verwandelt die Metaphorik des Sandes in ihr Gegenteil, indem der lose Grund aus Sand unter Massus Haus für sie zu einem festen geworden ist und sie der Kontingenz ihrer Verortung, dem beständigen Wunsch nach einem anderen Ort, eine Notwendigkeit entgegengesetzt hat. Selbst als ihre Tochter später eine neue Flucht versuchen möchte, die wegen der im Zuge der technischen Entwicklungen nun immer wieder auftauchenden Autos in greifbare Nähe rückt, möchte Áurea bleiben. Auf die Provokation ihrer Tochter, sie habe hier doch nichts, antwortet sie: „I have a family.“ Nach der Virtualisierung ihres Lebens durch den Auszug in den Sand, also die Auflösung der Definitionen, die ihr Leben vor der Umsiedelung in die Wüste kennzeichneten, hat sie durch ihr Leben mit Massu eine Situierung aktualisiert; die zunächst unmöglich scheinende Gründung auf losem Grund ist durch ihre Entscheidung für Massu gerade auf diesem Grund möglich geworden. Die Tochter geht schließlich ohne ihre Mutter; nach Jahren kehrt sie mit der Neuigkeit zurück, dass der erste Mann auf dem Mond gelandet ist. Mit der Nachricht, dass er „nur Sand“ fand, endet der Film und schließt so den Kreis von Áureas Auszug in die Wüste bis zur Expedition ‚der‘ Menschheit auf den Mond über den Sand, der als Metapher für einen losen Grund steht, der das, was als stabil gilt, in Bewegung versetzt. Hat die Menschheit auf dem Mond

3.4 Lose Gründe: Auflösung von Situierungen

195

eine neue Welt gesucht und am Ende „nur Sand“ gefunden, erscheint in dieser Parallelisierung auch Áureas Leistung, ein neues Leben gesucht und nur ‚Sand‘ gefunden zu haben, als ebenso nüchtern wie beachtlich. Ein Grund kann als Grenze Ausgangs- und Zielpunkt sein251 – in Casa de areia ist er in der Parallelisierung von Áureas Wüstensand mit dem Mondsand der Menschheit als Zielpunkt zu verstehen, wobei der lose Grund, den Sand konnotiert, bedeutet, dass gängige Definitionen und Verständnisse revidiert, dass sie virtualisiert werden müssen. Das Wissen vom Mond, wie es vor seiner ersten Begehung durch Menschen bestand, wird in dem Moment virtuell, wo es durch neue Erkenntnisse aufgelöst wird und zu einer neuen Form von Wissen umstrukturiert werden muss. Insofern ist der lose Grund im erkenntnistheoretischen Sinne das eigentlich produktive Moment. Die Situationen von Jumpei im Sandloch und Áurea in der brasilianischen Wüste sind durchaus vergleichbar: Es gibt eine Expedition, an deren Ziel ein sandiger Grund wartet, es gibt ein Paar, dessen einer Teil versucht, den anderen zur Gründung auf losem Grund zu zwingen, es gibt den Widerstand und die scheiternden Fluchtversuche, auch wenn bei alledem die Geschlechterrollen vertauscht sind: In Casa de areia versucht die Frau zu fliehen, in Suna no onna der Mann. Bei beiden aber wird an der Metaphorik des Sandes gezeigt, wie sich ihr ursprünglicher Lebensplan auflöst und ein Problem darstellt, und zwar solange, bis durch eine Entscheidung eine Lösung gefunden wird, die den Prozess der Virtualisierung anhält.

3.4.3 Desituierung: Virtualisierung von Gründen Die zweite Variante der Virtualisierung, die Desituierung, wurde in Kapitel 3.4 als Auflösung von Gründen erläutert. Der Fokus richtete sich damit nicht wie in Kapitel 3.3 auf die Formen, die sich im Medium auflösen, sondern auf die sich auflösende Form des Mediums – nicht auf die Objekte, die von Stellen wechseln, sondern auf die Stellen, die keine Stabilität für Objekte bieten. Während ich eingangs Modelle (Barthes, Derrida) zitierte, die diese Auflösung von Raumgefügen auf Texträume beziehen, ist für die hier besprochenen Texte zu resümieren, dass sie ihre eigene Medialität nicht zum Thema machen (was sie hätten tun können); sie verhandeln vielmehr die Auflösung von Gründen über ihren Gegenstand, also über die Metapher Sand. Sand wird in diesen Texten

251 Vgl. hierzu Kap. 3.4.

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3 Virtualität der Formen

geologisch als loser Grund herausgestellt und als Metapher für lose ‚Gründe‘. Das Haus reiht sich dabei in das metaphorische Feld von Grund und Sand metonymisch ein und funktioniert, indem es einen Grund darstellt, selbst als Medium, als Metapher für eine Raumstelle. Als Haus auf Sand spezifiziert es den Grund als besonders instabil: Die rigiden Kopplungen können sich in diesem Medium nicht lange halten. Was ist nun im Blick auf die bisherigen Überlegungen und Analysen unter Virtualisierung als Desituierung zu verstehen? 3.4.3.1 Was wird lose, wenn sich ein Grund auflöst? Medientheoretisch gesprochen wird die Formbildungsweise eines Mediums lose, das heißt seine Eigenschaft, ein Medium zu sein. Metaphorisch gesprochen wird ein ‚Grund‘ lose: etwas, das ein festes Fundament dargestellt hat, definiert war und damit Ausgangs- und Zielpunkt sein konnte. Es findet hierdurch kein Wegfall von Gründen im Sinne einer Entgründung statt, sondern sie werden lediglich lose; sie sind da, bieten aber kein stabiles Fundament mehr, weil sich ihre rigiden Kopplungen auflösen. Dies zeigte sich etwa im Film White Sands: Der Agent, der hinter dem Koffer mit der halben Million Dollar herjagte, mag am Ende nach wie vor Geld als ‚Grund‘ seiner Handlungen sehen, aber da es durch Sand ersetzt wird, erweist es sich als loser Grund, dessen Losigkeit durch den Sand augenscheinlich wird. In Großaufnahme wird gezeigt, wie seine Hände erst nach Geld – und in den Sand – greifen, sich sodann umdrehen, um ihren Inhalt zur Schau zu stellen, diesen aber, den Sand, sogleich, da er durch die Finger rieselt, fassungslos (!) verlieren. Geologisch gesehen ist Sand ein loser Grund. Betrachtet man den Sand metaphorisch als ‚Grund‘,252 so ist er auch metaphorisch gesehen ein ‚loser Grund‘. In der Wendung vom ‚Haus auf Sand‘ kann das Haus ebenso den geologischen wie den metaphorischen Grund betreffen. In den Texten von Heym und Dubus III löst es sich als ‚Grund‘ auf, während in den Texten von Abe und Waddington seine Auflösung als Grund auch im geologischen Sinne sichtbar wird: Der Sand bietet in beiden Fällen eine tatsächlich instabile Grundlage für das jeweils auf ihm gebaute Haus, sei es, weil es – Abe – in einer Düne versinkt

252 Die Wörterbücher verweisen zum Schlagwort ‚Grund‘ immer auch auf die übertragene Bedeutung von Grund, etwa der Grund des Herzens, der Grund der Wahrheit, die feste Grundlage (vgl. Jakob und Wilhelm Grimm: Grund, in: Dies.: Deutsches Wörterbuch, Bd. 9, Vierter Band, I. Abteilung, 6. Teil, Nachdruck München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1984 [1935], Sp. 666–751) oder auch Grundlage, Begründung, Berechtigung, Ursache oder Grundsatz (vgl. NN: Grund, in: Deutsches Rechtswörterbuch, Sp. 1152–1171).

3.4 Lose Gründe: Auflösung von Situierungen

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und vom Sand aufgelöst zu werden droht, oder weil es – Waddington – von einer Düne zugeschüttet wird. 3.4.3.2 Wie funktioniert die Virtualisierung von Situierungen? Die Virtualisierung von Situierungen wird durch Kontingentsetzungen und damit verbundene Problematisierungen in Gang gesetzt. Eine Möglichkeit ist, Entscheidungen im Lichte ihrer Alternativen zu betrachten, sodass Entscheidungen als Medien des Entscheidungsraums aufgelöst werden. Raumstellen werden für kontingent erklärt, indem bestehende Verortungen problematisiert werden. Gesetztes in dieser Weise im Horizont seiner Auflösung zu sehen, wird durch die Wendung vom ‚Haus auf Sand‘ metaphorisiert, die so zu einer Metapher für die Kontingenz von Situierungen wird. Diese Virtualisierung von Situierungen wird in den besprochenen Texten zum ‚Haus auf Sand‘ zum einen dadurch initiiert, dass der Besitzstand eines Hauses problematisch wird. Treten mehrere mögliche Alternativen durch Anmeldung eines Besitzanrechts auf, wird die aktuelle Situierung kontingent, und sie bleibt es, solange die Alternativen im Raum stehen. Das Deutsche Rechtswörterbuch hebt in diesem Sinne die Bedeutung von Grund als justiziablem Raum hervor, als „räumlich aufgeteilte Erdoberfläche“ im Sinne von „Grundstück, Grundbesitz“ und „Herrschaftsbereich“.253 Ist der Grund lose, wird die einmal gesetzte Aufteilung kontingent und ist kein Garant mehr für Eigentum. In der Rechtsprechung gewinnt das Wort ‚Grundeigentum‘ überhaupt nur dort sein Profil, wo es dem beweglichen Eigentum gegenübergestellt wird. Das Grundeigentum ist im Rechtsverständnis etwas Unbewegliches.254 Stellen die Besitzrechte von Eigentum und Grundeigentum also eine Form der Problemlösung dar, die Aktualisierungen möglich machen, so werden ebendiese Aktualisierungen in den Texten von Heym und Dubus III problematisiert. Nachdem es erst noch – aktualisierend – „Besitz ist Besitz“ (Heym) bzw. „Geschäft ist Geschäft“ (Dubus III) heißt, führen beide Texte dann vor, wie aus dem jeweiligen Präsens Indikativ der Konjunktiv der Kontingenz wird. Die Kontingentsetzung erfolgt in beiden Texten durch eine Virtualisierung der Rechtslage, da plötzlich mehrere Parteien das Besitzrecht für sich reklamieren können, das am Ende entweder aktualisiert wird (Heym) oder virtuell bleibt (Dubus III). Das Haus ist in diesen Fällen zwar existent, aber im metaphorischen Sinne findet

253 NN: Grund, in: Deutsches Rechtswörterbuch, Sp. 1152–1171, hier Sp. 1152, 1159, 1163. 254 Vgl. Adalbert Erler: Grundeigentum, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, hg. v. dems. u. Ekkehard Kaufmann, Berlin: Erich Schmidt Verlag 1971, Sp. 1821.

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3 Virtualität der Formen

seine Auflösung statt: Es ist ‚auf Sand gebaut‘, weil seine stabile Situierung in instabilen Rechtsgrundlagen ‚verrutscht‘. Die Virtualisierung des Hausbesitzes bedeutet mithin, dass das Haus zu einem problematischen Feld wird: Es ist „beweglich“, indem es (zunächst) für niemanden als unbestrittener „Herrschaftsbereich“ aktualisiert werden kann. Während bei Heym und Dubus III eine solche Virtualisierung von Situierungen die Auflösung von Besitzrechten betrifft, wird bei Abe und Waddington anhand der Metapher vom Haus auf Sand eine Situierung im Sinne des eigenen Behaustseins in der Welt problematisiert. Die entsprechenden Figuren, Áurea und Jumpei, geraten beide durch einen Ortswechsel in einen länger andauernden Prozess der Desituierung. Beide suchen mehr (Jumpei) oder weniger (Áurea) freiwillig einen anderen Ort auf, um bewusst (Áurea) oder unbewusst (Jumpei) die bisherige Lebensform aufzulösen. Beide sind gezwungen, dort zu bleiben und in einem Haus zu wohnen, das in literalem Sinne auf Sand gebaut ist. Beide wehren sich gegen diese Art der Situierung, und indem sie versuchen, aus diesem Zustand zu fliehen, stellt er für sie eine Desituierung dar. Weil Alternativen zum aktuell Gegebenen von ihnen ständig mitgedacht werden, wird es kontingent gesetzt und diese Kontingenz der aktuellen Situierung eine Weile perpetuiert. Die Kontingenz erscheint dabei in beiden Fällen als eine von Grund und ‚Grund‘. Die Häuser stellen durch ihren sandigen Grund nicht nur keine sichere Lebensbasis dar, sondern auch der Ort, von dem sie herkommen, ist mit seiner Lebensform als ‚Grund‘ fraglich geworden: Bei Jumpei, weil er in Beruf und Beziehung ‚im Grunde‘ nicht glücklich ist; bei Áurea, weil die wirtschaftliche Lage ‚daheim‘ eine Rückkehr nicht zulässt. Auch die neue Situierung stellt aber (noch) keinen neuen Lebensgrund dar, weil für Jumpei das Leben als Gefangener im Sandloch ebenso inakzeptabel ist wie für Áurea das einsame Leben in der Wüste fernab jeder Zivilisation und Kultur. Für beide wird daher das eigene Haus zu einem Haus aus Sand nicht – wie bei Heym oder Dubus III – durch fragliche Besitzverhältnisse, sondern weil sie sich auf einer existenziellen Ebene die Frage stellen: Wo ist mein ‚Haus‘? Solange Áurea und Jumpei diese Frage stellen und aus ihrer Situation zu fliehen versuchen, kann diese nicht als neue Lebensgrundlage aktualisiert werden. Sobald aber die Entscheidung fällt, dass die neue Situation alternativlos bleiben soll, sobald also die Situation nicht weiter durch Fluchtpläne problematisiert wird, wird der Prozess der Virtualisierung (die Grundlosigkeit) angehalten und das Bleiben als neue Situierung aktualisiert. Während bei Jumpei nur ein Perspektivwechsel nötig ist, damit das Haus im Sandloch sich für ihn zu einem Zuhause entwickelt, muss Áurea aus ihrem völlig von Sand verschütteten Haus aus- und in die Hütte von Massu ein-

3.4 Lose Gründe: Auflösung von Situierungen

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ziehen. Für beide ist jedoch damit jeweils der Prozess der Virtualisierung an ein Ende gekommen. 3.4.3.3 Wie funktionieren die Prozesse der Virtualisierung? Es wird deutlich: Virtualisierung ist kein Schritt, sondern vielmehr eine Reihe von Schritten. Und schon von „Schritten“ zu sprechen ist eigentlich falsch, da es sich weniger um zerlegbare Etappen handelt als vielmehr um einen Prozess mit kontinuierlichen Übergängen. Das folgende Schema versucht, einen solchen Prozess, der dabei doch wieder behelfsmäßig in Schritte unterteilt wird, in einer Art Großaufnahme abzubilden: von der Perspektive der Formauflösung (der Virtualisierung) über deren Ziel (die Virtualität) bis hin zum Übergang in die Perspektive der Formbildung (der Aktualisierung) und den darin gebildeten Formen (deren Aktualität), die dann wieder aufgelöst werden können, sodass der Prozess von Neuem beginnt, wenn er nicht schon längst an einer anderen Stelle wieder begonnen hat:

Perspektive: Virtualisieren Auflösung von Formen

Virtualität

Perspektive: Aktualisieren Bildung von Formen

Aktualität

rigide Kopplungen auflösen lose gekoppelt

rigide koppeln

rigide gekoppelt

entdifferenzieren

Differentiation

differenzieren

Differenzen

kontingent setzen

kontingent (so oder so) sein Gegebenes ist nicht gegeben

Setzungen vornehmen

Gegebenheiten

Entscheidungen hinterfragen

Unentschiedenheit

entscheiden

Entscheidung, entschieden sein

problematisieren, Problemaufriss

Problem!

lösen

Lösung!

Stellen auflösen

instabile Stellen

stabilisieren von Stellen

stabile Stellen

entgrenzen

ohne Grenze, anfangs-, endlos sein

definieren

Definition

lockern

lose sein

festigen

fest sein

öffnen: Möglichkeitsfeld flexibilisieren

Möglichkeitsvielfalt

schließen: Möglichkeiten selegieren

Geschlossenheit: Möglichkeiten ausgewählt

vom Untergrund loslösen

Haltlosigkeit

situieren, verorten

Situierung

Abb. 3.10: Prozesse der Virtualisierung (eigene Darstellung).

Was für Konsequenzen hat es, wenn dieser Prozess an einer Stelle auf- oder angehalten und damit einer der Vorgänge perpetuiert wird? Endet die Virtualisierung nicht, löst sich das Medium – hier: das Haus aus Sand – als

200

3 Virtualität der Formen

Grund auf. Es gibt auf Dauer keinen Ausgangs- oder Zielpunkt, kein Fundament und auch keine Grenze. Die Gegenbewegung, die diesen Prozess umlenken könnte, ist die Aktualisierung, z. B. das Fällen einer Entscheidung. Würde die Aktualisierung indessen kein Ende haben, so gäbe es eine immer stabile Raumstelle, aber keine Veränderung des Mediums: Es würden die immer gleichen Prinzipien der Formbildung gelten. Insofern könnten die einmal vorgenommenen Setzungen auf Dauer auch nicht als kontingent betrachtet werden und würden möglicherweise wie eine unumstoßbare Macht oder Beschränkung wahrgenommen werden. Die Utopie, die sich daraus entwickeln könnte, wäre, der Macht solcher Setzungen zu entkommen und neue Möglichkeiten zu eröffnen. Ein Virtualisierungsprozess wäre angestoßen, der wiederum auf Dauer gestellt werden oder bald umschlagen könnte in eine Aktualisierung… Die in Kapitel 3.4.2 besprochenen Texten weisen zwei Varianten im Rahmen dieser Prozesse auf. Zum einen wird die Möglichkeit durchgespielt, dass die Virtualisierung fortdauert. Bei Dubus III sprechen sich beide Seiten auf unabsehbare Zeit gegenseitig die Rechte am Haus ab und stellen es einander als Lebensgrundlage in Frage. Da es aber auch jenseits dieses Virtualisierungsgeschehens keine Stabilitäten gibt, etwa in Form sozialer Kohäsionskräfte, die im Zustand der Auflösung Halt geben könnten, dauert die Virtualisierung des Grundes an und eskaliert in einer Weise, dass auch über das Ende der Geschichte hinaus keine Aktualisierung absehbar ist: Der Sand, aus dem das Haus besteht, rieselt und rieselt und rieselt. Ähnlich endet die Erzählung auch bei Heym in einem Moment, in dem zwar eine Lösung für die Besitzrechte gefunden ist (eine Aktualisierung vorgenommen wurde), aber für das Ehepaar Bodelschwingh noch keine neue Situierung in Aussicht steht. Das Ende der Geschichte zeigt deren Situiertheit in Auflösung. Einen anderen Akzent setzen die Texte von Abe und Waddington. Hier findet am Ende der Geschichte eine Neubildung statt: Sowohl Áurea als auch Jumpei treffen letztlich die Entscheidung zu bleiben und setzen damit der Virtualisierung ein Ende. Die Texte münden in eine Neubildung, eine Aktualisierung, die darin besteht, dass beide einen neuen Ort gefunden haben, an dem sie sich ‚behaust‘ fühlen können. Für Áurea wird dies, wie am Ende des Films zu erfahren ist, bis zu ihrem Tod anhalten, und auch für Jumpei ist nichts anderes anzunehmen, da er im Dorf eine neue Existenz begonnen hat, die nicht zuletzt durch die Tatsache gefestigt wird, dass er Vater wird. Die Texte proliferieren mithin zwei völlig unterschiedliche Typen aus dem oben beschriebenen Prozess der Virtualisierung. Der Moment, in dem der Prozess narrativ angehalten und damit auf Dauer gestellt

3.4 Lose Gründe: Auflösung von Situierungen

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wird, ist signifikant, denn am Ende der Narration zeigt sich, welchen Stellenwert die Virtualisierung einer Situierung erhält. Das leitet über zur nächsten Frage: 3.4.3.4 Wie wird die Virtualisierung bewertet? Der Moment, an dem der Virtualisierungsprozess narrativ angehalten wird, deutet auf die Wertschemata, die den Texten zugrunde liegen. Wird die Virtualisierung nicht aufgelöst und sogar katastrophisch, wird sie als Problem im negativen Sinne ausgestellt. So bleibt in Heyms Text eine neue Situierung des Ehepaars Bodelschwingh offen: „Aber wo stehen wir dann?“,255 fragt Elisabeth am Ende der Erzählung, und ihre Frage wird nicht mehr beantwortet. Am Schluss ist ihre Situierung endgültig und dauerhaft ‚lose‘, das heißt die Narration endet im Moment der Formbildung. Ein solcher Schluss verweist auf die erste Variante vom Haus, das auf Sand gebaut ist. Da Elisabeths Frage unbeantwortet bleibt, offenbart sie die Unsicherheit der Desituierung, und es wird im Sinne der Bergpredigt die Opposition von losem und festem Grund aufgerufen. Sand, so markiert das Ende, ist ein loser und damit in dieser Variante ein falscher Grund, insofern die Bergpredigt ein sicheres und dauerhaft stabiles Fundament für ein Haus als wünschenswert voraussetzt. „Aber wo stehen wir dann?“ verweist auf das Problem der Situierung, das in Heyms Erzählung am Ende ebenso ungelöst bleibt wie im Roman von Dubus III. Insofern dieses Problem aber nicht als Ideal-, sondern als Katastrophalzustand eingestuft wird, korreliert die Metapher vom Haus, das auf Sand gebaut ist, in diesen beiden Texten und angesichts ihrer narrativen Schlüsse mit einem gleichsam erhobenen Zeigefinger, der durchaus moralisierend zu verstehen ist: Sand ist kein fester Grund, darum sei, wer sich ein sicheres Haus bauen möchte, vor dem Versuch einer sandgegründeten Situierung gewarnt. Ganz andere Schlüsse implizieren die Anordnungen der Narration bei Abe und Waddington. Hier steht am Ende jeweils eine Neubildung, ein Beginn der Redifferenzierung und der Problemlösung. Es wird in beiden Fällen deutlich markiert, dass durch die Entscheidung zu bleiben eine neue Situierung geschaffen wurde. Die Narration endet also mit der Entscheidung für eine neue Formbildungsweise. Das Medium ‚Haus‘ hat eine neue Form gefunden, die nun die Situierung für die neue ‚Lebens‘-Form ist. In Suna no onna besteht diese neue Situierung paradoxerweise in der Unsituiertheit: Jumpei wird sein neues Behaustsein in der Hauslosigkeit finden; er erlangt festen ‚Grund‘ in der Anpassung an die hohe Auflösung des Sandes. Zunächst möchte er diese Anpassung nicht leisten, wodurch er allerdings einen massiven Kraftverlust erleidet: Er vermag es nicht, sich den fortgesetzten Ver-

255 Heym: Auf Sand gebaut, S. 48.

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schiebungsbewegungen des Sandes entgegenzusetzen. Beispielhaft zeigt dies der Text anhand seines Versuchs, den flachen Sandhang vor dem Haus heraufzusteigen, denn auch wenn er hier seine gesamte ihm verbliebene Kraft einsetzt, erreicht er nichts: „Obwohl er den Hang unter allen Umständen hatte erklettern wollen, hatte er seine Energie offenbar nur dazu eingesetzt, sich immer tiefer in den Sand einzugraben.“ (48) Der Grund für sein Scheitern ist der lose Grund, der keinen Widerstand leistet – Virtualität bietet keinen Halt, und der Versuch, sich im Prozess der Auflösung Halt zu verschaffen, führt nur zur Vergeudung von Kraft und verwickelt „immer tiefer“ in die Auflösungsprozesse. Erst als der Mann die Auflösung akzeptiert, weil er sie nicht mehr als Virtualisierung des Hauses, sondern als Aktualisierung eines täglich je neuen Prozesses wahrnimmt (die Virtualisierung als immerzu Aktuelles), verliert er durch das Sandschaufeln keine Kraft mehr, sondern gewinnt an Kraft durch die immer neue Stabilisierung des Prozesses, für den er sich am Ende entscheidet (Sand schaufeln). Virtualisierung und Aktualisierung, so zeigt dieser Wahrnehmungswechsel des Mannes, sind nichts Vorgängiges, sondern entstehen durch die perspektivischen Einstellungen. Die neue Situierung Jumpeis besteht in der Entscheidung für eine neue Form von Haus, die mit Flussers Konzept des ‚neuen‘ Hauses korrespondiert: Das Medium Haus erhält selbst eine neue Form, und zwar – das ist die zweite Variante vom Haus auf Sand – als Haus in Bewegung. Die Metapher Sand steht hier für die Hauslosigkeit im Sinne einer Auflösung der Idee ‚Haus‘. Damit ist ein anderer Umgang mit Fundamenten und Fundierung verbunden, im Zuge dessen es positiv erscheint, wenn keine feste Ordnung (vor)gegeben ist. Das Haus ist dann wie der Sand in fortwährender Bewegung, worin ein Entwicklungspotential gesehen wird. Das Haus wird dadurch, so könnte man sagen, als Medium selbst virtualisiert. Der Sand wird in der Konsequenz auch als Metapher für Wissenschaft lesbar, insofern die Vorläufigkeit von Rahmungen und die Beweglichkeit von Wissen ebenfalls eine notwendige Voraussetzung für Wissensgenerierung sind. Suna no onna, der Roman, der die Aspekte von Sand am umfassendsten von allen Romanen theoretisiert und die Metapher mit neuen Implikationen anreichert, spielt auch diesen Gedanken durch. Der Roman sieht selbst „mit den Augen des Sandes“, indem auch jedes feste Bild von Sand aufgelöst wird: Sand kann nicht nur für Bewegung stehen, sondern auch für Stillstand, nicht nur für Tod, sondern auch für Leben, und nicht nur für die Instabilität der Auflösung, sondern auch für die Stabilität durch Instabilität. Es ist, so sagt der Roman selbst, zur Erkenntnis von Sand ähnlich lange zu forschen wie zu den Bruchstellen hinter dem Komma der Zahl Pi, deren Berechnung ein Jahrzehnt erforderte (vgl. 215). Ein Bezug zwischen Sandstruktur und Wissenschaft wird auch in Waddingtons House of Sand hergestellt: Der erste Mensch auf dem Mond fin-

3.4 Lose Gründe: Auflösung von Situierungen

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det bei seiner Erforschung des Erdtrabanten doch vor allem eins, nämlich, wie Áureas Tochter sagt, „Sand“. Die Reise von Áurea in das sandige Neuland wird, die Unvergleichbarkeit beider Reisen ironisch brechend, mit dem Flug zum Mond verglichen, und ihre, wenn auch zunächst unfreiwillige, Situierung im Sand erhält eine nachträgliche Bestätigung. Die Metapher Sand funktioniert bei Abe und Waddington also nicht wie ein warnender Zeigefinger (wie bei Heym und Dubus III), sondern als indexikalischer Zeigefinger, der ein „Weiter so“ markiert, da die abschließende Situierung im Sand positiv erscheint. Der Punkt, an dem das Ende der Narration im Formbildungs- und -auflösungsprozess angesiedelt ist, gibt auf diese Weise Aufschluss über die Wertmuster des Textes: Dies wird als Endpunkt gesetzt, und das kann katastrophisch oder voller Potential erscheinen. Dadurch werden in Bezug auf die Konzipierung vom ‚Haus auf Sand‘ zwei Wertungsweisen ersichtlich: negativ verstanden in Opposition zum Haus auf festem Grund und positiv verstanden als Haus in Bewegung. Diese beiden Wertungsweisen markieren die Eckpunkte für die Pragmatik angesichts loser Gründe. 3.4.3.5 Sand als loser Grund. Eine philosophische Metapher Sand als Metapher für lose Gründe kann ein Denkmodell für existenzielle Fragen sein, wenn der ‚Grund‘ eines ganzen Lebens zum Problem, kontingent gesetzt, virtualisiert wird. Ist das Haus eine Metapher für eine Raumstelle, so wird diese in der Metapher vom Haus auf/aus Sand destabilisiert. Auch das Haus auf/ aus Sand zeigt auf einer sehr ‚grund‘-sätzlichen Ebene an, dass eine menschliche Existenz nicht definiert, ihre Formbildung also unlimitiert und unbestimmt ist sowie keine feste Basis mehr hat. Der Sand bzw. das Haus aus/auf Sand kann in diesem Sinne als philosophische Metapher verstanden werden, die sich auf den ‚Grund‘ des Lebens und seiner Handlungen bezieht: Eine Existenz wird zusammen mit den Konzepten, die sie tragen, zu einem problematischen Feld. Wird die Situierung in der Welt als instabil perspektiviert, stellt sich die Frage, welches die Gründe für die so lose gewordenen Gründe sind. Welche Auslöser sind für die Virtualisierung der Situierung relevant? Trägt eine Existenz diese Gründe in sich – ist sie also aus Sand und ist sie also für sich kein Grund? Oder hat ihre Desituierung Gründe außerhalb ihrer selbst – steht sie also auf Sand und hat keinen Grund? Bejaht man die erste Frage – eine Existenz ist ein Grund –, bedeutet das, dass Objekte, wenn sie wie aus Sand sind, sich nicht selbst halten können. Haben Objekte dagegen einen Grund in sich, sind sie auch dann noch stabil, wenn die Stellen verrutschen. Da Jumpei in sich stabil ist, kann er sich nicht nur in seiner Desituierung zurechtfinden, sondern auch eine neue Situierung seiner Existenz vornehmen, während Kathy in sich so instabil ist, dass sie im Prozess der Desituierung überhaupt keinen Halt

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3 Virtualität der Formen

mehr findet. Ist also das Objekt selbst kein Grund, sondern wie aus Sand, so ist es der Kontingenz der Stellverschiebung stärker ausgesetzt. Bejaht man die zweite Frage – eine Existenz hat einen Grund –, bedeutet das, dass die Gründe, wenn sie wie aus Sand sind, wechseln und keinen Halt für Objekte bieten. Die Instabilität der Objekte, die keinen Grund haben, kommt nun von außen. Die Ursachen einer solchen Auflösung werden in den besprochenen Texten nur angerissen, aber es lassen sich zumindest zwei unterschiedliche Erlebnisweisen unterscheiden. Entweder wird ein Wechsel selbst initiiert, weil es keine stabilen Gründe mehr gibt (Expedition wegen individueller Unzufriedenheit wie bei Abe, Emigration wegen ökonomischer Instabilität wie bei Waddington), wobei sich auch der neue Grund als zunächst instabil erweisen kann; oder eine Stelle rutscht gleichsam ‚unter‘ Objekten weg, sodass im Gegensatz zur vorigen Situation erst die neue Situation als instabil erscheint (Verlust des Hauses nach einem Systemwechsel wie bei Heym, Verlust des Hauses durch einen Rechtsirrtum wie bei Dubus III). Gleichwohl ist diese Trennung nicht immer aufrecht zu erhalten, denn bei Heym ist nicht nur der Systemwechsel Grund für die Desituierung, sondern auch die individuelle Bereicherung, die diesem Systemwechsel vorausging; ebenso ist Kathy zwar Opfer eines Justizirrtums, aber ihre Instabilität gründet auch in ihrem individuellen Versagen. Lose Gründe können, wie die Beispiele zeigen, Ursache und Ergebnis der Virtualisierung sein. Ist der Grund der Existenz lose, folgen hieraus Virtualisierungsprozesse, die nicht ohne Weiteres zu stoppen sind: Die Losigkeit des Sandes ist endlos. Hat allerdings ein Objekt einen Grund in sich, so kann die Raumstelle instabil sein, ohne dass das Objekt sich auflöst (Stein im Sand). Ist umgekehrt die Raumstelle stabil, so kann das Objekt instabil sein, ohne dass es sich auflöst (Sand im Glas). Erst wenn Stelle und Objekt instabil sind, lösen sich alle Gründe auf (Sand im Sand). Neben der Frage nach den Gründen loser Gründe kann auch die Frage nach dem Wert von losen Gründen gestellt werden: Welchen Wert hat die Destabilisierung existenzieller Lebensgrundlagen? Welchen Wert hat die Virtualisierung von Situierungen, wenn sie die Existenz betreffen? Ist ein Virtualisierungsprozess endlos, zieht dies einen grundsätzlichen Verlust von Gründen nach sich, da die Virtualisierung in der Entkopplung von Setzungen besteht. Es wird dann fortlaufend virtualisiert, und das heißt: problematisiert, kontingent gesetzt, desituiert. Ist indessen ein Prozess der Aktualisierung endlos, bedeutet dies eine dauerhafte Sistierung von Gegebenem, ein Ausblenden von Alternativen, eine Aussetzung von Veränderungsmöglichkeiten und eine grundsätzliche Verweigerung von Problematisierungen. Einem Virtualisierungsprozess wohnen mithin sowohl eine hohe Auflösungskraft als auch ein hohes Reorganisationspotential inne, das ohne die vorangegangene Auflösung unmöglich wäre. Versteht man menschliche

3.5 Lose Eindrücke: Auflösung von Archivierungen

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Entwicklungen als Prozesse, die Dedefinitionen von Definitionen immer wieder notwendig machen, um Erkenntnisgewinne und produktive Reorganisationen zu ermöglichen, besteht genau in diesem Sinne der – allerdings immer wieder als solcher zu überprüfende – Wert der Virtualisierung.

3.5 Lose Eindrücke: Auflösung von Archivierungen Virtualisierung wurde in Bezug auf lose Gründe als Problematisierung von Raumgefügen erläutert. Unter losen Eindrücken soll nun Virtualisierung als Problematisierung von Zeitgefügen thematisiert werden. Medien sind nach Luhmann über die Zeit hinweg stabiler als Formen.256 Formen setzen sich zwar stärker durch, sind aber „weniger beständig als das mediale Substrat. Sie erhalten sich nur über besondere Vorkehrungen wie Gedächtnis, Schrift oder Buchdruck.“257 Formen bleiben in Anbetracht verstreichender Zeit (sich auflösender Zeitstellen) nur dann stabil (permanent), wenn sie in Medien der Archivierung gespeichert werden; Medien der Archivierung stoppen die Prozesse der Formauflösung. Ihre medialen Eigenschaften sind allerdings umso besser, je leichter sie Eindrücke zulassen. Die Eindrücke sind dann präziser, wie Fritz Heider in Bezug auf Spuren schreibt, denn „die Spur wird um so charakteristischer sein, je mehr Freiheiten das Medium in dem Moment hat, in dem ihm die Spur eingedrückt wird. Desto besser ‚folgt‘ es dem Eindrückenden.“258 Je höher der Virtualitätsgrad eines Mediums ist, desto ‚medialer‘ ist es, d. h. desto besser kann es als Medium funktionieren. Wenn das ‚Eindrückende‘ sehr schwach ist, kann es nur dann einen Eindruck geben, wenn das Medium hinreichend ‚medial‘ ist; und dieser kann nur dann erinnert werden, wenn dies in einem Medium geschieht, das die so entstandenen Formen außerdem auf Dauer speichern kann. Der Sand erfüllt die erste, aber auf keinen Fall die zweite Bedingung: Sand ist ein gutes Medium, aber ein schlechtes Medium der Archivierung! Sand ist also nicht nur eine Metapher für instabile Raumgefüge, sondern auch für instabile Zeitgefüge und für die Auflösung von Formen in diesen Zeitgefügen (die impermanence von Formen): Sand ist ein Medium für die verrinnende Zeit ebenso wie für die Auflösung von Formen über die Zeit hinweg bzw. für jene Medien, in denen sich Formen nicht erhalten können. Dies betrifft

256 Vgl. Kap. 2.1.3 und 2.1.6. 257 Luhmann: Medium und Form, in: Ders.: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1997, S. 190–202, hier S. 200 – im Folgenden als Kurztitel zitiert: Luhmann: Medium und Form, GdG. 258 Fritz Heider: Ding und Medium, Berlin: Kadmos 2005, S. 85.

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auch die veränderliche Form von Medien selbst; ein Phänomen, das zuletzt mit dem Begriff des „Ephemeren“ der Medien beschrieben wurde.259 Sand ist bezogen auf den Begriff des Archivs eine Metapher für die Unmöglichkeit stabiler Archivierung und damit auch der unmöglichen Stabilisierung einer kulturellen Ordnung. Angesprochen ist durch die Sandmetapher mithin das, was ich nach den Verfahren der Dissolution und der Desituierung die dritte Variante der Virtualisierung bezeichne, die Dearchivierung von Formen. Unter Dearchivierung verstehe ich sowohl die Auflösung der Zeitstellen als auch die Auflösung von Formen in der Zeit. Prozesse der Dearchivierung sind oft auf Kontingenz bezogen oder von Kontingenz abhängig.

3.5.1 Bewegte und angehaltene Zeit: Sanduhr und „gesammelter Sand“ Wie Sand als Metapher die Auflösung von Zeitstellen thematisiert, werde ich an zwei konträren Modellen zeigen: der Sanduhr und der Sandsammlung – und letztere anhand von Italo Calvinos Essay Collezione di sabbia (Gesammelter Sand) (1984). Beide stehen als metaphorische Modelle für die Taktung der Zeit, die entweder ‚verrinnen‘ oder ‚stillstehen‘ kann: Während die Sanduhr das Bewegen, das Verstreichen der Zeit abmessen und vor Augen führen soll, soll der gesammelte Sand das Stillstellen von Zeit sichtbar werden lassen. Diese beiden Modelle der Zeitdarstellung gehen von einer ‚Sichtbarmachung‘ des ‚Zeitflusses‘ aus, die in einem gleich zweifachen Sinne zu einfach gedacht ist: Weder ist Zeit – ebenso wenig wie Medien – sichtbar, noch fließt sie linear von einem Punkt zum nächsten. Dennoch wird genau dies suggeriert, indem der Sand auf der Basis dieser Vorstellung als Metapher für die fließende bzw. stillgestellte Zeit eingesetzt wird und ein Modell für die einander entgegengesetzten Verfahren der Dearchivierung und Archivierung bietet. Sichtbar können jedoch immer nur die Formen sein, die sich über die Zeit hinweg auflösen oder – bei gelingender Archivierung – bestehen bleiben.

259 Es „lässt sich das Ephemere als ein entscheidendes Kriterium und als eine differentia specifica gegenüber Normalverläufen verstehen, innerhalb derer die jeweils in Medien realisierten Formen auftauchen und wieder verschwinden. Selbst wenn das Einzelmedium strukturell gegenüber transitorischen Zeitstrukturen mehr oder weniger indifferent und invariant bleibt, können die in Medien jeweils realisierten Formen verloren gehen. Deshalb erscheinen in Phasen eines Medienumbruchs die überkommenen Medien in gewisser Weise kontingent – bis hin zur Möglichkeit ihres Verschwindens ihrer vertrauten Funktion.“ (Ralf Schnell/Georg Stanitzek (Hg.): Ephemeres. Mediale Innovationen 1900/2000, Bielefeld 2005, S. 7–12, hier S. 7)

3.5 Lose Eindrücke: Auflösung von Archivierungen

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3.5.1.1 Die Sanduhr als Metapher für die Bewegung von Zeit Eine Sanduhr ist ein Gerät zur Messung von Zeit, wobei Menge und Beschaffenheit des Sandes das Zeitmaß bestimmen. Für das Maßnehmen muss der Sand fließen: Die Sanduhr „besteht gewöhnlich aus zwei durch eine enge Öffnung miteinander verbundenen bauchigen Glasgefäßen, die mit feinem Sand gefüllt sind. Nach Umkippen strömt der Sand vom oberen in das untere Gefäß, wobei die durchgelaufene Sandmenge ein Maß für die verflossene Zeit ist.“260 Der Sand bewegt sich, während das Glas diese Bewegung rahmt. Sand ist eine Metapher für instabile Zeitstellen, und am Glas (der Metapher für das stabile Objekt), an dem der Sand vorbeirieselt, scheint das Verstreichen der Zeit ersichtlich zu werden. Die Stabilität des Glases und die Instabilität des Sandes sind also die Bedingung der Möglichkeit dafür, dass die Sanduhr ein Medium der Zeitmessung sein kann.261 Sanduhren gibt es seit dem Hochmittelalter, wobei der Entstehungszeitpunkt nicht genau datiert werden kann; es gibt aber gute Gründe, ihre Verbreitung im vierzehnten Jahrhundert anzusetzen.262 So hatte man erst „mit der Einführung der gleichlangen Stunden […] für Sanduhren, ‚Stundengläser‘ bzw. ‚Sandstunden‘, Verwendung“.263 Die Sanduhr ist zu dieser Zeit neben der Räderuhr ein Instrument, an dem der Umgang mit abstrakten Fristen wie der Stunde erlernt wird, und sie ist etwa für die Regelung der Schiffswachen im Gebrauch, aber auch für die Gangkontrolle öffentlicher Uhren.264 Für die Verbreitung der Sanduhren ab dem vierzehnten Jahrhundert sprechen auch Darstellungen in der Kunst. So

260 NN: Sanduhr, Stundenglas, in: Brockhaus – Die Enzyklopädie, 20. Aufl., Leipzig/Mannheim: Brockhaus 1998, S. 99. Vgl. auch: „Sanduhr, (Stundenglas), altes Zeitmessgerät. Ein doppelkegelförmiges, geschlossenes Glasgefäß enthält feinen Sand, der durch eine Gefäßverengung in vorgesehener Zeit vom oberen in den unteren Glaskolben rieselt; Symbol der unwiederbringlich dahinfließenden Zeit und des Todes.“ (NN: Sanduhr, in: Die Zeit. Das Lexikon in 20 Bänden, Bd. 12, hg. v. Joachim Weiß, Hamburg: Zeitverlag Bucerius 2005, S. 438) 261 Vgl. auch Kap. 5.1. 262 Vgl. Rudi Koch: Sanduhr, in: Ders. (Hg.): Uhren und Zeitmessung. BI-Lexikon, Leipzig 1987, S. 177 f. Auf das 14. Jahrhundert datiert ihre Entstehung auch Arno Borst: Computus. Zeit und Zahl in der Geschichte Europas, Berlin: Wagenbach 1990. Vgl. auch NN: Die Geschichte der SANDuhr, in: SANDWelten, Homepage des Deutschen Sandmuseums Salzgitter, unter http://sandwelten.de/sanduhren-geschichte/ [03.02.2019]. Vgl. zu weiteren Bildern und Referenzen: Lothar Hasselmeyer: Streifzug durch die Geschichte der Sanduhren, unter http:// www.uhrmacherwerkstatt.com/Sanduhren/sanduhren.html [29.11.2019]. 263 Gerhard Dohrn-van Rossum: Die Geschichte der Stunde. Uhren und moderne Zeitordnung, München/Wien: Hanser 1992, S. 115. 264 Vgl. ebd. „Sanduhren haben für die Durchsetzung des sozialen Gebrauchs der neuen Stundenrechnung und für die Erprobung neuer zeitorganisatorischer Techniken weit über das Spätmittelalter hinaus eine den Räderuhren mindestens vergleichbare Rolle gespielt.“ (Ebd.)

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3 Virtualität der Formen

befindet sich die wahrscheinlich älteste Darstellung einer Sanduhr in der Hand der Temperantia auf dem Fresko Buongoverno von Ambrosio Lorenzetti im Palazzo Publico in Siena von 1337; ältere Figuren der Temperantia halten hingegen üblicherweise einen großen und einen kleinen Mischkrug,265 doch dieses „Mischgefäß“, schreibt Gerhard Dohrn van Rossum, wird nun durch ein „Messgefäß“ ersetzt:266

Abb. 3.11: Temperantia. Detail aus Ambrogio Lorenzettis Fresko Il buon governo (1338–1340).

Während im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert die Zeitmessung noch nicht allzu genau sein muss,267 wird im Laufe des siebzehnten Jahrhunderts das Pendel für die Uhrmacherkunst entdeckt, und es „eröffnete die Epoche der Präzisionsinstrumente.“268 Diese Präzision wird spätestens im achtzehnten Jahrhundert

265 Vgl. ebd., S. 14–16. 266 Ebd., S. 15. 267 „Im ganzen 15. und 16. Jahrhundert gingen die Uhren, soweit sie überhaupt funktionierten, im Laufe eines einzigen Tages gewaltig vor oder nach. Nach allzu großer Genauigkeit bestand kein Bedarf, man begnügte sich mit einem einzigen Zeiger für die Stunden.“ (Carlo M. Cipolla: Die gezählte Zeit. Wie die mechanische Uhr das Leben veränderte, Berlin: Wagenbach 1997, S. 42) 268 Ebd., S. 68.

3.5 Lose Eindrücke: Auflösung von Archivierungen

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dringlich, als es darum geht, das Beförderungstempo der Post zu optimieren.269 Ende des achtzehnten Jahrhunderts zeigt sich zusätzlich, dass Beschleunigung und Verdichtung des Verkehrs- und Nachrichtenwesens nicht nur die Präzisierung, sondern auch die Synchronisierung der Orts- und Regionalzeiten erforderlich macht. Im Postwesen ist z. B. eine Abstimmung der Boten, die die Nachrichten in Staffeln überbringen, zunehmend erwünscht, um die postmäßige Beförderung zu beschleunigen. Bis dahin gibt es nur die Ortszeiten bzw. ‚bürgerlichen Zeiten‘. Ende des neunzehnten Jahrhunderts gibt es „Diskussionen und Konventionen zur Vereinheitlichung und Koordination aller lokalen und regionalen Gewohnheiten der Tageszeitbestimmung“; es entstehen die Begriffe ‚Universalzeit‘ und ‚Weltzeit‘.270 Spätestens Ende des neunzehnten Jahrhunderts machen „die Pünktlichkeits- und Koordinationsbedürfnisse der Fabriken, der Schulen und des großstädtischen Nahverkehrs […] Art, Technik und Qualität der öffentlichen Zeitindikation zum Dauerthema“, aber durch „allerhöchste Genauigkeitsforderungen[] und seit den sechziger Jahren unseres Jahrhunderts wird die Zeit physikalisch bestimmt, nach den 9 192 631 770 Schwingungen, die das Cäsiumatom pro Sekunde ausstrahlt.“271 Dennoch – auch wenn das Sandkorn natürlich nicht die Präzision eines Cäsiumatoms bietet und die Sanduhr nicht für eine überregionale synchrone Zeitmessung geeignet ist, haben Sanduhren bis heute ihren Nutzwert als individuelle Zeitmessgeräte nicht verloren, und sie werden nach wie vor zur Messung kürzerer Zeitabschnitte eingesetzt, meist im alltäglichen Bedarf. Aber sie sind auch ästhetisch und für die Geschichte der Kulturtechniken reizvoll geblieben; noch 1991 wurde für das Nima Sand Museum in Japan die bis heute größte Sanduhr gebaut, wo sie in einer einundzwanzig Meter hohen Pyramide untergebracht ist.272 Die Sanduhr ist jedoch nicht nur ein Medium der Zeitmessung, sondern implizit auch der Zeitdarstellung. Sand eignet sich für diese angebliche Sichtbarmachung durch seine spezifische Materialität, denn es kann mit ihm – seinem typischen ‚Rieseln‘ – ein Materialfluss erzeugt werden, der den Zeitfluss abzubilden scheint. Die typische Form der Sanduhr unterstreicht diesen Eindruck, indem sie den ‚Zeit‘-Fluss in ein Vorher (Sand oben), Jetzt (Sand im Durchgang) und Nachher (Sand unten) unterteilt. Folgende schematische Abbildung zeigt, wie sehr ein physikalisch verstandenes Zeitkonzept, das die Gegenwart als

269 Vgl. Dohrn-van Rossum: Die Geschichte der Stunde, S. 314. 270 Ebd., S. 296. 271 Ebd., S. 321. 272 Nima Sand Museum: Sanduhr, in: eMorphes. Art design and oddities: Architectural Timepieces, 12.01.2011, unter https://jpninfo.com/41514 [28.12.2019]. Vgl. Kap. 5.1.2.

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einen Punkt versteht, der Vergangenheit und Zukunft trennt, dem abstrakten Bild einer Sanduhr ähnelt:

Abb. 3.12: „Die ausdehnungslose physikalische Gegenwart und das ausgedehnte Jetzt der bewußten Wahrnehmung.“

Die Sandkörner sind diskret und lose gekoppelt und können dadurch als gleichsam einzelne (zumindest wenig ausgedehnte) Punkte in der Mitte der Uhr, als isolierte ‚Zeitmomente‘ in der Gegenwart zwischen Vergangenheit und Zukunft, abstrahiert werden.273 Diese ‚Sichtbarmachung‘ des Zeitflusses durch den Sand suggeriert, dass die Zeit in Zeitpunkte (Sandkörner) zerlegbar ist und fließt (rieselnder Sand), was dem Newtonschen Modell von Zeit als absoluter Größe entspricht: „Die absolute, wahre mathematische Zeit fließt gleichmäßig an sich und ihrer Natur nach, ohne Beziehung auf etwas Äußerliches. … Alle Bewegungen können beschleunigt und verlangsamt werden, aber der Fluss der absoluten Zeit kann sich nicht ändern.“274 Die Zeit ist jedoch weder ein Fluss noch zerlegbar, und so ist die Sanduhr ein Modell, mit dem ein stark eingeschränktes Zeitkonzept einhergeht: „Die Zeitmessung in Uhren beruht auf dem Auszählen periodischer Prozesse. Die diskreten Zeittakte dieser ‚Uhren‘ werden entsprechend der Annahme eines Kontinuums interpoliert, und Zeit wird auf das Kontinuum der reellen Zahlen abgebildet. […] Doch die Beschränkung auf das Meß-

273 Vgl. zu einem anderen Medium, dessen diskrete Elemente für die verrinnende Zeit stehen können, Dieter Roths Anisuhr. Vgl.: Theodora Vischer/Bernadette Walter (Hg.): Roth-Zeit. Eine Dieter Roth-Retrospektive, Ausstellungskatalog, Schaulager, Basel 2003, S. 132. 274 Isaac Newton, zit. n. Euler: Adaptive Uhren, S. 114.

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und Abzählbare verbannt offenbar das Subjekt des Erkennens aus der Perspektive der Physik.“275 Eine alternative Zeitkonzeption ist in der obigen Abb. 3.12 als Kritik am physikalischen Modell schon integriert.276 Manfred Euler konstatiert, dass ein Bewusstsein den gegenwärtigen Moment nie als ausdehnungslosen Punkt wahrnimmt, sondern als Zeitraum, der sich in die Vergangenheit und Zukunft erstreckt: „Die uns bewußte Gegenwart erscheint ausgedehnt. Sie macht es möglich, Ereignisse aus externen oder internen Wahrnehmungen innerhalb eines bestimmten raumzeitlichen Fensters bewußt zusammenzuführen.“277 Auch die Physik hat es bekanntermaßen nicht beim neuzeitlichen Verständnis von Zeit belassen, aber es liegt immer wieder nah, sobald man die Sanduhr als Zeitmodell vor Augen hat. Für Henri Bergson führt indessen jede und nicht nur die in der Sanduhr implizierte Visualisierung von Zeit zu einem falschen Zeitverständnis,278 da sie immer eine Exteriorisierung und damit eine Verräumlichung darstellt, die der Qualität der reinen Dauer entgegensteht. Die reine Dauer ist vielmehr von ununterschiedenen Zuständen gekennzeichnet, die sich mit anderen Zuständen organisieren und daher nicht zählbar sind.279 Wenn jedoch das Bewusstsein die Zeit reflektiert und imaginiert, nimmt es nicht deren wirkliche Dauer wahr, sondern eine symbolische Vorstellung von Zeit: Es faltet die Zeit in den Raum aus, in dem die Zustände unterschieden, aus ihrem Zusammenhang heraus dissoziiert und damit auch zählbar werden.280 Entsprechend führt Bergson zwei verschiedene Ich-Einstellungen ein. Das fundamentale Ich ist die Empfindung, in der die Elemente ohne Umrisse und so miteinander verschmolzen sind, dass ihre Umgebung sie gewissermaßen mit einfärbt; gleichzeitig sind sie hierdurch unaussprechlich. Insofern das Bewusstsein aber „im Zwange eines unersättlichen Unterscheidungsbedürfnisses“ stehe, dränge es das Ich immer wieder, sich selbst in den homogenen Raum hinein zu projizieren,

275 Ebd., S. 113. 276 Zur Perspektivenabhängigkeit von Zeit sowie den maßgeblichen und zugleich sehr verschiedenen Ansätzen der Zeitkonzeption vgl. Brigitte Falkenburg: Zeit und Perspektivität, in: Joachim Klose/Klaus Morawetz (Hg.): Aspekte der Zeit. Zeit-Geschichte, Raum-Zeit, Zeit-Dauer und Kultur-Zeit, Münster: LitVerlag 2004, S. 89–108. 277 Euler: Adaptive Uhren, S. 113. 278 Vgl. Henri Bergson: Zeit und Freiheit, Frankfurt/M.: Athenäum 1989, Kap. 2: ‚Von der Mannigfaltigkeit der Bewußtseinszustände. Die Vorstellung der Dauer‘, S. 60–105. Vgl. als Kommentar zu Bergson auch Joachim Klose: Die Zeitlichkeit der Zeit – Alfred North Whiteheads temporale Ereignisse, in: Ders./Morawetz (Hg.): Aspekte der Zeit, S. 132–150, v. a. S. 135. 279 Vgl. Bergson: Zeit und Freiheit, S. 96. 280 Vgl. ebd., S. 77, 93.

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3 Virtualität der Formen

wo es scharf umrissen sei.281 Hier können die Elemente isoliert und benannt werden, indem sie von den anderen Elementen abgetrennt werden. Während das „fundamentale Ich“ die Momente als voneinander durchdrungen erlebt und dadurch im Gefühl der reinen Dauer lebt, trennt der „Schatten des Ich“ die Momente und nimmt so dem Gefühl einerseits seine Lebendigkeit, qualifiziert es aber gleichzeitig für sprachliche und gemeinschaftliche Prozesse. Von Bergson ist für den Gebrauch der Sandmetapher zweierlei zu lernen. Zum einen bedient Sand als Metapher und Medium eine räumliche Vorstellung von Zeit, weil die rinnenden Sandkörner für die verrinnende Zeit zu stehen scheinen. An den Sandkörnern lässt sich die vertraute räumliche Vorstellung von Zeit als unterteilt in diskrete und zählbare Einheiten veranschaulichen: das (Sand-)Korn als (Zeit-)Punkt. Zum anderen zeigt sich durch die Kritik Bergsons, dass Sand die Zeit eben nicht darstellen kann. Sand begleitet als Materie immer schon eine räumliche Vorstellung, deren Bildhaftigkeit von Sand als Metapher noch gedoppelt wird. Sand verweist also immer auf die symbolische Vorstellung von Zeit und niemals auf deren wirkliche Dauer, die sich vor jeglicher symbolischen Ordnung befindet und sich verliert, wenn die Vorstellung der Zeit einsetzt und damit ein Akt, der die Zeit in den Raum ausfaltet. In der Eigenschaft der Sanduhr, dies zu tun (die Zeit in den Raum auszufalten), ist ihre Verführung zu erkennen. Die Sanduhr misst nicht nur die Zeit, sondern durch die diskreten Elemente des Sandes, die zudem zu ‚fließen‘ scheinen, proliferiert sie durch ihre quasihistorische Dreiteilung ein visuelles Konzept von Zeit, dessen Augenschein nur allzu gut zum Modell der kontinuierlich fließenden und in Momente unterteilbaren Zeit passt, und so ist es, wie Bergson selbst anmerkt, „nicht leicht, dem Bilde der Sanduhr zu entgehen, wenn man an die Zeit denkt.“282 Die Sanduhr ist derweil nicht nur ein Medium der Zeitmessung und ein problematisches Medium der Zeitdarstellung, sondern auch eine Metapher für das Ablaufen von Lebenszeit. Bergson greift selbst auf die Parallelisierung von Sand-Zeit und Lebens-Zeit zurück: Keine andere Wirklichkeit hat die Zeit für das Lebewesen als für die Sanduhr, deren oberer Trichter sich leert, wenn der untere sich füllt, und bei der durch Umdrehn des Apparats alles an Ort und Stelle gerückt werden kann. Darüber allerdings, was zwischen dem Tag von Geburt und Tod erworben, und was verloren wird, ist man sich nicht einig. […] Mit einem Wort, was von wirklichem Leben im Prozeß des Alterns steckt, ist die unwahrnehmbare, unendlich zerteilte Kontinuität der Formveränderung.283

281 Ebd., S. 97. 282 Henri Bergson: Schöpferische Entwicklung, Zürich: Coron 1927, S. 63. 283 Ebd., S. 63 f.

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Die metaphorische Entsprechung besteht darin, dass sich auf der einen Seite die Menge des Sandes wie der Zeit in dem Maße vermindert wie sie auf der anderen Seite als Sandmenge und Menge dessen wächst, was biographisch „erworben“ wird. In barocken Sanduhr-Gedichten wird dies in der typographischen Anordnung visualisiert, so wie hier in Theodor Kornfelds Figurengedicht Ein Sand = Uhr, das in seiner Poetik von 1685 abgedruckt ist:

Abb. 3.13: Theodor Kornfeld: Ein Sand = Uhr (1685).

Die Sanduhr stellt in Verbindung mit dem Text ein memento mori dar: „Die Zeit vergehet / Und bald entstehet der Rechnungs-Tag Von aller Sach; Sey fromm / Und kom“. Der Leseweg innerhalb dieser Textbild-Konstellation entspricht dem Weg des fließenden Sandes, und das Umdrehen der Sanduhr wird im Leseprozess evoziert: Nach der Aufforderung „Sey fromm / Und kom“ muss das Papier, auf dem das Figurengedicht abgedruckt ist, um 180 Grad gedreht werden, damit weitergelesen werden kann. Außerhalb des ‚Sand-Fließ-Textes‘ stehen zwei Zeilen, die auf der Bildebene die Fassung der Sanduhr darstellen. Dreht man das Papier um 90 Grad (kippt man die Sanduhr), sind beide Zeilen von links nach rechts und von oben nach unten zu lesen. Das Blatt, auf dem die Sanduhr abgebildet ist, muss also nicht um 360 Grad gedreht werden, damit alles gelesen werden kann: Es reicht aus, das Blatt so weit zu drehen, wie eine menschliche Hand eine gegenständliche Sanduhr mit einer Bewegung des Handgelenks um 180 Grad drehen würde, um sie verkehrt herum wieder – zum

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3 Virtualität der Formen

Beispiel – auf den Tisch zu stellen, damit die andere Hälfte des Sandes wieder zu rieseln beginnen kann. Genau so kann auch das Blatt (oder Buch) in einer Hand gehalten und um 180 Grad gewendet werden. Der Satz „Der Sand versinket“ ist damit auch ein Verweis auf das Bild der Sanduhr, in dem dieser Satz integriert ist. Mit dem verrinnenden Sand ist der Gedanke vom „Gang ins Jenseits“ verknüpft,284 und die ganze Sanduhr stellt so einen moralisierenden Kommentar dar, die beständig verstreichende Zeit zu nutzen, um sich auf die Todesstunde vorzubereiten: „Die Figur des Stundenglases spiegelt die fundamentale barocke Anschauung von der Vergänglichkeit alles Irdischen, die durch das den Fluß des Sandes und damit ineins das Verrinnen der Zeit illustrierende Textbild optisch umgesetzt wird“.285 In barocken Sanduhr-Gedichten wie diesem zeigt sich auch der Einsatz der Sanduhr als Metapher für das tugendhafte Maßhalten, durch die tempus und temperantia eine bedeutungsvolle Verbindung eingehen: Da man seit Isidor von Sevilla tempus mit dieser Tugend [temperantia] verband, eignete sich die Sanduhr besonders als Symbol für Mäßigung, Gleichmaß, Bescheidung im Augenblick. Dem Arbeitenden führte sie zerrinnende Momente vor Augen, lautlos und ohne Zahltakt. Jeder Tätige gliederte und füllte sie anders, der Gelehrte im Gehäuse, der Gelehrte auf der Kanzel, der Verteidiger vor Gericht, der Seemann auf Wache, die Hausfrau am Herd. Doch in der Hand des Knochenmannes erinnerte sie alle an ihr letztes Stündlein und hielt sie an, den Moment zu nutzen, solange noch Zeit war: „Deine letzte Stunde ist eine von diesen“.286

Während die Sanduhr als Medium vom Menschen genutzt wird, um die Zeit zu messen (der Mensch misst), stellt sie metaphorisch ein Medium dar, mit dem umgekehrt – z. B. vom „Knochenmann“ – die Zeit des Menschen ge- oder bemessen wird.287 Die Geste des Umdrehens ist daher nicht nur notwendig, um den scheinbar unendlichen Prozess der Zeit im Takt der Sanduhr aufrechtzuerhalten, sondern sie verweist auch auf den Menschen, der diese Geste vollführt und so – unmögliches Paradox – seine eigene Zeit zu verlängern sucht. Oder er versucht, zumindest eine Ahnung von Unendlichkeit zu erhalten, so wie das lyrische Ich im bereits zitierten Gedicht von William Blake die Unendlichkeit in einem Sandkorn zu halten und zu begreifen versucht: „To See a World in a

284 Vgl. die Beschreibung von Kornfelds Sanduhr von Seraina Plotke: Gereimte Bilder. Visuelle Poesie im 17. Jahrhundert, München 2009, S. 154–157, hier S. 154. 285 Jeremy Adler/Ulrich Ernst: Text als Figur. Visuelle Poesie von der Antike bis zur Moderne, Weinheim: VCH 21988, S. 106. 286 Cipolla: Die gezählte Zeit, S. 78–80. 287 „[D]aher ist sie das Attribut des Chronos und des als Knochenmann dargestellten Todes.“ (Sanduhr, Stundenglas, in: Brockhaus, 20. Aufl., 1998, S. 99)

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Grain of Sand / […] Hold Infinity in the Palm of Your Hand / And Eternity in an Hour“.288 Als Metapher für die Zeitlichkeit des Menschen erscheint die Sanduhr auch in Jorge Luis Borges’ Gedicht El Reloj de Arena (1974).289 Das Gedicht beginnt mit der Qualifizierung von Materialien zur Zeitmessung. So sei der Schatten wie die Zeit „imponderable // unwägbar“ und das Wasser wie die Zeit „irrevocable // unwiderruflich“, doch gebe es noch ein weiteres Material, den Sand, der „suave y pesada // weich und gewichtig“ sei (42 f.). Also entstehe „el alegórico instrumento // das allegorische Gerät“ (42 f.), und im Gedicht werden nun über die Metapher der Sanduhr die Zeit des Sandes und die menschliche Zeit verglichen: „Hay un agrado en observar la arcana / Arena que resbala y que declina / Y, a punto de caer, se arremolina / Con una prisa que es del todo humana. // Es macht Freude, zu beobachten den / geheimen Sand, der gleitet und sich neigt, / und, fast schon stürzend, sich in einen Wirbel / mit Eile drängt, die gänzlich menschlich ist.“ (44 f.) Mensch zu sein bedeutet demnach, in der Zeit zu sein, ebenso eilig, ebenso vergänglich, und die Sanduhr performiert diesen Prozess metaphorisch unablässig. Indem durch das Verrinnen des Sandes das Verrinnen der Zeit ersichtlich zu werden scheint, wird die Sanduhr zur Metapher für die verrinnende Lebenszeit: „No se detiene nunca la caída. / Yo me desangro, no el cristal. El rito / De decantar la arena es infinito / Y con la arena se nos va la vida. // Nie hält das Stürzen ein. Ich blute aus, / nicht der Kristall. Ein Ritus ohne Ende / ist es, den Sand zu stürzen, umzufüllen, / und mit dem Sand entrieselt uns das Leben.“ (44 f.) Das Gedicht führt sodann die Opposition von Geschichtlichkeit und Ewigkeit ein, wobei der bewegliche Sand für die Geschichte und das unbewegliche Glas für die Ewigkeit steht: „La arena de los ciclos es la misma / E infinita es la historia de la arena; / Así, bajo tus dichas o tu pena, / La invulnerable eternidad se abisma. // Der Sand der Zyklen ist der gleiche, und / unendlich die Geschichte dieses Sands; / unverletzlich klafft so die Ewigkeit, / ein Abgrund

288 Vgl. Kap. 2.2.1. 289 Jorge Luis Borges: El Reloj de Arena / Die Sanduhr, in: Ders.: Gesammelte Werke, Bd. 6: Jorge Luis Borges und ich, nach der Übers. v. Karl August Horst, bearb. v. Gisbert Haefs, Nachwort v. Claudio Magris, München/Wien: Hanser 1982 [1974], S. 43–45. Die Seitenzahlen in Klammern beziehen sich in diesem Abschnitt auf diese Ausgabe. Vgl. auch Die Sanduhr von Maurice Maeterlinck, eine philosophische Schrift, in der in notizförmiger Weise Erkenntnisse und Gedanken über Leben und Tod, Raum und Zeit, die Endlichkeit des Menschen und die Unendlichkeit Gottes, Vergangenheit und Zukunft, Erinnern und Vergessen versammelt werden. Die Sanduhr ist hier allerdings lediglich eine Metapher, die diese Gedanken verbinden soll (vgl. Maurice Maeterlinck: Die Sanduhr, aus d. Frz. v. Friedrich von Oppeln-Bronikowski, Berlin: Fischer 1936).

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unter deinem Glück und Schmerz.“ (44 f.) Der Sand in der Sanduhr wird nicht gewechselt, sondern endlos bewegt, sodass die „Geschichte dieses Sandes“ so „unendlich“ wie die Zeit scheint. Die Unendlichkeit wird dabei in ihrer gleichermaßen räumlichen wie zeitlichen Dimension gedacht. „Unverletzlich“ in Bezug auf diese Geschichtlichkeit ist das Glas, das diese Bewegung rahmt und das im Gegensatz zu deren unendlichen Geschichtlichkeit als zeitlose „Ewigkeit“ erscheinen kann, und diese Ewigkeit „klafft“, weil sie die Bewegung der Geschichte aus sich heraus, in sich herein und durch sich hindurch lässt: Sie ‚hält‘ und ‚umfasst‘ die Geschichte. So wie das Glas ein „Abgrund“ für den fallenden Sand ist, ist die Ewigkeit „Abgrund“ unter „Glück und Schmerz“, d. h. sie ist der zeitlose Raum, in dem sich die Geschichte des einzelnen als eine zeitlich bestimmte bewegen kann. Das ‚Glas‘ ist das Medium der Ewigkeit, in dem die Form der ‚sandigen‘ Zeit als instabile sichtbar zu werden scheint. Das Gedicht projiziert die Geschichte des Sandes in einen Raum, durch den die geschichtliche Zeit in der unbewegten Zeitlosigkeit der Ewigkeit fließt. Die Zeit ist wie der Sand – „En los minutos de la arena creo / Sentir al tiempo cósmico // In Sandminuten glaube ich, / die Zeit des Kosmos zu erfühlen“ – und wie die Formen im Sand werden die Geschehnisse in der Zeit entweder erinnert oder vergessen: „[L]a historia / Que encierra en sus espejos la memoria / O que ha disuelto el mágico Leteo // die Geschichte, / geborgen in den Spiegeln der Erinnerung, oder von Lethe magisch aufgelöst.“ (44 f.) Diese Geschichte ist auch Menschheitsgeschichte („Karthago, Rom“, „der Sachsenkönig“), und sie ist in hohem Maße kontingent: „Todo lo arrastra y pierde este incansable / Hilo sutil de arna numerosa. / No he de salvarme yo, furtuita cosa / De tiempo, que es materia deleznable. // All das schleift und verwirft dieser rastlose / und feine Faden vielzahligen Sands. / Mich werde ich nicht retten, Zufallsding / der Zeit, die doch vergängliche Substanz ist.“ (44 f.) Das Ich ist ebenso ein „Zufallsding“ wie die Zeit: das Wort „furtuita cosa / Zufallsding“ ist nicht nur durch ein Komma vom „yo“, vom Ich, abgetrennt, sondern auch durch einen Zeilenbruch von der Zeit und somit auf beides beziehbar. Der Sand ist eine Metapher für die verstreichende Zeit und für das vergängliche Ich und damit auch an den Zufall gebunden; er ist in diesem Sinne selbst eine „furtuita cosa“, ein „Zufallsding“. 3.5.1.2 Die Fixierung von Zeit in Italo Calvinos Collezione di sabbia In Calvinos Essay Collezione di sabbia (1984), den ich in der deutschen Übersetzung Gesammelter Sand zitiere, wird von einer veritablen Ansammlung von Gläsern berichtet, die sich in „einer Ausstellung ungewöhnlicher Sammlungen, die vor kurzem in Paris zu sehen war“, befindet: „Es gibt jemand, der

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sammelt Sand. Er reist durch die Welt, und wenn er an einen Meeresstrand kommt, an einen Fluß oder einen See, in eine Wüste oder eine Heide, klaubt er eine Handvoll auf und nimmt sie mit. Zu Hause erwarten ihn, aufgereiht auf langen Regalen, Hunderte von Gläsern“.290 Anders als bei der Sanduhr wird vom Sand nicht im Kollektivsingular gesprochen, sondern werden im Plural zahlreiche Sande differenziert. Jedes Glas enthält Sand von einem jeweils anderen Ort, etwa den „blendend weiße[n] [Sand] vom Golf von Thailand“ oder die „winzigen […] schwarzweißen Steinchen vom lukanischen Maratea“ (9). Das Sammeln von Sand ist eine eigene kulturelle Praxis. Die internationale Vereinigung der Sandsammler The International Sand Collectors Society (ISCS) widmet sich der Erforschung von Sand und organisiert den Tausch von „sand samples“ unter ihren Mitgliedern. In The Sand Paper tauschen diese Arenophilen Neuigkeiten rund um das Thema Sand aus. Dort ist u. a. auch von Nick D’Errico zu lesen, dessen Sammlung mit 18.000 samples die größte aller Sandsammlungen ist: „You can not go in the world? In a handful of sand, the world can come to you“.291 Während die Sande auf den ersten Blick noch „eine Eintönigkeit nach Art der Mondoberfläche“ bieten (9), entfalten sich auf den zweiten Blick ihre Differenzen, denn „[d]ann zwingen die winzigen Unterschiede zwischen Sand und Sand zu einer immer genaueren Aufmerksamkeit, und so gelangt man allmählich in eine andere Dimension, in eine Welt, die keine anderen Horizonte hat als diese Miniaturdünen, in der ein Strand aus rosa Steinchen nie gleich einem anderen Strand aus rosa Steinchen ist“ (10). Durch die Verteilung der Sande auf Gläser werden ihre jeweiligen Spezifika deutlich, und durch ihre Archivierung in diesen Gläsern werden sie erinnert. Mehr noch: Durch die Grenzen der Gläser wird die Bewegung des Sandes angehalten, seine aktuelle Form im Medium des Glases auf Dauer gestellt und deren unablässige Umformung ausgesetzt. Anders als bei einer Sanduhr dienen die Gläser nicht der Perpetuierung der Sandbewegung, sondern als „immobile[] Sanduhren“ (10) bewirken sie vielmehr deren Stillstellung und damit zugleich eine Stille der Geräusche. So „war die Vitrine der Sandsammlung die

290 Italo Calvino: Gesammelter Sand. Essays, München [u. a.]: Hanser 1995 [1984], S. 9–14, hier S. 9. Die Seitenangaben in den Klammern im laufenden Text beziehen sich in diesem Kapitel auf diese Ausgabe. 291 The Sand Paper (Spring/Summer 2009), S. 4. Vgl. auch das Virtuelle Sandmuseum in Willich, das 5023 Sande aus 170 Nationen versammelt (http://klaus-kuhlen.de/konti.htm, 07.07.2019), sowie den Verein Deutsches Sandmuseum e. V. (http://www.sandmuseum.de/index.php?op tion=com_content&view=article&id=3&Itemid=4, 07.07.2019).

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unscheinbarste, aber auch die geheimnisvollste, diejenige, die am meisten zu sagen zu haben schien, wenn auch durch die in ihren Gläsern eingefangene opake Stille.“ (9) Durch die Stille spricht der stillgestellte Sand über seine eigene Stillgestelltheit; er spricht über den Drang der Sammlerin, „den Ablauf des eigenen Daseins in eine Reihe von dem Zerfall entzogenen Gegenständen zu verwandeln oder in eine Reihe von geschriebenen Zeilen, die sich außerhalb des ununterbrochenen Gedankenflusses kristallisieren.“ (11) Die Instabilität der Zeitstellen soll in der Stabilität der „Gegenstände“ aufgehoben werden. Die Stillstellung des Sandes spricht in aller Stille über das Bedürfnis, den Ablauf des eigenen Daseins anzuhalten und den fortgesetzten Fluss der Gedanken erstarren zu lassen. Der Sand wird zur Metapher für die Zeit, deren Verstreichen in Gedächtnismedien wie der Schrift oder in Erinnerungsgegenständen angehalten und die im Sand gleichsam kristallisiert wird. Dem Ablauf der Zeit wird ihre Stillstellung als Bedingung der Möglichkeit von Erinnerung entgegengestellt. Die „Hunderte von Gläsern“ sind ein spezifisches Gedächtnissystem. Das „Anlegen einer Sammlung“ gleicht dem „Führen eines Tagebuchs“ (11): So wie in diesem aus den Tagesabläufen etwas herausfiltert wird, was durch die „geschriebenen Zeilen“ erinnert werden soll, stellt auch die Sammlung eine Selektion dar. Die Erinnerung muss reduziert werden, um in der Schrift (oder im Glas) als Substrat aufgefangen werden zu können. Dabei entsteht aus dem letztlich Ausgewählten die Signifikanz der Sammlung. Unter den Sammlungen der Ausstellung befindet sich etwa auch eine Sammlung, in der „sich die Sammlerleidenschaft auf sich selber richtet“, eine Sammlung „schlichter, mit Bindfaden zusammengeschnürter Pappendeckel“, betitelt und in Rubriken eingeteilt wie „Frauen, die ich bewundere“ oder „Meine Mode“ (12). Die Autorin berichtet zudem über ihr vom Erzähler so genanntes „mentale[s] Verfahren“: „‚Ich versuche, mir das Leben und die Ereignisse, die mir bekannt werden, anzueignen und sie zu besitzen. Den ganzen Tag lang blättere, sammle, ordne ich, klassifiziere, siebe aus und reduziere das Ganze zu einer Anzahl von Sammleralben. Diese Sammlungen werden dann mein illustriertes Leben selbst.‘“ (12 f.) Das zu Erinnernde ist das für die Sammlung Ausgesiebte, sodass der Sand im literalen wie im metaphorischen Sinne zum Medium der Archivierung wird: Ist die Sammlung von Sand in Gläsern wie ein Tagebuch, da der gesammelte Sand die Erinnerungen an besuchte Orte bereithält, so ist die tagebuchartige Sammlung der Pappendeckel wie ausgesiebter Sand, da sie als Quintessenz des Lebens aufbewahrt wird. Im metaphorischen Sinne wird das Leben in seiner Komplexität reduziert und gleichsam zermahlen: „Die eigenen Tage, Minute für Minute, Gedanke für Gedanke, reduziert zu einer Sammlung: das Leben zermahlen zu

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einem körnigen Pulver – also wieder Sand.“ (13)292 Als ein zermahlenes und auf ein „körniges Pulver“ reduziertes wird das Leben erinnerbar, und der Sand wird einmal mehr zur Metapher für die, hier bis auf die „Minute“ unterteilte, Lebenszeit. Der Erzähler führt nun zwei Varianten vor, wie diese ‚Aussiebung‘ des Lebens begriffen werden kann. Entweder erkennt man in der Reduktion von Komplexität eine Reduktion des für das Leben Wesentlichen. So erscheint der gesammelte Sand, ist er einmal seinem Kontext entrissen und in die Sammlung gestellt, der Sammlerin möglicherweise nicht mehr in seiner sinnlichen Fülle: „Sie versucht, sich ihre Sinneseindrücke an jenem Strand ins Gedächtnis zurückzurufen, jenen Waldgeruch, jene trockene Hitze, aber es ist, als schüttelte sie nur das Häufchen Sand auf dem Grund des etikettierten Glases.“ (13) Das Glas, in das der Sand gefüllt wurde, ist dann gleichsam dessen Sarg und die Sammlung wie ein „Friedhof öder, zu Wüsten reduzierter Landstriche, diesen Wüsten, über die kein Wind mehr weht.“ (13) Wechselt man indessen die Perspektive und richtet den Blick vom Kontext weg hin zum Selegierten, bedeutet die Reduktion keinen Verlust von Kontext („Wind“), sondern einen Gewinn an „Substanz“: Die Reduktion kann einer dann die „aggressiven Sinneseindrücke vom Leibe halten, den konfusen Wind des Erlebten loswerden, um endlich die sandförmige Substanz aller Dinge für sich zu haben, die Kieselstruktur des Seins zu berühren.“ (14) Der Sand ist, so gesehen, eine Metapher für die substanzielle Form des Seins. Die Körner sind zwar ohne Kontexte nicht mehr im sinnlichen Sinne wertvoll; dafür verhindert aber die Konfusion (der „Wind“) des Lebens auch nicht mehr die Erkenntnis des Substanziellen (des Sandförmigen). Sobald der Sand als eigenwertige „Substanz“ erkannt ist, kann seine Lektüre beginnen: „Darum löst sie [die Sandsammlerin] die Augen nicht von jenen Sanden, dringt mit dem Blick in eins jener Gläser ein, gräbt sich ihr Loch, versetzt sich hinein und liest die Myriaden von Nachrichten, die in einem Häufchen Sand stecken.“ (14) Das Grau des Sandes ermöglicht etwa „überhaupt erst, uns begreiflich zu machen, was eigentlich grau bedeutet.“ (14) Der Sand wird selbst zum Archiv, er wird wie Schrift lesbar. Hierbei wird wieder – wie bei der Sammlung von Sand ‚als Tagebuch‘ und der Sammlung von rubrizierten Pappendeckeln ‚als Sand‘ des Lebens – das Verhältnis von Schrift und Sand umgekehrt, denn der Sand kann wie Wörter gelesen werden und Wörter ‚als Sand‘. Während der Erzähler daher noch die Sandsammlung als „das Tagebuch“ der Sandsammlerin entziffert, fragt er sich,

292 Vgl. zur bei Barthes genutzten Metaphorik des mit Sieben „abgeschöpften“ Textsinns Kap. 3.1.2.1.

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was eigentlich in jenem Sand der zahllosen Wörter geschrieben steht, die ich mein Leben lang aneinandergereiht habe, in jenem Sand, der mir jetzt so fern von den Stränden und Wüsten des Lebens erscheint. Vielleicht können wir, wenn wir den Sand als Sand und die Wörter als Wörter betrachten, ein wenig besser begreifen, wie und in welchem Maße die zermahlene und zerfallene Welt darin noch ein Fundament und Modell finden kann. (14)

Sand und Wörter werden zu Metaphern für die zerfallenen und zermahlenen Elemente der Welt, in deren jeweiliger Substanz gerade deshalb der Grund für die Welt gesucht werden kann. In Collezione di sabbia wird somit in vielschichtiger Weise über Sand als Medium der Archivierung reflektiert. Er kann auf der einen Seite im literalen Sinne in Gläsern gesammelt werden, wodurch die Differenzen „zwischen Sand und Sand“ in den Vordergrund rücken. Er archiviert dabei auch insofern geologische Prozesse, als jeder Sand eine spezifische Erinnerung an die Welt ist, denn „[v]on der Welt registriert diese Sammlung ausgewählter Sande ein Residuum langer Erosionsprozesse“ (10). Diese Eigenschaft von Sandkörnern, ihre eigene Identität selbst durch mehrere Erosionsschleifen hindurch zu bewahren, wird auch in der geologischen Literatur hervorgehoben: Sand trägt in seiner Kristallstruktur, seiner chemischen Zusammensetzung, seinem Alter und seiner Gestalt mehr Information über Jahrmillionen der Erdgeschichte als jedes andere Sediment – Sande sind demnach „Archive über die Erdoberfläche“.293 Diesen ‚Erinnerungen‘ des Sandes stehen die Erinnerungen der Sandsammlerin gegenüber, die eine Kollektion von Sanden als Teile solcher Landschaften erstellt, die als Kontexte (des jeweiligen Sandes) und in Differenz zu anderen Landschaften (und deren Sanden) erinnerbar werden sollen. Der Sand in den Gläsern wird zum Medium der Archivierung, indem die Sammlerin den Sand in die Gläser wie Wörter in ein Tagebuch einträgt, wobei sie durch den Sand zugleich an ihre eigene Geste des Sammelns erinnert, „die schon zwanghafte Geste des Sichbückens, um eine Handvoll Sand aufzuklauben und in ein Säckchen zu füllen“ (10). Auf der anderen Seite kann der Sand ein metaphorisches Modell für Archivierungsprozesse liefern. So wird deutlich, dass die Rahmung von Zeit die Bedingung der Möglichkeit von Erinnerung ist: Nur wenn das Rieseln des Sandes (das Vergehen der Zeit) durch seine Sammlung in Glas angehalten wird, ist eine intensive Beobachtung des jeweiligen Ausschnitts möglich, und nur dann kann der Sand zum Sprechen gebracht bzw. gelesen werden: Der Sand ist Metapher für dasjenige, das aufgelesen wurde, um gelesen werden zu können. Das

293 Raymond Siever: Sand. Ein Archiv der Erdgeschichte, Heidelberg: Spektrum d. Wiss. 1989, S. 14. Vgl. auch ebd., S. 9, 13. Vgl. zu den geologischen Eigenschaften von Sand Kap. 2.2.

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Archivierungswürdige ist das Ausgesiebte des Lebens, und der Sand eine Metapher für das ausgesiebte Leben, das es zu konservieren gilt. Gleichgültig, ob es sich um die Sandsammlung oder eine Sammlung zwischen Pappdeckeln handelt, wird in der Sammlung das Leben zu Sand, zu einem körnigen Pulver. Nur als Kollektion selegierter Teilstücke, gleichsam in ‚Sandkorn‘-Format, wird es erinnerbar. Ein spezifisches Archivierungssystem ist schließlich nicht nur die Sandsammlung, sondern auch der Text Gesammelter Sand, der in seiner Reflexion auf Sand als Metapher für das Verfahren der Archivierung eine Systematik bereitstellt, die der Dearchivierung entgegensteht.

3.5.2 Spuren im Sand: Zeichen in Auflösung Prominent eröffnet Hilary Putnam seine Schrift über Virtuelle Realität – Gehirne im Tank – mit dem Bild einer Ameise im Sand: „Eine Ameise kriecht im Sand umher, und beim Kriechen zieht sie eine Linie in den Sand.“294 Putnam bemüht die Ameise nicht, was er hätte tun können, als Beispiel für die leichte Formbarkeit des Sandes, sondern um zu zeigen, dass die Spur, die sie formt, keine Repräsentation ist. Selbst wenn wir in den Linien etwa, wie Putnam vorschlägt, das Gesicht von Winston Churchill sehen könnten, sähen wir es nur ‚als‘ Churchill; es repräsentierte ihn nicht, da es mit ihm in keinem notwendigen Zusammenhang stünde. Das Bild sei, insofern die Ameise keine Intelligenz besäße, die Spur nicht intentional gemacht habe und nichts über Churchill wisse: Zufall. Putnams Einstieg erlaubt mir in mehrfacher Weise, meine eigene Fragestellung daran anzuschließen. Für die Perspektive der Virtualisierung ist es zunächst irrelevant, mit welcher Absicht die Zeichen in den Sand gekommen sind – ob als unbemerkter Abdruck eines Körpers oder als bewusst hinterlassenes Indiz. Wichtig ist in erster Linie, dass die Zeichen überhaupt so leicht als solche im Sand sichtbar werden, aber zugleich nicht lange vorhalten, weil sie als Formen im Medium Sand nicht lange gespeichert werden können. Diesen Punkt spricht Putnam nicht direkt an; allenfalls wird dieser Zusammenhang indirekt deutlich, indem Putnam die Spur der Ameise in den Bereich des Zufalls verweist. Denn weil selbst ein Lebewesen von so geringem Gewicht wie eine Ameise Spuren im Sand hinterlassen kann, wird dessen leichte Formbarkeit deutlich, und diese verweist strukturell auf Kontingenz: Die Anordnung der Sandkörner ist immer auch anders möglich, ihre Form ist nicht festgesetzt, sondern immer – je nach Wertung – anfällig oder offen für Reorganisation. Schließlich hätte eine Ameise, die auf einem

294 Hilary Putnam: Vernunft, Wahrheit und Geschichte, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1995, S. 15.

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Felsen herumkrabbelte, wenig Aussicht, Linien zu hinterlassen, die zufällig als Gesicht von Churchill betrachtet werden könnten. Diese Eigenschaft von Sand, ebenso leicht Zeichen auszubilden wie aufzulösen, sein strukturelles Verwiesensein an Kontingenz, ist ausschlaggebend für den Einsatz von Sand als Medium bzw. von Sand als Metapher für solche Medien, in denen Formen nicht archivierbar sind und in denen Formen dementsprechend leicht vergessen werden. Das Medium Sand funktioniert daher prinzipiell anders als Freuds Wunderblock: Bleiben in der Wachstafel (im Unbewussten) die Eindrücke selbst dann erhalten, wenn sie auf der Folie nicht mehr erscheinen (nicht mehr bewusst erinnert werden können), so verschwinden die Eindrücke im Sand vollständig. Die Metapher Sand thematisiert damit das virtualisierende Verfahren der Dearchivierung, das die Zeichen ihrer Erinnerbarkeit entzieht bzw. ihre Archivierung schon im Moment der Aufzeichnung unterläuft. Putnams Beispiel erlaubt schließlich, vom Begriff der Spur auszugehen, da die Ameise beim Kriechen durch den Sand unweigerlich eine solche hinterlässt. Damit ist aber zugleich ein Konzept von Gedächtnis angesprochen, dem die Dearchivierung bereits eingeschrieben ist: Aleida Assmann lokalisiert einen Strukturwandel des kulturellen Gedächtnisses im neunzehnten Jahrhundert, im Zuge dessen der Begriff des Textes durch den Begriff der Spur ersetzt wird. Dieser Wandel besteht darin, dass das Gedächtnis, das vorher „von der Einschreibung und Speicherung her bestimmt“ wird, nun „im Rahmen des historischen Bewußtseins von der Tilgung, der Zerstörung, der Lücke, dem Vergessen her definiert“ wird: Während man bei Buchstaben und Texten von der vollständigen Reaktivierbarkeit einer vergangenen Mitteilung ausging, kann an Spuren immer nur ein Bruchteil vergangenen Sinns restituiert werden. Spuren sind in dem Sinn Doppelzeichen, daß sie Erinnern unauflösbar an das Vergessen knüpfen. Es ist die Einsicht in dieses den Spuren inhärente Vergessen, das die kontinuierliche Traditionslinie von der Vergangenheit über die Gegenwart in die Zukunft zerreißt und die Vergangenheit fremd werden läßt.295

Ist das Sprechen von Buchstaben und Texten mit dem Ideal vollständiger Reaktivierbarkeit verbunden, verspricht die Rede von der Spur als Medium des kulturellen Gedächtnisses nur noch, einen Bruchteil des vergangenen Sinns zu vermitteln. Sand, so lässt sich in Anlehnung an Assmanns Beobachtung sagen, ist demnach immer schon Medium der ‚Spur‘ und niemals Medium von ‚Texten‘, da ihm das Auflösen der Zeichen schon ‚eingeschrieben‘ ist. Sand ist selbst eine Metapher für das Gedächtnis als ein Medium des Vergessens.

295 Aleida Assmann: Texte, Spuren, Abfall: Die wechselnden Medien des kulturellen Gedächtnisses, in: Hartmut Böhme/Klaus R. Scherpe (Hg.): Literatur und Kulturwissenschaften. Positionen, Theorien, Modelle, Reinbek bei Hamburg: rowohlt 1996, S. 96–111, hier S. 106.

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An Putnams Beispiel kann ich somit in dreierlei Weise anschließen. Erstens ist eine Konzeption von Zeichen angesprochen, nach der diese immer nur vergängliche ‚Spur‘ und nie unvergänglicher ‚Text‘ sind (es geht um eine Ameise, die eine Spur hinterlässt, und nicht um einen Meißel, der etwas in Stein haut). Zweitens kann Sand sowohl Medium der Speicherung sein (für die von der Ameise geformte Spur) als auch Metapher (für die Instabilität von Speichermedien). Drittens verweist Dearchivierung strukturell auf Kontingenz (die Formen im Sand werden gebildet und verwischt, je nach dem, wonach der Ameise gerade der Kopf steht).296 Im Folgenden wird entlang dieser Punkte entwickelt, wie die Dearchivierung sich in verschiedenen Spurentypen zeigt, die als Formen im Sand – tatsächlich oder metaphorisch – sichtbar werden.297 3.5.2.1 Schrift als Spur im Sand: Dearchivierung von Einschreibungen ‚In den Sand zu schreiben‘ ist im so entfalteten Kontext als medienreflexive Metametapher zu verstehen, die Archivierungsmedien problematisiert: Gilt das Medium Schrift als relativ (!) stabil, so verschenkt die Schrift, die im Medium des Sandes erscheint, diesen Status. Setzt man also Zeichen so, als schriebe man in den Sand, wird schon im Moment der Archivierung die Dearchivierung von Zeichen mit eingetragen. Die Form der Form ist dann ihre Flüchtigkeit oder: Das Schreiben im Sand schreibt sich als Virtualisierung der eigenen Form.298 Anders als die Schrift ist Sand im literalen Sinne ein Medium, dessen Flüchtigkeit man sich zu Nutze macht, u. a. auch für Schreibübungen, die immer als vorläufig gelten. So notiert Jean Paul in seinen Exzerpten: „Petri de la Valle: bei den Morgenländ. überstreuet man Zimmer mit Sand u. die Knab. darauf schreib. lernen, überkehrts wenn es vol ist.“299 Setzen Kinder Schriftzeichen, um Schrei296 Der Sand nimmt auch nicht-intentional gesetzte Zeichen auf (die Ameise ‚beabsichtigt‘ nicht zu bezeichnen, tut es aber). 297 Vgl. zur Analyse von literarischen Texten aus dem 19. Jahrhundert mit Blick auf das Ephemere der Wissensspeicherung Annina Klappert: Flüchtige Formen. Vom Wissen im Sand, in: Michael Bies/Sean Franzel/Dirk Oschmann (Hg.): Flüchtigkeit der Moderne. Eigenzeiten des Ephemeren im langen 19. Jahrhundert, Hannover: Wehrhahn 2017, S. 113–134. 298 Versteht man mit Lévy die Schrift als Virtualisierung des Gedächtnisses, das das Erinnerte desynchronisiert und delokalisiert (vgl. Lévy: Qu’est-ce que le virtuel?, hier Kap. ‚L’écriture, ou la virtualisation de la mémoire‘, S. 35 f.), so wäre von einer doppelten Virtualisierung des Erinnerten auszugehen: Das Erinnerte wird erst durch die Übertragung in Schriftlichkeit virtualisiert und dann erneut als Schrift im Sand. 299 Jean Paul: Exzerpte und Register. Digitale Edition, Fasz. IIa-14-1788-0853, unter http://www. jp-exzerpte.uni-wuerzburg.de/index.php?seite=exzerpte/ex2a/14&navi=_navi/f2a [28.12.2019].

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ben zu lernen, geschieht es nicht um eines Schreibergebnisses, sondern um des Schreibprozesses willen. Weil das Geschriebene nicht gespeichert werden soll, wird der Sand als Speichermedium genutzt: Er ist ein Medium der potentiellen Dearchivierung (wenn nicht in Bezug auf das Schreibenlernen, so doch in Bezug auf die jeweils aktuell gesetzten Zeichen). Wenn in Medien gebildete Formen wie in Sand geschrieben sind, sind sie schon der Auflösung anheimgestellt. Dabei ist es, weil die Formbildung im Sand so leicht ist wie deren Auflösung, durchaus möglich, dass auch der Wind in den Sand „schreibt“, wobei der Wind die Kontingenz dieses Verfahrens zu steigern vermag, da hier nicht nur die Speicherung, sondern auch die Genese der Schriftzeichen wie bei Putnams Ameise kontingent ist. So scheint in Erwin Strittmatters Gedicht „Windige Geschichte“ der Wind, und zwar auf verschiedenen Medien: Der „Waldsee“ etwa „ist die Schiefertafel des Windes“, während Schnee und Sand „die Schmierzettel des Windes“ sind: „Er beschreibt sie längs und beschreibt sie quer, je, wie er gelaunt und wie er bei Kräften ist.“300 Anders als Sand und Schnee ist hingegen der Wald graduell weniger anfällig für kontingente Eintragungen, und er ist daher „das Schreibheft des Windes. Dort schreibt er dauerhafter, gewissermaßen in Reinschrift mit Tinte. Die jungen Bäume wachsen allmählich in die Richtung, in die der Wind jahrsüber am häufigsten hinfährt“.301 In Hermann Hesses Gedicht In Sand geschrieben ist ebenfalls der Wind die schreibende Kraft. Hier wird indessen weniger die Kontingenz des Einschreibens betont, sondern vielmehr das nur kurzfristige Erscheinen von Formen im Medium Sand mit der Kurzfristigkeit von Schönheit im Allgemeinen korreliert: „Daß das Schöne und Berückende / Nur ein Hauch und Schauer sei, / Daß das Köstliche, Entzückende, / Holde ohne Dauer sei“.302 Nicht „das Dauerhafte, Starre“ sei es, das uns „innig teuer“ sei, sondern: „Nein, es scheint das innigst Schöne, / Liebenswerte dem Verderben / Zugeneigt, stets nah am Sterben“ so wie vor allem die Musik, aber auch „Wolke, Blume, Seifenblase“ etc.303 Die Menschen, so das Gedicht, sind „dem Flüchtigen“, „dem Fließenden“, „dem Leben“ ergeben und nicht „dem Festen, Dauertüchtigen“, nicht „Fels, Sternenwelt und Juwelen“, weil sie selbst „in ewigem Wandel treibende“ Seelen sind: „Wir lieben, / Was uns gleich ist, und verstehen, / Was der Wind in Sand geschrieben.“304

300 Erwin Strittmatter: Windige Geschichte, in: Ders.: Als ich noch ein Pferderäuber war. Ein Sommerbuch, Berlin/Weimar: Aufbau 1996, S. 173. 301 Ebd. 302 Hermann Hesse: In Sand geschrieben, in: Ders.: Glück, Frankfurt/M./Leipzig: insel taschenbuch 2000, S. 120 f. 303 Ebd. 304 Ebd., S. 121.

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Auch in Josef Kempfs Gedicht Schreib in den Sand wird die Vergänglichkeit des Menschen durch die Sandmetapher angesprochen: „Es gibt kein Entrinnen, / wenn die gewaltige / Brandungswelle / über dir / zusammen schlägt.“305 Die Vergänglichkeit wird mit Verletzlichkeit assoziiert, denn das – sehr kurze – Gedicht schließt mit der Strophe: „Schreib / in den Sand: / Wer seinen Finger / in Drachenblut taucht, / bleibt ohne Wunde.“306 Der Sand ermöglicht zwar, von der unmöglichen Unvergänglichkeit des Menschen zu sprechen, generiert wird aber ein Paradox; denn zwar soll der Rat, wie man unverletzlich bleiben kann, in den Sand geschrieben werden, aber als in den Sand Geschriebener unterläuft er das Konstatierte performativ. Während in den drei Gedichten von Strittmatter, Hesse und Kempf das allgemein Menschliche kontingent und vergänglich erscheint, kämpft im Künstlerroman von Werner Schlierf Mein Name steht im Sand ein Individuum darum, erinnert zu werden. Der Roman erzählt die Geschichte eines jungen Mannes, dessen künstlerische Karriere trotz guter Anlagen aufgrund sozialer Missstände und persönlicher Tragödien scheitert.307 Er schafft es nicht, sich einen Namen zu machen, und bringt schließlich erst seine Freundin und dann sich selbst um, wobei er als Resumée seines Lebens zieht: „Von seinem Namen wird soviel bleiben als wäre er in Sand geschrieben.“308 Als „Peter“ geboren, wird sein Name nicht, wie er verheißt, als ‚Stein‘ in der ‚Landschaft‘ der Geschichte sichtbar bleiben, sondern als versandeter Schriftzug vergessen werden. Das in den Sand Geschriebene ist flüchtig, vergänglich, verletzlich und leicht vergessen. Die Schrift im Sand steht für die Einschreibung in die Auflösung, das heißt für eine Spur, deren Form nicht rigide gekoppelt bleiben kann und die also nicht archivierbar ist. Wodurch und wie schnell sich diese Spur auflöst, ist so kontingent wie die Bewegung von Wind. Wie archivierbar menschliche Formgebungen sind – diese Frage stellt sich als Problem der Schrift im Sand. 3.5.2.2 Erzählung als Spur im Sand: Dearchivierung erzählender Bilder In der narrativen Kunst der Sand Art wird Sand als ein Medium genutzt, in dem Geschichten eingezeichnet werden können, es wird gleichsam ‚in den Sand erzählt‘. Sand Art ist eine Performance, in der durch die Hände der Er-

305 Josef Kempf: Schreib in den Sand, in: Ders.: Schreib in den Sand, München: Delp 1974, S. 31. 306 Ebd. 307 Werner Schlierf: Mein Name steht im Sand. Roman, Pfaffenhofen: Ludwig 1983. 308 Ebd., S. 24.

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zählerin Formen in den Sand gezeichnet werden. Der Sand wird auf eine von unten angestrahlte Plexiglasscheibe gestreut, mit den Fingern verteilt, umgearbeitet oder akzentuiert. Während die Künstlerin von oben in den Sand zeichnet, werden die entstehenden Bilder an die Wand projiziert, wie hier bei Ilana Yahav:

Abb. 3.14: Ilana Yahav beim ‚Erzählen in den Sand‘.

Eine ganze Geschichte kann so bildhaft im Sand entstehen. Es werden von Moment zu Moment Details verändert, sodass die Bilder ineinander übergehen. Die Bedingung für den Fortgang der Geschichte ist das Ver- oder Wegwischen der bestehenden Sandformation: Mit jeder Aktualisierung neuer narrativer Formen werden die bisherigen virtualisiert. Die Bedingung der Möglichkeit eines Erzählens in Sandbildern ist also ihre eigene Virtualisierbarkeit. In Yahavs Sand Fantasy – You’ve got a Friend von 2009 wird in meditativen Bildern religiös-philosophischen Inhalts von der Einsamkeit eines Mannes erzählt.309 Ist er anfangs allein unter einem weiten Himmel auf einer weiten Ebene (vgl. das erste der Bilder von Abb. 3.15), so darf er sich doch in der Schöpfung geborgen fühlen (wie das zweite Bild von Abb. 3.15 suggeriert), da er in einen Baum integriert worden ist. Das letzte Bild zeigt, dass er schließlich eine Frau findet, wobei auch zu sehen ist, wie Yahav hier den Titel der Geschichte You’ve got a friend abschließend in den Sand schreibt. „A friend“ ist damit sowohl im sozialen als auch im metaphysischen Sinne zu verstehen.

309 Ebd.

3.5 Lose Eindrücke: Auflösung von Archivierungen

Abb. 3.15: Erzählmomente aus Yahavs Sand Fantasy – You’ve got a Friend.

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Der metaphysische Zusammenhang aller Geschöpfe wird während der Erzählung durch die physische Verbindung im Sand gezeigt, aus dem sie alle geformt werden und in den sie sich wieder auflösen. Sand funktioniert also auch hier als Metapher für die instabilen Zeitstellen, denn nur durch deren Auflösung kann die Geschichte sich weiterentwickeln: Nur durch die Virtualisierung von Formen können neue Formen gebildet und in ihrer Geschichtlichkeit erkennbar werden. Auch in der Sand Art wird also der Zeitfluss über Sand als Metapher modelliert, während er zugleich Medium des Erzählens ist und auf die Zeit als Bedingung der Möglichkeit von Narration verweist. Die Sand Art ist daher nicht wie ein Comic lesbar, in dem die Bilder nebeneinanderstehen, sondern eher wie ein Film: Es gibt einen Screen, auf dem die Geschichte gleichsam dadurch ‚abläuft‘, dass neue Bilder alte ersetzen. Es gibt aber, anders als beim Film, kein Speichermaterial für die Geschichte; der Sand archiviert sie nicht, sondern macht sie vielmehr gerade als Medium der Dearchivierung möglich. Nur der Film, der den Erzählprozess im und durch den Sand aufnimmt, ist hierfür ein Medium der Archivierung. Auch in Sand Loves von Deena Larsen ist die Erzählung in Sand eingeschrieben und aufgelöst, aber er ist hier nicht Medium, sondern Metapher: Er wird digital repräsentiert in einem kleinen Hypertext aus acht Knoten:310

Abb. 3.16: Intro von Deena Larsens Hypertext Sand Loves.

310 Deena Larsen: Sand Loves, Watertown, Mass. 1999, auch unter http://dtc-wsuv.org/hslo cum17/sand_loves/ [29.11.2019].

3.5 Lose Eindrücke: Auflösung von Archivierungen

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Dieses Zeichen stellt das traditionelle Radikal 32 im Chinesischen und Japanischen dar und bedeutet „die Erde, der Boden“.311 Dieser „Boden“ bildet die Eigenschaften von Sand ab: Beim Streichen über die Fläche, die so genannte „skating rink structure“, erscheint der Text auf dem Bildschirm und verschwindet wieder. Bewegt man die Maus über die Fläche, erscheint neben dem Bild ein zum jeweiligen Flächenabschnitt gehöriger Text.312 Zum Teilstück mit dem Titel „Wet buckets“ gehört beispielsweise die kurze Beschreibung einer Szene, in der sich Leute gegenseitig im Sand eingraben; unter dem Titel „of beachsand“ entsteigen diese Leute wieder ihren ‚Gräbern‘, unter „Castles“ werden Burgen gebaut usf. In den Sand werden nicht nur Geheimnisse geschrieben, sondern sie sind gerade hier „safe forever […], because they disappear so quickly“. Wie in der Sand Art muss sich erst ein Bild ‚auflösen‘, damit das nächste erscheinen kann; anders als in der Sand Art, in der die Szenen im Sand nach der Lektüre nicht mehr zu reproduzieren sind, bleiben die Bilder von Sand Loves gespeichert. Wo in der Sand Art die Formen der Erzählung im Medium der Erzählung aufgelöst werden, wird die Auflösbarkeit der Formen im Hypertext nur metaphorisch angedeutet. Dass Formen im Sand nicht lange stabil bleiben, wird indessen inhaltlich und medial thematisiert. Allerdings zeigt die Bildgestaltung keine Auflösung der ‚Linie in Punkte‘ in Flussers Sinne,313 obwohl ein ‚Zerstäuben‘ in einzelne Pixel durchaus im Rahmen der digitalen Gestaltungsmöglichkeiten gewesen wäre, das nicht nur auf die Kleinheit der Sandkörner, sondern auch auf die Rasterung der Bildfläche in einzelne Bildpunkte hingewiesen hätte. Prägnante Beispiele hierfür gibt es in der digital vermittelten Kunst, die ihre Bilder jedoch bislang nicht mit der Sandmetapher in Verbindung bringen.314 Sand Loves basiert auf einer einfachen Hypertextstruktur; die lose gekoppelten Elemente sind also weniger auf der Ebene der Pixel als auf der Ebene der Textstücke zu verorten. Diese können verbunden werden, sodass die verschiedenen Szenen wie Urlaubsfotos abrufbar sind. Tatsächlich empfiehlt die Gebrauchsanleitung zu Sand Loves, die Zeit, in der Java hochgeladen wird, dafür zu nutzen, die eigenen Fotoalben zu holen und auf diese Weise am Strandurlaub ‚teilzunehmen‘. Die Szenen wären demnach insgesamt

311 Vgl. zur japanischen Übersetzung Wolfgang Wernecke/Rudolf Hartmann: Japanisch-deutsches Zeichenlexikon, Leipzig/Berlin u. a.: Langenscheidt 21980, S. 140. 312 Vgl. zur Beschreibung der Anker auch: http://www.sigweb.org/ht/ht04/hypertexts/lar sen/flash/larsen/sand.htm [28.12.2019]. 313 Vgl. Kap. 3.3.1. 314 Als anerkannte Pixelkünstler gelten z. B. Craig Robinson, vgl. unter http://www.flipflo pflyin.com/ [28.12.2019], hier z. B. „Everybody’s dogs“ oder „Train Station“, und das deutsche Designer-Kollektiv eboy, vgl. unter http://hello.eboy.com/eboy/index.php [28.12.2019].

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als variable Serie von Urlaubsfotos lesbar, und die Schriftzüge, über die sie aufzurufen sind, hätten die Funktion von Erinnerungs-Überschriften. Liest man diese von oben nach unten und von links nach rechts, so bilden sie, untereinandergeschrieben, ein Gedicht: Wet buckets of beachsand Castles and crabs Scrunching squarely through our toes forever

Die Rearrangierbarkeit der Teilstücke wird in der Performanz der Lektüre deutlich. Sand metaphorisiert daher auch die lose Kopplung der Hypertextelemente, deren Anordnung ebenso durcheinandergerät wie die Anordnung der Seiten im Sandbuch, wobei hier, anders als im Sandbuch, die Elemente nicht unendlich sind. Sand Loves spielt über die Sandmetapher doppelt auf Prozesse der Virtualisierung an. Erstens erscheinen oder verschwinden einzelne Textstücke durch die Bewegung der Maus über die Bildoberfläche. Über die Links ‚streicht‘ man gleichsam wie über Sand, sodass das Verwischen des Hypertextteils wie das einer Form im Sand wirkt. Zweitens stellen im Blick auf das Textganze die Hypertextstücke lose gekoppelte Elemente dar, die unterschiedlich verbunden werden können. Insgesamt modelliert Sand Loves auf diese (wenn auch nicht besonders komplexe) Weise das Wechselspiel von Erinnern und Vergessen, indem inhaltlich wie medial das jeweilige Aktualisieren und Verschwinden, das Auflösen und Rearrangieren von Formen repräsentiert wird. Sand wird hierfür als Metapher eingesetzt, die auf die Flüchtigkeit von Formen im digitalen Medium ebenso verweist wie auf die Flüchtigkeit von Erinnerungen im menschlichen Gedächtnis. 3.5.2.3 Spuren von Menschen im Sand: Dearchivierung von Abdrücken Was ganz phantastisch ist, sind die Fußspuren im Sand. Große Füße, kleine Füße, Frauenfüße, Kinderfüße. Kleine Eidechsenfüße, große Kamelfüße, diverse Köttel. Ich könnte mir endlos immer nur den Sand anschauen.315

315 Jean Dubuffet: Brief an Jan Paulhan, zit. n. Jörg Sperling: Spuraufnahme, in: [Märkischer] Sand. Spuren zwischen Sujet, Werkstoff und Landschaftsraum (5.7.–5.10.2008), Ausstellungskatalog, hg. v. Kunstmuseum Dieselkraftwerk Cottbus, Leipzig: Koehler & Amelang 2008, S. 120, Anm. 27.

3.5 Lose Eindrücke: Auflösung von Archivierungen

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Der Abdruck eines Menschen im Sand ist ein indexikalisches Zeichen, das mit Charles Sanders Peirce als „genuiner Index“ bezeichnet werden kann, da zwischen dem Zeichenverursacher und dem Zeichen eine „existenzielle Relation“ besteht.316 Hinterlassen Menschen Spuren im Sand, dient er im literalen Sinne als Speichermedium – als ein höchst unzuverlässiges gleichwohl. Die Spur im Sand ist in besonders hohem Maße Umformungen ausgesetzt und ihre Erinnerbarkeit maximal kontingent. Dieses Problem einer Spur, die als genuiner Index in einem dearchivierenden Medium wie dem Sand erscheint, wird in dem 1998 in den USA erschienenen Film Point last seen von Elodie Keene aufgeworfen, wobei die Kontingenz der Sandspur (dt. Untertitel Spuren im Sand) metaphorisch auf die ‚Lebensspur‘ übertragen wird.317 Der Film beginnt mit zwei Verlusten: Die Kinder der Protagonistin, der Fährtensucherin Rachel, sind von ihrem Vater, Rachels Exmann, entführt worden, und zugleich ist Rachel mit der Aufgabe betraut, ein in einem Feriencamp vermisstes Mädchen wiederzufinden. Im Film werden von Rachel die tatsächlichen Spuren, die das Mädchen hinterlassen hat, und die Spuren im metaphorischen Sinne, die ein Mensch – sie selbst – auf seinem Lebensweg hinterlässt, parallelisiert. Während sie etwa über den Moment nachdenkt, an dem jemand sich im Gebirgsgeröll verirrt (sodass eine Spurensuche notwendig wird), überlegt sie, wo der Moment in ihrem eigenen Leben gewesen ist, an dem sie sich verirrt hat: Weicht jemand nur zwei Schritte vom Weg ab und dann noch zwei, eine Auswaschung, die wie ein Weg aussieht, und schon ist er so orientierungslos, als sei er auf dem Mond ausgesetzt worden. Ein Ranger, ein Fährtensucher, muss die Stelle finden, wo dieser erste Fehler begangen wurde. Das ist der Ausgangspunkt der Suche, und wenn man sein Leben zurückverfolgt – ich nehme an, das ist das gleiche – muss man an den Anfang gehen. Dahin zurück, bevor man sich verirrt hat. Wir nennen das den letzten Anhaltspunkt.

Der Titel Point last seen hebt den im Zitat angesprochenen Aspekt der abwegigen Spur hervor, während der deutsche Untertitel Spuren im Sand das Medium betont, in das die Spur eingetragen ist. Beides referiert auf die Verfolgung eines genuinen Indexes, den Fußabdruck des Mädchens, der für die konkrete Spurensuche möglichst detailgenau durch Schuhgröße, Muster des Abdrucks und besondere Merkmale (ein Kaugummi unter der Sohle) zu bestimmen ist. Es kommt darauf an, Kontingenz zu minimieren und den genuinen Index so gut wie möglich zu definieren, sodass jeder aktuelle und (noch) informationsreiche Abdruck besonders wertvoll ist. Vor diesem Hintergrund sind die Autos, die

316 Frei übersetzt nach: Charles Sanders Peirce: Collected Papers, Bd. 2: Elements of Logic, hg. v. Charles Hartshorne/Paul Weiss, Bristol: Thoemmes 1998, S. 160. 317 Elodie Keene: Point Last Seen, USA 1998.

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durch das Camp über potentielle Spuren fahren, geradezu eine Art Virtualisierungskatastrophe. Nicht nur der Bestand der Spur ist indessen kontingent, sondern auch ihre Identifizierung: Das Problem dabei ist, dass man selbst deutliche Spuren nur schwer erkennen kann, wenn man sich in einem 90°-Winkel auf sie zu bewegt, und es gibt keine Garantie, dass sie tatsächlich deutlich sichtbar sind, und ich habe nur eine Chance. Vielleicht muss ich eine Meile gehen, bevor ich auf Fußabdrücke mit einem Kaugummi stoße, oder ich laufe direkt daran vorbei, oder sie ist an der Stelle über einen Felsen gelaufen und hat überhaupt gar keinen Abdruck hinterlassen. Selbst die geringste Veränderung – vielleicht verstreuter Sand, vielleicht ein weg geschobener Kieselstein […] und von diesem Punkt an würde ich mich von ihrer Spur entfernen, und dann befände sie sich irgendwo hinter mir. Verloren.

In dieser Beschreibung der Spurensuche werden auch die unterschiedlichen Speicherqualitäten der Medien Sand und Fels angesprochen. So ist Sand zwar ein gutes Speichermedium, weil er – anders als ein Fels – den Abdrücken keinen Widerstand entgegensetzt und auch Details zu speichern vermag; gleichzeitig sind die Abdrücke im Sand aber Kontingenzen wie Witterung und mechanischen Einflüssen ausgesetzt. Sehr schnell kann ein leichter Wind einen deutlichen Abdruck in ein verschwommenes Bild bis hin zur Abwesenheit von Signifikanz auflösen:

Abb. 3.17: Dearchivierung eines Fußabdrucks in Point last seen (1998).

Während also der Fels beständiger im Blick auf die Stabilität der in ihm gebildeten Formen ist, ist Sand zuverlässiger im Blick auf die Spontaneität und Flexibilität ihrer Bildung. Die Spuren des Kindes, die schließlich noch gefunden werden, erzählen dabei auch seine Geschichte: Es hat mit seiner Puppe gespielt, es hat sich zum Schlafen hingelegt, es war verzweifelt. Rachels Antrieb, jegliche Fährte mit höchster Akribie zu verfolgen, ist die Hoffnung, dass diese Spuren „sie eines Tages zu [ihren] Kindern bringen würden“. Der Film inszeniert diese Parallele durch die gleichzeitig unternommene Suche nach Rachels eigenen, vom Exmann entführten Kindern durch eine Kommissarin. Ihre Hoffnung wird am Ende nicht enttäuscht; schließlich wird nicht nur das vermisste

3.5 Lose Eindrücke: Auflösung von Archivierungen

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Mädchen gefunden, sondern auch ihre beiden Kinder. Der Film mündet damit in eine Philosophie des Füreinanders, nach der – nicht frei von Pathos – der gemeinsame Weg angestrebt wird, der im Film immer metaphorisch den gemeinsamen Lebensweg mitdenkt: „Fährtensuchen bedeutet zu lernen, neben anderen Menschen herzugehen, fürsorglich die Hände auszustrecken, ohne zu wissen, ob man sie erreicht. [Es bedeutet zu] versuchen, die Spuren zu verstehen, die jeder im Laufe seines Lebens hinterlässt, sich den Erinnerungen und Ängsten zu stellen […], zu lernen, neben mir selbst zu gehen.“ So endet der Film in einer Reflexion darauf, dass wir uns in einem „Netz von Fährten bewegen, das sich in die Ewigkeit erstreckt. Niemand von uns geht alleine.“ In Kirsten Holsts Kriminalroman In den Sand gesetzt wird das Problem der instabilen Abdrücke kriminalistisch relevant.318 Hier erweist sich die Spurensuche im Rahmen einer Mordermittlung unter anderem als schwierig, weil der Mord am Sandstrand stattfand: „Und dann dieser hoffnungslose Tatort. Nicht eine anständige Spur.“319 Im Moment der Tat ist noch eine Spur sichtbar, doch da sie eine Spur im Sand ist, ist sie schon bald dearchiviert. Die Auflösung der Spur im Sand steht dabei metonymisch und metaphorisch für die Auflösung aller Spuren, denen die Ermittlung folgen könnte. Nicht nur der Tote und die Fußspuren seines Mörders sind nämlich „in den Sand gesetzt“; diese Urszene wächst sich vielmehr als typisch für die ganze Ermittlung aus, in der Zeugen wie Beweise sehr lange wie verwischt zu sein scheinen. In einer kriminalistischen Untersuchung ist es jedoch dringlich, dass die Polizei das zunächst virtuell Erscheinende aktualisieren kann. Der Sand, der jeden definitiven Beweis in Form eines Fußabdrucks virtualisiert, steht daher metaphorisch für die Virtualisierung der Tatumstände und setzt die Feststellung des Täters weitgehend kontingent. Allgemeiner kann formuliert werden, dass die Spur als genuiner Index eine Form des Wissens ist, die als Spur im Sand die Bedingung seiner Möglichkeit kontingent setzt und damit immer schon die Möglichkeit ihres eigenen Nichtgewusstwerdens mit sich führt. Dies wird besonders deutlich in Daniel Defoes Roman Robinson Crusoe.320 Nachdem Crusoe schon über zwei Jahrzehnte auf ‚seiner‘ einsamen Insel festsitzt, entdeckt er zum ersten Mal einen Hinweis auf menschliches Leben, und zwar in Form einer Fußspur im Sand: It happened one day […] I was exceedingly surpriz’d with the Print of a Man’s naked Foot on the Shore, which was very plain to be seen in the Sand. I stood like one Thunder-

318 Kirsten Holst: In den Sand gesetzt. Kriminalroman, aus d. Dänischen v. Hanne Hammer, Dortmund 2002. 319 Ebd., S. 47. 320 Daniel Defoe: Robinson Crusoe, Oxford/New York: Oxford University Press 2007.

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struck, or as if I had seen an Apparition; I listen’d, I look’d round me […] to observe if it might not be my Fancy; but there was no Room for that, for there was exactly the very Print of a Foot, Toes, Heel, and every Part of a Foot.321

Crusoe ist so bestürzt, weil er zuvor immer davon ausgehen musste, dass sich kein anderer Mensch auf der Insel aufhält. Mit der Entdeckung des Fußabdrucks eröffnet sich daher für ihn „a new Scene of [his] Life“.322 Lebte er vorher angstfrei und sorglos, sichert er nun in Schrecken und Panik sein Haus und ist ständig auf der Hut: „All this Labour I was at the Expence of, purely from my Apprehensions on the Account of a Print of a Man’s Foot, which I had seen; for as yet I never saw any human Creature come near the Island, and I had now liv’d two Years under these Uneasinesses, which indeed made my Life much less comfortable than it was before.“323 Die Differenz der Lebensabschnitte entsteht durch den Übergang von Nichtwissen zu einem Wissen, das Crusoes Lebensqualität zunächst minimiert, „comparing the happy Posture of [his] Affairs, in the first Years of [his] Habitation here, compar’d to the Life of Anxiety, Fear and Care, which I had liv’d ever since I had seen the Print of a Foot in the Sand“.324 Das neu erworbene Wissen sensibilisiert Crusoe für eine neue Art von Gefahr, sodass das vergleichsweise friedliche Dasein ein Ende hat; es verhilft ihm aber dafür zu jener menschlichen Gesellschaft in Person Freitags und anderer, durch die er die Insel endlich verlassen kann. Während es bei der Spurensuche in Point last seen von lebenswichtiger Bedeutung ist, dass die einmal gefundene Spur im Sand nicht verwischt, bevor das Mädchen gefunden ist, hat der Fußabdruck in Robinson Crusoe mit seiner Entdeckung bereits seine Funktion erfüllt: Im Moment des Entdeckens weiß Crusoe um die Anwesenheit anderer Menschen, und es ist nicht notwendig, diese Spur weiter zu erhalten. Die Kontingenz dieser Spur im Sand ist also nicht für die Zukunft relevant (die Form im Medium Sand wird auch anders möglich sein), sondern für die Vergangenheit (die Form im Medium Sand wäre anders möglich gewesen). Es ist ein großer Zufall, dass Crusoe den Abdruck überhaupt entdeckt: „That as I liv’d quite on the other Side of the Island, he [the Devil] would never have been so simple to leave a Mark in a Place where ’twas Ten Thousand to one whether I should ever see it or not, and in the Sand too, which the first Surge of the Sea upon a high Wind would have defac’d entirely.“325 Ob man ein Wissen erlangt, ist kontingent und ab-

321 322 323 324 325

Ebd., S. 130. Ebd. Ebd., S. 138. Ebd., S. 165. Ebd., S. 131.

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hängig von dem Medium, in dem die Spur des zu Wissenden als Form erscheint. Wenn diese Spur so flüchtig ist wie eine Spur im Sand, ist das Zeitfenster, in dem das Wissen erlangt werden kann, sehr beschränkt: Sand als Medium der Archivierung dearchiviert das Wissen in kürzester Zeit. Andererseits hätte auf Crusoes Insel kein Mensch einen Abdruck hinterlassen, wenn es sich um eine ausschließlich felsige Insel gehandelt hätte; das Wissen wäre jedenfalls nicht auf diesem Weg zu ihm gelangt. Sand verweist also auf die Bedingungen der Möglichkeit von Wissen, insofern sich einerseits im Medium Sand der Hinweis auf das zu Wissende zeigt; zum anderen verweist er zugleich auf die Kontingenz dieser Möglichkeitsbedingungen, insofern dieser Hinweis im Medium Sand zeitlich nur sehr begrenzt zugänglich ist. In Sarah Challis’ Roman Footprints in the Sand geht es vor allem metaphorisch um die Fußspuren im Sand.326 Zwei Frauen folgen dem letzten Willen ihrer gemeinsamen Großtante Mary, nämlich deren Asche an einem bestimmten, weit in der Wüste abgelegenen Ort in Mali zu verstreuen, an dem diese ein paar Monate als junge Frau verbracht haben soll. Auch wenn die „Fußspuren im Sand“ damit eine Referenz in der Biographie von Mary haben, folgen die beiden Großnichten den Spuren ihrer Großtante nur im metaphorischen Sinne: Sie versuchen aufzudecken, was zu diesem letzten Willen geführt haben mag. Die Suche nach dem genauen Ort in der Wüste sowie nach den Gründen seiner Besonderheit erweist sich zugleich als detektivische Spurensuche, da eine ehemalige Freundin von Mary, Beryl, die sich schuldhaft in die Geschichte verstrickt sieht, einen erklärenden Begleitbrief vernichtet und so Marys biographische Spur, weil sie auch ihre eigene ist, zu verwischen sucht. Sie finden heraus, dass Beryl, ebenfalls als junge Frau, Mary auf Wunsch von Marys Vater seinerzeit nachreiste, um diese aus dem Wüstenleben zurückzuholen, obwohl bzw. weil Mary sich mit einem Mann der Tuareg verheiratet hatte. Narrativ wird diese längst vergangene Reise von Beryl mit der aktuellen Reise der beiden Großnichten parallelisiert, sodass einerseits die Verfolgung der historischen Spur deutlich wird und zum anderen die Lesenden schrittweise die Gründe erfahren, wegen derer Beryl diese Spur zu verwischen suche. Sie holte damals die schwer kranke Mary ab, ließ aber deren frisch geborenen Säugling zurück. War Mary ein Leben in der Wüste verwehrt, setzt die eine der Großnichten nun die von ihr eingeholte „Spur im Sand“ auf glücklichere Weise fort, indem sie sich ihrerseits in einen Tuareg verliebt und für ein Leben mit ihm entscheidet.

326 Sarah Challis: Footprints in the Sand, London: Headline 2006.

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Spuren, die einen genuinen Index auf Menschen darstellen, können entweder Hinweise auf einen Menschen als Person sein bzw. auf seine spezifische Art, sich bewegt zu haben, und damit eine Form von Wissen bereit stellen, oder sie können zur Metapher für die Kennzeichen im Lebensweg eines Menschen werden.327 Befindet sich eine solche Spur im Medium Sand, wird entweder der Mensch in relativ kurzer Zeit praktisch unauffindbar oder es wird der Lebens‚Weg‘ eines Menschen dearchiviert und damit schwer erinnerbar. 3.5.2.4 Menschen als Spuren im Sand: Dearchivierung der Konzeption ‚Mensch‘ Nehmet einmal recht lebhaft an, daß wir alle nur Klangfiguren aus Streusand sind, die ein Ton auf dem zitternden Glase zusammenbauet und die nachher ein Lüftchen ohne Ton vom Glase wegbläset in den leeren Raum hinein: so lohnet es der Mühe und des Aufwandes von Leben nicht, daß es Völker und Jahrhunderte gibt und gab. Sie werden gebildet und begraben, höher gebildet und wieder verschüttet […].328

Nicht nur die Spuren bzw. ‚Spuren‘ einzelner Menschen können im Sand verwischen, sondern Sand kann auch als Metapher für die Dearchivierung des anthropologischen Konzeptes vom Menschen im Allgemeinen dienen. So problematisiert Jean Paul in seinem von Ernst Florens Friedrich Chladnis Figuren im Sand (vgl. Kap. 5.2.6) angeregten Gedankenexperiment – dass „wir alle nur Klangfiguren aus Streusand“ seien – die Dauerhaftigkeit der einzelnen Menschen, insofern diese ebenso leicht zusammenzubauen (zu bilden) wie wegzublasen (aufzulösen) seien wie jene, aber er stellt davon ausgehend auch die Konzeption der Menschheitsgeschichte mit ihren größeren Einheiten wie „Völker“ und „Jahrhunderte“ in Frage. Wo schon der einzelne Mensch wie eine Form „aus Streusand“ ist, wird erst recht die Konsistenz größerer Einheiten, die die Geschichte aller Menschen ordnen sollen, zweifelhaft: Sie können ebenso dearchiviert – „gebildet und begraben, höher gebildet und wieder verschüttet“ – werden wie jeder einzelne. Bei Jean Paul ist nicht ein bestimmter Mensch der Dearchivierung seiner Spur ausgesetzt, sondern der Mensch als solcher und mit ihm seine Geschichte. Sand ist hier ein metaphorisches Modell für eine Konzeption des Menschen, die von dessen Kontingenz ausgeht und ihn als fest definierbare Einheit problematisiert. Der Mensch wie seine Geschichte erscheint demnach als ein (wie eine Form im

327 An diesen Gedanken knüpft die religiöse Ratgeberliteratur an, die gerne das Bild von der Spur im Sand als Lebensspur des Menschen aufgreift, vgl. z. B. Margaret Fishback Powers: Spuren im Sand, Gießen/Basel 52005. 328 Jean Paul: Selina, in: Ders.: Sämtliche Werke, Abt. I, Bd. 6, hg. v. Norbert Miller, Darmstadt: WBG 2000, S. 1115 f.

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Sand) Aktualisiertes und bald wieder Virtualisiertes, das „gebildet und begraben, höher gebildet und wieder verschüttet“ wird. Mit am konsequentesten hat Michel Foucault in Les mots et les choses eine solche Konzeption des Menschen verfolgt.329 Der Mensch trete erstmals mit der modernen Episteme um 1800 über die sich herausbildenden Humanwissenschaften in das Feld des abendländischen Denkens ein.330 ‚Leben‘, ‚Sprache‘ und ‚Arbeit‘ „sont apparues du jour où l’homme s’est constitué dans la culture occidentale à la fois comme ce qu’il faut penser et ce qu’il y a à savoir.“331 Auch wenn es bereits die Sprache und ihre Beschreibung gegeben habe, sei der Mensch der Humanwissenschaften ein sprachliches Wesen, das sich beim Sprechen den Sinn der Wörter repräsentiere. Habe es auch vorher schon die Ökonomie gegeben, so sei der Mensch der Humanwissenschaften ein ökonomisches Wesen, das innerhalb der Produktionsformen die Repräsentation der Bedürfnisse und der Gesellschaft bilde. Der Mensch sei ein neues Konstrukt, dass durch die Verschiebung hin zu einer neuen Wissensordnung entstanden sei, er sei also nur eine Form, die sich um 1800 herausgebildet habe. So konstatiert Foucault, „que l’homme n’est qu’une invention récente, une figure qui n’a pas deux siècles, un simple pli dans notre savoir, et qu’il disparaîtra dès que celuici aura trouvé une forme nouvelle.“332 Diese Analyse der Humanwissenschaften steht im größeren Kontext von Foucaults Projekt einer Archäologie, die die Bedingung der Möglichkeit von Ordnung herausarbeitet, „[l]’ordre sur fond duquel nous pensons“.333 Zwischen verschiedenen solcher Denk-Gründe lokalisiert Foucault als „région […] la plus fondamentale“ eine „région ‚médiane‘“ (in der deutschen Übersetzung das „Mittelgebiet“), die so grundlegend ist, weil sie in dem Maße, in dem sie den Seinsmodus der Ordnungen manifestiert, zeigt, „que ces ordres ne sont peut-être pas les seuls possibles ni les meilleurs“.334 Dass dieses Mittelgebiet die Ordnungen in ihrem Sein selbst befreit („délivre l’ordre en son être même“335), erweist es als das Medium, in dessen Virtualität sich die Formen in ihrem aktuellen Sein auflösen. Das Verhältnis von Ordnung und Mittelgebiet entspricht dem Verhältnis von Form und

329 Vgl. Michel Foucault: Les mots et les choses. Une archéologie des sciences humaines, Paris: Gallimard 1966. 330 Vgl. ebd., S. 14 f., 355 f. 331 Ebd., S. 356. Vgl. S. 355. 332 Ebd., S. 15. 333 Ebd., S. 13. 334 Ebd., S. 12. 335 Ebd.

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3 Virtualität der Formen

Medium sowie dem Verhältnis von Aktualität und Virtualität. Die Ordnungen werden im Mittelgebiet in ihre Möglichkeiten, anders zu sein, aufgelöst. Wie im vorigen Kapitel 3.4.3 gezeigt wurde, sind die Bildung und die Auflösung von Formen, um die es auch Foucault geht, unbedingt prozessual zu denken. Einmal gebildete Formen können virtualisiert und zu neuen Formen gebildet werden. In einem solchen Prozess verortet sich Foucault in diesem Text von 1966 historisch, denn er konstatiert einen Umbildungsprozess im Wissen vom Menschen, der im Kontext von Ethnologie und Psychoanalyse bereits angefangen habe. Deren Besonderheit sei es, dass „elles n’approchent pas pour autant d’un concept général de l’homme: à aucun moment, elles ne tendent à cerner ce qu’il pourrait y avoir de spécifique, d’irréductible en lui, d’uniformément valable partout où il est donné à l’expérience. […] On peut dire de toutes deux […] qu’elles dissolvent l’homme.“336 Sie virtualisieren also den Menschen und zielen auf die „région ‚médiane‘“, denn sie befragen „non pas l’homme luimême, tel qu’il peut apparaître dans les sciences humaines, mais la région qui rend possible en général un savoir sur l’homme“.337 Dieses Mittelgebiet ist das Medium, in dem Ordnungen virtualisiert werden wie zuletzt die Ordnung der modernen Episteme. Ethnologie und Psychoanalyse arbeiteten den Humanwissenschaften entgegen, indem sie sie „ramènent à leur socle épistémologique, et qu’elles ne cessent de ‚défaire‘ cet homme qui dans le sciences humaines fait et refait sa positivité.“338 Den Aktualisierungsgesten der Humanwissenschaften begegnen sie mit der Virtualisierung derer Konzepte. Unser Denken sei daher zwar noch ‚modern‘, aber etwas Neues begänne, eine andere Ordnung.339 Foucault diagnostiziert diesen Wechsel an der Sprache, die in der modernen Episteme zurückgetreten sei, aber nun wieder eine größere Rolle spiele, er diagnostiziert, „que toute cette configuration va maintenant basculer, et que l’homme est en train de périr à mesure que brille plus forte à notre horizon l’être du langage? L’homme s’étant constitué quand le langage était voué à la dispersion, ne va-t-il pas être dispersé quand le langage se rassemble?“340 Der Mensch der Humanwissenschaften gehöre einer Ordnung an, die ihrem Ende zugehe, er sei in Auflösung begriffen. Diese Auflösung

336 Ebd., S. 390 f. 337 Ebd., S. 389. 338 Ebd., S. 391. 339 Vgl. ebd., S. 395–398. Man könnte als Ausfaltung dieser These die Virtualisierung des menschlichen Körpers hinzunehmen, die Lévy als typisch für die aktuellen kulturellen Prozesse beschreibt. Vgl. Lévy: Qu’est-ce que le virtuel?, Kap. ‚La virtualisation du corps‘. 340 Foucault: Les mots et les choses., S. 397.

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sistiert Foucault am viel zitierten Ende seiner umfassenden Archäologie mit der Metapher Sand: L’homme est une invention dont l’archéologie de notre pensée montre aisément la date récente. Et peut-être la fin prochaine. Si ces dispositions venaient à disparaître comme elles sont apparues, […] elles basculaient, comme le fit au tournant du XVIIIe siècle le sol de la pensée classique, – alors on peut bien parier que l’homme s’effacerait, comme à la limite de la mer un visage de sable.341

Sand, verstanden als Metapher für Virtualität, weist auf jenes Mittelgebiet, das nach Foucault das „fundamentalste“ Gebiet darstellt, und zwar, so meine ich, gerade weil Sand kein festes Fundament bietet. Wenn der Mensch wie ein Gesicht im Sand am Ufer des Meers verschwinden wird, wird er als Form einer Wissensordnung im Medium des Mittelgebietes aufgelöst werden. Der Einsatz von Sand verweist auf eine Medialität, in der Formen vorübergehend sind, und auf die Virtualität, der die Formen anheimgestellt sind und die der Virtualität des Mittelgebiets zwischen den Ordnungen entspricht, in dem diese sich bilden und in das sie wieder zurückgehen. Die Metapher Sand hat damit keine geringe Funktion in Foucaults Konzeption, und sie wird noch dadurch hervorgehoben, dass „sable“ das letzte Wort von Les mots et les choses ist. Sand als Wort, Metapher und Modell dient an exponierter Stelle dazu, Foucaults These von der historischen Variabilität der Ordnung, die den ‚Menschen‘ ermöglicht, und von ihrer endgültigen Auflösung zuzuspitzen und performativ das Konzept selbst zum Abschluss zu bringen, indem der Text auf diese Auflösung im Sand zuläuft und in ihr kulminiert: Mit dem Wort „sable“ vollzieht Foucault die Setzung des begonnenen Virtualisierungsprozesses und setzt mit ihm den Einsatz der Auflösung als aktuell. 3.5.2.5 Die Schöpfung als Schriftspur im Sand: Dearchivierung göttlicher Zeichenordnung In Stefan Heyms Ahasver (1981) wird mit der Metapher Sand die Autorität des zeichensetzenden Schöpfers in Frage gestellt. Gott erscheint als ein alter Mann, der auf einem Stein sitzt, er „schrieb Zeichen in den Sand zu seinen Füßen mit der Spitze des Stabes.“342 Zwischen dem „Rabbi“, einer Jesusfigur mit revolutionärer Funktion, und „dem Alten“ entfaltet sich ein Dialog um dessen Autorität an der Stabilität seiner Schriftzeichen: Was tust du da, Alter? Der jedoch sagte, ohne sich stören zu lassen bei seiner Arbeit, Siehst du nicht, daß ich das siebenfach versiegelte Buch des Lebens schreibe, mein

341 Ebd., S. 398. 342 Stefan Heym: Ahasver. Roman, Frankfurt/M.: Fischer-Taschenbuch-Verlag 1983, S. 219.

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3 Virtualität der Formen

Sohn? Aber du schreibst es in den Sand, sagte der Rabbi, und ein Wind wird kommen und alles verwehen. Genau das, erwiderte der Alte, ist das Geheimnis des Buches.343

Wie Archimedes von Syrakus, „ohne sich stören zu lassen“, schreibt der Alte seine Zeichen in den Sand, jedoch anders als jener nicht, um Berechnungen durchzuführen und gegebenenfalls wieder zu verwischen, sondern das Schöpfungsprinzip. Der Rabbi kritisiert dies scharf, offenbar davon überzeugt, dass das „Buch des Lebens“ eine dauerhafte Form in einem stabilen Medium finden muss. Ist das Buch des Lebens aber „in den Sand“ geschrieben und der Kontingenz des Windes und unwillkürlichen Bewegungen ausgesetzt, so wird damit auch die Autorität des Alten fragwürdig: Du bist der, der die Welt schuf aus dem Wüsten und Leeren, mit Tag und Nacht und Himmel und Erde und Wassern und allem Gewürm. / Der bin ich, sagte der Alte. / Und am sechsten Tag, fuhr der Rabbi fort, erschufst du in deinem Bilde den Menschen. / Auch dieses tat ich, sagte der Alte. / Und nun soll’s alles sein, als wär’s nie gewesen, fragte der Rabbi, eine flüchtige Spur, die mein Fuß verwischt?344

Während der Rabbi die Adäquatheit des Mediums Sand für die Aufzeichnung von Schöpfungsformeln moniert, macht aber für den Alten gerade dessen spezifische Medialität das „Geheimnis des Buches“ aus, das darin besteht, dass die Schöpfungsordnung selbst nur „eine flüchtige Spur“ und vergänglich ist. Die eigene Virtualität ist ihr ‚eingeschrieben‘, mehr noch: Schöpfung ist Virtualität; sie besteht aus Problemkonstellationen, für die keine Lösungen vorgegeben sind. Die Schaffenskraft Gottes besteht also in der Schaffung einer offenen Ordnung. Diese Virtualität der Schöpfung beschreibt der Alte als Effekt seines Tuns: Da wandte der Alte den Kopf und blickte auf zu seinem Sohn […] und sprach, Ich habe die Welt erschaffen und den Menschen, aber einmal da, entwickelt ein Jegliches seine eignen Gesetze und aus Ja wird Nein und aus Nein wird Ja, bis nichts mehr ist, wie es war, und die Welt, die Gott schuf, nicht mehr erkennbar selbst dem Auge ihres Schöpfers.345

Die Schöpfung, einmal in der Welt, virtualisiert ihre Formen; sie besteht nicht in ihrer Archivierung, sondern in ihrer fortlaufenden Dearchivierung; sie ist die Einschreibung der Formveränderung in ihre eigene Schrift. Während der Rabbi hierin eine „Vergeblichkeit“ des schöpferischen Vorgangs erkennt, sieht der Alte gerade hierin seine Aufgabe erfüllt: „Ich schreibe in den Sand, sagte der Alte, ist das nicht genug?“346

343 344 345 346

Ebd. Ebd. Ebd., S. 220. Ebd.

3.5 Lose Eindrücke: Auflösung von Archivierungen

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Die Meinungsverschiedenheit der beiden resultiert aus einer unterschiedlichen Wertung der Schöpfungstätigkeit. Während der Rabbi von der Bewahrung der Schöpfung ausgeht und ihre Einschreibung in ein Medium der Dearchivierung als vergebliches Tun versteht, begreift der Alte die Virtualisierung, die der Sand als Medium verspricht, als Potential der Formveränderung. Während der Rabbi den Alten daran erinnert, dass er einen neuen Himmel und eine neue Erde habe schaffen wollen, verweist der Alte auf die Eigenlogik seiner Schöpfung, die er nicht ändern wird. Der anschließende Aufstand des Rabbis muss indessen scheitern, da er – als ein revolutionärer Formveränderer – eins mit dem Alten ist, „ein Wesen, ein großer Gedanke, ein Traum.“347 Sand als Medium der Dearchivierung wird in dieser Weise als Medium der Deautorisierung einmal gesetzter Zeichen durchdacht, indem sie (auch) eine Virtualisierung kultureller Ordnungen und Auflösung scheinbar fest gesetzter Einheiten bedeuten kann. Schöpferische Einheit und Autorität werden dort problematisiert, wo der schaffende Gott die Virtualität seiner Schöpfung als ihre Erfüllung begreift, und zwar im positiven Sinn als Freisetzung von Formveränderung. Sand verweist zudem an dieser Stelle noch einmal auf die Unergründlichkeit Gottes, insofern seine Gründe in den Sand als ein Medium geschrieben sind, das keinen festen Grund darstellt.348

3.5.3 Gedächtnis in Auflösung Nachdem Sand als Medium und Metapher der Dearchivierung zuerst auf die Zeitstellen (Kap. 3.5.1) und dann auf die in der Zeit instabilen Formen bezogen wurde, die als Spuren im Medium Sand erscheinen (Kap. 3.5.2), wird es nun um Sand als Metapher für die Dearchivierung von Formen im Medium des Gedächtnisses gehen. „‚Gedächtnis‘, heißt es bei Friedrich Ohly, ‚gibt dem Fließenden Gestalt.‘“349 Wenn das Gedächtnis ‚sandig‘ ist, bedeutet das, dass seine „Gestaltungen“ gleichsam wieder ‚verflüssigt‘ werden. Der Sand ist eine mediale Metapher, die dem Gedächtnis das Fließende wieder einschreibt und seine Gestaltungen problematisiert. Dies kann im Sinne des genitivus objectivus das problematische Gedächtnis an etwas sein, indem bestimmte Erinnerungen nicht mehr aktualisierbar

347 Ebd., S. 244. 348 Vgl. Kap. 3.4.1.3. 349 Friedrich Ohly, zit. n. Manfred Weinberg: Das Gedächtnis der Dekonstruktion, in: Gerhard Neumann (Hg.): Poststrukturalismus. Herausforderungen an die Literaturwissenschaft, Stuttgart/Weimar: Metzler 1997, S. 23–39, hier S. 23.

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3 Virtualität der Formen

sind, oder im Sinne des genitivus subjectivus das problematische Gedächtnis von einer Person, das sich auf die Virtualisierung seiner Erinnerungen umgestellt hat. 3.5.3.1 Dearchivierung als Auflösung des Erinnerten: Der Sand der Geschichte/n Wird das Gedächtnis im Sinne des genitivus objectivus durch die Sandmetapher problematisiert, so äußert sich dies darin, dass die Erinnerung an etwas oder jemanden wie aufgelöst erscheint. Sand erscheint dabei als Metapher vor allem in Bezug auf die Erinnerung an die Toten der Shoah. Das Werk des israelischen Künstlers Micha Ullman kreist um dieses Thema, und bevorzugt nutzt er hierfür als Material israelischen Sand. Als ein Beispiel sei seine Installation Unten (2011) genannt; Tische und Stühle aus Stahl sind mit rotem Sand bedeckt und versinken im Boden:

Abb. 3.18: Micha Ullman: Unten. 2009.

3.5 Lose Eindrücke: Auflösung von Archivierungen

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Die Gegenstände versinken wie ‚sandige‘ Erinnerungen, die sich nicht halten können, teils im Boden, oder sie sind – man sieht es nicht – teils schon versunken. In anderen Installationen Ullmans, seinen Sandschüttungen, in denen er Sand über Gegenstände ausstreut und diese dann entfernt, arrangiert er den Sand als Schatten und Spur des verlorenen Abwesenden, während in wieder anderen Sandinstallationen Sand und Eisen zu Gegenständen verschmolzen werden, als solle der flüchtige Sand fixiert werden. Die Flüchtigkeit von Spuren und Formen im Sand und der Versuch, sie zu binden, weisen auf die Problematik einer Erinnerung an Personen, die körperlich nicht mehr greifbar sind, weil ihre Körper gewaltsam zerstört wurden.350 Während bei Ullman der Sand als Material in der Kunst eingesetzt wird, erscheint er in Paul Celans viel beachtetem Gedicht Der Sand aus den Urnen (1948) als Metapher: Schimmelgrün ist das Haus des Vergessens. Vor jedem der wehenden Tore blaut dein enthaupteter Spielmann. Er schlägt dir die Trommel aus Moos und bitterem Schamhaar; mit schwärender Zehe malt er im Sand deine Braue. Länger zeichnet er sie als sie war, und das Rot deiner Lippe. Du füllst hier die Urnen und speisest dein Herz.351

Sand und Vergessen werden in den ersten beiden Zeilen, der Titel- und der ersten Verszeile, verbunden. Die Urnen mögen das „Haus des Vergessens“ sein, indem sie den Sand beherbergen, der in ihnen statt der Asche eingefüllt ist. Die Erinnerung muss unvollständig bleiben: Ein kopfloser Spielmann „malt im Sand deine Braue“; ein körperlich unvollständiger Erinnernder zeichnet nur einen Teil des zu erinnernden Zerstörten, nur die Braue, auf. Und noch dieses Bruchstück ist verzerrt, denn die Braue ist länger „als sie war“. Zudem ist selbst dies wie auch sonst überhaupt nichts mehr von dem vorhanden, was erinnert werden möchte, denn der Sand ist nur das Medium der Erinnerung, in das hinein gemalt wird, während die Asche der Toten, die eigentlich die Urnen füllen sollte, nicht mehr existiert. Sie ist nicht nur so wenig greifbar wie der Sand, der zwischen den Fingern zerrieselt, sondern sie ist überhaupt nicht mehr da. Schließlich wäre selbst die Urnenbestattung gegen den jüdischen Brauch, der die Verbrennung der Toten verbietet, sodass mit den Worten ‚Urne‘ und ‚Sand‘ der Verlust bei jeder Nennung vertieft wird. Der Sand steht hier also nicht nur für die Flüchtigkeit der Spuren, die die

350 Vgl. zu Micha Ullmans Sandkunst ausführlicher Kap. 5.1 und Kap. 5.3. 351 Paul Celan: Sand aus den Urnen, in: Ders.: Die Hand voller Stunden. Gedichte. Ausgew. u. m. einem Nachwort versehen v. Michael Krüger, München: dtv 82010, S. 17.

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3 Virtualität der Formen

getöteten Juden hinterlassen haben, welche nur noch Spur sein können, da selbst ihre toten Körper noch in den Konzentrationslagern vernichtet wurden; er steht auch für den Ersatz der Spur, denn es ist nur noch die Erinnerung an die Körper, die in den Sand gemalt werden kann. Das Gedächtnis an die getöteten Juden ist damit ein von Grund auf Zerstörtes, und der Sand ist in doppelter Hinsicht eine Metapher des Vergessens: Als Medium, das nur unzureichend erinnern kann, und als Zeichen für den absoluten Verlust des Erinnerten.352 Hieran knüpft Anselm Kiefers Gemälde Der Sand aus den Urnen (1997) unmittelbar an. Ein Schriftzug zitiert das gleichnamige Gedicht von Celan, gewidmet ist es Ingeborg Bachmann.353 Die Zusammenhänge zwischen Kiefer, Celan und Bachmann hat Franziska Frei Gerlach in Bezug auf Sand als Material und Metapher untersucht: „Zentral ist dabei der Bedeutungskomplex von Sand und Wüste in Teilen ihrer Werke, in denen Sand mit dem Gedächtnis der Shoah und des nationalsozialistischen Terrors enggeführt wird.“354 Frei Gerlach hebt die „Materialeigenschaften von Sand“, die von Kiefer genutzt werden, heraus und stellt fest: „Als materielles Gedächtnis legt der Sand Zeugnis von längst Vergangenem ab. Die Geste des Authentischen, die das Material Sand evoziert, transportiert auch den Gewaltaspekt ins Bild hinein, der etymologisch im Begriff des Authentischen […] und genealogisch im Entstehungsprozess eines Sandkorns liegt: Sand als Zeugnis von Zerstörung.“355 Frei Gerlach betont die Eigenschaft von Sand als zerstörtem Material, das er als detritisches Gestein fraglos ist. Dies stellt durchaus einen wichtigen Aspekt in der kulturellen Verarbeitung der Shoah dar, auch in Ullmans Installation und in Celans Gedicht. Hinzuzufügen ist der Aspekt von Sand als Medium der Dearchivierung. Die Erinnerung an die Toten ist zwar da, aber sie ist nicht greifbar; sie ist immer wieder auch anders möglich, so wie die Braue im Sand länger oder kürzer gemalt sein kann, als sie war, denn das, wie „sie war“, ist die Aktualisierung, die nicht mehr erreicht werden kann, dem sich im Sand nur immer wieder neu und unzureichend angenähert werden kann – und muss, denn im Sand wird sich das Gemalte nicht lange halten. Der Sand fokussiert metaphorisch das Vergessen als etwas, das der Erinnerung eingeschrieben ist, und er weist darauf hin,

352 Vgl. auch Kap. 4.2.1.2 zur Sandmetaphorik in Celans Gedicht Ein Körnchen Sands. 353 Vgl. ausführlicher zu diesem Gemälde von Kiefer Kap. 5.3. 354 Franziska Frei Gerlach: Sandkunst. Korrespondenzen zwischen Anselm Kiefer, Paul Celan und Ingeborg Bachmann, in: Thomas Strässle/Caroline Torra-Mattenklott (Hg.): Poetiken der Materie. Stoffe und ihre Qualitäten in Literatur, Kunst und Philosophie, Freiburg i.Br./Berlin: Rombach 2005, S. 225–242, hier S. 227. 355 Ebd., S. 229.

3.5 Lose Eindrücke: Auflösung von Archivierungen

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dass das Erinnerte immer wieder in anderer Form in Erscheinung treten kann, da es keine gültig fixierbare Version der Erinnerung geben wird. Dass die Geschichte immer wieder auch anders erinnert und erzählt werden kann, aber umso ungeheurer wird, wenn sie gar nicht erzählt wird, ist ein wichtiges Thema in David Grossmans Roman Stichwort: Liebe (1986).356 Das Buch handelt vom neunjährigen, jüdischen Jungen Momik, der unter dem Schweigen leidet, das seine Familie über ihre Geschichte legt. Nur der Großvater, der nicht einmal sein Großvater, sondern ein Großonkel und eigentlich schon gestorben ist, erzählt eine Geschichte, aber nur in Bruchstücken und unzusammenhängend, und sie ist daher, auch wenn er sie immer wieder erzählt, nicht zu verstehen. Von dieser Geschichte erfährt man, dass er sie dem Lagerkommandanten erzählte, um ‚endlich‘ sterben zu können. Der Titel lautet „Kindern des Herzens“, und sie ist die letzte ‚Folge‘ einer Serie der von ihm erfundenen Kindergeschichten, von denen Momik nur ein Blatt findet, auf denen die Kinder des Herzens etwas äußerst Böses entdecken und bekämpfen müssen. Da keiner der Erwachsenen Momik eine zumindest annähernd konsistente Erzählung dessen liefert, was der Großvater erlebt hat und was sich den Erwachsenen an für ihn so offensichtlich spürbarem Furchtbaren zugetragen hat, beginnt er, „der sich an alles erinnerte“,357 selbst eine Geschichte für den Großvater zu entwerfen und zu versuchen, „die Nazi-Bestie“, von der ihm eine der Erwachsenen erzählt und die ihm der Grund des Übels und Leidens auch seiner Eltern zu sein scheint, zu vernichten. Die emotionale Belastung und Einsamkeit, in der er diesen Kampf austrägt, verfolgt ihn zusammen mit dem Versuch, die Verfolgungsgeschichte seiner Eltern und ihrer Generation zu verstehen, ein Leben lang, wie im weiteren Verlauf des Romans zu erfahren ist. Der Versuch der Eltern, die Geschichte zu vergessen, virtualisiert sie für Momik in eine Vielzahl von Möglichkeiten, wie sie sich zugetragen haben könnte, sodass er sich darin verliert und keinen Halt findet. Im Roman erscheint der Sand weder als Medium noch als Metapher, obwohl er strukturell die Haltlosigkeit der Virtualität und die sandige Struktur des Vergessens thematisiert. Es mag aber hieran liegen, dass der Sand umso bedeutsamer in einer Adaption für das Theater inszeniert wird, im Theaterstück Kinder der Bestie des Teatron Theaters und des figuren theaters tübingen.358

356 David Grossman: Stichwort: Liebe, übers. aus dem Hebr. v. Judith Brüll, München: dtv 3 2010 [1986]. 357 Ebd, S. 11. 358 Vgl. zu Inszenierung und Inhalt http://www.teatron-theater.de/de/kdb/main.html [10.01.2015]; Uraufführung 2003.

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3 Virtualität der Formen

Zwei Figuren bestreiten das Stück: Ein Schauspieler, der verschiedene Rollen einnimmt, und ein Puppenspieler, der einen bildhaften Kommentar dazu liefert. Den ersten Versuch, die Geschichte des Großvaters zu rekonstruieren, leitet der Schauspieler mit der Feststellung ein: „Das war so“, während der Puppenspieler einer Kiste, die mit Sand gefüllt ist, den Großvater entsteigen lässt, aus dem der Sand zurück in die Kiste rieselt:359

Abb. 3.19: Der Großvater löst sich im ‚Sand der Geschichte‘ auf.

Wie der Großvater in dieser Szene, so ist auch seine Geschichte ‚aus Sand‘, aus dem sie gebildet wird und in den sie sich wieder auflöst. Bildhaft wird die Geschichte ins Rieseln, werden Sand und Gedächtnis in ein Verhältnis gebracht in dem Versuch, die Geschichte zu begreifen, die aber, da sie ‚aus Sand‘ ist, nicht greifbar sein kann.

359 Vgl. Christoph Lehker: De Gater ‘87 Großer Gesang vom ausgerotteten Jüdischen Volk und Teatron Theater & figuren theater tübingen Kinder der Bestie, unter http://www.uni-potsdam. de/unidramcritics/DeGater%20Christoph%20Lehker.pdf [14.02.2019].

3.5 Lose Eindrücke: Auflösung von Archivierungen

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Der Sand hat in Kinder der Bestie eine doppelte Funktion. Zum einen bedeutet, ‚aus Sand‘ zu sein, selbst ‚Geschichte‘ zu sein, und zum anderen verweist der Sand auf die unzuverlässigen Medien des Gedächtnisses, wie sie im zweiten Versuch einer Rekonstruktion vorgeführt werden. „Also, das ist so…“, beginnt der Schauspieler wieder als Momik und berichtet von dem Versuch, die Erlebnisse seines Großvaters aufzuschreiben, wofür er in Bibliotheken und Archiven nach Material zum Holocaust gesucht habe. Als puppenspielerischer Kommentar nimmt eine Puppe ein Notizbuch aus dessen Tasche und vergräbt es im Sand. Die Geste versenkt als pars pro toto die Medien des Gedächtnisses im Sand der Geschichte, wo sie sich auflösen, im Hinweis darauf, dass das in Bibliotheken und Archiven Aufbewahrte keine absolute Rekonstruktion erlaubt. Sand wird aber auch als Medium der Einschreibung vorgeführt, indem in ihm gemalt und von Momiks Traum erzählt wird, „wie die Kinder des Herzens das Nazi-Biest besiegen.“360 Der Sand ist nun das Material, in das Träume geschrieben werden, die aber eben die Träume Momiks und zudem nicht archivierbar sind.361 Diese Medialität von Sand erscheint schließlich auch in der Differenz zur Schrift als einem sich diametral zum Sand verhaltenden Speichermedium. Während die Schrift, und zumal die Schrift in der hebräischen Tradition, Dauer impliziert, steht der Sand für die Flüchtigkeit, als deren Hintergrund im Stück die Schrift in der Projektion hebräischer Schriftzeichen gelesen werden kann bzw. vor der die Schrift in den Hintergrund treten muss. Die Schrift überdauert das individuelle Gedächtnis, jedoch steht der Verlust der Geschichte gleichzeitig ‚vor‘ dieser Tradition, wie in Abb. 3.20 bildhaft zu sehen ist. Der Sand in Kinder der Bestie zeigt, dass Geschichte immer auch etwas anders rekonstruierbar ist, sie ist „so“ oder „so“, wobei dieses Oder den Raum weiterer Möglichkeiten öffnet. So ist die Geschichte im historischen Sinne ‚aus Sand‘, weil sie vergangen und nicht abschließend ‚zu ermitteln‘ ist. Sie ist zudem im fiktionalen Sinne ‚aus Sand‘, weil es verschiedene mögliche Geschichten über den und vom Großvater gibt. Schließlich ist die Geschichte des Großvaters im medialen Sinne ‚aus Sand‘, weil die Medien des Gedächtnisses wie aus Sand sind. Die Geschichte des Großvaters stellt Momik vor die bekannte Aporie, die Geschichte der Shoah erzählen zu müssen, aber nicht erzählen zu können, weil sie wie aus Sand ist und es daher kein mögliches Erzählen gibt: „Es ist dieses RedenMüssen von dem Unsagbaren und gleichzeitig das Eingeständnis der fehlenden

360 Lehker: De Gater ’87, S. 7. 361 Vgl. zum Sand als Medium und Metapher für den Traum Kap. 4.1.

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3 Virtualität der Formen

Abb. 3.20: Momik rieselt der Sand der Geschichte aus den Händen.

Lösung.“362 Statt eines abschließenden Sagbaren gibt es immer nur die „fehlende Lösung“. Jede Aktualisierung, die Momik von der Geschichte des Großvaters ausprobiert, bleibt ein Problem, weil ihre Aktualisierung schon eine andere Möglichkeit ihrer selbst in sich trägt. Die „fehlende“ Lösung setzt eine dauerhafte Virtualisierung in Gang: Die Geschichte des Großvaters ist nicht zu fassen; sie ist wie aus Sand. Sand steht in Ullmans Installation Unten, im Theaterstück Kinder der Bestie sowie in Celans Gedicht Der Sand aus den Urnen und im Rekurs darauf auch in Kiefers Gemälde als Metapher für die Geschichte der Shoah und die Medien ihrer Erinnerung, sodass der Sand als Metapher dort eingesetzt wird, wo die Form des Gedächtnisses ein unlösbares Problem bleibt. Die Erinnerung an die ermordeten Juden ist so schwer zu (er)fassen wie eine Spur im Sand oder ein Gegenstand aus Sand; wie eine Form im Sand löst sie sich als unbegreiflich in ihm immer wieder auf. Dem Sand als einer klassischen Metapher für Instabilität steht die Erinnerung so entgegen, die in ihm nur als eine problematische zu haben ist, die zu aktualisieren aber gleichwohl immer wieder versucht werden muss. 3.5.3.2 Dearchivierung als Auflösung des Erinnerns: Wolfgang Herrndorfs Sand Betrachtet man das Gedächtnis einer Person im Sinne des genitivus subjectivus, ist es das Gedächtnis von jemandem. Die Dearchivierung bezieht sich dann auf 362 Lehker: De Gater ‘87, S. 8.

3.5 Lose Eindrücke: Auflösung von Archivierungen

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die Auflösung des Gedächtnisses als Archivierungsmedium für die in ihm gespeicherten Erinnerungen. Den Extremfall einer solchen Auflösung stellt die vollständige Amnesie dar, und genau eine solche ist der Dreh- und Angelpunkt von Wolfgang Herrndorfs Romans Sand (2011). Ich möchte vorschlagen, den Titel des Romans als Markierung ernst zu nehmen363 und Sand als Metapher für die Struktur der Amnesie zu lesen, wie sie in ihm thematisch wird. Dies funktioniert weniger über die Lektüre von einzelnen Stellen, in denen Sand erwähnt wird (es gibt nur wenige), als über die Einsetzung von Sand als Metapher auf abstrakter Ebene, wie sie sich z. B. in den sprachlichen Verschiebungen und deren virtueller Struktur, wie sie sich also im Vergessen als Versanden zeigt. Der Sand zeigt sich in Sand als Metapher für die Unmöglichkeit stabiler Erinnerung, als Metapher des Vergessens, und die Amnesie ist der Zustand, in dem man sich im Sand verliert. Unter Erinnern verstehe ich hierbei in Anlehnung an Niklas Luhmann ein aktuelles Operieren, das sich immer auf Sinn bezieht: Erinnern ist aktuelle Sinnproduktion.364 Sinn ist demnach eine besondere Selektionsform, die erlaubt, einen Möglichkeitshintergrund aufzuzeigen, aber zugleich dazu zwingt, nur einige Möglichkeiten zu aktualisieren. Erinnern ist immer gebunden an vorausgegangene Selektionen, die den Möglichkeitshintergrund bilden. Können diese Selektionen nicht mehr aktualisiert werden, so ist die Fähigkeit zur Erinnerung nicht mehr gegeben. Es kann nicht mehr unterschieden werden zwischen dem, was erinnert und zwischen dem, was vergessen werden soll. Das Paradigma, aus dem eigentlich selegiert werden soll, ist also immer im Syntagma präsent und destabilisiert dessen feste Folge: Das Syntagma versandet. Begreift man das Vergessen als eine Weise der Dearchivierung, lässt sich das Vergessen von Formen als eine Variante der Virtualisierung und das Erinnern von Formen als eine Variante der Aktualisierung auffassen, und weil Formen im Sand über die Zeit hinweg nicht stabil sind, sondern virtualisiert werden, kann Sand zu einer Metapher des Vergessens werden. 3.5.3.2.1 Sand als Metapher des Vergessens „Wenn er die Schiene funkentstört.“365 Dies ist der letzte Satz, den der Protagonist von Sand von einem der vier Männer hört, die ihm wahrscheinlich zuvor

363 Auch wenn der Arbeitstitel des Romans lange „Die Wüste des Bösen“ lautete; vgl. hierzu Michael Maar: ‚Er hat’s mir gestanden‘. Überlegung zu Wolfgang Herrndorfs ‚Sand‘, in: Merkur 66,4 (2012), S. 333–340. 364 Vgl. Luhmann: Soziale Systeme, Kap. ‚Sinn‘. 365 Wolfgang Herrndorf: Sand. Roman, Berlin: Rowohlt 2011, S. 93. Die Seitenangaben in Klammern beziehen sich in diesem Kapitel auf diesen Text.

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einen empfindlichen Schlag auf den Hinterkopf versetzt haben. „Wahrscheinlich“ deshalb, weil er seit dem Schlag nichts Persönliches mehr von sich weiß366 und den Tathergang nur vermuten kann: Vier Männer schlagen ihm in einer Scheune mitten in einer Wüste auf den Hinterkopf, er verliert Bewusstsein und Gedächtnis, hört aber beim Aufwachen noch letzte Worte der Vierergruppe, die draußen überstürzt mit einem Auto davon fahren, um einen gewissen Cetrois zu suchen, und damit meinen sie jenen Mann, von dem sie in besagtem Satz befürchten: „Wenn er die Schiene funkentstört.“ Vielleicht wurde dieser Satz aber gar nicht genau so gesagt, denn es waren „[v]on Motorenlärm überlagerte Worte“, und für den Mann schließen sich weitere Varianten des vermeintlich Gehörten an: „Wenn er die Schiene… die Maschine… Christine. Wenn die Maschine funktioniert. Wenn er Christine jetzt verhört. […] Wenn die Lawine eskaliert. Wenn er den Dünenhund entführt.“ (93 f.) Ob es also um die Schiene, die Maschine, Christine, die Lawine oder den Dünenhund ging, ob das Subjekt des Satzes, „er“, eines dieser Objekte „funkentstört“, „verhört“ oder „entführt“, oder ob „er“ überhaupt nicht mehr Subjekt des Satzes ist, sondern etwas ohne ihn „funktioniert“ oder „eskaliert“ – all diese Möglichkeiten fangen im Gedächtnis des Mannes an, als gleichwertig aufzuflackern. Gleichwertig sind sie nicht nur wegen der paradigmatischen Struktur der Sprache, sondern vor allem, weil der Mann aufgrund seiner Amnesie nicht entscheiden kann, welches der möglichen Worte innerhalb des Paradigmas auf den aktuellen Satz zutrifft. Darüber hinaus ist die Reihe der Möglichkeiten potentiell weiter offen, denn das Paradigma wird assoziativ verlängert, entweder aufgrund der klanglichen Nähe etwa von Maschine über Christine bis zu Lawine oder durch metonymische Verknüpfung von z. B. Lawine über einen gedachten Lawinenhund zu Dünenhund. Die Signifikanten werden solange von einer Möglichkeit zur nächsten verschoben, bis sie zahlreich nebeneinanderstehen und ein Ende der Varianten nicht absehbar ist. Wir sind damit mitten in den Verschiebungen, die den Text antreiben, wir sind, mit anderen Worten, mitten im Sand. Wir sind nicht nur mitten in Herrndorfs Roman Sand, sondern auch mitten in jenem Sand, der das Medium der Amnesie und Dearchivierung ist, das Medium, in dem die Formen verwehen können.

366 Er sieht: „Leere Wüste. Er wusste nicht, wie er hierhergekommen war. Er wusste nicht, warum die Männer ihm den Schädel eingeschlagen hatten. Er wusste nicht, ob sie ihm überhaupt den Schädel eingeschlagen hatten. Er konnte sich nicht erinnern. Und er konnte sich auch nicht erinnern, wer der Mann war, dem sie den Schädel eingeschlagen hatten, wenn er dieser Mann war. Sein Name fiel ihm nicht ein.“ (92)

3.5 Lose Eindrücke: Auflösung von Archivierungen

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3.5.3.2.2 Globale Amnesie: Virtualität der Identität Wir befinden uns im Jahr 1972 in einem nordafrikanischen Land, in der Nähe einer Küstenstadt – Targat – und zwar am Rande einer Oase – Tindirma – wo der Protagonist soeben in der besagten Scheune erwacht ist. Nachdem die Männer abgefahren sind, flieht er in die Wüste und trifft auf ein Auto mit amerikanischen Hippies. Diese machen sich einen Spaß daraus, seine Ausweispapiere zu zerstören. Zurück bleibt ein Schnipsel, und als sei „in der Willkür des Zufalls doch etwas wie Logik und Bosheit enthalten, war es das Stück Papier, auf dem ‚Nom:‘ stand“ und dahinter noch ein Rest des ersten Buchstabens, „nach oben und links hin gerundet“ (112). Auch hier beginnt wieder das Drama der möglichen Varianten: Ist es ein C oder O? Oder ein S? Es könnte auch ein Q oder G sein. Böte die Erinnerung an den eigenen Namen ein sicheres Wissen darüber, welcher dieser Buchstaben zu aktualisieren sei, ist dem amnestischen Mann dieses Verfahren genommen: Er kann keinen der Buchstaben selegieren, weil er sich nicht erinnert. Jeder probehalber aktualisierte Buchstabe erscheint auch anders möglich, solange es nur eine Rundung „nach oben links hin“ gibt. Immerhin schafft er es, sich – mit schwerer Kopfwunde – zu einer Tankstelle zu schleppen, wo er eine Amerikanerin überzeugen kann, ihm zu helfen. Sie nimmt ihn mit und versorgt seine Wunde. Diese Amerikanerin – Helen – ist allerdings, was sowohl die Lesenden als auch der Mann erst viel später erfahren, eine Agentin des CIA. Aussehend wie ein Fotomodell (laut Text: ebenso schön wie dumm), ist sie alles andere als dumm, sondern in der Lage, extrem schnell logisch zu denken und zu formulieren. Am Anfang mehr einer Ahnung folgend, ist sie schon bald sicher, dass dieser Mann die Lösung des aktuellen Spionageproblems sein könnte, dessentwegen sie vor Ort ist. Helen entscheidet, er sei fürs erste Carl zu nennen, nach dem Herstellerschild in seinem Anzug: Carl Gross. Helen ist ebenso entschieden dafür, dass Carl wegen seiner Amnesie einen Fachmann befragen sollte, und so findet dieser sich wenig später in der psychologischen Praxis eines gewissen Dr. Cockroft wieder. Dieser befragt ihn zwar ausführlich und beschreibt sehr akkurat Carls mentalen Zustand, kann ihm aber mit keiner konkreten Diagnose weiterhelfen. Vor allem unterstützt Helen Carl intensiv bei seinen Versuchen, das Rätsel seiner Identität zu lösen, immer ausgehend von seiner einzigen Erinnerung, von der Szene in der Scheune. Carl hängt nämlich nach wie vor hilflos in den Verschiebungen, die vom zuletzt gehörten Satz aus möglich sind: „Wenn er die Schienen demoliert, wenn der Lawinenhund sich rührt, wenn man die Bienen exportiert“ (114). Da es für ihn überhaupt keinen Sinnzusammenhang mehr gibt, weiß er nicht, welcher von allen diesen Sätzen Sinn machen kann; vielmehr treibt die Szene mit den vier Männern für ihn „als winzige Insel in einem Ozean aus Nichts.“ (94) Carl ist mit seiner Amnesie die Fähigkeit zur Selektion

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verloren gegangen, und so verliert er sich im ‚großen Meer‘ der Komplexität, die nichts ist, weil sie alles sein kann. Das Motto, das der Szene von Carls Erwachen vorangeht und somit im Romangeschehen exponiert ist, spielt genau auf diese Struktur von nichts und allem an. Es ist ein Dialog aus Fantômas von Pierre Souvestre und Marcel Allain: „Fantômas.“ „Qu’avez-vouz dit?“ „J’ai dit Fantômas.“ „Et qu’est-ce que cela signifie?“ „Rien… Tout!“ (91)

‚Fantômas‘ bedeutet zugleich nichts und alles. Nichts, da Fantômas alle möglichen Namen hätte tragen können, und alles, da alle Bedeutungen von Fantômas durch seinen Namen adressiert werden können. Carls Suche nach seinem Namen ist genau von diesem Zwiespalt getrieben: Ist sein richtiger Name eigentlich ein Nichts und etwa durch „Carl“ ersetzbar, bedeutet er ihm zugleich alles, da er der Virtualität seiner Existenz eine Aktualität entgegensetzen würde. Carl ist das Problem des Nichts also anders als Fantômas in beiden Hinsichten beschert. Weil jenseits seiner Erinnerungsinsel nichts definiert ist, ist alles möglich; und weil er sich nicht an seinen Namen erinnert, ist alles, was ihn definierte, zu nichts geworden. Carls Amnesie hat mit anderen Worten alles, was ihn definierte, virtualisiert, sodass ihn nun alles Mögliche definieren könnte. Helen hingegen, die Agentin, hat jetzt schon, schnell und zielsicher, die Lösung für den Satz, und während Carl immer noch weitere Komplexität aufbaut – „Wenn er Pauline informiert, wenn er die Bienen exportiert, wenn die Maschine funktioniert… ich weiß es nicht“ – stoppt sie die virtualisierende Tätigkeit Carls kurzerhand mit einer Aktualisierung: „‚Wenn er die Mine jetzt zerstört‘, sagte Helen und schnipste die Kippe aus dem Fenster.“ (135) 3.5.3.2.3 Gedächtnisarbeit: Versuche der Aktualisierung Es geht tatsächlich um eine Mine, und Carl wird bald in die Villa eines gewissen Adil Bassir entführt, dem so genannten „König der Schieber“ (158), der am Ende eines gewaltsamen Verhörs sagt, „[d]ann ist das wieder meine Mine“ (157), und droht, ansonsten Carls Frau und Kind umzubringen. Zwar ist damit nun klar, dass es sich in dem besagten, problematischen Satz nicht um eine Christine, Schiene, Lawine oder sonst etwas gehandelt hat, sondern um eine Mine; aus der anfänglichen Virtualität des Satzes ist ausgerechnet vom „König der Schieber“ etwas aktualisiert worden, was endlich einen Anhaltspunkt gibt, einen Punkt, die Verschiebungen anzuhalten; zudem ist auch aus Carls persönlicher Virtualität etwas aktualisiert worden, denn er weiß nun, dass er Frau

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und Kind hat, auch wenn er sich nicht an sie erinnert und die Drohgebärde ihn emotional überhaupt nicht erreicht. Gleichwohl ist die Kontingenz mit dem nun selegierten Wort „Mine“ nur auf der Ebene der Signifikanten ausgeschlossen, nicht aber auf der Ebene der Signifikate, weil auch jetzt schon wieder zwar nicht alles, aber alles Mögliche möglich ist. Die Mine kann nämlich, wie Carl Helen gegenüber resümiert, viererlei sein: „Die Miene im Gesicht, das Bergwerk, das Sprengding und das in den Bleistiften.“ (162) Aber auch wenn sich das Problem somit nur verschoben hat, hat es immerhin etwas an Komplexität eingebüßt, und Carl glaubt, dass er, wenn er das Bedeutungsproblem des Wortes ‚Mine‘ gelöst hat, auch sein eigenes Identitätsproblem lösen kann. Wenn es ihm gelingt, so denkt er, die Virtualität der Bedeutung in die Aktualität einer Variante zu überführen, so kann er nicht nur Bassir die besagte Mine geben und der unmittelbaren Bedrohung entgehen, sondern auch das Problem seiner Identität lösen, da er dann Frau und Kind wieder sehen und sich im Zuge dessen hoffentlich an die Zeit vor dem Schlag auf seinen Kopf erinnern wird. Helen unterstützt Carl in dieser Suche, da sie keinen Zweifel hat, dass Bassirs Mine eben das ist, was aus Sicht des CIA gerade nicht in dessen Hände gelangen sollte. Das Motto für diese gemeinsame Suche findet sich in einem Herodot-Zitat: „Einen Bund machen sie also: Einer lässt den anderen aus seiner Hand trinken und trinkt selber aus des anderen Hand.“ (147) Die Suche nach Vereindeutigung verbindet sie, ist aber von völlig verschiedenen Interessen geleitet; sie ist sowohl eine Erinnerungsarbeit als auch eine Arbeit an einem Spionagefall. Gemeinsam arbeiten Helen und Carl an den Vertracktheiten der Semantik, um die kriminellen und amnestischen Vertracktheiten aufzulösen. Die Lösung eines sprachlichen Problems wird damit in Sand der Königsweg für die Lösung aller anderen Probleme, wobei der Text nicht müde wird, die Sprache selbst als ein Medium auszustellen, dessen Verrutschungen die Sandmetapher treffend zu beschreiben vermag. Carl verfolgt mit Helens Hilfe jede Bedeutungsmöglichkeit von ‚Mine‘, um über den Ausschluss einzelner Möglichkeiten die Kontingenz der Virtualität in den Griff zu kriegen. Verheißungsvoll erscheint ihm zunächst eine Goldmine, die es in den Bergen geben soll, da Bassir unweigerlich etwas Wertvolles gemeint haben muss. Bald erfahren sie aber, dass diese Goldmine nur ein Restaurant gewesen sei, „es habe Zur Goldmine geheißen und sei im Gegensatz zu seinem Namen etwas ganz anderes als eine Goldmine gewesen, weshalb es auch längst nicht mehr existiere.“ (174) Der Signifikant ‚Goldmine‘ führt Carl also nicht nur nicht zu einer Mine, sondern verweist stattdessen auf die unüberschaubaren Verschiebungsmöglichkeiten im Bedeutungsfeld von Mine. Er stößt ihn lediglich darauf, dass die Bedeutung von Mine virtuell bleiben muss, so-

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lange er nicht jene Bedeutung aktualisieren kann, die für ihn relevant ist. Auch ein Gespräch mit einem ortskundigen Mann spielt zusätzlich auf diese Problematik an. Von Helen auf eine Mine angesprochen, fragt er zurück: „Eine Schiene?“ und wird von Helen korrigiert: „Mine. Eine Goldmine.“ (176) Zum einen verschiebt also auch der Mann wie eingangs Carl noch einmal die Mine zur Schiene, zum anderen hält auch er gerade damit, ohne es zu wissen, den Vorgang der Verschiebung an, der Carl so sehr hatte verzweifeln lassen: Die Tatsache nämlich, dass der Mann sich exakt genauso verhört wie Carl, macht es wahrscheinlicher, dass auch Carl in der Scheunenszene ‚Schiene‘ gehört hat, obwohl ‚Mine‘ gesagt wurde. Weitere Verschiebungen im Minenfeld passieren Carl im Traum. Er erzählt dem Psychiater Cockroft von einem Traum von einer „riesigen, fetten Ziege […], die plötzlich Helens Miene hatte […]. ‚Also Helens Gesicht‘, korrigierte er.“ (201) Carl unterscheidet hier, um Missverständnissen vorzubeugen, die Homophone von Mine; denn da Bassir seine Forderung nach der Mine nicht schriftlich, sondern mündlich geäußert hat, weiß Carl nicht, ob er eine Mi(e)ne mit oder ohne ‚ie‘ meint, und muss beide Varianten in Betracht ziehen. Wir, die wir den gesprochenen Text lesen können, wissen, dass die Suche nach einem Gesichtsausdruck in die Irre leitet; Carl hingegen spielt im Traum noch mit dieser Möglichkeit. Er berichtet seinerseits von Helens Miene mündlich, sodass er beflissen hinzufügt, dass er Helens Gesicht meint und nicht Helens Mine ohne ‚ie‘. Noch im Ausschluss dieser Bedeutungsmöglichkeit ist sie textuell jedoch als aufgeschriebene auf dem Tisch; und wie sich später zeigen wird, ist in dieser ausgeschlossenen Variante die Lösung versteckt, nämlich die Tatsache, dass jemand eine (Kuli-) Mine an sich genommen hat, in der Atombombenbaupläne versteckt sind, für die Helen im Namen des CIA die Verantwortung übernommen hat und auf deren rechtmäßigen Besitz sie allen anderen Aktionspartnern gegenüber Anspruch erhebt. Die Mine, das Homophon zu Miene, ist also genau das, was Carl sucht, aber im sprachlichen Feld wegzuschieben bemüht ist: Es ist Helens Mine. Dieses Wissen wird Carl allerdings, und das ist Teil der Tragik in Sand, erst haben, wenn es für seine Rettung zu spät ist. Derweil hilft man sich mit Lexika. Wie es der Zufall will, gibt es in der Bibliothek von Cockroft, die nur aus zwei Büchern besteht, ausgerechnet einen Brockhaus, erschienen 1953 in Wiesbaden, Band A-M. In nervöser Begeisterung schlägt Carl den Buchstaben ‚M‘ auf und findet weitere Bedeutungsmöglichkeiten für den Signifikanten ‚Mine‘ (217). Neben der Sprengladung wird hier noch eine altgriechische Münze angeführt sowie eine Biologin namens Mine(scu), die im Gegensatz zur Münze fiktiv ist. „Bleistifte fehlen“ (218), stellt Carl fest. Die Tatsache, dass ein Lexikon nicht alle Bedeutungen verzeichnet, erinnert daran, dass das Bedeutungsfeld nicht anders als virtuell bleiben kann, weil die

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Bedeutungsmöglichkeiten zwar nicht beliebig, aber auch nicht abschließend festlegbar sind. Nicht zuletzt deshalb kann es nicht verwundern, dass die richtige Mine – die Kulimine – trotz aller Nachforschungen selbst jetzt noch nicht in Carls Liste aufgenommen ist. Indessen geht die Suche weiter und fördert einen weiteren bedeutungstheoretischen Aspekt zu Tage. Carl sucht Rat bei Risa, der ortskundig und kriminell genug ist, um von ihm Informationen über wertvolle Sprengminen oder ertragreiche Bergwerke vor Ort erhoffen zu können. Tatsächlich erfährt er von Risa, dass es sich nicht um Spreng- oder Bergminen in der Nähe handeln könne, provoziert aber mit der Behauptung, dass beides nur zufällig so heiße, einen Ausbruch Risas: „Seit wann ist das Zufall, wie was heißt? Mine und Mine. Du meinst, das ist Zufall?“ (236) Weit gefehlt! Im Mittelalter nämlich, so erfährt Carl jetzt nicht aus dem Brockhaus, sondern von einem Kleinkriminellen, sind bei der Belagerung von Festungen Gräben ausgehoben und mit Holz abgestützt worden. Unter dem Fundament der Festung wurde dann das Holz angezündet, sodass die Minen einstürzten und über ihnen die Festung (237). „Deshalb“, so resümiert Risa, „heißt die Mine Mine. Und Sprengstoff kam da erst viel später rein. Wegen mehr Wums. Aber geht auch ohne.“ (237 f.) Risas Ausbruch ist nicht nur der Hinweis darauf zu verdanken, dass das Homophon ein Polysem ist, dem eine etymologische Verwandtschaft zugrunde liegt, sondern auch darauf, dass die Erinnerung rigide Kopplungen stabilisiert und zwar durch sprachgeschichtliche Gedächtnisarbeit. Der Poetologie der Verschiebungen in Sand gemäß ist es am Ende keine der Minen, die bereits im Gespräch waren, sondern es wird der Kontingenz der Ereignisse geschuldet sein, dass Carl die richtige Mine findet. Während Helen sich in der Oase Tindirma nach Cetrois erkundigt, schlendert Carl umher und stößt plötzlich auf ein Erinnerungsbild: Eine grüne Dose, unter dem Reifen eines gelben Mercedes zerquetscht, lässt ihn stutzig werden, und es zeigt sich – ebenfalls nach einer Reihe von zufälligen Begebenheiten –, dass es sein eigener Mercedes ist. Es ist also kein purer Zufall, dass Carl sein Auto findet, denn sein Gedächtnis hat das Bild der Dose gespeichert und möglicherweise hat sein Unbewusstes ihn diese Straße entlanggehen lassen. Ohne die Tatsache, dass er sich an die Dose erinnert, wäre dieses Auto nur eines unter vielen möglichen geblieben, so wie jeder mögliche Buchstabe auf Carls Pass. Zufall bleibt aber, dass sein Blick überhaupt auf die Dose fällt, die der Schlüssel zu seinen Erinnerungen ist, dass just zwei Männer es seltsam finden, wie er das Auto anstarrt, und er es daher mit dem Schlüssel aus seiner Tasche aufzuschließen vorgibt, nicht ahnend, dass die Zentralverriegelung sich widerstandslos öffnen wird. Er findet in seinem Auto unter anderem einen Kugelschreiber und einen Notizblock. Und da, in diesem Kugelschreiber, ist die gesuchte Mine. Keine

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Sprengmine also, kein Bergwerk, keine Miene (mit ‚ie‘), keine Münze, keine Biologin und auch keine Bleistiftmine, sondern eine Kulimine. In ihr entdeckt er zwei Kapseln, die, wie er zu dem Zeitpunkt noch nicht weiß, Mikrofilme enthalten (vgl. 296); er ahnt sofort, dass dies die Mine sein muss und informiert telefonisch Helen, die längst im Hotel auf ihn wartet. Die eigentliche Katastrophe nimmt nun ihren Lauf, denn wie es der Zufall will, gibt er Helen als Treffpunkt nicht nur aus Versehen (oder in der Aufregung) das falsche Viertel innerhalb der Oase an, sondern er gerät, nachdem er seinen Fehler bemerkt hat, im Versuch, zu ihr zu gelangen, in eine Hetzjagd nach einem Tier, während derer ihm sein Blazer, in dem sich der Kuli befindet, von Schulkindern geklaut wird. Verzweifelt, die Lösung seiner Probleme verloren zu haben und seiner Identität kein Stück näher gekommen zu sein, geht er ins Hotel zurück. Dort zeigt sich, dass nicht nur seine Erinnerungsarbeit von dieser Mine abhängig war, sondern auch Helens Spionagearbeit: Helen tobt vor Wut. 3.5.3.2.4 Das Problem der Kontingenz und die Lösung der Statistik Helen löst den Bund mit Carl auf. Nicht nur wegen des Verlustes der Mine, sondern vor allem, weil Carls Erklärungen, wie er die Mine gefunden und verloren und warum er Helen ins falsche Viertel geschickt hat, in der Summe aberwitzig erscheinen: die plötzliche Erinnerung an seinen Mercedes, die Verwechslung der Viertel, die Tatsache, dass er sich den Blazer von Kindern hat klauen lassen. Den Rahmen des Glaubwürdigen sprengt dazu die Tatsache, dass Helen in Carls Jackentasche Schnipsel von drei Ausweisen findet, von denen Carl ihr noch nichts erzählt hat. Zur Rede gestellt erzählt Carl eine weitere Unwahrscheinlichkeit, nämlich dass er diese Schnipsel aus der Jackentasche eines Toten habe mitgehen lassen, über den er bei seiner Flucht in die Wüste beinahe gestolpert sei. Das ist die reine Wahrheit, aber für Helen vor allem deswegen unfassbar, weil die Ausweise zusammengepuzzelt ein völlig neues Licht auf den Namen Cetrois werfen. In allen drei Ausweisen stehen Phantasienamen, wobei die Nachnamen aus den ersten vier Buchstaben des Alphabets und seiner jeweiligen Stelle im Alphabet kombiniert sind: Adolphe A-un, Bertrand Bédeux und Didier De-quat. Der Name Cetrois ist ein logisches Teil dieser Reihe, weil er aus ‚Ce‘ und ‚trois‘ zusammengesetzt und damit nichts anderes als die fehlende „Viertidentität“ ist (33). Diese Art erfundener Identitäten zusammen mit dem Sammelsurium unwahrscheinlicher Erklärungen lassen Helen zu dem Schluss kommen, dass Carl sie insgesamt angelogen hat. Sie glaubt ihm die Amnesie, den Verlust der Mine und den toten Mann nicht. Helen: „Wie wahrscheinlich ist das? Versetz dich mal in mich rein. Wie wahrscheinlich?“ (340) Carl hingegen weiß, dass er die

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Wahrheit sagt, und muss daher Helens Art, Rückschlüsse zu ziehen, in Frage stellen: „Er hatte in allem die Wahrheit gesagt, und die Wahrheit war unwahrscheinlich. Das wusste er selbst.“ (341) Helen kann Carl nicht glauben, weil sie eine Möglichkeit jenseits der Wahrscheinlichkeit nicht in Betracht zieht. Carl hingegen kann Helen nicht beweisen, dass sie trotz allem falsche Folgerungen anstellt, und auch den Zusammenhang zwischen dem gehörten Namen ‚Cetrois‘, ihm selbst und den vier Ausweisen kann er ihr aufgrund seiner Amnesie nicht erklären. ‚Sandig‘ ist somit nicht nur Carls Gedächtnis geworden, sondern auch seine Umstände, sodass weder diese Umstände seinen Zustand stabilisieren können noch jener stabil genug ist, um die Kontingenz der Umstände aufklären zu können. So kommt es, dass Helen geht. Verlassen von Helen irrt Carl heimatlos durch Targat: Hier muss er feststellen, dass die ohnehin sehr provisorisch eingerichtete Praxis von Dr. Cockroft nun leergeräumt und jener kein echter Psychiater ist. Er fährt mit seinem Mercedes durch die Gegend, wird dabei von Bassir entdeckt und verfolgt, aber schließlich von Cockroft und seinen Kollegen ‚gerettet‘, da dieser niemand anders als ein Agentenkollege von Helen ist und den Auftrag hat, Carl in die verlassene Bergmine zu bringen, um ihn dort unter Folter zur Kulimine zu verhören. Er ist wie Helen der Meinung, dass Carl die Amnesie nur vortäuscht, und zitiert „den Lehrbuchklassiker: Die Globale Amnesie ist so selten, dass man tausendfach häufiger ihrer Simulation begegnet.“ (205) Bei ihm wie bei Helen scheitert Carl an der Unwahrscheinlichkeit seiner Geschichte – er scheitert, weil die Wirklichkeit des Unwahrscheinlichen von Cockroft und Helen für unwahrscheinlich erklärt wird. Helen hat für Unschärfezustände kein Verständnis, dabei ist gerade ihre eigene Miene nicht mit sich selbst identisch – ihre Mimik „wirkte sonderbar verrutscht.“ (56) Möglicherweise versucht sie also, die eigene Miene zu wahren, wenn sie Verrutschungen nicht akzeptieren kann, dem ‚Sand‘ zu entkommen versucht und Emotionen nicht zulässt. Helen ist in Worten des Erzählers direkt „gefühlskalt“ (41) zu nennen. Dafür stellt sie, hirnphysiologisch gesehen, den exakten Gegenpol zu Carl da, da sie nicht nur ein gutes, sondern hundertprozentig genaues Erinnerungs- und Differenzierungs vermögen hat. Sie achtet auf exakte Spracharbeit und korrigiert Carl umgehend, als er von „Hippies“ spricht, nachdem er tags zuvor „Typen“ gesagt hatte (167). Um die sandigen Verschiebungen der Virtualisierung anzuhalten, trifft sie unverrückbare Entscheidungen. So stoppt sie die Virtualisierung des anfangs erwähnten Satzes durch die Aktualisierung einer Variante – „Wenn er die Mine jetzt zerstört“ –, und sie beendet die Virtualisierung von Carls Identität und Namen, indem sie ihm als das logisch Wahrscheinlichste nachweist, dass er selbst Cetrois ist und damit der links oben gerundete Buchstabe ein ‚C‘ (und hier liegt sie mit dem Wahrscheinlichsten gar nicht so falsch).

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Um auch die letzte Verschiebung noch aufzuhalten, nämlich die kriminelle Schieberei um die Atombombenpläne, braucht sie am Ende nur noch die Mine. Das einzige offene Problem ist daher Carl und seine unwahrscheinliche Amnesie. Helens Mittel, dieses Problem der Virtualität zu lösen und deren Kontingenzen auszuschließen, ist die Entschiedenheit der Statistik. Sie erklärt Carl: Wir sind eher so die Statistikabteilung, und Statistikabteilung bedeutet: Es besteht eine vielleicht einprozentige Wahrscheinlichkeit, dass es so ist, wie du sagst. Dass du nicht weißt, wer du bist. Dass du zufällig zur falschen Zeit am falschen Ort warst, und das gleich mehrfach. […] Es besteht aber auch eine neunundneunzigprozentige Wahrscheinlichkeit, dass das nicht der Fall ist. Sondern Quatsch. Dass hier ein Mann die Finger ausgestreckt hat, nach etwas, was ihm nicht gehört. Und dass er es auch nicht verloren, sondern weitergegeben hat. Oder gebunkert. Neunundneunzig Prozent. Neunundneunzig Prozent, dass wir hier den Weltfrieden sichern. (428)

Da für Helen Carls Simulantentum statistisch ‚erwiesen‘ ist, wählt sie Folter als Mittel, um ihn über den Verbleib der Mine zum Sprechen zu bringen. Unter der Folter erzählt Carl aber nichts Konkretes, sondern alles Mögliche, weil er nicht weiß, was die anderen wissen wollen. Schon das Motto des Abschnitts deutet Carls Reden an als „[a] tale told by an idiot, full of sound and fury, signifying nothing.“ (399) Dieser wieder aufgerufene Verweis auf das Verhältnis von allem und nichts beschreibt treffend die Signifikationsverhältnisse, da alles, was Carl sagt, nichts bedeutet, weil er Bedeutendes nicht von Unbedeutendem unterscheiden kann. Selbst als Carl herausfindet, dass es den Agenten um die Kulimine geht, hilft ihm das nicht, weil er nicht weiß, wo sie ist, und die Folter geht weiter. Am Ende wird er an der tiefsten Stelle der Bergmine in einen See getaucht, dort angebunden und seinem Sterben überlassen. In dieser Extremsituation kommen ihm Erinnerungen daran, wie der Kuli in seinen Besitz gekommen ist und auch an seine Kindheit; er schreit auch einen Namen heraus, aber es wird nicht erzählt, welchen (seinen eigenen, weil er sich endlich daran erinnert? Helens? Den Namen seines Kindes? Den Seiner Frau?). Die Folterer jedenfalls scheitern. Sie verlassen die Bergmine, ohne etwas in Erfahrung gebracht zu haben. Zwar scheint die Mine nicht in die falschen Hände geraten zu sein, aber sie versagen bei der Behandlung von Carl, weil sie die Möglichkeit nicht ausreichend in Betracht gezogen haben, dass Carl mit dem Unwahrscheinlichen die Wahrheit sagte. Dabei hätte Helen es besser wissen können; ihr hätte auffallen müssen, dass ihr selbst das zu nur einem Prozent Wahrscheinliche geschah, als sie Carl seinen richtigen Namen gab, und zwar nur und ausschließlich durch einen Zufall. Indem sie Carl nach dem Schild in seinem Anzug benannte, wählte sie ausgerechnet jenen Vornamen, der in der Reihe von Adolphe A-un, Bertrand Bé-deux und Didier De-quat dem Namen Cetrois fehlte: Charles. Helen

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hätte also gerade mit den Regeln der Statistik entdecken können, dass das Wirkliche manchmal das Unwahrscheinlichste ist.367 Stattdessen versucht sie, die Kontingenz, auf die alle Verrutschungen und Verschiebungen im Sand verweisen, mit aller Macht aufzuhalten. 3.5.3.2.5 Die Virtualität von Carls Identität Selbst am Schluss des Romans erfährt man nicht, wer Carl ist.368 Zwar ist er jener Cetrois, dem die vier Männer in der Scheunenszene hinterherzujagen glauben, aber gleichzeitig bleibt Cetrois im Rest des Romans merkwürdig unbestimmt. Die Lösung dieses Identitätsrätsels springt zwar nicht in die Augen, ist aber sichtbar, wenn man die Verknüpfungsangebote des Textes nutzt und die Erinnerungsarbeit leistet, die Carl nicht gelingen kann: Carl ist in der Tat Cetrois, aber er ist auch und eigentlich Polidorio. –Polidorio? Was Carl nicht weiß, aber was wir herauslesen können, ist, dass Carl ein Polizist ist, der im ersten der fünf Romanteile erwähnt wird. Er ist Franzose und seit zwei Monaten in der Polizeistelle von Targat, hat eine Frau und einen dreijährigen Sohn. Vor allem aber hat er ein für das Land typisches Äußeres, das er von seinem arabischen Großvater geerbt hat. So ist Polidorio also schon in persona jemand, dem viele Bedeutungen zugeschrieben werden können, und in der Tat kann sein Name nach griechisch πολύ und δορά mit ‚Vielhaut‘ übersetzt werden. Griechisch δορά bedeutet genauer die ‚abgezogene Haut‘, das ‚Fell‘, und Polidorio wäre also einer, der sich immer wieder neue Häute überzieht.369 Seine Identität ist immer auch anders möglich, und prompt ist dies genau der Grund, warum er in jene Geschehnisse gerät, an deren Ende er Gedächtnis und Leben verliert. Im Zuge von Ermittlungen fährt er nämlich in die Oase Tindirma, wobei er sich nach getaner Arbeit in einem Café an den einzig vorhandenen Tisch setzt, wo schon seit Tagen der Spionageagent Lundgren, der die Pläne für die Atombombe übergeben soll, auf seinen Kontaktmann wartet. Hiervon und von der

367 Der Agent Lundgren weist in Sand der Physik diese Blindheit nach, wegen derer sie zur Beschreibung der Realität nicht tauge. Die Physik sei unterkomplex und blende das Wichtigste aus, nämlich den Menschen und seine Schwachheit. Die Wissenschaft habe keinen wirklichen Bezug zur Wirklichkeit. 368 Eine sorgfältige Herleitung der Identität von Carl findet sich in: Maar: ‚Er hat’s mir gestanden‘. 369 Eine weitere Möglichkeit wäre die Übersetzung mit πολύ und δῶρον, was dann bedeuten würde: der, der viele Geschenke bringt oder bekommt. Diese Bedeutungsmöglichkeit würde seinen Namen zynisch kommentieren, denn Polidorio hat nichts zu verschenken und es wird ihm auch nichts geschenkt, sondern vielmehr alles genommen.

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Sonne völlig zermürbt geschieht Lundgren im Kleinen, was Polidorio wenig später umfassend passieren wird: Er vergisst, und zwar die Bezeichnung des Spionage-Gegenstands – der Ultrazentrifuge zur Urangewinnung: Das Wort war weg. Es war, als würde er sich nicht an seinen eigenen Namen erinnern. Er erinnerte sich nicht an den Namen vom Dings. Das Dings, das sich drehte. […] Klar, Zentrifuge, zentrifugal. Das kam gleich neben Zentaur, Zentrum, Zentralgestirn. Die Zentrifuge, sicher. Und davor? Es wurde immer schlimmer. Vorhin hatte er schon Münztee gedacht. Mademoiselle, ein Münztee. (65)

Die Bedeutungsverschiebungen in Lundgrens Denken weisen nicht nur schon durch den „Münztee“ auf die griechische Münze hin, die ‚Mine‘ heißt, sondern sie sind auch der Grund, warum er den Polizisten Polidorio für seinen Kontaktmann hält und sich dessen Namen notieren lässt. Polidorio schreibt allerdings sein Pseudonym – Cetrois – auf den Notizblock, und irgendwie ist Lundgren von allen Geschehnissen so verwirrt und berauscht, dass er Notizblock und Kuli auf dem Tisch liegen lässt und das Weite sucht, um in einem Telegramm zu berichten, dass Cetrois auf Öl gestoßen sei. Dieses Telegramm fangen die Leute von Bassir ab, die prompt Polidorio alias Cetrois hinterherjagen, um ihm den Kuli abzunehmen. Polidorio flieht zu seinem Mercedes, schmeißt Kuli und Notizblock hinein, verkleidet sich mit einer weißen Dschellabah und flieht in die Wüste bis zu einer Scheune, wo ein alter Schnapsbrenner mit seinen zwei Söhnen wohnt. Wie Helen später richtig kombiniert (vgl. 327–335), wird Polidorio in dieser Scheune von einem der beiden Söhne auf den Hinterkopf geschlagen; er ist ohnmächtig und statt seiner jagen Bassirs Leute, nachdem sie den einen Bruder totgeschlagen haben, dem zweiten Bruder hinterher, da sie glauben, er sei Cetrois. Da Polidorio den Landsleuten sehr ähnlich sieht und eine weiße Dschellabah anhat, ist diese Verwechslung nicht überraschend. Während Polidorio sein Äußeres nur bis zu einem gewissen Grad beeinflussen kann, treibt er auf anderer Ebene das Spiel mit seiner Identität durchaus willentlich. Die vier Pässe nämlich, deren Fund später zur Katastrophe führt, hat er zusammen mit seinem Kollegen Canisades erstellt, um sich mit den Prostituierten von Targat einen Spaß zu erlauben.370 Dass er als ‚Vielhaut‘ gleichsam verschiedene Häute wie Verkleidungen überzieht, treibt die Verwirrung während seiner Amnesie auf die Spitze. Aus der ursprünglichen Identitätskomödie wird ungewollt

370 Aus diesem Grund wird er auch auf einem Fest als Cetrois angesprochen: „Ah, der Herr Cetrois, Guten Abend, guten Abend! Wieder in geheimer Mission? Wo ist denn Ihr Freund?“ (58) Mit „Freund“ ist sein Kollege Canisades gemeint. Der Hinweis auf die geheime Mission bezieht sich ironisch auf die geheimen Besuche bei den Prostituierten, wobei die doppelte Ironie darin liegt, das Carl von Helen ernsthaft eine geheime Mission unterstellt wird.

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eine Identitätstragödie, weil die fiktive Variante durch die Amnesie eine real aktualisierbare wird. Eine Prostituierte, der Carl begegnet, spricht ihn mit „Charlie“ an, weil sie ihn wahrscheinlich unter dem Pseudonym ‚Charles Cetrois‘ kennt, aber da für Carl der Nachname Cetrois mit keinem Vornamen verknüpft ist, ist der Name ‚Charlie‘ für ihn nur eine neue Identifizierungsmöglichkeit. Polidorio hat gewollt und ungewollt eine virtuelle Identität, weil sie in Bezug auf sein Äußeres und seinen Namen unterschiedlich aktualisierbar ist. Carl weiß jedoch nicht, dass er als Polidorio alle diese Rollen gespielt hat. Carl weiß nur, dass er als Cetrois in Erscheinung getreten ist (vgl. 266), dass er dessen Namen auf den Notizblock geschrieben hat (vgl. 288) und dass er es selbst sein könnte, weil die Prostituierte ihm, allerdings in benebeltem Zustand, auf den Kopf zugesagt hat, er (Carl) sei Cetrois.371 Carl kann jedoch keine Schlüsse aus seinem verstreuten Wissen aktualisieren: Wie schon zuvor hatte er das Gefühl, dass mit Nachdenken etwas zu holen sein, aber immer, wenn er die Fäden zu verknüpfen suchte, verhedderten sie sich sofort in seinen Händen, und dann fuhr ein heftiger Windstoß durch seine Überlegungen, der nicht nur alle Verknüpfungen löste, sondern auch die Fäden selbst in luftige Fernen davonwehte. (352)

Die Gedanken wollen keine Formen annehmen, sie bleiben lose gekoppelt, und darum muss Carl im virtuellen Zustand verharren. Er hat alle Aktualisierungen vergessen, kann aber auch keine neuen herleiten. Ist das Vergessen ‚sandig‘, weil sich keine Formen mehr abzeichnen, müssen sich auch seine Gedanken an ihr Medium Sand verlieren, indem sie in ihm ‚verwehen‘. Das entspricht ohnehin Polidorios Art zu denken, dessen Verstand zur allgemeinen Erheiterung seiner Kollegen eher mittelmäßig funktioniert. Auch als Polidorio hat Carl schon ein Problem mit Aktualisierung; anstatt sich für eine von vielen Möglichkeiten zu entscheiden, fächert er sie auf, um dann vor der entstandenen Unlesbarkeit der Dinge zu verzweifeln. Im Text taucht zusammen mit Polidorio sogleich ein dichtes Aufgebot der Worte „vielleicht“, „oder“, „wahrscheinlich“ und „möglicherweise“ auf.372 Es entspricht daher seinem Umgang mit der Welt, dass er den Mörder Amadou, um den es unter anderem geht, anders als seine Kollegen nicht eindeutig für schuldig hält, sondern für schul-

371 „Ich bin Cetrois.“ verkündet Carl nach dieser Begegnung. „Das ist nicht dein Ernst?“, kontert Helen, und Carl zieht gleich, da für ihn beides möglich ist, zurück: „Nein. Ich weiß es nicht. […] Ich bin nicht Cetrois.“ (S. 324) Ursprünglich ist es tatsächlich nicht sein „Ernst“, sondern ein großer Verkleidungsspaß, doch das weiß er zu diesem Zeitpunkt nicht (mehr). 372 Polidorio weiß z. B. nicht, wieso ein Polizist aus einem anderen Zuständigkeitsbereich sich an ihn wendet, und in diesem Zusammenhang erscheint auf einer halben Seite des Romans fünf Mal das Wort „vielleicht“, zwei Mal das Wort „oder“ und ein Mal das Wort „wahrscheinlich“, und zwar mit der abschließenden Zusammenfassung: „Das war alles möglich.“ (15)

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dig oder unschuldig. Um das zu überprüfen, fährt er nach Tindirma,373 stellt fest, dass Amadou schuldig ist, kehrt in das Café ein, wo Lundgren sitzt, und ist seither als Polidorio verschollen. Aus diesem Grund, weil er sich nicht an Lundgrens Tisch in Tindirma gesetzt hätte, wenn er Amadous Schuld nicht hinterfragt hätte, nennt der Text Carl einen „Mann, der weder willentlich noch zufällig unter die Räder geriet, sondern einzig und allein durch eine falsche logische Schlussfolgerung; durch den Glauben an die Unschuld eines Schuldigen.“ (452) Erst das Zusammentreten von Kontingenz und Identitätsvielfalt virtualisiert Polidorios Identität. Nur weil Polidorio eine ‚Vielhaut‘ ist und er sich in besagtes Café setzt, kann Lundgren ihn für einen arabischen Spion halten; nur weil er einen falschen Namen angibt und einen Schlag auf den Kopf erhält, kann sich Polidorio in seiner Amnesie nicht wiederfinden. Durch Polidorios Amnesie und Aussehen wird die Virtualisierung seiner Identität perfekt, weil er sich an nichts mehr erinnern und äußerlich mehrere Identitäten haben kann, weshalb er das Misstrauen der CIA erregt. Schließlich kostet ihn die Virtualisierung seiner Identität sein Leben. Er stirbt nämlich nicht durch die Folter, sondern kann sich, schon halb im Todesdelirium, aus dem unterirdischen See befreien und durch die verzweigten Stollen ans Tageslicht kämpfen. Anstatt dafür mit Leben und Freiheit belohnt zu werden, begegnet er dort dem Bergbewohner Hakim, dem Helen und die anderen Agenten übel mitgespielt haben. Da Hakim Carl zuvor mit Helen gesehen hat, misstraut er Carls Beteuerungen, nicht zu den Amerikanern zu gehören, und schießt ihm ohne Zögern eine Kugel zwischen die Augen. Wechselte Carls richtige oder vermeintliche Identität bereits vom französischen Polizisten über einen arabischstämmigen Spion zu einem französischstämmigen arabischen Terroristen, stirbt er am Ende, weil er für einen Freund der Amerikaner gehalten wird.374 Er stirbt, weil er alles Mögliche sein kann. Carl hat also alle drei Identitäten (Polidorio, Charles Cetrois, Carl), weiß es aber – möglicherweise – am Ende immer noch nicht. Er hat es vergessen. Sein Wissen um seine eigene Identität hat sich virtualisiert. Seine Bezeichnung als „Mann ohne Gedächtnis“ (165) referiert auf Robert Musils Mann ohne Eigenschaften, und in der Tat sind Gedächtnis- und Eigenschaftslosigkeit Polidorios struktu-

373 „Auf der Piste nach Tindirma, ein paar Meter vor dem Wagen stand jetzt ein Schild, das dort vorher nicht gestanden hatte: dreieckig und verrostet, „die Aufschrift kaum leserlich. 102… Rest unentzifferbar.“ (76) 374 Er stirbt wie der Mann in George A. Romeros Night of the Living Dead, der als einziger den Angriff der Zombies überlebt, nur um dann diskussionslos von seinen Rettern zum Zombie erklärt und eine Kugel zwischen die Augen geschossen zu bekommen (vgl. George A. Romero: Night of the Living Dead, USA 1968).

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rell verbunden: Weder kann er nach der Amnesie etwas als Erinnerung aktualisieren, noch verfügt er schon vorher über feste Eigenschaften. Polidorio, dem etwa Beruf und Familie eher passiert sind, als dass sie von ihm gewählt worden wären, ist seit jeher anfällig für Kontingenz, so sehr, dass eine frühere Freundin ihm bescheinigte, es „sei einfacher […], ihn durch das zu beschreiben, was er nicht sei, als durch das, was er sei.“ (17) Die Identität von Carl/Polidorio ist in einem virtuellen Zustand, in dem zwar nicht alles, aber alles Mögliche möglich ist. Seine Identität ist ein problematisches Feld, das gleichwohl nicht beliebig strukturiert ist. Das Zusammentreffen der Gedächtnis- und Eigenschaftslosigkeit potenziert allerdings das Problem, denn indem Polidorio ein Mann ohne Gedächtnis wird, sind seine ohnehin schon unbestimmten Eigenschaften überhaupt nicht mehr aktualisierbar. 3.5.3.2.6 Die Wüste als Metapher für das Problem der Virtualität Die Bibliothek von Dr. Cockroft, von der bereits die Rede war, besteht nur aus zwei Büchern. Neben dem Brockhaus findet sich dort auch ein Buch des Neurologen Albert Eulenburg und darin ein Gedicht in deutscher Fraktur, an dessen Ende es heißt: „Ich bin in der Tat für alle / Ein ungelöstes Problem!“ (216) Cockroft greift das Gedicht heraus, um Carls Sprachkenntnisse zu überprüfen: „Können Sie das lösen?“, fragt Dr. Cockroft. „Bitte?“ fragt Carl zurück. „Ob Sie das lesen können.“ (216) Diese Stelle enthält einen wichtigen Hinweis. Im Text ist zu lesen, dass Cockroft zuerst nicht „lesen“, sondern „lösen“ sagt, aber Carl kann sich nicht sicher sein. Wieder gibt es für ihn eine Ununterscheidbarkeit, die direkt in das Zentrum seiner Problematik weist, denn Carl selbst ist das Problem, das zu lösen ist. Er selbst ist „in der Tat für alle / Ein ungelöstes Problem“, und so hätte er die Frage „Können Sie das lösen?“ sicher verneint. Er kann sich als Problem, er kann sich aus seiner Virtualität nicht lösen. Er kann zwar einige Definitionen auffinden, etwa dass er Frau und Kind hat, aber er kann nicht die ganze Lösung seiner Identität herauslesen. Er kann zwar nicht alles sein, aber er kann alles Mögliche sein. Genau dieser Struktur entspricht die Metapher der Wüste mit ihren unendlichen Möglichkeiten, Wege durch den Raum zu finden. In der Wüste sind keine Wege vorab festgelegt, sodass sich für denjenigen, der einen Weg sucht, eine Struktur des So-oder-So eröffnet – eine Struktur paralleler Möglichkeiten. Alle Wege sind in den Mengen aus Sand gleich gültig, und diese Gleichgültigkeit von Wegen in der Wüste kennzeichnet die Struktur des absoluten Vergessens. Indem sich in der Wüste keine Unterscheidung dauerhaft durchsetzt, d. h. einmal aktualisierte Wege nicht erinnert werden können (außer von in dieser Wüste Kundigen) und so jeder Weg zu einem gleich möglichen Weg wird, kann

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sie als Metapher für die Virtualität des Mediums genutzt werden, also als Metapher für das, was auch anders möglich ist, als Metapher für Kontingenz. Insofern das Gedächtnis nach Luhmann die Reaktualisierung von Sinn verzögert, das heißt die Virtualisierung von Sinn aufhält, indem es einmal aktualisierte Formen stabilisiert, führt die permanente Reaktualisierung von Sinn, für die die Wüste als Metapher gelten kann, ins absolute Vergessen.375 Folgerichtig trägt das Kapitel, in dem Polidorio erwacht und nicht mehr weiß, wer er ist, die Überschrift ‚Wüste‘, denn in der Wüste wiederholt sich die Struktur von Polidorios Amnesie: Die Wüste gibt nichts vor, und indem sie alles Mögliche sein kann, ist sie nichts von allem. In der Wüste wird jede Form, hier: jeder Weg, vergessen und ununterscheidbar, sodass der Gang durch die Wüste einem Gang durchs Labyrinth gleicht. Borges jedenfalls stellt diese Verbindung in seiner kurzen Erzählung Los dos Reyes y los dos Laberintos her. Hierin lässt ein babylonischer König einen arabischen König in ein zuvor kunstvoll errichtetes Labyrinth gehen, das so verzwickt ist, dass der arabische König nur mit Gottes Hilfe wieder herausfindet. Als Reaktion auf diese Schmach überwältigt er den babylonischen König, bindet ihn an ein Kamel und bringt in tief in die Wüste. Dort überlässt er diesen sich selbst, allerdings nicht ohne folgende Abschiedsworte: ¡O, rey del tiempo y substancia y cifra del sieglo!, en Babilonia me quisiste perder en un laberinto de bronce con muchos escaleras, puertas y muros; ahora el Poderoso a tenido a bien que te muestre el mío, donde no hay escaleras que subir, ni puertas que forzar, ni fatigosas galerías que recorrer, ni muros que te veden el paso.376

Die beiden Labyrinthe gleichen sich in ihrer Vielwegigkeit: Wie im Labyrinth gibt es auch in der Wüste eine Vielzahl an möglichen Wegen, sodass es mühsam oder unmöglich ist, den richtigen zu finden. Dass das Labyrinth, anders als die Wüste, planvoll hergestellt ist, darauf weist Monika Schmitz-Emans hin: Labyrinthe seien „Konstruktionen“, die „prinzipiell auch re-konstruiert“ werden können;377 es gebe in ihnen einen verrätselten Sinn. Eine Wüste hingegen bezeichnet sie als „Antilabyrinth“,378 weil jeglicher Sinn abwesend ist; sie sei „Inbegriff des Ungestalteten“, eine „unermeßliche Gleichförmigkeit“, „es fehlt, 375 Luhmann begreift das „Gedächtnis als Verzögerung der Re-aktualisierung von Sinn“ (Luhmann: Medium und Form, KdG, S. 168). 376 Jorge Luis Borges: Los dos Reyes y los dos Laberintos, in: Ders.: Obras Completas, Bd. 1: 1975–1988, Barcelona 1996, S. 607. 377 Monika Schmitz-Emans: Die Wüste als poetologisches Gleichnis, in: Uwe Lindemann/ Dies. (Hg.): Was ist eine Wüste? Interdisziplinäre Annäherungen an einen interkulturellen Topos, Würzburg: Königshausen & Neumann 2000, S. 127–152, hier S. 128. 378 Ebd., S. 130.

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abstrakt gesprochen, an jeder Differenzialität.“379 Gleichzeitig spricht SchmitzEmans von der Wüste als „Hyper-Labyrinth“, weil sie, anders als das Labyrinth, keine endliche, sondern eine unendliche Anzahl von Möglichkeiten bietet, Wege durch den Raum zu finden.380 Die Wüste ist ein Labyrinth, weil in jedem Moment ein neuer Weg eingeschlagen werden muss. Weil kein Weg bezeichnet ist, ist alles ein möglicher Weg. Noch mehr: Auch der schließlich abgeschrittene Weg würde, wenn man sich umwendete, wie in einem Labyrinth nicht mehr zu finden sein. Er wäre vergessen. In der Wüste als einer großen Ansammlung loser Kopplungen wird jede Form (hier der Weg) vergessen, weil sich jede gerade erst aktualisierte Kopplung sofort auflöst. In der Analogisierung von Labyrinth- und Textstruktur haben viele Rezensenten Herrndorfs Sand bereits als Labyrinth beschrieben. Zum einen stimmt das, da im ersten Lektüregang die Zusammenhänge noch schwer zu erfassen sind. Noch ist nichts gelöst. Gleichwohl ist die Identität von Carl nur für ihn selbst ein unlösbares Problem; durch die Lektüre des Textes ist es durchaus lösbar, denn genau dort: im Lesen von Sand liegt die Lösung zu Carls Identität. Einerseits proliferiert der Text also das Problem der Kontingenz, indem Bedeutungen fortwährend virtualisiert werden – so wie Formen im Sand. Andererseits gibt es eine eindeutige Handlung und festgelegte Identitäten. Tatsächlich bekommt man vom Text alle nötigen Informationen, um die Erzählkreise zu schließen – diegetisch gesehen bleibt nichts zufällig. Auch wenn Carl etwa nicht weiß, ob Bassir eine Mine mit oder ohne ‚ie‘ meint, können wir es nachlesen. Auch wenn Carl alles Wissen über sich verloren hat, gibt es eine Instanz, die das Wissen über seine gesamte Geschichte aufbewahrt, denn auch wenn Polidorio sich vergessen hat, ist der Text das Gedächtnis, mit Hilfe dessen wir Polidorio als Carl wiederfinden können. Auch wenn Sand also die Struktur des Vergessens vorführt, ist der Text als Aktualität von Zeichengefügen das Medium, das als zuverlässiges Gedächtnis funktioniert. Nur indem der Text das Wissen von Polidorio erinnert, muss die Virtualität von Polidorio nicht vergessen werden.

3.5.4 Dearchivierung: Virtualisierung von Eindrücken Nach der ersten Variante der Virtualisierung (Dissolution von Formen in Bezug auf ihre rigide Kopplung) sowie der zweiten (Desituierung von Formen in Bezug auf ihre Verortung im Raum), verstehe ich die Dearchivierung von For-

379 Ebd., S. 129. 380 Ebd., S. 130.

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men als dritte Variante der Virtualisierung, durch die Formen in Bezug auf ihren Bestand in der Zeit aufgelöst werden. Anders als in Kapitel 3.3 ist damit nicht in erster Linie die Auflösung der Formen im Medium gemeint, sondern wie in Kapitel 3.4 die Auflösung der medialen Form selbst, wobei als deren Auflösungsbedingung diesmal nicht die Instabilität von Gründen, sondern die Instabilität von Zeitgefügen betrachtet wird. Dearchivierung als Virtualisierungsvariante problematisiert also nicht die Situierung von Formen, sondern ihre Dauer, d. h. die Stabilität ihrer Speichermedien über die Zeit hinweg. Virtualisieren bedeutet dann, auf die Kontingenz von Formen in Bezug auf die Zeit zu verweisen, also auf den Befund, dass Formen angesichts der Instabilität von Zeitstellen immer auch anders möglich waren oder sein werden. Die behandelten Beispiele thematisieren punktuell auch ihre eigene instabile Medialität über den Sand, wenn er zum Medium des Erzählens oder Zeigens wird, wie in der Sand Art oder im Theaterstück Kinder der Bestie, oder zur medialen Metapher für die sprachlichen Verschiebungen im Roman Sand oder die hypertextuellen in Sand Loves. Vorrangig ist Sand jedoch ein Gegenstand in den Texten, der thematisch als Medium und Metapher die Instabilität von Zeitstellen verhandelt. Er erscheint aufgrund seiner spezifischen Materialität ideal als Medium der Zeitdarstellung (wie in der Sanduhr oder in der Sand Art) wie auch als Metapher für Zeitstellen, denn mit ihm – mit seinem typischen ‚Verrieseln‘ – kann nicht nur ein Materialfluss gleich einem ‚Zeitfluss‘ erzeugt, sondern auch eindrücklich gezeigt werden, wie dieser Materialfluss, etwa durch das Sammeln von Sand in Behältnissen, gestoppt und damit der Bewegung in der Zeit entzogen werden kann. Gleichwohl ist Sand gerade dadurch auch irreführend, weil jeder Versuch einer Visualisierung von Zeit täuschen muss, wie ich mit Henri Bergson gezeigt habe. Sand ist daher nie mehr – aber auch nie weniger – als eine Raum-Metapher, mit der auch über die Zeit als exteriorisierte Raumvorstellung reflektiert werden kann. Das gilt auch für den Einsatz von Sand als Metapher für die Virtualität des Mediums, indem er suggeriert, dass das Medium sichtbar werden könne, obwohl es (nach Luhmann) ebenso unsichtbar und unvisualisierbar ist wie die Zeit (nach Bergson). Sichtbar sind immer nur die Formen, die sich als rigide Kopplungen im Medium durchsetzen, die sich aber – Thema dieses Kapitels – nicht lange halten können, wenn die Form eines Archivierungsmediums selbst hochaufgelöst ist, wenn also die Formen in ihm nicht so archiviert werden können, dass sie der Instabilität der Zeitstellen standhalten können. Sand ist eine Metapher für diesen Vorgang der Dearchivierung, dessen Funktionsweise im Blick darauf erörtert wurde, wie er in den Texten verhandelt wird.

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3.5.4.1 Sand als Medium und Metapher der Dearchivierung Sand als geologische Metapher steht in Differenz zum Felsen und ruft die entsprechenden differenten Spezifizierungen auf. Während sich die Spur im Felsen als feste und stabile Form zeigt, ist die Spur im Sand eine instabile Form, deren Flüssigkeit im Zeit-‚Fluss‘ in der Sanduhr besonders augenscheinlich wird. So heißt in Mein Name steht im Sand der erfolglose Künstler ausgerechnet „Peter“, an dessen Namen man sich entgegen seiner Bedeutung nicht so erinnert, als sei er im Felsen eingraviert, sondern ihn so vergessen wird, als sei er in den Sand geschrieben. Sand kann also aufgrund seiner spezifischen geologischen Eigenschaften als Metapher für die Virtualisierung von Formen in Archivierungsmedien genutzt werden, die ich als Dearchivierung bezeichne und die eine Problematisierung und Kontingentsetzung medialer Speicherfähigkeit impliziert. Besonders deutlich wird dies, wenn ein Medium im literalen oder metaphorischen Sinne ‚sandig‘ wird, wenn also in den Sand geschrieben wird oder die Sprache wie aus Sand ist. Obgleich die Schrift eine potentiell dauerhaftere Speicherung ermöglicht und oft als Medium der Traditionsbildung schlechthin gilt, transformiert Sand diese mögliche Stabilität: Die Schrift im Sand ist eine Einschreibung in die Auflösung, das heißt eine Spur, die nicht archivierbar ist. So wie das Haus, das auf Sand gebaut ist, die Differenz zwischen festem und losem Grund besonders deutlich hervortreten lässt, da Häuser eigentlich ein ausgesprochen stabiles Fundament benötigen (im Vergleich zur Hütte oder dem Zelt etwa), so verdeutlicht auch die dem Ruf nach auf Dauer angelegte Schrift in der Entgegensetzung zur Schrift im Sand gerade die Differenz zwischen stabiler und instabiler Speicherung. Wodurch und wie schnell sich die Schriftspur im Sand auflöst, ist in hohem Maße kontingent, was die Texte metaphorisch durch den Verweis auf deren Verwischung durch Wind verdeutlichen – man könnte aber auch das feine Getrappel von Putnams Ameise anführen. Gerade durch die Spannung zwischen einem stabileren Medium und dem instabilen Medium Sand wird daher die Archivierbarkeit von Formen in Medien problematisiert. In Herrndorfs Sand ist der Sand Metapher für die Dearchivierung sprachlicher Bedeutungen, d. h. für die Virtualisierung der Bedeutung durch ihre permanente Verschiebung. Was gesagt wird, kann immer wieder anders erinnert werden, weil nicht nur schon die Vertauschung eines Buchstabens völlig andere Bedeutungen mit sich führt, sondern die Sprache auch bei stabilem Signifikantenmaterial bereits virtuell in Bezug auf ihre Bedeutungen ist. Sand treibt diesen ‚sandigen‘ Aspekt der Sprache immer wieder aufs Neue hervor: Die Geschichte wird von semantischen Verschiebungen, etwa zwischen den Wortfeldern ‚Mine‘ und ‚Miene‘, vorangetrieben sowie von ständigen Buchstaben- und Wortvertauschungen oder -ersetzungen (wie etwa Polidorios verzweifeltem Ver-

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such, den richtigen Anfangsbuchstaben seines Namens zu rekonstruieren, dessen schließliche Aktualisierung auch nicht weiter hilft, da er für eine nur erdachte Bezeichnung seiner Person steht). Dagegen ist hier die Schrift, in der der Roman abgedruckt ist, das Medium, in dem die mündlichen Instabilitäten der Sprache ein Stück weit aufgehoben sind, da die sprachlichen Verschiebungen zwar die Figuren verunsichern, sie aber in der Lektüre als im Text manifest verfolgt werden können. 3.5.4.2 Sand als Metapher für die zeitliche Bedingtheit des Menschen Die geschilderte Differenz von fest und flüssig wird in den Texten mit jener von ewig und vergänglich analogisiert, wobei vergänglich mit menschlich assoziiert wird. In der Sanduhr wird dies besonders augenscheinlich, da hier das Feste und das Flüssige – vor allem in Borges’ El Reloj de Arena / Die Sanduhr – allegorisch in die Differenz von Glas und Sand eingeschrieben werden. Der ‚flüssige‘ Sand verweist auf die menschliche Zeit, das Glas hingegen aufgrund seiner vergleichsweise festen Konsistenz (und als gehärteter, transformierter Sand!) auf die Ewigkeit. Der Sandfluss entspricht der der zeitlichen ‚Bewegung‘, die sich als Zeitfluss vor dem Hintergrund der unbewegten Ewigkeit (des Glases) abzeichnet. So wird der Sand in der Sanduhr zur Metapher für die verrinnende Lebenszeit. Auch Zeichen im Sand verweisen immer wieder auch auf die Vergänglichkeit des Menschen, der dadurch als besonders verletzlich (Kempf) oder wertvoll (Hesse) dargestellt wird, aber in jedem Fall – gleich den Klangspuren im Sand bei Jean Paul – der Kontingenz ausgesetzt ist.381 Es gibt, so zeigen die Texte, kein Medium, das ‚den‘ Menschen ‚speichern‘ könnte, vielmehr ist er vergänglich, und die Auflösung der Zeitstellen wird an ihm deutlich sichtbar. Ein Aussetzen dieser Bewegung ist nicht denkbar, allenfalls verweist die Stillstellung des Sandes in den Gläsern der Sandsammlung auf die Bedingungen der Möglichkeit von Erinnerung, insofern Sand auch in Gesammelter Sand eine Metapher für die Lebenszeit ist, die nur ausschnitthaft – in der Rahmung durch Glas (den durch hohe Erhitzung gehärteten und verschmolzenen Sand) – erinnert werden kann. Die Sandsammlung ist damit als ein Modell der Archivierung (gesammelter Sand, stillgestellt durch das Glas) zu betrachten, das der Dearchivierung (fließender Sand, bewegt vor dem Hintergrund des festen Glases) entgegensteht. Die Metapher Sand verweist indessen selbst in dieser Differenz auf die Kontingenz

381 Eine ähnliche Metapher für die menschliche Vergänglichkeit ist der Staub, der aber andere mediale und metaphorische Qualitäten hat, weil er einerseits leichter, kleinteiliger und flüchtiger ist als der Sand und andererseits seine Bestandteile nicht als diskret erkennbar sind.

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menschlicher Lebenszeit und das Problem ihrer Archivierung: Die Bewegung des Sandes steht noch im Versuch, diese Bewegung anzuhalten, für die Einsicht, dass der Mensch in der Prozessualität von Zeit existiert. Oder eben im Sand: „Während er eine Handvoll Sand aufnahm, sagte der Nomade: ‚Das ist mein Leben‘ und, mit der anderen Hand dieselbe Geste wiederholend: ‚Und das ist mein Tod. Alles andere ist Fata Morgana.‘“382 3.5.4.3 Sand als Metapher für die Virtualität von Geschichte/n In mehreren Texten, die in diesem Kapitel behandelt wurden, geht es um den Versuch, die Geschichte oder eine Geschichte zu rekonstruieren. Zum Teil verläuft dies erfolgreich, wie z. B. in Point last seen, wo es gelingt, die Spur des vermissten Mädchens als seine Geschichte richtig zu lesen (seinen Weg, sein Herumirren, seinen wahrscheinlichen Gemütszustand); in dem Moment, wo die Spur des Mädchens endet, ist es gefunden, sodass sich die Virtualität seiner Geschichte in eine Aktualität wandelt, indem eine gemeinsame Gegenwart von Gesuchter und Suchender beginnt. Im Kriminalroman In den Sand gesetzt kann ebenfalls die Geschichte der Tat im Zuge der Mordermittlung rekonstruiert werden. Nachdem zunächst alle Hinweise im sehr praktischen Sinne im Sand verwischt sind und sich die Ermittlung lange im Raum zahlreicher Möglichkeiten bewegt, kann der Tathergang am Ende ermittelt und der Mörder dingfest gemacht werden. Ähnlich glücklich endet auch der Versuch der beiden Protagonistinnen in Footprints in the Sand, die biographische Spur ihrer Großtante zu verfolgen und deren Geschichte zu entdecken. In allen diesen Beispielen entspricht die Geschichte von jemandem medial und/oder metaphorisch der Spur im Sand, der auf die Virtualität dieser Geschichte verweist, gegenüber welcher die Spurensuche den Versuch einer Aktualisierung darstellt. Daneben gibt es jedoch auch einige Texte, die eine solche Rekonstruktion als aussichtslos präsentieren. In Sand kann Polidorio sich aufgrund seiner Amnesie nicht an seine Identität und Geschichte erinnern, sodass beides virtuell bleibt: Alles ist möglich, und er wird sich aus den Verschiebungen der Virtualität nicht retten können. Die Inkommensurabilität der Geschichte in ihrer Rekonstruktion ist schließlich ein Topos der Shoah-Literatur, der auch in Stichwort: Liebe/Kinder der Bestie aufgenommen wird. Hier wird vorgeführt, dass es nur (viele) Geschichten über den Großvater geben kann, da dessen (eine) Geschichte verloren ist: Ist schon während des Erlebens eine adäquate sprachliche Repräsentation des Erlebten nicht möglich, kann es erst recht keine

382 Edmond Jabés: Die Schrift der Wüste, hg. v. Felix Philipp Ingold: Berlin: Merve 1989, S. 129.

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abschließende Lösung für nachträgliche Rekonstruktionsversuche geben; es wird sich nie eine (einzige) Geschichte aus der Virtualität der Geschichte aktualisieren lassen. Sand verweist damit auch auf die doppelte Differenz von Geschichte.383 Erinnern kann auch in Sand und Stichwort: Liebe/Kinder der Bestie immer nur den Versuch einer Aktualisierung darstellen, der, da das Gedächtnis mit der Struktur des Sandes analog gesetzt wird, hoch problematisch ist. Wie etwas erinnert wird, welche Geschichte aus der Virtualität der Geschichte erinnert wird, ist abhängig von Kontingenzen. Versteht man unter Erinnern in Anlehnung an Luhmann ein aktuelles Operieren, das sich immer auf Sinn bezieht, so ist Erinnern aktuelle Sinnproduktion.384 Sinn erlaubt dann als besondere Selektionsform, einen Möglichkeitshintergrund aufzuzeigen, aus dem aber nur einige Möglichkeiten aktualisiert werden können, sodass Erinnern immer an vorangegangene Selektionen gebunden ist. Können diese Selektionen nicht mehr aktualisiert werden, ist die Fähigkeit zur Erinnerung genommen. Es kann nicht mehr unterschieden werden zwischen dem, was erinnert und zwischen dem, was vergessen werden soll.385 Die Unterschiedslosigkeit von Sand steht in Sand und in Kinder der Bestie für diese Unmöglichkeit, etwas sinnvoll zu erinnern; im einen Fall, weil die Amnesie alle vorgängigen Aktualisierungen gelöscht hat, und im anderen Fall, weil angesichts der Shoah jede Möglichkeit, sinnvolle Unterscheidungen zu treffen, unmöglich erscheint. Sinn ist nach Luhmann das allgemeinste Medium, das den systemkonstituierenden Ereignissen garantiert, dass von ihnen aus die Welt zugänglich bleibt, obwohl die Ereignisse in ihrem Entstehen schon wieder verschwinden. Fällt das Erinnern als Möglichkeit einer aktuellen Sinnproduktion in Ermanglung von sinngebenden Unterscheidungen aus, wird deutlich, mit welcher Konsequenz Sand eine Metapher für Verlust und Vergänglichkeit sein kann. 3.5.4.4 Sand als Metapher für die Kontingenz der Gedächtnismedien Mit den Erinnerungsversuchen sind die Medien des Gedächtnisses eng verknüpft. Wird hier Sand als Metapher eingesetzt, korrespondiert dies mit einem Gedächtniskonzept, dem das Vergessen bereits eingeschrieben ist. Das Fließende des Sandes problematisiert die Fähigkeit von Gedächtnismedien, rigide 383 „So herrscht immer eine doppelte Differenz: zwischen einer sich vollziehenden Geschichte und ihrer sprachlichen Ermöglichung sowie zwischen einer vergangenen Geschichte und ihrer sprachlichen Wiedergabe.“ (Reinhart Koselleck: ‚Neuzeit‘. Zur Semantik moderner Bewegungsbegriffe, in: Ders.: Studien zum Beginn der modernen Welt, Stuttgart 1992 [1979], S. 300–348, hier S. 300 f.) 384 Vgl. Luhmann: Soziale Systeme, Kap. ‚Sinn‘. 385 Vgl. Luhmann: Medium und Form, KdG, S. 173.

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Kopplungen auf Dauer stabilisieren zu können. Ob etwas erinnert wird, wird in solchen Medien daher in hohem Maße kontingent. Das zeigt das ‚Erzählen in den Sand‘ in der Sand Art, in der die Formen der Erzählung schon im Zuge ihrer Niederschrift in die losen Kopplungen des Mediums aufgelöst werden, oder auch der Sand als Medium des (hier erwünschten) Vergessens in Sand Loves. Da schon ein leichter Windstoß die Spur im Sand zerstören kann, zeigt Sand als Metapher für Archivierungsmedien, dass es Zufall ist, ob etwas vergessen wird oder nicht – der Sand ist mit Borges’ Worten „ein Zufallsding der Zeit“. Das wird auch durch die Amnesie in Herrndorfs Sand deutlich, auf deren Struktur Sand als Metapher verweist. Zum einen wird hier der Zusammenhang von Amnesie und Kontingenz kenntlich gemacht: Dass etwas so oder so sein kann, ist auch für die Struktur der Amnesie maßgeblich, in der nichts durch Erinnerung entschieden und aktualisiert werden kann. Polidorios Amnesie führt in die Virtualisierung der eigenen Identität, weil er alles sein kann; seine Identität wird ein unlösbares Problem, weil nichts von ihr aktualisierbar ist. Zum anderen wird die Instabilität von Polidorios Gedächtnis der Stabilität von Helens Gedächtnis entgegengesetzt. Helen versucht sozusagen mit aller Gewalt, der Virtualität des Sandes zu entkommen, scheitert aber schließlich an ihr, weil sie deren grundsätzliche Kontingenz nicht akzeptieren kann: Dass Polidorio sich wirklich nicht erinnert, dass also das Gedächtnis virtuell sein kann, ist für sie nicht wahrscheinlich. Wenn die Gedächtnismedien aus Sand oder wie aus Sand sind, dann werden sie virtualisiert, dann ist die Erinnerung immer auch anders möglich und dann ist ihnen die Dearchivierung bereits eingeschrieben. Sand ist eine Metapher für das Gedächtnis als Medium des Vergessens. In Differenz hierzu kommt das Gedächtnis-System in Calvinos Collezione di sabbia dem Bedürfnis der Sandsammlerin entgegen, die Verschiebungen des Sandes anzuhalten und Kontingenz auszuschließen, indem der Wind eben nicht mehr über die Körner wehen kann. Zudem ermöglichen die gläsernen Behältnisse, zwischen verschiedenen Sanden zu differenzieren und (indem jede Differenzierung auch eine Aktualisierung ist) Erinnerungen zu wecken. Jeder Sand trägt seine Geschichte mit sich, aber es kann auch in metaphorischer Übertragung an das Leben als zermahlenes Pulver erinnert werden. Bedingung hierfür ist die Stillstellung des Sandflusses in den Gläsern wie in „immobilen Sanduhren“, sodass der Differenz flüssig/fest die Differenz bewegt/still an die Seite gestellt wird. Die feststellende Aktualisierung eines (und nur eines) Zustandes des sonst so beweglichen Sandes verweist auf die Selektion aus einer Vielzahl von Möglichkeiten, auf den Ausschluss von Kontingenz und auf das Konstatieren einer so definierten Signifikanz. Der Sand – gerade er – wird als differenzierter und stillgestellter zu einem „Tagebuch“, in dem man lesen kann.

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3.5.4.5 Sand als Metapher für die Kontingenz von Wissen Sand wird in den vorgestellten Texten auch als Metapher für die Formierung und Virtualisierung von Wissen eingesetzt, wenn dessen Formen leicht gewonnen, aber auch ebenso leicht wieder in die losen Kopplungen des Mediums aufgelöst, und das heißt hier: dearchiviert werden können. Zunächst betrifft dies die kontingente Gewinnung von Wissen, wie die Entdeckung der Fußspur durch Robinson Crusoe zeigt. Sodann kann durch die Metapher Sand ein bestehendes Wissen virtualisiert werden, indem etwa in Herrndorfs Sand die Realität des unwahrscheinlich Losen ein ‚festes‘ statistisches Wissen problematisiert. Darüber hinaus kann die Sandmetapher mit ihrem Hinweis auf die Dearchivierung von Wissen auch die Deautorisierung von Wissenskonzepten anleiten, etwa in dem Sinne, in dem Foucault auf die zeitliche Endlichkeit des Wissens vom Menschen hinweist und dessen Entstehungsbedingungen als ohnehin kontingent ausweist. Ähnlich erinnert auch Jean Pauls Ausspruch, das Wissen vom Menschen ähnele „Klangfiguren aus Streusand“, an dessen Zufälligkeit. Ganze Wissensordnungen werden so durch den Sand als virtuell deklariert; sie werden zu etwas Sandigem, das gleichsam wie von der nächsten Wasserwelle weggespült oder vom nächsten Ton umgeschüttet werden kann. Schließlich ist im Sand aber auch, wenn dessen Eigenschaften selbst gelesen werden, ein Wissen enthalten, das in Gesammelter Sand als Metapher auf die Struktur der Welt hochgerechnet wird: Im Sand steht demnach zu ‚lesen‘, dass die ganze Welt zerfallen und zermahlen ist. 3.5.4.6 Formpotential und Formvergessen In der Zusammenschau der Texte zeigt sich, dass sie eine gänzlich unterschiedliche Bewertung der Dearchivierung vornehmen. Wenn nämlich die rigiden Kopplungen von Formen in der Zeit aufgelöst werden und in die Virtualität des Mediums ‚zurückgehen‘, so ist dieser Virtualisierungsvorgang nicht per se positiv oder negativ. In Abhängigkeit von den spezifischen Bedingungen wird er vielmehr dann positiv gesehen, wenn hierin ein Formpotential erkannt werden kann, und immer dann negativ, wenn hierin ein Formvergessen konstatiert und dies als Verlust wahrgenommen wird. Im ersten Fall wird also die Perspektive auf den Wert dessen gerichtet, was angesichts der Auflösung neu bzw. angesichts der leichten Auflösbarkeit alter Formen leicht neu geformt werden kann (auf das nun Formbare), und im zweiten Fall wird die Perspektive auf den Wert der Formen gerichtet, die aufgelöst wurden (auf das zuvor Geformte). Im Rahmen des in Kap. 3.4.3 beschriebenen Virtualisierungsprozesses wird also in Bezug auf die Zeitlichkeit entweder auf das zukünftige Formpotential fokussiert

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oder auf das Vergessen vergangener Formen – und dies wird jeweils mit einer Wertung verbunden. Die leichte Formbarkeit, das Formpotential von Sand also, wird in Point last seen lebensrettend, denn die Spur im Sand, die zum vermissten Kind führen soll, wäre überhaupt nicht da, wenn der Sand nicht flexibel für Einschreibungen wäre; wäre das Mädchen über Felsen gelaufen, hätte es eine viel unpräzisere oder gar keine Spur hinterlassen. Auch Robinson Crusoe erfährt vom menschlichen Leben auf seiner Insel nur, weil sich im Sand der Fußabdruck zeigt und zwar für eine Weile sogar relativ genau – Crusoe überprüft im Vergleich der Abdruckformen, ob es nicht doch sein eigener Fuß gewesen sein könnte. Die leichte Formbarkeit des Sandes ist so extrem, dass sogar der Wind „in den Sand schreiben“ kann (Strittmatter), und mit der damit einhergehenden Flüchtigkeit wird von Hesse die Schönheit in ihrer Kurzfristigkeit assoziiert. Auch in Gesammelter Sand erscheint der Wind als positiver Kontingenzfaktor, da hier der Ausschluss von Virtualisierung als Verlust von Kontext, als „Friedhof“, als Rest einer Wüste, „über die kein Wind mehr weht“, gewertet wird. Auch ‚das Erzählen in den Sand‘ ist nur möglich, weil im Sand spontan neue Formen eingeschrieben und eingezeichnet werden können, wobei in Ahasver die Einschreibung der Schöpfung in den Sand sogar für die Formbarkeit der ganzen Schöpfung und damit für die Unabgeschlossenheit der gesamten Schöpfungsgeschichte steht, durch welche die Autorität des einen Schöpfers im positiven Sinne destabilisiert wird. Wendet sich allerdings der Blick und erscheint es wünschenswert, dass Formen beständig sein mögen, so wird die leichte Formbarkeit des Sandes als Formvergessen negativ dargestellt. Der Sand ist dann nicht mehr als ein „Schmierzettel des Windes“ (Strittmatter), und die Flüchtigkeit seiner Formen ist nicht akzeptabel: Zur Aufzeichnung der Geschichte etwa, die in der Sand Art in den Sand erzählt wird, wird das Speichermedium Film hinzugezogen. In Ahasver wiederum mag Gott seine Schöpfung als offen erdacht haben; der Rabbi hingegen übt Kritik an der Vergeblichkeit seines Tuns, wenn die von ihm geschaffene Ordnung keinen Bestand hat. Vor allem, wenn es um den Verlust von Leben geht, muss die Eigenschaft des Sandes, Formen nicht speichern zu können, in negativem Licht erscheinen. So ist die Sandspur in Point last seen trotz aller positiv zu sehender Flexibilität angesichts des Überlebens, das auf dem Spiel steht, allzu leicht verwischbar, und auch dort, wo Sand als Metapher für den Verlust von Identität, Geschichte und Leben steht, verweist er individuell wie in Herrndorfs Sand oder kollektiv wie in Kinder der Bestie auf die Katastrophe.

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Auf der einen Seite wird also positiv die flexible Formbarkeit des Sandes hervorgehoben und auf der anderen Seite negativ – als Kehrseite dessen – seine mangelnde Fähigkeit, jene Formen, die so leicht zu bilden waren, dauerhaft zu speichern. Sand ist also ein sehr spezifisches Medium der Archivierung, dessen Form es ist, flexibel für Formungen zu sein, aber äußerst destabilisierend in Bezug auf seine Formen in der Zeit.

4 Virtuelle Form des Mediums: Hohe Auflösung des Traums Wenn der Sandmann den Sand in die Augen streut, nutzt er nicht nur ein hochaufgelöstes Medium, sondern verursacht damit auch einen Wechsel zu einer Wahrnehmungsweise, in der die Formen hochauflösend gebildet werden. Im Traum ist die Welt so gestaltbar wie die Formen im Sand, aber ebenso schnell wie jene löst sie sich auch wieder auf. Der Traum stellt in Michel Foucaults Worten eine „in der Welt [] schwach verankerte Modalität“ dar,1 und diese schwache Verankerung des Traums in der Welt modelliert der Sand metaphorisch durch seine Eigenschaft als hochaufgelöstes und (seine Formen) hochauflösendes Medium.2 Wenn es im Folgenden um die Virtualität des Mediums bzw. um die virtuelle Form des Mediums geht, so wird hiermit ein fundamentaler Perspektivwechsel vorgenommen: Während im vorigen Kapitel 3 die Auflösbarkeit von Formen in Medien thematisiert wurde, so wird der Blick mit dem Traum nun auf eine spezifische Art von Medien gerichtet, die ihre Formen schon hochauflösend bilden. Es geht also nun nicht in erster Linie um die Auflösung von Formen in Medien, sondern um die aufgelöste und auflösende Form von Medien, um Medien mit einem hohen Virtualitätsgrad. ‚Hochaufgelöst‘ heißt auf der einen Seite, dass die losen Kopplungen eines Mediums vielfältig formbar sind, weil das Medium kaum Vorgaben für die Formung macht. Ein hochaufgelöstes Medium ist also in seiner eigenen Form und damit in den Verbindungsweisen seiner Elemente wenig limitiert, sodass diese extrem flexibel verbindbar sind. Auf der anderen Seite wirkt ein solches Medium dadurch aber auch hochauflösend, da die in ihm gebildeten Formen nicht stabil sind und sich unmittelbar nach ihrer Bildung wieder in lose Kopplungen auflösen. Eine hohe Virtualität des Mediums (eine besonders virtuelle Form des Mediums) führt also ebenso eine Virtualität auf der Ebene seiner Formenkonstitution mit sich wie eine Virtualität der gebildeten Formen!3 Oder: Hochaufgelöste Medien sind immer auch hochauflösende Medien und vice versa; es sind dies zwei Aspekte von Medien mit einem hohen Virtualitätsgrad.

1 Michel Foucault: Einleitung, in: Ludwig Binswanger: Traum und Existenz, Bern/Berlin: Gachnang & Springer 1992 [1954], S. 7–93, hier S. 11. Der Originaltext lautet: „N’est-ce pas une gageure pourtant de vouloir circonscrire le contenu positif de l’existence, par référence à l’un de ses modes les moins insérés dans le monde?“ (Ders.: Dits et Écrits, 1954–1988, Bd. 1, Paris: Gallimard 2001 [1954], S. 93–147, hier S. 96) 2 Vgl. Kap. 2.2.5. 3 Vgl. Kap. 2.1.5. https://doi.org/10.1515/9783110651522-004

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4 Virtuelle Form des Mediums: Hohe Auflösung des Traums

Je kleiner und vielzahliger die Elemente eines Mediums dabei sind, desto größer ist der Virtualitätsgrad der Formenbildung. Das Medium lässt dann (wie die Wüste) mehr Aktualisierungen zu als andere Medien, deren Formbildung stärker limitiert ist: Es hat einen höheren Grad von Virtualität bzw. eine Differentiation, die mehr Differenzierungen aktualisieren kann.4 Diese Differenzierungen oder Formbildungen lösen sich aber sogleich wieder in die Differentiation bzw. in die losen Kopplungen des Mediums auf, da die rigiden Kopplungen in hochauflösenden Medien einer raschen Virtualisierung unterliegen. Eine Speicherung ihrer Formen ist nur mit Hilfe einer medialen Übersetzung möglich. Temporalität ist bei hochauflösenden Medien daher so relevant wie im Fall der ‚losen Eindrücke‘,5 ja noch mehr, da es eine Eigenschaft dieser Medien ist, die Formen nicht nur nicht lange zu halten, sondern die hohe Aufgelöstheit, anders als Archivierungsmedien, ihrer Generierung schon einzuschreiben. Die Kontingenz der Formen ist in hochauflösenden Medien damit noch größer als bei instabilen Speichermedien, zum einen, da ihre Formen noch leichter virtualisierbar sind, vor allem aber, da schon ihre Aktualisierung kontingenter ist. Ich schlage vor, diese Eigenschaften von hochaufgelösten Medien mit Sand als metaphorischem Modell zu durchdenken. Besteht die Form hochaufgelöster Medien in ihrer losen Kopplung, ist auch Sand „grobporig“ und hat aufgrund seiner diskreten Elemente eine hohe bzw. feine Körnigkeit und wenig Viskosität.6 Sind hochaufgelöste Medien von einer hohen Virtualität, weil sie in ihrer Formbildung minimal limitiert sind, so ist Sand entsprechend in der Regel gut sortiert, das heißt, die Sandkörner sind alle gleich groß und dadurch flexibel in ihrer Anordnung. Lösen hochauflösende Medien ihre Formen unmittelbar nach ihrer Bildung wieder auf, so sind auch die Formen im Sand durch die mangelnde Kohäsion sowie die Diskretheit, Kleinheit und Vielzahl der Sandkörner extrem instabil.7 Durch den Sand geraten in dieser Weise die medialen Verhältnisse der Feinkörnigkeit und hohen Auflösung in den Blick; er hat einen hohen Virtualitätsgrad. Ein hoher Virtualitätsgrad ist dann von besonderer Relevanz, wenn er ein Spezifikum der Welt ist, wenn also die Wahrnehmung der Welt hochauflösend ist. Mich interessiert daher der Traum als ein hochaufgelöstes Medium, das seine mediale Kontingenz dazu nutzt, das Auch-anders-möglich-Sein der als real wahrgenommenen Welt auszuformen, und das in dieser Eigenschaft mit der Metapher Sand beschrieben wird. Dass der Sand eine häufige Metapher in der Beschreibung von Träumen ist, liegt meiner Ansicht nach daran, dass der

4 5 6 7

Vgl. ebd. Vgl. Kap. 3.5.3. Vgl. Kap. 2.2.5. Vgl. Kap. 2.2.4.

4.1 Sand als Metapher für den Traum

277

Traum ein Medium der Weltwahrnehmung ist, das wie Sand hochaufgelöst und damit besonders virtuell in Bezug auf die Formbildung ist sowie hochauflösend und damit besonders virtualisierend in Bezug auf die in ihm gebildeten Formen. Aus diesem Grund werden auch die theoretischen Einsatzpunkte danach gewählt, ob sich mit ihnen diese Verbindung zwischen Traum und Sand als Medien mit hohem Virtualitätsgrad erfassen lässt. Den wichtigsten Ansatzpunkt bietet hierfür Foucaults bereits genannter Gedanke vom Traum als einer in der Welt schwach verankerten Seinsmodalität, da die schwache Verankerung als Verweis auf den hohen Virtualitätsgrad des Traums verstanden werden kann und mit dem mangelnden Halt von Formen im Sand korrespondiert. Der Begriff der ‚Welt‘ wird dabei als Weltwahrnehmung phänomenologisch aufgefasst und der Traum entsprechend als ein Wahrnehmungsmedium der Welt. Meine Unterscheidung von Wach- und Traum-‚Welt‘ versteht sich daher immer als auf die Unterscheidung zwischen Wach- und Traumwahrnehmung bezogen. Der theoretische Fokus wird also nicht in erster Linie auf Sigmund Freuds Arbeiten zum Traum gerichtet, gerät aber mit ihnen auch nicht in Widerspruch. Da der Traum als Weltwahrnehmung aufgefasst wird, liegen romantische Konzepte vom Traum als Imagination näher, doch auch die Imagination interessiert dann immer nur als hochaufgelöstes Medium und in ihrem Bezug zum Sand als Metapher für Virtualität.

4.1 Sand als Metapher für den Traum The Walrus and the Carpenter Were walking close at hand: They wept like anything to see Such quantities of sand: „If this were only cleared away,“ They said, „it would be grand!“8

Begreift man Sand als Metapher für Träume und sieht deren gemeinsames Dritte darin, Medien mit hohem Virtualitätsgrad zu sein, so kann er in der Tat als ein ‚Stoff‘ gelten, ‚aus dem die Träume sind‘. Jorge Luis Borges jedenfalls stellt in seiner Erzählung Las Ruinas Circulares diesen Bezug zwischen Traum-Stoff (oder Traum-Materie) und Sand her: „Comprendió que el empeño de modelar la materia incoherente y vertiginosa de que se componen los sueños es el más arduo que

8 Lewis Carroll: Through the Looking-Glass [1872], in: Ders.: Alice in Wonderland, hg. v. Donald J. Gray, New York/London: Norton & Company, S. 101–209, hier S. 140.

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4 Virtuelle Form des Mediums: Hohe Auflösung des Traums

puede acometer un varón, aunque penetre todos los enigmas del orden superior y del inferior: mucho más arduo que tejer una cuerda de arena o que amonedar el viento sin cara.“9 Der „Stoff“, aus dem die Träume sind, ist demnach dreierlei: zusammenhangslos, schwindelerregend und unformbar. Er ist hierin wie der Sand: wie dessen zusammenhanglose Körner, seine gleichsam schwindelerregende Instabilität und die nicht dauerhafte Speicherbarkeit seiner Formen; doch der Traum-„Stoff“ ist all dies noch in weitaus stärkerem Maße. Der Sand ist nicht direkt „la materia [] de que se componen los sueños“, aber er ist für den Traum zusammen mit dem Wind ein Referenzpunkt, weil er metaphorisch diejenigen Merkmale aufgreift, die auch den Traum-„Stoff“ kennzeichnen. Wie die Formen im Sand sind die vielen kleinen Details in Träumen schwer zu greifen. Die Beschreibung des Traums mit der Sandmetapher deutet auf dessen spezifische Eigenschaft hin, hochaufgelöst (nämlich: „zusammenhanglos“) und hochauflösend („schwieriger als aus Sand ein Seil zu flechten“) zu sein.

4.1.1 Der Traum als hochaufgelöstes, hochauflösendes Medium zweimal, ihr lieben! ist kein traum zu träumen10

Um den Zusammenhang zwischen Sand und Traum als Medien mit hohem Virtualitätsgrad zu beschreiben, wird Freuds psychoanalytische Theorie zwar vorausgesetzt, aber deren Begrifflichkeiten werden nicht explizit eingesetzt. Nicht die konkreten Mechanismen der Traumarbeit, die Freud erforscht hat, stehen hier im Fokus, sondern der Traum als ein Medium der Weltwahrnehmung, das viele verschiedene Formen aktualisieren kann, sie aber sogleich virtualisiert. Verdichtung und Verschiebung werden in dieser theoretischen Setzung als Aktualisierungsweisen unbewusster Strukturen verstanden, in denen die virtuelle Struktur des Unbewussten manifest wird. Anders besehen vollzieht die Traumarbeit aber auch eine

9 Jorge Luis Borges: Las Ruinas Circulares, in: Ders.: Obras Completas, Bd. 1: 1975–1988, Barcelona 1996, S. 451–455, hier S. 452. Dt. Übersetzung: „Er begriff, daß die Aufgabe, den zusammenhanglosen und schwindelerregenden Stoff, aus dem die Träume sind, zu formen, die schwierigste ist, die ein Mann in Angriff nehmen kann, wenn er auch alle Rätsel der höheren und niederen Ordnung erschlösse: viel schwieriger, als aus Sand ein Seil zu flechten oder den antlitzlosen Wind in eine Münze zu prägen.“ (Jorge Luis Borges: Die kreisförmigen Ruinen, in: Ders.: Im Labyrinth. Erzählungen, Gedichte, Essays, hg. v. Alberto Manguel, Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch Verlag 2003, S. 85–92, hier S. 88) 10 Justus Kerner: Dichtungen, zit. n. Jakob und Wilhelm Grimm: Traum, in: Dies.: Deutsches Wörterbuch, Bd. 11, I. Abteilung, I. Teil, Leipzig: S. Hirzel 1935, Sp. 1436–1471, hier Sp. 1438.

4.1 Sand als Metapher für den Traum

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Virtualisierung, indem sie die Wachwahrnehmung auflöst und als Erinnerung redisponiert: Sie problematisiert das Bewusste und setzt es im Traum kontingent (die Wahrnehmung ist auch anders möglich), weshalb das Unbewusste, so wie die virtuelle Struktur der Differentiation, nie abgeschlossen sein kann. Der Traum hat einen hohen Virtualitätsgrad, weil er hochaufgelöst und wenig limitiert ist und dadurch Formen aktualisieren kann, die zu aktualisieren der bewussten Wahrnehmung nicht möglich wäre. So kann etwa, wie Freud gezeigt hat, eine Figur zu vielen, ineinander verschobenen Personen verdichtet sein, und als solche ist diese Figur hochaufgelöst; zugleich haben diese verdichteten Figuren in der Wachwelt keinen Bestand, und insofern ist der Traum auch hochauflösend. Dieses Wechselspiel der Bildung und Auflösung von Formen im Traum soll nun im Fokus stehen, sodass Freuds Arbeiten zwar vorausgesetzt, aber gleichwohl immer in das eigene Modell von Virtualität übersetzt werden. Medien haben einen hohen Virtualitätsgrad, wenn sie in ihrer eigenen Form virtuell, hochaufgelöst und das heißt: in ihrer Formbildung kaum durch medienspezifische Formvorgaben limitiert sind. Der Traum ist wenig limitiert in Bezug auf die Ordnungen und Regeln der Wachwahrnehmung, er ist, in den Worten Heinrichs von Ofterdingen, geradezu „eine Schutzwehr gegen die Regelmäßigkeit und Gewöhnlichkeit des Lebens, eine freye Erholung der gebundenen Fantasie“.11 Er ist „frey“ und nicht „gebunden“ und deswegen auch nicht experimentell zu erzeugen: „Auch für die heutige Traumforschung gilt die Unwillkürlichkeit von Träumen, also die Unmöglichkeit, Träume experimentell zu erzeugen oder ihre Inhalte träumend zu reproduzieren, als eines ihrer Merkmale.“12 Die Formbildung von Träumen ist nicht wiederholbar, weil, anders als für Experimente, für Träume kein formaler Rahmen festzulegen ist. Mit dieser geringen Limitierung geht in Medien mit einem hohen Virtualitätsgrad die schnelle Auflösung ihrer Formen einher;13 sie sind instabil in Bezug auf ihre Formen. Träume sind in diesem Sinne hochauflösend, insofern sie nicht speicherbar sind. Die geträumten Formen lösen sich mit dem Erwachen weitgehend auf: Schon unmittelbar nach dem Erwachen ist unsere Erinnerung höchst flüchtig, und je mehr wir sie durch bewußtes Memorieren, Erzählen oder Aufzeichnen zu stabilisieren suchen, desto mehr verfälschen wir den Traum, da Operationen wie Reflexion, Versprachli-

11 Novalis (Friedrich von Hardenberg): Heinrich von Ofterdingen. Die Lehrlinge zu Sais, Berlin 1978, S. 14. 12 Peter Probst/Franz Josef Wetz: Traum, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. v. Joachim Ritter und Karlfried Gründer, Bd. 10, Basel 1998, Sp. 1461–1473, hier Sp. 1466. 13 „Das Träumen verrät den Sinn ebenso, wie es ihn erfüllt; es vergegenwärtigt ihn, indem es ihn verflüchtigt.“ (Foucault: Einleitung, S. 14)

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4 Virtuelle Form des Mediums: Hohe Auflösung des Traums

chung, Nach-Erzählung unsere Träume den Ordnungs- und Eindeutigkeitsregeln der Wachwelt unterwerfen. […] Der ‚Traum an sich‘ gehört allein dem Träumenden; der ‚Traum für uns‘ entsteht im Blick des Wachenden, der zurückgerichtet ist auf einen vergangenen und unaufhebbar differenten Aggregatzustand.14

Träume entstammen also gleichsam einem anderen „Aggregatzustand“ als das Wachen. Der Traum wird in chemischer Metaphorik dem „höchst flüchtigen“ Zustand zugerechnet; zugleich ist er wie die Formen im Sand nicht „stabil“. Versuche, die Erinnerung durch eine mediale Übersetzung („Memorieren, Erzählen oder Aufzeichnen“) zu speichern, müssen scheitern, insofern sie immer schon der Logik des ‚anderen‘ Aggregatzustandes, „den Ordnungs- und Eindeutigkeitsregeln der Wachwelt“, entspringen. In der Neurologie wird diese Flüchtigkeit physiologisch beschrieben. Demnach werden die Trauminhalte während des Schlafes offenbar nicht durch anschließende Proteinsynthese weiter fixiert, sondern sie verlöschen, nämlich „mit dem Zerfall der Nukleinsäure, das heißt nach zwanzig bis dreißig Minuten. Somit können wir uns auch nur an die letzten Minuten eines Traumes erinnern – es sei denn, wir werden in der Nacht zwischendurch kurz wach, und ein Teil der gerade ablaufenden Traumbilder wird dann fester verankert.“15 Die Erinnerung an Träume, der Entscheidungsmoment, in dem sie „fester verankert“ werden, ist also ebenso zufällig16 wie ihr Vergessen notwendig ist, denn das Träumen dient auch dem Löschen von tagsüber aufgenommenen unnötigen Informationen; es ist eine „Entrümpelung des Gehirns“.17 In Borges’ Erzählung Funes El Memorioso wird das singuläre Gegenstück zu dieser Funktion beschrieben; der Protagonist Funes kann seit einem Unfall nichts mehr vergessen, auch die Träume nicht: „Mis sueños son como la vigilia des ustedes“, sagt er, und sein Gedächtnis „como vaciadero de basuras“.18

14 Manfred Engel: Jeder Träumer ein Shakespeare? Zum poetogenen Potential des Traumes, in: Manfred Engel/Rüdiger Zymner (Hg.): Anthropologie der Literatur, Paderborn: Mentis 2004, S. 102–117, hier S. 108. 15 Frederic Vester: Denken, Lernen, Vergessen, München 2006, S. 94. Vgl auch: „Bei dem am Morgen spontan erinnerten T. handelt es sich um den T. der letzten REM-Periode. Ohne Weckung bzw. spontanes Erwachen werden die meisten T. vergessen.“ (NN: Traum, in: Brockhaus – Die Enzyklopädie in 24 Bänden, 20. Aufl., Bd. 22, Leipzig/Mannheim 1999, S. 273) 16 Eine Ausnahme davon macht der Gebrauch von psychoaktiven Substanzen, und, wichtiger noch, die psychische Eigenlogik, nach der Schlafende oft nach intensiven Träumen, also nicht zufällig, erwachen. 17 Christfried Tögel: Träume – Phantasie und Wirklichkeit, Berlin: Dt. Verl. d. Wiss 1987, S. 61. 18 Jorge Luis Borges: Funes El Memorioso, in: Ders.: Obras Completas, Bd. 1: 1975–1988, Barcelona 1996, S. 485–490, hier S. 488.

4.1 Sand als Metapher für den Traum

281

Je länger ein Traum vergangen ist, desto schneller wird er vergessen19 und lösen sich selbst jene Bilder auf, die „fester verankert“ worden sind. Wie die Formen im Sand bleibt die bewusst erinnerbare Form von Träumen auf Dauer nicht stabil. Die Speicherung von Träumen, an der sich die Hirnforschung versucht,20 ist daher selbst nur ein Traum bzw. ein Albtraum: Wim Wenders realisiert in seinem Film Bis ans Ende der Welt (D/FR/AUS 1990/91) die Möglichkeit, Traumbilder in einen Gehirnstrom umzuwandeln, der von einer Blinden als Seherlebnis wahrgenommen werden kann. Er kommentiert die weiteren Konsequenzen dieser Idee: Wenn ein Computer Bilder in Gehirnströme verwandeln kann, dann kann er doch sicher bald darauf das Gegenteil lernen, nämlich aus Gehirnströmen Bilder zu machen. Und wenn er das kann, was hält ihn dann davon ab, Träume und Erinnerungen sichtbar zu machen? Was wäre also, wenn man seine Träume auf dem Monitor sehen könnte? Daraus ist das letzte Kapitel unseres Films geworden. Und unsere Interpretation dieser Zukunftsaussicht des Sehens war: Diese tiefsten Bilder der menschlichen Seele zu schauen kann nur ein verderblicher, zutiefst unmoralischer oder narzisstischer Akt sein.21

4.1.2 Hohe Auflösung im Traum als Modalität der Welt In Foucaults Beschreibung vom Traum als eine „in der Welt so schwach verankerte Modalität“ bedeutet „schwach verankert“: hochaufgelöst und also virtuell.22 Die Welt ist in dieser Modalität nicht weniger real als die als aktuell

19 Vgl. Tögel: Träume – Phantasie und Wirklichkeit, S. 72. 20 „Mit ihren immer scharfsichtigeren Hirnscannern können die Forscher bereits unterscheiden, ob eine wache Versuchsperson beispielsweise gerade an ein Gesicht denkt oder an ein Haus. In speziellen Fällen funktioniert das auch schon im Schlaf. Die Chancen stehen gut, bald aus den Aktivitätsmustern genauer herauslesen zu können, wovon jemand gerade träumt. Japanische und amerikanische Arbeitsgruppen haben bereits einen ‚Traumrekorder‘ angekündigt.“ (Tobias Hürter: Unser Nachtleben, in: Die Zeit 32 (04.08.2011), S. 27 f., hier S. 28) 21 Wim Wenders: Der Akt des Sehens, in: Die Zeit (06.09.1991), S. 67; zit. n. Walter Lesch: Ich träume, also bin ich. Philosophische und theologische Annäherungen an Träume und Wünsche, in: Charles Martig/Leo Karrer (Hg.): Traumwelten. Der filmische Blick nach innen, Marburg: Schüren 1993, S. 11–30, hier S. 27. 22 Foucault: Einleitung, S. 11. Im Original heißt es nicht im engeren Sinne ‚verankert‘: „N’estce pas une gageure pourtant de vouloir circonscrire le contenu positif de l’existence, par référence à l’un de ses modes les moins insérés dans le monde?“ ‚Insérer‘ bedeutet vielmehr ‚eine Sache in eine andere einsetzen, einfügen, integrieren‘. Das Träumen ist also einer der am wenigsten in der Welt eingefügten Existenzmodi. Er ist ein Existenzmodus in der Welt („l’existence dans ce mode d’être du rêve“), in dem sich die Bedeutungen auflösen: „[C]e moment de rêve où le réseau des significations semble se resserrer, où leur évidence se brouille, et où les formes de la présence sont le plus estompées“ (Foucault: Introduction, S. 96).

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4 Virtuelle Form des Mediums: Hohe Auflösung des Traums

wahrgenommene Welt, sondern Virtualität ist eine Spezifik ihrer Realität.23 Der Traum ist also keine andere Welt, sondern eine „schwach verankerte“ Modalität der Welt in der Welt, ein in ihr möglicher „Aggregatzustand“. Welt ist dabei phänomenologisch als das Wahrgenommene zu verstehen. Der Traum ist dann Teil der Welt, aber seine Modalität besteht nicht darin, die Welt zu aktualisieren, sondern sie zu virtualisieren und dadurch kontingent zu setzen: Die Welt ist im Traum auch anders möglich. Nicht nur ist also der Traum schwach verankert in der Welt, sondern auch die Welt ist schwach verankert im Traum. Der Traum problematisiert die Formgebungsweisen der als aktuell wahrgenommenen Welt, indem er sie durch andere mögliche Formgebungsweisen virtualisiert. Die virtualisierte Welt ist indessen nicht weniger real, so wie ja prinzipiell eine Virtualisierung durch die Auflösung von Formen aktuelle Realitäten nur auflöst, um andere zu schaffen: „La virtualisatión est un des principaux vecteurs de la création de réalité.“24 Die Funktion des Traums ist daher weniger eine „entwirklichung“, wie es in Grimms Wörterbuch heißt,25 als eine ‚Umwirklichung‘. Der Traum ist ein hochauflösendes Medium, in dem die Welt kontingent und virtuell, also in einer anderen Modalität als die als aktuell wahrgenommene Welt erscheint. Dieser Umgang mit der Welt ist in hochauflösenden Medien möglich, weil sie intrinsisch kontingent sind: Das Auch-anders-möglich-Sein von Formen ist in hochauflösenden Medien notwendig! Hierfür gibt es weitere mediale Beispiele. So kann die Imagination allgemein als Medium verstanden werden, in dem die aktuelle Welt kontingent gesetzt wird, denn „Imagination kann man die menschliche Befähigung nennen, die wahrgenommene Wirklichkeit mit einer Alternativversion zu konfrontieren.“26 Und wenn es auch, wie Rudolf Behrens sagt, viele unterschiedliche Weisen der Imagination gibt, so haben sie doch alle einen „Mangel an fester Gestalt“,27 sie sind eben allgemein, wie der Traum im Besonderen, „schwach verankert“. Sie alle bedürfen der medialen Übersetzung von den unbeobachtbaren Vorgängen im Bewusstsein in ein beobachtbares Medium, denn „[n]iemand hat an 23 Vgl. Kap. 2.1.2. Käte Meyer-Drawe schreibt ähnlich, „daß wir im Träumen unsere Wirklichkeit nicht verlieren, sondern wir im Gegenteil von ihr in Anspruch genommen werden.“ (Dies.: Der geträumte Leib, in: Matthias Fischer u. a. (Hg.): Vernunft im Zeichen des Fremden. Zur Philosophie von Bernhard Waldenfels, Frankfurt/M. 2001, S. 157–173, hier S. 159) 24 Pierre Lévy: Qu’est-ce que le virtuel?, Paris: Edition de La Découverte 1998, S. 17. 25 Jakob und Wilhelm Grimm: Traum, Sp. 1454. 26 Gerhard Plumpe: Der Dichter und das Phantasieren. Freuds Vorstellungen der Literatur, in: Rudolf Behrens (Hg.): Ordnungen des Imaginären, Hamburg 2002, S. 165–179, hier S. 165. 27 Rudolf Behrens (Hg.): Ordnungen des Imaginären. Theorien der Imagination in funktionsgeschichtlicher Sicht, Sonderheft des Jahrgangs 2002 der Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, Hamburg: Meiner 2002, S. V.

4.1 Sand als Metapher für den Traum

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der Wahrnehmung anderer teil“.28 Das gilt nicht weniger für die Simulationsgeneratoren der ‚Virtuellen Realität‘, die zwar ein technisches Verfahren bieten, Weltalternativen zu simulieren, aber die Erlebnisse des einzelnen Bewusstseins in dieser Welt auch nicht aufzeichnen können.29 Die ‚Welt‘ des Cyberspace wird von Bernhard Waldenfels sogar konkret über Virtualität mit dem Traum parallelisiert, insofern sie beide einen Wechsel in eine gleichsam andere Welt ermöglichen, der den Weg zu einer „Virtualisierung der Realität eröffnet“.30 Auch wenn sich also Ähnlichkeiten mit anderen Medien finden lassen, wird jedoch nur der Traum mit der Metapher Sand auf signifikante Weise in Verbindung gebracht. Das ganze Kapitel wird hiervon handeln, doch die These sei schon vorweggenommen: Sand ist eine Metapher für die Welt im Traum, in dem sie in ihrer hochaufgelösten Modalität erscheint; ‚in Stein‘ ließe sich nicht träumen. Die Welt ist im Medium Traum hochaufgelöst, sie ist wie aus Sand. Die Sandmetapher zeigt die Welt als eine lose gekoppelte, als eine im Traum „schwach verankerte“. Die Welt ist im Traum ein loses Gefüge,31 ihre Modalität im Traum ist ihre Virtualität. Die Form des Mediums Traum ist wie die Form des Mediums Sand: Beide sind hochaufgelöst, lose gekoppelt, virtuell, ebenso wie die in ihnen gebildeten Formen. Daher ist es ausgerechnet die Abbildung des Ankers in Borges’ El libro de Arena, die beim Umblättern der Seiten verschwindet und auch dann nicht festzuhalten – nicht zu erinnern – ist, wenn ein Finger die Seite festzusetzen versucht.32 Der Anker ist also eine Metapher für die Erinnerung als eine rigide Kopplung von Formen, und im Sand wie im Traum ist diese rigide Kopplung nicht lange haltbar, weil die Formen in diesen Medien immer nur „schwach verankert“ sind. Dies mag auch in Ingeborg Bachmanns Büchner-Preisrede Ein Ort für Zufälle deutlich werden, einer Erzählung, die traumanaloge Vertextungsformen aufweist.33 Die Sandmetapher reflektiert in diesem Text (auch) die wahrgenomme-

28 Niklas Luhmann: Medium und Form, in: Ders.: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1995, S. 165–214, hier S. 187 – im Folgenden als Kurztitel zitiert: Luhmann: Medium und Form, KdG. 29 Zur Theorie und Funktion der Virtuellen Realität vgl. z. B. Gottfried Hattinger u. a. (Hg.): Virtuelle Welten, Linz 1990; Manfred Waffender (Hg.): Cyberspace. Ausflüge in virtuelle Wirklichkeiten, Reinbek bei Hamburg 1991; Manfred Faßler (Hg.): Alle möglichen Welten: Virtuelle Realität – Wahrnehmung – Ethik der Kommunikation, München: Fink 1999. 30 Bernhard Waldenfels: Virtualität, Fiktionalität, Realität, in: Günter Helms/Werner Köster (Hg.): Texte zur Medientheorie, Stuttgart: Reclam jun. 2002, S. 316–320, hier vgl. S. 319, Zitat S. 317. 31 Sand ist ein „Einzelkorngefüge“. Vgl. Kap. 2.2.1. 32 Vgl. Kap. 3.3.2. 33 Ingeborg Bachmann: Ein Ort für Zufälle [1964], in: Dies.: ‚Todesarten‘-Projekt, Bd. 1, München/Zürich: Piper 1995, S. 205–236.

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nen Formen im Medium Traum. Die Erzählung evoziert ein Stadtbild Berlins, das von traumartigen Verschiebungen bestimmt ist, die unter anderem durch den Sand markiert werden: So haben die Personen „alle keinen Halt“,34 es werden Bäume gepflanzt, allerdings „alle in den Sand, Bäume aus Wüstenerfahrung“,35 und schließlich verliert die ganze Stadt ihre Verankerung, „es kommt alles immer mehr ins Rutschen“.36 Angesichts der sich steigernden Haltlosigkeit soll ausgerechnet der Blick in den Sand einen Anker bieten können; der Text suggeriert, dass der Sand selbst der Ort ist, von dem aus ‚gesendet‘ wird und an dem Ruhe herrscht: „Dann wiederholt sich alles auf dem Funkturm, aber die märkische Sandwüste […] darin liegt ganz ruhig da, während alles sich dreht. Am besten: man schaut mit den Augen fest in den Sand. Der Schwindel hört auf“.37 Die Transformation der Stadt Berlin in eine Sandlandschaft beschäftigt auch den Künstler Werner Heldt seit Anfang der 1930er Jahre. Sein Bild Berlin am Meer, in dem die Stadt als „märkische Sandwüste“ erscheint, liest sich wie ein Kommentar oder eine Vorlage zu Bachmanns Rede:38

Abb. 4.1: Werner Heldt: Berlin am Meer. 1949.

34 Ebd., S. 209. 35 Ebd., S. 211. 36 Ebd., S. 212. 37 Ebd., S. 214. 38 „Heldt versteht Sand als Hervordringen der Vergänglichkeit, insofern er alles zerstört und mit sich selbst überformt“ (Jörg Sperling: Spuraufnahme, in: ebd., S. 109–120, hier S. 113).

4.1 Sand als Metapher für den Traum

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Am Ende ist auch in Bachmanns traumanalogem Text der „Sand [] überall“.39 In Ein Ort für Zufälle bringt der Traum den Sand mit sich ebenso wie dessen mediale Bedingungen: Der Traum ist wie der Sand ein ‚Ort‘ für Zufälle, ein Medium, das Kontingenz wenig limitiert und hochgradig virtuell ist. Im Traum gibt es kein Halten, da das in der Wachwahrnehmung Stabile (die Stadt) ins Rutschen gerät; es ist im Traum so schwach verankert wie die rigiden Kopplungen im Sand, die alsbald in lose Kopplungen zurückgeführt werden.40 Der Traum als eine „schwach verankerte“ Modalität der Welt ist eine andere Weise, die Welt wahrzunehmen, da er andere Formbildungsprozesse aufweist, und hierfür ist der Sand die Metapher. Waren daher in Kapitel 3.3 die Sandkörner eine Metapher für die Elemente der Welt und dienten dazu, ein Welt-Modell zu bilden, so ist in diesem Kapitel der Sand eine Metapher für eine Modalität der Welt in der Welt, für eine Welt-Modalität.

4.1.3 ‚Unter dem Sand‘ stehen: Imagination als Modalität der Welt In François Ozons Film Sous le sable (2000)41 wird die Imagination als schwach verankerte Modalität der Welt ausgestellt, in der die Welt in ihrer stark verankerten Modalität virtualisiert wird. Der Plot des Films gestaltet sich wie folgt: Die Eheleute Marie und Jean fahren in ihr Ferienhaus an der Atlantikküste, um Urlaub zu machen, doch gleich am ersten Tag verschwindet Jean beim Schwimmen im Meer. Der Film bearbeitet Maries Umgang mit diesem Verlust, der von ihrer Verweigerung geprägt ist, den Tod ihres Mannes zu akzeptieren. In ihrer tagtraumartigen Vorstellungswelt lässt sie vielmehr Jean – in der nun vereinsamten Ehewohnung – auftreten und lebt in dieser Modalität weiter mit ‚ihm‘. Es gibt vereinzelt Momente, in denen diese Vorstellungsweise durchbrochen wird und in denen sie sich dem Tod ihres Mannes zu stellen scheint. Der Filmtitel Sous le sable lässt zwei Möglichkeiten zu, die Semantik des Sandes auszufalten. Versteht man die Präposition sous im Filmtitel im Sinne einer vertikalen Anordnung, dann könnte der Sand eine Metapher für die losen Eindrücke sein. Diese erste Bedeutungsvariante steht jedoch nicht im Fokus des Films, denn es gibt keine Szenen, in denen etwas unter dem Sand verschüttet wird oder Spuren im Sand verwischt werden. Zwar sieht man Marie mit ihrem Mann auf Handtüchern im Sand liegen, aber Jean verschwindet nicht im

39 Bachmann: Ein Ort für Zufälle, S. 216. 40 Gleichzeitig gibt diese Traumwahrnehmung, so die These des Textes, ein viel zutreffenderes Bild des geschädigten Berlins, vgl. zum inhaltlichen Rahmen ebd., S. 228–232. 41 François Ozon: Sous le sable, Frankreich 2000.

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Sand, sondern im Meer. Die Präposition sous ist daher eher als ‚unter‘ im Sinne einer Bedingung zu verstehen:42 Der Sand bedingt Maries Wahrnehmung. Wenn Marie ‚unter dem Sand‘ handelt, sieht sie, nimmt sie wahr, reagiert sie ‚unter‘ dem Einfluss von ‚Sand‘. Wie eine Fata Morgana zeigt sich Jean jedoch nur unter bestimmten Voraussetzungen, denn er tritt vornehmlich zu Hause auf, wenn sie allein ist. Er erscheint und verschwindet in ihrer Vorstellungskraft. Wählt man diese Bedeutungsmöglichkeit, erschließt sich die gesamte Dramatik des Films als ein wiederholtes Erleben der Welt ‚unter dem Sand‘, das zu einem beständigen Kippen zwischen stark und schwach verankerter Weltmodalität führt. Auf der einen Seite handelt Marie der Situation adäquat: Sie benachrichtigt sofort nach Jeans Verschwinden die Strandwacht, gibt eine Vermisstenmeldung bei der Polizei auf und sucht, wieder Zuhause und nachdem Jean auch nach längerer Zeit nicht gefunden wird, nach einer neuen Wohnung, bricht die Suche allerdings ab, als sie bei einer Wohnungsbesichtigung aus dem Fenster einen Friedhof erblickt. Sie sucht zudem nach Medikamenten in Jeans Schränken, die auf eine Depression hinweisen könnten, teilt ihrer Schwiegermutter Jeans Tod mit und fährt schließlich zur Identifizierung seiner Leiche, zu der sie von der Polizei bestellt wurde. All dies kann sie nur in einem Zustand tun, in dem sie davon ausgeht, dass ihr Mann verschwunden und möglicherweise tot ist. Ganz anders verhält es sich, wenn Marie ‚unter dem Sand‘ agiert. Dann imaginiert sie Jean in der Wohnung oder spricht mit Bekannten weiterhin in einer Weise von ihm, als ob er lebte. Sie kauft weiterhin Kleidung für ihn, wobei hier das Kippen zwischen den Modalitäten deutlich sichtbar wird: Angesichts des hohen Preises eines Kleidungsstücks zögert sie, auch finanziell in ihr Traumbild zu investieren. Die beiden Modalitäten schieben sich ineinander, als sie mit einem neuen Mann, Vincent, im Bett liegt, aber zusätzlich zu den zwei Händen Vincents auch jene Jeans, also vier Hände, auf ihrem Körper wahrnimmt. Sie erlebt die mit Vincent geteilte Welt, nimmt sie aber gleichzeitig ‚unter dem Sand‘ wahr und verschränkt so die beiden Weltmodalitäten; eine Imaginationsleistung, die der Film durch einen match cut hervortreten lässt (Abb. 4.2). Während sich in diesen Situationen beide Weltmodalitäten parallelisieren lassen, kollidieren sie angesichts der Mitteilung durch die Polizei, dass Jeans Leiche gefunden wurde. Alle von Marie in der Vermisstenmeldung angegebenen Merkmale treffen zu, doch sie weigert sich, ihn, nachdem sie seinen Leich-

42 Das Dictionnaire de la langue française, bekannter als ‚der Littré‘, gibt u. a. als Bedeutungen von ‚sous‘ an: (6) „Il marque la subordination, la dépendance“ sowie (14) „Moyennant, par, avec. Sous telle et telle condition.“

4.1 Sand als Metapher für den Traum

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Abb. 4.2: Einblendung von Jeans imaginierten Händen in Sous le Sable.

nam gesehen hat, als Jean zu identifizieren. Solange Marie ‚unter dem Sand‘ lebt, befindet sie sich in diesem Kippen zwischen stark und schwach verankerter Weltmodalität, wobei die letztere die erste problematisiert. Marie kann die als aktuell wahrgenommene Welt nicht gelten lassen, da sie für sie ein Problem darstellt, das sie nur ‚unter dem Sand‘ auflösen kann, auch wenn das von ihr Wahrgenommene in dieser Modalität flüchtig ist. Das Schlussbild suggeriert indessen, dass sie sich genau dafür entscheidet. Unmittelbar nach der Leichenschau geht sie an den Strand und weint zum ersten Mal, vielleicht weil sie in der Leiche Jean hat erkennen müssen und sich damit die Hoffnung auf seine ‚leibhaftige‘ Wiederkehr aufgelöst hat. In dieser Szene greift sie in den Sand, sei es, weil sie in eben diesem Sand an genau diesem Strand mit Jean vor dessen Verschwinden gesessen hat und sie hier – vergeblich – versucht, ihn noch einmal zu ‚greifen‘ zu bekommen; sei es, weil sie im ‚Sand‘ ihren einzigen Halt sieht, unter dessen Einfluss sie auch weiter mit ‚Jean‘ leben kann. Direkt

Abb. 4.3: Schlussszene von Sous le Sable.

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nach diesem Greifen im Sand sieht sie in der Ferne einen Mann mit der Statur von Jean in die Wellen schauen. Sie läuft zu ihm, und mit dieser Szene endet der Film: Marie läuft zu der Erscheinung, erreicht sie aber nicht, sondern scheint an ihr vorbei zu laufen (Abb. 4.3). Der Jean der stark verankerten Weltmodalität und der Jean ‚unter dem Sand‘ sind nicht zur Deckung zu bringen; seine Modalität in der Wahrnehmung ‚unter dem Sand‘ bleibt schwach verankert und er darin unerreichbar. In Foucaults Überlegungen zur Imagination heißt die Figur, die abwesend ist und imaginiert werden muss, nicht Jean, sondern Pierre: Imaginer Pierre après un an d’absence, ce n’est pas me l’annoncer sur le mode de l’irréalité […] c’est d’abord m’irréaliser moi-même, m’absenter de ce monde où il ne m’est plus possible de rencontrer Pierre. Ce qui ne veut pas dire que ,je m’évade vers un autre monde‘ […]. Je m’efforce de remonte les chemins du monde de ma présence: alors se brouillent les lignes de cette nécessité dont Pierre est exclu, et ma présence, comme présence à ce monde-ci, s’efface. Je m’efforce de revêtir ce mode de la présence où le mouvement de ma liberté n’était pas pris encore dans ce monde vers lequel il se porte […]; imaginer n’est pas réaliser le mythe de la petite souris, ce n’est pas se transporter dans le monde de Pierre; c’est devenir ce monde où il est […].43

Für Sous le Sable ist hieraus zu schließen: Wenn Marie Jean imaginiert, geschieht dies nicht im Modus der Unwirklichkeit, sondern sie absentiert sich. Sie problematisiert die aktuelle Welt, die Welt, wie sie ist; das heißt, „les lignes de cette nécessité“, aus der Jean bzw. Pierre ausgeschlossen sind, verirren sich. In Maries Imagination wird die aktuelle Welt kontingent, weil sie ‚unter dem Sand‘ agiert. Wenn Marie imaginiert, bricht sie aus der Welt aus und die neue wird die Welt, wo Jean ist. Diese „dur labeur de l’imagination“ schließt das fertige Bild aus, das sich „comme une forme cristallisée“ konstituiert.44 Das fertige Bild ist etwas Aktualisiertes, es ist rigide gekoppelt und fest verankert. Auch für Marie ist daher nur ein Kippen zwischen stark und schwach verankerter Modalität der Welt möglich, da die Bewegung des Bildens aussetzt, sobald ein Bild stärker verankert ist: Lorsque j’imagine le retour de Pierre, ou ce que sera notre premier entretien, je n’ai pas à proprement parler d’image, et seul me porte le mouvement significatif de cette rencontre éventuelle […]. Mais voici brusquement que Pierre m’apparaît en image avec ce costume sombre et ce demi-sourire que je lui connais. Cette image vient-elle accomplir le mouvement de mon imagination et la combler de ce qui lui manquait encore? Absolument pas car je cesse aussitôt d’imaginer, et même si elle doit durer un peu, cette image ne manque jamais de me renvoyer tôt ou tard à ma perception actuelle, à ces murs blancs qui m’en-

43 Foucault: Introduction, S. 139. 44 Ebd., S. 143, 142.

4.1 Sand als Metapher für den Traum

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tourent et excluent la présence de Pierre. L’image ne s’offre pas au moment où culmine l’imagination mais au moment où elle s’altère. L’image mime la présence de Pierre, l’imagination va à sa rencontre. Avoir une image, c’est donc renoncer à imaginer.45

Wie sich in diesem Zitat zeigt, zieht auch Foucault die Unterscheidung von Aktualität und Virtualität der Unterscheidung von Virtualität und Realität vor. Das einmal kristallisierte Bild ist eine Aktualität, während die Bewegung des Bildens die Virtualität des Bildes bedeutet – und diese imaginierende Bewegung ist sehr real: „L’imaginaire n’est pas un mode de l’irréalité, mais bien un mode de l’actualité“.46 Möglicherweise geht Marie allerdings schon weiter, indem sie die Grenze von der freien Imagination zum Phantasma überschreitet. Hier ist, wie Foucault erläutert, die freie Bewegung der Existenz in einer ‚Quasi-Präsenz‘ eingeengt und aufgehoben und die Imagination ins Bild eingesperrt. Im Phantasma können nur noch Bilder produziert werden, sodass sich die Imagination gleichsam in die Bilder entfremdet hat und vom Phantasma vernichtet wird.47

4.1.4 Welten? Modalitäten der Welt? Ich kehre in mich selbst zurück, und finde eine Welt!48

Wie sich zeigte, ist die ‚Welt‘-Metapher diskursiv äußerst gängig zur Kennzeichnung eines Raums, neben dem sich ein anderer aktualisieren kann. Auch in Bezug auf den Traum hat die Erfahrung eines alternativen Wahrnehmungsraums dazu geführt, ihn als eine ‚zweite Welt‘ neben der ‚ersten‘ zu beschreiben. So bestimmt etwa Manfred Engel den Traum anthropologisch als „Zweiweltenerlebnis“.49 Ausgehend von der These, dass die Urszene des Traums das Erwachen sei, beschreibt Engel das Erwachen als Übergang von einer Wirklichkeit in eine andere, von einer Welt in eine andere.50 Diese beiden Welten kennzeichnen eine Differenzerfahrung, insofern sich im Übergang vom Traum- zum Wachzustand Ort und Zeit, die Personen und nicht zuletzt das eigene Ich verändert haben: „Im Traum war A in einer anderen Welt, einer anderen Wirklichkeit. […] Dieses Zwei-

45 Ebd., S. 142 f. 46 Ebd., S. 142. 47 Vgl. ebd., S. 144. 48 Johann Wolfgang von Goethe: Werther, in: Ders.: Werke. Hamburger Ausgabe, hg. v. Erich Trunz, München 1981, Bd. IV, S. 13. 49 Engel: Jeder Träumer ein Shakespeare?, S. 109. 50 Vgl. ebd., S. 109.

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weltenerlebnis ist die Urerfahrung, die der ins Wachen gespiegelte Traum hervorruft – und zugleich sein zentrales Skandalon“.51 Es bestehe dabei zwischen Traum- und Wachwelt kein absoluter Unterschied, aber eine „unterschiedliche ontologische Verfaßtheit, die unterschiedlichen Weltbaugesetze und -regeln, nach denen sie funktionieren“; die Traumwelt sei insgesamt, verglichen mit der Wachwelt, für den Erwachenden „fluider“ und „auf eine seltsame Weise instabil.“52 Engels geht in dieser Darstellung davon aus, dass die zwei Bewusstseinszustände von Träumen und Wachen als zwei ‚Welten‘ wahrgenommen werden, dass also das Träumen einen Welten-Wechsel innerhalb des Bewusstseins darstellt. Dem ist präzisierend hinzuzufügen, dass das Erwachen zwar wie ein Wechsel in eine andere Welt ist, aber eben nur wie in eine andere Welt. Diese Welt hat keinen eigenen ontologischen Status jenseits der als aktuell wahrgenommenen Welt, obgleich Engel das so formuliert. Die Vorstellung von Wachen und Träumen als voneinander deutlichen getrennten Welten ist eine antike, wonach jeder im Schlaf seine eigene, von der Wachwirklichkeit getrennte Traumwirklichkeit hat.53 Im Hintergrund dieser Idee steht die Konzeption des ἴδιος κόσμος von Heraklit: „Die Wachenden haben eine einzige und gemeinsame Welt, doch im Schlummer wendet sich jeder von dieser ab in seine eigene.“54 Foucault kommentiert diesen Gedanken Heraklits dahingehend, dass diese Welt sich als „monde propre“ durch „le mouvement originaire de son existence“ konstituiert, die dem Träumer seine ursprüngliche Einsamkeit kundtut.55 Gleichzeitig ist das Träumen „libre genèse“, in der der Träumer sich eine Welt macht und hierin dem Ursprung der Existenz begegnet: „Si dans le sommeil la conscience s’endort, dans le rêve l’existence s’éveille.“56 Während in der antiken Vorstellung also durch die Träume von vielen ebenso viele eigene Welten entstehen, wie es etwa Petra Gehring formuliert, ändert sich dieses Bild in der Neuzeit fundamental: „Wachen und Träumen stehen […] nur noch in einem logischen Widerspruch zueinander. Man rechnet sie zur selben Wirklichkeit.“57 Elena Esposito beschreibt diesen Unterschied zwischen vorneuzeitlicher und neuzeitlicher Konzeption als Differenz dessen, wie das 51 Ebd. 52 Ebd. 53 Vgl. Petra Gehring: Traum und Wirklichkeit. Zur Geschichte einer Unterscheidung, Frankfurt/M. u. a.: Campus-Verlag 2008, S. 17 f. 54 „φησι τοῖς ἐγρηγορόσιν ἓνα καὶ κοινὸν κόσμον εἶναι, τῶν δὲ κοιμωμένων ἓκαστον εἰς ἲδιον ἀποστρέφεσθαι.“ (Heraklit: Fragment 89, in: Hermann Diels/Walther Kranz (Hg.): Fragmente der Vorsokratiker, Bd. 1, Hildesheim: Weidmann 1992, S. 171) 55 Foucault: Introduction, S. 121. 56 Ebd., S. 121. 57 Gehring: Traum und Wirklichkeit, S. 83.

4.1 Sand als Metapher für den Traum

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Verhältnis zwischen dem Bereich des Realen und dem des Möglichen begriffen wird.58 War das Mögliche vorneuzeitlich eine unabhängige Realität, wird es in der Neuzeit zum Horizont des Realen; es wird ein Teil der Realität. Fiktionen werden demnach zwar in den Köpfen der Subjekte konstruiert, haben aber eine reale Existenz, auch wenn sie nicht im literalen Sinne betretbar sind. In der philosophischen Modaltheorie werden diese beiden konträren Vorstellungen – jene von den zwei grundsätzlich getrennten Wirklichkeiten und jene von den zwei Modalitäten in einer Wirklichkeit – mit Leibniz’ Begriff der ‚möglichen Welten‘ nochmals aufgenommen und Gegenstand eines Grundsatzdisputs. Die These der ontologisch getrennten Welten wird dabei programmatisch vor allem von David K. Lewis als ‚modaler Realismus‘ vertreten: Da unsere Welt auch auf viele Weisen anders möglich ist, gibt es eine Pluralität von Welten, die neben unserer Welt existiert und mit ihr keine Überschneidungen hat.59 Robert C. Stalnaker hingegen kritisiert diesen Glauben als extremen Realismus und setzt sich selbst als moderaten Realisten dagegen, der mögliche Welten als Teile der aktualen Welt begreift.60 Auch Saul A. Kripke argumentiert „gegen diejenigen falschen Verwendungen des Begriffs, die mögliche Welten als etwas von der Art ferner Planeten betrachten, als etwas, das unserer eigenen Umwelt ähnlich ist, aber irgendwie in einer anderen Dimension existiert“.61 Daher macht er den Vorschlag, „daß die Ausdrücke ‚möglicher Zustand (oder Geschichte) der Welt‘ oder ‚kontrafaktische Situation‘ vielleicht besser sind. Man sollte sogar daran denken, daß sich die Terminologie der ‚Welten‘ direkt durch modale Redeweisen ersetzen läßt – ‚Es ist möglich, daß…‘“.62 Auch ‚mögliche Welten‘ sind also nicht viele andere Welten, sondern schwach verankerte Modalitäten in der Welt. Deshalb ist die Rede von „möglichen Welten“ im Grunde irreführend, da sie eine parallele Lokalität suggeriert. Mein Konzept von Virtualität, verstanden in der Dichotomie zu Aktualität, geht aber gerade nicht von bereits existierenden Möglichkeiten aus, die nebeneinander ‚da‘ liegen, sondern von einer Problemkonstellation, aus der heraus sich eine vorab nicht bestehende Aktualität bildet.63 Versteht man den Traum nicht als mögliche Welt, 58 Vgl. Elena Esposito: Fiktion und Virtualität, in: Sibylle Krämer (Hg.): Medien, Computer, Realität. Wirklichkeitsvorstellungen und neue Medien, Frankfurt/M. 1998, S. 269–295, hier S. 280–283. 59 Vgl. David K. Lewis: On the Plurality of Worlds, Malden, Mass. u. a.: Blackwell Publishers 2001, v. a. Kap. 1.1 ‚The Thesis of Plurality of Worlds‘. 60 Vgl. Robert C. Stalnaker: Ways a World Might Be. Metaphysical and Anti-Metaphysical Essays, Oxford: Clarendon Press 2003, S. 31 f. 61 Saul A. Kripke: Name und Notwendigkeit, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1993, S. 23. 62 Ebd. 63 Vgl. dazu Kap. 2.1.

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sondern als eine Modalität in der Welt, die hochauflösend ist und die die Formgebungsweisen der fest verankerten Weltmodalität virtualisiert, so wird der Traum nicht als ein anderes jenseits der Welt, sondern als eine Weise ihrer eigenen Kontingentsetzung verstanden. Man muss die Welt nicht verlassen, um sie anders bekommen zu können. In diesem Sinne argumentiert auch Meyer-Drawe im Anschluss an Maurice Merlau-Ponty: „Phantasien, Träume und Imaginationen ereignen sich im Element der Welt“,64 und deshalb gilt auch für den Traum: „Auch während des Träumens selbst verlassen wir nicht die Welt: […] bis in den Schlaf hinein sind wir besessen von der Welt, wir träumen von der Welt.“65 Ebenso spricht zwar Foucault von der ‚Welt‘ des Traums, aber nicht als einer ‚eigenen‘ Welt, sondern als einer Existenzweise, als einer Seinsweise, als einer Wirklichkeit in der Welt; seine Rede von der ‚Welt‘ schließt diese Welt nicht als eine getrennte aus. Der Begriff ‚Welt‘ ist damit insgesamt ebenso problematisch wie hilfreich.66 Wenn etwa von der „allnächtliche[n] Erlebniswelt des Traums“67 gesprochen wird oder vom Traum als „Gegenwelt“,68 dann erlaubt der Begriff eine einfache Vorstellung davon, dass der Traum als ein anderer Bewusstseinszustand eine andere Weltmodalität bedeutet. Behält man im Hinterkopf, dass es sich deswegen nicht auch um eine ontologisch getrennte Welt handelt, kann der Begriff mit Gewinn verwendet werden, um Traum- und Wachwelt als zwei Welt-Modalitäten mit unterschiedlichen Wahrnehmungsqualitäten zu unterscheiden und zu beschreiben. Der Traum erscheint dann als schwach verankerte Modalität der Welt wie eine ‚andere‘ Welt in der Welt.

4.1.5 Traum im Traum: Ein Haufen Sandkörner Wie können wir wissen, wann wir nicht mehr träumen? Wie können wir Wachund Traumwelt voneinander unterscheiden? In der Erzählung La Escritura del

64 Meyer-Drawe: Der geträumte Leib, S. 169. Vgl. auch ebd., S. 172. 65 Maurice Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966, S. 340, zit. n. ebd., S. 169. 66 Auch Kripke möchte den Begriff der ‚Möglichen Welten‘ nicht grundsätzlich zurückweisen; vgl. Kripke: Name und Notwendigkeit, S. 23 f. 67 Harro Müller-Michaels: Von der Notwendigkeit der Träume für die Bildung des Menschen, in: Peter-André Alt/Christiane Leiteritz (Hg.): Traum-Diskurse der Romantik, Berlin: De Gruyter 2005, S. 48–76, hier S. 48. 68 Lesch: Ich träume, also bin ich, S. 11.

4.1 Sand als Metapher für den Traum

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Dios (1949) von Jorge Luis Borges wird die Metapher Sand in einem Traumbericht genutzt, um diese Fragen aufzuwerfen. Un día o una noche – entre mis días y mis noches – ¿qué diferencia cabe? – soñé que en el piso de la cárcel había un grano de arena. Volví a dormir, indiferente; soñé que despertaba y que había dos granos de arena. Volví a dormir; soñé que los granos de arena eran tres. Fuerón así multiplicándose hasta colmar la cárcel y yo moría bajo ese hemisferio de arena. Comprendí que estaba soñándo; con un vasto esfuerzo me desperté. El despertar fue inútil; la innumerable arena me sofocaba. Alguien me dijo: „No has despertado a la vigilia, sino a un sueño anterior. Ese sueño está dentro de otro, y así hasta lo infinito, que es el número de los granos de arena. El camino que habrás de desandar es interminable y morirás antes de haber despertado realmente“. Mi sentí perdido. La arena me rompía la boca, pero grité: „Ni una arena soñada puede matarme ni hai sueños que estén dentro de sueños“. Un resplandor me despertó. En la tiniebla superior se cernía un círculo de luz. Vi la cara y las manos del carcelero, la roldana, el cordel, la carne y los cántaros.69

In diesem Textauszug wird ein sorgfältig arrangierter Kunsttraum entfaltet, in dem der Träumende immerzu träumt zu erwachen, aber aus dem Zirkel, jedes Erwachen selbst nur zu träumen, nicht entkommt. Die Träume hinterlassen allerdings beim geträumten Aufwachen jeweils genau ein Sandkorn. Jedes einzelne Sandkorn ist damit ein Beweis ebenso wie ein Gegenstand, mit dem die Träume gezählt werden: mit einem Sandkorn, zwei, drei Sandkörnern und so fort. Doch die Reihe der Sandkörner/Träume erweist sich bald als „innumerable“, sie reicht sogar „hasta lo infinito“. Die Sandkörner häufen sich und drohen den Träumer

69 Jorge Luis Borges: La Escritura del Dios, in: Ders.: Obra Completa, Bd. 1: 1975–1988, Barcelona 1996, S. 596–599, hier S. 598. Dt. Übersetzung: „Eines Tages oder während einer Nacht – was für ein Unterschied besteht denn zwischen meinen Tagen und meinen Nächten? – träumte ich, auf dem Boden meines Kerkers läge ein Sandkorn. Ich schlief aufs neue ein, gleichgültig; da träumte ich, daß ich aufwachte und nun wären es zwei Sandkörner. Wieder schlief ich ein und träumte, die Sandkörner seien drei. So vermehrten sie sich fort und fort, bis sie den Kerker anfüllten und ich unter dieser Halbkugel von Sand erstickte. Ich begriff, daß ich träumte; mit gewaltiger Anstrengung wachte ich auf. Ich erwachte umsonst; der unzählbare Sand erstickte mich. Jemand sagte mir: ‚Nicht zum Wachen bist du erwacht, sondern zu einem früheren Traum. Dieser Traum ist in einem anderen Traum, und so bis ins Unendliche, welches die Zahl der Sandkörner ist. Der Weg, den du zurückgehen mußt, ist ohne Ende, und du wirst sterben, ehe du wirklich aufgewacht bist.‘ Ich fühlte mich verloren. Der Sand zerquetschte mir den Mund, aber ich schrie: ‚Weder kann ein geträumter Sand töten, noch gibt es Träume, die in einem Traum sind.‘ Ein Lichtschein weckte mich. In der oberen Dunkelheit zeichnete sich ein Kreis von Licht ab. Ich sah das Gesicht und die Hände des Wärters, die Winde, das Seil, das Fleisch und die Krüge.“ (Jorge Luis Borges: Die Inschrift des Gottes [1949], in: Ders.: Im Labyrinth. Erzählungen, Gedichte, Essays, hg. v. Alberto Manguel, Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch Verlag 2003, S. 191–196, hier S. 194 f.)

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im Traum zu ersticken. Ein Ende dieses bedrohlichen Prozesses ist erst möglich, als der Träumer im Traum eine Realitätsprüfung durchführt: „Ni una arena soñada puede matarme“, konstatiert er verzweifelt, „ni hai sueños que estén dentro de sueños“. Im Traum wird also die Unterscheidung von Traum und Wachwelt aufgerufen und der aktuelle Zustand als Wachzustand in Frage gestellt. Nicht allein durch diese Unterscheidung endet allerdings der Traum – denn die begleitet ja als beständiger Wechsel den Träumenden schon vorher – sondern durch die Reflexion auf die Zuordnung von Kriterien zu diesen zwei Seiten der Unterscheidung: Ein geträumter Sand kann nicht töten, ein im Wachen erlebter Sand schon. Der Sand kann den Ich-Erzähler allerdings nur so lange nicht töten, als dieser ihn in einer schwach verankerten Modalität erdrückt. Andererseits: Hätte der Sand ihn getötet – wäre es dann kein Traum mehr gewesen? Oder wäre dann die Unsicherheit der Grenze zwischen Wach- und Traumwelt durch den Wechsel von schwach zu stark verankerter Modalität der Welt im Traum sichtbar geworden? Warum ist es außerdem ausgerechnet der Sand, der diese Überlegungen metaphorisch leitet? Welche Funktion hat die Metapher Sand in dieser Reflexion auf das Träumen? Auch zur Beantwortung dieser Fragen ist wieder zu berücksichtigen, dass die Elemente des Sandes diskret und also zählbare Gegenstände sind: Eine Traumphase reiht sich an die andere wie ein Sandkorn ans nächste. Gleichzeitig werden durch den Rekurs auf je ein Sandkorn die Traumphasen als abgeschlossene Entitäten betrachtet, nach deren Abschluss sich jeweils ein Bruch auftut, ein Abbruch des Träumens ins Erwachen. Dieses Erwachen ist aber selbst wieder nur ein Traum und gleichsam schon das nächste Sandkorn. Träumen und Wachen werden damit ununterscheidbar; sie gleichen einander wie ein Sandkorn dem anderen, und diese Problematik leitet die Traumsequenz auch erzählerisch ein, denn „¿qué diferencia cabe?“ fragt der Ich-Erzähler, „entre mis días y mis noches“. Der Sand wird zudem wichtig, weil der Ich-Erzähler gleich im Anschluss an den Traum berichtet, er sei aus „del incansable laberinto de sueños“ heimgekehrt, und zwar zu „la dura prisión“, dessen „humedad“ und sonstige Attribute er segnet.70 Damit stellt Borges nicht nur wie in Los dos Reyes y los dos Laberintos den Zusammenhang zwischen dem ununterscheidbaren Sand und dem Labyrinth her,71 sondern auch wie in El Libro de Arena zwischen dem auf gefährliche Weise offenen Unendlichen und dem in Feuchtigkeit sicher gebundenen Sand.72 Wie das Sandbuch ist nämlich auch das Ineinandergeschobensein von Wachen und Träumen in Form der ununterscheidbaren Sandkörner unend-

70 Borges: La Escritura del Dios, S. 598. 71 Vgl. Kap. 3.5.3. 72 Vgl. Kap. 3.3.2.

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lich und kann nur durch die kohäsive Nässe des Gefängnisses bzw. durch seine Härte, gleichsam durch eine unnachgiebig aktualisierende Unterscheidung, aufgehalten werden. Die Reihe der Sandkörner ist am Anfang noch zählbar – eins, zwei, drei und so fort –, sehr bald aber gleicht die Unzählbar- und Unendlichkeit den Seiten im Sandbuch oder auch jener unendlichen Potenzierung von Träumen in Träumen, wie sie etwa Novalis in seinem Traumkonzept romantisch entfaltet.73 Die kleine Episode in Borges’ Erzählung endet mit einem vom Sand erlösenden Erwachen: Wie vor dem Traum erscheint nochmals der Wärter, und die in der Welt fester verankerten Gegenstände bestimmen das Bild: die Winde, das Seil, das Fleisch und die Krüge. Das „dura prisión“ scheint erstrebenswerter als die schwach verankerte Existenz in Sandkörnern. – Dennoch: Auch wenn die Räumlichkeit des Kerkers sowie der Wärter und die ihn begleitenden Tätigkeiten und Gegenstände einen deutlichen Rahmen um den Traumbericht setzen und die Traum- von der Wachwelt abgrenzen und auch wenn der Ich-Erzähler sich sicher gibt, dass es keinen Traum im Traum geben kann, bleibt doch unwägbar: Ist vielleicht doch auch dieses Erwachen nur ein Erwachen in einem weiteren Traum? Immerhin haben den Wärter „borrando los años“.74 Die Figur vom Traum im Traum greift also auch hier die Frage auf, die quer durch die Philosophie- und Literaturgeschichte immer wieder gestellt worden ist: Wie können wir, wenn wir wachen, wissen, dass wir wachen und nicht träumen? Diese Frage wird bekanntlich mit Descartes zu einem „eigenständigen Topos“, der als Antwort ein weiterhin viel zitiertes und mal mehr und mal weniger zufriedenstellendes Kohärenzkriterium ansetzt: „‚Niemals verbinden sich meine Träume (insomnia) mit allen übrigen Erlebnissen durch das Gedächtnis so, wie das, was mir im Wachen begegnet‘“.75 Wach- und Traumwelt sind, könnte man sagen, für Descartes unterscheidbar durch den Grad ihrer Verankerbarkeit im Medium des Gedächtnisses und der Kopplung mit den dort gespeicherten Erlebnissen. Die Figur vom Traum im Traum impliziert aber nicht nur die Unsicherheit, ob wir wachen oder träumen, sondern auch ob wir selbst vielleicht etwas Geträumtes sind. In William Shakespeares Der Sturm (1623) wird von Prospero diese Frage mit seiner paradigmatisch gewordenen Behauptung prägnant formuliert: „We are

73 Vgl. dazu etwa Christiane Leiteritz: Zur poetischen Funktion des Traums bei Coleridge, Novalis und Nodier, in: Peter-André Alt/Dies. (Hg.): Traum-Diskurse der Romantik, Berlin/New York 2005, S. 148–175, hier S. 165. 74 Borges: La Escritura del Dios, S. 596. 75 René Descartes, zit. n. Ralf Grötker: Traum, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. v. Joachim Ritter u. Karlfried Gründer, Bd. 10, Darmstadt: WBG 1998, Sp. 1461–1465, hier Sp. 1462, das Zitat ebd.

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such stuff as dreams are made on, and our little life is rounded with a sleep“76 – und sie bleibt auch danach präsent. So heißt es etwa in Edgar Allan Poes zweistrophigem Gedicht A Dream Within a Dream (1849) jeweils am Ende beider Strophen: „Is all that we see or seem / But a dream within a dream?“77 Diese Frage schließt sich in der ersten Strophe an die Klage an, dass die Tage wie Träume sind und wie diese vergehen, und diese Klage wird in der zweiten Strophe mit der Metapher des Sandes reformuliert: „And I hold within my hand / Grains of golden sand – / How few! yet how they creep / Through my fingers to the deep / […] Oh God! can I not grasp / Them with a tighter clasp? / O God can I not save / One from the pitiless wave?“ Als wären auch wir nur Träume, so überlegt das Gedicht, zerrinnen unsere Tage so wie unsere Träume uns zerrinnen, als wären auch wir nur Sandkörner in der Hand einer anderen Person, die durch deren Finger rinnen und von der nächsten Welle weggespült werden. Ebenso wird der Gedanke vom Traum im Traum von Hilary Putnam in seinem kurzen Text Brains in a Vat durchgespielt: Ein Wissenschaftler entfernt das Gehirn aus dem Körper einer Person und erhält es in einem Tank mit einer Nährlösung, während die Nervenenden so mit einem Computer verbunden sind, dass sie der Täuschung unterliegen, sie würden als Person mit ihrem ganzen Körper agieren.78 Schon vorher haben auch Filme wie Rainer Werner Fassbenders Welt am Draht (D 1973) oder Josef Rusnaks The Thirteenth Floor (USA 1999) diese Idee des 1964 erschienenen Science-Fiction-Romans Simulacron-3 von Daniel F. Galouye aufgenommen. In Variationen geht es hierin immer wieder um Menschen, die feststellen müssen, dass sie selbst nur in einer Simulation leben und ihre Welt durch einen Knopfdruck in einer anderen Welt ausgelöscht werden könnte. Jene andere Welt mag aber selbst wieder nur eine Simulation sein, und so bilden sie schon den Anfang einer Reihe von Sandkörnern, gleichsam „un grano de arena“, „dos granos de arena“, „tres“ und dann „innumerable“ bis ins Unendliche.

4.1.6 Traumgrenzen, Weltgrenzen Ich kehre noch einmal zu der Frage zurück, die der Ich-Erzähler in Borges’ La Escritura del Dios stellt: „Un día o una noche – entre mis días y mis noches – ¿qué

76 William Shakespeare: Der Sturm. Zweisprachige Ausgabe, München: dtv 22001, 4. Akt, 1. Szene, S. 132 f., Z. 156–158. 77 Edgar Allen Poe: A Dream Within a Dream, in: Ders.: Das gesamte Werk in zehn Bänden, hg. v. Kuno Schumann u. Hans-Dieter Müller, Bd. 9, Herrsching: Manfred Pawlak 1979, S. 34 f. 78 Vgl. Hilary Putnam: Brains in a Vat, in: Reason, Truth, and History, Cambridge: Cambridge University Press 1981, S. 1–21.

4.1 Sand als Metapher für den Traum

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diferencia cabe? –“ Zugegebenermaßen mag die Grenze zwischen Tag und Nacht besonders dann verschwimmen, wenn man ohne absehbares Ende in ein und derselben Gefängnisgrube sitzt und sich immer gleiche Prozeduren wiederholen.79 Vielleicht wäre die Frage damit auch schon erschöpft, wenn sie nicht einen Traumbericht einleiten und sich damit in einen grundsätzlicheren Kontext einbetten würde. Dadurch problematisiert diese Frage und dann auch die Ununterscheidbarkeit der Sandkörner im Traum die Grenze zwischen schwach und stark verankerter Weltmodalität, und diese Grenze ist, auch wenn Descartes es anders denkt, ebenso wenig eindeutig zu ziehen wie ein Sandkorn sich vom anderen mit bloßem Auge deutlich unterscheiden lässt. „Wir sind dem Aufwachen nah, wenn wir träumen, daß wir träumen“, heißt es in einem Athenäums-Fragment, das Novalis zugeschrieben wird.80 Beginnt demnach im Traum die Reflexion auf das Träumen, dann ist der Raum des Träumens „nah“ an dem des Aufwachens; die beiden Wahrnehmungsräume rücken zusammen.81 Das liest sich nicht nur wie eine Antwort auf die Frage, warum in Borges’ La Escritura del Dios der Träumende in eben jenem Moment aufwacht, in dem er im Traum auf das Träumen reflektiert, sondern es zeigt auch an, dass Wachen und Träumen nicht deutlich abgrenzbar, sondern zwischen ihnen vielmehr Annäherungsstufen anzunehmen sind. Auch wenn damit schon in der Romantik die Grenze zwischen Wachen und Träumen nivelliert wird, weist erst Freud den Gedanken ihrer Trennbarkeit vor dem Hintergrund seiner psychoanalytischen Annahmen grundsätzlich zurück, wie Martina Wagner-Egelhaaf konstatiert: Tatsächlich muß man Freuds Traumdeutung (1900) im Prozeß der ‚neuzeitlichen Trennung von Traum und Realität‘ an einem Wendepunkt einordnen, erweist sie doch die mit Descartes vollzogene Trennung von Traum und Realität als scheinhaft und postuliert, daß im Traum die gleichen psychologischen Mechanismen am Werk sind wie im Wachleben. Der Traum stellt also keine ‚andere‘ Realität als die des Wachens dar […].82

Freud verlegt die Liminalität des Traums vielmehr als dessen konstitutionelle Verfasstheit in den Traum. Schon der Traum, insofern er uns nie das zeigt, was er bedeutet, ist also immer eine Spur der différance, immer schon das Verscho-

79 Vgl. zu einem sehr ähnlichen Arrangement auch den Roman Suna no onna [Die Frau in den Dünen] von Kobo Abe, dazu Kap. 3.4.2. 80 Novalis (Friedrich von Hardenberg): Vermischte Bemerkungen/Blüthenstaub [1797/98], in: Ders.: Schriften, hg. v. Hans-Joachim Mähl u. Richard Samuel, Bd. 2, Darmstadt: WBG 1999, S. 225–285, Nr. 16, S. 232, zit. n. Gehring: Traum und Realität, S. 118. 81 Vgl. dazu ebd., S. 118–120. 82 Martina Wagner-Egelhaaf: Traum – Text – Kultur. Zur literarischen Anthropologie des Traumes, in: Gerhard Neumann (Hg.): Poststrukturalismus. Herausforderung an die Literaturwissenschaft, Stuttgart/Weimar 1997, S. 123–144, hier S. 130.

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bensein der Grenze zwischen Signifikant und Signifikat.83 Er ist immer schon sandig beschaffen, indem in ihm die Grenze zwischen Signifikant und Signifikat virtuell ist. Die Träume stellen aktuelle Problemlösungen des virtuell strukturierten Unbewussten dar. Sie verdichten Trauminhalte, bedeuten sie aber nicht. Der Prozess von Aktualisierung und Virtualisierung vollzieht sich also auch im Traum, aber nicht als Aktualisierung von Bedeutung, sondern als deren Verschiebung. Diese Grenze innerhalb des Traumgeschehens ist dabei, so noch einmal Wagner-Egelhaaf, kulturell spezifisch, insofern „die Traumzensur als primäre und die sekundäre Bearbeitung des Traumes Instanzen der kulturellen Ordnung sind“ und „das Unbewußte […] immer schon durch die kulturellen Grenzziehungen bedingt ist.“84 Jurij Lotman bemerkt zudem, dass nicht nur die Konstitution der Träume in den Kulturen variiert, sondern auch die Speicherbarkeit der Träume von den jeweiligen Memorierungstechniken und -gewohnheiten abhängig ist, sodass etwa „der archaische Mensch über eine bedeutend größere Traumkultur verfügte, das heißt, dass er vermutlich Traumbilder bedeutend kohärenter sah und erinnerte. […] Die Entwicklung des Redens hat diesen Bereich in den Hintergrund der Kultur und zurück ins Primitive gedrängt.“85 Das, was aus dem Unbewussten überhaupt als manifest aktualisiert werden kann, ist also ebenso variabel wie das, was wieder ins Unbewusste hinein vergessen wird:

Wachzustand (stark verankert)

Traumzustand (schwach verankert) Wachen/ Träumen

Wachwahrnehmung Aktualisiertes im Traum virtualisiert

Grenze kulturell variabel

hochauflösend: wird virtualisiert kulturell variabel virtuelle Struktur des Ub wird manifest

virtuelle Struktur des Ub

wird aktualisiert hochaufgelöst: Formbildung wenig limitiert Grenze ist kulturell variabel

Abb. 4.4: Variabilität der verschiedenen Traumgrenzen (eigene Darstellung).

83 Vgl. ebd., S. 133. 84 Ebd., S. 136. 85 Jurij M. Lotman: Der Traum – ein semiotisches Fenster, in: Ders.: Kultur und Explosion, Berlin: Suhrkamp 2010, S. 180–185, hier S. 181. Lotman spricht von einer „entwickelte[n] Mnemonik“.

4.2 Der Sandmann als Grenzfigur zwischen Wach- und Traumwelt

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Abb. 4.4 verdeutlicht die verschiedenen Grenzen sowie ihre Variabilität: die Grenze zwischen Wach- und Traumzustand sowie die Grenzen der Aktualisierung und Virtualisierung innerhalb des Traums. Diese Variabilität der Grenzziehung zwischen Wachen und Träumen erläutert Petra Gehring strukturell mit der Konzeption von Traum und Realität als Verhältnisphänomen. Es gibt demnach keine eindeutige Grenze zwischen Traum und Realität, da sie in Abhängigkeit voneinander definiert und aufeinander bezogen sind: „Die Frage nach dem Sosein des Traumes trägt ganz offenkundig die sehr besondere Frage nach dem Sinnorganisationsprinzip ‚Wirklichkeit‘ in sich.“86 ‚Wirklichkeit‘ – und ich würde hier sagen: die Wachwelt – ist demnach immer erst unter den Bedingungen definierbar, unter denen etwas als Traum gilt, das von etwas anderem, das nicht als Traum gilt, unterschieden wird. Das Wachen ist also selbst eine Form, die historisch in der Geschichte der Unterscheidung von Wachen und Träumen variiert. Wenn gilt, dass im Traum ‚alles‘ möglich ist, was im Wachbewusstsein zensiert oder unmöglich ist, dann hängt das, was ‚alles‘ ist, immer von den kulturellen und physikalischen Bedingungen der Wachwelt ab. Aus diesem Grund, weil die Form der Unterscheidung von Wachen und Träumen selbst virtuell ist, weil also zwischen Wachen und Träumen immer wieder neu zu unterscheiden ist und immer wieder anders unterschieden werden kann, weil also die Grenze zwischen Wachen und Träumen immer wieder neu verhandelt und aktualisiert wird – deswegen ist der Sandmann als Figur so wichtig, denn er vermittelt als Grenzfigur zwischen diesen Zuständen und in ihm wird die Art und Weise, wie diese Grenze jeweils kulturspezifisch definiert wird, funktionabel.

4.2 Der Sandmann als Grenzfigur zwischen Wach- und Traumwelt Der Sandmann ist eine Grenzfigur auf der Grenze von Wach- und Traumwelt; an ihm scheiden sich Wachwelt (Auge auf) und Traumwelt (Auge zu). Indem er anderen Sand in die Augen streut, führt er bei ihnen einen Wechsel der Wahrnehmungsmodalität herbei: von der Wachwelt als stark verankerter Weltmodalität hin zum Traum, der eine hochaufgelöste Weltwahrnehmung darstellt, in der die Welt in ihrer schwach verankerten Modalität erscheint.87 Die Modalität der Welt hängt also, wie schon in Kapitel 4.1 ausgeführt wurde, davon ab, wie sie wahrgenommen wird, sodass der Wechsel des Wahrnehmungsmediums,

86 Gehring: Traum und Wirklichkeit, S. 11. 87 Vgl. Kap. 4.1.2.

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4 Virtuelle Form des Mediums: Hohe Auflösung des Traums

den der Sandmann herbeiführt, bewirkt, auf eine andere Art in der Welt zu sein. Ob dies für den Träumenden bedrohlich wirkt bzw. wird, hängt davon ab, ob Wach- und Traumwelt ausreichend unterscheidbar bleiben. Der Sandmann ist indessen selbst in Bezug auf die Unterscheidung zwischen ihnen ununterschieden, da er auf beiden Seiten zugleich agiert. Umso mehr macht er für andere einen Unterschied: In der von ihm induzierten Weltwahrnehmung lösen sich aktuelle Unterscheidungen sehr schnell auf. Unterscheidungen sind, wie sich die Struktur der Virtualität differenztheoretisch ausformulieren lässt, Formgebungen, die in hochauflösenden Medien wie dem Traum nicht lange aktualisiert werden können. In diese Ununterschiedenheit der Virtualität oder Differentiation entdifferenzieren sich die im Traum wahrgenommenen Formen alsbald, und in ihr befindet sich auch der Sandmann als ständig neu in der variablen Grenzdefinition zwischen Traum- und Wachwelt zu unterscheidender.

4.2.1 Der Sand des Sandmanns Insofern der Sand aus gleichförmigen und also ununterschiedenen Elementen besteht und ein hochaufgelöstes Medium ist, kann er seine Metaphorik in allen drei Hinsichten entfalten, in denen der Sandmann relevant wird: in Bezug auf den Sandmann selbst (‚Sand streuen‘), in Bezug auf das Träumen (‚Sand im Auge‘) und in Bezug auf die Wertung der Träumenden (‚Blicktrübung‘/‚Blickerweiterung‘ durch Sand). 4.2.1.1 Sand streuen: Der Sandmann als Grenzfigur A candy-coloured clown, they call the sandman, tiptoes to my room every night, Just to sprinkle sturdust and to whisper: go to sleep, everything is alright.88

Der Sandmann ist die Einheit der Unterscheidung von Wach- und Traumwelt und in dieser Hinsicht ununterschieden wie der Sand. Diese Ununterschiedenheit, die Differentiation des Sandes, macht den Sandmann zum Sandmann, als eine Grenzfigur zwischen Wachen und Träumen. Der Schlaf, so wird in einer Fabel des römischen Prokonsuls und Redners Fronto (um 100 n. Chr.) erzählt, wird von Jupiter erschaffen, weil er sieht, „daß die Menschen die Einteilung in

88 Roy Orbison: In Dreams, Washington D. C.: Monument Records 1963.

4.2 Der Sandmann als Grenzfigur zwischen Wach- und Traumwelt

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Tag und Nacht nicht mehr einhalten“.89 Der Schlaf ist also der Mythologie nach ein Unterscheidungsinstrument, und der Sandmann agiert auf der Grenze dieser Unterscheidung. So befindet sich auch die älteste ‚Sandmann‘-Figur, Morpheus, in den Metamorphosen des Ovid auf der Seite des Traums und auf der Seite des Nicht-Traums zugleich, wie die Geschichte von Keyx und Alkyone zeigt.90 Die Ausgangslage ist, dass Alkyone verzweifelt auf die Rückkehr ihres Gatten wartet, der aber, was sie noch nicht weiß, verunglückt ist. Da Juno die vergeblichen Bitten Alkyones nicht mehr erträgt, schickt sie ihre Botin Iris zum Schlafgott Hypnos, damit er Alkyone einen Traum sendet, der ihr vom Tod ihres Mannes berichtet. Der Gott des Schlafes wählt daraufhin „aus dem Volk seiner tausend Söhne den Meister in der Kunst, fremde Gestalten anzunehmen, den Morpheus. Täuschender als er kann kein anderer auf Verlangen Gang, Gesichtsausdruck und Klang der Stimme nachahmen.“91 Morpheus fliegt nun durch die Nacht zu Alkyone, „nimmt die Züge des Keyx und seine Gestalt an und tritt grabesbleich, ganz wie ein Toter […] an das Lager seiner unglücklichen Gattin […]: ‚Erkennst du deinen Keyx, unglückselige Gattin, oder hat der Tod mein Gesicht entstellt?‘“92 Morpheus agiert im Traum in der Gestalt des Keyx, er tritt als dieser an das Lager „seiner Gattin“; zugleich agiert er aber, da er diese Gestalt auch wieder ablegen kann, nicht im Traum, denn er weist Alkyone darauf hin, dass sie nur einen Schatten ihres Mannes sieht: „Schaue mich an, du wirst mich erkennen, doch wirst du statt deines Gemahls nur seinen Schatten vor dir haben.“93 Zwar ist es Keyx selbst („ipse ego“),94 den sie sieht, aber der Text betont wiederholt, dass es nur scheinbar ihr Gatte ist („videtur“, Z. 655; „visus erat“, Z. 673). Morpheus erscheint Alkyone als „Schatten“, der eine weitere Metapher für das hochauflösende Medium Traum ist; aber dieser Zustand ist deswegen um nichts weniger wirklich, wie Alkyone erkennt, denn ist es tatsächlich Keyx, der vor ihr steht: „umbra fuit, – sed et umbra tamen manifesta virique vera mei!“95

89 Jolles: Hypnos, in: Paulys Realenzyklopädie der classischen Altertumswissenschaft, hg. v. Wilhelm Kroll, Bd. 17, München: Alfred Druckenmüller 1914, Nachdruck München/Zürich 1984, Sp. 323–329, hier Sp. 328. 90 Publius Ovidius Naso: Metamorphosen, hg. v. Gerhard Fink, Düsseldorf: Artemis & Winkler 22007, 11. Buch, S. 554–577. 91 Ebd., Z. 633–636, S. 568 f. 92 Ebd., Z. 652–659, S. 570 f. 93 Ebd., Z. 659 f., S. 570 f. 94 Ebd., Z. 668., S. 570 f. 95 Ebd., Z. 688 f., S. 572 f. So war es dem Schlafgott von Juno aufgetragen worden: „Gebiete, daß ein Traum, der vollkommen wirkliche Wesen nachbilden kann, […] in Gestalt des Königs Keyx zu Alkyone komme und ihr die Erscheinung eines Schiffbrüchigen zeige!“; „somnia, quae veras aequent imitamine formas“ (ebd., Z. 626–628, S. 568 f.).

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4 Virtuelle Form des Mediums: Hohe Auflösung des Traums

Morpheus ist beides zugleich: Er ist derjenige, der das Traumbild bringt, und er ist das Traumbild selbst. Selbst wenn dieses Traumbild nur ein Schatten ist, ist es gleichwohl wirklich. Morpheus ist Traum, und er ist nicht Traum, und er weiß, dass er beides zugleich ist. Der Traum ist hierbei, und das war meine These in Kapitel 4.1., ebenso wirklich wie die Wachwelt. In der griechischen Mythologie ist Morpheus ein Sohn des Hypnos (des Schlafes),96 der wiederum von Nyx (der Nacht) und Erebos (der Finsternis) gezeugt wurde, und zwar ebenso wie Thanatos (der Tod).97 Der dichte Bezug von Schlaf und Tod wird mythologisch durch das enge geschwisterliche Verhältnis ausgedrückt, das noch dadurch intensiviert wird, dass Hypnos und Thanatos Zwillingsbrüder sind.98 Hypnos ist von ihnen der den Menschen zugewandte: „Der eine von ihnen [Hypnos] durchstreift, friedlich und freundlich zu Menschen, die Erde und den breiten Meeresrücken; der andere aber [Thanatos] hat ein eisernes Herz und ehernen, erbarmungslosen Sinn in der Brust. Wen von den Menschen er einmal gefaßt hat, den hält er fest.“99 Bis heute erscheint auch der Sandmann als Bruder des Todes, etwa in Hans Christian Andersens Der Sandmann, in dem der Sandmann dem jungen Träumer Hjalmar den Blick aus dem Traumfenster empfiehlt: „Da wirst du meinen Bruder sehen, den anderen Sandmann! Sie nennen ihn auch den Tod!“100 Auf diesen „anderen Sandmann“ wird ebenso in Robert Schneiders Schlafes Bruder angespielt101 oder auch in Neil Gaimans The Sandman, in dem der Tod abgewandelt als Schwester des Morpheus erscheint (Abb. 4.5). Auch wenn der Tod nicht explizit als Bruder – oder Schwester – des Sandmanns figürlich erscheint, ist die Nähe von Schlaf und Tod in der Figur des Sandmanns immer mitzudenken, wie in den Analysen dieses Kapitels noch zu lesen sein wird.

96 Vgl. Hesiod: Theogonie, Stuttgart: Reclam 1999, Z. 211 f., S. 18 f., und Z. 756 f., S. 58 f. 97 Ebenso wird von ihnen die „Sippe der Träume“ (φῦλον Ὀνείρων) gezeugt (Hesiod: Theogonie, Z. 211 f., S. 18 f.). 98 So etwa bei Homer: Ilias, hg. v. Eduard Schwartz, Augsburg: Weltbild Verlag 1994, 16. Gesang, V. 672. 99 Hesiod: Theogonie, Z. 762–766, S. 58–61. Während der Sandmann den Sand in die Augen wirft, um das Bewusstsein der Schlafenden eine Weile ruhen zu lassen, löscht der Tod es ganz aus, wie bei jenem „Bürgermeister, dem der Tod die Sanduhr in die Augen geschüttet hatte“ (Jean Paul: Des Amts-Vogts Josuah Freudel Klaglibell [Leben des Quintus Fixlein], in: Ders.: Sämtliche Werke, I/4, Darmstadt: WBG 2000, S. 209). 100 Hans Christian Andersen: Der Sandmann, m. Illustrationen v. Sabine Naumann, Berlin: Edition Holz im Kinderbuchverlag 21990 [1842], S. 29. 101 Robert Schneider: Schlafes Bruder. Roman, Leipzig: Reclam 1994.

4.2 Der Sandmann als Grenzfigur zwischen Wach- und Traumwelt

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Abb. 4.5: Dream und seine Schwester Death.

Die Nähe von Schlaf und Tod erscheint in der Antike nicht nur als verwandtschaftliche Nähe, sondern auch als räumliche Nähe im Sinne einer unmittelbaren Nachbarschaft, denn die Götter haben ihre je eigenen Räume. So lebt in Ovids Metamorphosen der Gott des Schlafes, Hypnos, am Rand der Welt in einer Grotte,102 und in Homers Odyssee wird das Land der Träume als Teil der Unterwelt aufgefasst, in der Hermes die Funktion des Sandmanns übernimmt. Hermes nämlich, der die Gabe hat, Menschen in den Schlaf zu bringen und sie auch wieder zu wecken, geleitet „die Seelen der toten Freiersmänner […] hinunter die modrigen Pfade […] am Lande der Träume vorüber […] zur Asphodeloswiese, dort, wo die Seelen wohnen, die Schattenbilder der Toten.“103 Das Land der Träume ist bei diesem Gang durch die Unterwelt nach einigen anderen die letzte Station vor dem Totenreich. Fasst man die Traumwelt nicht als nur mythologischen, sondern als auch theoretischen Raum auf, kann der Sandmann aufgrund seiner Grenzgänge als Raumfigur beschrieben werden. Er setzt zwischen Wach- und Traumwelt über; er übersetzt die Träumenden respektive Wachenden von dieser in jene Welt. Die Grenze, die die Übersetzung notwendig macht, erscheint je nach theoretischer Fragestellung oder Beschreibungssprache: bei Derrida dekonstruktiv als

102 Vgl. Ovid: Metamorphosen, 11. Buch, V. 592–596, S. 566 f. 103 Homer: Odyssee, 24. Gesang, V. 1–14, übers. v. Roland Hampe, Stuttgart: Reclam 1992, S. 390.

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Sprachwechsel, den der „discours onirique“ darstellt und durch den jede Übersetzbarkeit grundsätzlich problematisiert wird, da der Signifikant des Traumes nicht mit in die Übersetzung der bewussten Sprache genommen werden kann;104 medientheoretisch als „Medienwechsel“, indem bei der Niederschrift die „Transformation von Bildern und Bewegungsbildern in Schrift“ notwendig wird;105 oder auch systemtheoretisch als „Systemgrenze“, die „im Übergang von Bewußtsein zu Kommunikation […] passiert werden muß“.106 Diese Wechsel beschreiben Änderungen, die mit dem Überschreiten der Grenze vom einen in den anderen Zustand einhergehen, konzipieren aber die Grenze selbst nicht als räumlich. Gleichwohl ist der Traum wie eine eigene Welt neben der Wachwelt,107 er ist ein ‚anderer‘, von der Wachwelt unterschiedener Ort, er ist, mit Michel Foucaults Worten eine Heterotopie.108 Heterotopien nennt Foucault „Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können“; es sind „wirkliche Orte, wirksame Orte“.109 So kann man den Traum durchaus als einen wirklichen und wirksamen Ort beschreiben, der geortet werden kann und der nach Foucaults erstem Grundsatz zu den Heterotopien eine Abweichungsheterotopie insofern ist, als er eine Abweichung von den Normen der Wachwahrnehmung darstellt (1.). Auch die weiteren fünf Grundsätze erfassen Aspekte des Traums: Es trifft nicht nur für Heterotopien, sondern auch für Träume zu, dass sie historisch wandelbar sind (2.), mehrere Räume in sich versammeln können (3.), an Zeitabschnitte gebunden sind, aber Menschen in ihnen völlig mit ihrer Zeit brechen (4.), nicht immer ohne Weiteres zugänglich sind (5.) und eine Funktion in Bezug auf den verbleibenden Raum haben, z. B. „einen Illusionsraum zu schaffen“ (6.).110 Der Sandmann leistet hierbei keine ‚einfache‘ Übersetzung von A nach B ins Heterotope, sondern er steht für den Übergang zwischen A und B! Er ist die Einheit dieser Grenzerfahrung.

104 Vgl. Jacques Derrida: L’écriture et la différance, Paris: editions du seuil 1967, S. 311 f. 105 Detlev Kremer: Traum als Präfiguration, topologische Schwelle und Verdichtung des romantischen Textes, in: Peter-André Alt/Christiane Leiteritz (Hg.): Traum-Diskurse der Romantik, Berlin/New York: de Gryuter 2005, S. 113–128, hier S. 115. 106 Gerhard Plumpe: Der Dichter und das Phantasieren. Freuds Vorstellungen der Literatur, in: Rudolf Behrens (Hg.): Ordnungen des Imaginären. Theorien der Imagination in funktionsgeschichtlicher Sicht, Hamburg 2002, S. 165–179, hier S. 165. 107 Vgl. Kap. 4.1.4. 108 Vgl. Michel Foucault: Andere Räume, in: Karlheinz Barck u. a. (Hg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig: Reclam 41992, S. 34–46. 109 Ebd., S. 39. 110 Vgl. ebd., S. 40–46, Zitat S. 45.

4.2 Der Sandmann als Grenzfigur zwischen Wach- und Traumwelt

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4.2.1.2 Sand im Auge: Wechsel des Wahrnehmungsmediums Um jemanden vom Wachen zum Träumen zu bringen, streut der Sandmann Sand. Dieser Sand ist zugleich das Medium des Augenschließens und das Medium der Traumwelt. Der Sandmann bringt also eine Person gleichsam ‚mit‘ dem Sand ‚in‘ den Sand. Über diese schwach verankerte Modalität kann mit dem Sand nachgedacht werden, da er ununterschieden ist, denn stabile Unterscheidungen gehen mit starken Verankerungen (rigiden Kopplungen) einher und schwache Verankerungen (lose Kopplungen) mit deren Abwesenheit. Die Traumwelt ist also durch andere Unterscheidungsbedingungen gekennzeichnet! Sie ist damit nicht eine ‚ganz andere‘ Welt, sondern eine schwach verankerte Modalität der Welt; sie ist nicht: nicht real, sondern sie ist anders real; in ihr zu sein bedeutet nicht: nicht mehr zu sehen, sondern anders zu sehen. Der Sand in den Augen beendet also nicht im Traum die Realität, sondern er transformiert das Sehen. Wahrnehmungsmedien wie das Sehen verwenden, wie andere Medien auch, Elemente, die lose gekoppelt sind.111 Die Formen, die wahrgenommen werden, müssen also je nach Wahrnehmungsmedium divergieren, da die Formenbildung durch die Bedingungen des Mediums, also seine spezifischen Unterscheidungsweisen, limitiert wird.112 Auch die Wahrnehmungsmedien sind Konstrukte von Unterscheidungen, etwa indem das Sehen vom Hören unterschieden wird, wobei sie kennzeichnet, dass niemand an den Wahrnehmungen anderer Teil hat. Wenn der Sand in den Augen das Sehen transformiert, wird die Wahrnehmung traumartig. Unter dem Einfluss von ‚Sand‘ funktioniert die Formbildung in der Wahrnehmung anders als im Wachzustand, und sie ist zudem hochauflösend, weil das, was als Unterscheidung aktualisiert wird, sich sogleich wie die Formen im Sand wieder in Ununterschiedenheit auflöst. Wie der Sand metaphorisch in die Augen gelangt, warum also der Traum bringende Sandmann ein Sandmann ist und ausgerechnet Sand streut, dafür gibt es neben dieser differenztheoretischen Erklärung auch eine alltagsweltliche. Die Bezeichnung geht vermutlich „auf die im Vogtland früher verbreitete Bez[eichnung] ‚Sandmann‘ für einen Händler, der Scheuersand verkaufte, den er im Sack auf dem Rücken transportierte“, zurück.113

111 Vgl. Luhmann: Medium und Form, KdG, S. 167, Fußnote 4. Hier im Rückgriff auf Fritz Heider. 112 Vgl. ebd., S. 186. 113 NN: Sandmann, in: Die Zeit. Das Lexikon in 20 Bänden, Bd. 12, Hamburg: Zeitverlag 2005, S. 547.

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4 Virtuelle Form des Mediums: Hohe Auflösung des Traums

Abb. 4.6: Sandverkäufer.

In Roisdorf bei Bonn etwa bot im neunzehnten Jahrhundert die sogenannte „Sandgräberei und Sandkrämerei […] des in geringer Tiefe oberhalb des Dorfes liegenden Quarzsandes“ eine stetige Einnahmequelle; der Sand war „als Scheueroder Streusand gefragt, mit ihm wurden also die Fußböden der Stuben bestreut und er dann zusammen mit Staub und Dreck zusammengefegt“.114 Die Bezeichnung „Roisdorfer Sandkrämer“ war in der Region zu dieser Zeit ganz geläufig. Auch Petzold erläutert: Der Sand, der zum Verkauf ausgetragen wurde, diente als „Scheuersand […], als Desinfektionsmittel […], als Medizin […], als Trockenmittel für Tintenschreibarbeiten“, weswegen der Berufsstand „Anfang des 20. Jahrhunderts mit dem Aufkommen synthetischer […] Reinigungs- und Desinfektionsmittel aus[starb].“115 Margot Rohdes These leuchtet ein, dass die Verknüpfung dieses Berufes mit der Eigenschaft des fiktiven Sandmanns, Geschichten zu erzählen, dadurch zustande kam, dass die beruflich viel reisenden Sandmänner ‚viel zu

114 NN: Sandgräberei und Sandkrämerei, unter http://www.heimatfreunde-roisdorf.com/ge schichte/landwirtschaft-und-gewerbe/sandgraeberei-und-sandkraemerei/index.html [15.06.2019]. 115 Volker Petzold: Der Sandmann als Fabelfigur und Medienstar, in: Volkskunde in Rheinland-Pfalz 19,1 (2004), S. 115–135, hier S. 119 f. Vgl. dort die Recherche zum Berufsstand des Sandmanns, S. 119–121.

4.2 Der Sandmann als Grenzfigur zwischen Wach- und Traumwelt

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erzählen‘ hatten.116 Etwa in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts verbreitet sich die Vorstellung des Sandmanns von Deutschland aus, wobei die ersten belegten Quellen nur den physiologischen Aspekt betonen, dass die eingetrocknete Tränenflüssigkeit an Sand erinnert, sodass der Sandmann also zunächst nur den Schlaf bringt. Der erste Beleg findet sich in den Zugaben zum Herrnhuter Gesangbuch (1748) von Nikolaus Ludwig von Zinzendorf: Mein augen stehn verdrossen sind allem zugeschlossen der sandmann ist noch drin (die stäublein aus dem grabe, wo ich geschlafen habe), auch will der schlaff nicht aus dem sinn.117

Bald danach findet sich bei Johann Christoph Adelung unter dem Stichwort „Sandmann“ die gleichzeitige Nennung des Sandmannberufs und des Schlafbringers: „Ein Mann, der Sand führet, Sand verkauft. Im Scherze sagt man auch zu den Kindern, wenn sie schläfrig werden, und sich die Augen reiben, als wenn man ihnen Sand hineingestreut hätte, der Sandmann komme“.118 Später ist dies ein festes Wissen im Sprichwörter-Schatz: Der Sandmann kommt. […] So sagt man zu den Kindern, wenn sie sich die Augen reiben und ihnen dieselben vor Schlaf zufallen. Wie man, wenn man Fuhrleuten begegnet, die feinen Sand geladen haben, die Augen zu schliessen pflegt oder auch, wie man sich die Augen reibt, wenn man wirklich Sand in denselben hat, so scheint auch daher diese Redensart entstanden zu sein, wenn einen der Schlaf überfällt.119

Als noch enger und älter erweist sich allerdings der Zusammenhang zwischen Sand und Traum in Ovids Beschreibung des Schlafgotts Hypnos in den Metamorphosen: quo cubat ipse deus membris languore solutis. hunc circa passim varias imitantia formas somnia vana iacent totidem, quot messis aristas, silva gerit frondes, eiectas litus harenas.

116 Vgl. zu der These von Margot Rohde ebd., S. 121. 117 Nikolaus Ludwig von Zinzendorf: Zugaben zum Herrnhuther Gesangbuch, 13.8.1748, zit. n. Dietz-Rüdiger Moser: Sandmann, in: Enzyklopädie des Märchens, hg. v. Rolf Wilhelm Brednich, Bd. 11, Berlin/New York: De Gruyter 2004, Sp. 1111–1114, hier Sp. 1111. 118 Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Bd. 3, Leipzig: Breitkopf u. Härtel 1798, Sp. 1276. 119 Karl Friedrich Wilhelm Wander: Deutsches Sprichwörter-Lexikon. Ein Hausschatz für das deutsche Volk, Bd. 3, Darmstadt: WBG 1964 [1873], Sp. 1864.

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Hypnos („ipse deus“) nämlich ruht in einer Grotte in „Mattigkeit“ („cubat membris languore solutis“) auf einem Lager, und „[u]m ihn her liegen überall in mancherlei Gestalten die körperlosen Träume, die Söhne des Gottes“ („hunc circa passim varias imitantia formas / somnia vana iacent“); entscheidend ist der sonst wenig beachtete Zusatz, denn der Träume sind „so viele wie Ähren auf dem Feld sind, wie Blätter im Wald und wie Sand am Meer“ („totidem, quot messis aristas, silva gerit frondes, eiectas litus harenas“).120 Das Merkmal der Vielzahligkeit lässt also den Sand ursprünglich metaphorisch in das semantische Feld des Träumens ein. Die Träume sind „so viele“ an der Zahl „wie Sand am Meer“,121 und das sind sie ausgerechnet wegen ihrer Eigenschaft, „in mancherlei Gestalten“ zu erscheinen („varias imitantia formas somnia vana“). Möglicherweise hat sich von den drei angebotenen Metaphern (Ähren auf dem Feld, Blätter im Wald, Sand am Meer) der Sand gerade aus diesem Grund als Metapher für die Vielzahl der Träume durchgesetzt, weil er nicht nur vielzahlig, sondern auch potentiell vielgestaltig ist: Während die Ähren auf dem Feld und die Blätter im Wald eher invariabel in ihrer Anordnung sind, kann der Sand seine Formen viel leichter ändern als diese. Der spätere Sandmann ist also jene Gestalt, die die Träume bringt, die so gestaltbar sind wie der Sand und deren mögliche Gestalten so vielzahlig sind wie die Sandkörner am Meer. Die Figur des Morpheus hat sich aus diesem Zusammenhang heraus als Traumbringer verselbständigt, wohlmöglich weil er den Namen trägt, der griechisch μορφεῖν (gestalten, bilden) enthält;122 Er figuriert die Vielgestalt der Träume viel präziser als die anderen Figuren aus dem Reich der Träume: Hypnos, Phantasos oder Phobetor.123 Susan Brienza hat für James Joyces Figuren Murphy und Shem (Ulysses) sowie Morpheus und die Murphies (Finnegans Wake) die Verschiebungen unter ihnen und ihre Zusammenhänge aufgezeigt.124 So entsprechen sich Murphy und Shem, indem sie beide im Exil leben, Geschichten erzählen, unzuverlässig und unehrlich sind, viel trinken und Läuse haben (lice – lies). Zudem verweisen beide

120 Ovid: Metamorphosen, 11. Buch, Z. 612–615, S. 566 f. 121 Vgl. Kap. 2.2.3. 122 Vgl. auch: „Von der menschlichen Gestalt, μορφή, hat dieser Traumgott seinen Namen.“ (Rudolf Hanslik: Morpheus, in: Paulys Realenzyklopädie der Altertumswissenschaft, hg. v. Wilhelm Kroll, Bd. 31, München: Alfred Druckenmüller 1933, Nachdruck München 1974, Sp. 313) 123 Der enge Bezug zum Schlafgott kann eine Erklärung dafür liefern, dass es keine Sandfrauen in der Literatur gibt, obwohl der Beruf des Sandmanns auch von Frauen ausgeübt wurde. 124 Vgl. Susan Brienza: Shem, Morpheus, and Murphies: ‚Eumaeus‘ Meet the < i > Wake , in: Janet Dunleavy Egleson/Melvin J. Friedman (Hg.): Joycean Occasions. Essays from the Milwaukee James Joyce Conference, Newark: University of Delaware Press 1991, S. 80–94.

4.2 Der Sandmann als Grenzfigur zwischen Wach- und Traumwelt

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auf Joyce als Autorfigur.125 Besonders interessant ist jedoch Brienzas mit Joyce Worten gestellte Frage „What’s in a name?“, also hier: „What’s in a name like Murphy?“126 Er enthält das griechische Wort für ‚Gestalt‘ und weist damit auf eine weitere Figur bei Joyce, HCE, die als Here Comes Everybody eine Multiplizität von Formen repräsentiert. In Finnegans Wake ist der Künstler als shaper immer eine Morpheusfigur, und so ist eine von Shakespeares Mutationen „‚Great Shakesphere‘, one who shapes the sphere“.127 Nicht zuletzt verweist Murphy mit seinem Namen auf die mythologische Figur des Morpheus. Das Spiel geht in Finnegans Wake, wie Brienza zeigt, schließlich weiter über morphyl – mortal – murphies (Kartoffeln). Sie konstatiert schließlich: „As Joyce plays with transformations of murphies, the morphs shift ground; morphological comes to be used in descriptions of the body politic […] or layers of geological time, as well as alterations in the body of language“.128 Der „Grund“ der Sprache bewegt sich im Morphem „morph“, das auch ein Teil von Morpheus’ Namen ist, dem Traumbringer, jenem, der die Gründe des Bewusstseins bewegt. Der Sand verweist metaphorisch auf diesen im Traum in Bewegung geratenden Grund, doch der Sandmann ist der Vielgestaltige und Vielgestaltende, der die Gründe von Bewusstsein und Sprache verschiebt.129 Ein Blick vor die Grotte des Schlafgottes gibt aber noch einen weiteren Hinweis auf den späteren Sandmann in Bezug auf die Geste des Streuens. ante fores antri fecunda papavera florent innumeraeque herbae, quarum de lacte soporem Nox legit et spargit per opacas umida terras.

Dort, vor dem Eingang der Grotte („ante fores antri“), „blühen überreich der Mohn und zahllose Kräuter, aus deren Milchsaft die feuchte Nacht den Schlummer sammelt und über die dunklen Lande sprengt“; aus Mohn und Kräutern sammelt („legit“) die Nacht den „Schlummer“ („soporem“) und versprengt („spargit“) ihn „über die dunklen Lande“.130 Der Mohn und die Kräuter verströmen nicht nur in der Höhle des Schlafgottes „die starken, einschläfernden

125 So sagt Joyce in einem seiner Briefe von sich selbst: „There is no such absurd person as could replace me except the incorrigible god of sleep“, zit. n. Brienza: Shem, Morpheus, and Murphies, S. 93. 126 Ebd., S. 89. 127 Ebd. 128 Ebd., S. 92. 129 Vgl. zum Sand als Metapher für ‚lose Gründe‘ Kap. 3.4.1. 130 Ovid: Metamorphosen, 11. Buch, Z. 605–607, S. 566 f.

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Dünste“, die Iris nicht lange „ertragen“ kann, sodass sie flieht, kaum dass sie spürt, dass „der Schlaf über sie kam“;131 der Schlummer, der in diesen Pflanzen enthalten ist, wird vielmehr in der Nacht überall verteilt. Das Versprengen (spargere) des Schlummers, der aus der in den Mohnkörnern enthaltenen Milch gewonnen wird, verschiebt sich in der Figur des Sandmanns also in das Verstreuen der schlafbringenden Sandkörner; es kann vermutet werden, dass letztlich auch die sedierenden Eigenschaften des Mohns und die ähnliche Form von Sand- und Mohnkörnern zur Verwendung von Sand als Metapher für den Traum geführt haben.132 Zumindest setzt Archimedes bereits in Die Sandzahl die Sandkörner mit den etwas größeren Mohnkörnern in ein Verhältnis,133 und in Wilhelm Hauffs Lichtenstein bleibt unklar, ob es sich noch um Mohn- oder schon um Sandkörner handelt, denn dort empfiehlt man dem Protagonisten Georg „‚noch einen Becher zum Schlaftrunk, daß ihm jene Felle zum weichen Pfühl werden und ihn der Gott der Träume mit seinen lieblichsten Bildern besuche!‘ […] Bald kam Morpheus mit leisen Tritten zu dem Lager des Jünglings und streute seine Schlummerkörner über ihn, und er hörte nur noch halb im Traume, wie der [andere] sein Nachtgebet sprach“.134 Im Film Matrix (USA/Austr. 1999) haben diese Schlummerkörner die Form zweier Pillen, die Morpheus, der zwischen simulierter und echter Welt wechseln kann, Neo anbietet, dessen Wahrnehmungskompetenzen diesbezüglich beschränkt sind: Je nachdem, welche der beiden Pillen Neo wählt, wird er der Simulation entkommen können (erwachen) oder in ihr bleiben (weiter träumen). Morpheus in Matrix bietet seinem Schützling also keine ‚Sandkörner‘ für den Wechsel vom Wach- in den Traumzustand an, sondern umgekehrt für jenen vom Traum- in den Wachzustand; die Geschichte würde nicht weiter gehen, wenn Neo nicht die Pille wählen würde, die ihn aus dem traumartigen Zustand ‚weckt‘. Neil Gaiman schließlich zeigt in Sandman Morpheus beim Streuen von Sand und verschränkt damit die mythologische Figur mit der europäischen Sandmann-Tradition seit dem achtzehnten Jahrhundert (Abb. 4.7). Das Sandsäckchen, das bei

131 Ebd., Z. 629–632, S. 568 f. 132 Hypnos wird in hellenistischen und römischen Skulpturen oft mit einer Mohnkapsel in der Hand und mit Flügeln gezeigt, mit denen der Sandmann auch später gelegentlich dargestellt wird (vgl. Margaret C. Howatson: Reclams Lexikon der Antike, Stuttgart: Reclam 1996, S. 302). 133 Vgl. Kap. 3.3.1. 134 Wilhelm Hauff: Lichtenstein, Berlin/Buxtehude: Hera Verlag 1949, Kap. 22, S. 138.

4.2 Der Sandmann als Grenzfigur zwischen Wach- und Traumwelt

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Gaimans Morpheus eines von dessen wichtigsten tools ist, ist typisch für den Sandmann. Es könnte auf das Horn des Hypnos zurückgehen, aus dem dieser „einschläfernde Säfte“ über die Menschen ausgießt.135

Abb. 4.7: Dream, einer der „endless“, und sein „tool“, der Sand.

Dass der Sand nicht nur den Traum bringt, sondern auch die medialen Bedingungen des Träumens kennzeichnet, wird in Das Buch Franza von Ingeborg Bachmann deutlich. Hier gerät der Sand ohne Sandmann ins Auge; stattdessen erweist sich die ägyptische Wüste als eine Landschaft des Sehens: Der Wind erhob sich zum erstenmal, griff in den Sand, der flüchtige Boden löste sich bedrohlich in der Luft auf. Er zeigte seine wahre Beschaffenheit. Die Augen und die Wüste fanden zueinander, die Wüste legte sich über die Netzhaut, lief davon, wellte sich näher heran, lag wieder im Aug, stundenlang, tagelang. Immer leerer werden die Augen, immer aufmerksamer, größer in der einzigen Landschaft, für die Augen gemacht sind.136

Die Augen werden vom Sand transformiert, sie werden „leerer“ und gleichsam vom Sand gefüllt; sie verbinden sich mit der Wüste, wodurch sie „aufmerksamer“ und „größer“ werden. Die Augen werden zwar in Bezug auf die eine Sehweise leer,

135 Jolles: Hypnos, Sp. 326. Vgl. auch: „Hypnos (griech. Mythos), Gott des Schlafes, (vaterloser) Sohn der Nyx (Nacht) und Bruder des Thanatos (Tod) […]. In der Antike dachte man sich ihn als geflügelten Jüngling, der aus einem Horn einen Schlaftrunk gießt oder die Müden mit einem Zweig berührt.“ (Howatson: Reclams Lexikon der Antike, S. 302) 136 Ingeborg Bachmann: Das Buch Franza, in: Dies.: Kritische Ausgabe, hg. v. Monika Albrecht und Dirk Göttsche, Bd. 2, München: Piper 1995, S. 259, Z. 22–28.

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aber dafür aufmerksam in Bezug auf eine andere im Medium des Sandes. Die neue Sehweise findet „in“ einem anderen Medium statt, „in der einzigen Landschaft, für die Augen gemacht sind“. Die hohe Auflösung des Sandes verschiebt sich ins Auge und metaphorisiert „im Aug“ die hohe Auflösung der Wahrnehmung. Die Wüste verabsolutiert die einzelnen Sandkörner im Auge zu einem ‚nur noch‘ im Sand sehen. Der Sand ist im Auge und im Sand wird die Wahrnehmung anders; er ist das neue Wahrnehmungsmedium mit einer hochaufgelösten Sehweise. Auch in Ein Körnchen Sands von Paul Celan taucht der Sandmann nicht als Figur auf, aber das Sandkorn übernimmt synekdochisch seine Funktion.137 Das Gedicht besteht aus drei Teilen, die durch Gedankenstriche voneinander abgesetzt sind: Stein, aus dem ich dich schnitzt, als die Nacht ihre Wälder verheerte: ich schnitzt dich als Baum und hüllt dich ins Braun meines leisesten Spruchs wie in Borke – Ein Vogel, der rundesten Träne entschlüpft, regt sich wie Laub über dir: du kannst warten, bis unter allen den Augen ein Sandkorn dir aufglimmt, ein Körnchen Sands, das mir träumen half, als ich niedertaucht, dich zu finden – Du treibst ihm die Wurzel entgegen, die dich flügge macht, wenn der Boden von Tod glüht, du reckst dich empor, und ich schweb dir voraus als ein Blatt, das weiß, wo die Tore sich auftun.

Im ersten Teil „schnitzt“ das lyrische Ich aus einem „Stein“ ein lyrisches Du „als Baum“ und befindet sich über der Erde, während der dritte Teil unter die Erde führt, von wo aus das lyrische Du Wurzeln nach oben treibt, die es „flügge“ machen. Zwei Oxymora rahmen das Gedicht – das Schnitzen des Steins sowie das Flüggewerden durch die Wurzel. Die in ihnen enthaltenen Metaphern des Baumes mit seinen Blättern und Wurzeln sowie des Vogels werden in der ersten Strophe des mittleren Teils verschränkt: „Ein Vogel […] regt sich wie Laub über dir“.

137 Paul Celan: Ein Körnchen Sands [in Gedichtsammlung: Sieben Rosen später, 1955], aus: Ders.: Ein Körnchen Sands, in: Ders.: Gesammelte Werke in fünf Bänden, Bd. 1, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1983, S. 91.

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Zunächst ist der Vogel, der aus einer trauernden Träne erwächst, „über“ dem leblosen Stein; dann aber wird der Stein als geschnitzter Baum durch die Wurzel, die er treibt, „flügge“, sodass die Fähigkeit des Vogels zu fliegen, unter die Erde verlagert wird und dem angesprochenen Du die Möglichkeit verleiht, sich „empor“ zu recken und dem Blatt zu folgen, das ebenfalls auf den Vogel zurückverweist, der sich „wie Laub“ regt. Dieses Blatt, das wie ein Vogel ist, aber nicht wie ein solcher vorausfliegt, sondern vorausschwebt, kennt wiederum den Ort, wo „die Tore sich auftun“, eine Andeutung auf ein Leben nach dem Tod. Die „rundeste Träne“ verleiht dem Vogel-als-Laub Gestalt und damit dem Stein-als-Baum die Möglichkeit zum Vogel-als-Wurzel zu werden und demjenigen Vogel-als-Blatt hinterher zu schweben, der den Weg zu den Toren weist, die sich auftun. Die ungeteilte Trauer der rundesten Träne, so mag man lesen, und der Kontakt zwischen dem lebenden Ich und dem toten, aber sich dem Lebenden entgegenstreckenden Du, lässt es möglich werden, den Boden, der „von Tod glüht“, hinter sich zu lassen. Das Sandkorn hat in dieser Szenerie eine zentrale Funktion, weil es die Vermittlung zwischen dem Über und dem Unter der Erde allererst herzustellen vermag. Wartet unten das angesprochene Du auf das Aufglimmen eines Sandkorns, ermöglicht dem Ich dieses Sandkorn, „das mir träumen half, als ich niedertaucht, dich zu finden“, zum Du hinunterzukommen. Auch hier werden Traum und Tod als einander ‚verwandt‘ gedacht: Der Traum ist das Medium, in dem das träumende Ich den Kontakt zum toten Du herstellen kann. Das Sandkorn muss aufglimmen, vielleicht um in der dunklen Welt des Unten einen Anhaltspunkt zu bieten, doch gleichzeitig reicht ein einziges, „ein Körnchen Sands“, um dem träumenden Ich den Weg zu weisen. Totes Du und lebendes Ich sind sich in dieser Konstellation gegenseitig wie ein Sandmann, denn das Körnchen hilft dem Ich zu träumen und zum Du niederzutauchen, während das Du daraufhin dem Ich-als-Blatt hinterherschweben kann, um dem „Boden“, der „von Tod glüht“, durch die Tore, die sich auftun, zu entkommen. Der traumbringende Sandmann muss nicht notwendig anthropomorph sein; in Jorge Luis Borges’ Erzählung Tigres Azules erfüllt ein Traumtiger diese Funktion: „Nuevamente soñé con el tigre azul, que al andar projectaba su larga sombra sobre el suelo arenoso.“138 Der sandige Boden verweist bereits auf das „el caos […] inextricable“, das am Ende der Erzählung herrscht,139 aber in jedem Fall folgt der Ich-Erzähler dem blauen Tiger wie einem Sandmann. Fasziniert vom Tiger macht er eine Reise in eine Gegend, in der ein blauer Tiger gesehen worden

138 Jorge Luis Borges: Tigres Azules, in: Ders.: Obras Completas, Bd. 1: 1975–1977, Barcelona 1989, S. 381–388, hier S. 381 f. 139 Ebd., S. 387.

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sein soll. Dort gibt es wiederum einen Boden, der „agrietado y arenoso“ ist, wobei diese Risse, „que por cierto no eran profundas y que se ramificaban en otras“,140 sowie deren Verzweigungen die Wüste als Labyrinth konnotieren.141 Es werden zwar keine Sandkörner in die Augen des Ich-Erzählers gestreut, aber er findet in diesem sandigen Boden kleine, blaue Steine, die wie Sandkörner wirken; das „Verhängnis“ dieser Steine ist, wie es heißt, ihre Unendlichkeit, Unzählbarkeit und Unrechenbarkeit, und weil sie der mathematischen Logik widerstreben, ruft der Ich-Erzähler aus: „¡Son las piedras que engendran!“142 Die blaue Farbe verbindet den Traumtiger, die Risse (in denen ebenfalls blaue Farbe zu finden ist) und die kleinen Täuschungssteine und verweist auf das Träumen. Der Tiger verleitet den Ich-Erzähler wie ein Sandmann zu einer Traumreise ins Blaue, wobei der Sand nicht in die Augen gelangt, aber doch das Medium ist, in dem die blauen Täuschungssteine zu finden sind. Die Steine stellen eine Täuschung dar, weil sie – wie die Seiten des Sandbuches in Borges’ El Libro de Arena – unendlich, unzählbar, unrechenbar und damit unlogisch sind. 4.2.1.3 Blicktrübung, Blickerweiterung? Un/unterscheidbarkeit von Wach- und Traumwelt Ist’s möglich, oder hab’ ich Sand Im Auge? Seh ich recht?143

Schon diese wenigen Texte zeigen, dass das Sandkorn, das den Traum herbeiführt, auf sehr unterschiedliche Weise und mit sehr verschiedenen Konsequenzen ‚ins Auge‘ gelangen kann, aber immer einen Wechsel des Wahrnehmungsmediums erwirkt. Dieser Wechsel kann sehr unterschiedlich bewertet werden; er kann als eine Erweiterung oder als eine Trübung des Sehens eingeschätzt werden, je nachdem, ob das Sehen, wenn es geträumt ist, als ein solches gewertet wird oder nicht. Als Blicktrübung erscheint der Sand im Auge vor dem Hintergrund der Annahme, dass das im Traum Gesehene im Wachzustand keinen Bestand hat. Als Blickerweiterung erscheint der Sand im Auge hingegen, wenn angenommen wird, dass im Traum mehr (weil anders und Anderes) gesehen werden kann. Diese beiden Einstellungen begleiten die Diskurse um das Träumen seit ihren Anfängen.

140 Ebd., S. 384. 141 Vgl. Kap. 3.5.3.2. 142 Borges: Tigres Azules, S. 385. 143 Christoph Martin Wieland: Sandalin oder Liebe um Liebe. Klelia und Sinibald, in: Ders.: Sämtliche Werke, Bd. 21, Karlsruhe: Büro der dt. Klassiker 1815, S. 262.

4.2 Der Sandmann als Grenzfigur zwischen Wach- und Traumwelt

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Gleichwohl kann zwischen diesen beiden Möglichkeiten längst nicht immer unterschieden werden, weil die Grenze zwischen Wachen und Träumen oftmals nicht so deutlich zu ziehen ist. Die obige Frage von Christoph Martin Wielands Figur Frau Klare, ob sie etwa Sand im Auge habe und also eventuell nicht „recht“ sehe, zeigt genau diese Ungewissheit, „recht“ (hier: wachend) oder nicht „recht“ (hier: träumend) zu sehen. Dem Ausruf geht voran, dass sie überraschend jenen Mann erblickt, den ihre Dame liebt, aber für verloren glaubt, und die Tatsache, dass Frau Klare ihn nun doch sieht, könnte daher, vorausgesetzt, ihre Dame hätte Recht, entweder bedeuten, dass sie wach ist, aber sich in dem, was sie zu erkennen meint, täuscht, oder aber, dass sie ‚richtig‘ träumt – und sich aus diesem Grunde täuscht. Sie tut weder das eine noch das andere, doch die Erwähnung des Sandes im Auge stellt die beiden Möglichkeiten, sich nicht zu täuschen („ist’s möglich“) oder sich durch Tagtraum oder Traum, also durch den Sand zu täuschen („oder hab’ ich Sand im Auge“), zumindest potentiell und ihrer Überraschung geschuldet einen Moment lang gleichwertig nebeneinander. Sobald die Entscheidung hierüber gefallen ist, ist die Wertung ganz ‚klar‘: Die Erscheinung, wenn sie eine getäuschte wäre, wäre ‚unmöglich‘ und negativ, denn der Sand verhinderte dann das, was Frau Klare – der Name ist ihr Programm – das „rechte“ Sehen nennt. Gilt der Sand im Auge solchermaßen als Blicktrübung, wird vorausgesetzt, dass im Traum eine Welt (die Wachwelt) abhandenkommt. Dann bedeutet, anderen Sand in die Augen zu streuen, sie über bestimmte Gegebenheiten der Wachwelt zu täuschen. Lexika führen diese metaphorische Verwendung von Sand auf einen alten Fechttrick zurück, der darin besteht, „es dem Gegner dadurch zu erschweren, daß man ihm Staub oder Sand in die Augen treiben läßt oder geradezu mit einer Hand hineinwirft.“144 ‚Jemandem Sand in die Augen

144 Lutz Röhrich: Das große Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten, Bd. 2, Freiburg u. a.: Herder 1973, S. 788f. So auch im Artikel: NN: Sand, in: Duden. Redewendungen. Wörterbuch der deutschen Idiomatik, Mannheim u. a.: Dudenverlag 2002, S. 643–645, hier S. 643; Jakob und Wilhelm Grimm: Sand, in: Dies.: Deutsches Wörterbuch, Bd. 8, fotomech. Nachdr. der Erstausgabe von 1893, München 1991, Sp. 1755–1760, hier Sp. 1757. „Schon Erasmus erklärt in seiner lateinischen Sprichwörtersammlung um 1510 den Ausdruck so, daß ein Kämpfer seinem Gegner mit eigener Hand Staub oder Sand in die Augen wirft, um ihn im Kampf zu hemmen. Wahrscheinlich bezieht sich der Ausdruck auf diesen Fechterkniff.“ (Heinrich Raab: Deutsche Redewendungen, Wiesbaden: VMA Verlag 1981, S. 126) Das Deutsche Sprichwörter-Lexikon führt den Begriff sogar auf die Olympischen Spiele zurück: „Die Redensart wird von den olympischen Spielen hergeleitet. […] Die Rennbahn war mit dem feinsten Sande bedeckt und die leichtesten und raschesten Wagen wirbelten ihn in dichten Wolken empor, die den nachfolgenden nicht nur die Rennbahn verhüllten, sondern auch ihre Sehkraft an und für sich lähmten. Die Redensart wird angewandt, wenn man jemand, statt ihn auf die eine und einzige Fährte der Wahrheit zu führen, durch alle Winkelzüge, kreuz und quer und zuletzt sogar irre führt.“ (Wander: Deutsches Sprichwörter-Lexikon, Sp. 1862)

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streuen‘ steht in diesem Sinne für jede Art von Täuschungsversuch,145 bedeutet, „jemanden durch allerhand kunstgriffe täuschen, betrügen, seine geistige sehkraft trüben“.146 Auch die Etymologie des Wortes ‚Traum‘ weist in diese Bedeutungsrichtung, denn das Wort ist mit dem althochdeutschen Verb triugan ‚trügen‘ verwandt und es wird als sein „ursprünglicher Bedeutungskern […] deshalb oft ‚Trugbild‘ angesehen“.147 Die Rede vom ‚Trügen‘ durch den Traum funktioniert allerdings nur bei Entgegensetzung von Traum und Realität und der Behauptung, im Traum werde dem Träumenden die Realität entzogen. Dies hat eine lange Tradition, denn schon Platon wirft das Problem der „Sinnentäuschung“ durch den Traum auf.148 In der Aufklärung verlässt der Traum grundsätzlich den Raum der Realität: „Der Traum vermittelt Gegenwelten“.149 Das Wachen wird als wirklich deklariert, das Träumen als per se unwirklich. Kant etwa konzipiert den Traum als „Täuschung unseres einen und einzigen Wachbewusstseins“.150 Manfred Engel bezeichnet die auch sonst formulierte Ansicht, den Traum als immer schon mangelhaft in Bezug auf die Wirklichkeit zu betiteln, als „die aufklärerische Defizittheorie des Traums (Traum = Wachen – x)“, die die Anthropologie in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts kennzeichnet.151 Der Traum gilt demnach als defizitär in Bezug auf die Vermögen des Wachseins. Noch heute lassen sich die Gedanken dieser Tradition erkennen, wenn im Lexikon von der „Verzerrung der T[raumv]orstellungen gegenüber der Realität“ gesprochen wird, die „auf Veränderungen in der Hirntätigkeit während des Schlafs“ basiert,152 oder es heißt, im Traum gebe es „häufig irreale Bilder als T[raum]-Inhalte“,153 oder auf einem Titelblatt der FAZ das TV-Sandmännchen als Blickfang genutzt wird, um

145 Vgl. Herbert Görner: Redensarten. Kleine Idiomatik der deutschen Sprache, Leipzig: VEB Bibliographisches Institut 1979, S. 156. 146 Jakob und Wilhelm Grimm: Sand, Sp. 1757. 147 Hans-Walter Schmidt-Hanissa: Traum, in: Jan-Dirk Müller (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 3, Berlin/New York 2003, S. 676–682, hier S. 677. Der Traum „gehört zur Wortgruppe um trügen (mhd. triegen), hat also als Grundbedeutung ‚Trugbild‘.“ (Bettina von Jagow/Florian Steger (Hg.): Literatur und Medizin. Ein Lexikon, Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht 2005, Sp. 796) 148 Platon: Theaitetos, in: Ders.: Werke in 8 Bdn, Bd. 6, Darmstadt: WBG 1990, V. 157e. 149 Gehring: Traum und Wirklichkeit, S. 8. 150 Zit. n. ebd., S. 93. 151 Engel: Jeder Träumer ein Shakespeare?, S. 106. Vgl. dazu auch dens.: „Träumen und Nichtträumen zugleich“, in: Herbert Uerlings (Hg.): Novalis und die Wissenschaften, Tübingen: Niemeyer 1997, S. 143–168, hier S. 149 sowie zu den aufklärerischen Positionen allgemein ebd., S. 143–152. 152 NN: Traum, in: Die Zeit. Das Lexikon in 20 Bänden, Bd. 15, Hamburg: Zeitverlag 2005, S. 45. 153 NN: Traum, in: Brockhaus – Die Enzyklopädie, 20. Aufl., Bd. 22, Leipzig/Mannheim: Brockhaus 1999, S. 272–274.

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auf verschiedene Artikel zur Tagespolitik zu verweisen, in denen es um falsche Versprechungen einer Partei und das gegenseitige Bewerfen der „Sandmänner [einer anderen Partei] mit täuschend echten Wahrheiten“ geht.154 Dem steht die Auffassung gegenüber, dass der Traum eine Blickerweiterung darstellt, dass also die Welt im Traum nicht ‚weggenommen‘, sondern als andere, möglicherweise sogar reichere Welt ‚gegeben‘ wird. Diese Ansicht hat eine ebenso lange Tradition, denn das Täuschungsproblem, das Platon benennt, wird bereits von Aristoteles verneint.155 Auch zur „Defizittheorie“ der Aufklärung gibt es die Gegenbewegung bereits in der Romantik, etwa bei Novalis, der in der Verbindung von „Träumen und Nichtträumen zugleich“ eine Operation des Genies sieht, die eine höhere Erkenntnis zulässt.156 Insofern sich die im Traum unbewusste Naturpoesie mit bewusster Kunstpoesie verbinde, werde das freie Träumen möglich.157 Als ein „‚Zustand des minder vorsetzlichen oder unwillkührlichen Dichtens‘“158 ist der Traum ein poetologisches Prinzip in der Romantik, wo Poesie z. B. bei August Wilhelm Schlegel als „ein freiwilliges und waches Träumen“ verstanden wird.159 Freud wiederum gilt der Traum als Königsweg zum Verständnis des Unbewussten, „als unmittelbare Darstellungsart der inneren Wirklichkeit des Träumers.“160 In Fortführung dieser Tradition werden Träume heute lexikalisch etwa als „Fantasieerlebnisse […] während des Schlafs“ beschrieben.161 Die verschiedenen Ansichten, welche Auswirkungen das Träumen für die Träumenden haben kann, schlagen sich in den nordwesteuropäischen Kulturen in unterschiedlichen Sandmannfiguren nieder, deren Sympathiewerte stark auseinander gehen. Eine wohlmeinende Figur im skandinavischen Raum ist Ole Lukøje, der allerdings die Kinder mit süßer Milch zum Schlafen bringt. Diese süße Milch

154 Frankfurter Allgemeine Zeitung 236 (12.10.2009), Titelseite. 155 Vgl. Ralf Grötker: Traum, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. v. Joachim Ritter u. Karlfried Gründer, Bd. 10, Basel 1998, Sp. 1461–1465, hier Sp. 1462. 156 Vgl. z. B. Engel: „Träumen und Nichträumen zugleich“, S. 166. 157 Vgl. ebd., S. 164. 158 Heinrich Nudow: Versuch einer Theorie des Schlafs, Königsberg 1791, S. 122, zit. n. Hans-Walter Schmidt-Hanissa: „Der Träumer vollendet sich im Dichter“. Die ästhetische Emanzipation der Traumaufzeichnung, in: Burkhard Schnepel (Hg.): Hundert Jahre ‚Die Traumdeutung‘. Kulturwissenschaftliche Perspektiven der Traumforschung, Köln 2001, S. 83–106, hier S. 89, Anm. 20. 159 August Wilhelm Schlegel: Vorlesungen zur schönen Literatur und Kunst, Teil I (1801– 1802), Heilbronn 1884, S. 275. 160 NN: Traum, in: Brockhaus, S. 273. 161 NN: Traum, in: Die Zeit, S. 45; oder man nennt das Träumen „spontan auftretende Fantasieerlebnisse vornehmlich visuell-halluzinator. Art während des Schlafes, einhergehend mit eingeschränktem Bewusstsein“ (NN: Traum, in: Brockhaus, S. 272).

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weist wie der Sand auf die Beschreibung des Schlafgottes Hypnos zurück, beziehungsweise auf die Mohnpflanzen und Kräuter, die am Eingang seiner Grotte zu finden sind – „ante fores antri fecunda papavera florent innumeraeque herbae quarum de lacte soporem Nox legit et spargit per opacas umida terras.“162 Der Schlummer wird ursprünglich aus dem Milchsaft gewonnen, und so kann in Andersens Version durchaus Milch gegeben und nicht Sand gestreut werden. Diese Milch ist so „süß“ wie die „Mattigkeit“ des Gottes, in der er selbst „erschlafft ist“ („molli languore solutus“163), und damit wahrscheinlich so angenehm in der Wirkung, wie Iris es ihm gegenüber zur Begrüßung äußert: „Schlaf, du Labsal aller Wesen, du lieblichster [placidissime] aller Götter, Schlaf, du Herzensberuhiger, vor dem die Sorge flieht“.164 Ole Lukøje trägt also zwar keinen Sand mit sich, aber dafür immer Milch und – zwei Regenschirme, wie auf der Darstellung von Vilhelm Pedersen zu sehen ist, die er für die Illustration von Andersens Ole Lukøje angefertigt hat.

Abb. 4.8: Ole Lukøje nach einer Zeichnung von Vilhelm Pedersen.

162 Ovid: Metamorphosen, 11. Buch, Z. 605–607, S. 566 f. Dt. Übersetzung: „Vor dem Eingang der Höhle blühen überreich der Mohn und zahllose Kräuter, aus deren Milchsaft die feuchte Nacht den Schlummer sammelt und über die dunklen Lande sprengt.“ 163 Ebd., Z. 648, S. 568 f. 164 Ebd., Z. 623–625, S. 568 f.

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Die beiden Schirme unterscheiden sich in ihrer Bedeutung für die Träumenden: Unter jedem Arm hält er einen Regenschirm. Den einen, mit Bildern darauf, spannt er über die guten Kinder aus, und dann träumen sie die ganze Nacht die herrlichsten Geschichten; aber auf dem andern Schirm ist gar nichts, den stellt er über die unartigen Kinder. Dann schlafen sie wie dumm und haben […], wenn sie erwachen, nicht das allergeringste geträumt.165

Der ‚Sandmann‘ Ole Lukøje ist eine freundliche Figur, die aber je nach pädagogischem Erfordernis belohnt oder bestraft. Weitere Sandmannfiguren dieser Art sind der schwedische Jon Blund,166 der finnische Nukki Matti und der niederländische Klaas Vaak (ndl. vaak hebben bedeutet ‚schlafen‘).167 Eine freundliche Version des Sandmanns gibt es auch in Deutschland als „ein kleines Männchen, das den Kindern (Traum-)Sand in die Augen streut, damit sie einschlafen“.168 Als solcher, als ein ‚wohlmeinender‘ Sandmann, erscheint er etwa in einem Wiegenlied von Robert Schumann,169 in Johannes Brahms Kinderlied Die Blümelein, sie schlafen (1858)170

165 Andersen: Der Sandmann, S. 5 f. 166 „Blund“ bedeutet in der deutschen Übersetzung „Blinzler“ (Jolles: Hypnos, Sp. 323). Vgl. zur Figur des John Blund auch Judy Deykin: John Blund, Helsingborg 1994; Margareta Terenius: Jon Blund. En etnologisk studie av Jon Blund och med honom besläktade sömnväsen. With an english summary: Jon Blund (The Sandman). An ethnological study of Jon Blund and related personifications of sleep, Diss. Univ. Uppsala, Stockholm 1983, dort v. a. S. 140 f. 167 Vgl. Moser: Sandmann, in: Enzyklopädie des Märchens, Sp. 1111. 168 NN: Sandmann, in: Die Zeit. Das Lexikon in 20 Bänden, Bd. 12, Hamburg: Zeitverlag 2005, S. 547. Auch „niederdt. Sandsä|er, bayer. Pechmandl, in Erzählungen für kleine Kinder auftretendes kleines Männchen, das den Kindern Sand in die Augen streut, damit sie einschlafen.“ (NN: Sandmann, Sandmännchen, in: Brockhaus – Die Enzyklopädie in 24 Bänden, 20. Aufl., Bd. 19, Leipzig/Mannheim: Brockhaus 1998, S. 97) Vgl. dazu auch Terenius: Jon Blund, S. 99, 124 f. Mit dem Pech sollen die Augen geschlossen werden. 169 „Zwei feine Stieflein hab ich an / mit wunderweichen Söhlchen dran, / ein Säcklein hab ich hintenauf, / husch! trippl! ich rasch die Trepp hinauf. / Und wenn ich in die Stube tret, / die Kinder beten ihr Gebet: / Von meinem Sand zwei Körnelein / streu ich auf ihre Äugelein, / da schlafen sie die ganze Nacht / in Gottes und der Englein Wacht. // Von meinem Sand zwei Körnelein / streut’ ich auf ihre Äugelein: / den frommen Kindern soll gar schön / ein froher Traum vorübergehn. / Nun risch und rasch mit Sack und Stab / nur wieder jetzt die Trepp hinab. / Ich kann nicht länger müßig stehn, / muss heut noch zu gar vielen gehn. / Da nickt ihr schon und lacht im Traum, / und öffnete doch mein Säcklein kaum“ (Robert Schumann: Der Sandmann, 1849, in: Liederalbum für die Jugend, op. 79, Nr. 13; Text von G. Hermann Kletke). 170 In der dritten Strophe heißt es: „Sandmännchen kommt geschlichen / Und guckt durchs Fensterlein, / Ob irgend noch ein Liebchen / Nicht mag zu Bette sein; / und wo er noch ein Kindchen fand, / Streut er ins Aug’ ihm Sand: / Schlafe, schlafe, du mein Kindlein“ (Johannes Brahms: Die Blümelein, sie schlafen, 1858; Text von Anton Wilhelm von Zuccalmaglio).

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und bei anderen.171 Dessen heute wohl bekannteste Version ist das durch das Fernsehen populär gewordene „Sandmännchen“, das seit 1959 in der DDR ausgestrahlt wurde und seit 1992 im gesamten Deutschland.172 Immer wenn der „Traumsand“ in die Augen gestreut wird, reiben sich die Kinder die Augen und schlafen ein; aber davor gibt es noch eine kleine Geschichte zu hören. Der ‚bedrohliche‘ Sandmann ist hingegen eine genuin deutsche Erfindung. So erscheint er vor allem in E. T. A. Hoffmanns Der Sandmann, in dem die Amme ein grausiges Bild vom Sandmann zeichnet: Das ist ein böser Mann, der kommt zu den Kindern, wenn sie nicht zu Bett gehen wollen und wirft ihnen Händevoll Sand in die Augen, daß sie blutig zum Kopf herausspringen, die wirft er dann in den Sack und trägt sie in den Halbmond zur Atzung für seine Kinderchen; die sitzen dort im Nest und haben krumme Schnäbel, wie die Eulen, damit picken sie der unartigen Menschenkindlein Augen auf.173

In einer Animation von Paul Berry The Sandman wird dieses Ammenmärchen in expressionistischen Bildern erzählt.174 Um acht Uhr abends schlägt die Uhr (mit einem Sensenmann-Kuckuck), und das Kind wird von der Mutter schlafen geschickt (Abb. 4.9). Voller Angst legt es sich ins Bett, lauscht auf jedes Knarren

Abb. 4.9: Der Junge geht schlafen, und der Sandmann kommt.

171 Moser nennt u. a. Paul Scheerbart: Katerpoesie (1909), August Heinrich Hoffmann von Fallersleben: Max und der Sandmann (1845) sowie Karl Ferdinand Gutzkow: Die Ritter vom Geiste (1850/51). 172 Vgl. Jan-Uwe Rogge: Sandmännchen, in: Hans-Dieter Kübler u. a. (Hg.): Kinderfernsehsendungen in der Bundesrepublik und der DDR, Tübingen 1981, S. 82–102. Im Österreichischen Rundfunk gab es von 1955–1997 das „Traummännlein“ – ein Vorbild für den Sandmann des DDR-Fernsehens. Auch das BRD-Fernsehen entwickelte verschiedene Sandmännchenfiguren, vgl. dazu z. B. Petzold: Der Sandmann als Fabelfigur und Medienstar, S. 126, 133 f. 173 E. T. A. Hoffmann: Der Sandmann [1817], hg. v. Rudolf Drux, Stuttgart: Reclam 1991, S. 5. 174 Paul Berry: The Sandman, Animation, 1992, unter http://www.youtube.com/watch?v= UjgHbRrnjhU [29.11.2019].

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und sieht mit angststarren Augen jedem schrägen Schatten hinterher, wobei die expressionistischen Formen den beklemmenden Gefühlseindrücken zusätzlich Ausdruck verleihen. Die Furcht vor dem Sandmann kulminiert im Trauma seines Erscheinens. In Anklang an die Flügel des Morpheus oder auch an die geschnäbelten Kinder aus Hoffmanns Der Sandmann ist er geflügelt und hat mond- und schnabelförmige Gesichtszüge. Mit zackigen, vogelartigen und expressiven Bewegungen nähert er sich, schüttet aus einem Säckchen etwas Sand in seine Hand (Abb. 4.10) und streut sie dem Kind in die Augen, sodass sie herausspringen und im nun leeren Sandsäckchen verstaut werden. Diese Beute bringt er zum Mond, der schon vorher im Fenster zu sehen ist, und füttert damit seine Kinder, die dort in einem Nest auf ihn gewartet haben:

Abb. 4.10: Der Sand löst die Augen, mit denen der Sandmann seine Kinder füttert.

Die Verbindung der Sandmannfigur mit einem Vogel geht entweder auf Darstellungen des geflügelten Morpheus zurück oder auf die Vorstellung des „Nachtraben“, einem „gespensterhaften Vogel, der Kinder, welche nach Dunkelwerden sich aus dem Haus wagen, zu holen pflegt.“175 Ebenso angsteinflößend erscheint der Sandmann in Hugo von Hofmannsthals Gedicht Brief aus Bad Fusch. In ohnehin unheimlicher Atmosphäre – wegen unablässigen Regens kann man nur in der Kammer sitzen, es „dämmert unendlich lang“ und man „sieht [] nichts vor schwerem kalten Regen“ – sprechen die Knechte „vom Sandmann, der die Kinderaugen tödtet“, und reihen diese Geschichte in weitere Erzählungen von „Gespenstern“, „berühmten Mördern“, „Besessenen“ und „nächtlichen Vampyren“ ein.176

175 Jolles: Hypnos, Sp. 324. 176 Hugo von Hofmannsthal: Brief aus Bad Fusch [1892], in: Ders.: Sämtliche Werke, Bd. 2: Gedichte 2, hg. v. Andreas Thomasberger/Eugene Weber, Frankfurt/M.: S. Fischer 1988, S. 78.

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Das Resümee zeigt, dass die Sandmannfiguren sich in mehrerlei Hinsicht unterscheiden, und zwar hinsichtlich des Materials, das die Augen schließt, des Behältnisses, in dem dieses Material herumgetragen wird, und der Wirkung, die sie auf andere haben. Es kann aber auch von den Träumenden abhängen, ob ein Sandmann sich als wohlmeinend oder bedrohlich herausstellen wird, ob also etwa Ole Lukøje den einen oder den anderen Regenschirm aufspannt und Geschichten schenkt oder verweigert. Die entgegen gesetzten Erscheinungsformen des Sandmanns – der wohlmeinende Sandmann, der Traumgeschichten bringt, und der bedrohliche Augenausreißer – hängen mit den jeweiligen Bewertungen des Träumens zusammen, die oben kurz skizziert wurden. Wenn das Träumen als Entzug der Welt erscheint, dann entspricht diesem Bild die Figur eines augenausreißenden Sandmanns; umgekehrt vermag der geschichtenerzählende Sandmann jener Anschauung ein Gesicht zu geben, die das Träumen für eine Ausweitung der Wachsicht hält. Auch wenn hiermit eine erste Erklärung für die Frage, wann ein Sandmann als ‚wohlmeinend‘ und wann er als ‚bedrohlich‘ erscheint, auf der Hand liegt, möchte ich sie weiter und anders beantworten. Dass den Träumenden entweder eine Welt genommen oder gegeben wird, ist selbst nicht der Grund für die Erscheinung des Sandmanns, sondern ein Effekt der Unterscheidungsbedingungen. Ob der Sandmann als wohlmeinend oder als bedrohlich wahrgenommen wird, hängt davon ab, ob der Unterschied zwischen Traum- und Wachwelt für den Träumenden erkennbar wird, wie also der diese Grenze zwischen stark und schwach verankerter Modalität der Welt markiert. Werden die Modalitäten unterschieden, erscheint der Sandmann als freundlicher Weltengeber; werden sie nicht unterschieden, erscheint er als unheimlich. Die Aktualisierung der Grenze zwischen Wach- und Traumwelt evoziert einen wohlmeinenden Sandmann, ihre Ununterscheidbarkeit hingegen lässt ihn sehr bedrohlich erscheinen, weil die Virtualität dieser Differenz keinen Halt bietet. Auch deswegen muss Nathanael vom Turm springen. In den Analysen zu den Sandmann-Texten dieses Kapitels erfolgt daher keine Motivforschung zum Sandmann, sondern sie werden als Texte untersucht, in denen die jeweiligen Sandmänner eine spezifische Funktion als Grenzfigur zwischen stark und schwach verankerter Modalität der Welt haben und die dadurch eine offene, aber nichtsdestoweniger typologische Reihe bilden.

4.2.2 Architektur der Welten: Hans Christian Andersens Der Sandmann Der Sandmann in Andersens gleichnamigem Märchen von 1842 ist eine ‚wohlmeinende‘ Figur, wie auch gleich zu Beginn der Geschichte betont wird, denn

4.2 Der Sandmann als Grenzfigur zwischen Wach- und Traumwelt

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er meint es „gut mit den Kindern“ (5).177 Wenn er kommt, um sie zum Schlafen zu bringen, kommt er „sachte die Treppe herauf“, „geht auf Socken“, „macht ganz leise die Türen auf“, streut ihnen Sand in die Augen – „und das so fein, so fein“ –, damit die Kinder den Sandmann nicht sehen können, und er „bläst ihnen sachte in den Nacken“, damit ihnen der Kopf schwer wird, aber, so wird betont, „es tut nicht weh“ (5). Der Zweck seines Besuchs ist das Erzählen von Geschichten, von denen er „so viele“ weiß wie niemand sonst; und sein Gewand deutet zugleich auf die Vielgestalt dieser Träume: „Er ist gut gekleidet, sein Rock ist von Seide, aber es ist unmöglich zu sagen, welche Farbe er hat; denn er glänzt grün, rot und blau, je nachdem er sich wendet.“ (5) Der Sandmann erscheint immer anders, „je nachdem er sich wendet“; er ist ebenso ‚gewandt‘ im Erzählen wie sein Gewand eine Vielgestalt an Erzählungen verspricht. Der in dieser Weise doppelt – hinsichtlich der Performanz und des Inhalts der Erzählungen – ‚gewandte‘ Sandmann personifiziert in seinem Gewand das, was er bringt. Im dänischen Originaltext heißt der Sandmann allerdings nicht „Sandmann“, sondern „Ole Lukøie“, was im Deutschen mit „Ole Augenschließer“ übersetzt werden kann (vgl. oben Abb. 4.8). Die erste Übersetzung von Andersens Jugendfreund Fritz Le Petit von 1844 belässt es bei dieser Bezeichnung, während schon ein Jahr später eine weitere Übersetzung unter dem Titel Der Sandmann erscheint, der im Weiteren beibehalten wird.178 In der Übersetzung wird mit dem Namen auch das Medium des Schlafbringens geändert, da der ‚Sandmann‘ im dänischen Original keinen Sand streut, sondern den Kindern süße Milch zu trinken gibt (eben jene Milch, die aus dem Mohn vor der Schlafgrotte des Hypnos gewonnen und in der Nacht versprengt wird, um den Schlummer zu bringen).179 Während Andersen jede Assoziation mit einem (ggf. bedrohlichen) Sandmann vermeidet und die Augen der Kinder mit Hilfe süßer Milch sanft geschlossen werden, ja seine Vielgestalt sogar direkt auf die Figur des Morpheus verweist, knüpft die deutsche Übersetzung gezielt an die Tradition der Sandmannfigur an. Schon der oben zitierte Eingang der Erzählung zeigt, dass Andersens Sandmann ununterschieden ist: Er agiert in der Wachwelt, in der er sich leise und

177 Hans Christian Andersen: Der Sandmann, mit Illustrationen von Sabine Naumann, Berlin: Edition Holz im Kinderbuchverlag 21990 [1842]. Die Seitenangaben in Klammern in diesem Kapitel beziehen sich auf diesen Text. 178 Hans Christian Andersen: Der Sandmann, in: Neue Märchen und Erzählungen für Kinder von H. C. Andersen. Dem Dänischen nacherzählt (anonyme Übersetzung), 2. Samml., m. vier Radierungen n. Zeichnungen v. L. Richter, Braunschweig: Vieweg & Sohn 1845. Ich verdanke diesen Hinweis Johan de Mylius, vgl. zur genaueren Analyse auch Johan de Mylius: Forvandlingens pris. H.C. Andersen og hans eventyr, 2., leicht korr. Ausg., Kopenhagen 2005. 179 Vgl. oben Kap. 4.2.1.3.

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behutsam verhält, um den Schlaf zu bringen. Gleichzeitig agiert er jenseits der Wachwelt, indem er zusammen mit dem einschlafenden Hjalmar die Grenze zur Traumwelt überschreitet. Dass Andersens Sandmann ‚wohlmeinend‘ ist, liegt, so meine These, an den klaren Rahmungen, die die Grenzgänge deutlich als solche markieren und damit auch die Unterscheidung zwischen stark und schwach verankerter Weltmodalität. Tatsächlich gibt es sogar drei deutlich voneinander getrennte Bereiche: Neben der Unterscheidung von Wach- und Traumwelt wird innerhalb der Traumwelt noch einmal unterschieden in einen gleichsam vorbewussten Zwischenraum und die Welt der Traumreisen. Im Zwischenraum kann Hjalmar den Sandmann sehen, in der Wachwelt und auf den Traumreisen hingegen nicht; in der Wachwelt und im Zwischenraum ist Hjalmars Zimmer der Erlebnisraum, in den Traumreisen geht es hingegen hinaus aus dem Zimmer. Der Sandmann ist also nur im Zwischenraum sichtbar, d. h. nur im Grenzbereich der Tagesreste (im geträumten Zimmer) zwischen der Wachwelt (dem im Wachen wahrgenommenen Zimmer) und den Träumen (die ihn aus dem Zimmer in andere Welten führen). Bewegt sich Hjalmars Träumen im Zwischenraum, so gibt es keinen Rahmen, durch den er aus dem geträumten Zimmer schlüpfen könnte, sodass er darin bleibt. Gleichwohl ist vieles durch die Anwesenheit des Sandmanns anders, denn durch ihn ist im gewohnten Raum anderes möglich als in der Wachwelt. So wird am Montag Hjalmars Zimmer zum Rahmen für eine Waldszenerie, die zwar keine ‚neue‘ Welt für Hjalmar darstellt, aber sein Zimmer in einem völlig neuen Gewand erscheinen lässt, indem etwa aus seinen Pflanzen Bäume werden, „sodass die ganze Stube wie ein prächtiges Lusthaus aussah“ (7). Aber schon bald gibt es auch ein Problem aus Hjalmars Wachwelt, das sich in der Traumwelt durch ein „schreckliches Jammern“ der Schreibtafel bemerkbar macht, auf der sich eine falsche Zahl in die Rechenaufgabe geschlichen hat. Ebenso verhält es sich mit seinem „Schreibebuch“, in dem die Buchstaben ganz schief mehr liegen als stehen. Sie aber werden vom Sandmann förmlich zum Leben erweckt und können mitteilen, dass sie zu schwach sind, um sich alleine auf den Beinen zu halten. Angesichts dieser dringenden Angelegenheit fällt das Erzählen aus: „‚Ja, nun können wir keine Geschichten erzählen!‘ sagte der Sandmann.“ (8) Stattdessen exerziert er nun die Buchstaben, bis sie aufrecht stehen, und zeigt Hjalmar so, wie man mit Buchstaben umzuspringen habe. Dieses Geschehen ist deutlich als Traumgeschehen markiert, denn auch wenn die Buchstaben am Ende des Traums „so aufrecht und schön [stehen können], wie nur eine Vorschrift stehen kann“, sind nach dem Erwachen weder der Sandmann noch die geraden Buchstaben vorzufinden: „Aber als der Sandmann ging, und Hjalmar sie am Morgen besah, da waren sie ebenso schwächlich und elend wie früher.“ (8) Der „Sandmann ging“ demnach, und vor diesem Gehen sind die Umstände anders als nach

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dem Gehen; die Wahrnehmung ist mit dem Weggang des Sandmanns eine andere geworden. 4.2.2.1 Traumreisen: Dienstag, Mittwoch, Donnerstag Wir träumen von Reisen durch das Weltall: ist denn das Weltall nicht in uns?… In uns oder nirgends ist die Ewigkeit mit ihren Welten, die Vergangenheit und die Zukunft.180

Am Dienstag geht Hjalmar auf seine erste Reise, auch wenn der Traum zunächst wie am Montag im Zwischenraum beginnt: Wieder erscheint der Sandmann, und wieder verändert er Hjalmars Zimmer (diesmal plaudern die Möbel, die mit dem Zauberstab berührt werden). Sodann tut sich jedoch ein signifikanter Unterschied auf. Zwar berührt der Sandmann nur einen weiteren Gegenstand im Zimmer mit seinem Zauberstab, aber dieser Gegenstand ist „ein großes Gemälde in einem vergoldeten Rahmen“, das eine Landschaft darstellt (10). Durch die Berührung mit dem Zauberstab gerät alles auf dem Gemälde Dargestellte in Bewegung. Das Bild wird Film: Die Vögel beginnen zu singen, die Zweige der Bäume bewegen sich und die Wolken ziehen weiter (10). Doch muss es selbst beim Ansehen dieses audiovisuell bewegten Bildes nicht bleiben, sondern Hjalmar kann vielmehr mit der Hilfe des Sandmanns in dieses Bild hineingehen: „Nun hob der Sandmann den kleinen Hjalmar zu dem Rahmen empor und stellte seine Füße in das Gemälde, gerade in das hohe Gras, und da stand er nun, die Sonne schien durch die Zweige der Bäume auf ihn nieder. Er lief hin zum Wasser und setzte sich in ein kleines Boot, das dort lag.“ (10) Nachdem er durch den Rahmen in die Bildwelt versetzt wurde, reist Hjalmar im Boot während seines Traums durch verschiedene Landschaften und hört von Tieren und Pflanzen wunderbare Geschichten. Die Schilderung dieser Reise liest sich ähnlich wie ein Bericht von einer Reise in eine digital erzeugte Virtuelle Realität: Das war eine Lustfahrt! Bald waren die Wälder ganz dicht und dunkel, bald waren sie wie der herrlichste Garten mit Sonnenschein und Blumen. Und da lagen große Schlösser aus Glas und Marmor. Auf den Balkonen standen Prinzessinnen, und alle waren es kleine Mädchen, die Hjalmar gut kannte […]. Sie streckten jede die Hand aus und hielten das niedlichste Zuckerherz hin, das je eine Kuchenfrau verkaufen konnte, und Hjalmar faßte die eine Seite des Zuckerherzens an, während er vorbeifuhr, und die Prinzessin hielt recht fest, und so bekam jeder sein Stück, sie das kleine, Hjalmar das größere. […] Bald segelte Hjalmar durch die Wälder, bald durch große Säle oder mitten durch eine Stadt […]. (12)

180 Novalis (Friedrich von Hardenberg): Die Christenheit oder Europa und andere philosophische Schriften, Köln: Könemann 1996, S. 103.

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In dem Moment, in dem der Sandmann mit seinem Zauberstab das Bild berührt, findet gleichsam ein Medienwechsel vom Bild über den Film zur Virtuellen Realität statt. Wie in letzterer bewegt sich Hjalmar (wie eine Figur in einer sie umgebenden Projektion von Bildern) in seinem Traum, in dem er durch das Schiff geleitet wird, und er kann in ihr agieren (Zuckerherzen anfassen und ein Stück abreißen). „As [users] enter the virtual world, their depth of engagement gradually meanders away from here until they cross the threshold of involvement. Now they are absorbed in the virtual world“.181 Hjalmar steigt gleichsam, indem er im Traum den Rahmen des Bildes passiert, in eine solche virtuelle Welt, während sein Körper durch die Sandkörner und den Nackenstrich des Sandmanns ruhig gestellt ist; er kann sich wie in der Virtuellen Realität „vermeintlich in eine völlig andere Welt, eine radikal verschiedene Dimension der Wirklichkeit mit gänzlich neuen Regeln begeben, ohne [sich] zu entfernen, ohne [sich] überhaupt zu bewegen.“182 Die Sinneseindrücke beeinflussen dabei das in diesen Traumreisen Geträumte, wie sich am Mittwoch zeigt. Hier hört Hjalmar beim Einschlafen den Regen draußen in Strömen fließen, „und als der Sandmann ein Fenster öffnet, stand das Wasser gerade herauf bis an das Fensterbrett.“ (14) Wieder beginnt eine Reise; allerdings steigt Hjalmar diesmal nicht durch das Gemälde, sondern durch das Fenster, vor dem ein prächtiges Schiff ankert: „‚Willst du mitsegeln, kleiner Hjalmar‘, sagte der Sandmann, ‚so kannst du diese Nacht in fremde Länder gelangen und morgen wieder hier sein!‘ Und da stand Hjalmar plötzlich […] mitten auf dem prächtigen Schiffe.“ (14) Er segelt durch die Stadt heraus auf die wilde See und erlebt Abenteuer mit Hühnern und Störchen auf seinem Schiff, deren Streitgespräche ihn etwas verstört aufwachen lassen, denn „dann erwachte er und lag in seinem kleinen Bett. Es war doch eine sonderbare Reise, die der Sandmann ihn diese Nacht hatte machen lassen.“ (17) Wie am Dienstag wird auch hier das Erwachen als deutlicher Wechsel von der Traum- zur Wachwahrnehmung erlebt, und auch hier ist der Sandmann nur im Zwischenraum sichtbar bzw. zugegen: Weder steigt er mit Hjalmar durchs Fenster, noch ist er da, als jener in seinem kleinen Bett erwacht. Am Donnerstag klettert Hjalmar für seine Traumreise wieder durch einen Rahmen, diesmal „durch das kleine Mauseloch im Fußboden“ (18). Damit er hindurchpasst, lässt ihn der Sandmann mithilfe seines Zauberstabs schrump-

181 Marie-Laure Ryan: Narrative as Virtual Reality. Immersion and Interactivity in Literature and Electronic Media, Baltimore/London 2001, S. 89. 182 Stefan Münker: Was heißt eigentlich: ‚Virtuelle Realität‘? Ein philosophischer Kommentar zum neuesten Versuch der Verdopplung der Welt, in: Ders./Alexander Roesler (Hg.): Mythos Internet, Frankfurt/M. 1997, S. 108–127, hier S. 110.

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fen und zudem die Kleider seiner Zinnsoldaten tragen, damit er dem Anlass gemäß gekleidet ist. Das Vehikel ist diesmal der Fingerhut der Mutter, der Ausgang aus dem Zimmer ist das Loch im Fußboden und das Ziel ist die Mäusehochzeit, zu der die Braut selbst Hjalmar zieht: „‚Gott, wollen das Fräulein selbst sich bemühen!‘, sagte Hjalmar, und so fuhren sie zur Mäusehochzeit.“ (18) Der Traum wird mit der Heimfahrt beschlossen (21). Es wird zwar nicht wie am Mittwoch explizit berichtet, dass Hjalmar erwacht; jedoch fährt er „nach Hause“, gibt es auch hier eine abschließende Reflexion auf das Erlebte und endet auch dieses Kapitel wie schon die beiden zuvor mit dem Ende der Traumreise. Da zu Beginn eines jeden Kapitels immer ein neuer Wochentag und Traum steht, wird das Ende der Traumwahrnehmung auch ohne die Erzählung vom Aufwachen markiert. Von Dienstag bis Donnerstag bietet der Sandmann in dieser Weise immer einen Rahmen, durch den Hjalmar gehen und andere Welten erkunden sowie Erfahrungen und Erlebnisse sammeln kann. Dienstag ist es das Bild, Mittwoch das Fenster und Donnerstag das Holzloch im Fußboden. Der Sandmann bietet Hjalmar Schlupflöcher für Reisen, die durchaus eine Blickerweiterung darstellen. Auch im Diskurs über die Virtuelle Realität wird mit der Reisemetapher versucht, die Nutzererfahrung zu beschreiben: als „Reise in die virtuelle Welt“,183 „[t]ransportation“184 oder „Verschiebung“185. Die Materie der Virtuellen Realität ist gleichsam – und dies erinnert an die Semantik der Traumbeschreibungen – „flüssig und weniger dicht“: „And finally, virtual worlds are not totally deprived of matter […], they contain lots of electrons and photons. Their matter is simply more fluid and less dense than the matter of reality.“186 Zur Explikation der Virtuellen Realität wird der Traum als Vergleichsmedium herangezogen und die Virtuelle Realität etwa als „Möglichkeit, in immer neue synthetische Träume zu flüchten“, beschrieben.187 Diese Verschränkung ist möglich, wenn man die Virtuelle Realität z. B. als immersive Interaktivität im Sinne MarieLaure Ryans versteht, also als way to „act within a world“.188 Diese „Welt“ gilt Ryan in diesem Fall als Metapher für eine spezifische Form der Immersion: In

183 Münker: Was heißt eigentlich ‚Virtuelle Realität‘?, S. 110. 184 Ryan: Narrative as Virtual Reality, S. 93. 185 Phillipe Quéau, zit. n. Münker: Was heißt eigentlich: ‚Virtuelle Realität‘?, S. 123. 186 Marie-Laure Ryan: Cyberspace, Virtuality, and the Text, in: Dies. (Hg.): Cyberspace textuality. Computer technology and literary theory, Bloomington [u. a.]: Indiana University Press 1999, S. 78–107, hier S. 91. 187 Münker: Was heißt eigentlich ‚Virtuelle Realität‘?, S. 123. 188 Ryan unterscheidet zwischen technisch generierter VR und „virtual realities“ als „creations of the imagination“ (Ryan: Narrative as Virtual Reality, S. 20).

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der Virtuellen Realität und im Traum kann man gleichsam in einer ‚anderen‘ Welt als der ‚realen‘ Welt ‚agieren‘, während der Körper allenfalls als Simulation mit in diese Welt getragen wird.189 Ein Unterschied ergibt sich allerdings im Status der Bewusstheit. In der Virtuellen Realität funktioniert eine ähnliche „suspension of disbelief“ wie in der Fiktion: „The fictional text invokes the non-existing in the factual mode, thereby inviting the reader to pretend belief (or suspend disbelief) in its (lack of) reality. This idea of suspension of disbelief is the literary-theoretical equivalent of the VR concept of immersion.“190 Der Traum vollzieht indessen keine „Realitätsprüfung“, die dann suspendiert werden könnte: „Der Traum wird als real erlebt oder ist nicht länger Traum. Er läßt sich nicht einer Realitätsprüfung unterziehen wie die Phantasien des Wachzustandes.“191 Hieraus resultiert der Unterschied, der gesehen wird, wenn die Virtuelle Realität als gleichsam bewusstes Träumen beschrieben wird: „Wir sind nicht mehr Subjekte einer gegebenen objektiven Welt, sondern Projekte von alternativen Welten. Aus der unterwürfigen subjektiven Stellung haben wir uns ins Projizieren aufgerichtet. Wir werden erwachsen. Wir wissen, daß wir träumen.“192 Zu Recht kritisiert also Käte Meyer-Drawe für die jüngere Zeit den Versuch, dass „das erkennende Subjekt den widerspenstigen Traum zum Untertanen macht“,193 und konstatiert hierin einen basalen Unterschied zwischen Traum und Virtueller Realität: „Virtuelle Realitäten stehen in dieser Perspektive für eine seit langem fortschreitende Transformation unserer gelebten Welt in eine gedachte, in der wir uns, die anderen und die Dinge nicht mehr wahrnehmen, sondern konstruieren.“194 Im Träumen wären wir demnach grundsätzlich (auf)nehmend und in der Virtuellen Realität grundsätzlich gebend und verfügend. Für Hjalmars Traumreisen kann daher die Virtuelle Realität allenfalls als mediale Metapher betrachtet werden, denn er ist in ihnen in einer wahrnehmenden Position; er sieht und erlebt alles durch die Kunst des Sandmanns und hat selbst keine Gestaltungsmöglichkeiten. Ein klein wenig anders ist es höchstens einmal im Zwischenraum.

189 Zu Ryans Simulationsbegriff vgl. ebd., S. 111 f. 190 Ryan: Cyberspace, Virtuality, and the Text, S. 89. 191 Irmela Schneider: Filmwahrnehmung und Traum. Ein theoriegeschichtlicher Streifzug, in: Bernard Dieterle (Hg.): Träumungen. Traumerzählung in Film und Literatur, St. Augustin: Gardez! 22002 (= Filmstudien 9), S. 23–46, hier S. 39. Es „ist für die der Beobachtung im strengen Sinne gar nicht zugängliche Ebene des Traums alles wirklich. Sobald die Unterscheidung zwischen wirklich und nicht-wirklich auftritt, handelt es sich um Traumerinnerung.“ (Ebd., S. 26) 192 Vilém Flusser: Digitaler Schein, in: Florian Rötzer (Hg.): Digitaler Schein. Ästhetik der elektronischen Medien, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1991, S. 147–159, hier S. 157. 193 Meyer-Drawe: Der geträumte Leib, S. 159. 194 Ebd., S. 164.

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4.2.2.2 Im Rahmen des Dazwischen: Montag, Freitag, Samstag, Sonntag Ab Freitag hört das Reisen auf, d. h. die Träume Hjalmars bewegen sich nunmehr alle im Zwischenbereich seines Zimmers, und der Sandmann ist immer da. Am Freitag belebt der Sandmann die Puppen des Kinderzimmers, die sich nach langer Diskussion dafür entscheiden, dass es schöner ist, zu Hause zu bleiben. Die Reise durch die Welt wird durch eine Metareflexion auf das Reisen sowie die Möglichkeit ersetzt, sich dagegen zu entscheiden (24). Am Samstag gibt es ebenfalls eine Metareflexion, diesmal auf das Wesen des Sandmanns. Hjalmar bleibt wieder im Zwischenbereich, ohne hinauszugehen; dafür kommt diesmal sein Urgroßvater durch einen Rahmen hinein. Angespornt durch den Sandmann, der an diesem Tag keine Geschichte erzählen zu können behauptet, weil er unter anderem die Sterne vom Himmel zu nehmen und zu putzen habe, verschafft sich der Urgroßvater aus seinem Rahmen heraus Zugang zum Gespräch: „Hören Sie, wissen Sie was, Herr Sandmann?“, sagte ein altes Bild, das an der Wand hing, wo Hjalmar schlief. „Ich bin Hjalmars Urgroßvater; ich danke Ihnen, daß Sie dem Knaben Geschichten erzählen, aber Sie müssen seine Begriffe nicht verwirren. Die Sterne können nicht heruntergenommen werden und poliert werden! Die Sterne sind Himmelskörper, ebenso wie unsere Erde, und das ist gerade das Gute an ihnen.“ (26)

Der Urgroßvater pocht hier als Wissensinstanz auf das aristotelische Wahrscheinlichkeitsprinzip: Hjalmar darf von anderen möglichen Welten hören, aber sie müssen wahrscheinlich bleiben; die Dinge (die Himmelskörper) müssen an ihrem richtigen Ort bleiben. Der Sandmann quittiert diese Einmischung, indem er seinen Regenschirm nimmt und mit den Worten „Nun kannst du erzählen!“ dem Urgroßvater das Zimmer überlässt. Der aber erhält gar nicht mehr das Wort, da Hjalmar kurz darauf erwacht (28). Die Beschaffenheit des TraumZwischenraums wird in dieser Szene besonders deutlich: Der Sandmann ist anwesend und gerät mit dem Urgroßvater, einer Person aus Hjalmars Wachwelt, in eine Diskussion über Möglichkeiten und Risiken der schwach verankerten Weltmodalität: Zwar seien die Geschichten ja schön, aber es bestehe die Gefahr, dass die logischen Gesetze der Wachwelt außer Kraft gesetzt würden. In aller Kürze fasst der Urgroßvater damit zusammen, wie einerseits Welten im Traum rasch entworfen werden können, gerade weil sie der Logik der Wachwahrnehmung nicht entsprechen, zum anderen aber diese Logik des Traums in der Wachwelt keinen Bestand hat, weil sie nur schwach verankert ist – sie würde die ‚fest‘ geordneten Begriffe Hjalmars „verwirren“. Der Sandmann reagiert hierauf zwar durch die Markierung seiner größeren und älteren Autorität als „Traumgott“ (28), übergibt aber dann dem Urgroßvater das Wort. Das Vakuum, das der Sandmann dadurch hinterlässt, gewährt Hjalmar einen Moment der

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Reflexion und Entscheidung, wer seine Träume gestalten darf, und sein rasches Erwachen ist ein Hinweis darauf, wie diese Entscheidung ausgefallen ist. Dass es sich in den Träumen an den entsprechenden Tagen (Montag, Freitag, Samstag, Sonntag) um einen Zwischenraum handelt, der zur Wachwelt durchlässig ist, zeigt der Rahmen, der stets Hjalmars Zimmer ist, sowie das Erscheinen von Personen oder Gegenständen, die zu Hjalmars Wachwelt gehören, sich aber ungehinderten ‚Zugang‘ zu seinen Träumen verschaffen, wie eben der Urgroßvater, Hjalmars Schreibheft oder seine Puppen. Ebenso wenig sind die Traumerlebnisse mit dem Erwachen vergessen: Im Traum des nächsten (Sonn-) Tages dreht Hjalmar, dem der Auftritt des Urgroßvaters offensichtlich nicht behagt hat, das Bild, sobald der Sandmann da ist, kurzerhand um und schließt den Urgroßvater so von vornherein aus seiner Traumwelt aus. Im Rahmen des Traum-Zwischenraums kann Hjalmar reflektieren, da er hier noch bewusst genug ist für die Gedanken der Wachwelt und schon träumend genug, um die Elemente der Wachwelt variieren zu können. Der Sonntag stellt einen Sonderfall dar. Der Sandmann bleibt zwar mit ihm in seinem Zimmer, zeigt ihm aber einen Rahmen, durch den er eine Szenerie beobachten kann: „Und dann hob der Sandmann den kleinen Hjalmar zum Fenster hinauf und sagte: ‚Da wirst du meinen Bruder sehen, den anderen Sandmann! Sie nennen ihn auch den Tod!‘“ (29) Anstatt wie an den anderen Tagen in die Welt jenseits des Rahmens ‚einzutauchen‘, bleibt Hjalmar an diesem letzten Tag ihr Beobachter. Er bleibt im Zimmer, und nur der Blick geht hinaus und dorthin, wo der der Tod zu sehen ist, der „‚[...] auch Sandmann [heißt], aber er kommt zu niemand öfter als einmal […]‘“ (29). Durch diese Trennung in Beobachter und Beobachtetes bleibt auch die Unterscheidung von Traum und Tod aufrechterhalten; der Tod ist im Traum zu sehen, aber er ist, wie schon in der antiken Mythologie, in einem anderen ‚Raum‘. Der Sandmann begleitet Hjalmar bei diesem Blick hinüber zum Tod und hält ihn zugleich im Diesseits des Fenster(rahmen)s fest. 4.2.2.3 Potentiale der Blickerweiterung Der Traum verursacht in Andersens Der Sandmann keine Blicktrübung, wie der Urgroßvater befürchtet, sondern bietet Potentiale der Blickerweiterung: In der Traumwelt können lehrreiche Dinge über die Wachwelt gelernt werden, und der Sandmann kann den träumenden Hjalmar ganz neue Welten erblicken und erfahren lassen. Fernab von der Tradition des ‚bedrohlichen‘

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Sandmanns ist Ole Lukøie bzw. der Sandmann bei Andersen damit eine Bereicherung für die Träumenden, indem er kommt, um Geschichten zu erzählen: „Es gibt niemanden in der ganzen Welt, der so viele Geschichten weiß wie der Sandmann! Der kann erzählen!“ (5)

Abb. 4.11: Darstellung von Ole Lukøie mit Geschichten-Regenschirm.

Auch wenn hier steht, der Sandmann erzähle, erzählt der Text vor allem davon, wie der Sandmann zeigt; er führt Hjalmar Dinge, Personen und Orte vor Augen und lässt ihn mit ihnen interagieren. Er ersetzt das ‚Sehen mit offenen Augen‘ in der Wachwelt durch das ‚Sehen mit geschlossenen Augen‘ in der Traumwelt: „‚Du weißt doch wohl, dass ich dir am liebsten etwas zeige! […]‘“ (29). Die Bilder, die der Sandmann produziert, sind dabei sehr leicht generierbar: Als würde er einen Schalter betätigen, reicht eine Berührung mit seinem Zauberstab aus, um vom einen Moment auf den anderen unbewegte Szenerien zu beleben und für Hjalmar erlebbar zu machen. Der Zauberstab weist zurück auf den Mohnzweig

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oder „Mohnstengel“ des Schlafgottes Hypnos,195 als den der Sandmann sich selbst bezeichnet, oder auch auf den goldenen Stab des Hermes.196 Dieser ursprünglich einschläfernde Zauberstab wirkt allerdings bei Andersen, da er erst im Traum gezückt wird, Welten ‚weckend‘. Dass die Bildwelten des Sandmanns eine Blickerweiterung darstellen, passt zum pädagogischen Programm der Geschichte. Er kommt zwar zu allen Kindern, aber während er den „guten“ Kindern die herrlichsten Geschichten erzählt, erfahren die „unartigen“ Kinder nichts: „Dann schlafen sie wie dumm und haben am Morgen, wenn sie erwachen, nicht das allergeringste geträumt.“ (6) Die Traumwelt ist ein Raum, in dem Kinder gebildet werden können, sodass sie, sofern sie artig sind und träumen dürfen, nicht „dumm“ bleiben müssen. Der Sandmann unterrichtet die Kinder in einem Modus, in dem sie nicht bei Bewusstsein sind, dafür aber umso besser zuhören können: Sie sind durch Sandkörner und Nackenstrich ruhiggestellt – natürlich nur zu ihrem Besten. Der Traum wird für sie zu einem Bildungsraum, und die Traumreisen erscheinen als innere Bildungsreisen, ganz so, wie es die romantischen Konzepte etwa von Novalis oder Herder durchdenken.197 Das Träumen ist ein Potential, das Kinder

195 Jolles: Hypnos, Sp. 327. Vgl. auch: „In späterer Zeit pflegt er die Schläfe der Müden mit einem in der Lethe angefeuchteten Zweige zu berühren (Verg. Aen. V 854 ff. […]).“ (Ebd., Sp. 326) 196 Hermes bezaubert die Augen der Menschen indessen nur, um die ihm Anvertrauten dann an der Traumwelt vorbei in die Welt der Toten zu führen: Hermes, der Kyllenier, rief die Seelen der toten Freiersmänner heraus; er hielt in den Händen den schönen Goldenen Stab, mit dem er die Augen der Menschen bezaubert Welche er will, und sie auch wieder erweckt vom Schlafe; Damit treibend schritt er voran; die folgten ihm schwirrend. […] Hermes, führte die Schar hinunter die modrigen Pfade. An des Okeanos Strömen und am Leukadischen Felsen Und an Helios’ Toren, am Lande der Träume vorüber Gingen sie und gelangten bald zur Asphodeloswiese, Dort, wo die Seelen wohnen, die Schattenbilder der Toten. (Homer: Odyssee 24. Gesang, V. 1–14, S. 390) Ähnlich Unheil bringend ist der Zauberstab, den Merkur nutzt, um sich Chiones, der Tochter Daidalions, zu bemächtigen: Er kann „keinen Aufschub ertragen; mit seinem einschläfernden Stab berührt er den Mund des Mädchens, angerührt von mächtigem Zauber liegt es wie tot und leidet von dem Gott Gewalt.“ (Ovid: Metamorphosen, Z. 307–309, S. 548 f.) 197 Vgl. Harro Müller-Michaels: Von der Notwendigkeit der Träume für die Bildung des Menschen, in: Peter-André Alt/Christiane Leiteritz (Hg.): Traum-Diskurse der Romantik, Berlin/

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ausschöpfen können, und es ist damit Teil der erzieherischen Praxis des Sandmanns, dessen Bilder-‚Zeigen‘ auch ein erzieherisches ‚Zeigen‘, ein ‚Weisen‘ des richtigen Weges ist. Denn am Ende, so kann Hjalmar am Sonntag durch das Fenster sehen, wird auch der Tod nur jenen die „herrliche Geschichte“ erzählen, die ein gutes „Zensurbuch“ haben; die anderen bekommen „die greuliche Geschichte“ zu hören (29 f.). Dass der Sandmann Hjalmar diese Lehre erteilt, damit ist sogar der Urgroßvater, der sich hierzu noch einmal kurz einmischt („Ja, das ist lehrreich“), zufrieden (30) – und er zitiert damit wortwörtlich Novalis: „Ein Traum erzieht uns […] – [er ist] im höchsten Grad lehrreich und ideenvoll.“198 Vielleicht zur Warnung erzählt der Sandmann, dass er vielen Erwachsenen die Gunst des Schlafs entzieht: „Es ist unglaublich, wieviel ältere Leute es gibt, die mich gar zu gern haben möchten!“ sagte der Sandmann. „Es sind besonders die, die etwas Böses verübt haben. ‚Guter kleiner Sandmann‘, sagen sie zu mir, ‚wir können die Augen nicht schließen, und so liegen wir die ganze Nacht und sehen alle unsere bösen Taten, die wie häßliche kleine Kobolde auf der Bettstelle sitzen und uns mit heißem Wasser bespritzen; möchtest du doch kommen und sie fortjagen, damit wir einen guten Schlaf bekämen.‘ Und dann seufzen sie tief: ‚Wir wollen es auch gern bezahlen. Gute Nacht, Sandmann! Das Geld liegt im Fenster.‘ Aber ich tue es nicht für Geld“, sagte der Sandmann […]. (22)

Stattdessen bezeichnet er sich als unbestechlich, auch weil er alle Menschen – ob reich oder arm – gleichwertig behandelt. So verfolgt er noch für die Erwachsenen ein erzieherisches Konzept, indem er jene mit Träumen bereichert, deren ‚Gewissen rein‘ ist, dagegen aber jene mit der Realität konfrontiert, die sich nur in ihre Träume flüchten würden, um einer ihnen unangenehmen Realität zu entkommen. Für diese ist es also zu spät, nicht jedoch für jene, die soeben diese „lehrreiche“ Geschichte zu Ende lesen, eine Geschichte, die selbst etwas zeigen möchte und explizit zum Sehen auffordert: „Sieh, das ist die Geschichte vom Sandmann! Nun mag er dir selbst diesen Abend mehr erzählen!“ (30) 4.2.2.4 Architektur der Welten Der Sandmann ist bei Andersen ununterschieden. Er agiert als eine Grenzfigur an den Grenzen der verschiedenen Traumbereiche, indem er den Schlaf aller-

New York: De Gruyter 2005, S. 48–76, hier v. a. S. 65–68. Und dies, wo noch für Wilhelm Meister gilt, „daß, wer sich bilden will, nicht schlafen darf“ (ebd., S. 61). 198 Novalis (Friedrich von Hardenberg): Allgemeine Brouillon, Nr. 769, in: Ders.: Schriften, hg. v. Paul Kluckhohn und Richard Samuel, Bd. III: Das Philosophische Werk II, Suttgart 1981, S. 417.

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erst bringt, sodann aber auch innerhalb der Traumwelt agiert. Sein herausgehobener Wirkungsbereich ist dabei der Zwischenraum, auf dessen einer ‚Seite‘ sich die Wachwelt befindet, aus der sich Akteure immerzu ‚einmischen‘ oder als Traummaterial genutzt werden können, und auf dessen anderer ‚Seite‘ sich die Sphäre befindet, in die Hjalmar zu seinen Traumreisen übersetzt. Der Sandmann kann die Rahmen auch aus diesem Bereich heraus organisieren und (mit oder ohne Hjalmar) hindurchschauen, sich also auch hier auf der Grenze bewegen; er geht aber selbst nicht auf die Reisen mit. Die Rahmen stellen so Durchgänge dar, die die Grenzen markieren und den Grenzgang ermöglichen. Die Bilder, die Hjalmar im Traum sieht, sind dabei hochaufgelöst und hochauflösend, d. h. sie sind ebenso leicht her- wie wegzuzaubern: Der Sandmann erscheint und verschwindet, er belebt kurzerhand mit seinem Zauberstab Gegenstände und versetzt sie in Bewegung. Gleichzeitig ist diese Veränderung des ‚Aggregatzustandes‘ aber ebenso schnell wieder beendet, sobald Hjalmar erwacht. Der ‚Sand‘ (der im dänischen Original süße Milch ist) transformiert also das Sehen in eine Wahrnehmung der Welt in ihrer schwach verankerten Modalität. Andersens Sandmann ist dabei ‚wohlmeinend‘, weil er zwar selbst ununterschieden ist, aber für Hjalmar klare Unterscheidungen setzt. Die Übergänge zwischen den Wahrnehmungsmodi von Wachen und Träumen können von Hjalmar deutlich identifiziert werden, und es gibt hier auch keine Brüche: Wenn der Traum endet, enden auch die Traumerlebnisse. Diese klaren Unterscheidungen bietet der Text auch für die Lektüre. Diegetisch handelt es sich immer um eingebettete Figurenträume, indem mit jedem Kapitel und Tag ein Traum beginnt und meist am Ende des Traums vom Erwachen berichtet wird.199 Die einzelnen Bereiche (Wachwelt/Zwischenbereich/Traumreisen) erscheinen wie aneinander angrenzende, aber deutlich voneinander abgegrenzte Räume. Der Raum der Wachwelt grenzt an den des Zwischenbereichs an, in den er sich durch den Wechsel der Weltmodalität verändert: Das Zimmer bleibt dasselbe, die Wahrnehmungsregeln sind jedoch verschieden. Der Raum der Zwischenwelt grenzt an den Raum der Traumreisen an, der durch verschiedene Rahmen begehbar, aber immer deutlich von ihm unterscheidbar ist. Schließlich grenzt auch der Raum der Traumreisen wieder an den Raum der Wachwelt an, da jede Reise unweigerlich in Hjalmars Erwachen mündet. Die Rahmungen dieser Räume organisieren so die Übergänge vom Wachen zum Träumen, innerhalb des Träumens und vom Träumen zum Wachen, und der Sandmann ist durch seine An- oder Abwesenheit je-

199 Der Figurentraum ist eine der Erscheinungsformen literarischer Träume nach Christine Steinhoff. Vgl. dies.: Ingeborg Bachmanns Poetologie des Traumes, Würzburg: Königshausen und Neumann 2008, Kap. I,2, S. 19–31.

4.2 Der Sandmann als Grenzfigur zwischen Wach- und Traumwelt

335

weils ein Indiz für Hjalmar, in welchem der Räume er sich gerade befindet. Es sind wohlgeordnete Heterotopien, in die Hjalmar durch das Träumen wechseln kann, und der Sandmann ist ein zuverlässiger Übersetzer, der keinen Zweifel daran lässt, wann er Hjalmar in einen heterotopen und wann er ihn in einen nicht-heterotopen Raum bringt. Die verschiedenen Weltmodalitäten werden damit in Andersens Der Sandmann in ein klares Verhältnis zueinander gesetzt, und die Anordnung der Räume vermittelt eine übersichtliche und stabile Architektur.

WACHWELT

TRAUMWELT ZWISCHENBEREICH

TRAUMREISEN

Rahmen: Zimmer

Rahmen: Zimmer

Rahmen: hinter Bild, Fenster, Mäuseloch

Sandmann nicht sichtbar

Sandmann im Zimmer

Sandmann nicht sichtbar

Wachwahrnehmung

Tagesreste

neue (Traum-)Welten

Sandmann bringt in Schlaf

Sandmann erzählt und zeigt

in Welten selbst agieren

Abb. 4.12: Architektur der Welten in Andersens Der Sandmann (eigene Darstellung).

4.2.3 Ununterscheidbarkeit der Welten: E. T. A. Hoffmanns Der Sandmann ianua ne verso stridorem cardine reddat, nulla domo tota est, custos in limine nullus.200

Der Sandmann in E. T. A. Hoffmanns Erzählung von 1817 trägt, anders als Andersens Sandmann, kein vielfarbiges Gewand, sondern erscheint vielmehr als grau.201 Dieses Grau bedeutet keine einfache Reduktion der Farbenvielfalt auf eine einzige Farbe, vielmehr zeigt sich am Wechsel von bunt zu grau ein fundamentaler Wechsel im Typus. Während Andersens Sandmann den Unterschied

200 Ovid: Metamorphosen, 11. Buch, Z. 608 f., S. 566 f. Dt. Übersetzung: „Keine Tür dreht sich in der Angel und knarrt, es gibt keine im ganzen Haus, auf der Schwelle wacht kein Wächter.“ Der Eingang zur Höhle des Hypnos ist nicht bewacht. 201 E. T. A. Hoffmann: Der Sandmann [1817], hg. v. Rudolf Drux, Stuttgart: Reclam 1991. Die Seitenangaben in Klammern in diesem Kapitel beziehen sich auf diesen Text.

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4 Virtuelle Form des Mediums: Hohe Auflösung des Traums

zwischen den Weltmodalitäten markiert und seine Farbvielfalt auf die vielfältige Formbarkeit der Welt in ihrer schwach verankerten Modalität hindeutet, verweist das Grau von Hoffmanns Sandmann auf dessen Eigenart, die beiden Modalitäten ununterscheidbar werden zu lassen; es steht für die Aufhebung aller (farblichen) Unterschiede in einem einzigen, alle (Farb-)Spezifika nivellierenden Mischton. Inka Mülder-Bach hat auf die hohe Relevanz der Graumetaphorik in Der Sandmann hingewiesen, die besonders bedeutsam dadurch erscheint, dass die Farben erst in der Endfassung zu Grau ‚abgetönt‘ wurden, in der die „Figur des Grauen und des Grausens geradezu systematisch als eine graue Figur aufgebaut“ wurde.202 Sie zitiert hierfür Goethes Farbenlehre von 1810, nach der das Grau durch Mischung der Farben entsteht, denn wenn „sie zusammengemischt ihre spezifischen Eigenschaften wechselseitig aufheben“, bringen sie „ein Graues“ hervor.203 Es ergibt sich im Grau ein Verlust von Spezifik, ein „‚völlig gleichgültiges Grau‘“: „Es bezeichnet den Punkt der ‚vollkommenen Indifferenz‘, in dem die Polarität von Weiß und Schwarz und ‚alle individuellen Qualitäten‘ der Farben sich auflösen.“204 Der Sandmann Coppelius agiert auf der Grenze. Er ist im ‚Grau‘-Bereich der Wissenschaft, der Alchemie, tätig, und indem er die persönlichen Grenzen der Kinder nicht respektiert, wird er ihnen graulich und grausig. Im Versuch, der ungestalten Gestalt eine Form zu geben, malt Nathanael als Kind das Bild des Sandmanns überall hin: „Dieses kindliche Gekritzel hat zwei Aspekte“, schreibt Mülder-Bach, „Gestalt und Farbe oder vielmehr: wechselnde, amorphe Gestalten – denn zu welcher Gestalt sollte ein Mann aus Sand sich verfestigen?“205 Verkehrt man den sandstreuenden Sandmann in einen Mann aus Sand, metaphorisiert der Sand die virtuelle Gestalt des Sandmanns, die nicht in einer einzigen Form zu aktualisieren ist. Hierin gleicht der Sandmann dem Verkäufer des Sandbuches in Jorge Luis Borges’ Erzählung El Libro de Arena. Auch dieser kann ein Sandmann genannt werden, insofern das Sandbuch, das er verkauft, keine Form hat und sich diese Eigenart auch in seiner undefinierbaren Gestalt zeigt: z. B. ist nicht nur nicht zu entscheiden, ob er jung oder alt ist, sondern er wird wie Coppelius mit der

202 Inka Mülder-Bach: Das Grau(en) der Prosa oder: Hoffmanns Aufklärungen. Zur Chromatik des ‚Sandmann‘, in: Gerhard Neumann (Hg.): ‚Hoffmanneske Geschichte‘. Zu einer Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft, Würzburg 2005, S. 199–221, hier S. 202. 203 Johann Wolfgang von Goethe: Sämtliche Werke, Bd. 23/1, zur Farbenlehre, hg. v. Manfred Wenzel, Frankfurt/M. 1991, S. 25, zit. n. Mülder-Bach: Das Grau(en) der Prosa, S. 208. 204 Zitate im Zitat von Philipp Otto Runge: Farbenkugel, zit. n. Mülder-Bach: Das Grau(en) der Prosa, S. 208. 205 Mülder-Bach: Das Grau(en) der Prosa, S. 205.

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Farbe Grau assoziiert: Er hat „unscharfe[] Gesichtszüge“, ist „grau gekleidet und [hat…] einen grauen Koffer in der Hand“.206 Diese Ununterschiedenheit des Sandmanns verweist in besonderer Weise auf die Struktur der Virtualität: Hier ist der Konnex zwischen Virtualität und Sandmann bei Hoffmann und Borges zu sehen! Während bei Andersens Sandmann die ‚Farbe‘ der Virtualität das Bunte ist, das für eine Blickerweiterung in der gut abgegrenzten, schwach verankerten Weltmodalität steht, ist bei Hoffmanns Sandmann das Grau die ‚Farbe‘ der Virtualität, indem es auf die Verwischung der Grenzen zwischen den beiden Weltmodalitäten und die damit einhergehende Blicktrübung hindeutet.207 Während die Virtualität des Sandmanns bei Andersen darin besteht, dass er virtuell (ununterschieden) in Bezug auf sich selbst ist, er aber für Hjalmar stabile Unterscheidungen aktualisiert, ist Coppelius auch in Bezug auf Nathanael virtuell. Seine eigene Ununterschiedenheit ist nur deswegen problematisch, weil er sie auch für Nathanael aufrechterhält; er wird für Nathanael zu einem Problem, dessen Lösung nicht gelingen kann, und darin besteht seine fortdauernde Virtualität. Von diesen Überlegungen ausgehend wähle ich für Analyse von Hoffmanns Der Sandmann einen anderen Einsatz als die bislang in der äußerst breiten Forschung zu diesem Text unternommenen:208 zum einen, indem ich Der Sandmann im Kontext weiterer Sandmannfiguren analysiere, was bislang in der Tat noch nicht geschehen ist; zum anderen, indem ich Coppelius’ spezifische Art, ein Sandmann zu sein, auf die Struktur der Virtualität beziehe. An sechs Szenen sollen jene vom Sandmann ausgelösten Virtualisierungen vorgeführt werden, durch die der Protagonist Nathanael zunehmend weniger zwischen stark und schwach verankerter Weltmodalität unterscheiden kann, wobei – wie sich zeigen wird – auch die Figur des Sandmanns selbst nicht ‚stabil‘ ist. Es bleibt erzählerisch unentschieden, ob der Sandmann Coppelius auch

206 Jorge Luis Borges: Das Sandbuch, in: Ders.: Erzählungen 1975–1977, München/Wien: Hanser 1982, S. 93–98, hier S. 93. Vgl. dazu Kap. 3.3.2. 207 Das Grau ist „jedoch nicht nur Resultat einer Entdifferenzierung und Auflösung, sondern ebenso die Matrix der Differenz, das Chaos vor der Schöpfung, ‚der alles umschließende Anfang, aus dem Licht und Finsternis sich sondern, aus dem die Farben, gleich den Elementen, hervorgehen, sich trennen und sich verbinden.‘“ (Mülder-Bach: Das Grau(en) der Prosa, S. 208 f.; Mülder-Bach zitiert Werner Hofmann: Geometrie und Form, einen Aufsatz zu Runge) 208 Ein erster Überblick über die umfängliche Forschung zu Hoffmanns Der Sandmann findet sich z. B. in: Detlef Kremer (Hg.): E. T. A. Hoffmann: Leben – Werk – Wirkung, Berlin/New York: De Gruyter 22010.

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der Wetterglashändler Coppola ist oder nicht, ob also die Lesenden bisweilen, und wenn ja, wann genau, durch Nathanaels sichtgetrübte Augen schauen. So ist auch die Erzählung Der Sandmann selbst ein Sandmann, der Sand in die (lesenden) Augen ‚streut‘. 4.2.3.1 Die Virtualisierung der Grenze zwischen den Weltmodalitäten Die erste Szene entsteht dadurch, dass die Mutter immer dann, wenn der Advokat Coppelius kommt, um mit dem Vater alchemistische Versuche zu machen, sagt: „Nun, Kinder! – zu Bette! zu Bette! der Sandmann kommt, ich merk’ es schon.“ (4) Auf Nachfragen erläutert sie zwar, dass es keinen Sandmann gibt, unterstreicht also die metaphorische und sprichwörtliche Verwendung des Begriffs;209 gleichzeitig sind aber die Schritte des Sandmanns zu hören, müssen die Kinder tatsächlich immer zu Bett gehen, wenn er kommt (10), und ist das Verhalten der Eltern an den Besuchstagen deutlich verändert. Das Problem besteht also darin, dass die Mutter zwar die Erwähnung des Sandmanns mit der Benutzung einer Metapher erklärt, aber die dennoch wahrnehmbaren Schritte nicht zu dieser Erklärung passen wollen. Nathanael glaubt daher der Mutter nicht und fragt bei der alten Kinderfrau weiter nach dem Wesen des Sandmanns. Von dieser erhält er eine gänzlich entmetaphorisierende Deutung der Figur: „Ei Thanelchen“, erwiderte diese, „weißt du das noch nicht? Das ist ein böser Mann, der kommt zu den Kindern, wenn sie nicht zu Bett gehen wollen, und wirft ihnen Händevoll Sand in die Augen, daß sie blutig zum Kopf herausspringen, die wirft er dann in den Sack und trägt sie in den Halbmond zur Atzung für seine Kinderchen; die sitzen dort im Nest und haben krumme Schnäbel, wie die Eulen, damit picken sie der unartigen Menschenkindlein Augen auf.“ (5)

Diese Erklärung des Sandmanns passt besser zu den Schritten, die Nathanael ja ebenfalls unmetaphorisch hört, und so ist für ihn die Grenze zwischen Wahrnehmung und Vorstellung auf Dauer verwischt: Selbst als Nathanael später einsieht, dass es den Sandmann nicht geben kann, identifiziert er die Geräusche nach wie vor als jene des von ihm weiterhin so genannten „Sandmanns“, bleibt ihm „der Sandmann ein fürchterliches Gespenst, und Grauen – Entsetzen ergriff [ihn]“, wenn er kam, und hat ihn „der Sandmann auf die Bahn des Wunderbaren, Abenteuerlichen gebracht“ (5 f.).

209 „‚Es gibt keinen Sandmann, mein liebes Kind‘, erwiderte die Mutter; ‚wenn ich sage, der Sandmann kommt, so will das nur heißen, ihr seid schläfrig und könnt die Augen nicht offen behalten, als hätte man euch Sand hineingestreut.“‘ (4)

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Eine direkte Begegnung mit dem Sandmann ereignet sich erst in der zweiten Szene. Schon älter, schleicht sich Nathanael endlich in das Zimmer, in dem die alchemistischen Versuche stattfinden, und stellt fest, dass es sich bei dem ‚Sandmann‘ um den alten, den Kindern schon immer widerlichen Advokaten Coppelius handelt. Im entsetzten Erkennen transformiert Nathanael den Sandmann aus dem Ammenmärchen zu einem „Unhold, der überall, wo er einschreitet, Jammer – Not – zeitliches, ewiges Verderben bringt“ (8), und universalisiert damit dessen Bedrohlichkeit.210 Traumatisch gefestigt wird dies durch die Tatsache, dass Coppelius mitten im alchemistischen Versuch, bei dem Nathanael von einem Versteck aus zusieht, „‚Augen her, Augen her!‘“ (9) ruft, hiermit Nathanaels Entsetzen zu einem Aufschrei hin steigert, ihn daraufhin entdeckt und ihm – so unmetaphorisch wie der Sandmann im Ammenmärchen – droht, seine Augen zu nehmen: „‚Nun haben wir Augen – Augen – ein schön Paar Kinderaugen.‘ So flüsterte Coppelius, und griff mit den Fäusten glutrote Körner aus der Flamme, die er mir in die Augen streuen wollte.“ (9) Die Körner, die Coppelius dem Feuer entnimmt, das Nathanael später den Vater nehmen wird, sind die Sandkörner, die dieser Sandmann streut. Der Vater schreitet ein, doch Nathanael verliert in Coppelius’ Griff das Bewusstsein und fällt wie in einen „Todesschlaf“ (9). In diesen zwei Szenen wird die Virtualisierung der Grenze zwischen stark und schwach verankerter Weltmodalität initiiert; sie wird durch das Zusammenspiel von Coppelius, Mutter und Kinderfrau für Nathanael förmlich inszeniert. In der ersten Szene wird Coppelius nur durch die Täuschung der Mutter über die echte Natur des Besuchs zum Sandmann. Nur durch die von ihr vorgenommene Verschiebung kann Coppelius zum Grund für Nathanaels Unvermögen werden, die eigentliche von der uneigentlichen Welt zu unterscheiden. Er muss die echten Geräusche eines Unbekannten als Geräusche eines echten Sandmanns interpretieren. Die Mutter selbst schließt Nathanael gleichsam mit Hilfe der Sandmannfigur die Augen vor dem Besuch des echten Coppelius, sodass Nathanael das im Wachen Wahrgenommene für etwas Geträumtes zu halten beginnen muss.211 In der zweiten Szene bestätigt das Verhalten von Coppelius durch den angedrohten Augenraub diese Interpretation und verstärkt im Wachzustand den

210 Auch der Vater nimmt dessen furchterregende Züge während der alchemistischen Versuche an: „Er sah dem Coppelius ähnlich.“ (9) 211 Und sie bestätigt später sogar noch einmal – Nathantaels unmetaphorisch gemeinte Frage, ob der Sandmann fort sei, metaphorisch auffassend – die Identität von Sandmann und Coppelius: „‚Nein, mein liebes Kind, der ist lange, lange fort, der tut dir keinen Schaden!‘“ (9)

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Prozess der Virtualisierung, wodurch Nathanael, traumatisiert, in einen todesähnlichen Schlaf fällt. Der Sandmann hat hier also, auf der metaphorischen Ebene gesprochen, seine Funktion erfüllt, Nathanael vom Wachzustand in den Schlafzustand zu bringen; jedoch verschiebt sich der Ort des Träumens, denn Nathanael träumt nicht im Schlaf! Zwar verfällt er mehrfach explizit ins Träumen; dessen Erleben wird aber nie ausgeführt, sondern allenfalls als „schwer“ oder „fürchterlich“ gekennzeichnet. Obwohl Coppelius als Sandmann ein Schlaf- und Traumbringer im literalen Sinne ist, ist der Traum für Nathanael keine Heterotopie. Vielmehr bringt ihm der Kontakt mit Coppelius einen traumlosen Schlaf, einen „Todesschlaf“, während sein Träumen ins Wachen verschoben ist. Der ‚Sand‘ schließt und öffnet zugleich Nathanael die Augen: Nathanael nimmt nun – im Wachen – ‚unter dem Sand‘ wahr.212 4.2.3.2 Folgen der Virtualisierung: ‚Unter dem Sand‘ sehen In drei weiteren Szenen, in denen Nathanael ein ‚Sandmann‘ erscheint, wird diese in der Kindheit etablierte Struktur wieder aufgerufen. Weil die Grenze zwischen stark und schwach verankerter Weltmodalität so früh und so grundsätzlich in ihrer Aktualität in Frage gestellt worden ist, reicht nun die Erinnerung an dieses Erlebnis aus, um deren Virtualisierung auch in der erwachsenen Gegenwart voranzutreiben. Zunächst – Szene drei – ruft der Auftritt des Wetterglashändlers Coppola, auch wenn Nathanael ihn umgehend vor die Tür setzt, „[d]unkle Ahnungen eines gräßlichen […] drohenden Geschicks“ (3) in ihm hervor, weil dessen Äußeres ihn an Coppelius erinnert. Auch wenn Coppola einen italienischen Akzent hat und nicht Coppelius sein kann, bleiben Nathanael Zweifel, und er „versank in düstre Träumereien […]. Alles, das ganze Leben war ihm Traum und Ahnung geworden“ (20). Das „ganze Leben“ im Wachzustand wird nun durch diese Begegnung mit dem Leben im Traumzustand ineinandergeschoben. Ein zwischenzeitliches ‚Erwachen‘ verdankt sich den vernünftigen Sortierungsversuchen von Clara. Während Clara nämlich „magistermäßig distinguieren“ kann (15), verfällt Nathanael gerne in „mystische Schwärmerei“ (21), d. h. während Clara Unterscheidungen vornimmt, verschließt Nathanael vor ihnen die Augen (griech. μύειν = Augen schließen).213 Clara vermag mit ihrem „scharf sichtenden

212 Vgl. Kap. 4.2.1.3. 213 Vgl. zu diesem Hinweis Brigitte Feldges: E. T. A. Hoffmann: Epoche – Werk – Wirkung, München: Beck 1986, S. 146.

4.2 Der Sandmann als Grenzfigur zwischen Wach- und Traumwelt

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Verstand“ (20) und ihrem Blick für ‚klare‘ Unterscheidungen die Blicktrübung, die der Sandmann bei Nathanael bewirkt hat, kurzzeitig zu beheben.214 Obwohl Nathanael dieserart zwischenzeitig ‚erwacht‘, wird er – und das ist die vierte Szene – durch das erneute Auftreten von Coppola wieder in einen Traumzustand versetzt. Dies geschieht diesmal allerdings nicht aufgrund einer Identifizierung von Coppola mit dem ‚Sandmann‘ Coppelius – obwohl es ihn einige Selbstüberzeugung kostet, dass Coppolas Ausruf „‚Sköne Oke – sköne Oke!‘“ (26) nur auf das Anpreisen seiner Brillengläser bezogen sein soll –, sondern dadurch, dass Coppola ihm ein Perspektiv verkauft. Hierdurch kann Nathanael Olimpia, einen als Frau verkleideten Automaten, aus der Nähe betrachten, wobei er in dieser Betrachtung, in der ihm Olimpia als lebendige und „himmlischschöne“ Frau erscheint, „wie [in einem] tiefem Traum“ versinkt (27). In der Folge entwickelt Nathanael Liebesgefühle für Olimpia, die sich ausschließlich aus seinen Projektionen und dem Blick durch das Perspektiv nähren (30) – und im Blick auf diese Kraft der Weltschöpfung scheinen tatsächlich alle anderen „prosaischen Menschen“ (33) voller „Stumpfsinn“ (32), wenn sie Olimpias Liebreiz nicht erkennen. Auch diese zweite Sandmannfigur (Coppola) bewirkt also eine Wahrnehmungsveränderung in Nathanael, die einem Traumempfinden gleicht. Nathanael fragt sich bei der Beobachtung des Automaten Olimpia als angebeteter Dame nicht im Sinne einer „Realitätsprüfung“, ob es sich bei ihr um einen lebendigen Menschen handelt oder nicht, sondern folgt seinem „Realitätsglauben“, ganz so, wie es das Träumen kennzeichnet.215 Tatsächlich ist einer der wenigen Sätze, die Olimpia zu sagen vermag: „Gute Nacht, mein Lieber!“ – ein Satz, der gleichsam Nathanaels Wahrnehmung ‚unter dem Sand‘ fortzusetzen empfiehlt und in dem er sich auch endlich „ganz verstanden“ fühlt (34). Fand Nathanael Olimpia bei bloßem Ansehen noch nicht reizvoll (vgl. 26), verändert sich dies durch die Einblendung der Traumwelt in die wahrnehmbare Welt durch Coppolas Perspektiv. Erst hierdurch ‚sieht‘ Nathanael Olimpia zum ersten Mal als lebendige Frau, eine Fehlwahrnehmung, die von Olimpias Konstrukteur, Professor Spalanzani, nicht in Frage gestellt, sondern durch ironische Kommentare, die Nathanael völlig unironisch zu verstehen geneigt ist, genährt wird.216 Auch das gute Zureden seines Freundes Siegmund vermag diese Fehlwahrnehmung nicht zu korrigieren. Nathanael wechselt durch das Perspektiv die Modalität der Welt, er befindet sich

214 Sie ist wie ihre Namensvetterin, Wielands Figur Frau Klare, bemüht, „recht“ zu sehen. Vgl. oben Kap. 4.2.1.3. 215 Vgl. zu dieser Traumkonzeption Steinhoff: Ingeborg Bachmanns Poetologie des Traumes, Kap. I,2, S. 19–31. 216 Auch die Vaterfigur Spalanzani lässt Nathanael daher wie einst seine Mutter im Unklaren.

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mit Olimpia „in einer ganz anderen Welt“ (31). Im Wachen ist er in Olimpias Anblick wie träumend versunken, sodass ihn ein Scharren von Coppola einmal weckt „wie aus tiefem Traum.“ (27) Das Perspektiv Coppolas wirkt wie der Sand, den der Sandmann in die Augen streut. Beim Vorhaben, Olimpia einen Verlobungsring zu überreichen, muss Nathanael – hier spielt sich die fünfte Szene ab – aus diesem Traum ‚böse erwachen‘, indem er erlebt, dass Olimpia nur eine Puppe ist und dieser Puppe von Coppola die Augen ausgerissen und ihm nun – gleich den glutroten Körnern, vielleicht auch Sandkörnern – von Spalanzani an die Brust geworfen werden (35 f.). Er schaut dem Sandmann, metaphorisch gesehen, bei seiner sandmännischen Tätigkeit zu und verfällt dadurch in einen Zustand des Wahnsinns, aus dem er später „wie aus schwerem, fürchterlichem Traum“ erwacht (38). Die Grenze zwischen stark und schwach verankerter Weltmodalität wird gleich doppelt virtualisiert, weil sich zum einen die von Nathanael stark verankert geglaubte Olimpia als ein schwach verankertes Produkt seiner Imagination erweist und sich zugleich das für Imagination gehaltene Treiben des Sandmanns (Augen ausreißen) vor seinen Augen vollzieht. Die Virtualisierung der Grenze zwischen den Weltmodalitäten wird damit so sehr vorangetrieben, dass sich seine Verwirrung bis zum Wahnsinn steigert. 4.2.3.3 Virtualisierung bis zur Haltlosigkeit Nachdem – dennoch – im weiteren Verlauf der Geschichte noch einmal jede Spur seines Wahnsinns verflogen scheint, wirken in der sechsten Szene schließlich alle lose verankerten Verbindungen so zusammen, dass sie Nathanaels endgültigen Fall herbeiführen. Als Nathanael mit Clara auf einem Turm steht und diese ihn auf einen schnell herannahenden grauen Busch hinweist, schaut er sie (nicht den Busch!) durch Coppolas Perspektiv an. Nun steht, wie Mülder-Bach es formuliert, „die Braut ‚vor dem Glase‘, aber sie steht […] direkt davor, so daß Nathanael durch das Perspektiv genau das sieht, worauf sie ihn aufmerksam macht: ein farb- und gestaltloses Etwas oder Nichts.“217 Aus dieser Virtualität heraus ist Nathanael nicht in der Lage, Claras Gestalt zu aktualisieren, vielmehr löst sie sich gleichsam in der Semantik von ‚Busch‘ auf, zusammen mit dem ‚herannahenden Busch‘, den ‚buschigten Augenbrauen‘ des Coppelius und dem, was er ‚als Busch‘ vor dem Perspektiv sieht, nämlich sie selbst. Die sonst ‚stark verankerte‘ Clara erscheint plötzlich als Teil von Nathanaels schwach verankerter Weltwahrnehmung, in der potentiell alles mit der Figur des Coppelius koppelbar ist, an dem er versprochen hat, den Tod seines Vaters zu rächen (12). Folgerichtig

217 Mülder-Bach: Das Grau(en) der Prosa, S. 217.

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packt er Clara-Coppelius und schleudert sie, wie einst Coppola Olimpia, „Holzpüppchen dreh dich“ rufend, als Clara-Coppelius-Olimpia über seinem Kopf im Kreis herum. Hängt potentiell alles mit der traumatisch besetzten Grundfigur zusammen, schließt es sich zusammen mit ihr im Kreis des Wahnsinns. Coppelius ist das ‚Band‘, das alles verbindet, was für Nathanael bedrohlich wird. Er erfüllt die grammatikalische und logische Funktion, die ihm sein Name aufgibt, nämlich Kopula zu sein, wobei er gleichzeitig Subjekt bleibt: „Kopula, lat. copula ‚das Band‘, das Verbindungswort (meist: ist, sind), das in einem Satz oder Urteil Subjekt und Prädikat miteinander verbindet“.218 Kopulaverben, wie z. B. das Verb ‚sein‘, dienen „dazu, das Subjekt mit einem nicht-verbalen Prädikat […] zu verknüpfen bzw. zusammen mit dem Prädikativ das Prädikat zu bilden, z. B. Rudi ist Lehrer/krank/von Sinnen/guten Mutes.“219 So wie es im Beispiel heißt „Rudi ist Lehrer“ und die Kopula „ist“ Rudi als Lehrer prädiziert, lautet es in Der Sandmann: Coppelius ist der Sandmann ist Coppola ist der graue Busch ist Clara ist Olimpia… Wie im Beispiel des Lexikon-Artikels, der zur Erläuterung paradigmatisch mehrere Möglichkeiten anführt, wie das Subjekt prädiziert werden kann, ist Coppelius als Subjekt virtuell mit allen möglichen Prädikaten verbunden. Anders als im Lexikon-Artikel, der beispielhaft eine Auswahl an Prädikaten aufführt, aus der für die Satzbildung gewählt werden kann, bestehen in Der Sandmann alle Verbindungen zugleich, da Coppelius nicht nur das Subjekt, sondern auch die Kopula ist: Die Elemente werden ununterschieden, sie werden durch die Kopula ‚Coppelius‘ indifferent, und so wie die gleichförmigen Sandkörner aneinandergereiht werden können, aber keinen Halt bieten, verrutschen die Coppelius-Elemente für Nathanael und wird Coppelius virtuell. Coppelius ist für Nathanael mit allem möglichen Bedrohlichen verbindbar und durch die Verbindbarkeit mit allem Möglichen bedrohlich; er ist eine Kopula für potentiell alles Bedrohliche; er ist die bedrohliche Kopula. Vorboten des Kreisens, das Coppelius als Kopula bewirkt, zeigen sich zweimal in der Erzählung: zunächst, als Nathanael sich vorstellt, dass der Sandmann Claras Augen berührt, sie gleich Funken an seine Brust springen lässt und ihn selbst „in einen flammenden Feuerkreis [wirft], der sich dreht mit der Schnelligkeit des Sturmes und ihn sausend und brausend fortreißt“ (22); sodann, als Spalanzani ihm die blutigen Augen Olimpias an die Brust schmeißt, denn da „packte ihn der Wahnsinn mit glühenden Krallen […]. ‚Hui – hui – hui! Feuerkreis – Feuerkreis! dreh dich Feuerkreis – lustig – lustig! Holzpüppchen 218 NN: Kopula, in: Wörterbuch der Philosophischen Begriffe, Hamburg: Meiner Verlag 2013, S. 362. 219 PT: Kopula, in: Metzler Lexikon Sprache, hg. v. Helmut Glück, Stuttgart/Weimar: Metzler 3 2005, S. 356.

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hui schön Holzpüppchen dreh dich‘“ (36). Dieser Feuerkreis entsteht nicht nur durch den traumatisierenden Anblick von Augen, die geliebten Personen genommen wurden, sondern er beschreibt auch den Verlust von Nathanaels eigener Sehkraft. Auf diesen Zusammenhang von Feuerkreis und Sehkraft wird im Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens unter dem Stichwort „Auge“ hingewiesen, denn „die Beobachtung, daß bei starkem Druck oder heftigem Schlag auf das A[uge] ein feuriger Kreis erscheint oder Funken aus dem A[uge] zu sprühen scheinen, hat den Glauben hervorgerufen, daß alle diese Glanz- und Lichterscheinungen durch ein im A[uge]ninnern glimmendes Feuer verursacht werden, […] das das Sehen ermöglicht.“220 Der Sandmann ruft über den Feuerkreis das Paradigma des Aberglaubens auf, das Zusammenhänge, die lose verankert sind, für fest verankert erklärt. Gleiches geschieht auch in Bezug auf die „buschigten grauen Augenbrauen“ des Coppelius (7), die dem Aberglauben nach den ‚bösen Blick‘ bedeuten können. Der ‚böse Blick‘ ist eine Art der Augenwirkung, durch die „negative Kräfte“ aus einer „verderbten“ Seele auf andere übergehen können, wobei vor allem „Körperfehler aller Art“, aber besonders an den Augen, als Anzeichen hierfür gewertet werden, nämlich „wessen A[uge]nbrauen buschig oder zusammengewachsen sind […], der ist in vielen Ländern ohne weiteres des bösen Blickes verdächtig“.221 Coppelius, für Nathanael durchaus des bösen Blicks verdächtig, weil „negative Kräfte“, nämlich als ein „feindliches Prinzip“ (21), von ihm ausgehen, tritt am Ende wie ein beschworener Geist in den Kreis von Nathanaels Wahnsinn ein, dessen Zentrum er immer war, und schließt so auch den Kreis zum Anfang der Erzählung. Endgültig zu Fall bringt Nathanael nun schon der Anblick des Advokaten Coppelius, der sich (aus der Turmhöhe auf Clara wie ein grauer Busch wirkend?) laut Erzählerkommentar auf den Marktplatz des Ortes begeben hat: Ihn sehend stürzt sich Nathanael – „Ha! Sköne Oke – Sköne Oke“ rufend – vom Kirchturm hinab (40). In diesem Ausruf verbinden sich das „Ha ha“ des Coppelius, das dieser kurz vorher in der Gewissheit ausstößt, dass Nathanael schon von alleine vom Turm kommen wird, und Coppolas Anpreisung seiner Gläser als „Sköne Oke“: Dies ist die letzte Markierung der Coppelius-Kopula, deren schwache Verankerung Nathanael nicht als eine solche hat auflösen können und die er ein letztes Mal sistiert, bevor er, haltlos in der schwach verankerten Modalität der Welt, seinen letzten Halt verliert.

220 Siegfried Seligmann: Auge, in: Hanns Bächtold-Stäubli (Hg.): Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, Berlin/Leipzig: De Gruyter 1927, Sp. 679–701, hier Sp. 679. 221 Ebd., Sp. 687.

4.2 Der Sandmann als Grenzfigur zwischen Wach- und Traumwelt

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Wenn der Sandmann – in welcher Form auch immer – auftritt, findet für Nathanael ein Übergang von der stark verankerten in die schwach verankerte Modalität der Welt aus leicht koppelbaren Elementen statt: Für Nathanael bleibt der Sandmann nicht der Sandmann der Geschichte, sondern er erscheint ihm leibhaftig als Sandmann-Coppelius; Coppola bleibt nicht der Wetterglasverkäufer, sondern wird ihm zum Sandmann-Coppelius-Coppola, denn es erscheint zunächst kein Irrtum möglich, „daß jener Wetterglashändler [Coppola] eben der verruchte Coppelius war“ (11); Clara bleibt nicht Clara, sondern wird zu ClaraOlimpia, weil in Nathanaels Imagination ihre Augen von Coppelius an seine Brust geworfen wurden wie später tatsächlich Olimpias künstliche Augen; der graue Busch bleibt kein grauer Busch, sondern wird zu Coppelius’ „buschigten grauen“ Augenbrauen und zu Clara vor dem Perspektiv, und Clara wird wiederum in einer Rückwärtsbewegung bzw. einer Vorwärtsbewegung des Kreises zu Clara-Olimpia-Coppelius. Während diese Kopplungen – diese Kopula – für andere unsichtbar oder aus ihrer Sicht leicht auflösbar sind, wird Coppelius für Nathanael, indem dieser ihn mit schlichtweg allem Bedrohlichen identifiziert, zur universellen Bedrohung, die, wenngleich immer lose, gerade deswegen an alles ankoppelbar ist. Deutlich wird dies auch an der losen Kopplung der Buchstaben in der Formel vom „Landsmann Coppola“, die im gleichen Atemzug zur Formel des „Sandmanns Coppelius“ umgewandelt wird. Man könnte mit Freud sagen, dass beide Figuren verschoben werden, nur dass Nathanael die Traumarbeit der Verschiebung im Wachen leistet.222 Man könnte allerdings auch das analytische Potential der Sandmetapher nutzen und sagen, dass beide Figuren in Nathanaels Wahrnehmung förmlich ‚verrutschen‘. Sie rieseln buchstäblich (!) ineinander. Der Sandmann bringt also Nathanael wiederholt von der ‚Tagseite‘ zur ‚Nachtseite‘ des Wahrnehmens: in Traumzustände, in einen Todesschlaf, in den Wahnsinn. Der Advokat Coppelius bewirkt diese Blicktrübung, indem er Nathanaels Augen zu nehmen droht und damit dem bösen Sandmann aus dem Märchen der Kinderfrau entspricht. Coppola bewirkt die Blicktrübung, indem er Nathanael gleichsam ‚Augen‘ gibt, denn das Perspektiv ‚schaltet‘ dessen Blick von der Wahrnehmung der ‚äußeren‘ Welt auf die Projektion ‚innerer‘ Bilder um. Aber beide schließen seine Augen für die Unterscheidung von Wachen und Träumen. Zudem sind an diese beiden Sandmänner weitere Personen angeschlossen, die Nathanael explizit in den Schlaf wünschen: „[S]chlafe – schlafe“, sagt seine Mutter, als Coppelius zum letzten Mal kommt (10), und Olimpia wünscht ihm verbal so gut wie nichts, aber doch eine „Gute Nacht“ (34). Lediglich Clara ist diejenige, die ihn

222 Vgl. Sigmund Freud: Die Traumarbeit, in: Ders.: Die Traumdeutung, Leipzig/Wien: Franz Deuticke 1900, Kap. 4, S. 209–212.

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nicht in die Ununterschiedenheit einer Wahrnehmung ‚unter dem Sand‘ verweist, sondern ihn durch ihr ‚Distinguieren‘ immer wieder aus diesen Zuständen zu wecken versucht. Nicht die Blickveränderung von der starken in die schwach verankerte Modalität der Welt an sich ist hierbei problematisch, sondern die Ununterschiedenheit zwischen diesen beiden Modalitäten und damit die Virtualität dieser Unterscheidung. Keine Unterscheidung ‚hält‘: Alles wird wie im Traum mit allem identifizierbar, und zwar auch die Weltmodalitäten untereinander, sodass für Nathanael in dieser Ununterscheidbarkeit das „ganze Leben […] Traum und Ahnung“ werden kann. Die schwache Verankerung von Unterscheidungen in der Welt, die Wahrnehmungsdisposition des Träumens also, wird zur Disposition des Wachens: Die Wahrnehmung ist immer auch anders möglich. Die Kontingenz betrifft die Form der Wahrnehmung selbst! Coppola kann Coppelius sein, der graue Busch kann Coppelius sein und sogar Clara. Alles wird auf Coppelius beziehbar, und umgekehrt wird auch er in Nathanaels Wahrnehmung immer auch anders möglich; für Nathanael erweist sich Coppelius als fundamental kontingent. Durch den Mangel an verlässlichen Unterscheidungen wird die Instabilität der Wahrnehmung noch gesteigert, sodass Nathanael nicht nur in den Traum fällt, sondern später in den Wahnsinn und dann in den Tod. Coppelius ist für Nathanael ein ‚bedrohlicher‘ Sandmann, weil er für ihn eine schwache Verankerung von Unterscheidungen grundsätzlich werden lässt, weil durch ihn für Nathanael alles kontingent und daher universell bedrohlich wird. Der Sandmann Coppelius ist für Nathanael immer auch anders möglich, und daher kann für Nathanael alles Mögliche so bedrohlich werden wie Coppelius. 4.2.3.4 Die Virtualität der Sandmannfigur Wenn es in der Höhle des Traumgottes Hypnos nicht nur keine Tür im ganzen Haus gibt („ianua […] nulla domo tota est“) und damit alle Zugänge, Übergänge und Eingänge offen sind, sondern auch auf der Schwelle kein Wächter wacht („custos in limine nullus“), wenn also nicht nur im Bereich des Schlafens die Grenzen durchgängig sind, sondern auch die Schwelle zwischen Wachen und Schlafen nicht bewacht ist, so gilt dies in besonderer Weise für Nathanaels Wahrnehmungsweise. Der Sandmann ist für ihn, anders als bei Andersen, kein Wächter, der für ihn diese Schwelle als solche aktualisieren würde, sondern er ist jemand, der diese Schwelle immerzu virtualisiert. Der Sandmann ist zudem in der Erzählung selbst nicht stabil, denn an markanten Stellen wird nicht zwischen den Perspektiven des Erzählers und Nathanaels unterschieden. Auch die Erzählung aktualisiert den Sandmann nicht als

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definitiv unterscheidbar! So heißt es in der Anbahnung einer traumatischen Szene, dass Spalanzanis und „des gräßlichen Coppelius“ Stimmen zu hören sind, worauf Nathanael Spalanzani mit dem „Italiener Coppola“ im Handgemenge um Olimpia erblickt. Als aber letzterer die Treppe mit Olimpia über der Schulter herab- und wegrennt, ruft Spalanzani: „Ihm nach – ihm nach […] – Coppelius – Coppelius, mein bestes Automat hat er mir geraubt“ (36), und Coppelius-Coppola werden zu einer Person. Ebenso offen verhält sich der Erzähler in Bezug auf Nathanael, denn Spalanzani klagt weiter „die Augen – die Augen dir gestohlen“, was sich auf Olimpias Augen beziehen mag, die Coppola gefertigt und soeben wieder an sich genommen hat, genauso gut aber auf Nathanael bezogen werden kann, da außer ihm und Spalanzani niemand mehr im Raum ist und ja der von Spalanzani so genannte „Coppelius“ Nathanael den Augenraub seinerzeit androhte. Wer jeweils von Coppelius-Coppola oder Nathanael-Olimpia gemeint ist, ist aufgrund der Verschiebungen im Textgefüge nicht eindeutig zu sagen, denn es gibt keine Erzähleraussagen, die die Verschiebungen durch die dauerhafte Aktualisierung einer Variante anhalten würden. Vielmehr werden auch andere Figuren in diese Ununterschiedenheit mit hineingezogen, denn der Text trifft keine Entscheidung darüber, ob jene, wenn sie Coppelius und Coppola verwechseln, dies selbst oder nur in Nathanaels Wahrnehmung tun. So betont etwa Clara – die sonst immer so deutlich differenziert –, dass sie diesen Vermischungen gegenüber völlig unempfindlich sei, schreibt aber gleichzeitig dem Coppola die garstigen Fäuste des Coppelius zu: „Ganz und gar nicht fürchte ich mich vor ihm [von Coppola war die Rede, A. K.] und vor seinen garstigen Fäusten [das wäre Coppelius, A. K.], er soll mir weder als Advokat eine Näscherei noch als Sandmann die Augen verderben“ (15). In der Figur des Kreises zeigt sich auch die erzählerische Verstrickung in die Verschiebungen. Der Kreis steht nicht nur für Nathanaels Wahnsinn, sondern strukturiert gleichermaßen die Erzählung: Coppelius ist nicht nur derjenige, der die Verunsicherung in Nathanael auslöst, er taucht auch am Ende wieder auf und beschließt die Geschichte mit der hellseherischen Voraussicht, dass Nathanael sich vom Turm stürzen wird, ganz als habe er dessen Geschicke tatsächlich in der Hand gehabt und als habe Nathanaels Wahn, er werde von Coppelius überall bedroht, Recht behalten sollen. Die Erzählung zieht selbst die Kreise des Wahnsinns, der sich gleich einem Sandstrudel dreht, in dem nicht nur Nathanael schließlich versinkt, sondern auch die Lesenden nicht mit Sicherheit wissen, ob es sich bei dessen schwach verankerten Verknüpfungen nicht doch um recht stabile Kopplungen gehandelt haben könnte. Die Erzählung produziert Kippmomente, in denen ununterscheidbar bleibt, ob es sich um eine erzählte Traumanalogie oder eine erzählte Wachwahrnehmung

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handelt.223 Diese Ungewissheit ist als das Unheimliche der Erzählung herausgearbeitet und breit diskutiert worden.224 Während Ernst Anton Jentsch betont, dass das Unheimliche den „Leser im Ungewissen“ lasse,225 versucht Freud das Unheimliche in Hoffmanns Der Sandmann auf die Figur Nathanaels zu beschränken. Seiner bekannten Definition nach kommt das „Unheimliche des Erlebens […] zustande, wenn verdrängte infantile Komplexe durch einen Eindruck wieder belebt werden oder wenn überwundene primitive Überzeugungen wieder bestätigt scheinen.“226 In der erwachsenen Gegenwart kehre das Verdrängte wieder, und es werde die Realität des verdrängten Inhalts immer noch geglaubt beziehungsweise bestehe eine Unsicherheit, ob sie zu glauben sei oder nicht. Diese Unsicherheit stelle sich aber für die Lesenden in der Erzählung Der Sandmann nur am Anfang ein: „Der Schluss der Erzählung macht ja klar, daß der Optiker Coppola wirklich der Advokat Coppelius und also auch der Sandmann ist.“227 Dies ist aber alles andere als „klar“! Vielmehr kann die Erzählung als ebenso grau gelten wie der Sandmann selbst.228 Das Unheimliche bleibt als „intellektuelle Unsicherheit“229 bestehen, ganz im Sinne von Tzvetan Todorovs Begriff des Unheimlichen.230

223 Vgl. die Erscheinungsformen literarischer Träume nach Steinhoff (Dies.: Ingeborg Bachmanns Poetologie des Traums, Kap. I,2, S. 19–31). Mülder-Bach beschreibt, wie Metaphern in die erzählte Wirklichkeit wandern, wenn etwa das Grausen zum Grau wird oder die Redensart, ‚das Auge auf jemanden werfen‘ zum tatsächlichen Werfen von Augen; dies wären alles auch Beispiele für traumanaloge Verfahren, wie sie Steinhoff vor allem für Bachmanns Ein Ort für Zufälle beschreibt. 224 Vgl. zu diesbezüglicher Forschung etwa Detlef Kremer: E. T. A. Hoffmann. Erzählungen und Romane, Berlin: Erich Schmidt 1999. 225 Ernst Anton Jentsch: Zur Psychologie des Unheimlichen, in: Psychiatrisch-neurologische Wochenschrift 8,22 (1906), S. 195–198, 203–205. 226 Sigmund Freud: Das Unheimliche [1919], in: Alexander Mitscherlich u. a. (Hg.): Studienausgabe, Bd. IV Psychologische Schriften, Frankfurt/M. 1970, S. 241–274, hier S. 271. Vgl. dazu auch Gerhard Schweppenhäuser: Ästhetik. Philosophische Grundlagen und Schlüsselbegriffe, Frankfurt/New York: Campus 2007, Kap. II.3 ‚Das Unheimliche‘. 227 Vgl. Freud: Das Unheimliche, S. 251–256, Zitat S. 254. 228 „Bekanntlich aber wird der Fall in diesem Licht nicht geklärt, vielmehr macht Hoffmanns Kunst der narrativen Perspektivierung es unmöglich, ihn zu entscheiden. Das aber heißt, daß die Ununterschiedenheit, die im chromatischen Leitmotiv des Graus figuriert wird, für den Leser als hermeneutische Unentscheidbarkeit wiederkehrt.“ (Mülder-Bach: Das Grau(en) der Prosa, S. 216) 229 Feldges: E. T. A. Hoffmann, S. 58. 230 Vgl. Tzvetan Todorov: Einführung in die fantastische Literatur, München 1972. Der Sandmann ist daher auch im Sinne des ‚serapiontischen Prinzips‘ verfasst, nach dem in der Dichtung die Grenze zwischen phantastischer Innenwelt und alltäglicher Außenwelt permeabel werden soll (vgl. E. T. A. Hoffmann: Die Serapions-Brüder. Text und Kommentar, Frankfurt/M.: Dt. Klassiker-Verlag 2008).

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Daher steht der Sand hier metaphorisch für die metonymischen Verschiebungen, von denen Samuel Weber schreibt, dass sie in Der Sandmann „das einzig Wirkliche“ seien als die „Bewegung der Differenz“, die nicht zu sehen und auch nicht anzuhalten ist.231 Die Verschiebungen betreibt der Text also auf allen Ebenen. Insofern er seine Geschichte indifferent erzählt, ‚streut‘ er den Lesenden seinen Sand in die Augen, der sie im Sinne des ununterschiedenen und ununterscheidbaren Graus im Unklaren darüber lässt, was als schwach und was als stark verankerte Modalität der Welt zu sehen ist. Die Sicht auf die ‚klaren‘ Unterscheidungen ist getrübt, und der abwesende Wächter zeigt sich nicht zuletzt deswegen besonders in den Verschiebungen, die sich innerhalb des semantischen Feldes ‚Auge‘ – ineinanderrieselnden Sandkörnern gleich – vollziehen. Die Worte ‚Coppelius‘ und ‚Coppola‘ beginnen beide mit ‚Copp‘ und enthalten gleichermaßen die Bedeutung von Augenhöhle (ital. ‚coppo‘ bedeutet Krug, Schale, und eben: Augenhöhle).232 Mit Coppelius ist jedoch die Drohung des Augenraubs (nichts mehr sehen) verknüpft, mit Coppola hingegen der Verkauf von Brillen und Perspektiven (mehr sehen). Beide bewirken aber, dass Nathanael nicht mehr selbst sehen kann. Entweder er sieht – durch die Figur des Coppelius animiert – ‚mystisch‘, oder er sieht – durch das Perspektiv des Coppola – verändert.233 In jedem Fall sieht er etwas, das laut Clara eine schwach verankerte Wahrnehmung der Welt darstellt, denn sie habe gesagt, dass „Coppelius und Coppola […] Fantome [seines] Ichs sind, die augenblicklich zerstäuben, wenn [er] sie als solche,[!] erkenne.“ (15) Coppola/Coppelius produzieren zwar je anders ein gestörtes Sehen, aber gerade aus ihrer Ähnlichkeit entsteht für Nathanael eine bedrohliche Sehstörung, weil er sie nicht unterscheiden kann. Das Morphem ‚copp‘ enthält eben auch das homophone Morphem ‚kop‘ von ‚Kopula‘. Indem Nathanael beide Figuren aufgrund von Ähnlichkeiten für potentiell identisch hält, bleibt immer potentiell unentscheidbar, welche von ihnen zu aktualisieren ist, d. h. es ergibt sich ein Feld möglicher Bedeutungen, die für Nathanael das Problem der Wahrnehmung als unlösbar auf Dauer stellt. Das von ihm Gesehene bleibt kontingent, es ist immer auch in einer anderen Bedeutung – und immer in der universellen

231 Samuel Weber: Das Unheimliche als dichterische Struktur. Freud, Hoffmann, Villiers de l’Isle-Adam, in: Claire Kahane (Hg.): Psychoanalyse und das Unheimliche. Essays aus der amerikanischen Literaturkritik, Bonn 1981, S. 122–147, hier S. 137. 232 Vgl. zur Analyse der etymologischen Verschiebungen, die von Coppelius/Coppola ausgehen, etwa Detlev Kremer: Romantische Metamorphosen. E. T. A. Hoffmanns Erzählungen, Stuttgart/Weimar 1993. 233 Dieses ‚Misssehen‘ überträgt sich über seine Erzählung auch auf Clara, denn ihr „flimmert [es] vor den Augen“ bei der Lektüre von Nathanaels Brief (12).

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Bedeutsamkeit des Coppelius – aktualisierbar. Dessen unheimliche Virtualität besteht darin, Kopula für alles Mögliche zu sein. So ist dies, nämlich die fortdauernde Differentiation, die andauernde Ununterschiedenheit, das Unheimliche der Virtualität, das die Augen ‚raubt‘.

4.2.4 Zwei Sandmänner: Bodo Kirchhoffs Der Sandmann Bodo Kirchhoffs Roman Der Sandmann von 1992 müsste eigentlich Die Sandmänner heißen, denn in ihm gibt es zwei: den etwa 50jährigen Radiosprecher Quint und den „kaum älter[en]“ DDR-Exilanten Branzger.234 Die Geschichte spielt in Tunis, wo Quint mit seinem etwa vierjährigen Sohn Julian nach dessen Babysitterin Helen sucht. Nachdem sie ein Jahr intensive (vor allem Telefon-) Gespräche miteinander geführt haben, Quint aber schließlich auch körperliche Nähe gesucht hat, ist Helen geflüchtet. Eine Postkarte von ihr ist Anlass für Quint, ihr nachzureisen, und er trifft im Hotel, zu dem die Postkarte ihn führt, auf „Doktor Branzger“, der seinerseits für sich keine Zukunft im wiedervereinten Deutschland sah und in Tunis ein selbst gewähltes ‚Exil‘ mit Schreiben verbringt. 4.2.4.1 Der Sandmann mit einer Stimme ‚wie Sand‘ (Quint) Quint ist ein Sandmann, da seine Geschichten wie der Sand sind, den der Sandmann streut. Mit ihrer Hilfe kann er andere ‚einlullen‘: Julian, den er tatsächlich oft schlafen bringt, aber auch im Wachzustand ‚in Träumen‘ wiegt, und Helen, die er mit seinen Geschichten in einen anderen Wahrnehmungszustand versetzt. Auch wenn Quint wie ein geschichtenerzählender Sandmann agiert, erscheint er seinem Sohn aber nicht, wie der Sandmann Andersens Hjalmar, erst dann, wenn dieser eingeschlafen ist, sondern Quints Geschichten begleiten Julians Einschlafprozess. Er ‚streut den Sand‘ nicht, um den Sohn danach im Modus des Schlafens zu bereichern, sondern die Geschichten sind der Sand, den er ihm in die Augen ‚streut‘, um ihn zum Schlafen zu bringen. Dabei ist seine Stimme das Medium, das die schwach verankerte Weltmodalität stark verankert erscheinen lässt: „Ich redete, bis er mir glaubte; nichts fiel mir leichter als solche Vertröstungen. Meine Stimme war wie geschaffen dafür.“ (25) Auch Helen betört diese Stimme wie ein sedierendes Elixier. Sie wechselt unter ihrem Einfluss die Welt-Modalität, die in Gegenwart von Quint schwach verankert wird; sie nimmt durch Quints Stimme ‚unter dem Sand‘ wahr.

234 Bodo Kirchhoff: Der Sandmann, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1994 [1992], S. 28. Die Seitenangaben in Klammern beziehen sich in diesem Kapitel auf diesen Text.

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Der ‚Sandmann‘ Quint bewirkt nicht nur eine destabilisierende Veränderung in der Weltwahrnehmung anderer, er verkörpert diese Instabilität auch selbst: Sein Körper scheint nur eine „provisorische Form“ (52) zu haben, seine Kleider müssen immer wieder vom Schneider verändert werden (72), und auch als Vater sieht er sich nicht als zuverlässige Größe: „Wie gewann man ein Kind, das einem vielleicht schon zwischen den Fingern zerrann – mein ganzes loses Ich litt vor allem bei dem Gedanken, als Vater nicht mehr als ein launischer Riese zu sein.“ (95) Seine eigene Person ist „lose“ und schwach verankert. Das einzig Stabile an ihm scheint, wie Helen erklärt, seine Stimme zu sein, diese Stimme, die an sich eine Irreführung ist. Selbst wenn er damit etwas Wahres sagt, die Uhrzeit etwa, oder daß es regnet, wenn es regnet, kommt dabei immer auch eine Unwahrheit an. Aus einem halb drei, das nur die Eigenschaft des Vergänglichen hat, wird sein halb drei eine väterliche Gabe, die mich zum Gehen mahnt oder leise zum Bleiben einlädt. Mit seiner zu allem fähigen Stimme teilt Quint sogar ein eigenes Wetter und eigene Zeit aus. Sie ist das einzige Feste an ihm. (112)

Quints Stabilität besteht darin, andere mit seiner Stimme in ihrer Weltwahrnehmung zu destabilisieren. Wie der Zauberstab von Andersens Sandmann, der auf Hypnos’ Mohnzweig verweist, ist seine Stimme „zu allem fähig“; durch sie erscheint alles möglich. Würde er zusammen mit seiner Stimme die Fähigkeit verlieren, andere in seinen Bann zu schließen und in Geschichten zu verwickeln, würde er sich selbst verlieren. Deswegen, weil sie so viel wert und so eng mit seiner Identität verbunden ist, ja seine Identität ausmacht, muss er, als er sich selbst in Frage gestellt sieht, gleich einer Autosuggestion seinen eigenen Namen aussprechen, damit er nicht „seinen einzigen Trumpf“, „damit er nicht die Stimme verlier[t]“ (44). 4.2.4.2 Sand in die Augen: Der Sandmann als gefräßiges Ungeheuer (Julian) Seine Stimme ‚wirkt‘ zuallererst bei Julian, der in diesem 213-seitigen Roman nicht weniger als fünfundzwanzig Mal schläft oder einschläft.235 Bei den Einschlafprozessen spielen Geschichten von einem Ungeheuer eine zentrale Rolle, das sich Quint ausgedacht hat und das wie die Träume, die Morpheus bringt, vielgestaltig ist, denn „in jeder Gestalt konnte es überall auftauchen“ (16). Die Geschichten von diesem Ungeheuer dienen in erster Linie dazu, Julian zum Einschlafen zu bringen: „Nach dem Essen fragte Julian plötzlich, wie gut das Ungeheuer fliegen könne, und ich erzählte ihm auf dem Weg zum Hotel von zwei

235 Schläft: 10, 11, 15, 32, 34, 41, 101, 128, 142, 145, 180, 185, 205. Schläft ein: 22, 31, 56, 81, 107, 121, 130, 138, 165, 166, 177, 178.

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Versuchen, welche fehlgeschlagen seien; das letzte Stück trug ich ihn. Als ich ins Zimmer trat, schlief er.“ (31) Aber auch im Wachzustand instrumentalisiert Quint das Ungeheuer, z. B. um seinen Sohn zu etwas zu überreden: Weil Quint aufbrechen und in ein Museum gehen möchte, behauptet er, das Ungeheuer gesehen zu haben, dass sie es sofort verfolgen müssten und es in einem Museum gesichtet wurde – und von diesem Ungeheuer, das nicht gesehen werden möchte und auch noch nie gesehen wurde, möchte Julian nur allzu gerne einen Blick erhaschen (19). Die von Quint nur behauptete Existenz des Ungeheuers zieht für Julian sehr konkret erlebbare Handlungen nach sich, sodass es für ihn als Teil der stark verankerten Weltmodalität erscheint, und zwar so sehr, dass er, als sein Vater das Ungeheuer für tot erklärt, diesen Tod, nicht aber das Ungeheuer, in den Bereich der Imagination verweist: Nur in Quints Geschichte sei das Ungeheuer tot, „‚nicht in echt.‘“ (106) Das Ungeheuer stellt eine Allegorie von Quint dar, denn auch wenn sich seine eigene Ungeheuerlichkeit vor seinem Sohn in der Vielgestalt seiner Geschichten verbirgt, ist sie nicht weniger gefräßig. Das Ungeheuer der manipulierenden Imagination kann nie genug bekommen. So lässt Quint es auch erwachen, um Julian von der Sehnsucht nach seiner Mutter abzulenken (137 f.). Da das Ungeheuer gefährlich ist, sucht Julian nach Möglichkeiten, es durch Schlaf zu besänftigen, und als letzte Möglichkeit, nachdem Quint jede seiner Ideen entkräftet hat, fällt ihm der Sandmann ein: „‚Dann muss der Sandmann kommen‘, flüsterte er, während seine Hand an meiner Schulter abglitt.“ (138) Auf der einen Seite muss also das Ungeheuer (die Imagination) erwachen, damit Julian schlafen gehen kann; auf der anderen Seite ist das Ungeheuer gefährlich und kann nur vom Sandmann beruhigt werden. Dies wäre ein wohlmeinender Sandmann, der das Ungeheuer in Schach hielte, während Julian schläft. Quint jedoch erfüllt diese Rolle nicht, da er selbst das Ungeheuer ist; er schützt Julians Schlaf nicht, sondern nutzt ihn, um seinem eigenen ‚gefräßigen‘ Begehren nachgehen zu können (Helen, Melrose). Als Julian ihm verloren geht und er ihn bei Branzger findet, überlegt er, „ob ich ihn an mich reißen und weglaufen sollte, doch dieses Weglaufen erschien mir sinnlos – wenn es das Ungeheuer gab, bestand es aus einem Gedanken, der jeden Gegengedanken verschlang“ (161). Das Ungeheuer der Imagination ist die Ununterschiedenheit als Gedanke, der die Differenz zur Nicht-Imagination (jeden Gegengedanken) aufhebt (verschlingt). Wird ihm kein Einhalt geboten, lässt es stark und schwach verankerte Weltmodalität ununterscheidbar werden und verleibt sich alles ein, frisst unterschiedslos. Quint kann Julian nicht ‚halten‘, weil er sich nicht dafür entscheiden kann, den Gegengedanken (es gibt das Ungeheuer nicht) vom Gedanken (es gibt das Ungeheuer) zu unterscheiden: Sein Halt bleibt für Julian virtuell. Diese Virtualität des Haltens (Julian nicht halten kön-

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nen) fällt auf ihn selbst zurück (Julian nicht bei sich halten können), sodass er ihn verliert wie Sand, als „ein Kind, das einem vielleicht schon zwischen den Fingern zerrann“ (95). Quint bringt seinen Sohn ins Träumen (mit dem Ungeheuer) und verliert ihn gerade deshalb (an das Ungeheuer), weil er den Gegengedanken, dass Julian wichtiger ist als seine Geschichten (es gibt Julian, aber das Ungeheuer gibt es nicht), nicht denken mag. Er ‚streut‘ den Sand, als der Julian sich in seinen Händen auflösen wird. Während Quint spürt, dass Julian ihm „schon zwischen den Fingern zerrann“, äußert Julian den Wunsch, Quint möge seinen Namen buchstäblich ‚sichern‘: „Dann bat er mich, ein Wort an die Tür zu machen, bat mich, gegen jeden Einwand, die Buchstaben hielten nicht an der Tür, dort in der Mitte seinen Namen anzubringen, bis ich die Buchstaben schließlich, mit sechs Pflastern, ans Holz klebte, wo sie, vielleicht, das einzige Wort von mir bildeten, das für Julian kein Bluff war.“ (107) Quint benutzt solche „Pflaster“ auch schon vorher, um seinen Sohn zu beruhigen und „Kümmernisse“ wie „wehe Stelle[n]“ auf diese sinnlich wahrnehmbare Art zu beheben (16). So stellen auch die sechs auseinandergerissenen Buchstaben von Julians Namen eine Wunde dar, die fixiert werden muss. Der Zusammenhalt des ganzen Jungen erscheint wie ein notdürftig mit Pflastern hergestellter Trost, der selbst nur wie eine zusammen gewürfelte Geschichte funktioniert: ‚Julian‘ ist aufgelöst. Julian wird nicht vor dem Ungeheuer geschützt, denn es gibt für ihn keine Unterscheidung zwischen stark und schwach verankerter Modalität, zwischen dem Ungeheuer als Imagination und der Sicherheit, dass es kein Ungeheuer gibt. Während Quint seinem Sohn einerseits in Bezug auf die stark verankerte Weltmodalität die Augen zuhält (21 f., 166), um sie vor ‚nicht kindgerechten‘ Ansichten wie dem „Hurenwinkel“ (22) zu verschließen, öffnet er ihm umgekehrt in Bezug auf die schwach verankerte Weltmodalität die Augen für das gefräßige Ungeheuer, das Quint sich ausgedacht hat, auch wenn es nur ‚unter dem Sand‘ wahrzunehmen ist. Für den Sohn ist daher die Unterscheidung zwischen dem, was nur innerhalb der Geschichten existiert, und dem, was auch außerhalb von ihnen existiert, nicht mehr zu treffen. Ihm fehlt der hierfür notwendige Halt, und auch deshalb deutet der Text mehrfach auf Julians ‚Absturzgefahr‘ hin, denn er bewegt sich immer wieder gefährlich nah am Abgrund des Hoteldaches (24, 81, 104, 123). 4.2.4.3 Sand in die Augen: Der Eigennutz des Sandmanns (Helen) Auch der zwanzigjährigen Helen eröffnet Quint eine Parallelwelt aus Geschichten, wobei sie sich für den Zeitraum von einem Jahr auf diese Täuschungen aus der „Freude an etwas Erfundenem, einem Geschummel“ (66), bewusst einlässt: „Quint hat mir, gegen besseres Wissen, alle diese Vorstellungen gelassen, er

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hat sogar meinen Traum vom Ethnologendasein weitergesponnen. Und ich ließ mich anstecken von seinen Geschichten, denn ich war jung […] und Quint verkörperte mit seiner Stimme auch eine Art Gerücht, das Gerücht von der Freiheit.“ (53) Auch bei Helen stellen die Geschichten in Verbindung mit der sie vermittelnden Stimme den gleichsam die Wahrnehmung trübenden Sand dar, auch sie gerät durch sie in eine Wahrnehmung ‚unter dem Sand‘. Obwohl Helen die Wahrheit und die Welt ohne Lüge liebt (41), basiert ihre Beziehung zu Quint auf mehrfachen Schwindeleien, die sie zu „Komplizen“ (46 f.) machen. Das Prinzip der Imagination treibt die Beziehung an als „Freude an etwas Erfundenem“ – etwa an der Vorstellung, „eine ganze Spanienreise“ zu unternehmen (66). Zum einen verbindet sich für Helen hiermit ein Gefühl der Freiheit; es eröffnet wie das Reisen, das der Sandmann Andersens Hjalmar ermöglicht, ein Potential, das sie mit Quint ausschöpfen kann. Zum anderen zeigt sich der Modalitätswechsel aber auch als Risiko, da sich dadurch für Quint die Möglichkeit bietet, sie für sich einzunehmen: Aber Quint konnte sich Fehler erlauben, und das wußte er sicher, so wie mir ständig bewußt war, daß diese Fehler an mir hängenblieben. Ich mußte sie mitschleppen und verlor Kraft. Und trotzdem war ich einige Male in Gelächter ausgebrochen, so sehr, daß Quint mich an sich preßte […]. Anschließend lag ich nächtelang wach und fragte mich, was von mir übrig war. Niemand außer mir weiß, wie endlos diese Nächte waren, Nächte, in denen ich abnahm, gleichgültig, was ich aß. Meine Beine wurden dünner, als lägen sie in Gips […]. (111)

Auf Dauer wird Helen buchstäblich davon ausgezehrt, dass sie Quint vertraut, er aber im Gegenzug ihre Integrität nicht schützt, sondern sie beim Anschein einer Schwäche ausnutzt. Gleichwohl beendet sie das Verhältnis erst, als Quint die Modalität wechselt und sein körperliches Begehren, das er in der Modalität des Erzählten und Geträumten ausgefaltet hat, in der stark verankerten Weltmodalität zu aktualisieren und körperlich werden zu lassen versucht (67f.). Diese Grenzüberschreitung rüttelt Helen geradezu ‚wach‘, sie, die schon lange nicht mehr schlafen kann, weil Quint ihr durch Worte „den Schlaf raub[t]“ (118) und stattdessen tagsüber mit ihr träumt. Der ‚Sandmann‘ Quint inkorporiert also gleichsam Helens Schlafzustand (wodurch sie abnimmt), indem er sie tags ins Träumen zieht, weckt sie dann aber, indem er mitten in diesem Schlafzustand die Modalität wechselt, um die Traumwelt zur Befriedigung seines körperlichen Begehrens in die Wachwelt kippen zu lassen. Helen ‚erwacht‘, fühlt sich ausgenutzt und reist ab. Auch für Helen ist Quint also kein wohlmeinender Sandmann, weil er sein Wohlmeinen nur vorspielt. Die Wahrheit, für die Helen steht, ist Quints „finsterster Teil“ seines Ichs (41), und so weiß er vielleicht nicht, „daß die Wahrheit etwas anderes war, als der Sand, den er streute“ (151). Quint wird damit als eindeutig ‚bedrohlicher‘ Sandmann klassifiziert, denn er bewirkt mit dem

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‚Streuen‘ seines Geschichten-Sandes eine Blicktrübung, während die Wahrheit bei ihm nur im Finstern existiert. Als ein solcher ‚Sandmann‘ fühlt er sich von Helen erkannt, eine Selbsterkenntnis, der Selbsthass folgt. 4.2.4.4 Der schreibende Sandmann (Branzger) und die Höhle der Schlafgöttin (Melrose) Der andere Sandmann ist „Doktor Branzger“, der im Verweis auf Hoffmanns Der Sandmann auch als „Landsmann“ Branzger (82) bezeichnet wird und so als ‚zweiter‘ Sandmann der Geschichte markiert wird.236 Von Quint als „eine Art Simulant“ eingeschätzt (27), ist er nicht nur ein „Meister im Wecken kindlicher Träume“ (78 f.), sondern er hat auch ein „beschädigtes Gesicht“ (29), ohne dass eine konkrete Beschädigung auszumachen wäre. Er trägt immer einen „Hirtenstab“ (78) bei sich, ein Attribut, das auf den Schlaf bringenden Mohnstängel des Morpheus verweist. Branzger schreibt Helens Geschichte, ihr „Jahr mit Quint“, aus deren Perspektive. Von dieser Geschichte soll Quint glauben, dass Helen die Autorin sei und deren jeweilige Fortsetzung wird ihm immer rechtzeitig unter der Tür durchgeschoben. Dass diese Geschichte nicht aus Helens Feder stammt, erkennt Quint erst, als er Branzger beim Schreiben überrascht, und er dechiffriert ihn für sich genau in diesem Moment als ‚bedrohlichen Sandmann‘: „Er [Branzger] besann sich wieder auf die Arbeit, schrieb den Satz dann zu Ende und las ihn langsam vor; seine Ruhe war ein Schnabel, mit dem er mir die Augen auspickte.“ (162) Die Geschichte Helens ist der Sand, den Branzger Quint in die Augen ‚streut‘, dadurch dass er sich selbst als die Helen der Geschichte ausgibt: „‚Ich bin Helen.‘ Er öffnete die Augen etwas, ich sah, daß sie feucht waren. Sie schwammen in einer rötlichen Lösung, als seien es geraubte, entnommene Augen“ (162). Branzger erscheint in der Metaphorik des ‚bedrohlichen‘ Sandmanns, indem er nicht nur Helen ihre Augen „raubt“ (ihre Erlebnisse mit Quint aus ihrer Sicht beschreibt), sondern auch Quint seine Sehfähigkeit nimmt und ihm durch die Ruhe, in der er dies tut, „die Augen auspickt“. Alles stamme von ihm, sagt Branzger, „bis auf Helens Ansichtskarte, die hat sie selbst formuliert. Auf meinen Rat hin.“ (162 f.) Die Ansichtskarte – nicht: Postkarte – wird zur ‚Ansichts‘-Sache, wer Quint überhaupt nach Tunis gelockt hat, denn aufgrund dieser Entdeckung scheint es nun so, als habe von Anfang an Branzger Quint in seine Geschichte verstrickt. Die Ansichtskarte, die schon auf der zweiten Seite des Romans erscheint, ist nun nicht mehr sicher, sondern

236 Bei Hoffmann ist Coppola der zweite Sandmann, der „Landsmann“ des „Sandmanns“ Coppelius. Vgl. Kap. 4.2.3.

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nur noch möglicherweise von Helen geschrieben, sodass die ersten Sätze auf ihr ambig werden: „Du irrst dich nicht, das ist meine Schrift, ich lebe.“ (10) Unklar ist nun außerdem, ob der dort gegebene Hinweis, „in der Medina gibt es kleine Hotels mit viel Ruhe“, weniger eine Einladung Helens als ein Lockmittel Branzgers war, dem Quint prompt folgte, denn tatsächlich fand er das „petit hôtel de la tranquillité“, wo er auf Branzger traf (13). Der Name des Hotels verweist auf den Sitz des Hypnos, der in der Hausherrin Madame Melrose personifiziert wird. Sie hat nicht nur immer süße Milch für alle vorrätig, sondern es hängen auch Tropfen von Milch an ihrer Bluse (26) und sie trägt den „Geruch stillender Mütter“, den „Geruch des Glücks“ (33). Wie Hypnos (und Ole Lukøje) kann sie gleichsam den Milchsaft der Schlaf bringenden Mohnkörner permanent verteilen. Zudem führt sie Quint, sich „wie träge Katzen“ (33) bewegend, durch enge Flure zu ihrem Zimmer, in „[i]hr Reich“, dessen Hälfte ein Bett einnimmt und das nur von einem einzigen Licht erleuchtet wird (34 f.). Der Schlafgott in seiner Höhle persönlich.237 Auch Madame Melrose wirkt an Helens Geschichte mit: In ihrem Hotel erhält Quint Helens Zimmer, und sie zeigt ihm Helens Depot sowie das Heft, das Helen dort zurückgelassen haben soll (13 f.), sodass Quint die Blätter, die unter seiner Tür durchgeschoben werden, als Blätter aus Helens Heft erkennen kann. Ebenso erzählt sie – ungebeten – immer wieder einmal von Helens Gewohnheiten, ebenso wie Branzger berichtet, er habe mit Helen mehr als einmal zu Abend gegessen. Schon der erste Satz von Helens Geschichte verweist indessen sowohl die Erzählung als auch das Erzählte in den Bereich der Imagination: „Die folgende Geschichte ist wahr; sie ist so wahr wie die Erzählung eines Traums, der nie geträumt wurde.“ (45) Paradoxerweise ist die Geschichte einerseits wahr „wie die Erzählung eines Traums“, d. h. die Geschichte ist die wahre Erzählung eines Traums, aber andererseits wurde dieser Traum „nie geträumt“: Die Geschichte ist wahr und nicht wahr. Entsprechend gibt es in Helens Geschichte keine eindeutige Erzählposition, denn ‚Helens‘ Geschichte wird als wahre Geschichte von Helen authentifiziert (als Helens Heft), zugleich aber als nicht wahre Geschichte über Helen ent-authentifiziert (als Branzgers Geschichte). Im Nachhinein verwandeln sich damit auch andere Aussagen Branzgers zu zweideutigen Hinweisen, die Quint ins Ungewisse stürzen, wie etwa: „Ich sitze übrigens in Helens Stuhl“ (30).

237 Auch deutet sich in ihrem Namen die Vielgestalt des Träumens an: Sie heißt Melrose, weil sie sich ursprünglich eine Schauspielkarriere erträumte und sich hierfür in der Melrose Road falsche Zähne machen ließ (36 f.). Später erscheint sie Quint im Licht der Morgendämmerung „undeutlich, aber auch grenzenlos“ (146), und er fühlt sich nach einer Nacht mit ihr „getröstet“ (146); Grenzenlosigkeit und Trost sind Charakteristika des Schlafgottes.

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Quint entwickelt derweil durch die Außenperspektive, die die Geschichte auf ihn wirft, ein zunehmend deutlicher werdendes Gefühl des „Uneinssein“ (157) mit sich, und nachdem er weiß, dass Branzger die Geschichte geschrieben hat, „bekam das Uneinssein […] etwas Endgültiges“ (165). Das Nicht-mit-sicheins-Sein ist nun abgeschlossen, da die Einheit des Sandmanns als Geschichtenerzähler ganz aufgelöst ist: Quint ist nicht mehr der einzige, der Geschichten erzählt. War er derjenige, der Helen Geschichten erzählte, erzählt Branzger ihm nun Helens Geschichte. Das Objekt seines Begehrens wird nicht nur durch die Hefte zum Subjekt der gemeinsamen Geschichte, sondern zu einem Subjekt, das sich noch einmal in zwei Subjekte (Helen und Branzger) unterteilt. Die Macht des Erzählens verschiebt sich immer weiter weg: von Quint zu Helen zu Branzger. Wurde Helen bislang von Quint vereinnahmt, fühlt sich Quint nun uneins, da er Branzger als seine andere Seite erkennt, die nun nicht nur Helen inkorporiert, sondern auch ihn, indem jener ihn erschreibt und erkennt. Wie im Versuch, sich wieder sich selbst einzuverleiben, isst Quint eine Seite des Heftes nach der für ihn schwer erträglichen Lektüre auf (155). 4.2.4.5 Die Konkurrenz der Sandmänner Die Geschichten der beiden Sandmänner sind ambivalent ineinander verstrickt. Diese Ambivalenz zeigt sich in den beiden Bedeutungen des lateinischen Verbs concurrere, das ebenso ‚zusammenlaufen‘ wie auch ‚gegeneinanderlaufen‘ bedeuten kann. Im Sinne des Zusammenlaufens entwickelt sich zwischen Branzger und Quint ein Gefühl der Verbundenheit. So rezitieren sie in einer kitschig anmutenden Szene gemeinsam das Schlaflied Der Mond ist aufgegangen (134) und weisen damit auf die gemeinsame Eigenschaft als ‚Schlafbringer‘ hin. Zudem treffen sie sich im ‚Hotel der Ruhe‘ in der ‚Sandstadt‘ Tunis, in die Helen vor Quint geflüchtet ist und in der sie, möglicherweise, durch Branzger ums Leben gekommen ist (am Strand? im Meer?), sodass sie geradezu eine gemeinsame Arbeit an der Verstreuung von Helens Person und damit auch der Liebe zur Wahrheit leisten. Dieser Nähe (133 f.) geht Hass voraus und folgt Hass nach. Im Sinne des Gegeneinanderlaufens gibt es eine starke Konkurrenz um die gleichen Personen (Julian, Helen, Melrose). Julian etwa wird von Branzger „wie sein eigen Fleisch und Blut auf dem Arm“ (126) gehalten, ist von Branzgers Schreiben „völlig gebannt“ (160) und außerdem ganz eingenommen von dessen Fähigkeit, perfekte Flieger zu basteln. Branzger verleibt sich Julian förmlich ein.238

238 Auf die vereinnahmenden Eigenschaften des ‚bedrohlichen‘ Sandmanns deutet auch Branzgers Erzählung hin, er habe im Westen zum ersten Mal „Babygemüse und blutjunge Lämmlein, frisch aus dem Mutterleib gerissen“, gegessen (173).

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Eine Konkurrenz gibt es zudem um den Status als Sandmann. Die unausgesprochene Frage zwischen beiden lautet: Wer darf wem Sand in die Augen streuen? Von Anfang an ist diese Frage in der Konkurrenz um die bessere Geschichte für Julian etabliert: Quints Geschichten vom Ungeheuer hält Branzger seine „Fliegergeschichten“ (177) entgegen, und während Branzgers Flieger Julians Begeisterung entfachen, kann Quint nur von gescheiterten Flugversuchen des Ungeheuers berichten (31). Branzger beeindruckt Julian mit einer Geschichte von Papierfliegern, die in der Ankündigung kulminiert, dass sie ihren Papierflieger am nächsten Tag vom höchsten Turm der Medina losschicken würden (172). Auf Quints Einspruch hin entgegnet Branzger: „Ich werde Sie bitten, mir das Männchen zu überlassen, und Sie werden so nett sein; vorher besorge ich Ihnen das [Helens] Originalheft. Dann sind Sie während unserer Abwesenheit beschäftigt.“ (172) – als definiere Branzger Quints Verhalten und könne es – ein Verweis auf Coppelius in Hoffmanns Der Sandmann – vorhersehen, da er ihn schon von Beginn an in seine Geschichte verstrickt hat. Quint erscheint als manövrierbare Figur, die Julian als ihren „einzige[n] Halt“ (168) gegen ein Produkt der Imagination eintauscht, nämlich gegen die Geschichte von Helen. Quint überlässt seinen Sohn tatsächlich Branzger, der Julian tags zuvor beim Einschlafen erzählt hat, er werde „morgen, als Pilot, mit von dem Turm schweb[en]“ (178). Da Julian nicht sicher zwischen stark und schwach verankerter Weltmodalität unterscheiden kann, besteht nun die Gefahr, dass er die Geschichte, als „Pilot“ vom Turm zu schweben, in der stark verankerten Weltmodalität und damit auf lebensgefährliche Weise aktualisiert. In der Abschlussszene auf dem Hoteldach, das der einzige Ort ist, von dem erzählt wird, dass sich hier der Sand sammelt, spitzt sich der Kampf zwischen Quint und Branzger zu, denn Branzger hat Julian nicht wieder mit zum Hotel gebracht; er habe ihn in einer Menschenmenge verloren (192). Für Quint ist nunmehr die Situation durch Branzgers Verhalten nicht nur in Bezug auf Helen, sondern auch in Bezug auf Julian virtualisiert.239 So wie in Bezug auf Helen weiß er nun auch in Bezug auf Julian nicht, ob jener tot ist oder lebt. Quint wird so mit seinen eigenen Waffen geschlagen: Den Sand, den er Helen und Julian in die Augen ‚streute‘, ‚streut‘ nun Branzger ihm in die Augen, und die verzweifelte Ungewissheit, die das Problem der Virtualität generieren kann,

239 Quint sucht nach Helen, verliert sich aber über diese Suche im Gewirr der Altstadtgassen (20–23). Von Helen schreibt er, sie zähle zu den Frauen, die „im Ausland zum Chamäleon werden“ (17), so sehr könne sie sich ihrer Umwelt anpassen. Ein paar Mal glaubt er, sie zu sehen, doch entweder wird er in diesen Momenten abgelenkt (90) oder er lässt die Gelegenheit verstreichen (94, 167). Branzger macht Andeutungen, Helen könnte gestorben sein, und ebenso zweideutig bleibt seine Äußerung über Helen: „Sie ist nicht da.“ (130)

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wird ihm dadurch gespiegelt: Ist es wahr, was in Helens Heften steht, oder nicht? Ist Helen in Tunis oder nicht? Lebt sie oder nicht? Ist Julian tot oder nicht? Immer wieder fragt Quint Branzger, ob Julian wirklich so verschwunden ist, wie jener es erzählt. Branzger solle eine Variante dauerhaft aktualisieren, ja Quint „fleht[] ihn an, die Wahrheit zu sagen“ (191) – „Ob dies die Wahrheit sei“ (192) –, und er weiß auch nicht, ob er Branzger in Bezug auf Helen glauben soll – „Sie lügen!“ (193) Schließlich scharrt Quint Sand auf dem Dachboden zusammen und wehrt sich nach einer weiteren Provokation durch Branzger ‚sandmännisch‘: „Ganz von selbst, doch mit aller Kraft, die ich aufbringen konnte, als sei ein letzter Damm in mir gebrochen, warf ich Dr. Branzger, kaum hatte er geendet und mich angesehen, den Sand ins Gesicht. Er stieß einen Schrei aus […] und preßte seine Hände auf die Augen, wobei er langsam weitersprach. Alles erfunden, sagte er, Helen habe nie etwas derartiges erzählt.“ (194) Nachdem Branzger schließlich die Ununterscheidbarkeit zwischen dem, was er nur erfindet und dem, was Julian und Helen wirklich geschehen sein mag, ein letztes Mal zuspitzt, indem er erst behauptet, Helen sei tot, dann aber ihre Rückkehr und auch die des verschwundenen Sohnes verspricht – „Ihr Männchen wird wiederkommen. Und Helen wird auch wiederkommen“ (196) –, stößt Quint Branzger (der sich immer noch die Augen zuhält), nachdem er von ihm gebeten wird, ihn am Rücken zu kratzen, vom Dach. Er erträgt die Virtualität der Grenze zwischen stark und schwach verankerter Modalität nicht, sodass er Branzger, der diese Grenze fortwährend virtualisiert, zu Fall bringen muss. 4.2.4.6 Das Erwachen des ‚bedrohlichen‘ Sandmanns nach der Belehrung durch den ‚wohlmeinenden‘ Es gibt also in Kirchhoffs Der Sandmann ein hohes Haus mit begehbarem Dach, und es fällt eine Person von dort hinunter; insofern ist diese letzte Szene analog zur letzten Szene von Hoffmanns Der Sandmann konstruiert. Während es jedoch bei Hoffmann der Träumer ist, der vom Turm fällt und damit das Kreisen der Geschichte beendet, stürzt bei Kirchhoff einer der beiden Sandmänner hinunter. Aber so wie Hoffmanns Erzählung Der Sandmann kreist auch der Roman, indem er am Ende auf die ersten Zeilen verweist: „Ein erster Mord, das ist der Augenblick, in dem die Welt zerbricht durch eine einzige Bewegung, den Ruck, der das Opfer vom Dach stößt. Das ist das blutgetränkte Haar auf einem Kopf, in dem jedes Wissen erlischt, das ist der Täter, der nicht zum Tier wird; am Tier vorbei fällt er ins Bodenlose. Das war der Fall, der auf mich zukam.“ (9) Analog dazu heißt es in den letzten Zeilen: „Ein erstes Kind, das […] ist das Haar auf einem Kopf, in dem alles noch frei ist, das ist der Ältere, der nicht zum Ungeheuer wird; vorbei am Ungeheuer fällt er dem Kind in den Schoß. Das ist der Fall, der vielleicht auf mich zukommt.“ (213)

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Der negativen Voraussicht, dass jemand zu Tode fallen wird (Branzger), gestoßen von jemand, für den diese Tat einen Fall ins Bodenlose darstellen wird (Quint), wird die positive Nachsicht gegenüber gestellt, dass in dem Fall, dass einer nicht (wie Quint) zum Ungeheuer wird, vom Kind (Julian) gehalten wird. Dem blinden ersten Fall, dem Helens Wut auf jene „blinde Väter“ (17) korrespondiert, die in ungeheuerlicher Weise die Augen vor der Integrität anderer verschließen, wird der zweite Fall entgegengesetzt, in dem der Ältere (Quint) sich nicht ungeheuer schuldig macht und dafür umgekehrt vom Jüngeren (Julian) gehalten wird. Diese Semantik von Fall/Fallen wird zudem jenseits des ‚Herunterfallens‘ oder ‚zum Fall werden‘ noch weiter ausgefaltet, denn auch in den Schlaf ‚fällt‘ man ja, wobei einem die Augen ‚zufallen‘.240 Quints Fall besteht darin, dass seine Augen zugefallen sind, dass er blind, ja „blindwütig“ (96) ist, dass er in Bezug auf sich selbst schläft. Da Quint in seiner Woche in Tunis Seite um Seite durch Helens Geschichte die Augen in Bezug auf sich selbst geöffnet werden,241 bedeutet deren Lektüre für ihn ein „stufenweises Erwachen“ (209), und so, wie er in Bezug auf seine Selbstkenntnis zuvor in den Schlaf ‚gefallen‘ war, erlebt er nun sein Aufwachen als schmerzhaften „Aufwärtssturz“ (209). Das „Aufwärts“ deutet auf eine optimistische Sicht des Textes, dem es um die Rettung des Kindes geht. Julian, der oft genug vom Dach zu fallen droht und möglicherweise vom zentralen Turm der Stadt gestürzt ist (wie Nathanael), soll ein solcher Fall nicht drohen. So erzählt es jedenfalls das letzte Kapitel von Helens Geschichte. Auf der letzten Seite ihres Heftes wird davon berichtet, wie ihr Julian in die Arme läuft und ihr die Frage stellt, die den ‚wohlmeinenden‘ vom ‚bedrohlichen‘ Sandmann unterscheidet: „Wirst du dich auch um mich kuemmern[!], wenn ich schlafe?“ (213) Indem Quint sich nämlich gerade nicht um ihn kümmert, wenn er schläft, ist er gerade kein ‚wohlmeinender‘ Sandmann; seine Kompetenz liegt im Herbeiführen des Schlafs und nicht im Schutz oder der Bereicherung der schlafenden Person.242 Quint kommt sozusagen ebenso leise wie der Sandmann Andersens, schont die Personen aber nicht, sondern verletzt sie mit dem ‚Sand‘, den er streut.243 Julian treten daher die Augen bei der Suche nach

240 So sind „Julians Augen nach und nach zugefallen“ (178). 241 Ziel der Hefte ist, „dass auch er sieht“ (118). 242 In den Armen von Melrose liegend, denkt er, „daß ich eigentlich auf dem Dach sein müßte, Julians Schlaf zu bewachen“ – und schläft ein (185). In einem Anflug von Selbsthass reflektiert Quint darauf, dass an einer Charakterentwicklung wie der seinen der „erste Mensch […] Schuld“ sei, der sich „zunächst minutenweise“ von einem zurückziehe, „dann ewige Stunden lang, bald darauf, süße Lügen gebrauchend, für Tage“ (167). 243 Julian wirft Quint vor, dass er, anders als Branzger, nicht immer da gewesen sei (104 f.).

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seinem Vater hervor (206), als würden sie ihm durch dessen Abwesenheit genommen, und er scheint seine Identität als Julian zu verlieren: Er hat seinen Namen aufgelöst und stattdessen „aus seinen Buchstaben ein sinnloses Wort gebildet“ (156). Doch Julians Haltlosigkeit beschließt nicht den Text. Als wolle Kirchhoffs Der Sandmann Nathanaels Trauma und Tod in Hoffmanns Der Sandmann etwas entgegenstellen, deutet der Text am Ende die Schutzbedürftigkeit eines Kindes an, dessen Sturz noch nicht ausgemacht ist, und bringt stattdessen die ‚blinden Väter‘ zu Fall. Die wankenmachenden Sandmänner werden selbst ins Wanken gebracht, und die ‚bedrohlichen‘ Sandmänner entkommen nicht (wie bei Hoffmann) straflos. Es scheint, als würden Quint und Branzger aus diesem Grund die letzte Strophe von Der Mond ist aufgegangen nicht mehr singen (134), da sie kein Recht erhalten, für sich – „Verschon uns Gott mit Strafen und lass uns ruhig schlafen“ – einen straflos ruhigen Schlaf zu erbitten. Der Sandmann erscheint damit bei Kirchhoff weder als wohlmeinende Figur, die den bereichernden Schlaf bringt (wie bei Andersen), noch als universelle Bedrohung für jemanden (wie bei Hoffmann), sondern Quint stellt einen Sandmann dar, der selbst unbewussten Vorstellungen und Wünschen ausgeliefert ist, vor denen er die Augen verschlossen hält, für die er aber wach werden muss, wenn er nicht jene, die ihm hilflos (im Schlaf) anvertraut sind, in diesem Zustand ‚fallen‘ lassen möchte. So gesehen wäre Branzger, „der Simulant“, nur ein als bedrohlich verkleideter Sandmann, da er gleichzeitig die Funktion hat, Quint als Spiegelbild zu dienen, durch das jener aus seinem Traum von sich erwachen, die Augen öffnen und sich seiner bewusst und damit „uneins“ – nämlich zwischen Traum- und Wachzustand unterscheidend – werden möge. Branzger wäre dementsprechend ein verkleideter Aufklärer mit dem Ansinnen, „Quint über sich selbst […] aufzuklären“ (54), ihn zu reflektieren und ihm diese Reflexion über sich selbst zuzumuten.244 Er übte dann die Funktion des wohlmeinenden Sandmanns aus, den Träumenden im Schlaf etwas (von sich) zu ‚zeigen‘. Folgerichtig müsste Branzger dann am Ende gehen, weil der wohlmeinende Sandmann immer nur im Traum erscheint. Die ganze Geschichte wäre dann eine Traumerzählung, und die Ansichtskarte wäre der Sand, der ‚gestreut‘ wird, um Quint in den Schlaf zu locken, in eine Traumreise zur Ansicht seiner selbst.

244 Vgl. hierzu Herders Traumkonzept vom Traum als ‚Selbst-Erkenntnis‘ (dazu etwa MüllerMichaels: Von der Notwendigkeit der Träume für die Bildung des Menschen, S. 67).

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4.2.5 Selbstauflösung des Sandmanns und eine Sandfrau: Peter Luisis Der Sandmann Der Sandmann ist in Peter Luisis Film Der Sandmann von 2011 ein Mann um die dreißig namens Benno.245 Er arbeitet in einem Briefmarkenladen und lebt in einer Wohnung direkt über einem Café, wo er täglich frühstücken geht. Er ist weder bunt noch grau und auch nicht vielgestalt in dem Sinne, dass er vielfältige Geschichten erzählt; seine Art, ein Sandmann zu sein, besteht vielmehr darin, unwahrhaft zu sein. Wird sein „ehrliches“ Urteil verlangt, täuscht er prinzipiell eine schlechtere Einschätzung als seine eigentliche vor. So kauft er einem ahnungslosen Kunden dessen Briefmarkensammlung weit unter Wert ab oder erklärt die exzellente Komposition eines Freundes für zwar gut, aber nicht gut genug. Vor allem aber richtet sich seine herablassende Haltung gegen Sandra, die das Café im Erdgeschoss betreibt und deren beeindruckende Aufführungen ihres Ein-Frau-Orchesters vor einem nicht anwesenden Publikum allabendlich seine Ruhe rauben. Tags drauf erklärt er sie regelmäßig für „untalentiert“ und als sowieso „häßlich“. Während Benno jedoch andere über deren Werte zu täuschen versucht, löst er sich selbst zunehmend auf, und zwar im Wortsinn. Benno, der Sandmann, verliert seinen Sand, und sein Körper schwindet im Verlauf der Geschichte dahin. Luisi fasst den Sand, wie er in einem Interview sagt,246 als „visuelles Problem“ auf, was bedeutet, dass die problematische Inkonsistenz Bennos als rieselnder Sand sichtbar wird. Anders als der Sandmann bei Andersen ist der Sandmann in Luisis Film nicht vielgestalt, sondern von sich selbst auflösender Gestalt; er ist im literalen Sinne ein Mann ‚aus Sand‘. 4.2.5.1 Der Sandmann als Grenzfigur: Selbstauflösung Bennos Eigenschaft, andere über sich selbst zu täuschen, wird erstmals zum ‚Sand‘-Problem, als er von Sandra zu träumen beginnt. Während er sich im Wachzustand vehement von ihr distanziert, ist er im Träumen innig mit ihr verbunden, und nach jedem Erwachen muss er feststellen, dass er während des Schlafens Sand verloren hat. Das Begehren einer im Wachzustand unbegehrten Frau referiert auf William Shakespeares A Midsummer Night’s Dream.247 Diese Referenz macht der Titel Ein Sommersandtraum explizit, unter dem der Film in Deutschland und Österreich vertrieben worden ist, und sie wird auch im leichten

245 Peter Luisi: Der Sandmann, Schweiz 2011. 246 Ebd. 247 William Shakespeare: A Midsummer Night’s Dream. Ein Sommernachtstraum, Englisch/ Deutsch, Stuttgart: Reclam 1978.

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Erzählton deutlich. Der „Nachttraum“ ist zum „Sandtraum“ abgewandelt, der einen Mann ‚aus Sand‘, einen Sandmann generiert. In diesem Sinne ist Benno als Sandmann eine Grenzfigur: Während er körperlich an die Wachwelt gebunden ist, lösen die Träume seinen Körper auf; er ist in der starken Weltmodalität schwach verankert.

Abb. 4.13: Der Sandmann verliert Sand.

Benno und Sandra müssen noch dazu irgendwann feststellen, dass sie ihre Träume zusammen erleben; sie sind sich also in der Wachwelt der gemeinsamen Erlebnisse in der Traumwelt bewusst. Der gemeinsame Traum stellt eine Heterotopie dar, in der ihnen das, was im bewussten Zustand nicht realisierbar ist, nämlich das Erleben der gegenseitigen Liebe, möglich ist. Benno möchte sich aber sein unbewusstes Begehren nicht eingestehen, und also verliert er, weil er sich hierüber immer wieder selbst täuscht, durch die Träume von Sandra Sand. In sarkastischer Abwehr kommentiert Benno den Zusammenhang von Sandra und seinem Sand, indem er sie, die Silben deutlich und eigenwillig trennend, mit „Sand-ra“ anspricht. Zunächst verliert Benno wenig Sand, nur einzelne Körner, die in seinen Kaffee fallen oder in die penibel sauber zu haltenden Briefmarkenalben im Geschäft seines Arbeitgebers. Dann aber findet er in seinem Bett kleine Sandhäufchen, und auf der Straße rieselt ihm der Sand förmlich aus Ärmeln und Hosenbeinen. Schon bald ist er genötigt, lange Unterwäsche zu tragen, die er an den Hand- und Fußgelenken mit dicken Klebestreifen sichert, damit sein Sand keine Aufmerksamkeit erregt. Die Entfernung des Sandes aus der Wohnung

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gelingt ihm aufgrund der wachsenden Sandberge zunehmend schlecht, und er gibt es schließlich ganz auf. Als Problem stellt er fest: „Ich verliere Sand.“ Doch nicht nur seine Freundin Patricia glaubt ihm nicht, sondern auch der Besuch beim Arzt ergibt keinen Befund. Ebenso wenig hilft der Besuch beim Psychologen, der das Problem metaphorisch rückinterpretiert, also dem Sand, dessen Metaphorik vom Film literal aufgefasst wird, seine problematische Dingfestigkeit entzieht: „Interessante Metapher.“ Benno, der weiß, dass er nicht unter einer Metapher leidet, stellt klar: „Nein, das ist keine Metapher. Ich verliere tatsächlich Sand. Also richtig.“ Hierauf schweigt der Psychologe eine Weile und variiert seinen Kommentar, ohne seine Einschätzung zu ändern: „Schönes Bild.“ Sandra allerdings glaubt Benno, und als jener mit wachsender Panik feststellt, dass er zusammen mit dem Sand auch immer etwas an Eigengewicht verliert, hilft sie ihm, den Grund für den Sandverlust zu finden. Nach einem einfachen Test stellt sie fest: „Wenn du ehrlich bist, verlierst du keinen Sand.“248 Auch wenn er nun den Sandverlust als Symptom seiner problematischen Persönlichkeit erkannt hat, kann er ihn dennoch nicht kontrollieren: Er lügt seine Freundin an – prompt rieselt Sand; er antwortet seinem Chef, der Benno wegen dem Diebstahl einer wertvollen Briefmarke zur Rede stellt, nicht ehrlich, und der Chef vermerkt: „Du rieselst“. Vor allem aber kann er seine Träume nicht kontrollieren, in denen er viel Sand verliert. Gleichzeit macht er die Feststellung, dass sein Sand anderen Schlaf bringt. Nachdem ihn diese Zufallsentdeckung zunächst erschreckt, nutzt er sie bald im eigenen Interesse. Er schläfert seinen Chef ein, der ihm wegen der Sandhaufen im Geschäft fristlos kündigt, und macht ihn nach dessen Erwachen und dem Beseitigen des Sandes glauben, dass er – „Ist alles nur ein Traum“ – die Sandhaufen nur geträumt hat. Einen Passanten, der seinen Sandverlust sieht und panisch reagiert, verfolgt er und zwingt ihm seinen Sand auf, damit auch jener beim Erwachen seine Beobachtung für einen Traum zu halten geneigt sein wird. Weil er also das Lügen nicht lassen und seine Träume nicht kontrollieren kann, weil er zudem Lust empfindet, seinen Sand als Schlafmittel einzusetzen und damit andere zu manipulieren, schreitet seine Selbstauflösung fort: Schon rieselt sein Arm in aufgelöster Form aus dem Ärmel und ist fortan ganz verschwunden (Abb. 4.14).

248 Er soll, sagt Sandra, mal etwas Nettes sagen, verliert darüber aber, weil er das nicht ehrlich kann, sofort Sand. Als er seine ehrliche Meinung äußert – Abschätzendes, Entwertungen –, hört der Sand auf zu rieseln.

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Abb. 4.14: Bennos Arm löst sich auf.

In Anbetracht dieser Eskalation, erarbeitet sich Benno die Kunst des faktischen Sprechens. Nur noch deskriptive Sätze, die keinen Sandverlust nach sich ziehen, lässt er seinen Mund passieren („Ich mache Schritte… ok… Ich hab fünf Finger… […]. Ich mach die Tür auf…“ etc.) sowie Formulierungen echter Gefühle. So muss es wider seinen Willen dazu kommen, dass er sich von Patricia, die er nicht mehr liebt, trennt, und ihm sein Chef, dem er den Diebstahl der Briefmarke gesteht, fristlos kündigt. Dennoch löst er sich weiter auf. Er kann zwar im bewussten Zustand die Wahrheit sagen und den Prozess dadurch verzögern, aber er kann ihn nicht ganz anhalten, da der Grund für seine Selbstauflösung im Unbewussten liegt und er nur dort, über den Weg des Träumens, die Lösung seines Problems finden kann. 4.2.5.2 Wechsel des Wahrnehmungsmediums: „Die Antwort. Sie liegt im Traum“ Benno bittet in seiner Verzweiflung den TV-Wahrsager Dimitri um Hilfe, der mit seinem Orakel „Die Antwort. Sie liegt im Traum“ einen Zufallstreffer landet. Um sein Problem lösen zu können, muss Benno das Wahrnehmungsmedium wechseln. Im Traum kann er anders sehen und anderes sehen. Er träumt sogar fortan klar und kann also – sich auch hierin als Grenzfigur erweisend – sowohl im Wach- als auch im Traumzustand bewusst wahrnehmen. In der anderen Weltmodalität des Traums versucht er nun, das Rieseln des Sandes aufzuhalten. Die beiden Weltmodalitäten sind dabei sowohl für Benno als auch für die

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den Film Sehenden deutlich zu unterscheiden: Es gibt eine andere Farbgebung, die Szenerie wechselt, Benno und Sandra sind im Urlaub, lächeln sich an, wirken entspannt, und vor allem ist Bennos Körper unversehrt; er ist in der schwachen Weltmodalität stark verankert. Der Wechsel zwischen Traum- und Wachwelt ist also deutlich markiert. Da Benno bewusst miterlebt, dass er in der Traumwelt agieren kann und ihm dort alles Mögliche möglich ist, wird er hiernach süchtig und führt wiederholt absichtlich Schlaf und Traum herbei, indem er sich seinen Sand wie Rauschgift in die Nase zieht. Erst als sich im Traum anbahnt, dass Benno und Sandra nach ihrer Rückkehr aus dem Urlaub miteinander ins Bett gehen werden, versucht Benno verzweifelt aufzuwachen, da er Sandra im Traum bewusst erlebt, sie aber im bewussten Zustand ablehnt. Gleichwohl lässt er sein Begehren für Sandra nach einigem Widerstand auch im Traum zu, und damit ändert sich seine Wahrnehmung von ihr grundsätzlich. Als Benno aufwacht, steckt er jedoch, jeder Bewegung unfähig, bis zum Hals im Sand:

Abb. 4.15: Der Sandmann, begraben in seinem Sand.

In dieser Lage bleibt ihm als letzte Rettung nur, Sandra im Traum um Hilfe zu bitten; im Traum schärft er ihr ein, dass sie nach dem Aufwachen in seine Wohnung kommen soll, da er sonst im Sand ersticken würde. Der Plan geht auf, auch wenn Sandra wütend überrascht ist – „Wieso kannst du im Traum über die Realität reden?“ Ab sofort versuchen Benno und Sandra, die ab diesem Zeitpunkt auch klar träumt, das Sand-Problem im Traum und zusammen zu lösen.

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Ihr gemeinsamer Traum erweist sich in markanter Weise als heterotoper Ort, als Ort „außerhalb aller Orte“, der einen „Illusionsraum“ schafft und gleichwohl eine Funktion für den verbleibenden Raum hat.249 Diese heterotope Traumwelt wirkt wie für sie inszeniert: Sie haben eine gemeinsame Wohnung, und es erscheinen gemeinsame Bekannte, die wie Manager eine Veranstaltung vorbereiten, die sich als ein gemeinsamer Konzertauftritt herausstellt. Der erste Versuch der beiden Träumenden, den Sand aufzuhalten, besteht auf Bennos Initiative hin darin, sein Lieblingskonzert, Beethovens 9. Sinfonie, aufzuführen, wozu Sandra singen soll. Wach- und Traumzustand gleiten nun nahtlos ineinander über: Im Wachzustand üben sie zusammen, um im Traum bei der Vorstellung brillieren zu können – doch sie scheitern. Nach wie vor ist Benno in die narzisstische Falle getappt, da er von seinem Lieblingslied ausging und also nur sein Traum geträumt wurde. Bei der ‚Auswertung‘ im Wachzustand kristallisiert sich heraus, dass Sandra und Benno zwei sehr verschiedene Konzepte bezüglich ihrer musikalischen Leidenschaft haben. Während Benno sich danach sehnt, dass er wie früher als das Wunderkind, das er war, von der Musik „geliebt“ wird, ist Sandra sich schon als kleines Mädchen „hundertprozentig sicher, dass ich nur aus dem Grund auf die Welt gekommen bin, um für andere zu singen und sie damit ein wenig glücklicher zu machen“. Während Benno schon siebzehnjährig ein Star war und sich immer noch wünscht, wieder auf der Bühne zu stehen, liegt Sandra jede selbstverliebte Zurschaustellung fern. Daher sagt sie ihm nun „die Wahrheit“, also den wahren Grund, warum sie selbst auf die Bühne gegangen ist: nämlich für ihn. Während Benno in seinem eigenen Sand steckt und diese Information verarbeitet, geht Sandra. 4.2.5.3 Von der Blicktrübung anderer zur eigenen Blickerweiterung Nur noch aus Brust, Kopf und Armen bestehend schleppt sich Benno zur Tür von Sandra, die ihm zwar nicht aufmacht, aber von innen an der Tür lehnend zuhört. Er sagt ihr, was einmal seine Wahrheit war, nämlich dass er sie hässlich findet und hasst, und verliert über das, was nunmehr eine Lüge ist, den Rest von sich. Der Sandmann, der ein Mann aus Sand ist, begeht einen Selbstmord aus Liebe, indem er seine letzten Lügen spricht, von denen er weiß, dass sie ihn restlos auflösen werden. Sandra hört, wie bei diesem unwahren und doch zum ersten Mal wahrhaften Geständnis massiv der Sand rieselt. Zuletzt öffnet sie die Tür und kehrt die Kleider und den nunmehr letzten Sandhaufen, der von Benno übriggeblieben ist, in einen Putzeimer (Abb. 4.16).

249 Vgl. die Zusammenfassung von Foucaults Thesen zur Heterotopie in Kap. 4.2.1.1.

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Abb. 4.16: Bennos Rest im Putzeimer.

Mit Bennos Resten auf dem Schoß hält sich Sandra etwas Sand an die Nase und träumt. Für Benno ist dieser wiederum gemeinsame Traum nun der letzte Raum an der Grenze zum Tod; für Sandra ist er wie ein Gang in die Unterwelt und die letzte Möglichkeit, Benno in die Welt der Lebenden zurückzuholen. Zusammen unternehmen sie noch einmal den Versuch, ihr gemeinsames Konzert aufzuführen, und tatsächlich haben sich die Bedingungen verändert: War der Zuschauerraum im ersten Konzertversuch leer, ist er nun bis auf den letzten Platz gefüllt; war für das erste Konzert Bennos Lieblingsstück angesetzt, so ist er nun, aber nur einen Moment lang, irritiert, dass er nicht Beethovens 9. Sinfonie auf dem Notenblatt findet, sondern offenbar, motiviert durch seine neuen unbewussten Eindrücke und Einsichten, ein anderes Stück vorgesehen ist. Dies ist ihm allerdings ebenso gut bekannt, da es sich um die Musik von Sandras Ein-FrauOrchester handelt. Während Sandra beim ersten Konzert gar nicht erst zu singen beginnen konnte, sich in Bennos Selbstinszenierung unwohl fühlte und die Musiker schief spielten, singt sie nun ihr Lieblingsstück, einen Tango, für das sie nicht weiter zu üben braucht und welches sie von jeher nach Feierabend nur für Benno aufgeführt hat. Der Film lässt Sandra, die Geschlechter verkehrend, in der Rolle des Orpheus singen, doch der Erfolg des Versuchs, den Geliebten aus der Totenwelt zurückzuholen, hängt, anders als im griechischen Mythos, nicht allein von ihr ab. Benno muss mit ihr harmonieren, was er zu seinem eigenen Glück

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auch tut: Er dirigiert das Stück mit Leidenschaft. Das Konzert ist ein Erfolg, für beide gleichermaßen, und als der Traum vorbei ist, liegen sie eng aneinander geschmiegt auf dem Boden von Sandras Café. Benno ist vollständig dem Putzeimer entstiegen und nun, da er im Traum sein wahres Selbst gefunden hat, auch in der stark verankerten Weltmodalität wieder in seiner Körperform stabil gekoppelt. Wie in Kirchhoffs Der Sandmann muss der Sandmann Benno im Traum etwas über sich lernen und wird dazu gebracht, etwas von sich zu erkennen. Der missglückte erste Konzertversuch zeigt ihm, dass er sich weiter auflösen wird, wenn er nur sich sieht. Im zweiten Konzertversuch jedoch ist es ihm möglich, auch Sandra zu sehen, die er nur, wenn er sie sieht, lieben und nur, wenn er sie liebt, sehen kann.250 Indem er Sandras Traum sieht und erfüllt, erfüllt er seinen eigenen. War die Lüge der Auslöser dafür, dass er selbst auflösend war, weil er sein Selbst auflöste, findet er im Traum den Zusammenhang seines Selbst. War er vorher in der starken Weltmodalität schwach verankert, findet er in der schwachen Weltmodalität seine starke Verankerung. Der Sand metaphorisiert die schwache Verankerung, die der Film vom Sandkornhäufchen über das Herunterrieseln des Sandes bis hin zu den Sandbergen sichtbar werden lässt, und er wird zum Indikator für das Ausmaß von Bennos losem Zusammenhalt. Löst Bennos Träumen seinen eigenen Körper zunächst auf, erlangt er am Ende erst durch das Träumen seine Kohäsion wieder. Benno ist, obschon ein Sandmann, selbst ein Träumender, dem eine Lehre erteilt wird. Wie bei Andersens Sandmann sind für ihn Traum- und Wachwelt gut unterscheidbar, und also ist einerseits das Träumen für ihn nicht bedrohlich; andererseits nimmt der Traumsand Besitz von seinem Körper in der Wachwelt und nivelliert so die Differenz von Wach- und Traumwelt – die Sandmengen, die seine Wohnung verwüsten und ihn bei lebendigem Leib begraben, sind unheimlich. Doch wer streut diesen einerseits so lehrreichen und gleichzeitig so unheimlichen Sand? Anders als bei Kirchhoff ist dieser Sandmann ‚höherer Ordnung‘ – also ein Sandmann, der einem Sandmann eine Lehre im Traum erteilt – keine belehrende Figur und auch kein Mann, sondern eine Frau, von deren Funktion ihr Name spricht. Sandra ist der Auslöser für Bennos Sandverlust, da er seinen Sand erst verliert, als er von ihr zu träumen beginnt. Sandra ist als konträres Prinzip zu Benno angelegt, insofern sie ihr Begehren nicht verleugnet und die Dinge so bezeichnet, wie sie sie sieht. In dem Moment, wo Benno Sandra zu begehren beginnt, wird seine Eigenart, sich selbst zu verleugnen, problematisch, und so ‚streut‘ Sandra, ohne es zu beabsichtigen, den Sand, der aus Benno rieselt. Je mehr Benno Sandra liebt, desto mehr Gewicht hat es, dass er ihren Wert verleug-

250 „Ut illae Pinae et Lynni fieri opto“ (Sulpiciae Elegidia).

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4 Virtuelle Form des Mediums: Hohe Auflösung des Traums

net, und so löst er sich durch Sandra auf. Gleichzeitig kann Benno nur durch sie im Traum die Einlösung seines Selbst vollziehen und nur mit ihrer Hilfe seiner Selbst-Auflösung entgegenwirken. Hat sie als Sandfrau seine Auflösung bewirkt, so vollzieht sich im Traum durch sie Bennos Kohäsion zu einem in sich und mit sich verbundenen Selbst, die in der Rehabilitierung seines Körpers sichtbar wird. Sandra ist mithin ein unaufdringlicher und gut versteckter, in jedem Falle aber ‚wohlmeinender‘ Sandmann, eine Sandfrau, die Benno im Traum etwas über sich selbst zu zeigen vermag. Sieht man es so, ist der Film eine einzige Traumerzählung, in der Wach- und Traumwelt enthalten sind; er ist ein großer Sommersandtraum, der mit dem Eintritt Sandras in Bennos Leben beginnt.

4.2.6 Der Sandmann als Grenzfigur Die Literatur kennt deutlich mehr Sandmänner (allerdings nicht Sandfrauen) als die genannten. So wurde am Rande bereits auf verwandte Sandmannfiguren wie Jon Blund oder das Pechmännlein verwiesen, Neil Gaimans umfangreichere Comicserie The Sandman konnte nur angedeutet werden und völlig unerwähnt blieb der Film Der Sandmann von Nico Hofmann.251 Da es bislang noch über-

251 Nico Hofmann: Der Sandmann, Deutschland 1995. Es handelt sich um einen Krimi mit einem wechselseitigen Verwirrspiel zwischen einem Skandalautor namens Kupfer, der wegen Totschlags einer Prostituierten verurteilt war, und einem Fernsehsender, der ihn gerne in der konfrontativen Sendung Auge um Auge vor der Fernsehöffentlichkeit als gesuchten Serienmörder bloß stellen möchte. Kupfer inszeniert sich für die recherchierende Fernsehjournalistin so, dass sie genau dies glauben muss, während er selbst die Sendung, in der er nur scheinbar als eben dieser Mörder präsentiert werden kann, nutzen möchte, die Verkaufszahlen seines neuesten Buches hochzutreiben. Kupfer wird damit zum einen zum Sandmann, indem er den „Sandmann“ vortäuscht, denn der gesuchte Prostituiertenmörder wird zynischerweise von der Polizei so genannt, weil er die Prostituierten ausbluten lässt, sodass sie ‚einschlafen‘: „Er kommt und geht wie der Sandmann. Er war immer der letzte Kunde. Er hat sie sanft in den Schlaf gewiegt.“ Zum anderen macht er sich das Medium Fernsehen als ‚Sandmann‘ zu eigen, das den Zuschauern Täuschungen präsentiert, damit sie – im Sinne eines Schlafes der Vernunft – einschlafen können (Kupfer: „Brauchen Sie ein Fernsehen zum Einschlafen?“). Beide Seiten führen sich fortwährend Glaubhaftigkeit vor, obwohl sie sich einander am Ende vorführen werden. Die Konfrontation spitzt sich in der Sendung Auge um Auge zu, so dass der Titel darauf hindeutet, dass hier zwei Sandmänner anderen Sand in die Augen streuen: Das Fernsehen den Zuschauenden und Kupfer dem Fernsehen (und den Fernsehenden). Gewinnen wird dieses Spiel – das ist die fernsehkritische Botschaft – Kupfer, der die Suche der Fernsehbetreiber nach publikumswirksamen Skandalgeschichten um jeden Preis (auch der ‚Wahrheit‘) und die Bereitwilligkeit des Fernsehpublikums, solche Sendungen zu sehen, für seine eigenen Werbezwecke zu nutzen weiß.

4.2 Der Sandmann als Grenzfigur zwischen Wach- und Traumwelt

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haupt keine vergleichenden Forschungsarbeiten zur Sandmannfigur gibt, kann hier auch nicht auf weitere Ansätze oder Überlegungen verwiesen werden. Insofern versteht sich dieses Kapitel 4.2 auch als ein Anfang in dieser Richtung. Indessen war das erste Ziel mit dem vornehmlichen Interesse am Sand als Metapher für Virtualität, den Sandmann als Figur zu untersuchen, die einen Wechsel hin zu einer hochauflösenden Weltwahrnehmung herbeiführt. Die Sandmänner und die Sandfrau in den analysierten Texten organisieren diesen Wechsel zwischen Wach- und Traumwelt sehr unterschiedlich. Die Träume sind jedoch immer Kunstträume, die entweder als kleinere, abgeschlossene Einheiten erscheinen wie bei Andersen, als kunstvoll arrangiertes Ineinander von Wach- und Traumwahrnehmung wie bei Hoffmann oder als narrativer Rahmen, wenn wie bei Kirchhoff oder Luisi die ganze Erzählung zur Traumerzählung wird, die wiederum die Unterscheidung von Wach- und Traumwelt in sich enthalten kann. Im intertextuellen Bezug zeigt sich, dass die jeweiligen historischen Traumdiskurse an der Funktion des Sandmanns mitschreiben, wenn es etwa bei Hoffmann besonders um die Un/Unterscheidbarkeit von Träumen und Wachen geht, in den Texten des späten zwanzigsten und frühen einundzwanzigsten Jahrhunderts aber das Thema unbewusster Vorstellungen und Wünsche stärker in den Vordergrund rückt, und zwar nun auch des Sandmanns selbst. Immer jedoch erscheint der Traum als das, was er ist, nämlich als eine „anthropologische Grenzerfahrung“,252 deren Vorgänge die Texte anhand des Sandmanns diskutieren, der beide Seiten jenseits dieser Grenze beschreitet. 4.2.6.1 Des Sandmanns Grenzen Der Sandmann ist eine Raumfigur, insofern sich an ihm Wach- und Traumwelt scheiden, und er ist die Einheit dieser Unterscheidung, weil er in beiden Räumen zugleich agiert. Mit nochmaligem Verweis auf Ovid, demnach sich im Reich des Schlafgottes auf der Schwelle kein Wächter befindet („custos in limine nullus“), können die Sandmannfiguren daraufhin befragt werden, ob sie als Wächter auf der Schwelle zwischen Schlaf und Traum agieren und also die Unterscheidung als solche sistieren oder ob sie diese Schwelle unbewacht lassen, sodass beide Bereiche ununterscheidbar sind. Andersens Sandmann stellt in dieser Hinsicht einen einfachen Grundtyp dar, da er durch seine An- oder Abwesenheit einen eindeutigen Unterschied zwischen den verschiedenen Wahrnehmungsräumen markiert. Er wacht über die Grenze, indem er sie durch diese Differenzierung aktualisiert. Anders verhält es sich bei Hoffmanns Sandmann, der den entsprechenden Gegentypus darstellt. Hier hat der Wächter die Grenze verlassen, deren wichtige Ord252 Wagner-Egelhaaf: Traum – Text – Kultur, S. 128.

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4 Virtuelle Form des Mediums: Hohe Auflösung des Traums

nungsfunktion Jupiter in Erinnerung rief; niemand bewacht und beschützt sie. Der Sandmann ist vielmehr der Auslöser der unaufhaltbaren Verschiebungen, die sich zwischen Traum- und Wachwahrnehmung ereignen. Indem der Sandmann Coppelius potentiell an alles ankoppelbar und daher selbst virtuell ist, löst er für Nathanael die starken Verankerungen in der stark verankerten Weltmodalität auf und ist zugleich derjenige, der in Entsprechung dazu die schwache Weltmodalität in ihm stark verankert; er ist potentiell immer anwesend. Kirchhoff nimmt auf diesen Sandmann Hoffmanns neben einigen Andeutungen auf die geraubten Augen, den Sturz vom Turm und die ‚klare‘ Frau vor allem dadurch deutlich Bezug, dass Quint für andere die Grenze zwischen Wach- und Traumwahrnehmung verwischt. Dieser Sandmanntyp wird allerdings abgewandelt, da auch der Sandmann selbst (Quint) von einem Sandmann höherer Ordnung (Branzger) in eine solche indifferente Wahrnehmungslage gebracht wird und in Bezug auf sein eigenes „loses Ich“ eines Besseren belehrt werden soll. In diesem Sinne ist die ganze Erzählung eine Traumerzählung, in der der Sandmann wie bei Andersen anwesend ist und erst geht, als Quint erwacht: Branzger tritt freiwillig ab, über die Schwelle des Hausdaches, über die er die ganze Zeit gewacht hat!253 Er muss gehen, damit Quint erwachen kann. Luisis Sandmann schließlich agiert ebenfalls, und ab einem bestimmten Zeitpunkt auch bewusst, in Wach- und Traumwelt, ist jedoch (wie Quint) gleichzeitig selbst der Träumende, der allerdings gut zwischen beiden Zuständen unterscheiden kann. Sandra als Sandfrau macht zwar die besagte Grenze durchlässig, indem sie Bennos Sand zum Rieseln bringt, aber weil sie als Grenze erkennbar bleibt und in immer kürzeren Abständen überschritten wird, ist sie gerade dadurch als Schwelle gut markiert und bleibt ‚bewacht‘. Benno ist eine Grenzfigur, weil sein Körper die Einheit beider Weltmodalitäten darstellt; die Erlebnisse sorgen hier wie dort dafür, dass er sich zu Sand auflöst oder sich wieder aus dem Sand konsistent bildet; seine Eigenschaft als Grenzfigur manifestiert sich körperlich. Mit den verschiedenen ‚Grenzeigenschaften‘ der Sandmannfiguren ist auch eine unterschiedliche Kohäsivkraft verbunden. So steht die Konsistenz von Andersens Sandmann außer Frage, und gerade deshalb kann er, so meine These, ein buntes Gewand tragen. Die Vielgestalt des Sandmanns zeigt sich nur an seiner Kleidung, die auf die stabile Vielgestalt der Träume verweist, aber keine Instabilität seiner selbst impliziert. Diese Vielgestalt erscheint daher als gut unterscheidbar „bunt“ und nicht als ununterscheidbar „grau“ wie beim Sandmann Hoffmanns, der mit seiner Eigenschaft, eine potentiell universale Kopula

253 Branzger hat sich auf dem Dach ein Zelt als dauerhafte Bleibe gebaut und bewegt sich, anders als Quint, immer wieder am Rand des Daches.

4.2 Der Sandmann als Grenzfigur zwischen Wach- und Traumwelt

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zu sein, jegliche Kohäsion, auch die eigene, ad absurdum führt. Bei Kirchhoffs Sandmann Quint überträgt sich dessen „loses Ich“ in die Instabilität der eigenen körperlichen Gestalt, die kein buntes Kleid für alle Träumenden zu tragen vermag, da sie selbst schon keine mit sich selbst gleich bleibende Kleidung (er)trägt. Quint ist daher für andere kein buntes Potential, sondern ein destabilisierendes Problem. Bei Luisis Sandmann kommt die mangelnde Kohäsivkraft schließlich durch den Sand als sich unmetaphorisch zeigende Metapher zum Ausdruck, indem Benno bei jeder Unwahrheit Sand verliert und sich nach und nach ganz zu Sand auflöst; am Ende bleibt von ihm, jedenfalls solange er ein – andere und sich über sich selbst täuschender – Sandmann ist, nur ein Haufen Sand übrig, während die Sandfrau Sandra als in sich konsistente Persönlichkeit auch körperlich stabil bleibt. Benno führt seinen aus seiner Inkonsistenz gewonnenen Sand auch anderen zu, die mit einer derart sofortigen Wirkung in Schlaf fallen, dass die Komik des Films hier selbstironisch zu Tage tritt. Aber nicht nur dies: Kaum je hat ein Sandmann erst so unbeabsichtigt, dann so lustvoll und später so leidvoll mit seinem Sand sich und andere in den Schlaf gebracht wie Benno, sodass der Film nachgerade eine eigene Semantik des somniferen Sandstreuens entfaltet. Die Geste des Sandstreuens zeigt sich auch in den anderen Texten jeweils unterschiedlich, wenngleich nicht so ausdifferenziert. Der Sandmann Andersens streut Sand als Bedingung der Möglichkeit, die Vielgestalt der Träume wahrzunehmen. Quint streut Sand in einer letzten hilflosen Geste, mit der er sich gegen den ihm überlegenen Sandmann Branzger zur Wehr setzt. Auch wenn Quint metaphorisch mit seinen Geschichten und seiner Stimme den ununterschiedenen und Unterscheidungen nivellierenden ‚Sand‘ streut, ist Branzger als Sandmann im Hause des Schlafes (in Melroses „Hotel der Ruhe“) im ‚Streuen‘ von Geschichten um so viel einflussreicher, dass Quint nur noch auf die physische Blendungskraft des literalen Sandes vertrauen kann, den er Branzger in die Augen wirft. Indem Branzger, den Sand noch im Auge, über die Schwelle des Hausdaches in den Abgrund fällt, ist die Szene zwar als intertextueller Verweis, aber auch als Entgegensetzung zur Turmszene in Hoffmanns Der Sandmann zu sehen. Denn dort fällt nicht der Sandmann, sondern der ‚träumende‘ Nathanael, wodurch die sandartigen Verschiebungen, die der Sandmann hervorgerufen hat, enden. Der Sand selbst ist verschoben in die glutroten Körner, die Coppelius mit den Worten aus den Flammen nimmt, Nathanael damit die Augen rauben zu wollen, wobei er mit ihnen allein durch die Kraft ihrer Bedeutung für Nathanael dessen Wahrnehmungsvermögen grundsätzlich destabilisiert. Die Verschiebungen des Sandmanns können daher bei Hoffmann nur angehalten werden, indem Nathanael stirbt. Der Tod ist bei Hoffmann kein parallel agierender freundlicher „Bruder“ des Sandmanns wie bei Andersen, sondern er

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4 Virtuelle Form des Mediums: Hohe Auflösung des Traums

ist Konsequenz und Ende dessen Treibens zugleich. Coppelius wird nicht vom Marktplatz gehen, um Nathanael – wie Branzger Quint – aufwachen zu lassen, sondern er wird erst dann seine Bedeutung als Sandmann verlieren, wenn Nathanael der Haltlosigkeit des Sandes nicht mehr widerstehen kann. Wenn der Sandmann von der Bildfläche verschwindet, hat er also entweder den Träumenden erwachen lassen (bei Andersen und Kirchhoff) oder ihn in den Tod getrieben (bei Hoffmann) oder aber er ist (bei Luisi) selbst dem Tod im wahrsten Sinne des Wortes von der Schippe gesprungen: Sandra, die die letzten Sandreste des Sandmanns Benno auf einer Schaufel aufkehrt, bringt Benno den Tod, solange er selbst Sandmann bleibt, und nur durch die Erkenntnis dessen wird er als Sandmann abtreten, aufwachen und (aus dem Putzeimer) wieder auferstehen. Dies wiederum geht nicht ohne Sandra, die als Sandfrau nie im literalen Sinne Sand streut, sondern vielmehr zusammenkehrt, und die ihn auch nicht anderen an die Nase führt, sondern nur einmal sich selbst, um mit Benno den letzten gemeinsamen Traum zu träumen. 4.2.6.2 Sand im Auge: Wechsel des Wahrnehmungsmediums Der Sand im Auge ist eine Metapher für den Wechsel des Wahrnehmungsmediums, den er als metaphorisches Medium oder Metapher initiiert. Er führt auf die eine oder andere Weise zu den anderen Wahrnehmungsbedingungen der schwach verankerten Weltmodalität. Diese ist wie der Sand durch die leichte Formbarkeit ihrer Elemente sowie deren leichte Auflös- und Rückführbarkeit in die Differentiation gekennzeichnet. Diese Spezifika des Sandes machen ihn (auch) zur Metapher für das Träumen. Der Sand im Auge führt aber nicht an einen unwirklichen Ort, sondern vielmehr an einen Ort, der anders wirklich ist. Diesen Wechsel zwischen Wachen und Träumen erleben Hjalmar und Benno als Wechsel zwischen Räumen, die zwar aneinandergrenzen, aber voneinander abgegrenzt sind; sie befinden sich in ihnen nacheinander. Hjalmar bewegt sich in einer klar gerahmten Raumarchitektur, während Bennos Wechsel der Wahrnehmungszustände für ihn durch Aufwachen und Einschlafen deutlich erkennbar ist. Der Traum kann von diesen beiden Träumern als ein nicht dieser, sondern: differenter Möglichkeitsraum erfahren werden, als Heterotopie. Der Traum ist für sie „ein wirksamer Ort“, was an Bennos körperlicher De- und Rekohäsion besonders sichtbar wird. Aus diesem Grund erscheint der Traum auch als Reise an einen anderen wirklichen Ort: Hjalmar begibt sich auf Traumreisen, und Bennos Traum mit Sandra beginnt mit einer Reise in ein südliches Land (Frankreich, Italien…). Eine Reise unternimmt auch Quint, und nur indem sie die Erzählung diegetisch rahmt, wird erkennbar, dass es sich um einen Traum handeln könnte: Gelockt von der Ansichtskarte begibt er sich dorthin, wo er unter anderen Wahrneh-

4.2 Der Sandmann als Grenzfigur zwischen Wach- und Traumwelt

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mungsbedingungen seine Ansichten zu ändern vermag. Tunis wird für ihn zu einem traumhaften, heterotopen Erlebnisraum. Der Wechsel des Wahrnehmungsmediums versetzt die Träumenden Hjalmar, Quint und Benno in eine andere Modalität der Welt und ermöglicht es ihnen, sich und die anderen ‚anders‘ zu sehen: Hjalmar erlebt die starren Setzungen der Wachwelt als relativ und die Grenzen der Wachwahrnehmung als transzendierbar; Quint erfährt nur durch Branzgers Tunis-Inszenierung von Helens Geschichte etwas über sich und sein Verhältnis zu seinem Sohn; schließlich ist die Lösung von Bennos Problem nur über den Weg des Traums zu leisten: Anders zu sehen hilft ihm, sich und Sandra in einem ‚neuen Licht‘ zu sehen und sie anders zu erleben als in der Wachwelt. Träumen ist hier somit explizit eine differente Art der Wahrnehmung, in der nicht die Realität beendet, sondern das Sehen transformiert wird. Anders als bei Hjalmar, Quint und Benno verhält es sich bei Nathanael, Helen und Julian. Bei ihnen gibt es keinen Wechsel des Wahrnehmungsmediums, vielmehr wird die schwache Verankerung zur dauerhaften Weltwahrnehmung. So ist Nathanaels Traumerleben derart in die Wachwelt verschoben, dass beide Welten ununterscheidbar werden: Das im Wachen Wahrgenommene gleicht Geträumtem und vice versa. Julian ist ebenfalls der Gleichzeitigkeit von Wachen und Träumen ausgeliefert, da das Ungeheuer auch im Wachzustand fest verankert ist und demnach Gedanke (Imagination) und Gegengedanke (Nicht-Imagination) des Ungeheuers (des Ungeheuers der Imagination) zugleich bestehen. Ähnlich gibt sich Helen unter dem Einfluss von Quints Stimme und seinen Geschichten ihren Träumen im Wachen hin. Alle drei haben damit keine Möglichkeit, das Träumen als Heterotopie zu erleben, da es eine vom Wachen nicht unterschiedene Wahrnehmung ist. Daher muss der Schlaf von Nathanael und Helen traumlos bleiben, denn das ‚Träumen‘ vollzieht sich schon im Wachen. Es ergeben sich so insgesamt veränderte Wahrnehmungsbedingungen: Nathanael, Helen und Julian sehen ‚anders‘, aber nicht im Traum, sondern im Wachzustand; sie nehmen ‚unter dem Sand‘ wahr. In einer Welt, deren Modalität ‚wie Sand‘ funktioniert, sind die Bilder extrem leicht generierbar: Der Sandmann Andersens kann mit einer Berührung des Zauberstabs von einem Moment auf den anderen Bilder entstehen lassen, unbelebte Dinge beleben und Hjalmars ganzes Zimmer verwandeln. Quint fällt Helens Geschichte wie von allein zu, indem sie ihm nach und nach unter der Tür durchgeschoben wird und die von ihm herbeigesehnte Helen ständig in Gesprächen auftaucht. Benno ist in seinen Klarträumen alles Mögliche möglich: Er kann Eis essen, das ihn nichts kosten wird, er kann auf einer Vespa fahren, die ihm nicht gehört. Zugleich sind diese Bilder aber nicht beständig. Auch Hjalmars Erwachen lässt die Traumwelten, in denen er agierte, erlöschen; die Dinge sind nicht mehr belebt, sondern starr. Helens Geschichte löst sich nicht nur in einzelne

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Blätter auf, sondern mit der Autorschaft von Branzger auch als Geschichte von Helen. Schließlich erwacht Benno aus jedem seiner Träume, und sie, die ihn als stark verankerte Persönlichkeit zeigten, lösen sich im Sand auf, der in die Wachwelt rieselt. Auch für Nathanael, Helen und Julian sind die Formen in der schwach verankerten Weltmodalität leicht generierbar: Für Nathanael ist potentiell alles an den Sandmann koppelbar, Helen erfindet zusammen mit Quint ganze Reisen und Julian sieht das Ungeheuer überall, wenn Quint es nur herbeierzählt. Gleichzeitig sind diese Traumbilder auch sehr leicht wieder auflösbar, allerdings nur aus der Außenperspektive. So können Clara oder Siegmund Nathanael nachweisen, dass sich alle seine Bilder entkräften lassen, und Quint kann das Ungeheuer für tot erklären. Doch: Der Modus der schwachen Verankerung ist selbst so stark verankert, dass Nathanael in seinen Bildern gefangen ist und Julian das Ungeheuer für „echt“ erklärt. Die schwach verankerte Weltmodalität ist für sie beide manifest. Traum- und Wachdisposition sind für sie nicht unterscheidbar, vielmehr wird Kontingenz für sie zum Strukturprinzip der Wahrnehmung und die permanent virtualisierbare Wahrnehmung zu einem Problem. Nur Helen ist, als Quint zu weit geht und ihr damit ‚die Augen öffnet‘, in der Lage, sich aus dem Einfluss des Sandmanns zu befreien, seine Geschichten als Teile der schwach verankerten Weltmodalität zu begreifen und sich davon und von ihm zu distanzieren. Deshalb ist es ihre Geschichte, die im Traum Julian vor dem Einfluss seines Vaters retten soll. Die leichte Auflösbarkeit der Traumwelt hängt also damit zusammen, ob die Träumenden zwischen Wach- und Traumwelt unterscheiden können. 4.2.6.3 Blicktrübung oder Blickerweiterung: Un/Unterscheidbarkeit von Wach- und Traumwelt Ob der Sandmann als ‚wohlmeinend‘ oder als ‚bedrohlich‘ wahrgenommen wird, hängt damit zusammen, ob er diese Unterscheidung zwischen schwach und stark verankerter Weltmodalität ermöglicht oder nicht, ob er also ein ‚guter‘ oder ein ‚schlechter‘ Wächter auf der Schwelle ist. Der Sandmann ist ‚wohlmeinend‘, wenn die Weltmodalitäten unterscheidbar sind; ist dies nicht der Fall, ist er ‚bedrohlich‘. Nur wenn diese Unterscheidung möglich ist, kann der Traum eine Blickerweiterung darstellen bzw. eine Wahrnehmungserweiterung in eine innere Wirklichkeit hinein: In der Traumwelt kann mehr und anders gesehen werden als im Wachzustand. Wenn diese Unterscheidung jedoch nicht möglich ist, stellt der Traum eine Blicktrübung dar, weil Wach- und Traumwahrnehmung sich dergestalt verschieben, dass nicht nur keine Welt hinzukommen, sondern auch die Wachwelt nicht mehr ‚gesehen‘ werden kann: Die Augen werden geraubt.

4.2 Der Sandmann als Grenzfigur zwischen Wach- und Traumwelt

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In Andersens Der Sandmann sind Wach- und Traumzustand für Hjalmar gut zu unterscheiden, indem die An- und Abwesenheit des Sandmanns deutlich markiert und damit die Wahrnehmungsräume gerahmt sind. Andersens Sandmann gehört daher in die Kategorie des ‚wohlmeinenden‘ Sandmanns, dessen Auftreten den Horizont des Schlafenden noch im und gerade durch den Traum erweitern kann. Er schafft Erfahrungs- und Reflexionsräume, die durch Erzähltes, Gezeigtes oder Erlebtes immer eine ‚Lehre‘ enthalten, die auch im Wachzustand nützlich sein soll. In Kirchhoffs Der Sandmann wird Branzger zwar explizit mit dem ‚bedrohlichen‘, die Augen ausreißenden, Sandmann identifiziert, insofern er die Täuschung Quints bewusst und wiederholt herbeiführt; dem Effekt nach aber ist er dem ‚wohlmeinenden‘ Sandmann ähnlich, weil er Quint eine lehrreiche Geschichte erzählt: Quint kann durch die Vorführung seines eigenen Tuns und die Evozierung einer verwirrten Welt erfahren, was er anderen zufügt – eine speziell auf Quint zugeschnittene Wahrnehmungserweiterung. Der Sandmann Branzger tritt als Aufklärer auf, der durch Helens Geschichte Quints Selbsterkenntnis im Traum ermöglicht. Er markiert als Wächter die Grenze dadurch, dass er das Hausdach bewacht und schließlich auch überschreitet, sodass Quint aufwachen kann: Sein Abwärtssturz über den Rand des Daches ist Quints Aufwärtsfall. Auch in Luisis Der Sandmann sind Wach- und Traumwelt deutlich unterschieden, und auch hier ermöglicht der Traum mit seiner zusätzlichen Wahrnehmungs- und Erlebnisqualität eine ebensolche Selbstsicht und Selbsterkenntnis bei Benno. Sandra ist insofern eine ‚wohlmeinende‘ Sandfrau, als sie Bennos Auflösung zwar in Gang setzt, aber Benno ohne sie nicht zur eigenen Selbst-Kohäsion gefunden hätte. In Hoffmanns Der Sandmann hingegen wird Nathanaels Horizont nicht erweitert; sein Unterscheidungsvermögen wird vielmehr durch das Auftreten des Sandmanns getrübt. Coppelius, der ‚Augenausreißer‘, evoziert als gefährliche Kopula einen universellen Bedrohungszustand für Nathanael, aus dem er immer nur kurzzeitig ‚erwacht‘. Wach- und Traumzustand verschränken sich so, dass sie eine Erweiterung seiner Weltwahrnehmung verhindern und sein Sehvermögen fundamental stören. Die Lektüre des Textes ist indessen blickerweiternd, da der Text eine hochkomplexe Darstellung dessen bietet, was das Problem der Virtualität bedeuten kann. Während Coppelius von Anfang an für Nathanael bedrohlich ist, erscheint Quint auf den ersten Blick noch wohlmeinend, da seine Stimme einen sanften Übergang vom Wach- in den Traumzustand herbeiführt. Indem er aber diesen Zustand nicht, wie der Sandmann in Andersens Märchen, wieder beendet, indem er also dem Gedanken keinen Gegengedanken erlaubt, produziert er die Gefahr der Täuschung als das Ungeheuer der Imagination. Sein Sohn Julian kann dieser Verquickung nicht entkommen und gelangt dadurch in gefährliche Situationen: Dass er wiederholt an den Rand des Hausdaches, der für die Unterscheidung von Wach- und Traumwelt steht, herantritt, ist ebenso ein

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Indiz hierfür wie die Gefahr, dass er vom höchsten Turm der Medina springen könnte, weil er sich für den Piloten seiner Papierflieger hält. Die Rolle des ‚bedrohlichen‘ Sandmanns wird in der Figur des ‚schlechten‘ Vaters verkörpert, der seinem Sohn als Wächter über seinen kindlichen Schlaf nur einen zweifelhaften Schutz bietet. Ähnlich verhält es sich bei Helen, die ebenfalls in Quint einen besseren Vater sucht, für die aber der Zauber seiner Geschichten abrupt endet, als er bei einem Tanz näheren Körperkontakt sucht. Die Welt, die Quint für sie beide generiert, funktioniert nur so lange, wie der Körper wie beim Träumen ruhiggestellt ist (daher läuft die Kommunikation überwiegend über Telefonate). Der Traum der Körperlichkeit, den Quint für sie spinnt, zehrt Helen jedoch aus, da Quint ihr den guten Vater nur vortäuscht, um sein Begehren als Mann befriedigen zu können. Statt also als ‚wohlmeinender‘ Sandmann Helen eine andere Weltsicht zu ermöglichen, verleibt er sie sich in den gemeinsamen Träumen ein. Da er jedoch blind hierfür ist, fällt dies durch den Verlust von Helen und seines Sohnes auf ihn selbst zurück. Ebenso blind ist Benno für seine eigene schwache Verankerung, der als Sandmann sich und andere über sich selbst täuscht: Er lässt sich und die anderen im Unklaren über seine eigentlichen Meinungen und Gefühle, und solange er in dieser Hinsicht ununterscheidbar bleibt, löst er sich in Sand auf. 4.2.6.4 Der Fall der Virtualität Diese spezifischen Unterscheidungsbedingungen und ihre Bedeutung für die Träumenden lassen auch Rückschlüsse auf das jeweilige Konzept von Virtualität zu. Der Sandmann ist eine Allegorie der Virtualität. An seiner Figur zeigt sich, ob die Grenze zwischen Wach- und Traumwelt aktualisiert oder virtualisiert wird. Wird sie aktualisiert, so werden die Wahrnehmungsräume als differente erlebbar. Wird sie virtualisiert, so wird sie kontingent und damit zu einem noch nicht gelösten oder nicht mehr lösbaren Problem. Je nachdem, welches Konzept von Virtualität im Vordergrund steht, variieren dabei die Fälle, die die Haltlosigkeit der Virtualität verursacht. Hjalmar, das ist gleich festzuhalten, fällt nicht! Er wird vom Sandmann gehalten: Im Traum, beim gemeinsamen Blick durch das Fenster auf den Tod, hebt der Sandmann Hjalmar hoch und fest, und er ‚hält‘ ihn, indem er für ihn die Grenze zwischen Wach- und Traumwelt aktualisiert. Hjalmar kann die Wahrnehmungsräume unterscheiden und die Virtualität der schwach verankerten Weltmodalität als Potential erleben. Nicht die Grenze zwischen Wachund Traumwelt ist hier virtuell, sondern die Virtualität zeigt sich vielmehr in der Kontingenz der Weltmodalität: Hjalmar erlebt in der schwach verankerten Weltmodalität, dass die Gegebenheiten der Wachwelt auch anders möglich sind.

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Virtualisierung erzeugt somit einen Zuwachs an Sehmöglichkeiten, sie ist eine Sichterweiterung. Anders verhält es sich bei Nathanael und Julian. Hier erscheint die Virtualität unheimlich und ungeheuer. Für Nathanael stellt die Indifferenz des Sandmanns, der potentiell mit allem koppelbar ist, ein unlösbares Problem dar. Coppola ist nicht stabil, sondern eine graue, eine fortwährend virtuelle Gestalt. So wie der Sand gleichförmig ist und keinen Halt bietet, destabilisiert die fortdauernde Virtualität des Sandmanns Nathanaels Wahrnehmung und raubt ihm die Augen. Nathanael nimmt ‚unter dem Sand wahr‘. Seine Wahrnehmung wird durch die Ununterschiedenheit des Sandmanns virtualisiert und damit so haltlos, dass er vom Turm fallen muss. Das unheimliche Problem der Virtualität kann Nathanael nur durch die Haltlosigkeit beenden, die dieses Problem allererst erzeugte. Die Virtualisierung der Grenze zwischen Wach- und Traumwelt bedeutet hier, das Gefüge aufzulösen, das sie als jeweils eigene Wahrnehmungsräume stabilisiert. Der Sandmann entscheidet also, ob die Weltmodalitäten als unterschiedliche Wahrnehmungsräume ‚fest‘ oder ‚lose‘ gegründet sind (vgl. Kap. 3.4), und wenn sie lose gegründet sind, nimmt man ‚unter dem Sand‘ wahr. Insofern die Sandmetapher auf lose gegründete Existenzräume verweist, schafft der ‚bedrohliche‘ Sandmann lose Wahrnehmungsräume. Die Kontingenz der Wahrnehmungs‚Gründe‘, die Tatsache also, dass das ‚unter dem Sand‘ Wahrgenommene immer auch anders sein kann, destabilisiert den Ort des Sehens und problematisiert eine sich ihrer selbst sichere Wahrnehmung bis hin zur Haltlosigkeit. Julian stellt dagegen im gleichen Modellaufbau den anderen ‚Fall‘ dar. Wie Hjalmar fällt er nicht, aber anders als Hjalmar ist er dem Ungeheuren der Virtualität ausgesetzt, weil dem Ungeheuer der Imagination kein Gedanke entgegengesetzt und das Ungeheure also nicht unterschieden werden darf. Anders als Nathanael aber soll Julian vor diesem Fall der Virtualität geschützt werden, und so bewegt er sich zwar fortwährend am Rand des Daches, fällt aber nicht, sondern wird am Abgrund festgehalten oder vom Abgrund abgehalten, da für ihn die Aktualisierung der Grenze noch eine Option ist. Einen wieder anderen Fall stellt die problematische Virtualisierung des Selbst bei Quint und Benno dar. Diese beiden Sandmänner sind selbst lose gegründet, weil sie keinen Halt in sich haben. Quint und Benno sind von dieser Virtualität geprägt, weil sie immer auch anders möglich sind und keinen stabilen Ort für sich und andere bieten. Der Traumzustand, in den beide fallen, gibt ihnen indessen die Möglichkeit, die eigene Konsistenz zu finden und zu aktualisieren. Wenn Quint daher am Ende seines Tunis-Traums „aufwärts“ fällt und Benno am Ende seiner Träume von und mit Sandra aus dem Putzeimer als ganze Person ‚aufersteht‘, dann ist beiden über das eigene problematische Selbst im Traum die Augen geöffnet worden und sie können (auch) im emphatischen Sinne des Wortes

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‚erwachen‘. Branzger als ‚wohlmeinender‘ Sandmann hingegen muss vom Hausdach herunterfallen, damit Quint aus seinem Traum aufwachen kann, und auch Sandra muss als ‚wohlmeinende‘ Sandfrau in den Schlaf fallen (und sie fällt tatsächlich mehrfach um), damit Benno im Traum mit ihr die Lösung für das Problem, das sein virtuelles Selbst darstellt, finden kann. Der Sandmann kann also zum einen als ‚wohlmeinender‘ Sandmann Erfahrungsräume erschließen, indem er einen Raum für die Wahrnehmung dessen eröffnet, was virtuell und also: auch anders möglich ist (für Hjalmar, Quint, Benno). Zum anderen kann er aber als ‚bedrohlicher‘ Sandmann die Wahrnehmung beeinträchtigen und die Augen dadurch rauben, dass er die Grenze zwischen den Wahrnehmungsräumen virtualisiert (für Nathanael, Julian, Helen). Der Sandmann ist für die Träumenden ‚bedrohlich‘, wenn er eine Virtualität generiert, die zum unlösbaren Problem wird, weil die Kontingenz der Unterscheidungen den Halt jeder Aktualisierung verunmöglicht und das Problem nur noch durch das Herausfallen aus dieser Struktur, durch den Fall aus allen Zusammenhängen, gelöst werden kann. Diese Virtualität als Haltlosigkeit generiert damit noch einen ganz anderen Fall: den Fall der Virtualität.

5 Sandkunst [H]ätte es Sand nicht gegeben, so hätten die Surrealisten ihn erfinden müssen.1

Wie verhält es sich, wenn Sand als Medium nicht als Gegenstand in Texten, sondern in seiner materiellen Gegenständlichkeit erscheint? Was bedeutet es, wenn das sandige Material in der Kunst eingesetzt wird und als solches eine eigene Semantik entfaltet? Die Materialität von Sand bestimmt auch dessen mediale Form, limitiert seine spezifische Art der Formbildung und damit auch die Potentiale seiner Bedeutung; sie entfaltet sie aber zugleich: Auch kann ein Medium – etwa das Material, aus dem das Kunstwerk gemacht ist […] – seinerseits als Form benutzt werden, wenn es gelingt, dieser Form im Kunstwerk selbst eine Differenzfunktion zu geben. Anders als bei Naturdingen wird das Material, aus dem das Kunstwerk besteht, zur Mitwirkung am Formenspiel aufgerufen und so selbst als Form anerkannt. Es darf selbst erscheinen, ist also nicht nur Widerstand beim Aufprägen der Form. Was immer als Medium dient, wird Form, sobald es einen Unterschied macht.2

Sand wird in diesem Kapitel als Medium betrachtet, dessen Materialität eine eigene Semantik für Kunstwerke entfaltet, und zwar insbesondere in jenen Werken, die diese Materialität explizit ästhetisch einsetzen; in Sandkunst also, ein Begriff, den ich wähle, um die Relevanz des Materials hervorzuheben.3 Eine Ausstellung des Kunstmuseums Dieselkraftwerk Cottbus (dkw) von 2008 hat es sich unter dem Titel [Märkischer] Sand. Spuren zwischen Sujet, Werkstoff und Landschaftsraum zur Aufgabe gemacht, der Bedeutung von Sand als Motiv und Material nachzugehen. Im Katalog zur Ausstellung konstatiert Jörg Sperling, dass die Verwendung von Sand als Material – anders als die ältere Sandmotivik – seit

1 „Sand fliesst wie Wasser durch die Finger, trotzdem ist er trocken; […] Sand wirkt schwer, wie eine unbewegliche Masse und doch kann ihn der leisteste Windhauch zerstreuen; Sand erscheint als einförmige, gleichartige Materie, doch ist jedes Sandkorn einzigartig; im Sand liegt die Wirklichkeit neben der Imagination, und hätte es Sand nicht gegeben, so hätten die Surrealisten ihn erfinden müssen.“ (Sonya Schmid: Sand. Gestaltungsmittel der Moderne, in: Zeitschrift für Kunsttechnologie und Konservierung: ZKK 17,1 (2003), S. 53–73, hier S. 59) 2 Niklas Luhmann: Medium und Form, in: Ders.: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1995, S. 165–214, hier S. 176. 3 Die andere Traditionslinie wäre der Blick auf das Material als abzulehnende ‚Materie‘; vgl. dazu Thomas Raff: Die Sprache der Materialien. Anleitung zu einer Ikonologie der Werkstoffe, Berlin/München: Deutscher Kunstverlag 1994, S. 13, 18–25. Vgl. zu den umfänglichen Einsatzmöglichkeiten von Sand in der Kunst und den gängigsten „Sand-Techniken“ Schmid: Sand. https://doi.org/10.1515/9783110651522-005

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1907 zu beobachten ist:4 seit Maurice Utrillo in seinem Werk epóque blanche (1907–1915) mit einer Mischung aus Öl, Gips und Sand das Mauerwerk der Stadtlandschaften schrundig macht und Pablo Picasso in seinem Bild Kopf (1907) Sand als strukturierendes Mittel verwendet und diese Technik ab 1912 noch mit Georges Braques ausbaut. Demnach erscheint der Sand, beginnend mit den avantgardistischen Experimenten des frühen zwanzigsten Jahrhunderts, in denen der Einsatz von Materialien allgemein erprobt wird, als ästhetisch probates Kunstmaterial in immer neuen Kontexten. So wird Sand oft gewählt, um in Reliefs die Flächigkeit des Bildes aufzuheben, wie etwa bei Willi Baumeister (ab 1919),5 in der informellen Kunst von Emil Schumacher6 oder auch in den Reliefarbeiten von Hermann Glöckner (seit Ende der 1940er Jahre). Salvador Dalí und André Masson verwenden Sand und Kiesel verfremdend als Zufallsprinzip in der Malerei,7 Jackson Pollock nutzt ihn in der Orientierung an archaischen Formen und Jean Dubuffet mischt erstmals 1945 Sand als „unmalerischen Stoff“ unter die Farben.8 Später dient Sand auch der Markierung

4 Vgl. zu dieser Darstellung Jörg Sperling: Spuraufnahme, in: [Märkischer] Sand. Spuren zwischen Sujet, Werkstoff und Landschaftsraum (05.07.–05.10.2008), Ausstellungskatalog, hg. v. Kunstmuseum Dieselkraftwerk Cottbus, Leipzig: Koehler & Amelang 2008, S. 109–120, hier S. 112. 5 Vgl. z. B. in Figur mit Streifen auf Rosa III von 1920. Braque und Baumeister waren als Dekorationsmaler mit Sand-Techniken vertraut. 6 Sie kennzeichnet der „Wille, der Leinwand die Abgeschlossenheit und Flächigkeit zu nehmen […]. Seine großen Materialbilder sind komplexe Organismen aus Erde, Schutt, Lehm, Sand und Farbe“ (Sperling: Spuraufnahme, S. 114). 7 Vgl. ebd., S. 113. 8 Vgl. ebd., S. 113 f. Umberto Eco nimmt Bezug auf „die Sensationen, die [Mandiargues] vor den texturologies [Dubuffets] verspürt, mit jenen auf die gleiche Ebene stellt, die ihm das schlammige und üppige Dahinströmen des Nils eingibt; wenn er uns an die konkrete Freude dessen erinnert, der die Hände in den Sand eines Strandes eintaucht und das Auge über das Fließen der winzigen Körner zwischen den Fingern, über die von der lauen Wärme der Materie umschmeichelten Handflächen gleiten läßt. Warum soll man […] sich überhaupt noch mit dem Bild beschäftigen, das doch viel ärmer an Möglichkeiten ist als der reale Sand, als die Unendlichkeit der natürlichen Materie, die uns zur Verfügung steht? Offenbar deshalb, weil nur das Bild es ist, das die rohe Materie organisiert, indem es sie als roh betont, aber als Feld möglicher Suggestionen eingrenzt; es ist das Bild, das, ehe es ein Feld von zu treffenden Wahlen wird, schon ein Feld getroffener Wahlen ist“ (Umberto Eco: Das offene Kunstwerk, Frankfurt/M. 1998, S. 180). Das Kunstwerk aktualisiert eine Anordnungsmöglichkeit des Sandes und macht dadurch den ästhetischen Unterschied zu jenem Sand deutlich, der in der Natur zwar „unendlich“, aber eben auch nur wahllos vorzufinden ist und als solcher nicht strukturiert, nicht „organisiert“ ist. Erst die aktualisierte Struktur der Virtualität, die das Sandkunstwerk als Feld noch zu treffender Wahlen (also noch zu gestaltender Aktualisierungen) bereitstellt, macht es zum Kunstwerk, und zwar gerade durch die Limitierung „als Feld möglicher Suggestionen“ im Gegensatz zum Sand in der Natur, für den als „rohe Materie“ eine solche Aktualisierung jeweils aussteht.

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von Geschichte bzw. Nichtgeschichte. So wendet sich die Künstlergruppe ZERO (1958 gegründet von Heinz Mack und Otto Piene, Beitritt von Günther Uecker 1961) programmatisch elementaren Strukturen zu, die in kinetischen Objekten und Aktionen realisiert werden; hier entstehen Strukturarbeiten, in denen Sand als „Substanz ohne Geschichte“ gedacht wird, als „gestalterische[r] Nullpunkt“.9 Gerade gegenteilig verwendet Anselm Kiefer in seinen Arbeiten wie etwa in Märkischer Sand (1980) Sand als Kunst- und Geschichtsstoff. Schließlich ist Sand ein gern genutztes Material in der Land- oder Earth-Art, deren Beginn in den USA der 1960er Jahre liegt, wo in riesigen Landschaftsmodulationen Werke in der Wüste realisiert werden. Der Einsatz von Sand in der Kunst zeigt, so Sperlings Fazit seiner Zusammenstellung, „vielgestaltige[] Erscheinungen“ sowie die „ambivalente Natur“ des Materials und daher kein klar umrissenes Bild des Sandthemas, doch lasse sich die Tendenz ablesen, „dass es nicht selten dann auf der Bildfläche erscheint, wenn Umbrüche – sowohl vom Motiv als auch vom Künstlerischen bedingt – zum Gegenstand werden.“10 Im Sinne dieser Tendenz wirkt Sand als das aus Fels Zerbrochene semantisch. Das insgesamt breite Panorama der Sandkunst wird besonders in einer Arbeit von Sonya Schmid deutlich, in der sie eine umfassende Recherche zum Material Sand in der Kunst präsentiert und konstatiert, dass „über 300 und unter ihnen die namhaftesten Künstler des 20. Jahrhunderts Sand in ihren Arbeiten verwenden“.11 In diesem Kapitel werde ich einige Beispiele hieraus besprechen; mühelos ließen sich aber auch für das einundzwanzigste Jahrhundert weitere Werke finden, die in die folgenden Betrachtungen einbezogen werden. Die Auswahl der Beispiele orientiert sich an der Frage, ob und wie die jeweilige Sandkunst das Problem der Virtualität erfasst, wobei drei Aspekte leitend sind, die an die bisherigen Kapitel anknüpfen: die Zählbarkeit des Sandes, seine Beweglichkeit und der Versuch seiner Fixierung. Obwohl es offensichtlich einen umfassenderen Einsatz von Sand als Material in der Kunst gibt, erfasst das Lexikon des künstlerischen Materials von 2002 ‚Sand‘ zwar als Stichwort, verweist von hier aus aber nur weiter auf das Stichwort ‚Erde‘, worunter Sand als eine Erscheinungsform subsumiert wird.12 Dass Sand aber deutlich von Erde zu differenzieren ist, zeigen seine geologischen Merkmale,

9 Sperling: Spuraufnahme, S. 115. 10 Ebd., S. 118. 11 Schmid: Sand, S. 57. 12 Vgl. die Stichworte ‚Erde‘ bzw. ‚Sand‘, in: Monika Wagner (Hg.): Lexikon des künstlerischen Materials. Werkstoffe der modernen Kunst von Abfall bis Zinn, München: C. H. Beck 2002, S. 74–77; 210.

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die in Kapitel 2.2 vorgestellt wurden. Sand besteht, so wurde gezeigt, aus (1) diskreten und kleinen Elementen, die (2) weitgehend gleich groß und das heißt: gut sortiert, (3) äußerst zahlreich und (4) beweglich und daher instabil sind, und so ist Sand schließlich (5) hochaufgelöst in seiner Form sowie hochauflösend in Bezug auf seine Formen. Wenn die Materialität des Mediums also eine Weise ist, in der Kunst als Form in Erscheinung zu treten, so wird die Form von Sand durch seine Materialität, die die genannten geologischen Merkmale nachzeichnen, signifiziert.13 Die spezifische Form von Sand, so lautet ja meine Grundthese, liegt in seinem hohen Grad an Virtualität, und seine Materialität ist mit den genannten geologischen Merkmalen ein Kennzeichen für diese Form seiner Medialität. Eine erste Frage bei der Betrachtung der Sandkunstwerke soll daher lauten: Wie ist Sand mit seiner spezifischen Materialität, seinem hohen Maß an Virtualität, an den Signifikationsprozessen in den Kunstwerken beteiligt? Auch wenn Sand als Material ein spezifisches, ästhetisches Potential hat, wird dies allererst durch die Kunstwerke erschlossen.14 Da das Material der Kunst, wie auch in der Darstellung oben deutlich wurde, erst seit dem Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts als autonome ästhetische Kategorie genutzt wird, sind nur Kunstwerke jüngeren Datums, wie Thomas Strässle betont, in ihrer genuin materialen Konstitution lesbar.15 Dies ist allerdings insofern zu relativieren, als auch ein nicht explizit ästhetischer Einsatz von Material ästhetisch lesbar ist. Daher erscheint mir Johanne Mohs’ Argument treffend, dass erst zu diesem Zeitpunkt die ‚Transparenz‘ des Materials, also dessen Eigenart, als solches nicht in den Vordergrund zu treten, aufgehoben wird.16 Als eine zweite Frage bei der Betrachtung der Sandkunstwerke soll daher gelten: Tritt die Materialität des Sandes in den Kunstwerken als ästhetisch wirksam besonders hervor? Die Materialität des Sandes ist dabei nicht als vorgängig ‚vorhanden‘ zu verstehen, sondern als eine erst im Kunstwerk je neu konstituierte. Judith Butlers Begriff von ‚Materialität‘ aus Bodies that Matter folgend entsteht auch das Material ‚Sand‘ durch einen „Prozess der Materialisierung, der im Laufe der Zeit stabil wird, so daß sich die Wirkung von Begrenzung, Festigkeit und Oberfläche herstellt, den

13 Vgl. zur Bedeutsamkeit der ‚Materialsemantik‘ bzw. ‚Materialikonologie‘ Raff: Die Sprache der Materialien, bes. S. 30–32. 14 Vgl. dazu Johanne Mohs: Materialgerechte Medialität, in: Ders./Christoph Kleinschmidt/Johanne Mohs (Hg.): Das Zusammenspiel der Materialien in den Künsten. Theorien – Praktiken – Perspektiven, Bielefeld: transcript 2013, S. 239–261, hier S. 243. 15 Vgl. Thomas Strässle: Einleitung. Pluralis materialitatis, in: Ders./Kleinschmidt/Mohs (Hg.): Das Zusammenspiel der Materialien in den Künsten, S. 7–23, hier S. 11. Materialikonologisch berücksichtigt außerdem die ältere Kunst Raff: Die Sprache der Materialien. 16 Vgl. Mohs: Materialgerechte Medialität, S. 240.

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wir Materie nennen.“17 Materialität und Signifikation sind also nicht voneinander zu trennen, da der „signifizierende Akt den Körper abgrenzt und konturiert, von dem er dann behauptet, er fände ihn vor aller und jeder Signifikation vor.“18 Bemerkenswert ist bezüglich der Sandmetapher, dass Butler den Prozess der Materialisierung als „sedimentierte Wirkung einer andauernd wiederholenden“ Praxis bezeichnet.19 Im Blick auf diese Semantik ist Sand ein Material, das die Prozesse der Materialisierung metaphorisch gleichsam zu desedimentieren im Stande ist. ‚Sand‘ kann dann als sprachliches Material die sprachliche Konstruktion von Materialität dekonstruieren.20 Zugleich ist dies auf Sand selbst zu beziehen: Die Materialität von Sand hat eine virtuelle Form, da sie nur in ihren jeweiligen Aktualisierungen zu finden ist, wobei sich umgekehrt in diesen Aktualisierungen der Prozess der Bedeutungssedimentierung manifestiert. Die Materialitätsdebatte, wie sie von Sigrid G. Köhler und Martina Wagner-Egelhaaf maßgeblich betrieben wird, sieht sich entscheidend dem Theorieanstoß Butlers verpflichtet.21 Ebenso betont auch Strässle, dass kein irreduzibler ‚Ausgangsstoff‘ vorausgesetzt werden kann, der sich prädiskursiv fassen ließe, sondern dass Materialien immer erst hergestellt werden.22 Die dritte Frage, die in Bezug auf die Sandkunst zu stellen ist, lautet daher: Wie wird Sand in der Kunst allererst als Material aktualisiert? Als vierter Aspekt ist schließlich zu berücksichtigen, dass Sand in seiner Materialität grundsätzlich intermateriell eingebunden ist. Sand steht nie für sich, sondern befindet sich immer in Kontakt oder Interaktion mit anderen Materialien. Als drei basale Modi einer solchen Intermaterialität nennt Strässle 1. die Materialinteraktion, also ein Materialarrangement, bei dem die Unterschiede der Materialien bestehen bleiben (z. B. Collage); 2. den Materialtransfer, bei dem ein

17 Judith Butler: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, Berlin: Berlin Verlag 1995, S. 31 [Bodies that Matter. On the Discoursive Limits of Sex, New York/London: Routledge 1993]. 18 Ebd., S. 54, im Orig. S. 30. 19 Ebd., S. 32. Im Originaltext steht: „As a sedimented effect of a reiterative or ritual praxis“ (Butler: Bodies that Matter, S. 10). 20 Weiter spricht Butler von der „Sedimentierung und Herstellung dieses materiellen Effekts“ und umgekehrt entsprechend vom „Aufsprengen“ der Normen (Butler: Körper von Gewicht, S. 33 f.). 21 Vgl. Sigrid G. Köhler/Martina Wagner-Egelhaaf: Einleitung. Prima Materia, in: Sigrid G. Köhler/Martina Wagner-Egelhaaf/Jan Christian Metzler (Hg.): Prima Materia. Beiträge zur interdisziplinären Materialitätsdebatte, Königstein: Ulrike Helmer 2004, S. 7–23. Vgl. auch Sigrid G. Köhler: Intermaterialität als Programm. Zu einer Kultursemiotik der produktiven Materie (nach Kristeva), in: Strässle/Kleinschmidt/Mohs (Hg.): Das Zusammenspiel der Materialien in den Künsten, S. 45–67; Sigrid G. Köhler/Hania Siebenpfeiffer/Martina Wagner-Egelhaaf: Materie. Grundlagentexte zur Theoriegeschichte, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2013. 22 Vgl. Strässle: Einleitung, S. 11.

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‚Als ob‘ anderen Materials fingiert und durch diesen Transfer eine neue Identität geschaffen wird (z. B. Goldleder); 3. die Materialinterferenz, in der die Distinktivität der Materialien ganz aufgelöst wird (z. B. Lösung).23 Die Analyse der Sandkunstwerke wird daher immer auch folgende Fragen berücksichtigen: Wo tritt Sand als Material in Interaktion, bleibt aber als Sand erkennbar (Sand im Arrangement mit anderen Materialien)? Wo wird Sand als Material transferiert, erscheint also nur als ein ‚Als ob‘ des Sandes (Anschein von Sand)? Und wo löst sich Sand als distinktes Material ganz auf (Verschwinden des Sandes)? Insgesamt werden in diesem Kapitel Kunstwerke vernachlässigt, in denen Sand nur als Motiv auftritt. Stattdessen werden solche behandelt, in denen die Materialität von Sand zum ästhetischen Einsatz gelangt und eine Differenzfunktion erfüllt; und dies nenne ich Sandkunst.

5.1 Zählen (nicht nur wie) mit Sand: Sandkunst als Zählkunst Sand und Zahl stehen aufgrund der spezifischen Form der Sandkörner in engem Bezug zueinander.24 Sandkörner sind wie Zahlen diskret und gleichförmig: Sandkörner sind zählbar, weil sie diskrete und kleine Elemente sind, die weitgehend gleich groß, äußerst zahlreich und beweglich sind. Diese Eigenschaften machen sich die folgenden Werke der Sandkunst zunutze, in denen auf je unterschiedliche Weise Sandkörner gezählt werden oder mit Sandkörnern gezählt wird.

5.1.1 Paradise lost: Sandhaufen-Populationen (2001/2002) In der Ausstellung „paradise lost. 10ʹ000 Jahre bis zum Mikrochip“ im Schweizer Landesmuseum (05.10.2001–06.01.2002) konnte das Bevölkerungswachstum anhand von Sandhaufen betrachtet werden. Der Text an der Wand im Hintergrund lautete: „7 Millionen Sandkörner – 7 Millionen Menschen. Jäger, Sammler, Nomaden. Die Erdbevölkerung vor 10ʹ000 Jahren / 6 Milliarden Sandkörner – beinahe das tausendfache. So viele Menschen trägt die Erde heute. Und jeden Tag kommen 200ʹ000 Personen hinzu.“ Ein großer Sandhaufen zeigte die bis dato geborenen Menschen und ein kleiner Sandhaufen daneben die Zahl der bis zum Beginn der Agrikultur geborenen Menschen. Die Differenz der Größe beider Sandhaufen veranschaulichte, wie stark die Population gewachsen

23 Vgl. ebd., S. 13–16. 24 Vgl. besonders Kap. 1 und Kap. 3.3.1.

5.1 Zählen (nicht nur wie) mit Sand: Sandkunst als Zählkunst

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war. In Kapitel 3.3.1 wurde gezeigt, wie Archimedes wie mit Sand zählt, um Volumen kosmischer Größe zu berechnen. Hier wurden nun tatsächlich Sandkörner – immer ein Sandkorn pro Mensch – abgezählt, um anhand der entstehenden Sandhaufen eine bestimmte Menge an Menschen vorstellbar und mit anderen Mengen an Menschen vergleichbar zu machen: So wenige waren es früher; so viele sind es heute; so sehr ist die Weltbevölkerung gewachsen.

5.1.2 Nima Sand Museum in Japan (seit 1990) Das Nima Sand Museum besteht aus sechs Pyramiden, in denen Kunstwerke versammelt sind, die ‚singenden‘ Sand verwenden. Dieser speziell fraktionierte Sand macht ein ‚singendes‘ Geräusch, wenn er sich bewegt oder wenn man auf ihn tritt, und ist in nur wenigen Weltregionen zu finden, unter anderem an einem Strand in der Nähe des Museums.25 In der größten Pyramide befindet sich zudem das größte Stundenglas der Welt (Abb. 5.1).26 In diesem überdimensionalen „sand timer“ benötigen die Sandkörner mit dem Gewicht von einer Tonne ein Jahr, um von der oberen Hälfte der Sanduhr in die untere Hälfte zu rieseln.27 Die Sanduhr ist fünf Meter hoch und hat einen Durchmesser von einem Meter. Mehrere Personen müssen sie um zwölf Uhr Mitternacht am letzten Tag des Jahres umwenden. Dieser Sand zählt nicht die Anzahl von Menschen, sondern misst die Zeit eines Jahres. Bereits in Kapitel 3.5.1 wurde der Zusammenhang von Sand und Zeit hergestellt, indem gezeigt wurde, wie der Sand als Metapher für die Auflösung der Zeitstellen funktioniert. Hinzu kommt nun der besondere Aspekt des Abmessens von Zeit mit Sand, also von Sandkunst als Zählkunst. In dieser Installation repräsentieren die Sandkörner jeweils einen Zeitmoment und werden im Glas in einen kontinuierlichen Fluss gebracht. Die Zeit wird als

25 Der ‚singende‘ Sand kommt etwa in Japan am Kotogahama Strand in der Nähe des Nima Sand Museums vor oder in den Dünen der Badain Jaran Wüste. Dieser Sand ist besonders in Bezug auf seine intrafriktionale Beschaffenheit, durch welche die singenden Geräusche entstehen. 26 Die zuvor „grösste Sanduhr installierte Roman Signer (*1938) 1981 in einem vierstöckigen Gebäude in Fribourg (Schweiz), wo ein im vierten Stockwerk aufgeschütteter Sandkegel durch Löcher in den Decken von Etage zu Etage rieselte, Krater bildete und sich zu Kegeln sammelte. Der über Stunden fließende Sandstrahl verband wie ein Stab die Räume und formte eine Skulptur aus Bewegung und Zeit.“ (Schmid: Sand, S. 68) 27 Vgl. Nima Sand Museum, 1990, unter https://www.atlasobscura.com/places/nima-sandmuseum [16.12.2019].

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Abb. 5.1: Sanduhr im Nima Sand Museum, Japan.

Kontinuum von Zeitstellen (scheinbar) visualisiert, die sich beständig auflösen. Das obere Glasoval enthält die Sandkörner, die noch nicht im Laufe der Zeit (und gleichsam zu Zeit!) aufgelöst sind und erfasst damit jene Zeitstellen, die noch virtualisiert werden können. Im unteren Glasoval werden die Sandkörner gesammelt, deren Zeitstellen schon aufgelöst wurden, die sich aber, da sie im nächsten Jahr ‚oben‘ sein werden, schon wieder zu neuen Zeitstellen formieren, die dann noch aufzulösen sein werden. Auf diese Weise ergibt sich ein unaufhörlicher Prozess des Bildens und Auflösens von Zeitstellen, der die Sanduhr zur Metapher für Unendlichkeit hat werden lassen.28

28 Vgl. Kap. 3.5.1.

5.1 Zählen (nicht nur wie) mit Sand: Sandkunst als Zählkunst

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Jedes einzelne Sandkorn steht zudem im Gegensatz zum großen Glas, in dem es sich bewegt. Erst die Größe des gesamten Glases macht deutlich, wie klein und damit kurz die Einzelmomente sind, aus denen sich das Jahr zusammensetzt. Das Jahr, das an sich schon eine ‚geteilte‘ Zeit ist, wird in viele kleine ‚körnige‘ Zeitabschnitte unterteilt, deren Zusammenhang jedoch durch das Glas gewährleistet ist. Das Glas ‚trennt‘ die Zeit eines Jahres von aller anderen Zeit ‚ab‘, und es ‚enthält‘ gleichzeitig in sich zahlreiche, voneinander unterscheidbare Einzelmomente. Diese sind jedoch nur theoretisch unterscheidbar: Praktisch ergibt sich ein Sandfluss, in dem sich immer mehrere ‚Zeitmomente‘ im kontinuierlichen ‚Verlauf von Zeit‘ verdichten. Die große Sanduhr visualisiert ein Jahresintervall als aus einer nicht fassbaren Anzahl von Einzelteilen – aus einer schwer zu greifenden Menge von Einzelmomenten – bestehend. Sand und Glas treten materiell in Interaktion, durch die zwei verschiedene Weisen, Zeitabschnitte zu messen, zusammenwirken und das Jahr als einerseits ganz (Glas) und als andererseits in Momente unterteilt (Sand) sichtbar machen. Hierzu kommen noch die Stahlstreben, in deren große Konstruktion die Sanduhr und damit auch gleichsam das Jahr und seine Messung ‚eingehängt‘ sind. Der Sand und seine Glashülle sind materiell in einen konstruktiven Zusammenhang eingelassen, der deutlich machen kann, dass auch sie im Rahmen mehrerer Materialien konstruiert sind, durch die sie allererst ihre Bedeutung erlangen.

5.1.3 Jochem Hendricks: 3.281.579 Sandkörner (1999–2000) 3.281.579 Sandkörner ist eine Skulptur von ungefähr dreißig Zentimetern Durchmesser, die etwa zehn Zentimeter hoch gehäuften Sand auf einem Glasteller zeigt. Das Besondere an diesem Sand ist, dass die Sandkörner über den Zeitraum von einen Monat von mehreren Assistierenden einzeln abgezählt wurden, bis die vorgegebene Zahl 3.281.579 erreicht war.29 Sodann wurde der Sand auf einen Glasteller gehäuft und in einer großen Vitrine im Foyer des Museums Angewandte Kunst in Frankfurt/Main ausgestellt. Nach Ausstellungsende wurde er in einen eigens hierfür angefertigten Glaskörper (25x17x17 cm) umgefüllt und von einem Glasbläser verschlossen (Abb. 5.2). Was zeigt dieser mit Sand gefüllte ovale Glaskörper (und zuvor der mit Sand befüllte Teller)? Er zeigt zunächst den Sand, der gezählt wurde, und zwar nicht metaphorisch wie bei Archimedes, son-

29 Jochem Hendricks/Eva Linhart: Gespräch am 31. Dezember 1999 anlässlich der Ausstellung „3.281.579 Sandkörner“ im Museum für Angewandte Kunst (mak) in Frankfurt am Main, o. S., unveröffentlichte pdf vom Künstler zur Verfügung gestellt.

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Abb. 5.2: Jochem Hendricks: 3.281.529 Sandkörner, 1999–2000.

dern im materiellen – und nur auf diese Materialität bezogenen Sinn: Der Sand wird in einem Museum in einer Glashülle als gezählter Sand ausgestellt; er wird als gezählter aktualisiert. Die Materialität des Sandkorns besteht darin, ein zählbares Einzelnes zu sein sowie in der Summe eine große Zahl auf kleinstem Raum darstellen zu können: eine große Zahl von Sandkörnern auf einem Glasteller oder in einem Glaskörper. Die beiden Sandskulpturen zeigen allerdings auch das Widersinnige des Vorhabens, das Unzählbare zählen zu wollen, da die unendlich scheinende große Zahl des Sandes sprichwörtlich ist. Gerade dies spielt auch in Archimedes’ Sandrechnung eine Rolle, mit der er nachzuweisen sucht, dass die Zahl des Sandes nicht unendlich, sondern eben: mit einer großen Zahl zu benennen ist. Hendricks’ Sand-Glasteller und -Glaskörper deuten somit zum einen darauf hin, dass der an sich widersinnige Akt des Sandzählens vollzogen wurde, und zum anderen, dass es angesichts der Tatsache, dass schon ein Glasteller von 30x30x10 cm beziehungsweise ein Glaskörper von 25x17x17 cm so viele Sandkörner aufnehmen können, eine tatsächlich unfassbar große, aber auf jeden Fall faktisch unzählbar große Menge an Sandkörnern auf der Erde gibt. Gleichwohl präsentiert 3.281.579 als Zahl ohne Nachfolger eine endliche Menge.30

30 Vgl. Kap. 3.3.4.

5.1 Zählen (nicht nur wie) mit Sand: Sandkunst als Zählkunst

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Zusammen mit den 3.281.579 Sandkörnern wird implizit auch die Zeit gezählt, die zum Abzählen genau dieser Anzahl an Sandkörnern notwendig ist. Die Skulptur ermisst damit auch die für sie aufgewendete Arbeitszeit, denn „dadurch, dass man weiß, dass das Zählen ca. 1.000 Stunden gedauert hat, stellen die Körner auch diese Arbeitszeit dar. Man betrachtet sie nun […] als Resultat einer großen Anstrengung.“31 Die Arbeitszeit variiert in Abhängigkeit von der Quantität der Sandkörner, die Hendricks in weiteren Skulpturen abändert: 3.281.579 Sandkörner ist die erste in einer Reihe von mehreren Sandskulpturen, die sich in der Zahl der gezählten Sandkörner unterscheiden. Für Hendricks’ Skulptur 10.258.742 Sandkörner etwa wurden mehrere Jahre Zählarbeit aufgewendet. Abzählzeit ist Arbeitszeit, die sich vermittels der Sandkörner selbst zählt. Anders als in den bisherigen Beispielen wird hier jedoch nicht der Akt des Zählens ausgestellt, sondern dessen Resultat. Die abgeschlossene Arbeit präsentiert sich gesammelt auf dem Teller bzw. im ovalen Glaskörper als in einem zweifachen Sinne ‚gesammelter Sand‘.32 Die einmal in dieser Weise aufgehäuften Sandkörner und die Arbeitszeit des Zählens sind in der fertigen Skulptur nicht mehr voneinander zu trennen: [Die Skulptur] wirkt sehr fragil – würde das Glas zerspringen und verteilten sich ihre Bestandteile im Raum, wären Arbeit und Zeit verloren. […] Was sich äußerlich kaum unterscheidet von einem willkürlich aufgeschütteten Häufchen Sand, wird buchstäblich zu einer exakten Anhäufung von menschlicher Arbeitszeit. Das im Grunde wertlose Material erfährt eine Wert- und Bedeutungsverschiebung – ihm scheint die mühselige Entstehung, große Aufmerksamkeit und ästhetisches Konzept eingeflossen und angeheftet zu sein. Der Sand führt dem Betrachter einen immensen und ebenso sinnlosen Aufwand vor Augen. Die Skulptur verweist auf nichts als die in sie investierte Zeit, die sie im sandigen Aggregatzustand speichert. So wie jedes Sandkorn selbst Resultat jahrtausendelanger geologischer Prozesse ist, die in seiner mikroskopischen kristallinen Struktur eingeprägt sind.33

Sand ist also nicht gleich Sand; der gezählte Sand besitzt eine andere Materialität als ein anderer, ungezählter Sand. Der auf dem Teller oder im Glaskörper ausgestellte Sand gewinnt seine spezifische Materialität aus dem Zählprozess, der dem fixierten Endergebnis noch inhärent ist. Die Materialität dieses Sandhaufens verdankt sich eines Vorgangs, der vorangehen muss: Der Sand ist nicht einfach ‚da‘, er wurde gezählt und wird als gezählter aktualisiert. „Was ich versuche“, sagt Hendricks in einem Gespräch, „ist, dieses ärmliche Häufchen Sand aufzuladen […]

31 Burkhard Brunn: Jochem Hendricks, unter http://www.buon-giorno-casanova.de/deutsch/ Hendricks.htm [16.12.2019]. 32 Vgl. Kap. 3.5.1 zu Italo Calvino Gesammelter Sand. 33 Babtist Ohrtmann: Jochem Hendricks, in: Volker Adolphs/Stephan Berg (Hg.): Echtzeit. Die Kunst der Langsamkeit, Katalog zur Ausstellung im Kunstmuseum Bonn 09.06.–04.09.2016, Bonn 2016, o. S.

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durch diese aberwitzige Arbeit, jedes einzelne Körnchen Sand zu zählen“; es ist ihm daran gelegen, „Material oder Dinge ohne jeden gestalterischen Eingriff zu verändern und aufzuladen, also Kunstwerke zu erzeugen […] durch die Unterlegung von Ideen und durch semantische Veränderungen.“34 In der Tat: „Äußerlich unterscheiden sich die Sandkörner nicht von anderen. Allein dadurch, dass man weiß, dass der Sandhaufen ein Produkt des Zählens ist, stellen die Körner diese anstrengende Arbeit dar.“35 Eine weitere Semantik gewinnen diese Sandkörner auch dadurch, dass sie die Richtigkeit ihrer eigenen Zahl in Frage stellen: „Es geht um eine Befragung des Wahrheitsbegriffes, vor allem des wissenschaftlichen, im Sinne von Exaktheit, Präzision, Messbarkeit und Überprüfbarkeit, also im Sinne von objektiver Wahrheit. Bei dem durchgezählten Sandhäufchen ist Exaktheit, ist Präzision als vorgegebenes Mass [!] akzeptiert, Messbarkeit wurde konsequent bis zur Lächerlichkeit vorexerziert, und siehe da, die Überprüfbarkeit bricht am Ende der Kette dieses kleinen Experiments in sich zusammen.“36 Denn wer wolle schon, so Hendricks, sich die Zeit nehmen, die Zahl der Sandkörner zu überprüfen. Und selbst wenn dies jemand wolle: Wer könne garantieren, dass diese Überprüfung stimme: Eine maschinelle Zählung, die eine größere Glaubwürdigkeit hätte, ist aufgrund der verschiedenen Sandkorngrößen nicht möglich, und eine neue Zählung per Hand wäre ebenso fehleranfällig, sodass „letztlich unüberprüfbar bleibt, ob sich im Glas tatsächlich die angegebene Zahl an Sandkörnern befindet. […Die Skulptur] stellt die Frage in den Raum, was es bedeuten würde, wenn die Entstehungsgeschichte und das Konzept der Arbeit überhaupt nicht der Wahrheit entsprächen und verweist somit auch auf die Rolle von Vertrauen und Glauben im Wertesystem Kunst.“37 Weitere Bedeutungen ergeben sich aus den intermateriellen Konstellationen, in die die Sandskulpturen gestellt sind. Nach der ersten Zählung wurden die Sandkörner auf einen Glasteller gehäuft und in einer Vitrine verschlossen, um nicht von einer zufälligen Bewegung (Wind, Menschen) zerstört werden zu können. Die Materialität der Vitrine wirkt der instabilen Materialität des Sandes entgegen und tritt mit ihr in Interaktion. Die kleinste Erschütterung oder der geringste Luftzug würde die Summe des Sandes virtualisieren, würde das, was

34 35 36 37

Hendricks/Linhart: Gespräch, o. S. Brunn: Jochem Hendricks. Hendricks/Linhart: Gespräch, o. S. Ohrtmann: Jochem Hendricks, o. S.

5.1 Zählen (nicht nur wie) mit Sand: Sandkunst als Zählkunst

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als aktuell erarbeitet wurde, kurzerhand auflösen. Der Sand in seiner Materialität weist damit auch auf die virtualisierbare Form des Gezählten hin, die nur durch das doppelte Summenzeichen von Teller und Vitrine zusammengehalten wird. Er verweist ebenso auf die Virtualisierbarkeit der Materialität, die wie der gehäufte Sand erst durch die entsprechenden Prozesse entsteht. Denn so wie die Materialität allererst als solche konstituiert und ihre typische Form aktualisiert wird, ist der Sand aufgrund seiner virtuellen Form ein prägnantes materielles Beispiel dafür, dass das einmal als Material Aktualisierte auch wieder virtualisiert werden kann. Besonders intensiv tritt in diesem intermateriellen Gefüge aus Vitrine, Glasteller und Sand der Glasteller in den Vordergrund, auf dem der Sand liegt. Anders als die Sanduhr umfasst er den Sand nicht als abgeschlossenes Gefäß (die Vitrine rahmt die Skulptur erst in einem zweiten Schritt), sondern nach oben und zu den Seiten hin offen. Der Teller umgrenzt und stabilisiert den Sand von unten und präsentiert die Sandkörner damit als ungebundene Einzelteile, deren gehäufte Form ohne den Halt des Tellers auseinanderfallen würde. Anders als diese erste, temporär auf einem Glasteller ausgestellte Skulptur wurden alle folgenden Werke aus dieser Serie direkt nach dem beendeten Zählen in Glaskörper gefüllt und von einem Glasbläser verschlossen. Selbst wenn die Sandkörner in diesen Glaskörpern nicht durch einen Luftzug auseinandergetrieben werden können, sind die Glaskörper so dünn, dass sie die Instabilität der Sandkornmenge eher unterstreichen als ihr entgegenzustehen. Schon eine geringe, unbedachte Bewegung könnte den jeweiligen Glaskörper ins Rollen und Fallen und damit mit Sicherheit zum Zerspringen bringen. Glasteller, Glasvitrine oder geblasener Glaskörper – der Sand weist immer auf das Glas, auf dem er liegt, von dem er umgeben oder in den er eingeschlossen ist. Er steht in allen drei Fällen in Differenz zu deren jeweiliger materieller Beschaffenheit als ein nicht in sich distinktes, sondern relativ stabiles Ganzes. Darüber hinaus stellt das gläserne Material den Zustand dar, in den der Sand in Zukunft gelangen könnte. Entsprechend der Fabrikation des Sandes durch den Zählprozess zu einem auf einen Teller gehäuften oder zu einem in einer Vitrine oder in einen Glaskörper eingeschlossenen Sand sind Glasteller, -vitrine und -körper durch entsprechende Arbeitsprozesse aus Sand zu Glas verarbeitet worden. In der Skulptur sind Arbeitsund Verarbeitungsprozesse in einem zeitlich komplexen Gefüge verschränkt, in dem von der Sandmenge auf die Zählarbeit zurück- und zugleich auf die später mögliche Verarbeitung von Sand zu Glas vorausgedeutet wird, während Glasteller, -vitrine und -körper auf ihr Sand-Gewesen-Sein und die Arbeit des Einschmelzens zurück- und zugleich auf ihre mögliche Zerstörung vorausdeuten. Auf diese Weise aktualisiert 3.281.579 Sandkörner (so wie die weiteren Skulpturen aus dieser Serie) auch die verschiedenen materiellen Aggregate von Sand als diskretem Einzelteil und als zu Glas Gewordenes, in das hinein er sich schmelzend aufgelöst hat; ein Vorgang, den Strässle als Materialinterferenz bezeichnet, als

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5 Sandkunst

Auflösung eines Materials in einem anderen.38 Die Materialitäten von Sand und Glas werden auf diese Weise ästhetisch in den Vordergrund gerückt und verweisen auf die Prozesse, die ihre jeweils aktuelle Materialität allererst ermöglichte als: genau so viele Sandkörner und ein genau so geformtes und aus Sand hergestelltes Glasbehältnis. 5.1.4 Micha Ullman: Until the last grain of sand (2011) Micha Ullmans Skulptur Until the last grain of sand wurde zuerst in seiner Retrospektive im Israel Museum 2011 ausgestellt sowie weiterhin im April 2018 in der Akademie der Künste in Berlin am Pariser Platz. Sie ist Teil einer Reihe von Kunstprojekten, die er in ganz Deutschland im öffentlichen Raum realisiert hat. Die skulpturale Installation zeigt ein einzelnes Sandkorn der Hamra-Erde (hamra bedeutet rot auf Arabisch) vom Boden unweit Tel Avivs, das sich zwi-

Abb. 5.3: Micha Ullman: Until the last grain of Sand. 2011.

38 Micha Ullman sagt über Glas als Material: Glas „ist sehr gespannt, im Feuer geschmolzen, in dem es transparent wird. Es ist aus Sand, meinem Material, unter Zusatz von Hitze. Und dazu kommen Kali und Basalt“ (Micha Ullman, in: Der Ort und die Fragen. Ein Gespräch mit Micha Ullman von Matthias Flügge, in: Micha Ullman. Bergwerk/Sandwerk, Textband zu den Ausstellungen BERGWERK (Altenburg 2012) und SANDWERK (Dresden 2011), Nürnberg 2011, S. 5–37, hier S. 33).

5.1 Zählen (nicht nur wie) mit Sand: Sandkunst als Zählkunst

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schen zwei Glasscheiben befindet. Auf der oberen Scheibe ist über dem Sandkorn eine Kuppel arrangiert, die das Sandkorn vergrößert (Abb. 5.3). Eine Fotografie des Sandkorns (dieser Installation) trägt den gleichen Titel und lässt weitere Assoziationen zu:

Abb. 5.4: Micha Ullman: Until the last grain of Sand. 2011.

Das Sandkorn erscheint auf dem Foto in einer Hülle wie in einer Fruchtblase oder fragilen Schutzschicht. Die Hülle rahmt das Sandkorn und unterstreicht seine Diskretheit und Singularität. Der Blick wird auf dieses einzelne Sandkorn gelenkt: Es ist rötlich, leicht oval bis trapezförmig und hat beulige Ausbuchtungen sowie eine flache Bruchstelle. Seine Oberfläche wirkt feinkörnig und erinnert an eine Sandfläche, als bilde sich das Ganze noch einmal in seinem Teil ab. Dies ist anhand der Vergrößerung durch die Glaskuppel erkennbar, die über dem Sandkorn installiert ist und über die eine Linie zu den mikroskopischen Untersuchungen von Sandkörnern durch Antoni Leeuwenhoek und Christian Wolff gezogen werden kann; die Kuppel funktioniert wie das von Wolff erwähnte „gläserne[] durchsichtige[] Küglein, dergleichen man zu Vergrößerungs = Gläsern brauchet“.39 Wie bei den Betrachtungen durch das Mikroskop zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts wird das Sandkorn in Ullmans Skulptur durch die Art der Präsentation als einzelnes bedeutsam.

39 Vgl. Kap. 2.2.1.

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5 Sandkunst

Die sprachliche Markierung bezeichnet dieses Sandkorn zudem als das letzte einer unbestimmten Menge von Sandkörnern und als Endpunkt eines Prozesses, der ebenfalls nicht näher bestimmt ist. Viele Semantiken sind daher anschließbar. Zum Titel erläutert Ullman: Er ist dem Satz „Bis zum letzten Sandkorn“ von Mohamed Anwar al-Sadat entliehen. Der ägyptische Präsident sagte, dass er den Sinai bis zum letzten Sandkorn zurückfordere. 1977 kam Sadat in die Knesset in Jerusalem und hielt in meinen Augen eine wunderbare Rede. Er wurde vor Ort gut aufgenommen. Danach gab es Verhandlungen mit dem damaligen US-Präsidenten Jimmy Carter und dem damaligen israelischen Ministerpräsidenten Menachem Begin in Camp David. Sie redeten, sie verhandelten. Israel gab den Sinai zurück. 1981 wurde Sadat von muslimischen Extremisten ermordet. So weit die Geschichte. Ich habe diesen Satz als Bild und als Inspiration genommen. Das Wichtigste, was Sadat getan hat, finde ich, war der Besuch in der Knesset. Das Reden mit dem Feind. Er hat damit alle – auch in Ägypten und der Welt – überrascht.40

Neben dieser politischen Bedeutsamkeit lässt die Skulptur weitere Bedeutungsgebungen zu: etwa das Sandkorn als letztes seiner Art (Auslöschung aller Sandvorkommen durch den Menschen) oder als letztes Element überhaupt auf dem Planeten Erde (Ende der Erdexistenz). In jedem Fall markiert es einen Endpunkt. „Ein Sandkorn hat schon etwas Extremes, Radikales und Kritisches. Ein Sandkorn aus einer Erdmasse ist eine radikale Reduktion“, konstatiert Ullman ebenda. Auch an diesen Sätzen wird deutlich, dass die Materialität allererst generiert wird. Durch die Herauslösung des einen Sandkorns aus der „Erdmasse“ entsteht eine spezifische Materialität und weiter durch die intermaterielle Anordnung, in die es gestellt wird. Dieses Sandkorn ist nicht (mehr) Teil einer Sandmenge, sondern es ist singulär, es ist vergrößert und der genauen Beobachtung als dieses Sandkorn wert. Implizit stellt sich (wie in einigen literarischen SandTexten explizit41) die Differenz und Spannung vom Kleinsten und Größten dar: Das Kleinste (das Sandkorn) denkt das Größte (die ganzen Sandvorkommen der Welt) mit. Auf dem Foto wirkt das Sandkorn in seiner fragilen Hülle zudem wie die Erdkugel in ihrer Atmosphäre, sodass eine klimapolitische Referenz einerseits sowie auch noch einmal die Referenz auf William Blakes Verszeile „To see a World in a Grain of Sand“ andererseits hergestellt werden kann. In der fotografischen Darstellung wird aber auch – und anders betrachtet – die Abwesenheit alles Restlichen markiert, also die Abwesenheit der Welt jenseits des Sandkorns: Das Sandkorn allein ist noch übrig. Es ist diskret, aber nicht als

40 Katrin Richter/Micha Ullman: Mit Sand ‚verheiratet‘, Interview, Jüdische Allgemeine, 17.04.2018, unter https://www.juedische-allgemeine.de/kultur/mit-sand-verheiratet/ [31.12.2019], o. S. 41 Vgl. Kap. 2.2.1.

5.1 Zählen (nicht nur wie) mit Sand: Sandkunst als Zählkunst

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ein diskretes Element (Sandkorn) unter vielen (Sandkörnern) im Rahmen einer hohen Auflösung, sondern es ist das einzige Element überhaupt und markiert damit auch das Ende aller Materialität jenseits seiner selbst. In Bezug auf Sandkunst als Zählkunst ist der Titel der Skulptur daher auch über die Referenz auf Sadats Äußerung hinaus interessant. Die Wortfolge ‚until the last grain‘ deutet auf das Ende eines Prozesses. Das Sandkorn ist als diskretes zählbar, und somit auch als das letzte. Der Prozess dauert an bis zum kleinsten und bis zum letzten Element. Schon als ein Element ohne Nachfolger markiert es die Endlichkeit einer Folge,42 doch durch Tatsache, dass es in den Rahmen der Installation eingeschlossen und nicht beweglich ist, weist es über das Ende des Zählprozesses hinaus auch auf einen Stillstand der Zeit hin. „Das allerletzte Werk in meiner Jerusalemer Ausstellung [2011]“, sagt Ullman in einem Interview, „hieß ‚Sanduhr‘. Und ein Sandkorn kann in einer Sanduhr das erste oder letzte Korn sein.43 ——— Sandkunst als Zählkunst stellt Sand, wie die Beispiele zeigen, in seiner Materialität als Distinktes und deswegen einerseits als Zählbares und andererseits als Medium des Zählens aus. Der Sand verweist auf Zählprozesse, und zwar in Bezug auf eine sich vollziehende Zählbewegung (wachsender Sandhaufen, verrinnender Sand in der Sanduhr), in Bezug auf das Resultat einer exakt definierten Zählarbeit (abgezählte Sandkörner) und in Bezug auf das Ende des Prozesses (bis zum letzten Sandkorn). Die unterschiedlich eingesetzte Sandmaterialität inszeniert dabei die Zählprozesse je anders: Der Sand wird in einem fortlaufenden und offenen Prozess zu einem immer größeren Haufen aufgetürmt, um Wachstum zu demonstrieren; er wird in einem Glaskörper eingeschlossen, exakt bemessen und ins Fließen gebracht, damit er genau ein Jahr abzählen kann – das aber potentiell unendlich; er wird auf einen Glasteller gehäuft bzw. in einen Glaskörper eingeschlossen, nachdem er in einem Prozess gezählt wurde, dessen Wiederholung zwar möglich, aber unsinnig wäre und der als abgeschlossen und endlich auf dem Glasteller bzw. im Glaskörper präsentiert wird; ein Sandkorn wird durch fotomechanische Verfahren vergrößert und als das letzte Sandkorn ausgestellt, das im Sinne des zuletzt noch Existierenden zugleich das Ende jeder weiteren Zählung sistiert. Mit Ausnahme von Until the last grain wird durch die aufgelöste Materialität des Sandes auch die Rekursivität all dieser Prozesse deutlich, indem die Resultate virtualisiert und die Vorgänge wiederholt werden können. Die Auflösung der Zeit-

42 Vgl. zur Definition des Un/Endlichen, u. a. auch in Bezug auf das Zählen mit Sand, Kap. 3.3.2. 43 Richter/Ullman: Mit Sand ‚verheiratet‘, Interview. Vgl. auch Kap. 3.5.1.

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stellen im Sand verweist ganz allgemein auf die Virtualisierbarkeit von Materialität. Der Sand tritt zudem in einen je anderen materiellen Zusammenhang mit Glas. Zum einen zeigt sich eine Interaktion durch den Gegensatz von instabilem Gezählten (den Sandkörnern) und stabilem Rahmen (Glaskörper, Stahl, Glasteller, Vitrine); zum anderen zeigt sich eine Materialinterferenz, indem der Sand auf dem Glas darauf verweist, dass er auch im Glas ist, wenn auch in veränderter Form, enthalten ist. Schließlich stehen alle diese Materialien in einem prozessualen Zusammenhang, indem der Sand noch nicht Glas ist und das Glas schon aus Sand hergestellt ist. Ebenso deutet der Glaskörper der Sanduhr, der noch leer (oder leerer) ist, darauf hin, noch nicht (so sehr) mit Sand gefüllt zu sein und somit auf die noch nicht erfüllte vorgegebene Zeit, während die (teils) gefüllte Seite des Glaskörpers die zum Verstreichen noch verfügbare Zeit ausstellt. Während Archimedes durch die Metapher Sand das Zählen an sich thematisiert und das Zählsystem in den Bereich großer Zahlen weiterentwickelt, zeigt die Sandkunst das Zählen in semantischer und materieller Vielfalt; sie zeigt es als Kunst.

5.2 Bewegte Sandkunst: „Temporale Skulpturen“ Der Begriff der „temporalen Skulptur“ verdankt sich einem Text von Nitin Sawhney und Chris Dodge von 1997,44 in dem die beiden amerikanischen Sozialökonomen ein Projekt vorstellen, das zwar nicht der Kunst zugerechnet wird, dessen Beschreibung aber nicht zufällig die Metaphorik der „Skulptur“ verwendet. In der Praxis unterscheidet sich ihr Projekt kaum von den Werken der beweglichen Sandkunst, und ihre begeisterte Rhetorik scheint eher der ästhetischen Freude am Material Sand geschuldet als dem analytischen Mehrwert, der am Ende tatsächlich erzielt wird. Diese Lust am Material Sand verdankt sich seinen gestalterischen Möglichkeiten, die sich aus seinem hohen Virtualitätsgrad ergeben: durch seine Instabilität wie seine flexible Formbarkeit. Diese Eigenschaften spielen auch für die bewegten, temporalen Sandkunstwerke eine zentrale Rolle, sodass dem hier einiger Raum gegeben werden soll. Wie kommt es zunächst zum Begriff der „temporalen Skulptur“? Das Projekt von Sawhney/Dodge besteht in der Suche nach „interfaces that form representations of evolving processes […] of

44 Nitin Sawhney/Chris Dodge: Sandscapes. Expressing Emergent Temporal Patterns, 1997, unter http://citeseerx.ist.psu.edu/viewdoc/download?doi=10.1.1.49.8004&rep=rep1&type=pdf [28.12.2019]. Es handelt sich um einen zweiseitigen Text ohne Seitenangaben, sodass hier auf Seitennachweise verzichtet werden muss. Im Original heißt es „temporal sculpture“. Auf diesen Text verweist Crisman Cooley: Sand Traces. Works in Sand by Jean-Pierre Hébert, unter https://www.jeanpierrehebert.com/docs/traces.pdf [09.06.2019].

5.2 Bewegte Sandkunst: „Temporale Skulpturen“

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data.“ Es sollen Datenprozesse mit einem „sand-based ambient display“ visualisiert werden, das speziell die Raum-Zeitlichkeit von Vorgängen in Form einer „temporalen Skulptur“ deutlich machen soll: „The surface of sand thus permits a four-dimensional display of information over space and time. [It] is a temporal sculpture that encodes dynamic data through its shape, form, and texture.“ Zwar gebe es ein Übermaß an Daten, aber es sei auch notwendig, die Prozesse einer Welt in Bewegung darstellen zu können, und zwar „[in an] aesthetically satisfying manner“. Obschon hierfür verschiedene Materialien denkbar seien – „ambient and tangible media such as air, water, sound, and sand“ –, fällt die Entscheidung auf den Sand als das geeignetste Medium, denn „sand inherently provides several affordances as it forms a physically textured surface with natural persistence. Sand is not temporally bound since it retains its shape and form continuously“. Sand ist formbar und dauerhaft vorhanden („nicht zeitlich gebunden“): Sawhney/Dodge beschreiben den Sand so, wie Luhmann das Medium in seiner zeitlichen Stabilität beschreibt. Darüber hinaus entspricht dessen Konzept der Kopplung und Entkopplung des Mediums durch die Formen dem Prozess, den Sawhney/Dodge als Emergieren von patterns im Sand entwerfen: „Furthermore, temporal patterns gradually emerge due to the persistence of sand, as current forces either reinforce or destroy the results of earlier forces.“ Im persistierenden Sand (im Medium) forcieren (bilden) laufende Kräfte (Formbildungsprozesse) Ergebnisse (Formen) oder sie zerstören (virtualisieren) eben jene Ergebnisse (Formen), die zuvor forciert (gebildet) wurden. Einmal gebildete Formen im Sand werden durch neue aufgelöst, da sich die aktuellen Formen im Sand immer durchsetzen: Die Formen koppeln und entkoppeln das Medium laufend. Sawhney/Dodge preisen den Sand wegen der materiellen Qualitäten, die ihn zu einem besonders ‚medialen‘ Medium machen, zu einem Medium, das wie jedes Medium in seiner Virtualität für Formen empfänglich ist, aber einen besonders hohen Grad an Virtualität aufweist. Der Sand erweist sich auch hier als besonders mediales Medium. In Entsprechung zum Medium wird der Sand als ein „collective whole“ beschrieben und in Entsprechung zu den lose gekoppelten medialen Elementen als „granular“. Aufgrund dieser Granularität erscheint Sand ideal, um digitale und dynamische Informationen darzustellen. Er funktioniert als „reservoir of inscribed actions or digital bits, over time“ und „a natural interface to digital information.“ Wie sieht das aber konkret aus? Der Technikaufbau besteht aus einer Konstruktion, durch die eine in einen Behälter eingelassene Sandfläche mit Luft bearbeitet wird. Die Luft wird an verschiedenen Stellen von oben auf die Sandfläche geblasen, und je länger das an einer Stelle geschieht, desto tiefer ist die sich dort in den Sand eingrabende Form. Dies ist der Rahmen für ein Experiment, das Gruppenaktivitäten im Büro sichtbar machen soll. Das heißt: Immer dann, wenn jemand anwesend ist, wird der Luftstrom an einer Stelle in Gang gesetzt,

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5 Sandkunst

sodass „tangible traces of being“ entstehen: „The sand box thus becomes a reservoir of group activity, evolving over time. […] The sand-box can be considered a miniature landscape that provides a visualization of gradual, yet complex, global changes emerging in the environment. We were inspired to create a dynamic sandscape that depicted accumulated traces of group activity.“ In Abwandlung des Wortes „landscape“ nennen Sawhney/Dodge die entstehende Miniaturlandschaft „dynamic sandscape“, und das ist ein zweiter Begriff, mit dem es sich im Rahmen der Sandkunst zu arbeiten lohnt, wenn auch ohne den Anspruch, damit wie die Sozialökonomen Daten zu kodieren: „The resulting sandscape is a temporal sculpture that encodes dynamic data through its shape, form, and texture.“ Mit sandscapes sollen bei Sawhney/Dodge Prozessmuster abgebildet werden, indem die „natürlichen Eigenschaften“ von Sand als „funktionales Medium“ genutzt werden: „The sand plotter translated digital information about the group environments into persistent physical contours.“ Der Begriff „sandscape“ erscheint den Autoren passend, weil auch die Umwelt durch die Interaktion von Luft oder Wasser mit Sand „natürlich“ geformt wird. Im Versuchsaufbau werden die ‚einströmenden‘ digitalen Daten in ein „continuous shifting of sand hills and valleys“ übersetzt. Das dynamische Interface im Sand soll schließlich eine „Geschichte dieser Umwelt“ (hier der Arbeitszeiten im Büro) ergeben, die man „lesen“ kann.45 Dass ausgerechnet digitale Informationen in Sandformationen übersetzt werden sollen, ist kein Zufall, da Sand ebenso diskret, kleinteilig, gleichförmig, scheinbar unendlich und hochaufgelöst wie digitale Informationseinheiten ist. So bemerkt Crisman Cooley: „Sawhney and Dodge’s comparison of sand to ‚digital bits‘ points up another interesting quality: patterns made in sand may have a high resolution, due to the smallness and relative uniformity of the grains.“46 Dies ist aber, so Cooley, eine ebenso exzellente materielle Qualität, um Linien in den Sand zu zeichnen, und damit komme ich zu dem Thema, das ihn eigentlich interessiert und das sich nun selbst der Kunst zurechnet, nämlich zum Sandzeichengerät Sisyphus.

5.2.1 Jean-Pierre Hébert/Bruce Shapiro (Atelier Ho): Sisyphus Die Geschichte von Sisyphus47 beginnt mit der Idee von Bruce Shapiro, Bewegung in Einzelteile oder Pixel zu übertragen und damit die Möglichkeit zu schaffen, sie

45 Dies wäre z. B. dann auch für wetterbezogene Informationen möglich, da die sandscape dynamisch wechselnde Temperaturen oder Luftfeuchtigkeiten darstellen könnte. 46 Cooley: Sand Traces, S. 3. 47 Vgl. http://www.wordcircuits.com/gallery/sandsoot/sisyphus.html [28.12.2019].

5.2 Bewegte Sandkunst: „Temporale Skulpturen“

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auf dem Computerscreen darzustellen sowie umgekehrt eine vom Computer kontrollierte Bewegung zu erzeugen. Shapiro nennt dies „Art of Motion Control“, wobei sich ihm vor allem die technische Entwicklung der Geräte verdankt, mit denen Jean-Pierre Hébert die Kunstwerke herstellt, die Sisyphus als Kunstprojekt bekannt gemacht haben: During the spring of 1998, as part of a collaboration with Jean-Pierre Hebert called „Ho“, the idea for sand plotting emerged from our numerous experiments with motion control. Watching the sand paths being slowly and methodically created, only to be erased and redone, I was reminded of the myth of Sisyphus, a man condemned to forever roll a boulder up a hill only to find the next day that it had rolled back to the start. I designed and built two first-generation machines, giving one to Jean-Pierre as a gift.48

Sisyphus I wird zu den Nachfolgemodellen Sisyphus II–IV sowie Ulysses I–II weiterentwickelt, die in Durchmesser und Form variieren. Sisyphus I hat eine quadratische Fläche von ungefähr einundneunzig Zentimetern, Sisyphus II ist ein Oktaeder mit

Abb. 5.5: Bruce Shapiro: Sisyphus III.

48 Bruce Shapiro: Homepage, unter http://www.taomc.com/home.html [28.12.2019].

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einem Durchmesser von ungefähr einem Meter und dreiundachtzig Zentimetern etc. Seit den 1990er Jahren kreiert Hébert mit Sisyphus Sandinstallationen, indem er Linien programmiert, die von einem computer-kontrollierten Metallball im Sand nachgezeichnet werden.49 Er nennt dies „digital conceptual algorithmic art“.50 Hébert beschreibt für seine Arbeiten „Sand as Medium: a sand installation/ sculpture/medium concept“.51 In Abhängigkeit vom Sisyphus-Modell entstehen Sandformationen in unterschiedlichen Rahmen, und die jeweils programmierte Linienführung ergibt verschiedene geometrische Figuren und Strukturen. Diese variablen Verläufe sind durch die leichte Formbarkeit des Sandes möglich, und ihre Prozesshaftigkeit zeigt sich nicht nur während der Gestaltung, sondern auch noch im Endprodukt, der sandscape. Die Skulpturen erinnern an japanische Zen-Gärten, die ein wichtiger Bezugspunkt für Héberts teils meditative Arbeiten sind. Darüber hinaus stellen sie für ihn Referenzen zu Navajo Sand Paintings und tibetanischen Mandalas52 sowie zur Land Art und Naturprozessen wie Wind und Erosion her.53 Mit diesen hat Sisyphus die mediale Prozessualität gemeinsam, denn auch deren Formen erscheinen wie bei Sisyphus „only to be replaced and redone“. Nur der Prozess der Herstellung ist jedoch, wie Cooley zutreffend bemerkt, anders als bei all diesen Referenzen: Sisyphus ist ein digitales Hardware/Software-System, das von geometrischen Instruktionen geleitet wird; es wird nicht von Hand hergestellt, und es produziert auch keine großen Landschaftsskulpturen, sondern es sind „indoor miniatures made by a computer-controlled device“.54 Mit der Sandzeichentechnik von Sisyphus weitet der Künstler Experimente mit anderen Materialien aus, mit denen er bereits Techniken des Linienzeichnens zu entwickeln versuchte: „Just as algorithmically controlled lines could be 49 Zahlreiche Bilder von Sisyphus finden sich in: Hébert: Sand of Changes, unter http:// www.jeanpierrehebert.com/docs/sand%20of%20changes%20pres.pdf [28.12.2019]. 50 Jean-Pierre Hébert: Biographical notes and résumés, unter http://www.jeanpierrehebert. com/17s.html [28.12.2019]. 51 Jean-Pierre Hébert: Sand as a Medium, 1997–2002, Digital Art Museum, unter http://dam. org/artists/phase-one/jean-pierre-hebert/artworks/sand-as-a-medium-1997 [28.12.2019]. 52 Das Mandala Sand Painting ist eine mystische Praxis tibetanischer Mönche, durch die die Erde und ihre Bewohner geweiht werden sollen. Nach Beendigung des Werkes wird das Gemälde meist zerstört, um die Vergänglichkeit des Lebens zu symbolisieren. Das Navajo Sand Painting funktioniert ähnlich, soll aber der Heilung von Kranken dienen: Die kranke Person sitzt auf Sand, ein Medizinmann berührt bestimmte Sandbereiche und führt zugleich der Person Kraft zu und die Krankheit an den Sand ab; Sand hat so eine reinigende Funktion. 53 Vgl. auch die in offene Landschaft gezeichnete Sandfigur Fine Dry Sand von Andy Goldsworthy (1989). Hier sind parallele Kurven im Sand zu sehen, die an die windgenerierten Linienzüge in Dünen erinnern (vgl. Andy Goldsworthy, Write Design, unter http://www. writedesignonline.com/history-culture/AndyGoldsworthy/overview.htm [28.12.2019]). 54 Cooley: Sand Traces, S. 1.

5.2 Bewegte Sandkunst: „Temporale Skulpturen“

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made in ink by a plotter arm, a similar device could be used to draw a metal ball magnetically along the surface of a sand tray.“55 Hébert versteht diese Auslagerung des Zeichnens in ein technisches Werkzeug als Bereicherung: I have been working with the conviction that to gain power and beauty, drawing should become a pure mental activity, rather than a mere gestural skill. I have endeavored to make it so by banning the physical side of drawing. I create drawings by composing and writing down for each piece an original, defining code. This code will precisely guide the devices actually producing […] the physical proof of concept.56

Von Hand, bemerkt Cooley, würde man in der Tat kaum Geduld und Geschicklichkeit aufbringen, solche Linien in den Sand zu zeichnen, und daher lokalisiert er hier den von Hébert propagierten Übergang der Kunst von einer praktischen zu einer mentalen Aktivität: „This is perhaps the ‚beauty and power‘ the artist spoke of in moving drawing from ‚mere gestural activity‘ to ‚pure mental activity‘.“57 Es ließe sich allerdings einwenden, dass das Zeichengerät die strengen geometrischen Figuren vorgibt und nahelegt, dass sich also vielleicht eher das algorithmische Denken als ‚pure programmed activity‘ in den Sand einschreibt als die „reine mentale Aktivität“ – zudem sind gerade die von Hébert selbst angeführten tibetanischen Sandmandalas ein Beleg für die große Geschicklichkeit und Geduld, mit der mit Sand von Hand ‚gezeichnet‘ wird.

5.2.2 Günther Uecker: Sandmühle (1970) Etwa dreißig Jahre vor den Sisyphus-Arbeiten werden in einer Bodenplastik von Günther Uecker symmetrisch angeordnete Linien im Sand analog generiert (Abb. 5.6). Die Sandmühle ist eine Skulptur in Bewegung.58 Über eine kreisförmige Sandfläche von etwa vier Metern im Durchmesser streifen Kordeln, die an einem von 55 Ebd., S. 2. 56 Jean-Pierre Hébert: Artist’s Statement, unter http://www.jeanpierrehebert.com/docs/state ment%20060301.pdf [28.12.2019]. 57 Cooley: Sand Traces, S. 4. Die Sandspuren bestehen in immer nur einer Linie: „This is like the exercise of completing a whole drawing without ever lifting the pencil off the paper.“ (Ebd., S. 5) 58 Es handelt sich um eine ca. 40 cm hohe Installation aus Bausand, Hanf, Holz, Draht und einem Elektro-Motor. Eine Variante der Sandmühle befand sich in der Ausstellung Ends of the Earth. Land Art bis 1974 in München (Herbst/Winter 2012/13). Sie zeigte noch einmal einen Prototyp eines Werks, das Uecker an der Cornell University ausstellte: „Aus einem Haufen feinem Sand ragt eine Klinge, die auf Besucherknopfdruck mit sturer Sisyphos-Entschlossenheit versucht, einen Kreis in den ewig flüchtigen Sand zu schneiden. Bei den Amerikanern hat die Wüste auch dann noch etwas mit Freiheitsversprechen zu tun, wenn in der Nachbarwüste Atombomben getestet werden. Bei Uecker wird der Sand zur leise schnurrenden Vergeblich-

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5 Sandkunst

Abb. 5.6: Günther Uecker: Sandmühle, 1970, Durchmesser: 3 m.

einem Motor betriebenen Stab befestigt sind, Rillen in den Sand ziehen und so eine bewegte sandscape generieren.59 Die Sandmühle vollzieht eine fortwährend schleifende Bewegung, die Uecker als „ein kinetisches memento mori“ bezeichnet.60 Beständig werden Rillen in den Sand gezogen, aber ‚im Zuge‘ dieser Formung werden zugleich die zuvor gebildeten Rillen aufgelöst, sodass ein unaufhörlicher Prozess des Formens und Auflösens durch die Mühle in Gang gesetzt ist. Das hat in einer Rezension Anlass zu einem Vergleich mit dem SisyphosMythos gegeben, und das Endlose und Unabschließbare von dessen Arbeit ist auch ein Aspekt der medialen Formbildungsprozesse. In der Sandmühle verhalten sich Material und Effekt entgegengesetzt zu jenen der Wassermühle: Während diese vom stetigen Wasserfluss in Bewegung gehalten

keitsallegorie.“ (Gregor Quack: Alle Wege führen in die Wüste, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung 41 (14.10.2012), S. 24) 59 „Mit jeder Drehung der rechenähnlichen Konstruktion wird das konzentrische Relief der Sandoberfläche prägnanter, graben sich die Fäden tiefer in das Material ein und bewirken bei der nachfolgenden Drehung wieder eine veränderte Struktur von Furchen und Graten. Zugleich verändert sich die farbliche Erscheinung der sandigen Kreisform, werden durch den Vorgang der drehenden Strukturierung auch jeweils neue Schichten des heterogen gefärbten Materials zum Vorschein gebracht.“ (K. H.: Günther Uecker, in: museums plattform nrw, unter http:// www.nrw-museum.de/museum/print/index/id/785.htm [01.10.2015]) 60 Günther Uecker, zit. n. Miriam Fuchs: Günther Uecker: Sandmühle, 1970, Städelmuseum, 2011, unter http://manzoni.staedelmuseum.de/?page_id=251 [25.01.2015].

5.2 Bewegte Sandkunst: „Temporale Skulpturen“

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wird, wird in jener umgekehrt der Sand bewegt, wobei auch der durch die kreisförmige Anordnung gleichsam unaufhörlich ‚nachfließt‘. Das geschieht allerdings nur, solange die Kraft des elektrischen Stroms nicht abreißt, der seinerseits die Sandmühle in Bewegung hält. Im ersten Manifest der Künstlergruppe ZERO, der Uecker angehört, heißt es unter anderem: „Zero ist rund, Zero dreht sich […]. Die Wüste Zero. […] Zero fließt […]. Zero ist Zero.“61 Das Programm der wiederkehrenden Bewegung findet im Kreisrund und Nullpunkt des Zero immer wieder ihren Anfang, schreibt sich in den runden Sandkreis der Mühle sowie in deren endlose Bewegung ein. In einem Interview anlässlich einer Ausstellung im Frankfurter Städelmuseum äußert Uecker: „Diese Sandmühle, die schleifende Zeit, das Drama eines vergehenden Seins. Es ist sozusagen eine Chiffre, die man vergleichen kann mit Nomadenverhalten, mit Kulturverhalten der wechselnden Ortschaften und Plätze.“62 Die Mühle ist in der Tat in einem zweifachen Sinne bewegte Kunst: weil sie Formen in beständiger Bildung und Auflösung zeigt und weil sie selbst seit 1970 in der Welt unterwegs ist, von Museum zu Museum zieht und als Kunstwerk eine unbeständige

Abb. 5.7: Uecker kehrt die Sandmühle an den Rändern zusammen.

61 Gruppe ZERO/Klaus Schrenk (Hg.): Aufbrüche. Manifeste. Manifestationen. Positionen in der bildenden Kunst zu Beginn der 60er Jahre in Berlin, Düsseldorf und München, Köln: DuMont 1984, S. 184. 62 Uecker, zit. n. Fuchs: Günther Uecker: Sandmühle.

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„temporale“ Form aufweist. Die Form der Sandmühle wird immer wieder aufs Neue virtualisiert, denn nach jeder Ausstellung wird sie in ihre sandigen Bestandteile aufgelöst, wenn der Sand der Sandmühle zusammengekehrt wird, um zu Beginn einer neuen Ausstellung wieder ausgeschüttet zu werden. An jedem neuen Ausstellungsort muss der Sand wieder neu zusammengeschoben, -gefügt und -gefegt werden (Abb. 5.7). Uecker formt den Sand mit einem Besen stets wieder zu einem Sandkreis, dessen Ränder deutlich markiert sein sollen, wie seine sorgfältige Arbeit am Rand der Skulptur zeigt. Die Sandmühle erinnert durch ihr Material und dessen Verteilung auf dem Boden an die Land Art, ebenso wie das nun folgende Beispiel.

5.2.3 Alice Aycock: Sand/Fans (1971) Alice Aycock ist als Künstlerin durch große Landschafts- und Industrieinstallationen bekannt geworden. In ihren frühen Arbeiten interessiert sie sich bereits für Materialien aller Art, und hiervon zeugt auch ihre Sandinstallation. In Sand/Fans wurden vier industriellen Ventilatoren um einen Sandhaufen herum einander gegenüber und in gleichem Abstand zum Sandhaufen aufgestellt. Die Ventilatoren wurden angestellt und während der ganzen Zeit, in der das Kunstwerk 2008 im Salomon Contemporary in New York gezeigt wurde, in Betrieb gelassen. Die Ver-

Abb. 5.8: Alice Aycock: Sand/Fans. 1971 (Salomon Contemporary 2008).

5.2 Bewegte Sandkunst: „Temporale Skulpturen“

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teilung des Sandes hing vom Abstand der Ventilatoren zur Mitte ab. Durch die Luftströme, die gegeneinander gerichtet waren und einander ausglichen, wurde der Sand beständig in einem bestimmten Bereich in Bewegung gehalten. Am Ende wurde der Sandhaufen so klein, dass der größte Teil der Luft über ihn hinweg strömte. In Sand/Fans deuten die vier Ventilatoren natürliche Prozesse an, ohne ‚Natürlichkeit‘ vorzugeben. So bläst der ‚Wind‘ zwar aus vier ‚Windrichtungen‘, aber dies geschieht sehr idealtypisch und gleichmäßig in einer nur installierten und konstruierten Modellbildung von Wind. Ebenso wenig ‚natürlich‘ ist die Form des Sandes entstanden, die sich aus der Vorrichtung ergibt, aber sie erinnert gleichwohl an natürliche Prozesse der Dünenbildung (vgl. Kap. 2.2.4). Die Kunstwerke der Land Art werden dadurch angesprochen, obgleich die Landschaft in dieser dynamische sandscape technisch bedingt ist und en miniature erscheint. Der Sand tritt als instabiles Material in den Vordergrund, das von jeder Richtung her formbar ist. Es ergibt sich gleichwohl eine relativ stabile Form, weil die Ventilatoren einander gegenüber angeordnet sind und die Luftströme sich als einander gegenüberliegende, formbildende Kräfte gegenseitig aufheben. Auch in Aycocks Sand/Fans wird die Sandkunst als eine prozessuale ausgestellt und ihre Form als eine flüchtige: „I also think a lot about how you could make art out of something that is just dust – it’s thin air. After you have made all these big solid things, you just blow it apart, just say – ‚It’s nothing but dust.‘ I started out like that, and maybe I’ll end up like that. It still fascinates me to think about generating pieces that are just thin air.“63 Die Ränder von Sand/Fans sind im Gegensatz zu Ueckers Sandmühle, deren Rand sorgfältig als solcher gepflegt wird, instabil und nicht definiert (und verweisen so auf das Grenzziehungsproblem des Sorites, vgl. Kap. 1). Es gibt eine Sandverteilung über die Dauer der Ausstellung, durch den der Kegel an Höhe verliert. Diese Flüchtigkeit korrespondiert mit einem Konzept des Ephemeren: „Sand/Fans came before everything. Later, I moved through this whole mechanical period, when I was using industrial architecture and machines and movement. In Sand/Fans I had these big industrial fans blowing sand, and I was talking about a sort of transience – the edges of things were fluid; there was an ephemeral quality.“64 Auch im folgenden Sandkunstwerk gibt es wieder einen Kegel; diesmal lösen sich aber nicht nur dessen Ränder auf, sondern er wird insgesamt abgetragen und dezentr(alis)iert. Die ‚Naturgewalt‘, die hierzu eingesetzt wird, ist indessen von ganz anderer Art.

63 Alice Aycock/Tom Butter: Interview, November 2008, in: Noah Becker: Whitehot Magazine of Contemporary Art, unter http://whitehotmagazine.com/articles/2008-interview-with-aliceaycock/1662 [28.12.2019]. 64 Ebd.

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5 Sandkunst

5.2.4 Remo Campopiano: Video Studio for Insects/Under the Volcano (2002) In Remo Campopianos Kunstprojekt Video Studio for Insects (2002) transportieren dreitausend lebende rote Ameisen auf einer runden Fläche mit einem Durchmesser von zwei Metern und vierundvierzig Zentimetern Sand.65 Die Fläche beschreibt Campopiano als „water-saturated oasis (the material used to hold flower arrangements). The oasis is cut up into a circular geometric pattern. In the center of the circle is a cone of sand“. Dieser Kegel aus Sand hat eine Höhe von ungefähr dreißig Zentimetern, über dem eine Kamera installiert ist, die das Geschehen aufnimmt, nämlich „the progress of the ants as they move the sand from the center of the circle toward the perimeter. That’s what they do.“ Das Video zeigt, wie das Zentrum aus Sand aufgelöst wird; es wird von innen nach außen buchstäblich abtransportiert. Die Feinkörnigkeit (hohe Auflösung) des Sandes ermöglicht allererst, dass der Kegel von Akteuren mit einem relativ geringen Kraftpotential auseinandergenommen werden kann. Die kleine Größe der Ameisen entspricht der kleinen Größe der Sandkörner: Je eine Ameise transportiert wiederholt je ein Sandkorn von innen nach außen, Stück für Stück. Die Sandkörner sind beweglich, aber sie werden in diesem Projekt erst durch die Kraft der Tiere bewegt, sodass es sich um eine „Ameiseninstallation“ im zweifachen Sinne handelt: eine Installation, als deren Gegenstand man die arbeitenden Ameisen betrachten kann, und eine Installation, die von den Ameisen bewerkstelligt wird. Die Ameisen arbeiten.66 Die Ameisen sind nicht als Metapher für Arbeitsamkeit auf die Fläche gesetzt, sondern arbeiten vor den Augen der Zuschauenden; gleichzeitig haben sie auch eine metaphorische Funktion und stellen diese wiederum performativ in ihrer Eigenschaft aus, Medien des Transports zu sein. Anders als bei Hilary Putnam interessieren die Ameisen hier nicht, weil sie beim Kriechen eine Spur in eine Sandfläche ziehen,67 sondern sie formen den Sand, indem sie die Form des Sandkegels virtualisieren und ihn in ein Bild der Zerstreuung umwandeln. „That’s, what they do.“ Die Kegelform ihrer klassischen Behausung ‚Ameisenhaufen‘ löst sich in einem Prozess der metaphorischen Enthausung auf zu einem Gebilde der Zerstreuung, in dem das zentrale Behaustsein deinstalliert wird. Die Ameisen und der Sand wirken zusammen als „temporale Skulptur“, indem sie in Bewegung geraten oder in Bewegung

65 Vgl. Remo Campopiano: Video Studio for Insects, 2002, unter https://remocampopiano.com/ installation/video-studio-for-Insects/ [12.06.2019]. Alle Zitate sind dieser Seite entnommen. 66 Vgl. zur sozialen Metapher der Ameise als fleißiger Arbeiterin sowie zu deren Kritik Rembert Hüser: Ameisen sind müßig, in: Christian Schulte (Hg.): Die Schrift an der Wand. Alexander Kluge. Rohstoffe und Materialien, Osnabrück: Universitätsverlag Rasch, S. 293–315. 67 Vgl. Kap. 3.5.2.

5.2 Bewegte Sandkunst: „Temporale Skulpturen“

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bringen und so dieses Bild der Zerstreuung generieren. Die verdichtete sandscape, die der Kegel inmitten der von ihm ausgehenden Wege in Form einer Erhebung darstellt, wird in kleinsten (Tippel-)Schritten zerklüftet und abgetragen in eine verstreute sandscape, die sich horizontal flächig ausbreitet. Das mag man im Sinne einer Dehierarchisierung, eines dezentralisierten Lebens oder modularisierten Arbeitens verstehen – in jedem Fall stellt es den Auflösungsprozess einer zentral verdichteten und vertikalen Form dar. Video Studio for Insects ist noch in einer anderen Hinsicht kinetische Sandkunst. Die Kameras, die den Fortgang auf dem Areal filmen, werden von den Zuschauenden gesteuert. Im Internet haben sie Zugriff auf die Kameras, deren Bewegungen sie in den Richtungen hoch/runter, links/rechts, Zoom in/out bestimmen können. Emphatisch wird dies vom Künstler ins Paradigma des Interaktiven eingeschrieben: „This is a truly interactive multimedia installation, an art form first conceived by myself in a New York City storefront as I lead a group of Internet artist’s known as artnetweb.“ In jedem Fall wird angestrebt, auch die Positionen des Zuschauens in Bewegung zu bringen: „The goal of this installation is to open up new ways of seeing, by looking from alternative perspectives“. In der Zeit, in der die Ameisen den Sand in alle Richtungen bewegen, können die Zuschauenden die Kamera, die dies aufnimmt, (fast) flexibel einstellen. Die Betrachtung der Bewegung wird selbst als beweglich ausgestellt, wobei dieses perspektivenabhängige Sehen ebenso wie die Installation, in der die Ameisen den Sand transportieren, technisch konstruiert ist. Die Zentralperspektive wird auf Gegenstands- und Lektüreebene deinstalliert: Während die Ameisen den Zusammenhang des Kegels in der Mitte auflösen, sollen die Zuschauer mit Campopianos Kunst Zusammenhänge selbst herstellen, „to find connections between seemingly disparate pieces. Often the art is in the connections between things, rather than the things themselves. Video Studio for Insects is the hub of several of these connections.“ Die Skulptur ist also selbst eine zentrale Stelle, deren Auflösung Video Studio for Insects doppelt in Szene setzt: als Virtualisierung des sandigen Zentrums ebenso wie als Virtualisierung des einen Beobachtungsstandpunktes.

5.2.5 Anne Löper: Augenmusik (2013) In der Sand Art oder Sand Animation werden in Performances Bilder in den Sand gezeichnet, wobei die Bilder einander ablösen und sich damit als Formen

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5 Sandkunst

im Medium Sand laufend koppeln und entkoppeln. Im entsprechenden Wikipedia-Artikel wird die Sand Animation von der Sand Art unterschieden: In the former, an artist creates a series of images using sand, a process which is achieved by applying sand to a surface and then rendering images by drawing lines and figures in the sand with ones’ hands. A sand animation performer will often use the aid of an overhead projector or lightbox (similar to one used by photographers to view translucent films). In the latter, animators move around sand on a backlighted or frontlighted piece of glass to create each frame for their animated films.68

Ich werde beim Begriff Sand Art bleiben, da die Künstlerinnen selbst die Begriffe nicht eindeutig verwenden, sodass die genannte Differenzierung eher zwei Aspekte der Sand Art aufzuzeigen scheint. Ein Beispiel – eine der Sandgeschichten von Ilana Yahav – wurde bereits in Bezug auf die Dearchivierung von Narration angesprochen.69 Die Sand Art ist aber nicht nur eine Weise, mit Sand zu erzählen, sondern sie ist auch eine Art von Sandkunst, in der sich neben Ilana Yahav aus Israel Sandmalerinnen wie die Ukrainerin Kseniya Simonova oder in Deutschland Katrin Weißensee und Anne Löper einen Namen gemacht haben. Wegen der bewegten Bilder, die im Sand und auf der Leinwand vor den Augen der Zuschauenden vorüberziehen, wird im zitierten Wikipedia-Artikel die Medienmetaphorik des Films herangezogen. Das entspricht dem Konzept von Löper: „Aus Sand und Licht gemalte Bilder werden aus meiner bewegten Hand rieseln und filmisch im Moment ihres Entstehens auf die Leinwand gezaubert.“70 Aus dem Sand in der Hand und im Licht des Projektors treten die Bilder in Bewegung auf der filmischen Leinwand hervor (Abb. 5.9). Die Sand Art konstelliert auf diese Weise eine komplexe Medieninteraktion. Löpers Bilder, ihre „Improvisation[en] mit Sand“, sollen erst im Zusammenspiel mit Musik und in Präsenz der Zuschauenden entstehen. Es wird das genaue Gegenteil von „perfekten“ oder „fertigen“ Bildern anvisiert, auch mit Verweis auf das Material, denn es sind Bilder „[m]it Sand“. Die Virtualität der Bilder zeigt sich darin, dass sie nie „perfekt“, also im Wortsinn nie ‚abschließend‘ aktualisiert sein werden, sondern dass sie – und das wird affirmativ gesehen – im Sand instabil bleiben und immerzu neu formbar sind. Während Löper einerseits das Filmische der sich permanent transformierenden Sandbild-Projektion herausstellt, rückt sie zugleich ihre Performance als Augenmusik in den Bereich der Musik. Wie Klänge im akustischen Medium erschei-

68 NN: Sandanimation, Wikipedia, unter https://en.wikipedia.org/wiki/Sand_animation [28.12.2019]. 69 Vgl. Kap. 3.3.2. 70 Anne Löper: Augenmusik, Sand Art, 06.11.2013, https://www.youtube.com/watch?v= W8AkxTrHFbg [24.11.2019].

5.2 Bewegte Sandkunst: „Temporale Skulpturen“

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Abb. 5.9: Live-Performance von Anne Löpers Augenmusik.

nen die Bilder als ver-‚klingend‘ – „Die sich ständig stark verändernden Sandbilder tauchen auf, verschwinden wieder und bleiben ungreifbar flüchtige Momente. Sie verklingen wie Musik.“ – und wie im Film werden die Bilder projiziert und bewegt. Optische und akustische Qualitäten verbinden sich zu „Augenmusik“, indem man die flüchtigen Formen sehen und hören kann. Dieser Zusammenhang von Klang, Bild und Sand lässt an die Experimente des Musikwissenschaftlers Ernst Florens Friedrich Chladni im ausgehenden achtzehnten Jahrhundert denken, mit denen er Klänge im Sand sichtbar zu machen versuchte. Während jedoch Löpers Bilder im Sand wie Klänge sind, erzeugt Chladni mit Klängen Bilder im Sand.

5.2.6 Ernst Florens Friedrich Chladnis Klangfiguren im Sand (1787) Bereits Jean Paul war ganz fasziniert von der Idee seines Zeitgenossen Chladni (vgl. Kap. 3.5.2), Sand als Material zu nutzen, um Klangstrukturen auf Körpern sichtbar zu machen.71 Diese entsprechenden Experimente beschreibt Chladni in Entdeckungen über die Theorie des Klanges (1787).72 Um zu zeigen, dass jeder

71 Vgl. zu Chladnis Verfahren besonders Bettine Menke: Adressiert in der Abwesenheit. Zur romantischen Poetik und Akustik der Töne, in: Stefan Andriopoulos u. a. (Hg.): Die Adresse des Mediums, Köln: Dumont 2001, S. 100–120. 72 Vgl. Ernst Florens Friedrich Chladni: Entdeckungen über die Theorie des Klanges, Leipzig: Weidmanns Erben 1787.

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5 Sandkunst

klingende Körper verschiedene Töne abgibt „und […] bey jedem derselben eine andere Art der schwingenden Bewegung an[nimmt],“73 hält er die Körper, etwa eine runde oder quadratische Scheibe, an bestimmten Stellen fest und setzt an ihrem Rand, an ebenfalls definierten Stellen, einen Violinbogen an. Durch den Klang entstehen auf der Körperoberfläche Schwingungslinien, die sich von Ton zu Ton unterscheiden, und hierfür ist es Chladni gelungen, „ein Mittel zu entdecken, um jede mögliche Arte des Klanges solcher Körper ohne Beymischung anderer nicht nur hörbar, sondern auch sichtbar darzustellen“.74 Dies funktioniert, „wenn man vor oder bey dem Streichen etwas Sand auf dieselbe [die Oberfläche des Körpers] streuet, welcher von den schwingenden Stellen, öfters mit vieler Heftigkeit, heruntergeworfen wird, und an den sich nicht bewegenden Stellen liegen bleibt.“75 Der Sand ist das Medium, in dem die Klänge sich formen. Chladni treibt wie Sawhney/Dodge kein künstlerisches, sondern ein wissenschaftliches Interesse; doch wie jene begeistert ihn die Materialität von Sand, mit dem auch er „temporale Skulpturen“ schafft, sodass sich Parallelen zur Sandkunst ergeben. Wie Hébert streut Chladni Sand auf eine Oberfläche, auf der die Bilder entstehen sollen. Während jedoch Héberts Sisyphus mit einer Kugel Spuren in den Sand zieht, bilden sich die Klangspuren im Sand durch die Klangvibrationen der Scheibe, die den Sand auflockern oder anhäufen. Die hohe Auflösung des Sandes macht eine hohe Auflösung auch der Klangdarstellung im Sand möglich, indem selbst die feinen Schwingungslinien sichtbar werden. Wie bei Löper soll eine flüchtige Form im Sand sichtbar werden, nur dass sie hier nicht so flüchtig wie die Musik gesehen wird, sondern die Klänge durch die Materialinteraktion von Klang und Sand ‚selbst‘ im Sand erscheinen. Der Sand bringt auf diese Weise als „temporale Skulptur“ Bewegungen zum Ausdruck, und zwar die sonst nicht wahrnehmbaren Klangschwingungen.76 Die hohe Auflösung und damit Formbarkeit des Sandes erlaubt, die Klangbilder zu aktualisieren, virtualisiert sie aber auch sogleich wieder, weshalb Chladni sie in ein anderes Speichermedium übertragen muss. Er unterteilt hierfür die im Sand sichtbar gewordenen Schwingungslinien nach Form, Verlauf

73 Ebd., S. 2. 74 Ebd., S. 1. 75 Ebd., S. 4. Vgl. zum Verhalten des Sandes, der hier liegen bleibt und sich dort durch den Klang anhäuft, auch S. 18, 38, 41, 49, 54. 76 Vgl. zur den akustischen Aspekten Menke: Adressiert in der Abwesenheit.

5.2 Bewegte Sandkunst: „Temporale Skulpturen“

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Abb. 5.10: Chladni: Klangtafel, Tabelle III, Figuren 25–36.

und Schnittpunkten und zeichnet idealtypische Muster auf,77 wie auf der Tafel in Abbildung 5.10. Diese „Figuren der Klänge“78 können als topologische Erforschung von Schwingungslinien im Sand aufgefasst werden. Chladni versucht, die Spuren, die die Klänge im Sand erzeugen, wissenschaftlich zu begreifen, indem er ihre Topologien anhand der Anzahl an Kreisen, Linien und Biegungen auf jeder Scheibe typologisiert. Obschon seine Arbeit wissenschaftlich ausgerichtet ist, produziert und beschreibt er doch (auch) Gestaltungen im Sand. Er generiert Sandbilder mit Klängen und übersetzt sie medial in Zeichnungen, um sie, da sie im Sand nicht lange aktualisiert werden können, archivieren, synchronisieren und analysieren zu können. Die Klangtafeln sind so nicht nur musikwissenschaftliche Konstrukte, sondern in nuce auch ästhetische Studien über Klangformen im Sand sowie ebenso über Sand als differenziert formbares Material.79 ——— Die in diesem Kapitel 5.2 behandelten Sandkunstwerke können als „temporale Skulpturen“ bezeichnet werden, weil sie Prozesse darstellen, in denen die ästhe-

77 „Ueberhaupt erscheinen die meisten Figuren äußerst selten so regelmäßig, wie sie in den Tafeln gezeichnet sind“ (Chladni: Entdeckungen über die Theorie des Klanges, S. 20). 78 Ebd., S. 30. 79 Vgl. auch zum frühen wissenschaftlich-ästhetischen Interesse an einzelnen Sandkörnern und deren Aufzeichnung die Arbeiten von Leeuwenhoek, Kap. 2.2.1.

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5 Sandkunst

tisch verfassten Formen im Sand immer nur zeitweise präsentiert werden. Der Sand erscheint in ihnen beweglich und instabil, da die einmal in ihm aktualisierten Formen gleichsam ‚im Laufe‘ des Kunstwerks wieder virtualisiert werden. In dieser veränderlichen und kurzzeitigen Sandkunst werden die Skulpturen durch verschiedenste Techniken geformt: von einer programmgesteuerten Metallkugel, von durch Ventilatoren generierten Luftströmen, von mit einem Elektromotor angetriebenen Stab mit Kordeln, von Ameisen, von Hand oder von mit einem Geigenbogen erzeugten Schwingungen. Durch diese Techniken werden kleine Landschaften gebildet, die ich in Anlehnung an das englische Wort „landscape“ mit Sawhney/Dodge dynamische sandscapes nenne. Sie bilden sich als bewegliche Topographien, die sehr verschiedene Semantiken mit sich führen. Einige sandscapes werden in geometrischer Form entworfen, wie der Kreis der Sandmühle, die geometrischen Rahmenformen von Sisyphus (Kreis, Quadrat und Oktaeder) oder bei Chladni (runde und quadratische Scheiben) oder auch die Linien, die in Sandflächen gezogen werden. In Video Studies for Insects und in Sand/Fans gibt es jeweils einen Kegel, wobei der eine sukzessive aufgelöst wird, während der andere dauerhaft so weit wie möglich in Form geblasen wird. Die sandscapes erinnern dabei immer wieder an die Landschaftsbilder der Land Art, besonders die in den Boden gezogenen Furchen der Sandmühle, die dünenartigen Wellen von Sisyphus, der ‚wind‘-generierte Sandberg von Sand/Fans oder auch die Ameisenlandschaft von Video Studies for Insects. Die dynamischen Sandlandschaften sind aber auch als Übersetzungen anderer Bewegungen lesbar: Die sandscape von Sawhney/Dodge ist als dynamische Datenlandschaft konzipiert, und auch Sisyphus könnte man als eine solche sehen, da hier immer auch der programmierte Algorithmus zum Ausdruck kommt; die Sand Art stellt eine sich fortlaufend entwickelnde Erzähllandschaft dar, und die Klangfiguren von Chladni lassen sich schließlich als kleine, aber sehr feine Tonlandschaften beschreiben.

5.3 Fixierter Sand: Stillgestellte Formgebung Wenn die Sandmühle sich dreht, die Metallkugel von Sisyphus ihre Linien im Sand zieht und sie wieder zerstört, wenn in der Sand Art und in Chladnis Figuren Geschichten und Klänge vorübergehend im Sand erscheinen und die Ventilatoren von Sand/Fans den Sand zusammentragen oder die Ameisen den Sand Korn für Korn wegtransportieren – wenn diese „temporalen Skulpturen“ die Flüchtigkeit von Formen im Sand sichtbar werden lassen, dann wird der Umschlag im Einsatz von Sand deutlich, wenn andere Sandkunstwerke ihn still- stellen, indem sie ihn plastisch verwenden oder seine Beweglichkeit als aufgehaltene Flüchtigkeit ins

5.3 Fixierter Sand: Stillgestellte Formgebung

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Bild setzen. Der mediale Charakter des Sandes tritt in diesen Fällen hinter der Fixierung einer in ihm gebildeten Form zurück, sodass in Fritz Heiders Worten „das Spursubstrat dann das Mediumhafte verliert und zu einem Festkörper wird; dann erst wird die Spur zu etwas Dauerndem. Das Medium ist erstarrt, es kann keiner neuen Vermittlung mehr dienen.“80 Während die in Kapitel 5.2 beschriebenen Sandkunstwerke Virtualisierungsprozesse von Formen im Sand ausstellen, werden nun Resultate der Aktualisierung von Formen im Sand zu betrachten sein.

5.3.1 Materialität von Sand Eine erste Variante solcher Aktualisierungsresultate ist das Relief. Mit Sand lassen sich Flächen so aufbrechen, dass der flächige Eindruck eines Bildes in eine strukturierte oder geschichtete Oberfläche transformiert wird. Beispiele für solche Reliefs sind etwa Willi Baumeisters Figur mit Streifen auf Rosa III (1920), in dem Sand auf Sperrholz aufgetragen wurde, um den Bildhintergrund zu gestalten,81 oder Hermann Glöckners Zartes Relief in Blaugrau (1954), das nur aus Tempera und Sand besteht.82 Ein Beispiel für eine mehrfach geschichtete Struktur ist das Bild von Günther Hornig, das Schnüre und Sand einander einformt (Abb. 5.11). Der Sand bietet sich als Material zur Erzielung einer plastischen Wirkung an, da er aufgrund seiner Körnigkeit räumliche Effekte evozieren kann und gleichzeitig wegen seiner Kleinteiligkeit und Gleichförmigkeit flexibel genug ist, keine bestimmten Formen vorzugeben. Mit Sand können gleichmäßige Farbflächen aufgelöst werden, sodass ein ‚granularer‘ Eindruck entsteht. In Interaktion mit Farbe erzeugt Sand eine farbige Strukturiertheit und deutet damit auf die Materialität der Fläche und der auf sie aufgetragenen Farbe hin und macht sie als solche sichtbar. Der Sand wird seinerseits in der Farbe fixiert und als definite Form aktualisiert. Er verliert seine Instabilität durch die Kohäsivkräfte der anderen Materialien, während seine Körnigkeit und Kleinteiligkeit auch im fixierten Zustand ihre ästhetische Wirkung entfalten. Anders funktioniert die Fixierung des Sandes in den Strandabgüssen von Mark Boyle Random studies of Camber Beach und The Tidals Series (1965–1972),83

80 Fritz Heider: Ding und Medium, Berlin: Kadmos 2005, S. 86. 81 Vgl. dazu Sperling: Spuraufnahme, S. 36. 82 Vgl. [Märkischer] Sand, S. 51. 83 Mark Boyle: The Tidal Series, 1969, National Galleries Scotland; vgl. die Bilder online: National Galleries Scotland, 2013, unter https://www.nationalgalleries.org/collection/artists-a-z/b/ artist/boyle-family-mark-boyle-joan-hills-sebastian-boyle-georgina-boyle/object/tidal-series14-works-gma-5193 [16.02.2015].

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5 Sandkunst

Abb. 5.11: Günther Hornig: Überlagerung horizontaler und vertikaler Schnürenstruktur. 1978.

in denen jeweils ein zufällig gewählter Strandausschnitt gerahmt und fotografiert wird bzw. ein Abguss des Sandes genommen und als Bild ausgestellt wird – eine auf die Kontingenz der Beobachtung verweisende Präsentation von Sand in seiner Materialität. Hier wird also nicht Sand in einem anderen Material fixiert, sondern eine kontingente materielle Anordnung von Sand. Die Abgüsse dieser Strandausschnitte sind an verschiedenen Wänden eines Raumes ausgestellt.

5.3.2 Anselm Kiefer: Dein und mein Alter und das Alter der Welt (1997) Bei Dein und mein Alter und das Alter der Welt handelt es sich um einen Ingeborg Bachmann gewidmeten Zyklus von Anselm Kiefer, der 1998 in New York ausgestellt wurde.84 Er besteht aus fünf großformatigen Gemälden und fünf Büchern, wobei alle Gemälde riesige Mauerwerke oder Pyramiden zeigen, die im oder zu Sand zerfallen. Wie in den Reliefs tritt der Sand mit anderen Materialien in Interaktion, hier mit Emulsion, Acrylfarbe und Ton. Diese werden zu Mauerwerken geschichtet, die (auch) semantisch wirksam sind. Der Sand in den Bildgefügen verweist darauf, dass die Virtualisierung im vermeintlich Stabilen inhärent ist,

84 Anselm Kiefer: Dein und mein Alter und das Alter der Welt, Katalog anlässlich d. Ausstellung an d. Gagosian Gallery 24.1.–28.2.1998, hg. v. Heiner Bastian, München: Schirmer 1998.

5.3 Fixierter Sand: Stillgestellte Formgebung

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wenn sich die gemauerten Gebäude oder die Fundamente einer Pyramide, die die Bilder zeigen, in den losen Gründen des Sandes auflösen.85 Die Bilder des Zyklus können hier nicht in ihrer ganzen semantischen und intertextuellen Komplexität und Tragweite beschrieben werden; es soll allerdings erwähnt werden, dass der Sand in ihnen ein gleichsam eingefrorenes Zeugnis von Prozessen der Zerstörung liefert. Hartmut Böhme beschreibt die Bilder des Zyklus als „archaisch anmutend“ oder auch als „Sedimente der Erdgeschichte“.86 Der Sand wird demnach bei „Kiefer zum zentralen ästhetischen Ausdrucksmittel […]. Die Bauwerke, die Natur selbst befindet sich im Übergang zur Wüste“.87 Das Bild Sonnenreste zeigt ein Gebäude aus Ziegeln, Der Sand aus den Urnen entwirft ein breites Mauerwerk, Dein und mein Alter und das Alter der Welt zeigt eine Pyramide, Das Geviert des Seins ist ein kubischer Bausockel aus Ziegeln, und Wach im Zigeunerlager und Wach im Wüstenzelt / Es rinnt uns der Sand aus den Haaren zeigt eine Platte von brüchigen Ziegeln, die sich an den Rändern auflösen und über die sich Stacheldrähte wie Haare verteilen. Der Sand mag auch auf die Kontingenz der Darstellungen selbst verweisen, die Fotos von Ziegelhalden und Brennöfen indischer Ziegelfabriken zum Vorbild haben und daher den geographischen Ort der Zerstörung, der bei Kiefer der Ort der Shoah ist, verschieben.88 Der Sand aus den Urnen setzt von allen Bildern des Zyklus den Sand am intensivsten ein. Durch einen schriftlichen Verweis auf Paul Celans Gedicht Der Sand aus den Urnen verweist der Sand hier auf die Vernichtung noch der Toten in der Shoah. Die Asche, die nicht mehr da ist, wird durch den Sand ersetzt, der als detritisches Gestein bezeugt, dass eine materielle Verschiebung von Asche zu Sand hat stattfinden müssen, um ein materielles Zeugnis der Zerstörung abgeben zu können.89 Böhme konstatiert, dass in Der Sand aus den Urnen „der Sand (wie Asche) ein Signifikant des Todes ist. Die Entstaltung aller Bauwerke ist: Sand. […] Der Sand ist in alles gedrungen und liegt auf allem. Er ist ins Bild gebrachte Verwüstung“.90 Der Sand verwüstet das Bild durch seine Materialität. Er ist eine „Entstaltung“, indem er die Auflösung gestalteter Formen darstellt. Franziska Frei Gerlach beschreibt den Sand in Kiefers Zyklus ebenfalls als Zeugnis von Zerstörung und als

85 Vgl. auch zu Sand als Metapher für lose Gründe Kap. 3.4.1. 86 Hartmut Böhme: ‚Mit einem Steingefühl, alterslos‘. Anselm Kiefers Zyklus für Ingeborg Bachmann, in: Neue Züricher Zeitung 12865 (06.06.1998), S. 1. 87 Ebd. 88 Das suggeriert eine Beilage zu den Gemälden: das Buch Lieber Rot als tot, in dem Kiefer Fotos von Ziegelhalden und Brennöfen einer indischen Ziegelfabrik zeigt. 89 Vgl. dazu auch Kap. 3.5.3. 90 Böhme: ‚Mit einem Steingefühl, alterslos‘, S. 5.

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5 Sandkunst

ästhetisches Mittel zur Thematisierung von ‚Tod‘.91 Durch den Sand und besonders durch die Unbeweglichkeit des an sich flexiblen Materials wird der Tod sichtbar. Oder, wie es Böhme formuliert: „Im Sand ist der Tod und sind die Toten abwesend anwesend.“92 Indem die Bewegung gerade des beweglichen Sandes aufgehalten wird und indem ein Zustand, genauer: der Zustand der Zerstörung aktualisiert und auf Dauer fixiert wird, wird der Tod im Bild erinnerbar.

5.3.3 Micha Ullman: Sand Buch 1–5 (2000) und Sand Blatt 1–5 (2006) Auch die Arbeiten von Ullman kreisen um das Thema Erinnerung93 und bewegen sich seit Anfang der 1970er Jahre zwischen Concept Art und Land Art, die den Erdboden zu einem Experimentierfeld der Gruben und des Grabens machen.94 Schon sehr früh arbeitet er mit dem Material Sand.95 Er verwendet roten Sand (Chamra) aus Israel, den er in vorgefertigte Formen füllt: „So entstanden die Sandskulpturen, Sandhäuser, -tische, -stühle, -bücher und auch eine ‚Sandkamera‘, die die Wahrnehmung selbst durch das Material zum Thema macht.“96 Das gemeinsame Prinzip dieser Skulpturen ist, mit dem Sand ein anderes Material zu fingieren: Tische und Stühle sind nur ein ‚Als ob‘ von Holz, die Kamera nur ein ‚Als ob‘ von Metall und die Sandbücher nur ein ‚Als ob‘ von Papier und Karton. Die Sandbücher von Sand Buch 1–5 sind also nicht aus Papier und Karton. Sie sind aber auch nicht nur aus Sand, sondern aus Sand und Eisen gefertigt. Die Anleitung des Künstlers für die Ausstellung der Bücher sieht vor: In die fünf Behältnisse aus Eisen werden pro Buch etwa drei bis vier Liter roter Sand gefüllt

91 Vgl. Franziska Frei Gerlach: Sandkunst. Korrespondenzen zwischen Anselm Kiefer, Paul Celan und Ingeborg Bachmann, in: Thomas Strässle/Caroline Torra-Mattenklott (Hg.): Poetiken der Materie. Stoffe und ihre Qualitäten in Literatur, Kunst und Philosophie, Freiburg i. Br./Berlin: Rombach 2005, S. 225–242, hier S. 229, 231. 92 Böhme: ‚Mit einem Steingefühl, alterslos‘, S. 7. 93 Vgl. zu Micha Ullman auch Kap. 5.1.4 sowie Matthias Flügge: Micha Ullman, in: Trigon 9 (2011) S. 93–114. 94 Vgl. Micha Ullman/Friedrich Meschede: Micha Ullman. Bibliothek, Amsterdam [u. a.]: Verlag der Kunst 1999, S. 90 f. 95 „1975 hat Micha Ullman eine erste Aktion [und zwar Place 1975] mit dem Material Sand gemacht, die auf Video überliefert ist. Er hat einen Sandhaufen im Volumen seines eigenen Körpers sieben Mal mit einer Schaufel auf unterschiedliche Weise zurückgeschippt. […] So trat das Material Sand ins Werk.“ (Matthias Flügge: Sandwerk, in: Micha Ullman. Sandwerk, Katalog zur Ausstellung im Leonardi-Museum Dresden vom 15.9.–6.11.2011, Nürnberg: Verlag für moderne Kunst Nürnberg 2011, S. 5–8, hier S. 7) Vgl. auch zu einer ähnlichen Aktion 1975 in Jerusalem die sechzehn Videostills in ebd., S. 18. 96 Ebd., S. 7.

5.3 Fixierter Sand: Stillgestellte Formgebung

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und mit einer geraden Holzleiste entlang der Eisenform festgedrückt und glattgestrichen. Sodann wird eine kleine Menge Sand von der oberen Seite in Richtung der Schräge geschoben, um eine Wellentextur zu bilden. Den Abschluss bildet: „A little blowing“.97 Was bei zwei der fünf Sandbücher wie ein (stabiler) Buchrücken aussieht, ist also die in dieser Art präparierte Oberfläche einer Sandmenge:

Abb. 5.12: Micha Ullman: Sand Buch 1–5. 2000, Sand Buch 1 und 2.

Zum einen zeigt die Skulptur ein ‚Als ob‘ von Buchrücken, indem loser Sand die Fläche bildet, die sonst der die Seiten bindende und stabilisierende Karton einnimmt. Zum anderen zeigt die Skulptur ein ‚Als ob‘ von Buchseiten, indem der Sand im Innenraum des Buches an deren Stelle tritt (bes. Abb. 5.13). Jedes der fünf Bücher hält einen Moment des Buchaufschlagens fest. So ergibt sich eine Serie, in der die Kulturtechnik des Buchaufschlagens wie in Zeitlupe dargestellt ist. Die Zeit tritt ins Bild, der Moment des Aufschlagens wird wie in einer chronofotografischen Bildserie in fünf Schritte unterteilt und in seiner Prozessualität in Erstarrung gebracht (Abb. 5.14). Die Bücher zeigen der Beschreibung Ullmans nach „five different situations based on the circulating axis of a book. The five book landscapes enable a ‚reading‘ of the books.“98 Demnach handelt es sich um „Bücher-Landschaften“; um „book landscapes“. Die Metapher der Landschaft assoziiert die Skulptur einerseits mit der Land Art, zumal auch das Füllmaterial Sand hierfür typisch ist; andererseits nutzt Ullman nicht den Begriff „sandscapes“, sondern „book landscapes“ und rückt damit das Buch in den Vordergrund. Das Buch selbst bildet eine Landschaft aus Sand mit seiner sandigen Oberflächenstruktur,

97 Micha Ullman: Sand books building instructions, 2000. Ich danke Micha Ullman, dass er mir diese Beschreibung zur Verfügung gestellt hat. 98 Ebd.

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5 Sandkunst

Abb. 5.13: Micha Ullman: Sand Buch 1–5. 2000, Sand Buch 5.

den Wellen und die über die Fläche hinweggepustete Luft. Zugleich sind die Bücher auch in ihrem gemeinsamen Arrangement eine Lese-Landschaft, die opponierende und wechselweise Leserichtungen zulässt, je nach dem, wie man sich zu den Büchern ‚stellt‘: The direction of the ‚reading‘ is based on the side in which the books are presented and on the language. The group of books should be arranged from 1–5 from left to right […]. In this case the ‚reading‘ will be as following: Hebrew: From right to left (opening) Latin: From left to right (closing) From the other side of the table it will be the opposite: Hebrew: From right to left (closing) Latin: From left to right (opening)99

Je nach dem, von welcher Seite aus und in welcher Leserichtung (hebräisch oder lateinisch) die Bücher betrachtet werden, schließen oder öffnen sie sich. Die Leserichtungen und Perspektiven werden auf diese Weise miteinander verschränkt: Von derselben Seite aus betrachtet führen die verschiedenen Leserichtungen zu

99 Ebd.

5.3 Fixierter Sand: Stillgestellte Formgebung

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einander entgegengesetzten Ergebnissen (das Buch öffnet sich für die einen; das Buch schließt sich für die anderen); von unterschiedlichen Seiten aus betrachtet stimmen die verschiedenen Leserichtungen in ihrem Effekt jedoch überein, da sich das Buch für beide z. B. öffnet. Aus diesem Grunde soll im Sinne der LeseLandschaft der Tisch, auf dem die Bücher ausgestellt werden, – anders als in Abbildung 5.14 zu sehen – in der Mitte des Raumes stehen, „to enable the ‚reading‘ from two sides of the table.“100

Abb. 5.14: Micha Ullman: Sand Buch 1–5. 2001.

Die Materialinteraktion von Sand mit Eisen ist für diese Lektüreanordnung ebenfalls signifikant. Die zerstörbaren Materialien Papier und Karton werden teils durch das weitgehend unzerstörbare Eisen ersetzt, jedoch tritt an ihre Stelle ebenso loser Sand. Der Sand verweist auf die Auflösbarkeit und Beweglichkeit von Formen, das Eisen auf deren materielle Stabilisierung. So ist dem Medium Buch (bzw. seinem ‚Als ob‘, welches über das Medium Buch spricht) durch den Sand zum einen die Losigkeit seiner Seiten und seine Vernichtbar-

100 Ebd.

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5 Sandkunst

keit eingeschrieben, zugleich wird dem aber die Festigkeit und Stabilität von Eisen entgegengesetzt. Der Prozess des Buchauf- und Buchzuschlagens wird in der Skulptur als dauerhaft aktualisiert und in der seriellen Anordnung verlangsamt, sodass diese dem Buch zugehörige Kulturtechnik archiviert wird.101 Man kann sich im Auf- und Zuschlagen des Buches aufhalten und sich in diesem Aufhalten der nicht-fingierten Bücher, die vernichtet wurden und nicht in Ruhe haben auf- und zugeschlagen werden können, erinnern. Ullmans Sandbücher sind nicht wie aus Sand wie Jorge Luis Borges’ fiktives Sandbuch, sondern sie sind (auch) aus Sand. Beide Arten von Sandbüchern lassen sich jedoch als Kommentare zum ‚Sandigen‘ des Mediums Buch begreifen: zu den Verschiebungen in ihm, zum Ineinanderrieseln von Seiten und ihrer Auflösbarkeit. Insofern erlaubt eine andere Arbeit Ullmans eine weitere Vorstellung dieser Vorgänge: Sand Blatt 1–5 ist eine Serie von Skulpturen mit rotem Sand und Pigment auf Papier, jeweils in der Größe 29,5 x 41,7 cm, die das ‚Sandige‘ von Buchseiten deutlich hervortreten lassen:

Abb. 5.15: Sand Blatt 2 und Sand Blatt 5. 2006.

Sand Blatt 1–5 lässt sich auch als eine weitere Variation auf die thematische Konstellation von Materialität, Medialität und Erinnerung lesen. In Bezug auf Ullmans Sandschüttungen, in denen die Bücher entfernt wurden, sodass sie nur noch durch ihre Umrisse erinnerbar sind (vgl. unten), zeigen seine Sand-

101 Vgl. auch Ljudmila Belkin, die über Sand Buch 1–5 schreibt: Sie „bestehen aus zwei gegensätzlichen Materialien: aus hartem, geformten Eisen und weichem, gleitendem Sand. Doch statt einer Kontroverse, entspannt sich […] leise ein Dialog zwischen den beiden, in dem der weiche Sand die harten Eisenformen füllt, während seine Rostfarbe sich mit den roten Tönen des oxidierten Eisens vermischt.“ (Ljudmila Belkin: Micha Ullman. Sandblätter, Begleittext zur gleichnamigen Ausstellung in der dsArt Galerie, Frankfurt/M. 2006)

5.3 Fixierter Sand: Stillgestellte Formgebung

423

blätter jeweils eine Seite eines aufgeschlagenen Buches und so einen in den Sandschüttungen nicht mehr vorhandenen Gegenstand. Die Sand Blatt-Variationen zeigen ihre Seiten allerdings auch nicht als solche, sondern als ‚Als ob‘ von Buchseiten im Sand, deren ‚sandige‘ Medialität sie hierdurch hervorheben. Wie in Sand Buch 1–5 ist der Sand fixiert worden, diesmal durch seine Aufstreuung auf Papier. Auch hier ist damit der Dearchivierung von Formen im Sand entgegengearbeitet worden, wobei das Papier, anders als das Eisen, materiell selbst die Semantik des auf ihm in der Materialität des Sandes Abgebildeten (der Buchseite) mit sich führt. Gleichzeitig erscheint die Buchseite abstrahiert, da nichts lesbar – und somit alles Mögliche lesbar ist. Ullmans Sand Blatt 1–5 ist wie Sand Buch 1–5 eine Serie, die sich auch als Serie lesen lässt. Die beiden Sandblätter in Abb. 5.15 wären dann – wie in Sand Buch 1–5 – wie ein aufgeschlagenes Buch lesbar, jedoch diesmal mit dem Fokus auf das Auf- und Umblättern jeweils einer einzelnen Seite. Sand Blatt 4 würde dementsprechend auf das Umblättern mehrerer Seiten zugleich bzw. ein Durchblättern verweisen:

Abb. 5.16: Sand Blatt 4. 2006.

Da die Seiten, die auf dem Blatt Papier dargestellt sind, materialiter aus Sand sind, können sie, mit Borges’ El Libro de Arena zusammengelesen, eine Idee davon geben, wie das Ineinanderrieseln der Seiten im Sandbuch von Borges’ Erzählung – bei all seiner Unmöglichkeit, Unendlichkeit und damit auch Undarstellbarkeit – vielleicht doch vorgestellt werden könnte.

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5 Sandkunst

5.3.4 Micha Ullman: Bücher (2009) Bücher ist eine von Ullmans „sand throwing installations“. Über etwa eintausendzweihundert Bücher hinweg wirft und schüttet er roten Sand (Chamra), der sich auf ihnen und um sie herum verteilt:

Abb. 5.17: „Sand throwing“: Ullman wirft roten Sand (Chamra) über die ausgelegten Bücher.

Während Ullmans Skulptur Sand Buch 1–5 Bücher im Modus des ‚Als ob‘ in ihrer Gegenständlichkeit ausstellt, werden die tatsächlichen Bücher nach der Sandschüttung weggenommen; sie hinterlassen gleichwohl ihre Umrisse als „Abbilder von etwas Dagewesenem.“102 Der Sand als äußerst formbares Material zeichnet dabei die jeweiligen Silhouetten genau nach. Sand kann durch diese besondere Anpassungsleistung ein hohes Maß an Form-„Information“ aufnehmen, ein Begriff, den Ullman zur Beschreibung von Sand in Differenz zu Erde gebraucht: Die Erde ist ein hartes Material, die Grube ist exakt und streng. Wenn du sie aushebst, wird das harte Material locker, lose, wenn es Sand ist. Wenn dann der Wind kommt, fliegt der Sand. Die Sandschüttungen sind mit einem Material gemacht, das größere Körner hat, aber auch ganz feine, fast wie Mehl. […] Mich überrascht es immer wieder, wie viel Information der Sand sammeln kann.103

102 Flügge: Sandwerk, S. 7. 103 Ullman, in: Der Ort und die Fragen, S. 27.

5.3 Fixierter Sand: Stillgestellte Formgebung

425

Der hohe Virtualitätsgrad von Sand und damit seine „guten Mediumeigenschaften“ (vgl. Kap. 2.3.1/V.) führen zu dieser Fähigkeit, „viel Information“ zu „sammeln“. Gleichzeitig kann die Flüchtigkeit des Sandes (wenn der Wind kommt) die Flüchtigkeit der ursprünglich nicht flüchtigen Bücher (noch) andeuten, die er trotz seiner eigenen Flüchtigkeit überdauert. Dass die Sandkörner nicht alle genau gleich groß (also schlecht sortiert) sind, befördert den plastischen Eindruck der Fläche nach dem Abheben der Schablonen-Bücher. In Abb. 5.18 ist die Installation von Bücher in der Guardini Galerie in Berlin 2009 zu sehen (später unter dem Titel Sandwerk im Leonardi-Museum Dresden 2011).

Abb. 5.18: Micha Ullman: Bücher. 2009.

Die Umrisse der Bücher wirken wie Schatten eines nicht mehr Anwesenden; gleichwohl generiert die Sandstruktur eine Tiefe, vor der die weißen und gut konturierten Flächen hervorzutreten und wie etwa Blätter auf einem See zu schwimmen scheinen. Durch den Sand tritt das Abwesende an die Oberfläche, und durch seinen hohen Virtualitätsgrad kann die Form der Bücher getreu aktualisiert werden. Auch dadurch lädt Bücher dazu ein, sich das Abwesende vorzustellen und es zu erinnern. „Man könnte dies“, schreibt Flügge, „als anwesende

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5 Sandkunst

Abwesenheit bezeichnen“,104 und indem der Sand auch hier, wie bei Kiefer, als ein Material des Erinnerns genutzt wird, wiederholen sich die Formulierungen in den Beschreibungen von Flügge und Böhme: In der jeweiligen Sandkunst soll das Abwesende anwesend werden.

Abb. 5.19: Micha Ullman: Bücher. 2009 (Detail).

Bücher steht im Zeichen der Erinnerung an die Bücherverbrennung. Die Vernichtung der Bücher wird durch die weiß zurückbleibenden Flächen appräsentiert, während die Materialität des Sandes, der ein traditionelles Mittel zum Löschen von Feuer ist, das Auslöschen des vernichtenden Brandes assoziiert. Bücher schreibt sich durch diese Thematik und das Material auch in den Kontext von Ullmans anderen Sandschüttungen ein. Die erste assoziiert die „Evakuierungen“ jüdischer Wohnungen im Zuge der nationalsozialistischen Judenverfolgung. Ullman beschreibt seine „Sand throwing installation“ Sanday so: Die erste Sandschüttung im heutigen Sinne entstand 1997 im Künstlerhaus in Tel Aviv. Das hat die Form einer Wohnung mit einzelnen Räumen. Ich habe die […] eingerichtet, mit allem, was dazugehört: Salon, Kinderzimmer, Küche, Toilette und so weiter. Mehr als 300

104 Flügge: Sandwerk, S. 5.

5.3 Fixierter Sand: Stillgestellte Formgebung

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Gegenstände […]. Darüber habe ich den roten Sand geschüttet, wieder im Volumen meines Körpers. Dann haben wir die Sachen vorsichtig, ohne selbst Spuren zu hinterlassen, herausgeholt. Was blieb, war der Sand mit den hellen Spuren der evakuierten Gegenstände. Am Ende war das ein Sandteppich, der höchste Punkt etwa zwei Millimeter. Man konnte den Raum nicht betreten, aber von oben, von einer Galerie hineinschauen.105

Die gesamte Fläche dieser Sandschüttung beträgt über 400 m2. Der menschliche Körper ist im Volumen der Sandmenge appräsentiert, aber dieser Verweis ist zerstreut: Die Spuren seiner Präsenz, die Umgebung, die er für die Gegenstände um ihn herum war, ziehen sich nach dem „Sand throwing on a home content“ als Sandspuren durch den Raum. Der Sand erinnert zugleich den Körper (metaphorisch) und die evakuierten Gegenstände (metonymisch). Man könne dieses Bild auch, so Ullman, als „flaches Relief“ verstehen oder als „Fotografie ohne Kamera“.106

Abb. 5.20: Micha Ullman: Sanday. 1997.

105 Ullman, in: Der Ort und die Fragen, S. 19–21. 106 Ebd., S. 23.

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5 Sandkunst

Während die Spur in dieser Installation durch die auf die Möbel gestreute Sandmenge auf einen konkreten, menschlichen Körper verweist, indem sein Volumenmaß im Material der Spur, die sich um die Gegenstände legt, enthalten ist, gibt es auch Sandschüttungen, in denen der Sand die Spuren von Menschen umzeichnet. So geht Ullman in seiner künstlerischen Aktion Hochzeit (2011) vor. Alle etwa hundert an dieser jüdischen Hochzeit Beteiligten waren „real anwesend, als er den roten Sand über sie warf. Sie verließen das Areal, ohne davon Zeichen zu hinterlassen, über ein ausgeklügeltes System von Bänken. Was blieb, war eine Spur ohne Spuren ihres Entstehens.“107 Die Spuren wurden auf 268 Quadratmetern mit dem roten Sand erzeugt und festgehalten (Abb. 5.21). Es entsteht wieder eine Momentaufnahme, auf der aber, anders als auf einer Fotografie, nur noch „Schattenbilder im Sand“ zu sehen sind.108 Welche vergangene Präsenz sich darin als abwesend zeigt, bleibt ohne die Hintergrundinformationen offen: „Wir sehen, dass da etwas gewesen ist, erkennen die Spuren, wissen aber nicht sofort, was es ist, das da fehlt. […] Die Leere ist hier präsent. Es ist der Versuch, den Raum zu vergegenwärtigen, den die fehlenden Gegenstände eingenommen haben.“109 Lediglich die Fußspuren sind als menschliche identifizierbar, aber sie sind keinem Geschehen mehr zuzuordnen. Die Technik des „sand throwing“ ist eine Erinnerungstechnik, die Bücher, Möbel und Menschen im Sand zu Spuren werden lassen kann und in den entstandenen Silhouetten erinnerbar werden lässt. Indem der Sand als Archivierungsmedium auf instabile Zeitstellen verweist, treten die Spuren zudem als noch nicht verwischt, als noch existent hervor. Das Abwesende wird als zwar als abwesend präsentiert, aber auch dies nur im ‚flüchtigen‘ Material Sand. Der Sand wird nach der Schüttung fixiert, ist aber gleichwohl eine „ephemere Skulptur. […] Das konkrete Werk existiert nur eine kurze Zeit. Doch ist die Arbeit als solche wiederholbar – nach den Vorgaben des Künstlers und auch ohne sein direktes Zutun.“110 Das erinnert an die Sandmühle, aber in den Sandschüttungen wird nicht der Vorgang der Formung vorgeführt, sondern sein Resultat: die Spuren der Schüttung, die Spuren der verschütteten und dann entfernten Bücher, Möbel oder Menschen. Die Sandschüttungen sind künstlerische Aktion, aber Bücher aktualisiert das Resultat der Aktion, während die Sandmühle es fortwährend virtualisiert.

107 108 109 110

Flügge: Sandwerk, S. 7. Ebd. Ebd. Ebd., S. 5.

5.3 Fixierter Sand: Stillgestellte Formgebung

Abb. 5.21: Micha Ullman: Hochzeit. 2011. Sandschüttung im Israel-Museum, Jerusalem.

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5 Sandkunst

5.3.5 Günther Uecker: Kleine und große Wüste (1966) Ueckers Skulptur Kleine und große Wüste von 1966 zeigt zwei unterschiedlich große Mengen Sand:

Abb. 5.22: Günther Uecker: Kleine und große Wüste. 1966.

Der Sand wird in zwei Glaskugeln, die in der Mitte verbunden sind, aufbewahrt. In einem Glas befindet sich eine große, in einem anderen eine kleine Menge Sand, sodass die Vergleichsstruktur nicht erst aufgrund des Titels Kleine und große Wüste hergestellt wird. Vielmehr entsteht sie schon durch die relationierende Anordnung in zwei Glaskugeln: Diese Menge ist klein, und diese Menge ist groß. Überraschend ist am Titel eher die Bezeichnung „Wüste“. Er suggeriert, die Sandmengen als synekdochische Verweise auf Wüsten zu lesen. Die große Sandmenge ist dann durch den Vergleich mit der kleineren Sandmenge gedanklich erweiterbar zu einer wiederum größeren Sandmenge (bis hin zu einer richtigen Wüste). Die kleine Sandmenge ist entsprechend erweiterbar zu einer noch kleineren Sandmenge bis hin zum Nichts (zu gar keiner Wüste). Die zwei sichtbaren Mengen erscheinen wie zwei Bestandsaufnahmen, die eine Reihe von nicht sichtbaren Mengen implizieren, von der sie nur zwei Ausschnitte zeigen. Sie sind damit auch Teile einer Art Sorites-Reihe, insofern sie die Frage implizieren, ab wann eine Sandmenge eine Wüste ist oder frei nach Cicero: Ab welchem Wieviel ist ein Sandhaufen eine Wüste?111 Eine Wüste ist per definitionem nicht derart klein und befindet sich auch nicht im Glas. Kleine und große Wüste zeigt vielmehr gerahmte und in ihrer Form stabilisierte ‚Wüsten‘. Zum einen findet sich hier, wie bereits bei Hendricks’ 3.281.579 Sandkörner, der Verweis auf die Transformation von Sand in Glas und damit auf seine Auflösung und das Ende seiner spezifischen Materialität wieder. Das Glas würde dann den ‚Tod‘ des Sandes ausstellen. Zum anderen gleichen die beiden Glaskugeln einer quergelegten Sanduhr. In dieser Position kann sich der

111 Vgl. zum Sorites Kap. 1.

5.3 Fixierter Sand: Stillgestellte Formgebung

431

Sand nicht bewegen, und der Ablauf der Zeit scheint angehalten, oder es wird zumindest eine Zäsur markiert: In diesem Moment, scheint die Skulptur zu sagen, wurde der Sandfluss unterbrochen. Kleine und große Wüste ist im literalen Sinne eine „immobile Sanduhr“, und wie die gesammelten Sande, die Calvino mit dieser Metapher beschreibt, ist auch sie eine Sandsammlung. Zwar handelt es sich in Calvinos Essay Collezione di sabbia112 nicht nur um ein Glas, sondern um „Hunderte von Gläsern“, aber der Sand wird ebenfalls in Glas aufbewahrt und in einem Museum ausgestellt. Mit Calvinos Worten fortfahrend, könnte man auch für Ueckers ‚Wüsten‘ eine „in ihren Gläsern eingefangene opake Stille“ konstatieren, oder dass sie Wüsten sind „über die kein Wind mehr weht“. Dem fließenden Sand als Metapher für verrinnende Zeit wird bei Uecker wie bei Calvino der stillgestellte Sand als gleichsam angehaltene Zeit gegenübergestellt. In der Mengenzuweisung von „groß“ und „klein“ wird zudem ein raum-zeitliches Verhältnis eröffnet, in dem die Sandmengen als Zeitmengen erscheinen. Bei der Skulptur Kleine und große Wüste handelt es sich um eine Aktualisierung dieser Differenzen. Die Spezifik von Ueckers Skulptur wird durch den Vergleich mit der Sandsammlung von Nikolaus Lang Farbfeld – Sand und Ocker (1987) deutlicher. Diese stellt verschieden gefärbte Sande auf dem Boden aus. Während Vitruv nur vier Sand-Farben kennt (oder nennt) – „Genera autem harenae fossiciae sunt haec: nigra, cana, rubra, carbunculus“113 – trägt Lang zahlreiche Proben unterschiedlichster Farbe aus einem australischen Landstrich zusammen als „ein Erdmaterial, auf dessen Grundlage sich Leben und Stammeskultur der Ureinwohner entfalteten. Der Blick des Außenstehenden ist eine Reminiszenz an die kolonialisierte, fast zerstörte Tradition.“114 Während diese Proben gehäuft sind, hat der Sand in Ueckers Kleine und große Wüste eine flache Oberfläche. Die beiden Sandmengen ‚verhalten‘ sich also wie eine in zwei Glasvasen geschüttete Flüssigkeit. Der Sand erscheint in dieser Lesart wie ein ‚Als ob‘ von Wasser. Zu sehen sind: zwei unterschiedlich große ‚Pfützen‘ in zwei kugeligen Vasen aus Glas. Der Sand verweist durch seine instabile und bewegliche Materialität auf Flüssiges, auf eine Bewegung, die im Glas gehalten und angehalten ist: Er ist ein in den Glaskugeln stillgestelltes, miniaturisiertes Wüstenmeer. Hieraus würde sich erklären lassen, warum die Skulptur nicht, was die Leserichtung von links nach rechts und die Verteilung der Sandmengen eigentlich nahe legen würden, Große Wüste und kleine Wüste benannt ist; die kleine Wüste wäre dann tatsächlich diejenige mit der größeren Sandmenge, weil sie

112 Vgl. zur Analyse dieses Textes und den Zitatnachweisen Kap. 3.5.1. 113 „Die Arten des Sandes aber sind folgende: schwarzer, grauer, roter, rötlichbrauner.“ (Vitruvii: Zehn Bücher über Architektur, übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Curt Fensterbuch, Akademie Verlag Berlin 1964, S. 91–93) 114 Sperling: Spuraufnahme, S. 116, Abb. z. B. in: [Märkischer] Sand, S. 77.

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5 Sandkunst

mehr ‚Wasser‘ darstellte und weniger ‚trockene‘, wüstenartige Luft, während die kleinere Sandmenge entsprechend weniger ‚Wasser‘ repräsentierte und damit ein ‚Mehr‘ an Wüste. Die Skulptur spielt auf diese Weise mit der Assoziation von Materialien (Wasser, Sand) und deren spezifischen Mengenverhältnissen (groß, klein) und Semantiken (trockene Wüste, nasses Meer) und bringt die Materialien (Sand, Glas, Luft) so in Interaktion, dass sich zwischen ihnen Verschränkungen ergeben, die nicht in einer einfachen Lesart aufzuheben sind.

5.4 Formen von Sand in der Kunst Sandkunst ist durch die Vielfalt der möglichen Aktualisierungen von Sand äußerst komplex, sodass eine abschließende Typologisierung nicht möglich (und auch nicht wünschenswert) ist. Aber es lassen sich doch Linien, Spannungen und Themen der Sandkunst ausmachen, die sich aus der Spezifik von Sand ergeben, nämlich: ein hohes Formungspotential zu haben beziehungsweise ein hohes Maß an Virtualität. Entlang der vier zu Beginn gestellten Fragen kann nun skizziert werden, wie Sand als Material durch seine Differenzfunktion in der Kunst selbst Form wird. Die Materialität von Sand wird in den Kunstwerken in denkbar vielfältiger Weise aktualisiert: Er wird abgezählt, gehäuft, gesammelt, gesiebt, geschüttet, aufgeschüttet, eingefüllt, ins Fließen oder Rieseln gebracht, gespurt, geschoben, gefegt, gestreut, zerstreut, gepustet, geweht, wegtransportiert; zu Kreisen, Oktaedern, Kegeln, glatten Oberflächen, Linien geformt; eingeschlossen, festgedrückt, glattgestrichen, untergemischt, gerahmt, fixiert. Der Sand wird, um dies noch einmal wie in den Kapiteln 5.1–5.3 zu bündeln: gezählt, bewegt, fixiert. Es zeigt sich, wie vielfältig er als Material formbar ist. Die Materialität des Sandes aktualisiert sich als Medium virtueller Formen. Oder: Der Sand zeigt sich als ein Medium, das besonders ‚medial‘ in Bezug auf die Differenzfunktion seines Materials ist. Die Materialität von Sand wird besonders in dreifacher Weise ästhetisch wirksam. Erstens erweist sich Sandkunst als Zählkunst. Die Diskretheit der Sandkörner entspricht der Struktur der Zahlen, und sie sind wie diese (ab)zählbar und addierbar oder als einzelne bis hin zu „the last grain“ isolierbar. Durch ihr großes Vorkommen verweisen sie zudem auf große Zahlen und Unendlichkeit. Darüber hinaus lassen sich mit Sandhaufen auch endliche Mengen modellieren, und es lässt sich in intermateriellen Bezügen das Verhältnis vom Ganzen und seinen Teilen thematisieren. Zweitens finden sich in der Sandkunst „temporale Skulpturen“ beziehungsweise dynamische sandscapes. Die Sandkunst präsentiert in ihnen Prozesse der Bildung und Auflösung von Formen im Sand. Der zeitliche Aspekt von Formen, die schon oder noch nicht gebildet sind, tritt in den „temporalen Skulpturen“ besonders hervor. Zugleich wird dies häufig in Form bewegter Landschaften

5.4 Formen von Sand in der Kunst

433

prozessiert, und der Sand wird, insofern er differenziert und flexibel formbar ist, darüber hinaus zur Darstellung von Daten verschiedenster Art (auch) künstlerisch eingesetzt. Drittens ist Sandkunst eine Kunst der ästhetischen Stillstellung von Bewegung. Hierbei tritt der Sand in seiner Plastizität und Körnigkeit hervor oder stellt die Fixierung seiner eigenen Instabilität oder Flüchtigkeit aus; dies geschieht oft im Verbund mit anderen Materialien, die den Sand binden können, und so kann er sogar den Umriss wegbewegter Gegenstände festhalten. Im jeweiligen Einsatz von Sand entfalten sich unterschiedliche Semantiken, die dennoch nicht beliebig sind. Der Sand als in sich diskretes, leicht formbares und instabiles Material (seine Virtualität) wird zum Anlass genommen, ihn in semantische Felder zu übertragen, in denen dies thematisch wird. So dient der Sand als Modell für verstreichende Zeit (Zeit für Wachstum, Arbeitszeit, Zählzeit, Erzählzeit, Zeit als solche); das einzelne Sandkorn repräsentiert einen Zeitmoment (auch den letzten) und der Sandfluss das Fließen der Zeit, wobei seine Unterteilung Zeitabschnitte markieren kann beziehungsweise seine Unaufhörlichkeit die Andeutung von Unendlichkeit. Je nach Kontext kann das perpetuierte Bewegen des Sandes auch als ‚verrinnende‘ Zeit, als ‚Nullpunkt‘ der Zeit oder als memento mori konzipiert werden. Der Sand erscheint daher oft als Ausdruck von Flüchtigkeiten verschiedenster Art: der Flüchtigkeit von Spuren, die immerzu neu zu ziehen sind; der flüchtigen Form von Geschichten oder von Musik, die im Moment ihres Erscheinens schon wieder ‚verklingt‘; der Fluidität der Dinge im Allgemeinen, die so wenig festzuhalten sind wie der Sand auf einem luftumströmten Hügel; des Unfertigen von Prozessen; der Sinnlosigkeit oder auch der Sinnhaftigkeit eben dieser Flüchtigkeiten. Im semantischen Gegensatz hierzu stehen die Techniken des Fixierens und Sammelns von Sand, durch die das Gewesene, Gezählte, Geformte aufbewahrt wird. Hierzu gehört auch das Anhalten von Bewegung, das den Raum für Erinnerung schafft: indem das Abwesende in der Spur oder im schattenartigen Umriss anwesend wird; indem der Zerfall, die Zerstörung, die Zerstreuung gleichsam eingefroren werden; indem der Zeitfluss gleichsam im fixierten Sand oder quergelegten Stundenglas angehalten wird; indem der Sand für ein abwesendes Material eintreten muss, für dessen Auflösung er als Zeichen einsteht; indem ein Sandkorn den Schlusspunkt eines vorangegangenen Prozesses sistiert. Weil der Sand auch die Landschaften seines Vorkommens auf der Erde konnotiert, kann sein ästhetischer Einsatz auf die Semantik der sandscapes verweisen, die sich in der Spannung zwischen zerstörter und geformter Landschaft bewegen, zwischen Verwüstung und Gestaltung. Der Sand erinnert in der Sandlandschaft an ‚Natur‘Landschaften oder kann Zeichen einer dezentralisierten, nomadischen, dehierarchisierten ‚Kultur‘-Landschaft sein, die bis hin zum Bild der Zerstreuung reicht. Der Sand steht schließlich immer in intermateriellen Bezügen. Er kann durch andere Materialien geformt werden, indem sie Spuren in den Sand ziehen (wie die

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5 Sandkunst

Metallkugel, die Kordeln, die Hände, die Luftstöße oder die Schwingungslinien von Klängen) oder indem sie vom Sand umrissen werden (wie die Bücher in den Sandschüttungen). Der Sand kann zudem (durch den Luftstrom von Ventilatoren) zusammengeschoben, (durch Sanduhren, deren Glaskörper seinerseits in eine Stahlkonstruktion oder deren Sandfluss seinerseits in die Baukonstruktion eines Hauses eingebunden sind) ins Fließen gebracht oder (durch Ameisen) wegtransportiert werden. Andere Materialien erfüllen oft die Funktion, eine aktuelle Form von Sand zu stabilisieren (der Glasteller, die Glaskörper, die Sandkorn-Hülle, die Buchform aus Eisen, das Blatt, die Rahmen der Sisyphus-Installationen oder von The Tidal Series sowie die Eisenschale mit den Ameisen), oder Sand wird in Materialien wie Ton, Farbe, Schnüren oder Eisen fest gebunden. Die Stabilisierung der Form können sowohl eine Vitrine oder ein Glas als Schutz vor Luftbewegung bewirken als auch ausgerechnet Luftströme, wenn sie entsprechend angeordnet sind. Es ist möglich, dass Informationen aus anderen Materialzusammenhängen in Sandformen übersetzt werden wie Buchumrisse, Daten, Geschichten oder Klänge; umgekehrt gibt es auch Sandkunst, in der die Sandformen in eine andere Materialität übersetzt werden, etwa in Figurentafeln, über Kameras in Internetvideos oder in Lichtprojektionen, um die Formen in einem anderen Medium zu speichern, sichtbar zu machen oder zu verändern. Hier ist auch der Ort von wissenschaftlichen Projekten zu sehen, die im Sand etwas zu visualisieren und diese Visualisierungen als Erkenntnisse medial zu sichern suchen. Der Bezug von Sand und Glas ist innerhalb der materiellen Interaktionen als ein besonderer hervorzuheben, da Glas aus Sand hergestellt wird. Der Sand kann vom Glas gehalten und geformt werden oder sich in Glas als Material interferentiell auflösen. Dieser Bezug von Sand und Glas sorgt in der Sanduhr, der liegenden Wüsten-Sanduhr und dem Sandteller für komplexe materielle und semantische raum-zeitliche Gefüge. Ebenso intrikat ist der Bezug von Sand und Stein, da durch ihn der umgekehrte Prozess, der Zerfall von Steinen zu Sand, bzw. der Sand als zerstörtes Gestein ausgestellt wird, etwa wenn in Sandkunstwerken Steinbauten zu Sand verfallen. Schließlich ist auch die Plexiglasscheibe zu nennen, die die Formen im Sand hält und gleichzeitig für deren Projektion durchsichtig bleibt, während Sand und Luft wiederum in ihrer Flüchtigkeit interagieren. Da mein Fokus auf Sandkunstwerken lag, in dem die Sandkörner als diskrete erkennbar sind, fiel etwa der Sandskulpturenbau, der signifikanterweise der Bildhauerei zugerechnet wird, aus der Betrachtung heraus.115 Skulpturen dieser

115 Vgl. z. B. die Homepage der World Sand Sculpting Acadamy unter http://www.wssa.eu [28.12.2019]. Mit dem Bau von Sandskulpturen haben sich Künstler wie der Russe Pavel Zadanouk als dreimaliger Weltmeister oder der Inder Sudarsan Pattnaik mit seiner Schule Golden Sand Art Institute einen Namen gemacht (vgl. Simone Rosskamp: Könige der Sandburg, in: taz

5.4 Formen von Sand in der Kunst

435

Art werden auch aus anderen Materialien hergestellt, wie etwa aus Zucker wie die Riff-Installation von Ken Yonetani, die an die Zerbrechlichkeit des Ökosystems Ozean erinnern soll,116 oder aus Eis in groß dimensionierten Eisskulpturen. So wie die Sandskulpturen durch spezielle Verdichtungs- und Bewässerungstechniken in ihrer Kohäsion gestärkt werden müssen, können Eisskulpturen nur an Orten ausgestellt werden, die kalt genug sind, um die Wassertropfen in einen stabilen Aggregatzustand zu bringen.117 Weitere Materialkorrespondenzen könnten anhand der Form von Sandkörnern untersucht werden. Aufgrund seiner Diskretheit kann das Sandkorn die diskrete Form digitaler Informationseinheiten sowie ihre Darstellung als Pixel auf dem Bildschirm andeuten.118 Die Formbarkeit von Sand und die Kleinheit und Gleichförmigkeit seiner Elemente würde auch einen Bezug zu Luciano Fabros Sisyphus (1994) nahelegen, eine Installation, in der Mehl in einem breiten Streifen auf den Boden geschüttet und von einem Marmorzylinder in der Mitte platt gerollt wurde und von der aus noch einmal auf Sisyphus von Shapiro/Hébert und die Sisyphos-Arbeit des Sandzählens in 3.281.579 Sandkörner Bezug genommen werden könnte, wenngleich oder gerade weil der Sisyphos-Komplex in diesen Kunstwerken eine ganz unterschiedliche Semantik entfaltet.119

Berlin lokal 7081 (18.06.2003), S. 23). Diese bildhauerischen Skulpturen werden im Rahmen von Wettbewerben und Festivals oder anderen publikumswirksamen Events an sandreichen Orten veranstaltet, wobei Skulpturen von bis zu fünf Metern Höhe entstehen. Technisch ist jedoch eine Veränderung der materiellen Grundbedingungen vonnöten, um den Sand fixieren zu können. Hierfür ist eine starke Verdichtung der Sandkörner erforderlich: Der Sand muss vorher „ausgiebig gewässert werden, damit er besser klebt“, und wird mit einer Holzverkleidung in eine Form gepresst, die durch Spannung die Konsistenz verdichtet. Die Ausarbeitung des Sandblocks beginnt von oben, damit die bereits fertigen Teile nicht zerstört werden. Am Ende wird die fertige Skulptur „noch einmal mit einer speziellen Mischung aus Leim und Wasser besprüht, die Standfestigkeit bringt.“ Sogar Regen überstehen die Skulpturen auf diese Weise in einer Saison von einigen Wochen bis zu einigen Monaten. 116 Diese Skulptur wurde anlässlich der 53. Biennale in Venedig mit dem Motto „Making Worlds“ gezeigt, vgl. eine Abbildung des Kunstwerks in Ruth Händler: Making Worlds, in: natur + kosmos 9 (2009), S. 75. 117 Ein solcher Ort ist das kalte Harbin in China. Im März schmilzen diese Skulpturen aber selbst dort (vgl. NN: Eisige Täuschung, in: mobil 2 (2009), S. 90). 118 Vgl. zur Bedeutung der Pixel in der Computerkunst z. B. Karl-Heinz Werler: Programmierte Phantasie. Computer, bildliche Darstellung, bildkünstlerische Gestaltung, Berlin: AkademieVerlag 1991. 119 Dieses Kunstwerk deutet die Arbeit von Sisyphos mit einem massigen Marmorzylinder an, der rollbar ist. Das Mehl, das hierdurch wie der Sand geformt wird, assoziiert allerdings eher das Ausrollen von Teig mit einer Teigrolle und damit Hausarbeit als Sisyphos-Arbeit. Vgl. Luciano Fabro: Sisyphus, 1994, unter http://collections.walkerart.org/item/object/6609 [25.01.2015].

6 Pragmatik der Sandmetapher Es gibt keine Organisation, die vor einem Sandkorn geschützt wäre.1

Das Sandkorn, das aktuelle Definitionen einer wie auch immer gearteten „Organisation“ zu lockern oder aufzulösen vermag, ist nicht nur eine Metapher für mehr oder weniger erwünschte Störungen, sondern lässt auch die Pragmatik seiner eigenen Metaphorizität erkennbar werden. Das Sandkorn ‚macht‘ etwas, es setzt einen Prozess in Gang, der entsprechend der sandmetaphorischen Spezifik ein Prozess der Virtualisierung ist. Es hat auf aktuelle Organisationen eine praktische Auswirkung, greift deren gesetzte Abläufe und prozessierte Setzungen an, es löst sie auf mit seinem Potential, vom Kleinen ins Große zu wirken. Das Sandkorn, das selbst als Unterschiedenes und Unterscheidendes, aber gleichzeitig unendlich Unterschiedsloses eine aktuelle Organisation von Unterscheidungen auflöst, dieses Sandkorn macht einen Unterschied. Ebenso ‚macht‘ der Einsatz der Sandmetapher etwas. Sie thematisiert die Prozesse der Virtualisierung, indem sie auf die Praktiken des Auflösens, Problematisierens und Kontingentsetzens verweist. Ihr Einsatz ist selbst ein praktischer, er hat eine spezifische Pragmatik. Wenn die Pragmatik von Metaphoriken aber, wie Hans Blumenberg in seinen Paradigmen zu einer Metaphorologie schreibt, in dem Versuch besteht, über Metaphern Orientierung zu bieten und Verhalten zu steuern,2 wenn die Metapher ein „Modell in pragmatischer Funktion“ ist,3 worin besteht dann diese Funktion von Sand als metaphorischem Modell? Am Ende der vorgenommenen metaphorologischen Untersuchungen zu ‚Sand‘ kann gesagt werden, dass die Pragmatik der Sandmetapher darin besteht, eine Orientierung über das Problematische der Virtualität zu geben. Sie orientiert über mögliches Verhalten in Virtualität und in Prozessen der Virtualisierung sowie zu Virtualität, also gegenüber Virtualität. Ein solches Verhalten kann aktualisierend sein und (erfolgreich oder erfolglos) versuchen, die virtualisierenden Prozesse durch Lösungen momentan oder länger anzuhalten, oder es kann die Virtualisierung allererst in Gang setzen oder sogar dauerhaft zu prozessieren versuchen.

1 Michel Tournier, zit. n. Jaume Cabré: Das Schweigen des Sammlers, Berlin: Insel 2011, S. 315. 2 „Ihr Gehalt [der absoluten Metaphern] bestimmt als Anhalt von Orientierungen ein Verhalten“ (Hans Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1998 [1960], S. 25). 3 Ebd., S. 12. https://doi.org/10.1515/9783110651522-006

6.1 Sand als Metapher mit Modellfunktion

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Lud eingangs der Sorites dazu ein, über die Virtualität von Definitionen nachzudenken, lädt nunmehr das gefährliche Sandkorn, das aktuelle Definitionen aufbricht, dazu ein, über die Pragmatik dieser Virtualität nachzudenken. Die Sandmetapher thematisiert Praktiken der Virtualisierung, und sie ist in dieser Fokussierung eine Praxis der Virtualisierung.

6.1 Sand als Metapher mit Modellfunktion Sand wurde in dieser Arbeit im Sinne Blumenbergs als Metapher mit „Modellfunktion“ behandelt, als ein metaphorisches Modell, das eine „Möglichkeit des Verstehens“ bereitstellt.4 In Borges’ El libro de arena ist in Bezug auf das Sandbuch, das unendlich ist und dessen Seiten sich beständig verschieben, mit der Metapher Sand das Problem der Virtualität auf eine Weise zu verstehen, die in ordnungsgemäßer Logik nicht auflösbar ist.5 Da das Sandbuch ein nicht unbeträchtliches Problem der Handhabung darstellt, kann die Metapher Sand Hinweise auf die pragmatische Dimension geben, die das Problem der Virtualität mit sich führt. Die Sandmetapher gibt auf ihre Weise Orientierung über das Problematische der Virtualität. Doch was genau wird problematisch? Gefüge und Definitionen sind solange kein Problem, wie sie ‚da‘ sind, wenn sie als gesetzt und ‚fest‘ gesehen werden. Anders verhält es sich, wenn diese Gefüge und Setzungen in ihrer Aktualität hinterfragt werden und aus einer spezifischen Perspektive heraus virtuell – ‚sandig‘ – erscheinen. Dann ergibt sich eine Situation, die sich auch in pragmatischer Hinsicht völlig anders darstellt. So zeigte sich das Problem der Virtualität in den behandelten Texten zum einen in Bezug auf die Virtualität der Formen, deren Pragmatik die problematisch werdenden Formen in Medien betrifft (Kap. 3): Wenn die aktuelle Definition der Welt in überdacht wird und die Welt als ‚sandig‘, als Problem von losen Kopplungen, erscheint; wenn aktuelle Situierungen aufgelöst werden und Gründe als lose und instabil erscheinen; wenn aktuelle Archivierungen oder Archivierungsmedien als problematisch und einmal Gesetztes, Geschehenes oder Gespeichertes als unbeständig in den Blick gerückt wird. Die Pragmatik der Sandmetapher wird also zum einen ersichtlich, wenn Sand als metaphorisches Modell dazu dient, die aktuelle Definition von Welt oder vom Begriff ihrer Größe aufzulösen (Kap. 3.3). Die Auflösung der Welt zu Sand offenbart deren problematische Struktur, für die es nicht nur eine Lösung

4 Ebd., S. 106, 112; vgl. auch S. 10, 99. 5 Vgl. zu dieser Funktion der Metapher ebd., z. B. S. 10, 112.

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6 Pragmatik der Sandmetapher

gibt. Sie erscheint als neu zu berechnende geschlossene Einheit (Archimedes), als nur scheinbar feststehende Wirklichkeit, die sich in unendlichen Verschiebungen auflöst (Borges) oder als zu einer Punkt-Struktur entwirklichten und zu dieser neuen Grundstruktur völlig veränderten Welt (Flusser). Die Welt zeigt sich im Sand als Problem, wie ihre Elemente zu verbinden und wie ihren variablen Strukturen und undefinierten Grenzen zu begegnen sei. Mit dem Sand wird der Standpunkt problematisiert, den wir der Welt gegenüber einnehmen, und in den Texten wird versucht, hierüber Orientierung durch Berechnung (Archimedes’ Kosmos), durch Abschätzung von Verhalten in und gegenüber der unmöglichen Unendlichkeit der Welt (Borges’ Sandbuch) oder durch eine neue Haltung der als neu definierten Welt gegenüber (Flussers Punkte-Universum) zu geben. Der Sand proliferiert in dieser Art von Weltbilddiskussion Virtualität als eine Kategorie der Welterkenntnis. Die pragmatische Dimension der Sandmetapher zeigt sich darüber hinaus, wenn Situierungen in der Welt als ‚sandig‘ problematisiert werden (Kap. 3.4). Es stehen dann durch den Sand als losem Grund Fragen nach der Stabilität von Begründungen und Grundlegungen von Theorien, Handlungen und Lebensmodellen im Raum. In den literarischen Texten werden sehr unterschiedliche Arten solcher (Grund-)Konzepte mit der Metapher Sand als ‚sandigem‘ Grund behandelt. Mit Sand wird die philosophische Frage nach den ‚Gründen‘ (z. B. im Sorites), die ethische Frage nach den Wertkonzepten für das eigene Leben (wie z. B. in White Sands Geld oder Ehrlichkeit), die politische Frage nach den Grundlagen von Entscheidungen (z. B. in politikwissenschaftlichen Schriften) oder die theologische Frage nach dem ‚Grund‘ Gottes gestellt (z. B. in Ahasver). Werden diese ‚Gründe‘ als ‚sandig‘ aufgefasst, tragen sie nicht. Mit der kombinierten Metapher vom ‚Haus auf Sand gebaut‘ werden bei Heym, Dubus III, Abe und Waddington insbesondere solche Probleme verhandelt, die lose fundierte Existenzgrundlagen betreffen. Das metaphorische Modell Sand zeigt Existenzgründe als lose Gefüge, als Orte, deren Definition nicht (mehr) gültig ist. Die Metapher Sand birgt so die pragmatische Frage nach dem eigenen Behaustsein und dem eigenen ‚Grund‘ in der Welt in sich, nach der Gründung und Begründung der eigenen Position. Sie orientiert über Gründe, die tragen oder nicht tragen und über die existentiellen ‚Grund‘-Fragen nach dem ‚Grund‘ des eigenen Entscheidens und Handelns. Durch Sand als metaphorisches Modell erweist sich Virtualität als Handlungskategorie. Schließlich zeigt sich die Pragmatik der Sandmetapher in jenen Fällen, in denen Eindrücke aufgelöst werden und die Problematik von ‚sandigen‘ Archivierungsmedien evident wird (Kap. 3.5). Wenn das Leben mit der Zeit verrinnt, wenn Spuren sich mit der Zeit auflösen, wenn die Geschichte oder Geschichten sich nicht abschließend rekonstruieren lassen oder das Gedächtnis und andere Medien der Archivierung nicht stabil sind, dann stellt sich die Auflösung von Zeitstellen

6.1 Sand als Metapher mit Modellfunktion

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als Problem der Virtualität dar. Der Sand verweist immer auf die Instabilität einer fortwährend verrinnenden Zeit und auf die Instabilität von Formen in der Zeit. Die literarischen Texte denken daher mit der Sandmetapher vornehmlich darüber nach, wie beständig das Leben ist und wie seine zeitliche Begrenzung aufgefasst werden kann (Borges’ El Reloj de arena, Hesse, Jean Paul, Kempf), was bleibt, wenn das Leben so auflösbar ist wie der Sand, ja ob es überhaupt zu fassen ist (Blake) und welche Konsequenzen aus dem unaufhaltsam nahenden Lebensende zu ziehen sind (Kornfelds Ein Sanduhr). Wie ist allgemein die Zeit beschaffen, und wie können wir sie uns vorstellen (Metapher Sanduhr)? Wie wäre es, wenn wir ihre Flüchtigkeit im gesammelten Sand stillstellen (Calvino)? Und was ist zu tun, wenn sie plötzlich in den ununterschiedenen Verhältnissen von Sand stillsteht (Abe)? Kann ihr rastloses Fließen in der Sanduhr, kann diese ‚Sandzeit‘ etwas über die Lebenszeit und die Geschichtlichkeit des Menschen sagen (Borges’ El Reloj de arena)? Damit verbunden sind Fragen, die anhand der Flüchtigkeit von Spuren im Sand gestellt werden, nämlich, was eigentlich von uns nach unserem Tod bleibt (Challis, Schlierf), welche Spuren wir überhaupt angesichts grundsätzlicher Kontingenz (Defoe, Keene, Putnam) und Menschheitsverbrechen (Celan, Kinder der Bestie) hinterlassen und welche davon erinnert werden sollen (Challis, Larsen) oder wie sie überhaupt erinnert werden können (Celan, Kinder der Bestie), vor allem dann, wenn die Medien des Erinnerns selbst flüchtig sind wie die Zeit selbst (Celan, Defoe, Keene, Kinder der Bestie, Larsen, Strittmatter). Ist unsere eigene Geschichte wie eine Erzählung der Sand Art so, dass neue Momente alte verdrängen und einige Formationen bleiben, während andere sich ändern und sich so das Gesamtbild unmerklich, aber stetig verschiebt? Und welche Geschichte kann Bestand haben, wenn die Geschichte so flüchtig ist wie der Sand? Die Metapher Sand hinterfragt in diesem Sinne auch konkret die Stabilität von Ordnungen, Konzepten und Ideen, die sich der Mensch ausdenkt, in die Welt setzt und als scheinbar stabil etabliert (Ahasver, Foucault, Jean Paul). Schließlich wird mit der Sandmetapher die ‚sandige‘ Instabilität des Gedächtnisses als Erinnerungsmedium beleuchtet sowie die Konsequenzen seines ‚Ausfalls‘ (Herrndorf). In Sand als metaphorischem Modell zeigt sich so Virtualität als Gedächtniskategorie. Fasst man die drei pragmatischen Aspekte zusammen, erscheint die Welt durch Dissolution in Auflösung, erscheinen Verortungen durch das Verfahren der Desituierung instabil und erscheinen Formen in Archivierungsmedien durch das Verfahren der Dearchivierung als nicht dauerhaft. Die Sandmetapher führt also in diesem genannten Sinne die Pragmatik von Formen mit sich, die in Medien problematisch werden, und dies betrifft auch die Pragmatik der hochaufgelösten Form von Medien (Kap. 4). Sand als metaphorisches Modell rückt besonders die virtuelle Form von Wahrnehmungsmedien in den Blick: Die ‚sandige‘ Wahrnehmung der Welt wird zum Problem, und zwar besonders im Traum als jener im Gegensatz zur

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6 Pragmatik der Sandmetapher

Wachwahrnehmung „in der Welt [] schwach verankerte[n] Modalität“ (Foucault) (Kap. 4.1). Was bedeutet es, wenn wir träumen? Wenn alles möglich ist, aber wenig erinnert werden kann? Die literarischen Texte diskutieren dies modellhaft am Sand. Der Traum ist wie der Sand ein hochaufgelöstes Medium, also ein Medium mit einem hohen Virtualitätsgrad, dessen Formbildung kaum limitiert ist: Man kann alles Mögliche träumen; es gibt Formen ‚im Überfluss‘ – „O weh und ach! […] Der Sand nimmt überhand!“ (Alice hinter den Spiegeln) Im Traum ist die Welt so gestaltbar wie die Formen im Sand; gleichzeitig ist der Traum aber auch so hochauflösend wie diese, sodass das, was man träumt, sich schnell wieder verflüchtigt, ist doch „la materia [] de que se componen los sueños“ wie der Sand (Borges’ Las Ruinas Circulares). Der Traum als ‚sandige‘ Welt problematisiert die Wachwelt, die sich im Traum verschieben, in die das Träumen aber auch eintreten kann, wenn etwas zwar traumhaft, aber zugleich als sandig haltlos viel ‚wirklicher‘ erscheint (wie das Stadtbild in Bachmanns Ein Ort für Zufälle); oder indem der fest verankerten Weltmodalität durch eine Wahrnehmung ‚unter dem Sand‘ eine alternative Version untergemischt wird (wie in Ozons Sous le sable). Was hat es für Konsequenzen, wenn die Grenze zwischen Wach- und Traumwelt gar nicht unterscheidbar ist beziehungsweise als bestimmbare Grenze zur Diskussion gestellt wird, wenn zum Beispiel das Wachen dem Träumen gleicht wie ein Sandkorn dem anderen (wie in Borges’ La Escritura del Dios)? Der Sand zeigt, dass die Grenze zwischen Wach- und Traumwelt selbst virtuell ist und zum Problem werden kann. Besonders am Sandmann, dieser Grenzfigur zwischen Wach- und Traumwelt, wird dies deutlich (Kap. 4.2). In den Texten von Andersen, Hoffmann, Kirchhoff und Luisi, die die Figur des Sandmanns in den Vordergrund rücken, wird die Definition der Grenze zwischen Wach- und Traumwahrnehmung explizit zum Problem, wobei die verschiedenen Sandmannfiguren sehr unterschiedliche Konzepte vertreten: Ob der Sandmann Probleme schafft oder Probleme löst, das hängt in hohem Maße davon ab, ob die Wach- und Traumzustände für die Träumenden durch ihn unterscheidbar sind oder nicht. Sand als metaphorisches Modell hat immer dann, wenn mit dem Sand oder der Figur des Sandmanns die Virtualität von Wahrnehmungsmedien thematisiert wird, die pragmatische Funktion, Orientierung über die Wahrnehmung der Welt zu bieten sowie über die Un/Unterscheidbarkeit von Wachen und Träumen. Der Sand verhandelt Virtualität so als Kategorie der Wahrnehmung. In der Sandkunst (Kap. 5) werden insbesondere Aspekte aufgenommen, die die Virtualität der Formen betrifft. Hier zeigen sich Probleme des rigiden Koppelns, also der losen Kopplung von Elementen als Zählkunst (3.281.579 Sandkörner, Until the last grain), Probleme der Situierung, also der losen Gründe, in den bewegten Sandkunstwerken, den „temporalen Skulpturen“ (Sand Art, Sand/

6.1 Sand als Metapher mit Modellfunktion

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Fans, Sandmühle, Sisyphus), sowie Probleme der Archivierung, also der losen Eindrücke, in den Sandkunstwerken, die den Sand fixieren und die Auflösung von Formen anhalten (Dein und mein Alter und das Alter der Welt, Kleine und große Wüste, Sand Buch 1–5, Sand Blatt 1–5, Bücher). Die spezifische Materialität von Sand entfaltet in der bildenden Kunst eine ästhetisch wirksame Differenzfunktion, deren Pragmatik in den Problemen der Virtualität besteht, die sie ansprechen. In literarischen, wissenschaftlichen und ästhetischen Diskursen wird mit der Metapher Sand also insgesamt über die Pragmatik von Problemen des Definierens, Koppelns, Situierens und Archivierens sowie über die Pragmatik von Lösungen durch Definitionen, Kopplungen, (Be)gründungen und Speicherungen nachgedacht und also über die Pragmatik des Verhältnisses von Virtualität und Aktualität sowie über die Bedingungen der Möglichkeit, Formen in Medien zu bilden und aufzulösen. Der Sand ist hierfür immer dann ein geeignetes Modell, wenn die Stabilität aktueller Definitionen (Formen) sowie die Kontingenz ihrer Aktualisierung (Formbildung im Medium) zur Diskussion stehen. Am Sand ist zu sehen, dass jedes Problem Kontingenz enthält, da seine Lösung zwar schlechter oder besser sein, aber in jedem Fall nicht auf eine notwendige Weise gelöst werden kann. Sonst wäre es kein Problem mehr, sondern bereits die Aktualisierung einer Lösung. Sonst gäbe es keinen Sand (mehr), sondern (bereits wieder) einen Felsen. So ist der Virtualität der Welt immer auch anders zu begegnen; das Verhalten angesichts ihrer Virtualität ist ebenso kontingent wie der Entwurf von Welt-Virtualitäten selbst. Die Virtualität der Welt ist aus diesem Grund ein bleibendes Problem, denn jede Aktualisierung hebt nicht die virtuelle Struktur der Welt auf, sondern aktualisiert nur eine Lösung, während die anderen Möglichkeiten deren Kontingenz darstellen. Ebenso sind Situierungen immer auch anders möglich, und die Pragmatik dieser Kontingenz wird immer dann besonders augenscheinlich, wenn mit der Sandmetapher erwogen wird, dass eine Existenz auch grundsätzlich anders be- oder gegründet sein könnte, oder wenn sich einmal aktualisierte Entscheidungen durch den Sand im Lichte ihrer Alternativen zeigen, wenn also der Sand auf die losen Gründe einer Setzung verweist, die ‚verrutschen‘ (können), auf die besondere Losigkeit bestimmter Grundsätze. Eine pragmatische Dimension hat diese Kontingenz auch in Bezug auf die Dearchivierung von Formen. Nicht nur erscheint die Lebenszeit über die Sandzeit als „Zufallsding“ (wie in Borges’ Reloj de arena), sondern der Sand problematisiert auch den Bestand von Ordnungen und Konzepten, die über die Zeit hinweg immer auch anders (gewesen) sein könnten (wie z. B. das Konzept vom Menschen bei Foucault oder Gottes Ordnung in Ahasver). Ebenso verweist der ‚Sand‘ der Geschichte auf deren problematische Konstruktion (wie in Kinder der Bestie). Schließlich besteht die pragmatische Dimension von Sand und Sandmann darin zu zeigen, dass durch den Traum nicht nur die Wachwahrnehmung problematisiert wird, indem die Welt im Traum

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6 Pragmatik der Sandmetapher

auch anders möglich (auch anders wahrnehmbar) ist, sondern die Grenze zwischen Traum- und Wachwelt grundsätzlich kontingent ist: Ihre Definition ist nicht ein für alle Mal zu aktualisieren. Gleichwohl, und das ist besonders wichtig in Bezug auf die Pragmatik der Virtualität, ist die Form der Virtualität limitiert. So ist die Struktur der Welt nicht beliebig, weil das Problem der Weltzusammensetzung zwar auf viele mögliche, aber nicht auf irgendwelche Weisen gelöst werden kann; die Problematik von Situierungen erscheint immer in bestimmten Kontexten, und auch die Geschichte ist zwar nie abschließend, aber auch nicht beliebig zu rekonstruieren. Selbst das Träumen ist, auch wenn es wenig limitiert ist, nicht absolut unlimitiert; es lässt sich nicht irgendetwas träumen, sondern das Träumen ist bedingt von individuellen Vorgängen und Verknüpfungen des Unbewussten. Dennoch sind die Lösungsmöglichkeiten auch nicht präformiert. Keine Aktualisierung eines Weltmodells liegt vor ihrer Präsentation schon vor, sondern die Pragmatik der Virtualität liegt darin, dass die Aktualisierungsmöglichkeiten von Welt-Modellen eben nicht auf der Hand liegen. Die Welt in ihrer Konstitution bleibt ebenso wie jeder Situierungs- und Archivierungsversuch ein immer neu zu lösendes Problem, auch wenn dieses Problem nicht beliebig lösbar ist. In den Analysen war zu sehen, dass das Problem der Virtualität sehr real ist. Wenn man Virtualität als das Andere der Realität begreift, so geht ein großer Teil dessen verloren, was der Begriff zu fassen im Stande ist. Fasst man hingegen Virtualität als ein sehr reales Problemfeld auf, in dem etwas, auf gleichwohl nicht beliebige Weise, noch nicht oder nicht mehr geformt ist oder in das hinein bestehende Formen aufgelöst werden, so kann der Begriff eine Problematik entfalten, die das Denken schon immer begleitet und gegenwärtig eine breite kulturelle Relevanz erhalten hat. Virtualität ist, wie die pragmatisch höchst relevanten Probleme zeigen, die im Rahmen der Sandmetaphorik verhandelt werden, eine Weise, in der Realität zu sein. Virtualität ist eine problematische Realität, und mit der Metapher Sand lässt sich, weil Sand selbst eine hochgradig problematische (weil hochgradig virtuelle) Struktur hat, dieses Problematische problematisieren. Weil die Sandmetapher besonders auf das hochgradig Problematische verweist, trägt sie auch eine Pragmatik der Gradualität mit sich. So wird die Welt von Archimedes, Borges und Flusser nicht in Bezug auf das Zusammenwirken größerer Weltbausteine oder -tektoniken bedacht, sondern in Bezug auf die feine und hohe Auflösung in ihre kleinsten Bestandteile. Auch die Gründe, die mit dem Sand problematisiert werden, sind nicht hier oder dort ein bisschen lose, sondern sie sind immer grundsätzlich und ausgesprochen instabil. Die Archivierung wird durch den Sand nicht in Medien problematisiert, die die Formen zumindest eine Weile speichern können, sondern die Pragmatik der Sandmetapher besteht darin, dass die Formen im Sand sogleich oder wenigstens sehr bald vollumfänglich aufgelöst

6.2 Virtualitätsrisiko und -potential: Unerwünschte und erwünschte Probleme

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werden. Der Sand beschreibt nicht die Wachwahrnehmung, sondern er tritt als Metapher immer dort auf, wo die hohe Auflösung der Wahrnehmung relevant wird; er ist eine vornehmliche Metapher in Traumdiskursen. Die Welt sowie Situierungen, Archivierungen und Wahrnehmungsbedingungen erscheinen also im metaphorischen Modell Sand als besonders, als hochgradig virtuell, und dies ist exakt die Perspektive, die hiermit, und das ist ein letzter und grundlegender pragmatischer Faktor des Modells, eingenommen wird: Die Probleme der Virtualität müssten theoretisch nicht thematisiert werden, da ihre Problematisierung selbst kontingent ist. Wenn die Sandmetapher eingesetzt wird, ist dies das Ergebnis einer Entscheidung für diese Metapher und für die Sichtweisen, die sie aufwirft. Mit ihr wird auf anthropologische Grundprobleme reflektiert wie auf die Komposition oder Definition der Welt, auf die Stabilität von Situierungen im Raum und auf die Bestandsmöglichkeiten in der Zeit sowie auf Weisen der Weltwahrnehmung. In den metaphorologischen Analysen dieser Arbeit erweist sich Sand daher als eine vielfältige und komplexe philosophische Metapher.

6.2 Virtualitätsrisiko und -potential: Unerwünschte und erwünschte Probleme Als metaphorisches Modell in pragmatischer Funktion zeigt der Sand, wohin eine Problematisierung oder der ‚Einstieg‘ in eine problematische Struktur führt. Eine Problematisierung ist eine Störung bestehender Verhältnisse und als solche ebenso mit unerwünschten Risiken verbunden wie mit erwünschten Potentialen. In den literarischen Texten werden solche Szenarien der Virtualisierung in verschiedenste Richtungen durchgespielt. Das Risiko der Virtualität besteht dabei im Ununterschiedenen, wobei unter Risiko hier allgemein Situationen verstanden werden, in denen es möglich, aber nicht sicher ist, dass ein unerwünschtes Ereignis eintreten wird.6 Wenn es keine Entscheidung (keine gültige Aktualisierung) gibt, kann alles Mögliche aktualisiert werden, auch mit unerwünschten Folgen. Das Potential der Virtualität besteht ebenfalls im Ununterschiedenen, wobei das Potential eine erwünschte Erweiterung von Möglichkeiten bedeutet. Wenn alles schon entschieden (aktualisiert) ist, ist dies eine Restriktion angesichts weiterer Möglichkeiten in diesem Moment, wobei diese Entscheidung selbst wieder ein Potential oder ein Risiko darstellen kann; in jedem Fall stellt sie aber zu ihrem Zeitpunkt einen Ausschluss derjenigen anderen Möglichkeiten dar, die vor

6 Vgl. hierzu z. B. Sven Ove Hansson: Risk, in: Standford Encyclopedia of Philosophy, 2007, unter http://plato.stanford.edu/entries/risk/ [28.12.2019].

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der Entscheidung noch bestanden. Ist also noch keine Entscheidung getroffen (gibt es noch keine Aktualisierung), besteht noch das Potential aller (noch) möglichen Entscheidungen. Wenn die Virtualisierung von Formen so gesehen wird, dass das, was geformt war, seinen Bestand und Halt verliert, dann wird das Risiko der Virtualisierung in den Vordergrund gerückt, das in einem Stabilitätsverlust besteht, indem geltende Definitionen, Setzungen, Grenzziehungen, Sichtweisen, Ordnungen, Konzepte außer Kraft gesetzt werden. Gesteigert wird dies, wenn es nicht ausreichend Gegenkräfte gibt, die den Rahmen dieser Auflösungsprozesse bilden könnten, die gleichsam das (Boden-)Gefüge gegenüber einer „belastenden Kraftwirkung“ (Kap. 2.2) stabil halten könnten. Dann gibt es eine fortgesetzte Virtualisierung, dann kann der Prozess in der Katastrophe enden, in einem fortgesetzt losen Grund. Wer die Welt so weit in Auflösung sieht, dass sie gleichsam Sandkorn um Sandkorn betrachtet werden muss, ist mit dem Risiko konfrontiert, dass die Welt den Zusammenhang und Halt verliert. Flusser diagnostiziert für die Welt ihre Auflösung in Punkte, den Zerfall ihres Ganzen in seine kleinsten Teile, ihren Zerfall wie einen „der Dünen in Sandkörner“, und er wertet dies negativ, weil auch die gegenwärtigen Bilder aufgelöst seien und trügten, da es keine Konvention mehr gebe: Wir können „uns nicht länger an irgend etwas Konkretes halten.“ Zwischen den Punkten klaffe die Leere, und die Wirklichkeit der Bilder sei so abstrakt, dass wir uns nicht auf das verlassen könnten, was wir auf ihrer Fläche sähen. Auch Borges’ Sandbuch bietet keinen Halt, wenn auch aus anderen Gründen, weil sich jeder Teil des Buches so im Unbestimmten verliert, dass auch der Lektüre keine Anhaltspunkte mehr bleiben. Es ist „die Wirklichkeit schändend“, weil in ihm die gewohnten Orientierungsparameter nicht funktionieren: Es gibt keine Anker, keine Orte, an die man zurückfindet, und auch das Buch selbst ist nicht kontextualisierbar. Es ist damit so gefährlich für den Besitzer, dass es schließlich nicht ohne einen gewissen Aufwand fest verortet und sicher gebunden werden muss. In beiden Fällen besteht das Risiko der Virtualisierung also darin, dass feste Weltdefinitionen nicht (mehr) möglich sind, dass der eigene Fixpunkt in der Welt kontingent und problematisch ist und dass schließlich der sichere Standort in der so kontingent gesetzten Welt als aufgegeben betrachtet werden muss. Das Risiko der Virtualisierung wird vielleicht in der Wendung vom Haus, das auf Sand gebaut ist, am deutlichsten. Im Bibelzitat wird mit ihr die Warnung ausgesprochen, dass zum Zeitpunkt der Entscheidung, welcher Grund zu wählen sei, das Risiko nicht unterschätzt werden darf, sollte ein loser Grund gewählt werden (und nicht wie empfohlen Gott als ‚fester Grund‘). Auch diejenigen, die auch jenseits theologischer Fundierungen darauf bestehen, dass sie sicher situiert sind und ihre Position nicht in Frage gestellt wird und dass das, was sie haben und wo

6.2 Virtualitätsrisiko und -potential: Unerwünschte und erwünschte Probleme

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sie stehen, so bleibt und bleiben soll, werden es als enormes Risiko betrachten, wenn all dies nicht fest gegründet, sondern wie auf Sand gebaut ist. Sie werden dies als Bedrohung, Wegfall von Sicherheit und Destabilisierung ihrer Lebensgrundlagen ansehen, und dies wird in zwei der vorgestellten Texte genauso in Szene gesetzt. In Heyms Auf Sand gebaut betrachtet das Protagonisten-Ehepaar sein Haus, das anderen enteignet wurde, als seinen festen Besitz. Die Entscheidung, diesen Besitz auf die Rechtsgrundsätze einer Diktatur zu bauen, erweist sich aber im Nachhinein als riskant, und tatsächlich löst sich der Grund, auf den sie gebaut haben, auf, ohne dass sie etwas dagegen tun können. Auch in House of sand and fog von Dubus III werden die Definitionen von Besitz aufgelöst, obwohl das Haus der einen Protagonistin als Erbschaft und dem anderen Protagonisten als legal getätigtes Geschäft sicher scheint. Wird der beiderseitige Besitzanspruch, der zur gegenseitigen Destabilisierung führt, schon nur möglich, weil beide ‚auf losen Grund bauen‘ – die eine reagiert nicht auf Briefe der Verwaltung, und der andere versucht Geld mit enteigneten Häusern zu verdienen –, erweist sich auch das Verhalten aller am Konflikt Beteiligten riskant, da die Erbin das Haus verbotenerweise aufsucht und in ihr Suchtverhalten ‚abrutscht‘, ihr Freund Gewalt anwendet, um ihr zu helfen, und der andere Besitzer nicht nachzugeben bereit ist. Der durch riskantes Verhalten entstandene Konflikt produziert weiteres riskantes Verhalten, und zwar in einem Maße, dass am Ende drei Personen tot, zwei im Gefängnis und drei Kinder Waisen bzw. Halbwaisen sein werden. Die fortgesetzte Virtualisierung mündet in der Katastrophe, deren Ende zudem, da der Konflikt nicht gelöst wird, offenbleibt: Der Roman zeigt das unausgesetzte Risiko von Sand in Sand. Steht, entsprechend zu den genannten Fällen, die Überzeugung im Vordergrund, dass bestehende Formen bewahrt, Geschehenes erinnert und Wertvolles in Medien der Archivierung gespeichert werden soll, dann steht der Wert einer aktuellen Form außer Frage und muss jedes Formvergessen als Verlust erscheinen. Die Möglichkeit, dass etwas mit der Zeit nicht mehr erinnert oder gespeichert werden kann, die Möglichkeit, dass etwas verrinnt wie der Sand in der Sanduhr (Borges’ El Reloj de arena) oder vergeht wie eine Spur im Sand (Ahasver, Challis, Foucault, Jean Paul, Keene), wird dann als enormes Risiko gesehen. Wenn Formen so flüchtig erscheinen, als seien sie in Sand geschrieben (Hesse, Kempf, Schlierf), wenn sie Kontingenzen so stark ausgesetzt sind wie etwas in den Sand Geschriebenes dem Wind (Calvino, Strittmatter), wenn Wissen nur so kurz sichtbar ist wie ein Fußabdruck im Sand (Crusoe) oder für wichtig erachtetes Wissen in ‚sandigen‘ Medien bewahrt wird (Keene, Kinder der Bestie), wenn schließlich die Lebenszeit so dahinrinnt wie der Sand, der durch die Sanduhr rieselt (Borges’ El Reloj de Arena, Kornfelds Ein Sanduhr), dann wird das Risiko des Verlustes deutlich, das von den Auflösungsprozessen ausgeht. Dann rückt die Vergeblich-

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keit des Tuns, die Vergänglichkeit und Flüchtigkeit von Ordnungen, Konzepten und menschlichem Leben in den Fokus. Dann erscheint es besonders fatal, wenn das Gedächtnis nicht mehr funktioniert und alles in ihm so gleich und ununterschieden wird wie der Sand, und es mag in der Katastrophe enden, wenn jemand alles Mögliche sein kann und seine Identität virtuell wird (Herrndorfs Sand). Dann wird der Verlust deutlich, der sich einstellt, wenn sich das Leben, die Körper und die Geschichte so auflösen wie in Sand, wenn sie nicht mehr greifbar sind – und vielleicht nicht einmal mehr das, was von ihnen erinnert werden kann und wie (Celan, Kiefer, Die Kinder der Bestie). Auch das Träumen kann als unerwünschtes Problem erscheinen, wenn der Verlust von Formen als Risiko betrachtet wird, denn Träume können nicht gespeichert werden. Sie werden schnell und zum Großteil wieder ins Unbewusste hinein ‚vergessen‘, und der Wunsch, Träume wie Filme aufzuzeichnen, scheint dieses Risiko bändigen zu wollen. Aber auch wenn Träume als unzuverlässige Kehrseite der Realität verstanden werden, bedeutet, Sand im Auge zu haben, ein Risiko zumindest einer Blicktrübung (im Traum wird ‚falsch‘ und ‚flüchtig‘ gesehen) bis hin zum Augenraub als absolutem Sichtverlust. Ein Risiko besteht vor allem in der Ununterscheidbarkeit von Wachen und Träumen, wie es in der Figur des ‚bedrohlichen‘ Sandmanns deutlich wird. Der Sandmann, der diese Unterscheidung nicht markiert und mit den Augen die Fähigkeit zu unterscheiden raubt, ist das unheimliche und ungeheure Risiko der Virtualität. Diese Gefahr zeigt sich am Sandmann in Beschreibungen des Grauen und Graulichen (Hoffmann), des Ungeheuren (Kirchhoff) sowie der unheimlichen Selbstauflösung (Kirchhoff, Luisi). Die Figuren, die nicht vor dem Sandmann geschützt werden, erleiden Wahnsinn oder Tod (Nathanael), werden vom Ungeheuren bedroht (Julian) oder von ihm aufgezehrt (Helen), wobei die Sandmänner schließlich auch ihrer eigenen unheimlichen Virtualität ausgeliefert sein können, indem sie sich selbst verlieren und auflösen (Benno, Quint). Die Haltlosigkeit der Virtualität korrespondiert im Fall der Figuren mit dem losen Grund. Man kann es aber auch ganz anders sehen, wenn der Blick nicht auf die Formsetzung gerichtet wird, die mit der Auflösung verloren geht, sondern auf die Freiheit, die durch die Auflösung alter Formen für die Bildung von neuen geschaffen wird. Der Blick auf die Formbildung (und nicht auf das Formvergessen) des Mediums rückt positive Aspekte der Virtualisierung ins Licht, indem das Medium als ein problematisches Feld im produktiven Sinn verstanden wird, in dem neue Lösungen entstehen können, indem das Medium also so gesehen wird, dass die verschiedenen Varianten der Virtualisierung die Koppelbarkeit des Mediums reaktivieren und dessen kreatives Potential wieder entfalten. So erweist sich bei Archimedes die Berechenbarkeit der Weltmaße als Potential, ihre Größenverhältnisse im Vergleich zur kleinsten Einheit (Sandkorn) und

6.2 Virtualitätsrisiko und -potential: Unerwünschte und erwünschte Probleme

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zur größten (Fixsternsphäre) zu analysieren. Flusser wiederum sieht das Problem des in Punkte zerfallenen Universums nicht nur negativ, sondern auch als Chance, sodass er als Orientierung den „Sprung“ ins „Schwirren“ der Punkte anempfiehlt. Man solle die Potentiale nicht verschenken, sondern die Möglichkeiten nutzen! Nicht das Nichts zwischen den Intervallen rückt dann in den Fokus, sondern die Tatsache, dass durch die Verbindbarkeit über die Intervalle hinweg nun virtuell alles Mögliche möglich ist. Wage man den Sprung, ergäben sich hieraus enorme Potentiale, selbst Verhältnisse zu erfinden und zum Künstler zu werden. Borges’ Sandbuch ist schließlich ebenfalls nicht nur bedrohlich, sondern zunächst sogar der größte „Schatz“ des Protagonisten. Mit ihm kann er Aspekte des Unendlichen entdecken und sich an dessen Erkenntnis bereichern – ein Potential, das zu groß ist, als dass er es auf Dauer aushalten könnte. Auch die Desituierung kann Potentiale entfalten, wenn hierdurch eine neue Situation entsteht, die erwünscht ist. Bei Abe löst der sandige Grund zwar erst Beunruhigung beim Protagonisten aus, da das Haus zusammen mit seiner Existenz permanent verschüttet zu werden scheint, der Sand formlos, haltlos und zerstörend wirkt und eine Auflösung seines Selbst mit einer Destabilisierung seiner eigenen Sichtweise herbeiführt; dann aber zeichnet sich eine neue Situierung in den Verhältnissen des Sandes ab, ein Ende des „Haftenmüssens“ und des „Kampfes“ gegen den Sand, der nun der Inbegriff des Lebendigen wird, dessen Bewegung man sich hingeben kann. Die Häuser auf und im Sand erscheinen ihm nun im positiven Sinne in Bewegung und mit der Entscheidung, in ihnen zu leben, ergeben sich für den Protagonisten ein neues Behaustsein, neue ‚Gründe‘, eine neue Sichtweise und ein neues Ich, sodass die zunächst bedrohlich wirkende Existenz im Haus auf Sand zuletzt von ihm als Befreiung erlebt wird. Eine ähnliche Entwicklung zeigt sich bei Waddington, wo der Sand zunächst das Haus und mit ihm die Lebensgrundlage der Familie zu zerstören droht, sodass die Protagonistin nach allen Kräften Fluchtversuche anstellt; schließlich erweist sich aber eben dieser Verlust des Hauses und des stabilen Behaustseins als Potential, ein Leben mit Familie zu führen und eine neue Verortung zu finden, deren Stabilität sich im Glück bis ins hohe Alter hinein ausdrückt. Positiv ist das Haus auf Sand, die Auflösung eines Grundes, also dann, wenn danach eine wünschenswerte Neugründung stattfindet. Auch die Virtualisierung als solche kann positiv als neues ‚Haus‘ begriffen werden wie bei Lévy, der – ähnlich wie Flusser – die Menschheit in der Auflösung begrüßt: „Willkommen im neuen Haus der Menschheit, willkommen in der Virtualisierung.“7 Der allgemeine Zugang zu

7 Pierre Lévy: Welcome to Virtuality, in: Karl Gerbel/Peter Weibel (Hg.): Mythos Information. Welcome to the Wired World, Wien/New York 1995: Springer, S. 91–98, hier S. 98.

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6 Pragmatik der Sandmetapher

virtuellen Strukturen und ihren vielzahligen Aktualisierungsmöglichkeiten ist das „Grundmerkmal der Virtualisierung“ und ihre neue ästhetische Dimension ihr Potential für jede/n und einzelne/n.8 Die Potentiale ‚sandiger‘ Archivierungsmedien wiederum liegen darin, flexibel und leicht Informationen aufnehmen zu können: Eine Speicherung ist sehr schnell und präzise möglich, so wie Spuren im Sand selbst von so leichten und kleinen Tieren wie Ameisen gezogen werden können oder sich alle möglichen Fußspuren im Sand abzuzeichnen vermögen (wie Dubuffet ebenso bemerkt wie Crusoe). Dieses Formbildungspotential bedeutet, dass die jeweils neu gekoppelten Formen die alten ebenso schnell verdrängen können, wie jene dies im Zuge ihrer eigenen Bildung taten. Dies wird, wenn der Wert der neuen Form fokussiert wird, als Veränderungspotential gewertet, als positiver Wechsel, der einem negativ bewerteten Festhalten an alten Modellen entgegensteht. Der Sand steht dearchivierend für das Potential, neue Konzeptionen und Ordnungen zuzulassen, indem alte abgelöst werden. Er ist hierin eine Metapher für Deautorisierung (Ahasver), weil Ordnungen im Sand kontingent und nicht notwendig erscheinen; er steht also für das Potential auch anders möglicher Ordnungen (Foucault). Schließlich stellt das Träumen immer dann ein Potential dar, wenn es nicht als Blicktrübung, sondern als Sichtgewinn wahrgenommen wird – wenn das hohe Formen- und Formungspotential im Traum in den Vordergrund gerückt wird sowie die Tatsache, dass hier andere Formbildungsprozesse möglich sind als in der Wachwelt. Diese für das Träumen spezifischen Sehmöglichkeiten werden dann als Blick-, ja als Bewusstseinserweiterung oder ‚reichere‘ Welt eingeschätzt. Dieses Potential der Virtualität wird vom ‚wohlmeinenden‘ Sandmann metaphorisiert und äußert sich in Beschreibungen von ihm als bunt, vielgestalt und vielzahlige Träume bringend. Der Sandmann erscheint immer dann als ‚wohlmeinend‘, wenn der Unterschied zwischen Wach- und Traumwelt markiert ist, sodass es immer auch um die Potentiale markierter Unterscheidungen geht: Eine ungestörte Wahrnehmung wird demnach erst durch klare Definitionen möglich. So kann der Sandmann bei Andersen Lehrreiches in der veränderlichen Traumwelt mitteilen und neue Erfahrungen in Traumreisen vermitteln, oder er kann als zweiter Sandmann bei Kirchhoff bzw. als Sandfrau bei Luisi dem ‚bedrohlichen‘ Sandmann eine Lehre über sein Selbst erteilen, die nur im Traum wahrgenommen (bzw. angenommen) werden kann. Der Traum stellt sich so als Erfahrungs- und Reflexionsraum dar, als eine Möglichkeit einer erweiterten Wahrnehmung, durch die anders und damit auch anderes gesehen werden kann.

8 Ebd.

6.3 Sand und Sehen

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6.3 Sand und Sehen Der Sand verbirgt etwas. Er hat etwas Geheimes, wie es in Borges’ El Reloj de Arena heißt: „Hay un agrado en observar la arcana / Arena que resbala y que declina / Y, a punto de caer, se arremolina / Con una prisa que es del todo humana.“9 Der Sand ist auch bei Calvino voller Geheimnisse, denn es „war [im Museum] die Vitrine der Sandsammlung die unscheinbarste, aber auch die geheimnisvollste, diejenige, die am meisten zu sagen zu haben schien, wenn auch durch die in ihren Gläsern eingefangene opake Stille.“10 Und auch das „Geheimnis des Buches“, das Gott in Ahasver in den Sand schreibt und das als „Buch des Lebens“ auch das Geheimnis des Lebens enthält, besteht darin, dass es in den Sand geschrieben ist, sodass sein Wissen von der Entstehung des Lebens eng an die arkane Struktur des Sandes gebunden ist. Das Geheime des Sandes verstehe ich im Rahmen meiner Ausführungen zur Sandmetapher als das Geheime der Virtualität, das sich immer anders im jeweiligen Kontext verbirgt, aber immer in der Verhüllung von Aktualität besteht, also von Unterscheidungen, die noch aktualisiert werden können. Diese sind ja nicht ‚da‘ und präformiert, sondern verbergen sich; sonst gäbe es kein Problem, das zu lösen wäre, und auch nichts, das neu zu erschaffen wäre. Aber dieses Geheime, das Geheimnis des Problems, wie es zu lösen sei, das Geheimnis der Virtualität, kann man als solches beobachten und anschauen (oder anhören), und wenn auch nicht als Virtualität ‚an sich‘, so doch am Sand als Modell für Virtualität, wie hier in der Sanduhr, der Museumsvitrine und der in den Sand geschriebenen Schöpfung oder wie in den anderen Sand-Vorkommen, die im Laufe dieses Buches vorgestellt wurden. Der Sand als metaphorisches Modell zeigt aber nicht nur das vor dem Sehen Verborgene, sondern er zeigt auch ein vielschichtiges Wissen über die Weisen des Sehens und schließt so an weitere erkenntnistheoretische Diskussionen an. Er stellt verschiedene Wahrnehmungsbedingungen zur Disposition: „Seh ich Recht? Oder habe ich Sand im Auge?“, fragt Wielands Frau Klare. Das Problem des Sehens begleitet die Sandmetapher unabhängig davon, ob der Sand hierbei eine förderliche oder behindernde Rolle spielt. Der Sand ist eine Metapher, anhand

9 „Es macht Freude, zu beobachten den / geheimen Sand, der gleitet und sich neigt, / und, fast schon stürzend, sich in einen Wirbel / mit Eile drängt, die gänzlich menschlich ist.“ (Jorge Luis Borges: El Reloj de Arena / Die Sanduhr, in: Ders.: Gesammelte Werke, Bd. 6: Jorge Luis Borges und ich, nach der Übers. v. Karl August Horst, bearb. v. Gisbert Haefs, Nachwort v. Claudio Magris, München/Wien: Hanser 1982 [1974], S. 43–45, hier S. 44 f.) 10 Italo Calvino: Gesammelter Sand. Essays, München [u. a.]: Hanser 1995 [1984], S. 9–14, hier S. 9.

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6 Pragmatik der Sandmetapher

derer das Sehen modellhaft problematisiert wird. Das Sehen wird mit Sand zu einem vielschichtigen Problem, dessen Pragmatik oft genug existentiell wird. Erstens verweist die Sandmetapher auf die Möglichkeiten, über den Sand zu sehen. Der Sand, den der Sandmann ins Auge streut, leitet eine andere Wahrnehmungsweise ein. Der Traum, in den der Sand führt, ist ebenfalls ‚wie Sand‘, weil er eine schwach verankerte Modalität der Welt ist, in der anders und anderes und dadurch ‚mehr‘ als das gesehen werden kann, was sich in der Wachwelt zeigt. Das Träumen ist damit eine Blickerweiterung bzw. -bereicherung. Über den Sand wird der Traum als Heterotopie erreichbar, in der die Träumenden Reisen machen, sich selbst anders sehen und auf andere Weise sehen können (Andersen, Kirchhoff, Luisi). Mit der Sandmetapher ist als zweite Sichtweise angesprochen, ‚unter dem Sand‘ zu sehen. Auch dies ist eine andere Weltwahrnehmung, aber eine, die zwischen Wach- und Traumwahrnehmung nicht unterscheiden kann, denn wenn unter den Bedingungen von Sand gesehen wird, dann hebt der ununterschiedene Sand diese Differenz auf. So lässt in Sous le sable die Protagonistin ihren verstorbenen Ehemann durch ihre Imagination in der Wachwahrnehmung so erscheinen, als sei er noch am Leben, und Nathanael kann den bedrohlichen Sandmann nicht vom Rest der Welt unterscheiden und nimmt die Welt so ‚unter dem Sand‘ wahr. Drittens können durch den Einsatz der Sandmetapher und von Sand als Material in der Sandkunst die Spezifika von Sand gesehen werden, denn es wird in diesen Einsätzen Wissen über den Sand vorausgesetzt bzw. in die literarischen und theoretischen Texte sowie in die Kunstwerke hineingetragen. So erfahren wir etwas über die Form des Sandkorns als klein (Cabré, Celans Ein Körnchen Sands, Blake, Leeuwenhoek, Wolff, Brockes), als so diskret wie Punkte, Pixel oder Atome (Flusser), als körnig (Calvino, Celans Ein Körnchen Sands, Hendricks), etwa so wie Mohnkörner (Archimedes, Ovid), Hirse (Wolff) oder Zucker (Wolff), sowie als gleichförmig, wenn ein Sandkorn wie das andere ist (Borges’ La Escritura del Dios, Hendricks), aber in der mikroskopischen Sicht ausgesprochen ausdifferenziert nach verschiedenen Merkmalen wie länglich, hexangular, rund, beinahe sehr rund, an der einen Seite spitzig, glatt, wie poliert, wie abgesprungen, mit tausend Ecken, groß, klein, undurchsichtig, durchsichtig, hell, dunkel, gläsern, teils schwarz, teils braun, teils gelb, teils grau, teils röthlich, teils weißlich, teils blau (Leeuwenhoek, Wolff, Brockes). Die Taktilität von Sand ist weich und gewichtig (Borges’ El Reloj de Arena) und wie nass (Abe), und doch ist er dann wieder so leicht, dass er von Ameisen (Campopiano, Putnam) oder Wind (Calvino, Hesse, Strittmatter), auch künstlich generiertem (Aycock), ja schon von Klängen (Chladni) bewegt oder davongetragen werden kann. Der Sand ist äußerst zahlreich und scheinbar

6.3 Sand und Sehen

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unendlich (Archimedes, Bibel, Borges’ El Libro de Arena, Carroll, Flusser, Ovid, Brockes). Seine Beweglichkeit ist enorm, denn er fließt wie Wasser (Abe), fließt in Sanduhren (Borges’ El Reloj de arena) und ruht nie (Abe), vielmehr hat er eine enorme Kraft (Abe), ganze Dünen sind beweglich (Waddington), er wirbelt und stürzt (Borges’ El Reloj de Arena), rieselt (Borges’ El Reloj de Arena, Luisi) und rinnt durch die Finger (Donaldson, Poe). In seiner Eigenschaft als Boden ist er lose und instabil (Abe, Bachmanns Ort für Zufälle, Waddington), vor allem als Treibsand (Abe). Sand ist sehr formbar (Celans Sand aus den Urnen, Chladni, Putnam, Ullmans Sandschüttungen, Sand Art, sandscapes, Sisyphus), aber flüchtig (Borges’ El Reloj de arena, Hesse, Heyms Ahasver, Keene, Kinder der Bestie, Larsen) und schon gar nicht zu flechten (Borges’ Las Ruinas Circulares). Sandkörner sind klein, aber Teile von etwas Großem, denn Sandkorn für Sandkorn wird aus dem Kleinen viel (das ‚ganze Werk‘ bei Schiller) oder zerfallen Steine und Dünen in ihre Bestandteile (Flusser, Kiefer). Überhaupt wird das Verhältnis von Fels und Sand als Vergleich ihrer Speicherfähigkeit (Keene), ihrer materiellen Bestandsdauer (Schlierf), ihrer Eigenschaften als Grund (Bibel) oder ihres kleinen oder großen Gewichts (in Schillers Don Carlos) angesprochen. Ähnliches gilt für das Verhältnis von Eisen und Sand als Gegensatz von Dauerhaftem und Flüchtigem (Ullmans Sand Buch 1–5). Aus den Texten und der Sandkunst ist etwas über das Vorkommen von Sand zu erfahren, etwa in der Wüste (Bachmanns Buch Franza, Borges’ Los dos Reyes y los dos Laberintos, Calvinos Collezione di sabbia, Donaldson, Herrndorf, Ueckers Kleine und große Wüste, Waddington) oder am Strand (Abe, Boyles Tidal Series, Carroll, Foucault, Ozon), in Sanduhren (Borges’ El Reloj de arena, Jean Paul, Kornfelds Ein Sanduhr) oder Museen (Calvinos Gesammelter Sand, Sandkunst). Die Texte lokalisieren den Sand schließlich mal mehr, mal weniger zuverlässig an geographischen Orten: in Berlin als Teil der Märkischen Wüste (Bachmanns Ein Ort für Zufälle, Heldts Berlin am Meer), in Bikaner (Borges’ Sandbuch), in Israel (Ullman), in Mali (Challis), im lukanischen Maratea (Calvinos Collezione di sabbia), in Marokko (Herrndorf), auf den Orkney-Inseln (Borges’ El Libro de Arena), am Golf von Thailand (Calvinos Collezione di sabbia), in Tunis (Kirchhoff) oder in den Wüsten der USA (Land Art, White Sands), und auch die verschiedenen Farben von Sanden werden thematisiert (Calvinos Collezione di sabbia, Langs Farbfeld, Ullmans roter Sand, Brockes). Bei Abe werden im Rahmen einer Expedition sogar explizit Forschungen über Sand durch den Protagonisten angestellt, die auch eine Forschungsexpedition des Textes über den Sand ist. Durch die Texte und die Sandkunst wird Wissen über den Sand in seinen vielfältigen Eigenschaften generiert, denn sie legen Wert auf den Sand als Sand, als dies und als nichts anderes, also auch nicht als Sägemehl. Der Sand macht bei ihnen einen Unterschied. „Das ist wichtig“ (Nell in Endspiel).

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6 Pragmatik der Sandmetapher

Schließlich kann viertens mit dem Sand gesehen werden und zwar durch verschiedene Versuche der Visualisierung: Am Sand soll dann etwas deutlich, sichtbar, verstehbar werden. So werden oft Zahlen, Mengen und Mengenverhältnisse mit Sand visualisiert (1.). Archimedes veranschaulicht extrem große Zahlen und das Rechnen mit ihnen am Sand, wobei er außerdem die Endlichkeit des sprichwörtlich unendlichen Sandes nachweist und gerade dadurch die darüber hinaus gehende Größe des Kosmos aufzeigt. Die unendlich großen Zahlen erscheinen auch auf den Seiten von Borges’ El Libro de Arena, in dem die Sandmetapher zur Andeutung des Unendlichen und der Reflexion darauf dient. In Ullmans Until the last grain wird eine große Menge dadurch angedeutet, dass ihr Aufgebrauchtwerden im letzten Sandkorn visioniert wird. Gleichzeitig kann der Sand für das unendlich Kleine stehen, indem er die immer kleineren BruchStücke in mathematischen Brüchen visualisieren soll, die ins immer Kleinere gebrochenen Intervalle zwischen zwei ganzen Zahlen (Kaplan/Kaplan). Auch Zählprozesse werden mit Sandkörnern vorgeführt, wenn ein Traum an den nächsten wie ein Sandkorn ans andere gereiht wird (Borges’ La Escritura del Dios), wenn im Sorites-Paradox ein Sandkorn nach dem anderen hinzugezählt wird, ohne dass entschieden werden kann, ab welchem ein Sandhaufen entsteht, bei Hendricks eine exakte Zahl an Sandkörnern abgezählt wird oder in Ullmans Until the last grain ein Sandkorn den Endpunkt eines ablaufenden Prozesses markiert. Durch das Zählen (der Sandkörner) entstehen Mengen (Sandhaufen), die auch als solche in ihrer Proportionalität gezeigt werden wie in Ueckers Kleine und große Wüste zur Entgegensetzung von kleiner und großer Menge sowie zur Visualisierung von Datenmengen (Sandmengen als Bit-Mengen) oder des Wachstums von Populationen (Museum Zürich). Einen weiteren, großen Bereich stellen Visualisierungen von Sichtweisen dar (2.). Durch den Sand kann der Perspektivwechsel zwischen Detail- und Gesamtansicht als zwei Möglichkeiten, „mit den Augen des Sandes“ zu sehen, deutlich werden (Abe). Wird ein Sandkorn fokussiert, steht es für das diskrete Einzelne: Am Sandkorn kann ebenso das Individuelle als das Einzigartige (Leeuwenhoek, Brockes) oder Bedeutungsvolle (Cabré, Celans Ein Körnchen Sands) durchdacht werden wie das An-sich-Denken oder der Kampf des Einzelnen (Abe) oder allgemeiner die ins Einzelne zerfallene Welt, wenn die Sandkörner auf kleinste Bestandteile verweisen wie Punkte, Pixel, Atome, Körner oder Zahlen. Wird der Blickwinkel erweitert und gleichsam der ganze Sand in Augenschein genommen, rückt der Zusammenhang des Hochaufgelösten in den Fokus. Das Individuelle geht dann im Ganzen auf, wobei das einzelne Teil (das Sandkorn) als Bestand-Teil einer größeren Form betrachtet wird (Abe, Schiller). Es ist darüber hinaus auch möglich, mit dem Sand das ‚Nichts‘-Sehen zu visualisieren, wenn sich etwa die „Wüste ins Auge“ legt wie in Bachmanns Buch

6.3 Sand und Sehen

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Franza und die Augen „immer leerer“, gleichwohl aber immer „aufmerksamer“ werden. Das Sehen ‚mit den Augen des Sandes‘ entspricht dann dem Sehen ‚mit der Wüste in den Augen‘: in hoher Auflösung, flüchtig, nichts sehend, aber gerade darum besonders aufmerksam. Ebenso dient die Sandmetapher dazu, existenzielle Erkenntnisse zum Ausdruck zu bringen (3.), etwa die Einsicht, dass das Haften ebenso wenig zum Leben gehört wie zum Sand, ja dass die ganze Welt ein Fließen ist, „das Fließen selber ist der Sand“ (Abe); am Sand kann ‚ersehen‘ werden, dass alles Feste ins Fließen zu bringen ist, dass es sich lohnt, alles mit dem Sand zu sehen: „Man selbst wird vielmehr zu Sand! Man sieht die Dinge mit den Augen des Sandes.“ (Abe) Ähnlich soll im Sand der Sandsammlung bei Calvino „die sandförmige Substanz aller Dinge“ und „die Kieselstruktur des Seins“ erkannt werden können. Auch die Geschichtlichkeit, Flüchtigkeit und Vergänglichkeit des ‚Menschen‘ soll am Sand (z. B. an der Spur im Sand oder der Sanduhr) deutlich werden. Am Sand soll sichtbar werden, was sich ansonsten nicht vermitteln lässt. Luisi fasst in diesem Sinne den Sand als „visuelles Problem“ auf, indem er im filmischen Bild zeigt, wie sein Sandmann Sand verliert, wie er sich zu Sand auflöst und schließlich als dessen letzter Rest im Putzeimer verschwindet. Der Sand wird darüber hinaus auch eingesetzt, um eine Vorstellung von Zeit zu vermitteln (4.). Mit Bergson wurde bereits darauf hingewiesen, dass es nicht möglich ist, die Zeit ‚an sich‘ am Sand sichtbar zu machen, sondern dass dergleichen Versuche wie etwa die Sanduhr nur scheinbare Visualisierungen des Zeit-Flusses sein können, da sie immer die Zeit verräumlichen müssen. Gleichwohl entstehen Eindrücke von Zeitlichkeit, wenn einige ihrer Aspekte über den Sand ausgestellt werden, wie etwa der bereits genannte Zeit-‚Fluss‘ im rieselnden Sand der Sanduhr, die abgezählte (Arbeits-)Zeit oder Zählzeit als Arbeitszeit bei Hendricks, die Unendlichkeit oder der ‚Nullpunkt‘ der Zeit in Ueckers Sandmühle, der letzte Moment in Ullmans Until the last grain oder auch die Ablösung der sich in der Zeit vollziehenden Formbildungen, die sich während der Erzählzeit im Sand in der Sand Art vor den Augen der Zuschauer abspielen. Visualisiert werden schließlich auch Probleme der Wissensgenerierung und -speicherung (5.). Abdrücke im Sand stellen ein Wissen über etwas anderes dar (über die Verursacher der Spuren z. B.), dieses Wissen wird aber, so zeigt die Spur im Sand, in instabilen Speichermedien nicht lange erhalten. Im Sand wird anschaulich, wie flüchtig Wissen sein kann, etwa so flüchtig wie das Wissen über die Existenz der Bücher, von denen nur die Umrisse im Sand in Ullmans Bücher übrigbleiben. In den sandscapes von Sawhney/Dodge wiederum sollen erhobene Daten ‚eindrücklich‘ durch deren Darstellung in einer Sandfläche vor Augen geführt werden, während die kleinen Häufchen Sand bei Houellebecq zeigen sollen, dass Wissen erst entsteht, wenn seine begrifflichen Bezugsrahmen definiert sind.

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6 Pragmatik der Sandmetapher

Bei Abe ist der ganze Roman als große Expedition in den Sand und damit als Allegorie auf wissenschaftliche Experimente lesbar, durch die man sich auf beweglichen, losen Grund begibt, in denen sich aber gerade deshalb unerwartete Erkenntnisse einstellen können. Auch das vorliegende Buch hat es sich zum Ziel gemacht, mit dem Sand zu sehen, indem Sand als metaphorisches Modell für Virtualität gesetzt wurde. Am Sand als einer Metapher, die die Struktur der losen Kopplung veranschaulicht, sollten die Struktur des Verhältnisses von Medium/Form und von Virtualität/Aktualität sowie die in dieser Struktur sich vollziehenden Prozesse der Bildung/Auflösung und Virtualisierung/Aktualisierung denkbar werden, und es war dies die verbindende Fragestellung für die Analyse der literarischen und theoretischen Texte sowie der Kunstwerke. Dafür war es unbedingt nötig, die Spezifika von Sand zu betrachten, um beschreiben zu können, was mit der Sandmetapher überhaupt in den Blick rückt. Die Virtualität oder das Medium waren jedoch nie ‚an sich‘ zu sehen (und werden es auch nie sein), auch mit der Sandmetapher nicht, da immer nur Aktualisierungen und Formen sichtbar sein können. Der Sand ist gleichwohl eine Möglichkeit, die Probleme der Virtualität vor Augen zu führen und modellhaft zu begreifen, indem mit ihm deren problematische Strukturen verdeutlicht werden können. Er bietet zudem eine spezifische Sicht auf die Welt als eine virtualisierbare. Etwas mit dem Sand zu sehen bedeutet immer auch, es als Differenziertes zu sehen oder als Differenzierbares. Das metaphorische Modell von Sand als loser Kopplung thematisiert das Sehen als die Möglichkeit zu unterscheiden und operiert damit als Differenzmodell. Mit dem Sand zu sehen macht einen Unterschied, denn es bedeutet, Aktuelles zu problematisieren und kontingent zu setzen sowie eine bestimmte Art von Problemen zu betrachten: die Probleme der Virtualität.

6.4 Die Pragmatik ‚sandiger‘ Medien Sand ist eine geeignete Metapher für virtuelle Strukturen, weil er besonders ‚medial‘ ist. Er entspricht durch seine hohe Auflösung in viele kleine Sandkörner Luhmanns Definition vom Medium als loser Kopplung von Elementen und offener Mehrheit möglicher Verbindungen. Medien sind der Austragungsort von Prozessen der Bildung und Auflösung, und Sand metaphorisiert das eindrücklich, weil sich in ihm besonders leicht und flexibel Formen bilden und auflösen. Er hat gute „Mediumeigenschaften“ (Heider), und er ist daher eine prädestinierte Metapher für Medialität! Eine ‚sandige‘ Medialität ist mithin immer eine besonders ‚mediale‘ Medialität, die solche Medien haben, die in ihrer Formbildung wenig limitiert sind und ihr daher besonders wenig Widerstand entgegensetzen.

6.4 Die Pragmatik ‚sandiger‘ Medien

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Da außerdem Virtualität eine Spezifikation des Mediums ist, sind ‚sandige‘ Medien auch besonders virtuell. In Medien, die hochaufgelöst und hochauflösend sind wie Sand, zeigt sich somit das Problem der Virtualität medial. Die Sandmetapher trägt damit auch eine Pragmatik ‚sandiger‘ Medialität in sich, die in ‚sandigen‘ Einzelmedien spezifiziert wird, also in Medien, die metaphorisch als Medien wie aus Sand beschrieben werden. Das Sandbuch ist bei Borges ein Buch wie aus Sand, an dem die pragmatischen Konsequenzen eines virtuellen Buchs durchdacht werden: Es ist nicht gebunden, hat keine mögliche Reihenfolge und seine Lektüre ist nicht wiederholbar; es ist nicht ein mögliches, sondern ein unmögliches Buch. Das Sandbuch ist wie der Sand ein besonders mediales Medium, da seine Seiten lose gekoppelt sind und sich alle möglichen Seiten in ihm aktualisieren können, zugleich aber keine der aktualisierten Seiten an seinem einmal aktualisierten Ort bleibt. Als ‚sandiges‘ Buch enthält es zugleich ein Wissen über die Bildung von Formen als ein unendlicher Prozess sowie über Lektüre als ein unendlicher Erfahrungsraum. Das Sandbuch virtualisiert die geltende Medialität des Buches, als wolle es fragen, was im Buch medial möglich sein darf und kann. Das Sandbuch ist in medialer Hinsicht virtuell, weil es die aktuelle Form des Mediums Buch problematisiert und das Buch in ihm auch anders möglich, nämlich: unmöglich ist. Die Hypertext-Adaption The Book of Sand von Clarke wirkt vor diesem Hintergrund wie eine ungewollte Parodie auf Borges’ Sandbuch, denn hier ist alles immer am selben Ort zu finden. Der Hypertext soll aufgrund seiner lose versammelten Stücke ein besonders ‚mediales‘ Medium sein, nimmt aber durch seine mögliche Medialität die unmögliche und erst dadurch besondere Medialität des Sandbuchs zurück. Auch Larsens Hypertext Sand Loves hebt trotz seiner angeblich medialen Medialität das Mediale des Sandes durch eine limitierte Programmierung auf. Bezogen auf Nelsons Satz: Je feinkörniger die Struktur eines Hypertextes ist, desto mehr Formung ist möglich – sind diese beiden Hypertexte im Vergleich zum Sandbuch und zum Sand als sehr grobkörnig zu bezeichnen. Bei Flusser werden digitale oder digital erstellte Bilder zwar nicht explizit, aber doch implizit als ‚sandig‘ beschrieben, weil sie „Komputationen“ von „Punkten“ darstellen, die nicht flächig „verkittet“ sind. Als solche sind sie – so wie die Düne in Sandkörner – hochaufgelöst, und ihre Flächenhaftigkeit „trügt“ daher. Es ist ihnen demnach mit Vorsicht zu begegnen, aber sie stellen auch die Chance dar, die Punkte in Relation zu setzen und sich auf eigene Weise in das „Schwirren der Punkte“ zu stürzen. In digitalen Bildern befinden sich die Pixel in hoher Auflösung, und je höher die Auflösung ist, desto feiner wird ihre Abbildung, aber sie bleiben immer, da sie äußerst formbar sind, ‚sandig‘.

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6 Pragmatik der Sandmetapher

Besonders ‚medial‘, also so medial wie der Sand, sind Medien, deren Elemente ebenfalls diskret und besonders kleinteilig, beweglich und zahlreich sind. Dissolution, Desituierung und Dearchivierung ihrer Formen resultieren aus dieser Art Medialität, und so erzeugen sie das Problem, wie ihre Elemente zu binden sind und wie mit ihren variablen medialen Strukturen sowie mit ihrer Flüchtigkeit umgegangen werden kann – und hierin besteht die Pragmatik der Sandmetapher für ‚sandige‘ Medien. Was ist zu tun, wenn die medialen Elemente so klein und zahlreich sind wie Punkte, und was, wenn sie keine mögliche Ordnung haben wie die Seiten des Sandbuches? Was kann passieren, wenn die Form des Mediums aufgelöst und seine Formbildungsweise lose ist, wenn also die Medien als Gründe der Formbildung ‚sandig‘ sind? Wozu kann es führen, Formen in instabilen Speichermedien zu archivieren? Denn auch wenn ‚sandige‘ Medien besonders ‚medial‘ sind und gute „Mediumeigenschaften“ für die Formbildung haben, sind sie doch gerade aus diesem Grund unzuverlässige Medien der Archivierung. Die Schrift dem Sand anzuvertrauen macht daher nur Sinn, wenn ihre Dearchivierung so gewollt ist wie beim Erzählen in den Sand in der Sand Art, bei der in den sich verändernden Formen im Sand der Fortschritt der Erzählung ablesbar wird. Wenn das Gedächtnis ‚sandig‘ ist, erscheint das in Bezug auf die Erinnerung von Menschen und ihrer Geschichte als äußerst problematisch, wenn nicht als kaum überwindbarer Verlust. Bei Herrndorf zeigt sich, dass sich dies auch hinsichtlich der eigenen Identität als verheerend erweisen kann, wobei sich die individuelle Katastrophe im Zusammenwirken mit den sandigen Verschiebungen des Mediums Sprache ereignet. Was folgt schließlich daraus, wenn ein Wahrnehmungsmedium so ‚sandig‘ ist wie der Traum? ‚Sandig‘ ist ein solches Medium in Bezug auf die hohe Virtualität seiner Formenkonstitution und in Bezug auf die in ihm gebildeten Formen. Auch der Traum ist daher besonders ‚medial‘, weil hier alles Mögliche möglich ist und zugleich seine Formen nicht stabil sind; sie werden bald wieder ins Unbewusste hinein vergessen – und dies kann so gewollt wie ungewollt sein. Für alle ‚sandigen‘ Medien gilt: Je feinkörniger sie sind, desto ‚medialer‘ und ‚virtueller‘ sind sie, und das heißt auch, dass Problem und Kontingenz ihrer Formbildung und -auflösung umso größer sind. Formen werden in ‚sandigen‘ Medien im unerwünschten wie erwünschten Sinne zum Problem, und als solche machen diese Medien einen Unterschied, der auch ihre Pragmatik kennzeichnet: ‚Sandige‘ Medien sind medial problematische Felder.

6.5 Die Virtualität der Sandmetapher

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6.5 Die Virtualität der Sandmetapher Sin autem non erunt harenaria, unde fodiantur tum de flumninibus aut e glarea erit excernenda, non minus etiam de litore marino.11

„Wie Gold am Meer“ titelt ein ZEIT-Dossier aus dem Sommer des Jahres 2014: „Den Urlaubsparadiesen geht der Rohstoff aus. Strände schrumpfen, Kriminelle verkaufen feuchte Klumpen, und Staubsauger-Schiffe holen letzte Körnchen aus dem Wasser. Der Sand wird zur Kostbarkeit. Was ist passiert?“12 Der Sand schien immer unendlich, überall. Auch in diesem Buch konnte immerzu der Sand hervorgeholt werden. Der Sand aber wird nun knapp, jedenfalls an den Stränden dieser Welt. Der Halt der Strände geht verloren, der Sand als selbst schon loser Grund hat keinen Grund mehr, sondern löst sich vollends auf bzw. sinkt ins Meer ab: Auch wenn „in jeder Sekunde auf der Welt eine Milliarde Sandkörner entstehen“, schwinden die Strände, weil der Sand, der bisher von Bächen in breiten Mündungen an Stränden angespült wurde, nun durch Platz sparende Mauern geleitet wird und nicht mehr an den Stränden haften bleiben kann, sondern ins tiefe Meer absinkt; „[h]eute findet der Sand, der jeden Tag hier ankommt, keinen Halt mehr.“13 Da muss der Sandmann kommen, und zwar im unfiktionalen Sinne des Sandverkäufers: „Sandman nennen sie [den Strandaufbereiter Marlowe] in den USA oder auch Sanda Claus, weil er für viele Städte, deren Strände schwinden, so etwas wie die letzte Hoffnung ist. [Er] leitet eine Lobby-Agentur in Washington, die im Auftrag von Kommunen Regierungsgelder auftreibt für den künstlichen Erhalt der Strände.“14 Nach dem Problem des losen Grundes, der Instabilität des Sandes und dem Erscheinen des Sandmanns folgt der auch im Rahmen der Sandmetaphorik sich bisweilen einstellende Verweis auf Sisyphos: „[F]ür manche Kunden habe er [Marlowe] bereits ein Dutzend Mal denselben Strand erneuert. Es wirkt wie eine Sisyphos-Idee: als könnte man durch immer neues Aufschütten von Sand den Lauf der Welt anhalten.“15

11 „Wenn aber keine Sandgruben vorhanden sind, aus denen er gegraben wird, dann wird er aus Flüssen oder aus Kies ausgesondert werden müssen oder auch von der Meeresküste.“ (Vitruvii: Zehn Bücher über Architektur, übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Curt Fensterbuch, Akademie Verlag Berlin 1964, S. 90–92) 12 Marian Blasberg/Malte Henk: Wie Gold am Meer, in: Die Zeit 34 (14.08.2014), S. 11–13, hier S. 11. 13 Ebd. 14 Ebd., S. 12. 15 Ebd. Dies gilt zumal für vom Meeresboden her aufgeschüttete Strände, die bis zu zehn Mal schneller erodieren, weil die Sandkörner aus dem Meer anders beschaffen sind als die aus den Flüssen angeschwemmten.

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6 Pragmatik der Sandmetapher

Das Problem rührt indessen nicht nur aus der technisch bedingten Auflösung der Strände her, sondern auch aus der vielseitigen Nutzbarmachung von Sand durch Metamorphose: Sand wird zunehmend als Material für Glas, Asphalt, Plastik oder Beton von den Stränden abgezogen – und nicht aus den Wüsten, da deren Sand sich nicht gut eignet.16 „Beton“, ist in einem Berliner Zeitungsartikel zum Thema zu lesen, „gibt es in Berlin wie Sand am Meer“; der Mensch schaffe sich Betonwüsten aus Sandstränden: Denn der Rohstoff Natursand ist gefragt wie nie zuvor. Der Sand wird tonnenweise davongekarrt, Baggerschiffe pumpen ihn vom Meeresgrund nach oben, um ihn abzutransportieren. Inseln schrumpfen durch den Abbau immer weiter und das Meer rückt ihren Bewohnern auf die Pelle. Und wer ist schuld daran? Der Beton […] Denn ohne Sand kein Beton. Und ohne Beton kein Haus, keine Autobahn […]. Berlin ist aus Sand erbaut. Wohin soll das führen, wenn Inseln und Kontinente immer kleiner und Häuser dafür immer größer werden?17

Vielleicht wird zur Bezeichnung einer großen Zahl irgendwann nicht mehr ‚wie Sand am Meer‘ gesagt, sondern ‚wie Glas am Meer‘, wenn das neue Phänomen „Glasstrand“, von dem die tageszeitung 2017 berichtet, sich ausbreiten sollte; „über Jahre haben dort die Gezeiten eine ehemalige Müll- und Glasdeponie in einen „Strand aus rund geschliffenen und matt glänzenden Glaskieseln verwandelt.“18 Glasstrände gibt es demnach bereits in Nordkalifornien, Neuseeland, Hawaii, Curacao und Wladiwostok. In Florida wurde Recyclingglas mit Meeressand gemischt, um sandarme Strände aufzufüllen. Fünfundsiebzig bis neunzig Prozent der Strände sind nach Schätzungen der Unep, einem Umweltprogramm der Vereinten Nationen, vom Sandschwund betroffen, denn Sand ist nach Wasser der am meisten verbrauchte Rohstoff. Mit diesen Stränden verschwinden oft ganze Inseln, und dann werden für „die flüchtenden Bewohner […] Wohnungen mit dem Sand gebaut, der eigentlich die Inseln schützen sollte.“19 Was wäre, wenn nun nicht nur der Sand eine Metamorphose durchmachte, sondern auch das metaphorische Modell? Was würde es z. B. bedeuten, ‚mit Beton‘ zu denken? Schon der Gedanke lässt etwas erstarren und ein Stück des Wertes erahnen, den die Flexibilität des Sandes auch für das vielfältige Denken hat, das mit ihm möglich ist. Der Wert des Strandsandes, der steigt, weil er

16 Vgl. ebd. 17 Sara Lienemann: Auf Sand gebaut, in: UDK Sonderbeilage zum Thema Nachkriegsmoderne (16.07.2014), S. I. 18 Thomas Nitz: Nicht nur an den Stränden wird der Sand knapp, in: taz (13.10.2017), S. 18. 19 Ebd.

6.5 Die Virtualität der Sandmetapher

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knapp wird,20 lässt auch den Wert der Sandmetapher hervortreten: Wo der Sand im derzeitigen Sandhandel teils so teuer gehandelt und teils so kriminell beschafft wird wie Gold,21 müsste die Formel „wie Sand am Meer“, wie das ZEIT-Dossier überlegt, durch die Formel „wie Gold am Meer“ ersetzt werden. Und wieso nicht: Der Goldstaub der Lexien wird schon bei Barthes als Vielzahl wertvoller Bedeutungsmöglichkeiten wie Sand ausgestreut; aus ihm wird der Sinn abgeschöpft.22 Dem Haufen der metaphorischen Spezifika von Sand könnte damit ein Spezifikum genommen werden (seine Unendlichkeit) und ein anderes hinzugefügt werden (Sand als Gold). Aber wenn es so wäre, wäre dann der Sand noch die gleiche Metapher wie vorher? Die Metapher zeigt sich in dieser Frage selbst als Form, die virtualisierbar ist, indem die geopolitisch induzierte Veränderung der Sandvorkommen bewirkt, dass ganz aktuell eine jahrhundertelang mit der Bedeutung ‚unendlich‘ aktualisierte Metapher Anlass bietet, über ihre eigene Virtualisierung nachzudenken. Gleichwohl zeigen die Zeitungsberichte schon selbst am besten, dass die Sandmetapher nach wie vor recht gut ‚in Form‘ ist, da der Sand von den Stränden nur verschwinden kann, weil er beweglich und instabil ist und sich in ihm die Form ‚Strand‘ nicht halten kann. Auf ihm ist immer noch etwas (sogar eine ganze Stadt wie Berlin) wie „auf Sand gebaut“, und er ist nach wie vor eine Metapher für den ‚losen Grund‘, gerade weil er schon in großen Mengen zu Beton geworden ist und sich dies bereits als wenig wirtschaftlich erweist. Sand ist zudem ein auf markante Weise loser Grund, wenn er sich als ganzer ins Meer verschiebt, und weiterhin steht er durch seine fließende Bewegung auch für „den Lauf der Welt“, wobei es, wie schon in anderen Texten zu sehen war, eine Sisyphos-Arbeit darstellen kann, sich seiner sandeigenen Logik entgegenzustellen. Sogar die sprichwörtliche Unendlichkeit des Sandes erscheint noch dort, wo sie mit und an den Stränden an ihr Ende kommt, und der Sandmann selbst wird herbeizitiert, um den Traum vom schönen Strand weiter träumen zu können.

20 „Sand war immer etwas, das niemandem gehörte, so wie Wasser oder Luft. Er lag einfach herum. Vielleicht sind wir uns gerade deshalb seines Wertes nicht bewusst. Vielleicht verwandelt sich der Ausdruck ‚wie Sand am Meer‘ gerade deshalb irgendwann in eine Metapher für den Mangel. Oder für den Untergang.“ (Blasberg/Henk: Wie Gold am Meer, S. 13) Der Artikel berichtet vom Verkauf der ganzen Insel Barbuda in der Karibik, die ohne den (hier stabilisierenden!) Sand beim nächsten Sturm vollständig weggespült werden würde. 21 Das Dossier berichtet von Sanddiebstählen an den Küsten sowie von Sand-Mafias überall auf der Welt: „Der Sand wird knapp in Jamaika, wo Diebe fast über Nacht einen 400 langen Urlaubsstrand stahlen“ (ebd.). 22 Vgl. Kap. 3.1.2.1.

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6 Pragmatik der Sandmetapher

Ob die Sandmetapher sich auflöst oder nicht, ist als Frage aktuell nicht relevant. Interessant ist hingegen die eingenommene Perspektive der Virtualisierung: Die Sandmetapher wird anlässlich der schwindenden Strände virtualisiert; sie wird mit ihnen zusammen zu einem Problem erklärt. Die Perspektive der Virtualität kann so auch die Metapher Sand selbst betreffen; sie wirft die Möglichkeit auf, auch deren Virtualität in den Blick zu nehmen. Damit ist also auch die Organisation der Sandmetapher ihre Form, nicht vor ihrem eigenen Virtualisierungspotential sicher, wenn der Sand als das gesehen wird, was er die ganze Zeit schon ist: das Problem ‚Sand‘.

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Abbildungsverzeichnis Abb. Anf. Abb. 2.1 Abb. 2.2 Abb. 2.3 Abb. 2.4

Abb. 2.5

Abb. 2.6 Abb. 2.7 Abb. 2.8 Abb. 3.1

Abb. 3.2

Abb. 3.3

Abb. 3.4

Abb. 3.5

Abb. 3.6 Abb. 3.7

Sand. © Annina Klappert XI Eigenschaften von Sand. Eigene Darstellung 36 Fritz Scheffer/Paul Schachtschabel: Lehrbuch der Bodenkunde, Stuttgart: Enke 1998, S. 161. Bildzitat zit. n. ebd. 38 Raymond Siever: Sand. Ein Archiv der Erdgeschichte, Heidelberg: Spektrum d. Wiss. 1989, S. 22. Bildzitat zit. n. ebd. 39 Anthony van Leeuwenhoek: Part of a Letter from Anthony van Leeuwenhoek, F. R. S. concerning the Figures of Sand, in: Philosophical Transactions 24 (1704–1705), hg. v. The Royal Society, S. 1537–1555, Tab. I. Bildzitat zit. n. ebd. 40 Anthony van Leeuwenhoek: Part of a Letter from Anthony van Leeuwenhoek, F. R. S. concerning the Figures of Sand, in: Philosophical Transactions 24 (1704–1705), hg. v. The Royal Society, S. 1537–1555, Tab. I. Bildzitat zit. n. ebd. 41 Frank Press/Raymond Siever: Allgemeine Geologie. Eine Einführung, Heidelberg u. a.: Spektrum 1995, S. 143. Bildzitat zit. n. ebd. 47 Raymond Siever: Sand. Ein Archiv der Erdgeschichte, Heidelberg: Spektrum der Wissenschaft 1989, S. 28. Bildzitat zit. n. ebd. 49 Raymond Siever: Sand. Ein Archiv der Erdgeschichte, Heidelberg: Spektrum d. Wiss. 1989, S. 59. Bildzitat zit. n. ebd. 51 Damien Hirst: Cocaine Hydro Chloride. 1993, Lack auf Leinwand 1993. © Damien Hirst und Science Ltd. All rights reserved. © VG Bild-Kunst, Bonn 2020 73 Ursus Wehrli: Noch mehr Kunst aufräumen, m. einem Vorw. v. Albrecht Götz von Olenhusen, Königstein i. Ts.: Kein & Aber 2006, S. 14 f. Bildzitat zit. n. ebd. 74 Mark Newgarden: We all die alone. A Collection of Cartoons and Jokes by Mark Newgarden, Seattle, WA: Fantagraphics Books 2005, S. 162. Bildzitat zit. n. ebd. 76 Archimedes: Die Sandzahl, in: Ders.: Über schwimmende Körper und die Sandzahl, übers. u. m. Anm. vers. v. Arthur Czwalina, Repr. n. d. Erstausgabe von 1925, Leipzig 1987, S. 67–82, hier S. 71. Bildzitat zit. n. ebd. 96 Johann Christoph Sturmius (Hg.): Αrchimedis Sand-Rechnung, in: Ders.: Des Unvergleichlichen Archimedis Kunst-Bücher, Oder Heutigs Tags befindliche Schrifften / Aus dem griechischen in das Hoch-Deutsche übersetzt / und mit nothwendigen Anmerkungen durch und durch erläutert von Johanne Christophoro Sturmio, Nürnberg: Wettib und Erben 1670, S. 1–32, hier S. 30. Bildzitat zit. n. ebd. 100 Rick Smolan/Jennifer Erwitt: The Human Face of Big Data, Sterling 2012, S. 218. Bildzitat zit. n. ebd. 101 Auflösung in Zahlen, Seiten, Punkte. Eigene Darstellung 138

https://doi.org/10.1515/9783110651522-008

486

Abb. 3.8 Abb. 3.9 Abb. 3.10 Abb. 3.11

Abb. 3.12

Abb. 3.13 Abb. 3.14

Abb. 3.15

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Abb. 3.17 Abb. 3.18

Abb. 3.19

Abb. 3.20

Abb. 4.1

Abb. 4.2

Abbildungsverzeichnis

Hiroshi Teshigahara: Suna no onna [The Woman in the Dunes], Japan 1964. Bildzitat (Filmstill) zit. n. ebd. 178 Andrucha Waddington: Casa de Areia, Brasilien 2005. Bildzitat (Filmstill) zit. n. ebd. 194 Prozesse der Virtualisierung. Eigene Darstellung 199 Ambrogio Lorenzetti: Il buon governo. 1338–1340, Fresko, Palazzo Pubblico, Siena, Detail. Abbildung gemeinfrei, Detail generiert aus © Web Gallery of Art 208 Manfred Euler: Adaptive Uhren. Modelle und Experimente für die Wahrnehmung von Zeit und Zeitlichkeit, in: Joachim Klose/Klaus Morawetz (Hg.): Aspekte der Zeit. Zeit-Geschichte, Raum-Zeit, Zeit-Dauer und Kultur-Zeit, Münster: Lit Verlag 2004, S. 111–131, hier S. 112. Bildzitat zit. n. ebd. 210 Theodor Kornfeld: Selbst-Lehrende Alt-Neue Poesie oder Verskunst, Bremen 1685, § 16. Ein Sand=Uhr, S. 81. Bildzitat zit. n. ebd. 213 Ilana Yahav: Sand Fantasy – You’ve got a Friend, Sand Art, 2009, unter http://www.youtube.com/watch?v=ZgMSSZcZk0U, 1:17 [17.11.2019]. © Ilana Yahav, mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin 226 Ilana Yahav: Sand Fantasy – You’ve got a Friend, Sand Art, 2009, 0:17; 2:05; 3:39, unter http://www.youtube.com/watch?v=ZgMSSZcZk0U [17.11.2019]. © Ilana Yahav, mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin 227 Deena Larsen: Sand Loves, Watertown, Mass. 1999, unter http://dtc-wsuv. org/hslocum17/sand_loves/ [29.11.2019]. © 1999 Deena Larsen © Electronic Literature Lab, Washington State University Vancouver, Electronic Literature Organization. Writer and designer: Deena Larsen; Original Java: Miko Matsumara; Original Javascript: Richtard Higgason; Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Autorin und des Electronic Literature Lab 228 Elodie Keene: Point Last Seen, USA 1998. Bildzitate (Filmstills) zit. n. ebd. 232 Micha Ullman: Unten, Installation in ALEXANDER OCHS GALLERIES BERLIN, Fotos: Heinrich Hermes. © Installationsansichten ALEXANDER OCHS PRIVATE BERLIN, Fotos: Heinrich Hermes 242 Teatron Theater/Figurentheater Tübingen: Kinder der Bestie, Abb. unter http://www.teatron-theater.de/de/kdb/index.html [15.06.2019] http:// www.figurentheaterfestival.de/2001/gruppen/images/teatron_theater_1. jpg [15.06.2019]. © Foto Manuela Seeber. Bildzitat zit. n. ebd. 246 Teatron Theater/Figurentheater Tübingen: Kinder der Bestie, Abb. unter http://www.teatron-theater.de/de/kdb/index.html [15.06.2019]. © Foto Manuela Seeber. Bildzitat zit. n. ebd. 248 Werner Heldt: Berlin am Meer, 1949, Tusche auf Papier, Staatliche Museen zu Berlin, in: [Märkischer] Sand. Spuren zwischen Sujet, Werkstoff und Landschaftsraum (5.7.–5.10.2008), Ausstellungskatalog, hg. v. Kunstmuseum Dieselkraftwerk Cottbus, Leipzig: Koehler & Amelang 2008, S. 45. Bildzitat zit. n. ebd. 284 François Ozon: Sous le Sable, Frankreich 2000. Bildzitat (Filmstill) zit. n. ebd. 287

Abbildungsverzeichnis

Abb. 4.3 Abb. 4.4 Abb. 4.5

Abb. 4.6

Abb. 4.7 Abb. 4.8

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Abb. 4.10

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Abb. 4.12 Abb. 4.13

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Abb. 4.16

Abb. 5.1 Abb. 5.2

Abb. 5.3 Abb. 5.4

François Ozon: Sous le Sable, Frankreich 2000. Bildzitat (Filmstill) zit. n. ebd. 287 Variabilität der verschiedenen Traumgrenzen. Eigene Darstellung 298 Neil Gaiman: The Sandman: Preludes & Nocturnes, Kap. ‚The Sound of Wings‘ [Original im Magazin The Sandman, Bd. 8], New York: DC Comics, ca. S. 10 (unnummerierte Seiten). Bildzitat zit. n. ebd. 303 Sandverkäufer im 19. Jahrhundert, Stadtgeschichtliches Museum Leipzig, Inv. Nr. K/61/2001. © Stadtgeschichtliches Museum Leipzig, mit freundlicher Genehmigung des Museums 306 Neil Gaiman: The Sandman, Preludes & Nocturnes, Kap. ‚A Hope in Hell‘ (Sandman Magazine, Bd. 4), S. 1. Bildzitat zit. n. ebd. 311 Vilhelm Pedersen: Ole Lukøje, aus: Eventyr, fortalte for Børn. Ny Samling. Første Hefte, 1905 [Fairy Tales, Told for Children. New Collection, First Booklet]. Bild ist gemeinfrei zu verwenden 318 Paul Berry: The Sandman, Animation, 1992, unter http://www.youtube. com/watch?v=UjgHbRrnjhU [15.06.2019]. Bildzitat (Filmstills) zit. n. ebd. 320 Paul Berry: The Sandman, Animation, 1992, unter http://www.youtube. com/watch?v=UjgHbRrnjhU [15.06.2019]. Bildzitat (Filmstill) zit. n. ebd. 321 Rie Cramer: Ole Lukøie, 1928, in: Hans Christian Andersen: Der Sandmann und andere Märchen, Leipzig: Verlag von A. Anton & Co ca. 1928, Abb. im Buchumschlag. Rie Cramer: Ole Lukøie, 1928. © VG Bild-Kunst, Bonn 2020 331 Architektur der Welten in Andersens Der Sandmann. Eigene Darstellung 335 Peter Luisi: Der Sandmann, Schweiz 2011, 0:35:11. © Peter Luisi: Der Sandmann, Schweiz 2011, Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Regisseurs 363 Peter Luisi: Der Sandmann, Schweiz 2011, 50:43. © Peter Luisi: Der Sandmann, Schweiz 2011, Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Regisseurs 365 Peter Luisi: Der Sandmann, Schweiz 2011, 1:04:50. © Peter Luisi: Der Sandmann, Schweiz 2011, Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Regisseurs 366 Peter Luisi: Der Sandmann, Schweiz 2011, 1:20:14. © Peter Luisi: Der Sandmann, Schweiz 2011, Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Regisseurs 368 Sanduhr im Nima Sand Museum, Japan. © Foto Sylvia Wanke, Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Fotografin 388 Jochem Hendricks: 3.281.529 Sandkörner, 1999–2000, Foto Wolfgang Günzel. © Jochem Hendricks, Foto Wolfgang Günzel, Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Künstlers 390 Micha Ullman: Until the last grain of Sand. 2011. © Micha Ullman 2011, Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Künstlers 394 Micha Ullman: Until the last grain of Sand. 2011. © Micha Ullman 2011, Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Künstlers 395

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488

Abb. 5.5

Abbildungsverzeichnis

Bruce Shapiro: Sisyphus III, 1999 ff., Bildarchiv des Künstlers. © Bruce Shapiro, Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Künstlers 401 Abb. 5.6 Günther Uecker: Sandmühle, 1970. © Städel Museum – Artothek. Günther Uecker: Sandmühle, 1970. © VG Bild-Kunst, Bonn 2020 404 Abb. 5.7 Guenther Uecker: Sandmühle 1970. Günther Uecker: Sandmühle, 1970. © VG Bild-Kunst, Bonn 2020. © Schirn Kunsthalle Frankfurt 2019, Abdruck mit freundlicher Genehmigung 405 Abb. 5.8 Alice Aycock: Sand/Fans, 1971. Sand, four industrial fans, 20 feet square, Foto: Tim Lee (installation at Salomon Contemporary Warehouse, 2008). © Alice Aycock, mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin und des Salomon Contemporary Museum, New York 406 Abb. 5.9 Anne Löper: Augenmusik, Sand Art, Musik: Saarthaka Schoen, 06.11.2013, unter https://www.youtube.com/watch?v=W8AkxTrHFbg [24.11.2019]. Bildzitat (Screenshot) zit. n. ebd. 411 Abb. 5.10 Ernst Florens Friedrich Chladni: Entdeckungen über die Theorie des Klanges, Leipzig: Weidmanns Erben 1787, Bildanhang, Tab. III. Bildzitat zit. n. ebd. 413 Abb. 5.11 Günther Hornig: Überlagerung horizontaler und vertikaler Schnürenstruktur. 1978, in: [Märkischer] Sand. Spuren zwischen Sujet, Werkstoff und Landschaftsraum (5.7.–5.10.2008), Ausstellungskatalog, hg. v. Kunstmuseum Dieselkraftwerk Cottbus, Leipzig: Koehler & Amelang 2008, S. 67. Bildzitat zit. n. ebd. 416 Abb. 5.12 Micha Ullman: Sand Buch 1–5, 2000. Eisen, roter Sand (chamra). Sand Buch 1: 25 x 26 x 8 cm, Edition 8/8, Collection of the artist, Gabi and Ami Braun collection; Sand Buch 2: 25 x 29 x 17 cm, Edition 8/8, Collection of the artist. © Micha Ullman, Foto Avraham Hai, Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Künstlers 419 Abb. 5.13 Micha Ullman: Sand Buch 1–5, 2000. Eisen, roter Sand (chamra). Sand Buch 5: 25 x 40 x 4 cm, Collection of the artist. © Micha Ullman, Foto Avraham Hai, Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Künstlers 420 Abb. 5.14 Micha Ullman: Sand Buch 1–5, 2001, Eisen, roter Sand. © Foto Achim Kukkulis; Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Galerie Cora & Daniela Hölzl, Düsseldorf/Wien 421 Abb. 5.15 Sand Blatt 1–5, 2006; roter Sand und Pigment auf Papier; jeweils 29,5 x 41,7 cm, Collection of the artist; Sand Blatt 2, No. 597; Sand Blatt 5, No. 599. © Micha Ullman, Foto Avraham Hai, Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Künstlers 422 Abb. 5.16 Sand Blatt 4, 2006; No. 593; roter Sand und Pigment auf Papier; 29,5 x 41,7 cm, Collection of the artist. © Micha Ullman, Foto Avraham Hai, Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Künstlers 423 Abb. 5.17 Micha Ullman: Sandwerk, Katalog zur Ausstellung im Leonardi-Museum Dresden vom 15.09.–6.11.2011, Nürnberg: Verlag für moderne Kunst Nürnberg 2011, S. 21. Bildzitat zit. n. ebd. 424 Abb. 5.18 Micha Ullman: Bücher, 2009, Guardini Galerie Berlin; Sand throwing installation, roter Sand, etwa 1200 Bücher. © Micha Ullman, Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Künstlers 425

Abbildungsverzeichnis

Abb. 5.19

Micha Ullman: Bücher, 2009; Detail; Guardini Galerie Berlin; Sand throwing installation, roter Sand, etwa 1200 Bücher. © Micha Ullman, Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Künstlers 426 Abb. 5.20 Micha Ullman: Sanday, 1997, Artists Studios, Tel Aviv, Sand throwing on a home content, roter Sand, ca. 400m2. © Micha Ullman, Foto Avraham Hai, Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Künstlers 427 Abb. 5.21 Micha Ullman: Hochzeit, 2011, Israel Museum, Jerusalem; Sand throwing installation, roter Sand, etwa 100 Teilnehmende, 268 m2. © Micha Ullman, Foto Avraham Hai, Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Künstlers 429 Abb. 5.22 Günther Uecker: Kleine und große Wüste, 1966, Glasobjekt. © VG BildKunst, Bonn 2020 430

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Sachregister Abdruck 221, 231–235, 273, 445 Aktualisierung 3, 6, 10, 13–15, 17, 20–22, 26–27, 32–34, 58, 61, 69, 83, 106, 109, 156, 158, 199, 204, 226, 249, 252, 261, 270–271, 276, 298–299, 322, 379–380, 385, 415, 432, 441 Aktualität 2, 6, 10, 15 (Anm. 34), 18–20, 23, 29–35, 57, 59, 68, 71, 115, 159, 199, 238, 252, 265, 269, 289, 291, 340, 437, 441 alles/nichts 125, 127, 240, 252, 258, 264–265, 271 Ameise 221–224, 267, 408–409, 414, 434, 448 Anker: siehe Verankerung, Anker Arbeit 21, 57, 154, 161, 164–165, 169, 177, 180, 185, 188, 191, 214, 237, 240, 252–253, 257, 259, 278, 355, 357, 363, 391–393, 397, 400, 404, 406, 408–409, 433, 435, 453, 459 Archivierung 8, 205–206, 217–223, 228, 235, 240, 266, 268, 274, 438, 441–442, 445, 456 Asche 68, 235, 243, 417 Atom 78, 121, 124–126, 137, 450–452 Auflösen, Auflösung, Auflösbarkeit 6–8, 10, 20, 23, 28, 32–34, 53, 56, 58–59, 63, 65, 70–73, 76, 79, 82, 85, 93, 110, 112, 118, 120–121, 128–131, 134, 136, 138–139, 141, 143, 150, 157, 176–177, 179, 186, 191, 194–197, 200–205, 221, 229–230, 233, 238–239, 267, 272, 275, 279, 281, 376–377, 394, 397, 412, 417, 421, 430, 436, 443, 446–447, 454–455 Auge 40–43, 110, 129, 180, 182, 184, 188, 190, 192, 206, 219, 240, 275, 284, 299, 305, 307, 311–315, 319–321, 323, 331, 333, 338–361, 372–376, 379, 408, 410, 446, 449, 452–453 beliebig, nichtbeliebig 3, 6, 17, 25, 27–28, 34, 60, 83–84, 90, 98, 105, 107, 112,

https://doi.org/10.1515/9783110651522-009

135, 138, 157 (Anm. 225), 255, 263, 432, 442 Besitz 153, 158, 160–165, 197–198, 200, 254, 258, 444–445 bestimmt/unbestimmt 1–4, 17, 23, 25, 27, 31, 34, 60, 79, 83, 105, 115, 139, 141, 166, 203, 216, 259, 263, 381, 387, 396, 407, 415, 442, 444 Bewegung, beweglich 14, 36, 46, 50–53, 57, 59, 84, 87, 94, 112, 116, 141, 143, 162, 170–173, 175, 180, 186, 193, 197, 202, 207–216, 230, 240, 268, 271, 289, 325, 349, 383, 392, 398–414, 418, 422, 431–433, 440, 451, 454, 459 Bild 74–75, 129–130, 226, 229, 232, 255, 284, 288, 320, 325–327, 336, 364, 382, 408, 411, 415–419, 427, 453 Bildung 9, 20–23, 33–34, 58, 64, 70, 136, 140, 157, 192, 232, 275–276, 279, 405, 432, 446, 448, 454–455 Blatt 106, 111, 133, 213, 245, 312–313, 434 Blick 44, 77, 162, 181, 186–187, 190, 219, 255, 280, 284, 300, 302, 314–322, 327, 330, 337, 341, 344–345, 352, 355, 367, 376, 395, 431, 446, 448, 450 Bruchstück 37 (Anm. 119), 46–47, 61, 134, 243, 245 Buch 105, 109, 112–119, 240, 422, 449, 455 Buchseite 105–107, 111–118, 132–133, 136, 283, 295, 357, 419–423, 455 Comic 75–76, 146 (Anm. 187), 228, 370 Dearchivierung 8, 71, 85, 91, 206, 221–274, 410, 439, 441, 456 Definition 3–4, 9–10, 15, 34, 90, 113, 141, 153, 162, 172, 192, 194, 204, 263, 300, 436–448 Denkmodell 1–10, 35, 141, 203 Desituierung 8, 71, 79, 90–91, 139, 151, 157–158, 162, 177, 195, 198, 201, 204, 439, 447, 456

492

Sachregister

Differentiation 20–21, 24, 28, 32–34, 59, 80, 83, 85, 157, 171, 186, 191, 276, 278–279, 300, 350, 374 differentielle Elemente 17, 19–20, 24, 27, 29, 34, 57, 60, 62, 83 Differenz, Differenzierung 3, 9, 13–14, 19–21, 24–25, 29, 32–34, 44, 54, 58–59, 61–62, 72, 74, 82, 84–85, 94, 122, 128, 137, 155, 157–158, 186, 190–192, 217, 220, 247, 267–268, 271, 276, 289, 300, 347, 352, 369, 371, 386, 413, 432–433, 450, 454 Diskretheit, diskret 2, 4, 6–7, 36–47, 54, 60, 63, 65, 67–68, 78, 94, 98–99, 116, 118, 123–124, 131, 134, 185, 188, 210, 212, 276, 294, 384, 386, 393, 395–396, 400, 431–433–434, 450, 452, 456 Dissolution 7, 71–72, 90–91, 93, 439, 456 Eindruck 205, 348 Einschreibung 85, 222–223, 225, 240, 247, 267, 273 Endlichkeit, Unendlichkeit 7, 50, 68, 94, 97, 103, 105, 111–113, 116, 133–136, 214, 216, 272, 295, 314, 388, 397, 431–433, 438, 452–453, 459 Entscheidung 5, 16, 89, 141, 147–149, 157–159, 162, 166, 168, 194–198, 200–202, 257, 315, 330, 347, 438–447 Erde 142, 229, 312–313, 383, 394, 424 Erinnern, Erinnerung 76, 205, 216–218, 220, 222, 225, 230–274, 279–281, 283, 340, 418, 422, 425–426, 428, 433, 439–440, 445–446, 456 Fall 154, 160, 342, 344, 359–361, 378–380, 446 Fels 46, 88, 118, 134, 151, 154, 163, 222, 224, 232, 267, 273, 383, 441, 451 Fixieren, fixiert 58, 80, 83, 106, 141, 243, 245, 280, 353, 391, 415, 418, 428, 432–433, 435 (Anm. 115) Flüchtigkeit, flüchtig 85, 87, 91, 140, 223–225, 230, 235, 240, 243, 247, 273, 280, 287, 311, 407, 411–412, 415, 425, 433–434, 439–440, 445, 451, 453, 456 flüssig 185, 241, 268, 271, 327

Form 2, 6, 15, 18–35, 56, 140, 237 Form des Mediums 6–8, 20, 27–28, 32, 64, 105, 146, 195, 275, 283, 385, 439, 455–456 Formbarkeit 9, 61, 69, 221, 273–274, 336, 374, 398, 402, 412, 435 Formbildung 3, 6, 10, 20, 23–24, 32, 34, 54, 56, 59–60, 66, 83, 126, 141, 157–158, 196, 199–200, 276–277, 305, 381, 399, 404, 440–441, 446, 453, 456 Gedächtnis 205, 218, 222, 230, 241–265, 270–271, 280, 295, 438–439, 446, 456 Gefüge 5, 7, 37, 37 (Anm. 120), 38, 38 (Anm. 121), 43, 53, 55, 59–61, 67, 72, 79, 82, 127, 130, 139, 283, 347, 379, 393, 416, 434, 437–438, 444 Gestein 37, 38 (Anm. 122), 39, 45, 47, 61, 109 (Anm. 108), 134, 244, 417, 434 Glas 204, 207, 215–220, 236, 268, 340, 342, 387–398, 430–431, 434, 458 Gleichförmigkeit, gleichförmig 4, 7, 32, 60, 63, 69, 264, 300, 343, 379, 386, 400, 415, 435, 450 Gold 81, 83, 253, 296, 457, 459 Grade, Gradualität, graduell 4, 6, 8, 16, 28–29, 32, 34, 54, 58, 61, 63, 93, 121, 140–141, 146, 205, 224, 275, 277, 279, 285, 295, 384, 398–399, 425, 440, 442 Grenze 9–10, 85, 90, 107, 133, 135, 137, 139, 143–144, 146, 153, 155–156, 159, 162–164, 170, 189, 191, 195–200, 217, 289, 294, 296–304, 315, 322, 324, 333–334, 336–340, 342, 346, 359, 368, 371–372, 375, 377–379, 438, 440, 442 Grund 146–158, 160–164, 167, 172, 174, 176, 179, 191, 193, 195–205, 267, 339, 438, 444, 447, 451, 457 gut sortiert 36, 47, 54, 60, 68, 99, 276, 384 Halt, Haltlosigkeit, haltlos 7, 37, 50, 58, 61, 65, 67, 106, 121, 138, 140–142, 145, 148, 151, 156, 162, 167, 174, 177, 179, 192, 202–203, 243–245, 266, 277, 284, 287, 322, 342–346, 352, 360, 369, 372, 374, 378–379, 393, 440, 444–447, 457

Sachregister

hochaufgelöst 6, 8, 28, 31–32, 34–36, 53–54, 61, 63, 66, 86, 140, 177, 266, 275–279, 283, 312, 384, 400, 439–440, 455 hochauflösend 8, 32, 34, 36, 53–54, 62, 66–67, 70, 130, 140, 154, 275–276, 278–279, 282, 292, 301, 305, 371, 384, 440, 455 Hypertext 79, 114–117, 117 (Anm. 125), 132, 228, 230, 455 Hypnos 301–303, 308, 310 (Anm. 132), 311, 318, 323, 332, 346, 351, 356 Imagination 277, 282, 285–289, 292, 342, 345, 352–354, 358, 375, 450 Intervall, Zwischenraum 77, 121, 124–126, 134, 136, 324–325, 329, 334, 447, 452 Kies, Kiesel 4, 28, 46, 54, 63, 99, 118, 133, 162, 172, 219, 232, 382, 453, 458 Kitt 38 (Anm. 121), 54, 126, 130, 139, 180, 455 Klang 236, 250, 268, 272, 301, 411–414 Kleinheit, klein 32, 36–46, 54, 59–62, 65, 67–68, 78, 82, 86, 99, 102, 112, 117, 123, 125, 127, 132–134, 136, 169, 190, 229, 276, 278, 314, 384, 386, 389–390, 396, 400, 408, 415, 431–432, 435–436, 442, 444, 446, 448, 450–452, 454, 456 Körnigkeit, Granularität 7, 37, 42, 53, 56, 63, 73, 116, 118, 131–132, 276, 399, 415, 433, 450, 456 Kohäsion 38, 38 (Anm. 122), 53 (Anm. 170), 64, 161, 167, 169, 184, 187, 200, 276, 295, 372, 374, 415, 435 Kombinieren, Kombination 29, 44, 65, 67, 86, 93, 113, 117–118, 123, 125–126, 131–134, 137, 139–140, 256, 440–441 Kontingenz, kontingent 3, 6, 10, 24, 26 (Anm. 90), 34, 59, 64–65, 71, 86, 89–90, 131, 139, 141, 144, 146, 148 (Anm. 192), 151, 156–158, 161, 170, 176, 193–194, 197–198, 203, 216, 221, 223–224, 231, 234, 236, 253, 256, 263–268, 270, 272, 276, 279, 282, 346, 349, 378, 380, 416–417, 436, 439, 441, 443–445, 448, 456

493

Kopplung 2, 6–7, 18–20, 22, 29, 33, 38, 50, 56–57, 59, 65, 67–68, 70, 79, 91, 118, 126, 132, 139, 144–145, 147, 150, 175, 187, 192, 196, 265, 272, 276, 285, 305, 345, 347, 399, 440, 454 Kugel 95, 95 (Anm. 77), 97, 100, 102, 136, 138, 293 (Anm. 69), 396, 412, 414, 430 Land Art 402, 403 (Anm. 58), 406–407, 414, 418–419, 451 Lehm 28, 68, 382 (Anm. 6) Limitierung 4, 6–7, 27–28, 32, 34, 48, 56, 60–64, 66, 117, 140, 143, 146, 275–276, 279, 305, 381, 382 (Anm. 8), 440, 442, 454 Lösung 1, 3, 6, 10, 13 (Anm. 22), 15, 19, 23–24, 26, 28, 31, 34, 60, 89, 151, 177, 195, 240, 253, 256, 265, 270, 337, 365, 437, 441–442 Losigkeit, lose 2, 6–7, 9, 18, 23, 29, 37, 54, 56, 60, 65, 67, 83, 93, 144–145, 191–205, 283, 342, 351, 379, 424, 437–438, 442, 451, 457 Luft 32, 51, 169, 175, 261, 311, 392–393, 399–400, 407, 414, 432, 434, 459 (Anm. 20) Materialität 141, 185, 209, 266, 381–386, 390, 392, 394, 396–397, 412, 415, 417, 422–423, 426, 430–432, 434, 441 Medialität 2, 28, 56, 61, 239, 384, 422, 454, 456 Medium 2, 6, 8, 18–35, 56, 61, 63, 75, 91, 114, 140, 205, 238, 276, 381, 384, 399, 446, 454 Meer 48, 105, 135, 163 (Anm. 227), 174, 217, 284, 286, 308, 357, 431, 457–458 Mehl 35, 424, 435, 451 metaphorisches Modell 2, 7, 11, 71, 93–94, 97, 102, 139, 220, 236, 437, 439–440, 443, 449, 454 Mikroskop 40–43, 395 Milch 310, 317, 323, 334, 356 möglich/unmöglich 1, 5, 9, 13, 59, 63, 80, 90, 109–114, 118, 121, 127, 130, 136, 147, 191, 194, 197, 206, 221, 234, 244, 247, 250, 252–253, 255, 263–264, 270,

494

Sachregister

279, 282, 291, 299, 314, 346, 351, 366, 402, 438, 440–443, 447, 454–455 Möglichkeit 4, 13–15, 24, 58, 60, 80, 109, 117, 123, 126–127, 147, 245, 250, 263, 374, 443, 448 Mohn 68, 95, 95 (Anm. 78), 309–310, 310 (Anm. 132), 318, 318 (Anm. 162), 323, 332, 351, 355–356, 450 Morpheus 9, 301–302, 308, 308 (Anm. 122), 308 (Anm. 124), 309 (Anm. 125), 310–311, 321, 323, 351, 355 Musik 78, 224, 367–368, 410–412, 433 Orientierung 106, 112, 138–139, 148 (Anm. 192), 160, 186, 188, 231, 436–438, 440, 444, 447 Perspektivierung, Perspektive 4, 26, 30–31, 34, 63–64, 70–71, 85–86, 88, 119, 144, 148, 180, 184, 199, 341, 437, 443, 452, 460 Pixel 64, 77, 86, 115, 127, 130, 229, 435, 450, 452, 455 Potential 5, 91, 112, 176, 203–204, 241, 272, 330, 378, 381, 384, 431, 443–448 Pragmatik 10, 138, 203, 436–438, 441, 454 Problem 1–6, 15, 19, 23–24, 26, 28, 31, 33–34, 58, 60, 70, 89, 118, 131–132, 138–139, 141, 150, 195, 197, 203, 205, 225, 256, 263, 282, 288, 298, 337, 349, 362, 365, 373, 377, 379–380, 383, 436–443, 449, 454–456, 460 Prozess 6, 14, 20, 33, 45, 58, 61, 70, 74, 89, 98, 128, 157, 172, 199–200, 205, 269, 298, 385, 388, 394, 397, 404, 413, 419, 433, 436 Pulver 81, 219, 221, 271 Punkt 3, 17, 51, 64, 73, 78, 99, 112, 115, 121, 125, 127, 129–132, 143, 185, 203, 206, 210–212, 336, 383, 438, 444, 450, 452, 455–456 Raumgefüge 8, 71, 79, 140–141, 195, 205 Raumstellen 146, 150, 161, 177, 197 reale Struktur der Virtualität 13, 34, 60, 83 Risiko 5, 443–448

Sand – fließender Sand 172–176, 179–180, 206–207, 212–213, 224, 241, 268, 270, 397, 431–434, 439, 453, 459 – Haus auf Sand gebaut 152–198, 202–203, 438, 447 – in den Sand schreiben: siehe Schrift – Klangfiguren im Sand 236, 272, 411–414 – Leben des Sandes 175 – Materialität des Sandes: siehe Materialität – Merkmale des Sandes: siehe Diskretheit, siehe Kleinheit, klein, siehe gut sortiert, siehe zahlreich, Vielzahl, große Zahl, siehe Endlichkeit, Unendlichkeit, siehe Bewegung, beweglich, siehe stabil/ instabil, siehe hochaufgelöst, siehe hochauflösend – Sand als Medium 59–60, 63, 176, 222, 241, 267, 381 – Sand Art 225, 228, 271, 273, 410, 439, 453, 456 – Sand im Auge 300, 305–315, 374–376, 446, 449 – Sand streuen: siehe Streuen, Streuung – Sandbuch 105–120, 131, 133, 136, 230, 294–295, 418, 437, 447, 455 – Sanddüne 49, 51–52, 63, 121, 172–174, 178, 183, 193, 197, 217, 250, 407, 414, 444, 451 – Sandfrau 178, 308 (Anm. 123), 362–374, 377, 380, 448 – Sandhaufen 1–5, 364, 367, 386, 391, 397, 406, 418 (Anm. 95), 429, 431, 452, siehe auch Sorites – Sandhose 52 – Sandkorn 1, 3–4, 36–46, 50–51, 60–61, 93, 95, 99, 101, 124, 131–135, 184–191, 214, 244, 293–294, 312–313, 387–397, 408, 433–436, 444, 446, 450–452 – Sandlaufkäfer 173, 181–182 – Sandloch 174–177, 179, 181–183, 187, 189, 192, 198 – Sandmann 66, 275–380, 440–441, 446, 448, 450, 453, 457, 459

Sachregister

– Sandmenge 49–50, 52, 100, 102–103, 134, 146 (Anm. 187), 207, 213, 369, 393, 396, 419, 427, 431, 452 – Sandmetapher: siehe metaphorisches Modell – Sandmühle 404 (Anm. 59), 405–406, 414, 428 – Sandrechnung 100, 103, 390 – Sandrelief 382, 404 (Anm. 59), 415, 427 – Sandsammlung 206, 217, 219, 221, 268, 430, 449, 453 – Sandscape 400, 402, 404, 407, 409, 414, 419, 431, 453 – Sandschüttung 243, 422–427, 433–434 – Sandskulptur 389–390, 392, 394, 398–414, 418–435, 440 – Sandspur: siehe Spur – Sandstein 39, 45 (Anm. 141), 109 (Anm. 108) – Sandstrand 101, 217, 219, 229, 233, 287, 357, 382 (Anm. 8), 387, 415, 451, 457–459 – Sandsturm 52 – Sanduhr 48, 206–216, 266–268, 387–388, 393, 397–398, 430, 434, 439, 445, 449, 451, 453 – Sandwand 174, 177 – Sandzahl 95–105, 131–139, 310 – Schiff im Sand 66, 105, 180–181 – Streusand 43, 67, 236, 272, 306 – unzählbarer Sand 45, 48, 60, 68, 102, 295, 314, 390 – Versanden 52, 58–59, 70, 249 – wie Sand am Meer 48, 308, 458–459 – Wüste 49–50, 52, 111 (Anm. 109), 144, 182, 193–194, 198, 217, 219, 235, 240, 244, 249 (Anm. 363), 250, 250 (Anm. 366), 263–265, 273, 284, 311, 314, 383, 405, 417, 429–432, 434, 451, 453, 458 Schlaf 181, 290, 292, 300, 302–303, 307, 310, 317, 319, 323–324, 333, 339–340, 345–346, 350, 352, 354–355, 360–362, 364, 371, 373, 375, 380 Schnee 36, 68, 224 Schrift 72, 84, 86, 99, 122, 205, 218–219, 223–225, 230, 239–241, 244, 247, 254, 267–268, 271, 304, 356, 456

495

Sediment 39, 47, 220, 385, 385 (Anm. 20), 417 Sehen 42–43, 106, 281, 305, 311, 314–315, 331, 333–334, 344, 349, 375, 379, 409, 449–454 sichtbar/unsichtbar 22–24, 33, 58–59, 68, 70, 125, 190, 206, 209, 216, 221, 223, 232–233, 266, 268, 281, 294, 324, 345, 362, 369, 389, 399, 412, 415, 418, 430, 434, 445, 452–454 Sieb 83, 218–221, 432 Sisyphos 191, 403 (Anm. 58), 404, 435, 435 (Anm. 119), 457, 459 Situierung 7, 65, 90, 139, 141, 146, 149, 151, 153–154, 157, 166–167, 171, 180, 197–198, 201, 203–204, 266, 437–438, 440–443, 447 Skulptur 120, 387 (Anm. 26), 389, 394, 409, 418, 422, 428, 431, 435, 435 (Anm. 115) Sorites 1–6, 95, 137 (Anm. 168), 430, 437–438, 452 Sprache 23, 79, 92, 122, 142, 237, 250, 253, 267, 304, 309, 456 Spur 44, 56, 59, 65, 205, 221–241, 243–244, 248, 267, 269, 271, 273, 285, 297, 408, 412–413, 415, 427–428, 433–434, 438–439, 445, 448, 453 stabil/instabil 3, 5–6, 22, 29, 33, 36–37, 46, 50–53, 56, 58, 64–65, 68–69, 82, 86, 91, 106, 118, 138, 140–141, 146, 150, 152–154, 156, 159, 167–168, 170–171, 176, 181, 184, 191–192, 195–196, 198, 200, 202–203, 205, 207, 216, 218, 221, 232, 239–240, 248, 257, 266–267, 271, 275, 278–279, 281, 305, 337, 346–347, 351, 369, 372–373, 379, 384, 393, 398–399, 407, 410, 413–415, 422, 431–433, 434, 437–439, 441–442, 444, 447, 451, 453, 456–457, 459 Staub 52, 68, 82–83, 129, 135 (Anm. 162), 268 (Anm. 381), 306, 315, 315 (Anm. 144) Stein 43, 45–46, 56–57, 60–61, 63, 85, 133–134, 146 (Anm. 187), 172, 180, 188, 204, 223, 225, 239, 283, 312, 417 (Anm. 86), 434, 451

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Sachregister

Sterne 67–68, 82–83, 135, 224, 329 Stillstand, still(gestellt) 175, 186, 202, 206, 217, 268, 271, 397, 414–432, 439 Störung 5, 67, 114, 436, 443 Streuen, Streuung 81–83, 115, 223, 226, 232, 243, 275, 299–300, 305–307, 309–310, 315–316, 318–319, 321, 323, 339, 350, 354, 369, 373–374, 409, 412, 423, 428, 433, 450, 459 Täuschung 108, 266, 301, 314–317, 339, 353, 362, 377 temporale Skulptur 398–414, 432 Tod 202, 212, 269, 285, 301–302, 312, 330, 333, 339, 342, 346, 352, 360–361, 368, 373, 378, 417–418, 430, 439, 446 Traum 66, 247, 254, 275–380, 439–441, 443, 446, 448, 450, 452, 456, 459 Universum 7, 68, 78, 113 (Anm. 112), 120–131, 138, 438 Unterscheidung 13–15, 17–19, 21, 25–26, 30–33, 56, 62, 70–71, 85, 128, 140, 181, 191, 211, 263, 277, 289, 294, 299–300, 305, 322, 324, 330, 337, 340, 346, 349, 353, 371, 373, 376–377, 380, 436, 448–449 ununterschieden/ununterscheidbar 24, 53, 89, 211, 264, 294, 297, 300, 305, 322, 333, 335–350, 352, 378, 439, 443, 446, 450 Verankerung, Anker 9, 105–106, 109, 115, 180, 229 (Anm. 312), 275, 277, 280–281, 281 (Anm. 22), 283, 288, 291, 294–295, 299, 305, 326, 334, 342, 344, 346, 351, 363, 369, 376, 440, 444 Vergessen 71, 90, 111, 216, 222, 225, 230, 242–252, 261, 263–265, 267, 270–272, 280, 298, 445–446, 456 Verschiebung 79, 84–85, 90, 105, 107, 109, 118, 140, 168, 177, 201, 204, 249–250, 253, 255, 271, 278, 284, 298, 309, 327, 339, 345, 347, 349, 373, 376, 422, 437–440, 456, 459

Vielgestalt, vielgestaltig 308–309, 323, 351–352, 372, 383, 448 Virtualisierung 7–8, 32–33, 67, 69–93, 138–139, 141, 157, 197, 199, 201, 204–205, 223, 228, 249, 265, 267, 272, 279, 283, 298–299, 337–338, 379, 415, 436, 443–444, 446, 459–460 Virtualität 2, 6–7, 11–71, 80–81, 83, 93, 112, 119, 126, 131, 172, 179, 199, 237, 239–240, 251, 263, 269, 282–283, 289, 291, 346, 378, 383, 399, 432, 436–443, 448–449, 454–455, 457 Virtualität der Formen 7, 32, 64, 70–274, 437, 440 Virtualitätsgrad 9, 28, 32, 34–35, 61, 140–141, 146, 205, 275–277, 279, 398, 425, 440 Virtualität, Struktur der 27, 34, 54, 83, 118, 300, 337, 382 (Anm. 8) virtuelle Form des Mediums 66, 119 Wahrnehmung 23, 32, 34, 42, 67, 108, 112, 119, 184, 275, 277–278, 285–286, 289, 299, 305–314, 325, 334, 338, 341, 346, 349–350, 354, 365, 372, 374–380, 418, 439–441, 443, 448–450, 456 Wasser 32, 36, 38, 49, 52, 68, 98, 112, 122, 154, 163 (Anm. 227), 175, 180, 185, 215, 272, 325–326, 381 (Anm. 1), 400, 405, 431, 435, 451, 457–458, 459 (Anm. 20) Welt 45, 64, 78, 92, 94, 97, 118–119, 123–124, 127, 130–133, 138, 179, 209, 217, 220, 275–276, 278, 281–292, 294–296, 299, 303–305, 310, 314–315, 317, 322, 325, 327, 333, 335, 341, 353, 359, 371, 375, 396, 417, 437–444, 450, 454, 457 Weltmodalität 286–288, 292, 297, 299, 324, 329, 334, 337, 339–340, 342, 350, 352–354, 358, 363, 365, 369, 372, 374, 376, 378, 440 Wind 49–52, 58, 154–155, 175, 219, 224–225, 232, 234, 240, 261, 267, 271, 273, 278, 311, 392, 402, 407, 414, 424, 431, 445, 450

Sachregister

Wissen 6, 10, 40, 102, 184, 195, 202, 233–236, 262, 265, 272, 445, 449–451, 453, 455 Wüste: siehe Sand-Wüste Zahl 77–78, 95, 97–101, 103, 132–133, 135–136, 202, 386, 432, 452 zahlreich, Vielzahl, große Zahl 2, 26, 32, 36, 46, 48, 52, 54, 60–61, 65, 68, 80, 85, 94–95, 97, 101–103, 107, 112, 118, 131, 133, 135, 216–217, 220, 245, 264, 271, 276, 308, 384, 386, 390, 432, 448, 450, 452, 456, 458–459

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Zeichnen, Zeichnung 41, 90, 225, 243, 273, 400, 402–403, 410, 412, 428 Zeit 8, 22, 33, 48, 85, 91, 112, 120, 185–186, 205–274, 304, 351, 386–399, 405, 419, 431–433, 438–439, 443, 453 Zeitdarstellung 206, 209, 212, 266 Zeitfluss 206, 209, 228, 266, 268, 432 Zeitgefüge 140, 205, 266 Zeitstellen 140, 140 (Anm. 176), 205–207, 218, 228, 241, 266, 268, 387–388, 398, 428, 438 Zerstäuben 81–82, 229, 349 Zerstreuen, Zerstreuung 54, 84–85, 381 (Anm. 1), 408, 427, 431–434

Personenregister Abe, Kobo 52, 157, 172–192, 196, 198, 200–204, 438–439, 447, 450, 452–454 Andersen, Hans Christian 302, 318, 322–335, 337, 370–380, 440, 448, 450 Archimedes 7, 48, 95–105, 131–139, 240, 310, 387, 390, 438, 442, 446, 452 Aristoteles 14, 317 Aycock, Alice 406–407, 450

Derrida, Jacques 73, 84–85, 87, 115, 142, 144, 303 Dodge, Chris 398–400, 412, 414, 453 Donaldson, Roger 144 Dubus III, André 157, 163–172, 176, 196–198, 200–201, 204, 438, 445

Bachmann, Ingeborg 244, 283–284, 311, 416, 440, 452 Barthes, Roland 79–85, 459 Baudrillard, Jean 16, 68 Beckett, Samuel 1, 35 Bergson, Henri 211–213, 266, 453 Berry, Paul 320 Blake, William 40, 42, 214, 396, 439 Blumenberg, Hans 2, 55, 119, 138, 436 Borges, Jorge Luis 7, 105–119, 131–139, 186, 215, 264, 268, 271, 277, 280, 283, 293–297, 313, 336, 437, 442, 444, 447, 449, 455 Brahms, Johannes 319 Brockes, Barthold Heinrich 43–45 Bushmiller, Ernie 76 Butler, Judith 384–385

Fabro, Luciano 435 Flusser, Vilém 7, 78, 120–139, 155, 180, 202, 229, 438, 442, 444, 447, 455 Foucault, Michel 9, 237–239, 272, 275, 277, 281, 288, 290, 292, 304, 440, 448 Freud, Sigmund 222, 277–279, 297, 317, 345, 348

Cabré, Jaume 46 Calvino, Italo 123–134, 206, 216–221, 271, 431, 449, 453 Campopiano, Remo Compopiano 408–409 Carroll, Lewis 277 Celan, Paul 243–244, 248, 312–313, 417 Challis, Sarah 235 Chladni, Ernst Florens Friedrich 236, 411–414 Cicero 1, 114, 430 Clarke, Maximus 115, 455 Defoe, Daniel 233 Deleuze, Gilles 2, 6–7, 13–35, 55, 59–60, 77, 80, 83, 85, 115, 123

https://doi.org/10.1515/9783110651522-010

Eco, Umberto 382 Erpenbeck, Jenny 163 Eubulides von Milet 1

Gaiman, Neil 302, 310–311, 370 Goldsworthy, Andy 402 Grimm, Jakob und Wilhelm 282 Grossman, David 245 Hauff, Wilhelm 310 Hébert, Jean-Pierre 400–403, 435 Heider, Fritz 30, 56, 61–63, 205, 415, 454 Heldt, Werner 284 Hendricks, Jochem 389–394, 430, 452–453 Heraklit 290 Herrndorf, Wolfgang 242–265, 267, 271–273, 456 Hesiod 302 Hesse, Hermann 224, 268, 273 Heym, Stefan 150, 158–163, 170–171, 176, 196–198, 200–201, 204, 239, 438, 445 Hirst, Damien 73 Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus 320–321, 335–350, 355, 358–359, 361, 371–373, 377, 440 Hofmann, Nico 370 Hofmannsthal, Hugo von 321 Holst, Kirsten 233 Homer 48, 51, 302–303, 332

500

Personenregister

Hornig, Günther 415 Houellebecq, Michel 137, 453 Jean Paul 223, 236, 268, 272, 411 Joyce, James 308–309 Joyce, Michael 118 Keene, Elodie 231 Kempf, Josef 225, 268 Kiefer, Anselm 244, 248, 383, 416–418, 426 Kirchhoff, Bodo 350–361, 369, 371–373, 377, 440, 448 Kornfeld, Theodor 213 Koselleck, Reinhart 270 Kripke, Saul A. 291 Larsen, Deena 228–230, 455 Leeuwenhoek, Antoni van 40–41, 45, 395 Lévy, Pierre 2, 6–7, 13–35, 55, 57, 59, 80–81, 88, 90, 92, 117, 447 Lewis, David K. 291 Löper, Anne 409–411 Lorenzetti, Ambrogio 208 Lotman, Jurij M. 298 Luhmann, Niklas 2, 6–7, 18–35, 54–56, 58, 61–63, 70, 139–140, 146, 157, 191, 205, 249, 264, 266, 270, 399, 454 Luisi, Peter 362–373, 377, 440, 448, 453 Lynn 369 Maeterlinck, Maurice 215 McCloud, Scott 75 Merleau-Ponty, Maurice 292 Mitchell, W. J. Thomas 75 Nelson, Theodor 116, 455 Neumark, Georg 154 Novalis (Friedrich von Hardenberg) 295, 297, 317, 332 Orbison, Roy 300 Ovidius Naso, Publius 301, 303, 307, 332, 335, 371 Ozon, François 285–289, 440

Peirce, Charles Sanders 231 Pina 369 Platon 85, 316 Poe, Edgar Allen 296 Putnam, Hilary 221–224, 267, 296, 408 Romero, George A. 262 Roth, Dieter 210 Ryan, Marie-Laure 327 Sawhney, Nitin 398–400, 412, 414, 453 Schiller, Friedrich 36, 46, 184 Schlegel, August Wilhelm 317 Schlegel, Friedrich 24 Schlierf, Werner 225 Schneider, Robert 302 Schuiten, François 146 Schumann, Robert 319 Shakespeare, William 295, 309, 362 Shapiro, Bruce 400–403, 435 Stalnaker, Robert C. 291 Strittmatter, Erwin 224, 273 Sturmius, Johann Christoph 99–100, 104 Sulpicia 369 Teshigahara, Hiroshi 178 Todorov, Tzvetan 348 Uecker, Günther 383, 403–407, 430–432, 452–453 Ullman, Micha 118, 242, 244, 248, 394–397, 418–428, 452–453 Virilio, Paul 86, 120 Vitruv 431, 457 Waddington, Andrucha 52, 157, 192–196, 198, 200–202, 204, 438, 447 Weber, Samuel 18, 79, 349 Wehrli, Ursus 73 Wenders, Wim 281 Wieland, Christoph Martin 315, 449 Wolff, Christian 42, 45, 395 Yahav, Ilana 226, 410

Pedersen, Vilhelm 318 Peeters, Benoit 146